Das Recht der Ueberſetzung in fremde Sprachen wird vorbehalten.
Weimar. – Hof-Buchdruckerei.
Seite
Seite
Vor etwa fünfundzwanzig Jahren, als die Natur¬ wiſſenſchaften eben wieder auf einem höchſten Gipfel ſtanden, obgleich das Geſetz der natürlichen Zuchtwahl noch nicht bekannt war, öffnete Herr Reinhart eines Tages ſeine Fenſterläden und ließ den Morgenglanz, der hinter den Bergen hervorkam, in ſein Arbeitsgemach, und mit dem Frühgolde wehte eine friſche Sommermorgenluft da¬ her und bewegte kräftig die ſchweren Vorhänge und die ſchattigen Haare des Mannes.
Der junge Tagesſchein erleuchtete die Studierſtube eines Doctor Fauſten, aber durchaus ins Moderne, Be¬ queme und Zierliche überſetzt. Statt der maleriſchen Eſſe, der ungeheuerlichen Kolben und Keſſel, gab es da nur feine Spirituslampen und leichte Glasröhren, Porzellan¬ ſchalen und Fläſchchen mit geſchliffenem Verſchluſſe, ange¬ füllt mit Trockenem und Flüſſigem aller Art, mit Säuren, Salzen und Kriſtallen. Die Tiſche waren bedeckt mit1*4geognoſtiſchen Karten, Mineralien und hölzernen Feld¬ ſpathmodellen; Schichten gelehrter Jahrbücher in allen Sprachen belaſteten Stühle und Divans, und auf den Spiegeltiſchchen glänzten phyſikaliſche Inſtrumente in blankem Meſſing. Kein ausgeſtopftes Monſtrum hing an räucherigem Gewölbe, ſondern beſcheiden hockte ein lebendi¬ ger Froſch in einem Glaſe und harrte ſeines Stündleins, und ſelbſt das übliche Menſchengerippe in der dunkeln Ecke fehlte, wogegen eine Reihe von Menſchen - und Thier¬ ſchädeln ſo weiß und appetitlich ausſah, daß ſie eher den Nippſachen eines Stutzers glichen, als dem unheimlichen Hokuspokus eines alten Laboranten. Statt beſtaubter Herbarien ſah man einige feine Bogen mit Zeichnungen von Pflanzengeweben, ſtatt ſchweinslederner Folianten engliſche Prachtwerke in gepreßter Leinwand.
Wo man ein Buch oder Heft aufſchlug, erblickte man nur den lateiniſchen Gelehrtendruck, Zahlenſäulen und Logarithmen. Kein einziges Buch handelte von menſch¬ lichen oder moraliſchen Dingen, oder, wie man vor hundert Jahren geſagt haben würde, von Sachen des Herzens und des ſchönen Geſchmackes.
So wollte alſo Reinhart ſich wieder an eine ſtille, ſubtile Arbeit begeben, die er ſchon ſeit Wochen betrieb. In der Mitte des Zimmers ſtand ein ſinnreicher Apparat, allwo ein Sonnenſtrahl eingefangen und durch einen Kriſtallkörper geleitet wurde, um ſein Verhalten in dem¬ ſelben zu zeigen und womöglich das innerſte Geheimniß5 ſolcher durchſichtigen Bauwerke zu beleuchten. Schon viele Tage ſtand Reinhart vor der Maſchine, guckte durch eine Röhre, den Rechenſtift in der Hand, und ſchrieb Zahlen auf Zahlen.
Als die Sonne einige Spannen hoch geſtiegen, ver¬ ſchloß er wieder die Fenſter vor der ſchönen Welt mit Allem, was draußen lebte und webte, und ließ nur einen einzigen Lichtſtrahl in den verdunkelten Raum, durch ein kleines Löchlein, das er in den Laden gebohrt hatte. Als dieſer Strahl ſorgfältig auf die Tortur geſpannt war, wollte Reinhart ungeſäumt ſein Tagewerk beginnen, nahm Papier und Bleiſtift zur Hand und guckte hinein, um da fortzufahren, wo er geſtern ſtehen geblieben.
Da fühlte er einen leiſe ſtechenden Schmerz im Auge; er rieb es mit der Fingerſpitze und ſchaute mit dem andern durch das Rohr, und auch dieſes ſchmerzte; denn er hatte allbereits angefangen, durch das anhaltende Treiben ſich die Augen zu verderben, namentlich aber durch den unaufhörlichen Wechſel zwiſchen dem erleuchteten Kriſtall und der Dunkelheit, wenn er in dieſer ſeine Zahlen ſchrieb.
Das merkte er jetzt und fuhr bedenklich zurück; wenn die Augen krank wurden, ſo war es aus mit allen ſinn¬ lichen Forſchungen, und Reinhart ſah ſich dann auf be¬ ſchauliches Nachdenken über das zurückgeführt, was er bis¬ lang geſehen. Er ſetzte ſich betroffen in einen weichen6 Lehnſtuhl, und da es nun gar ſo dunkel, ſtill und einſam war, beſchlichen ihn ſeltſame Gedanken.
Nachdem er in munterer Bewegung den größten Theil ſeiner Jugend zugebracht und dabei mit Aufmerkſamkeit unter den Menſchen genug geſehen hatte, um von der Geſetzmäßigkeit und dem Zuſammenhange der moraliſchen Welt überzeugt zu werden, und wie überall nicht ein Wort fällt, welches nicht Urſache und Wirkung zugleich wäre, wenn auch ſo gering wie das Säuſeln des Gras¬ halmes auf einer Wieſe, war die Erkundung des Stoff¬ lichen und Sinnlichen ihm ſein All' und Eines ge¬ worden.
Nun hatte er ſeit Jahren das Menſchenleben faſt ver¬ geſſen, und daß er einſt auch gelacht und gezürnt, thöricht und klug, froh und traurig geweſen. Jetzt lachte er nur, wenn unter ſeinen chemiſchen Stoffen allerlei Komödien und unerwartete Entwickelungen ſpielten; jetzt wurde er nur verdrießlich, wenn er einen Rechnungsfehler machte, falſch beobachtete oder ein Glas zerbrach; jetzt fühlte er ſich nur klug und froh, wenn er bei ſeiner Arbeit das große Schauſpiel mit genoß, welches den unendlichen Reichthum der Erſcheinungen unaufhaltſam auf eine ein¬ fachſte Einheit zurückzuführen ſcheint, wo es heißt, im An¬ fang war die Kraft, oder ſo was.
Die moraliſchen Dinge, pflegte er zu ſagen, flattern ohnehin gegenwärtig wie ein entfärbter und herunter¬ gekommener Schmetterling in der Luft; aber der Faden,7 an dem ſie flattern, iſt gut angebunden und ſie werden uns nicht entwiſchen, wenn ſie auch immerfort die größte Luſt bezeigen, ſich unſichtbar zu machen.
Jetzt aber war es ihm, wie geſagt, unbehaglich zu Muth geworden; in der Beſorgniß um ſeine Augen ſtellte er ſich alle die guten Dinge vor, welche man mittelſt der¬ ſelben ſehen könne, und unvermerkt miſchte ſich darunter die menſchliche Geſtalt, und zwar nicht in ihren zerleg¬ baren Beſtandtheilen, ſondern als Ganzes, wie ſie ſchön und lieblich anzuſehen iſt und wohllautende Worte hören läßt. Es war ihm, als ob er ſogleich viel gute Worte hören und darauf antworten möchte, und es gelüſtete ihn plötzlich, auf das durchſichtige Meer des Lebens hinaus¬ zufahren, das Schifflein im reizenden Verſuche der Frei¬ heit da oder dorthin zu ſteuern, wo liebliche Dinge lockten. Aber es fiel ihm nicht der geringſte Anhalt, nicht das kleinſte Verhältniß ein zur Uebung menſchlicher Sitte; er hatte ſich vereinſamt und feſtgerannt, es blieb ſtill und dunkel um ihn her, es ward ihm ſchwül und unleidlich und er ſprang auf und warf die Fenſterläden wieder weit auseinander, damit es hell würde. Dann eilte er in eine Bodenkammer hinauf, wo er in Schränken eine verwahr¬ loſte Menge von Büchern ſtehen hatte, die von den halb¬ vergeſſenen menſchlichen Dingen handelten. Er zog einen Band hervor, blies den Staub davon, klopfte ihn tüchtig aus und ſagte: Komm, tapferer Leſſing! es führt dich zwar jede Wäſcherin im Munde, aber ohne eine Ahnung8 von deinem eigentlichen Weſen zu haben, das nichts Anderes iſt, als die ewige Jugend und Geſchicklichkeit zu allen Dingen, der unbedingte gute Wille ohne Falſch und im Feuer vergoldet!
Es war ein Band der Lachmann'ſchen Leſſingaus¬ gabe und zwar der, in welchem die Sinngedichte des Friedrich von Logau ſtehen, und wie Reinhart ihn auf¬ ſchlug, fiel ihm dieſer Spruch in die Augen:
Sogleich warf er das Buch weg und rief: Dank dir, Vortrefflicher, der mir durch den Mund des noch älteren Todten einen ſo ſchönen Rath gibt! O, ich wußte wohl, daß man dich nur anzufragen braucht, um gleich etwas Geſcheidtes zu hören!
Und das Buch wieder aufnehmend, die Stelle noch¬ mals laut leſend, rief Reinhart: Welch 'ein köſtliches Experiment! Wie einfach, wie tief, klar und richtig, ſo hübſch abgewogen und gemeſſen! Gerade ſo muß es ſein: erröthend lachen! Küß eine weiße Galathee, ſie wird er¬ röthend lachen!
Das wiederholte er beſtändig vor ſich her, während er Reiſekleider hervorſuchte und ſeinen alten Diener her¬ beirief, daß er ihm ſchleunig helfe, den Mantelſack zu packen und das erſte beſte Miethpferd beſtelle auf mehrere Tage. Er anbefahl dem Alten die Obhut ſeiner Wohnung9 und ritt eine Stunde ſpäter zum Thore hinaus, ent¬ ſchloſſen, nicht zurückzukehren, bis ihm der lockende Ver¬ ſuch gelungen.
Er hatte die artige Vorſchrift auf einen Papier¬ ſtreifen geſchrieben, wie ein Recept, und in die Brieftaſche gelegt.
Als Reinhart eine Weile in den thauigen Morgen hineingezogen, wo hier und da Senſen blinkten und friſche Heuerinnen die Mahden auf den Wieſen ausbreiteten, kam er an eine lange und breite, ſehr ſchöne Brücke, welche der Frühe wegen noch ſtill und unbegangen war, und wie ein leerer Saal in der Sonne lag. Am Eingange ſtand ein Zollhäuschen von zierlichem Holzwerk, von blühenden Winden bedeckt, und neben dem Häuschen klang ein klarer Brunnen, an welchem die Zöllnerſtochter eben das Geſicht gewaſchen hatte und ſich die Haare kämmte. Als ſie zu dem Reiter herantrat, um den Brückenzoll zu fordern, ſah er, daß es ein ſchönes blaſſes Mädchen war, ſchlank von Wuchs, mit einem feinen, luſtigen Geſicht und kecken Augen. Das offene braune Haar bedeckte die Schultern und den Rücken, und war wie das Geſicht und die Hände feucht von dem friſchen Quellwaſſer.
„ Wahrhaftig mein Kind! “ſagte Reinhart. „ Ihr ſeid die ſchönſte Zöllnerin, die ich je geſehen, und ich gebe11 Euch den Zoll nicht, bis Ihr ein wenig mit mir geplaudert habt! “
Sie erwiderte: „ Ihr ſeid bei Zeiten aufgeſtanden, Herr, und ſchon früh guter Dinge. Doch wenn Ihr mir noch einige Mal ſagen wollt, daß ich ſchön ſei, ſo will ich gern mit Euch plaudern, ſo lang es Euch gefällt, und Euch jedesmal antworten, daß Ihr der verſtändigſte Reiter ſeid, den ich je geſehen habe!
„ Ich ſage es noch ein Mal; der dieſe ſchöne neue Brücke gebaut und das kunſtreiche Häuschen dazu erfunden, muß ſich erfreuen, wenn er ſolche Zöllnerin davor ſieht! “
„ Das thut er nicht, er haßt mich! “
„ Warum haßt er Euch? “
„ Weil ich zuweilen, wenn er in der Nacht mit ſeinen zwei Rappen über die Brücke fährt, ihn etwas warten laſſe, eh 'ich herauskomme und den Schlagbaum aufziehe; beſonders wenn es regnet und kalt iſt, ärgert ihn das in ſeiner offenen Kaleſche. “
„ Und warum zieht Ihr den Schlagbaum ſo lang nicht auf? “
„ Weil ich ihn nicht leiden kann! “
„ Ei, und warum kann man ihn nicht leiden? “
„ Weil er in mich verliebt iſt und mich doch nicht an¬ ſieht, obgleich wir miteinander aufgewachſen ſind. Ehe die Brücke gebaut war, hatte mein Vater die Fähre an dieſer Stelle; der Baumeiſter war eines Fiſchers Sohn da drüben, und wir fuhren immer auf der Fähre mit,12 wenn Leute überſetzten. Jetzt iſt er ein großer Baumeiſter geworden und will mich nicht mehr kennen; er ſchämt ſich aber vor mir, die ich hübſch bin, weil er immer eine buckelige, einäugige Frau im Wagen neben ſich hat. “
„ Warum hat er, der ſo ſchöne Werke erfindet, eine ſo häßliche Frau? “
„ Weil ſie die Tochter eines Rathsmannes iſt, der ihm den Brückenbau verſchaffen konnte, durch den er groß und berühmt geworden. Jener ſagte, er müſſe ſeine Tochter heirathen, ſonſt ſolle er die Brücke nicht bauen. “
„ Und da hat er es gethan? “
„ Ja, ohne ſich zu beſinnen; ſeitdem muß ich lachen, wenn er über die Brücke fährt; denn er macht eine ſehr traurige Figur neben ſeiner Buckligen, während er nichts als ſchlanke Pfeiler und hohe Kirchthürme im Kopfe hat. “
„ Woher weißt Du aber, daß er in Dich verliebt iſt? “
„ Weil er immer wieder vorüberkommt, auch wenn er einen Umweg machen muß, und dann mich doch nicht anſieht! “
„ Habt Ihr denn nicht ein wenig Mitleid mit ihm, oder ſeid Ihr am Ende nicht auch in ihn verliebt? “
„ Dann würde ich Euch nichts erzählen! Einer, der eine Frau nimmt, die ihm nicht gefällt, und dann Andere gern ſieht, die er doch nicht anzuſchauen wagt, iſt ein Wicht, bei dem nicht viel zu holen iſt, meint Ihr nicht? “
„ Sicherlich! Und um ſo mehr, als dieſer alſo recht gut weiß, was ſchön iſt; denn je länger ich Euch und13 dieſe Brücke betrachte, deſto lauter muß ich geſtehen, daß es zwei ſchöne Dinge ſind! Und doch nahm er die Hä߬ liche nur, um die Brücke bauen zu dürfen! “
„ Aber er hätte auch die Brücke fahren laſſen und mich nehmen können, und dann hätte er auch etwas ſchönes gehabt, wie Ihr ſagt! “
„ Das iſt gewiß! Nun, er hat den Nutzen für ſich erwählt, und Ihr habt Euere Schönheit behalten! Hier ſeid Ihr gerade an der rechten Stelle; viele Augen können Euch da ſehen und ſich an dem Anblick erfreuen! “
„ Das iſt mir auch lieb und mein größtes Vergnügen! Hundert Jahre möchte ich ſo vor dieſem Häuslein ſtehen und immer jung und hübſch ſein! Die Schiffer grüßen mich, wenn ſie unter der Brücke durchfahren, und wer darüber geht, dreht den Hals nach mir. Das fühl 'ich, auch wenn ich den Rücken kehre, und weiter verlang' ich nichts. Nur der Herr Baumeiſter iſt der Einzige, der mich nie anſieht, und es doch am liebſten thäte! Aber nun gebt mir endlich den Zoll und zieht Euere Straße, Ihr wißt nun genug von mir für die ſchönen Worte, die Ihr mir gegeben! “
„ Ich gebe Dir den Zoll nicht, feines Kind, bis Du mir einen Kuß gegeben! “
„ Auf die Art müßte ich meinen Zoll wieder verzollen und meine eigene Schönheit verſteuern! “
„ Das müßt Ihr auch, wer ſagt etwas Anderes? Würde bringt Bürde! “
14„ Zieht mit Gott, es wird nichts daraus! “
„ Aber Ihr müßt es gern thun, Allerſchönſte! So ein bischen von Herzen! “
„ Gebt den Zoll und geht! “
„ Sonſt thu 'ich es ſelbſt nicht; denn ich küſſe nicht eine Jede! Wenn Du's recht artig vollbringſt, ſo will ich das Lob Deiner Schönheit verkünden und von Dir erzählen, wo ich hinkomme; und ich komme weit herum! “
„ Das iſt nicht nöthig; alle guten Werke loben ſich ſelbſt! “
„ So werde ich dennoch reden, auch wenn Ihr mich nicht küßt, beſte Schöne! Denn Ihr ſeid zu ſchön, als daß man davon ſchweigen könnte! Hier iſt der Zoll! “
Er legte das Geld in ihre Hand; da hob ſie den Fuß in ſeinen Steigbügel, er gab ihr die Hand und ſie ſchwang ſich zu ihm hinauf, ſchlang ihren Arm um ſeinen Hals und küßte ihn lachend. Aber ſie erröthete nicht, obgleich auf ihrem weißen Geſicht der bequemſte und anmuthigſte Platz dazu vorhanden war. Sie lachte noch, als er ſchon über die Brücke geritten war und noch einmal zurückſchaute.
Für's Erſte, ſagte er zu ſich ſelbſt, iſt der Verſuch nicht gelungen; die nothwendigen Elemente waren nicht beiſammen. Aber ſchon das Problem iſt ſchön und lieblich, wie lohnend müßte erſt das Gelingen ſein!
Hierauf durchritt er verſchiedene Gegenden, bis es Mittag wurde, ohne daß ihm eine weitere günſtige Ge¬ legenheit aufgeſtoßen wäre. Jetzt erinnerte ihn aber der Hunger daran, daß es Zeit zur Einkehr ſei und eben, als er das Pferd zu einem Wirthshauſe lenken wollte, fiel ihm der Pfarrherr des Dorfes ein, welcher ein alter Bekannter von ihm ſein mußte, und er richtete ſeinen Weg nach dem Pfarrhauſe. Dort erregte er ein großes Er¬ ſtaunen und eine unverhehlte Freude, die alſobald nach Schüſſeln und Tellern, nach Töpfchen und Gläſern, nach Eingemachtem und Gebackenem auseinander lief, um das gewöhnliche Mittagsmahl zu erweitern. Zuletzt erſchien eine blühende Tochter, deren Daſein Reinhart mit den Jahren vergeſſen hatte; überraſcht erinnerte er ſich nun wohl des artigen kleinen Mädchens, welches jetzt zur Jungfrau herangewachſen war, deren Wangen ein feines Roth ſchmückte und deren längliche Naſe gleich einem ernſten Zeiger andächtig zur Erde wies, wohin auch der16 beſcheidene Blick fortwährend ihr folgte. Sie begrüßte den Gaſt, ohne die Augen aufzuſchlagen, und verſchwand dann gleich wieder in die Küche.
Nun unterhielten ihn Vater und Mutter ausſchließlich von den Schickſalen ihres Hauſes und verriethen eine wunderſame Ordnungsliebe in dieſem Punkte; denn ſie hatten alle ihre kleinen Erfahrungen und Vorkommniſſe auf das Genaueſte eingereiht und abgetheilt, die an¬ genehmen von den betrübenden abgeſondert und jedes Einzelne in ſein rechtes Licht geſetzt und in reinliche Beziehung zum Andern gebracht. Der Hausherr gab dann dem Ganzen die höhere Weihe und Beleuchtung, wobei er merken ließ, daß ihm die berufliche Meiſterſchaft im Gottvertrauen gar wohl zu Statten käme bei der Lenkung einer ſo wunderbarlichen Lebensfahrt. Die Frau unterſtützte ihn eifrigſt und ſchloß Klagen wie Lob¬ preiſungen mit dem Ruhme ihres Mannes und mit dem gebührenden Danke gegen den lieben Gott, der in dieſer kleinen, friedlich bewegten Familie ein beſonderes, fein ausgearbeitetes Kunſtwerk ſeiner Weltregierung zu erhalten ſchien, durchſichtig und klar wie Glas in allen ſeinen Theilen, worin nicht ein dunkles Gefühlchen im Ver¬ borgenen ſtürmen konnte.
Dem entſprachen auch die vielen Glasglocken, welche mannichfache Familiendenkmale vor Staub ſchützten, ſowie die zahlreichen Rähmchen an der Wand mit Silhouetten, Glückwünſchen, Liederſprüchen, Epitaphien, Blumenkränzen17 und Landſchaften von Haar, Alles ſymmetriſch aufgehängt und mit reinlichem Glaſe bedeckt. In Glasſchränken glänzten Porzellantaſſen mit Namenszügen, geſchliffene Gläſer mit Inſchriften, Wachsblumen und Kirchenbücher mit vergoldeten Schlöſſern.
So ſah auch die Pfarrerstochter aus, wie wenn ſie eben aus einem mit Spezereien durchdufteten Glasſchranke käme, als ſie, ſorgfältig geputzt, wieder eintrat. Sie trug ein himmelblau ſeidenes Kleidchen, das knapp genug einen rundlichen Buſen umſpannte, auf welchen die liebe, ernſthafte Naſe immerfort hinab zeigte. Auch hatte ſie zwei goldene Löcklein entfeſſelt und eine ſchneeweiße Küchen¬ ſchürze umgebunden; und ſie ſetzte einen Pudding ſo ſorg¬ fältig auf den Tiſch, wie wenn ſie die Weltkugel hielte. Dabei duftete ſie angenehm nach dem würzigen Kuchen, den ſie eben gebacken hatte.
Ihre Eltern behandelten ſie aber ſo feierlich und gemeſſen, daß ſie ohne ſichtbaren Grund oftmals erröthete und bald wieder wegging. Sie machte ſich auf dem Hofe zu ſchaffen, wo Reinharts Pferd angebunden war, und in eifriger Fürſorge fütterte ſie das Thier. Sie rückte ihm ein Gartentiſchchen unter die Naſe und ſetzte ihm in ihrem Strickkörbchen einige Brocken Hausbrot, halbe Semmeln und Zwiebäcke vor, nebſt einer guten Handvoll Salat¬ blätter; auch ſtellte ſie ein grünes Gießkännchen mit Waſſer daneben, ſtreichelte das Pferd mit zager Hand und trieb tauſend fromme Dinge. Dann ging ſie in ihrKeller, Sinngedicht. 218Zimmerchen, um ſchnell die unverhofften Ereigniſſe in ihr Tagebuch einzutragen; auch ſchrieb ſie raſch einen Brief.
Inzwiſchen ging auch Reinhart hinunter, um das Pferd vorläufig bereit zu machen. Dieſes hatte ſich das Gießkännchen an die Naſe geklemmt und am Gießkännchen hing das Strickkörbchen, und beide Dinge ſuchte das ver¬ legene Thier unmuthvoll abzuſchlenkern, ohne daß es ihm gelingen wollte. Reinhart lachte ſo laut, daß die Tochter es augenblicklich hörte und durch das Fenſter ſah. Als ſie das Abenteuer entdeckte, kam ſie eilig herunter, nahm ſich ein Herz und bat Reinhart beinahe zitternd, daß er ihren Eltern und Niemand etwas davon ſagen möchte, da es ihr für lange Zeit zum Aufſehen und zur Lächerlichkeit gereichen würde. Er beruhigte ſie höflich und ſo gut er konnte, und ſie eilte mit Körbchen und Kanne wie ein Reh davon, ſie zu verbergen. Doch zeigte ſie ſich bald wieder hinter einem Fliederbuſche und ſchien ein bedeuten¬ des Anliegen auf dem Herzen zu haben. Reinhart ſchlüpfte hinter den Buſch; ſie zog einen ſorgfältig verſiegelten, mit prachtvoller Adreſſe verſehenen Brief aus der Taſche, den ſie ihm mit der geflüſterten Bitte überreichte, das Schreiben, welches einen Gruß und wichtigen Auftrag enthielte, doch ja unfehlbar an eine Freundin zu beſtellen, die unweit von ſeinem Reiſepfade wohne.
Ebenſo flüſternd und bedeutſam theilte ihr Reinhart mit, daß er ſie in Folge eines heiligen Gelübdes ohne Widerrede küſſen müſſe. Sie wollte ſogleich entfliehen;19 allein er hielt ſie feſt und lispelte ihr zu, wenn ſie ſich widerſetze, ſo würde er das Geheimniß von der Gießkanne unter die Leute bringen, und dann ſei ſie für immer im Gerede. Zitternd ſtand ſie ſtill, und als er ſie nun um¬ armte, erhob ſie ſich ſogar auf die Zehen und küßte ihn mit geſchloſſenen Augen, über und über mit Roth begoſſen, aber ohne nur zu lächeln, vielmehr ſo ernſt und andächtig, als ob ſie das Abendmahl nähme. Reinhart dachte, ſie ſei zu ſehr erſchrocken, und hielt ſie ein kleines Weilchen im Arm, worauf er ſie zum zweiten Male küßte. Aber ebenſo ernſthaft wie vorhin küßte ſie ihn wieder und ward noch viel röther; dann floh ſie wie ein Blitz davon.
Als er wieder ins Haus trat, kam ihm der Pfarrherr heiter entgegen und zeigte ihm ſein Tagebuch, in welchem ſein Beſuch bereits mit erbaulichen Worten vorgemerkt war, und die Pfarrfrau ſagte: „ Auch ich habe einige Zeilen in meine Gedenkblätter geſchrieben, lieber Reinhart, damit uns Ihre Begegnung ja recht friſch im Gedächtniſſe bleibe! “
Er verabſchiedete ſich aufs freundlichſte von den Leuten, ohne daß ſich die Tochter wieder ſehen ließ.
Wiederum nicht gelungen! rief er, nachdem er vom Pfarrhofe weggeritten, aber immer reizender wird das Kunſtſtück, je ſchwieriger es zu ſein ſcheint!
Da das Pferd noch hungrig ſein mußte, ſtieg er unweit des Dorfes nochmals ab, vor einem einſamen Wirthshauſe, welches am Saume eines großen Waldes lag und ein goldenes Waldhorn im Schilde führte. Aus dem Walde erhob ſich ein ſchöner, grün belaubter Berg, hinein aber führte die breite Straße in weitem Bogen.
Unter der ſchattigen Vorhalle des Wirthshauſes ſaß ein ſtattliches Frauenzimmer und nähte. Sie war nicht minder hübſch, als die Pfarrerstochter und die Zöllnerin, aber ungleich handfeſter. Sie trug einen ſchwarzen, fein gefalteten Rock mit rothen Säumen und blendend weiße Hemdärmel, deren geſtickte weitläufige Ränder offen auf die Handknöchel fielen. In den Flechten des Haares glänzte ein ſilberner Zierrat, deſſen Form zwiſchen einem Löffel und einem Pfeile ſchwankte.
Sie grüßte lächelnd den Reiſenden und fragte, was ihm gefällig wäre.
21„ Etwas Hafer für das Pferd, “ſagte er, „ und da es ſich hier kühl und lieblich zu leben ſcheint, auch ein Glas Wein für mich, wenn Ihr ſo gut ſein wollt! “
„ Ihr habt Recht, “ſagte ſie, „ es iſt hier gut ſein, ſtill und angenehm und eine ſchöne Luft! So laßts Euch gefallen und nehmt Platz! “
Als ſie den Wein zu holen ging und mit der klaren Flaſche wieder kam, bewunderte Reinhart ihre ſchöne Geſtalt und den ſicheren Gang, und als ſie rüſtig ein Maß Hafer ſiebte und dem Pferde aufſchüttete, ohne an Reiz zu verlieren, ſagte er ſich: Wie voll iſt doch die Welt von ſchönen Geſchöpfen und ſieht keines dem andern ganz gleich! — Die Schöne ſetzte ſich hierauf an den Tiſch und nahm ihre Arbeit wieder zur Hand. „ Wie ich ſehe, “ſagte Reinhart, „ ſeid Ihr allein zu Haus? “
„ Ganz allein, “erwiderte ſie voll Freundlichkeit, blanke Zahnreihen zeigend, „ unſere Leute ſind Alle auf den Wieſen, um Heu zu machen. “
„ Gibt es viel und gutes Heu dies Jahr? “ „ So ziemlich; wenn das Frühjahr nicht ſo trocken geweſen wäre, ſo gäbe es noch mehr; man muß es eben nehmen, wie's kommt, Alles kann nicht gerathen! “
„ So iſt es! Der ſchöne Frühling war dagegen für andere Dinge gut, zum Beiſpiel für die Obſtbäume, die konnten vortrefflich verblühen. “
„ Das haben ſie auch redlich gethan! “
„ So wird es alſo viel Obſt geben im Herbſt? “
22„ Wir hoffen es, wenn das Wetter nicht ganz ſchlecht wird. “
„ Und was das Heu betrifft, was gilt es denn gegen¬ wärtig? “
„ Jetzt, eh 'das neue Heu gemacht iſt, ſteht es noch hoch im Preiſe, denn das letzte Jahr war es unergiebig; ich glaube, es hat vor acht Tagen noch über einen Thaler gekoſtet. Es muß aber jetzt abſchlagen. “
„ Verkauft Ihr auch von Euerem Heu, oder braucht Ihr es ſelbſt, oder müßt Ihr noch kaufen, da Ihr ein Gaſthaus führt? “
„ In der Wirthſchaft wird kein Heu, ſondern faſt nur Hafer verfüttert; für unſer Vieh aber brauchen wir das Heu, und da iſt es verſchieden, das eine Jahr kommen wir gerade aus, das andere müſſen wir dazu kaufen, das dritte reicht es ſo gut, daß wir etwas auf den Markt bringen können; dies hängt von vielen Umſtänden ab, beſonders auch, wie die anderen Sachen und Kräuter gerathen. “
„ Das läßt ſich denken! Das läßt ſich denken! Und alſo über einen Thaler hat der Zentner Heu noch vor acht Tagen gekoſtet? “
„ Quälen Sie ſich nun nicht länger, mein Herr! “ſagte die Schöne lächelnd, „ und ſagen Sie mir die drolligen Dinge, die Ihnen auf der Zungenſpitze ſitzen, ohne Umſchweif! Ich kann einen Scherz ertragen und weiß mich zu wehren! “
23„ Wie meinen Sie das? “
„ Ei, ich ſeh 'es Ihren Augen die ganze Zeit an, daß Sie lieber von Anderm ſprechen, als von Heu, und mir ein wenig den Hof machen möchten, bis Ihr Pferd gefreſſen hat! Da ich einmal die einſame Wirthstochter hier vorſtelle, ſo wollen wir die wundervollen Dinge nicht verſchweigen, welche man ſich unter ſolchen Umſtänden ſagt, und der Welt den Lauf laſſen! Fangen Sie an, Herr! und ſeien Sie witzig und vorlaut, und ich werde mich zieren und ſpröde thun! “
„ Gleich werd 'ich anfangen, Sie haben mich nur überraſcht! “
„ Nun, laſſen Sie hören! “
„ Nun alſo — beim Himmel, ich bin ganz verblüfft und weiß Nichts zu ſagen! “
„ Das iſt nicht viel: Sollen wir etwa gar die ver¬ kehrte Welt ſpielen und ſoll ich Ihnen den Hof machen und Ihnen angenehme Dinge ſagen, während Sie ſich zieren? Gut denn! Sie ſind in der That der hübſcheſte Mann, welcher ſeit langem dieſe Straße geritten, gefahren oder gegangen iſt! “
„ Glauben Sie etwa, ich höre das ungern aus Ihrem Munde? “
„ Das befürchte ich nicht im Geringſten! Zwar, wie ich Sie vorhin kommen ſah, dacht 'ich: Gelobt ſei Gott, da nahet ſich endlich Einer, der nach was Rechtem aus¬ ſieht, ohne daran zu denken! Der reitet feſt in die Welt24 hinein und trägt gewiß keinen Spiegel in der Taſche, wie ſonſt die Herren aus der Stadt, denen man kaum den Rücken drehen darf, ſo holen ſie den Spiegel hervor und beſchauen ſich ſchnell in einer Ecke! Wie Sie aber das Heugeſpräch führten und dabei Augen machten wie die Katze, die um den heißen Brei herum geht, dacht' ich: es iſt doch ein Schulmeiſter von Art! “
„ Sie fallen ja aus der Rolle und ſagen mir Un¬ höflichkeiten! “
„ Es wird gleich wieder beſſer kommen! Sie haben eine ſo tüchtige Manier, daß man froh iſt, Sie zu nehmen, wie Sie ſind, da wir armen Menſchen uns ja doch unſer Leben lang mit dem Schein begnügen müſſen, und nicht nach dem Kern fragen dürfen. So betrachte ich Sie auch als einen ſchönen Schein, der vorüber geht und ſein Schöppchen trinkt, und ich benutze ſogar recht gern dieſen Scherz, um Ihnen in allem Ernſte zu ſagen, daß Sie mir recht wohl gefallen! Denn ſo ſteht es in meinem Belieben! “
„ Daß ich Ihnen gefalle? “
„ Nein, daß ich es ſagen mag! “
„ Sie ſind ja der Teufel im Mieder! Ein ſtarker Geiſt mit langen Haaren? “
„ Sie glaubten wohl nicht, daß wir hier auch geſchliffene Zungen haben? “
„ Ei, als Sie vorhin den Hafer ſiebten, ſah ich, daß Sie eine handfeſte und zugleich anmuthige Dame ſind! 25Ihre Ausdrucksweiſe dagegen kann ich nicht mit den länd¬ lichen Kleidern zuſammen reimen, die Ihnen übrigens vor¬ trefflich ſtehen! “
„ Nun, ich habe vielleicht nicht immer in dieſen Kleidern geſteckt — vielleicht auch doch! Jeder hat ſeine Geſchichte und die meinige werde ich Ihnen bei dieſer Gelegenheit nicht auf die Naſe binden! Vielmehr beliebt es mir, Ihnen zu ſagen, daß Sie mir wohl gefallen, ohne daß Sie wiſſen, wer ich bin, wie ich dazu komme, dies zu ſagen, und ohne daß Sie einen Nutzen davon haben. So ſetzen Sie Ihren Weg fort als ein Schein für mich, wie ich als ein Schein für Sie hier zurückbleibe! “
Dieſe Grobheiten und ſeltſamen Schmeicheleien ſagte die Dame nicht auf eine unangenehme Weiſe, ſondern mit großem Liebreiz und einem fortwährenden Lächeln des rothen Mundes, und Reinhart enthielt ſich nicht, endlich zu ſagen: „ Ich wollte, Sie blieben nun ganz bei der Stange und es beliebte Ihnen, Ihr ſchmeichelhaftes Wohl¬ gefallen auch mit einem Kuſſe zu beſtätigen! “
„ Wer weiß! “ſagte ſie, „ in Betracht, daß ich in voll¬ kommenem Belieben Sie küſſen würde und nicht Sie mich, könnte es mir vielleicht einfallen, damit Sie zum Dank für die angenehme Unterhaltung mit dem Schimpf davon reiten, geküßt worden zu ſein, wie ein kleines Mädchen! “
„ Thun Sie mir dieſen Schimpf an! “
„ Wollen Sie ſtill halten? “
„ Das werden Sie ſehen! “
26Sie machte eine Bewegung, wie wenn ſie ſich ihm nähern wollte; in dieſem Augenblicke wallte aber ein kalter Schatten über ſein Geſicht, die Augen funkelten unſicher zwiſchen Luſt und Zorn, um den Mund zuckte ein halb ſpöttiſches Lächeln, ſo daß ſie mit faſt unmerk¬ licher Betroffenheit die angehobene Bewegung nach dem Pferde hin ablenkte, um daſſelbe zu tränken. Reinhart eilte ihr nach und rief, er könne nun nicht mehr zugeben, daß ſie ſein Pferd bediene! Sie ließ ſich aber nicht ab¬ halten und ſagte, ſie würde es nicht thun, wenn ſie nicht wollte, und er ſolle ſich nicht darum kümmern.
Sie war aber in einiger Verlegenheit; denn die Sachen ſtanden nun ſo, daß ſie doch warten mußte, bis Reinhart ihr wieder Anlaß bot, ihn zu küſſen, daß ſie aber beleidigt war, wenn es nicht geſchah. Er empfand auch die größte Luſt dazu; wie er ſie aber ſo wohlgefällig anſah, befürchtete er, ſie möchte wol lachen, allein nicht roth werden, und da er dieſe Erfahrung ſchon hinter ſich hatte, ſo wollte er als gewiſſenhafter Forſcher ſie nicht wiederholen, ſondern nach ſeinem Ziele vorwärts ſtreben. Dieſes ſchien ihm jetzt ſchon ſo wünſchenswerth, daß er bereits eine Art Verpflichtung fühlte, keine unnützen Ver¬ ſuche mehr zu unternehmen und ſich des lieblichen Erfolges im Voraus würdig zu machen.
Er ſtellte ſich daher, um auf gute Manier weg¬ zukommen, als ob er den höchſten Reſpekt fühlte und von der Furcht beſeelt wäre, mit zu weitgehendem Scherze ihr27 zu mißfallen. In dieſer Haltung bezahlte er auch ſeine Zeche, verbeugte ſich höflich gegen ſie und ſie that das Gleiche, ohne daß etwas weiteres vorfiel. Sie nahm alles wohl auf und entließ den Reiter in guter Faſſung.
Auf dieſem Waldhörnchen wollen wir nicht blaſen! ſagte er zu ſich ſelbſt, als ihm beim Wegreiten das Schild des Hauſes in die Augen fiel: Vielleicht führt uns der Auftrag der Pfarrerstochter auf eine gute Spur, wie das Gute ſtets zum Beſſern führt! Ich will den ſchalkhaften Seitenpfad aufſuchen, der irgend hier herum zu jenem Schloß oder Landſitz führen ſoll, wo die unbekannte Freundin hauſt!
Er fand bald dieſen Seitenpfad; es war aber wirklich ein ſchalkhafter; denn kaum hatte er ihn betreten, ſo ver¬ lor er ſich in einem Netze von Holzwegen und ausgetrock¬ neten Bachbetten, bald auf und ab, bald in düſterer Tannennacht, bald unter dichtem Buſchwerke. Er gerieth immer höher hinauf und ſah zuletzt, daß er an der Nord¬ ſeite des ausgedehnten Berges umher irre. Stundenlang ſchlug er ſich im wilden Forſte herum und ſah ſich oft genöthigt, das Pferd am Zügel zu führen.
Was mir in dieſer Wildniß erſprießen wird, rief er unmuthig aus, muß wohl eher eine ſtachlichte Diſtel, als eine weiße Galathee ſein!
Aber unvermerkt entwirrte ſich zugleich das Wirrſal in erſichtlich künſtliche Anlagen, welche auf die Weſtſeite des Berges hinüberführten. Der Weg ging zwar immer noch durch den Wald, auf und nieder, enger oder weiter, hier einen Blick in die Ferne erlaubend, dort in dunkle29 Buchengänge führend. Allein immer deutlicher zeigten ſich die Anlagen und verriethen eine feine kundige Hand; da er aber durchaus nicht wußte, wo er war und nirgends einen Ueberblick gewinnen konnte, mußte er nun auch befürchten, als ein Eindringling und Parkverwüſter zum Vorſchein zu kommen. Das Pferd zerriß unbarm¬ herzig mit ſeinen Hufen den fein geharkten Boden, zertrat Gras und wohlgepflegte Waldblumen und zerſtörte die Raſenſtufen, die über kleine Hügel führten. Indem er ſich ſehnte, der traumhaften Verwirrung zu entrinnen, fürchtete er zugleich das Ende und verwünſchte die Stunde, die ihn in ſolche Noth gebracht.
Plötzlich lichteten ſich die Bäume und Laubwände, ein ſchmaler Pfad führte unmittelbar in einen offenen Blumen¬ garten, welcher von dem jenſeitigen Hofraume nur durch ein dünnes vergoldetes Drahtgitter abgeſchloſſen war. Gern hätte er ſich über Garten und Zaun mit einem Satze hinweggeholfen; da dies aber nicht möglich war, ſo ritt er mit dem Muthe der Verzweiflung und trotzig, ohne abzuſteigen, zwiſchen den Zierbeeten durch, die Schneckenlinien verfolgend, deren weißen Sand der Gaul luſtig ſtäuben ließ.
Endlich war er hinter dem leichten Gitterchen angelangt, das den Garten verſchloß, und das Pferd anhaltend über¬ ſah er ſich zuerſt den Platz, gleichgültig, ob er in dieſer barbariſchen Lage entdeckt wurde oder nicht; denn ſich zu verbergen ſchien unmöglich.
30Er befand ſich auf einer großen Terraſſe am Abhange des Berges, auf welcher ein ſchönes Haus ſtand; vor demſelben lag ein geräumiger gevierter Platz, durch ſteinerne Baluſtraden gegen den jähen Abhang geſchützt. Der Platz war mit einigen gewaltigen Platanen beſetzt, deren edle Aeſte ſich ſchattend über ihn ausbreiteten. Unter den Platanen und über das Steingeländer hinweg ſah man auf einen in Windungen ſich weithin ziehenden breiten Fluß und in ein Abendland hinaus, das im Glanze der ſinkenden Sonne ſchwamm. An den zwei übrigen Seiten war der Platz von Blumengründen begränzt, auf deren einem der verlegene Reinhart hielt. Er ſah nun zu ſeinem Verdruſſe, daß vorn an der Baluſtrade zwei ſtattliche Auffahrten auf den Hof mündeten.
Unter den Platanen aber erblickte er einen Brunnen von weißem Marmor, der ſich einem viereckigen Monu¬ mente gleich mitten auf dem Platze erhob und ſein Waſſer auf jeder der vier Seiten in eine flache, ebenfalls gevierte, von Delphinen getragene Schale ergoß. Theils auf dem Rande einer dieſer Schalen, theils auf dem klaren Waſſer, das kaum handtief den Marmor deckte, lag und ſchwamm ein Haufen Roſen, die zu reinigen und zu ordnen eine weibliche Geſtalt ruhig beſchäftigt war, ein ſchlankes Frauenzimmer in weißem Sommerkleide, das Geſicht von einem breiten Strohhute überſchattet.
Die untergehende Sonne beſtreifte noch eben dieſe Höhe ſammt der Fontaine und der ruhigen Geſtalt, über31 welche die Platanen mit ihren ſaftgrünen Laubmaſſen ihr durchſichtiges und doch kräftiges Helldunkel hernieder ſenkten.
Je ungewohnter der Anblick dieſes Bildes war, das mit ſeiner Zuſammenſtellung des Marmorbrunnens und der weißen Frauengeſtalt eher der idealen Erfindung eines müßigen Schöngeiſtes, als wirklichem Leben glich, um ſo ängſtlicher wurde es dem gefangenen Reinhart zu Muth, der wie eine Bildſäule ſtaunend zu Pferde ſaß, bis dieſes, ein gutes Unterkommen witternd, urplötzlich aufwieherte. Stutzend forſchte die ſchlanke Dame nach allen Seiten und entdeckte endlich den verlegenen Reitersmann hinter dem goldenen Gewebe des leichten Gitterthörchens. Er bewegte ſich nicht, und nachdem ſie eine Weile verwunderungsvoll hingeſehen, eilte ſie zur Stelle, wie um zu erfahren, ob ſie wache oder träume. Als ſie ſah, daß ſich alles in beſter Wirklichkeit verhielt, öffnete ſie mit unmuthiger Bewegung das Gitter und ſah ihn mit fragendem Blick an, der ihn einlud: ob es ihm vielleicht nunmehr belieben werde, mit den vier Hufen ſeines Pferdes aus dem mi߬ handelten Garten herauszuſpazieren? Zugleich aber zog ſie ſich eilig an ihren Brunnen zurück, eine Handvoll Roſen erfaſſend und der Dinge gewärtig, die da kommen ſollten.
Endlich ſtieg Reinhart ab, und ſeinen Miethgaul demüthig hinter ſich herführend, überreichte er der reiz¬ vollen Erſcheinung, ſie fortwährend anſchauend, ohne32 zu reden mit einer Verbeugung den Brief der Pfarrers¬ tochter.
Oder vielmehr war es nicht der Brief, ſondern der Zettel, auf welchen er das Sinngedicht geſchrieben:
Den Brief hielt er ſammt der Brieftaſche in der Hand und entdeckte ſein Verſehen erſt, als die Dame das Papier ſchon ergriffen und geleſen hatte.
Sie hielt es zwiſchen beiden Händen und ſah den ganz verwirrten und erröthenden Herrn Reinhart mit großen Augen an, während es zweifelhaft, ob bös oder gut gelaunt, um ihre Lippen zuckte. Stumm gab ſie den Papierſtreifen hin und nahm den Brief, den der um Nachſicht Bittende oder Stammelnde dafür überreichte. Als ſie das große Siegel erblickte, verbreitete ſich eine Heiterkeit über das Geſicht, welches jetzt in der Nähe wie ein ſchönes Heimatland aller guten Dinge erſchien. Ein kluger Blick ihrer dunklen Augen blitzte auf, und als ſie raſch geleſen, lachte ſie und ſagte mit ſchalkhaft bewegter Stimme:
„ Ich muß geſtehen, mein Herr, das iſt mir das ſeltſamſte Ereigniß! Ein Unbekannter fällt, Mann und Pferd, vom Himmel und fängt ſich wie eine Droſſel an den ſchwachen Gitterchen meines Gartens, Beete und Wege zerwühlend! Er überbringt mir ein Schreiben, das mit dem Amtsſiegel eines ehrwürdigen Geiſtlichen,33 mit Bibel, Kelch und Kreuz geſiegelt iſt und in welchem mich meine Freundin im Thale, die Pfarrerstochter, in den flehendſten Ausdrücken beſchwört, ja nicht zu ver¬ geſſen, ihr von dem diesjährigen Rettigſamen zu ſenden! Wenn Sie in einiger Verfaſſung ſind, ſich zu vertheidigen und Ihre wunderbare Herkunft zu erklären, ſo ſollen Sie in dieſer hochgelegenen Behauſung willkommen ſein, und ich, die ich zur Zeit das Wort führe, da mein gichtkranker Oheim das Zimmer hütet, will ernſt und weiſe mit Ihnen zu Rath gehen über die fernere Entwicklung Ihres merk¬ würdigen Lebenspfades! “
Nicht nur vom Abglanz der Abendſonne, ſondern auch von einem hellen inneren Lichte war die ziervolle Dame dermaßen erleuchtet, daß der Schein dem überraſchten Reinhart ſeine Sicherheit wiedergab. Aber indem er ſich ſagte, daß er hier oder nirgends das Sprüchlein des alten Logau erproben möchte und erſt jetzt die tiefere Bedeutung deſſelben völlig empfand, merkte er auch, mit welch 'weit¬ läufigen Vorarbeiten und Schwierigkeiten der Verſuch verbunden ſein dürfte.
Er verbeugte ſich abermals mit aller Ehrerbietung und ſagte:
„ Ich bin über mein Geſchick nicht weniger erſtaunt, als Sie, mein Fräulein! nur daß ich in ungalanter Weiſe im Vortheil und auf das Angenehmſte betroffen bin, während ich auf Ihrem Gebiete bis jetzt nichts als Schaden und Unheil angerichtet habe. Seit heute früh im Freien, um einer naturwiſſenſchaftlichen Beobachtung nachzugehen, habe ich den Tag damit zugebracht, einen Brief von einer Dame zur andern zu tragen, worin, wie Sie ſagen, um Rettigſamen gebeten wird; ich habe mich an dieſem Berge verirrt, Gärten verwüſtet und mich zu¬ letzt da gefangen geſehen, wo ich ſchon freiwillig habe hingehen wollen! Welcher Meiſter hat dieſe ſchönen und witzigen Anlagen gebaut? “
„ Ich ſelbſt habe ſie erfunden und angegeben, es ſind eben Mädchenlaunen! “ſagte die Dame.
35„ Alle Achtung vor Ihrem Geſchmack! Da Sie aber ſo kunſtreiche Netze ausbreiten, ſo haben Sie es ſich ſelbſt zuzuſchreiben, wenn Sie einmal einen groben Vogel fangen, auf den Sie nicht gerechnet haben! “
„ Ei man muß nehmen, was kommt! Zu dem freue ich mich zu ſehen, daß meine Anlagen zu was gut ſind; denn hätten Sie ſich nicht darin gefangen, ſo wären Sie viel früher angekommen und wahrſcheinlich längſt wieder weggeritten; ſo aber, da es ſpät und weit bis zur nächſten Gaſtherberge iſt, habe ich das Vergnügen Ihnen eine Unterkunft anzubieten. Denn Sie ſind mir angelegentlich empfohlen von meiner Freundin und ſie ſchreibt, Sie ſeien ein ſehr beachtenswerther und vernünftiger Reiſender, welcher mit ihren Eltern die erbaulichſten Geſpräche führe! “
„ Das wundert mich! Ich habe kaum zwei oder drei Mal das Wort ergriffen und einige Minuten lang geführt! “
„ So muß das Wenige, das Sie ſagten, um ſo herr¬ licher geweſen ſein, und ich hoffe dergleichen auch mit Beſcheidenheit zu genießen! “
„ O mein Fräulein, es waren im Gegentheil zuletzt ſolche Dummheiten, die ich beſonders der jungen Dame ſagte, daß ſie den gütigen Empfehlungsbrief ſchwerlich mehr geſchrieben hätte, wenn es nicht ſchon geſchehen wäre! “
„ So ſcheint es denn bei Ihnen in keiner Weiſe mit rechten Dingen zuzugehen! Wenn ich meinen Zweck erreichen will, Sie hier zu behalten, muß ich am Ende,3*36da alles verkehrt bei Ihnen eintrifft, Sie vom Hofe jagen, damit Sie uns um ſo ſicherer von der andern Seite wieder zurückkommen! “
„ Nein, ſchönſtes Fräulein, ich möchte jetzo mit Ihrer Hülfe verſuchen, der Dinge wieder Meiſter zu werden! Weiſen Sie mir meinen Aufenthalt an, und ich werde ohne Abweichung ſtracks hinzukommen trachten und mich ſo feſt halten wie eine Klette! “
„ Das will ich thun! Aber dann halten Sie ſich ja tapfer und laſſen ſich weder rechts noch links verſchlagen, und wenn Sie ſich nicht recht ſicher trauen, ſo bleiben Sie lieber auf einem Stuhle ſitzen, bis ich Sie rufen laſſe! Auf keinen Fall entfernen Sie ſich vom Hauſe, und wenn Ihnen dennoch etwas Ungeheuerliches oder Ver¬ kehrtes aufſtoßen ſollte, ſo rufen Sie mich gleich zu Hülfe! Läuft es aber glücklich ab und halten Sie ſich gut über Waſſer, ſo ſehen wir uns bald wieder. “
Mit dieſen Worten grüßte ſie den Gaſt und eilte mit ihrem Roſenkorbe in das Haus, um Leute zu ſenden. Es erſchien bald darauf ein alter Diener mit weißen Haaren, der, als er das Pferd geſehen, einen Stallknecht aus dem weiter rückwärtsgelegenen Wirthſchaftshofe herbeiholte. Dann kamen zwei Mädchen in der maleriſchen Landes¬ tracht, die er ſchon im Waldhorn geſehen, und führten ihn in das Haus. Als Reinhart in dem ihm angewieſenen Zimmer einige Zeit verweilt und ſein Aeußeres in Ord¬ nung gebracht hatte, erſchien das eine der Mädchen wieder37 mit einer breiten Schale voll Roſen, im Auftrage der Herrſchaft die Herberge etwas freundlicher zu machen, und das andere folgte auf dem Fuße mit einer ſchönen Kryſtallflaſche, die mit einem dunkeln ſüdlichen Wein halb gefüllt war, einem Glaſe und einigen Zwiebäcken, alles auf einem Brette von altmodig geformtem Zinn tragend.
Ueberraſcht von dem Anblick der Gruppe, ſowie auch etwas übermüthig von den fortgeſetzt anmuthigen Begeg¬ niſſen dieſes Tages, verhinderte er die Mädchen, ihre Gaben auf den Tiſch zu ſetzen, und führte ſie mit wich¬ tiger Miene vor einen großen Spiegel, der den Fenſter¬ pfeiler vom Boden bis zur Decke bekleidete. Dort ſtellte er ſie, den Rücken gegen das Glas gewendet, auf, und die Jungfrauen ließen ihn einige Augenblicke gewähren, da ſie nicht wußten, worum es ſich handelte. Mit Wohl¬ gefallen betrachtete er das Bild; denn er ſah nun vier Figuren, ſtatt zweier, indem der Spiegel den Nacken und die Rückſeite der ſchmucken Trägerinnen wiedergab. Um ſie feſtzuhalten, fragte er ſie nach dem Taufnamen ihrer Gebieterin, obſchon der denſelben bereits kannte, und beide ſagten: „ Sie heißt Lucia! “ Zugleich aber ver¬ ſpürten die Mägde den Muthwillen, ſtellten die Sachen auf den Tiſch und liefen erröthend aus dem Zimmer; draußen ließen ſie ein kurzes ſchnippiſches Gelächter erſchallen, das gar luſtig durch die gewölbten Gänge erklang. Bald aber guckten ihre zwei Geſichter wieder zu einer andern Thüre des Zimmers herein, und die Eine38 verkündigte mit ſo ziemlichen Worten, als ob ſie nicht eben laut gelacht hätte: noch ſollen ſie dem Herren ſagen, daß er unbedenklich in den nächſten Zimmern herum ſpazieren möge, falls ihm die Zeit zu lang werden ſollte; es ſeien Bücher und dergleichen dort zu finden. Dann verſchwanden ſie, indem ſie einen Thürflügel halb geöffnet ließen.
Reinhart that ihn ganz auf und trat in das anſtoßende Gemach, das jedoch außer einer gewöhnlichen Zimmer¬ ausſtattung nichts enthielt; er öffnete daher die nächſte, blos angelehnte Thüre und entdeckte einen geräumigen Saal, welcher eine Art Arbeitsmuſeum der Dame Lucia zu bilden ſchien. Ein Bücherſchrank mit Glasthüren zeigte eine ſtattliche Bibliothek, die indeſſen durch ihr Ausſehen bewies, daß ſie ſchon älteren Herkommens war. An anderen Stellen des Saales hing eine Anzahl Bilder oder war zur bequemen Betrachtung auf den Boden geſtellt. Es ſchienen meiſtens gut gedachte und gemalte Landſchaften oder dann einzelne ſchöne Portraitköpfe, beides aber nicht von und nach bekannten Meiſtern, ſondern von ſolchen, deren Geſtirn nicht in die Weite zu leuchten pflegt oder wieder vergeſſen wird. Oefter ſieht man in alten Häuſern derlei Anſchaffungen vergangener Geſchlechter; kunſtliebende Familienhäupter unterſtützten landsmänniſche Talente, oder brachten von ihren Reiſen dies oder jenes löbliche, durchaus tüchtige Gemälde nach Hauſe, von deſſen Urheber nie wieder etwas vernommen39 wurde. Denn wie Viele ſterben jung, wie Manche bleiben bei allem Fleiß und aller Begabung ihr Leben lang un¬ geſucht und ungenannt. Um ſo achtenswerther erſchien die Bildung des Fräuleins, da ſie ohne maßgebende Namen dieſe unbekannten Werke zu ſchätzen wußte und ſo eifrig um ſich ſammelte. Die weiß, wie es ſcheint, ſich an die Sache zu halten, dachte er, als er bemerkte, daß alle die älteren oder neueren Schildereien entweder durch den Gegenſtand oder durch das Machwerk einem edleren Geiſte zu gefallen geeignet waren. Einige große Stiche nach Niclaus Pouſſin und Claude Lorrain hingen in ſchlichten hölzernen Rahmen über einem Schreibtiſch; auf dieſem lag eine Schicht trefflicher Radierungen von guten Niederländern friedlich neben einem Zuſammenſtoße von Büchern, welche flüchtig zu beſehen Reinhart keinen Anſtand nahm. Nicht eines that ein Haſchen nach un¬ nöthigen, nur Staat machenden Kenntniſſen kund; aber auch nicht ein gewöhnliches ſogenanntes Frauenbuch war darunter, dagegen manche gute Schrift aus verſchiedener Zeit, die nicht gerade an der großen Leſerſtraße lag, neben edeln Meiſterwerken auch ehrliche Dummheiten und Sachlichkeiten, an denen dies Frauenweſen irgend welchen Antheil nahm als Zeichen einer freien und großmüthigen Seele.
Was ihm jedoch am meiſten auffiel, war eine beſondere kleine Bücherſammlung, die auf einem Regale über dem Tiſche nah zur Hand und von der Beſitzerin ſelbſt40 geſammelt und hochgehalten war; denn in jedem Bande ſtand auf dem Titelblatte ihr Name und das Datum des Erwerbes geſchrieben. Dieſe Bände enthielten durchweg die eigenen Lebensbeſchreibungen oder Briefſammlungen vielerfahrener oder ausgezeichneter Leute. Obgleich die Bücherreihe nur ging, ſo weit das Geſtelle nach der Länge des Tiſches reichte, umfaßte ſie doch viele Jahrhunderte, überall kein anderes als das eigene Wort der zur Ruhe gegangenen Lebensmeiſter oder Leidensſchüler enthaltend. Von den Blättern des heiligen Auguſtinus bis zu Rouſſeau und Goethe fehlte keine der weſentlichen Be¬ kenntnißfibeln, und neben dem wilden und prahleriſchen Benvenuto Cellini duckte ſich das fromme Jugendbüchlein Jung Stillings. Arm in Arm rauſchten und kniſterten die Frau von Sevigné und der jüngere Plinius einher, hinterdrein wanderten die armen Schweizerburſchen Thomas Platter und Ulrich Bräcker, der arme Mann im Toggen¬ burg, der eiſerne Götz ſchritt klirrend vorüber, mit ſtillem Geiſterſchritt kam Dante, ſein Buch vom neuen Leben in der Hand. Aber in den Aufzeichnungen des lutheriſchen Theologen und Gottesmannes Johannes Valentin Andreä rauchte und ſchwelte der dreißigjährige Krieg. Ihn bil¬ deten Noth und Leiden, hohe Gelahrtheit, Gottvertrauen und der Fleiß der Widerſächer ſo trefflich durch und aus, daß er zuletzt, auf der Höhe kirchlicher Aemter ſtehend, ein nur in Latein würdig zu beſchreibendes Daſein gewann. In ſeinem Hauſe verkehrten Herzoge, Prinzeſſinnen und41 Grafen; er mehrte und verzierte das gedeihlichſte Haus¬ weſen trotz der Bosheit, mit welcher eine neidiſche Ver¬ waltung ſtets ſeine Beſoldungen verkürzen wollte. Endlich kaufte er ſogar zwei koſtbare Uhren, „ die der Künſtler Habrecht gemacht hatte “, und einen herrlichen ſilbernen Pokal, welchen vordem der Kaiſer Maximilian der Zweite ſeinem Großvater zum Gnadenzeichen geſchenkt und die Ungunſt der Zeiten der Familie geraubt. Aber dem hoch¬ würdigen Prälaten erlaubt das Wohlergehen, das Ehren¬ denkmal wieder an ſich zu bringen und aufzurichten. Als er zu ſterben kam, empfahl er ſeine Seele inmitten von ſieben hochgelehrten, glaubensſtarken Geiſtlichen in die Hände Gottes. Unlang vorher hatte er freilich den letzten Abſchnitt ſeiner Selbſtbiographie mit den Worten geſchloſſen: „ Was ich übrigens durch die tückiſchen Füchſe, meine treuloſen Gefährten, die Schlangenbrut, litt, wird das Tagebuch des nächſten Jahres, ſo Gott will, erzählen. “ Gott ſchien es nicht gewollt zu haben.
Dieſe ergötzliche Wendung mußte der Beſitzerin des Buches gefallen; denn ſie hatte neben die Stelle ein zier¬ liches Vergißmeinnicht an den Rand gemalt. Aus allen Bänden ragten zahlreiche Papierſtreifchen und bewieſen, daß jene fleißig geleſen wurden.
Auf einem andern Tiſche lagen in der That die Pläne zu den Anlagen, in welchen Reinhart ſich verirrt hatte, und andere neu angefangene.
Dieſe Pläne waren nicht etwa auf kleine ängſtliche42 Blätter ſondern mit feſter Hand auf große Bogen von dickem Packpapier gezeichnet, und Reinhart wurde von allem, was er ſah, zu einer unfreiwilligen Achtung und Verwunderung gebracht. Noch mehr verwunderte er ſich, als er in einer Fenſterecke noch einen kleineren Tiſch gewahrte, wiederum mit Büchern und Schriften bedeckt, nämlich mit Sprachlehren und Wörterbüchern und ge¬ ſchriebenen Heften, die mühſelig mit Vocabeln und Ueber¬ ſetzungsverſuchen angefüllt waren. Sie ſchien nicht nur Altdeutſch und Altfranzöſiſch, ſondern auch Holländiſch, Portugieſiſch und Spaniſch zu betreiben, Dinge, die Reinhart nur zum kleineren Theile verſtand und auch da mangelhaft; und die Sache berührte ihn um ſo ſeltſamer, als es ſich in dieſer vornehmen Einſamkeit ſchwerlich um den Gewerbefleiß eines ſogenannten Blauſtrumpfes handelte.
Wie er ſo mitten in dem Saale ſtand, beinah eifer¬ ſüchtig auf all' die ungewöhnlichen und im Grunde doch anſpruchsloſen Studien, ungewiß, wie er ſich dazu ver¬ halten ſolle, trat Lucie herein und entſchuldigte ſich, daß ſie ihn ſo lange allein gelaſſen. Sie habe ſeine Gegen¬ wart dem kranken Oheim gemeldet, der bedauere, ihn jetzt nicht ſehen zu können, jedoch die Verſäumniß noch gut zu machen hoffe. Als Reinhart die ſchön gereifte und friſche Erſcheinung wieder erblickte, trat ihm unwillkürlich die Frage, die ſein Inneres neugierig bewegte, auf die Lippen, und er rief bedachtlos, indem er ſich im Saale umſah: „ Warum treiben Sie alle dieſe Dinge? “
43Die Frage ſchien keineswegs ganz grundlos zu ſein, obgleich ſie ihm keine Antwort eintrug. Vielmehr ſah ihn das ſchöne Fräulein groß an und erröthete ſichtlich, worauf ſie ihn mit etwas ſtrengerer Höflichkeit einlud, ſie zu begleiten. Reinhart that es nicht ohne Verlegenheit und ebenfalls mit einiger Röthe im Geſicht.
Denn er fühlte jetzt, als er ſie am Arme dahin führte, daß ſeine Frage eigentlich nichts anderes ſagen wollte, als: Schönſte, weißt du nichts beſſeres zu thun? oder noch deutlicher: Was haſt du erlebt? darum ſchritt das ſich gegenſeitig unbekannte Paar in gleichmäßiger Verblüffung nach dem Speiſezimmer, und Jedes wünſchte meilenweit vom Andern entfernt zu ſein, wohl fühlend, daß ſie ſich unvorſichtig in eine kritiſche Lage hinein geſcherzt hatten.
Doch verlor ſich die Verlegenheit, als ſie in das bereits erleuchtete Zimmer traten, wo die zwei Mägde mit dem Auftragen des Abendeſſens beſchäftigt waren. Man ſetzte ſich zu Tiſch und die Mägde, nachdem ſie ihren Dienſt vorläufig gethan, nahmen desgleichen Platz, verſahen ſich ohne Weiteres mit Speiſe und aßen mit Fleiß und gutem Anſtand.
„ Sie ſehen, “ſagte Lucia zu ihrem Gaſt, „ wir leben hier ganz patriarchaliſch, und hoffentlich werden Sie ſich45 durch die Gegenwart meiner braven Mädchen nicht beleidigt fühlen! “
„ Im Gegentheil, “erwiderte Reinhart, „ ſie trägt dazu bei, meine Kur zu befördern! “
„ Welche Kur? “fragte Lucie, und er antwortete:
„ Die Augenkur! Ich habe mir nämlich durch meine Arbeit die Augen geſchwächt und nun in einem alten ehrlichen Volksarzneibuche geleſen: kranke Augen ſind zu ſtärken und geſunden durch fleißiges Anſchauen ſchöner Weibsbilder, auch durch öfteres Ausſchütten und Betrachten eines Beutels voll neuer Goldſtücke! Das letztere Mittel dürfte kaum ſtark auf mich einwirken; das erſtere hingegen ſcheint mir allen Ernſtes etwas für ſich zu haben; denn ſchon ſchmerzt mich das Sehen faſt gar nicht mehr, wäh¬ rend ich noch heute früh es übel empfand! “
Dieſe Worte äußerte Reinhard durchaus ernſthaft und eben ſo ehrlich, als jenes Heilmittel in dem alten Arznei¬ buche gemeint war. Indem er daher an nichts weniger als an eine Schmeichelei dachte, war es umſomehr eine ſolche und zwar eine ſo wirkſame, daß die Frauensleute des Spottes vergaßen. Fräulein Lucie wurde auf‘s Neue verlegen und wußte nicht, was ſie aus dem wunderlichen Gaſte machen ſollte, und die Mägdlein beäugelten ihn heimlich als eine kurzweilige und zuträgliche Abwechslung in dieſem kloſterartigen Hauſe. In der That war es ihm ſo wenig um grobe Schmeicheleien zu thun, daß er das Geſagte ſchon bereute und, um es zu mildern und46 davon abzulenken, hinzufügte, er habe auch einen glück¬ lichen Tag gehabt und mancherlei Schönes geſehen. So erzählte er auch von der hübſchen Wirthstochter in Wald¬ horn und fragte, welches Bewandtniß es mit dieſer eigen¬ thümlichen Perſon habe?
Zugleich jedoch berichtete er mit der unklugen Aufrichtig¬ keit, welche ihn ſeit ſeiner Ankunft plagte, den vollſtändigen Hergang und die Beſchaffenheit ſeines Ausfluges, die Entdeckung des weiſen Sinngedichtes, die Begegnung mit der Zöllnerin und diejenige mit der Pfarrerstochter, ſowie endlich mit der Waldhornstochter. Denn ſo lange er unter den Augen ſeiner jetzigen Gaſtherrin ſaß oder ſtand, trieb es ihn wie ein Zauber zur Offenherzigkeit, und wenn er die ärgſten Teufeleien begangen, ſo würde ihm das Ge¬ ſtändniß derſelben über die Lippen geſprungen ſein.
Allein obgleich dieſe Wirkung Lucien nur zum Ruhme gereichte, ſchien ſie ſich dennoch nicht geſchmeichelt zu fühlen. Sich des Zettels erinnernd, den ihr Reinhart erſt ſtatt des Briefes in die Hand gegeben hatte, röthete ſich ihr Geſicht in anmuthigem Zorn, und plötzlich ſtand ſie auf und ſagte mit verdächtigem Lächeln:
„ So gedenken Sie wol Ihre eleganten Abenteuer in dieſem Hauſe fortzuſetzen, und ſind nur in dieſer ſchmeichel¬ haften Abſicht gekommen? “
Worauf ſie anfing, ziemlich raſch im Gemach auf und nieder zu gehen, während die zwei Mädchen, als erboſ'te Schleppträgerinnen ihres Zornes, ebenfalls aufſprangen47 und ihr folgten, höhniſche Blicke nach dem unglücklich Aufrichtigen ſchleudernd. Reinhart ſäumte nicht, ſich gleichermaßen auf die Beine zu ſtellen, und nachdem er mit Beſtürzung eine kleine Weile dem Spaziergange zu¬ geſehen, ſagte er:
„ Mein Fräulein, wenn Sie es befehlen, ſo werde ich ohne Verzug das Haus verlaſſen und mit höflichſtem Danke auch für kurzen aber denkwürdigen Aufenthalt augenblicklich meinen Weg fortſetzen! “
Ohne ſtill zu ſtehen erwiderte die Schöne:
„ Es iſt zwar Nacht und kein Unterkommen für Sie in der Nähe; aber dennoch geht es unter den bewußten Umſtänden nicht an, daß Sie hier bleiben, in allem Frieden ſei es geſagt! Auch kann die nächtliche Fahrt Ihrem unter¬ nehmendem Geiſte nur willkommen ſein, und überdies werde ich Ihnen einen Wegleiter ſammt Laterne mit¬ geben. “
Demnach blieb ihm nichts anderes übrig, als ſich zu entfernen; beſcheiden ging er der Dame entgegen, und im Begriff, ſich ehrerbietig zu verbeugen, beſann er ſich aber eines Beſſeren, richtete ſich auf und ſagte höflich:
„ Ich überlege ſoeben, daß ich für Sie und für mich am beſten thue, wenn ich mich doch nicht ſo ſchimpflich hier fortjagen laſſe! Denn während ich durch mein Bleiben meine eigene Würde bewahre, gebe ich Ihnen Gelegenheit, auf die herrlichſte Weiſe Ihre weibliche Glorie zu behaupten. Denn auch vorausgeſetzt, daß ich irgend einen ungehörigen,48 wenn auch harmloſen Scherz im Schilde geführt hätte, ſo würde ich gewiß am empfindlichſten geſtraft, wenn ich bei aller Freundſchaft ſo reſpektvoll werde abziehen müſſen, wie ein junger Chorſchüler, und ohne im entfernteſten jenen frechen Verſuch gewagt zu haben! Aber fern ſeien von mir alle unbotmäßigen Gedanken! Doch von Ihnen, meine gnädige Wirthin! eben ſo fern der bedenkliche Schein, ſich mit offener Gewalt und Wegweiſung gegen einen ungefährlichen Abenteurer ſchützen zu wollen!
Er bot ihr hiermit den Arm und führte ſie wieder an ihren Platz, was ſie ruhig und ſchweigend geſchehen ließ. Sie ſetzten ſich abermals gegenüber; dann reichte ſie ihm die Hand über den Tiſch und ſagte:
„ Sie haben Recht, machen wir Frieden! Und zum Zeichen der Verſöhnung will ich Ihnen erzählen, was es mit der Waldhornjungfrau für eine Bewandtniß hat. Vor¬ her aber liefern Sie mir als Beweis Ihrer redlichen Geſinnung jenen ruchloſen Reimzettel aus, den Sie bei ſich führen! Und Ihr Mädchen nehmt Euere Rädchen und ſpinnt Eueren Abendſegen! “
Die Mädchen holten zwei leichte Spinnräder und ſetzten ſich herzu; Reinhart ſuchte das Sinngedicht hervor und gab es Lucien; dieſe zeigte den Zettel den Mädchen und ſagte:
„ Da ſeht, welche Thorheiten ein ernſthafter Gelehrter in der Taſche trägt! “worauf ſie das arme Papierchen unter dem Gekicher der Mädchen an eine der Kerzen hielt,49 verbrannte und die Aſche in die Luft blies. Dann begann ſie, während das ſanfte Schnurren der Spinnräder für Reinharten eine ebenſo neue wie trauliche Begleitung bildete, ihre Mittheilungen.
„ Was nun die hübſche Wirthin vor dem Walde betrifft, “ſagte ſie, „ ſo iſt ſie allerdings eine eigenthümliche Er¬ ſcheinung. Schon als Kind zeichnete ſie ſich ſowol durch Schönheit und friſches Weſen, als auch durch eine ganz eigene Geſcheidtheit und Witzigkeit oder Zungenfertigkeit aus, oder wie man es nennen will, und je mehr ſie heran¬ wuchs, deſto glänzender ſchienen dieſe äußern und innern Eigenſchaften ſich auszubilden. Mit der äußern Schönheit ſchien es nicht nur, ſondern war es auch wirklich der Fall; denn ſo hübſch ſie auch jetzt noch ausſieht, ſo iſt ſie für die, ſo ſie früher geſehen, doch beinahe nur noch ein Abglanz im Vergleich zu dem, was ſie vor einigen Jahren geweſen. Die innere Schöne oder vermeintliche Weisheit des Mädchens dagegen erwies ſich als ein arger Schein; ſie hat zwar jetzt noch ein ſo ſchlagfertiges Rede¬ werk, als es ſich nur wünſchen läßt, allein es ſteckt eitel Thorheit und Finſterniß dahinter. Nicht nur wurde ſie von den Eltern, welches roh gleichgültige Wirths - und Landleute ſind, niemals dazu angehalten, etwas zu lernen und in ihre Seele hineinzuthun, ſondern ſie empfand auch ſelber nicht den kleinſten Antrieb und blieb zu rechten Dingen ſo dumm, daß ſie kaum mühſelig ſchreiben lernte, und man ſagt, daß ihr ſogar das Leſen ziemlichKeller, Sinngedicht. 450ſchwer falle. Aber auch in Hinſicht des natürlichen Ver¬ ſtandes, an irgend einem Verſtehen des Erheblichen und Beſſeren im menſchlichen Leben fehlte es ihr ſo ſehr, daß ſie als ein vollſtändiges Schaf in der dunkelſten Gemüths¬ lage verharrte, indeſſen ſie doch durch ihre Zungen¬ künſte in lächerlichen Dingen und durch eine große Gewandtheit in Kindereien ſtets den Ruf eines durchtrieben klugen Weſens behielt. Doch nur in zahlreicher Umgebung, wo die Leute kamen und gingen und es auf kein Stich¬ halten auslief, bewährte ſich ihre Weisheit; ſobald ſie mit einer halbwegs verſtändigen Perſon allein war, ſo dauerte die Herrlichkeit keine Stunde und ſie gerieth auf's Trockene. Da erklärte ſie dann die Leute für langweilige Einfalts¬ pinſel, mit denen nichts anzufangen ſei. Befand ſie ſich aber mit Menſchen ihres eigenen Schlages allein, ſo ent¬ ſtand aus lauter Dummheit zwiſchen ihnen die troſtloſeſte Stichelei und Zänkerei.
Dennoch hielt ſie ſich für einen Ausbund, ſtrebte von jeher nach großen Dingen, worunter ſie natürlich vor allem das Einfangen eines recht glänzenden jungen Herrn verſtand. Da ſie aber, wie geſagt, nur im großen Haufen ihre Stärke fand, ſo wollte es ihr nicht gelingen, ein einzelnes Verhältniß abzuſondern und ordentlich auf ein Spülchen zu wickeln.
Als meine Großeltern noch lebten, gab es zuweilen viel junge Leute hier, die ſich nicht übel beluſtigten und die Gegend unſicher machten. Vorzüglich gefielen ſich die51 Herren darin, in Verbindung mit den Bewohnern und Gäſten umliegender Häuſer, das Waldhorn zum Sammel¬ platz auf Jagd - und Streifzügen zu wählen, dort Tage und Nächte lang zu liegen und der ſchönen Wirthstochter den Hof zu machen. Die wußte ſich denn auch unter ihnen zu bewegen, daß es eine Art hatte und die Eltern vor Bewunderung außer ſich geriethen.
Da war nun auch ein junger Städter oft bei uns, ein hübſches aber durchaus unnützes Bürſchchen, das von ein wenig Schule und Schliff abgeſehen beinah ſo thöricht war, wie die Dame im Waldhorn. Reich, übermüthig und ein ganz verzogenes Mutterſöhnchen, gab er, ſo leer ſein Kopf an guten Dingen war, um ſo vorlauter in allen Narrheiten den Ton an und war hauptſächlich im Waldhorn der erſte und der letzte. Dies zu ſein, war ihm auch Ehrenſache, und wenn er einen Streich nicht angegeben hatte oder in den Zuſammenkünften nicht die Hauptrolle ſpielte, ſo fragte er nichts darnach und that, als ſähe er nichts, ſtatt mit zu lachen. Am meiſten machte er ſich mit der Salome zu ſchaffen, belagerte ſie unauf¬ hörlich, behauptete, ſie ſei in ihn verliebt und er wolle ſich beſinnen, ob er um ſie anhalten wolle, was ſelbſt¬ verſtändlich alles nur Scherz ſein ſollte. Sie widerſprach ihm eben ſo unaufhörlich mit ſpitzigen Spottreden, die mehr grob als launig ausfielen, verſicherte, ſie könne ihn nicht ausſtehen, und war inzwiſchen begierig, wie ſie ihn an ſich feſtbinden werde, woran ſie nicht zweifelte; denn4*52ſie wünſchte keinen herrlicheren Mann zu bekommen. Allein es wollte ſich lange nicht fügen, daß die geringſte ernſt¬ hafte Beziehung ſich bildete; der Meiſter Drogo (wie ihn ſeine Eltern närriſcher Weiſe hatten taufen laſſen) trieb immer nur Komödie, und ſie desgleichen, da ſie nichts anderes anzufangen wußte, bis ſeine eigene Narrheit ihr plötzlich zu einem verzweifelten Einfall verhalf.
Im Garten hinter dem Hauſe gab es eine dichte Laube, die außerdem noch von Gebüſchen umgeben war. Dorthin verlockte Drogo eines Abends, als ſchon die Sterne am Himmel glänzten, die muthwillige Geſellſchaft, indem er ſich ſtellte, als ob er vorſichtig der Salome nachſchliche und eine geheime Zuſammenkunft mit ihr in's Werk ſetzte. Er glaubte, ſie ſei ſchmollend ſchlafen gegangen, da ſie ſich den ganzen Abend derb geneckt hatten, und wußte es nun ſo gut zu machen, daß die Leute wirklich getäuſcht wurden und meinten, er wolle ſich unbemerkt nach der Laube hinſtehlen. Sie winkten einander liſtig und ſchlichen ihm eben ſo pfiffig nach, als er voranhuſchte, und als er in die dunkle Laube ſchlüpfte, umringten ſie ſachte das grüne Gezelt, um das Liebespaar zu belauſchen und zu überfallen; denn es Pflegte eben nicht ſehr zartſinnig zu¬ zugehen.
Als Junker Drogo nun drinn ſaß und merkte, daß die Lauſcher ſich nach Wunſch aufgeſtellt hatten, begann er, dieſelben zu äffen und neidiſch zu machen, indem er ein trauliches Geflüſter nachahmte, wie wenn zwei Liebende53 heimlich zuſammen wären; er nannte wiederholt ihren Namen mit ſeiner eigenen halblauten Stimme, und dann den ſeinigen mit verſtelltem Liſpeln; die ſüßeſten Wörtchen ertönten, Seufzer, und endlich fiel ein deutlicher Kuß, welchem bald ein zweiter folgte, dann mehrere, die ſich zuletzt in einen förmlichen Küſſeregen verloren, von zärt¬ lichen Worten unterbrochen, ſo daß die Lauſcher ſich anſtießen, vor Kichern erſticken wollten und dann wieder aufmerkſam horchten, wie die Sperber.
Nun ſaß der gute Herr Drogo mit ſeinen Poſſen keineswegs allein in der Laube; vielmehr ſaß niemand anders, als die Salome, auch darin, in eine Ecke gedrückt. Sie war nämlich nicht zu Bett, ſondern hieher gegangen, um ſich ein wenig zu grämen, da die dämliche Unbeſtimmt¬ heit ihres Schickſals ſie doch zu quälen begann, und ſie weinte ſogar ganz gelinde, eben als der Poſſenreißer an¬ kam. Sie konnte nicht erkennen, wer es war, und ſaß bewegungslos im Winkel, um ſich nicht zu verrathen. Als jedoch die Komödie anfing, errieth ſie bald ihren Widerſacher und hörte auch gar wohl die Uebrigen heran¬ ſchleichen; kurz, da es ſich um eine Nichtsnutzigkeit han¬ delte, vermerkte ſie endlich den Sinn des ganzen Auftrittes, während ſie etwas Ernſthaftes nicht errathen hätte, und ſie verfiel ſtracks auf den Gedanken, den Spötter in ſeinem eigenen Garne zu fangen, jetzt oder nie!
Als er am eifrigſten dabei war, mit vieler Kunſt in die Luft zu küſſen, als ob er die rothen Lippen der54 Salome küßte, fühlte er ſich unverſehens von zwei Armen umfangen, und ſeine Küſſe begegneten denjenigen eines leibhaftigen Mundes. Erſchreckt hielt er inne und wollte aufſpringen; allein Salome ließ ihn nicht, ſondern erſtickte ihn faſt mit Küſſen und rief laut: Sieh, Liebſter, ſo viel Küſſe ich dir jetzt gebe, ſo viel Blitze ſollen dich treffen, wenn du mir nicht treu bleibſt!
Zugleich brach jetzt das lauſchende Volk los, bereit gehaltene Lichter wurden raſch angezündet und damit in die Laube geleuchtet, und unter rauſchendem Gelächter und lauten Glückwünſchen wurde das Paar entdeckt und umringt. Aber auch die Eltern des Mädchens kamen herbei, ein aus dem mehrjährigen Militärdienſt heim¬ gekehrter Bruder, der nicht heiter ausſah, Ackerknechte und ländliche Gäſte, die noch in der Wirthsſtube geſeſſen. Dieſe alle machten jetzt unheimliche Geſichter; das Pärchen wurde an der Spitze der ganzen Schaar in das Haus begleitet, wo die Eltern Erklärung verlangten. Salome weinte wieder und ihr war ſehr bang; Drogo wollte ſich ſachte aus der Verlegenheit ziehen und ſich abſeits drücken, ſeine Freunde ſelbſt jedoch verlegten ihm den Weg und mochten ihm aus Neid und Schadenfreude ſein Schickſal gönnen; ſie beredeten ihn ebenſo ernſthaft, wie die Ver¬ wandten des Mädchens, ſich zu erklären, während dieſes, wie gebändigt, hold und traurig da ſaß und der junge Menſch noch das friſche Gefühl ihrer Liebkoſungen em¬55 pfand. So verlobte er ſich denn feierlich mit ihr und verſprach ihr vor allen Zeugen die Ehe.
Es fiel ihm nun nicht ſchwer, die Zuſtimmung der Seinigen zu erlangen, die von jeher thun mußten, was ihm beliebte, und ſo wurde dieſe Mißheirath, die eigent¬ lich nur äußerlich eine ſolche war, allſeitig beſchloſſen. Aber, o Himmel! es wäre zehnmal beſſer geweſen, wenn es innerlich eine ſolche und die beiden Brautleute ſich nicht vollkommen gleich an Narrheit geweſen wären! Die Braut wurde jetzt modiſch gekleidet und ein halbes Jahr vor der Hochzeit in die Stadt gebracht, wo ſie die ſo¬ genannte feinere Sitte und die Führung eines Hausweſens von gutem Ton erlernen ſollte. Damit war ſie aber auf ein Meer gefahren, auf welchem ſie das Steuer ihres Schiffleins aus der Hand verlor. Eine ihren künftigen Schwiegereltern befreundete Familie nahm ſie aus Ge¬ fälligkeit bei ſich auf. Dieſe Leute lebten in großer Ruhe und voll Anſtand und machten nicht viel Worte; ſchnelle, unbedachte Reden und Antworten waren da nicht beliebt, ſondern es mußte alles, was geſagt wurde, gediegen und wohlbegründet erſcheinen; im Stillen aber wurden nicht liebevolle Urtheile ziemlich ſchnell flüſſig. Salome wollte es im Anfang recht gut machen; da ſie aber einen durch¬ aus unbeweglichen Verſtand beſaß, ſo gerieth die Sache nicht gut. Ihre Gebarungen und Manieren, welche ſich in der freien Luft und im Wirthshauſe hübſch genug ausgenommen, waren in den Stadthäuſern viel zu breit56 und zu hart, und ihre Witze wurden urplötzlich ſtumpf und ungeſchickt. Sie patſchte herum, wollte nach ihrer Gewohnheit immer ſprechen und wußte es doch nicht an¬ zubringen; bald war ſie demüthig und höflich, bald warf ſie ſich auf und wollte ſich nichts vergeben, genug, ſie arbeitete ſich ſo tief als möglich in das Ungeſchick hinein und wurde von den feinen Leuten, die ſie von vornherein ſcheel angeſehen hatten, unter der Hand nur das Kameel genannt, welcher Titel ſich behende verbreitete und beſonders in den Häuſern beliebt wurde, wo man für die Töchter auf ihren Verlobten gerechnet hatte. Denn obgleich der auch kein Kirchenlicht vorſtellte, ſo war er im bewußten Punkte doch ein unentbehrlicher Gegenſtand, den man nur mit Verdruß durch die Bauerntochter aus der Berechnung gezogen ſah. Die weibliche Geſellſchaft verſäumte nicht, die Mißachtung ſichtbar zu machen, in welche die Arme gerieth, und ſorgte dafür, daß der Ehrentitel dem Bräutigam zeitig zu Gehör kam, während ſie gegen dieſen ſelbſt ein zartgefühltes, ſchonendes Bedauern heuchelte, wie wenn er als das edelſte Kleinod der Welt auf ſchreckliche Weiſe einer Unwürdigen zum Opfer gefallen wäre. Selbſt die Herren, welche der Salome auf dem Lande ſchön gethan und nicht verſchmäht hatten, ihr Tage lang den Hof zu machen, wollten ſich jetzt nicht bloß ſtellen und ließen ſie ſchmählich im Stich.
So kam es dazu, daß der Bräutigam, wenn die Braut nicht gegenwärtig war, ſich für einen armen unglücklichen57 Tropf hielt, der ſein Lebensglück leichtſinnig vernichtet habe, und er bedauerte ſich ſelbſt; ſo bald ſie ſich aber ſehen ließ, ſchlug ihre Schönheit ſolche Gedanken aus dem Felde, da er mit ſeinem leeren Kopfe nur dem Augenblick lebte. Salome aber, die ſich überall verkauft und ver¬ rathen ſah und nichts Gutes ahnte, ſuchte ſich um ſo ängſtlicher an die Hauptſache, nämlich an den Bräutigam zu halten und ihn mit vermehrten Liebkoſungen zu feſſeln; denn ſie hatte keine andere Münze mehr auszugeben, und ſobald ſie aufhörten, ſich zu ſchnäbeln, ſtand die Unter¬ haltung ſtill zwiſchen dieſen Leutchen, die ſonſt ſo rüſtig an der Spitze geſtanden hatten.
Salome verſpürte keine Ahnung, daß die Beſchaffen¬ heit ihres Geiſtes, ihrer Klugheit in Frage geſtellt war; ſie ſchrieb den obwaltenden Unſtern einzig ihrer ländlichen Herkunft und dem übeln Willen der Städter zu. Sie hüllte ſich daher in ihr Bewußtſein, dachte, wenn ſie nur erſt Frau wäre, ſo wollte ſie ihre Trümpfe ſchon wieder ausſpielen, und hielt ſich inzwiſchen an den Liebſten, um ſeiner Neigung ſicher zu bleiben.
Da ſaßen ſie nun eines ſchönen Nachmittags auch auf einem ſeidenen Sopha oder Divan, Salome in einem kirſchrothen Seidenkleide, das ſie ſelbſt gekauft, mit dicken goldenen Armſpangen, die ihr Drogo geſchenkt, und in echten Spitzen, die von ihrer Schwiegermutter herrührten, Drogo aber im neueſten Aufputz eines Modeherren. Der¬ geſtalt hielten ſie ſich umfangen und gaben ſo dem Anſehen58 nach ein Bild irdiſchen Glückes ab; denn ſo jung, ſo ſchön und ſo hübſch gekleidet, wie beide waren, als Brautleute, denen ein langes ſorgloſes Leben lachte, der lieblichſten Muße genießend in einem ſtillen Empfangsſaale, den ſie zur Ruhe gewählt, ſchien ihnen nichts zu fehlen, um ſich im Paradieſe glauben zu können. Sie waren über ihrem Koſen ſänftlich eingeſchlafen und erwachten jetzt wieder, gemächlich Eines nach dem Andern; der Bräutigam gähnte ein Weniges, mit Maß, und hielt die Hand vor; die Braut aber, als ſie ihn gähnen ſah, ſperrte, unwider¬ ſtehlich gereizt, den Mund auf ſoweit ſie konnte und wie ſie es auf dem Lande zu thun pflegte, wenn keine Fremden da waren, und begleitete dieſe Mundaufſperrung mit jenem troſt -, hoffnungs - und rückſichtsloſen Weltuntergangsſeufzer oder Geſtöhne, womit manche Leute, in der behaglichſten Meinung von der Welt, die geſundeſten Nerven zu er¬ ſchüttern und die frohſten Gemüther einzuſchüchtern ver¬ ſtehen.
Sie müſſen ſich nicht wundern, unterbrach ſich Lucie, daß ich dieſe Einzelheiten ſo genau kenne: ich habe ſie ſattſam von beiden Seiten erzählen hören, und es ſcheint außerdem, daß jenes unglückliche Gähnduett gleich einem unwillkürlichen, verhängnißvollen Bekenntniſſe die Wen¬ dung herbeiführte. Wenigſtens verweilten Beide wiederholt bei dieſem merkwürdigen Punkte. Der Bräutigam wurde auf einmal ganz verdrießlich und rief: „ O Gott im Himmel! Iſt das nun alles, was Du zu erzählen weißt? “
59Salome wollte ihn küſſen; allein er hielt ſie ab und ſagte: „ Laß doch, und ſage lieber etwas Feines! “
Da wurde die Abgewieſene von Röthe übergoſſen; ſie ſprach aber ſchnell: „ Wie man in den Wald ruft, ſo tönt es heraus! Sag 'mir etwas Feines vor, ſo werde ich antworten! “
„ Ach, die Kameele ſprechen nicht! “erwiderte Drogo unbeſonnen mit einem Seufzer. Da wurde ſie bleich, lehnte ſich zurück und ſagte: „ Wer iſt ein Kameel, mein Schatz? “
„ O Liebchen, “ſagte er, „ die ganze Stadt nennt Dich ſo! “
„ Und Du hältſt mich alſo auch für eines? “fragte ſie, und er antwortete, indem er ſie wieder an ſich ziehen wollte: „ Sicherlich, und zwar für das reizendſte, das ich je geſehen! “
Da fühlte ſich Salome von dem ſchärfſten Pfeil getroffen, den es für ſie geben konnte: denn ſie hielt ihre vermeintliche Klugheit für ihre eigentliche Ehre, für ihr Palladium und ihre Hauptſache. Aber das war gut für ſie, weil ſie dadurch eine Wehr und einen Halt gewann, ſich vom Verderben rettete und ihre Schwäche gut machte.
Ohne ein ferneres Wort zu ſagen, riß ſie ſich los, löſte die Spangen von den Knöcheln, die Spitzen vom Halſe, warf ſie dem herzloſen Bräutigam vor die Füße60 und augenblicklich lief ſie aus dem Hauſe, ſpuckte wie ein Bauer auf die Schwelle deſſelben und lief, wie ſie war, ohne Hut und Handſchuhe, aus der Stadt. Vor dem Thor erſt brach ſie in Thränen aus, und in einemfort weinend und ſchluchzend wanderte und eilte ſie, mit dem ſeidenen Prachtkleide die Augen trocknend (denn ſogar ein Taſchentuch hatte ſie nicht an ſich genommen) durch Feld und Forſt, bis ſie tief in der Nacht im elterlichen Hauſe anlangte, mehr einer entſprungenen Zigeunerin ähnlich, als einer Braut. Sie gab den beſtürzten Verwandten keine Antwort, ſondern verſchloß ſich in ihre Kammer. Darin blieb ſie mehrere Tage und erſchien, als ſie wieder hervortrat, in der alten Landtracht. Wo ſie jenes rothe Seidenkleid hingebracht, hat man nie erfahren. Einige ſagen, ſie habe es verbrannt, Andere, es ſei vergraben worden, wieder Andere, ſie habe es einem Juden ver¬ kauft.
Als ſie eine Zeitlang zu Haus geblieben, ſchickte ihr die Stadtfamilie, bei der ſie gewohnt, ihre Sachen zu ohne jegliche Nachricht oder Anfrage, und noch fernere Zeit verging, ohne daß der Bräutigam oder ſonſt Jemand nach ihr fragte. Die Ihrigen wollten einen Rechtshandel mit dem Junker Drogo anheben; doch ſie verwehrte es zornig, und ſo iſt die Brautſchaft der ſchönen Salome in Nichts verlaufen und die Jungfrau noch vorhanden, wie Sie dieſelbe geſehen haben, theilweiſe etwas klüger und beſſer geworden, als früher, theilweiſe noch thörichter. 61Ihre Lieblingslaune iſt, die Männer zu verachten und mit ſolchen zu ſpielen, wie ſie wähnt, während ſie ihre Geſellſchaft doch allem Andern vorzieht. Aber ich glaube nicht, daß ſie nochmals zu einer Verlobung zu bringen wäre. “
Als Lucia ſchwieg, wußte Reinhart nicht ſogleich Etwas zu ſagen, da eine gewiſſe Nachdenklichkeit ihn zu¬ nächſt befangen und verlegen machte. Des Fräuleins ausführliche und etwas ſcharfe Beredtſamkeit über die Schwächen einer Nachbarin und Genoſſin ihres Ge¬ ſchlechtes hatte ihn anfänglich befremdet und ein faſt unweiblich kritiſches Weſen befürchten laſſen. Indem er ſich aber der Lieblingsbücher erinnerte, die er kurz vorher geſehen, glaubte er in dieſer Art mehr die Gewohnheit zu erkennen, in der Freiheit über den Dingen zu leben, die Schickſale zu verſtehen und Jegliches bei ſeinem Namen zu nennen. Bedachte er dazu die Einſamkeit der Er¬ zählerin, ſo wollte ihn von Neuem die neugierige und warme Theilnahme ergreifen, die ihn ſchon zu einer un¬ zeitigen Frage verleitet hatte. Dann aber, als Lucia von dem thörichten Küſſen und Koſen in ſo überlegen heiterer Weiſe und mit einem Anfluge verächtlichen Spottes erzählte, war er geneigt, das als eine ſtrafende Anſpielung auf63 die Thorheit zu empfinden, mit der er ſelbſt heute aus¬ gezogen war. Solchen Angriff von ſich abzuwehren, ſchritt er zum Widerſpruche und ſogar zu einer Art Schutzrede für die verunglückte Salome, indem er begann:
„ Die ſtolze Reſignation, zu welcher ſie ſo unerwartet gelangte, ſcheint mir faſt zu beweiſen, daß auch Vorzüge, die nur in der Einbildung vorhanden ſind, wenn ſie beleidigt oder in Frage geſtellt werden, die gleiche Wir¬ kung zu thun vermögen, wie wirklich vorhandene Tugen¬ den, ſo daß z. B. die Thorheit, wenn ihre eingebildete Klugheit angegriffen wird, in ihrem Schmerze darüber zuletzt wahrhaft weiſe und zurückhaltend werden kann. Uebrigens iſt es doch ſchade, daß die arme Schöne nicht einen Mann hat! “
„ Sie iſt nun zwiſchen Stuhl und Bank gefallen, “erwiderte Lucia; „ denn mit den Herren war es nichts und mit den Bauern geht es auch nicht mehr, und doch hätte ſie einen Mann ihres Standes ſogar noch beglücken können, der bei gleichen Geiſteskräften und täglicher harter Arbeit ihrer Unklugheit nicht ſo inne geworden wäre und vielleicht ein köſtliches Kleinod in ihr gefunden hätte. “
„ Gewiß, “ſagte Reinhart, „ mußte es irgend einen Mann für ſie geben, dem ſie ſelbſt mit ihren Fehlern werth war; doch ſcheint mir die Gleichheit des Standes und des Geiſtes nicht gerade das Unentbehrlichſte zu ſein. Eher glaube ich, daß ein derartiges Weſen ſich noch am vortheilhafteſten in der Nähe eines ihm wirklich über¬64 legenen und verſtändigen Mannes befinden würde, ja ſogar, daß ein ſolcher bei gehöriger Muße ſeine Freude daran finden könnte, mit Geduld und Geſchicklichkeit das Reis einer ſo ſchönen Rebe an den Stab zu binden und gerade zu ziehen. “
„ Edler Gärtner! “ließ ſich hier Lucia vernehmen; „ aber die Schönheit geben Sie alſo nicht ſo leicht Preis, wie den Verſtand? “
„ Die Schönheit? “ſagte er; „ das iſt nicht das rich¬ tige Wort, das hier zu brauchen iſt. Was ich als die erſte und letzte Hauptſache in den bewußten Angelegen¬ heiten betrachte, iſt ein gründliches perſönliches Wohl¬ gefallen, nämlich daß das Geſicht des Einen dem Andern ausnehmend gut gefalle. Findet dies Phänomen ſtatt, ſo kann man Berge verſetzen und jedes Verhältniß wird da¬ durch möglich gemacht. “
„ Dieſe Entdeckung, “verſetzte Lucia, „ ſcheint nicht übel, aber nicht ganz neu zu ſein und ungefähr zu beſagen, daß ein wenig Verliebtheit beim Abſchluß eines Ehe¬ bündniſſes nicht gerade etwas ſchade! “
Durch dieſen Spott wurde Reinhart von Neuem zur Unbotmäßigkeit aufgeſtachelt, ſo daß er fortfuhr: „ Ihre Muthmaßung iſt ſogar richtiger, als Sie im Augenblick zu ahnen belieben; dennoch erreicht ſie nicht ganz die Tiefe meines Gedankens. Zur Verliebtheit genügt oft das einſeitige Wirken der Einbildungskraft, irgend eine Täuſchung, ja es ſind ſchon Leute verliebt geweſen, ohne65 den Gegenſtand der Neigung geſehen zu haben. Was ich hingegen meine, muß gerade geſehen und kann nicht durch die Einbildungskraft verſchönert werden, ſondern muß dieſelbe jedesmal beim Sehen übertreffen. Mag man es ſchon Jahre lang täglich und ſtündlich geſehen haben, ſo ſoll es bei jedem Anblick wieder neu erſcheinen, kurz, das Geſicht iſt das Aushängeſchild des körperlichen wie des geiſtigen Menſchen; es kann auf die Länge doch nicht trügen, wird ſchließlich immer wieder gefallen und, wenn auch mit Sturm und Noth, ein Paar zuſammen halten. “
„ Ich kann mir nicht helfen, “ſagte Lucie abermals, „ aber mich dünkt doch, daß wir uns immer auf demſelben Fleck herumdrehen! “
„ So wollen wir aus dem Kreiſe hinausſpringen und der Sache von einer andern Seite beikommen! Hat es denn nicht jederzeit geſcheidte, hübſche und dabei anſpruchs¬ volle Frauen gegeben, die aus freier Wahl mit einem Manne verbunden waren, der von dieſen Vorzügen nur das Gegentheil aufweiſen konnte, und haben nicht ſolche Frauen in Frieden und Zärtlichkeit mit ſolchen Männern gelebt und ſich vor der Welt ſogar einen Ruhm daraus gemacht? Und mit Recht! Denn wenn auch irgend ein den Anderen verborgener Zug ihre Sympathie erregte und ihre Anhänglichkeit nährte, ſo war dieſe doch eine Kraft und nicht eine Schwäche zu nennen! Nun kann ich nicht zugeben, daß die Männer tiefer ſtehen ſollen, als die Frauen! Im Gegentheil, ich behaupte: ein klugerKeller, Sinngedicht. 566und wahrhaft gebildeter Mann kann erſt recht ein Weib heirathen und ihr gut ſein, ohne zu ſehen, wo ſie her¬ kommt und was ſie iſt; das Gebiet ſeiner Wahl umfaßt alle Stände und Lebensarten, alle Temperamente und Einrichtungen, nur über Eines kann er nicht hinaus¬ kommen, ohne zu fehlen: das Geſicht muß ihm gefallen und hernach abermals gefallen. Dann aber iſt er der Sache Meiſter und er kann aus ihr machen, was er will! “
„ Dem Anſcheine nach haben Sie immer noch nichts Außerordentliches geſagt, “verſetzte Lucia; „ doch fange ich an zu merken, daß es ſich um gewiſſe kennerhafte Sachlich¬ keiten handelt; das gefallende Geſicht wird zum Merkmal des Käufers, der auf den Sklavenmarkt geht und die Veredlungsfähigkeit der Waare prüft, oder iſt's nicht ſo? “
„ Ein Gran dieſer böswilligen Auslegung könnte mit der Wahrheit in gehöriger Entfernung zuſammentreffen; und was kann es dem einen und dem andern Theile ſchaden, wenn das zu verhoffende Glück alsdann um ſo längere Dauer verſpricht? “
„ Die Dauer des glatten Geſichtes, das der Herr Kenner ſich ſo vorſichtig gewählt hat? “
„ Verdrehen Sie mir das Problem nicht, grauſame Gebieterin und Gaſtherrin! Von Vorſicht iſt ja von vornherein keine Rede in dieſen Dingen. “
„ Ich glaub 'es in der That auch nicht, zumal wenn Sie, wie zu erwarten ſteht, ſich eine Magd aus der Küche holen werden. “
67„ Was mir beſchieden iſt, weiß ich nicht; ich geharre demüthig meines Schickſals. Doch habe ich den Fall erlebt, daß ein angeſehener und ſehr gebildeter junger Mann wirklich eine Magd vom Herde weggenommen und ſo lange glücklich mit ihr gelebt hat, bis ſie richtig zur ebenbürtigen Weltdame geworden, worauf erſt das Unheil eintraf. “
„ Der würde ja gerade gegen Ihre orientaliſchen An¬ ſchauungen zeugen! “
„ Es ſcheint allerdings ſo, iſt aber doch nicht der Fall, abgeſehen von dem abſcheulichen Titel, mit dem Sie meine harmloſe Philoſophie bezeichnen! “
„ Und iſt Ihre Geſchichte ein Geheimniß, oder darf man dieſelbe vernehmen? “
„ So gut ich es vermag, will ich ſie gern aus der Erinnerung zuſammenleſen mit allen Umſtänden, die mir noch gegenwärtig ſind, wobei ich Sie bitten muß, das Ergänzungsvermögen, das den Begebenheiten ſelbſt inne¬ wohnt, wenn ſie wiedererzählt werden, mit gläubiger Nachſicht zu beurtheilen! “
Da die zwei ſpinnenden Mädchen die Räder anhielten und ihre vier Aeuglein neugierig auf den Erzähler rich¬ teten, ſagte Lucia zu ihnen: „ Fahrt nur fort zu ſpinnen, Ihr Mädchen, damit der Herr, durch das Schnurren ver¬ lockt und unterſtützt, den Faden ſeiner Erzählung um ſo weniger verliert! Ihr könnt Euch die Lehre, die ſich5*68ergeben wird, dennoch merken und lernen, die Gefahr zu meiden, wenn die furchtbaren Frauenfänger ihre Netze bis in die Küchen ſpannen! “
Reinhart begann ſomit, da die Rädchen wieder ſurrten, Folgendes zu erzählen:
„ In Boſton lebt eine Familie deutſcher Abkunft, deren Vorfahren vor länger als hundert Jahren nach Nord¬ amerika ausgewandert ſind. Die Nachkommen bilden ein altangeſehenes Haus, wie wenige in der ewigen Fluth der Bewegung ſich erhalten; und ſelbſt das Haus im wirk¬ lichen Sinne, Wohnung und Geräthe, ſollen bereits einen Anſtrich alt vornehmen Herkommens ausweiſen, inſofern während eines kurzen Jahrhunderts dergleichen überhaupt erwachſen kann. Die deutſche Sprache erloſch niemals unter den Hausgenoſſen; insbeſondere einer der letzten Söhne, Erwin Altenauer, hing ſo warm an allen geiſtigen Ueberlieferungen, deren er habhaft werden konnte, daß er dem Verlangen nicht widerſtand, das Urland ſelbſt wieder kennen zu lernen, und zwar um die Zeit, da er ſich ſchon dem dreißigſten Lebensjahre näherte.
Er entſchloß ſich alſo, nach der alten Welt und Deutſchland auf längere Zeit herüber zu kommen; weil er aber, bei einigem Selbſtbewußtſein, ſich in beſtimmter Geſtalt und auf alle Fälle als Amerikaner zu zeigen wünſchte, bewarb er ſich in Waſhington um die erſte Sekretärſtelle bei einer Geſandtſchaft, deren Sitz in einer69 der größeren Hauptſtädte war. Mit nicht geringer Er¬ wartung ſegelte er anher, vorzüglich auch auf das ſchönere Geſchlecht in den deutſchen Bundesſtaaten begierig; denn wenn wir germaniſchen Männer uns mit Eifer den Ruf ausgezeichneter Biederkeit beigelegt haben, ſo verſahen wir wiederum unſere Frauen mit dem Ruhm einer merk¬ würdigen Gemüthstiefe und reicher Herzensbildung, was in der Ferne gar lieblich und Sehnſucht erweckend funkelt gleich den Schätzen des Nibelungenliedes. Von dem Glanze dieſes Rheingoldes angelockt, war Erwin überdies von ſeinen Verwandten ſcherzweiſe ermahnt worden, eine recht ſinnige und muſtergültige deutſche Frauengeſtalt über den Ocean zurückzubringen.
Er fühlte ſich auch bald ſo heimiſch, wie wenn ſein Vater ſchon ein Jenenſer Student geweſen wäre; doch begab ſich das nur in der Männerwelt, und ſobald die Geſellſchaft ſich aus beiden Geſchlechtern miſchte, haperte das Ding, Sei es nun, daß, wie in ſonſt geſegneten Weinbergen es gewiſſe Schattenſtellen giebt, wo die Trauben nicht ganz ſo ſüß werden wie an der Sonnen¬ ſeite, er in eine etwas ungünſtige Gegend gerathen war, oder ſei es, daß der Fehler an ihm lag und er nicht die rechte Traubenkenntniß mitgebracht, genug, es ſchienen ihm zuſammengeſetzte Gebräuche zu walten, die zu ent¬ wirren er ſich nicht ermuntert fand. Erwin ſowol wie die übrigen Geſandtſchaftsmitglieder waren von einfachen Sitten, klar und beſtimmt in ihren Worten und ohne70 Umſchweife. Sie ſtellten noch die ältere echte Art amerikaniſchen Weſens dar und gingen den geraden Weg, ohne um die hundert kleinen Hinterhalte und Abſichtlich¬ keiten ſich zu kümmern oder ſie auch nur zu bemerken; ſie ließen es bei Ja und Nein bewenden und ſagten nicht gern eine Sache zweimal.
Nun erſtaunte Erwin, von dieſer oder jener Schönen dann ſich plötzlich den Rücken zugewendet zu ſehen, wenn er auf eine Frage oder Behauptung nach ſeinem beſten Wiſſen ein einfaches Ja oder Nein erwidert hatte; noch weniger konnte er ſich erklären, warum eine Andere das ſelbſt begonnene Geſpräch nach zwei Minuten abbrach, in dem Augenblicke, wo er demſelben durch eine ehrliche Einwendung feſteren Halt gab; unbegreiflich erſchien ihm eine Dritte, die wiederholt ſeine Vorſtellung verlangt, ihn dann nach dem Klima ſeiner Heimat befragt und ohne die Antwort abzuwarten, mit Andern ein neues Geſpräch eröffnete. Dieſe Schneidigkeit war allerdings mehr nur der Mantel für innere Unfreiheit, wie die Zurückhaltung überhaupt, mit welcher er mit ſeinen Ge¬ fährten behandelt wurde, wo er hinkam, während ſie gelegentlich entdeckten, daß in ihrer Abweſenheit das breiteſte Studium ihrer Perſonen ſtattfand. Wenn in dieſen Gärten auch hie und da eine Pflanze blühte, die unbefangener und freundlicher dreinſchaute, ſo war auch dieſe überwacht und ſie hütete ſich ängſtlich, nicht durch die Hecke zu wachſen.
71Erwin gab es daher auf, ein Meer von Putz zu befahren, in welchem ſo wenig perſönliche Geſtaltung auftauchen wollte, und um ſich von den beſtandenen Fährlichkeiten zu erholen, machte er längere Ausflüge. Er hielt ſich bald in einer der ſchön gelegenen Univerſitäts¬ ſtädte auf, um zugleich die berühmteſten Gelehrten kennen zu lernen und einige gute Studien mitzunehmen; bald machte er ſich mit den Orten bekannt, wo vorzüglich die Kunſt ihre Pflege fand, und ſchulte Sinn und Gemüth an dem feſtlichen Weſen der Künſtler. Auf allen dieſen Fahrten ſah er ſich in eine veredelte bürgerliche Welt verſetzt, welche, die beſſeren Güter des Lebens wahrend, ſich dieſes Lebens mit ungeheucheltem Ernſt erfreute. Hier wurden die Kenntniſſe und Fähigkeiten mit Fleiß und Ehren geübt, ſchwärmten und glühten die Frauen wirklich für das, was ſie für ſchön und gut hielten, pflegte jedes Mädchen ſeine Lieblingsneigung und baute dem Ideal ſein eigenes Kapellchen; und weit entfernt, ein aufrichtiges Geſpräch darüber zu haſſen, wurden ſie nicht müde vom Guten und Rechten zu hören. Dazu brachte der Wechſel der Jahreszeiten mannigfache Feſtfreuden, die bei aller Einfachheit von altpoetiſchem Zauber belebt waren. Die ſchönen Flußthäler, Berghöhen, Waldlandſchaften wurden als traute Heimat mit dankbarer Zufriedenheit genoſſen, wobei ſich die Frauen Tage lang in freier Luft und guter Laune bewegten; der Waldduft ſchien ihnen von den Urmüttern her noch wohl zu behagen, und ſelbſt die72 Beſcheidenſte ſcheute ſich nicht, einen grünen Kranz zu winden und ſich auf's Haupt zu ſetzen.
Das gefiel dem wackern Erwin nun ungleich beſſer. Das nähert ſich, dachte er, ſchon eher den Meinungen, die ich herübergebracht habe; es iſt nicht möglich, daß dieſe frohherzigen, ſinnigen Weſen inwendig ſchnöd und philiſterhaft beſchaffen ſeien! Auch gerieth er zweimal dicht an den Rand eines Verhältniſſes, wie man gemein zu ſagen pflegt. Aber o weh! nun zeigte ſich auch hier eine Art von Kehrſeite. Es herrſchte nämlich durch einen eigenen Unſtern, wo er hinkam, eine ſolche Oeffentlichkeit und gemeinſchaftliche Beaufſichtigung in dieſen Dingen, daß es unmöglich war, auch nur die erſten Regungen und Blicke ohne allgemeines Mitwiſſen auszutauſchen, geſchweige denn zu einem Bekenntniſſe zu gelangen, wel¬ ches zuerſt das ſüße Geheimniß eines Pärchens geweſen wäre. Man ſchien nur in großen Geſellſchaften zu lieben und zu freien und durch die Menge der Zuſchauer dazu aufgemuntert zu werden. Sobald ein junger Mann mehr¬ mals mit dem gleichen Mädchen geſprochen, wurde das Verhältniß feſtgeſtellt und zur öffentlichen Verlebung gewaltſam in Beſchlag genommen. Dieſe Art war aber für Erwin wie ein Gift. Was nach ſeinem Gefühle das geheime Uebereinkommen zweier Herzen ſein mußte, das ſollte gleich im Beginn der allgemeinen Theilnahme zur Verfügung geſtellt und das Hausrecht des Herzens, der früheſte Goldblick des Liebesfrühlings dahin gegeben ſein. 73So wurde er ſchon vor dem erſten Capitel ſeiner Romane zurückgeſchreckt und trug nichts davon, als den Verdruß einiger Klatſchereien. Das beweiſt freilich, daß er eine ordentliche Leidenſchaft nicht erfahren hatte; ſonſt hätte er ſich durch ſolche Schwächen, die dem braven Bürger¬ thum hie und da ankleben, nicht vertreiben laſſen. Nichts deſto minder empfand er Verdruß und ſetzte ſich, Alles aus dem Sinn ſchlagend, im ausſchließlichen Umgange mit Männern feſt, die ſich auf einander angewieſen ſahen.
Um dieſe Zeit, es mögen etwa zwölf Jahre her ſein, ſah ich Erwin Altenauer in meiner damaligen Heimat¬ ſtadt, wenn man den Sitz einer Hochſchule ſo nennen darf, wo der Vater als Lehrer hinberufen worden iſt, ſich ein Haus gekauft und die Tochter des Ortsbanquiers geheirathet hat. Ich ſelbſt war kaum zwanzig Jahre alt, obgleich ſchon ſeit zwei Jahren Student, ſo daß ich die Geſellſchaft des Deutſch-Amerikaners im Hauſe meiner Eltern und anderwärts zuweilen genoß. Es war ein nicht kleiner feſter Mann mit einem blonden Kopf und trug nur neue Hüte, aber ſtets ſo, als ob es alte Hüte wären. Nur ein paar Sommermonate wollte er in unſerer Stadt zubringen, um namentlich eine gewiſſe Partie älterer Geſchichte anzuhören, die ein berühmter Hiſtoriker vortrug, und unter deſſen Aufſicht die Urkunden zu ſtudieren.
In einem ſtattlichen Hauſe, das indeſſen nur zwei Familien bewohnten, hatte er bei der einen derſelben74 einige Zimmer gemiethet, in denen er nicht ermangelte, von Zeit zu Zeit ſeine Bekannten in der Weiſe der Junggeſellen zu bewirthen; ſonſt aber verbrachte er die Abende gern im fröhlichen Umgange mit gereifteren jungen Leuten verſchiedener Nationalität, wie ſie mit Bürgersſöhnen aus gutem Hauſe vermiſcht in ſolchen Orten ſich zuſammen zu thun pflegen und von der Mützen tragenden Jugend leicht zu unterſcheiden ſind, wiewol ſie nicht verſchmähen, bei derſelben zuweilen vorzuſprechen.
In jenem Hauſe, das noch mit weitläufigen Treppen und Gängen verſehen war, fiel ihm ſeit einiger Zeit bei Ausgang und Rückkehr eine Dienſtmagd auf von ſo herrlichem Wuchs und Gang, daß das ärmliche, obgleich ſaubere Kleid das Gewand eines Königskindes aus alter Fabelzeit zu ſein ſchien. Ob ſie das Waſſergefäß auf dem Haupte oder den gefüllten Holzkorb vor ſich her trug, immer waren Glieder und Bewegung von der gleichen geſchmeidigen Kraft und gelaſſenen Schönheit; alles aber war beherrſcht und harmoniſch zuſammengehalten durch ein Geſicht, deſſen ruhige Regelmäßigkeit von einem Zug leiſer unbewußter Schwermuth veredelt wurde, einem Zug ſo leicht und rein, wie der Schatten eines durch¬ ſichtigen Kriſtalles. Erwin begegnete der ſchönen Perſon nicht oft; jedesmal aber, wenn ſie mit beſcheiden geſenktem Blick ſtill vorüber ging, blieb die Erſcheinung ihm ſtunden¬ lang im Sinne haften, ohne daß er jedoch beſonders darauf achtete. Eines Tages indeſſen, als ſie auf den75 Stufen der unteren Treppe kniete und ſcheuerte und er eben herunter ſtieg, richtete ſie ſich auf und lehnte ſich an das Geländer, um ihn vorbei zu laſſen; er konnte ſich nicht verſagen, guten Tag zu wünſchen und eine kleine flüchtige Entſchuldigung vorzubringen, ohne ſich aufzu¬ halten. Aber in dieſem Augenblicke ſchlug ſie ihr Auge ſo groß und ſchön auf und ein ſo mildes halbes Lächeln ſchwebte wie verwundert um die ernſten Lippen, daß das Bild der armen Magd nicht mehr aus ſeinen Sinnen ver¬ ſchwand, ſo zwar, wie wenn Einer etwas Gutes weiß, zu dem ſeine Gedanken jedesmal ruhig zurückkehren, ſobald ſie nicht zerſtreut oder beſchäftigt ſind. Sonſt begab oder änderte ſich weiter nichts, als daß er ſie gelegentlich nach ihrem Namen frug, der auf Regine lautete.
Eines ſchönen Sonntags, den er im Freien zugebracht, kehrte er ſpät in der Nacht nach ſeiner Wohnung heim, mit langſamen Schritten und wohlgemuth die Sommerluft genießend. Da und dort ſchwärmten ſingende Studenten durch die Gaſſen, in welche der helle Vollmond ſchien; vor dem Hauſe aber, das er endlich erreichte, befand ſich ein ganzer Trupp dieſes muthwilligen Volkes und umringte eine einſame Frauensperſon, die ſich an die Hausthüre drückte. Ich kann den Auftritt beſchreiben, denn ich ſtand ſelber dabei. Es war Regine, die auf der runden Frei¬ treppe, drei bis vier Stufen hoch, mit dem Rücken an die Thüre gelehnt, daſtand und lautlos auf die ſehr an¬ geheiterte Schaar herabſchaute. Sie hatte von ihrer Herr¬76 ſchaft die Erlaubniß erhalten, die Eltern in dem mehrere Stunden entfernten Heimatdorfe zu beſuchen, bei der Rückkehr aber die Fahrgelegenheit verfehlt und den Weg in die Nacht hinein zu Fuß zurücklegen müſſen. Allein auch die Herrſchaft war auf eine Landpartie gegangen und noch nicht zurück, und da Regine keinen Hausſchlüſſel bei ſich führte und überhaupt Niemand im Gebäude auf die Glocke zu hören ſchien, die ſie ſchon mehrmals gezogen, ſo fand ſie ſich ausgeſchloſſen und mußte die Ankunft anderer Hausbewohner abwarten. So fiel ſie ihrer Geſtalt wegen den jungen Taugenichtſen auf, die nicht ſäumten, ſie zu umringen und mit mehr oder weniger feinen Artigkeiten zu belagern. Der eine nannte ſie Liebchen, der andere Schätzchen, dieſer Gretchen, jener Mariechen; dann brachten ſie ihr ein halblautes Ständchen, und was ſolcher Kin¬ dereien mehr waren; ſowie aber Einer die Stufen hinan ſprang, um eine Liebkoſung zu wagen, lehnte ſie den Angriff mit einer ruhigen Bewegung des freien Armes ab; denn mit der anderen Hand hielt ſie den von ihr ſelbſt blankgefegten Thürknopf gefaßt. Wenn nun Einer nach dem Andern die Stufen rückwärts hinab ſtolperte, ſo lachte der Haufen mit großem Geräuſch, ohne daß die Bedrängte darüber ein Vergnügen empfand; vielmehr ſtieg ſie jetzt ſelbſt hinunter und ſuchte zu entkommen. Aber die Studenten riefen: Die Löwin will hinaus! Laßt ſie nicht durchbrechen! und ſchloſſen den Weg nur um ſo dichter.
77In dieſem Augenblicke drang Erwin, der dem Spiel ſchon ein Weilchen ganz erſtaunt zugeſehen, durch die Leute, ergriff die zitternde Magd bei der Hand und führte ſie in das Haus, das er mit einer Drehung ſeines Schlüſſels raſch öffnete und eben ſo raſch wieder verſchloß. Das war ſo ſchnell geſchehen, daß die Nachtſchwärmer ganz verblüfft daſtanden und nichts beſſeres thun konnten, als ihres Weges zu ziehen.
Auf dem Flur, wo jederzeit des Nachts Leuchter be¬ reit ſtanden, zündete Erwin ſein Licht an und theilte das Flämmchen mit der aufathmenden Magd, welche froh war, ſich geborgen zu wiſſen und die Herrſchaft gebührlicher Weiſe in der Küche erwarten zu können. Und wie es der Welt Lauf iſt, wurde ſie von der Sprödigkeit ver¬ laſſen, die ſie ſoeben noch vor der Thüre aufrecht gehalten, und ſie litt es, als Erwin ihr mehr ſchüchtern als unter¬ nehmend Hand und Wange ſtreichelte und dies nur einen Augenblick lang; denn obgleich ihr Sonntagskleid faſt ſo dürftig war, wie der Werktagsanzug, vom billigſten Zeuge und der ärmlichſten Machenſchaft, ſo verboten doch Form und Ausdruck des Geſichtes die unzarte Berührung Jedem, der nicht eben zu den angetrunkenen Geſellen gehörte, und dennoch ſchien dies Geſicht die Demuth ſelber zu ſein.
Von dieſem Abend an nahm die ſtille Erſcheinung Erwin's Gedanken ſchon häufiger in Anſpruch, und ſtatt ihnen zum bloßen Ruhepunkt zu dienen, zog ſie dieſelben78 an ſich, auch wenn ſie anderwärts verpflichtet waren. Das verſpürte er in wenigen Tagen, als er am Fuße der Treppe einen baumlangen Reitercorporal bei ihr ſtehen ſah, der auf den ſchweren Pallaſch geſtützt mit Reginen ſprach, während ſie nachdenklich an einem Poſtamente des Geländers lehnte. Erwin merkte im Vorübergehen, daß ein leichtes Roth über ihr Geſicht ging, und ſchloß daraus auf eine Liebſchaft. Das aber ſtörte ihm ſo alle Ruhe, daß er nach einer halben Stunde das Haus wieder ver¬ ließ, obgleich niemand mehr im Flur ſtand, und dermaßen in ſteter Bewegung den Tag zubrachte. Vergeblich ſagte er ſich, es ſei ja der prächtigen Perſon nur von Herzen zu gönnen, wenn ſie einen ſo ſtattlichen Liebſten beſitze, der auch ein ernſter Mann zu ſein ſchien, wie er in der Schnelligkeit geſehen. Der Umſtand, daß es in der Stadt keine Garniſon gab und der Reitersmann alſo von aus¬ wärts gekommen ſein mußte, ließ das Beſtehen eines ernſtlichen Liebesverhältniſſes noch gewiſſer erſcheinen. Aber nur um ſo trauriger ward ihm zu Muth. Umſonſt fragte er ſich, ob er denn etwas Beſſeres wiſſe für das Mädchen, ob er ſie ſelbſt heimführen würde? Er wußte keine Antwort darauf. Dafür wurde die ſchöne Geſtalt durch das Licht einer Liebesneigung, die er ſich recht innig und tief, ſo recht im Tone deutſcher Volkslieder vorſtellte, von einem romantiſchen Schimmer übergoſſen, der die erwachende Trauer des Ausgeſchloſſenſeins noch dunkler machte. Denn an einem offenen Paradiesgärtlein79 geht der Menſch gleichgültig vorbei und wird erſt traurig, wenn es verſchloſſen iſt.
Früher als gewöhnlich verließ er am Abend ſeine Geſellſchaft und ſuchte ſeine Wohnung auf. Da holte er vor der Thüre, die zu ſeinen Zimmern führte, unver¬ ſehens die Regine ein, welche zu ihrer Schlafkammer in den Dachräumen hinaufſtieg. Sie hielt neben dem Lichte einen kleinen Bogen Briefpapier in der Hand. Der war ihr ſoeben auf den Boden gefallen, dabei leicht be¬ ſchmutzt und auch etwas zerknittert worden, und ſie beſah ſich den Schaden, fügte aber ſogleich noch einen Oelfleck hinzu von dem Küchenlämpchen her, das ihr von der Herrſchaft gegönnt war.
„ Was haben Sie da für einen Verdruß, gute Re¬ gine? “fragte Erwin, indem er die Thüre aufſchloß.
„ Ach Gott, “ſagte ſie, „ ich ſoll einen Brief ſchreiben und habe mir ein Blatt Papier dazu erbeten; und jetzt iſt es ſchon verdorben, eh 'ich nur oben bin! “
„ Kommen Sie mit mir herein, ich geb 'Ihnen ein anderes! “verſetzte er, und ſie ging mit gutem Vertrauen mit ihm, blieb aber beſcheiden an der Zimmerthür ſtehen, während er ein Büchlein des ſchönſten Papieres zurecht machte. „ Haben Sie denn auch Tinte und Federn? “
„ Etwas Tinte habe ich in einem Fläſchchen, freilich halb eingetrocknet, und eine kratzliche Stahlfeder iſt auch noch da! “erwiderte ſie.
„ So nehmen Sie hier von dieſen Federn mit und80 holen Sie ſich Tinte oder nehmen Sie gleich die Flaſche, die Sie ja wieder bringen können. Haben Sie auch einen Tiſch zum Schreiben? “
„ Leider nein, nur meine Kleiderkommode! “
„ Ei, ſo ſchreiben Sie hier an dieſem Tiſch! Ich werde Sie nicht ſtören und ſie haben ſich keineswegs zu ſcheuen! Oder mögen Sie am Pult ſchreiben, ſo ſind ſie grade noch groß genug dazu. “
Er zündete gleichzeitig eine Lampe an, die helles Licht verbreitete und wendete ſich dann wieder zu der ſchweigen¬ den Perſon, deren Geſicht, wie am Tage ſchon einmal, die leichte Röthe überflog, mit den Worten: „ Sagen Sie, Regine, der ſchöne Dragoner, der heute bei Ihnen war, iſt natürlich Ihr Schatz? Da iſt Ihnen wahrhaftig Glück zu wünſchen! “ Welche Worte er mit veränderter, etwas unſicherer Stimme hervorbrachte, wie wenn er in Herzens¬ angelegenheiten vor einer großen Weltdame ſtände.
Das Roth in ihrem Geſichte wurde tiefer und ſpiegelte ſich in dem ſeinigen, das trotz ſeiner acht oder neunund¬ zwanzig Jahre ebenfalls röthlich anlief. Zugleich aber blitzten ihre Augen nicht ohne einige Schalkheit der harmloſeſten Art zu ihm hinüber, als ſie antwortete: „ Das war ein Bruder von mir! “ Ob ſie im Uebrigen einen Schatz beſitze oder nicht, vergaß ſie zu ſagen. Auch verlangte Erwin diesmal nichts Weiteres zu erfahren, ſondern ſchien mit dem Bruder ſo vollkommen zufrieden, daß ſeine anbrechende Heiterkeit unverkennbar war und81 auch dem Mädchen das Herz leicht machte. Ehe ſie ſich deſſen verſah, ſtand ſie an dem Stehpulte und ſchrieb ihren Brief. Sie ſchrieb, ohne ſich zu beſinnen, in ſchönen geraden Zeilen eine Seite herunter und faltete das Blatt, ohne das Geſchriebene nochmals anzuſehen. Erwin's Vergnügen, ihr von einem Sopha aus gemächlich zuzu¬ ſchauen, war daher ſchon vorbei. Er gab ihr einen Um¬ ſchlag und ſie ſchrieb, wie er nun in der Nähe ſah, mit regelmäßigen ſauberen Zügen die Adreſſe an ihre Mutter.
„ Wollen Sie gleich ſiegeln? “fragte er, was ſie dank¬ bar bejahte. Er bot ihr eine Achatſchale hin, worin ein Siegelring und mehrere Petſchafte lagen mit fein ge¬ ſchnittenen Wappen, Namenszügen oder antiken Steinen, und lud ſie ein, ſich ein Siegel zu wählen. Nach Jahren, als ſich das Zukünftige begeben hatte, erinnerte er ſich mit Wehmuth des zartſinnigen Zuges, wie das unwiſſende junge Weib ſich ſcheute, eines von den koſtbaren fremden Siegeln zu gebrauchen, und wünſchte mit dem zinnernen Jackenknopfe zu petſchieren, den ſie zu dieſem Zwecke auf¬ bewahre. Es ſei ein kleiner Stern darauf abgebildet.
„ Damit kann ich auch dienen! “rief er und zog ſeinen goldenen Bleiſtifthalter aus der Taſche; das obere Ende deſſelben war wirklich mit einem runden Plättchen ver¬ ſehen, das einen Stern zeigte und zum verſiegeln eines Briefes tauglich war. Das ließ ſich Regine gefallen. Erwin erwärmte das hochrothe Wachs und brachte es auf den Brief; Regine drückte den Stern darauf, und als dasKeller, Sinngedicht. 682ſchwierige Werk vollbracht war, athmete ſie bedächtig auf und ſah ihn mit einem treuherzigen Lächeln an.
Den Brief in der Hand haltend, konnte ſie jetzt füglich gehen; doch wußte der junge Mann ſie mit einer Frage aufzuhalten, an die ſich eine andere und eine dritte reihte, und ſo ſtand Regine an derſelben Stelle, bis eine gute Stunde verfloſſen war, und plauderte mit ihm, der an ſeinem Arbeitstiſche lehnte. Er frug nach ihrer Heimat und nach den Ihrigen und ſie beantwortete die Fragen ohne Rückhalt, erzählte auch manches freiwillig, da vielleicht noch Niemand, ſeit ſie unter Fremden ihr Brot verdiente, ſich ſo theilnehmend nach dieſen Dingen erkundigt hatte. Sie war das Kind armer Bauersleute, die einen Theil des Jahres im Tagelohn arbeiten mußten. Nicht nur die acht Kinder, Söhne und Töchter, ſondern auch die Eltern waren wohlgeſtaltet große Leute, ein Geſchlecht, deſſen ungebrochene Leiblichkeit noch aus den Tiefen uralten Volksthumes hervorgegangen. Nicht ſo verhielt es ſich mit dem Seelenweſen, der Beweglichkeit, der moraliſchen Widerſtandskraft und der Glücksfähigkeit der großwüchſigen Familie. In Handel und Wandel wußten ſie ſich nicht zeitig und aufmerkſam zu kehren und zu drehen, den Erwerb vor¬ zubereiten und zu ſichern, und ſtatt der Noth gelaſſen aus dem Wege zu gehen, ließen ſie dieſelbe nahe kommen und ſtarrten ihr rathlos in's Geſicht. Der Vater war durch einen fallenden Waldbaum verſtümmelt, die lange Mutter voll bitterer Worte und nutzloſer Anſchläge; zwei Söhne83 ſtanden im Militärdienſte, der dritte half zu Hauſe, und die fünf Töchter lebten meiſtens zerſtreut als Dienſtmägde und mit verſchiedenen Schickſalen, die nicht alle erfreulich oder kummerlos waren für ſie und die Angehörigen.
Ungefähr ſo geſtaltet ſich das Bild, das Erwin den Worten der Magd entnahm, beinahe das Bild verfallender Größe, welche ihre Sterne verlaſſen haben, eines Ge¬ ſchlechtes, das im Laufe der Jahrhunderte vielleicht ſeine Freiheit dreimal verloren und wieder gewonnen hatte, zuletzt aber nichts mehr damit anzufangen wußte, da es über den Leiden des Kampfes das Geſchick verloren. Oder war es zu vergleichen mit einem verkommenen Adels¬ geſchlechte, das ſich in die Lebensart des Jahrhunderts nicht finden kann? Aus den unzuſammenhängenden Mit¬ theilungen ſchloß er aber auch, daß Regine, obgleich das jüngſte der Kinder, gewiſſermaßen das beſte, nämlich der ſtille, anſpruchsloſe Halt der Familie war, an welchen ſich Alle wendeten, und das deshalb ſo ärmlich gekleidet ging, weil es Alles hergab, was es aufbrachte, während die andern Schweſtern nicht ermangelten ſich aufzuputzen, ſo gut ſie es vermochten.
Auch heute war ſie wieder in Anſpruch genommen worden. Erſt neulich hatte ſie faſt ihren ganzen Viertel¬ jahrslohn den Eltern gebracht, da eine der Töchter in übeln Umſtänden heim gekommen. Jetzt wurde der Vater von einer nicht eben großen, aber dringenden Schuld ge¬ plagt und hatte durch die Mutter dem Dragoner ſchreiben6*84laſſen, daß er entweder ſelbſt etwas Geld zu entlehnen trachten, oder aber zur Regine gehen ſolle, daß dieſe helfe. Natürlich konnte der Soldat Nichts thun, denn der hatte genug zu ſchaffen, mit kümmerlichen Entlehnungen ſeinen Sold zu ergänzen. Darum war er zur Schweſter herübergekommen, und dieſe empfand zur übrigen Sorge den Verdruß über die fruchtloſen Reiſekoſten des Bruders, ſo klein ſie waren, weil ſie im Augenblicke auch nicht helfen konnte. Sie hatte darum der Mutter geſchrieben, man müſſe unter allen Umſtänden einige Wochen Friſt zu erlangen ſuchen; vorher dürfe ſie ihre Herrſchaft nicht ſchon wieder um Geld angehen. Auch hatte ſie bei dieſen Ausſichten bereits ſeit dem heutigen Vormittage auf den kühnen Plan verzichtet, ſich im Herbſt einmal ein wollenes Kleid machen zu laſſen, wie andere ordentliche Mädchen es im Winter trugen.
Als Erwin ſie zum erſten Mal ſo viel hintereinander ſprechen hörte, wurde er von der weichen Beweglichkeit ihrer Stimme angenehm erregt, da die traulichen Worte, je mehr ſie in Fluß geriethen, immer mehr einen der ſchönen Geſtalt entſprechenden Wohlklang annahmen, den vielleicht noch Niemand im Hauſe kannte. Aber noch wärmer erregte ihn der Gedanke, daß der Noth des guten Weſens ſo leicht zu ſteuern ſei; um ſie jedoch nicht all¬ fällig ſofort zu verſcheuchen oder argwöhniſch zu machen, unterließ er für einmal jedes Anerbieten einer Hülfe und begnügte ſich mit ein paar leichthin tröſtenden Worten:85 das ſei ja Alles nicht ſo betrüblich, wie es ausſehe, und werde ſich ſchon ein Ausweg finden, ſie ſolle nur ſo gut und brav bleiben u. ſ. w. Ihr düſter gewordenes An¬ geſicht hellte ſich auch zuſehends auf, ſo freundlich wirkte der ungewohnte Zuſpruch auf ihr einſames Gemüth, und gewiß zehnmal wohlthuender, als wenn er ſofort die Börſe gezogen und ſie gefragt hätte, wie viel ſie bedürfe.
Es lief indeſſen doch nicht ohne alle Bedenklichkeiten ab; denn als ſie, über die ſo ſchnell verfloſſene Stunde erſchreckend, ſich entfernen wollte und die Zimmerthüre öffnete, hörte man von der Treppe her ein Geräuſch von Weiberſtimmen. Es waren die übrigen Dienſtboten des Hauſes, die ihre Schlafſtellen aufſuchten, und es ſchien allerdings nicht gerathen, daß Regine in dieſem Augen¬ blicke aus der Thüre des fremden Herrn und Haus¬ genoſſen trat. Sie drückte ängſtlich die Thüre wieder zu und blickte dabei den Herrn Erwin Altenauer leicht erblaſſend an, ungefähr wie wenn es an einem Frühlings¬ abende ſchwach wetterleuchtet, und Erwin half ihr wort¬ los auf das Verhallen der Mädchenſtimmen lauſchen. In dieſem Augenblicke ſahen ſie ſich an und wußten, daß ſie allein zuſammen ſeien und ein Geheimniß hatten, wenn auch ein unſchuldiges. Als man nichts mehr hörte, öffnete Erwin ſachte die äußere Thüre und entließ die ſchöne große Jungfrau mit ihrem Lämpchen. Mit milden klugen Augen, ein wenig traurig wie immer, nickte ſie ihm gute Nacht; etwas Neuartiges lag in ihrem Blicke,86 das ihr wol ſelbſt nicht bewußt war; doch flackerte das Flämmchen ihrer beſcheidenen Lampe hell und tapfer in der Zugluft, welche durch das Treppenhaus wehte, weil die Vorgängerinnen wahrſcheinlich die Bodenthüre offen gelaſſen.
Es vergingen nicht viele Tage, bis es Erwin gelang, das Mädchen mit ſeinem Lämpchen abermals in ſein Zimmer zu locken, und bald ſtellte ſich die Gewohnheit ein, daß Regine jeden Abend ein halbes oder auch ganzes Stündchen bei ihm eintrat, bald vor dem Aufſtieg der anderen Mägde, bald nach demſelben; wahrſcheinlich war das bewahrte Geheimniß, die Heimlichkeit der vorzüglichſte Anreiz, welcher der guten Freundſchaft und dem Wohl¬ gefallen der jungen Leute den Charakter einer Liebſchaft gab. Regine war aber ſo ganz von Vertrauen zu dem ſtets beſonnenen und an ſich haltenden Manne erfüllt, daß ſie alle Bedenken aus den Augen ſetzte und ſich rück¬ haltlos dem Vergnügen hingab, die kurzen Stunden eines beſſeren Daſeins zu genießen. Sie war, mit Verlaub zu ſagen, Weib genug, um von ihrer günſtigen Erſcheinung zu wiſſen; aber mit um ſo größerer Dankbarkeit empfand ſie zum erſten Mal die Ehre, die ein geſitteter Mann ihrer Schönheit anthat, ohne daß ſie wie eine geſcheuchte Katze ſich zu wehren brauchte. Erwin aber that ihr die Ehre an, weil er bereits den Gedanken groß zog, ſich hier aus Dunkelheit und Noth die Gefährtin zu holen.
Alſo lebten ſie in rein menſchlicher Lebensluft ſo87 beglückt, wie zwei ebenbürtige Weſen in ſtiller Heimlich¬ keit es nur ſein konnten; Regine nur die Gegenwart genießend, ohne Hoffnung für die Zukunft, Erwin zugleich von frohen Ahnungen deſſen bewegt, was noch kommen mochte. Als er ſie eines Abends bei guter Gelegenheit überredete, nur der Eltern wegen der erſehnten Hülfe zu gedenken, und ſie zwang, zu ſchreiben und ſogleich die nöthige Baarſchaft zu verpacken, die ihm lächerlich klein erſchien, da fügte ſie ſich mit geheimer Zärtlichkeit des Herzens nicht aus Eigennutz, ſondern weil es von ihm und nicht von einem andern kam. Diesmal las er den Brief, den ſie ſchrieb, und ſah, daß die Sätze allerdings kurz und mager waren, wie eben das Volk ſchreibt; allein er entdeckte nicht einen einzigen Fehler gegen Recht¬ ſchreibung und Sprachlehre und auch keinen gegen Sinn und Gebrauch der Sprache.
„ Sie ſchreiben ja wie ein Actuarius! “ſagte er, indem ein Strahl von Freude ſeine Augen erhellte.
„ O wir hatten einen guten Schulmeiſter! “erwiderte ſie froh über ſein Lob; „ aber das iſt nichts, ich habe eine Schweſter, die ſchreibt im Umſeh'n ganze Briefe voll Thorheiten ohne alle Fehler; wenn ſie nur ſonſt recht thäte! “ſchloß ſie mit einem Seufzer. Wie ſich ſpäter erwies, reiſte nämlich die Schweſter auf Liebſchaften herum und ſtellte ihre Schönheit nicht unter den Scheffel. Auch war ſie ſchon einmal mit einem kleinen Kinde heim¬ gekommen.
88Zum Schreiben hatte Regine jetzt geſeſſen, was ſie in Erwin's Zimmer noch nie gethan. Sie nahm eine amerikaniſche Zeitung in die Hand, die auf dem Tiſche lag, und verſuchte zu leſen.
„ Das iſt engliſch! “ſagte Erwin, „ wollen Sie's lernen? Dann können Sie mit mir nach Amerika kommen und einen reichen Mann heirathen! “
Sie erröthete ſtark. „ Lernen möcht 'ich es ſchon, “ſagte ſie, „ vielleicht fahr' ich doch einmal hinüber, wenn es hier zu arg wird. “
Erwin ſprach ihr einige Worte vor; ſie lachte, bemühte ſich aber, in den Geiſt der wunderbaren Laute einzudringen, und es gelang ihr noch am gleichen Abend, eine Reihe von Worten richtig zu wiederholen und das Alphabet engliſch auszuſprechen. Ernſtlich ſchlug er ihr nun vor, jeden Abend eine förmliche Unterrichtsſtunde bei ihm durch¬ zumachen. Sie that es mit ebenſo viel Eifer als Geſchick; kaum waren zwei Wochen verfloſſen, ſo ſah Erwin, daß dieſes höchſt merkwürdige Weſen, das ſich ſelbſt nicht kannte, Alles zu lernen im Stande war, ohne einen Augen¬ blick die demüthige Ruhe zu verlieren. Er ſchlug plötzlich das Buch zu, über welchem ſie zuſammen ſaßen, ergriff ihre Hand und ſagte:
„ Liebe Regine, ich will nicht länger warten und ſäumen! Wollen Sie meine Frau ſein und mit mir gehen? “
Sie zuckte zuſammen, erbleichte und ſtarrte ihn an, wie eine Todte.
89„ Nun iſt es aus, “ſagte ſie endlich, indem ſie den Kopf auf die Hände ſtützte; „ und ich war ſo vergnügt! “
„ Wie ſo? was will das ſagen, liebes Kind? Bin ich Dir zuwider, oder iſt ſonſt etwas im Wege, das Dich bedrängt und hindert? “rief Erwin und legte unwillkürlich den Arm um ſie, wie um ſie zu ſchützen und aufrecht zu halten. Aber ſie legte ſeinen Arm leidvoll und entſchieden weg und fing an zu weinen.
Sei es nun, daß ſie in ihrer geringen und aus trüben Quellen geſchöpften Weltkenntniß den Augenblick gekommen wähnte, wo ein geliebter Mann ſich mit einem Heiraths¬ verſprechen verſündigte, das ja niemals ernſt gemeint ſein konnte; ſei es, daß ſie es für ihre Pflicht hielt, einem ernſten Antrag zu widerſtehen, indem ſie ſich als Gattin eines vornehmen Herrn unmöglich dachte; oder ſei es endlich, daß ſie ſchon um ihrer Familienverhältniſſe willen, die ſchlimmer waren, als ſie bisher geoffenbart, ſich ſcheute, den fremden Mann, der ſo glücklich lebte, an ſich zu binden: ſie wußte ſich nicht zu helfen und ſchüttelte nur den Kopf.
„ Ich glaubte, Du ſeieſt mir ein wenig gut! “ſagte Erwin kleinlaut und betroffen.
„ Es war nicht recht von mir, “rief ſie ſchluchzend, „ es auch einmal ein bischen gut haben und etwa ein Stündchen ungeſtraft bei Einem ſitzen zu wollen, den ich ſo gern habe! Mehr wollte ich ja nicht! Nun iſt es vorbei und ich muß gehen! “
Sie ſtand gewaltſam auf, zündete das Lämpchen an90 und ohne ſich halten zu laſſen, eilte ſie hinaus und ſo ſtürmiſch die Treppe hinauf, daß das Flämmchen ver¬ löſchte und ſie im Dunkeln verſchwand. Am andern Tage, als er ihr zu begegnen ſuchte, war ſie auch aus dem Hauſe verſchwunden. Da er vorſichtig nachforſchte, hörte er, ſie ſei plötzlich aufgebrochen und in ihre Heimat gegangen, und als ſie nach mehreren Tagen noch nicht zurückgekehrt war, nahm er einen Wagen und fuhr hinaus, ſie aufzufinden. Er traf ſie auch in der ärmlichen Be¬ hauſung der Ihrigen und zwar in großer Trauer ſitzend. Gleich einem Türken beſtaunten ihn die großen Leute, Weiber und Männer; aber er erklärte ſich ſogleich und verlangte die Tochter Regina zur Frau. Und um zu beweiſen, wie er es meine, begehrte er den Stand ihrer häuslichen Angelegenheiten zu erfahren und verſprach, ohne Verzug zu helfen. Nachdem die Leute ſich erſt etwas geſammelt und ſeine Meinung verſtanden hatten, beeiferten ſie ſich, alles offen darzulegen, wobei aber der Alte die Weiber, mit Ausnahme Reginens, hinausſchieben mußte, da ſie Alles vermengten und verdrehten. Auch der Sohn benahm ſich neben dem einbeinigen Alten vernünftig und ſchien doch nicht ohne Hoffnung. Es zeigte ſich, daß das kleine Gütchen verſchuldet war; allein die Auslöſung erforderte eine Summe, die für Erwin's Mittel nicht in Betracht kam; es waren eben kümmerlich kleine Verhält¬ niſſe. Ließ er obenein noch eine ähnliche oder geringere Summe da, ſo gerieth das reckenhafte Völklein in einen91 ungewohnten kleinen Wohlſtand, und die fernere Vorſorge war ja nicht benommen. Ueberdies verſprach Erwin, ſeinen Einfluß dafür zu verwenden, daß die beiden im Dienſte ſtehenden Söhne, deren Entlaſſung nahe bevor¬ ſtand, ein gutes Unterkommen fänden, wo ſie ſich empor¬ bringen könnten, bis er beſſer für ſie zu ſorgen vermochte, und was die Töchter betraf, ſo miſchte er ſich nicht in deren Geſchäfte, ſondern empfahl dieſelben in ſeinem Innern der lieben Vorſehung. Kurz, es begab ſich Alles auf das Zweckdienlichſte nach menſchlicher Berechnung. Regine ſah zu und redete nicht ein Wort, auch nicht, als Erwin ſie in die Kutſche hob, mit welcher er ſie unter dem Segen der Eltern entführte. Erſt als ſie drin ſaß und die Pferde auf der Landſtraße trabten, fiel ſie ihm um den Hals und that ſich nach den ausgeſtandenen Leiden gütlich an ſeiner Freude, ſie nun doch zu beſitzen.
Er fuhr aber nicht in unſere Stadt zurück, ſondern nach der nächſten Bahnſtation und beſtieg dort mit Reginen den Bahnzug. In einer der deutſchen Städte, darin er ſchon gelebt, kannte er eine würdige und verſtändige Gelehrtenwittwe, welche genöthigt war, fremden Leuten Wohnung und Koſt zu geben. Er hatte ſelbſt dort gewohnt. Dieſer wackeren Frau vertraute er ſich an, ließ Reginen für ein halbes Jahr bei ihr, damit ſie gute Kleider tragen lernte und die von der Arbeit rauhen Hände weiß werden konnten. Dann trennte er ſich, wenn auch ungern, von der wie im Traume wandelnden Regine,92 reiſte in unſere Univerſitätsſtadt zurück, um den dortigen Aufenthalt zu beendigen, und ſo weiter, bis nach Verfluß von weniger als ſieben Monaten die brave ſchöne Regine als ſeine Gattin abermals neben ihm in einem Reiſe¬ wagen ſaß.
Als Reinhart glücklich die Magd auf die Hochzeitreiſe geſchickt, hielt er einen Augenblick inne und bemerkte erſt jetzt, daß das Schnurren der Spinnräder nicht mehr zu hören war; denn die beiden Mädchen hatten über dem erfreulichen Schickſal der Regine das Spinnen vergeſſen, und die Augen geſpannt auf den Erzähler gerichtet, hielten ſie Daum und Zeigefinger in der Luft, ohne daß der Faden lief. Die Eine mochte ſich das ſchöne Reiſekleid der glückhaften Perſon vorſtellen, die Andere in Gedanken die goldene Damenuhr betrachten, die ihr ohne Zweifel an langer Kette hing. Hinwiederum bedachte Jene die Herrlichkeit des Augenblickes, wo ſie im Fall wäre, ſelbſt¬ eigene Dienſtboten anzuſtellen und aus einer großen Zahl ſich meldender Mädchen, auf dem Sopha ſitzend, einige auszuwählen. Die Andere aber nahm ſich vor, an Re¬ ginens Stelle jedenfalls ſofort wenigſtens ſechs Paar neue Stiefelchen von Zeug und von feinſtem Leder machen zu laſſen, und mit ſüßem Schauer ſah ſie ſchon den jungen, ledigen Schuhmachermeiſter vor ſich, den ſie hatte in's Haus kommen laſſen, die Stiefelchen anzumeſſen, jedes Paar beſonders, und ſie hielt ihm huldvoll den Fuß hin, bereit, ihm auch die Hand zu ſchenken, um welche der93 Blöde endlich anhalten würde. Aber wie iſt denn das? Sie wäre ja ſchon verheirathet und könnte den Schuh¬ macher nicht mehr nehmen? Aber ſie iſt ja nicht die Regina, welche den Amerikaner hat, ſondern das ledige Bärbchen! Aber nun iſt ſie ja nicht reich und kann die Stiefeletten nicht beſtellen — kurz, ſie verwickelte ſich ganz in dem Garn ihrer Spekulationen, während Aennchen, das andere Mädchen, bereits drei Köchinnen angeſtellt und zwei wieder weggejagt hatte.
Da ſagte Lucie: „ Wenn Ihr müde ſeid, Ihr Mäd¬ chen, ſo ſtellt die Räder weg und geht ſchlafen! Die merkwürdige Regine iſt jetzt verſorgt und braucht wahr¬ ſcheinlich nicht mehr früh aufzuſtehen, wie Ihr es morgen thun müßt. “
Die hübſchen Dienerinnen erhoben ſich ohne Zögern, als ſie dergeſtalt aus ihrer kurzen Träumerei geweckt worden, und trugen gehorſam die Spinnrädchen aus dem Zimmer.
Zu Reinhart gewendet, fuhr Lucie fort: Ich wollte es nicht darauf ankommen laſſen, daß die guten Kinder die Kehrſeite oder den Ausgang Ihrer Geſchichte mit anhören; denn ſo viel ich vermuthen kann, wird es nun über die Bildung hergehen, welche an dem in Ausſicht ſtehenden Unheil Schuld ſein ſoll, und da wünſchte ich denn doch nicht, daß die Mädchen gegen den gebildeten Frauenſtand aufſätzig würden! “
„ Ich überlege ſoeben, “erwiderte Reinhart lächelnd,94 „ daß ich am Ende unbeſonnen handle und meine eigenen Lehrſätze in bewußter Materie untergrabe, indem ich die Geſchichte fertig erzähle und deren Verlauf auseinander ſetze. Vielleicht werden Sie ſagen, es ſei nicht die rechte Bildung geweſen, an welcher das Schiff geſcheitert. Am beſten thu 'ich wol, wenn ich Sie mit dem Schluſſe verſchone! “
„ Nein, fahren Sie fort, es iſt immer lehrreich, zu vernehmen, was die Herren hinſichtlich unſeres Geſchlechtes für wünſchenswerth und erbaulich halten; ich fürchte, es iſt zuweilen nicht viel tiefſinniger, als das Ideal, welches unſern Romanſchreiberinnen bei Entwerfung ihrer Helden¬ geſtalten oder erſten Liebhaber vorſchwebt, wegen deren ſie ſo oft ausgelacht werden. “
„ Sie vergeſſen, daß ich keine eigene Erfindung offen¬ bare, ſondern über fremdes Schickſal berichte, das mich perſönlich wenig berührt hat. “
„ Um ſo gewiſſenhafter halten Sie ſich an die Wahr¬ heit, damit wir den Fall dann prüfen und reiflich berathen können! “ſagte Lucia, und Reinhart erzählte weiter:
„ Erwin Altenauer hatte ſeine Verheirathung ſo geheim betrieben, daß in unſerer Stadt Niemand darum wußte; ſelbſt die Herrſchaft der ehemaligen Magd und die übrigen Hausgenoſſen ahnten Nichts von dem Vorgange, und Jedermann glaubte, er habe einfach ſeinen Aufenthalt bei uns beendigt und ſei abgereiſt, wie man das an ſolchen Gäſten ja gewohnt war. Etwa anderthalb Jahre ſpäter95 lebte ich in der Hauptſtadt, in welcher jene amerikaniſche Geſandtſchaft reſidirte. Ich benutzte die dortigen Anſtalten zur Fortſetzung meiner etwas willkürlichen und ungeregelten Studien, dünkte mich übrigens ſchon über das Studenten¬ thum hinaus zu ſein, und ging nur mit Leuten um, die alle einige Jahre älter waren, als ich.
„ Auf einmal tauchte Herr Erwin wieder auf. Als ich ihm irgendwo begegnete, lud er mich ein, ihn zu beſuchen. Ich fand ihn in wohleingerichteter Wohnung, die von gutem Geſchmacke förmlich glänzte und zwar in tiefer, ſtiller Ruhe. Zu meiner Ueberraſchung wurde ich der Gemahlin vorgeſtellt, einer vornehm gekleideten, aller¬ ſchönſten Dame von herrlicher Geſtalt. Das reiche Haar war modiſch geordnet, die nicht zu kleine, aber wohl¬ geformte Hand ganz weiß und mit alterthümlichen bunten Ringen geſchmückt, den Geſchenken aus den Familien¬ ſchätzen des Hauſes in Boſton. Ich hatte die Regine nur jenes einzige Mal in der Nacht geſehen, wo ich dabei ſtand, als ſie von den Studenten bedrängt wurde; ihre Geſichtszüge waren mir kaum erkennbar geworden, doch auch ſonſt hätte ich jetzt nicht vermuthen können, daß die arme Magd vor mir ſtand, weil die kleine Begebenheit mir vollkommen aus dem Gedächtniß verſchwunden war. Ein Anflug von Schwerfälligkeit in den Bewegungen, der ſich erſt mit der eleganten Bekleidung eingeſtellt, war ſchon im Verſchwinden begriffen und ſchien eher ein Zeichen fremdartigen Weſens als etwas Anderes zu ſein. Sie96 ſprach ziemlich geläufig Engliſch und auch etwas Fran¬ zöſiſch, wie ſich im Verlaufe zeigte, letzteres ſogar beſſer, als die meiſten Damen bei den amerikaniſchen Legationen. Als ſie hörte, woher ich ſei, ſah ſie ihren Mann flüchtig an, wie wenn ſie ihn über ihr Verhalten befragen wollte; er rührte ſich aber nicht und ſo ließ ſie ſich auch weiter Nichts merken. Dennoch ſchämte er ſich nicht etwa ihres früheren Standes, ſondern wollte denſelben nur ſo lange geheim halten, bis ſie die völlige Freiheit und Sicherheit der Haltung und damit eine Schutzwehr gegen Demü¬ thigungen erworben habe.
Da er indeſſen das Bedürfniß offener Mittheilung an irgend Einen nicht ganz unterdrücken konnte, ſchon um dem Geheimniſſe jeden verdächtigen Charakter zu nehmen, wählte er mich bald zum Mitwiſſer, und ich war nicht wenig verwundert, in der eigenthümlichen Staatsdame die arme Magd wiederzufinden, die jetzt allmälig in meinem Gedächtniſſe lebendig ward, wie ſie wortlos die Bedränger von ſich abwehrte. Auch der Frau geſchah damit ein Ge¬ fallen; denn ſie hatte wenigſtens außer ihrem Manne noch einen Menſchen, mit welchem ſie ohne Rückhalt von ſich ſprechen konnte.
Ich erfuhr nun auch, in wie ſeltſamer Art Erwin die Ausbildung der Frau bis anhin durchgeführt hatte. Vor Allem war er mit ihr nach London gegangen, da es ihm zuerſt um die engliſche Sprache zu thun geweſen; und damit ſie vor jeder häuslichen Arbeit bewahrt blieb, wohnte97 er, wie ſpäter in Paris, nur in Gaſthäuſern, und auch dort mußte er fortwährend aufpaſſen und dazwiſchen treten, daß ſie nicht die Zimmer ſelbſt aufräumte und die Betten machte, oder gar zu den Dienſtboten und Angeſtellten in die Küche ging, um ihnen zu helfen. Ebenſo koſtete es ihn einige Mühe, ſie an größere Zurückhaltung gegenüber den Dienenden und Geringen zu gewöhnen, ſo zwar, daß ſie, ohne der menſchlichen Freiheit Abbruch zu thun, die zu große Vertraulichkeit vermeiden lernte, um einſt leichter befehlen zu können. Dieſer Punkt ſoll für beide Perſonen nicht ohne etwelche Bekümmerniß erledigt worden ſein; denn während Regine ſich immer wieder vergaß und ſchwer begriff, warum ſie nicht mit ihres Gleichen über Alles plaudern ſollte, was dieſe freute oder betrübte, dachte Erwin fortwährend nur an den gemeſſenen Ton, der in ſeinem elterlichen Hauſe herrſchte, und an die Rangſtufe, welche Regine dort einzunehmen berufen war. Die Heim¬ führung, die noch bevorſtand, beherrſchte alle ſeine Ge¬ danken; in Reginen hoffte er ein Bild verklärten deutſchen Volksthumes über das Meer zu bringen, das ſich ſehen laſſen dürfe und durch ein außergewöhnliches Schickſal nur noch idealer geworden ſei. Wollte er aber dieſen Er¬ folg nicht nur einem Glücksfunde, ſondern auch ſeiner liebevoll bildenden Hand verdanken, ſo war ihm nur um ſo mehr daran gelegen, daß auch in Nebendingen das Werk ſo vollkommen als möglich ſei und ſein Triumph durch keine kleinſte Unzukömmlichkeit geſtört werde. ManKeller, Sinngedicht. 798kann eben ſagen, daß er bei aller Humanität und Frei¬ ſinnigkeit, die ihn beſeelte, hierin um ſo geiziger, ja ängſt¬ licher war, als er ſich in allen weſentlichen und wichtigen Dingen ganz ſicher fühlte.
Ein zweifelloſer Erfolg ſeiner Erziehungskunſt blühte ihm faſt unerwartet auf einem anderen Gebiete. Während des Aufenthaltes in England war ein berühmter deutſcher Männerchor dorthin gekommen, um in einer Reihe von Concerten ſich mit großem Aufſehen hören zu laſſen. Erwin, der keine Gelegenheit verſäumte, ſeiner Frau alle bildenden Genüſſe zugänglich zu machen, führte Reginen ebenfalls in die weite Halle, wo tauſende von Menſchen als Zuhörer verſammelt waren. Sie wagte ſich kaum zu rühren, mitten in dem Heere von reichen und geſchmückten Leuten ſitzend, und vernahm nicht eben viel Einzelnes von den Geſängen. Da hoben die neunzig bis hundert Sänger ſo deutlich und ausdrucksvoll, wie wenn ſie nur ein Mann wären, die Weiſe eines altdeutſchen Volksliedes an, daß Regine jedes Wort und jeden Ton augenblicklich erkannte, denn ſie hatte das Lied als halbwüchſiges Mädchen einſt ſelber geſungen und es erſt in der Dienſt¬ barkeit und Mühſal des Lebens vergeſſen. Unverwandt lauſchend blickte ſie nach dem Häuflein der ſchwarz¬ gekleideten Männer hin, das wie eine dunkle Klippe aus dem ſchweigenden und ſchimmernden Menſchenmeere ragte, und was ſie hörte, war und blieb das Lied aus ihren Jugendtagen, die ſo ſchwermüthig waren, wie das Lied. 99Der brauſende Beifall, der dem letzten Tone folgte, weckte ſie aus der traumartigen Verſenkung, und erſt jetzt ſchaute ſie erſtaunt zu ihrem Manne hinüber, als ob ſie fragen wollte, was das geweſen ſei. Der wies auf den Text in dem Hefte hin, das ſie in der Hand hielt, ohne es bis jetzt gebraucht zu haben, und wahrlich, da ſtand das Lied zu leſen, Wort für Wort.
Beim Nachhauſefahren fing ſie es im Dunkel des Wagens an zu ſingen, und als Erwin über die anmuthige Regung erfreut ihre Hand faßte, frug ſie, was das nur ſei, daß ein ſchlichtes Liedchen armer Landleute ſo fern von der Heimat geſungen werde und einer vornehmen Menſchheit ſo gut gefalle? Noch mehr vergnügt über dieſe Frage erwiderte er, Grund und Urſache der Er¬ ſcheinung ſeien die gleichen, warum auch ſie, das Kind des Volkes, ihm ſo wohl gefalle und ſo ſehr von ihm geliebt werde. Dann ſagte er ihr vor der Hand das Nöthigſte über die Sache; ſchon am nächſten Tage aber ſuchte er einen deutſchen Buchhändler auf, der, wie er gehört, auch alte Sachen kaufte und wieder verkaufte, und bei dieſem fand er die bekannte Sammlung, welche des Knaben Wunderhorn heißt. Er lehrte ſie das kleine Lied in den ſtattlichen Bänden aufzufinden, und ſie erblickte und las es mit einem gewiſſen Stolze zwiſchen den hun¬ derten von ähnlichen und noch ſchöneren Liedern. Aber auch dieſe las ſie und legte das Buch nicht aus der Hand, bis ſie es durchgeleſen hatte, manches Lied zwei - und7*100dreimal. So ereignete ſich das Seltene, daß ein un¬ geſchultes Volkskind ein ſtarkes Buch Gedichte mit Auf¬ merkſamkeit und Genuß durchlas in einem Zeitalter, wo Gebildete dergleichen faſt nie mehr über ſich bringen. Da ſie liebte, ſo fühlte ſie erſt jetzt noch das ſchöne Glühen der Leidenſchaft mit, wie es in jenen Liedern zum Ausdrucke kommt, und ſie empfand dies Glühen um ſo glückſeliger, als ſie ſelbſt ja in ſicheren Liebesarmen ruhte.
Jetzt aber nahm Erwin den Augenblick wahr und holte die Goethe'ſchen Jugendlieder herbei. Zuerſt zeigte er ihr diejenigen, die der Dichter dem Volkstone ab¬ gelauſcht und nachgeſungen; dann las er mit ihr eins um's andere der aus dein eigenen Blute entſtandenen, indem er der wohlig an ihn gelehnten Frau die betreffen¬ den Geſchichten dazu erzählte. Wie über eine leichte Regenbogenbrücke ging ſie vom Wunderhorn in dieſes lichte Gehölz maigrüner Ahornſtämmchen hinüber, oder einfacher geſagt, es dauerte nicht lange, ſo regierte ſie das Büchlein ſelbſtändig, und es lag auf ihrem Tiſch, wie wenn ſie die erinnerungsreiche und wähleriſche Ma¬ trone einer vergangenen Zeit geweſen wäre, und doch lebte ſie Alles, was darin ſtand, mit Jugendblut durch, und Erwin küßte die erwachenden Spuren eines neuen Geiſtes ihr von Augen und Mund.
Es kann natürlich nicht jeder Pfad und jedes Brück¬ lein aufgezeigt werden, auf denen Altenauer nun dem101 holden Weibe das Bewußtſein zuführte, nicht als ein Schulmeiſter, ſondern mehr als ein aufmerkſamer und dankbarer Finder von allerlei kleinen Glücksfällen. In Paris, wohin er ſie nachher führte, galt es vorzugsweiſe, durch das Auge zu lernen, und da er ſelbſt Vieles zum erſten Male ſah, ſo lernte er mit ihr gemeinſam und erklärte ihr gemächlich, was er ſoeben erfahren. Sie nahm ihm die Neuigkeiten begierig vom Munde und ſammelte ſie ſo geizig auf, wie ein junges Mädchen die Blumen ihres Liebhabers. Und die kleinen Dinge, die ein ſolches etwa in der Schule gelernt hat, wie das Verſtändniß der Landkarte und dergleichen, wurden ganz nebenbei, ohne allen Zeitverluſt, betrieben. Nur wollte einſtweilen kein rechter Zuſammenhang in die Sachen kommen; auch beſchäftigte es zuweilen Erwin's Gedanken, daß Regine wohl allerlei Lehrhaftes aus ſeinem Munde hören, nie aber ſolches für ſich allein leſen wollte. Sie brachte es nicht über ſich, nur einige Seiten Geſchichtliches oder Beſchauliches hintereinander in ſich aufzunehmen, und legte jedes Buch dieſer Art bald weg. Doch hoffte er nun, nachdem über alles Erwarten es bis jetzt ſo herrlich gegangen, die Hauptſache eben in Deutſchland zu erreichen, und er ſtellte ſich, in ſeinem Glücke immer begieriger auf einen glänzenden Abſchluß ſeines Bildungs¬ werkes geworden, nunmehr kühnere Anforderungen, als er früher je gewagt haben würde. In dieſem Zuſtande war es, daß ich das merkwürdige Ehepaar vorfand, und102 als ich dann das unſchuldige Geheimniß desſelben erfuhr, nahm ich den wärmſten Antheil an ſeinem Schickſal und Wohlergehen. Die Frau war bei all' dem Außergewöhn¬ lichen ihres Lebensganges und trotz der Glücksumſtände, in die ſie gerathen, die Beſcheidenheit ſelbſt, einfach, liebens¬ werth und dabei ſo ehrlich, wie ein junger Hund.
Wie ein Blitz aus heiterm Himmel traf eine Nach¬ richt aus Boſton ein, in Folge welcher Erwin ohne einen Tag zu verziehen nach Amerika abreiſen mußte, um bei der Ordnung gewiſſer Verhältniſſe hilfreich zu ſein, von denen das Wohl der ganzen Familie abhing. Er ent¬ ſchloß ſich augenblicklich zur Reiſe, entſchied aber nach einigem Schwanken, daß Regine über die paar Monate ſeiner Abweſenheit hier zurückbleiben ſollte. Die Herbſt¬ ſtürme hatten eben begonnen und ſchon waren Nachrichten von auf der See ſtattgehabten Unglücksfällen und ver¬ mißten Schiffen eingetroffen. Um keinen Preis wollte er das Leben und die Geſundheit ſeiner Frau den Ge¬ fahren der Meerfahrt ausſetzen; umſonſt fiel ſie ihm faſt zu Füßen und flehte wie ein Kind, ſie mitzunehmen, damit ſie bei ihm ſei: ſobald er nur einen Blick auf ihre Geſtalt und ihr Geſicht warf, graute es ihm, dieſes ſchöne Geſchöpf ſich auf einem untergehenden Schiffe zu denken, und ſo bitter ihm die zeitweilige Trennung auch war, ſo zog er ſie doch der offenbaren Gefährdung des theuerſten Weſens vor.
„ Siehſt Du, mein Kind, “ſagte er, indem er ihre103 Wange ſanft ſtreichelte, „ es gehört auch zum Leben, ſich einer ſchweren Nothwendigkeit unterziehen zu lernen und von der Hoffnung zu zehren! Solches wird uns noch mehr widerfahren und ſo wollen wir guten Muthes den Anfang machen! “
Im Geheimen freilich beſtärkte ihn noch der Gedanke, um jeden Preis die letzte Hand an ſein Bildungswerk legen zu können, ehe er die Gattin in das Vaterhaus mitbringe; die menſchliche Eitelkeit vermengt ſich ja mit den edelſten Ideen und verleiht ihnen oft eine Hartnäckig¬ keit, die uns ſonſt fehlen würde.
Erwin verreiſte alſo ohne Verzug, um den nächſten Dampfer nicht zu verſäumen, und er reiſte um ſo ge¬ faßter, als er Urſache zu haben glaubte, ſeine Frau in gutem Umgange zurückzulaſſen, ſo wie auch das Haus mit erfahrenen und ordentlichen Dienſtboten verſehen war. Er langte wolbehalten in der Heimat an; allein die Geſchäfte wickelten ſich nicht ſo raſch ab, wie er gehofft, und es dauerte gegen drei Vierteljahre, bis er nach Europa zurückkehren konnte. Während der Zeit genoß Regine allerdings einer hinreichenden Geſellſchaft. Da waren voraus drei Damen, deren Umgang ihrem Manne zweckmäßig für ſie geſchienen hatte, da ſie im Rufe einer großen und ſchönen Bildung ſtanden; denn überall, wo es etwas zu ſehen und zu hören gab, waren ſie in der vorderſten Reihe zu finden, und ſie verehrten, beſchützten Alles und Jedes, das von ſich reden machte. Erſt ſpäter104 erfuhr ich freilich, daß man ſie in manchen Kreiſen ſchon um dieſe Zeit die drei Parzen nannte, weil ſie jeder Sache, deren ſie ſich annahmen, ſchließlich den Lebens¬ faden abſchnitten. Sie waren immer in Geräuſch, Be¬ wegung und Unruhe; denn ſie beſaßen alle drei ſelbſt¬ zufriedene und gleichgültige Männer, die ſich nicht um die Frauen kümmerten. Obgleich dieſe nicht eben ſehr jung waren, umarmten ſie ſich doch mit ſtürmiſcher Leidenſchaft, wenn ſie ſich trafen, küßten ſich lautſchallend und nannten ſich Kind und ſüßer Engel; auch hatten ſie einander liebliche Spitznamen gegeben, und eine hieß die Sammetgazelle, die andere das Rothkäppchen, die dritte das Bienchen; die erſte, weil ſie das Sammetauge des genannten Thieres habe, die zweite, weil ſie einſt in einem lebenden Bilde jene Märchenfigur vorgeſtellt, die letzte, weil ſie in Gärten oder Gewächshäuſern keine Blume ſehen konnte, ohne ſie zu betaſten und zu erbetteln. Trotz dieſer harmloſen Schwärmerei gab es böſe Leute, welche behaupteten, die Parzen führten unter ſich eine Sprache wie mit allen Hunden gehetzt und von allen Teufeln geritten, ungefähr wie alte Studenten, beſonders ſeit ſie als Wahrzeichen ihres Genieweſens eine junge Malerin in ihren Verband aufgenommen hatten, die ſchon in allen Schulen geweſen. Eigentlich war es ein junger Maler, denn ſie ſchneuzte wie ein kleines Kätzchen, wenn man ſie Malerin nannte. Die ſchöne wohlklingende End¬ ſilbe, mit welcher unſere deutſche Sprache in jedem105 Stande, Berufe und Lebensgebiete die Frau bezeichnet und damit dem Begriffe noch einen eigenen poetiſchen Hauch und Schimmer verleihen kann, war ihr zuwider wie Gift und ſie hätte die verhaßten zwei Buchſtaben am liebſten ganz ausgereutet. War man dagegen gezwungen, den männlichen Artikel der und ein mit ihrem Berufs¬ namen zu verbinden, ſo tönte ihr das wie Muſik in die Ohren. Sie trug ſtets ein ſchäbiges Filzhütchen auf dem Kopfe und ließ das Kleid ſo einrichten, daß ſie ihre Hände zu beiden Seiten in die Taſchen ſtecken konnte, wie ein Gaſſenjunge. Dieſe Art Verirrung mahnt mich immer an die mittelalterliche Sage vom Kaiſer Nero. Die wirklich verübten Tollheiten deſſelben fand ſie nicht abſcheulich und verrückt genug, und um das denkbar Schmählichſte hinzuzufügen, erſann ſie die Geſchichte von ſeinem Gelüſte nach der Geſchlechtsänderung. Er habe wollen guter Hoffnung werden und ein Kind gebären und zweiundſiebenzig Aerzten bei Todesſtrafe befohlen, ihm dazu zu verhelfen. Die hätten keinen andern Ausweg gewußt, als dem Scheuſal einen Zaubertrank zu brauen. Weil aber der Teufel nichts Wirkliches, ſondern nur Blendwerke ſchaffen könne, ſo ſei Nero allerdings ſchwanger geworden, zu ſeiner großen Zufriedenheit, und habe aber dann eine dicke Kröte aus dem Munde zu Tage gefördert. Auch für das Thierlein ſei er dankbar geweſen und habe ſich voll Eitelkeit Domina und Mutter nennen laſſen. Dann habe er ein großes Freudenlager errichtet, um das106 Geburtsfeſt zu begehen. Die Amme des Kindleins, in grünen, mit goldenen Vögeln geſtickten Atlas gekleidet, ſei mit dem Kind auf dem Schooße auf einen ſilbernen Wagen geſetzt worden, welchem hundert fremde Könige hätten folgen müſſen nebſt unendlichen Würdenträgern, Prieſtern und Kriegern. Und ſo ſei der Zug unter dem Schalle der Poſaunen, Flöten und Pauken hinaus gegan¬ gen nach dem Lager. Als jedoch der Wagen über eine Brücke gefahren ſei, unter der ſich eine trübe Lache befunden, habe die Kröte das ſchöne Sumpfwaſſer gewittert und ſei vom Schooße der Amme hinunter geſprungen und nicht mehr geſehen worden. Auf dieſe Art dachte die Sage den Nero am allerärgſten zu brandmarken, und ſie knüpfte an das Märchen unmittelbar den Untergang des Tyrannen.
In der That hat die Wuth, ſich die Attribute des andern Geſchlechts anzueignen, immer etwas Neroniſches; möge jedes Mal die Kröte in den Sumpf ſpringen!
Die Malerin beſaß mehr Männer - als Frauenkleider; wenn ſie jene auch nicht am Tage tragen durfte, ſo zog ſie dieſelben um ſo häufiger des Nachts an und ſtreifte ſo in der Stadt herum, und es hieß, daß bald die Gazelle, bald das Rothkäppchen oder das Bienchen trotz ihrer allmälig eintretenden größeren Corpulenz ſich zuweilen in einen derartigen Anzug hineinzwängten und zu einem geheimen Streifzug verleiten ließen, um als freie Männer unter das Volk zu gehen und die unauslöſchliche Neu¬ gierde zu befriedigen.
107Als einſt ein junger Gelehrter in öffentlichem Saale eine Reihe geiſtvoller Vorträge hielt, hatte Erwin ſeine Frau hingeführt, in der Hoffnung, daß für ihr Ver¬ ſtändniß doch einige Broſamen abfallen und die Pforten der Bildung immerhin ſich etwas weiter aufthun würden, wenn auch nur durch ahnende Einblicke. In den Saal tretend fanden ſie unter dem beſcheideneren allgemeinen Publikum keinen Platz mehr und ſahen ſich genöthigt, immer weiter nach dem Vordergrunde in der Gegend der Kanzel zu dringen, wo diejenigen ſaßen, die überall die gleichen ſind und zuvorderſt zu ſitzen pflegen. Da glänzten und ſchimmerten dicht unter den Augen des Redners richtig die drei Renommiſtinnen, die jedoch liebenswürdig und gefällig der ſchönen Fremden ſogleich einen Platz zwiſchen ſich ermöglichten, ſo daß Erwin froh war, die Regine untergebracht zu ſehen, und ſich in eine Fenſterniſche zurückzog. Seit geraumer Zeit hatten die Parzen ſchon die ebenſo eigenartige, als geheimnißvolle Frau in's Auge gefaßt; ſie benutzten jetzt die Gelegenheit, auf's Freund¬ lichſte und Bethulichſte mit ihr Bekanntſchaft, ja Freund¬ ſchaft zu ſchließen, denn zu ihren Renommiſtereien gehörte unter anderen auch, für ſchöne oder ſonſt intereſſante Frauen ganz beſonders zu ſchwärmen und ſolche Creaturen mit neidloſer Huldigung geräuſchvoll vor aller Welt zu umgeben. Erwin ſah von ſeinem Standorte aus mit Befriedigung, wie ſeine Frau ſo gut aufgehoben war, und als er ſie nach dem Schluſſe des Vortrages wieder108 in Empfang nahm, erwiderte er die Einladungen der Damen zu baldigem Beſuche mit dankbarer Zuſage. Als nicht lange hernach ſeine Abreiſe nothwendig wurde, hielt er es, wie ſchon geſagt, für einen glücklichen Umſtand, daß Regine einen ſo bildend anregenden Verkehr gefunden habe, und er anempfahl ihr, denſelben fleißig zu ſuchen; mit argloſem Vertrauen gehorchte ſie, obſchon die wort¬ reichen, lauten und unruhigen Auftritte und Lebensarten ihr wenigſtens im Anfang nichts weniger als wol zu behagen ſchienen.
Indeſſen verlor ich ſie aus den Augen, wenigſtens für den perſönlichen Umgang. Ich war meinem Ver¬ ſprechen gemäß nach Erwin's Abreiſe noch zwei oder drei Mal hingegangen, um zu ſehen, ob ich etwas nützen könne. Schon das erſte Mal waren zwei von den Renommiſtinnen dort anweſend; ich hörte zu, wie ſie die Regine bereden wollten, auf dem im Wurfe liegenden Wohlthätigkeitsbazar eine Verkaufsſtelle zu übernehmen, und wie ſie das Koſtüm beriethen. Es gelang ihnen jedoch diesmal noch nicht, ihre Beſcheidenheit zu hinter¬ gehen. Später traf ich ſie nicht mehr zu Hauſe. Die ältere Dienerin klagte, daß die Damen ſie immer häufiger hinwegholten, und doch müſſe man gewiſſermaßen jede Zerſtreuung willkommen heißen, denn wenn die Frau allein ſei, ſo ſehne ſie ſich unaufhörlich nach ihrem Manne und weine, wie wenn ſie ihn verloren hätte.
Eines Tages gerieth ich zufällig in die ſogenannte109 permanente Gemäldeausſtellung. Was ſah ich gleich beim Eintritt? Reginen's Bildniß als phantaſtiſch angeordneten Studienkopf, über Lebensgröße, mit theatraliſch auf¬ gebundenem Haar und einer dicken Perlenſchnur darin, mit bloßem Nacken und gehüllt in einen Theatermantel von Hermelin und rothem Sammet, d. h. jener von Katzenpelz und dieſer von Möbelplüſch, das Alles mit einer ſcheinbaren Frechheit gemalt, wie ſie von gewiſſen Kunſtjüngern mit unendlichem mühevollem Salben und Schmieren und ängſtlicher Hand zuweilen erworben oder wenigſtens geheuchelt wird.
Natürlich war der „ Studienkopf “das Werk der Malerin und Regine von den Parzen beſchwatzt worden, derſelben in ihrem Atelier aus Gefälligkeit zu ſitzen. Ob ſie wußten, daß die Künſtlerin das Bild ausſtellen und verkaufen wollte, kann ich nicht ſagen; Regine wußte es jedenfalls nicht, wie mich ihre Haushälterin ver¬ ſicherte, als ich hinging, um jene zu ſprechen, aber nur dieſe antraf. Denn ich hatte bemerkt, daß das Bild bereits von einem Händler angekauft war, der Gemälde¬ transporte nach Amerika lieferte. — Die Geſchichte gefiel mir keineswegs und ich ſchwankte, ob ich dem Erwin Altenauer ſchreiben ſolle oder nicht. Allein die drei Renommiſtinnen galten trotz ihrer wunderlichen Auf¬ führung für ehrbare Frauen und waren es wol auch, und ſie machten nicht unanſehnliche Häuſer. Der Mann der Gazelle war ein großer Sprithändler, derjenige des110 Rothkäppchens ein Juſtizrath, der vierzehn Schreiber beſchäftigte, und der Mann des Bienchens der oberſte Regent über die vierzig Töchterſchulen der Provinz, der zudem eine polyglotte Rieſenchreſtomathie herausgab, alles bedeutende Gewährleiſtungen für die Ehrbarkeit, während ich ſelber ein unerfahrener und unbedeutender Menſch war.
Ich ſah die gute Regine nun nicht mehr, als etwa in einer Theaterloge inmitten ihrer Beſchützerinnen, welche vor Vergnügen glänzten, wenn ſie durch die ſchöne Er¬ ſcheinung die Augen des ganzen Hauſes auf ſich lenken konnten. Auch empfingen ſie genügſamen Herrenbeſuch. Regine ſchien mir das eine Mal traurig und gedrückt zu ſein; das andere Mal ſchien ſie aber aufzuthauen und eine wachſende Sicherheit und Munterkeit des Benehmens zu zeigen. Vielleicht, dachte ich, iſt das gerade, was Erwin wünſcht, und die drei Gänſe haben am Ende nichts Böſes zu bedeuten.
Ein einziges Mal vor Erwin's Rückkunft ſprach ich ſeine Frau noch näher in vertraulicher Weiſe und ſah ſie ſogar während eines ganzen Tages. Der Monat Juni war gekommen und das prächtigſte Sommerwetter im Lande. Da bat ſie mich eines Tages in einem zierlichen Briefchen, bei ihr vorzuſprechen, und als ich kam, theilte ſie mit, es ſei von ihren Freundinnen und deren Freun¬ den eine große Landpartie verabredet, die zu Wagen gemacht werden ſollte. Nun wolle ihr die Sache doch nicht recht gefallen, und ſie wünſche wenigſtens einen111 guten Freund und Bekannten ihres Mannes und ihres eigenen Hauſes dabei zu wiſſen, weil ihr ja manche von den Theilnehmern weder vertraut genug noch ſonſt angenehm ſeien. Sie glaube im Sinne Altenauer's zu handeln, wenn ſie ſo verfahre; denn ſie wiſſe, daß er etwas auf mich halte u. ſ. w. Sie habe daher kurzweg angekündigt, ſie werde mich als ihren beſonderen Begleiter mitbringen, und ſie bitte mich nun, wenn ich ihr den Gefallen erweiſen wolle, einen Wagen zu beſtellen und ſie zur beſtimmten Stunde abzuholen und auf den Sammel¬ platz zu bringen. Man habe allerdings ihren Wunſch theilweiſe dadurch gekreuzt, daß ich ſofort zum Cavalier der jungen Malerin beſtimmt worden ſei, wozu ich mich vortrefflich eigne; doch hoffe ſie, die Regine, daß ich mich wol zuweilen werde losmachen und ein Bischen mit ihr plaudern können.
Ich ſagte mit Freuden zu und nahm mir vor, den weiblichen Schmierteufel von Maler je eher je lieber hin zu ſetzen und mich an die Frau Altenauer zu halten. Als ich dieſe dann holte, fand ich es ehrenvoll, an ihrer Seite zu fahren; ſie war in hellfarbigen duftigen Sommerſtoff gekleidet und in jeder Beziehung einfach aber tadellos ausgerüſtet. Sie räkelte nicht in der Wagenecke herum, ſondern ſaß mit ihrem Sonnenſchirme in anmuthiger Haltung aufrecht, während die Malerin, die ſpäter uns beigeſellt wurde, ſich ſofort zurückwarf und die Beine übereinander ſchlug. Auch die übrigen112 Damen erſchienen, als wir den Sammelplatz erreichten, in heiterer Sommertracht, weiß oder farbig, und auch die Herren hatten ſich mit Hülfe der Mode ſo ſchäferlich als möglich gemacht. Nur die Malerin war wie eine Krähe; ſie ſteckte in einem troſtlos dunklen, nüchternen und ſchlampigen Kleide, mit der beleidigenden Abſicht, ja keinen Anſpruch auf weibliche Anmuth und Frühlingsfreude machen zu wollen. Statt des Filzes trug ſie freilich ein Strohhütchen auf dem Kopfe, aber ein ſchwarz gefärbtes, das von den feinen weißen Florentinerhüten der anderen Frauenzimmer ſchuſtermäßig abſtach. Von einer freien Locke oder Haarwelle war nichts zu ſehen; gleich einem Kranze von Schnittlauch trug ſie das geſtutzte Haar um Ohren und Genick. Was werden das für traurige Zeiten ſein, wenn es ſo kommt, daß mit den lichten Kleidern und den fliegenden Locken der jungen Mädchen und Frauen die Frühlingsluſt aus der Welt flieht!
Ich wurde von der Geſellſchaft nicht unartig aufge¬ nommen; da aber durch den von mir mitgebrachten Wagen überſchüſſiger Raum gewonnen war, ſetzte man uns, wie bemerkt, die Malerin herein mit der Anzeige, daß das meine Schutzbefohlene ſei. Als man abfuhr und die Kutſchen im Freien rollten, zog der Künſtler ungeſäumt ein Stück Brot und ein paar Aepfel aus der Taſche und biß hinein; denn er hatte noch nicht gefrühſtückt, wie er ſagte, und er genoß immer nur rohes Obſt und Brot des Morgens, weil es das Billigſte war. Das that er113 nicht aus Armuth, ſondern aus Geiz; denn er verſtand es ſehr wohl, gehörig Geld zu verdienen, und ſtudirte auch nichts mehr, ſeit das Geld einging. Beim Erwerbe aber wußte ſie, um ihrem Geſchlecht jetzt wieder die Ehre zu geben, ſich ſehr unſchüchtern überall vorzudrängen, und hier nahm ſie urplötzlich die Rückſichten auf das Geſchlecht von Jedermann in Anſpruch. Der rohe Aepfelſchmaus, wobei ſie Kerne und Hülſenſtücke über die Wagenwand hinausſpuckte, ärgerte mich dergeſtalt, daß ich beſchloß, ſie jetzt ſchon zu verſcheuchen. Ich begann ein Geſpräch über die Künſtlerinnen im Allgemeinen und einige merkwürdige Erſcheinungen im Beſonderen, und ich lobte vorzüglich diejenigen, welche neben ihrem Rufe in den ſchönen Künſten zugleich des unvergänglichen Ruhmes einer idealen Frauen¬ geſtalt mit heiterem oder tragiſchem Schickſale genoſſen. Zuletzt ſchilderte ich den lieblichen Eindruck, den das Bild¬ niß der Angelika Kaufmann, von ihr ſelbſt gemalt, auf mich gemacht habe, den blühenden Kopf mit den vollen reichen Locken von einem grünen Epheukranze umgeben, der Körper in weißes Gewand gehüllt, und ich vervoll¬ ſtändigte die Geſtalt, indem ich ſie begeiſtert an die Glasharmonika ſetzte, das Auge emporgehoben, und rings um ſie her die edelſte römiſche Geſellſchaft gruppirte, welche den ergreifenden Tönen lauſchte.
„ Das ſind tempi passati, “unterbrach mich die Ma¬ lerin, „ jetzt haben wir Künſtler Anderes zu thun, als Glas¬ glocken zu reiben und mit Epheukränzchen zu kokettiren! “
Keller, Sinngedicht. 8114„ Das ſeh'n wir wohl! “ſagte ich mit einem Seufzer, „ aber es war doch eine ſchönere Zeit! “
Sobald nun die Wagen den erſten Halt machten, ſtieg, um ein ſtattliches Masculinum zu gebrauchen, der Unhold aus und miſchte ſich unter die Geſellſchaft, ohne mich weiter anzuſehen. Damit war es freilich noch nicht gethan. Eben als Frau Regine ſich freute, von der Malerin erlöſt zu ſein, gegen die ſie einen unerklärlichen Widerwillen empfinde, kamen die Parzen herbei und ſtellten den für heute ihr beſtimmten Cavalier vor, einen jungen Herren von der braſilianiſchen Geſandtſchaft mit einem langen, aus vielen Wörtchen beſtehenden Grafentitel, er ſelbſt lang und ſchlank, wie ein alter Ritterſpeer, pechſchwarz und blaß, mit der ſchönſten graden Naſe und glühenden Augen. Er war die neueſte Schwärmerei der drei Parzen, und weil er gewünſcht hatte, mit der ſchönen Regine bekannt zu werden, brachten ſie ihn unverzüglich mit ihr zuſammen, womit ſie zu erreichen hofften, daß beide inter¬ eſſante Erſcheinungen zugleich in ihrer Umgebung geſehen würden.
Als Wirth des Wagens mußte ich dem Herrn natür¬ lich den guten Sitz neben meiner Dame einräumen, die eigentlich nun ſeine Dame wurde. Er benahm ſich übrigens durchaus artig und ernſt, ja nur zu ernſthaft nach meiner Meinung, da dies auf weitgehende verwegene Abſichten deuten konnte. Regine war ſtill, ſo viel an ihr lag; ſie beantwortete aber ſeine Anreden mit freiem Anſtande,115 und da der Braſilianer nicht deutſch und nicht viel mehr engliſch oder franzöſiſch verſtand, als ſie, ſo blieb die Unterhaltung von ſelbſt in beſcheidenen Schranken. Das Ziel der Fahrt war der neben einem fürſtlichen Luſtſchloſſe liegende Meierhof, wo eine gute Wirthſchaft für Stadt¬ leute betrieben wurde und die unbenutzten Räume, die Raſengründe, Gehölze und Alleen der anſtoßenden Gärten zur Verfügung ſtanden. Nachdem das gemeinſchaftliche Frühſtück eingenommen, zerſtreute ſich die Geſellſchaft für den übrigen Theil des Vormittages zum freien Aus¬ ſchwärmen und verlor ſich nach allen Seiten in den reizen¬ den Gärten. Allein Regine ließ mich keineswegs von ihrer Seite; immer wußte ſie mich für irgend etwas in Anſpruch zu nehmen und herbeizurufen, und da zuletzt die Abſicht offenbar wurde, daß nicht der Südländer, ſondern ich als ihr dienſtbarer Geiſt gelten und genannt werden ſollte, ſo zog ſich der Graf mit der beſten Art von der Welt ein wenig zurück, ohne Aufſehen zu erregen; er ſchloß ſich anderen Gruppen an, deren Wege die unſrigen kreuzten, kam zuweilen wieder, um einige artige Worte zu wechſeln und ſich abermals zu entfernen, als ob er es eilig hätte, auch anderswo gewärtig zu ſein. Es gab auch zu thun für ihn; ſo mußte er einen ſcheltenden Gärtner beſchwichtigen, als Bienchen aus einem Treib¬ hauſe ſchon ein paar prächtige Blumen ohne Weiteres hervorgeholt hatte, obgleich die freie Luft von Blüthen¬ duft geſchwängert war und der Boden von Farben glänzte.
8*116Mich aber ergriff jetzt Regine unverſehens beim Arme und zog mich raſchen Schrittes bei Seite, bis wir auf einſamere Schattenwege gelangten. Jetzt öffnete ſie auf einmal ihr Herz: ſie habe ſich auf dieſen Tag gefreut, um ſich von Erwin ſatt ſprechen zu können. Die andern Frauen ſprächen nie von ihren Männern und auch von dem ihrigen, nämlich Erwin, thäten ſie es nur, um alles Mögliche auszufragen und ihre Neugierde nach Dingen, zu befriedigen, die ſie nichts angingen. Da ſchweige ſie lieber auch. Mit mir aber, der ich ein guter Freund und ja ein Landsmann ſei, wolle ſie nun reden, was ſie freue. Sie fing alſo an zu plaudern, wie ſie auf ſeine baldige Ankunft hoffe, wie gut und lieb er ſei, auch in den Briefen, die er ſchreibe; was er für Eigenthümlich¬ keiten habe, von denen ſie nicht wiſſe, ob ſie andere gebildete oder reiche Herren auch beſitzen, die ſie aber nicht um die Welt hingeben möchte; ob ich viel von ihm wiſſe aus der Zeit, ehe ſie ihn gekannt? Ob ich nicht glaube, daß er glücklicher geweſen ſei, als jetzt, und tauſend ſolcher Dinge mehr. Sie redete ſich ſo in die Aufregung hinein, daß ſie ſchneller zu gehen und zu eilen begann, wie wenn ſie ihn gleich jetzt zu finden gedächte, und ſo gelangten wir unerwartet auf einen freien ſonnigen Platz, der einen kleinen Teich umgab. In der Mitte des letzteren erhob ſich eine flache goldene Schale, aus welcher das Waſſer über ein großes Bouquet friſcher Blumen ſo ſanft und gleichmäßig herabfiel, und ſo ohne jedes Geräuſch,117 daß es vollkommen ausſah, als ob die ſchönen Blumen unter einer leiſe fließenden Glasglocke ſtänden, die von der Sonne durchſpielt war. Regine hatte dieſe Waſſer¬ kunſt noch niemals geſehen. „ Wie ſchön! “rief ſie, ſtill¬ ſtehend; „ wie iſt es nur möglich, das hervorzubringen? “
Unwillkürlich ſetzte ſie ſich auf eine Bank, dem artigen Wunder gegenüber, und ſchaute unverwandt hin. Ein ſeliges Lächeln ſpielte eben ſo leis um den Mund, wie das Waſſer um die Blumen, und ich ſah wohl, daß die lebendige Kriſtallglocke, die ſo treu die Roſen ſchützte, die Gedanken der Frau nur wieder auf den Mann zurück¬ gewendet hatte. Wie ich ſo neben ihr ſtand und ſie meinerſeits voll Theilnahme betrachtete, ohne daß ſie deſſen inne ward, fühlte ich mich innig bewegt. Ich hätte vor¬ mals nie geglaubt, daß es eine ſo reine Freude geben könnte, wie diejenige iſt, in die Liebe einer holden Frau zu einem Dritten hinein zu ſehen und ihr nur Gutes zu wünſchen!
Aber unvermerkt nahm ich wahr, wie die ſtille Heiter¬ keit ſich wandelte, leiſe, leis! und einer immer dunkler werdenden Schwermuth Raum zu geben ſchien. Die Lippen blieben leicht geöffnet, wie ſie es im Lächeln geweſen, aber mit bekümmertem Ausdruck. Das Haupt ſenkte ſich ein weniges, wie von tiefem Nachdenken, und endlich fielen ſchwere Thränen ihr aus den Augen.
Betroffen weckte ich ſie aus dieſem Zuſtande, indem ich mir erlaubte, die Hand leicht auf ihre Schulter zu118 legen und zu fragen, was ihr ſo Trauriges durch den Sinn fahre? Sie ſchrak zuſammen, ſuchte ſich zu faſſen, und aus den paar Worten, die ſie ſtammelte, ahnte ich, daß erſt das Heimweh nach dem Manne ſie ergriffen und dann der Zweifel an der Rechtmäßigkeit und Dauer ihres Glückes ſie beſchlichen hatte. Ich beſtrebte mich, ſie durch einige zuverſichtliche Scherzworte aus der verzwickten Stimmung herauszubringen. Sie wurde auch wieder ruhig und unbefangen, und als wir weiter gehend bald darauf dem Braſilianer begegneten, der uns ſuchte, um uns zur Mittagstafel zu holen, die unter Bäumen ſchon bereit ſtehe, empfing ſie ihn mit Freundlichkeit. Von dem be¬ ſcheiden dienſtfertigen Weſen des hübſchen Ritters beſtochen ſchien ſie ihre frühere Härte gutmachen zu wollen und nahm ſeinen Arm an für den kurzen Weg, den wir bis zum Orte des Speiſevergnügens noch zurückzulegen hatten, und ſie duldete ſogar ſeine Geſellſchaft und Be¬ dienung bei Tiſche, was er in tadelloſeſter Weiſe benutzte. Dagegen entzog ſie ſich den üblichen Lauf -, Spring - und Lärmſpielen, welche ſpäter beliebt wurden, und nahm mich unverhohlen abermals in Anſpruch, was mich bei aller Theilnahme und guten Freundſchaft, die ich für ſie empfand, doch nachgerade ein wenig zu demüthigen begann, da ich mir beinahe wie ein unbedeutendes junges Vetter¬ lein vorkam, das ein ſtolzes Mädchen als Bedeckung mit ſich führt. An dem großen Kaffeekränzchen, das dann unter erneuter Luſtbarkeit abgehalten wurde, nahm ſie119 wiederum Theil und verſorgte jetzt den immer gleichen Südländer ſelbſt mit Kaffee und Kuchen. Als es dann zur Heimfahrt ging, mußte ich natürlich den Herrn wieder in unſern Wagen bitten, zumal unter den übrigen Gruppen verſchiedene Spannungen entſtanden waren. Insbeſondere die Renommiſtinnen ſchmollten alle drei etwas mehr oder weniger, aus welcher Urſache, blieb mir unbekannt; ich hörte nur das halblaute Wort eines Fahrtgenoſſen, es pflege ſo das gewöhnliche Ende aller Landpartieen zu ſein, die jene anſtellten. Indeſſen glaubte ich mehr als einmal während des Tages das Phänomen bemerkt zu haben, daß eine gewiſſe innere Unruhe und Unzufrieden¬ heit durch alle Luſtigkeit ging, wie ein heimlicher Luft¬ hauch im welkenden Laube zittert und raſchelt, oder wie es im Liede von einer Geſellſchaft von Männern und Frauen heißt, die in einer Luſtgondel auf ſtillem Waſſer fahren:
und die einzige Regine ſchien die ruhigſte Perſon von allen zu ſein.
Doch machte ihr die ſinkende Sonne, die wir vom Wagen aus ſo ſchön niedergehen ſahen, und die mälig eintretende Dämmerung, welche die Kinder und die Volks¬ frauen gern geſprächig und munter macht, viel Vergnügen; ſie plauderte ordentlich und in einer Stunde mehr, als ſie ſeit dem Vormittage geſprochen hatte, und erſt als120 es vollends dunkel wurde und die Sterne nach einander aufgingen, wurde ſie ſtiller und ſchwieg zuletzt ganz.
Der Graf flüſterte mir auf franzöſiſch zu, er glaube, daß Madame ſchlafe. Sie ſagte aber ganz vergnügt: „ Ich ſchlafe nicht! “ Und als wir endlich an ihrem Hauſe vorfuhren, nachdem die Geſellſchaft ziemlich ohne Abſchied auseinander geraſſelt war, und ſie von ihrer kleinen Dienerſchaft, die mit Lichtern im Thorwege ſtand, em¬ pfangen wurde, ſchüttelte ſie uns beiden ganz herzhaft die Hände zum Abſchied, ſo gutes Vertrauen ſchien ſie jetzt wieder zur Weltordnung gefaßt zu haben.
Der Braſilianer und ich waren nicht minder zufrieden als vernünftige und ordentliche Leute, die einen guten Eindruck davontrugen, und wir wurden einig, zuſammen noch eine wohlberufene Weinſtube[zu] beſuchen und uns bei einer ruhigen Cigarre etwas Gutes zu gönnen. Wir ſtießen auf das Wohl der ſchönen Frau mit einigen loben¬ den Worten an, der Graf wie ein ruhiger und anſtändiger Kenner, und ich machte ihm es großartig nach, worauf wir nicht mehr davon ſprachen, ſondern uns der Betrach¬ tung des nächtlich angeheiterten Weltlaufes überließen. Doch ſprach der des Trinkens nur mäßig gewöhnte Süd¬ länder dem Weine nicht eifrig zu; ich mußte das Beſte thun, und ſo trennten wir uns nach ausgerauchter Cigarre ſchon vor zehn Uhr. Der ſchwarzäugige Graf ſuchte ſeine Wohnung auf; ich aber verfügte mich, zur Schande meiner Jugendjahre ſei es geſtanden, ſchleunig noch in eine neun121 Schuh hohe Bierhalle, wo junge deutſche Männer ſaßen, die einſt Studenten geweſen und ſich langſam und vor¬ ſichtig der braunen Studentenmilch entwöhnten.
Ich hielt es am andern Tage für ſchicklich, der Frau Regine einen Beſuch abzuſtatten. Als ich an ihrer Thüre die Glocke zog, öffnete mir die ältere Dienerin oder Haus¬ hälterin oder wie man die Perſon nennen will, die von allem etwas vorſtellte und verſah. Zu meiner Verwun¬ derung betrachtete ſie mich mit einem unheimlich ernſten Geſichte, das zugleich von quälender Neugierde eingenommen ſchien. Sie beſah mich vom Fuß bis zum Kopfe und ließ den Blick über dieſen hinaus noch weiter in die Höhe gehen, als ob ſie in dem Luftraume über mir nach etwas ſuchte. Sie ſchüttelte unbewußt den Kopf, brach aber das Wort, das ſie zu ſagen im Begriffe war, ab und wies mich kurz in das Zimmer, wo die Frau ſich aufhielt. Hier befiel mich ein neues Erſtaunen, ja ein völliger Schrecken. Im Vergleich mit dem blühenden Zuſtande, in welchem ich die Regine am vorigen Tage geſehen, ſaß ſie jetzt in einer Art Zerſtörung am Fenſter und ver¬ mochte ſich kaum zu erheben, als ich eintrat; ſie ließ ſich aber gleich wieder auf den Stuhl fallen. Das Antlitz war todtenbleich, überwacht und erſchreckt, beinahe gefurcht; die Augen blickten unſicher und ſcheu, auch fand ſie kaum die Stimme, als ſie meinen Gruß erwiderte. Beſorgt und faſt eben ſo tonlos fragte ich, ob ſie ſich nicht wohl befinde? „ Allerdings nicht zum Beſten “, antwortete ſie122 mit einem müden und erzwungenen Lächeln, das aus einem rechten Elende hervorkam; aber ſie verſuchte kein Wort der Erklärung hinzuzufügen, und nachdem ſie in einem kurzen richtungsloſen Geſpräche ſich und mich furcht¬ ſam überwacht hatte, begab ich mich in der ſonderbarſten Verfaſſung von der Welt wieder nach Hauſe. Denn ich war ſo verdutzt und unbehaglich im Gemüthe, ohne mir irgend eine Rechenſchaft darüber geben zu können, daß ich vorzog, allein zu bleiben. Kaum ſaß ich aber eine kleine Stunde bei meinen Büchern, ſo klopfte es an die Thüre, die Altenauer'ſche Haushälterin kam herein, ſtellte einen Korb mit Markteinkäufen neben die Thür und ſetzte ſich, kurz um Erlaubniß bittend, auf einen Stuhl, der unweit davon an der Wand ſtand.
„ Sie ſind noch ein junger Mann, “ſagte ſie, „ aber Sie kennen meine Herrſchaft von früher her, und ich weiß, daß der Herr etwas auf Sie hält. Da kann ich mir nicht anders helfen und muß mich Ihnen anvertrauen, ob Sie einen Rath wiſſen in der ſchwierigen Sache, die mich bedrückt! “
Immer mehr betroffen und verwirrt fragte ich, was es denn ſei und was denn vorgehe?
Nachdem ſie ſich etwas verſchnauft und ſich zögernd beſonnen, ſagte ſie: „ Geſtern Nachts, als ich in meinem Schlafzimmer, das außerhalb unſerer abgeſchloſſenen Wohnung in einem Zwiſchengeſchoſſe liegt, noch wach war und eine zerriſſene Schürze flickte, es mochte ſchon123 zehn Uhr vorüber ſein, hörte ich an der Flurthüre ſachte klingeln, ſo daß die Glocke nur einen einzigen Ton von ſich gab. Ich horchte auf; dann hörte ich, wie der inwendig ſteckende Schlüſſel umgedreht und die Thüre geöffnet, zugleich aber ein halbunterdrückter Ausruf oder Schrei ausgeſtoßen wurde. Da ging ich, immer horchend, nach meiner Thüre und machte ſie auf, um zu ſehen, was es denn ſo ſpät noch gebe. In dieſem Augenblicke aber ſah ich einen Lichtſchein verſchwinden und die Flur¬ thüre ſich ſchließen, und der Schlüſſel wurde zweimal gedreht. Ich eilte hin, um wieder zu horchen, da ich doch einigermaßen beſorgt war. Ich hörte nur noch ein kleines Getrappel von Schritten und darauf eine der inneren Thüren zugehen, worauf ich nichts mehr ver¬ nehmen konnte. Endlich dachte ich, es müſſe die Köchin oder das jüngſte Mädchen geweſen ſein, das noch einen Auftrag oder ein Anliegen gehabt. Ich ging alſo wieder in mein Zimmer und bald darauf ſchlafen. Vor Tages¬ anbruch erwachte ich über einem kurzen Gebell des großen Hundes, welchen die über uns wohnende Herrſchaft auf ihrem Flur liegen hat. Wieder hörte ich eine Thüre gehen; ernſtlich beunruhigt, ſtellte ich mich ſchnell auf die Füße, öffnete ein weniges meine Thüre und ſah hinaus. Ein großer Mann, höher als Sie ſind, Herr Reinhart, ging nach der Treppe zu, mit ſchwerem Gange, obgleich er ſo behutſam als möglich auftrat. Ich konnte aber nichts Deutliches von ihm ſehen, es war eben nur wie124 ein rieſiger Schatten, da meine Frau, wie mir ſchien auf zitternden Füßen, mit dem Nachtlämpchen vor ihm herſchwankte und das Licht mit der Hand ſo bedeckte, daß nach rückwärts kein Schein fallen konnte. So ging's die Treppe hinunter, das Hausthor wurde geöffnet[und] geſchloſſen, die Frau kam wieder heraufgeſtiegen, vor ihrer Thüre hielt ſie einen Augenblick an und that einen tiefen Seufzer; dann verſchwand ſie und alles ward wieder ſtill. Dann ſchlug es zwei Uhr auf den Thürmen. Die Frau war, ſo viel ich ſehen konnte, in ihrem Nachtgewande.
„ Begreiflich fand ich keinen Schlaf mehr. Die Laterne in unſerem Treppenhaus wird Punkt zehn Uhr gelöſcht und das Thor geſchloſſen; der Menſch oder was es war, mußte alſo ſich vor dieſer Zeit in's Haus geſchlichen haben oder dann einen Hausſchlüſſel beſitzen. Als ich um die fünfte Morgenſtunde ſchellte, that mir die Frau die Thüre auf, nach der während der Abweſenheit des Herrn eingeführten Ordnung; denn wenn er da iſt, ſo wird der Flurſchlüſſel nicht inwendig umgedreht, damit ich des Morgens ſelbſt öffnen kann und nicht zu läuten brauche. Die Frau zog ſich aber wie ein Geiſt ſogleich wieder in ihr Schlafzimmer zurück. In den von der Sonne erhellten Zimmern bemerkte ich wenig Unordnung. Einzig in dem Eßzimmer ſtand das Büffet geöffnet; eine Caraffe, in der ſich ſeit Wochen ungefähr eine halbe Flaſche ſicilianiſchen Weines faſt unverändert befunden hatte, war geleert, das vorhandene Brot im Körbchen125 verſchwunden und ein Teller mit Backwerk ſäuberlich ab¬ geräumt. Auf dem Tiſche ſah ich den vertrockneten Ring von einem überfüllten Weinglaſe, auf dem Boden einige Krumen; der Teppich vor dem Sopha war von unruhigen Füßen verſchoben, von beſtäubten Schuhen befleckt.
Als die Frau ſpäter zum Vorſchein kam, war ſie ver¬ ändert, wie Sie ja wol ſelbſt geſehen haben. Nicht ein Wort hat ſie verlauten laſſen, und ich habe bis jetzt noch nicht gefragt und weiß nicht, was ich thun ſoll; ich weiß, es iſt ein fremder Mann über Nacht dageweſen und heim¬ lich wieder fort. Ich kann das Geheimniß nicht aufdecken und doch dem braven Ehemanne gegenüber nicht die Mit¬ wiſſerin und Hehlerin eines Verbrechens ſein! Und ich kann das arme ſchöne Geſchöpf auch nicht ohne Weiteres zu Grunde richten. Was denken Sie nun hiervon, Herr Reinhart, was zu thun ſei?
Ich war wie erſtarrt. Sorge und Entrüſtung für Erwin Altenauer, aber zugleich auch tiefes Mitleid mit dem Weibe, wenn es wirklich ſchuldig ſein ſollte, durch¬ ſtürmten mich, als ich mich einigermaßen beſann. Ich dachte unwillkürlich an den Braſilianer und fragte die ganz verſtörte Haushälterin, wie denn der Fremde gekleidet geweſen ſei, ob fein oder gewöhnlich? Sie beharrte aber darauf, daß ſie nichts habe erkennen können; nur einen breiten, tief in's Geſicht hängenden Schlapphut glaube ſie geſehen zu haben.
Ich grübelte und ſchwieg einige Zeit, während die126 redliche Perſon verſchiedene Male merklich ſtöhnte, ſo nahe ging ihr die Sache, und ich konnte daraus erſehen, wie ſehr ſie an der Frau gehangen hatte, die jetzt ſo unglück¬ lich war. Dieſe Erkenntniß verſtärkte meine eigene Theilnahme. Endlich ſagte ich: Wir müſſen uns, glaube ich, in den Fall verſetzen, wo in einem Hauſe ge¬ bildeter Leute ein Geſpenſt geſehen worden iſt, oder gar eine fortgeſetzte Spuk - und Geiſtergeſchichte rumort hat. Die ſchreckhaften Dinge, Erſcheinungen, Poltertöne ſind nicht mehr zu leugnen, weil vernünftige und nüchterne Perſonen Zeugen waren und ſie zugeben müſſen. Allein obgleich keine natürliche Erklärung, kein Durchdringen des Geheimniſſes für einmal möglich iſt, ſo bleibt doch nichts Anderes übrig, als an dem Vernunftgebote feſtzuhalten und ſich darauf zu verlaſſen, daß über kurz oder lang die einfache Wahrheit an's Tageslicht treten und Jeder¬ mann zufrieden ſtellen wird. So müſſen auch wir den unerklärlichen Vorgang auf ſich beruhen laſſen, überzeugt oder wenigſtens hoffend, die Rechtlichkeit der Frau werde ſich ſo unwandelbar herausſtellen, wie ein Naturgeſetz.
Die gute Dienerin, die mehr an Geſpenſter als an Naturgeſetze glauben mochte, ſchien durch meine Worte nicht aufgerichtet zu werden; doch gelobte ſie mir auf mein Andringen, gegen Jedermann ohne Ausnahme das Geheimniß zu wahren und ſchweigend zu erwarten, wie es mit der Frau weiter gehen wolle.
Ich ſelbſt war keineswegs beruhigt. Immer fiel mir127 der lange Braſilianer wieder ein, wie ein Dolchſtich. Sollte doch geſtern ein raſches Einverſtändniß ſtatt¬ gefunden haben, als Abſchluß längeren Widerſtandes und fortgeſetzter Verführungskünſte? Und wenn der Ver¬ führer vielleicht wirklich in's Haus gedrungen iſt, muß er denn wirklich geſiegt haben? Aber ſeit wann trinken feine Herren, wenn ſie auf ſolche Abenteuer ausgehen, ſo viel ſüßen Wein, und ſeit wann frißt ein vornehmer Don Juan ſo viel Brot dazu? Und warum nicht, wenn er Hunger hat? Der erſt recht!
Kurz, ich wurde nicht klug daraus. Nach Tiſch wollte ich den ſchwarzen Grafen in einem Gartencafé aufſuchen, in welchem jüngere Leute ſeiner Geſellſchaftsklaſſe ſich eine Stunde aufzuhalten pflegten. Ich dachte wenigſtens zu beobachten, was er für ein Geſicht machte. Allein ich kam von der Idee zurück, ſie widerte mich an, und was hatte ich mich darein zu miſchen? Dafür traf ich ihn von ſelbſt auf einer Promenade mit andern Herren. Er grüßte mich genau ſo ruhig, geſetzt und unbefangen, wie er mich geſtern verlaſſen.
Nach der Regine getraute ich mir vor der Hand nicht mehr zu ſehen. Das ſind Dinge, die du am Ende nicht zu behandeln verſtehſt, noch zu verſtehen brauchſt! ſagte ich mir. Einige Tage ſpäter ging ich in das Theater und ſah Reginen in der Loge der drei Parzen ſitzen und hinter ihr den Grafen. Die Parzen ſpiegelten ſich offen¬ bar in dem Bewußtſein, aller Augen auf ſich gerichtet zu128 ſehen. Der Graf ſaß ruhig und unterhielt ſich höflich mit den Damen; Regine war blaß und ſchien unzweifel¬ haft mehr hergeſchleppt worden, als freiwillig gekommen zu ſein. Es wurde Maria Stuart gegeben. Gegen den Schluß des Trauerſpieles betrachtete ich die Loge von meinem dunkeln Winkel aus durch das Glas, während die Augen des ganzen Hauſes auf die Bühne gerichtet waren, wo Leiceſter die Hinrichtung der Maria belauſchte, die unter ſeinen Füßen vor ſich ging. Der Schauſpieler war ein dummer Geck, der in ſeinem weißen Atlaskleide die kümmerlichſten Faxen machte, weshalb ich auch meine Blicke von ihm abgewendet hatte. Aber Regine, welche bis dahin, wie ich gut geſehen, der Handlung nur mit mühſeliger Theilnahme gefolgt war, blickte jetzt mit einer wahren Seelenangſt hin, und als der Schauſpieler das Fallen des Hauptes mit einem ungeſchickten Umpurzeln anzeigte, zuckte ſie ſchrecklich zuſammen, ſo daß der Graf ſie einen Augen¬ blick lang aufrecht halten mußte.
Endlich kam die Nachricht, Erwin ſei auf der Rück¬ reiſe begriffen. Ich will, was noch zu erzählen iſt, ſo folgen laſſen, wie es ſich theils für ihn entwickelt hat, theils mir durch ihn ſpäter bekannt wurde. Die Geſchäfte hatten ihn zuletzt nach Newyork geführt, wo er ſich dann einſchiffte. Dort war er in die Verkaufsräume eines Kunſthändlers getreten, der nebenbei ein Lager von amerikaniſchen Gewerbserzeugniſſen eleganter Art hielt; er wollte nur ſchnell nachſehen, ob ſich etwas für Reginen129 Geeignetes und Erfreuliches fände. Indem er das auf einem Tiſche ausgebreitete glänzende Spielzeug muſterte, wurde ſein Blick durch ein ſtarkfarbiges Bild ſeitwärts gezogen, das an der Wand unter andern Sachen hing, die alle mit der Bezeichnung „ neue deutſche Schule “ver¬ ſehen waren. Sobald er nun hinſah, kam es ihm vor, als ob das ſeine Frau wäre. Die rechte Perſönlichkeit und Seele fehlten zwar dem Bild, und der fremdartige Aufputz machte die zweifelhafte Aehnlichkeit noch fraglicher; es konnte ſich um einen allgemeinen Frauentypus, um ein Spiel des Zufalls handeln. Allein Regine hatte ihm ja geſchrieben, daß ſie einer talentvollen Künſtlerin zum Studium geſeſſen ſei; hier ſtand der Name der Malerin mit großen Buchſtaben auf dem Bilde geſchrieben, der Vorname freilich in einer Abkürzung, die ebenſo wohl einen männlichen wie einen weiblichen Vornamen bedeuten konnte; hingegen war die Stadt und die Jahrzahl zu¬ treffend. Erwin fühlte ſich, trotz dem blitzartigen Eindruck von Luſt, den ihm der unerwartete Anblick verurſacht hatte, gleich darauf ganz widerwärtig berührt. Nicht nur, daß das Bildniß ſeiner Gattin als Verkaufsgegenſtand herumreiſte, auch die komödienhafte Tracht und die Auf¬ ſchrift „ Studienkopf “, als ob es ſich um ein käufliches Malermodell handelte, kurz, der ganze Vorgang verurſachte ihm, je länger er darüber dachte, den größten Aerger. Doch verſchluckte er den, ſo gut er konnte, und erhandelte das Bild mit möglichſt gleichgültiger Miene, ohne ahnenKeller, Sinngedicht. 9130zu laſſen, wie nah 'ihm das Original ſtehe. Er ließ es verpacken und ſandte es nach Boſton, eh' er zu Schiffe ging, nicht ohne den Vorſatz, ein wenig nachzuſpüren, wer eigentlich an der begangenen Taktloſigkeit die Schuld trage. Denn dieſe maß er keineswegs der Regine bei, obgleich er bei dem Anlaß einen kleinen Seufzer nicht unterdrücken konnte, ob dieſe höhere, dieſe Taktfrage der Bildung (oder wie er die Worte ſich ſtellen mochte) ſich bis zu der immer näher rückenden Heimführung auch noch vollſtändig löſen werde?
Nun, er kam alſo eines ſchönen Julimorgens an. Er war die Nacht über gefahren, um ſchneller da zu ſein. Als er den Thorweg betrat, ſah er durch eine offene Thüre die Hausdienerſchaft auf dem Hofe um einen Milch¬ mann verſammelt und freute ſich, ſeine Frau unverſehens überraſchen zu können. Die Wohnung ſtand offen und ganz ſtill und er ging leiſe durch die Zimmer. Ver¬ wundert fand er im Geſellſchaftsſaal eine große Neuigkeit: auf eigenem Poſtamente ſtand ein mehr als drei Fuß hoher Gipsabguß der Venus von Milo, ein Namenstags¬ geſchenk der drei Parzen; jede von ihnen beſaß einen gleichen Abguß, der zu Dutzenden in Paris beſtellt wurde; denn es war eine eigenthümliche Muckerei im Cultus dieſes ernſten Schönheitsbildes aufgekommen; allerlei Lüſternes deckte ſich mit der Anbetung des Bildes, und manche Damen feierten gern die eigene Schönheit durch die heraus¬ fordernde Aufrichtung desſelben auf ihren Hausaltären.
131Erwin betrachtete einige Sekunden die edle Geſtalt, die übrigens in ihrem trockenen Gipsweiß die Farben¬ harmonie des Saales ſtörte. Aber wie überraſcht ſtand er eine Minute ſpäter unter der Thüre des Schlaf¬ zimmers, das er leiſe geöffnet, als er eine durchaus ver¬ wandte, jedoch von farbigem Leben pulſirende Erſcheinung ſah. Den herrlichen Oberkörper entblößt, um die Hüften eine damascirte Seidendraperie von blaßgelber Farbe geſchlungen, die in breiten Maſſen und gebrochenen Falten bis auf den Boden niederſtarrte, ſtand Regine vor dem Toiletteſpiegel und band mit einem ſchwermüthigen Ge¬ ſichtsausdrucke das Haar auf, nachdem ſie ſich eben gewaſchen zu haben ſchien. Welch 'ein Anblick! hat er ſpäter noch immer geſagt. Freilich weniger griechiſch, als venezianiſch, um in ſolchen Gemeinplätzen zu reden.
Aber auch welche Gewohnheiten! Wie kommt die einfache Seele dazu, auf ſolche Weiſe die Schönheit zu ſpiegeln und die Venus im Saale nachzuäffen? Wer hat ſie das gelehrt? Woher hat ſie das große Stück unver¬ arbeiteten Seidendamaſt? Iſt ſie mittlerweile ſo weit in der Ausbildung gekommen, daß ſie ſo üppige An¬ ſchaffungen macht, wie ein ſolcher Stoff iſt, nur um ihn des Morgens um die Lenden zu ſchlagen während eines kleinen Luftbades? Und hat ſie dieſe Künſte für ihn gelernt und aufgeſpart?
Dieſe Gedanken jagten wie ein grauer Schattenknäuel durch ſein Gehirn, nur halb kenntlich; ſie zerſtoben jedoch9*132gänzlich, als er den Ausdruck ihres Geſichtes im Spiegel ſah und ſie ungeſäumt beim Namen rief, um den Kummer zu verſcheuchen, den er erblickte. Das war ſeine nächſte treue Regung. Sie lag nun glückſelig in ſeinen Armen und Alles ging in den erſten paar Stunden, bis ſie ſich etwas ausgeplaudert, gut von Statten, auch das kleine Verhör wegen des Aufzuges, in welchem er ſie getroffen. Erröthend und mit verfinſterten Augen erzählte ſie, man habe ihr nicht Ruhe gelaſſen, bis ſie der bewußten Malerin für eine Studie hingeſtanden; das ſei eine wahre Pflicht¬ erfüllung, eine Gewiſſensſache und durchaus unverfänglich und Alles bleibe unter ihnen, d. h. den Freundinnen, von welchen eine der Malſtunde beigewohnt habe. Nun, da man ein ſolches Weſen von ihrem Wuchſe gemacht und ſie den Damaſt einmal gekauft und bezahlt, habe ſie gedacht, das erſte Anrecht, ſie ſo zu ſehen, wenn es denn doch etwas Schönes ſein ſolle, gehöre ihrem Mann, und darum habe ſie ſich ſchon ſeit ein paar Tagen daran zu gewöhnen geſucht, das Tuch ohne die Malerin in gehöriger Weiſe umzuſchlagen und feſtzumachen. Es ſei auch nur ein kleines Bildchen gemacht worden.
Aber wo es denn ſei? fragte der Mann, ſeinerſeits erröthend. Ei, die Malerin habe es mitgenommen, es ſei ja ein Frauenzimmer, erwiderte Regine betreten. Ueberdies wolle es eine der drei Freundinnen als An¬ denken in Anſpruch nehmen. Erwin ſah die Unerfahren¬ heit und Unſchuld der guten Regine oder glaubte jetzt133 wenigſtens daran, nahm ſich aber doch vor, die ſeltſamen Damen aufzuſuchen und ſich das Bild zu verſchaffen. Den erſten Tag blieb er zu Hauſe; eh 'es Abend wurde, war Regine mehr als einmal von neuem in Trauer und Angſt verfallen, wenn ſie ſich auch immer wieder zuſammenraffte oder über dem Beſitze des Mannes ihr Gemüth ſich aufhellte. Genug, Erwin fühlte, daß ſie nicht mehr die Gleiche ſei, die ſie geweſen, daß irgend ein Etwas ſich ereignet haben müſſe. Ohne die verhoffte Ruhe brachte er die Nacht zu, während die Frau ſchlief; er wußte aber nicht, ob ſie zum erſten Male wieder den Schlaf fand oder ſtets geſchlafen hatte.
Am zweiten Tage nach ſeiner Ankunft ging er auf ſeine Geſandtſchaft, um einige Verrichtungen zu beſorgen, die man ihm in Waſhington zur mündlichen Abwickelung übertragen. Unter anderem gab es da obſchwebende ſee¬ rechtliche Intereſſen, wegen welcher mit den braſilianiſchen Diplomaten Rückſprache zu nehmen war, eh 'bei den europäiſchen Staaten vorgegangen wurde; übrigens han¬ delte es ſich weder um ein entſcheidendes Stadium, noch um eine ſehr große Bedeutung der Sache. Erwin trug ſeinem Geſandten dasjenige vor, was ſich auf unſern Ort, wo wir lebten, bezog. Der Herr hatte Zahnweh und erſuchte ihn, nur ſelbſt zu den Braſilianern zu gehen und in ſeinem Namen das Nöthige zu verhandeln. Erwin ging hin, traf aber bloß einen Secretär. Der Geſandte ſei in Karlsbad, hieß es; doch habe der Attaché Graf134 So und So die bezüglichen Acten an ſich genommen und ſtudire ſie ſoeben; er ſei ohne Zweifel in der Lage, Auf¬ ſchluß zu ertheilen und entgegenzunehmen und Vorläufiges anzuordnen. Um keine weitere Zeit zu verlieren, begab ſich Erwin ohne Aufenthalt zu dem Grafen, welcher eben der unſ'rige war. Die beiden Männer hatten ſich noch nie geſehen, weil der Braſilianer erſt während Erwin's Abweſenheit an die Stelle gekommen war. Der Süd¬ amerikaner begrüßte den nördlichen Mann unbefangen, ſagte, er habe das Vergnügen, deſſen Gemahlin zu kennen, und fragte nach ihrem Befinden. Dann ging die geſchäft¬ liche Unterredung vor ſich, welche etwa eine halbe Stunde dauerte. Erwin war nicht, was man im gemeinen Sinne eiferſüchtig nennt; daher war ihm die Bekanntſchaft des Grafen mit ſeiner Frau nicht aufgefallen, trotz der ſchwarzäugigen Romantik; er hatte ſeine Häuslichkeit über der gemächlichen Verhandlung vergeſſen und ging jetzt vollkommen ruhig an der Seite des Grafen, der ihn hinaus begleitete. Wieder, wie in New-York, leuchtete plötzlich ein Bild auf, das er vorher nicht geſehen. Neben der Zimmerthüre, welcher er bisher den Rücken gekehrt, ſtand ein Ziertiſchchen und auf demſelben, an die Wand gelehnt, ein kleines Oelbild in breitem, krausgeſchnitztem Goldrahmen. Es war die Figur von Erwin's Frau, wie er ſie bei ſeiner Rückkunft im Schlafzimmer angetroffen. Die Malerin hatte doch die Rückſicht genommen, das Geſicht unkenntlich zu machen, d. h. dasjenige eines andern135 Modells hinzumalen; allein Erwin erkannte den Seiden¬ ſtoff und die ganze Erſcheinung auf den erſten Blick. Die dämoniſche Malerin hatte ihr zum Ueberfluß beide Hände an das Hinterhaupt gelegt, wie Erwin ſie mit dem Haar beſchäftigt zuerſt geſehen.
Er trat mit einem Schritte vor das Tiſchchen und ließ die Augen an dem Bild haften, indeſſen es vor denſelben in einen Nebel zerfloß und ſich wieder herſtellte, ab¬ wechſelnd, man könnte ſagen, wie Aphrodite aus dem Dunſt und Schaum des Meeres. Er wagte nicht weg¬ zublicken, noch den Grafen anzuſehen, und doch war es ihm zu Muth wie einem Ertrinkenden. Aber zum Glück jagten ſich die Vorſtellungen eben ſo ſchnell, als es bei einem ſolchen geſchehen ſoll. Es war immer eine Möglich¬ keit, daß der Graf nicht wußte, was er beſaß; warum alſo am unrechten Orte ſich ſelbſt und die Frau verrathen? Nöthigen Falls konnte er ja wieder kommen und den Feind ſeiner Ehre im Angeſicht des Bildes niederſtoßen. Aber müßte nicht das Weib vorher gerichtet, vielleicht vernichtet ſein? Denn ein böſer Zuſammenhang wird immer deutlicher, woher ſonſt das elende Weſen im Hauſe? Was iſt indeſſen mit einer ſolchen Vernichtung gewonnen, und wer iſt der Richter? Ich, der ich ein junges, rath¬ loſes Geſchöpf faſt ein Jahr lang allein laſſe?
So war vielleicht eine Minute vergangen, eine von den ſcheinbar zahlloſen und doch ſo wenigen, die wir zu leben haben. Plötzlich faßte er ſich gewaltſam zuſammen,136 ſah den Grafen flüchtig an und ſagte, ohne den Mund zu verziehen: „ Sie haben da ein hübſches Bildchen! “
„ Ich habe es in einem hieſigen Atelier gekauft, “ſagte der Andere, „ es ſoll nach dem Leben gemalt ſein! “
Sie ſchüttelten ſich mit der bei Diplomaten üblichen Herzlichkeit die Hand und Erwin zog ſeines Weges. Er ging aber nicht in ſeine Behauſung, auch nicht zu der Malerin oder zu den Parzen, wie er früher Willens geweſen, noch auch zu mir oder ſonſt zu Jemandem, ſon¬ dern er lief eine Stunde weit auf der heißen Landſtraße vor das Thor hinaus, genau bis zum erſten Stunden¬ zeiger, und von da wieder zurück. In dieſer Zeit wollte er mit ſeinem Entſchluſſe im Reinen ſein und dann um kein Jota davon abgehen; kein Fremder ſollte davon wiſſen oder darein reden.
In der Mittagshitze, im Staube der Straße, unter den Wolken des Himmels, im Angeſichte mühſeliger Wandersleute, die ihres Weges zogen, müder Laſtthiere, heimwärts eilender Feldarbeiter ließ er die Frau unſichtbar neben ſich gehen, um die traurige Gerichtsverhandlung ſo zu ſagen unter allem Volke mit ihr zu führen. Es bedünkte ihn in der That beinahe, als ſeh 'er ſie mühſam an ſeiner Seite wandeln, nach Antwort auf ſeine Fragen ſuchend, und ſeine Bitterkeit wurde von Mitleiden um¬ hüllt, aber nicht verſüßt.
Als er an das Stadtthor zurückkam, war ſein Be¬ ſchluß fertig, wenn auch nicht das Urtheil. Er wollte nicht137 den Stab, ſondern die ganze Geſchichte über'm Knie brechen, die Frau über's Meer entführen und der Zeit die Aufklärung des Unheils überlaſſen. Auch gegen Reginen wollte er ſchweigen, gewärtig, ob ſie Recht und Kraft zur freien Rede aus ſich ſelber ſchöpfe, und je nach Beſchaffenheit würde ſich dann das Weitere ergeben. Unterdeſſen ſollte die ſtumme Trennung, die zwiſchen ſie getreten, ihr nicht verborgen bleiben und ſie fühlen, daß die Entſcheidung nur aufgeſchoben ſei.
Mit dieſem Vorſatze trat er wieder in ſein Haus, wo er Reginen nicht fand. Ihr war erſt ſeit Erwin's Ausgang das Bedenkliche und Unzuläſſige des Vorfalls mit dem Bilde ſchwer in's Gewiſſen gefallen; Blick und Wort Erwin's hatten ſie getroffen und die Dämmerung ihres Bewußtſeins plötzlich erleuchtet. Von Angſt erfüllt war ſie fortgeeilt, zunächſt zur Malerin, das Bild von ihr zu fordern. Sie ſuchte Ausflüchte, verſprach es zu ſchicken oder ſelbſt zu bringen, und gedrängt von der Flehenden, ſagte ſie endlich, das Bild müſſe bei einer der drei Damen ſein (der Parzen nämlich), jedenfalls ſei es gut aufgehoben und in ſicheren Händen. Regine lief zum ſogenannten Bienchen, zur Sammetgazelle, zum Rothkäppchen, keine wollte etwas von dem Bilde wiſſen, jede lächelte zuerſt verwundert und jede erhob dann einen dummen Lärm und wollte durchaus die Aermſte auf der Jagd nach ihrem Bildniß geräuſchvoll weiter begleiten.
Unverrichteter Sache, aber mit doppelter Laſt beladen138 kehrte ſie heim und traf ihren Mann in Geſchäften mit einem Agenten, dem er, wie ſie trotz der Erſchöpfung allmälig bemerkte, den Verkauf der ganzen hausräthlichen Einrichtung, das Verpacken und Spediren der mitzu¬ nehmenden Gegenſtände und ähnliche Dinge auftrug. Als der Agent fort war, ſagte Erwin zu Reginen, welche bleich und ſtumm in einer Ecke ſaß: „ Du kommſt gerade recht und kannſt die Dienſtboten auszahlen und entlaſſen; es ſchickt ſich das beſſer für die Frau! Wir reiſen nämlich heut 'Abend weg und ſind in zwei Tagen auf der See; denn wir gehen zu meinen Eltern! “
Kein Wort mehr noch weniger ſagte er zu ihr und ſie wagte nicht ein einziges zu ſprechen. Nur tief auf¬ athmen hörte er ſie, wie wenn ſie ſich durch die Ausſicht, über das Meer zu kommen, erleichtert fühlte.
Am ſelben Tage noch wurden alſo Koffer gepackt, Rechnungen bezahlt und alle die Dinge verrichtet, die mit einer plötzlichen Abreiſe verbunden ſein mögen. Erwin brachte dann noch eine halbe Stunde auf der Geſandtſchaft zu, ſonſt nahm er von Niemandem Abſchied. Ich ver¬ nahm von alledem das erſte Wort durch die entlaſſene Haushälterin, die mich wenige Tage ſpäter nochmals auf¬ ſuchte, um ihr Gewiſſen zu beſchwichtigen, indem ſie mir geſtand, ſie habe im Tumulte des letzten Nachmittags während eines ſtillen Augenblickes dem Erwin mit wenig Worten leiſe geſagt, es ſei ein einziges Mal in der Nacht ein fremder Mann da geweſen und von da an ſei die139 Verſtörung im Hauſe. Sie wiſſe nicht, wer und was es geweſen ſei, glaube aber, es ihm nicht verſchweigen zu dürfen, damit er in ſeiner Sorge nicht zu viel und nicht zu wenig ſehe. Darauf habe Erwin ſie mit trüben Augen angeſchaut und, obgleich ſie gemerkt, wie ihn die Mit¬ theilung erſchüttert, geſagt, er wiſſe die Sache wohl, es ſei ein Geheimniß, das ſie nur verſchweigen ſolle, er habe den Mann ſelbſt geſandt.
Unmittelbar nach der kurzen Unterredung habe er in der gleichen milden und gelaſſenen Weiſe wie vorher das Wenige mit Reginen geſprochen, was er zu ſprechen hatte, und beim Verlaſſen des Hauſes der dicht verſchleierten Frau den Arm gegeben. Nun wiſſe ſie, die Haushälterin, doch nicht, ob ſie recht gethan und das Unglück ver¬ größert habe.
Ich fragte ſie, ob ſie von der Sache jemals den übrigen Bedienſteten oder Hausgenoſſen oder ſonſt Jemand etwas geſagt? Sie betheuerte das Gegentheil und verſprach nochmals, es ferner ſo zu halten, und ich glaube, ſie hat es auch gethan. Indeſſen beruhigte ich ſie wegen des Geſchehenen. Wenn jener geheimnißvolle Beſuch übler Art geweſen ſei, meinte ich, ſo ſei nicht viel zu verderben; ſei er aber unſchuldiger Natur, ſo komme die dunkle Geſchichte um ſo eher zur Abklärung.
Es fiel mir ſchwer, an das ganze Ereigniß ſo recht zu glauben. Die plötzliche Abreiſe machte nicht ſo viel Aufſehen, da die Ankunft Erwin's noch nicht einmal in140 weiteren Kreiſen bekannt geweſen, und die Parzen ſchienen ſich ausnahmsweiſe ſtill zu halten. Ich ging nach einigen Tagen mit einer Art Heimweh durch die Straße, wo Altenauer's gewohnt, und ſah an das Haus hinauf. Da wurde ſo eben aus dem Portale ein niederes vierrädriges Kärrchen gezogen, auf welchem die Venus von Milo ſtand und ein wenig ſchwankte, obgleich ſie mit Stricken feſt¬ gebunden war. Ein Arbeiter hielt ſie mit Gelächter auf¬ recht und rief: „ hüh! “, während der andere den Wagen zog. Ich ſchaute ihr lange nach wie ſie ſich fort bewegte, und dachte: So geht es, wenn ſchöne Leute unter das Geſindel kommen! Ich glaubte, die Regine ſelbſt dahin ſchwanken zu ſehen.
Drei Jahre ſpäter, als Regine längſt todt war, traf ich Erwin Altenauer als amerikaniſchen Geſchäftsträger in der gleichen Stadt wieder. Er hatte die Stelle ab¬ ſichtlich gewählt, um durch ſeine Anweſenheit das Andenken der Todten zu ehren und zu ſchützen, und von ihm erfuhr ich den Abſchluß der Geſchichte; denn er liebte es, mit mir von dieſer Sache zu ſprechen, da ich die Anfänge kannte.
Schon die Seefahrt nach dem Weſten muß ein eigen¬ artiger Zuſtand von Unſeligkeit geweſen[ſein]. Die wochen¬ lange Beſchränkung auf den engen Raum bei getrennten Seelen, die doch im Innerſten verbunden waren, das wortkarge, einſilbige Dahinleben, ohne Abſicht des Weh¬ thuns, die hundert gegenſeitigen Hülfsleiſtungen mit nieder¬ geſchlagenen Augen, das Herumirren dieſer vier Augen141 auf der unendlichen Fläche und am verdämmernden Horizonte des Oceans, in den Einſamkeiten des Himmels, um vielleicht einen gemeinſamen Ruhepunkt zu ſuchen, den ſie in der Nähe nicht finden durften, Alles mußte dazu beitragen, daß die Reiſe dem Dahinfahren zweier verlorenen Schatten auf Waſſern der Unterwelt ähnlich war, wie es die Traumbilder alter Dichter ſchildern. Schon das gedrängte Zuſammenſein mit einer Menge fremder Menſchen verhinderte natürlich den Austrag des ſchmerzlichen Prozeſſes; aber auch ohne das that Regine keinen Wank; ſie ſchien ſich vor dem Fallen einer drohenden Maſſe und jedes Wörtlein zu fürchten, welches dieſelbe in Bewegung bringen konnte. Ebenſo ängſtlich wie ſie ihre Zunge hütete, überwachte ſie auch jedes Lächeln, das ſich aus alter Gewohnheit etwa auf die Lippen verirren wollte, wenn ſie unverhofft einmal Erwin's Auge begegnete. Er ſah, wie es um den Mund zuckte, bis die traurige Ruhe wieder darauf lag, und er war überzeugt, daß ſie damit jeden Verdacht auch der kleinſten Anwandlung von Koketterie vermeiden wollte, oder nicht ſowol wollte als mußte. Welch 'ein wunderbarer Wider¬ ſpruch, dieſe Kenntniß ihrer Natur, dieſes Vertrauen, und das dunkle Verhängniß.
Erwin aber ſcheute ſich ebenſo ängſtlich vor dem Beginn des Endes; nach dem bekannten Spruche konnte er begreifen und verzeihen, aber er konnte nicht wieder¬ herſtellen, und das wußte er.
142Und nun erſt der Einzug in das Vaterhaus zu Boſton! Statt der ſiegreichen Freude der Anerkennung, des Beifalls, ein geheimnißvolles, gedrücktes Anſichhalten, ein ſchweigſames, vorſichtiges Weſen und zuletzt eine allgemeine Stille im Hauſe als Folge des halbwahren Vorgebens von einem plötzlichen Zerwürfniſſe, einer krankhaften Laune der jungen Frau. Nur der Mutter anvertraute Erwin einen Theil der Wahrheit, ſo weit dieſe nicht zu grauſam, zu hart für Reginen und ganz unerträglich auch für die Mutter geweſen wäre. In¬ dem ihr der erſte Anblick Reginen's ein hohes Wohlgefallen und ihre ganze Haltung eine ſchmerzliche Theilnahme, aber freilich auch die tiefſte Sorge verurſacht hatten, war ſie mit einem behutſam ſchonenden Vorgehen einverſtanden, und ſie ſuchte das Beiſpiel zu geben, die halb Geächtete mit einer gewiſſen ernſten Sanftmuth zu behandeln, wie es etwa verwirrten kranken Perſonen gegenüber geſchieht. Alle Familienglieder, Angeſtellten und Dienſtboten des Hauſes hielten den gleichen Ton inne, ohne ſichtbare Verſtändigung; Regina hingegen ſah ſich mitten in der Schar der neuen Verwandten und Hausgenoſſen vereinſamt, ohne zu fragen oder zu klagen. In der ent¬ legenen Wohnung eines Seitenflügels lebte ſie bald wie eine freiwillige Gefangene, während Erwin gleich Anfangs auf einige Wochen verreiſt war, um das getrennte Leben weniger auffällig zu machen. Allein wo er ging und ſtand, fühlte er die Laſt des Elendes, in das er mit143 Reginen gerathen, die Sehnſucht nach ihrer Gegenwart und nach den vergangenen Tagen und zugleich den Abſcheu vor dem Abgrunde, den er mehr als nur ahnen und fürchten mußte. Und je unvermeidlicher ihm der Verluſt erſchien, um ſo unerſetzlicher und einziger dünkte ihm die Unſelige, an welche er alle die Liebe und Sorge gewendet hatte. Zuletzt überwog das Verlangen nach ihrem Anblicke ſo ſtark, daß er am achtzehnten Tage ſeiner Reiſe um¬ kehrte, in der Abſicht, die Entſcheidung herbeizuführen und die Frau auf die Gefahr hin, ſie ſofort auf immer zu verlieren, wenigſtens dies eine Mal noch zu ſehen.
Während der Zeit hatte ſeine Mutter die einſame Regina jeden Tag beſucht und ein Stündchen mit einer Arbeit bei ihr geſeſſen, ihr auch etwas zu thun mitgebracht und ein ruhiges Geſpräch in Güte mit ihr unterhalten, wobei ſie freilich das Meiſte thun mußte. Jedoch vermied ſie es gewiſſenhaft, mit Fragen und Verhören in die junge Frau zu dringen, die in aller einſilbigen Trauer Zeichen demüthiger Dankbarkeit erkennen ließ, wie eine edle Natur auch in zeitweiliger Geiſtesabweſenheit die Spuren des Guten zeigt. An dem Tage, an welchem Erwin bereits auf dem Heimwege begriffen war, fand ſeine Mutter die Regina in eifrigem Schreiben begriffen. Dies erregte ihre Aufmerkſamkeit und wollte ihr gar wohl gefallen; es lagen ſchon mehrere beſchriebene Blätter da, welche Regina ruhig zuſammenſchob, ohne ſie ängſtlich zu verbergen. Den Umſtand, daß ſie überhaupt nie etwas144 zu verheimlichen ſuchte und ihr Zimmer ſtets ebenſo reinlich geordnet als unverſchloſſen und für Jedermann zugänglich hielt, hatte die Mutter überhaupt ſchon wahr¬ genommen.
Erwin fuhr in peinlicher Ungeduld wieder mit einem ſauſenden Nachtzuge und betrat Morgens um ſechs Uhr ſein Haus. Schnell eilte er nach ſeinem eigenen Schlaf¬ zimmer, um ſich zu reinigen und die Kleider zu wechſeln. Kaum hörte jedoch die Mutter von ſeiner Ankunft, ſo ſuchte ſie ihn auf und erzählte ihm von Reginen, Nach¬ dem ſie, theilte ſie ihm in ſichtbarer Ergriffenheit mit, die Zeit her von ihrem ganzen Benehmen einen ſolchen Eindruck erhalten, daß jene eine entſetzliche Heuchlerin und Schauſpielerin ſein müßte, wenn es erlogen wäre, habe ſie in der vergangenen Nacht oder vielmehr kurz vor Anbruch des Tages eine ſeltſam rührende Entdeckung gemacht. Von Schlafloſigkeit geplagt ſei ſie aufgeſtanden und habe ſich in der Finſterniß nach dem kleinen Saale hin getappt, welcher dem von Reginen bewohnten Seiten¬ flügel gegenüber liege. Dort ſei auf einem Tiſchchen ein kleines Fläſchchen mit erfriſchender Eſſenz unter Nippſachen ſtehen geblieben, das ſie ſeit lange nicht mehr gebraucht. Wie ſie daſſelbe nun geſucht, habe ſie über den Hof weg einen ſchwachen Lichtſchimmer bemerkt, während ſonſt noch Alles in der nächtlichen Ruhe gelegen. Als ſie genauer hingeſchaut, habe ſie gleich erkannt, daß der Schimmer aus Reginen's Fenſter komme, und ſodann habe ſie dieſe145 ſelbſt geſehen vor einem Stuhle knieen, mit gefalteten Händen. Auf dem Stuhle habe ein kleines Buch gelegen, offenbar ein Gebetbuch, beleuchtet von dem daneben ſtehenden Nachtlämpchen. Das Geſicht der Frau habe ſie nicht ſehen können, ſie habe es tief vorn über gebeugt, und ſo ſei ſie unbeweglich verharrt, eine Viertelſtunde, die zweite und vielleicht auch die dritte. Lange habe die Mutter der Erſcheinung zugeſchaut; ein paar Mal habe Regina das Blatt umgewendet und es dann wieder rück¬ wärts umgeſchlagen, auch das Umwenden etwa vergeſſen und längere Zeit in's Leere hinaus gebetet oder ſonſt Schweres gedacht; immerhin ſcheine ſie nur ein und daſſelbe Gebet oder was es ſein möge, geleſen zu haben. Jedes Mal, wenn ſie ſich ein wenig bewegt habe, ſei das ſchauerlich rührend anzuſehen geweſen in der nächtlichen Stille und bei der Verlaſſenheit der armen Perſon. Endlich, da die Mutter im leichten Nachtkleide gefröſtelt, habe ſie ſich nicht getraut, länger zu ſtehen, und gedacht, Jene ſei ja wohl aufgehoben bei ihrem Gebetbuche, und ſei wieder zu Bett gegangen, allerdings ohne den Schlaf noch zu finden. „ O mein Sohn “, rief die Mutter mit überquellenden Augen, „ es wäre doch ein großes Glück, wenn dieſes Geſchöpf gerettet werden könnte! Ich habe noch nichts Schöneres geſehen auf dieſer Welt! Wozu ſind wir denn Chriſten, wenn wir das Wort des Herrn das erſte Mal verachten wollen, wo es ſich gegen uns ſelbſt wendet? “
Keller, Sinngedicht. 10146Erſchüttert mit ſich ſelber ringend rief Erwin, der mehr wußte als die Mutter: „ O Mutter. Chriſtus der Herr hat die Ehebrecherin vor dem Tode beſchützt und vor der Strafe; aber er hat nicht geſagt, daß er mit ihr leben würde, wenn er der Erwin Altenauer wäre! “
Doch ſchon im Widerſpruch mit ſeinen Worten ließ er die Mutter ſtehen und ging wie er war, in den Reiſe¬ kleidern und vom Rauche des nächtlichen Schnellzuges geſchwärzt, nach Reginen's Zimmer und klopfte ſanft an der Thüre. Kein Laut ließ ſich hören; er öffnete alſo die unverriegelte Thüre und trat hinein. Das Zimmer war leer; mit klopfendem Herzen ſah er ſich um. Auf der Kommode lag ihr altes Geſangbuch, das er wohl kannte mit ſeinen Liedern und einer kleinen Anzahl Kirchen - und Hausgebeten. Es war geſchloſſen und ordentlich an ſeinen Platz gelegt.
Ihr Bett ſtand in einem Alkoven, deſſen ſchwere Vor¬ hänge nur zum kleineren Theile vorgezogen waren. Er trat näher und ſah, daß das Bett leer war; nur eines der feinen und reichverzierten Schlafhemden von der Aus¬ ſteuer, die er ſeiner Frau ſelbſt angeſchafft, lag auf dem Bette; es ſchien getragen, lag aber zuſammen gefaltet auf der Decke. Erſchrocken und noch mehr verlegen kehrte er ſich um, ſchaute ſich um, ob ſie nicht vielleicht dennoch im Zimmer hinter ihm ſtünde, allein es war leer wie zuvor. Indem er ſich nun abermals kehrte und dabei einem der Vorhänge näherte, ſtieß er an etwas Feſtes hinter dem¬147 ſelben, wie wenn eine Perſon dort ſich verborgen hielte. Raſch wollte er den dicken Wollenſtoff zurückſchlagen, was aber nicht gelang; denn die Laufringe an der Stange waren gehemmt. Er trat alſo, den Vorhang ſanft lüftend, ſo gut es ging, hinter denſelben und ſah Reginen's Leiche hängen. Sie hatte ſich eine der ſtarken ſeidenen Zieh¬ ſchnüre, die mit Quaſten endigten, um den Hals ge¬ ſchlungen. Im gleichen Augenblicke, wo er den edlen Körper hängen ſah, zog er ſein Taſchenmeſſer hervor, das er auf Reiſen trug, ſtieg auf den Bettrand und ſchnitt die Schnur durch; im anderen Augenblicke ſaß er auf dem Bette und hielt die ſchöne und im Tode ſchwere Geſtalt auf den Knieen, verbeſſerte aber ſofort die Lage der Frau und legte ſie ſorgfältig auf das Bett. Aber ſie war kalt und leblos; er aber wurde jetzt rath - und beſinnungslos und er ſtarrte mit großen Augen auf die Leiche. Gleich aber erwachte er wieder zum Bewußtſein durch die un¬ gewohnte Tracht der Todten, die ſein ſtarrendes Auge reizte. Regina hatte das letzte Sonntagskleid angezogen, welches ſie einſt als arme Magd getragen, einen Rock von elendem braunen, mit irgend einem unſcheinbaren Muſter bedruckten Baumwollzeuge. Er wußte, daß ſie ein Köffer¬ chen mit einigen ihrer alten Kleidungsſtücke jederzeit mit ſich geführt, und er hatte dieſen Zug wohl leiden mögen, der ihm jetzt das Seelenleid verdoppelte. Endlich beſann er ſich wieder auf einen Rettungsverſuch; er öffnete das ärmliche Kleid, das nach damaliger Art ſolcher Mägderöcke10*148auf der Bruſt zugeheftet war. Unter dem Kleide zeigte ſich eines der groben Hemden ihrer Mädchenzeit, und zwiſchen dem Hemde und der Bruſt lag ein ziemlich dicker Brief mit der an Erwin gerichteten Ueberſchrift. Haſtig küßte er den Brief, warf ihn aber auf das Bett und fing an, Reginen's Bruſt mit der Hand zu reiben, ſprang empor, hob die Leiche wie eine leichte Puppe in die Höhe, drückte ſie an ſeine Bruſt und hielt ihr ſtöhnend das Haupt aufrecht, legte ſie gleich wieder hin und lief hinaus um Hülfe zu ſuchen. Alles eilte herbei und ein Arzt war bald zur Stelle; doch die arme Regina blieb leblos und der Doctor ſtellte den Todesfall feſt, welcher die ſchwer¬ müthige junge Deutſche nach kurzem Eheglück getroffen habe. Erwin blieb endlich allein bei der Leiche zurück und las den Brief.
Die Stätte, an welcher man den Brief finden werde, ſolle beweiſen, wie ſie ihn bis in den Tod liebe. Mit dieſen Worten begann die Schrift. Einige weitere Sätze ähnlicher Natur verſchwieg Erwin, wie er ſich ausdrückte, als heiliges Geheimniß der Gattenliebe. Woher ſie ſolche Töne genommen, ſei eben das Räthſel der ewigen Natur ſelbſt, wo jegliches Ding unerſchöpflich zahlreich geboren werde und in Wahrheit doch nur ein einziges Mal da ſei.
Dann folgte die Eröffnung deſſen, was ſie bedrückt und ihr Leben verdorben, ohne daß ſie geahnt habe, in welchem Umfange. Es war freilich traurig und einfach genug, das Geheimniß jenes nächtlichen Beſuches, von149 dem ſie nicht einmal wußte, daß er geſehen worden. Der Zuſtand ihrer Verwandten hatte ſich mit der Zeit hie und da doch wieder etwas verſchlimmert und wiederholtes Ein¬ greifen und Aushelfen nöthig gemacht. Jedesmal ver¬ urſachte das der armen Regina, die jetzt ihrem Mann mehr anhing als den Eltern und Geſchwiſtern, Kummer und Sorge. Beſonders der eine der Brüder, der Soldat geweſen, konnte ſich mit dem Leben nicht zurecht finden. Unzufrieden und düſtern Gemüthes wechſelte er immerfort die Stelle und den Aufenthalt, da er ſich ungerecht be¬ handelt glaubte und es zuletzt auch wurde, weil es nicht lange dauert, bis die Menſchen, die ſich ſelbſt mißhandeln, auch von den andern mißhandelt werden, ſo zu ſagen aus Nachahmungstrieb. So war er von einer guten Zug¬ führerſtelle, die man ihm bei einer Eiſenbahn verſchafft hatte, allmälig bis zum Gehülfen oder vielmehr Knecht eines Pferdehändlers herunter gekommen, der ihn als ehemaligen Reitersmann gut brauchen konnte und doch ſchlecht behandelte. Mit einer Anzahl Pferde durch den Wald reitend waren ſie in ſchweren Streit gerathen; der Meiſter hieb dem Knechte mit der Peitſche über das Ge¬ ſicht, und der Knecht ſchlug ihn hinwieder ohne Zögern todt und floh auf einem der Pferde aus dem Walde. Einige Meilen von der Mordſtätte entfernt verkaufte er das Thier und irrte mit dem Erlös im Land umher, ohne den Ausweg finden zu können. Der erſchlagene Ro߬ händler war von einem unbekannt gebliebenen zweiten150 Verbrecher, der zuerſt auf den Platz gekommen, ſeines Geldranzens beraubt, dieſe Schuld aber natürlich dem Todtſchläger aufgebürdet und derſelbe als Raubmörder verfolgt worden; ſo wenigſtens hatte er ausgeſagt und ging nicht von ſeiner Ausſage ab. Dieſer Bruder nun, und niemand anders, war es, der in jener Nacht bei Reginen Zuflucht und Hülfe geſucht, nachdem er halb ver¬ hungert ſich nur nächtlicher Weile herumgetrieben, überall von den Häſchern verfolgt. Er war ſchon in einem See¬ hafen geweſen und hatte ſeine Baarſchaft von dem ver¬ kauften Pferde an einen Schiffsplatz gewendet, wurde aber im letzten Augenblicke durch erneuerte Steckbriefe wieder hinweggeſcheucht, in's Binnenland. In der alleräußerſten Noth hatte er der Schweſter Wohnung umſchlichen und war bei ihr eingedrungen; ſie hatte ihn mit einigen Kleidungsſtücken von ihrem Manne und mit Geld ver¬ ſehen, damit er wiederum die Flucht über die See ver¬ ſuchen konnte. Aber von Stund 'an war ihre Ruhe dahin; denn ſie war nur von dem einzigen Gedanken beſeſſen, daß ſie als die Schweſter eines Raubmörders ihren Gatten Erwin in ein ſchmachvolles Daſein hinein gezogen und des Elendes einer verdorbenen Familie theil¬ haftig gemacht habe. Und dazu kam ja immer noch der Jammer über die Ihrigen und ſelbſt den unglücklichen Bruder.
Aber wie mußte ſich der heimliche Jammer ſteigern, als ſie in einem Tageblatt, das mehr für die Dienſtboten151 als für ſie da war, zufällig die ſchreckliche Nachricht las, der Raubmörder ſei endlich gefangen worden. Niemand in der Stadt, außer mir, kannte ihren Namen, und ſo achtete Niemand darauf. Was mich betraf, ſo las ich überhaupt dergleichen Sachen nicht und blieb ſomit auch in der Unwiſſenheit. Der Gefangene verrieth mit keiner Silbe den Beſuch bei der Schweſter, obgleich er ſich damit über die bei ihm gefundene Baarſchaft hatte ausweiſen können; es war dies bei aller Verkommenheit ein Zug von Edelmuth. So lebte ſie Wochen lang in der troſt¬ loſen Seelenſtimmung dahin, bis ſie plötzlich die Nachricht und Beſchreibung von der Hinrichtung las und alle Geiſter der Verzweiflung auf ſie einſtürmten. Wie ſollte Erwin fernerhin mit der Schweſter eines hingerichteten Raub¬ mörders leben? Wie der Ertrinkende am Grashalm hielt ſie ſich an dem einzigen Gedanken, deſſen ſie fähig war: Nur ſchweigen, ſchweigen!
Nach dieſem ward ihr Selbſtvertrauen zum Ueberfluß noch erſchüttert durch den Vorfall mit der Malerin. Sie wußte nicht, daß das Bild in den Händen eines Mannes, des Braſilianers war, und doch bekannte ſie es jetzt als eine Sünde, daß ſie ſich habe verleiten laſſen. Sie habe daraus den Schluß ziehen müſſen, daß ſie nicht die Sicher¬ heit und Kenntniß des Lebens beſitze, die zur Erhaltung von Ehre und Vertrauen erforderlich ſei. Allerdings hatte die Aermſte ja annehmen müſſen, die Malergeſchichte allein habe hingereicht, Erwin's Vertrauen zu unter¬152 graben; hätte ſie ahnen können, daß der Beſuch des Bruders geſehen und wie er ausgelegt worden, ſo würde ſie keine Rückſicht abgehalten haben, ſich vom Verdacht zu reinigen, und dann wäre Alles anders gekommen. Allein das Schickſal wollte, daß die beiden Gatten, jedes mit einem andern Geheimniß, daſſelbe aus Vorſorge und Schonung verbergend, an ſich vorbei gingen und den ein¬ zigen Rettungsweg ſo verfehlten. Um auf den Brief zurückzukommen, ſo ſchloß Regina mit der Bitte, ſie in dem Gewande zu begraben, in welchem ſie einſt als arme Magd gedient habe. Möge Erwin dann dasjenige Kleid, in welchem er ſie in der ſchönen Zeit am liebſten geſehen, zuſammenfalten und es ihr im Sarge unter das Haupt legen, ſo werde ſie dankbar darauf ruhen.
Nach ihrem Begräbniſſe war das erſte, was er unter¬ nahm, die neue Verſorgung der armen Angehörigen. Bei dieſer Gelegenheit erfuhr er, daß der hingerichtete Bruder den erſchlagenen Meiſter wirklich nicht ausgeplündert, in¬ dem der wahre Thäter, wegen anderer Verbrechen in Unterſuchung gerathen, auch dieſes freiwillig geſtanden hatte. Erwin Altenauer hat ſich bis jetzt nicht wieder verheirathet.
Als Reinhart ſchwieg, blieb es ein Weilchen ſtill; dann ſagte Lucia nachdenklich: „ Ich könnte nun einwenden, daß Ihre Geſchichte mehr eine Frage des Schickſals als der Bildung ſei; doch will ich zugeben, daß eine ſchlimme Abart der letzteren durch die Parzen, wie Sie die Träge¬153 rinnen derſelben nennen, von Einfluß auf das Schickſal der armen Regine geweſen iſt. Aber auch ſo bleibt ſicher, daß es dem guten Herrn Altenauer eben unmöglich war, ſeiner Frauenausbildung den rechten Rückgrat zu geben. Wäre ſeine Liebe nicht von der Eitelkeit der Welt um¬ ſponnen geweſen, ſo hätte er lieber die Braut gleich anfangs nach Amerika zu ſeiner Mutter gebracht und dieſer das Werk überlaſſen; dann wäre es wol anders geworden! Jetzt iſt es aber Zeit, unſere merkwürdige Sitzung aufzuheben; ich bitte zu entſchuldigen, wenn ich mich zurückziehe, obgleich ich beinahe fürchte, im Traum die ſchöne Perſon wie eine mythiſche Heroenfrau an der ſeidenen Schnur hängen zu ſehen; denn trotz ihrer Wehr¬ loſigkeit ſteckt etwas Heroiſches in der Geſtalt. Der Wahl¬ herr hat diesmal wirklich auf Race zu halten gewußt! “
Sie bot dem Gaſte gute Nacht und ſandte gleich darauf den bejahrten Diener her, den Reinhart bei ſeiner Ankunft geſehen. Der freundliche Mann führte ihn nach ſeinem Schlafgemache, indem er ihm erzählte, der alte gichtbrüchige Herr beabſichtige, am Morgen mit dem Herrn Reinhart zu frühſtücken, da nach gewiſſen Anzeichen der dermalige Anfall zu weichen beginne.
Mit wunderlich aufgeregtem Gefühle legte ſich Reinhart in dem fremden Hauſe zu Bett, unter Einem Dache mit dem ziervollſten Frauenweſen der Welt. Wie es Leute gibt, deren Körperliches, wenn man es zufällig berührt oder anſtößt, ſich durch die Kleidung hindurch feſt und154 ſympathiſch anfühlt, ſo gibt es wieder andere, deren Geiſt Einem durch die Umhüllung der Stimme im erſten Hören ſchon vertraut wird und uns brüderlich anſpricht, und wo gar beides zuſammentrifft, iſt eine gute Freundſchaft nicht mehr weit außer Weg. Dazu kam, daß Reinhart heute mehr von menſchlichen Dingen, wie die Liebeshändel ſind, geſprochen hatte, als ſonſt in Jahren.
Er war zwar bald und feſt eingeſchlafen; doch der neue Inhalt, die Schatzvermehrung ſeiner Gedanken weckte ihn vor Tagesanbruch, wie wenn es ein lebendiges Weſen außer ihm wäre, das freundlich ſeine Schulter berührte. Er mußte ſich lange beſinnen, wo er ſei, und erſt als er das von der Morgendämmerung erhellte Viereck des großen Fenſters aufmerkſam betrachtete, kam er ſeinen geſtrigen Erlebniſſen auf die Spur. Es wurde ihm beinahe feier¬ lich angenehm zu Muthe, und indem er in dieſem Gefühle ſo hindämmerte, entſchlief er wieder und erwachte erſt, als das ſchöne Landgebiet, in das er hinausſchaute, ſchon im vollen Sonnenſcheine lag und der Fluß weithin ſchimmerte. In den Platanen war großes Vogelconcert, eine Schar dieſer Muſikanten flatterte und ſaß an den Marmorſchalen des Brunnens, in deſſen Nähe ein Tiſch zum Frühſtücke gedeckt war.
„ Lux, mein Licht! wo bleibſt Du? “hörte er eine alte, obwol noch kräftige Stimme rufen und ſah darauf den156 vermuthlichen Oheim vom Diener geſtützt und mit einer Krücke verſehen, hinter dem Hauſe hervorkommen. Der Ruf Lux galt natürlich der Nichte, deren Namen Lucia er ſich dergeſtalt zugeſtutzt hatte. Es ſchien ein ehemaliger Kriegsoberſt zu ſein, da er einen langen grauen Schnurr¬ bart trug, ſowie einen Rock von halbmilitäriſchem Zu¬ ſchnitt und ein verſchliſſenes Bändchen im Knopfloch. Nun erſchien auch das Fräulein auf dem morgenfriſchen Schau¬ platze, und ſo ſäumte Reinhart nicht länger, ſich fertig zu machen und auch hinunter zu gehen, wo er den Herrn und die Dame am Tiſche ſitzend antraf, dicht neben dem Brunnen mit ſeinem klingenden kryſtallklaren Waſſer. Reinhart verhinderte raſch, daß der alte Herr ſich erhob, als er ihm von Lucien vorgeſtellt wurde.
Der Oheim fixirte ihn aufmerkſam mit der Freiheit alter Soldaten oder Sonderlinge, indem er nach und nach, ohne ſich zu eilen, vorbrachte, ſein Name ſei ihm wohl¬ bekannt, es komme nur darauf an, ob er etwa der Sohn des Profeſſors gleichen Namens in X ſei; denn wenn er ſich recht beſinne, ſo ſei ein Freund aus jungen Jahren dort hängen geblieben und ein berühmter Pandektenpauker geworden?
Reinhart beſtätigte lachend ſeine Vermuthung, und Lucie erklärte das Ereigniß für ein ſehr artiges, welches ſie theilweiſe herbeigeführt zu haben ſich etwas einbilde. Der Oheim jedoch fuhr fort, das Geſicht des jungen Gaſtes zu ſtudiren und immer tiefer in ſeiner Erinnerung nach¬157 zugraben, indeſſen ſein eigenes Geſicht einen ſäuerlich ſüßen Ausdruck annahm, dann in ein halb ſpöttiſches Lächeln, dann in einen weichen Ernſt überging und zuletzt von einem vollen biederen Lachen erhellt wurde. Er faßte kräftig die Hand des jungen Reinhart, ſchüttelte ſie und fragte: „ Haben denn Ihre Eltern nie von mir geſprochen? “
Reinhart dachte nach und ſchüttelte den Kopf, ſagte aber nach einem weiteren Beſinnen: „ Es müßte denn ſein, was auch wahrſcheinlich iſt, daß Sie erſt auch ein Leutenant geweſen ſind, ehe Sie Herr Oberſt wurden. Dunkel entſinne ich mich aus meinen Kinderjahren, daß die Eltern, bald der Vater, bald die Mutter, meiſtens dieſe, von einem Leutenant ſprachen, und zwar hieß es ſcherzend: das hätte der Leutenant nicht gethan, oder was würde der Leutenant zu dem Falle ſagen u. ſ. w. Dann verlor ſich die Gewohnheit, wenn es eine war, und ich habe die Sache vergeſſen. “
„ Sehen Sie, es iſt richtig! “rief der Oberſt, „ der Leutenant bin ich! In Ihrem angenehmen Angeſicht habe ich die Spuren von beiden verehrten Eltern heraus¬ gefunden, vom Herrn ſowol wie von der Dame, und es geht mir faſt ein Licht auf, wie wenn meine junge Lux hier an meinem engen Altershorizont aufgeht als meine tägliche Morgenſonne! Sein Sie uns willkommen und bleiben Sie jedenfalls einige Tage, oder beſſer, machen Sie Ihre Reiſe fertig und kommen Sie bald wieder für länger! Spielen Sie Schach? “
158„ Leider nein, ich ſpiele überhaupt gar nichts! “
„ Ei, das iſt ſchade, warum denn nicht? “rief der Alte.
„ Ich bin zu dumm dazu! “erwiderte Reinhart, der in der That weder die Aufmerkſamkeit noch die Vorausſicht aufbrachte, welche zum ernſthaften Spielen erforderlich ſind. Lucia ſah ihn unwillkürlich mit einem dankbaren Blicke an, da ſie einen Genoſſen in dieſer Art von Dumm¬ heit in ihm fand.
„ Nun, “ſagte der alte Herr, „ ſo lang man jung iſt, ſpürt man eben keine lange Weile und braucht kein Spiel. Die hat's auch ſo, die hier ſitzende Jugendfigur! Später wird ſie's wol noch lernen; denn ich hoffe, es gibt eine ſchöne alte Jungfer aus ihr, die ewig bei mir bleibt und auf meinem Grabe fromme Roſen züchtet und oculirt. “
„ Das kann geſchehen, “ſagte die Nichte, „ wenn über das Heirathen ſolche Anſchauungen aufkommen, wie ich ſie aus dem Munde des Herrn Ludwig Reinhart habe hören müſſen! Denke Dir, Onkel, wir haben geſtern bis Mitternacht uns verunglückte Heirathsgeſchichten erzählt! Die gebildeten Männer verbinden ſich jetzt nur mit Dienſt¬ mädchen, Bäuerinnen und dergleichen; wir gebildeten Mädchen aber müſſen zur Wiedervergeltung unſere Haus¬ knechte und Kutſcher nehmen, und da beſinnt man ſich doch ein bischen! Sagen Sie, Herr Reinhart, haben Sie nicht noch eine Treppenheirath zu erzählen? “
„ Freilich hab 'ich, “antwortete er, „ eine ganz präch¬ tige, eine Heirath aus reinem Mitleiden! “
159„ O Himmel! “rief Lucie, „ wie glücklich! Magſt Du ſie auch hören, lieber Onkel? “
„ Da ihr Faulpelze nichts ſpielen und nur ſchwatzen wollt, ſo iſt es das Beſte, was wir thun können, wenn wir uns einige blaue Wunder vormachen! “
Der Tiſch wurde abgeräumt, Lucie ließ ſich einen Arbeitskorb bringen und Reinhart ſuchte den Eingang ſeiner Geſchichte zuſammen. „ Denn, “ſagte er, „ die Per¬ ſonen, die es angeht, ſtehen in der Blüthe ihres Glückes, und um ſie in keiner Weiſe darin zu ſtören, iſt es nöthig, ſie in eine allgemeine Form der Unkenntlichkeit zu hüllen. Es dürfte daher am zweckmäßigſten ſein, die Sache gleich in der Art zu erzählen, wie ein gezierter Novelliſt ſein Stücklein in Scene ſetzt. Ich würde damit zugleich in meiner Erzählungskunſt, die mir wie ein Dachziegel auf den Kopf gefallen, einen Fortſchritt anſtreben können, man weiß ja nie, wo man es brauchen kann. Es würde alſo etwa ſo lauten:
Brandolf, ein junger Rechtsgelehrter, eilte die Treppe zum erſten Stockwerk eines Hauſes empor, in welchem eine ihm befreundete Familie wohnte, und wie er ſo in Gedanken die Stufen überſprang, ſtieß er beinah 'eine weibliche Perſon über den Haufen, die mitten auf der Treppe lag und Meſſer blank ſcheuerte. Es war ihm, als ob mit einem der Meſſer nach ſeiner Ferſe geſtochen würde; er ſah zurück und erblickte unter ſich das zornrothe Geſicht eines, ſo viel er wegen des umgeſchlagenen Kopf¬160 tuches ſehen konnte, noch jugendlichen Frauenzimmers, welches er für ein Dienſtmädchen hielt. Grollend, ja böſe blickte ſie nieder auf ihre Arbeit, und Brandolf trat un¬ angenehm betroffen in die Wohnung ſeiner Freunde. Dort unterſuchte er den Abſatz ſeines Stiefels und fand, daß wirklich eine kleine Schramme in das glänzende Leder geſtoßen war.
„ Es iſt doch ein Elend mit uns Menſchen! “rief er aus; „ täglich ſprechen wir von Liebe und Humanität und täglich beleidigen wir auf Wegen, Stegen und Treppen irgend ein Mitgeſchöpf! Zwar nicht mit Abſicht; aber muß ich mir nicht ſelbſt geſtehen: wenn eine Dame im Atlaskleide auf den Stufen gelegen hätte, ſo würde ich ſie ſicherlich beachtet haben! Ehre dieſer wehrbaren ſcheuernden Perſon, die mir wenigſtens ihren rächenden Stachel in die Ferſe gedrückt hat, und wohl mir, daß es keine Achillesferſe war! “
Er erzählte den kleinen Vorgang. Alle riefen: das iſt die Baronin! und der Hausvater ſagte: „ Lieber Brandolf! diesmal hat Ihre humane Düftelei den Gegenſtand gänzlich verfehlt! Die Dame auf der Treppe iſt eine wahrhafte Baronin, die aus reiner Bosheit, um den Verkehr zu hemmen, und aus Geiz, ſtatt ihre Innenräume zu brauchen, die gemeinſame Treppe mit Hammerſchlag beſchmutzt und Meſſer blank fegt und dabei aus Adelſtolz uns Bürger¬ liche weder grüßt noch auch nur anſieht! “
Verwundert über dieſe ſeltſame Aufklärung, ließ ſich161 Brandolf das Nähere berichten. Die Baronin war vor einigen Wochen in das Haus gezogen, in die jenſeitige kleinere Hälfte des Stockwerkes, und hatte allſobald ihren prunkenden Namen an die Thüre geheftet, zugleich aber einen Zettel vor das Fenſter gehängt, welcher eine möblirte Wohnung zum Vermiethen ausbot. Schon waren einige Fremde dageweſen, aber keiner hatte es länger als ein paar Tage ausgehalten, und ſie waren mittelſt Bezahlung einer tüchtigen Rechnung entflohen. Wer in die aufgeſtellte Falle dieſer Miethe ging, der durfte in ſeiner Stube nicht rauchen, nicht auf dem prunk¬ haften Sopha liegen, nicht laut umhergehen, ſondern er mußte die Stiefeln ausziehen, um die Teppiche zu ſchonen; er durfte nicht im Schlafrock oder gar in Hemdsärmeln unter das Fenſter liegen, um die freiherrliche Wohnung nicht zu entſtellen, und überdies befand er ſich wie ein hülfloſer Gefangener, weil die Baronin keinerlei Art von Bedienung hielt, ſondern Alles ſelbſt beſorgte und daher jede Dienſtleiſtung rundweg verweigerte, welche nicht in der engſten Grenze ihrer Pflicht lag. Sie ſtellte alle Morgen eine Flaſche friſchen Waſſers hin und füllte am Abend das Waſchgeſchirr; ſonſt aber reichte ſie nie ein Glas Waſſer, und wenn der Miethsmann am Ver¬ ſchmachten geweſen wäre. Das Alles begleitete ſie mit unfreundlichen, oder vielmehr meiſtens mit gar keinen Worten. Niemand kannte ihre Verhältniſſe und woher ſie kam; mit Niemandem ging ſie um, und wenn ihreKeller, Sinngedicht. 11162häuslichen Beſchäftigungen ſie an den Brunnen, in den Hof, unter die Mägde und Dienſtleute führten, ſo fuhr ſie wie ein böſer Geiſt ſchweigend unter ihnen herum.
Kurz, man war übereingekommen, daß ſie ein aus¬ gemachter Teufel und Unhold ſei, welcher ſein menſchen¬ feindliches und räuberiſches Weſen auf eigene Fauſt be¬ treibe und hauptſächlich den Plan gefaßt habe, durch ſein Benehmen einen häufigen Wechſel der Miether zu veran¬ laſſen, um ſolchergeſtalt viele kleine, aber dennoch über¬ triebene Rechnungen ausſtellen und überſchüſſige Mieth¬ gelder einziehen zu können, wenn die Verunglückten vor der Zeit wegzogen. Und dieſer Plan, wenn er wirklich beſtand, war allerdings nicht übel, da das Haus in einer lebhaften und ſchönen Straße lag, welche immer auf's neue anſtändige und wohlhabende Fremde herbeilockte, die dann froh waren, ſich bald loszukaufen und Andern Platz zu machen.
Als dieſe Schilderung, verwebt mit noch vielen abſonderlichen Zügen, beendigt war, fühlte Brandolf eher ein geheimes Mitleid mit der böſen Baronin, als Zorn und Verachtung, und als die Freunde ihn ſcherzweiſe fragten, ob er nicht ihr Hausgenoſſe werden und bei der wunderlichen Nachbarin einziehen wolle, erwiderte er ernſt¬ haft: „ Warum nicht? Es käme nur darauf an, die Dame in ihrem eigenſten Weſen an der Kehle zu packen und ihr den Kopf zurechtzuſetzen! “
Da er aber ſah, daß die Frau des Hauſes nicht geneigt163 war, des Weitern auf dieſen Scherz oder Gedanken einzu¬ gehen, ſo ſchwieg er, kam aber für ſich darauf zurück, als er auf der Straße bemerkte, daß die Vermiethungsanzeige eben wieder vor dem Hauſe hing.
Brandolf konnte gar nicht begreifen, wie man böſen und ungerechten oder tollen Menſchen gegenüber in Verlegenheit gerathen und den Kürzern ziehen könne. So gutmüthig und friedfertig er im Grunde war, empfand er doch ſtets eine rechte Sehnſucht, ſich mit ſchlimmen Käuzen herumzuzanken und ſie ihrer Tollheit zu über¬ führen. Wo er von erlittenem Unrecht hörte, wurde er noch zorniger über die, welche es duldeten, als über die Thäter, weil durch das ewige Nachgeben dieſe Unglücklichen nie aus ihrer Verblendung herauskämen. Nur die offene Gewalt ließ er unbekämpft, weil ſie ſich ſelbſt brandmarke und weiter keiner Beleuchtung bedürfe, um in ewiger Jämmerlichkeit und Selbſtzerſtörung dazuſtehen. Er beſaß ein tiefes Gefühl für menſchliche Zuſtände und vertraute ſo ſehr auf das Menſchliche in jedem Menſchen, daß er ſich vermaß, auch im Verſtockteſten dieſen Urquell zu wecken oder wenigſtens dem Sünder das Bewußtſein beizu¬ bringen, daß er durchſchaut und von der Uebermacht des Spottes umgarnt ſei. Allein ſei es, daß die Argen ſeine ſieghafte Sicherheit von Weitem ausſpürten, ſei es das irdiſche Schickſal, welches uns das, was man wünſcht, ſelten erreichen läßt, Brandolf bekam faſt nie ſo recht wohlbegründete Händel, und wo eine ausgeſuchte üble11*164Exiſtenz blühte, kam er immer zu ſpät, die Blume zu brechen.
Daher ging er an der Pforte der Baronin wie an einem verſchloſſenen Paradieſe vorbei, in welches einzudringen und mit dem hütenden Drachen zu ſtreiten er ſich herzlich ſehnte.
Als im September die Freundesfamilie ſammt Kindern und Dienſtboten, mit Kiſten und Koffern im Wagen untergebracht war, um die Reiſe nach Italien anzutreten, wo ein Winter verlebt werden ſollte, als die ſchwerfällige Maſchine endlich unter den Seufzern der Haus - oder hier der Reiſefrau fortrollte, da hatte Brandolf, der den Schlag zugemacht, im Hauſe eigentlich nichts mehr zu thun, und er hätte füglich nach ſeiner eigenen Wohnung gehen können. Er ſtieg aber wieder die Treppe hinauf, klingelte bei der Baronin und wünſchte ihre Zimmer zu beſehen. Sie erkannte ihn als denjenigen, der ſie auf der Treppe geſtoßen, und als den täglichen Beſucher der Nachbarherrſchaft. Mißtrauiſch und mit großen Augen ſah ſie ihn an, ohne ein Wort zu ſprechen, und hielt die Thüre ſo, als ob ſie ihm dieſelbe vor der Naſe zuſchlagen wollte; doch konnte ſie das nicht wagen und ließ ihn mit knappen Worten eintreten.
Mit ſaurer Höflichkeit führte ſie ihn zu den Zimmern; ſie waren höchſt anſtändig und ſolid eingerichtet, und Brandolf erklärte nach flüchtiger Beſichtigung, die er mehr zum Scheine vornahm, daß er die Wohnung miethe165 und gleich am nächſten Tage einziehen werde. Ohne die mindeſte Freudenbezeugung verbeugte ſich die Baronin ein bischen, von der er übrigens nicht viel ſah, weil ſie wieder das verhüllende Tuch um Kopf und Hals geſchlagen hatte, einer Kapuze ähnlich, und eine Art grauen Ueberwurfes trug, der ſowol einen Mantel wie einen Hausrock vorſtellen konnte. Er eilte, die Veränderung ſeinen bisherigen Wirthsleuten anzuzeigen. Die waren ſehr betrübt darüber, da ſie noch nie einen ſo guten und liebenswürdigen Miether bei ſich geſehen hatten, und da ſie ſelbſt ordentliche und wohlgeſinnte Leute waren, ſo nahm ſich Brandolf's Entſchluß doppelt unbegreiflich aus. Sie konnten ſich denſelben auch nur dadurch erklären, daß der Herr als ein reicher und unverheiratheter ſtudierter Menſch ſeine Launen und keine Sorgen habe, und alſo ſich nach Belieben den Hafer könne ſtechen laſſen.
Erſt als Brandolf ſeine Habſeligkeiten in das neue Loſament gebracht hatte und ſich dort einhauſ'te, ſah er ſich genöthigt, genauer auf die für ſolche Miethzimmer ungewöhnliche Ausſtattung zu achten. Es waren über¬ haupt nur drei nach der Straße gelegene Stuben; dieſe ſchienen aber mit dem Hausrathe einer ganzen Familie angefüllt zu ſein und alles von theuren Stoffen und Holzarten gearbeitet. Der Boden war mit bunten Teppichen überall belegt, an manchen Stellen doppelt; in jedem Zimmer ſtanden Secretäre, feine Schränke, Luxusmöbel, Spieltiſche und Spiegelgebäude, Sopha's166 und weiche Polſterſtühle im Ueberfluß; prächtige Vor¬ hänge bekleideten die Fenſter, und ſogar an den Wänden drängte ſich eine Bilderwaare von Gemälden, Kupfer¬ ſtichen und allem Möglichen zuſammen, wie wenn der Wandſchmuck eines weitläufigen Hauſes da zur Auction aufgeſtapelt worden wäre. Erſchien der Raum der ſonſt ziemlich großen Zimmer hiedurch beengt, ſo wurde der Umſtand noch bedenklicher durch einige Eckgeſtelle, auf deren ſchwank aufgethürmten Stockwerken eine Menge be¬ malten oder vergoldeten Porzellanes und unendlich dünner Glasſachen ſtand und zitterte wie Eſpenlaub, wenn ein feſter Tritt über die Teppiche ging. An allen dieſen Zerbrechlichkeiten war das gleiche Wappen gemalt oder eingeſchliffen, welches auch auf der Karte an der Eingangs¬ thüre prangte über dem Namen der Baronin Hedwig von Lohauſen. Als er ſpäter ſchlafen ging, bemerkte Brandolf, daß die Freiherrenkrone nicht minder auf die Leinwand des prachtvollen Bettes geſtickt war, welches das Eine der beiden Hauptſtücke einer ehemaligen Braut¬ ausſteuer zu ſein ſchien. Alles aber, trotz der durch die drei Zimmer herrſchenden Fülle, war in tadelloſem Stande gehalten und nirgends ein Stäubchen zu erblicken, und Brandolf wunderte ſich nur, ob der Miether für ſein theures Geld eigentlich zum Hüter der Herrlichkeit beſtellt ſei und ihm eheſtens ein Reinigungswerkzeug mit Staub¬ lappen und Flederwiſch anvertraut werde? Denn wenn jemand anders die Arbeit beſorgte, ſo mußte ja faſt den167 ganzen Tag dieſer Jemand ſich in den Zimmern aufhalten. Es iſt aber ſchon jetzt zu ſagen, daß keines von beiden der Fall war; alles wurde in Abweſenheit des Mieth¬ mannes gethan wie von einem unſichtbaren Geiſte, und ſelbſt die Glas - und Porzellanſachen ſtanden immer ſo unverrückt an ihrer Stelle, wie wenn ſie keine Menſchen¬ hand berührt hätte, und doch war weder ein Stäubchen noch ein trüber Hauch daran zu erſpähen.
Nunmehr begann Brandolf aufmerkſam die böſen Thaten und Gewohnheiten der Wirthin zu erwarten, um den Krieg der Menſchlichkeit dagegen zu eröffnen. Allein ſein altes Mißgeſchick ſchien auch hier wieder zu walten; der Feind hielt ſich zurück und witterte offenbar die Stärke des neuen Gegners. Leider vermochte ihn Brandolf nicht mit dem Tabaksrauche aus der Höhle hervorzulocken; denn er rauchte nicht, und als er zum beſondern Zwecke ein kleines Tabakspfeifchen, wie es die Maurer bei der Arbeit gebrauchen, nebſt etwas ſchlechtem Tabak nach Hauſe brachte und anzündete, um die Baronin zu reizen, da mußte er es nach den erſten drei Zügen aus dem Fenſter werfen, ſo übel bekam ihm der Spaß. Teppiche und Polſter zu beſchmutzen ging auch nicht an, da er das nicht gewöhnt war; ſo blieb ihm vor der Hand nichts übrig, als die Fenſter aufzuſperren und einen Durchzug zu veranſtalten. Dazu zog er eine Flanelljacke an, ſetzte eine ſchwarzſeidene Zipfelmütze auf und legte ſich ſo breit unter das Fenſter als möglich. Es dauerte richtig nicht168 lange, ſo trat die Freiin von Lohauſen unter die offene Thüre, rief ihren Miethsmann wegen des Straßengeräuſches mit etwas erhöhter Stimme an, und als er ſich umſchaute, deutete ſie auf eine große Roßfliege, die im Zimmer herumſchwirrte. Es ſei in der Nachbarſchaft ein Pferde¬ ſtall, bemerkte ſie kurz. Sogleich nahm er ſelbſt die Zipfelmütze vom Kopf, jagte die Fliege aus dem Zimmer und ſchloß die Fenſter. Dann ſetzte er die Mütze wieder auf, zog ſie aber gleich abermals herunter, da die Dame noch im Zimmer ſtand und ihn, wie es ſchien, ſtatt mit Entrüſtung, eher mit einem ſchwachen Wohlgefallen in ſeinem Aufzuge betrachtete. Ja ſo viel von ihrem ernſten und abgehärmten Geſichte zu ſehen war, wollte beinah ein kleiner Schimmer von Heiterkeit in demſelben auf¬ zucken, der aber bald wieder verſchwand, ſowie auch die Frau ſich zurückzog.
Zunächſt wußte Brandolf nichts weiter anzufangen; er hüllte ſich in ſeinen ſchönen Schlafrock, that Jacke und Zipfelmütze wieder an ihren Ort und nahm Platz auf einem der Divans. Dort gewahrte er ein Klingelband von grünen und goldenen Glasperlen und zog mit Macht daran. Wie ein Wettermännchen erſchien die Baronin auf der Schwelle, immer in ihrem grauen Schattenhabit mit dem kapuzenähnlichen Kopftuche. Brandolf wünſchte ſeinem Schneider, der viele Straßen weit wohnte, eine Botſchaft zu ſenden. Die Baronin erröthete; ſie mußte ſelbſt gehen, denn ſie hatte ſonſt niemanden. Ob es ſo169 dringlich ſei oder bis Nachmittag Zeit habe? fragte ſie nach einem minutenlangen Beſinnen. Allerdings ſei es dringlich, meinte Brandolf, es müſſe ein Knopf an den Rock genäht werden, den er gerade heut tragen wolle. Sie ſah ihn halb an und war im Begriff, die Thüre zuzuſchlagen, drehte ſich aber doch nochmals und fragte, ob ſie den Knopf nicht anſetzen könne? Ohne Zweifel, wenn Sie wollten die Güte haben, ſagte Brandolf, er hängt noch an einem Faden; allein das darf ich Ihnen nicht zumuthen!
Aber eine halbe Stunde weit zu laufen? erwiderte ſie und ging ein kleines altes Nähkörbchen zu holen, in welchem ein Nadelkiſſen und einige Knäulchen Zwirn lagen. Brandolf brachte den Rock herbei, und die vornehme Wirthin nähte mit ſpitzen Fingerchen den Knopf feſt. Da ſie mit der Arbeit ein wenig in's hellere Licht ſtehen mußte, ſah Brandolf zum erſten Male etwas deutlicher einen Theil ihres Geſichtes, ein rundlich feines Kinn, einen kleinen aber ſtreng geformten Mund, darüber eine etwas ſpitze Naſe; die tief auf die Arbeit geſenkten Augen verloren ſich ſchon im Schatten des Kopftuches. Was aber ſichtbar blieb, war von einer faſt durchſichtigen weißen Farbe und mahnte an einen Nonnenkopf in einem altdeutſchen Bilde, zu welchem eine etwas geſalzene und zugleich kummergewohnte Frau als Vorbild diente.
Es blieb aber nicht viel Zeit zu dieſer Wahrnehmung; denn ſie war im Umſehen fertig und wieder verſchwunden.
170Für den erſten Tag war Brandolf nun zu Ende, und ſo vergingen auch mehrere Wochen, ohne daß ſich etwas ereignete, das ihm zum Einſchreiten Urſache gegeben hätte. Er mußte ſich alſo aufs Abwarten, Beobachten und Errathen des Geheimniſſes beſchränken; denn ein ſolches war offenbar vorhanden, obgleich die Frau hin¬ ſichtlich ihrer Bösartigkeit verläſtert wurde. Da fiel ihm nun zunächſt auf, daß der Theil der Wohnung, wo ſie hauſ'te, immer unzugänglich und verſchloſſen blieb; es war auch nichts weiter als eine Küche, ein einfenſtriges ſchmales Zimmer und ein kleines Kämmerchen. Dort mußte ſie Tag und Nacht mutterſeelen allein verweilen, da außer einem Bäckerjungen man niemals einen Menſchen zu ihr kommen hörte. Ein einziges Mal konnte Brandolf einen Blick in die Küche werfen, welche mit ſauberem Geräthe ausgeſtattet ſchien; aber kein Zeichen bekundete, daß dort gefeuert und gekocht wurde. Nie hörte er einen Ton des Schmorens oder ein Praſſeln des Holzes, oder ein Hacken von Fleiſch und Gemüſe, oder den Geſang von gebratenen Würſten, oder auch nur von armen Rittern, die in der heißen Butter lagen. Von was nährte ſich denn die Frau? Hier begann dem neugierigen Mieths¬ mann ein Licht aufzugehen: Wahrſcheinlich von gar nichts! Sie wird Hunger leiden — was brauch 'ich ſo lange nach der Quelle ihres Verdruſſes zu forſchen! Ein Stück Elend, eine arme Baronin, die allein in der Welt ſteht, wer weiß durch welches Schickſal!
171Er genoß im Hauſe nichts, als jeden Morgen einen Milchkaffe mit ein paar friſchen Semmeln, von denen er jedoch meiſtens die eine liegen ließ. Da glaubte er denn eines Tages zu bemerken, daß Frau Hedwig von Lohauſen, als ſie das Geſchirr wegholte, mit einer unbewachten Gier im Auge auf den Teller blickte, ob eine Semmel übrig ſei, und mit einer unbezähmbaren Haſt davon eilte. Das Auge hatte förmlich geleuchtet wie ein Sterngefunkel. Brandolf mußte ſich an ein Fenſter ſtellen, um ſeiner Gedanken Herr zu werden. Was iſt der Menſch, ſagte er ſich, was ſind Mann und Frau! Mit glühenden Augen müſſen ſie nach Nahrung lechzen, gleich den Thieren der Wildniß!
Er hatte dieſen Blick noch nie geſehen. Aber was für ein ſchönes glänzendes Auge war es bei alledem geweſen!
Mit einer gewiſſen Grauſamkeit ſetzte er nun ſeine Beobachtung fort; er ſteckte das eine Mal die übrig bleibende Semmel in die Taſche und nahm ſie mit fort; das andere Mal ließ er ein halbes Brötchen liegen, und das dritte Mal alle beide, und ſtets glaubte er an dem Auf - und Niederſchlagen der Augen, an dem raſcheren oder langſameren Gang die nämliche Wirkung wahrzu¬ nehmen und überzeugte ſich endlich, daß die arme Frau kaum viel Anderes genoß, als was von ſeinem Frühſtücke übrig blieb, ein paar Schälchen Milch und eine halbe oder ganze Semmel.
Nun nahm die Angelegenheit eine andere Geſtalt an;172 er mußte jetzt trachten, die wilde Katze, wie er ſie wegen ihrer Unzugänglichkeit nannte, gegen ihren Willen ein biſchen zu füttern, nur vorſichtig und allmälig. Er gab vor, zu einem ſpäteren Frühſtück, das er ſonſt außerhalb einnahm, nicht mehr ausgehen zu wollen, und beſtellte ſich eine tägliche Morgenmahlzeit mit Eiern, Schinken, Butter und noch mehr Semmeln. Davon ließ er dann den größeren Theil unberührt, in der Hoffnung, die arme Kirchenmaus werde davon naſchen. Das mochte auch während einiger Tage geſchehen; dann aber ſchien ſie den Handel zu wittern, wurde mißtrauiſch und bemerkte eines Morgens, er möchte entweder weniger beſtellen oder über die Reſte in irgend einer Weiſe verfügen, und zuletzt nahm ſie auch die Semmel nicht mehr, die übrig blieb. Da wußte er nun wieder nichts mit ihr anzufangen.
Eines Tages, als er von einem Ausgang nach Hauſe kam, traf er ſie auf dem Hausflur bei einer Gemüſefrau, welche auf ihrem Kärrchen einen prächtigen Nelkenſtock zu verkaufen hatte, der trotz der vorgerückten Jahreszeit noch ganz voll von hochrothen Nelken blühte. Die Baronin nahm den Topf in die Hand und drückte ſchnell ein wenig das Geſicht in die Blumen, offenbar von einem Heimweh nach dergleichen ergriffen; ſie fragte zögernd um den Preis, ſchüttelte den Kopf, gab den Stock zurück und ſchlurfte eilig davon. Brandolf erſtand ſogleich das Gewächs, hoffend, es ihr noch auf der Treppe aufdringen zu können; ſie war aber ſchon in ihrem Malepartus173 verſchwunden und er trug den Nelkenſtock in ſeine Wohnung, wo er denſelben auf ein Tiſchlein ſtellte, das er nebſt einem Stuhle zum Leſen an ein Fenſter gerückt hatte. Sorgfältig legte er jedoch zur Schonung des Tiſchchens einen Quartanten unter den Topf.
Später begab er ſich wieder weg, um zu Tiſche zu gehen, und da es zu regnen begann, verſah er ſeine Füße mit Gummiſchuhen. Daher war ſein Schritt unhörbar, als er nach einigen Stunden zurückkehrte und in's Zimmer trat. Unter der geöffneten Thüre ſtehend ſah er die Frau auf dem Stuhle vor dem Nelkenſtocke ſitzen, einen Staubwedel in der Hand. Sie lehnte müde zurück und war eingeſchlafen, die Hände mit dem Wedel im Schoße. Leiſe ſchloß er die Thüre und ſchlich nach dem Sopha, von wo aus er mit verſchränkten Armen die ſchlafende Frau aufmerkſam betrachtete. Man konnte nicht ſagen, daß es gerade ein ausdrücklicher Gram war, der auf dem Geſichte lagerte; es glich ſo zu ſagen mehr einer Abweſenheit jeder Lebensfreude und jeder Hoffnung, einer Verſammlung vieler Herrlichkeiten, die nicht da waren. Einzig an den geſchloſſenen Wimpern ſchienen zwei Thränen zu trocknen, aber ohne Weichmuth, wie ein par achtlos verlorene Perlen.
Deſto weichmüthiger wurde Brandolf von dem Anblick; je länger er hinſah, um ſo enger ſchloß er ihn an's Herz; er wünſchte dies unbekannte Unglück ſein nennen zu dürfen, wie wenn es der ſchönſte blühende Apfelzweig geweſen174 wäre oder irgend ein anderes Kleinod. Er hatte ſein Leben lang etwas Närriſches an ſich und ſoll es jetzt noch haben, inſofern man das närriſch nennen kann, was Einem nicht jeder nachthut.
Plötzlich erſchütterte ſich die Schläferin wie von einem unwilligen oder ängſtlichen Traume und erwachte. Ver¬ wirrt ſah ſie um ſich, und als ſie den Mann mit dem theilnehmenden Ausdruck im Geſichte wahrnahm, raffte ſie ſich auf und bat mit milderen Worten, als ſie bisher hatte hören laſſen, um Entſchuldigung. Sie that ſogar ein Uebriges und fügte zur Erklärung bei, Nelken ſeien ihre Lieblingsblumen und ſie habe dem Gelüſte nicht widerſtehen können, ein wenig bei dem ſchönen Stock auszuruhen, wobei ſie leider eingeſchlafen. Einſt habe ſie über hundert ſolcher Stöcke gepflegt, einer ſchöner als der andere und von allen Farben.
Darf ich Ihnen dieſen anbieten, Frau Baronin? ſagte Brandolf, der ſich ſogleich erhoben hatte, ich habe ihn unten gekauft, als ich ſah, daß Sie die Pflanze in die Hand genommen und mit Gefallen betrachteten.
Das milde Wetter war aber ſchon vorüber. Mit Roth übergoſſen ſchüttelte ſie den Kopf. Bei mir iſt zu wenig Licht dafür, ſagte ſie, hier ſteht er beſſer! Als ob es ſie gereute, ſchon ſo viel geſprochen zu haben, grüßte ſie knapp, ging hinaus und ließ ſich die folgenden Tage kaum blicken.
175Endlich brachte ſie die erſte Monatsrechnung, auf einen Streifen grauen Papiers geſchrieben. Er las ſie abſichtlich nicht durch; mit dem innerlichen Wunſche, ſie möchte recht hoch ſein, bezahlte er den Betrag, der jedoch die Ausgabe keineswegs überſchritt, auf die er zu rechnen gewohnt war. Während er das Geld hinzählte, ſtand die ſonderbare Wirthin, wie ihm ſchien, eher in furchtſamer als in trotziger Haltung lautlos da, wie wenn ſie der gewohnten Aufkündigung entgegenſähe. Aber entſchloſſen, durchaus ein Licht in das Dunkel dieſes Geheimniſſes zu bringen, ließ er ſie hinausgehen, ohne die geringſte Luſt zum Ausziehen zu verrathen. Neugierig, wie es ſich mit ihren Rechnungskünſten verhalte, ſtudierte er gleich nachher den Zettel und fand ihn nicht um einen Pfennig überſetzt; dagegen war jedesmal, wo er beim Frühſtück nur ein Brötchen gegeſſen, das zweite übrig gebliebene nicht auf¬ geſchrieben. Nun wurde er gar nicht mehr klug aus der ganzen Geſchichte, zumal als er beim Weggehen gegen Abend zum erſten Male von der Gegend der Küche her ein ſchüchternes Knallen wie von einem brennenden Holz¬ ſcheitlein hörte und den Geruch von einer guten gebrannten Mehlſuppe empfand, die mitzueſſen ihn ſeltſam gelüſtete. Nun war er überzeugt, daß die Baronin erſt jetzt ſich etwas Warmes zu kochen erlaubte. Am Ende, dachte er, thut ſie das alle Monat einmal, wenn die Rechnung bezahlt wird, wie die Arbeiter am ſogenannten Zahltag in's Wirthshaus zu gehen pflegen!
176Und in der That war von der üppigen Kocherei ſchon am nächſten Tage nichts mehr zu verſpüren.
Um die Mitte des Monats October kam es zu einer faſt ebenſo langen Unterredung, wie die von dem Nelken¬ ſtock war. Die Baronin machte Brandolf aufmerkſam, daß jeden Tag der Winter eintreten und die Feuerung in den Oefen nöthig werden könne, und ſie fragte, ob er Holz wolle anfahren laſſen und wie viel? Und es kam ihm vor, als ob ſie mit einiger Spannung auf die Ant¬ wort warte, aus welcher ſie erſehen konnte, ob er bis zum Frühjahr zu bleiben gedenke. Er nannte ein ſo großes Quantum, daß man alle Oefen der ganzen Wohnung damit heizen und auch auf dem Herde ein luſtiges Feuer bis in den Mai hinaus unterhalten konnte. Zugleich übergab er ihr eine Banknote mit der Bitte, alles Nöthige zu beſorgen, den Einkauf und das Klein¬ machen des Holzes; ſie nahm die Note und verrichtete das Geſchäft mit aller Sorgfalt und Sachkunde. Es dauerte auch kaum acht Tage, ſo fing es an zu ſchneien, und jetzt mußte die einſame Wirthin ſich öfter ſehen laſſen, da ſie die drei Oefen ihres Miethsherrn ſelbſt einfeuerte und mit Holzherbeitragen und allem Andern genug zu thun hatte. Sie bekam dabei rußige Hände und ein rauchiges Antlitz und ſah bald völlig einem Aſchenbrödel gleich.
Wenn Brandolf aber gehofft, ſie werde nicht ſo dumm ſein und auch ihr eigenes Wohngelaß etwas erwärmen,177 ſo hatte er ſich darin getäuſcht, denn ſo wenig als im Sommer konnte er gewahren, daß dort das kleinſte Feuerchen entfacht wurde. Und doch war inzwiſchen die Kälte ſtärker und anhaltend geworden; wenn die Baronin ihre Geſchäfte beendigt hatte, ſo mußte ſie ſich einſam im kalten Gemache aufhalten, und Gott mochte wiſſen, was ſie dort that. Auch wurde ſie erſichtlich immer blaſſer, ſpitziger und matter, und es ſchien ihm, als ob ſie die Holzkörbe jeden Tag mühſamer herbeiſchleppe, ſo daß es ihm, der ohnedies ein gefälliger und galanter Mann war, in's Herz ſchnitt. Allein jeden Verſuch, ſie zum Sprechen zu bringen und eine Hülfe einzuleiten, lehnte ſie beharrlich ab, wie wenn ſie ſich ſo recht vorſätz¬ lich aufreiben wollte. Er aber war ebenſo hartnäckig und wartete auf den Augenblick, der ſchließlich nicht aus¬ bleiben konnte.
Indeſſen wurde die Zeit doch etwas lang in Hinſicht auf ſeine Verhältniſſe. Sein verwittweter Vater war ein großer Gutsbeſitzer und ſehr reicher Mann, welcher wünſchte, daß der einzige Sohn bei ihm lebte und die Verwaltung der Güter übernahm. Auf der andern Seite war der Sohn ein entſchiedenes juriſtiſches Talent und ein gut empfohlener junger Mann, welcher von oben dringend zum Staatsdienſte aufgefordert und ermuntert wurde. Er war auch nach der Hauptſtadt gekommen, um ſich die Dinge näher anzuſehen und ſich für einſtweilen zu entſchließen, wenn auch nicht für immer.
Keller, Sinngedicht. 12178Täglich einige Stunden auf dem Miniſterium als Freiwilliger arbeitend und im Uebrigen ein etwas wähliger reicher Mutterſohn, ließ er ſich mit aller Gemächlichkeit Raum, zum Entſchluſſe zu kommen. Doch wurde ſo eben von Neuem in ihn gedrungen, da man ihn zu einer beſtimmten Function auserſehen hatte, die ſeinen Aufent¬ halt in einem entlegenen Landeskreiſe erforderte. Er aber wollte den Abſchluß ſeines Abenteuers in der Mieths¬ wohnung durchaus nicht fahren laſſen, der Vater drang ebenfalls auf Erfüllung ſeines Wunſches, und ſo lag er eines Morgens länger im Bette als gewöhnlich und ſann über den Ausweg nach, den er zu ergreifen habe. Endlich gelangte er zu der Meinung, daß er ja ganz füglich ſeine juriſtiſchen Kenntniſſe und amtlichen Beziehungen benutzen könne, um im Stillen und mit aller Schonung über die Vergangenheit und Gegenwart der Baronin die wünſch¬ baren Aufſchlüſſe zu ſammeln und je nach Befund und Umſtänden der verlaſſenen Frau eine beſſere Lage zu verſchaffen, oder aber ſie aus dem Sinne zu ſchlagen und ſein Unternehmen als ein verfehltes aufzugeben.
Mit dieſem Vorſatz kleidete er ſich an und eilte, ſeinen Morgenkaffe zu nehmen, um ſich ungeſäumt auf den Weg zu machen. Allein trotz der vorgerückten Stunde war das Kaffebrett nicht an der gewohnten Stelle zu erblicken; die Zimmer waren erkaltet und in keinem Ofen Feuer gemacht. Verwundert machte er eine Thüre auf und horchte auf den Flur hinaus; es war nichts zu ſehen179 und zu hören. Er zog die bewußte ſchöne Klingelſchnur, aber es blieb todtenſtill in der Wohnung. Beſorgt ſchritt er den Gang entlang bis er an die Küchenthüre gelangte, und klopfte dort erſt ſanft, dann ſtärker, ohne daß ein Lebenszeichen erfolgte. Er öffnete die Thüre, durchſchritt die ſtille Küche bis zu einer andern Thüre, welche in die Wohnſtube der Baronin führen mußte. Dort pochte er wiederum behutſam und lauſchte und horchte, hörte aber nichts als ein ununterbrochenes heftiges Athmen und zeitweiliges Stöhnen. Da öffnete er auch dieſe Thüre und trat in das tiefe und düſtere Zimmer, deſſen kahle Wände von der Kälte bis zum Tropfen feucht waren; das nach dem Hofe hinausgehende Fenſter bedeckte ein einfacher weißer Vorhang ſammt der dicken Stickerei von Eisblumen. Auf einem elenden Bette, das aus einem Strohſacke, einem groben Leintuche und einer jämmerlich dünnen Decke beſtand, lag die Baronin. Eine ſchmale, feine Geſtalt zeichnete ſich durch die Decke hin¬ durch; der blaſſe Kopf lag auf einem ärmlichen Kiſſen und das feuchte nußbraune Haar in verworrenen Strähnen um das Geſicht herum, das mit offenen Augen an die geweißte feuchte Decke ſtarrte. Sie war mit einem dünnen Flanelljäckchen angethan; die Arme und Hände, die auf der Wolldecke lagen, ſchlotterten demnach von Kälte und Fieber zugleich und ebenſo zitterte der übrige Körper ſichtbar unter der Decke. Erſchrocken trat Brandolf an das Bett und rief die Kranke an; ſie drehte wohl die Augen nach12*180ihm, ſchien ihn aber nicht zu erkennen; doch bat ſie mit ſchwacher Stimme haſtig um Waſſer. Stracks lief er in die Küche zurück, fand dort Waſſer und füllte ein Glas damit. Er mußte ihr den Kopf heben, um ihr dasſelbe an den Mund zu bringen; mit beiden Händen hielt ſie ſeine Hand und das Glas feſt und trank es begierig aus. Dann legte ſie den Kopf zurück, ſah den fremden Mann einen Augenblick an und ſchloß hierauf die Augen.
„ Kennen Sie mich nicht? wie geht es Ihnen? “ſagte Brandolf und ſuchte an ihrem dünnen und weißen Hand¬ gelenk den Puls zu finden, der ſich mit ſeinem heftigen Jagen bald genug bemerklich machte. Als ſie nicht ant¬ wortete, noch die Augen öffnete, eilte er zu der Haus¬ meiſterin hinunter, die im Erdgeſchoß hauſte, und forderte ſie auf, zu der Erkrankten zu gehen und Hülfe zu leiſten, während er einen Arzt herbeihole. Er ſelbſt machte ſich unverzüglich auf den Weg, dies zu thun; er war dem bewährten Vorſteher eines Krankenhauſes befreundet und ſuchte ihn an der Stätte ſeiner vormittäglichen Thätigkeit auf. Der Arzt beendete ſo raſch als möglich die noch zu verrichtenden Geſchäfte und fuhr dann unverweilt mit dem Freunde, den er in ſeinen Wagen nahm, nach deſſen Wohnung. „ Du haſt da eine wunderliche Wirthin ge¬ wählt “, ſagte er ſcherzend; „ am Ende, wenn ſie ſtirbt, bekommſt Du noch Pflegekoſten, Begräbniß und Grabſtein auf die Rechnung geſetzt und kannſt alsdann ausziehen! “
„ Nein, nein! “rief Brandolf, „ ſie darf nicht ſterben! 181Ich hab 'es einmal auf dies myſteriöſe Bündel Unglück abgeſehen, und es iſt mir faſt zu Muthe wie einem ſchwachen Weibe, dem das Kind erkrankt iſt! “
Er erzählte dem Arzte, ſo lange der Weg es noch erlaubte, einiges von der Lebensart der Baronin. Jener ſchüttelte immer verwunderter den Kopf. „ Lohauſen! “ſagte er, „ wenn ich nur wüßte, wo ich den Namen ſchon gehört habe! Gleichviel, wir wollen ſehen, was zu thun iſt! “
„ Das iſt ja ein vertracktes Loch! “rief er dann, als er das feuchte, kalte und finſtere Zimmer betrat, in dem die Kranke lag. Sie war jetzt bewußtlos und hatte ſich nach Ausſage der Hausmeiſterin nicht geregt, ſeit Brandolf fortgegangen. Nach kurzer Betrachtung erklärte der Arzt den Zuſtand für den lebensgefährlichen Ausbruch einer tiefen Erkrankung. „ Vor Allem muß ſie hier weg, “ſagte er, „ und in ein rechtes Bett in guter Luft! In meinen Krankenſälen wird ſich leicht ein Platz finden, wenn wir ſie hinbringen; die Einzelzimmer ſind freilich im Augen¬ blicke alle in Anſpruch genommen. “
„ Wir können die menſchenſcheue Frau nicht dem Momente ausſetzen, wo ſie am unbekannten Orte und unter einer Menge fremder Geſichter zu ſich kommt “, verſetzte Brandolf, der das Kleinod ſeiner Theilnahme nicht aus dem Hauſe laſſen wollte. „ Und überdies “, ſagte er, „ haben wir es hier ſichtlich mit verborgener und arg verſchämter Armuth zu thun, deren Gemüths¬ bewegungen auch berückſichtigt ſein wollen. Ich kann182 mein äußerſtes Zimmer ganz gut entbehren; dort bringt man ſie hin, ſetzt eine zuverläſſige Wärterin hinein und ſchließt das Zimmer nach meiner Seite her ab, ſo ſind beide Parteien ungeſtört. Hätten wir nur erſt das Bett! “
„ Ich habe hier neben in die Kammer hineingeguckt “, berichtete jetzt die Hausmeiſterin, „ und geſehen, daß die Stücke eines vollſtändigen ſchönen Bettes dort bei ein¬ ander liegen. Der Himmel mag wiſſen, warum die wunderliche Dame auf dieſem Armeſünderſchragen ſchläft, während ſie ein ſo gutes Lager vorräthig hat! “
„ Das will ich Euch ſagen, Frau Hausmeiſterin! “ſprach Brandolf, „ ſie thut es, weil ſie das gute Bett ſpart, um nöthigen Falls zwei Miether einlogiren zu können. So viel habe ich geſehen, daß ſie wahrſcheinlich ihr Leben lang gewöhnt war, mit dem Entbehren immer an ſich ſelbſt anzufangen, vielleicht nicht aus Güte, ſon¬ dern weil ſie es für nothwendig hielt. Denn die kleine, ſchmale Weibsanſtalt unter dieſer Decke iſt ein wahrer Teufel von Unerbittlichkeit gegen ſich und andere. “
Der Arzt aber warf nur ein: „ So will ich eine gute Wärterin, die ich kenne, gleich ſelbſt aufſuchen und her¬ ſenden. “ Worauf er ſich in ſeiner Kutſche wieder ent¬ fernte, nachdem er noch angedeutet, er werde Verhaltungs¬ befehle und Anordnungen der Wärterin mitgeben. Auch die Hausmeiſterin mußte ſich in eigenen Geſchäften zurück¬ ziehen und Brandolf ſaß allein am Leidensbette der Fieberkranken, bis die Wärterin mit ihrem Korbe und183 ihren Siebenſachen anlangte, von der Hausmeiſterin begleitet. Zuerſt wurde nun das beſſere Zimmer ein¬ gerichtet und das gute Bett darin aufgeſchlagen und ſodann die Ueberſiedlung der Baronin bewerkſtelligt. Als die beiden Frauen ſich nicht recht anzuſchicken wußten, nahm Brandolf das kranke Aſchenbrödel, in ſeine Decke gewickelt, kurzweg auf den Arm und trug es ſo ſorglich, wie wenn es das zerbrechliche Glück von Edenhall geweſen wäre, hinüber und ließ hierauf die Weiber das Ihrige thun. Beide verſorgte er mit dem nöthigen Geld, um alles Erforderliche vorzuſehen und zu beſchaffen, und empfahl ihnen, die treulichſte Pflege zu üben. Für ſich ſelber beſtellte er noch eine beſondere Aufwärterin, welche des Morgens herkam und den Tag über da blieb, ſo daß es in der ſonſt ſo ſtillen Küche auf einmal lebendig wurde.
Etwas länger als zwei Wochen blieb die Kranke bewußt¬ los, und der Arzt verſicherte mehrmals, daß in dem zarten Körper eine gute Natur ſtecken müſſe, wenn er ſich erholen ſolle. Es geſchah dennoch; die Fieberſtürme hörten auf und eines Tages ſchaute ſie ſtill und ruhig um ſich. Sie ſah das ſchöne Zimmer mit ihrem eigenen Geräthe, die freundliche Wärterin und den behäbigen Doctor, der mit tröſtlichen Mienen und Worten an ihr Lager trat; aber ſie frug nicht nach den Umſtänden, ſondern überließ ſich der ſchweigenden Ruhe, wie wenn ſie fürchtete, derſelben entriſſen zu werden. Erſt am zweiten oder dritten Tage fing ſie an zu fragen, was mit ihr geſchehen ſei und wer184 für ſie geſorgt habe. Als ſie vernahm, daß es der Herr Miethsmann ſei, ſchwieg ſie wieder und lag lang in ſtillem Nachſinnen; aber der Trotz ſchien gebrochen, die Nachricht ſie eher ein wenig zu beleben als zu beunruhigen.
Als Brandolf von der beſſern Wendung hörte, wurde er ſehr zufrieden und empfand etwas wie das Vergnügen eines Kindes, wenn ein lieber Gaſt im Hauſe ſitzt und nun allerlei angenehme und merkwürdige Dinge in Ausſicht ſtehen. „ Wie wenig braucht es doch, “dachte er im Stillen, „ um ſich ſelber einen Hauptſpaß zu bereiten, und was für ſchöne Gelegenheiten liegen immer am Wegrande bereit, wenn man ſie nur zu ſehen wüßte! “
Inzwiſchen hatte ſich die Kunde von der erkrankten und von ihm verpflegten adeligen Wirthsfrau weiter ver¬ breitet, und er bekam in den Kreiſen, die er beſuchte, davon zu hören, was ihn keineswegs beläſtigte. Er machte ſich nur darüber luſtig, daß er in das Haus gezogen ſei, einen ungerechten Drachen zu bändigen, und ſtatt deſſen nun den Kranken - und Armenpfleger ſpielen müſſe. Durch das Gerede entwickelten ſich dagegen ein paar dürftige Angaben über das Vorleben des Pfleglings. Als die Tochter eines im Nachbarſtaate ſeßhaft geweſenen und verſtorbenen Freiherrn von Lohauſen ſei ſie mit einem Rittmeiſter von Schwendtner verheirathet worden, habe ſich aber nach einer dreijährigen unglücklichen Ehe von ihm ſcheiden laſſen, und der ꝛc. Schwendtner ſei dann in übeln Umſtänden verſchollen. Brandolf empfand ſogleich eine185 ſonderbare Eiferſucht gegen den Unbekannten und eine zornige Strafluſt, nicht bedenkend, daß er den Mann am Ende auch noch Pflegen müßte, wenn er denſelben in die Hände bekäme.
Nach ungefähr weiteren acht Tagen befand ſich die Baronin entſchieden auf dem Wege der Geneſung, wenn keine ſchlimmen Einflüſſe dazu kamen. Brandolf war ſehr begierig, das gerettete Weſen anzuſehen, und ließ durch die Wärterin ordentlich anfragen, ob die Frau Baronin ſeinen Beſuch empfangen würde. Denn er wollte auch im Punkte der Höflichkeit zur Befeſtigung ihrer Geſundheit beitragen und gut machen, was ſie als dienende Wirthin in ihrer Vermummung erlitten haben mochte. Kurzum, es ſollte alles wohlſinnig und freundlich hergehen, ſo lange er die Hand im Spiele hatte.
Als er den Bericht erhielt, daß ſie ſeinen Beſuch erwarten wolle, zog er einen Ausgeherock und Handſchuh 'an und begab ſich in das Krankenzimmer hinüber.
Er erſtaunte nicht wenig, ſie in ihrem hübſch zugerüſteten Bette liegen zu ſehen, und hätte ſie beinahe nicht wieder erkannt, angethan wie ſie war mit reinlich weißem Gewande und mit dem vergeiſtert weißen Geſichte, das von dem leicht aber ſchicklich geordneten Haar umrahmt wurde. Sie richtete mit großem Ernſte die Augen auf ihn, als er auf einem Stuhle Platz nahm, den die Wärterin neben das Bett geſtellt hatte. Ihr Blick haftete zerſtreut und aufmerk¬ ſam zugleich an ſeinem Geſichte und ſchien daſſelbe neugierig186 zu prüfen, während er nach ihrem Befinden frug und ſeine Zufriedenheit über ihre Wiedergeneſung ausdrückte.
„ Ihr Freund, der gute Herr Doctor, “ſagte ſie leis, „ meint, ich werde geſund werden. “
„ Er iſt davon überzeugt und ich auch, denn er verſteht es! “erwiderte Brandolf und ſie fuhr fort:
„ Sie haben es nicht gut getroffen mit Ihrer Wohnung! Statt beſorgt und bedient zu werden, wie es ſich gehört, mußten Sie die Wirthin verſorgen und bedienen laſſen, die Sie nichts angeht! “
„ Ich hätte es ja nicht beſſer treffen können “, antwortete er mit offenherzigem Vergnügen; „ thun Sie uns nur den Gefallen und laſſen ſich ferner recht geduldig pflegen und nichts anfechten! Nicht wahr, Sie verſprechen es? “
Er hielt ihr unbefangen und zutraulich die Hand hin und ſie legte ihre faſt weſenloſe blaſſe Hand hinein, die nur durch die Schwäche ein kleines Gewicht erhielt. Zu¬ gleich bildete ſich auf dem ernſten Munde ein ungewohntes unendlich rührendes Lächeln, wie bei einem Kinde, das dieſe Kunſt zum erſten Male lernt; daſſelbe machte aber Miene, in ein weinerliches Zucken übergehen zu wollen. Brandolf verſchlang das flüchtige kleine Schauſpiel mit durſtigen Augen; da er ſich jedoch erinnerte, daß er die Kranke nicht lang hinhalten und aufregen durfte, ſo drückte er ſanft ihre Hand und empfahl ſich.
Er eilte aber auch um ſeiner ſelbſt, willen davon, weil es ihn an die freie Luft drängte, ein Freudenliedchen zu187 pfeifen, das er ſchon begann, während er Mantel und Hut an ſich nahm, um zum Mittagsmahl zu gehen. Fröhlich begrüßte er die tägliche Tiſchgeſellſchaft und ver¬ führte die Herren ſogleich zu einem außergewöhnlichen Gütlichthun, indem er eine Flaſche duftenden Rheinweins beſtellte. Einer nach dem Andern folgte dem Beiſpiel; es entſtand eine bedeutende Heiterkeit, ohne daß Jemand wußte, was eigentlich die Urſache ſei. Schließlich wurde Brandolf als der Urheber in's Gebet genommen.
„ Ei, “ſagte er, „ meine Katze hat Junge, und als ich heut 'eines der Thierchen in die Hand nahm, gingen ihm in demſelben Augenblicke die Aeuglein auf und ich ſah mit ihm die Welt zum erſten Mal. “
Die Herren ſchüttelten lachend die Köpfe ob dem Unſinn; Brandolf hingegen wurde am gleichen Nachmittage noch ſehr ſcharfſinnig; denn als er thatluſtig auf ſein Büreau ging, wo er die Acten eines in der Provinz hauſenden höheren Juſtizbeamten zu prüfen hatte, arbeitete er mit ſo vergnüglich hellem Geiſte, daß eine ausgezeichnete Kritik zu Stande kam, in Folge welcher jener ungerechte Mann aus der Ferne erheblich beunruhigt, gemaßregelt und endlich ſogar entſetzt wurde, alles wegen des jungen Kätzleins, deſſen Welterblickung Brandolf gefeiert haben wollte.
Am nächſten Tage wiederholte er ſeinen Beſuch und brachte der Baronin einige zartgefärbte junge Roſen, die er im Gewächshauſe eines Gärtners zuſammengeſucht. Sie hielt dieſelben in der Hand, die auf der Decke ruhte. 188Dergleichen Artigkeit hatte ſie noch nie erlebt und vielleicht auch niemals verlangt. Es war daher wie eine erſte Erfahrung in ihrem neu beginnenden Leben, und nach Maßgabe der noch nicht zu Kräften gekommenen Herz¬ ſchläge verbreitete ſich ein ſchwacher röthlicher Schimmer, gleich demjenigen auf den Roſen, über die blaſſen Wangen. Gleichzeitig verband ſich mit dem Schimmer ein ſchon lieblich ausgebildetes Lächeln, vielleicht auch zum erſten Male in dieſer Art und auf dieſem Munde. Es erinnerte faſt an den Text eines alten Sinngedichtes, welches heißt: Wie willſt du weiße Lilien zu rothen Roſen machen? Küß eine weiße Galathee, ſie wird erröthend lachen. Von einem Kuſſe war freilich da nicht die Rede.
Brandolf ſorgte jetzt jeden Tag um etwas Erquickliches für die Augen oder den Mund, wie es der Arzt erlaubte, und die Geneſende ließ es ſich gefallen, da es ja doch ein Ende nehmen mußte. Nach Ablauf einer weiteren Woche verkündigte die Wärterin, daß die Baronin aufgeſtanden ſei und Brandolf ſie im Lehnſtuhle finden werde. So war es auch. Sie trug ein beſcheidenes altes Taftkleid und ein ſchwarzes Spitzentüchlein um den Kopf; immerhin ſah man, daß ſie dem Beſuch Ehre zu erweiſen wünſchte. Sie blickte mit ſanftem Ernſte zu ihm auf, als er Glück wünſchend eintrat und auf ihren Wink ſich ſetzte.
„ Wie ich damals mit einem Meſſer nach Ihrer Sohle ſtach, “ſagte ſie, „ dachte ich nicht, daß ich einſt ſo Ihnen gegenüber ſitzen werde! “
189„ Es war ein ſehr lieber Stich; denn er iſt die Urſache unſerer guten Freundſchaft und ohne ihn würde ich kaum je Ihr Zimmerherr geworden ſein, “antwortete Brandolf, „ weil ich kam, um Sie dafür zu ſtrafen. “
„ Sie haben freilich Kohlen auf mein Haupt geſammelt, “ſagte ſie traurig, „ indem Sie wahrſcheinlich mein Leben gerettet haben. Aber Sie griffen zugleich in dies gerettete Leben ein, weil ich es nun ändern muß. Ich erfahre, daß ich nicht auf die bisherige ſelbſtändige Weiſe beſtehen kann, und will verſuchen, irgendwo als Wirthſchafterin oder ſo was unterzukommen. Ich habe mir von der Wärterin und der Hausfrau ſo weit möglich die Ausgaben zuſammentragen laſſen, und um die Rechnung zu bereinigen und die nöthigen Mittel für die nächſte Zukunft zu gewinnen, gedenke ich nun, meinen Hausrath, das letzte was ich beſitze, zu veräußern, ſobald ich vollſtändig hergeſtellt bin. Ich muß Ihnen alſo die Wohnung kündigen und bitte Sie, mir das nicht ungut aufzunehmen. Sie thun es aber nicht, denn Sie ſind der erſte gute Mann, der mir vor¬ gekommen iſt, und es thut mir leid, Sie ſo bald verlieren zu müſſen! “
„ Dieſer Verluſt wird Ihnen nicht ſo leicht gelingen! “rief Brandolf fröhlich und ergriff ihre Hand, die er feſt hielt. „ Denn Ihr Vorſatz trifft auf das Beſte mit dem Plane zuſammen, den ich für Sie entworfen habe! Glauben, Sie denn, wir werden Sie ohne Weiteres wieder ſo allein in die Einöde hinauslaufen laſſen? “
190„ Ach Gott, “ſagte ſie und fing an zu weinen, „ ich bin ſo gute Worte nicht gewohnt, ſie brechen mir das Herz! “
„ Nein, ſie werden es Ihnen geſund machen! “fuhr er fort, „ hören Sie mich freundlich an! Mein Vater lebt als verwittweter alter Herr auf ſeinen Gütern, während ich mich noch einige Zeit fern halten muß. Unſere alte Wirthſchaftsdame iſt vor einem halben Jahre geſtorben und der Vater ſehnt ſich nach einer weiblichen Aufſicht. So laſſen Sie ſich denn zu ihm bringen, ſobald Sie zu Kräften gekommen ſind, und machen Sie ſich nützlich, ſo lange es Ihnen gefällt und bis ſich etwas Wünſchens¬ wertheres zeigt! Daß Sie uns nützlich ſein werden, bin ich überzeugt; denn ich halte die ſtarre Entbehrungskunſt, die Sie hier geübt haben, nur für die erkrankte Form eines ſonſt kerngeſund geweſenen haushälteriſchen Sinnes, und ich weiß, daß Sie Ihren Untergebenen gerne gönnen werden, was ihnen gehört, wenn die Sachen vorhanden ſind. Hab 'ich nicht Recht? “
Ihre Hand zitterte ſanft in der ſeinigen, als ſie leiſe ſagte: „ Es thut freilich wohl, ſich ſo beſchreiben zu hören, und ich brauche Gottlob nicht nein zu ſagen! “
Sie blickte ihn dabei mit Augen ſo voll herzlicher Dankbarkeit an, daß ihm über dieſem neuen lieblichen Phänomen die Bruſt weit wurde.
„ Alſo iſt es abgemacht, daß Sie kommen? “fragte er haſtig, und ſie ſagte: „ Ich finde jetzt nicht mehr die Kraft,191 es abzulehnen, aber Sie müſſen doch vorher vernehmen, wer ich bin und woher ich komme! “
„ Morgen plaudern wir weiter, es eilt nicht! “rief er mit eifriger Fürſorge und ſtand entſchloſſen auf, ſo ungern er ihre Hand fahren ließ, als er bemerkte, daß ſie ange¬ griffen, müde und hinwieder aufgeregt wurde.
Deſto beſſer ſah ſie verhältnißmäßig am andern Tage aus. Sie erhob ſich von ihrem Seſſel und ging ihm mit kleinen Schritten entgegen, als er kam. Doch nöthigte er ſie ſofort zum Sitzen.
„ Ich habe ſehr gut geſchlafen die ganze Nacht, “ſagte ſie, „ und zwar ſo merkwürdig, daß ich faſt während des Schlafes ſelbſt die Wohlthat fühlte, wie wenn ich es wüßte. “
„ Das iſt recht! “ſagte er mit dem Behagen eines Gärtners, der ein verkümmertes Myrtenbäumchen ſich neuerdings erholen und im friſchen Grün überall die Blüthen erwachen ſieht. Denn er gewahrte mit Ver¬ wunderung, welch 'anmuthigen Ausdruckes dieſes Geſicht im Zuſtande der Zufriedenheit und Sorgloſigkeit fähig war. Er nahm einen kleinen Spiegel, der in der Nähe ſtand, und hielt ihn der Frau vor mit den Worten: „ Schauen Sie einmal her! “
„ Was iſt's? “ſagte ſie leicht erſchrocken, indem ſie in den Spiegel ſah, aber nichts entdecken konnte.
„ Ich meinte nur, wie ſchön Sie ausſehen! “
192„ Ich? ich war nie eine Schönheit, und bin es kaum dem Grab entronnen wol am wenigſten! “
„ Nein, keine Schönheit, ſondern etwas Beſſeres! “
Das rothe Fähnchen ihres Blutes flatterte jetzt ſchon etwas kräftiger an den weißen Wangen. Sie wagte aber nicht zu fragen, was er damit ſagen wollte, und nahm ihm ſchweigend den Spiegel aus der Hand; und doch ſchlug ſie mit einer innern Neugierde die Augen nieder, was das wol ſein möchte, was beſſer als eine Schönheit ſei und doch im Spiegel geſehen werden könne. Brandolf bemerkte das nachdenkliche Weſen unter den Augdeckeln; er ſah, daß es wieder Ungewohntes war, was ihr geſagt worden, und da es ihr nicht weh zu thun ſchien, ſo ließ er ſie ein Weilchen in der Stille gewähren, bis ſie von ſelbſt die Augen aufſchlug. Es ging ein ſogenannter Engel durch das Zimmer. Um nicht eine Verlegenheit daraus werden zu laſſen, ergriff die Baronin das Wort und ſagte: „ Es iſt mir jetzt ſo ruhig zu Muthe, daß ich glaube, Ihnen meine Angelegenheit ohne Schaden kurz erzählen zu können; es iſt nicht viel.
„ Sie ſehen in mir die Abkömmlingin eines Ge¬ ſchlechtes, das ſich ſeit hundert Jahren nur von Frauen¬ gut und ohne jede andere Arbeit oder Verdienſt erhalten hat, bis der Faden endlich ausgegangen iſt. Jede Frau, die da einheirathete, erlebte das Ende ihres Zugebrachten, und immer kam eine andere und füllte den Krug. Ich habe meine Großmutter noch gekannt, deren Vermögen193 der Großvater bequemlich aufbrauchte, bis der Sohn erwachſen und heirathsfähig war. Dieſem verſchaffte ſie dann im Drange der Selbſterhaltung eine reiche Erbin aus ihrer Freundſchaft, von welcher man wußte, daß ihr im Verlaufe der Zeit noch mehr als ein Vermögen zu¬ fallen würde, ſo daß es nach menſchlicher Vorausſicht endlich etwas hätte klecken ſollen. Dieſe ſtarb aber noch in jungen Jahren, nachdem ſie zwei Knaben zur Welt geboren hatte, und weil nun möglicher Weiſe zwei Nichts¬ thuer mehr dem Hauſe heranwuchſen, ruhte jene nicht bis ſie dem Sohne, meinem Vater, eine zweite Erbin herbei¬ locken konnte, von der ich ſodann das Daſein empfing. Allein ich erlebte noch, wie die Großmutter, ehe ſie ſtarb, ihre Sorge verfluchte, mit der ſie die zwei jungen Weiber in's Unglück gebracht.
„ Der Vater verſchwendete das Geld auf immer¬ währenden Reiſen, da es ihm nie wohl zu Hauſe war. Mit den zunehmenden Jahren fing eine andere Thorheit an, ihn zu beſitzen, indem er ſich an falſche Frauen hing, denen er Geld und Geldeswerth zuwendete, was er auf¬ bringen konnte. Sogar Korn und Wein, Holz und Torf ließ er vom Hofe weg und jenen zuführen, die Alles nahmen, was ſie erwiſchen konnten. Die heranwachſenden Söhne verachteten ihn darum, thaten es ihm aber nach und beſtahlen das Haus, wo ſie konnten, um ſich Taſchen¬ geld zu machen. Niemand vermochte ſie zu zwingen, etwas zu lernen, und als ſie das Alter erreichten, wußtenKeller, Sinngedicht. 13194ſie ſogar dem Militärdienſte aus dem Wege zu gehen, obgleich ſie groß und geſund waren. Der Vater haßte ſie und lauerte auf die Erbſchaften, die ihrer von mütter¬ licher Seite her noch warteten, um als natürlicher Vor¬ mund das Vermögen ſeiner Söhne wenigſtens noch während ein paar Jahren in die Hände zu bekommen. Allein ſie wurden richtig volljährig, ehe die Glücksfälle raſch einer nach dem andern eintraten; und nun rafften ſie ihren Reichthum zuſammen und reiſten mit einander in die Welt hinaus, um zu treiben, was ihnen wohlgefiel, und nicht einen Pfennig ließen ſie zurück. Sie hingen an einander wie die Kletten; während man ſonſt von einer Affenliebe ſpricht, hielten die zwei Brüder mit einer Art von Halunkenliebe zuſammen und thun es wahrſcheinlich jetzt noch, wenn ſie noch leben; denn man weiß nicht, wo ſie ſind.
„ Der Vater wurde kränklich und ſtarb, und nun war die Mutter mit mir allein auf dem verarmten Stamm¬ ſitze zu Lohauſen, den ſie nie geſehen zu haben wünſchte. Schon ſeit Jahren hatte ſie zu retten geſucht, was zu retten war, und jetzt kämpfte ſie wie ein Soldat gegen den Untergang. Von ihr lernte ich faſt von nichts zu leben und das Nichts noch zu ſparen. Mit wenigen Leuten hielten wir uns auf dem Hofe, obgleich er ſchon verſchuldet war. Früh und ſpät ſchaute die Mutter zur Sache; ihr Vermögen war verloren, aber noch hatte auch ſie zu erben und in dieſer Hoffnung nur hielt ſie ſich195 aufrecht. Sie erlebte es aber nicht; als ſie einen na߬ kalten Herbſttag hindurch auf dem Felde verweilte, um das Einbringen von Früchten ſelbſt zu überwachen, trug ſie eine Krankheit davon, die ſie in wenigen Tagen dahinraffte.
„ Nun befand ich mich allein, aber nicht lang. Die letzte Erbſchaft, die in das unſelige Haus kam, fiel mir zu; ſie betrug volle zweihunderttauſend Thaler. Mit ihr waren plötzlich auch die Brüder wieder da, ſcheinbar in ordentlichen Umſtänden, obgleich von wilden Gewohnheiten. Sie brachten einen Rittmeiſter Schwendtner mit ſich, einen hübſchen und geſetzten Mann, der einen wohlthätigen Ein¬ fluß auf ſie zu üben und ſie förmlich im Zaume zu halten ſchien, wenn ſie allzuſehr über die Stränge ſchlugen. Er war mit Rath und That bei der Hand und voll be¬ ſcheidener Aufmerkſamkeit, ohne das Hausrecht zu ver¬ letzen. Die Dienſtboten ſchienen froh, einen kundigen Mann ſprechen zu hören, denn ſie waren freilich nicht mehr von der vorzüglichſten Art und verſtanden ſelbſt nicht viel. Trotzdem blieb ein Reſt von Unheimlichkeit, der mir an Allem nicht recht zuſagte, und ich befand mich in ängſtlicher Beklemmung. Allein vielleicht gerade wegen dieſer Angſt und inneren Verlaſſenheit fiel ich der Be¬ werbung des Rittmeiſters, die er nun anhob, zum Opfer; ich heirathete den Mann in tiefer Verblendung, ohne ein zarteres Gefühl, das ich nicht kannte, und nun fing meine Leidenszeit an.
13*196„ Denn Alles war eine abgekartete Komödie geweſen. Mein Vermögen wurde mir aus den Händen geſpielt, ich wußte nicht wie, und angeblich in einer hauptſtädtiſchen Bank ſicher angelegt. Die Brüder verſchwanden wieder, nachdem ſie den Lohn ihres Seelenverkaufs mochten empfangen und ſich vorbehalten haben, an dem Raube ferner Theil zu nehmen. Drei Jahre brachte ich nun unter Mißhandlungen und Demüthigungen zu. Die Brüder habe ich nicht mehr geſehen. Mein Mann war häufig oder eigentlich meiſtens abweſend, bis er eines Tages mit einer ganzen Geſellſchaft halb betrunkener Männer zu Pferde und zu Wagen auf dem Hofe ankam und mir befahl, eine gute Bewirthung zuzurüſten. Ich that was ich vermochte, während die Männer auf das Piſtolenſchießen geriethen. Ich hatte ein krankes Kind in der Wiege liegen, welches ich einen Augenblick zu ſehen ging; es war nach langem Wimmern ein wenig ein¬ geſchlafen. Da kam Schwendtner mit der Piſtole in der Hand und verlangte, ich ſollte „ ſeinen Jungen “der Ge¬ ſellſchaft vorweiſen. Ich machte ihn auf den Schlaf des armen Kindes aufmerkſam. Er aber rief: Ich will dir zeigen, wie man ein Soldatenkind munter macht! und ſchoß die Piſtole über dem Geſichtchen los, daß die Kugel dicht daneben in die Wand fuhr. Es ſchreckte erbärmlich auf und verfiel in tödtliche Krämpfe; es war auch in drei Tagen dahin. An jenem Tage aber zwang mich der Un¬ hold, beim Eſſen mit zu Tiſch zu ſitzen. Um Ruhe zu197 bekommen, that ich es für einige Minuten, und da in¬ ſultirte er mich vor dem ganzen Troß mit ehrloſen Worten, die nur ein Verworfener ſeiner Frau gegenüber in den Mund nimmt. Ich ſtand auf und ſchwankte zu meinem in Zuckungen liegenden Kinde.
„ Inzwiſchen fuhr die Geſellſchaft wieder davon, wie ſie gekommen war. Nachher ſtarb wie geſagt das Kind; ich begrub es in der Stille, ohne den Mann zu benach¬ richtigen, und verließ nachher das Lumpenſchloß, deſſen Namen mir leider geblieben iſt. Durch den Verkauf meiner mütterlichen Schmuckſachen gewann ich die Mittel, einen Advocaten zu nehmen, der mich von dem Manne befreite und die Auseinanderſetzung beſorgte, die damit endete, daß ich nicht einen Thaler mehr von dem Meinigen zu ſehen bekam. Alles war verſchwunden, obſchon ſchwer¬ lich aufgebraucht in ſo wenig Jahren. Schwendtner wurde nicht lange nachher wegen einer andern Niederträchtigkeit aus dem Officierſtande geſtoßen und ſoll ſich eine Zeit lang mit meinen Brüdern als Spieler herumgetrieben haben. Zuletzt ſollen alle drei mit einander in's Ge¬ fängniß gekommen ſein. Das Gut Lohauſen wurde ver¬ kauft und ich behielt nichts als die hausräthliche Ein¬ richtung, mit der ich, wie Sie ſehen, mich als Zimmer¬ vermietherin durchzubringen geſucht habe, freilich mit wenig Glück. Seit zwei Jahren ziehe ich in dieſer Stadt, wo mich Niemand leiden mag, von einem Haus in das andere, immer von der Angſt gehetzt, die Miethe nicht198 zuſammen bringen zu können. So iſt am hellen Tage das Kunſtſtück fertig gebracht worden, daß eine ſchwache Frau faſt verhungern mußte, während drei baumſtarke Männer unbekannt wo ihr rechtmäßiges Erbe vergeudeten. Denn gewiß haben ſie Theile davon in Sicherheit gebracht, wie ja die Diebe auch ihren Raub zu verbergen wiſſen und gemächlich hervorholen, wenn ſie aus dem Zuchthaus kommen. “
Nicht nur weil ſie mit ihrer Erzählung zu Ende war, ſondern auch weil Brandolf Zeichen der Unruhe von ſich gab und glühende Augen machte, hielt ſie inne. Ehe ſie jedoch ſeine Aufregung recht wahrnehmen konnte, hatte er den in ihm aufgeſtiegenen Grimm ſchon bezwungen und verſchluckte gewaltſam die Wuth, die ihn gegen das Ge¬ ſindel erfüllte, damit die geneſende Frau nicht in Mit¬ leidenſchaft gerathe, nachdem ſie die Unglücksgeſchichte ſo gelaſſen erzählt wie einen quälenden Traum, von dem man erwacht iſt.
„ Das iſt nun vorbei und wird nicht wieder kommen! “ſagte Brandolf ruhig und ergriff ihre Hand, die er ſänft¬ lich ſtreichelte; denn er fing ein wenig an, ſie wie eine wohlerworbene Sache zu behandeln oder ein anvertrautes Gut, für das man verantwortlich iſt, das man aber dafür nicht aus der Hand läßt. So zog ſich das neue Leben ſtill und ruhig dahin, bis im ſonnigen März der Arzt die Baronin für geneſen und fähig erklärte, ohne Gefahr eine Reiſe anzutreten.
199Jetzt wurde der ganze Hausrath, vor Allem das Por¬ zellan und Glas mit den unzähligen Wappen, verkauft; nur was zum Andenken an ihre Mutter dienen konnte, behielt ſie, alles Andere wollte ſie wo möglich aus ihrem Gedächtniſſe vertilgen.
Auch ließ ſie ihren beſcheidenen Kleidervorrath nach neuerem Zuſchnitt umändern, ſuchte auf Brandolf's Bitte, da es daran fehle, eine ordentliche Stubenjungfer aus, und reiſte endlich, mit ſeinen Grüßen wohl verſehen, von der Jungfer begleitet in die Provinz, wo der Vater Brandolf's hauſte und zu ihrem Empfange alles vor¬ bereitet war.
Brandolf dagegen begab ſich in eine andere Landes¬ gegend, wo er die Aufgabe übernommen hatte, während einiger Monate ein nicht unwichtiges Amt proviſoriſch zu verwalten und gewiſſe in Verwirrung gerathene Verhält¬ niſſe in Ordnung zu bringen. Man gedachte hierdurch ſeine Kräfte zu prüfen und ihn zu Weiterem vorzubereiten; er aber behielt ſich vor, nach vollbrachter Sache in ſeine Freiheit zurückzukehren.
Es dauerte nicht viele Wochen, ſo kamen Briefe des alten Herrn, Brandolf's Vater, die vom Lobe der Frau Hedwig von Lohauſen und von dem neuen Stande der Dinge voll waren. Es ſei, wie wenn ſie eine Schaar Wichtelmännchen im Dienſte hätte, ſo glatt und gut¬ geordnet gehe ſeit ihrer Ankunft alles von Statten; ein wahrer Segen liege in ihren Händen und rührend ſei200 ihre ſichtbare ſtille Freude über die Fülle und Sicherheit, in welcher ſie ſich bewegen könne und zweckmäßig zu walten berufen ſei. Von früh bis ſpät freue ſie ſich der Bewegung, aber ohne alles Geräuſch, und lieblich ſei es, wenn ſie ſich hinwieder eine Stunde der Ruhe überlaſſe, faſt mehr wie um nicht bemerklich zu ſein und Andern auch Erholung zu gönnen, als wie um ſelbſt zu ruhen. Auch die Stubenjungfer habe die beſten Manieren und die Küche ſei vortrefflich geworden, kurz, der Herr Vater befinde ſich wie im Himmel und fühle ſich verjüngt. Faſt beginge er die Thorheit, noch zu heirathen, um die treff¬ liche Perſon nicht mehr zu verlieren.
Endlich kam ein Brief, in welchem der Vater ſchrieb, er habe ſich den Gedanken einer Heirath wirklich überlegt und gefunden, daß der Sohn ſie in's Werk ſetzen müſſe. Denn ſo liebevoll die Frau von Lohauſen für ihn ſorge, hänge ihr Herz jedenfalls am Sohne, er müſſe es ihr angethan haben, das bemerke er wol. Niemals ſpreche ſie von ihm; aber ſo oft ſein Name genannt werde, er¬ röthe ſie ein wenig, gleich einem jungen Mädchen, dem ſie auch in ihrer ſchlanken und feinen Tournüre ähnlich ſei. Darum wünſche der Vater, daß Brandolf ſich ent¬ ſchließen könnte, den Sprung zu wagen; er hoffe auf keine beſſere Schwiegertochter für ſeine Verhältniſſe.
Brandolf antwortete, er ſei es zufrieden. Die Hedwig ſei ihm als Schützling lieb, wie wenn ſie ſein Kind wäre; allein er könne ſie auch als ſein Frauchen lieb haben201 und werde ſie alsdann mit einem ſeidenen Faden am feinen Knöchel anbinden, damit ſie ihm nie mehr abhanden komme. Doch müſſe der Papa für ihn fragen und den Korb einheimſen, den es allenfalls abſetze.
Darauf ſchrieb der Alte zurück, er habe es ſofort gethan und augenblicklich ein Ja erhalten. Es ſei auf dem Wege zu dem großen Gemüſegarten geſchehen, den ſie in ſo herrlichen Stand gebracht habe. Sie ſei ſo ehrlich und offen, daß ſie ſich nicht eine Secunde lang zu zieren vermocht, ſondern ihm gleich beide Hände zitternd entgegen geſtreckt habe, von einem ganz merkwürdig hin¬ gebenden und ſeelenvollen Ausdruck des ſchmalen Geſichtes begleitet. Ja, ja, die kleine Hexe ſei nicht nur nützlich, ſondern auch angenehm u. ſ. w.
Hierauf begann Brandolf allerhand kleine Briefchen und große Geſchenke an die Erwählte zu ſenden. Sie antwortete eben ſo kurz; aber die Buchſtaben flimmerten von den Empfindungen, die darin lebten. Der Tag der Verlobung wurde in den Monat Mai verlegt und die Verwandten und Freunde geladen. Als Hauswirthin hatte Hedwig die Pflicht und Freude, alle Vorbereitungen zu treffen, und ſie ſelbſt war die Braut. Bei Brandolf's Ankunft war ſie ihm allein entgegen geeilt; ſo hatten ſie es verabredet. Er ſtieg aus dem Wagen und wandelte mit ihr durch einen einſamen blumigen Wieſenpfad, auf deſſen Mitte er ſie feſt an ſich drückte und ſie an ſeinem Halſe hing, von den niederhängenden Aeſten der weiß202 blühenden Apfelbäume geſchützt. Hier iſt nun weiter nichts zu ſagen, als daß eine jener langen Rechnungen über Luſt und Unluſt, die unſere modernen Shylok's eifrig aufſetzen und dem Himmel ſo mürriſch entgegen¬ halten, wieder einmal wenigſtens ausgeglichen wurde.
Da Brandolf bis gegen den Herbſt hin mit ſeiner amtlichen Verrichtung beſchäftigt und nicht geſonnen war, auch nach der Hochzeit noch im Dienſte zu bleiben, wurde die Zeit der Weinleſe zu dem Feſte beſtimmt, um zugleich eine natürliche Luſtbarkeit mit demſelben zu verbinden und es zu einer gewiſſermaßen ſymboliſchen Feier für die wirthliche Braut zu geſtalten, die ſo Vieles erduldet und entbehrt hatte. Es ſollte auch von einer Hochzeit¬ reiſe nicht die Rede ſein, ſondern das eheliche Leben gleich im Anfange in das Arbeitsgeräuſch und den bacchiſchen Tumult des Herbſtes untertauchen.
Zur Zeit der Kornernte reiſ'te Brandolf nochmals auf ein paar Tage nach Hauſe; nachdem er die Braut im bittern Winter kennen gelernt, im Lenz ſich mit ihr verlobt, wollte er ſie im Glanze des Sommers ſehen, ehe der Herbſt die Erfüllung brachte. Sie war jetzt voll¬ kommen erſtarkt und beweglich, aber immer beſonnen und ſtill waltend, und die helle Liebesfreude, die in ihr blühte, von der gleichen unſichtbaren Hand gebändigt und geordnet, wie die Wucht der goldenen Aehren, die jetzt in tauſend Garben auf den Feldern gebunden lagen. Zwiſchen zwei ausgedehnten gelben Ackerflächen zog ſich ein ſchmaler203 Forſt alter Eichen, deren Schatten das blendende Licht der Felder und der Sommerwolken kräftig unterbrach; ein klarer Bach floß überdies in dieſem Schatten. Hier hatte Hedwig ihren Aufenthalt; ſie ordnete die Ernährung der vielen Arbeitsleute, und Jedermann wollte hier ſpeiſen; auch der alte Herr war herausgekommen. Und obgleich die Gegenwart der Frau von Jedermann angenehm empfunden wurde, war es doch, wie wenn ſie nicht da wäre. Nach verrichteter Mahlzeit blieb ſie allein im durchſichtigen Forſte zurück, zwiſchen deſſen Stämmen man überall das Feld überſehen konnte. Sie nahm ſich die Zeit, raſch die Erntekränze zu beſorgen, und Brandolf leiſtete ihr Geſellſchaft. Im einfachſten Sommerkleide, nur ein dünnes Goldkettchen um den Hals, welches die Uhr trug, ſchien ſie eine Tochter der freien Luft zu ſein und ſich allein des gegenwärtigen Augenblickes zu erfreuen, ohne ein Wiſſen um Vergangenheit oder Zukunft.
„ Biſt Du auch ſchon ſo geweſen, wie jetzt in dieſem Augenblicke? “ſagte Brandolf vertraulich, indem er ihrem Thun und Laſſen gemächlich zuſchaute.
„ Nein, “antwortete ſie, „ ich habe die Erinnerung nicht! Es iſt mir Alles neu und darum ſo froh und kurz¬ weilig. Ich ſcheine mir überhaupt früher nicht gelebt zu haben. “
Auf der Rückreiſe nach dem Orte ſeiner jetzigen Thätigkeit bekam Brandolf Regenwetter und ſah ſich deshalb mehr als ſonſt veranlaßt, bei den am Wege204 ſtehenden Herbergen abzuſteigen. So gerieth er auch, ſchon viele Meilen unterwegs, in eine Poſthalterei, deren große Gaſtſtube von Reiſenden aller Art angefüllt war. Darunter befanden ſich drei lange verwilderte Kerle mit ſtruppigen Bärten und elenden Kleidern, welche verdorbene Muſikinſtrumente bei ſich trugen. Brandolf bemerkte, wie die drei Menſchen nach Verhältniß der fortwährend neu¬ ankommenden Gäſte mit ihren Branntweingläschen von Tiſch zu Tiſch weggedrängt und zuletzt ganz aus der Stube gewieſen wurden. Murrend aber ohne Widerſtand gingen ſie auf den Hof hinaus, ſtellten ſich dort unter das Vordach eines Holzſchuppens und nahmen, wahr¬ ſcheinlich um ſich zu rächen, ihre Inſtrumente zur Hand. Aber ſie begannen eine ſo gräßliche Muſik hören zu laſſen, daß in der Stube das Publikum zu fluchen anhub und verlangte, die Kerle ſollten ſchweigen. Ein gut¬ müthiger Krämer ſammelte einige Groſchen und rothe Pfennige für die Unglücklichen und brachte ihnen die kleine Ernte, worauf ſie den Lärm einſtellten und in einem Winkel zuſammen hockten, um das Nachlaſſen des Unwetters abzuwarten. Brandolf fragte einen Aufwärter, was das für traurige Muſikanten ſeien. Ja, erwiderte der Burſche, das ſeien unheimliche und wenig beliebte Geſellen. Die zwei etwas kürzeren nenne man die Lohäuſer, und der ganz lange heiße nur der ſchlechte Schwendtner. Man munkle, es ſeien drei Junker, die einſt reich geweſen und dann in's Zuchthaus gekommen ſeien.
205Hedwig war in der That im Irrthum, als ſie glaubte, das ihr abgeſtohlene Vermögen ſei zum Theil noch vor¬ handen und die Räuber erfreuten ſich ſeiner. Sie hatten es freilich ſo im Sinne gehabt und waren, um das Geld wuchern zu laſſen, unter die Börſianer gegangen; allein die drei Spitzbuben waren an die Unrechten gerathen und in weniger als ſechs Wochen bis auf die Haut ausgezogen. Wüthend hierüber wollten ſie ſich durch einen großartigen Wechſelbetrug rächen und heraushelfen und ſich alsdann aus dem Staube machen. Es mißlang und ſie wurden ein Jahr lang eingeſperrt und mußten geſtreifte Kleider anziehen. Als ſie herauskamen, ſtanden ſie auf der Straße; ſogar ihre guten Kleider ſammt den ſeidenen Schlafröcken hatte das Amt verkauft, und ſie mußten mit den beſcheidenen Hüllen vorlieb nehmen, welche die öffentliche Wohlthätigkeit ihnen verabreichte. So konnten ſie ſich nicht einmal mehr zu der Ehrenſtufe von Profeſſions¬ ſpielern erheben, die ſie früher bekleidet, und ſanken, weil ſie ſich immerfort ſchlecht aufführten, ſchnell auf die Landſtraße hinunter. Dort konnten ſie erſt recht nicht von einander laſſen; wenn ſie ſich je auseinander ver¬ fügten, um beſſer fortzukommen, ſo waren ſie in zwei Wochen ſicher wieder beiſammen; nur ein gelegentlicher Polizeiarreſt vermochte ſie im Uebrigen zu trennen. Der lange Rittmeiſter Schwendtner hatte in ſeinen jüngeren Jahren etwas geigen gelernt und wußte mit Noth noch eine Saite aufzuziehen und darauf zu kratzen. Die206 beiden Lohäuſer hatten als Knaben einſt Poſthorn und Klarinette lernen ſollen, die Arbeit aber frühzeitig eingeſtellt.
Solch 'ideale Jugendbeſtrebungen kamen ihnen jetzt im Unglück zuſtatten und liehen ihnen den Vorwand, einen dauernden Verband zu bilden und das Land nach Brot und Abenteuern zu durchſtreifen.
Brandolf ſeinerſeits, der an einem Fenſter des Poſt¬ hauſes ſaß und durch das an demſelben herabrieſelnde Regenwaſſer nach den drei grauen Brüdern hinausſchaute, konnte nicht im Zweifel ſein, wen er da vor ſich ſehe. Schrecken und Sorge um ſeine Braut waren die erſte Wirkung des unwillkommenen Anblickes. Sie ahnte nicht, daß ihr böſes Schickſal ſo nahe um ſie her ſchweifte. Dann ſtieg der Zorn mächtig in ihm auf und er ver¬ ſpürte Luſt, die Peitſche ſeines Kutſchers zu nehmen, hinauszugehen und auf die drei Menſchen einzuhauen. Je länger er aber hinſah, deſto milder wurde die gewalt¬ ſame Stimmung und verwandelte ſich zuletzt in eine launige Genugthuung, als er ſich doch überzeugen mußte, wie übel es den Kumpanen erging. Er ſah, wie der ſchlechte Schwendtner einmal um's andere die gerötheten Augen wiſchte und ſich an ſeinem durchlöcherten Schuh¬ werk zu ſchaffen machte, in welches er ein Stückchen Birkenrinde ſchob, das er vor dem Schuppen fand, wäh¬ rend die Lohäuſer aus dem Schnappſack einige Brotrinden hervorſuchten und daran kauten, dann aber einen weg¬ geworfenen Cigarrenſtummel aus dem Straßenkoth holten,207 reinigten und abwechſelnd rauchten; denn die Halunken¬ liebe zwiſchen ihnen ſchien geblieben zu ſein.
Nach ungefähr einer halben Stunde, während es in Strömen fortregnete, war in Brandolfs Gedanken ein mehr luſtiger als gewaltthätiger Rache - und zugleich Befreiungsplan fertig, der ſich um den Beſchluß drehte, das Kleeblatt auf ſeine Weiſe zur Hochzeit zu laden. Und unverweilt machte er ſich an die Vollziehung.
Er führte einen anſchlägigen und getreuen Knecht vom väterlichen Gute mit ſich, der Jochel hieß und mit ihm aufgewachſen war, auch in früheren Jahren manchen närriſchen Streich mit ihm beſtanden hatte. Dieſen Jochel zog er jetzt in's Vertrauen und unterrichtete ihn, wie er die drei Muſikanten ſich merken und ihre Spur verfolgen müſſe, damit er zur rechten Zeit ſich in geeigneter Ver¬ kleidung an ſie machen und ſie in die Nähe des Gutes locken konnte, mit der Ausſicht auf ordentlichen Gewinn und ſchönes Leben. Denn es handelte ſich darum, ſie am Tage der Hochzeit und des Winzerfeſtes zur Hand zu haben, ohne daß ſie wußten, was vorging.
Es gelang auch der Schlauheit des guten Jochel ſo vortrefflich, daß er ſie bis zum rechten Zeitpunkt richtig auf den Platz brachte, das heißt in ungefährliche Nähe, wo ihnen der Mund wäſſerte, den Jochel vor der Hand mit einem und andern Kruge Moſt erquickte und dieſen wieder mit einem Gläschen Branntwein abwechſeln ließ.
Sie übten dabei wohlmeinend ihre grauſigen Harmonien,208 da ſie allen Ernſtes glaubten eine Hauptrolle ſpielen zu müſſen bei irgend einem dummen Teufel von Gutsbeſitzer, und die Geiſtertöne drangen ſchon unheimlich über den Wald her, hinter welchem ſie verborgen ſaßen. Inzwiſchen hatte die Weinleſe ſeit einigen Tagen begonnen und nahte dem Schluſſe. Außer den eigenen zahlreichen Werkleuten waren viele fröhliche Bauernjungen und Mädchen zuge¬ zogen, die Herrſchaftshäuſer von Köchen und Köchinnen, Aufwärtern und andern Dienern aus der Stadt beſetzt und ein Theil der Hochzeitgäſte auch ſchon eingerückt, während eine gute Ballmuſik noch erwartet wurde.
So kam nun der große Feſttag heran, von der goldig mildeſten Octoberſonne geleitet, welche einen Duftſchleier nach dem andern von der Erde hob und zerfließen ließ, bis alles Gelände mit Bäumen und Hügeln in warmem Farbenſchmucke erglänzte und die Ferne ringsherum in geheimnißvollem Blau eine glückverheißende Zukunft dar¬ ſtellte. Im Hauptgebäude war Vormittags die Trauung, bei welcher ſchon die feine Muſik aus den offenen Fenſtern tönte. Dann folgte das Feſtmahl der Hochzeitgäſte, indeß die Winzer und die eingeladenen Landleute im Freien tafelten und nach einer tapfern Landmuſik bereits tanzten. Gegen Abend jedoch, als die Sonne immer lieblicher ihre Bahn abwärts ging, fand nun der große Aufzug der Winzer ſtatt, an welchem die drei Kujone mitzuwirken berufen waren. Der Zug beſtand freilich in nicht viel anderem, als daß die Winzer und Kelterer209 in allen möglichen Vermummungen, mit ihren Geräth¬ ſchaften klopfend, unter dem Voraustritte ihrer Muſik an den Herrſchaften vorüber zogen, die am Eingange des Parkes auf einem erhöhten Brettergerüſte ſtanden, in deſſen Mitte ein aus Epheugeflechten errichtetes Tempelchen Braut und Bräutigam beſonders einfaßte.
Doch entwickelte ſich der Zug maleriſch genug unter den hohen Bäumen hervor, und Brandolf hatte dafür geſorgt, daß durch allerhand buntes Zeug, ein Dutzend Thyrſusſtäbe, Schellentrommeln, Satyrmasken und vor¬ züglich durch eine Anzahl artiger Kindertrachten, welche die Zeit der Traubenblüthe vorſtellten, Abwechſelung und Farbe in die Sache kam. Das Ganze drückte das Vergnügen eines guten Weinjahres aus; der Schluß hingegen war der Verachtung vorbehalten, die einem ſchlechten Weinjahre unter allen Umſtänden gebührt. Die drei Teufel eines ſolchen: der Teufel der Säure, derjenige der Blödigkeit und der Teufel der Unhaltbarkeit wurden rückwärts an den Schwänzen herbei und vorübergezogen und mußten durch ihre Muſik das Gift und das Elend eines ſchändlichen Weines ausdrücken.
Das waren eben unſere drei Herabgekommenen. Man hatte denſelben, um ihnen jeden Argwohn zu benehmen, den Charakter ihrer Rolle offen mitgetheilt. Sie wußten auch, daß eine Hochzeit da war; allein Jochel hatte ihnen ſo unbefangen einen falſchen Namen der Braut genannt, auf den ſie überdies kaum achteten, daß ſie ihre wahreKeller, Sinngedicht. 14210Lage bis zum letzten Augenblicke nicht ahnten. Dennoch wollte ihr gutes Herkommen und adeliges Blut ſich empören, als ſie eingekleidet und ſozuſagen angeſchirrt wurden. Man hüllte ſie nämlich in grau und ſchwarz gefleckte Ziegenfelle, ſchwärzte ihnen die Geſichter und ſetzte ihnen Ziegenhörner auf den Kopf. An ihren Hinterſeiten waren Kuhſchwänze ſehr ſtark befeſtigt, alle drei Schwänze zuſammengebunden und an ein langes Heuſeil geknüpft; an dieſes Seil aber ſtellten ſich links und rechts an die zwanzig kräftige Jünglinge in Küfertracht mit dichten Weinlaubkränzen auf den Stirnen, und zogen das Seil an, um die drei Teufel im Triumphe rücklings über den Schauplatz zu ſchleppen. Wie geſagt, wollten dieſe ſich zuerſt ſtörriſch zeigen; allein die fünf Thaler Lohn, die jedem verſprochen waren, überwanden den Widerſtand.
So kamen ſie denn auch heran; immer rückwärts hopſend und ſtapfend, durften ſie keinen Augenblick ſtille ſtehen; hinter ihrem Rücken hörten ſie die vordere Muſik, das Singen, Jauchzen und Trommeln der Winzer und Bacchanten, ohne zu wiſſen, wohin ſie kamen; ſie hörten das Schreien und Lachen des Volkes am Wege und ſahen endlich die Reihen der geſchmückten Hochzeitgäſte, welche in die Hände klatſchten und Beifall riefen. Mit Schwei߬ tropfen auf der rußigen Stirn kratzte der Herr Rittmeiſter von Schwendtner erbärmlich an ſeiner Geige und blieſen die Lohäuſer in ihre geſprungenen Röhren, bis ſie un¬ verſehens vor dem Epheutempelchen anlangten, in dem211 die Braut ſtand, lieblich in ihrem wehenden Schleier und im Glanze der Abendſonne, die auf ihrem Diamanten¬ ſchmucke funkelte. Jochel, der das Seil lenkte, hieß das¬ ſelbe ein wenig nachlaſſen, damit die Gehörnten ſtehen bleiben konnten. Alle drei erkannten augenblicklich die ehemalige Frau und die Schweſter; aber ſie glaubten zu träumen. Sie ließen die Inſtrumente ſinken und ſtarrten gleich irrſinnigen Menſchen hinauf, wo ſie ſtand und ihnen lächelnd zunickte; denn ſie wußte nicht, wen ſie vor ſich ſah, und glaubte, auch dieſe Geſtalten ſeien beſtrebt, ihren Ehrentag mit den ungeberdigen armen Späßen zu feiern. Brandolf aber klatſchte feſt in die Hände und rief: „ Gut, gut ſo, ihr Leute! “
Wie träumend griffen ſie an ihre Hörner, dann hinten an die Schwänze, wo ſie ſich gebunden fühlten; dann blickten ſie wieder an das Zauberbild der verrathenen Schweſter, der Gattin hinauf; das böſe Gewiſſen ließ ſie aber den Mund nicht öffnen, und eh 'ſie ſich beſinnen konnten, ließ Jochel das Seil wieder anziehen, daß ſie die rückſpringende Proceſſion fortſetzen mußten. Der Zug ging um das Haus herum, auf deſſen hinterem Balkone die Stadtmuſik ſtand und ihn begrüßte. Dann mündete er in den Park und erſchien zum zweiten Male vor der Herrſchaft und ging vorüber. Wieder ließ man die drei Unholde einen Augenblick vor der Braut ſtill ſtehen und wieder mußten ſie weiter ſtolpern und immer lauter und betäubender wurde der Lärm und der Jubel. Allein14*212Brandolf winkte, und zum dritten Male wiederholte ſich die Scene. Die armen Teufel merkten, daß ſie abermals vorgeführt wurden, und ſuchten ſeitwärts mit Gewalt auszubrechen. Denn trotz ihrer Verkommenheit empfanden ſie den Verrath und Hohn, dem ſie verfallen waren, mit dem Stolze der früheren Tage. Doch die unbarmherzige Kraft des Seiles hielt ſie feſt, und ſie ſtanden abermals vor der Braut und ſie ſtierten abermals zu ihr hinauf. Sie knirſchten und ſtöhnten und ballten die Fäuſte. Da warf Brandolf drei Louisd'ors, jeden in ein Papierchen gewickelt, hinunter, und blitzſchnell haſchten ſie darnach wie drei Affen, denen man Nüſſe zuwirft. Es ſchien ihnen jetzt doch wahrſcheinlich zu ſein, daß man ſie nicht kenne. Indeſſen winkte Brandolf wieder, Jochel zog das Seil an und der Spuk verſchwand endlich. Sie wurden aber nicht losgelaſſen und auch nicht zu dem Volke gebracht, das ſich wieder zu Schmaus und Tanz begab, ſondern
Jochel führte ſie und die zwanzig Küfer nach einer entfernt gelegenen Schenke, um die Teufelsgruppe dort extra zu bewirthen. Nur mußten die drei Gehörnten jetzt vorwärts gehen und muſiciren, indeſſen die Küfer hinter ihnen das Seil hielten. Darüber wurde es dunkel, und als die wunderliche Geſellſchaft bei der Schenke anlangte, ſah man in der Gegend des Winzerfeſtes drüben ein herrliches Feuerwerk gen Himmel ſteigen. Die Teufel wurden jetzt endlich mit ihren Schwänzen losgebunden, blieben aber fortwährend von den kräftigen Burſchen umringt und213 Jochel ging nicht von ihrer Seite, ſo daß ſie nicht die geringſte Gelegenheit fanden, ein einziges Wort unter ſich zu reden. Indeſſen erlabten ſie ſich, ihre innere Zerſtörung vergeſſend, an dem reichlichen Eſſen und Trinken, das aufgeſetzt wurde, bis Jemand das Fenſter öffnete und nach dem Herrſchaftshauſe hinwies, deſſen Fenſter alle von Licht ſtrahlten, während eine prächtige Ballmuſik durch die ſtille Nachtluft deutlich, aber fein gedämpft, herübertönte.
Ob dem Hauſe ſtanden die ſchönſten Sterne, was freilich die Teufel nicht rühren mochte; denn wenn ſie für dergleichen Gefühl gehabt hätten, ſo wären ſie jetzt nicht hier geweſen. Nur der weiche, vornehme Klang der Violinen verletzte ihnen das Herz, weil er ſie an beſſere Zeiten erinnerte und ſie ſich die Schweſter und Gattin vorſtellen mußten, wie ſie in dieſem Augenblicke im Reigen dahinſchwebte.
Um die Noth ihres Inneren zu erſäufen, überließen ſie ſich um ſo gieriger dem Getränke, das ihnen Jochel rückhaltlos einſchenkte. Als er ſie für betrunken genug hielt, fing er an, ſie zu necken und zum Zorn zu reizen; Andere folgten und zerrten ſie an den Schwänzen, worauf ſie unverweilt um ſich ſchlugen und eine ſchöne Prügelei anhuben.
In dieſem Augenblicke erſchienen zwei Gendarmen, die im Hauſe darauf gewartet hatten, und eh 'eine Viertel¬ ſtunde verfloſſen war, ſaßen die drei Landſtreicher feſtgemacht214 auf einem Leiterwagen, und zwei Stunden ſpäter in der Nacht im Gefängnißthurme der Kreishauptſtadt. Es erging ihnen jedoch nicht ſo übel. Vielmehr wurden ſie am Morgen vorgerufen und befragt, ob ſie mit Kleidern, Wäſche, Reiſegeld und Schriften hinreichend verſehen, unter Ueberwachung der Polizei nach der neuen Welt auswandern wollten, und drei Tage nachher reiſten ſie ſchon in Begleit eines Polizeiagenten, der Geld und Päſſe auf ſich trug, nach dem Seehafen. Der Agent verließ ſie erſt in dem Augenblicke, als das Schiff die Anker lichtete.
Hedwig erfuhr den ganzen Hergang erſt, als ſie eines Tages, ein ſchönes jähriges Knäblein auf dem Schoße haltend, die Sorge ausſprach, daß das Kind einſt ſeinen böſen Oheimen in die Hände laufen oder gar die Bekannt¬ ſchaft des häßlichen Schwendtner machen könnte. Jetzt erſt erzählte ihr der Mann den harten Spaß, den er ſich damals mit den Herren erlaubt. Entſetzt ſchaute ſie auf, das Kind wie zum Schutze gegen unbekannte Ge¬ fahren an ſich druckend; allein er beruhigte und tröſtete ſie ſogleich mit der Nachricht, daß laut Briefen, die er zu verſchaffen gewußt, die drei Geſellen nach ihrer An¬ kunft in Amerika, wie umgewandelt, ſich ſofort getrennt hätten. Ja, der Einfall habe die merkwürdigſte Wirkung auf ſie gethan; jeder von den Dreien ſei in dem ameri¬ kaniſchen Wirbel aufrecht ſchwimmend dahin getrieben und an einem beſcheidenen ſichern Ufer gelandet, wo er ſich halte. Einer ſei ein ſtiller Bierzapfer in der Nähe215 von Newyork, der andere Schulhalter in Texas und der dritte Prediger bei einer kleinen Religionsunternehmung, und Allen gehe es gut.
Brandolf's Vater wurde achtundachtzig Jahre alt und verſicherte, dies verdanke er nur der Lebensfreude, welche von der ſtillen Geſundheit der Frau Tochter ausſtröme. So verſchieden iſt es mit der Dankbarkeit des Bodens beſchaffen, in welchen eine Seele verpflanzt wird.
„ Ihr Herr Brandolf iſt ja ein Ausbund von einem edlen und wohlmögenden Frauenwähler! “ſagte Lucie, als Reinhart die verarmte Baronin in ſeiner Erzählung zu Glück und Ehren gebracht hatte; „ aber ſind Sie auch ſicher, daß dieſer Erkieſer ſeines Weibes nicht ein wenig das Spiel des Zufalls war, oder am Ende ſelbſt eher gewählt wurde, während er zu wählen glaubte? “
„ Wie ſo? “fragte Reinhart.
„ Ich meine nur! “erwiderte Lucie; „ haben Sie auch alle Umſtände ordentlich aufgefaßt und wiedergegeben, und nichts überſehen, was auf eine beſcheidene Einwirkung, ein kleines Verfahren der guten Frau von Lohauſen hindeuten ließe? “
„ Kennen Sie die Leute, oder haben Sie ſonſt ſchon von der Geſchichte gehört? “
„ Ich? Nicht im Mindeſten! Ich höre heute zum erſten Male davon reden. “
„ Nun, wenn Sie alſo keine andere Quelle kennen, ſo217 müſſen Sie ſich ſchon an meine Redaction halten, die ich nach beſtem Wiſſen und Gewiſſen beſorgt habe. Ich betheuere, daß auch nicht die leiſeſte Spur von Koketterie und Schlauheit ſoll zwiſchen den Zeilen zu leſen ſein, und ich bitte Sie, hochzuverehrendes Fräulein, nichts hinein¬ legen zu wollen, was hineinzulegen ich nicht die Abſicht hatte! “
„ Und ich bitte den hochzuverehrenden Herrn tauſend¬ mal um Verzeihung, wenn meine Vermuthung beleidigend war, daß der armen Frau Hedwig noch ein Reſt von eigenem Willen hätte vergönnt ſein können im Punkte des Heirathens! “
„ Ei, mein ungnädiges Fräulein, warum denn ſo gereizt? Ich wehre mich ja lediglich für eine Frauen¬ geſtalt, die durch ihre Hülfloſigkeit nur gewinnt und dem Geſchlechte zur Zierde gereicht! “
„ Ei natürlich, ja! So verſteh 'ich es ja auch! “ſagte Lucie mit fröhlichem Lachen, welches ihre Locken anmuthig bewegte; „ ein ſanftes Wollſchäfchen mehr auf dem Markte! Diesmal handelt es ſich noch um die Nutzbarkeit einer guten Wirthſchafterin, und wir müſſen geſtehen, Sie haben das Thema faſt wie ein Kinder - und Hausmärchen heraus¬ geſtrichen! “
„ Aber, liebe Lux. “rief jetzt der Oberſt, „ ſei doch nicht ſo zänkiſch! Du haſt ja, Gott ſei Dank, nicht nöthig, Dich über dieſe Dinge zu ereifern, wenn Du doch unverheirathet bleiben und mein Alter verſchönern willſt! 218In dieſer Hoffnung will ich Dir übrigens jetzt etwas Hülfe bringen! Mit unſerer Wahlfreiheit und Herrlich¬ keit, beſter Freund, iſt es nämlich nicht gar ſo weit her, und wir dürfen nicht zu ſehr darauf pochen! Wenigſtens hab 'ich die Ehre, Ihnen in mir einen alten Junggeſellen vorzuſtellen, der vor langen Jahren einſt zum Gegenſtande der Wahlüberlegung eines Frauenzimmers geworden, als er nur die Hand glaubte ausrecken zu dürfen, und dabei ſo ſchmälich unterlegen iſt, daß ihm das Heirathen für immer verging. Wenn Ihr es hören wollt, ſo will ich Euch das Abenteuer, ſo gut ich kann, erzählen; es lächert mich jetzt und zugleich gelüſtet mich, es vor meinem Ende zum erſten Male Jemandem zu erzählen oder ſchwatzend zu redigiren, wie unſer Freund Reinhart ſich ausdrückt. “
Die jungen Leute bezeugten natürlich ihre Neugierde, die ſie beide auch empfanden, und ſie baten den Oheim, mit ſeinen Mittheilungen nicht zurückzuhalten.
Er warf noch einen aufmerkſam forſchenden Blick auf Reinhart's Geſicht, blickte hierauf nachdenklich zu Boden und ließ ſeinen weichen ſilbernen Schnurrbart durch die Finger laufen, als er ſeine Rede begann.
Es iſt bald geſchehen, daß man alt wird (ſagte er), ſo raſch, daß man beim Rückblicke auf den durchlaufenen Weg ſich nur auf Einzelnes etwa beſinnen und ſich nament¬219 lich nicht mit reumüthigen Betrachtungen über die be¬ gangenen dummen Streiche aufhalten kann. Denn die¬ ſelben ſcheinen in der perſpectiviſchen Verkürzung ſo dicht hinter einander zu ſtehen, wie jene Meilenſteine, welche der Reiter für die Leichenſteine eines Kirchhofes anſah, als er auf ſeinem Zauberpferde an ihnen vorüberjagte. Dennoch gibt es eine Art von Fehlern, Begehungen oder Unterlaſſungen ſcheinbar ganz unbedeutender und harm¬ loſer Art, welche ihrer Folgen wegen zehnmal ſchwerer im Gedächtniß haften bleiben, als die gröberen Vergehungen und Verſäumniſſe, und während wir dieſe in unſerem Sinne längſt genugſam bedauert und gebüßt haben, über¬ kommt uns immer wieder Reu 'und Aerger, ſobald jene in der Erinnerung aufleben. Man verzögert den Beſuch bei einem Kranken, und er ſtirbt, ohne ein letztes Wort geſagt zu haben, deſſen man bedurfte. Einem guten Freunde haben wir Opfer gebracht und große Dienſte geleiſtet; aber wir laſſen ihn mit einer kleinen Freund¬ lichkeit im Stiche, auf die er gerechnet hat; die Ent¬ fremdung, welche eintritt, halten wir für Undank, und nun erſt überlaſſen wir den Mann auf ſchnöde Weiſe ſeinem Unſtern und bereuen es zeitlebens. Statt, wie wir uns vorgenommen, ruhig an der Arbeit zu ſitzen, laufen wir eines Morgens früh vom Hauſe weg, bleiben den ganzen Tag fort und verfehlen einen entſcheidenden Beſuch, der ſich nie wiederholen wird. Wir lieben die Wahrheit und verhehlen ſie aus blödem Hochmuth, oder220 auch aus einer Anwandlung von Muthloſigkeit das einzige Mal, wo es nothwendig für uns war, ſie zu ſagen. Gegen Luſt und Willen geht Einer mit Menſchen von ſchlechtem Rufe öffentlich ſpazieren und wird von einer ihm theueren Perſon geſehen, die ſich von ihm abwendet, und was der¬ gleichen Unſtern mehr iſt.
Wir haben ſchon von der weſtdeutſchen Univerſitäts¬ ſtadt geſprochen, wo Sie geboren ſind, Herr Reinhart. Dort habe ich auch einmal als Student gelebt, zur Zeit, als der erſte Napoleon noch regierte und die Frauensleute unter den Armen gegürtet waren. Ich ſollte Jura ſtudieren, fand aber nicht viel Muße dazu, da ich einen Anführer unter den Rauf - und Zechbrüdern vorſtellte und ſonſt allerlei Verworrenes zu treiben hatte. Von der politiſchen Noth des Vaterlandes mit leidend, ſuchte ich Erleichterung in aufgeſpannten Kraftgeſinnungen und verzweifelt heroiſchem Daſein, welches bald in ein halbkatholiſches Romanzen¬ thum, bald in eine grübelnde Geiſteskälte hinüberſchillerte. Ich war bald mehr ein aufgeklärter Myſtiker, bald mehr ein gläubiger Freigeiſt, alles natürlich ohne die entſprechen¬ den Kenntniſſe zu pflegen, die mit ſolchen Richtungen damals verbunden wurden. Nichts verſtand ich ganz, als die körperlichen Uebungen, Fechten, Reiten und Trinken, letzteres nicht im Uebermaß, aber doch genug, um zuweilen empfindſam zu werden und die moraliſchen Leiden der Zeit in erhöhtem Maße zu fühlen. Da war denn ein Freund vonnöthen, der ohne Ueberhebung ſein Herz dem221 Vertrauen öffnete und ohne Spott den gewünſchten ver¬ nünftigen und kühlen Zuſpruch ertheilte.
Einen ſolchen fand ich in einem Studenten, dem wir den altdeutſchen Spitznamen Mannelin gegeben, wobei wir ihn einſtweilen noch laſſen wollen. Ich hatte in einem Collegium den Platz neben ihm erhalten, und er war mir vielleicht dadurch anziehend geworden, daß er faſt in Allem das Gegentheil von mir zu ſein ſchien. Immer ruhig, meiſtens fleißig, war er doch kein Spielverderber, und obſchon er weder focht noch ritt, noch viel trank, nahm er an den allgemeinen Verſammlungen und Haupt¬ ſachen Theil und ſah mit einer faſt gelahrten und feinen Haltung ſchon als Jüngling in die Welt und war gern geſehen.
Engere Bekanntſchaft machte ich mit dieſem Mannelin in dem Bankhauſe, bei welchem ich empfohlen war und auch er ſeine Wechſel vorzuweiſen hatte. Der Bankier pflegte auf jeden Sonntag einige Studenten zu ſeinen Tiſchgeſellſchaften einzuladen, und ſo trafen wir einſtmals dort als Tiſchnachbarn zuſammen und unterhielten uns ſo gut, daß wir nachher einen langen Spaziergang zu¬ ſammen machten und uns auch in der Folge öfter ſahen. Ich fühlte bald das Bedürfniß, meine Luſtbarkeiten und Waffenthaten häufiger zu unterbrechen und den ruhigen Genoſſen aufzuſuchen, dem immer eine Stunde oder mehrere zur Verfügung ſtanden, weil er immer vorher ſchon Etwas gethan hatte und auch nachher wieder gleichmüthig arbeiten222 konnte, wenn es nothwendig war, es mochte Tag oder Nacht ſein.
Mit großer Duldſamkeit ertrug er meine Vorliebe für das Unerklärliche und Ueberſinnliche, das ich fortwährend in allen Dingen herbeizog und anrief, und vertheidigte ohne allen Eifer ſeinen Standpunkt der Vernunft, wie Einer der es beſſer weiß, aber es nicht gerade fühlen laſſen will. Er war ſchon von ſeinem Vater her ein geübter Kantianer und ließ, was darüber hinausging, ſich nicht anfechten. Närriſcher Weiſe freute ich mich eigentlich deſſen und war ſeiner Geſinnung und ſeines Wiſſens froh, während ich ihn mit phantaſtiſchen Reden bekämpfte. Es war mit mir, wie wenn Jemand durch einen verrufenen Wald geht und auf ſeine Furchtloſigkeit pocht, im Stillen aber ſich auf das gute Schießgewehr verläßt, das ein Begleiter mit ſich führt. Zuweilen wollte es mir aller¬ dings vorkommen, als ob ich dem Mannelin ein Bischen zum ſtillen und am Ende gar ſpaßhaften Studium diente, wie es auf Hochſchulen ja immer ſolche Leimſieder gibt, die für das Geld, das ſie ihre Eltern koſten, vor Allem etwas glauben lernen zu ſollen und ſich allen Ernſtes einbilden, ſich für ſo und ſo viele Zehngroſchenſtücke ſelbſt Lectionen in der Menſchenkenntniß geben zu können. Die Zehngroſchenſtücke verwenden ſie nämlich an einige Flaſchen Bier oder Wein, die ſie dabei wagen müſſen, und ſie bringen ſie den Vätern unter der Rubrik: „ Allgemeines zur Weltbildung “extra in Rechnung. Aber ein ſolcher223 Leimſieder war Mannelin doch nicht. Er liebte wirklich in mir das Widerſpiel und den harmloſen Kerl, der ich im Grunde war, und wenn eine kleine Spitzbüberei dabei mitwirkte, ſo war es die Kunſt, mit der er ſich an meinen vielen Erholungen, wenn ich ſie erzählte, förmlich ſelber erholte, ohne ſie zu theilen.
Als unſere gute Freundſchaft in dem Bankierhauſe bemerkt wurde, lud man uns immer zuſammen ein, wie wir auch bald zu einer Art von Hausfreunden gediehen, deren erwartetes oder unerwartetes Erſcheinen ſtets gern geſehen wurde. Wegen der Verſchiedenheit unſeres Weſens ging für die Andern auch immer etwas Kurzweiliges um uns vor, woran vorzüglich die einzige Tochter Hildeburg ihr Vergnügen zu finden ſchien. Ohne in der Denkweiſe dem Einen oder Andern entſchieden beizuſtimmen, brachte ſie uns immer in's Gefecht, und wenn nicht ein beſonders angeſehener Gaſt vorhanden war, der auf die Geſellſchaft der Tochter des Hauſes Anſpruch erhob, ſo nahm ſie bei Tiſch unfehlbar zwiſchen uns Beiden oder ganz in der Nähe Platz. Als das endlich zu ſcherzenden Bemerkungen Anlaß gab, erklärte ſie uns offen als ihre lieben und getreuen Diener, ernannte mich zu ihrem Marſchall und den Mannelin zu ihrem Kanzler und was dergleichen Späße mehr waren. Eine vielbegehrte reiche Erbin und in allen Dingen verſtändige und, wie der Student ſagt, patente Perſon, ein fixer Kerl, wie ſie war, ſetzte ſie ſich durch ſolche Freiheiten keinerlei Mißdeutungen aus.
224Das hinderte indeſſen nicht, daß wir Beide uns in ſie verliebten und es einander leicht anmerkten. Doch blieben wir dabei nicht nur friedlicher Geſinnung, ſondern die gemeinſame Verehrung diente ſogar dazu, unſere Freund¬ ſchaft zu befeſtigen und den Verkehr angenehm zu beleben, weil ja ohnehin von ernſthaften Folgen für uns noch Jahrelang nicht die Rede ſein konnte, auch Hildeburg uns ſo vollkommen unparteiiſch behandelte, daß Keiner vor dem Andern aufgemuntert oder gereizt wurde. Wie Mannelin im Innerſten dachte, wußte ich freilich nicht; ich dagegen kann nicht leugnen, daß ich mich heimlich für prädeſtinirt hielt, weil die Schöne eben ſo ſtark brünett war, wie ich ſelber, Mannelin hingegen der blonden Menſchenart ange¬ hörte. In der That waren ihre wagerechten Augenbrauen ſo ſammetdunkel, wie der heraldiſche ſchwarze Zobel auf den alten Wappenſchilden, und über der Stirne hing die krauſe Nacht eines Tituskopfes — na, ich will keine Beſchreibung zum Beſten geben, nur anmerken will ich noch, daß an feſt¬ lichen Tagen ein paar kleine Brillantſterne aus der nächt¬ lichen Wildniß funkelten wie Leuchtwürmchen. Und dennoch fiel der Blick, der von dem Schimmer angezogen wurde, ſogleich hinunter in den warmen Glanz der dunkeln Augen, die meiſtens gütig ihn empfingen. Aber trau, ſchau wem!
Doch ein heißeres Feuer entflammte ſich, in welchem die Stadt Moskau aufging und das dem Napoleon die Stiefelſohlen verbrannte. Es dauerte nicht lange, ſo hieß es bei der ſtudierenden Jugend überall: heimgereiſt! Mir225 ſtand ſchon eine Stelle in einem kaiſerlichen Dragoner¬ regimente offen; Mannelin wollte als beſcheidener Fu߬ gänger in die preußiſche Infanterie treten, und Beide rüſteten wir uns zum Abzuge. Vorher mußten wir aber nochmals im Bankierhauſe ſpeiſen und wurden mit aller Freundſchaft behandelt. Der Ernſt jener Tage hinderte nicht, daß an der Sonne der Hoffnung auch Fröhlichkeit und Scherz wieder aufblühten, und ſo wurde denn, als man auf das Wohl der ſcheidenden jungen Krieger trank, die Hildeburg ein wenig aufgezogen und gefragt, welchen von uns ſie am unliebſten verliere?
„ Das weiß ich wahrhaftig ſelber nicht! “rief ſie; „ erſt war mir der Kanzler lieber; ſeit aber in ſeinem Umgange der wilde Marſchall ſo geſittet und liebenswürdig geworden iſt, verliere ich dieſen auch ungern! Und doch iſt es wieder nicht Recht, wenn der Andere, der die Quelle der Beſſerung iſt, es büßen ſoll! Mag mir der Himmel helfen! “
Sie verbarg auf das Artigſte die Wehmuth des Ab¬ ſchiedes hinter der Miene einer komiſchen Verlegenheit, ergriff endlich ein herzförmiges Zuckergebilde des Nach¬ tiſches, zerbrach es und gab Jedem von uns eine Hälfte. Ich tauchte die meinige in das Weinglas und verſchlang ſie ſogleich zum Zeichen meines Liebeshungers; Mannelin dagegen behielt die ſeinige in der Hand und ſpielte ſcheinbar damit, bis er ſie unbeachtet in die Taſche ſchieben konnte.
Keller, Sinngedicht. 15226Nach aufgehobener Tafel wurde ein Spaziergang durch den Garten gemacht, ſoweit die Wege in der frühen Jahreszeit gangbar waren; denn wir befanden uns in den erſten Monaten des Jahres 1813. Ich weiß nicht wie es kam, daß wir uns mit dem Mädchen bald von den übrigen Gäſten entfernten und ihr zu beiden Seiten gingen. Wir fühlten uns jetzt ernſter und zugleich leidenſchaftlicher geſtimmt, als früher, da wir uns der Tiefe unſerer Neigung zu dem ſchönen Weſen deutlicher bewußt wurden; nur die Ungewißheit der Zukunft und die vorausſichtliche Dauer und Gefährlichkeit des bevorſtehenden oder vielmehr ſchon begonnenen Krieges mochten verhüten, daß ſich die zwiſchen uns Beiden bisanher waltende gleichmüthige Freundſchaft trübte.
Hildeburg merkte wol an unſerem ſtillen Weſen und an der Natur unſerer Athemzüge, was uns bewegte, und ſie ſelbſt wurde fühlbar erregter. Als wir unverſehens vor einem Pavillon anlangten, ſtieß ſie die Thüre auf, ging hinein und öffnete die vom Winter her noch ver¬ ſchloſſenen Fenſterläden, indem ſie uns raſch mit einem Blicke überflog. Wir folgten ihr in den kleinen Saal und ſie wandte ſich uns zu.
„ Ich bin in allem Ernſte in einer ſo traurigen Lage, wie noch nie ein Mädchen geweſen iſt; denn ich habe Euch Beide lieb und kann es nicht auseinander löſen. Du, Marſchall, haſt mein halbes Herz verſchlungen; das iſt thöricht, aber es verführt mich; und Du, Kanzler,227 haſt die andere Hälfte aufbewahrt, das iſt auch thöricht, aber es iſt treu und beglückt mich. Ich werde nie die Frau eines Mannes werden, es wäre denn Einer von Euch Beiden; dazu müßte aber der Eine fallen! Wenn Beide fallen oder Beide zurückkehren, werde ich ledig bleiben, als das Opfer eines heilloſen unnatürlichen Naturſpieles oder unvernünftigen Ereigniſſes, das in meiner Seele und meinen Sinnen vorgeht und das ich vor der Welt verbergen muß, wenn ich mich nicht mit Schmach bedecken will! Da ich mir aber Keinen von Euch todt denken kann und will, ſo lebt wohl auf ewig, liebſte Brüder! “
Nach dieſen Worten fiel ſie Jedem von uns um den Hals und küßte ihn heftig auf den Mund, zuerſt mich und dann den Mannelin, hierauf den Mannelin und endlich mich noch einmal. Wir ſtanden wie vom Himmel gefallen und vermochten uns nicht zu regen. Für uns war die Situation ganz verflucht und ich habe weder im Krieg noch im Frieden eine ähnlich verzwickte Lage wieder erlebt. Denn wenn, wie wir es ja ſoeben erfahren hatten, ein ehrbares Frauenzimmer allenfalls in leiden¬ ſchaftlicher Wallung zwei Männer nacheinander küſſen kann, ſo werden dieſe, wenn ſie das Weib lieben, niemals dazu kommen, daſſelbe nun gemeinſam anzufaſſen und wieder zu küſſen. Wir brauchten uns auch nicht darüber zu beſinnen, weil ſie, ehe das möglich war, uns enteilte und im Vorbeigehen die Hand auf den Mund legend15*228ausrief: „ Ihr verpfändet mir Euere Ehre, daß Ihr ſchweigt! “
Es war uns nicht möglich, noch länger zu weilen; wir verabſchiedeten uns, wobei Hildeburg wie alle Andern unſere Hände ſchüttelte und die Thränen der Rührung nicht verhehlte.
Da gingen wir nun mit unſerem getheilten Glück und Mißglück von hinnen und ſprachen, nachdem wir ein gezwungenes Lachen bald aufgegeben, über eine Stunde lang kein Wort miteinander, obgleich wir zuſammen blieben. Wir konnten uns nicht ſehr gehoben fühlen; denn ein Graf von Gleichen, der zwei Frauen hat, kann dabei ein guter Ritter und Kreuzfahrer ſein; zwei gute Geſellen aber, die der Gegenſtand der Doppelneigung eines jungen Mädchens ſind, müſſen ſich doch etwas zu zwiefältig, zu halbſchürig vorkommen, und es iſt nicht Jedermanns Sache, ein ſiameſiſcher Zwilling zu ſein. Dennoch hatte uns das ſeltſame Geſtändniß Hildeburg's und ihre leiden¬ ſchaftliche Umarmung Herz und Sinn noch vollends gefangen genommen, und wir liebten das ſchöne ſchlanke Naturſpiel unvermindert fort, zumal daſſelbe ja noch tragiſcher als wir geſtellt war, wenn es ſich ſo mit ihm verhielt, wie es ſagte.
Es half uns denn auch das Empfinden der Tragik über die gegenſeitige Verlegenheit hinweg. Als wir den Verſammlungsort aufſuchten, wo an die hundert junge Männer, die am nächſten Tage nach allen Seiten unter229 die Fahnen eilen mußten, den Abend noch zubringen wollten, da erhob ſich unſer Geiſt zu der Höhe der auf¬ wogenden und rauſchenden Vaterlands - und Kampfesfreude. Wir ſaßen dicht neben einander in der gedrängten Schar; und als gegen Mitternacht die Gläſer unter dem donnern¬ den Rufe: Tod oder Freiheit! in die Höhe fuhren, da hielt Mannelin mir ſein Glas entgegen und ſagte: „ Sollte es ſo kommen, daß Einer von uns fällt und der Andere das Weib gewinnt, ſo ſoll er leben! Auf ſein Glück! “
Nicht minder pathetiſch ſtieß ich an, daß beide Gläſer klirrten, indem ich rief: „ Und Friede dem Todten! “
So trennten wir uns als wackere Freunde, und nach wenigen Stunden fuhren wir auf getrennten Wegen dahin, ohne daß wir für die Zukunft irgend eine Abrede oder Beſtimmung getroffen hatten. Wie das Kriegsglück wollten wir auch das Schickſal unſerer ungewöhnlichen Liebes¬ geſchichte ſich ſelbſt überlaſſen.
Mannelin hatte hellere Sterne, als ich; während ich noch immer unter Oeſterreichs zögernden Standarten harren mußte, ſtürmte der blonde Duckmäuſer mit ſeiner Muskete ſchon von Schlacht zu Schlacht, und erſt auf Leipzigs Feldern kam ich zum Tanze und athmeten wir den gleichen Pulverdampf, aber ohne uns zu ſehen oder von einander zu wiſſen.
Ich kann dem Verlaufe des gewaltigen Feldzuges jetzt nicht weiter folgen. Auch in Paris traf ich den Freund nicht, obgleich wir faſt gleichzeitig dort einmarſchirt waren. 230Schon zum Leutenant vorgerückt, war er ſo zu ſagen faſt auf dem Pflaſter jener Stadt noch ſchwer verwundet worden und lag, als ich ſeine Spuren ſuchte, unerreichbar in einem entlegenen Lazareth. Es hieß ſogar, er werde bereits geſtorben ſein, als ich meine Nachforſchungen fort¬ ſetzte; da widerſtrebte es mir, mich von ſeinem Tode zu überzeugen, um an geweihter Stätte des Kampfes und Sieges nicht die nackte Selbſtſucht in mir aufkommen zu laſſen. Denn ſeit Streit und Mühſal aufgehört hatten und die Friedenspalmen winkten, waren auch die Gedanken an das verhexte Liebesweſen wieder ſtärker wach geworden, und ich blieb abſichtlich im Dunkeln über Mannelin's Tod, damit ich nicht gleich wie ein Wechſelgläubiger vor das ſchöne Mädchen zu treten, verſucht würde, an deſſen Verheißung, den Ueberlebenden zu heirathen, ich feſt glaubte.
Im Monat Mai des Jahres 1814, zur Zeit wo das lange Rheinthal blühte wie ein einziger Fliederbuſch, zog unſer Regiment über den Strom oſtwärts; es bekam aber den Befehl, in der Rheingegend Halt zu machen, um die ferneren Umſtände abzuwarten, wie wir denn auch bald nachher nach der Lombardei geſandt wurden. Die Schwadron, in der ich ritt, kam aber nirgends anders hin zu ſtehen, als in unſere gute Univerſitätsſtadt. Mit welchen Gedanken ſah ich die Pferde in den Marſtall und die Reitbahn ſtellen, in denen ſich der Student ſo oft getummelt hatte! Und als ich mein Quartier im231 Gaſthofe bezog, in welchem ich vor fünf Vierteljahren ſo manche Flaſche ausgeſtochen, waren Wirth und Diener¬ ſchaft ſehr verwundert über den ernſthaften Kriegsmann.
Allein auch ich verwunderte mich, da ich auf Befragen vernahm, die Bankiersfamilie befinde ſich zur Zeit nicht in der Stadt, ſondern auf einem Landſitze, der ungefähr eine Meile entfernt ſei. Ein franzöſiſcher Emigrant, der vor zwanzig Jahren das Grundſtück an ſich gebracht, hatte es nämlich augenblicklich zum Verkaufe ausgeboten, als die Ordnung der Dinge in Frankreich umgeſtürzt war; und der Bankier hatte nicht geſäumt, das Gut auf die leichte und billige Weiſe zu erwerben, die in ſolchen Zeit - und Kriegsläufen denen möglich iſt, welche baares Geld haben.
Ich konnte daher am Tage der Ankunft nicht mehr vorſprechen, ritt aber um ſo zeitiger am andern Morgen hinaus, von meinem Reitknechte begleitet. Es regnete ein wenig an dem Tage, weshalb ich den Kragen des weißen Reitermantels aufgeſtellt und die Schirmmütze etwas tief in die Augen gezogen hatte, als ich durch eine lange Allee auf das alte ſchloßartige Gebäude zuritt, das wenig gut unterhalten ſchien. Man mochte glauben, daß eine gewöhn¬ liche Officiers-Einquartierung angekommen ſei, da auch in der Umgebung ſchon öſterreichiſche Reiterei erſchienen war. Es trat daher nur ein Diener aus der Thüre, mich zu empfangen und nach meinen Wünſchen zu fragen Statt ihm zu antworten, ſprang ich vom Pferde, überließ die232 Zügel meinem Burſchen und betrat ſogleich das einſt ſtattlich gebaute, jetzt etwas verfallene Veſtibül des Hauſes. Erſt als ich ihm den Mantel übergab, erkannte mich der Diener trotz des veränderten Ausſehens, das der Krieg mir verliehen, und führte mich freundlich überraſcht in einen Saal, wo der Herr und die Frau des Hauſes die Zeitungen laſen. Auch ſie erkannten mich nicht ſofort, erhoben ſich aber mit lebhafter Freude, als es geſchah, und hießen mich willkommen. „ Was wird Hildeburg ſagen, “riefen ſie, „ wenn der Marſchall wieder da iſt! Und wo bleibt denn der Kanzler? Wiſſen ſie nichts von ihm? Wie oft haben wir von beiden Herren geſprochen! “
Eh 'ich antworten konnte, trat Hildeburg in den Saal, die allein mich von einem Fenſter aus erkannt hatte, ſo¬ bald ich nur von der Landſtraße in die Allee ein¬ gebogen war.
Ich vergeſſe niemals die Erſcheinung, wie ſie mir entgegen trat. Wie ein weißes Tuch ſo bleich war das Geſicht, das Auge träumeriſch erſchreckt und auf dem Munde doch ein Lächeln des Wiederſehens, das aus dem Herzen kam, blaſſe Trauer und erröthende Freude mehrere Secunden lang ſich jagend: es war kein Zweifel, ſie hielt den armen Mannelin für todt und mich für gekommen, mein Recht geltend zu machen!
Zum Glücke waren die Eltern an allerlei wunderliche Stimmungen gewöhnt, ſonſt hätten ſie jetzt ihren wahren Zuſtand ahnen müſſen, beſonders als ich nicht länger ver¬233 meiden konnte, von Mannelin zu erzählen was ich wußte, was freilich wenig und doch bedenklich genug war. Der Papa meinte, es ſei doch zu hoffen, daß er ſich noch unter den Lebenden befinde, anſonſt gewiß der eine oder andere der jüngeren Freiwilligen, die in den letzten Wochen bereits in ihre Hörſäle zurückgekehrt ſeien, eine beſtimmte Todeskunde gebracht hätte, Auch in den Verluſtliſten, die er ziemlich aufmerkſam durchlaufen, ſei ihm der Name ſo wenig vorgekommen, als der meinige.
Allein als Hildeburg eine Viertelſtunde ſpäter mit mir zu Zweit durch eine Zimmerflucht wandelte, um mir das Haus zu zeigen, das erſt neu hergeſtellt und ein¬ gerichtet werden müſſe, hielt ſie Plötzlich an und ſagte mit leiſe hallenden Klagetönen: „ Es iſt nur zu wahr! Mein kluger, lieber Kanzler Mannelin liegt in Frankreich unter dem grünen Raſen; ſie haben ihm die Bruſt durchſchoſſen und ſeine treuen blauen Augen ausgelöſcht! Und Du, Marſchall, biſt gekommen, es mir zu ſagen! “
Und gleichzeitig ſah ſie mich mit tief aufflammenden Augen an, die ebenſo wol aus Haß wie aus Liebe ſo erglüht ſein konnten. Denn auf den blaß gewordenen Lippen lag jetzt nichts als bittere Trauer. Das Du, mit dem ſie mich anredete, wagte ich nicht zu erwidern, ſo herriſch hatte es geklungen, beinahe wie der Herr mit dem Diener oder der Officier mit dem Soldaten ſprach.
„ Nein, Fräulein Hildeburg! “ſagte ich, einen Schritt zurücktretend, doch mit ſcheuer Ehrerbietung, denn ſie ſah234 gar zu merkwürdig aus, faſt wie wenn ſie beſeſſen wäre: „ Ich weiß von nichts und hoffe, er lebt noch! “
„ Den Teufel hoffſt Du! “rief ſie mit funkelnden Augen und lachte jählings laut auf, indeſſen mich das Gewiſſen Lügen ſtrafte. Denn in dieſem Augenblicke ſchien es mir, daß ich nicht genug gethan hatte, um über das Schickſal Mannelin's in's Klare zu kommen, und zu¬ gleich fühlte ich mich von brennender Eiferſucht gegen den Abweſenden gepeinigt, der ſo leidenſchaftlich betrauert wurde. Sie hatte ihn offenbar mehr geliebt oder liebte jetzt noch nur ihn. In dieſer Beklemmung that ich einen unfreiwilligen ſchweren Seufzer, worauf Hildeburg mich bei der Hand nahm und mit veränderter Stimme ſagte: „ Kommen Sie und ſprechen wir vor der Hand nicht mehr davon! “
Ruhig ging ſie neben mir in den Saal zurück, wo eine Erfriſchung aufgetragen war, und als ich gegen Abend mich nach der Stadt begab, reichte ſie mir treuherzig die Hand und ſagte: „ Sie hoffe mich noch öfter zu ſehen, ſo lange das Regiment in der Gegend bleibe. “ Da die Witterung meiſtens gut war, ſo fand ſich faſt täglich Urſache und Vorwand, den Spazierritt zu wiederholen, und wenn ich ausblieb, ſagte Hildeburg am nächſten Tage ſogleich: „ Warum ſind Sie geſtern nicht gekommen? “ Sie ſchien ſich mir wieder mehr zuzuneigen, und das eine Mal verlor ſie unverſehens einen trauten Blick an mich, das andere Mal ſtreifte ſie mich leicht mit einer Be¬235 rührung, kurz ſie beglückte mich mit jenen kleinen Zeichen, mit welchen Liebende anfangen, ſich an den Gedanken eines dereinſtigen Beiſammenſeins zu gewöhnen. Dann aber blieb ſie wieder Tage lang in ſich gekehrt und lebte ſichtlich mit düſteren Sinnen in der Ferne. Mein eigener Zuſtand ſchwankte daher fortwährend zwiſchen Hell und Dunkel hin und her, ſo daß ich ungeduldig das Ende herbeiwünſchte. Allerdings ſtand es auch einem jungen Dragoner, der ſeit Jahr und Tag den Säbel in der Fauſt führte und über manche Blutlache hinweggeſetzt hatte, nicht ſonderlich gut an, um ein Frauenzimmer herum zu ſchmach¬ ten, das doch nicht dicker war, als ein Spinnrocken, wenn auch noch ſo hübſch gedreht.
Als ich eines ſchönen Nachmittags auf den Landſitz hinausritt und eben in der langen Ulmenallee in un¬ williger Gemüthsbewegung das Pferd in eine unruhige und heftige Gangart verſetzt hatte, ohne deſſen bewußt zu ſein, eilte mir aus dem Hauſe ein fröhliches Menſchen¬ paar entgegen: Hildeburg, welche einen preußiſchen In¬ fanterieofficier, oder mein Freund Mannelin, der das Fräulein Hildeburg an der Hand führte; ich konnte in der Ueberraſchung nicht erkennen, welches von beiden der Fall war. Meine erſte Empfindung war die Freude über das unverhoffte Wiederſehen, die zweite ein Gefühl der Zufriedenheit über die Herſtellung des früheren Zuſtandes zwiſchen den drei Perſonen, womit wenigſtens für den Augenblick der quälende Zweifel beſeitigt wurde. Auch236 Hildeburg gab ähnlichen Gefühlen Ausdruck, indem ſie ausrief: „ Nun iſt Alles gut, nun ſind wir Alle wieder beiſammen! “
Mannelin vollends war unverkennbar glücklich und zufrieden, die Dinge ſo zu finden, da er ſchon gefürchtet haben mochte, zu ſpät zu kommen; denn er wußte, daß er irriger Weiſe für todt ausgegeben worden. Er war aber nicht ſo unrettbar verletzt geweſen und jetzt leidlich geheilt; doch hatte er einen mindeſtens halbjährigen Urlaub antreten müſſen, um ſich ganz zu erholen. Schon wieder mit Büchern verſehen war er auf dem Wege nach einem Badeort mit heißen Quellen begriffen und hielt kurze Einkehr in der Univerſitätsſtadt. Erſt auf dem Landgute des Bankherren hatte er heute vernommen, daß ich ebenfalls im Lande ſei. Mannelin hatte durch den Kriegsdienſt ſich ſehr vortheilhaft verändert, was das Aeußere betrifft. Ohne gerade martialiſch drein zu ſchauen, hatte er doch an feſter Haltung gewonnen. Sein leichter blonder Bart auf Wangen und Oberlippe erhielt durch den Ernſt der Ereigniſſe und Abenteuer, der in den Augen und auf dem Munde ſich gelagert hatte, eine größere Bedeutung, als ihm ſonſt zugekommen wäre, und das militäriſche Wiſſen und Erfahren, um welches er reicher geworden, vereinigte ſich vortrefflich mit ſeinem wiſſenſchaftlichen Geiſte. Aber ungeachtet er die be¬ deutendſten Kriegsthaten mitgemacht und zahlreichere Ge¬ fechte und Gefahren beſtanden, als ich, hörte man ihn237 niemals davon ſprechen, und wäre er nicht unfreiwillig in die zeitgemäßen Geſpräche mit verflochten worden, ſo würde man vermuthet haben, er ſei die ganze Zeit über nie aus ſeiner Studierſtube herausgegangen.
Das verlieh dem liebenswürdigen Duckmäuſer einen neuen Glanz, der indeſſen auch mir zugute kam; denn als ich einſt nach eifrigem Sprechen vom Hauen und Stechen in der darauffolgenden Stille plötzlich wahrnahm, wie renommiſtiſch ich mich neben ihm ausnehmen mußte, ſuchte ich mich beſchämt zu beſſern und wurde auch hie und da beſcheidener. Leider mußte ich nachher, da ich Soldat von Prefeſſion blieb, mich doch wieder an das Schreien und Rufen gewöhnen.
So verlebten wir noch eine Reihe von angenehmen heiteren Tagen, bis nicht unerwartet und doch unverhofft der Abmarſchbefehl für mein Regiment anlangte, und zwar hatte der Aufbruch in ſechs Tagen ſtattzufinden. Von Stund 'an war Hildeburg in ihrem Benehmen ver¬ ändert. Bald unruhig und zerſtreut, bald in ſich gekehrt und über etwas brütend, das ſie beſchäftigte und drückte, wechſelten ihre Launen unaufhörlich, und als ob ſie es ſelbſt nur zu wohl wüßte, entzog ſie ſich meiſt der Geſell¬ ſchaft, die zuweilen ziemlich zahlreich wurde, je mehr die Umgebung des erſt ſpäter wohnlich zu machenden Hauſes zum Aufenthalt im Freien einlud. Indem ich, von dem veränderten Betragen des Mädchens abermals betroffen, über dasſelbe nachdachte, fühlte ich mich geneigt, die Er¬238 ſcheinung zu meinen Gunſten auszulegen und zu glauben, nun komme die Reihe, als Abweſender oder gar Ver¬ lorener zu glänzen und betrauert zu werden, an meine werthe Perſon. Ich überlegte, wie ich mich dazu zu ſtellen habe: Ob ich edel geſinnt die Dinge nach Abrede gehen laſſen und dem Rivalen vertrauensvoll das Feld räumen, oder ob ich den Vortheil benutzen und mit dem Gewicht der neuen Sachlage dem Zünglein der Waage einen leichten, aber plötzlichen Stoß geben ſolle?
Hildeburg ſelbſt ſchien mir entgegen zu kommen; ſie veranlaßte ihre Eltern, mir zu Ehren ein Abſchiedseſſen zu geben, und mich forderte ſie bei der Einladung auf, es ſo einzurichten, daß ich auch den Abend bleiben könne. Ein Bett für mich ſolle trotz der mangelhaften Einrichtung bereit ſein, meinte ſie, und vor Geſpenſtern würde ich mich wol kaum genieren. Denn es gehe die Rede, daß in dem älteren Flügel des Hauſes etwas nicht richtig ſei.
In der That hatten die Dienſtboten von einem alten Gärtner dergleichen Reden gehört und mit eigenen Beob¬ achtungen, die ſie zu machen glaubten, ergänzt. Während der Mahlzeit, welche reich und belebt genug war, gerieth die Unterhaltung ebenfalls auf dieſen Gegenſtand. Die alte Mama beklagte ſich über ſo beunruhigende Herum¬ bietungen, die doch keinen vernünftigen Grund haben könnten; der alte Herr verwies darauf, daß mit Luft und Licht und friſcher Tünche der neuen Arbeiten das Unweſen ſich wol verziehen werde. Mich aber ſtach239 der Vorwitz, mich wieder einmal der ſogenannten Nacht¬ ſeiten und der jenſeitigen Geheimniſſe u. ſ. w. anzunehmen, und ich kehrte den ernſten Kriegsmann heraus, der auf nächtlichen Schlachtfeldern und zwiſchen Tod und Leben verlernt habe, über dergleichen zu ſpotten.
Mannelin, der bisher das Geſpräch nicht theilnahms¬ werth gefunden, ſah mich ganz verwundert an und fragte mich treuherzig lachend: „ Ob ich noch unter die Geiſter¬ ſeher gehen wolle? “ Hierdurch gereizt, bejahte ich die Frage kühnlich, ſofern ich nur das Glück wirklich haben ſollte, ein Stück der andern Welt jetzt ſchon kennen zu lernen; zugleich aber ſtellte ich ein wenig großthueriſch in Ausſicht, den Dingen in's Geſicht ſehen und ſie zur Rede ſtellen zu wollen, wenn ſie anders heran kämen. Um was ſich's eigentlich handle im vorliegenden Falle? ſchloß ich meine Prahlerei.
„ Es ſoll ein Poltergeiſt ſein, den man die alte Kratt nennt! “ſagte Hildeburg halb eingeſchüchtert durch meine Reden, wie wenn ſie befürchtete, es möchte am Ende etwas Wahres aus der Sache werden. Vor achtzig Jahren habe nachweisbar eine freiherrliche Familie Kratt das Gut be¬ ſeſſen; Weiteres habe man noch nicht heraus gebracht, als daß es nur ſelten und nur in gewiſſen Nächten ſpuke.
Da die Mutter Hildeburg's ein ängſtliches und noch mehr verdrießliches Geſicht zu machen begann über die Verunzierung des neuen Beſitzes und mein Freund Mannelin ſich gleichgültig von dem Geſpräch wieder ab¬240 gewandt hatte, wurde dasſelbe fallen gelaſſen und man kam nicht mehr darauf zurück. Ich hatte zwei Kameraden mitgebracht, luſtige Donauleute, die ſich das gute Leben im Privatkreiſe wohl gefallen ließen nach langen Ent¬ behrungen, und es ging den Reſt des Tages über ſehr munter zu. Als ſie am Abend, da auch die andern Gäſte zurückkehrten, den leichten Wagen vorfahren ließen, in welchem wir gemeinſchaftlich angekommen, ſchwankte ich einen Augenblick, ob ich nicht mit ihnen fahren ſollte, da es wegen des bevorſtehenden Abmarſches allerlei zu thun gab und ich mich doch in nichts verfehlen wollte. Ich brauchte nur Helm und Säbel zu holen und raſch Adieu zu ſagen, d. h. bis zum folgenden Tage. Da ſtand aber ſchon die Hildeburg bei uns auf der Freitreppe und ſagte gleichmüthig: „ Ich dachte, Sie würden morgen noch mit uns im Garten frühſtücken; doch laſſen Sie ſich nicht abhalten, wenn es nicht angeht. Jedenfalls ſteht Ihr Zimmer bereit. “
Natürlich blieb ich nun da; die zwei Oeſterreicher küßten der Dame die Hand, ſchwangen ſich in den Wagen und fuhren wie die Kugel aus dem Rohre davon, während ich mit Hildeburg dem leuchtenden Diener in's Haus zurückfolgte, mit einem geheimen Herzklopfen wegen der ſüßen Entſcheidung, die ich halbwegs erwartete. Hildeburg zog ſich jedoch bald in die Unſichtbarkeit zurück, und der Tag endigte für mich damit, daß ich in der Geſellſchaft Mannelin's und von Hildeburg's Vater noch mehrere Gläſer241 ſtarken Punſches trank, den die Frauen uns hatten anrichten laſſen. Dann plauderte ich noch eine Viertelſtunde mit Mannelin auf ſeinem Zimmer und folgte endlich etwas ſchlaftrunken dem Diener, der mich in die Stube brachte, wo mein Nachtlager ſtand. Ich hatte faſt Alles vergeſſen, was mich vor Stunden noch erregte, und ſah das Gemach nur flüchtig an, in dem ich mich befand. Es ſchien ein ſehr großes aber niedriges Zimmer, deſſen Wände und Decke mit hölzernem Tafel - und Leiſtenwerke bekleidet waren. An den Wänden ſtand hie und da ein alter Polſterſeſſel und in einer Ecke ein alterthümliches Himmelbett, das von allen vier Seiten dunkle Umhänge umgaben. In der Nähe des Bettes befand ſich ein Tiſch mit Waſſer u. dgl., auf welchen der Diener ſeine zwei Leuchter ſtellte, eh 'er ſich zurückzog: weiter war nichts zu erblicken, als in einer entfernten Ecke, dem Bette ſchräg gegenüber, eine alte Schreibcommode mit einem Aufſatz. Dicht dabei befand ſich eines der Fenſter, durch welche ein ſchwaches Mondlicht in den Raum fiel, und ich ſah noch, wie die verdunkelte Politur des alten Hausrathes das Licht matt reflectirte. Als ich die Uhr auf den Tiſch legte, ſah ich, daß es halb zwölf Uhr war. Das erinnerte mich nochmals an die Spukgeſchichte; da es mir aber jetzt mehr um den Schlaf, als um ein Abenteuer zu thun war, verließ ich mich unbedenklich wieder auf Mannelin's guten Verſtand, löſchte die Lichter und legte mich, immerhin die Unterkleider anbehaltend, in das Bett, das übrigens vortrefflich war. Keller, Sinngedicht. 16242In drei Minuten ſchlief ich feſt; ich glaube, ich dachte nicht einmal mehr an die geliebte Hildeburg, kann es aber nicht beſtimmt ſagen. Mein Leichtſinn nahm diesmal ein übles Ende.
Ich mochte kaum eine halbe Stunde geſchlafen haben, ſo wurde ich durch einen ſchrecklichen Knall oder Fall geweckt, der mitten im Zimmer erfolgt ſein mußte. Ich ſperrte die Augen auf, und halb ſchwindlig von den auf¬ geſtörten Geiſtern des genoſſenen Getränkes, von Schlaf¬ trunkenheit und Ueberraſchung, ſuchte ich mich zu beſinnen, was ich denn gehört habe? Es dünkte mich, es könnte ein ſchwerer Gegenſtand in oder außer dem Zimmer um¬ geſtürzt, ebenſo gut aber in dem baufälligen Hauſe oben oder unten etwas gebrochen ſein. Zuletzt aber behielt ich wieder den Eindruck, daß der Ton in nächſter Nähe ent¬ ſtanden ſein müſſe. Ich ſah und horchte hin, aber Nichts war zu ſehen oder zu hören, als der unheimliche Mond¬ glanz auf der dunkeln Schreibcommode. Auf einmal fegt 'und kratzt' etwas hinter der Wand, dicht an meinem Bette. Ich warf mich herum und ſtarrte; das war nun außer dem Spaß! Und wie ich ſtarre, fährt mir ein eiskalter Luftzug über das Geſicht, die Bettvorhänge flattern einen Augenblick lang hin und her und plötzlich wird mir die Decke vom Leibe geriſſen.
„ Donnerwetter! “rufe ich beklemmt und ſetze mich endlich aufrecht, jetzt ganz munter geworden. Es ſpukte wahrlich. Ich brachte die Beine aus dem Bett und ſaß243 nun quer auf demſelben; mehr vermochte ich nicht zu thun, weil das Unbekannte trotz der poſſenhaften Form, in der es ſich ankündigte, lähmend auf meine Glieder wirkte. Eben dies Poſſenhafte war ja ſelbſt ſchreckhaft mit ſeinem Höllenhumor. Plötzlich wehen die Gardinen wieder, der eiſige Hauch fährt mir über die linke Seite des Geſichtes und über den Nacken. Und indem ich mich ſchüttle, höre ich dicht hinter mir, wie durch die Wand hindurch, Schritte ſchlurfen, eine dünne zitternde Weiberſtimme ſtöhnt etwas Unverſtändliches, und indem ich mit neuem Schrecken hin¬ höre, ſteht ſchon einen Schritt links von mir eine gebeugte graue Weibergeſtalt mit einer verſchollenen Schleiermantille um den Kopf. Sie muß hinter meinen Bettvorhängen und aus der Wand hervorgekommen ſein. Nur einen Augenblick ſteht ſie ſtill, um Athem zu ſchöpfen; denn ſie keucht wie eine engbrüſtige Alte, die treppauf und nieder und durch lange Corridore gegangen iſt. Dann ſchlurft ſie mit klatſchenden Pantoffeln weiter, ſchräg über den Zimmerboden, auf die Schreibcommode zu, vor der ſie anhält. Mit einer leichenblaſſen Hand taſtet ſie an dem alten Möbel herum, wie wenn ſie das Schlüſſelloch ſuchte; ich ſehe die geſpreizten mageren Finger herumfahren. Richtig zieht ſie einen Bund kleiner Schlüſſel hervor, ſucht einen derſelben aus, ſteckt ihn in das Schlüſſelloch und ſchließt die Schreibklappe auf. Unmittelbar darauf zieht ſie mit ſicherem Griff eines von den vielen Schieblädchen des Innern ganz heraus, guckt in die leere Oeffnung und16*244fährt mit der Hand hinein. Ich höre dort abermals ein Schlüſſelchen umdrehen und ſehe die Geſtalt ein zweites verborgenes Fach hervorziehen, aus welchem ſie haſtig ein Packet nimmt, es öffnet und ein darin liegendes Papier entfaltet, in welchem ein drittes enthalten iſt, das ſie wiederum auseinanderſchlägt. Dies Alles ſah ich im Zwielicht des Mondes, der durch das Fenſter ſcheint. Und weiter ſah ich deutlich, wie die alte Frau ein anderes Lädchen zieht, ein Etwas aus demſelben nimmt, das ein Radirmeſſer ſein muß; denn ſie bückt ſich tiefer auf das aufgeſchlagene Papier, das jetzt einen ſtattlichen Foliobogen darſtellt, und lieſt darin, lieſt, nachdem das Geſpenſt eine Brille aufgeſetzt hat, einen veritablen Naſenklemmer! Jetzt ſetzt ſie den Finger auf eine Stelle und fängt an, etwas auszuradiren. Obgleich ſie mir den Rücken zukehrt, erkenne ich doch jede Bewegung. Sie keucht bei der Arbeit mit ſtärkeren Athemzügen, die in der Kehle wie boshafte Geiſter einander zu drängen und zu kratzen ſcheinen: ſie bläſt das Abgeſchabte weg, huſtet wie ein alter ſchwind¬ ſüchtiger Notarius publicus, bläſt wieder, fährt mit dem Finger über die radirte Stelle und ſchabt abermals. End¬ lich ſcheint die Arbeit gelungen zu ſein; ein niederträchtiges, kurzes, heiſeres Gelächter mit hi, hi, hi dringt mir durch Mark und Bein, und ohne mich rühren zu können, denke ich doch: Hier iſt einſtmals ein Vertrag gefälſcht, ein Geburtsrecht, ein Erbe, ein Lebensglück geſtohlen worden!
Plötzlich wird das Meſſerchen wieder hingelegt, wo es245 genommen worden, mit der ſcheinbaren hiſtoriſchen Natür¬ lichkeit ſolcher Dämonen, das Papier oder die Urkunde zuſammengefaltet, ein's in's andere gelegt und ein Schub¬ fach nach dem andern zugeſtoßen, die Klappe zugeſchlagen und verſchloſſen. Plötzlich dreht ſich die Geſtalt um und ſchleppt ſich nach der Richtung hin zurück, wo ich reglos ſitze, bis ſie beinahe dicht vor mir ſtill ſteht und mich anſchaut. Nie vergeſſe ich das infame Hexengeſicht, ob¬ ſchon es nur ſeitwärts vom Monde geſtreift wurde und der größte Theil im Schatten lag. Naſe, Kinn, der Mund, alles grinſte wie in blühendem Leichenwachs ausgeprägt mir entgegen, voll Hohn und Grimm, wie das dunkle Feuer in den doch unkenntlichen Augen. Ich war in Kartätſchenfeuer geritten, das mir wie Zephirſäuſeln vor¬ kam gegen die Schauerlichkeit, die mich jetzt übernahm. Was hatte ich mit dieſem verfluchten Weſen zu ſchaffen, dem ich nie ein Leides gethan? Was ſollte das für eine Vernunft in der Welt ſein, wo ein beherzter ehrlicher Kerl macht - und wehrlos dem weſenloſen Scheuſal gegen¬ über da ſaß und bei der geringſten Bewegung vielleicht durch die Schrecken der Ewigkeit um Geſundheit und Leben kam? Dergleichen verworrenes Zeug ſchwirrte mir durch den Kopf, als das Geſpenſt mich anſchaute; ich fühlte, wie das Haar mir zu Berge ſtand, der Athem verſagte mir und ich konnte gleich Einem, den der Alp drückt, nur noch rufen: „ Die alte Kratt! “als mir für einen Moment die Sehkraft und Beſinnung ſchwand. Eine Minute ſpäter246 war die Erſcheinung verſchwunden. Selbſtverſtändlich ſchlug jetzt, zur Vollendung des Spukes, auch noch die erſte Stunde nach Mitternacht an einer entfernten Thurmuhr. Als das bekannte wohlthätige Eins gehörig verhallt war, wagte ich endlich, mich zu rühren und ſuchte Licht zu machen. Die Leuchter ſtanden da, aber ich fand kein Feuerzeug; ſo blieb mir nichts übrig, als mich zu Bette zu legen, und ich ſpürte bei dieſer Gelegenheit die Bettdecke, die auf dem Boden lag. Ich nahm ſie an mich und ſobald ich mich wieder horizontal ausgeſtreckt und nichts Ver¬ dächtiges mehr geſchah, ſchlief ich ein und erwachte, als es ſchon lange Tag war. Erſt jetzt ſtellte ich einige Unterſuchungen an. Die Thüre, die ſichtbar einzig in's Zimmer führte, war noch von innen verſchloſſen, und der beſondere altmodiſche Riegel, der über dem Schloſſe an¬ gebracht, überdies vorgeſchoben. Die Schreibcommode war am Tage ein ganz gemüthliches Möbel. Auf dem Pult¬ deckel oder der Klappe war von buntem Holze eine Land¬ ſchaft eingelegt. Aus einem See ragte eine Inſel mit einem Schloß, und auf dem Waſſer ſaßen zwei Herren mit langen Perrücken und kleinen Dreieckhütchen in einem Nachen und ſchoſſen auf Enten. Im Vordergrunde ſtanden ein paar ruinirte Tempelſäulen, unter welchen ein dritter Herr mit hohem Rohrſtocke tiefſinnig promenirte; alles ſo idylliſch und unverfänglich als möglich. Was mich aber am meiſten wunderte, war ein Schlüſſel, der ruhig im Schloſſe ſtak, während ich doch deutlich den Schlüſſel¬247 bund klirren und den Schlüſſel des Geſpenſtes umdrehen und ausziehen gehört hatte. Ich machte die Klappe auf und ſah die Schublädchen, zog eines nach dem anderen auf, aber alle waren leer, kein Radirmeſſer und nichts. Auch das geheime Fach fand ſich mit ſeinem Schlüſſelchen, es war auch leer, und ich hatte doch das Packet und die Papiere geſehen.
Es blieb alſo nur noch die Umgebung des Bettes zu unterſuchen. Daſſelbe ſtand mit dem Kopfende eine gute Spanne von der Wand entfernt, ſo daß zwiſchen der Gardine und der Wand allerdings Jemand, der nicht zu dick war, ſich mit Noth dort durchwinden konnte. Als ich jedoch die ſchwere Bettſtelle mit Mühe etwas weg¬ gerückt hatte, fand ich ringsum nichts als das gleiche Holzgetäfel, wie es überall die Wände und auch die Decke bekleidete. Von einer Urſache des Knalles konnte ich auch nirgends eine Spur entdecken.
Deſto ernſter erneuerte ſich der Eindruck des Geſehenen; die ſchnurrige und widerwärtige Seite des Spukes trat zurück vor der Ahnung der endloſen Unruhe einer Seelen¬ ſubſtanz, für die ſich, wenn dies Landhaus einſt lange vom Erdboden verſchwunden ſein wird, daſſelbe ſtets wieder aufbaut mit dem alten Zimmer und der Commode, in welcher die verbrecheriſchen Papiere liegen, ſowie auch der Schlüſſelbund und das Radirmeſſer immer vorhanden, obſchon ſie vom Roſte längſt aufgelöſt ſind. Ich grübelte über dieſe furchtbare Exiſtenz und Fortdauer in der248 bloßen Vorſtellung, deren reale Natur jedem Einzelnen dereinſt noch ſchrecklich klar werden könnte, und da der Tod in den Kriegszeiten mir als einem Soldaten ſo zu ſagen zur Seite ſtand, dachte ich über mich ſelbſt nach, über meinen Leichtſinn und dies oder jenes, was ich verfehlt haben mochte. Erſt jetzt, da ich keine Wahl mehr hatte, beſchwerte mich die überſinnliche Jenſeitigkeit mit ihren dunklen Schatten, und ich empfand ein Heim¬ weh wie nach einem Beichtvater, während ich den Säbel umſchnallte und die Geſellſchaft aufſuchte, welche eben in einer Laube beim Frühſtücke ſaß.
Man ſprach eben von dem nächtlichen Knall, der demnach im ganzen Hauſe gehört worden war, und da ich mit düſterem Geſicht hinzutrat und mich erſt ſchweigend verhielt, wurde die Stimmung noch betroffener und ver¬ legener. Befragt, ob ich es auch gehört, bejahte ich ohne Weiteres hinzuzufügen, da ich die Familie nicht erſchrecken mochte und es der Zeit und dem Geſpenſte ſelbſt überließ, die Herrſchaft mit den Merkwürdigkeiten dieſes Hauſes bekannt zu machen. Erſt als ich mit Hildeburg und Mannelin vor meinem Weggehen noch etwas auf und nieder ging und die Erſtere zu mir ſagte: „ Was iſt Ihnen denn, daß Sie ſo ernſt und ſchweigſam ſind? “antwortete ich unwillkürlich: „ Was wird es ſein? die alte Kratt hab 'ich geſehen! “
„ Und haben Sie mit ihr geſprochen? “
Sie ſagte das mit unbefangenem Lachen, wie man249 thut, wenn man etwas für einen Scherz hält. Doch ſah ſie mich dabei aufmerkſam an. Ich antwortete nicht darauf, zumal Mannelin mich ebenfalls erſtaunt anblickte und ich nicht aufgelegt war, eine Disputation mit ihm zu beſtehen. Da der Kutſcher bereit war, mich nach der Stadt zu fahren, nahm ich mit dem Verſprechen Abſchied, am nächſten Tage noch ein letztes Mal zu kommen, und fuhr nicht mit leichtem Herzen weg. Der Geiſterbeſuch, die Trennung von dem anziehenden und trefflichen Mädchen, die Ungewißheit der Zukunft und auch der Umſtand, daß Mannelin allein bei Hildeburg zurückblieb, alles trug dazu bei, meine Gedanken trüb und ſchwer zu machen.
Ich will nur gleich den chronologiſchen Verlauf zu Ende erzählen. Nach meiner Abfahrt ſetzten Hildeburg und Mannelin die Gartenpromenade fort, und erſt jetzt drückte der Freund ſeine mit einigem Unwillen vermiſchte Beſorgniß über den Stand meiner geiſtigen und körper¬ lichen Geſundheit aus, da ich nicht nur von Gewiſſens¬ furcht, ſondern ſogar von förmlichen Hallucinationen ge¬ plagt ſcheine. Es wäre ſchade für mich, wenn ich in dem krankhaften Weſen weiter dahin lebte und Fortſchritte machte, und er frage ſich, ob er mich nicht zur Einholung eines Urlaubes veranlaſſen und an den bewußten Bade¬ ort mit ſich nehmen ſolle. Offenbar hätten die Kriegs¬ erlebniſſe meinem beweglichen Weſen nicht gut gethan u. ſ. w.
Hildeburg erwiderte nachdenklich, ob er denn ſo ſicher wiſſe, daß nur Täuſchung ſei, was ich geſehen zu haben250 vorgebe? Ihres Theiles befürchte ſie, allerdings gegen alle Vernunft, daß doch dies oder jenes möglich ſein könnte, und für dieſen Fall wäre es ihr mehr um die Eltern zu thun, ſowie um die übrigen Verwandten und Freunde, denen der Aufenthalt in dem verrufenen Ge¬ bäude kein Vergnügen mehr machen würde. Die Vor¬ nahme der baulichen Wiederherſtellungen ſchiene unter ſolchen Umſtänden geradezu nicht mehr rathſam, und der¬ gleichen mehr.
Jetzt ſchaute Mannelin die Sprecherin mit ebenſo beſorgtem als liebevollem Blicke an. Ihn bekümmerte, daß ſie ſolchem Unſinn zugänglich ſchien. Sie las die Sorgen in ſeinen Augen und blickte wahrſcheinlich hierfür wieder dankbar zurück; doch verharrte ſie in ihrem Zweifel und ſagte nach fernerem Nachdenken:
„ Ich muß doch wenigſtens wiſſen, ob Andere in dem alten Gemache eine ähnliche Erfahrung machen, oder ob es wirklich nur der Rittmeiſter iſt, der etwas ſieht. Ich werde den Johann beauftragen, dort eine Nacht zuzu¬ bringen. “
„ Der alte Johann “, ſagte Mannelin, „ wird natürlich ſo viele Geiſter ſehen, als man wünſcht oder fürchtet! Wenn Sie einen zuverläſſigen Bericht wollen, ſo laſſen Sie die Stube für mich zurecht machen! Ich will mich in Gottes Namen der curioſen Aufgabe unterziehen, wenn durchaus etwas geſchehen ſoll! “
„ Sie? “rief Hildeburg, „ nein, Sie dürfen es nicht251 thun! Sie ſind mir zu gut dazu! Wenn dennoch etwas an der Sache wäre, ſo könnte der Eindruck auf Sie gerade noch ein viel ſtärkerer ſein, als bei unſerem Freunde, und Ihnen ernſtlich ſchaden! “
Mannelin blieb aber bei ſeinem Vorſatze, und ſo ließ er ſich, als gegen elf Uhr man allerſeits ſchlafen ging, in das Gemach leuchten, in welchem ich die letzte Nacht zugebracht hatte.
„ Wollen Sie nicht wenigſtens Ihren Degen und die Piſtolen mitnehmen? “ſagte der Diener, der aus dem früheren Zimmer die nöthigen Sachen trug und von dem Vorhaben unterrichtet war.
„ Nein! “antwortete Mannelin; „ gegen Geiſter würden die Waffen nichts helfen, und wenn allenfalls lebendige Leute einen Unfug treiben, ſo muß man nicht gleich Blut vergießen! “
Genug, mein Mannelin befand ſich endlich, gleich mir, allein in dem unheimlichen Zimmer. Er ging mit dem Leuchter darin herum, verriegelte die Thüre und legte ſich halbangekleidet zu Bett, nachdem er den Tiſch an daſſelbe gerückt. Dann las er eine Stunde oder länger, bis es am Thurme Mitternacht ſchlug. Dann klappte er das Buch zu und horchte noch eine Weile mit offenen Augen. Als aber alles ſtill blieb, wurde ihm das Ding langweilig; er löſchte das Licht, legte ſich auf die Seite und ſchlief ein. Kaum hatte er einige Minuten geſchlafen, ſo erfolgte zwar kein Knall, wie geſtern, allein es klopfte252 dicht hinter ihm an die Wand, ein altes Mütterchen ſagte vernehmlich: „ Ja, ja! “der kalte Luftzug ſtrich über ſein Geſicht, die Gardinen flatterten und die Decke flog weg. Und indem Mannelin ſich beſann, aber ganz ruhig liegen blieb, wie wenn er nichts merkte, ſah er ſchon die alte Kratt in der Mitte des Zimmers gegen die Fenſterecke zuſchlurfen, wo die Commode ſtand und der Mond ſchien, wie geſtern. Er war jetzt doch ziemlich überraſcht, und das Herz klopfte ihm bedeutend, weil er die Natur und Tragweite des Abenteuers nicht kannte. Aber wie der Jäger, von einem Thiere überraſcht, ſein Gewehrſchloß ſchnell in Ordnung bringt, ſtellte Mannelin geſchwind ſeine Gedanken in eine kleine Reihe, als ob es Polizei¬ leute wären, und ſich ſelbſt an ihre Spitze. Ohne ſich zu rühren, folgte er der Erſcheinung aufmerkſam mit den Augen und ſah, wie ſie an der Commode taſtete und die Klappe öffnete, kurz alles that, wie ich es geſehen. Als ſie nun auf dem Papiere radirte, war er ſchon leiſe auf¬ geſtanden und ihr auf unhörbaren Socken nachgeſchlichen und ſtand hinter ihrem Rücken. Das grauenhafte buckelige Weibchen kratzte, ſchaute, keuchte und huſtete und blies den Staub weg, kurz war ſo geſchäftig wie der Teufel, und Mannelin guckte dem Geſpenſte ſtill über die Schulter, bis es fertig war und ſein ſchändliches heiſeres Gelächter aufſchlug. Da ſagte er plötzlich:
„ Na, Frauchen, was treiben Sie denn da? “
Wie eine Schlange ſchnellte das Geſpenſt empor und253 ſtand wohl um einen Kopf höher als vorher ihm gegen¬ über. Mit dem ſchrecklichen Geſichte ſtarrte ſie ihm ent¬ gegen; aber ſchon hatte er die Hand auf ihre Schultern gelegt; dann packte er ſie unverſehens um die Hüfte, um ſie in die Gewalt zu bekommen und die graue Mantille wegzuziehen. Er fühlte einen allerdings ſchlangenförmigen, aber ſehr lebenswarmen Körper, und da ſie ſich jetzt in ſeinen Armen hin und her wand und mit dem Leichen¬ geſicht nahe kam, faßte er unerſchrocken die im Monde glänzende ſchreckliche Naſe und behielt eine abfallende Wachsmaske in der Hand, während Hildeburg's feines Geſicht zu ihm emporlächelte. Leider küßte er es ſogleich zu verſchiedenen Malen und an verſchiedenen Stellen, beſchränkte ſich aber doch endlich auf den Mund, nachdem derſelbe ein unhöfliches: „ Du lieber Kerl! “ausgeſtoßen hatte. Schließlich ließen ſie ſich auf einen Stuhl nieder, das heißt, Mannelin ſaß darauf und Hildeburg auf ſeinen Knieen. Ich will nicht unterſuchen, ob es nicht anſtändiger geweſen wäre, wenn ſie einen zweiten Stuhl herbeigeholt hätten; die Außerordentlichkeit des Abenteuers und die einſame Nachtſtille mögen zur Entſchuldigung dienen; ich will nur die Thatſache meines Suppliciums erhärten: Alles das wäre mein geweſen, wenn ich in der vorigen Nacht den einfachen Verſtand des verfluchten Duckmäuſers beſeſſen hätte!
Denn in ſeinem Arme ruhend erklärte ſie ihm nun den Handel. Sie habe, ſeit wir Beide wieder in ihrer254 Nähe geweſen, ihre Lage nicht länger ertragen und doch auch nicht zur früheren Entſagung ſo ohne Weiteres zurückkehren mögen, und da ſie die unglückliche Doppel¬ liebe längſt als eine unwürdige Krankheit erkannt, beſchloſſen, ſich durch gewaltſame Wahl zu heilen. Die Idee der Ausführung ſei ihr plötzlich durch das Gerede von der Spukgeſchichte gekommen. Demjenigen von uns Beiden, welcher dem Geſpenſte gegenüber den größeren Muth erweiſe, wolle ſie ſich ergeben und den andern frei¬ laſſen; denn daß ſie uns Beide gefangen halte, habe ſie wohl gewußt. Nun habe ſich die Verwirrung ſo klar ausgeſchieden, wie wir Alle nur wünſchen könnten. Ich, der Rittmeiſter, ſo brav ich ſei, habe der göttlichen Ver¬ nunft manquirt im rechten Augenblick; Mannelin ſei ihr treu geblieben ohne Wanken, und ſie trage ihm daher Herz und Hand an u. ſ. w. u. ſ. w. muß ich abermals ſagen, um das Unerträgliche nach ſo viel Jahren noch abzukürzen. Sie wurden in der Nacht noch Handels einig, daß ſie heimlich verlobt ſein wollten, bis der Augen¬ blick gekommen ſei, wo Mannelin bei ihren Eltern um ſie werben könne.
Dieſe artigen Vorgänge wurden mir in einer Geheim¬ ſitzung, die zu Dritt ſtattfand, am andern Tage feierlich eröffnet, als ich zum letzten Male hinausritt. Ich hatte ahnungsvoll das raſchere Pferd gewählt, da ich jetzt um ſo unaufhaltſamer wieder davon galopiren konnte. Vorher mußte ich jedoch mit dem Pärchen den Weg begehen, den255 Hildeburg als Geſpenſt gemacht hatte. Ich will nicht weitläufig beſchreiben, wie ſchlau ſie alles angeſtellt; wie ſie den Knall einfach dadurch hervorgebracht, daß ſie auf dem Boden über dem alten Zimmer einen wackeligen leeren Schrank mittelſt einer Hebelſtange umgeſtürzt, ihn freilich nachher nicht mehr aufrichten konnte, weshalb auch in der zweiten Nacht die Detonation unterblieb; wie aus einem verborgenen Vorraume das Heizloch eines ehemaligen Ofens in das Zimmer ging und von einem verſchiebbaren Felde des Holzgetäfels verdeckt war, das Geſpenſt aber eben dort durchkriechen und hinter den Bettvorhängen hervorſchlüpfen konnte; wie ſie die Bettdecke mittelſt eines Schnurgeſchlinges wegziehen konnte, das in den Falten der Gardinen verſteckt hing; wie ſie den kalten Durchzug verurſachte, indem ſie im beſagten Vor¬ raume ein nach Norden gehendes Fenſter ſperrweit öffnete, im Zimmer aber ſchon vorher den oberen Flügel eines nach Oſten gehenden Fenſters aufgethan hatte, ſo daß im Augenblicke, wo ſie das alte Ofenloch frei machte, die Luft durchſtrich; wie ſie den Charakter der Geſpenſter¬ rolle mit merkwürdiger Phantaſie ausſtudiert, und zwar in der größten Schnelligkeit: das erklärte ſie uns jetzt Schritt für Schritt, damit ja kein Zweifel übrig blieb, und beſonders mich ermahnte ſie auf dem Paſſionswege wiederholt, gewiſſermaßen bei jeder Station, doch nicht mehr ſo leichtgläubig zu ſein. Dabei hing ſie ſich zu¬ weilen traulich an meinen Arm, ſo daß mir nichts übrig256 blieb, als das Geſicht eines Ideals von Eſel dazu zu ſchneiden und fromme Miene zum böſen Spiel zu machen.
Zum Ueberfluſſe mußte auch noch das Traurigſte, was es gibt, der Zufall, ſein Siegel darauf drücken. Um ganz unparteiiſch zu verfahren, hatte das gute Mädchen vorher im Stillen das Loos gezogen, welchen von den zwei Liebhabern ſie zuerſt der Prüfung unterwerfen ſolle; denn, ſagte ſie, mancher zufällige Umſtand konnte auf das Ergebniß von Einfluß ſein, die Verſchiedenheit des Wetters, der Mondhelle, des körperlichen Befindens und der Gemüthsſtimmung konnte eine veränderte Urtheilskraft bedingen, wie ich denn auch geſchehenermaßen am Tage vor meiner Prüfungsnacht mehr Getränke zu mir ge¬ nommen, als der Andere zu ſeiner Stunde wegen Mangel an Geſellſchaft habe thun können, da ich ja fortgeweſen ſei! Alſo genau wie beim Pferderennen, wo bis auf's Kleinſte Alles verglichen und abgewogen wird!
Daß durch den Sieg meines Nebenbuhlers trotz des techniſch untadelhaften Verfahrens ihren geheimſten Wün¬ ſchen beſſer entſprochen worden ſei, als wenn ich geſiegt hätte, daran durfte ich ſchon damals nicht zweifeln. Denn ſie ſchien von Stund an von jeder Laſt befreit und un¬ getheilten leichten Herzens zu leben, welches hat, was es wünſcht.
„ Das iſt die Geſchichte von Hildeburg's Männerwahl, bei der ich unterlegen bin “, ſchloß der Oberſt, und raſch gegen Reinhart gewendet ſagte er:
257„ Wiſſen Sie, wie ſie eigentlich hieß? Denn Hildeburg wurde ſie nur von Mannelin und mir genannt, wenn wir am dritten Orte von ihr ſprachen. Sonſt aber hieß ſie Elſe Morland, ſpäter Frau Profeſſorin Reinhart und wird demnach Ihre Frau Mutter ſein! Lebt ſie noch? Und wie geht's ihr? “
Für erwachſene junge Leute iſt es immer eine gewiſſe Verlegenheit, von den Liebesgeſchichten zu hören, welche der Heirath der Eltern vorausgegangen. Die Erzeuger ſtehen ihnen ſo hoch, daß ſie nur ungern dieſelben in der Vorzeit auf den gleichen menſchlichen Wegen wandeln ſehen, auf denen ſie ſelbſt begriffen ſind. Auch Reinhart ſaß jetzt in nicht angenehmer Ueberraſchung und war ganz roth, da die Laune, in welcher er ſich ſeit zwei Tagen bewegte, ſich gegen ihn ſelbſt zu kehren ſchien. Ein par Mal während der Erzählung des alten Herrn hatte es ihm vorkommen wollen, als ob es ſich um Bekanntes oder Geahntes handle; doch war das vorübergegangen, wie man oft nicht merkt oder nicht erkennt, was einen am nächſten angeht. Zu der ſeltſamen Entdeckung trat ein noch ſeltſamerer Eifer der Selbſtſucht, als er bedachte, wie nahe die Gefahr geſtanden habe, daß ein anderer als ſein Vater die Mama bekommen hätte, und was wäre als¬ dann aus ihm, dem Sohne geworden? Und was war er jetzt anderes als der Sohn der willkürlichſten Manneswahl einer übermüthigen Jungfrau? Nun, Gott ſei Dank, war es wenigſtens ſeine Mutter und ſein Vater! Es hätteKeller, Sinngedicht. 17258können ſchlimmer ausfallen! Wie denn ſchlimmer, du Dummkopf? Gar nicht wäre es dann ausgefallen!
Dergleichen Gedanken fuhren ihm in raſcher Folge durch den Sinn, bis er die Augen aufſchlug und ſah, wie Lucie behaglich in ihrem Gartenſtuhle lehnte, die Arme übereinander gelegt und die Augen in voller Heiter¬ keit auf ihn gerichtet hielt. Das ganze Geſicht war ſo heiter, wie der Himmel, wenn er vollkommen wolken¬ los iſt.
„ Tröſten Sie ich mit dem Evangelium, “ſagte ſie, „ wo es heißt: Ihr habt mich nicht erwählet, ſondern ich habe euch erwählet! “
„ Schönſten Dank für den Rath! “erwiderte Reinhart, durch den Sonnenſchein in ihren Augen zum Lachen ver¬ führt; „ ich begreife und würdige durchaus die Genug¬ thuung, die Ihnen die Erzählung des Herrn Oberſt ver¬ ſchafft! Daß ich in meinem eigenen Papa geſchlagen würde, hätte ich allerdings nicht geglaubt! “
„ Wie undankbar! Seien Sie doch ſtolz auf Ihren Herrn Vater, der meinen ſo vortrefflichen Onkel hier beſiegt hat! Wie vortrefflich muß er ſelbſt ſein! Ich bin wahrlich ein bischen verliebt in ihn nur vom Hörenſagen! Iſt er noch ſo hübſch blond? “
„ Er iſt ſchon lange grau, aber es ſteht ihm gut. “
„ Und die Mutter? "warf jetzt der Oberſt dazwiſchen, „ iſt ſie auch grau, oder noch ſchwarz und ſchlank wie dazumal? “
259„ Dunkelhäuptig iſt ſie noch und ſchlank auch, aber nur dem Geiſte nach; ich glaube nicht, daß ſie jetzt noch durch das Ofenloch und zwiſchen Bett und Wand hervor¬ ſchlüpfen könnte. “
„ Ich möchte ſie doch nochmals ſehen und den Mannelin auch “, ſagte der Oheim Lucien's mit weicher Stimme. „ Ich fühle mich ganz verſöhnlich und verzuckert im Gemüth! “
„ Und mich empfehlen Sie wol gütigſt der Mama, wenn Sie ihr ſchreiben? “ſagte das Fräulein mit einem anmuthigen Knicks; „ oder werden Sie nichts von Ihrer kleinen Reiſe und den hieſigen Ereigniſſen ſagen? “
„ Ich werde es gewiß nicht unterlaſſen, ſchon weil ich trachten muß, den Herrn Oberſt und vielleicht auch die Nichte mit gutem Glück einmal hinzulocken, wo die Eltern wohnen. “
„ Das thun Sie ja! Sie werden auch ſicher gelegentlich hören, daß wir unverſehens dort geweſen ſind, nicht wahr, lieber Onkel? “
„ Sobald ich wieder feſt auf den Füßen bin, “rief dieſer, „ werden wir die lang geplante Reiſe machen und alsdann die alten Freunde im Vorbeigehen aufſuchen. “
„ Jetzt fällt mir erſt ein, “ſagte Reinhart, „ daß unſer ſeit mehr als dreißig Jahren neuerbautes Landhaus an der Stelle des alten Gebäudes ſtehen wird, das die Gro߬ eltern Morland gekauft hatten! Da können Sie auch darin rumoren, wenn Sie kommen, Fräulein Lucie! “
„ Sobald ich in zwei Männer zugleich verliebt bin,17*260werde ich mir damit helfen! “erwiderte ſie ausweichend, und Reinhart bereute ſein unbedachtes Wort; wenn eine feine Seele auf nachtwandleriſchem Pfade einer neuen Beſtimmung zuſchreitet und aus ſich ſelbſt freundlich iſt, ſo darf man ſie nicht mit zutäppiſchen Anmuthungen auf¬ ſchrecken.
Der heitere Glanz ihres Geſichtes war zum Theil erloſchen, als die kleine Geſellſchaft ſich jetzt erhob. Reinhart ſprach von ſeiner Abreiſe, ſowol aus Schicklich¬ keit als in einer Anwandlung von Kleinmuth, und erbat ſich Urlaub, um die nöthigen Anſtalten zu treffen. Der alte Herr widerſetzte ſich.
„ Sie müſſen wenigſtens noch einen Tag bleiben! “rief er; „ an den par Stunden, die ich mit Ihnen zugebracht, habe ich vorläufig nicht genug, und über das Zukünftige ſprechen wir noch weiter. Das unverhoffte Vergnügen, an meine jungen Tage wieder anzuknüpfen, laſſe ich mir nicht ſo leicht vereiteln! “
„ So Plötzlich wird Herr Reinhart nicht gehen können “, ſagte jetzt Lucie; „ denn ſein Pferd iſt in der Frühe mit unſeren Pferden auf die Weide hinauf gelaufen und ſoll dort drollige Sprünge machen. Es kann alſo heute Niemand weder fahren noch reiten bei uns, es müßte denn ſtrenger Befehl ergehen, die Thiere heimzuholen. “
„ Nichts da! “verſetzte der Oberſt; „ dem armen Leih¬ pferd iſt es auch zu gönnen, wenn es einen guten Tag hat. Jetzt will ich mich für eine Stunde zurückziehen261 und ſehen, ob meine Zeitungen angekommen ſind. Soll ich Ihnen auch welche ſchicken, Sohn Hildeburg's? “
„ Zeitungen werden für Ihre angegriffenen Augen ſchwerlich gut ſein “, ſagte Lucie; „ wenn Sie leſen wollen, ſo holen ſie ſich lieber irgend ein altes Buch mit großem Druck, Sie wiſſen ja wo, und bleiben Sie dort im kühlen Schatten oder gehen Sie damit unter die Bäume! Ich muß jetzt leider ein bischen nach der Wirthſchaft ſehen! “
Luciens Sorge für ſeine Augen, deren Zuſtand er beinahe ſelbſt vergeſſen hatte, that ihm ſo wohl, daß er ſich ohne Widerrede fügte und nach ihrem Bücher - und Arbeitszimmer ging, nachdem die drei Perſonen ſich ge¬ trennt. Er griff das erſte beſte Buch, ohne es anzuſehen, von einem Regale herunter, und da es in dem Zimmer ihm nicht ganz geheuer dünkte, begab er ſich in den Vexierwald hinaus, durch welchen er hergekommen war. Dort bemächtigte ſich ſeiner immer mehr ein gedrücktes Weſen, das ſich zuletzt in dem Seufzer Luft machte: Wär 'ich doch in meinen vier Wänden geblieben! Nicht nur die vernommene Kunde von den ganz ungewöhnlichen Jugendthaten ſeiner Mutter, die Anweſenheit eines Lieb¬ habers und Rivalen ſeines Vaters, ſondern auch der ungebührlich wachſende Eindruck, den Lucie[auf] ihn machte, verwirrten und verdüſterten ihm das Gemüth. Das waren ja Teufelsgeſchichten! Der Verluſt ſeiner goldenen Freiheit und Unbefangenheit, der im Anzuge war, wollte262 ihm faſt das Herz abdrücken. Man ſieht ja, dachte er, welchen Werth ſie darauf legen, obenauf zu ſein! Da lob' ich mir die ruhige Wahl eines ſtillen, ſanften, ab¬ hängigen Weibchens, das uns nicht des Verſtandes beraubt! Aber freilich, das ſind meiſtens ſolche, die roth werden, wenn ſie küſſen, aber nicht lachen! Zum Lachen braucht es immer ein wenig Geiſt; das Thier lacht nicht!
Auf dieſe Art brachte er die Zeit zu, und als er in das Haus zurückkehrte, traf er zum Ueberfluſſe die Pfarr¬ familie, welche auf Beſuch gekommen war, um das Ereigniß gerade ſeiner Erſcheinung weiter zu betrachten und nach der Wirkung zu forſchen, welche dieſelbe unter den großen Platanen am Berge zurückgelaſſen habe. Das Pfarrerſtöchterchen erröthete über und über, da er dem Mädchen im blauen Seidenkleidchen die Hand gab, und Lucie, welcher er die Geſchichte erzählt hatte, blickte ihn mit heller Schadenfreude an, die aber in ihren Augen ſo gutartig und ſchön war, wie in andern Augen das wärmſte Wohlwollen. Ueber dieſem Beſuche verging der Tag in anhaltendem Geräuſch und Geſpräch; die Pfarr¬ leute duldeten nicht, daß man ſie eine Minute ohne Rede und Antwort ließ, oder ſich einer Zerſtreuung hingab. Da der Oberſt ſich auf Grund ſeiner ſchlechten Geſund¬ heit zeitig unſichtbar machte und Lucie das Töchterlein mehrmals entführte, um ihr allerlei Anpflanzungen zu zeigen, blieb Reinhart zuletzt allein übrig, den Eltern Stand zu halten, und als gegen Abend die Familie mit263 ihrer Kutſche abgefahren war, ſchien eine Mühle abge¬ ſtellt zu ſein.
„ Ich bewundere Ihre Geduld, “ſagte Lucie, als ſie nun allein waren, „ mit der Sie den guten Leuten zuge¬ hört und Beſcheid gegeben haben. “
„ Hab 'ich denn wirklich ſo geduldig ausgeſehen? “fragte Reinhart verwundert; er hatte nicht das beſte Gewiſſen, weil er die guten Menſchen innerlich dahin gewünſcht, wo der Pfeffer wächſt.
„ Vortrefflich haben Sie ausgeſehen! Glauben Sie nur, man iſt immer etwas beſſer, als man es Wort haben will! Zur Belohnung ſollen Sie eine gute Taſſe Thee bekommen und meine Mädchen wieder ſpinnen ſehen! Wein gebe ich Ihnen nicht mehr; denn Sie haben bei Tiſche ſchon etwas mehr in den heimlichen Zorn hinein getrunken, als für Ihre Augen gut war. “
„ Nun ſoll ich doch wieder zornig geweſen ſein? “
„ Ja freilich! Um ſo rühmlicher iſt die nachherige Selbſtbeherrſchung und Geduld! “
Als es dunkel und der Thee getrunken war, nahmen die Mädchen wirklich ihre Rädchen und ſpannen noch eine Stunde. Das Schnurren, ſowie das zwangloſe und friedliche Geſpräch, das man zuweilen wie zum Spaße beinahe ausgehen ließ, um es doch gemächlich wieder anzubinden, beruhigten vollends die aufgeregten Geiſter in Reinharts Bruſt, ſo daß er zuletzt ſich häuslich mit der Lampe beſchäftigte, die nicht hell brennen wollte,264 und dabei plauderte, indeſſen Lucie ihm vergnüglich zuſchaute.
In guter Laune zog er ab, als Alles zu Bett ging, und nahm vermuthlich aus Verſehen das Buch mit, das er aus Luciens Zimmer geholt und bis jetzt noch nicht aufgeſchlagen hatte. Erſt auf ſeinem Gaſtzimmer that er es und ſah, daß es eine Geſchichte von Seefahrten und Eroberungen des ſiebzehnten Jahrhunderts war. Das Buch mußte ſeiner Zeit fleißig geleſen worden ſein, da es zum zweiten Male gebunden worden. Denn viele Blätter klebten von der Farbe des bunten Schnittes zuſammen, und als Reinhart zwei ſolche von einander löſte, lag ein Blättchen altes Papier dazwiſchen mit vergilbter Schrift bedeckt. An einem Junimorgen des Jahres 1732 ſchrieb eine Dame in franzöſiſcher Sprache an eine andere: „ Liebſte Freundin! Leſen Sie die artige kleine Geſchichte, die ich hier angeſtrichen habe! Guten Tag! Ihre getreue Freundin J. Morgens 9 Uhr. “ Dies Briefchen mußte der Buchbinder, der den neuen Einband gemacht, nicht geſehen haben, denn es war mit eingebunden und ſeither von keinem Auge mehr erblickt worden. Daneben war in der That eine halbe Seite des Buchtextes mit Rothſtein angeſtrichen, der ſich auch auf dem gegenüberſtehenden Blatte abgedruckt hatte, ſo daß Reinhart nicht wußte, welche der beiden bezeichneten Stellen galt. Dennoch wunderte ihn, was an jenem Junimorgen vor hundert und zwanzig oder mehr Jahren die verſchollene Dame ſo265 piquirte, daß ſie das Buch der Freundin ſchickte. Er las daher auf beiden Seiten und fand eine allerdings ſeltſame Heirathsanekdote, die ohne Zweifel das war, was die zwei Damen beſchäftigt hatte. Das Hiſtörchen gefiel auch Reinharten, und weil er doch keinen Schlaf verſpürte, ſpann und malte er den größten Theil der Nacht hindurch das Geſchichtchen aus und nahm ſich vor, es vorzutragen, ſofern nochmals eine Erzählerei ſtattfinden ſollte. Es ſchien ihm nämlich prächtig zur Abwehr gegen die Ueber¬ hebung des ebenbürtigen Frauengeſchlechts zu taugen.
Wie wenn ſie Reinhart's Vorſatz und Vorbereitung gekannt hätte, ſagte Lucie am Morgen, als die drei Perſonen wieder unter den Platanen am Brunnen ſaßen: „ Heute werden wir leider die Zeit ohne Geſchichts¬ erzählungen verbringen müſſen, wenn der Onkel nicht dennoch eine zweite Hildeburg erfahren hat oder Herr Ludwig Reinhart noch eine dritte Treppenheirath kennt. “
„ Behüt 'uns Gott “, lachte und murrte der Onkel durcheinander, „ vor einer zweiten Schmach jener Art. Ich hatte ein für allemal genug! “
„ Und was mich betrifft, “nahm Reinhart das Wort, „ ſo kenne ich einen dritten Fall von der Treppe her¬ rührender Vermählung freilich nicht, dafür aber einen Fall, wo ein vornehmer und ſehr namhafter Mann ſeine namenloſe Gattin buchſtäblich vom Boden aufgeleſen hat und glücklich mit ihr geworden iſt! “
„ Wie herrlich! “rief Lucie fröhlich lachend, weniger aus Muthwillen als vor Vergnügen und Neugierde, zu267 erfahren, was jener abermals vorzubringen wiſſe. „ Am Ende “, fügte ſie hinzu, „ gerathen Sie noch zu der Ge¬ ſchichte des heiligen Franz von Aſſiſi, der die Armuth ſelbſt geheirathet hat! Oder Sie ſind ſogar eine Art Reiſeprediger für Verheirathung armer Mädchen? Fangen Sie an! “
„ Ohne Verzug! “ſagte Reinhart, indem er ſich räuſperte und begann:
Wir ſprechen von dem portugieſiſchen Seehelden und Staatsmanne Don Salvador Correa de Sa Benavides, der ſchon in jungen Jahren ſo thatenreich geweſen, daß er bereits damals den Haß der Neider erfuhr, während die Jugend ſonſt von dieſem Uebel verſchont zu bleiben pflegt. Denn ältere Männer müſſen ſchon ſehr traurige Geſellen werden, bis ſie Jünglinge oder Frauen wegen eines Erfolges beneiden. Den Jünglingen ſelbſt aber iſt das Laſter meiſtens noch unbekannt, oder es nimmt in ihnen wenigſtens die edlere Geſtalt eines fruchtbaren Wetteifers an.
Zu einer ſolchen Zeit neidiſcher Verfolgung legte Don Correa den vom Jugendgrün bekleideten Commando¬ ſtab nieder und ſtieß den Degen in die Scheide, und um die Muße nicht ganz ungenutzt vorübergehen zu laſſen, gedachte er zum erſten Male der Freuden der Liebe und hielt dafür, da es doch einmal ſein müſſe, es wäre jetzt268 am Beſten, auf die Lebensgefährtin auszugehen, ehe die Tage der Arbeit und des Kampfes zurückkehrten. Nachher ſei dieſe Sache abgethan.
Nun bewog ihn aber ſein Selbſtgefühl, vielleicht der erlittenen Beleidigung wegen und auch in der Meinung, eine um ſo treuere und ergebenere Gattin zu erhalten, dieſelbe als ein gänzlich unbekannter und ärmlicher Menſch zu ſuchen und zu erwerben, ſo daß er ſie mit Ver¬ heimlichung von Namen, Rang und Vermögen ſozuſagen nur ſeiner nackten Perſon verdanken würde. Er ſchiffte ſich alſo zu Rio de Janeiro, wo er Gouverneur geweſen, in aller Stille, nur von einem Diener begleitet, ein und begab ſich nach Liſſabon. Dort wohnte er unbemerkt in einem entlegenen Gemache ſeines Palaſtes und ging nur verkleidet aus, in die Theater, die Kirchen und auf die öffentlichen Spaziergänge, wo es ſchöne Damen aus der Hauptſtadt und aus den Provinzen zu ſehen gab. Lange wollte ſich nichts zeigen, was ihm beſonders in die Augen geſtochen hätte, bis er eines Abends bei irgend einem der öffentlichen Schauſpiele eine junge Frau ſah, deren Schönheit und Benehmen ihm auffielen. Sie war weder groß noch klein zu nennen und vom Kopfe bis zu den Füßen ſchwarz gekleidet, den ſteifen weißen Ring¬ kragen ausgenommen, der nicht nur dem ſtrengen, wohl¬ geformten Geſichte mit ſeinem blühweißen Kinn, ſondern auch den dicken ſchwarzen Lockenbündeln zu beiden Seiten als Präſentierteller diente. Von der Bruſt glühte ein par269 Mal, wenn die Dame ſich regte, das dunkelrothe Licht eines Rubins auf; die Bruſt ſelbſt zeugte von einem normalen und geſunden Körperbau, desgleichen die in den Händen und Füßen erſichtliche Ebenmäßigkeit.
Dieſe Dame ſaß auf einem Lehnſeſſel in der vorderſten Reihe; rechts und links von ihr hockten auf dreibeinigen Stühlchen ein Stallmeiſter und ein Geiſtlicher, hinter dem Seſſel ſtand ein Page, und ganz zuletzt hockte noch eine Kammerfrau auf einem Schemel. Alle dieſe Perſonen verhielten ſich ſo ſtill und ſteif wie Steinbilder und wagten kein Wort, weder unter ſich noch mit der Herrin zu ſprechen, wenn dieſe nicht einen leiſen Wink gab. Merkwürdig ſchien beſonders der Stallmeiſter, welcher, den hohen Spitzhut auf den Knieen haltend, mit furcht¬ barem Ernſte daſaß. So fadenſcheinig ſein ergrauter und umfangreicher Schädel war, reichten doch die lang¬ gezogenen Silberfäden hin, nicht nur auf der Mitte der Stirne eine feſt in ſich zuſammengerollte Seeſchnecke zu bilden, die von keinem Sturme aufgelöſt wurde, ſondern auch noch beide bartloſe Wangen mit zwei ſauber ge¬ kämmten Backenbärtchen zu bekleiden, welche allnächtlich ſorgſam gewickelt und hinter die Ohren gelegt wurden. Dafür war das aufwärts gehörnte Schnurrbärtchen von echtem, ſteif gewichstem Bartwuchſe. Der Anblick konnte für närriſch gelten; doch Don Correa wußte ſchon aus Erfahrung, daß dergleichen komiſche Pedantismen an untergebenen Beamten und Dienern meiſt auf Ordnungs¬270 ſinn und pünktliche Pflichterfüllung rathen laſſen: denn um einen alten Kopf mit ſolcher Künſtlichkeit täglich auf¬ zuſtutzen, muß ein armer Teufel, der nicht ſelbſt bedient wird, früh aufſtehen und ſich an geregeltes Leben ge¬ wöhnen, das allen ſeinen Verrichtungen zugut kommt. Uebrigens ging die Sage, das knappe Wams des Stall¬ meiſters ſei aus einer alten Mohrſchleppe der Dame ge¬ ſchnitten.
Was den geiſtlichen Herrn betrifft, ſo bot derſelbe durchaus nicht den Anblick eines verwöhnten oder herrſch¬ ſüchtigen Beichtvaters, ſondern ſah eher einem eingeſchüch¬ terten, kurz gehaltenen Hofmeiſterlein gleich, und er hielt, während er mit halb niedergeſchlagenen Augen die Welt¬ lichkeiten des Schauſpiels wahrnahm, mit zagen Händen ſeinen flach gerollten Hut auf dem Schoße, als ob es eine Schüſſel voll Waſſer wäre.
Von dem kleinen Pagen guckte nur das weiße ſpitzige Geſichtchen nebſt einem blutrothen Wamsärmel hinter der Stuhllehne hervor, und von der Kammerfrau vollends ſah man erſt, als ſie aufſtand, daß ſie ebenfalls einen hochrothen Rock, irgend eine rothe Kopftracht und ein Korallenhalsband trug. Die Dame ſchien ſich demnach nur in ſchwarz und roth zu gefallen.
Während ſie ſo unbeweglich und halb gelangweilt dem Spektakel beiwohnte und ſelten über etwas lächelte, ging dann und wann irgend ein Cavalier einzeln oder mit andern, die noch Platz ſuchten, an ihr vorbei und grüßte271 ſie höflich, wechſelte auch wol ein par Worte mit ihr, den Hut in der Hand. Sie blickte aber keinem entgegen, der ſich nahte, und keinem nach, wenn er weiter ging, ſondern grüßte nur mit überaus feiner Kopfneigung und holdſeliger Bewegung der Lippen, welche den Don Salvador geheimnißvoll reizte, ſo ernſt, ja ſtarr auch der Mund gleich nachher wieder verharrte.
Er fragte, in der Menge der geringen Bürger ver¬ borgen, einige Nachbarn nach dem Namen der vornehmen Frau; es konnte aber Keiner Auskunft geben, weil ſie wahrſcheinlich eine Fremde ſei. Da er aber mit jedem Augenblicke von der ſchönen und eigenthümlichen Er¬ ſcheinung mehr eingenommen wurde und jedenfalls wiſſen wollte, wen er vor ſich habe, ſo blieb ihm nichts anderes übrig, als das Ende abzuwarten und zu ſehen, wohin die Dame mit ihrem Gefolge ſich begeben würde. Er ſtellte ſich daher zeitig an den Ausgang, durch welchen die Herrenleute ſich entfernten, und wartete geduldig, bis die Unbekannte in der gemächlichen Proceſſion erſchien, mit welcher die Grandezza ſich fortbewegte, um die bereit¬ ſtehenden Kutſchwagen, Pferde, oder Maulthiere zu beſteigen.
Für die Fremde wurden drei prächtig geſchirrte Maul¬ thiere bereit gehalten. Das erſte beſtieg ſie ſelbſt mit Hülfe des Stallmeiſters, das zweite dieſer mit dem Pagen hinter ſich, das dritte der junge Prieſter, hinter welchem die Kammerfrau Platz nahm, ſich feſt an ihm haltend, ſodaß als das herumſtehende Volk ſich an dem Anblick272 beluſtigte, das Pfäffchen ſchämig erröthete. Ein Läufer mit Windlicht ging voran, worauf die drei Thiere eines dem andern folgten und in einiger Entfernung Don Correa den Schluß machte. Der kleine Zug bewegte ſich durch Gaſſen und über Plätze, bis er in den Vorhof der Herberge zum „ Schiff des Königs “einbog, in welcher faſt ausſchließlich reiche oder vornehme Reiſende wohnten. Nachdem die Fremde mit ihren Leuten abgeſeſſen und auf den Stiegen, die in die oberen Theile des Hauſes führten, verſchwunden war, trat Don Correa in eine Gaſtſtube zu ebener Erde, die von See - und Handelsleuten aller Welttheile angefüllt war. Er ließ ſich in der Ecke zunächſt dem Schenktiſche eine kleine Abendmahlzeit vor¬ ſetzen und begann mit der Aufſeherin, die an der Kaſſe ſaß und Geld einnahm, ein zerſtreutes Geſpräch nach Gunſt und Gelegenheit, die beide nicht ausblieben. Denn der Ton hatte etwas in ſeinem Geſicht und in ſeinem Weſen, das vielen Weibern ohne Zeitverſäumniß gefiel, obwol er dieſes Vortheiles bis jetzt wenig inne geworden.
Er vernahm alſo, was er nur wünſchen konnte: daß die fremde Dame eine junge Wittwe ſei und Donna Feniza Mayor de Cercal genannt werde. Sie beſitze im Südweſten von Portugal ein kleines Städtchen und großen Reichthum und wohne meiſtens auf einem einſamen Felſen¬ ſchloß am Meere; dort lebe ſie ſo eingezogen, daß weiter nichts von ihr geſagt werden könne, und wenn ſie nicht alle Jahre einmal nach der Hauptſtadt käme, um ihre273 Geſchäfte zu beſorgen und ihren Leuten einige Zerſtreuung zu gönnen, ſo wüßte man überhaupt nichts von ihr. In Liſſabon mache ſie nur wenige Beſuche und auf ihre Be¬ ſitzungen habe ſie noch nie Jemanden eingeladen. Uebrigens ſei ſie muſterhaft religiös und verſäume keinen Morgen die heilige Meſſe; daher beruhe es jedenfalls auf boshafter Verläumdung, wenn hie und da gemunkelt werde, man halte ſie für eine Hexe und ihre Dienerſchaft für ein Häuflein böſer Geiſter.
Als Don Correa hiemit genugſam unterrichtet war, verließ er die Herberge, um andern Tages deſto früher bei der Hand zu ſein. Er verwandelte ſich in einen halbſchwarzen mauriſchen Matroſen und belagerte das Schiff des Königs, bis die Herrſchaft aus der Thüre trat und die Maulthiere beſtieg. Im gleichen Aufzuge wie geſtern, ein Maulthier mit der Naſe am Schwanze des andern, ritt die Dame nach der großen Kathedralkirche und Correa folgte. Da er ſah, daß am Portale niemand bei der Hand war, die Maulthiere zu halten, drängte er ſich hinzu und anerbot, den Dienſt zu leiſten, der ihm vom Stallmeiſter auch übertragen wurde. Der junge Kriegs¬ mann war ſeiner Zeit und Geburt gemäß ein guter Katholik; es gefiel ihm daher ſehr gut, daß die Frau von Cercal ihre Dienerſchaft ſo vollzählig mit in die Meſſe nahm und an dem Segen der Religion theilnehmen ließ, und das Gemunkel von einem Zauberweſen erhöhte unter dieſen Umſtänden eher ſeine Theilnahme, als daß es ihn abſchreckte. Keller, Sinngedicht. 18274Nach Beendigung des Gottesdienſtes konnte er die Dame nun ganz in der Nähe ſehen und das um ſo ungeſtörter, als ſie keinen Blick weder auf ihn noch auf irgend einen der Umſtehenden warf. Sie erſchien ihm in dieſer Nähe und am hellen Tageslichte noch ſchöner und vollkommener als am vorigen Abend. Er fand in der Eile kaum die Geiſtesgegenwart, das kleine Trinkgeld aus der Hand des Pagen mit der Miene eines dankbaren armen Teufels in Empfang zu nehmen. Alles ging wieder ſo ſtill und feierlich zu, daß der geordnetſte Haushalt, die friedlich anſtändigſte Lebensart in dem Banne dieſer Frau zu walten ſchien. Zuletzt kam die Reihe des Aufſteigens an die einer rothen Siegellackſtange gleichende Kammerfrau, welche der mauriſche Schiffsgeſell dienſtfertig hinter den Rücken des Geiſtlichen hob, und als ihn beim Abreiten der Aufzug doch etwas grotesk anmuthete, ſchrieb er die ſeltſame Sitte der ländlichen Abgeſchiedenheit zu, aus welcher die Dame herkam.
So lange ſie noch in Liſſabon verweilte, ſtrich er in immer neuen Verkleidungen um ſie herum, wenn ſie öffentlich erſchien, was aber nicht mehr manchen Tag dauerte. Und jedesmal, wo er ſie ſah, beſtärkte ſich ſein Entſchluß, Dieſe und keine Andere zu ſeiner Gemahlin zu machen. Daher nahm er, als ſie abgereiſt war, ſeine eigene Geſtalt wieder an, jedoch mit dem Ausſehen eines armen und geringen Edelmannes. Er ſuchte einen ab¬ getragenen braunen Mantel und einen eben ſo mißlichen275 Filzhut hervor, gürtete einen Degen um, deſſen Stahl¬ korb ganz verroſtet war und deſſen lange Klinge einen Zoll unten aus der Lederſcheide hervorguckte, da letz¬ tere längſt den metallenen Stiefel verloren hatte. So ausgeſtattet verließ er vor Tagesanbruch ſeinen Palaſt und die Stadt Liſſabon und fuhr mit wenigen ſeiner Leute in der bereit gehaltenen eigenen Barke längs der Seeküſte ſüdwärts, bis er in die Gegend kam, wo die Frau von Cercal hauſen ſollte.
Der Ort, deſſen Namen ſie führte, lag hinter dem Küſtengebirge, das Schloß aber, in welchem ſie wohnte, an dem ſteilen Abhange gegen das Meer hin. Don Correa kreuzte ſo lange auf offener See, bis er ſich ver¬ gewiſſert hatte, daß die Donna Feniza wieder dort ſei, und er ſegelte einige Mal ſo nahe vorüber, daß er mit ſeinen ſcharfen Augen die Lage und Bauart erkennen konnte. Dann fuhr er wieder hinaus und wartete einen ſtarken Wind oder wo möglich ein Sturmwetter ab, und als dieſes wirklich eintrat, ſchoß er auf dem wogenden Meere mit vollen Segeln heran, zog ſie ein wie ein ſtrandender Schiffer und lieh ſich zuletzt, nachdem die Barke weidlich umhergeworfen worden, wie er war, mit ſeinem Degen und dem zuſammengewickelten Mantel auf den klippenreichen Strand ſchleudern, ſo daß er ſich mit Mühe durch die Brandung ſchlug und feſten Fuß gewinnen konnte. Seinen Leuten hatte er ſtrenge befohlen, ſich mit der Barke wieder auf die offene See zu machen und nach18*276Hauſe zu fahren, ſo bald ſie ſähen, daß er das Ufer erreicht habe. Das thaten ſie denn auch und wußten mit ebenſoviel Kühnheit als Geſchicklichkeit das dem Unter¬ gange nahe Fahrzeug, welches man vom Land aus ſchon verloren glaubte, zu wenden und die hohe See zu gewinnen, wo man es bald aus den Augen verlor.
Don Salvador Correa erklomm den ſchmalen Strand¬ weg und begann einen ſteilen Staffelpfad hinanzuſteigen, der hinter Felſen und Gebüſch halb verſteckt in die Höhe führte. Als er einige Dutzend Stufen zurückgelegt, kam ihm ein Knabe entgegen, welcher der ihm ſchon bekannte Page der Schloßfrau war. Man hatte oben des Fahr¬ zeuges Kampf mit dem Unwetter beobachtet, jedoch nicht ſehen können, was zunächſt dem Lande vorging, weshalb die Frau den Pagen heruntergeſandt, damit er Kund¬ ſchaft hole. Don Correa fragte den Knaben, wo und auf weſſen Gebiet er ſich befinde, und gab ihm mit wenigen Worten zu verſtehen, daß er geſtrandet und ohne Obdach ſei, worauf der Kleine ihm verdeutete, er möchte warten, bis er hinaufgelaufen ſei und mit den Befehlen der Herrin zurückkomme. Zugleich zeigte er dem Fremden eine natür¬ liche Grotte, welche auf einem kleinen Abſatz in den Fels hineinging und eine Ruhebank enthielt, auch mit einem verſchließbaren Gatter verſehen war. Da die Sonne ſchon wieder durch die zerriſſenen Wolken brach, indeſſen das Meer noch rollte und rauſchte, ſo hing Don Correa ſeinen triefenden Mantel über das Gatter, damit er trockne,277 und ſetzte ſich auf die Bank; denn er war von dem Aben¬ teuer ebenſo erſchöpft, wie wenn er unfreiwillig geſtrandet wäre. Indem bemerkte er lächelnd die zahlreichen Motten¬ löcher, die in den dunkeln Mantel gefreſſen waren und nun, da die Nachmittagsſonne dahinter ſtand, wie ein Sternhimmel ſchimmerten. Drei ſolcher Löcher ſtanden ſo ſchön in einer Reihe, daß ſie prächtig den Gürtel des Orion vorſtellten, einige andere zeigten ziemlich genau das Sternbild der Caſſiopeia, zweie ſtanden ſich wie die Geſtirne der Waage gegenüber, und eine Menge einzelner Löchlein ließen ſich je nach ihrer Stellung und Entfernung von einander von einem Kundigen ſo oder anders be¬ nennen. Weil aber manche davon noch von Waſſertropfen wie mit kleinen Glaskügelchen verſchloſſen waren, ſo ſchimmerten ſie in den Sonnenſtrahlen bläulich oder röth¬ lich, und Don Correa, der ein Sternkenner und Aſtro¬ loge war, betrachtete die Erſcheinung ſogleich mit Auf¬ merkſamkeit als ein bedeutſames Spiel des Zufalls. Er brachte unverweilt eine Conſtellation zuſammen, in welcher ihm das Venusgeſtirn glückverheißend zu glänzen ſchien.
Er war in dieſen Anblick und die dazu gehörigen Gedanken ſo vertieft, daß er leichte Schritte, die ſich näherten, nicht hörte, und daher höchlich erſtaunte, als der Mantel unverſehens von einer Hand zurückgeſchoben und ſtatt des Planeten Venus die ganze Geſtalt der Donna Feniza Mayor de Cercal ſichtbar wurde, hinter welcher der Knabe ſtand.
278Correa erhob ſich indeſſen mit ritterlicher Haltung und bat um Verzeihung, daß er keinen Hut abnehmen könne, weil das Meer ihm den ſeinigen geraubt habe. Aber noch mehr wurde er überraſcht, als die in Liſſabon ſo ſpröd und einſilbig geweſene Frau ihn jetzt mit großen Augen und unverkennbarem Wohlgefallen anſchaute und mit feſter wohltönender Stimme fragte, woher er komme und woher er ſei.
Und von ihrer Schönheit von Neuem betroffen, war er kaum im Stande, das zurechtgezimmerte Märchen von ſeinem widrigen Schickſal als armer Edelmann, der ſein Glück in weiter Welt zu ſuchen gezwungen und an dieſem Ufer elendiglich geſtrandet und im Stiche gelaſſen worden ſei, mit einigem Zuſammenhange vorzubringen. Um ſo beſſern Eindruck ſchien er aber zu machen. Die Frau ſetzte ſich ſtatt ſeiner auf die Bank, und als ſie im weite¬ ren Verlaufe des Geſpräches wahrnahm, daß der Fremde nach ſeinem ganzen Weſen ein junger Mann von Stand, Lebensart, Geiſt und Entſchloſſenheit ſein müſſe, lud ſie ihn höflich ein, Platz neben ihr zu nehmen und ſich aus¬ zuruhen, und ſchloß damit, ihm die wünſchenswerthe Hülfe¬ leiſtung und Gaſtfreundſchaft auf ihrer Burg anzubieten. Ein Hut werde ſich ohne Zweifel auch aufbringen laſſen, fügte ſie bei, als ſie ſchon auf dem engen Steige voran ging, während der ſchiffbrüchige Cavalier mit ſeinem Mantel folgte und der Page als, der letzte die Staffeln erkletterte.
279Einige Tage ſpäter trug der glückliche Abenteurer nicht nur einen neuen Hut, ſondern noch verſchiedene andere ſchöne Kleidungsſtücke, welche die Donna ihm ge¬ ſchenkt; nur den alten Mantel mit dem Sternhimmel hatte er noch umgeſchlagen, als er mit ihr den Staffel¬ weg hinunter ſtieg, um an dem einſamen Strande ſpa¬ zieren zu gehen. Die Sonne gab aber ſo warm, daß das ſehr hübſche Paar bald einen Schatten ſuchte und jene Grotte betrat. Hand in Hand ſaßen ſie auf der Stein¬ bank, und als die Sonne tiefergehend auch hier eindrang, hingen ſie ſcherzend den Mantel vor den Eingang und betrachteten die von den Motten geſchaffenen Sternbilder.
Noch nie haben Sterne der Armuth ein ſchöneres Glück beſtrahlt! flüſterte Correa und legte den Arm um die ſchlanke Frauengeſtalt. Sie deutete mit dem Finger auf ein etwas größeres Loch, das vielmehr wie ein kleiner Riß ausſah:
Hier glänzt ſogar eine Mondſichel unter den Stern¬ lein, gleich dem Hirten unter den Schäfchen, wie die Dichter ſagen!
Das iſt nicht von den Motten, ſondern ein verjährter Degenſtich! erwiderte Correa. Sie wollte wiſſen, woher der Stich rühre, und er erzählte, wie er als junges Studentchen einſt ſich ſeiner Haut habe wehren müſſen, als er nächtlicher Weile einem unter dem Hauſe einer Schönen plärrenden Ständchenſinger im Vorbeigehen ein „ Halt's Maul! “zugerufen habe. Denn von Frauenliebe280 ſei ihm ſehr wenig bewußt und das katermäßige Miaulen an allen Straßenecken höchſt widerwärtig geweſen. Nur der Mantel, den er mit der linken Hand vorgehalten, habe den Stoß des ergrimmten Lautenkratzers abſchwächen können. Deſſen ungeachtet habe er noch ziemlich geblutet.
Ob er jetzo wirklich ernſthaft zu lieben verſtehe? fragte Feniza Mayor und küßte ihn, eh 'er zu antworten ver¬ mochte.
So ging es den einen wie den andern Tag, bis die ſonſt ſo gemeſſene und ſtolze Dame von Cercal gänzlich bethört und in Leidenſchaft verloren war, und Don Correa fand weder Zeit noch Gedanken, über das Wunder ſich zu verwundern, da er ſelbſt in hitziger Verliebtheit gefangen ſaß; kurz es war nicht zu ergründen, welches von Beiden das Andere in ſo kurzer Zeit verführt und verwandelt habe. Da blieb es denn, weil nichts ſie hinderte, nicht aus, daß ſie ſich zuſammen verlobten und die Hochzeit vorbereiteten, die in aller Eile vor ſich gehen ſollte.
Donna Mayor fragte kaum, woher er ſtamme und gab ſich mit dem Märchen zufrieden, das er ihr aufband, in der Meinung, eines Tages als der vor ſie hinzutreten, der er war. Um ſo unbefangener gab er ſich jetzt dem Vergnügen hin, von ihrem Liebeseifer ſich kleiden, ſpeiſen und tränken und liebkoſen zu ſehen, da er hieraus die Ueberzeugung ſchöpfte, daß er ſo viel Gunſt nur ſich allein verdanke.
Die Hochzeit wurde im Palaſte der kleinen Stadt281 Cercal gefeiert, die hinter dem Berge lag. Das zu Pferde über den Berg ziehende Hochzeitsgeleite glänzte und ſchimmerte weithin und verkündete, daß die ſchöne Feniza Mayor ſich zum zweiten Male verehelichte; doch war eigentlich Niemand fröhlich, als ſie und der Bräutigam. Der merkte aber von Allem nichts und freute ſich nur auf den Glanz, mit welchem er einſt ſeine Braut über¬ raſchen wollte, wenn die Zeit des Glückes und der Macht zurückgekehrt ſein werde. Einzig in der alten Kirche fiel nach geſchehener Trauung ihm ein ſeltſamer Anblick auf. An dem Grabmale des erſten Mannes der Donna Feniza, das an einem Mauerpfeiler errichtet war, lehnte die dürre blaßgelbliche Kammerfrau in ihrem blutrothen Sonntags¬ kleide und warf einen düſter glimmenden Blick auf den blühenden Don Correa. Sie ſtand bei den Leuten in dem Verdachte, jenen häßlichen und ältlichen Gemahl, von welchem der größte Theil des Reichthums herſtammte, im Schlafe aus der Welt geſchafft, auch noch andere Dinge verübt zu haben, die ihre ſchöne Herrin ihr geboten. Doch vergaß Correa, der hievon nichts wußte, den un¬ heimlichen Blick bald wieder.
Etwa ein halbes Jahr lang lebte man nun wie auf der Inſel der Kalypſo, bis der Thatendurſt des Salvador Correa endlich mit doppelter Gewalt wieder erwachte und ihn nicht länger ſo weichlich dahin leben und träumen ließ. Er hatte ſchon geheime Winke erhalten, daß die Regierung ſich ſeiner zu bedienen und trotz ſeinen282 Feinden ihn mit erhöhtem Anſehen zu bekleiden wünſche, weshalb er es an der Zeit fand, nach Liſſabon zu reiſen und die Verhältniſſe herzuſtellen. Aber noch ſollte die Frau nicht wiſſen, um was es ſich handle, ſondern erſt nach verrichteten Dingen mit ihm in ſeinen Palaſt ein¬ ziehen. Er theilte ihr daher lediglich mit, daß er eine Reiſe in nothwendigen Geſchäften vorhabe, und da ſie hierüber feuerroth im Geſichte wurde, achtete er nicht ſehr darauf, ſtreichelte ihr die flammenden Wangen und begab ſich in den Stall, um die Pferde auszuſuchen für ihn und einen Reitknecht. Allein es kam der Stallmeiſter herbei, fragend, was zu ſeinen Dienſten ſtände, und als Don Correa die zwei Pferde bezeichnete, die man ihm ſatteln ſolle, zog der Stallmeiſter ehrerbietig ſein ledernes Haus¬ käppchen, machte einen ſteifen aber tiefen Bückling und ſagte höflich, die Pferde gehörten ſeiner gnädigen Donna und er werde nicht verfehlen, ungeſäumt ihre Willens¬ meinung einzuholen. Hierauf richtete er ſich wieder in die Höhe, worauf Correa dem Alten, den er aufmerkſam betrachtet, eine Ohrfeige gab und ihn aus dem Stalle warf, nicht ſowohl aus Rohheit, als aus angeborner Matri¬ monial-Politik, die in dieſem erſten Falle ihm ungeſucht zu Gebote ſtand, ſo wenig er auch auf dem Gebiete ſchon erfahren war. Sodann befahl er einem Knechte mit harter Stimme und ſtrengem Blicke, die Pferde zu ſatteln und ſich ſelber zur Abreiſe bereit zu machen, worauf er wieder in den Saal hinauf ging, geſtiefelt283 und geſpornt und den alten Mantel um die Schultern geſchlagen.
Im Augenblicke ſeines Eintretens ſtand die Donna des Hauſes leichenblaß und ohne alle Faſſung, ſo unvor¬ bereitet war ſie, irgend etwas zu ſagen oder zu thun. Bei ihr ſtanden der Stallmeiſter, der ſein zerſtörtes Ammonshorn auf dem Schädel mit der Hand bedeckte, und die Kammerfrau. Correa, der immer in der beſten Meinung lebte und arglos guter Laune war, umarmte die Frau zum Abſchied und theilte ihr beiläufig mit, er habe den Stallmeiſter, der ihm als dem Herren nicht gehorchen wolle, ſoeben aus dem Dienſte gejagt, und da es in Einem hinginge, ſo entlaſſe er auch die rothröckige Kammerdame, deren Geſicht ihm nicht gefalle. Beide Perſonen wünſche er bei ſeiner Rückkunft nicht mehr zu treffen und werde für anſtändige und ihm genehme Leute ſorgen.
Niemand regte ſich oder erwiderte ein Wort. Auf der ſteinernen Wendeltreppe, die er nun hinabſtieg, drückte ſich der Page mit feindſeligem Blick in eine Ecke. Geh 'hinauf zur Frau, rief er ihm zu, und ſag' ihr, ich hätte Dich auch fortgejagt! Sollte ich Dich noch ſehen, wenn ich wiederkomme, ſo werf 'ich Dich aus dem Fenſter! Wie eine Spinne rannte der Page treppan.
Im Thorwege ſtanden die Pferde geſattelt und der Reitknecht im Reiſekleid dabei. Er benahm ſich aber ſo zögernd und verdrießlich, daß der Herr den Widerwillen284 gut bemerkte, mit welchem auch dieſer Dienſtbote ihm gehorchte. In der That waren ſie kaum einhundert Schritte auf dem Bergpaſſe davon geritten, ſo ertönte eine ſchrille Pfeife aus dem Thurmfenſter; der Knecht hielt erſt eine Weile ſtill, wandte dann ſein Pferd und ſprengte verhängten Zügels in die Burg zurück.
Steh'n wir ſo? ſagte Don Correa bei ſich ſelbſt, als er die Flucht des Burſchen bemerkte. Anſtatt denſelben zu verfolgen, ſetzte er aber ſeinen Weg fort, da er ſich lieber allein behelfen als ſolchen Dienern anvertrauen wollte. Im Uebrigen beluſtigte ihn die Sache eher, als ſie ihn ärgerte, und faſt bedünkte es ihn, es ſei kurz¬ weiliger, ein Weibchen zu beſitzen, wo ſich ein bischen Pfeffer und Salz daran finde, ſtatt lauter Honig.
Die Angelegenheit in Liſſabon erledigte ſich nach Wunſch. Er wurde zum Vice-Admiral ernannt und Jedermann wollte, da er jetzt öffentlich auftrat, ſein beſter Freund ſein. Doch rüſtete er ſich ſofort zur Ab¬ reiſe, da er von der Regierung den Auftrag hatte, mit drei großen Kriegsſchiffen nach Braſilien zu gehen und die dortigen Geſchäfte vor der Hand zu übernehmen.
Das Admiralſchiff ließ er zur Aufnahme einer vornehmen Dame einrichten und aus ſeinem Familien¬ palaſte jede Bequemlichkeit und ſtattliches Geräthe hin¬ tragen. Auch koſtbare Geſchenke aller Art kaufte er ein, welche er der Gemahlin bei ihrer Ankunft auf dem Schiffe zu überreichen und ſo das von ihr Empfangene reichlich285 zu erwidern dachte. Denn er hatte beſchloſſen, mit dem Geſchwader bis auf die Höhe ihres Küſtenſitzes zu fahren, dort anzuhalten und ſie auf das Schiff abzuholen, wo ſie dann erſt vernehmen ſollte, wer ihr Gemahl ſei.
Die Kunde von dem Auftreten Don Correa's ver¬ breitete ſich im Lande; aber ſo wenig das Publikum etwas von ſeiner Verheirathung wußte, ſo wenig ahnte die Frau von Cercal, daß von ihrem Manne die Rede ſei, wenn ſogar in ihre entlegene Felſenwohnung das Gerücht von dem Glanze des neuen Admirals drang.
Etwa eine Stunde nach Sonnenuntergang, in einer mondloſen Nacht fuhren die drei mächtigen Schiffe heran und ſtellten ſich in gehöriger Entfernung dem Schloſſe gegenüber auf, deſſen Lage der Admiral nicht nur aus den dunklen Formen des Gebirges, ſondern auch den hell erleuchteten Saalfenſtern des Hauptthurmes erkannte. Um die Ueberraſchung möglichſt vollſtändig zu machen, ließ er nur die nothwendigſten Laternen auf den Decks brennen und auch die gegen das Land hin verhüllen. Deſto heller und prächtiger ſtrahlte das Innere des Admiralſchiffes und beſonders die große Kajüte, welche einem fürſtlichen Saale gleich ſah. Eine Tafel war mit Seidenſcharlach und über dieſem mit weißem Leinendamaſt gedeckt; mit ſchwerem Silbergeſchirr und vielarmigen Kandelabern beladen, welche mit vergoldeten Gefäßen voll duftender Blumen ferner Himmelsſtriche abwechſelten, ließ der Tiſch286 vermuthen, daß er für eine höchſte Ehrenerweiſung zu¬ gerüſtet ſei. Vor jedem Gedecke ſtand ein Stuhl mit hoher wappengeſtickter Lehne, der eines vornehmen Gaſtes harrte; längs den mit reichem Zierath bekleideten Wänden unterhielt ſich eine zahlreiche Geſellſchaft in leiſem Ge¬ ſpräche, und zwiſchen den verſchiedenen Gruppen bewegten ſich wohlgekleidete gewandte Diener, ſowie auch in einem kleineren Gemach zwei Kammerfrauen der Herrin gewärtig waren. Nicht nur die ſämmtlichen Offiziere der drei Kriegsſchiffe, ſondern auch eine Anzahl höherer Staats¬ beamten mit ihren Weibern oder Töchtern, welche die Reiſe mitmachten, bildeten die anſehnliche, auf die Löſung des Räthſels begierige Verſammlung.
Um halb zehn Uhr begab ſich Don Correa in ein Landungsboot und ließ ſich an's Ufer führen, nachdem er angeordnet, daß genau um Mitternacht, wo er auf der Rückfahrt begriffen ſei, alle Verdecke erleuchtet, die Raketen ſteigen und die Kanonen der Breitſeiten gelöſt werden ſollten. Er hatte ſich in den alten braunen Mantel ge¬ hüllt und einen einfachen Hut aufgeſetzt. Am Ufer aus¬ geſtiegen, befahl er der Bootsmannſchaft, ruhig ſeiner zu harren, und ſchritt unverweilt den Staffelweg hinauf, den er auch in der Dunkelheit zu finden wußte. Das Burg¬ thor war verſchloſſen; doch ſah er durch Gitterſpalten einen Lichtſchein ſich bewegen und klopfte mit dem Degen¬ knopf zwei Mal an das Thor. Mit einer Laterne vor ſich hinleuchtend, öffnete der abtrünnige Stallknecht den287 Thorflügel und ſtarrte dem einſamen Ankömmling in das Geſicht, als ob er den Teufel ſähe.
„ Geh vor mir her und leuchte! “ſagte Don Correa kurz, ohne den Burſchen zweimal anzublicken. Derſelbe gehorchte freilich diesmal dem Befehl; aber er ſprang ſo behende treppauf, daß Correa nicht auf dem Fuße folgen konnte und im Dunkeln tappen mußte. Oben angelangt, ſtieß der Knecht eine Thüre auf und rief mit athemloſer Kehle in das erhellte Gemach hinein: „ der Herr iſt da! “
„ Wer iſt da? “ſagte Donna Feniza, die in ihrem Armſtuhle am Nachteſſen ſaß.
„ Er, der die Ohrfeigen gibt und uns Andere weg¬ gejagt hat oder noch wegjagen wird! “
„ O Du Eſel! “rief die Frau in all' ihrem Reize und ließ zugleich ein kurzes Gelächter läuten, als ſie jetzt dicht hinter dem Burſchen den Admiral ſtehen ſah und wie er ihn an der Schulter bei Seite ſchob.
Dieſer nun ſchaute mit einem völligen Schrecken auf die Scene, wenn bei einem Manne ſeiner Art das Wort angewendet und nicht eher mit dem Ausdruck äußerſtes Erſtaunen zu erſetzen iſt. Am runden Tiſche, an welchem er ſo manche ſchöne Stunde ihr gegenüber geſeſſen, waren außer der Herrin noch zu ſehen der Stallmeiſter, die Kammerfrau, der junge Beichtvater, und ihr zunächſt ein Unbekannter, ein ſtämmiger Menſch von halb kriegeriſchem Anſtrich, mit breiten Schultern und einer langen Schmarre über Naſe und halbes Geſicht hinweg, ſo daß auch der288 Schnurrbart in zwei Theile getrennt und das äußerſte Gebüſchlein jenſeits der rothen Furche ſtand. Dieſe Ent¬ ſtellung ſchien jedoch der ſchönen Hausfrau keineswegs zu mißfallen; denn im erſten Moment, da er unter die Thüre trat, hatte Correa mit allem Andern auch gleichſam im Wetterleuchten bemerkt, wie ſie während des Gelächters einen vollen Blick in das Geſicht ihres Nachbars ge¬ worfen hatte.
Dennoch waren in der Verwirrung ſeines Geiſtes die erſten Gedanken nicht auf dieſe Sorgen gerichtet, ſondern auf die glänzende Verſammlung an Bord ſeines Schiffes. Wie ſollte er, ohne Zeit zu verlieren und ohne Gewalt zu brauchen, das Haus räumen und die Frau gütlich bewegen, ſich in Staat zu werfen oder wenigſtens etwas aufzuputzen und ihn zu begleiten, ohne daß er jetzt ſchon das Geheimniß verrieth? Denn trotz dem übeln Eindrucke, den der Auftritt auf ihn machte, ſchwankte er noch nicht, die wild gewordene Taube feſtzuhalten und wieder zu zähmen, und dazu brauchte er ja vor Allem die herrliche Ueberraſchung, die er mit ſo viel Mühe und Sorgfalt ihr bereitet hatte.
Aus dieſen Gedanken, während welchen er nicht ein¬ mal zu bemerken fähig war, wie die Frau nicht Miene machte, ſich auch nur ein wenig zu erheben und ihm entgegen zu gehen, weckte ihn unverſehens ihre Stimme, als ſie inmitten der allgemeinen Todesſtille ſagte:
„ Ei wahrlich! Das iſt ja mein Gemahl! Und wie! 289Habt Ihr, edler Don, Kleider und Geld, was ich Euch gegeben, auf Eueren Irrfahrten ſo bald durchgebracht, daß Ihr in Euerem mottenzerfreſſenen Bettlermantel wieder vor mir ſteht? “
Er überlegte einen Augenblick, was ſie eigentlich geſagt habe, und fand, daß es jedenfalls nichts Schönes und Liebevolles ſei. Einen Blick auf die kleine Tafelrunde werfend, antwortete er, mehr um aus der Verlegenheit zu kommen, mit trockenen, aber nicht ganz traulichen Worten:
„ Laß Dich lieber fragen, meine gute Hausfrau, wie es kommt, daß ich hier die Leute noch vorfinde, die ich weggeſchickt habe, bis auf den Spatz, der hinter Deinem Seſſel ſteht? Hat dieſer nicht ausgerichtet, daß er ent¬ laſſen ſei? Und wer iſt der fremde Herr, den ich an meinem Tiſche ſo breit da ſitzen ſehe, ohne mein Vor¬ wiſſen? “
Die Dienſtleute blickten alle halb ſpöttiſch, halb ängſtlich auf die Gebieterin; der Fremde warf einen Blick auf ſein Seitengewehr, das an breiter Koppel von gelbem Leder mit großen Meſſingſchnallen in der Fenſterniſche hing.
Feniza aber ſagte mit ſchnippiſchen und ſchnöden Worten:
„ Dieſer Tiſch iſt, ſo viel mir bewußt, mein Tiſch, und es ſitzt daran, wem ich es erlaube. Nehmt, ſtatt zu zanken, lieber den Platz ein, der noch frei iſt, und ſtärkt Euch, wenn Ihr Hunger habt! Aber benehmt EuchKeller, Sinngedicht. 19290ſo, wie es Jedem ziemt, der ſeine Füße unter meinen Tiſch ſtreckt! “
Das plötzliche Gelächter der Anweſenden war zunächſt das Echo dieſer Rede. Selbſt der ſpitznäſige Page ließ ein durchdringendes Gekicher hören, wie es zu tönen pflegt, wenn unerwachſene Buben ſich in die Unterhaltung der Erwachſenen miſchen und dieſelbe überſchreien.
Es gab aber gleich darauf einen größeren Lärm. Don Salvador hatte ſich mit wechſelnder Farbe dem Tiſche genähert, legte die Hand daran, und indem er ſagte: „ So? ſtrecke ich meine Füße unter den Tiſch? “ſtürzte er denſelben um mit Allem, was darauf ſtand, mit Schüſſeln, Krügen, Gläſern und Leuchtern, und dies mit einer ſolchen Gewalt, daß zu gleicher Zeit Alle, die daran geſeſſen, ſammt ihren Stühlen zu Boden geſchleudert wurden, mit Ausnahme der Frau. Die hatte, von des Mannes verändertem Geſicht und von ſeinem Herantreten erſchreckt, ſich merkwürdig ſchnell von ihrem Stuhl er¬ hoben und in eine Ecke geflüchtet, von wo ſie furchtſam und neugierig hervor ſchaute.
Indeſſen war der Erſte, der ſich aus der Verwüſtung vom Boden aufgerichtet, der fremde Geſell, und Correa ſah nun, als jener auf den Beinen ſtand und mit dem gezogenen Schwerte auf ihn eindrang, daß er es mit einem außergewöhnlich großen und ſtarken Manne zu thun hatte. Er verlor aber keine Zeit; obgleich feiner und ſchmächtiger gewachſen, als Jener, ergriff er den291 nächſten ſchweren Stuhl von Eichenholz, ſchwang ihn über dem Recken und ſchlug nicht nur ſeine Waffe nieder, ſondern auch die rechte Schulter ſo gründlich entzwei, daß er augenblicklich gelähmt und überdies vor Schmerz halb ohnmächtig und ganz wehrlos wurde. Als ein Menſch von niederem Charakter floh er gleich aus dem Zim¬ mer, und ihm folgte die übrige Compagnie, ſo wie ſie ſich allmählig aus den Scherben aufraffte. Sie wiſchten wie chineſiſche Schatten hinaus; hinter ſeinem Rücken machte die Kammerfrau noch ein Zeichen gegen die Herrin, die es mit faſt unmerklichem Kopfnicken er¬ widerte. Nur der Page war noch im Zimmer und ſteckte die Naſe hinter der Frau hervor. Correa that einen Schritt, faßte den Knaben an den Locken und warf ihn wie einen jungen Haſen den Uebrigen nach vor die die Thüre, welche er hierauf verriegelte.
Dann ſtellte er ſich, auf die gezogene Degenklinge geſtützt, vor die Frau, welche mit zitternden Knieen und ausgeſtreckten Händen da ſtand, und ſagte, nachdem er ſie eine Weile ernſtlich betrachtet:
„ Was biſt Du für ein Weib? “
„ Was biſt Du für ein Mann? “fragte ſie entgegen mit furchtſamer Stimme und immerfort zitternd.
„ Ich? Salvador Correa, der Admiral und Gouverneur von Rio bin ich! Wirſt Du mir nun gehorchen? “
Durch dieſe offenbar ungeheure Lüge bekam das Weib in ihren Augen moraliſch wieder das Oberwaſſer. Denn19*292da ſie nur an ſich ſelbſt, an ihren Reichthum und an die Kirche, ſonſt aber an Nichts in der Welt glaubte, ſo ſchien es ihr ganz undenkbar, daß der eigene Mann, den ſie eine Zeit lang als ihre Puppe angeſehen, etwas Rechtes ſein könnte.
Sie ſchlug eine unangenehme Lache auf, indem ſie rief:
„ Nun merk 'ich, was Du für ein Windbeutel biſt! Ein Schlucker wie Du, den ich ſchiffbrüchig am Strande aufgeleſen, und der berühmte, der reiche Don Correa! “
„ Da Du mich nur mir ſelbſt gegenüberſtellſt und der Vergleich Deine bösliche Beſchimpfung aufwiegt, ſo kann ich darüber hinweg gehen! “
Mit dieſen Worten, die er mit einer durch die äußerſte Noth gebotenen Gelaſſenheit ausſprach, da die Zeit unaufhaltſam verſtrich und er in ſeiner Verſtrickung aller Sinne nur die Schande und das gefährdete Anſehen er¬ blickte, wenn er wie ein Thor unverrichteter Sache zu ſeinen Schiffen zurückkehrte, — mit dieſen Worten ergriff er das Weib am Arme und führte es an ein Fenſter, welches auf das nächtliche Weltmeer hinausging.
„ Dort liegen meine Schiffe vor Anker “, ſagte er; „ in einer halben Stunde werden wir Beide dort ſein, wo viele Herren und Damen uns erwarten und Du als meine Gemahlin begrüßt wirſt! Morgen früh kehren wir nochmals hierher zurück, um einzupacken und eine zwiſchenweilige Verwaltung zu beſtellen, denn Du wirſt293 mich nach Braſilien begleiten. Jetzt ſpute Dich, ein ſchickliches Feſtgewand anzulegen, und wenn Du zögerſt, werde ich Deinen unglücklichen Poſſen ein Ende machen und Deine weiße Kehle mit dieſem Eiſen durchbohren! “ Er erhob die lange Degenklinge. Das Auge vom Meere abwendend, wo ſie nur einen ſchwachen Lichtſchimmer hatte entdecken können, warf ſie den Blick auf das glän¬ zende Eiſen. Plötzlich umſchlang ſie mit den Armen ſeinen Hals und bedeckte ihm den Mund mit ſo feurigen Küſſen, als ſie im jemals gegeben.
„ Warum ſollte ich Dir nicht gehorchen, da ich er¬ fahren, wie Du an mir hängſt? “flüſterte ſie in zärtlichen Lauten; „ Alles iſt vorüber und ich gehe mit Dir bis an das Ende der Welt. Aber ich kann mich nicht allein ankleiden und die Kammerfrau haſt Du mir vertrieben, alſo wirſt Du mir ein wenig helfen müſſen! “
Sie ergriff ſüß lächelnd ſeine Hand und er folgte ohne Widerſtand in ihre Kammer, in der Hoffnung, ſeine Ehre mindeſtens vor der Welt noch zu retten. Doch behielt er den gezogenen Degen in der Hand, da die Drohung ſo ſchnell gewirkt.
Nun begann ſie aber die koſtbare Zeit zu verzetteln, indem ſie erſt mit verſtellter Unentſchloſſenheit ein Staats¬ kleid ausſuchte und mit niedlichem Geplauder ſeinen Rath verlangte, dann das Oberkleid, das ſie trug, von ihm aufneſteln ließ, tauſend Kleinigkeiten herbeiholte, dazwiſchen mit Koſen und Schmeicheln ſich zu ſchaffen machte, bis294 die eiſerne Wanduhr in der Kammer das Viertel auf Mitternacht ſchlug.
„ Wenn Du nicht gleich fertig wirſt, “ſagte Correa, „ ſo trag 'ich Dich mit Gewalt hinunter wie Du biſt. “
„ Nur noch das große Halsband will ich holen “, rief ſie, „ und den Rubin, der zu dem ſchwarzen Kleide ſo gut ſteht. Und meine weißen Kragen hat die Kammerfrau heute unter den Händen gehabt. Im Augenblick bin ich wieder da. “
Damit ſchlüpfte ſie aus einer Thüre, eh 'Correa ſich beſonnen hatte, ob er ſie gehen laſſen wolle. Die Thüre verſchloß ſie von außen, ganz leiſe, und durcheilte mit dem Licht in der Hand die übrigen Räume, bis ſie ein Stockwerk tiefer ihre vertriebenen Genoſſen fand, die mit lauernden Blicken in einem Häuflein ſtanden.
„ Zündet an! Zündet an! “kreiſchte ſie heiſer; „ er iſt ein Pirat und hat ein Schiff auf der See! Steckt un¬ verzüglich an, es wird Euch nicht reuen! Zündet an! Freiheit und Leben ſind wol einen alten Thurm werth! “
Gleich einer Furie eilte ſie voraus und hielt das Licht an einen Haufen Reiſig, der auf einer hölzernen Treppe lag, während die Uebrigen ein Gebirge von Strohwellen in Brand ſetzten, das die ſteinerne Haupttreppe verſtopfte. Dann wurde in der Küche ein großer Stoß entzündlicher Stoffe entflammt, deren Gluth bald die hölzerne Diele ergreifen mußte; dann vertheilten ſich die Dämonen auf den unterſten Flur, in den Stall, die Scheune, den Holz¬295 ſchuppen im Hofe, überall Feuer anlegend, und ſammelten ſich ſchließlich vor dem Schloßthore, das ſie verrammelten, deſſen Schlüſſel ſie mit ſich nahmen. Die Pferde waren ſchon draußen und wurden beſtiegen, auch dem Manne mit der gebrochenen Schulter auf eines geholfen; die Kammerfrau hielt ein Käſtchen mit Geld, Pretioſen und Papieren auf dem Schoße, und ſo zog die Geſellſchaft, gegen zehn Perſonen ſtark, ohne einen Laut von ſich zu geben vom Thore hinweg nach den Bergen zu und verlor ſich in der Dunkelheit. In dieſem Augenblicke donnerten die Kanonen von den Kriegsſchiffen, daß die Luft zitterte und der Berg erdröhnte, und als die Uebelthäter ſich er¬ ſchrocken umſchauten, ſahen ſie auf dem Meere die Schiffe taghell beleuchtet und eine ſprühende Raketengarbe gen Himmel ſteigen, während eine ſchmetternde Trompeten¬ fanfare, mit Paukenſchall vermiſcht, herüber klang.
„ Das iſt kein Pirat, das iſt ein großer Capitän oder gar ein Admiral “, ſtöhnte Der mit der Schulter, der im Fieber ſchlotterte.
„ Fort, Fort! Es iſt der Teufel! “ſchrie die Donna Feniza, die jetzt auch wieder zu ſchlottern anfing, und die Cavalcade der Mordbrenner floh ohne ſich weiter umzu¬ ſehen über das Gebirge.
Der Admiral ging aber nicht verloren. Nachdem meh¬ rere Minuten vorüber und die Frau nicht zurück war, wollte er ſelbſt nachſehen, und als er alle Thüren von außen verſchloſſen fand, merkte er den Verrath. Als er296 aber mit Gewalt eine aufgeſprengt und alle Zugänge mit lohendem Feuer angefüllt ſah, welches zu durchſchreiten ſchon nicht mehr möglich war, kehrte endlich die ruhige und klare Beſonnenheit des thatkundigen Mannes wieder bei ihm ein; ſtatt den Ausgang in der Tiefe zu ſuchen, die vom Feuer verrammelt war, erſtieg er die oberſte Höhe des Hauptthurmes, in dem er ſich befand. Dort hing in einer Mauerlücke eine Glocke, deren Seil aus¬ wendig bis in den Hof hinunter ging und dort gezogen zu werden pflegte. Don Correa hatte ſelbſt ein neues Seil beſorgt, das nicht dick aber ſtark genug war für eine kühne That, wenn nur der oberſte Punkt, die Ver¬ bindung mit dem Glöcklein ſelbſt, verſichert wurde. Er ſtieg alſo mit allem Bedacht hinauf, ein Licht in der Hand, das freilich von den aus der Tiefe nach der Höhe wallenden Rauch - und Hitzewogen beinah ausgelöſcht wurde. Auf der oberſten Thurmtreppe ſchnitt er ein Seil, das ſtatt eines Geländers diente, entzwei und befeſtigte das Glockenſeil damit derart, daß er die Fahrt wagen durfte. Dazu diente ihm auch der alte geſtirnte Mantel, in deſſen Falten er beide Hände wickelte, als er nun vom hohen Thurme niederglitt. Auf dem Hofe angekommen, mußte er ſchon zwiſchen den verſchiedenen Brandanſtalten hindurch ſpringen, um ein Ausgangsloch zu erreichen, an welches die Mordbrenner nicht gedacht hatten.
Im Boote angelangt und ſeinen Sitz einnehmend be¬ fahl er die ſofortige Abfahrt, und als er genugſam vom297 Strande entfernt war, ſah er das Schloß in rothen Flammen ſtehen, indeſſen von den Schiffen her die Ge¬ ſchütze dröhnten und der Glanz der Lichter ſtrahlte. Eine ſonderbarere Lage hatte er noch nie zwiſchen zwei Feuern erlebt, und mit bitterm Lächeln genoß er die Ironie und die Lehre dieſer Lage, die Lehre, daß man in Heiraths¬ ſachen auch im guten Sinne keine künſtlichen Anſtalten treffen und Fabeleien aufführen ſoll, ſondern alles ſeinem natürlichen Verlaufe zu überlaſſen beſſer thut.
Das Gefühl der Befreiung von einer unbekannten ſchmachbringenden Zukunft und der unmittelbaren Lebens¬ gefahr erhellte dennoch etwas die dunkle Laune, ſodaß er auf ſeinem Admiralſchiffe die glänzende Geſellſchaft zu Tiſch ſitzen ließ und mit gefaßtem Sinne einige Worte an ſie richtete. „ Er habe geglaubt, “ſagte er, „ den Herr¬ ſchaften eine ehrliche Gemahlin und Reiſegefährtin vor¬ ſtellen zu können; allein der unerforſchliche Wille der Vorſehung hätte es dahin gelenkt, daß eine Flamme des Unheiles und des Unterganges angezündet und ein Gericht nothwendig geworden ſei, welches das traurige Räthſel den Freunden löſen werde. “
In der That ſetzte er nach beendigter Mahlzeit noch vor Tagesanbruch ein Standgericht nieder, welches die Verfolgung und Aburtheilung der Urheber des Schlo߬ brandes ausſprach. Der Umſtand, daß das Verbrechen im Angeſichte eines Kriegsgeſchwaders verübt und deſſen Führer beinahe das Opfer wurde, ſchien die Gerichts¬298 barkeit der Kriegsflagge hinreichend zu begründen. Un¬ mittelbar darauf ließ Correa zwanzig Reiter und vierzig Fußſoldaten an's Land ſetzen und dieſelben auf zwei Wegen, die er ihnen angab, nach Cercal marſchiren; denn er ver¬ muthete mit Recht, daß die Uebelthäter ſich dorthin ge¬ wendet. Sie lagen auch wirklich alle im tiefen Schlafe in der Behauſung der Feniza Mayor, als die Soldaten nach Sonnenaufgang anlangten, und wurden zu ihrem Entſetzen aufgeweckt und gebunden nach der Brandſtätte am Ufer zurückgeführt, auch eine Anzahl von Urkunds¬ perſonen aus dem Bergneſte mitgenommen. Ein erfah¬ rener Unterſuchungsrichter befand ſich ſchon bei der Expedition, welcher an Ort und Stelle die erſte Erhebung des Thatbeſtandes leitete und die Einzelverhöre vornahm. Nachher wurden die Gefangenen auf das Admiralſchiff gebracht, wo unter einem Zelte das Gericht und neben demſelben der Admiral mit der Feldherrnbinde und dem Orden des goldenen Vließes ſaß. Vor ihm ſtand nun die Frau von Cercal inmitten ihres Anhanges, mit zer¬ rüttetem Ausſehen, und ſie ſtarrte bald nach ihm hin, bald nach den Richtern, bald nach den umſtehenden Offi¬ cieren und Kriegern.
So treulich die ſeltſame Sippſchaft früher zuſammen gehalten und ſo anhänglich die Dienſtleute der Herrin bisher geſchienen, ſo gänzlich zertrümmert war jetzt das alles. Eines ſagte gegen das Andere aus, Eines gegen Alle und Alle gegen Eines. Es ergab ſich, daß die299 Kammerfrau den erſten Mann der Feniza auf deren Wunſch hin im Schlafe erdroſſelt, nachdem ſie den Platz an ſeiner Seite im Ehebette leiſe verlaſſen hatte. Dann zog die Vollzieherin des Mordes, von welcher die Herrin von Cercal abhängig geworden, ihren Bruder herbei, eben den Mann mit der Schulter, der bald als Soldat, bald als Bandit ſich herum trieb. An dieſen Menſchen hing ſich die Frau, bis er kurz vor dem Auftreten des Don Correa ihrer überdrüſſig geworden mit einem guten Stücke Geld davon ging, um ſich in den Kriegsläuften, wie er ſagte, einen Rang zu erfechten. Während Correa's Ab¬ weſenheit war er wieder erſchienen, und die Frau in ihrem unergründlichen ſittlichen und geiſtigen Zuſtande hatte ihn auf - und angenommen und nur darauf gedacht, den Correa durch ihn zu vertreiben oder zu vernichten, wenn er wieder käme. Von unverſöhnlichem Haß erfüllt, berieth ſie ge¬ rade am Tage vor ſeiner Ankunft mit ihrer Geſellſchaft, was zu thun ſei, und ſie beſchloſſen, wenn er nicht anders zu bezwingen wäre, ihn im Schloſſe abzuſperren und dieſes zu verbrennen. Die nöthigen Vorkehrungen hatten die Kammerfrau, der Stallmeiſter und ſeine Knechte bald getroffen, als ſie aus der Stube gejagt waren; denn was im Hauſe lebte, haßte den vermeintlichen Bettler und Emporkömmling wie Gift, was eben auch eine unglückliche Frucht der Erfindung war, die Correa in's Werk geſetzt, um ſich glücklich zu verheirathen, und die ihm bald das Leben gekoſtet hätte.
300Mit alledem waren das Weſen und die Seele der Feniza ſelbſt nicht weiter aufgeklärt, als die Thatſachen gingen. Der Vergleich mit dem ſchönen weichen Fell einer geſchmeidigen Tigerkatze, oder mit der blauen ſtillen Oberfläche eines tiefen Gewäſſers, auf deſſen Grunde häßliches Gewürme im Schlamme kriecht, u. dgl. hätte zu nichts geführt. Ihr Charakter war darum nicht minder auch ihr Schickſal. Wäre es ihr möglich geweſen, in der letzten Stunde den Worten des Mannes zu glauben, mit dem ſie ſich doch verbunden hatte, ſo wäre ſie ohne Zweifel mit ihm gegangen und gerettet worden. Aber nur für einmal; denn nachher würde ſie es nicht über ſich ge¬ bracht haben, die Selbſtſucht, Willkür, die Liebe zum Laſter und die vollendeten Künſte der Heuchelei zu unterdrücken, die ihre Lebensluſt waren.
Jetzt war ſie aber ärger zerbrochen, als die Schulter¬ knochen ihres Buhlgeſellen. Als Correa ſeine Ausſage thun mußte, blickte er ſie nicht an; dennoch erſchien er ihr auf ſeinem Stuhle wie ein Höllenrichter. Das weiße feine Kinn, das einſt ſo vornehm auf dem Halskragen geruht hatte, zitterte fahl und ſchlaff ohne Unterlaß, während ihre ſcheuen Augen an ſeinem Munde hingen, und die Perlenzähne klapperten beinahe vernehmlich. Alles dies quälte den Admiral faſt ſo viel, wie ſie ſelbſt. Denn war ſie ſchuldiger, weil das Geſchöpf den wahren Men¬ ſchen in ihm nicht geahnt hatte, als er, dem es mit der Beſtie in ihr gerade ſo ergangen war?
301Nachdem in Folge kurzer Berathung alle Angeklagten zum Tode verurtheilt worden, ließ er das Gericht durch ein paar geiſtliche Capitelsherren, die an Bord waren, vervollſtändigen und ſeine Ehe mit der Verbrecherin feierlich auflöſen. Die Gültigkeit dieſer letzten Verhand¬ lung kam nicht mehr in Frage, weil die Feniza Mayor von Cercal gleich nachher mit ihren Genoſſen an's Land zurückgebracht und an der geſchwärzten Mauer des aus¬ gebrannten Thurmes aufgehangen wurde, worauf der Ad¬ miral die Anker lichten ließ und die Fahrt nach Weſten fortſetzte. Nach vollen zehn Jahren erſt nahm er auf ebenſo ungewohnte aber glücklichere Weiſe die zweite Frau.
Um dieſe Zeit nämlich ſegelte der Admiral Correa von Braſilien aus mit einer bedeutenden Flotte nach der Weſtküſte von Afrika, um die dortigen Beſitzungen den Holländern wieder abzunehmen, welche ſich während des portugieſiſchen Verfalls darin feſtgeſetzt hatten. Er er¬ ſchien unverſehens vor St. Paul von Loanda, belagerte und erſtürmte dieſen und andere Plätze, und zwang überall die Holländer zur Uebergabe und zum Rückzuge, ſo daß er in zwei Monaten die Gebiete von Benguela, Loanda, kurz, die ſüdliche Weſtküſte von Afrika der Herrſchaft ſeiner Fahnen und ſeines Landes wieder unterwarf und ſeinen Namen mit neuen Ehren erſchallen ließ. Dazu brachte er an die zwanzig kleinere Negerkönige unter die Gewalt ſeines Stabes, ſah ſich dann aber veranlaßt, Halt302 zu machen und zur größeren Sicherheit und Ausbreitung der portugieſiſchen Herrſchaft den Weg des Unterhandelns einzuſchlagen, eh 'er die Waffen wieder ergriff.
Denn über die hinterliegenden Landſtriche dehnte ſich in unbekannter Weite das Reich des ſogenannten Königs von Angola, deſſen wahre Stärke nicht leicht zu berechnen war, zumal er ſich in geheimnißvoller Ferne hielt und mit einem Nimbus von Macht und Schrecken umgab, der ſo gut auf einiger Wirklichkeit, als auch nur auf ſchlauer Prahlerei oder Täuſchung beruhen konnte.
Correa ſetzte ſich daher in einer geeigneten Landſchaft feſt und ließ den für furchtbar geltenden Negerfürſten durch eine Geſandtſchaft gefangener Häuptlinge auffordern, ſich bei ihm einzufinden, um ſeine Tributpflicht und die portugieſiſche Oberherrſchaft über ganz Angola anzu¬ erkennen und für den Anfang zum Zeichen guten Willens gleich ſo und ſo viel Goldſtaub und Elfenbein mitzu¬ bringen. Der König von Angola fühlte ſich durch dieſe Botſchaft nicht angenehm berührt, ſuchte ſich aber mit eigenthümlicher Staatsklugheit aus der Sache zu ziehen. Er tödtete die armen Abgeſandten, ſobald ſie Correa's Befehle verkündigt, damit ſie den Frevel nicht wiederholen konnten. Dagegen ſandte er ſchleunig eine eigene Bot¬ ſchaft mit einigen großen Elephantenzähnen und einem Säcklein Goldſand in das portugieſiſche Lager, und ließ jene Gegenſtände als großmüthiges Geſchenk der Freund¬ ſchaft überreichen und die Abordnung ſeiner königlichen303 Schweſter anzeigen, welche mit der Vollmacht zu allem Nöthigen ausgeſtattet ſein werde.
Der ſchreckliche Tyrann und Wüſtenlöwe befolgte die Politik manches zahmen Spießbürgerleins in Europa, welches immer die Frau hinſchickt, wo Muth und kluge Beredſamkeit erwünſcht ſind; nur mußte er, da er etwa hundert Frauen beſaß, die er ſelbſt nicht fürchtete, dafür zur Schweſter greifen, die ein keckes Einzelſtück war und im Gerüchte ſtand, daß ſie ſchon einmal im Begriffe ge¬ weſen ſei, den König, ihren Bruder, abzuſetzen und hin¬ richten zu laſſen.
Daß ſeine Abgeſandten umgebracht worden ſeien, wußte Don Correa nicht; er betrachtete daher die von dem ango¬ leſiſchen Herrſcher getroffenen Maßregeln als Zeichen eines halben Gehorſams und baldiger Unterwerfung; als er aber nach einiger Zeit von den ausgeſandten Spähern vernahm, daß Annachinga, die Fürſtin von Angola, ſich mit einem Gefolge nähere, das eher einem Heerzuge gleiche, ſo ſtellte er ſeine Truppen in einer Ordnung auf, die zur Schlacht wie zur Ehrenparade diente. In der That wimmelte es wie ein ſchwarzer Wolkenſchatten heran, der immer mehr in's Breite wuchs und ein bald dumpfes, bald gellendes Dröhnen von Menſchenſtimmen, Thiergeheul und kriegeriſchen Inſtrumenten aus ſich heraus gebar. Die Portugieſen fanden für gut, als Gegengruß ihre zahlreichen ſchweren Geſchütze abzufeuern, deren Metall in der afrikaniſchen Sonne funkelte, worauf das dunkle Heer¬304 weſen, von dem rollenden, in den Bergen widerhallenden Donner erſchreckt, ſtill ſtand bis auf den letzten Mann und ſich den Anordnungen der heranſprengenden Reiter fügte. Dieſe verlangten, daß nur die Fürſtin mit ihrem eigentlichen Gefolge näher komme, der große Haufen aber ſich nicht weiter von der Stelle rühre. So entwickelte ſich aus der Maſſe heraus ein kleinerer Zug, der immer noch anſehnlich genug war in ſeinem barbariſchen Pompe mit den damals noch vorhandenen Spuren einer jetzt gänzlich verwilderten Völkerwelt.
Voraus wurde als Geſchenk des Königs eine Herde wilder Thiere, Elephanten, Giraffen, Löwen, Tiger und der¬ gleichen an Ketten geführt, und zwar von Männern, die mit ihrem hohen Wuchs und trotzigen Ausſehen die Kraft und Ueberlegenheit des Volkes zeigen ſollten, mit welchem man es zu thun habe. Dann ritt ein Dutzend perſönlicher Vaſallen der Annachinga auf ziemlich bunt geſchirrten Ochſen vorüber, jeder von einigen ſchild - und ſpeertragenden Reiſigen oder Knappen begleitet, wahrſcheinlich ſeinen Untervaſallen; denn auch dieſe gingen ſchlank wie Tannen und elaſtiſch einher gleich Leuten, die auch noch irgend Etwas unter ſich haben. Auf einem mit Ochſen be¬ ſpannten Wagen ſchwerfälligſter Form, der mit Decken behangen war, erſchien endlich die Fürſtin, in koſtbare, offenbar ſehr alte Stoffe gekleidet, Hals und Arme mit einer Laſt von Ketten und Ringen geſchmückt. Sie ſaß nach abendländiſcher Weiſe auf ihrem Sitze, eine kalte305 Unbeweglichkeit zur Schau tragend, von welcher manche große Frau des Occidents hätte lernen können. Ihrem Wagen folgten zwei andere Wagen mit Hofdamen und Sklavinnen und dieſen zu Fuß eine Leibwache mit hun¬ dertjährigen guten Stahlwaffen, Halebarden und Flam¬ bergen, die unverkennbar einſt im Abendlande geſchmiedet worden. Den Schluß bildeten ein Dutzend Fetiſchträger nebſt Hof - und Feld-Regenmachern, deren beſchwöreriſche und drohende Gebärden und Sprünge die portugieſiſchen Soldaten beluſtigten. Beſonders gegen eine Anzahl Je¬ ſuiten, welche herbeigekommen waren, das Schauſpiel mit anzuſehen, richteten die ſchwarzen Hexenmeiſter ihre Verwünſchungen, da ſie dieſelben als ihre Hauptfeinde und Brotneider anſahen; die Jeſuiten aber widmeten ihnen die wiſſenſchaftliche Aufmerkſamkeit gebildeter Männer und lernten den thörichten Heiden ruhig ab, was zu lernen war.
Im Innern des Lagers wurde die Fürſtin erſt recht mit Trommeln - und Trompetenlärm empfangen und ein¬ geladen, vom Wagen zu ſteigen. Sauber gekleidete, aber keineswegs hohe Officiere führten ſie in eine leicht er¬ baute lange Zelthalle, die durch Tapeten in verſchiedene Räume abgetheilt war. Im erſten Raume befand ſich eine Verſammlung von Würdenträgern und oberen Offi¬ cieren, welche die nöthigen Erkennungen mit der Fürſtin austauſchten und die einleitenden Geſpräche unterhielten, bis ſie zu ihrer Verwunderung vernahm, daß der Höchſt¬Keller, Sinngedicht. 20306ſtehende gar nicht hier, ſondern in einem innerſten Ver¬ ſchlage aufhältlich ſei und ſie nur allein, allenfalls in Begleit ihrer Frauen und der Dolmetſcher empfange. Da ſie einmal da war, drang ſie ſchweigend aber mit un¬ geduldiger Entrüſtung vorwärts und ſtand mit immer größerem Erſtaunen vor dem Admiral, der ganz allein auf einem erhöhten Thronſeſſel ſaß, nur einen ſtehenden Pagen neben ſich. Er trug den ſchimmernden Galaküraß, über demſelben den feinſten Spitzenkragen und dicke Or¬ densketten, und auf dem Kopfe den mit Federn aus¬ geſchlagenen Hut mit Goldſchnur und Diamantagraffe. Das Gemach war an Wänden und Decke ganz mit ge¬ wirkten Seidentapeten bekleidet und der Boden mit Tep¬ pichen belegt; im Uebrigen war außer dem Thronſeſſel keinerlei Art von Stuhl zu erblicken, ein rothes Kiſſen ausgenommen, welches in einiger Entfernung vom Throne auf der Erde lag.
Zwei Herren, die ſie herein begleitet hatten und ſich jetzt aufrecht auf die Seite ſtellten, wieſen ſtumm auf das Kiſſen, als Annachinga ſich umſah, wo ſie Platz nehmen ſolle. Sie bemerkte nichts, als das Trüpplein ihrer Frauen hinter ſich, und winkte eine derſelben herbei. Dieſe kniete unverweilt hinter das Kiſſen, indem ſie die Arme auf den Boden legte und ſo in der Stellung einer ägyptiſchen Sphinx einen Ruheſitz bildete. Auf dieſen Sitz ließ ſich die Fürſtin würdevoll nieder, die Füße auf das vor ihr liegende Kiſſen ſtreckend, ſtolz307 und immer ſchweigend gewärtig, was weiter geſchehen werde.
„ Es iſt wohlgethan, “ließ ſich der Admiral nun ver¬ nehmen, „ daß der Mann, den man den König von Angola nennt, meine Botſchafter gehört und den Willen meines Landes und ſeines Gebieters geehrt hat, obgleich ich noch lieber geſehen hätte, wenn er ſelbſt gekommen wäre! “
Nachdem die beiden Dolmetſcher, die mit herein ge¬ kommen, dieſe Rede zuerſt unter ſich, dann dem Ohr der Fürſtin verſtändlich gemacht, erwiderte ſie:
„ Du biſt nicht ganz auf dem richtigen Wege des Ver¬ ſtehens, denn Deine Abgeſandten wurden nicht angehört, ſondern vertilgt, wie ſie den Mund aufthaten! “
Als dieſe Worte wiederum überſetzt waren und Don Correa ihren Sinn erfuhr, ſchwieg er eine Weile und ließ nur ſein blitzendes Auge auf der ſchwarzen Perſon ruhen. Dann ließ er fragen, warum man die Boten ge¬ tödtet habe und was man für einen Erfolg von dieſer That erwarte?
„ Sie wurden getödtet, “antwortete ſie, „ weil ſie die Unterthanen und Dienſtleute des Königs geweſen ſind und Unwürdiges gegen ihn in den Mund genommen haben. Durch ihr Blut wurde ſeine Würde verſöhnt, Dir aber iſt kein Schaden dadurch geſchehen, da Du jetzt anbringen magſt, was Du von uns wünſcheſt! “
„ Ich habe nicht zu wünſchen, ſondern zu befehlen und zur Rechenſchaft zu ziehen! “ſagte der Admiral in ſtrengem20*308Tone; „ mäßige daher Deine Sprache, wenn ich Dich nicht binden und wegführen laſſen ſoll! “
Allein ohne ſichtbaren Eindruck dieſer Worte, ohne mit den Wimpern oder den Lippen zu zucken, erwiderte Annachinga auf die Drohung:
„ Du wirſt Dich auf die ſechzig oder ſiebenzig weißen Leute beſinnen, die in unſeren Händen ſind! Mehr als die Hälfte davon gehören Deinem Lande an! “
Hiemit ſchien die Sage beſtätigt, daß eine ziemliche Zahl Europäer im Innern von Angola feſtgehalten werde, wie denn auch ſeit Jahren manche holländiſche und portu¬ gieſiſche Kaufleute verſchwunden und erſt in letzter Zeit noch einzelne Soldaten, die ſich verirrt, in Gefangenſchaft gerathen waren. Obgleich die ſchwarze Dame muthmaßlich übertrieb, ſo konnte immerhin genug an der Sache wahr ſein, und Don Correa überdachte einen Augenblick das Mißliche des Umſtandes und was er zu antworten habe. Aber die Negerfürſtin, gleich einer vollendeten Diplomatin, ließ ſeine Verlegenheit nicht dauern oder groß werden, ſondern fuhr ſogleich fort, indem ſie plötzlich auf die Hauptfrage überſprang.
„ Wir wiſſen nicht, “ſagte ſie, „ welchen Nutzen Du Dir davon verſprichſt, uns als Unterworfene zu behan¬ deln und uns die Knechtſchaft anzubieten, ehe Du nur unſere Macht geprüft, einen Angriff gewagt, geſchweige denn uns überwunden haſt. Und wenn Du uns wirklich beſiegt hätteſt, ſo wären die Vortheile für Dich geringer,309 als Dir ein freundliches Verhältniß zu uns gewähren kann. Schließeſt Du ein Freundſchaftsbündniß mit uns, das ich Dir anzutragen bevollmächtigt bin, ſo gewinnſt Du eine ſtarke Vormauer und einen mächtigen Beiſtand gegen alle übrigen Feinde, die Dir bereit ſtehen, und ſtatt unſere ungezählten Pfeile auf Dich gerichtet zu ſehen, werden ſie gegen Deine Feinde ſchwirren und Dir den Weg frei machen. Statt eines erzwungenen Tributes endlich wird Deinem Lande ein gegenſeitig geordneter frei¬ williger Verkehr größeren Gewinn bringen, als eine für uns ſchmähliche Beraubung je abwerfen könnte. Dieſes bitte ich zu erwägen, ehe Du zu den Waffen greifſt; denn ohne Kampf wird es für Dich nicht ablaufen, was Du anſtrebſt! “
Hatte Don Correa ſchon an der Art ihres Aufzuges erkannt, daß er es mit einer gewiſſen Macht zu thun hatte, die vielleicht nicht ungeſtraft zu unterſchätzen war, ſo mußte er ſich jetzt ſagen, daß dieſelbe auch wußte, was ſie wollte, und mit Vernunftgründen zu unterhandeln fähig ſchien. Er änderte alſo ſchnell entſchloſſen ſeinen Plan und ſagte:
„ Da man uns beſtimmte und deutliche Anträge macht, welche von ehrlichem Entgegenkommen zeugen, ſo iſt ge¬ nügender Grund vorhanden, hierüber Rath walten zu zu laſſen. Ich bin bereit, bis zum Austrag der Sache freie Verhandlung auf gleichem Fuße zu gewähren, und behalte mir den endgültigen Entſchluß nach Umſtänden310 vor. Du magſt jetzt wählen, ob Du inzwiſchen die Gaſt¬ freundſchaft in unſerer Mitte annehmen oder Dich bis zu einer zweiten Unterredung in Dein eigenes Heerlager zurückziehen willſt! “
Die Fürſtin erklärte, das letztere vorzuziehen, und erhob ſich mit derſelben ſtolzen Würde von ihrem Sitze, mit welcher ſie ſich darauf niedergelaſſen hatte. Zugleich erhob ſich auch der Admiral, um ſie ſeinen Worten ent¬ ſprechend auf gleichem Fuße zu behandeln und ritterlich hinaus zu geleiten. Als dergeſtalt die Anweſenden dem Ausgange zuſchritten, bemerkte Don Correa, daß die knieende Sklavin unbeweglich liegen blieb, und machte lächelnd die Fürſtin aufmerkſam, daß ſie vergeſſe, ihren lebendigen Feldſtuhl mitzunehmen.
„ Ich ſetze mich nie zum zweiten Male auf denſelben Stuhl “, antwortete ſie ohne zurückzublicken. „ So mag er dem Hauſe bleiben, in welchem ich mich ſeiner bedient habe. Ich ſchenke Dir dieſe Perſon! “
So aufſchneideriſch dieſe Rede klang, ſo gab ſie ihm doch auf's neue zu denken, und er begleitete die Fürſtin nicht ohne kriegeriſche Höflichkeit bis an den Ausgang des Lagers. Als er hierauf ſich wieder in das große Zelt zurückzog, um zunächſt die Angelegenheit für ſich allein zu überlegen, bemerkte Don Correa mit einiger Ueberraſchung, daß in dem verlaſſenen Raume das junge Weib noch immer ſtill und reglos auf ſeinen Knieen und Ellbogen lag.
311Er trat näher, ging um das ſchöne Bildwerk herum, welchem das Mädchen oder was es war, eher glich, als einem Lebeweſen, und betrachtete mit Erſtaunen und auch mit Verlegenheit die Erſcheinung, mit der er nichts anzufangen wußte. Sie war in weißes Baumwollen¬ zeug gekleidet, das von den Schultern bis zu den Füßen ging und unter den Armen bis gegen die Hüften hin mit Binden von gleicher Farbe umwickelt war. Nur die hellbraunen Schultern und die Arme waren bloß und in Formen von vollkommener Schönheit und Ebenmäßigkeit gebildet. Das Haar erſchien trotz ſeiner Ebenholzſchwärze nicht ſo wollig, wie bei den Negern, ſondern fiel in weicheren breiten Bändern rings vom Haupte, nachdem es ein auf dieſem befeſtigtes, kronenartiges Körbchen von Weidenzweigen durchflochten. Von dem Geſichte konnte Don Correa nichts ſehen, weil es zur Erde gerichtet und von dem niederhängenden Haar verſchleiert war.
Obgleich gegen Sklaven und farbige Menſchen gleich¬ gültig und verhärtet wie die ganze gebleichte Welt, bückte er ſich endlich doch ein wenig und ſagte in mitleidigem Tone: „ Wie lange wirſt Du noch liegen? Steh 'auf! “
Das arme Weib errieth den Sinn dieſes Befehles und richtete ſich empor; doch waren die Glieder von der unnatürlichen Lage beinahe erſtarrt und der Athem beengt; ſie ſchwankte im Aufſtehen und wußte ſich nicht recht zu helfen, ſo daß Don Correa ihr die Hand reichen und ſie einen Augenblick halten mußte, um ſie vor dem Umfallen312 zu ſchützen. Da ſtand ſie nun vor ihm mit vor Scham niedergeſchlagenen Augen, und eine Purpurröthe wallte ſichtbar über die braunen Wangen. Uebrigens war die Geſichtsbildung edel, wenn auch an den Schnitt alt¬ ägyptiſcher Frauengeſichter erinnernd oder ſonſt an ver¬ ſchollene Völkerſtämme alter Zeiten. Verwundert über die vornehme Anmuth der ganzen Erſcheinung legte er die Hand unter ihr kurzes Kinn und drückte es ſanft in die Höhe, ſo daß ſie den Kopf zurückbiegen und ihn mit den mandelförmigen großen Augen anſehen mußte. Da ſah er ſowol in dieſen dunkeln Augen, als auf dem kirſchrothen Munde die ſtumme Klage und Trauer der leidenden Natur, die immer das Herz des Menſchen rührt, während ihre triumphirenden Schrecken es nicht bezwingen können. Der Mann, der ſeit zehn Jahren an den ſchönſten und glänzendſten Frauen achtlos vorübergegangen und für ihre Blicke unempfindlich geblieben, wurde jetzt urplötzlich wie von einem Zauber oder einer Offenbarung bewegt; er vermochte nicht eine Secunde der Verſuchung zu widerſtehen, das ſtille, fremde Menſchenbild in den Arm zu nehmen und leis auf beide Wangen zu küſſen. Damit zeichnete er es ſänftlich als ſein Eigenthum und ſchwur in ſeinem Innern, daſſelbe niemals zu verlaſſen; denn trotz der ſchlechten Erfahrung, die er einſt gemacht, glaubte er jetzt der Eingebung, daß dieſes weibliche Weſen ihn nicht betrüben werde.
Zugleich beſchloß er auf derſelben Stelle, die heidniſche313 Sklavin in den Beſitz der menſchlichen und chriſtlichen Freiheit und des Selbſtbewußtſeins zu ſetzen, eh 'er weiter¬ ging, und rief zu dieſem Ende hin ſeinen Pagen herbei, durch welchen er das Weib ſofort nach Loanda in das Haus eines ſeiner Offiziere bringen ließ, deſſen Familie dort wohnte. Ein zurückkehrender Proviantwagen unter der Aufſicht eines ergrauten Soldaten kam der nicht eben großen Reiſe zu Statten.
Als ſodann Don Correa die Unterhandlungen mit der angoleſiſchen Königsſchweſter bis zu einem gewiſſen Punkte weitergeführt und dieſe ſich mit ihrem Troß hinwegbegeben hatte, eilte er ebenfalls nach Loanda St. Paul. Er fand die Sklavin bei den Frauen des Offiziers wohl aufgehoben und ſchon in chriſtlicher Tracht einhergehend, das dunkle Haar nach Art der portugieſiſchen Mägde beſcheiden geflochten und aufgebunden. Es wollte ihm beim erſten Anblick faſt vorkommen, als hätte ſie mit der einfachen Weidenkrone und dem weißen Wickel¬ gewande einen guten Theil ihres geheimnißvollen Reizes verloren, und er bedauerte beinah 'ſchon die Umwandlung; doch ſah er bald, daß die unſchuldige und welturſprüngliche Demuth ihres Antlitzes, verbunden mit dem natürlich edlen Gang, der ihr eigen war, jedes Kleid beherrſchten, das man ihr geben konnte. Während des Verkehrs mit Annachinga hatte er dieſe einmal beiläufig, wie man ſich etwa aus Höflichkeit über die Beſchaffenheit eines Ge¬ ſchenkes bei dem Geber erkundigt, befragt, welcher Race314 die Sklavin eigentlich angehöre und woher ſie dieſelbe erhalten habe. Er ſprach überdies vorſichtiger Weiſe in dem Tone, mit welchem ein Fant ſich nach der Nahrung eines geſchenkten ſeltenen Vögelchens erkundigt, ob man es mit Würmern oder mit Körnern füttere u. ſ. w. Annachinga ſagte ihm, die Perſon ſtamme von Sonnen¬ aufgang her, wahrſcheinlich von einem ausgerotteten Volke, und ſei mit ihrer Mutter auf dem Wege der Eroberung und des Handels quer durch den Welttheil bis gegen Weſten gerathen. Sie ſelbſt habe ſie als zehnjähriges Kind erhalten und ſeither beſeſſen; jetzt möge ſie ſiebzehn Jahre alt ſein; ſie verſtehe weiße und bunte Zeuge zu weben, ſonſt aber ſei ſie noch zu roh und unwiſſend, da ſie noch nie aus Frauenhand gekommen. Sie ſchicke ſich am beſten für den Dienſt ſeiner Gemahlin oder Fürſtin, der er ſie ſchenken möge; die Art ſei immerhin rar ge¬ worden. Wolle er ſie aber bei ſich behalten, ſo ſolle er ſie nur mit der Peitſche dreſſiren, wenn ſie zu ungelehrig ſei. Im Uebrigen habe man noch nichts an ſie gewendet hinſichtlich der modegerechten Aufſtutzung; noch ſeien die üblichen Zähne nicht ausgebrochen, die Wangen nicht tätowirt und noch kein Ring durch die Naſe gezogen, zu was allem das Alter jetzt da ſei.
Höflich, aber leichthin, der Geringfügigkeit des Gegen¬ ſtandes entſprechend, dankte Don Correa der Dame für ihren ſportmäßigen Rath und nahm das Geſpräch über die wichtigeren Staatsgeſchäfte wieder auf.
315In Loanda fand er jetzt die Angaben der Annachinga durch das, was man inzwiſchen der Sklavin hatte ab¬ fragen können, ſo ziemlich beſtätigt. Sie erinnerte ſich dunkel, als kleines Kind ſteinerne Häuſer an einem Waſſer geſehen und einen großen Lärm und Rauch erlebt zu haben, dann an der Hand oder auf dem Arm der Mutter durch unendliche Landſtrecken gekommen zu ſein, bis die Königsſchweſter von Angola Mutter und Kind gekauft. Deutlicher war ihr das ſpätere gegenwärtig, wie die Mutter von der Fürſtin hart behandelt worden und frühzeitig geſtorben ſei. Sonſt wußte ſie von nichts weiter, als daß ſie Zambo hieß.
Das nächſte, was der Admiral nun that, war, daß er ſie taufen ließ und hiefür ein kleines Feſt veranſtaltete, ohne im übrigen ſein Vorhaben zu verrathen. Die Kirche wurde mit Palmenzweigen und Blumen geſchmückt, unter dem Vorwande, dieſen erſten Sieg über das noch zu unterwerfende Königreich zu feiern, und der Altar flimmerte von Lichtern. Ein Dutzend Jeſuiten ſangen und muſizierten während des Hochamts gleich hundert Nachti¬ gallen, und der dreizehnte hielt die Predigt, in welcher er die erbauliche Vorſtellung ausmalte, daß Zambo ein letzter Nachkomme der weiſen Königin von Saba ſei und nun erſt das Heil erworben habe, das dieſe merkwürdige Vor¬ fahrin im alten Teſtamente bei den Juden vergeblich geſucht.
Don Correa ſelbſt war der Taufpathe und die vor¬ nehmſte Frau in Loanda die Pathin, als die Handlung316 nun vollzogen und Zambo mit dem Namen Maria getauft wurde. Sie ließ alles mit ſanfter Ergebung über ſich ergehen ohne den Mund zu verziehen; erſt als die Taufe vorüber war und ſie an den Altar geführt wurde, um ſich noch beſonders der großen Namenspatronin vorzu¬ ſtellen und das Knie vor ihr zu beugen, richtete ſie das Auge ſchüchtern auf das hölzerne Marienbild, welches nach Vertreibung der ketzeriſchen Holländer in neuem Glanze aufgerichtet war, die Krone friſch vergoldet, das Geſicht ſo ſtark gefirnißt, daß es glänzte wie ein Spiegel und die linke Wange wirklich das daran gedrückte Näschen des Chriſtusbildes abſpiegelte. Weil die Wange aber rundlich gewölbt war, ſo erſchien das Näslein darin ſo groß, daß die Zambo-Maria vermeinte, es wohne ein Mann in der durchſichtigen Frau, der ſeine Naſe heraus¬ ſtrecke, und da ſie überhaupt noch nie ein derartiges Bildwerk geſehen, ſo hielt ſie es für einen lebendigen Zauber und fing ſich gewaltig an zu fürchten. Zitternd raffte ſie ſich auf und ſuchte zu entfliehen. Sie fand aber wegen der vielen Umſtehenden keinen Ausweg und flüchtete an die Seite des Don Correa, in welchem ſie ihren Beſchützer ſah, und deutete mit der Hand nach dem leuchtenden goldenen Weiblein, in welchem ein Geiſt ſtecke, der größer ſei als es ſelbſt. Alles drängte ſich herzu, um zu ſehen und zu hören, was ſich mit der neuen Chriſtin begebe, und man ſuchte ſich gegenſeitig verſtändlich zu machen, was ſie geſagt habe.
317Auf einmal ertönte die laute Stimme eines der Prieſter, der rief: „ Wunder! Wunder! Ein großes Heil iſt geſchehen! Der Herr iſt eingekehrt in ſeine irdiſche Wohnung, in ſein liebliches Pavillon und Sommer¬ häuschen! Er will die erſte Heidin ſehen, die wir hier getauft haben! “
Alles blickte ſtarren Auges auf das Altarbild, auf welches die Zambo gedeutet hatte, und bald rief hier, bald dort Einer aus der Menge: Ich ſeh 'es auch! Ich ſeh' es auch! ohne daß Jemand wußte, was eigentlich zu ſehen ſei. Die Jeſuiten, ſchnell gefaßt, die günſtige Gelegenheit zu packen, ſchlugen alle weiteren Erörterungen mit einem mächtigen Tedeum nieder, das ſie anſtimmten und in welches alles Volk einfiel. Dann ergriffen ſie die Neugetaufte und führten ſie mit Kreuz und Fahne in Proceſſion in der Kirche und um die Kirche herum, unter geſchwungenen Räucherfäſſern und fortwährend ihr Ora pro nobis ſingend. Immer mehr Volk lief herbei, und in kurzer Zeit war ſie ihrem Herrn und Beſchützer abhanden gekommen und unſichtbar geworden; denn man ſchleppte ſie auch noch in den Straßen herum und in verſchiedene Häuſer hinein, wo man ſich an ihrem Anblicke erbauen wollte.
Endlich ging Don Correa, ſie zu ſuchen, und holte ſie aus dem dickſten Haufen Leute heraus, wo ſie ſich erſichtlich voll Furcht und Angſt befand, da ſie gar nicht wußte, was Alles zu bedeuten habe, und zu glauben be¬318 gann, ſie ſolle jenem kleinen glänzenden Weiblein zum Opfer gebracht d. h. getödtet werden; denn ſie hatte in den ſchwarzen Königreichen geſehen, daß zum Opfern be¬ ſtimmte Menſchen ſo umher geführt wurden. Sie klammerte ſich daher an Correa's Arm, ſobald er ſie erreichte und ihre Hand nahm. Die Jeſuiten waren jedoch nicht Willens, auf ihre Eroberung ſo leicht zu verzichten, indem ſie behaupteten, Zambo-Maria müſſe dem Himmel geweiht werden und in der Hut der Kirche bleiben. Er werde das Nöthige ſchon beſorgen, rief der mächtige Befehls¬ haber; zunächſt ſei die Perſon noch ſein Eigenthum und ſein Pathenkind, das jetzt einem kleinen Taufeſchmaus bei¬ wohnen und einige Geſchenke empfangen müſſe. Deſſen ungeachtet murrte und ſträubte ſich die Menge, das Wunder fahren zu laſſen, und es bedurfte des entſchloſſenen Auftretens Correa's, das zitternde Weib frei zu machen. Er ließ ſie von ſeinem Pagen begleitet voran gehen und ſchritt mit einigen ſeiner Kriegsleute hinterdrein. So begaben ſie ſich nach einem kleinen Landhauſe, das er in Loanda bewohnte; die Frau Pathin war inzwiſchen mit ihrer Begleitung ſchon dort angekommen, da ſie ſchon früher aus dem Gewühle entflohen war, und die nicht zahlreiche Geſellſchaft nahm an dem gedeckten Tiſche Platz, nachdem der in Unordnung gerathene Anzug des Täuflings von den anweſenden Frauen wiederhergeſtellt worden.
Zambo ſaß zwiſchen der Pathin und ihrer bisherigen Pflegerin. Sie war mit einem weißen Schleier und einem319 mit rothen Roſen durchflochtenen Myrthenkranze geſchmückt, wodurch das helldunkle Geſicht und der von goldenem Kettchen umgebene Hals eine Wirkung von ungewöhnlichem Reize machten.
Don Correa, der ihr gegenüber ſaß, mußte ſich etwas zuſammennehmen, ſie nicht zu oft anzuſehen, nicht nur der anweſenden Frauen, ſondern auch des Geiſtlichen wegen, der ſie getauft hatte und ebenfalls zugegen war. Obgleich die braune Marie ſchon einigermaßen an das abendländiſche Tiſchgeräthe gewöhnt war, vermochte ſie doch nicht zu eſſen; denn der Wechſel der Eindrücke, die ſie ſo raſch nach ein¬ ander empfangen, bedrückte ihr Herz. Sie glaubte ſich wol der Gefahr entzogen und fühlte auch, obſchon ſie nicht ein Wort der Tiſchgeſpräche verſtand, man rede freundlich von ihr; doch ihre neue Lage, Umgebung und Zukunft erſchienen ihr ſo gänzlich fremd und un¬ bekannt, daß die Regloſigkeit ihrer Seele eher zu - als abnahm. Erſt als Don Correa eigenhändig einen Teller mit ſüßen Früchten und portugieſiſchem Backwerke füllte und ihr denſelben hinüberreichte, fing ſie gehorſam und ehrfürchtig an zu naſchen und aß den Teller tröſtlich leer. „ Ei ſeht, “ſagten die Frauen, „ wie gut ſie dem gütigen Herren zu gehorchen verſteht! Wahrhaftig, ſeine Gnaden haben eine Eroberung gemacht! “
Als nun Alles über den unverſehens leer gewordenen Teller lachte, ſchaute Maria verwundert um ſich und lachte auch. Noch Niemand hatte ſie lachen ſehen und320 Alle waren erſtaunt über den Liebreiz, welcher ſich wie aus dem Himmel geholt ſo unerwartet über die fremd¬ artigen Geſichtszüge verbreitete und eben ſo ſchnell wieder verſchwand, als ſie beſchämt die Augen niederſchlug.
Unterdeſſen war die Dämmerung hereingebrochen und die Geſellſchaft erging ſich nach aufgehobener Tafel noch einige Zeit im Freien, um die wohlthuende Nachtluft zu genießen, welche Meer und Land balſamiſch kühlend um¬ floß. Ueber den Geſprächen der zerſtreut auf und nieder gehenden Leute blieb die Zambo oder Maria unbeachtet, wie es ſo zu geſchehen pflegt, nachdem der Menſch ſein beſcheidenes Theil Aufmerkſamkeit erregt hat. Sie ſtand abſeits unter einer Gruppe hoher Palmenbäume, an einen der Stämme geſchmiegt, und blickte unverwandt nach Weſten, wo die Sichel des untergehenden Mondes über dem Meere glänzte, und zwar ſo ſtark, daß die Palmen ihren Schatten warfen. Die äußerſte Kante des großen goldenen Geſtirnes ſchimmerte noch extra im fernen Sonnenlicht gleich einem blitzenden ſchmalen Ringe, wäh¬ rend Zambo's ſcharfes Auge zugleich die nach dem Innern des Ringes hin allmälig verſchwimmenden Gebilde wahr¬ nahm, die von dem Lichte ſchwächer getroffen, ihr aber vertraut waren. Stets aber hing das Auge wieder an dem blitzenden Ringe. Es war die letzte Ueberlieferung eines wahrſcheinlich ſchon ſeit tauſend Jahren unterge¬ gangenen Cultus, welche in dem Mädchen von der alten Heimath oder der todten Mutter her noch dämmerte;321 vielleicht wendete ſie ſich, ohne es zu wiſſen, noch einmal der verſchollenen Selene zu, ehe ſie der goldenen Göttin folgte, an deren Altar ſie heute geſtanden, kurz, ſie ſtreckte wie um Schutz flehend die Hand nach dem Geſtirn aus.
Da faßte Jemand ſänftlich dieſe Hand; es war Don Correa, der vorſichtig an ſie herangetreten und ihr die¬ ſelbe Hand auf den Mund legte, zum Zeichen, daß ſie ſchweigen ſolle. Dann ſtreifte er einen ſchimmernden Ring an ihren Finger und küßte ſie ſchnell auf den Mund, worauf er ebenſo ungeſehen hinweg ſchritt, als er gekommen war. Bald nachher ging die kleine Geſellſchaft auseinander und Zambo kehrte mit ihrer Beſchützerin in deren Be¬ hauſung zurück.
Am nächſten Tage ſchon ließ der Admiral zwei ſeiner Schiffe unter Segel gehen, die er nicht mehr brauchte, und ſandte ſie mit Depeſchen, das eine nach Braſilien, das andere nach Portugal. Auf demjenigen, das nach Braſilien ging, hatte er in der Frühe bereits die Zambo nebſt einer Dienerin untergebracht und dem Befehlshaber auf die Seele gebunden. Die Schweſter ſeiner längſt verſtorbenen Mutter lebte in Janeiro als Aebtiſſin eines Conventes von Dominikanerinnen. Dieſer anver¬ traute er die Zambo mit einem Briefe, worin er die vornehme Kloſterfrau bat, das getaufte Heidenkind in den klöſterlichen Schutz aufzunehmen, mit chriſtlicher Sitte und guter Lebensart bekannt zu machen und es aber für die Rückkehr in die Welt bereit zu halten, alles unter Zu¬Keller, Sinngedicht. 21322ſicherung ſchuldiger Dankbarkeit und gewünſchter Gegen¬ dienſte.
Die Abfahrt der Schiffe war freilich ſchon früher be¬ ſtimmt geweſen; die Einſchiffung der Zambo aber hatte er ganz plötzlich und raſch betrieben, und als die Jeſuiten ihre Speculationen auf die Wunderperſon an dieſem Tage weiter ausarbeiten und vor allem nur die Viſionärin in Sicherheit bringen wollten, fuhren die Schiffe längſt außer Sicht, und der zukünftige Wallfahrtsort an der Weſtküſte des Welttheils verwandelte ſich einſtweilen in ein Luft¬ ſchloß und iſt es auch geblieben.
Zambo-Maria ſelbſt wußte am wenigſten, was mit ihr vorging. Als der Admiral ſeine letzten Anordnungen auf dem Schiffe getroffen und daſſelbe verließ, hatte er ſich zum Abſchiede nicht länger bei ihr aufgehalten, als bei anderen Nebenperſonen, und kaum ihre ſchmale braune Hand einen Augenblick in die ſeine genommen und ge¬ ſtreichelt, indem er ſeinem guten Taufpathchen, daß es Jeder hören konnte, ein par gewöhnliche Worte der Aufmunterung ſagte, dann aber ſich abwendete und nicht mehr umſah. Das Naturkind ſchien aber die Hauptſache ſchon ſoweit zu verſtehen, daß ſie die par leichten Lieb¬ koſungen, die ſie von ihm erfahren, ſowie das Geſchenk des Ringes ſorgfältig bei ſich behielt, obſchon die Frauens¬ perſonen bereits das eine und andere Wort mit ihr aus¬ tauſchen konnten und ſie ſchon auf dem Schiffe ein weniges portugieſiſch plaudern lernte.
323In der Zeit waren auch die Unterhandlungen mit dem Königreich von Angola zu Ende geführt und die Fürſtin, wie geſagt, mit ihren Leuten abgezogen. Die Schlauheit und Beredtſamkeit der ſchwarzen Diplomatin konnte nicht hindern, daß ihr Bruder doch als Vaſall der Krone Por¬ tugals betrachtet und ſchließlich Don Correa zum Regenten in Angola ernannt wurde. Er regierte das Königreich mehrere Jahre.
Mit Ablauf des erſten Jahres aber fuhr er nach Rio de Janeiro hinüber, um das Kleinod heimzuholen, das er dort aufgehoben wußte, und Hochzeit zu halten. Zur Belohnung für ſeine Thaten hatte der König unter anderm ſeinem Wappen zwei Negerkönige mit goldenen Kronen als Schildhalter beigegeben. Dieſe Figuren wid¬ mete er der zukünftigen Gattin als Zierat, indem er ſie auf Geräthe, Schmuck und Tapezerei, die er in den euro¬ päiſchen Fabriken beſtellte, überall anbringen ließ. Noch auf dem Schiffe, als es in den Hafen von Rio de Ja¬ neiro einlief, entwarf er in Gedanken ein Gemälde, das er beſtellen wollte, auf welchem Zambo-Maria in der Tracht einer Königin von Saba getauft wurde und die zwei Mohrenkönige das Taufbecken hielten. Als er aber das Kloſter der Dominikanerinnen betrat und im Sprech¬ zimmer ſtand, um ſeine Frau Tante, die Aebtiſſin, nach dem jungen Weibe zu fragen, ſagte ihm die nach der Begrüßung mit trockenen Worten, die braune Perſon ſei vor kurzen Tagen fortgelaufen und verſchwunden.
21*324Don Correa erblaßte und ſtand wie vom Blitze ge¬ troffen. Der erſte Gedanke ſodann war nicht etwa ein Fluch auf die Entflohene, ſondern auf die eigene Thorheit. „ Warum haſt du die arme Creatur nicht bei dir be¬ halten “, ſagte er ſich, „ und gleich geheirathet wie ſie war! Jetzt wird ſie zu Grunde gehen! “
Er fragte die Nonne, ob man denn keine Vermuthung hege, was ſie zur Flucht bewogen und wo ſie ſich hin¬ gewendet habe? Jene verneinte Alles und meinte, der Admiral möge, wenn ſo viel an dem Weibe gelegen ſei, ſie jetzt ſelbſt aufſuchen laſſen, wozu er mehr Macht und Mittel beſitze, als ſie. Erſt jetzt ging er in ſein altes Wohnhaus zu Rio, das er zur Hochzeit einzurichten ge¬ dacht hatte. Er fand ſchon manche Kiſte mit angekom¬ menen Sachen vor; aber ſtatt ſie zu öffnen, ſandte er nach allen Seiten Leute aus, die Spur der Verſchwun¬ denen zu ſuchen, und machte ſich ſelber auf den Weg, voll Erbarmen mit ihrer Rathloſigkeit. Auch war die anfäng¬ liche Liebeslaune, die ihn beim erſten Anblick nach ſo langem Unterbruche befallen, zeither zu einer inneren Neigung erwachſen, zu einem tieferen Bedürfniſſe, dieſer Menſchenſeele außerhalb des Weltgeräuſches ſo recht für ſich gut zu ſein, und er fragte ſich, als er fruchtlos nach ihr ausſchaute, ob er ſich mit ſeinen äußerlichen und luxuriöſen Anſtalten und Beſtellungen nicht gegen die Einfachheit des unſchuldigen Weſens verſündigt und es zur Strafe dafür nun verloren habe. Er erinnerte ſich,325 wenn der Ausdruck bei einem ſolchen Herren und Kriegs¬ manne überhaupt angebracht iſt, ſchmerzlich des pomp¬ haften Empfanges, den er dem böſen Weibe von Cercal einſt bereitet, und welch 'trauriges Ende jene glänzenden Vorbereitungen genommen.
Von dem Verlangen getrieben, über das Weſen und Leben der Zambo im Kloſter Näheres zu erfahren, eilte er wieder hin und befragte die Stiftsvorſteherin eifrig und ſogar mit einer gewiſſen Heftigkeit, die über den Rang und Stand des Mannes, wie über die Tragweite der Sache faſt hinauszugehen ſchien. Die alte Dame mit ihrem goldenen Kreuz auf der Bruſt ſah ihn aus wohlgenährten Augenlidern blinzelnd aufmerkſam an und erzählte dann ſehr gelaſſen nur Gutes von der Negerin, wie ſie die Maria nannte, trotzdem ſie offenbar keine war. Sie habe die portugieſiſche Sprache ſchon ziemlich brauchen gelernt, ſich ſtill und gehorſam verhalten und gern mit den weiblichen Arbeiten beſchäftigt.
„ Welche Arbeiten? “fragte Ton Correa, der wußte, daß die Damen in dieſem Stifte ſo wenig etwas thaten, was man arbeiten nennen konnte, als diejenigen außer¬ halb desſelben. Er fürchtete daher, das Mädchen möchte zu niedrigen Arbeiten, wo nicht zum Sklavendienſte ge¬ braucht worden und vielleicht deshalb entflohen ſein. Allein die Aebtiſſin fuhr ausweichend fort, allerlei Vortheilhaftes von dem verſchwundenen Kinde zu bekunden, und dem Herrn wurde es nur immer bitterer und faſt traurig zu326 Muth, als er das Alles anhörte. Die Alte aber ſchloß mit den Worten: „ Item, man hätte nicht gedacht, daß ſie ſo ſchnöde weglaufen würde! “
Mit verworrenen Gedanken ging er endlich wieder in ſeine Wohnung, um ſich nur etwas zu ſammeln. Denn er, der ſonſt in Entſchluß und That nie zu zögern pflegte, ſah ſich dieſem Geheimniſſe gegenüber durchaus ohnmächtig und unentſchloſſen. Die Dienſtverhältniſſe erlaubten ihm nicht, lang in Rio de Janeiro zu verweilen; verließ er aber die Stadt und das Land, ſo verlor er jede Hoffnung, die Zambo doch noch zu finden, und der Mann, der Land und Leute zu erobern gewohnt war, ſah ſich außer Stand, das unſchuldigſte und beſcheidenſte Heirathsproject aus¬ zuführen.
Als er in ſolchen düſteren Betrachtungen das Haus erreicht hatte und eben in ſeinem Cabinette Degen und Handſchuhe auf den Tiſch warf, kam ſein Page Luis vor¬ ſichtig hereingeſchlüpft, ihm eine merkwürdige Nachricht zu bringen. Es war ein vierzehnjähriger aufgeweckter Knabe und ſeinem Herrn ſo ergeben und vertraut, daß dieſer ihn für ſicherer und zuverläſſiger hielt, als alle anderen Diener, und ihm auch ſonſt wegen ſeines an¬ muthigen Weſens herzlich wohl wollte. Luis hinter¬ brachte alſo nun, als er ſo von ungefähr in der Straße geſchlendert ſei, habe ihn die Frau des Nachbars, eines alten franzöſiſchen Schiffsherrn, die für eine heimliche Proteſtantin gelte, herbeigewinkt und ihm hinter der327 Hausthür zugeflüſtert, er ſolle ſeinem Don ſagen, ſie könne ihm den Ort nennen, wo Se. Excellenz finde, was ſie ſuche; man möge nur, ſobald es dunkel ſei, einen Augen¬ blick in die Veranda hinter ihrem Hauſe kommen. Don Correa verfehlte den Gang nicht und vernahm von der muntern Alten, nachdem er ihr Verſchwiegenheit und Schutz zugeſichert, daß ſeine Zambo vor unlanger Zeit auf einem nach Marſeille gehenden Schiffe ihres Mannes in ein Kloſter zu Cadix gebracht worden ſei. Ueberdies wußte ſie, daß es ſich darum handle, das Mädchen zu einer Art von Wunderthäterin und Heiligen zu machen, daß es widerſtanden hatte, mit Blutrünſtigkeiten Stirn und Hände verzieren zu laſſen und eine heilige Blut¬ ſchwitzerin zu werden; ja, der Alten war ſogar bekannt, daß dem bräunlichen Frauenzimmer ein Verlobungsring vom Finger geſtreift und weggenommen worden ſei. Einen Theil dieſer Dinge hatte ſie auf ganz geheimem Wege durch eine Flamänderin erfahren, die in dem Kloſter als Bäckerin angeſtellt war und dir Alte bisweilen beſuchte.
Don Correa erkannte ſogleich die Wahrheit der An¬ gaben und dankte der Frau dafür, ſie bittend, auch ihrer¬ ſeits die Sache geheim zu halten. Ein ſtiller Grimm erfüllte ihn trotz ſeiner katholiſchen Geſinnung gegen die Jeſuiten, die offenbar von Afrika aus über ſeinen Kopf hinweg die Hand im Spiele hatten, und nicht minder er¬ wachte ſein Zorn gegen die verlogene Prälatin, ſeine Muhme. Dieſe vermuthete in der That nicht mit Unrecht,328 daß der Neffe wieder einmal einen wunderlichen Heiraths¬ ſtreich im Schilde führe, und hatte um ſo größere Urſache, ihn daran hindern zu helfen, als ſie längſt mit einer rühmlicheren Verbindung für ihn beſchäftigt war und nur auf den Augenblick lauerte.
Der Admiral und Regent oder Vicekönig von Angola legte ſich noch in der gleichen Nacht den Vorwand zurecht, die Reiſe nach Europa auszudehnen und am Hofe zu Liſſabon über den Stand und die Zukunft der afrikaniſchen Angelegenheiten perſönlich zu berichten, und am nächſten Tage ging er mit zwei Schiffen oſtwärts unter Segel, ohne das Ziel der Fahrt bekannt zu machen. Mit großer Ungeduld ſah er die Tage und Wochen vergehen, obgleich er mit dem günſtigſten Wind und Wetter ſegelte, und als er endlich in den Golf von Cadix abbiegen konnte, fand er die Bai und den Hafen durch Wachtſchiffe verſchloſſen, weil die Peſt in der Stadt hauſte.
Dieſer neue Unſtern ſteigerte ſeinen Unmuth und die Beſorgniß für die arme Zambo auf's Höchſte, zum Glück aber auch ſeine Beſonnenheit. Da er wegen der auf ihm laſtenden Verantwortung ſowie bei der ſicheren Nutzloſig¬ keit überhaupt nicht daran denken konnte, ſeine Perſon auf ſpaniſchem Boden auszuſetzen, beſchloß er, vorerſt die Fahrt nach Liſſabon zu beendigen und nur den Knaben Luis auf Kundſchaft zu ſchicken. Er vertraute demſelben, der die Zambo kannte und von ihr gekannt war, ſein Geheimniß ganz an, ließ ihn das Gewand eines zerlumpten329 Schifferjungen anziehen und verſah ihn reichlich mit Geld, worauf er ihn ſüdlich von der Bucht bei der St. Peters¬ inſel in der Dunkelheit der Nacht an den Strand bringen ließ. Mit aller Verwegenheit und Begeiſterung eines romantiſchen Knaben und der Freiheit froh, verlor ſich der kluge Burſche landeinwärts, indeſſen Don Correa bald nachher auf das Cap St. Vincent losſteuerte, um den Weg nach Liſſabon vollends zurückzulegen. Von dort aus dachte er dann mit oder ohne Nachricht des Knaben weiter vorzugehen.
Es dauerte keinen Tag, ſo trieb ſich Luis mit einer Schachtel voll indianiſcher Schnurrpfeifereien in der Stadt herum und bot überall ſeinen Kram zum Verkaufe an, wurde aber allenthalben weiter geſchickt, hier mit dem Unwillen Derer, welche Peſtkranke oder ſchon Todte hatten, dort mit dem Gelächter und den Flüchen des geſund gebliebenen Pöbels, der ſich zechend, tanzend und ſingend in Schenken und auf öffentlichen Plätzen herum trieb. Luis ließ ſich aber Nichts anfechten, ſondern durchwanderte die Stadt die Kreuz und Quere, bis er auf ein Nonnenkloſter ſtieß, welches dem Dominikaner-Orden angehörte. Es beſtand aus einem Haufen alter Gebäude und hoher Mauern, die da und dort mit ſarazeniſchen Fenſterlöchern durch¬ brochen waren. Natürlich war ihm der Eintritt ſo verſchloſſen, wie jedem andern Mannsbilde; nur in die Kirche konnte er eintreten und bemerkte dort, daß der Gottesdienſt ungeregelt abgehalten wurde und das330 Innere des Kloſters ſo voll Unruhe war, wie die übrige Stadt.
In der Herberge, die er aufgeſucht, kaufte er von der Tochter eines plötzlich verſtorbenen Bauers einen kleinen Eſel, und von einem Verkäufer alter Kleider einen Weiber¬ rock und ein zerriſſenes Kopftuch; dann belud er den Eſel mit einem Korbe voll friſcher Orangen, ſchwang ſich ſelbſt, als arme Bauerndirne gekleidet, auf das Kreuz des Eſels und ritt gemächlich in der Richtung des Kloſters davon. In dieſem Aufzuge gelang es ihm, in einen Vorhof ein¬ zudringen, deſſen Thüre ſich juſt geöffnet hatte, um einen Arzt einzulaſſen; und da drinnen Verwirrung und Rath¬ loſigkeit herrſchte, indem die Aebtiſſin ſoeben von der Krankheit ergriffen worden, ſo trieb die angebliche Orangen¬ dirne ihren Eſel unbeachtet bis in einen Garten, wo einige Kloſterfrauen ängſtlich ſpazieren gingen. Da fing er an, ſeine Früchte auszurufen und einen ſolchen Lärm zu machen als ein kreiſchendes Landmädchen, daß bald mehrere Nonnen herbei kamen und um den Eſel herum ſtanden. Die Eine und Andere kaufte ein paar Orangen, die der ſchlaue Knabe beinahe um Nichts hergab, der ſchlechten und unglücklichen Zeit wegen, und der geringe Preis ver¬ lockte die guten Frauen, die Gelegenheit zu benutzen und ſich die kleine Erfriſchung zu verſchaffen. Einige ſuchten ſich unter den goldenen Kugeln einen Vorrath aus, indem ſie dieſelben in der Hand wogen und an die Naſe brachten, und inzwiſchen ließ Luis ſeine Augen verſtohlen herum¬331 gehen, ob er nirgends die Zambo erblicken könne. Und das Glück wollte, daß es geſchah. In einiger Höhe ſchauten hinter einem hölzernen Gitter zwei Frauengeſichter her¬ unter, wovon das eine, noch im weltlichen Haarſchmuck und ohne Schleier, niemand Anderem als der dunkeln Zambo angehörte.
Kaum hatte Luis ſie erkannt, ſo trieb er unvermerkt den Eſel näher, bis das graue Thierchen unter dem Fenſter ſtand; und nun fing Jener aus Leibeskräften an zu rufen: „ Kauft, hochwürdige Damen! Kauft friſche Orangen für den Durſt! Sie ſind geſund, wie die Aerzte ſagen, und preiswürdig! Für ein halbes Soundſoviel und ein viertel Nichts dazu kann ich drei Stücke geben! Kauft, gnädige Frauen, und erlabt Euch, ſo vergeßt Ihr die Gefahr! Das Neueſte iſt, daß Niemand in den Hafen von Cadix einfahren darf, der aus der Ferne herkommt. Nehmt die Orangen geſchenkt, fromme Frau Mutter! Geſtern mußte der Vicekönig von Angola, der berühmte und prächtige Don Salvador Correa, der tapfere Erſtürmer ſo vieler Feſtungen, unverrichteter Dinge aus unſerem Gewäſſer abziehen. Ich ſah ſeine Schiffe; er ſei nach Liſſabon gefahren, heißt es, und werde einige Zeit ſich dort auf¬ halten! Er ſoll ein gar ſchöner und ſtolzer Herr ſein, ſagt man; aber ſolche Leute ſind oftmals die allerleut¬ ſeligſten mit denen, die ihnen gefallen! Kauft mir die Orangen ab, ſo kann ich nach Hauſe! “
Alles das rief der kecke Burſche ſo vernehmlich als332 möglich, mit dem Geſichte ſo gewendet, daß die Zambo ihn ſehen und hören mußte. Kaum hatte er auch den Namen Don Correa in die Lüfte geſendet, ſo horchte ſie auf und verwandte kein Auge mehr von ihm, bis ſie plötzlich ſein Geſicht erkannte und ein Freudeſtrahl in ihren Augen aufleuchtete.
In dieſem Momente trat aber eine lange Priorin oder Chormeiſterin, oder dergleichen hervor, die ſagte: „ Was ſchreit und klatſcht denn die Dirne? Wie kommt ſie in den Garten herein, und was weiß und hat ſie von einem Vicekönig zu plaudern? “
Und ſie ſchritt noch näher heran und ſtreckte die dürre Hand, an welcher ein Paternoſter hing, nach dem Rock¬ ärmel des verkleideten Pagen aus, der aber inzwiſchen ſchnell zu bewerkſtelligen wußte, daß der Eſel hinten aus¬ ſchlug, der Korb auf den Boden fiel und die Orangen umher rollten. Während ein Theil der Nonnen nach den Orangen lief, der andere vor dem ausſchlagenden Eſel floh, machte Luis mit aufgeſchürztem Rocke, daß er aus den Kloſterräumen hinauskam, und rannte mit langen Schritten durch lauter Nebengaſſen davon. In der Her¬ berge angekommen, wechſelte er unbemerkt die Kleider, bezahlte den Wirth mit erlöſten Kupfermünzen und ver¬ ſtelltem Feilſchen, ging unverweilt aus der Stadt und wanderte, bis er den nächſten Hafenort erreichte, wo er eine Fahrgelegenheit nach Liſſabon fand.
So glücklich, wie wenn er den ſchönſten Vogel im333 Garn gefangen hätte, überbrachte er ſeinem Herrn die Nachricht von der wiedergefundenen Zambo-Maria, und ſein fröhliches Geſicht hellte die düſteren Züge desſelben auf. Don Correa fühlte ſich von einem Theile ſeiner Sorgen befreit. Es beſtand kein Zweifel, daß die Nonnen ſein nicht zu beſtreitendes Eigenthum herausgeben mußten; damit aber eine nochmalige geheime Wegſchleppung un¬ möglich wurde, war es nöthig, ſie mit einem Regierungs¬ befehl zu überraſchen, der ihnen keine Zeit zu weiteren Umſchweifen ließ. Correa war der Mann, einen ſolchen Befehl auszuwirken; allein dazu erforderte es einige Zeit, und während derſelben konnte die Zambo zehn Mal der Peſt zum Opfer fallen. Und hinwieder verhinderten wahrſcheinlich doch die Schrecken der tödtlichen Seuche die Nonnen und Pfaffen, dem verlaſſenen Mädchen den Kopf zu ſcheeren und den Schleier aufzuzwingen und den übrigen Hokuspokus aufzuführen, da ſie zunächſt für ſich zu ſorgen hatten. Genug, die Sorgen kehrten über dieſen Widerſprüchen der Sachlage mit aller Schwere zurück, und Don Correa ſchlug ſich abermals vor die Stirne aus Zorn über ſich ſelbſt, daß er die Maria nicht gleichzeitig mit der Taufe zur Gemahlin erhoben und bei ſich behalten habe. Dennoch verſäumte er nicht, für die Ausſtellung eines unzweideutigen Befehles bei der ſpaniſchen Ober¬ behörde die nöthigen Schritte zu thun, worin er von ſeiner Regierung im Stillen gehörig unterſtützt wurde. Allein es verging eine Woche nach der andern, ehe das334 Decret da war, und damit verfloß auch die Zeit, welche er bei allem Anſehen, deſſen er genoß, in Europa zu¬ bringen konnte.
Eines Abends ſpät ging er in ſeinem Gemache nach¬ denklich auf und ab und überlegte ſich, ob es ſeiner würdig ſei, in dieſer Weiberfrage ſo viel Weſens zu machen und ſo viel Aergerniß zu dulden, und ob das Bedürfniß und Project, ſich ein ſo ſtilles weiches Ruhe¬ bett in der Häuslichkeit zu bereiten, überhaupt vor einem höheren Urtheile zu rechtfertigen ſei. Der Page Luis ſaß an dem Tiſche in der Mitte des Zimmers, über eine große Seekarte gebückt und halb in Schlummer verſunken; denn der Admiral gab ihm ſelber Unterricht in der Schifffahrtskenntniß und prüfte ihn zuweilen, was er auch dieſen Abend gethan hatte, bis er durch den Haupt¬ gegenſtand, der ihn beläſtigte, ſelbſt zerſtreut wurde und den Knaben außer Acht ließ. Die Kerzen des ſilbernen Kandelabers, der die Seekarte mit ihren unbeholfenen Gebilden beleuchtete, waren zur Hälfte herabgebrannt, und die Stutzuhr auf dem Kamine zeigte die zehnte und eine halbe Stunde.
„ Ich bin nun ſechsunddreißig Jahre alt “, ſagte er bei ſich, „ und dürfte die Fackel des Eros füglich aus¬ löſchen! Wer Krieg führen und befehlen ſoll, muß reinen Tiſch im Herzen und kühles Blut haben. Das Haus iſt freilich zu erhalten; allein vielleicht wäre es am beſten, dem Willen der Frau Muhme zu folgen und eine gleich¬335 gültige Dame in's Haus zu ſetzen, die den Staat macht und uns kalt läßt! Und wäre es am Ende für die arme Zambo nicht auch beſſer, wenn ſie vor den Stürmen des Lebens geſchützt und zu einem frommen Nönnchen gemacht würde? “
Hier wurde die Stille der Nacht unterbrochen durch ein ſchüchternes Zeichen der Hausglocke, die in der weiten Flurhalle des Palaſtes hing. Ein einziger Anſchlag ließ ſich vernehmen, welchem ein ſchwächlicher Nachklang folgte, der im Entſtehen abbrach und erſtarb. Don Correa achtete nicht darauf und ſetzte ſeine Promenade fort. Wie er aber doch alles bemerkte, was vorging, ſo ward er nach ein paar Minuten inne, daß das Hausthor nicht geöffnet wurde, ſondern Alles ſtill blieb und der Thor¬ hüter mithin ſchlafen oder abweſend ſein mußte. Nach¬ dem er erſt jetzt ein kleines Weilchen ſtillgeſtanden und gehorcht hatte, trat er zu dem ſchlafenden Knaben, weckte ihn und ſagte: „ Es hat Jemand auf der Straße geläutet; geh 'hinunter und laß den Pförtner nachſehen, was es ſei! “
Als der Knabe aufſprang und ſofort hinauslaufen wollte, rief der Herr noch: „ Nimm hier den Leuchter mit und komm 'gleich wieder, ſo will ich ſo lange im Dunkeln ſtehen! “
Es ſchien ihm aber doch etwas lange zu dauern; er hörte die ſchweren Thorflügel nach einiger Zeit auf und zu machen, aber es währte noch Minuten, bis die Schritte des Knaben näher kamen, und er öffnete faſt ungeduldig336 die Zimmerthüre, um das vermißte Licht bälder zu ſehen und den zögernden Pagen zur Eile zu mahnen. In der linken Hand den Leuchter hoch empor haltend, daß ſein hübſches Geſicht hell beſtrahlt wurde, führte Luis mit der Rechten die Zambo oder Maria herbei, welche von den Füßen bis zum Haupte vom Straßenſtaube bedeckt und vor Müdigkeit wankend ihm folgte.
„ Da iſt ſie von ſelbſt gekommen! “rief der Knabe mit triumphierender Freude über das treffliche Abenteuer. Zambo dagegen fiel aus Erſchöpfung und Aufregung vor den Admiral hin und umfing mit den Armen ſeine Füße, während aus den zu ihm aufblickenden Augen große Thränen quollen. In froher Ueberraſchung hob er ſie, nun zum zweiten Male, von der Erde auf und ſein Schlafrock von dunklem Sammet wurde vom Staube weiß gefärbt. Gleich dem Vater des verlorenen Sohnes eilte er ſelbſt, die weibliche Dienerſchaft aufzujagen und ihr den nächtlichen Ankömmling zu jeglicher Pflege zu übergeben und anzuempfehlen.
Dann erſt ließ er ſich von dem Pagen mittheilen, wo er die Zambo gefunden. Luis erzählte mit glückſeligem Eifer, daß er, ohne den Thorwärter zu wecken, vorläufig nur die Klappe des vergitterten Guckfenſters geöffnet und hinausgeſchaut habe. Da ſei eine müde Frauengeſtalt draußen geſtanden, die ſich kaum aufrecht gehalten, und als er durch das Gitter das Licht auf ſie gerichtet, ſei es die gute Zambo geweſen. Nun habe er ſelbſt die Riegel337 zurückgeſtoßen, die Pforte aufgethan und die Frau, die zitternd da geſtanden, gleich bei der Hand genommen und hereingezogen zu ſeinem Hauptvergnügen; denn ſie habe ihn erkannt und ſei augenſcheinlich etwas munterer ge¬ worden. Geſprochen hätten ſie kein Wort, als er das Thor wieder geſchloſſen und den Kandelaber vom Boden aufgenommen, wohin er ihn geſtellt, und auch als er ſie die Treppe hinangeleitet, habe er nur ein paar Mal lachend nach ihr umgeſchaut, um ihr ſozuſagen im Namen Sr. Gnaden freundlich zuzunicken. Don Correa zahlte dem Knaben ſeine Ausgaben ohne Verzug mit einem Lächeln gütiger Zufriedenheit zurück und ſtrich ihm das dichte lange Haar aus der Stirne, die es im bewegten Eifer des Burſchen bedeckt hatte. Er blieb noch ſo lange mit ihm wach, bis er die Meldung empfing, die Fremde ſei mit allen nöthigen Erquickungen verſehen zu Bette gebracht worden und in Schlaf verſunken. Dann ging er ſelbſt den Schlaf zu finden, während der Page ſich noch in der Küche herumtrieb und den Weibern, die mit gegen die Hüften geſtemmten Armen und offenen Mäulern um ihn herum ſtanden, über das Ereigniß allerlei Schnaken vormachte.
Am nächſten Morgen fühlte ſich Zambo ſo gut erholt und geſund, daß ſie vor dem Hausherrn erſcheinen und ihre merkwürdige Wanderfahrt erzählen konnte. Die Peſt, welche damals übrigens außer in Cadix nur an einem einzigen Hafenplatze aufgetreten, hatte durch ein parKeller, Sinngedicht. 22338raſch erfolgte Erkrankungen und den Tod der Vorſteherin das Kloſter ſo erſchreckt und verwirrt, daß während einiger Tage weder Hausordnung noch Ordensregel geachtet wurde, die Pforten auf - und zugingen und Jeder that, was er wollte. Dieſer Zuſtand verlockte die Afrikanerin deſto unwiderſtehlicher, die Freiheit zu ſuchen, um in ihr die Hand ihres Herren und die rechtmäßige geliebte Unfreiheit wieder zu finden. Sie hatte deutlich verſtanden, was der verkleidete Luis gerufen, und es für ein Zeichen genommen, daß ſie ihren Gebieter aufſuchen ſolle. Daher verließ ſie in einer Abenddämmerung ein¬ fach das Kloſter durch eine offen ſtehende Seitenthüre und wanderte die Nacht hindurch um die Meerbucht von Cadix herum und auf der Straße nach Norden, bis ſie zur Stadt Sevilla gelangte. Sie trug noch etwas Geld bei ſich verborgen, das ihr jetzt zu Statten kam, bald aber zu Ende ging, weil ſie von den Leuten überall übervortheilt und betrogen wurde, als ſie ihre Unerfahren¬ heit und Unkenntniß bemerkten. Sobald ſie aber nichts mehr beſaß, erhielt ſie das Wenige, um das ſie aus Hunger bat, um Gotteswillen. Von Sevilla aus fing ſie an, nach der Stadt Liſſabon zu fragen und ging unabläſſig in der Himmelsrichtung, die man ihr jeweilig zeigte, über Ebenen und Gebirge und die Ströme und Flüſſe hinweg, viele Tage, Wochen lang; denn die öfteren Irrgänge verdoppelten die Länge des Weges. Trotz aller Mühſal waltete ein freundlicher Stern über ihrem Haupte,339 was Don Correa leicht begriff, als er die ſchuldloſe Anmuth und ernſten Züge mit neuem Wohlgefallen be¬ trachtete. Sie erreichte endlich die Umgebung der portugieſiſchen Hauptſtadt mit Sonnenuntergang; bis ſie nicht mehr zweifeln konnte, daß ſie in Liſſabon ſei, war aber die Nacht ſchon vorgerückt, und ſie fragte nach der Wohnung des Admirals, zu deſſen Haushalt ſie gehöre, wie ſie mit gutem Inſtinkte ausſagte. Eine Scharwache übergab ſie der andern, ohne ſie zu beleidigen, obgleich den Leuten das Abenteuer ungewöhnlich vorkam. So wurde ſie von einem Stadtviertel in's andere mitgeführt und zuletzt einem alten Nachtwächter überlaſſen, der ſie vollends vor den Palaſt des Admirals brachte, nachdem er aus ihren Worten auf die Wahrheit ihrer Ausſage geſchloſſen hatte. Da ſolle ſie an der Glocke ziehen, rieth er, indem er ihr den eiſernen Griff zeigte und ſie dann ſtehen ließ.
Dieſe Erzählung trug ſie allerdings nicht fließend vor; ſie mußte ihr vielmehr ſtückweiſe abgefragt werden; dennoch war Don Correa erfreut, die Zambo zum erſten Male in ſeiner eigenen Sprache zuſammenhängend reden zu hören und überdies nicht nur in ihren Worten, ſondern auch in den von der Sprache belebten Zügen des dunkeln Antlitzes das Licht eines guten Verſtandes wahrzunehmen, gleich dem Morgenſchimmer, der einen ſchönen Tag ver¬ ſpricht. Freilich waren dieſe Züge bewegter als ſonſt, weil auch ſie die erlernte Sprache ihres Beſchützers zum22*340erſten Male ihm gegenüber hören ließ und ſich lange darauf gefreut hatte.
„ Wo haſt Du den Ring gelaſſen, den ich Dir ge¬ geben? “fragte er ſie, ihre Hand ergreifend, wie wenn er ihn ſuchte.
„ Verzeih ', Herr, man hat mir den Ring genommen! “ſagte ſie mit geſenktem Blicke.
Er trat zu einem ſchweren Schranke, aus welchem er ein mit Silber eingelegtes glänzendes Stahlköfferchen holte, das er öffnete. Die darin liegenden Schmuckſachen und Kleinodien mit einem Rucke durcheinander rüttelnd, bis er einen Frauenring fand, hielt er denſelben einen Augenblick gegen das Licht, wie wenn er ſich ein letztes Mal den Schritt überlegte, den zu thun ſich ihm nochmals die Wahl bot. Als er vor zwölf Jahren ausgezogen war, die erſte Frau zu freien, hatte er in der Eile vergeſſen, den Trauring ſeiner Mutter mitzunehmen, wie er ſich vorgenommen. Jene dunkeln Vorgänge mit ihrer elenden Täuſchung traten einen Moment vor ſeine Seele; doch dünkte ihm der Umſtand, daß der unentweihte Ring jetzt im rechten Augenblicke noch zur Hand war, ein günſtiges Zeichen, und er ſteckte ihn der Zambo an den Finger, daran der frühere geſeſſen.
Das Trauungsfeſt, welches er ohne Zaudern herbei¬ führte, machte trotz der verhältnißmäßig großen Einfachheit ein allgemeines Aufſehen, obſchon kein ſo ſchreiendes, wie es heutzutage der Fall ſein würde. Selbſt der König341 und die Königin ſandten Vertreter mit ihren Glück¬ wünſchen, und die Verſammlung war eine glänzende, wenn auch nicht ſehr zahlreiche. Die Braut durfte ſich trotzdem ſehen laſſen. Zambo war in einen ſchweren weißen Seidenſtoff gekleidet, der in ſchmale Streifen mit Goldfäden abgenäht worden. Der breite ſtehende Spitzen¬ kragen, der ſilberdurchwirkte Schleier und die in das Haar geflochtenen Perlenſchnüre, das auf dem freien Theile des Buſens liegende Diamantkreuz hoben ihre dunkle oder vielmehr hellbraune Farbe wie etwas Selbſt¬ verſtändliches, ja Einzigmögliches hervor, und ihre an¬ geborene ſchlanke und gerade Körperhaltung war ſo edel, daß Don Correa, als ein gelehrter Geiſtlicher unter den Gäſten ihm flüſternd anerbot, einen Stammbaum zu ver¬ faſſen und ihre Abkunft auf die Königin von Saba zurückzuführen, ſtolz auf ihre Haltung hinwies und ſagte, es ſei nicht nöthig.
Der fremdartige Reiz der ganzen Erſcheinung wurde aber noch erhöht durch die über ſie ausgegoſſene natürliche Demuth und den träumeriſchen Glanz ihrer Augen, welche verriethen, daß ſie nicht recht wußte, was mit ihr vor¬ ging, da ſie von den Nonnen in keiner Weiſe auf welt¬ liche Dinge vorbereitet worden.
Das erfuhr Don Correa erſt auf ſeinem ſchönen Admiralſchiffe, als er gleich nach der Hochzeit mit der Gemahlin die Rückreiſe nach Afrika angetreten hatte. Die Donna Maria Correa hielt ſich nach wie vor für342 ſeine Sklavin, die jede Aenderung des Schickſals zu gewärtigen habe und zum Dienen beſtimmt ſei. Zuerſt verdrießlich darüber, daß ſie in dieſer Beziehung das in Klöſtern und unter Geiſtlichen zugebrachte Jahr gänzlich verloren, machte er ſich ſelbſt zu ihrem Lehrer, ſo gut er das mit ſeinem ſeemänniſchen Weſen vermochte. Bald aber wurden die Stunden, die er über dem Unterricht im einſamen Schiffsgemache mit der Gattin verlebte, zu Stunden der ſchönſten Erbauung. Denn als er ihr allmählich die Freiheit ihrer Seele begreiflich machte, Ehre und Recht einer chriſtlichen Ehefrau beſchrieb und ihr die Pflicht des perſönlichen Willens und Beſchließens auseinanderſetzte, was Alles durch Liebe zuſammengehalten und verklärt werden müſſe, da ſoll es gar ſchön anzuſehen geweſen ſein, wie von Tag zu Tag das Verſtändniß heller aufging und die junge Frau mit dem Lichte menſchlichen Bewußtſeins erfüllte. Außerdem hörte ſie viele ihr bisher unbekannte Worte, und indem ſie dieſelben wiederholte und den Sinn ſich anzueignen ſuchte, bereicherte ſie zu¬ gleich im höchſten Sinne ihre neue Sprache.
Eines Tages, als das Geſchwader dem Ziele ſeiner Fahrt näher kam, erging ſich Don Correa mit der Frau auf dem oberſten Verdecke und führte ſie in den luftigen Pavillon, der über dem Stern des Schiffes errichtet war. Die Zeltdecken ſchützten hier vor den Sonnenſtrahlen und den Blicken des Schiffsvolkes. Sie ſchauten ſtill auf den unendlichen Ocean hinaus, deſſen gleichmäßig ſchimmernde343 Wellen in zahlloſen Legionen heranrauſchten und die Schiffe ruhig weiter trugen.
„ Hat das Meer auch eine Seele und iſt es auch frei? “fragte die Frau.
„ Nein, “antwortete Don Correa, „ es gehorcht nur dem Schöpfer und den Winden, die ſein Athem ſind! Nun aber ſage mir, Maria, wenn Du ehedem Deine Freiheit gekannt hätteſt, würdeſt Du mir auch Deine Hand gereicht haben? “
„ Du frägſt zu ſpät “, erwiderte ſie mit nicht unfeinem Lächeln; „ ich bin jetzt Dein und kann nicht anders, wie das Meer! “
Da ſie aber ſah, daß dieſe Antwort ihn nicht be¬ friedigte und nicht ſeiner Hoffnung entſprach, blickte ſie ihm ernſt und hochaufgerichtet in die Augen und gab ihm mit freier und ſicherer Bewegung die rechte Hand.
„ Das haben Sie gut gemacht! “ſagte Lucie; „ wir Andern wollen uns merken, wie nützlich die Demuth iſt, und wie erhöht wird, wer ſich erniedrigt hat! Aber auch mir iſt während Ihrer Erzählung ein kleines Leſefrüchtchen aus meinen Büchern eingefallen, das gleichfalls von einer farbigen Perſon, einer Wilden handelt. Vielleicht haben wir noch die Muße, das Geſchichtchen abzuwandeln, und zwar im wörtlichen Sinne, indem wir ein wenig in's Holz hinausgehen? “
„ Es ſcheint mir, daß ich hier in eine Art von Duell hineingerathen bin “, verſetzte der Oberſt; „ Herr Reinhart hat Dein ſchönes Geſchlecht der Erde und der Stellung wieder näher gebracht, die er ihm anweiſt. Ohne Zweifel willſt Du den Streich parieren und Dich aus eigener Kraft vom Boden erheben, auf welchem die braune Weibs¬ perſon zweimal gelegen hat. Lege alſo los, liebe Lux, und ſchau ', daß Du nicht liegen bleibſt! Wenn ich aber mit zuhören ſoll, ſo muß ich bitten, daß wir dieſen345 Aufenthalt nicht verlaſſen; denn wie Du weißt, kann ich noch nicht weit marſchieren. “
„ Verzeih ', lieber Onkel, “ſagte die Lux, „ daß ich das im Gefechtseifer vergeſſen habe! Es verſteht ſich von ſelbſt, was Du wünſcheſt! Ich wollte nur der Ungeduld unſers Gaſtes entgegen kommen, der mir etwas unruhig zu werden ſcheint und vielleicht gerne den Ort verändert! “
„ Achten Sie nicht darauf! “antwortete Reinhart, „ warum ſoll ich nicht unruhig ſein, wenn ich ein Geſchütz auf mich richten ſehe, deſſen Trefffähigkeit und Ladung ich noch nicht kenne? Alſo fangen Sie gütigſt an und ſeien Sie nicht zu grauſam! “
Lucie räuſperte ſich zum Scherz ein wenig und ſagte: „ Anfangen! Das hab 'ich gar nicht bedacht, daß man anfangen muß! Warum ſoll ich mich eigentlich abquälen, um eine Sache zu blaſen, die mich nicht brennt? Nun, ich ſpringe gleich hinein! “
Zur Zeit, da Marie Antoinette ſich nach Frankreich verheirathete, gab es in der Touraine einen hübſchen guten Jungen, der noch gar nicht flügge war und keinem Menſchen etwas zu Leide gethan hatte. Er hieß Thibaut von Vallormes und war Fahnenjunker in einer Compagnie eines Fußregimentes, das ich nicht näher zu bezeichnen wüßte, indem ich den Namen deſſelben nicht angezeigt fand. Trotz ſeiner kriegeriſchen Stellung war er, wie geſagt, noch halb kindiſch und hielt ſich, wenn er nicht Dienſt hatte, immer bei alten Tanten, Baſen und andern346 würdigen Matronen auf, deren Putzſchachteln, Galanterie¬ ſchränke und bemalte Coffrets er durchſchnüffelte und von denen er ſich Geſchichten erzählen ließ, während er ihre Crêmetörtchen, Blancmangers und Zuckerbrödchen ſchmauſte. Aber auch dieſem unſchuldigen Knaben ſchlug die Stunde des Schickſals, wo ſich die Sachen änderten und er begann ein gefährlicher Menſch und Mann zu werden.
Zum Pagendienſte bei den Ceremonien der königlichen Vermählung wurden aus der Armee eine Anzahl gerade ſolcher hübſchen Bürſchchen zuſammen geſucht und nach Paris berufen, und auch der zierliche junge Thibaut ward des Glückes theilhaft. Nach dem Schluſſe der Feſtlichkeiten geſchah es dann, daß unter Anderem auch die ſämmtlichen Pagen in einem Salon des Verſailler Schloſſes ver¬ ſammelt, geſpeiſt und beſchenkt wurden, eh 'ſie zur Heim¬ reiſe auseinandergingen. Nachdem ein Kammerherr oder ſo was Jedem ſein Packetchen überreicht, wurde ihnen unerwartet kund gethan, daß die junge Dauphine die Junker noch zu ſehen wünſche. Sie mußten alſo hin¬ marſchieren, wo ſie mit einigen Hofdamen ſaß; jeder Einzelne wurde ihr vorgeſtellt und erhielt unter graziöſen Dankesworten für ſeinen artigen Dienſt noch eigenhändig ein Geſchenk, das ihr ein Hofherr darreichte. So bekam Thibaut eine ſchöne goldene Uhr, aber ohne Kette oder Band, mit den Worten, die Berlocken müſſe er ſich mit der Zeit ſelbſt dazu erobern.
Ganz roth vor Vergnügen betrachtete Thibaut die347 Uhr, als er mit den andern Jungen in einem großen Omnibus nach Paris zurückfuhr und ſie die erhaltenen Geſchenke ſich gegenſeitig zeigten. Es war auf der Rück¬ ſeite in einem Kranze von Rocaille ein kleiner Seehafen gravirt, in deſſen Hintergrunde die Sonne aufging und ihre Strahlenlinien ſehr fein und gleichmäßig nach allen Seiten ausbreitete. Das Innere der Schale aber zeigte ſich gar mit einer bunten Malerei emailliert; ein winziges Amphitritchen fuhr in ſeinem Wagen, von Waſſerpferden gezogen, auf den grünen Wellen einher, von einem roſen¬ farbigen Schleier umwallt, und auf dem blauen Himmel ſtand ein weißes Wölkchen. Im Vordergrunde gab es noch Tritonen und Nereiden.
Als alle die Herrlichkeiten genugſam bewundert worden und auch die freundlichen Worte der künftigen Königin beſprochen und commentirt, brachte auch Thibaut vor, was ſie ihm geſagt, und er ſetzte hinzu: „ Wenn ich nur wüßte, was ihre königliche Hoheit damit meinte, daß ich die Berlocken ſelbſt erobern müſſe! “
„ Ha! “rief ein Standartenjunker von der Reiterei, „ das iſt doch klar, es bedeutet, daß Sie ſich die Berlocken aus kleinen Andenken von Damen herſtellen ſollen, deren Herzen Sie geraubt haben! Je mehr, je beſſer! “
„ Ich möchte doch nicht behaupten, daß die Frau Dauphine ſo Etwas gemeint hat, “wandte ein anderer Junge ſchüchtern ein, „ ich glaube eher, ſie wollte ſagen, Monſieur de Vallormes möge ſich die nöthigen Bijoux348 von der Mama, den Frau Tanten und allerhand Couſinen erbitten oder ſchenken laſſen, weil ſich ihre königliche Hoheit nicht damit abgeben kann, ſo viele kleine Gegenſtände aus¬ zuſuchen und zuſammen zu ſtellen! “
„ Ei warum nicht gar, “meinte der Cornett, „ das wären langweilige Berlocken! Es müſſen eroberte Trophäen ſein! Jeder Gentilhomme trägt ſie! “
Thibaut entſchied ſich für die letztere Auslegung, und als er in ſeine Stadt Tours zurückkam, ſah er ſich von Stund 'an nach den Gelegenheiten um, die ſchrecklichen Raubzüge zu beginnen. Er vermied die Plauderſtübchen der alten Tanten und guckte eifrig nach jungen Mädchen aus, die etwas Glänzendes an ſich trugen, ſei es am Halſe, an der Hand oder an den Ohren. Da er ſich aber auf die Hauptſache, die Eroberung der Herzen, noch nicht verſtand und nach einigen thörichten Poſſen gleich nach jenen Dingen greifen wollte, ſo wurde ihm überall auf die Finger geſchlagen und es wollte ſich Nichts für ſeine Uhr ergeben.
Einſt reiſte er für die Oſterfeiertage nach Beaugency an der Loire, wo er Verwandte beſaß, und da ſchien ſich ein Anfang für ſeine Unternehmungen geſtalten zu wollen. Es war nämlich ein ſehr ſchönes Frauenzimmer aus dem benachbarten Orleans dort zum Beſuche, das freilich ſchon etwa zweiundzwanzig Jahre zählte und daher den Kopf eine Hand breit höher trug, als der kaum ſiebzehnjährige Fähnrich, wie ſie auch ohnehin hochgewachſen war. Aber349 obſchon Thibaut ein wenig in ihre Augen hinauf blicken mußte, war er doch nicht zu ſtolz, ſich in ſie zu verlieben, zumal er an ihrem Halſe ein Herz von rothen Korallen hängen ſah, das ihm außerordentlich in die Augen ſtach. Es war ungefähr ſo groß wie ein holländiſcher Ducaten und konnte geöffnet werden. Inwendig ſaß ein grünes Spinnlein, ſehr kunſtreich aus einem kleinen Smaragd¬ ſteine gemacht, die Aeuglein von winzigen Brillanten, und die länglichen Füße von feinem Golde. Die Spinne zitterte und bewegte ſich aber unaufhörlich ſammt ihren acht Beinchen, weil ſie mit künſtlichen Gelenken von der heikelſten Arbeit verſehen und außerdem auf einer kleinen, unſichtbaren Spiralfeder befeſtigt war. Dieſes Herz hatte die ſchöne Guillemette von ihrem Bräutigam zum Geſchenk erhalten; denn ſie war mit einem höheren Offiziere ver¬ lobt, der in den amerikaniſchen Beſitzungen Frankreichs verwendet wurde und den Zeitpunkt der Vermählung bis nach ſeiner Rückkehr verſchoben hatte. Als er ihr vor der Abreiſe das Herz gab, ſagte er wie im Scherz, er wolle ſehen, ob ſie ſo Sorge dazu trüge, daß das unruhige Spinnlein noch unzerbrochen ſei, wenn er wieder käme; nota bene aber ſetze er voraus, daß ſie das Kleinod nicht etwa beiſeite lege, ſondern es beſtändig am Halſe trage. Er ſprach vielleicht damit die Hoffnung aus, ſie werde ſich während der Zeit ſeiner Abweſenheit recht ruhig und gleichmüthig verhalten und ihr eigenes Herz ſammt dem Korallenherzen ungefährdet bleiben.
350Als nun der junge Thibaut ſich in ſie verliebte, be¬ ging Guillemette den Fehler, ſich ſein Hofmachen als kleine Erheiterung eine Weile gefallen zu laſſen, was ſie ſchon ſeiner Jugend wegen für unverfänglich hielt. Sie ließ ſich von ihm Fächer und Handſchuhe tragen, ſpielte und lachte mit ihm, wie wenn ſie noch ein halbes Kind wäre, und wenn er nicht von ſelbſt in ihre Nähe kam, rief und lockte ſie ihn herbei. So oft er es möglich machen konnte, eilte er nach Beaugency, wo ſie längere Zeit blieb, und jagte mit ihr durch Garten und Saal. Eines Tages aber, als er ihr plötzlich zu Füßen fiel und ihre Kniee umſpannte, mußte er erfahren, daß ſie ihn lachend abſchüttelte und er weiter von dem Ziele des Herzensraubes war, als jemals. Da faßte er in jugend¬ lichem Leichtſinn den Vorſatz, ihr wenigſtens das Korallen¬ herz zu ſtehlen, und führte ihn auch aus. Während einer ſommerlichen Nachmittagsſtunde hatte ſich Guillemette in ein kühles Gartenzimmer eingeſchloſſen, um zu ſchlafen, leider aber nicht das offene Fenſter bedacht. Durch dieſes Fenſter entdeckte Thibaut das in einem geflochtenen Arm¬ ſeſſel ſchlafende Fräulein und ſtieg leiſe wie eine Katze hinein. Das Herz hing an einem Sammetbändchen an ihrem Halſe und es gelang ihm, dasſelbe los zu machen und in die Taſche zu ſtecken, auch wieder durch das Fenſter zu entfliehen, ohne daß ſie erwachte oder er von einem Menſchen geſehen wurde. Die grüne Spinne mochte in ihrer dunkeln Kapſel noch ſo ſehr zittern und blinkern,351 ſo half es doch weder ihr noch der ſchlafenden Schönen; ſie mußte mit dem Diebe gehen und nahm das Glück der armen Guillemette mit ſich. Als ſie erwachte und einige Zeit ſpäter den Verluſt entdeckte, ſuchte ſie das Herz überall, und erſt als ſie es nirgends fand, erſchrak ſie und ſann beklommen nach, wo es möchte geblieben ſein. Sie fragte auch den Thibaut, ob er es nicht gefunden habe, und als er das verneinte, glaubte ſie ihm anzuſehen, daß er doch darum wiſſe. Sie bat ihn heftig, es ihr zu ſagen; er läugnete und lachte zugleich und ſie betrachtete ihn zweifelnd und gerieth über ſeinem Anblick in große Angſt, da er immer mit den Augen zwinkerte. Zuletzt fiel ſie ihm zu Füßen und flehte, er möchte ihr das Herz wiedergeben oder ſagen, wo es ſei, und erſt jetzt hielt er ſeinen Raub für eine rühmliche Beute, weil er merkte, wie viel ihr daran gelegen und daß ſie dem Weinen nahe war. Wie wenn er ſich in falſchen Schwüren üben wollte, beſchwor er laut und heuchleriſch ſeine Unſchuld, machte aber, daß er fortkam, und ließ ſich nie wieder vor ihr blicken. Als der Verlobte nach einem Jahre aus den Colonien zurückkehrte und, das Herz vermiſſend, nach demſelben fragte, ſagte die Braut der Wahrheit gemäß, daß ſie es entweder verloren habe oder es ihr geſtohlen worden ſei, ſie wiſſe das nicht recht; allein ſie brachte die Worte ſo verlegen, ſo erſchrocken hervor, daß der Bräutigam einem etwelchen Verdachte nicht widerſtehen konnte. Und als er dringend nach den Umſtänden fragte,352 unter welchen ſie ein ſolches Andenken habe verlieren können, gab ſie eine unglückliche Antwort, in der die Reue ſich hinter beleidigtem Stolze verbarg. Die Ver¬ lobung löſte ſich auf; der Bräutigam heirathete eine andere Perſon, und die Guillemette blieb arm und verlaſſen mitten in der Welt ſitzen.
Thibaut, der inzwiſchen Lieutenant geworden, trug nun das Herz an ſeiner Uhrkette und ſah ſchon lange nach einem neuen Gehängſel aus, das er jenem beigeſellen konnte. So gewahrte er denn einſtmals die kleine Deniſe, das Töchterlein des ſeligen Notars Jakob Martin, das eben aus der Kloſterſchule gekommen und nun bei der Mutter lebte. Er wunderte ſich, wie artig das Mädchen ausgewachſen war und auf den rothen Stöckelſchuhen daherging. Auf der Bruſt trug es ein beſcheidenes Herz von Bergkryſtall, das, in Gold gefaßt, auch geöffnet werden konnte; aber es war nichts darin und das Herz ganz durchſichtig. Dennoch faßte er ſogleich den Plan, dasſelbe zu erobern, als er ſo ſtehen blieb und dem Mädchen nachſchaute, das mit blutrothem Geſichte davon eilte. Er ſpazierte täglich an ihrem Hauſe vorüber, ſandte ihr verliebte Gedichtchen zu, die er den Poeſieen des Mr. Dorat, der Frau Marquiſe d'Antremont oder des Herrn Marquis de Pezai und anderen Dichtern der damaligen Zeit entlehnte, aber ohne Unterſchrift ließ. Es gelang ihm dadurch, den Kopf der jungen Deniſe und ihrer Mutter zugleich in Verwirrung zu ſetzen, ſo daß er353 den Zutritt im Hauſe erhielt und mit eitler Freude empfangen wurde, wenn er mit einem Blumenſträußchen oder einem billigen Fächer von gefärbtem Papier erſchien, worauf ein paar Gräſer und eine Nelke gedruckt waren. Ein ehrbarer Kaufmannsſohn, deſſen Vater mit dem ver¬ ſtorbenen Notar befreundet geweſen, zog ſich vor dem Herrn von Vallormes zurück, an welchen die kleine Deniſe zuerſt ihr natürliches und dann ihr kleines Kryſtallherz verlor. Sobald er aber dieſes mit ihrer zärtlichen Ein¬ willigung abgelöſt und an ſeiner Uhr befeſtigt hatte, verließ er ſie und kehrte nie mehr zurück. Ungeachtet ſie ſehr wohlhabend war, koſtete es der Mutter manche ſauere Mühe, den jungen Kaufmann mit der Zeit wieder herbei zu ſchaffen, der dann aus dem erſt ſo blühenden Denischen ein gedrücktes Hausfrauchen, ſo ein beſcheidenes auf¬ gewärmtes Sauerkräutchen machte.
Es dauerte jetzt einige Zeit, bis Thibaut wieder auf eine Spur gerieth, die er jedoch abermals verlor, wie es auch dem geſchickteſten Jäger geſchehen kann, und als er eines Sonntag Nachmittags nichts anzufangen wußte, nachdem er ſeine Berlocken genugſam beſehen hatte, fiel es ihm ein, endlich einmal ſeine jüngſte Tante Angelika zu beſuchen, die noch nicht ganz fünfzig Jahre alt ſein mochte und eine empfindſame alte Jungfer war. Da ſie gerade am offenen Schreibtiſche ſaß, machte ſich Thibaut hinter die ihm bekannten Lädchen und Schatullen, um darin zu ſchnüffeln, wie ehemals. Er ſtieß auf einKeller, Sinngedicht. 23354Schächtelchen, das er noch nie geſehen, und als er es öffnete, lag auf einem Flöcklein Baumwolle ein Herz von milchweißem Opal, das längſt vom Bande gelöſt, hier im Stillen ſchlummerte. Am Tageslichte ſchillerte das Herz in zartem Farbenſpiele wie ein Schein ferner Jugend¬ zeiten.
„ Welch 'ein ſchönes Bijou! “rief Thibaut, „ wollen Sie mir das nicht ſchenken? “
„ Was fällt Dir ein, lieber Neffe? “fragte ſie ver¬ wundert, indem ſie ihm das Herz aus der Hand nahm und es mit glänzenden Augen betrachtete; „ was wollteſt Du auch damit thun? Es einem anderen Frauenzimmer ſchenken? “
„ O nein! “ſagte Thibaut, „ ich würde es an meine Uhr hängen und dabei ſtets meiner Tante Angelika eingedenk ſein! “
„ Ich kann es Dir dennoch nicht geben, “erwiderte die Dame mit weicher Stimme, „ es iſt meine theuerſte Erinnerung, denn der Geliebte und Verlobte meiner Jugend hat es mir geſchenkt! “
Auf ſein neugieriges Verlangen erzählte ſie dem Neffen mit vielen Worten die verjährte Liebesgeſchichte mit einem herrlichen jungen Edelmann, der voll ſeltener Treue und Hingebung unter ſchwierigen Umſtänden an ihr gehangen, ſich ihretwillen geſchlagen und in der Blüthe der Jahre in der glorreichen Schlacht von Fontenay als ein tapferer Held gefallen ſei, vor mehr als dreißig Jahren. Die355 Beſchreibung all' der Liebenswürdigkeit, der männlichen Schönheit und Jugend des Verlorenen, der in ſeinem Umgange genoſſenen Glückſeligkeit verklärte die Erzählende mit einem ſolchen Abglanz der Erinnerung und Sehnſucht, daß trotz der ſtark angegrauten Haare, die im Negligé unter dem gefältelten Häubchen hervor über Nacken und Schultern herunter floſſen, eine neue Jugend ihr Geſicht zu beleben und roſig zu färben ſchien.
Ganz begeiſtert fiel Thibaut auf ein Knie, wie wenn er ſelbſt der verlorene Liebhaber wäre, und rief, die Hände auf ſein Herz legend: „ Ich ſchwöre Ihnen, theuerſte Tante, daß ich Sie ähnlich geliebt haben würde, wäre meine Jugend mit der Ihrigen zuſammengefallen! Ja ich liebe Sie jetzt, wie nur eine junge Seele eine andere junge Seele lieben kann! O ſchenken Sie mir Ihr ſchönes Herz, ich will es hegen und an mich ſchließen, daß es nicht mehr einſam iſt! “
Er war in der That ſo närriſch verzückt, daß er ſelbſt nicht wußte, ob er das kleine Schmuckherz oder das liebende Menſchenherz verlangte; die Tante Angelika aber verwechſelte in ihrer Schwärmerei den gegenwärtigen Augenblick mit der Vergangenheit und den neben ihr knieenden Jüngling mit dem lange entſchwundenen Ge¬ liebten. Sie ſchlang in ſüßer Vergeſſenheit beide Arme um den Hals des hübſchen Schlingels und drückte ihm mehrere Küſſe auf die Lippen, und der Taugenichts ent¬ blödete ſich nicht, der traumvergeſſenen würdigen Dame23*356das gleiche zu thun, wie wenn ſie noch zwanzig Jahre alt wäre. Voll Schrecken erwachte ſie aus ihrer ſüßen Verirrung, die ſie nun doch nicht recht bereuen konnte; ſie machte ſich haſtig aus ſeinen Armen frei, und während ſie ihn mit feuchten Augen nochmals anſah, drückte ſie ihm zitternd das Opalherz in die Hand und bat ihn, ſie doch gleich zu verlaſſen. Dann lehnte ſie ſich mit gefalteten Händen in ihren Seſſel zurück, um ſich von dem höchſt ſeltſamen Erlebniſſe zu erholen.
Als Thibaut die neue Trophäe an der Uhr befeſtigt hatte, dünkte ihm die Berlocke mit drei Herzen nunmehr ſtattlich genug zu ſein, um ſie endlich auszuhängen; auch kam es ihm gerade recht, daß er an eine Offiziersſtelle in Paris verſetzt wurde; denn nur dieſe Stadt konnte fortan der rechte Schauplatz ſeiner ferneren Thaten ſein. Und es fehlte ihm nicht an Eroberungen und Protectionen, die ihm bald eine eigene Compagnie verſchafften, deren Capitän er wurde. Allein je vornehmer die Damen waren, deren Eroberung er machte, und je koſtbarer die Kleinödchen, die er an ſeine Uhrkette hing, deſto unklarer wurde es ihm, ob er eigentlich es ſei, der die Schönen ſitzen ließ, oder ob er von ihnen verlaſſen werde. Gleich¬ viel, ſein Uhrgehänge klirrte und blitzte, daß es eine Art hatte, und er galt für den gefährlichſten Cavalier der Armee, wenn er im Kreiſe der Herren Kameraden die Geſchichte der einzelnen Merkwürdigkeiten erzählte und die Juwelen und Perlen ſtreichelte, die ſich darunter357 fanden. Und er ging mit den Berlocken zu Bett und ſtand mit denſelben auf.
Zuletzt wurde ihm ſein Ruhm faſt langweilig, be¬ ſonders da kein Plätzlein mehr für neue Siegeszeichen auf ſeiner Weſte vorhanden war. Weil er aber ein für alle Mal ein Glückskind heißen konnte, zeigte ſich in dieſem Stadium die Ausſicht auf einen neuen Lebens - und Siegeslauf, den als ein bewährter und geprüfter Mann anzutreten es ihn gelüſtete.
Gerade damals hatte die franzöſiſche Begeiſterung für den Freiheitskampf der Nordamerikaner ihren Höhepunkt erreicht, und nachdem ſchon viele Franzoſen als Freiwillige für die Gründung der großen Republik mitgefochten, war es bekanntlich dem Marquis von Lafayette gelungen, die Abſendung eines förmlichen Hülfsheeres zu bewirken. Der Capitän Thibaut von Vallormes ging mit und befand ſich bei den ſechſtauſend Mann, welche vom Grafen von Rochambeau über den Ocean geführt wurden und im Juli 1780 auf Rhode-Island landeten. Thibaut war weder ein nachläſſiger noch ein untapferer Soldat, und ſo gerieth er im Verlaufe des ſchwierigen Krieges und auf den Hin - und Herzügen bald in die vorderſte Linie, bald ſonſt auf ausgeſetzte Punkte. Der friſche Luftzug der neuen Welt, der gewaltige Hauch der Freiheit, der von ihm ausging, und die anhaltende Beſchäftigung des Dienſtes unter allerlei Gefahren ließen den Offizier allgemach ernſter erſcheinen; auch an ſeiner Einzelperſon,358 geringen Orts, machte ſich der Uebergang aus dem ſpielenden Daſein in das, was nachher kam, ſichtbar. Als die Heeresabtheilung, bei der er ſtand, an irgend einen breiten Fluß vorrückte, auf deſſen anderem Ufer ein größerer Indianerſtamm lagerte, entflammte er mit den anderen Franzoſen in Enthuſiasmus, nun der wahren Natur und freien Menſchlichkeit ſo unmittelbar gegenüber¬ zuſtehen; denn Jeder von Ihnen trug ſein Stück Jean Jacques Rouſſeau im Leibe. Es handelte ſich darum, mit den Indianern in Verkehr zu treten, ſie entweder in Güte als Freunde zu gewinnen oder ſie wenigſtens zu einem neutralen Verhalten zu veranlaſſen, und zu dieſem Ende hin wurden die Oberbefehlshaber erwartet, indeſſen auch am anderen Ufer, bei den Indianern, noch eine Anzahl wichtiger Häuptlinge zu einer Conferenz ein¬ treffen ſollten.
Die franzöſiſchen Militärs aber mochten den Tag nicht erwarten, ihre Neugierde und die Luſt an den idealen Naturzuſtänden zu befriedigen; ſie lockten ſchon vorher die wilden Rothhäute über das Waſſer und ſchifften auch zu ihnen hinüber, und jeder ſuchte in ſeinem Gepäcke nach Gegenſtänden, welche er verſchenken oder an Merkwürdig¬ keiten vertauſchen konnte. Thibaut war unter den Erſten, die über den Strom ſetzten, und that es bald täglich nicht nur ein, ſondern zwei Mal, und war in den Wigwams zu Hauſe. Nämlich eines der indianiſchen Mädchen zog ihn unwiderſtehlich hinüber, daß er ſeine ganze ſiegreiche359 Vergangenheit vergaß und einem Neuling gleich auf den Spuren einer Wilden umher irrte.
Ich kann es nicht wagen, eine Beſchreibung von dem wunderbaren Weſen zu machen, und muß es den Herren überlaſſen, ſich nach eigenem Geſchmacksurtheil das Schönſte vorzuſtellen, was man ſich damals unter einer eingeborenen Tochter Columbias dachte, ſowol was Körperbau und Hautfarbe, als Koſtüm und dergleichen betrifft. Ein hoher Turban von Federn wird unerläßlich, ein buntes Papagenakleidchen räthlich ſein; doch wie geſagt, ich will mich nicht weiter einmiſchen und nur noch andeuten, daß ſie in ihrer Sprache Quoneſchi, d. h. Libelle oder Waſſer¬ jungfer genannt wurde.
So viel iſt ſicher, daß ſie es meiſterlich verſtand, wie eine Libelle ihm bald über den Weg zu ſchwirren, bald ſich unſichtbar zu machen, jetzt einen verlangenden Blick auf ihn zu werfen, dann ſpröd und kalt ihm auszuweichen; allein Thibaut wurde nicht müde, ſich bethulich und ge¬ duldig zu zeigen und ſie wenigſtens mit ſchmachtenden Augen zu verfolgen, wenn ſie durchaus nicht in die Nähe zu bringen war. So gleichgültig er zuletzt gegen das Frauengeſchlecht in Frankreich geweſen, ſo heftig verliebte er ſich jetzt in das rothe Naturkind und ging geradezu mit dem Gedanken um, dasſelbe zu ſeiner rechtmäßigen Gemahlin zu erheben. Wie würde das philoſophiſche Paris erſtaunen, dachte er ſich, ihn mit dieſem Inbegriff360 von Natur und Urſprünglichkeit am Arme zurückkehren und in die Salons treten zu ſehen.
Durch ſeine Beharrlichkeit ſchien die zierliche Waſſer¬ jungfer wirklich allmälig zahm und halbwegs vertraulich zu werden; die Herren Kameraden, die bisher darüber gelächelt, daß ſeine Macht über die Frauenherzen ſich nicht bis an den Hudſon und den Delaware erſtrecke, fingen an, ihn zu bewundern und zu loben, daß er als echter Franzoſe nicht das Feld räume; kurz, er hatte zwiſchen Tag und Nacht ſchon mehr als ein kleines Stelldichein abgehalten mit wunderlichem Zwiegeſpräche von Geberden und abgebrochenen Worten, wobei Keines das Andere verſtand noch auszudrücken wußte, was es wollte. Nur Eines glaubte Thibaut zu bemerken, nämlich daß Quoneſchi jedenfalls von einem zärtlichen Gedanken bewegt war, der ſie fortwährend beſchäftigte und die dunklen Augen öfters wie in banger oder zweifelhafter Erwartung auf ihn richten ließ.
Nun waren die höheren Perſonen auf beiden Seiten des Fluſſes verſammelt und die Unterhandlungen für einſtweilen erledigt, die indianiſchen Häuptlinge im franzöſiſchen Lager auch gut bewirthet worden, und es blieb noch der officielle Beſuch der franzöſiſchen Herren bei den Wilden übrig, welche ſich auch ein wenig zeigen wollten. Am Vorabend kam noch ein ganzes Schiff voll Weiber herüber gefahren, die vor dem Weitermarſch der361 Franzoſen noch allerlei Verkäufliches an den Mann zu bringen wünſchten, wie Früchte, wilde Putzſachen, Muſcheln, geſticktes Leder und dergl. So entſtand raſch noch eine lebendige Marktſcene und die Franzoſen benutzten billiger Weiſe den Anlaß, mit den Frauen zu ſponſieren, wie es von je ihre Art geweſen iſt. Thibaut aber wußte ſeine Quoneſchi oder Waſſerjungfer, die ein Körbchen voll Erdbeeren zu verkaufen hatte, in ſein Hauptmannszelt zu locken und nahm ſie dort ſchärfer in's Gebet als bisher; denn es war keine Zeit mehr zu verlieren. Er ſuchte ihr mit feuriger Ungeduld deutlich zu machen, daß er ſie mit nach Europa nehmen und mit ihren Eltern um ſie handeln wolle, in ehrbarem Ernſte und zu ihrem Heil und Glücke. Daß ſie ihn ganz verſtand, iſt zu bezweifeln; dagegen iſt ſicher, daß ſie ſich deutlicher auszudrücken wußte. Indem ſie mit der kleinen röthlichen Hand ſein Kinn und beide Hände ſtreichelte, deutete ſie auf die Berlocken an ſeiner Uhr, die ſie zu haben wünſchte, nach¬ dem ſie offenbar ſchon lange ihren Geiſt beſchäftigt hatten. Dazu ſagte ſie immer auf Engliſch: Morgen! Morgen! und drückte mit holdſelig naiven Geberden aus, daß etwas Wunſcherfüllendes vorgehen würde, wo gewiß alle Welt zufrieden geſtellt werde.
Unſer guter Thibaut erſchrak über die Deutlichkeit des Verlangens nach den Berlocken und beſann ſich ein Weilchen mit melancholiſchem Geſichte; er war ganz überraſcht von der ungeheuerlichen Keckheit des Begehrens362 und konnte es nur begreifen, wenn er bedachte, daß das unſchuldige Weſen weder die Bedeutung noch den Werth deſſen kannte, was es forderte. Als aber das Mädchen traurig das Haupt ſenkte und die Hand auf's Herz legte und noch mit anderen Zeichen verrieth, daß ſie große Hoffnungen auf die Erfüllung ihres Wunſches geſetzt hatte, legte er dieſe Zeichen zu ſeinen Gunſten aus und änderte ſeine Gedanken. Im Grunde, dachte er, iſt es nur in der Ordnung, wenn ich dieſe Erinnerungen Der¬ jenigen zu Füßen lege, welcher ich mich für das Leben verbinden will! Noch mehr, es iſt ja ein ſchönes Symbol, wenn ich dieſe Siegesſpolien aus einer überlebten und überfeinerten Welt ſozuſagen der noch jungen Natur in Perſon aufopfere, die uns eine neue Welt gebären ſoll! Und am Ende bringt das gute Kind mir den kleinen Schatz, der ſo lange auf meiner Weſte gebaumelt hat, getreulich wieder zu, und es wird ſich gar witzig aus¬ nehmen, wenn die Tochter des Urwaldes einſt die Kleinode, bald dieſes, bald jenes, vor den Augen unſerer Damen an ſich ſchimmern läßt!
Mit raſchem Entſchluſſe löſte er den Ring, der das Gehängſel zuſammenhielt, von der Uhr und übergab es ihr in ſeiner ganzen Pracht und Koſtbarkeit. Mit einer kindlichen Freude, welche die zarte Rothhaut des Urwaldes womöglich noch röther machte, empfing die Libelle, die Waſſerjungfer, den Schatz und überhäufte den Geber mit Zeichen der lieblichſten Dankbarkeit; dann lief ſie eilig363 davon, indem ſie nochmals mit leuchtenden Augen: Morgen! Morgen! rief.
Thibaut hingegen empfand ein Gefühl, wie wenn Einer ihm den ſchönen Zopf abgeſchnitten hätte, der ſo ſtattlich den Rücken ſeines Scharlachrockes ſchmückte, und in der Nacht hatte er einen ſchweren Traum. Es träumte ihm, er habe das Korallenherz der ſchönen Guillemette auf¬ gemacht, die grüne Spinne ſei herausgelaufen und habe ihn in die Naſe gebiſſen, die wie eine Rübe aufge¬ ſchwollen ſei.
Am Morgen wurde es ihm wieder beſſer zu Muthe, als er den klar erglänzenden Tag gewahrte, der über der großen Stromlandſchaft aufgegangen war, und heiteren Herzens beſtieg er die überſetzende Kahnflotille, da er ja endlich der wahren Liebe und Seligkeit entgegenfuhr.
Das rothe Volk war in einem weiten Ringe um ein Feuer verſammelt, an welchem Hirſche und andere Jagd¬ beute gebraten und gute Fiſche gekocht wurden. Die Frauen und Mädchen machten die Köche und brachten ſonſt noch allerhand ihrer Leckereien herbei. Die Männer ſaßen ernſt im Kreiſe herum, vorab die Häuptlinge, alle in ihrem höchſten Schmuck und Staate. Für die franzöſiſchen Herren aber war ein beſonderer Raum und Ehrenplatz offen gelaſſen, den ſie vergnügt über das neue Schauſpiel einnahmen; und nun begann ein Schmauſen, das den Indianern freilich beſſer zu ſchmecken ſchien als den Europäern, wenn es den letzteren auch von den Frauen364 ſelbſt zugetragen und dargereicht wurde. Nur Thibaut erquickte ſich vollkommen; denn die ſchöne Quoneſchi hatte ihn ſogleich herausgefunden und nur ihn bedient; ſie blieb auch gern bei ihm, als er ſie feſthielt, und winkte ihren Schweſtern ſchalkhaft zu, als ob ſie jetzt nicht mehr zu ihnen käme. Traulich und keineswegs ohne Grazie ſaß ſie zu ſeinen Füßen, und als er ſanft ihren rothen Sammetrücken, wie die Herren vielleicht ſich ausdrücken würden, mit läſſiger Hand ſtreichelte, dünkte er ſich der Chriſtofor Columbus zu ſein, welchem ſich der entdeckte Welttheil in Geſtalt eines zarten Weibes anſchmiegt.
Jetzt war die Mahlzeit beendigt, der Platz um das Feuer wurde geräumt und der Kreis erweitert, worauf ein Zug junger Krieger aufmarſchierte, um zu Ehren der befreundeten Macht einen ſchönen Kriegstanz zum Beſten zu geben. Ein lauter Schrei oder Ausruf der Alten und Häuptlinge begrüßte die Schar, welche von dem längſten und kräftigſten der Jünglinge, einem baumſtarken Bengel, angeführt wurde.
Wenn ich vorhin beſcheiden auf eine Schilderung der ſchönen Libelle verzichtet habe, behielt ich mir vor, dafür das Aeußere dieſes jungen Kriegshelden um ſo aus¬ führlicher darzuſtellen, ſoweit meine ſchwachen Kräfte reichen; denn hier tritt ja das Frauenauge mit ſeinem Urtheile in ſein Amt. Denke man ſich alſo einen Complex herrlich gewachſener rieſiger Glieder vom ſatteſten Kupfer¬ roth und vom Kopf bis zu den Füßen mit gelben und365 blauen Streifen gezeichnet, auf jeder Bruſt zwei coloſſale Hände mit ausgeſpreizten Fingern abgebildet, ſo hat man einen Vorſchmack deſſen, was noch kommt. Denn eine maleriſche Welt für ſich war das Geſicht, die eine Hälfte der Stirn, der Augendeckel, der Naſe und des Kinnbackens bis zum Ohre mit Zinnober, die andere mit blauer Farbe bemalt, und dazwiſchen eine Anzahl fein tätowirter Linien dieſer und jener Farbe. Die ganzen Ohrmuſcheln waren rings mit herabhängenden Perlquaſten beſetzt, die pechſchwarzen langen Haarſträhnen mit einer Menge Schnüre von kleinen Muſcheln, Beeren, Metallſcheibchen u. dergl. durchflochten und darauf noch ein Helm von weißen Schwanenfedern geſtülpt; ein Scalpiermeſſer ſammt einem blonden Scalp ſteckte als Haarnadel in dem Wirrwarr, nicht zu gedenken noch anderer Quincaillerie, die weniger deutlich zu unterſcheiden war. Allein über all' dieſem Kopfputze ſträubte ſich ein Kamm gewaltiger Geierfedern, weiß und ſchwarz, in die Höhe und zog ſich längs des Rückgrates hinunter gleich einem Drachenflügel, ganz aus den längſten Schwungfedern beſtehend. Dazu nun der reich geſtickte Wampumgürtel, die geſtickten Schuhe und Mocaſſins, ſo wird man geſtehen müſſen, daß hier ein Schatz von Schönheit und männlicher Kraft verſammelt war. Allein erſt der glühende furchtbare Blick machte noch das Tüpfelchen auf das I, und als der Tapfere, den man „ Donner-Bär “nannte, den Tanz anhub, zu ſtampfen begann und mit ſchrecklichem Geſange die roth366 bemalte Axt über dem Haupte ſchwang, indem er die andere Fauſt gegen die ſchlanke Hüfte ſtützte, da fühlten die europäiſchen Gäſte beinahe ihre gepuderten Haare kniſtern, denen beſonders das Scalpiermeſſer nicht gefiel.
Quoneſchi, die Waſſerjungfer aber, die zu den Füßen Thibaut's lag, that erſt einen Seufzer und ließ dann einen jauchzenden Jubelruf ertönen; ſie rüttelte den Offizier am Arme und zeigte mit feurigen Augen auf den Kriegs¬ tänzer, indianiſche Worte redend wie mit Engelszungen, die aber Thibaut nicht verſtand, bis ein hinter ihm ſtehender Amerikaner ſagte: „ das Weibsbild ſchreit immer, das ſei ihr Verlobter, ihr Liebhaber, deſſen Frau ſie noch heute ſein werde! “
Ganz ſtarr vor Erſtaunen blickte Thibaut nach dem Tänzer hin, deſſen ſchreckliches Geſicht in allen Farben zu blitzen ſchien, ſo daß er es nicht deutlich zu ſehen ver¬ mochte in ſeiner Verwirrung. Immer näher kam der Donner-Bär mit ſeiner Bande; da riefen auf einmal mehrere Offiziere unter ſchallendem Gelächter:
„ Parbleu! der hat ja die Berlocken des Herrn von Vallormes an der Naſe hängen! “
Entſetzt ſah Thibaut die Wahrheit dieſer Bemerkung; ſie hingen dort, die Berlocken. Der Wilde tanzte jetzt dicht vor ihm und unter ſeiner blau und roth bemalten Naſe, deren Rücken durch einen ſcharf gebogenen weißen Strich bezeichnet war, funkelte und blitzte es, bammelte das Korallenherz der verlaſſenen Guillemette, das Kryſtall¬367 herz der kleinen Deniſe, das Opalherz der Tante Angelika, hin und her, nach links und nach rechts, und bammelten die anderen Sachen, die Kreuzchen, Medaillons und Ringe blinkernd und blitzend durcheinander und peitſchten beide Naſenflügel des Helden.
Jetzt tanzte dieſer ein Weilchen auf derſelben Stelle, ſtill wie die Luft vor dem Gewitter, indem er nur mit dem einen oder anderen Fuße ein wenig trampelte; plötz¬ lich aber ſtieß er ein wahres Bärengebrüll hervor, ergriff die Quoneſchi am Arme, ſchwang ſie wie ein geſchoſſenes Reh auf ſeine Schulter und raſ'te, gefolgt von ſeinen Aexte ſchwingenden Genoſſen und dem Beifallsrufe der rothen Völker, aus dem Ringe hinaus. Der Herr von Vallormes bekam weder die Berlocken noch die Indianerin je wieder zu ſehen.
Faſt glaub 'ich, dort wartet ein Schreinermeiſter, den ich beſtellt habe und ſprechen muß; ich empfehle mich ſo lange den Herren! “ſagte Lucia unmittelbar nach dem Schluſſe der kleinen Erzählung und ging, ſich leicht und mit ver¬ haltenem Lächeln verneigend, davon. Reinhart blickte ihr nach und ſah dann den alten Oberſt an.
„ Was hat Ihre prächtige Nichte “, ſagte er, „ nur für einen Zorn auf meine armen Schützlinge, daß ſie ſo ſatiriſche Pfeile auf mich abſchießt? Das geht ja faſt über das Ziel hinaus! “
„ Je nun, “erwiderte der Oberſt lachend, „ ſie wehrt ſich eigentlich doch nur ihrer Haut, die übrigens ein feines Fell iſt! Und merken Sie denn nicht, daß es weniger ſchmeichelhaft für Sie wäre, wenn ſich die Lux gleichgültig dafür zeigte, daß Sie für allerhand unwiſſende und arme Kreaturen ſchwärmen, zu denen ſie einmal nicht zu zählen das Glück oder Verdienſt hat? “
Ob Reinhart als Gelehrter ſchon ſo unpraktiſch oder369 als junger Mann noch ſo unkundig oder blind war, genug, er hatte dieſe Seite der Sache noch gar nicht be¬ dacht und erröthete über den Worten des Alten ordent¬ lich von der inneren Wärme, die ſie ihm verurſachten.
„ So geht es “, ſagte er mit unmerklicher Bewegung; „ wenn man immer in Bildern und Gleichniſſen ſpricht, ſo verſteht man die Wirklichkeit zuletzt nicht mehr und wird unhöflich. Indeſſen habe ich natürlich an das Fräulein gar nicht gedacht, ſo wenig als eigentlich an mich ſelbſt, ſo wie man auch niemals ſelber zu halten gedenkt, was man predigt. Es iſt Zeit, daß ich abreite, ſonſt verwickele ich mich noch in Widerſprüche und Thor¬ heiten mit meinem Geſchwätz, wie eine Schnepfe im Garn. “
„ Gut, reiten Sie, “antwortete der alte Herr, „ aber kehren Sie bald wieder! Kommen Sie zuweilen Sonn¬ tags und nehmen Sie ſtatt des alten Nilpferdes einen jungen Kutſcher mit guten Trabern, ſo fahren Sie raſcher vom Fleck und ſind weniger vom Wetter abhängig. Ich mag der Lux zur Abwechſelung eine heitere junge Geſellſchaft, wie die Ihrige, gönnen; ſie iſt frei, munter und ſelbſtändig und macht keine Dummheiten. Ich ſelbſt aber freue mich ordentlich ſentimental darauf, den Freunden meiner Jugend durch Sie am Lebensabend noch einmal nahe zu treten, und freue mich auch, der Dame Elſe Moorland, Ihrer Mutter, meine Nichte unter Augen zu ſtellen, damit ſie ſieht, wir ſeien hier auch nicht von Stroh! “
Keller, Sinngedicht. 24370Nachdem ſie noch ein Weilchen geplaudert, Reinhart mit ungeduldigem Herzklopfen, eilte er ins Haus, den Mantelſack zu packen, und nach dem Stalle, das Pferd ſatteln zu laſſen, welches ſich auf der Weide rund gefreſſen hatte. Er war ſo eilig, weil er glaubte, Zeit und Ge¬ ſchick damit zu beſchleunigen, mochten ſie bringen, was ſie wollten.
„ Sie werden doch noch mit uns eſſen, eh 'Sie reiſen? “ſagte Lucie betreten, als er wieder unter den Platanen erſchien und ſie dort vorfand. „ Es iſt nicht möglich “, antwortete Reinhart; „ wenn ich heute noch zu Haus an¬ kommen will, ſo muß ich vor Tiſch aufbrechen! “
„ Ei, iſt denn Ihre Fahrt ſchon zu Ende? Sie haben ja kaum begonnen! Sie werden doch die ſchädliche Arbeit nicht ſchon wieder aufnehmen wollen? “
„ Gewiß nicht, mein Fräulein, ich möchte jetzt mein Augenlicht mehr ſchonen, als jemals, denn die bewußte Kur hat ihm ſo gut gethan, daß es undankbar wäre, es wieder zu gefährden! “
„ Sie werden natürlich auf allen den bewußten Stationen Halt machen, über welche ſie gereiſt ſind? “
„ Dann würde ich nicht weit kommen! Ich denke viel¬ mehr den andern kürzern Weg von hier aus zu nehmen, der über die Althäuſer Brücke führt. “
Lucie ſchien mit dieſem unbedeutenden Geſpräche zu¬ frieden zu ſein; ſie entließ den berittenen Naturforſcher in freundlicher Weiſe, und er zog ſo ernſt ſeines Weges,371 wie ein Afrikareiſender, nachdem er vor einigen Tagen ſo munter ausgefahren war. An dieſem Tage ging er zwar wieder in heiterer Stimmung ſchlafen, nachdem er noch einen geſelligen Kreis aufgeſucht und in deſſen Fröh¬ lichkeit ſein Wiſſen um Lucien als anonymen Theilnehmer hatte mitlaufen laſſen. Am nächſten Morgen aber fühlte er ſich vereinſamt und merkte, daß er angeſchoſſen war.
Und es kam ärger; unbekannte Nöthen fingen an, ſich in ſeinem Herzen zu regen, daß er widerwillig die Natur dieſes Muskels von Neuem unterſuchen, und als hierbei nichts herauskam, ſich gewöhnen mußte, in angeſtrengter Arbeit die Störungen zu vergeſſen, wenn er nicht einem unwürdigen Zuſtande der Träumerei verfallen wollte. Dennoch wiederholte er den Beſuch auf dem Landgute zunächſt nicht, um durch das Getrenntſein den Ernſt der Lage gründlicher zu erforſchen und klar zu ſtellen. Nur ein par Briefe ſchrieb er ohne jede unbeſcheidene An¬ ſpielung und erhielt eben ſolche Antworten. Deſto froher machte ihn ein unerwarteter Brief ſeiner Mutter Elſe oder Hildeburg, welche ihm im Laufe des Sommers ſchrieb, daß der Oberſt und ſeine ſchöne Nichte auf einer Reiſe bei ihnen vorgeſprochen hätten, und wie das eine erquickliche Geſchichte und ein fröhlicher Tag geweſen, wie ferner für den Herbſt ein Gegenbeſuch verabredet ſei. Die Lucie ſei eine ernſthafte und kluge Perſon mit dem Gemüth eines Kindes, und der Papa Reinhart, der den Leuten ſonſt ſo kurze Zettel zukommen laſſe, ſchreibe ihr24*372bereits ſo lange Briefe, wie er ihr, der Mutter Elſe, kaum in der erſten Zeit geſchrieben habe. Aber ſie möge es ihr wohl gönnen und freue ſich ſchon darauf, die Briefe ihres Mannes zu leſen, wenn ſie einmal dort ſei.
Im September kam ein Briefchen von Lucie; ſie ſchrieb: „ Ihre Eltern ſind beide hier bei uns; wollen Sie nicht auch kommen? Es wäre doch nicht ſchön, wenn wir die liebe Herrſchaft nicht mit der Anweſenheit des Sohnes regaliren könnten und ſo gottesjämmerlich da¬ ſtänden, nachdem wir mit ſeiner Freundſchaft geprahlt haben! Aber laſſen Sie das Nilpferd zu Hauſe und bringen Sie einen Koffer mit! Der Onkel Marſchall will mit Ihnen ſmoliren, was mir leider als einem Frauen¬ zimmer verſagt bleibt! “
Obgleich Reinhart, der ſo ausführliche Weiber - und Liebesgeſchichten aus dem Stegreife erzählt hatte, die letzteren Worte ſchon als vorläufige Andeutung eines Ab¬ ſchlages anzuſehen geneigt war, ſofern er etwa einen ſolchen herausfordern würde, packte er doch einen Koffer mit allen wünſchbaren und kleidſamen Sachen, die in ſeinem Beſitze waren, und fuhr hin. Er fand Alles in ſchönſter Laune unter, den Platanen vereinigt; die Elſe Moorland trug ohne Schaden an ihrer Matronenwürde ein ſchneeweißes Kleid gleich der Lucie, da eine warme Sommerſonne ſchien, und ihr ſchwarzes Haar ohne Haube entrollt. Der Oberſt hatte die Krücke im Hauſe gelaſſen und trug Sporen an den Stiefeln. Der alte Reinhart373 ſah aus, wie wenn er ein dreiunddreißigjähriger Privat¬ docent wäre und erſt noch alles zu erreichen hätte, was er ſchon geleiſtet und erreicht, und die Lucie war ſtill und beſcheiden, wie ein ganz junges Mädchen, während ſie doch fünf - oder ſechsundzwanzig zählte, kurz, Niemand wollte alt ſein oder es werden, denn Alle hatten es in ſich, und es war eine allgemeine Herrlichkeit und Zu¬ friedenheit; nur Lucie und Reinhart ſchienen abwechſelnd etwas ſtiller oder nachdenklicher, je nachdem das eine oder das andere bewölkten Himmel über ſich ſah. So ver¬ gingen einige Tage in großer Behaglichkeit.
Nun ſollte endlich auch ein Beſuch in dem bekannten Pfarrhauſe abgeſtattet werden, deſſen Oberhaupt ein Studienfreund des alten Reinhart geweſen, woher eben die Bekanntſchaft auch mit dem Sohne.
„ Gehen Sie auch gern hin? “ſagte Lucie beſorgt zu dem jungen Reinhart, weil ſie wünſchte, daß ihm jeder Tag heiter und angenehm verlief, und wußte, daß ihn die beſondere Art der Pfarrleute zuweilen ermüdete.
„ Ich bin in der That nicht recht aufgelegt, “verſetzte er, „ einen ganzen Tag dort zuzubringen. “
„ Da bleibſt Du eben hier, “rieth die Mutter, „ es handelt ſich ja ohnehin mehr um uns Alte; wenn der Marſchall mitfährt, ſo wird der Wagen ſo ſchon beſetzt; er will uns nämlich in ſeiner leichten Jagdſtellage, oder wie man es nennt, hinführen, der Eiſenfreſſer. Sei ruhig, Marſchall! “
374Dies rief ſie, weil der Oberſt, hinter ihr ſtehend, ſie an einer Bandſchleife zupfte, als er das Wort vernahm.
„ Und was geſchieht denn mit Dir, Lux? “ſagte er hierauf.
„ Mit mir? Ich muß eben das Haus hüten, wie alle armen Haushälterinnen, und für den Abend ſorgen! “
„ Gut, dann ſorge auch für ein rechtſchaffenes Ge¬ tränke! denn das Smoliren mit dem jungen Duckmäuſer muß einmal ſtattfinden, daß die Duzerei durchgeführt iſt. Du kannſt auch gleich mithalten! “
Beide junge Leute, errötheten wie Confirmanden, die erſt etwas erleben ſollen. Kein Menſch hätte geglaubt, daß ſie ſich vor einigen Monaten ſchon alles mögliche Zeug erzählt hatten.
Als die Alten fort waren und jetzt auf einmal eine Stille herrſchte, ſtanden die Jungen noch verlegen da und ſchienen doch zu zögern, die inneſtehende Wage des Augenblickes zu ſtören, bis Reinhart den Ausweg fand, Lucien um ein Buch zu bitten, darin er leſen könne. Sie lud ihn ein, ſelbſt nachzuſehen, was ihm diene. So gingen ſie gemächlich in das Haus hinein, die Treppe hinauf und betraten das beſcheidene Muſeum, in welchem das Fräulein ſeine Jahre verbrachte. Durch die offenſtehenden Fenſter wallte die Luft herein, indeß das milde Gold der Septemberſonne, von der grünen Seide der Gardinen halb aufgehalten, halb durchgelaſſen, den Raum mit einem ſanften Dämmerſchein erfüllte.
375„ Was wollen Sie leſen? “fragte Lucie.
„ Darf ich eines von Ihren Lebensbüchern nehmen? “erwiderte Reinhart; „ ich habe bemerkt, daß hin und wieder etwas an den Rand geſchrieben iſt, und nun empfinde ich ein Gelüſte, dieſen Spuren nachzugehen und Ihre guten Gedanken zu haſchen. Vielleicht, wenn es überhaupt er¬ laubt wird, entdecke ich das Geheimniß, welches Sie in den Offenbarungen anzieht! “
„ Das Geheimniß iſt ein ſehr einfaches, “verſetzte Lucie, „ und doch iſt es allerdings eines. Ich ſuche die Sprache der Menſchen zu verſtehen, wenn ſie von ſich ſelbſt reden; aber es kommt mir zuweilen vor, wie wenn ich durch einen Wald ginge und das Gezwitſcher der Vögel hörte, ohne ihrer Sprache kundig zu ſein. Manchmal ſcheint mir, daß Jeder etwas anderes ſagt, als er denkt, oder wenigſtens nicht recht ſagen kann, was er denkt, und daß dieſes ſein Schickſal ſei. Was der Eine mit lautem Ge¬ zwitſcher kundgibt, verſchweigt der Andere ſorgfältig, und umgekehrt. Der bekennt alle ſieben Todſünden und ver¬ heimlicht, daß er an der linken Hand nur vier Finger hat. Jener zählt und beſchreibt mittelſt einer doppelten Selbſt¬ beſpiegelung alle Leberflecken und Muttermälchen ſeines Rückens; allein daß ein falſches Zeugniß, das er einſt aus Charakterſchwäche oder Parteilichkeit abgelegt, ſein Gewiſſen drückt, verſchweigt er wie ein Grab. Wenn ich ſie nun alle ſo mit einander vergleiche in ihrer Aufrichtig¬ keit, die ſie für kriſtallklar halten, ſo frage ich mich, gibt376 es überhaupt ein menſchliches Leben, an welchem nichts zu verhehlen iſt, das heißt unter allen Umſtänden und zu jeder Zeit? Gibt es einen ganz wahrhaftigen Menſchen und kann es ihn geben? “
„ Es ſind wol manche ganz wahrhaftig, “ſagte Reinhart, „ nur ſagen ſie nicht alles auf ein Mal, ſondern mehr ſtückweiſe, ſo nach und nach, und die Natur ſelbſt, ſogar die heilige Schrift verfahren ja nicht anders! “
„ Was mich tröſtet, “fuhr Lucie fort, „ iſt, daß mehr Gutes als Schlimmes verſchwiegen wird. Beinah 'Jeder würde, wenn er nur Gelegenheit und Stimmung fände, uns zuletzt doch noch mit dem Unangenehmſten bewirthen, das er über ſich aufzubringen wüßte; Viele aber ſterben, ohne daß ſie des Guten und Schönen, das ſie von ſich erzählen könnten, je mit einer Silbe gedenken. Dieſe führen auch trotzdem die lieblichſte Sprache; es iſt als ob die Veilchen, Maßlieben und Himmelsſchlüſſelchen zwiſchen ihren Zeilen hervorblühten, ganz gegen Wiſſen und Willen der beſcheidenen Schreiber und Schreiberinnen. “
Reinhart