Das Recht der Ueberſetzung iſt vorbehalten.
Mein lieber Freund!
„ Endlich bin ich wieder da “, und dieß Mal nicht in der Geſtalt des Meerſchaums*)Dieſe Anſpielung wird durch folgende Stelle eines Briefes erklärt, den Profeſſor Lieber am 23. Auguſt 1867 an Bluntſchli geſchrieben hatte: „ Geſtern wurde ich drollig und doch nicht unangenehm an Sie erinnert. Einer meiner Söhne iſt in Neu-Mexiko ſtationirt, volle 2500 Meilen von hier, ich meine engliſche Meilen. In einem Briefe, den ich geſtern erhielt, ſind die Worte: „ Endlich iſt Bluntſchli wieder da “. Bluntſchli? ſagen Sie. Ich habe die Gewohnheit allen Gegenſtänden im Gebrauch Namen zu geben, und ſo haben auch die kleinen Meerſchaumpfeifen, die ich mitunter rauche, ihre Namen. Eine heißt Sadowa; eine andere nannte ich nach Ihnen. Ich gab ſie meinem Sohn beim Abſchiede, und ſie war auf dem langen, ſchwierigen und gefährlichen Marſche abhanden gekommen. Endlich aber, wie Sie ſehen, iſt Bluntſchli wieder aufgetaucht in jenen fernen wilden Bergen Neu-Mexikos. Mein Sohn iſt ungefähr 150 engliſche Meilen von Santa Fè “., ſondern in der ernſteren eines völkerrechtlichen Rechts - buchs, deſſen Namengebung und Einführung in die Welt ich Sie bitte, als Pathe beizuſtehn. Ihr glücklicher Gedanke, der amerikaniſchen Armee ein kurz gefaßtes Kriegsrecht als Inſtruction ins Feld mitzugeben, undVIVorwort.mit den Mahnungen des Rechts die wilden Leidenſchaften des Kriegs möglichſt zu zähmen, hat mich zuerſt zu dem Vorſatze angeregt, die Grund - züge des modernen Völkerrechts in Form eines Rechtsbuchs darzuſtellen und Ihre Briefe haben mich ermuthigt, dieſes Wagniß durchzuführen.
Ihre Kriegsartikel haben durch die Autorität des Präſidenten Lincoln eine amtliche Verſtärkung erhalten, welche mein Rechtsbuch völlig entbehren muß. Dasſelbe kann nur inſofern Autorität gewinnen, als die heutige civiliſirte Welt in ihm einen zeitgemäßen und wahren Ausdruck ihres Rechtsbewußtſeins erkennt, und die Macht auf die öffentliche Meinung achtet.
Meines Erachtens iſt die neuere Rechtswiſſenſchaft in einer Beziehung hinter den Fortſchritten der Rechtspraxis zurückgeblieben. Sie hat ihre Blicke zu lange an der Vergangenheit haften laſſen und darüber die Be - wegung des Lebens nach der Zukunft hin aus dem Geſichte verloren. Die Wahrheit, daß das gegenwärtige Recht ein gewordenes und daher weſentlich aus der Vergangenheit zu erklären iſt, bedarf der Ergän - zung durch die andere Wahrheit, daß das gegenwärtige Recht zugleich ein werdendes und berufen iſt, das fortſchreitende Leben der Menſchheit zu begleiten. Viele unſerer rechtsgelehrten Collegen können ſich nicht losmachen von der hergebrachten Vorſtellung, daß das Recht ein unveränderliches ſtarres Syſtem feſter äußerer Geſetze ſei, welche das menſchliche Thun beſchränken. Sie denken ſich das Recht, wie eine Mauer und wie Spaliere, an welchen der Gärtner die rankenden Pflanzen anbindet, wie ein Meſſer, womit er die geilen Triebe wegſchneidet. Nur ſchwer ringt ſich die Wiſſen - ſchaft zu dem tieferen Verſtändniß durch, daß das Recht eine lebendige Ordnung in der Menſchheit, nicht eine todte außer der Menſchheit ſei, daß nur das lebendige und nicht das todte Recht befähigt ſei, mit den Völkern zu leben und fortzuſchreiten. Am wenigſten paßt jener falſche Gedanke eines an ſich todten Rechts zu einer Darſtellung des Völkerrechts, das überall noch nicht zu feſtem Abſchluß gekommen, ſondern noch in mächtiger unaufhaltſamer Bewegung begriffen iſt. Das Recht des natürlichen Wachsthums der Völker und Staten, das Recht der Entwicklung der Menſchheit, das Recht des fort - ſchreitenden Lebens muß von der Wiſſenſchaft unzweideutiger und entſchiedener als bisher anerkannt und vertreten werden, wenn dieſelbe ihreVIIVorwort.hohe ſittliche und geiſtige Miſſion erfüllen ſoll, ihre leuchtende Fackel auf den Wegen der Menſchheit voran zu tragen.
Die Rechtswiſſenſchaft darf daher meines Erachtens nicht bloß die ſchon in frühern Zeiten zur Geltung gelangten Rechtsſätze protokolliren, ſondern ſoll auch die in der Gegenwart wirkſame Rechtsüberzeugung neu ausſprechen und durch dieſe Ausſprache ihr Anerkennung und Geltung ver - ſchaffen helfen. Je empfindlicher der Mangel geſetzgeberiſcher Organe iſt, welche für die Fortbildung des Völkerrechts ſorgen, um ſo weniger darf ſich die Wiſſenſchaft dieſer Aufgabe entziehn.
Freilich muß ſie ſich auch davor hüten, der Zukunft vorzugreifen. Sie darf nicht unreife Ideen als wirkliche Rechtsſätze und ſelbſt dann nicht verkünden, wenn ſie ihre Verwirklichung in der Zukunft klar vorherſieht. Das Recht als ein lebendiges iſt immer ein gegenwärtiges und unterſcheidet ſich dadurch ſowohl von dem Rechte der Vergangenheit, das nicht mehr iſt als von dem Rechte der Zukunft, das noch nicht iſt. Vergangenheit und Zukunft leben beide nur inſofern, als ſie ſich in der Gegenwart begegnen und fruchtbar verbinden.
In dieſer Geſinnung habe ich, mein verehrter Freund, meine Arbeit aufgefaßt. Die großen Ereigniſſe des vorigen Jahrs, denen auch Sie mit ſo lebhafter Theilnahme gefolgt ſind, haben mich in dieſer Ueberzeugung beſtärkt. Wir haben es damals in Deutſchland erlebt, daß man im Namen eines veralteten und lebensunfähigen Bundesrechts die naturnothwendige Entwicklung der deutſchen Nation zu einem politiſchen Volke mit aller Gewalt hat verhindern wollen. Allzu lange haben wir unter dem Miß - brauch des Rechts zur Ertödtung des Lebens gelitten. Nachdem endlich, Gott ſei Dank, jene falſche Autorität des todten Rechts durch die Preu - ßiſchen Siege geſtürzt und für die Neugeſtaltung Deutſchlands freie Be - wegung erſtritten worden iſt, darf auch die deutſche Wiſſenſchaft es nicht länger verſäumen, das Recht der Entwicklung wie der Völker ſo der Menſchheit offen zu vertreten.
Nach Ihrem Wunſche habe ich auch für eine franzöſiſche Ueberſetzung dieſes Werks geſorgt. Dieſelbe wird in Bälde ebenfalls im Druck erſcheinen. Wenn ſich das Buch, das den andern trefflichen Darſtellungen des Völker - rechts keine Concurrenz machen, ſondern dieſelben durch den neuen VerſuchVIIIVorwort.einer geſetzähnlichen Formulirung ergänzen will, ſich als brauchbar erweiſen wird, ſo wird wohl auch eine Ueberſetzung in engliſcher Sprache nicht ausbleiben.
So möge denn das Buch ſeinem freundlichen Pathen keine Schande machen, wenn es in die rauhe Luft des öffentlichen Lebens eintritt.
Heidelberg, im September 1867.
Wo immer Menſchen mit Menſchen verkehren und dauernde Be - ziehungen anknüpfen, da regen ſich in ihnen das Rechtsgefühl und der Rechtsſinn und verlangen eine gewiſſe Ordnung der nothwendigen Ver - hältniſſe und eine wechſelſeitige Achtung der daraus entſpringenden Rechte. Beide Eigenſchaften der menſchlichen Seele, das Rechtsgefühl und der Rechtsſinn, ſind ſelbſt unter barbariſchen Stämmen deutlich wahrzunehmen, aber nur bei civiliſirten Völkern gelangen ſie zu voller Ausbildung des Bewußtſeins und mit Hülfe öffentlicher Inſtitutionen zu geſicherter Wirk - ſamkeit. Sie können wohl gedrückt, aber nie ganz unterdrückt, wohl miß - leitet, aber nicht zerſtört werden. Immer wieder erheben ſie ſich, wenn der Druck nachläßt, und beſinnen ſie ſich, wenn die verwirrende Leiden - ſchaft erliſcht. Der Rechtsſinn iſt ohne Zweifel ſtärker in den Männern als in den Frauen und jene ſind bereiter als dieſe, ihr Recht gegen Jeder - mann mit Gründen und im Rothfall mit den Waffen zu verfechten. Aber an zähem und lebhaftem Rechtsgefühl ſtehen die Frauen den Männern nicht nach. Sie ergeben ſich eher der übermächtigen Gewalt, aber ſie empfinden und beklagen das Unrecht, das ihnen widerfährt, nicht deshalb weniger, weil ſie ſich ſchwächer fühlen und weniger demſelben widerſtehen können. Schon in den Kindern zeigt ſich dieſe Anlage der Menſchennatur für die Rechtsbildung. Auch die Kinder haben ein ſcharfes Auge für die Ungerechtigkeit, der ſie in der Familie oder in der Schule ausgeſetzt ſind und werden oft tief verletzt und verbittert, wenn ſie glauben, parteiiſch behandelt zu werden.
Wenn es aber eine unbeſtreitbare Wahrheit iſt, daß der Menſch von Natur ein Rechtsweſen und mit der Anlage zur Rechtsbildung ausgeſtattet iſt, dann muß auch das Völkerrecht in der Menſchennatur ſeine un - zerſtörbare Wurzel und ſeine ſichere Begründung haben. Völkerrecht heißtBluntſchli, Das Völkerrecht. 12Einleitung.die als rechtlich-nothwendig anerkannte Ordnung, welche die Beziehungen der Staten zu einander regelt. Die Staten aber d. h. die organiſirten Völker beſtehen aus Menſchen, und ſind ſelber als einheitliche Geſammt - weſen Perſonen, d. h. lebendige mit Willen begabte Rechtskörper, wie die Einzelmenſchen. Die Staten ſind wie die Einzelnen einerſeits indivi - duelle Weſen für ſich und andrerſeits Glieder der Menſchheit. Dieſelbe Menſchennatur, und demgemäß auch dieſelbe Rechtsnatur, die jedes Volk und jeder Stat in ſich hat, die findet er wieder in den andern Völkern und Staten. Sie verbindet alle Völker mit unwiderſtehlicher Nothwendigkeit. Keines kann ſich dieſer gemeinſamen Natur entäußern, keines dieſelbe in dem andern Volke verkennen. Deshalb ſind ſie alle durch ihre gemeinſame Menſchennatur verpflichtet, ſich wechſelſeitig als menſchliche Rechtsweſen zu achten. Das iſt die feſte und dauerhafte Grundlage alles Völkerrechts. Würde es heute geläugnet und untergehen, ſo würde es morgen wieder behauptet und neu begründet.
Trotzdem werden heute noch ſtarke Zweifel gegen die Exiſtenz des Völkerrechts vielfältig geäußert. Die grundſätzlichen und die thatſächlichen Bedenken, auf welche ſich jene Zweifel ſtützen, ſind in der That nicht geringfügig. Sie fordern vielmehr zu ernſter Prüfung auf. Man wendet ein, es fehle vorerſt an einer beglaubigten Ausſprache des Völkerrechts durch das Geſetz, ſodann an einem wirkſamen Schutze deſſelben durch die Rechts - pflege; und man erinnert daran, daß in dem Streite der Staten und Völker der Entſcheid eher von der ſiegreichen Gewalt gegeben werde, als von irgend einer Rechtsautorität. Man fragt dann: Wie kann ernſtlich von Völkerrecht die Rede ſein, ohne ein Völkergeſetz, welches das Recht mit Autorität verkündet, ohne ein Völkergericht, welches dieſes Recht in Rechts - form handhabt, wenn die Macht ſchließlich allezeit den Ausſchlag giebt?
Wir können es nicht läugnen: Dieſe Bedenken haben ihren Grund in großen Mängeln und ſchweren Gebrechen des Völkerrechts. Dennoch iſt der Schluß, daß es kein Völkerrecht gebe, übereilt und verfehlt. Faſſen wir dieſelben ſchärfer ins Auge.
Wir ſind heute gewohnt, wenn irgend Fragen des Familienrechts, des Erbrechts, des Vermögensrechts auftauchen, ein privatrechtliches Geſetz -3Einleitung.buch nachzuſchlagen und dort die Aufſchlüſſe über die geltenden Rechts - grundſätze aufzuſuchen, oder wenn ein Verbrechen verübt worden, nachzu - ſehen, mit welcher Strafe es in dem Strafgeſetzbuch bedroht ſei. Die Fundamentalſätze des Statsrechts ſind gewöhnlich in Verfaſſungsurkunden öffentlich verkündet, und ſchon finden wir in einzelnen Staten, wie z. B. in dem State New-York, eine Codification auch des öffentlichen Rechts. Aber es giebt kein völkerrechtliches Geſetzbuch und nicht einmal einzelne völkerrechtliche Geſetze, welche die Rechtsgrundſätze mit bindender Autorität ausſprechen, nach denen völkerrechtliche Streitfragen zu entſcheiden ſind. Da meinen denn Manche, gewohnt alles Recht aus Geſetzen abzuleiten: „ Ohne Geſetze kein Recht. “
Indeſſen ſind die Geſetze nur der klarſte und wirkſamſte Ausdruck, aber keineswegs die einzige Quelle des Rechts. Bei allen Völkern gab es eine Zeit, in der ſie keine Geſetzbücher und dennoch ein geltendes Recht hatten. In der Jugendperiode auch der Culturvölker gab es Ehen, Erb - recht der Anverwandten, Eigenthum, Forderungen und Schulden ohne Ge - ſetze, welche dieſe Rechtsverhältniſſe ordneten und es wurden die Verbrechen beſtraft ohne Strafgeſetz. Die in den nationalen Inſtitutionen und in den Volksgebräuchen und Uebungen dargeſtellte Rechtsordnung iſt überall älter als die geſetzlich beſtimmte. Erſt in dem reiferen und ſelbſtbewußteren Lebensalter der Völker unternimmt es der Stat, das Recht in Geſetzbüchern auszuſprechen. Es kann uns daher nicht befremden, wenn das noch junge Völkerrecht vorerſt ebenfalls in gewiſſen Einrichtungen, Gebräuchen und Uebungen der Völker vornehmlich zu Tage tritt.
Für das Völkerrecht beſteht aber in dieſer Hinſicht eine eigenthüm - liche Schwierigkeit. Mag das Verlangen nach einer klaren autoritativen Verkündung völkerrechtlicher Geſetze noch ſo dringend geworden und die geiſtige Fähigkeit zu ſolcher Ausſprache noch ſo unzweifelhaft ſein, ſo fehlt es doch an einem anerkannten Geſetzgeber, der das Geſetz erlaſſen könnte. In jedem einzelnen State iſt durch die Statsverfaſſung für ein Organ des allgemeinen Statswillens geſorgt, d. h. ein Geſetzgeber aner - kannt. Aber wo wäre der Weltgeſetzgeber zu finden, deſſen Ausſpruch alle Staten und alle Nationen Folge leiſteten? Die Einrichtung eines geſetz - gebenden Körpers für die Welt, ſetzt die Organiſation der Welt voraus und eben dieſe beſteht nicht.
Vielleicht wird die Zukunft dereinſt die erhabene Idee verwirklichen und der geſammten, in Völker und Staten getheilten Menſchheit1*4Einleitung.einen gemeinſamen Rechtskörper ſchaffen, welcher ihren Geſammtwillen mit allgemein anerkannter Autorität ausſprechen wird, wie die Vergangenheit den verſchiedenen Nationen in den Staten eine einheitliche Rechtsgeſtalt gegeben hat, und wie die Gegenwart wenigſtens das Bewußtſein weckt und klärt, nicht blos, daß die Menſchheit in Natur und Beſtimmung Ein Geſammtweſen ſei, ſondern überdem, daß auch in der Menſchheit ge - meinſame Rechtsgrundſätze zur Geltung kommen müſſen. Wird einſt jene zukünftige Organiſation der Menſchheit erfüllt ſein, dann freilich wird auch der Geſetzgeber für die Welt nicht mehr fehlen und es wird dann das Weltgeſetz die Beziehungen der mancherlei Staten zu einander und zur Menſchheit ebenſo klar, einheitlich und wirkſam ordnen, wie es das heutige Statsgeſetz thut mit Bezug auf die Verhältniſſe der Privat - perſonen unter einander und zum State.
Mag man aber dieſes hohe Endziel für einen ſchönen Traum der Idealiſten halten oder an deſſen Erreichung mit Zuverſicht glauben, darüber kann kein Streit ſein, daß daſſelbe zur Zeit und noch auf lange hin keines - wegs erreichbar ſei. Das heutige Völkerrecht entſpricht dieſem Ideale nicht. Nur langſam und allmählig führt es aus der rohen Barbarei der Gewalt und Willkür zu civiliſirten Rechtszuſtänden. Es kann höchſtens als Ueber - gang dienen aus der unſichern Rechtsgemeinſchaft der Völker zu der endlichen vollbewußten Rechtseinheit der Menſchheit. Jeder neue völkerrechtliche Grundſatz, welcher dem gemeinſamen Rechtsbewußtſein der Völker klar gemacht und in dem Verkehrsleben der Völker bethätigt wird, iſt dann ein Fortſchritt auf dem Wege zu jenem Ziele.
Ganz ſo ſchlimm, wie es der oberflächlichen Betrachtung erſcheint, ſteht es übrigens nicht. Es fehlt dem heutigen Völkerrecht nicht völlig an gemeinſamer, autoritativer Ausſprache ſeiner Rechtsgrundſätze, die daher einen Geſetz ähnlichen Charakter hat. Indem von Zeit zu Zeit große völkerrechtliche Congreſſe der civiliſirten Staten zuſammengetreten ſind und ihre gemeinſame Rechtsüberzeugung in formulirten Rechtsſätzen zu Pro - tokoll erklärt haben, haben ſie im Grund daſſelbe gethan, was der Geſetz - geber thut. Die eigentliche Abſicht dabei war nicht, ein Vertragsrecht zu ſchaffen, welches lediglich die Vertragsparteien und die Unterzeichner des Protokolles binden ſollte, ſondern allgemeine Rechtsnormen, zunächſt freilich nur für die europäiſche Welt, feſtzuſetzen, welche alle europäiſchen Staten zu beachten haben; ſie wollten nicht ein Willkürrecht hervor - bringen, das ebendeshalb nicht weiter gilt, als jene Willkür Macht hat,5Einleitung.ſondern ein nothwendiges Recht anerkennen, welches in der Natur der Verhältniſſe und in den Pflichten der civiliſirten Völker gegen die Menſch - heit ſeine eigentliche Begründung hat.
Die mittelalterliche Rechtsbildung war oft auch in den einzelnen Ländern nicht anders. Man wählte nicht ſelten die Form des Ver - trags und ſchuf den Inhalt des Geſetzes. Die heutigen Staten haben nicht einmal die Wahl zwiſchen zweierlei Formen. Sie können ihre ge - meinſame Rechtsüberzeugung nur in der bedenklichen Form einer viel - ſtimmigen Erklärung ausſprechen; die einheitliche Form der Aus - ſprache iſt für ihre Geſammtheit unmöglich, ſo lange dieſe nicht zu Einer Rechtsperſon organiſirt iſt. Auch in den Verträgen, welche zunächſt nur unter einzelnen Staten abgeſchloſſen worden ſind, ſind daher manche Beſtimmungen zu finden, welche ihrem Weſen nach Rechtsgeſetze und keineswegs bloße Vertragsartikel ſind, welche die nothwendige Rechtsordnung, nicht die Convenienz der contrahirenden Staten darſtellen.
Sogar die Geſetzgebung eines Einzelſtates kann ſo völkerrecht - liche Grundſätze mit öffentlicher Autorität ausſprechen und dadurch an der Klärung und Fortbildung des Völkerrechts überhaupt einen bedeutenden Antheil nehmen. Die formelle und zwingende Autorität eines States reicht freilich nicht über die Gränzen ſeines Gebietes hinaus. Aber die geiſtige und freie Autorität deſſelben kann ſich ſehr viel weiter erſtrecken, wenn ihr die öffentliche Meinung ihren Beifall zuwendet, wenn die Ueberzeugung ſich verbreitet, daß jene Ausſprache dem Rechtsbewußtſein der civiliſirten Welt entſpreche.
Wir haben in neueſter Zeit einen merkwürdigen Act dieſer Art er - lebt, welcher zugleich einen bedeutenden Fortſchritt des modernen Völker - rechts bezeichnet. Während des nordamerikaniſchen Bürgerkriegs nämlich iſt im April 1863 eine „ Inſtruction für die Armeen der Vereinigten Staten im Feld “erſchienen, welche geradezu als eine erſte Codification des Kriegsrechts im Landkrieg zu betrachten iſt. Dieſelbe wurde von einem der angeſehenſten Rechtsgelehrten und Statsphiloſophen Amerikas, von Profeſſor Lieber, entworfen, von einer Commiſſion von Officieren geprüft und von dem Präſidenten der Vereinigten Staten, Lincoln, ge - nehmigt. Sie enthält in 157 Paragraphen genaue Vorſchriften über die Kriegsgewalt in Feindesland, ihre Macht und ihre Gränzen, über das öffentliche und das Privateigenthum des Feindes, über den Schutz der Privatperſonen und die Intereſſen der Religion, Kunſt und Wiſſenſchaft,6Einleitung.über Ausreißer und Kriegsgefangene und die Beute auf dem Schlacht - felde, über Parteigänger und Freiſchaaren, über Späher, Räuber und Kriegsrebellen, über Sicherheitspäſſe, Spione, Kriegsverräther, gefangene Boten und den Mißbrauch der Parlamentärfahne, über Auswechslung der Kriegsgefangenen, Waffenſtillſtands - und Schutzzeichen, über die Entlaſſung auf Ehrenwort, über Waffenſtillſtand und Capitulation, über Mord, Auf - ſtand, Bürgerkrieg, Rebellion. Dieſe Inſtruction iſt ſehr viel ausführlicher und durchgebildeter als die Kriegsreglemente, welche bei den europäiſchen Heeren in Uebung ſind. Da dieſelbe aber durchweg Sätze ausſpricht von allgemeinem, völkerrechtlichem Rechtsgehalt, und da die Art ihrer Ausſprache in Uebereinſtimmung iſt mit dem Rechtsbewußtſein der heutigen Menſch - heit und mit der civiliſirten Kriegsführung der Gegenwart, ſo wirkt dieſes Edict über die weiten Gränzen der Vereinigten Staten weit hinaus; und trägt erheblich dazu bei, einen wichtigen Beſtandtheil des modernen Völker - rechts in humanem und der Nothwendigkeit der Verhältniſſe entſprechendem Sinne zu allgemeiner Anerkennung zu bringen. Die europäiſchen Staten können hierin nicht hinter dem Vorbilde der amerikaniſchen Staten zurück bleiben, ohne ſich dem beſchämenden Urtheil der öffentlichen Meinung aus - zuſetzen, daß ſie in der Entwicklung des Völkerrechts hinter dem Fortſchritte der civiliſirten Menſchheit zurück bleiben.
Ein anderes Surrogat der Geſetzgebung, welches in vielen Ländern die Ausbildung des Privat - und des Strafrechts, ſelbſt des Statsrechts erheblich gefördert hat, ſind die Rechtsbücher, in denen die geltenden Rechtsſätze von rechtskundigen Privatperſonen aufgezeichnet und dargeſtellt werden. Der Inhalt ſolcher Rechtsbücher iſt in der Hauptſache ganz derſelbe, wie der Inhalt der Geſetzbücher. Es werden darin die geltenden Rechtsnormen ausgeſprochen und verkündet. Aber weil die Rechtsbücher ein Werk der Privaten, die Geſetzbücher dagegen ein Werk der Statsge - walt ſind, ſo haben jene keinen Anſpruch auf die bindende Autorität, welche dem Geſetze Gehorſam verſchafft. Die Rechtsbücher haben nur in - ſofern eine Autorität, als auch die Wiſſenſchaft Autorität beſitzt und als ſie als wahr und gerecht erkannt werden. Es iſt das eher eine inner - liche und geiſtige, von der Kritik jeder Zeit zu prüfende, freie Autorität, nicht die gebundene unangreifbare der äußern Gewalt, welche dem Geſetze gebührt, und Gehorſam erzwingt.
In dem folgenden Buch habe ich, durch das amerikaniſche Vorbild angeregt, den Verſuch gewagt, ein ſolches Rechtsbuch des Völkerrechts7Einleitung.darzuſtellen. Wenn dieſe Darſtellung dem heutigen Rechtsbewußtſein der civiliſirten Welt entſpricht, und zur Klärung und Ausſprache deſſelben dienlich iſt, ſo iſt der Zweck dieſer Arbeit erfüllt; wenn nicht, ſo wünſche ich nur, daß es in Bälde Andern beſſer gelingen möge, dieſes berechtigte Bedürfniß zu befriedigen.
Faſt noch ſchlimmer als der Mangel eines Völkergeſetzes iſt der Mangel eines Völkergerichts. Wenn der vermeintliche Eigenthümer einer Sache von dem Beſitzer Herausgabe verlangt, oder der Gläubiger von dem Schuldner Zahlung fordert, ſo finden die beiden ſtreitenden Parteien einen Richter im State, welcher ihren Streit rechtskräftig entſcheidet. Wenn ferner Jemand beſtohlen oder mißhandelt wird, ſo ſchreitet der Stats - anwalt ein, die Geſchwornen erkennen über die Schuld, der Strafrichter beſtimmt die Strafe, welche von der Statsgewalt vollzogen wird. Aber wenn ein Stat Anſprüche auf einen Bezirk erhebt, den ein anderer Stat beſetzt hält, wenn ein Stat Entſchädigung fordert für rechtswidrige Ver - letzung ſeiner Intereſſen durch einen andern Stat, wenn ein Stat einen ſchweren Friedens - und Rechtsbruch begeht wider einen andern Stat, ſo giebt es keinen Gerichtshof, an welchen der Kläger ſich wenden kann, welcher dem Unrecht wehrt, dem Rechte Anerkennung verſchafft und auch den Schwachen wider den Mächtigen ſchützt. Das letzte und in manchen Fällen das einzige Mittel, welches dem verletzten Stat bleibt, um ſein Recht zu behaupten, iſt der Krieg und im Kriege entſcheidet die Gewalt der auf einander ſtoßenden Naturkräfte. Im Kriege ſiegt leichter die Partei, welche die Macht, als die, welche das Recht für ſich hat.
Unläugbar iſt daher der Krieg eine rohe und unſichere Form des Rechtsſchutzes. Wir können nicht mit Zuverſicht darauf rechnen, daß die Macht ſich dahin wende, wo das Recht iſt und der beſſer Berechtigte in Folge deſſen auch der Stärkere ſei. Aber ſelbſt in dieſer leidenſchaft - lichen und rohen Form der gewaltſamen Selbſthülfe macht ſich doch das Rechtsgefühl der Völker geltend. Eben für ihr Recht greifen die Staten zu den Waffen und unternehmen es, indem ſie alle ihre Mannes - kraft anſpannen und das Leben der Bürger einſetzen, ihrer Rechtsbehauptung den Sieg zu verſchaffen. Niemals iſt es auch gleichgültig, auf welcher Seite das Recht ſei. Der Glaube an das eigene gute Recht ſtärkt und ermuthigt die Kämpfenden, das Bewußtſein des eigenen Unrechts ängſtigt8Einleitung.und verwirrt ſie. Das offenbare Recht zieht Freunde herbei und gewinnt die Gunſt der öffentlichen Meinung; das augenfällige Unrecht reizt die Gegner zur Feindſchaft und weckt allgemeine Mißgunſt. Der Stärkſte ſelbſt, wenn er Sieger wird, fühlt ſich nach dem unübertrefflichen Aus - drucke Rouſſeau’s nicht ſtark genug ohne das Recht und wird ſeines Sieges erſt froh, wenn es ihm glückt, dem Erfolge der Waffen die endliche An - erkennung des Rechts zu verſchaffen. Wenn der Sieg dauernde und in - ſofern nothwendige Wirkungen hervorbringt, ſo beſtimmt er wirklich die Rechtsordnung für die Gegenwart und ihre Folge.
In der Jugendperiode der germaniſchen Völker und theilweiſe noch im Mittelalter war es mit dem Rechtsſchutze des Privat - und des Straf - rechts nicht viel beſſer beſtellt. Die männliche Selbſthülfe war auch da eine gewöhnliche Form der Rechtshülfe. Mit den Waffen in der Hand vertheidigte der Eigenthümer den Frieden ſeines Hauſes, der Gläubiger pfändete ſelber den ſäumigen Schuldner, gegen die Friedensbrecher wurde die Familien - und die Blutrache geübt, der Rechtsſtreit der Ritter und Städte wurde in der Form der Fehde vollzogen. Sogar in die öffent - lichen Gerichte hinein trat die Waffengewalt, der Zweikampf war ein be - liebtes Beweismittel, und ſelbſt der Urtheilsſchelte wurde durch die Be - rufung auf die Schwerter Nachdruck verliehen. Nur allmählig verdrängte die friedlichere und zuverläſſigere Gerichtshülfe die ältere Selbſthülfe. Es iſt daher nicht unnatürlich, wenn die Staten, d. h. die derzeitigen alleinigen Inhaber, Träger und Garanten des Völkerrechts, in ihren Rechtsſtreiten im Gefühl ihrer Selbſtändigkeit und ihrer Rechtsmacht ſich noch heute vor - nehmlich ſelber zu helfen ſuchen.
Indeſſen der Krieg iſt doch nicht das einzige völkerrechtliche Rechts - mittel. Es giebt daneben auch friedliche Mittel, dem Völkerrechte An - erkennung und Schutz zu verſchaffen. Die Erinnerungen und Mahnungen, unter Umſtänden die Forderungen der neutralen Mächte, die guten Dienſte befreundeter Staten, die Aeußerungen des diplomatiſchen Körpers, die Drohungen der Großmächte, die Gefahren von Coalitionen gegen den Friedensbrecher, die laute und ſtarke Stimme der öffentlichen Meinung ge - währen der völkerrechtlichen Ordnung auch einigen — freilich nicht immer einen ausreichenden Schutz, und werden ſelten ungeſtraft mißachtet. Zu - weilen endlich werden völkerrechtliche Schiedsgerichte gebildet, welche den Streit der Staten auch in wirklicher Rechtsform nach einem vor - gängigen Proceßverfahren entſcheiden.
Wer immer einen Blick wirft auf die Geſchichte der Völker, wird auch die Wahrnehmung machen, daß die Macht einen großen Antheil hat an der Bildung der Staten und dieſe Macht erſcheint oft genug in der rohen Form der phyſiſchen Gewalt, welche mit dem Säbel in der Hand ihre Gebote durchſetzt und unter dem Donner der Kanonen und im Ge - witter der Schlacht die Verhältniſſe der Staten umgeſtaltet. Aber obwohl in allen Zeitaltern viel brutale Gewalt der Mächtigen ſich breit macht und auf die Rechtsordnung einen Druck übt, und obwohl viel verübtes Unrecht ungeſtraft bleibt, ſo iſt die Weltgeſchichte doch nicht ein wüſtes Durcheinander der entfeſſelten Leidenſchaften und nicht das Ergebniß der rohen Gewaltübung. Vielmehr erkennen wir, bei näherer Prüfung und Ueberlegung des weltgeſchichtlichen Ganges, auch eine ſittliche Ordnung. Der ſichere Fortſchritt der allgemein-menſchlichen Rechtsentwicklung ſtellt ſich darin unzweideutig dar. Das Wort unſeres großen Dichters: „ Die Welt - geſchichte iſt das Weltgericht “ſpricht eine tröſtliche Wahrheit aus.
Die Regel der heutigen Welt iſt nicht mehr der Krieg, ſondern der Friede. Im Frieden aber herrſcht in den Beziehungen der Staten zu einander nicht die Gewalt, ſondern in der That das anerkannte Recht. In dem friedlichen Verkehre der Staten mit einander wird die Perſönlichkeit und die Selbſtändigkeit des ſchwächſten States ebenſo geachtet, wie die des mächtigſten. Das Völkerrecht regelt die Bedingungen, die Formen, die Wirkungen dieſes Verkehrs weſentlich für alle gleich, für die Rieſen wie für die Zwerge unter den Staten. Jeder Verſuch, dieſe Grundſätze ge - ſtützt auf die Uebermacht willkürlich zu verletzen und ihre Schranken zu überſchreiten, ruft einen Widerſpruch und Widerſtand hervor, welchen auch der mächtige Stat nicht ohne Gefahr und Schaden verachten darf.
Aber ſelbſt in dem Ausnahmszuſtande des Kriegs, in welchem die phyſiſche Gewalt ihre mächtigſte Wirkung äußert, werden dieſer Gewalt doch von dem Völkerrecht feſte Schranken geſetzt, welche auch ſie nicht überſchreiten darf, ohne die Verdammung der civiliſirten Welt auf ſich zu laden. In nichts mehr bewährt und zeigt ſich die Macht und das Wachs - thum des Völkerrechts herrlicher als darin, daß es vermocht hat, die ſpröde Wildheit der Kriegsgewalt allmählich zu zähmen und ſelbſt die zerſtörende Wuth des feindlichen Haſſes durch Geſetze der Menſchlichkeit zu mäßigen und zu bändigen.
10Einleitung.Ueberdem dürfen wir bei der Beurtheilung geſchichtlicher Ereigniſſe niemals vergeſſen: Was dem oberflächlichen Sinn nur als rohe Uebermacht und als brutale Gewalt erſcheint, das ſtellt ſich der tieferen Erkenntniß in manchen Fällen als unwiderſtehliche Nothwendigkeit der natürlichen Ver - hältniſſe und als unaufhaltſamer Drang berechtigten Volkslebens dar, welches die abgeſtorbenen Formen des veralteten Rechts abſtößt, wie die jungen Pflanzentriebe im Frühling das welke Laub des Winters abſtoßen. Wo aber das wirklich der Fall iſt, da iſt die Gewalt in Wahrheit nur der Geburtshelfer des natürlichen oder des werdenden Rechts. Sie dient dann der Rechtsbildung, ſie beherrſcht dieſelbe nicht.
Die Mängel alſo des Völkerrechts ſind groß, aber nicht ſo groß, um deſſen Exiſtenz zu behindern. Das Völkerrecht ringt noch mit ihnen, aber es hat ſchon manchen Sieg über die Schwierigkeiten erfochten, welche ſeiner Geltung im Wege ſtehen. Man vergleiche die Rechtszuſtände der heutigen Statenwelt mit den Zuſtänden der früheren Zeitalter und man wird durch dieſe Vergleichung der großen und ſegensreichen Fortſchritte ge - wahr, welche das Völkerrecht in den letzten Jahrhunderten gemacht hat und fortwährend macht. Darin erſehen wir eine Bürgſchaft für die weiteren Fortſchritte der Zukunft. Die Vervollkommnung des Völkerrechts begleitet und ſichert die Vervollkommnung des Menſchengeſchlechts. Halten wir Ueber - ſchau und betrachten wir im Großen die Entwicklung des Völkerrechts.
Einzelne Keime des Völkerrechts ſind zu allen Zeiten unter allen Völkern ſichtbar geworden. Selbſt unter wilden und barbariſchen Stämmen finden wir faſt überall eine gewiſſe, meiſtens religiöſe Scheu, die Geſandten anderer Stämme zu verletzen, mancherlei Spuren des Gaſtrechts und die Uebung, Bündniſſe und andere Verträge abzuſchließen, den Krieg durch den erklärten Frieden zu beendigen.
Bei den civiliſirten alten Völkern Aſiens, wie beſonders bei den alten Indiern mehren und entwickeln ſich theilweiſe die Anſätze und Triebe zu völkerrechtlicher Rechtsbildung. Aber ſelbſt die hochgebildeten Hellenen, obwohl ſie zuerſt den Stat menſchlich begriffen haben, ſind doch nur in dem eng begränzten Verhältniß der helleniſchen Staten zu einander zu einem noch ſehr dürftigen Völkerrecht gelangt. Die Gemeinſchaft der Re -11Einleitung.ligion, Sprache und Cultur hat in den Hellenen aller Städte das Gefühl nationaler Gemeinſchaft und Verwandtſchaft geweckt. In Folge davon wurde die in eine große Anzahl ſelbſtändiger Städte und Staten getheilte Nation doch auch einer gewiſſen Rechtsgemeinſchaft inne. „ Alle Hellenen ſind Brüder “, ſagte man und erkannte an, daß jeder helleniſche Stat dem andern gegenüber gewiſſe Rechtsgrundſätze zu beachten verpflichtet ſei. Aber die nicht helleniſchen, die ſogenannten barbariſchen Völker betrachteten ſie noch als „ ihre natürlichen Feinde “, mit denen keine Rechtsgemeinſchaft be - ſtehe. Der Krieg mit den Barbaren erſchien ihnen als die natürliche Regel und jede Liſt oder Gewalt gegen die Barbaren als erlaubt. Sie wieſen die Gleichberechtigung der Barbarenſtaten noch mit Verachtung von ſich, und hielten ſich als die edlere Raſſe für berufen, über die Barbaren zu herrſchen. Das war nicht etwa nur die Meinung der eiteln und ſelbſtſüchtigen Menge, es war das ebenſo die Meinung der berühmten Philoſophen Platon und Ariſtoteles.
Die Römer ſind als die weltgeſchichtlichen Begründer des von Re - ligion und Moral unterſchiedenen Rechts und der Rechtswiſſenſchaft an - erkannt. Aber auch den Römern verdankt die Welt noch nicht die erſte allgemeine Feſtſtellung des Völkerrechts. Freilich ſind in dem alten Rom auch vortreffliche Anfänge eines civiliſirten Völkerrechts zu entdecken. Be - vor die Römer einen fremden Stat mit Krieg überzogen, pflegten ſie ihre Forderungen in Rechtsform durch ihre Geſandte, die Fecialen, anzumelden und, wenn nicht willfahrt wurde, den Krieg feierlich anzukünden. Sie kannten und übten mancherlei Formen der Statsverträge und Bündniſſe mit andern Staten. Obwohl ſie während des Kriegs ſchonungslos und grauſam verfuhren, ſo pflegten ſie doch die Religion, die Sitten und theil - weiſe ſogar das Recht der unterthänig gewordenen Völker zu ſchützen. Sie erhoben ſich ſogar zu der Idee der Humanität, als der großen Aufgabe ihrer Politik und faßten die Welt als Ein Ganzes in weitgreifendem Ge - danken zuſammen. Aber alle dieſe Keime entwickelten ſich doch nicht zu einem humanen Völker - und Weltrecht, weil der Sinn der Römer nicht auf Rechtsgemeinſchaft unter den Völkern, ſondern auf abſolute Herr - ſchaft Roms über die Völker gerichtet war. Die abſolute Weltherrſchaft Eines Volkes aber iſt die Verneinung des Völkerrechts im Princip.
Wir ſehen, die Eitelkeit, der Stolz, die Selbſtſucht und die Herrſch - ſucht der einzelnen Völker verhinderten im Alterthum das Wachsthum des Völkerrechts und zerſtörten die noch ſchwachen Keime, bevor ſie erſtarkt12Einleitung.waren. Ohne weſentliche Gleichberechtigung der verſchiedenen Völker iſt kein Völkerrecht möglich.
Im Mittelalter treten in Europa zwei neue Mächte entſcheidend auf, die chriſtliche Kirche und die germaniſchen Fürſten und Völker. Haben etwa dieſe Mächte das Völkerrecht zur Welt gebracht?
In der That leuchten manche chriſtliche Ideen der Bildung des Völkerrechts vor. Das Chriſtenthum ſieht in Gott den Vater der Menſchen, in den Menſchen die Kinder Gottes. Damit iſt die Einheit des Menſchen - geſchlechts und die Brüderſchaft aller Völker im Princip anerkannt. Die chriſtliche Religion beugt jenen Stolz der antiken Selbſtgerechtigkeit und fordert Demuth, ſie greift die Selbſtſucht in ihrer Wurzel an und verlangt Entſagung, ſie ſchätzt die Hingebung für Andere höher als die Herrſchaft über Andere. Sie entfernt alſo die Hinderniſſe, welche der Gründung eines antiken Völkerrechts im Wege waren. Ihr höchſtes Gebot iſt die Menſchenliebe und ſie ſteigert dieſelbe bis zur Feindesliebe. Sie wirkt er - löſend und befreiend, indem ſie die Menſchen reinigt und mit Gott ver - ſöhnt. Sie verkündet die Botſchaft des Friedens. Es liegt nahe, dieſe Ideen und Gebote in die Rechtsſprache zu überſetzen und zu Grundſätzen eines humanen Völkerrechts umzubilden, welches alle Völker als freie Glieder der großen Menſchenfamilie anerkennt, für den Weltfrieden ſorgt und ſogar im Kriege für die Menſchenrechte Achtung fordert. Im Mittel - alter war die römiſch-katholiſche Kirche berufen, die chriſtlichen Ideen zu vertreten, ſie hatte die Erziehung der unciviliſirten Völker übernommen. Dennoch hat ſie ein derartiges chriſtliches Völkerrecht nicht hervorge - bracht. Vergeblich ſieht man ſich in dem kanoniſchen Geſetzbuch darnach um. Nur dem Kriegsrecht iſt ein Abſchnitt des alten Decretum Gratiani (II. 23) gewidmet.
Allerdings verſuchten es die Päpſte im Mittelalter, das Amt der oberſten Schiedsrichter über die Fürſten und Völker der abendländiſchen Chriſtenheit ſich zuzueignen. Oefter ſaßen die Päpſte zu Gericht über die Streitigkeiten der Fürſten unter ſich oder mit den Ständen. Wenn ſich nur irgendwie dem Streite eine religiöſe Seite oder eine kirchliche Be - ziehung abgewinnen ließ — und wo wäre das nicht möglich? — ſo hielten ſie ihre Gerichtsbarkeit für begründet. Bald bemühten ſie ſich dann, Vergleiche zu ſtiften, bald ſprachen ſie ihr Urtheil aus. Aber dieſe völker -13Einleitung.rechtliche Stellung der Päpſte litt doch an großen Mängeln. Wo das öffentliche Recht in Frage war, da waren die mächtigen Parteien nicht ge - neigt, ſich dem geiſtlichen Gericht zu unterwerfen, und die Päpſte ver - mochten nicht, den trotzigen Widerſpruch zu beſeitigen, nicht den Wider - ſtand zu brechen.
Es gelang den Päpſten ſo wenig, ihr völkerrechtliches Schiedsrichter - amt durchzuſetzen, als es ihnen glückte, ihren Anſpruch auf Weltherr - ſchaft zu verwirklichen. Auch dieſer Anſpruch hatte eher einen völker - als einen ſtaatsrechtlichen Charakter angenommen, ſeitdem das alte römiſche Weltreich zerriſſen und in eine große Anzahl unabhängiger Fürſtenthümer und Republiken zerfallen war. Die Päpſte begründeten nun dieſen An - ſpruch auf abſolute Weltherrſchaft mit der religiöſen Autorität Gottes, wie die alten römiſchen Kaiſer ihn politiſch mit dem Beruf und Willen des römiſchen Volkes begründet hatten. Der geiſtliche Abſolutismus war aber im Princip eben ſo wenig verträglich mit einer allgemeinen Rechtsordnung, welche die Fürſten und Völker in ihren Rechten ſchützt, als der weltliche. Jener war ſogar gefährlicher, als dieſer, weil er ſeine Vollmacht aus dem unerforſchlichen Willen des allmächtigen Gottes ableitete und nicht wie dieſer in dem ausgeſprochenen Menſchengeſetz eine deutliche Schranke fand. Dennoch war die behauptete göttliche Herrſchaft des Papſtes über die chriſt - lichen Völker ſchwächer als die Hoheit des antiken römiſchen Kaiſers, weil der chriſtliche Papſt grundſätzlich genöthigt war, die Zweiheit von Stat und Kirche anzuerkennen und das weltliche Schwert nicht ſelber hand - haben durfte, ſondern dem Könige überlaſſen mußte. So oft daher eine weltliche Macht dem Papſte ihren Gehorſam oder ihren Beiſtand verſagte, wie das trotz Kirchenbann und Interdict auch im Mittelalter nicht ſelten geſchah, ſo war ſein Spruch und ſein Gebot in ſeiner Wirkſamkeit gelähmt.
Es zeigte ſich aber im Mittelalter noch ein zweites Grundgebrechen, welches jede Geſtaltung eines päpſtlichen Völkerrechts unmöglich machte. Eben die religiöſe Begründung des päpſtlichen Rechts verhinderte dasſelbe allgemein-menſchlich zu werden. Die Kirche verlangte den Glauben als die Grundbedingung auch des Rechts. Nur unter der gläubigen Chriſten - heit ſollte der Friede walten und die Rechtsordnung gelten. Den Un - gläubigen gegenüber kannte das Papſtthum keine Schonung und keine Achtung der Menſchenrechte. Gegen die Ungläubigen war der Krieg die Loſung; man ließ ihnen nur die Wahl zwiſchen Bekehrung oder Ver - tilgung. Jede Ketzerei und den Unglauben auszurotten auf der Erde, das14Einleitung.wurde auf allen Kanzeln als die heilige Pflicht der Chriſtenheit verkündet. Damit iſt aber die menſchliche Grundlage des Völkerrechts im Princip ver - neint. Wenn das Völkerrecht Menſchenrecht iſt, weshalb ſollten denn die ungläubigen Völker ſich nicht ebenſo darauf berufen dürfen, wie die gläu - bigen? Hören ſie denn auf, Menſchen zu ſein, weil ſie andere Vor - ſtellungen haben als die Kirche von Gott und göttlichen Dingen?
Die antike Welt hatte kein Völkerrecht zu Stande gebracht, weil die ſelbſtſüchtigen Völker den Fremden, den Barbaren nicht gerecht wurden, das chriſtliche Mittelalter kam nicht dazu, weil die glaubenseifrigen Völker die Ungläubigen für rechtlos hielten. Die reine Idee der Menſchlichkeit konnte die Welt nicht erleuchten, ſo lange die Atmoſphäre von dem Rauche der Brandopfer verdunkelt war, welche der Glaubenshaß angezündet hatte.
Die zweite beſtimmende Macht des Mittelalters, die Germanen, brachten ebenfalls eine Anlage zu völkerrechtlicher Rechtsbildung mit, aber auch dieſe Anlage gelangte im Mittelalter nicht zu voller Entwicklung. Der trotzige Freiheitsſinn und das lebhafte Gefühl der beſondern Perſön - lichkeit, wodurch die Germanen von jeher ſich auszeichneten, haben einen natürlichen Zug zu allgemeinem Menſchenrecht. Die in zahlreiche Stämme und Völkerſchaften getheilten Germanen waren immer geneigt, auch andern Völkern ein Recht zuzuſchreiben, wie ſie es für ſich in Anſpruch nahmen. In dem Fremden achteten ſie doch den Menſchen und hielten es für billig, daß ein Jeder nach ſeinem angeborenen Stammes - oder ſeinem gewählten Volksrechte beurtheilt werde. Sie erkannten ſo ein Nebeneinander ver - ſchiedener Volksrechte an. Für ſie hatten Perſönlichkeit, Freiheit, Ehre höchſten Werth, aber ſie glaubten nicht im Alleinbeſitz dieſer Güter zu ſein, wenn freilich auch ſie ſich für beſſer und ſchätzenswerther hielten als andere Nationen. Um den Glauben Anderer kümmerten ſie ſich nicht, bevor ſie in die Schule der römiſchen Kirche kamen. Nicht einmal im eigenen Lande machten ſie das Recht vom Glauben abhängig. Sogar im Kriege vergaßen ſie das Recht nicht. Sie betrachteten die Fehde und den Krieg als einen gewaltigen Rechtsſtreit und glaubten, daß Gott dem Rechte zum Siege verhelfe, in der Schlacht wie im Zweikampf. Auch in dem Feinde und in den unterwürfigen Knechten und eigenen Leuten achteten ſie noch immer von Natur berechtigte Menſchen. Sicher ſind das höchſt bedeutſame Anſätze zum Völkerrecht, wie der Belgier Laurent zuerſt und vortrefflich gezeigt hat.
15Einleitung.Aber es fehlte den Germanen anfangs ſowohl an der Einheit des politiſchen Willens und der ſtatlichen Macht als an der nöthigen Geiſtes - bildung, um einem neuen Weltrecht Ausdruck zu geben und Geltung zu verſchaffen. Ihre Sitten waren zu roh, ihr Trotz zu ungefügig, ihre Fäuſte zu derb und ihre Raufluſt zu unbändig. Als ſie aber ſpäter von Rom in die geiſtige und ſittliche Schule und Zucht genommen wurden, bekamen ſie mit der Einheit des Papſtthums und des Kaiſerthums und mit der religiöſen Bildung auch die Mängel der mittelalterlich-römiſchen Inſtitutionen und Ideen, und jene Anſätze konnten nicht mehr zu geſundem und fröhlichem Wachsthum gelangen.
Vergeblich wurde nun das römiſche Kaiſerthum dem deutſchen Königthum aufgepfropft. Die Kaiſer nannten ſich wohl noch Herren der Welt, Könige der Könige, Häupter der ewigen Stadt und Regenten des Erdkreiſes. Auch ſie behaupteten wohl, die oberſten Richter zu ſein über die Fürſten und die Völker, und die Schirmer des Weltfriedens. Aber die weltliche Oberherrlichkeit der Kaiſer wurde in der abendländiſchen Chriſtenheit noch weniger allgemein anerkannt als die geiſtliche der Päpſte. Nicht einmal in Deutſchland und in Italien vermochten die Kaiſer den Landfrieden vor der wilden Fehdeluſt der vielen großen und kleinen Herren nachhaltig zu ſchützen. Um die Weltordnung zu handhaben, dazu reichten ihre Kräfte noch weniger aus. In dem Ideale des Mittelalters herrſchen überall Recht und Gericht; aber in der Wirklichkeit regiert die rohe Ge - walt. Es iſt bezeichnend, daß die „ Zeit des Fauſtrechts “von jedermann auf die mittelalterlichen Zuſtände bezogen wird und daß das Wort auf kein anderes Zeitalter beſſer paßt. Wo aber das Fauſtrecht in Uebung iſt, da hat das Völkerrecht keinen Raum.
Erſt nachdem die kirchlich-päpſtliche Einheit in dem abendländiſchen Europa durch die Reformation des ſechszehnten Jahrhunderts zerbrochen war, wie lange vorher ſchon die weltlich-kaiſerliche Einheit ſich als unaus - führbar erwieſen hatte, bekamen die lange zurück gehaltenen Rechtstriebe Luft. Die Wiſſenſchaft, welche ſich endlich der Herrſchaft des Glaubens entwand, förderte nun zunächſt mit ihrem Lichte ihre Entfaltung. In der That, die Begründung des neueren Völkerrechts iſt voraus ein Werk der Wiſſenſchaft, welche das ſchlummernde Rechtsbewußtſein der civiliſirten Welt aufgeweckt hat. Dann folgte ihr die ſtatsmänniſche Praxis und16Einleitung.übernahm die Pflege und Erweiterung des Völkerrechts. Noch heute ſind beide Kräfte thätig. Bald geht die Wiſſenſchaft voraus, indem ſie völker - rechtliche Grundſätze ausſpricht und erweiſt, bald folgt die Wiſſenſchaft der rüſtiger vorſchreitenden Praxis nach, welche von der Culturſtrömung der Zeit getrieben und von den Bedürfniſſen der Zeit gedrängt ſich entſchließt, neues Recht anzuwenden und ins Leben einzuführen. Wenn es der Wiſſen - ſchaft gelingt, der Menſchheit ihre Rechtsideen als Rechtsvorſchriften klar zu machen, und das Rechtsgefühl der Mächte dieſe Vorſchriften zu beachten beginnt, dann iſt wirkliches Völkerrecht offenbar geworden, geſetzt auch es ſollte nicht überall und nicht ausnahmslos anerkannt werden und die Be - folgung nicht immer zu erzwingen ſein. Ebenſo wenn es der ſtatlichen Praxis glückt, ſei es durch diplomatiſche Verhandlungen oder in der Kriegs - übung oder ſonſt im Leben angeſehener Völker beſtimmte völkerrechtliche Befugniſſe und Pflichten zur Anerkennung und ſtätigen Wirkſamkeit zu bringen, ſo wird auch auf dieſe Weiſe das allmählige Wachsthum des Völkerrechts ſichtbar, obwohl es an einer alle Staten bindenden formellen Autorität und an einer geſicherten Rechtspflege noch fehlt.
Es iſt charakteriſtiſch, daß das Bahn brechende Werk des edeln Hol - länders Hugo de Groot, der mit Recht als der geiſtige Vater des modernen Völkerrechts geehrt wird, im Angeſicht des entſetzlichen Krieges geſchrieben wurde (1622 — 1625), in welchem die deutſche Nation während dreißig Jahren gegen ſich ſelber wüthete. Damals trat der hochgebildete Gelehrte und Statsmann zugleich dem religiöſen Fanatismus entgegen, welcher die Ausrottung der Andersgläubigen als ein gottgefälliges Werk anſah und der brutalen Rohheit, welche ihren Leidenſchaften und Lüſten zügelloſen Lauf verſtattete. Er zeigte der Welt das erhabene Bild eines auf die menſchliche Natur gegründeten und durch die Zuſtimmung der Weiſen und Edeln aller Zeiten geheiligten Rechts, damit ſie ſich wieder ihrer Pflicht erinnere und Mäßigung lerne.
Von Anfang an war das neue Völkerrecht frei von dem antiken Vorurtheil, daß nur das eigene Volk berechtigt, die Fremden aber rechtlos ſeien und ebenſo frei von dem mittelalterlichen Wahne, daß die Gültigkeit des Menſchenrechts abhängig ſei von dem beſonderen Gottesglauben. Mit viel Muth und großem Nachdruck hat ſodann der Nachfolger Groot’s, der Deutſche Pufendorf ebenfalls noch im ſiebzehnten Jahrhundert wider die17Einleitung.kirchlichen Eiferer die Wahrheit verfochten, daß das Natur - und das Völker - recht nicht auf die Chriſtenheit eingeſchloſſen ſei, ſondern alle Völker aller Religionen verbinde, weil alle zur Menſchheit gehören.
Trotz dieſer einleuchtenden Lehren iſt in unſerm civiliſirten Europa der große Fortſchritt der Wiſſenſchaft erſt vor wenig Jahren zu durch - greifender practiſcher Anerkennung gelangt. Noch die ſogenannte Heilige Allianz vom September 1815 wollte ein ausſchließlich chriſtliches Völkerrecht begründen und ſchützen. Allerdings war ſie nicht mehr ganz ſo enge, wie das mittelalterliche Glaubensrecht. Sie unterſchied nicht mehr zwiſchen rechtgläubigen und nicht rechtgläubigen chriſtlichen Bekenntniſſen und beſeitigte die feindliche Scheidung der verſchiedenen Confeſſionen. In ihr verband ſich der katholiſche Kaiſer von Oeſterreich mit dem proteſtanti - ſchen Könige von Preußen und dem griechiſchen Czaren von Rußland. Die verſchiedenen Confeſſionen ſollten nur Eine chriſtliche Völkerfamilie bilden. Aber man wollte doch nicht über die Gränze der Chriſtenheit hinaus gehen und meinte in der chriſtlichen Religion die Grundlage des neuen Völkerrechts zu finden. Die Türkei blieb noch ausgeſchloſſen von der europäiſchen Statengemeinſchaft. Freilich hatte man es ſchon ſeit Jahr - hunderten nicht vermeiden können, auch mit der hohen Pforte völkerrecht - liche Verträge abzuſchließen. Aber erſt auf dem Pariſer Friedenscongreß vom Jahre 1856 wurde die Türkei als ein berechtigtes Glied in die europäiſche Statengenoſſenſchaft aufgenommen und dadurch der allgemein - menſchliche Charakter des Völkerrechts anerkannt.
Seither iſt es auch in der Praxis anerkannt, daß die Gränzen der Chriſtenheit nicht zugleich Gränzen des Völkerrechts ſeien. Unbedenklich breitet ſich dasſelbe über andere muhammedaniſche Staten und ebenſo über China und Japan aus und fordert von allen Völkern Achtung ſeiner Rechtsgrundſätze, mögen dieſelben nun Gott nach der Weiſe der Chriſten oder der Buddhiſten, nach Art der Muhammedaner oder der Schüler des Confucius verehren. Endlich iſt die Wahrheit durchgedrungen: Der re - ligiöſe Glaube begründet nicht und behindert nicht die Rechts - pflicht.
Das moderne Völkerrecht erkennt voraus das Nebeneinander - beſtehen der verſchiedenen Staten an. Es ſoll die Exiſtenz der Staten ſichern, nicht dieſelbe gefährden, ihre Freiheit ſchützen, nicht unterdrücken. Bluntſchli, Das Völkerrecht. 218Einleitung.Aber zugleich legt es allen Staten auch Pflichten auf, indem es ſie als Glieder der Menſchheit verbindet und deshalb von ihnen Achtung vor dem Menſchenrechte fordert. Würde man die Souveränetät der Staten als ein unbegränztes Recht faſſen, ſo würde jeder Stat auch dem andern gegenüber thun können, was ihm beliebte, d. h. es würde das Völkerrecht im Princip verneint. Würde man umgekehrt die Zuſammengehörigkeit der Staten und die Einheit des Menſchengeſchlechts rückſichtslos durch - führen, ſo würde dadurch die Selbſtändigkeit der einzelnen Staten ge - brochen, ihre Eigenart und ihre Freiheit gefährdet, ſie würden am Ende zu bloßen Provinzen des Einen Weltreichs erniedrigt.
Deshalb iſt es nöthig, daß die Fortbildung des Völkerrechts zugleich die Gränzen beachte, welche ſeiner Wirkſamkeit durch das Statsrecht ge - zogen ſind. Aus dieſem Grunde beſtimmt das Völkerrecht zunächſt und hauptſächlich die Rechtsverhältniſſe der Staten unter einander und hütet ſich davor, ſich in die innern Angelegenheiten der Staten ein - zumiſchen. Den Schutz der Privatrechte ſtellt es durchweg den Staten anheim, auch dann wenn dieſe Privatrechte einen allgemein-menſchlichen Charakter haben, und greift nicht in die Handhabung der ſtatlichen Straf - gerichtsbarkeit ein, wenngleich auch hier zuweilen menſchliches Recht in Frage iſt.
Es iſt nicht unmöglich, daß in der Zukunft das Völkerrecht etwas weniger ängſtlich ſein und in manchen Fällen ſich für berechtigt halten werde, zum Schutze gewiſſer Menſchenrechte einzuſchreiten, wenn dieſelben von einer Statsgewalt ſelbſt unterdrückt werden; etwa ſo wie in den Bundesſtaten die Bundesgewalt gewiſſe vorſchriftsmäßige Rechte der Privaten auch gegen die Verletzung von Seite eines Einzelſtates zu ſchützen pflegt. Aber die bisherigen Verſuche völkerrechtlicher Garantien zum Schutze menſchlicher Privatrechte ſind noch ſelten und ſchwach und überall noch hindert die Furcht vor Eingriffen in die Souveränetät der Staten ein energiſches Vorgehen.
Eine derartige Ausnahme enthalten die völkerrechtlichen Maßregeln gegen die Zufuhr von Negerſclaven.
Die meiſten Völker der alten Welt hatten die Sclaverei geduldet. Die römiſchen Juriſten, wohlbewußt, daß das natürliche Menſchenrecht die Freiheit, nicht die Sclaverei ſei, ſuchten dieſe eben mit der allgemeinen Rechtsſitte aller Völker zu rechtfertigen. Auch das Chriſtenthum, obwohl19Einleitung.es den Geiſt der Bruderliebe auch unter Herren und Sclaven weckte, ließ doch die beſtehende Sclaverei als Rechtsinſtitut unangefochten.
Während des Mittelalters wurde in dem germaniſirten Europa die antike Sclaverei in die weniger harte Eigenſchaft umgeſtaltet und all - mählich in die bäuerliche Hörigkeit gemildert, aber es erhielt ſich doch noch bis tief ins achtzehnte, in einzelnen, auch deutſchen Ländern bis ins neun - zehnte Jahrhundert hinein eine erbliche Knechtſchaft der eigenen Leute. In Oſteuropa nahm dieſe bäuerliche Eigenſchaft ſogar in den letzten Jahr - hunderten maſſenhaft überhand und in den europäiſchen Colonien von Amerika erhielt ſogar die ſtrengſte Sclaverei eine neue Geſtalt und An - wendung in der abſoluten Herrſchaft, welche die weißen Eigenthümer über die ſchwarze Arbeiterbevölkerung erkauften, die aus Afrika dahin verpflanzt ward.
In allen dieſen Zeitaltern kümmerte ſich das Völkerrecht niemals darum. Im achtzehnten Jahrhundert noch ſchützte und begünſtigte das freie England die Sclavenzufuhr aus Afrika. Noch im Jahre 1713 ſchämten ſich die engliſchen Statsmänner nicht, in dem Frieden mit Spanien zu Utrecht ausdrücklich auszubedingen, daß es den engliſchen Schiffen geſtattet werde, binnen der nächſten Jahre einige tauſend Neger - ſclaven jährlich in die ſpaniſchen Colonien einzuführen. Sie betrachteten den Menſchenhandel noch als ein vortheilhaftes Speculationsgeſchäft, wofür England ſich Privilegien einräumen laſſen müſſe.
Seit ungefähr einem Jahrhundert finden wir eine entſchiedene Wendung in den Anſichten der civiliſirten Welt. Die Philoſophie und die ſchöne Literatur brachten menſchlichere Grundſätze in Umlauf. Von da an beginnt in allen Ländern ein offener Kampf für die perſönliche Frei - heit wider die Knechtſchaft, und die Geſetzgebung verzeichnet und ſichert die Siege der Freiheit. Die Leibeigenſchaft und Hörigkeit werden theilweiſe vor, theilweiſe nach der franzöſiſchen Verkündung der Menſchenrechte in den weſteuropäiſchen Ländern abgeſchafft.
Jetzt erſt beginnt auch das Völkerrecht die Frage in Betracht zu ziehen; und nun geht England voran in der Bekämpfung der Neger - ſclaverei, welche es ſelber früher großgezogen hatte. Der Wiener Congreß mißbilligt in einer förmlichen Erklärung vom 8. Februar 1815 den von Afrika nach Amerika betriebenen Negerhandel, „ durch welchen Afrika ent - völkert, Europa geſchändet und die Humanität verletzt “werde. Früher ſchon hatten auch die Vereinigten Staten von Amerika dieſen ſchmählichen2*20Einleitung.Seehandel mit ſchwarzen Menſchen geſetzlich verboten. Die Verurtheilung dieſer beſonders gefährlichen und ſchädlichen Art der Sclavenzüchtung durch den Spruch der civiliſirten Menſchheit war nun im Princip entſchieden und damit wenigſtens erwieſen, daß das Rechtsgefühl der Welt humaner und freier geworden war, als es im Alterthum und im Mittelalter geweſen.
Freilich zeigte ſich hier ſofort wieder die große Schwierigkeit alles Völkerrechts, dem Urtheil der civiliſirten Menſchheit Geltung zu verſchaffen, ohne die Freiheit der einzelnen Staten zu gefährden. Zwar ließen ſich die europäiſchen Staten anfangs herbei, der unabläſſigen Beſtürmung der engliſchen Diplomatie das verlangte Viſitationsrecht ermächtigter Kriegsſchiffe gegen verdächtige Sclavenſchiffe innerhalb gewiſſer Meere zuzugeſtehen und inſofern eine Art völkerrechtlicher Seepolicei auch im Friedenszuſtande ein - zuführen. In dieſem Sinne kam der europäiſche Vertrag vom 20. De - cember 1841 zu Stande. Aber dieſes Unterſuchungsrecht begegnete dem Widerſpruch der Vereinigten Staten, welche beſorgten, daß dadurch die Uebermacht der engliſchen Kriegmarine über ihre Handelsmarine verſtärkt und der friedliche Seehandel überhaupt beläſtigt werde. Auch Frankreich ſagte ſich nun wieder los von dem Zugeſtändniß ſolcher Durchſuchung und trat auf den Standpunkt der Vereinigten Staten über, welche es vorzogen, gemeinſam mit England Kreuzer auszurüſten, welche an den afrikaniſchen Küſten zunächſt die eigenen Sclavenſchiffe verfolgen aber ſich hüten ſollten, fremde Kauffahrer zu beläſtigen.
Auf den Vorſchlag der nordamerikaniſchen Bundesregierung kam dann die weitere Verabredung mit England (9. Auguſt 1842) zu Stande, ge - meinſam die Staten, welche noch öffentliche Sclavenmärkte geſtatten, zur Abſtellung dieſes Mißbrauchs zu mahnen. Auch dieſe Maßregel zur Be - freiung der Welt von der Schmach der Sclaverei iſt nicht ohne Wirkung geblieben. Insbeſondere ſah ſich die Ottomaniſche Pforte veranlaßt, dem Andringen der Diplomatie Gehör zu geben.
Neuerdings hat die Aufhebung der Leibeigenſchaft in dem ruſſiſchen Reich durch das Manifeſt des Kaiſers Alexander II. vom 19. Februar 1861 die große Frage endlich für Europa und für einen großen Theil von Aſien zu Gunſten der perſönlichen Freiheit entſchieden. Noch wichtiger iſt der Sieg der Freiheit über die Sclaverei in Nordamerika geworden. Seit - dem die Verwerfung der Sclaverei zu einem Grundgeſetz der Vereinigten Staten erklärt worden iſt (1865), iſt dieſes Inſtitut nirgends mehr auf dem ganzen Welttheil zu halten.
21Einleitung.Es wird daher nicht mehr lange dauern, bis das allgemeine Rechts - bewußtſein der Welt die großen Sätze eines jeden humanen Rechts auch mit völkerrechtlichen Garantien ſchützen wird:
Es giebt kein Eigenthum des Menſchen am Menſchen. Die Sclaverei iſt im Widerſpruch mit dem Rechte der menſchlichen Natur und mit dem Gemeinbewußtſein der Menſchheit.
Noch weniger entwickelt, aber wiederum in den Anfängen ſichtbar, iſt der völkerrechtliche Schutz der religiöſen Freiheit gegen grauſame Verfolgung und Unterdrückung durch den Fanatismus anderer von dem State bevorzugter Religionen. Mit Recht überläßt man den geſetzlichen Schutz der religiöſen Bekenntniß - und Cultusfreiheit den einzelnen Staten und ſcheut ſich bei geringen und zweifelhaften Anläſſen die Selbſtändigkeit des ſtatlichen Sonderlebens anzutaſten. Aber bei großen und ſchweren Verletzungen jenes natürlichen Menſchenrechts bleibt die geſittete Völker - genoſſenſchaft nicht mehr theilnahmelos und ſtumm. Sie äußert zum mindeſten ihre Meinung, giebt Räthe und erläßt Warnungen und Mahnungen. Zuletzt kann eine grobe Mißachtung der Menſchenpflicht zu ernſter Macht - entfaltung auch der Staten führen, welche ſich vorzugsweiſe berufen fühlen, ihre Glaubensgenoſſen oder würdiger noch das allgemeine Menſchenrecht wider die fanatiſchen Verfolger zu ſchützen. Gegenüber der Türkei iſt das bereits in einzelnen Fällen geſchehen. Die europäiſchen Mächte haben wiederholt zum Schutze der chriſtlichen Rajahs völkerrechtlich eingewirkt. Das Aufſehen, welches der kirchliche Raub des jüdiſchen Knaben Mortara auch in dem romaniſchen und katholiſchen Weſteuropa gemacht hat, beweiſt, daß das öffentliche Gewiſſen der heutigen Menſchheit nicht blos dann ſich zu regen anfängt, wenn die eigene Religion gekränkt wird, ſondern auch dann, wenn zu Gunſten der eigenen Religion die heiligen Rechte der Familie verletzt werden.
Geringere Schwierigkeiten ſtanden der Pflege des friedlichen Verkehrs von Stat zu Stat und der Nationen unter einander im Wege. Zu allen Zeiten hatten die Völker — wenige wilde Stämme ausgenommen — mit einander durch Geſandte, als Repräſentanten unterhandelt; und von Alters her wurden dieſe Geſandten erſt durch die Religion, dann durch das Recht22Einleitung.als unverletzlich geſchützt. Aber die Einrichtung ſtändiger Geſandtſchaften in den verſchiedenen Hauptſtädten gehört erſt der neueren Zeit an und iſt in Europa vorzüglich ſeit Richelieu und Ludwig XIV. allgemeine Sitte geworden. In Folge deſſen wurde der fortdauernde Zuſammenhang unter den Staten in dem fortgeſetzten perſönlichen Verkehr ihrer Vertreter lebendig dargeſtellt. Das Völkerrecht erhielt ſo in den Reſidenzen gleichſam einen perſönlichen Ausdruck und eine friedlich wirkende Repräſentation. Es fanden ſich da wie in Knotenpunkten des Weltverkehrs die Diplomaten der verſchiedenen Staten zuſammen und fingen an, als ſogenannte diplo - matiſche Körper ſich als völkerrechtliche Genoſſenſchaften zu fühlen. Wenn auch dabei ſelbſtſüchtige Abſichten mitgewirkt haben, ſo hat doch augen - ſcheinlich die Wirkſamkeit des Völkerrechts durch dieſe Einrichtung ſehr ge - wonnen. Wenn ein Stat ſeine völkerrechtlichen Pflichten offenbar ver - letzen möchte, ſo findet er ſofort in dem diplomatiſchen Körper eine gewiſſe Schranke. Da kein Stat mächtig genug iſt, um die Mißbilligung der civiliſirten Statengeſellſchaft gleichgültig hinzunehmen, ſo wird dieſe Stimme des Völkerrechts nicht leicht überhört. Indem dieſe ſtändigen Geſandt - ſchaften ſich immer weiter über die ganze Erde hin erſtrecken, wächſt der Verband aller Staten zu einer gemeinſamen Weltordnung allmählig heran und die völkerrechtlichen Garantien nehmen an Stärke und Ausdehnung zu.
Außer den Geſandtſchaften hat das neuere Völkerrecht noch das In - ſtitut des Conſulats weiter ausgebildet. Die Zahl der Conſuln iſt viel größer als die der Geſandten und in ſtarker Vermehrung begriffen. Durch die Conſulate wird ſo ein zweites Netz völkerrechtlicher Aemter über die Erdoberfläche ausgebreitet, welche dem friedlichen Verkehr aller Nationen dienen und die Rechtsgemeinſchaft in der Welt beleben. Die Conſuln ſind nicht wie die Geſandten berufen, als eigentliche Stellvertreter der Staten zu handeln, ſie haben vorzugsweiſe die Intereſſen der Privaten in fremden Ländern zu wahren und den heimathlichen Rechtsſchutz auch in der Ferne wirkſam zu machen. Gerade deshalb ſteigt ihre Wichtigkeit in dem Maße, in welchem der internationale Verkehr reicher und belebter wird.
Zuerſt haben die Bedürfniſſe und Intereſſen des Handels die Kauf - leute veranlaßt, ins Ausland zu gehen und mit Fremden zu verkehren. Daher ſind die Conſulate anfangs nur als Handelsconſulate gegründet worden. Auch heute noch iſt der Handelsverkehr die wichtigſte Beziehung von Nation zu Nation. Aber er iſt es heute ſchon nicht ganz mehr, wie früher. Es giebt bereits eine Menge von Culturbeziehungen aller Art,23Einleitung.welche die Nationen ebenfalls verbinden. Nicht einmal mehr die Mehrzahl der Reiſenden ſind Kaufleute. Die verſchiedenſten Urſachen beſtimmen die Privaten, vorübergehend fremde Länder zu beſuchen, oder ſich auf längere Zeit auswärts niederzulaſſen, Intereſſen der Bildung, der Wiſſenſchaft, der Kunſt, der Landwirthſchaft, des Vergnügens, der Verwandtſchaft u. ſ. f. Auch dieſe Maſſe von Nichtkaufleuten tritt in den Rechtsverkehr mit den Ausländern und bedarf gelegentlich der Förderung und des Schutzes in der Fremde. Die Conſuln ſind berufen, auch dieſen Claſſen nöthigenfalls beizuſtehen.
Indem ſo der Geſchäftskreis der Conſuln erweitert und ihre Ge - ſchäftslaſt vergrößert ward, genügten nicht überall mehr die alten Handels - conſuln, welche nur nebenher das Conſulat verwalteten. Man konnte dem Kaufmann nicht zumuthen, daß er neben ſeinem eigenen Handel die man - nigfaltiger, ſchwieriger und zahlreicher gewordenen Geſchäfte des Conſulats unentgeltlich als Ehrenpflicht beſorge, und man ward genöthigt, an den begangenſten Plätzen und in den Hauptſtädten, wo man keine Geſandt - ſchaften unterhielt, für beſoldete Generalconſuln zu ſorgen, welche dann das Conſulat als Hauptberuf verwalteten. Das ſo im Wachsthum begrif - fene Conſulat iſt augenſcheinlich noch der Hebung und Steigerung fähig und ganz geeignet, die friedlichen und freundlichen Beziehungen der Na - tionen unter einander und mit den Staten vielfältig zu ſichern und zu fördern. Um den erſten Ring der Geſandtſchaften wird ſo ein zweites wei - teres Band geſchlungen, welches die Gemeinſchaft der Welt pflegt.
Die friedlichen Siege des neueren Völkerrechts haben voraus die Zuſtände der Fremden ſehr verbeſſert. Die antiken Völker waren noch wie die Barbaren geneigt, die Fremden wie Feinde zu betrachten und für rechtlos zu halten, wenn ſie nicht von dem Schutz eines einheimiſchen Gaſtfreundes oder von der Schirmhoheit eines mächtigen Patrons gedeckt waren. Die Verbannung in die Fremde, das Exil, galt daher als Verſtoßung ins Elend. Auch das Mittelalter behandelte die Fremden noch mit offenbarer Ungunſt. Die Fremden waren genöthigt, einen unſicheren Rechtsſchutz der Landesherren und der Gemeinden mit ſchwerem Gelde zu bezahlen; wollten ſie ihr Vermögen wieder aus dem Lande wegziehen, ſo mußten ſie auch24Einleitung.den Wegzug mit Procenten des Vermögenswerthes erkaufen; ſtarben ſie in dem für ſie fremden Lande, ſo pflegte die Herrſchaft auch auf ihre Verlaſſenſchaft zu greifen und dieſelbe wie herrenloſes Gut an ſich zu ziehen oder doch die Wegfahrt der Erben mit erheblichen Abzügen zu belaſten.
Das Alles iſt anders und beſſer geworden. Die Fremden werden nun in der civiliſirten Welt in ihren Menſchenrechten geachtet und in den wichtigſten Beziehungen des Privatrechts und des Verkehrs den Einheimi - ſchen durchweg gleichgeſtellt. Die Barbarei des Wildfangs - und des Heim - fallsrechts iſt endlich aus Europa verſchwunden. Zahlreiche Staatenverträge haben die Abzugsrechte gänzlich abgeſchafft und ſichern die Freizügigkeit. Der deutſche Privatmann lebt in Paris oder in New-York oder in Calcutta eben ſo ſicher wie in Berlin oder in München. Zahlloſe Fremde aus allen Ländern der Welt wohnen in allen Welttheilen unter einander ge - miſcht friedlich beiſammen und fühlen ſich in Perſon, Vermögen und Ver - kehr nicht minder geſchützt als in der Heimat. Mit dem Aufſchwung der Transportmittel hat auch die gemeinſame Rechtsbildung Schritt gehalten. Auch ſie hat die nationale Iſolirtheit durchbrochen und ein internationales Verkehrsrecht geſchaffen, von dem ſich kein Stat abſchließen kann. Wollte er daſſelbe mißachten, ſo würde er nicht blos die Mißbilligung der civili - liſirten Welt auf ſich laden, ſondern auch in Gefahr ſein, zur Rechenſchaft gezogen zu werden, damit er lerne, in den Fremden die Menſchen und in dem Verkehr der Nationen die Gemeinſchaft der Völker zu achten. Der Gedanke des Weltbürgerrechts, den Kant als eine ideale Hauptfor - derung des neuen Völkerrechts ausgeſprochen, hat heute ſchon zum Theil eine reale Wahrheit, und dieſes Weltbürgerrecht iſt ſo wenig unverträglich mit dem beſondern Statsbürgerrecht, als dieſes mit dem Gemeinde - und Ortsbürgerrecht.
Nur in dem Innern der großen Continente von Aſien und beſon - ders von Afrika, wohin die Civiliſation noch nicht mit Macht vorgedrungen iſt, dauert einſtweilen noch die früher allgemeine Verneinung des Fremden - rechtes fort, gewiß nicht lange mehr. Mit vollem Rechte nimmt ſich jeder Stat ſeiner Bürger auch in der Fremde inſofern an, als dieſelben gegen Rechtsverweigerung und Gewaltthat ſeines Schutzes bedürfen. Der Stats - ſchutz iſt nicht an die Gränzen des Statsgebietes gebannt. Die Verbin - dung der Staten und die Einheit der Menſchheit zeigen ſich auch darin, daß die ſchützenden Arme der Statsgewalt überall hin auf der Erdober -25Einleitung.fläche ſo weit ſich ausſtrecken, als es mit der rechtlichen Selbſtändigkeit anderer Staten verträglich iſt. Dieſer ſtatliche Rechtsſchutz in der Fremde iſt zuweilen von mächtigen Staten anmaßlich und übermüthig überſpannt worden, aber im Großen und Ganzen iſt es doch ein großer Fortſchritt eines wirkſamen Völkerrechts, daß der internationale Verkehr und die Rechtsſicherheit der Fremden nicht der Willkür einer launiſchen Statsgewalt Preis gegeben und Staten, welche dieſe Rechte verletzen, zur Genugthuung und Entſchädigung angehalten werden.
Selbſt die völlige Abſchließung und Iſolirtheit eines States wider jeden Fremdenverkehr, in früherer Zeit als ein ſelbſtverſtändliches Recht eines ſouveränen States betrachtet, erſcheint dem heutigen Rechts - bewußtſein als eine Verletzung des natürlichen Menſchenrechts, welches für alle Nationen einen geſicherten Rechtsverkehr fordert, damit die Menſchen - anlage zu voller und reicher Entfaltung gelangen und ſo die Beſtimmung des Menſchengeſchlechts erfüllt werden könne. In den letzten Jahrhunderten hatte ſich ſo die oſtaſiatiſche Welt gegen die europäiſch-amerikaniſche völlig abgeſchloſſen. Die chineſiſchen und japaniſchen Seehäfen und Handels - ſtädte blieben lange Zeit den Schiffen und Kaufleuten der chriſtlichen Nationen verſperrt. Aber in unſern Tagen ſind auch dieſe trennenden Schranken vor der zwingenden Macht des erſtarkten menſchlichen Völker - rechts gefallen und die oſtaſiatiſchen Reiche in die Handels - und Verkehrs - gemeinſchaft mit den Europäern und Amerikanern eingetreten. Im Jahre 1842 hat England das chineſiſche Weltreich zuerſt genöthigt, in dem Frie - den von Nanking ſeine Häfen wieder zu öffnen, und im Jahre 1858 haben die Vereinigten Staaten von Nordamerika zuerſt wieder Japan dem Weltverkehr erſchloſſen. Seither berühren ſich und wirken auf einander die chriſtlich-moderne und die oſtaſiatiſche alte Civiliſation, und das Völker - recht hat wiederum einen gewaltigen Fortſchritt zum allgemeinen Weltrecht gemacht.
Würde ſich die Luft nicht jeder menſchlichen Abſperrung im Großen entziehen, ſo hätte ſicherlich die ſouveräne Selbſtſucht der Einzelſtaten auch die Luft über ihrem Lande als ihr ausſchließliches Eigenthum anzuſprechen hier oder dort den Verſuch gemacht. Aber die Staten haben keine Gewalt26Einleitung.über die mächtige Bewegung der Luftſtröme, welche unbekümmert um alle Landesgränzen ihren Weg nehmen. Auch das Meer und die öffentlichen Gewäſſer ſind von der Natur mit einander verbunden und, wenn ſie auch die Länder zuweilen trennen, ſo dienen ſie doch zugleich, den Verkehr der verſchiedenen Nationen zu erleichtern. Sie verbinden auch die Küſten und Ufer, welche ſie beſpülen. Da haben es aber die Staten wirklich lange verſucht, ihre Alleinherrſchaft möglichſt weit auch über die Gewäſſer auszu - dehnen und die Freigebigkeit der gemeinſamen Natur ausſchließlich für ſich auszubeuten. Sogar über das offene Meer hin wollte die mittelalterliche Statshoheit ihr Eigenthum ausbreiten. Die Republik Genua nahm über das liguriſche, Venedig über das adriatiſche Meer eine ausſchließliche See - herrſchaft in Anſpruch. Die Könige von Spanien und Portugal behaup - teten, die weſtindiſchen Meere gehören ihnen allein zu, weil der Papſt Alexander VI., dem dieſe Meere ſo wenig als die weſtindiſchen Länder jemals gehört hatten, ihnen dieſelben geſchenkt habe. Als Hugo de Groot zuerſt dieſe ſinnloſe Anmaßung widerlegte und für die „ Freiheit der Meere “ſeine Fürſprache unternahm, mußte er noch mancherlei hergebrachte Miß - bräuche ſchonen. Lange nachher noch und bis ins achtzehnte Jahrhundert hinein wollte England über die Meere, welche die Großbritanniſchen Inſeln umſchließen, eine ausſchließliche Seehoheit behaupten.
Dem langſamen aber ſtätigen Wachsthum der völkerrechtlichen Er - kenntniß haben endlich alle dieſe anmaßenden Uebergriffe weichen müſſen. In dem heutigen Rechtsbewußtſein der civiliſirten Welt haben die beiden wichtigen Sätze feſte Wurzeln: Kein Stat hat eine beſondere Seehoheit über die offene See. Die unter einander verbundenen Meere ſind der freien Schiffahrt aller Nationen offen.
Vor wenig Jahren erſt ſind einige letzte Reſte der älteren ſelbſtſüch - tigen Beſchränkung und Ausbeutung weggeräumt worden. Das Marmor - meer, obwohl es von den Türkiſchen Küſten umſchloſſen iſt und ſeine enge Einfahrt leicht von den Dardanellenſchlöſſern beherrſcht werden kann, und das Schwarze Meer, welches Rußland für ſich in Beſchlag zu nehmen bemüht war, ſind durch die Friedensſchlüſſe von Adrianopel (1829) und Paris (1856) der freien Schiffahrt aller Nationen geöffnet worden. Noch im Jahre 1841 wurde der Sundzoll, den Dänemark von den Seefahrern zwiſchen der Nordſee und der Oſtſee ſeit Jahrhunderten erhob, als her - kömmliches und in vielen Statsverträgen beſtätigtes Recht von den meiſten27Einleitung.Seemächten anerkannt. Aber als endlich die Vereinigten Staaten erklärten, ſie werden dieſes geſchichtliche Recht, welches dem natürlichen Recht der freien Seefahrt widerſtreite, nicht ferner reſpectiren, ließ ſich auch Dänemark willig auf den anerbotenen Loskauf mit den europäiſchen Staten ein. Die Freiheit der Meere ward nun auch in dieſem Falle anerkannt.
Nachdem einmal der natürliche Zuſammenhang der öffentlichen Ge - wäſſer und ihre Beſtimmung, der Schiffahrt aller Nationen zu dienen, erkannt und anerkannt war, führten dieſe Gedanken zu weitern Befrei - ungen. Man mußte zugeſtehen, daß die Gebietshoheit ſich nicht ganz auf den feſten Erdboden beſchränken läßt. Mehr noch als der naſſe Küſten - ſaum am Meere, und als die Buchten und Rheden, welche vom Feſtland her theilweiſe beherrſcht werden, gehören die großen Ströme und Flüſſe, welche durch ein Land fließen oder ſeine Gränze bilden, und die Häfen, welche durch öffentliche Werke geſchützt ſind, damit ſie hinwieder die Schiffe ſchützen können, einem beſtimmten Statsgebiete zu und ſind der Aufſicht und Sorge des Einzelſtates unterworfen. Sie ſind ein fließender Theil des Landes, und nicht wie das offene Meer frei von jeder beſondern Statshoheit.
Allein neben jener Zutheilung zu einem Sondergebiete muß auch die natürliche Verbindung der ſchiffbaren Ströme, Flüſſe, Seen, Häfen mit der offenen See beachtet werden, und inſoweit iſt jene aus - ſchließliche Gebietshoheit durch die Rückſicht auf die Verkehrsgemeinſchaft zu ermäßigen und abzuändern. Von dem freien und offenen Meere her fahren die Schiffe der verſchiedenen Nationen in die Seehäfen und in die Flüſſe der Staten ein. Die Freiheit des internationalen Verkehrs wäre gehemmt und die Gemeinſchaft in der Benutzung öffentlicher Gewäſſer wäre geſtört, wenn jeder Stat willkürlich alle ſeine Häfen und Flüſſe für fremde Schiffe unzugänglich machen dürfte. Wenn ein Fluß durch mehrere Stats - gebiete hindurch fließt, um ſich ins Meer zu ergießen, ſo könnten die einen Staten, inſofern ihre Gebietshoheit nicht beſchränkt würde, die andern von dem Seeverkehr abſperren, und die Gewäſſer würden ihrer natürlichen Beſtimmung, die Nationen zu verbinden, entfremdet.
Zuerſt wurde dieſe neue Forderung des Völkerrechts, daß der Zu - ſammenhang der öffentlichen Gewäſſer beachtet und die Freiheit der Schiff - fahrt geſchützt werde, im Pariſerfrieden von 1814 in Anwendung auf die Rheinſchiffahrt ausgeſprochen und zugleich eine allgemeine Durchführung des Princips auf allen europäiſchen Flüſſen in Ausſicht geſtellt. Es war haupt -28Einleitung.ſächlich das Verdienſt des Preußiſchen Geſandten, Wilhelms von Humboldt, dieſen Fortſchritt der völkerrechtlichen Verkehrsgemeinſchaft anzutragen. Die Wiener Congreßacte von 1815 (Art. 108 ff. ) verkün - dete ſodann die Freiheit der Schiffahrt auf allen ſchiffbaren Flüſſen, welche zwei oder mehrere Gebiete durchſtrömen, und wendete dieſen Grundſatz ausdrücklich auch auf die ſchiffbaren Nebenflüſſe des Rheins an, ferner auf die Schelde, deren Mündungen lange Zeit durch die Holländer für die Belgiſchen Schiffe geſperrt waren, die Maas, die Elbe, die Oder, die Weſer, die Weichſel und den Po. Von da an mußten allmählig die mancherlei aus dem Mittelalter überlieferten Flußzölle der wachſenden Freiheit weichen und ſowohl die Uferſtaaten als die Seemächte hatten nun ein feſtes Princip gewonnen, von welchem aus ſie alle herkömmlichen Be - ſchwerden und Gebühren bekämpften, durch welche der Schiffahrtsverkehr belaſtet und gehemmt war. Nur ſolche Gebühren blieben gerechtfertigt, welche als Gegenleiſtung erſchienen für nothwendige oder nützliche Dienſte. Später erſt nahmen die Donauſtaten das neue Princip an. Aber endlich wurde durch den Pariſer Frieden von 1856 auch die Donau den Schiffen aller Nationen geöffnet.
Die Logik des Gedankens nöthigt uns, dieſelbe Freiheit der Schiff - fahrt auch bezüglich der Flüſſe zu fordern, welche nur durch Ein Stats - gebiet fließen, aber, indem ſie ins Meer münden, von Natur dem Welt - verkehr dienen. Dieſe Forderung iſt aber zur Zeit noch nicht allgemein anerkannt. Mancher Stat verweigert heute noch fremden Schiffen die Benutzung ſeiner Eigenflüſſe, während er für ſeine Schiffe die freie Schif - fahrt auf Flüſſen fordert, deren Waſſer nirgends ſeine Ufer beſpült, die durch mehrere fremde Statsgebiete fließen. Das iſt ein auffallender und grober Widerſpruch. Weshalb ſollte Ein Stat mehr Recht haben an ſeinem Eigenfluſſe, als die ſämmtlichen Uferſtaaten zuſammen an ihrem Gemeinfluſſe? Wenn dieſe genöthigt ſind, ihre Flüſſe dem Weltverkehr zu öffnen, warum ſollte jener ſeine Flüſſe gegen den Welthandel abſperren dürfen? Wie ſollten die fremden Schiffe, welche völkerrechtlich befugt ſind, einen Gemeinfluß zu befahren, dieſe Befugniß verlieren, wenn in Folge von Gebietsabtretungen, Ein Stat in den Beſitz des ganzen Fluſſes ge - langt? Sollte z. B. der Po der Schiffahrt offen ſtehen, ſo lange er durch mehrere Statsgebiete fließt, und abgeſperrt werden können, wenn er ganz und gar in den Beſitz des Königreichs Italien kommt? Der Miſſiſſippi war im vorigen Jahrhundert noch ein Gemeinſtrom, an dem auch England und29Einleitung.Spanien Theil hatten und gehört heute ganz den Vereinigten Staten zu. Hat er in Folge deſſen ſeine Natur verändert und iſt ſeine Bedeutung für den Weltverkehr geringer geworden? Jene Unterſcheidung zwiſchen der freien Schiffahrt auf mehrſtatlichen Weltſtrömen und der unfreien Schiffahrt auf einſtatlichen Weltſtrömen iſt alſo unhaltbar.
Gerathen zwei Staten in einen ernſten Rechtsſtreit mit einander, ſo ſind ſie noch immer geneigt, in Ermanglung eines völkerrechtlichen Gerichts - hofs, den Weg der Selbſthülfe zu betreten, und die äußerſte Selbſthülfe iſt der Krieg. Es iſt das ohne Zweifel noch eine barbariſche Seite der heutigen Weltordnung, und wir müſſen zugeſtehen, daß in dieſer höchſt wichtigen Hinſicht die Fortſchritte des Völkerrechts noch beſchämend klein ſind. Wir können höchſtens einige unentwickelte Keime zu einer civiliſir - teren Rechtspflege entdecken. Auf dem Pariſer Congreſſe von 1856 gaben die verſammelten Mächte im Intereſſe des Friedens den Wunſch zu Pro - tokoll, daß die Staten, unter denen ein Streit ſich erhebe, nicht ſofort zu den Waffen greifen, ſondern zuvor die guten Dienſte einer befreun - deten Macht anrufen möchten, um den Streit friedlich zu ſchlichten. Man wagte nicht, den Wunſch als Rechtsforderung auszuſprechen, und die Mächte wollten ſich ſelber nicht binden.
Vielleicht wird, was hier gewünſcht ward, ſpäter in eine völkerrecht - liche Rechtspflicht umgewandelt, ebenſo wie in manchen Ländern die Rechts - ſtreite der Privatperſonen vorerſt an einen Friedensrichter zum Sühnever - ſuch gebracht werden müſſen, bevor ſie gerichtlich im Proceß verfolgt werden dürfen. Es wäre damit der Krieg nicht verhindert, aber eine neue Ga - rantie für den Frieden gewonnen.
In den Statenbünden gibt es auch kein Bundesgericht, welches zu - ſtändig wäre, über die Streitigkeiten zwiſchen den verbündeten Einzelſtaten zu urtheilen. Da kennt man ſeit Jahrhunderten das Verfahren vor Schiedsrichtern oder Austrägen, welche den Proceß ohne Krieg durch Rechtsſpruch erledigen. Den Einzelſtaaten iſt es oft zur Pflicht ge - macht, dieſen ſchiedsrichterlichen Weg zu betreten und ſich aller kriegeriſchen Gewalt zu enthalten. Auch unter nicht verbündeten Staten wird zuweilen dieſes Mittel der Rechtspflege benutzt, aber eine allgemeine Rechtspflicht dazu beſteht noch nicht. Vielleicht wird es einem der nächſten völkerrecht -30Einleitung.lichen Congreſſe gelingen, wenigſtens für gewiſſe Streitfragen die Pflicht des ſchiedsrichterlichen Verfahrens auszuſprechen und dieſes zugleich in ſeinen Grundzügen zu ordnen.
Es giebt Streitigkeiten, für welche die letzte Rechtshülfe der Krieg vernünftiger Weiſe unmöglich iſt. Dahin gehören durchweg alle Ent - ſchädigungs - und alle Etikette - und Rangfragen. Der Werth des Streites ſteht in ſolchen Fällen in einem allzu großen Mißverhältniſſe zu den noth - wendigen Kriegskoſten und zu den unvermeidlichen Kriegsübeln, als daß ein Stat, der bei geſunden Sinnen iſt, ſich entſchließen möchte, zu dieſem Mittel zu greifen. Für derartige Fälle ſollte immer ein friedliches Schieds - gericht angerufen werden können; ſonſt bleiben ſie unerledigt und verbittern die Stimmung auf die Dauer. Freilich iſt es nicht leicht, geeignete Richter zu finden. Wählt man eine neutrale große Macht, ſo iſt man doch nicht ſicher, daß dieſelbe auch ihre eigenen politiſchen Intereſſen und Neigungen bei dem Schiedsſpruch in die Wage lege. Man iſt auch nicht ſicher, daß der gewählte Fürſt, auch wenn er kein eigenes Intereſſe hat, geeignete Berather beiziehe; die zugezogenen aber bleiben oft verborgen und daher unverantwortlich. Den ordentlichen Gerichtshöfen, an die man ſich wenden könnte, fehlt meiſtens die völkerrechtliche Bildung und die freie ſtatsmänniſche Praxis. Profeſſor Lieber hat neulich in dem engliſch-nordamerikaniſchen Streit über die Frage, ob England für Schaden einzuſtehen habe, welcher von ſüdſtatlichen in England ausgerüſteten Kreuzern verübt worden, den Vorſchlag gemacht, das Urtheil einer der angeſehenſten Juriſtenfacultäten anzuvertrauen, deren Mitglieder doch ihre wiſſenſchaftliche Ehre einzuſetzen haben. Vielleicht könnte zum voraus auf Vorſchläge von Juſtizminiſtern und Juriſtenfacultäten eine Geſchwornenliſte von völkerrechtlich gebildeten Männern gebildet werden, aus der im einzelnen Fall — etwa unter der formellen Leitung eines neutralen Statshaupts (Fürſten oder Präſidenten) als Richters, die Urtheiler bezeichnet würden.
Man ſieht, auf dieſem Gebiete ſucht man noch taſtend nach fried - lichen Rechtsmitteln.
Seine herrlichſten Siege hat der humane Geiſt des modernen Völker - rechts gerade da erfochten, wo dem Rechte gewöhnlich die geringſte Macht31Einleitung.zugeſchrieben wird. Im Kriege nämlich tritt die maſſive Gewalt wider die Gewalt in den Kampf und die feindlichen Leidenſchaften ringen mit einander auf Leben und Tod. Eben in dieſem wilden Stadium des Völkerſtreites gilt es vor allen Dingen, die civiliſatoriſche Macht des Völkerrechts zu zeigen. In der That, ſie hat ſich in der Ausbildung eines civiliſirten Kriegsrechts, durch welches die alte barbariſche Kriegs - ſitte großentheils verdrängt und unterſagt wird, glänzend bewährt. Die Kriege ſind menſchlicher, geſitteter, milder geworden, und nicht blos that - ſächlich durch die veredelte Kriegsübung, ſondern ebenſo rechtlich durch die Vervollkommnung des Völkerrechts.
Die alten Völker betrachteten die Feinde, mit denen ſie im Kriege waren, als rechtloſe Weſen und hielten Alles gegen ſie für erlaubt. Dem heutigen Rechtsbewußtſein iſt es klar, daß die Menſchenrechte auch im Kriege zu beachten ſind, weil die Feinde nicht aufgehört haben, Menſchen zu ſein.
Bis auf die neueſte Zeit dehnte man überdem den Begriff des Feindes ungebührlich aus und behandelte höchſtens aus ſittlichen oder politiſchen Rückſichten, aber keineswegs aus Rechtsgründen, die unkriegeriſche Bevölkerung des[feindlichen] States mit einiger Schonung. Noch Hugo de Groot und Pufendorf betrachten es als hergebrachte, auf dem Con - ſens der Völker beruhende Rechtsſätze, daß alle Statsangehörigen der beiden Kriegsparteien, alſo auch die Weiber, die Kinder, die Greiſe, die Kranken Feinde und daß die Feinde als ſolche der Willkür des Siegers unterworfen ſeien.
Erſt die ſchärfere Unterſcheidung des heutigen Rechtsbewußtſeins hat den Grundgedanken klar gemacht, daß der Krieg ein Rechtsſtreit der Staten, beziehungsweiſe politiſcher Mächte und keineswegs ein Streit zwiſchen Privaten oder mit Privaten ſei. Dieſer Unterſchied, den die Wiſſenſchaft erſt begriff, als ihn zuvor die Praxis thatſächlich beachtet hatte, zieht eine Reihe der wichtigſten Folgerungen nach ſich.
Jedes Individuum nämlich ſteht in einem Doppelverhältniß. Ein - mal iſt es ein Weſen für ſich, d. h. eine Privatperſon. Als ſolche hat es einen Anſpruch auf einen weiten Kreis von perſönlichen Familien - und Vermögensrechten, mit Einem Wort auf ſein Privatrecht. Da nun der Krieg nicht gegen die Privaten geführt wird, ſo giebt es auch keinen Rechtsgrund, nach welchem das Privatrecht im Kriege untergehen oder der Willkür des Feindes bloßgeſtellt werden ſollte.
32Einleitung.Sodann iſt jedes Individuum ein Glied und Angehöriger einer Statsgemeinſchaft. Inſofern iſt es allerdings mitbetheiligt bei dem Streite ſeines Stats. Das Schickſal des Vaterlandes iſt den Kindern des Landes nicht fremd. Sie nehmen Theil an den Erfolgen und an den Leiden des States, dem ſie angehören. Sie ſind auch durch ihre Bürger - pflicht verbunden, dem State in der Gefahr Beiſtand zu leiſten mit Gut und Blut. In dem ganzen Bereich des öffentlichen Rechts ſind alle Statsangehörigen dem State verpflichtet.
Aus dieſer Unterſcheidung ergeben ſich folgende Hauptſätze des mo - dernen Völkerrechts: Die Individuen ſind als Privatperſonen keine Feinde, als Statsangehörige ſind ſie betheiligt bei der Feindſchaft der Staten. So weit das Privatrecht maßgebend iſt, dauert alſo das Friedensverhältniß und das Friedensrecht fort. So weit das öffentliche Recht entſcheidet, iſt das Feindesverhältniß ein - getreten und wirkt das Kriegsrecht.
In Folge dieſer Grundſätze ſind die Gefahren, welche der Krieg über die friedliche Bevölkerung herbei zieht, ſehr viel geringer geworden.
Im Alterthum waren auch die wehrloſen Perſonen, die Frauen und Kinder, in ſtäter Gefahr, von den feindlichen Kriegern mißhandelt, zu Sclaven gemacht und verkauft oder getödtet zu werden. Der politiſche Verſtand der Römer hielt dieſelben in den meiſten Kriegen ab, von dieſem vermeintlichen Recht einen ausgedehnten Gebrauch zu machen, denn ſie wollten die Völker beherrſchen, nicht vertilgen; aber die römiſchen Rechts - gelehrten hatten nicht den geringſten Zweifel an dem Rechte zu ſolchen Handlungen. Nur die Götter und ihre Tempel gewährten einigen Schutz vor der Rohheit und dem Blutdurſt der ſtürmenden Krieger; aber auch dieſer Schutz war unſicher und auf ſehr enge Gränzen beſchränkt.
Auch im Mittelalter gab es keine ſchützende Rechtsregel. Die eigent - liche Sclaverei war nicht mehr in den Sitten, außer etwa zum Nach - theil kriegsgefangener Muhammedaner. Aber die Rohheit war größer als in dem civiliſirteren Römerreiche. Auch friedliche Leute waren der äußerſten Gewaltthat und ſelbſt dem Tode ausgeſetzt, wenn der Feind mit Kriegs - gewalt ihr Land überzog. Der dreißigjährige Krieg noch iſt mit allen Gräueln ſoldatiſcher Barbarei befleckt.
Der humane Groot wagt es noch nicht, ſolcher Miſſethat das Brandmal der völkerrechtlichen Verurtheilung aufzudrücken. Im Gegen - theil, er erkennt noch die völkerrechtliche Erlaubniß dazu an und mißbilligt33Einleitung.dieſe Barberei nur aus moraliſchen und vernünftigen Gründen. Die ein - zige völkerrechtliche Schranke findet er in dem Verbot, die Frauen zu miß - brauchen, zu welchem endlich das chriſtliche Völkerrecht ſich entſchloſſen habe.
Das heutige Völkerrecht verwirft den Gedanken einer abſoluten Will - kürgewalt über die Privatperſonen vollſtändig und geſtattet weder Miß - handlung noch Beleidigung, am wenigſten Tödtung derſelben. Das Recht der perſönlichen Sicherheit, der Ehre, der Freiheit iſt Privatrecht und dieſes bleibt im Kriege unverſehrt. Die feindliche Kriegsgewalt iſt nur zu den Maßregeln befugt, welche zu Statszwecken dienen und im Intereſſe der Kriegsführung liegen. Sie kann die freie Bewegung der Privaten hemmen, den Privatverkehr unterbrechen, Straßen und Plätze abſperren, die Einwohner entwaffnen u. ſ. f. Wie das Privatrecht ſich dem ge - waltigeren Rechte der Geſammtheit, d. h. dem Statsrecht auch im Frieden unterordnen muß, aber doch nicht von dem öffentlichen Rechte aufgehoben und verſchlungen werden darf, ſo legt das öffentliche Kriegsrecht ſeine noth - wendigen Gebote auch den Privaten auf, aber es erkennt zugleich das Privatrecht an. Die allgemeine Noth und Gefahr, welche der Krieg auch über die Privaten verhängt, iſt ohnehin groß und ſchadet genug; die un - vermeidlichen Leiden der Bevölkerung dürfen daher nicht grund - und zweck - los durch vermeidliche Uebel vergrößert und erſchwert werden. Freilich wird auch jetzt noch die Rechtsregel in der Praxis nicht immer genau be - folgt, und mancherlei Ungebühr wird noch ſtraflos im Kriege gegen Pri - vaten verübt. Aber im Großen und Ganzen iſt es wahr, daß die fried - lichen Bewohner einer Stadt oder ſelbſt eines Dorfes und einzelner Höfe dem Gang der Kriegsereigniſſe mit weit mehr Ruhe entgegenſehen dürfen, als in irgend einer früheren Periode der Geſchichte. Es iſt ein großes Verdienſt Vattel’s, daß er zuerſt der humaner werdenden Kriegsübung der ſtehenden Heere auch einen völkerrechtlichen Ausdruck gegeben und durch ſeine klare Darſtellung des neueren Völkerrechts gerechtere Grundſätze populär gemacht hat.
In einer andern Lage freilich ſind diejenigen Perſonen, welche an der Kriegsführung ſelbſt einen thätigen Antheil nehmen, voraus das Heer und wer ſonſt mit den Waffen oder durch perſönliche Dienſte den Kampf unterſtützt. Nach der ältern wiederum barbariſchen Theorie ſprach man hier von einem Recht der Kriegsgewalt über Leben und Tod ihrer activen Feinde. Das humane Völkerrecht von heute verwirft auch dieſes angebliche Recht der Gewalt als grundlos.
Bluntſchli, Das Völkerrecht. 334Einleitung.Allerdings wer an dem Kampfe Theil nimmt, freiwillig oder ge - zwungen, der iſt den Gefahren des Kampfes Preis gegeben und dieſer Kampf wird auf Leben und Tod geführt. So weit das natürliche Recht des Kampfes reicht, ſo weit muß auch das Recht gehen, den kämpfenden Feind zu tödten, aber nicht weiter. Jenes Recht aber iſt bedingt durch die rechtliche Bedeutung und begränzt durch den Zweck des Kriegs. Nie - mals darf der Krieg mit ſeiner furchtbaren Gewalt ſelber Zweck ſein. Er iſt immer nur ſtatliche Rechtshülfe und ein Mittel für Statszwecke. Des - halb iſt die Kriegsgewalt keine abſolute. Sie findet demnach von Rechts wegen ihre Gränze und ihr Ende, wo ſie nicht mehr dem Statszweck dient.
Es iſt daher erlaubt, den Feind, der Widerſtand leiſtet, mit tödt - lichen Geſchoſſen zum Weichen zu nöthigen, erlaubt, den bewehrten Gegner im Einzelkampfe zu tödten, erlaubt, den fliehenden Feind zu verfolgen, weil das Alles nöthig iſt, um den Sieg zu erſtreiten und zu ſichern. Aber es iſt nicht erlaubt, den Feind, der ſeine Waffen ablegt und ſich ergiebt, oder der verwundet auf dem Schlachtfelde liegt und unfähig iſt, den Kampf fortzuſetzen, und nicht erlaubt, die Aerzte, Feldgeiſtlichen und andere Nichtkämpfer einzeln zu tödten, weil das nicht nöthig iſt, um den Sieg zu gewinnen, die unzweckmäßige Tödtung aber rohe Grauſamkeit wäre. Die kriegeriſche Gewalt darf nicht dem zügelloſen Haſſe und wilder Rach - ſucht dienen, denn ſie iſt Rechtshülfe und Statsgewalt. Dies Gebot der Menſchlichkeit darf auch nicht von der aufgeregten Wuth der kriegeriſchen Leidenſchaft überhört werden. Der militäriſche Befehl, „ keinen Pardon zu geben und Alles niederzumachen “, iſt eine völkerrechtswidrige Barbarei und wird nur als Repreſſalie noch und zur Abwendung eigener äußerſter Lebensgefahr zugelaſſen. Auch hier iſt es wieder Vattel, welcher die humaneren Grundſätze des neuen Völkerrechts zuerſt mit Erfolg vertheidigt hat. Um dieſes Verdienſtes willen um die Civiliſation gebührt ihm eine hohe Stelle unter den Lehrern und Förderern des Völkerrechts.
Mit großem Nachdruck und Eifer für militäriſche Ehre beſtreitet er auch den abſurden Satz der früheren Schriftſteller, daß man dem hart - näckigen Vertheidiger eines feſten Platzes den Tod als Strafe drohen dürfe, wenn er denſelben nicht übergebe. Die Tapferkeit des Feindes wird nie - mals ein ſtrafwürdiges Verbrechen, auch nicht, wenn ſie eine vielleicht un - haltbare Stellung zu behaupten ſucht. Während des Kampfes iſt Schonung nicht am Platze und, wer ſein eigenes Leben einſetzt, mit dem darf man35Einleitung.nicht rechten, wenn er das Leben ſeines Feindes angreift. Die hartnäckigſte Vertheidigung kann dazu dienen, dem übermächtigen Feinde Achtung abzu - nöthigen und beſſere Friedensbedingungen zu erzielen. Zur Strafe darf der Sieger nur die tödten, welche ein ſtrafbares Verbrechen begangen haben, z. B. die Seeräuber, die Spione oder Marodeurs. Aber dieſe Art der Tödtung ſetzt ein ſtrafgerichtliches Verfahren voraus, wenn auch viel - leicht das ſummariſche des Standrechts. Das iſt nicht mehr Kampfes - recht, ſondern Strafrecht.
Auch das Recht, die Angehörigen des feindlichen States, vorzüglich die bei der Kriegsführung Betheiligten zu Kriegsgefangenen zu machen, iſt durch den Zweck des Kriegs begränzt und darf nur als ein Mittel zum endlichen Frieden benutzt werden. Die Kriegsgefangenſchaft der neueren Zeit iſt nicht mehr, wie die antike, eine zeitige Sclaverei. Die Grundſätze, welche Preußen und die Vereinigten Staten in einem Vertrag von 1785 anerkannt haben, ſind nach und nach allgemeines Recht ge - worden. Die Kriegsgefangenen dürfen nicht als Verbrecher, nicht als Züchtlinge behandelt werden. Sie werden nicht zur Strafe, ſondern der Sicherheit wegen und um den Feind eher zum Frieden zu nöthigen, in ihrer Freiheit beſchränkt und verwahrt. Sie dürfen daher nicht miß - handelt und gequält, noch zu Arbeiten angehalten werden, welche ihrer Lebensſtellung nicht angemeſſen ſind, auch dann nicht, wenn man von ihnen fordern kann, daß ſie ihren Lebensunterhalt mit ihrer Arbeit ver - dienen. Sogar ihre Bewegung und ihre Beſchäftigung ſind nicht mehr zu beſchränken, als es das Intereſſe der Sicherheit fordert. Die heutige Sitte verlangt ſogar, daß die kriegsgefangenen Officiere auf ihr Ehrenwort in relativer Freiheit gelaſſen werden. Nur wenn ſie dieſelbe mißbrauchen zu ſtatsfeindlichen Zwecken oder Fluchtverſuche machen, ſind ſie ſtrenger zu be - wachen. So lange nicht die Sicherheit und die gute Ordnung darunter leiden, ſind auch den Kriegsgefangenen unbedenklich diejenigen Genüſſe zu verſtatten, für welche ſie auf eigene Koſten ſorgen oder die ihnen von ihren Landsleuten und Freunden ermöglicht werden.
Mit edler Sorge nimmt ſich das heutige Völkerrecht auch der ver - wundeten Feinde an. Die Beſchlüſſe des internationalen Congreſſes zu Genf im Auguſt 1864, welcher auf Einladung der Schweiz von einer großen Anzahl von Staten beſchickt wurde, erkennen den Rechtsgrundſatz an, daß die ärztliche Sorge, welche den eigenen Verwundeten zu Theil wird, auch auf die verwundeten Feinde in weſentlich gleicher Weiſe aus -3*36Einleitung.gedehnt werden ſolle. So ward das chriſtliche Princip der Feindesliebe in die bindende Form des Menſchen - und Völkerrechts überſetzt.
Nicht minder groß ſind die Fortſchritte, welche das neuere Völkerrecht in der Anerkennung und dem Schutze des feindlichen Vermögens gemacht hat. Freilich beſteht hier noch zwiſchen Land - und Seekrieg ein be - deutender Unterſchied. In jenem iſt die alte Barbarei früher und voll - ſtändiger überwunden worden, als in dieſem.
Die antiken Völker, welche den Feind als rechtlos anſahen, betrach - teten auch das Vermögen aller derer, die ſie Feinde nannten, als einen Gegenſtand freier Beſitz - und Wegnahme. Das Grundeigenthum der Feinde verfiel dem ſiegreichen Stat, ihre Habe ward von den Truppen erbeutet und dem Feldherrn überliefert, welcher über die Vertheilung frei verfügte. Keine Rechtsvorſchrift hinderte das Heer, die Häuſer der Feinde abzubrennen und ihre Pflanzungen zu verwüſten. Die Sitte war freilich oft menſch - licher als das Recht und die Politik ſchonte oft, wo das Recht Zerſtörung und Raub geſtattete. Aber in vielen Fällen zeigte ſich auch die wilde Rohheit eines barbariſchen Kriegsrechts in ihrer ſcheußlichen Geſtalt, ohne Maß und ohne Scham.
Nicht viel anders war es im Mittelalter. Die damaligen Fehden waren weniger blutig als die antiken Schlachten, aber um ſo verderblicher für das Eigenthum und den Wohlſtand der betroffenen Gegenden. Das Grundeigenthum blieb zwar meiſtens unverändert, aber die Dörfer wurden niedergebrannt, die Burgen gebrochen, die Bäume umgehauen, das Vieh weggeführt, die Habe der friedlichen Leute als gute Beute geraubt.
Auch hier bewährt jener Grundſatz des heutigen Rechts, daß der Krieg gegen den Stat und nicht gegen die Privaten geführt werde, ſeine heilſame Wirkung.
Wir unterſcheiden nun zwiſchen öffentlichem Vermögen und Privatgut. Das öffentliche Vermögen, welches dem feindlichen State gehört, darf im Kriege angegriffen und von dem Sieger weggenommen werden. Voraus bemächtigt ſich die Kriegsgewalt aller der Sachen des Feindes, welche Bezug auf die Kriegsführung ſelber haben, der Waffen, der öffentlichen Magazine und Vorräthe, der Kriegscaſſe, denn voraus iſt die Kriegsgewalt berechtigt, dem Feinde die Mittel zu entwinden, mit denen derſelbe Krieg führt und Widerſtand leiſtet. Ferner ergreift ſie, indem ſie37Einleitung.in feindlichem State fortſchreitet, die Zügel der Statsgewalt und nimmt mit Recht die öffentliche Autorität einſtweilen für ſich in Anſpruch. Sie verfügt daher über die öffentlichen Gebäude, nimmt die Finanzgefälle aller Art in ihre Hand, und erſtreckt ihre Hand über die öffentlichen Caſſen; denn es dient das, den feindlichen Stat zu überwinden und zum Frieden zu zwingen.
Indeſſen ſogar innerhalb des öffentlichen Vermögens beginnt die civi - liſirte Welt feiner zu empfinden und wichtige Unterſcheidungen zu machen. Nicht alles öffentliche Gut dient in gleicher Weiſe dem State und daher auch ſchließlich ſeiner Kriegsmacht. Viele öffentliche Anſtalten dienen mit ihrem Vermögen andern, eher ſocialen Zwecken. Die Kirchen ſind den religiöſen Bedürfniſſen der Bewohner geweiht. Die Spitäler ſind für Kranke beſtimmt. Die Schulen, die Bibliotheken, die Laboratorien, die Sammlungen ſind für die Zwecke der Bildung und der Wiſſenſchaft ge - gründet. Eben deshalb ſind ſie, wie die Amerikaniſchen Kriegsvorſchriften es ausdrücken (§ 34), nicht im Sinne des Kriegsrechts als öffentliches Ver - mögen zu betrachten und ſollen ihren Zwecken nicht entfremdet werden. Der Raub von Kunſtſchätzen und Denkmälern, noch in den Revolutions - kriegen zu Anfang dieſes Jahrhunderts oft geübt, erſcheint dem öffentlichen Gewiſſen bereits als anſtößig und widerrechtlich, weil dieſe Dinge keinen nahen Bezug auf den Stat und den Krieg haben, ſondern der friedlichen Cultur der bleibenden Nation dienen.
Wenn das heutige Völkerrecht ſogar einen Theil der öffentlichen Güter vor den Griffen des Siegers bewahrt, ſo verſteht ſich der Schutz des Privateigenthums nun von ſelbſt. Ein Recht des Siegers, das Grundeigenthum den Privaten wegzunehmen und ſich anzueignen, wird nicht mehr anerkannt. Die Eroberung iſt ein Act der Statsgewalt, und läßt das Privateigenthum unverſehrt. Der Pariſer Caſſationshof hat daher mit gutem Grunde entſchieden, daß ſelbſt die fürſtlichen Privat - güter kein Gegenſtand der Eroberung ſeien und daß nur die Güter, welche dem Fürſten als Statshaupt zugehören, von dem ſiegenden Feinde weg - genommen werden dürfen. Das Privateigenthum iſt alſo nur inſofern der Kriegsgewalt unterworfen, als es auch der Statsgewalt unterworfen bleibt. Die Grundeigenthümer müſſen ſich gefallen laſſen, daß das Heer, ſoweit die Kriegsoperationen es nöthig machen, vorübergehend ihre Häuſer und Güter beſetze; aber ſobald das kriegeriſche Nothrecht mit der Noth ſelbſt erliſcht, tritt auch die Regel des freien Eigenthums von ſelber wieder in Kraft.
38Einleitung.Endlich hat das gereiftere Rechtsbewußtſein der civiliſirten Welt es eingeſehen, daß auch jenes angebliche Beuterecht im Krieg, trotz der zahlreichen und ehrwürdigen Autoritäten der römiſchen Rechtswiſſenſchaft und der mittelalterlichen Rechte, eitel Unrecht ſei und ſich mit einer geſicherten Weltordnung durchaus nicht vertrage. Es iſt beſchämend für unſere Wiſſenſchaft, daß ſie in dieſer wichtigen Frage nicht eher die Wahr - heit erkannt hat, als bis ihr die veredelte Kriegsführung der heutigen Staten durch die thatſächliche Mißbilligung und durch das militäriſche Verbot aller Beutemacherei vorausgegangen iſt. Während die Gelehrten ſich noch immer durch die alten Autoritäten täuſchen ließen, arbeiteten die Generale mit eiſerner Disciplin an der Abſchaffung jenes offenbaren Raubs, den man vergeblich ſich bemüht, als Recht auszugeben. Worauf denn ſollte ſich dieſes angebliche Beuterecht gründen? Etwa auf den alten Wahn, daß der Feind ein rechtloſes Weſen ſei? Aber der Feind iſt ein Menſch und jeder Menſch ein Rechtsweſen. Oder auf die Vorſtellung, daß im Kriege die Gewalt herrſche? Aber es iſt ja der Beruf des Völkerrechts, auch die Kriegsgewalt mit den Zügeln des Rechts zu bändigen. Oder auf den Gedanken, daß dem Feinde zu ſchaden natürliches Kriegsrecht ſei? Aber die Privatperſonen ſind als ſolche nicht Feinde, und das Privateigenthum darf daher nicht willkürlich geſchädigt werden. Oder auf die Uebereinſtim - mung der Völker? Aber die civiliſirteſten Völker verwerfen das Beuterecht als Raubrecht.
So entſchieden hat ſich die civiliſirte Kriegsführung in unſern Tagen von der alten Barbarei losgeſagt, daß ſogar die Lebensmittel, deren das Heer in feindlichem Lande bedarf, regelmäßig eingekauft und baar bezahlt werden. Die ſcheußliche Maxime, nicht etwa nur des dreißigjährigen Kriegs, ſondern noch der Revolutionskriege zu Ende des vorigen und zu Anfang des jetzigen Jahrhunderts, daß der Krieg ſich ſelber ernähren müſſe und daß daher die Heere in Feindesland auf Koſten der friedlichen Bewohner leben dürfen, wird heute von der öffentlichen Meinung als Barbarei gebrandmarkt. In der Noth freilich, wenn ausreichende Lebensmittel und andere unent - behrliche Sachen in ordentlicher Verkehrsform nicht zu erwerben ſind, viel - leicht weil die Einwohner ſie nicht dem Heere verkaufen wollen, oder die Lieferungen zurück bleiben, dann kann es dem Truppenkörper nicht ver - wehrt werden, auch mit Gewalt ſich die Dinge anzueignen, ohne die er nicht leben und ſeine Beſtimmung erfüllen kann; denn niemals kann die öffentliche Gewalt ihre Exiſtenz dem Privatrechte zum Opfer bringen, viel -39Einleitung.mehr muß dieſes der Noth des States weichen. Aber ſogar in dieſem äußerſten Falle erkennt die heutige Kriegsgewalt, ſoweit nicht das Recht zur Beſteuerung oder das Recht auf Kriegslaſten (Fuhrwerke, Einquar - tirung) die Forderung unentgeltlicher (wenigſtens vorläufig unentgeltlicher) Leiſtungen rechtfertigt, die Pflicht ſchatzungsgemäßer Entſchädigung an, und zieht die geordnete Auferlegung von Contributionen auch der aus Noth erlaubten Marode entſchieden vor.
Am wenigſten iſt es den Kriegsleuten geſtattet, die Hauswirthe, bei denen ſie einquartirt werden, zu beſchädigen und zu beſtehlen. Wo der - gleichen Unfug und Unrecht noch gelegentlich vorkommt und, ſei es aus Rachſucht oder aus Gewinnſucht, auch von den Officieren noch geduldet wird, da geſchieht dies nicht mehr im Sinne ſondern mit Widerſpruch des heutigen Kriegsrechts. Die Ehre einer disciplinirten Armee und der civiliſirten Kriegsführung fordert ſtrenge Beſtrafung ſolcher Mißbräuche und Miſſethaten.
Nur ganz ausnahmsweiſe wird im heutigen Landkriege noch die Beute geſtattet. Die Kriegsrüſtung insbeſondere der bewehrten Feinde, ihre Waffen und Pferde ſind heute noch Gegenſtand erlaubter Beute, weil vor der nahen Beziehung dieſer Sachen zur Kampfesführung die Rückſicht auf das Privateigenthum zurück tritt. Dieſe Sachen dienen dem Krieg und verfallen deshalb dem Sieger. Dagegen gilt es bereits als unwürdig und dem civiliſirten Kriegsrechte nicht mehr entſprechend, dem beſiegten Gegner ſein Geld oder ſeine Kleinode wegzunehmen. Auch der Kriegs - gefangene bleibt Privateigenthümer. Nur wenn ein Officier große Geld - ſummen mit ſich führt, ſo werden dieſe nicht als Privatgut, ſondern als Kriegsmittel und Kriegsgut betrachtet.
Ebenſo wird dem Sieger gewöhnlich noch verſtattet, dem todt auf dem Schlachtfeld gebliebenen Feinde die Habe wegzunehmen, die er zurück - läßt. Die völlige Unſicherheit dieſer Verlaſſenſchaft läßt die Wegnahme in milderem Lichte erſcheinen. Indeſſen der ehrenhafte Sieger wird ſolche Sachen doch nur inſofern behalten, als er die rechtmäßigen Erben nicht kennt, und ſie herausgeben, ſobald Jemand ein beſſeres Recht daran nach - weiſt. Die heimliche Marode aber den Schlachtfeldern nachſchleichender Diebe wird nicht mehr geduldet, ſondern als ein ſchweres Verbrechen beſtraft.
Zuweilen vertheidigt man noch heute die Erlaubniß zur Plünderung eines hartnäckig vertheidigten Platzes, mit dem Bedürfniß der Kriegsfüh -40Einleitung.rung, die Angreifer durch die Ausſicht auf Gewinn zum Sturme zu er - muthigen. Indeſſen iſt das nur die alte Barbarei, welche verſucht, ſich in dieſem letzten Schlupfwinkel noch eine Zeit lang wider die beſſere Rechts - ordnung zu halten. Ganz mit denſelben ſchlechten Gründen hatte man vordem den Stürmenden auch die Frauen in dem eroberten Platze Preis gegeben. Was ſeiner Natur nach ſchändliches Unrecht iſt, das darf auch nicht als Belohnung verſprochen und nicht als ein Mittel benutzt werden, um den Pflichteifer leidenſchaftlich aufzuregen.
Viel zäher hat die alte Barbarei im Seekrieg der Aufnahme neuer, das Privateigenthum auch im Kriege ſchützender Grundſätze widerſtanden. Sie iſt hier vorzüglich von einem State vertheidigt worden, der in anderer Hinſicht ſich unläugbare Verdienſte um die Ausbildung eines humaneren Völkerrechts erworben hat, nämlich von England, der größten modernen Seemacht.
Die engliſchen Staatsmänner und Rechtsgelehrten voraus behaupteten, das Beuterecht, das im Landkriege beſſer aufgegeben werde, ſei für den Seekrieg nicht zu entbehren. Sie wieſen darauf hin, daß die Landmächte in der Beſitznahme und Eroberung des feindlichen Landes ein eingreifendes und wirkſames Zwangsmittel beſitzen, um den feindlichen Stat zur Aner - kennung ihrer Rechtsanſprüche und Forderungen zu nöthigen, daß aber die Seemächte dieſes Zwangsmittels entbehren, weil ihre Macht auf die See und die Seeküſten beſchränkt ſei. Sie gründeten auf dieſen Unterſchied die Nothwendigkeit für die Seeſtaten, nach einem andern Zwangsmittel zu greifen, und als ſolches, meinten ſie, biete ſich nur die Unterdrückung des Seehandels und die Wegnahme der feindlichen Schiffe und Kaufwaaren an. Allein niemals kann die Schwäche der rechtmäßigen Kriegsmittel ein Grund ſein, um die Zuläſſigkeit unrechtmäßiger Kriegsmittel zu rechtfer - tigen. So wenig der Finanzmann, dem es nicht gelungen iſt, ein Dar - lehen abzuſchließen, die leeren Statscaſſen dadurch füllen darf, daß er den Reichen all ihr Geld wegnehmen läßt, ſo wenig darf der Kriegsmann des - halb das Privatgut zur See berauben, weil die Kanonen ſeiner Schiffe nicht ins Innere des Landes wirken. Die Kaufleute des feindlichen States ſind als ſolche keine Feinde, weder der Seemacht noch der Landmacht gegen - über; und wenn dieſe genöthigt iſt, ihr Privatrecht zu achten, ſo liegt der Seemacht ganz dieſelbe Pflicht ob aus ganz denſelben Gründen. Die frü -41Einleitung.here Barbarei im Landkrieg wurde ganz ebenſo damit vertheidigt, daß die Schädigung der Feinde ein unentbehrliches Mittel ſei, um den Feind zur Nachgiebigkeit zu zwingen. Man hat dieſelbe abgeſchafft, weil man das Unrecht und die Verderblichkeit dieſes Kriegsmittels erkannt hat. Dieſelbe Einſicht wird endlich auch das Beuterecht im Seekrieg als einen Flecken der heutigen Weltordnung erkennen laſſen und dieſelbe davon reinigen helfen.
Vor einem Menſchenalter ſtand es freilich noch ſchlimmer als gegen - wärtig. Sowohl die Schiffe der feindlichen Nation ſammt ihrer Ladung als die feindlichen Kaufgüter, ſelbſt wenn ſie auf neutralen Schiffen ver - führt wurden, ſchienen ein offener Gegenſtand der Seebeute zu ſein, ob - wohl ſie nicht im Eigenthum des Staates waren, mit welchem Krieg ge - führt wurde, ſondern der Privaten, gegen welche nicht Krieg geführt ward. Man bedachte nicht einmal, daß die Enteignung dieſer als gute Priſe weg - genommenen Privatgüter ſogar die Gränzen eines Zwangsmittels gegen den Feind überſchreite, indem ſie nicht wie die Beſchlagnahme für die For - derungen ein Unterpfand ſchafft, ſondern über den Frieden hinaus wirkt und das Recht friedlicher Privaten völlig aufzehrt.
Indeſſen einige, freilich noch nicht genügende, Fortſchritte ſind gemacht worden, um auch das Seekriegsrecht zu civiliſiren.
Es verdienen vorzüglich folgende Maßregeln Erwähnung:
1. Die endliche Mißbilligung und Abſchaffung der Kaperei. Nach der früheren räuberiſchen Praxis begnügten ſich die Seemächte nicht da - mit, durch ihre Kriegsmarine den Seehandel zu behindern und die Rheder und Kaufleute der feindlichen Nation nach Kräften zu ſchädigen. Sie riefen ſogar die Raubluſt der Privatunternehmer zu Hülfe und ermächtig - ten dieſelben, mit ihren Kaperſchiffen auf Beute auszulaufen. Es war das ein von Stats wegen in Kriegszeiten autoriſirter Seeraub. Ver - geblich hatten ſich im vorigen Jahrhundert philanthropiſche Männer, wie Franklin, gegen dieſe ſchmachvolle Unſitte erklärt. Auch ein Staatsver - trag zwiſchen den Vereinigten Staaten von Nordamerika und Preußen vom Jahr 1785, worin beide Mächte verſprachen, niemals Kaperbriefe wider einander auszuſtellen, blieb ohne allgemeine Nachfolge. Während der Napoleoniſchen Kriege noch waren die franzöſiſchen Kauffahrer aus allen Meeren von den Engländern weggefegt worden und franzöſiſche Waaren nirgends vor der engliſchen Confiscation ſicher, ſo weit die eng - liſche Seemacht reichte. Die Continentalſperre, welche der Kaiſer Napoleon gegen England in Europa anordnete, war nur Wiedervergeltung, aber42Einleitung.nicht wirkſam genug, um von England den Verzicht auf die Seebeute zu erzwingen.
Endlich haben ſich auf dem Pariſer Congreß vom Jahr 1856 die verſammelten Mächte zu dem wichtigen Satze des heutigen europäiſchen Völkerrechts geeinigt: „ Die Kaperei iſt abgeſchafft “. Leider iſt der - ſelbe durch den Widerſpruch der Vereinigten Staten noch nicht allgemein anerkanntes Recht geworden. Die Weigerung Nordamerikas zuzuſtimmen beruhte freilich auf einem Grunde, der an ſich volle Billigung verdient. Der Präſident wollte nicht damit die Kaperei gutheißen, ſondern er erklärte nur, daß die Abſchaffung derſelben für ſich allein und, ſo lange nicht auf das verwerfliche Beuterecht zur See überhaupt verzichtet werde, eine unzu - reichende und ſogar eine gefährliche Maßregel ſei. Es iſt wahr, die großen Seemächte, welche über eine zahlreiche Kriegsmarine verfügen, bedürfen der Beihülfe der Kaper nicht, und ihre Ueberlegenheit im Seekrieg über ſchwä - chere Seeſtaten mit zahlreicher Handelsmarine aber wenig Kriegsſchiffen wird dadurch eher vergrößert, weil nun die letztern Staten der vielleicht nützlichen Hülfe von Kaperſchiffen, in die ſich die Kauffahrer verwandeln können, entbehren müſſen. Indeſſen war jene Weigerung doch ein Fehler; denn es iſt nicht recht, was man ſelbſt für Unrecht erklärt, deshalb feſtzu - halten, weil daneben noch anderes Unrecht fortbeſteht, noch politiſch klug, ein erreichbares minderes Gut nicht anzunehmen, weil ein größeres wünſch - bares Gut noch nicht erlangt wird. Die Abſchaffung der Kaperei liegt auf dem Wege zur Abſchaffung der Seebeute, ſie iſt nicht ein Hinderniß dieſer Entwicklung.
2. Die Gefahr für die Kauffahrer iſt ferner durch die neuere Sitte der kriegführenden Seemächte, eine ergiebige Friſt anzuſetzen, binnen wel - cher die Schiffe der feindlichen Nation ungefährdet aus den Häfen des Krieg drohenden States auslaufen und ſich mit ihrer Ladung nach einem ſichern Hafen flüchten können, erheblich ermäßigt worden. In dem Kriege mit Rußland von 1854, 1855 haben die Weſtmächte England und Frank - reich ein nachahmungswürdiges Beiſpiel der Art gegeben.
3. Ferner wurden auf dem Pariſer Congreß von 1856 zwei wich - tige Geſetze in das Völkerrecht aufgenommen:
a) „ Die neutrale Flagge deckt die feindliche Waare, mit einziger Ausnahme der Kriegscontrebande. “ Da kein Staat auf offenem Meere eine Gebietshoheit beſitzt, ſo iſt ſchon lange der völkerrecht - liche Satz anerkannt, daß jedes Schiff auf offener See nur der Schutz -43Einleitung.hoheit und Statsgewalt ſeines eigenen Landes unterthan iſt. Die nationale Flagge bezeichnet den Staat, dem das Schiff angehört. Es wird betrachtet wie ein ſchwimmender Theil des betreffenden Staatsgebiets. Es war da - her nur folgerichtig, das feindliche Privateigenthum in neutralen Schiffen ebenſo zu achten, wie wenn es in dem neutralen Lande wäre. Der Krieg darf das neutrale Gebiet nicht antaſten. Es iſt Friedensland. Die Kriegs - contrebande macht deshalb eine Ausnahme, weil ſie der Kriegspartei als ſolcher zu Kriegszwecken zugeführt wird. Im Uebrigen gilt nun der Satz: „ Frei Schiff, frei Gut “.
b) Ueberdem ſoll die „ neutrale Waare “auch auf feindlichem Schiffe gegen das Priſenrecht geſichert werden, d. h. das Beuterecht darf nur auf feindliche Schiffe und auf Waaren der feindlichen Nation auf feindlichen Schiffen angewendet werden. Auf „ unfreiem Schiff “kann es alſo „ freies Gut “geben.
4. Endlich hat der Pariſer Congreß von 1856 auch das oft un - mäßig geübte Blokaderecht durch die Bedingung beſchränkt, daß die Blo - kade „ wirkſam “ſein müſſe, um anerkannt zu werden, d. h. die Seeſperre gilt nur inſoweit, als die Seemacht, welche ſie im Kriege anordnet, dieſelbe auch thatſächlich und mit fortgeſetztem Erfolg handhabt, alſo nicht, wenn es ihr an den nöthigen Kriegsſchiffen mangelt, um die Ein - und Ausfahrt in den blokirten Hafen durchweg zu verhindern.
Es ſind das Alles bedeutende Ermäßigungen des hergebrachten Raub - rechtes der Seebeute. Aber ein wahrhaft civiliſirtes Seekriegsrecht wird erſt dann vorhanden ſein, wenn die ganze Seebeute ebenſo im Princip unterſagt wird, wie die Beute im Landkrieg, wenn Schiffe und Waaren der friedlichen Rheder und Kaufleute zur See ebenſo ſicher ſind, wie die Habe der Bewohner des Landes. Dieſe Fortbildung des Völkerrechts wird nicht mehr lange ausbleiben. Auch die Seemächte, welche bisher der For - derung des natürlichen Rechts keine Folge gegeben und der Macht der Logik ſich nicht gefügt haben, werden ſchließlich der lauten Stimme der eigenen Intereſſen Gehör geben. Das Beuterecht, das gegen die fremden Schiffe und Waaren verübt wird, gefährdet und verletzt nicht blos das Vermögen der feindlichen, ſondern ebenſo der eigenen Nation, denn Handel und Verkehr ſind immer wechſelſeitig. Auch der Handel und der Credit der eigenen Kaufleute leidet ſchwer in Folge dieſer barbariſchen Ueberſpan - nung der Kriegsübel; und volle Sicherheit hat auch ihr eigenes Privat - eigenthum erſt dann, wenn alles Privateigenthum geachtet wird. Seit den44Einleitung.Kriegen Englands mit Napoleon I. hat ſich auch in dieſer Hinſicht die Welt ſehr verändert. Der engliſche Welthandel bedarf nun zu ſeiner Sicherung kaum minder des völkerrechtlichen Schutzes, als der franzöſiſche, oder nordamerikaniſche oder deutſche; denn ſo mächtig die engliſche Kriegs - marine auch iſt, ſie wäre doch nicht im Stande, zugleich der feindlichen Kriegsmarine zu begegnen und überall die engliſchen Kauffahrer zu ſchützen. Wir dürfen daher wohl die Hoffnung hegen, daß die Vorſchläge, welche Bremen im Jahre 1859 zum Schutz des friedlichen Welthandels gemacht hat, ſchließlich auch die Billigung Englands finden und dann zum allge - meinen Völkerrecht erhoben werden.
Zum Schluſſe verdient noch die Ausbildung der Rechte und Pflich - ten der neutralen Staten erwähnt zu werden, welche ſeit dem Ende des vorigen Jahrhunderts ebenfalls manche Fortſchritte gemacht hat. Indem das Recht der Neutralität wächſt, wird zugleich das Recht und die Gefahr des Krieges eingeſchränkt. Die neutralen Staten umſchließen mit ihrem friedlichem Gebiete das Kriegsgebiet. An ihren Gränzen bricht ſich die Brandung der Kriegsfluth.
Es iſt überhaupt ein beachtenswerthes und preiswürdiges Beſtreben, wie es ſich in dem neueſten Ruſſiſchen, dem Italieniſchen und dem Däni - ſchen Kriege gezeigt hat, den Krieg möglichſt zu localiſiren, d. h. die unvermeidliche Gewalt und die Uebel des Krieges auf ein möglichſt enges Kriegsfeld einzugränzen. Die allmählich erſtarkte Neutralität hilft den Krieg im Großen localiſiren. Dadurch wird die Welt vor einem allge - meinen Weltbrand geſchützt und es wird die Macht des Friedens auch dem Kriege gegenüber fortwährend bewährt. Die neutralen Staaten vertreten das friedliche Regelrecht, ſetzen der Ausnahme des Kriegsrechts Schranken und tragen überdem dazu bei, die Leiden des Kriegs zu mildern, indem ſie den Verfolgten und Flüchtlingen eine friedliche Zuflucht eröffnen, und den Krieg eher zu beendigen, indem ſie die Friedensunterhandlungen er - leichtern und vermitteln.
Der Anſtoß, welchen die Ruſſiſche Kaiſerin Katharina II. auf den Rath ihres Kanzlers Panin in der ſogenannten „ bewaffneten Neutralität “von 1780 zum Schutz der neutralen Schiffahrt gegeben, und die Verab - redungen, welche in derſelben Richtung im Jahre 1800 von den nordiſchen Mächten Rußland, Preußen, Schweden und Dänemark getroffen wurden,45Einleitung.haben die Rechte der neutralen Schiffahrt in Kriegszeiten gekräftigt und Grundſätze zuerſt vertheidigt, welche endlich auf dem Pariſer Congreß von 1856 allgemein gebilligt worden ſind. Noch beſtehen freilich über den Begriff der unerlaubten Contrebande manche Zweifel, welche den Handel unſicher machen; aber auch in Kriegszeiten und ſelbſt wenn der Verdacht der Contrebande ſich erhebt, iſt doch das früher rückſichtslos geübte Durch - ſuchungsrecht der feindlichen Kriegsſchiffe gegenüber den neutralen Handels - ſchiffen, ſorgfältiger begränzt worden. So lange freilich noch die Kriegs - partei allein die Priſengerichte beſtellt, welche darüber erkennen, ob ein weggenommenes neutrales Schiff Contrebande geführt habe oder die recht - mäßige Blokade in unerlaubter Weiſe habe brechen wollen, ſo lange ſind die Garantien für eine unparteiiſche Rechtspflege noch gering. Zwar ſind die Priſengerichte in neuerer Zeit etwas unbefangener geworden als früher, ſie vermuthen nicht mehr wie ehedem ſo leichtſinnig oder leidenſchaftlich für die Schuld des eingebrachten Schiffes, ſie ſind geneigter worden, auch die Vertheidigung zu hören und zu würdigen, die Freiſprechungen ſind weniger ſelten geworden. Aber der Grundcharakter eines ausſchließlich von der Partei geſetzten und beſetzten Gerichtshofs wird heute noch feſtgehalten und deshalb können die Neutralen dieſe Handhabung der Rechtspflege noch nicht mit Vertrauen betrachten.
Indeſſen den Rechten der Neutralen entſprechen auch Pflichten. In - dem die Neutralen verlangen, daß ſie von den Folgen und Wirkungen des Kriegs möglichſt wenig betroffen werden und daß die Kriegsgewalt der Feinde vor ihrer friedlichen Haltung rückſichtsvoll vorbei gehe, ſo dürfen ſie auch ihrerſeits nicht an der Kriegführung ſich betheiligen. Die neutralen Staten dürfen nicht kriegen helfen, wenn ſie in ihrer friedlichen Neutralität geach - tet bleiben wollen. Wer den Feind im Kriege und zum Kriege unterſtützt, der hört auf, neutral zu ſein, denn neutral ſein heißt auf keiner der beiden Seiten Theilnehmer am Kriege ſein.
Auf die Ausbildung der Rechte und der Pflichten der Neutralen hat einen großen Einfluß die Neutralitätsacte gehabt, welche zuerſt in Nord - amerika auf den Betrieb Hamiltons und im Einverſtändniß mit dem Erſten Präſidenten Washington im Jahre 1794 erlaſſen und im Jahr 1818 revidirt worden iſt. Sie iſt von der Engliſchen Parlamentsacte von 1819 nach - und fortgebildet worden. Der letzte Bürgerkrieg in den Vereinigten Staten hat freilich den Glauben an die Wirkſamkeit dieſer Neutralitätsgeſetze einiger Maßen geſchwächt. Die Vereinigten Staten be -46Einleitung.klagen ſich darüber, daß England nicht ſorgfältig und nicht entſchieden genug die Begünſtigung der Südſtaten verhindert und durch Lieferung von engliſchen Schiffen die räuberiſchen Kreuzer ausgerüſtet habe, welche die Meere unſicher machten; und manche Zeichen deuten darauf, daß auch die Amerikaniſche Praxis bei Kriegen europäiſcher Staten eine laxere Politik befolgen werde und ihren Schiffsbauern verſtatten werde, den Kriegsparteien Kriegsſchiffe zu liefern.
Man ſieht, die theilweiſe widerſtrebenden Intereſſen des freien Han - dels der Neutralen auch mit der Nation der Kriegspartei und der uner - läßlichen Enthaltſamkeit von jeder Theilnahme am Krieg von Seite des neutralen Stats ſind noch mit einander im Kampf und ſuchen noch das gerechte Gleichgewicht.
In unſerer Zeit hört man oft die laute Klage, der Beſtand der Staten ſelber ſei nicht mehr wie früher durch das Völkerrecht geſichert, die Revolution von Innen, die Uebermacht von Außen bedrohen alle legitimen Gewalten, und ſo oft ihnen der Umſturz eines rechtlich begründeten Zu - ſtandes glücke, ſo werde die vollendete Thatſache, das heißt zumeiſt das ſiegreiche Unrecht von den Mächten als neues Recht gutgeheißen und an - erkannt. Man beſchuldigt das heutige Völkerrecht, es habe alles Ver - ſtändniß verloren für die Rechtsſicherheit der Staten und ihrer Regierun - gen und huldige jederzeit gefügig dem brutalen Erfolg.
Man ſehe zu, ob denen, welche ſo reden, nicht ſelber alles Ver - ſtändniß fehlt in die Natur des Völkerrechts und des öffentlichen Rechts überhaupt.
Die inneren Verfaſſungsänderungen eines Stats und die Wechſel der Fürſten und Dynaſtien ſind meiſtens Vorgänge in dem Leben eines ein - zelnen Volkes und States und eben deßhalb zunächſt ſtaatsrechtlich, nicht völkerrechtlich zu beurtheilen. Das Völkerrecht ordnet nicht die einzelnen Staten, ſondern nur die Beziehungen der Staten zu einander. Erſt in zweiter Linie tritt daher an das Völkerrecht die Frage heran, ob ein Stat, der eine ſolche Umwandlung erfahren hat und ſeine thatſäch - lich die Statsgewalt ausübende Regierung auch in der Statengemeinſchaft und im Statenverkehr als ſouveräne Perſonen anzuerkennen ſeien. Für47Einleitung.das völkerrechtliche Verhalten iſt daher die ſtatsrechtliche Erledigung gewöhn - lich Maß gebend. Jene Vorwürfe, auch wenn ſie gerecht wären, würden daher eher das moderne Statsrecht treffen als das Völkerrecht, welches genöthigt und berufen iſt, die ſtatlichen Bildungen, wie ſie in der Welt exiſtiren, neben einander anzuerkennen und mit einander zu ver - binden.
In der europäiſchen Reſtaurationsperiode von 1815 bis 1830 ver - ſuchten es die Mächte der Heiligen Allianz auf den Congreſſen von Aachen und mehr noch auf den Congreſſen von Laibach und Verona das Princip der dynaſtiſchen Legitimität zu einem Grundgeſetz des europäſchen Völkerrechts zu erheben. Jede conſtitutionelle Beſchränkung der abſoluten Fürſtengewalt und jede Aenderung in dem neu garantirten Territorialbeſitz wurden als Revolution verdammt und der Schutz der beſtehenden Stats - autoritäten als eine Pflicht der fünf Großmächte dargeſtellt, welche berufen ſeien, das öffentliche Recht in Europa zu ſichern und zu ſchützen.
Die Weltgeſchichte hat über den damaligen Verſuch gerichtet, ſie hat die Unausführbarkeit desſelben an den Tag gebracht und die Mängel jenes Grundgedankens ſchonungslos aufgedeckt.
Die mittelalterliche Vorſtellung, welche von der Legitimitätspolitik zu einem künſtlichen Scheinleben wieder erweckt wurde, betrachtete die Landes - herrſchaft wie ein göttliches Lehen und wie ein Stamm - und Erbgut der Dynaſtien, worüber beliebig zu verfügen dem regierenden Familienhaupte zuſtehe, welches ſo wenig der Wandlung ausgeſetzt ſei, wie das feſte der Privatperſon gehörige Grundeigenthum. Von dieſem Standpunkte aus erſchien der Kampf um die Regierung eines Landes wie der Kampf zwi - ſchen Eigenthümer und Räuber. Nach dem Grundſatze ſolcher Legitimität galt es als ſelbſtverſtändlich, daß das geſchichtlich begründete Thronrecht unter allen Umſtänden, wie ein Eigenthum erhalten werden müſſe wider jede Beſitzſtörung.
Aber dieſe ganze Grundanſicht von Fürſtenrecht iſt noch unreif und beinahe kindiſch. Das Recht und die davon nicht abzutrennende Pflicht, ein Volk zu regieren, iſt in Wahrheit kein Privat - und kein Familienrecht, es iſt kein Eigenthum. Das Volk iſt eine lebendige Perſon und der Fürſt iſt nicht außer und nicht wie der Eigenthümer einer Herde Vieh über ſondern in dem Volke als das Haupt des Volkes. Sein Recht iſt öffentliches Recht und öffentliche Pflicht, Statsrecht und Statspflicht. Alle Fragen der Statsherrſchaft ſind daher nicht nach den privatrechtlichen48Einleitung.Geſetzen über Eigenthum und Beſitz, nicht nach den ſtrafrechtlichen Be - griffen von Raub und Diebſtahl, ſondern von dem Standpunkte des Volkes und des States aus und ihrer Entwicklung zu beurtheilen.
Das aber hat allmählich, nicht ohne Fehlſchritte und Mißgriffe, das moderne Völkerrecht begriffen, indem es den vielfältig durchlöcherten Schnür - leib der alten Legitimitätsdoctrin abgelegt hat.
Es war ein großer Fortſchritt in der Rechtserkenntniß, als man endlich einſah, daß die Völker lebendige Weſen ſeien und daß demgemäß auch das Verfaſſungs - und Statsrecht, welches als Organiſation und gleichſam als Leib des Volkes ſein Leben bedingt und darſtellt, diejenigen Wandlungen vornehmen muß, welche nöthig ſind, um die Ent - wicklung des Volkslebens zu ermöglichen und zu begleiten. Der Rechtsbegriff ſelbſt wurde dadurch vergeiſtigt. Zuvor war er todt und kalt. Jetzt wurde er voll Leben und Wärme.
Die Wiſſenſchaft iſt noch in dieſer den Charakter alles öffentlichen Rechts wandelnden Arbeit begriffen, wie die Welt in der Bewegung begrif - fen iſt, aus dem mittelalterlichen Herren - und Landesrecht die modernen Volksſtaten hervorzubilden.
Aber heute ſchon dürfen wir getroſt als ein Ergebniß der Kämpfe und Errungenſchaften unſers Jahrhunderts folgende moderne von dem heutigen Völkerrecht wenigſtens ſtatsrechtlich gebilligte Rechtsſätze ausſprechen:
Die Autorität des geſchichtlichen und formulirten Rechts verliert in dem Maße ihre Macht, in dem es offenbar wird, daß dasſelbe das Leben des States gefährde ſtatt demſelben zu dienen und die Entwicklung des öffentlichen Rechts unmöglich macht, ſtatt dieſelbe zu reguliren. Alles öf - fentliche Recht gilt nur, inwiefern es lebenskräftig iſt. Neben dem Recht der ſtatlichen Exiſtenz iſt auch das Recht der nationalen Entwicklung anzuerkennen. Das Völkerrecht ehrt die Ergebniſſe der Weltgeſchichte und betrachtet die Verhältniſſe, welche ſich als nothwendige und fortwir - kende Grundlagen und Bedingungen des derzeitigen Völkerlebens manifeſtiren, nicht bloß als zu duldende Thatſachen, ſondern als geſchicht - liche Fortbildung des Rechts. Das Völkerrecht achtet das Recht der Völker, die Form ihres gemeinſamen Verbandes und ihres gemeinſamen Lebens, d. h. ihre Verfaſſung ſelber zu beſtimmen.
Bei näherer Erwägung zeigt ſich, daß jene Anklage des modernen Völkerrechts, als ſei es rechtlos geworden, völlig eitel iſt. Ganz im Ge - gentheil, es iſt der höchſte Vorzug und die Ehre der modernen Rechtsanſicht,49Einleitung.daß ihr das Recht ſelbſt nicht mehr als ein todtes und als ein Hinderniß des Lebens, ſondern als ein lebendiges und entwicklungsfähiges er - ſcheint. Die Selbſtvervollkommnung iſt die Aufgabe der Menſchheit, auf dem Gebiete des Rechtes nicht minder als in allen andern Richtungen humaner Cultur.
Die angeführten einzelnen Momente mögen genügen, um die großen Fortſchritte zu veranſchaulichen, welche das Völkerrecht in neuerer Zeit wirklich gemacht hat, wenngleich ſie auch darauf hinweiſen, daß noch wei - tere Fortſchritte zu machen ſind, wenn die civiliſatoriſche Aufgabe des Völkerrechts erfüllt und eine humane Weltordnung hergeſtellt werden ſoll.
Wie die Wiſſenſchaft für die Begründung und Erkenntniß des Völ - kerrechts entſcheidend geworden iſt, ſo hat ſie die Pflicht, auch ſeine Fort - ſchritte vorzubereiten, zu beleuchten und zu begleiten. Obwohl nun die Praxis der Staatsmänner die Leitung übernommen hat, ſo hängt doch die Wirkſamkeit des Völkerrechts hauptſächlich davon ab, daß ſeine Grundſätze und Grundgedanken von der öffentlichen Meinung gekannt und gebilligt werden und daß das öffentliche Gewiſſen darüber aufgeklärt werde. Je allgemeiner die Rechtsſätze des Völkerrechts verbreitet und verſtanden wer - den, je beſtimmter und entſchiedener das Rechtsbewußtſein der civiliſirten Menſchheit ſich entfaltet, umſomehr iſt auch die Wirkſamkeit des Völkerrechts in der Welt geſichert. In dem Völkerrecht voraus bethätigt ſich noch der Erweis des Geiſtes und der Kraft. Sein flüſſiger Stoff iſt noch nicht, wie die andern Rechtsordnungen, zu feſter abgeſchloſſener Form geſtaltet, aber unaufhaltſam wächſt es ſeiner Beſtimmung und ſeinem Ende, dem humanen Weltrecht entgegen.
Völkerrecht iſt die anerkannte Weltordnung, welche die verſchiedenen Staten zu einer menſchlichen Rechtsgenoſſenſchaft verbindet, und auch den Angehörigen der verſchiedenen Staten einen gemeinſamen Rechtsſchutz ge - währt für ihre allgemein menſchlichen Rechte.
1. In der Anerkennung der Weltordnung liegt mehr als in der „ Er - kenntniß “derſelben. Dieſe kann bloße Theorie ſein, jene bedeutet zugleich die Be - währung derſelben im Völkerleben. Das Wiſſen allein bildet noch kein Recht; erſt wenn die Macht des Rechtsbewußtſeins ſich in der Praxis offenbart, iſt eine Rechts - ordnung da.
2. Zunächſt ordnet das Völkerrecht das Verhältniß der Staten zu einander. Sein Hauptinhalt iſt öffentliches Recht. Inſofern kann es auch, von den ein - zelnen Staten aus betrachtet, „ äußeres Statsrecht “genannt werden. Der Name iſt aber ungenau, weil das Völkerrecht von weſentlich univerſeller Natur, weil es das Recht der Menſchheit iſt. Schon Hugo Grotius hat das erkannt. Prol. 17: „ Sicut cujusque civitatis jura utilitatem suae civitatis respiciunt, ita inter civitates aut omnes aut plerasque ex consensu jura quaedam nasci potuerunt et nata apparet, quae utilitatem respicerent non coetuum singulorum sed magnae illius universitatis, et hoc jus est quod gentium dicitur “. Da - neben ordnet das Völkerrecht aber auch die überall gleichmäßig wirkſamen und unter den Schutz der civiliſirten Welt geſtellten Rechtsverhältniſſe der Privatperſonen, und heißt inſofern „ internationales Recht “im engern Sinn. Dieſe zweite Be - deutung des Völkerrechts iſt aber noch weniger entwickelt als die erſte und gewährt54Erſtes Buch.nur einen mittelbaren Schutz, durch Vermittlung der Staten. Der engliſch - amerikaniſche Sprachgebrauch nennt das Völkerrecht überhaupt „ international law “, verſteht aber unter nation, wie der franzöſiſche das, was wir Volk (populus) heißen, d. h. das zum Stat organiſirte Gemeinweſen, den lebendigen Stat, nicht die bloße Sprach - und Culturgemeinſchaft, welche wir Deutſche Nation heißen.
Die gemeinſame Menſchennatur iſt das natürliche Band, welches alle Völker zur Einen Menſchheit verbindet. Daher hat jedes Volk ein natür - liches Recht, in ſeiner Menſchennatur von den andern Völkern geachtet zu werden und die Pflicht, dieſelbe Menſchennatur in dieſen zu achten.
Das iſt die menſchliche Rechtsgleichheit der Völker.
In allen Zeiten haben einzelne Weiſe dieſe Wahrheit erkannt; aber An - erkennung hat dieſelbe erſt in dem neueren Völkerrecht gefunden, und heute noch ſtehen ihrer allgemeinen Durchführung als Rechtsſatz vielfältige Vorurtheile, Glaubens - und Raſſenhaß und Selbſtſucht als Hinderniſſe im Wege.
Es hängt nicht von der Willkür eines States ab, das Völkerrecht zu achten oder zu verwerfen. Da ſich kein Stat ſeiner Menſchennatur entledigen kann, ſo darf er ſich auch ſeiner Menſchenpflicht nicht entziehen.
1. Wäre das Völkerrecht ausſchließlich das Erzeugniß des freien Willens der einzelnen Staten, ſo wäre im Grunde alles Völkerrecht Vertragsrecht, d. h. kein Stat wäre andern Staten gegenüber verpflichtet, völkerrechtliche Sätze zu be - achten, wenn dieſelben nicht durch Statenvertrag ſanctionirt wären. Es bliebe dann ſogar unerklärt, weshalb denn die Verträge die Staten auch dann noch binden, wenn der Wille der Vertragsparteien ſich ändert, weßhalb nicht jede Willensänderung eine Rechtsänderung nach ſich zieht. Die Verbindlichkeit des Völkerrechts ſetzt die Nothwendigkeit deſſelben im Gegenſatze zur Willkür voraus.
2. Auf dem Congreß zu Aachen im Jahre 1818 wurde von den 5 europäiſchen Großmächten die Verbindlichkeit des europäiſchen Völkerrechts — ſowohl für ihre wechſelſeitigen Beziehungen als im Verhältniß zu andern Staten — anerkannt. Protokoll v. 15. Nov. 1818: „ Les souverains en formant cette union auguste, ont regardé comme la base fondamentale, leur invariable résolution de ne jamais s’écarter, ni entre eux ni dans leurs relations avec d’autres états, de l’observation la plus stricte des principes du droit des gens, principes qui dans leur application à un état de paix permanent, peuvent seuls garantir éfficacement l’indépendance de chaque gouvernement et la stabilité de l’association générale “.
In demſelben Verhältniß, in welchem das Gemeinbewußtſein der Menſchheit an Klarheit und Energie zunimmt, wächſt auch das Völkerrecht in Inhalt und Geltung, denn das Völkerrecht geht aus dem Rechts - bewußtſein der Menſchheit hervor.
Vgl. darüber die Einleitung.
Die civiliſirten Nationen ſind vorzugsweiſe berufen und befähigt, das gemeine Rechtsbewußtſein der Menſchheit auszubilden, und die civili - ſirten Staten voraus verpflichtet, die Forderungen deſſelben zu erfüllen. Deßhalb ſind ſie vorzugsweiſe die Ordner und Vertreter des Völkerrechts.
Das Weſen der Civiliſation beſteht, wie ſchon der große Dante erklärt hat, in der harmoniſchen Ausbildung univerſeller Menſchlichkeit, der Humanität. Das Völkerrecht iſt eine der edelſten Früchte der Civiliſation, denn es iſt ſeinem Weſen nach eine menſchliche Ordnung. Der Anſpruch der europäiſchen und amerikaniſchen Staten, vor den andern Völkern die Träger und Schirmer des Völkerrechts zu ſein, wäre eine eitle Anmaßung, wenn derſelbe ſich nicht auf die höhere Civiliſation jener Staten gründete.
Wenn gleich das heutige Völkerrecht vorerſt unter den chriſtlichen Nationen ausgebildet worden iſt, und der chriſtlichen Religion vielfältige Anregung zu danken hat, ſo iſt es dennoch nicht an das chriſtliche Be - kenntniß gebunden und nicht auf die chriſtliche Welt beſchränkt.
Seine eigentliche Grundlage iſt die Menſchennatur, ſein Ziel iſt die menſchliche Weltordnung, ſeine Mittel ſind ſtatliche Rechtsmittel, und ſeine Ausbildung iſt das Werk der menſchlichen Wiſſenſchaft und Praxis.
Das Völkerrecht verbindet als allgemeines Menſchenrecht Chriſten und Muhammedaner, Brahmaniſten und Buddhiſten, die Anhänger des Kongfutſü und die Verehrer der Geſtirne, die Gläubigen und die Un - gläubigen.
1. Im Gegenſatze zu der wiſſenſchaftlichen Begründung und Darſtellung des Völkerrechts hatte die „ Heilige Allianz “der drei öſtlichen Mächte (14 / 26. Sept. 1815) nochmals den Verſuch gemacht, daſſelbe auf die chriſtliche Religion zu baſiren. L’empereur d’Autriche, le Roi de Prusse et l’empereur de Russie — déclarent solennellement que le présent acte n’a pour objet que de manifester à la face de l’Univers leur détermination inébranlable, de ne prendre pour règle56Erſtes Buch.de leur conduite, soit dans l’administration de leurs états respectifs, soit dans leurs relations politiques avec tout autre gouvernement, que les pré - ceptes de cette religion sainte, préceptes de justice, de charité et de paix, qui loin d’être uniquement applicables à la vie privée, doivent au contraire influer directement sur les résolutions des princes et guider toutes leurs démarches comme étant le seul moyen de consolider les institutions humaines et de remédier à leurs imperfections. “ Der Verſuch mußte grundſätzlich miß - lingen, weil Chriſtus überhaupt keine äußere Weltordnung eingeführt und keine Rechtsgeſetze gegeben hat und er ſcheiterte thatſächlich als der Widerſtreit der In - tereſſen die Alliirten entzweite, die neuen Bedürfniſſe nach einer neuen Rechts - geſtaltung drängten, und der ſelbſtbewußte Geiſt der europäiſchen Philoſophie und Rechtswiſſenſchaft aus dem träumeriſchen Schlummer der Reſtaurationszeit wieder aufwachte.
2. Die Religion verbindet die Menſchen mit Gott, das Recht ordnet die Beziehungen der Menſchen zu den Menſchen. Die völkerrechtlichen Fragen ſind daher nicht aus der Glaubenslehre, ſondern nach menſchlichen Grundſätzen zu entſcheiden. Die Beſchränkung des Völkerrechts auf die chriſtlichen Staten mochte dem glaubenseifrigen und unduldſamen Geiſt des Mittelalters ebenſo natürlich er - ſcheinen, wie der gleichzeitige Anſpruch der islamitiſchen Staten auf die Tribut - leiſtung der Ungläubigen. Die heutige Menſchheit fühlt und kennt ihre Zuſammen - gehörigkeit, wenn gleich verſchiedene Religionen in ihr wirken. Ein Stat erwirbt nicht deßhalb beſondere Rechte gegen einen andern Stat, weil in jenem das Chriſten - thum und in dieſem der Islam verbreitet iſt, und ſeiner Menſchenpflicht kann ſich Niemand aus dem Grunde entziehen, weil er orthodox und der Andere nicht orthodox iſt. So wenig das menſchliche Auge oder Ohr in Folge des religiöſen Glaubens andere Eigenſchaften erhält, eben ſo wenig wird das menſchliche Recht durch den Glauben geändert.
Das Völkerrecht iſt nicht auf die europäiſche Völkerfamilie beſchränkt. Das Gebiet ſeiner Herrſchaft iſt die ganze Erdoberfläche, ſo weit auf ihr ſich Menſchen berühren.
Das heutige Völkerrecht iſt vorerſt inmitten der chriſtlichen und der europäiſchen Völkerfamilie, zu welcher natürlich die Colonien in Amerika mit zu rechnen ſind, entſtanden und wird durch ihre Einflüſſe allmählich über den Erd - ball hin ausgebreitet. Vgl. § 111. Die germaniſche und die romaniſche Raſſe haben das Meiſte dazu gethan. Aber gerade weil der Geiſt dieſer Raſſen einen univerſellen Charakter hat, und nach Humanität trachtet, ſo verwirft er grund - ſätzlich jede Beſchränkung des Völkerrechts auf beſtimmte Völker und will allen Völkern gerecht werden. Dieſe Wahrheit war ſchon von Pufendorf und Montesquieu klar gemacht worden, und dennoch hat bis tief ins neunzehnte Jahrhundert hinein die mittelalterliche Beſchränkung auf die chriſtlichen Staten in der Litteratur und in der Praxis ſich erhalten.
So weit das Recht der Menſchheit reicht, ſo weit reicht das Völker - recht. Wo die Eigenthümlichkeit der Staten beginnt, da tritt das beſondere Geſetz dem allgemeinen vor.
Das Völkerrecht hebt die Selbſtändigkeit und Freiheit der Staten nicht auf, ſondern ſetzt dieſelbe voraus und achtet ſie.
Die Ausbildung des Statsrechts iſt der des Völkerrechts vorausgegangen; die Völker ſorgten zunächſt für ſich, und waren anfangs geneigt, die andern Völker als ihre natürlichen Feinde anzuſehen. Spät erſt erweiterte ſich ihr Blick auf das Allgemeine, was ſie zuſammenhält, und ſie lernten in den andern Völkern ihre Brüder erkennen.
Das Völkerrecht nöthigt nur inſoweit einen Stat, ſein bisheriges Sonderrecht außer Wirkſamkeit zu ſetzen oder abzuändern, als daſſelbe mit den nothwendigen Geſetzen des Völkerrechts unverträglich erſcheint.
Die Unterdrückung des Sclavenhandels und der Sclavenmärkte in vielen amerikaniſchen und aſiatiſchen Ländern, das Verbot des Seeraubs gegenüber den Barbareskenſtaten von Nordafrika, die Nöthigung der oſtaſiatiſchen Reiche, dem Welt - handel Thore und Wege zu öffnen, mögen als Beiſpiele dienen.
Da die Menſchheit, obwohl ihrer natürlichen Gemeinſchaft und Ein - heit bewußt geworden, doch nicht als Eine Geſammtperſon und noch nicht einmal als eine Rechtsgenoſſenſchaft organiſirt iſt, ſo wird auch das gegen - wärtige Völkerrecht nicht in der Form eines einheitlichen Weltgeſetzes noch in der von ſtatutariſchen Mehrheitsbeſchlüſſen geordnet und verkündet.
Man kann ſich die Menſchheit als eine einheitliche Geſammtperſon, d. h. als Weltſtat denken, ſei es nun in Form einer Weltmonarchie oder eines die Welt umfaſſenden Bundesſtats. (Vgl. Bluntſchli Allgem. Statsrecht Buch 1. Cap. 2.) Aber dieſer Gedanke hat noch keine geſchichtliche Verwirklichung erlebt; es fehlt ſomit an einem Organ für die Weltgeſetzgebung. Unſerer Zeit liegt der Gedanke einer genoſſenſchaftlichen Verbindung der Staten, zunächſt der europäiſchen, näher, aber ſelbſt ein ſolcher allgemeiner Statenbund exiſtirt noch nicht und daher gibt es auch keine rechtliche Möglichkeit, durch Mehrheitsbeſchlüſſe für die ganze Verbindung Vorſchriften zu geben.
Die heutige Welt muß ſich daher mit der weniger vollkommenen58Erſtes Buch.Offenbarung des Völkerrechts begnügen, welche in der möglichſt allgemeinen und gleichmäßigen Anerkennung der einzelnen Staten, vorzüglich der civiliſirten Staten liegt.
Da nur die Einzelſtaten als formale Autorität exiſtiren, nicht ihr Ver - band, ſo iſt der Widerſpruch zwiſchen dem univerſellen Inhalt des Völker - rechts und der particulariſtiſchen Form ſeiner Ausſprache nicht zu vermeiden. Das Völkerrecht erſcheint daher als ein Werk der Einzelſtaten, während es in Wahr - heit das Erzeugniß ihres Gemeinbewußtſeins iſt.
Die engliſche Regierung berief ſich im Jahre 1753 in einem Streit mit König Friedrich II. von Preußen auf dieſe urſprüngliche Quelle des Völkerrechts mit den Worten: „ Das Völkerrecht iſt gegründet auf Gerechtigkeit und Billigkeit, auf die Natur der Sache und wird beſtätigt durch lange Uebung. “ (Phillimore Intern-Law 1. 21.)
Die Anerkennung völkerrechtlicher Grundſätze kann von den Staten ausgeſprochen werden ſowohl in völkerrechtlicher als in ſtatsrechtlicher Form.
Sie kann gemeinſam von mehreren Staten ausgeſprochen werden auf Congreſſen der Statshäupter mit ihren Miniſtern oder in Conferenzen ihrer Geſanten, durch Protokolle oder in Statsverträgen, ſie kann aber auch einſeitig durch Geſetze oder Verordnungen der Einzelſtaten erklärt oder in der völkerrechtlichen Uebung dargeſtellt werden.
1. Der Unterſchied der Congreſſe und der Conferenzen iſt ein fließen - der. Wenn die Statshäupter (Fürſten) ſelber zu gemeinſamen Beſchlüſſen zuſammen - treten, ſo wird dieſe Zuſammenkunft Congreß genannt; wenn nur die Geſanten zu - ſammen berathen, ſo heißt das Conferenz. Aber der Charakter des Congreſſes wird nicht verletzt, wenn etwa, wie z. B. auf dem deutſchen Fürſtencongreß zu Frank - furt am Main 1863 anſtatt eines regierenden Königs ſein dazu ermächtigter Sohn oder nach Umſtänden ein anderer Bevollmächtigter an den Verhandlungen Theil nimmt. Der Congreß kann ſogar ohne Fürſten, lediglich aus Bevollmächtigten der Staten zuſammen treten. Umgekehrt es kann auch ein Souverain gelegentlich an den Berathungen der Geſanten Theil nehmen, ohne daß die Conferenz um deßwillen zum Congreſſe wird. Auf den Congreſſen werden entſcheidende Beſchlüſſe gefaßt, auf den Conferenzen werden dieſelben vorbereitet. Zum Congreß können daher nur beſchlußfähige Perſonen zuſammentreten, an Conferenzen auch Perſonen Theil nehmen, welche nicht beſchlußfähig ſind.
2. In den Protokollen werden die gemeinſamen Erklärungen und Beſchlüſſe aufgezeichnet, ausnahmsweiſe auch die Vorbehalte einzelner vertretener Staten ange - merkt. Die gemeinſame Erklärung des übereinſtimmenden Willens iſt nur dann ein wirklicher Vertrag, wenn dieſer Wille dahin gerichtet, ſich je den andern Parteien59Begründung. Natur und Gränzen des Völkerrechts.gegenüber dadurch zu verbinden, nicht aber wenn in demſelben nur die Ueberzeugung kund gegeben wird von dem, was allgemeine Rechtsordnung ſei und daher auch von jedem State beachtet werden müſſe (§ 13). Was völkerrechtlich im Gewande des Vertragsrechts erſcheint, iſt bei näherer Prüfung oft dem Weſen nach Geſetzes - recht, d. h. eine Rechtsregel, deren nothwendig verbindliche Kraft durch den Vertrag nur anerkannt und beſtätigt, nicht erſt neu begründet wird.
3. Wenn die Geſetze und Verordnungen der Einzelſtaten völkerrechtliche Ver - hältniſſe regeln, ſo ſind ſie deßhalb eine Quelle des Völkerrechts, obwohl ſie der for - mellen Betrachtung ſich nur als ſtatsrechtliche Acte darſtellen. Dahin gehören z. B. die Priſenreglemente, das Nordamerikaniſche Neutralitätsgeſetz u. ſ. f.
Die Uebereinſtimmung der Völker (consensus gentium) wirkt mehr noch als Ausdruck des gemeinſamen Rechtsbewußtſeins der Menſchheit denn als Willensäußerung der einzelnen Staten.
Der Widerſpruch eines einzelnen Stats genügt daher ebenſo wenig, ihn von den offenbaren Pflichten des Völkerrechts zu entbinden, als die Nichtbeachtung einer Rechtsregel in einzelnen Fällen die Uebereinſtimmung der Völker zu entkräften vermag.
1. Der Conſens der Völker bleibt nicht unveränderlich. Er wandelt ſich mit der Zeit und entwickelt ſich mit dem Bewußtſein des Menſchengeiſtes. In den Uebungen der Völker wird ſowohl das Beharrliche als das Veränderliche darin offenbar (§ 14).
2. Das ſogenannte „ conventionelle “, d. h. auf Vertragswillen beruhende Völkerrecht iſt nur bindend für die Vertragsparteien; das nothwendige Völkerrecht dagegen bindet, ſoweit ſeine Nothwendigkeit reicht, auch die Staten, welche ſich nicht erklärt haben, ja ſogar diſſentirende Staten. Die Zweifel, ob ein Rechts - ſatz nothwendig oder nur conventionel ſei, ſind nicht durch den bloßen Hinweis auf einen Staatsvertrag zu beſeitigen, welcher denſelben ausſpreche, denn in dem Ver - trage kann ſowohl conventionelles Recht willkürlich feſtgeſtellt als nothwendiges Recht gemeinſam ausgeſprochen worden ſein. Vgl. unten §. 110.
Aus den Uebungen und Sitten der Völker darf man auf ihr Rechts - bewußtſein und auf die Rechtsgeſetze ſchließen, welche darin ſichtbar werden. Auch die Uebungen ſind nicht unveränderlich noch unverbeſſerlich. Die Vervollkommnung des Völkerrechts zeigt ſich in den verbeſſerten und ver - edelten Uebungen der Völker.
1. Bynkershoek de Reb. belli praef.: „ Ut mores gentium mutan -60Erſtes Buch.tur, et mutatur jus gentium. “ Quaest. Jur. Publ. II. 7. „ Inter mores gen - tium, quae nunc sunt et olim fuerunt, sollicite distinguendum est; nam mo - ribus censetur praecipua pars juris gentium. “ De foro leg. praef.: „ Scio ex sola ratione aliud atque aliud placere posse; sed scio eam rationem vincere, quam usus probavit. Vgl. auch die Erklärung des engliſchen Oberrichters Lord Stowell bei Phillimore I. 46.
2. Gefährlich und ungenau iſt der Ausdruck bei Vattel Prélim. §. 26.: Lorsqu’une coutume, un usage est généralement établi, si elle est utile et raisonnable, elle devient obligatoire pour toutes ces nations-là, qui sont censées y avoir donné leur consentement; et elles sont tenues à l’observer les unes envers les autres, tant qu’elles n’ont pas déclaré expressément ne vouloir plus la suivre. Soweit in jenen Uebungen nothwendiges Recht offen - bar wird, dürfen ſich die Staten nicht losſagen; nur ſo weit ſie willkürlich ſind, können ſie auch willkürlich beſeitigt werden.
Wenn die herkömmlichen Uebungen im Widerſpruch ſind mit den ewigen Grundſätzen des natürlichen Menſchenrechts oder von dem fortſchrei - tenden Rechtsbewußtſein der civiliſirten Völker gemißbilligt werden, ſo ſind dieſelben nicht oder nicht mehr rechtsverbindlich für die einzelnen Staten und iſt eine Verbeſſerung derſelben nothwendig.
Die Abſchaffung der Sclaverei und des Beuterechts iſt überall im Gegenſatz zu den alten Uebungen der Staten durch Verbeſſerung der Völkerſitte eingeführt worden.
Wie in den Uebungen der Völker ſo iſt auch in den Aeußerungen erleuchteter Statsmänner und in den Werken der Wiſſenſchaft das Rechts - bewußtſein der civiliſirten Menſchheit ausgeſprochen. Inſofern die Wiſſen - ſchaft das Recht darſtellt, dient ſie der Klarheit des Rechts und der Ver - breitung der Rechtskunde; in wiefern ſie eine Autorität über die Menſchen übt und die Handlungen und das Verhalten der Staten beſtimmt, wirkt ſie an der Fortbildung der Rechtsordnung ſelber mit.
Hugo Grotius I. 1. XIV. „ Probatur (jus gentium) pari modo quo jus non scriptum civile, usu perpetuo et testimonio peritorum. “ Kent (Comm. of th. Am. Law. I. p. 19.): „ In cases where the principal jurists agree, the prasumption will be very great in favour of the solidity of their maxims. “ Die Autorität der Rechtswiſſenſchaft iſt freilich nur eine Folge des Glaubens an ihre Erkenntniß des Rechts, das vor ihr ſchon da war, und nicht wie die Autorität des Geſetzgebers eine urſprüngliche Rechtsmacht. Aber61Begründung. Natur und Gränzen des Völkerrechts.der Mangel einer völkerrechtlichen Geſetzgebung erhöht den Werth der ſecundären Rechtsquellen. Indem die Wiſſenſchaft vornehmlich das Völkerrecht vernunftmäßig begründet und mit Autorität verkündet, hilft ſie jene Lücke ausfüllen. Hugo Groot hat in ſeinem berühmten Werk, welches die Grundlage der neuern Wiſſenſchaft vom Völkerrecht geworden iſt, ſich vornehmlich auf die Zeugniſſe weiſer Männer berufen, und iſt dann ſelber wieder zur Autorität für die Nachfolger geworden. Wenn heute Wheaton und Phillimore, Wildmann und Kent, Heffter und Oppen - heim einig ſind in der Darſtellung eines Rechtsſatzes, ſo wird man, auch ohne ver - tragsmäßige Beurkundung und trotz zweifelhafter Uebung geneigt ſein, denſelben als modernes Völkerrecht zu betrachten. Freilich hat die kritiſche Prüfung den Ausſprü - chen der Schriftſteller gegenüber eine größere Freiheit als bezüglich des Vertragsrechts.
Die Staten ſind völkerrechtliche Perſonnen.
Die Perſönlichkeit iſt eine nothwendige Eigenſchaft der Staten. Perſon im rechtlichen Sinne des Worts heißt ein Weſen, welches fähig iſt, Rechte zu erwerben und zu behaupten und Verpflichtungen auf ſich zu nehmen. Indem der Stat innerhalb ſeines Gebietes die Rechtsordnung ſelbſtändig ordnet, iſt er die höchſte Rechtsperſon. Indem der Stat nach außen mit andern Staaten in Rechtsverhältniſſe eintritt, bewährt ſich ſeine völkerrechtliche Perſönlichkeit.
Das Völkerrecht verbindet die verſchiedenen Staten zu einer gemein - ſamen Rechtsordnung, ſowohl repräſentative als abſolute, monarchiſche, wie republikaniſche, große und kleine Staten. Es fordert keine beſtimmte Verfaſſungsform oder Größe. Wo immer eine Völkerſchaft zu einem regie - rungsmäßig geordneten Ganzen in einem beſtimmten Lande dauernd ver - bunden iſt, da wird ſie völkerrechtlich als Stat betrachtet.
Die Verfaſſung des States wird zunächſt nach den innern Verhältniſſen eines Volks beſtimmt. Sie iſt die Organiſation des politiſchen Körpers des betreffenden Volks, und bildet die Grundlage des Statsrechts. Erſt wenn der ſchon organi - ſirte Stat nach außen als Perſon erſcheint und ſich geltend macht, beginnt für ihn die völkerrechtliche Beziehung. Vgl. §§. 39 f. 115 f.
Eine vorübergehende Anarchie hindert die Fortdauer eines States nicht, wenn die Reorganiſation desſelben in Ausſicht bleibt.
Die regierungsmäßige Ordnung kann in einem State momentan durch Auf - ſtände oder Revolution erſchüttert oder zerſtört werden. Dadurch wird die Perſön - lichkeit des States nicht aufgehoben, ſo wenig als der Einzelmenſch dieſelbe einbüßt, wenn der Fieberzuſtand ſeine Handlungsfähigkeit hindert. Frankreich war zur Zeit der Septembermorde 1793 noch ein Stat, wie Neapel, als die Banden Ruffos die Hauptſtadt mit ihren Gräueln erfüllten, Juni 1799. Die Auflöſung der Statsord - nung zieht aber den Untergang eines States dann nach ſich, wenn die Wiederher - ſtellung oder die Neugeſtaltung der Ordnung innerhalb des Volks und Landes als unmöglich erſcheint. Das iſt nur der Fall, wenn eine barbariſche Raſſe die Zügel des Stats abwirft, wie in den Negeraufſtänden von St. Domingo 1791 oder wenn eine ſtatsfeindlich geſinnte Menge, wie die Wiedertäufer im ſechszehnten Jahrhundert und die Communiſten in neuerer Zeit mit Erfolg den Stat verneinen.
Nomadenvölker gelten nicht als Stat, weil ſie keine feſten Wohnſitze und kein eigenes Land haben; aber inſofern ſie als Völker geordnet ſind und durch ihre Häupter oder ihre Verſammlungen einen gemeinſamen öf - fentlichen Willen haben, werden ſie den Staten ähnlich behandelt und können völkerrechtliche Verträge ſchließen. Die allgemein-menſchlichen Pflich - ten des Völkerrechts liegen auch ſolchen Völkern ob.
Den Wanderſtämmen fehlt es an der Stätigkeit und meiſtens auch an einer wirkſamen Einheit. Sie ſind hinter der Statenbildung zurück geblieben. Nur wenn ſie ſich dauernd in einem Lande niederlaſſen, wie vormals die Juden in Paläſtina, die arabiſchen Nomaden in Bagdad und Syrien und an den Küſten des Mittel - meeres, die Mongolen in China, die Türken in dem oſtrömiſchen Reiche, kön - nen ſie neue Staten bilden. Aber auch während ſie wandern, ſind die Staaten, in deren Gebiet oder an deren Grenzen ſie ſich umher treiben, genöthigt, mit ihnen einzelne Rechtsverhältniſſe durch völkerrechtliche Verträge zu ordnen oder ſie zur Be - achtung völkerrechtlicher Pflichten anzuhalten. Die Staten haben ein Recht, den Menſchenraub der Turkmannen zu verhindern und die Beduinen und Kir - giſen zu nöthigen, daß ſie die Pflanzungen der civiliſirten Nationen reſpectiren, wenn gleich jene Völker nicht das Recht von Staten haben.
Dasſelbe gilt von Statsvölkern mit einer Regierung, welche ihr bis - heriges Land verlaſſen, um ein neues Gebiet in Beſitz zu nehmen. Sie65Völkerrechtliche Perſonen.ſind inzwiſchen nicht Staten und daher nicht Mitglieder der Völkergenoſſen - ſchaft, aber ſie dürfen ſich den allgemeinen Pflichten nicht entziehen und können völkerrechtliche Verträge ſchließen.
Zur Zeit der großen Völkerwanderung zu Anfang des Mittelalters fand die - ſer Satz öftere Anwendung. In der heutigen Welt ſind die Staten feſter geworden; aber unmöglich iſt eine Erneuerung ſolcher Auswanderungen nicht, wie ſchon die Hinweiſung auf den Mormonenſtat zeigt.
Die Staten ſind die Träger und Garanten des Völkerrechts und in - ſofern völkerrechtliche Perſonen im höchſten Sinne des Worts.
Erſt ſeit der Auflöſung der Einen romano-germaniſchen Chriſtenheit des Mittelalters in eine Anzahl ſelbſtändiger europäiſcher Staten iſt das heutige Völker - recht entſtanden. Es ruht auf der Nothwendigkeit des menſchlich geordneten Neben - einander der Staten, es wird gehandhabt durch die Autorität und geſchützt durch die Macht dieſer Staten. Käme es zu einer neuen einheitlichen Geſammtordnung und zu gemeinſamen Organen ihres Willens, ſo würde die gegenwärtige nicht organiſirte Völkergenoſſenſchaft zum organiſirten Weltreich geeinigt, und das heutige Völkerrecht in die Form des Weltrechts in höherem Sinne übergehen. Vgl. oben § 10.
Die einzelnen Menſchen ſind keine völkerrechtliche Perſonen in dieſem Sinne. Aber ſie haben Anſpruch auf den Schutz des Völkerrechts, wenn in ihrer Perſon die von dem Völkerrecht gewährleiſteten Menſchenrechte mißachtet worden ſind.
Die Anlage zum Weltbürgerrecht iſt bereits ſichtbar, aber ihre Ausbildung iſt nur möglich, wenn es zu der politiſchen Organiſation der Welt kommen wird. Der Einzelne iſt zunächſt als Individuum eine Privatperſon, ſodann hat er als Bürger der Gemeinde und des Stats Antheil an den öffentlichen Rechten der Ge - meinde und des Stats. Dort hat er auf Privatrecht, hier auf Statsrecht Anſpruch. Auch ſeine Menſchenrechte werden zunächſt im State und durch die Rechtspflege des States geſchützt. Seine menſchliche Perſönlichkeit reicht aber über den Stat hinaus. „ Das gemeinſame Vaterland iſt die Erde “. Heffter §. 15. Daher kann auch der Einzelmenſch vorzüglich als Landesfremder in Beziehungen kommen, welche durch das Völkerrecht geſchützt werden. Gäbe es ein Weltreich, ſo wäre er in dieſem Weltbür - ger. Da es nur ein lockeres Nebeneinander der Staten gibt, ſo iſt er genöthigt, zu - nächſt bei dem State, dem er als Statsgenoſſe angehört, auch die völkerrechtliche Hülfe zu ſuchen. Indeſſen zeigt ſich auch darin die noch unvollſtändig entwickelte Anlage zu höherer Statengemeinſchaft, daß auch fremde Staten ſich aus völkerrecht - lichen Gründen des verletzten „ Weltbürgers “annehmen können, und oft an -Bluntſchli, Das Völkerrecht. 566Zweites Buch.nehmen, wenn es an dem Schutz des genöſſiſchen States fehlt. In unzähligen Fällen ſind ſo in Aſien Europäer von engliſchen oder ruſſiſchen Geſanten geſchützt worden, die weder dem engliſchen noch dem ruſſiſchen Statsverband angehörten.
Auch die Parteien, ſelbſt die organiſirten Kriegsparteien gelten, wenn ſie nicht Staten ſind, nicht als völkerrechtliche Perſonen im eigentlichen Sinn, obwohl ſie völkerrechtliche Pflichten zu beachten und je nach Um - ſtänden durch das Völkerrecht geſchützte Anſprüche haben.
Ein Verſuch zur Statenbildung zeigt ſich zuweilen in der Organiſation von Kriegsparteien, welche ſich ſtatliche Macht aneignen. Aber ſo lange ſie es nicht zu wirklicher Statenbildung gebracht haben, können ſie auch nicht als Glieder des Staten - vereins angeſehen werden. Von der Art waren z. B. die aufſtändiſchen Bewohner der Vendée, während der franzöſiſchen Revolution, die Tyroler im Jahr 1809, das Corps von Schill 1813, die Freiſchaar Garibaldi’s 1860. Vgl. unten Buch VIII. Cap. I.
Nationale Gemeinſchaften, welche keine ſtatliche Organiſation erhalten haben, ſind weder im Stats - noch im Völkerrecht Perſonen geworden. Aber ſoweit in ihnen das allgemeine Menſchenrecht zu ſchützen iſt, iſt der Schutz des Völkerrechts begründet.
Inwiefern die Nationen zugleich politiſche Völker geworden ſind oder den Hauptſtoff von Völkern bilden, bedürfen ſie keines beſondern völkerrechtlichen Schutzes. Der Statsſchutz genügt. Wohl aber wird ein völkerrechtlicher Schutz Bedürfniß, wenn Nationen, welche nicht im State eine politiſch geſicherte Stellung haben, in einer das Menſchenrecht mißachtenden Weiſe von dem State ſelber unter - drückt werden, auf deſſen Schutz ſie zunächſt angewieſen ſind. Es iſt ein auffallender Mangel des zeitigen Völkerrechts und eine Ueberſpannung der Statsſouveränetät, daß für dieſen Schutz noch ſo wenig geſorgt iſt. Die gewaltſame Ausrottung der bar - bariſchen Ureinwohner in dem Machtgebiete europäiſcher und amerikaniſcher Colonien, wie z. B. der Indianer in Amerika, iſt eine Verletzung des Völkerrechts. Aber auch die zeitweiſen Judenhetzen in europäiſchen Staten ſind nicht bloß ſtats - ſondern ebenſo völkerrechtswidrig.
Die chriſtlichen Kirchen ſind keine völkerrechtlichen Perſonen im obi - gen Sinn, indem ſie nicht Träger und Garanten des Völkerrechts ſind, aber ſie ſind den Staten ähnliche Perſonen und können mit den Staten67Völkerrechtliche Perſonen.in Rechtsbeziehungen treten, welche einen mehr oder weniger ausgeprägten völkerrechtlichen Charakter haben.
Im Mittelalter betrachtete ſich die römiſch-katholiſche Kirche als oberſte völkerrechtliche Autorität. Das heutige Völkerrecht aber beruht nicht auf einer reli - giöſen und kirchlichen, ſondern allein auf politiſcher und ſtatlicher Autorität. Aber es erkennt die Perſönlichkeit der Kirchen an und betrachtet die Verträge zwiſchen Kirche und Stat beſonders dann ähnlich wie die Verträge zwiſchen Stat und Stat, wenn die Kirche nicht bloß auf das Statsgebiet begränzt iſt, und ihr ſelbſtändiger Charakter auch in der Organiſation ausgebildet erſcheint. Am deutlich - ſten zeigt ſich das in den Concordaten zwiſchen einzelnen Staten und dem päpſt - lichen Stuhl. Aber auch eine Landeskirche kann vertragsmäßige Rechte haben gegenüber dem State, mit dem ſie verbunden iſt. Nur wird dann das Verhältniß eher einen ſtats - oder privatrechtlichen, ſeltener einen völkerrechtlichen Cha - rakter haben.
Die Statshäupter (Souveräne) und die Geſanten der Staten ſind nur in abgeleitetem Sinne als völkerrechtliche Perſonen inſofern zu betrach - ten, als ſie als Organe oder Repräſentanten der Staten erſcheinen und mit andern Staten in Beziehung treten.
Es gilt das nicht allein von den Fürſten, ſondern auch von republikaniſchen Regierungen, ebenſo nicht bloß von den eigentlichen Geſanten, ſondern von den diplo - matiſchen Perſonen überhaupt. Sie alle aber ſind nur völkerrechtliche Perſonen in mittelbarem Sinne, durch Vermittlung der Staten als der eigentlichen völker - rechtlichen Perſonen. Hören ſie auf, Organe oder Vertreter der Staten zu ſein, ſo erliſcht damit ihre völkerrechtliche Bedeutung von ſelbſt.
Die neue Statenbildung iſt ein geſchichtlicher Vorgang in dem poli - tiſchen Leben der Völker.
Das Völkerrecht ſchafft nicht neue Staten, aber es verbindet die gleichzeitig vorhandenen Staten zu einer gemeinſamen menſchlichen Rechts - ordnung.
5*68Zweites Buch.Das Völkerrecht erkennt die dauerhaften Ergebniſſe der Weltgeſchichte als rechtsbeſtändig an.
Bei der Statenbildung wirken verſchiedene politiſche Kräfte zuſammen, der Ordnung und der Freiheit, der Macht und des Willens, der inſtinctiven Triebe und des leitenden Gedankens, der inneren oder äußeren Nöthigung und der freien Selbſt - beſtimmung. Je nachdem ein Factor als entſcheidende Autorität erkannt und aner - kannt wird, erhält der Stat ſeine beſondere Verfaſſungsform, denn wer die höchſte Autorität hat, der nimmt gewöhnlich die Zügel des Regiments in ſeine Hand. Nur die Geſchichte macht es offenbar, ob ein Fürſt, oder eine Ariſtokratie oder die Ge - meinde der Bürger die öffentlichen Angelegenheiten leite. Das Alles ſind nicht völ - kerrechtliche ſondern ſtatsrechtliche Bildungen und Beſtimmungen (Bluntſchli, Allg. Statsrecht. Buch III.). Das Völkerrecht ſetzt das Nebeneinander der Staten voraus, wie ſie geſchichtlich geworden ſind. Die vorhandenen Staten verpflichtet es, gemeinſame Rechtsgrundſätze zu beachten.
Da das Völkerrecht ſelbſt durch die Weltgeſchichte fortgebildet wird, ſo muß es auch im übrigen die Ergebniſſe der Weltgeſchichte reſpectiren.
Die Frage, ob, aus welchen Urſachen und in welcher Form ein neuer Stat entſtanden ſei, iſt voraus ſtatsrechtlich.
Die Frage dagegen, ob und in welcher Stellung ein neu gebildeter Stat in der Genoſſenſchaft der Staten Zutritt erhalte, iſt weſentlich völ - kerrechtlich.
Die Aufnahme des neuen States in die völkerrechtliche Staten - gemeinſchaft geſchieht durch die Anerkennung der bisherigen Staten.
Die Frage, ob ein wirklicher Stat exiſtire, und was für eine Verfaſſung er habe, iſt zunächſt eine Frage, welche ohne Rückſicht auf andere Staten lediglich im Hinblick auf das beſtimmte, zu einem Stat geeinigte und in einem beſonderen Lande organiſirte Volk, d. h. welche ſtats - nicht völkerrechtlich zu beant - worten iſt. Aber wenn ein neuer Stat mit andern Staten in Beziehungen tritt, dann iſt für dieſe die Ueberlegung nöthig, ob auch wirklich eine neue Statsperſönlichkeit da ſei, auf welche die Rechte und Pflichten des Völkerrechtes paſſen. Als die nord - amerikaniſchen Colonien ſich von England losriſſen, war dieſer geſchichtliche Vorgang zunächſt ein Ereigniß innerhalb des engliſchen Stats und vorerſt nach engliſchem Statsrecht zu beurtheilen; in dem Maße aber, in welchem die Colonien ihre Selb - ſtändigkeit erkämpften und zu neuen Staten wurden, entſtand ein neues Stats - recht der nordamerikaniſchen Republiken, und in Folge deſſen eine neue völker - rechtliche Beziehung derſelben zu andern Staten. Die Frage, ob dieſe Staten auch von den übrigen europäiſchen Staten anerkannt werden ſollen, war nach völker -69Völkerrechtliche Perſonen.rechtlichen Grundſätzen zu entſcheiden. Wie die Statenbildung ſo geht auch das Statsrecht in dieſen Dingen dem Völkerrechte vorher.
Die Anerkennung des bei der Neubildung betheiligten und vielleicht dadurch verletzten alten Stats hat eine ſtärkere Wirkung als die Anerken - nung von Seite der unbetheiligten und daher neutralen Staten, aber es iſt nicht nothwendig, daß die erſtere der letzteren vorausgehe, wenn gleich ſie einmal vollzogen eher die letztere nachzieht.
Die Anerkennung von Seite des alten betheiligten States hebt die Zweifel und beendigt den Streit über die Neubildung. Sie drückt derſelben daher den Stem - pel der Rechtmäßigkeit auf. Vgl. darüber die Rede des Miniſters Canning bei Phillimore II. §. 11. Aber es wird dem betheiligten alten Stat oft ſchwerer, den neuen Stat anzuerkennen, als den unbefangenen dritten Staten. So hat, um nur Beiſpiele aus dem letzten Jahrhundert zu geben, Frankreich früher die Ver - einigten Staten von Nordamerika anerkannt, als der Mutterſtat England, und hinwieder England früher die ſüdamerikaniſchen Staten als der Mutterſtat Spanien, die meiſten europäiſchen Mächte früher das Königreich Italien, als das mittelbar betheiligte Oeſterreich und dieſes früher als das unmittelbar betheiligte Papſtthum.
So lange noch der offene Kampf über die neue Statenbildung fort - dauert und es demgemäß zweifelhaft iſt, ob wirklich ein neuer Stat ent - ſtanden ſei, iſt kein anderer Stat verpflichtet, den neuen Stat anzuerkennen.
Beiſpiele aus neuerer Zeit ſind die eine Zeit lang verfehlten Verſuche der ſüdamerikaniſchen Colonien ſich loszureißen von den Mutterſtaten, die unglücklichen Kämpfe der Polen 1830 / 32, 1863 und der Magyaren 1848 / 49 für Herſtellung eines beſonderen States, der nordamerikaniſche Südbund 1861 — 1865.
Es kommt, in Ermanglung eines Weltgerichts, jedem vorhandenen State zu, ſelbſtändig zu beurtheilen, ob die Neubildung eines States den zeitigen Bedürfniſſen des Völkerlebens entſpreche und eine ausreichende ſtatliche Kraft vorhanden ſei, um der Neubildung Sieg und Dauer zu verleihen. Wenn er ſich überzeugt, daß dieſe Fragen zu bejahen ſeien, ſo iſt er auch berechtigt, den neuen Stat als Stat anzuerkennen, obwohl der Kampf noch fortdauert.
70Zweites Buch.In dieſer frühzeitigen Anerkennung liegt keine Theilnahme an dem Kampf und keine Rechtsverletzung gegen den Stat, welcher ſeinerſeits die neue Statenbildung bekämpft.
Beiſpiele ſind die Anerkennung der Vereinigten Staten durch Frank - reich im Jahr 1778 während des engliſch-amerikaniſchen Kriegs und die Verhand - lungen zwiſchen Frankreich und England darüber (vgl. Wheaton (hist. d. Droit des gens I. p. 354) die Anerkennung der ſüdamerikaniſchen Staten durch England 1825 (Depeſchen von Canning bei Phillimore II. App. 1.), der Vertrag zwiſchen England, Frankreich und Rußland vom 6. Juli 1827 über Griechenland als einen neuen Stat, die Anerkennung des Königreichs Bel - gien durch die V Mächte 1830 trotz der Einſprache des Königs der Niederlande, die Anerkennung des Königreichs Italien auch in dem Neapolitaniſchen Gebiete und in der Romagna durch England, während der König Franz II. von Neapel noch in Gaëta ſich zu halten ſuchte. (Vgl. die merkwürdige Note Lord Ruſſels vom 27. Oct. 1860.)
Die frühzeitige Anerkennung kann jedoch in der Abſicht geſchehen, ſich an dem Kampfe zu betheiligen und für die ſtatenbildende Macht Partei zu ergreifen. In dieſem Falle iſt der Stat, welcher die neue Staten - bildung mit Kriegsgewalt zu verhindern ſucht, berechtigt, jene Handlung als eine feindliche That zu betrachten und demgemäß zu handeln.
Vgl. Anm. zu §. 32. England hat in Folge der frühen Anerkennung der Vereinigten Staten durch Frankreich 1778 ſeinen Geſanten von Paris abgerufen, und darin einen casus belli geſehen. Die Proclamation des franzöſiſchen Nationalconvents an die Völker vom 19. Nov. 1793 und das An - erbieten der Bundesgenoſſenſchaft war eine active Begünſtigung und Theilnahme an der Neugeſtaltung republikaniſcher Staten, ebenſo die Unterſtützung der helveti - ſchen Republik durch die franzöſiſche wider die alten Republiken der Eid - genoſſenſchaft 1798.
Kein Stat iſt verpflichtet, den neuen Stat ſofort nach dem ſieg - reichen Durchbruch der neuen Statenbildung anzuerkennen, wenn noch eine ernſte Gefahr in Ausſicht iſt, daß der Kampf um deſſen Exiſtenz erneuert werde, indem ebendeßhalb ſeine Fortdauer noch als zweifelhaft betrachtet werden kann.
Aber jeder Stat iſt berechtigt, trotz ſolcher Zweifel im Vertrauen auf71Völkerrechtliche Perſonen.die Lebenskraft des neuen Stats, demſelben ſeine Anerkennung zu ge - währen.
Um deßwillen geſchieht die Anerkennung neuer Staten gewöhnlich nicht gleich - zeitig durch die übrigen Staten, ſondern nur ſtufenweiſe und allmählich, je nachdem dieſelben derartigen Zweifeln ein geringes oder ein ſchweres Gewicht beilegen. Natürlich hat bei der Schätzung des Zweifels auch die Neigung oder Abneigung einigen Einfluß, und es wirken auch die politiſchen Intereſſen bald verzögernd bald förderlich ein.
Der neu gebildete Stat hat ein Recht auf Eintritt in die völker - rechtliche Statengenoſſenſchaft und auf Anerkennung von Seite der übrigen Staten, wenn ſein Beſtand unzweifelhaft und geſichert iſt. Er hat dieſes Recht, weil er exiſtirt und das Völkerrecht die in der Welt exiſtirenden Staten zu gemeinſamer Rechtsordnung verbindet.
Die Anerkennung eines wirklichen States durch andere Staten erſcheint frei - lich in der Form eines freien Actes ſouveräner Staten, aber ſie iſt doch nicht ein Act der abſoluten Willkür, denn das Völkerrecht verbindet die vor - handenen Staten auch wider ihren Willen zu menſchlicher Rechtsgemeinſchaft. Die in der älteren Litteratur vielfältig vertretene Meinung, daß es von dem bloßen Be - lieben eines jeden States abhänge, ob er einen andern Stat anerkennen wolle, oder nicht, verkennt die Rechtsnothwendigkeit des Völkerrechts und wäre nur dann richtig, wenn das Völkerrecht lediglich auf der Willkür der Staten beruhte, d. h. bloßes Vertragsrecht wäre.
So wenig ein beſtehender Stat ſich der völkerrechtlichen Gemeinſchaft willkürlich entziehen kann, ebenſo wenig können die übrigen Staten einen beſtehenden Stat willkürlich aus dem Völkerverband ausſchließen.
Die Pflicht zu völkerrechtlicher Anerkennung wird nicht durch die Rückſicht darauf aufgehoben, daß die Statenbildung nicht ohne Gewaltthat und Unrecht zu Stande gekommen ſei, indem das Völkerrecht die wirk - lichen Staten auch dann verbindet, wenn ſie Unrecht thun und die Frage, ob ein wirklicher Stat da ſei, nicht von der Untadelhaftigkeit ſeiner Geburt abhängt.
Die Bildung neuer Staten geht faſt niemals ohne Gewalt vor ſich; indem72Zweites Buch.dabei Kräfte, die bis dahin nicht im Beſitz der Statsgewalt waren, dieſe durch Kampf mit andern Gewalthabern erſtreiten müſſen. Man braucht nur die Entſtehungs - geſchichte der gegenwärtigen Staten näher zu prüfen, ſo wird man überall wahr - nehmen, daß die alten Autoritäten und das geſchichtliche alte Recht der neuen Statenbildung ihren Widerſtand entgegen zu ſetzen verſucht haben und daß die neue Rechtsbildung genöthigt war, dieſen Widerſtand zu überwältigen. Kriege, Revo - lutionen, Uſurpationen haben einen weit größeren Antheil an der Bildung neuer Staten als friedliche Verträge, oder freiwillige Verleihungen und unwiderſprochene Statsacte. Für das Völkerrecht iſt aber immer entſcheidend die Exiſtenz der Staten. Da dieſe Rechtsperſonen ſind, ſo müſſen ſie als ſolche betrachtet und ihre Beziehungen zu einander menſchlich geregelt werden. Die Mängel in der Rechtsform der Entſtehung haben gewöhnlich nur eine ſtatsrechtliche Bedeutung und werden auch ſtatsrechtlich geheilt. Das Völkerrecht braucht ſich nicht darum zu kümmern. Nur wenn im Kampf mit einem andern State die Neu - bildung durchgeführt wird, wird dieſe Frage zu einer völkerrechtlichen. Davon handelt der folgende Artikel.
Wenn ein Stat, deſſen Rechte bei der Neubildung eines andern States verletzt worden ſind, außer Stande iſt, dieſe Neubildung und den Beſtand des neuen States zu verhindern, ſo hat er auch das Recht nicht, demſelben ſeine Anerkennung länger zu verſagen.
Der Gang der Weltgeſchichte, in welchem ſich die dauernde Macht der Verhältniſſe offenbart, alſo auch das lebendige Recht ſichtbar wird, zerſtört alte und begründet neue Rechte. Wenn jene unhaltbar geworden ſind, ſo gehen ſie unter, und wenn dieſe ihre Macht und Autorität bewährt haben, ſo ſind ſie nicht mehr zu ignoriren. Spanien hat die Losreißung der Niederlande und das deutſche Reich hat die Unabhängigkeit der Schweizeriſchen Cantone erſt im Weſtphäliſchen Frieden anerkannt. So zähe die alten Mächte das längſt erſtorbene Recht der frühern Jahrhunderte noch bewahren wollten, ſie waren dennoch ſchließlich durch die Macht der Zeit genöthigt, die Umgeſtaltung anzuerkennen. Vgl. unten B. IV.
Die beſondere Verfaſſung eines States bildet in der Regel keinen Theil des Völkerrechts, ſondern iſt deſſen Statsrecht.
73Völkerrechtliche Perſonen.Die Veränderung einer Statsverfaſſung hat daher in der Regel keine völkerrechtlichen Wirkungen.
Vgl. oben §§ 9, 17, 18. Verfaſſungsfragen ſind innere Statsfragen. Ob ein Stat als Monarchie oder Republik oder ob er abſolut oder repräſentativ organiſirt ſei, das iſt zunächſt für das Völkerrecht gleichgültig. Die politiſchen Beziehungen eines States zu andern Staten werden durch ſolche Verfaſſungs - änderungen wohl oft genug verändert, indem die frühern Machthaber geſtürzt werden und andere Parteien zur Herrſchaft gelangen. Mit der frühern Regierung beſtand vielleicht eine intime Freundſchaft, die mit der neuen nicht fortgeſetzt werden kann, oder es waren damals geſpannte Verhältniſſe mit jener, die leicht mit dieſer ausgeglichen werden. Aber die völkerrechtlichen Rechtsverhältniſſe werden durch die innere Verfaſſungsänderung nicht betroffen und nicht geändert. Möglich daß die geänderte Politik im Krieg und Frieden auch dieſe Verhältniſſe im Verfolge ändert. Das iſt aber nicht eine unmittelbare Wirkung der Verfaſſungsänderung, ſondern eine Folge anderer rechtbildender Ereigniſſe.
Der Stat bleibt dieſelbe völkerrechtliche Perſon, wenn er gleich bald in der Geſtalt einer Monarchie bald in der Form einer Republik erſcheint, in der einen Zeitphaſe conſtitutionel, in einer andern autokratiſch regiert wird. Deßhalb bleiben auch ſeine Rechte und Verpflichtungen gegenüber andern Staten fortbeſtehn.
Der engliſche Stat war völkerrechtlich derſelbe Stat vor, während und nach den Revolutionen von 1649 und 1688, obwohl die Statsformen und die Re - gierungen heftige Wechſel erlebten. Ebenſo blieb der franzöſiſche Stat als Perſon fortbeſtehn, ungeachtet er ſeit 1789 eine Reihe der durchgreifendſten Ver - faſſungsänderungen erfahren hat. Die Individualität des Volks und die Fortdauer des Landes beſtimmen die Exiſtenz des States und jene verharren im Weſen, wenn auch die äußeren Erſcheinungsformen ſich verändern.
Da die Staten als Perſonen Verträge mit einander eingehen, ſo iſt die Fortdauer der Vertragsverhältniſſe nicht bedingt durch die Fortdauer der Regierungen, welche die Verträge abgeſchloſſen haben.
Nicht bloß die Geſanten, ſondern auch die Fürſten ſchließen die Verträge ab nicht für ſich, ſondern als Repräſentanten der Staten. Die Staten ſelbſt erwerben daraus Rechte und werden dadurch verpflichtet. Vgl. unten Buch VI. Deßhalb dauern dieſe Rechtsverhältniſſe fort, wenn gleich eine andere Dynaſtie in einem der Staten zur Herrſchaft erhoben oder die Monarchie in die Republik um - gewandelt wird. Der Satz wurde auch in den Verhandlungen der europäiſchen74Zweites Buch.Mächte mit Frankreich nach der Erhebung Napoleons III. zum Kaiſer von Frank - reich allſeitig anerkannt. Vgl. unten § 123. Der moderne Grundſatz iſt in dem Protokoll der V Großmächte zu London (19. Februar 1831) ausgeſprochen: „ D’après ce principe d’un ordre supérieur, les Traités ne perdent pas leur puissance, quels que soient les changemens qui interviennent dans l’organi - sation intérieure des peuples. “
Ueberhaupt werden Rechte und Pflichten eines States gegen einen andern Stat nicht verändert, wenn gleich die Regierungsform eines dieſer Staten eine Wandelung erfährt.
Auch das Statsvermögen verbleibt dem State trotz des Wechſels der Dynaſtie oder der Statsform.
Es zeigt ſich das z. B. in den Grenzverhältniſſen und bei Statsdienſt - barkeiten. Dieſelben bleiben dieſelben, mag der Stat monarchiſch oder republikaniſch regiert werden, dieſe oder jene Verfaſſung haben.
Nur diejenigen völkerrechtlichen Verträge und Rechtsverhältniſſe, welche ſich weſentlich nicht auf den Stat ſelbſt ſondern nur auf die Per - ſonen beſtimmter Regenten oder Dynaſtien im State beziehen, verlieren durch eine Verfaſſungswandelung ihre Geltung und Wirkſamkeit, wenn jene Perſonen in Folge derſelben ihre Eigenſchaft als Häupter oder Dynaſtien dieſes States einbüßen.
Deßhalb haben Verträge eines States mit der Dynaſtie eines andern States, welche den Schutz derſelben bezwecken, nur eine beſchränkte Wirkſamkeit. Wenn trotzdem dieſe Dynaſtie durch eine Revolution geſtürzt oder durch eine Uſurpation beſeitigt wird und die Verfaſſungsänderung ſo vollzogen iſt, daß ein neues Statsrecht zur Wirkſamkeit gelangt iſt, ſo hört auch für den Stat, welcher die geſtürzte Dynaſtie zu ſchützen verſprochen hatte, dieſe Verpflichtung auf. Beiſpiele ſind die Verträge König Ludwigs XIV. von Frankreich mit Jakob II. von England, die Verträge des Kaiſers von Oeſterreich mit dem Bourboniſchen Königshauſe von Neapel und andern Italieniſchen Fürſten, nach der Reſtauration von 1815, die Verabredungen Napoleons III. mit dem Kaiſer Maximilian von Mexico in unſern Tagen. Das Statsrecht wirkt in allen dieſen Dingen ent - ſcheidend und das Völkerrecht wirkt nur nachträglich unter der Vorausſetzung des Statsrechts.
Wird eine entthronte oder vertriebene Dynaſtie ſpäter wieder re - ſtaurirt, ſo iſt ſie nicht berechtigt, die völkerrechtlichen Verhältniſſe, welche75Völkerrechtliche Perſonen.in der Zwiſchenzeit von der damals anerkannten Regierung geſchaffen worden ſind, als nicht geſchehen zu betrachten, indem der Stat inzwiſchen fortlebt und ſeinen Rechtswillen durch die jeweiligen in Wirkſamkeit be - griffenen Organe äußert.
Z. B. Es kam den reſtaurirten Stuarts in England und den reſtaurirten Bourbonen in Frankreich nicht zu, Verträge als nichtig zu behandeln, welche dort der Protector Cromwell für England und der Kaiſer Napoleon für Frank - reich inzwiſchen abgeſchloſſen hatte und es war nicht Rechtsübung, ſondern eitle Dynaſtenlaune, wenn der reſtaurirte König von Piemont, und der reſtaurirte Kurfürſt von Heſſen 1814 die ganze Periode der Zwiſchenregierung als nicht vor - handen fingirten. Die Statshandlungen verbinden den Stat, der bleibt, und deßhalb auch die wechſelnden Repräſentanten des Stats.
Nur wenn die Zwiſchenregierung nicht zu wirklichem Beſtande ge - langt iſt und deßhalb ihre Handlungen nicht als Statsacte gelten, braucht ſich die reſtaurirte Regierung nicht darum zu kümmern.
Z. B. Die Zwiſchenregierung des Dictators Manin in Venedig, Koſſuths in Ungarn, die republicaniſchen Regierungen von Rom und in Baden im Jahre 1849 wurden mit Recht nicht als wahre Repräſentanten der betreffenden Staten anerkannt.
Die bloße Gebietsverminderung bedeutet ſo wenig Untergang eines States als die Abnahme ſeiner Bevölkerung, wenn nur Land und Volk weſentlich dieſelbe verbleiben.
Man ſieht dabei auf die Hauptbeſtandtheile des Landes, welche vorzüglich den Charakter des States bedingen und den Kern des Volkes. In dem antiken Römerreiche bildeten Italien und Rom den Hauptkern des römiſchen States, welcher daher noch als fortdauernd angeſehen ward, obwohl eine römiſche Provinz nach der andern von den Germanen abgeriſſen wurde. Auch in unſerm Jahr - hunderte blieb Preußen derſelbe Stat, nachdem er im Frieden von Tilſit 180776Zweites Buch.faſt die Hälfte ſeines Gebietes eingebüßt hatte, weil die alten Stammlande er - halten blieben. Ebenſo blieb Frankreich nach den Abtretungen in den beiden Pariſerfrieden 1814 / 15 und Oeſterreich nach dem Verluſte der Lombardei 1859 und von Venedig 1866, weil Frankreich nur ſeine Eroberungen wieder aufgeben mußte und nicht die italieniſchen Provinzen, ſondern die Donauländer den Kern der öſterreichiſchen Monarchie bilden.
Die Abtretung einer Provinz oder eines andern Theiles des Stats - gebietes hat inſofern auf die völkerrechtlichen Verhältniſſe des fortdauernden States einen Einfluß, als diejenigen Rechte, welche ihm bezüglich des ab - getretenen Gebietes gegen andere Staten bisher zuſtanden, und diejenigen Verpflichtungen, welche ihm bisher mit Rückſicht darauf oblagen, nun von ihm abgelöſt werden und mit der Abtretung auf den Stat übergehen, welcher dieſelbe erwirbt.
Von der Art ſind Grenzregulirungen, Beſtimmungen über den Uferbau und die Flußſchiffahrt (über Kirchen, Spitäler u. ſ. f.), offene Straßen, beſondere Provincialſchulden.
Man kann dieſe Rechte und Pflichten, inſofern ſie einem beſtimmten Landes - theile anhaften, örtliche, und inſofern ſie einem beſtimmten Stamme oder be - ſtimmten Perſonenclaſſen anhängen, perſönliche nennen. Die örtlichen Rechte und Pflichten ſind an den Ort, die perſönlichen an die Perſon gebunden und folgen dem politiſchen Schickſale derſelben. Im Einzelnen freilich können Zweifel entſtehen, ob der örtliche und perſönliche Zuſammenhang oder die Beziehung auf den Stat als weſentlich erſcheint. Die im Auftrag der beiden Nachbarſtaten geſetzten Mark - ſteine zur Bezeichnung der Grenzen gelten natürlich in derſelben Weiſe für die Grenzländer fort, wenn ſchon das eine Grenzgebiet einem andern State einverleibt worden iſt. Ebenſo verhält es ſich mit den Verabredungen zweier Staten über den Uferſchutz, über Anlegung und Unterhaltung von Dämmen, über die Schiffahrt auf einem beſtimmten Fluſſe, über Landungsplätze u. dgl. ; ſie beziehen ſich auf eine be - ſtimmte Oertlichkeit, und wirken fort auch gegenüber dem State, welcher ſpäter die Hoheit über dieſe Oerter neu erworben hat. Wenn gleich dieſer Stat bei der Be - gründung dieſer Rechtsverhältniſſe nicht mitgewirkt hat, ſo kann er doch das neue Gebiet nur in dem rechtlichen Zuſtande übernehmen, in dem es ſich befindet, d. h. mit den vorhandenen Ortsrechten und Ortspflichten. Aehnlich verhält es ſich mit den durch Statenverträge garantirten perſönlichen Rechten z. B. einer beſtimmten Religionsgenoſſenſchaft auf Ausübung ihres Cultus, mit dem An - theil, der einer beſtimmten Claſſe von Fremden an der Benützung örtlicher Anſtalten (Krankenheil - und pflegehäuſer, Pfründhäuſer, Bildungsanſtalten u. ſ. f.) zugeſichert worden iſt. Dieſe Rechte gehen nicht unter, wenn gleich an die Stelle des States, zu welchem bisher jene Religionsgenoſſen und dieſe Anſtalten gehörten, ein anderer77Völkerrechtliche Perſonen.Stat tritt. Aber immerhin iſt die Fortdauer und Wirkſamkeit ſolcher perſönlichen Rechte mehr gefährdet als die der örtlichen Rechte, weil die perſönlichen Verhältniſſe von der politiſchen Umgeſtaltung leichter erfaßt und gewandelt werden als bloße örtliche Einrichtungen.
Dagegen gehen keineswegs alle vertragsmäßigen Rechte und Ver - bindlichkeiten eines States gegenüber andern Staten von Rechts wegen, weder im Ganzen noch im Verhältniß der Ausdehnung des Gebietes oder der Volkszahl auf den abgetrennten Theil über, wenn gleich dieſer Theil nun zu einem ſelbſtändigen neuen State geworden iſt. Die alte Vertrags - perſon bleibt berechtigt und verpflichtet, der neue Stat iſt weder Ver - tragsperſon, noch Nachfolger jener Vertragsperſon.
Z. B. Die Vereinigten Staten von Nordamerika ſind nicht in alle Vertragsverhältniſſe von Rechts wegen eingetreten, welche von den Königen von England zu der Zeit mit fremden Staten abgeſchloſſen worden waren, als die nordamerikaniſchen Colonien noch einen Theil des engliſchen Reiches bildeten. Ebenſo tritt das Königreich Italien nicht ohne weiters in die ſämmtlichen Vertragsver - hältniſſe Oeſterreichs mit andern Staten ein, an welchen auch die norditalieniſchen Provinzen mittelbar Theil hatten, ſo lange ſie zu Oeſterreich gehörten, ſondern nur in diejenigen, welche ſich örtlich auf die Lombardei oder auf Venedig insbeſondere bezogen, wie z. B. die Lombardiſche und Venetianiſche Schuld.
Zerfällt ein Stat in zwei oder mehrere neue Staten, von denen keiner als die Fortſetzung des alten States zu betrachten iſt, ſo iſt der alte Geſammtſtat untergegangen und es treten die neuen Staten als neue Perſonen an ſeine Stelle.
Neuere Beiſpiele ſind die Auflöſung des römiſchen Reiches deutſcher Nation in eine Anzahl ſouveräner deutſcher Staten 1805 und 1806, die Theilung des Cantons Baſel in die Halbcantone Baſelſtadt und Baſelland, 1833. Das Beiſpiel der Theilung der Vereinigten Niederlande in die Königreiche Hol - land und Belgien 1831 gehört theilweiſe auch hieher, obwohl in gewiſſem Sinne die Niederlande in Holland vorzugsweiſe fortdauerten, namentlich im Verhältniß zu den Colonien.
Wird ein bisheriger Stat einem andern State einverleibt, ſo geht zwar jener Stat unter, aber ſein Untergang zieht deßhalb nicht noth -78Zweites Buch.wendig den Untergang ſeiner völkerrechtlichen Rechte und Pflichten nach ſich, weil die Volksſubſtanz und das Land fortdauern und nur in den neuen Statenverband übergehen.
Vielmehr gehen Rechte und Pflichten inſoweit mit Volk und Land auf den Nachfolgeſtat über, als ihre Fortdauer möglich und in den fort - wirkenden Verhältniſſen begründet erſcheint.
Die Beiſpiele ſind in neuerer Zeit nicht ſelten. Das erſte Napoleoniſche Kaiſerreich hatte ſich eine große Anzahl von Staten nach und nach einverleibt. Aber auch die deutſchen Staten hatten zur Zeit der Auflöſung des alten Kaiſerreichs viele geiſtliche und weltliche Territorien annexirt. Eine Zeit lang brachte die Wiener Congreßacte das europäiſche Statenſyſtem zur Ruhe. Indeſſen hatte ſie ſelber manche Einverleibung beſtätigt und Oeſterreich annexirte ſpäter die Republik Krakau. Zahlreichere Annexionen kennt die neueſte Entwicklung der nationalen Politik, insbeſondere Savoyen durch Frankreich, der italieniſchen Fürſtenthümer durch das neue Königreich Italien (1860), der deutſchen Staten Hannover, Kurheſſen, Naſſau, Schleswig-Holſtein und Frankfurt durch Preußen (1867).
Wenn ein Stat durch Wahl oder in Folge des Erbrechts das Statshaupt eines andern States auch zu ſeinem Statshaupt erhält (Perſonalunion), ſo hört er noch nicht auf, als eine beſondere Stats - perſon zu gelten; und es tritt in dieſem Falle keine Statenfolge ein.
Jeder der ſo verbundenen Staten verbleibt in ſeinen völkerrechtlichen Ver - hältniſſen. Im Mittelalter waren die Beiſpiele häufiger, als in unſrer Zeit, welche die Tendenz hat, entweder die Perſonalunion in eine Realunion umzuwan - deln, damit die Einheit in der Politik und die Gleichheit im Recht zur Geltung kommen oder die bloß durch Perſonalunion verbundenen Staten wieder gänzlich zu trennen. Neuere Beiſpiele ſind die Verbindung von Schweden und Norwegen, der Herzogthümer Schleswig und Holſtein mit der Krone Dänemark, des Königreichs Hannover mit der engliſchen Krone, des Fürſtenthums Neuenburg mit der Krone Preußen, des Großherzogthums Luxemburg mit der Holländiſchen Krone.
So viel wirkliche Staten vorhanden ſind, ſo viel völkerrechtliche Per - ſonen ſind vorhanden. Der Stat, welcher mehrere andere Staten ſich ein - verleibt hat, hat völkerrechtlich nur Eine Stimme, nicht mehrere Stimmen, da er nur Eine Statsperſon iſt. Umgekehrt haben die mehreren Staten, welche aus der Spaltung Eines States hervorgegangen ſind, völkerrechtlich79Völkerrechtliche Perſonen.jeder eine Stimme, wenn gleich dieſe Völker bis dahin zu Einem State geeinigt nur Eine Stimme hatten.
In dem ältern deutſchen Reichsrecht und ebenſo in dem früheren ſchweizeriſchen Bundesrecht hatte ein anderer Grundſatz gegolten, nämlich der ein für alle Mal an beſtimmte Territorien und Cantone geknüpfter Stimmrechte, ſo daß z. B. Oeſter - reich und Preußen mehrere Stimmen in der Curie der Fürſten und Herren übten, weil ſie mehrere Herrſchaften beſaßen und die ſchweizeriſchen Halbcantone nur je zuſammen Eine Stimme auf den Tagſatzungen führten. Der ſtatlich richtige Grund - ſatz iſt aber ſpäter auch im deutſchen Bunde und in dem ſchweizeriſchen Bundes - ſtate durchgedrungen.
Mit dem Untergang eines States verliert ſein Verfaſſungsrecht die ſelbſtändige Autorität und Wirkſamkeit. Aber es iſt möglich, beſtimmte ſtatsrechtliche Einrichtungen, welche trotz des Ueberganges in einen Nach - folgeſtat fortdauern ſollen, auch für die Zukunft unter den Schutz des Völkerrechts zu ſtellen.
Die bisherige Verfaſſung und das bisherige Statsrecht hatten in dem Willen des untergegangenen States die Quelle ihrer Autorität und in ſeiner Macht die Garantie für ihre Wirkſamkeit gefunden. Jener beſondere Statswille und dieſe Statsmacht ſind nun aber mit dem State ſelber untergegangen und es iſt ein neuer Stat an ſeine Stelle getreten, deſſen Wille und Macht nun entſcheiden. Eben deßhalb verſteht ſich auch die Fortdauer der bisherigen Verfaſſung und des bisherigen öffentlichen Rechts nicht von ſelber. In den wichtigſten Beziehungen — insbeſondere der politiſchen Regierung und Vertretung — iſt dieſelbe geradezu unmöglich ge - worden, wenn der Nachfolgeſtat wirklich zur Herrſchaft und Entwicklung gelangen ſoll. Sie können daher nur inſoweit fortdauern, als der Nachfolgeſtat das für zuläſſig erachtet und ſeinerſeits gutheißt.
Wohl aber laſſen ſich auch bei Einverleibungen beſtimmte Verfaſſungs - zuſtände und Einrichtungen erhalten und es kommt wohl vor, daß das ver - tragsmäßig verabredet wird. So ſind z. B. bei der Vereinigung der deutſchen Oſtſeeländer mit dem Ruſſiſchen Reiche beſtimmte Zuſicherungen gegeben worden, zum Schutz der beſtehenden politiſchen und confeſſionellen Rechte der Bewohner. Ebenſo enthält die Wiener Congreßacte manche derartige Vorbehalte bezüglich der Zutheilung von Ländern an die anerkannten europäiſchen Staten. Dieſelben haben freilich nur eine beſchränkte Wirkſamkeit und ſind immerhin unſicher, weil die Eini - gung innerhalb eines States mit der Zeit Fortſchritte macht, und es ſchwer, oft un - möglich und unzuläſſig iſt, der ſouveränen Statsgewalt Widerſtand zu leiſten, wenn ſie an die Stelle des alten ein neues Recht zu ſetzen entſchloſſen iſt.
Das Statsverwögen der untergehenden Staten geht in Activen und Paſſiven auf den oder die Nachfolgeſtaten über.
Es gibt ein ſtatsrechtliches Folgerecht, das eine gewiſſe Analogie hat mit dem privatrechtlichen Erbrecht, aber nicht mit demſelben zu verwechſeln iſt. Das Statsvermögen kann beſtehen:
Auf all dieſes Vermögen bezieht ſich dieſes ſtatliche Folgerecht. Für das öf - fentliche Gut verſteht es ſich von ſelber, daß dasſelbe dem State folgt, dem es dient. Aber auch das Privatvermögen des States wird nicht herrenloſes Gut, wenn der Stat untergeht, ſondern da die Perſon, welcher es bisher angehörte, nicht gänzlich verſchwindet, ſondern mit Volk und Land, alſo ihrem Stoffe nach in den neuen Stat übergeht, folgt es naturgemäß dieſer perſönlichen Wandelung nach, und wird deßhalb Privatgut des neuen States, in welchem der Stoff des alten States fortlebt.
Sind mehrere Nachfolgeſtaten vorhanden, welche an die Stelle des Einen untergehenden States treten, und iſt die Art der Theilung des Staatsvermögens nicht vertragsmäßig geordnet worden, ſo ſind nicht die privatrechtlichen Regeln der Erbtheilung unter mehrere Erben einfach an - zuwenden, ſondern es iſt voraus die öffentlich-rechtliche Natur des öffent - lichen Gutes zu berückſichtigen.
Die öffentlich-rechtliche Statenfolge und das privatrechtliche Erbrecht ſind in - ſofern ähnlich, daß in beiden Fällen das bisherige Subject des Vermögens dort durch Untergang hier durch Tod wegfällt, aber das Vermögen desſelben auf andere Per - ſonen übergeht, welche in gewiſſem Sinne als Fortſetzer ſeiner Perſönlichkeit ange - ſehen werden. Aber das geſetzliche Privaterbrecht beruht auf dem Familienverband zwiſchen Erblaſſer und Erben, welcher bei der Statenfolge fehlt, und die Statenfolge beruht auf dem totalen oder theilweiſen Uebergang von Volk und Land auf den Folgeſtat. Die privatrechtliche Verlaſſenſchaft hat nur eine Beziehung auf die Per - ſonen der Erben und wird daher je nach der Nähe ihrer Verwandtſchaft unter die - ſelben vertheilt, ſei es nach Stämmen, ſei es nach Köpfen. Das zurückgelaſſene Statsvermögen dagegen hat eine natürliche Beziehung zu Volk und Land und81Völkerrechtliche Perſonen.den öffentlichen Bedürfniſſen beider. Daher iſt die Vertheilung nach öffent - lich-rechtlichen Grundſätzen zu ordnen.
Demgemäß fällt das für öffentliche Zwecke beſtimmte liegende Gut, wie öffentliche Gebäude, Anſtalten und Stiftungen zunächſt dem State zu, in deſſen Gebiete ſie gelegen ſind oder ſie ihren Hauptſitz haben und der erwerbende Stat iſt nur inſofern eine billige Entſchädigung an die Thei - lungsmaſſe ſchuldig, als dieſelben bisher auch den öffentlichen Bedürfniſſen der Bevölkerung der andern Staten gedient haben und dieſe zur Befrie - digung ſolcher Bedürfniſſe zu neuen Vermögensleiſtungen genöthigt werden.
Selbſtverſtändlich fallen auch die öffentlichen Gewäſſer, Straßen, Plätze, Küſten, Häfen u. ſ. f. ohne Entſchädigung dem State zu, mit welchem ſie von Natur ver - bunden ſind. Auch wenn damit gewiſſe Einkünfte verbunden ſind, wie z. B. Wege - gelder, Hafengebühren u. dgl., ſo iſt dafür kein Erſatz zur Theilung zu bringen, ſo wenig als für den Unterhalt der Straßen, Häfen u. ſ. f. eine Forderung.
Anders verhält es ſich z. B. mit einer Pflegeanſtalt für Kranke, welche auch von den Kranken der Gemeinden benutzt werden konnten, die nun einem andern State zugetheilt ſind, als dem, in deſſen Gebiet die Krankenpflegeanſtalt gelegen iſt. Da iſt ein billiger Erſatz in Anrechnung zu bringen.
Die vorhandenen Waffenvorräthe und Kriegsausrüſtungen (Kanonen, Gewehre, Uniformen u. ſ. f.) ſind im Zweifel nach Verhältniß der Volks - zahl zu vertheilen.
Nach der Volkszahl richtet ſich auch die Wehrpflicht und die Größe des Be - dürfniſſes der Ausrüſtung. Anders freilich iſt es, wenn die Waffenvorräthe durch Matrikularbeiträge beſchafft worden ſind, wie in dem deutſchen Bunde von 1815. Dann wird das Verhältniß der Matrikel auch bei der Theilung zu beachten ſein.
Die eigentlichen Domänen, die öffentlichen Caſſen und überhaupt das Privateigenthum des Stats, welches nur mittelbar den öffentlichen Zwecken dient, bildet eine gemeinſame Theilungsmaſſe und wird, wenn nicht beſon - dere Gründe eine Abweichung rechtfertigen, nach Verhältniß der Volkszahl unter die mehreren Folgeſtaten vertheilt, ſo jedoch, daß die Liegenſchaften dem State verbleiben, in deſſen Gebiete ſie liegen und nur der Schätzungs - werth derſelben zur Vertheilung kommt.
Bluntſchli, Das Völkerrecht. 682Zweites Buch.Es gibt kein natürlicheres Theilungsverhältniß, und keinen ſichereren Maßſtab der Theilung als die Volkszahl, obwohl vielleicht die eine Bevölkerung z. B. die ſtädtiſche vor der anderen z. B. der bloß ländlichen durch Vermögen, Bildung und durch höhere Bedürfniſſe hervorragt. Um eine gerechte und allgemein verſtändliche Löſung zu finden, muß man zu den einfachſten und urſprünglichſten Elementen des States zurückgehen und das ſind doch die Menſchen, die er einigt.
Die Statsſchulden ſind nicht nach Verhältniß der Volkszahl, ſondern wenn ſie hypotheſirt oder fundirt ſind, im Anſchluß an die verpfändeten Liegenſchaften oder das Fundirungsgut, im übrigen nach Verhältniß der Steuerleiſtungen zu vertheilen.
1. Indem der Stat ſeine Anleihen hypotheſirt oder fundirt, bringt er dieſel - ben in einen nähern Zuſammenhang mit andern Gütern, und dieſer Zuſam - menhang wirkt fort, obwohl der Stat ſich auflöſt. Die Gläubiger halten ſich daran und kommen eben deßhalb nur mit dem Folgeſtat in eine neue Beziehung, welchem dieſe Güter zugefallen ſind. Eine Scheidung der perſönlichen Schuld und der dinglichen Sicherung iſt hier nicht ebenſo ſtatthaft wie im Privatrecht.
2. Die Sicherheit der übrigen Statsſchulden beruht auf der Steuerkraft der Statsgenoſſen und dieſe wird bemeſſen nach der wirklichen Steuer - leiſtung. Dieſe gibt daher einen gerechteren Maßſtab als die Volkszahl. Man denke ſich z. B. einen Stat in zwei Staten aufgelöſt, von denen der eine eine reiche Städtebevölkerung, der andere eine arme Landbevölkerung hat. Da würde bei einer Vertheilung der Statsſchulden nach der Volkszahl der eine Stat überlaſtet, er könnte die Schuld nicht tragen, und der andere Stat unverhältnißmäßig in der bisherigen Steuerleiſtung erleichtert, zum Schaden der Gläubiger.
Geht ein Stat durch Ausſterben oder Zerſtreuung oder Aus - wanderung ſeines Volkes auch in der Volks - oder Landesſubſtanz unter, dann erlöſchen mit ſeiner Perſönlichkeit auch ſeine Rechte und Verpflich - tungen.
Als die Juden mit Vertilgung der fremden Einwohner Paläſtina beſetzten, ward der neue jüdiſche Stat in keiner Weiſe Rechtsnachfolger der daſelbſt unter - gegangenen Staten. Ebenſo als die Germaniſchen Völker zur Zeit der Völkerwan - derung ihre alten Wohnſitze verließen, gingen auch ihre alten Staten unter und die nachrückenden germaniſchen oder ſlaviſchen Völker traten ebenſo wenig als ihre Rechts - nachfolger an ihre Stelle als das römiſch-byzantiniſche Reich, welches jene aufnahm, deßhalb zum Rechtsnachfolger ihrer untergegangenen Staten ward.
Die vorübergehende Schwäche oder Noth eines States führt nicht ſeinen Untergang herbei; wohl aber die dauernde Ohnmacht und die offen - bare Unfähigkeit desſelben, ferner ſelbſtändig zu leben.
Es gibt kein Recht, die „ kranken “Staten zu vernichten und dann zu beerben. Es iſt möglich, daß ein tief zerrütteter und geſchwächter Stat ſich wieder erhole. Wenn aber dieſe Möglichkeit verſchwunden und die Ohnmacht dauernd geworden iſt, dann geht mit der Fähigkeit zu leben auch das Recht als Stat zu leben unrettbar unter. Das Völkerrecht ſchützt nur lebensfähige Staten. So gefährlich dieſer Satz iſt, weil er ſophiſtiſch mißbraucht werden kann, ſo iſt doch die Wahrheit desſelben unbeſtreitbar. „ Nur der Lebende hat Recht “.
Jeder Stat iſt als Rechtsweſen berechtigt, ſeinen Rechtswillen zu äußern und Handlungen mit Rechtswirkung vorzunehmen. Aber er bedarf dazu beſonderer von Menſchen erfüllter repräſentativer Organe.
Weil der Stat eine Geſammtperſon iſt und in ſeiner Verfaſſung nicht einen natürlichen ſondern einen nachgebildeten Culturleib hat, ſo bedarf er menſchlicher Organe und Vertreter ſeines Willens und ſeiner Handlungen. Das Statshaupt repräſentirt voraus den Stat im Verkehr mit andern Staten.
Im Verhältniß der Staten zu einander wird der thatſächliche In - haber und Träger der Statsgewalt (das wirkliche Statshaupt) als das Organ des Statswillens und als der Vertreter des States betrachtet.
Vgl. unten § 315 ff.
Die Souveränetät eines States zeigt ſich
6*84Zweites Buch.Die Souveränetät iſt zunächſt wieder ein ſtatsrechtlicher Begriff und bedeutet die Statsgewalt in höchſter Potenz und in oberſter Inſtanz. Die völkerrechtliche Bedeutung derſelben tritt erſt hervor im Verhältniß zu fremden Staten.
Souveränetät heißt nicht abſolute Unabhängigkeit noch abſolute Frei - heit eines States, denn die Staten ſind keine abſoluten Weſen, ſondern rechtlich beſchränkte Perſonen.
Der Begriff der Souveränetät iſt zuerſt in Frankreich und zwar in der Zeit ausgebildet worden, als das franzöſiſche Königthum alle Statsgewalt in möglichſt abſolutem Sinne in ſeiner Hand zu concentriren unternahm, im Gegenſatze zu den Beſchränkungen der mittelalterlichen ſtändiſchen Rechte und der Lehensverfaſſung. Seither iſt eine gewiſſe Tendenz zum Abſolutismus in dem Worte verblieben, die ſchwer auszumerzen iſt. Dennoch widerſpricht dieſer Abſolutismus ſowohl der Rechts - natur des modernen Verfaſſungsſtates als der völkerrechtlichen Gemeinordnung.
Jeder Stat darf nur in dem Maße Unabhängigkeit und Freiheit für ſich anſprechen, als ſich mit der nothwendigen menſchlichen Weltordnung, mit der Selbſtändigkeit der andern Staten und mit der Verbindung aller Staten verträgt.
Das Völkerrecht erhält aber beſchränkt zugleich die Souveränetät der Einzel - ſtaten, weil es das friedliche Nebeneinander ſämmtlicher Staten ſchützt und auch den Krieg durch Rechtsvorſchriften civiliſirt. Gegen das Völkerrecht kann ſich kein Stat auf ſeine Souveränetät berufen, weil die Grundlage des Völkerrechts nicht die Will - kür der Staten ſondern die Gemeinſchaft der Menſchheit iſt.
Innerhalb der völkerrechtlichen Schranken ſpricht die Rechtsver - muthung für volle und ungetheilte Souveränetät eines jeden States.
Die Souveränetät iſt die ſelbſtverſtändliche Eigenſchaft des wirklichen States, d. h. eines Gemeinweſens, das ſich ſelbſt regiert. Hoheit und Einheit ſind mit dem85Völkerrechtliche Perſonen.Statsbegriff gegeben. Weitere Beſchränkungen andern Staten gegenüber erfordern daher eine beſondere Begründung, wie namentlich durch Verträge.
Zu den regelmäßigen Souveränetätsrechten eines States gehören:
Es kommt den fremden Staten nicht zu, ſich in die Ausübung die - ſer Rechte einzumiſchen, es wäre denn, daß bei derſelben das Völkerrecht mißachtet würde.
In der Verfaſſung ſpricht der Stat die Grundſätze ſeines eigenen Daſeins aus und bildet er die Organe ſeines eigenen Lebens aus. Die Verfaſſunggebende Gewalt iſt daher Statsgewalt. Jeder Stat erſcheint daher dem andern gegenüber als eine ſich ſelber ordnende Macht. So wenig meine Nachbarn berechtigt ſind, den Styl und die Einrichtung meines Hauſes mir vorzuſchreiben, ſo wenig haben die Nachbarſtaten ein Recht, über die Verfaſſung eines fremden States Vor - ſchriften zu geben. Es iſt freilich auch für die Nachbarſtaten politiſch nicht gleich - gültig, wie die Verfaſſung eines anſtoßenden States beſchaffen ſei und es können je nach Umſtänden Parteiverbindungen von einem State zum andern bald förderlich bald gefährlich erſcheinen. Daher haben oft ſchon mächtigere Staten einen Einfluß geübt auf die Verfaſſungsänderungen ihrer Nachbarſtaten. Die franzöſiſche Republik hat ſich gegen Ende des vorigen Jahrhunderts mit republikaniſchen Nachbar - ſtaten, Napoleon I. hat Frankreich mit Napoleoniſchen Vaſallenſtaten zu umgeben geſucht. Aber gerade dieſe Beiſpiele warnen vor ſolchen Eingriffen in die natürliche Verfaſſungsbildung fremder Völker, denn nirgends ſind durch die Einwir - kung von außen her dauernde Verfaſſungszuſtände zu Stande gekommen. Auch die Interventionen der heiligen Allianz in Italien und Spanien zur Herſtellung der abſoluten Monarchie haben nur vorübergehend den natürlichen Entwicklungs - gang zu ſtören, aber nicht auf die Dauer zu hindern vermocht. Ebenſo unglücklich iſt in neueſter Zeit der Verſuch Napoleons III. ausgefallen, in Mexiko ein Kaiſerthum mit franzöſiſcher Hülfe einzurichten. Recht und Politik weiſen darauf hin, daß man jedem Volke überlaſſe, die Formen ſeines Geſammtlebens ſelber zu beſtimmen. Erſt wenn daraus eine wirkliche Gefahr entſteht für die Sicherheit der andern Staten und für die völkerrechtliche Rechtsordnung, iſt eine Einmiſchung in die Verfaſſungs - arbeiten zu rechtfertigen.
Kein Stat braucht zu dulden, daß innerhalb ſeines Gebietes ein86Zweites Buch.fremder Stat irgend welche Statshandlungen vornehme, ſei es der Policei oder der Beſteurung, der militäriſchen oder der Juſtizgewalt. Jeder Stat iſt verpflichtet, ſich der ſtatlichen Ein - und Uebergriffe in fremdes Stats - gebiet zu enthalten.
Vorbehalten ſind theils allgemeine völkerrechtlich anerkannte Aus - nahmen theils die beſonderen Statsdienſtbarkeiten.
1. In dem Bereich der civiliſirten europäiſchen und amerikaniſchen Staten - welt iſt dieſer Grundſatz vollſtändiger anerkannt, als im Verhältniß zu barbariſchen Völkern oder Staten einer der unſrigen ſehr fernen und fremden Civiliſation. Da wird noch die Policei und die Juſtiz über die auswärts wohnenden Landsleute in fremdem Gebiet möglichſt von dem State ihrer Heimat verwaltet. Der Grundſatz des perſönlichen Rechtes, welches das Volk verbindet, wo immer ſeine Genoſ - ſen ſich aufhalten, überwiegt da noch über die Regel des Landesrechtes, welches ausſchließlich von der im Lande beſtehenden Statsgewalt gehandhabt wird.
2. Allgemeine völkerrechtlich anerkannte Ausnahmen ſind z. B. das Recht der Exterritorialität und das Recht der Schiffahrt über den Küſtenſaum.
In der Regel gibt es nur Eine Souveränetät für ein beſtimmtes Volk und Land, wie nur Einen Stat.
Ausnahmsweiſe zeigt ſich in zuſammengeſetzten Staten (Bundes - ſtaten, Statenreichen, Statenbünden) auf demſelben Boden und für dieſelbe Bevölkerung eine Doppelſouveränetät wie eine zwiefache Statenbildung, die eine des Geſammtſtates, die andere der Einzelſtaten.
Bundesſtaten und Statenbünde ſind beides föderative und daher meiſt repu - blikaniſche Verbände einer Anzahl von Einzelſtaten. Aelter iſt die Form der Staten - bünde, welche nur eine genoſſenſchaftliche Gemeinſchaft der mehreren Einzelſtaten zu gemeinſamen Zwecken darſtellt und daher nur Geſantencongreſſe keine einheitlichen Geſammtorgane kennt. Man kann daher dieſe Verbindung nur in uneigentlichem Sinne Geſammtſtat nennen. Sie ſchwankt noch zwiſchen völkerrechtlicher und ſtats - rechtlicher Geſtaltung. Von der Art waren die Hanſeſtädte im Mittelalter die Republik der Niederlande, die ſchweizeriſche Eidgenoſſenſchaft vor 1798 und wieder 1803 bis 1848, die urſprüngliche Bundesverfaſſung der Ver - einigten Staten von 1776 bis 1787, der deutſche Bund von 1815 — 1866.
Der Bundesſtat dagegen iſt eine einheitliche Geſtaltung des Geſammtſtates, der ſchärfer unterſchieden wird von den Einzelſtaten und in ſich als Stat vollſtän - dig organiſirt iſt. Zuerſt erſcheint dieſe Form ausgebildet in Nordamerika ſeit 1787, und iſt in der Schweiz 1848 nachgebildet worden. Das Statenreich iſt mehr eine monarchiſche und daher in höherem Sinne einheitliche Zuſammenfaſſung einer Mehrzahl von Einzelſtaten zu einem Geſammtſtate. Im Mittelalter hatte das87Völkerrechtliche Perſonen.deutſche Reich dieſen Charakter, bevor es ſeiner Auflöſung entgegen ging, und heute noch das Türkiſche Osmanenreich. Der Norddeutſche Bund von 1867 läßt ſich nicht unter einen dieſer Begriffe unterbringen, indem er von allen drei Grundformen etwas an ſich hat. Er iſt geſchichtlich aus einem Statenbund (dem deutſchen Bund) durch die entſcheidende Führung einer mächtigen Monarchie (des Preußiſchen Stats) und unter Einwirkung bundesſtatlicher Ideen entſtanden, und trägt überall die Spuren dieſer Entſtehung an ſich. Er iſt ein Compromiß der verſchiedenen idealen und realen Mächte, ſo jedoch, daß immerhin die Natur des Statenreichs überwiegt.
Sowohl der Geſammtſtat (der Statenverein) gilt völkerrechtlich als Statsperſon als die Einzelſtaten.
Die Souveränetät des Geſammtſtates äußert ſich innerhalb des ver - faſſungsmäßigen Bereiches der Geſammtheit und die der Einzelſtaten in den Sonderangelegenheiten des einzelnen Landes.
Die Perſönlichkeit auch der Statenbünde zeigt ſich deutlicher noch im Völker - recht als im Statsrecht. Die ſchweizeriſche Eidgenoſſenſchaft galt im europäiſchen Staten - ſyſtem während Jahrhunderten als Ein Statsweſen, obwohl ſie in ſich ſelbſt durchaus nicht als Stat organiſirt, ſondern nur ein dauernder Verband von ſouveränen Staten war.
In den Bundesſtaten und den Statenreichen wird die völkerrechtliche Vertretung nach außen regelmäßig durch die Bundes - oder Reichsgewalt beſtimmt und beſorgt. Indeſſen ſind auch Verträge der Einzelſtaaten unter ſich oder mit fremden Staten zuläſſig, wenn gleich in den Schranken der Verfaſſung und unter Aufſicht des Geſammtſtats.
In der Schweiz werden die Verträge der Cantone unter ſich Concordate genannt. Der intercantonale Charakter derſelben iſt analog dem völkerrechtlichen der Verträge unter fremden Staten, wird aber dadurch modificirt, daß die Cantone hin - wieder bundesſtatlich verbunden ſind und daher der Bund eine Aufſicht über die Concordate übt und dieſelben unter ſeinen Schutz ſtellt.
In den Statenbünden gehört die diplomatiſche Vertretung regelmäßig der Regierung der Einzelſtaten zu. Indeſſen iſt auch die Geſammtheit be - rechtigt, ſich als Eine zuſammengeſetzte Statsperſon vertreten zu laſſen und Verträge abzuſchließen.
88Zweites Buch.In den Statenbünden tritt die Souveränetät der Einzelſtaten voller und ent - ſchiedener hervor, als in den Bundesſtaten. Deßhalb wird in der Regel auch der Geſantſchaftsverkehr vorzugsweiſe mit den Einzelſtaten gepflogen. Aber weil doch der Statenverband wieder ein Intereſſe hat, ſich als völkerrechtliches Ganzes darzu - ſtellen, ſo muß auch ihm die Befugniß gewahrt werden, gemeinſame Bundesgeſante zu bezeichnen und bei ſich fremde Geſante zu empfangen. Bei dem deutſchen Bunde waren manche fremde Geſante accreditirt und in einzelnen Fällen ließ er ſich durch einen gemeinſamen Bundesgeſanten auswärts vertreten.
Wenn zwei oder mehrere Staten durch dasſelbe Statshaupt nur vorübergehend geeinigt ſind, ſo werden ſie im Völkerrecht als zwei verſchiedene Perſonen behandelt und haben demgemäß auf Conferenzen und Congreſſen zwei oder mehrere Stimmen und können durch verſchiedene Geſante ver - treten werden.
Beiſpiele treten ein, wenn ein Erbfürſt in einem andern Lande auf Lebens - zeit zum Wahlfürſt gewählt wird. Karl V. war als römiſcher Kaiſer und deut - ſches Reichsoberhaupt Vertreter des deutſchen Reiches und als König von Spanien Vertreter Spaniens, ohne daß irgend eine nähere ſtats - oder völkerrechtliche Bezie - hung dieſer beiden Staten zu einander eintrat.
Iſt aber die Einigung unter Einem Statshaupt eine dauernde und erſcheint die Verbindung der ſo geeinigten Staten als eine politiſche, wenn auch noch nicht als eine ſtatsrechtlich organiſirte Lebensgemeinſchaft, ſo wird dieſelbe völkerrechtlich wie ein Geſammtſtat betrachtet und in einer gemein - ſamen Vertretung durch Eine Stimme dargeſtellt. Soweit indeſſen die Verhältniſſe der einzelnen verbundenen Staten beſonders hervortreten, iſt hinwieder eine beſondere Vertretung zuläſſig.
Von der Art ſind die fortdauernden Perſonalunionen durch dieſelbe fürſtliche Dynaſtie. Frühere Beiſpiele ſind die urſprüngliche Perſonalunion des Erzherzog - thums Oeſterreich mit der Böhmiſchen und der Ungariſchen Krone, auch die anfängliche Verbindung der Engliſchen mit der Schottiſchen und mit der Iriſchen Krone, das heutige Verhältniß der Königreiche Schweden und Nor - wegen. Siehe oben zu § 70.
Wenn die Souveränetät eines States abgeleitet erſcheint von der Souveränetät eines andern Hauptſtates und in Anerkennung und in Folge dieſer Ableitung eine theilweiſe Unterordnung jenes States unter dieſen89Völkerrechtliche Perſonen.fortdauert, ſo wird der eine Vaſallenſtat und der andere lehensherrlicher oder oberherrlicher Stat genannt.
Die völkerrechtliche Selbſtändigkeit des erſtern wird durch die noth - wendige Rückſicht auf den letztern beſchränkt.
Es ſind hier immerhin mancherlei Uebergangsſtufen von einer Gebundenheit, welche den diplomatiſchen Verkehr des Vaſallenſtates mit andern Staten nur durch Vermittlung des oberherrlichen States geſtattet, bis zu völlig freier Bewegung des Vaſallenſtates denkbar. Die deutſchen Territorialſtaten des ſpätern Mittel - alters waren ſolche Vaſallenſtaten, indem ſie ihre Regalien von dem deutſchen Könige empfingen und von Kaiſer und Reich abhängig waren. Aber ſeit dem Weſtphäliſchen Frieden war doch ihr Recht anerkannt, mit fremden Mächten Allianzen zu ſchließen.
In mancherlei verſchiedenen Rechtsverhältniſſen ſtehen die Vaſallenſtaten der Türkei, die mohammedaniſchen Fürſtenthümer Tunis und Tripolis, das Vicekönigthum Aegypten, ſodann das chriſtliche Fürſtenthum Serbien und die rumäniſchen Donaufürſtenthümer Moldau und Wallachei und das Fürſtenthum von Montenegro zur hohen Pforte. Das frühere Königreich Neapel war nur dem äußeren Scheiue nach gleichſam zum Zeichen der Ehrfurcht, ein Vaſallenſtat des päpſtlichen Rom und in Wahrheit wurde es im europäiſchen Völkerrecht als ein voll-ſouveräner Stat betrachtet und behandelt.
Da die Souveränetät, in welcher ſich die Einheit und Hoheit des States gipfelt, eine natürliche Tendenz zur Einheit hat, ſo iſt dieſe Spal - tung derſelben in eine Oberherrliche und in eine Vaſallenſouveränetät nicht dauerhaft. Entweder erheben ſich im Laufe der Zeit die Vaſallenſtaten zu vollſouveränen Staten, indem die Oberherrlichkeit immer mehr zur bloßen Form und ohnmächtig wird, oder der oberherrliche Stat zieht hinwieder die verliehenen Hoheitsrechte an ſich und einverleibt ſich den Vaſallenſtat.
Die geſchichtliche Entwicklung beweist die Wahrheit dieſes Satzes. Im Mittel - alter gab es eine große Maſſe von Vaſallenſtaten ſowohl in Europa als in Aſien. Gegenwärtig ſind faſt alle verſchwunden, weil ſie in Einheitsſtaten umgewandelt worden ſind. Nur in dem Türkiſchen Reiche iſt dieſer Umbildungsproceß noch nicht zum Abſchluß gekommen. Das Völkerrecht muß dieſe natürliche Entwicklung beach - ten und es ſoll ſie ſchützen, es darf ſie nicht dadurch hemmen wollen, daß es un - haltbare Formen der ältern Rechtsbildung zu verewigen ſucht.
Die Souveränetät der Schutzſtaaten, das heißt der Staten, welche im Gefühl ihrer Schwäche den Schutz eines mächtigeren States geſucht90Zweites Buch.und ſich der Schutzhoheit desſelben unterworfen haben, gilt ebenfalls als Halbſouveränetät, weil ſie durch eine übergeordnete höhere Souveränetät dauernd beſchränkt wird.
Die Schutzhoheit iſt inſofern ähnlich der Lehenshoheit, als der Schirmherr, wie der Lehensherr eine übergeordnete Stellung behauptet. Aber es wird nicht von jenem wie von dieſem die halbe Souveränetät des Schutzſtates abgeleitet, ſondern nur um der Rückſicht auf den Schirmherrn willen die Souveränetät des Schutzſtates beſchränkt. Auch dieſes Verhältniß trägt übrigens den Keim des Todes in ſich, denn ein Stat, der ſich nicht ſelber ſchützen kann, verdient nicht ein ſelbſtän - diger Stat zu bleiben. Die Beiſpiele ſolcher Staten ſind daher wieder ſelten in dem heutigen Statenſyſtem. Die Republik Krakau, welche unter der Schutzhoheit der drei Oſtmächte, Oeſterreich, Rußland und Preußen, geweſen war, iſt 1846 von Oeſterreich einverleibt; die Joniſchen Inſeln, ein Schutzſtat Englands, ſind 1864 mit Griechenland vereinigt worden. Wenn auch die Donaufürſten - thümer zunächſt Vaſallenſtaten der Ottomaniſchen Pforte zugleich Schutzſtaten der europäiſchen Großmächte ſind, ſo dient dieſes Schutzverhältniß eher dazu, ihr Wachs - thum zur Unabhängigkeit von der Türkiſchen Herrſchaft zu fördern, als ihre freie Entwicklung zu gefährden.
Den Colonialſtaten, welche dem Mutterſtate untergeordnet ſind, kann ebenfalls eine beſchränkte Selbſtändigkeit zugeſtanden ſein, ſo daß ſie als halbſouveräne Staten in beſondere völkerrechtliche Beziehungen treten.
Schon die große Entfernung vieler überſeeiſchen Colonien von dem Mutter - ſtate macht im Intereſſe derſelben eine beſondere Regierung und daher auch eine be - ſondere Repräſentation oft wünſchenswerth. Wenn daher auch urſprünglich das Mutterland der alleinige Sitz der Souveränetät war, ſo erfordert das Wachsthum der Colonie doch mit der Zeit eine Ausſtattung mit größeren Rechten freier Bewe - gung. So entwickeln ſich die Colonien zu eigenthümlichen Statsweſen, ähnlich den Schutzſtaten und ſcheiden ſich zuletzt wohl auch als neue vollſouveräne Staten aus. Die Geſchichte von Amerika enthält in dieſer Hinſicht große Lehren auch für das Völkerrecht. Als Vorbild einer guten Colonialpolitik darf die engliſche gegen - über von Canada und Auſtralien ſeit den Reformen von Lord Durham (1836) angeſehen werden.
In ähnlichen Verhältniſſen theilweiſer Abhängigkeit von den Haupt - ſtaten und theilweiſer Selbſtändigkeit ſtehen auch die mancherlei Neben - länder.
Es kommt hier freilich vieles darauf an, wie dieſe Nebenländer beſchaffen ſeien, ob die darin lebende Bevölkerung fähig ſei, ihre öffentlichen Intereſſen ſelb -91Völkerrechtliche Perſonen.ſtändig zu beſorgen, und ob ſie geneigt ſei, das ſo zu thun, daß dabei die Intereſſen des Hauptſtates nicht verletzt werden. Wenn ſie unfähig und feindlich geſinnt iſt, ſo wird ihr entweder überhaupt keine Selbſtändigkeit verſtattet oder dafür geſorgt wer - den, daß die Verwaltung der beſonderen Landesintereſſen nicht der unterworfenen Bevölkerung überlaſſen, ſondern von der dahin verpflanzten Colonie des Herrſcher - volkes beſorgt werde. Da dieſe Nebenländer meiſtens durch Eroberung dem Haupt - ſtate unterworfen worden ſind, wie z. B. die Oſtindiſchen Länder den Engländern, Algier dem Franzöſiſchen State, ſo iſt es ſchwerer, dieſelben zu ſtatlicher Selb - ſtändigkeit heranzubilden, als die eigentlichen Colonialländer.
Jeder Stat iſt als Rechtsperſon dem andern State gleich. An dem Völkerrecht haben alle Staten gleichen Antheil und gleichen Anſpruch auf Achtung ihrer Exiſtenz.
Die Rechtsgleichheit der Staten iſt ebenſo zu verſtehen, wie die Rechtsgleich - heit der Privatperſonen. Der Unterſchied der Größe, der Macht, des Ranges ändert an der weſentlichen Gleichheit Nichts, welche in der Anerkennung aller dieſer Per - ſonen als Rechtsweſen und der gleichmäßigen Anwendung der völkerrechtlichen Grundſätze auf Alle beſteht.
Kein Stat iſt berechtigt, die individuellen Kennzeichen eines andern Stats — deſſen Namen, Wappen, Fahne, Flagge — ſich anzueignen oder zu mißbrauchen.
In dieſen Zeichen ſpricht ſich die beſondere Perſönlichkeit eines Sta - tes aus und jeder Stat hat ein Recht, in derſelben geachtet zu werden. Die Rechts - gleichheit verwiſcht nicht die individuelle Verſchiedenheit, ſondern erkennt ſie an und ſchützt ſie für Alle. Selbſtverſtändlich geht hier die ältere Wahl ſolcher Namen und Zeichen der ſpäteren vor. So weit jene vollzogen iſt, muß dieſe ſie als bereits vor - handenes Recht reſpectiren und darf keine Verwirrung ſtiften durch Aneignung der - ſelben Namen und Zeichen.
Jeder Stat hat gleichen Anſpruch darauf, als eine geiſtig-ſittliche und als eine Rechtsperſon geachtet zu werden, und demgemäß auch ein Recht auf Ehre. Die Verletzung der Statsehre begründet das Recht, Genugthuung zu fordern.
92Zweites Buch.Auch in dieſer Beziehung verhält es ſich mit den Staten ähnlich, wie mit den einzelnen Menſchen. Der Menſch als ſolcher hat eine Würde und es gibt eine gemeinſame Menſchenehre wie eine Statsehre, die im Verkehr mit Menſchen und Staten nicht verletzt werden darf. Freilich kann auch ein Stat in einzelnen Fällen eine unſittliche und eine geiſtig-niedrige Politik verfolgen, wie ein einzelner Menſch zuweilen ſchlecht und dumm handeln kann; und natürlich wird dieſes Verhalten auch einen Einfluß üben auf die öffentliche Meinung und auf das Vertrauen der übrigen Staten. Aber der Rechtsanſpruch auf die allgemeine Statsehre wird dadurch ſo wenig zerſtört, als das Recht jener Privatperſonen auf Anerkennung der gemeinen Menſchenehre, durch einzelne Fehler. Die Menſchenehre ſtrahlt immer wieder neu hervor aus der an ſich hohen Menſchennatur, dem Ebenbilde Gottes, und ebenſo die Statsehre aus dem majeſtätiſchen Weſen des States, das heißt der einheitlichen und männlichen Geſtaltung des Völkerlebens.
Aus der perſönlichen Rechtsgleichheit der Staten folgt nicht gleicher Rang derſelben noch das Recht eines jeden States, einen beliebigen hohen Titel anzunehmen. Aber es ſteht einem jeden State zu, einen ſeiner Be - deutung und Machtſtellung entſprechenden Titel zu wählen.
Die beiden Sätze, daß jeder Stat Anſpruch habe auf gleichen Rang, und daß jeder Stat beliebige Titel annehmen könne, die man zuweilen aus der mißver - ſtandenen Rechtsgleichheit gefolgert hat, ſind falſch. Denn der Rang, den ein Stat in der Geſellſchaft der übrigen Staten einnimmt, iſt nicht eine einfache Wir - kung ſeiner Perſönlichkeit, welche für alle Staten dieſelbe rechtliche Bedeutung hat, ſondern er iſt die Wirkung der Machtſtellung und des Einfluſſes, welche verſchieden ſind unter den Staten. Der Titel aber bezeichnet den Rang, den ein Stat unter den andern einnimmt und kann eben deßhalb nicht willkürlich von jenem ohne Rück - ſicht auf dieſe gewählt werden. Es war der Gipfel der Lächerlichkeit, als ein Neger - häuptling auf Haiti den Kaiſertitel für ſeine Flitterkrone in Anſpruch nahm. Als der Kurfürſt Friedrich I. von Brandenburg im Jahr 1700 den Königstitel an - nahm, konnte die innere Berechtigung desſelben noch bezweifelt werden, aber die Ge - ſchichte des Preußiſchen Stats hat ſeither alle Zweifel zerſtreut. Aehnlich verhält es ſich mit der Annahme des Kaiſertitels durch Peter den Großen, welche nur ſehr allmählich Anerkennung fand, (von dem deutſchen Kaiſer erſt 1744, von Frankreich erſt 1762 und von Polen 1764) und in unſerm Jahrhunderte durch Frankreich und Oeſterreich. Auf dem Aachener Congreß erklärten die fünf Großmächte aus - drücklich in dem Protokoll vom 11. Oct. 1818, daß dem Wunſche des Kurfürſten von Heſſen auf den Titel eines Königs nicht zu entſprechen ſei und daß ſie über - haupt in Zukunft über andere Titelerhöhungen gemeinſam verhandeln wollen.
Auf kaiſerlichen Rang und Titel haben nur diejenigen Staten einen natürlichen Anſpruch, welche nicht eine bloße nationale, ſondern eine uni -93Völkerrechtliche Perſonen.verſelle Bedeutung haben für die Welt oder mindeſtens einen Welttheil und inſofern Weltmächte ſind oder welche doch als Großſtaten verſchiedene Völker in ſich einigen oder auf verſchiedene Völker einen ſtatlich beſtimmen - den Einfluß haben.
Das charakteriſtiſche Merkmal des Kaiſerthums iſt das, daß es ſich als Stats - autorität über den engen Geſichtskreis eines beſonderen Volkes und die engen Gren - zen eines einzelnen Landes erhebt. Das Kaiſerthum hat einen weltgeſchichtlichen Urſprung und eine univerſelle Bedeutung in der Geſchichte. Daher darf auch der Kaiſertitel nicht von der anmaßlichen Eitelkeit bloßer Volks - und Landes - fürſten mißbraucht werden. Die fränkiſchen und die deutſchen Könige des Mittelalter erhielten denſelben als römiſche Kaiſer und ſtanden als Verwalter des Weltfriedens und der chriſtlichen Weltordnung (damals imperium mundi genannt) an der Spitze der abendländiſchen Chriſtenheit. Der Ruſſiſche Czar Peter der Große nahm den Kaiſertitel 1701 in der Abſicht an, die Erinnerung an das Oſt - römiſche Kaiſerthum zu erneuern. Napoleon I. wollte das Reich Karls des Großen in moderner Gewalt wieder aufrichten, als er 1804 den Kaiſertitel ſich aneignete. Das Oeſterreichiſche Kaiſerthum (ſeit 1804) und das zweite franzöſiſche (ſeit 1852) haben eine weniger univerſelle, aber doch nicht eine bloß nationale und einzelſtatliche Bedeutung.
Der Kaiſerliche Rang eines States iſt nicht bedingt durch den Kaiſer - titel. Auch eine von Königen regierte Weltmacht hat Anſpruch auf kaiſer - lichen Rang und ebenſo eine weltmächtige Republik.
Die Großbrittaniſche Krone hat den Königsnamen aber den Kaiſer - lichen Rang. Keine andere ſteht ihr an univerſeller Bedeutung gleich. Nichts wird die Bundesrepublik der Vereinigten Staten von Nordamerika hindern, wenn ſie ſich als Weltmacht darſtellen will, Kaiſerlichen Rang anzuſprechen und zu behaupten.
Königlichen Rang haben die übrigen weſentlich auf ein Volk und ein Land beſchränkten Staten von anſehnlichem Umfang und erheblicher Bedeutung im Völkerverkehr.
Dahin rechnet man nach dem diplomatiſchen Gebrauch, außer den Staten, deren Häupter als Könige völkerrechtlich anerkannt ſind, auch die Republiken von ähnlicher Größe und Bedeutung und die vorhandenen Groß - herzogthümer.
Schon im Mittelalter nahmen die Kurfürſten des heiligen römiſchen Reichs deutſcher Nation für ſich denſelben Rang in Anſpruch, den die Könige der94Zweites Buch.andern chriſtlichen Völker hatten. Ueber ihnen allen erhoben ſich ja nach der Fiction der mittelalterlichen Reichslehre in derſelben Weiſe die kaiſerliche Majeſtät und die päpſtliche Heiligkeit.
Es beſteht kein Rangvorzug der Königreiche vor den Republiken mit königlichem Rang oder umgekehrt dieſer vor jenen.
Das höfiſche Ceremoniel kennt wohl den Vortritt der Könige vor den Groß - herzogen, aber nicht einen Vortritt der Königsſtaten vor den königlichen Freiſtaten. Die Macht und der politiſche Einfluß, welche die natürliche Grundlage auch für die Rangordnung der Staten bilden, ſind von dieſem Verfaſſungsunterſchied unabhängig. England hatte als Republik unter Cromwell eine größere Bedeutung aber kei - nen andern Rang als zur Zeit des Königs Karls I.; und die franzöſiſche Republik behauptete im Frieden von Campo-Formio 1797 denſelben Rang, wie vormals unter den Bourboniſchen Königen.
In allen weſentlichen Beziehungen ſtehen alle Königlichen Staten unter einander und auch den Kaiſerlichen gleich. Insbeſondere kommt allen das unbeanſtandete Recht zu, Botſchafter zu ſenden und zu empfan - gen, königliche Embleme in Krone, Scepter, Wappen anzunehmen und zu führen, im Ceremoniel und bei Unterzeichnung der Verträge auf dem Fuße der Gleichheit behandelt zu werden. Die Fürſten dieſes Ranges geben ſich im brieflichen Verkehr den Brudernamen.
Indeſſen erhalten nur die Könige als Statshäupter den Titel der „ Majeſtät “, nicht auch die übrigen Fürſten von Königlichem Rang, und es haben jene vor dieſen den Vortritt.
Der Titel der Majeſtät, urſprünglich auf den Kaiſer beſchränkt, iſt ſeit dem titelſüchtigen ſiebenzehnten Jahrhunderte auch auf die Könige ausgedehnt worden. Jedenfalls paßt er nur zu einer Würde, welche mit dem Vollgenuß der vollkommenen Regierungsſouveränetät verbunden iſt, aber nicht auf ſtatsrechtlich abhängige Könige. Es wird aber wohl ſchwerer noch werden, die Titel zu ermäßigen, als die wirklichen Hoheitsrechte zu vermindern.
Unter Staten von gleichem Rang haben je die älteren den Vortritt vor den jüngern. Ueberdem können die Rangverhältniſſe zwiſchen einzelnen Staten durch Vertrag oder Obſervanz beſtimmt ſein.
95Völkerrechtliche Perſonen.Die Verſuche, auf dem Aachener Congreſſe dieſe Dinge genauer völkerrechtlich zu ordnen, ſind an den Schwierigkeiten geſcheitert, welche die Eitelkeit und die höfi - ſchen Sitten jeder Uebereinkunft der Art in den Weg ſtellen.
Beſondere Verträge und Gebräuche finden z. B. Statt in einzelnen Ländern bezüglich des Schiffsgrußes. Vgl. Phillimore, Intern. Law. Bd. II. § 34 ff.
Die Verwantſchaft der Souveräne ändert das Rangverhältniß der - ſelben nicht.
Protokoll des Wiener Congreſſes vom 19. März 1815. Art. V.: „ Les liens de parenté ou d’alliance de famille entre les Cours ne donnent aucun rang à leurs employés diplomatiques. Il en est de même des alliances politiques “.
Halbſouveräne Staten (Vaſallenſtaten, Schutzſtaten, abhängige Ein - zelſtaten) ſtehen jederzeit im Rang den übergeordneten oberherrlichen Sta - ten, (Schutzmächten, Geſammtſtaten oder Hauptſtaten) nach.
Da die Unterordnung jener Staten unter dieſe ſogar eine ſtatsrechtliche iſt, ſo folgt die Ueberordnung dieſer Staten im Rang von ſelber daraus. Es gilt das z. B. von den Moldauiſchen Fürſtenthümern im Verhältniß zur Türkei, aber auch von Pennſylvanien gegenüber den Vereinigten Staten und von Sachſen gegenüber dem Norddeutſchen Bunde.
Gegenüber dritten Staten nimmt der halbſouveräne Stat diejenige Stellung ein, welche ihm ſeinem anerkannten Titel oder ſeiner anerkannten Bedeutung in der Statenfamilie gemäß zukommt, neben und gleich voll - ſouveränen Staten.
Der Grund liegt in der Regel der Gleichheit, welche überall eintritt, wo keine beſonderen Gründe einen Unterſchied rechtfertigen. Den dritten Staten gegenüber beſteht keine Unterordnung, und daher iſt auch der gleiche Rang am Platz. Wenn alſo z. B. Virginien mit Braſilien einen Vertrag ſchließt, oder Sachſen mit Oeſterreich, ſo iſt der Umſtand, daß jenes zu den Vereinigten Staten, dieſes zu dem Deutſchen Nordbunde gehört, nur erheblich im Verhältniß zu der Bundes - gewalt, aber nicht erheblich für die Rangſtellung gegenüber dem auswärtigen State.
Die Rangerhöhung eines States bedarf, um allſeitig zu wirken, der96Zweites Buch.völkerrechtlichen Anerkennung der übrigen Staten, welche indeſſen nicht willkürlich und ohne Grund verſagt werden darf.
Vgl. zu Art. 84. Die grundloſe Verweigerung der Anerkennung iſt zum mindeſten ein Zeichen unfreundlicher Geſinnung und kann zur Beleidigung des Sta - tes werden, der ſich emporgeſchwungen hat.
Das Gleichgewicht unter den Staten beſteht nicht darin, daß dieſel - ben gleich groß an Umfang des Gebiets und an Volkszahl und gleich mächtig ſeien. Die Verſchiedenheit der Staten an Größe und Macht iſt eine nothwendige Wirkung der natürlichen Unterſchiede des Bodens der Volksindividualitäten und der geſchichtlichen Entwicklung.
Das Völkerrecht muß dieſe Verſchiedenheit anerkennen und darf ſie nicht bekämpfen. Ihre Zerſtörung würde die Beſtimmung der Menſchheit gefährden, welche auf der Wechſelwirkung verſchiedener Kräfte beruht.
Der Gedanke eines mathematiſchen Gleichgewichts war zu Anfang des XVIII. Jahrhunderts beliebt. Man hoffte von ſeiner Verwirklichung die Sicherung des Weltfriedens und die gründliche Beſeitigung jeder Gefahr von Univerſalmonarchie. Der bekannte Vorſchlag des Abbé Saint Pierre: „ Projet de la paix éternello “von 1715 am Schluß des großen europäiſchen Krieges gegen das Uebergewicht Frankreichs, ſucht dieſen Gedanken in einer neuen Karte Europas darzuſtellen. Aber der Gedanke iſt ſchon deßhalb falſch, weil er die geiſtigen Charakterkräfte, die ſich nicht abzählen laſſen, mißachtet und eine künſtliche Gleichheit da einrichten will, wo die Natur große und dauernde Unterſchiede zeigt.
Es iſt ferner keine Forderung des Gleichgewichts, daß die beſtehenden Staten allezeit unverändert erhalten bleiben. Es gibt ein natürliches und inſofern nothwendiges Wachsthum der Staten und ebenſo eine unvermeid - liche Abnahme ihrer Kräfte und ihrer Wirkſamkeit. Das Völkerrecht muß die umbildende Macht der Geſchichte anerkennen.
97Völkerrechtliche Perſonen.Das Mittelalter war der Zerbröckelung der Nationen in kleine Fürſtenthümer und Städte, zumal in Deutſchland und in Italien ſehr günſtig. Der Zuſtand war erträglich, ſo lange der Verkehr gering, das nationale Bewußtſein ſchwach, die öffent - lichen Bedürfniſſe klein waren und keine äußeren Gefahren die Exiſtenz dieſer Stätchen bedrohten. In der neueren Zeit iſt das Alles anders geworden. Deßhalb gingen die meiſten Kleinſtaten bereits unter und es bildeten ſich größere Volks - ſtaten aus.
Es iſt kein völkerrechtliches Geſetz, daß die Erweiterung eines Stats - gebiets einen andern vielleicht rivalen Stat berechtige, auch ſeinerſeits eine Vergrößerung zu verlangen.
In der ſtatlichen Praxis des vorigen Jahrhunderts hat man ſich oft auf dieſe angebliche Folgerung aus dem Princip des Gleichgewichts berufen, um die Erobe - rungsſucht mit einem ſcheinbaren Rechtsſatze zu bemänteln. So verlangte Oeſter - reich ein Stück der Türkei, weil Rußland ſich in Polen ausdehne. Die Thei - lung Polens unter die drei Nachbarmächte wurde auch mit ſolchen Argumenten beſchönigt. Aber noch in unſerm Jahrhunderte iſt mit ſolchen Scheingründen viel - fältig Mißbrauch getrieben worden. Man hat noch im Jahr 1803 deutſches Land nach dem Ausdruck Fichte’s „ zu Zulagen gemacht zu den Hauptgewichten in der Wage des europäiſchen Gleichgewichts “. Sogar noch 1860 wurde die Annexion Savoyens durch Frankreich wenigſtens nebenher mit dem großen Wachsthum des Königreichs Italien zu rechtfertigen geſucht. Da das völkerrechtliche Gleichgewicht nicht gleich große Staten, noch ein unveränderliches Größenverhältniß der vorhan - denen bedeutet, noch bedeuten darf, ſo iſt eine derartige mathematiſche Anwendung jenes Princips unzuläſſig. Die Exiſtenz und die Entwicklung der Völker und Sta - ten darf nicht nach ſo plumpen Regeln beſchnitten und zugeſchnitten werden.
Das wahre Gleichgewicht bedeutet das friedliche Nebeneinanderbeſtehen verſchiedener Staten. Es wird gefährdet und geſtört, wenn das Ueber - gewicht Eines States ſo unverhältnißmäßig zu werden droht, daß die Sicherheit und Freiheit der übrigen Staten daneben nicht mehr fortbeſtehen kann. In ſolchen Fällen ſind nicht bloß die zunächſt gefährdeten ſchwä - cheren Staten, ſondern es ſind auch die übrigen ungefährdeten Staten veranlaßt und berechtigt, das Gleichgewicht herzuſtellen und für ausreichen - den Schutz desſelben zu ſorgen.
Es gilt dieſer Satz vorzüglich von der europäiſchen Statenfamilie, welche den Fortbeſtand einer Anzahl ſelbſtändiger Staten als Grundbedingung ihrer Wohlfahrt betrachtet. Daraus erklären ſich die zahlreichen und am Ende glücklichenBluntſchli, Das Völkerrecht. 798Zweites Buch.Allianzen wider die drohende Univerſalmonarchie zuerſt gegen Kaiſer Karl V., dann gegen König Philipp II. von Spanien, ſpäter gegen Ludwig XIV. und wiederum gegen Kaiſer Napoleon I., zuletzt wider die Ruſſiſche Oberherrſchaft in Südoſteuropa. Aber nicht ebenſo ſcheint der Satz auf Amerika anwendbar, indem die Vereinigten Staten offenbar ſchon zur leitenden Hauptmacht für den gan - zen Welttheil geworden ſind. Wenn aber Amerika beſtimmt iſt, in die Vereinigten Staten aufgenommen zu werden, ſo bedarf es dieſes Satzes nicht, wenn es aber auch für Amerika wie für Europa nöthig erſcheinen ſollte, eine Statengenoſſen - ſchaft von einander unabhängiger Staten zu bilden, ſo wird der Satz auch in das Amerikaniſche Völkerrecht aufgenommen werden müſſen.
Das Streben nach einer auf die Uebermacht Eines Volkes geſtützten Univerſalherrſchaft über die andern Völker iſt eine Gefährdung des Gleich - gewichts und rechtfertigt den gemeinſamen Widerſtand der übrigen Staten.
Vgl. die vorige Anmerkung. Mit dieſer völkerrechtswidrigen Bedrohung ſelb - ſtändiger und nicht zuſammengehöriger Staten darf nicht verwechſelt werden die Be - drohung unhaltbarer Particularſtaten durch einen nationalen Groß - ſtat. Denn es kann die Einverleibung jener durch dieſen vielleicht eine nothwendige Bedingung ſein für die Sicherheit der nationalen Exiſtenz und Geſammtwohlfahrt, oder eine unvermeidliche Folge der nationalen Entwicklung eines Volks. Die Ge - ſchichte Italiens im Jahr 1860, und die von Deutſchland im Jahr 1866 machen das klar. Das Gleichgewicht der italieniſchen und der deutſchen Particular - ſtaten war überhaupt kein Gut von hohem und von dauerndem Werth und es konnte leicht darauf verzichtet werden, wenn man ſtatt deſſen die unſchätzbare Errungen - ſchaft eines nationalen States und eine würdigere Stellung in der Welt erhielt.
Auch eine theilweiſe Uebermacht eines States kann die Sicherheit und die Freiheit der andern Staten und damit das Gleichgewicht gefährden und rechtfertigt den gemeinſamen Widerſtand der übrigen Staten, um die - ſelbe zu beſchränken. Das gilt insbeſondere von einer übermächtigen Seeherrſchaft eines States.
Ein Beiſpiel geben die Verträge der neutralen Staten zur Bekämpfung der engliſchen Univerſalherrſchaft über die Meere.
Die heilige Allianz vom Jahr 1815, welche auf das Princip der99Völkerrechtliche Perſonen.chriſtlichen Religion ein neues chriſtliches Völkerrecht begründen will, kann nicht als modernes Völkerrecht gelten.
Die heilige Allianz, zu Paris von den drei Monarchen von Rußland, Oeſter - reich und Preußen unterzeichnet 14 / 26. Sept. 1815, war ein Verſuch der Reſtaurations - epoche, im Gegenſatze zu der franzöſiſchen Revolution, ein neues Völkerrecht zu be - gründen. Die Grundgedanken waren zum Theil der religiöſen Ueberlieferung des Mittelalters, zum Theil der Ruſſiſchen Weltanſicht entnommen. Eben deßhalb konn - ten ſie weder das moderne Rechtsbewußtſein, noch die Bedürfniſſe der civiliſirteren Völker befriedigen. Sie gehörten einem frühern Standpunkte der Entwicklung an und waren daher ungeeignet, den Fortſchritt der Neuzeit zu leiten und zu ordnen. Vgl. den Artikel Heilige Allianz im Deutſchen Statswörterbuch von Bluntſchli und Brater.
Indem ſie das Völkerrecht ausſchließlich auf die Religion gründet, verkennt ſie den Unterſchied von Religion und Recht; indem ſie nur auf chriſtliche Völker anwendbar iſt und die nicht-chriſtlichen Staten außer die menſchliche Weltordnung verſetzt, verengt ſie die Wirkſamkeit des Völker - rechts; indem ſie Chriſtus als den „ alleinigen Souverain der geſammten chriſtlichen Nation “bezeichnet, geräth ſie auf die Abwege der Theokratie, welche dem politiſchen Bewußtſein der europäiſchen und der civiliſirten Völker überhaupt fremd und unerträglich iſt; indem ſie die patriarchaliſchen Ideen zu Statsprincipien erhebt, paßt ſie nicht zu der Denkweiſe und den Bedürfniſſen der politiſch erzogenen und frei gewordenen Menſchheit.
Man kann den frommen Geiſt, der dieſes Actenſtück beſeelt, ehren und ſich des großen Fortſchrittes erfreuen, welcher in der proclamirten Verbrüderung der Staten der verſchiedenen chriſtlichen Confeſſionen auch im Gegenſatz zum Mittelalter liegt, das nur die Chriſtenheit Einer Confeſſion als eine berechtigte Völkerfamilie anerkannte, alle Ungläubigen oder Andersgläubigen aber ausſchloß und verdammte. Aber die oben genannten Mängel ſind ſo groß, daß das Werk trotz der wohlwollen - den Abſichten ſeiner Gründer nicht gelingen konnte.
Die Beſtimmungen der heiligen Allianz ſind durch die Wiſſenſchaft als unzu - reichend und theilweiſe irrthümlich im Princip und durch die ſeitherige europäiſche Geſchichte als unausführbar und unwirkſam erwieſen worden.
Die geſammte Entwicklung des Rechts - und des Statsbegriffs ſowohl im Alterthum als in der Neuzeit bei ſämmtlichen Statsvölkern widerſpricht der theokra - tiſchen Statslehre, welche der heiligen Allianz zu Grunde liegt. England und der Papſt ſind derſelben von Anfang an nicht beigetreten; und die anderen europäiſchen Staten haben ſich ſeither theils ausdrücklich davon losgeſagt, theils ſtillſchweigend dieſelbe fallen gelaſſen. Die geſammte Verfaſſungsbildung der neuen Zeit wird von menſchlichen Rechtsideen beſtimmt. In dem Orientaliſchen Kriege von 1854 — 18567*100Zweites Buch.ſtand Rußland, der Stifter der heiligen Allianz, ganz iſolirt, nicht bloß den feind - lichen Weſtmächten England und Frankreich, ſondern ebenſo dem übelwollenden Oeſterreich und dem neutralen Preußen gegenüber; von der verſprochenen wechſel - ſeitigen „ assistance aide et secours “(Art. 1 des Vertrags) war Nichts mehr zu verſpüren.
Der in Aachen 1818 befeſtigte Verband der fünf europäiſchen Groß - ſtaten England, Frankreich, Oeſterreich, Preußen und Rußland bedeutet nicht einen feſten völkerrechtlichen Senat für Europa, ſondern nur, daß dieſe Staten zur Zeit die Macht haben und es als gemeinſame Aufgabe erkennen, bei der Regulirung der europäiſchen Angelegenheiten mitzuwirken.
Die Wiener Congreßacte wurde außer den genannten Staten auch von Spanien und Portugal und dem Könige von Schweden und Norwegen unterzeichnet. Aber man gewöhnte ſich, beſonders ſeit dem Congreß von Aachen, auf welchem Frankreich vollends wieder in die „ brüderliche “Gemeinſchaft der alliirten Mächte aufgenommen ward, jene fünf mächtigſten Staten als europäiſche Pentarchie zu betrachten. Die fünf Mächte beſaßen über zwei Drittheile des europäiſchen Bodens und umfaßten beinahe drei Viertheile der europäiſchen Geſammtbevölkerung. In der militäriſchen Macht waren ſie den übrigen europäiſchen Staten noch mehr überlegen. Dennoch war dieſe Vereinigung nur ein unvollſtändiges Bild der wirklichen Zuſtände von Europa. Die romaniſchen Staten waren im Verhältniß zu den germaniſchen zu wenig, die mittleren und kleineren Staten gar nicht berückſichtigt. Wenn aber ein Stat berechtigt erſcheint zu exiſtiren, ſo kann ihm das Recht nicht abgeſprochen werden, in der Verſammlung der Statengenoſſenſchaft auch eine Stimme zu haben und ſei es unmittelbar ſei es mittelbar vertreten zu ſein. Die ſogenannte Pentarchie mag als Anfang einer Organiſation Europas, aber ſie kann nicht als ihre Vollen - dung betrachtet werden.
Die Zahl der europäiſchen Großſtaten iſt nicht abgeſchloſſen. Es können neue hinzutreten, indem ſie ſtark und ſo activ werden, daß ihre Mitwirkung in den europäiſchen Angelegenheiten ohne allgemeine Gefahr nicht zu entbehren iſt. Es können auch bisherige Großſtaten ſo ſchwach werden, daß es ungefährlich und unnöthig erſcheint, dieſelben weiter bei - zuziehen, wenn unter den Großſtaten über die europäiſchen Angelegenheiten verhandelt wird.
101Völkerrechtliche Perſonen.Offenbar hat gegenwärtig das Königreich Italien den nächſten Anſpruch darauf, zu den europäiſchen Großſtaten gerechnet zu werden. Spanien, im ſech - zehnten Jahrhundert noch die erſte europäiſche Großmacht, iſt durch die Mißregierung ſeiner Könige und den verderblichen Einfluß der kirchlichen Reaction dermaßen ent - kräftet und entgeiſtet worden, daß es in unſerm Jahrhundert nicht mehr als Groß - ſtat angeſehen wurde. Das kann ſich aber wieder ändern. Ebenſo kann auch Schweden, im ſiebzehnten Jahrhundert eine wirkliche Großmacht, wieder eine be - deutendere Stellung erwerben, wenn es den Geiſt der Zeit verſteht. Die Bedeutung Preußens unter den Großmächten war nach dem Krimkriege in ein bedenkliches Schwanken gerathen, iſt ſeit dem Kriege von 1866 und ſeitdem es gewiß iſt, daß das deutſche Volk nun in dem Könige von Preußen ſein Reichsoberhaupt und daher vorerſt thatſächlich den deutſchen Kaiſer erkennt, ſehr gehoben worden. Alle dieſe Aenderungen in den politiſchen Verhältniſſen der Staten wirken auch auf die Stel - lung und den Einfluß zurück, welche dieſen Staten in der Organiſation Europas zukommen.
Jeder europäiſche Stat hat ein Recht darauf, daß ſeine beſondern Angelegenheiten nicht von den Großſtaten gemeinſam verhandelt werden, ohne daß er zu der Verhandlung eingeladen und zugezogen werde.
Aachener Protokoll vom 15. Nov. 1818: „ Que si, pour mieux atteindre le but ci-dessus énoncé (le maintien de la paix générale, fondé sur le re - spect réligieux pour les engagements consignés dans les traités) les puis - sances qui ont concouru an présent acte, jugeaient nécessaire d’établir des réunions particulières, soit entre les augustes souverains eux-mêmes, soit entre leurs ministres et plénipotentiaires respectifs, pour y traiter en commun de leurs propres intérêts, en tant qu’ils se rapportent à l’objet de leurs dé - liberations actuelles, l’époque et l’endroit de ces réunions seront chaque fois préablement arrêtés au moyen de communications diplomatiques, et que, dans le cas ou ces réunions auraient pour objet des affaires spécialement liées aux interêts des autres états de l’Europe, elles n’auront lieu qu’à la suite d’une invitation formelle de la part de ceux de ces états que les dites af - faires concerneraient, et sous la réserve expresse de leur droit d’y partici - per directement ou par leurs plénipotentiaires. “
Das Recht des States, über deſſen Verhältniſſe in der Verſammlung der europäiſchen Großſtaten verhandelt wird, zugezogen zu werden, erſtreckt ſich auf alle Verhandlungen. Er ſteht dabei den Großſtaten nicht wie eine Partei ihrem Richter, ſondern als vollberechtigte Perſon und weſentlich gleichberechtigtes Mitglied der europäiſchen Statengenoſſenſchaft zur Seite.
102Zweites Buch.Dieſer Grundſatz, welcher aus der völkerrechtlichen Stellung der europäiſchen folgt, wurde auf den Congreſſen von Laibach (1821) und Verona (1822) nur unvollſtändig, beſſer dagegen auf dem Pariſer Congreß (1856) beachtet.
Wenn die Zuſtände eines States dem europäiſchen Frieden Gefahr bringen oder ſeine Handlungen die allgemeine Sicherheit der europäiſchen Staten bedrohen oder die Leiden ſeiner Bevölkerung der Civiliſation Europas unwürdig und unerträglich erſcheinen, ſo ſind das nicht mehr beſondere Angelegenheiten unr dieſes States, ſondern iſt die europäiſche Staten - genoſſenſchaft berechtigt, auf Beſſerung hinzuwirken.
In der Zeit der Interventionspolitik zu Gunſten der legitimen Fürſtengewalt wurde die erſte Bedingung einer Intervention arg mißbraucht, indem man da Ge - fahren für die europäiſche Rechtsordnung erblickte, wo in Wahrheit nur eine natur - gemäße Fortbildung des Verfaſſungsrechts zu finden war. Ein Beiſpiel der zwei - ten Bedingung iſt der Krieg der Weſtmächte gegen Rußland 1853 — 56, als Ruß - land die Türkei überzog; und auf die dritte Bedingung hat man ſich wiederholt im Intereſſe der chriſtlichen Bevölkerung der Türkei berufen. Das heutige Europa darf nicht mehr dulden, daß die blutigen Ketzerverfolgungen oder die Hexengerichte nach der Weiſe des Mittelalters erneuert werden. Die civiliſirte Menſchheit hat ein Recht, die Fortſchritte der Menſchlichkeit gegen den Wahnſinn verblendeter Fanatiker zu ſchützen. Vgl. unten Buch VII.
Zur Zeit gibt es noch keine anerkannte Rechtsordnung für allgemeine europäiſche Congreſſe und noch weniger für allgemeine Weltcongreſſe.
Die Inſtitution eines völkerrechtlichen Congreſſes, auf welchem die Häupter und Vertreter der Staten zu gemeinſamer Berathung zuſammentreten, iſt noch in ihren erſten mangelhaften und unſicher taſtenden Anfängen. Noch immer erſcheint der Congreß von Wien 1814 — 15 als der bedeutendſte allgemein-europäiſche Con - greß. Die folgenden Congreſſe von Aachen 1818, Troppau 1820, Laibach 1821 und Verona 1822 waren vorzugsweiſe nur Congreſſe der fünf europäiſchen Großmächte. Der großartige Vorſchlag des Kaiſers Napoleon III. vom Jahr 1863 zu einem allgemeinen europäiſchen Congreß iſt bisher ohne Erfolg geblieben. Aber die Idee der Congreſſe hat ſo ſicher noch eine große Zukunft, als die fortſchrei - tende Menſchheit ſich mehr den friedlichen Mitteln zuwenden wird, um für den Schutz und die zeitgemäße Fortbildung ihrer gemeinſamen Lebensordnung zu ſorgen.
Aus der völkerrechtlichen Exiſtenz der Staten und aus ihrer Bethei - ligung an dem Schickſal der europäiſchen Statengenoſſenſchaft folgt das natürliche Recht aller europäiſchen Staten, welche einen ſelbſtändigen völker - rechtlichen Verkehr pflegen, zu einem allgemeinen europäiſchen Congreß zu - gezogen zu werden und eine eigene Stimme zu führen.
Staten, welche nur im Bunde mit andern Staten eine völkerrecht - liche Exiſtenz behaupten können, ſind nicht zu individueller, ſondern nur zur Geſammtvertretung berechtigt.
Nach dieſem Grundſatze ergingen am 4. Nov. 1863 die Einladungen des Kaiſers Napoleon III. an alle ſouveränen Staten Europas. „ Jedesmal “, heißt es in dem Einladungsſchreiben, „ wenn ſtarke Stöße die Grundlagen der Staten erſchüttert und deren Gränzen verändert haben, griff man zu feierlichen Transactionen, um die neuen Elemente zu verbinden und die vollendeten Umgeſtaltungen zu ſich - ten und zu heiligen “.
Sind die auf einem allgemeinen europäiſchen Congreſſe verſammelten Staten einig über völkerrechtliche Beſtimmungen, ſo ſind dieſelben für alle europäiſchen Staten verbindliche Rechtsvorſchriften.
Vgl. oben §. 13. Das gilt auch für die Staten, welche nicht erſchienen ſind und daher ihre Zuſtimmung nicht erklärt haben.
Ein europäiſcher Congreß hat nicht die Autorität eines Weltcongreſſes, aber wenn er einig iſt, ſo ſpricht er das derzeitige europäiſche Rechts - bewußtſein auch bezüglich des allgemeinen Völkerrechts aus.
Darin liegt freilich keine genügende Sicherheit dafür, daß dieſe Ausſprache auch von den außereuropäiſchen Staten als richtig anerkannt und beachtet werde. So wurde bekanntlich von Seite der Vereinigten Staten von Amerika das Verbot der Kaperei, zu welchem ſich der Pariſer Friedenscongreß von 1856 verſtändigt hatte, nicht anerkannt, ſo lange nicht zugleich die tadelnswerthe Praxis der Seebeute eben - falls verboten werde.
Die Anerkennung und Wirkſamkeit allgemeiner Grundſätze des Völ - kerrechts wird beſſer geſichert, wenn zu der Berathung und autoritativen104Zweites Buch.Feſtſtellung derſelben mit den europäiſchen Großſtaten auch die außereuro - päiſchen Weltmächte, insbeſondere die amerikaniſchen Großſtaten, zuſammen - treten und zuſammenwirken, d. h. wenn der Congreß als Weltcongreß erſcheint.
Vgl. oben § 7.
Auf den Statencongreſſen entſcheidet, in Ermanglung einer ſchützen - den Organiſation, nicht die Meinung oder der Wille der Mehrheit. Die Minderheit iſt nicht von Rechtswegen verpflichtet, ſich der Mehrheit unter - zuordnen. Ein einzelner Stat kann möglicher Weiſe mit Recht ſeine ab - weichende Meinung behaupten. Aber wenn die Mehrheit ſich für die Nothwendigkeit eines allgemeinen Rechtsgrundſatzes erklärt, ſo iſt das immer - hin ein beachtenswerthes Zeugniß für das derzeitige allgemeine Rechts - bewußtſein der gebildeten Völker; und wenn gleich die Mehrheit keine for - melle Herrſchaft hat über die Minderheit, ſo liegt doch in der Verletzung eines Grundſatzes, den jene für einen allgemein verbindlichen Rechtsſatz erklärt, eine ernſte Gefahr für den verletzenden Stat.
Wenn dereinſt die Congreſſe organiſirt ſein werden, dann wird auch eine Be - ſchlußfaſſung mit Mehrheit möglich werden. Es iſt eine Unvollkommenheit des jetzi - gen Rechtszuſtandes, daß der einzelne Stat allen andern gegenüber auch ſeine Willkür als Recht behaupten kann, welche an die noch barbariſche Sitte der alten Germani - ſchen Rechtsfindung erinnert, in welcher nicht die Mehrheit der Stimmen, ſondern die Tapferkeit der Fäuſte entſchieden hat oder an das berüchtigte Veto der einzelnen Polniſchen Magnaten, welche das Zuſtandekommen der Geſetze zu hindern vermocht hat. Aber wie gefährlich die einfache Einführung des Mehrheitsprincips ohne Ga - rantien gegen den Mißbrauch wäre, zeigt ſchon der Hinblick auf den Gegenſatz der Verfaſſungen. Wollte die monarchiſche Mehrheit der europäiſchen Staten die repu - blikaniſche Schweiz nach monarchiſchen Grundſätzen bemeſſen, ſo würde das offen - bares Unrecht ſein, ebenſo wie die Beurtheilung des Ruſſiſchen Stats nach den con - ſtitutionellen Syſtemen der übrigen europäiſchen Staaten unrichtig wäre.
Die gegenwärtige Uebung, wornach auf den Congreſſen nur die Regierungen der Staten vertreten ſind, ſtimmt nicht zu dem repräſentativen Charakter des modernen Statsrechts und iſt keineswegs ohne Gefahr für die Verfaſſungen der einzelnen Staten.
Jener Widerſpruch und dieſe Gefahr laſſen ſich heben oder ermäßigen:
Die Anwendung der parlamentariſchen Vertretung auch auf völkerrechtliche Congreſſe wird noch lange ein idealer Wunſch bleiben. Inzwiſchen können aber die Volksvertretungen dafür ſorgen, daß nicht durch auswärtige Verhandlungen die ver - faſſungsmäßigen Rechte ihres Volkes verletzt oder die beſonderen Intereſſen ihres Landes geſchädigt werden. In England und in den Vereinigten Staten iſt dieſe Sorge ſchon ſeit langem geübt worden und mit Erfolg, wie manche Beiſpiele zeigen. Lediglich deßhalb iſt die engliſche Krone der Heiligen Allianz nicht beigetreten und mehr als einmal hat der amerikaniſche Senat die diplomatiſchen Verabredungen durch ſeine Einſprache unwirkſam gemacht.
Das Statsrecht beſtimmt, wer die Statsperſönlichkeit nach außen darzuſtellen berechtigt und verpflichtet ſei und unter welchen Bedingungen und Beſchränkungen.
Die Bildung der nöthigen Organe, um den Stat zu leiten und im Namen des States zu handeln, iſt die Aufgabe der Statsverfaſſung. Das Völkerrecht hat den Stat zu nehmen, wie er iſt und beſtimmt nicht die Verfaſſung der Staten. Ob Jemand durch Erbrecht oder durch Wahl auf den Thron erhoben wird, iſt für die Frage der Repräſentation im Völkerrecht unerheblich. Vgl. oben § 18.
In der Regel hat die wirkliche Statsregierung (qui actu regit) das völkerrechtliche Repräſentationsrecht auszuüben.
In dem helleniſchen Alterthum konnte es in Frage kommen, ob nicht der Volksverſammlung das Repräſentationsrecht zukomme. In den modernen Staten wird überall die Repräſentation nach Außen als Aufgabe und Recht der eigentlichen Statsregierung betrachtet.
Eine Statsregierung kann aber nur inſofern von andern Staten als wirk - lich betrachtet werden, als ſie in der That regiert, nicht wenn ſie bloß Anſprüche darauf erhebt, die Regierung zu übernehmen.
Wer in einem Lande die Regierungsgewalt erwirbt, wird in Folge deſſen im völkerrechtlichen Verkehr als Organ der Statsperſönlichkeit be - trachtet. Mit einem ſiegreichen und im Lande anerkannten Uſurpator können für den Stat verbindliche Verträge abgeſchloſſen werden.
Die europäiſchen Mächte haben ſo abwechſelnd mit dem Protector Cromwell und ſpäter wieder mit dem König Karl II. und nach der Vertreibung Jacobs II. mit dem Könige Wilhelm III. für England verbindliche Verträge abgeſchloſſen; ebenſo mit der franzöſiſchen Directorialregierung, mit Napoleon I., mit dem gewaltſam reſtaurirten König Ludwig XVIII., mit Ludwig Philipp, und wieder mit der republikaniſchen Regierung nach 1848 und mit Napoleon III. für Frankreich, ohne näher zu prüfen, ob dieſe verſchiedenen Statshäupter in correcter Rechtsform zur Regierung gelangt ſeien. Die wirkliche Regierung iſt allein in der Lage, für den regierten Stat zu handeln, weil ſie allein im Beſitz der Mittel iſt, um wirkſam zu handeln. Die Repräſentation iſt nur ein Theil, nur eine einzelne Aeußerung der Regierungsthätigkeit überhaupt. Da der Stat eine lebendige Perſon und nicht ein todtes Syſtem von formellen Rechten iſt, ſo kann er nur von dem vertreten werden, welcher in dem Stat und an der Spitze des States als lebendiges Statsorgan dem State dient, d. h. nur von dem, der wirklich die Regierungsgewalt ausübt oder ausüben läßt.
Wie innerhalb des States der thatſächlichen Regierung, dem „ actually King “gehorcht wird und gehorcht werden muß (Engliſche Parlamentsacte von Heinrich VII. 1494), ſo erſcheint nach außen die thatſächliche Regierung des Volks und Landes als deren natürliche Vertreter. In einer Note vom 25. März 1825 conſtatirte der engliſche Miniſter die allgemeine Uebung der europäiſchen Staten, mit den Regie - rungen de facto in völkerrechtlichen Verkehr zu treten. Vgl. Phillimore II. 19. Auch die römiſche Kirche hat trotz ihrer legitimiſtiſchen Neigungen in neuerer Zeit, dieſelbe Maxime im Verkehr mit den Staten behauptet. Papſt Gregor XVI. hat es in einer feierlichen Erklärung vom Aug. 1831 (bei Heffter Völkerr. Anhang. IV. ) als ein Bedürfniß und einen alten Gebrauch der Kirche bezeichnet, daß dieſelbe mit denen verhandle „ qui actu summa rerum potiuntur “, aber ſich zugleich da - gegen verwahrt, daß darin eine Anerkennung ihrer Rechtmäßigkeit liege. Indeſſen iſt in der Aufnahme der völkerrechtlichen Beziehungen und in der Ertheilung der gebräuchlichen Titel (König u. ſ. f.) doch die Anerkennung einer wirklichen Re - gierung enthalten und es iſt das nicht ohne Wirkung auf die neue Rechtsbildung, indem ſie die Zweifel gegen deren Beſtand vermindert oder vollends beſeitigt.
Wer die Regierungsgewalt verliert, hört in Folge deſſen auf, der völkerrechtliche Vertreter des States zu ſein.
109Völkerrechtliche Organe.Mit einem entthronten Fürſten können keine den Stat verbindliche Verträge abgeſchloſſen werden.
Das nicht mehr wirkliche Statshaupt, außer Stande zu regieren, kann eben deßhalb den Stat auch nicht repräſentiren. Jakob II. konnte nach ſeiner Flucht und nachdem das Parlament ſeine Abſetzung in Form der angenommenen Abdankung erklärt hatte, nicht mehr England vertreten, noch die Bourbonen Frankreich wäh - rend ihres Exils. Dasſelbe gilt von den vertriebenen italieniſchen und deutſchen Fürſten dieſer Tage. Selbſt wenn man annimmt, daß das Recht ſolcher entthronten Fürſten noch nicht erloſchen und je nach Umſtänden wieder herzuſtellen ſei, ſo muß doch, ſo lange dieſes Recht nicht ausgeübt werden kann, auch die daraus abgeleitete Repräſentation ruhen. Die Zumuthung an ein Volk, daß es durch einen Fürſten ſich verpflichten laſſe, der keine Macht mehr über dasſelbe beſitzt und außer Stande iſt, für den Vollzug ſeiner Zuſagen zu ſorgen, iſt ungereimt.
Daraus, daß ein Stat mit dem thatſächlichen Haupte eines States in regelmäßigen Verkehr tritt, folgt nicht, daß er die Rechtmäßigkeit ſeiner Erhebung, wohl aber, daß er die rechtliche Wirkſamkeit ſeiner gegenwär - tigen Statsſtellung anerkenne.
Vgl. zu § 117. Es iſt daher möglich, obwohl nicht zweckmäßig, daß ein Stat, wenn er eine neue Regierung anerkennt, zugleich ſeine Meinung über den revolutionären Anfang der neuen Gewalt ausſpricht, wie das im Jahr 1861 in einer Preußiſchen Note an das neue Königreich Italien geſchehen iſt.
Die Legitimität oder Illegitimität des Urſprungs einer Statsregierung iſt eine Rechtsfrage, voraus des Stats -, erſt in zweiter Linie des Völker - rechts. Auch eine urſprünglich durch Rechtsbruch erhobene Regierung kann aber rechtmäßig werden, wenn ſie im State dauernden Beſtand gewinnt und allgemeine Anerkennung findet.
Im Gegenſatz zu dieſer Wahrheit hatte die Legitimitätspolitik der Congreſſe von Laibach und Verona es für eine Aufgabe der europäiſchen Völkerfamilie erklärt überall einzuſchreiten, wo in einem State der Geiſt der Revolution ſich rege und die legitimen Fürſten in ihrem Beſitze der Gewalt auch wider die Völker zu ſchützen und wiederherzuſtellen. Am klarſten ſpricht die damalige Tendenz die Circulardepeſche des Fürſten von Metternich aus, datirt Laibach 12. Mai 1821. Es heißt darin: „ Les Souverains alliés n’out pu méconnaître, qu’il il n’y avait qu’une barrière à opposer a ce torrent devastateur “(— de la conjuration impie,110Drittes Buch.qui veut renverser ce qui existe —). Conserver ce qui est légale - ment établi, tel a dû être le principe invariable de leur politique, le point de départ et l’objet final de toutes leurs résolutions. Jamais ces Monarques n’out manifesté la moindre disposition de contrarier des améliorations réelles ou la réforme des abus qui se glissent dans les meilleurs gouvernemens. — Les changemens utiles ou nécessaires dans la législation et dans l’admini - stration des États ne doivent émaner que de la volonté libre, de l’impulsion réfléchie et éclairée de ceux que Dieu a rendu responsables du pouvoir. Tout ce qui sort de cette ligne, conduit nécessairement an désordre, aux bouleversemens, à des maux bien plus insupportables que ceux que l’on prétend guérir. Pénétrés de cette vérité éternelle, les Souverains n’ont pas hésité à la proclamer avec franchise et vigueur; Ils ont déclaré qu’en respectant les droits et l’indépendance de tout pouvoir légitime, Ils régar - daient comme légalement nulle et désauvouée par les principes qui constituent le droit publique de l’Europe, toute prétendue réforme opérée par la révolte et la force ouverte “. Nach dieſen Legitimitätsgrundſätzen wurde in Piemont, in Neapel, in Spanien intervenirt und die repräſentative Verfaſſung dieſer Länder überall in die abſolute Monarchie zurückgeſchraubt. Aber weder gelang es, dieſe Grundſätze gegen die ſüdamerikaniſchen Colonien, die ſich von den euro - päiſchen Mutterſtaten losſagten, durchzuführen, indem die engliſche Regierung dieſe Umbildung anerkannte, noch waren dieſelben in Europa auf die Dauer feſtzuhalten. Zuerſt ſchon hinderten das Ruſſiſche Intereſſe, der Idealismus Frankreichs und das liberalere Rechtsgefühl Englands die Anwendung derſelben auf die griechiſche Revolution. Im Jahre 1830 ſchraken die Oſtmächte vor der Verantwortlichkeit und Gefahr eines europäiſchen Krieges zurück und erkannten die gewaltſame Aenderung der franzöſiſchen Dynaſtie und die Revolution Belgiens an. Seither ſind noch eine Reihe von Regierungswechſeln in den Europäiſchen Staten erſt thatſächlich, wenn auch im Gegenſatz zu dem Grundſatz der unangreifbaren Legitimität vollzogen, und wenn ſie ſich als nothwendig und dauerhaft erwieſen, immer unbedenklicher von allen europäiſchen Staten anerkannt worden. Der Fortſchritt, der in der Anerken - nung der neuen Rechtsbildung je nach den Bedürfniſſen und der Entwicklung der Völker liegt, iſt alſo ſeit den Zwanzigerjahren dieſes Jahrhunderts allgemein gemacht und die ältere Lehre einer unveränderlichen Legitimität in die Rumpelkammer der mittelalterlichen Antiquitäten verwieſen worden.
Wenn es zweifelhaft iſt, ob eine Perſon wirkliches Statshaupt ge - worden oder ob ſie noch wirkliches Statshaupt ſei, ſo kann auch die Be - fugniß dieſer Perſon, den Stat nach Außen zu vertreten, von andern Statsregierungen in Zweifel gezogen werden.
Bei Umwälzungen, welche einen Regierungswechſel zur Folge haben, tritt ge - wöhnlich eine Zwiſchenzeit ein, in der es unſicher iſt, ob der bisherige Gewalthaber111Völkerrechtliche Organe.ſich nicht behaupten oder in Bälde ſeine einſtweilen erſchütterte Herrſchaft wieder herſtellen könne und ob der neue Träger der Statsgewalt ſich in der neu eingenom - menen Stellung befeſtigen werde. In dieſer Zwiſchenzeit kann es einer außerhalb dieſer Parteikämpfe ſtehenden Regierung nicht verargt werden, wenn ſie auch im Zweifel iſt, wen ſie als wahren Repräſentanten des betreffenden Stats zu betrachten habe. Im Zweifel hat ſie ſich aber einer verbindlichen Verhandlung mit dem einen und dem andern zu enthalten, denn es können nicht zugleich zwei verſchiedene Re - gierungen und daher zwei Vertreter Eines States beſtehn.
Die Frage der Anerkennung einer auswärtigen Regierung wird in den modernen Staten durchweg von den inländiſchen Regierungen ent - ſchieden; und es haben ſich dann die Landesgerichte auch in internationalen Proceſſen nach dieſem Entſcheide zu richten.
Es iſt das eine Folge der Repräſentativgewalt, welche in den modernen Sta - ten von Europa und Amerika faſt überall ganz den Regierungen anvertraut iſt. Wo aber eine Verfaſſung, wie die ſchweizeriſche Bundesverfaſſung (Art. 74. 4) dieſe Anerkennung fremder Staten und Regierungen dem Geſetzgebenden Körper vorbehält, da iſt natürlich nur dieſer und nicht die Regierung competent. Die Competenz der ſtatlichen Organe wird durch das Statsrecht, nicht durch das Völkerrecht geregelt.
Die völkerrechtlichen Beziehungen der verſchiedenen Staten zu einander wür - den übrigens verwirrt, wenn es den einzelnen Gerichten zuſtände, im Gegenſatze zu dem Entſcheide der Statsregierung eine fremde Regierung ſei es nicht als zu Recht beſtehend ſei es als berechtigt zu erklären. Phillimore (II. 23) führt manche Urtheile der Engliſchen und Nordamerikaniſchen Gerichte an, welche dieſe Regel beſtätigen.
Die völkerrechtliche Perſönlichkeit eines States erleidet keine Aende - rung, wenn gleich die Regierung desſelben einen Wechſel — und auch dann nicht, wenn ſie einen gewaltſamen Wechſel — erfährt, vorausgeſetzt nur, daß Volk und Land in ihrer Individualität fortbeſtehen.
Da nicht einmal die vollſtändige Wandlung der Statsverfaſſung die Fort - dauer der Statsperſon verhindert (vgl. oben § 41. 42), ſo kann der Wechſel in der Perſon und dem Syſtem der Regierung noch weniger eine ſo erſchütternde Wirkung haben.
Das wirkliche Statshaupt iſt berechtigt, auch die völkerrechtlich dem112Drittes Buch.State zukommende Ehre, Würde und Rangſtellung in Anſpruch zu nehmen und den entſprechenden Titel zu führen.
Die Verweigerung ſolcher Titel wird mit Grund als eine Beleidigung betrach - tet, wenn erſt die neue Regierung ſich als unzweifelhaft wirkliche Regierung betrachten darf. Schon die leiſe Mißachtung, welche Napoleon III. von Kaiſer Nikolaus erfuhr, als dieſer in ſeinem Schreiben den üblichen Brudernamen (mon frère) unter - ließ, iſt von dem Erſtern ſchwer empfunden und gerächt worden: und doch ließ ſich da von keiner Rechtsverletzung ſprechen, ſondern höchſtens von einem Verſtoß gegen die höfiſche Sitte, denn es war darin Napoleon ausdrücklich als wirkliches Statshaupt der Franzoſen anerkannt worden.
Die diplomatiſche Sitte fordert, daß die in regelmäßigem Verkehr mit einander befindlichen Staten einander jeden Perſonenwechſel in dem Statshaupt anzeigen. Die Unterlaſſung oder Verſchiebung dieſer Anzeige iſt indeſſen nicht als Rechtsverletzung zu betrachten und hat keine Aende - rung der Rechtsverhältniſſe zur Folge.
Zuweilen wird die Anzeige aus dem Grunde aufgeſchoben oder vermieden, um unangenehme Erörterungen über die Rechtmäßigkeit der Aenderung zu vermeiden und die ſtille Heilung der Zeit nicht zu ſtören. In dieſer Weiſe verfuhr die neue Regierung des Königreichs Italien 1862 / 64 mit einer wohlberechneten Zurück - haltung, um nicht die deutſchen Staten zu feindſeligen Gegenäußerungen zu veran - laſſen und nicht der öſterreichiſchen Politik, welche dem neuen Stat die Anerkennung verweigerte, willkommenen Anlaß zu Demonſtrationen zu geben.
Die Frage, ob dem jeweiligen Statshaupt auch perſönliche Souve - ränetät zukomme oder nicht, iſt zunächſt wieder eine Frage des Statsrechts, nicht des Völkerrechts.
In der Regel wird dieſe Frage in den heutigen Monarchien bejaht, und in den heutigen Republiken verneint. Der Fürſt wird als eine ſouve - räne Perſon betrachtet, der republikaniſche Präſident nicht. Das war nicht immer ſo und iſt nicht nothwendig ſo. Die alt-römiſchen Conſuln galten nicht minder als ſouveräne Perſonen als die Könige der andern Völker; und zwiſchen den erblichen Reichsfürſten des Mittelalters und dem gewählten Dogen der Republik Venedig wurde in dieſer Hinſicht kein Unterſchied gemacht. Der Grund, weßhalb die heutigen113Völkerrechtliche Organe.Republiken ihren Regierungen dieſe perſönliche Eigenſchaft abſprechen, iſt der, ſie wollen dieſelben fortwährend daran erinnern, daß ihre Gewalt eine abgeleitete, keine urſprüngliche ſei, während die monarchiſchen Völker es lieben, die Hoheit des States in der Majeſtät des Monarchen perſönlich darzuſtellen.
Die Familien der Souveräne in den europäiſchen Staten werden als „ ſouveräne Familien “bezeichnet und ſind unter ſich ebenbürtig.
Der Ausdruck ſouveräne Familie iſt freilich ungenau, denn der Familie kommt keine Souveränetät zu, weder die urſprüngliche Statsſouveränetät, noch die concentrirte Fürſtenſouveränetät. Vielmehr ſind alle ihre übrigen Glieder Unterthanen des Stats und des Statshaupts.
Wenn gleich der Präſident einer Republik nicht als Souverän gilt, ſo kommen ihm dennoch, inſofern er als Repräſentant ſeines States er - ſcheint, alle diejenigen Rechte zu, welche dem ſouveränen Repräſentanten eines States gebühren.
Inwiefern er den Stat repräſentirt, iſt in ihm das Recht des States zu ehren, den er darſtellt. Es gilt das auch von dem Rang und den beſondern Ehren des republicaniſchen Stats im Verhältniß zu den monarchiſchen Staten.
Die Unabhängigkeit eines States gegenüber andern Staten wird durch die Unabhängigkeit des Statshauptes von fremden Statsgewalten be - währt. Die Statshäupter ſind in der Regel keiner fremden Statshoheit unterworfen, auch dann nicht, wenn ſie ein fremdes Statsgebiet betreten.
Die ſogenannte Exterritorialität, von der in dem folgenden Capitel die Rede ſein wird, iſt eine weit getriebene Anwendung dieſes Grundſatzes, welche die völkerrechtliche Beſchränkung der Statshoheit, die ſich im übrigen auf das ganze Land ausdehnt, zu Gunſten der fremden Souveräne erklären und rechtfertigen ſoll. Die Rückſicht auf die völkerrechtliche Sicherheit und Unabhängigkeit der Vertreter der Staten hat hier das Uebergewicht erlangt über die Rückſicht auf die beſondere ſtatsrechtliche Gebietshoheit.
Die Souveräne können jedoch in fremdem Gebiet ihre Befreiung von der dortigen Statsgewalt nur inſofern behaupten, als ſie
Bluntſchli, Das Völkerrecht. 8114Drittes Buch.Zu a) Wenn ein Souverän, während er in fremdem Lande iſt, entthront wird, ſo kann ihm auch der Stat ſeines Aufenthaltsorts die Anerkennung entziehn und er iſt nachher als Privatperſon zu betrachten. Wenn ein Fürſt nach ſeiner Entthronung oder nach ſeiner Abdankung in ein fremdes Land zieht und daher nicht mehr berechtigt erſcheint, den Stat zu repräſentiren, ſo hat er auch kein Recht auf dieſe Ausnahmsſtellung. Als die Exkönigin Chriſtine von Schweden in Frank - reich ihren Diener Monaldeschi tödten ließ (1657), war ſie dafür den franzöſiſchen Gerichten verantwortlich, wenn gleich die franzöſiſche Regierung ſich darauf beſchränkte, ſie deßhalb aus Frankreich zu verweiſen. Auch die Königin Marie Stuart war ſchon Jahre lang von England nicht mehr als Königin von Schottland anerkannt, als ihr der Proceß gemacht wurde.
Zu b) Jeder Stat iſt zunächſt ausſchließlich Herr ſeines Gebietes und braucht daher nicht zu dulden, daß ſich in demſelben ein fremder Souverän gegen ſeinen Willen feſtſetze. Er kann daher demſelben je nach Umſtänden den Eintritt in das Land verweigern, ohne eine Rechtsverletzung zu begehen und er kann denſelben zum Austritt anhalten. Je nach Umſtänden kann aber darin nicht bloß eine Un - freundlichkeit, ſondern ſogar eine Beleidigung erkannt werden, wenn ſolches in der Abſicht geſchieht, die Ehre des betreffenden Stats oder ſeines Fürſten zu verletzen.
Zu c) Im Kriege kann der fremde Souverän, der als Feind zu betrachten iſt, gefangen geſetzt werden. Die Gefangennahme des Kurfürſten von Heſſen durch Preußen im Jahr 1866 war nicht, wie es in dem Manifeſt des Herzogs von Naſſau vom 15. Juli heißt „ ein in der Geſchichte der Civiliſation einzig daſtehendes Beiſpiel “. Die Beiſpiele von kriegsgefangenen Fürſten ſind in der europäiſchen und in der deutſchen Geſchichte nicht ſelten. Die Kriegsgefangenſchaft des Kaiſers Napoleon I. iſt noch in friſcher Erinnerung der Mitlebenden. Vgl. unten § 142. 143.
Wenn ein Souverän in einem fremden State ein Amt annimmt, ſo wird er durch das Amt dem fremden State verpflichtet. Er iſt ver - bunden, ſo lange er das Amt bekleidet, alle Pflichten desſelben auszuüben und bleibt inſofern der fremden Statsgewalt untergeordnet.
In dieſer Lage ſind einzelne deutſche Fürſten, welche zugleich als Ge - nerale in der Preußiſchen Armee dienen. Freilich iſt hier leicht ein Conflict möglich zwiſchen der ſtatsrechtlichen Amtspflicht und der völkerrechtlichen Selbſtändigkeit, deſſen Löſung in Art. 132 gegeben wird.
Dem Souverän ſteht es jeder Zeit zu, das Amt in fremdem State wieder zurückzugeben und ſeine ſouveräne Stellung wieder geltend zu machen. Ebenſo ſteht es der fremden Statsgewalt frei, ihm das Amt ohne Verzug wieder abzunehmen.
Vgl. darüber die vorige Anmerkung. Kommt es wirklich zum Conflict, ſo iſt derſelbe dadurch zu beſeitigen, daß der Fürſt entweder ſich auf ſeine völker - rechtliche Stellung zurückzieht, indem er das fremde Statsamt niederlegt, oder daß ihm das letztere abgenommen und er auf die völkerrechtliche Stellung zurückgewieſen wird. Allerdings läßt ſich auch das Gegentheil als Löſung den - ken, das Aufgeben der ſouveränen Stellung und das volle Uebergehen in den frem - den Statsdienſt. Dann wird aber der Fürſt Privatmann und kommt nicht mehr als ſouveräne Perſon in Betracht.
Reist ein Souverän incognito in fremdem Lande, ſo wird ſeine ſouveräne Eigenſchaft ignorirt und er als Privatperſon behandelt. Im Nothfall aber kann er das Incognito ablegen und ſich als Souverän zu erkennen geben. Von da an kann er die Rechte eines Souveräns an - ſprechen.
Ein bekannter Fall iſt die Reiſe des Czars Peter von Rußland incognito im Gefolge ſeiner Geſantſchaft nach Berlin.
Wenn der Präſident einer Republik in fremdem Lande reiſt, ſo wird er in der Regel als Privatperſon betrachtet und behandelt.
Inſofern er aber daſelbſt als Repräſentant ſeines States auftritt, hat er dieſelbe Befreiung von der fremden Statsgewalt anzuſprechen, wie ein Souverän in fremdem Lande.
Regel und Ausnahme drehen ſich um, je nachdem dem Statshaupt perſön - liche Souveränetät oder nur repräſentative Darſtellung der Stats - ſouveränetät zugeſchrieben wird. In der Monarchie iſt die ſouveräne Erſcheinung die Regel, die Erſcheinung als Privatperſon die Ausnahme. In der Republik iſt dieſe die Regel und jene die Ausnahme. Vgl. oben zu § 128. Der Unterſchied der monarchiſchen und der republikaniſchen Verfaſſung begründet keinen Unterſchied in den Rechten und Pflichten des völkerrechtlichen Verkehrs, der durch die Statshäupter vermittelt wird.
Zu Gunſten fremder Souveräne oder überhaupt zu Gunſten der Perſonen, welche einen Stat in fremdem Lande repräſentiren, wird, um ihre Unabhängigkeit von einer andern Statsgewalt zu ſichern, in mancher Beziehung fingirt, ſie ſeien außerhalb des fremden Landes (extra territorium), gleich wie wenn ſie überallhin ihre Heimat mitzunehmen vermöchten.
Die Fiction der Exterritorialität iſt nicht der Grund der Exemtion von frem - der Statsgewalt, welche jene Perſonen in fremdem Lande genießen, ſondern nur eine bildliche Darſtellung dieſes Ausnahmerechts. Der wirkliche Grund liegt in der völkerrechtlichen Achtung vor der Unabhängigkeit der repräſentirten Staten in ihrem Verkehr mit einander. Vgl. § 129. Die Fiction wirkt deßhalb nur relativ, ſie wirkt nicht über die wirklichen Gründe der Exemtion hinaus.
Die exterritoriale Perſon wird der Statshoheit des einheimiſchen States in der Regel nicht unterworfen, obwohl ſie thatſächlich in deſſen Gebiet ſich aufhält.
Der einheimiſche Stat bleibt jedoch berechtigt zu fordern, daß die exterritoriale Perſon hinwieder ſeine Unabhängigkeit, Sicherheit und Ehre nicht verletze und die zur Erhaltung derſelben nöthigen Maßregeln zu ergreifen.
Die Exemtion von der einheimiſchen Statsgewalt iſt nur ein negatives Recht, ſie hindert die Ausübung derſelben gegen die exterritoriale Perſon. Aber ſie iſt nicht eine poſitive Befugniß des Exterritorialen, nun ſeinerſeits den Stat anzu - greifen, der ihm jene Rückſicht und Gunſt erweist. Der Stat ehrt in dem fremden Souverän einen Genoſſen ſeiner eigenen Souveränetät, aber er braucht nicht einen offenbaren Feind in ſeinem Lande zu dulden. Es iſt wiederholt und mit Recht ge - ſchehen, daß Geſante gefangen geſetzt wurden, weil ſie an einer Verſchwörung wider die Regierung Theil nahmen, in deren Land ſie waren, z. B. der Schwediſche Geſante in England 1716 (Wheaton hist. I. 308). Vgl. unten Abſch. II.
Die exterritoriale Perſon iſt der Policeigewalt des einheimiſchen Sta - tes nicht unterworfen. Die Policei darf keinen unmittelbaren oder mittel - baren Zwang gegen ſie üben. Aber die Policei iſt nicht gehindert, die - jenigen Maßregeln zu ergreifen, welche nöthig ſind, um Rechts - oder117Völkerrechtliche Organe.Sicherheitsgefährliche Handlungen der exterritorialen Perſon zu verhindern und die exterritoriale Perſon iſt ihrerſeits verbunden, die allgemeinen policeilichen Anordnungen und Einrichtungen des Landes nicht zu ſtören.
Wollte die exterritoriale Perſon z. B. Schießproben in ihrem Garten vorneh - men, welche die Nachbarn bedrohten, oder ein Feuer anzünden, durch welches die anſtoßenden Häuſer in Gefahr verſetzt würden, ſo wäre die Policei im Recht, das zu hindern. Die Rückſicht auf die Würde des fremden Stats muß ſich vereinigen laſſen mit der nothwendigen Sorge für die eigene Sicherheit. Die bau - und feuerpoliceilichen Vorſchriften gelten daher auch für die Wohnungen der Ex - territorialen.
Die exterritoriale Perſon iſt nicht ſteuerpflichtig. Inwiefern aber im Lande Gebühren erhoben werden für öffentliche Dienſtleiſtungen, ſo iſt auch die exterritoriale Perſon, inſofern ſie dieſe Leiſtungen benutzt, nicht von Rechts wegen von der Gebühr befreit.
Die Steuerbefreiung erklärt ſich zunächſt wieder aus der Verneinung der Steuerhoheit des einheimiſchen States über den fremden Souverän. Dieſelbe wird aber aus Courtoiſie zuweilen in weiterem Sinne geübt, als die rechtliche Con - ſequenz des Princips fordert. Es verſteht ſich, daß der Exterritoriale keiner Ein - kommens - oder Vermögensſteuer, keiner Kriegs - oder Armenſteuer unterworfen iſt und ebenſo, daß er Zoll - und Octroifreiheit genießt für die Effekten und Waaren, welche er mit ſich führt oder zu ſeinem Gebrauche kommen läßt. Aber zweifelhafter iſt ſchon die Befreiung von Weg - und Brücken - geldern, weil das Gebühren ſind für die Anlage und Unterhaltung der Wege und Brücken. Indeſſen die Courtoiſie reicht gewöhnlich ſo weit. Nicht ebenſo verhält es ſich mit den Taxen für Erwerb von Grundſtücken oder andern Sachen, oder bezüglich der Gerichtsgebühren in Proceſſen, welche der Exterritoriale freiwillig vor den einheimiſchen Gerichten führt oder führen läßt. Dieſe Gebühren werden meiſtens gefordert und können jedenfalls gefordert werden. Selbſtverſtändlich ſind auch die Poſtgebühren, die Telegraphengebühren, die Koſten für Be - nutzung der Eiſenbahnen ohne Unterſchied, ob dieſe Anſtalten von Privaten unternommen oder von Stats wegen beſorgt werden, nicht in jener Steuerfreiheit inbegriffen. Wird der Exterritoriale zuweilen auch von den Briefporti befreit, ſo iſt das eine ihm erwieſene Gefälligkeit, keine Rechtspflicht.
Die Landesgerichte nehmen in der Regel keine bürgerliche Klage, insbeſondere keine Schuldklage gegen die exterritorialen Perſonen an und118Drittes Buch.dürfen gegen dieſelben keine Zwangsmittel anwenden, weder gegen deren Perſon, noch gegen deren Vermögen.
Es iſt das wieder nur eine Folge der perſönlichen Unabhängigkeit des Ex - territorialen von anderer Statsgewalt. Die Civilgerichtsbarkeit iſt freilich nur zum Schutz der Privatrechte und des Privatverkehrs eingeführt. Das Privat - recht aber iſt ſeinem Weſen nach für Jedermann dasſelbe und hat mit Statsſouve - veränetät nichts zu ſchaffen. Wenn der Souverän ein Haus ſich zufertigen läßt oder ererbt, oder einen Miethvertrag eingeht, oder einen Wechſel ausſtellt, ſo erſcheint er in allen dieſen Rechtsgeſchäften ganz ebenſo als Privatperſon, wie jeder Andere und handelt in denſelben Rechtsformen, nach denſelben Grundſätzen, mit denſelben Wirkungen. Als Privateigenthümer, als Privatgläubiger oder Schuldner iſt er in keiner Weiſe Repräſentant des Stats, nicht Souverän. Wenn trotzdem die civiliſir - ten Staten ihre Gerichte anweiſen, in der Regel keine Civilklage gegen die exterri - torialen Perſonen anzunehmen, ſo liegt der Hauptgrund in der völkerrechtlichen Rückſicht, daß die Durchführung der gerichtlichen Zwangsmittel (Arreſt, Pfändung, Concurs, Verſilberung) gegen die privatrechtliche Perſon und ihr Ver - mögen mittelbar auch ihre völkerrechtliche Unverletzlichkeit, Unabhängigkeit und Ehre treffen und gefährden würde. Man zieht es daher vor, im Intereſſe der Sicherheit und Würde des ſtatlichen Verkehrs von der ſtrengen Conſequenz des privat - rechtlichen Grundſatzes abzuſehen, und will das Gericht nicht der Gefahr ausſetzen, daß ſeine Autorität ſich machtlos zeige. Ueberdem kam dieſer Befreiung der Exter - ritorialen von der Civilgerichtsbarkeit jene Fiction zu Statten, indem nun fingirt wurde, ſie wohnen nicht innerhalb des Gerichtsbezirkes der inländiſchen Civilgerichte, ſondern ihr Domicil liege in ihrer Heimat. Während daher im Mittelalter noch, welches den privatlichen Charakter des Rechts mit Vorliebe betont, die privatrecht - liche Klage gegen Fürſten unbedenklich überall an Hand genommen wurde, wo die Gerichtsbarkeit an ſich begründet erſchien, ſo iſt dagegen in der neuern Zeit die Exemtion der ſouveränen Perſonen auch von der fremden Civilgerichtsbarkeit allge - meiner zur Uebung der gebildeten Völker geworden. Im Jahr 1827 hat ſich das franzöſiſche Civilgericht von Havre ſogar, ungeachtet der abweichenden Meinung der Statsanwaltſchaft, für incompetent erklärt, eine Civilklage gegen den Präſidenten der Negerrepublik von Haiti an Hand zu nehmen. Vgl. Phillimore II. App. IV.
Ausnahmsweiſe wird die einheimiſche Gerichtsbarkeit der Civilgerichte begründet:
Auch in dieſen Ausnahmsfällen iſt jedoch der unmittelbare Zwang gegen die Perſon (Perſonalverhaft) inſoweit zu unterlaſſen, als dadurch die völkerrechtlichen Beziehungen verletzt werden könnten, und es hat ſich die gerichtliche Execution auf vermögensrechtliche Zwangsmittel zu beſchränken.
Zu a) Die Vindication eines Grundſtücks, welches der Exterritoriale im Beſitz hat, iſt nur vor den Landesgerichten durchzuführen, wo das Grundſtück wirk - lich gelegen iſt. Ebenſo die Klagen am Nachbarrecht (z. B. wegen Waſſer - ablauf) und auf oder gegen behauptete Dienſtbarkeiten. Dagegen für Arreſt - klagen kommt hinwieder die Rückſicht auf die gefährdete Würde und Freiheit des Beklagten hemmend in Betracht, ſowie die Erwägung, daß die moderne Rechtsbil - dung in Schuldklagen überhaupt nicht geneigt iſt, die gerichtliche Competenz der inländiſchen Gerichte über auswärtige Souveräne oder Geſante zuzulaſſen.
Zu b) Wenn ein Statshaupt zugleich ein Handelsetabliſſement betreibt und als Kaufmann an dem Handelsverkehr Theil nimmt, ſo hat er ſich in dieſer Eigenſchaft des Vorzugs ſeiner Würde begeben und muß vor den Handelsgerichten für ſeine Handelsgeſchäfte Rede ſtehen. Ebenſo hat der engliſche Master of rolls in einem Proceß des entthronten Herzogs von Braunſchweig gegen den König von Hannover und Herzog von Cumberland (13. Jan. 1844) ſein Urtheil dahin aus - geſprochen: „ I am of opinion, that his majesty the King of Hanover is and ought to be exempt from all liability of beeng sued in the Court of this country, for any acts done by him as King of Hanover, or in his character of Sovereign Prince, but that, being a subject of the Queen, he is and ought to be liable to be sued in the Courts of this country, in respect of any acts and transactions done by him, or in which he may heve been engaged as subject “. (Phillimore II. App. IV. S. 589).
Zu c) Wenn eine ſouveräne Perſon oder ein anderer Exterritorialer ſich die Klage gegen ihn gefallen läßt, oder wenn er etwa ſelber eine Civilklage in dem fremden Lande anſtellt, ſo muß er, oder ſein Vertreter ſich nach der Proceßord - nung des anerkannten Gerichts in dem Proceſſe fügen und kann für ſich kein weiteres Privilegium anſprechen. Im letzteren Fall wird er ſich daher auch der Eidesleiſtung nicht entziehen können, wo dieſe als nothwendig gilt, noch der Bezah - lung der Proceßkoſten, wenn er unterliegt. Im Jahr 1828 entſchied das engliſche Obergericht, daß fremde Souveräne ebenſowohl vor den Billigkeits - wie vor den Rechtshöfen Klage führen können (Phillimore II. App. IV. S. 548). In einem andern Fall wurde ebenfalls in der Appellationsinſtanz von den rechtsgelehr -120Drittes Buch.ten Lords von England der Satz ausgeſprochen, daß ein fremder Souverän, wenn er vor einem engliſchen Gerichte eine Klage verfolge, jedem andern Privatkläger gleich zu behandeln, alſo je nach Erforderniß der Sache ihm auch der Eid aufzulegen ſei. (Proceß zwiſchen dem Könige von Spanien und dem Hauſe Hullet and Widder. Aug. 1833. Phillimore II. App. IV. 3.) Auf eine Widerklage dagegen braucht ſich der Exterritoriale nicht einzulaſſen, weil dieſelbe eine Klage iſt, und alle Gründe, welche gegen die Zulaſſung von Klagen ſprechen, auch auf die Widerklage paſſen.
Die exterritoriale Perſon iſt der Strafgerichtsbarkeit des einheimiſchen States nicht unterworfen. Dieſer Stat hat aber das Recht, theils die nöthigen Maßregeln zu ergreifen, um ein Vergehen des Exterritorialen zu verhindern, theils von dem State des Exterritorialen Genugthuung zu for - dern, wenn dieſer die Rechtsordnung des Landes in einer Weiſe verletzt, welche an ſich zu ſtrafgerichtlicher Verfolgung berechtigt.
Auch dieſe Beſtimmung, welche durch den allgemeinen Gebrauch der civiliſir - ten Völker beſtätigt wird, iſt ſinguläres Recht, weil dieſelbe die an ſich berechtigte Wirkſamkeit der Strafrechtspflege hemmt. Es verhält ſich damit ähnlich wie mit der ſtatsrechtlichen Unverantwortlichkeit der Souveräne. Aber es iſt zweckmäßig, daran zu erinnern, daß es gefährlich iſt, die Haltbarkeit ſolcher Rechtsfictionen auf eine zu harte Probe zu ſetzen.
Wenn die exterritoriale Perſon in dem Lande feindliche Handlungen verübt, ſo darf ſie von der einheimiſchen Regierung als Feind erklärt und behandelt und im Nothfall gefangen genommen werden.
Das iſt nicht Anwendung des Strafrechts, ſondern des Kriegsrechts. Die Gefangenſchaft iſt Kriegsgefangenſchaft, nicht Strafgefängniß. Vgl. oben zu § 130.
Der einheimiſche Stat iſt jeder Zeit berechtigt, der exterritorialen Perſon aus erheblichen Gründen das Gaſtrecht und damit die Fortdauer der Exterritorialität zu kündigen.
Die Kündigung darf nicht auf einen kürzeren Termin geſtellt wer - den, als es dem Exterritorialen möglich iſt, mit Sicherheit das Land zu verlaſſen.
Vgl. oben zu § 130.
Wenn der Exterritoriale andere Perſonen in ihrem perſönlichen, Familien - oder Vermögensrechte gewaltſam angreift oder ernſtlich bedroht, ſo iſt auch ihm gegenüber die Nothwehr erlaubt.
Phillimore II. 105. Der Gewaltthat darf man mit Gewalt begegnen, und wenn in Folge der Nothwehr gegen widerrechtliche Gewaltthat der Exterritoriale umkommt, ſo iſt das keine Verletzung des Völkerrechts. Das Recht der Nothwehr iſt natürliches Menſchenrecht, welches von dem Völker - wie von dem Stats - recht anerkannt werden muß, nicht unterdrückt werden darf.
Die Exemtion von der einheimiſchen Statshoheit wird auch auf die Familiengenoſſen, Beamten, Begleiter und Diener des Exterritorialen aus - gedehnt. Sein Gefolge hat indeſſen nur einen mittelbaren Anſpruch auf Exterritorialität, nicht um ſeiner ſelbſt willen, ſondern nur aus Rückſicht auf den exterritorialen Gefolgsherrn.
Die Familiengenoſſen haben Theil an ſeiner Befreiung, inſofern ſie that - ſächlich zu ihm gehören, alſo in ſeinem Hauſe wohnen, aber nicht, wenn ſie eine ſelbſtändige Stellung außerhalb ſeiner Familie behaupten. Im letztern Fall ſind ſie fremde Privatperſonen gleich andern Fremden. Die Uebergänge aus dem einen in den andern Zuſtand können freilich zu mancherlei Zweifeln den Anlaß geben. Der Hauslehrer der Kinder des Exterritorialen gehört zu ſeinem Ge - folge, aber die übrigen Lehrer am Ort, welche nur einzelne Lehrſtunden geben, ge - hören nicht dazu.
Der Exterritoriale darf nicht ſein Ausnahmerecht dazu mißbrauchen, um Perſonen, welche im Lande gerichtlich oder policeilich verfolgt werden, durch Aufnahme in ſein Gefolge der einheimiſchen Gerichts - oder Policei - gewalt zu entziehen.
Ueberhaupt iſt das Privilegium im Sinn des guten Glaubens zu inter - pretiren. Als ein Muſiker, um ſeinen Gläubigern zu entgehen, ſich in die Capelle eines Bayriſchen Geſanten in London aufnehmen ließ, wurde dieſe Aufnahme von dem engliſchen Gerichtshof als illuſoriſch behandelt, weil kein wirklicher bona-fide-Dienſt nachgewieſen ſei. In ähnlicher Weiſe wurden noch gegen mehrere andere angebliche Diener dieſes Geſanten verfahren, der offenbar das Privilegium zu einem ungebühr - lichen Patronate mißbraucht hatte. Siehe die Fälle bei Wildmann I. 124.
Die Perſonen im Gefolge des Exterritorialen ſind in der Regel ebenfalls von der Gerichtsbarkeit des einheimiſchen States befreit. Dieſer Stat iſt aber berechtigt, von dem State des Exterritorialen zu fordern, daß er den einheimiſchen Gläubigern oder andern einheimiſchen Klägern Recht gewähre und wegen der im Lande verübten Vergehen und Verbre - chen dieſelben beſtrafe.
Vattel (IV. § 124) berichtet über einen merkwürdigen Fall, der ſich in England ereignete, als ein Edelmann im Gefolge des franzöſiſchen Botſchafters Marquis von Rosny, ſpätern Herzogs von Sully, ſich einer Tödung ſchuldig machte. Derſelbe wurde von dem Botſchafter zum Tode verurtheilt und die Hinrichtung der engliſchen Juſtiz anheimgeſtellt, dann aber trat Begnadigung ein.
Verübt eine Perſon aus dem Gefolge des Exterritorialen ein Ver - gehen, ſo iſt der Letztere berechtigt, dieſelbe nöthigenfalls gefangen zu neh - men und in ſeine Heimat zur Beſtrafung zu überſchicken.
Die Gefangennahme derſelben durch die einheimiſche Statsgewalt zum Behuf der Ueberlieferung an den Exterritorialen oder deſſen Stat iſt nicht Verletzung, ſondern Anerkennung dieſer mittelbaren Exterritorialität.
Die Gefangennahme geſchieht in dieſem Fall nicht in der Abſicht, die eigene Gerichtsbarkeit auszuüben, auch nicht in der Meinung, den fremden Stat zu ver - letzen, ſondern in dem Vorſatz, demſelben in der Ausübung ſeiner Gerichtsbarkeit behülflich zu ſein.
Es ſteht den Exterritorialen frei, ihr Gefolge der ortspoliceilichen und gerichtlichen Autorität ebenſo unterzuordnen, wie die andern Bewohner des Ortes es ſind. Keinenfalls dürfen die Gefolgsleute ungeſtraft Stö - rungen der öffentlichen Ordnung des Orts verüben.
Wenn die Gefolgsleute des Exterritorialen Unterthanen des einheimiſchen States ſelber ſind, ſo werden ſie gewöhnlich deſſen Jurisdiction unterſtellt. Es kann das aber unbedenklich auch auf Angehörige des States, den der Exterritoriale reprä - ſentirt, ausgedehnt werden, ſobald dieſer es zweckmäßig findet, denn ſie haben alle kein perſönliches, ſondern nur ein abgeleitetes Recht auf Exterritorialität. Auf dem Friedenscongreß zu Münſter in Weſtphalen am Schluß des dreißigjährigen Kriegs kamen ſo die Geſanten überein, um die Rauf - und Streitluſt ihrer Gefolge im Zaum123Völkerrechtliche Organe.zu halten, dieſelben gemeinſam der Ortspolicei zu unterwerfen. Ueberhaupt iſt eine allzu weite Ausdehnung der Exterritorialität für die Rechtsſicherheit und die öffentliche Ordnung durchaus ſchädlich und nicht zu empfehlen. Das Völkerrecht for - dert grundſätzlich nur, daß die Ehre und Freiheit der Staten in ihren Repräſen - tanten geſchützt, und durchaus nicht, daß die Miſſethaten der Individuen begünſtigt werden.
Die Exemtion des Exterritorialen erſtreckt ſich auch auf die Wohnung, welche er inne hat, aber nicht auf den Grundbeſitz, welchen er als Privat - mann bewirthſchaftet.
Wenn ein Souverän ein Gut in einem fremden Lande kauft, um ſeine Capitalien darin anzulegen, und ſein Vermögen in ſolcher Weiſe zu bewirthſchaften, nicht um daſelbſt als Souverän zu leben und den Stat repräſentiren zu laſſen, ſo iſt kein Grund da, dieſes Gut als exterritorial zu betrachten. Nur inwiefern das Hotel des Exterritorialen ſeiner Perſon als Wohnung dient und in Folge deſſen ſeine repräſentative Stellung und Freiheit ſichert, gilt dasſelbe als exempt. Dann darf es, ohne ſeinen Willen, nicht von der einheimiſchen Statsgewalt betreten und durchſucht werden. Als die Ruſſiſche Finanzwache am 3. April 1752 in das Hotel des Schwediſchen Geſanten in Petersburg eindrang und ein paar Diener des - ſelben gefangen nahm, welche beſchuldigt waren, das Statsmonopol verletzt zu haben, gab die Kaiſerin Eliſabeth dem beleidigten Geſanten volle Genugthuung wegen die - ſer Verletzung des Völkerrechts. Vattel IV. § 117.
Die Wohnung des Exterritorialen darf nicht zum Aſyl mißbraucht werden für gerichtlich Verfolgte. Der Exterritoriale iſt verpflichtet, ſolchen Flüchtlingen die Aufnahme zu unterſagen, beziehungsweiſe dieſelben an die ordentliche Gerichtsgewalt auszuliefern.
Oft wurde ein ſolches Aſylrecht behauptet und oft auch ausgeübt. Am wei - teſten war dieſer Mißbrauch in Rom gediehen, wo auch die Kirchen ein Aſyl ge - währten. Im Mittelalter dienten die zahlreichen Aſyle, welche in Herrenhöfen und Kirchen und von Schutzheiligen gewährt wurden, um die wilde Verfolgung der Blutrache, der Fehde und einer barbariſchen Juſtiz zu mäßigen. Mit einer civiliſir - ten und einer wirkſamen Rechtspflege aber ſind dieſelben nicht mehr vereinbar. Bynkershoek (de jure legatorum c. 21) hat den Beweis geführt, daß keinerlei völkerrechtliche Rechtsgründe für ein derartiges Aſylrecht ſprechen. Seither iſt dieſe Anſicht, die ſchon Hugo de Groot (II. 18, 8) vertrat, allgemein von der Wiſſen - ſchaft anerkannt worden, wenn gleich einzelne Exterritoriale immer noch von Zeit zu Zeit den Verſuch machten, auch ihr angebliches Aſylrecht auszuüben.
Ebenſo iſt das Quartier, welches der Exterritoriale auf Reiſen be - zogen hat und iſt der Wagen, in dem er fährt, zu Ehren ſeiner Sicher - heit und Unabhängigkeit vor policeilicher oder gerichtlicher Gewaltübung gefreit.
Die Exemtion erſtreckt ſich auch auf das dem Exterritorialen gehörige Mobiliar, welches zu ſeinem Gebrauche dient, wie insbeſondere Arbeits - tiſche, Schränke, Kiſten und Kaſten, die Ausſtattung ſeiner Wohnung, Wagen und Pferde.
Der alte techniſche Ausdruck für die Befreiung iſt: „ Legatus instructus et cum instrumento “. Die Ausdehnung der Befreiung auch auf die Mobilien ſichert beſonders auch die Acten und Correſpondenzen des Exterritorialen. Vgl. unten Abſchnitt 8 dieſes Buches.
Die Ehegatten, Kinder und andere Anverwante einer ſouveränen Perſon haben als ſolche kein Recht der Souveränetät, ſondern ſind Unter - thanen.
Sie haben daher auch, wenn ſie in fremdem Lande ſind, keinen Rechtsanſpruch auf Exemtion von der dortigen Statsgewalt noch auf Ex - territorialität.
Alle dieſe Perſonen, ſelbſt der Gemal einer regierenden Königin, der nicht zugleich Mitregent iſt, oder die Gemalin eines Königs, obwohl ſie den Titel Köni - gin führt, ſind nicht Repräſentanten des States ſelbſt, noch Träger der Souveränetät, alſo völkerrechtlich ohne Anrecht auf jene Privilegien, welche um der Souveränetät oder Repräſentation des States willen zugeſtanden werden. Die Courtoiſie geht aber hier zuweilen über die Rechtsnothwendigkeit hinaus und befreit zu - weilen auch ſolche hohe Perſonen von manchen Beläſtigungen, deren andere Reiſende ausgeſetzt ſind.
Das Statsrecht beſtimmt zunächſt die Titel und den Rang, welche dieſen Perſonen zukommen. Aber damit dieſe Titel und Rangſtufen im völkerrechtlichen Verkehr beachtet werden, müſſen dieſelben dem herkömm - lichen Gebrauche entſprechen oder, wenn ſie erhöht werden die Erhöhung von den Mächten anerkannt worden ſein.
125Völkerrechtliche Organe.Vgl. das Protokoll der fünf Großmächte auf der Conferenz zu Aachen vom 11. Oct. 1818: „ Les Cabinets preunent en même tems l’engagement de ne recounaître à l’avenir aucun changement ni dans les titres des souverains ni dans ceux de princes de leurs maisons sans en être préablement convenus entre eux “.
Die Gemalinnen der ſouveränen Fürſten führen in der Regel den - ſelben Titel und haben denſelben Rang, wie dieſe, aber nicht ebenſo all - gemein die Gemale von ſouveränen Fürſtinnen.
Die Gemalinnen der Kaiſer und Könige werden Majeſtäten genannt, obwohl ihnen die eigentlichen Majeſtätsrechte nicht zuſtehn.
Prinz Albert erhielt als Gemal der Königin Victoria von England den Königstitel nicht; dagegen wurde dem Herzog Ferdinand, ebenfalls aus dem Hauſe Coburg, als Gemal der Königin Maria II. da Gloria von Portugal der Königstitel verliehen.
Den Prinzen der ſouveränen Häuſer kommt regelmäßig die nächſt - folgende Rangſtufe in der Titulatur zu.
Aus Kaiſerlichen Häuſern der Titel Kaiſerliche Hoheit, aus Königs - häuſern der Titel Königliche Hoheit, in Großherzoglichen Häuſern Hoheit, der Erbprinz auch Königliche Hoheit, aus Herzoglichen Häuſern der Erbprinz Hoheit, andere Verwante von herzoglicher oder fürſtlicher Abkunft Durchlaucht.
Die Princeſſinnen von ſouveränen Häuſern pflegen den angeborenen höheren Titel beizubehalten, wenn ſie in Folge ihrer Heirath nur einen minderen Titel erhielten.
Die Gemalin eines Prinzen, welcher den Titel Hoheit führt, kann ſo den Titel Kaiſerliche oder Königliche Hoheit führen, wenn ſie aus einem Kaiſer - oder Königshauſe ſtammt.
Jeder Stat iſt als ſouveräne Perſon berechtigt, Geſante und andere Agenten mit dem Auftrag zu ernennen, ſeinen Verkehr mit andern Staten zu vermitteln.
Dieſes ſogenannte „ active Geſantſchaftsrecht “iſt eine Anwendung der Souveränetätsrechte auf die völkerrechtlichen Beziehungen der Staten zu einander.
In zuſammengeſetzten Staten (Statenbünden, Bundesſtaten, Staten - reichen) wird dieſes Recht je nach der Verfaſſung derſelben entweder von den Einzelſtaten und dem Geſammtſtate, oder nur von dieſem, oder vor - herrſchend von jenen oder von dieſem geübt.
In der alten Deutſchen Reichsverfaſſung hatten die Landesherrn das Geſantenrecht erworben, neben dem Kaiſer und Reich insgeſammt. Der deutſche Bund von 1815 erkannte das vorzugsweiſe Geſantenrecht der Einzelſtaten an, ſchloß aber eine Geſammtvertretung nicht aus. Die Verfaſſung der Vereinigten Staten von Nordamerika von 1787 concentrirt das Geſantenrecht faſt ausſchließlich in der Hand des Präſidenten, ebenſo die ſchweizeriſche Bundesverfaſſung von 1848 in der des Bundesraths; beide Verfaſſungen ſchließen aber eine beſondere außerordentliche Vertretung der Einzelſtaten nicht völlig aus, aber ordnen dieſelbe der Aufſicht der Bundesgewalt unter. Auch einzelnen Türkiſchen Vaſallenſtaten iſt ein beſchränktes Geſantenrecht zugeſtanden worden. Die Verfaſſung des norddeut - ſchen Bundes weiſt die völkerrechtliche Vertretung desſelben ausſchließlich der Krone Preußen zu, hebt aber das Geſantenrecht der Einzelſtaten in ihren beſondern Intereſſen nicht auf. (Art. 11).
Ausnahmsweiſe wird das Recht, einen Geſanten zu ſenden, auch auf die Vicekönige und die Statthalter entlegener Provinzen oder abhängiger Länder übertragen.
Da dieſe Provinzen oder Länder eine beſondere relative Sonderexiſtenz haben, ſo bedürfen ſie unter Umſtänden auch eine beſondere Vertretung. Da der127Völkerrechtliche Organe.Hauptſtat der großen Entfernung wegen nicht in der Lage iſt, dieſe Vertretung wirk - ſam zu beſorgen, ſo iſt eine Uebertragung dieſes beſchränkten Geſantenrechts auf die beſondere Provincial - oder Landesregierung nicht zu entbehren. Fälle der Art ſind z. B. die Geſanten, welche von den engliſchen Regierungen in Oſtindien, in Auſtralien, von der Holländiſchen Colonialregierung in Oſtaſien verſendet werden. Es bedarf jedoch einer beſondern Ermächtigung von Seite der ſouveränen Hauptregierung.
Die Wahl des Geſanten oder Agenten ſteht dem Abſendeſtate frei. Es wird keine beſtimmte Standeseigenſchaft erfordert.
Das Wahlrecht folgt wieder aus der Souveränetät des Abſendeſtats. Ein beſtimmter Stand, etwa Adels - oder geiſtlicher Stand, iſt auch für die oberſten Claſſen der Geſanten nicht erforderlich, ſo wenig als für andere oberſte Statsämter. Ein Botſchafter aus bürgerlicher Familie hat genau dasſelbe Recht, wie ein Botſchafter von fürſtlicher Abkunft, denn er repräſentirt in beiden Fällen nicht ſeine perſönliche und Standeswürde, ſondern den Stat.
Jeder Stat iſt in Folge des völkerrechtlichen Verbandes aller Staten verpflichtet, den Geſanten eines andern völkerrechtlich anerkannten States zu empfangen und anzuhören. Nur beſonders erhebliche Ausnahmsgründe können eine Abweiſung rechtfertigen.
Die allgemeine Weigerung, Geſante zu empfangen, würde die Mög - lichkeit eines völkerrechtlichen Verkehrs ausſchließen. Damit aber wäre der völker - rechtliche Verband der Staten unwirkſam gemacht. Dagegen wird die Zulaſſung ſtändiger Geſanten als ein Act des Friedens betrachtet und in Kriegszeiten dieſer friedliche Verkehr gewöhnlich abgebrochen. Von der beſondern Weigerung, eine beſtimmte Perſon zu empfangen, handelt § 164.
Dem Empfangſtate ſteht es zu, gewiſſe ihm anſtößige Perſonen ſich als Geſante oder Agenten zu verbitten.
Mit Grund erregt es Anſtoß, wenn ein Stat einen von einem andern State früher wegen eines Verbrechens Beſtraften oder Verfolgten nun als ſeinen Geſanten bei dieſem State accreditiren will; daher iſt in einem ſolchen Fall die Annahme dieſer Perſon nicht zu erwarten. Bynkershoek (Quaest. Publ. II. v.) erwähnt eines Falles, in dem England als Geſanten nach dem Hag einen Mann ſchickte, welcher zuvor von der Holländiſch-Oſtindiſchen Compagnie verurtheilt worden war,128Drittes Buch.daß ihm die Zunge geſchlitzt werde. Derſelbe wurde anfangs widerrechtlich in Hol - land gefangen geſetzt, dann aber mit Recht zurückgewieſen. Es iſt ſchon ein zurei - chender Grund, ſich eine Perſon als Geſanten zu verbitten, die ſich zuvor durch be - ſondere Gehäſſigkeit und Feindſchaft gegen den beſendeten Stat oder deſſen Haupt hervorgethan hat. Dagegen wäre es unpaſſend, wenn etwa ein Stat überhaupt keine bürgerlichen Perſonen oder keine Geiſtlichen, oder keine Frauen als Geſante empfangen wollte; denn die Standes - oder Geſchlechtsunterſchiede bilden keine rechtlichen Erforderniſſe oder Hinderniſſe für das Amt eines Geſanten und können auch keinen Grund zu perſönlichem Anſtoß geben.
Ebenſo kann der Empfangſtat die Annahme eines perſönlich nicht anſtößigen Geſanten dann verweigern, wenn derſelbe als Träger eines das Recht oder die Ehre des Empfangsſtates verletzenden Miſſion erſcheint.
Eine wichtige Anwendung dieſes Satzes iſt die auf die päpſtlichen Le - gate und Nuncien, die nach den Kirchengeſetzen Vollmachten in Anſpruch neh - men, welche mit dem Verfaſſungsrecht des beſendeten States nicht verträglich ſind. In Folge deſſen wurde ſchon vor der Revolution am franzöſiſchen Hofe kein päpſt - licher Geſanter angenommen, welcher nicht eine beſchränkte Vollmacht vorweiſen konnte. Das franzöſiſche Statsbewußtſein geſtattete nicht, daß die päpſtlichen Geſanten die Anſprüche und Anmaßungen der römiſchen Hierarchie mit den völkerrecht - lichen Privilegien der Geſanten decken und ausrüſten.
Ferner gilt es als ein ausreichender Grund, die Annahme eines Geſanten zu verbitten, welcher ein Unterthan des beſendeten States iſt.
Das war eine Zeit lang Maxime des franzöſiſchen und iſt noch Gebrauch des ſchwediſchen Stats, keinen Geſanten zu empfangen, der Unterthan dieſer be - ſendeten Staten war. Man ſcheut den Conflict zwiſchen den Rechten des Geſanten auf Unabhängigkeit zu Ehren des States, den er repräſentirt und den Pflichten gegen den Stat, dem er als Unterthan zugehört.
Die völkerrechtliche gute Sitte verlangt, daß vor der Abſendung eines Geſanten dem Empfangſtate davon Anzeige gemacht und die Perſon genannt werde. Wird keine Einſprache gemacht, ſo wird angenommen, der Genannte ſei dem Empfangſtate nicht anſtößig.
Durch dieſe Uebung wird auch eine ſchroffe Zurückweiſung vermieden. Es genügt gewöhnlich, daß der zu beſendende Stat ſeine Bedenken gegen die fragliche Perſon eröffnet, um den Abſendeſtat zu beſtimmen, eine andere Perſon zu wählen.
Iſt ein Geſanter einmal aufgenommen, ſo genießt er alle Rechte und Ehren ſeiner Stellung und es darf nachträglich nicht eine Einſprache gegen ſeine Perſon erhoben werden aus Gründen, welche ſchon zur Zeit ſeines Empfangs vorlagen und bekannt ſein konnten.
In der Annahme des Geſanten liegt die Anerkennung des Abſende - ſtats, beziehungsweiſe der Statsregierung, welche denſelben bevollmächtigt, durch den Empfangſtat.
Es widerſpricht der Einheit des States, der repräſentirt werden ſoll, gleichzeitig zwei verſchiedene Geſante, den einen des vertriebenen Fürſten, der auf Wiederherſtellung hofft, den andern des vielleicht durch Uſurpation zur Gewalt ge - langten Fürſten, als Repräſentanten des Einen Stats zu empfangen. Indem der Empfangſtat den einen oder den andern empfängt, erklärt er, daß er deſſen Voll - machtgeber als das wirkliche Statshaupt betrachte. Die Annahme des Geſanten der neuen Regierung iſt daher mit der Entlaſſung des Geſanten der alten Regierung zu verbinden. Vgl. oben § 28 ff.
Als Geſante werden diejenigen Perſonen betrachtet, welche von einem State ermächtigt und dazu beglaubigt ſind, deſſen Rechte und Intereſſen bei einem andern State zu vertreten.
Die Ermächtigung allein gewährt noch nicht die Stellung und Rechte eines Geſanten; auch der geheime Agent iſt ermächtigt; es muß die Beglaubigung gegen - über dem beſendeten State hinzutreten.
Das heutige Völkerrecht unterſcheidet drei bis vier Claſſen von Geſanten:
Zwiſchen der zweiten und der dritten Claſſe nehmen die Miniſter - reſidenten eine Mittelſtellung ein.
Bluntſchli, Das Völkerrecht. 9130Drittes Buch.Im Alterthum gab es nur Eine Claſſe von Geſanten, von den Römern Legati genannt. In den weſentlichen Beziehungen ſind ſich auch heute noch alle Claſſen gleich. Die Unterſchiede, welche ſeit dem fünfzehnten Jahrhundert nach und nach aufgekommen ſind, haben vornehmlich einen Bezug auf die Hofſtellung, das Ceremoniel und den Rang.
Auf dem Wiener Congreß wurde von den acht Mächten am 19. März 1815 ein Protokoll unterzeichnet, deſſen Artikel 1 die obigen 3 Claſſen unter - ſcheidet:
„ Les employés diplomatiques sont partagés en trois classes: celle des ambassadeurs, légates ou nonces, celle des envoyés ministres ou autres accrédités auprès des souverains, celle des chargés d’affaires accrédités auprès des ministres chargés des affaires étrangères “.
Dazu kam nun das Protokoll des Aachener Congreſſes der fünf Großmächte vom 21. Nov. 1818, welches die vierte Zwiſchenclaſſe anerkannte: „ Il est arrêté entre les cinq cours que les ministres résidens accrédités auprès d’elles formeront par rapport à leur rang une classe intermédiaire entre les ministres du second ordre et les chargés d’affaires “.
Botſchafter werden in der Regel nur von Staten von Königlichem Rang abgeſendet und empfangen. Die Legati und Nuncien des Papſtes haben den Rang der Botſchafter.
Die Botſchafter allein repräſentiren auch die äußere Würde des Souverains, der ſie beglaubigt.
1. Die Beſchränkung der Botſchafter auf die Staten von königlichem Rang beruht weniger auf einem feſten Rechtsgrundſatz als auf der Sitte und hat eine natürliche Unterlage in den größeren für kleinere Staten unverhältmäßigen Koſten ſolcher Vertretung. Da aber nur die Botſchafter die perſönliche Würde des Sou - veräns repräſentiren, ſo iſt grundſätzlich nicht einzuſehen, weßhalb nicht auch ein ſouveräner Herzog oder ein anderer Fürſt bei außerordentlichem Anlaß ſich nicht ebenfalls in ſeiner perſönlichen Würde vertreten laſſen, d. h. daher nicht ebenfalls einen Botſchafter ſenden dürfte, der dann freilich keinen höheren Rang behaupten könnte, als ſein Vollmachtgeber beſitzt, alſo den Botſchaftern, welche Könige vertreten, nachſtehen müßte.
2. Die Legati a latere oder de latere (die Cardinäle führen dieſen Namen), oder die nuncii (Nicht-Cardinäle), welche der Papſt entſendet, haben durchweg eher kirchliche als politiſche Miſſionen und repräſentiren daher den Papſt vornehmlich in ſeiner Eigenſchaft als Hauptes der römiſch-katholiſchen Kirche. Die Bedeutung und der Rang dieſer päpſtlichen Repräſentanten iſt daher unabhängig von der Fortdauer eines Kirchenſtates.
Protokoll des Wiener Congreſſes vom 19. März 1815 Art. II. : „ Les ambassadeurs, légates ou nonces ont seuls le caractère représentatif “.
Die Geſanten der zweiten Claſſe werden wie die Botſchafter bei dem Souverän des Empfangſtates perſönlich beglaubigt, aber repräſentiren nicht zugleich mit dem State auch die perſönliche Würde (Dignität) des Souveräns.
Die Internuncien des Papſtes werden ihnen gleichgeſtellt.
Vgl. zu Art. 172. Dahin gehören die ſogenannten bevollmächtigten Miniſter (plena potentia muniti), die außerordentlichen oder ordentlichen Geſanten, die Geſanten ſchlechtweg. Auch der Oeſterreichiſche „ Internun - cius “zu Conſtantinopel gehört in dieſe Claſſe. Das iſt die eigentliche Haupt - und Negelclaſſe, über welche ſich die Botſchafter um etwas erheben und welche die folgen - den Claſſen nicht völlig erreichen.
Die Geſchäftsträger werden nur bei dem Miniſterium der auswär - tigen Angelegenheiten beglaubigt. Für die Rangſtufe iſt es unerheblich, wenn ihnen der Titel Miniſter verliehen wird.
Dagegen erhalten die Miniſterreſidenten, welche bei dem Hofe be - glaubigt werden, einen mittleren Rang zwiſchen der dritten und vierten Claſſe.
Vgl. zu § 171.
Die Eigenſchaft einer außerordentlichen Miſſion oder Vollmacht gibt keinen höhern Rang.
Protokoll vom 19. März 1815 Art. III. „ Les employés diplomatiques en mission extraordinaire n’out à ce titre aucune supériorité de rang “.
Unter einander nehmen die Geſanten einer jeden Claſſe ihre Rang - ordnung nach dem Tage der officiellen Anmeldung ihrer Ankunft.
Ebenda Art. IV. „ Les employés diplomatiques prendront rang entre eux dans chaque classe d’après la date de la notification officielle de leur arrivée. Le présent règlement n’apportera aucune innovation relativement aux représentans du Pape “.
Die Verwantſchaftsverhältniſſe unter den Höfen haben keinen Einfluß auf den Rang ihrer Geſanten.
9*132Drittes Buch.Ebenda Art. VI. „ Les liens de parenté ou d’alliance de famille entre les Cours ne donnent aucun rang à leurs employés diplomatiques de chaque classe “.
Bei der Unterzeichnung von Acten und Verträgen unter mehreren Staten, welche ſich das Alternat zugeſtehn, entſcheidet das Loos unter den Miniſtern über die Reihenfolge der Unterſchriften.
Ebenda Art. VII. „ Dans les actes ou traités entre plusieurs puissances qui admettent l’alternat, le sort décidera entre les ministres, de l’ordre qui devra être suivi dans les signatures “. Statt deſſen wird oft die Reihenfolge nach den Anfangsbuchſtaben der Statennamen gewählt, um jede Eiferſucht der Stellung abzuſchneiden.
Daraus, daß ein Stat ſtändige Geſante eines andern States em - pfängt, entſteht keine Verpflichtung des letztern States, ebenfalls ſtändige Geſante bei jenem State zu beglaubigen.
Es kann auch ein Stat, ohne ſeinem Rechte oder ſeiner Ehre etwas zu vergeben, fremde Geſante von höherem oder geringerem Rang empfan - gen, als er hinwieder abſendet.
Unter den Großmächten wird freilich das Intereſſe möglichſter Gleich - heit auch in der Repräſentation meiſt dahin wirken, daß ſie ſich durch Geſante von gleich hohem Rang vertreten laſſen. Aber das iſt keine Rechtsnothwendigkeit. Die Beiſpiele ſind nicht ſelten, in denen ein Stat einen Geſanten von höherem Rang empfängt, als er abſendet, oder umgekehrt.
Es gibt ſowohl ſtändige als nichtſtändige Geſante. Zu den letztern gehört auch der Interimsgeſante, welcher für den ſtändigen, aber zur Zeit abweſenden oder verhinderten Geſanten die Geſchäfte beſorgt.
Dieſer Gegenſatz hat keinen Einfluß auf den Rang des Geſanten, ſondern nur auf die Dauer ſeiner Vollmacht.
Die Ceremonialgeſanten (ministres d’étiquette, de cérémonie) ver - treten lediglich die perſönlichen Beziehungen der Höfe und Regierungen und bedürfen zur Vertretung in Statsgeſchäften einer beſondern Ermächtigung, in Folge welcher ſie aufhören, bloße Ceremonialgeſante zu ſein.
133Völkerrechtliche Organe.Solche Ceremonialgeſante werden oft zu gewiſſen Feierlichkeiten, bei Krö - nungen, Heirathswerbungen, Vermählungen, Taufen entſendet und empfangen, oder zu Beglückwünſchungen. Auch die an den Papſt früher ge - ſendeten legati reverentiae der katholiſchen Fürſten gehören hieher.
Die gleichzeitig bei einer Regierung beglaubigten Geſanten aller Claſſen bilden zuſammen den diplomatiſchen Körper (corps diplomatique).
Derſelbe iſt nicht eine juriſtiſche oder politiſche Perſon, ſondern ein freier Verein verſchiedener Perſonen, aber er ſtellt die völkerrechtliche Ge - meinſchaft der Staten dar und iſt berechtigt, den gemeinſamen Empfin - dungen und Meinungen einen Ausdruck zu geben.
Darin liegt ein Keim einer völkerrechtlichen Organiſation, der ſich in der Zukunft weiter entwickeln läßt. Die übereinſtimmende Meinungsäußerung des diplo - matiſchen Körpers hat eine gewiſſe völkerrechtliche Autorität, die zu miß - achten nicht ungefährlich iſt. Der Sitte nach führt gewöhnlich — wenigſtens bei bloß formellen Aeußerungen des diplomatiſchen Körpers — der älteſte (d. h. am längſten daſelbſt amtirende) Geſante das Wort. Es ſteht aber kein Rechtsgrund der Bezeichnung eines andern Sprechers entgegen.
Dem Abſendeſtat gegenüber beginnt der Charakter eines Geſanten ſchon mit der vollzogenen Ernennung. Im völkerrechtlichen Verkehr mit dem beſendeten State wird die Eigenſchaft des Geſanten durch das Creditiv beglaubigt.
Das Creditiv iſt die ſchriftliche und förmliche Vollmacht, welche der Geſante zum Behuf ſeiner Beglaubigung bei dem beſendeten State erhält und demſelben mittheilt.
Das Creditiv wird gewöhnlich in Form eines Beglaubigungsſchreibens (lettre de créance) ausgeſtellt und in den obern Claſſen von Souverän an Souverän, in der Claſſe der Geſchäftsträger von Miniſter an Miniſter gerichtet.
Schon vor Ueberreichung des Creditivs wird der Geſante, der ſich durch ſeine Päſſe oder in anderer glaubhafter Form als ſolchen ausweist, als eine völkerrechtlich beſonders geſicherte und begünſtigte Perſon behandelt, aber erſt in Folge der Abgabe und Annahme des Creditivs erhält er dem beſendeten State gegenüber volles Geſantenrecht ſeinem Range gemäß.
Das Völkerrecht muß den Geſanten ſchon unterwegs ſchützen, wenn er an den beſendeten Hof reiſt. Aber erſt von der Ueberreichung des Creditivs an iſt er wirklicher Geſanter bei dem beſendeten State. Bis dahin war er deſignirter Ge - ſanter. Auf jenen völkerrechtlichen Schutz hat der Geſante auch in einem fremden Lande, durch welches er reist, einen naturgemäßen Anſpruch. Die Ermordung der franzöſiſchen Geſanten nach Venedig und Conſtantinopel in der Lombardei gab dem Könige Franz I. einen gerechten Grund zu der ernſteſten Beſchwerde gegen Kaiſer Carl V als über eine ſchwere Verletzung des Völkerrechts. Vgl. Vattel IV. § 84.
Der Ueberreichung des Creditivs geht die Notification der Ankunft des Geſanten bei dem Miniſterium des Aeußern vorher. Von da an wird der diplomatiſche Altersrang gerechnet (Art. 176).
Mit der Notification wird die Mittheilung einer Abſchrift des Creditivs ver - bunden.
Der Unterſchied der verſchiedenen Claſſen der Geſanten hat einen Einfluß auf das bei der Ueberreichung und Annahme des Creditivs übliche Ceremoniel und auf die perſönlichen Beziehungen am Hofe, aber iſt für das ſtatliche Rechtsverhältniß ſelbſt nicht erheblich.
So läßt der Botſchafter ſeine Ankunft durch einen Cavalier der Geſantſchaft oder ſeinen Secretair anmelden, die Geſanten zweiter und dritter Claſſe ſchreiben unmittelbar an den Miniſter des Aeußern. Der Botſchafter wird mit Kanonen - ſchüſſen bei dem feierlichen Empfang ſalutirt, die übrigen Geſanten nicht; u. dgl.
Das Ceremoniel wird im Einzelnen durch die Landes - und Hofſitte beſtimmt. Aber es iſt eine völkerrechtliche Pflicht des Empfangſtates, in demſelben nichts anzuordnen, was die Ehre des Abſendeſtates verletzt oder135Völkerrechtliche Perſonen.den Rang desſelben herabſetzt. Dem Geſanten darf keine unwürdige Zumuthung gemacht werden und jeder Geſante hat Anſpruch auf die vollen regelmäßigen Ehren ſeiner Claſſe.
An deſpotiſchen, insbeſondere an orientaliſchen Höfen wird dem Statshaupte oft eine abgöttiſche Verehrung bezeugt und es werden daher an die Geſanten der fremden Staten zuweilen Zumuthungen gemacht, die mit der Würde freier Männer ſich ſo wenig vertragen, als mit der Würde der repräſentirten Staten. Obwohl da - her der beſendete Stat ſelber das äußere Ceremoniel beſtimmen kann, ſo iſt doch der Geſante in ſeinem Recht, wenn er ſich derlei Zumuthungen nicht gefallen läßt.
Die Beſuche der Geſanten und bei Geſanten und ebenſo die Ein - ladungen zu Feſten und Tafeln fallen in den Bereich der Höflichkeit und der Sitte, nicht in den des Völkerrechts, ſo lange dabei die Ehre und der anerkannte Rang der Staten und ihrer Vertreter unverletzt bleiben.
Etiketteverſtöße ſind nicht an ſich beleidigend, ſondern nur, wenn darin die Abſicht der Beleidigung offenbar wird. Im vorigen Jahrhundert hatten dieſe Dinge noch mehr Bedeutung, als in unſrer Zeit.
Die Geſanten haben das Recht der Unverletzbarkeit.
Wenige Sätze des Völkerrechts haben eine ſo frühe und allgemeine Anerken - nung, nicht bloß unter den civiliſirten Staten, ſondern ſogar unter barbariſchen Völkern gefunden, wie die Unverletzbarkeit der Geſanten. Im Alterthum waren dieſelben unter den Schutz der Götter geſtellt und galten inſofern als personae sanctae. Die Scheu vor den Göttern mußte damals noch die Ohnmacht des Völkerrechts er - ſetzen. Die moderne Welt ſtellt ſie unter den Schutz des menſchlichen Völker - rechts. Vgl. darüber Hugo Grot. II. c. 18. 1.
Der Stat, bei welchem die Geſanten beglaubigt ſind, iſt nicht bloß verpflichtet, ſich jeder Gewaltübung gegen dieſelben zu enthalten, ſondern auch dieſelben vor jeder Vergewaltigung zu ſchützen, welche ihnen von an - dern Bewohnern des Landes droht.
136Drittes Buch.Dem State liegt freilich auch gegen andere Perſonen die Pflicht ob, ſie wider Gewaltthat zu ſchützen. Aber dieſe allgemeine Schutzpflicht wird zu Gunſten des directen Völkerverkehrs mit Bezug auf die Geſanten geſteigert und gleichſam poten - zirt. Der beſendete Stat hat darauf eine beſondere Sorge zu verwenden und je nach Bedürfniß dem Geſanten eine außerordentliche Bedeckung oder Schutzwache zur Sicherung beizuordnen.
Die widerrechtliche Verletzung des Geſanten gilt zugleich als Ver - letzung des repräſentirten States, und in ſchweren Fällen als Verletzung auch der völkerrechtlichen Statengenoſſenſchaft überhaupt.
Alle Staten ſind dabei betheiligt, daß die Unverletzlichkeit der Geſanten aner - kannt und geſchützt bleibe; daher ſind auch die übrigen Staten berechtigt, theils das Begehren um Genugthuung des zunächſt betheiligten States zu unterſtützen, theils ſogar von ſich aus auf Wiederherſtellung des Rechts und Sühne zu dringen. Vgl. Phillimore II. 142.
Wird ein Geſanter in gerechter Nothwehr verletzt, ſo iſt kein Grund zu völkerrechtlicher Beſchwerde da, denn Nothwehr iſt erlaubt.
Vgl. oben § 144.
Ein Geſanter, der ſich in Gefahr begibt, iſt auch den Zufällen die - ſer Gefahr ausgeſetzt; wenn er dabei verletzt wird, ſo iſt das keine Belei - digung ſeines States und keine Verletzung des Völkerrechts.
Wenn er z. B., ohne die nöthige Vorſicht zu üben, ſich in einen aufrühreriſchen Haufen begibt, und an dem Straßenkampfe Theil nimmt oder wenn er ſich auf ein Duell einläßt und bei dieſer Gelegenheit verwundet oder gar getödtet wird, ſo trifft dieſe Verletzung ihn nicht als Geſanten und daher auch nicht den von ihm repräſen - tirten Stat. Es iſt das ein perſönlicher Unfall, für den nicht der Stat verant - wortlich gemacht werden kann, der die Unverletzlichkeit des Geſanten zu ſchützen hat.
Ueberdem kommt den Geſanten das Recht der Exterritorialität zu. Dasſelbe erſtreckt ſich auch auf ihr Gefolge und ihre Wohnung (§ 135 ff.).
Die Lehre von der Exterritorialität wurde vornehmlich im Hinblick auf die Ausnahmsſtellung der Geſanten ausgebildet.
Der beſondere Schutz und die Exemtion von der einheimiſchen Stats - gewalt, welche den fremden Geſanten gewährt werden, beziehen ſich vor - züglich auf ihre Papiere, Acten und Correſpondenzen.
Demgemäß ſind auch die Curiere, welche mit amtlichen Depeſchen von Geſanten und an Geſante geſchickt werden, vor policeilicher oder poli - tiſcher Wegnahme ihrer Depeſchen geſichert.
Die Verletzung des Briefgeheimniſſes bezüglich der amtlich bezeich - neten Geſantencorreſpondenz iſt auch als Verletzung des Völkerrechts zu mißbilligen.
Obwohl dieſe Anwendung des Grundſatzes ſelbſtverſtändlich iſt, ſo hat ſich doch die Praxis mancher Staten ſo wenig darnach gerichtet, und ſich ſo oft durch das politiſche Intereſſe verlocken laſſen, die Briefe zu durchſpähen, daß eben dieſer Mißbrauch dahin geführt hat, wichtige Depeſchen in Chiffern zu ſchreiben und da - durch unleſerlich für Dritte zu machen und überdem Depeſchen, die man beſſer ſichern will, gar nicht mehr der Poſt auzuvertrauen, ſondern mit beſondern Curieren zu verſenden.
Mit der Wohnung des Geſanten iſt kein Aſylrecht verbunden. Viel - mehr iſt der Geſante verpflichtet, wenn ein von der einheimiſchen Gerichts - oder Policeigewalt Verfolgter ſich dahin geflüchtet hat, entweder den Flücht - ling an die zuſtändige Behörde auszuliefern oder die Nachforſchung nach demſelben auch in ſeiner Wohnung zu geſtatten.
Vgl. oben 77. Als ein engliſcher Botſchafter 1726 in Madrid ſich weigerte, den in ſein Hotel geflüchteten Spaniſchen Miniſter, Herzog von Ripperda, auszu - liefern, wurde derſelbe gewaltſam herausgeholt. Ueber die Form des Verfahrens hatte England Grund zur Beſchwerde, aber in der Hauptſache war Spanien im Recht (Phillimore II. 204). In Martens Erzählungen (I. 217) findet ſich ein Bericht über den vergeblichen Verſuch des engliſchen Geſanten in Stockholm, den in ſein Hotel geflüchteten, wegen eines Statsverbrechens verfolgten Kaufmann Sprin - ger zu retten (1747). Das Hotel wurde von ſchwediſchen Truppen umſtellt und der Flüchtling mußte ausgeliefert werden. Der Geſante aber wurde abberufen, weil er zu weit gegangen war in der Ausdehnung ſeines Schutzes.
Ebenſo wenig kann der Geſante ſich auf die Freiheit ſeiner Equipage berufen, um Flüchtlingen durchzuhelfen, welche er in ſeinen Wagen auf - genommen hat.
Wenn in einem ſolchen Fall die einheimiſche Gerichts - oder Policeigewalt den Wagen anhält und den Flüchtigen verhaftet, ſo iſt das keine Verletzung des Völker - rechts. Ein Beiſpiel aus Rom führt Vattel an (IV. 119), indem ein franzöſiſcher Geſanter vergeblich verſuchte, verfolgte Neapolitaner vor den päpſtlichen Wachen zu retten.
Der Geſante darf ſein Hotel nicht zu feindlichen Handlungen gegen den Stat mißbrauchen laſſen, bei welchem er beglaubigt iſt. Verletzt er dieſe Pflicht, ſo ſchützt ihn auch die Exterritorialität nicht vor denjenigen Maßregeln, welche die Selbſterhaltung und Sicherung des beſendeten Sta - tes erfordern.
Er darf alſo insbeſondere keine Verſammlungen von Verſchwornen daſelbſt geſtatten, keine Waffenmagazine da einrichten, zur Unterſtützung eines Aufſtandes u. ſ. f. Als der ſchwediſche Geſante in London an einer Verſchwörung gegen den König von England Theil nahm, ließ dieſer den Geſanten verhaften und ſeine Papiere in Be - ſchlag nehmen. Dieſes Verfahren wurde von den engliſchen Statsſecretären der Diplomatie gegenüber, die anfangs Bedenken ausſprach, gerechtfertigt. Martens Causes Célèbres I. 75. Vgl. auch Vattel IV. 101.
Der Geſante hat das Recht der freien Religionsübung in dem Geſantſchaftshotel, zunächſt für ſich, ſeine Familie, ſein Gefolge und ſeine Dienerſchaft.
Dieſes Privilegium des Geſanten hat ſeinen Werth großentheils verloren, ſeitdem die Cultusfreiheit als allgemeines Recht die frühere Unduldſam - keit in den meiſten civiliſirten Staten endlich verdrängt hat. Aber es iſt heute noch von Bedeutung in den Staten, welche in dieſer Hinſicht hinter dem Fortſchritte der Zeit zurückgeblieben ſind.
Den Geſanten der oberen Claſſen wird allgemein ein ſogenanntes Capellenrecht zugeſtanden, d. h. das Recht, in weiterem Sinne innerhalb der exterritorialen Wohnung für den Gottesdienſt zu ſorgen.
139Völkerrechtliche Organe.Ein völkerrechtlicher Grund, das Capellenrecht auf jene Claſſen zu beſchränken und den Geſchäftsträgern zu verſagen, beſteht nicht. Dasſelbe iſt nur früher zu Gunſten der vornehmern Geſanten geſtattet und anerkannt worden.
In dem Capellenrecht iſt enthalten:
Die neuere Rechtsbildung iſt wie überhaupt der Cultusfreiheit ſo auch einer Ausdehnung des Capellenrechtes günſtig. Indeſſen kommt zuweilen noch ein Verbot in einzelnen Staten für deſſen Unterthanen vor, den andersgläubigen Gottesdienſt zu beſuchen. Gegenwärtig noch iſt es den Römern unterſagt, dem proteſtantiſchen Gottesdienſt in der preußiſchen Geſantſchaftscapelle zu Rom beizuwohnen.
Es iſt nicht nothwendig in dem Capellenrecht auch die Befugniß inbegriffen, den Cultus nach außen hin öffentlich darzuſtellen, wie ins - beſondere durch Glockengeläute, Proceſſionen, Erſcheinen des Geiſtlichen außerhalb der eximirten Räume in der Tracht ſeines kirchlichen Amtes.
Innerhalb der Capelle dagegen und in dem Geſantſchaftshotel darf der Geiſtliche ungehindert in der Amtstracht erſcheinen. Er darf daſelbſt Taufen und Trauungen vollziehen und auf dem dazu gehörigen Begräbniß - platze den Trauergottesdienſt abhalten.
Das Capellenrecht des Geſanten iſt zunächſt Hausrecht desſelben und er - ſtreckt ſich deßhalb nicht auf den öffentlichen Cultus außerhalb des Geſantſchaftshotels und ſeiner Zubehörde, der Capelle.
Die vorübergehende Abweſenheit des Geſanten hindert die Fortdauer des geſantſchaftlichen Gottesdienſtes nicht. Wird aber der geſantſchaftliche Verkehr abgebrochen, ſo erliſcht auch das Capellenrecht.
Die Familie, die Begleiter und Diener des Geſanten haben ebenfalls freie Religionsübung innerhalb des Geſantſchaftshotels je nach ihrer Religion und Confeſſion.
Es gilt das auch dann, wenn dieſe Perſonen eine andere Confeſſion bekennen, als der Geſante ſelbſt. Die Capelle z. B. eines Preußiſchen Geſanten kann proteſtantiſch ſein, während der Geſante ſelbſt katholiſch iſt.
Der Geſante und ſein Gefolge ſind der Strafgerichtsbarkeit des be - ſendeten States nicht unterworfen. Dieſer Stat aber iſt berechtigt, wenn durch ſolche Perſonen die Rechtsordnung des Landes in ſtrafwürdiger Weiſe verletzt worden iſt, auf diplomatiſchem Wege Genugthuung und je nach Umſtänden Entſchädigung zu fordern.
Vgl. oben zu § 141 f.
Verübt der Geſante ſelber eine ſtrafbare Handlung, ſo kann ſolches der Regierung des Abſendeſtates angezeigt und Abberufung und Beſtrafung des Geſanten gefordert werden. In ſchweren Fällen können auch dem Geſanten ſofort die Päſſe zugeſtellt und er in kurzer Friſt aus dem Lande weggewieſen werden. In Nothfällen und insbeſondere, wenn der Geſante an hochverrätheriſchen oder feindlichen Handlungen gegen das Land theil - genommen hat, bei dem er beglaubigt iſt, kann er, um die Anſprüche des verletzten States auf Genugthuung zu ſichern, gefangen genommen werden. Aber ſogar in dieſem Fall darf das einheimiſche Strafgericht nicht über ihn richten.
Vgl. oben § 142. Ein Beiſpiel iſt die Gefangennahme des Prinzen von Cellamare, Spaniſchen Geſanten in Paris, der ſich an einer Verſchwörung gegen die damalige franzöſiſche Regierung betheiligt hatte, 1718. Manche Juriſten be - haupteten früher, der Geſante verwirke das Privilegium durch ein ſchweres Verbre - chen gegen den beſendeten Stat oder deſſen Souverän, aber die Meinung von Gro - tius, daß ſelbſt in ſolchen Fällen die Strafgewalt des beſendeten Stats nicht zur Anwendung komme, iſt die herrſchende geworden. Weil hier leicht die völkerrecht - lichen Beziehungen an einer empfindlichen Stelle verwundet werden, darf in ſolchen Fällen nicht eine untergeordnete Behörde, ſondern nur die oberſte Autorität das Nöthige anordnen.
Wird das Vergehn von einer Perſon aus dem Gefolge verübt, ſo iſt der Geſante verpflichtet, mitzuwirken, daß der Angeklagte vor Gericht geſtellt und wenn ſchuldig erfunden, geſtraft werde.
Die Befreiung von der Strafgewalt des beſendeten States und die Unterwerfung unter die Strafgewalt des Abſendeſtates erſtreckt ſich auch auf ſolche Diener fremder Geſanten, welche Unterthanen des erſtern ſind.
Es kommt hier auf die Zeit an, in welcher die gerichtliche Verfolgung be - ginnt. Gegen den wirklichen Diener des Geſanten — bona fides des Dienſtes wird jederzeit vorausgeſetzt — wird ſie aus Rückſicht auf die völkerrechtliche Exemtion vorerſt gehemmt beziehungsweiſe abgelenkt.
Dieſe Befreiung erſtreckt ſich nicht auf Perſonen, welche ohne Amt und ohne Dienſt lediglich aus freier Neigung oder Gewinnſucht ſich einer Geſantſchaft anſchließen, noch auf ſolche, welche nur zum Scheine in ein Dienſtverhältniß eintreten, in Wahrheit aber von dem Geſanten unabhängig und nicht der Geſantſchaft beigeordnet ſind.
Vgl. oben § 146.
Wenn der Geſante in Anbetracht, daß die unabhängige Stellung der Geſantſchaft und die Intereſſen des Abſendeſtats nicht in Frage geſetzt werden, Perſonen ſeines Gefolges oder ſeiner Dienerſchaft, die wegen eines Vergehens entweder auf handhafter That ergriffen worden ſind oder ſonſt in unverdächtiger Weiſe verklagt werden, der ordentlichen Landesgerichts - barkeit zur Beurtheilung freiwillig überläßt oder überliefert, ſo iſt das Gericht nicht durch völkerrechtliche Rückſichten gehindert, ſeine regelmäßige Gerichtsbarkeit auszuüben.
Inwiefern hier der Geſante die Vorſchriften und Inſtructionen des Abſende - ſtats gehörig beachtet habe, iſt eine Frage des Stats - nicht des Völkerrechts, welche in den Bereich der Verantwortlichkeit fällt, die der Geſante ſeiner Regierung ſchuldet. In der Regel darf der Geſante mit Rückſicht auf ſeine völkerrechtliche Stellung und Aufgabe weder für ſich, noch für diejenigen Perſonen, welche mit den142Drittes Buch.öffentlichen Geſchäften des Amtes bekannt ſind, auf die Befreiung von der einheimi - ſchen Strafgerichtsbarkeit verzichten und darf weder ſich, noch ſolche Perſonen zum Schaden ſeiner Stellung und ſeiner Amtsthätigkeit dieſer Gerichtsbarkeit freiwillig unterwerfen.
Der einheimiſchen Statsgewalt iſt es nicht verwehrt, Perſonen, welche zur Geſantſchaft gehören, wenn ſie auf handhafter That in Verübung eines Vergehens ergriffen werden, vorläufig in Haft zu nehmen. Nur iſt ſofort dem Geſanten davon Kenntniß zu geben und der Gefangene zu deſſen Verfügung zu ſtellen.
Dem Geſanten kommt wohl eine Disciplinargewalt über ſeine An - gehörigen zu, aber in der Regel keine eigentliche Strafgerichtsbarkeit. Aus - nahmen bedürfen einerſeits der Ermächtigung des Abſendeſtats, andrerſeits der Zulaſſung des Empfangſtats.
Da der Ausſpruch auf Exterritorialität für ſich allein nur die Ausſchlie - ßung der fremden, an ſich berechtigten Strafgerichtsbarkeit, nicht aber die Aus - übung der eigenen Strafgewalt von Seite des Exterritorialen begründet, ſo kann es auch nicht von dem Ermeſſen des Abſendeſtates allein abhängen, ſeinen Ge - ſanten dieſe Gewalt zu übertragen. Der beſendete Stat kann ſich jede Ausübung der Strafgewalt in ſeinem Gebiete durch einen Fremden verbitten. Der Geſante iſt in der Regel nur zu denjenigen vorbereitenden Gerichtshandlungen er - mächtigt, welche zur Sicherung des nachfolgenden Gerichtsverfahrens nöthig ſind. Ausnahmsweiſe wird den fränkiſchen Geſanten und ſogar den Conſuln in der Türkei und hinwieder muſelmänniſchen Geſanten in Europa eine Strafgerichtsbarkeit dort über ihre chriſtlichen, hier über ihre mohammedaniſchen Landsleute zugeſtanden.
Der Geſante kann den äußern Thatbeſtand des Vergehens, ſoweit derſelbe innerhalb des exterritorialen Bezirks erkennbar iſt, conſtatiren, ſeine Angehörigen einvernehmen und das einheimiſche Gericht auffordern, daß es auch ſeinerſeits in ſeinem Bereich die Thatſachen feſtſtelle und Zeugen ein - vernehme. Er kann die angeſchuldigte Perſon ſeines Gefolges verhaften und für Ablieferung an das zuſtändige Gericht des Abſendeſtats ſorgen.
Da der Geſante auch der Civilgerichtsbarkeit des Empfangſtates143Völkerrechtliche Organe.nicht unterworfen iſt, ſo darf er auch nicht vor Gericht geladen werden, um eine Civilkage zu beantworten, noch darf irgend ein Gerichtszwang gegen ſeine Perſon oder ſeine Habe ausgeübt werden.
Vgl. oben zu § 139. 140. In England iſt unter der Königin Anna am 21. April 1709 ein beſonderes Geſetz zum Schutz der Geſanten erlaſſen worden, nachdem zuvor die Verhaftung eines Ruſſiſchen Geſanten wegen Schulden heftige Beſchwerden des Czars Peter über Verletzung des Völkerrechts hervorgerufen hatte. Das Geſetz wurde als Genugthuung für den beleidigten Ruſſiſchen Hof betrachtet. Die Uebungen der Völker gehen in dieſer Befreiung der Geſanten von der Civil - gerichtsbarkeit vielleicht weiter, als die inneren Rechtsgründe — insbeſondere die Rückſicht auf die Würde, Sicherheit und Unabhängigkeit des repräſentirten States es erfordern. Es iſt daher oft ſchon arger Mißbrauch von dieſem Privilegium ge - macht worden, indem einzelne Geſante dasſelbe zu leichtfertigem Schuldenmachen ausgebeutet haben und dann die Gläubiger zu Schaden gekommen ſind. Uebrigens iſt der Geſante ſo wenig als ein ſouveräner Fürſt gehindert, eine Schuldfrage oder eine andere bürgerliche Rechtsſtreitigkeit, freiwillig an ein Schiedsgericht oder ſelbſt an das ordentliche Gericht des beſendeten Landes zu bringen und deſſen Urtheil an - heim zu geben. Die Juriſten, welche ihn daran verhindern wollen, überſpannen das Intereſſe des Abſendeſtates, für deſſen Würde und Sicherheit es je nach Um - ſtänden ganz unerheblich ſein kann, derariige Civilproceſſe ausſchließlich der eigenen Gerichtsbarkeit vorzubehalten. Ob der Geſante das thun dürfe oder nicht, iſt eher eine Frage des Stats - als des Völkerrechts. Er iſt ſtatsrechtlich verpflichtet, die Inſtruction zu befolgen, die er von ſeiner Regierung empfängt.
Da die Gefolgsleute des Geſanten nicht um ihrer Perſon, ſondern lediglich um der Geſantſchaft willen von der Civilgerichtsbarkeit des Landes befreit ſind, in dem ſie ſich thatſächlich aufhalten, ſo kann der Geſante verſtatten, daß dieſelben von dieſem Landesgericht belangt werden und es kann unter dieſer Vorausſetzung das Gericht die Klage an Hand nehmen, ohne Verletzung der völkerrechtlichen Rückſichten.
Vgl. oben zu § 149.
Dem Geſanten ſteht in der Regel keine bürgerliche Gerichtsbarkeit in Streitſachen zu über ſeine Angehörigen. Eine Ausnahme wird nur durch beſondere Vollmacht des Abſendeſtats und durch Zulaſſung des Empfang - ſtats begründet.
Vgl. oben § 216.
Dagegen ſind in der Regel die Geſanten befugt, Acte der freiwilli - gen Gerichtsbarkeit mit Bezug auf die Gefolgsperſonen und überdem mit Bezug auf ihre Landsleute und Schutzbefohlenen vorzunehmen, ſoweit ein derartiges Bedürfniß vorhanden iſt. Insbeſondere können ſie Unterſchriften und Urkunden dieſer Perſonen amtlich beglaubigen, letzte Willenserklärungen aufnehmen, bürgerliche Standesverhältniſſe (Geburt, Ehe, Tod) beurkunden und im Intereſſe der Sicherſtellung von Verlaſſenſchaften ſchützende Maß - regeln theils ergreifen, theils veranlaſſen.
Die freiwillige Gerichtsbarkeit hat weniger den Charakter der Gerichtshoheit an ſich, als der gewaltloſen Rechtshülfe. Sie kann daher auch unbedenklich von dem Empfangſtat zugeſtanden werden. Aus ähnlichen Gründen kann der Ge - ſante auch Zeugenausſagen ſeiner Gefolgsleute zu Protokoll nehmen.
Die Steuerfreiheit des Geſanten beruht nur inſofern auf Rechts - nothwendigkeit, als ſie eine Folge der Befreiung derſelben von aller Stats - hoheit des beſendeten States iſt. Ihre Ausdehnung über dieſes Maß hinaus mag in den Sitten und in der Gaſtfreundlichkeit begründet ſein, aber ihre Beſchränkung auf jenes Maß kann nicht als Verletzung des Völkerrechts betrachtet werden.
Vgl. § 138. Im Einzelnen weichen die Sitten und Verordnungen der ein - zelnen Staten von einander ab, und es iſt nach Heffters Ausdruck (Völkerr. 217) „ eine völlig gleichförmige Regel bei dieſem völkerrechtlichen Privilegium nicht erweis - lich. “ Es iſt z. B. keine Verletzung des Völkerrechts, wenn von dem Geſanten wie von andern Reiſenden Straßen - und Brückengelder gefordert werden, obwohl das aus Höflichkeit oft unterlaſſen wird.
Der Geſante iſt verpflichtet, die Zollbefreiung, deren er für die Be - dürfniſſe ſeines Haushalts genießt, in gutem Glauben zu gebrauchen und er darf dieſelbe weder zu eigenen Handelszwecken ausbeuten, noch zu Gun - ſten dritter zollpflichtiger Perſonen mißbrauchen. Das Völkerrecht hindert die Zollbehörden nicht, auch die Sendungen von Waaren an den Geſanten einer Prüfung zu unterwerfen, wenn nur das Hotel des Geſanten und diejenigen Räume (Statswagen, Archiv) verſchont werden, für welche er145Völkerrechtliche Organe.den beſondern Statsſchutz in Anſpruch nimmt und die Verſicherung gibt, daß ſie keine zollpflichtigen Güter in ſich ſchließen.
Wenn der Geſante zugleich Kaufmann iſt, ſo ſind ſeine Handelswaaren der gewöhnlichen Verzollung unterworfen.
In allen zweifelhaften Fällen, wo Conflicte über die Ausdehnung oder Beſchränkung der Exterritorialität mit fremden Geſanten drohen, ſol - len die untern Landesbehörden es vermeiden, von ſich aus dem Entſcheide der oberſten Regierungsautorität vorzugreifen und iſt durch Verhandlung dieſer mit der Geſantſchaft ein freundliches Einverſtändniß anzuſtreben.
Es iſt das eine zur Verhütung ſchädlicher Streitigkeiten wichtige Maxime Der Amtseifer der Unterbehörden ſieht leicht nur das Nächſte und beurtheilt das nach dem gewöhnlichen Geſchäftsgang, während die Centralregierung einen weiteren Horizont von höherem Standpunkte aus überſchaut und daher die Rückſichten von Stat zu Stat richtiger zu würdigen verſteht. Der Geſante iſt berechtigt, bei einem drohenden Conflicte mit einem Unterbeamten dieſen darauf hinzuweiſen, daß er wohl thue, an höhere Behörde zu berichten und weitere Befehle abzuwarten.
Der Geſante iſt verpflichtet, die Selbſtändigkeit und Ehre des States, bei welchem er beglaubigt iſt, ſorgfältig zu achten. Er darf ſich nicht in die innern Landesangelegenheiten ungebührlich einmiſchen, und hat ſich aller autoritativen Acte zu enthalten, welche in den Bereich der Statshoheit des beſendeten States eingreifen. Er ſoll alle Aufreizungen oder Drohungen oder Beſtechungen unterlaſſen, durch welche die Freiheit des Volkes, die Autorität der Regierung und die Ehrbarkeit des politiſchen Lebens gefähr - det oder verletzt würden.
Bloße Meinungsäußerung und Ertheilung von guten Räthen bezüglich der innern Politik, zumal im Privatverkehr, iſt nicht als unerlaubte Einmiſchung zu betrachten. Aber immerhin iſt auch hier Mäßigung zu empfehlen, damit nicht der Eindruck einer verſuchten Einmiſchung entſtehe, welche der fremden Macht und ihrem Vertreter nicht zukommt. Die Grenze, welche die freie Beſprechung von ungebühr - licher Zudringlichkeit unterſcheidet, kann nur durch den ausgebildeten Takt der Per - ſonen inne gehalten werden.
Ohne Ermächtigung des Abſendeſtats darf der Geſante weder Ge - ſchenke noch Orden von dem Empfangſtate annehmen.
Bluntſchli, Das Völkerrecht. 10146Drittes Buch.Die repräſentative Stellung des Geſanten erfordert nicht allein, daß der Ge - ſante ſich nicht durch perſönliche Ehren oder Vortheile von dem beſendeten State ge - winnen laſſe, ſondern daß er auch den Schein einer ſolchen Gewinnung vermeide. Aber wenn der Abſendeſtat darüber beruhigt iſt und ſeine Zuſtimmung gibt, ſo iſt der Geſante auch nicht gehindert, eine Auszeichnung von dem beſendeten State an - zunehmen.
Wenn die diplomatiſche Sendung zu einem beſondern Zweck geſchehen iſt, wie vorzüglich bei Ceremonialgeſanten, ſo wird dieſelbe durch Erfüllung des Auftrags beendigt.
Iſt der Geſante in fortdauernder Eigenſchaft beglaubigt, ſo wird ſeine Geſantſchaftsſtellung gewöhnlich durch die Abberufung beendigt. Das dem beſendeten State mitgetheilte Abberufungsſchreiben (lettre de rappel) hebt die Geltung des Creditivs auf.
Dem Abſendeſtat ſteht es jederzeit frei, ſeinen Geſanten abzuberufen. Die Abberufung kann aber erſt für den beſendeten Stat rechtsverbindlich wirken, wenn ihm dieſelbe angezeigt worden iſt.
Der Tod oder die Abdankung des abſendenden Souveräns hebt die Wirkſamkeit des Creditivs nicht nothwendig auf.
Der Grund iſt, weil das Statshaupt fortdauert, wenn gleich die Perſon des Fürſten wechſelt und das Statshaupt den Geſanten ermächtigt hat, nicht das fürſtliche Individuum. Uebungsgemäß wird durch die Notification der Thronfolge ohne Abberufung die Fortdauer des alten Creditivs von Seite des Abſendeſtats beſtätigt.
Wird dagegen der abſendende Souverän durch eine Statsumwälzung entſetzt oder ſonſt gewaltſam entthront, ſo daß die Nachfolge nicht durch die regelmäßige Thronfolge beſtimmt wird, ſo wird die Fortdauer des147Völkerrechtliche Organe.alten Creditivs als zweifelhaft betrachtet. Uebungsgemäß wird in ſolchen Fällen ein neues Creditiv erwartet und gegeben.
Wenn aber der Abſendeſtat durch eine bloße Notification das alte Creditiv beſtätigt und der Empfangſtat ſich dabei beruhigt, ſo beſteht kein völkerrechtliches Hemmniß ſeiner Gültigkeit. Der Grund, weßhalb in dieſen Fällen anders gehandelt wird, als in den vorigen Fällen, iſt der, daß ſolche Umwälzungen zugleich eine Wandlung der Politik bedeuten und es daher zweifelhaft erſcheint, ob der von der geſtürzten Regierung ernannte Geſante auch das Vertrauen der neuen Regierung habe.
Wenn der Souverän des Empfangſtates ſtirbt, bei welchem der Geſante perſönlich beglaubigt war, ſo wird übungsgemäß ein neues Cre - ditiv an den Thronfolger ausgeſtellt. Aber es gibt kein völkerrechtliches Hinderniß, das alte Creditiv ſtatlich fortwirken zu laſſen.
Da der Stat und das Statshaupt dieſelben bleiben, wenn gleich die Perſon des Fürſten geändert wird, ſo iſt auch hier kein nöthigender Rechtsgrund vorhanden, um dem anerkannten Creditiv ſeine Wirkſamkeit zu entziehen. Nur die diplomatiſche Sitte hat hier die Ausſtellung eines neuen Creditivs eingeführt, wohl nur in der Abſicht, den Geſanten und ihren Regierungen einen Anlaß zu ver - ſchaffen, um den Verkehr mit dem neuen Fürſten in feierlicher Weiſe einzuleiten. Gegenüber dem Regierungswechſel in Republiken beſteht dieſe Uebung nicht, obwohl das Rechtsverhältniß dasſelbe iſt.
Wird der Souverän des Empfangſtates gewaltſam entſetzt, ſo iſt es zweifelhaft geworden, ob der Geſante ferner bei ſeiner Perſon oder bei der neuen Regierung beglaubigt ſei. Wenn der Abſendeſtat die letztere aner - kennt, ſo wird eine Beſtätigung des alten Creditivs oder ſelbſt die Fort - ſetzung des Geſchäftsverkehrs mit der neuen Regierung als genügend er - achtet, um derſelben gegenüber die Fortwirkung des Creditivs zu ſichern.
Vgl. zu § 230. In ſolchen Fällen tritt oft anfangs ein Schwanken und eine Unſicherheit darüber ein, ob der Geſante noch bei dem geſtürzten Souverän oder nun bei der neuen Regierung beglaubigt ſei. Da beide ein Intereſſe haben, den Verkehr fortzuſetzen, der erſtere in der Hoffnung auf Wiederherſtellung ſeiner Autorität, die letztere in der Abſicht auf Sicherung ihrer neuen Stellung, ſo ſind beide bereit, die Fortdauer des Creditivs zu gewähren und geneigt, in dieſem Sinne das Verhalten der Geſanten auszulegen. Daher fordert keine von beiden Regierungen neue Credi -10*148Drittes Buch.tive, ſondern hält ſich gerne an die ihrer Auffaſſung günſtigen Aeußerungen oder Handlungen. Vgl. oben § 39 und unten § 237.
Eine Aenderung in der Perſon des Miniſters des Auswärtigen übt auch dann keinen Einfluß auf die Fortdauer des Creditivs aus, wenn dasſelbe lediglich an das Miniſterium gerichtet war.
Das iſt der Fall bei den Creditiven der Geſchäftsträger.
Bei ſchweren Verletzungen der Rechte oder der Ehre ſeines States kann der Geſante, auch ohne ſeine Abberufung abzuwarten, ſeine Päſſe fordern und den diplomatiſchen Verkehr abbrechen.
Seinem State gegenüber wird er freilich für eine ſolche Handlung verant - wortlich; und dieſe Rückſicht wird ihn daher gewöhnlich abhalten, ohne beſondern Auftrag einen derartigen Riß zu conſtatiren. Für die äußerſten Fälle aber, ins - beſondere wenn ein raſcher Verkehr mit der Abſenderegierung unterbrochen oder allzu ſchwierig iſt, muß dieſes Recht des Geſanten doch anerkannt werden. Dasſelbe ab - ſolut verneinen, hieße in ſolchen Fällen den repräſentirten Stat den größten Ge - fahren und Beleidigungen vorerſt preisgeben.
Bei ſchwerer Verſchuldung des Geſanten gegen den beſendeten Stat und ebenſo in Folge eines ernſten Streites mit dem Abſendeſtat, kann die beſendete Regierung dem Geſanten ebenfalls einſeitig ſeine Päſſe zurück - ſtellen und ihrerſeits den diplomatiſchen Verkehr abbrechen.
Der Abbruch des Verkehrs und die Wegweiſung des Geſanten iſt nicht als ein Act der Willkür in das beliebige Ermeſſen der beſendeten Regierung geſtellt, ſondern es bedarf, um dieſe ſchweren Maßregeln völkerrechtlich zu rechtfertigen, eines ernſten Grundes.
Die Beförderung eines Geſanten zu höherer Rangclaſſe veranlaßt übungsgemäß die Uebergabe eines neuen Creditivs. Aber inzwiſchen dauert das Recht der Vertretung auf Grundlage des alten Creditivs fort.
Ein Rechtsgrundſatz liegt dieſer Uebung nicht zu Grunde. Würde der Ab - ſendeſtat die Rangerhöhung einfach notificiren, ſo wäre der Empfangſtat nicht gehin - dert, das für genügend zu erachten.
Eine bloße Unterbrechung der diplomatiſchen Sendung, welche die Fortwirkung des Creditivs zweifelhaft macht, findet Statt:
In zweifelhaften Fällen der erſten und zweiten Claſſe hängt es immerhin von dem Ermeſſen der Staten oder ihrer Geſanten ab, dieſen Zweifeln eine größere oder geringere Wirkung zu verſtatten. In Fällen der dritten Art wird die Verhand - lung mit Nothwendigkeit unterbrochen. Dahin gehört z. B. die Abſperrung der Verbindung in Kriegszeiten, oder eine Krankheit des Geſanten, die ihn zur Vertre - tung unfähig macht — ohne Zwiſchenvertretung — u. dgl. In dieſer Zwiſchenzeit wird die Wirkſamkeit des Creditivs als ſuspendirt betrachtet. Wenn jedoch das Hemmniß beſeitigt, oder die Ungewißheit zu Gunſten der Fortſetzung des diplomati - ſchen Verkehrs gehoben wird, ſo tritt das alte Creditiv wieder in volle Kraft und wird angenommen, es habe auch in der Zwiſchenzeit gegolten. Wird umgekehrt dieſe Zwiſchenzeit durch den Abbruch des Verkehrs beendigt, ſo wird angenommen, das ſuspendirte Creditiv ſei unwirkſam geblieben.
Wird die diplomatiſche Sendung in friedlicher Weiſe durch Abberu - fung des Geſanten beendigt und iſt derſelbe bei dem Souverän perſönlich beglaubigt, ſo kann eine dem feierlichen Empfang entſprechende feierliche Verabſchiedung des Geſanten ſtattfinden. Der Geſante erhält dann gegen das Abberufungsſchreiben von dem Souverän des beſendeten Stats ein Recreditivſchreiben (lettres de récréance) an den Souverän des Abſende - ſtats, welches die Beendigung des bisherigen Repräſentationsverhältniſſes beurkundet.
Jene Feierlichkeit und dieſes Recreditiv ſind aber nicht nothwendig, um das frühere Creditiv außer Wirkſamkeit zu ſetzen.
Unter allen Umſtänden, ſelbſt nach einer Kriegserklärung, hat der Empfangſtat die Pflicht, dafür zu ſorgen, daß der ſcheidende Geſante un -150Drittes Buch.verſehrt das Statsgebiet verlaſſen könne. Wenn nöthig, hat er ihm be - waffnete Bedeckung zum Schutze beizugeben.
Die Unverletzbarkeit des Geſanten iſt wie bei der Herreiſe ſo auch bei der Rückreiſe zu wahren; und es iſt Pflicht des States, die Gefahren, welche ihm, namentlich von aufgeregten Parteien drohen, durch ſeine Schutzmittel zu entfernen. Dabei wird indeſſen vorausgeſetzt, daß der Geſante ohne Verzug, ſobald es die Natur der Verhältniſſe geſtatten, zurückreiſe. Will er dauernd in dem Lande bleiben, in dem er früher als Geſanter fungirt hat, ſo tritt er durchaus in die Stellung eines Privatmanns zurück und hat keinen weitern Anſpruch auf einen beſondern qualifi - cirten Schutz.
Stirbt der fremde Geſante innerhalb des einheimiſchen Statsgebiets, ſo pflegt übungsgemäß die eigene Kanzlei, oder wenn keine geeignete Perſon in derſelben vorhanden iſt, eine befreundete Geſantſchaft die Verlaſſenſchaft unter Siegel zu nehmen und einſtweilen ſicher zu ſtellen. Nur im Noth - fall, wenn überall keine derartige Hülfe zur Stelle iſt, wird die Siegelung von der einheimiſchen Behörde vorzunehmen ſein. Unter allen Umſtänden aber hat ſich die fremde einſchreitende Behörde jeder Durchſuchung der Geſantſchaftspapiere zu enthalten und ſich auf Sicherſtellung derſelben zu beſchränken. Die Leiche darf in die Heimat des Geſanten abgeführt werden.
Bloße Beauftragte für nicht völkerrechtliche und nicht internationale Angelegenheiten eines auswärtigen States haben keinen völkerrechtlichen Charakter.
Dahin gehören z. B. Agenten zum Abſchluß eines Darlehens mit Privat - gläubigern, zum Ankauf von Lebensmitteln, zur Beſtellung von Waffen in fremden Fabriken u. dgl.
Die geheimen Agenten, welche zwar in der Abſicht entſendet werden,151Völkerrechtliche Organe.die öffentlichen Intereſſen eines States in fremdem Lande zu wahren, aber ohne als Statsbeauftragte daſelbſt amtlich bezeichnet zu werden, haben auch wenn ſie ſich als geheime Agenten zu erkennen geben, keinen Anſpruch auf einen beſondern völkerrechtlichen Schutz.
Sie werden nur als Privatperſonen, nicht als Repräſentanten des Stats be - trachtet, und genießen daher nur den allgemeinen Rechtsſchutz für die Fremden über - haupt. Dahin gehören auch diejenigen Perſonen, welche als Techniker oder Experten die Einrichtungen in einem fremden Lande ſtudiren und darüber Bericht erſtatten ſollen.
Dagegen ſtehen öffentlich ermächtigte Perſonen (Agenten und Com - miſſäre), welche ohne den Charakter von Geſanten zu haben, von einem State oder von deſſen Behörden an einen andern Stat oder deſſen Behör - den abgeſchickt werden, um gewiſſe öffentliche Geſchäfte daſelbſt abzumachen, unter dem beſondern Schutze des Völkerrechts. Aber auf Exemtion von der Gerichtsbarkeit und auf Exterritorialität haben ſolche Perſonen keinen Anſpruch, wenn nicht und ſo weit nicht durch beſondere Vergünſtigung des beſendeten States ihnen ſolches verſtattet worden iſt.
Solche Sendungen kommen auch in untergeordneten Zweigen der Policei - oder Gerichtsverwaltung, in Angelegenheiten des Straßenweſens, der Poſt - und Eiſenbahnverbindung, der Grenzregulirung, des Ufer - ſchutzes und Waſſerbaues, bei internationalen Induſtrieausſtellungen u. ſ. f. vor. Weil ſie entweder eine völkerrechtliche Miſſion haben, inſofern die Be - ziehungen von Stat zu Stat zu ordnen ſind, oder doch eine internationale und zu - gleich amtliche Aufgabe in einem fremden State zu löſen berufen ſind, ſo verdienen ſie eine beſondere Berückſichtigung des Völkerrechts.
Die Conſuln ſind nicht wie die Geſanten beglaubigte Vertreter frem - der Staten im völkerrechtlichen Verkehr, aber ſie ſind anerkannte Vertreter und Schützer des internationalen Privatverkehrs der Fremden im Inland,152Drittes Buch.beziehungsweiſe der Einheimiſchen im Ausland, innerhalb ihres Conſular - bereichs.
Das Inſtitut der Conſuln, im Mittelalter aus den ſtädtiſchen Handels - körperſchaften hervorgegangen, hat eher eine geſellſchaftliche als politiſche, eher eine internationale als zwiſchenſtatliche Bedeutung. Die Conſuln dienen vorzüglich dem Privatverkehr der verſchiedenen Nationen auch in der Fremde, nicht dem Verkehr der Staten.
Die Conſuln erhalten, wenn ſie nicht zugleich Geſchäftsträger und daher Geſante ſind, kein Creditiv, aber ein Patent von der Regierung, welche ſie beauftragt. Dieſes Patent (lettre de provision) wird dem Miniſterium des Auswärtigen in dem Lande mitgetheilt, wo das Conſulat ſeinen Sitz hat.
Der Conſul bedarf keines Creditivs, weil er nicht ermächtigt iſt, für den Stat als deſſen Vertreter zu handeln. Aber er bedarf eines Patents, weil er genöthigt iſt, in dem fremden Lande den Auftrag ſeines States zu documentiren.
Damit der fremde Conſul im Inland anerkannt und zu ſeiner Wirkſamkeit legitimirt werde, iſt das ſogenannte Exequatur von Seite der einheimiſchen Statsgewalt nothwendig, d. h. die Anweiſung an die untern Orts - und Bezirksbehörden, mit dem Conſul ſo weit nöthig in amtlichen Verkehr zu treten.
Das Exequatur iſt ein ſchriftlicher Auftrag der Statsregierung an die unter - geordneten Behörden, den fremden Conſul in ſolcher Eigenſchaft anzuerkennen und demgemäß zu behandeln. Bevor das Exequatur ertheilt iſt, darf der Conſul keine amtlichen Functionen ausüben.
Es hängt von der einheimiſchen Regierung ab, ob ſie in einzelnen Städten die Errichtung von Conſulaten geſtatten wolle.
Auch dieſer Entſcheid beruht nicht auf bloßer Laune und Willkür. Wo ein großer und bedeutſamer Handelsverkehr ſeinen feſten Sitz hat, wie insbeſondere in den Seeſtädten, die zugleich Handelsſtädte ſind, da wird die Errichtung von Con - ſulaten im Intereſſe dieſes Verkehrs ſchicklicher Weiſe nicht verſagt werden können153Völkerrechtliche Perſonen.und würde die unmotivirte Ausſchließung der Conſuln eines States, während andern Staten die Errichtung von Conſulaten verſtattet würde, von jenem State mit Recht als eine Beleidigung angeſehn.
Ebenſo iſt die Landesregierung berechtigt, einer beſtimmten ihr mißfälligen oder ungeeignet erſcheinenden Perſon das Exequatur zu ver - weigern.
In dem Exequatur liegt auch die Anerkennung, daß der Conſul keine ingrata persona ſei. Die Weigerung, das Exequatur einer beſtimmten Perſon zu ertheilen, bedarf keiner Angabe der beſondern Gründe, aus welchen dieſe Perſon mißfalle.
Ob ein Conſul aus ſeiner Heimat geſendet oder unter den Bewoh - nern des Conſulatsſitzes, und ſogar unter den Unterthanen des States, wo das Conſulat gelegen iſt, ernannt werde, iſt für den Rang, wie für die Rechte und Pflichten der Conſuln nicht erheblich.
Indeſſen werden den Conſuln, welche ausſchließlich oder doch vor - zugsweiſe dem Conſularberufe leben und nicht ein Privatgewerbe als Haupt - beruf betreiben, den Berufs - und Amtsconſuln eher die Privilegien der diplomatiſchen Perſonen verſtattet, als den Conſuln, welche das Conſulat nur als Nebengeſchäft verwalten.
Die Ausdehnung der Conſulatsgeſchäfte wird manchenorts ſo groß, daß die Thätigkeit eines ganzen Manns erfordert wird und die Nation hat ein ſo großes Intereſſe, die Rechte ihrer Angehörigen im Auslande ſorgfältig und unparteiiſch ge - wahrt und umſichtig geſchützt zu wiſſen, daß dafür die bloße Nebenverwendung eines Kaufmanns und ſeiner Commis nicht mehr genügt, ſondern die beſſer geſchulte Thätigkeit von ordentlichen Beamten erfordert wird. So ausgedehnte Amtspflichten werden von beſoldeten Berufsconſuln erfüllt. Die Verbeſſerung des Con - ſularweſens beruht zu gutem Theil darauf, daß an den wichtigſten Verkehrsknoten Berufs - und Amtsconſulate errichtet werden, an welche ſich dann eine Anzahl von Nebenconſulaten der Kaufleute anſchließen. Die Engländer, die Nordameri - kaner und die Franzoſen haben die Nothwendigkeit beſoldeter Conſulate viel früher begriffen, als die Deutſchen (Preußen) und die Schweizer. Vgl. die Zuſammenſtellung bei Quehl d. preußiſche und deutſche Conſularweſen. Berlin 1863. S. 221.
Die Conſuln ſind inſofern auch politiſche und diplomatiſche Agenten, als ſie
Ihre amtlichen Acten und ihre Correſpondenz mit ihrer Regierung oder ihrer Geſantſchaft oder andern Conſuln ſtehen unter dem Schutz des Völkerrechts und dürfen von der einheimiſchen Statsgewalt nicht durchſucht werden.
Es beſteht kein Hinderniß für den Stat, der Conſuln beſtellt, ſich derſelben auch zu politiſcher Berichterſtattung zu bedienen. Da die Conſuln gewöhnlich nicht in der Reſidenz, ſondern in einer Provincialſtadt wohnen und nicht mit der dortigen Regierung, ſondern durchweg mit den Bürgern verkehren, ſo werden ihre Wahrnehmungen einen andern Geſichtskreis und einen anderen Charakter haben als die der Geſanten, aber ſie können trotzdem von hohem Werthe ſein für die Kenntniß der Zuſtände und die Beziehungen ſowohl der betreffenden Staten als der Nationen. Wichtiger aber als die politiſchen Berichte, die doch nur ausnahmsweiſe den Conſuln obliegen, ſind die commerciellen Berichte, welche vorzugsweiſe in den Geſchäfts - kreis der Conſuln gehören. Die Conſuln können für die Handels -, Verkehrs - und Culturintereſſen ihrer Landsleute durch einfache Mittheilung ſtatiſtiſchen Materials und ihrer eigenen Wahrnehmungen nach Umſtänden ſehr nützlich wirken. Auch dieſe Seite der internationalen Wirthſchafts - und Culturpflege iſt noch einer fruchtbaren Entwicklung fähig.
Die Conſuln dürfen ihren Statsgenoſſen Päſſe in die Fremde aus - ſtellen und ebenſo ihren dort erſcheinenden Statsfremden Päſſe in das Statsgebiet, deſſen Auftrag ſie erhalten haben.
Der Paß iſt nur eine Legitimationsurkunde, ausgeſtellt zu Gunſten eines Reiſenden, um denſelben dem Schutz der fernen Behörden zu empfehlen, und all - fällige Hinderniſſe der freien Bewegung wegzuräumen. Da die Conſuln vornehmlich die Intereſſen des Fremdenverkehrs zu wahren haben, ſo eignen ſie ſich zur Aus -155Völkerrechtliche Organe.ſtellung ſolcher Päſſe, die freilich in Folge des allgemeinen und leichter gewordenen Verkehrs glücklicher Weiſe großentheils entbehrlich geworden ſind. Indeſſen hängt es von dem beauftragenden State ab, dieſe Vollmacht der Conſuln zur Paßausſtel - lung oder ſelbſt zum Paßviſa zu verweigern oder zu beſchränken. Die engliſchen Conſuln z. B. ſind darin beſchränkt. Verordnung von 1846 § 29.
Die Conſuln haben keine Gerichtsbarkeit zu üben, wenn nicht aus - nahmsweiſe ihnen eine ſolche übertragen und in dem Lande ihrer Wirk - ſamkeit anerkannt worden iſt.
Vom Mittelalter her haben die europäiſchen (fränkiſchen) Conſuln in der Levante und in den Mohammedaniſchen Staten, vorzüglich an den Küſten des Mit - telländiſchen Meeres eine derartige Ausnahmsſtellung. Auch in den Oſtaſiatiſchen Sta - ten hat dieſelbe eine neue Anwendung erhalten. Vgl. unten § 269.
In Streitigkeiten ihrer Landsleute können ſie zu Schiedsrichtern er - wählt werden.
In dieſem Falle haben ſie dafür zu ſorgen, daß auf die Berufung gegen ihren Spruch an die Ortsgerichte verzichtet werde. Ohne dieſe Clauſel iſt Gefahr vorhanden, daß der Spruch des Conſuls, der vielleicht dem Landesrecht der Parteien entſpricht, von den Ortsgerichten, die ein anderes Recht befolgen, verworfen und da - durch auch die Stellung des Conſuls und das von ihm beachtete Recht ſeines States compromittirt werden.
Sie ſind berechtigt und verpflichtet, die Rechte abweſender und nicht gehörig vertretener Statsgenoſſen in dem fremden Gebiete zu ſchützen, in - dem ſie zu dieſem Behuf die erforderlichen Maßregeln ergreifen und ein - leiten.
Sie haben weder imperium noch jurisdictio, aber eine Art von Patronat und Procuratur in Nothfällen im Intereſſe ihrer Landsleute. Es iſt durchaus grund - los und unpaſſend, dieſe internationale Rechtshülfe auf die Kaufleute und die Schiffs - mannſchaft zu beſchränken. Die andern Reiſenden haben ganz denſelben Anſpruch auf Schutz im Auslande, wie die Handelsleute.
Sie können daher Verlaſſenſchaften ihrer Landsleute unter Siegel156Drittes Buch.ſtellen und Gelder desſelben, ſowie Waaren, Schuldtitel und andere Ver - mögensſtücke in amtliche Verwahrung nehmen.
Unter „ Landsleuten “verſtehen wir in dieſem Zuſammenhang die Bürger und Unterthanen des States, dem die Conſuln dienen, im weiteren Sinne werden aber die Perſonen mitbegriffen, welchen der Stat im Ausland als ſeinen Schutz - befohlenen und Schutzverwanten dieſelbe Hülfe gewährt.
Wo es das Recht und die Intereſſen ihrer Landsleute erfordern und dieſe verhindert ſind, für ſich ſelber zu ſorgen, können die Conſuln für dieſelben bei den Orts - und Landesbehörden die zur Sicherſtellung derſel - ben nöthigen Anträge ſtellen, Beſchwerden erheben, Proteſte einreichen.
Das Recht der Conſuln zur Vertretung für ihre ſchutzbedürftigen Landsleute iſt freilich nur ein Nothrecht und beſchränkt ſich daher auch auf die Nothhülfe. Die Conſuln ſind demnach nicht berechtigt, für dieſelben Speculationsgeſchäfte zu machen, ſondern nur berechtigt, diejenigen Vorſichtsmaßregeln zu ergreifen, welche zur Er - haltung ihres Vermögens und insbeſondere zur Abwendung von drohendem Schaden dienen. Dagegen bedürfen ſie zu einer bloß ſchützenden Vertretung ſelbſt im Proceß vor Gericht keiner beſondern Vollmacht. (Vgl. Kent Comment. I. S. 42.)
Sie ſind als ermächtigt zu betrachten, in Nothfällen diejenige Hülfe zu gewähren, welche erforderlich iſt, um ihren Landsleuten die Rückkehr in ihre Heimat möglich zu machen oder hülfsbedürftigen Landsleuten in Noth - fällen die unentbehrliche Unterſtützung auf öffentliche Koſten zu gewähren.
Die Conſuln vertreten die Statshülfe, die ſonſt innerhalb des Statsgebiets in Nothfällen gewährt wird, in der Fremde. Durch ſie erſtreckt der Stat ſeine ret - tenden Hände über den Erdboden hin. Aber keinenfalls reicht dieſe amtliche Sorge über die Bedingungen und den Umfang der regelmäßig geübten Statshülfe hinaus; denn es iſt kein Grund, die Bürger außerhalb ihrer Heimat beſſer zu ſchützen, als in derſelben. Es darf daher die Ermächtigung zu ſolcher Hülfe nur unter ſehr engen Bedingungen und in engem Umfang verſtanden und keineswegs auf eine all - gemeine Unterſtützung aller Perſonen ausgedehnt werden, welche in dem fremden Lande ſich nur ſchwer ernähren können und es vorziehen, auf öffentliche Koſten wie - der heimzukehren.
Die Conſuln der Seeſtädte und der an Flüſſen oder Binnenſeen157Völkerrechtliche Organe.gelegenen Städte, welche mit dem Seeverkehr in Verbindung ſind, üben innerhalb gewiſſer Schranken eine Schiffspolicei aus bezüglich der Handels - und Verkehrsſchiffe ihrer Landsleute.
Sie prüfen und viſiren die Schiffspapiere und ertheilen die erforder - lichen Beſcheinigungen zum Ein - und Auslauf.
Dieſe Schiffspolicei findet ihre Schranken a) in der Policeihoheit des States, in deſſen Gebiet ſich die Schiffe finden, b) in der Rückſicht auf die nationalen In - tereſſen, welche von dem Conſul im Ausland zu wahren ſind, c) darin, daß dieſelbe ſich nur „ innerhalb des Schiffsraums “geltend machen kann.
Bei Streitigkeiten zwiſchen dem Schiffscapitän und den Schiffsleuten (Matroſen oder Paſſagieren) üben ſie das Vermittleramt aus und ſind berechtigt, erhebliche Thatſachen feſtzuſtellen und zu beurkunden, und uner - läßliche Vorſichtsmaßregeln zu treffen zum Behuf des Rechtsſchutzes.
Dieſe vermittelnde Stellung wird von dem Conſul auf Anſuchen einer der beiden Parteien eingenommen, die ſchiedsrichterliche (§ 253) nur im Einverſtändniß beider Parteien. Das deutſche Handelsgeſetzbuch ertheilt den Conſuln ſogar eine proviſoriſche Gerichtsbarkeit über die Schiffsmannſchaft (Art. 537).
Die Gebiets - und Gerichtshoheit über die fremden Schiffe in ein - heimiſchen Häfen kommt in der Regel dem einheimiſchen State zu. Aber ſoweit die Streitigkeiten auf das Schiff und die darauf fahrenden Per - ſonen beſchränkt ſind, die Ordnung des Landes oder Hafens nicht gefährdet erſcheint und die einheimiſche Behörde nicht um ihr Einſchreiten angerufen wird, kann der Conſul auch eine Disciplinargewalt üben und das Nöthige im Intereſſe der guten Ordnung und des Friedens anordnen.
Es kann ein ſolches Einſchreiten des Conſuls wichtig werden z. B. in Fällen von Inſubordination der Matroſen oder Unfügſamkeit der Paſſagiere auf den Schiffen oder gegenüber von Willkürlichkeit, Grauſamkeit oder Sorgloſigkeit eines Schiffs - capitäns. Der Conſul erſcheint dabei immerhin als eine ſtatlich anerkannte und er - mächtigte Autorität, welche in Ermanglung der Landesautorität die ſtatliche Ordnung und Sorge darſtellt und handhabt. Die Grenze ſolcher Disciplinargewalt iſt nicht überall dieſelbe, ſie verſchiebt ſich nach den beſondern Landesſitten und Umſtänden. In einem civiliſirten Lande wird ſie enger zu bemeſſen ſein, als an einer barbariſchen Küſte oder unter Wilden, wo es überhaupt an einer wirkſamen Statsgewalt fehlt. Vgl. unten IV. 323.
Wenn Matroſen deſertiren, ſo kann der Conſul die Landesbehörden angehen, daß dieſelben wieder eingefangen und auf das Schiff zurück - gebracht werden.
Die Gefahren für die Schiffahrt und die daran geknüpften Intereſſen ſind in dieſem Falle ſo groß, daß ſie einen perſönlichen Zwang gegen deſertirende Matroſen rechtfertigen. Der Conſul iſt aber wieder berufen, in dieſem Nothfalle dem Schiffs - führer hülfreich beizuſtehn.
Die Conſuln ſind auf Begehr der Betheiligten verpflichtet, den See - ſchaden ſowohl der großen (gemeinſchaftlichen) als der beſonderen Haverei, ſoweit derſelbe aus dem thatſächlichen Zuſtande erſichtlich iſt, zu conſtatiren, nöthigenfalls mit Zuzug von Sachverſtändigen und darüber Urkunde aus - zuſtellen.
Als große Haverei verſteht man „ alle Schäden, welche dem Schiff oder der Ladung oder beiden zum Zweck der Errettung beider aus einer gemeinſamen Gefahr von dem Schiffer oder auf deſſen Geheiß vorſätzlich zugefügt werden, ſowie auch die durch ſolche Maßregeln ferner verurſachten Schäden und die Koſten, welche zu dieſem Zweck aufgewendet werden “. Begriffsbeſtimmung des deutſchen Handels - geſetzbuchs Art. 702. Die große Haverei wird von Schiff, Fracht und Ladung ge - meinſchaftlich getragen. Anderer durch einen Unfall verurſachter Seeſchaden wird als beſondere Haverei betrachtet (Deutſches Handelsg. Art. 703) und von den Eigenthümern des Schiffs und der Ladung von jedem einzeln für ſich getragen.
Sie ertheilen nach Bedürfniß Ermächtigung zu den nöthigen Schiffs - reparaturen und wenn das Schiff ſeeuntüchtig iſt, ſelbſt zum Verkaufe desſelben.
Natürlich wieder unter der Vorausſetzung, daß nicht der Schiffseigenthümer ſelber zur Stelle iſt oder ſein Bevollmächtigter für ihn handeln kann.
Im Falle eines Schiffbruchs in dem Bereich oder in der Nähe ihres Conſulats ſind ſie ermächtigt, Alles zu verfügen, was nöthig iſt, um die ſchiffbrüchigen Perſonen zu retten und von Schiff und Ladung möglichſt viel Vermögen zu bewahren. Zu dieſem Behuf können ſie auch den Ver - kauf der geborgenen Güter vornehmen und haben im Nothfall die Liqui - dation zu beſorgen oder zu überwachen. Sie haben darüber durch Ver -159Völkerrechtliche Organe.mittlung ihrer Regierung den Betheiligten Rechnung abzulegen, und ſind denſelben für getreue Geſchäftsführung verantwortlich.
Bei Schiffbrüchen wird das Bedürfniß einer Nothhülfe in höchſtem Maße fühlbar. Um deßwillen wird auch die Thätigkeit der Conſuln hier beſonders ange - ſtrengt, und ihre Vertretungsvollmacht in weiteſtem Umfange ausgelegt.
Je nach ihrem Landesrecht ſind die Conſuln berechtigt, den Civil - ſtand ihrer Landsleute zu beurkunden und die Standesregiſter zu führen. Sie nehmen demgemäß Act von Geburten und Todesfällen ihrer Lands - leute und wirken nach Umſtänden bei Eheſchließungen mit, an der Stelle des bürgerlichen Beamten.
Ob und in welchen Formen die Conſuln auch die Functionen des Civilſtands - beamten im Auslande zu beſorgen haben, hängt freilich zunächſt von ihren beſon - deren Inſtructionen und der Beſchaffenheit des Landesrechts ab, welches für die Statsgenoſſen dieſe Dinge regelt. Wo die Civilſtandsbücher nach der Weiſe des Mittelalters noch vorzugsweiſe oder ausſchließlich durch die Geiſtlichen beſorgt wer - den, da wird jene Thätigkeit weniger in Anſpruch genommen werden, als wo das Syſtem der bürgerlichen Standesbücher durchgeführt iſt.
Nur ausnahmsweiſe, in Folge beſonderer Ermächtigung ihrer Stats - gewalt, ertheilen ſie auch Volljährigkeitserklärungen.
Das iſt ein Act der Statsgewalt im Sinn der jurisdictio; und dieſe hat der Conſul in der Regel nicht zu üben. Indeſſen wird angenommen, wenn der ernennende Stat die Ermächtigung dazu gebe, habe der Stat des Conſulatsſitzes kein Intereſſe, einer ſolchen — weſentlich privatrechtlichen — Verfügung entgegen zu treten. Daher bedarf es keiner beſondern Erlaubniß desſelben.
Den Conſuln wird das Recht der Exterritorialität nicht zugeſtanden. Auch ſind ſie in der Regel von der Ortsgerichtsbarkeit nicht befreit. Sie haben keinen beſondern Anſpruch auf Steuerbefreiung.
Weil ſie nicht den Stat repräſentiren, ſondern, wenn auch im Namen und Auftrag eines fremden Stats hauptſächlich Privatintereſſen vertreten, ſo kom - men ihnen die Privilegien der Geſanten nicht zu.
Indeſſen erfordert die internationale und die völkerrechtliche Bedeutung160Drittes Buch.des Conſulats eine ſchonende Rückſicht auf die Würde des Amts und die Sicherung ſeiner Wirkſamkeit. Insbeſondere iſt eine Verhaftung des Conſuls nur im Nothfall zuläſſig und ſind ſeine Amtspapiere vor unberufener Durchſicht zu bewahren.
Oefter iſt für die Conſuln die Befreiung von jeder Haft gefordert worden. Indeſſen ohne zureichenden Grund. Wenn der Conſul eines Vergehens angeklagt wird, ſo wird auf den Stat, der ihm das Amt übertragen hat, inſoweit Rückſicht zu nehmen ſein, als die Intereſſen des Amts und die Ehre des Stats es erfordern; weiter nicht. Im Uebrigen geht der Proceß in gewohntem Gange fort. Es wird unter Umſtänden rathſam ſein, den Conſul nur in ſeiner Wohnung bewachen zu laſſen, ſtatt in ein öffentliches Gefängniß abzuführen, bis auch der Auftrag gebende Stat unterrichtet ſein und Vorſorge für eine andere Vertretung getroffen haben wird.
Die Conſuln chriſtlicher Staten in nicht chriſtlichen Ländern erhalten gewöhnlich weiter gehende Vollmachten auch der Gerichtsbarkeit und haben dann Theil an einer ausgedehnteren Immunität, ähnlich den Geſchäfts - trägern.
Der Grund liegt in der größeren Verſchiedenheit der ganzen Stats - und Rechtsordnung. Sie läßt es als ein Bedürfniß erſcheinen, daß über die Unterthanen der erſtern Staten nicht eine völlig fremdartige Gerichtsbarkeit geübt, ſondern ihre Rechtsverhältniſſe mehr nach ihrem heimiſchen Rechte beurtheilt werden. Zu den Conſulaten in der Levante und in den Mohammedaniſchen Staten des Mittel - meers kommen in neuerer Zeit auch die Conſulate in China und Japan und auf den Inſeln des chineſiſchen und ſtillen Weltmeers hinzu. Dieſe Conſuln re - präſentiren dann als Träger der Gerichtsbarkeit auch den Stat in höherm Grade als die gewöhnlichen Conſuln, wenn gleich noch in minderem Grade als die eigent - lichen Geſanten. Daher rechtfertigt ſich eine mäßige Ausdehnung der Privilegien der Geſanten auf ſie.
Es iſt Sache des Stats, welcher den Conſul beſtellt, ſei es demſel - ben eine Beſoldung auszuſetzen, ſei es die Gebühren zu beſtimmen, welche derſelbe für ſeine Verrichtungen erheben darf.
Die einen Conſuln ſind beſoldet, die andern nicht. Daß der Ernennungs - ſtat das zu beſtimmen hat, iſt ſelbſtverſtändlich. Aber auch das Recht, die Gebüh - ren für die Amtsverrichtungen feſtzuſetzen, ſteht dieſem State zu und es wird darin nicht ein Eingriff in die ausſchließliche Finanzhoheit der Ortsregierung ge - ſehen, weil dieſe Verrichtungen ſich immer nur auf fremde Perſonen beziehen, welche die Thätigkeit des Conſuls in Anſpruch nehmen.
Ebenſo ordnet der Ernennungsſtat die Rangclaſſen ſeiner Conſuln. Die Errichtung eines Generalconſulats, welchem andere Conſulate unter - geordnet werden, bedarf der Zulaſſung des States, in dem dasſelbe ge - gründet wird.
Die Unterſcheidungen der Generalconſuln, ferner der Conſuln erſter und zweiter Claſſe und der Viceconſuln haben großen Theils ihre Bedeutung in der verſchiedenen Rangſtufe, weniger in der Verſchiedenheit der Functionen und Aufgaben. Indeſſen kann ein Verhältniß der Ueber - und Unterordnung ſtattfinden. Insbeſondere üben die Generalconſuln gewöhnlich eine Aufſicht über die andern Con - ſulate eines beſtimmten Bereiches aus; und nehmen die bloßen Conſularagenten überhaupt keine ſelbſtändige Stellung ein, ſondern ſind Hülfsarbeiter eines Conſuls.
Die Conſuln ſind berechtigt, ihre Wohnung mit dem Wappen und der Flagge ihres States zu bezeichnen und damit ihren völkerrechtlichen Charakter auch dem Publicum gegenüber darzuſtellen.
Die Statsgewalt, welche den Conſul beſtellt, kann jederzeit ihren Auftrag zurückziehen. Solches iſt aber der Regierung des Aufnahmeſtates anzuzeigen.
Damit erlöſcht auch die Wirkſamkeit des Exequatur von Rechtswegen.
Ebenſo kann die Statsgewalt des Conſulatſitzes ihr Exequatur wider - rufen, wenn dafür ernſte Gründe vorhanden ſind. Sobald dem Conſul das zur Kenntniß gekommen iſt, hat er ſeine amtlichen Verrichtungen ein - zuſtellen.
Gehört der Conſul nicht dem Lande des Conſulatſitzes an, ſo iſt der Aufnahmeſtat verpflichtet, auch für ſichern Wegzug des abberufenen oder entlaſſenen Conſuls zu ſorgen.
Vgl. zu 125.
Die Statshoheit (Souveränetät) heißt in ihrer Anwendung auf ein beſtimmtes, dem State zugehöriges Gebiet (Reich, Land) Gebietshoheit.
Die Gebietshoheit, als einzelne Anwendung der nach innen gerichteten Souveränetät, iſt zunächſt ein Begriff des Statsrechts; aber inwiefern das Völ - kerrecht dieſe Anwendung in den Verhältniſſen und Beziehungen der verſchiedenen Staten anerkennt und ſchützt, erhält dieſelbe eine völkerrechtliche Bedeutung.
In der Gebietshoheit liegt nicht das Eigenthum an dem Boden. Inwiefern aber der Boden des Privateigenthums nicht fähig iſt, wie bei öffentlichen Gewäſſern, Wüſten, Gletſchern und ähnlicher Wildniß, oder wenn der Boden zwar des Eigenthums fähig aber noch nicht in Beſitz genommen und zu Eigenthum erworben worden iſt oder wenn derſelbe von den Beſitzern und Eigenthümern wieder verlaſſen worden und ins Freie zurückgefallen iſt, inſoweit ſteht dem State, welcher die Gebietshoheit hat, auch das Recht zu, über ſolchen Boden wirthſchaftlich zu verfügen, be - ziehungsweiſe Eigenthum daran zu verleihen oder die Beſitznahme zu gewähren.
11*164Viertes Buch.1. Die Gebietshoheit gehört dem öffentlichen, wie das Eigenthum dem Pri - vatrecht an und beide Arten der Herrſchaft treffen nicht zuſammen. Die Perſon, welcher Gebietshoheit zukommt, iſt und kann nur ſein der Stat, weil nur der Stat die öffentlichen Hoheitsrechte und daher öffentliche Herrſchaft hat. Dagegen das Eigen - thum, welches nur Privatherrſchaft iſt, kommt umgekehrt nur den Privatper - ſonen zu, welche dasſelbe als Privatgut verwerthen können. Wenn der Stat zu - fällig auch Privateigenthum hat, ſo hat er es nicht als Stat, ſondern ebenſo wie jede andere Privatperſon und verfügt darüber in den Geſchäftsformen des Privat - rechts.
2. Nur inſofern macht ſich die öffentlich-rechtliche Statsherrſchaft auch in wirthſchaftlicher Richtung anſtatt des Eigenthums an ſolchem Boden geltend, an wel - chem entweder Privateigenthum nicht möglich oder nicht (noch nicht oder nicht mehr) vorhanden iſt. In der letztern Hinſicht freilich ſind zwei Meinungen mög - lich und beide in der Rechtsbildung vertreten. Nach der einen iſt der eigenthums - fähige aber nicht im Eigenthum befindliche Boden als herrenloſe Sache zu betrachten, welche durch freie Beſitznahme (occupatio) ins Eigenthum gelangt. Nach der andern macht ſich die Gebietshoheit an dem eigenthümerloſen Boden nach allen Seiten als urſprüglich ſtatliche Bodenherrſchaft geltend und kann daher nicht Jedermann denſelben willkürlich ſich aneignen, ſondern bedarf man dazu der Ermächtigung des Stats. War die erſte Meinung wenigſtens zum Theil in dem alten römiſchen Recht anerkannt, ſo beherrſcht die letztere Meinung, welche den germaniſchen Rechtsanſichten entſpricht, die moderne Welt. Am großartig - ſten wird dieſelbe in den Colonien Englands und der Vereinigten Staten von Nordamerika durchgeführt. Die Intereſſen einer geordneten und friedlichen Beſitznahme und Cultivirung des Bodens werden offenbar durch die letztere Rechts - bildung beſſer geſchützt und gefördert als durch die erſtere.
Der unwirthliche, des Eigenthums unfähige Boden kann auch nicht im Eigenthum des Stats ſein, obwohl man die Hoheit des Stats darüber, insbeſondere über die öffentlichen Gewäſſer oft Eigenthum nennt. Die Grenzen des wirthlichen Bodens werden aber durch die fortſchreitende Cultur auf Koſten des unwirthlichen Gebietes beſtändig erweitert, und umgekehrt durch ſchlechte Cultur und Vernachläſſi - gung wieder verengert. Insbeſondere übt eine geordnete Bewäſſerung und Entwäſ - ſerung einen mächtigen Einfluß aus auf die Culturfähigkeit des Bodens.
An ſtatenloſem Land wird die Gebietshoheit erworben durch die Beſitznahme einer beſtimmten Statsgewalt. Der bloße Wille, Beſitz zu ergreifen, genügt nicht dazu, auch nicht die ſymboliſche oder ausdrückliche Erklärung dieſes Willens, noch ſelbſt eine bloß vorübergehende Beſetzung.
Zur Zeit der großen europäiſchen Entdeckungen überſeeiſcher Länder meinte man, ſchon die bloße Entdeckung unbekannter Länder ſei ein genügender Rechts - titel für die behauptete Gebietshoheit. Während Jahrhunderten begründete die eng -165Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.liſche Krone ihre Herrſchaft über den nordamerikaniſchen Continent damit, daß in ihrem Auftrag ein kühner Seefahrer, der Venetianer Caboto zuerſt, im Jahre 1496, die amerikaniſche Küſte vom 56ſten bis zum 38ſten Grad nördlicher Breite entdeckt habe, wenn gleich er nur der Küſte entlang gefahren war und in keiner Weiſe das ungeheure Land beſetzt hatte. Nicht anders leiteten die Spanier und Portugieſen ihr Recht im Süden und in Centralamerika zunächſt von ihrer Ent - deckung her und die Vertheilung der neuen Welt unter die beiden Völker, welche der Papſt Alexander VI. im Jahr 1493 vornahm, war eine Schlichtung und Aus - gleichung ihrer ſtreitigen Anſprüche, und eine Beſtätigung ihrer auf die Entdeckung eher als auf die Beſitznahme gegründeten Anſprüche durch die vornehmſte Autorität der Chriſtenheit. Die Entdeckung iſt aber nur ein Act der Wiſſenſchaft, nicht der Politik und daher auch nicht geeignet, Statsgewalt zu begründen. Viel - mehr beſteht die öffentlich-rechtliche Beſitznahme in der thatſächlichen Aus - übung der ordnenden und ſchützenden Statsgewalt, verbunden mit dem Willen, das ſtatenloſe Land auf die Dauer ſtatlich zu beherrſchen. Die Symbole der Herrſchaft, wie Auſpflanzen einer Fahne u. dgl. können dieſe Abſicht klar machen, aber nicht den Mangel einer realen Statsherrſchaft erſetzen.
Dieſe Beſitznahme kann auch im Auftrag oder mit Vollmacht einer Statsgewalt durch Privatperſonen, insbeſondere durch Coloniſten vollzogen werden, aber nur, indem ſie in dem bisher ſtatenloſen Lande eine öffent - liche Gewalt aufrichten oder ſogar ohne vorherigen Auftrag, aber unter der Vorausſetzung nachheriger Genehmigung durch die Statsgewalt.
Die Erweiterung der europäiſchen Statsherrſchaft in den außereuropäiſchen Ländern iſt großentheils durch ſolche Vermittlung der Coloniſten bewirkt worden, welche ſich in unbewohnten und verlaſſenen Gegenden anſiedelten und ihre heimiſche Statsordnung dahin verpflanzten. Der vorherige Auftrag des durch ſolche Vermittler Beſitz ergreifenden Stats kann unbedenklich durch die nachherige Geneh - migung erſetzt werden. Es hindert nichts, in dieſer Beziehung die Analogie der privatrechtlichen Occupation anzuwenden. Auch kann im Princip nicht beſtritten werden, daß ſogar ohne Statsvollmacht und Statsgenehmigung eine ganz neue Statenbildung dadurch entſtehen kann, daß Auswanderer auf einer unbewohnten Inſel einen neuen Stat gründen, wie es z. B. die ausgewanderten Norweger auf Island während des Mittelalters gethan haben. Eine Reihe neuer Staten in Nordamerika ſind in dieſer Weiſe durch Privaten gegründet worden und erſt ſpäter iſt die Anerkennung, früher des europäiſchen Mutterſtats, ſpäter der Amerikaniſchen Union hinzugekommen. Wenn aber neue Staten ſo entſtehen können, ſo können noch eher vorhandene Staten in dieſer Weiſe erweitert werden.
Iſt die ſtatenloſe Gegend im Beſitz und Genuß von barbariſchen166Viertes Buch.Stämmen, ſo dürfen dieſelben nicht willkürlich und gewaltſam von den civiliſirten Coloniſten verdrängt werden, ſondern ſind zum Behuf geregelter Anſiedlung von denſelben friedlich abzufinden. Zum Schutze der Anſied - lung und zur Ausbreitung der Cultur darf der coloniſirende Stat ſeine Statshoheit auch über das von Wilden beſeſſene Gebiet erſtrecken.
Es iſt die Beſtimmung der Erdoberfläche, der menſchlichen Cultur zu dienen und die Beſtimmung der fortſchreitenden Menſchheit, die Civiliſation über die Erde zu verbreiten. Dieſe Beſtimmung iſt aber nicht anders zu erfüllen, als indem die civiliſirten Nationen die Erziehung und Leitung der wilden Stämme übernehmen. Dazu iſt die Ausbreitung der civiliſirten Statsautorität noth - wendig. Die wilden, ohne Stat lebenden Stämme kennen gewöhnlich das Grund - eigenthum ſo wenig als den Stat, aber ſie benutzen das Land zu ihren Viehweiden und Jagdgründen. Ein Recht der höher geſitteten Nationen, ſie zu vertreiben, läßt ſich durch Nichts begründen, ſo wenig als ein Recht, ſie zu tödten und auszurotten. Das natürliche Menſchenrecht erkennt voraus die Exiſtenz aller menſchlichen Weſen an und ſchützt das Leben und die erlaubten Genüſſe des Wilden ſo gut, wie das Eigenthum der Civiliſirten. Im Mittelalter noch waren die Chriſten ſehr geneigt, alle Nichtchriſten als rechtloſe Weſen zu betrachten und die Päpſte haben freigebig den Königen das Recht zugeſtanden, alle nichtchriſtlichen Nationen, ſelbſt wenn dieſe in Staten lebten, ihrer Herrſchaft zu unterwerfen. Selbſt die heutige Praxis verfährt gelegentlich, freilich nicht mehr aus religiöſer Ueberhebung, noch ſehr rückſichtslos gegen unciviliſirte Raſſen. Das richtige Verhalten iſt aber ſchon ziemlich früh erkannt und auch angewendet worden, beſonders von den Puritanern in Neu-England und William Penn in Pennſylvanien, welche den In - dianern den Boden abkauften, den ſie urbar machen und zu Grundeigenthum ge - winnen wollten. Wenn erſt die rechtliche Möglichkeit der Anſiedlung gewonnen iſt und in Folge deſſen ſtatliche Menſchen da leben können, dann iſt auch die Nothwendigkeit klar, daß dieſe Anſiedlung ſowohl des Statsſchutzes als der Sicherung des Grundeigenthums bedarf und die Wege zur Erziehung auch der wilden Nachbarn ſind eröffnet. Wenn Heffter (§ 70) zwar anerkennt, daß „ der Stat überhaupt ſeine Herrſchaft über die Erde ausdehne “, aber nicht zugibt, daß ein beſtimmter Stat ſich ſtatenloſen Stämmen aufdringen dürfe, ſo heißt das ein theo - retiſches Princip anerkennen, aber ſeine practiſche Anwendung verwerfen, denn „ der Stat überhaupt “lebt nur in der Geſtalt beſtimmter Staten. Wenn die deutſche Nation ihren Culturberuf erfüllen und nicht immer wie bisher ihre auswandernden Nachkommen zur Auflöſung in fremde Nationen verurtheilen will, ſo wird auch ſie dem Vorbild der civiliſirten Weſtvölker folgen und nicht bloß „ in abstracto “denken, ſondern ihren Stat „ in concreto “coloniſirend und civiliſirend ausbreiten. Vgl. Vattel I. 1. 5. 81. Phillimore I. 244 f.
Kein Stat iſt berechtigt, ein größeres unbewohntes oder unſtatliches167Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.Gebiet ſich ſtatlich anzueignen, als er ſtatlich zu ordnen und zu civiliſiren die Macht hat, und dieſe Macht thatſächlich ausübt.
Der Rechtsgrund der Occupation liegt nur in der ſtatlichen Natur und Be - ſtimmung des Menſchengeſchlechts. Indem ein Stat, wie das von England in Nordamerika und in Auſtralien, von Spanien und Portugal in Südamerika und von den Niederlanden auf den Inſeln des ſtillen Oceans geſchehen iſt ſeine angebliche Statsherrſchaft über unermeßliche, unbewohnte, oder nur von Wilden bewohnte Länder erſtreckt, die er in Wahrheit weder zu cultiviren noch ſtatlich zu beherrſchen die Macht hat, ſo wird jene ſtatliche und Culturbeſtim - mung nicht erfüllt, ſondern im Gegentheil ihrem Fortſchritt ein Hemmniß ent - gegengeſtellt, indem andere Nationen verhindert werden, ſich da anzuſiedeln und andere Staten verhindert, ſich daſelbſt civiliſirend einzurichten. Nur die wahr - hafte und dauernde Beſetzung iſt als wirkliche Occupation zu betrach - ten, die bloße ſcheinbare Occupation kann höchſtens den Schein des Rechts, nicht wirkliches Recht gewähren. Ein Stat verletzt daher das Völkerrecht nicht, wenn er ſich einer Gegend bemächtigt, welche nur angeblich und ſcheinbar von einem andern Stat früher in Beſitz genommen worden iſt. Wenn auch darüber leicht Streit entſtehen kann zwiſchen den beiden Staten, ſo iſt das nur eine politiſche Rückſicht, die zu erwägen, nicht eine rechtliche Schranke, die zu beachten iſt.
Geſchieht die Beſitznahme von der Seeküſte aus, ſo wird angenom - men, daß das hinter der Küſte liegende Binnenland inſoweit mitbeſetzt ſei, als es durch die Natur, insbeſondere durch die ins Meer einmündenden Flüſſe mit derſelben zu einem natürlichen Ganzen verbunden iſt.
Dieſer Grundſatz wurde von den Vereinigten Staten in einer Verhand - lung mit Spanien über das Gebiet von Louiſiana am beſten ausgeſprochen. (Vgl. Phillimore I. 237.) Die europäiſchen Colonien gingen gewöhnlich von einem Seehafen der Küſte aus, welcher dann als das eigentliche Centrum der ganzen Colonie und der Herrſchaft über das Land angeſehen wurde. Eine engere Beſchrän - kung iſt ebenſo unpractiſch, wie eine weitere Ausdehnung, jene weil die Civiliſation und Statenbildung genöthigt iſt, von da aus ihre Macht zu erſtrecken und das Hin - terland und Flußgebiet genöthigt iſt, auf dieſem Wege in den Verkehr mit andern Nationen einzutreten, und dieſe, weil je größer die Entfernungen ſind und je weiter die Länder ſich im Innern erſtrecken, auch der Zuſammenhang mit der Küſte ſchwä - cher wird und ganz neue ſelbſtändige Verhältniſſe möglich ſind. Der obige Grund - ſatz hat daher auch keine abſolute, ſondern nur eine relative Geltung. Wo große Ströme, wie der Miſſiſippi, einen ganzen Continent durchfließen, kann aus dem Beſitz der Mündung natürlich nicht die Herrſchaft über das ganze Flußgebiet abgeleitet werden. In der alten Welt ſehen wir oft, daß umgekehrt von den Quel -168Viertes Buch.len der Flüſſe her allmählich das Statsgebiet ſich über deren Gebiet und bis an die Mündung ausgedehnt hat. Von den Quellen des Indus und Ganges her iſt die alte indiſch-ariſche Eroberung allmählich vorgedrungen bis ans Meer. Am Oberrhein ſetzten ſich die alten Germanen früher feſt, als an den Ausläufen des Rheins ins Meer und der öſterreichiſch-ungariſche Donauſtat iſt nicht im Beſitz der Sulinamündungen. Die Behauptung engliſcher Publiciſten und Statsmänner, daß England im Beſitz der amerikaniſchen Seeküſte auch eine Herrſchaft habe über den ganzen nördlichen Continent Amerikas, von Meer zu Meer, war offenbar phantaſtiſch übertrieben und wurde von den andern coloniſirenden Mächten auch nicht anerkannt.
Wenn zwei Staten von zwei benachbarten Punkten aus ſich coloni - ſirend feſtſetzen und ſtatlichen Beſitz ergreifen und nicht durch die Rückſicht auf den natürlichen innern Zuſammenhang zweier verſchiedener Flußgebiete und eine Bergſcheide ihre Gebiete ſich naturgemäß unterſcheiden, ſo wird eine mittlere Linie zwiſchen den beiden Gebieten als Grenze angenommen.
Vgl. Phillimore a. a. O. Selbſtverſtändlich kann vertragsmäßig auch eine andere Grenzlinie verabredet werden.
Das Statsgebiet iſt in der Regel unveräußerlich und untheilbar.
Die Veräußerlichkeit und die Theilbarkeit des Statsgebiets wider - ſtreitet der organiſchen Natur der Dauerhaftigkeit und der Einheit des Stats. Weil das Statsbewußtſein im Mittelalter wenig ausgebildet war und das Statsgebiet wie ein im Eigenthum des Landesherrn befindliches Grundſtück betrachtet wurde, ſo meinte man damals Territorien, wie Landgüter verkaufen und unter mehrere Erben vertheilen zu dürfen. Freilich ſchon damals ſuchten die Stände oft ſolchen Uebeln durch Verträge zu begegnen, welche ſie mit den Fürſten abſchloſſen. Aber nur all - mählich iſt die richtige Regel erkannt und in das allgemeine Statsrecht der neuern Zeit aufgenommen worden.
Ausnahmsweiſe kann ein Stat einen Theil ſeines Gebiets aus poli - tiſchen Gründen und in öffentlich-rechtlicher Form an einen andern Stat abtreten.
Es iſt das nicht eine ſachliche, dem Privatverkehr entlehnte Veräußerung, ſondern eine ſtatliche, in Inhalt und Form öffentlich-rechtliche Abtretung. Am169Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.öfterſten kommt dieſelbe in Friedensſchlüſſen, nachdem ein Krieg die politi - ſche Nothwendigkeit derſelben klar gemacht hat. Sie kann aber auch ohne Krieg aus Einſicht in die politiſche Zweckmäßigkeit und freiwillig vollzogen werden. Eines der merkwürdigſten und rühmlichſten Beiſpiele dieſer Art iſt im Jahr 1863 die Abtre - tung der Joniſchen Inſeln an das Königreich Griechenland von Seite der engliſchen Krone. Andere neuere Beiſpiele einer friedlichen Abtretung ſind die Abtretungen Savoyens an Frankreich 1860 von Seite Italiens, die des öſterreichiſchen Antheils an dem Fürſtenthum Lauenburg an Preußen 1865 und die der ruſſiſchen Beſitzungen in Nordamerika an die Vereinigten Staten 1867.
Die Rechtsgültigkeit einer derartigen Abtretung ſetzt voraus:
Durch den Vertrag allein wird die Abtretung nicht vollzogen, ſondern nur vorbereitet. Ohne Statsregierung gibt es keine Statshoheit. Die letz - tere muß alſo durch die erſtere bewährt werden und das geſchieht durch die dauernde Beſitzergreifung. Die Anerkennung der politiſch berechtigten Völkerſchaft iſt deß - halb unerläßlich, weil dieſelbe nicht ein willen - und rechtloſer Gegenſtand der Ver - äußerung iſt, ſondern ein lebendiger Beſtandtheil des Stats, und der Widerſtand der Bevölkerung eine friedliche Beſitzergreifung unmöglich macht. Es genügt aber die Anerkennung der Nothwendigkeit, und es iſt nicht nöthig, wenn auch wün - ſchenswerth, die freie und freudige Zuſtimmung der Bevölkerung. Auch die Noth - wendigkeit, der man ſich widerwillig und ungern, aber aus Einſicht in das Unver - meidliche unterordnet, begründet in öffentlichen Verhältniſſen neues Recht. Dieſe Anerkennung liegt daher ſchon in dem Gehorſam, welchen man der neuen Landes - regierung erweist und in dem Unterlaſſen des Widerſtandes gegen dieſelbe. Die freie Zuſtimmung dagegen iſt zugleich eine active Billigung der Abtretung. Beſſer iſt es unzweifelhaft, wenn die letztere gewonnen werden kann und der erwer - bende Stat nicht genöthigt iſt, ſich vorerſt mit der erſtern zu begnügen. Vgl. unten § 288. 289.
Wird das ganze Statsgebiet abgetreten, ſo iſt das zugleich Unter -170Viertes Buch.gang des bisherigen Stats und Einverleibung desſelben in den erwerben - den Stat.
Es iſt das daher ſtrenge genommen nicht mehr Abtretung, ſondern nur Ein - verleibung. Den Schein der Abtretung hat dieſelbe, inſofern ſie in Form der Abtretung der Hoheitsrechte von Seite des bisherigen Fürſten an ein anderes Stats - haupt geſchieht, wie z. B. in der rühmlichen Abtretung der Hohenzolleriſchen Fürſten - thümer an die Krone Preußen. Aber dem Weſen nach iſt das Einverleibung, weil im entſcheidenden Augenblick des Uebergangs nur Ein Stat übrig bleibt.
Ohne Uebertragung des abtretenden Stats kann ein Statsgebiet, oder ein Theil desſelben von einem andern State in Beſitz genommen und rechtmäßig einverleibt werden:
In allen dieſen Fällen iſt die Anerkennung der neuen Statsgewalt durch die politiſch berechtigte Bevölkerung des erworbenen Gebiets eine Bedingung des rechtmäßigen Erwerbs.
1. Dieſe Anerkennung (vgl. zu § 189) iſt nicht nöthig zu thatſächlicher Un - terwerfung und Beherrſchung, aber ſie iſt nothwendig, um dem neuen Erwerb den Stempel des Rechts aufzudrücken. In der Anerkennung wird die dauernde Noth - wendigkeit d. h. das Recht der veränderten Zuſtände offenbar.
2. Dem ausgeſprochenen Verzicht ſteht das thatſächliche Verlaſſen des beſeſſe - nen Gebietstheiles gleich.
Als die Römer ihre Beamten und ihre militäriſchen Stationen aus den Germaniſchen Ländern hinter die Grenzwälle und den Rhein zurückzogen, war das ein thatſächlicher Verzicht auf ihre Herrſchaft außerhalb dieſer Grenzen. Wenn ein moderner coloniſirender Stat eine bisher beſetzte Inſel oder Küſtengegend, ohne für den Statsſchutz zu ſorgen, verläßt, ſo kann ein anderer Stat rechtmäßiger Weiſe ſich dieſes Gebiets bemächtigen.
3. Wohlbegründet iſt die Beſeitigung der bisherigen Statsherrſchaft, wenn dieſelbe in einen ernſten und dauernden Widerſpruch gerathen iſt mit dem Recht oder mit der Wohlfahrt der Bevölkerung, ſo daß die geſicherte Exiſtenz oder die Entwick - lung derſelben eine Aenderung fordert, oder wenn dieſelbe nothwendig erſcheint, um171Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.den Fortſchritt einer größeren (nationalen) Lebensgemeinſchaft möglich zu machen, zu welcher die Bevölkerung ſich verwandt und zugehörig fühlt. Beiſpiele ſind in neuerer Zeit die Beſeitigung des ſouveränen Fürſtenthums Neuchatel und der Eintritt dieſes Cantons in den ſchweizeriſchen Bundesſtat, und noch deutlicher die Einverleibung der italieniſchen Fürſtenthümer Toscana, Mo - dena und Parma in das Königreich Italien.
4. Wenn ſich ein neuer Stat bildet, vielleicht aus einer größern Zahl von verbundenen alten Staten, oder aus Stücken derſelben, ſo entſteht immer zugleich eine neue Gebietshoheit jenes Stats und eine theilweiſe oder gänzliche Verdrängung der bisherigen Gebietshoheit der alten Staten. Die Grundſätze über neue Statenbildung und Anerkennung neuer Staten (§ 28 ff. ) finden ſomit hier wieder Anwendung. Ganz wie die urſprüngliche Statenbildung, ſo iſt auch die Statsentwicklung, ſobald ſie als nothwendig ſich erweist, geeignet, eine bisherige Gebietshoheit zu Gunſten einer neuen Statshoheit zu beſeitigen. Dieſe Umgeſtaltung kann möglicher Weiſe von der Bevölkerung der einverleibten Theile nicht gewünſcht werden und dennoch nothwendig und deßhalb gerechtfertigt ſein. Die Säculariſation der geiſtlichen Fürſtenthümer in Deutſchland und die Einverleibung ihrer Gebiete in die benachbarten Staten zu Anfang dieſes Jahrhunderts, die gleichzeitige Mediatiſirung zahlreicher bisher reichsunmittelbarer Herrſchaften, und wenig - ſtens theilweiſe auch die im Jahr 1866 vollzogene Einverleibung von Hannover, Kurheſſen, Naſſau, Schleswig-Holſtein und Frankfurt in Preußen ſind aus dieſer nothwendigen Entwicklung des modernen deutſchen Statslebens zu erklären. Indem ſich die Nation als Eins fühlt, und zum Volke wird, ſchafft ſie ſich mit Recht die Bedingungen ihres ſtatlichen Geſammt - lebens, und es ſteht den Theilen das Recht nicht zu, das Leben des Ganzen zu verhindern.
Obwohl die Eroberung eines ſtatlichen Gebietstheils im Krieg zunächſt in der Form kriegeriſcher Gewalt vollzogen wird, ſo begründet ſie dennoch die Statshoheit über das eroberte Gebiet und wird als rechtmäßige Er - werbart betrachtet, inſofern durch den Friedensſchluß oder auch ohne ſolchen durch Aufhören des Widerſtandes und Anerkennung von Seite der politiſch berechtigten Bevölkerung die Fortdauer des neuen Statsverbandes als noth - wendig ſich darſtellt.
Von Alters her wird die Eroberung als Begründung einer neuen Stats - hoheit des Siegers über das eroberte Gebiet betrachtet, und man beruft ſich dabei auf den Consensus gentium. Trotzdem ſträubt ſich das feiner empfindende Rechtsgefühl der heutigen Menſchheit gegen dieſe Annahme; denn die Eroberung erſcheint zunächſt in der Geſtalt eines Gewaltacts und nicht als Rechtsact. Die Gewalt iſt aber keine natürliche Rechtsquelle, ſondern umgekehrt das Recht hat172Viertes Buch.die Aufgabe, der Gewalt Schranken zu ſetzen. In der That hat die Eroberung, in - ſofern ſie nur als phyſiſche Unterwerfung mit Gewalt unter die Herrſchaft des Sie - gers erſcheint, für ſich die Kraft nicht, neues Recht zu ſchaffen, außer höchſtens das vorübergehende Nothrecht des Kriegs. Damit die Eroberung Recht bil - dend wirke, muß noch ein anderes rechtliches Moment zu dem der thatſächlichen Ueberlegenheit des Siegers hinzukommen, es muß insbeſondere die Nothwendig - keit der Umgeſtaltung offenbar geworden ſein. Dann ergibt ſich daraus, daß jene Gewalt ſelbſt nicht rohe und bloße Gewalt war, ſondern daß ſich in ihr die Macht der natürlichen Verhältniſſe und ihrer Entwickelung gezeigt habe, und in dieſer Macht iſt allerdings der ſtärkſte Trieb zu ſtatlicher Rechtsbildung zu erkennen. Das wird im Friedensſchluß voraus klar gemacht; denn indem die kriegführenden Parteien Frieden ſchließen, erkennen ſie die dauernde Nothwendig - keit der im Frieden bekräftigten Ordnung an. Dem Frieden ſteht aber die Aner - kennung der Bevölkerung beziehungsweiſe das gänzliche Erlöſchen jedes Wider - ſtands gleich. Die offenbar gewordene Unfähigkeit und Unmöglichkeit, den Kampf fortzuſetzen oder zu erneuern, macht jene Recht bildende Macht ebenfalls offenbar. Die Ausdehnung ſchon der alten Jüdiſchen Statshoheit über Paläſtina iſt in grauſamſter und roheſter Form der Eroberung vollzogen worden und dennoch in ihrem Erfolg anerkannt worden. Die Gründung der meiſten germaniſchen Staten auf römiſchem Boden iſt ebenſo durch Eroberung geſchehen und öfter durch Anerkennung der Bevölkerung als durch Friedensſchlüſſe beſtätigt worden.
Auch wenn es an einem beſondern Rechtstitel für den Erwerb fehlt oder ſogar erweislich die anfängliche Beſitznahme gewaltſam und mit Ver - letzung des Rechts vollzogen worden iſt, aber der Beſitzſtand ſo lange Zeit ruhig fortdauert, daß derſelbe nunmehr von dem Bewußtſein des Volks als fortdauernd nothwendig anerkannt wird, ſo iſt anzunehmen, der ur - ſprüngliche Gewaltzuſtand ſei von der reinigenden Macht der Zeit in den entſprechenden Rechtszuſtand umgewandelt worden.
Eine Verjährung in dieſem Sinne, freilich ohne daß eine beſtimmte An - zahl Jahre wie in der privatrechtlichen Erſitzung fixirt werden kann, und ohne daß die privatrechtlichen Bedingungen dafür gelten, iſt völkerrechtlich geradezu unentbehr - lich, wenn nicht die Entwicklung der geſchichtlichen Statenbildung und Statenerwei - terung einer nie endenden Beſtreitung Preis gegeben werden ſoll. Dieſelbe iſt denn auch in der Hauptſache ſchon von Hugo Grotius II. 4,1 als nothwendig erklärt worden. Nur indem die reinigende und Recht bildende Macht der Zeit anerkannt wird, kann das Gefühl der Rechtsſicherheit unter den Völkern befeſtigt und der all - gemeine Friede geſichert werden. Vgl. oben § 37. 38. Phillimore I. 255 ff.
Ueberhaupt iſt jede neue Statenbildung zugleich Begründung einer neuen Gebietshoheit.
Vgl. darüber oben § 28 f. Die Gebietshoheit iſt nur eine einzelne Eigen - ſchaft und Richtung der Statshoheit, und dieſe die folgerichtige Eigenſchaft der Exiſtenz des Stats.
Die Formen des privatrechtlichen Verkehrs und der privatrechtlichen Willenserklärung in Kauf - und Tauſchverträgen, Zufertigung im Grund - buch, Verpfändung, Erbeinſetzung und Vermächtniß, Erbvertrag, obwohl im Mittelalter vielfältig auch auf die Landesherrſchaft angewendet, ſind nicht mehr anwendbar auf den Erwerb moderner Statshoheit.
Ein Tauſch iſt heute noch möglich, aber nur in völkerrechtlicher und ſtats - rechtlicher Form, z. B. in einem Friedens - oder einem andern Statsvertrag, nicht mehr in privatrechtlicher Form. Der Verkauf dagegen, durch welchen auf der einen Seite die Statshoheit veräußert und auf der andern Seite dafür eine Summe Geldes bezahlt wird, iſt unſers Zeitalters unwürdig. Wohl aber laſſen ſich ſchick - licher Weiſe auch mit ſtatsrechtlich und völkerrechtlich motivirten Abtretungen Geld - leiſtungen verbinden. Weil die Gebietshoheit kein Privatrecht, kein Eigenthum iſt im privatrechtlichen Sinn, ſondern Statsrecht, ſo paſſen auch die von der Privat - willkür benutzten Formen des Privatrechts nicht auf die Regulirung dieſer öffent - lichen Verhältniſſe.
Das Erbrecht dynaſtiſcher Häuſer kann inſofern noch den rechtmäßigen Erwerb einer Statshoheit begründen, als dasſelbe zugleich als Thronfolge - recht eine verfaſſungsmäßige Geltung hat oder die Anerkennung der poli - tiſch berechtigten Bevölkerung hinzutritt.
Am längſten haben ſich die mittelalterlichen Anſichten eines Familienerbrechts in den dynaſtiſchen Häuſern und vorzüglich noch in den Anſchauungen deut - ſcher Volksſtämme erhalten. In unſern Tagen glaubte man noch, freilich zum Erſtaunen fremder Völker, in Deutſchland die Frage des Erbrechts in den Nord - albingiſchen Herzogthümern Schleswig und Holſtein weſentlich aus dem verwickelten Studium des mittelalterlichen Privatfürſtenrechts allein entſcheiden zu können. Das Thronfolgerecht in dem modernen State aber iſt nichts als ein Stück Statsver - faſſung und ganz denſelben Umgeſtaltungen und Veränderungen ausgeſetzt wie dieſe. Da Niemand einen privatrechtlichen Anſpruch auf die Regierung eines Volkes174Viertes Buch.hat, noch in dem entwickelten State haben kann, ſondern alle Thronfolge ſtatsrecht - liche Succeſſion iſt, ſo legt die moderne Rechtsbildung den dynaſtiſchen Erbanſprüchen nur dann Wirkſamkeit bei, wenn ſie auch in der Statsverfaſſung begründet ſind oder allgemeine Anerkennung im Lande finden und keine öffentlichen Rechtsgründe entgegenſtehen.
Das beſtehende Statsgebiet kann erweitert werden durch Zuwachs, insbeſondere durch Erhebung der Seeküſte durch Aufſchwemmungen, oder durch künſtliche neue Anlagen und Bauten auf bisher unſtatlichem Boden. Es kann ebenſo vermindert werden durch Verſenkung der Küſte, durch Wegſchwemmung der Ufer und durch erneuerte Verödung und Rückzug der ſtatlichen Cultur.
Die einen Erweiterungen und Verminderungen des Statsgebiets ſind eine nothwendige Wirkung der Natur, die andern das freie Werk der Menſchen. Da das Meer nicht Statsgebiet, ſondern frei von jeder Statsgewalt iſt, ſo verändert naturgemäß der Rückgang oder das Vordringen des Meers auch den Umfang des Statsgebiets. Bedeutende Aenderungen der Art ſind noch in ge - ſchichtlicher Zeit, größere freilich in vorgeſchichtlicher Zeit vorgekommen und im Klei - nen ſind fortwährend Aenderungen wahrzunehmen. Die Veränderungen, welche der Menſch durch Uferbauten oder durch Cultivirung am Wüſtenrande verwirkt, ſind durchweg auf einen engen Raum beſchränkt.
Wenn ſich neue Inſeln im Strome oder Fluſſe bilden, ſo gehören ſie, abgeſehen von beſondern Verträgen, dem zunächſt gelegenen Uferſtate zu. Entſtehen ſie in der Mitte des Fluſſes, ſo unterliegen ſie der Thei - lung der beiden Uferſtaten nach der Mitte.
Aehnliche Grundſätze hat das römiſche und deutſche Privatrecht bezüg - lich des Grundeigenthums auf der neuen Inſel ausgeſprochen (L. 7. § 3. D. de adq. rer. dom. Sachſenſpiegel II. 56. § 2). Das Grundeigenthum iſt freilich nicht die Grundlage der Statshoheit, und die Analogie ſeiner Grundſätze nur mit Vorſicht auf das Statsrecht anzuwenden. So muß für dieſes der Satz anerkannt werden, daß die neue Landbildung innerhalb der Grenzen eines States, auch wenn ſie nachweisbar durch Wegſchwemmung fremden Bodens bewirkt und deßhalb dem frühern Grundbeſitzer zu Eigenthum verbleiben würde, aus ſtatsrechtlichen Gründen dennoch zu dem Gebiete gehört, in dem ſie entſteht; denn unmöglich kann ein Stat ſich durch bloße Erdanſpülung von dem Ufer wegdrängen und einen fremden Stat ſich da feſtſetzen laſſen, bloß weil das Eigenthum an den Erdſtücken von einem zum175Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.andern Ufer verſetzt wird. Wer Eigenthümer ſei, iſt für die Statshoheit ganz gleich - gültig, und weder die Ausdehnung ſeiner Macht noch die Sicherheit ſeiner Grenze von der Frage, wem das Grundeigenthum gehöre, abhängig zu machen. Vgl. dar - über auch Oppenheim III. 7.
Durch Neubildung von Inſeln kann überdem die Landesgrenze inſofern er - weitert werden, als nun von dem Ufer der Inſel aus nach dem Meere hin der Stat ſeine Macht weiter als bisher von dem Flußufer her erſtrecken kann. Ein Beiſpiel einer ſolchen Erweiterung durch Inſelbildung in der Mündung des Miſſiſippi führt Phillimore an I. 240. Der Uferſtat kann, ſchon um ſeiner Sicherheit willen, nicht zugeben, daß die im Meere, d. h. auf ſtatenloſem Boden entſtandene Inſel der freien Occupation, vielleicht einer rivaliſirenden Macht offen ſtehe, ſondern vielmehr begründet die Statshoheit über das Flußgebiet und über die Mündung des Fluſſes ein natürliches Anrecht auf die Beſetzung der Inſeln, die durch An - ſchwemmungen des Fluſſes in bisher freiem Meer gebildet werden.
Wo zwei Statsgebiete zuſammenſtoßen, ſind die Nachbarſtaten ver - pflichtet, die Grenzlinie gemeinſam zu ordnen und möglichſt klar zu be - zeichnen.
Die Pflicht der Grenzbeſtimmung folgt aus dem friedlichen Nebeneinanderſein der Staten. Jeder von beiden iſt berechtigt, bis an ſeine Grenze zu herrſchen und jeder verpflichtet, nicht darüber hinaus in das Nachbargebiet überzugreifen. Daher haben beide Recht und Pflicht, die Grenze, die ſie von einander ſcheidet und ihnen gemeinſam iſt, auch gemeinſam ins Klare zu ſetzen. Die Analogie des privat - rechtlichen judicium finium regundorum findet hier Anwendung, immerhin natürlich mit Berückſichtigung der Unterſchiede zwiſchen dem Grundeigenthum der Privatperſonen und der öffentlich-rechtlichen Natur der Gebietshoheit. Als Grenz - zeichen werden Markſteine oder Grenzpfähle geſetzt, Graben gezogen, eine Lichtung durch den Wald hergeſtellt, Wälle und Mauern gebaut, ſchwimmende Tonnen be - feſtigt u. dgl.
Wenn ein Gebirgszug die Grenze bildet zwiſchen zwei Ländern, ſo wird im Zweifel angenommen, daß der oberſte Berggrat und die Waſſer - ſcheide die Grenze beſtimmen.
176Viertes Buch.Die Bergzüge ſind ſehr oft Völkerſcheiden. Iſt die Höhe des oberſten Berg - grats erreicht, ſo iſt zugleich die Waſſerſcheide gefunden. Wie die Waſſer zu Thal fließen, und ſich da zu Bach und Fluß einigen, ſo ſammelt ſich auch der Verkehr der Menſchen von allen umliegenden Höhen her in dem einigenden Thal. Frühe ſchon haben aufgeweckte Nationen das bemerkt und daher an jener Linie die natürliche Grenze erkannt.
Bildet ein Fluß die Grenze und iſt derſelbe nicht in den ausſchließ - lichen Beſitz des einen Uferſtates gelangt, ſo wird im Zweifel angenommen, die Mitte des Fluſſes ſei die Grenze.
Bei ſchiffbaren Flüſſen wird im Zweifel der Thalweg als Mitte angenommen.
Weit öfter bilden die Flüſſe nicht die Grenze zwiſchen zwei Ländern, ſondern dienen zur Verbindung und zum Verkehr der beiderſeitigen Uferbewohner. Gewöhn - lich finden wir dieſelbe Nation und denſelben Stamm auf beiden Ufern angeſiedelt. Daher fließen ſehr viele große Ströme und Flüſſe innerhalb des - ſelben Statsgebiets und gehören dann zu dieſem Statsgebiet. Der Nyl in Aegypten, der Indus und Ganges in Indien, der Tigris und der Euphrat in Aſſyrien, Medien und Perſien, der Po in Norditalien, die Weſer und die Elbe in Norddeutſchland, aber auch der Miſſiſippi in den Vereinigten Staten von Nordamerika u. ſ. f. gehörten faſt in allen Zeiten meiſtens auf beiden Seiten der - ſelben Nation und demſelben State an. Auch der Rhein iſt auf beiden Ufern von deutſchen Stämmen bewohnt, und die Donau fließt durch Bayeriſches, Oeſter - reichiſches, Ungariſches und Türkiſches Gebiet. Aber zuweilen werden die Flüſſe aller - dings zur Grenze benutzt zwiſchen zwei Ländern, ſei es weil verſchiedene Nationen nur bis an den Fluß kamen, aber ſich nicht darüber hin wagten, ſei es weil haupt - ſächlich militäriſche Gründe auf dieſe Art der Beſchränkung einwirkten. So zog ſich das ſpätere römiſche Kaiſerreich auf die Südſeite der Donau und auf die Weſtſeite vom Rhein zurück, um ſich beſſer gegen die Einfälle der Germanen zu vertheidigen.
Die Flußgrenze iſt für die Vertheidigung des Gebiets inſofern nütz - lich, als dem feindlichen Uebergang natürliche Hinderniſſe im Wege ſtehen, welche durch die Kriegskunſt noch verſtärkt werden können. Sie iſt überdem inſofern auch eine klare Grenze, als die Ufer, als je dem einen oder andern State angehörig, ſcharf bezeichnet ſind. Aber im Uebrigen iſt die Flußgrenze nicht zweckmäßig, weil die eigentliche Grenzlinie inmitten des Fluſſes beſtändig verwiſcht und auch verändert wird und wenn die Flüſſe ſchiffbar ſind, die Schiffahrt ſich gerade auf der Grenzlinie bewegt, daher die Unterſcheidung der Statshoheit während der Fahrt entweder zweifelhaft wird, oder nach andern Erwägungen als der Grenzlinie beſtimmt werden muß. Man unterſucht daher gewöhnlich nicht, ob das Schiff eher dießſeits oder jenſeits der Mittellinie ſich bewegt habe, wenn etwa die gerichtliche177Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.Competenz über ein verübtes Vergehen zu ermitteln iſt, ſondern nimmt im Zweifel an, daß je nachdem das Schiff dem einen oder andern Uferſtat angehöre oder auch nur da ſtationirt ſei, die Gerichtsbarkeit des betreffenden Stats im Zweifel begrün - det ſei. Der Thalweg ſelbſt gilt dann als eine gemeinſame Grenze. Mit Unrecht wird er als neutral bezeichnet. Er gehört nicht keinem der beiden, ſondern eher jedem der beiden Gebiete an, ſoweit das überhaupt möglich iſt. Er wird daher von beiden Nationen frei zur Schiffahrt benützt, und keiner der beiden Staten darf dieſen Gebrauch hemmen. Vgl. unten § 303.
2. Die Mitte des Fluſſes kann auch von dem feſten Uferrand aus be - meſſen werden. In neuerer Zeit aber zieht man bei ſchiffbaren Flüſſen den Thalweg vor, weil eben da der Hauptfluß ſich bewegt, welcher als Grenze dient. Der Aus - druck iſt ſogar in den franzöſiſch geſchriebenen Friedensvertrag von Luneville vom 9. Febr. 1801 Art. III. übergegangen: „ le Thalweg de l’Adige servant de ligne de démarcation “und iſt auch für die Rheingrenze zwiſchen Frankreich und Deutſch - land anerkannt. Reichsdeputationsbeſchluß von 1853 § 30.
Die Flußgrenze iſt inſofern veränderlich, als der Fluß ſein Bett und ſeinen Thalweg gelegentlich verändert.
Wenn aber der Fluß ſein Bett ganz verläßt und eine neue Richtung einſchlägt, dann bleibt das alte Flußbett die Grenze.
Die Veränderung des Thalwegs kann auch künſtlich durch Waſſerbauten be - wirkt werden. Schon deßhalb, weil dadurch die gemeinſame Grenze afficirt wird, darf kein Uferſtat willkürlich ſolche Uferbauten vornehmen, welche jene Aenderung nach ſich ziehen. Wird dagegen die Flußcorrection in wechſelſeitigem Einverſtändniß vollzogen, ſo wird unbedenklich auch der künſtlich veränderte Thalweg als Grenze anerkannt.
Wenn der Fluß eine ganz andere Richtung nimmt und ein neues Bett gräbt, ſo iſt das nicht mehr die unvermeidliche Wandelbarkeit der Flußgrenze, ſondern ein neuer Einſchnitt in das eine oder andere unzweifelhafte Statsgebiet hinein in Abweichung von der bisherigen Landesgrenze. Das darf natürlich keinen Gebiets - verluſt des einen und keine Gebietserweiterung des andern Stats begründen. Vgl. Hugo Grotius II. 3. § 16.
Inſoweit nicht die Nationalität eines Schiffes entſcheidend einwirkt, ſteht beiden Uferſtaten eine concurrirende Gebietshoheit (Policeigewalt und Gerichtsbarkeit) über die auf der Grenzlinie hinfahrenden Schiffe zu.
Vgl. zu § 298. 316.
Ebenſo wird die Mitte eines Landſees als Grenze zwiſchen den ent -Bluntſchli, Das Völkerrecht. 12178Viertes Buch.gegengeſetzten Uferſtaten vermuthet, wenn nicht durch Verträge oder Uebung eine andere Grenze beſtimmt iſt. Daneben wird die freie Schiffahrt auf dem See für beiderlei Uferbewohner als Regel anerkannt.
Hier muß die Mitte von beiden Ufern ausgemeſſen werden, da es einen Thal - weg nicht gibt, oder wenigſtens derſelbe nicht ebenſo deutlich iſt, wie bei Flüſſen.
Bildet das freie Meer die Grenze des Statsgebiets, ſo wird ange - nommen, der naſſe Küſtenſaum ſei noch ſo weit der Statshoheit unter - worfen, als die Statsmacht vom Ufer her ſich darüber erſtreckt, alſo auf Kanonenſchußweite.
Eine genauere oder engere Grenze, wie insbeſondere die von drei Seemeilen von der Küſte — zur Zeit der Ebbe — kann vertragsmäßig oder ſtatsrechtlich beſtimmt werden.
1. Dieſe Ausdehnung der Gebietshoheit über das feſte Land hinaus in den Bereich des ſeiner Natur nach ſtatenloſen Meeres iſt freilich nur eine beſchränkte, keine vollſtändige. Vgl. darüber unten § 310. 322 ff. Das Maß der Ausdehnung iſt überdem ſeit Erfindung der weittragenden gezogenen Geſchütze erheblich größer ge - worden; indeſſen iſt dieſe Erweiterung nur die natürliche Wirkung der geſteigerten Stats - macht. Anfangs mochte der Hammerwurf, dann der Pfeilſchuß die engere Grenze bezeichnen, dann kam die Erfindung und der große Fortſchritt der Feuer - waffen in einer Reihe von Abſtufungen von den unſichern und nur in kurzer Flugbahn wirkenden erſten Geſchützen bis zu der ſcharf und weittreffenden gezo - genen Kanone der Gegenwart. Immer iſt der leitende Gedanke der: „ Terrae dominium finitur, ubi finitur armorum vis “.
2. Die Seegrenze von 3 Seemeilen iſt z. B. in den Verträgen zwiſchen England und den Vereinigten Staten von Amerika vom 28. Oct. 1818 (Art. 1) und von Frankreich und England in dem Vertrag vom 2. Aug. 1839 (Art. 9 und 10) anerkannt. Vgl. Oppenheim Völkerrecht III. § 6. Phillimore I. 240.
Wenn zwei Staten, welche an das freie Meer grenzen, einander ſo nahe ſind, daß der Küſtenſaum je des einen Stats in den Küſtenſaum des andern hinüberreicht, ſo ſind ſie verpflichtet, einander in dem gemein - ſamen Gebiet wechſelſeitig den Küſtenſchutz zuzugeſtehen, oder über eine Scheidelinie ſich zu vereinbaren.
Das Verhältniß der beiden Uferſtaten wird hier ähnlich wie in den Fällen der Fluß - oder Seegrenze. Es tritt eine concurrirende Gebietshoheit ein.
Das Meer iſt von Natur zur Sonderherrſchaft ungeeignet und dem gemeinen Gebrauch aller Nationen geöffnet. Das Meer iſt frei.
An dem offenen, freien Meer iſt keine Gebietshoheit eines einzelnen States oder mehrer verbundener Staten möglich und zuläſſig.
Noch im ſiebzehnten Jahrhundert verſuchten es einzelne Staten, ſich eine ausſchließliche Seeherrſchaft über beſtimmte Meere anzumaßen und andern Nationen die Schiffahrt oder Fiſcherei daſelbſt zu verbieten. So z. B. Por - tugal und Spanien in den Oſt - und Weſtindiſchen Meeren unter Berufung auf die Verleihung des Papſtes. Auch England behauptete ein beſonderes Recht auf die Meere zu haben, welche die britiſchen Inſeln umfließen. Gegen dieſe Anmaßung erhob ſich Hugo Groot in ſeiner berühmten Schrift „ mare liberum “(Utrecht 1609) mit wiſſenſchaftlichen Gründen. Dem heutigen Rechtsbewußtſein der Menſch - heit iſt die Freiheit des Meeres von jeder Statsherrſchaft nicht mehr zweifelhaft; und die ſeefahrenden Völker üben dieſe Freiheit in allen Richtungen unangefochten aus. In Folge deſſen iſt der größere Theil der Erdoberfläche allen Völkern gemeinſam und dient ſo dem menſchlichen Verkehr.
Das heutige Völkerrecht geſtattet nicht mehr die Abſchließung eines Meeres von dem Weltverkehr, welches von Natur oder durch menſchliche Cultur der Schiffahrt zugänglich und mit der offenen freien See verbun - den iſt, auch dann nicht, wenn jenes Meer von einem Statsgebiet um - ſchloſſen iſt.
In alter Zeit war dieſe Regel noch nicht anerkannt. Die Phönizier und Karthager betrachteten das mittelländiſche Meer großen Theils als ihre See, ebenſo ſpäter die Römer. Dänemark machte eine Zeit lang ähnliche Anſprüche der Herrſchaft über das Baltiſche Meer; die Republik Venedig wollte im Adriati - ſchen Meer allein herrſchen, die Republik Genua im liguriſchen Meer, die Türkei behauptete, daß das Aegäiſche wie das Marmarameer ihr Eigenthum ſei, Rußland weigerte fremden Nationen die Seefahrt auf dem ſchwarzen Meer. Alle dieſe Prätenſionen mußten ſchließlich der ſteigenden Anerkennung der Meeres - freiheit weichen. Durch die Pariſer Congreßacte von 1856 Art. II. iſt der Satz ausgeſprochen worden: „ La mer Noire est neutralisée, ouverte à la marine mar - chande de toutes les nations “.
Geſchloſſene Meere werden nur inſofern anerkannt, als ſie für die Schiffahrt vom offenen Meer her unzugänglich und von dieſem völlig ab - getrennt ſind. Dieſelben ſind dann ähnlich, wie die Binnenſeen mit ſüßem Waſſer, der Statshoheit unterworfen.
Ein von jeher anerkanntes Beiſpiel iſt das Todte Meer in Syrien. An dem Kaspiſchen Meer begegnen ſich verſchiedene Nationen und Staten, aber eine Verbindung mit dem Weltmeer iſt nicht da. Die Möglichkeit, daraus ein Ruſſiſches Meer zu machen, liegt daher nicht ſehr ferne.
Auf offenem Meere iſt ſowohl die Schiffahrt als die Fiſcherei für alle Nationen und für Jedermann völlig frei.
Die Schiffahrt iſt zunächſt als Handels - und Verkehrsſchiffahrt frei. Eben für den Weltverkehr iſt das Meer offen. Neben der Schiffahrt zum Verkehr kommt als zweite Hauptnutzung des Meeres die Fiſcherei in Betracht. Auch in dieſer Hinſicht hat kein Stat ein Recht, für ſeine Fiſcher ein Privilegium anzuſpre - ſchen und die fremden Fiſcher davon auszuſchließen. Die reichen Schätze des Meeres ſind der ganzen Menſchheit offen. Noch im achtzehnten Jahrhundert maßte ſich die Krone Dänemark das ausſchließliche Recht der Fiſcherei an in den Gewäſſern der Nordſee in der Nähe von Island und Grönland und gerieth darüber mit den Vereinigten Staten der Niederlande in Streit. Auch die Beſchränkung dieſes Rechts auf 15 Seemeilen von der Küſte weg, welche die däniſche Regierung ſchließlich zu - geſtand, iſt durchaus ungenügend und wurde von den andern Staten nicht anerkannt. In unſerm Jahrhundert entſtand wiederholt Streit zwiſchen England und den Ver - einigten Staten von Nordamerika über die ergiebige Fiſcherei in den Gewäſſern von Neufundland. Ein Vertrag vom 2. Auguſt 1839 geſtand den Amerikaniſchen Fiſchern die Fiſcherei zu bis auf drei Meilen von der Küſte. Vgl. darüber Phil - limore I. 189 ff.
Das Recht der freien Schiffahrt auf offenem Meere wird nicht ver - letzt, ſondern nach Umſtänden geſchützt durch völkerrechtliche Beſchränkungen der Kriegsmarine in beſtimmten Meeren.
Ein Beiſpiel iſt die Beſchränkung der Zahl der Ruſſiſchen Kriegs - ſchiffe im ſchwarzen Meer, welche der Pariſerfriede von 1856 angeordnet hat.
Einer beſchränkten Gebietshoheit unterworfen ſind:
Die nahe Beziehung ſolcher Theile des Meeres zum Lande und zum Stat rechtfertigt eine relative Ausdehnung der Gebietshoheit. Dieſelben werden als Zu - gehörigkeit des Landes betrachtet, deſſen Macht und Schutz ſich darüber erſtreckt. Die Sicherheit des States und ſeiner Rechtsordnung iſt dabei ſo offenbar intereſſirt, daß der gewohnte Maßſtab der Kanonenſchußweite bei Buchten nicht immer als genügend erachtet wird. Indeſſen iſt dieſe Ausdehnung doch nur da zuzugeſtehn, wo ihre Gründe wirkſam ſind und nicht wo der Umfang der Bucht ſich weiter erſtreckt, und lediglich als Theil des offenen Meeres erſcheint, wie z. B. in der Hudſons-Bai, und in dem Meerbuſen von Mexico. Unbeſtritten iſt die Seeherrſchaft Eng - lands zwiſchen der Inſel Wight und der Engliſchen Küſte, aber keineswegs gutzu - heißen in dem ganzen Kanal oder in dem Meer zwiſchen England und Irland, wenn gleich der engliſche Admiralitätshof die Lehre von den „ Engen Meeren “(Narrow Seas) oft mit Erfolg über Gebühr ausdehnte und große Stücke des offenen Meeres als ſogenannte „ Königskammern “(King’s chambers) in Be - ſchlag zu nehmen verſuchte. Ebenſo kann die Herrſchaft der Türkei über die Meer - engen der Dardanellen und des Bosphorus nicht bezweifelt werden, wenn gleich das neuere Völkerrecht für die freie Schiffahrt auch durch dieſe Meerengen ins ſchwarze Meer ſorgt.
In Folge dieſer beſchränkten Gebietshoheit iſt der Stat berechtigt, alle zum Schutze ſeines Gebietes und ſeiner Rechtsordnung nöthigen Maß - regeln auch über dieſe Theile des Meeres auszudehnen, policeiliche Anord - nungen zu treffen bezüglich der Schiffahrt und der Fiſcherei, aber er iſt nicht berechtigt, im Frieden die Durchfahrt oder die Benutzung dieſer Ge - wäſſer für die Schiffahrt willkürlich zu unterſagen oder mit Steuern zu beſchweren.
So kann der Uferſtat im Intereſſe ſeines Zollſyſtems die fremden Schiffe anweiſen, nur an beſtimmten Stellen zu landen und ſich des Verkehrs mit den Küſtenbewohnern zu enthalten, im Intereſſe der Sicherheit die Annäherung von bewaffneten Schiffen verhindern u. ſ. f. Selbſt Verbote der fremden Fiſcherei kommen hier noch vor und werden anerkannt. Die Regulirung der Fiſcherei in dieſen Gewäſſern iſt ganz unbedenklich.
182Viertes Buch.2. Eine ſehr ſtarke und im Grunde ungerechte Benutzung der Seeherrſchaft geſchah durch Dänemark, indem es während Jahrhunderten im Beſitz der beiden Erdzungen, welche den Sundpaß einengen, auf der einzigen Fahrſtraße aus dem baltiſchen Meere in die Nordſee den ſogenannten Sundzoll erhob. Den mittel - alterlichen Rechtsanſichten war dieſe Zollerhebung nicht ebenſo anſtößig, wie dem modernen Rechtsbewußtſein. Die europäiſchen Staten ließen ſich daher dieſe Belä - ſtigung gefallen und ſuchten nur durch Verträge eine weitere Erſchwerung zu ver - hüten. Erſt der offene und entſchiedene Widerſpruch der Vereinigten Staten von Amerika nöthigte Dänemark über Ablöſung des Sundzolls zu verhandeln. Seit dem Jahr 1857 iſt nun dieſe Beſchwerde der Schiffahrt von den übrigen Staten vertrags - mäßig losgekauft und die freie Schiffahrt am 1. April 1857 hergeſtellt worden.
Die Ströme und Flüſſe gehören, wenn ſie innerhalb eines Landes fließen, zu dem Statsgebiet des Landes, wenn ſie zwiſchen zwei Staten die Grenze bilden, im Zweifel je zur Hälfte bis in die Mitte den beider - ſeitigen Uferſtaten zu.
Vgl. oben zu Art. 298.
Schiffbare Ströme und Flüſſe, welche das Gebiet mehrerer Staten durchfließen, begründen ein gemeinſames Recht und Intereſſe aller dieſer Staten an der geordneten und freien Benutzung derſelben zur Schiffahrt.
Jeder der betheiligten Staten iſt verpflichtet, auf ſeinem Gebiet ſo - wohl für die Offenhaltung des Fahrwegs für die Schiffe als für den Unterhalt der Leinpfade zu ſorgen.
Es iſt das einer der wenigen Fortſchritte, welche die Entwicklung des Völker - rechts hauptſächlich auf Betrieb des Preußiſchen Geſanten Wilh. v. Humboldt den Verhandlungen des Wiener Congreſſes verdankt. Die Wiener Congreßacte von 1815 Art. 108 lautet: „ Les Puissances, dont les états sont séparés ou traversés par une même rivière navigable, s’engagent à regler d’un commun accord tout ce qui a rapport à la navigation de cette rivière. Art. 113. Chaque état riverain se chargera de l’entretien des chemins de halage qui passent par son territoire et des travaux nécessaires pour la même étendue dans le lit de la rivière, pour ne faire éprouver aucun obstacle à la navi - gation “. Der Fluß bildet ein natürliches Band, welches die Länder verbindet, die er durchfließt. Sein Gewäſſer ergibt ſich nicht völlig der Sonderherrſchaft eines Sta - tes, es fließt weiter, unbekümmert um die ſtatliche Grenze. Es dient daher auch der gemeinſamen Schiffahrt, ſoweit der Fluß ſchiffbar iſt. Es iſt nur eine An -183Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.erkennung dieſer natürlichen Verhältniſſe, wenn die Rechtsordnung dieſen Zuſammen - hang und dieſe Gemeinſchaft ſchützt, und nicht geſtattet, daß einer der Uferſtaten ein - ſeitige Hemmniſſe bereite, ſondern vielmehr alle Uferſtaten verpflichtet, zur Erhaltung der Schiffahrt die nöthigen Maßregeln (z. B. Reinigung des Flußbetts, Herſtellung der Reckwege und Leinpfade) anzuordnen.
Die Fluß - und Schiffahrtspolicei ſoll, ſoweit ſie gemeinſame Inter - eſſen betrifft, auch gemeinſam nach denſelben Rechtsgrundſätzen geordnet werden. Ausnahmen erfordern eine beſondere Begründung.
„ Règlement pour la libre navigation des rivières. Art. II. La navi - gation dans tout le cours des rivières indiquées —; du point où chacune d’elle devient navigable jusqu’à son embouchure, sera entièrement libre et ne pourra, sous le rapport du commerce, être interdite à personne, en se conforment toutefois aux règlements qui seront arrêtés pour sa police d’une manière uniforme pour tous, et aussi favorable que possible au commerce de toutes les nations. Art. III. Le système qui sera établi, tant pour la per - ception des droits que pour le manitien de la police, sera, autant que faire se pourra, le même pour tout le cours de la rivière, et s’étendra aussi, à moins que des circonstances particulières ne s’y opposent, sur ceux de ces embranchemens et confluens qui dans leur cours navigable séparent ou tra - versent différens états. “
Wenn die ſchiffbaren Ströme oder Flüſſe mit dem offenen Meer in Verbindung ſtehen, ſo ſind dieſelben den Schiffen aller Nationen im Frie - den offen zu halten. Die freie Schiffahrt darf nicht zum Nachtheil ein - zelner Nationen gehemmt, noch ungebührlich beläſtigt werden.
Die Wiener Congreßacte ſprach dieſen Grundſatz zunächſt nur für die europäiſchen Flüſſe und nur unter der Vorausſetzung aus, daß ein Fluß durch zwei oder mehrere Statsgebiete fließt. Art. 109. „ La navigation dans tout le cours des rivières indiquées dans l’article précédent sera entièrement libre. “ Aber ganz dieſelben Gründe, welche die freie Flußſchiffahrt in Europa als völkerrechtliche Forderung rechtfertigen, finden auch auf die amerikaniſchen Ströme und in allen Welttheilen Anwendung. Das neue völkerrechtliche Princip muß alſo allmählich überall zur Geltung gebracht werden. Sodann iſt die Beſchränkung des Grundſatzes auf die ſogenannten Gemeinflüſſe deßhalb unhaltbar, weil die Schiffahrt auf dieſen nicht bloß für die Schiffe der Uferſtaten, ſondern für den Weltverkehr frei iſt und nicht einzuſehen iſt, weßhalb die zwei oder mehreren Uferſtaten verpflichtet ſein ſollen, fremde Schiffe zuzulaſſen, während ein einzelner184Viertes Buch.Flußſtat dieſelben an der Einfahrt verhindern könnte. Der Eine Stat, deſſen Ge - biet der Fluß allein durchfließt, kann nicht mehr Rechte und keine größere Herrſchaft haben, als die mehreren Uferſtaten an einem Gemeinfluſſe zuſammen. Es gibt kei - nen innern Grund, weßhalb für fremde Nationen die Schiffahrt auf dem Rhein freier ſein ſollte, als auf der Themſe, ſonſt müßte man zu der unſinnigen Schluß - folgerung kommen, daß die Einigung eines ganzen Flußgebietes, das früher un - ter mehrere Staten getheilt war, in Einem Statsgebiete die Auf - hebung der freien Schiffahrt für fremde Nationen nach ſich zöge, die zur Zeit der Vielſtaterei als Völkerrecht gegolten hatte. So war z. B. der Miſſiſippi früher ein Gemeinſtrom und iſt jetzt ganz in dem Gebiet der Vereinigten Staten. Ebenſo iſt nun der Po ein italieniſcher Fluß, der früher ein Gemeinfluß geweſen war. Die Freiheit der Weltſchiffahrt auf dieſen Flüſſen gründet ſich nicht auf die Betheiligung mehrerer beſtimmter Staten an dem Flußufer und der Flußhoheit, ſondern auf den Zuſammenhang des Fluſſes mit dem freien Meer und auf die Verbindung der Ge - wäſſer, welche den Verkehr der Menſchen vermitteln. Die ins Meer mündenden Ströme ſammt ihren Nebenflüſſen, welche ſie während ihres Laufes aufnehmen, ge - hören, ſoweit der Weltverkehr ſich darauf bewegt, zum Meer und es wirkt deſſen Freiheit auf ihre Freiheit zurück.
Es dürfen nur ſolche Gebühren der Benutzung der dem Weltverkehr offenen Gewäſſer auferlegt werden, welche als Gegenleiſtung für die An - ſtalten, Werke und Arbeiten zu rechtfertigen ſind, für welche der Stat im Intereſſe der Schiffahrt und eines geordneten Zuſtandes ſorgt. Ebenſo dürfen die Vorſchriften über Stapel - und Landungsplätze nicht dazu miß - braucht werden, durch Nöthigung zum Anlanden und Umladen die Schiff - fahrt zu erſchweren.
Nur allmählich gelingt es, dieſe Folge des Princips der freien Schiffahrt zur Geltung zu bringen und die zahlreichen Laſten, womit die mittelalterliche Landes - hoheit den Verkehr beſchwert hat, abzuſchütteln. Einzelne Beſtimmungen bezüglich der Gemeinflüſſe hat wieder die Wiener Congreßacte. Art. III. : „ Les droits sur la navigation seront fixés d’une manière uniforme, invariable et assez indépendante de la qualité différente des marchandises pour ne pas rendre nécessaire un examen détaillé de la cargaison autrement que pour cause de fraude et de contravention. — Le tarif une fois réglé, il ne pourra plus être augmenté que par un arrangement commun des états riverains ni la navi - gation grévée d’autres droits quelconques, outre ceux fixés, dans le règle - ment. “ Art. 114: „ On n’établira nulle part des droits d’étappe, d’échelle ou de relâche forcée. “ Selbſtverſtändlich iſt die Erhebung von Waarenzöllen eine ganz andere Angelegenheit und hat grundſätzlich mit der financiellen Belaſtung der Schiffahrt nichts zu ſchaffen.
Die Binnenſeen gehören ebenſo dem Statsgebiete zu, von dem ſie umſchloſſen werden. Liegen dieſelben zwiſchen mehreren Staten, ſo werden ſie analog den Strömen behandelt. Abgeſehen von beſondern Verträgen und Verhältniſſen breitet jeder Uferſtat ſeine Statshoheit vom Ufer aus bis in die Mitte des Sees. Die Benutzung des Sees iſt jedoch gemein - ſam für die Schiffahrt aller Uferbewohner und wenn der See mit dem Meere in ſchiffbarer Verbindung ſteht, auch für die Schiffahrt aller Nationen.
Die Binnenſeen ſind gewöhnlich nur ausgebreitete und in Folge der Aus - breitung ruhig gewordene Flußbecken. Daher iſt das Flußrecht auf dieſe Seen analog auszudehnen, und der Zuſammenhang mit Fluß und Meer wohl zu beachten. Eine Abgrenzung der Mittellinie iſt freilich hier noch ſchwieriger als auf Flüſſen und man iſt aus practiſchen Gründen genöthigt, eine concurrirende Gewalt leichter zu - zugeſtehen oder die Nationalität der Schiffe zu berückſichtigen. Vgl. oben zu § 300.
Die Schiffe werden als ſchwimmende Gebietstheile des Landes be - trachtet, dem ſie nach ihrer Nationalität angehören und deſſen Flagge ſie zu führen berechtigt ſind.
Die völkerrechtliche Annahme, daß die Schiffe, welche von dem Lande her, welchem ſie angehören, auf die offene See hinausfahren, gleichſam wandernde oder ſchwimmende Theile des Territoriums ſeien, iſt ſchon ziemlich alt, und hat einen natürlichen Grund in dem fortwirkenden nationalen Zuſammen - hang des Schiffs mit dem Land, der in der Flagge ſymboliſch dargeſtellt wird, in dem Schutzbedürfniß des Schiffs gegen feindliche Angriffe und in der Ausdehnung der nationalen Macht und des nationalen Verkehrs durch die Kriegs - und Handels - marine. Daher iſt es auch ſehr wichtig, die Nationalität der Schiffe klar zu ſtellen. Die engliſchen Juriſten ſträubten ſich einige Zeit gegen die Anerkennung jenes Satzes bezüglich der Handelsſchiffe. Für Kriegsſchiffe war dieſelbe unvermeidlich, weil in dem Kriegsſchiff die beſtimmte Statsmacht handgreiflich fühlbar war. 186Viertes Buch.Aber die Angehörigkeit der Handelsſchiffe an den Stat, deſſen Flagge ſie führen, iſt ebenſo unzweifelhaft.
Wenn die Schiffe auf offener See fahren, ſo erſtreckt ſich die Gebiets - hoheit ihres States ungehemmt auf den Bereich der Schiffe und den Theil des Meeres, in welchem das Schiff ſich gerade befindet.
Eine bloße Folge dieſes Satzes iſt die Begründung der ſtatlichen Gerichts - barkeit in allen Vergehensfällen, welche ſich während der Seefahrt ereignen, und die Ausſchließung einer fremden Gerichtsbarkeit. Das gilt aber nicht bloß von Ver - gehen, die innerhalb des Schiffes, ſondern auch von ſolchen, welche etwa von ſchwim - menden Schiffsgenoſſen um dasſelbe her verübt worden ſind.
Wenn aber die Schiffe in ein fremdes Statsgebiet einfahren, indem ſie in einem fremden Seehafen Anker werfen oder einen Strom oder Fluß befahren u. dgl., ſo werden ſie der fremden Statshoheit ſo lange unter - geordnet, als ſie ſich in deren Bereich aufhalten.
Die fremden Schiffe können ſich ſo wenig als fremde Reiſende der Statshoheit entziehen, in deren Herrſchaftsbereich ſie gekommen ſind. Es gibt keinen Grund, dieſe Statshoheit innerhalb ihres Gebiets zu hemmen, und fremden Schiffen Im - munitätsrechte zuzugeſtehen. Die Policei des Hafenſtats erſtreckt ſich daher über alle fremde Schiffe im Hafen und die Gerichte desſelben ſind competent zur Ver - waltung der Rechtspflege, auch wenn die Schiffsleute Streit unter einander haben oder ein Vergehen verüben, weil dieſelben ſich innerhalb dieſes Statsgebiets befinden.
Indeſſen wirkt die Unterordnung der Schiffe und ihrer Mannſchaft unter ihre nationale Statsgewalt inſoweit fort, als entweder das Völker - recht dieſelbe verlangt oder die Statsgewalt des Aufenthaltsorts dieſelbe gewähren läßt. Die Conſuln vermitteln jene Unterordnung unter die nationale Statshoheit.
Vgl. oben § 260. Die franzöſiſche Jurisprudenz erkennt die fremde Gerichtsbarkeit in den Fällen an, wo lediglich unter den fremden Schiffs - leuten Streit iſt, ohne daß derſelbe die gemeine Ordnung und den Frieden ge - fährdet, und ebenſo in Disciplinarfällen der Schiffsmannſchaft. So - gar als ein Matroſe des amerikaniſchen Schiffs The Sally im Hafen von Marſeille187Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.von einem Schiffsofficier verwundet wurde, weil er den Befehlen desſelben nicht fol - gen wollte, überließ der Statsrath (1806) die Beurtheilung dem amerikaniſchen Conſul. Phillimore I. 349. Das Gutachten des Statsraths vom 20. Novbr. 1806 ſpricht darüber folgende Grundſätze aus: Considérant qu’un vaisseau neutre ne peut être indéfiniment considéré comme lieu neutre et que la protection qui lui est accordée dans les ports français ne saurait dessaisir à la juri - diction territoriale, pour tout ce qui touche aux intérêts de l’état. — Qu’ainsi, le vaisseau neutre admis dans un port de l’état est de plein droit soumis aux lois de police qui régissent le lieu où il est reçu. — Que les gens de son équipage sont également justiciables des tribunaux, du pays pour les délits qu’ils y commettraient, même à bord, envers des personnes étrangères à l’équipage, ainsi que pour les Conventions civiles qu’ils pourraient faire avec elles; — Mais, que si jusque-là, la juridiction territoriale est hors de doute, il n’eu est pas ainsi à l’égard des délits qui se commettent à bord du vaissau neutre de la part d’un homme de l’équipage; — Qu’en ce cas, les droits de la puissance neutre doivent être respectés, comme s’agissant de la discipline intérieure du vaissau, dans la quelle l’autorité locale ne doit pas s’ingérer, toutes les fois que son secours n’est pas réclamé ou que la tranquillité du port n’est pas compromise.
Ausnahmsweiſe gelten als exterritorial und von der einheimiſchen Statsgewalt befreit
1. Die erſte Ausnahme iſt nur eine Anwendung der regelmäßigen Exterrito - rialität der Souveräne und Geſanten und reicht eben deßhalb nicht über die ſonſti - gen Grenzen derſelben hinaus. Wenn z. B. ein Souverain oder Geſante nur ein Poſtſchiff benutzt neben andern Paſſagieren, ſo beſchränkt ſich ſeine Immunität und Exterritorialität nur auf die Räume, die er mit ſeinem Gefolge und ſeinen Effekten in Beſchlag genommen hat.
2. Die Exterritorialität der Kriegsſchiffe beruht noch weniger auf einer naturrechtlichen Nöthigung als die Exterritorialität der Souveräne, ſondern iſt ein Zugeſtändniß, welches die Seeſtaten einander wechſelſeitig und der Völkerſitte gemäß gewähren, und hat ſeinen Grund nicht bloß in der gegenſeitigen Freundlichkeit, ſon - dern vielmehr in der Schwierigkeit und Gefahr, die örtliche Policei - und Statsgewalt gegenüber der wohl bewaffneten fremden Schiffsmannſchaft thatſächlich gelten zu ma - chen. Die Grundbedingung dieſes Zugeſtändniſſes iſt aber immer die, daß dem frem -188Viertes Buch.den Kriegsſchiff der Einlauf in das Eigengewäſſer erlaubt worden iſt, ebenſo wie die Privilegien fremder Souveräne im Inland die freiwillige Auf - nahme derſelben vorausſetzen. Dieſe Befreiung von der Ortsgerichtsbarkeit und Ortspolizei bezieht ſich aber nur auf die Ordnung im Schiff und findet wieder ihre natürliche Grenze, wenn etwa von dem Schiffe aus rechts - oder ordnungswidrige Handlungen gegen die übrigen Schiffe oder die einheimiſche Bevölkerung verübt würden. In dieſem Falle iſt die Ortsbehörde vollkommen berechtigt, die zum Schutze des Hafens nöthigen Maßregeln zu ergreifen, nöthigenfalls auch das fremde Kriegs - ſchiff aus dem Hafen wegzuweiſen. Ebenſo wenn die Mannſchaft des Kriegsſchiffs auf dem Lande Vergehen verübt, kann dieſelbe der einheimiſchen Gerichtsgewalt unterworfen werden. Indeſſen iſt in ſolchen Fällen dem Commandanten des fremden Kriegsſchiffs ohne Verzug Anzeige zu machen und ein Einverſtändniß über die wei - tere Verfolgung und Beſtrafung der Schuldigen, ſei es durch die Ortsgerichte, ſei es durch die Juſtiz des fremden Kriegsſchiffs zu verſuchen. Die ſtrenge Conſequenz des Rechts ſpricht für die Anwendung der Landesgerichtsbarkeit, aber die Rück - ſicht auf die Völkerſitte und die freundlichen Beziehungen zu den auswärtigen Staten empfiehlt öfter eine Ausdehnung der fremden Marinegerichtsbarkeit.
Schiffe, welche bloß durch den Küſtenſaum eines fremden States hindurch fahren, werden der Statshoheit des Küſtenſtates nur in ſo weit vorübergehend unterworfen, als ſie die militäriſchen und policeilichen Ord - nungen beachten müſſen, welche derſelbe zum Schutz ſeines Gebietes und der Küſtenbewohner für nöthig erklärt hat.
Vgl. oben § 302. 310. Die Gerichtsbarkeit des Küſtenſtats er - ſtreckt ſich in der Regel nicht anders auf dieſen Küſtenſaum, als ſoweit die Hand - habung der Militär - und Policeihoheit das nöthig macht. In allen übri - gen Beziehungen wird das Schiff betrachtet, als wäre es auf offener See, d. h. als ein ſchwimmender Theil ſeines nationalen Stats.
Die fremden Schiffe haben ſich der Hafenordnung und insbeſondere den ſeepoliceilichen Vorſchriften über Lootſen, Remorqueurs, und den geſund - heitspoliceilichen Anordnungen der Hafenobrigkeit zu fügen.
Bei dieſen Verordnungen ſind jedoch die verſchiedenen ſeefahrenden Nationen nach denſelben Rechtsgrundſätzen zu behandeln.
Der erſte Satz iſt eine Folge des in § 319 ausgeſprochenen Princips. Dahin gehören die Vorſchriften über die Signale der Annäherung, über das Anlegen der Schiffe, Feſtmachen derſelben, Feuer an Bord, die La -189Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.ternen, die Benutzung der Hafenanſtalten, aber auch die Verordnungen der Sanitätspolicei zur Abwehr von anſteckenden Krankheiten, je nach Umſtän - den die Nöthigung zu den Contumazanſtalten.
Der zweite Satz ſchützt das allgemeine Recht des Weltverkehrs gegen den Mißbrauch der Policeigewalt zum Ausſchluß einzelner Nationen.
Zunächſt iſt es das Recht eines jeden States, die Bedingungen feſt - zuſetzen, unter denen er die Angehörigkeit (Nationalität) ſeiner Schiffe an - erkennt, dieſelben ermächtigt, ſeine Flagge zu führen und ſie unter ſeinen Schutz nimmt.
Wie es offenbar die Sache des Statsrechts iſt, die Bedingungen feſtzu - ſetzen, unter denen ein Stat einzelne Perſonen und Familien in ſeine Statsgenoſſen - ſchaft aufnimmt, ſo fällt ebenſo in den Bereich des Statsrechts auch die Feſtſetzung der Bedingungen, unter denen ein Stat die Schiffe als ſtatsgenöſſig anerkennt. Die Flagge iſt das Symbol und Kennzeichen dieſer Angehörigkeit zu einem beſtimmten State. Indeſſen ſo einleuchtend jener Rechtsſatz iſt, ſo wird er doch noch nicht vollſtändig anerkannt.
Auch die Wahl der Flagge iſt zunächſt Sache des betreffenden Stats und nur inſofern völkerrechtlich beſchränkt, als nicht eine bereits vorhandene Flagge gewählt werden darf. Die Flagge ſoll die verſchiedenen Nationen darſtellen und unterſcheiden. Vgl. oben § 82.
Auch den Binnenſtaten, nicht bloß den Küſtenſtaten ſteht das Recht zu, nationale Schiffe zu haben und eine nationale Flagge zu führen. Dagegen wird das Recht der freien Schiffahrt und der nationalen Flagge nur denjenigen Völkern zugeſtanden, welche ihrerſeits die völkerrechtlichen Pflichten anerkennen.
Wie alle Nationen an dem Welthandel Theil haben, ſo haben auch alle an der freien Weltſchiffahrt Theil. Es beſteht kein Rechtsgrund, um irgend eine Nation zu nöthigen, ſich für ihren Handel fremder Schiffe zu bedienen, ſtatt eigene dazu zu verwenden. Wenn in neueſter Zeit in der Schweiz der Vorſchlag einer natio - nalen Flagge gemacht wurde, ſo können keinenfalls Rechtsgründe der Annahme die - ſes Vorſchlags im Wege ſtehen. Nur die Zweckmäßigkeit einer derartigen Neuerung kann in Frage kommen, und je nach politiſchen Erwägungen kann ſie verſchieden beurtheilt werden.
Dagegen wird den Schiffen barbariſcher Stämme, welche die Sicherheit190Viertes Buch.des Welthandels und der civiliſirten Schiffahrt gefährden, kein Recht der freien Schiffahrt zugeſtanden und werden dieſelben auch auf offener See nicht geduldet.
Zuweilen wird die Flagge nur von einzelnen Städten geübt, ſogar zum Unterſchiede von der Landesflagge, wie z. B. die Flagge von Roſtock ſich von der Mecklenburgiſchen unterſcheidet. Indeſſen iſt das eher ein Ueberreſt mittelalterlicher Zuſtände, als eine Erſcheinung des modernen Lebens und jedenfalls bedarf der be - ſondere Gebrauch einer ſtädtiſchen Flagge der Erlaubniß und Anerkennung des States, welchem die Stadt zugehört. Völkerrechtlich ſtehen doch nur die Staten miteinander in unmittelbarer Verbindung.
Zum Beweiſe der Nationalität dienen die öffentlich beurkundeten Schiffspapiere, welche von dem Schiffscapitän nöthigenfalls vorzuweiſen ſind.
Als ſolche Schiffspapiere ſind in Uebung:
Es können auch in Einer Urkunde die meiſten oder alle vorgenannte Zwecke zuſammen berückſichtigt werden. Das Einzelne gehört nicht der völkerrechtlichen, ſondern der ſtatsrechtlichen Beſtimmung zu. Nur die Nothwendigkeit einer authentiſchen Beurkundung der Nationalität iſt völkerrechtlich nothwendig.
Nach bisheriger Uebung ſetzen auch die Seemächte ihrerſeits die Be - dingungen feſt, unter welchen ſie die Nationalität fremder Schiffe innerhalb ihres Gebietes (in Seehäfen und Flüſſen) anerkennen. Es darf das aber nicht in ſo beſchränkender Weiſe geſchehen, daß dadurch der freie Schiffahrts - verkehr einer fremden Nation unmöglich gemacht oder ungebührlich er - ſchwert ſind.
Die gegenwärtigen Hafenordnungen gerade der großen Seemächte ſind noch nicht ganz von dem engherzigen Geiſte der frühern Ausſchließung der191Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.fremden Schiffe und der Begünſtigung der eigenen Schiffe befreit. Man wollte jenen doch noch den Verkehr erſchweren, wenn gleich man denſelben nicht mehr verhindern wollte. Die engliſche zur Zeit der Republik unter Cromwell erlaſſene Navi - gationsacte, damals für die Entwicklung der engliſchen Marine nützlich, war aus - ſchließlich in dem Sonderintereſſe der engliſchen Rhederei und Schiffahrt erlaſſen. Andere Staten ahmten dieſelbe nach und ſo hinderte jeder hinwieder den andern in der freien Thätigkeit. Die neuere engliſche Navigationsacte vom 29. Juni 1849 beſeitigt einen Theil der alten Schranken, aber fordert immer noch Nationalität des Schiffscapitäns und von ¾ der Mannſchaft, wofür es keine zurei - chenden Rechtsgründe gibt. Es iſt nicht einzuſehen, weßhalb ein nationaler Rheder nicht auch einen Fremden als Capitän oder fremde Matroſen anſtellen dürfte, indem die Nationalität einer Fabrik oder einer Handelsfirma auch keinen Abbruch erleidet, wenn fremde Techniker, Commis und Arbeiter von derſelben beſchäftigt werden. Die - ſelbe weitgehende Forderung hat die franzöſiſche Geſetzgebung. Die Vereinigten Staten von Nordamerika fordern die Nationalität von ⅔ der Mannſchaft, Ruß - land dagegen nur ¼, und Preußen ſieht ganz ab von dieſem Erforderniß. Schon dieſe Vergleichung zeigt, wie willkürlich dieſe Beſchränkung iſt. Am liberalſten iſt das Preußiſche Seerecht, welches nur Angehörigkeit des Capitäns und nationales Eigenthum des Schiffs fordert.
Es beſteht kein völkerrechtliches Hinderniß für die einzelnen Staten, auch urſprünglich fremden Schiffen in Friedenszeiten Aufnahme in die eigene Nationalität zu gewähren oder dieſelben vorübergehend unter den Schutz der eigenen Flagge zu ſtellen. Nur darf das nicht in betrügeriſcher Abſicht geſchehen, noch zur Schädigung beſtehender Rechtsverhältniſſe damit Mißbrauch getrieben werden.
Wie der Uebergang der Perſon aus einem Statsverband in einen an - dern möglich iſt, ſo auch der Uebergang eines Schiffes in eine andere Nationa - lität. Dem State kommt das Recht zu, die Bedingungen feſtzuſetzen, unter denen er die Aufnahme eines bisher fremden Schiffes in ſeinen Verband geſtattet. Aber auch hier, wie überhaupt im Staten - und Völkerverkehr iſt die bona fides zu be - achten. Würde ein Stat fremden Schiffen nur in der Abſicht vorübergehend ſeine Flagge geſtatten und dieſelben als ſeine Schiffe bezeichnen, um die Zollgeſetze des befahrenen States zu umgehen und dieſen Schiffen Zollbefreiungen zuzuwenden, an denen ſie ihrer wahren Nationalität nach keinen Antheil haben, ſo würde ſich der letztere Stat das nicht gefallen laſſen müſſen.
In früherer Zeit wurden im Mittelländiſchen Meer oft die Schiffe der nord - deutſchen Seeſtädte unter den Schutz der Däniſchen Flagge geſtellt, um dieſelben gegen die Piratenſchiffe der muhammedaniſchen Küſtenſtaten zu ſichern, mit welchen Dänemark, aber nicht die Hanſeſtädte Verträge hatten. Dieſe Leihe des Schutzes192Viertes Buch.hat nun für Deutſchland ihr Ende gefunden. Aber für Staten mit Handelsmarine ohne Kriegsmarine können auch heute ähnliche Bedürfniſſe ſich zeigen.
Der Gebrauch einer fremden Flagge ohne Erlaubniß des betreffenden Stats iſt unterſagt und wird inſofern als Vergehen beſtraft, als darin ſei es eine betrügeriſche, ſei es eine die Ehre des States gefährdende Handlung zu erkennen iſt.
Sowohl der Stat, deſſen Flagge mißbraucht wird, als der Stat, welchem gegenüber der Mißbrauch geübt wird, haben ein Recht und Intereſſe ſei es Beſtra - fung zu fordern ſei es, ſoweit die Umſtände es verſtatten, ſelber die Strafgerichtsbarkeit anzuwenden. Zuweilen werden aber fremde Flaggen ohne ſtrafbare Abſicht aufgezogen, und dann iſt auch kein Grund, eine Strafe zu verhängen.
Auf offener See ſollen ſich die begegnenden Schiffe in der Regel rechts ausweichen. Jedoch ſind die Dampfſchiffe vorzugsweiſe verpflichtet, den Segelſchiffen und vor dem Winde ſegelnde Schiffe den bei dem Winde liegenden auszuweichen.
Alle dieſe Regeln haben nur einen relativen Werth und wird natürlich vor - ausgeſetzt, daß das Ausweichen möglich ſei. Dann aber iſt es billig, daß das Schiff, deſſen Bewegung leichter zu leiten und größer iſt, auch vorzugsweiſe aus - weiche. Die engliſche Schiffahrsacte von 1854 (17. u. 18. Vict. c. 104) enthält darüber in § 296 die Regel: „ the helms of both ships shall be put to port so as to pass on the portside of each other “.
In engem Fahrwaſſer ſollen die Dampfſchiffe, ſoweit es ſicher und thunlich iſt, die Seite des Fahrwaſſers oder diejenige Mitte des Fahrwegs halten, welche auf der Steuerbordſeite liegt.
Engl. Schiffahrsacte von 1854 § 296.
Bei Nachtzeit, d. h. in der Zeit zwiſchen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang, ſollen die Segelſchiffe auf der Fahrt und wenn ſie an Stellen ankern, wo eine Begegnung mit andern Schiffen ſtattfinden kann,193Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.ein helles weißes Licht aufſtecken, Dampfſchiffe aber außer dem hellen wei - ßen Licht auf dem Fockmaſt ein grünes Licht auf der Steuerbordſeite und ein rothes Licht auf der Backbordſeite haben.
Das weiße Licht an der Maſtſpitze ſoll in dunkler Nacht und bei klarer Luft wenigſtens auf 5 Seemeilen hin ſichtbar ſein.
Auch hier hat eine Verordnung der Brittiſchen Admiralität Grundſätze ausge - ſprochen, welche im Verfolg von den andern Seeſtaten gutgeheißen und von der Uebung angenommen worden ſind. Es dient die Beachtung derſelben wieder zur Vermeidung eines gefährlichen Zuſammenſtoßes der Schiffe. Nach engliſchem Recht kann der Eigenthümer eines durch den Zuſammenſtoß verletzten oder in den Grund gebohrten Schiffs dann auf Schadloshaltung mit Erfolg gegen den Vertreter des andern Schiffs klagen, wenn das zweite Schiff jene Vorſchriften mißachtet und den Zuſammenſtoß verſchuldet hat und zugleich die Mannſchaft des erſten Schiffs den nöthigen Fleiß vergeblich aufgewendet hat, um der Gefahr zu entgehn. Vgl. Abbott (Lord Tenterden.) Treatise of the law relative to Merchant Ships and Seamen. Ed. 10 bei W. Shee. London 1856. Ueber das deutſche Recht vgl. das deutſche Handelsgeſetzbuch Art. 736 ff.
Niemals darf einem in Seegefahr befindlichen Schiffe und deſſen Mannſchaft der Weg zur Rettung nach dem Lande verſchloſſen noch die Benutzung der zur Rettung vorhandenen öffentlichen Anſtalten verſagt werden.
Heffter, Völkerrecht § 79. 1. Es iſt das ein Gebot der Menſchlichkeit, welches die civiliſirten Staten als verpflichtend in neuerer Zeit wechſelſeitig anerken - nen und deſſen Mißachtung zu gegründeten Reclamationen berechtigt. Auch den barbariſchen Stämmen gegenüber, welche dieſe Menſchenpflicht verletzen, ſind die civi - liſirten Staten berechtigt, dieſe Forderung mit Zwang durchzuſetzen. Ausführliche Beſtimmungen über dieſe Pflicht enthält das engliſche Schiffahrtsgeſetz von 1854 § 439 f.
Niemand darf ſich an den Perſonen oder an den Gütern der Schiff - brüchigen vergreifen. Das ſogenannte Strandrecht wird als ein barbariſcher und völkerrechtswidriger Mißbrauch nicht mehr geduldet.
Im Mittelalter noch waren die Schiffbrüchigen und ihre Güter der Gefahr ausgeſetzt, von den Küſtenbewohnern als Beute behandelt zu werden. Die Perſonen wurden oft zu Sclaven gemacht oder ihnen ein Löſegeld aufgezwungen, die GüterBluntſchli, Das Völkerrecht. 13194Viertes Buch.wurden weggenommen. Man ſuchte dieſes Raubrecht damit zu vertheidigen, daß die hülfloſen Fremden Feinde und als ſolche rechtlos und ihre Güter herrenlos ge - worden ſeien. Die humanere Rechtsbildung der neuen Zeit verwirft dieſe Barbarei und achtet auch in dem Fremden ſowohl das Recht der Perſon als das Eigenthum.
Die Schiffstrümmer (Wrack) und die geſtrandeten Waaren ſind kein Gegenſtand der freien Occupation, außer wenn die Eigenthümer in un - zweideutiger Weiſe auf ihr Eigenthum verzichtet haben. Sie können von den Eigenthümern jederzeit ſo lange angeſprochen werden, als nicht die Eigenthumsklage verjährt iſt.
Dasſelbe Recht ſteht auch den Perſonen zu, welche auf dieſe Güter verſichert ſind. Das engliſche Schiffahrtsgeſetz von 1854 § 477 verpflichtet die ganze Ufergemeinde für den Schaden einzuſtehn, welcher von den Uferbewoh - nern an dem Wrackgute verübt worden iſt, und bedroht überdem alle, welche ſich an dieſer unerlaubten Wegnahme betheiligt haben, auch wenn kein anderes Vergehen darin liegt, mit einer Geldbuße.
Dagegen iſt ein mäßiger Anſpruch auf Rettungs - und Bergelohn von Seite der rettenden und bergenden Uferbewohner wohl begründet.
Der eigentliche Bergelohn (Salvage) ſetzt einen Schiffbruch oder doch das Verlaſſen des Schiffs in Seenoth durch die Schiffsmannſchaft voraus. In andern, beziehungsweiſe mindern Fällen, in denen der Schiffsmannſchaft nur dritte Perſonen zu Hülfe kommen, iſt nur von Hülfslohn die Rede. Vgl. über dieſen Unterſchied das deutſche Handelsgeſetzbuch Art. 742. Der Ausdruck Rettungslohn be - zieht ſich vorzüglich auf die Rettung von Menſchenleben. In allen dieſen Fällen ſind die Perſonen, welche gewöhnlich mit eigener Gefahr und ſchwerer Arbeit hülf - reiche Dienſte leiſten, berechtigt, einen Lohn zu fordern. Aber es darf dieſe Forde - rung nicht ſo weit geſpannt werden, daß dieſelbe in der Praxis wieder zu einem verdeckten Raubrecht wird. Es darf nicht auf das Unglück und die Noth der See - fahrer ſpeculirt, ſondern nur Erſatz für nützliche Dienſte verlangt werden. Das deutſche Handelsgeſetzbuch ſetzt für Bergelohn als äußerſtes Maß den dritten Theil des Werthes der geborgenen Güter feſt, welches nur in einzelnen Ausnahmen bis auf die Hälfte des Werthes erhöht werden darf, Art. 748. 749. Im Einzelnen entſcheidet, wenn über das richtige Maß Streit entſteht, das richterliche Ermeſſen mit billiger Erwägung aller Umſtände. Ebenda 744. Von einem Rettungslohn für Menſchen iſt in dem Geſetz nicht die Rede. Indeſſen, wenn auch das Leben ein unſchätzbares Gut iſt, ſo iſt doch die Arbeit für Erhaltung des Lebens wohl zu ſchätzen und es iſt zweckmäßiger, im Intereſſe der Lebensrettung, von Rechts wegen195Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.für dieſen Lohn zu ſorgen, der aus dem geretteten Gut zu bezahlen iſt, als Alles von dem guten Willen der Betheiligten abhängig zu machen. Die Beſtimmungen der engliſchen Schiffahrtsacte von 1854 finden ſich Art. 458 f. Vgl. v. Kaltenborn, Seerecht II. § 147. 148.
Die Uferſtaten ſind völkerrechtlich verpflichtet, nicht bloß die zur Ret - tung in Seenoth befindlicher Schiffe vorhandenen öffentlichen Anſtalten auch im Dienſte der gefährdeten fremden Schiffe, ohne Unterſchied der Natio - nalität oder Religion zu verwenden und die ſchiffbrüchigen Perſonen und Güter möglichſt zu ſchützen und zu bewahren.
In England werden die Beamten, welche den Auftrag haben, die zur Ret - tung und zum Schutze der gefährdeten Schiffe und ihrer Bemannung nöthigen Maß - regeln anzuordnen, receivers genannt. Sie ſind berechtigt, die allgemeine Bei - hülfe der Küſtenbewohner und der in der Nähe befindlichen Boote aufzurufen. Schiffahrtsacte von 1854 § 439 f.
Jeder Stat iſt berechtigt, für die Ausgaben, welche er zur Rettung und zum Unterhalt des Lebens fremder Schiffbrüchiger gemacht hat, nöthi - genfalls von deren Heimatsſtate Erſatz zu fordern, wenn dieſelben nicht in der Lage ſind, dieſe Koſten ſelber ohne Verzug zu erſetzen. Vorbehalten bleibt dem Heimatsſtate der Regreß auf die betheiligten Privatperſonen. Die allgemeinen Anſtalten dagegen für Rettung Schiffbrüchiger, welche der Stat getroffen hat, fallen auf ſeine Koſten, und es iſt dafür der andere Stat nicht zum Erſatze verbunden.
Dieſe Erſatzforderung des States an den Stat hat ihren Grund in der ſub - ſidiären Pflicht des States, das Leben ſeiner Angehörigen im Nothfall zu ſchützen, einer Pflicht, welche freilich noch immer nicht in dem Umfang anerkannt iſt, wie ſie es verdiente. Indem der eine Stat für die Fremden in ihrer Noth ſorgt, leiſtet er daher auch dem Heimatsſtate derſelben einen Dienſt und leiſtet das, was dieſer nach natürlichem Recht in der Noth ſeiner Angehörigen für dieſelben zu leiſten hätte. Wird dieſes Recht anerkannt, ſo wird eher und beſſer für Hülfe geſorgt, und zugleich das richtige Verhältniß der Küſtenländer gegenüber den Binnenländern ge - wahrt. Natürlich iſt der Küſtenſtat nicht genöthigt, jene Forderung geltend zu machen und es ſprechen auch manche Gründe der Zweckmäßigkeit, freilich nur unter der Vorausſetzung einer hohen Civiliſationsſtufe dafür, daß ein Küſtenſtat alle dieſe im Intereſſe der Humanität auch für Fremde gemachten Verwendungen auf ſeine13*196Viertes Buch.eigenen Koſten übernimmt. Wird dieſe Sorge wechſelſeitig von den Uferſtaten geübt, ſo liegt darin im Großen auch wieder die Ausgleichung der Koſten. Jedenfalls aber gehören die Rettungsanſtalten zu den policeilichen Einrichtun - gen eines States, welche zunächſt dem eigenen Statszweck dienen und ſind daher nicht in Anrechnung zu bringen.
Keinem State kommt im Zuſtande des Friedens eine öffentliche Gewalt über fremde Schiffe auf offener See zu. Die Flagge deckt das Schiff.
Es iſt das die Conſequenz der beiden Sätze a) daß das offene Meer von jeder beſondern Statsgewalt frei iſt und b) daß die Schiffe ſchwim - mende Theile ihres nationalen Statsgebiets ſind. Auf jedem Schiff dauert alſo das einheimiſche Recht und die einheimiſche Statsgewalt fort, wenn es auf offener See iſt und von jedem Schiff iſt alſo fremde Statsgewalt ausge - ſchloſſen.
Dagegen iſt jeder Stat verpflichtet, für Beſchädigungen oder Belei - digungen, welche durch die Mannſchaft ſeiner Schiffe gegen fremde Schiffe oder deren Mannſchaft auf offener See verübt werden, den Klägern gutes Recht zu halten. Auch auf offener See iſt die friedliche Rechtsordnung wechſelſeitig zu achten und die gewaltſame Selbſthülfe nur in Nothfällen geſtattet.
Die Statenloſigkeit des Meeres bedeutet nicht Rechtloſigkeit, ſondern im Gegentheil friedliche Rechtsgemeinſchaft aller Nationen. Als Noth - fälle, welche die Selbſthülfe im Gegenſatze zu der regelmäßigen Gerichtshülfe recht - fertigen, gelten a) alle Fälle der Nothwehr (vgl. unten § 348) gegen böswilligen Angriff, b) die Fälle, in denen zur eigenen Rettung gegen die Gefährdung von Seite eines andern Schiffes, auch wenn dieſelbe nicht beabſichtigt und nicht als Vergehen zu betrachten iſt, durchgreifende Maßregeln nothwendig erſcheinen, c) die Fälle der vorherigen Rechtsverweigerung von Seite des fremden Stats.
In Friedenszeiten iſt kein Stat berechtigt, fremde Schiffe in ihrer Fahrt auf offener See aufzuhalten, noch ſie durch ſeine Officiere zu be - ſuchen und Vorzeigung ihrer Papiere zu fordern oder gar ihre Schiffs - räume durchſuchen zu laſſen.
197Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.Da kein Stat eine Policeigewalt über fremde Schiffe auf offener See hat, ſo darf er auch keine Handlungen vornehmen, welche ſich nur aus einem Rechte der Policeiaufſicht erklären und begründen ließen. Die fremden Schiffe ſind durchaus nicht ſchuldig, anzuhalten, ſondern berechtigt, ohne Rückſicht auf die Zumuthungen eines andern Schiffs ihre Reiſe fortzuſetzen. Zuweilen haben wohl ſeemächtige Staten weiter gehende Anſprüche gemacht und gelegentlich eine Art von Seepolicei auch über fremde Schiffe üben wollen. Aber es wird das heute nicht mehr zugeſtanden und dieſe Anmaßung iſt wenigſtens thatſächlich ſelbſt von England aufgegeben.
Wenn jedoch die Mannſchaft eines fremden Schiffes in den Eigen - gewäſſern eines States oder auf dem Lande ein Vergehen verübt hat und deßhalb von der einheimiſchen Strafgerichtsbarkeit verfolgt wird, ſo darf die Verfolgung gegen das fliehende Schiff über die Eigengewäſſer hinaus in die offene See fortgeſetzt werden.
Iſt aber einmal das Schiff dieſer Verfolgung entgangen, ſo darf es ſpäter nicht mehr auf offener See von den Schiffen des verletzten States angegriffen werden.
Die Verfolgung auf die offene See hinein gilt dann nur als Fortſetzung der in den Eigengewäſſern begonnenen Verfolgung und die Rechtfertigung die - ſer wird auf jene ausgedehnt. Dieſe Ausdehnung iſt aber nöthig, um die Wirk - ſamkeit des Strafrechts zu ſichern. Dieſelbe findet ihre nothwendige Grenze, wenn die Verfolgung abgebrochen werden muß.
Die Piratenſchiffe werden wegen ihrer Gemeingefährlichkeit nicht ge - duldet. Sie haben keinen Anſpruch auf den Schutz der Flagge und können jeder Zeit auch auf offener See angegriffen und weggenommen werden.
Als Piraten -, Räuber -, Seeräuberſchiffe werden die Schiffe betrach - tet, welche ohne Ermächtigung eines kriegführenden States auf Beute fah - ren, ſei es auf Menſchenraub, ſei es auf Raub von Gütern (Schiffen oder Waaren) oder auch auf böswillige Zerſtörung von fremden Gütern ausgehen.
Schon Cicero erklärt den „ pirata “einen „ communis hostis omnium “(de offic. I. 3, 29). Die Seeräuber gelten als Feinde des Menſchen - geſchlechts und ihre Unterdrückung wird als ein Recht und eine Pflicht aller198Viertes Buch.civiliſirten Staten betrachtet. Deßhalb wird auch gegen Seeräuber das Recht der freien Schiffahrt und der beſondern Nationalität nicht gewahrt. Das Intereſſe der all - gemeinen Verkehrsſicherheit rechtfertigt die Beſchränkung der allgemeinen Schiffahrts - freiheit. Die Seeräuber, welche jene fortwährend als Feinde bedrohen, dürfen ſich nicht auf dieſe berufen.
In den meiſten Erklärungen des Begriffs wird die gewinnſüchtige Ab - ſicht der Seeräuber, der animus furandi, als Hauptmerkmal hervorgehoben. Die meiſten Fälle des Seeraubes haben auch unzweifelhaft dieſen Charakter. Aber wenn ein Schiff in der Abſicht ausfährt, fremde Schiffe, vielleicht einer verhaßten Nation zu zerſtören und ihre Güter zu verſenken oder an dem Ufer Verheerungen anzu - richten, die Häuſer in Brand zu ſtecken, und das Alles nicht aus Gewinnſucht, ſon - dern aus Haß oder Rache, ſo wird auch ein ſolches Schiff als Piratenſchiff zu betrachten ſein, weil die Gemeingefährlichkeit dieſelbe und das Verbrecheriſche ſolcher Unternehmungen ebenſo offenbar iſt. Der Richter Jenkins erklärte folgende 3 Merkmale für nöthig zum Begriff des Seeraubs: a) gewaltſamer Angriff, b) Weg - nahme fremden Guts, c) Erregung von Furcht des Veraubten. Phillimore I. § 335. Dem zweiten Merkmal fügen Andere mit Recht zu oder Mord oder Men - ſchenraub. Daß das dritte nothwendig ſei, darf billig verneint werden, denn die Seelenſtimmung des Verletzten iſt für das Verbrechen ohne Bedeutung. Auch wenn die Angegriffenen ſich nicht fürchten und den Kampf mit den Seeräubern ſieg - reich durchfechten, ſind dieſe dennoch als Seeräuber zu beſtrafen.
Wenn ein ernſter Verdacht beſteht, daß ein Schiff ein Räuberſchiff ſei, ſo iſt jedes Kriegsſchiff eines jeden Stats als ermächtigt zu betrachten, dasſelbe anzuhalten und zu unterſuchen, ob jener Verdacht begründet ſei.
Wenn einige Schriftſteller auch in dieſem Falle den Kriegsſchiffen das Recht abſprechen, Seepolicei zu üben und ein verdächtiges Piratenſchiff anzuhalten, ſo ver - kennen ſie das dringende Bedürfniß aller Nationen, von der Seeräuberei befreit zu werden. Würde die ſonſtige Regel, daß kein Stat auf offener See über fremde Schiffe eine Macht üben dürfe, abſolut feſtgehalten, ſo wäre damit die Verfolgung der Seeräuber in den meiſten Fällen unmöglich gemacht. Jene Regel aber wird anerkannt im Intereſſe der Sicherheit und Freiheit der friedlichen Seefahrer. In demſelben Intereſſe wird derſelben die ergänzende Ausnahme hinzugefügt, daß alle Staten gleichmäßig berechtigt ſind, die Raubſchiffe als Feinde zu verfolgen. Zu dieſem Behuf müſſen ſie dieſelben auch ihrerſeits angreifen können, wenn ſie ſich zeigen.
Ergibt ſich bei der Prüfung, daß der Verdacht unbegründet ſei, ſo199Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.iſt das angehaltene Schiff berechtigt, Genugthuung und je nach Umſtänden Schadenserſatz zu fordern.
Es iſt das die Garantie gegen Mißbrauch jenes Verfolgungsrechts zum Nach - theil der rechtmäßigen Schiffahrt.
Erſcheint der Verdacht begründet, ſo wird das Räuberſchiff als Priſe genommen. Dasſelbe kann in jeden Hafen eines civiliſirten States, nicht nothwendig des Nehmeſtates, gebracht und daſelbſt die Mannſchaft vor Gericht geſtellt und beſtraft werden. Das betreffende Priſengericht entſchei - det auch über Schiff und Gut.
Dem Recht der Verfolgung, woran alle civiliſirten Staten gleichmäßig Theil haben, entſpricht das Recht der Beſtrafung, worin wieder alle Staten concur - riren. Aber das gilt nur von der völkerrechtlich anerkannten Seeräuberei und iſt keineswegs auf die Fälle auszudehnen, welche nur nach beſonderem Landesgeſetz als Piraterie behandelt werden. Für ſolche Fälle gelten die ge - wöhnlichen Grundſätze der Gerichtsbarkeit. Vgl. Wheaton, Intern. Law. édit. 8. by H Dana. Boſton 1866. § 124.
Inſoweit keine andern Eigenthumsrechte als der Räuber ſelbſt in Betracht kommen, wird das genommene Räuberſchiff ſammt der Bewaff - nung und Ladung als gute Seebeute dem State zugeſprochen, deſſen Schiff das Räuberſchiff genommen hat. Es hängt von dieſem State ab, die Mannſchaft des Kriegsſchiffes dafür zu belohnen.
Es iſt das eine analoge Anwendung des Kriegsrechts auf Seebeute, welche wieder damit erklärt wird, daß die Seeräuber Feinde aller Staten ſind.
Wird ein Privatſchiff von einem Seeräuberſchiff angegriffen, aber dieſes von jenem überwunden und iſt der Sieger außer Stande, die gefangenen Räuber ſicher zu verwahren und nach einem geeigneten Seehafen, der in ſeiner Richtung liegt, abzuliefern, ſo iſt derſelbe berechtigt, ſtandrechtlich über die Räuber zu richten und ein Todesurtheil ſofort zu vollziehen. Es iſt jedoch in ſolchen Fällen ein ſorgfältiges Protokoll über die Zuſammenſetzung und200Viertes Buch.die Verhandlung des Gerichts, die Ausſagen der Zeugen und die Verthei - digung der Angeklagten aufzunehmen.
Die Vertheidigung der Handelsſchiffe gegen die Seeräuber iſt, wenn irgend eine Ausſicht auf Erfolg vorhanden iſt, nicht bloß ein Recht, ſondern eine Pflicht der Mannſchaft. (Vgl. Kaltenborn, Seerecht I. S. 181.) Es iſt das ein Fall be - rechtigter Selbſthülfe (oben § 243), in welchem die Gewalt des Capitäns ſich bis zur Gerichtsgewalt ſteigert. „ Es geht den Räubern an die Raa “, iſt die alte Seemannsdrohung. Aber wenn hier der Selbſthülfe eine ſo eingreifende Wirkſamkeit verſtattet wird, ſo iſt es auch eine Rechtspflicht derer, welche ſie üben, den Aus - nahmefall genau und ſorgfältig zu conſtatiren, und zugleich eine Garantie gegen den möglichen Mißbrauch jenes Nothrechts zu ungerechter Gewaltthat.
Da kein Stat im Frieden berechtigt iſt, Seebeute zu machen, ſo darf auch kein Stat im Frieden Schiffe ermächtigen, auf Beute auszu - fahren. Geſchieht es dennoch, ſo macht ſich der Stat der Piraterie ſchul - dig. Alle civiliſirten Staten ſind in dieſem Falle berechtigt, den Piraten - ſtat als einen gemeinſamen Feind zu bekämpfen, und denſelben zu zwin - gen, daß er für den verübten Schaden Erſatz leiſte, Genugthuung und Garantien für künftige Beachtung des Völkerrechts gebe.
1. Während langer Zeit erniedrigten ſich die europäiſchen Staten dazu, an die Piratenſtaten der nordafrikaniſchen Seeküſte Tribut zu bezahlen, um da - durch für ihre Handelsſchiffe Sicherheit gegen den Seeraub zu erkaufen. Erſt in unſerer Zeit iſt endlich das Mittelländiſche Meer von dieſer Gefahr befreit und hat die unwürdige Duldung von Piratenſtaten nun aufgehört.
2. Auch in dieſen Fällen ſind die Kriegsſchiffe aller Staten veranlaßt und er - mächtigt, ſolche Piratenſchiffe auf offener See anzugreiſen und wegzunehmen. Die Mannſchaft derſelben kann aber in dieſem Falle, weil ſie die Erlaubniß ihres States für ſich hat, nicht wegen Piraterie gerichtet werden, ſondern iſt in der Regel als kriegsgefangen zu behandeln. So wurde von dem engliſchen Admiralitäts - gerichtshof (Richter Sir Jenkins) im Jahr 1668 entſchieden, als Algieriſche Pi - raten an der Iriſchen Küſte gefangen wurden. Phillimore I. 355. Wildman I. S. 202.
3. In dem großen amerikaniſchen Bürgerkriege erklärte der Präſident Lincoln (19. April 1861) alle ſüdſtatliche Kaperſchiffe als Piratenſchiffe und bedrohte dieſelben mit der Strafe der Seeräuber. Indeſſen erklärte ſich das engliſche Oberhaus gegen dieſe Ausdehnung des Begriffs als nicht im Völkerrecht begründet; und thatſächlich wurden auch in den Nordſtaten gefangene Seeleute ſolcher Kaperſchiffe als Kriegsgefangene behandelt. Wheaton Intern. Law. § 125. Anm.
Wenn von Schiffsleuten eines nationalen Schiffes, d. h. eines Schiffes, welches ſich nicht dem Verbande mit einem geordneten State entzogen hat, auf offener See Raub oder Mord oder andere Verbrechen verübt werden, ſo iſt die völkerrechtliche Gerichtsbarkeit über Seeräuber nicht begründet, ſondern nur die ſtatsrechtliche des States, welchem das Schiff zugehört.
Anders iſt es, wenn die aufrühreriſche Schiffsmannſchaft eines unter natio - naler Flagge fahrenden Schiffs nun ſich von der Statsordnung losgeſagt, und eigen - willig Räuberei betreibt. Dadurch wird das Schiff zum Piratenſchiff. Ueber einen Fall der Art aus den Chileſiſchen Gewäſſern berichtet Phillimore I. 357. Wenn gleich die von einem engliſchen Kriegsſchiff gefangene Mannſchaft an die Ge - richte von Chili zur Beſtrafung überliefert wurde, ſo erachtete ſich doch der engliſche Admiralitätshof ebenfalls für zuſtändig. Dagegen gilt für alle andern Verbrechen, die nicht völkerrechtlich als Seeräuberei betrachtet werden, die ordentliche Gerichtsbarkeit.
Das freie Meer darf nicht zur Zufuhr von Sclaven über See miß - braucht werden.
Die Schiffe, welche gegen das völkerrechtliche Verbot Sclaven füh - ren, unterliegen aber zunächſt der Gerichtsbarkeit des States, welchem ſie angehören.
Das heutige Völkerrecht verwirft die Inſtitutionen der Sclaverei als einen Widerſpruch des natürlichen Menſchenrechts. Vgl. darüber Buch V. Abſchnitt 1. Früher galt der Handel insbeſondere mit farbigen Sclaven als erlaubt, und noch in dem Frieden von Utrecht von 1713 ließ ſich England von Spanien aus - drücklich das Recht zuſichern, eine beſtimmte Anzahl Negerſclaven alljährlich in die Spaniſchen Colonien einzuführen. Seither hat das moderne Rechtsgefühl dieſen Handel als ein Verbrechen gegen die Menſchlichkeit gebrandmarkt. Auf dem Wiener Congreß erklärten am 8. Febr. 1815 im Anſchluß an den Zuſatz des Pariſerfriedens zwiſchen England und Frankreich vom 30. Mai 1814 die verſammelten Mächte ihr Verlangen „ de mettre un terme au fléau qui avait si longtemps désolé l’Afrique, dégradé l’Europe et affligé l’humanité “und ver - ſprachen einander beizuſtehen in der möglichſt baldigen „ abolition universelle de la traite des nègres “(Wheaton histoire I. 183). Auf den Congreſſen von Aachen 1818 und Verona 1822 wurde die Abſchaffung des Negerhan - dels neuerdings im Princip ausgeſprochen. Vor allen andern Staten war Eng - land bemüht, dieſen ſchändlichen Seehandel zu unterdrücken und ſchloß mit einer großen Anzahl von Staten darüber beſondere Verträge ab. Das Verzeichniß dieſer Verträge gibt Phillimore I. § 307. Von größter Bedeutung waren insbeſon -202Viertes Buch.dere die Verträge mit Frankreich (Verträge von 1831. 1833. 1845 ), mit Spa - pien (1817. 1822. 1835 ), mit Portugal (1826), mit den europäiſchen Nord - und Oſtmächten Oeſterreich, Preußen und Rußland (1845), mit den Ver - einigten Staten von Nordamerika (1842).
In vielen Verträgen und Geſetzen wird dieſer verbotene Handel der See - räuberei gleichgeſtellt und werden die Sclavenſchiffe wie Piraten - ſchiffe bedroht. Indeſſen iſt dieſe Gleichſtellung durchaus nicht ſelbſtverſtändlich und es läßt ſich der völkerrechtliche Begriff der Piraterie nicht ohne weiters auf ganz andere Handlungen übertragen. Die Piraterie gefährdet die Sicherheit des geſamm - ten Seeverkehrs, der Sclavenhandel bedroht den Seeverkehr gar nicht, ſondern bedroht nur das Menſchenrecht in ſeiner eigenen Ladung. Die Piratenſchiffe erkennen keine geordnete Statsgewalt über ſich an, die Sclavenſchiffe fahren unter nationaler Flagge. Die Unterdrückung des Sclavenhandels hat daher auch nicht denſelben nationalen Charakter wie die Verfolgung der Seeräuber. Deßhalb beſteht auch keine allge - meine Concurrenz aller Staten in der Gerichtsbarkeit über das weggenom - mene Sclavenſchiff, ſondern iſt zunächſt die nationale Gerichtsbarkeit begründet.
Soweit durch Statenverträge ein Beſuchs - oder Durchſuchungsrecht gegen die eigenen Schiffe fremden Kriegsſchiffen zu dem Behuf geſtattet worden iſt, um verdächtige Sclavenſchiffe anzuhalten und je nach Umſtän - den zur Verantwortung zu ziehen, iſt dieſelbe auszuüben.
Aber es verſteht ſich ein ſolches Recht nicht von ſelbſt, auch nicht gegen Schiffe eines Stats, welcher die Zufuhr von Negerſclaven mit den Strafen gegen Seeraub bedroht.
Die Schwierigkeit, das Verbot des Sclavenhandels auf offener See durchzu - führen, ohne zugleich die völkerrechtliche Selbſtändigkeit der Flagge und die freie Schiffahrt zu gefährden, iſt bei den diplomatiſchen Verhand - lungen ſehr entſcheidend hervorgetreten. Als eine engliſche Parlamentsacte vom Jahr 1839 die engliſchen Kreuzer ermächtigte, auf verdächtige Portugieſiſche Sclavenſchiffe zu fahnden, wurde dieſelbe vielſeitig als eine völkerrechtswidrige Anmaßung Englands getadelt. Durch den Vertrag Englands mit Portugal von 1842 wurde ein wechſelſeitiges Unterſuchungsrecht (right of search) zugeſtanden. In dem Ver - trag der fünf europäiſchen Großmächte von 1841 war erklärt, daß die Sclavenſchiffe „ den Schutz der Flagge “einbüßen und daß die Mächte ihren bevoll - mächtigten Kreuzern das Recht wechſelſeitig zugeſtehn, jedes Schiff, das einer der be - treffenden Nationen angehört, aus verſtändigen Verdachtsgründen zu unterſuchen. Indeſſen ſoll dieſes Recht, „ droit de visite “genannt, nicht im Mittelländiſchen Meer und nur bis zum 32° nördlicher und zum 45. Grad ſüdlicher Breite in dem atlantiſchen Meere geübt werden. Indeſſen wurde dieſer Vertrag von dem franzö -203Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.ſiſchen Könige nicht ratificirt, eben weil gegen dieſes Unterſuchungsrecht ſich ernſte Bedenken erhoben. Die Diplomatie fing nun an, genauer zwiſchen einem Beſuchs - recht, droit de visite, im engern Sinn und einem Durchſuchsrecht, droit de perquisition, zu unterſcheiden. Endlich kam im Jahr 1845 ein Vertrag zwiſchen England und Frankreich zu Stande, in welchem zwar das alte Droit de visite (im weitern Sinn) aufgegeben, aber doch in Art. 7 beſtimmt wurde, daß die beiderſeitigen Kreuzer an der afrikaniſchen Küſte ermächtigt ſeien, die wirkliche Nationalität der Schiffe zu prüfen, welche unter engliſcher oder franzöſiſcher Flagge fahren, und vielleicht nur unter dieſer Flagge ihren Sclaven - handel oder andere Verbrechen zu verbergen ſuchen. Zu dieſem Behuf muß aber natürlich das fremde Schiff doch beſucht und ſeine Papiere müſſen eingeſehen wer - den. Ergibt ſich dabei, daß das Schiff wirklich einer Nation zugehört, deren Regie - rung das Unterſuchungsrecht nicht anerkennt, ſo muß dasſelbe ohne Verzug verlaſſen und jedenfalls über das ganze Verfahren genaues Protokoll geführt werden. Die Inſtructionen der beiden Staten an ihre Kreuzer ſind genau und werden wechſelſeitig mitgetheilt. Die lebhafteſte Einſprache machten die Vereinigten Staten von Nordamerika gegen das Durchſuchungsrecht, indem ſie die Gefahr für die freie Schiffahrt lebhaft betonten, welche eine derartige Seepolicei vorzüglich Englands zur Folge haben würde. Der Präſident Webſter behauptete, daß das Droit de visite und das rhigt of search bisher immer als dasſelbe Recht betrachtet und nur als Kriegsrecht, nicht im Frieden anerkannt worden ſei. Die Vereinigten Staten erklärten daher, ein derartiges Recht keiner Seemacht zuzugeſtehen. Dagegen ver - ſtanden ſich die Vereinigten Staten dazu, an der afrikaniſchen Küſte gemeinſam mit England Kreuzer zu halten, um den Sclavenhandel möglichſt zu verhindern. Man ſieht, der Widerſpruch der Vereinigten Staten war von Einfluß auch auf das Ver - halten von Frankreich. Auch mit Braſilien gerieth England über dieſe Seepolicei im Jahr 1845 in Streit. Seither hat ſich die Gefahr einer ungebührlichen See - herrſchaft Englands erheblich vermindert, indem auch andere Staten eine anſehnliche Kriegsmarine inzwiſchen geſchaffen haben und England die Freiheit des Meers im Princip und in deſſen Conſequenzen umfaſſender als früher anerkennt. Mir ſcheint, daß ein wechſelſeitiges Beſuchsrecht gegenüber von Schiffen, welche verdäch - tig ſind, eine falſche Flagge zu führen und zugleich als Sclavenſchiffe benutzt zu werden, wenn dieſes Recht in wohlgeordneten Formen und mit den nöthigen Ga - rantien gegen Mißbrauch ausgeübt wird, gefahrlos für den redlichen Schiffahrtsver - kehr und dennoch ein nothwendiges Mittel ſei, das Verbot der Negerzufuhr wirkſam zu machen. Das andere Mittel, eigene Kreuzer zu halten, welche fortwährend eine Küſte beaufſichtigen, iſt zu koſtbar und in der Praxis ohne Anhalten der verdächtigen Schiffe doch nicht durchzuführen. Der Beſuch des vermeintlichen Sclavenſchiffs hat ſich jedoch fürs erſte auf die Prüfung der Nationalität des Schiffs zu beſchränken und darf nur, wenn weitere Verdachtsgründe ſich ergeben, zu einer Durchſuchung führen.
Wenn die Gebietshoheit eines States zu Gunſten eines andern States — oder ausnahmsweiſe auch zu Gunſten einer unter völkerrecht - lichem Schutze ſtehenden Körperſchaft oder Familie — vertragsmäßig und dauernd beſchränkt wird, ſo wird dieſe Beſchränkung Statsdienſtbarkeit genannt.
Wir nennen diejenigen Beſchränkungen der Gebietshoheit, welche aus dem völkerrechtlichen Zuſammenhang der Staten und aus der allgemeinen Natur der Verhältniſſe mit Rechtsnothwendigkeit ſich ergeben, wie die Pflicht zum Geſanten - verkehr und Fremdenſchutz, die Gewährung der freien Schiffahrt auf den großen Strömen und am Küſtenſaum u. dgl. nicht Dienſtbarkeiten, weil ſie zu der regel - mäßigen Rechtsordnung gehören, weil hier die Statshoheit ſelbſt als ein da - durch nothwendig beſchränktes Recht erſcheint. Die eigentlichen Statsdienſt - barkeiten verſtehn ſich nicht von ſelber, ſondern bedürfen einer beſondern Begründung im einzelnen Fall. Sie ſind ein jus singulare, für welches keine Vermuthung ſpricht.
Die Analogie der privatrechtlichen Grundſätze über die ſogenannten Prädial - ſervituten darf nur mit Vorſicht angewendet werden, weil es ſich hier nicht um Verhältniſſe handelt, welche der Wilkür von Privatperſonen anheimfallen, ſondern um Zuſtände, bei welchen das Wohl der Völker betheiligt iſt. Die Sicherheit und Unabhängigkeit der Staten iſt doch ein ganz anderes Ding als das Grundeigenthum und daher eine Beſchränkung derſelben von ganz anderer Wirkung als eine Privatſervitut.
Der Begründung einer Statsdienſtbarkeit durch Vertrag ſteht die Berufung auf unvordenklichen Beſitz gleich, inſofern aus der fortdauernden Ausübung ſolcher Beſchränkung ohne Widerſpruch des beſchränkten States auf die Anerkennung der Dienſtbarkeit durch dieſen geſchloſſen werden kann.
Es iſt unmöglich, die herkömmlichen Statsdienſtbarkeiten zu ignoriren, aber man darf doch nicht leichthin derartige Beſchränkungen als urſprünglich gewillkürte annehmen. Vielmehr bedarf es eines ſtrengen Beweiſes dafür, daß nicht etwa der beſchränkte Stat bloß gutwillig und aus Freundlichkeit für den Nach - barn, aber ohne Rechtsverbindlichkeit ſich die thatſächliche Beſchränkung habe gefallen laſſen, ſondern dieſelbe als nothwendig und bindend anerkannt habe.
Die Statsdienſtbarkeiten beſtehen entweder darin, daß der dienende Stat um derſelben willen verhindert wird, ſeine Statshoheit in einer be - ſtimmten Richtung vollſtändig auszuüben oder darin, daß derſelbe genöthigt wird, eine ſtatliche Action des fremden berechtigten States innerhalb ſeines Gebietes zu dulden, die er ohne die Dienſtbarkeit verwehren dürfte.
Die erſtern Dienſtbarkeiten beſtehen im Nichtthun (in non faciendo) und ſind von negativer Wirkung, die letztern dagegen ſind poſitiv und beſtehn im Dulden eines Thuns (in patiendo) von Seite des berechtigten Stats.
Negative Dienſtbarkeiten ſind:
Es ſind das nur einzelne Beiſpiele, welche öfter vorkommen und meiſtens in Friedensverträgen näher beſtimmt oder bei Gebietsabtretungen vorbehalten worden ſind.
Beiſpiele von poſitiven Dienſtbarkeiten ſind:
Im Zweifel iſt allezeit zu Gunſten der dienſtfreien Statshoheit und die anerkannte Dienſtbarkeit als ein Ausnahmerecht in beſchränkendem Sinne zu interpretiren.
Je größer der Werth iſt, welchen die moderne Statsentwicklung der Ein - heit und Freiheit des Stats zuſchreibt, um ſo weniger günſtig werden dieſe Dienſtbarkeiten betrachtet, welche immer jener Einheit Abbruch thun, indem ſie die wenn auch beſchränkte Herrſchaft eines fremden States begründen, und immer dieſe Freiheit hemmen, indem ſie den einheimiſchen Stat verhindern, ſeine Souveränetät vollſtändig auszuüben. Sie ſind daher weit hinfälliger als die privatrechtlichen Ser - vituten, indem ſie unter Umſtänden von einer neuen Statsentwicklung verdrängt und beſeitigt werden. Vgl. § 359.
Eine Statsdienſtbarkeit geht unter
Da das Statsrecht und ebenſo das Völkerrecht nur um der gemeinſamen öffentlichen Bedürfniſſe willen als nothwendige Ordnung der öffentlichen Zuſtände beſteht, ſo kann es auch im Einzelnen nicht aufrecht207Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.erhalten werden, inſofern es mit der allgemeinen Entwicklung nicht zugleich fort - dauern kann. Dieſe Entwicklung kann und darf nicht durch Verträge, welche einer andern vergangenen Zeit angehören und damals einen Sinn hatten, der inzwiſchen verloren gegangen iſt, verhindert werden. Denn das hieße die Staten und die Menſchheit an der Erfüllung ihrer Beſtimmung verhindern und das Weſen des Rechts ſelber verderben. In dieſer Weiſe ſind unzählige Statsdienſtbarkeiten, welche im Mittelalter entſtanden waren und damals zu der herrſchenden Lehensverfaſſung paßten, ſeit der Ausbildung des modernen States mit dem Lehensrechte untergegan - gen. Wenn ein Stat in ſeinem Innern Einheit und Gleichheit der Rechtspflege einführte und in Folge deſſen die patrimoniale Gerichtsbarkeit der Grundherrn ab - ſchaffte, ſo ließ er ſich auch nicht abhalten, aus denſelben Gründen und einfach durch ſeine Verfaſſungs - und Geſetzesreform die patrimoniale Gerichtsbarkeit eines fremden Landesherrn in ſeinem Lande abzuſchaffen, welche mit jener grundherrlichen Gerichts - barkeit des einheimiſchen Adels weſentlich identiſch und ganz eben ſo wenig mit den modernen Grundſätzen der Rechtspflege verträglich iſt. In ähnlicher Weiſe iſt beſonders ſeit der franzöſiſchen Revolution die vom Mittelalter überlieferte Verflechtung verſchiedener Landeshoheiten auf demſelben Gebiete gelöst und ein einfacheres und gleichmäßigeres Rechtsverhältniß hergeſtellt worden.
Es gibt kein Eigenthum des Menſchen am Menſchen. Jeder Menſch iſt Perſon, d. h. ein rechtsfähiges und mit Recht begabtes Weſen.
Dieſer natürliche Rechtsſatz, der ſchon von den römiſchen Juriſten erkannt wurde, iſt während Jahrtauſenden von den meiſten Völkern gegen ihr beſſeres Ge - wiſſen mißachtet und verdunkelt worden. Im Alterthum hat man ſich, um die un - natürliche Sclaverei zu rechtfertigen, auf die gemeine Rechtsübung der Völker, das jus gentium berufen. Nur ganz allmählich und langſam hat die europäiſche Civi - liſation jenen ſchändlichen Mißbrauch der Gewalt des herrſchenden über den dienen - den Menſchen, den man Eigenthum nannte und mit dem Eigenthum an Hausthieren auf Eine Linie ſtellte, gemildert und endlich abgeſchafft und das natürliche Menſchen - recht der Perſon anerkannt. Als bereits in Italien, in England und in Frankreich die Eigenſchaft aufgehoben war, beſtand dieſelbe noch in einigen deutſchen Ländern fort, und ſpäter als in Deutſchland, erſt in unſern Tagen wurde ſie in Rußland beſeitigt. So bildete ſich nach und nach das europäiſche Recht aus, welches die Sclaverei nicht mehr als wirkliches Recht in Europa gelten ließ, ſondern die per - ſönliche Freiheit als Menſchenrecht ehrte. Nachdem die Vereinigten Staten von Nordamerika ſich ebenfalls gegen die Sclaverei der Schwarzen erklärt und innerhalb ihres Machtbereichs die widerſtrebenden Staten genöthigt haben, die perſönliche Frei - heit und die bürgerlichen Rechte auch der dunkeln Raſſen anzuerkennen, iſt jenes Menſchenrecht auch in Amerika durchgedrungen und nunmehr zu allgemeinerBluntſchli, Das Völkerrecht. 14210Fünftes Buch.Anerkennung in dem Rechtsbewußtſein der chriſtlichen Welt gelangt. Die chine - ſiſche Cultur in Oſtaſien hatte ſchon lange vorher denſelben natürlichen Rechtsſatz anerkannt. Man darf daher in Zukunft nicht mehr wie bisher die Berufung auf die Souveränetät einzelner Staten gelten laſſen, welcher es nicht verwehrt werden dürfe, bei ſich die Sclaverei feſtzuhalten oder einzuführen. Höchſtens dürfen Ueber - gangsbeſtimmungen, welche aus der herkömmlichen Sclaverei ſchrittweiſe zur perſön - lichen Freiheit hinüberleiten, geachtet werden. Die Souveränetät der Staten darf nicht mehr ſo ausgeübt werden, daß dadurch das höhere und allgemeinere Recht der Menſchheit vernichtet wird, denn die Staten ſind menſchliche Orga - nismen und pflichtig, das allgemein erkannte Menſchenrecht zu reſpectiren.
Das Völkerrecht erkennt kein Recht der Sclaverei an, weder wenn Einzelne noch wenn Staten ſie behaupten.
Es iſt das nur der negative Ausdruck des obigen Princips der perſönlichen Freiheit, welche das Völkerrecht anerkennt.
Wenn fremde Sclaven den Boden eines freien States betreten, ſo werden ſie ſofort von Rechts wegen als Freie betrachtet und ohne daß es einer Freilaſſung des Herrn bedarf, auch gegen dieſen in ihrer Freiheit geſchützt.
Die Luft des freien Stats macht noch ſchneller und entſchiedener frei, als im Mittelalter die Luft der freien Stadt. Damals bedurften die eigenen Leute, welche in die Stadt geflüchtet waren, einer Erſitzung der Freiheit von Jahr und Tag und waren meiſtens vor Ablauf derſelben der Vindication der nachjagenden Herrn ausgeſetzt. Wenn heute ein fremder Herr mit ſeinen Sclaven als Dienern in ein freies Land kommt, wohin auch die Fahrt in freiem Schiffe auf offener See gehört, ſo ſind die letztern berechtigt, gegen jede Gewalt des Herrn den Schutz der Gerichte und je nach Umſtänden der Policei anzurufen. Dieſer Schutz wird unbe - denklich gewährt, ohne daß der betreffende Sclavenſtat ſich deßhalb als über die Mißachtung ſeines nationalen Rechts beſchweren kann, denn das Völkerrecht hält die Sclaverei nirgends mehr für Recht.
Es wird weder überſeeiſcher Handel mit Sclaven, noch werden Sclavenmärkte geduldet.
211Die Statshoheit im Verhältniß zu den Perſonen.Vielmehr iſt es das Recht und die Pflicht der civiliſirten Staten, wo ſolche Mißbräuche noch geübt werden, deren Abſtellung zu fördern.
England gebührt der Ruhm, die Barbareskenſtaten zuerſt theils durch diplo - matiſchen Einfluß, theils durch kriegeriſchen Zwang (Beſchießung von Algier im Auguſt 1816) dahin gebracht zu haben, daß ſie auf die Chriſtenſclaven Verzicht lei - ſteten, für Gegenwart und Zukunft. Auch Frankreich wirkte in derſelben Richtung. Die europäiſche Diplomatie erreichte auch in Conſtantinopel ähnliche Zugeſtändniſſe. Aber noch iſt die Sclaverei, und ſind ſelbſt die Sclavenmärkte abgeſehen von Süd - amerika, wo ſie nun im Erlöſchen begriffen ſind, bei den rohen Nationen von Mittelaſien und im Innern von Afrika, welche von der Bewegung der chriſtlich - ariſchen Civiliſation bisher wenig berührt ſind und der Ausbreitung der Humanität noch viele Hinderniſſe entgegenſetzen, noch in voller Uebung. Zuletzt werden aber auch dieſe barbariſchen Raſſen oder halbbarbariſchen Nationen der wachſenden Macht des humaner gewordenen modernen Völkerrechts ſich nicht entziehen können.
Jedem Stat ſteht das Recht zu, ſelbſtändig feſtzuſetzen, unter wel - chen Bedingungen ſeine Statsgenoſſenſchaft (Statsangehörigkeit) erworben und verloren werde.
Es iſt das zunächſt eine innere Angelegenheit des States und daher eine ſtatsrechtliche, nicht eine völkerrechtliche Frage. Aber inſofern als die An - gehörigkeit eines Individuums zu einem beſtimmten State auch von fremden Staten zu beachten iſt, ſchließen ſich internationale Wirkungen an den ſtatsrechtlichen Ent - ſcheid an und hat ſich das Völkerrecht damit zu befaſſen.
Die Grundſätze, welche in den verſchiedenen Ländern beachtet werden, ſind noch ſehr verſchieden. In den einen Staten wird vorzugsweiſe auf den perſön - lichen Familienzuſammenhang (Abſtammung und Ehe) geſehen, in den andern mehr auf die örtliche Beziehung zum Lande (Geburtsort, Wohnort) der Nachdruck gelegt. Vgl. Bluntſchli, Allgem. Statsrecht. Buch II. Cap. 20 (19).
Im Zweifel wird angenommen, daß die Ehefrau durch die Heirat in die Statsgenoſſenſchaft ihres Ehemannes eintrete, und daß die ehelichen14*212Fünftes Buch.Kinder mit der Geburt und ſo lange ſie in dem väterlichen Hauſe leben, der Statsgenoſſenſchaft ihres Vaters folgen.
Der Ehemann und der Vater als Haupt des Hauſes verbindet auch die Glie - der des Hauſes, die Frau und die Kinder mit dem State, zu dem er gehört. Da - bei wird jedoch vorausgeſetzt, daß die Ehe in dieſem State als rechtsgültig anerkannt werde, und daß nicht etwa beſondere Vorbehalte gemacht und zugeſtanden worden ſind oder andere geſetzliche Vorſchriften in einem Lande beſtehen. So gibt es Län - der, welche wohl den ehelichen Kindern bei ihrer Geburt die Statsgenoſſenſchaft zu - erkennen, aber nicht ohne weiteres geſtatten, daß dieſelben ihrem Vater folgen, wenn derſelbe ſpäter ein anderes Statsbürgerrecht erwirbt.
Die unehelichen Kinder erhalten, wenn ſie nicht von dem State des geſtändigen oder ermittelten Vaters aufgenommen werden, das Heimatsrecht in dem State der Mutter, aber folgen dieſer nicht in einen andern Stats - verband nach, wenn ſie ſpäter durch Heirath eine neue Statsgenoſſenſchaft erwirbt.
Der erſte Satz folgt aus der ſichern Abſtammung des Kindes von der Mutter. Nur in der Ehe gilt die Abſtammung vom Vater als ebenſo ſicher und entſcheidet überdem die Rückſicht auf die leitende Stellung des Vaters im Hauſe und die bedeutſam hervortretende Beziehung desſelben zum State. Außer der Ehe und außerhalb des Hauſes kann zunächſt nur die Abſtammung von der Mutter über die Angehörigkeit zunächſt entſcheiden. Indeſſen nehmen manche Rechte der Einzelſtaten auch die unehelichen Kinder in das Heimatsrecht auf, das der Vater beſitzt, wenn er dieſelben als ſeine Kinder anerkennt oder ſogar, wenn er als Vater gerichtlich erwie - ſen und erklärt worden iſt.
Der zweite Satz hat ſeinen Grund darin, daß die Mutter nicht als Haupt ſondern als Glied der Familie in die Ehe kommt und damit in einen neuen Statsverband eintritt, daher auch ihre Kinder nicht ſelbſtändig nachziehen kann.
Es iſt möglich, daß Jemand einen feſten Wohnort in einem Lande beſitzt und daſelbſt niedergelaſſen iſt, ohne in den Statsverband dieſes Landes einzutreten und ebenſo, daß Jemand Grundeigenthum in einem Lande erwirbt und bewirthſchaftet, ohne Statsgenoſſe daſelbſt zu werden.
Wenn Heffter § 59 alle „ in einem Lande Domicilirten “d. h. jeden, der darin eine feſte häusliche Einrichtung für ſich getroffen hat (Landſaſſen im wei - teſten Sinne des Wortes) als Statsangehörige nach völkerrechtlichen Grundſätzen be -213Die Statshoheit im Verhältniß zu den Perſonen.zeichnet, ſo geht er meines Erachtens zu weit. Es gibt in vielen civiliſirten Staten eine große Anzahl anſäſſiger fremder Kaufleute, Fabrikanten u. ſ. f., welche nicht in den Statsverband ihres Wohnorts aufgenommen ſind, ſondern in dem nationalen Statsverband verbleiben, dem ſie vor ihrer Niederlaſſung in fremdem Lande ange - hört haben. Die Niederlaſſung und der Gewerbsbetrieb geſchieht zunächſt aus pri - vatrechtlichen Motiven, und es iſt keineswegs nothwendig, daß damit die ſtatsrechtliche Abſicht, aus einem Statsverband in einen andern überzugehen, verbunden wird. Der Code civil (§ 17) erklärt ausdrücklich, daß die kaufmänniſche Etablirung in einem fremden Lande im Zweifel nicht als Auswanderung anzuſehen ſei. Sie geſchieht nicht „ sans esprit de retour “.
Jeder Stat iſt verpflichtet, ſeine Angehörigen wieder in ſeinem Lande aufzunehmen, wenn ſie von andern Staten aus öffentlich-rechtlichen Grün - den heimgewieſen oder zugeſchoben werden.
Die Heimweiſung und der Zuſchub findet hauptſächlich aus zwei Gründen Statt, a) wenn die Individuen außer Stande ſind, ſich ſelber zu ernähren und der Hülfe bedürfen, b) wenn dieſelben die Rechtsſicherheit in dem fremden Lande bedrohen. Der Heimatsſtat kann ſich in beiden und in ähnlichen Fällen überhaupt nicht wei - gern, ſeine Landsleute aufzunehmen, da ſie zu ſeinem Lande gehören. Eben darum iſt auch die Strafe der Verbannung nur unter der Vorausſetzung durchzuführen, daß die verbannten Perſonen ſich in der Fremde zu erhalten im Stande ſind und nicht überall zurückgewieſen werden. In neuerer Zeit beklagen ſich die Vereinigten Staten von Nordamerika und wohl noch andere außereuropäiſche Colonialſtaten dar - über, daß die europäiſchen Staten ihre Gefängniſſe dadurch entleeren, daß ſie Ver - brecher und liederliches Geſindel dorthin auswandern laſſen und ihre Ueberſiedlung unterſtützen. Dieſe Beſchwerde iſt nicht ohne Grund und es entſtehen aus einer ſolchen Praxis für die Colonien ernſtliche Gefahren. Die überſeeiſchen Staten können ſich gegen ſolchen Mißbrauch ihres Gebiets dadurch wahren, daß ſie ihren Entſchluß ankündigen, ſie werden ſolche Verbrechercoloniſten wieder in den abſendenden Heimatsſtat zurückbringen laſſen. Dazu ſind ſie ohne Zweifel berechtigt, und der Heimatsſtat, der ſeine Angehörigen aufnehmen muß, wird in Zukunft nicht mehr das fremde Land als einen bequemen Ort für Verbrecher-Coloniſten be - trachten.
Zur Vermeidung der Heimatloſigkeit iſt die Annahme begründet, daß aus dem Wohnort in einem beſtimmten State oder ſelbſt aus lange fort - geſetztem Aufenthalt in einem Lande, in Ermanglung anderer Gründe für einen andern Statsverband, auf Statsangehörigkeit geſchloſſen werde.
214Fünftes Buch.Heimatloſe werden die Perſonen genannt, deren Statsangehörigkeit un - ſicher iſt. In der civiliſirten Statenwelt beſteht ein allgemeines Intereſſe, daß es keine Heimatloſen gebe. Sie ſind eine Ausnahme von der wichtigen Regel, daß die Individuen im Statsverbande leben und meiſtens auch eine Gefahr für die Sicher - heit der Geſellſchaft. Daher die Verſuche, die Fälle der Heimatloſigkeit möglichſt zu beſchränken. Die Convention der deutſchen Staten vom 15. Juni 1851 beſtimmt, daß jeder Stat Perſonen, welche keinem der Staten erweislich zugehören, dann als Angehörige bei ſich aufnehmen müſſe, wenn dieſelben fünf Jahre lang als Volljährige ſich in ſeinem Gebiete aufgehalten oder als Eheleute daſelbſt auch nur ſechs Wochen lang gewohnt oder daſelbſt ihre Ehe geſchloſſen haben, eventuell, wenn ſie in dieſem Lande geboren ſind. Der wechſelſeitige Zuſchub von heimatloſen Per - ſonen von einem State zum andern iſt nicht bloß inhuman, ſondern auch mit Ge - fahren für die Sittlichkeit und die Sicherheit verbunden und eine Quelle von un - nützen Streitigkeiten zwiſchen den Nachbarſtaten.
Wie der freie Menſch nicht an die Scholle gebunden iſt, ſo iſt auch der freie Statsbürger nicht an das Land ſeiner Heimat gebunden.
Die Verhältniſſe in beiden Fällen ſind allerdings nicht gleich, denn im erſten Fall wird nur das Verhältniß einer Perſon zu einer Sache, dem Grund - ſtück gelöst und es iſt ſelbſtverſtändlich, daß der Sache kein Recht zukommt, die Perſon an ſich zu feſſeln. Im zweiten Fall dagegen wird der Verband zwiſchen dem einzelnen Statsgenoſſen und dem ganzen Stat gelöst, alſo der Verband zwiſchen zwei Perſonen, von denen überdem die letztere der erſtern übergeordnet iſt. Indem die frühere Rechtsbildung dieſe Abhängigkeit betonte, ſprach ſie den ent - gegengeſetzten Grundſatz aus, daß kein Statsgenoſſe willkürlich auf ſeine Statsange - hörigkeit verzichten, beziehungsweiſe aus ſeinem Unterthanenverband austreten dürfe. Heute noch hält das engliſche Statsrecht dieſen Grundſatz im Princip feſt, wenn gleich es in der Praxis der Auswanderung keine ernſten Hinderniſſe bereitet. Viele Statsrechte legen wenigſtens noch auf die Form der „ Entlaſſung “aus dem Statsverband einen Werth. Aber allmählich hat doch die Anſicht Geltung erlangt, daß es des States unwürdig ſei, ſeine Angehörigen wider Willen feſt zu halten, als wären ſie Statshörige, und daß es für die heutige Civiliſation und den reicheren Wechſelverkehr der Nationen weit erſprießlicher ſei, die volle Auswanderungs - freiheit anzuerkennen.
Durch die vollzogene Auswanderung wird das Band gelöst, durch welches der Auswanderer bisher mit ſeinem frühern Heimatlande verbun - den war.
215Die Statshoheit im Verhältniß zu den Perſonen.Die Auswanderung wird dadurch vollzogen, daß der bisherige Statsgenoſſe ſein Heimatland in der Abſicht verläßt, die Statsgenoſſen - ſchaft mit demſelben aufzugeben und von einem andern State in deſſen Statsverband aufgenommen wird.
Es kann Jemand ſein Vaterland in der Abſicht verlaſſen, anderwärts ein Etabliſſement zu gründen oder irgend einen Beruf zu treiben, ohne daß er die Ab - ſicht hat, ſein Statsbürgerrecht aufzugeben. Das iſt nicht Auswanderung. Aber auch die Abſicht allein genügt nicht zur Löſung des Bandes. Abgeſehen von der in manchen Staten geforderten Entlaſſung aus dem Statsverband, iſt als entſcheidend die Aufnahme in eine neue Statsgenoſſenſchaft anzuſehn. Denn es beſteht ein allgemeines völkerrechtliches Intereſſe, keine neue Heimatloſigkeit aufkom - men zu laſſen. Daher dauert die alte Statsgenoſſenſchaft in völkerrechtlichem Sinne dennoch fort, bis die neue an ihre Stelle getreten iſt; aber auch nicht darüber hinaus, gegen den Willen des Betheiligten, weil ſonſt leicht Conflicte zwiſchen den beiden Staten entſtehen, die im Intereſſe des friedlichen Verkehrs zu vermeiden ſind. Der neue Statsverband verdient deßhalb den Vorzug vor dem ältern, weil dieſer nicht mehr, wohl aber jener mit dem Willen des Auswanderers und mit den that - ſächlichen Verhältniſſen desſelben zuſammen ſtimmt. Die franzöſiſche Geſetzgebung (Cod. civ. § 17) ſpricht das richtige Princip aus: „ La qualité de Français se perdra par la naturalisation en pays étranger. “
Wenn der Auswanderer die Pflichten verletzt, welche er nach dem Geſetze ſeines Landes zu erfüllen hat, bevor er auswandern darf, ſo kann er von dem verlaſſenen State auch dann noch innerhalb deſſen Gerichts - barkeit zur Rechenſchaft und Strafe gezogen werden, wenn er eine neue Statsgenoſſenſchaft erworben hat, aber er hat trotzdem Anſpruch auf den Schutz ſeines neuen Heimatſtats dafür, daß nicht durch jene Beſtrafung ſein gegenwärtiger Rechtsverband mißachtet werde.
Nach Preußiſchem Rechte wurden ſo Preußiſche Auswanderer, welche ſich der geſetzlichen Militärpflicht entzogen hatten, wenn ſie ſpäter wieder nach Preußen zurückkamen, vor Gericht geſtellt und geſtraft. Darüber kam es mit den Vereinigten Staten von Amerika wiederholt zu Erörterungen, indem ſich dieſe ihrer Einwanderer und neuen Bürger annahmen. Der Conflict der beiden Staten läßt ſich, abgeſehen von beſonderen Verträgen, nur dadurch löſen, daß jedem State ſein Recht wird, dem vormaligen Heimatſtate ſein Recht, die Fahnenflüchtigen wegen der unbeſtreitbaren Pflichtverletzung zu ſtrafen, aber auch dem neuen Heimat - ſtate ſein Recht, nunmehr ſeinerſeits den Neubürger als ſolchen zu ſchützen und deſſen militäriſche Dienſte vorzugsweiſe in Anſpruch zu nehmen.
In der Regel iſt jedes Individuum nur mit Einem State verbunden und iſt die Statsgenoſſenſchaft wie das Statsbürgerrecht auf Ein Land beſchränkt.
Die Natur der Statsgenoſſenſchaft, welche hinwieder eine Vorbedingung iſt des Statsbürgerrechts, iſt ſo entſcheidend für das ganze perſönliche Rechtsverhältniß und der Verband des Einzelnen mit dem State iſt ein ſo enger, daß eine Spaltung der Einen Perſon nach zwei Staten hin oder eine zwiefache Verbindung derſelben erhebliche Schwierigkeiten und ernſte Bedenken gegen ſich hat. Man kann ohne Be - denken zugleich Mitglied verſchiedener Actiengeſellſchaften, aber nicht ebenſo leicht Bürger in zwei Staten ſein. Daher iſt in manchen Ländern die geſetzliche Beſtim - mung vorgeſchrieben, daß Niemand neu als Statsgenoſſe aufgenommen (naturaliſirt) werde, wenn er nicht aus ſeinem bisherigen Statsverbande entlaſſen worden ſei. Man will dadurch den möglichen Conflicten einer zwiefachen Statsgenoſſen - ſchaft entgehen. Aber es läßt ſich in dieſer Form nicht immer helfen, weil mög - licher Weiſe der eine Stat die Entlaſſung verweigert, während der andere die Natu - raliſation für gerechtfertigt und zweckmäßig hält.
In zuſammengeſetzten Staten (Bundesſtaten und Statenreichen) kommt regelmäßig eine doppelte Beziehung der Statsangehörigkeit und des Stats - bürgerrechts vor, einmal gegenüber dem Geſammtſtate und ſodann gegenüber dem Einzelſtate. Dieſe beiden Verbände widerſtreiten ſich nicht, weil der zuſammengeſetzte Stat in ſich ſelber denſelben Gegenſatz zwiſchen Einem Geſammtſtat und mehreren Einzelſtaten friedlich zu einigen weiß.
Ausnahmsweiſe können ein Einzelner und deſſen Familie mit zwei oder mehreren einander fremden Staten als Statsgenoſſen verbunden ſein.
Wenn aus dieſer Doppelbeziehung ſich ein Conflict der Statsrechte und der Bürgerpflichten ergeben ſollte, ſo wird angenommen, daß der Statsverband vorzugsweiſe wirkſam ſei, in deſſen Lande der Doppelbürger gegenwärtig wohnt und daß die Wirkſamkeit des Statsverbands ſuspendirt ſei, in deſſen Lande der Doppelbürger zur Zeit nicht wohnt.
Vgl. die ähnliche Entſcheidung in § 371. Derartige Ausnahmen kommen unleug - bar vor. Die ſtandesherrlichen Familien in Deutſchland gehören öfter gleichzeitig dem Statsverbande zweier oder mehrerer deutſcher Staten an und ihre Häupter haben dann Stimmrecht in den Erſten Kammern verſchiedener Staten. Ebenſo fin - den ſich manche andere Beiſpiele, daß Angehörige eines Stats, ohne den Verband mit ihrem alten Vaterland abzulöſen, in einen fremden Statsdienſt eingetreten und in Folge deſſen auch Statsgenoſſen eines andern Stats geworden ſind. Ich217Die Statshoheit im Verhältniß zu den Perſonen.hatte früher angenommen, daß in dem Conflictfall das ältere Recht vorgehe. Aber ich habe mich ſeither überzeugt, daß der Grundſatz der Auswanderungsfreiheit und zugleich der thatſächlich nähere Verband mit dem State des Wohnorts als entſcheidend anerkannt werden muß. Vgl. v. Bar, Internat. Privat - und Straf - recht S. 88.
Der Stat iſt berechtigt, aus öffentlich-rechtlichen Gründen, insbeſon - dere zur Erfüllung der Kriegspflicht, ſeine Angehörigen aus einem fremden Lande weg - und heimzurufen.
Der fremde Stat iſt aber nicht verpflichtet, demſelben bei dem Voll - zug dieſes Befehls beizuſtehen und ſolche Fremde aus ſeinem Gebiete weg - zuweiſen.
Man nennt dieſen Recht jus avocandi. Es iſt eine Folge der Herrſchaft des Stats über ſeine Angehörigen, aber dieſe Herrſchaft iſt nicht eine abſolute, ſon - dern eine verfaſſungsmäßig beſchränkte. Es darf daher der Rückruf nicht aus bloßer Laune geſchehen. Aber auch den wohl begründeten Rückruf braucht der Aufenthaltsſtat nicht zu unterſtützen, da das ganze Verhältniß nur der Beziehung des Statsgenoſſen zu ſeinem Heimatſtat angehört, der Aufenthaltsſtat aber kein In - tereſſe daran und daher keinen Grund hat, die perſönliche Freiheit der fremden Rei - ſenden oder derer, die ſich in ſeinem Gebiete aufhalten wollen, zu beſchränken.
Die Steuerpflicht gegen den Stat wird in der heutigen Rechtsbil - dung regelmäßig von dem Wohnort, und nicht von dem Statsverband abhängig gemacht.
Ausnahmsweiſe aber kann der Heimatſtat von ſeinen im Ausland lebenden Bürgern oder Angehörigen gewiſſe Steuern (z. B. Armenſteuern) fordern. Wenn aber das geſchieht, ſo iſt der Stat des Wohnorts oder Aufenthaltsorts in keiner Weiſe verbunden, bei der Steuererhebung mit - zuwirken.
218Fünftes Buch.Der Wohnort iſt der Centralort des perſönlichen Lebens, Wir - kens, Genießens der Steuerpflichtigen und ihres Haushalts. Um deßwillen hält ſich der Stat, wenn er Steuern fordert, vorzugsweiſe an dieſen Ort. Die Bei - treibung von Steuern im Auslande iſt überdem thatſächlich ſchwer durchzuführen, weil der Stat dort keine Steuererheber hat und keine Zwangsmittel anwenden kann, und der fremde Stat ſeine Anſtalten und ſeine Zwangsmittel ihm für ſolche Zwecke nicht zur Verfügung ſtellt.
Grundſtücke und Gewerbe werden in der Regel nur da verſteuert, wo jene liegen und dieſe betrieben werden.
Der Stat, in dem dieſelben ſich befinden, hat gerade ein Intereſſe, ſich einer Beſteuerung durch den fremden Stat zu widerſetzen, auch dann, wenn der Eigen - thümer des Grundſtücks oder des induſtriellen oder Handelsetabliſſements ein Stats - genoſſe dieſes letzteren States iſt. Denn doppelte Beſteuerung von demſelben Steuerobject iſt Ueberbürdung desſelben mit Steuern, und wirkt in nationalwirth - ſchaftlicher Hinſicht ſchädlich.
Der Stat kann über die Statsgenoſſen in fremdem Lande ſeine Gerichtsbarkeit nicht üben, wenn nicht ausnahmsweiſe der fremde Stat das zugeſteht.
Beiſpiele ſolcher Ausnahmen ſiehe oben § 216. 220.
Es hängt von der Landesgeſetzgebung ab, zu beſtimmen, inwiefern die Privatgeſetze für die Statsgenoſſen auch im Auslande rechtsverbindlich ſeien.
In der Regel wirkt auch die Civilgeſetzgebung nur innerhalb des Landes; d. h. das ſogenannte Territorialprincip iſt entſcheidend. Das entgegengeſetzte Perſonalprincip wirkt am eheſten in den perſönlichen und Familienverhält - niſſen, wie z. B. den Bedingungen der Ehe, dem Vormundſchaftsrecht, dem geſetzlichen Erbverband u. dgl.
Der Heimatsſtat iſt berechtigt und im Verhältniß zu ſeiner Macht219Die Statshoheit im Verhältniß zu den Perſonen.auch verpflichtet, ſeinen Angehörigen im Ausland den den Umſtänden an - gemeſſenen Schutz durch völkerrechtliche Mittel zu gewähren,
Der Heimatsſtat iſt in ſolchen Fällen berechtigt, von dem fremden State Beſeitigung des Unrechts, Genugthuung und Entſchädigung, nach Umſtänden auch Garantien gegen ähnliche Verletzungen zu fordern.
Fälle der Art ſind z. B.: Der fremde Stat nimmt die Reiſenden ohne Grund gefangen, macht ſie zu Sclaven, nöthigt ſie zu einem andern Religionsbekenntniß, beraubt ſie ihres Vermögens, behandelt ſie ſonſt in grauſamer Weiſe, verletzt an ihnen die zum Schutz des Handels - und Fremdenverkehrs abgeſchloſſenen Verträge oder die gute Sitte des internationalen Verkehrs. Nur die Staten, nicht die Privat - perſonen ſind völkerrechtliche Perſonen im eigentlichen Sinne, aber auch dieſe haben durch Vermittlung jener einen Anſpruch auf völkerrechtlichen Schutz.
Wird der Inländer im Auslande zunächſt nicht durch den fremden Stat d. h. durch deſſen Organe (Beamte, Diener) oder der von der Statsgewalt begün - ſtigten Bevölkerung in ſeiner Perſon oder ſeinem Vermögen verletzt, ſondern durch Privatperſonen, denen allein die Rechtsverletzung als Schuld angerechnet wer - den kann, z. B. durch Räuber, Diebe, Raufer u. ſ. f., ſo tritt keineswegs in erſter Linie der heimatliche Statsſchutz ein, ſondern es hat zunächſt der Stat, in deſſen Gebiet die Rechtsverletzung geſchehen iſt, durch ſeine Rechtspflege für Beſeitigung des Unrechts und je nach Umſtänden Beſtrafung der Verbrecher zu ſorgen. Mit gutem Grunde würde dieſer Stat, dem allein die Gerichtsbarkeit in ſeinem Lande zukommt, eine unzeitige Einmengung eines fremden Stats in die Verwaltung ſeiner Rechts - pflege ſich verbitten. Der beleidigte oder verletzte Angehörige eines andern States muß ſich demnach zunächſt an die Behörden des States um Rechtshülfe wenden, in dem er wohnt. Nur wenn ihm der Rechtsweg abgeſchnitten und der Rechtsſchutz verweigert wird, vorher nicht, iſt Grund zu einer Intervention ſeines Heimatsſtates vorhanden. Man hat ſich hier vor zwei Extremen zu hüten, dem einen, welches die Statsangehörigen im Ausland ſchutzlos der Bedrängniß und Mißhandlung Preis gibt, — es war das bis auf die neuere Zeit die wohl begrün - dete Klage der Angehörigen deutſcher Klein - und Mittelſtaten — und dem andern, einer ungebührlichen Einmiſchung in die fremde Rechtspflege und Verwal - tung zu Gunſten von Statsangehörigen, welche die diplomatiſche Unterſtützung da anrufen, wo ſie gleich andern Privatperſonen nur berechtigt ſind, ordentliche Rechts - mittel anzuwenden — eine Ueberſpannung des Statsſchutzes, die man nicht ohne Grund zuweilen England vorgeworfen hat. Im erſtern Fall wird die Sicherheit220Fünftes Buch.der Privatperſonen im Ausland gefährdet, im zweiten die Rechtsgleichheit der Staten und die Selbſtändigkeit der Rechtspflege bedroht.
In allen dieſen Verhältniſſen wird übrigens bona fides vorausgeſetzt. Wenn unter dem Schein der geordneten Rechtspflege die fremden Landesgerichte unſern Statsangehörigen offenbar als rechtlos behandeln oder ſeiner Nationalität wegen be - drücken, wenn ſie ihm nur ſcheinbar Rechtsſchutz gewähren, in Wahrheit aber ihn der Verfolgung Preis geben, ſo iſt auch in ſolchen Fällen der Heimatsſtat berechtigt, ſich ſeines Statsgenoſſen diplomatiſch anzunehmen. Nicht weil er einen Proceß ver - liert, den er gewinnen zu müſſen meinte, auch nicht, weil vielleicht nach der Meinung der einheimiſchen Juriſten das fremde Urtheil unrichtig iſt, hat er Anſpruch auf Schutz des Heimatsſtats, ſondern nur, weil der fremde Stat in ihm das Völ - kerrecht mißachtet.
Kein Stat iſt berechtigt, den Fremden überhaupt die Betretung ſei - nes Gebiets zu unterſagen und ſein Land von dem allgemeinen Verkehr abzuſperren.
Der Schutz des friedlichen Verkehrs innerhalb der Menſchheit iſt eine Pflicht des civiliſirten Völkerrechts. Die ältere Lehre, von der Souveränetät des States ausgehend, folgerte daraus die Berechtigung der Statsgewalt, alle Frem - den auszuſchließen. Aber die Staten ſind Glieder der Menſchheit und deßhalb ver - pflichtet, die Verbindung der Menſchen zu achten, und ihre Souveränetät iſt kein abſolutes Recht, ſondern ein durch das Völkerrecht beſchränktes Recht. Die allgemeine Abſchließung von jedem Fremdenverkehr iſt in den verſchiedenen Zeitaltern von ein - zelnen Staten verſucht worden, und nicht bloß von barbariſchen Stämmen, welche alle Fremde als Feinde haſſen, ſondern von Culturvölkern, wie im Alterthum von Aegypten, und in neuerer Zeit von Paraguay und Japan. Das heutige Völkerrecht duldet aber dieſe Abſchließung nicht mehr. Vgl. oben § 163.
Jeder Stat iſt berechtigt, einzelnen Fremden aus Gründen ſowohl des Rechts als der Politik den Eintritt in ſein Land zu unterſagen.
221Die Statshoheit im Verhältniß zu den Perſonen.Die Ausſchließung bedarf der Motivirung mit Gründen der ſtatlichen Ord - nung und Sicherheit oder des öffentlichen Wohls. Sonſt wäre ſie im Widerſpruch mit dem völkerrechtlichen Grundſatz des freien Verkehrs. Die Beurtheilung der Gründe ſteht aber bei dem State, der innerhalb ſeines Gebiets die Statshoheit aus - zuüben berufen iſt.
Ebenſo iſt der inländiſche Stat berechtigt, aus öffentlichen Gründen einzelne Fremde, welche ſich nur vorübergehend in ſeinem Lande aufhalten, aus ſeinem Gebiete wegzuweiſen. Haben ſie aber einen feſten Wohnſitz daſelbſt erworben, ſo genießen ſie auch den damit verbundenen erhöhten Rechtsſchutz.
Das ſogenannte Droit du renvoi darf wieder nicht als ein abſolutes Recht des States betrachtet werden, ſonſt wäre das Recht des allgemeinen Weltver - kehrs neuerdings bedroht. Der Stat iſt kein abſoluter Herr weder über das Land noch über die Menſchen im Lande. Auch in dieſer Hinſicht iſt die ältere Lehre zu ſehr von der mittelalterlichen Vorſtellung des Eigenthums am Land und von der abſolutiſtiſchen Idee einer unbeſchränkten Souveränetät mißleitet wor - den. Meiſtens wird noch der Statsgewalt die Macht zugeſtanden, nach eigenem Er - meſſen durch bloße Verwaltungs - und Regierungsacte über die Wegweiſung von Fremden zu entſcheiden, ohne daß die davon Betroffenen einen genügenden Rechts - ſchutz bei den Gerichten finden.
Wird ein gehörig legitimirter Fremder ohne Grund verhindert, das Land zu betreten oder grundlos oder in ungebührlicher Form weggewieſen, ſo iſt ſein Heimatsſtat veranlaßt, wegen Verletzung des völkerrechtlichen Verkehrs Beſchwerde zu führen und je nach Umſtänden Genugthuung zu fordern.
In ſeinen Angehörigen kann auch der Stat verletzt werden, der berufen iſt, ſie zu ſchützen. Die bloß willkürliche und gehäſſige Wegweiſung kann daher zu di - plomatiſchen Erörterungen führen, und der Fremde, der davon betroffen wird, iſt jedenfalls veranlaßt, die Beihülfe ſeines Conſuls oder die Dazwiſchenkunft ſeines Geſanten anzurufen.
Es iſt Sache der Landesgeſetzgebung, zu beſtimmen, ob und unter222Fünftes Buch.welchen Bedingungen Landesfremde Grundeigenthum erwerben und Handel oder Gewerbe in dem Lande ſelbſtändig betreiben dürfen.
Das Völkerrecht entſcheidet darüber nicht, ſondern das Statsrecht, außer wenn durch Statenverträge nähere auch dem andern Stat gegenüber bindende Be - ſtimmungen getroffen ſind.
Die Fremden haben einen rechtmäßigen Anſpruch auf den geſetzlichen und landesüblichen Rechtsſchutz ihrer Perſönlichkeit, ihrer Familien - und Vermögensrechte.
Im Alterthum und im Mittelalter verſtand ſich dieſes Recht der Fremden keineswegs. Vielmehr wurden ſie als rechtloſe Leute betrachtet, wenn ſie nicht unter den beſondern Schutz eines Gaſtfreundes oder Patrones oder eines Grundherrn oder angeſehenen Bürgers geſtellt waren. Die Fremden von heute dagegen ſtehen unter dem Schutze des humaner gewordenen Rechtes der civiliſirten Völker. Auch der früher beliebte Vorzug der Einheimiſchen vor den Ausländern in der Geltendma - chung von Forderungen und insbeſondere im Concurſe wird immer mehr als unge - recht und der heutigen auf Gleichheit gegründeten Rechtsbildung zuwiderlaufend all - mählich überall beſeitigt. Zunächſt freilich entſcheidet die Landesgeſetzgebung über die Bedingungen und die Ausdehnung des den Fremden zukommenden Rechtsſchutzes. Aber offenbare Unbill, welche der Stat gegen die Fremden üben wollte, würde Re - clamationen der Staten rechtfertigen, welchen dieſelben angehören.
Kein Stat iſt verpflichtet, fremden Perſonen Privilegien oder ſolche perſönliche und Standesrechte zuzugeſtehn, welche mit der Verfaſſung und den Grundrechten desſelben nicht vereinbar ſind. Vorbehalten bleiben die Rechte ſouveräner Perſonen und ihrer Vertreter.
Ein Stat, deſſen Verfaſſung keinen Adel duldet, wie z. B. die Vereinigten Staten von Nordamerika, kann daher auch fremden Adlichen keine beſondern Adels - rechte zugeſtehen. Strenge genommen braucht aber auch ein Stat, in dem es noch Adelsprivilegien gibt, dieſelben fremden Adlichen deßhalb nicht einzuräumen, weil die Inſtitution des Adels von weſentlich öffentlich-rechtlichem Urſprung und ein Theil der beſondern Statsverfaſſung iſt, welche als ſolche nicht auf ein anderes Land übertragbar iſt. Indeſſen werden die Ehrenvorzüge, welche dem eigenen Adel zu - kommen, der Sitte gemäß gewöhnlich auch den Fremden von ähnlicher Rangſtellung eingeräumt, und auch inſofern eine möglichſt gleichmäßige Behandlung der Einhei - miſchen und der Fremden angeſtrebt.
Die Fremden ſind verpflichtet, die Verfaſſung und Rechtsordnung des Landes zu beachten und dürfen dieſelben nicht verletzen. Sie ſind der einheimiſchen Statsgewalt zwar nicht in Folge des Statsverbands aber inſofern unterworfen, als dieſelbe allein in dem Lande Autorität und Macht hat.
Die Exterritorialität, von der oben § 135 die Rede war, iſt eine Ausnahme von der Regel, daß ſich die Gerichtsbarkeit und Polizeigewalt über Einheimiſche und Fremde erſtreckt. Andere Ausnahmen gründen ſich zuweilen auf beſondere Verträge oder auf Herkommen. Immerhin aber wirkt die Rückſicht darauf, daß die Fremden nicht perſönlich dem State verbunden ſind, wo ſie gerade ſich aufhalten, ſondern einem andern State angehören, ſehr bedeutend ein und vermindert und er - mäßigt die Ausübung der einheimiſchen Statsgewalt gegen Fremde. Selbſt bei Ver - waltung der Strafrechtspflege und der Policeigerichtsbarkeit verdient das vielleicht mangelhafte Verſtändniß der einheimiſchen Vorſchriften und Sitten von Seite der Fremden eine billige und ſchonende Rückſicht.
Die Fremden, welche nur vorübergehend ihren Aufenthalt im Lande nehmen, dürfen nicht zu den Landesſteuern beigezogen werden. Wohl aber ſind ſie ſchuldig, die Gebühren für öffentliche Leiſtungen wie die Einhei - miſchen zu bezahlen und es kann ihnen auch eine mäßige Gebühr für den Aufenthalt auferlegt werden.
Die regelmäßige Steuerpflicht ſetzt entweder Statsangehörigkeit der Steuerpflichtigen oder Landesangehörigkeit der beſteuerten Güter (in - ländiſche Grundſtücke und Etabliſſements) voraus. In dieſen beiden Beziehungen ſind die durchreiſenden Fremden nicht ſteuerpflichtig. Inwiefern dagegen von der Verzehrung von Gütern mittelbar eine Steuer erhoben wird (Conſumtionsſteuer) oder von der Bewegung der Handelsgüter Zölle bezogen werden, ſo treffen natürlich dieſe Abgaben die Fremden, welche jene Güter conſumiren und zollbare Waaren ein - oder ausführen, ganz ebenſo wie die Einheimiſchen.
Fremde, welche im Lande anſäſſig ſind, oder Grundbeſitz im Lande haben, ſind im Zweifel gleich Einheimiſchen den Landesſteuern und der Grundſteuer unterworfen.
Vgl. oben § 280.
Landesfremde ſind im Inland nicht militärpflichtig. Vorbehalten bleiben Nothfälle zur Vertheidigung eines Ortes wider Räuber oder Wilde.
Die Militärpflicht iſt weſentlich politiſche Pflicht und daher von der Statsgenoſſenſchaft nicht zu trennen. Wie den Fremden in der Regel nicht politiſche Rechte eingeräumt werden, ſo dürfen ihnen auch nicht ſo ſchwere politiſche Pflichten auferlegt werden. Würden die Fremden genöthigt, Militärdienſte in fremdem Lande zu thun, ſo würden ſie unter Umſtänden genöthigt, für ihnen fremde Statsintereſſen und gegen die politiſchen Intereſſen ihres Vaterlandes ihr Leben einzuſetzen, was offenbar unnatürlich wäre. Selbſt wenn die Fremden anſäſſig im Lande ſind, ſo dürfen ſie höchſtens zu ſolchen Militärdienſten herbeigezogen werden, welche den Zweck haben, Perſonen und Eigenthum durch locale Kraftentwicklung zu ſchützen, alſo zur Vertheidigung des Orts, aber nicht zu politiſcher Kriegsführung.
Den Fremden muß der freie Wegzug jederzeit offen ſtehn.
Im Mittelalter war dieſes Recht auch in den europäiſchen Staten keineswegs anerkannt. Heute wird es nur in barbariſchen Ländern noch beſtritten. Es folgt aus dem natürlichen Recht des menſchlich-freien Verkehrs.
Auch der Wegzug des Vermögens oder der Verlaſſenſchaft von Fremden darf in der Regel nicht verwehrt, noch mit beſondern Steuern oder Abzügen beläſtigt werden.
Bis in unſer Jahrhundert hinein galten in den meiſten europäiſchen Ländern noch andere Grundſätze. Der Wegzug insbeſondere von Capitalvermögen wurde noch vielfältig mit Abzugsſteuern beſchwert und noch mehr der Wegzug von Verlaſſenſchaften. Die mittelalterlichen Landesherrn behaupteten öfter ein ausſchließliches Recht auf die Verlaſſenſchaft der Fremden zu haben, welche ſich in ihrem Territorium vorfand, ſelbſt mit Ausſchluß der ausländiſchen Erben. Man nannte das jus albinagii, droit d’aubaine. War es nicht mehr möglich, den Fremden ſelbſt als ein rechtloſes Weſen zu behandeln, ſo behandelte man doch ſeine Verlaſſenſchaft als ein herrenloſes Gut. Unſere heutige Rechtsbildung erkennt darin eine widerrechtliche Barbarei und gibt auch die ermäßigte Form der Abzugs - ſteuern nicht mehr zu. In einer ſehr großen Anzahl von Statenverträgen ſind dieſe Abzugsgelder vertragsmäßig während unſers Jahrhunderts abgeſchafft worden. All - mählich iſt aber aus dieſem Vertrags - und Geſetzesrecht allgemeines interna -225Die Statshoheit im Verhältniß zu den Perſonen.tionales Recht geworden, ſo daß heute die Einführung ſolcher Abgaben als Ver - letzung des internationalen Verkehrs empfunden und zu völkerrechtlichen Beſchwerden der Staten Anlaß geben würde.
Jeder Stat iſt kraft ſeiner Selbſtändigkeit berechtigt, Fremden den Aufenthalt in ſeinem Lande zu geſtatten.
Dieſes Recht des States, Fremde aufzunehmen und zu ſchützen, kann ausgeübt werden, ungeachtet der Heimatsſtat derſelben ſeine Stats - angehörigen zurückruft oder deren Auslieferung begehrt.
Vgl. oben § 375. Freilich läuft der Stat, welcher längere Zeit Fremden gegen den Willen ihres Heimatſtats in ſeinem Lande Aufenthalt gewährt, die Gefahr, daß der Heimatsſtat dieſelben ihrer Statsgenöſſigkeit für verluſtig erklärt und er genö - ihigt wird, dieſelben nun zu behalten, beziehungsweiſe in ſeine Angehörigkeit aufzu - nehmen.
Eine Pflicht, flüchtige fremde Verbrecher oder eines Verbrechens an - geklagte Flüchtlinge dem verfolgenden Gerichte auszuliefern, wird nur in - ſofern anerkannt, als dieſelbe entweder durch beſondere Statenverträge (Auslieferungsverträge) begründet oder zur Sicherung eines allgemeinen Rechtszuſtandes als nothwendig erſcheint.
Im letztern Fall iſt die Auslieferungspflicht jedenfalls auf ſchwere und gemeine Verbrechen beſchränkt, und ſetzt voraus, daß die Rechtspflege des verfolgenden Stats hinreichende Garantien gebe für eine civiliſirte Verwaltung der Gerechtigkeit.
Die Meinungen über die Auslieferungspflicht und das Aſylrecht ſind noch ſehr getheilt ſowohl in der Statenpraxis als in der Wiſſenſchaft. Noch machen ſich extreme Meinungen geltend. Zuweilen wird ein unbeſchränktes Aſylrecht der Staten behauptet, welches nur durch Auslieferungsverträge beſchränkt werde. Die Vertheidiger dieſer Anſicht — Puffendorf, Martens, Story und andere — führen dafür an, daß dieſe Flüchtlinge nicht die Rechtsordnung desBluntſchli, Das Völkerrecht. 15226Fünftes Buch.Aſylſtats verletzt haben, und daher auch nicht von dieſem zu verfolgen ſeien, daß die Strafgewalt ihrem Weſen nach territorial und nicht international ſei, daß jedenfalls geringe Sicherheit für eine im Sinne des Aſylſtates geübte Juſtiz vor - handen ſei und daß daher der Aſylſtat keine Veranlaſſung habe, einer fremden Ge - richtsbarkeit zu dienen und keine Verpflichtung, ſeine Schutzhoheit zu beſchränken.
Aber auch für die entgegengeſetzte Meinung haben ſich jederzeit gewichtige Stimmen erhoben, wie die von Grotius, Vattel, Kent u. ſ. f., welche auf das allgemeine Intereſſe an der Handhabung der Gerechtigkeit und die Nothwendigkeit der Beſtrafung der Verbrecher hinweiſen, auf die Gefahren aufmerkſam machen, welche daraus für die Geſellſchaft entſtehen, wenn Verbrecher leicht einen Zufluchtsort fin - den, in dem ſie ſich ſicher fühlen und von wo aus ſie ihre Angriffe auf die Rechts - ordnung erneuern, und daraus die Pflicht der Staten ableiten, einander in der wirkſamen Handhabung der Strafrechtspflege zu unter - ſtützen.
Meines Erachtens würde ein unbeſchränktes Aſyl die allgemeine menſch - liche Rechtsordnung und Rechtsſicherheit bedrohen, zumal bei der Beweglichkeit der heutigen Verkehrsmittel. Es iſt ein allgemeines Intereſſe, nicht ein bloßes Landes - intereſſe, daß Mörder, Räuber, grobe Betrüger und große Diebe beſtraft werden. Vortrefflich hat der franzöſiſche Miniſter Rouher (Rede vom 4. März 1866) die Gründe für die Auslieferungspflicht mit wenigen Worten ausgeſprochen: „ Der Grundſatz der Auslieferung iſt der Grundſatz der Solidarität, der wechſelſeiti - gen Verſicherung unter Regierungen und Völkern gegen ein überall drohendes Uebel (contre l’ubiquité du mal) “.
Aber auch eine abſolute Auslieferungspflicht würde in manchen Fällen die Intereſſen der Humanität und der Freiheit ernſtlich gefährden, und man darf nicht vergeſſen, daß manche Verbrechen ausſchließlich den davon betroffenen Stat und nicht die menſchliche Geſellſchaft verletzen und daß auch die Vertheidiger des Aſyls gute Gründe anführen, auf welche innerhalb der nöthigen Schranken billige Rückſicht zu nehmen iſt.
Wo die Statenverträge die Auslieferung im Einzelnen näher ordnen, und das iſt in neuerer Zeit ſehr oft geſchehen, da kommen natürlich die vertrags - mäßigen Beſtimmungen zur Anwendung. Wenn keine Verträge binden, ſo muß man ſich an die allgemeinen Rechtsgrundſätze halten. Da aber dieſe heute noch nicht gleichmäßig und nicht allgemein anerkannt ſind, ſo hängt es that - ſächlich noch von dem Ermeſſen des Aſylſtates ab, zu beſtimmen, in wie weit er ſich durch die allgemeine Rechtsordnung für gebunden erachte. Es iſt aber möglich und ſogar wahrſcheinlich, daß allmählich einige Hauptgrundſätze in der civi - liſirten Welt ſich allgemeine Billigung erringen und ſo weit das geſchieht, wird dann die Willkür der einzelnen Staten beſchränkt.
Den politiſchen Flüchtlingen darf jeder Stat freies Aſyl gewähren. Der Aſyl gebende Stat iſt nicht verpflichtet, auf Begehren des verfolgenden227Die Statshoheit im Verhältniß zu den Perſonen.Stats dieſelben auszuliefern oder wegzuweiſen. Aber der Aſylſtat iſt ver - pflichtet, nicht zu geſtatten, daß das Aſyl dazu mißbraucht werde, um die die Rechtsordnung und den Frieden der andern Staten zu gefährden, und völkerrechtlich verbunden, diejenigen Maßregeln zu treffen, welche nöthig ſind, um ſolchen Mißbräuchen zu wehren.
Der von vielen Criminaliſten beſtrittene Gegenſatz der politiſchen und der gemeinen Verbrechen wird in den neuern Statenverträgen und noch mehr in der gegenwärtigen Statenpraxis anerkannt, und ſogar von ſolchen Staten, welche eine allgemeine Auslieferungspflicht ſelbſt von politiſchen Verbrechern im Princip für nothwendig erklären, thatſächlich dann gemacht, wenn ihre politiſchen Sympathien den fremden Flüchtling decken. Die politiſchen Verbrechen beziehen ſich nothwendig auf die Verfaſſung und die politiſchen Zuſtände eines beſtimmten Stats und ſind deßhalb für andere Staten kein Gegenſtand der Sorge. Eine Solidarität der politiſchen Intereſſen beſteht nicht nothwendig und es iſt ebenſo möglich, daß die politiſchen Grundſätze und Richtungen des verfolgenden und des Aſylſtats einander widerſtreiten. Der verfolgte politiſche Verbrecher in einem Land wird in einem andern Lande vielleicht als ein Märtyrer der Freiheit verehrt; und die im Namen des Rechts verfolgenden Gewalthaber des einzelnen Stats werden vielleicht in dem andern State als Unterdrücker des Rechts gehaßt. Selbſt wo die Gegenſätze der Beurtheilung nicht ſo ſchroff auftreten, erinnert man ſich doch, daß die Verwaltung der Rechtsflege in politiſchen Strafproceſſen nach dem Zeugniß der Geſchichte leichter von den Leidenſchaften bald der Machthaber bald einflußreicher Parteien mißleitet wird als die Strafgerichtsbarkeit über gemeine Vergehen und man nimmt Rückſicht darauf, daß zuweilen ehrbare und edle Menſchen aus Vaterlands - liebe die politiſche Rechtsordnung ihres Heimatſtats verletzt haben. Die Intereſſen der Politik, der Gerechtigkeit und der Humanität vereinigen ſich daher, um über die politiſchen Flüchtlinge den Schutz des Aſyls auszubreiten.
Aber indem der Stat den fremden politiſchen Flüchtlingen ein Aſyl gewährt, iſt er nicht von der Pflicht entbunden, den Mißbrauch des Aſyls zu verhüten. Das Aſyl ſchützt den Flüchtigen vor Verfolgung, aber es darf nicht zu einer ſichern Stätte für die Fortſetzung des politiſchen Verbrechens werden. Der Flüchtling findet hier Ruhe und einen Ort der Zuflucht in ſeiner Gefahr, aber er darf nicht die Angriffe auf die Verfaſſung und das Recht ſeines States von da aus ungeſtraft erneuern. Der Aſylſtat hat auch gegenüber dem Heimatsſtat desſelben Rückſichten des Friedens und der Freundſchaft zu nehmen. Ein Stat, welcher den fremden Räubern Schlupfwinkel eröffnet, aus denen ſie ihr verbrecheriſches Handwerk mit beſſerem Erfolg und mit geringerer eigener Gefahr betreiben, macht ſich ſicherlich einer ſchweren Verletzung der Nachbarpflichten ſchuldig; und nicht weniger wird ein Stat, welcher auf ſeinem Gebiete feindliche Unternehmungen von fremden Flüchtlin - gen gegen einen benachbarten Stat begünſtigt, dafür verantwortlich gemacht von dem bedrohten State.
Es ſteht jedem State zu, die Bedingungen feſtzuſetzen, unter welchen er fremden Flüchtlingen ein Aſyl gewährt. Die Flüchtlinge ſelber haben keinen Rechtsanſpruch auf Gewährung des Aſyls gegen den fremden Stat.
Der Flüchtling kann ſich nicht wie ein anderer Reiſender auf das Recht des freien Verkehrs berufen, denn eine Grundbedingung dieſes Rechts iſt Unbeſchol - tenheit der Reiſenden. Kein Stat iſt verpflichtet, Verbrecher oder eines Ver - brechens Angeklagte bei ſich aufzunehmen und zu dulden, weil ſolche Fremde auch die Sicherheit ſeiner Bewohner oder unter Umſtänden des Stats ſelbſt gefährden. Es gilt das auch von politiſchen Verbrechern. Aber wohl hat der Stat die moraliſche Pflicht, dabei nicht inhuman zu verfahren. Die Zurückweiſung insbeſondere von politiſchen Flüchtlingen oder gar ihre Auslieferung kann, ſelbſt wenn ſie keine Rechts - verletzung iſt, doch eine tadelnswerthe Grauſamkeit ſein.
Der Schutzſtat, welcher das Aſyl gewährt hat, iſt auch, wenn das - ſelbe mißbraucht wird, berechtigt, und bei fortdauernder Gefahr für den befreundeten Heimatsſtat des Flüchtlings auch verpflichtet, das Aſyl zu entziehen oder inſoweit zu beſchränken, daß jene Gefahr beſeitigt wird.
In mindern Fällen wird eine ſchärfere Aufſicht über den Flüchtling oder die Internirung desſelben von der Grenze weg, ins Innere des Landes genügen, in ſchweren Fällen die Wegweiſung in vorgeſchriebener Richtung nöthig ſein.
Zur Auslieferung von Einheimiſchen an einen fremden Stat, in deſſen Gebiet dieſelben ein Verbrechen verübt haben, iſt der Heimatsſtat niemals verpflichtet.
Dieſe gegenwärtig auch von ſolchen Staten anerkannte Regel, welche eine Auslieferungspflicht bei gemeinen Verbrechen annehmen, macht freilich dann eine be - denkliche Lücke in das Strafrecht, wenn dieſelben im Inlande nicht für ein auswärts begangenes Verbrechen zur Verantwortung gezogen werden können. Sie bleiben in dieſem Falle ſtraflos, obwohl die allgemeinen Rechtsgrundſätze eine Beſtrafung ihres Verbrechens erfordern. Aber man zieht es vor, dem Individuum dieſen Glücksfall zuzugeſtehen, als die Statsgenoſſen einer fremden Strafgerichts - barkeit zu überliefern.
Die Auslieferung geſchieht in der Regel auf Koſten des States, welcher dieſelbe begehrt. Die Geſtattung des Aſyls dagegen fällt dem Schutzſtate allein zur Laſt.
Selbſtverſtändlich iſt nur von den nöthigen Koſten hier die Rede, welchen ſich die Staten nicht entziehen können. Soweit die Flüchtlinge für ſich ſelber zu ſorgen im Stande ſind, iſt von keiner Statspflicht die Rede.
Die Auslieferung eines flüchtigen Verbrechers kann auch in bedingter Weiſe gewährt werden.
Z. B. der ausliefernde Stat verlangt, daß der Ausgelieferte nur wegen eines gemeinen, nicht auch wegen eines politiſchen Verbrechens geſtraft werde, oder er liefert nur aus, wenn ihm die Zuſicherung ertheilt wird, daß keine Todes - ſtrafe verhängt werde. Der Stat, welcher auf ſolche Bedingungen hin den Aus - gelieferten empfängt, iſt dann dem Auslieferungsſtat gegenüber verpflichtet, demgemäß zu verfahren.
In der Regel wird die Auslieferung von dem verfolgenden State begehrt, von dem Zufluchtsſtat gewährt. Es iſt aber auch möglich, daß dieſelbe von dieſem ange - boten wird, ja ſogar, daß der Stat, dem dieß Anerbieten gemacht wird, die Ueber - nahme des Flüchtlings als eine Verlegenheit zu vermeiden wünſcht. In ſolchen Fällen kann ſich der Heimatſtat zwar nicht der Aufnahme ſeines Statsgenoſſen in ſeinem Lande entziehen (oben § 368), aber wenn er dieſelben nicht weiter verfolgt, ſo geht das den ausliefernden Stat nichts an.
Die Staten können als ſelbſtändige Perſonen ihre beſondern Rechts - verhältniſſe auch durch Verträge unter einander ordnen, ſo daß daraus eigentliches Vertragsrecht entſteht.
Verſchieden von dieſen Verträgen, welche beſonderes Vertragsrecht unter den Vertragsparteien begründen, iſt eine völkerrechtliche Uebereinkunft mehrer Staten, welche eine allgemeine Rechtsregel ausſpricht. Im letztern Fall iſt das pactum instar legis, und es entſteht ein Geſetz, wenn auch in der vielköpfigen Form der Vereinbarung. Sehr viele Beſtimmungen der völkerrechtlichen Congreſſe haben dieſen letztern und nicht den erſteren Charakter und begründen da - her nicht conventionelles, ſondern nothwendiges Recht. Vgl. oben § 12. 13. In dieſem Buch iſt nur die Rede von dem eigentlichen Vertragsrecht.
Jeder Stat kann als Perſon auch Vertragspartei werden, und jede unabhängige Macht gilt im Völkerverkehr im Zweifel als vertragsfähig. Wenn aber ein Stat in der Ausübung des Vertragsrechts verfaſſungs - mäßig beſchränkt erſcheint, ſo iſt ſolche Beſchränkung auch im Verkehr der Staten zu beachten.
232Sechstes Buch.Wenn ein Stat der Schutzhoheit eines andern Stats unterworfen iſt, ſo kann ihm das Recht, ſelbſtändig mit andern Staten Verträge abzuſchließen, gänzlich oder theilweiſe entzogen ſein. Ebenſo ſind in den zuſammengeſetzten Staten regelmäßig die Einzelſtaten ſehr erheblich in der Vertragsbefugniß beſchränkt, ſei es indem ihnen unterſagt iſt, gewiſſe Verträge abzuſchließen, die ausſchließlich dem Ge - ſammtſtate vorbehalten ſind, z. B. Allianzen, Handels - und Zollverträge, ſei es indem ſie genöthigt ſind, ſich der diplomatiſchen Organe des Geſammtſtates zu be - dienen und der Zuſtimmung des Geſammtſtates bedürfen. Verträge, welche im Widerſpruch mit dieſen Schranken abgeſchloſſen werden, ſind nicht verbindlich.
Damit der Vertrag den Stat verbinde, müſſen die Perſonen, welche denſelben im Namen des States abſchließen, zur Vertretung des States ermächtigt ſein.
Es gilt das ſowohl von der Repräſentationsbefugniß des jeweiligen Inhabers der Statsgewalt (oben § 116), als von der Vollmacht der Geſanten, welche den Vertrag unterhandeln und unterzeichnen (oben § 159 f.).
Wird für einen Stat ein Vertrag von einer Perſon unterhandelt und abgeſchloſſen, welche nicht dazu ermächtigt iſt, ſo wird der Stat ſo lange nicht verpflichtet, als er nicht durch nachträgliche Gutheißung jenen Mangel der Vollmacht hebt. Bis dahin ſteht auch der andern Vertrags - partei der Rücktritt frei, wenn ſie nicht darauf verzichtet hat.
Man heißt Verträge, welche von nichtbevollmächtigten Vertretern, gewöhnlich in der Hoffnung auf ſpätere Ratihabition abgeſchloſſen werden, Spon - ſiones; in Erinnerung an die perſönliche sponsio der alten Römer. Der Aus - druck, welcher in Rom eine ſtrenge und formelle Vertragspflicht bedeutete, iſt freilich nicht geeignet, derartige in ihrer Wirkſamkeit höchſt zweifelhafte Verträge zu bezeich - nen, während wir im Gegenſatze zu den Römern die rechtsverbindlichen Ver - träge der Staten pacta heißen.
Wird der von einem nicht ermächtigten Vertreter abgeſchloſſene Ver - trag von dem State nicht genehmigt, ſo iſt überall kein Vertrag zu Stande gekommen.
Der Stat wird nicht verpflichtet, weil er nicht wirklich vertreten war, und der Geſchäftsführer (sponsor) nicht, weil er kein Stat iſt und als Privat -233Völkerrechtliche Verträge.perſon nicht über öffentliche Rechte und Verbindlichkeiten verfügen kann. Wenn er den andern Stat betrogen hatte, indem er ſich für ermächtigt angab, ohne er - mächtigt zu ſein, ſo mag er dieſes Betrugs wegen verantwortlich gemacht und be - ſtraft werden. Das hat mit der Gültigkeit des Vertrags nichts zu thun. — Das alt-römiſche Fecialrecht befolgte andere Grundſätze. Der Sponſor haftete mit ſeiner Perſon für die Erfüllung des von ihm eingegangenen Vertrags und wurde daher von dem nicht genehmigenden State zur Sühne an den andern Stat ausge - liefert. Die moderne Rechtsbildung iſt inſofern conſequenter, als ſie die öffent - lich-rechtliche Natur der Statenverträge vollſtändiger beachtet. Würde ein dritter Stat ohne Ermächtigung für einen andern Stat einen Vertrag abſchließen, ſo würde er ſich allerdings als Stat verpflichten können, für die Ge - nehmigung zu ſorgen.
Hat der Stat Vortheil von dem Vertragsgeſchäft gezogen, das für ihn, aber ohne ſeine Vollmacht abgeſchloſſen worden iſt, ſo iſt er im Fall der Nichtgenehmigung des Vertrags verpflichtet, den ohne Grund empfan - genen Vortheil, ſo weit das nach der Lage der Dinge möglich iſt, wieder aufzugeben, beziehungsweiſe eine empfangene Bereicherung zurück zu er - ſtatten.
Z. B. Der Unterhändler hat den Loskauf von Gefangenen vermittelt und vorläufig eine Summe bezahlt. Wird der Vertrag nicht genehmigt, und werden die Gefangenen zurückbehalten, ſo muß auch dieſe Summe wieder herausgegeben werden. Oder ein Gouverneur einer Colonie geſtattet gegen zugeſicherte Handelsvortheile einem andern State die Gründung eines Marineetabliſſements innerhalb der Colonie. Wird der Vertrag nicht genehmigt, ſo iſt auch dieſes Etabliſſement wieder zu räu - men. Hat aber ein Stat im Vertrauen auf die nachfolgende Genehmigung durch den andern Stat einen momentanen Vortheil ſeiner Machtſtellung aus der Hand gegeben, und wird der Vertrag nicht ratificirt, ſo iſt er ſelten in der Lage, jenen Vortheil wieder zu gewinnen und muß die Folgen ſeiner unvorſichtigen Handlungs - weiſe tragen. Das Beiſpiel der Samniter, welche das römiſche Heer in den Can - diniſchen Päſſen gefangen hatten und nachdem Rom den Frieden nicht ratificirte, ihr Uebergewicht nicht mehr herſtellen konnten, bleibt eine Warnung der Geſchichte.
Es wird angenommen, die Willensfreiheit des States ſei nicht auf - gehoben, wenn gleich der Stat in ſeiner Noth und Schwäche genöthigt iſt, den Vertrag einzugehen, wie ihn ein übermächtiger anderer Stat ihm vorſchreibt.
234Sechstes Buch.Im Privatrecht hindert eine ernſte Drohung und die gewaltſame Nöthi - gung die Gültigkeit des Vertrags. Im Völkerrecht aber wird angenommen, der Stat ſelbſt ſei alle Zeit frei und willensfähig, wenn nur ſeine Vertreter perſönlich frei ſind. Das Statsrecht erkennt auch ſonſt die Nothwendigkeit der Verhältniſſe als entſcheidend an; es iſt ſeinem Weſen nach die als noth - wendig erkannte Ordnung der öffentlichen Verhältniſſe. Daher hindern zwingende Einwirkungen, in denen ſich jene Nothwendigkeit offenbart, die Gültigkeit des Stats - willens nicht, wenn er denſelben Rechnung trägt. Es gilt das insbeſondere auch von Friedensſchlüſſen. Vgl. unten Buch VIII. Cap. 10. Würde man die Verträge der Staten aus dem Grunde als ungültig aufechten können, daß der eine Stat aus Furcht vor dem andern und durch deſſen Drohungen geſchreckt ohne freien Vertrags - willen den Vertrag abgeſchloſſen habe, ſo gäbe es kein Ende des Völkerſtreits und wäre niemals ein geſicherter Friedensſtand zu erwarten.
Wenn jedoch die individuelle Willensfreiheit derjenigen Perſonen, welche den Stat bei dem Vertragsſchluß vertreten, durch Geiſtesſtörung aufgehoben oder durch Beſinnungsloſigkeit verwirrt oder durch Gewalt oder ernſte und nahe Bedrohung gebunden iſt, dann ſind dieſelben nicht fähig, für den Stat verbindliche Erklärungen abzugeben.
Wenn z. B. der Geſante, der zum Vertragsabſchluß ermächtigt iſt, wahnſin - nig wird, oder wenn er ſo berauſcht iſt, daß er nicht mehr weiß, was er thut, ſo iſt ſeine Unterſchrift nicht bindend. Ebenſo würde auch die Unterſchrift eines Sou - veräns nicht den Stat verpflichten, wenn demſelben gewaltſam die Hand zum Unter - zeichnen geführt oder er mit Lebensdrohung zur Unterſchrift genöthigt würde. Oder wenn, wie das dem Polniſchen Reichstag widerfahren iſt, die nothwendige Zuſtim - mung zu einem Vertrag damit erzwungen wird, daß die Rathsverſammlung mit Truppen umſtellt und die Stimmenden mit dem Tode oder dem Gefängniß bedroht werden, ſo iſt auch ein ſolcher Vertrag ungültig, nicht weil der Stat keinen freien Willen hat, ſondern weil es den Vertretern des Stats an der nöthigen Willen - freiheit fehlt.
Die Rechtsverbindlichkeit der Statenverträge beruht auf dem Rechts - bewußtſein der Menſchheit, und iſt ein nothwendiger Beſtandtheil der völ - kerrechtlichen Weltordnung.
Verträge, deren Inhalt das allgemein anerkannte Menſchenrecht oder die bindenden Geſetze des Völkerrechts verletzen, ſind deßhalb ungültig.
Der alte Streit über den Rechtsgrund der Verbindlichkeit der Verträge dauert noch fort. Das Völkerrecht kann der Frage nicht damit entgehen,235Völkerrechtliche Verträge.daß es auf die Autorität eines Geſetzes hinweist, wie das wohl im Privatrecht oft genügt. Meines Erachtens läßt ſie ſich nicht auf den freien Willen der Staten gründen. Der Satz, daß die Willensfreiheit auch in der Freiheit ſich zu binden, zeigen und bewahren müſſe, iſt offenbar nicht richtig; denn die Willens - freiheit für ſich allein bindet nur, weil ſie will und daher nur auf ſo lange ſie will. Sie erklärt die Wirkſamkeit des Willensacts, während der wir - kende Wille fortdauert, aber nicht mehr, wenn der Wille wechſelt. Der freie Menſch kann und darf ſeine Willensfreiheit nicht aufgeben, ſie begleitet ihn fort durch ſein ganzes Leben, ſie iſt ein Theil ſeiner Exiſtenz, ſeiner Perſon. Er kann und darf ſich nicht durch freien Willen um den freien Willen bringen, ſich nicht ſelber zum Sclaven machen. Der individuelle Wille iſt überdem für ſich allein nicht Rechts - bildend, nicht die erſte Urſache des Rechts. Wäre er es, ſo müßte alles Ge - wollte Recht ſein. Es müßte z. B. im Privatrecht möglich ſein, eine Ehe auf ein Jahr zu ſchließen, Grundeigenthum ohne die Grundbücher zu übertragen, Wechſel - verbindlichkeiten ohne die Wechſelform einzugehen. Das iſt aber ſo wenig im Privat - recht wie im Völkerrecht der Fall. Die Rechtsverbindlichkeit der Verträge iſt alſo nicht die nothwendige Wirkung der Willensfreiheit, ſondern ſetzt die Exiſtenz einer nothwendigen, nicht von der Willkür geſchaffenen Rechtsordnung der Gemein - ſchaft voraus. Der Willensact der einzelnen Perſonen, ſelbſt der Staten im Völ - kerrecht, iſt demnach nicht die primäre, ſondern erſt eine ſecundäre Urſache der Rechtsbildung. Der Einzelwille bewirkt Recht, nur gemäß und nur innerhalb der gemeinſamen Rechtsordnung. Die Verbindlichkeit der Verträge iſt ſelber ein nothwendiger Rechtsſatz. Sie iſt nothwendig, weil ohne ſie kein ge - ſicherter Rechtsverkehr und kein friedlicher Rechtszuſtand der Völker möglich wäre. In ihr äußert ſich die nachhaltige fortdauernde Wirkung der Rechtsordnung. Man nehme den guten Glauben weg in die Wahrhaftigkeit der völkerrechtlichen Er - klärung und die Wirkſamkeit der ertheilten Zuſage und alle Rechtsſicherheit ſtürzt in dem Widerſtreit der wechſelnden Meinungen und Intereſſen rettungslos zuſammen. Die Willenserklärung noch iſt eine Aeußerung der Freiheit, das Halten des Worts aber iſt eine Forderung der Treue, welche bewahrt, was die rechtmäßige Freiheit ſchafft.
Dem anerkannten Menſchenrecht zuwider und daher ungültig ſind insbeſondere Verträge, welche
Von den Fällen a — c war oben ſchon die Rede. Der vierte gehört erſt der modernen Rechtsbildung an. Die gereifte Menſchheit legt mit Recht auf die religiöſe236Sechstes Buch.Freiheit einen ſo hohen Werth, daß ſie allgemeine Glaubensverfolgungen nicht mehr als rechtsverbindlich betrachtet, ſelbſt wenn ſie durch Statsverträge verabredet wären. Die Zeit der Kreuzzüge iſt vorbei. Anders freilich iſt’s, wenn eine Sekte, wie z. B. die Mormonen, die bürgerliche Rechtsordnung, wenn auch aus ſcheinbaren oder wirk - lichen religiöſen Motiven ernſtlich verletzt.
Völkerrechtswidrig und deßhalb ungültig ſind z. B. Verträge
Vgl. oben § 98 f.
Statenverträge, deren Inhalt das beſtehende Verfaſſungs - und Ge - ſetzesrecht eines States außer Wirkſamkeit ſetzt oder abändert, ſind, wenn ſie von der repräſentativen Statsautorität abgeſchloſſen worden ſind, nicht von Anfang an als völkerrechtlich ungültig zu betrachten, aber ſie ſind nach Umſtänden nicht vollziehbar und inſofern wird ihre Wirkung gehemmt.
Die Schwierigkeit iſt in dieſen Fällen nicht eine völkerrechtliche, denn das Völkerrecht behaftet den Stat, deſſen Vertreter den Vertrag abſchließt und nimmt an, es ſei Aufgabe der Statsgewalt, durch die nöthigen Aenderungen des Statsrechts die völkerrechtlichen Zuſagen zu verwirklichen. Aber es iſt denkbar, daß innerhalb des Landes eine ſolche Beſtimmung Widerſtand findet und da gilt keineswegs ein abſolutes Vorzugsrecht des Völkerrechts vor dem Statsrecht in jedem Conflictfall. Sonſt könnte in der Form völkerrechtlicher Verträge alles Verfaſſungsrecht des Landes entkräftet, und könnten alle geſetzlichen Freiheiten der Bür - ger beſeitigt werden. Der ſtatsrechtlich begründete Widerſpruch gegen die Ausführung ſolcher verfaſſungswidriger Vertragsbeſtimmungen muß alſo als ein rechtliches Hinderniß ihrer Ausführung anerkannt und kann nicht durch bloße Gewalt durchbrochen, ſon - dern muß in Rechtsform gelöst werden. Eine Ausnahme machen die Friedens - verträge, mit Rückſicht auf die zwingende Nothwendigkeit, welche in ihnen zur An - erkennung gelangt. Vgl. unten Buch VIII.
Verträge, deren Inhalt älteren Verträgen mit andern Staten wider -237Völkerrechtliche Verträge.ſtreitet, ſind inſofern unwirkſam, als der früher berechtigte Stat ihrer Ausführung entgegen tritt.
Solche Verträge ſind nicht an ſich ungültig. Wenn der Stat, deſſen ältere Vertragsrechte durch Ausführung des neuen Vertrags verletzt werden, ſich dieſe Aen - derung gefallen läßt, ſo ſind dieſelben vollwirkſam. Aber im Widerſtreit geht das beſtehende (ältere) Vertragsrecht dem jüngern vor.
Auch ungünſtige Vertragsbeſtimmungen und läſtige Verſprechen ſollen gehalten werden. Vorbehalten bleibt das Recht eines States, ſich von Verträgen loszuſagen, welche mit ſeiner Exiſtenz oder ſeiner nothwendigen Entwicklung unverträglich ſind.
Die bloße Gefährlichkeit oder Schädlichkeit eines Vertrags hindert ſeine Verbindlichkeit nicht. Würde man jedem Contrahenten geſtatten, ſich einer Ver - tragspflicht zu entledigen, ſobald ihm dieſelbe läſtig erſchiene, ſo würde die Sicherheit des Vertragsrechts gänzlich zerfallen, und damit die Fortdauer der Weltordnung aufs höchſte gefährdet. Aber die Verbindlichkeit des Vertrags hat doch ihre natürliche Grenze in den Grundrechten des States auf ſeine Exiſtenz und ſeine nothwendige Entwicklung. Im Conflict mit dieſen urſprünglichſten und un - veräußerlichen Rechten muß das ſecundäre Vertragsrecht zurückſtehn.
Die Gültigkeit der Statenverträge iſt von der Regierungsform der contrahirenden Staten ſowie von der Religion der Staten oder ihrer Ver - treter unabhängig.
Im Mittelalter nahm man an, Verträge mit Nichtchriſten (Ungläubigen) binden nicht. Sogar im ſiebzehnten Jahrhundert noch wurde von der römiſchen Curie und von katholiſchen Biſchöfen behauptet, daß die katholiſchen Fürſten nicht verpflichtet ſeien, die den ketzeriſchen (proteſtantiſchen) Fürſten gegebenen Zuſagen zu halten. Dem heutigen Völkerrecht iſt es nicht mehr zweifelhaft, daß die Vertrags - pflicht eine allgemein-menſchliche Rechtspflicht ſei, welche Chriſten und Muhammedaner, Juden und Buddhiſten gleichmäßig verbinde. Ebenſo iſt der Unter - ſchied der Stats - und Verfaſſungsformen zwar erheblich für die Frage der Stellver - tretung, aber nicht erheblich für die Gültigkeit der Verträge. Monarchien und Repu - bliken, abſolute und conſtitutionelle Monarchien, Ariſtokratien und Demokratien kön - nen ihre Verhältniſſe vertragsmäßig ordnen.
Die bloße einſeitige Willenserklärung eines States, auch wenn ſie einem andern State gegenüber geſchieht, wirkt nur inſofern als Vertrags - erklärung, wenn
Wenn ein Stat in ſeinen diplomatiſchen Aeußerungen lediglich die freien Entſchlüſſe mittheilt, die er auszuführen die Abſicht hat, ſo entſteht kein Vertrags - recht, ſo wenig als durch die Mittheilung einer Privatperſon über ihre freien Vor - ſätze. Es muß die Abſicht, ſich zu binden, ausgeſprochen ſein.
Die ſogenannten Tractate, d. h. die Aufzeichnung deſſen, worüber ſich die unterhandelnden Staten vorläufig verſtändigt haben, werden nur als Entwurf zu einem Vertrage betrachtet und ſind daher noch nicht ver - pflichtend.
Solche Punctationen und Tractate ſind nur ausnahmsweiſe verbindlich, wenn die unterhandelnden Vertreter dieſe Verbindlichkeit ausdrücklich gewollt und zu - geſtanden haben.
Die Unterzeichnung des bereinigten Vertragsprotocolls oder der fer - tigen Vertragsurkunde durch die bevollmächtigten Geſanten oder Agenten der contrahirenden Staten wirkt für die vertretenen Staten verbindlich, wenn <