So iſt es alſo das Schickſal Deutſch¬ lands immer geweſen, daß ſeine Be¬ wohner, durch das Gefühl ihrer Tapfer¬ keit hingeriſſen, an allen Kriegen Theil nahmen; oder, daß es ſelbſt der Schau¬ platz blutiger Auftritte war. Daß wenn über die Grenzen am Oronoco Zwiſt entſtand, er in Deutſchland mußte aus¬ gemacht, Canada auf unſerm Boden er¬ obert werden.((Holzmindiſches Wochenblatt, 45. Stück, den 10. Novbr. 1787.) )
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Dicht am Odfelde, in der angenehmſten Mitte des Tilithi - oder auch Wikanafeldiſtan-Gaus, liegt auf dem Auerberge über dem romantiſchen, vom luſtigen Forſt¬ bach durchrauſchten, heute freilich arg durch Stein¬ brecherfäuſte verwüſteten Hoopthal das uralte Kloſter Amelungsborn. Will man die Geſchichte, die ich hier¬ von erzählen kann, anhören, ſo iſt es mir recht. Wenn nicht, muß ich mir das auch gefallen laſſen und rede von den alten Sachen, wie ſchon recht häufig, zu nur ſelber allein. Iſt nämlich unter Umſtänden auch ein Vergnügen, einerlei ob am ſonnigen Sonntag¬ morgen, im abendlichen Alltagszwielicht, im Sommer oder im Winter; — nur in der richtigen Stimmung muß man ſich dann mit ſich ſelber allein finden!
Ach ja, wenn man ſo das Ohr an ein Bündel ver¬ gilbter Papiere, an ein würdig Pergamen, an einen Folianten in Schweinsleder, ja oder auch an eines der Büchelchen in Duodez mit abgegriffenem Sammetein¬ band, Goldſchnitt und Kupfern von Daniel Chodowiecki legt! Oft hört dann kein Kind, das eine Muſchel anRaabe, Das Odfeld. 12das Ohr hält, von Ferne her ein geheimnißvolleres, tiefgründigeres Tönen, Sauſen und Brauſen.
Man kann dann und wann ſogar über ſeiner Ma¬ terie, ſeinem gelehrten Rüſtzeug auf beiden Armen liegend, gründlich gelangweilt einſchlafen und beim Wiedererwachen zu ſeiner Verwunderung bemerken, daß man doch etwas gelernt habe, zum Weitergeben an Andere. Auch in dieſer Hinſicht beſcheert es der Herr¬ gott den Seinen nicht ſelten im Traum; und es iſt oft nicht das Schlechteſte, was ſo den Leſern zufällt — und auch dem Geſchichts - und Geſchichten-Schreiber, falls er nur nachher eben bei ſeinem Niederſchreiben die Augen offen und die Feder feſt in der Hand be¬ halten hat.
Schon Cajus Cornelius Tacitus ſoll die Gegend um den Ith gekannt haben, wenn auch nicht aus per¬ ſönlicher Anſchauung. Er ſoll von dem Odfelde — Cam¬ pus Odini, und von dem Vogler — mons Fugleri reden. Dieſes laſſen wir auf ſich beruhen; aber die Gegend iſt allzu fett und fein, als daß ſie nicht gleichfalls der Tummelplatz vieler menſchlicher Begehrlichkeit und als Wahlſtätte weltgeſchichtlicher Katzbalgereien hergehalten haben ſollte.
Römer haben ſich ziemlich ſicher hier auf Wodans Felde mit Cheruskern gezerrt und gezogen, Franken mit Sachſen und die Sachſen ſich ſehr untereinander. Die alte Köln-Berliner Landſtraße läuft nicht umſonſt über das Odfeld, vorbei an dem Quadhagen: Oſt und Weſten3 konnten alſo, wenn ſie ſich etwas mit dem Prügel in der Fauſt zu ſagen hatten, wohl aneinander gelangen, und daß ſie bis in die jüngſte Zeit ausgiebigen Ge¬ brauch von der Weggelegenheit machten, davon wird der Leſer Erfahrung gewinnen, wenn er nur um ein Kleines weiterblättert.
Wie hübſch iſt es, wenn Brüder friedlich beiein¬ ander wohnen, und wie ſelten iſt es! Und da es ſo ſelten iſt, ſo hat es zu allen Zeiten Leute gegeben, die ihrer Nerven wegen den Verkehr und Umgang mit ihrer Nachbarſchaft nach Thunlichkeit mieden oder ihn wohl ganz abbrachen und ſich auf ſich ſelber zurück¬ zogen. Ein ſolcher Einſiedler hätte im Jahre Sieben¬ zehnhunderteinundſechzig Magiſter Buchius im Kloſter Amelungsborn wohl ſein mögen, und ein ſolcher iſt tauſend Jahr früher der Gründer des Kloſters unbe¬ dingt geweſen.
Das heißt ſo unbedingt der Gründer kann der Mann Amelung, der vor undenklichen Zeiten, im Thal unter dem Auerberge, oder dießmal genauer unterm Küchenbrink, den Born, der nachher ſeinen Namen trug, aufgrub, nicht genannt werden. Der Mann wollte nichts gründen, der Mann wollte ſicherlich nichts weiter als endlich ſeine Ruhe vor der Brüder - und Schweſter¬ ſchaft dieſer Welt. Hoffentlich iſt ſie ihm zu Theil geworden im Eichenſchatten des Hoopthals und iſt der wilde Eber mit ſeinen Angehörigen auf der Eicheln¬ ſuche ſein ſchlimmſter Störenfried geblieben, bis, wie1*4es im Märchen heißt, eines Morgens die frommen Rehe kamen und den lieben Freund und guten Greis aller Unluſt durch Seinesgleichen auf Erden enthoben fanden und ſo weiter.
„ Und ſo weiter! “nämlich werden an dieſer Stelle ſchon leider mehr als Einer und Eine ſagen, denen es jetzt ſchon ſcheint als ob der Hiſtoriograph wieder einmal im Stande ſei, ihnen die gewohnte Unluſt zu¬ zubereiten, und — hinter Deren Rücken fahren wir fort in unſerm Bericht.
Gegründet wurde das Kloſter Amelungsborn im Anfang des zwölften Jahrhunderts von dem Grafen Siegfried dem Jüngern von Homburg, dem man ſeinen Vater Siegfried den Aeltern todtgeſchlagen hatte. Aus dem erſten Ciſtercienſerkloſter in Deutſchland, Alten¬ kamp bei Köln, holte er ſich die Mönche, die die Stelle der frommen Rehe und ſonſtigen lieben und betrübten Waldthiere über dem Grabe ſeines Erblaſſers verſehen ſollten. Sechs Mark Silber ſchenkte ſchon im Jahre 1125 Graf Simon von Daſſel dem Convent und fand willige Nehmer. Der erſte Abt hieß Heinrich und ſtand mit dem heiligen Bernhard von Clairvaux in Brief¬ wechſel, erhielt im Jahre 1129 auch ein Belobigungs¬ ſchreiben von ihm für ſein Kloſter, worüber großer Jubel war, was mich nicht wundert, da es auch Andern Vergnügen gemacht hat, mit dem heiligen Mann ſchrift¬ lich oder perſönlich in Verbindung zu kommen.
Im Jahre 1802 ſchreibt Schiller an Goethe:
5„ Ich habe mich dieſer Tage mit dem heiligen Bernhard beſchäftigt und mich ſehr über dieſe Bekannt¬ ſchaft gefreut; es möchte ſchwer ſein, in der Geſchichte einen zweiten ſo weltklugen geiſtlichen Schuft aufzu¬ treiben, der zugleich in einem ſo trefflichen Elemente ſich befände, um eine würdige Rolle zu ſpielen. Er war das Orakel ſeiner Zeit und beherrſchte ſie, ob er gleich und eben darum weil er bloß ein Privatmann blieb und andere auf dem erſten Poſten ſtehen ließ. Päpſte waren ſeine Schüler und Könige ſeine Crea¬ turen. Er haßte und unterdrückte nach Vermögen alles Strebende und beförderte die dickſte Mönchsdummheit, auch war er ſelbſt nur ein Mönchskopf und beſaß nichts als Klugheit und Heucheley; aber es iſt eine Freude, ihn verherrlicht zu ſehen. “
„ Zu der Bekanntſchaft des heiligen Bernhard gra¬ tulire ich, “ſchreibt Goethe. —
Auf Herrn Heinrich folgte Herr Werner, dann kam Hoiko, dann Eberhard, dann Gottſchalk, dann Theodor, dann Arnold, dann Ratherius und ſo fort eine lange Reihe, deren Namen man wohl noch weiß, aber nicht mehr von ihren Gräberplatten aus Weſerſandſtein, die zerbröckelt und verſtoben ſind wie die Gebeine der alten Herren, die unter ihnen zum Ausruhen kamen. Wir nennen von den frommen Vätern, die bis zur Refor¬ mation einander ablöſten auf dem Abtsſtuhl, nur noch einen, nämlich Herrn Werner den Zweiten von Boden¬ werder. Zehn Schuhe ſoll der Mann lang geweſen ſein:6 der Freiherr von Münchhauſen, der ja auch von Boden¬ werder war, erzählt ſeltſamerweiſe von ihm nichts, was das Ding freilich etwas verdächtig macht. Aber wie dem auch ſei, wozu hilft alle Erdengröße, wenn in kri¬ tiſchen Zeiten der rechte Erdenverſtand dabei mangelt?
Kritiſche Zeiten kamen mit dem Wittenbergiſchen Auguſtiner auch für die Ciſtercienſer zu Amelungsborn, und fanden ausnahmsweiſe den rechten Mann mit dem allerrichtigſten Verſtändniß an der Spitze der geiſtlichen Bruderſchaft auf dem Auerberge. Andreas Steinhauer hieß er, hatte im Jahre 1512, von deutſchen Eltern in London geboren, zum erſtenmal aus ſchlauen Aeug¬ lein in die verworrene Welt hineingeblinzelt und ſicher¬ lich nicht ohne Gründe in Köln Theologie ſtudirt. Von Bredelar aus beriefen ihn die Brüder in ihr Weſer¬ kloſter als Prior, und Herzog Heinrich der Jüngere von Braunſchweig hatte bis zu ſeinem Tode Anno 1568 keinen getreuern Anhänger ſeines katholiſchen Glaubens als ſeinen Abt zu Amelungsborn, Andreas Steinhauer.
Was helfen Einem die ſchönſten kritiſchen Zeiten, wenn man ſie nicht zu benutzen verſteht? Dominus Abbas Andreas Steinhauerius verſtand's; und wo Andere unter plötzlich veränderten Umſtänden das Neſt hätten räumen müſſen, wußte er es noch wärmer auszufüttern und ſich ſogar ganz hausväterlich gemüthlich drin ein¬ zurichten. Die grimmig-päpſtiſche Fauſt im Eiſenhand¬ ſchuh des alten antiſchmalkaldiſchen Grimmbarts Herzog Heinrich löſte ſich vom Kragen des braunſchweigiſchen7 Landes und ſank, Staub zu Staub, hinunter in die Gruft der Kirche Beatae Mariae Virginis zu Wolfenbüttel. Julius hieß der Erbe und Nachfolger im Reich, der neuen Lehre zuerſt ſogar als Märtyrer zugethan, nun aber ihr mächtiger Gönner und Beförderer. Ich habe Gott Amor im Verdacht, daß er dem alten Herrn Andreas ſein Märtyrerthum des Uebertritts zum Luther¬ thum nach Möglichkeit erleichterte vor ſeinem Gewiſſen. Wie dem auch ſei, der letzte katholiſche Abt von Ame¬ lungsborn legte ſich ſofort um auf die andere Seite und zog auch ſeinen ganzen Convent mit hinüber. Und im Jahre 1572 freiete er, der Abt, nicht der Convent, und führte heim in's Kloſter Jungfrawen Margarethen Peinen, eines Bürgers zu Stadtoldendorf eheleiblich und hoffentlich auch lieblich Töchterlein. Ob Sanct Bernhard ſich darob in ſeinem Grabe zu Clairvaux umgelegt habe, weiß Keiner; eine Verleumdung aber iſt es, daß Vater Andreas Steinhauer ſeiner Eheliebſten den Thurm der Stadtkirche zu Stadtoldendorf als Heirathsgut verſchrieben habe. Der Thurm eignet heute noch dem Kloſter Amelungsborn und nur die daran hängende Kirche gehört löblicher Bürgerſchaft. Im Jahre 1588 iſt auch dieſer werthe Mann zu ſeinen Vätern verſammelt und in der Kloſterkirche beigeſetzt worden. Sein Bild und Grabſtein ſind heute noch dort zu ſehen, und der Magiſter Noah Buchius, der nicht einmal den Namen mit dem ſeligen Ahnherrn gemein hat, hat im währenden ſiebenjährigen Kriege8 durch vorgeſchobenes Gerümpel ſein Möglichſtes gethan, beides zu ſchützen, ſowohl vor den Huſaren des Gene¬ rals Luckner, wie vor den auſtraſiſchen Freiwilligen des Marſchalls von Broglio und den Bergſchotten My¬ lord Granby's.
Wie aber kam der Magiſter zu dieſem großen Ahn¬ herrn? Auf die einfachſte Weiſe. Sein Ururgroßvater Veit Buchius folgte dem alten Andreas nicht nur auf dem Abtſtuhl, ſondern auch im Ehebett. Und die Wittib war jung und angenehm, und er hatte Nach¬ kommenſchaft. Jared zeugete Henoch. Henoch zeugete Methuſalah. Methuſalah zeugete Lamech; und Lamech zeugete einen Sohn und hieß ihn Noah und ſprach:
„ Der wird uns tröſten in unſerer Mühe und Ar¬ beit auf Erden, die der Herr verflucht hat! “
Möge der Troſt, den wir perſönlich aus dem alten Schulmeiſter, dem Magiſter Noah Buchius gezogen haben, vielen Andern zu Theil werden. Dies iſt unſer herz¬ licher Wunſch, wie wir uns aufrichten von den Foli¬ anten, Quartanten, Pergamenten und Aktenbündeln, ob denen wir auf das Sauſen und Brauſen, das Getöne von Wodans Felde, vom Odfelde, kurz von Ferne her gehorcht haben im Lärm der Gegenwart, im Getöſe des Tages, der immer morgen auch ſchon hinter uns liegt, als ob er vor hunderttauſend Jahren geweſen wäre.
Sollen wir nun noch viel reden von den Aebten, die noch nachher kamen? Im Grunde wäre es nicht nöthig, da wir uns die Zwei, auf welche es uns haupt¬9 ſächlich ankam, aus ihrer Reihe hervorgelangt haben. Aber da iſt noch der dreißigjährige Krieg, der dem ſiebenjährigen vorangeht, und über den kommt kein deutſcher Autor in einem hiſtoriſchen Werke, wenn er wirklich etwas ſagen will, hinweg, ohne etwas von ihm zu ſagen. Herr Theodorus Berkelmannus aus Neuſtadt am Rüben¬ berge hieß der Mann, der in das Elend hineinfiel, einerlei ob verheirathet oder unverheirathet. Daß er dem lutheriſchen Glauben anhing, genügte, um ihm die perſönliche Bekanntſchaft des Generals Tilly als durchaus nicht wünſchenswerth erſcheinen zu laſſen. Er ſuchte ihm aus dem Wege zu gehen, dem Herrn General; und der alte Tille ſuchte ihn natürlich höf¬ lich am Aermel zurück zu halten. Zwiſchen Einbeck und Nordheim bekam der arme Doctor der lutheriſchen Theologie und Abt Berkelmann eine liguiſtiſche Kugel auf der Flucht in die Schulter, was vor ihm noch keinem andern Abte von Amelungsborn paſſirt war, und die Kaiſerlichen reinigten hinter ihm den Tempel von ketzeriſchem Unrath auf ihre Weiſe. Gründlich! Aber freilich nicht auf lange.
Wer nun nach ſeiner Meinung einen Augiasſtall zu reinigen hat, geht natürlich auf die Quelle zurück. In unſerm Falle hielt ſich die Liga ſogar im wahrſten Sinne des Wortes an die Ciſterne. Triumphirend zogen die Mönche des heiligen Bernhard unter Herrn Johannes von Meſchede wieder ein im warmen Neſt über dem Hoopthal und gebrauchten geiſtlichen wie welt¬10 lichen Beſen mit Kraft und beſtem Willen — leider nur bis zum Jahr 1631.
Ich male es mir aus, wie nach der Schlacht bei Breitenfeld Herr Theodorus Berkelmann auf ſeinem Patmos ſich aufhob, hinauskrähete und mit den Flügeln ſchlug, beſonders mit dem lahmen Fittich! Unter dem Geleit ſchwediſcher Reiter zog nun er wieder ein in Amelungsborn und ſoll den letzten Ciſtercienſermönch, den armen Bruder Philemon, am Ohr aus dem Kloſter¬ thor geführt und auf die Kölniſche Landſtraße weſer¬ wärts hingewieſen haben. Wie noch die Fortun 'in dem großen Kriege wechſeln mochte, in Amelungsborn wurde der reine Glaube von nun an nicht mehr be¬ helligt, außer vielleicht durch zu leichte Koſt und durch zu gewichtige Schulden. Herrn Theodoro folgte auf dem jetzt ziemlich unbehaglichen Stuhl noch Dr. Statius Fabricius, der im Grunde als der letzte wirkliche Abt von Amelungsborn zu rechnen iſt; denn nach ihm hatte das herzogliche Conſiſtorium zu Wolfenbüttel einen der Zeitenklemme angemeſſenen Gedanken. Es ſchlug zwei ſchwarze Brummer mit einer Klappe. „ Wozu brauche ich noch einen Abt zu Amelungsborn, wenn ich ſchon einen Generalſuperintendenten zu Holzminden ſitzen habe? “fragte es, — und:
ſummte es noch vor Gottfried Auguſt Bürger, und Herr Hermannus Topp rückte als der erſte General¬11 ſuperintendent von Holzminden und Abt von Amelungs¬ born auf die Prälatenbank der Lande Braunſchweig - Wolfenbüttel. Die Güter, die liegenden Gründe der wackern, frommen und gelehrten Bruderſchaft der Ciſter¬ cienſer waren ſchon längſt in ein Kloſteramt verwandelt und einem Landbau-verſtändigen Kloſteramtmann unter¬ geben worden, was zur Kenntniß der „ Hausgelegenheit “dieſer Geſchichte jedenfalls mitzutheilen war. Doch die Hauptſache kommt, wie gewöhnlich, zuletzt.
Wie überall in braunſchweigiſchen Landen gab die Reformation in ſehr achtungswerther Weiſe mit der rechten Hand das, was ſie mit der linken genommen hatte. Was die Mönche verloren, das bekamen die Wiſſenſchaften. Fürſten wie Stände erhielten ihre Hände rein und können heute noch nüchtern, ſtolze Rechen¬ ſchaft ablegen über die Anwendung der herrenlos ge¬ wordenen Güter und Beſitzthümer der römiſch-katholi¬ ſchen Kirche. Da wurde die Univerſität Helmſtedt errichtet, aus den Klöſtern im Lande wurden „ gelehrte Schulen “gemacht; und auch aus Amelungsborn, mitten im Walde, wurde ſolch 'eine „ große “Schule; und wenn nicht alle, ſo hätten doch wohl manche der alten ge¬ lehrten Herren aus Ciſtercium her ihre Freude daran gehabt und gern auch ein Katheder darin vor der neuen Jugend beſtiegen.
Dieſe Kloſterſchule kam ſogar zu einem Ruf, be¬ ſonders in der Mathematik. Zwei Jahrhunderte blühte ſie in der Stille des Weſerwaldes und trug gute12 Früchte. Dann aber war wieder die Welt eine andere geworden. Die Lehrerſchaft verſumpfte, das junge Volk verwilderte im Walde, die beiden erſten ſchleſiſchen Kriege des jungen Fritz kamen dazu, und der dritte, der ſiebenjährige Krieg des alten Fritze ſchlug dieſem gelehrten Weſen auf dem Auerberge über dem Hoop¬ thale völlig den Boden ein. Trotz Franzoſen, Eng¬ länder und Schottländern im Lande behielt Karl der Erſte zu Braunſchweig-Lüneburg auch hierfür Zeit. Wahrſcheinlich nach Rückſprache mit ſeinen trefflichen Männern von ſeinem erlauchten Collegio Carolino ſah er, daß die Sache ſo nicht mehr ging.
„ Eine hohe Schule der Wilddiebe conveniret weder Uns noch Unſern in Gott ruhenden Ahnen, “meinten Seine hochfürſtliche Durchlaucht und holten den Cötus weg aus dem Walde und die Lehrerſchaft aus dem Sumpfe.
Wer heute auf der Weſer zu Berg oder zu Thal fährt, der bemerkt bei der guten Stadt Holzminden ein ſtattlich Gebäude, an deſſen Giebel die Worte ſtehen: DEO ET LITTERIS.
In dieſen Worten wächſt heute noch weiter, was im Jahre 1124 von den Mönchen aus Ciſteaux auf dem Auerberge über dem Hoopthale und dem Brunnen des frommen Bruders Amelung in den Boden gelegt worden iſt. Aus der Kloſterſchule von Amelungsborn iſt ein berühmtes Gymnaſium geworden, und der jedes¬ malige Rector darf ſich immer auch noch Prior13 von Amelungsborn nennen und unterſchreiben. Der Schreiber dieſes hat da, ſo um's Jahr Eintauſendacht¬ hundertundvierzig unterm alten wackern Schulrath Ko¬ kenius, auch einmal eine Schulbank abgerieben. Er läßt es ſeine erlauchten Vorfahren in der Gelehrſam¬ keit, die klugen und ehrwürdigen Brüder Ciſtercienſer durchaus nicht entgelten, wenn er wenig gelernt hat in Holzminden. Zur Tugend der Wahrhaftigkeit iſt er jedenfalls dort angehalten worden, und wenn er mal bei einem Datum und Faktum ſein Recht als Poete zu ſcharf nimmt, ſo ſollen weder Ciſtercium bei Dijon, noch Amelungsborn am Odfeld und auch nicht Holzminden an der Weſer was dafür können, und ſollen ſich bei ihrem Beſſerwiſſen beruhigen dürfen. Von dem heiligen Bernhard von Clairvaux redet er übrigens nicht ganz ſo ſchlimm wie Friedrich von Schiller und Wolfgang von Goethe. Daß Doctor Martin Luther den Mann „ höher denn alle Mönche und Pfaffen auf dem ganzen Erdboden “hielt, ſpricht immer mit, wenn es ſich darum handelt, in Kloſter Amelungsborn Hausgelegenheit zu erkunden.
Die große Wald-Schule hatte wandern müſſen, und der Kloſteramtmann war geblieben und hatte, ſich die Hände reibend, gemeint, nun ſei endlich wohl für ihn die beſſere, die ruhigere Zeit gekommen und — hatte ſich ſehr geirrt, wie man ſich eben bei ſeinen Hoff¬ nungen und Wünſchen dann und wann im Leben zu irren pflegt. Der Mann hatte für ſein Theil Ruhe und Behagen in der Welt zu wenig mit den übrigen Zeitumſtänden gerechnet. Im Jahre 1761 gab es trotz des Abzuges des Cötus keine Ruhe in und um Kloſter Amelungsborn, weder für den Herrn Amtmann noch die andern In - und Umſaſſen der Stiftung Siegfrieds von der Homburg.
Das Verhältniß zwiſchen der Schule und dem Amt war immer nicht das beſte geweſen; aber im Verlaufe des achtzehnten Jahrhunderts hatte es ſich derartig ver¬ ſchlechtert, daß es zuletzt gar nicht ſchlimmer mehr werden konnte. Zu verwundern war's gerade nicht. Sie ſaßen einander zu nahe und mit ſich zu ſehr widerſprechenden Intereſſen auf dem Kaſten. Ihre15 Anſchauungen über Recht, Rechte, Berechtigungen, über Moral, Tugend, Sitte und Gewohnheit, ja, im purſten kraſſeſten blaſſeſten Sinne über Mein und Dein waren allzu verſchieden. Sitte, Gewohnheit, Recht liefen zwiſchen beiden Mächten allgemach nur darauf hinaus, ſich gegenſeitig den größtmöglichen Verdruß und Tort, ja das gebrannteſte Herzeleid anzuthun.
„ Lieber die Franzoſen ſo lange es ihnen beliebt im Lande, als dieſe gelehrte Cumpanei von Schlingeln, Lümmeln, Flegeln und Spitzbuben Einen Tag auf dem Buckel! “hatte der Kloſteramtmann ſchon ſeit Jahren geſeufzt und geflucht. Ach, leider, ohne zu ahnen, wie bald und wie ſehr ihn das Schickſal beim Wort nehmen werde!
Nun hatte er von der ganzen Schule nur noch den Magiſter Buchius im Hauſe; aber volle Gelegenheit, es auszuprobiren, ob es ſich mit dem Herzog von Soubiſe, dem Marſchall von Broglio, dem Marquis von Belſunce und dem Vicomte von Poyanne behag¬ licher Kirſchen eſſen laſſe als mit den gelehrten und ungelehrten, den jungen und alten Erbnehmern der Ciſtercienſer von Amelungsborn.
Wir reden mit ihm wohl noch einmal darüber, oder hören ſeine Meinung aus der Vergangenheit. Für's Erſte haben wir es vor allen Dingen mit dem Magiſter Noah Buchius zu thun, den die Kloſterſchule bei ihrer Auswanderung allein zurückgelaſſen hatte auf dem Auerberge, wie man beim Auszug, halb des Spaßes16 wegen, einen alten zerriſſenen Rock am Nagel, einen alten bodenloſen Korb im Winkel, ein altes vermorſchtes Faß im Keller zurückläßt, und das Alles Dem von ſeinen Nachfolgern ſchenkt, der es haben will oder es mit in den Kauf nehmen muß. Der Amtmann hatte den letzten Magiſter von Amelungsborn mit in den Kauf zu nehmen, nur auf allerhöchſten Spezialbefehl von Braun¬ ſchweig aus, auf Gutachten herzoglichen Conſiſtorii zu Wolfenbüttel. Wir aber heute, wir würden wohl nicht nach dem Herrn Amtmann in die Tage der Vergangen¬ heit zurück gehorcht haben, wenn dem nicht ſo der Fall geweſen wäre. Wir haben dann und wann eine Vor¬ liebe für das, was Abziehende als gänzlich unbrauchbar und im Handel der Erde nimmer mehr verwendbar hinter ſich zurück zu laſſen pflegen. Wir nehmen manchmal das auch etwas ernſter, was die Menſchheit in ihrer Tagesaufregung nur für einen guten Spaß hält. O, wir können ſehr ernſthaft ſein bei Dingen, die den Leuten höchſt komiſch vorkommen.
Ach Gott, ach Gott, ſich in einer Welt zu finden, in der man ſich gar nicht zurecht zu finden weiß! Dies Loos war dem armen letzten Magiſter von Kloſter Amelungsborn im vollſten Maaße zu Theil geworden. Als Sohn des Paſtors von Bevern war er geboren worden, in Helmſtedt hatte er Theologie ſtudirt, aber ſich auf der Kanzel nimmer auf Das beſinnen können, was er der chriſtlichen Gemeinde aus beſtem Herzen ſagen wollte. Auf drei oder vier adeligen Gütern17 zwiſchen der Weſer und der Leine hatte er das bittere Brod des Präceptorenthums des achtzehnten Jahrhun¬ derts gegeſſen und zuletzt — vor Jahren, Jahren, Jahren — ſehr verhungert an die Pforte geklopft, durch die ſein Ahnherr vordem in Würden ein - und ausgegangen war.
Wohl mit ſeines Familien-Namens und des Ahn¬ herrn wegen hatte man ihm dieſe Thür nicht auch vor der Naſe zugeſchlagen; ſondern ihn durch ſie eingelaſſen und ihn zuerſt auf Probe und ſodann aus Gewohnheit, Mitleid und um immer einen Sündenbock zur Hand zu haben, im Lehrer-Convent behalten. Der Cötus aber hatte ihn ſofort bei ſeinem Taufnamen gefaßt und ihn als „ Vater Noah “gewürdigt — wenn auch leider mehr im Sinn des böſen Ham als des braven Sem und des biederen Japhet. Daß die Generationen von Schulbuben, die während ſeiner Lehrthätigkeit im Kloſter vor ſeinem Katheder in der Quinta vorüber¬ gingen, nicht auch ſo ſchwarz wurden wie die Nach¬ kommen des ſchlimmen Ham, ob ihrer Verſündigungen an ihm, das war ein Wunder. Verdient hätten ſie es ſämmtlich.
Als Dreißigjähriger war er gekommen, nun war er den Sechzigen nahe und hatte alſo ein Menſchenalter im Dienſt der hohen Schule zu Amelungsborn hinge¬ bracht. Seltſamerweiſe konnte man eigentlich nicht ſagen, daß dieſe Jahre wie römiſche Feldzüge doppelt gezählt hatten. Er konnte trotz ihnen ein recht alterRaabe, Das Odfeld. 218Mann werden und „ der Menſchheit bis an's Hundertſte heran auf dem Halſe liegen “. Solche Bosheit und Rückſichtsloſigkeit hätte ſogar ganz zu ſeinem Charakter gepaßt, der von ſeiner Mutter Bruſt an etwas Hinter¬ haltiges an ſich gehabt hatte, etwas Sich-Anhaltendes, etwas Feſtklebendes, etwas auf keine Manier Weg-zu - Ekelndes.
Wenn er ein Held war, ſo war er ein vollkommen paſſiver; und dieſe pflegen es dann und wann vor allen andern Menſchenkindern zu einem hohen Alter zu bringen, wenn auch nicht immer zu einem ge¬ ſegneten.
Dreißig Jahre Schuldienſt als der Sündenbock und Komikus der Schule! Der gute Mann mit dem ernſt¬ haften Kinderherzen! Der von Mutterbrüſten an alte Mann mit der ſcheuen, glückſeligen Seele der guten Kinder!
Wer in Kloſter Amelungsborn hätte ihn miſſen mögen, da er einmal da war? Wer hätte nicht ſein Behagen an ihm genommen? Wer hätte nicht ſeinen Aerger oder ſeinen Witz an ihm ausgelaſſen und zwar ohne ſich vorher nach ſeinen Stimmungen für Beides ein wenig umzuſehen? Im Lehrerconvent wie im ge¬ ſammten Cötus wußten ſie, was ſie an ihm hatten und wußten ihn danach zu ſchätzen.
Und doch — doch hatten ſie ihn bei ihrem Abzuge nicht mit ſich genommen nach Holzminden, in die neue gelehrte Herrlichkeit, ſondern ihn zurückgelaſſen am alten19 Ort, allein in den leeren Auditorien und Dormitorien, vor den jetzt ſo geſpenſtiſchen Subſellien und in ſeiner Ciſtercienſermönchszelle über dem Hoopthale als das unnützeſte, verbrauchteſte, überflüſſigſte Stück ihres Hausraths! Man hatte einfach eben wieder einmal nicht gewußt, was man that — wer kann denn aber im Tumult des Lebens und eines Hauswechſels ſich recht auf Alles beſinnen? Freilich hatte man von Wolfenbüttel aus auch ſein Wort dazu gegeben. Dort wußten ſie noch weniger, was der Magiſter Buchius werth war und glaubten mit ſeiner Emeritirung ganz das Richtige zu treffen. Dreißig Reichsthaler des Jahrs ließen ſie ihm, und die Zelle des Bruders Philemon bis zu ſeinem Lebensende. Und mit Koſt, Licht und Feuerung wieſen ſie ihn leidergottes auf das Kloſteramt und den Kloſteramtmann an. In An¬ betracht, daß man ſich mitten in den Kriegen des Königs Fritzen befand, und Geld rar war, Koſt, Licht und Feuerung auch nicht Jedermann vom heiligen römiſchen Reiche garantirt wurden — hätte ſich der Magiſter für den undankbarſten Koſtgänger des all¬ gütigen Herrgotts erachtet, wenn er darob, nämlich über die Verweiſung an den Herrn Kloſteramtmann, ſich über einem Murren betroffen hätte. Herr Gott, wo bliebe dein Titel Zebaoth, Herr der Heerſchaaren, wenn Du allen Deinen Koſtgängern das Gemüthe gegeben hätteſt, ihr Tiſchgebet und Nachtgebet ſo zu ſagen wie Dein letzter Magiſter und Quintus von2*20Amelungsborn, der alte Buchius? Du haſt es nicht gethan, und ſo iſt es nicht meine Schuld, wenn auch dieſe Hiſtorie einmal wieder zum größten Theil vom Gezerr um die Broſamen handelt, ſo von Deinem Tiſche fallen, Herr Zebaoth.
„ Dieſe Bewegung ließ uns muthmaaßen, daß der Herr Herzog Ferdinand von Braunſchweig ſich dort lagern wollte, um die noch übrigen Lebensmittel in der Gegend aufzuzehren, “klagt ein franzöſiſcher Feld¬ bericht aus dem Spätherbſt des Jahres 1761, ehe beide kriegsführenden Parteien zum vorletzten Male die Winterquartiere bezogen und ſich häuslich und gemüthlich darin einrichteten. Du barmherziger Himmel, die „ noch übrigen Lebensmittel “! Was hatten dieſe ſcheuen, be¬ ſcheidenen, ſchämigen, mit Allem zufriedenen Verbün¬ deten der Frau Kaiſerin-Königin Maria Thereſia, dieſe liebſten Gäſte des deutſchen Volkes Seiner Hochfürſt¬ lichen Durchlaucht dem armen Herzog Ferdinand von Braunſchweig noch viel übrig gelaſſen an Nahrung für ihn ſelbſt, ſeine Leute und ſein Vieh, ſowohl am linken wie am rechten Ufer der Weſer, ſowohl in Weſtfalen wie in Oſtfalen? Und ſie hatten doch wahrlich auch den Kloſteramtmann zu Amelungsborn nicht gefragt, was ihm entbehrlich ſei zum Unterhalt ſeiner ſelbſt, ſeiner Leute und ſeines Viehs.
22Wenn ein Menſch vom Sommer des Jahres an über ihr freundlich Zugreifen ohne Nöthigung nach¬ ſagen konnte, ſo war das der Amtmann von Kloſter Amelungsborn.
Aber Magiſter Buchius auch.
Ja, ja, was für Witterung für den Gelehrten alle¬ zeit ſein mochte; für den Oekonomen war dazumal kein gutes Wetter. Kiſten und Kaſten, Scheunen und Ställe waren leer, ohne das dießmal zu große Trockniß, zu arge Feuchte, Hagel, Rotz, Räude, Würme und Mäuſefraß mit dem betrübten Faktum das Mindeſte zu ſchaffen hatten. Den Hagel, der die Saaten nieder¬ ſchlug, die Mäuſe, welche die Scheunen und Vorraths¬ kammern leer machten, hatte ſich das deutſche Volk, Fürſten und Unterthanen in einem Bündel, ſelber dazu eingeladen. Es iſt heute noch nicht von Ueberfluß, wenn man die zwiſchen Vogeſen und Weichſel deutſch¬ redende Bevölkerung mit der Naſe auf ihre Dummheit ſtößt. Bis wir zu unſerer Geſchichte gelangen, hat ſich der Herr von Belſunce ſchon verſchiedene Male recht ſatt gefreſſen im Tilithi-Gau, und es hat dem General von Luckner wenig genützt, ihn heraus und auf Göttingen hin zu treiben. Der theuere Erbfeind hat dort durchaus keine Collegia über Humaniora be¬ legt, ſondern treibt von der neuen berühmten deutſchen Univerſitätsſtadt nur in praxi deutſche Reichshiſtorie nach gewohnter Weiſe weiter. — —
Ein trüber Tag des Novembers Siebenzehnhundert¬23 einundſechzig neigte ſich ſeinem Ende, als ſie auf der alten Köln-Berliner Landſtraße zuſammentrafen, der Kloſteramtmann von Amelungsborn und ſein Haus¬ genoſſe, der Magiſter Buchius, der Ex-Kollaborator am alten Ort der alten Kloſterſchule.
Der Wind fuhr über die Stoppeln; aber die, welche das Korn geſäet hatten, hatten es wahrlich, wie geſagt, zum wenigſten Theil für ſich ſelber geerntet. Die Waldungen trugen überall Spuren, daß Heereszüge ſich ihre Wege durch ſie gebahnt hatten. Ueberall Spuren und Ge¬ denkzeichen, daß ſchweres Geſchütz und Bagagewagen mit Mühe und Noth über die Straße und durch die Hohlwege geſchleppt worden waren! Zerſtampft lagen die Felder und Wieſen. Kochlöcher waren überall ein¬ gegraben; Aeſer von Pferden und krepirtem Schlachtvieh noch unheimlich häufig unvergraben in den Gräben und Büſchen und an den Waſſertümpeln der Verweſung überlaſſen. Es war weder für den gelehrten noch den ökonomiſchen Mann ein Anblick zum Ergötzen, und ſie machten Beide die Geſichter danach, als ſie an dieſem Vierten des Wind - und Reifmonds an einer Wendung der Straße in der Nähe des Dorfes Regenborn plötz¬ lich vor einander ſtanden.
„ Er auch noch hier draußen, Magiſter? “ſchnarrte der Amtmann, ſein ſpaniſch Rohr dem alten Herrn dicht vor den Füßen grimmig in den Boden ſtoßend. „ Steht Er wieder da und gafft und ſeufzt Seiner ver¬ gangenen Herrlichkeit und Seinem paſſirten Elend nach? 24Wurmt es Ihm denn immer noch ſo ſehr, Herr, daß Er einen um den andern Tag hier herauslaufen muß, um ſeiner gottverdamm — ſeiner Sauſchule nachzubölken wie eine Kuh, der der Schlächter das Kalb abgeholt hat? Er ſollte doch wahrhaftig Seinem Herrgott danken, daß Ihm noch Niemand die Stubenthür eingetreten hat und Er dahinter, wenn Er will, in Ruhe ſitzen kann mit allen Seinen unturbirten Schrullen, Grillen und Phantaſirereien. Wer doch in Seiner Haut ſteckte, Herr! Herr, nehme Er's mir nicht übel, trifft man Ihn ſo auf dem Spazierwege, ſo wird's Einem erſt richtig klar, in welchem Elend man ſelber itzo ſeine Tage zu ver¬ ſorgen hat, einerlei ob man das Haus voll hat von den Völkern Seiner Durchlaucht oder des Marſchalls von Broglio. Hu, wer den Caraman und den Chabot ſchinden wollte, wie ſie den Kloſteramtmann von Ame¬ lungsborn geſchunden haben! “
Der letzte Seufzer ſtammte noch aus den Tagen des Septembers und Octobers des Jahres, wo der Ge¬ neralmajor von Luckner wohl ſein Möglichſtes gethan hatte, um dem Grafen von Caraman und dem von Rohan Chabot den Aufenthalt in Amelungsborn zu verleiden, aber noch lange nicht genug, um der Stim¬ mung des Amtmanns gegen die beiden Herren gerecht zu werden.
Die „ Geſchicklichkeit “des Herrn Generals von Luckner hatte leider nur für kurze Zeit „ Mittel gefunden, den Feind aus der ſchönen Gegend, die er beſetzet hatte “, zu25 vertreiben. Die ſtreifenden Schaaren der kriegführenden Parteien drangen ſchon von Neuem auf einander in der „ ſchönen Gegend “, und der Amtmann von Amelungs¬ born hatte heute nicht ohne ſeine Gründe dem eigenen Jammer zu Hauſe den Rücken gewendet, um mit den nächſtgelegenen Bauern über den ihrigen Rückſprache zu nehmen. Daß ſie das Beiſpiel des wackern Oſt¬ frieſen Hajo Cordes nachahmen und ſich mit der Art ihrer Haut wehren möchten, verlangte er wahrlich nicht. Eine Verordnung des Marſchall Duc de Broglio hatte er als „ Baillif du lieu “ihnen von Neuem einzuſchärfen gehabt. Wer in den von den Truppen Seiner Aller¬ chriſtlichſten Majeſtät in Beſitz genommenen Hannover¬ ſchen und Braunſchweigiſchen Landen ſich mit ſeinen „ Effekten, Pferden, Horn - und anderm Vieh “vor den hohen Alliirten der römiſchen[Kaiſerin] in die Wälder flüchtete und nicht ſofort zurück kam, wenn die Cara¬ biniers und Huſaren von Berchini, die Dragoner von Languedoc und Orleans, wenn Regiment Beaufremont, Regimenter Pikardie, Auvergne und Navarra oder gar die Freiwilligen von Auſtraſien und die Garde Lorraine in's Dorf rückten, dem wurde einfach das Haus ange¬ ſteckt, die zurückgelaſſene Großmutter zu Tode geprügelt, er ſelber aber ohne Gnade vor ſeiner Thüre gehängt, wenn man ihn mit ſeinen Habſeligkeiten in den Schluch¬ ten und Klüften ertappte, aufgrub und in ſein Dorf zurück geſchleppt hatte.
„ Und fünfzehn vierſpännige Wagen für den Com¬26 missaire de guerre zu jeglicher Stunde bereit, Leute — “
„ O du barmherziger Himmel! “hatten die Hohlen¬ berger, die Golmbacher und die Negenborner geheult, und der Kloſteramtmann von Amelungsborn hatte wohl einigen Grund für den Ton, mit welchem er ſeinen alten gelehrten Leibzüchter gröblich anſchnauzte:
„ Treibe Er ſich nicht länger draußen unnützlich herum, wenn ich Ihm rathen darf, Magiſter. Komme Er mit nach Hauſe. Wozu ſtehet Er da und ſtarret in die Beſtialität, da Er es nicht nöthig hat? Was ſieht Er wieder im Himmel und auf Erden, was andere Leute nicht ſehen? Des Herrn Güte und der Menſchen Wohlgefallen an einander? Er übergelehrter Rab 'mitten im dritten ſchleſiſchen Kriege! ho, ho, da, ich nehme Ihn unter'm Arm, daß man doch Einen auf dem Weg nach Hauſe hat, an den man ſich halten kann. Was Er mir werth iſt in Seinem und meinem Leben, das weiß Er ja. “
Magiſter Buchius hatte einigen Grund, wenn auch aus andern Gründen, das Weiße im Auge zu zeigen wie die Negenborner, die Golmbacher und die Hohlen¬ berger — auch die nächſten Nachbaren des Kloſter¬ amtmanns von Amelungsborn; — willenlos wendete er, wie ſo oft in ſeinem Daſein, um und ließ ſich dem Belieben eines Andern nachziehen.
Dießmal auf der aufgeweichten, zerfahrenen Land¬ ſtraße, die von Hauſe her und nach Hauſe zurückführte,27 und die er am Nachmittag wirklich nur beſchritten hatte, um aus der unruhigen Gegenwart nach einer ebenſo unruhigen Vergangenheit ſich zurück zu träumen. Wie ihm ſein unwirrſcher Begleiter ſeine bis dato un¬ eingeſtoßene Stubenthür rühmen mochte: das öde Feld und der ruinirte Handels - und Kriegs-Pfad konnten nur zu oft doch auch als Zuflucht für ein vom Lärm der Zeit verwirrtes, betäubtes Menſchen - und Homme de lettres-Gemüth vorzuziehen ſein.
„ Hat Er es denn wirklich noch immer nicht aufge¬ geben, Buchius, hier den Weg nach Holzminden hin zu laufen, wie Seinem verlorenen Glücke nach? Glaubt Er denn immer noch, ſie werden eine Abgeſandtſchaft ſchicken, um Ihn mit Lorbeerblättern, Pauken und Trompeten ſich nachzuholen, weilen ſie doch eingeſehen haben, daß ſie Ihn nicht miſſen und entbehren können? “fragte der Amtmann wiederum und ſetzte nochmal hinzu: „ Er ſollte doch wahrhaftig an Seinem vergangenen Pläſir und Aerger genug haben und ſich Seines otium cum dignitate in Ruhe freuen. “
„ Cum dignitate, “ſeufzte der alte Herr im ſchäbigen Schwarz und in Schnallenſchuhen neben dem unterſetzten, vierſchrötigen Begleiter in Stulpenſtiefeln und im grünen Flaus, und ein wehmüthiges Kopfſchütteln begleitete das Wort.
„ Ja, ja, “lachte der Amtmann, „ da mag Er wohl Recht haben mit Seinem Stöhnen. Viel Glorie war nicht in der Art, wie man Ihn auf's Altentheil ſchob,28 und ich kanns Ihm nicht verdenken, wenn Er auch noch eine Pique auf die ſaubere hochgelahrte Geſellſchaft hat, die Ihn ſo ganz und gar nicht mehr brauchen konnte, ſondern Ihn hier bei uns ganz allein Seiner eigenſten, angeborenen Dignität überließ. Nu, die hat Er aber ja auch ſicher — das nimmt Ihm anjetzo Keiner mehr, daß Er nun der Gelehrteſte und Weiſeſte in ganz Kloſter Amelungsborn iſt. Da wende Er ſich nur dreiſt an mich, wenn Ihm Einer auf dem Amt, Menſch oder Vieh, dagegen anbocken will — ha, ha, ha, ho, ho, ho, ho. “
Es war ein ungeſchlachtes Lachen, welches die Rede des Mannes beſchloß, aber ſo ganz übel war ſie doch nicht gemeint, die Rede nämlich. Der Amtmann von Amelungsborn wußte ganz genau, was er an ſeinem „ letzten Ruderum “von ſeiner „ verfloſſenen Kloſterſchul¬ ſchande “hatte. Freilich was er ihm bieten konnte, wußte er auch und machte in der übelſten Laune am liebſten Gebrauch von ſeiner Macht, einer armen vor Weisheit unbrauchbaren Kreatur des Herrgotts, das kümmerliche Leben noch mehr zu verkümmern.
„ Der Herr Amtmann wiſſen, wie ich freilich mit meinem Leben und Frieden auf Dero Wohlmeinen und guten Rath in allen Dingen angewieſen bin, “ſagte der Magiſter, doch ſein Begleiter kam nicht zu einer zweiten Lache. Ein ſeltſam Phänomen und Naturſpiel zog die Auf¬ merkſamkeit beider Männer an und hielt ſie dauernd feſt. Sie ſtanden ſtill und ſahen Beide auf.
29Vom Südweſten her über den Solling ſtieg es ſchwarz herauf in den düſtern Abendhimmel. Nicht ein finſteres Sturmgewölk, ſondern ein Krähenſchwarm, kreiſchend, flügelſchlagend: ein unzählbares Heer des Gevögels, ein Zug, der nimmer ein Ende zu nehmen ſchien. Und vom Norden, über den Vogler und den Ith zog es in gleicher Weiſe heran in den Lüften, wie in Geſchwader geordnet, ein Zug hinter dem andern, denen vom Süden entgegen.
„ Ich bitte Ihn, Herr, “rief der Amtmann. „ Sie fliegen wohl ihrer Natur nach zu Haufen; aber hat Er je dergleichen Vergadderung des Gezüchts wahrge¬ nommen? “
„ Wahrlich nicht! O ſehe der Herr doch, es iſt als würden ſie von kriegserfahrenen Feldherren geführt. Sie halten an. Sie ſchwenken wie zur Schlachtordnung ein. Sie rüſten ſich wie zur Bataille. “
„ Bei uns! Herr, bei uns! Dort über dem Od¬ felde, über dem Quadhagen! So ſehe Er doch, ſehe Er doch, Magiſter! Soll man denn hier ſeinen leiblichen Augen trauen dürfen? Sie fahren wahrhaftig auf ſich los, ſie brechen aufeinander ein, dort dem Quadhagen zu und über dem Odfelde! “
„ Ueber dem böſen Gehäge — dem Campus Odini, dem Wodansfelde! Man ſollte es faſt als ein Prae¬ sagium nehmen, daß ſie ſich gerade dieſe Stätte zur Ausfechtung ihrer Streitigkeiten auserwählt haben. O ſiehe, ſiehe, ſiehe, und immer mehr, immer neuer Zu¬30 zug von Mittag wie von Mitternacht. Ei wahrlich, da wird uns die Vergünſtigung, einem ſeltenen, einem ein¬ zigen Schauſpiele beizuwohnen. “
„ Herr, das nennt Er eine Vergünſtigung? “rief der Kloſteramtmann von Amelungsborn, doch in dieſem Moment, bei dieſem wunderbaren, vor ihren Augen ſich abſpielenden Spectakulum war er dem letzten wirklichen ortsangehörigen Magiſter der alten Kulturſtätte in keiner Weiſe mit ſeinen Bemerkungen und dergleichen gewachſen.
Der alte Herr ſtand ihm und der ganzen gegen¬ wärtigen Welt entrückt ob der „ Vergünſtigung “, die ihm hier und jetzt zu Theil wurde, nämlich vielleicht dermaleinſt von einem wirklichen Portentum aus eigener Erfahrung und vom perſönlichen Aſpekt her nachſagen oder gar auch ſchreiben zu dürfen.
Jetzt war er es, der den Arm ſeines tagtäglichen Leib - und Lebens-Despoten gefaßt hielt und den ver¬ ſtörten Mann mit ausgeſtrecktem Zeigefinger und mit glänzenden Augen hinwies auf das, was ſich da in den Lüften zutrug.
„ Es iſt ein Prodigium! “rief der Magiſter. „ Sehe der Herr, wie das unvernünftige Vieh zu den verkün¬ digenden Boten des barmherzigen Gottes wird. Es ſind fremde Schaaren, wohl ausländiſche, die da weit vom Südweſten kommen und denen das Volk vom Norden zur Abwehr entgegen eilet. Ei wanne, wanne, ſie kommen wohlgeatzet von den weſtfäliſchen und kurfürſt¬ lich heſſiſchen Champs de bataille, die Fremden. Aber31 nun iſt ihre Koſt dorten minder geworden und jetzt ziehen ſie auf neuen Raub nordwärts, voran den aſſy¬ riſchen Feldoberſten, den Herren von Soubiſe und Brog¬ lio! Sehe der Herr[Amtmann] genau zu; gebe Er mit mir acht, was da werden wird — “
„ Heiß und kalt wird's Einem bei Gott bei der Geſchichte, “murmelte der Kloſteramtmann von Ame¬ lungsborn. „ Aber was meinet der Herr Magiſter denn, was da werden kann? “
„ Eine Tröſtung oder — eine Warnung, wie es geſchrieben ſtehet: Und wer auf dem Dache iſt, der ſteige nicht hernieder, etwas aus ſeinem Hauſe zu holen. Und wer auf dem Felde iſt, der kehre nicht um, ſeine Kleider zu holen. Wehe aber den Schwangern und Säugern zu der Zeit! “
„ Und das Alles in meiner Feldmark! “murmelte der Amtmann. „ Und was ſoll die Tröſtung für uns ſein, Magiſter Buchius? “
„ Daß das Heer vom Norden Recht behalte! Daß Seine Durchlaucht, der Herr Herzog Ferdinand, ſich wiederum zur richtigen Stunde dem fremden Greuel, den welſchen Landverwüſtern entgegen werfe mit den Seinen. “
„ Was faſelt Er, Magiſter? Hat Er nicht ſo gut wie wir Andern vernommen, daß der Herzog in ſeinem Hauptquartier zu Ohr, jenſeits der Weſer, ſeit lange in ſchwerer Krankheit darniederliegt? Weiß Er nicht, daß der gute Herr ſich wohl nie wieder davon erholen wird? 32Weiß Er nicht, daß des Königs Fritzen linker Arm im Abſterben iſt, daß Seine Durchlaucht der Prinz Ferdi¬ nand bei Wellinghauſen dem Feinde ſeinen letzten Sieg abgewonnen hat? Weiß Er nicht, Magiſter Buchius — “
Der Magiſter hatte nicht den kleinſten Augenblick Zeit für ſeinen hochgewaltigen Haus - und Brodherrn übrig. Seine Aufmerkſamkeit war ganz allein auf dieſe mirakulöſe Schlacht der Raben, der Vögel Wodans über Wodans Felde, über dem Odfelde gerichtet. Mit erhobenen Armen und Stock focht er die Schlacht mit. In ſeinem gelehrten Gehirn drehte es ſich im Tummel wie dort in den Lüften dem Mons Fugleri zu. Armin und Germanicus, Sachſe und Franke, die Liga und der Schwed 'ſie lagen ſich, in Einen Knäuel verbiſſen, wiederum im Haar im Gau Tilithi, dem Ithgau, und der Magiſter Noah Buchius war von ſeiner Schule hinter ſich gelaſſen worden, hatte ſo lange das Leben gehabt, um dieſes Portentums mit eigenen Augen und bei vollen klaren übrigen Sinnen theilhaftig zu werden, und die Anwendung daraus zu ziehen für den eben vorhandenen Tag und die gegenwärtigen ſchreckens - und ſorgenvollen Zeitläufte.
Es wäre ſicherlich aber auch für den nüchterneren und in den exakten, den empiriſchen Wiſſenſchaften beſſer beſchlagenen Menſchen des neunzehnten Jahrhunderts dieſer Luftkampf nicht ohne Intereſſe geweſen, und es hatte ſich für ihn, wenn er den ſchreibenden Ständen33 angehörte, wohl verlohnt, einen Artikel darüber an die nächſte Zeitung einzuſenden und ornithologiſche Auf¬ klärung in der Sache zu erbitten. Wir aber halten uns mit dem letzten gelehrten Erben der Ciſtercienſer von Amelungsborn einzig an das Prodigium, das Wunderzeichen, und danken für alle fachwiſſenſchaftliche Belehrung: wir laſſen uns heute noch gern da an den Zeichen in der Welt genügen, wo beſſer Unterrichtete ganz genau das — Genauere wiſſen.
Wohl eine Stunde währte der Kampf des Ge¬ vögels, dem die zwei mit ſo mancherlei Daſeinsbedin¬ gungen an einander geketteten Männer an dieſem Abend auf ihrem Wege nach Hauſe zuſchauen durften. Sie hatten aber unwillkürlich ihre Schritte, der Wahlſtatt zu, beeilt, Kloſter Amelungsborn zu ihrer Rechten liegen laſſen, ohne an die Heimkehr zu denken. Krächzende Nachzügler vom Süden her, in Haufen oder vereinzelt, begleiteten ſie in den Lüften fort und fort.
„ Nehme Er meinen Arm und achte Er nicht auf Seine Strümpfe und Schuhe, Magiſter, “rief der Amt¬ mann. „ Wir müſſen das Ende obſerviren, gehe es wie es will. “
Sie kamen in den Wald, öſtlich von Hohlenberg und nördlich vom Kloſter, und kamen aus dem Gehölz beim letzten Tagesſchimmer auf das Odfeld hinaus, und hatten nun wirklich vor ſich — will ſagen, über ſich die Schlacht ſo weit das Auge reichte in der Dämme¬ rung, zwiſchen dem Vogler und dem Großen Wolf bisRaabe, Das Odfeld. 334gegen den Ith hin, und es war wahrlich wie[ein] Zeichen des Herrn in der Höhe!
Es war ein Wirbel von Tauſenden und aber Tauſenden von Streitern in der Luft, hier im Knäuel geballt ſich drehend, dort im Einzelkampf der Führer auf einander ſtoßend und nicht von einander laſſend, bis der Unterlegene ſterbend oder todt zur Erde nieder¬ flatterte oder ſchoß. Wie bei Châlons sur Marne — auf den Katalauniſchen Feldern, ein ſpukhaft Gewoge von Leidenſchaft, Grimm und Haß!
„ Sehen der Herr Amtmann, iſt es nicht, als ob die, ſo am Idiſtaviſo ſchlugen, die, ſo dem Kaiſer Carolo Magno und dem Herzog Wittekindus in die Bataille folgten, auf dem alten Blutort wieder lebendig worden wären? So hetzten ſie im Gewölk, König Etzel der Hunne, Aëtius der Römer und Theoderich und Thoris¬ mund der Weſtgothen Könige! Wären die rechten Leute jetzo an unſerm Platze, Kindern und Kindeskindern könnten ſie von dieſem Phänomenon erzählen, auch wohl es in den Druck geben. “
„ Aber wir Zwei ſind am Orte, und uns brennet dieſer jetzige dritte ſchleſiſche Krieg auf die Nägel. Was helfen mir in meiner täglichen Noth Seine grasbewach¬ ſenen Olimswelthiſtorien? Sage Er, wenn Er's weiß, was kann dieſes Geſicht für uns arme Teufel in Amelungsborn bedeuten? “
Der Magiſter, immerfort aufwärts in das ſchaurige Luftkriegsſpiel ſtarrend — zuckte die Achſeln. Zugleich35 aber griff er zu und hielt den Stockſchlag auf, den der Kloſteramtmann nach einem der aus der Schlacht herab¬ geſtürzten und verwundet vor ſeinen Stiefeln flattern¬ den Kämpfer thun wollte.
„ Herr?! “rief er.
In demſelben Augenblick kam's von der Weſer her — ein unbeſtimmtes grimmes Murren, ein dumpfes Dröhnen. Einmal — zweimal! zum dritten Mal und nun feſt anpochend wie ein Fauſtſchlag an eine ferne Thür.
„ Das Canon! “murmelte der Amtmann von Ame¬ lungsborn.
„ Ja, ſie ſind wiederum auf dem alten Krieges - und Heereswege. Iſt es von Höxter her oder von Holz¬ minden; ſie greifen ſich noch einmal an der Pforte nach der Kehle um den Thorſchlüſſel, “ſagte der Magiſter Buchius. „ Morgen mögen wir ſie vielleicht von Neuem hier haben, hier am Ith, auf dem Odfelde, im Quad¬ hagen. “
„ Da iſt uns der Teufel ſchon lange nicht bloß an die Wand gemalet worden, “murrte der Kloſteramtmann.
„ Freilich. Aber es war hier bei uns doch nur Kinderſpiel gegen das, was ſie da drüben in Weſtfalen von wirklichen großen Bataillen zu erleben und auszu¬ ſtehen hatten. Nun mag aber wohl der liebe Herrgott auch uns ſeine wahre Zuchtruthe zeigen wollen, und ſendet ſeine Raben vorher ſeinem Sturm, uns zur letzten Warnung. Der Herr Marſchall von Broglio3*36und der Herr Prinz von Soubiſe wären thörichter als ſie ſind, wenn ſie ſich bei währender böſer Krankheit des Herrn Herzog Ferdinands die günſtige Gelegenheit entgehen ließen, Seiner Durchlaucht Vaterſtadt Braun¬ ſchweig mit zu ihren Winterquartieren zu gewinnen. Da müßte denn freilich der Zug über Einbeck gehen, und wenn die hohen Alliirten von Hameln her doch noch verſuchten einen Riegel vorzuſchieben, ſo möchten wir hier endlich auch einmal des Anblicks einer geord¬ neten Schlacht theilhaftig werden, das agmen compo¬ situm, vielleicht auch quadratum, das aciem instruere — subsidiis firmare, ja auch vielleicht die Aufſtellung in quincuncem, ſo jedes Durchbrechen der Linie ver¬ hindern ſoll, vor unſeren Thüren mit eigenen Augen kennen lernen. Polybius, Hyginus, ſo wie Vegetii epitome institutorum rei militaris — “
Der Amtmann ſah ſeinen langjährigen, oft nur zu wohlbekannten Hausgenoſſen, den von der hohen Schule in Holzminden und dem Conſiſtorio zu Wolfenbüttel für überflüſſig und abgängig erachteten Magiſter Noah Buchius an wie ein ganz neues — Portentum. Jeden¬ falls aber wie völlig zu dem immer noch vor ſeinen Augen in der Luft ſich abſpielenden zugehörig. Aber zu dem, was er in dieſem Augenblick dem guten Manne ſagen wollte — konnte, kam er nicht.
Was der Grund war, weiß kein Menſch. Wie als wenn eine Stimme von Oben, einerlei ob aus dem chriſtlichen Himmel, oder vom Ida, oder aus Walhall37 her Halt geboten hätte, war urplötzlich die Schlacht der Krähen über dem Campus Odini, dem Odfelde zu Ende! Die ſtreitenden Raben-Heeres-Haufen löſten ſich von einander, es geſchah ein Aufſchwirren im Ganzen wie mit einem Ruck. Ein Auseinanderſtieben nach allen vier Winden hin. Nach dem geſpenſtiſchen, unheim¬ lichen Getöſe, dem Gekreiſch und Gekrächze des Zorns der Kreatur plötzlich die allertiefſte Stille! Eben Alles Grimm, Wuth und Lebendigkeit, nun Alles leer am Himmel und nun nur noch die Gefallenen, die Todten und Wunden am Erdboden und das volle Abenddunkel über der Welt!
Die beiden Männer ſtanden ob dieſes Endes des Prodigiums faſt noch betroffener als durch das Wunder¬ zeichen ſelber. Sie gafften eine ziemliche Zeit ſtumm in die ſtille Höhe. Wer da oben den Sieg davon ge¬ tragen hatte in der Lüfteſchlacht, ob das Volk vom Norden oder das vom Süden, das blieb bei ſolchem Ausgang ganz unentſchieden.
Nach einer geraumen Weile erſt bückte ſich der Magiſter und erwiſchte den gefallenen ſchwarzen Kämpfer, nach welchem der Amtmann vorhin mit ſeinem ſpani¬ ſchen Rohr ſchlagen wollte, am Fittich und hob ihn behutſam auf. Der Amtmann aber ſchüttelte ſich.
„ Er kann das ſo ruhig? Mir grauete beinahe davor. “
Der Magiſter hielt ſeinen Gehſtock unterm Arm und den ſchwarzen, leiſe zappelnden und erſchöpft ſich wehrenden Streiter zwiſchen beiden Händen, behutſam und mit allem Mitleid gegen die Kreatur, betrachtend vor ſich. Nun zog er ſein Sacktuch, und an den ge¬ ſchickten Griffen, mit welchen er den Vogel hineinband, erwies ſich einleuchtend, daß er nicht nur aus ſeinen Büchern, ſondern auch von ſeinen Scholaren etwas ge¬ lernt habe; daß er nicht umſonſt an einer hohen Wald - und Wildniß-Schule zum Katheder hinan - und von dem¬ ſelben herabgeſtiegen ſei.
Der Amtmann ſah ſeinem Beginnen anfangs ver¬ wundert ſtumm, ſodann aber mit ängſtlich-unwilliger Remonſtranz zu und meinte zuletzt:
„ Er wird mir doch das Unthier nicht gar mit ſich nach Hauſe ſchleppen wollen? “
„ Ich möchte es wohl, mit des Herrn Amtmanns gütiger Permiſſion. Sei es ad memoriam dieſes ſelt¬ ſamen Abends, ſei es zur Genoſſenſchaft in der Einſam¬ keit der Winterſtube. “
39„ Der Einſamkeit?! “ächzte der Kloſteramtmann von Amelungsborn. „ In dieſer Zeit des immerwährenden Tumults! ... Und als ob wir der unnützen Freſſer nicht genug auf dem Hofe hätten! Und gar Solchen?! “
„ Der Herr, der die Raben ſpeiſet, wird auch für dieſen wohl noch ein Bröcklein abfallen laſſen, “ſagte Magiſter Buchius. Leiſer ſetzte er hinzu: „ Hat er doch auch für mich zu jeder Zeit das Nothwendigſte übrig gehabt. “
„ Er iſt und bleibt ein ſchnurriger Patron, Herr, “brummte der Amtmann. „ Ich weiß es ja aber wohl, es iſt nicht ſo leicht, wie es ausſieht, Ihm Seinen Willen zu wenden, wenn Er ſich einmal wieder eine neue Grille eingefangen und in den Kopf geſetzt hat. Eh vraiment, Sein Gott ſei Dank zum Satan ver¬ zogener Conventus, Lehrerſchaft und Schlingelſchaft, hat wohl gewußt, was er an Ihm gehabt und aufgegeben hat. Na, zum wenigſten mache Er jetzt der Hantierung mit dem Geſchöpf ein Ende und komme Er mit nach Hauſe; wenn Er ſich nicht vielleicht auch noch ein paar Leichname von dieſem kurieuſen Champ de bataille in den Taſchen zum Abendbraten mitnehmen will. Es wird vollſtändig Nacht ſein, ehe wir am Kloſter ſind; und wer weiß, was für neueſte Nachricht und aller¬ neueſtes Malör uns dort erwartet, nach dieſem Por — Por — Prodigium, oder wie Er es ſonſt nennt, was wir hier eben mit leiblichen Augen geſehen und mit aufgehobenen Schwurfingern bezeugen können, obgleich40 man es eben ſo gut im Traum hätte träumen können. “—
Es war freilich vollkommene Nacht, als beide Männer den alten Mauerbezirk der weiland Ciſtercienſer von Amelungsborn und das gewölbte Eingangsthor erreich¬ ten: der Eine mit ſeinen Lebensnöthen und Sorgen im bitteren Ringen, der Andere ſeiner Daſeinskümmerniß zum Trotz im kindlichen Vertrauen auf das Geſchick und voll wunderlichen Behagens ob der Ausbeute ſeines melancholiſchen Abendganges auf der Landſtraße ſeiner emigrirten Schule nach, und aus der Vogelſchlacht unter dem Mons Fugleri, auf dem Wodansfelde, ſeinem und des C. C. Tacitus Campus Odini, dem Odfelde. Wie gern wäre wohl ein anderer lieber Mann mit dem Magiſter Noah Buchius gegangen und hätte auch wohl zu ſeinem Contentement das blaugeſtreifte Sacktuch mit dem ſchwarzen Vogel getragen! Doch dieſer Andere, genannt Ferdinand von Braunſchweig-Lüneburg auch Bevern, königlich preußiſcher General-Feldmarſchall und General en chef der königlich großbritanniſchen und churhannöverſchen Armeen, hatte leider eben etwas An¬ deres zu thun, als ſeinem freundlichen guten Herzen, ſeinen Neigungen, Stimmungen, Schrullen und Grillen Folge zu geben. In ſeinem rothen engliſchen Generals¬ rock und mit dem Stern des ſchwarzen Adlers des Kö¬ nigs Friedrich hatte er noch bei weitem weniger nach ſeinem Behagen zu fragen, wie der Magiſter Buchius mit ſeinem Vogel im Kopf und im Taſchentuch. Er,41 der große Feldherr mit dem Kinderherzen, der Sieges¬ held, der dereinſt ob ſeiner Mildigkeit nur unter der Rechtswohlthat des Inventars von ſeinem Neffen be¬ erbte Gutsherr von Vechelde, hatte eben, mühſam von ſeinen Fieberlager zu Ohr ſich erhebend, ſeine Schaaren von Neuem zurecht zu rücken auf dem großen blutigen Spielbrett des ſiebenjährigen Krieges. Und dießmal zum Schutze ſeiner eigenen Geburtsſtätte auf dem kleinen Moſthauſe in der Stadt Braunſchweig.
„ Luckner von Ringelheim an der Innerſte, nach Lutter am Barenberge gegen den Stainville. Der Erb¬ prinz von Hildesheim über die Leine bei Papenborn gradaus über Limmer und Alfeld gegen die Hube bei Einbeck, um Monſieur de Broglio den Weg zu ver¬ legen! Mylord Granby mit General-Lieutenant von Scheele, Lieutenant Colonel Beckwith, General-Major Pincier mit den Bataillons von Zaſtrow, Laffert, Im¬ hoff, Maxwell, Keith, den Campbells und den Walliſiſchen Grenadieren, mit Kopplow, Warnſtedt und der Bücke¬ burgiſchen Artillerie, mit den Reitern des Oberſten Harway, drei Schwadronen von den Elliots, zwei von den Greys, zwei von Ancram, zwei von Moyſtin über Coppenbrügge, Cappelnhagen unter allen Umſtänden auf Wickenſen, um die hohlen Wege zu beſetzen, die über Eſchershauſen nach Einbeck führen. Hardenberg mit Boſe, Bremer, Joncquieres und den hannoverſchen Jä¬ gern unter Oberſt Friedrich von Bodenwerder auf Stadt¬ oldendorf, um dem Herrn General-Lieutenant von42 Poyanne da den Rückweg abzuſchneiden. Wir ſelber, lieber Weſtphalen, unter Gottes gnädigem Beiſtand mit Conway, Kielmannsegge, Waldgrave und Howard, zwiſchen Haſtenbeck und Tundern über die Weſer und auf den Höhen, den Ith entlang gleichfalls nach Wicken¬ ſen. Wenn Alles gut und vorzüglich Hardenberg nicht fehl geht, würden wir wohl den Herrn Marquis von Poyanne in der Falle haben und dem Herrn Herzog und Marſchall de France einen braven Strich durch die Rechnung machen. Meinen Sie nicht auch, lieber Weſt¬ phalen? “
Der damalige Geheimſecretär Seiner Durchlaucht und ſpätere Canonicus am Dom Sanct Blaſii zu Braun¬ ſchweig, iſt ganz der Anſicht ſeines Herrn und Freundes geweſen und hat auch das Seinige zur Ausführung des guten Plans gethan. Den beiden Herren am Kloſter¬ thor von Amelungsborn hat er freilich keine Mittheilung von der Lage der Dinge zwiſchen Göttingen und Wolfen¬ büttel, zwiſchen der Weſer und dem Harz machen können. Sowohl der Kloſteramtmann wie der Magiſter Buchius mußten die Sachen nehmen, wie ſie ihnen kamen, und Beide hatten wohl eine Ahnung, daß der Invalide im Sack¬ tuch des Magiſters, der ſchwarze Kämpfer mit dem ge¬ lähmten Fittich für den Augenblick wenigſtens am be¬ haglichſten aus der Affaire heraus ſei. Sie fanden jedenfalls ihr Haus - und Heimweſen von Neuem in einer erklecklichen Aufregung vor und hatten abermals Mühe, im Elend der Zeit den Kopf oben zu behalten. 43Auch Magiſter Buchius trotz ſeiner Erlebniſſe und Er¬ fahrungen im dreißigjährigen Schul-Leben und Kriege und ſeiner Studien im Polybio, im Hygino und in des Vegetii Epitome institutorum rei militaris.
Er war ein Mann der Ordnung dieſer Kloſter¬ amtmann von Amelungsborn; aber halte einmal Einer Ordnung im Hauſe in Zeiten wie die eben vorhan¬ denen! Nach dem Abzug der Schule aus ſeinem Reich hatte er gemeint, nunmehro ſein Reich nach ſeinem Sinne zu lenken; doch bitter hatte ihn das Jahr Ein¬ tauſendſiebenhundertundeinundſechzig getäuſcht. Er faßte auch dieſen Abend beim Eingehen in ſein Hof¬ thor ſein ſpaniſch Rohr mit einem ſchweren Seufzer und mit der Gewißheit, daß ſeine Anwendung ihm wenig helfen werde, feſter. Sie wußten auch im Kloſter ſchon, daß das Kriegeswetter dräuender denn je heranziehe, daß weniger denn je auf Schonung vom Feinde zu rechnen ſei und — die Raben hatten ſie auch über ihren Köpfen ziehen ſehen: Menſchen und Vieh, Alt und Jung, Mann und Weib — Alles war in Bewegung in Amelungsborn und erwartete den Herrn und Meiſter, ſeinen Rath und Troſt.
„ Sie kommen zu Tauſenden und Hunderttauſenden! Sie verſchonen dießmal nicht das Kind im Mutterleibe. Daſſel brennt wieder einmal! Der ganze Solling ſteht in Feuer. Ueber Erichsburg und Lüthorſt ſind ſie ſchon mit der Hauptmacht hinaus. In Stadtoldendorf ſind die hellblauen[Dragoner] wieder, und die Schweizer44 ſind auf dem Wege hierher und ſind wieder die Schlimmſten, wie im Sommer! Und ſie bringen wie in der Schwedenzeit ganze Wagen voll von den alten Mönchen mit. Und nicht mal verkriechen in Wald und in der Erde ſoll man ſich vor ihnen! Sie hängen Jeden, den ſie aus dem Buſch ziehen, und die Mädchen nehmen ſie, über den Sattelknopf gelegt, mit. Barm¬ herziger Gott, wer hilft uns dießmal in der allerhöchſten Noth? O liebſter Himmel, Herr Amtmann, Herr Amt¬ mann, was ſollen wir thun? “
„ Vermaledeiter Hund, vorſichtig mit Feuer und Licht in den Ställen umgehen, und wenn der jüngſte Tag vor der Thüre ſtünde! “ſchrie der Herr Amtmann, ſich aus dem zeternden Haufen unter der nächſten Stallthür einen Knecht hervorlangend, der mit einer zerbrochenen, ſcheibenloſen Hornlaterne das Getümmel beleuchtete. Das ſpaniſche Rohr fiel nieder auf die Hand, welche das Licht hielt, und in das erſchreckte Auseinanderſtieben ſeines Haus - und Hof-Geſindes donnerte der Herr und Meiſter hinein:
„ Ob der Satan ſeinen ganzen Sack voll Gezücht über mich ausſchüttet, ſo weit mein Stock reicht, will ich meine Ordnung halten. Fällt mir die Welt über dem Kopfe ein, ſoll's mir allmählich recht ſein. Fliegt mir der rothe Hahn auf's Dach, ſo ſoll er doch nicht auf meinem eigenen Herd aus dem Ei gekrochen ſein. Ja, ſchiele nur her, Beſtie von Kerl! was will die Gans da mit ihrer Schürze? Zu Deinen Krancke,45 Hund! in Deine Küche, Weibsbild! Krieg — Krieg — Krieg! Auf dem Amtmann von Amelungsborn liegt der Krieg, und auf keinem Andern. Aus dem Wege — aus dem Wege! “
Er ſchwankte wie ein Betrunkener über den alten Kloſterhof, der in Frieden und Krieg ſchon ſo viel ge¬ ſehen hatte, ſeinem Wohnhauſe zu; und wie er ſich, die Steintreppe zur Hausthür hinauf, am Geländer hielt, war er wirklich der feſten Ueberzeugung, daß die Laſt der Zeit ganz allein auf ihm liege — auf ihm, dem Kloſteramtmann von Amelungsborn; daß Alles, was der Satan in ſeinem Sack habe, über ihn aus¬ geſchüttet werde, über ihn, den Kloſteramtmann von Amelungsborn.
Der geſchlagene Knecht ſah ihm drohend nach, die geſchimpfte Magd, die ihre Schürze dem Menſchen um die verwundete Hand hatte binden wollen, that das jetzt ſchluchzend. Von dem Amthauſe her klang eine keifende Weiberzunge und durcheinander zeternde Kinder¬ ſtimmen. Die Hunde bellten ſämmtlich; das wenige noch vorhandene Vieh regte ſich in den Ställen. Ver¬ haltenes Spottlachen, Schimpfworte, verhaltenes Murren und dann und wann ſchrille Pfiffe kamen aus den Winkeln des Hofes, wo das ſonſtige Geſinde ſich vor dem Grimm des Herrn verkrochen hatte, und der Homeiſter meinte zu dem Magiſter gewendet dem Amt¬ mann nachdeutend:
„ Herr, wen Der heute Abend zu ſeiner Suppe46 einlädt, dem wird er auch einen ſchlimmen Löffel bei den Napf legen. No, no, freilich, es liegt auch ſchwer genug auf ihm und er hat mit keinem beſſern zu freſſen. Der Herr Magiſter aber haben ſich wohl Ihr Abendbrod da im Taſchentuch eingeholt? Wie unſere alten Vorfahren hier, die Mönche, Wurzeln aus dem Erdboden. Das iſt wohl recht. Den gebratenen Ochſen mit Haß, von dem der weiſe Sirach[ſchreibt], haben wir alſo den Franſchen wieder vorzuſetzen; und die Saker¬ menter laſſen all' unſern Kohl mit Liebe drum ſtehen. Wie lange — Herr Du mein Je, Herr, iſt Er denn wahrhaftig vorhin mit unter den Rabenäſern im Zuge gezogen und hat ſich gar einen Gefangenen aus der Bataille mitgebracht? “
„ Nur einen Invaliden, Meiſter, “ſagte der Magiſter Noah Buchius. „ Nur einen armen flügellahmen Warner von Wodans Felde. Ach, wenn Er, Homeiſter, durch Schloß und Riegel was dazu thun könnte, Amelungs¬ born morgen vor Feindeseinbruch und Mordbrand zu bewahren! “
Sie blickten Alle auch dem Magiſter nach, wie er ſeiner Thür zuſtapfte, die nicht in das Amts - und Wirthſchaftsgebäude führte, ſondern in den Flügel des Kloſters, der einſt hauptſächlich der berühmten Schule und ihren Lehrern Unterkunft gegeben hatte. Bemer¬ kungen machten ſie nicht hinter ihm drein, ſie ſchüttelten höchſtens die Köpfe. Nur der geſchlagene Knecht ſchien einen Augenblick lang die Abſicht zu haben, den alten Herrn am Rockſchooß zurück zu halten; doch auch er ließ das, wandte ſich zu ſeiner Arbeit und verſchwand im Pferdeſtall. Es wurde noch einmal ſtill wie im Frieden in Amelungsborn, trotzdem, daß der Krieg von Neuem über den Solling heranzog und die Wetter¬ wolken drüben am andern Ufer der Weſer gleichfalls Miene machten, ſich von Ohr her in Bewegung zu ſetzen. Wie der Rabenzug es verkündigt, und das Gerücht es über das Land hier geheult, dort geächzt hatte.
Es war ganz dunkel, doch wer dreißig Jahre lang den ſelben Weg gegangen iſt, findet ihn im Dunkeln. 48Der Magiſter brauchte kein Licht auf den ausgetretenen Treppen, in den Gängen, die an den jetzt ſo ſtillen Schulzimmern vorbeiführten; ſelbſt der trübe Schein, der hier und da durch ein Fenſter fiel, war ihm nicht vonnöthen. Einen Augenblick hielt er an vor einer Thür, der Thür ſeiner Quinta. Er legte die Hand auf den Griff, als ob er öffnen wollte; aber mit einem Seufzer ging er weiter.
Er brauchte auch keine Lampe auf der engern Treppe, die zu ſeiner Wohnung mit wenigen Stufen empor leitete, zu der Zelle, die ſein letzter mönchiſcher Vor¬ gänger, der Bruder Philemon, grade vor hundertund¬ dreißig Jahren auf der Flucht vor dem Feinde, oder, wie die Sage geht, mit der Fauſt Herrn Theodor Berkelmanns an der Kaputze hatte räumen müſſen, und die leer geſtanden hatte, bis ſie ihm, dem Magiſter Noah Buchius, zu ſeinem endlichen Unter¬ kommen im Leben angewieſen wurde. Dreißig Jahre hatte er ſein Feuerzeug im Dunkeln zu finden gewußt und fand es auch jetzt; Stahl, Stein und Schwefel ſowie den Kaſten mit den zu Zunder gebrannten Lumpen. Die Funken ſpritzten von dem Stein, und einer fing in den ſchwarzen Lumpen. Der Schwefelfaden leuchtete auf und fünf Minuten nach ſeinem erſten Schlag mit dem Stahl hatte der Magiſter Buchius Licht. Er hatte ſeine kleine Blechlampe auf dem gewohnten Fleck ge¬ funden und bis jetzt wenigſtens ſchlug ſie Keiner ihm aus der Hand. Nichtsdeſtoweniger ging er noch einmal49 zur Thür, um ſich zu vergewiſſern, daß er ſie feſt hinter ſich zugezogen habe und dann — dann ſaß er auf ſeinem Stuhl, das Tuch mit dem Invaliden aus der Rabenſchlacht auf dem Gipsboden zwiſchen ſeinen Schnallenſchuhen und ſeufzte wie Einer, der ſchwerer Bedrängung mit Mühe entgangen iſt:
„ In solitudine! “— — —
Während der fünf Minuten, daß er ſo hockt und ſeine Gebeine und ſeine Gedanken zuſammenſucht, ſehen wir uns wohl ein wenig in ſeinem Wohnraume um. Es verlohnt ſich der Mühe.
Es waren eigentlich zwei Räume, die im Kloſter Amelungsborn das letzte Aſyl des Alten ausmachten. Man hatte eine Thür in die Wand gebrochen, und die nebenanliegende Zelle dem Magiſter zum Schlafzimmer angewieſen. Sein Bett ſtand da auch, und er hatte ſeit dreißig Jahren gottlob gut da geſchlafen, aber auch ſeine ſchlafloſen Nächte, die ihm wahrlich gleichfalls nicht erſpart worden waren, in Geduld durchwacht. Darüber wäre vielleicht ebenfalls etwas Mehreres zu bemerken, doch wir verſchieben das oder erſparen es uns ganz; es kommt nicht viel drauf an.
Die Hauptſache iſt uns augenblicklich die Zelle des im allerbeſten Schlaf ruhenden Bruders Philemon, des alten Ciſtercienſers vom Jahre 1631, in welcher der alte Exkollaborator, der Magiſter Noah Buchius im Jahre 1761 eingeniſtet ſitzt, und zuſammengetragen hat, was ihm im Laufe der Zeiten das Schickſal anRaabe, Das Odfeld. 450Eigenthum oder als Curioſität hat zukommen laſſen wollen.
Aber das iſt nicht das Einzige. Seltſamerweiſe fragen ſie Alle im Kloſter ihn Abends oder gar in der tiefen Nacht um Rath, wenn ſie ſich am Tage luſtig über ihn gemacht haben. Die ſeit hundert Jahren nicht getünchte Mönchszelle iſt hinter dem Rücken von Abt und Amtmann ein Zufluchtsort für mehr als Einen geworden, dem das Leben durch eigene oder fremde Schuld ſauer aufſtieß. Mehr als Einer und Eine in Amelungsborn erinnern ſich dankbarlich bis an ihren Tod des Stuhls neben dem Kachelofen, des Tiſches von rothgefärbtem Tannenholz, der im Winter an dieſen Ofen und im Sommer an das Fenſter gezogen ſtand. Auch des Bücherfaches mit der mäßigen Bibliothek des ſonderlichen Gelehrten und Predigers in der Wüſte mag ſich mehr als Einer entſinnen. Je nachdem der Mann oder das Weib, der Alte oder Junge iſt, pflegt Magiſter Buchius nach dem Schaff in die Höhe zu greifen und anderer Gelehrten Weisheit und Troſt herabzu¬ langen nach dem Bedürfniß der Stunde. Wer nach dem Hakenbrett mit den Kleidungsſtücken des jetzigen Bewohners der Zelle gucken will, mag's thun. Viel zu finden iſt da nicht. Item ſo in dem Kaſten, der ſeine Hemden, Krauſen, Nachtkamiſöler und Zipfelmützen in ſich ſchließt. Sereniſſimus, Herr Herzog Karl der Erſte, haben Ihrem emeritirten gelehrten Diener am Schulamt auch freie Wäſche für den Reſt ſeines Lebens51 ausgemacht; aber er hat wenig Weißes in die Seife zu geben.
Dafür hat er manches Andere; und manch ein anderer gelehrter Mann und College von heute würde gern für ein Paar Griffe zwiſchen ſeine Eigenthümer nicht nur ſeine eigene ſämmtliche Leibwäſche hingeben, ſondern auch die ſeiner Frau, vorzüglich wenn ſie ſich mit oder nach ihm Frau Profeſſorin, Frau Archivarin, Frau Muſeumsdirectorin betituliren läßt.
Das iſt die Sache! Man iſt nicht umſonſt der Magiſter Noah Buchius und lebt als ſolcher im nüchtern altklugen achtzehnten Jahrhundert in der hohen Wald - und Wildnißſchule von Amelungsborn im Tilithigau, ohne das Seinige, das was Einem allein gehört, zu¬ ſammen zu tragen. Im Sacktuch auch, wie eben noch den ſchwarzen Kämpfer aus der Rabenſchlacht auf dem Odfelde, dem Campus Odini des Magiſters!
Es kleben und hängen an Allem Zettul. Von des gelehrten und kurieuſen Mannes Hand geſchrieben. Wir ſchreiben nur einige derſelben nach, wie unſer Auge von der Wand zwiſchen dem Fenſter und dem Ofen bei der trüben Beleuchtung durch die ſchlechte Oellampe hinſchweift, und wir bedauern, daß wir nicht alle nach¬ ſchreiben können.
Auf Börten, jene Wand entlang ſind die Merk¬ würdigkeiten geordnet und haben Generationen von Schulbuben, ſowie dem geſammten Lehrerconvent ſo¬ wie auch dem geſtrengen Herrn Kloſteramtmann reich¬4*52lichſten Grund zur Verwunderung, zum Kopfſchütteln und zum Geſpött gegeben; und zwar nicht der Erklä¬ rungen wegen, ſondern wegen des närriſchen Menſchen, der ſich mit dergleichen riſibeln Allotriis abgab.
„ No. 5. Ein römiſcher Ritterſporn, ſo wahrſchein¬ lich in den kayſerlichen Armaden Divi Auguſti oder Tiberii verloren. Im Sumpf am Molter-Bach gefun¬ den. Arg verroſtet. “
„ No. 7. Eines cheruskiſchen Edelings Arm - und Schmuckring. In einem Topfe gefunden ohnweit Warbſen. “
„ No. 7a. Derſelbige Topf, der beſſern Erhaltung wegen mit Draht umbunden. “
„ No. 7b. Etliche Aſchen und Kohlen aus dem näm¬ lichen Topfe. Zum Andenken an unſere Vorfahren in einem Papier conſerviret in der Tobacksdoſe des hoch¬ ſeligen Herrn Abtes Doctoris Johann Friedrich Häſeler, weiland hieſiger hohen Schule weitberühmten Vorſteher. Ein feiner weltbekannter Mathematicus! “
„ No. 16. Ein Fauſthammer auf der Mäuſebreite, Stadtoldendorfer Feldmark aufgegraben. Wie mir däucht eines teutſchen Offiziers Kaiſers Caroli Magni Gewaffen. Doch laſſe ich dieſes beſſern Gelehrten anheimgeſtellt ſein. “
„ No. 20. Ein verſteinerter Knochen hominis diluvii testis. Eine große Rarität! Hat mir aber im Kloſter mannichfachen Verdruß zugezogen, derer hierüber anders laufenden Meinungen wegen. In den Steinbrüchen, im Sundern gefunden. “
53„ No. 23. Ein barbariſch Horn vom Urochſen, Bos primigenius; auch Wiſent genannt. Ehedem von den Barden beim Gottesdienſt und in der Bataille zum Tuten gebraucht. Dieſes hier vorhandene Exemplar ſoll ſich im Kuhhirtenhauſe zu Lenne hinter dem Till vor¬ gefunden haben. NB. mir von denen Herren Prima¬ nern zu meinem Geburtstage zugetragen und de¬ diciret. “
„ No. 30. Ein bemalter hölzerner Arm von einem Weibsbild, einer Statua der Jungfrau Maria. Hat zu päbſtlicher Zeit hier bei uns in unſerer Kirche viele Wunder gethan und großen Zudrang des Volkes von weither zu Wege gebracht. Auch eine große Curioſität und wohl zu bewahren, doch mit Vorſicht vorzuweiſen des lieben Aberglaubens wegen, der heute noch wie damals an jedwedes alte Weibermärlein glauben muß. “—
Nicht wahr, wenn man doch in dem Kataloge ſo fortfahren wollte, zum Scherz der Herren Primaner und beſſern Gelehrten heutiger Zeit? Wir thun's aber nicht. Um keinen Spaß in der Welt! Wir werfen höchſtens noch einen Blick auf den „ Büchervorrath “unſeres lieben alten Freundes.
Natürlich die Claſſiker in abgegriffenen Schulaus¬ gaben, meiſtens aus den eigenen Schuljahren des Ma¬ giſters. Wenige neuere und neueſte Schriften und auch die meiſtens nur wie ſie der Zufall in der Zelle des Bruders Philemon zuſammengeſchichtet hat: Gundlings54 Otia neben Petitus De amazonibus dissertatio; Jöchers compendiöſes Gelehrtenlexikon neben des weltberühmten Engelländers Robinſon Cruſoe Leben und gantz un¬ gemeinen Begebenheiten inſonderheit da er 28 Jahre lang auf einer unbewohnten Inſul auf der Amerikani¬ ſchen Küſte gelebet hat. 1728. Profeſſor Gottſcheds Kritiſche Dichtkunſt und Bearbeitung von Addiſon's Cato, und daneben, und daneben — vielleicht pio furto ſeit Emigrirung der Schule von Amelungsborn nach Holz¬ minden im Beſitz des Magiſters Buchius — ein ge¬ ſchrieben Breviarium mit ſauber ausgemalten Kupfern (sic) Johannis Masconis, vordem, Anno Dom. 1363 bis 1366 am hieſigen Orte Abbas.
„ Soll ein celebrirter Maler und feiner Amateur in denen ſchönen Künſten zu ſeiner Zeit geweſen ſein, “meint der Magiſter auf einem in der Handſchrift lie¬ genden Zettel. „ Wird von denen heutigen Kunſtkennern weniger äſtimiret. “
Es kamen, ſelbſt als noch die Schule zu Amelungs¬ born in Blüthe ſtand, die neueſten Erzeugniſſe der Litteratur weder vollſtändig noch raſch in die gelehrte Weſer-Waldwildniß. Jetzt wartet der Magiſter ganz vergeblich ſelbſt auf zufällige Nachrichten aus der Ge¬ lehrten Republik da draußen. Es iſt eben Krieg, und ſelbſt Dinte und Gänſefedern ſind rar geworden in Amelungsborn.
Gänſefedern? Ja wohl, ja wohl! Dieſe jedem Pädagogen, Doctor, Präceptor und Ludimagiſter unent¬55 behrlichen Inſtrumente flatterten wohl ungeſchnitten auf den Feldern und Wegen, um die Kochſtellen; aber aus den Ställen und von den Höfen waren ſie weniger zu holen. Dafür hatten ſowohl der Vicomte von Belſunce wie der Herr General von Luckner und ihre Völker zu Fuß und zu Pferde ſchon ſeit dem Sommer des Jahres geſorgt. Wem's Papier nicht ausgegangen war an ſolch 'einer entlegenen Kulturſtätte, mochte item von Glück ſagen. Weder Charta pura, rein ſauber Papier, noch Charta emporetica, Kramerpapier gab es viel zu Amelungsborn; von Charta Claudiana, Regal¬ papier und Charta augusta, ſeinem, gelinden Schreib¬ papier ganz zu geſchweigen. Die wenigen Bogen des letztern, die der Magiſter Buchius übrig hat, die hütet er wie ſeinen Augapfel und bedient ſich ihrer nur ver¬ ſtohlen zu ſeinen im Trubel der Zeiten fortlaufenden Collectaneen.
Das jüngſte Buch in der Zelle des Ciſtercienſer¬ mönchs Philemon und des letzten am Orte nachgelaſſe¬ nen Kollaborators der Gründung des heiligen Berhard von Clairvaux ſtammt aus dem Jahre 1756, und iſt eine vierte Auflage und zu haben zu Lemgo in der Meyeri¬ ſchen Buchhandlung. Es liegt an dieſem böſen un¬ ruhevollen Herbſtabend auf dem Tiſche des heutigen alten Bewohners der Zelle und ſein Titel lautet:
„ Der wunderbare Todes-Bote oder Schrift - und Vernunftmäſſige Unterſuchung Was von den Leichen-Erſcheinungen, Sarg-Zuklopfen, Hunde¬56 Heulen, Eulen - und Leichhüner-Schreyen, Lichter-Sehen, und andern Anzeigungen des Todes zu halten. Aus Anlaß einer ſonderbaren Begebenheit angeſtellet und ans Licht gegeben von Theodoro Kampf, Schloß-Pre¬ digern zu Iburg. “
Magiſter Buchius hat auf dem Schmutzblatt bemerkt:
„ Mir wohl aus angenehmer Satura zum freund¬ ſchaftlichen Hechelſcherz von Holzminden aus dediciret von meinen hochgeehrteſten Mitarbeiter am hieſigen Schulwerk, Herrn Collega, Kollaborator Magister Zinſer¬ ling. In den Iden des Märzen 1761. Habe dem Herrn Satirikus ſeinen Scherz weiter nicht nachgetragen, ihm jedoch auch nicht zu ſeinem gewünſchten Kitzel ob der Sache verholfen. “
Wie aber nun auch Magiſter Buchius ſich im Früh¬ jahre 1761 zu dem abſonderlichen Buche geſtellt haben mochte; am Morgen des vierten Novembers in dem¬ ſelben Jahre 1761 hatte er es doch aus ſeinem Vor¬ rath von gelehrtem Rüſtzeug herabgelangt und mancherlei Beachtenswerthes darin gefunden; ja ſogar hier und da eine kleine Aufrichtung in der Angſt, Unruhe und Sorge des Daſeins. Letzteres vielleicht ein wenig gegen die erſte Meinung des wohlgeſinnten Gebers und mit gen Holzminden verzogenen jocoſen Collegen M. Zinſerling. Und für Einen, der eben aus der Rabenſchlacht auf dem Odfelde heimkehrte, iſt es auch wahrlich eine Schrift, die man auf dem Tiſch nur zurückſchiebt, um der Abendſuppe Raum zu machen.
57Dieſe wurde gebracht, als der greiſe Benemeritus ſeinen Gefangenen, oder lieber ſeinen Geretteten, aus der Bataille auf dem Campus Odini aus dem Sacktuch, in welchem er ihn hergetragen hatte, loslöſte.
Mit hängendem Flügel hüpfte der wunde ſchwarze Kämpfer hervor, verſuchte zu flattern, gab es auf, hüpfte auf gottlob geſunden Füßen hierhin und dahin durch das Gemach, ſtellte ſich feſt unter dem Tiſche, legte den Kopf auf die Seite, den Magiſter Buchius genau zu betrachten und ſprach rauh, heiſer und klagend:
„ Krah! krr, krr, krr! “
„ Komme Er her; ich thue Ihm weiter nichts, “ſagte der Magiſter Buchius, wie er das vordem von ſeinem Katheder herunter hätte ſagen können. „ Laſſe Er mich wenigſtens nach Seinem Fittich ſehen, “ſagte der Magiſter zuredend und dabei unter den Tiſch nach ſeinem neuen Stubengenoſſen greifend. Noch traute dieſer aber nicht gänzlich. Krächzend hüpfte er vor der begütigenden, mitleidigen Hand zurück in's Dunkel, und in demſelben Augenblick klopfte es an der Zellenthür.
Es war Wieſchen, von der Frau Kloſteramtmannin geſchickt mit dem Abendbrod des Emeritus der großen Schule von Amelungsborn, des zu Tode zu fütternden gelehrten überſinnigen Haus - und Hof-Genoſſen.
„ Krah! “kreiſchte der Rab, mit dem ganzen Witz ſeines Geſchlechts eine offene Thür ſofort von einer ge¬ ſchloſſenen unterſcheidend. Noch einmal verſuchte er zu fliegen und flatterte wenigſtens gegen das erſchreckt58 gleichfalls kreiſchende Mädchen an. Doch er flatterte nur dem Magiſter in die Hände und dieſer ſprach jetzo:
„ Er thut Dir nichts, Kind! Er hat ſelber das Seinige abgekriegt. “ Es war die Dirne, die vorhin dem Knecht ihre Schürze um die blutende Hand ge¬ wunden hatte, und die jetzt, immer noch mit verweinten Augen, dem alten Herrn in der Zelle des Bruders Philemon ſeine ihm ausgemachte Atzung zutrug. „ Zu Tode hat er mich verjagt, als ob's noch nicht genug an der Angſt wäre, “ſchluchzte ſie, aus ihrem Korbe den irdenen Napf mit dem ſteifen, ſchwachdampfenden Roggenbrei hebend und zu ihm auf den Tiſch das ſchwarze Roggenbrod und den Teller mit dem letzten Häring von Kloſter Amelungsborn abſetzend.
„ Mit der Butter reichte es ſelbſt für den Herrn Amtmann nicht, und die Käſe wollten wir doch lieber für den Feind aufheben wenn's doch wieder einmal ſein müßte, läßt Ihm die Frau Amtmännin ſagen, “ſagte die junge Magd. „ Aber wie Er ſich in ſo ſchlimmer Zeit noch mit ſolchem Unthier abgeben mag, das weiß ich nicht, “ſetzte ſie hinzu. „ Ich an Seiner Stelle würfe gleich den Unglücksvogel da aus dem Fenſter in's Hoop¬ thal hinunter. Aber der Herr Magiſter grauln ſich ja vor nichts; das weiß man freilich ſchon. “
„ Weiß man dieſes? “ſeufzte der alte Herr; doch zu ſeinem zappelnden Gefangenen zu genauerer Be¬ ſichtigung ſich wendend, meinte er: „ Armer Patron, den Fittich hat man dir böſe zerhackt. Mit dem Fliegen59 wird's wohl nicht viel mehr werden in dieſer Welt; aber im Uebrigen geht's ja noch. Sind nun auch an¬ gewieſen auf das Huppen unter Tiſch und Bank, auf das Broſamenleſen aus den Stubenritzen, auf das Knochenſuchen im Kehricht nach dem Jagen in den Lüften, nach dem großen Schlagen im Gewölk! Kralle Er mich nicht, Monſieur und tapferer Rittersmann; er ſoll's nach Vermögen gut haben beim alten überzähligen Kollaborator Buchius. Und Sein Theil von dem Fiſch¬ lein dort und dem guten Brod ſoll Er auch haben, ohne im Unrath mit dem Bettelſack darnach umgehen zu müſſen. Um ſeinen hängenden Flunk aber müſſen wir Ihm vor Allem eine Binde legen — barmherziger Himmel, Luiſilla, Wieſchen, Jungfer Lieſe, was fällt Ihr denn bei? was ſoll denn dieſes bedeuten? “
Der Magiſter mochte wohl fragen und ſeinen neuen Gaſtfreund wieder zur Erde flattern laſſen, ohne für's Erſte nach Verbandzeug für deſſen Verwundung ſich um¬ zuſehen. Er ſah zuerſt jetzt auf die junge Magd und zwar betroffen, erſtaunt und erſchreckt. Das Mädchen heulte plötzlich gradheraus und brach los wie ein Platz¬ regen, als ob ſie die hintergeſchluckte Noth und Angſt von Wochen und Jahren in dieſem Momente von der Seele wegſpülen wolle.
„ Was dies bedeuten ſoll? “ſchluchzte ſie, und die Worte kamen wie bei einer Ueberſchwemmung wegge¬ ſchwemmtes Hausgeräth auf dem Strome. „ Nach dem Beeſt ſieht der Herr Magiſter aus in Seiner Gut¬60 herzigkeit; aber für Unſereinen hat Er kein Auge mehr übrig. Alles ſucht Er ſich zuſammen im Himmel und auf Erden und läßt es ſich von den Jungens oder unſern Knechten bringen, wenn ſie meinen, daß es was für Ihn iſt; aber für uns hat Er keine Zeit mehr übrig. Ach du lieber Gott und wir kuken doch Alle in der Bedrängniß nach Ihm, wenn der Herr Magiſter es auch nicht wiſſen. Und wenn Er über den Hof geht, hat Er hinter jeder Stallthür und hinter jedem Fenſter Einen, der mit Ihm ſprechen möchte; wenn der Herr Magiſter auch keinen Gedanken daran haben. Und merken laſſen kann es ja Keiner von uns, wie es ſich für ſolch 'einen gelehrten Herrn ſchickt, wie wir uns zu gern auf Ihn um Rath und That und Troſt verlaſſen möchten. Mit der Schrift kann es ja Keiner vom Kloſter Ihm zu wiſſen thun, daß wir Alle wiſſen, daß Er allein hier in Amelungsborn aus der alten Zeit her und der frühern Gelehrſamkeit uns zu Troſt und Rath und Hülfe ſein kann, wenn der Herr Magiſter nur wollen. Aber Er will ja nicht — “
„ Gütiger Himmel, weßhalb will er denn nicht? “ſtammelte Magiſter und Exkollaborator Buchius, zum allererſten Mal in ſeinem Leben, und zwar jetzt zu ſeiner zitternden Ueberraſchung, gewahr werdend, daß auch er auf der Wagſchaale mitwiege, daß auch er von wirklicher angſthaft gefühlter Bedeutung für ein anderes Menſchenkind, für andere — ausgewachſene Leute ſein könne. „ So laß doch das Gejammere, das Geweine,61 Kind! ſo ſage es doch, was Du eigentlich von mir verlangſt! Wie ſoll ich Dir rathen? wie ſoll ich Dir helfen, Wieſchen? Thu die Schürze von den Augen und rede deutlich. “
Das Mädchen zog die Schürze von den verſchwol¬ lenen Augen herunter und ſagte unter leiſem Weinen:
„ Ich kann ja um Gott und Jeſu nichts dazu, wenn dem Herrn Magiſter die Suppe da ganz kalt wird; aber draußen ſteht er, und er will dem Herrn Amtmann noch vor den Franzoſen den rothen Hahn auf's Dach ſetzen, und dann will er ſelber unter das Volk, zu den Franzoſen und dem Herzog Ferdinand. Es iſt ihm jetzt Alles einerlei, und ich bin ihm auch einerlei. Auf kein gutes und giftiges Wort hört er; und draußen ſteht er; und von Ihm, Herr, wollen wir den nächſten Weg in das blutige Elend wiſſen; denn hier halten wir es nicht länger aus in Amelungsborn! “
Der Magiſter ſah von ſeinem kummervollen Abend¬ beſuch nach der Thür und fragte nicht mehr genauer, wer da draußen ſtehe. Und der draußen Stehende wartete es auch nicht länger ab, daß man ihm herein rufe. Er klopfte aber doch höflich mit dem blutrünſtigen Knöchel an der arbeitsharten Fauſt an, ehe er ſich ver¬ legen-ungeſchlacht hereinſchob. Und dann ſtand er neben der Hausmagd der Frau Kloſteramtmännin und ſagte mit harter, ſtockigter, heiſerer Stimme:
„ Ja, nichts für ungut, Herr Magiſter, es iſt ſo wie das Mädchen geſagt hat, und ich möchte wohl heute Abend noch mit Ihm reden von wegen gutem Rath und der Landkarte wegen, die Er wohl noch von Seiner ab¬ gegangenen Schule her auszulegen weiß. “
„ Alſo Er iſt es, Schelze? “ſagte Magiſter Buchius. „ So wünſche ich Ihm vor Allem zuerſt einen guten Abend zu Seinem Beſuch. “
„ Schönen guten Abend, Herr, “ſtotterte der zornige Knecht. „ Und nehme Er's nicht übel, Herr, daß ich vergeſſen habe, Ihm den zu bieten! Aber Das ſoll63 man wohl vergeſſen in dieſer Zeit und nach dem Tage, wie man ihn ſich gefallen laſſen ſoll von Tage zu Tage. Das wäre aber nun wohl die letzte Höflichkeit in Kloſter Amelungsborn, und nun, Wieſchen, ſieh mich nicht ſo erbärmlich an, es hilft uns Beiden zu nichts. Und weil ich mich auf der Karte doch wohl nicht mit Seiner beſten Hülfe zurecht finden kann, Herr Magiſter, habe ich Ihm gleich ein Stück Kreiden mitgebracht. Da! “
Er hatte ſchon während ſeiner verworrenen Red¬ nerei in der Taſche geſucht und legte jetzt wirklich dem alten gelehrten Herrn ein Stück Kreide auf den Tiſch vor die erſtaunten Augen.
„ Ja, wenn Er mir ſagen will, Schelze, was ich hiermit ſoll — “
„ Ja, Heinrich, jetzt ſag's dem Herrn Magiſter nur ſelber in Deiner Unſinnigkeit, was er damit ſoll! “ſchluchzte Wieſchen darein.
„ Die Welthiſtorie ſoll Er mir damit auf den Tiſch malen. Den Weg ſoll Er mir hier auf den Tiſch malen, den Weg zum guten Herzog Ferdinand. “
Er zog jetzt mit ſeiner Kreide einen Strich über den Tiſch.
„ Da fließt die Weſer. Hier, wo der Brotlaib liegt, iſt der Solling. Da über den Häring weg brechen die Franſchen wieder ein aus dem Göttingen'ſchen, das weiß Jeder und der Stocktaubſte hat's aus dem Geheul heute wieder heraushören können. Aber nun da drüben um Seinen Suppenpott iſt das Weſtfäliſche, und64 dorten ſteht der Herzog: längs der Weſer lang ſteht es voll von ſeinen Völkern. Aber der Rabenzug heute Abend iſt auch aus dem Calenbergiſchen hergezogen, und das Weſtfäliſche iſt groß, und zerreißen kann ſich der Herr Herzog nicht und an jeglichem Orte zugleich ſein, und ich mag doch nur zu ihm allein hin. Daß er in Hameln auf den Tod liegt, glaubt Keiner unten im Stall. Das läßt unſer Herrgott nicht zu: und es hat ihn auch ſchon Einer, der von drüben gekommen iſt, reiten ſehen auf ſeinem Schimmel, aber das iſt bei Meyborſen im Brever-Bruch geweſen: und da ſagen auch Andere, das ſei einer von ſeinen engelländiſchen Generalen geweſen. Und ſeine engliſchen Bergvölker mit den nackten Beinen und Dudelſäcken ſind aus dem Pyrmont'ſchen her, zwiſchen Grohnde und Bodenwerder, vernommen worden: der Herr Magiſter hier aber hat ſeine Karten an der Wand und ſich alles darauf an¬ geſchrieben, wie es draußen ausſieht in der Welt. Und nun, Herr, wenn Er Erbarmen mit einem armen Menſchen haben wollte und einem armen Menſchen ſeine Seele vor einem Mord an ſeinem Brodherrn be¬ wahren möchte, ſo ſollte Er mir heute Abend genau an¬ weiſen, wo ich auf dem kürzeſten Richtewege zu unſerm Herrn Herzog Ferdinand kommen kann! “
Magiſter Buchius war nicht der Mann, der ſich ſofort zu faſſen und Antwort zu geben wußte, wenn man in irgendeiner Art und Weiſe auf ihn einlärmte: aber zu faſſen wußte er ſich mit der Zeit immer.
65Zuerſt murmelte er jetzt, beide magere Kniee mit den beiden Händen reibend:
„ Ich hab's mir wohl gedacht! ich hab's mir wohl gedacht. Es wird wie damals im dreißigjährigen Elend; wir treiben uns Alle — Einer den Andern in den Krieg. Den Bauer vom Pflug, den Handwerksmann aus der Werkſtatt, den Studenten von dem Buch! Alle, Alle! Den Herrn und den Knecht, den Meiſter und den Jungen — Alle, Alle. Und die Fremden hohn¬ lachen, ihre Roſſe waten in unſerm Blut und ihre Räder gehen über unſere Knochen. Hört Er's krachen, Schelze? ſieht Er's roth und langſam fließen in den Gräben, Schelze? “
„ Ja, Herr, “grollte der Knecht von Amelungsborn, „ wer von uns hat ſie nicht liegen ſehen? Habe ich ſie nicht ſelber mit unterroden müſſen? Mit den Lade¬ ſtöcken auf dem Buckel haben ſie uns an der Arbeit gefördert. Aber grade drum, Herr! Weshalb ſoll nicht Unſereiner auch mit dem flachen Pallaſch den verfluch¬ ten Bauerlümmel beim Vorſpann und an der Leichen¬ kuhle traktiren, wenn er's ſo gut haben kann? Dem Kloſteramtmann von Amelungsborn mit dem Kolben in den Hintern, mit der Plempe über den Kopf und die Fauſt — wie er mir — das ſoll mir jetzt das rechte Freſſen ſein in der verhungerten, luſtigen Zeit! Ein ehrlicher Soldatentod in dieſen Kriegestagen iſt ein beſſer Labſal als ſich Tag für Tag zum Krüppel auf dem Miſthaufen ſchlagen laſſen. Der Herr MagiſterRaabe, Das Odfeld. 566weiß es ſo gut wie ich, wie es hier in Amelungsborn zugeht, ſeit der Amtmann alleine Meiſter iſt; aber vor¬ hin iſt dem Faſſe der Boden ausgeſchlagen worden. In dieſer Nacht noch geht's unter das Volk, Herr Ma¬ giſter, und wenn's Glück gut iſt, giebt's morgen auf dem Hofe wieder eine blutige Fauſt, aber meine iſt's dann nicht mehr! Alſo, Herr, habe Er Mitleiden mit dem Wieſchen und mir. Hier ſtehen wir — hier fließt die Weſer auf dem Tiſche. Wo ſteht nun Seine Durch¬ laucht der Herzog, liebſter, beſter Herre? Da liegt Holz¬ minden. Hier Polle. Ich meine, über Polle iſt wohl für uns der geradeſte Weg von Amelungsborn aus; aber es wird dem Wieſchen und mir auch nicht auf einen Umweg zu dem guten Herzog Ferdinand an¬ kommen. “
„ Wir? “rief der Magiſter und ließ jetzo beide Arme von den Knieen ſchlaff am Leibe herunterſinken. „ Wir? Das Mädchen will Er auch mit in den Krieg nehmen, Schelze? Menſchenkind — Menſchenkinder, ſeid ihr denn ganz von Sinnen? “
„ Da ſteht es ja, das Mädchen! Der Herr Magiſter kann es ſelber nach ſeiner Meinung fragen. “
„ Wieſchen? — Louiſa? — Unglückskind — o Men¬ ſchenkinder, Menſchenkinder! So ſprich doch, rede doch, ſag doch dem Narren, daß Du Dich dazu nicht ver¬ führen läſſeſt. “
„ O Gott, Gott, Gott, was kann ich denn dazu? “ſchluchzte die jüngſte Hausmagd der Frau Kloſteramt¬67 männin von Amelungsborn. „ In der Küche geht es mit uns ja eben ſo böſe zu wie auf'm Hofe und in den Ställen. Die Herrſchaften wiſſen ja da mit ſich ſelber nicht ein und aus; und woran ſollen ſie denn auch ihre Bitterniß auslaſſen als an dem, was ihnen zunächſten zur Hand iſt. Gott ſei's geſchworen, ich wünſche ihnen nichts Schlimmes, als was ſie täglich ſchon auf dem Nacken haben; ich ſehe es ja wohl ein, ſie haben ihr Theil auf dem Nacken; aber die blauen Mäler, die ich Ihm am Leibe vorweiſen kann, die kann ich mir draußen als Soldatenfrau pläſirlicher holen, wie Tauſend andere, die hier und bei mir zu Hauſe durchgezogen ſind auf dem Bagagewagen und in Sicherheit geſungen haben, wo wir mit gezauſten Haaren und Kleidern ihnen nachgeheult haben. Da hat mein Heinrich doch nicht Unrecht, lieber Herr Magiſter, und zumalen da wir zu dem guten Herrn Herzog Ferdinand gehen wollen! “
„ Und zumalen, da des Herrn Herzogen Durchlaucht das Wieſchen ſchon kennen, und es eine alte Bekannt¬ ſchaft von ihm iſt, und er ihm wohl aus guter Freund¬ ſchaft und Mildthätigkeit zu einem ſichern Platz in ſeinem Nachzug verhilft. “
„ Er ſchwatzt und ſchwatzt und ſchwatzt, Schelze. Halte Er jetzo den Mund, Heinrich; und Sie, Wieſchen, was ſchwatzt auch Sie? wie will Sie denn zu Seiner hochfürſtlichen Gnaden Connaiſſance und in allergnä¬ digſte Connexion mit ihm gekommen ſein? “
„ Oh, das iſt wohl an dem, Herr Magiſter, und da5*68hat mein Heinrich auch nicht gelogen, Herr! und an dem Verhältniß iſt der franzöſiſche Herzog und Diebskönig und Räuberhauptmann, der ſchlechte Kerl der Riſchelljöh Schuld. Der hat uns zuſammen gebracht, mich und den guten Herzog Ferdinand. “
„ Dann erzähle Sie mir wenigſtens das Genauere über dieſe Sache, welche ich wahrlich für's Erſte immer noch für eine Fabula, für ein geträumtes Märlein erachte. “
„ Von meinen ſilbernen Schuhſchnallen iſt's hergekom¬ men. Hat Er hier in Amelungsborn denn gar nichts davon vernommen, wie der Riſchelljöh bei mir zu Hauſe ge¬ wirthſchaftet hat, und wie auch ich arme Junge-Magd ihm meine Halsſpange, von meiner ſeligen Mutter her, und meine Schuhſchnallen habe abliefern müſſen? Zu uns in's Halberſtädtiſche ſchickte er ſeinen zweiten Spitz¬ buben-General, ſeinen argen Sohn*)Mr. le marquis de Voyer d'Argenson. , und es iſt nachher an den guten Herzog Ferdinand geſchrieben worden, wie er in Perſon Hausſuchung gehalten hat und keinen Silberlöffel im Schrank und keinen Pathengulden in der Sparbüchſe und keinen Kelch in der Kirche gelaſſen hat, und ich habe ihm mit allen anderen Mädchen in unſerm Dorfe und in der Stadt Halberſtadt meine Halsſpange und Schuhſchnallen hergeben müſſen in ſeinen Raubſack. Das iſt im Jahr Achtundfünfzig ge¬ weſen und dann iſt der große Brand in unſerm Dorfe69 geweſen, wo aber die Franzoſen nicht Schuld daran waren, ſondern die Mutter Lages, und ich bin ſieb¬ zehnjährig geweſen damals, und mein Vater iſt mit mir nach der Weſer, wo er einen Bruder in Minden gehabt hat; aber wir ſind nicht hereingekommen in die Stadt. Der gute Herzog Ferdinand hat ſchon davor gelegen mit ſeinen Völkern und Kanonen und hat ſie auch eingenommen und iſt nach ſeiner Art viel zu gut gegen die fremden Schub - und Ruppſäcke geweſen. Aber mein Vater iſt am Fieber am Wege liegen geblieben und geſtorben; und mich hat der Herzog im Vorbei¬ reiten nach Lübbeke bei ihm ſitzen gefunden und ſeinen Schimmel angehalten und mich gefragt: wer ich wäre. Da habe ich ihm Alles geſagt, und da hat er den Kopf geſchüttelt und geſagt: Armes Ding! und hat in ſeine Taſche gegriffen und noch einmal ein betrübtes Geſicht gemacht und die Herren die bei ihm geweſen ſind, gefragt: wer von ihnen Geld bei ſich hätte. Es hat Keiner was gehabt, und da hat er ſich dieſen Knopf vom Rocke geriſſen und ihn mir vom Pferd gegeben und geſagt: Den bringe mir nach Braunſchweig auf das kleine Moſthaus, wenn wir Zwei heil durch dieſes Elend kommen! “
Und Wieſchen griff ebenfalls unter ihren Rock in die Taſche im Unterrock und legte dem Magiſter Buchius auf ſeinen Tiſch neben dem Kreideſtrich, der die Weſer bedeutete, den ſilbernen Knopf, welchen ſich der weich¬ herzige tapfere Kriegsfürſt, weil er nichts anderes bei70 ſich hatte, für die arme Magd am Wege auf ſeinem Wege zu ſeiner nächſten Schlacht - und Siegesſtatt bei Crefeld vom Rocke geriſſen hatte.
Magiſter Buchius blickte mit flimmernden Augen von dem Knopf auf das Mädchen und wieder von dem Mädchen auf den Knopf: das war doch eine Rarität, wie er ſie noch nicht in ſeinem Muſeo aufbewahrte!
„ Das iſt wahrlich eine ſeltene und köſtliche Reliquie, die Du ſeit dreien Jahren unter Deiner Schürze ver¬ borgen trägſt, Mädchen, “rief er. „ Aber da ſollteſt Du auch beſſer dem lieben Gott und dem guten Fürſten trauen. Auf den Herrgott ſollteſt Du bauen, daß er Euch, dem lieben Herzog und Dir, heil aus den ſcheu߬ lichen Zeiten und Eurem Elend hilft, und nicht ſollteſt Du den unſinnigen Menſchen da in ſeiner Tollwuth beſtärken. O Narre, Narre Schelze, Heinrich Schelze, ſo willſt Du dies koſtbare Zeichen, daß in der Welt das Licht nimmer ganz in Greuel, Blut und Nacht verliſcht, mißbrauchen? So willſt Du, weil Du von einem geſchlagenen Mann geſchlagen worden biſt, das Fatum in Muthwillen herausfordern und die Verant¬ wortung dafür, was dieſes gute Geſchöpf durch der Könige Zwiſt und Zwietracht noch treffen mag, auf Dich allein nehmen? Schelze, Schelze, ein Dummrian war Er meiſtens; doch nun hat Er die Abſicht ein Cujon dazu zu werden; und wenn es nicht anders ſein kann, ſo habe Er ſeinen Willen und laufe Er meinetwegen dem Unglück in den Rachen, ohne Gottes71 Hand hier bei uns Andern in Geduld über ſich walten zu laſſen. Aber das Wieſchen, das Mädchen läſſet er in Amelungsborn, läſſet es bei mir. Seine herzog¬ liche Durchlaucht haben es nicht aufgefordert, ihm das edle Wahrzeichen von einem Bagagewagen hinzuhalten; nach Braunſchweig in's Moſthaus oder in die Burg Dankwarderode ſoll es ihm das Zeichen zurückſtellen, wenn der Herr aus der Höhe ſeinen Stab zwiſchen die Streiter geworfen hat. Ja wohl, da hat Er mir die Weſer auf den Tiſch gemalt, Er Narre. Hier kommt der Franzmann von Neuem über den Solling und dringt auf Einbeck, hier ſtreckt ſich der Ith und hier (der Magiſter ſetzte den hagern Zeigefinger feſt auf eine ganz beſtimmte Stelle ſeiner imaginären Land¬ karte), hier wird Er freilich in den allernächſten Tagen, ja morgen ſchon den Herzog Ferdinand treffen, wenn der noch einmal ſeine Vaterſtadt und ſeines Herrn Bruders Reſidenz vor dem Marſchall von Broglio ſchirmen will. Halte Er ſich ja nicht länger auf bei uns, Schelze, folge Er nur ſeinem Grimmbrägen und vertauſche Er den Stab ſeines geplagten und Ihm von Gott vorgeſetzten Brodherrn mit der Fuchtel des nächſten welſchen, engliſchen oder hannöverſchen Feldwebels; aber das Mädchen, das Wieſchen giebt Ihm nicht ſeine Ehre und Schaam mit in die Rappuſe und auf den Feld¬ wagen. Es hält aus mit dem alten Magiſter Buchius und bei ihm, und es gehet nur mit ihm von Kloſter Amelungsborn. Wahrlich, wahrlich es iſt ſchon mehr72 denn genug hin und her geflüchtet durch das Land vor dieſer Kriegesnoth. Da, Kind, nimm Dein theures Pfand in der Hoffnung, daß wir noch einmal andere Zeiten ſehen werden, zurück, und bewahre es wohl. Er aber, Schelze, was dreht Er die Pudelmütze in den Fäuſten, gehe Er doch, hole Er ſich doch bei den nächſt¬ beſten Vorpoſten die nächſtbeſte Kokarde dran. Mit dem offenen Licht im Stall war Er noch obendrein im Unrecht; aber das iſt einerlei, marſchire Er, mache Er die Thüre hinter ſich zu. Ueber das Odfeld am Quadhagen her, gehet Sein Weg. Der da hat in Weſtfalen mitgefreſſen an Seinesgleichen und iſt auf neuen Fraß ausgezogen jetzt zwiſchen der Weſer und dem Harz. Nicht wahr, Alter? “
„ Krah! “ſagte der Kämpfer aus der Rabenſchlacht über dem Wodansfelde unter dem Tiſche des Magiſters hervor.
„ Wenn ſein Flügel heil iſt, ſchicke ich ihn wieder zum Fenſter hinaus, Schelze, “rief der Magiſter Buchius. „ Wer weiß, ob ihr Zwei nicht noch einmal Eure Bekanntſchaft von heute Abend erneuert? Ja, ſchlage nur mit dem heilen Fittich, ſchwarzer Vielfraß. Es iſt eine nahrhafte Zeit für Dich und Deine Kame¬ raden von beiden Parteien, und friſches Futter wird jeden Tag zugeſchnitten. “
„ O du barmherziger Herr und Heiland, Heinrich?! “jammerte die junge Magd, mit beiden Händen den Schatz am Arme packend. „ Hörſt Du denn dieſes,73 vernimmſt Du denn dieſes und gehſt nicht in Dich? gehſt noch immer nicht in Dich! O Herr Magiſter, Magiſter, das Aas, das Aas! das Vieh, das Vieh! wie es uns anſieht! Gleich möchte es uns nach den Augen hacken! O lieber doch hier im Kloſter in den Teich, als auf dem freien Felde dem ſchwarzen Greuel da anbefohlen. “
Das Mädchen fuhr in die fernſte Ecke der Zelle zurück, als grade jetzt der ſchwarze Vogel auf es zu hüpfte; aber auch der Knecht Schelze wich rückwärts, als das Thier ſich von ſeinem Schatz zu ihm ſelber wandte.
Er ließ die Pudelmütze aus den tapfern Händen fallen und brummte:
„ Gottsſakrament, das Beeſt, das Aas! “
Er ſah beinahe zum Lachen aus mit ſeinem plötz¬ lichen Grauen und Schauder, und plötzlich griff er ſeine Kappe mit einem ſchnellen, ſcheuen Griff unter dem Schnabel des Raben weg und auf und ſtotterte:
„ Nu, denn nichts für ungut, Herr Magiſter, von wegen der Störung. Wann Sie dann meinen, Herre, ſo kann man ſich's ja auch wohl noch eine Zeit lang überlegen. Und wenn das Wieſchen meint, ſie hält's noch aus mit ihrer Frauen, nu, ſo will ich auch meinen Buckel für dießmal noch dem Herrn Kloſter¬ amtmann zu ſeinem Belieben hinhalten. Alſo will ich weiter nichts geſagt haben und der Strich da auf'm Tiſche ſoll meinetwegen noch nichts gelten. Aber der74 Herr Magiſter müſſen mir Eines verſprechen, nämlich, daß Sie mit dem Wieſchen auch mich wüthigen Satan nicht verlaſſen wollen mit Ihrem Rath und Beiſtand, wann's wieder zum Schlimmſten in Kloſter Amelungs¬ born geht. “
„ Ich? “rief der alte, als fünftes Rad am Wagen in Amelungsborn verbliebene Gelehrte. Doch ſich faſſend rief er auch: „ O Gott, ja, ja, — ſo weit es reicht, ſo weit es reicht! ja, ja! “
„ Nu, dann wollen wir den Herrn Magiſter auch nicht länger von ſeinem Abendbrod abhalten. Komm, Wieſchen. “
Die Junge-Magd ſetzte, laut aber froh weinend, dem überflüſſigen letzten Schulmeiſter von Amelungs¬ born einen Knix hin.
„ Ich bedanke mich auch recht ſchön bei Ihm, Herr Magiſter. “
Der Herr Magiſter ſchlug noch einmal die Hände zuſammen, nachdem ſich die Thür hinter den zwei armen Tröpfen geſchloſſen hatte. Er ſchüttelte auch noch ein¬ mal das Haupt und ächzte ſchwer auf; doch dann zeigte er ſich auch wieder als der Mann, der wußte, daß in dem Drange der Zeiten mehr als ein Einiges Noth thue. Er zog den Stuhl an den Tiſch, den Napf mit der kaltgewordenen, nur noch ſehr ſchwach dampfenden Brei¬ ſuppe heran, ergriff den Löffel, ſprach:
„ Alle gute Gabe kommt von Oben herab! “und — nahm etwa ſein Abendmahl bedächtig zu ſich? O nein, er löffelte zu, hieb ab vom Brode und packte ſein Salzfiſchlein, wenn nicht ſo gefräßig wie ein Küſter, ſo doch mit richtigem Schulmeiſterappetit! O trotz der Noth der Zeiten ſchenkte auch er dem Kloſteramtmann von Amelungsborn nichts, und ſo war's nicht ganz un¬ gerechtfertigt, daß er vorhin denn auch ein wenig zu ſeinen Gunſten redete. Der Streiter vom Odinsfelde, den ſein Hunger jetzt entweder verwogener oder zu¬ traulicher machte und der laut krächzend ſein Theil76 forderte, bekam zu ſeinem Brod nur des Fiſches Gräten. Aus ſeiner Verwundung ſchien er ſich wenig zu machen, denn als ſein Gaſtfreund Teller, Napf, Löffel und Meſſer zurück ſchob, verfügte er ſich in den Ofenwinkel zurück, zog den Hals, den Kopf ein ins Gefieder und ent¬ ſchlummerte ſanft. Er wußte ſchon ganz genau, als ein geſcheuter Vogel, daß er nach der Schlacht bei einem braven Mann Quartier gefunden habe, und in der mi߬ lichen Welt verhältnißmäßig ſehr in Sicherheit ſei.
Letzteres Gefühl freilich hatte Magiſter Buchius trotz ſeiner „ noch einmal durch die Güte des allbarm¬ herzigen Gottes ſtattgehabten Erſättigung “nicht.
Er konnte noch nicht zu Bette gehen. Der Gott der Träume, der ihm ſelten nahe kam, entwich ihm heute ferner und ferner. Der emeritirte alte Herr erfreute ſich eines tiefen, traumloſen Schlafes und er ſchlief auch gern lange; doch in dieſer Nacht dachte er für's Erſte nicht an ſein Bett. Er wollte freilich bloß noch ein wenig nachdenken; an — die Erfahrungen im Fleiſch, die ihm die herbſtliche Finſterniß für die Zeit bis zum erſten Hahnenſchrei aufgehoben hatte, dachte er natürlich ebenfalls mit keinem Gedanken.
„ Armes Volk! arme Leute! arme Kinderköpfe! “murmelte er, und dann füllte er ſeine irdene Pfeife von dem wenigen Kraut, das er vor der letzten Ein¬ quartierung geborgen hatte, blies die erſte dünne Rauch¬ wolke mit einem Seufzer von ſich und zog wie mechaniſch erſt die Lampe und dann des Iburgiſchen Schloßpre¬77 digers Theodori Kampf Wunderbaren Todes-Boten zu ſich heran, und ſchlug ihn auf bei der dritten Frage im zweiten Kapitel: „ Ob das Hundeheulen, Eulen und Leichhünerſchreyen von Gott oder vom Teufel? “
Mit kopfſchüttelndem Lächeln ſchob er das Buch wieder zurück und citirte:
„ Quis dedit gallo intelligentiam? Wer gab dem Hahnen das Verſtändniß? “
„ Krah! “murmelte der Schwarze im Ofenwinkel und ſchien ſeinerſeits im unruhigen Traum die Schlacht vom Abend noch einmal durchzufechten. Der Magiſter aber fuhr ob des Tones erſchreckt auf und um und rief:
„ Merkeſt Du ſchon, Kumpan, daß auch von Dir die Rede ſein mag? Oder — meldeſt Du Dich mir ſelber als ein Zeichen vom Willen des Herrn, das ich mir unbewußt heute Abend vom Blachfeld auf die Stube ge¬ tragen habe? Wächſet mir, wie hier auf Seite Vierzig dem wohlangeſehenen Mann zu Osnabrück, den Herr Kampf ſelbſt gekannt hat, ein Sarg in der Hand? “
„ Krah! “ſprach der Rabe, doch Magiſter Buchius winkte ihm ab und ſprach lächelnd mit einer Gelaſſen¬ heit, die freilich mehr aus dem Lucius Annäus Seneca als aus dem Iburgſchen Hofprediger Theodor Kampfius ſtammte: „ Nun, es wäre in ſolchen Zeiten ſchon etwas, in dieſen Tagen nicht in die Erde oder gar den Bauch Deiner Brüder zu kommen, wie die Hunderttauſend draußen! Hm, hm, wie doch des Menſchen Selbſtſucht78 aus Jeglichem auf ſeinem Wege ſein eigen kleines Wohl und Uebel herauszuklauben ſich bemühet! wie er Alles als eine Anzeige tecte oder aperte für ſich ſelber nimmt, der arme bedrängte Narr. Ihr ſeid wohl wahr¬ lich des alten invaliden Schulmeiſters wegen zu Eurer Bataille auf dem Odfelde zuſammen gekommen! Da ginge wohl auch dieſer dritte Krieg um Schleſien jetzo ſchon in das fünfte Jahr, bloß um dem Magiſter Buchius zu ſeiner Unterhaltung zu dienen oder ihn in Nöthen und Aengſten wach zu halten? Welch 'eine Thorheit, Freund! Genüget es Dir nicht zu jeglicher Zeit bei Tage und bei Nacht, im Kriege und im Frieden, was der Pſalmiſt im Achtzehnten, Vers zwölf ſinget: Herr, lehre uns bedenken, daß wir ſterben müſſen auf daß wir klug werden. “
Er ſchlug das Buch zu und ſchob es von ſich. Doch nachdem er ſeine Pfeife von Neuem gefüllt hatte, zog er es doch wieder heran und blätterte drin hin und her. Es gab ihm in ſeinen gegenwärtigen Nöthen und Sorgen jedenfalls eine Unterhaltung und führte durch die bängliche Nacht weiter und weiter aus der Gegenwart fort in Reiche, zu welchen ihm ſeine Selbſtſüchtigkeit gewißlich nicht folgte, ſondern bloß ſeine Gabe, die Welt als ein großes Wunder oder — wie er ſich aus¬ drückte — als ein kurieuſes, ſubtiles Myſterium an¬ zuſchauen — Deo optimo, maximo regnante. Dabei ſchlug die Uhr im Thurm der Kloſterkirche die Stunden, und jedesmal wenn ſie ſchlug, nickte der Magiſter mit79 dem Kopfe und zählte den Glockenklang nach. Er hielt das Werk in Ordnung und hatte es lange Jahre im Frieden in Ordnung erhalten. Nun war ihm auch das ein Troſt, daß es ihm jetzt auch im Kriegsgetümmel nicht aus dem regelmäßigen Gange gekommen war. Er hatte wohl Recht, ſich ſelber ſtill darob zu loben; vorzüglich bei ſeiner jetzigen Lektüre in der Nacht vor dem Abmarſch des Herzogs Ferdinand von Braunſchweig aus dem Hauptquartier zu Ohr. Der Donator des Buches würde ſich wohl ſelber über die Stimmungen verwundert haben, die ſein ironiſch Geſchenke dem alten Herrn, dem närriſchen alten Knaben, dem abgerollten fünften Rad am Wagen der weiland hohen Schule zu Amelungsborn in dieſer Nacht gab. Je ſeltſamere, wunderlichere, geheimnißvollere Beiſpiele von den zweyerley Wegen, durch welche Menſchen zu einer Wiſſenſchaft der Stunde ihres Todes zu gelangen pflegen, der Magiſter las, deſto ruhiger wurde es ihm zu Muthe, deſto mehr befeſtigte ſich in ihm die Gewißheit, daß ihm in Perſon heute noch keine Praedictio, kein Prae¬ sagium zu Theil geworden ſei. Durch Gleiches wurde auch hier Gleiches kurirt und von Stunde zu Stunde vergaß der Magiſter mehr und mehr über ſeiner ſelt¬ ſamen Lectüre, über des Iburgiſchen Schloßpredigers ſchrift - und vernunftmäßigen Unterſuchungen die eigene Noth und die der Zeiten.
Um neun Uhr las er und zwar laut, ſeiner Un¬ ruhe beſſer Meiſter zu bleiben:
80„ Johannes Jessenius ein Böhme und ſehr gelehrter Mann, ward bey ſeiner Wiederkunft aus Ungarn ge¬ fänglich eingezogen und anno 1619 nach Wien gebracht, bald aber gegen einen Italiener vertauſchet und in Sicherheit geführet. Als er nun aus dem Gefängniß entwich, hat er an der Wand dieſe Buchſtaben geſchrie¬ ben zurückgelaſſen: I. M. M. M. — Ihrer viele be¬ müheten ſich vergeblich, dieſe Schrift zu errahten, bis endlich Ferdinandus II. Kayſers Matthiae Nachfolger ins Gefängniß kam, und es alſo auslegte: Imperator Matthias Mense Martio Morietur (Kaiſer Mathias wird im Monat März ſterben). Er nahm aber ein Stück Kreide und ſchrieb darunter: Jesseni Mentiris, Mala Morte Morieris (Jeſſen, du lügſt, du wirſt eines ſchlimmen Todes ſter¬ ben). — Als dieſes Jessenio hinterbracht ward, ſagte er: gleich wie ich nicht gelogen habe, alſo wird Fer¬ dinandus auch dahin trachten, daß ſeine Worte nicht erlogen ſeyn. Es traf auch beydes ein; Matthias ſtarb den 10. Martii 1619 und Jessenius ward nach der Böhmiſchen Niederlage anno 1620 gegriffen und 1621 am Leben geſtraffet. “...
„ Krah! “murrte der Rabe im Traum; aber —
„ Schweige doch, “rief der Magiſter und las:
„ Als anno 1632 Mens. Decembr. der Kayſerliche General Holke durch den Rittersgrüner Paß ins Ge¬ bürge einfiel und an vielen Orten übel hauſete, träumete dem Substituten in Elterlein, Joh. Teuchern, als wenn er dermahl geruffen würde, darüber er erwachet, auf¬81 ſtehet und zum Fenſter herausſiehet; als er aber nie¬ mand ſiehet noch höret, fället er in große Wehmuth, betet und befiehlt ſich Gott; des folgenden Tages er¬ griffen ihn die Kayſerlichen Trabanten um 10 Uhr und hieben ihn ſamt ſiebenundzwanzig Bürgern niedern. — Anno 1686 wurde Magiſter Benjamin Heyde, Ober¬ pfarrer in Schneeberg, frühe, da er predigen ſollen, in ſeinem Bette todt gefunden. Abends zuvor rufte drei¬ mal eine Stimme, welche ſeiner erſten Frauen Stimme gleichete: Herr! Herr! Herr! worauf denn ſein Tod er¬ folget. “
Bei der letzten Hiſtorie ſchüttelte der Magiſter Noah Buchius zu Amelungsborn den Kopf, der Rabe im Winkel aber hielt ſich ſtill.
„ Als der König der Schweden Gustaphus Adolphus vor Lützen todt geblieben, hat ſich über dem Schloſſe zu Stockholm in der Luft eine Jungfrau ſehen laſſen, welche in der einen Hand eine brennende Fackel, in der andern ein Schnupftuch gehalten. Gleich darauf haben ſich alle Thurm-Thüren, obgleich mit feſten Riegeln und Schlöſſern verwahrt, von ſelbſten geöffnet, und endlich haben alle Glocken in ganz Smalland zu leuten angefangen. — Als Barnimus, Herzog in Pom¬ mern im 27. Jahre ſeines Alters in der Odersburg vor Stettin geſtorben, ſo ſind kurz nach ſeinem Tode alle verguldeten Knöpfe auf den Gebäuden in einer Nacht ganz ſchwarz geworden. — So hat ſich auch zu Osnabrück begeben, daß da ein Studiosus medicinaeRaabe, das Odfeld. 682auf der Reiſe in Italien Todes verblichen, ſich ein Hund zu ſelber Zeit Abends mit einem entſetzlichen Geheul zu dreyen malen für des Verſtorbenen Eltern Hauſe, ſeinen Kopf unter der Thür ins Haus haltend, hören laſſen “—
„ Ei, was hat denn der Hund? “fragte der Magiſter Buchius, ſchon Theodori Kampfii wunderbaren Todes¬ boten zum zweitenmal von ſich ſchiebend; und er hatte Recht zu der Frage, es entſtand auf einmal ein greu¬ licher Lärm von Hunden innerhalb der Mönche Ring¬ mauern um Kloſter Amelungsborn.
Einer ſchlug an. Der gab den Alarm weiter, und zehn Minuten lang ward's ein Gebell, Gekläff und Ge¬ winſel, daß es mit allem Nachdenken für's Erſte aus und zu Ende war. Aber auch noch andere Leute wur¬ den durch das Vieh aufgeſtört. Der Magiſter glaubte des Amtmanns Stimme zu vernehmen; — da wurden wahrſcheinlich Knüppel und dergleichen unter das Volk geworfen.
„ Dieſes paſſete freilich ganz und gar zu des Herrn Schloßpredigers letzter Hiſtorie, “murmelte kopfſchüttelnd der Magiſter, in ſeiner Zelle auf - und abſchreitend und der Rabe vom Odfelde aus ſeinem Ofenwinkel kommend hüpfte jetzt ſchon ganz vertraulich hinter ihm drein. In dieſem Augenblicke gab die Kirchuhr wiederum die volle Stunde an und der Magiſter zählte die Schläge nach:
„ Neun — zehn — eilf! Ei, ei, ſchon ſo ſpät? Wie83 doch das Studium dem Menſchen über die Zeit hinweg¬ hilft — von Ewigkeit zu Ewigkeit, Amen. Was ſind wir armen Creaturen mit unſern Sorgen und Aengſten? was bekümmern wir uns zu errathen, was die nächſte Stunde bringet. Es kommet doch immer etwas Anderes, als was wir in unſerer Lebensangſt herausſannen. Einer iſt Meiſter. Hörſt du, Schwarzer, ob ich Dich nur hereingeholt habe auf die Stube als einen finſtern böſen Unglücks - und Todesvogel oder als einen guten Kameraden und Freund für des Winters Einſamkeit, ſintemalen Dich des höchſten Gottes Fürſehung mir vor die Füße flattern ließ, ſollſt du mir in Ruhe und Ge¬ laſſenheit willkommen ſein. Χαιϱε. “
„ Krah! “ſagte der Rab, den Kopf auf die Seite legend und ſeinen kurioſen Beſchützer ſeinerſeits mit ſchlauer, verſtändnißvoller Zutraulichkeit, mit vollem Vertrauen darauf, daß Alles was geſchehe, mit rechten Dingen zugehe, in's Auge faſſend.
Magiſter Buchius aber hatte den Theodorus Kampf beim zweiten von ſich Abſchieben aufgeſchlagen gelaſſen; nun nahm er mechaniſch das Buch noch einmal her. Er wollte es eben nur zuklappen; aber da fiel ſein Auge doch noch auf ein Exemplum drin, und er war nicht der Mann, der ein Gedrucktes gleichgültig in's Fach ſtellte, wenn es ſein Auge in Wahrheit getroffen hatte.
Er las:
„ Johann Wilhelm, Herzog zu Sachſen, hat kurz vor ſeinem Ende im Schlaf eine liebliche Muſic gehöret6*84und eine Menge Engel, und unter denſelben einen großen geſehen, auf deſſen Rücken geſchrieben ſtand: Bringet mir dieſen zur Ruhe. Welches göttliche Geſichte er dann frühe Morgens ſeinen Räthen erzählet, auf ſich gedeutet, und keiner weltlichen Sachen ſich mehr angenommen. “
Faſt in Behagen ſich ſchüttelnd ſprach Magiſter Noah Buchius: „ Und keiner weltlichen Sachen ſich mehr angenommen. Wie oft hab ich dieſes im Verlauf ſauerer Schuljahre des Abends beim Zubettegehen mir vorge¬ ſagt, und einen guten Schlaf gethan? “
Von Allen zu Kloſter Amelungsborn war der Ma¬ giſter der, welcher dem Siebenjährigen Kriege am meiſten gewachſen war.
Aber vielleicht auch grade darum gelangte er in dieſer Nacht für's Erſte noch nicht in's Bett. Es hatte ihn wohl noch Jemand zu nöthig; er aber, der Ma¬ giſter Noah Buchius hatte jedenfalls nicht die geringſte Ahnung davon, wie weit der Schein ſeiner Blech¬ lampe aus ſeiner Wohn - und Schlaf-Zelle hinausleuch¬ tete in die ſturmvolle Finſterniß des Jahres 1761.
Was die Vögel über dem Odfelde vorausverkündigt hatten, das ſetzte ſich nun in's Werk, für das Kloſter Amelungsborn zuerſt vom Süden her. Der Franzmann war in Wirklichkeit auf und drängte wieder vorwärts mit Roß und Mann, mit Wagen und Geſchütz. Seinem Zuge aber durch die Novembernacht voran flog ein ein¬ zelner, ein anderer Vogel gen Amelungsborn. Einer, der eben ſchnöde aus dem neuen Neſt der weiland ge¬ lahrten Schule zu Kloſter Amelungsborn geworfen wor¬ den war. So Einer von den pro tempora Glück¬ lichen, ſo um das neunzehnte Lebensjahr herum, ganz ohne alle Bagage, Proviant und Kriegskaſſe für den Marſch, in leichtem, noch ganz ſommerlichem Kollet, dünnen Kniehoſen und Strümpfen, doch auf dauerhaften Sohlen — Monſieur Thedel von Münchhauſen, der neuen hohen Schule zu Holzminden erſter — „ noch zu Amelungsborn oft genug verwarneter “— Relegatus! .... ach, der Magiſter Buchius kannte ihn ſchon! .... Daß er, Monſieur Thedel, der tolle Thedel die Gegend zwiſchen der Weſer und der Homburg auch bei Nacht kannte, das war dießmal wirklich ſein Glück. Wäre es86 bei Tage geweſen, ſo hätte man es ihm wohl ange¬ ſehen, daß ihm das Gezweig im Dickicht häufig genug den Hut vom Kopfe geſtoßen habe, daß er nicht ſelten der ausgefahrenen Heerſtraße aus dem Wege gegangen ſei und einen Umweg durch die Wildniß nicht geſcheut habe, um einem unnöthigen oder gar niederträchtigen Aufenthalt auf ſeinem Marſche auszuweichen.
Mehr denn einmal hatte ihn das Marodevolk von Auvergne, Pikardie, oder hatten ihn welche von den Freiwilligen von Auſtraſien zum Führer brauchen wollen; doch auf die Gefahr hin, am nächſten Baum zu baumeln, war er den Zumuthungen entgangen. Auf Stunden Weges wenigſtens hatte er, wie er ver¬ meinte, den Herrn Herzog von Broglio hinter ſich ge¬ laſſen; und ſeine blauen, grünen und gelben Dragoner oft recht nahe auf den Ferſen gehabt. Wie konnte der Holzmindenſche Schüler genau wiſſen, wo der große franzöſiſche Oberfeldherr in dieſen Tagen ſich perſön¬ lich aufhielt? Hinter Lobach unter dem Eberſtein hatte er aber ſeinetwegen jeden gebahnten Weg ganz auf¬ gegeben und ſich ganz im Walde verloren. Verloren? das nun wohl nicht im wörtlichſten Sinne des Wortes. Dazu kannte er — leidergottes — das Revier zu gut als der ſchlimmſte nächtliche Wilderer der Sekunda und der Prima der frommen und hochgelahrten Kloſter¬ ſchule von Amelungsborn. Daß er dem Strick des Herrn Generals von Poyanne entging, war eigentlich gar kein Wunder, da ihm die Büchſenkugeln der herzoglich87 Braunſchweigiſchen Kammerförſter der ganzen luſtigen grünen Wildniß auch höchſtens nur geſchrammt hatten.
In Negenborn hätte er einkehren dürfen, da der fränkiſche Heereszug in dieſer Nacht noch nicht über Bevern hinausging; aber vielleicht war da im Dorfe der unruhigen Zeiten halber der Förſter auch noch wach. Herr Thedel von Münchhauſen ging lieber auch um Negenborn herum, wegen zu guter Bekanntſchaft mit dem Förſter dort, und ſchlug ſich rechts durch den Wald, in welchem er von hier an jeden Baum, Stein, Stock, Stecken und Erdfall zu genau kannte, wie nur irgend Fuchs, Dachs, Hirſch, Reh und Wildſchwein, ſo wie herzogliche grünröckige Beamtenſchaft im Revier. So kam er ein wenig außer Athem und mit freſſendem Hunger aber bei ſonſt geſunden Gliedmaßen an auf dem ſüdlichen Rande des Hoopthals gegenüber dem Küchen¬ brink und Auerberge und ſaß, mitten in der November¬ nacht den Schweiß von der Stirn mit dem Aermel trocknend, einen Augenblick auf einem Stein und meinte:
„ Guck, er hat immer noch Licht! “
Nach dem kurzen Augenblick des Verſchnaufens nun hinunter zum Forſtbach und auf der andern Seite des Thals wiederum in die Höhe, den ſteilen Abhang empor zu dem Lichtſchein aus der Zelle des Bruders Phile¬ mon und des Magiſters Noah Buchius! Auch da ging am Geſtein und im Geſtrüpp ein Schlupfweg, den nicht alle Leute im Kloſter ſo gut kannten wie der Junker Thedel von Münchhauſen, welcher aber ſicher88 doch ſchon ſeit manchem lieben Jahrhundert von Ge¬ ſchlecht zu Geſchlecht durch die Leute von Amelungs¬ born hinter der Hand zu nützlicher Kenntniß weiter gegeben worden war.
„ Den Schrecken, wenn ich ihn jetzt von hier aus anſchrie: Qui vive? France! “lachte der wilde junge nächtliche Wanderer, die flache Hand an die Mauern von Kloſter Amelungsborn legend. „ Aber wiſſen möchte ich wohl wie ſpät es eigentlich am Tage iſt. O Se¬ linde, Selinde, Du wirſt nicht mehr Licht haben, wie der Magiſter! Mein Herz, ach, wenn Du wüßteſt, wer jetzo hier um die Mauern ſchleicht! “
Er ſchlich oder taſtete in Wahrheit jetzt die Mauer des Kloſters entlang. Wo Andere um dieſe dunkle Stunde Hals und Beine gebrochen haben würden, ging er ſicher wie — ein Nachtwandler. Ja wohl, es war auch nicht das erſte Mal, daß er auch hier über dem Hoopthal verbotene Wege gewandelt war. Der Baumaſt der dort wo die Gebäude zu Ende ſind und die Hof¬ mauer anfängt, an dieſe Mauer reicht, hängt ſeit der Tertia ſeiner nächtlichen Abenteuer voll.
Er reitet auf dieſem Aſt, als der erſte Hund von Amelungsborn ſeine Viſite merkt und anſchlägt. Und — bum — bum — bum, da iſt auch die Thurmuhr. Wie dem Magiſter Buchius zählt ſie dem Junker Thedel von Münchhauſen die elfte Stunde des Abends zu; aber dem Junker fehlt freilich die Muße, die feierlichen, langſamen Schläge gelaſſen nachzuzählen.
89„ Verfluchte Köter! “murmelte er auf ſeinem Zweige zwiſchen den Zähnen. „ Das ganze Neſt machen ſie mir rebelliſch! Da hätte ich eben ſo gut Morgen früh mit dem Herrn Marquis von Poyanne einrücken können! O Selinde, Mademoiſell Selinde, mein Stern, meine Fackel, mein Herzbrand!
Und trotz allem Gekläff und Gebelfer in allen Ton¬ arten der Hundkehle aus allen Gehöften der weiland Brüder Ciſtercienſer mit einem letzten Schwung vom Aſt auf die Mauer! Erſt rittlings da und dann mit beiden Beinen in den Kloſtergarten hinunter baumelnd:
blaff, waff, waff, blaff, die Compagnie giebt nicht nach. Sie bringen mir den Amtmann mit allem was eine Miſtgabel, einen Dreſchflegel oder eine Donnerbüchſe halten kann, auf den Hals. Sie wecken mir dazu freilich mein Zuckerkind, mein ſüßes Herzchen, mein Selindchen. Hier, hier, kuſch Erdmann, kuſch Fidel, kuſch Spitz, Mops und Schäfertewe. Hab ich's nicht geſagt, da bellen auch ſchon der Herr Kloſteramtmann in der Schlafhauben aus dem Fenſter dazwiſchen. Ach Selinde, o Selinde —
Der Hund, der den Alarm gegeben hatte, ſtand innerhalb des umfriedeten Bezirks mit den Vorderpfoten hochaufgerichtet an der Mauer und blaffte immer wüthender zu dem nächtlichen Eindringling empor.
„ Kotz Blitz, “rief dieſer. „ Ich bin's, Erdmann! Pfü — it! “ Und ein langgezogener Pfiff verwandelte das Gebell des treuen Wächters zuerſt in ein erſtauntes Schweigen, ſodann in ein zärtlich Winſeln und freudig Hin - und Herſpringen. Schon ſtand der Schüler unten im Hof —
„ Hund! Spitzbube, hab ich Dich! “ſchrie's ihm im Ohr, und ein ſchwerer Prügel wurde ihm um den Kopf geſchwungen.
„ Dießmal bin ich's noch einmal, Heinrich! “flüſterte der Junge lachend. „ Hand vom Kamiſol; und — wer iſt außer Dir noch wach zu Amelungsborn? “
„ Herr Gott, unſer Musjeh Thedel! “ſtammelte der Knecht Heinrich Schelze. „ Der Herr Junker von Münch¬ hauſen. I du meine Güte — nu, nu, — alſo noch einmal ſo mitten in der Nacht? ach Je, ach Herr Je. “
„ Kerl, ſo bring 'doch zuerſt die andern verdammten Beſtien zur Ruhe. 's iſt doch nicht das erſtemal, daß wir uns ſo treffen hier an der Mauer? Diesmal aber habe ich nicht die Förſter, ſondern die Franſchen auf den Hacken. Und der Herzog Ferdinand iſt über die Weſer, und ich bin auf dem Wege zum Herzog Ferdinand — “
91„ Auch der! “murmelte der Knecht.
„ Und da wollt 'ich im Vorbeigehn doch von Allen hier zum allerletztenmal Abſchied nehmen. Was macht Jungfer Fegebank, und wie geht's dem Herrn Magiſter? Jetzt aber ſage Er gar nichts mehr, Schelze, ſondern bringe Er die Hunde und den Kloſteramtmann zur Ruhe. Meine Wege hier weiß ich ja wohl noch, das weißt Du ja, Kamerad. Gute Nacht; ich krieche wohl ſchon irgendwo unter und am liebſten beim Magiſter Buchius. Alſo bis morgen früh, Heinrich! “...
„ Es war ein Baummarder, Herr Kloſteramtmann, den unſer Erdmann an der Hoopthalsmauer geſtellt hatte, “rief's fünf Minuten ſpäter zu dem Fenſter des Geſtrengen empor. „ Die Franſchen kommen erſt morgen früh. Es iſt wohl erſt Ahrholzen, was jetzt brennt — oder Schorborn! wir haben wohl noch Zeit bis morgen mit ihnen. Wünſche eine recht wohlzuſchlafende Nacht, Herr Amtmann. “
Als der arme Herr ſein Fenſter haſtig wieder ge¬ ſchloſſen hatte, hob der Böſewicht darunter noch einmal die Fauſt zu ihm empor, ſchüttelte ſie und grinſte:
„ Laſſe Er ſich auch was recht Schönes träumen, Herr Kloſteramtmann. “ Nachher ſetzte er aber noch kopfſchüttelnd hinzu: „ Na, das ſoll mich doch nun wun¬ dern, ob der Herr Magiſter Dem da, unſern Junker, ſein Verlangen nach Seiner Durchlaucht auch aus¬ treiben werden. “—
Wenn nur Monſieur Thedel von Münchhauſen aus dem Bevernſchen ſich noch bei Nacht im wilden Weſer¬ walde zurecht zu finden wußte, ſo hätte ihn eine dop¬ pelte ägyptiſche Finſterniß nicht gehindert, irgend ein Ziel tief unten im Gewölbe oder hoch oben auf dem Dache von Amelungsborn ohne Anſtoß zu erreichen. Der wußte da Beſcheid! Wahrhaftig!! Er ſchlupfte in daſſelbe thürloſe mittelalterliche Pförtchen, in welches Magiſter Buchius ſich nach der Heimkehr von ſeinem Nachmittags - und Abend-Spaziergang hineingeſchoben hatte. Er erſtieg dieſelben Treppen wie der Magiſter und durchmaß dieſelben Gänge. Er hielt ſogar vor den nämlichen Thüren an, wie der alte Herr; aber durchaus nicht mit den Gefühlen deſſelben. Wahrlich legte er nicht wehmüthig-erinnerungsvoll die Hand darauf; doch die Hand brauchte er freilich bei dem Geſtus, den er vor mehr als einer der altersſchwarzen ſtillen Schulzimmerpforten machte.
Das gab dann jedesmal einen klatſchenden Schall, der das Echo weithin in den Corridoren weckte. Und93 jedesmal brummte der junge Malemeritus von Ame¬ lungsborn und Relegatus von Holzminden:
„ Sauberer Stall! Infames Cachot! Noch der ſelbige Geruch — pfui Teufel — Brrrr! Na, euch gönnte ich ſchon noch ein halb Dutzend Male dem Broglio und ſeinen Schuften zum Quartier. “
Er bezwang ſich merkwürdig. Er trat weder die Pforte der Sekunda, noch die der Prima ein; und vor der Thür der Quinta ſtieg auch ihm doch ſogar ein melancholiſch Gefühl auf und mit einem Seufzer ſagte er:
„ Der alte Herr! der alte Buchius! ... Dahinter haben ſie ihn ſein ganzes liebes Leben ihnen und uns Lümmeln zum Spaß gehalten! Und ich habe meinen Spaß mit an ihm gehabt. “
Er hob den Hut vom Kopfe und behielt ihn in der Hand.
„ Vivat der Magiſter Buchius, und — der Herrgott erlaſſe mir meine Sünden an ihm, wie der Alte ſie mir zu hunderttauſend malen erlaſſen hat. Ach Gott, ach Gott, ſo kommt der tollſte Schüler von Amelungsborn zu dem überflüſſigſten, beſpotteten Präceptor, ſo kommt Bartel vom Moſtholen mit zerbrochenem Kruge. O virga, o ferula! O merces doctrinae! Hoffentlich hat er jetzo, nachdem auch das andere Hundepack wieder ſtill geworden iſt, ſein Licht noch nicht ausgeblaſen. “
Im nächſten Augenblicke klopfte er leiſe und ſchüch¬ tern an die Thür des letzten wirklichen Ciſtercienſers von Kloſter Amelungsborn. Mit dem Wort meinen94 wir aber nicht den Bruder Philemon, den letzten ka¬ tholiſchen Mönch der Stiftung auf dem Auerberge über dem Hoopthale. —
Magiſter Buchius war noch wach; aber er ſaß frei¬ lich ſchon mit gelöſten Hoſenſchnallen auf ſeinem Bett¬ rande. Die Spukgeſchichten, in die er ſich nach des Tages Erlebniſſen hineingeleſen hatte beim bänglichen Tagesſchluß, hatten ihn doch noch eine Weile vom völ¬ ligen Entkleiden ab - und beim Hinſtarren in die trübe Flamme ſeiner Lampe feſtgehalten. Als es nun ſo pochte, wie es auch beim Schloßprediger von Iburg, Herrn Theodorus Kampf hie und da zu mitternächt¬ licher Stunde geklopft hatte, vermochte er trotz der über¬ legenen Stimmung, in der wir ihn vorhin gelaſſen haben, nicht, ſeines Erſchreckens ſogleich Meiſter zu werden. Sein ſchlimmſter Discipulus hatte einzutreten, ohne daß er vorher dazu eingeladen worden war.
„ Ich bin es, Domine, “ſagte Der jetzt, mit ver¬ legenem Grinſen. „ Ich bitte um Permiſſion, ſo ſpäte am Abend den Herrn Magiſter noch aufzuſtören. Thedel Münchhauſen, mein Herr Magiſter! Von Holzminden her mit übergroßer Sehnſucht nach Ihm! Vivat Fer¬ dinandus Dux! “
„ Krah! “ſagte der Rabe, durch den neuen Beſuch in ſeinem Schlaf geſtört.
„ Ohe, was haben der Herr Magiſter da für einen neuen Stubenkameraden! ... Ich bin's wirklich noch einmal in Fleiſch und Blut, Thedel Münchhauſen! 95Ja, ſieh mich nicht ſo an, Beſtie. Gehörſt wohl auch zu denen, die heute Abend mit mir zu Schaaren von der Weſer kamen? “
Die letzten Worte waren natürlich an den aus ſeinem Winkel vorgehüpften Vogel gerichtet, der Ma¬ giſter ſah noch eine geraume Weile von dem einen Gaſt auf den andern, bis er ſich ſo weit gefaßt hatte, die ſchwarzen Mancheſternen wieder in die Höhe zu ziehen, ſie zurecht zu rücken und zu rufen:
„ Täuſcht mich mein Geſicht nicht? Er, Musjeh? Monſieur von Münchhauſen? Um dieſe mitternächtige Stunde? Wie kommet Er hierher, Musjeh? wo kom¬ met Er her, Musjeh? Was will Er — gerade Er wieder in Amelungsborn? O ihr Götter, hat Er ge¬ rade es nicht mit dem allerhöchſten Ueberdruß an chriſt¬ licher und heidniſcher Schulzucht und Ordnung verlaſſen? Hat der Herr Amtmann nicht — “
„ Dreimal drei Kreuze hinter der ärgſten Canaille im ganzen Cötus her gemacht? Jawohl, Domine, einen feinen Duft haben wir hinter uns gelaſſen; aber Sie wiſſen es ja am beſten: Ducunt volentem fata — “
„ Nolentem trahunt, “ſchloß der alte Herr. „ Alſo wollend — mit Seinem guten Willen folgt Er Seinem Fatum hieher? “
„ Gutwillig, mit meinem allerbeſten Willen. Ab¬ geſehen von dem Tritt, den ſie mir in Holzminden auf die Poſteriora verſetzet hatten, meinen Weg in die weite Welt zu befördern. Der Herr Magiſter Buchius96 haben es niemals genau gewußt, was für — ein guter Prophete Sie zu Zeiten waren. “
„ Oh, oh, — eheu, eheu, eheu! “
„ Heu, heu, heu, — Heu! “flennte grinſend mit den Knöcheln beider Fäuſte vor den Augen der junge Taugenichts und leichtſinnigſte Primus inter pares der weiland gelahrten Schule zu Kloſter Amelungsborn, Thedel Münchhauſen. „ Ja, Heu, Heu! die Herren zu Holzminden machen fürder keinen Ochſen unter ſich fett mit dem Heu, das ich ihnen noch auf ihren gelehrten Wieſen zuſammenharken könnte. “
„ Consilium abeundi? “ſtammelte der alte Herr.
„ Relegatio in aeternum. Dießmal fortgeſchickt, aus dem Tempel getrieben, auf Nimmerwiederkommen. Sie hatten eben im Convent ihre letzte Hoffnung für den Patienten auf die Veränderung von Luft und Ort ge¬ ſetzet. Geſtern waren die Herren zur letzten Conferenz bei einander und ſind zu der Meinung gekommen, es ſei keine Hoffnung mehr bei ihnen für den armen Sün¬ der in extremis. “
Magiſter Noah Buchius ließ noch einmal beide Hände ſchwer auf die dürren Kniee fallen, nachdem er von Neuem auf dem Rande ſeines Bettes niedergeſeſſen war. Und ſein Kummer wuchs, wie er angſtvoll weiter auf dem hübſchen, muthwilligen Geſichte ſeines ſchlimmen Lieblings, des unbotmäßigſten Coätanen der weiland altberühmten Kloſterſchule von Amelungsborn nach¬ forſchte, und — wenig von ſeinen eigenen ſchmerzens¬97 vollen und beſchämten Gemüthsbewegungen darauf ab¬ gemalt fand.
Der Knabe half nicht dem guten alten Herrn über den Angſtbiſſen, der ihn in der Kehle würgte, hinweg. Er ließ ihn mit aller Rückſichtsloſigkeit der Jugend mit dem Kummer, den er ihm machte, fertig werden. Er ließ den alten Mann mit der ſtoiſchen Gelaſſenheit Derer, die ihr Leben noch vor ſich zu haben glauben, wieder zu Athem und zu Worten kommen.
Es dauerte wiederum eine längere Zeit, ehe der Magiſter ſoweit ſich gefaßt hatte, daß er matt und er¬ geben die Frage thun konnte:
„ Die gütige Gewogenheit wird Er auch wohl nicht haben wollen, mir zu communiciren Cur? zu Teutſch: warum, weßhalb, wofür und weßwegen? Und was Seine Verwandtſchaft zu Wolfenbüttel hierzu ſagen wird? “
Thedel von Münchhauſen zuckte greinend die Achſeln:
„ Aus Liebe zu mir und wegen größeſter Sorge um meine Wohlfahrt und die der deutſchen Nation. Sie meinten, was ſie mir noch anzubieten hätten bei ſich auf der Schulbank, das ſchlüge doch nur bei mir an, wie's weiland amelungsborn'ſche Weihwaſſer beim leidigen Satan. Und das deutſche Vaterland habe mich ſicherlich nöthiger, als ſie, Prior-Rector, Conrector und Lehrerconvent in der neuen gelehrten unſchuldigen Herr¬ lichkeit, vermeinten ſie. Gefiel ihnen hier im Walde meine Intimität mit den Wildſchützen vom Hils, IthRaabe, Das Odfeld. 798und Vogler nicht, ſo grauete ihnen vor meiner Com¬ pagnie mit den Weſerſchiffern faſt noch mehr. Konnte aber ich denn davor, daß heute kein Bock den Fluß herauf - oder herunterfährt, von dem ſie nicht nach dem lieben Thedel Münchhauſen zu den Claſſenfenſtern hinauf¬ rufen? Und der Frau Priorin war ich ſchon ſeit der Quarta ein Dorn im Auge; das wiſſen der Herr Ma¬ giſter ja eben ſo gut als wie ich. Das Poem, die zwei Reime, die ihr an den Reifrock hinten geſpendelt waren und ſo mit ihr umliefen auf dem Schützenhof auf der Steinbreite, ſind nicht von mir geweſen; aber ich habe ſie auch auf mich nehmen müſſen in der letzten Con¬ ferenz geſtern. Ach ja, was ganz Beſonderes iſt nicht weiter vorgefallen, das Faß iſt übergelaufen und damit baſta. Sie haben mir in Zärtlichkeit gerathen, nun¬ mehro das Vaterland nicht länger warten zu laſſen, ſondern zum Kalbfell zu ſchwören, wie es mir in der Wiege geſungen worden ſei und zumal da der Herr Vormund zu Wolfenbüttel ja ſelber dazu rathe. Daß ſie mir mit dem Herrn Vormund und Oheim riethen, doch meinen Herrn Vetter von Bodenwerder unter den hannöverſchen Jägern, den hohen Alliirten und dem Herzog Ferdinand aufzuſuchen, das traf wohl meine Meinung auch; aber — ohne meine Sehnſucht nach Ihm, Herr Magiſter, hätte ich ſie doch noch einmal perſuadirt, es noch einmal, zum allerletztenmal mit der lateiniſchen Stallfütterung bei mir armen Coridon zu pro¬ biren. Aber das Verlangen nach dem Herrn Magiſter — “
99„ Nach mir? “rief der gute alte Herr, die magern Hände zuſammenſchlagend. „ O Theodorice, Theodorice, Er wird wohl noch auf Seinem Sterbebette Seinen Jokus treiben wollen! Iſt denn dies eine Zeit zum Scherzen? So nehme Er jetzo doch für eine Viertel¬ ſtunde Vernunft an und rede Er verſtändig, Monſieur. Er ſiehet doch meinen Kummer um Ihn, und — wir ſind hier nicht mehr auf der großen Schule zu Kloſter Amelungsborn — ſondern nur in der Kammer des alten, verbrauchten unnützen Buchius, und — morgen früh ruft weder Ihn noch mich die Glocke zu den Lectionen, und Er hat an mir keine Materia mehr, ſich zu präpariren zu einem neuen Spaß, mit dem er die Herren Commilitonen über den närriſchen Magiſter Buchius zum Lachen bringen möchte! “
Dies kam nun in einer Weiſe zum Vorſchein, die den jungen Menſchen vollſtändig duckte. Es war keine Dumme-Jungen-Komödie in dem Ausdruck der Be¬ troffenheit, der Reue, mit dem er ſich auf die Hände des alten, vor Erregung zitternden Schulmeiſters nieder¬ beugte, ſie ergriff und zwiſchen Verlegenheit und — ja auch zwiſchen Thränen ſtotterte:
„ Der Herr Magiſter haben Recht, Sie haben Recht! Wir haben es alle, Convent und Cötus, nicht um den Herrn Magiſter verdient, daß Sie einen einzigen freund¬ lichen Gedanken für uns haben. Da; gleich und wie ein Lamm gutwillig, lege ich mich da vor dem Herrn über den Stuhl — holen der Herr Magiſter Buchius Ihr7*100ſpaniſch Rohr und zahlen Sie mir nachträglich durch den Reſt der Nacht, was ich an Ihnen pecciret und meritirt habe und geben Sie's mir für das ganze Kloſter, Abt, Amtmann, Rector, Doctoren und Kolla¬ boratoren mit. Haue Er ſie nach Herzensluſt in meiner Perſon. Laſſe Er mich in dieſer Nacht den wohlverdienten Sündenbock ſein für Seine armen elenden dreißig un¬ belohnten, übelbelohnten Jahre am Schuldienſt zu Ame¬ lungsborn. Nachher brauche ich nur noch Einen andern Abſchied hier am Ort zu nehmen; dann werd 'ich ja auch wohl den Herrn Vetter auf dem Marſche durch den Ith irgendwo todt oder lebendig treffen; oder wenn den nicht, ſo doch ohnzweifelhaft den Herrn Herzog Ferdinand und — nachher werd' ich's an die Franzoſen weiter geben, was Er mir, liebſter Herr Magiſter, in dieſer Nacht an Reſtanten ausgezahlet hat. Da verlaſſe Er ſich drauf! Vivat Ferdinandus dux! imperator! victor! Sie belieben zuzuhauen und mir den meritirten Lohn zu verabreichen. “
Der reuige Sünder hatte wahrhaftig ſich den Stuhl vor dem Magiſter zurecht gerückt und holte wirklich und im vollen Ernſt den Stock aus dem Winkel und bot ihn dem guten Herrn hin; aber dieſer ſprach, die gefalteten Hände vor ſich hinſtreckend und ſo mit ihnen abwehrend und mit einer durch Erregung und Rührung erſtickten Stimme:
„ Mein lieber Junker von Münchhauſen!? “...
„ Sie belieben nicht? Der allerbeſte Herr wollen Alles mir boshaften Cujon und Halunken hingehen laſſen? 101(ein Blick des Böſewichts ſtreifte hier auch ganz un¬ willkürlich die Curioſitätenſammlung des wackern Ge¬ lehrten), der Herr Magiſter will nicht an Thedel Münchhauſen nachholen, was Er in dreißig Jahren an der ganzen hohen Schule von Amelungsborn, Cötus und Lehrerconvent, hat verabſäumet? Dann — gebe Er mir ſeine gute Hand und glaube mir, im ganzen römiſchen Reich, ja im Univerſo lebet außer dem Herzog Ferdinand kein Andrer außer Ihm, nach dem der wilde Münchhauſen ſolch ein Desir und Verlangen ge¬ ſpürt hat in den letzten Zeiten! “
„ Oh, mein Junker von Münchhauſen! “
„ Das Heimweh nach dem alten Weſen iſt es ge¬ weſen, das mich noch einmal hieher gebracht hat. Vater und Mutter weiland zu Bevern und der Herr Vor¬ mund in Wolfenbüttel haben mich allzulange hier in der Wildſchule belaſſen. Das alte Kloſter, der freie Wald und Himmel haben es mir angethan. Die Herren zu Holzminden haben vermeint, Ihn, den Herrn Ma¬ giſter, ihren Beſten, dorten in ihrer neuen Ordnung nicht unter ſich brauchen zu können, und ſie ſind dümmer geweſen als die Eſel in dieſem Caſu. Aber mich, den ſchlimmen Teufelsbraten, haben ſie in Wahrheit und Wirklichkeit nicht bei ſich präſtiren können. Sie hielten's nicht aus, und ich hab's auch nicht ausgehalten zu Holzminden hinter ihren Mauern, bei ihrem neuen Zwang und Sereniſſimi des Herzogs Karl Durchlaucht revidirter Schulordnung! Ich hab's mit Willen da¬102 nach gemacht, daß ſie mich vor die Thür ſetzen mußten. Und nun bin ich hier, ehe ich zu den hohen Alliirten gehe, um den letzten treueſten Abſchied von meinem älteſten, treueſten und allgelahrteſten Gönner und un¬ wiſſend intimſten Freund zu nehmen. “
„ Von wem wollte Er Valet nehmen im Kloſter Amelungsborn? “fragte trotz ſeiner Erregung und Er¬ weichung Magiſter Buchius, den ſie dreißig Jahre lang in Amelungsborn im günſtigſten Fall nur als einen unſchuldigen, närriſchen, gutmüthigen Simplex taxirt hatten. Und der Exſchüler von Amelungsborn und von Holzminden ſtotterte, jetzt ganz klein werdend:
„ Auch da haben der Herr Magiſter Lunte gerochen? Und haben auch hier Ihre Wiſſenſchaft ganz für ſich ſelber behalten! haben keinem Menſchen Ihre Wiſſen¬ ſchaft mitgetheilet! “
Der arme Junge hielt die arme machtloſe rechte Hand des alten Herrn zwiſchen ſeinen zwei wackern Fäuſten und lachte, während ihm wieder die ernſthaf¬ teſten Thränen über beide Backen herunterrollten:
„ Krrrr! “ſprach in dieſem Moment der Rabe vom Odfelde. Es hinderte ihn ſein wunder Flunk nicht, auf den Stuhl zu hüpfen, den der junge Menſch dem alten Magiſter vorhin zugerückt hatte. Nun ſprang er103 auch auf die Lehne und von dort auf den Tiſch mit dem halbverwiſchten Kreideſtrich und den Reſten des Nachteſſens des Emeritus von Amelungsborn. Ihm war der Appetit nur wiedergekommen; aber auf den neueſten Gaſt des Magiſters Buchius machte des Viehs Gefräßigkeit den Eindruck, als vertilge es ihm den letzten Reſt von Nahrhaftem, von Eßbarem im Weltall. Und zwiſchen Liebe und Hunger hin und her geriſſen, rief Junker Thedel von Münchhauſen:
„ Ja, ſie trägt das weißeſte Kleid und die blaueſten Bänder am Sonntage. Ja, dulce ridentem Lalagen amabo! Kucke Einer das freſſige Biiſt! Sie iſt mir Anadyomene und die ländliche Phidyle. Wir haben ſie hundert und tauſendmal beim Conrector Schnell¬ beckius im Horaz gehabt, und ich habe mit ihr beim Erndtefeſt getanzet und ſie wird mein Feinslieb ſein auf ewig. Im Garten und im Walde, auf der Wieſe und auf dem Felde und hinter der Küchenthür haben wir's uns hunderttauſendmal geſchworen. Der Herr Magiſter verſtehen davon nichts und wollen auch nichts davon wiſſen; — meinen Hagedorn hat mir der Herr Rector confisciret; aber ich kann die Lieder, in denen er auch ſie, unſere Schönſte hier, angeſungen, auswendig und ich habe ſie ihr drunten im Hoop und drüben auf den Ruderibus der Homburg im Buſch vorgeſungen. O ſie iſt Cypris, Gnidia, Paphia und Idalia wann ſie ge¬ pudert einhertritt; aber löſt ſie ihre Flechten, fallen ſie ihr in die Kniekehlen! Als ich ihr vom Stadt¬104 oldendorfer Jahrmarkt das letzte Zuckerherz von meinem letzten Pfennig in der Welt brachte, hat ſie mit dem Herrn Magiſter Leſſing geſprochen:
„ Mamſell Fegebanck heißt ſie! “ächzte Magiſter Buchius, jetzo die Hände über dem Haupte zuſammen¬ ſchlagend. „ Ja, ihr Vaters-Name iſt Fegebanck, und ſie iſt des Herrn Amtmanns angenommene Vetters Tochter — “
„ Da geht er mit dem Brod unter den Tiſch! “rief Thedel Münchhauſen. „ Halt da, Canaille, Cujon! Bei der Belagerung von Saguntum, Numantia und Jeru¬ ſalem haben ſie ihre Schuhe und das Leder von ihren Schilden gefreſſen; aber ich freſſe den Tiſch und Dich ſelber, dirum mortalibus omen, Du ſchwarzer Galgen¬ ſtrick, wenn Du den Reſt vom Ueberfluß nicht gut¬ willig herausgiebſt! “
Schon war er dem ſchwarzen Vogel unter den Tiſch nachgefahren. Jetzt hielt er den Reſt von des Magiſters ſchwarzem Brod zwiſchen den Fäuſten, jetzt biß er hinein und riß mit dem guten Gebiß ab, er — fraß, und —
„ Allbarmherziger Gott, und wir haben weiter nichts übrig gelaſſen von unſerm Mahl! “ächzte der alte Herr, „ wir haben Alles allein gemogt! ich habe nichts weiter105 als das da für den Verſchmachteten. O Dieterice, Dieterice, und die Frau Amtmannin wird weder um meinet - noch um Seinetwegen zu ſo nachtſchlafender Stunde den Schlüſſel zum Küchenſchrank unter dem Kopfkiſſen vorlangen. “
Musjeh Thedel ſtieß zwiſchen ſeinem Kauen, Schlingen und Schlucken einen Laut aus, der ſeine Gefühle in Betreff der Frau Kloſteramtmannin vollkommen deutlich ausdrückte. Als er den erſten freien Athem wieder¬ gewonnen hatte, ſeufzte er mit der Befriedigung des für's Erſte wenigſtens noch einmal vom Verhungern Geretteten:
„ Sufficit. Es genüget vor's Erſte; — erzähle Er, Wanderer zu Sparta, daß Du mich dankbar erblicket haſt für das, was Gott gegeben und Amelungsborn übrig und frei und offen auf'm Tiſche liegen gelaſſen hat. Auf dem Wege von Holzminden her hatte kein Bauer mehr was! Sie hatten alles in die Erde ver¬ graben und in hohlen Bäumen verſteckt vor dem Marquis von Poyanne. “
Magiſter Buchius drückte beide Hände an die Schläfen: „ Es iſt ein Wirbel! man überſchläget ſich im Abyſſo! Ja, auch der Feind! Man vergiſſet im ſelbigen Moment das Eine über das Andere! Ja, auch das, auch das, auch das! Die Franzoſen kommen wieder, und Er iſt eben auch gekommen, Münchhauſen — und Wieſchen und Heinrich Schelze und Mamſell Selinde und die Schlacht auf dem Odfelde — die Rabenſchlacht und106 der Herzog Ferdinand, der Herr Amtmann und die Frau Amtmannin, der Marſchall von Broglio, und — Der da! “
Er wies auf den Raben, der, ſeit der Exprimaner von Amelungsborn und Holzminden das Brod ihm ge¬ nommen hatte, mit kurioſeſter Zutraulichkeit ein Wohl¬ gefallen an dem jungen Landläufer gefunden zu haben ſchien.
„ Krah! “ſprach er, der ſchwarze Ritter vom Campus Odini, und mit einem Mal ſaß er dem Knaben auf der Schulter und bohrte ihm faſt ſeinen Schnabel in's Ohr und redete in ſeiner Sprache zu ihm, eindringlich, nachdrücklich, wohl Sachen von hoher Wichtigkeit, wie Hugin und Munin ſie vordem von ihren Flügen über die Erde mitgebracht haben ſollen nach Walhalla.
„ Vivant tempora! “rief der tolle Thedel von ſeinem Sitze aufſpringend. „ Wer mögte ſie anders? Die ganze Welt ein einzig luſtig Jagdrevier, — Jedem nach ſeiner Fortuna. Aber freilich, friſch Blut, junge Beine und grobe Fäuſte gehören auch wohl dazu, wenn es ſo zur Rechten und zur Linken blitzt und knallt. Und das Vaterland ſoll leben, der König Fritze und der Herzog Ferdinand und — Mademoiſelle Selinde! Jetzt kann ich es dem Herrn Magiſter ſchon geſtehen, ſie war unſere Göttin ſchon in der Sekunda, und wir wären für ſie durch's Waſſer und Feuer gegangen. In der Prima hätten wir Alle uns ihretwegen dem Teufel mit Leib und Seele verkauft; aber zu mir allein hat ſie geſagt: Herr von Münchhauſen, die Andern ſind mir107 doch alle dumme Jungen, aber mit Ihm und unter Seiner Sauve-Garde ziehe ich ſchon in die weite Welt, wenn es mir ma chère tante nur noch ein bischen ſchlimmer macht. Sie iſt ein Engel, mein Engel, ich laſſe mir die Knochen für ſie zuſammenſchlagen, und ich ſchlage Jedem, den ſie lieber will als mich, die Knochen zuſammen, und wenn chère tante ihr es jetzt zu arg gemacht hat und ſie mit will, ſo bin ich in dieſer Nacht auch deßwegen noch einmal in Amelungs¬ born — Herr — was — ſoll? — “
Er vollendete ſein Wort nicht. Magiſter Buchius hatte ihn zu feſt an der Schulter gefaßt, Magiſter Buchius ſchüttelte, riß ihn, ſelber vor Aufregung zit¬ ternd, zu ſehr hin und her. Magiſter Buchius ſagte das, was er bis jetzt noch niemals zu einem der Herren Sekundaner oder gar Primaner der gelahrten Schule zu Amelungsborn zu ſagen gewagt hatte. Er ſagte:
„ Lieber Monſieur von Münchhauſen, Er iſt ein Narr. Nehme Er es mir nicht für ungut: aber Er iſt mehr denn ein Narr — Er iſt ein Einfaltspinſel und ein neugeboren Kind im Taumel dieſes irdiſchen Elends. Er hat den Ovidius zu viel und den Livius und den Tacitus zu wenig traktiret. Man hat dieſes Ihm nicht verhalten und man wird's Ihm im neuen Weſen zu Holzminden geſagt haben. Mit der Mademoiſell kann ich Ihm nicht dienen, ſo wenig ich Ihm in dieſer Nacht zu Seinem Stück trockenen Brodes da zu einem andern Stück guten Fleiſches verhelfen kann. Sie iſt doch um108 mehrere Luſtra älter als wie Er. Ei, wie hat Er mich mit ſich drehend gemacht! Ich möchte Ihn in meine Arme faſſen, um Ihn nimmer wieder von mir gehen zu laſſen; und ich möchte — ei, ich möchte — “
„ Doch das hispaniſche Rohr ergreifen und dem Halunken ſein meritirtes Theil geben, daß kein Kor¬ poral nachher beim König Friederikus oder dem guten Herzog Ferdinand noch eine heile Stelle für ſeinen Stab Wehe ausfinden ſollte! Haue Er zu, Herr Magiſter, aber rede Er mir nichts gegen Jungfer Selinde Fegebanck. “
Der alte Magiſter zog ſeinen beſten und ſchlimm¬ ſten Schüler in ſeine Arme und gebrauchte den Stab Wehe der Korporale und der Schulmeiſter des acht¬ zehnten Säkulums wahrlich nicht an ihm. Das ge¬ mäſtete Kalb hatte er nicht für ihn ſchlachten können, Mamſell Selinden vermochte er ihm nicht aus den jungen Sinnen und Gedanken zu vertreiben; aber nach vielem Hin - und Herreden gab er ihm den Strohſack aus ſeiner Bettſtelle und begnügte ſich mit dem Unterbette. Er wollte ihm auch ſein Kopfkiſſen geben; aber das nahm Thedel von Münchhauſen nicht an, ſondern rollte ein¬ fach ſeine Jacke zuſammen und ſich zuſammen gleich einem Igel unter des Magiſters Rockelor.
Während der Junge ſofort auf ſeinem ſpartaniſchen Lager einſchlief, blieb der Alte noch eine geraume Zeit wach und hörte ſeine Kirchthurmuhr ſchlagen und ſuchte die Geſpenſter und Gedankengeſpinnſte dieſes Tages zu „ einfachen und ordentlichen “Schlüſſen zuſammenzu¬109 ziehen und feſt zu bannen. Er entſchlummerte und er¬ wachte ſchreckhaft von Neuem. Er balgte ſich in den Auguſtſchlachten des laufenden Jahres mit dem Herrn Vi¬ comte von Belſunce und dem General Luckner; er war mit ſeiner Schule auf dem Wege vom Auerberge nach der Weſer und er ſah ſich allein gelaſſen auf der Land¬ ſtraße und hatte immer fort vor ſich hin zu ſprechen: Siebenzehnhundertſechzig, ſiebenzehnhundertſechzig, ſieben¬ zehnhundertſechzig. Eben ging er noch auf der Berlin - Kölniſchen Heerſtraße, die Schöße ſeines ſchwarzen Schulmeiſterrockes gegen den Wind zuſammenhaltend; nun entfalteten ſie ſich doch und trugen ihn aufwärts unter die ſchwarzen gefiederten Tauſende, die ihre Schlacht über dem Odfelde und dem Quadhagen aus¬ fochten. Er hieb auch mit dem Schnabel nach rechts und links, doch er hatte biſſige Gegner, die ihn auch von allen Seiten zu bedrängen verſtanden. Daß er mehr als einen ſeiner frühern Herren Kollegen mit wirbeln und auf ſich einfliegen ſah, war ſo im Traum eigentlich nicht verwunderlich. Hui, und das Feldgeſchrei, wie es verworren um ihn krächzte, knarrte, kreiſchte!
Alles ſcholaſtiſche Schulgeſchrei, was durch die Jahr¬ hunderte zu Kloſter Amelungsborn in den Zellen und auf und vor den Kathedern verhallt war, das war in110 dieſem Traum und in dieſer Nacht von Neuem wach geworden. Aber ſelbſt im Traume war es dem Magiſter Buchius verwunderlich, daß er plötzlich auch Mademoi¬ ſelle Selinde Fegebanck mit gelöſtem Rabengelock auf ſich einſtürmen ſah: „ Baroco! facrono! “— was half es ihm, daß er der Walkyria entgegenzeterte: „ Bocardo! docambroc!? “ Sie umfittichte ihn näher und näher, ſchlug ihm die Perrücke vom Haupte und faßte ihn mit den Krallen in die Bruſtklappen ſeines Rockes und hieb auf ſeinen Buſen ein. Da ſank er unter dem harpyiſchen Geſpenſt und Omen tiefer und tiefer aus den dunkeln Lüften hinab auf ſeinen Campus Odini, und als er den Boden berührte, erwachte er natürlich, und es war ſein ſchwarzer gefiederter Schützling und Gaſtfreund vom Odfelde, der ihm in Fleiſch, Blut und Federn auf der Bruſt ſaß und an den Knöpfen ſeines Nachtkamiſols zupfte. Er erhob ſich jäh, der Magiſter Buchius nämlich, und das Scheuſal flatterte mit Ge¬ krächz von ihm und zurück in den Ofenwinkel; der Magiſter aber lag ſchweißtriefend, halbaufgerichtet auf ſeinem rechten Ellenbogen und horchte nach ſeinem andern Schützling und Gaſtfreund hin. Der wendete ſich eben in ſeinem Traum von der Linken auf die Rechte und murmelte unruhvoll, ja weinend:
Dies war aus einem Liederbuch, das vordem auf ſeiner ſeligen Mutter Tiſchchen zu Bevern gelegen hatte. Es ſtammte noch aus dem verfloſſenen Jahrhundert, enthielt des Herrn von Hoffmannswaldau und anderer berühmten teutſchen Poeten auserleſene Gedichte; und der Junker von Münchhauſen hatte ſchon in jüngſten Jahren mehr aus ihm gelernt, als ihm eigentlich gut war.
„ Woraus denn deutlich zu erſehen, wieviel dieſe barbariſch ſcheinenden Wörter bedeuten und wie geſchickt ſie beſonders ſind, alle ſowohl allgemeine als beſondere Schlußregeln zu überſehen und in jeder Figur ſich alle richtigen Schlußarten einzuprägen. — Davon zeigt bar¬ bara die allgemein bejahenden, celarent die allgemein verneinenden, darii die beſonders bejahenden und ferio die beſonders verneinenden ꝛc. “
Alſo ſagte dagegen, nämlich gegen die Lieder des ſiebenzehnten Jahrhunderts in Schweinsleder, die Deut¬ liche und praktiſche Vernunftlehre für Schulen insgemein und alſo auch für die weiland hohe Kloſter - Wald - und Wildniß-Schule zu Amelungsborn. Aber wer gar nichts im Wachen und im Traum auf: Ca¬ cresen, bamallp, dimatis, fesapo, fresison hielt, das war des Herrn Kloſteramtmanns Vetterstochter Made¬ moiſell Selinde Fegebank. Sie war ſeinerzeit mit der Schule auch ohne die Logika der Scholaſtiker ganz gut ausgekommen und fertig geworden. Schlüſſe wie:
113mochten nach Paragraph Einundneunzig den Herren Pri¬ manern zum warnenden Muſter diktirt werden, für Mamſell hatten ſie nicht den geringſten Sinn. Die brauchte kein Muſter, die wußte von ihrer Mutter her ſchon ganz genau, wo der Menſch anfängt, und wo er aufhört. Sie hatte einfach gekreiſcht unter den Eichen im Sundern über die Concluſion:
„ Musjeh von Münchhauſen, “hatte ſie gelacht, „ wenn Er mich künftig einmal wieder einen Engel nennen will, bleibe Er mir nachher mit ſeinem Buche und ſeiner Gelehrſamkeit vom Leibe. Und dazu weiß ich auch gar nicht, was daraus werden ſollte, wenn ich ſo dumm wäre wie Er. Aber ein guter Menſch iſt Er, und ich ſitze ganz gern mit Ihm hier im Grünen und bei der Hitze im Schatten im Hoop, und daß Er voll Lieder und Singſang ſteckt, wie der Buchenbaum voll Mai¬ käfer, das gefällt mir auch ſchon; aber — Musjeh Thedel, wo wollte Er wohl mit mir hin? über die Eich¬ bäume hinaus! ins Himmelblau und gar jetzo mitten im Kriege! und wie mein Onkel und Seine Herren Lehrer über Ihn denken, das weiß er doch auch; und — Herr von Münchhauſen, Er närriſcher Eulenſpiegel,Raabe, Das Odfeld. 8114zu früh ſoll doch Niemand erfahren, wo Barthel Moſt holt. Das hat mir meine ſelige Mutter zu zehntauſend Malen geſagt und hat noch auf ihrem Todtenbett ge¬ ſagt: Mädchen, daß Du mir nicht dumme Dinge machſt in Amelungsborn unter den Herren Scholaren und jungen Herren Magiſtern. — Da, küſſe Er mir denn die Hand, wenn Er durchaus es nicht laſſen kann! “...
In dieſer Nacht nun, die mit dem Beginn dieſer Geſchichte ebenfalls angefangen hat, haben wir itzo nun auch einen beſcheidenen Blick in Mamſell Gelindens jungfräulich Kämmerlein drüben im andern Theil der weiland Kloſtergebäude zu werfen. Eine einfache Mönchs¬ zelle war ihr darin nicht vom galanten Fato angewieſen worden. Die Tante, die Frau Kloſteramtmännin hatte ſie im Gemach des weiland Subpriors von Amelungs¬ born untergebracht, und ihr bei ihrer Ankunft geſagt: „ Wer ſich im Kloſter Amelungsborn vor'm Spuken fürchtet, dem können wir nicht helfen; aber ſollte Dir mal was Ernſthaftes widerfahren, ſo brauchſt Du nur hier im Gange hell zu ſchreien. Wir werden Dich dann ſchon hören, und zuſehen, wo es Dir fehlt. Mir perſönlich iſt bei meinem hieſigen Leben noch niemalen ein Ge¬ ſpenſt begegnet, als ein paar Male, wo ich aber gleich am andern Morgen zum alten Tropf, dem Herrn Rector ging und mir in meiner Gegenwart die nächtlichen Halunken aus ſeiner lateiniſchen Spitzbubenbande heraus¬ langte. Da iſt ſo ein Schlingel, ſo einer von den Münchhauſens, die in Bevern zuletzt nichts zu beißen115 und zu brechen hatten, den habe ich mir einmal, aber ganz perſönlich, hier gerade vor Deiner Thür einge¬ fangen; er trägt wohl noch die Spur von Deines Oheims Stiefelknecht hinten am Hinterkopf. Alſo, Kind, Du kannſt ganz ruhig ſchlafen in Amelungsborn, bis ich Dich wecke; dann aber biſt Du mir 'raus aus den Federn, oder ich zeige Dir, was' n wirkliches Geſpenſte in Fleiſch und Blut zu ſagen hat “. — Wie gut ſich Jungfer Selinde Fegebank in Alles, was in Kloſter Amelungsborn ein -, aus - und umging, gefunden hatte, wiſſen wir alſo ſchon: werfen wir jetzt demnach ruhig den beſagten Blick in ihre Kemenate. Die Jungfrau ſchlief ganz behaglich in ihrem Federbett aus dem un¬ ruhevollen Tage voll Lärm, Gezänk und böſen Omina in den neuen Tag hinein und — lächelte im Traum: die böſen Franzoſen, die ſchon ein paar Male dage¬ weſen waren und nun morgen wiederkommen ſollten, hatten ihr bis jetzt eigentlich gar ſo übel nicht ge¬ fallen.
„ Mit mir ſind die Herren Offiziers doch ganz honett, galant umgegangen, und es war gar nicht nöthig, daß mich chère tante am liebſten mit dem Silberzeug vergraben hätte, “hatte ſie beim Zubettgehen geſagt. „ Ei, es wird alſo auch morgen wohl nicht ſo ſchlimm mit ihnen ausfallen. Die Luckner'ſchen neulich waren ganz andere Flegel, und meinethalben lieber das ganze Haus voll von den himmelblauen Dragonern, als ein halb Dutzend von den dunkelblauen Huſaren in Stube,8*116Kammer, Küche und Keller! Ordentlich leid konnte es Einem thun, als die Hellblauen vor den Dunkelblauen ſo Hals über Kopf davon mußten. Und dem galanten Monſieur, dem armen Lieutenant Seraphin, den die Knechte an der Gartenmauer vergraben haben, dem pflanze ich im Frühjahr noch einen Rosmarin auf's Grab. Es war zu poliment, wie er mir noch im Sterben die Hand küſſen wollte. Den Schlingeln, den Lümmeln, den Grobianen, die Einem wie die wilden Thiere die Krauſe zerknüllen wollen, denen weiß man ſchon die zehn Fingernägel in's Fleiſch und die Schnauz¬ bärte zu ſetzen. Ei ja, ja, ein böſes Leben iſt's im Kriege; aber doch ein anderes luſtigeres Ding als zu unſerer Magiſters - und Schuljungenzeit hier. Da war doch nur der arme Junge, unſer böſer Thedel, der junge Herre von Münchhauſen — ja, Der zu Pferde, im Federhut, mit der Schärpe und mit dem Pallaſch in der Fauſt — — — je ja, je ja, — — — “
Und auf den Lippen mit den Reimen:
war ſie guten Gewiſſens und geſund eingeſchlafen, um im Traum ihr Daſein und Weſen in der Welt weiter zu ſpielen wie im Wachen. Kloſter Amelungsborn, ſein Amt und ſeine Schule, der ſiebenjährige Krieg, die ſchwarzen Lateiner, die preußiſchen Huſaren, die fran¬ zöſiſchen Dragoner vertrugen ſich in Mademoiſell Selin¬117 dens harmloſer alberner Seele beſſer mit einander, als es die meiſten Geſchichtsſchreiber für möglich halten. Und wenn die Leute auf der Letzteren Schrift doch bauen und trauen und ihr auch gern nachgehen hau¬ fensweiſe, ſo iſt das recht gut aus mehrfachen Gründen.
Das gute Mädchen flog ebenfalls die ganze Nacht durch. Von der Rabenſchlacht hatte ſie natürlich auch vernommen und auch den Kämpfer aus derſelben, den Magiſter Buchius mit nach Hauſe brachte, betrachtet. Sie hatte wie die meiſten Andern ihrem Ekel über das Unthier Worte verliehen, und nun rächte ſich der Spuk, ſo gut er konnte, und ließ ſie im Traum erleben, was der Juſtizamtmann Bürger zu Altengleichen im Calen¬ bergiſchen, zehn oder elf Jahre ſpäter, in die deutſche Litteraturgeſchichte als großer neuer Poet hineinſang:
Und an den an der Gartenmauer den ewigen Schlaf ſchlafenden Königsdragoner Unterlieutenant Seraphin hatte ſie auch nicht ohne Gefährde beim Zubette¬ ſteigen gedacht. Sie hatte einen feinen Traum; und man hebt einen Zipfel von der Decke vor dem großen Myſterium der Welt, wenn man bedenkt und ganz genau in Betrachtung zieht, daß die Dummen und Armen im Geiſte die allerwundervollſten und geiſt¬ reichſten Träume haben können; ebenſo geiſtreiche und118 ſonderbare, als wie die Klugen, die Weiſen, ſowohl am Tage wie bei Nacht.
Mamſell Selinde wurde auch im November 1761 abgeholt von ihrem todten Dragoner wie Lenore von ihrem Wilhelm. Es ſtand aber ein weißes Roß an der Mauer des Gemüſegartens, und der Himmel war hell¬ blau, die Sonne ſtand im Mittage, Wald, Feld und Wieſen waren grün, und es kam ein luſtiges, friſches Windeswehen dazu her vom Hils, vom Ith, vom Vogler, über die alte Ringmauer der Ciſtercienſermönche von Kloſter Amelungsborn. Luſtige Muſik von Nah und von Fern klang der Jungfer in's Ohr. Als ob es ſich von ſelbſt ſo verſtünde, war ſie in ihrem allerbeſten Sonntagsſtaat, mit Bändern und Reifrock und Stöckel¬ ſchuhen, mit Puder und Handſchuhen — eben noch in ihrer Kammer auf dem Bettrande und nun draußen im Garten, im blühenden Garten voll von Bienen und Buttervögeln. Ueber die Kloſterringmauer ſah der weiße Pferdekopf und winkte der junge lachende Reiter¬ lieutenant im himmelblauen Rock mit Silber der Dra¬ gons de Ferronays mit dem Federhut: Wir reiten, wir reiten, Mademoiselle! — Ich wollt Ihm aber doch noch ein Zweiglein Rosmarin an die Kokarde ſtecken, Monsieur, ſagte die Jungfer, hat Er es denn gar ſo eilig, Monsieur Seraphin? .... Die wilde Roſe, la fleur d'eglantine, dort vom Buſch, Mademoi¬ selle! wir reiten, wir reiten — Sattel und Steig¬ bügel! — unſere Zeit iſt hin im deutſchen Lande —119 weſtwärts, ſüdwärts, durch Nebel und Schnee, durch und Sturm über den Rhein in die Sonne, in's warme luſtige Frankreich zurück. Es iſt Platz im Sattel, Mademoiselle, ma belle, ma jolie fleur de romarin — wir reiten, wir reiten, Mademoiselle Se¬ linde!
Es war ganz närriſch — war das nicht der Herr Magiſter und Kollaborator Zinſerling, der da im Kloſterbau grad jetzt ſein Fenſter aufmachte und ſich drein legte und in den Sonnenſchein, das Mittagslicht und friſche Weſen von Mamſells Traumgebilden ſatyriſch hineinkrähete und zwar tumultuoſe gegen jedwede Schul¬ geſetze:
Und war's nicht der liebe gute Junge, der Musjeh Thedel, der Herr Primaner, der Junker von Münch¬ hauſen, welcher da hinter den Stachelbeerenbüſchen ſchlich und zum gelahrten Herrn hinaufhöhnte:
Alles im Sonnenſchein — der Garten, das alte Kloſter — weiße Tauben in Schwärmen um die Dächer und den Kirchthurm und — mit einem Male in den120 Lüften über der grünen Welt — im Sattel vor dem Reiter des Königs Ludwigs des Fünfzehnten, mitten im Tilithigau: La France! vive la France! Mamſell Selinde verſtand im Wachen kein Franzöſiſch, aber im Traume verſtand ſie es: „ Frankreich, Frankreich! “rief und jauchzte es um ſie her tauſendſtimmig. Zu Hun¬ derten, zu Tauſenden ritten ſie — ritten ſie weſtwärts der Weſer zu — alle die thörichten Kinder der belle France, die ihr Grab oſtwärts des gelben Stromes, dießmal im lieben kleinen Kriege der Madame de Pompadour gefunden hatten. Auf Wodans Felde, über dem Odfelde, über dem Quadhagen, wo geſtern die ſchwarzen Vögel geſtritten hatten, ſammelten ſich die luftigen, luſtigen Geſchwader in Gold und Roth und Blau, in Silber und Weiß und Grün und Gelb, Champagne und Limouſin, Dragoner von Ferronays und du Roy, Freiwillige von Auſtraſien, Grenadiers von Beaufremont, Grenadiers royaux, Carabiniers von Caſtella, Carabiniers von Provence. Wer zählt es im Wachen, was Mamſell Selinde nicht im Traume zählen konnte — alles Das, was in den beiden letzten Jahren nur zwiſchen dem Harz und der Weſer der Mutter Erde und dem Bauernſpaden anheimge¬ fallen war? Ja, hurre, hurre, hop, hop, hop, aber beim helllichten Tagesſchein und ohne alles geſpenſtiſche Grauen! Mademoiſelle Selinde fand nicht das geringſte Sonderbare dabei, daß ſie den linken Arm um den hübſchen jungen Dragoner vom Regiment Ferronays121 geſchlungen hielt und mit der rechten Hand hoch aus den Lüften über dem Campus Odini des Magiſters Buchius deuten konnte: Da unten geht ja die Frau Tante über'n Hof, und in der Milchkammer ſollte ich eigentlich auch jetzo ſein, Musjeh Seraphin! —
Jungfer Selinde verſtand kein Franzöſiſch, aber doch verſtand ſie die Verſe des gentil Bernard die ihr bei Tagesanbruch im Traume über den Feldern, Wieſen, Wäldern und Dächern von Kloſter Amelungsborn, hoch in den Lüften aus lachendem Munde in's Ohr geflüſtert wurden beim Schwirren, Flattern und Fliegen der luſtigen Geſchwader umher, die ſich immer mehr ver¬ dichteten, ihre Reihen und Glieder ſchloſſen und ſich zu Zügen ordneten, Fußvolk und Reiter, wie ſie ſich los¬ machten aus dem Erdboden, um nicht zurückzubleiben, ſo in's Einzelne verſtreut über die Barbarenerde. Es war vielleicht grade in dieſer Nacht, daß die Frau Marquiſe aus Verſailles an den Herzog von Choiſeuil ſchrieb! Quant à l'Allemagne tout y est désespéré. L'Allemagne a toujours été le tombeau des Français;122 dans cette guerre elle a encore été le tombeau de leur gloire! ..... Was kümmerten ſich im Traume der Jungfer Selinde die Welt um die Frau Marquiſe, den Herzog von Choiſeuil und die gloire von Frank¬ reich? Es war nur jetzt in den Lüften der beſte Schützen¬ hof, auf dem Mamſell ja die Tempeteh mit getanzet hatte. La tempête — drüben aus Frankreich her war ja der Tanz auch zu den Niederſachſen gekommen; und alle Trompeter blieſen und alle Querpfeifer pfiffen und alle Trommler raſſelten in dieſer Nacht zu Amelungs¬ born die wilde Weiſe dazu — wie auf der Stein¬ breite bei Holzminden.
Und immer toller wurde der Wirbel, und immer mehr und mehr des luftigen, luſtigen Geiſtergeſindels! und immer herzlicher klammerte ſich im Spukkarouſſel die Jungfer an ihren lachenden Reiter, und immer jubelnder klang's rund umher: Nach Frankreich! nach Frankreich! nach Hauſe! nach Hauſe!
Wo unſer Herrgott lebt wie Gott in Frankreich, Musjeh Seraphin, lachte auch Mamſell. Aber geht es denn immer nur ſo im Kreiſe? geht es denn nicht fort, nicht weiter, — gradaus im Fluge?
Wir warten nur noch auf den Herrn General - Lieutenant, Mademoiſelle. Voila, da kommt er!
Und vom Weſten her kam ein einzelner Reiter auf ſchwarzem Roß, und Jungfer Selinde Fegebanck ver¬ ſtand es ganz genau wie Jemand ſagte:
Herr Ludwig Ferdinand Joſeph von Croy, Herzog123 von Havre, des heiligen römiſchen Reiches Fürſt, Grand von Spanien, der Krone Frankreich Marechal de camp, Gouverneur von Schlettſtadt, Obriſter des Regiment la Couronne —
Bei Wellinghauſen gefallen! ſagte jetzt plötzlich der blaue Dragonerlieutenant von der Gartenmauer zu Kloſter Amelungsborn ſcheu, trübe, traurig der Allerſchönſten von Amelungsborn in's Ohr, und — Jungfer Selinde Fegebanck kreiſchte nur noch: Jeſus, Herr Lieutenant! — Der vornehme Cavalier auf dem ſchwarzen Roß inmitten des Geiſterheers hob den Arm — einen zer¬ ſchmetterten, ärmelloſen, handloſen, blutigen Armſtumpfen: En avant, messieurs! Vive le Roy! Vive la France! ..... Ein Schrei, ein Schreien, ein Heulen und Ge¬ zeter; dazwiſchen Gejauchz und ſchwere Schläge wie von fernem Donner und nahem Thürenſchlagen! Jungfer Selinde fiel auch — wie man immer und ewig ſo im Traum zu fallen pflegt. In dem ſchwirrenden Ge¬ tümmel von Roſſen und Reitern ſtürzte ſie aus dem Sattel des armen todten Lieutenants Seraphins, aus dem Sonnenſchein, dem lichten Tage hinab in's Dunkel und in die Wirklichkeit hinunter und zurück.
Sie ſaß zitternd und bebend auf ihrem Bett in ihrer Kammer, der Tag dämmerte eben, der Regen klatſchte an's Fenſter. Fern draußen ſchlugen Trom¬ meln einen eintönigen Marſch; doch in der Nähe ſchlugen Flintenkolben an Thür und Thor. In fremd¬ ländiſchen Zungen fluchte und wetterte es, in einhei¬124 miſchen jammerte, ächzte und kreiſchte es. Draußen auf dem Gange glaubte Jungfer Fegebanck auch ihres Oheims ſchweren geſtiefelten Schritt zu erkennen im Getümmel von bloß bepantuffelten, beſtrümpften oder gar ſtrumpfloſen Füßen: die Franzoſen waren noch einmal in Fleiſch und Blut in Amelungsborn. —
„ Herr Magiſter! “
Das wurde wie in einen tiefen Brunnen hinab¬ gerufen, und es dauerte ſeine Weile, ehe Antwort herauf¬ kam.
„ Herr Magiſter Buchius! “
„ Eh — eh — heu! Si fractus illabitur — “,
„ Jawohl — orbis! wenn der Erdball einfällt, den Weiſen weckt's nicht! Eben ſchlagen ſie das Hofthor ein, und der alte Impavidus nimmt's bloß für den Welt¬ untergang und ſchnarcht weiter, weil ihn die Ruinirung garnichts angeht. Einen famoſen Schlaf mit gutem Gewiſſen muß der alte Herr bei dem Lärm haben! Aber auf muß er. Herr Magiſter! Herr Magiſter Buchius — die Schulglocke! “
Beim letzten Wort ſaß der alte Schulmeiſter auf¬ recht auf ſeinem Bett, mit beiden Händen haſtig um ſich herum greifend, wie nach ſeinen nöthigſten Klei¬ dungsſtücken, ſeinen Büchern, ſeinem nur zu harmloſen Bakel. Dem jungen grinſenden Böſewicht zitterte in ſeiner Luſt an dem Witz die Lampe, mit der er dem126 erſchreckten Kollaborator in's Geſicht leuchtete, in der Hand.
„ Ecce! ehem! hem! papae! um Gottes willen, wie ſpät — “
„ Beruhige ſich der Herr Magiſter nur. Zu ſpät iſt's noch nicht. Wir haben das ganze Pläſir noch vor uns. Der Tag bricht eben erſt an, und es iſt nicht der Herr Rector von Amelungsborn, der an der Thür trommelt, ſondern es ſind nur die lieben Herren Franzoſen, die wieder das Thor einſchlagen und nochmal Quartier verlangen. Der Herr Prior und Rector liegen hoffent¬ lich zu Holzminden im Frieden und in den Federn und laſſen höchſtens im Traum den Herrn Magiſter grüßen. “
Dieſe ausführlicheren Benachrichtigungen waren wirk¬ lich nicht nöthig. Zu halbem Bewußtſein gelangt, merkte es der alte Herr ſchon, daß es nicht ſein früherer Scholarch ſei, der ihm auf den Hacken ſitze, ſondern daß nur der Krieg der Krone Preußen mit der ganzen Welt augenblicklich noch fortdauere und Canada immer noch in Deutſchland erobert werde. Die Trommeln der ziehenden Truppen, das Krachen des eingeſchlagenen Kloſterthores, das Gebrüll und Hallo auf den Höfen, auf den Treppen und in den Korridoren ſprachen laut und deutlich genug für ſich ſelber. Nur die Anweſen¬ heit, die Gegenwärtigkeit des Junkers von Münchhauſen war dem aus tiefſtem Schlaf Erweckten für einige Momente noch unbegreifbar.
127„ Die Franzoſen! Ei, ei. Aber — nae ego — Er, Monſieur Thedel? Ja aber iſt Er — wie kommt Er? ... Ja ſo! “
Mit den letzten zwei Worten war Magiſter Buchius wieder vollkommen bei ſich und mit allen vom Himmel geſpendeten Seelenkräften beim laufenden Tage:
„ So hat Er Recht gehabt, Musjeh Thedel; und uns möge Gott noch einmal gnädig ſein, wie er uns ſchon ſo oft geholfen hat. “
„ Er wird's ja wohl, — ſich Einer, das ſchwarze Vieh da auf dem Bettpfoſten vertraut ganz auf ihn und läßt ſich's in ſeinem geſunden Schlaf nicht küm¬ mern. “
„ Der Bote hat ſeinen Auftrag ausgerichtet und braucht ſich freilich das Uebrige nicht kümmern zu laſſen, “ſeufzte bänglich der Magiſter, den linken Fuß zuerſt auf den Gipsboden vor ſeinem Bett ſtellend, was gleichfalls ſein gutes Vorzeichen ſein ſoll:
„ Quo, quo scelesti — welch 'ein Lärm, welch' ein Tumult der Hölle! Sie wollen diesmal jedes Gemäuer dem Grunde gleich machen — “
„ Da nehme Er die Lampe! “rief der Schüler, und vergeblich rief ihm der Magiſter Buchius nach:
„ Herr von Münchhauſen! Aber Musjeh — Mon¬ ſieur Thedel! “
Der gute Junge hatte ſchon ſein Möglichſtes ge¬ than, daß er ſich zuerſt und ſo lange dem Vater Anchiſes gewidmet hatte; jetzo hörte er Crëuſen ſchreien,128 und krachend ſchlug die Thür der Zelle des Bruders Philemon hinter ihm in's Schloß. Vergeblich rief ſein väterlicher Freund und Lehrer ſeine Verblüffung und ſeine Klage ihm nach. Abiit, evasit, erupit — ab ging er mit ſeinen achtzehn oder neunzehn Jahren: denn Sie ſchrie nach Ihm in ihrer höchſten Noth, im letzten, ſchlimmſten Einbruch, in der Vergewaltigung durch den Fremden, durch den welſchen Feind.
Schön hatte ihm ſein alter Lateinlehrer nachzu¬ rufen:
„ Aber Musjeh? Monſieur Thedel? Herr von Münchhauſen, was fällt Ihm denn ein? Um Gottes willen, was fällt Ihm ein, wo will Er hin? So höre Er — bleibe Er doch — “
Wer nicht hörte, war der Junker von Münchhauſen, und daß er Beſcheid wußte in den Gebäulichkeiten, auf den Treppen und mit den Schlupflöchern von Kloſter Amelungsborn, iſt in dieſem Augenblick weniger ein Troſt für den Magiſter Buchius, als für ihn ſelber. Und wer, wie gewöhnlich bei ſolchen Fällen, ganz und gar keines Troſtes bedurfte, weil er aus dem tiefſten Naturrecht heraus ganz und gar nicht bei Troſte war, das war der Junker Thedel von Münchhauſen. Was Krieg und Brand, Mord und Tod und Welteinfall? Kein Latein mehr und — ſie drüben im Amthauſe nach dem Retter und Ritter in der höchſten Noth ſchreiend! Mit einem Jauchzen, das wahrlich nicht nach Noth, Angſt und Verzweiflung klang, ſprang der Wild¬129 fang hinein in den Tumult des fünften Novembers Siebenzehnhunderteinundſechzig. Es war ihm wirklich nicht zuzumuthen, ſeinem — einem alten Präceptor, und wenn es ihm auch der liebſte war, in die Hoſen zu helfen. Glücklicherweiſe aber hatte Mademoiſelle ihre Toilette wenigſtens ſo ziemlich vollendet, wäh¬ rend der Magiſter Buchius noch mit bebenden Fingern an ſeinen Knöpfen und Knopflöchern hin und wider taſtete. Als ein ſtandfeſtes Mädchen hatte ſie ihren Traum abgeſchüttelt, Feuer geſchlagen, ihr Lämpchen angezündet und ſich „ für Alles zurecht gemacht “. So ſaß ſie auf ihrem Bettrand und wartete auf ihr Theil Unheil vom abermaligen Einbruch der Franzoſen als ein gutes Mädchen, wie es dem lieben Gott gefällig war. —
„ I du meine Güte! “rief ſie, als in all dem Lärm des feindlichen Einbruchs es durch ihr Schlüſſelloch klang:
„ Der Junge! der närriſche Junge! “rief ſie, auf¬ ſpringend und ihrerſeits das Ohr zum Schloß der ver¬ riegelten Pforte niederbeugend. „ Musjeh? Junker Thedel? Herr von Münchhauſen, iſt Er denn das? Jeſes, auch jetzt mit Seinem ewigen Singſang? Was hat Er denn jetzt wieder für Narrheiten im Kopf? “
Raabe, Das Odfeld. 9130„ Das fragt Sie noch, Mademoiſell? “klang es vor¬ wurfsvoll zurück durch's Schlüſſelloch. „ Bei dem Spek¬ takel? .. Sie aus dem Feuer holen, will er! In das Waſſer für Sie gehen wie Ihr Pudelhund will er. Jeden Franzmann, der Ihr auf drei Schritte nahe kommt, unter'm Daumen knicken will er. Riegle Sie auf, Jungfer! Will Sie? Auf den Knien liege ich hier — “
„ Reine verrückt iſt Er; aber — doch ein guter Menſche! “ſagte Jungfer Selinde Fegebanck, wirklich ihre Thür öffnend und in demſelben Augenblick ihn, mit der Fauſt in ſeinen Haaren, von ſich abdrängend. „ Herr von Münchhauſen, das bitt 'ich mir aber aus — “
„ Engel! “ſchluchzte der Tollkopf, jetzt wahrhaftig auf den Knien vor ſeinem Ideale. „ Hat man mich nicht um Sie von Holzminden weggejagt? Bin ich nicht um Sie den Tag durch gelaufen? Haben mich Ihretwegen nicht der Herr von Chabot und ſeine Halunken gejagt und hängen wollen? Hab ich nicht Ihretwegen mit des Magiſters Buchius letzter Brodrinde die Nacht durch auf dem kalten Gypsboden gelegen? “
„ Ein Flegel braucht Er darum doch nicht zu ſein, und wenn ich zehntauſendmal ein Engel bin — Jeſus Chriſtus, Thedel, liebſter, beſter, allerliebſter Thedel — ſie wollen wohl dießmal das Kind im Mutterleibe nicht verſchonen! “
„ Deßhalb bin ich ja von Holzminden hergelaufen. Ueber meinen Leichnam geht der Weg zu Dir, meine Prinzeß. Courage, Herze, Göttin, Seraph! Und in131 der höchſten Noth weiß ich ja Hausgelegenheit in Amelungsborn. “
Das gute Mädchen hing jetzo ſeinerſeits dem jungen ritterlichen Beſchützer am Halſe. Was thut der Menſch nicht in ſeiner Angſt, wenn es nicht bei bloßen Kolben¬ ſtößen gegen die Thüren bleibt, ſondern auch die Musqueten in die Thürſchlöſſer abgefeuert werden, um den Eintritt raſcher zu erzwingen. Es waren dießmal nicht ritterliche rothe, blaue, gelbe Dragoner oder grüne Chaſſeurs à cheval, die bei Sonnenſchein und hellem Tage kamen, ſondern es war wüſtes, wildes, verlumptes, verhungertes Fußvolk Ludwigs des Fünfzehnten, das bei dem neuen Anmarſch auf die Hube bei Einbeck im Kloſter Amelungsborn einſprach und am dunkeln regnichten Novembermorgen die Leute aus den Betten holte. Nachzügler von den Regimentern Navarra, Salis, Boccard, Reding, dabei nur einige Offiziere, die mit dem Degen in der Fauſt die unbotmäßigen Schwärme vorwärts zu treiben ſuchten gegen den Ith und den guten Herzog Ferdinand!
In einem Nu war das Kloſter von ihnen über¬ ſchwemmt, und der Kloſteramtmann ſchlug Keinem von ihnen das offene Licht oder gar den Feuerbrand aus der Hand. Und ſie waren auch in dem Corridor, auf9*132den ſich Selindens Kämmerlein öffnete, und ſie waren in Selindens Kämmerlein:
„ Bon jour, Mademoiselle! Venons — baisons! Venons — aimons! Venons à cinquante, cinq-cents! “
Ein Fauſtſchlag krachte nieder auf die Naſe des Voltigeurs vom Regiment Navarra, der allzu zärtlich die Arme nach der Schönen ausſtreckte und dabei die Rechnung ohne den jungen frühern Anbeter der Dirne gemacht hatte. Bewußtlos, blutüberſtrömt ſtürzte der Marodeur zu Boden und ſeine Waffen klirrten über ihn. Doch auch die Waffen des übrigens Geſindels klirrten. Mit Sacrenom und Sacredieu kamen ſie ihm mit Kolben und Bajonett zu Leibe, doch der Schüler griff das Lämpchen der Jungfer Fegebanck von der Kommode und löſchte es im Wurf aus auf der Stirn des nächſten Feindes, der dann über den Kameraden zu Boden taumelte und im Falle ſeine Büchſe gegen die Decke losbrannte. In die Laterne, die ein beutegierig Lagerweib von ihrem Bagagewagen zur beſſern Beleuchtung ihrer Wege mit ſich trug, trat der Junker Thedel mit dem Fuße. Es war im November und am früheſten Morgen; für das jetzt erfolgende Durcheinander in dem Kämmerlein der Jung¬ frau und in den Gängen und auf den Treppen von Amelungsborn noch vollkommen Nacht. Nur der Junker von Münchhauſen wußte auch in der Dunkelheit genau Hausgelegenheit. Er verlor einen Rockſchooß, der ihm durch einen Bajonettſtoß an die Wand genagelt wurde,133 er blutete aus einer Schramme an der Stirn, er ver¬ lor eine Hand voll Haare aus ſeiner Friſur, er fühlte einen Augenblick höchſt unbehaglich eine hagere harte Navarreſerfauſt an der Gurgel, aber — er kam durch und zwar in Begleitung von Mademoiſelle Selinde. Er hatte das ebenfalls beſinnungsloſe Mädchen von ſeinem Bettrande aufgezogen, er hielt es mit dem linken Arm aufrecht und warf ſich mit der Laſt auf dem Arme auf gut Glück in den Corridor. Daß der jetzt vollkommen vollgepropft war von Menſchen, die nicht wußten, was da weiter vorn eigentlich vorging und noch weniger Hausgelegenheit im Kloſter Ame¬ lungsborn kannten, trug nicht am wenigſten zu ſeiner Rettung, zu dem Entkommen mit ſeiner ſüßen Laſt bei. Dreimal um die Ecke und dann die Bodentreppe hinauf! Die Riegel vor zwei, drei, vielleicht noch vor Jahrhunderten aus feſtem Eichenholz von Mönchsfäuſten gezimmerten Thüren und — für's Erſte mit dem den Rieſen und Drachen, den Nachzüglern der Schweizer und der Regimenter von Navarra und Boccard abge¬ rungenen ſchönen Kinde in Sicherheit, unter dem Dach und den Dächern von Amelungsborn und im Nothfall auch auf ihnen! ....................
„ Die Canaillen ſollen mich hier die Katerſtiege kennen lehren, Mademoiſelle Selinde, “lachte der Junker von Münchhauſen. Freilich doch ein wenig außer Athem.
Magiſter Buchius rüſtete ſich derweilen wie ein Mann, der, wenn er nicht mehr die Toga um ſich zu¬ ſammenziehen konnte wie der Cajus Julius unter der Bildſäule des Pompejus, doch anſtändig in ſeinen Stiefeln oder Schuhen zu ſterben wünſchte. So wenig er je den Reſpekt im Verkehr mit ſeinen Schülern hatte aufrecht erhalten können, ſo ſehr war er in ſeiner Seele ein Mann des Anſtandes, und dazu, wie wir nunmehr wohl ſchon wiſſen, ein tapferer Mann.
„ Rebus angustis animosus atque fortis appare, “ſprach er mit dem Horaz und wenn es zum Aeußerſten gekommen wäre, würde er ſicherlich auch mit dem Martial geſagt haben: Rebus in angustis facile est, contemnere vitam. Daß er beim Zuknöpfen von Hoſe, Weſte und Rock unter die heidniſchen Sentenzien und nervose dicta auch Verſe aus dem Braunſchweigiſchen Geſangbuch, gedruckt bei Johann Heinrich Meyer, miſchte, wird ihm, der aus einem lutheriſchen Pfarrhauſe ſtammte, chriſtliche Theologia ſtudirt hatte und ein Erbe chriſtlicher Schulweisheit des heiligen Bernhards von135 Clairvaux und ſeiner Ciſtercienſermönche war, Keiner verübeln. Noch dazu, da der Lärm draußen vor ſeiner Zellenthür, drunten im Kloſter immer ärger, immer ſchlimmer, immer entſetzlicher wurde.
„ Krah! “ſchnarrte es dazwiſchen, und der unver¬ muthete, geſpenſtiſche Ton, ſo dicht neben ihm, ent¬ wurzelte für den erſten Moment all' ſeine altrömiſche Standhaftigkeit mehr als alles Gelärm von draußen.
„ Ah ſo, Du biſt! “ſprach er aber ſchon im nächſten Augenblick beruhigt. Der Rabe auf dem Bettpfoſten war weniger von dem Kriegsgetöſe als von dem Vers aus dem Braunſchweigiſchen Geſangbuch erweckt wor¬ den, und ſtreckte erſt das linke Bein und den linken Flügel und dann das rechte Bein und den rechten Flügel weit von ſich, wie „ ein Menſch beim Auf¬ wachen ſich dehnend “, und ſagte:
„ Krah! “
„ Ja wohl, guten Morgen. Nun werden wir es ja wohl an unſerm Leibe wie auch an unſern Hab¬ ſeligkeiten in genauere Erfahrung bringen, was Du und die Deinigen uns geſtern aus der Höhe über dem Odfelde zu beſtellen hatten! Fortiter ille facit, qui miser esse potest —136
„ Perfer et obdura — heißet es beim Ovidius.
„ Dießmal ſchlagen ſie Alles kurz und klein! Mein Gott, dies reichet ja bis an unſern großen Schultumult in der Bierſuppenaffäre, wo die Herren Primaner den Herrn Amtmann in der Speiſekammer eingeſperrt und belagert hielten und Feuer davor und drunter anlegen wollten. Der Musjeh Thedel war damals noch nicht dabei; er war erſt einer der Haupt-Conſpiratores bei der Verſchwörung in unſerer Wilddiebsangelegenheit vom Heidwinkel. Sie ſchoſſen auch damals ſcharf auf ein¬ ander, die Schule und die herrſchaftliche Jägerei. Ja trommelt, trommelt, trommelt nur, ich höre die Kuh¬ hörner unſeres animoſen, tapfern Cötus noch immer durch Euer Getrommel und Trompeten, Ihr Herren Welſchen! Aber, der junge Herr? .... aimabel wär's von ihm geweſen, wenn er mich nicht ſo leichtlich in dieſem neuen Spaß nach ſeinem Sinn und Herzen hier in angustis rebus, in der Angſt und Betäubung meines137 Gemüthes hätte ſitzen laſſen. Mit Dir zur einzigen Geſellſchaft — “
Das letzte Wort war an den geflügelten Kriegsmann von Wodans Felde gerichtet; aber der ſchien mit dem Krachen der Flinten drunten in den Gängen des alten Kloſters das Pulver und ſein Futter bis hinauf in die abgelegene Zelle des weiland Bruders Philemon zu riechen. Er erhob ſich flügelſchlagend und hüpfte kreiſchend und krächzend wie im Triumph dem Magiſter um die Beine und im Gemach herum:
„ Krieg, Krieg, Krieg! “
Magiſter Buchius nahm ſeinen Hut vom Haken und drückte ihn feſt auf die Perücke. Er nahm ſeinen Stock aus dem Winkel. Wie ein richtiger alter Römer beim Einbruch der Gallier wollte er auf Alles gerüſtet und gefaßt ſein.
Es war auch nur ein Unterſchied in der Zeiten¬ folge und im Koſtüm, wie er ſo daſaß an ſeinem Tiſche auf ſeinem Stuhl in ſeinem Muſeo, Wohn - und Studir-Gemach — aufrecht, das hiſpaniſche Rohr feſt aufgeſtellt auf den Boden zwiſchen den Knieen, den Hut auf dem Haupte. Wenn Kloſter Amelungsborn heute im Abgrunde des Zornes des Höchſten verſank; den Magiſter Buchius fand und empfing der Abyſſus in voller Erkenntniß ſeiner Sündhaftigkeit vor dem Herrn; aber auch außer durch den Troſt auf die Barmherzig¬ keit deſſelbigen Herrn für Alles auf's Wackerſte ge¬138 wappnet durch die tagtägliche erfreuliche Beſchäftigung mit dem Alterthum! Dem claſſiſchen nämlich.
Faſt mit einem ſüßen Grauen wartete er darauf, daß ihn der Neugallier an der Naſe in Ermangelung eines Bartes zupfe. Er hatte ſein volltönend Wort dafür in Bereitſchaft; aber — er hatte zu warten. Während der Lärm drunten fortdauerte und drüben von Augenblick zu Augenblick ärger wurde, ließ ſich in ſeinem abgelegenen Winkel keine Seele blicken. Er wartete auf den barbariſchen Feind eben ſo vergeblich wie auf ſeine Morgenſuppe.
Es blieb ihm wahrhaftig nichts Anderes übrig, als wie in ruhigeren Zeiten ſo auch heute zuerſt „ in das Wetter “zu ſehen.
Er that's, indem er ſich mit einem Seufzer von ſeinem Stuhl erhob. Sein Stubengenoſſe hüpfte ihm dicht auf den Ferſen nach, und hob ſich wie von dem ſelben Gedanken getrieben und ſprang neben ihm in die Fenſterbank, gleich Einem, der auch wohl in dieſer Hin¬ ſicht ein Urtheil abzugeben habe.
Es war nunmehr ein wenig heller geworden, wenn gleich noch lange nicht Tag. Der Regen hatte aufge¬ hört, aber ein dichter Nebel füllte nicht bloß das Hoop¬ thal, ſondern bedeckte die Welt um Amelungsborn über¬ haupt, als habe das alte Kloſter ſeine weiland Mönchs¬ kappe nochmals ob dem Greuel der Welt bis über die Ohren hinuntergezogen.
„ Der wird ſich halten, “meinte der Magiſter und139 meinte den Nebel. „ Wer ſich von hier wegſchleichen will, wer allhier um der Menſchheit Jammerſchule herum¬ gehen will, dem giebt der liebe Gott heute die Gelegen¬ heit — falls nicht ein Wind kommt, oder zu ſtarkes Feuern aus grobem Geſchütz einfällt. “
Die letztere überlegende Bemerkung zeugte jedenfalls abermals davon, daß der Mann in ſeiner Zeit Beſcheid wußte, ſei es aus eigener Erfahrung oder aus Büchern, Briefen und Zeitungen. Uebrigens aber war eigentlich durchaus keine Zeit, bloß gelaſſen und Gott ergeben in das Wetter zu gucken. Auch der Magiſter Buchius hatte ſich die Frage zu ſtellen, ob er ſein heutiges Schickſal in der Zelle des Bruders Philemon abwarten und an ſich herankommen laſſen wolle, oder ob es beſſer und würdiger ſei, demſelben entgegen zu gehen, das heißt, dem unbotmäßigen lieben Knaben, dem Junker Thedel von Münchhauſen nachzueilen und zu erkunden, in welche Fährlichkeit den ſeine Luſt am bellum omnium contra omnes diesmal geführet habe.
„ Sie hängen ihn — “
„ Krah! “ſagte der Rabe —
„ Oder ſie erſchießen ihn “—
Gerade in dieſem Augenblick krachten die Flinten¬ ſchüſſe, welche das Regiment Navarra dem Junker und ſeiner ohnmächtigen Angebeteten nachfeuerte, drunten aus den Corridoren des Herrn Kloſteramtmanns, und — Magiſter Buchius erwartete nicht die Gallier auf ſeiner Stube, auf ſeinem Stuhl. Er griff noch in ſein140 Bücherfach (mit einem letzten wehmüthigen Abſchieds¬ blick auf ſeine Curioſitäten und Raritäten) ſchob Anicii Manlii Torquati Severini Boëtii Buch, Consolatio philo¬ sophiae, in die hintere Rocktaſche und ging ihnen (den Galliern) und ihm (ſeinem heutigen Tagesſchickſal) ent¬ gegen, von dem einfachen claſſiſch-unclaſſiſchen Bedürf¬ niß getrieben, ſeinen böſeſten und beſten Plagegeiſt der weiland großen Schule von Amelungsborn am Rock¬ ſchooß zu faſſen und zwar mit beiden magern, harten, haarigen Schulmeiſterpfoten. Bloß, um nochmal den vergeblichen Verſuch zu machen, ihn vom Abgrund zurückzureißen.
Mit dem Seufzer: „ Was wird es helfen? “ſchloß er die Thür ſeiner Zelle hinter ſich ab und ſchob den Schlüſſel zu dem Boëtius. Draußen noch vollſtändig Nacht; erſt in den untern Gängen vor den Claſſen¬ zimmern erſte Tagesdämmerung durch die höheren Cor¬ ridorfenſter, — dann Lichter, Fackeln, Feuerbrände und — zwanzig Fäuſte zugleich in ſeiner Perücke, an ſeinem Kragen, an Arm und Bruſt! Dazu Fußtritte und Kolbenſtöße von allen Seiten!
„ Le voila! le voila! Hier haben wir die Canaille! Chien! cochon! Her mit dem Strick! Wo iſt der Profoß? Au diable le prêvot!
Sie hatten ihn in ihren Fäuſten, ſie hatten ihn unter ihren Füßen, ſie hatten ihn auf der Treppe und ſie hatten ihn im Hofe vor der Treppe, die zu der Thür des Kloſteramthauſes führte. Sie nahmen ihn durchaus nicht für eine bemalte Puppe aus Holz oder Stein, dieſe Gallier neueren Geſchlechtes. Sie tupften dieſen Marcus Papirius wahrlich nicht bloß mit der Spitze des Zeigefingers an, um ſich zu vergewiſſern, ob das Ding Leben in ſich habe oder nicht. Unter andern Umſtänden würden die luſtigen Franzoſen ſelber zuerſt über ſich und ihn gelacht haben: ſie hielten den ſchwarzen Alten wirklich für den ſchwarzen, jungen Sünder, der eben ihrem Sergeanten das Naſenbein eingeſchlagen hatte und ihnen mit der Mamſell Fegebanck durchge¬ gangen war. Im erſten Morgengrauen des Novembers und bei ſolchem Nebel war ihnen Alles, was in ge¬ lehrtem Schwarz ging, Hoſe wie Jacke. Und ſehr Vielen unter ihnen kam's überhaupt nicht drauf an, wen ſie hingen, wenn ſie nur Jemand hatten, den ſie aufhängen konnten.
Zwei aber nahmen ſie natürlich noch lieber als Einen, und ſo hatten ſie auch bereits den Herrn Kloſter¬ amtmann in den Klauen an der Vortreppe ſeines Amts¬ gebäudes unter dem Strick, den ſie vom nächſten Aſt der weiland alten Kloſterlinde auf ſeinen Nacken her¬ unterließen, während ſie ſein ſchreiend Weib und ſeine halbnackten Kinder auf der Treppe feſthielten oder vom Fenſter zuſehen ließen.
142„ Was hat der Herr mir angerichtet? “ſchrie der Amt¬ mann, nicht ohne einige Berechtigung, den Magiſter an. „ Weiß Er mir zu ſagen, was die Herren eigentlich von mir verlangen außer dem letzten Stück Brod, der letzten Kuh aus dem Stall und dem letzten Hemd vom Leibe? Messieurs, messieurs, demandez lui! Sakerment, ſo helfe der Herr Magiſter mir doch wenigſtens mit Seinem Franzöſiſch! Iſt das jetzt Zeit zum Maulaffen¬ reißen? Meine Herren, meine Herren, noch einen Augen¬ blick — öng Momang, öng Momang; — Magiſter Buchius, Magiſter Buchius, wem hat Er dieſe Nacht bei ſich beherberget, der uns dieſes zugerichtet hat? Er hat uns Dieſes aus Seinem Prodigium auf dem Odfelde zugetragen! Monsieur le capitaine noch einen Momang — Hand weg, barmherziger Herrgott! Wen hat Er dieſen Morgen in meiner Nichte, der nichtsnutzigen Gans Schlafkammer gehabt, Magiſter Buchius? “
Rom ſahe nimmer etwas Größeres von Mannes¬ trotz und Männerwürde als jetzo Amelungsborn ſah, und zwar am Magiſter Noah Buchius. Pädagogiſche Entrüſtung, herzliche Zuneigung und innige Bewunderung rangen in ſeiner braven Seele um den wackern Thedel Münchhauſen; aber nur einen kürzeſten Moment. Die Zeit drängte wahrlich! — ſchlimmer als das welſche Mord - und Raubgeſindel konnte ſie freilich nicht drängen.
„ Er hat immer in der Conferenz Alles auf ſich genommen! “murmelte der alte Schulmeiſter. „ Er hat143 niemals einen Andern verpetzet! er hat immer ſein eigen Fell zu Markte getragen! “ Und laut, ſo laut wie ſelten in ſeinem ſtillen Daſein, rief er: „ Ich weiß es nicht, was paſſiret iſt; aber ich nehme die Reſpon¬ ſabilität von Allem auf mich. “
„ Que dit-il? was ſagt er? “kreiſchte, brüllte es in jeder Tonart rund umher.
„ Er will'ſch geweſi ſi, der mit dem Menſch durch¬ gange iſch! Nehmet 'm d'r für! Der Ein iſcht ſo guet wie der Andere! “krächzte lachend ein elſaſſiſch Lager¬ weib. „ Dem Lump, dem Penderau, dem Kiſtenfeger, dem Môſieu Ribaudin, dem Cacqueteur, dem Vagabond da auf dem Stroh, dem Monſieur le Capitaine Ribaudin gönne ich ſchon ſein Theil; aber — hänget ſie Beide — hänget ſie alle Drei:
Sie fielen ſämmtlich im Chor ein — Alles was von Navarra, Salis, Boccard, Reding und ſo weiter dem Herrn von Rohan-Chabot gegen die Hube bei Einbeck nachzog — und wenn der Kloſteramtmann und der letzte wirkliche Magiſter von Amelungsborn jetzt am Strick aufgezogen worden wären, ſo würde das un¬ bedingt unter Polyhymnia's Begleitung geſchehen ſein, wenn auch nicht unter Begleitung der Muſe des durch Johann Heinrich Meyer gedruckten, privilegirten Braun¬ ſchweigiſchen Geſangbuchs.
144Aber es kam etwas dazwiſchen außer dem Sträuben und Sperren der zwei Patienten und dem Schreien und Wehklagen der Familie des Amtmanns. Nämlich zuerſt ein Ziegel, oder vielmehr eine „ Sollinger Dach¬ platte “vom oberſten Dachfirſt des Amtsgebäudes und darauf ein ganzer Regen von dergleichen um Be¬ ruhigung anſuchenden Wurfgeſchoſſen.
Wenn es nun aber regnet, verläuft ſich der Pöbel; das iſt wohl eine uralte Erfahrung, die aber nur da ſtichgültig iſt, wo eben der Herr in der Höhe ſeine beruhigende Hand aufthut und Waſſer herunterkommen läßt. Wirft aber ein dummer Junge aus der Boden¬ luke mit Dachſteinen in Nebel und halbe Nacht hinein und kräht dazu wie ein Hahn und ſchreiet: „ Vivat Herzog Ferdinand! Vivat Fridericus! Vivat Made¬ moiſell Selinde Fegebanck! Vivat der Magiſter Buchius! Pereat la France! Steigen Sie mir doch auf den Buckel, Meſſieurs! Ici, ici — Thierry le Temeraire, Thedel Unverfehrden von Münchhauſen! “ſo — hat das eine ganz andere Wirkung.
Die, welche die einzelnen Tropfen des Steinregens auf die Köpfe bekommen hatten, hielten ſie fluchend und heulend mit beiden Fäuſten, aber hatten nicht Raum ſich betäubt zu Boden zu legen. Im wüthenden Gewühl wurden ſie gegen das Amthaus mit gehoben, geſchoben, geriſſen. Ebenſo der Kloſteramtmann und ſein letzter pädagogiſcher Hausgenoſſe. Ein halb Dutzend Schüſſe wurde auf's Gerathewohl zum Dach hinauf abgefeuert. 145Es hing itzo an Einem Haar, ob Ein Tiſch und Ein Stuhl in Kloſter Amelungsborn heil, ob Eine Mauer von Kloſter Amelungsborn aufrecht erhalten bleibe. Was der letzte Schüler der weiland großen Schule daſelbſt dazu thun konnte, daß jetzt Alles ruinirt wurde, das hatte er redlich beſorgt. Da würde er wohl zum erſten¬ mal in ſeinem Leben in's Teſtimonium die erſte Nummer vom Prior-Rektor, dem geſammten Lehrerconvent, — den heiligen Bernhard von Clairvaux eingeſchloſſen — ſich verdienet haben.
Aber unſer Herr Gott, Ihm ſei Dank, läßt nicht Alles in der Hand und Willkür der Unbedachtſamkeit. Er behält ſich immer die oberſte Hand vor und hat nicht bloß den Platzregen als einziges beruhigendes Spezificum darin, wann er ſie öffnet über irgend einem Tumult, einer Wütherei der nach ſeinem Bilde Er¬ ſchaffenen.
Um dießmal Amelungsborn aus der Hand der Kinder und der Thoren zu erretten, bediente er ſich einfach der Kanonen der hohen Alliirten des Königs Friedrich von Preußen, der Artillerie de Bückebourg und der Artillerie de la Brigade Beckwith, welche pünktlich zu vorgeſchriebener Stunde zwiſchen Holtenſen und Wenzen ihr Feuer auf den General Chabot und den Marquis von Poyanne eröffneten, um ſie dem Obriſtlieutenant von Hardenberg in die Fänge zu treiben, wenn auch der pünktlich war.
Es kracht dort tüchtig in den Bergen ſowohl Ge¬Raabe, Das Odfeld. 10146witterdonner wie Kanonendonner. Für die Mord - und Raubbande auf dem Kloſteramtshofe war das Gekrach vom Ith wie ein neuer Stein; aber dießmal wie ein Stein in einen Spatzenhaufen.
„ L'ennemi, l'ennemi! Der Feind, der Feind! Les Prussiens, les Prussiens! Les Anglais, les Anglais! Le duc Ferdinand! “
Die wüſte Menſchenwelle, die ſich eben gegen das Haus gewälzt hatte, und über den Magiſter Buchius und den Herrn Amtmann, ohne ſich um ihre Knochen zu kümmern, weggegangen war, ſchlug jetzt zurück. Im paniſchen Schrecken ſtürzte alles Kriegsdiebsgeſindel, mit ſich ſchleppend, was es in der Morgendämmerung und Haſt gegriffen hatte, aus allen Thüren, und wälzte ſich, wiederum über die beiden zu Boden liegenden Herren weg, gegen das Hof - und Kloſterthor.
Binnen fünf Minuten war Amelungsborn rein von ihm, bis auf den, vom Fauſtſchlag Thedels von Münch¬ hauſen immer noch beſinnungslos auf dem Stroh liegenden Korporal oder Sergeanten Ribaudin. Alſo ſo frei von Einquartirung als das an einem Tage wie dieſer und an einer ſo nahe beim Schlachtfelde gelegenen Wohnſtätte nur irgend der Fall ſein konnte!
Neuer Trommelſchlag in nicht zu weiter Ferne kündete bereits den Vor - und Vorbei-Marſch anderer Truppen des Königs Ludwigs des Fünfzehnten und der Frau Marquiſe von Pompadour an; doch der Kloſteramtmann benutzte die kurze Friſt ſeiner Allein¬147 herrſchung in Amelungsborn ſo gut als möglich, wenn freilich auch ſo unzurechnungsfähig als möglich.
Sie hatten ſich natürlich wieder aufgerappelt vom zerſtampften naſſen Boden, ſowohl der Amtmann wie der Magiſter. Der Erſtere befand ſich in den Armen von Weib und Kind, der Zweite griff ſich an den Hals, weniger um die Binde als um den franzöſiſchen Strick, der ſich ſo bedenklich darum zuſammengezogen hatte, zu lockern. Er löſte die infame Schleife und hob ſie über den Kopf, um ſie mit einem Dankgebet gegen den Herrn der Heerſchaaren ſo weit als möglich von ſich zu ſchleudern, als — er plötzlich ſeine Hand gepackt und den heißen, zornigen, wüthenden Athem ſeines widerwilligen Hospes dicht vor ſeinem Geſichte fühlte. Der Nebel geſtattete jetzo kaum noch auf zwei Schritte weit, einem Nebenmenſchen Zärtlichkeit oder Grimm aus den Augen abzuleſen und dem einen wie dem andern in der richtigen Weiſe mit dem Herzen oder der Gallen¬ blaſe, mit den geöffneten Armen oder mit der Fauſt entgegen zu kommen.
„ Herr, “ſchrie der ſeiner Zeiten Noth völlig unter¬ liegende, völlig unterlegene Kloſteramtmann von Ame¬ lungsborn, aus den Armen von Weib und Kind ſich losmachend, den letzten wirklichen Kollaborator der großen Schule von Amelungsborn an. „ Herr, Er iſt es, der mir als ſchwarzer Unglücksrabe auf dem Dach unter meinem Dache ſitzt. Er iſt's, den mir der Satan als Spuk bei Tage und bei Nacht aufgeladen hat! Was10 *148hat Herzogliche Kammer und Domänenverwaltung noch mit Ihm in Amelungsborn zu ſchaffen? Was muß ich mit Ihm mir meinen Tod an den Hals füttern? Was muß ich mit Ihm mir mein tagtäglich Verderb¬ niß weiter füttern? Hinaus mit Ihm! Lüge Er es doch ab auf griechiſch oder lateiniſch: hat Er mir nicht etwa geſtern Abend dieſen ſaubern Morgen im Taſchen¬ tuch in den Hof getragen? Und mit dem giftigen ſchwarzen Galgenvogel den dreidoppelten Galgenvogel, den Musjeh, den Junker von Münchhauſen? Hinaus mit Ihm, Magiſter Buchius! Mit dem für Ihn ſtipulirten Mittagsbrod wird's heute wohl nichts werden können: alſo grabe Er draußen wieder nach Knochen, äſe Er meinetwegen auf ſeinem Teufelsfelde, freſſe Er ſich voll auf dem Odfelde! Hinaus mit Ihm! wenn Sein Tiſch wieder gedeckt iſt in Amelungsborn, werd 'ich's dem Herrn Magiſter und Herzoglicher Kammer ſchon zu wiſſen thun. “
Trotz aller Bedrängniß vorhin hatte Magiſter Buchius ſein hiſpaniſch Rohr nicht fahren laſſen. Er hielt es auch jetzt im Nebel auf der Landſtraße vor dem ein¬ geſtoßenen Kloſterthor in der Hand, und wohl mancher Andere an ſeiner Stelle würde wenigſtens den Verſuch gemacht haben, es auf dem Buckel tanzen zu laſſen, auf welchen es nach eben erfahrener ſchlechter, unge¬ rechter und ſinnloſer Behandlung hingehörte. Aber da¬ nach war er leider nicht der Mann; auch ſeine Schüler hatten ſich nimmer vor ſeinem Bakel zu fürchten gehabt. Von irgend welchem Unrecht, ſo ihm im Leben geſchah, kam ihm die genaue Empfindung erſt nach genauerer Ueberlegung. Ja, wochenlang, mondenlang hatte er ſich in ſolchen Fällen über die Frage abzuquälen und abzu¬ ängſten: ob das Unrecht nicht auf ſeiner Seite liege und er alſo den Lohn dafür in Geduld hinnehmen müſſe?
Dieſes that dem Faktum, daß er ein tapferer Mann, ein ſeiner gelehrten römiſchen und griechiſchen Ahnen gar würdiger Mann war, nicht den mindeſten Abbruch. 150Er bleibt deshalb doch dießmal unſer Held — unſer Heros, und wir kennen unter unſeren lebenden Bekannten nicht Viele, mit denen wir lieber betäubt, verwirrt, un¬ fähig zu begreifen, uns zu faſſen im Kreiſe taumelten und — wieder feſt auf die Füße gelangten. Wir greifen mit ihm nach dem Hut, den ihm, wie im äußerſten Bedürfniß, nichts von ihm in ſeinem Hof - und Haus¬ bezirk bei ſich zu behalten, der Kloſteramtmann von Amelungsborn vermittelſt ſeines beſtiefelten Fußes in der wirklichen Unzurechnungsfähigkeit aus der Thür auf die Landſtraße nachſchickt; und wir drücken ihn uns mit ihm auf die zerzauſte Perücke und — ſuchen uns mit dem Magiſter zu faſſen.
Mitten im dickſten Weſer - und Weſer-Berg-Nebel und im Schlachtenlärm des Herzogs Ferdinand und des Herzogs von Broglio auf der ganzen Linie von der Hube bis zum Hils und vom Hils bis zur Weſer!
Die dortige Feldmark von heute iſt wohl nicht mit der vom Jahre 1761 zu vergleichen. Es war damals noch mehr Baum und Buſch ſowohl vom Solling wie vom Weſerwald übrig als wie jetzt. Auch die Wege waren andere und liefen anders. Was man heute Chauſſee nennt, war damals die Heerſtraße des ſiebenjährigen Krieges, auf der Jedermann marſchirte, ritt, fuhr und ſtecken blieb, wie die Gelegenheit es gab. So ein Weg aus jener Zeit nahm oft die zehnfache Breite des jetzigen Straßenkörpers ein. Weithin über die Felder gingen die Gleiſen und Fußtapfen. Was frei Feld und was151 die öffentliche Heerſtraße ſei, das war manchem armen Bauer, adeligen Grundbeſitzer und auch manch 'einer fürſtlichen Kammer nicht unterſcheidbar. Wie er ging, ſtolperte, taumelte, war zuerſt auch dem betäubten alten Schulmeiſter ununterſcheidbar. Er ging in ellentiefen Wagenſpuren, er ſtolperte über abgelaufene Räder und Pferdekadaver, er fühlte Stoppelacker und Brachland unter ſeinen Füßen. Er gerieth in Sumpf und Moor und in den Buſch und taſtete ſich durch die gelbgraue Finſterniß weiter, ohne zu wiſſen, warum und wohin. Und er befand ſich nicht allein im Nebel. Die Gegend war ſo belebt wie's nur an einem ſolchen Gefechtstage möglich. Spukhafte Geſtalten — vereinzelt und zu Haufen überall! Wildes Geſchrei, Geheul, Jauchzen bald in der Nähe, bald aus weiter Ferne. Und dazu vom Ith her das immer heftiger werdende Kanonen¬ feuer Mylord Granby's und des Herrn Marquis von Poyanne.
„ Was würden Profeſſor Gottſched ſagen und hiezu thun? “....
Es iſt eine hiſtoriſche Thatſache und durch die deutſche Litteraturgeſchichte zu jenes Mannes ewigen Ehren beglaubigt, daß Magiſter Buchius, der letzte Kollaborator der wirklichen großen Schule von Kloſter Amelungsborn auf die Anſichten und Meinungen des Leipziger Kollegen ein Großes mit Recht hielt.
Aber es kam keine Antwort von Leipzig. Und aus der Welt der Klaſſiker auch nicht. Kein Ver¬152 bannter, von dem die Alten reden, war je in ſolcher Weiſe und unter ſolchen Umſtänden vor die Thür ge¬ ſetzet worden, wie er — der Magiſter Buchius!
Er war ſo ſehr im Kreiſe gedreht worden, und der Nebel war ſo dick, daß er, der jetzt in's Elend Getriebene, nicht einmal mehr wußte, wohin er ſich zu wenden habe, um, wenn er wollte, auf Umwegen, ſeinen Winkel unterm Dache, die Zelle des Bruders Philemon wiederzugewinnen. Er hätte ſich nach dem Kanonen¬ donner richten können; aber der brach ſich eben ſo viel¬ fach an den Bergwänden wie innerhalb der Wände ſeiner Hirnſchale. Der Lärm war hinter ihm, vor ihm, über ihm und in ihm.
„ Der Herr Profeſſor würden den Herrn Amtmann wohl als einen todten Leichnam zu Ihren Füßen zu¬ rückgelaſſen haben, “ſagte Magiſter Buchius, für's Erſte auf's Gerathewohl fürbaß ſchwankend. „ Und zu den Füßen der Frau Amtmännin — “
In dieſem Augenblick ſchlug eine Glocke hinter ihm. Seine Glocke! Die Thurmglocke des weiland Kloſters und der großen Schule Amelungsborn, die er geſtern noch aufgezogen hatte, und die allein richtig ging am hieſigen Ort in dieſen Zeiten der Unrichtigkeit, des Un¬ rechts und der Ungerechtigkeit.
Sechs Uhr!
Sie Alle — zwiſchen der Weſer und der Hube — hatten den Tag noch vor ſich; Die nämlich, ſo um dieſe Stunde nach begonnener Bataille noch nicht ganz auf153 ihn verzichtet hatten, das heißt denen noch nicht das Lebenslicht ausgeblaſen war.
Der Magiſter Buchius wußte durch den Glocken¬ ſchlag jetzt wenigſtens wieder, wo Amelungsborn lag und nach welcher Himmelsgegend hin er auf irgend einer Hintertreppe auch ſeine Zelle wahrſcheinlich wieder erreichen konnte. Aber er wandte ſich nicht; er wen¬ dete ſich nicht nach dem Südweſten zurück. Er fühlte ſich in dieſem Moment wahrlich nicht der Welt ge¬ wachſen wie der tapfere Profeſſor Gottſched dem böſen Magiſter Leſſing.
Er war dem Weinen nahe — der gute alte Herr, der den böſeſten ſeiner Quintaner nicht hatte weinen ſehen können. Sich im ziehenden Qualm bei währender Schlacht unter einen triefenden kahlen Dornbuſch zu ſetzen, den greiſen Kopf auf die Kniee zu legen, die Arme um die Kniee zu ſchlingen und auf alles Nach¬ eifern hoher Exempla von menſchlicher Fortitudo Ver¬ zicht zu thun: das war's, was ihm um dieſe Stunde als das einzig ihm Uebriggebliebene erſchien.
Ach, hätte er nur eine Ahnung davon gehabt, daß um dieſelbige Stunden auf den Höhen des Iths über dem Kanonenfeuer des Bückeburgers und des Colonels Beckwith der große Kriegesfürſt, der zweite große blutige Feldherr des ſiebenjährigen Krieges, der gute Herzog Ferdinand von Braunſchweig-Lüneburg ganz in der nämlichen Stimmung war. Nämlich in der Er¬ wartung, daß wieder einmal Alles vergeblich ſei und154 das Feld vor ihm wieder mal umſonſt ſich mit Leich¬ namen bedecke! in der feſten Vorausſicht, daß mit den Pontons bei Bodenwerder ein Malheur paſſiret ſei und Generallieutenant Hardenberg nicht zur rechten Stunde kommen werde, um den Sack um den General Rohan - Chabot, den Marquis von Poyanne und ihre zwanzig¬ tauſend Mann bei Stadtoldendorf zuzuziehen, den Her¬ zog von Broglio auf der Hube bei Einbeck rettungslos dem Erbprinzen Karl Wilhelm Ferdinand zu über¬ liefern und dem: Venons à cinquante cinq-cents! für dießmal wenigſtens gründlich ein Ende zu machen.
Wie der Magiſter Buchius horchte der Herzog Fer¬ dinand nach dem Südweſten; aber nicht der Kirchuhr von Amelungsborn wegen.
„ Wo bleibt Hardenberg? Hardenberg? Man müßte ihn längſt vernehmen, den Herrn Generallieutenant! “...
„ Nun Herr, wes ſoll ich mich tröſten? Ich hoffe auf Dich! “ſeufzte der Magiſter mit dem Pſalmiſten. „ Höre mein Gebet, Herr, und vernimm mein Schreien, und ſchweige nicht über meinen Thränen; denn ich bin Beides, Dein Pilgrim und Dein Bürger, wie alle meine Väter! Ich bin hinausgetrieben, und es nützet nichts, daß ich heimkehre und mein Kämmerlein ſuche. Sie werden es ſchon ausgekehret und den Greuel der Ver¬ wüſtung darinnen angerichtet haben. Ja, ja, wie es geſchrieben ſteht im Neununddreißigſten: ſie ſammeln und wiſſen nicht, wer es kriegen wird! Di immortales,155 ſie werden Alles jetzt ſchon als eitel Plunder geachtet und ihren Muthwillen damit getrieben haben. Sie werden auch den Knaben vom Dach geſtürzet haben und über ſeinen Leichnam weggetreten ſein. Jawohl, ein Pſalm Davids und vorzuſingen für Jeduthun: Mein Herz iſt entbrannt in meinem Leibe, und wenn ich daran gedenke, werde ich entzündet; ich rede mit meiner Zunge! “...
„ Lieber Weſtphalen, Hardenberg kommt nicht zu ver¬ abredeter Zeit! Die Herren von Poyanne, Chabot und Stainville werden commode Zeit haben, über Vorwohle ſich zu reployiren! “
„ So werden wir doch mit Eurer Durchlaucht gnä¬ digſter Erlaubniß zum allerwenigſten der Herren Ver¬ einigung mit dem Herrn Marſchall bei Einbeck verhin¬ dern, “tröſtete der getreue Begleiter.
„ Ihr Weg müſſe finſter und ſchlüpfrig werden, “citirte Magiſter Buchius von Neuem den Pſalmiſten, vor einem neuen Geſchrei, Geheul und Kriegsgezeter hinter ihm, im Nebel ſich in einem andern Buſch ver¬ wickelnd. „ Der Engel des Herrn verfolge ſie; denn ſie haben mir ohne Urſach geſtellet ihre Netze zu ver¬ derben — “
In demſelbigen Augenblick glitt er auf etwas Weich¬ lichem aus, das nicht regenfeuchter Stoppelacker, Gras¬ narbe oder Sumpf - und Moorgrund war. Er griff in das Gebüſch, um ſich aufrecht zu erhalten und faßte etwas, das in ſeiner Hand blieb. Er hielt einen todten156 Raben in der Fauſt, der, aus den Lüften niederſtürzend, im Gezweig hängen geblieben war; und als er ſich bückte, ſah er, daß er auf einen andern entſeelten Kämpfer aus der Schlacht vom geſtrigen Abend ge¬ treten war.
Portentum! Portentum! So dicht der Nebel ſein mochte, der an dieſem fünften November Siebenzehn¬ hunderteinundſechzig die Berge und Thäler an der Weſer erfüllte, — der Magiſter Buchius wußte jetzt wieder ganz genau, wo er ſtand — zerzauſt, geſchlagen, athem¬ los, ein heimathloſer, freundloſer alter Schulmeiſter. Auf ſeinem Campus Odini, ſeinem Wodansfelde — auf dem Odfelde ſtand er, während über den Quadhagen, das böſe Gehäge her das Kleingewehrfeuer und der Kanonendonner von Frankreich, Großbritannien und der zu König Fritzen haltenden deutſchen Völkerſchaften in die graue Finſterniß hinein knatterte und krachte.
„ Sie werden ihm längſt die Fenſter eingeſchlagen haben, ſonſt ſtieße er ſich den Kopf ein an den Scheiben! “ächzte Magiſter Buchius mit dem Vogelleichnam in der Hand, ſelbſtverſtändlich jetzt zuerſt an ſeinen in ſeiner Zelle eingeſperrten Schützling und Gaſtfreund aus dem geſtrigen Kampfe denkend.
„ Portentum! Prodigium! Große Farren haben mich umgeben, fette Ochſen haben mich umringet; ihren Rachen ſperren ſie auf wider mich, ein brüllender und reißender Löwe, “ſagte der Magiſter. „ Ich will's abwarten, wie Alle rundum es abwarten müſſen, wie's157 kommen ſoll, “ſagte er. „ Wir können nur erleben was Du willſt, Herr Zebaoth, Herr der Heerſchaaren! “
Da — jetzt — wenn er nur dem Weinen nahe geweſen war, klang jetzt — hier ein wirkliches ernſtge¬ meintes Weinen, mit dem auch der Herzog Ferdinand und ſein Generalſtab nur mittelbar zu thun hatten, an ſein Ohr. Und dazu die wehklagenden Worte:
„ Ach Heinrich, Heinrich, ſo ſage doch nur noch einmal ein allereinzigſtes Wort zu mir! Kannſt Du Dich denn auf gar nichts mehr zu meinem Troſte beſinnen? O Jeſus Chriſtus, das iſt ja ſchlimmer, als wenn wir Beide gleich im Kloſter in ihrer Gewalt zu Tode gekommen wären! “......
Der Magiſter hatte nur fünf oder zehn Schritte in den Nebel und Dampf hinein zu thun, um zu er¬ kunden, wer da ſo jammervoll wimmere und ſeiner Angſt und Noth Luft mache. Aber er hatte das kaum nöthig. Die Stimme war ihm bekannt genug; geſtern Abend hatte er ſie noch auf ſeiner Stube gehört, vor dem Kreideſtrich auf ſeinem Tiſche, der den Lauf der Weſer zwiſchen den Heereshaufen der hohen Krieg¬ führenden bedeuten ſollte. Er that die paar Schritte raſch, wobei er den Kämpfer von geſtern Abend, den er bis jetzt noch immer in der Hand gehalten hatte, zu den übrigen weithin den Boden bedeckenden glor¬ reich gefallenen Kameraden warf. Und er faltete die Hände über dem Stockknopf vor der kläglichen Gruppe und rief:
158„ O Wieſchen, biſt Du es denn auch? Ihr Beide ſeid's? Jawohl, jawohl, ich weiß ſchon! ich ſehe, ich ſehe ſchon! O Wieſchen, hat er denn ſein Leben für Dich dran geſetzt? “
Das arme Mädchen, ein gut oder vielmehr ſchlimmer Theil zerzauſter als Mamſell Selinde von den Griffen von Navarra, Salis, Boccard und Reding, lag da im feuchten Moor auf den Knieen, den blutigen Kopf des Knechtes Heinrich Schelze im Schooße. Beim mitleids¬ vollen Anruf des alten Herrn ſtieß ſie einen Freuden¬ ſchrei aus:
„ Heinrich! Heinrich! der Herr Magiſter! Um Gott und Jeſu Willen, Heinrich, der Herr Magiſter, den uns der liebe Gott zu Hülfe ſchickt! So beſinne Dich doch noch ein einzigſtes Mal auf Dich und mich, Heinrich! Hier iſt ja auch der Herr Magiſter Buchius,[im] Katt¬ hagen vom liebſten Herrgott in der Höhe zu uns ge¬ ſendet. Herr Magiſter, ja, er hat mich aus der ſchlechten Menſchen Händen geriſſen, und ſie haben auf uns eingeſchlagen und geſchoſſen, und er hat mich auf den Armen getragen, und ich habe ihn getragen als er umgefallen iſt auf dem Felde im Nebel, und nun kömmt er mir um in den Armen und kann ſich auf nichts mehr beſinnen! “
Der verwundete Knecht ſtöhnte ſchwer in den Armen ſeines Schatzes; aber unter dem Zuruf des Mädchens und bei der Namensnennung beſann er ſich doch noch einmal. Er verſuchte es, ſich aufzurichten,[die blutigen]159 Haare aus der Stirn ſtreichend. Er verſuchte es ſogar zu grinſen:
„ Sieht Er, da ſind wir doch auf dem Wege zum Herzog Ferdinand, Herr Magiſter! Mit allen Ehren noch an uns. Aber von blutigen Platten und zer¬ ſchlagenen Knochen ſchwanete mir gleich ſo was, als Er uns ſein ſchwarzes Unthier auf den Hof trug. “
Er lachte und ſtöhnte wieder und verlor von Neuem die Beſinnung. Magiſter Buchius hatte das, was dieſem armen Volk unter dem fremden Volk in einem andern Theil des Kloſters Amelungsborn paſſirt war, während man ihm ſelber den Strick um den Hals legte, ſo deutlich vor ſich, als — ob er's beim Iburgiſchen Schloßprediger Kampf gedruckt geleſen habe.
„ Ich habe ihn auf dem Buckel bis hierher geſchleppt auf's Odfeld und habe ſelber dabei faſt nichts von mir gewußt, “ſchluchzte das Mädchen. „ Der liebe Gott hat uns in ſeinen Rauch wie in einen Mantel genommen. Nun wacht er, und dann weiß er wieder nichts von ſich und wir müſſen nun hier doch eingehen, alle Beide, er in ſeinem Blute und ich in meiner höchſten Noth! “
„ Das verhüte der Himmel! “rief der Magiſter ſeinerſeits unter den todten Streitern der Rabenſchlacht auf dem Odfelde niederknieend und den Dickſchädel Heinrich Schelze's zwiſchen ſeine hagern, harten und doch milden Schulmeiſtertatzen nehmend.
„ Eine Miſtgabel gegen ein Dutzend Flintenkolben, juchhe! “murmelte der Knecht. „ Ein paar von den160 franſchen Hunden ſollen doch ihre Kaldaunen jetzt zu Kloſter Amelungsborn zuſammenſuchen. Frage Er nur Wieſchen, Herr Magiſter! Es wäre ja wohl Alles gut gegangen, und wir wären ſchon beim guten Herzog Ferdinand, wenn's mir nicht auf einmal ſo ſchwarz vom Nebel vor den Augen geworden wäre. Nicht wahr, Wieſchen? “
„ Ach Gott, das iſt ja nun der Krieg, Heinrich, in welchen Du immer hinein wollteſt aus dem Pferdeſtall und mich zur Staatsmadam machen. Nun haben wir's, nun haſt Du es; und unſere einzige Hülfe und Rettung bleibt wieder nur der Herr Magiſter! “
„ Loiſia, rede Sie nicht ſo, “ſprach Magiſter Buchius.
„ O Gott, Gott, nein, ich bin ja nur noch mehr ohne Beſinnung als mein Heinrich, Herr Magiſter. Ich weiß es ja wohl, daß er nur um meinetwillen ſo hier liegt! O Heinrich, Heinrich, wenn Du bloß davon kämeſt und es mich nicht entgelten laſſen wollteſt, was ich in meiner Dummheit rede, ſo wollte ich ja immer noch meinem Herrgott für ſeinen Schutz und Schirm danken! “
„ Wenn wir ein Unterkommen für ihn hätten, ſo ſollte dieſes wenig bedeuten, “ſprach Magiſter Buchius von ſeiner genauern Betaſtung des niederſächſiſchen Dick¬ ſchädels vor ihm ſich wieder emporrichtend und im Weſer¬ nebel nach allen Seiten ſich umſehend.
Wir haben eben hievon erzählt wie von einem Ge¬ ſpräch zwiſchen Zweien und Dreien; aber dem war nicht ſo für Die, welche damals ihren Jammer gegen einander austauſchten durch Wort, Thränen und Seufzer. Der ganze große Krieg redete mit hinein und zwar von Augenblick zu Augenblick grimmiger. Daß man nicht auf ſechs Schritte weit ſich auf ſeine leiblichen Augen verlaſſen konnte, das machte die Sache nicht be¬ ruhigender.
Es kam eine verirrte Geſchützkugel und ſchlug einen Aſt über dem Wieſchen, dem Herrn Magiſter Buchius und dem Knecht Heinrich von einem Eichbaum. Die Feldherren mußten es wohl wiſſen, wie ſie ihre Truppen durch das Grau vorwärts ſchickten. Die hohen Alliirten und Frankreich waren auch im dickſten Nebel dicht aneinander. Wer zwiſchen ihnen ungefährdet durchkam, hatte wohl von noch größerm Glück zu ſagen, als wer bloß aus der Rappuſe in Kloſter Amelungsborn ſich in's freie Feld rettete. Die Kugeln, die ſich verirren,Raabe, Das Odfeld. 11162können die klügſten Könige und Feldmarſchälle nicht mitzählen in ihren ſtrategiſchen Berechnungen.
Das zerſchmetterte Gezweig praſſelte nieder auf die rathloſe Gruppe, die Jungfer ſchrie und duckte ſich, dem Knecht Heinrich war's einerlei, und der Magiſter ſah nur einen kürzeſten Moment aufwärts zum Zeus, dem Wolkenverſammler. Er ſah ſofort wieder um, der Magiſter Buchius. Sie waren noch nicht Alle bei ein¬ ander, die ſich an dieſem fünften November vom Kloſter Amelungsborn aus auf dem Odfelde zuſammenfinden ſollten; doch die Letzten kamen eben, und zwar ſpuk¬ hafter wie ſonſt was an dieſem Morgen für den Ma¬ giſter. Nämlich auf weißem Roß, wie aus der Apo¬ kalypſe heraus im Qualm des Erduntergangs: „ Jeſes, den Herrn Amtmann ſein Schimmel! “rief Wieſchen. „ Der Junker von Münchhauſen — und — Mamſell Fegebanck, “ſtammelte Magiſter Buchius, als der wilde Thedel wirklich des Kloſteramtmanns letztes in den Knochen zuſammenhängendes Reitpferd dicht vor den Drei unter der Eiche des Odfeldes parirte und noch mit ſeiner Begleiterin von den abgeſchlagnen Aeſten und Zweigen überſchüttet wurde.
Hoch vom keuchenden Gaul, vor ſich auf dem Sattel die ſchöne aber ſchwere Laſt feſter mit dem linken Arm umfaſſend, deutete der tolle Junge nach der Rich¬ tung des donnernden Iths:
Der Jungfer Selinde durfte es in Wahrheit ſo vorkommen, als ſei ihr Morgentraum noch nicht zu Ende; deſſenungeachtet glitt ſie, ſobald das abgehetzte Thier unter ihr es geſtattete, aus den Armen ihres Cavaliers und „ Erretters “auf feſten Boden nieder:
„ Sind es der Herr Magiſter, ſo erretten Sie mich! “kreiſchte ſie, ihrerſeits jetzt den alten Schulmeiſter um¬ klammernd. „ Er iſt ein Narr, er iſt verrückt, er iſt toll! Er hat mich aufgehoben und hin und her geriſſen, durch den Feind, Trepp ab und Trepp auf bis auf's Dach und durch den Keller. Er hat mich verrückt und toll gemacht; nicht einen Augenblick zur Beſinnung hat er mir gelaſſen. Er hat mich ohnmächtig auf den alten Hans gehoben, und hier ſind wir, und die Welt geht unter! O Gott und Jeſu, es wird ja immer ſchlimmer mit dem Spektakel! und nun ſind wir erſt recht mitten unter ihnen, da wir uns aus ihnen herausretten wollten! Münchhauſen, den Dienſt vergeſſe ich Ihm mein Leb¬ tage nicht! “
„ Bis in den Tod vergeſſe auch ich dieſe Fortune nicht, Allerſchönſte, “jauchzte der Schüler, ſich gleichfalls aus dem Sattel ſchwingend. „ Nun mag ja das Uni¬ verſum zuſammenbrechen, Mademoiſelle Selinde; ich bin im himmliſchen Gewölk geſchwommen und kann jeden Augenblick ſelig ſterben, Allerſüßeſte. “
„ Der unverſchämteſte Peter iſt er auch jetzt geweſen! 11*164Es giebt gar keinen andern Solchen! O ſolch 'ein Gelb¬ ſchnabel — “
„ Und letzter wirklicher Primaner der großen Wald - und Wild-Schule Amelungsborn, “lachte der tolle Thedel, ſeinem alten letzten wirklichen Lehrer die Hand ſchüt¬ telnd. „ Dießmal müſſen mich der Herr Magiſter doch auch darin loben, daß man Haus -, Hof - und Stall¬ gelegenheit zu Kloſter Amelungsborn gekannt hat. Ja, wer eben nicht Beſcheid gewußt hätte mit Thüren und Treppen, mit Schlöſſern und Riegeln, mit jedwedem Katerſtieg des heiligen Herrn Bernhard's von Clair¬ vaux. Nicht wahr, meine Königin, es ging um Alles, was wir bei uns trugen? “
„ Er iſt verrückt! er iſt toll! und er hat mich auch toll und verrückt gemacht, Magiſter Buchius. Und wo ſind wir jetzo in Sicherheit mit Leib und Leben? Man ſieht keine Hand vor Augen, und die Bataille iſt über uns und um uns toller als zu Hauſe im Kloſter. O Jeſus, das Gepolter! “
„ Auf dem Campus Odini, auf dem Odfelde ſind wir, Mademoiſelle, und freilich, wie es ſcheinet, mitten in der Schlacht des Herrn Herzogs Ferdinand und des Herrn Herzogs von Broglio; und da iſt das Wieſchen aus Amelungsborn, das ſeinen Schatz auf dem Rücken bis hierher in die jetzige Sicherheit getragen hat. “
Mademoiſelle Selinde war noch viel zu ſehr in ihre eigene Noth verſunken, als daß ſie auf die Anderer hätte merken können; aber Thedel von Münchhauſen165 kniete bereits bei dem Wieſchen und dem Knecht Heinrich:
„ Kerl, was für Unſinn hat denn Er angeſtiftet? “
„ Es iſt wohl nicht die erſte Schmarre, die wir uns in Compagnie holen, Herr von Münchhauſen, “ächzte der Knecht, ſich auf dem Ellbogen emporrichtend. „ Aber ſo wie heute doch noch niemalen früher. “
„ Hat Er Seinen Reſt weg, Heinrich? “fragte der Junker mit wirklicher Theilnahme und Beſorgniß. „ Er will mir doch nicht heute, im beſten Pläſir, eine Dumm¬ heit machen? “
„ Schaffen der Junker mich auf's Heu hinterm Pferde¬ ſtall wie ſonſten und ich lecke mir die Bleſſur ſchon zurechte; aber — heute — dießmal — “
„ Na, Seinen Hirnſchädel kenne ich doch wohl auch ein bißchen, “meinte der gute Kamerad aus früherer Schul - und Wilddiebs-Zeit. „ Er verträgt ſchon einen Puff, Heinrich. “
„ Sich von ſeinem Mädchen auf dem Buckel durch den Tumult und durch's Dickicht ſchleppen laſſen müſſen! “ächzte der Knecht halb kläglich, halb wüthend. „ O ver¬ flucht, junger Herr; Sie haben es wieder beſſer gemacht. O verflucht! verflucht! das lächert mich doch — das mit des Alten weißem Hans. Der wird auch hinter Ihm her wieder Augen gemacht haben, Junker, wann er Ihn mit ihm und der Jungfer hat abfahren ſehen! O ver¬ flucht, verflucht, verflucht. “
„ Siehſt Du wohl, Heinrich, biſt ja noch ganz hübſch bei Beſinnung; nun nimm Dich aber noch ein bißchen166 mehr zuſammen. Der Herr Magiſter tritt von einem Fuß auf den andern, und die Damen können wir auch hier nicht im offenen Feld präſentiren zwiſchen Freund und Feind, wenn der Nebel fällt. “
„ Und er liegt auch bloß hier auf dem Odfelde wie durch Gottes gütige Vorſicht für uns! “rief Magiſter Buchius. „ An den Ithbergen iſt's klar! dort guckt ſchon die Homburg herüber, da der Kohlenberg! da iſt der Vogler! mons Fugleri! Wir tappen noch im Dunkel; aber der Herzog Ferdinand muß doch ſchon längſt wiſſen, wohin er ſein ſchwer Geſchütz und klein Gewehr zu dirigiren hat. Der feuert nicht in's Blinde. “
„ Aber er zieht mit ſeinem Canon auch uns die Nebelkappe ab, “ſagte Thedel. „ Wir müſſen fort und in den Wald wo er am dickſten iſt. Probire Er's, Heinrich: ob Er's per pedibus präſtiret. “
„ Ziehe Er mich auf, Junker. Die Hand beſſer in den Rücken, Wieſchen. Kotz, Kreutz, Donner und Blitz! Uh, uh jah! ... Nein es präſtirt ſich noch nicht, junger Herr. Wieſchen lege den unnützen Sack wieder hin! Es muß auch mir wohl geſtern Abend mein Eingehen hier auf dem Odfeld von dem Rabenvieh prophezeiet ſein. “
Es ſchien ihm von Neuem ſchwarz vor den Augen zu werden. Einige Augenblicke ſtanden die drei Andern ganz rathlos, der Magiſter noch immer angſthaft von Mamſell Selinde umklammert.
Doch der Verwundete ſtrich ſich von Neuem die blutverklebten Haare zurück.
167„ Ich hab Ihm auch ſchon manchen Gefallen gethan, Herr von Münchhauſen, nun thu 'Er mir auch einen. Laſſe Er mir mein Mädchen nicht hier zurück. Herr Magiſter, erbarme Er ſich meiner, laſſe Er mir mein Mädchen, mein Wieſchen nicht auch hier unter den Rabenäſern verkommen — “
„ Wir bleiben Alle beieinander, Schelze. “
„ Nein, nein, ihr Herren! um Gott und Jeſus nicht! Es liegen da drüben hinterm Pfuhl wohl noch Einige unverſcharrt vom Sommer her; — ſo laſſet mich jetzt auch hier und grabt mich nachher unter, wenn Ihr mit meinem Wieſchen glücklich aus dem Elend herauskommt. Es geht nichts verloren an mir; das weiß das ganze Kloſter. O Herren, heben Sie beide Jungfern auf des Herrn Amtmanns Schimmel und kriechen Sie unter im Wald, im tiefſten Dickicht, und laſſen Sie mich hier; ich bin keinem Menſchen mehr nütze und ſelbſt meinen herzlieben Schatz nicht. “
„ O Heinrich, Heinrich, kein Menſch und kein König ſoll mich mit Güte oder eiſernen Zangen von Dir los¬ brechen! “
Jetzt machte ſich der Magiſter Buchius doch aus der Umarmung von des Amtmanns Vetterstochter los. Er trat her in einer Gloria, von der er ſelber am wenigſten wußte.
Was er in den Gaſſen von Helmſtedt niemals ge¬ rufen hatte, das rief er jetzo.
„ Burſche heraus! “
168Es kam über ihn wie ein Taumel, eine begeiſterte Trunkenheit. Was er in ſeiner Jugend verſäumt hatte, das holte er nunmehr in der Betäubung dieſes wilden, greuligen Tages ganz und gar nach. So hatte er nie und nimmer ſich in der Welt Trubel lebendig gefühlt, wie in dieſer ſchlimmen, rathloſen Stunde auf Wodans Felde, dem Odfelde.
„ Amelungsborn heraus! die ganze Schule! Hier Amelungsborn! Wir bleiben Alle beiſammen im Leben und im Sterben —
hinauf auf des Herrn Amtsmanns Schimmel, Wieſchen. Wir heben Dir Deinen Heinrich nach. Halt ihn nur ſo feſt, wie der junge Menſch hier Mademoiſelle in ſeiner Thorheit gehalten hat, und wir hauen uns heraus. Faß zu, Thedel. Dei providentia mundus administratur, ſagt Marcus Tullius: wer weiß wozu Er geſtern Nacht nach Amelungsborn geſendet iſt, lieber Münchhauſen. Hat Er den Invaliden feſt? Hoch mit ihm und — ſursum corda, hat der Herr uns bis hieher in ſeinem Nebel geführt, ſo wird er uns auch im Lichte ſeines Morgens nicht verlaſſen. Siehſt Du, es ging, Wieſchen. Nun halte Du Deinen Schatz feſt im Arm vor Dir. Der Herr Amtmann werden uns auch dieſen Noth¬ gebrauch ſeines wackern Gauls verzeihen. Nehme Er den Hans am Zügel, und Mademoiſelle, Sie nehmen169 gütigſt meinen Arm. Das nennet man in Wahrheit vasa colligere, lieber von Münchhauſen, und itzo dieſes im bittern Ernſt ein agmen compositum. Nun denn, signa canunt! Wir können leider keine Speculatores voraufſchicken. Gradaus! vorwärts! Vivat der Herr Herzog Ferdinand! Grad ſeinem Canon zu; hin unter des Löwen ſchützende, großmüthige Tatzen. Ihr Berge fallet über uns und decket uns, daß die Heere über uns wegtreten, und wir ihren Fußtritt über uns hören, ſo wir uns bergen im Schooße der Erden! “
„ Wer ſein Teſtamente noch in procinctu machen will, der thue es, “lachte der tolle Thedel, und Ma¬ giſter Buchius meinte verwundert:
„ Siehe, ſiehe, Er hat doch dann und wann in denen Lectionen beſſer Acht gegeben, als man hat glauben dürfen. “
Sie machten nämlich dann und wann vor dem An¬ griff ihr Teſtament, die alten Römer: in procinctu, auf dem Sprunge. Mit einem Seufzer dachte der Ma¬ giſter an ſein wunderlich Hab und Gut in der Zelle des Mönchs Philemon und mit einem Schulterzuſammen¬ ziehen an Die, ſo ſich in gegenwärtiger Stunde wohl ſchon ſelber zu Erben ſeines Reichthums eingeſetzt haben mochten.
Vom achten September 1761 war die Verordnung des Marſchalls Duc de Broglio datirt, durch welche „ allen Behörden, Beamten, Unterthanen der von den Truppen Sr. Allerchriſtlichſten Majeſtät in Beſitz ge¬ nommenen Hannöverſchen und Braunſchweigiſchen Lande befohlen wurde, in ihren bisherigen Aufenthaltsorten zu verbleiben und ſich vor allen Dingen nicht mit ihren Pferden und Vieh in die Wälder und auf die Berge und auch nicht — unter die Erde zu flüchten “. Der Strick ſtand drauf, wie ſchon geſagt worden iſt, und das Edikt war am fünften November des genannten Jahres mehr denn je in Kraft zwiſchen der Weſer und der Hube bei Einbeck. Magiſter Buchius, der letzte Kollaborator von Kloſter Amelungsborn, hatte aber deſſenohngeachtet die feſte Abſicht, ihm zu trotzen, alle Conſequentien auf ſich zu nehmen und ſich ſo tief als möglich bei den Unterirdiſchen zu verkriechen.
Er hatte mit ſeinen Begleitern wohl eben ſo guten, triftigen Grund dazu, wie jeder arme Bauer mit Weib und Kind und der letzten magern Kuh.
171Wenn er aber den Nebel über dem Odfelde noch ausnutzen wollte, ſo war's die höchſte Zeit. Es kam ſchon eine Bewegung in ihn hinein; ein Heben und Sinken, ein Zerren und Zupfen. Es kam ein hartes, naſſes, kaltes Wehen aus Oſten, das den Dampf von dem Schlachtfelde und dem Wodansfelde gegen den Vogler trieb, und bald die Welt und ihre Kreatur, ihr wimmelnd Gewühl, ihre Blutlachen, zerfahrenen Wege, zerſtampften Felder noch einmal im trüben Herbſtmorgen¬ licht bloßlegen und — den Magiſter Buchius, des Herrn Kloſteramtmanns Schimmel mit dem Knecht Heinrich und der Hausmagd Wieſchen drauf, und Mamſell Se¬ linde jeglichem mörderiſchen Zugreifen Allerchriſtlichen Majeſtät oder auch der hohen Alliirten auf offener Haide preisgeben mußte.
„ Könnten wir den Rothen Stein erreichen, ſo wären wir wohl geborgen, Thedel, “meinte der Magiſter.
„ Wenn wir noch Platz und nicht ganz Holzen — das ganze Dorf mit Kind und Kegel drin unterge¬ krochen fänden, “lachte der Schüler. „ Denen geht's jetzt am hitzigſten über die Kappen, und ſie kennen die Ortsgelegenheit und ſind ihr am nächſten. Hört, wie es gerade ihnen über den Köpfen gewittert! Wir trei¬ ben dort diesmal keine Schatzgräberei im Bauche der Erden, Herr Magiſter. “
Magiſter Buchius ſchüttelte das Haupt und wies die ſeltſame Erinnerung an frühere ruhigere Zeit faſt unmuthig von ſich. Dieſes erinnerte ihn wieder nur172 zu ſehr an ſein Muſeum in der Zelle des Bruders Philemon. Er hatte freilich auch aus der Höhle am Rothen Stein, wenn auch keine Schätze, ſo doch allerlei ſich geholt: bronzene Lanzenſpitzen, Steinhammer, Knochen von unbekannten Thieren, ja auch Menſchenknochen — Knochen von armen Sündern, ſo auch testes diluvii, Zeugen der Sündfluth geweſen ſein mochten. Und Mamſell Fegebanck hing ihm faſt zu ſchwer am Arm, zumal da es nun ſchon bergauf und in den Wald hinein ging.
„ Wir ſind unterm Vogler am Kappenberg; ich weiß einen überwachſenen Erdfall an ihm, “ächzte der ver¬ wundete Knecht von des Herrn Kloſteramtmanns Schimmel herunter. „ Wann ich auf den Beinen wäre und noch das Leben hätte, wollte ich in einer Viertel¬ ſtunde da ſein, zehn Klafter tief unter dem Walde. “
„ Aber wir laufen da gradaus den Bergſchotten in die Meſſer, “rief Thedel von Münchhauſen. „ Horch, horch. Hört das Gequike! Das ſind ihre Dudelſäcke, ſo wahr ich jetzo noch das Leben habe. “
„ Käme der Durchlauchtigſte Herr und Herzog Fer¬ dinand dieſen Morgen auf meine Stube zu Amelungs¬ born, ſo fände er dorten ſeinen ganzen Feldzugsplan ſauber auf den Tiſch gemalet. Er hat die Weſer mit ſeiner Kreide hingezogen, Schelze; ich habe mir das Uebrige danach zuſammengerechnet. Der große Krieges¬ held ſchiebt ſeine Heerſchaaren wie einen Riegel zwiſchen die Herzogthümer Göttingen und Grubenhagen und das173 Fürſtenthum Hildesheim und die Stadt Braunſchweig. Er kann dem Broglio nicht ſeinen böſen Willen laſſen. “
„ Nun fängt auch der Regen wieder an, “jammerte Mademoiſell. „ Nichts auf dem Leibe und nichts im Leibe, “ſtöhnte ſie ganz unſentimentaliſch. „ Und im Dreck bis über's Knie — “
„ Zieh, Schimmel, zieh! “ſeufzte der junge Cavalier, den Zügel des Gauls feſter faſſend und ſich nach der klagenden Inamorata angſtvoll zurückwendend. „ Ja, der Reim paßt auch ſo ziemlich:
O Allerſchönſte, das Herz frißt's mir ab, Sie ſo zu ſehen. Mein Blut gäb 'ich für ein Schälchen Caffee, ſo ich es präſentiren dürfte. “
„ Ach rede Er mir nicht ſo, Er dummer Junge. In meiner Kammer hätt 'Er mich laſſen ſollen. Was hab ich nun von Seinem Heldenmuth und meinem Klettern über Leitern und Dach? Währet dieſes noch lange ſo, ſo kehre ich noch allein um, und gehe auf meine eigene Hand durch Freund und Feind nach Hauſe, nach Ame¬ lungsborn. Sie wären wohl nicht ſchlimmer mit einer Dame umgegangen, die zu parliren weiß, als wie es mir jetzt unter Seinen Händen oder groben Fäuſten paſſiret iſt, Er unvernünftiger Hanswurſt. “
„ Ach Mamſell, ſo möchte ich doch nicht zu meinem armen Heinrich hier vor mir reden, “rief Wieſchen von ihrem Sitz im Sattel herunter.
174„ Was ſchnattert Sie, Sie dumme Gans? “grollte Selinde am Arm des Magiſters. „ Es iſt doch wohl ſchon übergenug, daß ich hier hinter Ihr durch den Koth laufe, wo Sie wie im Triumph von Ihrem Bauernflegel einhergeführt wird. Ja, merci, Musjeh von Münchhauſen. Ich danke Ihnen auf das Höf¬ lichſte, daß Sie meinethalben den Herrn Kloſteramtmann um ſeinen letzten Gaul gebracht haben. “
Magiſter Buchius, trotz des kalten, naſſen, magen¬ leeren, froſtigen, bellonaumdonnerten Novembermorgens, fühlte augenblicklich Mamſell Fegebanck an ſeinem Arm als das Schwerſte, was er zu tragen oder beſſer zu ſchleppen hatte. Und als eingefleiſchter, geborener Ireniker verſuchte er auch itzo abzulenken.
„ Seinen Reim, Herr von Münchhauſen, haben ſie ſchon zu anderer, früherer Zeit geſungen. In meiner Stube ſteht auf einer Fenſterſcheibe eingegraben:
Der Knecht Heinrich Schelze hatte ſich nunmehr im Arm ſeines Mädchens zuſammengerappelt und er¬ muntert, daß er auch ſein Wort in die Unterhaltung geben konnte. Mit matter Stimme ſprach er aus dem Sattel herab:
„ Meine Großmutter am Rade hinterm Ofen hatte auch ſo'n Reim:
175„ Und da ſind wir am Berg! Und da kuckt der Till heraus aus dem Gewölk. Da ſoll der Herr Feldmar¬ ſchall Tilly ja wohl auch vordem eine große Bataille gewonnen und dem Berg ſeinen Namen gegeben haben! “rief Thedel von Münchhauſen.
„ Es hat mein Vorfahrer in meiner Stube zu Amelungsborn, der Bruder Philemon, den Vers wohl nicht in die Fenſterſcheibe gegraben. Der letzte Mönch und Bruder Ciſtercienſer, der iſt wohl nach jener Schlacht vielleicht auch gewandert auf der Flucht, grade auf dieſem Pfade der Wildniß. Der hat wohl auch das Seinige hinter ſich laſſen müſſen, dachlos, herdlos hauslos, wie der alte Buchius. Eine heulende Wüſtenei iſt auch heute wieder das arme Deutſchland, und wir Kinder des Landes gehen rathlos in der Irre zwiſchen den blutigen Fremdlingen — “
„ Ja, hört! horcht! Hört ihr den Dudelſack? Da quinkeliren ſie her! Das ſind der Bergſchotten Dudel¬ ſäcke. O Herr Magiſter — Mademoiſell, jetzt wird's erſt ganz luſtig. Hinter uns König Louis, vor uns König George, und wir mitten drunter, Seelen-Selind¬ chen, mitten zwiſchen den Kerlen mit den nackten Beinen, Seehundsbeuteln, Umſchlagetüchern und Federmützen; ihre Meſſer, Piſtolen und Flinten ganz ungerechnet. 176Vivat der Herzog Ferdinand von Braunſchweig, Lüne¬ burg und Bevern! wie ich aber da den Herr Vetter und ſeine hannöverſchen Jäger herausfinden werde, das möchte ich wiſſen! Huſſah — nec timor, nec pavor: nur keine Angſt und Bange! und da iſt es Tag — und da haben wir die ganze Beſcheerung vor uns — unter uns. Den ganzen Kuchen auf der Platte! “
Dem war ſo. Wie ein Teppich wurde der Nebel von unſichtbaren Händen aufgerollt. Es regnete nicht ſtark, aber es kam doch ziemlich feucht herunter. Und die Flüchtlinge von Amelungsborn, die noch unter der ſchützenden Hülle, ohne ihre Schritte zu meſſen, fort und fort durch's Unwegſame hier hinunter, dort hinauf gewandert waren, erfuhren jetzo erſt vom Waldrande aus, daß ſie wohl halbwegs der Höhe der Vorhügel des Voglers ſich befanden. Und ſie waren alle außer Athem und der Schimmel des Herrn Kloſter¬ amtmanns mehr als ſonſt einer von ihnen. Sie keuchten, und er ſchnob und zitterte in den Knieen, und der Dampf ging aus ſeinen Nüſtern wie ein anderer Nebel.
Aber ſie hatten ſich Alle mit den Geſichtern nach rechts gewendet und auch den Gaul herum gedreht. Bis auf den letzteren hatte Keiner bei dem Schauſpiel, das ſich ihnen bot, Zeit, auf ſeine Erſchöpfung zu achten. Selbſt Mademoiſelle Selinde vergaß ihre zerfetzten Fal¬ beln und ihren leeren Magen und was ihr ſonſt noch fehlte oder zu viel war, um den Anblick.
177„ Ach, barmherziger Gott! ach, Herr Magiſter — ach — Thedel — liebſter Musjeh Thedel! “rief ſie.
Sie hatten das Odfeld unter ſich, den Zug der Heere um ſich und die Schlacht ſo dicht neben ſich, daß ſie allgeſammt, den jungen Herrn von Münchhauſen ausgenommen, ſich zuſammendrückten und duckten im Buſchwerk vor ihrem Brüllen und heißem Hauchen.
Wenn der Herr Generallieutenant von Hardenberg noch zur rechten Zeit kommen wollte, ſo war's Zeit. Wenn er's aber noch möglich machte und kam, ſo zog er den Sack nicht bloß um die Heere von Rohan-Chabot, Poyanne und Stainville, ſondern auch um den Ma¬ giſter Buchius, das Wieſchen, den Knecht Heinrich, den Junker Thedel und die wunderſchöne Mamſell Fegebanck zuſammen.
„ Es iſt wie geſchrieben ſtehet, “murmelte der Ma¬ giſter.
lachte der wilde Münchhauſen.
„ Alsdann wer in Judäa iſt, der fliehe auf das Gebirge; und wer mitten darinnen iſt, der weiche her¬ aus: und wer auf dem Lande iſt, der komme nicht hinein, “fuhr Magiſter Buchius fort, ohne auf die Unter¬ brechung zu merken.
Raabe, Das Odfeld. 12„ Allerſchönſte, Sie hören den Herrn Magiſter, “rief der letzte Primaner von der wirklichen Kloſterſchule Amelungsborn, und Mamſell ließ es ſich dießmal ruhig gefallen, daß er dabei ſeinen Arm um ſie legte. „ Wer doch jetzo hier Hausgelegenheit wüßte wie — ein Anderer zu Amelungsborn vor zwei Stunden. “
Das gute Mädchen war nicht mehr im Stande, den braven Jungen als einen närriſchen zu behandeln. Sie hing ihm an der Schulter wie eine entblätternde Pfingſt¬ roſe und ächzte nur:
„ O Jeſes, Jeſes, Jeſes, Thedel, ſo guck Er nur, ſo hör Er nur! O hätt 'Er mich unter mein Bett krie¬ chen laſſen, da hätten ſie vielleicht nicht drunter geleuchtet und gegriffen. O Je, hier aus dem Buſch zerren ſie uns in fünf Minuten und trampeln über uns weg, und das Gekrache dort überm Katthagen bringt mich dazu um! “....
„ Bunt genug ſieht es aus, und das Gedudel der Tanzmuſik iſt auch nicht übel. So'n Schützenhof! was meinſt Du dazu, Jungfer Wieſchen? “
179„ Ich denke nur an meinen Heinrich und verlaſſe mich auf den lieben Gott und unſern Herrn Magiſter. Und Heinrich, liebſter Heinrich, wenn wir den guten Herzog Ferdinand dazu heute wieder fänden — “
„ Für's Erſte will Der nur Eſchershauſen den fran¬ ſchen Spitzbuben abnehmen. Nicht wahr, Herr Magiſter? Der Herr Magiſter Buchius ſehen auch dorten nach der Richtung und merken, wo die Hunde den Hirſchen ge¬ ſtellt haben? Hallali! Hallali! “
Magiſter Buchius überhörte dieſe Frage und laut hinausgerufenen Waidmannsruf, wie alles Andere, was eben geſchwatzt worden war. Er ſtand auf ſein ſpaniſch Rohr gelehnt und ſah auf die Schlacht hin und hinunter wie er am geſtrigen Abend zu ihr emporgeſchaut hatte. Nun wimmelte das Odfeld von ſtreifenden Reitertrupps beider kämpfender Heere, und die Pferdehufen ſtampften die Leichname der ſchwarzen geflügelten Sieger und Ueber¬ wundenen von geſtern in Sumpf und Moor und den Haideboden. Den Ith entlang ſcholl die Trommel und der Dudelſack ununterbrochen in das Kleingewehrfeuer hinein, und über den Quadhagen und den Eſchershau¬ ſener Stadtberg hinaus hörte man wohl, daß General Conway und Mylord Granby den Herrn von Poyanne ſcharf in der Scheere hielten, um dem Herrn General¬ lieutenant von Hardenberg ſo lange als möglich Zeit zu laſſen, auch an ihn heranzukommen und möglicher¬ weiſe das Beſte zum Tage zu thun.
Man vermochte es nicht mehr, zu unterſcheiden, was12*180als Nebeldampf noch an den Bergen hing und aus den Thälern aufſtieg, oder was Dampf der Schlacht war. Aber auf ruhige Zuſchauer war nicht gerechnet und langes Beſinnen galt nicht für Leute, die unbemerkt durchſchlüpfen und ihren Leib — einerlei wo, ob über der Erde, ob unter der Erde in Sicherheit während der Bataille zu bringen wünſchten.
Wer wußte jetzt einen Unterſchlupf? Sie thaten die Frage und —
„ Ich! “ſagte Magiſter Buchius, und er hatte noch niemals in ſeinem an die Seite gedrückten, ſcheuen, ſchweigſamen, überſchrieenen, überlächelten, überlachten Daſein den Accentus ſo kraftvoll auf das perſönlichſte aller Fürwörter gelegt, wie jetzt.
Er überließ die Mamſell dem Junker von Münch¬ hauſen. Er nahm den Zügel des Schimmels des Herrn Kloſteramtmanns. Er führte den Gaul und die übrige Geſellſchaft weiter in den überbedrängten Tag; — zum erſtenmal in ſeinem Leben berauſcht, — von Allem wunderlich berauſcht — wie als ob er nun den ganzen wirbelnden ſchwarzen Vogelſchwarm und Kampf von geſtern Abend im eigenen Hirn habe und ſelber als ſchwarzer gelehrter Kriegsmann mit flatternden Rock¬ ſchößen und geſchwungenem ſpaniſchen Rohr im aller¬ dickſten Haufen ſich mit im Kreiſe ſchwinge und Gegner niederſchlage und gewaltthätige Hinderniſſe bewältige. Siegreich! Ein Heros! Unter den Helden des heutigen181 Tages, wenn auch vielleicht der ſonderbarſte, doch wahr¬ lich nicht der kleinſte. —
„ Nach dem Rothen Stein kommen wir nicht durch, “murmelte er. „ Das iſt dort nicht bloß Pulverrauch, das iſt Brandqualm. Der von Münchhauſen hat Recht: was ſich aus Holzen hat retten können, das hat ſich im rothen Stein verkrochen, und wir finden dort keine Unterkunft mehr. Zurück und zur Linken ſeitwärts am Vogler hinauf können wir nicht. Auf wen wartet der Franzos eigentlich, daß er ſich hier ſo in Haufen hält? “
Magiſter Buchius konnte es, ein ſo trefflicher Stratege er auch war, freilich nicht wiſſen, daß die Herren von Poyanne und von Chabot von dorther, wie der Herzog Ferdinand, den Herrn Generallieutenant von Harden¬ berg erwarteten und mit ihren Streifparteien gleich Fühlern im November-Morgengrauen nach ihm aus¬ taſteten.
„ Wären wir durch die Lenne, “murmelte er weiter, „ und kämen wir heil über die Heerſtraße, ſo wüßte ich wohl durch den Eulenbruch und den düſtern Grund hinauf — “
„ Ich auch, “ſagte Schelze vom Gaul und aus den Armen ſeines Wieſchens herab. „ Sie nennen es da am Brauerſtiegskopf — links vom Rothen Stein. “
„ Er kennt das auch? “fragte der Magiſter Buchius verwundert hinauf; und der immer mehr zum Bewußt¬ ſein kommende Knecht Heinrich ächzte mit mattem, jammerhaft verlegenen Grinſen:
182„ Ach Gott, ſo wahr mir Gott in meiner Noth helfe, Herr Magiſter; ich habe keinem, keinem Menſchen davon geſagt, ſo wahr ich ehrlich bin, liebſter, liebſter Herr Magiſter! Wenn ſie's nicht in dieſem Tumult ge¬ funden haben, kennt den Ort kein Anderer, als wir zwei Beide! “
„ Es giebt keine Stätte für Dich auf Erden, wo Du kannſt ſagen, Du biſt allein zu Hauſe, “ſeufzte Magiſter Buchius nach einer Weile: und wieder nach einer Weile fügte er hinzu: „ Es iſt ſo, und es wird alſo wohl das Beſte ſein. “
„ Heinrich, ich ſeh's dem Herrn Magiſter an, daß Du ihm einen Verdruß gemacht haſt! “rief aber jetzt Wieſchen. „ Sag's gleich, — ich will's, ſag's gleich, was es geweſen iſt. “ Und nun noch darzu gar heute! “
„ Sei nur ruhig, Wieſchen. Nichts iſt's! “lächelte der alte Herr zu der erſchreckten, thränenvollen Magd empor. „ Und grade heute, Wieſchen, kommt's weniger als vorher mir drauf an, daß Dein Schatz auch dort Beſcheid zu wiſſen ſcheint, wo der alte Magiſter Buchius die thebaiſche Wüſte ganz für ſich allein zu haben ver¬ meinte. Heute — jetzt ſeid ihr Alle — auch Er, lieber von Münchhauſen, hier willkommen, wo ich mir bei den Thieren der Wildniß als Einſiedler ein Unter¬ kommen ausgemachet hatte, wann — mir eure Luſtigkeit im Kloſter ein wenig zu arg wurde, lieber Monſieur Thedel. “
„ Du biſt auch dabei geweſen, Heinrich! “rief183 Wieſchen, ihren Schatz auf des Amtmanns Schimmel zwar noch feſter faſſend, aber ihn doch dabei ein wenig ſchüttelnd.
„ Damals noch nicht. Halt 'nur Ruhe, Kind, “lächelte der alte Herr wieder.
„ Herr Magiſter — “wollte der Exſchüler der berühmten großen Wald-Wildniß - und Wilddiebs-Schule zu Kloſter Amelungsborn betroffen, kleinlaut, nicht mit ſeiner Rechtfertigung, ſondern mit ſeiner Reue auf¬ warten. Doch dem winkte der letzte Kollaborator ab; zwar auch lächelnd, jedoch auf eine andere Art.
„ Beruhige Er ſich nur auch, von Münchhauſen. Jedenfalls iſt Er nicht der Einzige geweſen, ſo weder dem Bruder Philemon in ſeiner Zelle noch den alten Buchius in der Zelle des Bruders Philemon die Ruhe und Beſchaulichkeit gegönnt hat — ſeinerzeit — dann und wann. “
Er ſah jetzt, ohne ſich um den geduckten Scholaren für's Erſte weiter zu kümmern, den wunden Knecht auf dem Pferde an und deutete meinungsvoll vor ſich hin in die Berge und zwar auf eine ganz beſtimmte Stelle.
Knecht Heinrich mit weinerlich verzogenem Mund¬ werk nickte und ſagte kläglich:
„ Ich konnte ja nichts davor, daß ich's auch fand und einkroch, Herr Magiſter. Aber ſo wahr mir Gott helfe, es weiß außer mir und dem Herrn Magiſter kein anderer Menſche davon. Ach wären wir nur über die Straßen vor dem engelländiſchen Zuzug! “
184„ Du Dummrian! “rief Wieſchen, ihren immer mehr zum Leben erwachenden Schatz von Neuem feſter packend und eindringlicher ſchüttelnd. „ Du haſt es ja nun, wie Du es geſtern Abend für mich und Dich haben wollteſt. Biſt nun mit mir und noch dazu mit dem Herrn Magiſter und der Mamſell und dem Herrn von Münchhauſen mitten derzwiſchen! O Herr Magiſter, Herr Magiſter, bei Ihrem lieben Herzen, laſſe Er es Keinem von uns armen Sündern entgelten, was wir an Ihm verböſet haben! Helfe Er uns! Helfe Er uns Allen heraus aus dem Krieg, und der Noth, und der Angſt, und dem Elend! “
„ Wenn wir über die Straße wären! “murmelte der alte Herr, des Kloſteramtmanns Schimmel am Zügel immer haſtiger ſich nachzerrend durch den Wald und das Dickicht. —
Ei ja, die Straße und die Straße von der Weſer, von dem Hauptquartier zu Ohr her, zu beiden Seiten des Iths bis zu dem neuen Hauptquartier Seiner Durch¬ laucht des Herzogs Ferdinand zu Wickenſen, an dieſem fünften November 1761!
Schon vor Tage hatten die Schotten Kapellenhagen jenſeits der Berge den Franzoſen nach heftigem Kampfe abgenommen und ſie durch den Ith auf der Landſtraße nach Scharfoldendorf hinuntergetrieben; und wenn das Dorf jenſeits der Berge noch rauchte, ſo brannte es jetzt in Oelkaſſen wie in Lüerdiſſen, und die Herrenmühle185 bei Scharfoldendorf dicht vor den Flüchtigen ſtand auch in Flammen.
„ Wir können und dürfen mit den Jungfrauen nicht hier weilen, Dieterich von Münchhauſen, “rief der Magiſter. „ Hindurch! Mein iſt die Erde noch, Zeus! O laß ſie mir noch dieſen Tag, dieſe Armen hier zu erretten vor Schmach und Schande, vor dem erbarmungs¬ loſen Feinde, vor dem zuchtloſen Freunde! Grauſame Parze, thränenliebender Pluto, ſchonet, o ſchonet der Locken der Jugend. Verzehre uns nicht mit Feuer, Pluto. Neptun, ich flehe Dich an — Lenne, geſchwollener Strom, verſchwemme uns nicht den Pfad; und wenn Du, der Proſerpina Bote, o Hermes, dieſem Zuge voranſchreiteſt, ſo winke nur dem Greis ſeitab zum Hades. Winke mir allein mit dem Caduceo, mir dem Alten, der ſchon zu ſeinem Troſte weiß, daß Dein Pfad zum Port führt, einerlei — ob man von Kekrops Flur, ob man von Meroe kommt. O Schattenführer, den Jungen — dieſen Kindern gönne noch ihre Hoffnung und ihren Wandel im Tagesſchein! “......
Es iſt in der Luftlinie wohl kaum der fünfzehnte Theil eines Aequatorgrads, das heißt eine deutſche, geographiſche Meile vom Kloſterthor zu Amelungsborn bis auf die Höhe des Iths, bis in den Tönniesbuſch, bis zum Ith-Anger über dem Rothen Stein. Für die Ausgeſtoßenen, die Flüchtlinge von Amelungsborn, im Odfeld-Nebel und am triefenden Vogler entlang, war's erklecklich weiter.
Aber ſie hatten Glück, die Exuli. Sie kamen wohlbehalten durch die gefährlich rauſchende Lenne und über den noch gefahrvolleren Heerweg. Auf dem letztern fanden ſie da, wo ſie ihn überſchritten, nur Todte, Sterbende und Verwundete aus allen Völkerſchaften vom Löwengolf bis zum Cap Wrath, von der Bai von Biscaya bis zum Steinhuder Meer und in die Lüneburger Haide. Sie kamen um Scharfoldendorf herum auf die trümmer - und jammervolle Straße, die den Berg hinan führt, und ließen das verwüſtete, geplün¬ derte Dorf zur Rechten, um ſich weiter aufwärts wie¬ der nach rechts hin in den Eulenbruch zu ſchlagen. 187Es lag dick geſät auf ihrem Wege und der alte Kriegs¬ pfad um Kloſter Amelungsborn war nichts gegen den eben friſch in dieſem furchtbaren Kriege von Bellona zerſtampften Bergweg.
Der, welcher pour l'amour de Dieu um miséri¬ corde und nach Waſſer zu dem Junker von Münch¬ hauſen ſchrie, war aus Perpignan in der Grafſchaft Rouſillon und behauptete, er könne nichts dafür, daß er Lüerdiſſen mit in Brand habe ſetzen müſſen. Und der, welcher die Arme nach dem Magiſter Buchius aus¬ reckte, war aus Gruſſendorf im Weſterbecker Moor und wußte dafür, das; er unter Mylord Granby dem Bauer in Kappelnhagen die Scheuer angeſteckt habe, auch weiter keinen Entſchuldigungsgrund, als daß er ohne ſein Zu¬ thun in Tiddiſche an der Kleinen Aller dem Werber des Kurfürſten von Hannover und des guten Herzogs Fer¬ dinand in die Hände gefallen ſei.
„ Die Raben! Das Portentum vom geſtrigen Abend! “murmelte der Magiſter, ſeinen Hut in einer Lache füllend und ihm dem Mann aus Tiddiſche an den fieberheißen Mund haltend.
„ Sie liegen wie unſere Vögel auf dem Wodansfeld, Herr Magiſter, “rief der Junker von Münchhauſen von dem Mann aus Perpignan her. „ Da, Kamerad, ſauf! ich wollte, es wäre was Beſſeres als Grabenwaſſer. Na, in Einem habt Ihr's doch beſſer als wir. Ihr habt bloß Durſt, wir haben auch Hunger ... Hollah! “
Sie hatten keine Zeit zu verlieren, ſo mitleidige188 Herzen ſie auch haben mochten; aber der Sprößling eines ſo wohl und weit berühmten Geſchlechts wie Der von Münchhauſen bewies grade itzo, daß er ganz in die Zeit paßte und in ſie hinein grad auf die Füße hin gefallen ſei.
Auch die Todten, ſie die in der Nacht lebendig und gefräßig mit dem Herzog Ferdinand von der Weſer aus zum Zug gen Einbeck aufgebrochen, aber hier, unterwegs aus den Reihen gefallen waren, hatten ihre Kommis¬ laibe und ſonſtigen beim Abmarſch gefaßten Rationen noch ziemlich unangetaſtet bei ſich; und ſie lagen, wie geſagt, dick geſät auf der Straße von Scharfoldendorf bis auf die Höhe des Ith-Angers.
„ Häng um, Heinrich! “rief der Junker, dem Knecht Schelze einen deutſchen Brodbeutel auf den Schimmel reichend.
Er bewies bei dieſem Ueberſchreiten der Landſtraßen den vollen Soldatenblick des ſiebenjährigen Kriegs, und wußte nach den Seinigen im Fluge zugreifen.
„ Mein Herz blutet, Mademoiſelle; aber nur einen Augenblick halte meine Prinzeß den engländiſchen Torniſter. So geht es in der Rappuſe, Herr Magiſter! Vivat jetzo der franzöſiſche Plunder! Guck der Schlingel hat doch noch Zeit gehabt 'nem Hahnen den Hals um¬ zudrehen. Den laſſen wir ihm am Säbelgurt; aber den Schnappſack nehmen wir ihm ab — an uns zurück Herr Magiſter. Es iſt zum Heulen, aber fidel iſt's doch. Und nun vorwärts, en avant! Da kommt's189 wieder ganz blau und roth und grün den Berg herunter und um Eſchershauſen ſind ſie auch noch nicht in's Reine! Jetzt, wo ſie ſich genauer in's Geſicht ſehen können, gehen ſie erſt ordentlich an's Werk. Hallali! hallali! hallali! “
So war es. Dicht zu ihrer Rechten von Holzen bis Wickenſen ſtand die Schlacht; und Allen im Dorfe Holzen, die ſich nicht in den Rothen Stein verkrochen hatten, wie ihre Vorväter zu des Tilly und der Schweden Zeiten, denen mochte es wohl übel zu Muthe ſein ob dem Geſchützfeuer, mit dem ſich der Herr von Rohan Chabot gegen den engländiſchen Mylord Granby wehrte. Sie aber, und es ſind wieder die Flüchtlinge aus Amelungsborn, gaben es während der nächſten zehn Minuten auch gänzlich auf, zur Rechten und zur Linken umzuſchauen.
Sie liefen und ſtolperten, ſtürzten und rafften ſich wieder auf, und rannten von Neuem zu, mitten durch die buntſcheckige Ordre de bataille des Herzogs Ferdinand.
Sie ſahen nur vor ſich, und als ſie den Wald wieder erreicht hatten, aufwärts durch die kahlen Gipfel zu den Klippen des Rothen Steins, wo hinauf der alte Herr und Führer, der Magiſter Buchius, keuchend, ächzend, aber als ein Held bei jeglichem Weiterſchieben der knackenden Kniee, immer von Neuem mit der Hand, die den Zügel des Schimmels von Amelungsborn nicht hielt, vorwärts winkte.
190„ Wieſchen, wir kommen noch einmal durch, “rief der Knecht. „ Einen Büchſenſchuß noch und wir ſind zu Hauſe. Halt aus, Krakke, und nachher verrecke! “
Magiſter Buchius blickte ſich nur einen Moment auf das letzte Wort hin um; dann ſtieg er und ſchleppte ſich und die Andern weiter. Er machte auch nicht die Menſchheit anders als ſie war. Aber dem dampfenden Thier ſtrich er die triefende Mähne:
„ Halt aus, Freund, wie wir Andern auch — nur noch fünf Minuten! “
Dolomit — Rautenſpath, Braun-Bitterſpath, Bitter¬ kalk, Mineral, farblos oder gefärbt, beſteht aus kohlen¬ ſaurem Kalk mit kohlenſaurer Magneſia; iſt als Braun¬ ſpath eiſenhaltig und bildet als Geſtein groteske Fels¬ bildungen und iſt höhlenreich, ſagt heute die Wiſſen¬ ſchaft oder das Converſationslexikon; und der Magiſter Buchius, der weder in ſeiner Bibliothek ein Converſa¬ tionslexion beſaß, noch irgend viel von Mineralogie verſtand, ſtand plötzlich mitten in dem wilden Wald des achtzehnten Säkulums und mitten unter den wun¬ derlichen Steingebilden des Idiſtaviſus ſtill und ſtieß ſein ſpaniſch Rohr in den Boden. Knecht Schelze im Arm Wieſchens auf des Kloſteramtmanns Reitthier nickte allein ortsverſtändig; doch dazu mit ſcheu und ſchämern aufgezogenen Schultern und winſelte weiner¬ lich:
„ Herr Magiſter, auf Eid und Gewiſſen, wahrhaf¬ tigen Gottes nicht aus böſem Willen und auch nicht191 mal aus Neugier. Ich hab's ja immer mit der Schule gehalten und kroch nur der Schule wegen hier auch mal unter, um zum Beſten unſerer Herren Primaner dem Cujon, dem Grünrock von Heinrichshagen die Fährte zu verwiſchen. “
Der alte Herr winkte jetzt nur melancholiſch lächelnd dem armen Sünder Verzeihung und wendete ſich zu ſeinen übrigen Schutzbefohlenen:
„ Nun ſei es, wie es geſchrieben ſteht: Es ſollen wohl Berge weichen und Hügel einfallen; aber meine Gnade ſoll nicht von Dir weichen. “
„ Ueberwind haben wir hier zum wenigſten, “meinte Thedel von Münchhauſen in der freilich windſtillen, aber ſchlachtüberdonnerten Schluft im „ Dolomit “und im Hochwald umguckend. „ Nu, dies ſoll mich doch wun¬ dern. O Mademoi — Engel; ſicher wie Daun bei Kolin im Felſenneſt! Aber dießmal krauchen wir vor König Fritzens Parthei unter, wenn uns der Herr Magiſter die Thür zeigen will. Herrgott von Daſſel, und die Prima von Amelungsborn hat bis itzo nicht auch hier Beſcheid gewußt?! ... “
Dießmal grinſte Magiſter Buchius beinahe völlig wie einer ſeiner früheren Schuljungen; dann aber klatſchte er halb zärtlich halb wehmüthig dem Schimmel des Herrn Kloſteramtmanns auf die magere Flanke:
„ Für Dich, armer Freund, hab 'ich leider kein Unter¬ kommen; aber ich hoffe, Du wirſt, unſerer Laſt und192 Qual erledigt, Dir ſchon durchhelfen. Hebe Er Schelzen aus dem Sattel und nehme Er dem guten Thier Sattel und Zaum ab, Herr von Münchhauſen. “
Der Junker faßte den Knecht in die Arme, und Wieſchen unterſtützte ihn vom Pferd aus. So brachten ſie ihn glücklich auf den Erdboden und die Füße; und gottlob vermochte er ſich auf den letzteren jetzt ſchon wieder zu halten, wenn auch ein wenig taumelnd und mit ſchwar¬ zen Wolken und flimmernden Flammen vor den Augen. Mademoiſell Selinde ſtand wie eine Bildſäule wenn auch nicht der Ergebung, ſo doch der Betäubung in dem Stein - und Waldwinkel und ſah ſich höchſtens ſtumpf¬ ſinnig-verwundert nach Dem um, was den Andern ſo erklecklichen Troſt in dieſen Schreckniſſen zu geben ſchien. Des Amtmanns Schimmel warf den Kopf auf und ſah ſich um nach allen vier Windrichtungen, als wiſſe er ſchon, was nun kommen werde.
„ Ja, Du mußt nun gehen, alter Freund. Der Himmel helfe Dir wie uns und ſchütze Dich vor Feind und Freund, vor Frankreich und England; ſie würden doch nur das letzte Mark aus Deinen alten Knochen wollen, wenn ſie die Hand auf Dich legten. Nimm Dich in acht — komme gut nach Hauſe — ja, was wirſt Du aber finden zu Hauſe in Amelungsborn, wenn Du heimgekommen biſt? “
„ Grüße Er jedenfalls den Herrn Kloſteramtmann in Amelungsborn von mir, Meiſter Hans! “lachte Thedel von Münchhauſen. Das Thier ſchüttelte ſich wieder,193 ſchnaufte, ſtand einen Augenblick überlegend und ging langſam ſeitab in den Wald ſeines eigenen Weges.
„ Herr Magiſter, “rief Knecht Heinrich, „ Herr Ma¬ giſter, mir däucht, es gehet ſchlecht für unſern Herzog Ferdinand und die Franzoſen gewinnen's ihm ab. “
„ Zum Henker ja, “rief Thedel. „ Monsieur Le Crapaud und Monsieur La Grenouille ſind wieder im Vorhupfen gegen den Idiſtaviſus und alſo auch gegen uns. Ihr Canon kommt wahrhaftig näher! Hört nur! all' ihr groß und klein Geſchütz hat was wie vom Froſchſumpf an ſich: Brekkekekk, brekkekekk, Koax, Koax! O mit Jovis Donner gegen die Batrachier. Vivat Fridericus Rex! Vivat Ferdinandus Dux! “
Magiſter Buchius bog den nächſten Buſch zur Seite: „ Belieben mir itzo auf den Ferſen zu folgen, Ma¬ demoiſelle Fegebanck. Und fürchte Sie ſich nicht, liebes Kind, es gehet wohl zuerſt ein wenig abſchüſſig in's Dunkle; ja auch ein wenig auf den Knieen, aber wer kann heute hier ſagen, daß das Dach ſeines Hauſes ſicherer über ihm ſei als das Geſtein, ſo des Herrn Hand in der Wildniß zum Unterſchlupf für ſeine gejagte Kreatur wundervoll ausgehöhlet hat? “
Jetzt im tiefſten Buſch und unter einer nicht allzu hohen Felswand im Dolomitgeklipp des Iths bückte er ſich und griff in einen hohen Haufen von dürrem Geſtrüpp, den der Wind und Zufall hier aufgehäuft zu haben ſchien, und fing an, denſelben zur Seite zu räumen.
Raabe, Das Odfeld. 13194„ Bleibe Er ruhig, Schelze; aber Er, Thedel Münch¬ hauſen, faſſe Er mit an. “
Eine unanſehnliche enge Spalte im Geſtein! ....
„ Hier hinunter? “ächzte Mademoiſell Selinde, die Hände ringend; doch Magiſter Buchius zeigte bereits fürder den Weg, das heißt er war ſchon verſchwunden im „ Bauche der Erden “. Thedel Münchhauſen den linken Arm um des Herrn Amtmanns Vetterstochter legend, breitbeinig ſtehend und mit hochgeſchwungener Rechten citirte, außer ſich vor Vergnügen, den Kanonikus Gleim:
ſchieb Deinen Kerl, Deinen Heinrich vorſichtig dem Ma¬ giſter nach, Wieſchen. Ach Mamſell, Prinzeſſin, Engel,
alle Hagel und Wetter, höre einer den Chabot, wie er die Berge hinaufdrückt —
195Kotz-Kreuz-Element, es geht nicht anders, Selinde. Ob Sie nun mag oder nicht, Jungfer Fegebanck, mit hin¬ unter, mit hinein muß Sie jetzt, wenn Sie nicht zu blutigem Brei getreten ſein will! “
Und die Mamſell auf die Knie niederdrückend und ſie in den Abgrund hineinſchiebend, murmelte er:
„ Der alte Buchius! .... er iſt ein Held, ein Heros — ein Heros! und die große Schule zu Kloſter Amelungsborn war der richtige Eſelſtall. Vivat der alte Buchius, der Magiſter Buchius! Aber wundern ſoll's mich, was für ein Neſt er ſich verſtohlen und heimlich, ſelbſt hinter meinem Rücken, hier in der Wild¬ niß ausgebaut hat? Sehe ein Menſche — nur muthig, Courage, Mamſell, Allerſchönſte — es geht ja ganz hübſch in die Tiefe — o ihr unſterblichen Götter, na, das iſt denn wirklich ganz rieſig, ganz famos und das Kuriöſeſte was mir heute paſſiren konnte. “
Er hatte vollkommen Recht zu dem letzten Ausruf. Konnte die Holzener Höhle am Rothen Stein einen ganzen Stamm vorſündfluthlicher Urmenſchen beherbergen, ein ganzes durch den ſiebenjährigen Krieg verjagtes Dorf aufnehmen; ſo hatte Magiſter Buchius auf ſeinen einſamen Wegen hinterm Rücken der böſen Welt und der großen Ciſtercienſerſchule von Amelungsborn wahr¬ lich für ſich gleichfalls im Schooße der Erde gefunden13*196was er brauchte. Und — er hatte ſich drin einge¬ richtet!
„ Dem, der uns hierher nachſchleicht, dem ſchlage ich den Hirnkaſten ein, “hatte Knecht Heinrich, wehmüthig den Kopf ſchüttelnd, geſeufzt, nachdem er von den Förſtern um König Heinrichs Vogelherd gejagt, dem alten Buchius auf die Sprünge gerathen war und ſich bei ihm ein¬ geſchlichen hatte. „ Dieſes iſt ja freilich gewiß und wahrhaftig ganz und gar wie für unſern Herrn Magiſter und ſeine Umſtände unter den Herren und den Herrn Schülern bei uns in Amelungsborn vom lieben Herr¬ gott eingerichtet! “— — — — „ Hier könnte man ſchon hauſen wie der heilige Antonius, der Große, in der oberägyptiſchen Wüſte, nur mit einem Schaffell und einem härenen Hemde bekleidet und ſeinen Körper nie¬ mals mit Seife reinigend, “hatte der Magiſter ſelber geſeufzet, als er als der erſte von ſeinem Rector, ſeinen Collegen und ſeinen Schülern gepeinigte und gehetzte Schulmeiſter zum erſtenmal den Unterſchlupf betrat, oder vielmehr in ihn einkroch.
„ Wenn ich nur wüßte, wo ich bin, und wie ich hierher gekommen bin, und, oh, bis auf die Knochen naß! “jammerte Mamſell Selinde. „ O Gitte, Gitte, Gitte, und ſo dunkel! “
Bis das Auge ſich gewöhnt hatte, war's freilich ein bischen dunkel, wie dies alle Höhlen ſo an ſich haben, einerlei ob ſie dem frommen Aeneas und der ſchönen Frau Dido, oder ob ſie dem Magiſter Buchius und ſeiner Amelungsborner Kloſtergeſellſchaft ſich zum Zu¬ fluchtsort im Regenſturm oder im Kriegesſturm an¬ bieten. Auch ging es nicht gradaus und auf teppich¬ belegten Treppen in die Tiefe; und wer auf den Ruf des Führers: „ Hier mit Vorſicht bücken, oder lieber auf die Knie! “hörte und ihm Folge leiſtete, der that wohl und bewahrte ſich vor Brauſchen und Schrunden an Stirn und Hinterkopf und behielt auch ſein Naſen¬ bein heil.
„ So laſſe Er doch das dumme Zeug, Thedel! “hatte aber Mamſell Selinde ſelbſt auch hier zu flüſtern. „ Kann Er denn auch hier in ſolchen Schreckniſſen und Nöthen Seine Albernheiten nicht unterwegens laſſen, Herr von Münchhauſen? “
„ Aber mein Gott, muß Er denn ſelbſt bei dieſem Donner Gottes über dem Haupte der ewige Jokulator198 ſein, Münchhauſen? “rief der Magiſter zurück. „ Faſſe Er doch lieber jetzt mit an und helfe Er mir Schelzen in die Sicherheit zu bringen! Nur ruhig, Wieſchen — hier ſind wir für's Erſte zu Hauſe. Nun danket dem Herrn, denn ſeine Hand war über uns bis jetzt; ſtehet oder ſitzet und gewöhnet eure Augen an die Finſterniß. Sitzet ſtill und horchet! die Berge und Felsgeſteine ſind wahrlich auf uns gefallen, bedecken uns und geben uns Schutz. Horche Er, Thedel von Münchhauſen, lieber Sohn, wie der Könige Zorn und Hader von Ferne uns zu Häupten toſet bis zu den Ohren des Abgrundes, und treibe Er wenigſtens jetzo keine Allotria, beſter Münchhauſen. “
„ Sie denken nichts Arges von mir, “ſagte der Schüler weinerlich-kicherlich, und nun ſuchten ſie wirk¬ lich allgemach ihre Augen an die Dunkelheit ihres Zu¬ fluchtsortes zu gewöhnen, während Magiſter Buchius, der den Raum doch ſchon genau kannte, in ſeiner Tiefe auch noch einige Zeit vergeblich taſtete und ſuchte.
Wie Schade, daß der eifrigſte Forſcher auf den Spuren dieſer wahrhaftigen Hiſtoria zwiſchen Fels und Wald am Ith ganz vergeblich nach der Klauſe des alten Herrn taſten und ſuchen wird. Der Mutter Natur ewige Arbeit auch im Erdinnern iſt ihr nicht ſo gnädig geweſen, wie jener andern prähiſtoriſchen Spalte, mehr gegen Dorf Holzen zu, am Rothen Stein. Iſt der „ Dolomit “zuſammengerückt — haben die Waſſer ihr Spiel getrieben und die Höhlung ſeit des alten Fritzen199 Kriegen mit Schlamm ausgefüllt; wir können es nicht ſagen. Und des Nachgrabens lohnt es ſich nicht. Die Schätze, die aus der Schluft zu holen waren, die hatte der Magiſter ſchon nach Amelungsborn in der Taſche heimgetragen, und das, was er und ſeine Begleiter am fünften November Siebenzehnhunderteinundſechzig drin zurückließen, das könnte von hiſtoriſchem Werth nur für den Hiſtoriographen dieſer Begebenheiten ſein, und der verzichtet drauf in ſeinem Namen und dem ſeiner Leſer und — Leſerinnen.
Der „ eifrigſte Forſcher “ſoll deſſenungeachtet dort mit Axt, Spitzhacke und Spaden unter Genehmigung der hohen Forſtbehörden im kultivirten Walde thun können was er will — Alles zu Ehren der großen Wald - und Wildnißſchule Kloſter Amelungsborn und ihres trefflichſten Kollaborators M. Noah Buchius Seligen.
Und wie Schade, daß es nicht heißer Hochſommer draußen war und ſie damals nicht auf einer Vergnü¬ gungsfahrt kamen, dieſe gehetzten Erdenbewohner, die eben ihre Augen an das Licht in der Finſterniß ge¬ wöhnten! Der Troglodyt, Ureinwohner oder Einwanderer, der vor Jahrtauſenden dieſe Junggeſellenwohnung ge¬ funden und für ſich in Beſchlag genommen hatte, der hatte nicht nur Glück, ſondern auch Geſchmack gehabt. Die jetzt noch vorhandene allgemeine Stammhöhle am Rothen Stein war ein unheimlicher, naßkalter, ganz dunkler Hordenunterſchlupf, ein Stall, ein Greul gegen200 des Magiſter Buchius letzten Zufluchtsort im Lebens -, Schul - und Kriegsdrangſal.
„ Es fällt, weiß Gott, auch noch Licht von Oben herein, “rief Thedel Münchhauſen. „ O nur noch einen Moment länger, Mamſell Selinde, in den Sack gekuckt: nachher weiß Kater und Katze hier eben ſo gut Haus¬ gelegenheit wie — anderswo in der Welt! “
Es fiel wirklich hier und da durch die übereinan¬ der geſchichteten Blöcke ein Glimmer vom grauen Morgen in die wenn auch kühle, ſo doch jedenfalls behaglich trockne Höhle. Und was das Licht anbetraf, ſo ſollte es damit noch viel beſſer kommen. Es klang in der Tiefe Stahl auf Stein, die Funken ſpritzten, es fingen Zunder und Schwefelſticken und nun: „ Salvete, hospites! “ſprach Magiſter Buchius mit einer kleinen Blechlaterne der allerechteſten Lucerna Epicteti ſeine Gäſte und Schützlinge in ſeinem bis zu dieſem heutigen Schreckens¬ morgen und furchtbaren Schlachtentage des guten Her¬ zogs Ferdinand ihm unbeſtrittenen letzten Erdenaſyl beleuchtend, und ihnen auch es — zur Verfügung ſtellend.
„ O Herr, Herr Magiſter, und ich habe Sie, mit den Anderen habe ich den Herrn Magiſter zum Narren haben wollen! “ſtotterte jetzo in Wirklichkeit und Wahr¬ haftigkeit weinerlich Junker Thedel von Münchhauſen. „ O, vivat, vivat Amelungsborn! In saecula saeculo¬ rum die große Schule von Amelungsborn! “ 201„ Vigeat! floreat! “rief Magiſter Buchius, ſich ganz in die Stimmung der alten wilden und gelehrten Herr¬ lichkeit und des dummen Jungen, des letzten echten und gerechten Wald-Kloſterſchülers verſetzend; aber lei¬ der nur für einen kurzen, kürzeſten Augenblick.
„ Was ſchwatzet Er, was jubiliret Er vom alten Amelungsborn, lieber Münchhauſen? Transiti ad in¬ feros. Das ſind wir! Zu den Unterirdiſchen ſind wir gegangen. Helfe Er dem armen Schelze zu einer guten Unterkunft, ſo lange der Lichtſtumpen in der Laterne reicht, “ſagte er, mit dem Schein, der von ihm ausging, rundum Hausgelegenheit im Bauche des Idi¬ ſtaviſus zeigend.
Der Troglodyt, der vor ungezählten Jahrtauſenden den heimeligen Ort für ſich eingerichtet hatte, abſeits von der Kommune, der großen Welt und der kleinen in dem großen Gemeinweſen nach Holzen zu im Berge, und der Vorgänger in der Zelle des letzten Kollabora¬ tors von Amelungsborn, der letzte katholiſche Mönch, Bruder Philemon, ſie waren beide für den Magiſter Buchius in mancher trübſeligen Stunde wie lebende gute theilnehmende Stubengenoſſen geweſen in den Ithklippen wie im Kloſter. Jetzt machte der Erſtere mehr denn je als Vertrauter mit dem Magiſter die Honneurs des Ortes.
„ Helfet dem Schelze zu einem Sitz dort auf der Steinbank, “ſagte der Magiſter. „ Der arme Sünder und diluvii testis, der Sündfluth Zeuge hat dort auch202 ſein Lager ſich zubereitet in ſeinem betrübten finſtern Leben. Nun, die Gnade Gottes wird ihn itzo wohl auch in ein klareres Licht erhoben und zu beſſerer Einſicht verholfen haben. Ich habe ſeinen Kochtopf zu Hauſe in meinem Muſeo, wenn der nicht — “kopfſchüttelnd und ſeufzend brach er ab in der Ueberlegung darob, wie es augenblicklich wohl in ſeinem „ Muſeo “ausſehen möge. Und er fuhr erſt nach wiedererrungenem philo¬ ſophiſchen Gleichmuth fort: „ Wir könnten ihn, den Topf meine ich, doch nicht heute hier von Neuem gebrauchen, des Rauches vom Küchenherd wegen, der durch die Stein¬ ritzen dem Feind von unſerm Daſein hier unten Kunde geben möchte. Liegt Er jetzo gut, Schelze? “
Knecht Heinrich faßte winſelnd nach der Hand des Alten.
„ O Herre, Herre, Herre! ohne den Herrn Magiſter und mein Wieſchen, wo läge ich jetzt?! “
„ Vergiß des Herrn Amtmanns Schimmel nicht, Kamerad “, meinte der Junker. „ Und Mademoiſelle Se¬ linde hat Dir ihren Sitz im Sattel auch aus ihrem himm¬ liſchen Herzen abgetreten ohne Querelen. O was meinet Sie, ſchönſte Mademoiſell? wir kommen doch noch heil aus dem Jammer! Ei, wiſſen der Herr Magiſter wohl noch, wie Sie mir privatim den Propheten Jeremias auslegeten nach der Bataille bei Kolin: Ach, daß ich Waſſer genug hätte in meinem Haupte zu beweinen die Erſchlagenen in meinem Volke?! Der Herr Magiſter hatten mir bei Sonnenuntergang wieder mal den Carcer203 auf des Herrn Rectoris Ordre aufſchließen laſſen und mich mit auf Ihre Stube genommen, mir nochmals in's Gewiſſen zu reden. Ich war eben noch ganz grün in Kloſter Amelungsborn, aber Er war auch ſchon bei der Affaire mit den Golmbachern, Schelze, wo ſie unſere Tertia auf ihrer Feldmark beim Krebſen im Bremeken¬ bach gepfändet hatten und ſie bei den Zöpfen nach ihrer Pferdeſchwemme zum Untertauchen ziehen wollten. “
„ Dem Regiment Bevern iſt's in der Unglücksbataille in Böhmen nicht ſchlimmer ergangen als wie uns vom Kloſter damals! “rief der Knecht Heinrich ganz lebendig in der vergnügten Erinnerung vom Canapé des Ur¬ höhlenbewohners her. „ Damals ging's aber auch von unſerer Seite mit über Bevern her; denn es war Lobacher und Bevern'ſcher Zuzug unter den Golmbachern. Die Lümmel — “
„ O je, Heinrich, der Herr Magiſter Buchius und der junge Herre gehören ja auch zu ihnen, Die ſind ja auch aus Bevern! “rief Wieſchen, die gottlob jetzt ſchon wieder den Arm ihres Liebſten um ſich fühlte, während ſie bis vor Kurzem in ihren Armen den armen Kerl hatte aufrecht halten müſſen.
„ Mamſell Fegebanck, allerwertheſte Jungfer, “ſprach aber jetzo Magiſter Buchius mit ausgeſuchter Höflichkeit und Senſibilité die Schönſte im kleinen Haufen an, „ wir wollen jetzt Kolin Kolin und Bevern Bevern ſein laſſen. Liebes Kind, wir ſind in Angſt, und der Feind hat uns die Kleider zerriſſen; wir ſind durch204 Stock und Dorn gehetzet, und der Regen hat uns durch¬ näſſet bis auf die Knochen; wir ſind geſchüttelt vom Hunger und vom Froſt, und vor Freund und vor Feind haben wir uns im Eingeweide der Erde verkriechen müſſen; aber rufen müſſen wir doch mit dankerfülltem Gemüthe Sursum corda ... “
„ Ach was habe ich von Seinem ewigen Sumſum¬ krahkrah und anderm Rabengekrächze? “ächzte die Schöne biſſig. „ Wenn der Herr Magiſter mir eine wirkliche Compläſance erweiſen wollten, ſo ſollten Sie lieber, ſo lange das Licht in der Laterne reicht, in den aufge¬ griffenen Schnappſäcken nachſehen, was die Rappſäcke aus allen Herren Ländern an Proviant mit ſich hatten. Das war die einzige Vernunft, die der Musjeh Münch¬ hauſen bewieſen hat heute, daß er von dem todten Volk da oben auf der Straße mitnahm in den Berg, was es zu ſeinem Leben doch nicht mehr gebrauchen konnte. “ „ Das iſt eine haarige Idee! “rief Thedel von Münch¬ hauſen, zum erſten Male in ſeinem jungen Daſein ſich aus dem Knieen vor dem Ideal ſeiner Schultage mit ausgeſpreiteten Armen und Händen erhebend und ſich mit ganzer Seele und leerem Magen der einfachen und aufrichtigen Mutter Natur in die Arme ſtürzend.
Kein Prieſter des Bel zu Babel oder des Drachen zu Babel konnte je zu Füßen ſeines Idols ſich eines geſundern Appetits erfreut haben, als wie der arme gute Junge ihn itzo, auf das vernünftige Wort ſeiner Göttin hin, bei der Durchſuchung der aufgerafften205 Brodbeutel der hohen kriegführenden Parteien be¬ thätigte.
Sie trugen die drei Knappſäcke auf einem Steinblock um die Lucerne des Magiſters Buchius zuſammen. Schon durchwühlte Mamſell die ſchottiſche Seehundstaſche und leerte ihren Inhalt auf die Tiſchplatte des Troglo¬ dyten; Thedel von Münchhauſen ſchüttelte den Inhalt des franzöſiſchen Torniſters dazu, der alte Schulmeiſter zögerte am längſten mit dem blutbeſpritzten, regennaſſen Nachlaß des Landsmanns aus der Lüneburger Haide in den Händen.
Er war auch der Einzige, der zu dem Sackausſchüt¬ teln auch den Kopf ſchüttelte:
„ Welch 'ein Leben! welch' eine Zeit! “
„ O tempora! o mores! “rief der Junker. „ Nu, guck Einer den welſchen Spitzbuben an. Sind das Deine Schuhſchnallen, von denen Du uns ſo oft lamentirt haſt, Wieſchen? “
„ I, zeige Er doch, Herr von Münchhauſen. Ne, meine ſind es nicht. Die hat der Riſchelljöh ſelber an ſich genommen, meine ich. “
„ Aber ich meine, dieſe nimmſt Du dafür an Dich nach Kriegsgebrauch und Recht, Wieſchen. Was meinen der Herr Magiſter? Da haſt Du auch das Putzpulver dazu, Wieſchen. Da, drei Paar Manſchetten und ein halbes Hemde — hatte denn der Kerl nichts an Pro¬ viant bei ſich als den Bauerhahnen am Säbelgurt? Noch einen ſilbernen Kinderlöffel — ein fein Frauen¬206 zimmerſacktuch — Teufel, das Blut! Haben der Herr Magiſter nichts von Eßbarem gefunden? “
„ Alles blutig! alles voll Blut, “murmelte der alte Herr ſchaudernd, einen Knorren angenagten, ſchauerlich feuchten ſchwarzen Roggenbrodes hinüber zeigend, das er mit zitternder Hand herausgeholt hatte aus dem Bündel wollener Socken, Hemden, Fußlappen, welches aus dem Knappſack des Kurfürſten von Hannover ge¬ fallen war.
„ Eine Paternoſterſchnur aus Bernſteinkugeln mit einem ſilbernen Kreuz — “
„ Hat der Schlingel auch nicht bei ſeinen Haid¬ ſchnukken gefunden. Hat er von drüben her aus Weſt¬ falen zum Andenken ſich mitgebracht, “meinte der Junker und fügte kläglichſt hinzu: „ O je, o je, o Herr Gott, vergieb mir meine Sünden und mein freches Maul im Coenacul, wenn die amelungsborner ſchwarze Suppe verſalzen oder angebrannt war, und wir Sparter Panier aufwarfen gegen Küche, Koch, Rector und Amtmann. “
„ Sieht Er dies jetzo ein, lieber Münchhauſen? “fragte Magiſter Buchius, plötzlich ganz als Schulmeiſter — zum erſtenmal an dieſem Tage. „ Habe ich Ihm dieſen Seinen Seufzer nicht hundertmal prophezeiet? Er war Einer von den Schlimmſten jederzeit und hat mir freilich durch Seine loſe Zunge manch 'Unbehagen zubereitet, und ich habe es Ihm mit Kummer nicht verhehlen können, daß Zeiten kommen könnten, da — “
„ Mademoiſelle! “rief der Schüler plötzlich in einem207 Ton, der gar nicht zu dem ſeines Lehrers paßte. „ Mamſell Selinde, Göttin, Amalthea, Sie hat wieder den Schlüſſel zur Speiſekammer. Ja, dieſe verdammten Engliſchen! ſie haben immer das Horn des Ueberfluſſes mit ſich. Jeſes, nun ſeh 'Einer, was Mademoiſells Kriegsfortuna ihr in die Schwanenhände gelegt hat — Vivat Ferdinand, jetzt halten wir ſchon eine Belage¬ rung aus! “
Man konnte nicht ſagen, daß es ein zauberiſches Lächeln war, was nun zum erſtenmal an dieſem wilden Tage das Geſicht der Schönſten von Kloſter Amelungsborn verklärte; aber lächeln that ſie und wies ein beneidens¬ werth geſundes Gebiß dabei von einem Ohre zum andern über ihren Schätzen.
A flitch of bacon — ein gut Stück wenigſtens von einer weſt - oder oſtfäliſchen Speckſeite! Deutſche Bauern¬ wurſt, deutſches Bauernbrod! Der unbehoſete Tartan¬ träger, der wackere Alliirte aus dem hohen Norden hatte es gerade ſo gut wie der arme Teufel vom Golfe du lion verſtanden, auf ſeinem Marſche zum Ith unter¬ wegens zuzugreifen; und Keiner aus der kleinen hungri¬ gen Flüchtlingsſchaar in der Ithhöhle nahm ihm das in dieſem Moment, unter „ ſothanen Umſtänden “, wie Magiſter Buchius ſich doch entſchuldigte, übel. „ Son¬ dern im Gegentheil! “ſprach Thedel von Münchhauſen ſozuſagen mit einer gewiſſen Andacht.
Von den drei Feldflaſchen, die auf der Gefechts¬ ſtelle bei Scharfoldendorf den todten Kriegsleuten von208 den Kindern des Landes im Vorbeieilen mit abgeriſſen worden waren, enthielten zwei auch noch einige Tropfen Brannteweins: „ zu einem erwärmenden Anlecken für mesdames und zu einem gottlob beinahe überflüſſigen ‚ Bäuſchgen‘ auf den ‚ hanebüchnen Dickſchädel des Eſels Heinrich‘, “wie Junker Thedel von Münchhauſen gleich¬ falls bemerkte.
Nach fünf Minuten ſaß die ganze Geſellſchaft ſtumm kauend bei dem Schein des Lichtſtümpchens in der Laterne des Magiſters Buchius, und Jeder horchte für ſich aus der Tiefe des Berges, wie der Zwiſt der Könige ihnen zu Häupten dumpf forttoſete und auch hier zu ihnen hinunterdrang —
„ 's iſt wie lebendig begraben! Lange halte ich das nicht aus, “wimmerte Mamſell.
„ Ich auch nicht, “rief Thedel Münchhauſen, und dann erloſch das Licht in der Laterne, und Magiſter Buchius ergriff das Wort. Er — er — er verſuchte es wenigſtens, die Angſt der gejagten Menſchenkreatur im Finſtern zu beſchwichtigen; er, der ſo oft in ſeinem kümmerlichen Daſein, im dunkeln Winkel verkrochen, vor dem luſtigen Leben der Welt den Vogel Strauß hatte agiren müſſen.
„ Liebe Freunde, liebe Kinder, “ſagte er und rieth er, „ einen Augenblick, nur eine kurze Weile die Augen zumachen! nachher ſcheinen die Sterne wieder in den Brunnen, oder, ich ſage es beſſer, wir ſehen noch ferner das angenehme Licht auch dieſes ſchlimmen Tages. “
209Wie die Kinder thaten ſie, was ihnen gerathen wurde; und ſaßen eine geraume Weile ſtill, auf die Schlacht draußen horchend, auf dieſen Donner, der nur wie ein unterbrochenes leiſes Murren durch die Felſen¬ ſpalten zu ihnen in die Tiefe hinabdrang.
Als ſie wiederum aufblickten, merkten ſie, daß der ſchwache Schimmer des Tageslichtes, welcher durch die¬ ſelben Steinritzen in ihren Zufluchtsort eindrang, ge¬ nügte, ſie „ lebendig im Grabe “bei Beſinnung zu er¬ halten.
Fünf weitere Minuten ſpäter ſeufzte Thedel wahr¬ haft kläglich vor ſich hin:
„ Und das hat Er herausgefunden?! .. Er! Und Wir haben gemeint, der Wald und der Berg vier Stunden um Amelungsborn ſei nur für uns in die Welt hingeſtellt worden! Jetzt ſteckt er uns Alle in die Taſche, und der Bauerochſe Schelze kann ihm nur verſtohlen auf der Fährte folgen. Es iſt eine Blamage für die ganze Schule, und es war die allerhöchſte Zeit, daß ſie aus der lichtgrünen Waldgloria nach Holzminden zu den Schuſtern und Schneidern verlegt wurde. “
Laut rief er, — im rand - und bandlos hervor¬ brechenden Enthuſiasmo ſchrie er:
„ Vivat der Herr Magiſter Buchius! Der Herzog Ferdinand und die Canaillen, der Poyanne und der Chabot müſſen ſich am Ith treffen, daß das Letzte vom richtigen Amelungsborner Cötus nun, da es zu ſpätRaabe, Das Odfeld. 14210iſt, ſeinen beſten, liebſten, tapferſten, klügſten Herrn Magiſter ganz kennen lerne. “
„ Schreie Er wenigſtens, da es dazu wahrlich zu ſpät iſt, nicht jetzo allzu laut, daß Er uns nicht doch die Marodeurs aus aller Herren Volk auch hier noch auf den Hals locke, “rieth Magiſter Buchius. Das Behagen, welches der letzte wirkliche Kollaborator der wirklichen Großen Schule von Amelungsborn jetzt an dem ſchlimmſten letzten Schüler derſelbigen nahm, ſeinen Triumph, welchen er über den beſten wirklichen Scholaren der Großen Wald - und Wildnißſchule feierte, trug er kopfſchüttelnd lächelnd aus unruhvollen Tagen der Ver¬ gangenheit am unruhvollſten eben vorhandenen Tage heraus, auch wie ein Marodebruder, der unterwegens was aufgreift und mitnimmt, uneingedenk der nächſten Kugel und ihres durch Urſache und Wirkung beſtimmten Ziels. — — — — — — — — —
Sie ſaßen ja wohl nunmehr in verhältnißmäßiger Sicherheit. Wie lange aber der Jüngſte unter ihnen, der wahrlich nicht hierum in vergangener Nacht von Holzminden herübergelaufen war, es in ſolcher Sicher¬ heit aushält, das werden wir wohl auch erfahren. Zuerſt gefiel es ihm in dieſem dunkeln Loch nur allzu gut, wenn auch aus einem Grunde, den Magiſter Buchius wenig oder garnicht billigen konnte.
Er, Junker Thedel von Münchhauſen, hatte es wahrlich auch ſoweit im Virgilius gebracht auf der Großen Schule zu Amelungsborn, daß er grinſend in dem ſaubern unterirdiſchen Cachot das Wort des in ſolchen Sachen ganz erfahrenen Vaters Zeus citiren konnte:
„ Jeſes, man kriegt ſo ſchon keine Luft vor Angſt und in der Pechrabenſchwärze, — dichter braucht Er mir nicht auf den Leib zu rücken, Thedel. So laſſe Er doch das Drängeln, Herr von Münchhauſen! “klang es plötzlich aus einem Winkel der Spelunca, weinerlich, verdrießlich, abwehrend.
„ Münchhauſen! “erſcholl es von der andern Seite her, vermahnend, abmahnend; „ aber lieber Münchhauſen, wenn Er da drüben keinen Platz findet, ſo krieche Er hier herüber zu mir her und beläſtige Er nicht Made¬ moiſelle unnöthigerweiſe. Hier iſt des Raumes zur Ge¬ nüge für Ihn und mich. “
„ Mademoiſell Selinde, o mein Licht im Dunkel, “flüſterte es drüben, während Magiſter Buchius vergeblich auf Antwort und Folgſamkeit wartete. „ Mein Wieſen¬ ſtern, mein Roſenſtrauch, mein Schönheitſpiegel, je tiefer der Abgrund deſto höher meine Seligkeit; je finſterer die Hölle deſto heller meine Sonne: je kälter der Keller deſto heißer meine Amour! .. “
„ Er iſt ein ganz dummer Kerl, Herr von Münch¬ hauſen, und wenn mir nicht alle Glieder vor Näſſe, Froſt und Aengſten beberten, ſo ſollte Er ſchon — jetzt aber laſſe Er ab — iſt das ein Ort und eine Stunde für dumme Flattuſen und Dumme-Jungens-Kindereien? So höre Er doch auf Seinen alten verrückten Schulmeiſter, Thedel! “flüſterte es zurück.
„ Lieber Münchhauſen, es iſt Heldenart in großen Drangſalen, ſich von den Schreckniſſen und Moleſten213 der Gegenwärtigkeit frei zu machen, und zu thun, als ob ſie nicht wären. Wir haben die Exempla berühmter Kriegsleute und weiſer Männer. Plutarchos giebt uns Beiſpiele von den Erſtern. Was die zweite Art an¬ gehet, ſo haben wir vor allem Platons zwei Bücher, den Phädon und den Kriton — Er höret mich doch, Münchhauſen? “
„ Wie die, welche das Ohrenklingen haben, das ganze Gehör voll Pauken, Flöten und Trompeten haben, Herr Magiſter, “brummte der Exſcholar von Amelungsborn, ohne die geringſte Ahnung davon zu haben, daß er jetzt wirklich das Buch Kriton am Schluß ziemlich wörtlich citire. „ Der Herr Magiſter brauchen nur zu befehlen, wovon wir hier im Erdenbauch diskurriren ſollen, während uns der Kuckuck und ſein Küſter über den Köpfen aufſpielen, tanzen und den Tanzboden eintreten — “
„ Herr Magiſter, “ſeufzte aus ſeiner Ecke in der Erdhöhle Knecht Heinrich. „ Herr Magiſter, ich meine, ich bin halbwegs wieder bei Beinen. Den Kellerhals kenn 'ich ja leidergottes gegen des Herrn Magiſters Vorwiſſen, und auf die Gefahr käm's mir nicht an, den Kopf vorzuſtecken und zuzuſehen, wie's draußen ſtünde. “
„ Du bleibſt hier, Du bleibſt bei mir, Du bleibſt wo Du biſt und rührſt Dich nicht von der Stelle, “kreiſchte Wieſchen. „ Wer einzig und allein hier zu ſagen und zu befehlen hat, und den Kopf vorzuſtecken und draußen zu ſpioniren hat, das iſt einzig und allein unſer einzigſter Troſt und Helfer in dieſer Angſt und214 dieſem Elend, der Herr Magiſter, der Herr Magiſter Buchius! “
Magiſter Buchius, unterbrochen in ſeinem erſten Anlauf, ſich und ſeiner ungebehrdigen Genoſſenſchaft die Zeit im Dunkeln bis zur möglichen Erlöſung heroenhaft und wiſſenſchaftlich zu vertreiben, ſprach:
„ Herzenstochter, Du hätteſt wohl Recht: es ſollte ganz eigentlich am hieſigen Orte kein Anderer als wie ich als erſter neuer Poſſeſſor nach unſeren Vorfahren, der Cherusker Auszug, die Verfügung über Thor und Thür, Eingang und Ausgang haben. So werde ich denn wirklich auch der Erſte von uns allhier ſein, der für¬ ſichtig nach dem Wetter draußen ſiehet, wenn es mir Zeit dünkt, guter Freund Heinrich. Von Ihm aber, Münchhauſen, wünſche, erhoffe und glaube ich, daß Er mich auch in dieſer Finſterniß oder Dämmerung drauf hin anſehen werde, wie ich unſern vornehmen Altvordern den erlauchten Herren des Landes, des Grunds und Bodens, einen ſolchen gemeinen, beſchwerlichen, unbe¬ quemen Aufenthalt in Höhlen und Schluchten des Waldes und Gebirges anweiſen dürfe — “
„ Thedel, ich ſage es Ihm zum allerletzten Male! “ziſchelte es in der unbequemen, beſchwerlichen, cherus¬ kiſchen Höhlen - und Schluchtdunkelheit.
„ Ich ſehe den Herrn Magiſter ganz genau darauf an — ſitze Sie nur ſtille, o Mademoiſelle — Mamſell Selinde! “
„ Sieht Er, das freut mich! Und ſo weiſe ich Ihn215 denn gern auf den Dio Caſſius hin, in welchem Er bei gemächlichern Umſtänden nachſchlagen mag: Cha¬ riomerus autem rex Cheruscorum a Chattis imperio suo ejectus. “
„ Uh Jeſes, Heinrich, hörſt Du das und gruſelt's Dir da nicht noch mehr? “
„ Es ſollte eigentlich Griechiſch ſein, Wieſchen, iſt aber bloß Lateiniſch. Und auf Deutſch iſt's auch nicht ſo ſchlimm, als es ſich anhört, “lachte Thedel von Mamſells zärtlicher Seite her, „ da bedeutet's nur, daß der Härzer König Gariomer von den blinden Heſſen auch ſeinerſeits aus Haus, Hof, Bett und Stall heraus¬ geſchmiſſen wurde und allhier wie wir heute in Wald und Schlucht ſich verkriechen und vielleicht grade in dieſer ſelbigen Spelunke unterkriechen mußte. “
„ Ach du liebſter Gott, auch der vornehme Herre? “ſeufzte Wieſchen mitleidig.
„ Sie ſagen, König Fritze hätte manchmal viel darum gegeben, wenn er nur ſolchen ſichern Ort zum Unter¬ kriechen gehabt hätte, “meinte Heinrich Schelze.
„ Dieſes iſt ſo, Schelze, “ſprach der Magiſter Buchius melancholiſch. „ Das Geſchick ducket die Könige und die Bettler gleicherweiſe nieder, wenn es ihm beliebet. Von Ihm aber, Herr von Münchhauſen, freuet es mich, daß Er nicht den Herrn Paſtor Dünnhaupt bei Seiner Derivation des Namens unſerer hochberühmteſten cherus¬ kiſchen Altvordern folget. Es ſcheinet mir doch zum Mindeſten ein wenig zu weit hergeholet, wenn der Herr216 Paſtor behauptet, daß dieſe Nation von ihrer Arbeit¬ ſamkeit und unverdroſſenem Fleiße Gar ut ſin benannt worden wäre, welches dann die Lateiner Cheruſci aus¬ geſprochen hätten. “
„ Gar ut is et friilich balle mit öſch, “murmelte Mamſell Selinde, aber:
„ Vivat der Herr Paſtor, der Herr Paſtor Dünn¬ haupt! “klang es ſeltſamerweiſe aus dem andern Winkel der verſündfluthlich-cheruskiſch-kattiſchen Felſenhöhle. „ Dies hätte ich ſchon wiſſen ſollen, wenn uns auf unſern Bänken in Amelungsborn die Herren vom Katheder aus cheruskiſche Bärenhäuter benamſeten. Faule Stricke, grobe träge Flegel, landeingeborene Schweinpelze, und — per eminentiam — cheruskiſche Bärenhäuter uns betitulirten! .. Hört Sie es nun wohl, Mademoiſelle? Seit Uranfang ſind wir belobt wegen Arbeitſamkeit und von wegen unverdroſſenem Fleiße! Und es iſt Alles ſtinkende Verläumdung geweſen, was man uns an übelem Geruch und Ruf aufgeladen hat ſeit tauſend Jahren. “
„ Wenn Er mir jetzo eins von den warmen Bären¬ fellen, auf denen ſich Seine Herren Vorfahren geräkelt haben, ſchaffen könnte, ſo wollte ich mich zum erſtenmal heute bei Ihm bedanken, Thedel. Wie es aber iſt, bleibe Er mir auf tauſend Schritte vom Leibe, Er iſt näſſer und kälter als wir Alle mit ſeinen Zuthunlich¬ keiten. “
„ Herr Paſtor Dünnhaupt will Behauſungen unſerer Vorfahren, wie wir ſie heute, jetzt, durch Gottes Güte,217 Hülfe und gnädigen Beiſtand einnehmen dürfen, noch an der Elbe bei dem Gute Langeleben angetroffen haben, “ſprach Magiſter Buchius. „ Ich für mein Theil glaube außer dieſen auch noch drüben am Vogler bei Hohlenberg auf ſolche geſtoßen zu ſein, an der großen und an der kleinen Hohle, gegen den Butzberg zu. Was die hohle Burg bei Stadtoldendorf anbetrifft — “
„ Herre, “unterbrach hier, wahrſcheinlich haſtig ſich aus den Armen ſeines Wieſchens aufrichtend, der Knecht Heinrich Schelze, „ Herre, Herr Magiſter, die Unter¬ kommen und Höhlungen da im Stein ſtammen nicht von den alten, lange verſtorbenen Bärenhäutern! Man ſoll eigentlich lieber nicht davon ſprechen. Sie haben's nicht gerne; aber die darin gewohnt haben, die wohnen heute noch darin. Ich habe ſelber Einen von ihnen am hellen heißen Mittage ſitzen ſehen — am hellen lichten Mittage, um Johanni, ſo um die Siebenſchläfer und Peter und Paul herum, mitten im Sommer, mitten am Mittage. “
„ Jeſes, Heinrich! “rief Wieſchen; — „ ich bin nicht dabei geweſen, Mademoiſell Selinde, “lachte Thedel von Münchhauſen. Der Magiſter Buchius aber fragte ernſt¬ haftiglich:
„ Was — wen hat Er ſitzen ſehen, Schelze? “
„ Einen von ihnen — den Kleinen, Herre! Auf der hohlen Burg unter der Homburg! Er ſaß bei ſeinem Loch und ließ die Beine baumeln. Wie ein dreijährig Kind mit einem alten, alten Kopf und
218langem rothgrieſen Bart und einer Kappe halb über die Augen. Und es war wohl mein Glück, daß er um die Zeit auch halb im Schlaf war und ſaß und mit dem Kopfe nickte. Ich hatte meine Barte bei mir, aber Gott der Herr hat mich davor bewahrt, daß ich ſie nach dem Spuk warf. Als ich wieder hin ſah, iſt er weg geweſen. “
„ Nun guck Einer den dummen Kerl, “rief der Junker von Münchhauſen. „ Mademoiſell Selinde, wäre ich dabei geweſen, als Cavalier und irrender Ritter, ich hätte meiner Allerſchönſten, meiner Allerliebſten und königlichen Prinzeß den Zwerg von der hohlen Burg an Händen und Füßen gebunden, über den Rücken gehängt mitgebracht nach dem Kloſter und zu ihren Füßen geleget. Er iſt doch nur ein Rindvieh, Schelze, ſo gute Freunde wir auch ſonſt ſind, Heinrich. “
„ Das ſagt Er wohl, Herr von Münchhauſen, “ſagte Heinrich Schelze; doch Magiſter Buchius ſprach, in ſeiner finſtern Ecke wiſſenſchaftlich melancholiſch den Kopf ſchüttelnd: „ Es iſt wohl nur eine Phantaſie, eine Phantasmagoria, eine Einbildung und Täuſchung der Sinne geweſen, lieber Heinrich; aber, lieber Thedel, die Welt iſt doch voll der Mirakel und Myſterien, und der Menſch, wie er in der Schwebe hängt zwiſchen Himmel und Erde, ja, zwiſchen Himmel und Hölle, ſo hänget er auch zwiſchen Dem, was er begreifet und Dem, was er nicht begreifet um ſich her und in ſich ſelber. Der Menſch ſitzt in der finſtern, ſchaudervollen Nacht in Heiterkeit und219 bei hellem Verſtand und bedienet ſich ſeiner Vernunft fröhlich bei ſeinem Studio oder in Ueberlegung ſeiner zeit¬ lichen Umſtände. Und derſelbige Menſch traut am hellen Mittage bei leuchtender Sonne unter Gottes blauem Him¬ mel nicht ſeinen fünf Sinnen! Ja, er ſtehet vor den beiden großen Grundſätzen aller unſerer Erkenntniſſe, dem Satz des Widerſpruches, nämlich daß es unmöglich iſt, daß etwas zugleich ſei und zugleich nicht ſei; und dem Satz des zu¬ reichenden Grundes, nämlich daß Alles, was iſt, einen zu¬ reichenden Grund haben muß — er ſtehet, ſage ich, wie die Kuh vor dem verſchloſſenen Thor. Was die ſchlimmſten, die ärgſten Zweifler oder Skeptici nicht läugnen, das ſchwanket in ſeiner Seele. Er ſiehet am hellen Mit¬ tage Dinge, die Dem ſchnurſtracks widerſprachen, was, abgeſehen vom Principio rationis sufficientis, die Alten ſchon das Principium exclusi medii inter duo con¬ tradictoria nannten. “
„ Jeſes, Jeſes, Jeſes! “wimmerte das Wieſchen; doch der Magiſter fuhr mit erhobener Stimme fort:
„ Ja, der Menſch glaubt am hellen Mittage an ein Drittes zwiſchen zwei Widerſprüchen. Auch ich habe in dieſen Gegenden am lichten Sommertage, wenn die Sonne am heißeſten auf's Geſtein und die Waldblöße brannte, Dinge geſehen — Dinge geſehen, ſage ich, die mich an mir ſelber und dem Satze, daß etwas entweder ſein oder nicht ſein muß, zum herzbebenden Zweifeln brachten. “
„ Davon ſollten der Herr Magiſter gerade jetzo der220 Beruhigung wegen das Genauere erzählen, “meinte Thedel; doch Magiſter Buchius ſprach ſchon ohne dieſe Aufmunterung weiter:
„ Ihr kennet Alle auf dem Küchenbrinke unſer ur¬ altes Kloſtergebäude, ſo heute noch der Stein genannt wird. Es ſtehet über den alten Sundern, an deſſen Ende gen Weſten ſich noch Rudera einer Kapelle finden, ſo die Klus von uns genannt wird. Da hab 'ich ihn geſehen um eilf Uhr gegen Mittage, gerade als die Kloſterglocke ſchlug, am zwölften Juli des Jahres Sieben¬ zehnhundertſiebenundvierzig.
„ Wen? Wen? Wen? “rief athemlos, trotz der Schlacht des Herzogs Ferdinand und des Marſchalls von Broglio am fünften November Siebenzehnhundert¬ einundſechzig, die Geſellſchaft in der Ithhöhle.
„ Den erſten ureigenen Herrn und Eigenthümer der heiligen Stätte vor unſerm Einſiedler, den Waldbruder Amelung! Er ſaß mit einem blutigen Meſſer auf den Ruderibus der Klus, mit langem, greiſem Bart und einem Eichenkranz, doch das Haupt geſenket wie in tiefſten Gedanken. Er kümmerte ſich nicht um mich. Er ſah nicht nach mir. Woher ich es wußte, weiß ich nicht; aber ich wußte es, er war den Küchenbrink herab¬ gekommen vom Steine; er war herausgekommen aus der Pforte nach Mitternacht, wo man heute noch das Agnus Dei mit der Fahne eingehauen ſiehet, von dem Orte, wo ſein Stein geſtanden hat, ſein Altar und Opferſtein, allwo man die Römer und die Soldaten221 Caroli Magni abgeſchlachtet hat, ehe und bevor Graf Siegfried von der Bomeneburg, was wir heute die Homburg heißen, unſer Kloſter anlegte und es mit dem Hedfeld, dem Heidenfelde dotirte. “
„ Und dann, Herr Magiſter? “fragte jetzt ſelbſt Mamſell Selinde Fegebanck.
„ Dann, meine liebſte Mademoiſelle, löſete ſich Dieſes, ſo für den tagtäglichen Menſchenverſtand ganz und gar außerhalb des Principii rationis sufficientis, will ſagen, des Satzes vom zureichenden Grunde lag, auf im Flimmern der heißen Sonne über dem Trümmerge¬ ſtein und dem jungen Tannenwuchs, und nach einer Weile mußte ich nach Hauſe, dieweil nun doch bald die Glocke den Cötus von Amelungsborn zu Tiſche läutete. “
„ Nihil est sine ratione sufficiente, Mamſell Se¬ linde, “rief jetzt Thedel von Münchhauſen. „ Alles was iſt, muß ſeinen zureichenden Grund haben, die Amour und der Haß! Auch die Wuth, die der alte Barde auf unſern ſeligen, alten Waldbruder Amelung gehabt haben muß. Herr Klopſtock hätte von ihm nicht ver¬ langen können, daß er unter ſeinem erbeigenthümlichen Herd und Küchenbrinke anſtimme: Sing unſterbliche Seele der ſündigen Menſchen Erlöſung! Aber nun laſſen die Herren auch mich mal heran. Auch Unſereiner hat wohl ſeine Spukgeſchichten erlebt bei Tage und bei Nacht in dem alten Spukekaſten Amelungsborn und draußen. Es iſt bis unters Deckbett nicht immer ge¬222 heuer, Mademoiſelle, und wenn Herr Leſſing ſeinen
ſo ſpreche ich mit dem Jüngling:
Hat nicht der Herr Amtmann einmal in der Nacht vor Kreuzeserhöhung auf eines aus ſeinem Fenſter ge¬ ſchoſſen, wo freilich Herr Magiſter Leſſing ſeinen Alten wieder ſingen läßt:
Nichts ohne ſeinen zureichenden Grund, nihil sine ratione sufficiente hätte der Jüngling in dieſem Falle mehr als in einem andern logice antworten dürfen; doch ich laſſe es dahin geſtellt, und rede auch nur von dem, was mir perſönlich paſſirt iſt und auch wie dem Herrn Magiſter Buchius und dem Knecht Heinrich außerhalb von Kloſter Amelungsborn. Der Heinen Grasgrabe kennt wohl Jeder von uns? “
„ Ei wohl, “ſprach Magiſter Buchius, „ das Feld vor dem Kloſter zwiſchen der Heerſtraße und dem gleich223 einer Zunge aus dem Vogler vorgehenden Berge, weſt¬ lich vom Odfelde, dem Campus Odini, nordwärts unter dem mit Holz bewachſenen Berge, ſo — “
„ Der Bütze - oder Butzeberg heißt. Da bin ich für mein Theil dem Butzemann begegnet — “
„ Permittire Er einen Moment, lieber Münchhauſen, “rief aus ſeinem dunkeln Dolomitwinkel Magiſter Bu¬ chius, „ was Er uns auch zu berichten die Abſicht haben mag, Er iſt dießmal damit auf dem richtigen, durch die Hiſtorie begründeten Boden. Dorten war der ge¬ heiligte Hain, das Fanum Odini, der finſtere und heim¬ liche Wald, worin die Gottheit unſerer Ahnen gegen¬ wärtig war. Ohnſtreitig entſtand Böſe von Butz; und die Chriſten haben zur Abſchreckung den Ort den Butzberg genannt, und manche Mutter und Kindsfrau ſchrecket noch jetzo unſchicklicher Weiſe die Kinder mit dem heid¬ niſchen Butzmann oder Buſſemann — “
„ Und ich habe dort den Hohlenbergern, einerlei ob aus der großen oder der kleinen Hohle, am hellen lichten Mittage den Glauben an den Butzemann beigebracht, daß ſie heute noch ihren Kindern hinterm Ofen damit Bange machen und Kinder und Kindeskinder noch nach hundert Jahren davon erzählen werden. Nämlich ſie waren zu Funfzig mal wieder über Heinrichen her. Sie hatten meinen beſten Waldkameraden Heinrich Schelzen mal wieder unter ihren groben Bauerfäuſten zu Boden — “
„ Herr Du mein Leben, i Blitz nochmal, iſt denn224 das die Möglichkeit? “rief jetzt hierzwiſchen der gute Knecht Heinrich Schelze aus dem tiefſten Heiden - und Spuke - Keller mit vollſtändig geſundeter ſtarker Stimme in höchſter Verwunderung. „ J, Donnerwetter, Blitz und Hagel, Herr von Münchhauſen, waren denn das der Herr Junker, der uns Kloſterleuten da aus dem Buſch als unſer Vorfahr und wilder Mann zu Hülfe und den Bärenhäutern und verfluchten Bauern über die Lauſe¬ köpfe kamen? “
„ Schlechtweg und zufällig, Heinrich; — simpliciter et per accidens, Herr Magiſter, “lachte der Thedel von Münchhauſen. „ Ich kam aus dem Froſchpfuhl auf dem Odfeld. Wo alle Cherusker, Katten und Sachſen bis zu Karl dem Großen ihr Opfervieh und ihre Prieſterinnen gebadet haben, Herr Magiſter. Es war uns von Schul¬ wegen verboten, das heidniſche Liegen im Waſſer; aber wer es thun wollte, der heißen Tage wegen, der that es doch, contra leges. Ich will's jetzt nur geſtehen, und der Herr Magiſter haben ſelber wohl dann und wann ein Auge zugedrückt im Walde. So kam ich dießmal, mit Erlaubniß der Damen, nackigt wie der wilde Mann auf den Harzgulden über die Hohlenberger und gottlob auch mit einem jungen Tannenbaum in der Fauſt. “
„ Hierüber kann man Alles vergeſſen, Bataille, Franzoſen und Engländer! “rief Knecht Heinrich in allerhöchſter Verblüffung. „ Nun ſind der Herr Junker von Münchhauſen auch dieſe Erſcheinung geweſen? Und225 vor jeder Kuh - und Pferdekrippe, in jeder Spinnſtube, geht es im Sommer und im Winter, bei Tage wie bei Nacht um: der wilde Mann vom Harze habe ſich auch hier bei uns an der Heinen Grasgrabe ſehen und ſpüren laſſen! “
„ Sehen und ſpüren laſſen! “lachte Thedel von Münchhauſen. „ Ein paar blutige Köpfe und blau und grüne Buckelſtriemen ſetzte es wohl ab. Dießmal ließ das Spukeding einige handgreifliche Beweiſe von ſeiner Erſcheinung zurück; ehe und bevor auch es ſich wieder in die blaue Luft auflöſte. “
„ Und der Herr Junker hat es über ſich vermocht, hierüber den Mund zu halten und nur in der Stille ſein Gaudium an — uns Allen in und rund um Kloſter Amelungsborn zu haben? “rief Heinrich in voller Bewunderung einer Verſchweigſamkeit, deren er ſich nimmer nach einem ſolchen Streiche für fähig achtete. „ Was ſagen denn der Herr Magiſter jetzt hierzu? “
Magiſter Buchius ſagte gar nichts. Er ließ nur ein undeutlich Gebrumm vernehmen und nicht ohne rationes sufficientes, nicht ohne zureichende Gründe.
Er hatte ſeinerzeit nämlich durchaus nicht gewußt, was er von dieſer kurioſen Apparition des Wilden Mannes, des Butzemannes vom Harze unterm Butze¬ berge am Vogler und auf dem Odfelde, auf dem alten Geſchichts -, Geiſter - und Zauberboden zu halten habe. Wie er ſich zu verhalten habe gegen die Meinungen und Anſichten, die Jedermann um ihn her, ſpöttiſch,Raabe, Das Odfeld. 15226bedenklich, angſthaft-gläubig oder kopfſchüttelnd kund gegeben hatte.
Er hatte ſeinerzeit, Alles in Allem in Erwägung ziehend, nur:
„ Hm! hm! “
geſagt; und jetzo, in der Tiefe ſeiner wunderlich aus¬ ſtaffirten Gelehrten-Seele und ganz heraus aus dem Geiſt, Wiſſen und Glauben der weiland großen Wald -, Wildniß - und Kloſterſchule von Amelungsborn, ſagte er wiederum nur:
„ Hm! ... hm, hm, hm, hm! Ahm! “
„ Dieſe dummen Geſchichten machen Einen nur immer nur noch kälter und verklommener, und die letzte auch noch naſſer in der Einbildung, “meinte aber jetzt weiner¬ lich-verdrießlich Mademoiſell Selinde. „ Und heller wird's auch nicht davon hier im Mordkeller. Man ſieht jetzo wohl ſeine Hand vor Augen, aber auch weiter nichts; und wenn ich einmal ſterben muß, ſo will ich's doch lieber draußen im Lichte. Man vernimmt auch von draußen her gar nichts mehr von der dummen Bataille. Das Grummeln und Brummeln hat ja gänzlich aufge¬ hört, und wenn's nach mir ginge, hätten ſich nun Alle die Hälſe Einer dem Andern abgeſchnitten, daß man ruhig wieder nach Hauſe könnte. Jetzt bleibe Er von mir, Thedel; oder ich ſpiele Ihm den Butzemann, oder wilden Mann vom Harz und tachtle Ihm eine Maul¬ ſchelle hin, daß Er Sein Lebetage bis zum Kopfwackeln hin an Seine dumme Prinzeß von Kloſter Amelungs¬227 born in Wirklichkeit und Wahrhaftigkeit zu denken haben ſoll.
„ Herr Magiſter, “rief Junker Thedel von Münch¬ hauſen, „ Herr Magiſter, Mamſell hat Recht, ſo wahr ich lebe! Hier hocken wir, Hans und Hannchen im Keller, und erzählen einander dumme Spukegeſchichten, und draußen bringen ſie die Welthiſtorie zum Austrag, ohne daß Einer von uns drauf acht giebt. Sie haben, der Teufel hole mich, ihr Pulver beiderſeits verſchoſſen, oder der Eine hat den Andern unter. Vivat Herzog Ferdinand und die hohen Alliirten! Mamſell hat auch darin Recht, der Satan hält uns hier im Tartaro ein¬ geſpundet. Sehe Sie zu, wie Sie gut nach Hauſe kommt, Mademoiſell Fegebanck. Ich krieche vor aus dem Loch und ſehe nach, wir es draußen ſteht — “
„ Caute, caute! Mit Vorſicht, Münchhauſen. Laſſe Er mich erſt Seinen Rockſchooß faſſen, lieber Münch¬ hauſen! “rief Magiſter Buchius, mit zitternder Stimme, aber im vollen Bewußtſein, daß man ſich in dieſer Ithhöhle wohl ein wenig zu lebhaft von alten Spuk¬ geſchichten unterhalten habe.
15*„ Merde! “ſagte Junker Thedel von Münchhauſen in der freien Luft, im Licht des Tages vor der Ith¬ höhle ſeinen geſchwollenen blutrünſtigen Backen reibend, und das Wort kam mit herzlichſtem Nachdruck aus ſeiner Bruſt. Er war nicht, ein umgekehrter junger Curtius, aus dem Schlunde aufwärts in die Schrecken der Erd¬ oberfläche gekrochen, ohne ein letztes aber auch unverge߬ lichſtes Zeichen von Mamſell Selindens Zärtlichkeit mit ins Tageslicht empor zu nehmen. Die Schöne drunten in Nacht und Dunkel hatte dießmal nicht nur zuge¬ ſchlagen, ſondern auch vier von ihren fünf Fingernägeln ihm in die Wange eingeſetzt und vier blutige Striemen dem zärtlichen Knaben vom linken Ohr hinunter bis zum Kinn gezogen: „ So careſſire Ich, Musjeh Thedel,
Herr Junker von Münchhauſen! ..... “
„ I ſo 'ne Katze! ſo' ne Wildkatze! “ächzte Thedel, ſeine vom Zufühlen blutgeröthete innere Handfläche be¬ trachtend. „ Dafür Cavalier und Ehrenretter bis zum Tode durch Strick und Gewehrkolben? O Venus, ο Cypria, Paphia und wie Du ſonſt geheißen wirſt, Canaille! 229Eine ſchöne Narbe bringe ich für mein Theil aus der glorreichen Bataille heute. Ja, rufe der Herr Magiſter da unten nur aus ſeiner Caverna! An meinen Rock¬ ſchooß will er ſich hängen? Merci — merde! Vivat der Tod für's Vaterland! pro duce — pro rege. Zum Teufel mit allen Frauenzimmern. Dulce et decorum est — So 'ne Wildkatze! ausgeſtopft im Glaskaſten möchte ich ſie jetzo haben und nimmer anders! Da kriecht der alte Herr richtig zu Tage, und mein Mädchen, ma belle, ma Princesse ihm nach. Du mein Gott, kann ſich der Welt allerhöchſte Schönheit und Lieblich¬ keit ſo in einen wüthigen Satan verwandeln? Für ſolch Confekt danke ich in alle Ewigkeit. Kochen Sie ſich Jungfer Nichte ſauer, Herr Kloſteramtmann von Amelungsborn! “
Es war ihm einerlei was ihm in den Hals kam; aber ſingen — brüllen mußte er; und da war der Halberſtädter Grenadier immer wieder der rechte Mann:
Aber im Begriff ſich in das Lennethal und den heu¬ tigen Schlachttumult des guten Herzogs Ferdinand von Bevern hinunter zu ſtürzen, ſpürte er plötzlich nicht die Hand des Magiſters Buchius an ſeinem Rockſchooß, ſondern wahrlich eine gröbere Fauſt an ſeinem Rock¬ kragen.
230„ Stop, laddi! Lal de daudle. lal de daudle .... What, toddling hame? “
Und ſich wüthend umſehend fand er ſich wehrlos im Griff und in der Gewalt eines baumlangen, nackt¬ beinigen Schottländers mit Mütze, Schurz, Flinte und Meſſer, — letzteres Beides ganz und gar zu ſeinem Dienſt parat. Daß ein zweiter Gäle ſich eben bückte und den deutſchen Magiſter und letzten Kollaborator von Amelungsborn gleich einem ſchwarzen Rieſenmaulwurf aus der Felſenſpalte empor zog, und daß noch ein halb Dutzend von derſelben Art auswärtiger hoher Verbün¬ deter des Königs Friedrich in Preußen mit Spannung Acht hatte auf das, was der germaniſche Wald und Erdboden noch zu Tage fördern könne: das ſah er auch — wie man Solches unter ſolchen Umſtänden eben ſieht und ſehen kann.
Es unterlag keinem Zweifel, dieß Volk wußte aus ſeiner Heimath her Beſcheid in Wald, Berg und Fels und wußte die Jagdbeute nöthigenfalls auch unter die Erde zu verfolgen. Ei, dieſe Herren verſtanden es, den Dachs zu graben und den Fuchs im Nothfall aus¬ zuräuchern. Den ſchwarzen „ Domine “hatten ſie draußen, lachend den Ueberraſchten, im Tageslicht Blinzelnden, unter ſich im Kreiſe drehend und ſaſſeniſch wie keltiſch auf ihn einredend. Daß er in fremden Zungen nur hebräiſch, griechiſch, lateiniſch und mit „ Mon dieu, mes¬ sieurs, mais — nous sommes des amis! “zu antworten wußte, war unter den gegebenen Umſtänden mißlich231 genug. Für ſein verdächtiges Franzöſiſch ſchlug man ihm nur den Hut auf die Naſe hinab und verſetzte ihm einige Püffe und Rippenſtöße mehr.
Aber ſchon lag Einer dieſer fremdländiſchen Schlingel lang vor dem Loche und griff mit langem Arme hinunter in die Felſenſpalte des Idiſtaviſus, während zwei Kameraden ihre Flintenmündungen ebenfalls auf den Ausgang von des Magiſters Buchius letztem, ſicherſtem Zufluchtsort im Wirbel der Zeiten richteten.
„ Uiih! “pfiff er gellend, der Kelte oder Gäle nämlich! Mit einen wahrſcheinlich ſcheußlichem Fluch in ſeiner Mutterſprache fuhr er mit der Hand an den Mund wie ein von der Katze gekratztes Kind. Die vier blutigen Striemen, die ſie dem Junker Thedel von Münchhauſen über die Wange gezogen hatte, hatte Mademoiſelle dem unvorſichtigen Macmahon, Mac¬ pherſon, Macaulay oder Macintoſh über die beutegierige rechte Fauſt geriſſen.
Er ſog auch wie ein Kind an ſeiner ſchmerzenden Pfote, der wilde Kaledonier; aber nur einen Augen¬ blick. Im nächſten Moment griff er von Neuem zu und in die Tiefe und hielt feſt, was er gefaßt, ohne ſich an das Gekreiſch unter ihm, im Erdinnern zu kümmern.
„ Flegel! “keuchte Mamſell Selinde Fegebanck, ihrer¬ ſeits im Tageslicht wieder feſten Fuß faſſend und unter den ſchottiſchen Wilden, trotz Adlerfedern, Meſſern und232 Flintenläufen nach Rechts, nach Links hin eine Ohrfeige um die andere vertheilend.
„ Ihr unpolirten Lümmel, hat Euch König Fritze dazu hergerufen? “fragte ſie. „ So'n verzotteltes, hoſen¬ loſes, rothhaariges Lumpenvolk? Da — da — da! Wart 'ich werde euch kuranzen, ihr Kannibalen! Ihr wollt unſere Alliirten, unſere liebſten beſten Freunde ſein? Ich danke für euch und lobe mir meine Fran¬ zoſen zu Pferde und zu Fuße. Selber die Luckner'ſchen ſind mir noch lieber, als ihr Waldteufel, ihr Uriane, ihr Grobiane, ihr indianiſches dudelſackrattenfängeriſches Taterngeſindel! “
Die überſeeiſchen Wilden lachten ziemlich gutmüthig über die erboſte, die wuthentbrannte Schöne; und das Abenteuer fing dann erſt an eine ſchlimmere Wendung zu nehmen, als man auch das Wieſchen und den Knecht Heinrich Schelze aus dem Berge hervorgeholt hatte.
Die ſchottiſchen Gebirgsleute wußten es, wie man Felſenhöhlen auszuſuchen habe. Sie ſchlugen Feuer und ſchickten ihre Schmächtigſten mit den Meſſern zwiſchen den Zähnen und einem dürren, harzigen, in Flammen geſetzten Tannenaſt in die Tiefe und Dunkel¬ heit zu genauerer Nachforſchung nach Kriegsbeute oder auch nur nothdürftigem weiterem Marſchproviant: Deil tak the hindmost! Guid speed the wark! ....
Es flog des Magiſters Laterne an's Tageslicht, der franzöſiſche Torniſter und der deutſche Ranzen. Sie233 fanden aber leider auch die geleerte Taſche des todten Kameraden von der Heerſtraße bei Scharfoldendorf, und ſtiegen aufwärts mit ihr aus dem Dolomit des Iths und hielten ſie dem Magiſter Buchius, dem Knecht Heinrich und dem Junker Thedel von Münchhauſen zugleich mit den Fäuſten, Meſſern und Büchſen vor die Naſen und baten jetzt um Auskunft in ihrer wirklichen Mutterſprache. Sie fragten mit Oſſian, Fingal und Ducho¬ mar auf der Haide, wie die Seehundstaſche des Kriegsge¬ noſſen in die Ithhöhle und wie das Blut an die Taſche komme? Wer von den Landeseingeborenen das Wort nicht verſtand, dem war die Gebärde deutlich genug. Die Fremden aus dem Norden ſprachen jetzt, gegen zehn Uhr Morgens, unter dem „ Rothen Stein “zwiſchen Scharfoldendorf und Eſchershauſen nicht weniger ver¬ ſtändlich mit den Kindern des Landes, als wie vorhin die Fremdlinge aus dem Süden, gegen Tagesanbruch, auf dem Amelungsborner Kloſterhofe. Wenn der Hiſtorio¬ graph keltiſch verſtände, würde er mit Vergnügen ſeinen wahrheitsgetreuen Bericht auch durch dieſes Idiom ver¬ zieren, und zu Papier bringen wie es auf ſchottiſch, gäliſch, iriſch, und ſo weiter lautet, das gute deutſche Wort:
„ Mord und Tod, hängt ſie! Schlagt ihnen die Schädel ein! Zieht den Kerlen die Meſſer durch die Gurgeln und nehmt die Weibsbilder mit, wenn es der Beſchwerde werth iſt! “........
Zu der nämlichen Stunde, wie geſagt, ſo gegen zehn234 Uhr Morgens, ſeufzte der gute Herzog Ferdinand mit ſeinem bunten Generalſtabe, unter ſeinen deutſchen und engliſchen Herren auf einer Anhöhe haltend zwiſchen Scharfoldendorf und Eſchershauſen:
„ Mon dieu, dieu, lieber Weſtphalen, quelle guerre! Wieder ein vergeblicher Bluttag. Granby hält die Stellung, aber Monſieur de Poyanne iſt unver¬ hindert auf dem Rückzuge nach Göttingen. Leider, leider! — Weſtphalen, was iſt das mit Hardenberg geweſen? Ich bitte Sie um des Himmels Willen, wo blieb Hardenberg? Dort drüben jenſeits Stadtoldendorfs ſollte er ſeit Stunden ſtehen, der Herr Generallieutenant von Hardenberg. Quelle fumée épaisse la bas? Welch 'ein ſchwarzer Qualm! Das iſt nicht mehr die Artillerie. Man ſitzt ja hier jetzo wie in der Kirche in der Stille. Auch Mylord Granby hat ſein Feuer eingeſtellt. “
„ Der Herr Marquis wünſcht ſich eben den Rücken von uns frei zu halten, Durchlaucht. Er hat es heraus¬ gefunden, was man mit ihm im Sinne hatte, und den Herrn Generallieutenant verſpürt er vielleicht früher als wir hier im Anmarſch. So ſalvirt er ſich, da es noch Zeit iſt. Er wird ſein Lager bei Stadtoldendorf in Brand geſteckt haben, um uns die hohlen Wege durch Feuer und Qualm zu ſperren. Durchlaucht werden leidergottes auch heute noch nicht dem dritten ſchle¬ ſiſchen Kriege wenigſtens hier an der Weſer ein Ende machen. Durchlaucht werden heute Mittag nur Ihr Hauptquartier in Wickenſen nehmen können. “
235Der Herzog hob ſich im Sattel und zu ſeinem mi¬ litäriſchen Gefolge ſich wendend rief er:
„ Ordre an Lord Granby, mit allen Truppen, die er vom General Conway an ſich ziehen kann, über Vorwohle und Wenzen dem Erbprinzen unter der Hube zum Soutien weiter zu gehen. Wir ſtecken wieder nur die Winterquartiere ab für dies Jahr und nehmen was wir kriegen können von unſerm Grund und Boden. Zurück mit dem Herrn Herzog von Broglio und den übrigen Herren Franzoſen — wenigſtens zurück über den Sol¬ ling! Gentlemen, wir rücken auf Einbeck, wo wir leider heute unſerem Herrn Neffen, dem Prinzen Karl Wilhelm Ferdinand, nicht die verabredete Unterſtützung bieten konnten. Wir werden nach geordneten Umſtänden im nächſten Monat unſer Hauptquartier in Hildesheim nehmen und wieder nicht in Frankfurt am Main. “
Dann in ſeinem Sattel wieder zuſammenſinkend murmelte er von Neuem:
„ Quelle guerre! welch 'ein Krieg! welch' ein Krieg, welch 'eine Schlächterei ohne Ende! “
Ach, er hatte wohl Recht; es ſah um ihn und ſein freundliches Herz her nur zu ſehr aus wie in einem rieſenhaften Schlächterhauſe. Die Todten und Ster¬ benden aus Deutſchland, England, Schottland und Frank¬ reich lagen dicht geſäet rundum. Kein Baum an der zerwühlten Heerſtraße den Ith entlang, unter welchem nicht Verwundete vor den Rädern und den Hufen der236 Pferde Schutz geſucht und in der Näſſe und im ſcharfen Herbſtwinde ſich zuſammengekauert hatten!
Der Regen hatte um dieſe Zeit wohl aufgehört, aber der Wind war biſſiger und biſſiger geworden und trieb fort und fort dunkles, zerriſſenes Gewölk vom Hils gegen die Weſer, und den Brandqualm vom Lager des Herrn Marquis von Poyanne und aus den Defilés bei Stadtoldendorf dem Herrn Generallieutenant von Hardenberg grade in's Geſicht — wenn er noch im Anmarſch ſein ſollte. Der Herzog ſah immer noch nach derſelben Richtung und griff nur von Zeit zu Zeit mechaniſch an den Hut, wenn ihn die im ununterbroche¬ nen Zuge an ihm vorbei gegen den Hils marſchirenden einheimiſchen und fremdländiſchen Truppen durch wilde Zurufe grüßten. Weſtphalen, der treue Mann, blickte mit immer größerer Sorge auf ſeinen Herrn. Er ſah ihn unter den Nachwirkungen des böſen Fiebers von Ohr fröſteln, ach, und er kannte nur zu gut den Cha¬ rakterunterſchied zwiſchen ſeinem großen Feldherrn, dem kriegsgewaltigen Schützer des deutſchen Weſtens, und jenem im Oſten, der eben vielleicht wieder einmal auf einem ſeiner Schlachtfelder mit erhobenem Krückſtock grollte:
„ Wollen die Racker denn ewig leben? “...!
Ganz vergeblich wendete ſich Weſtphalen auf ſeinem Sattel und ſah ſich nach einem Troſt und einer Auf¬ richtung unter den engländiſchen, ſchottiſchen, bückeburgi¬ ſchen, hannöverſchen, heſſiſchen, braunſchweigiſchen,237 preußiſchen Herren des Generalſtabes um für ſeinen Gönner.
„ Vom Herrn Generallieutenant von Hardenberg, Durchlaucht, — Lieutenant von Münchhauſen von den hannöverſchen Jägern unter Obriſtlieutenant Friederichs, herzogliche Durchlaucht, “ſagte in dieſem Augenblick, militäriſch grüßend, dicht neben dem Schimmel des Feld¬ herrn ein Individuum, das dem Koſtüm nach nichts vom Soldaten an ſich trug, aber von allem heutigen Waſſer - und Erdbrei zwiſchen der Weſer und dem Flecken Eſchershauſen von der Pudelmütze bis zu den Bauer¬ ſchuhen die ausgiebigſten Spuren. Und daß es durch Buſch und Dorn gekrochen war, Felsabhänge hinaufge¬ klettert und hinabgerutſcht war, ſah man ihm auch an.
Aber dem Herzog Ferdinand von Braunſchweig ſah man in dem nämlichen Moment von Müdigkeit und Melancholie nicht das Geringſte mehr an. Und wer von ſeinem gütigen Herzen, ſeiner Politeſſe gegen Jeder¬ mann das Allerbeſte hatte rühmen hören, und ihn jetzo vernahm, der mochte ſich wohl betroffen hinter dem Ohre krauen und ſich vorſichtig bei Seite drücken. Der gute Herzog Ferdinand, ſich wieder im Sattel bewegend, zeigte dem Boten des Herrn Generallieutenants von Hardenberg auf das Kräftigſte, wie grob das Haus Braunſchweig bei vorkommenden Gelegenheiten ſein und wie grimmig es Gottes Ebenbilder im Drange der Ge¬ ſchäfte dieſer Erde anſchnauzen könne.
„ Hardenberg?! Herr, der Satan ſoll Ihm und238 Seinem Herrn von Hardenberg auf die Köpfe fahren. Messieurs, messieurs, wo ſteckt ihr, wo bleibt ihr? Wir würgen uns ſeit der Nacht nach ordre de bataille und disposition de marche durch die Berge und den Feind; aber Seiner Excellenz dem Herrn Generallieutenant preſſirts beileibe nicht. Er reibet ſich wohl noch in Bodenwerder die Augen unter ſeiner Schlafhaube? Muß man denn überall ſein, um die Herren an ihren Zöpfen aus dem Sumpfe zu ziehen? Seit vier Stun¬ den ſollte der Mann drüben zwiſchen dem Solling und uns ſtehen mit den Herren von Poyanne, Chabot und Guerchy zwiſchen uns im Sack. Sperr 'Er das Maul auf, rede Er, Lieutenant von Münchhauſen: was hat Hardenberg mir zu ſagen? “
„ Monseigneur, Seine Excellenz werden erſt am Nachmittag vor Stadtotdendorf ſein können, “ſprach der Mann im zerzauſten Bauernkittel, und der Herzog, ſich rückwärts wendend, meinte, jetzt wieder mit etwas ge¬ laſſenerer Stimme:
„ Lieber Weſtphalen, wollen Sie ſich Das für's Erſte für unſern Bericht an Mylord Bute in London merken. Ich bitte auch die engliſchen Herren, näher heran zu reiten. Wollen Sie weiter erzählen, Herr Lieutenant von Münchhauſen. Traduisez, Weſtphalen. Dolmet¬ ſchen Sie's nach Möglichkeit genau den Herren, was uns der Herr Generallieutenant ſagen laſſen. “
„ Excellenz laſſen unterthänigſt vermelden, daß Sie wohl ſelber zu richtiger Stunde, wie befohlen, bei239 Bodenwerder angelangt ſind, aber mit dem allerbeſten Willen die ſchweren Pontons auf den ſchlechten Wegen nicht an den Fluß haben bringen können. Sie haben daher vor's Erſte uns Jäger durch die Weſer ſchwimmen laſſen und hat man auch die feindlichen Poſten den Heinſer Wald entlang bis Polle und Forſt delogirt, während dem Brückenſchlag. Herr Obriſtlieutenant Friederichs — “
„ Laſſe Er mich mit Seinem Obriſtlieutenant Friede¬ richs in Ruhe, Herr, “ſchnauzte der Herzog. „ Wann Hardenberg mit ſeiner Brücke fertig geworden iſt, möchte ich erfahren. Aber, exactement, Herr Lieutenant von Münchhauſen. Keine écarts, bitte ich, point de visions, keine entortillements, keine Verkleiſterungen; kurz, die Wahrheit, Herr! wann beliebte es Seiner Excellenz mit ſeiner Brücke fertig zu werden? “
„ Halten Durchlaucht zu Gnaden, ein Freiherr von Münchhauſen ſpricht nur die Wahrheit, “ſagte der Lieutenant bei den hannöverſchen Jägern, Freiherr von Münchhauſen, ebenſo ruhig wie ſein größerer Stammesverwandter in ruſſiſchen, osmaniſchen und andern Dienſten. „ Um ſieben Uhr, leider erſt bei Tage, haben die Truppen den Fluß paſſiren können, und ſo melden Excellenz allergehorſamſt, daß Sie, nachdem Sie drei Bataillons und vier Eskadrons zwiſchen Rühle und dem Vogler zur Deckung der Defilés vorgeſchoben haben, nunmehr auf dem Wege nach Stadtoldendorf ſind — “
„ Um den Herrn von Guerchy nach Holzminden und240 den Herrn von Poyanne bequem nach Daſſel entwiſchen zu ſehen. Ich bitte die engliſchen Herren, noch ein wenig näher heran zu reiten. Da Sie die Wege ſelber kennen gelernt haben, würde es mir lieb ſein, Messieurs, Sie für den Herrn Generallieutenant von Hardenberg und mich um Ihre Meinung angehen zu können, wenn im Parlament die Rede auf den heutigen Morgen kommen ſollte. Weſtphalen, ſein Sie ſo exakt als möglich bei Aufſtellung unſeres Verbrauchs an Menſchen, Geld und Kriegsmaterial. Gentlemen, das Haupt¬ quartier iſt in Wickenſen, wo wir Hardenberg zu er¬ warten haben! C'est à Scharfoldendorf, où messieurs, les generaux anglais se trouveront en quartier. Wollen Sie die Dispoſitionen treffen, Weſtphalen, und im Auge zu behalten, daß der Marſch, womöglich ohne Stockung, jetzt auf Einbeck geht. “
„ Mylord Granby und Generallieutenant Conway ſind bereits über Vorwohle hinaus, wie ſie melden laſſen, Durchlaucht. “
„ So wollen wir ihnen denn ſachte nach Wickenſen nachreiten, “ſeufzte der gute Herzog Ferdinand. „ Meine Herren, wir werden unſer Winterquartier leider nicht in Frankfurt am Main nehmen. Das werden wir wieder, der Pontons des armen Hardenberg wegen, dem Herrn Herzog von Broglio überlaſſen müſſen. Ja, die Witterung wird ſchlecht, es geht in den Winter; wir müſſen nun in Einbeck Halt machen, da es nicht anders ſein kann. Auch Hildesheim iſt ja eine ange¬241 nehme Stadt. Wir werden unſer Hauptquartier in Hildesheim nehmen: was ſagen Sie dazu, Weſtphalen? “
„ Ich bin ganz Eurer Durchlaucht Meinung, “ſagte Weſtphalen; und Herzog Ferdinand von Braunſchweig, mehr und mehr auf ſeinem müden, dampfenden, ſchnau¬ fenden Gaul in's Nachdenken über ſeine ferneren Dis¬ poſitionen verſinkend, murmelte: „ Ja, ja, ſo wird's gehen müſſen: Luckner bleibt nach uns in Einbeck und über¬ nimmt hier die Poſtirungskette. Unter ihm General¬ major von Veltheim in Holzminden, Generalmajor von Mansberg in Oſterode “.
„ Die königlich großbritanniſchen Völker werden Eure herzogliche Durchlaucht wieder zurück über die Weſer, in's Weſtfäliſche, legen? “fragte Weſtphalen.
„ Wir werden das mit Lord Granby arrangiren müſſen, mon chèr! ... Sind Sie von den Boden¬ werderſchen Münchhauſens, Herr Lieutenant von Münch¬ hauſen: oder von den Bevernſchen? “
„ Von den Bodenwerderſchen, zu Eurer Durchlaucht Befehl. “
„ Haben oder hatten Sie nicht einen Vetter oder Oheim, jedenfalls einen Stammes - oder Namensver¬ wandten, in ruſſiſchen Dienſten? “
„ Durchlaucht unterthänigſt zu dienen, der Herr Ritt¬ meiſter ſtammt von der Bodenwerderſchen Linie. “
„ Das ſoll ein feiner Kopf ſein, und gute Hiſtorien ſoll er erzählen können. Er hat mir aber auch eine ſaubere Geſchichte berichtet, Lieutenant von Münchhauſen,Raabe, Das Odfeld. 16242von den Pontons des Herrn von Hardenberg. Eine leider wahre, wahre, wahre Geſchichte! Ich wollte, ſie ſtammte auch — “
Er unterbrach ſich, oder er wurde vielmehr unter¬ brochen; denn in dieſem Augenblick überſchrillte eine jammernde Weiberſtimme den ganzen Lärm ſeines ziehenden Heeres:
„ Herr Prinz, Herr Herzog! Herr Herzog Ferdinand! liebſter Herr Herzog von Braunſchweig, ſie haben den Junker von Münchhauſen todtgeſchlagen und wollen den Herrn Magiſter an den Baum hängen und meinem Heinrich die Hoſen abziehen und ihn als wilden Eng¬ länder mit in's Feld nehmen. Und ich bin ja Sein Wieſchen vom Wege nach Lübbeke, und hier iſt Sein Rockknopf, lieber Herr Herzog Ferdinand, und ich will ja in Seinem Moſthauſe in Braunſchweig gar nichts mehr von Ihm, wenn Er allbarmherzig uns nur jetzo heraushilft! Helfe Er uns bloß nach Eſchershauſen vor das Gericht, unſere Unſchuld an dieſem Kriege und Unbilden zu erweiſen, liebſter, allerbarmherzigſter Herr Herzog Ferdinand! “
Er iſt inſolvent geſtorben der Sieger von Crefeld und Minden, der mildherzige Gutsherr von Vechelde, der gute Herzog Ferdinand von Braunſchweig. Nun liegt er ſchon lange im Dome zu Braunſchweig in der Gruft, über welcher geſchrieben ſteht: Hic finis invidiae, persecutionis et querelae, und er liegt da in einem Hemde, das von rechtswegen nicht ihm, ſondern ſeinen Gläubigern gehörte. Er hat im Laufe ſeines Lebens nicht bloß die ſilbernen Knöpfe von ſeinem Uniforms¬ rocke weggegeben, er hat auch wohl den Rock ſelber ver¬ ſchenkt, wenn er „ ein Elend nicht länger anſehen “konnte. Er hat nach und nach Alles weggeſchenkt, was er an irdiſchem Eigenthum beſaß; denn es iſt ihm viel Elend auf ſeinem Wege durch's Leben begegnet; im Kriege wie im Frieden, auf ſeinen Schlachtfeldern wie auf den Roggen - und Weizenfeldern um Haus und Dorf Vechelde.
Der alte Fritz hat ihm ſeinerzeit auch den Stuhl vor die Thür geſtellt, nach dem ſiebenjährigen Kriege natürlich, und hat ihn höchſtens für einen fou genereux erklärt; und der Neffe Karl Wilhelm Ferdinand hat ihn244 wohl häufig kurz le vieux fou de Vechelde genannt; aber —
Vivat Ferdinandus dux! .. Vive Monseigneur, le bon duc Ferdinand! ... Three cheers for prince Ferdinand, good prince Ferdinand! ... Es lebe Fer¬ dinand der Gute, der gute Herzog Ferdinand von Braun¬ ſchweig und von Vechelde!
Und er lebt und wird leben, der große Feldherr und Menſch mit dem mitleidigen und fröhlichen Herzen, er der Menſchlichſte ſeines dickköpfigen, ſtarrnackigen, aus dem Groben zugehauenen Stammes. Und es iſt noch lange nicht das Aergſte, als zahlungsunfähiger Gutsherr von Vechelde und als Ehrenpräſident des Großen Klubs zu Braunſchweig zu ſterben! Man darf bei Berichten, wie dieſer vorliegende, ja nicht zu weit um ſich faſſen und tief eingreifen in ſeiner Helden Daſeinsverlauf. Man kommt da auf wunderliche Dinge und nachher auf ſonderbare Gedanken und Be¬ trachtungen.
Zum Exempel, der Herzog Victor Franz von Broglio hat noch den König Ludwig den Sechszehnten köpfen und den Napoleon Bonaparte auf ſeinen Kaiſerſtuhl ſteigen ſehen müſſen. Und gar der Generallieutenant Luckner iſt däniſcher Graf und franzöſiſcher Marſchall geworden; aber auch ſelber geköpft, — unter die neue Erfindung, die Guillotine, gelegt worden — zu Paris im Jahre 1794 als ein alter Herr, der ſich in ſeiner Jugend Dieſes auch nicht vermuthet hatte.
245Eben treiben ſie die Helden von Amelungsborn, wie ſie die aus den Schluchten, Klüften und Höhlen des Iths herausgeholt haben, dem guten Herzog Fer¬ dinand in den Kriegspfad; und daran und an den heutigen Tag allein wollen wir uns halten und nicht zu weit in die Zukunft ſehen. Sie hatten aber nicht nur den Magiſter Buchius und ſeine Geſellſchaft aus ihrem Unterſchlupf vor dem ſchlimmen Zeitenwetter herausgegraben, ſondern ſie hatten auch das halbe Dorf Holzen aus der größeren unterirdiſchen Kommodität im Drange der Zeit, aus der auch heute noch vorhandenen berüchtigteren und berühmteren Höhle am „ Rothen Stein “hervorgezerrt.
Victoria! Trotz alles ſtrategiſchen Zukurz - und Zuſpät-Kommens hatte ja doch der Feind den Kürzern gezogen und der Freund die Oberhand behalten. Da¬ für, daß das letztere für den Gelehrten aus Amelungs¬ born und ſeine Geſellſchaft, für die Alten, die Weiber, die Kranken, die Kinder aus Holzen im beſagten „ Drange der Zeiten “ganz einerlei war, was die Be¬ handlung anbetraf, dafür konnte Keiner, unſer Herrgott abgerechnet. Auch den hohen Alliirten war es ſo wenig recht wie den Schelmen-Franzoſen, wenn ſich die ein¬ geborene Bevölkerung auf dem Kriegstheater mit ihrem Vieh und ihren beweglichſten Habſeligkeiten und vor Allem mit ihren Lebensmitteln in Wald und Fels lieber verkroch, als daß ſie gutwillig mit den beſten Freunden getheilt hätte.
246Das Herz des Herzogs Ferdinand mochte ſich wohl bewegen, wie es ſich jetzt vom Ith herunter, vom Rothen Stein her, auf der Landſtraße zwiſchen Scharf¬ oldendorf und Eſchershauſen ihm unter ſeinen ziehenden Truppen andrängte, Groß und Klein, Mann und Weib, in Lumpen und Thränen:
„ Lieber Herre, nach Ihm haben wir ja immer ausgeguckt! ... Herr Herzog, Herr Herzog, ich bin ja auch aus Bevern! ... Liebſter Herr Prinz Ferdinand, ich bin ſo ein alter Mann, ich habe bei Seiner Frau Mutter in Antoinettenruhe im Garten gegraben! ... Und ich habe bei Seines Herrn Vaters Tod die Glocke im Kirchthurm geläutet. Helfe Er mir aus dem Elend, Herre Durchlaucht, ich bin auch des Herrn Bruders Landeskind und hier zu Hauſe und habe noch einen Jungen unterm Herrn Erbprinzen, und Zweie liegen ſchon begraben, Einer in Böhmen unterm König Fritzen und Einer unter Ihm ſelber bei Minden! “...
„ Und ich habe Seinen Rockknopf, Durchlaucht Herr Herzog, als Zeichen, daß Er mir helfen will; und das iſt der Herr Magiſter Buchius, und da bringt mein Heinrich auch mit blutigem Kopfe den Junker von Münchhauſen, und das iſt Mamſell Fegebanck, des Herrn Kloſteramtmanns vornehme Jungfer Nichte, der ſie auch die Falten aus dem Rock geriſſen haben. Und meinen Heinrich wollen ſie jetzt mir mit Gewalt unter's Volk nehmen, nachdem ich's ihm mit Jammer und Noth ausgeredet habe geſtern Abend, als er gutwillig247 drunter wollte, weil ihn der Herr Amtmann in der Zornwuth mit dem ſpaniſchen Rohr über die Fauſt geſchlagen hatte! ... “
Mit zerfetzten Kleidern die Weiber; die Männer auch; aber dazu mit blutigen Köpfen, mit Beulen von Kolbenſtößen und mit blauen, blutrünſtigen Striemen von der flachen Klinge! Alle zerzauſt, halb verhungert, triefend vom Regen, zitternd im Novemberwind, im Schlamm der Heerſtraße verſinkend —
„ Weſtphalen, Weſtphalen, ſehen Sie, was zu thun — ſehen Sie, wie den Leuten zu helfen iſt! Kinder, reißt mich vom Gaul, zertheilt mich unter euch; aber kommt mir jetzt nicht in den Weg. Ja, Du Kind, armes Kind, Dir bin ich ſchon einmal begegnet auf eben ſolchem ſchlimmen Wege. Das iſt mein Wahrzeichen, mein Rockknopf. In Braunſchweig ſollteſt Du damit zu mir kommen. Biſt Du auch aus Bevern? “
„ Nein, Herr Durchlaucht Ferdinand. Nur aus dem Halberſtädt'ſchen; aber mein Heinrich iſt aus Lenne und der Herr Kloſteramtmann — “
„ Das geht da vorn gar nicht voran! Lord Fre¬ deric Cavendiſh, ich bitte Sie! ... the welsh Fusiliers ſchärfer nach in die Berge! Nicht vor die Füße ſehen! Vorwärts und durch! Kann Bibow mit den braun¬ ſchweigiſchen Karabiniers nicht um den Lagerbrand herum dem Herrn Marquis von Poyanne plus energiquement auf den Hacken bleiben? ... Ja, Kinder, Kinder, es wird noch Alles gut werden! Ihr ſeid da aus dem Dorfe, Leute?248 aus Holzen? Nun, das ſteht ja gottlob noch, und ihr ſollt jetzt die Dächer überm Kopfe behalten, was ich dazu thun kann. Man hat's uns unverbrannt gelaſſen und wir marſchiren heute noch weiter und moleſtiren euch nicht mehr. So geht nach Hauſe, ruhig nach Hauſe, mit Gott nach Hauſe; es wird ja Alles wieder gut werden — nur Geduld, Geduld. O Geduld, Kinder; wer muß mehr Geduld an dieſem Tage und grade hier haben als Ferdinand von Braunſchweig-Bevern? “
Sie hatten den Junker von Münchhauſen vom Be¬ vern'ſchen Aſt des berühmten Geſchlechts doch gottlob noch nicht ganz todtgeſchlagen, wie Wieſchen meinte. Er hatte ſein Theil von den Schotten nicht einmal ſo ſchlimm gekriegt, wie ſein guter Kamerad Heinrich Schelze das ſeinige am Morgen von den Franzoſen. Er war doch noch einmal, trotz ſeines ſchlimmſten feſteſten Vorneh¬ mens, für Mamſell Selinde Fegebanck eingetreten, und dabei hatte er's ſelbſtverſtändlich ebenfalls über den Schädel und die Naſe bekommen, und es war ihm mit dem Kolben gelauſt worden.
Aber er war noch ziemlich auf den Beinen und ver¬ mochte es, ſich durchzudrängen und den Reiterſtiefel des Herzogs zu umfaſſen:
„ Durchlaucht, ich weiß noch beſſer Beſcheid in der Gegend wie mein Herr Vetter da! Ich bin der Letzte von der wirklichen Wald - und Wildſchule Amelungs¬ born und bringe Reiterei und Geſchütz am Pfeffelsberge und Scheelehufsberge her über den Katthagen an die249 Hunde; wenn Sie mich zu Pferde und nach der Front nehmen! Monſeigneur, der Herr Magiſter Buchius weiß, daß ich die Gegend kenne und mir darin zu trauen iſt! “
Der Lieutenant unter den hannöverſchen Jägern, der Herr von Münchhauſen von der Bodenwerder'ſchen Linie, ſtand und faßte den Verwandten erſt am Zopfe, nachdem er ſich mühſam in ſeiner Verwunderung gefaßt hatte:
„ Kerl, reitet Ihn der Teufel? Vor Blut und Koth erkennt man ſein eigen Blut nicht. Wie kommt Er hierher, Thedel? Hat man Ihn denn nicht an ſieben Ketten zu Holzminden gelegt? “
„ Zu Ihnen, mon cousin, Herr Vetter, wollte ich, “rief der Wildſchützenſchüler außer ſich. „ Jetzt einen Gaul auf der Franzoſenfährte, nachher eine Büchſe unter dem Herrn Vetter. Ein Sponton, ein Portepee unter dem Herrn Herzog Ferdinand! Vivat Fridericus! vivat Ferdinandus! Den letzten Blutstropfen für den König Fritzen und den Herrn Herzog Ferdinand! “
Der gute Herzog Ferdinand ſchüttelte nur den Kopf und ſeufzte, aber voll Unruhe und Ungeduld nach den Bergen im Süden ausſchauend; dann rief er doch: „ Er iſt auch ein Münchhauſen und will uns helfen, noch ein¬ mal die Reiterei an den Feind zu bringen? Junger Menſch, kann man Ihm trauen? “
„ Parole de Münchhausen, Monseigneur! “
„ Man helfe beiden Herren von Münchhauſen zu250 Pferde. Was haben wir noch von unſerer Cavallerie hier bei Eſchershauſen zur Dispoſition, Weſtphalen? “
„ Die beiden Schwadronen von den Elliots Durchlaucht, die Greys, Ancram, Moyſtin, Bauer und Riedeſel ſtecken leidergottes ſchon vor Stadtoldendorf in den Wäldern und hohlen Wegen feſt. “
„ Wollen die Herren von Münchhauſen mit den Elliots reiten und denſelben die Wege zeigen um die linke Flanke des Feindes. “
„ Magiſter Buchius, jetzt holt ſich auch Amelungs¬ born ſeine Ehren auf Wodans Felde! “jauchzte Thedel von Münchhauſen ſchon aus dem Sattel eines engliſchen Reiterpferdes. „ So bin ich hundertmal im Traum über Sein Odfeld geritten, Magiſter Buchius! Es lebe die große Schule von Amelungsborn, und kommen Sie gut nach Hauſe, und grüße Sie den Herrn Oncle, Mamſell Selinde. Vivat Ferdinand! den letzten Blutstropfen für Bevern und den Herzog Ferdinand! Huſſaſah, Vetter von Bodenwerder! “
„ Messieurs, comme c'est dit, das Hauptquartier heute iſt in Wickenſen — morgen in Einbeck und dann in Hildesheim. Wir ſtecken eben nur wieder die Winterquartiere ab, meine Herren, “ſeufzte der Herzog, den abſchwenkenden Reitern nachblickend. „ Wo iſt das Kind mit meinem Rockknopf? “
„ Hier, allerhöchſter Herre, “ſchluchzte Wieſchen. „ Und dies iſt mein Heinrich, und wenn Sie ihn mir nur laſſen wollten, ſo wollte ich Sie ja auch gar nicht251 mehr in Braunſchweig mit mir moleſtiren. Und wenn Sie es nur dem Herrn Amtmann von Amelungsborn mit einem einzigen guten Worte für uns ſagen wollten! Hier iſt der Herr Magiſter, der kann es uns bezeugen, daß es kein Menſch beſſer in der ſchlimmen Zeit mit Kloſter Amelungsborn meint, als wie mein Heinrich. Und wenn er geſtern Abend noch mit unter das Volk wollte, jetzo will er's gewiß und wahrhaftig nicht mehr. Alſo bitte ich um Gott und Jeſus, laſſe Er ihn los, Durchlaucht Herzog Ferdinand, laſſe Er uns los. Der Herr Magiſter kann es uns Allen bezeugen, daß wir nur arme ſchlichte Leute ſind und beinahe zuviel aus¬ ſtehen müſſen, weil es der liebe Herrgott ſo will. “
Der Sieger von Crefeld und Minden ſah nun zum erſten Male im Gedränge des heutigen Tages genauer auf den Magiſter, und der Magiſter Buchius ſtand mit der Mamſell Fegebanck an ſeinem Arm und dem Hut in der Hand, wie ein Verzückter, wie als wenn es kein Gedränge des Tages und des Lebens gäbe, und ſah ſeinen Heros im Felde und im Leben, ſah zum erſten Male ſeinen guten, ſeinen großen, ſeinen guten Herzog Ferdinand vom Bevernſchen Aſte, und — er war auch aus Bevern und es war ihm kein Zweifel, daß ſie Beide aus Einem Neſte waren und ſich an den Federn erkennen mußten, wenn — ſie bloß Zeit dazu hatten.
Leider hatte der Feldherr, der im Weſten des römi¬ ſchen Reichs deutſcher Nation den ſiebenjährigen Krieg252 auf den Schultern trug, keine Zeit, und der Magiſter Buchius wußte das.
„ Bitte den Herrn, ſich zu bedecken, “ſagte er, der Herzog, gleichfalls den Hut höflich lüftend. „ Kann ich dem Herrn dienen? Oder kann mir der Herr ſelber rathen, wie dieſen armen Leuten hier zu helfen iſt? “
Wir haben es ſchon geſagt, daß der alte Schul¬ meiſter gleich einem Verzückten ſtand; doch wir müſſen es noch einmal ſagen.
„ Durchlaucht — Monseigneur — größeſter Held, “ſtammelte er, immer den Helden - und Biedermann auf dem Schimmel glänzenden Auges betrachtend und alles Uebrige um ſich her vergeſſend. „ Durchlauchtiger Herr — mächtiger Kriegesfürſt, ach, daß doch Euer Durch¬ laucht unter ſo unruhigen Umſtänden in unſerer und Hochdero Heimath-Gegend arriviren müſſen. Durch¬ lauchtigſter — “
„ Ich bitte doch ein wenig kürzer, “lächelte der gute Herzog, trotz ſeiner Eile mit vollem Wohlwollen und Verſtändniß; aber wie hätte Magiſter Buchius ſich kurz, ja nur kürzer faſſen können?
„ Durchlauchtiger Herr und Herzog von Braun¬ ſchweig, Lüneburg und Bevern, ich bin auch aus Bevern. Mein Name iſt Buchius — dies hier iſt die Made¬ moiſelle Fegebanck, des Herrn Kloſteramtmanns von Amelungsborn Nichte und Vetterstochter, und ich bin der letzte wirkliche Kollaborator der weiland berühmten großen Schule zu Kloſter Amelungsborn, und was hätte253 ich für mich wohl zu erbitten, da ich augenblicklich meines höchſten Wunſches Erfüllung theilhaft werde? Der liebe Gott ſegne Sie auf Ihren ſchweren, blutigen Wegen, gnädigſter lieber Herzog Ferdinand, und reiten Sie nur ruhig weiter! Wir werden ja auch ſchon ſehen, wie wir mit Gottes Hülfe durchkommen. Wir werden durchkommen gut oder ſchlecht, Durchlaucht; aber der alte Magiſter Buchius von Amelungsborn, der Sie mit ſeinen Unbequemlichkeiten auf Ihrem ſchwerſten Wege unnöthig aufhielte und moleſtirte, der würde ſich darob die bitterſten Vorwürfe und Reprochen machen. Reiten Sie ruhig zu, Euer Durchlaucht, und kümmern ſich nur ja nicht um was Anderes als ſich ſelber; das iſt das Beſte für uns Alle! Der allerhöchſte Gott ſegne und erhalte den Herrn Herzog auf ſeinem ſchweren, ſchweren Wege! “
„ Herr?! “... ſagte und fragte der Herzog, nie in ſeinem Leben ſo wie jetzo verwundert über einen Menſchen, deſſen Bekanntſchaft er machte. Er ſah ſich auch fragend im Kreiſe ſeiner Begleiter um und blickte vor Allem jetzt wie um genauere Auskunft auf ſeinen Freund Weſtphalen.
Darauf aber zog er den Handſchuh von ſeiner Rechten und reichte ſie vom Pferde herab dem größeſten Kollaborator von Amelungsborn, dem Magiſter Noah Buchius, und ſchüttelte die feſtgefaßte, verſtändnißvoll feſtgehaltene hagere, naſſe, verklammte Schulmeiſter - und Freundes-Hand:
254„ Mein lieber Herr Magiſter, ich danke Ihnen ganz recht höflich. Vraiment, ich danke von ganzem Herzen; denn ſo wie der Herr jetzt hat noch Keiner den zer¬ plagten Ferdinand von Braunſchweig-Lüneburg auf ſeinen ſchlimmen Wegen ein braves Wort geſagt! Und ich hatte es nöthig — hatte es nöthig, heute mehr als ſonſten. Magiſter Buchius von Amelungsborn, wenn ich recht verſtanden habe? Ja, ja, mein lieber Herr Magiſter, Sie wären mir auch willkommen in Braun¬ ſchweig im Bevern'ſchen Schloß — im Frieden — wie das arme Mädchen hier. Kind, leider iſt noch immer nicht die Zeit gekommen, wo ich mich mit Dir hinter den Ofen ſetzen könnte, um von den Tagen, die uns Beiden nicht gefallen konnten, das Genauere zu hören und zu erzählen. Und der junge Menſch, dieſer zweite junge von Münchhauſen, gehörte auch zu dem Herrn Magiſter? Lieber Weſtphalen — ja, aber auch Sie haben keine Zeit — Herr Magiſter Buchius, das Hauptquartier iſt heute in Wickenſen; ich kann Sie mit Ihrer Geſellſchaft nicht dorthin invitiren; aber wenn es mir möglich iſt, werde ich in Amelungsborn nach Ihnen nachfragen laſſen. Ah, Monſieur — Herr Hauptmann von Meding, wollen Sie dafür ſorgen, daß die Leute von Amelungsborn und der Herr Magiſter wenigſtens augenblicklich aus dem Gedränge kommen. Au revoir alſo, mein lieber Herr Magiſter Buchius. Wie geſagt, Sie haben in Wahrheit ein wackeres Wort zu mir ge¬ ſprochen, und es iſt in Wahrheit mein Wunſch, daß255 auch wir uns bei beſſerer Gelegenheit und in mehrerer Ruhe noch einmal wieder begegnen mögen. “
Herzog Ferdinand von Braunſchweig-Lüneburg und Bevern hob noch einmal freundlich den Hut vom Kopfe und ritt langſam weiter mit ſeinem buntſcheckigen Ge¬ folge von deutſchen und engliſchen Herren. Magiſter Buchius ſtand immer noch mit der Mamſell Fegebanck am Arm und Heinrich und Wieſchen von Amelungsborn zur Seite, und ſah dem großen Feldherrn nach, voll¬ ſtändig entrückt nicht nur dem augenblicklichen Gedränge, ſondern allem und jeglichem Erdentumult, Drangſal und Wirrſal. Auch er hatte ſeinen Troſt bekommen am heutigen böſeſten Tage. Er hatte ihn abgeleſen von dem klugen, guten, zornvoll-kummervollen Geſicht des braven Mannes, den ſie damals als den Zweit¬ größeſten in den Schlachten ihrer Zeit rechneten und der dießmal wiederum nichts weiter vermochte als im[Vorbeireiten] ein herzlich bedauerndes und freundlich tröſtendes Wort vom Gaul in den ihn umdrängenden Jammer hinein zu ſprechen. Oft hatte der Magiſter in ſeinem Leben mit dem Lächeln der Entrückung, und natürlich dazu mit halboffenem Munde, geſtanden im Strudel deſſen, was man die Menſchheit nennt; aber nie ſo wie jetzt. Er ſah den Heros in das an dieſem fünften November auch ſehr ungemüthliche und von Freund und Feind nach Bedürfniß zugerichtete Eſchers¬ hauſen hineinreiten. Erſt nachdem der letzte Zipfel ſeines Gefolges im Ortseingange verſchwunden war, und256 die marſchirenden Truppen wieder rückſichtsloſer zu¬ drängten, fand er ein Wort zwiſchen den Ellenbogen¬ ſtößen, Fußtritten, den Hufen und Rädern für die Höf¬ lichkeiten des Herrn von Meding.
Dem Herrn Hauptmann von Meding erſchien ſein empfangener Auftrag zum mindeſten ſonderbar an einem Tage wie der heutige. Verdrießlich ſchnarrte er:
„ Herr Cantor, wenn Er mir nun raſch ſagen will, wie grade ich Ihm und Seiner Compagnie bequem nach Hauſe helfen kann, ſo ſoll's mir lieb ſein. Aber zum Teufel, beeile Er ſich nach Möglichkeit. Er ſieht, wie es uns auf den Nägeln brennt. “
Magiſter Buchius verrichtete, ſelbſt zwiſchen den Gamaſchenſchuhen, den Ellenbogen, Rädern und Pferde¬ hufen, ſeine Courtoiſie gegen den Herrn Kapitän mit merklich klarerer Beſinnlichkeit als wie gegen Seine Durchlaucht den Herzog Ferdinand den Guten. Er machte ſein untadelhaft Compliment, indem er ſprach:
„ Euer Gnaden ſollen ſich doch nicht bei uns auf¬ halten. Wenn der Herr Kapitän die große Gütigkeit haben werden, uns aus dem Heereszug der hohen Alliirten — “
„ Herr, halte Er mich nicht durch langes Geſalbader auf. Sage Er brevement, in welchem warmen Ofen¬ winkel ich Ihn mit Seiner — Seiner Weibsbagage abzuſetzen habe. Amelungsborn! Was iſt das? Kloſter Amelungsborn? Nun, Seine Durchlaucht haben befohlen — he, Kerl, Er da, Korporal Baars, gehe er doch mal257 mit den Leuten ſo weit es nöthig iſt — bis an die nächſte Ecke. Weiſe Er ihnen, wo der Satan den bequemſten Weg nach dem — den Amelungsborn offen gehalten hat, wenn Er's weiß. “
„ Zu Befehl, Herr Hauptmann, “ſprach der Korporal, und der Hauptmann von Meding den Hut berührend, ſagte mürriſch-eilig:
„ Alſo, bon voyage, Herr Küſter. Madam oder Mamſell, ich empfehle mich, “und ſo ritt er, ſo raſch das Gedränge zuließ, ſeinem Feldherrn nach, auch hinein nach Eſchershauſen, um ſeinen Platz im Stabe und ſein beſſeres Unterkommen im Hauptquartier ja nicht zu lange aus den Augen zu verlieren. Verdenken konnte man es ihm nicht.
„ Kotz Mohrenelement, “ſchnauzte aber jetzo, nachdem der Vorgeſetzte aus Hörweite war, Korporal Baars mit dem Gewehrkolben aufſtoßend, „ das heiße ich auf die Taternjagd kommandirt werden! Na meinetwegen. Hier, mal zwei Kerle mit'm Herrn Paſtor und ſeiner Cumpanei aus'm Wege. Ihr habt gehört, was der Herr Hauptmann befohlen haben, und das gluhe Donner¬ wetter euch über die Köpfe, wenn ihr mir nachher beim Appell fehlt. Himmel, Hölle, der Satan und ſeine Großmutter, läuft Einem auch noch ſo was zwiſchen die Beine, wo man ſchon genug über Leben und Tod und durch den Schmaratz bei Tage und bei Nachte weg zu ſteigen hat! Angeſchloſſen, ihr Anderen — ſakerment, könnt's ja ſonſten nicht weich genug kriegen,Raabe, Das Odfeld. 17258nu iſt euch der Boden wohl wieder zu weich. Na Gnade Gott, wer mir mit ſeinen Pontons ſtecken bleibt, wie der Herr Generallieutenant von Hardenberg heute. Fühlung, Kerls, Fühlung; meint ja nicht, weil ihr den guten Herrn Herzog Ferdinand Durchlaucht über euch habt, daß ihr nicht auch noch den lieben Korporal Baars über euch hättet. “
Die zwei „ Kerls “, an welche der Korporal Baars den Auftrag des Herzogs Ferdinand weiter gegeben hatte, hatten merkwürdigerweiſe dießmal nicht Luſt, die gute Gelegenheit zum Deſertiren auszunützen.
Der Eine ſagte nur: „ Na, Kriſchan, wat ſeggſt'e denn nu? “und der Andere ſagte etwas viel, viel — viel Schlimmeres. Sodann aber packten Beide zu. Der Eine nahm den einen Schutzbefohlenen, den Magiſter Buchius, an der Schulter; der Andere griff nach dem Kamiſol des Knechts Heinrich: „ Na denn, alert! marſch aus der Kolonne! Nach Hauſe mit den Weibſen! Was hat ſich Das hier in der Front herumzutreiben und die Leute aufzuhalten? “
Das Gedränge wurde grade jetzt auch ſchlimmer denn je. Es kam ſchweres Geſchütz mehr geſchoben und gehoben als gezogen die Straße unterm Ith her. Artillerie mit allen Fineſſen des großen Grafen Wilhelm von Bückeburg verſehen, aber an dieſem Tage, bei dieſem Wetter, auf ſolchem Wege wahrlich ein Impedimentum, wie der Herr Magiſter Buchius in der Zelle des17*260Bruders Philemon ſich ausgedrückt haben würde: eine ſchwere Belaſtung des Heereszuges.
„ Bis an die nächſte Ecke, “hatte der Herr Haupt¬ mann von Meding geſagt, und die nächſte Ecke war auch in dieſem Falle wirklich nichts weiter als die nächſte Ecke, bis zu welcher der Menſch, der Eile hat, dem Menſchen das Geleit giebt; — wenn er große Eile hat, ſo ſelbſt ſeinem beſten Freund und nächſten Verwandten.
Rechts ab, wenn man von Scharfoldendorf kommt, führt dicht vor Eſchershauſen der Pfad zurück auf's Odfeld unter dem Wemmelsberge her, und nicht einmal bis an den Wemmelsberg geleiteten die beiden Mus¬ quetiere ihre Schutzbefohlenen. Es ſucht auch dort einer von den vielen namenloſen Bächen der Gegend ſeinen Weg der hochberühmten Lenne zu. Die Elliots hatten ihn aber unter der Führung der Gevettern von Münchhauſen durchtrabt und ihn in den Weg hineingeſtampft; und Menſchen und Vieh von beiden Parteien, Roß und Reiter lagen auch hier ge¬ fallen und halb im ekeln Schlamme verſunken, vom erſten Zuſammenſtoß der Heere im früheſten Morgen¬ grauen her.
„ Zu iſt's am ſchönſten, Herr Paſtor. Ein Kumpelment an die Frau Paſtorſche, Herr Paſtor, vom Herrn Herzog Ferdinand und alle uns allerhöchſte Al¬ liirte, und künftighin möchte ſie doch ein bischen beſſer auf Ihm paſſen und nicht ſo bei ſo eiligen Zeiten mit die Jungfern am Arm alleine laufen laſſen! “..
261Noch einmal verſpürte der Magiſter Buchius in dieſem laufenden ſiebenjährigen Kriege was wie einen der ſchweren Flintenkolben des Säkulums unterhalb ſeines Rückgrats und fand ſich mit ſeinen Begleitern gottlob wieder allein im Sumpf und auf ſich ſelber und den Troſt des Knechtes Schelze und die Gefühle Wieſchens und Mamſell Selindens angewieſen.
„ Wir wiſſen nun, was vor und wer hinter uns iſt, “meinte der treue Heinrich, der eben auch mit der Hand im Rücken die Stelle rieb, welche der deutſche Lands¬ mann und Salvegardiſt aus der Korporalſchaft des Korporals Baars eben freundſchaftlich und ſcherzhaft zum Abſchied mit der nägelbeſchlagenen Schuhſohle ge¬ drückt hatte. „ Herr Magiſter, links ab in den Katt¬ hagen! Auf Gott und Menſchen und hohe Herren iſt kein Verlaß an einem ſolchen Tage! ſo haben wir ge¬ ſehen! Alles Ein Elend! Da vorne kommen wir noch nicht durch; es ſteigt noch zuviel Dampf und Pulver¬ qualm aus den Büſchen zwiſchen Amelungsborn und uns hier. Linkswärts in den Katthagen; das Unterholz iſt dorten ſo dick, daß bei der Eile, die heute Alles hat, Keiner da noch ſeine eigenen letzten Lumpen unſert¬ wegen an den Dornen hängen läßt! Die Franzoſen hält uns unſer Herr Junker Thedel ja da vorn nach ſeinem höchſten Wunſch mit vom Leibe, und wir ſind hier ja eigentlich jetzo bloß unter den beſten Freunden. “
Magiſter Buchius ſagte nun:
„ Er hat Recht, Heinrich; und kein göttlicher Held262 und mildeſter Heros kann hieran viel verändern! Loviſia, halte aber doch Deinen Knopf feſt. Es iſt ein köſt¬ liches, herrliches Angedenken! “
„ Liebſter Gott, Herr Magiſter, meinen Rockknopf hat mir ja der liebe Herr in der Hand behalten, als er in ſeiner Zerſtreuung weiter reiten mußte! “......
Eine Controverſe darüber, ob man „ Katthagen “oder „ Quadhagen “zu ſprechen und zu ſchreiben habe, würde jeder Gelehrte auf die nächſte beſſere Gelegen¬ heit verſchoben haben, wenn ihm die Frage unter ob¬ waltenden Umſtänden vorgelegt ſein würde. Im Quad¬ oder Katthagen kurzweg ſuchten die Gejagten noch einmal nothdürftiges Unterkommen vor Freund und Feind:
„ Ein Menſch iſt wie der Andere, an ſo 'nem Bataillentage, und kein Unterſchied iſt zwiſchen unſerm Herrn Kloſteramtmann und unſerm Herrn Herzog Ferdi¬ nand Durchlaucht, Herr Magiſter, “meinte Knecht Schelze, immer noch ein bischen ſchwummerig im Sinn ſich weiterſchleppend. „ Jeder hat mit ſich ſelber zu thun und keine Zeit für Höflichkeit und gute Freundſchaft und alte Bekanntſchaft. Es iſt auch ganz einerlei, ob man's mit den Franzoſen oder den Engländern zu thun kriegt, und unſere Braunſchweigſchen und die aus'm Hannöverſchen und die Bückeburger und die Heſſen, na, es iſt als würde Ein Sack voll Flegel ausgeſchüttelt, ſo viel hat Jedermann an ſeinen eigenen Moleſten zu ſchleppen. Mamſell Fegebanck, was iſt263 Ihre Meinung, Mamſell, wenn ich mit Höflichkeit fragen mag? “
„ Es iſt mir Alles einerlei; ob ich lebe oder todt bin. Und der Junge war noch mein einziger Troſt. Nun iſt auch unſer Thedel hin, Magiſter Buchius. Mein Lebtage vergeſſe ich ihm dieſen Tag nicht. Aber es iſt einerlei und Ein Moraſt. Ich wehre mich gegen garnichts mehr und ſtrecke nicht mal mehr eine Hand aus dem Dreck zu unſerm Herrgott auf wie Der da! “
Sie wies auf eine krampfhaft zerkrümmte Menſchen¬ hand, die aus dem Sumpf zur Seite aufragte und der man es nicht einmal mehr am Aermelaufſchlag abmerken konnte, daß hier wieder ein früherer Bekannter und feiner Cavalier von den Dragonern Seiner allerchriſt¬ lichſten Majeſtät durch die Reiterei der hohen Alliirten in den deutſchen Grund und Boden mit hineingeſtampft worden ſei.
„ O Heinrich, wenn wir nur mit dem Leben davon kommen. Alles Andere iſt ja einerlei! “ſchluchzte oder, wie man dort in der Gegend ſich ausdrückt, ſchnukte Wieſchen, und Die war die Einzige von ihnen Allen, die damit ein verſtändiges Wort in das Elend hinein¬ gab. „ Ach, wenn doch unſer Herrgott endlich ein Ein¬ ſehen haben wollte, und Du und der Herr Kloſteramt¬ mann auch! Ich will mir ja auf dem Hofe und von Euch Alles gefallen laſſen! “
Was den Herrgott anbetraf, ſo hatte der wirklich „ ein Einſehen “. Er hielt wenigſtens an dieſer Stelle264 zwiſchen der Weſer und der Hube ſeine gütige Hand über die gejagte Kreatur. Der Katthagen oder der böſe Hagen war beſſer als ſein Ruf in der Gegend. Sein Geſtrüpp wenigſtens dicht genug und genugſam voll Dornen, um jetzo, wo die Bataille doch ſchon ent¬ ſchieden war, die eiligen „ Völker “vom zu ſcharfem Durchſtöbern des Waldes abzuhalten.
Im dichteſten Dickicht des Katthagens warteten, auf einem gefällten Baumſtamme aneinander gedrückt kauernd, wie die Krähen auf dem Dachfirſt, die ſchöne Mamſell Selinde Fegebanck, der Magiſter Buchius, das Wieſchen und Knecht Heinrich Schelze es ab, bis ſich das Ge¬ witter über Wickenſen und Vorwohle nach Einbeck zu und gegen den Solling hin, bis ſich der Kriegsſturm mehr und mehr verzog und bis es, wie Knecht Heinrich meinte: „ jetzt nur noch hinter dem Holzberge her leiſe grummelte “.
Es gab in der aufgereiheten Geſellſchaft auf dem Eichenſtamm im Katthagen Keinen, der nicht die Ell¬ bogen auf die Kniee geſtemmt und den Kopf in beiden Händen liegen hatte, Keinen, dem noch ein überflüſſig Wort für den Nachbar oder die Nachbarin übrig ge¬ blieben war.
Nur Knecht Heinrich meinte noch:
„ Hat er nur halbwegs Das über den Kopf und den Buckel gekriegt, was mein Theil heute geweſen iſt, ſo will ich von nun an wohl in Frieden mit ihm auskommen, Wieſchen. “
265Es war der Herr Kloſteramtmann von Amelungsborn, den der treue Dienſtmann bei dem Seufzer im Sinn hatte, und mit welchem er in Gedanken ein Abkommen traf für ein beſſeres Verhältniß zwiſchen ihnen Beiden, wenn ſie in ihrem Leben noch einmal zuſammen kommen ſollten.
Der alte Herr, der alte Magiſter Buchius aus Kloſter Amelungsborn, ja dem ſank der Kopf zwiſchen den hageren Fäuſten tiefer und tiefer. Er ſaß im Halb¬ ſchlaf und fiel nach und nach in einen wirklichen tiefen Schlaf, aus dem er anfangs auch noch von Zeit zu Zeit erſchreckt auffuhr und verwundert um ſich ſah, bis ihn die Ermattung gänzlich überwältigte. Da fing er an im Traum reden und zwar von ſeinem Schlimmſten und Liebſten und Jüngſten im Drangſal dieſes fünften Novembers Anno Siebenzehnhunderteinundſechszig, von dem Junker Thedel von Münchhauſen.
„ Um Gotteswillen, ihr Herren! ... Lieber Thedel, mit Vorſicht! will Er denn mit aller Gewalt Arm und Beine brechen? ... Den Hals ſtürzt Er ſich noch ab an der Kloſtermauer — “
Nun murmelte der Alte mehr aus dem gegenwär¬ tigen Tage heraus:
„ Alariae cohortes — ala equitum — ganz recht, die Reuterei der Alliirten auf die Flügel. Münchhauſen, iſt Er denn wieder von Gott verlaſſen? Zu Pferde unterm engländiſchen Hülfsvolk? Herr Vetter, Herr Vetter, Herr Lieutenant von Münchhauſen, der junge266 Menſch kennt zwar die Gegend; aber — Mamſell Se¬ linde, Sie wiſſen ja, was für ein Kind er noch iſt. Nicht in den Qualm, nicht in den Brand, Thedel! Der ganze Wald um die Homburg geht im Feuer auf. Durchlaucht, da ſind ſie an einander vor Stadtolden¬ dorf, — England, Frankreich und die große Schule von Amelungsborn! Sie kommen nur in Fetzen nach Daſſel, die Welſchen, die Franſchen, die landfremden Land¬ ſchädiger. Vivat Friedericus! Vivat Ferdinandus! Dulce et decorum est pro patria mori! Ach Gott, Durch¬ laucht, Herr Herzog — Herr Herzog Ferdinand, ich bin nur der Magiſter Buchius aus Amelungsborn und weiß, daß der Herr Herzog keine Zeit heute für uns haben können; und dies iſt der Junker von Münchhauſen aus Bevern, und er kennt die Gegend. Münchhauſen! Thedel! Iſt Er denn ganz verrückt geworden? ... Herr Gott, die Raben! Herr Gott, die Raben über dem Campus Odini! Herr Gott, Herr Gott, die Raben über dem Od¬ felde! “...
Nach drei Uhr Nachmittags wurde es ganz ſtill. So ſtill, daß es faſt zu einem neuen Schrecken wurde. Nur die Rauchwolke vom brennenden franzöſiſchen Lager bei Stadtoldendorf ſtieg noch immer auf, und man roch den Krieg nur noch; man hörte ihn nicht mehr. Der Feind war, wenn auch arg zerkratzt, ausgewichen nach Oſten und Süden; Hardenberg war bei Stadtoldendorf angelangt und hatte Stellung daſelbſt genommen und den Herzog Ferdinand in ſeinem Hauptquartier Wickenſen auch ſchon perſönlich geſprochen: viel Angenehmes hatte er wahrſcheinlich nicht zu hören gekriegt, der Herr General¬ lieutenant; und die beſte Rechtfertigung hilft nur zu häufig nur dazu, den Verdruß noch größer zu machen.
Bald nachdem der Geſchützdonner ſchwieg, machte der Wind ſich ſtärker auf. Es war Herbſt, und es wollte Winter werden und augenblicklich auch noch Abend dazu: „ Hoho, “ſagte der kalte Novemberwind im Katt¬ hagen, „ was ſollte nun der Lärm? Ich bin auch noch da und pfeife auf euer Gepolter und blaſe in euern Qualm. Hui, hui, es iſt mir Ein Spiel mit euern268 Fahnen und Standarten und mit dem Graſe im nächſten Jahre über Roß und Reiter; — mir iſt es einerlei, ſehet ſelber, womit ihr euch behaglicher abfindet, ob mit eurem Gelärme oder mit meinem Geſchäft und Werk in der Welt. Hui, Kameraden, hinein in den Katthagen und Buſch und Baum in die Friſur und dem alten Kol¬ laborator von Amelungsborn, dem Magiſter Buchius bis in die Knochen. Endlich wieder nach Hauſe mit dem alten närriſchen Kauz und ſeiner närriſchen Geſell¬ ſchaft! “
„ Ich gehe jetzt nach Hauſe, und wenn Keiner mit will, allein! “ſagte Mamſell Selinde, von dem Baum¬ ſtamm aufſtehend. „ Wer mit will, kann kommen. “
„ Was meinſt Du, Wieſchen? “fragte Knecht Schelze. „ Knuff und Puff haben wir genug von Freund und Feind gekriegt. Den Herrn Herzog Ferdinand haben wir zu Geſicht bekommen, aber helfen hat er uns auch nicht können. Er hat für heute wieder ſelber noch nichts und kann ſich ſelber kaum helfen. Unter die Engländer mag ich nicht, die Bückeburger, Hannoverſchen, Preußen, Heſſen und Braunſchweiger magſt Du auch nicht, die Franzoſen ſind wieder über den Solling. Sag Dein Wort, Wieſchen; haben ſie Amelungsborn niedergebrannt, können wir uns zum wenigſten noch mal an ſeinen Kohlen wärmen. “
„ Ich habe es Dir ja ſchon geſagt. Wir wollen nach Hauſe wie es iſt! Lieber auch todt als ſo lebendig hier im Buſch und draußen unter den todten Menſchen! “
269„ Dann vorwärts, “ſeufzte der tapfere Knecht Hein¬ rich Schelze mit kläglich-verzogenem Mundwerk. „ Wer nicht mit ſchießen und ſchlagen kann, der ſoll's nehmen wie's ihm in das Maul geſtopft wird und ſich dran abwürgen. Na, ſchicke mir nur der liebe Gott den Korporal Baars mit'n Stelzfuß auf unſern Amelungs¬ bornſchen Kloſterhof! Heda, holla, Herr Magiſter, wir wollen nach Hauſe, nach Kloſter Amelungsborn. Wir haben's genug berathen und wollen uns ducken in die Zeiten, weil wir müſſen. Die Mamſell ſpaziert ſchon voran. Wenn der Herr Magiſter mit wollen, — oder immer noch was Beſſeres wiſſen, ſo ſollen Sie uns mit dem Einen wie dem Andern willkommen ſein. “
Der alte Mann erhob ſich als der Letzte von dem Baumſtamm. Er kam nur gar mühſam wieder in die Höhe, unterſtützt von dem Wieſchen.
Er ſah ſich um:
„ Wa — was? Schon die Schulglocke? Ganz richtig, ganz richtig! Habe ſie geſtern erſt wieder geſtellt die Uhr! Was iſt denn das? Wer hat die Subſellien verrückt und über einandergeworfen? Herr von Münch¬ hauſen, wer hat denn die Fenſter eingeſchlagen und die Thür? wer hat die Tafel und das Katheder niederge¬ riſſen? Wer hat dieſe Wirthſchaft zu Amelungsborn getrieben? “
„ Herr Magiſter, lieber Herr Magiſter, “ſchluchzte das gute Wieſchen. „ So beſinne Er ſich doch nur, lieber Herr Magiſter, lieber, lieber Herr Magiſter! 270Wir ſind ja hier nicht im Kloſter Amelungsborn auf der ſeligen großen Schule; wir ſind hier im ſchlimmen Quadthagen am Odfelde und ſie haben ſich den ganzen Tag über die Köpfe eingeſchlagen, und Er ſelber hat uns ja in Seiner Güte beſchirmet und uns gar unter die Erde geführet! Und der Herr Herzog Ferdinand hat auch noch heute keinen Rath für mich gehabt, und jetzt wollen wir mit Gottes Hülfe wieder nach Hauſe, nach Amelungsborn und wenigſtens wiſſen, wie es da ausſieht, und wie es mit dem Herrn Amtmann und mit der Frau Amtmann und mit den Kindern ergangen und ob ſie noch mehr Leben in ſich haben als wir hier auf freiem Felde nach der Bataille. So beſinne Er ſich doch noch einmal, lieber, lieber Herr Magiſter. “
Und Magiſter Buchius beſann ſich wirklich noch einmal, kam noch einmal feſt auf die Füße zu ſtehen und zu einem klaren Ueberblick über die unruhevolle Erde und ſein gegenwärtiges Verhältniß zu ihr.
Er klopfte das gute Mädchen zärtlich auf den ſtützenden Arm:
„ Ja, ja Kind, wo war ich denn nur? Haſt Recht, haſt Recht. Aber der Tag war freilich ein bischen mühſelig und voll Unbequemlichkeit, ſelbſt für einen alten Schulmeiſter. Ei freilich, der große Herzog Ferdinand und der Herr Marſchall von Broglio haben ſich nur wieder eine Bataille geliefert: was hat mir denn eben Wunderliches von der großen Schule zu271 Amelungsborn geträumet? Ei, ei, ja, es war ein un¬ ruhiger Tag über und unter der Erde, und es iſt recht kalt und ein ſchneidender Wind. Haſt Recht, Kind, wir wollen nach Hauſe, da das Kanon und die Musketerie ſchweigt. Wir wollen uns ſchicken in die Zeit und wollen ſehen, wie ſie ſich zu Hauſe — in Amelungsborn darein geſchickt haben. Ei, ei, wie wunderlich hat mir doch eben von unſerm guten Junker, unſerm Münchhauſen, unſerm Thedel von Münchhauſen unter den umgeworfenen Schulbänken und Tiſchen geträumet! “
Er ſchüttelte den Froſt und die Ermüdung wie die Betäubung von ſich, der alte zähe Schulmeiſter von Amelungsborn, der Männerfürſt und Magiſter omnium artium Buchius. Sie zwängten ſich noch einmal durch das dichte, verwachſene Unterholz des Katthagens, das ihnen den letzten Schutz während der Schlacht am Ith gewährt hatte, und traten von Neuem hinaus auf des Magiſter Buchii Wodans Feld, auf das Odfeld. Vor¬ ſichtig, ſcheu, ſteckten ſie zuerſt nur die Köpfe vor aus dem verworrenen Buſch — ausgenommen den alten Buchius trauten ſie dem alten Göttervater in Walhall wenig, und heute auf ſeinem — dem nach ihm be¬ nannten Felde — garnicht mehr.
„ Es lebt nichts weiter, als nur was liegt und nur noch beißen, ſpucken und kratzen kann, “ſagte Knecht Heinrich. „ Die Geſunden ſind alle ſchon mit den beiden Herren von Münchhauſen über den Stadtoldendorf'ſchen Galgenbrink weg. Was hier noch lebt, das liegt und272 das haut nicht mehr mit der ſcharfen oder flachen Klinge vom Gaul auf Unſereinen herunter. Guck Einer, ſie ſind unter unſerm Junker Thedel wirklich vor Feier¬ abend nochmal bitter aneinander geweſen, die Rothen und die Blauen. Da liegt es dick genug über einander, Roß und Reiter; wie die Tiſche und Schulbänke in Kloſter Amelungsborn, Herr Magiſter. Es hat den Franſchen ihr Lagerbrand doch nicht ganz aus der Falle geholfen, Herr Magiſter. Vivat unſer Thedel, unſer Thedel von Münchhauſen! “
Es war ſo. Die letzten Strahlen der November¬ nachmittagsſonne fielen jetzo durch das ſchwere, zerriſſene Gewölk, das haſtig über das Odfeld hingejagt wurde, und es war deutlich genug, daß auch die Elliots über das Odfeld hingejagt und noch einmal an den Feind gerathen waren. Um den Katthagen herum hatten die Gevettern von Münchhauſen, der aus Bevern und der aus Bodenwerder die engelländiſchen Reiter dem Herrn von Rohan-Chabot in die Flanke geführt. Ja, noch einmal auch heute hatte, trotz allem, der gute Herzog Ferdinand den Franzoſen ſcharf in die Nacken¬ haare gegriffen, und man ſah es auf dem Odfelde, welch 'ein Gezauſe und Gezerre da geweſen war.
Sie lagen, weithin zerſtreut auf dem alten Götter - und Opferfelde, über einander geſtürzt Frankreich und England und — Deutſchland dazwiſchen; Roth und Blau, Grün, Gelb und Weiß, ſilberne Litzen und goldene, Bayonett und Reiterſäbel durch einander geworfen:273 Vieles dermaleinſt des Ausgrabens und Aufbewahrens in Provinzialmuſeen werth.
„ Großer Gott! “ſtammelte augenblicklich der Sammler und Inhaber der Raritäten in der Zelle des weiland Bruders Philemon zu Kloſter Amelungsborn; aber Knecht Heinrich hatte Recht: die Todten thaten keinen Schaden mehr und die Wunden riefen höchſtens ſelber um Barmherzigkeit.
„ Gott ſei Lob und gedankt, “rief Mademoiſelle nach Süden deutend, „ den Kirchthurm haben ſie ſtehen laſſen, und die Dächer ſind auch noch heil und ganz. Wer weiß, um wie viel beſſer ſie es in Amelungsborn gehabt haben, als wie wir. Euern lieben Musjeh Thedel ſoll ich nur wieder zu Geſicht kriegen, wenn es ſo iſt. Alle zehn Gebote ziehe ich ihm nochmal, und die߬ mal mit den zehn Fingernägeln durch die Viſage, wenn ich ihn nachher nochmals zu Geſichte kriege. “
Und zwiſchen den jammervollen Zeichen des großen Kriegs Aller gegen Alle in Europa und Amerika ſtieß ſie einen leiſen verdrießlichen Schrei aus:
„ Jeſes und Gott und auch noch die Vögel von geſtern Abend und heute Morgen! Uh, Sein garſtiges Vieh, Magiſter Buchius! “
Und es war ſeltſam; auch der gelehrte Mann, der Magiſter fuhr zuſammen und entſetzte ſich ob dem Faktum, daß ſie wieder auch unter den Leichnamen der geflügelten Streiter vom geſtrigen Abend und nicht mehrRaabe, Das Odfeld. 18274bloß unter den heute gefallenen Kämpfern von Deutſch¬ land, England und Frankreich ſtanden.
„ Praesagium — prodigium — portentum, “mur¬ melte der Magiſter, und nun dachte er zum erſtenmal ſeit dem Morgen auch wieder an den Gaſt, den er in ſeiner Verwirrung bei Tagesanbruch in ſeiner Zelle ein¬ geſchloſſen zurückgelaſſen hatte.
Und, wieder wunderlicherweiſe, kam ihm jetzo zum erſtenmal in ihrer ganzen Grimmigkeit die Vorſtellung vor die Seele, zu welchem Greuel der Verwüſtung er auch innerhalb ſeiner armen vier Wände nach Kloſter Amelungsborn heimkehren werde.
Es bedurfte aller Schrecken, die der Tag geboten hatte, um ihn umzurufen auf dem Wege in die Des¬ peration, und ihm wenigſtens ein Stück ſeiner aus Chriſten - und Heidenthum gezogenen Philoſophia, ſeines pädagogiſchen Stoizismus, dem perſönlichen Elend gegen¬ über zurückzugeben. Ja, er faßte ſich auch jetzt. Es gelang ihm, mit dem Handbuch der ſtoiſchen Moral des Epiktetos, mit dem Lucius Annäus Seneca und mit den Büchern des alten und des neuen Teſtaments den todten Raben aus der Rabenſchlacht der Mamſell Fege¬ banck, dem zitternden Wieſchen und dem kopfſchüttelnden Heinrich Schelze aus dem Wege zu ſchieben:
„ Unſer Herrgott treibet nimmer Narrenſpoſſen. Wir wollen auch über dieſe ſeine Zeichen wieder ruhig nach Hauſe gehen. Und wir wollen uns mehr denn je vor¬ halten, daß wir uns immerdar in ſeinen heiligen Willen275 ſchicken und nicht bloß in den unſerer mit uns ge¬ peinigten Brüder und Schweſtern im Jammer, in der Noth und in der Hitze, Kälte und Näſſe dieſer Erden. “
Aber nicht weit von dem Ort, wo ſie wieder auf den erſten Gefallenen aus der Rabenſchlacht auf dem Odfelde geſtoßen waren, ſtieß auch der Magiſter Buchius einen Schrei aus, jammervoller als der der ſchönen Mademoiſelle Selinde, und wahrlich mit größerer Be¬ rechtigung als ſie dazu. Und mit ihm ſchrieen die beiden Mädchen kreiſchend auf, und Knecht Heinrich ſtürzte mit einem heulenden Klagelaut und einem Fluche vorwärts auf die Knie zwiſchen die herbſtlichen Ginſter¬ büſche, die Binſen und das Haidekraut des Odfeldes:
„ Unſer Junker! unſer Junker! Herr Magiſter, Herr Magiſter, unſer Thedel, unſer liebſter, junger Herr! Herr Magiſter, iſt's denn die Möglichkeit, daß ſo der Teufel die Oberhand unter unſeres Herrgotts Regiment behält? Es iſt unſer Junker von Münchhauſen; — greift Alle mit an, daß wir den Gaul von ihm weg¬ heben. “
Ja, ſie mußten Alle mit zugreifen: der alte Schul¬ meiſter mit ſeinen hageren zitternden Pfoten, die wunderſchöne Mamſell Selinde Fegebanck, und das gute Wieſchen. Er, der Junker Thedel von Münchhauſen lag mit einem letzten im Tode erſtarrten luſtigen Lachen auf dem Knabengeſicht unter dem ſchweren englän¬ diſchen Reiterpferd. Man ſah es ihm an, daß er noch ſein fröhlich Theil an der Franzoſenjagd genommen18*276hatte und weggenommen war von der Erde im vollſten Triumphe, die Elliots gut geführt und ſie nach beſtem Wiſſen und Kräften und zur Zufriedenheit Seiner Durchlaucht des Herzogs Ferdinand heute noch einmal an den Feind gebracht zu haben. Der Magiſter Buchius kniete wortlos unter den Leichnamen von Menſchen und Vieh auf dem Odfelde und hielt das Haupt ſeines böſeſten und beſten Schülers, ſeines liebſten, liebſten Schülers in den Armen; und mit einem Male fing er an, bitterlich zu weinen, als ob Alles, was er an Kummer und Verdruß in ſeinem langen Leben und am heutigen kurzen Tage ſtill hinuntergeſchluckt hatte, in Einem Strom ſich Bahn breche aus ſeiner tiefſten Seele heraus.
Dadurch brachte er natürlich auch die zwei Mädchen zu hellem Geſchrei und vorzüglich die zärtliche Mamſell Selinde, die da ſtand und untröſtlich die Hände rang, wie ſie ſie gleicherweiſe untröſtlich im Stillen gerungen hatte, als man den ſchönen, höflichen, luſtigen Lieute¬ nant Seraphin von den himmelblauen Dragonern auf den Gewehrläufen in das Thor von Kloſter Amelungs¬ born trug. Ihn, der auch „ wie ein Engel “gegen ſie geweſen war in den Wochen vor dem Gefecht bei Erichs¬ burg, als er beim Herrn Onkel in Quartier lag.
„ O Gott, o Gott, ſo jung und ſo ein guter Junge und um ſolch 'eine Dummheit, die ihn doch garnichts anging! und ſo ein lieber, lieber Junge! “...
Knecht Heinrich Schelze ſtand auch und faßte ſein277 Wieſchen am Oberarm und brummte gröblich: „ Schrei 'doch nicht ſo! “und dann legte er grimmig und voll zarten Mitgefühls zum erſtenmal in ſeinem Leben dem Herrn Magiſter Buchius — ſeinem liebſten Herrn Ma¬ giſter die Hand auf die Schulter: „ Herr, Herre, lieber Herre, Schlimmeres hätte auch mir heute nicht paſſiren können, ausgenommen wenn ich nicht mein Mädchen bei Leben, geſunden Gliedern und bei Ehren hätte be¬ halten können. So reden der Herr Magiſter doch nur Ein Wort! Ach Gott, ſo ein junger Herr und Menſchenſohn! Was iſt es uns für ein Troſt, daß es ihm doch noch beſſer zu Theil geworden iſt als tauſend Andern heute? Guck, da richtet ſich wieder Einer im Röhricht auf und jammert nach uns herüber auf engelländiſch, ohne daß wir ihm nach Hauſe helfen können. “
„ Nach Hauſe! “murmelte Magiſter Buchius.
„ Ja, nach Hauſe! “rief Knecht Heinrich, ſeine Pudel¬ mütze zwiſchen den harten Fäuſten zerknillend. „ Ein ſchönes Nach-Hauſe für Alles, was heute hier um den Ith herum gern nach Hauſe möchte aus Frankreich, Eng¬ land, Bückeburg und dem Heſſiſchen, Braunſchweig, und Allem, was ſonſt ſo zu uns ortsangeborenem deut¬ ſchen Volke gehört. Herr Magiſter, lieber Herr Ma¬ giſter, da haben der Herr Junker doch wieder ihren Willen gekriegt. Die wollten immerdar nur von Hauſe weg — von Schulen und von Hauſe weg — und ſie haben einen ſanften Tod gehabt, liebſter, beſter Herr Magiſter, und brauchen ſich nicht mehr zu ſorgen278 wie wir Andern, was ihnen zu Hauſe für den Abend aufgehoben iſt, liebſter, beſter Herr Magiſter. Ach, laſſe Er mich Ihm wieder aufhelfen, lieber Herre! “
„ Ach Gott ja, es hilft ja nun weiter nichts; laſſe Er uns doch nur Ihm wieder aufhelfen, liebſter Herr Magiſter, “ſchluchzte auch das Wieſchen.
Magiſter Buchius ließ das Haupt Thedels von Münchhauſens ſanft aus ſeinem Schooße in das triefende Gras und Kraut des Odfeldes niederſinken:
„ Du biſt freilich jetzt zu Hauſe, mein wilder, guter Sohn, und brauchſt nicht mehr auf der Welt Schul¬ bänken auf und ab zu rücken. Dir iſt es wahrlich einerlei, ob die Katheder von Kloſter Amelungsborn noch ſtehen, oder ob ſie übereinander geſtürzt worden ſind. “
Der Novemberwind pfiff ſchärfer und ſchneidender über das zerzauſte, zerſtampfte Götter -, Geiſter - und Blutfeld. Die Sonne, die nur einen kurzen Moment über dem Butzeberge durch das Gewölk geblickt und „ Waſſer gezogen “hatte, war jetzt ſchon hinter den Berg hinabgeſunken. Es neigete ſich der Tag wieder dem Abend zu.
„ Herr, “ſagte Knecht Heinrich, „ wenn wir's wüßten, wie wir's zu Hauſe in Amelungsborn finden werden, ſo trügen wir ihn wohl mit nach Hauſe zwiſchen uns Auch die Jungfern faßten wohl mit an bei den Füßen; aber — “
„ Aber wir haben vielleicht nicht, wo wir ihn nieder¬ legen könnten, “ſprach troſtlos der alte Mann. „ Wir finden keine Stätte, wo er beſſer ruhete als wie hier, Heinrich „ wo “—
„ Wo er ſich ſelber nach ſeinem tollen Sinn den Platz ausgeſucht hat! “jammerte Mademoiſelle. „ O Thedel, mein Thedel, mein lieber Junge, vergebe Er mir, Junker von Münchhauſen, um alter Zeiten im280 grünen Frühjahr und Blumenſommer und um ſeines jetzigen blutigen Todes willen, was ich Ihm heute je in Verdruß und Elend mal geſagt und angethan habe! Wer hätte denn dies auch denken können, Herr Magiſter, daß ich auch ihm das kühle Grab in ſeiner jüngſten Jugend mit Rosmarin beſtecken müßte? Und wieder um ſolch 'eine ungeforderte Dummheit und lieben Muthwillen, liebſter Herr Magiſter! “
Für Magiſter Buchius ſprach die thränenüberſtrömte Schöne vollkommen in den Wind. Er vernahm und ver¬ ſtand kein Wort von den was ſie ſchrie. Er ſagte zu des Todten guten Amelungsborn'ſchen Wald - und Feld - Kameraden:
„ Wir finden wohl heute Abend keine Stätte in Amelungsborn, wo er beſſer ruhte als wie hier, wo er ſie ſich ſelber geſucht hat als ein junger deutſcher Edelmann und Kriegsmann. Der Herr Vetter iſt über ihn hingeſtoben mit den Reitern und hat ihn auch liegen laſſen müſſen. Nun wollen wir ihn ein wenig zurecht legen in ſeiner Glorie aus dem Krieg um das deutſche Vaterland — hier auf dem Odfelde bei unſern Vorfahren ſeit Anbeginn. Und wir ſelber wollen zu¬ ſehen, was nur ſelber für eine Stätte zu Amelungs¬ born finden und wie uns bereitet iſt, wo wir unſer Haupt im Leben für dieſe Nacht niederlegen. Kommet ſtill und nehmet euer Bett ein, wie der allmächtige Gott es bereitet hat. “
Sie thaten ſo. Sie legten auch Thedeln von281 Münchhauſen chriſtlich-ſarggerecht zurecht auf Wodans Felde, auf dem Odfelde unter den Gefallenen aus der Rabenſchlacht und der Schlacht des guten Herzogs Ferdinand von Braunſchweig und der Herren von Brog¬ lin, Poyanne und Rohan-Chabot. Sie zogen auch noch dem nächſten Nachbar im Elend, dem Reiters¬ mann von den Elliots das Bein unter dem Gaul hervor und deckten dem Sterbenden den Mantel über. „ Good night, Mary, “murmelte er, und ſie gingen und ließen Odins Kriegs -, Jagd - und Opferfeld dem Abend und der Nacht: freilich im ſchweren Zweifel, ob ſie es zu Hauſe beſſer finden würden als wie ſie hier draußen es hatten, zwiſchen dem Quadhagen, dem Weirsberge und dem Butzeberge.
Der Weg war nicht mehr allzu weit, wie Jeder¬ mann, der bis hierhin geleſen hat, nun ſchon weiß. Der Kriegsſturm hatte ſich nach Oſten und Südoſten hin verzogen, die Flüchtlinge erreichten ungefährdet, ſchlep¬ penden Schrittes die alten mönchiſchen Umfaſſungsmauern und das zertrümmerte Thor von Kloſter Amelungs¬ born. Der alte Schulmeiſter, ſchwer ſich auf den Arm des guten Heinrichs ſtützend, die zwei Mädchen an einander geklammert, Alle ohne noch ein Wort zu ſagen. Wenn ſich Heinrich von Zeit zu Zeit mit dem Jacken¬ ärmel über die Augen wiſchte, ſo murmelte er gewöhn¬ lich dazu ein Wort, das mehr Fluch als Segen war; aber auch ihm wurde die Sünde nicht angerechnet.
Sie kamen auf den Hof, und Bruder Philemon282 vom Orden des heiligen Bernhards von Clairvaux und Herr Theodorus Berkelmann, Abt von Amelungsborn, im Wort und Glauben Doctor Martin Luthers hätten aus ihrem Frieden dreiſt aufſtehen und um ſich deuten können: „ Sehet, ſo ſahen wir es auch. So ſpürten wir es auf der Haut und bis in das Mark der Gebeine und ſprachen: Herr, zähle meine Flucht, faſſe meine Thränen in Deinen Sack. “
Die Erſte, die ſich aber faßte, war Mamſell Selinde, des Herrn Amtmanns Vetterstochter, und die rief:
„ Jeſes, da ſitzt ja noch mein Schlingel von Franzoſe von heute Morgen! Der, dem mein — unſer junger Liebling, unſer Herr von Münchhauſen um meinetwillen die Naſe eingeſchlagen hat! Da ſitzt er an der Wand auf dem Stroh und hat ſein ſchlechtes Leben behalten, und unſer Thedel hat ſeines hergeben müſſen. Und guck, das ſind ja wohl wieder welche von Unſern, die bei ihm auf dem Stroh liegen wie Kamerad bei Kameraden. Da hört es doch auf! “
Es konnte von Mademoiſelle nicht verlangt werden, daß ſie alle Uniformen der kriegführenden Heere kenne. Es waren jetzt Nachzügler von dem Corps des Herrn Generallieutenants von Hardenberg, welches jetzt endlich bei Stadtoldendorf Poſto gefaßt hatte. Fußlahme oder ſonſt Marode des Herrn von Hardenberg, die im Kloſterhof von Amelungsborn ihre Gewehre an die Mauer gelehnt und ſich auf den Boden geworfen hatten. Aber es war kaum noch ein halb Dutzend283 von ihnen und ſie ſahen kaum auf, wenn Einer über ſie weg trat, weil ſie ihm im Wege lagen.
„ Jeſes, auch unſer Schimmel, “rief Wieſchen. „ Da ſteht er und kaut dem Franzos das Stroh unterm Leibe weg und Keiner kümmert ſich um ihn. Auch der Herr Amtmann nicht! “
Es ſah Niemand mehr viel nach dem Andern in Kloſter Amelungsborn: auch der Herr Amtmann nicht. Es konnte Jeder ſtehen, ſitzen und liegen wie er wollte; ſie hatten Alle wieder die Fauſt des Krieges auf der Stirn geſpürt und dießmal gröber denn je. Sie gingen, ſtanden, ſaßen und lagen Alle in ſtumpfſinniger Be¬ täubung: Freund und Feind, Knecht, Magd und Vieh, Herr und Diener — „ ach Gott, und die Frau Amt¬ männin und die Kinder auch! “rief das gute Wieſchen, den Arm Mademoiſells von ſich ſtoßend und über den verwüſteten Hof auf die Treppe des Amtshauſes zu¬ laufend. „ Wo ſind unſere Kinder? guten Abend, Frau Amtmann! Kinder, lebt ihr denn noch? ach Gott, Frau Amtmann, unſer Junker, unſer junger Herr von Münch¬ hauſen liegt draußen ja todt auf dem Odfelde unter den Franzoſen und Engländern und dem Herrn Magiſter ſeinem Vorſpuk und Rabenvolk! “
„ Schelze, “ſagte der Amtmann, „ Heinrich, der Schimmel, der da in den Hof gekommen iſt — gehört er — zu den Engländern oder zu den Franzoſen? — was thut das Vieh als ob's hier zu Hauſe wäre? Guck doch mal hin nach ihm, Heinrich; manchmal284 kommt's mir vor, als hätten wir ihn im Stall gehabt; — o der Herr Magiſter Buchius! Sie auch noch? Nehmen der Herr Magiſter die[Uncourtoiſie] uns nicht übel, daß ich nicht aufſtehe vom Stuhl. Wir haben heute einen faſt zu ſchweren Tag gehabt in Ame¬ lungsborn. “
„ Wir auch, mein Herr Amtmann — draußen auf dem Odfelde und im Eingeweide der Erde, in der Erdhöhle im Ith. Der junge Herr von Münchhauſen liegt todt auf dem Odfelde; aber Mademoiſelle Nichte habe ich glücklich und in Ehren wieder nach Amelungs¬ born geführet. “
Den Kloſteramtmann bewegten beide Benachrich¬ tigungen wenig in ſeinem Stupor, die letzte aber am wenigſten.
„ Hat er ſich zuletzt den Hals gebrochen? .. Sieh, ſieh, Sie Linienfliegerſche iſt nicht in die weite Welt gegangen mit den Huſaren, Dragonern und Küraſſern, mit Preußen und Franzoſen, Jungfer Allewelt? ... Nu, Schelze, wie iſt es mit dem Schimmel? “
„ Es iſt unſerer. Dem Herrn Amtmann Seiner iſt's. “
„ Er kam mit dem Herrn Generallieutenant von Hardenberg in's Thor. Alſo der Satansjunge, der Münchhauſen iſt auch hinüber? Nehmen der Herr Magiſter es nicht für ungut, aber mir iſt ſo konfuſe, daß mir Alles vor dem Auge ſchwimmt, daß ich von Gott und Welt nichts mehr weiß und mich auf Weib und Kind erſt beſinnen muß. Das iſt mein erſter Troſt285 jetzt, daß unſer Magiſter Buchius heute nicht auch für ewig verloren gegangen iſt. Da hat man doch wieder einen Menſchen in Amelungsborn, der Einem ein ver¬ nünftig Wort ſagen und an den man ſich halten kann!
Magiſter Buchius, vor dem an Leib und Seele zer¬ brochenen Manne ſtehend, ſchüttelte nur ſeufzend den Kopf und dachte ſich das Seinige, nicht ſeines Ausganges aus Kloſter Amelungsborn am heutigen Morgen, ſondern wehmüthig-getröſtet, ſeines Eingangs und langen Aufent¬ halts in Kloſter Amelungsborn gedenkend.
„ Gehen Sie zu meiner Frau, Jungfer Nichte, und frage ob ſie noch eine Ihr anſtändige Beſchäftigung für Sie weiß. Alſo es iſt mein eigener, Schelze? Ich kann mich nicht aus dem Stuhl rühren; ſieh zu, Heinrich, ob Du noch einen Halfterſtrick für ihn finden kannſt. Ein ſchwerer, ſchwerer Tag, Herr Magiſter — leere Ställe, leere Krippen, Hab und Gut zerſchlagen und durcheinander geworfen! Gebe der Herr mir doch Seine Hand, es iſt mir als habe ich Ihm noch für Allerlei und ſonſt Was meine Abbitte zu leiſten. Aber mir iſt zu konfuſe in den Sinnen; vergebe Er mir was zwiſchen uns paſſirt ſein mag. Es iſt mir ein wirklicher Troſt, daß Er ſich wieder eingefunden hat und uns nicht verlaſſen will in unſerer Verwirrung. Wollen der Herr Magiſter aber doch nicht lieber noch bei währendem Tageslicht nachſehen, wie Ihm auch das Seinige heute von der Sündfluth verſchwemmt worden iſt? Ich habe in dem Tumult von Nichts was ab und zu Nichts was zu286 thun können. Ein ſchwerer, ſchwerer Tag, Herr Magiſter; und alſo der junge Satan, der arme junge Kerl, Sein Junker Thedel liegt mit gebrochenem Genick draußen auf dem Odfelde? Die Raben! die Raben! Geſtern Abend auf dem Odfelde die Rabenbataille. Ein Prä¬ ſagium nannte Er's ja wohl? Ja, aber wem hat's das Aergſte vorausgeſagt? Dem Junker — unſerm Thedel Münchhauſen nicht! Wer aus dem Elend heraus iſt, der ſoll ja ſtille ſein und ruhig liegen bleiben. Das ſage ich ihm heute — der Kloſteramtmann von Ame¬ lungsborn! “......
Ehe Magiſter Buchius, wie der Kloſteramtmann von Amelungsborn angerathen hatte, noch bei währendem Tageslicht nach dem Seinigen ſah, ſahe er doch noch erſt nach der Frau Amtmännin und ihren Kindern. Wie eine Klucke mit ihren Küken, über denen der Habicht geweſen iſt, fand er ſie in einer andern Ecke des Amts¬ hauſes kümmerlich in einen Haufen zuſammengedrückt, und die Frau Amtmännin auch nicht mehr im Stande, ihm das Leben in der Zelle des Bruders Philemon ſaurer zu machen als es nöthig war.
„ Mein Gott, o du lieber Gott, da iſt ja unſer armer Herr Magiſter noch! O Gott ſei Dank! “ächzte die brave Frau, die ihm ſonſt gewöhnlich etwas ganz Anderes nach ſeinem Altentheil hin beſtellen ließ, wenn ſie es ihm nicht, mehr oder weniger durch die Blume, ſelber ſagte. „ O das iſt ja das Erſte, was Einem wieder einen Troſt giebt! O wo haben denn der Herr Magiſter eine beſſere Unterkunft gefunden, daß Sie uns ſo alleine gelaſſen haben? “ſchluchzte, ſie dem alten,288 ſonſt ſo überleidigen Hausgenoſſen beide Hände hin¬ haltend.
Und Magiſter Buchius ergriff ſie beide, während die Kinder alle an ſeinen zerfetzten ſchwarzen Rock¬ ſchößen hingen, um ſeine Kniee ſich klammerten und ihm die Beine faſt unterm Leibe wegzogen.
„ Liebſte, beſte Frau, “ſtammelte er, „ Kinderchen, armes kleines Volk, arme liebe Schelme, es iſt wohl gleich geweſen, wo wir uns heute verkrochen haben: ob über der Erde, ob unter ihr. Des Herrn Hand hat uns doch gefunden und herausgezogen unter die Ge¬ wappneten und uns hingeworfen unter ihren Fuß und Huf; aber ſeine Güte hat auch bis dahin gereichet: er hat uns aufbehalten und bewahret Einen für den Andern bis auf Einen. Den hat er hingenommen und weggeführet in ſeiner Jugend: — er wird es ja wohl wiſſen, was das Beſte für Den war. Kinderchen und Frau Amtmännin, draußen liegt er auf dem Odfelde in ſeinem eignen Blute, der letzte, der ſchlimmſte, der beſte Primus der Prima der alten echten wirklichen großen Schule zu Kloſter Amelungsborn! “
„ Himmel, Herr Magiſter, doch nicht der Schlingel der Thedel? “rief die Frau Kloſteramtmännin!
„ Der letzte Münchhauſen aus Bevern! Seine Durch¬ laucht, Herzog Ferdinand von Braunſchweig-Bevern haben ihn mit dem Herrn Vetter von Bodenwerder unter den engliſchen Reitern gegen den Franzoſen ge¬ ſchickt und er hat den letzten Schlag auf ihn heute289 gethan. Frau Amtmann, er iſt der Einzige von uns, der heute einen vergnügten Tag, einen Tag nach ſeinem Herzen erlebt hat, und er liegt mit einem Lachen auf dem Geſicht draußen auf dem Odfeld unter den Völkern und Präſagio vom geſtrigen Abend! “
„ Du liebſter Gott! Das hätte ich ihm doch nicht gewünſcht, ſelbſt wenn er uns hier im Amthauſe den Kopf am heißeſten machte! So jung — und hat nun in ſeiner ganzen Tollheit und in allen ſeinen Dumm¬ heiten davon gemußt! “ſeufzte die Frau kopfſchüttelnd; doch die eigenen, den Tag über beſtandenen Bedräng¬ niſſe laſteten noch zu ſchwer; es war nicht zu ver¬ wundern, daß ſie nicht allzuviel Zeit und Mitgefühl für den wilden Junker von Münchhauſen übrig hatte.
„ Wir wollen in’s Künftige beſſer zuſammenhalten, lieber Herr Magiſter, wenn uns Gott in ſeiner Barm¬ herzigkeit noch einmal aus dieſem Schreckniß heraus¬ hilft, “ſeufzte ſie, und das war ſchon etwas bei dem böſen Verhältniß, wie es bis zum letzten zwiſchen dem Kloſteramt und der Kloſterſchule zu Amelungsborn ge¬ herrſcht hatte.
„ Hm, hm, hm, “murmelte Magiſter Buchius, als er durch das verwüſtete, geplünderte Amthaus, in dem kaum noch ein Fenſter heil und ganz war, hinſchwankte, als er ſich durch die von Feind und Freund mit Trümmern und Unflath erfüllten Gänge taſtete und auf den mit allem ſchlüpfrigen Erdreiche von Gottes Boden zwiſchen dem Solling, der Weſer und Ame¬Raabe, Das Odfeld. 19290lungsborn bei jedem dritten Schritte ausglitt und ſtolperte. „ Hm, hm, wenn der Knabe nicht draußen unter den Todten läge, möchte ich wohl ſagen, daß mir der Raben Bataille über dem Odfelde nicht bloß zum böſen Zeichen für die künftigen Tage gewieſen worden ſei. “
Auch er ſchüttelte das Haupt und trotz ſeines ſchweren Kummers mußte er lächeln:
„ Ei, ei, wie reden wir doch? wie laufen unſere Gedanken! der Menſch auf Erden kann doch keine Ein¬ bildung in ſich verhindern, ob ſie ſchlimm oder gut ſei! ... aber er kann ſich faſſen und zuſammennehmen in chriſtlicher und heidniſcher Weisheit und kann ſagen: Buchius, es kommt für dich Alten nicht mehr darauf an, wie Du heut 'Abend die Stelle findeſt, allwo Dein Bette geſtanden hat, auf welchem Du nur zu oft in boshaften Gedanken und ärgerlichen Einbildungen Dich um und um gewendet haſt. Kehre bei Dir ſelber ein, Menſchenkind, und lege Dich da, wo Du Deine Stätte zugerichtet findeſt. “
Er fand das Stück von Kloſter Amelungsborn, wo ihm ſeine Stätte bereitet war, wahrlich ebenfalls ſauber zugerichtet. Wie die wilden Thiere hatten ſie auch da gewirthſchaftet, Feind und Freund. Was in den alten ſchon ſo verſtörten Auditorien von der alten gelehrten Herrlichkeit und Würde ſich noch bis geſtern erhalten hatte, das war jetzo ganz hin. Das letzte Subſellium, das letzte Katheder war in Feuer aufgegangen, dem fremden291 wie dem einheimiſchen Kriegsvolk die Suppen zu kochen und die verklommenen Gliedmaßen zu wärmen. Was von dem Durchmarſch in den früheren Schulſtuben von Kloſter Amelungsborn zurückgeblieben war, das war eitel ſcheußlicher Unrath, teufliſcher Hohn, Stanck und Muth¬ willen — ein Spott auf alle klöſterliche und pädago¬ giſche Zucht und Reinlichkeit. Magiſter Buchius wendete ſchaudernd den Blick nach Oben und hielt trotz allem, was er ſchon in ſeinem Leben und vor allem am heu¬ tigen Tage hatte riechen müſſen, die Naſe zu.
Er wäre faſt umgekehrt am Fuße der letzten leiter¬ artigen Stiege, die zu ſeinem Winkel unter dem Dache führte; aber ſein tapfer Herz litt es denn doch nicht, daß der ſchwache Leib nachgab.
„ Er liegt draußen im Sumpf und Moraſt, der letzte Schüler der großen Schule zu Amelungsborn. Er der Decurio, der Erſte unter Zehnen — was ſage ich: Er, Primus e viginti — Er der Centurio, der Oberſte unter Hunderten — der ſchlimmſte und der beſte von Allen. Schäme Er ſich, alter überflüſſiger ludimagister, alter ungebraucht verbrauchter Schulmeiſter, daß Er heute, heute — heute noch ein Grauen und einen Ekel verſpüren kann und ſich mit Kummer um Seine Impedimenta, Sein armſelig Lebensgepäck, Seine thörichten Sieben¬ ſachen das Herz beſchweren will! Buchius, jetzo iſt Seine Zeit. Nun gedenke Er der Stoa, nun zeige Er, daß ihm der Titan, der hohe Prometheus aus dem beſſern Leimen das Herz knetete, zeige Er ſich erlauchter Ahnen19*292werth und ſorge Er in chriſtlichem Vertrauen nicht darum: was werdet ihr eſſen, was werdet ihr trinken, wo werdet ihr euer Haupt niederlegen und was wird die Schlacht der Raben auf dem Odfelde von euren vergänglichen Habſeligkeiten und unerſetzlichen Pretioſen und Curioſitäten übrig gelaſſen haben nach eingetretener und eingeſchlagener Thüre! “
Nun ſtand er in dem höchſten Korridor des alten Gemäuers der Ordensleute des heiligen Bernhard von Clairvaux, und, wie er es ſich gedacht hatte: das letzte Tageslicht fiel auch hier nicht bloß durch die einge¬ ſchlagenen Fenſter, ſondern auch durch die eingeſtoßenen Pforten der verwaiſeten Zellen der Brüder Ciſtercienſer in den Gang unter dem Dache. Nun machte der Gang einen Haken und Magiſter Buchius ſtand vor des Bruders Philemon und ſeiner Thür im dunkeln Winkel.
Zu!
Magiſter Buchius legte die Hand auf den Griff.
Verſchloſſen! Die Kniee bebten unter dem alten Manne.
Er griff in der Dämmerung an der Thürfüllung umher. Er rüttelte am Schloß; — es blieb kein Zweifel übrig: es gehörte ſelbſt an dieſem Abend des fünften Novembers 1761, nach der Schlacht über dem Odfelde und am Ith, immer noch ein Schlüſſel dazu, um hier Einlaß zu gewinnen!
Magiſter Buchius ſchlug erſt in keuchender Aufregung die bebenden Hände zuſammen, griff dann mit beiden293 Händen an den Hoſen herunter, fuhr mit der linken wie mit der rechten Hand in die Taſche und holte ihn hervor, den Schlüſſel — ſeinen Schlüſſel — den Schlüſſel zu ſeiner Stube und Kammer. Vor der nicht einge¬ ſchlagenen Thür hatte er allein im Kloſter Amelungs¬ born nach dem Stubenſchlüſſel in der Hoſentaſche zu ſuchen! ...
Es koſtete ihm nicht ohne Grund einige Mühe, das Schlüſſelloch dießmal zu finden.
Das altgewohnte Gekreiſch der Haſpen und Angeln — Alles, wie er's verlaſſen hatte! Alles, als ob es dem guten Herzog Ferdinand und dem böſen Herzog von Broglio nicht im Traum eingefallen ſei, ſich auch in dieſer Gegend um den Weg über Einbeck nach Braun¬ ſchweig zu raufen! Alles, als ob Kloſter Amelungs¬ born nicht ſein Theil von der Schlacht abbekommen habe! Alles, als ob nicht der Junker Thedel von Münchhauſen draußen auf Odins Felde mit unter den Todten von den Elliots liege! ... Der alte Herr und Schulmeiſter, der Magiſter Buchius, ſtand un¬ gläubig, zweifelnd, ſeinen Sinnen nicht trauend. Er ſtand ſtarr, ſah an den vier Wänden herum, nach der alten ſchwarzen Balkendecke hinauf und zu dem Gips¬ boden, den ſchon der Fuß des Bruders Philemon im dreißigjährigen Kriege beſchritten haben mochte, hinab und — — das Weinen war ihm näher als das Lachen:
„ Großer Gott! guter Gott, mir Das? mir alleine Solches? “
294Er ſaß, an allen Gliedern zitternd, nieder auf dem Stuhl neben dem Tiſche, auf dem geſtern Abend Knecht Heinrich mit ſeiner Kreide den Lauf der Weſer und die Stellung der kriegführenden Partheien hingemalt hatte. Er ſaß hin in ſeinem nur durch ein Wunder unan¬ getaſtet verbliebenen Altentheil:
„ Iſt es denn die Möglichkeit? Rundum auf Meilen und Meilen Weges Alles ruinirt und mir — mir — o mir allein ſolche Gnade und Barmherzigkeit! Herr, womit habe ich armer unnützer Sünder dieſe Ausneh¬ mung und Verſchonung verdient? “
Er erhob ſich wieder vom Stuhl, ſtand inmitten ſeines Gemachs und ſchlug die Hände zuſammen wie ein ſich verwunderndes Kind. Doch nun traf im letzten Tageslicht ſein Auge auf Zeichen, daß doch Jemand, trotz verſchloſſen gebliebener Thür, im Muſeo anweſend geweſen ſei und nicht ganz ſo beſcheiden und zierlich gehauſet habe, wie es ſich für einen höflichen und frommen Gaſt gezieme. Es lag der Suppennapf aus der Küche der Frau Kloſteramtmännin in Scherben am Boden, ebenſo der Teller, auf dem der letzte Häring aus der Speiſekammer von Amelungsborn gelegen hatte. Ein Buch lag in Fetzen zerriſſen unter dem Tiſche und einzelne Blätter daraus waren durch die ganze Zelle verſtreuet.
Magiſter Buchius bückte ſich natürlich zuerſt nach dem Buche; und mit jeder Einzelnheit ſtand ihm nunmehr der vergangene Abend, der Abend des295 vierten Novembers 1761 vor der Seele und im Ge¬ dächtniß.
Auch das Titelblatt war ausgeriſſen worden; aber Magiſter Buchius wußte doch, was er wieder in den zitternden Händen hielt; nämlich den Wunderbaren Todesboten, oder die ſchrift - und vernunftmäßige Unter¬ ſuchung, was zu halten ſei von ꝛc. — an's Licht ge¬ geben von Theodoro Kampf, Schloßpredigern zu Iburg:
„ O mein Sohn Diedericus! mein Thedel! mein armer Thedel von Münchhauſen. So bin ich alter unnützer Knecht unverdientermaaßen erhalten in meinem Eigenthum und Du liegeſt draußen auf dem Odfelde in Deinem erſtarrten jungen Blut, und wenn ich morgen reden will von Dir, werden ſie mir den Mund verbieten und ſprechen: Du habeſt Dein Theil nur verdientermaaßen empfangen, habeſt nur Das erhalten, was Du gewollt habeſt! “
Er hielt ein Blatt aus dem zerriſſenen wunder¬ lichen Buch und entzifferte, ſchwimmenden Auges, noch Eine Zeile beim letzten Abendgrauen:
„ Bringet mir Dieſen zur Ruhe! “
In dieſem Augenblick fuhr er heftig erſchrocken zu¬ ſammen, er, der den halben Tag über das Krachen des Kleingewehrs und den Donner des groben Geſchützes aus der Schlacht am Ith im Ohr gehabt hatte. Und es zupfte ihn doch nur Jemand unten am Rock, und hackte in ſeine Schuhſchnallen und ſagte:
„ Krah! “.....
296Da ſtand er, der den ganzen Tag über den ein¬ zigen ſichern Platz in Kloſter Amelungsborn und weit rundum für ſich allein gehabt hatte und doch nicht darin mit ſeinem Schickſal zufrieden geweſen war. Inmitten der von ihm angerichteten Verwüſtung ſtand zwiſchen den Beinen des Magiſters Buchius der ſchwarze Kämpfer aus der Schlacht auf dem Wodansfelde, Wodans — Odins Vogel, geiſterhaft, geſpenſtiſch frech und unbefangen, aber deſſenungeachtet ſo wenig mit Triumphatorgefühlen wie die zwei großen Feldherren von Braunſchweig und von Broglio in ihren Haupt¬ quartieren zu Wickenſen und zu Einbeck am heutigen Abend.
Er war grimmig hungrig, ob er von Hugin oder ob er von Munin ſtammte, der dunkle Bote Wodans, und er ſperrte den Schnabel darnach auf und ſchrie empor zum guten alten Magiſter Buchius. Papier ſättigt nicht, und der Spukvogel vom Odfeld hatte ſeinen Magen höchſtens voll von Papier — Papier aus des Iburgiſchen Schloßpredigers Theodori Kampf's gelehrten Unterſuchungen über das, was von Eulen - und Leichhühner-Schreien, von ſeines eigenen ſchwarz¬ geflügelten Geſchlechtes Geſchrei und andern Anzei¬ gungen des Todes zu halten ſei.
„ Du biſt es? “ſprach der Magiſter, ſein letztes Erſchrecken bezwingend und ſeines Grauens noch ein¬ mal Herr werdend. „ Du? Du? Du? O Geſpenſt, meldeſt Du Dich nun wieder und zerreſt an mir und297 frageſt: ob Du Deine Botſchaft wohl ausgerichtet habeſt als Bote des höchſten barmherzigen Gottes, des Herrn Zebaoths oder — als hölliſcher Gaukler ſeines Affen des leidigen Satans? O Kreatur, ach Rab, Rab, wohl iſt Dein Zeichen Wahrheit geworden! Sie liegen bei Deinen Kameraden in Campo Odini und weit rundum verſtreut meine Brüder und unter ihnen meiner Seele Sohn im jammerhaften Säkulo. O Vieh, ich habe Dich im Tuch vom Schlachtfeld, von Wodans Felde hereingetragen und in Sicherheit gebracht; aber ich habe meinen lieben Knaben, meinen tapfern Thedel, meinen Thedel von Münchhauſen liegen laſſen müſſen unter den Erſchlagenen auf dem Odfelde! “
Der ſchwarze Vogel hatte einen grimmigen Hunger, er hüpfte ein paar Schritte auf dem Fußboden hin und her und ſchrie mit heiſerer Stimme ſeine Noth und ſeinen Grimm aus und hackte in einen Gegenſtand, der in der Dämmerung genau einem Menſchenarm glich.
Und es war auch einer; aber aus Holz geſchnitzet; der Arm der heiligen Jungfrau Maria, des Wunder¬ bildes von Kloſter Amelungsborn. Das hatte heute keine Wunder verrichten können, und der unheimliche Gaſt des Magiſters Buchius wurde auch nicht ſatt von ihm; aber dem — dem Gaſt des Magiſters Buchius konnte freilich bei ſo glorioſen Zeitläuften leicht ge¬ holfen werden.
„ I Du Halunke! Beſtia, Verwüſter! “rief der alte Herr, ſich jetzt genauer auf dem Fußboden und an den298 Wänden ſeines Muſeums umſchauend und trotz allem heute Erlebten von Augenblick zu Augenblick ärger¬ licher werdend. „ Den Hals ſollte man dem Ungethier umdrehen! Iſt das der Lohn für Hospitalität, Thei¬ lung des letzten Biſſens? Böſewicht, bei genauerer In¬ ſpectio könnte es nicht ſchlimmer hier in meiner Stube ausſehen, wenn ſie ihre Bataille in ihr ausgefochten hätten und nicht zwiſchen dem Ith und den Stadt¬ oldendorfer Hohlwegen. Spitzbube, Schurke, Halunk, hatteſt Du noch nicht genug an Eurem Gerauf über Odins Felde? Nun ſieh mal, guck mal, guck nur mal an, wie Du hier bei intimerer Beſichtigung gehauſet haſt. Da liegen die kurieuſen Töpfe der Vorfahren, da liegen ihre Knochen! Das halbe Raritätenkabinet vom Brett geſtoßen — Zettel abgeriſſen, und — hier — ſehe Er einmal hier, Er Erzſchweinigel! gehet man ſo mit den Cimelien eines Büchervorraths um? Nun ſage Er ſelber, was ich mit Ihm anfangen, was ich Ihm anthun ſoll für Seinen Mißbrauch des Gaſt¬ rechts? Wenn die ganze Schule von Amelungsborn ſich hier in meiner Abweſenheit einen Jokus erlaubt hätte, könnte es nicht ärger bei mir ausſehen. “
„ Krah! krah! “ſchrie der ſchwarze Geſpenſtervogel und Gaſtfreund des Magiſter Buchius, den Schnabel immer gieriger, immer unwirrſcher aufſperrend, grade als wiſſe er ganz genau, was für eine leckere wohl¬ beſtellte Tafel ihm draußen rund um das Odfeld und auf demſelben wiederum gedeckt worden ſei.
299„ Die Thür ſoll ich Dir öffnen, das Fenſter ſoll ich Dir aufmachen? “murmelte der alte Schulmeiſter, all¬ gemach über ſeine Kurioſitäten hinaus wieder zu andern Bildern, Vorſtellungen, Gedanken und Gefühlen kommend. „ Du großer Gott, wer wird mir helfen, ſeinen jungen Leib zur Ruhe zu betten? Das Aufgebot der Bauern? wie neulich bei Wellinghauſen — zweitauſend Mann drei Tage und drei Nächte durch? “
„ Krah! “rief der Vogel, als wolle er bemerken, daß er noch immer da ſei. Und er flatterte auf und ungeduldig in der Zelle des Bruders Philemon im Kreiſe umher und ſchlug noch einen letzten germaniſchen Aſchenkrug dem Gaſtfreund vom Brette. Man merkte es ihm wahrlich nicht mehr an, daß er geſtern ſeiner¬ ſeits eine Wunde aus der Schlacht über dem Odfelde davongetragen habe.
„ Du? Du? Du? “murmelte der Magiſter Buchius. „ Du willſt hinaus? Du willſt helfen von der Weſer bis zum Hils? Du willſt mir, mir helfen auf dem Odfelde? “
Er hielt den Fenſterriegel wie um ihn gegen Gott, Teufel und Welt feſtzuhalten und das Fenſter zu. Und er reichte in ſeinem Grauen mit ſeiner Kraft doch nicht aus. Der wilde, ſchwarze Bote und Streiter Wodans wurde immer ungebehrdiger, wurde wie toll in ſeinem Willen. Er flog gegen den Kopf des Ma¬ giſters, er ſtieß mit ſeinem Kopf gegen die kleinen runden Scheiben, daß ſie in ihren Bleieinfaſſungen er¬300 klirrten. Vergebens wehrte ſich der alte Schulmeiſter der weiland großen Schule von Amelungsborn mit vorgehaltenem linken Arm und Ellenbogen: das Thier ſetzte ſeinen Willen durch.
„ Fahre zu! “ächzte der Greis, das Fenſter öffnend und ſeinem dunkeln Gaſt den Ausgang aus ſeiner Zelle freigebend. „ Ich weiß nicht von wannen Du ge¬ kommen biſt, ich weiß nicht wohin Du gehſt; aber gehe denn — in Gottes Namen, — auch nach dem Odfelde. Im Namen Gottes, des Herrn Himmels und der Erden fliege zu, fliege hin und richte ferner aus, wozu Du mit uns Andern in die Angſt der Welt hineingerufen worden biſt. “
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