PRIMS Full-text transcription (HTML)
[I]
DER KAMPF DER THEILE IM ORGANISMUS.
EIN BEITRAG ZUR VERVOLLSTÄNDIGUNG DER MECHANISCHEN ZWECKMÄSSIGKEITSLEHRE.
LEIPZIG,VERLAG VON WILHELM ENGELMANN.1881.
[II][III]
DER KAMPF DER THEILE IM ORGANISMUS.
EIN BEITRAG ZUR VERVOLLSTÄNDIGUNG DER MECHANISCHEN ZWECKMÄSSIGKEITSLEHRE
LEIPZIG,VERLAG VON WILHELM ENGELMANN.1881.
[IV][V]

Vorwort.

Bereits von vielen Autoren ist mehr oder minder er - kannt worden, dass die Entwickelungslehre der Organismen in der Weise, wie sie von ihren Begründern geschaffen worden ist, trotz eminenter Leistungen nicht ganz aus - reichend zur Ableitung aller Einrichtungen der Organismen sei; und je nach der feindlichen oder freundlichen Stellung dieser Autoren zur ganzen Lehre sind die Mängel bald unter Verkennung aller Leistungen in der übertriebensten Weise hervorgehoben, bald ruhig urtheilend abzuwägen versucht, bald kaum leise anzudeuten gewagt worden. Trotz dieser vielseitigen Kritik aber und der fleissigen Arbeit zur Ergänzung des Fehlenden scheint noch viel zu vervollständigen und noch mancher Mangel neu aufzu - weisen.

Wenn ich mich nun im Folgenden bestrebe, die Un - vollständigkeit nach einer der am wenigsten beachtetenVIVorwort.Leser nicht zu sehr durch Ausführlichkeit in Anspruch zu nehmen. Doch glaube ich, dass dadurch die Verständ - lichkeit und Bestimmtheit des Ganzen keine wesentliche Beeinträchtigung erfahren hat, und dass man aus dem angegebenen Grunde gern auch über den Mangel, resp. die Kürze historischer Darstellung hinwegsehen und zu - frieden sein wird, Literaturangaben allein da vorzufinden, wo sie direct Bürgschaft zu leisten haben.

So empfehle ich denn die Arbeit der wissenschaft - lichen Beachtung und Kritik.

Breslau, October 1880.

W. Roux.

[VII]

Inhalt.

  • Seite
  • VorwortIII VI
  • I. Die functionelle Anpassung1
  • A. Leistungen derselben1
  • 1. Wirkung des vermehrten und verminderten Ver - brauches5
  • 2. Functionelle Selbstgestaltung der zweckmässigen Structur26
  • B. Erblichkeit ihrer Wirkungen34
  • 1. Thatsächliches34
  • 2. Theoretisches über Vererbung und Entwickelung47
  • II. Der Kampf der Theile im Organismus64
  • A. Begründung64
  • B. Arten und Leistungen72
  • 1. Der Kampf der Molekel73
  • 2. Der Kampf der Zellen88
  • 3. Der Kampf der Gewebe96
  • 4. Der Kampf der Organe103
  • C. Uebersicht der Leistungen des Kampfes der Theile106
  • III. Nachweis der trophischen Wirkung der functio - nellen Reize111
  • 1. Für die passiv fungirenden Theile112
  • 2. Für die activ fungirenden Theile117
  • VIII
  • Seite
  • 3. Ueber trophische Nerven125
  • 4. Ueber die Entstehungsursachen der Geschwülste133
  • 5. Ueber die gestaltende Wirkung der Blutvertheilung137
  • 6. Résumé161
  • IV. Differenzirende und gestaltende Wirkungen der functionellen Reize165
  • V. Ueber das Wesen des Organischen210
  • VI. Résumé236
  • Specielles Inhaltsverzeichniss242
[1]

I. Die functionelle Anpassung.

A. Leistungen derselben.

Das Problem einer Erklärung der Zweckmässigkeit in der Natur hat schon die ältesten Philosophen beschäftigt, und hat auch schon im classischen Zeitalter der Antike seine allgemeine und principiell vollständige Lösung durch Empedocles ge - funden. Er erreichte bereits das Endziel der Zweckmässigkeits - lehre: Die Erkenntniss der Art und Weise, auf welche Zweck - mässiges sich bilden könne, ohne Einwirkung einer nach vor - bedachten Zielen gestaltenden Kraft, rein aus mechanischen Gründen heraus.

Dieser grosse Denker fasste1)Empedoclis Agrigentini fragmenta disposuit etc. H. Stein. Bonnae, 1852, p. 4. Aristoteles Phys. II. 8. die materielle Grundsubstanz als das in sich unveränderliche Ursein, und liess sie gemischt und gestaltet werden durch die Kräfte der Liebe und des Hasses. In diesem mit zwei einander entgegenwirkenden Kräf - ten versehenen Stoffgemenge musste ein lang dauernder Wech - selkampf stattfinden, aus welchem blos die dauerfähigen Ag - gregationen schliesslich allein übrig bleiben konnten, da alle gebildeten Gruppirungen so lange immer wieder gelöst werden mussten, so lange in der Wechselwirkung noch stärkere Con - glomerate sich bilden konnten.

Roux, Kampf der Theile. 12I. Die functionelle Anpassung.

So war durch ihn zum ersten Male die Möglichkeit der Entstehung sogenannter zweckmässiger Einrichtungen auf rein mechanische Weise, auf dem Wege der Ausmerzung aller sich in der Wechselwirkung der Kräfte nicht dauerfähig er - weisenden Combinationen gefunden, und es war damit die Mög - lichkeit einer mechanischen Entstehung des in allen seinen Theilen so wunderbar zweckmässigen thierischen Organismus wenigstens philosophisch nachgewiesen.

Die Zweckmässigkeit war keine gewollte, son - dern eine gewordene, keine teleologische, sondern eine naturhistorische, auf mechanische Weise ent - standene; denn nicht das einem vorgefassten Zwecke entsprechende, sondern das, was die nothwendi - gen Eigenschaften zum Bestehen unter den gegebe - nen Verhältnissen hatte, blieb übrig.

Allein in diesem Sinne reden wir im Folgenden von Zweckmässigkeit.

Man könnte nun denken, dass dieser philosophischen - sung der Aufgabe die empirische bald hätte nachfolgen müssen. Wer aber die Geschichte der griechischen Philosophie kennt, weiss, wie weit die Griechen noch in ihrer Weltanschauung gebunden waren, theils durch Mangel an Beobachtungen, theils durch falsche Beobachtungen, aus welchen sich ganze Reihen von Wahnvorstellungen ergaben, und dass die Fähigkeit, wirk - lich objectiv und mit Selbstkritik zu beobachten, nur einigen wenigen der bedeutendsten Männer zu Theil gewesen ist.

So wurde sowohl die Bedeutung der Empedocleïschen - sung dieses grossen Problems nicht erkannt, geschweige denn, dass man sie für die Specialforschung genutzt hätte. Sie ging gänzlich verloren und musste auf dem mühsamen Wege empi - rischer, wissenschaftlicher Detailforschung, nach langem, ver - geblichen Suchen vieler ausgezeichneter Männer, vollkommen3A. Leistungen derselben.neu entdeckt werden. Dafür war es dieses Mal nicht blos eine philosophische, principielle Lösung, sondern eine exact wissen - schaftliche.

Ch. Darwin und A. Wallace entdeckten, wie bekannt, nicht blos von neuem das Princip des Kampfes als die Ursache der mechanischen Entstehung des Zweckmässigen, sondern sie wiesen zugleich auch nach, dass in Folge der geometrischen Vermehrung der Organismen ein derartiger Kampf unter ihnen wirklich stattfinden müsse, und dass weiterhin in Folge der fortwährenden Variationen der Organismen in allen ihren Thei - len auch immer die Möglichkeit des Uebrigbleibens eines Besseren vorhanden ist.

Indem die übriggebliebenen Wesen ihre bevorzugten Eigen - schaften unter gleichzeitigen neuen Modificationen von diesem Fundament aus vererben, ist die Möglichkeit gegeben, von den neuen, im Mittel schon vollkommneren, Modificationen wie - derum die besten auszulesen, so dass eine fortwährend stei - gende Vervollkommnung stattfinden muss. Und diese Vervoll - kommnung wird zugleich zu einer Mannigfaltigkeit der Formen führen, wenn, wie es thatsächlich der Fall ist, die äusseren auslesenden Bedingungen selber mannigfaltig und mit der Zeit wechselnde sind.

So ist mit dem Nachweise der Wirksamkeit des Selec - tionsprincipes und dem Hilfsprincip der Variabilität der Orga - nismen und der äusseren Existenzbedingungen die Nothwen - digkeit der Entstehung einer stetig sich steigern - den Mannigfaltigkeit und Anpassung an die äusseren Bedingungen bewiesen, und damit zugleich die Möglichkeit eröffnet worden, die hochgradige Verschiedenheit und Compli - cation der höheren Organismen durch allmähliche Umbildung aus niederen, einfachen, ja einfachsten Zuständen abzuleiten. Zu diesem Zwecke der Nachweisung der Entstehung der Arten1*4I. Die functionelle Anpassung.durch allmähliche weitergehende Differenzirungen nach bestimm - ten Richtungen und der Descendenz der höheren Orga - nismen von niederen wurde die Lehre geschaffen, und an ihrer Vervollständigung nach dieser Seite hin seit zwanzig Jahren emsig gearbeitet.

Dagegen wurde weniger für die Erforschung der Ent - stehungsweise und - Ursachen der zweckmässigen Einrichtungen im Innern, sowohl zum Theil derjenigen, welche Speciescharaktere darstellen, als besonders der all - gemeineren, ganzen Klassen oder Ordnungen ge - meinsamen gethan, und daher auch die Lehre im Einzelnen noch nicht eingehend geprüft, ob sie fähig sei, alle vorhande - nen inneren Zweckmässigkeiten der Organisation als nothwendige Folgerungen der bisher aufgestellten mechanischen Principien hervorgehen zu lassen, oder ob nicht noch andere Principien als helfend wirksam sowohl angenommen werden müssen als nachgewiesen werden können.

Da ich nach, wie ich glaube, eingehender Prüfung zu der letzteren Ansicht gekommen bin und diese hier darzulegen beabsichtige, so muss ich einmal den Nachweis führen, dass in der That die vorhandenen Principien nicht ausreichen, und fernerhin, dass ein oder mehrere andere Principien mitwirkend thätig gewesen sind.

Ich kam zu diesem Resultate bei der Anwendung der bis - herigen Descendenzlehre zur Erklärung der in den Organismen sich findenden Einzelzweckmässigkeiten; und wir wollen im Folgenden uns eng an diese Aufgabe halten und daher die Descendenzlehre, soweit sie andere Verhältnisse betrifft, als bereits vollkommen sichergestellt und den Lesern ausreichend bekannt annehmen.

Das Zweckmässige entsteht nach Obigem vorwiegend oder fast ausschliesslich durch die Auslese aus beliebigen gestalt -5A. Leistungen derselben.lichen Variationen einmal im Kampfe um’s Dasein, zwei - tens durch die geschlechtliche Auslese. Von diesen bei - den Principien ist das erste ein rein mechanisches, während über das letztere, infolge seiner Abhängigkeit von geistigen Einflüssen, noch kein definitives Urtheil gefällt werden kann. Da dieses letztere Princip für unsere Zwecke fast gar nicht in Betracht kommt, so können wir es mit dem ersteren zusammen - fassen und ihnen bei der Untersuchung ihrer Leistungsfähigkeit ein gemeinsames Ausleseconto eröffnen.

Ausser ihnen ist aber schon von den Begründern der De - scendenzlehre ein Princip der Umgestaltung mit angeführt wor - den, welches auf viel näherem Wege, als dem der Auslese aus beliebigen Variationen, welches direct das Zweckmässige hervor - zubringen im Stande ist. Es ist dies das schon von Lamarck aufgestellte Princip der Wirkung des Gebrauches und Nichtgebrauches. Dasselbe wird von den verschiedenen Autoren in sehr ungleichem Maasse als mitwirkend zugelassen, theils weil der Grad der Erblichkeit seiner Wirkung nur sehr schwierig und zumeist nicht sicher zu beurtheilen ist, theils wohl auch, weil man gar nichts über die Ursache desselben kennt und nicht weiss, ob es als ein mechanisches und alsdann möglichst auszubeutendes, oder als ein metaphysisches, teleo - logisches, möglichst zu unterdrückendes aufzufassen ist.

Es fehlt aber ausser an Untersuchungen über die Erblich - keit und über die Ursache auch noch an eingehenden Unter - suchungen über die Wirkungsweise dieses Principes und wir beabsichtigen, im Folgenden nach diesen drei Richtungen etwas zur Vervollständigung der Kenntnisse beizutragen.

Dabei wird uns die Untersuchung nach der letzteren Rich - tung, nach der der Wirkungsweise, auf diejenigen zweckmässigen Einrichtungen führen, welche nicht aus den vorgenannten mecha - nischen Principien der Auslese nach Darwin und Wallace6I. Die functionelle Anpassung.direct ableitbar sind, sowie auch die Wirkung des Gebrauches und Nichtgebrauches selber nicht allein aus diesen Principien sich folgert.

Darwin äussert sich über die Wirkungen des Ge - brauches und Nichtgebrauches, die wir, unter einen etwas allgemeineren, im Folgenden zu erörternden Begriff sub - summirend, kurz functionelle Anpassung nennen wollen, fol - gendermassen1)Entstehung der Arten, übersetzt von V. Carus. 5. Aufl. 1872. p. 22.:

» Veränderte Gewohnheiten bringen eine erbliche Wir - kung hervor, wie die Versetzung von Pflanzen aus einem Klima in’s andere deren Blüthezeit ändert. Bei Thieren hat der vermehrte Gebrauch oder Nichtgebrauch der Theile einen noch bemerkbareren Einfluss gehabt; so habe ich bei der Hausente gefunden, dass die Flügelknochen leichter und die Beinknochen schwerer im Verhältniss zum ganzen Skelete sind als bei der wilden Ente; und diese Veränderung kann man getrost dem Umstande zuschreiben, dass die zahme Ente weniger fliegt und mehr geht, als es diese Entenart im wilden Zustande thut. Die erbliche stärkere Entwickelung der Euter bei Kühen und Geisen in solchen Gegenden, wo sie regelmässig gemolken werden, im Verhältniss zu demselben Organ in anderen Län - dern, wo dies nicht der Fall, ist ein anderer Beleg für die Wirkung des Gebrauches. «

Ferner, pag. 53: » Etwas (und vielleicht viel) von der Varia - bilität mag dem Gebrauche oder Nichtgebrauche der Organe zugeschrieben werden. « Die eingeklammerten, den Einfluss verstärkenden Worte befanden sich nicht in der I. Auflage des Buches.

Pagina 150 fügt er hinzu: » Die im ersten Capitel ange - führten Thatsachen lassen wenig Zweifel, dass bei unseren7A. Leistungen derselben.Hausthieren Gebrauch gewisse Theile verstärkt und vergrössert und Nichtgebrauch sie verkleinert hat, und dass solche Ab - weichungen erblich sind. In der freien Natur hat man keinen Maassstab zur Vergleichung der Wirkung lang fortgesetz - ten Gebrauches oder Nichtgebrauches, weil wir die elterlichen Formen nicht kennen; doch tragen manche Thiere Bildungen an sich, die sich am besten als Folge des Nichtgebrauches erklären lassen. « So führt er die amerikanische Dickkopfente, welche nur schwach über der Oberfläche sich flatternd erhalten kann, die Unfähigkeit des Strauss, zu fliegen, die verkümmer - ten Vordertarsen vieler männlicher Kothkäfer1)l. c. pag. 151. an.

Ferner sagt er2)l. c. pag. 153.: » Die Augen der Maulwürfe und einiger wühlender Nager sind an Grösse verkümmert und in manchen Fällen ganz von Haut und Pelz bedeckt. Dieser Zustand der Augen rührt wahrscheinlich von fortwährendem Nichtgebrauch her, dessen Wirkung aber vielleicht durch natürliche Zucht - wahl unterstützt wird. « » Es ist wohl bekannt, dass mehrere Thiere aus den verschiedensten Klassen, welche die Höhlen in Kärnthen und Kentucky bewohnen, blind sind. Bei einigen Krabben ist der Augenstiel noch vorhanden, obwohl das Auge verloren ist. Da man sich schwer vorstellen kann, wie Augen, wenn auch unnütz, den im Dunkeln lebenden Thieren schäd - lich werden sollten, so schreibe ich ihren Verlust auf Rech - nung des Nichtgebrauches. «

Die eben zugestandene Bedeutung dieses Princips schwächt er aber gleich wieder ab, indem er nach Anführung des Beispie - les, dass ein Cirripede, wenn er an einem andern als Schmarotzer lebt, mehr oder weniger seine eigene Kalkschale verliert, be - merkt3)l. c. pag. 164.: » Darnach glaube ich, wird es der natürlichen Zucht - wahl in die Länge immer gelingen, jeden Theil der Organisa -8I. Die functionelle Anpassung.tion zu reduciren und zu ersparen, sobald er durch eine ver - änderte Lebensweise überflüssig geworden ist. Und ebenso dürfte sie umgekehrt vollkommen im Stande sein, ein Organ stärker auszubilden, ohne die Verminderung eines anderen be - nachbarten Theiles als nothwendige Compensation zu verlangen. «

Hieraus, aber auch als Folgerung aus seinem ganzen Werke über die Entstehung der Arten, ergiebt sich, dass Darwin trotz der Anerkennung des Principes im Grunde doch der directen umgestaltenden Wirkung von Gebrauch und Nichtgebrauch nur einen geringen Antheil zuschreibt, und das meiste an der Ver - kleinerung unnöthiger und an der Vergrösserung nützlicher Or - gane von der Wirkung der Zuchtwahl aus freien Variationen ableitet. Das unglückliche Beispiel der Verkleinerung der Kalk - schale, welche allerdings nicht durch nachträgliche Atrophie hat entstehen können, scheint ihm hierin nachtheilig geworden zu sein.

Haeckel erkennt der Wirkung des Gebrauches und Nicht - gebrauches eine viel grössere Bedeutung zu. Er weist1)Generelle Morphologie. 1866. Bd. II. p. 211., ohne indessen irgendwie auf eine Erklärung der direct das Zweck - mässige gestaltenden Wirkung einzugehen, einmal nach, dass diese Aenderungen der Gewohnheit letzthin auch nur durch Aenderungen äusserer Umstände bedingt werden, und führt dann im Einzelnen aus, wie gross die dadurch hervorgerufenen Aen - derungen sind. Er lässt so2)l. c. II. pag. 231. die Muskeln eines Turners sich um das Doppelte verdicken und dabei die Leistungsfähigkeit um das Vielfache sich vergrössern Er sagt: » Der Uebungsact selbst, die oft wiederholte Bewegung des Muskels, veranlasst eine Veränderung in der Ernährung des Muskels, welche einen vermehrten Zufluss von Nahrungsstoff herbeiführt. Dadurch wächst der Muskel, er nimmt zu an der Zahl der Primitivfasern,9A. Leistungen derselben.vielleicht auch an denjenigen chemischen Bestandtheilen der Muskelsubstanz, welche vorzugsweise bei der Contraction thätig sind, er verbessert sich also wahrscheinlich nicht blos quanti - tativ, sondern auch qualitativ, indem die im ungeübten Muskel abgelagerten Fette durch die Uebung verschwinden und durch edlere Eiweissbestandtheile ersetzt werden. «

Ferner führt er an1)l. c. II. pag. 215.: » Wie mächtig dieses Gesetz der An - gewöhnung wirkt, ist so allbekannt, dass wir keine weiteren Beispiele anzuführen und blos an das bekannte Sprichwort zu erinnern brauchen: Consuetudo altera natura. Wir wollen noch ausdrücklich hervorheben, dass der Nichtgebrauch der Organe, welcher rückbildend auf dieselben wirkt, nicht minder wichtig ist, als der Gebrauch der Organe, welche für die Dysteleologie so bedeutsam sind. «

Hauptsächlich beruht aber seine grössere Schätzung der Wichtigkeit der functionellen Anpassung auf der hochgradigen Erblichkeit, die er ihren Bildungen zuschreibt. Er behauptet2)l. c. II. pag. 186. in seinem » Gesetz von der angepassten oder erworbenen Ver - erbung « ganz allgemein: » Alle Charaktere, welche der Orga - nismus während seiner individuellen Existenz durch Anpassung erwirbt, und welche seine Vorfahren nicht besassen, kann der - selbe unter günstigen Umständen auf seine Nachkommen ver - erben. « Pagina 187 fügt er hinzu: » Viel wichtiger als die monströsen, auffallend vortretenden Abänderungen, welche durch die angepasste Vererbung übertragen werden, sind die unschein - baren und geringfügigen Abänderungen, welche erst im Laufe von Generationen durch Häufung und Befestigung ihre hohe Bedeutung für die Umbildung der organischen Formen erhalten. « Er spricht ferner aus, dass diese Vererbung um so sicherer und vollständiger für alle folgenden Generationen eintritt, je10I. Die functionelle Anpassung.anhaltender die causalen Anpassungsbedingungen einwirken und je länger sie noch auf die nächstfolgenden Generationen einwirken.

Er ist somit von vorn herein nicht unwesentlich von Dar - win abgewichen, welcher diese Charaktere trotz der ausgelese - nen anerkennenden Beispiele in seinem ersten Werke über die Entstehung der Arten für nicht genügend erblich hielt, um ihnen gegenüber der Wirkung der Zuchtwahl einen bedeuten - den Einfluss zuzuerkennen, Dass Darwin diese Auffassung in diesem gelesensten seiner Werke auch in den jüngsten Auf - lagen nicht geändert hat, ist wohl der Grund, dass die that - sächliche Aenderung seiner Ansicht, wie er sie in dem Werke » Ueber das Variiren der Thiere und Pflanzen etc. «1)Deutsch von V. Carus. 1873. Bd. II. p. 338 346 u. p. 400 401. ausführlich darlegt, nicht genügend gewürdigt worden ist, und dass in Folge dessen manche seiner vermeintlich strenggläubigsten An - hänger, z. B. G. Seidlitz2)Die Darwin’sche Theorie. 2. Aufl. p. 25, und Kosmos, Zeitschrift f. einheitliche Weltanschauung. I. p. 547 u. 549., anders Denkenden, welche gleich Haeckel, O. Schmidt und also Darwin selber der functionellen Anpassung grössere Bedeutung und Erblichkeit zuschreiben, den Vorwurf der Apostasie von der vermeintlich wahren Lehre machen.

Darwin hat sich indessen, wie wir gleich sehen werden, in dem erwähnten neuen Werke fast vollkommen den Ansich - ten, welche Haeckel in seiner » generellen Morphologie « aus - gesprochen hatte, angeschlossen. Er sagt3)Das Variiren der Thiere etc. II. p. 400. in seiner Zusammen - fassung der als erblich verwendeten Variabilitäten: » Vermehr - ter Gebrauch vergrössert einen Muskel und zwar in Ver - bindung mit den Blutgefässen, Nerven, Bändern, Knochenleisten, an welchen er befestigt ist, ganzen Knochen und anderen da -11A. Leistungen derselben.mit verbundenen Knochen. Dasselbe gilt für verschiedene Drü - sen. Vermehrte functionelle Thätigkeit stärkt die Sinnesorgane, vermehrter und intermittirender Gebrauch verdickt die Epider - mis und eine Aenderung in der Natur der Nahrung modificirt zuweilen die Haut des Magens und vermehrt oder vermindert die Länge der Därme. Andererseits schwächt und verringert fortgesetzter Nichtgebrauch alle Theile der Organisation. Thiere, welche während vieler Generationen nur wenig Bewegung ge - habt haben, haben in der Grösse reducirte Lungen, und in Folge hiervon wird der knöcherne Brustkorb und die ganze Form des Körpers modificirt. Bei unsern seit Alters her domesticirten Vögeln sind die Flügel wenig gebraucht und daher bedeutend reducirt worden. Mit ihrer Abnahme ist der Brustbeinkamm, sind die Schulterblätter, Coracoide und Schlüsselbeine sämmt - lich reducirt worden. « Er schränkt indessen für den Nicht - gebrauch die Wirkung sehr ein, indem er sagt1)l. c. II. pag. 404.: » Bei dome - sticirten Thieren ist die Reduction in Folge Nichtgebrauches niemals so weit geführt worden, dass nur ein blosses Rudiment übrig bleibt, aber wir haben guten Grund zur Annahme, dass dies im Naturzustande oft eingetreten ist. Die Ursache dieser Verschiedenheit liegt wahrscheinlich darin, dass bei domesti - cirten Thieren nicht blos keine hinreichende Zeit für eine so tiefe Veränderung geboten ist, sondern dass auch, weil sie keinem heftigen Kampf um’s Dasein ausgesetzt wurden, das Princip der Oekonomie der Organisation nicht in Thätigkeit trat. «

Weiterhin bemerkt er noch2)l. c. II. pag. 104.: » Körperliche und geistige Eigenthümlichkeiten werden unter der Domestication verändert und die Veränderungen werden oft vererbt. « » Solche ver - änderte Gewohnheiten können an jedem organischen Wesen, besonders wenn es ein freies Leben führt, oft zum vermehrten12I. Die functionelle Anpassung.oder verminderten Gebrauch verschiedener Organe und in Folge dessen zu ihrer Modification führen. In Folge lang fortgesetzter Gewohnheit und noch besonders in Folge der gelegentlichen Geburt von Individuen mit einer unbedeutend verschiedenen Constitution werden Hausthiere und cultivirte Pflanzen in einer gewissen Ausdehnung acclimatisirt. «

Darwin räumt also in diesem Werke der Wirkung der functionellen Anpassung einen viel erheblicheren Einfluss auf die Umbildung der Organismen neben der natürlichen Zucht - wahl ein, als in der » Entstehung der Arten « und, da diese Ver - änderungen durch functionelle Anpassung direct zweckmässig sind, so anerkennt er damit ein Princip, welches auf viel kür - zerem Wege als die Zuchtwahl ganz direct das Zweckmässige hervorbringt, somit also letzterer die stärkste Concurrenz macht und den Anschein erweckt, den glücklich für beseitigt gehal - tenen Dualismus wieder einführen zu wollen.

Schon A. W. Volkmann sagt1)Sitzungsber. der naturforsch. Gesellschaft zu Halle. Juli 1874.: » Die Zuchtwahl reicht auch nicht aus, die wechselseitige Abhängigkeit der Organe zu er - klären. « Er erinnert dafür an den Ausspruch Cuvier’s, dass man nur das Kiefergelenk eines Säugers zu untersuchen brauche, um zu ermitteln, ob man die Knochen eines Fleischfressers, eines Wiederkäuers oder eines Nagers vor sich habe.

Der Umfang der Wirkung des öfteren Gebrauches in Bezug auf das Vorkommen an den einzelnen Organen ist durch die Beispiele Darwin’s vollkommen erschöpft; denn er zeigt die Wirkungen an allen Organen, sogar für diejenigen Organe, für welche er eine directe Umgestaltung oder Functionsstärkung nicht nachgewiesen hat, für die Sinnesorgane, nimmt er sie an. Wir vermögen aber in diesen Fällen nicht zu unterscheiden, ob die Sinnesorgane selber schärfer geworden sind, oder ob13A. Leistungen derselben.blos unsere Fähigkeit, die von ihnen zugeleiteten Reize genauer wahrzunehmen, sich verbessert hat, ob also die Uebung die Endorgane selber afficirt, oder blos eine centrale, im Gehirn sich vollziehende ist. Die einzige bezügliche anatomische Beob - achtung rührt von Gudden her. Er fand1)Archiv für Psychiatrie. Bd. II. p. 693., dass bei Neu geborenen die bulbi olfactorii (die Riechzwiebeln) sich über das gewöhnliche Maass vergrösserten, wenn den betreffenden Thie - ren beide Augen exstirpirt und die Ohren verschlossen wurden. Diese Thatsache deutet aber für sich blos auf eine Veränderung der Centralorgane; wodurch natürlich die Möglichkeit einer Ver - änderung der Endorgane nicht ausgeschlossen ist.

Für die Anpassung innerhalb der nervösen Centralorgane an bestimmte Gebrauchsweise will ich hier ein treffendes Bei - spiel von Helmholtz anführen. Er sagt2)Helmholtz, Physiologische Optik. p. 601.: » Nimmt man Pris - men von 16 18° brechendem Winkel so vor beide Augen, dass beide Prismen die äusseren Gegenstände z. B. nach rechts ver - schieben, und betrachtet irgend ein Object genau auf seine Lage, schliesst dann die Augen und greift nach demselben, so greift man natürlich rechts an ihm vorbei. Manipulirt man aber auch nur wenige Minuten mit diesen Brillen, so wird man bei Wie - derholung ganz sicher nach dem Objecte greifen. Es hat sich also in dieser kurzen Zeit die ganze Innervationscombination der Extremitäten geändert und den neuen Erfahrungen ange - passt. Nimmt man jetzt die Brillen fort, so greift man links an den Objecten vorbei, weil die neue Innervationsart auf die alten Verhältnisse nicht mehr passt. «

Exner bemerkt dazu sehr treffend3)Exner, Physiologie der Grosshirnrinde, in: Hermann, Handbuch der Physiologie. Bd. II. Abth. 2. p. 249.: » Es ist auch noth - wendig, dass unsere Innervationscombinationen in hohem Grade14I. Die functionelle Anpassung.modificirbar sind, denn im entgegengesetzten Falle würden wir schon bei Ermüdung des Muskelapparates und noch mehr bei ungleichmässiger Ermüdung der einzelnen Muskeln desselben die Fähigkeit, correcte Bewegungscombinationen auszuführen, verlieren. «

So ist die Fähigkeit der functionellen Anpassung eine Vor - bedingung der Erwerbung jeglicher körperlichen Geschicklich - keit; und die Uebung ist weiter nichts, als die Ausbildung sol - cher Anpassungen im Organismus, ja die Fixation aller Sinnes - eindrücke in der Hirnrinde muss als directe functionelle An - passung an die Aussenwelt aufgefasst werden.

Weiterhin ist hier aufzuführen das eigenthümliche Verhal - ten, dass nach Philipeaux, Vulpian, Cyon, Schiff1)Arch. d. sc. physiolog. et nat. 64. p. 59. 1878. und einigen Schülern Hermann’s2)Hermann, Handb. d. Physiol. Bd. I. Abth. 1. p. 131. nach Durchschneidung des Zun - genbewegungsnerven (Nervus hypoglossus) ein Geschmacksnerv der Zunge, die Chorda des Nervus facialis, motorische Wirkung auf die Zunge bekommt, so dass jetzt bei Reizung der Chorda die Zunge sich hebt, ein Effect, welcher nach Wiederherstellung des Hypoglossus wieder schwindet. Das zeitweilige Vicariiren von Nerven ist gewiss ein auffälliger Grad functioneller An - passung.

Die Thatsächlichkeit der directen Anpassung der Knochen an neue Verhältnisse stösst nach meiner Erfahrung auf beson - deren Widerstand bei denjenigen, welche sie selber noch nicht beobachtet haben. Es erscheint daher nicht überflüssig, einen besonders demonstrativen Fall meiner eigenen Beobachtungen zu erwähnen. Er betrifft einen nicht geheilten Bruch des Schien - beines. Die beiden Enden des in der Mitte gebrochenen Knochens waren abgerundet und verdünnt, dagegen das Wadenbein in ganzer Ausdehnung auf das 6 8fache des normalen Querschnittes,15A. Leistungen derselben.mit Erhaltung annähernd der normalen Formen und besonders ganz normaler, entzündliche Knochenbildung ausschliessender glatter Oberfläche, verdickt. Die Köpfe des Knochens waren weniger verdickt, aber so geformt, dass sie vermittelst ausgebildeter, sehr starker Bindegewebszüge zwischen ihnen und jedem zu - gehörigen Ende des Schienbeines den neuen Functionen der Uebertragung des Druckes vom oberen Ende des Schienbeins auf das untere zu genügen vermochten. Derartige Beispiele der Activitätshypertrophie der Knochen und des Bindegewebes wer - den sich wohl in jeder pathologischen Sammlung vorfinden.

Pflüger erwähnt ganz allgemein1)Pflüger’s Archiv. Bd. 15. p. 84.: » Es ist aber eine Thatsache, dass bei grösserem Verlust in Folge verstärkter Ar - beit solche Bedingungen entstehen, denen zufolge immer etwas mehr wiedergewonnen wird, als verloren ging, denn der anhal - tende stärkere Gebrauch des Organes lässt dasselbe an Masse und Kraft zunehmen.

Mit der Ausdehnung der umgestaltenden Wirkung der func - tionellen Anpassung auf alle Organe ist implicite auch ausge - sprochen, dass alle Gewebe des Körpers, also Ganglienzellen, Nerven, Sinneszellen, Muskel -, Drüsen -, Epithel -, Binde -, Knorpel - und Knochen-Gewebe davon betroffen werden.

Um so weniger ist die Art der Wirkung berücksichtigt worden. Darwin und alle anderen Autoren erwähnen blos, dass vermehrter Gebrauch die Organe vergrössert, verminderter sie verkleinert.

Es scheint mir indessen lohnend, die Wirkungsweise an den einzelnen Organen zu untersuchen. Es ergiebt sich schon bei blosser Prüfung des gegenwärtig Bekannten ohne besondere daraufhin angestellte Beobachtungen mit grosser Wahrschein - lichkeit das folgende morphologische Gesetz der func - tionellen Anpassung:16I. Die functionelle Anpassung.» Bei verstärkter Thätigkeit vergrössert sich jedes Organ blos in derjenigen, resp. denje - nigen Dimensionen, welche die Verstärkung der Thätigkeit leisten. «

Dieses Gesetz der dimensionalen Hypertrophie, wie wir es kurz bezeichnen wollen, bekundet sich am deutlich - sten in dem Verhalten der Muskeln bei Vergrösserung durch verstärkte Inanspruchnahme ihrer Function. Während der Mus - kel, an Dicke zunehmend, sich nach und nach eventuell bis zum Doppelten seines ursprünglichen Querschnittes vergrössert, bleibt seine Länge unverändert; wenigstens nimmt sie, wenn überhaupt, nur in so geringem Maasse zu, dass es noch Nie - mandem aufgefallen ist, und es bestehen Gründe, im Gegentheil eher eine Verkürzung zu erwarten.

Die Vergrösserung hat sich also auf die zwei Dimensionen des Querschnittes beschränkt.

Die mikroskopische Untersuchung eines solchen Muskels zeigt, dass die einzelnen Muskelfasern zwar etwas dicker sind, als an anderen weniger beschäftigten Muskeln desselben Indivi - duums; aber durchaus nicht in dem Maasse, dass die Verdickung des ganzen Organes allein darauf bezogen werden kann; viel - mehr findet noch eine Vermehrung der Zahl der Fasern statt. (S. Zielonko, Virchow’s Archiv. Bd. 61.) Die erstere Erschei - nung, die Vergrösserung der specifischen Elementartheile, der Zellen, wollen wir in Folgendem nach Virchow analytisch als Hypertrophie von der letzteren, von der Vermehrung der Zahl der specifischen Elementartheile oder der Hyperplasie unterscheiden, wenn auch beide meist nur zugleich vorkommen.

Es hat sich im vorliegenden Falle also die Hypertrophie der einzelnen Muskelfasern auf die beiden Dimensionen des Querschnittes beschränkt, ohne Vergrösserung der dritten Di - mension, der Länge. Das Ausbleiben der letzteren ergiebt sich17A. Leistungen derselben.bei den kurzen Muskeln, deren ganze Länge durch nur eine Faser gebildet wird, schon aus der äusseren Betrachtung. Bei den langen Muskeln, deren Länge durch Aneinanderreihungen von mehreren Muskelfasern sich zusammensetzt, gleichfalls aus dem Ausbleiben einer Verlängerung des ganzen Organes, denn diese müsste nothwendig ebenfalls eintreten, wenn die Elemen - tartheile länger würden. Es sei denn, dass sie entweder ihre relative Lage zu den anderen änderten, indem sie sich mehr in der Richtung der Länge zusammenschieben, oder dass, ent - sprechend der Verlängerung der Fasern an einigen Stellen, an den anderen Theilen des Muskels Verkleinerung derselben statt - fände, beides schon an sich gleich unwahrscheinliche Vorgänge, ganz abgesehen von der damit entstandenen Abweichung von dem Verhalten bei den kürzeren Muskeln. Dass aber die Mus - keln die Verstärkung der Thätigkeit mit dem Querschnitt zu leisten haben, bedarf wohl keiner Erläuterung.

Warum ordnen sich die neugebildeten Protoplasmatheil - chen der Faser blos in die Dimensionen des Querschnittes mit Ausschluss der Länge? Warum thun dasselbe die neugebildeten Muskelfasern?

Abweichungen von diesem typischen Verhalten kommen am Herzen und den anderen Höhlenmuskeln in Blase, Magen, Darm, Gebärmutter etc. nicht selten vor, indem mit der Verdickung auch entsprechende oder nicht entsprechende Verlängerung der Fasern, somit Vergrösserung des umschlosse - nen Hohlraumes verbunden ist. Gerade das principiell andere Verhalten an diesen Localitäten giebt uns einen bedeutsamen Fingerzeig nach der Ursache der obigen Erscheinung an der Skeletmuskulatur.

Ferner ist zum Belege des oben ausgesprochenen Gesetzes anzuführen das Verhalten der Sehnen und Gelenkbänder. Diese werden bekanntlich bei stärkerer Function gleichfallsRoux, Kampf der Theile. 218I. Die functionelle Anpassung.nicht länger, sondern blos dicker. Ersteres würde, wenn es stattfände, sofort die Function vermindern, resp. aufheben. Also auch hier findet blos Anordnung der neuen Molekel und Fasern in der Richtung des Querschnittes statt.

Vielleicht ist auch die ungleiche Dicke der Nerven - fasern, wie sie uns jeder Querschnitt eines Nervenstammes oder des Rückenmarkes zeigt, durch ungleich starke Function bedingt, während auch hier eine Verlängerung dabei nicht vor - kommt; denn man findet in Nervenstämmen keine geschlängel - ten Fasern.

Bei der Hypertrophie der acinösen Drüsen, welche sich in Vermehrung der Zahl und in Vergrösserung der Drüsen - beeren äussert, muss die Hyperplasie blos in den beiden Dimen - sionen der Secretionsfläche erfolgen, da das Drüsenepithel bei dieser Vergrösserung einschichtig bleibt. Bei den Schlauch - drüsen erfolgt die Aneinanderlagerung der neugebildeten Zel - len fast ausschliesslich blos in der Richtung der Länge, wäh - rend die Verdickung des Schlauches blos durch die Hypertrophie der Zellen bedingt ist. Da indessen diese Organe in den letz - ten Stadien der Entwickelung auch schon blos nach diesen Dimensionen gewachsen sind, so kann man sagen, die Weiter - bildung erfolgt hier einfach nach den vererbten Bildungsgesetzen, wenn man nicht eben die Entstehung dieser Gesetze mit dem vorliegenden Princip in Zusammenhang bringen will.

Die Epidermis vermehrt sich blos nach Substanzverlust nach den zwei Dimensionen der Fläche, und zwar nur so lange, bis ihre Zellen wieder allseitig an gleichartige Zellen stossen; und wenn dies, wie bei Fisteln, nicht geschehen kann, so wachsen sie nach Friedländer den ganzen Fistelkanal aus.

Durch jeden anderen Reiz aber werden sie nur zur Ver - mehrung nach der Einen Dimension der Dicke angeregt, unter gänzlichem Ausschluss der beiden anderen Dimensionen. Nicht19A. Leistungen derselben.aber wirkt der Reiz auch zur stärkeren Vergrösserung nach der Fläche, sodass unter passiver Betheiligung der Lederhaut Fal - tenbildung entstünde wie im Darmtractus. In letzterem sind die Falten aber auch nicht durch Vermehrung des Flächenepi - thels, sondern durch Vermehrung der Drüsen bedingt, und wohl nur passiv nachfolgend findet die entsprechende Flächenver - grösserung des Oberflächenepithels und der Schleimhaut statt.

Auch für dieses Beispiel des Epithels lässt sich ein zu berücksichtigender Einwand machen, nämlich der, dass der Widerstand der dicken Lederhaut gegen Faltung durch stärkeres Wachsthum des aufliegenden Epithels ein wohl zu grosser ist. Die Berechtigung dieser Einwände kann nur durch eingehende Specialuntersuchungen für jedes Organ festgestellt werden.

Lockeres Bindegewebe wird bei Dehnung allmählich länger, hypertrophirt in der Einen Dimension der Länge. Das - selbe findet bekanntlich auch am straffen Bindegewebe bei lang - anhaltendem übermässigen Zuge statt, während, wie erwähnt, normaliter, d. h. bei blos spannendem, in angemessenen Inter - missionen erfolgendem Zug dasselbe blos in dem Querschnitt sich verstärkt.

Die Zapfen der Netzhaut sind in der Fovea centralis des Auges, der Stelle des deutlichsten und am meisten ge - brauchten Sehens, am höchsten in der Richtung des einfallen - den Lichtes und dabei zugleich schmaler als an den seitlichen Partien des Auges. Es ist vielleicht anzunehmen, dass die stärkere Function dieser Theile durch die grössere Länge ge - leistet wird und dass die geringere Dicke nur eine Folge der stärkeren Tendenz zur Vermehrung der Zellen durch den stär - keren functionellen Reiz ist. Es würde nicht gegen diese Auf - fassung sprechen, wenn die bezügliche Verschiedenheit auch schon angeboren würde, da sie wohl vererbt werden könnte, auch wenn sie ursprünglich durch Gebrauch entstanden wäre.

2*20I. Die functionelle Anpassung.

Die Milz und die Lymphdrüsen leisten ihre Function der Bildung von Blutzellen mit allen drei Dimensionen gleich - mässig und vergrössern sich dem entsprechend auch bei ver - stärkter Function nach diesen drei Dimensionen gleichmässig, soweit es bei der Milz der Raum der Umgebung gestattet. Dass in diesen Organen keine Vermehrung der Zellen blos nach be - stimmten Richtungen stattfindet, ergiebt sich mit Sicherheit daraus, dass nie in diesen Organen die Zellen in Reihen ge - ordnet sind, wie es sich doch dabei ausbilden müsste, sondern dass die Zellen in hyperplastischen Organen ebenso angeordnet liegen, als in nicht vergrösserten.

Ich will hier nicht weitere Beispiele anführen, insbeson - dere nicht das interessanteste, ungleiche Verhalten der Blut - gefässwandung in den verschiedenen Dimensionen erwähnen, da ich beabsichtige, die zur Sicherstellung des obigen Gesetzes nöthige, auf neue, daraufhin angestellte Beobachtungen sich stützende Specialarbeit selber zu machen. Alsdann werde ich auch auf die charakteristischen Unterschiede der Activitätshyper - trophie von der bei einigen Organen vorkommenden Hyper - trophie infolge vermehrter Blutzufuhr, hinweisen.

Am evidentesten tritt das Typische des Gesetzes natürlich an denjenigen Organen hervor, wo die verschiedenen Dimen - sionen verschiedene Function haben und daher mit verschiede - nen Umständen sich ändern, so bei den Muskeln, Sehnen, Bän - dern und Gefässen.

Gegenwärtig sehen wir jedenfalls so viel, dass durch die Verstärkung der Function nicht alle Dimensionen der Organe gleichmässig vergrössert werden, auch wo, wie bei Muskeln und Bändern, der Raum es verstattete, sondern blos diejenigen Dimensionen, welche die Grösse der Function besorgen. Dabei ist das Verhältniss derartig, dass an denjenigen Organen, deren specifische Function durch Eine Dimension besorgt wird, wie21A. Leistungen derselben.bei den Muskeln, Sehnen, Drüsen und Nerven, die Grösse der Function von den beiden anderen Dimensionen vollzogen wird, und dass umgekehrt in den anderen Organen, welche, wie Epidermis, Gefässwandung, Fascien und vielleicht auch die Zapfen der Netzhaut, die specifische Function mit zwei Dimen - sionen verrichten, die Grösse der Function durch die dritte be - stimmt wird.

Ueber die Ursache des obigen Gesetzes enthalten wir uns an dieser Stelle jeglicher Erörterung. Ich habe demselben des - halb auch blos die Fassung des Thatsächlichen gegeben, ob - gleich ein Hinweis darauf, dass die Function selber die Ur - sache der Vergrösserung der die Grösse der Function besor - genden Dimensionen sei, nahe gelegen hätte.

Die functionelle Hypertrophie bringt also nicht immer Aehn - lichkeitswachsthum, d. h. Vergrösserung nach allen Durchmes - sern proportional ihrer Grösse hervor, sondern sie bildet durch die eventuelle Beschränkung der Vergrösserung auf eine oder zwei Dimensionen morphologisch neue Charaktere. Dieselben entstehen durch functionelle Hypertrophie, ausserdem auch noch in Folge der ungleichmässigen Vergrösserung der verschiedenen Organe bei gleicher Verstärkung der Function, am meisten aber durch die ungleiche Vertheilung der Hyperfunction auf die verschiedenen Organe des Körpers.

Ist dadurch schon principiell die Möglichkeit zu jeder denk - baren Formenwandlung gegeben, so wird diese Möglichkeit noch erleichtert und quantitativ unterstützt durch das entgegen - gesetzt wirkende Princip, durch die Verkleinerung in Folge der Verringerung der Function, durch Inactivitätsatrophie. In Verbindung mit diesem Princip können nun auch alle mög - lichen Grössen wieder rückwärts bis zum gänzlichen Schwunde hervorgebracht werden.

Auch die Inactivitätsatrophie zeigt Beschränkung ihrer Wir -22I. Die functionelle Anpassung.kung auf die die Grösse der Function vollziehenden Dimen - sionen der Organe, so dass für sie ein Gesetz der dimen - sionalen Atrophie aufgestellt werden muss. Auch hierbei ergeben sich in einigen Organen wieder Unterschiede von der einfachen Atrophie in Folge Verringerung der Blutzufuhr, und ich behalte mir auch hierüber specielle Untersuchung und Nach - weise vor.

Damit nun aber durch diese beiden Principien Umgestaltungen entstehen, sind dauernd zwin - gende Ursachen anderen Gebrauches nöthig, wie sie für Thiere nur durch embryonale Variationen einiger Theile, welche dann alterirend auch auf die Functionen der anderen wirken oder durch Aenderung der äusseren Verhältnisse ge - geben werden, beim Menschen aber auch als dauernd in der - selben Richtung wirkender Wille, z. B. in Folge der Wahl des Berufes, vorkommen.

Diese dauernd zwingende Ursache zu anderem Gebrauche ist eine unerlässliche Vorbedingung der umgestaltenden Wir - kungen der functionellen Anpassung, und sie muss wohl viele Generationen hindurch gleichmässig anhalten, wenn die Verän - derungen auch erblich werden sollen.

Ausser dieser quantitativen, die Gestalt beeinflussenden Wirkung der functionellen Anpassung ist noch hinzudeuten auf eine fast unbeachtet gebliebene qualitativ ändernde Wir - kung vermehrten und verminderten Gebrauches, auf die Erhöhung resp. Erniedrigung der specifi - schen Leistungsfähigkeit der Organe.

Zuerst wurde derartiges nachgewiesen von Henke und Knorz1)Knorz, Ein Beitrag zur Best. der absoluten Muskelkraft. Diss. Marburg 1865. Henke, Zeitschr. f. rat. Med. (3) XXIV u. XXXIII., welche fanden, dass dasselbe Volumen Muskelsubstanz des rechten Armes 20% mehr leisten könne, als vom linken. 23A. Leistungen derselben.Gleichzeitig wurde dasselbe, aber ohne Angabe directer Be - stimmungen, von Haeckel in der oben citirten Stelle ausge - sprochen.

Ferner weisen die Untersuchungen von Tiegel1)Tiegel in: Hermann, Handb. d. Physiologie. Bd. 1. p. 135. eine Er - höhung der specifischen Leistungsfähigkeit innerhalb einer ein - zigen kurzen physiologischen Reizperiode des Muskels nach, indem sie ergaben, dass bei gleichen Reizen eine Zeit lang die Hubhöhen, also die Verkürzungen, grösser werden, ehe sie durch Erschöpfung sich verkleinern.

Für die nervösen Centralorgane scheint die alltägliche Er - fahrung das Gleiche zu bestätigen; es weiss Jeder, wie durch jahrelange Uebung mühselig erlernte Bewegungen, etwa beim Spielen musikalischer Instrumente etc., später leicht ausführbar werden, sodass sie schliesslich fast ohne bewusste Innervation als feste Mechanismen von selber sich abspielen, wenn nur der Anfang dazu befohlen worden ist. Man wird hier nicht wohl annehmen können, dass die die Ganglienzellen des Rückenmar - kes verbindenden Fasern so viel hundertmal dicker geworden wären, um allein durch Vergrösserung des Querschnittes die Widerstandsabnahme in den Bahnen hervorzubringen, sondern es ist wahrscheinlicher, dass die Verbindungsbahnen neben gleichzeitiger Vergrösserung ihres Querschnittes auch qualitativ besser leitend geworden sind, und dass die Ganglienzellen rela - tiv mehr Impuls auf eine Anregung produciren.

In gleicher Weise werden auch die Organe unserer Seelen - thätigkeit leistungsfähiger durch öfteren und intensiveren Ge - brauch, durch Uebung, wie wir sagen. Alles, was wir körper - lich und geistig lernen, ist Product der functionellen Anpassung; ohne dieselbe würden wir in keiner Beziehung etwas lernen können. Und Jeder weiss, wie viel rascher und leichter all -24I. Die functionelle Anpassung.mählich selbst das Lernen, nicht blos die Ausführung des Er - lernten wird, was auf eine Erhöhung der specifischen Leistungs - fähigkeit des ganzen Systemes in Folge vielseitigen Gebrauches hinweist.

Wir sind daher wohl berechtigt, dem obigen morphologi - schen Gesetz der dimensionalen Hypertrophie für die genannten Organe das physiologische Gesetz der functionellen Anpassung hinzuzufügen: Durch verstärkte Thätigkeit wird die speci - fische Leistungsfähigkeit der Organe erhöht.

Selbstverständlich gilt dies Gesetz, wie alle organischen Leistungsgesetze, blos innerhalb gewisser Grade, und es soll damit nicht gesagt werden, dass nicht Ueberanstrengung die Leistungsfähigkeit schwächte.

Ob dieses Gesetz auch für die Sinnesorgane Geltung hat, oder ob die Uebung in der Auffassung und Differenzirung der Sinneseindrücke blos eine cerebrale ist, da ja diese Organe zumeist in gleicher Weise von aussen durch die Eindrücke ge - troffen werden und bei mangelnder Aufmerksamkeit auf die Eindrücke die Auffassungsfähigkeit nicht erhöht wird, haben wir schon oben als zur Zeit nicht entschieden hingestellt.

Und ebenso sind wir über die eventuelle Erhöhung der specifischen Leistungsfähigkeit der Drüsen, sowie auch der passiv fungirenden Organe: der Knochen und Bänder etc., ohne Kenntnisse. Aber doch ist für Sinnesorgane eine qualitative, mit Erhöhung der Leistungsfähigkeit verbundene Aenderung durch den Act der Function bekannt, welche vielleicht nicht blos als passives Ertragenlernen, als Gewöhnung, sondern activ als Uebung aufzufassen ist. So der Umstand, dass wir anfangs überwältigend starke Sinneseindrücke allmählich nicht blos er - tragen, sondern auch unterscheiden lernen, wenn sie unter einander selber wieder an Intensität verschieden sind. Aber es25A. Leistungen derselben.lässt sich auch hier wieder nicht auseinander halten, wie viel von der Uebung central im Gehirn sich ausbildet.

Für qualitative functionelle Anpassung spricht bei den Drüsen ihr oft beobachtetes Verhalten im Nichtgebrauch, die Herabsetzung der Leistungsfähigkeit bei verminderter Thätig - keit. So hat z. B. neuerdings Luchsinger1)Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 15. gefunden, dass nach Durchschneidung der Nerven, deren Reizung Schweiss - absonderung an der Hinterpfote hervorruft, in wenigen Tagen die Erregung der Drüsenzellen zur Secretion selbst durch Pilo - carpin nicht mehr möglich ist, und er vermuthet wohl mit Recht, dass dies die Folge gesunkener, resp. verlorener Erregbarkeit der Drüsenzellen ist.

Für Nerven und Muskeln ist eine Herabsetzung der Erreg - barkeit durch längere Unthätigkeit jedem Arzte bekannt, und die pathologische Anatomie weist in hochgradigen Fällen durch Umstände erzwungener Unthätigkeit neben dem Schwund auch noch die qualitativen Aenderungen im Vorhandensein von Fett - körnchen im Protoplasma nach.

Ausserdem dürfen wir dem Leser den merkwürdigen Fund von C. K. Hoffmann2)Diss. inaugur. Amsterdam 1866. und von Exner3)Wiener Sitzungsbericht. Bd. 63. Abth. II. u. Bd. 65. Abth. III. nicht vorenthalten, welche im Gegensatz zu Schiff und zu Colasanti nach Durchschneidung des Riechnerven des Frosches fettige Degene - ration und entweder nachfolgende Atrophie oder Verlust der specifischen Eigenschaften des Riechepithels eintreten sahen.

Ueber den Grad der qualitativen Aenderungen durch ver - mehrten Gebrauch, insbesondere darüber, ob die Erhöhung der specifischen Leistungsfähigkeit eine stetig fortschreitende ist oder, wie wahrscheinlich, nach kurzer Uebung eine maximale Höhe erreicht, womit ihre Bedeutung für die allmähliche Diffe -26I. Die functionelle Anpassung.renzirung der Organe nur eine sehr geringe sein würde, ver - mögen wir keine entscheidenden Beobachtungen anzuführen. Einiges Theoretische für oder wider wird sich noch aus den folgenden Betrachtungen ergeben.

Mag auch die Wirkung der qualitativen functionellen An - passung eine beschränkte sein, immerhin ergiebt sich, dass sowohl sie als auch die quantitative functionelle Anpassung von der grössten Bedeutung für die thierischen Organismen sind, da letztere ohne dieselben ewig auf der Stufe des Angeborenen, Vererbten stehen bleiben würden. Wir müssten dann in allen unseren Fähigkeiten und Leistungen wie neugeborene Kinder bleiben, und das so berechtigte Wort Schiller’s im Wallenstein: » Es ist der Geist, der sich den Körper schafft « hätte keinen Sinn.

Nachdem wir so kurz analytisch die umbildenden Wir - kungen vermehrten oder verminderten Gebrauches besprochen haben, müssen wir, bevor zur Erörterung der Vererblichkeit dieser Bildungen übergegangen werden kann, eine Gruppe von Gestaltungen anführen, welche sich in ihren Ursachen diesen Veränderungen auf das engste anschliessen und auch in Bezug auf ihre Erblichkeit viel Gemeinsames mit den erwähnten Er - scheinungen haben.

Während die bisher besprochenen Erscheinungen der Wir - kung der Häufigkeit und Intensität des Gebrauches von der Physiologie mit wenigen Ausnahmen unverdient vernachlässigt worden sind, wohl weil sie zumeist nicht in der Kürze des physiologischen Experimentes ablaufen und zu beobachten sind, sondern erst im Laufe von Jahren genügend hervortreten und zum Theil nur auf statistischem Wege festgestellt werden können, und obgleich sie, als alle quantitativen Verhältnisse im Körper bestimmend, physiologisch von der grössten Bedeutung sind, so sind die jetzt zu besprechenden Erscheinungen von den Ver -27A. Leistungen derselben.tretern der Descendenzlehre bisher gänzlich unberücksichtigt geblieben, trotzdem sie gerade für diese Lehre von principiell entscheidender Wichtigkeit sind.

Es sind Erscheinungen, welche mit den vorhergehenden unter dem gemeinsamen Namen functionelle Anpassung zusammengefasst werden können. Das Besprochene stellte die Wirkung der Quantität der Function auf die äussere Gestalt und die Qualität der Organe dar. Die nun folgenden Erschei - nungen zeigen uns die Wirkung der Function für die innere Gestalt, für die Structur der Organe.

Da wir auch das diesen Erscheinungen zu Grunde liegende Princip als ein direct das Zweckmässige durch den Act der Function hervorbringendes kennen lernen werden, so können wir sie beide auch als Principien der functionellen Selbstgestal - tung des Zweckmässigen zusammenfassen, Ersteres als die äussere Gestaltung, Letzteres als die innere Gestaltung der Organe beeinflussend. Daraus ergiebt sich von selber, dass beide in inniger Wechselbeziehung stehen müssen.

Die ersten hierher gehörigen Beobachtungen verdanken wir Hermann Meyer1)Herm. Meyer, Archiv für Anatomie u. Physiologie. 1869., welcher erkannte, dass die schwammige (spongiöse) Substanz der Knochen eine ganz bestimmte Archi - tectur besitzt, welche an jeder Stelle genau die Linien stärksten Druckes oder Zuges, welchem das Organ ausgesetzt ist, dar - stellt. Indem so die Knochenbälkchen überall blos in den Rich - tungen stärksten Druckes und Zuges verlaufen, wird mit dem geringsten Materialaufwand die grösstmögliche Festigkeit er - reicht, genau in der Weise, wie dies die moderne constructive Technik zu verwirklichen sucht. Erweitert wurden unsere be - züglichen Kenntnisse dann von J. Wolf2)J. Wolff, Berliner klin. Wochenschrift, 1868, und Virchow’s Ar - chiv f. patholog. Anatomie. Bd. 50, 1870, u. Bd. 61, 1874., H. Wolfermann3)H. Wolfermann, Archiv f. Anatomie u. Physiologie. 1872.28I. Die functionelle Anpassung.K. Bardeleben1)K. Bardeleben, Beiträge zur Kenntniss der Wirbelsäule. Jena 1874., Merkel2)Virchow’s Archiv. Bd. 59., Aeby3)Aeby, Centralblatt f. d. med. Wiss. 1873. und P. Langer - hans4)Virchow’s Archiv. Bd. 61. und so auf fast alle Knochen des menschlichen Körpers und einiger Säugethiere ausgedehnt.

J. Wolff entdeckte darauf zuerst und Kastor und Martiny sowie L. Rabe1)K. Bardeleben, Beiträge zur Kenntniss der Wirbelsäule. Jena 1874. bestätigten, dass derartige Structurverhältnisse sich auch unter ganz neuen, abnormen Verhältnissen, den neuen statischen Verhältnissen entsprechend, z. B. bei schief ge - heilten Knochenbrüchen, ausbilden. Daraus geht hervor, dass diese Bildungen nicht feste, vererbte zu sein brauchen, sondern sich immer nach den jeweiligen Verhältnissen selbst erzeugen. Da die statische Knochenstructur erst nach den ersten Lebens - jahren sicher erkennbar sich ausbildet, so lässt sich über ihre eventuelle erbliche Uebertragbarkeit ohne besondere daraufhin gerichtete Untersuchungen nichts aussagen.

Ferner ist hierher gehörig eine Mittheilung, welche Prof. K. Bardeleben vor zwei Jahren mir machte, und die ich mit seiner Erlaubniss hier anführe. Er sprach die Vermuthung und die Wahrscheinlichkeit aus, dass auch in den Fascien, den Häuten, welche die Muskeln einhüllen, die Fasern, wie in den Knochen die Bälkchen, die Richtungen stärksten Zuges ein - nähmen. Da der genannte Autor noch nicht dazu gekommen ist, die beabsichtigte eingehende Untersuchung anzustellen, so habe ich, ohne den speciellen Mittheilungen desselben irgendwie vorgreifen zu wollen, durch eigne Beobachtung mich wenigstens soweit von der Richtigkeit überzeugt, um dies hier bestätigen und verwerthen zu können. Ich muss noch hinzufügen, dass Prof. H. Meyer vor einem Jahre denselben Gedanken und die Absicht gegen mich äusserte, von diesem Gesichtspunkte aus29A. Leistungen derselben.Untersuchungen auf alle bindegewebigen Bildungen auszudehnen. Ohne den Publicationen auch dieses Autors vorgreifen zu wollen, spreche ich blos aus, dass ich diese Absicht für sehr berechtigt halte, denn warum sollte z. B. nicht auch schon die Richtung der Sehnenfasern oder der Fasern des Lig. interosseum anti - brachii etc., welche immer der Richtung des Zuges entsprechen, in der gleichen Weise aufgefasst werden?

Eines der lehrreichsten Beispiele dieser Verhältnisse er - scheint mir die bekannte Faserung des Trommelfelles darzu - bieten, indem dieses in seinen beiden Hauptfaser-Systemen, dem radiären und dem circulären, blos diejenigen Richtungen un - substantiirt zeigt, welche bei den Schwingungen desselben die stärkste Dehnung auszuhalten haben; dabei ist noch ein drittes System deutlich ausgebildet, welches die Schwingungen des Trommelfelles auf den eingefügten langen Fortsatz des Hammers überträgt und auch wieder die hierzu günstigste Richtung der stärksten Spannung, d. h. senkrecht zum Fortsatz des Hammers darbietet.

Ausser bei diesen beiden passiv fungirenden Organsystemen erkennen wir vergleichbare und aus denselben Ursachen ableit - bare Structurverhältnisse bei dem dritten mechanisch fungiren - den, aber activ thätigen System der Muskeln. Bei den Skelet - muskeln erscheinen die Verhältnisse einfach, auf den ersten Blick beinahe selbstverständlich einfach; sie sind es aber doch nicht überall; und ich will mir besondere Mittheilungen darüber auf die Beendigung einer speciellen daraufhin gerichteten Unter - suchung aufsparen.

Von den glatten Muskelfasern dagegen ist längst be - kannt, dass sie in den cylindrischen Hohlorganen, wie Darm, Harnleiter, Blutgefässen etc., blos in zwei Richtungen geordnet vorkommen: in der Längs - und in der Querrichtung, den Rich - tungen leistungsfähigster Funktion; und wir haben daher ein30I. Die functionelle Anpassung.Recht, sie als hierher gehörig zu betrachten. Das Gleiche gilt von den blasenförmigen Organen: bei ihnen verlaufen die Fasern blos in aequatorialer und meridionaler Richtung, wiederum den Richtungen stärkster Leistungsfähigkeit.

Auch von den Organen mit quergestreiften Muskeln gehört eines hierher, das Herz, dessen Faserrichtung bei derartiger Betrachtung, nachdem einmal das Princip festgestellt ist, uns belehrende Rückschlüsse über die Art seiner Function und die Richtungen der grössten Leistungen bei der Action zu gestatten verspricht.

Alle diese Bildungen in Knochen -, Binde - und Muskelgewebe hätte die Auslese aus formalen Einzelvariationen nach Darwin nie in solcher Regelmässigkeit und Vollkommenheit hervor - bringen können, da hier schon Tausende zufällig in dieser Weise zweckmässig geordneter Fasern resp. Bälkchen nöthig gewesen wären, um nur den geringsten im Haushalte bemerkbaren und durch die Auslese züchtbaren Vortheil durch Materialersparniss hervorzubringen und da bei Hungersnoth gerade diese Theile (abgesehen vom Herzen) in Folge ihres geringen Stoffwechsels am spätesten leiden würden, viel später als die anderen lebens - wichtigeren Organe mit grösserem Stoffwechsel.

Alle diese Bildungen können deshalb nicht durch Auslese aus formalen Einzelvariationen, wie sie die Grundlage der Darwin’schen Lehre bilden, hervorgehen, sondern blos von Qualitäten der betreffenden Gewebe abgeleitet werden, welche das Zweckmässige bis ins Einzelnste hinein direct gestalten; von derartigen Qualitäten, wie wir sie in dieser Schrift vertreten und in den folgenden Kapiteln in der Nothwendigkeit ihrer Entstehung und der Thatsächlichkeit ihres Bestehens darzulegen beab - sichtigen.

Die bezüglichen Bildungen der bindegewebigen Organe und der aus den glatten Muskelfasern gebildeten Häute werden schon31A. Leistungen derselben.angeboren, und könnten daher als Beweise für die Erblichkeit der functionellen Anpassungen angesehen werden. Wir werden aber bei der speciellen Untersuchung der Erblichkeit erkennen, dass dieser Schluss trotz dieses angeborenen Vorkommens ohne weiteres nicht gezogen werden darf.

Ausser diesen statischen Anpassungen der inneren Structur der Stützorgane und den dynamischen der glatten Muskelfaser - Gebilde an die Richtungen der höchsten Leistung, welche mit dem Minimum von Material das Höchste zu leisten vermögen, ist noch eine Gruppe von Gestaltungen zu nennen, welche den - selben Charakter in Bezug auf die Leistung hat, und sich blos dadurch von den anderen unterscheidet, dass die Kräfte, an welche hier Anpassung stattfindet, nicht statische und auch nicht so einfache dynamische, sondern viel complicirtere hydrau - lische, in specie hämodynamische sind, da es sich um die Gestalt des Lumens der Blutgefässe handelt.

Das Thatsächliche dieser Verhältnisse ist im Allgemeinen Folgendes1)W. Roux, Ueber die Verzweigungen der Blutgefässe. Jena 1878.: Das Lumen der Blutgefässe zeigt am Ursprung jedes Astes nicht die cylindrische Gestalt, wie im Verlaufe des Gefässes, sondern die eigenthümlich konische Gestalt, welche ein ungehemmt aus der seitlichen runden Oeffnung eines durch - flossenen Cylinders ausspringender Strahl von selber, d. h. zu - folge der in ihm wirkenden hydraulischen Kräfte annimmt; und diese Gestalt ändert sich bei den Blutgefässen mit den gleichen Umständen und genau in der gleichen Weise, wie die Gestalt solches frei ausspringenden Strahles; diese Aenderung erfolgt daher mit der Aenderung der Grösse des Neigungswinkels des Astes zum durchflossenen Rohre, mit der Stärke des Astes im Verhältniss zur Stärke des Stammes etc.

Dies schliesst zugleich ein, dass der Astursprung der Blut - gefässäste aus ihrem Stamme in derjenigen Richtung erfolgt,32I. Die functionelle Anpassung.welche als die Resultante aus der Stromgeschwindigkeit und der Grösse des Seitendruckes sich ergiebt; und aus dieser Richtung biegt er erst allmählich zu derjenigen um, welche ihn an den Ort seines Verbreitungsbezirkes führt.

Wenn ferner ein Arterienstamm Aeste abgiebt, welche stärker als des Durchmessers des Stammes sind, so erfährt dabei der Stamm selber eine Ablenkung nach der entgegen - gesetzten Seite, und diese Ablenkung wächst wieder ganz ent - sprechend den hydraulischen Verhältnissen mit der Grösse des Astursprungswinkels und mit der Stärke des Astes im Verhält - niss zur Stärke des Stammes.

Alle diese Einrichtungen haben zur Folge, dass die Ver - breitung des Blutes im Körper an den unzähligen Verästelungs - stellen unter der geringsten Reibung erfolgt, dass also der Be - trieb der Circulation mit einem Minimum von lebendiger Kraft und von Wandungsmaterial ermöglicht ist.

Ihnen sind noch einige längst bekannte und im gleichen Sinne wirkende Eigenschaften der Gestalt des Blutgefässlumens anzuschliessen, so die vollkommene Glattheit der Innenwandung, die cylindrische Beschaffenheit des Lumens im Verlauf der Ge - fässe und vor allem die Ausbildung von Hauptbahnen in der netzförmigen Anlage.

Alle diese Eigenschaften werden schon angeboren und ab - gesehen von den Richtungsverhältnissen bilden sie sich auch unter abnormen Verhältnissen von selber aus und weisen da - durch auf das Vorhandensein einer ganz wunderbaren Eigen - schaft der Blutgefässwandung hin. Die Letztere muss nämlich, um zu ermöglichen, dass der Blutstrahl durch die in ihm ent - haltenen Kräfte die geschilderten Verhältnisse überall von selber gestaltet, die Eigenschaft haben, blos der kräftigen Blutspannung Widerstand zu leisten, dagegen den feinsten Flüssigkeitsstössen durch Anprall vollkommen nachzugeben.

33A. Leistungen derselben.

Wenn die Blutgefässwandung diese Eigenschaften hat, so ergeben sich alle angeführten und auch die der Kürze halber hier nicht erwähnten, aber gleichfalls in der oben genannten Schrift beschriebenen Gestaltungen ganz von selber!

Andererseits hat aber auch die Blutgefässwandung an den Stellen, wo es für den Organismus nöthig ist, die Fähigkeit, selbst dem stärksten Flüssigkeitsstoss zu widerstehen, womit das Wunderbare ihrer Eigenschaften noch bedeutend vermehrt wird. Und doch erscheint es naturgemässer, diese drei Eigen - schaften, welche für todte Substanz sich widersprechen würden, der lebenden Wandung zuzuschreiben, als jede einzelne der Millionen Verästelungsstellen durch formale Einzelgesetze ent - stehen zu lassen, womit auch die Ausbildung der gleichen Ein - richtungen in abnormen neuen Verhältnissen, nach Unterbindung von Arterien etc., keine Erklärung fände. Aus diesem letzteren Verhalten folgt wieder, wie bei den vorher besprochenen Bildungen, dass die bezüglichen Gestaltungen nicht durch Einzelvariation und Auslese entstanden und gezüchtet worden sein können; ganz abgesehen davon, dass diese Züchtung wiederum auch gar nicht möglich gewesen wäre, da das zufällige Vorkommen einiger derartiger Variationen im Kampfe um’s Dasein absolut nichts genützt haben würde, und ausserdem ein zufälliges Vorkommen solcher Formen bei der Feinheit derselben, gegen welche die Architectur der Knochenspongiosa balkengrob ist, durchaus in das Bereich der Unwahrscheinlichkeit gehört, denn die Charaktere am Astursprungskegel sind so feine, dass sie beim Abzeichnen durch eine Abweichung von nur Strichbreite oft ganz verloren gehen.

So weisen auch diese Gestaltungen wieder auf das Vorhandensein von Qualitäten im Organismus hin, welche auf die Einwirkung functioneller Reize das Zweckmässige in höchster denkbarer Vollkom -Roux, Kampf der Theile. 334I. Die functionelle Anpassung.menheit direct hervorzubringen, direct auszuge - stalten vermögen.

Aber woher sind diese wunderbaren Eigenschaf - ten? E. Du Bois-Reymond hat sich schon vor Jahren diese Frage gestellt, denn er sagt1)Darwin versus Galiani. 1876. p. 20.: » Auch die Fähigkeit der Organismen, durch Uebung sich zu vervollkommnen, scheint mir mit Rücksicht auf die natürliche Zuchtwahl noch nicht hinreichend Beachtung gefunden zu haben. «

Führt diese Fähigkeit nicht die Teleologie und damit den glücklich durch Darwin beseitigten Dua - lismus wieder ein? Die Antwort auf diese Fragen werden die nächsten Kapitel zu geben versuchen.

B. Erblichkeit der Wirkungen der functionellen Anpassung.

1. Thatsächliches.

Die individuelle Wirkungsgrösse der functionellen Anpas - sung, die Anpassungsbreite, ist bekanntlich eine beschränkte. Jedes Individuum kann sich durch eigenen Fleiss blos bis zu einer gewissen Stufe erheben, betreffe es nun die Erwerbung körperlicher Geschicklichkeiten oder geistige Vervollkommnung. Diese für das Individuum sehr vortheilhaften Veränderungen würden aber für die Entwicklung und Vervollkommnung des ganzen Thierreiches durchaus nutzlos gewesen sein, wenn sie nicht vererbbar, auf die Nachkommen übertragbar wären und wenn sie nicht letztere damit von vornherein auf eine höhere Stufe zu stellen vermöchten, von welcher sie wiederum weiter schreitend mit Hülfe der individuellen Anpassung sich zu noch höherer Vollkommenheit emporarbeiten könnten.

Von dem Grade der Vererbung dieser erworbenen, zweck - mässigen Eigenschaften würde die Geschwindigkeit des auf35B. Erblichkeit der Wirkungen der functionellen Anpassung.diese Weise möglichen Fortschrittes abhängig sein. Wenn z. B. die erworbenen Eigenschaften sich ganz auf die Nachkommen übertrügen, so würde der Fortschritt ein ungemein rascher sein können. Die Erfahrung weist aber im Gegentheil durch die Langsamkeit des Fortschrittes darauf hin, dass nur ein geringer Bruchtheil der Grösse der erworbenen Eigenschaften vererbt wird. Ja es scheint, als wenn überhaupt erst Generationen hindurch andauernde Wirkung der functionellen Anpassung nach einer Richtung hin nöthig sei, um die Eigenschaften so zu be - festigen, dass sie sich auf die Nachkommen durch Vererbung übertragen.

Bei der Feststellung der Vererbung erworbener Eigen - schaften handelt es sich immer um die Entscheidung zwischen zwei Möglichkeiten, welche fast nie sicher zu treffen ist; und von diesen Möglichkeiten scheint fast immer die zuletzt anzu - führende, für die Entwicklung ungünstige, die wahrscheinlichere. Es handelt sich darum, zu entscheiden, ob in der That die vererbte günstige Eigenschaft vom Vater vollkommen neu er - worben und dann vererbt worden ist, oder ob sie in ihm nicht schon durch embryonale Variation potentia aufgetreten und im späteren Leben von ihm eigentlich blos entwickelt worden ist.

Dass aber im Embryo auftretende neue Variationen sehr häufig und in hohem Grade vererbt werden, ist sicher festge - stellt und kann von Niemandem mehr bezweifelt werden, wenn - gleich auch Fälle vorkommen, in denen embryonale Variatio - nen, wie z. B. der halbseitige, stets angeborene Riesenwuchs1)H. Fischer in: Deutsches Archiv f. Chirurgie. Bd. 12. p. 3. und viele Geschwülste, deren Keime angeboren werden, sich nicht vererben.

Auf diesen Einwand kann man sich stützen zur Erklärung der hochgradigen, von Generation zu Generation sich steigern -3*36I. Die functionelle Anpassung.den gewerblichen Fertigkeiten, welche man in Gegenden beob - achtet, wo fast die ganze Bevölkerung viele Generationen hin - durch denselben Industriezweig gepflegt hat. Man kann auch in diesen Fällen immer den nicht unberechtigten Einwand machen, es seien diejenigen von den Geschwistern zur Fortsetzung des väterlichen Gewerbes herangebildet worden, welche von Jugend auf besonderes Geschick dazu verriethen, welches ihnen also durch zufällige embryonale Variation angeboren sei. Durch diese Generationen hindurch fortgesetzte Auslese sei die Stei - gerung der Leistungsfähigkeit nach dieser Richtung hin be - dingt, abgesehen von der, durch frühzeitige jugendliche Be - schäftigung hervorgerufenen Vergrösserung der individuellen Anpassungsbreite.

Die meisten Autoren haben sich begnügt, über die Erb - lichkeit functioneller Anpassungen subjective Meinungen zu äussern; thatsächliches Material haben nur wenige geliefert.

Zunächst weist Darwin auf die wichtige Thatsache der Vererbung der Instincte hin. Wenngleich viele Instincte durch embryonale Variationen entstanden gedacht werden können, wie z. B. die Geruchsinstincte, so giebt es doch auch welche, die nur durch eigene Beobachtung und Erfahrung, also durch functionelle Anpassung, erworben werden konnten. So führt Darwin an die Erwerbung der Furcht der Thiere vor dem Menschen. Wenn Menschen zum ersten Male auf bisher unbe - wohnte Inseln kommen, so haben die Thiere oft keine Furcht vor ihnen; aber schon nach mehreren Generationen ist ihnen die Menschenfurcht angeborener Instinct. Fernerhin führt Ex - ner an1)Exner, Physiologie der Grosshirnrinde, in: Hermann, Handbuch der Physiologie. Bd. II. Abth. 2. p. 286.: » Nicht nur das Gedächtniss als die Fähigkeit, Ge - dächtnissbilder längere oder kürzere Zeit festzuhalten, ist ver - erblich, sondern auch der Inhalt des Gedächtnisses, die Ge -37B. Erblichkeit der Wirkungen der functionellen Anpassung.dächtnissbilder selbst. Es kommt vor, dass junge Jagdhunde, die niemals auf der Jagd waren, noch sonst Gelegenheit hat - ten, je einen Flintenschuss und seine Wirkung kennen zu lernen, wenn sie auf dem Felde den ersten Schuss gewahren, mit voller Lust, wie ein alter Jagdhund, auf die Beute stür - zen, um zu apportiren, auch wenn sie keine fallen sehen. Es ist das ein Beweis, dass seit der Erfindung des Schiesspulvers das Gedächtnissbild eines Schusses und seiner Folgen in das Hundegehirn erblich übergegangen ist, also in den sogenannten Instinct erblich aufgenommen wurde. «

Weitere Beispiele der Erwerbung und Vererbung des In - stinctes finden sich bei E. Hering1)E. Hering, Das Gedächtniss als eine allgemeine Function der Materie. Vortrag in der Wiener Akademie. 1870., von Hensen2)von Hensen, Ueber das Gedächtniss. Rectoratsrede. Kiel 1877., L. Büchner3)L. Büchner, Aus dem Geistesleben der Thiere. 2. Aufl. 1880., Karl Schneider4)Karl Schneider, Der thierische Wille. 1880., A. E. Bown5)Kosmos, Zeitschrift etc. Bd. III. p. 447. und An - deren.

Der Umstand, dass dagegen beim Menschen die Vererb - lichkeit concreten Seeleninhaltes so gering ist, ist auffallend, muss aber als eine im Kampfe um’s Dasein besonders erwor - bene und gezüchtete sehr günstige Eigenschaft betrachtet wer - den, da sie, wie bekannt, die Ursache unseres Hauptvorzuges vor den Thieren, unserer Universalität ist; denn wenn wir in gleicher Weise, wie die Thiere, die Kenntnisse unserer Vorfah - ren ererbten, so würde dadurch die Freiheit der individuellen Ausbildung auch in der gleichen Weise, wie bei den Thieren, beschränkt werden.

Es scheint übrigens denkbar, dass diese Eigenschaft blos von einer geringeren angeborenen Disposition zur Vererbung des Seeleninhaltes ihren Ausgangspunkt genommen hat und dann38I. Die functionelle Anpassung.durch den grossen Wechsel der Lebensweise der Menschen wei - ter ausgebildet worden ist, da zur Erwerbung von Instincten viele Generationen hindurch in der gleichen Weise sich wieder - holende Eindrücke, verbunden mit einer gewissen Einfachheit und Beschränktheit des ganzen Seeleninhaltes, nöthig sind.

Ein Beispiel der Vererbung von Eigenschaften, deren er - worbener, nicht durch Auslese gezüchteter Charakter sich aus der Unzweckmässigkeit desselben ergiebt, führt Overzier1)Kosmos, Zeitschr. f. monist. Weltansch. Bd. I. p. 184. an, indem er die erbliche Uebertragung der krummen Bäcker - beine feststellt.

Ich habe mich bestrebt, die Zahl dieser sicheren Beispiele zu vermehren, und es erhellt, dass als zweifellose Vererbung functioneller Anpassung blos die Ausbildung derartiger Quali - täten angesehen werden kann, welche entweder nicht als durch zufällige embryonale Variation entstanden oder nicht als durch Auslese gezüchtet angenommen werden können.

Nicht durch embryonale Variation kann meiner Meinung nach die angeborene Disposition zur Muttersprache entstanden sein. Es werden uns die Coordinationen, die Anordnungen und Verbindungen der Ganglienzellen, welche die Sprachmuskeln innerviren, schon so weit angeboren, dass wir unsere Mutter - sprache am leichtesten sprechen lernen, während z. B. Euro - päer, auch wenn sie schon als Kind unter die Nama gebracht werden, deren Sprache nicht oder nur mit grösster Schwierig - keit so vollkommen erlernen, als diese selber.

Auch sind die coordinirten Augenbewegungen, welche beide Augen in jeder Blickrichtung immer so stellen, dass die Bilder jedes Gegenstandes immer auf identische Punkte beider Netz - häute fallen und daher einfach gesehen werden, vererbt, da sie nach den Untersuchungen von Raehlmann und Wit -39B. Erblichkeit der Wirkungen der functionellen Anpassung.kowsky1)E. Hering, Physiolog. Optik, in: L. Hermann, Handb. d. Physio - logie. Bd. III. p. 529. in den ersten zehn Lebenstagen schon die vorherr - schenden sind. Dies widerspricht nicht den Beobachtungen W. Preyer’s2)Kosmos, Bd. III. p. 32., dass dieselben nicht gleich angeboren, sondern erst innerhalb dieser Zeit erworben werden; es beweist aber, dass wenigstens ihre Disposition angeboren sein muss. So unendlich complicirte Verbindungen der Muskelbewegungen können meiner Meinung nach nicht durch zufällige embryonale Variationen entstanden sein.

Wichtiger, d. h. beweisender als diese beiden Beispiele, erscheint mir die folgende Betrachtung.

Es handelt sich, wie erwähnt, in der vorliegenden Frage immer um die Unterscheidung dessen, was durch zufällige em - bryonale Variationen und Auslese nach Darwin’s Selections - princip entstanden ist, von dem durch functionelle Selbstgestal - tung Gebildeten und danach Vererbten. Die Wirkungen des ersteren Princips erscheinen unbegrenzt; wir können fast keine noch so grossen Veränderungen nachweisen, von welchen mit absoluter Sicherheit behauptet werden könnte, dass sie prin - cipiell nicht durch genügend wiederholte embryonale Variationen und Auslese hätten entstehen können, sofern die letztere fein genug wirkte und die nöthige Zeit dazu gegeben wäre. Trotz - dem giebt es Eine Art Vorkommniss in der Entwicklung des Thierreiches, von welchem wir mit Bestimmtheit das Gegentheil behaupten können. Es giebt nämlich einen Punkt in der Entwicklungsgeschichte des Thierreiches, von wel - chem wir mit Bestimmtheit behaupten können, dass die Vervollkommnung keine successive in den ein - zelnen Theilen war, sondern in fast allen Organen des Körpers eine gleichzeitige gewesen sein muss,40I. Die functionelle Anpassung.weil günstige Variationen blos einzelner Theile auf ein - mal das Ueberschreiten dieser Periode nicht ermöglicht hätten. Es ist eine Periode, in der mit Sicherheit die gleichzeitige Ausbildung von Tausend, ja Million zweckmässigen Einzeleigen - schaften hat stattfinden müssen. Solches kann die Auslese aus freien, nicht auf das Zweckmässige tendirenden Variationen nicht leisten. Sie kann immer blos wenige Charaktere auf einmal züchten. Welches ist nun der Moment, von welchem wir diese Nothwendigkeit behaupten können? in welchem Falle kann der Uebergang kein allmählicher, kein in den verschiedenen Orga - nen successiver gewesen sein? Es ist in der Periode des Ueber - ganges vom Wasser - zum Land - oder richtiger zum Luftleben. Wir sind gewohnt, diesen Uebergang alljährlich bei den jungen Amphibien als etwas ganz Selbstverständliches zu betrachten; doch hier finden die Veränderungen des Thieres in allen seinen Theilen, wie alle anderen embryonalen Umbildungen zufolge bestimmter vererbter Bildungsgesetze statt, und die Umwand - lung einer Kaulquappe in einen Frosch ist insofern nichts Be - sonderes. Aber wie sind diese Umbildungsgesetze erworben worden? Wodurch sind diese Eigenschaften zum ersten Male entstanden, als sie, Tausend oder Million, alle auf einmal nöthig wurden? Vielleicht sind ihrer gar nicht so viele und vielleicht ist doch eine allmähliche Umbildung bei dieser An - passung möglich gewesen. Gewiss! Graduell ist die Anpassung eine allmähliche gewesen. Die Thiere werden zuerst einen nur kurzen Aufenthalt auf dem Lande genommen haben und bald wieder in das Wasser zurückgekehrt sein. Aber was ist nöthig, wenn ein Wasserthier auch nur kurze Zeit auf dem Lande leben soll?

Betrachten wir diesen Vorgang blos bei den Wirbelthieren und geben wir den Thieren schon als durch früheres Luftschnap - pen unter Beihülfe von Auslese erworben neben den Kiemen41B. Erblichkeit der Wirkungen der functionellen Anpassung.noch eine zur Lunge umgewandelte, d. h. gefässreiche Schwimm - blase im Voraus mit für seinen Versuch, auf das Land über - zugehen, und sehen wir zu, wie dieser Versuch auf den Körper wirken wird, und was zum Gelingen desselben nöthig ist.

Sobald das Thier auf das Land aus dem Wasser heraus - kommt, müsste es zunächst das schrecklichste Unbehagen em - pfinden, denn es werden mit einem Male sein Körper und seine Glieder vielmal schwerer, als vorher, da sie im Wasser blos so viel, oder subjectiver gesprochen, so wenig wogen, als sie schwerer sind, als das verdrängte Wasser. Wie unangenehm ist es z. B. uns schon, wenn wir längere Zeit im Wasser ge - schwommen haben und, an das Land steigend, plötzlich unsern Körper wieder selber tragen müssen. Dieser geringe Grad von Unannehmlichkeit, den wir, an das Tragen unserer Gliedmassen unser Leben lang gewöhnt, bei diesem Uebergange empfinden, ist aber gar nicht zu vergleichen mit dem Eindruck, den ein Thier haben muss, welches seine Körpertheile nie selber ge - tragen hat.

Ferner müssen die Thiere sich sofort ganz anders bewegen, in anderen Coordinationen ihre Muskeln gebrauchen; sie können eine Menge Bewegungen, die sie im Wasser, der Schwere fast nicht unterworfen, auszuführen gewohnt waren, nicht machen, sondern müssen ganz energisch fast alle Muskeln des Körpers in bestimmter, durch die Statik vorgeschriebener Weise ge - brauchen. Ferner die Knochen, welche bisher fast blos der Muskelwirkung Widerstand zu leisten hatten, müssen jetzt auf einmal nach den statischen Verhältnissen tragen, und zwar so stark, dass das Tragen des Körpers im Wasser, beim Laufen auf dem Grunde, kaum als Vorübung dazu in Betracht kom - men kann. Das Gleiche gilt von den Gelenkeinrichtungen, den Knorpeln und Bändern; sie werden alle plötzlich viel stärker42I. Die functionelle Anpassung.in Anspruch genommen, und die letzteren in neuen Haupt - richtungen.

Die Blutvertheilung im Körper wird sofort eine ganz andere: Das Blut, welches bisher der Wirkung der Schwere ganz ent - zogen war, wird sich jetzt in die der Erde näher befindlichen Theile des Körpers senken, indem es aus Hirn und Rückenmark heruntersinkt. Es wird eine lähmende Anämie des Centralnerven - systems eintreten, oder die den Blutzufluss zu den verschiedenen Organen regulirenden Mechanismen müssen sofort nach ganz neuen Regeln das Blut vertheilen, wenn nicht totale Störung der Functionen aller Organe eintreten soll.

Sauerstoffmangel wird eintreten; denn die Lungen sollen jetzt auf einmal den ganzen Bedarf für eine grössere Dauer allein beschaffen.

Durch das Trockenwerden der Haut, der Kiemen und der Seitenorgane werden abnorme Sensationen entstehen. Der ge - wohnte, sichere Verkehr mit der Aussenwelt wird aufgehoben, denn die Sinnesorgane treten für das Thier ausser Function, da sie alle ganz neue, nicht durch Erfahrung verständlich gewor - dene Eindrücke empfangen.

Das Gehörorgan wird, an die stärkere Leitung durch das Wasser mit Uebertragung der Eindrücke durch den ganzen Schädel gewöhnt, fast gar nicht angesprochen werden. Das Auge wird seine Function als Bild bildender Apparat verloren haben.

Ob bei diesen kaltblütigen Thieren der Wärmeverlust durch Wasserverdunstung einen Nachtheil haben wird, muss dahin - gestellt bleiben.

Diese Uebelstände werden zum Theil mit der Dauer des Aufenthaltes auf dem Lande wachsen, und der Aufenthalt daher zunächst nur ein sehr kurzer sein und sie werden auch bei blos partiellem aus dem Wasser Kommen sich an den43B. Erblichkeit der Wirkungen der functionellen Anpassung.herausragenden Theilen einstellen. Was aber das Wichtigste ist, sie werden immer alle zugleich eintreten, und wenn das Thier trotzdem auf das Land gehen kann, so muss auch die Correction in den meisten zugleich eintreten können.

Was bedeutet aber eine derartige Correction in allen Organen des Körpers mit Ausnahme derer der Ernährung und Fort - pflanzung? Sie bedeutet das Vorhandensein höchst vollkommener functioneller Anpassungsmechanismen in fast allen Theilen des Körpers, welche im Stande sind, beim Uebergange des Orga - nismus in neue Verhältnisse direct die nöthigen zweckmässigen Aenderungen hervorzubringen. Sie sind ein nöthiges Erforder - niss, eine unerlässliche Vorbedingung der auch nur zeitweiligen Vertauschung des Wasserlebens mit dem Luftleben, und sie werden sich um so gebieterischer nöthig machen, je länger der Landaufenthalt dauert.

Wir kennen solche Selbstregulationsmechanismen von den höheren Thieren und schliessen daraus zurück, dass sie viel - leicht auch die niederen hier in Betracht kommenden besitzen. Wir kennen unsere Fähigkeit, ganz fremde Bewegungsweisen uns anzueignen und durch Uebung zur leicht ausführbaren ge - wohnten zu machen, alle die motorischen Centralorgane in Gehirn und Rückenmark entsprechend umzubilden. Wir wissen, dass die Knochen und Bänder mit der stärkeren Inanspruch - nahme ihrer Function stärker werden an den betreffenden Stellen. Von der möglichen Exactheit der Regulation der Blutvertheilung überzeugen wir uns täglich, wenn wir uns am Morgen vom Lager aufrichten, ohne, bei normalem Zustand des Körpers, auch nur einen Moment Blutarmuth des Gehirnes zu bemerken. Die Athmung regulirt sich bei pathologischen Störungen gleich - falls sehr erheblich von selber, und für den Proteus ist von Schreiber1)Cit. nach: Darwin, Variiren der Thiere etc. II. p. 340. beobachtet worden, dass beim Leben in seichtem44I. Die functionelle Anpassung.Wasser die Lungen grösser und gefässreicher werden, während die Kiemen sich entsprechend verkleinern.

Ueber den Grad der directen Anpassungsfähigkeit der Sinnes - organe können wir uns von den höheren Thieren keinen Schluss auf die hier nöthigen Verhältnisse gestatten. Da indessen zu dieser Zeit noch keine Feinde am Ufer vorhanden waren, so war vielleicht die Verminderung der Function dieser Organe zunächst von geringerem Nachtheil.

Es ist hier also nöthig, dass auf einmal in fast allen Organen gleichzeitig zweckmässige Aenderungen eintreten. Es ist die Frage, ob die functionelle Anpassung dies zu leisten vermag, oder ob dies ihrem Wesen widerspricht. Wir werden weiter unten ausführlich darlegen, dass dies gerade ihr Wesen ist, ebenso wie sie an Millionen Einzelstellen desselben Organsystemes oder Organes gleichzeitig zweckmässig umgestaltend zu wirken vermag.

Es muss gerade hervorgehoben werden, dass die functio - nelle Anpassung bei der Aenderung der Lebens - bedingungen in allen betroffenen Organen des Körpers zugleich zweckmässige Aenderungen her - vorzubringen vermag; und diese Gleichzeitigkeit der Wirkung in Millionen Theilen muss als ihr Charakteristisches der Wirkung der Zuchtwahl gegenüber gestellt werden, welche immer blos ganz wenige zweckmässige Eigenschaften gleich - zeitig ausbilden kann.

Danach können wir in der Untersuchung der Erblichkeit der Wirkungen der functionellen Anpassung weiter gehen.

Nehmen wir zunächst an, die Wirkung der functionellen Anpassung sei nicht erblich. In diesem Falle wird jede Gene - ration, welche den Versuch macht, am Ufer ausserhalb des Wassers Nahrung oder Schutz vor Feinden zu suchen, von45B. Erblichkeit der Wirkungen der functionellen Anpassung.dem gleichen Stadium anfangen müssen und daher in der An - passung an das Landleben auch nie eine gewisse Stufe der Vollkommenheit überschreiten können, denn die Uebung hat für das Individuum ihre bestimmten Grenzen. Es werden aber im Laufe der Generationen allmählich zufällig angeborene günstige Variationen vorkommen und vielleicht ihren Trägern einen Vortheil verschaffen. Dabei ist indessen zu berücksich - tigen, dass dieser nur sehr gering sein kann, da die günstigeren Eigenschaften blos in einigen Theilen bestehen, während doch die gleichzeitige entsprechende Aenderung aller nöthig ist; ja es ist möglich, dass er aus diesem Grunde vielleicht gar nicht zur Geltung kommt. Nehmen wir aber an, er komme zur Geltung; so würde dieses Thier in der Anpassung etwas weiter schreiten, und indem sich dieses wiederholt, könnte allmählich durch Variation und Auslese vollkommene Anpassung stattfinden, und die functionelle Anpassung hätte dabei blos die Rolle gespielt, die Uebergangszeit zu ermöglichen.

Sehen wir nun aber zu, wie die zufällig angeborenen und daher erblichen Eigenschaften, welche durch natürliche Zucht - wahl gehäuft worden wären, eigentlich beschaffen sein müssten, so finden wir, dass sie auf allen Stufen des Ueberganges immer genau das darstellen müssten, was die functionelle Anpassung bereits gebildet hat, was aber in Folge der ihrer Wirkung mangelnden Erblichkeit nicht auf die Nachkommen übertragbar gewesen wäre. Also alle diese Millionen Veränderungen, welche das Individuum durch functionelle Anpassung in einer gewissen Stärke gleich auf einmal erwirbt, müssten nach und nach auf dem unendlich weiten Umwege der beliebigen Variation und der Auslese von neuem erworben und fixirt worden sein. Und dies müsste nicht blos für jeden Theil einmal stattgefunden, sondern für jeden Theil Stufe für Stufe bis zum Grade der vollkommenen Anpassung sich wiederholt haben. Dass wir aber46I. Die functionelle Anpassung.nicht zu viel gesagt haben, als wir von Millionen Einzeleigen - schaften redeten, geht daraus hervor, dass die Elementartheile fast aller Organe des Körpers mehr oder weniger umgeändert werden müssen; wir hätten daher wohl richtiger von Milliarden reden können.

Es müsste nicht blos hier, sondern es müsste überall bei der weiteren Entwickelung der Organe dasjenige, was die functionelle Anpassung in tausend Theilen des Organismus gleich - zeitig Zweckmässiges geschaffen hätte, dann erst durch Tausende von Generationen dauernde zufällige Variationen und Auslese immer wieder von Neuem, aber in vererbbarer Form, erworben worden sein und erworben werden, wenn die Wirkung der functionellen Anpassung absolut nicht vererblich wäre. Ueber - tragen sich dagegen ihre Bildungen, sobald sie mehrere Gene - rationen hindurch erworben und erhalten worden sind, auf die Nachkommen, so findet damit eine grosse Zahl der Zweckmässig - keiten des thierischen Organismus ihre Erklärung, sofern nur die functionelle Anpassung selber erklärt ist, und es ist ver - ständlich, dass bei den Menschen diese Vererbung sehr gering ist, weil fast jede Generation eine andere Lebensweise und Beschäftigung hat und die ungemeine Vielseitigkeit der Thätig - keit des Individuums mit der Ausbildung fester Mechanismen auch ihre Vererbung erschwert. Deshalb finden wir bei ihnen blos diejenigen functionellen Anpassungen vererbt, welche trotz des sonstigen allgemeinen Wechsels constant sind: die Coordi - nationen der Muttersprache, die coordinirten Augenbewegungen und die allgemeinsten Begriffe von Raum, Zeit, Causalität.

Die Sprach - und Augenmuskel-Coordinationen müssen, wenn sie irgend etwas nützen sollen, immer gleich in so viel tausend Ganglienzellen-Verbindungen stattfinden, dass eine Entstehung durch zufällige embryonale Variation und Summirung derselben durch Auslese nicht möglich ist, und wenn also eine Disposition47B. Erblichkeit der Wirkungen der functionellen Anpassung.für diese Ausbildung als angeboren angenommen werden muss, so kann sie nur von Vererbung erworbener, functioneller An - passung herrühren.

2. Theoretisches über Vererbung und Entwickelung.

Nach diesem Thatsächlichen über die Vererbung wollen wir noch einiges Principielle, Theoretische darüber anführen.

Zunächst ist auf einen Irrthum hinzuweisen, welcher bei der Beurtheilung der Erblichkeit von Bildungen oft gemacht wird. Viele betrachten diejenigen und zwar nur diejenigen Bildungen als ererbte, welche regelmässig angeboren werden. Diese Auffassung aber muss nach beiden Richtungen hin als unrichtig bezeichnet werden. Weder sind alle regel - mässig angeborenen Bildungen als direct vererbt anzusehen, noch dürfen alle Bildungen, welche nach der Geburt auftreten, als nicht vererbte, sondern erworbene gedeutet werden.

Wenn Ersteres richtig wäre, wenn alle angeborenen Bil - dungen vererbt wären, so würden wir in dem obigen angeführten Beispiele der angeborenen functionellen Structur der Binde - gewebshäute und der Arterien einen der besten Beweise für die Erblichkeit der durch functionelle Anpassung hervorge - brachten Bildungen haben, und man würde wohl auf die erste Ueberlegung hin geneigt sein, sie so zu verwenden. Leider wäre dies incorrect; denn dieser Schluss beruhte alsdann auf einer nicht richtigen, oberflächlichen Auffassung des Vererbten.

Der Moment der Geburt kann durchaus nicht als eine Grenz - scheide von Ererbtem und Erworbenem betrachtet werden. Denn einmal tritt in Wahrheit ein principiell neuer Zustand durch die Geburt blos für die Athmungs - und Verdauungsorgane ein; alle anderen Organe wurden schon in der Gebärmutter von48I. Die functionelle Anpassung.functionellen Reizen getroffen und fungirten somit mehr oder weniger.

Die Bewegungen des Embryo im Mutterleibe sind allen bekannt; aber dass solche embryonalen Bewegungen schon in den allerfrühesten Stadien und in andauerndster Weise vor - kommen, verdanken wir erst den neuesten Untersuchungen von Preyer1)Preyer, Jenaer med. naturw. Zeitschr. 1880., den Resultaten seiner an Hühnereiern angestellten Embryoscopie. Er sah, dass der Hühnchenembryo schon vom dritten Brüttage an den Rumpf und die Extremitäten lebhaft rhythmisch bewegte.

Daher stehen schon vom Anfang ihrer Bildung an die be - treffenden Muskeln mit ihren Sehnen, Aponeurosen und Fascien, sowie die Skelettheile mit ihren Gelenkenden, mit Kapseln und Bändern unter dem gestaltenden Einflusse dieser Function und wir sind aus diesem Grunde nicht berechtigt, die betreffenden angeborenen Bildungen rein als vererbte anzusehen. Wir sind nicht im Stande, zu beurtheilen, wie viel vererbt, wie viel durch functionelle Anpassung erworben ist, weil wir die embryonale functionelle Anpassungsgrösse und - Geschwindigkeit nicht kennen und weil wir noch nicht die primär vererbten von den secundären Bildungen zu unterscheiden vermögen. Aus dem Nachstehenden wird sich ergeben, dass nur relativ wenige primäre Charaktere vererbt zu werden brauchen, vorzugsweise vielleicht diejenigen, die auch ursprünglich durch embryonale Variation entstanden waren und dann mit Hilfe der dadurch bestimmten Richtung der functionellen Anpassung die specifischen Einzelformen hervor - gebracht haben.

Noch weniger als für die Muskeln, Skelettheile, Bänder und Fascien kann die innere Structur und die äussere Form der angeborenen Blutgefässe als vererbt aufgefasst werden; denn die Blutgefässe fungiren fortwährend im Embryo von ihrer ersten49B. Erblichkeit der Wirkungen der functionellen Anpassung.Anlage an, und die erwähnte Structur ihrer Wandungen und die Gestalt ihrer Lichtung wird also in der gleichen Weise durch functionelle Anpassung entstehen können, wie im Erwachsenen die berufsmässige ungleiche Ausbildung der Organe.

Die Sinnesorgane werden mehr oder weniger von Reizen getroffen und letztere können ausgestaltend bei der Bildung der percipirenden Theile derselben mitwirken, wenn auch wohl diese Wirkung zumeist nur gering sein wird.

Das Gleiche wie für die Säugethiere gilt von der Ent - wicklung der Vögel; auch hier ist ein fester Zeitpunkt vor - handen, wo eine augenfällige, der nicht eingehenden Betrach - tung als wesentlich genug imponirende Wandlung der Lebens - bedingungen eintritt, um ihn als die Grenzscheide des Ererbten und des Erworbenen anzusehen: der Moment des Auskriechens aus dem Ei. Ist schon diese Auffassung nach dem Obigen durchaus unberechtigt; wo aber liegt nun die entsprechende Grenzscheide bei Amphibien und Fischen, welche von vorn herein fast wie im Freien leben und durch ihre Eihülle nur relativ wenig vor den Reizen der Aussenwelt geschützt sind? Wer will hier wagen, einen Moment festzusetzen, wo die ver - erbten Bildungen aufhören und das Erwerben von Eigenschaften durch functionelle Anpassung des Embryo anfängt! In wie relativ frühem Stadium der Entwickelung sind hier die Thiere schon auf Selbsternährung angewiesen! Will man hier vielleicht als Grenzscheide des Vererbten und des Erworbenen den Moment nehmen, von welchem an das Thier blos noch dem Aehnlich - keitswachsthum folgt, blos noch in allen Theilen gleichmässig sich vergrössert? Dann müsste man aber analog das Menschen - leben fast bis zum Ausgewachsensein als Embryonales oder Vererbtes bezeichnen, denn bekanntlich findet wirkliches Aehn - lichkeitswachsthum überhaupt nicht statt, sondern in jeder Ent - wickelungsperiode wachsen die verschiedenen Organe ungleich. Roux, Kampf der Theile. 450I. Die functionelle Anpassung.Bezüglich der äusseren Proportionen lehrt uns die Anatomie für Künstler, dass jedes Alter durch gewisse Proportionen seiner Körpertheile charakterisirt ist, und die Wägungen der inneren Organe in den verschiedenen Altern ergeben das Gleiche. Ein - gehende morphologische Untersuchungen bestätigen dies in allen Organen1)Siehe W. Henke, Anatomie des Kindesalters, in: Gerhardt, Handbuch der Kinderheilkunde. Bd. I. p. 227 ff. 1877..

Wo hört nun das vererbte Wachsthum auf? Alle diese un - gleichen Veränderungen der Organe in den verschiedenen Ent - wicklungsperioden bis zum Ausgewachsensein sind, soweit sie innerhalb des fest Normirten sich halten, offenbar vererbt.

Es lässt sich hier nichts entscheiden, so lange wir nicht klar darüber sind, was überhaupt unter vererbten Bildungen zu verstehen ist. Jedenfalls ist es willkürlich, die Entstehung der vererbten Bildungen in den embryonalen Zeitraum zu bannen und alle postembryonalen Bildungen als erworben zu bezeichnen. Embryonal, von ἔμβρυος, das (in einen andern Körper) Ein - geschlossene, bezeichnet blos einen einzigen Umstand des Ge - schehens, den eines gewissen Abgeschlossenseins, und gewiss kann alles, was in dieser Zeit sich vollzieht, embryonal genanut werden. Aber einmal ist, wie erwähnt, dieses Abgeschlossensein von der Aussenwelt von äusseren Einwirkungen ein sehr un - vollkommenes, und zweitens fällt, wie wir gezeigt haben, diese Periode keineswegs mit der Ausbildung des Vererbten zusammen. Wenn wir aber die Bezeichnung » embryonal «, um der Gewohn - heit zu folgen, identisch mit » vererbt « gebrauchen wollen, nach dem Principe a potiori fit denominatio, weil die in der embryo - nalen Zeit ablaufenden Bildungen zumeist vererbte sind, so dürfen wir uns nicht scheuen, auch die Entwickelung des Jüng - lingsalters zum grossen Theil noch als embryonale zu benennen.

Unter » vererbt « versteht man im gewöhnlichen Sinne Bil -51B. Erblichkeit der Wirkungen den functionellen Anpassung.dungen, welche schon die Vorfahren eines Individuums besassen und ohne Weiteres auf die Nachkommen übertragen haben, wie ein durch Arbeit erworbenes Vermögen des Vaters durch Ver - erbung einfach auf die Kinder übergeht, ohne dass diese wieder etwas von der Arbeit der Vorfahren zu leisten haben, um es zu gewinnen. Diese Bedeutung scheint mir das Wesen zu treffen und geeignet zu sein, auf das biologische Geschehen übertragen zu werden. Von den Eltern werden die neuen Eigen - schaften durch Thätigkeit, durch Anpassung an functionelle und andere Reize erworben und bilden den biologischen Vermögens - zuwachs zu dem ihnen selbst durch Vererbung Ueberkommenen, welchen sie als ihren Erwerb den Nachkommen überlassen. Ererbt sind also nun diejenigen Bildungen, welche auf die Kinder von selber übertragen werden, ohne functionelle Thätig - keit, ohne Mitwirkung gestaltender Reize.

Da aber, wie erwähnt, viele Muskeln im Embryo fungiren, so werden die davon abhängigen Theile, die Sehnen, die Skelet - theile, Gelenkkapseln, Bänder und Fascien der Thätigkeit unter - worfen und daher gezwungen, die abhängigen Eigenschaften auszubilden; und wenn die Anlage der Muskeln durch patho - logische Einwirkung gestört ward, so wird Niemand erwarten, die Sehnen, Fascien, Knochen etc. in normaler Weise entwickelt vorzufinden, was denn nach Alessandrini und E. H. Weber auch dem thatsächlichen Verhalten entspricht. Diese1)S. Archiv für Anatomie u. Physiologie. 1851. p. 547 ff. fanden an Missbildungen, dass beim Fehlen der Anlage des Rücken - marks im entsprechenden Nervenbezirk mit den Nerven auch die Muskeln fehlten und dass die zugehörigen Knochen und Gelenke abnorm gebildet, letztere zum Theil steif waren. Sehnen und Sehnenhäute fand Weber zwar vorhanden, aber ob sie vollständig normal waren, berichtet er nicht, und es erscheint4*52I. Die functionelle Anpassung.sehr unwahrscheinlich. War dagegen das Rückenmark ursprüng - lich angelegt, aber im späteren Embryonalleben durch Krank - heit zerstört (Spina bifida), so fanden sich die Theile des Be - wegungsapparates anscheinend vollkommen normal, und es muss danach weiteren Untersuchungen vorbehalten bleiben, zu ent - scheiden, wie weit active embryonale Function der Muskeln oder blosser Tonus derselben zur normalen Ausbildung ihres Stützapparates nöthig ist.

Ebenso fand G. Joessel1)Zeitschr. f. Anatomie von His u. Braune. 1877. Bd. II. p. 143. beim Fehlen der Sehne des langen Kopfes des Biceps auch den Sulcus intertubercularis, in welchem sie verläuft, nur schwach ausgebildet und die Synovialkapsel war nicht in diesen Sulcus ausgestülpt; eine Angabe, welche ich aus eigner mehrfacher Beobachtung bestä - tigen kann. Mit der Abhängigkeit der Ausbildung der passiv fungirenden Theile von embryonaler Functionirung der activen stimmen ferner überein die Resultate der Untersuchungen von Heiberg2)Schmidt’s Jahrbücher. 1879. Bd. 182. Nr. 2., welcher fand, dass die Gelenkkapseln des Neu - geborenen noch stärker und straffer an den Beuge - und Streck - seiten sind, als beim Erwachsenen, dass die accessorischen Bänder schwächer sind oder noch ganz fehlen, und ferner hier nicht weiter aufzuzählende Merkmale.

Aug. Förster3)Die Missbildungen des Menschen. II. Aufl. Tafel VIII, Fig. 9. beschreibt eine Orbita (Augenhöhle), in welcher kein Auge war; aber sie war auch nicht normal, son - dern enger, als die Orbita mit Auge.

Aus diesen Beispielen scheint hervorzugehen, dass die Gebilde der Stützsubstanzen zwar selbständig angelegt, aber nur unter Mitwirkung der von ihnen gestützten Theile, also unter dem Einflusse der Function ihre normale Ausbildung erlangen.

Beispiele anderer, vielleicht aber auch functioneller, Ab -53B. Erblichkeit der Wirkungen der functionellen Anpassung.hängigkeit sind folgende: Wenn von einem Muskel im Embryo ein Theil der Fasern aberrirt, so variiren in der entsprechenden Weise zugleich auch die zugehörigen Nerven, Blutgefässe und Sehnenfasern. Wenn man nach J. Carrière1)J. Carrière, Ueber die Regeneration bei den Landpulmonaten. 1880. einer Schnecke das Fühlerganglion zugleich mit dem Fühler und dem Auge weg - schneidet, so wächst kein neues Auge wieder, während es ausserdem in der vollkommensten Weise geschieht.

Aus dem Vorstehenden folgt also nicht, dass die passiv fungirenden Theile, die Stütz-Substanzen, in absoluter Abhängig - keit von den activen Theilen entstünden. Es scheint mir viel - mehr nicht unmöglich, dass auch gelegentlich das Verhältniss sich umkehren kann, dass z. B. eine ursprünglich durch embryo - nale Variation erworbene und von der Auslese gezüchtete Ver - änderung der Knochen, welche zu einer Aenderung des Ge - brauches der Extremität und somit zu entsprechender Umgestal - tung der Muskeln durch functionelle Anpassung Veranlassung gegeben hat, auch im Embryo wiederum primär entstehen und erst secundär zur Ausbildung der nöthigen Muskelformen führen werde.

Das Gleiche gilt von den Blutgefässen. Auch sie müssen, wie erwähnt, immer schon fungiren, und wenn das Organ, zu welchem sie gehören, z. B. eine Niere, fehlt, so bleiben die Blutgefässe nicht erhalten, bilden sich nicht etwa normal weiter aus in der gleichen Weise, als wenn die Niere vorhanden wäre. Sie sind abhängige Bildungen, welche durch functionelle An - passung im Embryo ihre normale Grösse und Gestalt erhalten, nicht aber zufolge fester Vererbungen selbständig sich entwickeln und ausbilden. Es kann nicht als dagegen sprechend angesehen werden, dass gelegentlich auch die Blutgefässe selbständig wachsen und Geschwülste bilden wie die Teleangiome (rothe54I. Die functionelle Anpassung.Muttermäler) und cavernösen Angiome (venöse Blutgefässge - schwülste). Denn wir kennen für diese Theile ebensowenig einen sicheren Grund, wie für alle anderen, welcher sie zu besonderem Wachsthum anzuregen vermag, als welcher dies zu verhindern vermöchte, und zeigen doch gerade die nach dem Erwähnten bei der Gestaltbildung abhängigen Theile, die Binde - oder Stützsubstanzen, Knochen, Knorpel und Bindegewebe, am häufigsten Geschwulstbildungen, während die activ thätigen Ganglienzellen, Nerven und Muskeln nur selten dazu kommen, wahrscheinlich weil sie, wie später erörtert werden wird, zu rasch und zu vollkommen unter die Herrschaft der functionellen Reize gelangen, so dass sie ohne diese letzteren nicht leben, also auch nicht wachsen und Geschwülste bilden können.

Also nur diejenigen Bildungen, welche ohne Einwirkung oder Mitwirkung, oder nur soweit sie ohne solche Einwirkung gestaltender functioneller Reize im Embryo entstehen, sind als direkt vererbte zu bezeichnen.

Wenn wir einer erwachsenen Schnecke die Augen ab - schneiden, so wachsen sie wieder, auch wenn die Schnecke im Dunkeln gehalten wird. Die Neubildung des Auges ist also ein embryonales Geschehen, welches sich hier am Erwachsenen vollzieht, denn der Akt des Abschneidens kann nicht als wirk - liche Ursache der Bildung eines Auges angesehen werden, son - dern blos als Gelegenheitsursache. Die Gestaltung des Auges erfolgt ohne äussere Ursache zufolge innerer Eigenschaften der Theile. Der Fühler hat also ausser seiner Qualification als Träger noch die embryonalen Eigenschaften zur Bildung eines Auges bewahrt. Die Zellen oder blos bestimmte Zellen dieser Thiere enthalten vielleicht, sei es etwa in ihrem Kerne oder in der Umgebung desselben, noch wirkliche, nicht modificirte Reste embryonaler Substanz, welche dann bei Defecten Gelegenheit erhält, ihre bildnerischen Eigenschaften zu bethätigen.

55B. Erblichkeit der Wirkungen der functionellen Anpassung.

Wir werden nach dem Gesagten fernerhin blos das, was rein aus inneren Ursachen ohne jede ausserhalb des Theiles selber gelegene differenzirende Einwir - kung formal oder chemisch sich differenzirt oder auch nur grösser wird, als vererbt oder embryonal bezeichnen. Also was aus eigener Kraft wächst und sich differenzirt, schon das, was aus eigener Kraft die Fähigkeit hat, mehr Nahrung anzuziehen und sich zu assimiliren, als es verbraucht, also aus eigener Kraft zu wachsen, ist embryonal im Gegensatze zu der Vergrösserung der normalen Organe des Er - wachsenen, welche letzteren, wie wir in späteren Kapiteln dar - zulegen beabsichtigen, blos unter Einwirkung der functionellen oder anderer Reize zu weiterem Wachsthum angeregt werden können: eventuell auch, wie vielleicht die Bindesubstanzen, schon wenn ihnen durch Reizeinwirkung nur mehr Blut zuge - führt wird, sich zu vergrössern vermögen.

Die Consequenzen, die sich aus dieser Auffassung ergeben, werden weiter unten ausführlich dargelegt und begründet werden. Hier wollen wir rückwärts schreitend die Entwickelung des Ver - erbten und dann das Wesen der Vererbung selber etwas discu - tiren, so viel oder richtiger so wenig es uns mit den Kenntnissen unserer Zeit förderlich erscheint.

Die Vorbedingungen der Entwickelung sind von den wesentlichen Eigenschaften des Organischen der Stoffwechsel und die Gestaltung aus chemischen Processen. Beide sind uns unverständlich, am vollkommensten indessen das letztere Ge - schehen.

Das Wesen des Stoffwechsels besteht darin, dass im Ver - laufe der Processe, welche die Organismen darstellen, die den Process vollziehenden Bestandtheile in ihrer chemischen An - ordnung verändert werden, so dass sie zu weiterem Fortgange des Processes untauglich sind und abgeschieden werden müssen,56I. Die functionelle Anpassung.während gleichzeitig die Fähigkeit entwickelt wird, dafür aus der Umgebung im Bereich der Molecularattraction befindliche, different gruppirte Theile anzuziehen und in sich Gleiches um - zugruppiren. Letzterer Vorgang heisst Assimilation, ersterer Dissimilation (Hering). Die Fähigkeit der Dissimilation hat nichts Wunderbares, da sie in den anorganischen Processen fortwährend uns entgegen tritt. Dagegen ist die Assimilation weniger verständlich. Sie ist zu vergleichen der Ausbildung der Recruten bei einem Regimente; immer werden neue Mann - schaften durch die Unterofficiere eingeschult, » assimilirt «, und dies geschieht in den Regimentern jeder Waffengattung in anderer Weise. Und immer scheiden wieder alte oder getödtete aus dem Verbande aus. Als Ganzes betrachtet, wechselt fortwährend das Material, die Insubstantiirung und das Bleibende ist blos das Regiment als Abstractum, vertreten durch seine Statuten. Ebenso wie in einer Schule dem Regulativ gemäss im Laufe der Zeit durch ganz verschiedene Directoren und Lehrer den Schülern das Gleiche gelehrt wird; und immer ist dabei die Zahl der Lehrer, der Assimilatoren, eine relativ geringe gegen die Zahl der Schüler, der Assimilanden.

Bei der Entwickelung des Embryo ist es aber doch an - ders. Hier kommt zur Assimilation ein neuer Factor hinzu. Sehr wenige Lehrer, die Bestandtheile des befruchteten Eies, nehmen viele neue Bestandtheile von aussen auf und assimiliren sie. Aber das Neue, das Wunderbare ist nun, dass die Lehrer sich dabei weiter verändern und die Schüler ebenfalls. Die Statuten sind also keine festen, sondern für jede folgende Zeit andere für Lehrer und Schüler. Ob nun den Statuten zuerst die Lehrer folgen und diese blos immer die Schüler assimiliren oder ob die Statuten auf Lehrer und Schüler zugleich fortbildend wirken, wissen wir nicht. Es ist eine Wanderung wie durch Elementar - schule, Volksschule, Gymnasium, Universität nach einander, aber57B. Erblichkeit der Wirkungen der functionellen Anpassung.mit der Besonderheit, dass die Schüler immer gleich zu Lehrern werden, dann in der nächst höheren Schule als Schüler ein - treten, daselbst assimilirt, lehren und zur nächst höheren Schule als Schüler übergehen. Der Lehrer ist hier dem Schüler wohl immer nur um ein weniges voraus. Im Ganzen dasselbe findet bei unseren Schulen auch statt, aber das Räthsel in der Ent - wicklung des Eies ist, wodurch und wie sich aus den ursprüng - lichen Statuten der Elementarschule von selber nach einander die der Volksschule, des Gymnasiums und der Universität ent - wickeln. Ganz abgesehen von der Frage, wie die Einwirkung der Statuten auf die Lehrer stattfindet, indem wir annehmen, dass die Materie des Eies in ihrer chemischen Constitution bereits die geschulten Lehrer der Elementarschule darstellt.

Es ist aber klar und selbstverständlich, dass es keine ein - fachen Elementarlehrer sein können, wenn sie die Fähigkeit haben, sich von selber zu Gymnasiallehrern weiter zu entwickeln und ihre Schüler bereits in der nächsten Zeit ebenfalls zu Gymna - siallehrern vorzubereiten und diese letzteren nun sich selber zu Universitätslehrern ausbilden. Es wird von Anfang an wohl der Elementarunterricht anders gelehrt werden, er wird schon etwas von dem geläuterten Geiste des Gymnasiums an sich tragen, etwa als wenn ein Gymnasiallehrer den Elementar - unterricht giebt, und die Fähigkeit der weiteren Entwicklung muss potentia schon vorhanden sein. Diese nothwendige Ver - schiedenheit von vorn herein ist es, welche His und Andere dem biogenetischen Grundgesetze von Fritz Müller und Häckel mit Recht entgegenhalten. Unmöglich kann, wie His hervorhebt, ein Ei, welches die chemischen Bestandtheile zur späteren Entwickelung eines Menschen in sich trägt, in irgend einem Stadium wirklich gleich sein einem Ei, welches zur Entwicklung eines Vogels oder Amphibium fähig ist. Diese nothwendige chemische Differenz kann nicht eine Zeit vollkommen58I. Die functionelle Anpassung.wirkungslos sein und sie wird nicht blos zu Abkürzungen der Vererbung, sondern zu wirklichen Abweichungen führen müssen. Da aus dem chemischen Geschehen sich erst das morphologische ableitet, so werden auch diese chemischen Differenzen sich morphologisch in früherer Zeit schon irgendwie, sei es für uns erkennbar oder nicht erkennbar, geltend machen müssen, ganz abgesehen von den allseitig anerkannten speciellen Anpassungen an die Geschlechtsorgane der Mutter.

Das biogenetische Grundgesetz in der Fassung, dass die embryonale Entwicklung eine, wenn auch in mancher Beziehung abgekürzte Wiederholung der Stammesgeschichte der Vorfahren sei, ist also principiell falsch, ebenso principiell falsch, wie auch das Newton’sche Gravitationsgesetz, das Mariotte’sche Gesetz wie das Fallgesetz in Wirklichkeit falsch sind. Ersteres wäre blos richtig, wenn die Massen der gegen einander gravitirenden Körper beiderseitig blos in einem Punkte vereinigt wären; das zweite wäre blos richtig, wenn die Molekel selber keinen Raum einnähmen, und wer hat drittens je einen geworfenen Stein nach dem Fallgesetz fallen sehen, ihn je eine wirkliche Parabel beschreiben sehen? Niemand! Und trotzdem wird es immer in der Schule und mit Recht gelehrt werden. Die analytische Betrachtung berechtigt, nöthigt uns dazu. Die Eine Componente des Luftwiderstandes weggedacht, ist das Gesetz richtig, aber beim wirklichen Geschehen wirkt sie stets alterirend mit. Je kräftiger die ändernde Componente wirkt, um so mehr wird die Wirkung der anderen beeinträchtigt und schwerer erkennbar gemacht sein. Trotzdem aber nöthigt uns das Bestreben nach Verständniss der zusammengesetzten wechselnden Erscheinungen, analytisch zu verfahren und die einzelnen Componenten aufzu - suchen und gegen einander abzuwägen. An der geworfenen Flaumfeder wird man auch bei sogenannter Windstille nichts mehr von einer Parabelbewegung beobachten; trotzdem ist ihr59B. Erblichkeit der Wirkungen der functionellen Anpassung.zu Anfang die Tendenz einer solchen Bewegung mitgetheilt worden und die Parabel würde sich aus der zickzackförmigen Falllinie rein herausconstruiren lassen, wenn man den Wider - stand der bewegten Luft genau abzuziehen vermöchte.

Eine solche gestaltende Componente der Entwicklungs - geschichte bezeichnet nun das biogenetische Grundgesetz, denn die Entwickelung der Organismen ist nicht blos eine Hervor - bildung des Complicirten aus dem Einfachen auf dem geraden Wege, sondern es kommen Umwege dabei vor, und mancher gethane Schritt muss wieder zurückgethan werden. Wir er - innern nur an die bekannten Beispiele der Kiemenspalten und Kiemenarterien, welche nachträglich wieder zuwachsen müssen, ebenso an die Chorda dorsalis und an die durchaus überflüssigen functionslosen Gebilde, den Hirnanhang Hypophysis, und die Zirbeldrüse. Mit dem Range einer solchen wichtigen, form - gebenden Componente wird das Gesetz seine dauernde Berech - tigung haben. Die Grösse seiner erkennbaren Wirkung aber muss für jedes Stadium der Entwickelungsgeschichte, für jedes Organ und für jede Thierklasse und Species besonders fest - gestellt werden.

Schliesslich sei es gestattet, noch einiges Theoretische über den Grad der Vererbung, über die Verschiedenheit in der Uebertragung elterlicher Eigenschaften auf das Ei, respective auf den Samen zu sagen. Die Geschlechtszellen, also die ersten Fortpflanzungsproducte, sondern sich nach C. Grobben1)Arbeiten aus dem zoolog. Institut in Wien. Bd. II. und M. Nussbaum2)Archiv für mikrosk. Anatomie. Bd. 18. schon vor der Bildung der Keimblätter in dem angelegten neuen Individuum ab. Dies weist auf eine gewiss hochgradige Selbständigkeit derselben hin, und da sie schon so früh von ihrem Vater sich absondern, ehe dieser nur selber zu irgend etwas differenzirt ist, so beweist das, dass60I. Die functionelle Anpassung.sie die Erbschaft ihrer Vorfahren sehr bald potentia als eine Anweisung erhalten, ehe ihr Vater nur selber im Stande ge - wesen ist, die seine in Specialbesitz, in Einzelbildungen um - zusetzen.

Trotzdem aber bleibt dieses früh von dem Vater, respective von der Mutter gesonderte Wesen doch in Abhängigkeit und in Verkehr mit ihnen, denn es muss sich nähren, vergrössern, vermehren, und dazu erhält es die Nahrung vom Vater durch chemischen Stoffverkehr, und durch diesen kann es nun auch in seiner Natur beeinflusst werden. Demnach muss es am wahr - scheinlichsten sein, dass die chemischen Differenzirungen, die chemischen Alterationen der Eltern sich am leichtesten auf die Nachkommen übertragen, leichter voraussichtlich, als blos formale Veränderungen, wie etwa stärkere Ausbildung dieser oder jener Muskelgruppe. Weil wir die geistigen Eigenschaften, die Tem - peramente, chemischen Alterationen, nicht morphologischen zu - schreiben müssen, so ist die hochgradige Erblichkeit derselben verständlich und in gleicher Weise die hochgradige Vererblich - keit der Instincte und der Geisteskrankheiten. So ist es auch denkbar, dass chemische Alterationen der anderen Theile, etwa thatkräftigere chemische Constitutionen der Muskeln oder der Drüsen, welche durch geeignete Nahrung erworben worden sind, sich leichter auf das Kind übertragen.

Ob aber etwa Theile mit stärkerem Stoffwechsel, wie die Muskeln, Ganglienzellen, Drüsen, deren Nahrungsbestandtheile also vielleicht auch in grösserer Menge im Blute befindlich sind oder leichter diffundiren, chemische Alterationen leichter über - tragen, als die Theile mit geringerem Stoffwechsel, wie die Stützsubstanzen, ist nicht bekannt. Eine analytische Unter - suchung hätte jedenfalls aber darauf zu achten, neben der haupt - sächlichen Beobachtung des Unterschiedes der Vererblichkeit erworbener formaler und erworbener qualitativer Charaktere.

61B. Erblichkeit der Wirkungen der functionellen Anpassung.

Die geringere Vererbbarkeit später im Leben erworbener Eigenschaften als früherer, schon im Embryonalleben erworbener, angeborener könnte danach beruhen theils auf einer immer mehr zunehmenden Selbständigkeit des Lebens der Geschlechtszellen, welche sich trotz der nöthigen grossen Nahrungszufuhr in electiven Eigenschaften bewähren kann, andererseits aber darauf, dass im Embryo oder im jugendlichen Körper ändernde Einflüsse leichter nicht blos lokal-formal bleiben, sondern man möchte sagen, leichter chemisch werden. Alle Gestaltung ist doch durch chemische Verhältnisse bedingt, so z. B. die Gestaltung des Oberarmes und seiner Muskeln, obgleich sie jedenfalls nicht anders zusammengesetzt sind, als die des Oberschenkels. So könnte vielleicht auch eine formale Veränderung, durch äussere Einwirkung auf den Embryo oder auf das geborene Individuum hervorgebracht, leichter eine chemische Veränderung bedingen und als solche sich leichter auf den Samen übertragen. Die Leichtigkeit der Uebertragung chemischer Aenderungen auf die Geschlechtsproducte ist am bekanntesten durch die Uebertrag - barkeit der Infectionskrankheiten, z. B. Blattern, Syphilis, auf den Foetus oder auf den Samen; und bekanntlich kann nach v. Rosen, J. Hutchinson, E. Fränkel u. A. die Syphilis vom Vater allein auf das Kind übertragen werden, ohne dass die Mutter erkrankt.

Durch die Zurückführung erworbener Formänderungen auf chemische Aenderungen und durch deren leichtere Uebertrag - barkeit auf den Samen und auf das Ei in dem chemischen Stoffwechsel, welcher zwischen ihnen und dem Vater resp. der Mutter stattfindet, wird das Problem der Vererbung als solches aufgehoben und die Erscheinung auf ein allgemei - neres Problem, das der Gestaltung aus chemischen Processen, welches die Grundlage der ganzen Biologie ist, zurückgeführt. Neben diesem Probleme bleibt dann noch das62I. Die functionelle Anpassung.speciellere Problem der successiven chemischen Aen - derung im Ei, der chemischen Entwickelung des Eies, aus welchem sich dann die successive formale Entwicke - lung nach dem ersten Principe von selber ableitet.

Das Zeitliche der Vererbung ist noch mit einem Blicke zu berücksichtigen; zwar nicht in der Hoffnung, dass vielleicht die primären, direct vererbbaren Charaktere erkenn - bar früher auftreten sollten, als die von ihnen erst in Abhän - gigkeit entstehenden secundären, denn die Fühlung in allem Organischen ist eine sehr feine und das Primäre ist dem Secun - dären meist nur um ein Zeit - und Raumdifferential voraus, so dass sie für unsere Blicke leider fast immer als gleichzeitig erscheinen und die Feststellung eines causalen Zusammenhan - ges blos experimentell durch Aenderungen einer Componente erforscht werden kann. Nicht also in solcher Hoffnung geden - ken wir am Schlusse dieses für seinen nothwendig dürftigen Inhalt überflüssig langen Capitels der zeitlichen Verhältnisse der Vererbung, sondern um für die Vererbung erworbener Eigen - schaften eine gerechtere Beurtheilung zu erwirken.

Wer als vererbte eigentlich blos die angeborenen Charak - tere betrachtete, konnte natürlich functionell erworbene Anpas - sungen der Eltern nicht als vererbbar constatiren; denn es trat allerdings nicht ein, dass die im zwanzigsten Lebensjahre des Vaters erworbenen Eigenschaften sogleich bis in die embryo - nale Zeit zurückrückten. Bekanntlich findet dieses Zurück - rücken erworbener Eigenschaften ins Embryonalleben nur sehr langsam statt, und es ist daher selbstverständlich, dass die erst im höheren Alter erworbenen Eigenschaften auch nur wenig früher durch Vererbung bei den Nachkommen auftreten werden, wie es selbstverständlich ist, dass die embryonal erworbenen Variationen auch gleich wieder im Embryonalleben der Nach - kommen zum Vorschein kommen. In Folge dieses langsamen63B. Erblichkeit der Wirkungen der functionellen Anpassung.Zurückrückens müssen viele Generationen vergehen, ehe eine im Mannesalter erworbene Eigenschaft schon in früheren Ju - gendstadien auftritt. Daher kann bei der wechselnden Beschäf - tigung der Menschen sehr leicht eine vererbte Eigenschaft, ehe sie noch offenbar geworden ist, durch andere Lebensweise des Nachkommen wieder aufgehoben werden, so dass ihre Verer - bung gar nicht erkennbar zu Tage tritt.

Das sind wohl die Gründe, warum zur erkennbaren Ver - erbung sogenannter erworbener Veränderungen viele Genera - tionen hindurch dauernde Einwirkung der umgestaltenden Ur - sache erforderlich ist, einmal, um die Eigenschaft mehr zu be - festigen, andererseits, um sie in früheren Stadien des Lebens auftreten zu lassen.

Es scheint mir ferner eine berechtigte Auffassung zu sein, welche Darwin in einem trefflichen Beispiele ausspricht, ohne indessen das Princip zu entwickeln, indem er erwähnt, dass mit dem zunehmenden Alter die Handschrift des Menschen manchmal mehr Aehnlichkeit mit der des Vaters erlange. Dem liegt der Ge - danke zu Grunde, dass vererbte erworbene Eigenthümlichkeiten der Vorfahren, statt nach der Jugend zurückzurücken, durch die ändernden Einflüsse der Aussenwelt auf die bildsame, an - passungsfähige Jugend unterdrückt werden können und erst im reiferen Alter, wenn einmal diese Wechselwirkung mit der Aussenwelt eine geringere geworden ist, mehr und mehr her - vortreten. Ich glaube dem entsprechend beobachtet zu haben, dass beim Manne die Familiencharaktere, besonders die geisti - gen, manchmal erst im späteren Alter mehr und mehr sich ausbilden und zum Vorschein kommen, nachdem sie in der Jugend durch Erziehung ausserhalb der Familie unterdrückt worden waren.

[64]

II. Der Kampf der Theile im Organismus.

A. Begründung.

Wohl Manchem mag die Aufschrift dieses Capitels und des Buches befremdlich erscheinen, da sie andeutet, dass in dem thierischen Organismus, in welchem alles so vorzüglich geord - net ist, in dem die verschiedensten Theile so trefflich ineinander greifen und zu einem hochvollendeten Ganzen zusammenwirken, dass darinnen ein Kampf unter den Theilen stattfinde, also an einem Orte, wo alles nach festen Gesetzen sich vollzieht, ein Widerstreit des Einzelnen existire. Und wie könnte ein Gan - zes bestehen, dessen Theile unter einander uneins sind?

Und doch ist es so. Es geht im Organismus, wie sich zeigen wird, nicht alles friedlich neben einander und mit ein - ander hin, weder im Stadium der Gesundheit und noch weniger in dem der Krankheit. Für letzteren Fall ist zwar die Vor - stellung einer inneren Uneinigkeit der Theile geläufig, aber die deletären Wirkungen derselben haben wir auch täglich vor Augen.

Wie aber soll das Gute, das Dauernde aus dem Streite, aus dem Kampfe hervorgehen? So fragt vielleicht noch einmal ein durch die Arbeit der letzten Decennien nicht von der all - gemeinen Wahrheit Ueberzeugter, dass alles Gute nur aus dem Kampfe entspringt.

65A. Begründung.

» Der Streit ist der Vater der Dinge «, sagt Heraklit, und die Folgerungen, welche Empedocles, Darwin und Wal - lace aus diesem Principe abgeleitet haben, sind bekannt und im vorigen Capitel besprochen. Wie dort der Kampf der Gan - zen zum Uebrigbleiben des Besten führte, so kann er es wohl auch unter den Theilen gethan haben und noch thun, wenn Gelegenheit zu einer derartigen Wechselwirkung der Theile im Innern gegeben ist. Kann der Staat nicht bestehen, wenn die Staatsbürger allenthalben unter einander wetteifern und blos die Tüchtigsten zu allgemeinerem Einfluss auf das Geschehen gelangen? Ist nun aber im Organismus Gelegenheit zu einer derartigen Wechselwirkung der Theile gegeben? Das ist die Frage, von welcher in erster Instanz alles abhängen muss.

Zunächst ist zur Beantwortung derselben zu erwähnen, dass selbst in den höchsten Organismen die Centralisation zum Gan - zen gar nicht eine so vollkommene, wie man sie sich noch oft vorstellt, nicht derartig ist, dass alle Theile nur in dem Orga - nismus, welchem sie angehören, und nur an der Stelle ihres normalen Sitzes bestehen könnten und somit, vollkommen in Abhängigkeit, nur als Theile des Ganzen in fest normirter Weise zu leben vermöchten.

Virchow hat schon vor fast dreissig Jahren1)Virchow’s Archiv f. patholog. Anat. u. Physiol. Bd. IV. 1852. p. 378. auf die Selbst - ständigkeit der Zellen hingewiesen, und die Transplantations - fähigkeit von Zellen des einen Organismus auf den anderen und von einer Stelle desselben Organismus auf eine andere dafür angeführt. Gegenwärtig sind wir im Stande, Theile der Oberhaut (Epidermis), ganze Stücke der vollständigen Haut mit Drüsen und Haaren, ferner der Knochenhaut, der Hornhaut des Auges und einzelne Haare von einem Individuum vollkommen losgelöst auf das andere zu übertragen, so dass sie eine ZeitRoux, Kampf der Theile. 566II. Der Kampf der Theile im Organismus.lang oder dauernd leben bleiben und eventuell weiter wachsen. Aber viel grösser ist bekanntlich diese Fähigkeit bei denjenigen Organismen, welche dem Vorgange den Namen gegeben haben, bei den Pflanzen, wo ganze Organcomplexe, Knospen, über - tragbar sind und ein abgeschnittener Zweig sich zu einem selbständigen Stock entwickelt.

Virchow1)l. c. Bd. 79. p. 186. spricht danach folgendes Urtheil aus:

» Wenn es möglich ist, aus dem Verbande des menschlichen Körpers gewisse Elemente oder Gruppen von Elementen zu trennen, ohne dass sie aufhören, Lebenseigenschaften zu äussern und sich zu erhalten, so folgt daraus, dass jener Verband nicht in dem hergebrachten Sinne ein einheitlicher, sondern vielmehr ein gesellschaftlicher oder genauer ein genossenschaftlicher (socialer) ist. Aus demselben können Elemente oder Elemen - targruppen ausscheiden, ohne dass der Bestand der Genossen - schaft vernichtet wird; ja der Eintritt kann sogar die Wirkung haben, die Genossenschaft aufzubessern und zu stärken. «

Ausser diesem Beweise, dass viele Theile nicht in abso - luter Abhängigkeit von dem Ganzen stehen, spricht sich eine gewisse individuelle Freiheit derselben schon in der embryona - len Entwickelung dadurch aus, dass die vererbten Formenbil - dungen nicht durch eine vererbte Normirung der Leistungen jeder einzelnen Zelle, sondern blos nach allgemeinen Normen für die Grösse, Gestalt, Structur und Leistung jedes Organes hergestellt werden, so dass für die Einzelausführung, für den Aufbau aus den einzelnen Zellen ein gewisser Spielraum bleibt, innerhalb dessen sich das Geschehen gegenseitig selber regulirt.

Dies erkennen wir aus der Ungleichheit der Theile jedes Organes. Keine Leberzelle gleicht vollkommen in Grösse und Gestalt der andern, und doch fügen sie sich alle zu dem nach67A. Begründung.einem bestimmten Typus gebauten leistungsfähigen Organe zu - sammen. Unmöglich kann durch die Vererbung von vorn - herein bestimmt sein, dass die hundertste oder eine andere Leberzelle genau diese von allen anderen etwas abweichende Grösse und Gestalt haben und unter diesem Winkel, welcher für jede etwas verschieden ist, sich mit den vorhergebildeten und nachfolgenden Zellen verbindet, sondern die nachfolgende Zelle fügt sich nach ihrer Individualität an die vorhergehende an, dabei blos bestimmt durch die in ihrer vererbten Qualität liegenden Bedürfnisse einer gewissen Berührung mit der Capil - lare, mit Nachbarzellen etc. im Uebrigen aber frei.

Das embryonale Geschehen findet offenbar statt wie die Ausführung von Submissionsarbeiten, z. B. eines Baues, für welchen Material, Grösse, Gestalt, innere Einrichtung und dieses blos, soweit sie durch die beabsichtigte Verwendung, also durch die Function des Hauses bestimmt werden, normirt wird. Da - gegen ist vieles in der Einzelausführung, z. B. die Lagerung der einzelnen Steine, und wenn sie Natursteine, also ungleich sind, ihre Zusammenfügung dem Unternehmer und seinen Ge - hülfen frei überlassen, wenn sie nur so geschieht, dass sie die bedungene Function zu verrichten vermögen. So wird denn ein Stein nach dem anderen eingefügt und der nachfolgende dem vorhergehenden in Lage, Grösse und Gestalt angepasst, oder eventuell auch einmal umgekehrt kommt es vor, dass der nach - folgende, wenn er gross genug ist, die vorhergehenden zwingt, sich ihm anzupassen.

Aber durch all das entsteht noch kein Kampf, keine zur Bevorzugung des geeigneteren führende Wechselwirkung der Theile. Diese ergiebt sich erst, wenn wir die vitalen Eigen - schaften des Organischen zur Geltung kommen lassen.

Beim Organischen sind die Bausteine nicht vorher alle fertig gemacht und werden dann blos nacheinander zusammen -5*68II. Der Kampf der Theile im Organismus.gefügt, sondern hier sind die nachfolgenden immer die Pro - ducte, die Nachkommen der vorherigen. Sofern nun die schon anwesenden nicht alle einander gleich sind, sondern das eine, durch irgend eine besondere Eigenschaft begünstigt, mehr zu produciren vermag als das andere, so wird dieses mehr Nachkommen hervorbringen, einen grösseren Antheil an dem Baue haben als das andere, und indem seine Nachkommen die günstige Eigenschaft von ihm ererbt haben, wird die schon grössere Zahl derselben wiederum im Stande sein, sich in her - vorragenderer Weise durch Vermehrung am Aufbaue des Ganzen zu betheiligen.

Ist das Individuum schon erwachsen, handelt es sich also blos um die physiologische Regeneration, so kann dabei ganz das Gleiche stattfinden; denn sobald eine Zelle im Absterben ist, wird von den Nachbarzellen diejenige, welche zufolge ihrer chemischen Natur am kräftigsten ist, am meisten zur Ver - mehrung tendirt, die abgeschiedene ersetzen, und da deren Nachkommenschaft wiederum kräftiger sein wird, so wird bei Wiederholung der Gelegenheit dieselbe allmählich in immer weitere Kreise dringen.

Ein solcher Kampf ist aber, wie sich aus unserer Annahme ergiebt, nur möglich, wenn die Theile nicht vollkommen gleich unter einander sind, sich also nicht fortwährend das Gleich - gewicht zu halten vermögen. Bei absoluter Gleichheit aller gleich fungirenden Theile müsste auch der Antheil aller am Auf - bau des Organismus oder an der Regeneration desselben der gleiche sein und nur äussere begünstigende Momente, wie gün - stigere Lage zu einem Blutgefässe etc., könnten eine Bevor - zugung hervorbringen, welche aber nur gering und vorüber - gehend wäre, da sie nicht auf die Nachkommen übertragbar ist. Uebertrüge sie sich aber auf die Nachkommen, so wäre das ein Beweis, dass sie in der Natur der mütterlichen69A. Begründung.Zelle begründet, also eine innere, keine äussere Begünstigung war.

Die Ungleichheit der Theile wird also die Grundlage des Kampfes der Theile sein müssen; aus ihr ergiebt sich der Kampf von selber infolge des Wachsthums und, wie wir hier gleich hinzufügen wollen, auch schon einfach infolge des Stoffwechsels. Denn, da alle Theile sich im Stoffwechsel verzehren, so werden sie zur Erhaltung und zur Production sich ernähren müssen, und dabei werden diejenigen Theile, welche mit der vorhandenen Nahrung oder aus sonst einem Grunde weniger gut, d. h. weniger rasch und weniger vollkommen sich zu regeneriren vermögen, bald in erheblichen Nachtheil gegen andere günsti - ger angelegte kommen.

Aber die Voraussetzung des Ganzen, die Ungleichheit der Theile von vornherein, ist sie vorhanden? Ist sie nicht eine willkürliche Annahme? So wird heutzutage, wo wir uns ge - wöhnt haben, auf alle Verschiedenheiten selbst des scheinbar ganz Gleichartigen zu achten, nur noch der Laie fragen, der vielleicht einen Blick in diese Schrift wirft. Jeder Naturkun - dige weiss, dass nie dasselbe Geschehen unverändert längere Zeit fortbesteht, nie in vollkommen gleicher Weise wieder - kehrt, dass alles in fortwährendem Wechsel ist, das Anorga - nische wie das Organische.

Wie schwer ist es und was für besonderer Vorkehrungen bedarf es, um nur relativ einfaches Geschehen gleichmässig zu erhalten, z. B. eine gleichmässige Glasmischung zu dem Ob - jectiv eines grösseren astronomischen Fernrohres herzustellen; wie theuer müssen wir jede Gleichmässigkeit bezahlen in allen Producten unserer Industrie, seien es gleichmässige Stoffe oder Färbungen, oder eine gleichmässige Theilung oder Dicke oder Oberfläche etc., kurz jede Gleichmässigkeit auf einen grösseren70II. Der Kampf der Theile im Organismus.Raum oder in der Wiederholung an mehreren Gegenständen, weil es so schwer ist, etwas constant zu erhalten; denn alles, selbst die metallenen Maschinen werden fortwährend verändert, sei es durch Wärme oder Abnutzung oder sonst etwas. Nichts ist absolut constant zu erhalten, denn alles ist in fortwähren - dem Wechsel und alles beeinflusst sich gegenseitig. Immer erfüllen die lebendigen Kräfte, sei es in Form von Massenbe - wegung oder von Molekularbewegung als Wärme, Licht, Elec - tricität den Raum und wirken verändernd aufeinander und auf das Material der Spannkräfte. Nichts steht isolirt in der Welt da, am wenigsten aber der Organismus, der fortwährend von der Aussenwelt Stoffe aufnehmen und umsetzen muss. Je com - plicirter das Geschehen, um so schwerer die Constanterhaltung. Gleichen schon nie zwei Krystalle in allen Eigenschaften voll - kommen einander, um wie viel weniger zwei Organismen.

Nicht die Jungen Eines Wurfes, nicht die Theile Eines Organes, nicht die Zellen desselben Gewebes gleichen einander, sind mit einander identisch in Form und Qualität. Das äussert sich schon sehr nützlich darin, da sie nicht alle zugleich in denselben Perioden ihres Lebens sich befinden, denn sonst wür - den sie beim physiologischen Tode alle zugleich absterben und durch den Ausfall des betreffenden Organes der Organis - mus vernichtet werden.

Zwar ist jetzt der Organismus regulirt, dass er trotz des Wechsels der äusseren Bedingungen und der unendlichen Com - plication des eigenen Innern sich annähernd constant erhält, aber die Constanz ist doch nur eine annähernde, blos für flüch - tige Betrachtung vorhandene; und die steten Veränderungen lassen sich, wie Darwin uns gelehrt hat, zu recht erheblichen Graden summiren. Auf niederer Stufe des organischen Lebens ist die Variabilität noch grösser und sie muss früher, ehe auch für diese Organismen ein gewisses sich in’s Gleichgewicht71A. Begründung.setzen mit der Umgebung eingetreten, und die regulatorischen Fähigkeiten so ausgebildet waren, noch viel grösser gewe - sen sein.

So ist denn schon jedes Samenthierchen und jedes Ei vom andern unterschieden und, da es das Wesen der Ent - wickelung ist, aus dem Gleichartigen das Ungleichartige, aus dem Einfachen das Complicirte hervorzubilden, so liegt es da - bei besonders nahe, dass durch alterirende äussere Einwirkun - gen diese Bildungen differenter Qualitäten und Formen etwas abgelenkt und so immer neue Verschiedenheiten unter den Theilen des Organismus hervorgebracht werden.

Durch diese Ungleichartigkeiten, welche durch den Wechsel der Bedingungen fortwährend nicht blos an den Ganzen, son - dern auch an den Theilen hervorgebracht werden, war es von vornherein unmöglich, dass Vererbungsgesetze sich ausbilden konnten, welche das Einzelgeschehen bis in die letzte Zelle und das letzte Molekel von vornherein normirten. Derartige Bestimmungen hätten bei dem fortwährenden Wechsel in den Verhältnissen nie zum Aufbaue eines Organismus führen können, wie ein Feldherr keine Schlacht gewinnen würde, der statt der allgemeinen Befehle an die Generäle über die Aufstellung und Verwendung der Truppen, von vornherein Specialbefehle bis herab zu den Thaten des Lieutenants oder des einzelnen Mannes geben wollte; denn die Leistungen aller müssen fortwährend den wechselnden Verhältnissen angepasst werden und das Ge - schehen im Kleinen umsomehr, als dessen Umstände leichter verändert werden als die des Geschehens im Grossen. So müssen die einzelnen Zellen sich immer aneinander und an neue, durch ändernde Einwirkung hervorgebrachte Verhältnisse anpassen können.

Der durch die Verschiedenheit der lebenden Theile her - vorgerufene Kampf unter denselben wird also mit der vor -72II. Der Kampf der Theile im Organismus.maligen Entstehung des Lebens begonnen und seitdem nicht aufgehört haben, und es ist dabei natürlich, dass die allge - meinsten Eigenschaften zuerst gezüchtet worden sind, so dass der erste Anfang dessen, was wir im Folgenden zu entwickeln haben werden, zum Theil schon in der Zeit der Entstehung des Organischen zu suchen ist. Und ebenso ist es selbstver - ständlich, dass in Zeiten stärkerer Variabilität der Kampf der Theile auch entsprechend heftiger und von grösserer Bedeutung hat sein müssen als in den Perioden der annähernden Constanz der Arten. Ueber die Zeiten aber, oder physiologisch ge - sprochen über die Zahl von Generationen, welche nöthig war zur Ausbildung der zu besprechenden Eigenschaften, können wir ebenso wenig etwas auch nur annäherungsweise Richtiges sagen, als wir über die Grösse der in früherer Zeit auf ein - mal vorgekommenen Variationen und über die Energie der früheren Lebensprocesse etwas wissen.

B. Arten und Leistungen des Kampfes der Theile.

Gehen wir nun nach dieser allgemeinen Begründung zur Untersuchung der Art und der Leistungen des Kampfes der Theile im Speciellen über, so muss er nothwendig in ebenso viele Unterinstanzen zerfallen, als selbständig variirende Einheiten da sind, also in einen Kampf der Zellentheilchen, der Zellen, der Gewebe und der Organe, jede Einheit nur mit Ihresgleichen kämpfend. Denn ein Kampf zwischen Angehörigen verschiede - ner Einheiten, etwa eines Plasson-Moleküls mit einer Zelle, oder einer Zelle mit einem Organ wäre wie eine Summation von Differentialen verschiedener Ordnung. Erst wenn sich die Eigenschaft eines Theilchens niederer Ordnung durch Ausbrei - tung zu einer Individualität höherer Ordnung vergrössert hat, also erst, wenn das Differential zweiter Ordnung zu einem73B. Arten und Leistungen des Kampfes der Theile.erster Ordnung integrirt ist, kann der Kampf mit einem ande - ren Individuum dieser höheren Ordnung beginnen.

1. Der Kampf der Molekel.

Diese Bezeichnung wollen wir der Kürze wegen wählen für den Kampf der Zelltheile, also der Plasson-Molecüle oder Plastidulen oder der kleinsten organischen Process - einheiten.

Wenn nach unserer Voraussetzung die Theile der Zelle, abgesehen von der Scheidung in Zellleib und - Kern, nicht ganz gleich unter sich beschaffen sind, sondern bei Individuen ohne Varietät in dem Gewebe, welchem die Zelle angehört, ein Mini - mum oder bei Individuen mit neuen Varietäten etwas mehr von einander verschieden sind, so werden diese verschiedenen Sub - stanzen derselben Zelle sich unter verschiedenen Umständen nothwendig verschieden verhalten müssen.

Nehmen wir an, es wären zwei verschiedene Qualitäten ursprünglich in gleicher Menge in der Zelle vorhanden, und betrachten ihr Verhalten zunächst im Stoffwechsel während der Periode des Wachsthums. So wird zunächst bei dem Er - satze des im Stoffwechsel Verbrauchten das mit stärkeren Affi - nitäten Versehene und stärker Assimilirende sich ra - scher regeneriren, als das weniger mit diesen Eigen - schaften Ausgestattete. Ersteres wird also ceteris paribus sich räumlich mehr entfalten in der gleichen Zeit, als das andere, und ihm damit den Platz wegnehmen. Bei der nächsten Wie - derholung dieses Processes ist die schwächere Partie, welche jetzt schon einen geringeren Raum einnimmt, wiederum nicht im Stande, sich so rasch zu regeneriren und wird wiederum eine procentische Raumeinbusse erleiden; sie wird bei längerer Dauer immer mehr zurückgedrängt werden und schliesslich schwinden, und die Zeit dieser Dauer wird dabei blos von der74II. Der Kampf der Theile im Organismus.Grösse des Unterschiedes in der Affinität der beiden im Uebri - gen gleich lebensfähigen Substanzen abhängen.

Es wird sich also zunächst in jeder Zelle ceteris paribus das unter den durch die Blutbeschaffenheit, Diffusionsmöglich - keit etc. gegebenen Umständen am raschesten sich Regeneri - rende erhalten und die anderen Qualitäten unterdrücken.

Sind die Unterschiede derartig, dass die beiden Substan - zen ungleich rasch sich verbrauchen, so wird dieses cet. par. einen nachtheiligen Einfluss für die rascher sich ver - zehrende Substanz und die langsamer sich verzehrende wird die Herrschaft erlangen; denn da sie sich langsamer verzehrt, aber nach der Voraussetzung ebenso rasch regenerirt, als die schneller sich verzehrende, wird sie immer mehr räumlich überwiegen und so den Platz schliesslich allein einnehmen.

In den beiden bisher besprochenen Fällen war es Kampf um den Raum, der stattfand; denn wenn der Raum nicht beschränkt wäre, würde die schwächere Substanz ihren Nach - theil durch längere Dauer der Regeneration wieder auszuglei - chen vermögen, sofern der Verbrauch kein continuirlicher, gleich starker ist, sondern Pausen vorkommen, wo die Regeneration stärker ist als der Verbrauch.

Dass aber dieser Kampf um den Raum stattfinden muss, werden wir bei Betrachtung der Raumeinheit, innerhalb deren sich der hier besprochene Kampf vollzieht, beim Kampf der Zellen ersehen. Jedenfalls muss der Kampf um den Raum ein viel heftigerer innerhalb des Organismus sein, wo alles zu einer räumlichen Einheit verbunden an einander liegt und sich drängt, als bei den freien Individuen selber, als beim Kampf der Per - sonen unter einander. Dass Raumbeschränkung wirk - lich die Entwickelung der Zelle zu hemmen im Stande ist, ergiebt sich z. B. aus der Abplattung der Epithel - zellen an einander und aus der Aenderung, welche deren Gestalt75B. Arten und Leistungen des Kampfes der Theile.sofort erfährt, wenn die Raumbeschränkung fortfällt. So wird nach Verlust von Epithelzellen das schmale cylindrische Epithel der Luftröhre breit, plattenförmig und vermehrt sich. Ausser - dem aber ist auch die mögliche lebensfähige Grösse der Zelle, selbst bei Mangel äusserer Raumbeschränkung, für jede Zelle nach der Art ihrer Zusammensetzung und der Ernährungsver - hältnisse und der Beweglichkeit ihres Protoplasma eine be - schränkte, wohl in Folge der beschränkten Wirkungsgrösse und - Geschwindigkeit der Diffusion, so dass auch bei Wachs - thum über dieses Mass hinaus die Zelle im Innern wieder atro - phiren müsste in Folge mangelhafter Gelegenheit zur Regene - ration.

Wenn die Substanzen derartig verschieden sind, dass die eine mit der gebotenen Qualität des Nahrungsmaterials voll - kommener sich regeneriren kann, als die andere, so wird schliesslich die so günstiger gestellte die stärkere werden und beim Wachsthum die andere verdrängen, wiederum im Kampfe um den Raum.

Tritt eine Aenderung der Nahrung der Zellen, der Blutzusammensetzung ein, so werden dieser entsprechend andere chemische Qualitäten die Herrschaft zu erlangen be - fähigt werden und die früheren verdrängen.

Ist dauernder Nahrungsmangel vorhanden, so wird zwar kein Kampf um den Raum stattfinden können, aber es werden nur solche Verbindungen übrig bleiben, welche cet. par. am wenigsten Material zum Wiederersatz ge - brauchen, während die anderen Processe einfach ausgehun - gert werden, also durch Selbstelimination verschwinden.

Sind die Varietäten beider Substanzen derartig, dass bei der einen Substanz mit dem stärkeren Verbrauch auch die Affinität, Regenerationsmaterial aus der nächsten Umgebung aufzunehmen, wächst, also, um76II. Der Kampf der Theile im Organismus.in der Sprache der ganzen Individuen zu sprechen, der Appetit mit dem Nahrungsbedürfniss sich steigert und die Regenerations - geschwindigkeit sich entsprechend vergrössert, während die andere Substanz diese Fähigkeit nicht hat, sondern immer, einer mittleren Verbrauchsstufe entsprechend, gleichmässig Nahrung anzieht und assimilirt, so würde bei längere Zeit anhaltendem gesteigertem Verbrauch erstere Substanz den Sieg über die andere davontragen, denn sie würde sich vollkommener regeneriren können.

Ist endlich die chemische Zusammensetzung einer Varietät derartig, dass im Stoffwechsel die Assimilation die Zer - setzung übersteigt, dass Uebercompensation des Verbrauchten, also Wachsthum eintritt, während den ande - ren Substanzen diese Eigenschaft abgeht, so muss diese wich - tige Eigenschaft die Alleinherrschaft über alle anderen Quali - täten gewinnen, wie sie sie denn auch bekanntlich hat. Wir kennen keinen Organismus, keine Zelle, welchen nicht in einem Stadium ihres Lebens diese Eigenschaft der Uebercompensation des Verbrauchten, das Wachsthum, zukäme, und es erhellt, dass ohne diese sich das Leben überhaupt nicht hätte ausbrei - ten können, dass die Lebensprocesse immer auf diejenigen Dimensionen hätten beschränkt bleiben müssen, in welchen sie ursprünglich entstanden waren.

Dies sind also alles Eigenschaften, welche in Folge des Stoffwechsels die Herrschaft innerhalb der Zelle auf dem Wege des Kampfes der Theile um Nahrung und Raum erlangen mussten, sobald nur einmal Spuren dieser Qualitäten durch Variation in den Zellen aufgetreten waren; sofern also als erste Vorbedingung die Zusammensetzung der Zelle nicht vollkommen homogen ist, sofern auch für die Theile der Zelle dieselbe Variabilität gilt, wie für die ganzen Individuen.

Wer aber möchte wohl diese Wahrscheinlichkeit bestreiten,77B. Arten und Leistungen des Kampfes der Theile.wer möchte annehmen, dass bei Entstehung des Organischen die Substanzen durchaus gleichartig nach den erwähnten Rich - tungen hin gewesen seien, und dass bei Entstehung der unend - lich vielen Qualitäten des Organischen, die wir in den ver - schiedenen Organen der verschiedenen Klassen, Gattungen und Species des Thierreiches erkennen, immer gleich von selber in vollkommen homogener Weise aufgetreten wären, so dass ein Kampf innerhalb ihrer Theile nicht hätte stattfinden können?

Diese Qualitäten brauchen sich natürlich nicht überall alle und nicht alle gleichzeitig auszubilden; und es kann wohl vor - kommen, dass eine Substanz durch einen hervorragenden Grad in einer dieser Eigenschaften trotz eines Fehlers nach einer der anderen Richtungen hin, die Herrschaft in der Zelle behält, so lange die Umstände nicht wechseln und den Fehler gegen - über anderen, vielseitiger günstig beschaffenen Qualitäten nicht zu grösserer Bedeutung gelangen lassen.

Dass aber die Ableitung dieser höchst zweckmässigen Eigenschaften: des geringsten Verbrauches und raschester und vollkommenster Regeneration mit der geringsten Materialmenge und der Ausbildung der für die vorhandene Nahrung stärksten Qualitäten und der Steigerung des Hungers und der Assimilation mit der Zunahme des Nahrungsbedürfnisses keine willkürliche, an Eventualitäten anknüpfende gewesen ist, welche in den Organismen nicht vorgekommen sind, wird wohl jeder, der die Exactheit der bezüglichen Processe kennt, soweit sie uns die Physiologie bis jetzt erkennen gelehrt hat, als höchst wahr - scheinlich bezeichnen. Wenn aber die Organismen diese gün - stigen Eigenschaften wirklich haben, wenn also derartige stoff - liche Variationen überhaupt möglich waren und vorgekommen sind, so müssen sie sich auf dem geschilderten Wege durch den Kampf der Theile von selber ausgebildet haben ohne Mit - wirkung des Kampfes der Individuen um das Dasein.

78II. Der Kampf der Theile im Organismus.

Aber die Theile leben nicht blos ruhig für sich im Stoff - wechsel, sondern sie werden bekanntlich durch äussere Einwir - kungen, durch Reize in ihren Processen beeinflusst, eventuell beschleunigt, und wenn die Zelle aus verschiedenen Stoffen zusammengesetzt ist, so wird jede solche Einwirkung für die verschiedenen Substanzen verschiedenen Erfolg haben müssen. Für unsere Zwecke kommt aber ihr Verhalten nur zu Reizen in Betracht, welche häufig einwirken, sich während des Lebens oft wiederholen, weil sie allein im Stande sein werden, dauernde Veränderungen hervorzubringen, allmählich bestimmte Qualitäten in den Zellen zu züchten. Die Wirkungsweise der Eingriffe dieser Agentien, dieser lebendigen Kräfte, kann eine sehr ver - schiedene sein.

Ist zunächst durch zufällige Variation eine der ver - schiedenen Zellsubstanzen derartig, dass sie cet. par. bei der durch die Einwirkung des Reizes veranlassten Um - setzung weniger rasch sich verbraucht als die anderen bei derselben Einwirkung, so wird das Gleiche ein - treten, wie oben für die weniger rasch im Stoffwechsel sich verzehrenden Substanzen dargestellt ist. Sie wird die Allein - herrschaft in der Zelle bekommen.

Ebenso wird fernerhin eventuell diejenige Substanz siegen und schliesslich allein übrig bleiben, welche durch den Reiz in ihrer Affinität zur Nahrung und in der Fähig - keit, sie zu assimiliren, erhöht wird, denn sie hat einen wesentlichen Vorzug in ihrer Vermehrung vor anderen nicht oder weniger durch den Reiz in günstiger Weise beein - flussten.

Wenn es nun auch noch organische Processe gäbe, die durch den Reiz nicht blos in ihrer Regeneration einfach gekräftigt, sondern bis zur Ueberkompensation des Ver - brauchten gestärkt würden, welche also bei der Anpassung79B. Arten und Leistungen des Kampfes der Theile.an einen Reiz diejenige Eigenschaft, die nach Obigem alle anderen Zellen von selber haben, sich bewahrt, aber in Ab - hängigkeit von der Reizeinwirkung gebracht hätten, so müsste diese im Kampfe der Theile bei genügender Ruhepause noch eher den Sieg und die Alleinherrschaft erlangen, denn sie wird cet. par. noch mehr sich vermehren als die anderen Substanzen und dieselben zunächst mehr und mehr procentisch und schliess - lich bis auf Nichts zurückdrängen bei der Beschränktheit des von aussen her und durch die Diffusion etc. gestatteten Raumes.

Die hier gemachte Annahme, dass vielleicht auch Substan - zen oder richtiger Processe aufgetreten und daher zur Herr - schaft gelangt seien, welche durch die Zufuhr von Reizen in ihrer Lebensfähigkeit, besonders in der Assi - milation erhöht werden, für welche also der Reiz eine trophische, die Ernährung hebende Wirkung habe, erscheint vielleicht Manchem auf den ersten Blick vollkommen willkür - lich, wenigstens für thierische Processe, während das ent - sprechende Verhalten für die Pflanzen bekanntlich die Grund - bedingung ihrer Existenz ist, indem diese in ihrer Assimilation ganz von Sonnenlicht und Wärme abhängen. Und neuerdings ist von C. W. Siemens ein gleicher Einfluss des electrischen Lichtes durch ungewöhnlich rasche Entfaltung und Fructifica - tion der Pflanzen in solcher Beleuchtung nachgewiesen worden.

Aber auch für thierische Organismen sind derartige Reiz - wirkungen und gerade auch vom Lichte bekannt. Beclard1)Note rélative à l’influence de la lumière violette. Compt. rend. T. 46. 1858. sah die Eier von Musca carnaria am schnellsten sich entwickeln im violetten Licht und dann successive im blauen, rothen, weissen und grünen Lichte immer langsamer. Young2)Compt. rend. 1878. 1. Sémest. p. 998. fand als das günstigste ebenfalls violett, dann blau, gelb und weiss,80II. Der Kampf der Theile im Organismus.während roth und grün nach ihm direct schädlich auf die Ent - wickelung von Rana esculenta und temporaria wirkten; und Dunkelheit verlangsamte die Entwickelung dieser Thiere. Ein - wirkung des Lichtes in anderer Weise auf die Entwickelung der Thiere war bereits im Jahre 1870 von Auerbach1)Centralbl. f. d. med. Wiss. 1870. durch Beleuchtung von Froscheiern von unten als eine Art Heliotro - pismus nachgewiesen worden, indem die Pigmentansammlung oder Ausbildung immer auf der Lichtseite constatirt wurde. S. L. Schenk2)Mittheilungen aus d. embryolog. Inst. in Wien. Bd. I. Heft IV. 1880. p. 268. beobachtete neuerdings dasselbe und zwar besonders stark im blauen Licht, weniger im gelben.

Für andere thierische Theile hat trophische Wirkungen von Reizen auch Hering in seiner Theorie der Sinnesnervenfunc - tion3)Hering, Sitzungsber. der Wiener Acad. d. Wiss. Bd. 69. Abth. III. Bd. 75. Abth. III. behauptet, indem er annimmt, dass bei den Sinnesorga - nen gewisse Reize ebenso die Assimilation wie die anderen die Dissimilation, die Zersetzung erhöhen. Ausserdem aber nimmt ja die heutige Physiologie diese Wirkung auch principiell an in ihrer Lehre von den trophischen Nerven. Nur knüpft sie die Zufuhr solcher Reize an besondere Nervenbahnen. Wenn wir nun auch, wie unten dargelegt wird, dieses Letztere im allge - meinen nicht billigen, so ist doch das Princip der Erhöhung der Assimilation durch Reize damit schon anerkannt.

Sind aber einmal derartige Variationen der Zellsubstanz aufgetreten, deren Lebenskraft durch die Zufuhr von verschie - denen oder blos einem besonderen Reiz erhöht wurde, so musste ctc. par. immer diejenige Variation in den Zellen den Sieg und die Alleinexistenz erlangen, welche den Reiz leichter aufnahm, denn sie wurde zufolge dieser Eigen -81B. Arten und Leistungen des Kampfes der Theile.schaft in ihrer Vitalität mehr gekräftigt und musste sich also mehr vermehren. Bei beschränkter Reizgrösse musste, indem die leichter erregbare Substanz relativ mehr Reiz aufnahm und dadurch zu grösserer Entfaltung befähigt wurde, eine Art Kampf um den Reiz und Sieg durch Reizentziehung und grössere räumliche Verbreitung entstehen.

Wenn nun diese Reize dauernd einwirkten, so war bei weiteren Variationen mit der sich steigernden Vollkommenheit der Anpassung der Stoffe an die Reize durch immer neue Kampfauslese in den Zellen der Weg zu einem schliesslichen Endstadium eingeschlagen, in welchem Processe übrig bleiben mussten, welche im höchsten Maasse zur Aufnahme des Reizes befähigt und durch ihn gekräftigt wurden, aber ohne den Reiz nun auch überhaupt nicht mehr sich am Leben zu erhalten vermochten, welche also beim Ausbleiben der Reize sich ohne Regeneration verzehren, schwinden mussten, da ihnen diese Reize zu unentbehrlichen Lebensrei - zen geworden sind.

Wir werden später sehen, wie wichtig eine so hochgradige Anpassung für die Vervollkommnung und die Gestaltung der Organismen werden musste, und dass wir die Berechtigung haben, manchen unserer Zellen derartige Eigenschaften zuzu - schreiben.

Wenn fernerhin einmal Reize kräftigend auf vitale Pro - cesse wirkten, so mussten verschiedene Reize auch ver - schiedene chemische Qualitäten kräftigen. Es musste also directe Anpassung an die verschiedene Natur der Reize eintreten und durch den Kampf der Theile bei neuen Variatio - nen sich steigern, wenn immer derselbe Reiz auf eine Zelle wirkte.

Wirken dagegen abwechselnd, doch wiederholt wieder -Roux, Kampf der Theile. 682II. Der Kampf der Theile im Organismus.kehrend verschiedene Reize auf dieselbe Zelle, und enthält dieselbe eine Substanz, welche durch beide oder mehrere Reize gekräftigt wird, so wird eventuell diese Substanz die Herrschaft erlangen können, je nach der Art der Pausen und dem Verhältniss der Natur der Reize zu einander. Diese Viel - seitigkeit einer einzigen Substanz wird sich aber nur selten zu erhalten im Stande sein, denn sie schliesst ein, dass die Sub - stanz doch nicht in dem Maasse jedem einzelnen Reize ent - sprechen, ihn so leicht aufnehmen und so vollkommen umsetzen kann, als dies eine besonders für Einen Reiz angepasste ver - mag; da einmal jede Aenderung der Beschaffenheit, wie sie für die Substanz durch Einwirkung bald des einen bald des andern Reizes entsteht, nothwendig immer mit einem Kraftver - lust verbunden sein muss. Denn es muss eine neue Umordnung der Molekel eintreten. Und zweitens kann eine Substanz nie so vollkommen an zwei verschiedene Reize angepasst sein, also auch nicht so stark gekräftigt werden, als für jeden Reiz eine besondere.

Wenn aber einmal Qualitäten, welche durch je einen Reiz besonders gekräftigt werden, aufgetreten sind, so werden sie nach dem Maasse der Reizgrösse im Verhältniss zu der Grösse und Stärkungsfähigkeit der andern Reize für die anderen Substanzen ein gewisses Volumen in der Zelle dauernd einzu - nehmen im Stande sein. Die Zelle wird dauernd aus sehr ver - schiedenen Stoffen, welche der verschiedenen Natur und Grösse (der Intensität und Häufigkeit) der Reize entsprechen, zusam - mengesetzt bleiben können, wie wir das bei den Protozoën so ausgebildet sehen.

Der Kampf der Theile wird also zugleich ein zwingendes Princip für immer weiter gehende Differenzirung, immer voll - kommenere Specialanpassung an die Reize sein, sofern Reize die Lebensprocesse zu kräftigen vermögen; dass sie dieses83B. Arten und Leistungen des Kampfes der Theile.thun, darüber werden wir im nächsten Kapitel ausführliche Darlegungen machen.

Aendert sich mit den äusseren Umständen eines Organes auch der Reiz, an welchen dasselbe angepasst war, so werden die alten Qualitäten nicht blos der Atrophie unter - liegen, dem Schwunde in Folge Mangels des Lebensreizes ver - fallen, sondern die durch den neuen Reiz gekräftigten Sub - stanzen werden, den Sieg erringend, die anderen direct in der geschilderten Weise beeinträchtigen und die Rück - und Umbil - dung beschleunigen.

Ebenso wie die neue Zelle fähig ist, sich durch Ausbil - dung verschiedener Bestandtheile an verschiedene Reize anzu - passen, so können auch verschiedene Zellen sich an denselben Reiz in verschiedener Weise anpassen; denn je nach der ur - sprünglichen Natur der Zellen kann in jeder durch denselben Reiz eine verschiedene Substanz am meisten gekräftigt werden.

Alle diese für die Erhaltung auch der ganzen Individuen höchst nützlichen und zweckmässigen Eigenschaften werden also, sobald sie einmal in Spuren aufgetaucht sind, sich er - halten und unter Unterdrückung der weniger dauerfähigen sich in der Zelle ausbreiten, und sobald ein Mal durch neue Varia - tionen Substanzen auftreten, welche diese Eigenschaften in noch höherem Maasse haben, so werden diese die früheren besiegen und es wird so fort und fort eine den Grad der Qualität stei - gernde Auslese der Variationen stattfinden.

Alles dieses geschieht ohne den Kampf der Individuen, ja eventuell wohl gegen denselben, denn es muss fraglich erschei - nen, ob die Auslese durch den Kampf der Individuen, auch wenn es sehr Nützliches beträfe, etwas züchten könnte, was im Kampf der Molekel nicht siegreich bestehen kann.

Die Geschwindigkeit, mit der die Ausbreitung einer neuen Variation in der Zelle erfolgt, lässt sich natürlich nicht sicher6*84II. Der Kampf der Theile im Organismus.beurtheilen. Aber es ist wohl anzunehmen, dass bei der stetigen Dauer des Stoffwechsels, also auch des Kampfes derselbe schon im Leben Einer Zelle oder noch rascher zur Alleinexistenz der günstigeren Eigenschaft führen kann, falls nicht neue Variatio - nen auftreten. Eventuell könnte die vollkommene Ausgleichung auch erst in den Nachkommen der Zelle stattfinden.

Aus den so allein erhaltenen und verbreiteten Eigenschaften, welche sich, als in ihrer Art stärkste, dauerfähig erwiesen haben, und nur aus diesen wird dann die Auslese im Kampf der Individuen diejenigen zur wirklichen dauernden Er - haltung auswählen, welche sich auch für das ganze Indi - viduum nützlich erweisen. Also z. B. von allen den Stoffen, welche durch einen Reiz in ihrer Ernährungsfähigkeit erhöht werden und bei der veranlassten Umsetzung am wenigsten ver - brauchen etc., wird der Organismus an der einen Stelle die - jenigen auslesen, welche sich dabei am kräftigsten und raschesten zusammenziehen, an der anderen diejenigen, welche einen Reiz am besten zur Attraction und Umwandlung von abzuscheiden - den Stoffen verwenden, an dritten Stellen endlich diejenigen, welche den Reiz am wenigsten selber verbrauchen, sondern am besten weiter gehen lassen, ihn leiten. So wird der Kampf der Individuen aus den durch den Kampf der Theile gezüch - teten im Allgemeinen leistungsfähigsten Processen Muskeln, Drüsen, Nerven durch Sonderauslese hervorbilden.

Ist der Reiz specifischer Natur, so wird der Wahlkreis ein etwas engerer sein, z. B. für die Einwirkung des Lichts; aber immerhin war die Wahl auch hier noch unter sehr verschie - denen Arten der Reaction zu treffen, wie wir daraus ersehen, dass gleichzeitig Qualitäten in demselben Organismus erhalten worden sind, welche auf Licht mit Farbstoffbildung reagiren, und andere, welche durch Lichtbewegung möglichst stark er - regt werden, ohne sie zu verzehren, sondern möglichst stark85B. Arten und Leistungen des Kampfes der Theile.weiter leiten, wie die Sehzellen. Und es besteht dabei, wie wir oben zeigten, die Nothwendigkeit, dass, wenn geeignete, auf den Reiz reagirende Variationen auftauchen, diese speci - fisch gerichteten Reactionen durch den Kampf der Theile zu immer höherer Stufe der Vollkommenheit gezüchtet werden. Die Grenze ist dabei nur durch die Leistungsfähigkeit der chemischen Elemente unseres Planeten gesetzt, welche vielleicht die höchsten Grade der Vollkommenheit mancher Qualität nicht hervorzubringen vermag. Indessen sind doch die Reactions - substanzen unseres Organismus zum Theil schon sehr feine; wir erinnern nur an die Feinheit des Geruchssinnes, mit welchem wir Quantitäten Moschus bestimmt wahrnehmen können, welche nicht das Millionstel eines Milligrammes betragen. Wir er - innern auch an die Feinheit des Geschmackes, des Gesichts, des Gehörs und des Tastsinnes, welch letzterer uns die feinste Berührung einer Flaumfeder von dem Fusse ins Gehirn signali - sirt. Dazu gehört eine Vollkommenheit der Aufnahme des Reizes durch die Endorgane und eine ungehemmte Fortlei - tung, welche schon als ziemlich vollkommen bezeichnet werden können.

Mit den vorstehenden Ausführungen ist die Zahl der durch den Kampf der Molekel ohne Mitwirkung des Kampfes der In - dividuen eventuell sich züchtenden Eigenschaften noch nicht erschöpft und wir streben auch gar nicht danach, dies zu thun und damit dem Physiologen vorzugreifen. Uns kam es hier lediglich darauf an, zu zeigen, in welcher Weise überhaupt der Kampf der Molekel wirkt, und die Nothwendigkeit der Züchtung gewisser Eigenschaften nachzuweisen, welche wir zur Erklärung gewisser morphologischer Leistungen der Organismen für nöthig erachten und in den folgenden Kapiteln verwenden werden. Wir haben also gesehen, dass der Kampf der Molekel, so weit er an den Stoffwechsel anknüpft, immer die unter den86II. Der Kampf der Theile im Organismus.gegebenen Verhältnissen kräftigsten Processe züchtet und dass er bei Reizeinwirkung wiederum in irgend einer Weise dadurch Gekräftigtes auslesen wird, aber ohne jede Rücksicht auf Spe - cialzweckmässigkeit für den ganzen Organismus. Es ergiebt sich ferner, dass er dabei zugleich für Homogeneïtät der Zellzusammensetzung sorgt, indem immer blos Eine Qua - lität die Herrschaft in jeder Zelle gewinnt, falls nicht geradezu einmal zwei durch verschiedene Eigenschaften ausgezeichnete, aber sich das Gleichgewicht haltende Verbindungen auftreten. Da aber absolutes Gleichgewicht fast nie vorkommen wird und, wenn es da ist, beim Wechsel der Umstände nicht bestehen kann, so wird durch den Kampf der Theile möglichste Homo - geneïtät der Zellzusammensetzung bewirkt werden; natürlich nach dem oben Gesagten blos, sofern nicht die Zelle abwech - selnd unter verschiedene Bedingungen kommt.

Dieser Sieg Einer Eigenschaft, welcher zur Homogeneïtät innerhalb jeder Zelle führt, hat noch eine wesentliche, hervor - zuhebende Folge für die Auslese durch den Kampf der Indi - viduen. Indem nämlich durch den Kampf der Theile jede neue kräftigere, in Spuren aufgetretene Qualität sich innerhalb eines gewissen Gebietes ausbreitet, nämlich in allen Zellen, in denen sie gleichzeitig als Spur entstanden ist, dann, wie wir weiterhin sehen werden, auch noch in weiteren Gebieten durch den Kampf der Zellen Herrschaft gewinnt, so er - langt sie damit auch grössere Bedeutung und wird, im Falle sie für die Erhaltung des Ganzen günstig ist, gleich mehr nützen oder, im Falle sie nachtheilig ist, mehr schaden, und also entweder energischer erhalten oder rascher durch Selbst - auslese eliminirt werden.

Es ist selbstverständlich, dass nicht überall eine Zellsub - stanz mit allen den Sieg verleihenden Eigenschaften entstanden sein wird, und es wird dann von den speciellen Verhältnissen87B. Arten und Leistungen des Kampfes der Theile.abhängen, welche Combination von günstigen Eigenschaften die Herrschaft gewinnen wird. Es werden die mannigfachsten Com - binationen zum Siege führen können, welche thatsächlich fest - zustellen vielleicht eine dereinstige Aufgabe der Physiologie sein wird.

Hier will ich nur noch andeuten, in welcher Weise noch andere Eigenschaften durch dieses Princip des Kampfes der Molekel oder der kleinsten Processe sich Ausbreitung bis zur Alleinanwesenheit verschaffen können.

Ausser durch den Kampf der Theile um den Raum im Stoffwechsel, oder um die Nahrung bei Mangel an derselben mit oder ohne Reizwirkung können neu auftretende Eigen - schaften auf directem Wege, nämlich im directen Kampfe mit den alten siegen und sich ausbreiten, indem letztere ent - weder direct zerstört oder von den neuen verbraucht, assimilirt werden (die Assimilation ist ja selber der allgemeinste pro - gressive Process), vielleicht unter fermentativer Wirkungsweise oder ähnlich wie der Erregungszustand in Nerven und Muskeln sich ausbreitet, oder auf sonst eine noch unbekannte Weise. Es können ähnliche Arten der Ausbreitung, wie wir sie patho - logisch sich vollziehen sehen, früher normal vorgekommen sein, oder gegenwärtig noch in fördersamer Weise vorkommen, so wie die Ausbreitung der progressiven Krankheiten des Nerven -, Muskelsystems, z. B. der progressiven Atrophie des Rücken - marks, der progressiven Bulbärparalyse, der Paralysis acuta ascendens, der progressiven Muskelatrophie (nach Friedreich und Lichtheim), welche alle sich continuirlich innerhalb der zusammenhängenden Gebilde, blos ihnen folgend, weiter aus - breiten; oder auch in der Art, wie man sich früher die Aus - breitung der Entzündungen durch phlogogene (entzündungser - regende) Wirkung der Entzündungsproducte dachte, und wie88II. Der Kampf der Theile im Organismus.neuerdings Virchow1)Virchow’s Archiv Bd. 79. 1880. p. 120. sie für diejenigen Infectionskrankheiten als möglich erachtet hat, für welche kein lebendes Contagium nachgewiesen werden kann; oder wie die Aenderung der Qua - lität sich innerhalb der Zellen ausbreitet nach Vergiftung mit Arsen, Phosphor oder Blei, oder nach Einführung des Hunds - wuth - oder Syphilisgiftes in den Organismus etc.

Es muss überflüssig erscheinen, bei dem gegenwärtigen geringen Stand unserer Kenntnisse weitere Vermuthungen über den Umfang solcher Processe innerhalb des physiologischen Ge - schehens aufstellen zu wollen.

Aehnliche Vorgänge der Ausbreitung bestimmter Eigen - schaften durch den Kampf der Theile müssen natürlich ebenso, wie die hier für den Zellleib geschilderten, auch in dem Zell - kern vorkommen, nur dass sie vielleicht weniger oder gar nicht unter der Einwirkung von Reizen stehen.

2. Der Kampf der Zellen.

Da, wie wir gesehen haben, das Einzelgeschehen als solches nicht fest normirt ist und da von vorn herein nicht alle Zellen desselben Gewebes von vollkommen gleicher Lebenskraft sein werden, so muss in der Zeit, in welcher die Zellen eines Ge - webes sich noch vermehren, ein Kampf der Zellen stattfinden; denn diejenigen Zellen, welche unter den vorhandenen Ver - hältnissen am günstigsten zur Vermehrung disponirt sind, werden sich rascher vermehren, als die anderen, und damit bei der Be - schränktheit des Raumes den Nachkommen der anderen mehr oder weniger den Platz wegnehmen, also ihre weitere Aus - bildung und Vermehrung hemmen. Die kräftigeren werden also eine grössere Zahl Nachkommen liefern, als die schwächeren.

Wenn wir nach den Eigenschaften fragen, die in diesem89B. Arten und Leistungen des Kampfes der Theile.Kampfe Ausschlag gebend sein werden, so finden wir, dass es wiederum die im Kampf der Molekel bereits bewährten Eigen - schaften sind. Es werden voraussichtlich die im Stoffwechsel durch stärkere Affinitäten sich leichter regenerirenden und ebenso die weniger verbrauchenden cet. par. über die weniger mit diesen Eigenschaften ausgerüsteten die Uebermacht erlangen; denn bessere Fähigkeit, sich zu ernähren, und geringerer Verbrauch für die eigenen Bedürfnisse sind sicher als günstige Vorbedingungen des Wachsthums anzusehen. Das Gleiche gilt von jenen Zellen, welche mit der Qualität des vorhandenen Nahrungsmaterials am besten sich nähren können, ebenso von solchen, welche bei grösserem Mangel eine grössere Affinität nach Nahrung be - kommen, und ebenso werden auch hier wieder bei Nahrungs - mangel diejenigen am ehesten verhungern und aussterben, welche cet. par. zu ihrem Stoffwechsel die meiste Nahrung ver - brauchen.

Ingleichen werden unter Zellen, welche Reizen ausgesetzt sind, diejenigen einen wesentlichen Vortheil haben und sich cet. par. mehr vermehren, welche bei der Reizeinwir - kung am wenigsten rasch sich verzehren, welche durch den Reiz in ihrer Affinität zur Nahrung und in der Regeneration gestärkt werden; und eventuell werden noch mehr diejenigen Zellen die anderen überholen, welche durch den Reiz bis zur Uebercompensation gekräftigt werden. Auch müssen alsdann wiederum Zellen, die mit ihrer Zellsubstanz den Reiz leichter aufnehmen, einen Vortheil davon haben; und wenn blos ein Reiz auf ein Gewebe wirkt, so wird diejenige Zell-Qualität, welche am meisten durch diesen specifischen Reiz gekräftigt wird, sich cet. par. am meisten durch Vermehrung der Zellen ausbreiten.

Diese Vermehrung der Zellen wird, da alles Geschehen nach dynamischen Aequivalenten sich vollzieht, so lange statt -90II. Der Kampf der Theile im Organismus.finden, bis jede der vorhandenen Zellen, auf deren Summe der Reiz sich vertheilt, nur noch so viel Reiz erhält, dass sie bei der mittleren Reizgrösse nicht mehr zu weiterer Vermehrung angeregt wird, bis also der Reiz vollkommen in den Zellen aufgeht.

Aendert sich die Qualität des Reizes, so wird wiederum, wie beim Kampf der Molekel, aus den vorkommenden Variationen auch eine neue Zellqualität gezüchtet werden, welche siegend die alte direkt in ihrer Ernährung beeinträchtigt, ganz ab - gesehen davon, dass die alte durch den ihr nun mangelnden Lebensreiz auch von selber schon der Atrophie verfallen muss. Wirken dagegen abwechselnd und wiederholt verschiedene Reize, so werden auch hier wieder schliesslich nicht Zellarten, welche zugleich durch die verschiedenen Reize gekräftigt werden, sondern verschiedene Zellsorten neben einander, von welchen jede blos durch Einen Reiz, aber von diesem besonders stark gekräftigt wird. Auch der Kampf der Zellen schliesst so eine Tendenz zu immer speciellerer Differenzirung ein, wie der Kampf der Molekel. Denn auch hier kann unmöglich Eine Qualität durch zwei verschiedene Reize so gekräftigt werden, als zwei verschiedene Qualitäten, von denen jede vollkommen blos für Einen Reiz angepasst ist. Wenn daher dem letzteren Verhältniss entsprechende Varietäten aufgetreten sind, müssen sie das Uebergewicht erhalten.

Diese allgemeine Ableitung der Eigenschaften, welche eventuell im Kampfe siegen müssen, mag auf den ersten Blick als sehr müssig erscheinen; sie ist es aber nicht so ganz. Denn einmal ist sie nicht ohne Nutzen für unsere Erkenntniss, be - sonders als heuristisches Princip, und zweitens werden wir bei der Betrachtung der realen Verhältnisse sehen, dass in der That nicht unwichtige Anhaltspunkte für die Annahme vorhanden sind, dass die hier bei eventuellem Auftreten als Sieg ge -91B. Arten und Leistungen des Kampfes der Theile.winnend geschilderten Eigenschaften wirklich existiren und also die Qualitäten der unseren Planeten zusammensetzenden Elemente in der That ausreichend gewesen sind, diese theoretisch er - wiesenen Sieger hervorzubringen.

Es scheint somit im Kampfe der Zellen alles so zu sein, wie beim Kampfe der Molekel, ganz dieselben Eigenschaften den Sieg zu gewinnen, somit die Ausführung erledigt zu sein. Dies wäre aber voreilig. Zunächst bedingt schon der Umstand, dass nicht blos Vergrösserung, sondern auch Vermehrung der Zellen stattfinden muss, einen Unterschied, denn es ist möglich und wahrscheinlich, dass zur Vermehrurg der Zellen andere Momente noch gehören, als zur blossen Vergrösserung, wenn auch, wie im obigen angenommen, die allgemeinen Vorbe - dingungen beider dieselben sind.

Wir unterscheiden nach unserer heutigen Auffassung zwei Zellbestandtheile, einen die Function der Zelle besorgenden, somit das Specialleben führenden Theil, den Zellleib, einen anderen die eventuelle Vermehrung einleitenden, abgesonderten, den Zellkern, und es ist Grund, diesen beiden Theilen, wie sie verschiedene Functionen haben, auch ganz verschiedene Qualitäten zuzuschreiben.

Jedenfalls müssen also auch diejenigen Qualitäten des Kernes, welche unter den gegebenen Bedingungen am besten sich nähren können, sich stärker ausbreiten, und ebenso werden, im Falle Reizeinwirkungen bis zu ihm dringen, derartige Quali - täten des Kernes, welche durch den Reiz in ihrem Lebens - process gekräftigt und zur Vermehrung ihrer Substanz angeregt werden, einen Vortheil durch grössere Ausbreitung erlangen, und all die oben erwähnten Eigenschaften müssen also auch auf den Kern übertragen werden, müssen in ihm und mit ihm siegen, und es muss diesen Eigenschaften des Kernes gegen - über fraglich bleiben, ob und wie weit die des fungirenden92II. Der Kampf der Theile im Organismus.Zellleibes als günstige Vorbedingungen auch für die Kernver - mehrung, also für den Ausgangspunkt der Zellenvermehrung anzusehen sind. Wir können daher bei unserer Unkenntniss dieser Verhältnisse zur Zeit nicht sicher beurtheilen, wie weit der Kampf der Zellen dasselbe züchtet als der Kampf der Molekel, in wie weit sie sich fördern oder widerstreben, aber wir werden doch im weiteren aus dem empirisch beobachteten Verhalten Gründe finden, zu schliessen, dass sie sich fördern. Auch lässt sich eine Wahrscheinlichkeit dafür aus dem Principe des Kampfes ableiten; denn wenn Qualitäten im Kern und Zell - leib auftreten, welche beide durch dieselben äusseren Be - dingungen gekräftigt werden, so werden die so zusammen - gesetzten Zellen wiederum einen Vortheil vor anderen haben, in welchen blos Ein Bestandtheil gekräftigt wird.

Eine Tendenz zu einem Kampfe um den Raum zwischen diesen beiden Zellbestandtheilen scheint noch in Organen höherer Organismen vorhanden zu sein, denn sobald in den Muskeln der specifisch fungirende Theil atrophirt, findet eine Ver - mehrung der Zellkerne statt, die sogenannte » atrophische Kern - wucherung «1)Cohnheim, Allgem. Pathologie. Bd. I. p. 503., welche aber nicht zu einer Vermehrung der Zellen führt. Das Gleiche ereignet sich auch nach Flemming in den Zellen atrophischen Fettgewebes2)Archiv f. mikroskop. Anatomie. VII. p. 32. 328. Virchow’s Ar - chiv. Bd. 52. p. 568.. Doch sind diese Er - scheinungen vor der Hand für uns von keiner Wichtigkeit und wir knüpfen den Werth unserer Ableitungen in keiner Weise an die Auffassung, welche diese Vorgänge erfahren.

Wir kommen nun zu einem weiteren Unterschied des Kampfes der Zellen von dem Kampf der Molekel. Und da wir es hier mit grösseren Verhältnissen zu thun haben, welche der directen Beobachtung zugänglich sind, so sind wir hier auch im Stande,93B. Arten und Leistungen des Kampfes der Theile.die thatsächliche Berechtigung der Annahmen genauer zu con - troliren.

Es handelt sich um die Verhältnisse beim Kampfe um den Raum. Wenn der Raum, um welchen gekämpft wird, ganz frei ist, so wird, wie oben geschildert, die grössere Wachsthumsgeschwindigkeit an sich siegen. Das Ende des Wachsthums ist allemal durch den Widerstand an den Nachbar - theilen gegeben. Also muss Druck dem Wachsthum Schranken setzen können. Das ist im allgemeinen sehr bekannt, aber gleichwohl für die thierischen Organismen nicht in der Weise bewiesen, wie es hier nöthig ist. Der Druck, von dem es be - kannt ist, ist immer Druck, welcher ausgebreiteter auf eine ganze Stelle mit Zellen und Blutgefässen wirkt. Da nun letztere, insbesondere die Capillaren, leicht comprimirbar sind, so wird den betreffenden Stellen des Gewebes die Nahrung entzogen und dasselbe damit der Atrophie unterliegen. Hier, beim Kampfe der einzelnen Zellen, kann natürlich eine solche Compression der Blutgefässe nicht stattfinden; trotzdem kann wohl der Druck der Zellen an einander in der gleichen Weise mechanisch nach - theilig wirken, denn auch die Zelle selber ist von einem Netz - werk mit Flüssigkeit erfüllter Räume durchzogen, welche bei der Compression verengt werden, wodurch die Ernährung be - einträchtigt werden muss. Dabei ist noch abgesehen von den Nachtheilen innerer Erhöhung der Spannung für die Diffusion, für die Protoplasmabewegung oder für die chemischen Um - setzungen. Und auch schon im Kampf der Molekel wird das Feld von den Besiegten nicht activ geräumt, sondern letztere müssen verdrängt werden oder es muss dem weiteren Wachs - thum bei der Regeneration durch den Druck Widerstand ge - leistet werden, wie denn jeder Kampf um den Raum nur auf mechanische Weise durch Druck entschieden werden kann.

Es erhellt nun, dass diese wichtige Eigenschaft der Wider -94II. Der Kampf der Theile im Organismus.standsfähigkeit gegen Druck, wenn sie einer Zelle und ihren Nachkommen in höherem Masse zu Theil ist, als den anderen in der Umgebung, gleichfalls zum Siege und zur allgemeinen Ausbreitung führen kann, selbst wenn die Vermehrung eine langsame, aber stetige ist. Ob solches auch schon innerhalb der Zelle, also im Kampf der Molekel möglich ist, wird davon abhängen, ob der Druck blos mechanisch oder auch chemisch hemmend zu wirken im Stande ist, und im ersteren Falle, ob die Theile der neu auftretenden Variation in der Zelle fest ge - schlossen an einander congregirt sind, dass sie als neuer, zu einem Ganzen geformter Bestandtheil wie eine Geschwulst mechanisch als Ganzes gegen die Nachbarschaft kämpfen können. Ueber das Vorkommen dieser Eigenschaft haben wir kein Urtheil und ich habe es deshalb unterlassen, sie beim Kampf der Molekel zu erwähnen und zu verwerthen.

Für den Kampf der Zellen aber haben wir Beweise dafür in pathologischen Vorkommnissen, wo Zellen in andere hinein - wachsen, so z. B. bei der lacunären Usur der Muskelfasern durch Sarcomzellen, nach R. Volkmann1)Virchow’s Archiv. Bd. 50. p. 543., Klemensiewicz2)Wiener Sitzungsber. Bd. 79. Abth. III. 1879., oder durch Wanderzellen in Folge vorübergehender Aufhebung der Blutcirculation nach R. Erbkam3)Virchow’s Archiv. Bd. 79. Heft 1.. Ferner aus dem normalen Vorgange bei der Regeneration der Epithelien, wie wir sie für die Epidermis von G. Lott4)Centralblatt f. d. med. Wiss. 1871., für die Flimmerepithelien der Luft - röhre von O. Drasch5)Wiener Sitzungsber. Bd. 80. Abth. III. 1879. kennen gelernt haben, ergiebt sich auf das bestimmteste eine gegenseitige Beeinflussung durch Druck, welche unter Durchbrechung, Zertheilung und Zerstückelung der alten Zellen dieser Gewebe zum Schwunde und zur Ausstossung führt.

95B. Arten und Leistungen des Kampfes der Theile.

Zu den wichtigen allgemeinen Lebensbedingungen gehört auch die Beseitigung der Stoffwechselproducte; denn ihre Anhäufung würde schädlich sein, einmal weil sie als für den Organismus todtes Material unnützer Weise Raum einnehmen oder weil sie eventuell durch ihre chemische, vom Organismus different gewordene Beschaffenheit direct schädlich wirken werden. Es werden daher ceteris paribus ebensowohl Zellen, welche weniger schädliche Stoffwechselproducte bilden, als auch diejenigen, welche die Abfuhr derselben leichter be - sorgen können, einen wesentlichen Vortheil im Kampfe vor den anderen Zellen voraus haben und daher leichter sich erhalten und ausbreiten.

Die Wirkungsgrösse des Kampfes der Zellen ist bedingt durch die Zahl von Zellgenerationen, in welchen er zur Wirkung gelangt, und diese ist natürlich abhängig von dem Zeitpunkte des Auftretens der neuen Eigenschaft im Leben des Individuums. Tritt sie erst im erwachsenen Individuum auf, wo blos noch physiologische Regeneration stattfindet so kann sie überhaupt nur in jenen Organen wirken, deren Zellen noch einer physiologischen Vermehrung entweder zur Regeneration oder zur Arbeitshypertrophie unterliegen, also in den Epithelien, den Schleim - und vielleicht noch anderen Drüsen, in Muskeln, Knochen, im Knorpel - und im Bindegewebe und in den Nerven; nicht aber, so viel wir bis jetzt wissen, in den Lagern der Ganglien - und Sinneszellen.

Tritt dagegen die neue Variation schon frühzeitig im Em - bryo auf, so wird alles von ihr abstammende Gewebe ihren Charakter tragen, und da sie irgend einen Vorzug für die Aus - breitung hat, wird sie nach dem Maasse desselben ihr Verbrei - tungsgebiet über das ihrer ursprünglich gleichstehenden Genos - sinnen ausdehnen, so dass eine neue günstige moleculare Va - riation, auch wenn sie erst nach der Bildung der Keimblätter96II. Der Kampf der Theile im Organismus.auftritt, sich eventuell gleich fast in einem ganzen Gewebe verbreiten kann. Und was so gezüchtet ist, ist also wieder das zum Leben Kräftigste, eventuell die kräftigste Reaction auf Reize Gebende, seien letztere nun physikalischer oder chemi - scher Natur und, falls bis zur Uebercompensation des Ver - brauchten durch den Reiz gekräftigt wird, die Fähigkeit zur Arbeitshyperplasie.

Aus diesen so gezüchteten allgemeinen Eigenschaften wird secundär erst wieder aber gleichzeitig die Auslese im Kampfe um’s Dasein dasjenige züchten, was dem ganzen Individuum dienlich ist. Diese Züchtung wird dadurch erleichtert, dass in Folge der durch den Kampf der Zellen erfolgenden weiteren Verbreitung der neuen kräftigeren Eigenschaften der neue Cha - rakter gleich mit entschiedenerer Bedeutung auftritt, und wenn er nützlich ist, gleich in höherem Maasse förderlich zur Geltung kommt, oder wenn er nachtheilig, wieder durch Selbstelimina - tion aus der Reihe des Lebenden verschwindet.

Auch direct gestaltend kann der Kampf der Theile bei den Zellen wirken, indem er einmal solche Zellen erhält, wel - chen eine günstigere Lage zu den Blutgefässen, zu der Fläche, von welcher die Nahrung zu ihnen kommt, eigen ist, anderer - seits unter Einwirkung von Reizen, sofern dieselben selber be - stimmt gestaltet sind, wie der Druck in den Knochen, der Zug in den Sehnen, Bändern und Fascien, worüber in dem Kapitel der Reizwirkung ausführlicher erörtert werden wird.

3. Der Kampf der Gewebe.

Auch zwischen den verschiedenen Geweben ist natürlich ein Kampf möglich. Indessen, da es ein Kampf heterogener Dinge ist, so kann er nicht, wie der Kampf der Molekel und der der Zellen, zur Auslese des Besseren führen, er kann nicht die Entwickelung des Organismenreiches durch Steigerung der97B. Arten und Leistungen des Kampfes der Theile.Eigenschaften fördern und abkürzen. Sein Resultat wird mit Nothwendigkeit nur das Gleichgewicht zwischen den Theilen sein. Denn Gewebe, welche zu lebenskräftig für die anderen sind, auch wenn sie selber oder die anderen sehr nützlich wären, müssen zur Vernichtung des Ganzen führen, wie uns dies zahlreiche pathologische Beispiele thatsächlich zeigen. Die Geschwülste sind bekanntlich solche mit abnormer Lebenskraft ausgestattete Gewebe, die sich auf Kosten der Nahrung und des Raumes der anderen entfalten und mit diesen den Orga - nismus zerstören. Ebenso ist die Stärkung der Bindesubstan - zen, wie sie z. B. das Syphilisgift hervorbringt, hierher zu zählen. Sie vermehren sich bekanntlich nach Einwirkung die - ses Giftes (ob blos nach Hinzutreten eines anderen Reizes, ist für uns irrelevant) und bringen schliesslich die eingelagerten, specifisch fungirenden Theile der Organe zum Schwund. In ähnlicher Weise wirkt Arsen bei lange dauerndem Genuss ausser auf andere Theile auch stärkend auf die Entwickelung des Fettgewebes. Ist dies oft vortheilhaft, so ist dagegen nach - theilig die übermässige Vermehrung des Fettgewebes bei der allgemeinen Fettleibigkeit, insbesondere, indem sie die Bewe - gungen des Herzens erschwert. Ferner zeigt uns jede Entzün - dung in ihrer Auflösung und Zerstörung des normalen Gewebes einen solchen Kampf.

Auch schon allein durch abnorme Schwächung des einen Gewebes kann das andere das Uebergewicht gewinnen und sich auf Kosten des Raumes des geschwächten entfalten. So thun dies nach Thiersch1)Thiersch, Der Epithelialkrebs, namentlich der Haut. Leipzig 1865. im Alter die Epithelien in Folge der Schwächung des Bindegewebes; so erklärt Cohnheim2)Cohnheim, Allgemeine Pathologie. Bd. I. p. 532. das Einwachsen der Blutgefässe in alten geschwächten Knorpel,Roux, Kampf der Theile. 798II. Der Kampf der Theile im Organismus.so dringen nach C. Friedländer1)C. Friedländer, Ueber Epithelwucherung und Krebs. Strassburg 1877. atypische Epithelwuche - rungen in entzündlich verändertes Bindegewebe ein.

Diese Beispiele demonstriren deutlich, dass das normale Leben an das Gleichgewicht der Gewebe gebunden ist. Das sehen wir auch noch in anderer Weise; wenn z. B. ein Schnitt in die Hornhaut des Auges gemacht wird, so vermehrt sich nach H. v. Wyss2)Virchow’s Archiv. Bd. 69. p. 24. sehr rasch das Epithel derselben und wächst in den entstandenen Spalt des Bindegewebes hinein, bis es ihn erfüllt; dann, allmählich nachfolgend, drängt das nachwachsende Bindegewebe den Epithelzapfen wieder heraus. Wenn eine Wunde vom Rande des Substanzverlustes her nicht rasch genug mit Epithel überhäutet wird, wächst bekanntlich das Granulationsgewebe als sogenanntes wildes Fleisch an der offenen Stelle heraus, während es am Rande durch den ganz feinen neugebildeten Epithelsaum in den normalen Schranken zurückgehalten wird.

Da Mangel des Gleichgewichts zwischen den verschiedenen Geweben sehr rasch zum Tode der Individuen und somit zur Elimination derselben und ihrer nachtheiligen Qualität aus der Reihe der Lebenden führt, so mussten in den überlebenden In - dividuen blos Zustände des Gleichgewichts der Gewebe übrig bleiben und so eine harmonische Einheit des ganzen Or - ganismus durch Selbstelimination des Abweichenden gezüchtet werden. Das so entstandene Gleichgewicht wurde aber blos für eine gewisse normale Lebensbreite erworben und kann durch Veränderung der Bedingungen leicht gestört werden. Sind z. B. die Bindesubstanzen abnormer, nicht durch eigene Thä - tigkeit bewirkter Vergrösserung der Blutzufuhr längere Zeit unterworfen, wie z. B. bei chronischen Unterschenkelgeschwü -99B. Arten und Leistungen des Kampfes der Theile.ren, so wuchert das Bindegewebe der Haut, zuweilen auch der darunterliegenden Muskeln, und bringt dann die letzteren an den betreffenden Stellen zum Schwund.

Ob nun aber gegenwärtig im ganzen normalen Leben sol - ches Gleichgewicht besteht, oder ob nicht vielleicht im Embryo manchmal das eine Gewebe über das andere activ siegen muss, um die normalen Bildungen herzustellen, ist schwer zu beur - theilen. Boll1)Boll, Das Princip des Wachsthums. Berlin 1876., der dies auf eine histologische Beobachtung an der Lunge hin sofort als allgemeines Princip der ganzen em - bryonalen Entwickelung kategorisch aufgestellt hat, bekundet aber in seiner Arbeit, dass er gar keine Vorstellung von den Methoden gehabt hat, welche nöthig sind, derartiges überhaupt festzustellen. So stützt sich denn auch sein Schluss, dass das Bindegewebe, in die specifischen Theile der Organe activ ein - wuchernd, an manchen Stellen in den letzteren die normale Structur ausbilde, während an anderen Stellen das Gleiche durch die umgekehrte Wechselwirkung entstehe, auf eine durchaus zweideutige Beobachtung. In diesem Sinne ist von ihm der Ausdruck: Kampf der Gewebe angewendet und in die Literatur eingeführt worden. Da sich wohl Niemand finden wird, der diese einseitige Auffassung der Morphogenese vertheidigen wird, so wäre es unnütz, weiter darauf einzugehen, und so mag denn auch die Arroganz des Verfassers in der Beurtheilung der Leistungen unserer verdientesten Männer, die nur in der Dürftigkeit der ganzen Ausführungen seiner Arbeit ein Aequivalent findet, ungerügt bleiben. Soweit Richtiges an seiner Auffassung ist, nämlich soweit er meint, dass im Embryo nicht immer ein gleichmässiges sich neben einander Entwickeln der Theile stattfindet, sondern dass oft bei der Gestaltung der neuen Formen bald der eine, bald der andere Theil eine mehr7*100II. Der Kampf der Theile im Organismus.active oder mehr passive Rolle spielt, war es bereits von Früheren erkannt und die Erforschung dieser Verhältnisse im Einzelnen mit den Methoden zur genauesten Topographie des Geschehens von His in Angriff genommen worden.

Da die specifisch fungirenden Gewebe immer in Stütz - gewebe, welches zugleich die Ernährungsgefässe einschliesst, eingebettet sind und dadurch von anderen specifischen Theilen desselben Organes, z. B. den zugehörigen Nerven, getrennt werden, so muss der Kampf der specifischen Gewebe immer zunächst mit dem Bindegewebe stattfinden. Es scheint aber, dass letzteres auch im Erwachsenen noch an vielen Stellen eine Tendenz zu fortwährender Vermehrung hat, denn wenn irgendwo in Drüsen, Nervensystem oder Muskeln die specifischen Theile zu Grunde gehen, so pflegt die interstitielle Bindesubstanz zu hypertrophiren und den frei gewordenen Raum mehr oder minder einzunehmen. Besonders beweisend sind derartige Vorkommnisse bei den strangförmigen Degenerationen des Rückenmarkes, weil hier mit Sicherheit die Bindegewebshypertrophie als secundäre Erscheinung nach der Atrophie der nervösen Theile aufgefasst werden kann, da einmal die Affectionen noch im Stadium der blossen Atrophie beobachtet worden sind, andererseits aber, weil primäre Erkrankung des Bindegewebes längs einzelner Nerven - bahnen des Rückenmarkes oder Gehirnes bei der gleichmässigen Beschaffenheit der Bindesubstanz nebeneinander liegender Ner - venbahnen absolut unverständlich wäre. Das schliesst aber natür - lich nicht aus, dass am ersten Entstehungsorte, wie für die Rückenmarksschwindsucht wohl in manchen Fällen angenom - men werden muss, der Process in der Bindesubstanz begonnen hat; aber das strangweise Weiterschreiten des Processes erfolgt dann von den hier zerstörten nervösen Theilen aus, und daran schliesst sich die strangförmige compensatorische Hypertrophie der Stützsubstanz1)Siehe z. B. Schieferdecker, Virchow’s Archiv. Bd. 67, und A. Strümpell, Archiv für Psychiatrie von Westphal. Bd. 10 u. 11.. Dasselbe findet statt bei jeglichem Substanz -101B. Arten und Leistungen des Kampfes der Theile.verlust durch Verwundung. Der Ersatz des Verlorengegange - nen durch Bindegewebe wird zwar in diesem letzteren Falle gewöhnlich als » Regeneration « bezeichnet, verdient aber diese Bezeichnung deshalb nicht, weil dabei die normale Structur der Stelle nicht wieder hergestellt wird. Der Vorgang ist also nicht mit der auf Erhaltung embryonaler Eigenschaften in den Zellen beruhenden Regeneration niederer Thiere, z. B. der Amphibien, vergleichbar, welche nach Entfernung eines Kör - pertheiles denselben wieder selbst bis auf die Speciescharak - tere normal herstellt.

Im erwachsenen Individuum scheint ein Kampf der Gewebe als normaler Process blos noch vorzukommen in den Knochen, indem hier die Zerstörung des Alten unter dem Einwachsen von Capillarschlingen stattfindet, welchen die von Kölliker2)Würzburger physik. -med. Gesellschaft, Sitzungsber. 1872. Gleich - zeitig entdeckte G. Wegner dieselbe Function dieser Zellen in Fällen pathologischer Knochenresorption. Siehe Virchow’s Archiv. Bd. 56. in ihrer Function erkannten grossen vielkernigen Zellen, die Osteo - klasten oder Myeloplaxen, durch Auflösung der Knochensubstanz den Weg bahnen. Aehnliches findet im embryonalen und jugend - lichen Individuum bei der der Verknöcherung vorangehenden Zerstörung der knorpeligen Skelettheile statt. Auch kommt gelegentlich ein physiologischer Kampf der Gewebe noch an anderen Stellen vor. So hindert z. B. nach W. Krause3)W. Krause, Handb. der menschl. Anatomie. Bd. 3. p. 91. der Musculus transversus menti, wenn er ausgebildet ist, die An - sammlung von Fett im Unterhaut-Bindegewebe an der Stelle, wodurch alsdann das Grübchen im Kinn entsteht.

Trotz dieser im Allgemeinen geringen und, wie wir sahen, die Entwickelung und Kräftigung des Organischen nicht fördern - den Wirkungsweise des Kampfes der Gewebe kann derselbe102II. Der Kampf der Theile im Organismus.in einer Beziehung doch noch von grösserer, direct nützender Bedeutung werden. In dem Falle nämlich, dass die Gewebe die Eigenschaft haben, blos durch Reize ihre Kräftigung zu erhal - ten, wird bei ausschliesslicher Einwirkung der functionellen Reize der Kampf der Gewebe sofort zu einem Kampfe der Functions - stärke der Gewebe und er wird als solcher bestrebt sein, jedem Gewebe die für den Gebrauch, den das Ganze von seiner Function macht, nöthige Dimension zu geben. Wenn z. B. durch stär - keren Reiz zur Thätigkeit das Drüsengewebe zur Vermehrung angeregt wird, so werden durch diese Vermehrung auch das stützende Bindegewebe und die Blutgefässe zu entsprechender Vermehrung angeregt werden. Das Gleiche gilt von allen anderen Geweben und ihren functionellen Wechselbeziehungen. Diejenigen Gewebe, welche bei einer Aenderung der functio - nellen Verhältnisse weniger in Anspruch genommen werden als bisher, werden ausser der Inactivitätsatrophie auch noch der Druckatrophie durch die stärker den Raum beanspruchenden Nachbartheile verfallen.

Es wird damit der Kampf der Gewebe zu einem alle quan - titativen Verhältnisse im Körper direct regulirenden Princip, zu einem Principe der functionellen Selbstgestaltung der zweckmässigsten Grössenverhältnisse.

Dies setzt aber, wie erwähnt, voraus, dass die Gewebe im erwachsenen Organismus ihre Kräftigung blos noch durch die functionellen Reize erhalten, mit der Zunahme derselben also zu stärkerer Entwickelung und zu stärkerem Widerstand gegen die Nachbarn gekräftigt, mit der Abnahme derselben zur Verringe - rung dieser Eigenschaften geschwächt werden.

Ob und wie weit wir berechtigt sind, Geweben des thierischen Organismus derartige wichtige Qualitäten zuzuschreiben, wird im III. Kapitel ausführlicher erörtert werden.

103B. Arten und Leistungen des Kampfes der Theile.

4. Der Kampf der Organe.

Auch im Kampfe der Organe sind es wieder heterogene Theile, welche mit einander um den Raum und vielleicht auch um die Nahrung zu streiten haben. Die nächste Folge wird daher auch hier wieder die sein, dass blos solche Verhältnisse bestehen können, in welchen diese chemisch und physiologisch ganz ungleichwerthigen Theile sich morphologisch das Gleich - gewicht zu halten vermögen; denn wenn einer in seiner Wachs - thumskraft so stark wäre, dass er die anderen verdrängte, so würde das Ganze zu Grunde gehen. Wenn der Kampf der Organe somit das Gute hat, dass er Unhaltbares aus der Reihe des Lebenden rasch entfernt, so muss auch daran gedacht werden, dass er zugleich im Stande sein kann, manche viel - leicht das stärkste für den Organismus leistenden Verbindungen zu unterdrücken, wenn sie morphologisch kräftiger sind als die der anderen Organe.

Eine Wechselwirkung der Organe auf einander ist lange bekannt und in mannigfacher Weise gewürdigt worden; aber nicht als züchtender Kampf um den Raum. So ist die gegen - seitige Beeinflussung der Eingeweide in ihrer Gestalt, besonders die passive Abhängigkeit der Gestalt der Leber von ihren Nachbarorganen, schon von Vesal, Cruveilhier und neuer - dings von Braune, Toldt und Zuckerkandl, His1)S. His, Archiv für Anat. u. Physiologie. 1878. und Anderen beobachtet und hervorgehoben worden und Th. Rott2)Verhandlungen der Physik-med. Ges. in Würzburg. N. F. XIII. 1879. p. 125 ff. fand, den Beweis ergänzend, dass beim Fehlen der rechten Niere und Nebenniere auch die normal vorhandene, diesem Or - gane entsprechende Grube in der Leber fehlte. Bei den Fischen sieht man noch mehr die vollkommene Abhängigkeit der Ge -104II. Der Kampf der Theile im Organismus.stalt der Leber von den Nachbarorganen, indem hier die Leber oft weit zwischen den Darmschlingen, die von letzteren gelassenen Lücken abgussartig ausfüllend, nach hinten reicht. Ebenso zeigt sich bekanntlich die Lunge in ihrer Gestalt abhängig von der Brustwand, vom Herzen und von der Gestalt der Zwerchfell - kuppel; die Nebenniere ist abhängig von der Niere, die Milz von Magen und Darm und das Grosshirn plattet die Hemisphären des Kleinhirns ab. Sehr interessant und morphologisch wichtig ist die Abplattung der Muskeln z. B. der Wadenmuskeln an - einander. Bei angeborener abnormer Grösse der Zunge wer - den die Schneidezähne durch den Druck des Organes allmählich nach vorn gebogen, und wenn ein Zahn ausgezogen ist, rücken seine beiden Nachbarn allmählich näher gegen einander und verkleinern so die Zahnlücke. Es liessen sich noch viele solcher gegenseitiger Beeinflussungen anführen. Das für uns Wichtige an ihnen ist, dass diese Beeinflussung zur möglichsten Aus - nutzung des Raumes geführt hat, und dass danach nun eine Vergrösserung des einen Organes zumeist nur auf Kosten des anderen geschehen kann, sobald das letztere nicht die Kraft hat, dem Wachsthumsdruck des anderen zu widerstehen und das andere zu zwingen, sich blos noch aussen zu vergrössern.

Falls, wie schon beim Kampf der Gewebe erwähnt und angenommen wurde, die Gewebe die Eigenschaft haben, durch den functionellen Reiz ihre Kräftigung zu erfahren, so wird damit der Kampf der Organe in gleicher Weise wie der Kampf der Gewebe zu einem sehr nützlichen Principe, zufolge dessen einmal die Organe so gross sich entwickeln, als dem Bedürf - niss des Organismus entspricht, und zweitens bei Verringerung des Gebrauchs nicht blos der einfachen Inactivitätsatrophie ver - fallen, sondern, von ihren stärkeren Nachbarn direct beeinträch - tigt, rasch bis auf jenes Volumen verkleinert werden, welches allein noch durch den Grad seiner Function für den Organismus105B. Arten und Leistungen des Kampfes der Theile.von Nutzen ist und durch diesen Grad der Function die Kraft erhält, weiteren Verkleinerungen durch die Nachbarorgane Wi - derstand zu leisten. Letzteres zeigt z. B. der Musculus plan - taris der Wade, welcher beim Menschen, entsprechend der Ver - ringerung seiner Function, zu einem ganz geringen, in seiner Gestalt von den beiden anderen Wadenmuskeln abhängigen Gebilde reducirt ist, trotzdem aber in seinem erhaltenen Reste ein durchaus frisches, leistungsfähiges Aussehen zeigt. Daraus folgt ferner von selber, dass fast nicht gebrauchte Organe an Stellen, wo sie keine Concurrenz um den Raum zu bestehen haben, sich längere Zeit erhalten können, wie wir dies bei den Ohrmuskeln des Menschen sehen.

Ich glaube, dass durch diesen directen Kampf der Organe um den Raum manche derjenigen Erscheinungen, welche Dar - win unter dem Principe der Oeconomie des Wachsthums zu - sammenfasst1)Darwin, Entstehung der Arten. p. 162., auf näherem Wege sich erklären, als wenn, wie Darwin als Hauptfactor ihrer Entstehung annimmt, die Organe vorwiegend durch Auslese aus zufälligen Variationen die den jeweiligen Umständen angemessene Reduction ihrer Grösse er - fahren hätten.

Ausser um den Raum kann der Kampf der Organe auch noch um die Nahrung stattfinden. Und in dieser Be - ziehung scheint er schon längst erkannt und auch richtig auf - gefasst gewesen zu sein, denn schon Goethe und Geoffroy St. Hilaire haben gleichzeitig ein Gesetz der Compensation des Wachsthums aufgestellt, welches besagt, dass, wenn viel organische Substanz zum Aufbau irgend eines Theiles ver - wandt wird, anderen Theilen die Nahrung entzogen wird und sie damit reducirt werden. Darwin2)Darwin, Das Variiren der Pflanzen. Bd. II. p. 403. erkennt diesem Gesetz106II. Der Kampf der Theile im Organismus.neben der Wirkung der natürlichen Zuchtwahl eine nur geringe Wirkung zu, indem er sagt:

» Da der Zufluss organisirter Substanz nicht unbegrenzt ist, so kommt zuweilen das Princip der Compensation mit in Thätig - keit, so dass, wenn ein Theil bedeutend entwickelt wird, be - nachbarte Theile oder Functionen ganz reducirt werden. Dieses Princip ist aber wahrscheinlich von viel geringerer Bedeutung als das allgemeinere der Oeconomie des Wachsthums. «

Eine solche Wirkung braucht nicht blos auf dem Wege collateraler Blutentziehung stattzufinden, indem mit der Erweite - rung der Gefässe des einen Organes die der Nachbarorgane da - durch ceteris paribus weniger Blut zugeführt erhalten; sondern es scheinen derartige Wechselwirkungen auch in ganz anderer Weise vor sich gehen zu können. So kommt bekanntlich bei Frauen, welche Jahre lang stillen, eine Krankheit, die sogenannte Osteomalacie, Knochenerweichung, vor, darin bestehend, dass bei der fortwährenden Abfuhr von Kalksalzen durch die Milch - drüsen den Knochen der Mutter die Kalksalze aus der Nahrung vorweggenommen werden, so dass die fortwährend neu gebildete Knochensubstanz weich bleibt und schliesslich, wenn die alte Knochensubstanz ganz durch die neue kalklose ersetzt worden ist, die Knochen von wachsartiger Weichheit sind und sich in jede beliebige Form verbiegen. Hier findet also der Kampf der Milchdrüsen mit den Knochen dadurch statt, dass die Zellen der ersteren die Kalksalze stärker aus dem Transsudate anziehen als die Knochengrundsubstanz und sie so der letzteren vor - wegnehmen.

Uebersicht der Leistungen des Kampfes der Theile.

In dem vorstehenden Kapitel wiesen wir zunächst darauf hin, dass die Entwickelung der Organismen zwar nach im107B. Arten und Leistungen des Kampfes der Theile.Grossen gültigen, festen Gesetzen erfolgt, aber trotzdem nicht Constantes liefert, sondern schon in der Keimanlage und in der embryonalen Entwickelung durch äussere Einwirkungen alterirt wird und noch mehr in der postembryonalen Entwickelung, so dass eine Variabilität in allen Theilen angenommen werden musste, welche in dem thatsächlich beobachteten Verhalten ihre Bestätigung fand. Ferner führten wir aus, dass in Folge derselben die Vererbung nicht bis zur Bestimmung des letzten Einzel - geschehens gehen kann, sondern sich begnügen muss, allgemeine Normativbestimmungen für das Geschehen zu treffen.

Eine nothwendige Folge dieser Freiheit und der Verschieden - heit der Theile war es, dass im Stoffwechsel und Wachsthum die stärkeren Theile die schwächeren durch Entziehung von Raum und eventuell auch von Nahrung beeinträchtigen und sich auf Kosten derselben in höherem Maasse ausbreiten mussten.

Wir sahen danach, dass der Kampf der Molekel und der Kampf der Zellen eine Reihe von Qualitäten züchtete, welche in Folge ihres allgemeinen Charakters auch dem Individuum in seinem Kampfe ums Dasein höchst nützlich sind. Dies ist natürlich, da einmal die allgemeinen Eigenschaften, welche im Kampfe den Sieg verleihen, überall dieselben sind und zwei - tens das Ganze, als die Resultante der Theile, mit ihnen die - selben Bedürfnisse hat und blos durch sie kämpfen kann. Wenn aber die Theile im Kampfe gegen einander sich zu immer höherer Leistungsfähigkeit ausbilden, so muss damit auch ihre Gesammtwirkung entsprechend zunehmen, in der gleichen Weise, wie sich die Leistungsfähigkeit eines Heeres steigert, dessen Offiziere unter einander wetteifern und in welchem immer blos die besten derselben zur Heranbildung des Nachwuchses aus - gewählt werden.

Dagegen muss aus der grossen Anzahl dieser im allge - meinen dynamischen Sinne leistungsfähigsten Eigenschaften die108II. Der Kampf der Theile im Organismus.Auswahl des zu besonderen Verrichtungen für den ganzen Organismus, für das Individuum, in seinen Beziehungen zur Aussenwelt Passenden natürlich einzig und allein durch den Kampf ums Dasein unter den Individuen stattfinden.

Die Individuen stellen somit blos Specialfälle und Com - binationen dessen dar, was im Kampf der Theile sich zu er - halten fähig ist, während diejenigen im Kampf der Theile erhaltungsfähigen Substanzen, welche nicht für die Erhaltung des Ganzen in seinem Kampfe mit der Aussenwelt sich eigne - ten, mit ihren Trägern aus der Reihe des Lebenden eliminirt wurden.

Nahmen wir noch an, dass unter den vorgekommenen Variationen der organischen Substanzen auch solche gewesen seien, welche auf Zufuhr von Reizen in ihrer Assimilations - fähigkeit erhöht wurden, auf welche also der Reiz eine trophische, die Ernährung fördernde Wirkung direct oder indirect ausübt, so sahen wir, dass diese Qualitäten siegen mussten. Der Kampf der Molekel und der Zellen musste alsdann die Fähigkeit, auf Reize zu reagiren, immer höher steigern und eventuell konnte auch eine Fähigkeit zur Uebercompensation des durch den Reiz Verbrauchten sich ausgebildet haben, welche ihrerseits zur Ar - beitshypertrophie führte, wie umgekehrt der Umstand, dass der Reiz schliesslich zum unentbehrlichen Lebensreiz werden musste, beim Ausbleiben desselben zur Inactivitätsatrophie Veranlassung gab. Diese beiden Qualitäten sind dann im Stande, alle quan - titativen Verhältnisse im Organismus nach dem Maasse des Be - dürfnisses von selber zu reguliren.

Ausserdem ergab sich bei der Annahme der trophischen Reizwirkung aus dem Kampf der Theile auch gleich das Prin - cip der fortwährend sich steigernden Differenzirung, weil nur diejenigen Verbindungen durch Einen Reiz am meisten gekräf - tigt werden können, welche blos an ihn allein, nicht auch109B. Arten und Leistungen des Kampfes der Theile.noch in gleich vollkommener Weise an andere Reize angepasst sind, und weil daher an einen sich wiederholenden Reiz voll - kommen angepasste Eigenschaften, wenn sie einmal in Spuren aufgetreten waren, die Herrschaft gewinnen mussten.

Ferner folgerte, dass mit der grösseren Ausbreitung, welche neu auftretende stärkere Qualitäten durch den Kampf der Mole - kel und der Zellen erlangen, einmal für Homogenität der Zu - sammensetzung innerhalb der Zellen und der Gewebe gesorgt wird, andererseits aber, was wichtiger ist, die neu auftretende Variation mit der grösseren Verbreitung gleich zu grösserer Bedeutung gelangt, so dass eventuell ihr Nutzen gleich erheb - licher, ausschlaggebender im Kampf der Individuen werden kann oder im entgegengesetzten Falle, wenn die Eigenschaft nachtheilig ist, die damit beladenen Individuen sofort aus der Reihe der Lebenden ausgeschlossen werden.

Andere sind dagegen die Leistungen des Kampfes der Ge - webe unter einander und ebenso die des Kampfes der Organe. Der Kampf dieser Theile führt durch Selbstelimination zum alleinigen Ueberbleiben von Organqualitäten, welche sich im Körper morphologisch das Gleichgewicht zu halten vermögen, und ferner noch ebenfalls wieder zur möglichsten Ausnutzung des Raumes. Bei Annahme der Stärkung der Gewebe durch Reize bewirkt er ausserdem noch die Selbstregulation der quan - titativen Entfaltung der Gewebe und der Organe nach den Be - dürfnissen des Ganzen.

Durch jede der vier Kampfesstufen werden demnach die functionell nöthigen Grössenverhältnisse von selber ausgebildet, nach der Seite der Vergrösserung durch Stärkung der Ernäh - rungsfähigkeit, nach der Seite der Verkleinerung durch Schwä - chung derselben und durch directe Beeinträchtigung im Kampfe um den Raum mit dem stärker Gebrauchten.

Schliesslich wurde noch kurz angedeutet, dass die so im110II. Der Kampf der Theile im Organismus.Kampfe der Theile erworbenen Reactionseigenschaften auch zur directen functionellen Selbstgestaltung nöthiger und höchst zweckmässiger Formverhältnisse fähig seien, und wir verspra - chen, die Gründe für die Annahme der Existenz solcher un - schätzbar wichtigen Eigenschaften darzulegen, was im folgen - den Kapitel geschehen wird.

Wenn man, wie bisher geschehen, alle guten Eigenschaften eines Organismus blos von der directen Auslese in dem Kampf ums Dasein unter den Individuen ableitet, so ist dies dasselbe, als wollte man ausser den direct zur Wehrfähigkeit gehörigen auch alle anderen guten Einrichtungen eines Staates in Re - gierung, Gesetzgebung, Verwaltung, Wissenschaft, Kunst, Han - del und Gewerbe und auch in der Leistungsfähigkeit der Ver - treter dieser Stände allein auf den Kampf mit den kriegerischen Nachbarn zurückführen. Mit diesem Gleichniss glaubte ich schon vor zwei Jahren1)Jenaische Zeitschrift f. Naturwiss. Bd. XIII. N. F. VI. p. 336. die Bedeutung des Kampfes der Theile zwar kurz, aber verständlich angedeutet zu haben. Denn wem möchte nicht einleuchten, dass die Concurrenz und der Wett - kampf der Vertreter desselben Standes und auch die regulirende Wechselwirkung der verschiedenen Stände auf einander mit zu den mächtigsten Factoren des stetigen Fortschrittes gehören? Wie weit würden wir ohne diesen Wettkampf der Einzelnen blos durch den Kampf mit den Nachbarstaaten gekommen sein?

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III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.

Von den im vorstehenden Kapitel angeführten Eigenschaf - ten, welche im Kampf der Molekel und im Kampf der Zellen siegen müssen, wird das thatsächliche Vorhandensein derjenigen, welche einfach im Stoffwechsel siegen, welche also sich mit dem vorhandenen Nahrungsmaterial am besten nähren und am wenigsten verbrauchen, Niemand bestreiten. Einmal, weil die Prämisse, der Stoffwechsel, eine unzweifelhafte Thatsache ist, mit welcher auch der Sieg des in demselben Begünstigteren eine Nothwendigkeit wird, und zweitens, weil die hochgradige Lei - stungsfähigkeit des Organismus, wie sie uns die Physiologie erkennen lässt und uns den Organismus als die die zugeführte Spannkraft am meisten ausnutzende Maschine hinstellt, direct beweist, dass solche vorzüglichen Eigenschaften vorhanden sind. Es ist aber wohl genügend dargelegt worden, dass, wenn diese Eigenschaften vorhanden sind, sie durch den Kampf der Theile ihre Ausbreitung gewonnen haben müssen, und dass durch den Kampf der Individuen blos diejenigen Specialfälle derselben, welche für die äusseren Bedingungen der organischen Species die günstigsten sind, ausgelesen werden konnten. Diese Eigen - schaften sind zudem rein physiologische und ohne direct gestal - tende Wirkung, so dass wir keine Veranlassung haben, weiter112III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.auf sie einzugehen. Trotzdem soll über die Arten ihres Vor - kommens in den Organismen, sowie über die Momente, welche den betreffenden Organen ihre Gestaltung verleihen, im IV. Kapitel noch Einiges aufgeführt werden.

Anders ist es dagegen mit der Annahme, dass Substanzen oder richtiger Processe in den Organismen vorhanden seien, welche durch zugeführte Reize in der Assimilation gekräftigt werden und daher die Herrschaft in den bezüglichen Theilen des Organismus gewinnen müssen, sofern diese Reize während des ganzen Lebens wiederkehrend einwirken. Dass solche Eigenschaften, wenn sie einmal auftreten, siegen müssen, glaube ich im vorigen Kapitel gleichfalls genügend dargelegt zu haben: es bleibt demnach noch der Nachweis zu liefern, dass solche Eigenschaften in den Organismen vorkommen, ehe schliesslich zu einer aphoristischen Darstellung der speciellen Leistungen derselben bei der Entwickelung des Thierreiches geschritten werden kann.

Infolge der Schwierigkeit des Existenznachweises derartig qualificirter Stoffe wird es das Beste sein, wenn wir, um ihr Vorhandensein erkennen zu können, zunächst die allgemeine Wirkungsweise derselben ableiten und mit den that - sächlich vorliegenden Verhältnissen vergleichen.

Processe, welche unter Reizeinwirkung in ihrer Assimilation stärker gekräftigt werden, als dem erhöhten Verbrauche ent - spricht, bei welchen also die Fähigkeit der Uebercom - pensation, diese ursprünglich allgemeine Fähigkeit des Wachs - thums trotz der Abhängigkeit bestehen geblieben ist, werden sich mit der Häufigkeit, also mit der grösseren Menge des Reizes zu grösserem Volumen entfalten oder insubstantiiren. Es wird also eine quantitative Selbstregulation der Grösse der Organe nach der Grösse des ihnen zugeführten Reizes stattfinden. Im Organismus sind nun bekanntlich die Theile113III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.vor fremden Reizen geschützt, abgesehen von der inneren und äusseren Oberfläche. Die Reize, welche wirken, sind somit blos die functionellen Reize, so der Impuls für Ganglien -, Ner - ven -, Muskel - und manche Drüsenzellen, Druck und Zug für die Binde - oder Stützsubstanzen, für Knochen, Knorpel, Binde - gewebe und elastisches Gewebe.

Es wird also, wenn die Anpassung an den ausschliesslich einwirkenden Reiz durch den Kampf der Theile erfolgt ist, jedes Organ um so grösser sich entfalten, je häufiger der Reiz einwirkt. Da diese Reize aber blos infolge der Thätigkeit des ganzen Organismus stattfinden, indem sie alle direct oder in - direct von dem Reizcentrum in dem Gehirn abhängen, so wer - den sie eben blos das für den ganzen Organismus Zweck - mässige hervorbringen, also direct das Zweckmässige für die Erhaltung des Individuums gestalten, wie dies bekanntermassen in den genannten Organen nach Lamarck, Darwin und Anderen nach der Darlegung im Kapitel I stattfindet. Wir erinnern für die Grösse solcher Uebercompensation an die Unter - suchungen von Volkmann1)Volkmann, Haemodynamik. p. 290., welche angaben, dass die Blut - gefässe das Zehn - bis Vierzehnfache ihrer normalen Spannung auszuhalten vermögen; von den Muskeln weiss jeder, dass, wenn er in der Jugend mit zehnpfündigen Hanteln zu üben angefangen hat, welche er nur mit grösster Willensanstrengung in gewisser Weise zu heben vermochte, er dies nach einiger Zeit mit Leichtigkeit kann und jetzt bei derselben stärksten Willensanstrengung vierzehn - oder sechzehnpfündige Hanteln zu bewegen vermag. Ebenso ist durch alltägliche Erfahrung bekannt, dass die Knochen und Bänder normaler Weise viel grössere Belastungen auszuhalten vermögen, als an welche sie durch gewohnten Gebrauch angepasst sind. So finden wir inRoux, Kampf der Theile. 8114III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.der Uebercompensation die erste Uebereinstimmung des That - sächlichen mit dem von der hypothetischen Eigenschaft zu Leistenden.

Ist die Anpassung an den Reiz eine so vollkommene, dass derselbe zum unentbehrlichen Lebensreiz geworden ist, dass ohne ihn die Assimilation und die Erhaltung der normalen Qualität überhaupt nicht stattfindet, so wird ein Weiteres sich ergeben. Die organischen Theile werden sich blos da erhalten und ausbilden können, wo der Reiz wirkt; und wo ferner der Reiz in bestimmter Gestalt auftritt, wird eine Ausgestal - tung der Reizform stattfinden; die Organe werden die Gestalt und die Structur des Reizes annehmen müssen. Wirkt z. B. der Reiz, wie in den Knochen, vorzugsweise in gewissen Richtungen, so werden die in diesen letzteren liegenden Mutter - zellen am meisten zur Bildung von Knochensubstanz angeregt werden, und da sie mit Uebercompensation arbeiten, wird bald in diesen Richtungen so viel Knochensubstanz gebildet sein, dass sie allein den Reiz aufnehmen und verzehren; während die in anderen Richtungen gelegenen Theile, wenn sie über - haupt gebildet worden waren, infolge der Reizentziehung nicht wieder regenerirt werden können, also dauernd in Wegfall kommen. So entlastet jedes vorhandene Knochenbälkchen seine nächste Umgebung. Und wenn die am stärksten gebrauchten Richtungen durch Substanz unterstützt sind, so werden sie in - folge der Uebercompensation auch fähig sein, die Anspannungen in anderen seltener und schwächer gebrauchten Richtungen auszuhalten und dieselben zu entlasten.

Das Gleiche wird beim Bindegewebe, überhaupt bei allen Organen und Geweben, welche eine blos mechanische Function haben, und deren Reiz also eine bestimmte innere und äussere Gestalt hat, wie sie uns die graphische Statik kennen lehrt, stattfinden.

115III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.

Wäre eine Fascie aus ganz verwirrten Fasern zusammen - gesetzt, so würden diejenigen Zellen und Fasern, welche in der Richtung stärksten Zuges liegen, am meisten gedehnt, also gekräftigt und, am meisten Intercellularsubstanz ausscheidend, allmählich immer mehr den anderen Zellen den Reiz entziehen, wodurch diese an ihrer eigenen Regeneration und der ihrer Fasern verhindert werden, so dass sie schliesslich schwinden und die Fasern in den das stärkste leistenden Richtungen allein übrig bleiben. Hat das Gewebe von vornherein die Eigenschaft, blos unter der Einwirkung des Reizes gebildet zu werden, so werden derartige falsch gelagerte Fasern nur in den Anfangs - stadien und nur schwach entwickelt vorkommen.

Für beide Organsysteme trifft, wie oben gezeigt, alles voll - kommen zu; sie haben die Structur, welche den Druck - und Zuglinien entspricht.

Ob der Reiz etwa auch in den Muskel -, Drüsen -, Sinnes - und Ganglienzellen sich in bestimmter Weise verbreitet und daher eine bestimmte innere Structur dieser Theile hervorzu - rufen fähig sein kann, lässt sich zur Zeit nicht beurtheilen, und wir können somit die vorhandene Structur der betreffenden Theile in keine hierher gehörige Beziehung zu ihrem functio - nellen Reize bringen.

Es war im vorigen Kapitel dargelegt worden, dass, wenn überhaupt Reizanpassung stattfindet, an verschiedene Reize auch verschiedenartige Anpassungen stattfinden müs - sen. Und da der Reiz, sobald er ein organisches Gebilde trifft, durch dasselbe verändert wird, so muss in dem Falle, dass er wie bei den Sinnesorganen nicht verzehrt, sondern weiter ge - leitet wird, immer weiter gehende Differenzirung durch Anpassung an immer feiner unterschiedene Reizqualitäten stattfinden. Es wird also nicht blos für jeden öfter wiederkehrenden Sinnesreiz eine besondere Qualität8*116III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.der percipirenden Elemente sich ausbilden müssen, sondern es wird auch eine ganze Reihe den Reiz beim Durchlaufen all - mählich umformender Zellen entstehen müssen, wenn nicht schon die erste aufnehmende Zelle die Fähigkeit besitzt, ihn in die den Bewusstseinszellen adäquate Form zu verwandeln. Es ist dies ein Verhalten, welches uns die mehrfachen Unter - abtheilungen, in welche die Umsetzung der Lichtbewegung abge - gliedert ist, so dass ausser der Sinneszelle noch drei Ganglien - zellen in der Netzhaut durchlaufen werden, ehe der Reiz die zur Fortleitung und zur Verarbeitung im Gehirn geeignete Qualität erlangt hat, thatsächlich vor Augen stellt.

Es wäre beim Vorhandensein der supponirten Eigenschaft ferner erforderlich, dass mit der Zeit auch an die Reizinten - sitäten, soweit sie regelmässig wiederkehren, besondere Anpassungen durch Züchtung gerade auf diese vorhandenen Reizstärken am stärksten reagirender Substanzen hätten statt - finden müssen. Dies ist nun bekanntlich auch bei den Reiz - organen, den Muskeln, Drüsen, Nerven und Sinnesorganen, in ausgeprägtem Maasse der Fall, denn sie alle reagiren blos auf bestimmte mittlere Reizstärken am vollkommensten in ihrer spe - cifischen Weise, auf erheblich grössere oder geringere Inten - sitäten aber relativ viel schwächer; bei den Muskeln giebt sich dasselbe Verhalten auch noch in einem besonderen Formver - hältniss kund, welches ich anderen Ortes ausführlich zu er - örtern gedenke.

Die Uebereinstimmung dieser eventuellen Leistungen tro - phisch durch die Reize beeinflusster Substanzen mit den that - sächlichen Verhältnissen in den Organismen, insbesondere die Uebereinstimmung der Structur der Knochen und der Fascien mit den Spannungslinien, welche, wie im Kapitel I gezeigt, nicht durch Auslese nach Darwin erklärt werden kann, be -117III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.weist meiner Meinung nach für diese Substanzen sehr evident die ihnen von uns supponirte Qualität.

Für die anderen Gewebe, für die Muskeln, Drüsen, Ner - ven, Ganglien - und Sinneszellen kann ich indessen das Ange - führte nicht als zum Beweise ausreichend erachten. Für die aus diesen Geweben gebildeten Organe sind indessen noch andere Gründe vorhanden, um auch in ihnen dem functionellen Reize einen die Assimilation stärkenden Einfluss zuzuerkennen.

Für diese activ fungirenden Organe liegt eine grosse Reihe sehr interessanter und wichtiger Beobachtungen vor, von denen wir zunächst diejenigen vorführen werden, welche die Folgen der Reizentziehung nach Durchschneidung der den Reiz zuführenden Nerven uns erkennen lassen.

Nach Durchschneidung eines Bewegungsnerven atrophirt nach den übereinstimmenden Beobachtungen zahlreicher Unter - sucher der zugehörige Muskel mit absoluter Sicherheit innerhalb weniger Wochen zu einem bindegewebigen Strang. L. Her - mann1)L. Hermann, Handbuch der Physiologie. Bd. I. p. 138. sagt in Bezug darauf: » Ein beständiger erhaltener Ein - fluss des Nervensystemes ist durch diese Thatsache erwiesen, so viel auch noch zu ihrem Verständniss fehlt. « Schon nach drei bis vier Tagen nimmt die directe und indirecte Erregbar - keit des Muskels ab. Die Atrophie erfolgt unter Undeutlich - werden der Querstreifung, körniger Trübung, Schwund der specifischen Substanz, Fettkörnchen-Ansammlung und schliess - lichem gänzlichen Schwund der specifischen Gebilde. Es fin - det also unter dem Zugrundegehen des Normalen, Specifischen ein anderer Stoffwechsel statt, von welchem es unbekannt ist, ob er blos ein Stehenbleiben des normalen Stoffwechsels auf niedrigerer Stufe darstellt, oder ob er eine eigene besondere Beschaffenheit besitzt, welche direct der normalen Regeneration118III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.hinderlich ist. Dieser Process erfährt nach Schiff durch regel - mässige elektrische Reizung des der Atrophie verfallenen Organes eine bedeutende Verzögerung. Er kann dagegen in geringerem Grade auch ohne Durchschneidung der Nerven schon durch blosse vollkommene Aussergebrauchlassung des Muskels ein - treten, wie dies bei chirurgischen Krankheiten oft genug als Nebenerscheinung, z. B. chronischer Gelenkentzündung oder grosser Geschwülste vorkommt. Es scheint mir daraus hervor - zugehen, dass der functionelle Reiz zur Erhaltung der Muskeln unerlässlich nöthig ist, und auch Cohnheim sagt. 1)Cohnheim, Vorlesungen über allgem. Pathologie. Bd. I. p. 586.» Die Elemente der Arbeitsorgane assimiliren blos, wenn sie erregt werden, nicht bei blosser Hyperämie.

Die fundamentale Thatsache, dass Drüsen auf Nerven - einfluss thätig sind, wurde zuerst von C. Ludwig an der Unterkieferdrüse entdeckt und dann von anderen Autoren auf die anderen Speicheldrüsen und in letzterer Zeit von Luchsin - ger2)Luchsinger, Pflüger’s Archiv f. Physiologie. Bd. 14. auf die Schweissdrüsen ausgedehnt.

Können also Reize die Function von Drüsen auslösen, so ergiebt sich aus Versuchen mit Nervendurchschneidung, dass der funktionelle Reiz auch zur Erhaltung der normalen Be - schaffenheit der Drüse nöthig ist. Newton und nach ihm Obolensky3)Obolensky, Centralblatt f. d. med. Wiss. 1867. p. 497. fanden nach Ausschneidung des Hodennerven (N. spermaticus) gänzlichen Schwund der Drüsenzellen des Hodens und an ihrer Stelle fettreiches Bindegewebe. Ent - sprechend beobachteten Bidder4)Bidder, Archiv f. Anat. u. Physiol. 1867. p. 25. und Heidenhain5)Heidenhain, Stud. a. d. physiol. Inst. zu Breslau. IV. 1868. p. 77. nach Durchschneidung der Nerven der Unterkieferdrüse an der letzteren eine sehr rasche Verkleinerung und Verringerung ihrer Consistenz. 119III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.Bidder erhielt 20 Tage nach der Durchschneidung ein Gewicht der Drüse von 8,7 grm. auf der Seite der Durchschneidung, bei 15,5 grm. auf der normalen Seite. Luchsinger1)Luchsinger, l. c. Bd. 15. p. 484. fand, dass 6 Tage nach der Durchschneidung des Nervus ischiadicus Pilo - karpin, welches sonst auch direct auf die Schweissdrüsenzellen wirkt, keine schweisstreibende Wirkung mehr zu erzielen ver - mag, wohl in Folge einer nach der Durchschneidung eingetretenen Entartung der Drüsenzellen. Dass diese Folgen der Nerven - durchschneidung bei Muskeln und Drüsen nicht wohl auf Alteration der Blutzufuhr zurückzuführen sind, wird weiter unten dargelegt werden.

Werden Empfindungsnerven durchschnitten, so atro - phirt nach den übereinstimmenden Urtheilen aller Untersucher in gleicher Weise wie nach Durchschneidung von Be - wegungsnerven blos das periphere, vom Centrum abge - trennte Stück desselben und zwar in sehr kurzer Zeit, während das centrale Stück und bei den Empfindungsnerven auch die Endorgane, die Sinnesorgane, intact bleiben. Dieses letztere Verhalten ist für den Sehnerven wiederholt, zuletzt von Krause festgestellt worden; für die Tastkörperchen von Langerhans, mit welchem indessen Meissner und Krause nicht überein - stimmen, indem sie in diesen Organen nach Nervendurchschnei - dung Atrophie gefunden zu haben angeben. 2)S. Hermann, Handbuch d. Physiologie. Bd. II. Abth. 1. p. 127.Und ebenso sah Colasanti3)Archiv f. Anatomie und Physiologie. 1875 u. 1878. Degeneration der Riechzellen nach Durchschnei - dung des Riechnerven eintreten. Indessen die Beobachtungen dieser Verhältnisse sind sehr schwierig und die Folgen eines solchen Eingriffes sind vielleicht complicirter als wir uns gegen - wärtig vorzustellen vermögen; deshalb müssen wir das Urtheil noch aufsparen. Jedenfalls aber würde die Erhaltung der Sinnes -120III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.organe nach Durchschneidung ihrer Nerven für die von uns vertretene Ansicht sprechen, dass die specifischen Reize zugleich die Erhalter der Lebensfähigkeit seien, da sie hier nach wie vor einwirken. Die experimentelle Abhaltung der Sinnesreize erscheint für die meisten Sinne nicht möglich. Nur am Auge liesse sich die Abhaltung des Lichtes durch Zunähen der Augen - lider und Herüberziehen und Zusammennähen der Haut von den Nachbartheilen und im Dunkeln Erhalten des Thieres bewerkstel - ligen, um zu sehen, ob die Netzhaut danach atrophirt. Dieses Ex - periment ist noch nicht gemacht, aber vielleicht ist das grosse Experiment der Natur, dass bei Thieren, welche in dunklen Höhlen leben, die Augen entartet oder ganz geschwunden sind, in gleicher Weise zu deuten.

Die Atrophie des peripheren Nervenstückes nach Durch - schneidung findet nach Waller1)Waller, Philos. transact. 1850. II. p. 423. Archiv f. Anatomie u. Physiol. 1852. p. 392. sehr rasch statt und ist sehr vollkommen, indem nicht blos der Achsencylinder und das Nervenmark, sondern nach einigen Tagen auch das Neurilemma (die äussere Nervenscheide) schwindet, während, wie erwähnt, der centrale Stumpf in der Form intact bleibt. Versuche von Vulpian, Schiff2)Schiff, Lehrb. d. Muskel - u. Nervenphysiologie. 1858. p. 122. und Anderen mit doppelter Durchschnei - dung eines Nerven ergaben, dass wiederum blos das noch mit dem Centralorgan in Verbindung stehende Stück erhalten blieb, dass also die Entartung und der Schwund als Folgen der Los - trennung von demselben angesehen werden muss.

Weitere Versuche von Waller mit Durchschneidung der hinteren sensiblen Rückenmarkswurzel zeigten, dass danach der ganze periphere Nerv erhalten blieb, während jetzt der centrale Stumpf entartete, woraus zu schliessen ist, dass die erhaltende Kraft für die Empfindungsnerven nicht von den Ganglienzellen121III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.des Rückenmarks, sondern von denen des Zwischenwirbel - ganglion ausgeht. Diese Experimente beweisen mit Sicherheit den erhaltenden Einfluss, welcher von den Ganglienzellen aus auf den Nerven ausgeübt wird. Für die Bewegungsnerven, welche in den Zwischenwirbelganglien keine Verbindung mit Ganglienzellen eingehen, muss dagegen nach den Befunden und nach Analogie mit den Empfindungsnerven die erhaltende Kraft von den grossen Ganglienzellen der Vorderhörner des Rückenmarks ausgehen, da diese Ganglienzellen die einzigen sind, welche mit den Nerven direct in Verbindung stehen. Diese Auffassung wird weiterhin bestätigt durch im Folgenden anzu - führende pathologische Vorkommnisse, in welchen Zerstörung dieser Ganglienzellen eingetreten ist. Die centralen Nerven - stümpfe erhalten sich nach der Durchschneidung Jahre lang intact, abgesehen davon, dass nach Engelmann auch am centralen Stumpf der Inhalt der Faser immer gleich bis zur nächsten Ranvier’schen Einschnürung zur Gerinnung kommt und abstirbt. Diese Erhaltung soll nach Kühne durch directe Ernährung des Nerven von der Ganglienzelle aus stattfinden. Aber es ist meiner Meinung nach absolut unmöglich, dass ein meterlanges Fädchen von mikroskopischer Feinheit, welches oft stark beschäftigt wird, von Einem Ende aus ernährt wird, noch dazu, da dieses Fädchen selbst wieder aus Hunderten von Einzelfäden besteht, wodurch ein absolut unüberwindlicher Widerstand für Fortbewegung materieller Theile auf grössere Strecken hin entsteht.

Ich halte daher die Annahme der anderen Autoren, dass die Nervenernährung unter dem Eindringen der Nahrung von den Ranvier’schen Einschnürungen aus stattfinde, für wahr - scheinlicher und nehme an, dass von den Ganglienzellen blos ein erhaltender Lebensreiz ausgeht.

Es ist noch zu erwähnen, dass an den Nervenenden in122III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.Amputationsstümpfen nicht selten Nervenanschwellungen, Neu - rome vorkommen, und wir werden sie nach dem Gesagten als durch Stauung des von den Ganglienzellen ausgehenden Lebens - reizes, welcher eine vergrösserte Ernährung zur Folge haben wird, entstanden annehmen können, und vielleicht auch directen Erregungen durch mechanische Insulte, von welchen sie von der Amputationsfläche her getroffen werden, einen grösseren oder geringeren Antheil daran zuschreiben.

Es darf nicht unerwähnt bleiben, dass die Erhaltung der centralen Stümpfe trotz der scheinbaren In - tactheit keine vollkommene ist, denn sie verlieren all - mählich ihre Erregbarkeit; somit reicht der von den Ganglien - zellen ausgehende Reiz allein doch nicht zur Erhaltung aus, sondern es scheint, dass auch dem specifischen functionellen Reiz zugleich noch eine erhaltende Wirkung zukommt.

Auch lässt sich für die motorischen Nervenstümpfe an - nehmen, dass sie immer noch schwache functionelle Reize zugeführt erhalten, denn in dem Netzwerk der Rückenmarks - ganglienzellen irradiiren Reize sehr leicht. Dies erkennt man oft beim Erlernen schwer auszuführender Bewegungen; sehr gewöhnlich bewegt man dabei Muskeln mit, welche zur beab - sichtigten Bewegung gar nichts beitragen können. Wie hierbei die Reize in falsche Bahnen sich verbreiten, so werden wohl auch bei Innervation benachbarter Ganglienzellen schwache Reize gelegentlich in die verlassenen Bahnen eindringen. Dies geschieht vielleicht häufiger und allgemeiner, als wir gegen - wärtig vermuthen, da wir blos auf Impulse achten, welche stark genug sind, um Contractionen auszulösen; denn es wird vielleicht die folgende Aeusserung Hermann’s Bestätigung finden. Er sagt1)l. c. p. 113.: » Möglicherweise besitzt der Muskel Er - regungsgrade, welche sich in chemischen oder galvanischen,123III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.aber noch nicht in Contractionsvorgängen äussern, und beim Nerven ist es sogar wahrscheinlich, dass er Erregungsvorgänge besitzt, die zur Hervorrufung einer Muskelcontraction nicht aus - reichen. «

Es ist noch von Durchschneidungsversuchen zu erwähnen, dass nach Magendie1)Hermann, Handbuch d. Physiologie. Bd. II. Abth. I. p. 136. in Folge der Durchschneidung des Sehnerven nicht blos das periphere, sondern auch das centrale Stück degenerirt, worüber Hermann bemerkt, dass viel - leicht der Umstand, dass dieser Nerv keine Ranvier’schen Einschnürungen habe, die Ursache sein könne.

Heilen durchschnittene Nerven wieder zusammen, was stets durch Sprossung von dem centralen Stumpfe aus stattfindet, so wird dann auch der inzwischen in fettiger Entartung begriffene periphere Stumpf rasch wieder normal, indem die Fettkörnchen verschwinden und er wieder normal erregbar und leitungs - fähig wird. Durch den gewohnten Reiz werden also wohl die specifischen Processe gekräftigt, so dass sie sich wieder stärker insubstantiiren und die anderen Vorgänge zum Schwunde ge - bracht werden.

Ausser diesen wichtigen experimentellen Thatsachen seien noch einige von den zahlreichen bezüglichen pathologischen Vorkommnissen angeführt, welche gleichfalls die Folgen der Abhaltung des functionellen Reizes vor Augen führen.

Die sogenannte spinale Kinderlähmung, eine Krankheit des Nervensystems, welche hauptsächlich in der Zerstörung der motorischen Ganglienzellen des Rückenmarks besteht, gelegent - lich aber auch mit einer Erkrankung der peripheren Nerven beginnt und eine Fernhaltung des functionellen Reizes von den Muskeln zur Folge hat, ist mit hochgradiger Atrophie der den betroffenen Ganglienzellen oder Nerven zugehörigen Muskeln124III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.verbunden. Es geht daraus hervor, dass selbst für jugendliche, noch wachsende Muskeln der functionelle Reiz zur normalen Entwickelung nöthig ist, dass die Entwickelung nicht rein durch vererbte Eigenschaften der Theile stattfindet.

Ferner giebt es eine ganz entsprechende Affection bei Er - wachsenen, welche gleichfalls mit atrophischen Lähmun - gen nach Eichhorst1)Eichhorst, Virchow’s Archiv. Bd. 69. 1876. p. 265. und Leyden2)Leyden, Beiträge zur acuten und chronischen Myelitis. Frerichs und Leyden, Zeitschr. f. klin. Medicin. Bd. 1. p. 404. einhergeht; wie denn überhaupt bei Affection des Rückenmarks die zugehörigen Mus - keln der Atrophie verfallen.

Wir schliessen wohl mit Recht aus den vorstehend mitge - theilten experimentellen und pathologischen Beobachtungen, in welchen bei Muskeln und Drüsen nach dem Ausfall des func - tionellen Reizes Entartung und Schwund eintritt, dass der func - tionelle Reiz in diesen Organen nicht blos den Stoffverbrauch, die Dissimilation bewirkt, sondern auch zur Wiederanbildung, zur Assimilation unerlässlich nöthig ist. Und eine ähnliche aber für sich allein zur Erhaltung im Stoffwechsel nicht aus - reichende Wirkung muss dem functionellen Reize auch für die Nerven selber zuerkannt werden. Der grössere Antheil an der Erhaltung muss hier aber, wie wir sahen, einem von den Ganglienzellen ausgehenden Reize zukommen.

Eine derartige Wirkung der Reize ist, wie erwähnt, bereits von Hering in neuerer Zeit angenommen und zur Erklärung der Erscheinungen beim Sehen und bei der Wärmeempfindung verwendet worden; nur lässt er in diesen Organen die Assi - milation und die Dissimilation jede durch besondere Reize an - geregt werden.

Ausserdem aber sind trophische, die Ernährung der Theile stärkende Wirkungen von Reizen, welche zur normalen Er -125III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.nährung nöthig sein sollen, schon länger von den Physiologen angenommen worden. Man denkt sich, dass diese Reize den Theilen durch besondere trophische Nerven zugeleitet wer - den, und manche Autoren sind geneigt, ihnen ein ausgebreitetes Vorkommen und entsprechend hohe Wichtigkeit zuzuschreiben. Indessen, so sehr mir die trophische Wirkung der Reize richtig zu sein scheint, ebenso sehr muss ich gegen das gesonderte Vorkommen solcher Reize und ihrer Leitungsbahnen Einsprache erheben. Ich schliesse mich darin ganz Sigm. Mayer an, welcher diese Frage in neuester Zeit ausführlich erörtert hat. 1)Hermann, Handbuch der Physiologie. Bd. II. Thl. 1.

Zuerst wurde auf trophische Nerven geschlossen aus den Folgen der Durchschneidung des Trigeminus (des Empfindungs - nerven des Gesichts). Es traten danach sehr regelmässig Ent - zündungen des Auges und Geschwüre in der Mundhöhle auf, welche man auf eine Störung der Ernährungsfähigkeit der Theile bezog. Es ist indessen durch die Untersuchungen vieler Forscher z. B. von Rollett2)Wiener Sitzungsberichte. Bd. 51. p. 513., und in letzterer Zeit von Senft - leben3)Senftleben, Virchow’s Archiv. Bd. 65. p. 69; Bd. 72. p. 278. und Feuer4)Feuer, Wiener Sitzungsberichte. Bd. 74. p. 63. sicher gestellt worden, dass diese Ent - zündungen eine Folge des Verlustes der Sensibilität und somit des Ausbleibens der Entfernung von Schädlichkeiten durch schützende Reflexbewegungen sind.

Ausser diesen entzündlichen Veränderungen zeigen sich aber noch andere trophische Störungen nach Durchschneidung der Nerven. Schiff5)Schiff, Compt. rend. 1854. p. 1050. fand die Knochen eines Beines dünner, dessen Nerven (N. ischiadicus und cruralis) durchschnitten waren, und die Knochenhaut verdickt, aus mehreren Knochenla - mellen bestehend. Aehnliches fanden Vulpian6)Vulpian, Leçons sur l’appareil vasomot. T. II. p. 352. Paris 1875. und Kasso -126III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.witz .1)Kassowitz, Centralbl. f. d. med. Wiss. 1878. p. 790.. Die Verdünnung der compacten Knochen lässt sich wohl eher nach dem Obigen auf mangelnden functionellen Reiz infolge der Lähmung der Muskeln und dadurch bedingte unge - nügende Wiederanbildung des physiologisch Resorbirten, auf Inactivitätsatrophie zurückführen, als auf Wirkung besonderer trophischer Nerven, für welche wir anatomisch kein Verständ - niss haben könnten und physiologisch nicht wüssten, wo dieser gestaltende Reiz producirt werden soll und wie er die richtigen Gestaltungen hervorzubringen vermöchte. Die Selbstgestaltung durch die Wirkung des functionellen Reizes erscheint dagegen das Einfachste und Selbstverständlichste. Die Verdickung der Knochenhaut mit unregelmässiger Knochenbildung lässt sich wohl eher auf die nach Nervendurchschneidung eintretende Er - weiterung der Blutgefässe zurückführen, denn es ist Veran - lassung, den Knochen und den Bindesubstanzen die Fähigkeit zuzuschreiben, bei vermehrter Blutzufuhr mehr zu wachsen.

Für unsere Ansicht spricht gewiss auch das Resultat von Joseph2)Joseph, Centralbl. f. d. med. Wiss. 1871. p. 721, u. Archiv f. Anat. u. Physiologie. 1872. p. 206. und L. H. Schulz3)L. Herm. Schulz, Centralbl. f. d. med. Wiss. 1873. p. 708., welche Fröschen nach Durch - schneidung der Nerven eines Hinterbeines beide Hinterbeine zur vollkommenen Ruhestellung eingypsten und danach in der That an beiden Beinen die gleichen Veränderungen vorfanden. Ebenso erklärt sich auch das Resultat von Schiff, dass nach Durch - schneidung des Plexus ischiadicus (des Beinnervengeflechtes) bei einem Frosche die Verdünnung der Beinknochen ausblieb, welchen er sechs Monate lang täglich galvanisirte; denn da - durch wurden die Muskeln täglich zur Contraction gebracht und so vor Atrophie bewahrt und damit zugleich auch die Knochen unter fast normalen functionellen Bedingungen, unter127III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.der Wirkung des Muskelzuges erhalten. Auch ist es verständ - lich, dass derselbe Forscher nach Durchschneidung der Nerven einer hinteren Extremität einer trächtigen Hündin nach der Säugungsperiode Osteomalacie (Knochenerweichung) neben Ver - dünnung blos auf der Seite der Nervendurchschneidung fand. Denn wenn die normale Bildung der Knochensubstanz an die Einwirkung des functionellen Reizes auf die Knochen bilden - den Zellen gebunden ist, so musste bei Kalkmangel das ge - lähmte Bein zuerst betroffen werden.

Ferner nöthigt die nach Durchschneidung der Drüsennerven vorkommende, bereits erwähnte Atrophie der Unterkieferdrüse und des Hodens in keiner Weise zur Annahme besonderer tro - phischer Nerven, durch welche besondere die Ernährung för - dernde Reize zugeleitet werden, wenn, was gewiss das Ein - fachere ist, angenommen wird, dass der functionelle Reiz zugleich eine die Assimilation stärkende, also trophische Wirkung hat.

Ganz das Gleiche gilt von den entsprechenden Atrophien der Muskeln nach Durchschneidung ihrer Nerven, oder nach krankhafter Entartung derselben oder der Ganglienzellen des Rückenmarks.

Wie sich die vorstehenden Versuche alle durch Inactivitäts - atrophie infolge mangelnden functionellen Reizes erklären lassen, ohne Annahme besonderer trophischer Nerven, ebenso ist es möglich, die Resultate der Durchschneidung des Nervus sym - pathicus (des Eingeweide - und Gefässnervensystems) rein auf Gefässstörungen zurückzuführen, theils durch entstehende Ver - grösserung der Blutzufuhr, welche bei den Stützsubstanzen (Bindegewebe und Knochen) jugendlicher und erwachsener In - dividuen und auch bei den Arbeitsorganen, besonders den Mus - keln und Drüsen noch jugendlicher Personen auch bei nicht verstärkter Function zur verstärkten Ernährung ausreicht, theils durch Atrophie infolge entstehender Blutarmuth. Die Ursache128III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.dagegen herauszufinden, warum nach Durchschneidung des Ner - vus sympathicus bald Verengerung, bald Erweiterung der Blut - gefässe und damit bald Atrophie bald Hypertrophie beobachtet worden ist, ist Sache der Physiologie.

Es erhielten dabei Atrophie: Schiff1)Schiff, Leçons de la physiolog. de la digest. redigées par E. Levier. II. p. 539. 1867. nach Durchschnei - dung der Nerven für die Fleischlappen der Kehle eines Trut - hahnes; Legros2)Legros, Des nerfs vasomot. Paris 1873. nach Exstirpation des oberen Halsganglion bei einem jungen Hahn Atrophie des Kammes der entsprechen - den Seite; und Brown-Séquard3)Brown-Séquard, Compt. rend. de la soc. de biologie. 1872. p. 194. fand nach Durchschnei - dung des Halssympathicus beim Meerschweinchen das Gehirn dieser Seite deutlich atrophisch geworden; C. Vulpian4)Vulpian l. c. II. p. 397. konnte dies in Einem Falle bestätigen.

Eine Steigerung des Wachsthums erhielten Bidder, Schiff, Sigm. Mayer und Andere.

Vielleicht auch auf vasomotorische Störung zurückzuführen sind die bei Neuralgieen (Nervenschmerzen) und in anderen pathologischen Fällen beobachteten Störungen der Ernährung. So kommen bei Neuralgieen vor: Veränderungen der Zahl, Farbe, Dicke und Verbreitung der Haare, Verdünnung der Haut, Schwund des Fettpolsters, ferner von Hautausschlägen: Herpes, Urticaria, Pemphigus etc. Die gleichen Störungen treten auch bei Anästhesieen (Gefühllosigkeit) infolge peripherer Leitungs - unterbrechung der Nerven gelegentlich auf. Infolge peripherer Lähmungen zeigt die Haut oft Atrophie, wird papierdünn, glatt und glänzend an den Fingern und Zehen und neigt zu Decu - bitus und Ulceration (Verschwärung). Mitchell sah dabei Schwund der Haare, Schiefferdecker dagegen vermehrten129III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.Haarwuchs. Auch kamen dabei Knochenatrophie und Leber - affectionen vor. Aber auch Hypertrophie der Haut, der Nägel und Vermehrung des Haarwuchses sind beobachtet.

Besonders schien für trophische Nerven zu sprechen der bei Verletzungen des Rückenmarkes nicht selten auftretende acute Decubitus (Charcot), der dann auch bei möglichstem Schutz vor Druck und bei grösster Reinlichkeit rasch um sich greift. Aber da hier vor allem die Haut und das unterliegende Bindegewebe abstirbt, an welchem nie Jemand Nerven hat zu den Zellen oder Fasern treten sehen, so ist hier die directe Einwirkung von Nerven, abgesehen von den Gefässnerven, am wenigsten begründet und es ist wohl richtiger, sich für diese Fälle, sowie auch für die Hemiatrophia facialis progressiva (halbseitigen Gesichtsschwund) nach allen denkbaren anderen Ursachen umzusehen, als gleich ein durch sonst nichts bekun - detes neues Nervensystem mit unverständlicher Reizquelle und Reizregulation anzunehmen.

Ferner sind noch zu erwähnen Gelenkerkrankungen bei peripheren Lähmungen und bei Verletzung des Rückenmarkes, bei Tabes dorsualis (Rückenmarksschwindsucht), bei spontaner Rückenmarksentzündung und bei halbseitigen Lähmungen durch Gehirnaffection. Diese alle aber lassen sich bei unseren jetzigen geringen Kenntnissen freilich nur mehr oder minder auf die unausbleiblichen Folgen der Lähmung zurückführen und nöthigen nicht zur Annahme besonderer trophischer Nerven. Doch deuten schon die von Schiff, Brown-Séquard und Ebstein1)Siehe S. Mayer l. c. p. 208. gefundenen kleinen Blutaustritte in den Lungen, Magen und im Rippenfell nach Verletzung der Sehhügel, der Streifenhügel und des Pons im Gehirn auf eigenthümliche vasomotorische Störungen als Folgen solcher Veränderungen des Centralner - vensystemes hin.

Roux, Kampf der Theile. 9130III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.

Zusammenfassend glaube ich, dass die citirten Verände - rungen der Organe durch Nervenaffection bei den Muskeln und Drüsen durch den Ausfall der functionellen Reize bedingt sind, bei allen anderen, den passiv thätigen Organen (Knochen - und Bindegewebsbildungen) hauptsächlich auf Gefässstörung zurück - geführt werden müssen. Doch ist für die letzteren nicht zu vergessen, dass auch sie, besonders die Knochen, der Inactivi - tätsatrophie unterliegen.

Dies schliesst indessen nicht aus, dass einzelne Organe doch besondere trophische Reize und durch besondere dieselben leitende Nerven erhalten, aber dieselben sind dann keine all - gemeinen, sondern eben specielle beschränkte Einrichtungen. So nimmt Eichhorst an, dass dem Herzen trophische, zur Erhaltung des Herzmuskels unerlässliche Reize in der Bahn des Nervus vagus zugeleitet werden; und wir waren oben schon genöthigt, von den Ganglienzellen der Zwischenwirbel - ganglien einen unentbehrlichen erhaltenden Einfluss auf die Empfindungsnerven ausgehen zu lassen, wenn er, wie wir sahen, auch allein (ohne den Reiz der specifischen Function) nicht im Stande ist, den Nerven erregungsfähig zu erhalten.

Heidenhain folgerte aus eigenthümlichem, weiter unten dargelegtem Verhalten der Unterkieferdrüse bei Vergiftungen und Reizung des Nerv. lingualis, dass in der Bahn des letz - teren, ausser den gefässerweiternden noch besondere secre - torische, von ihm als trophische bezeichnete Nervenfasern ent - halten sind. Diese letzteren Fasern, welche den Umsatz der organischen Bestandtheile in den Drüsenzellen anregen, wirken vielleicht nicht blos auf die raschere Abscheidung des Secretes, auf die Dissimilation, da sonst sofort nach Abgabe des Vor - rathes der Zellen Erschöpfung eintreten müsste, sondern sie wirken vielleicht indirect oder direct auch auf die Assimilation steigernd und sind dann trophische Nerven ganz in dem Sinne,131III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.wie er von uns postulirt wird, denn sie sind trophisch und functionell zugleich und der durch sie zugeleitete Reiz, sei er physiologisch oder künstlich, hätte diese doppelte Wirkung. Die Natur dieser Nerven wird für uns dadurch nicht beein - flusst, dass an demselben Organ noch andere Nerven vorkom - men, unter deren Einfluss die Wasserabsonderung steht.

Ebenso sind als trophische Nerven in unserem Sinne auf - zufassen die functionellen Nerven der anderen Drüsen und der Muskeln, während für die Bindesubstanzen der functionelle Reiz ein mechanischer ist und keiner Nervenvermittelung zur Uebertragung auf die Gewebe bedarf. Es giebt jedenfalls auch Drüsen und wahrscheinlich gehört die Niere, vielleicht auch die Leber dazu, welche durch chemische, im Blute befindliche Reize erregt werden und daher keine functionellen oder trophi - schen Nerven brauchen. Für die Sinneszellen würde der Sinnes - reiz als dasselbe leistend anzusehen sein.

Sigm. Mayer ist im allgemeinen der gleichen Ansicht bezüglich des Werthes der Annahme besonderer trophischer Nerven und erkennt auch schon dem functionellen Reiz für Muskeln und Drüsen einen gewissen trophischen Einfluss zu, wenn auch seine Fassung, wie mir scheint, etwas geheimniss - voll ist. Er sagt1)l. c. p. 209. bezüglich der Drüsen und Muskeln:

» Die Centralnervensubstanz (graue Substanz), die periphere Faser und ihre peripheren Endorgane stellen nicht nur eine functionelle oder Reizeinheit dar, sondern auch eine Absonde - rungs - oder nutritive Einheit. «

Ferner pag. 210: » Unter dieser Annahme ist es erklärlich, warum im Nerven und Muskel Ernährungsstörungen sich aus - bilden, wenn der normale Zusammenhang zwischen beiden ge - löst wird. Nach einer derartigen Trennung verfällt jeder Theil, um mich so auszudrücken, seinem eigenen Schicksal, während9*132III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.die Zwecke des Organismus sein Schicksal eng mit jenem anderer Apparate verknüpft halten. Mit der Auflösung der Erregungseinheit schwindet auch die nutritive Einheit. Die alsdann sich ausbildenden Processe sind nicht sofort Atrophie, sondern vielmehr Allotrophie. Die Ernährungsprocesse in Ner - ven, Muskeln und Drüsen, die von ihren Centren getrennt werden, hören nicht auf, sondern werden nur in Bahnen gelenkt, die den Zwecken des Gesammtorganismus nicht mehr unterthan sind, gerade so wie in functioneller Beziehung ein derartiger Muskel, der gelähmt ist, für die normale, den Zwecken des Organismus dienende Bewegung, im Uebrigen aber sowohl spontan sich bewegt (Lähmungsoscillationen), als auch für die künstlichen Reize (Electricität), wenn auch in veränderter Weise, erregbar bleibt. «

Pag. 211 spricht er dann die Meinung aus, » dass die Central - nervensubstanz ebenso von den peripheren Organen, mit denen sie eine Erregungseinheit bildet, in ihrer Ernährung beeinflusst wird « und dass er » die centrale Nervensubstanz nicht einseitig, gleichsam als nutritive Vorsehung der peripherischen Gebilde « ansehe.

Aber er giebt zu, dass die peripheren Theile leichter leiden als die centralen, weil » periphere Nerven, Muskeln oder Drüsen nur die Glieder einer einzigen Erregungseinheit bilden. « » Sobald diese Einheit zerstört ist, muss auch die normale Ernährung, die auf die Unversehrtheit dieser Einheit angewiesen ist, leiden. Die centrale Substanz hingegen ist offenbar, wie aus vielen Beobachtungen hervorgeht, Mitglied verschiedener functioneller und nutritiver Einheiten; wenn so z. B. der Zusammenhang eines motorischen Nerven mit dem Rückenmark getrennt wird, so sehen wir den peripheren Stumpf des Nerven mit sammt dem Muskel der Allotrophie verfallen; der centrale Stumpf und das Rückenmark bleiben durch lange Zeit intact, wohl aus133III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.keinem anderen Grunde, als weil das Deficit an Ernährungs - impuls, das in dem Rückenmarke durch Wegfall des Muskels und eines Stückes Nervensubstanz gesetzt wird, übercompensirt werden kann, durch den innigen Zusammenhang der betreffenden Rückenmarkspartie mit anderen Theilen der nervösen Central - organ - und der Körperperipherie. «

Abgesehen von dem von Mayer hier angenommenen be - lebenden Einfluss, den die Muskel - und die Drüsenzellen rück - wärts auf die ihnen zugehörigen Nerven haben sollen und der mir durch nichts bewiesen zu werden scheint, stimmen wir, wie dargelegt, mit dem citirten Autor überein, nur fassten wir uns etwas kürzer, indem wir sagten: Der functionelle Reiz erregt neben der specifischen Function zugleich auch direct oder indirect die Assimilation, welche ohne seine Einwirkung nicht normal von statten gehen kann, und wirkt somit zugleich trophisch, die Ernährung hebend.

Beim Ausbleiben dieses Reizes finden nun natürlich andere Stoffwechselvorgänge statt, von denen es indessen unbekannt ist, ob sie von eigenartiger Natur sind und die Herrschaft über die alten normalen Processe gewinnend, dieselben activ im Kampf der Molekel um Raum und Nahrung beeinträchtigen, oder ob sie blos ein Stehenbleiben des normalen Stoffwechsels auf niederer Stufe darstellen oder was sonst ihre Natur ist.

Indessen wir beginnen schon Folgerungen abzuleiten, bevor noch die Beweisführung soweit erbracht worden ist, als wir es zur Zeit in dieser Schrift im Stande sind.

Ausser in der Lehre von den trophischen Nerven ist tro - phische Wirkung von Reizen schon seit alter Zeit angenommen worden in der Lehre von der Entstehung der Geschwülste. Da es sich dabei indessen um abnorme Bildungen und ab - norme Reize handelt, gehört ihre Besprechung eigentlich nicht hierher. Wir wollen aber doch nicht unterlassen, einen flüch -134III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.tigen Blick auf ihre Entstehungsursache zu werfen, um eventuell eine nützliche Analogie zur trophischen Wirkung der uns an - gehenden functionellen Reize zu erhalten. Danach erst soll dann zum letzten, apagogischen Theil der Beweisführung über - gegangen werden.

Seit alten Zeiten haben Chirurgen und Aerzte angenommen, und es ist gegenwärtig noch eine sehr verbreitete Meinung, dass Geschwülste durch einmalige oder leichter durch Jahre lang wiederholte Einwirkung von Reizen entstehen und dann auch nach dem Aufhören des Reizes von selber fort und fort unbegrenzt weiter wachsen könnten, bis sie den Organismus zerstört haben, so dass also ein mechanischer oder sonstiger Reiz eine ganz eminente trophische Wirkung äussern könne.

Cohnheim1)Cohnheim, Allgemeine Pathologie. Bd. I. 1877. hat neuerdings, gegen diese Auffassung vor - gehend, mit Recht zunächst hervorgehoben, dass, wenn der Reiz blos auf die Blutgefässe wirkt, vermehrte Blutzufuhr zum betroffenen Theil veranlasst, die Folge blos eine Hypertrophie, eine einfache Vergrösserung resp. Vermehrung der Theile, aber kein unbegrenztes Wachsthum sein kann. Wir schliessen uns dieser Ansicht an, denn zu letzterem gehört nicht blos eine Erweiterung der Blutgefässe, wie sie der Reiz wohl hervor - bringen kann, sondern ein stetig fortschreitendes Wachsthum und Vermehrung derselben; und es ist nicht einzusehen, warum dieser Process, wenn er auch, was wir aber gar nicht wissen, durch Reize hervorgerufen werden könnte, nach dem Aufhören des Reizes noch ohne Aufhören weiter fortgehen sollte. Das Gleiche gilt, wenn nicht die Blutgefässe, sondern die Zellen des Parenchyms direct durch den Reiz angeregt würden; auch hier wird es unverständlich bleiben, warum die progressive Wirkung die Ursache überdauern könnte, wie die Uebercom -135III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.pensation in der Ernährung, welche durch einen Reiz veranlasst worden ist, nach dem Aufhören des Reizes dauernd fortbestehen kann. Da derartiges nie durch Beobachtung sicher hat fest - gestellt werden können und die Procentzahl derjenigen Ge - schwülste, für welche Reize als Ursache vermuthungsweise angegeben worden sind, blos 14 % beträgt, so können wir mit Cohnheim der ganzen Lehre keine Berechtigung zuerkennen. Vielmehr stimmen wir mit letzterem Autor1)Cohnheim, Allgem. Pathologie. Bd. I. p. 635 u. 644. 1877. überein, wenn er die früher von Virchow und Lücke für Specialfälle aus - gesprochene Idee zu dem allgemeinen Princip erweitert hat, dass alle diese durch unbegrenztes Wachsthum charakterisirten Geschwülste als überschüssige Reste embryonalen Gewebes an - zusehen sind, welche später ihre bewahrte embryonale Eigen - thümlichkeit fortschreitenden Wachsthums zur Geltung bringen, sobald die umgebenden Gewebe geschwächt genug sind, um ihnen nicht mehr genügend Widerstand zu leisten zu vermögen.

Damit können also diese Geschwülste keine Analogiestütze für unsere Auffassung der trophischen Wirkung der functionellen Reize abgeben.

Anders ist dies mit einer anderen, besonderen Gruppe von Geschwülsten, den Infectionsgeschwülsten oder den Granu - lationsgeschwülsten Virchow’s, zu denen die Syphilis -, Aussatz - (Lepra -), Tuberculose -, Typhus - und Lupusneubildung gehören. Hier können wir der Ansicht Cohnheim’s, dass diese Geschwülste, welche nach einer nachweisbar stattge - habten Vergiftung des Körpers mit einem specifischen Krank - heitsgifte an verschiedenen Stellen des Körpers zunächst als kleine Knötchen aus lauter dicht bei einander gelagerten Rund - zellen im Bindegewebe auftreten, blos durch locale Erweiterung der Blutgefässe bedingt seien2)l. c. p. 619., nicht beipflichten, da wir uns136III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.eine ausschliessliche Wirkung umschriebener Erweiterung der Blutgefässe nicht von der Art vorstellen können, dass sich an einer Stelle so viel Zellen entwickeln, dass sie sich drängend sogar ihre Ernährungsgefässe allmählich selber zusammen - drücken, wie dies beim Typhus und bei der Tuberculose ge - schieht, sodass sie danach selber absterben müssen; und da wir fernerhin entgegen Cohnheim annehmen, dass wohl chemische und mechanische Reize im Stande sind, eine Vermehrung der Zellen der Bindesubstanzen hervorzurufen, in der Weise, wie dies bei Pflanzen durch den Stich oder das Gift der Gallwespe oder durch die Ansiedelung von Blattläusen geschieht, so glauben wir, dass hier das specifische Gift als Vermehrungsreiz ge - wirkt hat. Die besondere Localisation und die Knötchenform der Geschwulst ist dabei eben nicht schwerer verständlich, als wenn man capillare Hyperämieen als Ursache annimmt, denn im letzteren Falle ist nicht einzusehen, warum bei der che - mischen Natur mehrerer dieser Gifte blos capillare, umschriebene und nicht ausgedehntere Hyperämieen entstehen. Es kann uns natürlich nicht nahe kommen, etwas darüber präjudiciren zu wollen, ob etwa diese Anhäufung von Zellen durch Vermehrung der fixen Bindegewebszellen oder durch Ansammlung und Ver - mehrung von weissen Blutzellen zu Stande kommt. Die Fort - setzung des Vorganges bis zur Compression der Blutcapillaren bleibt in beiden Fällen verständlich; denn auch bei Vermehrung der Zellen in loco kann das Wachsthum so lange dauern, als die Capillare noch ein Minimum offen ist und also noch Nahrung abzugeben vermag, wenn nur die Theile selbst genügend zur Nahrungsaufnahme angeregt sind. Diese Geschwülste haben auch nicht den Charakter des unbegrenzten Wachsthums und ihre weitere Bildung, sowie die weitere Fortdauer des Gebil - deten scheint nach der Tilgung oder Entfernung des ursäch - lichen Giftes aufgehoben zu werden. Somit scheint es uns das137III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.Wahrscheinlichste zu sein, dass sie in gleicher Weise durch die zur Vermehrung anregende Wirkung des specifischen Giftes entstehen, wie uns dieses vom Kropfe sicher bekannt ist. Dieser entsteht, wenn die disponirten Individuen in die Kropf - gegend kommen, und das weitere Wachsthum hört auf, ja die gebildete Geschwulst selber schwindet manchmal nach dem Verlassen derselben wieder.

So würden wir denn in diesen Geschwülsten Beispiele tro - phischer Wirkung durch Reize zu erkennen haben; und zwar sind es wahrscheinlich chemische, nicht physikalische Reize, was nicht ausschliesst, dass dieselben in einigen dieser Krank - heiten, wie nicht ohne eine gewisse Berechtigung vermuthet wird, von Mikroorganismen producirt werden.

Danach gehen wir nun zum letzten Theil unserer Beweis - führung der trophischen Wirkung der functionellen Reize, zum apagogischen Beweise über, zum Ausschluss der von manchen Autoren als Ursache der functionellen Anpassung betrachteten Wirkung der functionellen Hyperämie, resp. der beim Ausbleiben der Functionirung entstehenden Anämie. Wir gedenken zu zeigen, dass diese Alterationen der Blutzufuhr nicht die Erscheinungen der functionellen An - passung zu erklären und daher dem Princip von der trophischen Reizwirkung keinen Abbruch zu thun vermögen.

Man hat behauptet oder stillschweigend angenommen, dass eine Vergrösserung der Blutzufuhr während der Function und kurze Zeit nach derselben die Ursache der Vergrösserung des Organes sei, welche bei dauernder Verstärkung der Function sich ausbildet. Dass zur vermehrten Nahrungsaufnahme der Organe vermehrte Zufuhr von Nahrungsmaterial nöthig ist, er - scheint selbstverständlich, und da für die thätigsten Organe, die Muskeln, eine die Function begleitende Vergrösserung der Blut - zufuhr, eine functionelle Hyperämie, von Ludwig und Sczel -138III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.kow nachgewiesen worden ist, so lag es nahe, dass unter der Evidenz dieses Zusammenhanges man die nothwendige Vorbe - dingung der verstärkten Aufnahme mit der Causa efficiens iden - tificirte und behauptete, die Hyperämie sei die Ursache der vergrösserten Nahrungsaufnahme, der Vergrösserung des Or - ganes, also der Hypertrophie. Dies ist aber ein voreiliger Schluss; denn einmal können principiell schon die nothwendige Vorbedingung und die Ursache eines Processes sehr verschieden von einander sein; und zweitens ist Verstärkung der Blutzu - fuhr während oder nach der Function nicht für alle Organe nachgewiesen, schliesslich aber ist sowohl principiell als auch thatsächlich vermehrte Blutzufuhr zur vermehrten Thätigkeit nicht absolut, sondern blos in den Fällen nöthig, dass für ge - wöhnlich kein Ueberschuss von Ernährungsgelegenheit vorhan - den ist, dass die den einzelnen Organen normaler Weise durch die Blutgefässe dargebotene Nahrung immer vollkommen aus - genutzt wird. Das Bestehen eines Ueberschusses von Ernäh - rungsgelegenheit ist nur dann möglich, wenn die Ernährung nicht blos von der Zufuhr des Nahrungsmaterials abhängt, son - dern noch von anderen Factoren; und umgekehrt ist vermehrte Nahrungszufuhr zur vermehrten Ernährung blos dann absolut nöthig, wenn die Blutzufuhr zugleich die Ursache der Ernährung ist. Dann wird immer so viel aufgenommen, als vorhanden ist, aber dieser Fall ist eben der, der erst bewiesen werden müsste. Es wird also bei dem gewöhnlichen Schlusse, dass zur ver - mehrten Ernährung vermehrte Blutzufuhr durchaus nöthig ist, das schon als constatirt vorausgesetzt, was erst bewiesen wer - den soll, nämlich, dass die nöthige Vorbedingung auch zugleich Causa efficiens ist. Ist dies nicht der Fall, so kann ein Nah - rungsüberschuss vorhanden sein, ohne Ausnutzung desselben; und blos in dem Einen Specialfalle, dass normal immer das Minimum von Nahrung zugeführt würde, so dass immer die139III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.grösstmögliche Ausnutzung der Ernährungsgelegenheit auch beim Erfolgen der Ernährung aus anderen Ursachen stattfände, fiele die Wirkung dieser verschiedenen ursächlichen Verhältnisse zu - sammen. Aber die Erfahrung belehrt uns, dass wir für ge - wöhnlich einen Ueberschuss an Blut besitzen, sodass wir be - trächtliche Blutverluste zu ertragen vermögen; somit wird wohl auch den Organen normaler Weise ein Ueberschuss von Blut zugeführt.

Gehen wir nun nach dieser Erörterung des Principiellen zu dem thatsächlichen Verhalten über.

Daraus, dass für die Stützgewebe: für Knochen -, Knorpel - und Bindegewebe, eine functionelle Vergrösserung der Nahrungs - zufuhr nicht nachgewiesen ist, folgt noch nicht, dass sie nicht stattfindet. Wir müssen daher diese Frage unentschieden lassen und können daraufhin nicht der Annahme, dass verstärkte Thätigkeit immer mit Verstärkung der Blutzufuhr verbunden sei, nicht direct entgegentreten.

Es ist nun bekanntlich sehr schwer, wenn wie hier zwei Erscheinungen immer zusammen beobachtet werden, zu erkennen, in welcher Beziehung sie zu einander stehen, welche von beiden von der anderen abhängt, oder ob beide von einem dritten Factor gemeinsam in Abhängigkeit sich befinden; denn die Logik lehrt uns blos, dass stets zusammen vorkommende Erscheinungen in einem causalen Zusammenhange stehen müssen.

Wir sind aber gegenwärtig nicht mehr in dieser unange - nehmen Lage; uns stehen jetzt Beobachtungen zur Verfügung, welche diese beiden Erscheinungen getrennt zeigen.

Zunächst wissen wir, dass Hyperämie nicht die Func - tion hervorruft, weder bei Muskeln und Nerven, bei wel - chen die Function an den Stoffverbrauch blos unerlässlich ge - knüpft ist, noch auch bei denjenigen Organen, bei welchen die Producte des Stoffumsatzes die Function für den Organismus140III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.vollziehen, bei den Drüsen. Obgleich nun für letztere Organe der Stoffumsatz selber das Wesen und der Zweck ihrer Function ist, somit die Möglichkeit, dass die Zufuhr von Stoffen direct die Function auslöse, besonders nahe zu liegen scheint, so wies doch Keuchel nach, dass nach Vergiftung mit Atropin Rei - zung des Nerv. lingualis trotz erfolgender Hyperämie der Un - terkieferdrüse keine Vermehrung der Secretion bewirkt. Bei den blos passiv fungirenden Stützorganen schliesslich kann selbstverständlich vermehrte Blutzufuhr nicht die Functionirung veranlassen.

Zweitens wäre es möglich, dass umgekehrt durch die Func - tion die Vermehrung der Blutzufuhr, die Hyperämie, hervorgerufen würde. Diese Möglichkeit scheint den that - sächlichen Verhältnissen in manchen Fällen zu entsprechen, und es wird daher im Folgenden noch näher auf dieselbe ein - gegangen werden. Indessen ist das Verhältniss kein absolut festes derart, dass ohne Hyperämie hervorzurufen die Function nicht stattfinden könne, denn nach Vergiftung mit Physostigmin werden die Blutgefässe bei Reizung des Nerv. lingualis nicht erweitert, die Secretion jedoch verstärkt; und Luchsinger1)Luchsinger, Pflüger’s Archiv. Bd. 15. p. 487. fand, dass man durch Pilocarpin Schweissabsonderung an der Hinterpfote hervorrufen kann, auch wenn die Bauchaorta unter - bunden, also die Circulation aufgehoben ist. Natürlich aber kann diese Function nicht länger als bis zur Erschöpfung der Drüsen dauern, da durch Aufhebung der Circulation die Rege - neration aufgehoben ist. Dieses Verhalten der Unterkieferdrüse bei Vergiftung des Thieres mit Physostigmin und mit Atropin veranlasste Heidenhain zur Annahme der oben erwähnten besonderen » trophischen « Nervenfasern.

Die dritte Möglichkeit war, dass die Function und die Hyperämie nicht in einem directen Abhängigkeitsverhältniss von141III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.einander stehen, sondern beide von dritten Verhältnissen gemein - sam abhängig sind. Verbindung dieser Art scheint allerdings vorzukommen bei Muskeln und Drüsen. Wenigstens nehmen manche Autoren an, dass mit dem Thätigkeitsimpuls für diese Organe gleich ein Impuls zur Erweiterung der Blutgefässe von den Centralorganen ausgehe.

Es genüge hier, diese Möglichkeiten erwähnt und auseinan - der gehalten zu haben. Des Weiteren werden wir besser erst darauf eingehen, nachdem ein anderer Zusammenhang erörtert worden ist; denn es handelt sich für uns zunächst weniger um die Art der Causalverbindung von Function und Hyperämie, als um die Ursache der mit der stärkeren Function auftretenden stärkeren Ernährung.

Diese stärkere Ernährung kann abhängig sein allein von der grösseren Nahrungszufuhr, sofern die Theile immer so viel Nahrung aufnehmen, als ihnen geboten wird, oder wenn dies nicht der Fall, von einer stärkeren Aufnahme, also von stärkerer Anziehungs - und Assimilationskraft. Zwischen diesen beiden Möglichkeiten muss nun vor allem entschieden werden.

Die Beobachtungen am ganzen Menschen zeigen, dass, wenn man einem Körper mehr Nahrung zuführt, er mehr ansetzt, bis zu einem für jedes Individuum gewissen Grad. Dies ist so - wohl im ausgewachsenen Menschen der Fall und in noch höherem Maasse ceteris paribus, d. h. bei gleichem Grade der Function, während der Periode selbständigen Wachsthums, also in der Jugend. Wenn ein kindlicher oder erwachsener Organismus eine bestimmte Thätigkeit ausübt bei guter Nahrung, so setzt er mehr davon an, als bei gleicher Thätigkeit und geringer Nahrung. Also ist die Nahrungsaufnahme der Theile des Kör - pers cet. par. abhängig von der Menge der gebotenen Nahrung.

Andererseits aber beobachten wir auch, dass dies seine Grenzen hat. Man kann durch reichliche Nahrung das Wachs -142III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.thum eines jungen Menschen nur wenig, den Ansatz nicht an - nähernd proportional der Nahrung beschleunigen. Und ebenso findet beim Erwachsenen mit der Verbesserung der Kost die grössere Volumensentfaltung der Organe an specifischen Theilen, von Fettanhäufung also abgesehen, blos in gewissen Grenzen statt, über welche sie nicht hinausgeht. Dem entsprechend sagt Cohnheim1)Cohnheim, Allgem. Pathologie. Bd. I. p. 584., dass vermehrte Nahrungszufuhr nicht zu ver - mehrter Eiweissaufspeicherung im Blute oder in den Geweben führe, wenn nicht zugleich mehr Arbeit geleistet wird, und die Resultate Voit’s sind bekannt, welcher fand, dass mit der grösseren Zufuhr von Eiweiss zum Körper cet. par. auch die Verbrennung desselben, kenntlich an der grösseren Ausschei - dung von Harnstoff, steigt, und dass nur relativ wenig mehr im Körper zurückgehalten wird, und dieses auch zum grössten Theil nicht als Organeiweiss unter Vermehrung des Protoplasma der Zellen, sondern nur als Circulationseiweiss, als Vorraths - nahrung.

Wie so der ganze Körper die Aufnahme, die wirkliche Assimilation gebotener Nahrung verschmähen kann, so können es auch die einzelnen Theile desselben.

Virchow2)Siehe Virchow, Cellularpathologie. Aufl. IV. p. 158. hat schon vor vielen Jahren diese Bedeutung des Experimentes der Durchschneidung des Halssympathicus hervorgehoben. Nach dieser Operation sahen er, Schiff u. A. wochenlang anhaltende Erweiterung der Blutgefässe ent - stehen, ohne dass eine Verdickung der Haut oder vermehrte Abschuppung stattfand. Ingleichen erhielten Cl. Bernard, Ollier3)Ollier, Journ. de la Physiol. VI. 1863. p. 107. in 15 Fällen, Cohnheim4)Cohnheim l. c. I. p. 597. 1877. selbst bei jugendlichen Individuen keine Hypertrophie nach der gleichen Operation. 143III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.Es ist aber zu erwähnen, dass nur in seltenen Fällen die so bewirkte Hyperämie der Haut des Kopfes längere Zeit anhält, sondern meist nach einigen Tagen oder Wochen wieder schwindet.

In gleicher Weise sah ich bei einem Arzte eine Erweiterung der Blutgefässe der Haut an den Kleinfingerballen beider Hände, sodass sie dunkelrosa aussahen, ohne jede Verdickung der Lederhaut oder der Epidermis oder vermehrte Abschuppung der letzteren, obgleich dieser Zustand bereits 7 Jahre andauerte; und derartiges Verhalten der Gewebe bei chronischer Erwei - terung der Gefässe infolge Affection der Gefässnerven (vaso - motorische Neurosen) ist in neuerer Zeit, seitdem man darauf aufmerksam geworden ist, oft beobachtet worden.

Gegen diese Fähigkeit der Theile, die Nahrungsaufnahme zu verschmähen, können Experimente, in welchen Hypertrophie sich einstellte, nichts beweisen; sie zeigen blos, dass in anderen Fällen, deren wesentliche Unterschiede uns nicht bekannt sind, Hyperaemie vermehrte Aufnahme hervorrufen kann. So er - hielten A. Bidder1)A. Bidder, Centralbl. f. Chir. 1874. Nr. 7. und Stirling2)Stirling, Journ. of Anat. and Physiol. X. p. 511. 1876. beträchtlicheres Wachs - thum des Ohres der operirten Seite nach obigem Experiment, und ebenso beobachtete Schiff3)Schiff, Untersuchungen z. Physiol. d. Nervensyst. 1855. p. 166. danach und Sigm. Mayer4)S. Mayer, Spec. Nervenphysiol., Hermann, Handb. d. Physiol. II. 1. p. 205. bei gleichzeitiger Durchschneidung des N. auricular. magnus, dass auf der betreffenden Seite die Haare des Ohres rascher wuchsen.

Paget5)Paget, Lect. on surg. pathol. I. p. 72. Cit. nach Cohnheim, Allgem. Patholog. I. p. 602. verpflanzte den Sporn eines Hahnes auf den Kamm desselben und sah ihn auf diesem gefässreichen Gewebe in ungemein starker Weise wachsen. Da aber der Hahnenkamm144III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.selber trotz dieses überschüssigen Blutes nicht immerfort wächst, so spricht dies zugleich dafür, dass er selber nicht blos nach der Menge der vorhandenen Nahrung wächst, sondern dass ihm zur Nahrungsaufnahme noch etwas anderes nöthig ist.

Dass die Organe in der Periode selbständigen er - erbten Wachsthums, also in der Jugend, bei stärkerer Nahrungszufuhr, wenn auch, wie erwähnt, nicht proportional derselben und nur bis zu einem gewissen Grade stärker wachsen, ist eine allgemein bekannte Thatsache und für die abweichen - den Resultate in einigen Experimenten müssen besondere Ur - sachen gesucht werden.

Aber es scheint auch, dass es Gewebe giebt, welche selbst im ausgewachsenen Zustande bei künstlich bewirkter Hyperaemie, also Vergrösserung der Nahrungszufuhr, wieder zum Wachsthum angeregt werden können. Dafür sprechen mancherlei patho - logische Erfahrungen.

So kann vielleicht die Verdickung des Bindegewebes, welche wir in der Umgebung und in der Tiefe unter chronischen Unter - schenkelgeschwüren bis tief in die Muskeln hinein finden, auf solche langdauernde Hyperaemie zurückgeführt werden, und ebenso beobachtet man gelegentlich bei chronischer Hyperaemie der Haut Hypertrophie derselben sowohl in Bindegewebe und Epithelschicht, und bei Hyperaemie der Knochenhaut vermehrte Knochenbildung.

Wir wissen indessen nicht, ob nicht in diesen und ähn - lichen Fällen entzündlicher Hyperaemie zugleich noch chemische oder mechanische Reize zur Vermehrung anregend wirksam sind, wollen aber, um die Ungewissheit eher zu unseren Ungunsten zu verwenden, im Folgenden annehmen, dass die Stütz - substanzen (Knochen, Knorpel und Bindegewebe), sowie auch die Deckepithelien, also die Epithelien ohne secretorische Function, durch Vergrösserung der Nahrungszufuhr145III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.ohne weitere Reize sich zu vermehren im Stande seien. Ein Gleiches ist auch für Lymphdrüsen, die Milz und die Niere behauptet worden; da indessen Grund ist, anzunehmen, dass der Reiz zur specifischen Function für diese Organe im Blute gelegen ist, so werden sie bei vermehrter Blutzufuhr somit zu vermehrter Fungirung angeregt und die erfolgende Hyper - trophie kann daher als eine Activitätshypertrophie aufgefasst werden.

Das Verhalten der Stützsubstanzen, der passiv fungirenden Organe ist demnach principiell zu trennen von dem der activ thätigen, der Arbeitsorgane (Muskeln, Drüsen, Nerven, Ganglien - zellen und Sinneszellen), welche durch vermehrte Blutzufuhr allein nicht zur Hypertrophie oder Hyperplasie angeregt werden.

Es könnte daher, wenigstens für die passiv fungirenden Theile, die Annahme gemacht werden, dass bei ihnen die functionelle Hypertrophie durch die functionelle Hyperaemie bedingt sei. Aber gerade für diese Organe ist, wie erwähnt, die functionelle Hyperaemie mit Ausnahme der Haut nicht nach - gewiesen und ausserdem zeigen dieselben, wie oben dargelegt, eine Structur, welche nur von der trophischen Wirkung der functionellen Reize abgeleitet werden kann.

Sehen wir nun zu, wie weit überhaupt die Annahme der passiven Ernährung der Zellen gerechtfertigt ist, und was ihr widerspricht.

Schon im befruchteten Ei findet nach der Bildung der Keimblätter vor der Anlage der Blutgefässe, wo also die Nahrung noch gleichmässig vertheilt ist, ungleichmässiges Wachsthum statt, welches zur Bildung der Primitivrinne, zur Bildung des Medullarrohres, des Achsenstranges (der Chorda dorsalis) und der Urnieren führt. Hier muss also, da die Theile unter gleichen Ernährungsbedingungen sich befinden, aber spe - cifische Formen hervorbringend ungleich wachsen, die Nah -Roux, Kampf der Theile. 10146III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.rungsaufnahme eine ungleiche sein. Und da sie sich auch schon qualitativ verschieden ausbilden, muss eine qualita - tive und quantitative Nahrungswahl stattfinden. Diese Ungleichheit der Nahrungsanziehung muss um so grösser sein, als die verschiedenen Zellen der Keimscheibe gar nicht, wie angenommen, vollkommen gleich zur Nahrungsquelle ge - legen sind, sondern gerade die am raschesten sich differenziren - den und wachsenden, neben der Achse gelegenen Theile von der Nahrungsquelle am weitesten entfernt sind. Dasselbe be - kundet sich bei den blutlosen niederen Thieren, z. B. der Hydra, unserem einheimischen kleinen Wasserpolypen. Auch bei diesen Thieren finden bekanntlich besondere morphologische Differenzirungen durch ungleich starkes Wachsthum, z. B. in der Bildung der Tentakeln statt, obgleich das erforderliche un - gleiche Wachsthum hier nicht auf ungleicher Vertheilung, son - dern nur auf ungleicher Aufnahme der Nahrung beruhen kann.

Andererseits aber würde eine Zurückführung des ungleichen Wachsthums im Embryo nach der Bildung der Blutgefässe auf verschiedene Vertheilung der Nahrung durch dieselben bedeuten, dass die Wachsthumsgesetze eigentlich blos in den Blutgefässen lägen, dass die specifischen Theile nicht selbständig sich ent - falteten, nicht nach ihnen innewohnenden, aus ihrer specifischen chemischen Natur sich ergebenden Gesetzen wüchsen, sich ge - stalteten und vergrösserten, sondern blos nach der Vertheilung der Nahrung. In den Blutgefässen lägen die eigentlichen Wachs - thumsgesetze und die specifischen Zellen, welche doch specifische Nahrung aus der allgemeinen Ernährungsflüssigkeit auslesen müssen, wären in Bezug auf die Quantität der Aufnahme voll - kommen unselbständig, vollkommen abhängig allein von der Zufuhr.

Da aber die Blutgefässe, welche die Nahrung vertheilen, selber wieder aus Zellen bestehen, die unter Nahrungsaufnahme147III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.wachsen müssen, so müssten, soweit es die grösseren von vasa vasorum (Ernährungsgefässen der Blutgefässe) ernährten Gefässe angeht, die Wachsthumsgesetze der Organe in den ersteren, in den vasa vasorum, liegen; soweit es aber die vasa vasorum selber und die anderen kleinen Ge - fässe des Körpers betrifft, welche direct aus dem in ihnen fliessenden Blute sich nähren, müssten die Wachsthumsgesetze in den Zellen selber, in denen, welche die Capillarwandung bilden, liegen; denn diese müssten mehr Nahrung aufnehmen, stärker wachsen, ehe sie das Gefäss erweitern oder ehe sie neue Capillaren anlegen könnten. So muss denn in letzter Instanz doch wieder grössere active Aufnahme der Nahrung seitens bestimmter Zellen die Entfaltung im Embryo und im wachsenden Individuum be - dingen. Dem entsprechend haben nach H. Fischer1)Deutsches Archiv f. Chirurgie. Bd. 12. p. 35. 1879. die meisten Autoren angegeben, dass bei angeborenem halbseitigen Riesenwuchs die zuführenden Blutgefässe (Arterien) nicht nach - weisbar weiter waren als die entsprechenden des normalen Gliedes der anderen Körperhälfte; auch blieben lang fortgesetzte Compressionen der Arterien auf der vergrösserten Seite ohne Erfolg für die Verkleinerung des Gliedes. Es ist also eine durchaus unberechtigte Vorstellung, die morphologische Differen - zirung des Organismus, die Ausbildung all der zahllosen Einzel - formen von ungleicher Vertheilung des Blutes allein ableiten zu wollen, wenn schon letztere hier und da ein begünstigendes Moment abgegeben haben mag.

Virchow hat eine ähnliche Ansicht gleichfalls bereits in seiner Cellularpathologie auf Grund pathologischer Beobach - tungen vertreten. So sagt er l. c. p. 160: » Wir werden daher am Ende immer genöthigt, die einzelnen Elemente als die wirk -10*148III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.samen Factoren bei diesen Anziehungen zu betrachten. Eine Leberzelle wird aus dem Blute, welches durch das nächste Capillargefäss strömt, bestimmte Substanzen anziehen, aber sie muss eben zunächst vorhanden und sodann ihrer ganz be - sonderen Eigenthümlichkeit mächtig sein, um diese Anziehung auszuüben. « Hierzu will ich nur noch bemerken, dass es für unsere Zwecke ohne Bedeutung ist, ob die Zelle aus der Capillare die specifischen Stoffe direct anzuziehen vermag oder ob die Zelle diese Stoffe nur aus der sie umspülenden Lymphe aufnimmt und infolge dieser Wegnahme aus der Lymphe diese Stoffe nun rascher aus der Capillare diffundiren, als die anderen nicht entfernten, und ob die Capillaren der verschiedenen Organe sich schliesslich an dieses stärkere Hindurchtreten besonderer Stoffe angepasst haben, so dass auch der Diffusionswiderstand für sie in ihrem specifischen Organe ein geringerer geworden ist.

Wenn nun einmal actives Wachsthum der Zellen durch grössere active Nahrungsaufnahme eine unumstössliche Voraus - setzung aller Differenzirungen ist, so ist es gewiss das Näher - liegende, Einfachere, diese verschiedene Activität und somit die Wachsthumgesetze in diejenigen Theile zu verlegen, welche die specifischen Qualitäten haben, also in die specifisch fungirenden Zellen der Organe und nicht in die indifferenten, in allen Organen gleichen oder erst secundär differenzirten der Capillar - wandung. Wir müssen die ganze formale Differen - zirung der Organismen auf selbständige quantita - tive und qualitative Auswahl der Zellen und zwar der specifischen Zellen jedes Organes zurück - führen. Remak handelte sehr wohl erwogen, wenn er vor allem die Differenzirung der specifischen Theile der Organe ins Auge fasste und als das Primäre, Formengebende ansah, entgegen der oben erwähnten, im Allgemeinen durchaus un - motivirten Behauptung Boll’s.

149III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.

Wenn so die embryonale und die postembryonale vererbte Entwickelung ganz durch active quantitative und qualitative Nah - rungsauswahl der Zellen bestimmt wird, soll nun für die Activitätshypertrophie im noch jugendlichen und im erwachsenen Individuum auf einmal ein ganz anderes, geradezu entgegen - gesetztes Gesetz gelten? Soll die Ernährung jetzt auf einmal eine rein passive geworden sein, welche blos abhängig ist von der jetzt durch Nervenvermittelung von irgend einem Centrum aus besorgten Regulation der Blutgefässe?

Bei der functionellen Vergrösserung der Organe findet nun nicht blos einfache Vergrösserung der Elementartheile statt, sondern auch Vermehrung derselben und Vermehrung der Capillaren. Hierbei müssten also wiederum, wenn die Ernährung rein passiv erfolgte, die Capillaren auf einmal anfangen, stärker zu wachsen, Sprossen zu treiben etc., und da nach dem im I. Kapitel begründeten Gesetz von der dimensionalen Hyper - trophie die Organe blos in denjenigen Dimensionen sich ver - grössern, welche die Verstärkung der Function leisten, also auch die Capillaren blos nach diesen Richtungen hin sich ent - wickeln, so müssten wiederum die Bildungsgesetze des Speci - fischen in den Zellen der Capillarwandung liegen, denn blosse Vergrösserung der Blutzufuhr zum Organ mit passivem Wachs - thum der Capillaren und der von ihnen als abhängig an - genommenen specifischen Theile würde eine gleichmässige Ver - grösserung nach allen drei Dimensionen zur Folge haben. Wie aber sollen durch verstärkte Function die Capillaren blos zur Vermehrung nach zwei Dimensionen mit Ausschluss der dritten angeregt werden?

Wenn nun das Wachsthum der Organe nur wenig durch die Blutgefässe bestimmt wird, sondern umgekehrt vorwiegend die specifischen Theile durch active Auswahl den Nahrungs - verbrauch bestimmen, so fragt sich, wie unter diesen Verhält -150III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.nissen die Regulation der Blutgefässe überhaupt stattfinden kann, wie es möglich ist, dass die zuführenden und vertheilenden Blutgefässe eines Organes immer die den Bedürfnissen ent - sprechende Weite erlangen.

Ich will hier dieses schwierigste morphologische Problem der Blutgefässregulation im Embryo, welches mich seit Jahren beschäftigt, nicht eingehend erörtern, um einer besonderen Darstellung nicht vorzugreifen. Aber es muss noch bemerkt werden, dass wir die Weite derselben nicht nur für die wenigsten Gefässe als vererbt betrachten, sondern dass wir sie fast durchweg als auf dem Wege der Selbstregulation von dem Verbrauch der Parenchyme aus bestimmt und ausgebildet auf - fassen zu müssen glauben.

Zur Begründung solcher Abhängigkeit der Blutgefässe von den selbständigen, activ sich ernährenden specifischen Theilen seien hier wenigstens einige, wie ich glaube, demonstrative Beispiele angeführt.

Wenn man auch die Entwickelung der Gefässe innerhalb der Geschwülste als mit den Geschwulstkeimen potentia an - geboren auffassen könnte, so wäre dies doch schon weniger wahrscheinlich für die Entwickelung der zuführenden und ab - führenden Blutgefässe, welche ausserhalb der Geschwulst liegen. Und sollen diese letzteren nun immer zuerst wachsen und da - durch erst den in der Geschwulst gelegenen Theilen die Ge - legenheit zur weiteren Vergrösserung gegeben werden, sodass die Geschwulst in absoluter Abhängigkeit bliebe?

Der Einwand der Blutgefässentwickelung nach vererbten formalen Gesetzen ist aber schon gar nicht möglich für die Entwickelung des Blutgefässnetzes, welches sich nach Ein - wanderung von Parasiten um dieselben ausbildet. Wenn ein solcher, z. B. ein Echinococcus, in irgend einem Organe sich festsetzt, so zieht er offenbar aus Molekulardistanz immerfort151III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.Nahrungsflüssigkeit an, veranlasst damit ein constantes Nach - strömen aus den Blutgefässen mit allmählicher Vermehrung der Capillaren und zwingt so den Wirth, bei welchem er haust, ihn mit einem Capillarnetz und zugehörigen grösseren Gefässen zu umspinnen und dem Todfeinde die nöthige Nahrung zu geben. Es ist nicht denkbar, dass die Flüssigkeitsansammlung im Echinococcus und besonders das Wachsthum desselben einfach mechanisch durch Diffusion vor sich gingen wie bei todten Sub - stanzen, denn dazu müsste der eingeführte microscopisch kleine Embryo ganze Haufen von Salzen enthalten, vielmal grösser als er selber ist, und trotzdem würden sie bald alle verschwunden und Stillstand hergestellt sein.

Die Blutgefässe der Echinococcushülle, welche der Wirth ihm liefert, sind meist nicht gross und dies könnte Jemanden zu Widerspruch veranlassen.

Wir sehen aber dasselbe noch evidenter bei der Ent - wickelung der metastatischen Geschwülste im Kör - per. Wenn einige oder mehrere Zellen einer bösartigen Ge - schwulst, in die Blutgefässe gelangt und mit dem Blute ver - schleppt, irgendwo hängen geblieben sind, so ernähren sie sich daselbst und zwingen ihre Umgebung zur ernährenden Capillar - bildung und weiterhin zur Bildung auch grösserer Blutgefässe für das weitere Wachsthum der Geschwulst. Auch hier haben wir eine Selbstregulation der Blutgefässe, sowohl der in der Geschwulst selber liegenden, als auch der im normalen befind - lichen grösseren zu - und abführenden Gefässe je nach dem Verbrauche der Geschwulst; und zwar an Stellen, wo die Tendenz, dereinst diese Gefässe zu bilden, nicht vererbt sein kann, da die Metastasen an beliebigen Stellen haften bleiben.

Dasselbe zeigt sich bei der Entwickelung des Eies im Mutterleibe. Wo das Ei haften bleibt und Nahrung anzieht aus der Mutter, vermehren sich die Capillaren derselben152III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.und es bilden sich dem Bedürfniss entsprechende zuführende und abführende Blutgefässe durch Selbstregulation aus, nicht blos in der Gebärmutter, sondern auch in der Bauchhöhle an jeder beliebigen Stelle, an welcher bei Extrauterinschwanger - schaft das Ei zufällig liegen geblieben ist. Auch in diesem Falle kann also eine Tendenz, an dieser Stelle dereinst diese Blutgefässe zu entwickeln, nicht angeboren sein, sondern es muss eine allgemeine Reactionsfähigkeit des Organismus existiren, zufolge welcher überall die dem Verbrauche entsprechenden Blutgefässe auf dem Wege der Selbstgestaltung und Selbst - regulation sich ausbilden.

Ich glaube, dass diese Beispiele beweisen, dass sich die Theile activ ernähren können, und dass der Organismus passiv mit Capillarbildung und mit Bildung entsprechender zuführender und abführender Gefässe reagirt. Auf welche Weise diese Regulation der zu - und abführenden Blutgefässe stattfindet, ist ausserordentlich schwierig zu erklären. Es setzt wiederum Reactionsqualitäten voraus, von welchen wir bisher nichts ge - ahnt haben. Diese wenigen Qualitäten aber angenommen, er - klärt sich sofort die zweckmässige Ausbildung der Blutgefäss - weite im ganzen Körper und ebenso dieselbe in pathologischen Neubildungen und bei den erwähnten parasitären Bildungen, als welche hier auch die Frucht im Mutterleibe betrachtet werden muss.

Es scheint, dass diese Regulation der Blutgefässe, welche wir ganz in Abhängigkeit sehen von dem Bedürfniss der das Blut verzehrenden Theile, auch durch neugebildete Nerven ver - mittelt wird, wenn die Gefässe grösser werden, denn die glatten Muskelfasern, welche die Gefässe auch der metastatischen Ge - schwülste haben, werden wohl auch von Nerven versorgt. Diese nervöse Mithilfe bei der Regulation bekundet sich wohl auch schon nach Unterbindung von Blutgefässen. Es bilden sich153III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.hier nicht blos auf mechanische Weise neue Nebenwege aus, sondern gleichzeitig muss auch eine neue nervöse Regulation entstehen, welche ebenfalls nicht vererbt sein kann, sondern mittelst Selbstgestaltung und Selbstregulation ihre Ausbildung erfahren muss. Man denke sich, was entstehen müsste, wenn die Ernährung rein passiv stattfände, ganz in Abhängigkeit von der Blutzufuhr, und wenn nach Unterbindung die Vertheilung blos mechanisch durch collaterale Wirkung sich ausgliche, welche Functionsstörungen und Umformungen des ganzen Theiles entstehen müssten! Wenn z. B. die Oberarm-Arterie unter - bunden wäre, müssten die Schultermuskeln und die Haut über denselben unförmig verdickt und der Unterarm würde dünn und schwach werden; aber nichts von dem tritt ein, die Re - gulation ist meist eine vollkommene, und da die betreffen - den Muskelgruppen später wieder vollkommen functionsfähig werden, so muss sich wohl auch eine neue nervöse Regulation zur Herstellung der functionellen Hyperämie ausgebildet haben, welche aber nur in directer Abhängigkeit von dem Verbrauch der Theile entstehen kann. Alle diese Verhältnisse deuten also auf Selbstregulation durch den Bedarf hin, so dass wir an - nehmen müssen, dass die specifischen Parenchyme sowohl die Aufnahme als auch die Zufuhr ihres Bedarfs selber reguliren, und dass auch die nervösen Regulationsapparate in Abhängig - keit von dem Verbrauche sich ausbilden und ihm untergeordnet sind. Denn ebenso, wie sie unter ganz neuen, also nicht ver - erbten Verhältnissen hervorgebracht werden, in denen sie blos in Abhängigkeit von den verbrauchenden Theilen entstehen können, müssen sie auch in normalen Verhältnissen sich in der gleichen Weise auszubilden vermögen.

Wir wollen noch erwähnen, dass zweierlei Regulationen wohl zu unterscheiden sind, ein Mal die nervöse, blos vorüber - gehende, wechselnde, zweitens die durch wirkliches Wachs -154III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.thum der Gefässe entstehende dauernde. Die letztere, welche ursprünglich im Embryo und beim Anfang der Ausbildung der erwähnten Parasiten und Geschwülste jedenfalls ohne Nerven - vermittlung, also rein mechanisch stattfindet, kann, sobald die Gefässe grösser werden und Nerven haben, vielleicht als eine der durch die Nervenregulation hergestellten mittleren Weite nachfolgende Anpassung angesehen werden. Wir wissen aber nichts darüber und können daher nicht behaupten, dass das betreffende Wachsthum nicht vielleicht auch ganz ohne Nerven - vermittlung stattfände.

Die Regulation der Gefässweite vermittelst der Nerven kann zu Stande kommen erstens durch Theilung des functio - nellen Reizes, indem immer ein Theil derselben zugleich auf die Gefässe übergeht. Die Reizqualitäten sind aber, wie wir sehen werden, ausserordentlich mannigfaltig im Körper und die glatten Muskelfasern der Gefässwandung müssten auf diese ver - schiedenen Reize immer in entsprechender Weise reagiren, ent - weder indem sie direct von den Reizen getroffen werden oder indem ihnen ein Theil des functionellen Reizes durch beson - dere Bahnen zugeleitet wird. In den chemisch zur Thätigkeit angeregten Organen müssten unter dieser Voraussetzung z. B. die glatten Muskeln der Nierenarterien auf Harnstoffansamm - lung im Blute mit Erschlaffung reagiren, in dem gleichen Grade wie die Epithelien der Nierenkanälchen dadurch zur Function und zur Vergrösserung ihres Stoffwechsels, respective zur Er - nährung und Vermehrung angeregt werden, wie letzteres nach Ausschneidung einer Niere bei der compensatorischen Hyper - trophie der anderen stattfindet.

Gegenwärtig ist zwar noch die Meinung herrschend, dass diese Hypertrophie durch collaterale Hyperämie, durch Vergrös - serung des Blutzuflusses zu den Nachbartheilen nach der Ab - sperrung eines Bezirkes des Blutgefässnetzes bedingt sei, in -155III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.dem infolge des Verschlusses der einen Nierenarterie das Blut aus mechanischen Gründen entsprechend mehr in die andere flösse. Diese Erklärung der Hypertrophie ist aber unrichtig; denn es würde in die andere Nierenarterie nicht mehr Blut fliessen, als ihrer relativen Weite im Verhältniss zur Bauchaorta resp. zu den anderen in der Gegend entspringenden Gefässen zukommt. Es müssten alle Organe, welche aus dieser Gegend ihr Blut beziehen, also die ganze Lendengegend, der Dick - darm, die Hoden, hypertrophiren. Davon ist indessen nichts beobachtet worden: Dagegen würde nach Entfernung eines Hodens gar keine Hypertrophie des anderen eintreten, denn der Ausfall einer so engen Arterie und ihres kleinen Capillar - gebietes aus dem ganzen von der Bauchaorta versorgten Be - zirk, welcher fast den halben Körper darstellt, könnte den Blutdruck in der Gegend nur unmessbar wenig erhöhen, und von dieser Erhöhung würde wiederum nur der entsprechende minimale Theil dem anderen Hoden zu Gute kommen. Trotz - dem aber hypertrophirt bekanntlich der übriggebliebene Hoden manchmal in sehr beträchtlichem Maasse. Zudem könnte die compensatorische Hypertrophie der Lymphdrüsen des übrigen Körpers, welche stets nach zu Grunde gehen dieser Organe eines Körpertheiles stattfindet, überhaupt nicht durch collaterale Hyperämie ihre Erklärung finden, denn wie sollte collaterale Hyperämie auf ganz entfernte kleine Organe in anderen Kör - pertheilen wirken? Dagegen ergiebt sich die Hypertrophie bei unserer Annahme, dass der functionelle Reiz dieselbe ver - anlasst, ganz von selber, denn diejenige Qualität des Blutes, welche die Thätigkeit der Lymphdrüsen veranlasst, wird nach Wegfall eines Theiles derselben entsprechend stärker auf die anderen wirken.

Ausserdem ist zu erwähnen, dass die Regulation durch Nervenvermittlung so mächtig ist, dass der Einfluss der Ver -156III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.schliessung schon ziemlich starker Arterien vollkommen com - pensirt werden kann, wodurch die mechanische collaterale Hyperämie in ihrer Wirkung für Arterien mehr oder weniger aufgehoben werden kann.

Es müssten nach der gemachten Voraussetzung bei den verschiedenen Organen, welche ihre Anregung zur Thätig - keit, gleich der Niere, durch chemische Bestandtheile des Blutes erhalten, also wohl die Leber, die Hoden (?), die Milz und die Lymphdrüsen, immer auch die Muskelzellen ihrer Blutge - fässe auf diese chemischen Reize in entsprechender Stärke reagiren, während bei denjenigen Drüsen, welche durch Ner - venvermittlung zur Thätigkeit angeregt werden, z. B. den Speicheldrüsen, ein Theil dieses Reizes sich abzweigen und auf die Gefässe übergehen müsste. Dasselbe müsste bei den Mus - keln und selbst auch bei den Ganglienzellen des Hirns und des Rückenmarks stattfinden. Alles dies erscheint ausserordentlich complicirt, überall müssten die in allen Organen physiologisch gleichen glatten Muskelfasern auf besondere Reize mit bestimmter zweckmässiger Stärke reagiren; und wie eine Re - gulation in neuen Verhältnissen entstehen könnte, dafür würde uns jegliches Verständniss fehlen. Auch ist es undenkbar, wie eine derartige Regulation für die Knochen thätig sein könnte; denn wie soll hier der Reiz, welcher den Knochen trifft, auch proportional die Blutgefässe treffen? Oder wie soll der Vor - gang in dem Centralnervensystem sein? Wenn bestimmte Ner - venbahnen oder Ganglienzellen mehr in Anspruch genommen werden, also vermehrter Nahrung bedürfen, so müsste für jede Faser, für jede Ganglienzelle eine besondere nervöse Blut - gefässregulation da und zugleich dafür gesorgt sein, dass die Reize nicht irradiiren (sich weiter ausbreiten), denn sonst würden immer alle benachbarten Theile auch hypertrophisch. Ich erinnere nur an das vorn citirte Beispiel rasch verlaufender157III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.functioneller Anpassung von Helmholtz, in welchem wir beim Sehen mit die beiden Bilder vertauschenden Brillen uns so rasch anpassen in Tausend oder Millionen Ganglienzellen und ihren Ausläufern, dass wir schon nach Uebung von einigen Minuten und nach Abnahme der Brille gegen unseren Willen noch nach dieser eben gelernten Weise greifen. Soll diese tausendfältige Veränderung von Nervenverbindungen passiv durch Hyperämie entstehen, welche in diese tausendfältigen Bahnen geleitet würde? Oder wenn man einwendet, dass hier - bei blos der Verbrauch von schon in den Zellen aufgespeicherten Vorräthen stattfinde, so brauchen wir nur ein anderes Beispiel anhaltenderer Uebung, etwa des Klavierspiels zu gedenken, in welchem alle Vorräthe erschöpft werden. Wenn dagegen nicht so vollkommen auf diese einzelnen Bahnen beschränkte Hyper - ämie bei rein passiver Ernährung der Gewebe möglich wäre, so würde die Mitausbildung der gleichzeitig hyperämischen Nachbartheile jede Erwerbung besonderer Kunstfertigkeiten un - möglich machen.

Auch aus diesen Gründen bin ich der Meinung, dass die Aufnahme der Nahrung activ geschieht, gemäss der Anregung durch den functionellen Reiz, und dass die Blutgefässregulation, auch diejenige durch Vermittlung von Gefässnerven, wo sie überhaupt stattfindet, nämlich wohl blos, wenn grössere Zell - gruppen zugleich mehr Nahrung aufnehmen, im allgemeinen abhängig sein wird von den specifischen Theilen der Organe, sei es in directer oder indirecter Weise.

Ueber die Art, wie diese Regulation stattfindet, will ich den Physiologen durch das Aussprechen von Vermuthungen nicht vorgreifen; indessen sind relativ einfache Modi denkbar. Für die morphologische, dauernde Bildungen liefernde Gefäss - regulation, welche allein in mein Gebiet gehört, hoffe ich nach158III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.meinen gegenwärtigen Beobachtungen, sie dereinst auf mecha - nische Principien zurückführen zu können.

Aus dem über die Wirkung der Blutvertheilung und die Art ihrer Regulation Gesagten geht also hervor, dass es allen Thatsachen widersprechen würde, wenn man eine passive Ernährung der Theile, allein abhängig von der Nahrungszufuhr statuiren wollte, sondern es ergab sich, dass im Gegentheil die Ernährung unter qualitativer und quantitativer Auswahl seitens der ernährten Theile stattfinde, und dass von der Ver - brauchsstelle aus die Blutzufuhr entsprechend dem Bedarfe in irgend einer Weise regulirt werden muss.

Die functionelle Hyperämie, wo sie stattfindet, kann daher keinesfalls die Ursache der functionel - len Hypertrophie sein, sondern sie darf nur als eine günstige, vielleicht nicht einmal immer unerläss - lich nothwendige Vorbedingung derselben angesehen werden.

Werfen wir noch einen Blick auf die möglichen Leistungen der Blutvertheilung beim Ausbleiben der Function und der ihr folgenden Inactivitätsatrophie, so liegt hier das ursächliche Verhältniss scheinbar einfacher, und die Ab - hängigkeit von der Blutzufuhr scheint eine grössere und be - stimmtere zu sein als bei der Hypertrophie. Denn wenn die Nahrung in erheblich verminderter Menge zugeführt wird, so muss nothwendigerweise die Ernährung entsprechend sinken. Aber es ist die Frage, warum sinkt die Nahrungszufuhr, warum bleibt sie nicht auf einem mittleren Zustand stehen, da doch die Spannung der Blutsäule hier wie überall bestrebt ist, die vorhande - nen Wege zu erweitern, statt sie verengen zu lassen. Diese stetige, über das Maass des durch Nervenregulation Vermittelbaren hin - ausgehende Verengerung, diese wirkliche morphologische Rück -159III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.bildung bedarf selber erst einer Erklärung und diese findet sie erst, wenn das Capillargebiet mit der Atrophie der specifischen Theile infolge mangelnder Function sich verkleinert hat.

Aber ganz abgesehen von dieser Auffassung der Entstehung der Blutgefässschrumpfung, wie soll sich in dem Capillarnetz der Blutgefässe, in welchem von allen Seiten Blutzufuhr statt - finden kann, die Inactivitätsatrophie einzelner Nervenbahnen im Rückenmark rein von den Gefässen aus erklären, da doch für den ganzen Querschnitt jedes der sechs Stränge, also für viele tausend Nervenfasern ein gemeinsames zusammenhängendes Capillarnetz vorhanden ist? Um diese strangförmigen, auf be - stimmte Nervenbahnen längs des ganzen Rückenmarks be - schränkten Atrophieen durch Verminderung der Blutzufuhr her - vorzurufen, müsste für jede Nervenfaser ein eigenes abge - schlossenes Capillarnetz mit selbständiger Regulation vorhanden sein. Das Gleiche gilt von der Atrophie der entlasteten Knochenbälkchen, welche nach einem schief geheilten Knochen - bruch bei Ausbildung der den neuen statischen Verhältnissen entsprechenden Structur stattfindet.

Wie durch die functionelle Hyperämie das vorhandene, feine Structurdetail in dem Centralnervensystem, in den Knochen und Fascien, in den Höhlenmuskeln etc. als Wirkung der Blut - vertheilung sich nicht hätte ausbilden können, da die Blutver - theilung in dem Netz der Capillaren nicht in der dazu nöthigen Weise regulirt und abgeschlossen werden kann, so kann auch nicht eine so beschränkte Nahrungsentziehung stattfinden, dass einzelne, mikroskopisch kleine scharf umschriebene Theile da - durch zur Atrophie gebracht werden könnten.

Bei so allgemeinen, alle Organe und Organsysteme betreffen - den Erscheinungen aber nach speciellen, für jedes Organ be - sonderen Gründen zu suchen, wie bei den Muskeln geschehen160III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.ist, indem man die Activitätshypertrophie derselben durch eine bei der Contraction stattfindende, den Durchtritt von Nahrung begünstigende Dehnung des Sarkolemma (der Muskelfaserhaut) als die Ursache hingestellt, und in gleicher Weise die Inacti - vitätsatrophie aus dem Ausbleiben dieser günstigen Dehnung zu erklären versucht hat, erscheint schon an sich nicht sehr berechtigt, ganz abgesehen davon, dass es schwerlich gelingen möchte, dasselbe leistende accessorische Moment für die anderen Elementartheile, die Ganglienzellen, Nervenfasern, Knochen etc. aufzufinden. Es ist gewiss verdienstlich, nach solchen Momenten zu suchen und sie zu erwägen, aber sie können bei so allge - meinen Erscheinungen doch mehr nur die Bedeutung accesso - rischer Hülfsmomente haben.

So lässt sich denn weder die Activitätshyper - trophie noch die Inactivitätsatrophie, noch die Ent - stehung des functionellen Structurdetails aus der Regulation der Blutzufuhr ableiten, und die Ent - stehung dieser Verhältnisse als Folgen der tro - phischen Wirkung des functionellen Reizes gewinnt dadurch eine noch grössere Wahrscheinlichkeit.

Es bleibt damit auch für die Activitätshypertrophie, für die Uebercompensation, welche dieses selbe Structurdetail ausbil - den hilft und die Organe blos nach den die Hyperfunction leistenden Dimensionen vergrössert, die einzige Ursache die trophische Wirkung des functionellen Reizes. Denn da die Theile ohne letzteren nicht thätig sind und bei gänzlicher Fern - haltung desselben sogar rasch entarten, in seiner Anwesenheit aber hypertrophiren, so muss, da zudem die Ernährung keine passive, durch die Nahrungszufuhr verursachte ist, diese Hyper - trophie nunmehr als eine Folge der Stärkung der Lebenspro - cesse durch die Reizwirkung angesehen werden.

Schliesslich erfreuen sich ja auch die trophischen Wirkun -161III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.gen der Reize im Allgemeinen einer verbreiteten Anerkennung. So sagt Virchow:1)Deutsche Jahrb. f. Politik und Literatur. Bd. 6. 1863. p. 349.

» Wir haben es in der Hand, sowohl die ganzen Individuen, als insbesondere einzelne ihrer Organe und Systeme auszubil - den und damit die individuellen Eigenthümlichkeiten nach die - ser oder jener Richtung zu entfalten. «

» Unter den Mitteln, Menschen mit mehr Fleisch, Blut und Nervenmasse zu ziehen, sind vor allem entscheidend die Reize, die Erregungsmittel. Ohne Reiz giebt es keine organische Ar - beit, keine Aufnahme von neuen Bildungsstoffen, keine Ent - wickelung. «

» Salze, Gewürze, gewisse Spirituosen und flüchtige Stoffe bringen den Organen eine Erregung, welche sie zur Stoffauf - nahme bestimmt, welche ihre innere und äussere Thätigkeit wachruft. «

» Mechanische Anstösse, die Einwirkung des Lichtes, der Wärme, der Electricität und zahlreiche andere Einflüsse, welche die empfindenden Nerven oder die circulirenden Säfte oder die Gewebe selbst treffen, üben die gleiche Wirkung. Vor allem ist es die geistige Erregung, welche die grössten Resultate giebt (nicht blos das Denken, sondern auch das Thätigsein, Willensimpulse). «

Résumé.

Es war im Kapitel über den Kampf der Theile deducirt worden, dass Processe, welche auf Reizwirkung nicht blos die functionelle Veränderung erfahren, sondern zugleich auch in ihrer Fähigkeit, Nahrung aufzunehmen und zu assimiliren, ge - kräftigt würden, aus allgemein dynamischen Gründen in den Organismen im Kampf der Theile die Herrschaft, die Allein - existenz erlangen müssten, sobald sie einmal in Spuren in denRoux, Kampf der Theile. 11162III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.Organismen aufgetreten wären. Da Ursache vorhanden war, zu vermuthen, dass diese Eigenschaften nicht blos physiolo - gisch, sondern auch morphologisch von grosser Wichtigkeit sein würden, so unternahmen wir es, den Nachweis zu versuchen, dass solche theoretisch annehmbaren Substanzen auch wirklich entstanden seien, auch thatsächlich in den Organismen existirten.

Zu diesem Nachweise mussten wir getrennte Wege ein - schlagen für die beiden Hauptgruppen der den Organismus zu - sammensetzenden Theile. Für die Stützsubstanzen, insbeson - dere für die Knochen - und für die Bindegewebsbildungen, konnten wir darauf hinweisen, dass in der quantitativen Aus - bildung der bezüglichen Organe und in der inneren und äusse - ren Gestalt derselben, sowie in ihrem Verhalten, in pathologi - schen neuen Verhältnissen eine Identität der Leistungen dieser Gewebe mit den theoretisch ableitbaren nothwendigen Leistun - gen der angenommenen Substanz besteht, welche bei der Viel - gestaltigkeit, in der sich diese Leistungsidentität offenbarte, ein zufälliges Zusammentreffen aus anderen, abweichenden Ursachen ausschloss, so dass wir aus dieser Identität der Leistungen auf eine Identität der Eigenschaften der Stützsubstanzen mit der angenommenen Qualität schliessen konnten.

Für die Arbeitsorgane, für deren Structur in Folge des Unbekanntseins der Gestalt der Reize keine eventuelle Ueber - einstimmung mit der eventuellen Reizgestaltung nachweisbar ist, schlugen wir einen anderen, ebenso sicheren Weg ein, wel - cher durch die Experimente vieler ausgezeichneter Forscher geebnet war. Die Schilderung der Wirkung, welche Fernhal - tung des fnnctionellen Reizes auf diese Organe ausübte, zeigte uns, dass dabei in diesen Organen Entartung, Rückbildung, Schwund der specifischen Theile entstand, und daher mussten wir dem functionellen Reiz eine erhaltende, also auch die As - similation stärkende Wirkung zuerkennen.

163III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.

Schliesslich erörterten wir die öfter ausgesprochene und auf den ersten Blick nicht unwahrscheinliche Annahme, dass die Activitätshypertrophie und die Inactivitätshypertrophie blos Folgen der die Function begleitenden Hyperaemie, resp. des Ausbleibens der letzteren mit dem Ausbleiben der Function seien. In Folge der fundamentalen Bedeutung dieser Annahme und in Folge der Schwierigkeit, die Einzelwirkung zweier fast immer gleichzeitig auftretender Factoren zu beurtheilen, wurde näher auf die erstere und auf das zu Grunde liegende Problem der Ernährung der Theile eingegangen. Es zeigte sich dabei, dass die Ernährung keine rein passive, einfach durch die Zufuhr des Nahrungsmateriales bedingte sein kann, sondern dass sie von den inneren Zuständen der Zellen abhängen muss, in der Weise, dass die letzteren fähig sind, bei Vergrösserung der Nahrungs - zufuhr durch die Blutgefässe eine grössere Aufnahme zu ver - weigern und bei Verringerung der Nahrungszufuhr die Aufnahme eventuell zu vergrössern oder constant zu erhalten und bei constanter Nahrungszufuhr bald mehr, bald minder Nahrung aufzunehmen und zu assimiliren. Ausserdem sahen wir, dass die Blutzufuhr zu den Organen im Embryo in irgend einer Abhängigkeit von den Zuständen der specifischen Theile stehen muss, so dass die letzteren fähig sind, die Blutzufuhr zu sich auf irgend einem Wege nach ihrem Verbrauche selbst zu regu - liren. Ein gleiches wurde auch für die durch Nervenvermit - telung bewirkte Regulation der Blutzufuhr im späteren em - bryonalen und postembryonalen Leben wahrscheinlich.

Nachdem dadurch der einzig entgegenstehenden Ansicht der Boden entzogen war, konnte die Activitätshypertrophie nicht mehr als eine Wirkung der functionellen Hyperaemie und und ebensowenig die Inactivitätsatrophie als eine Folge des Ausbleibens derselben aufgefasst werden, sondern die erstere erwies sich als eine Folge der Stärkung der Assimilationsfähig -11*164III. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize.keit durch den functionellen Reiz, letztere als Folge der Schwächung derselben durch das Ausbleiben dieses Reizes. Die functionelle Hyperaemie dagegen erschien nur als eine begünstigende, vielleicht aber nicht einmal unerlässliche Vor - bedingung der functionellen Hypertrophie.

So ist mit der Nachweisung der trophischen Wirkung des Reizes die functionelle Anpassung in ihren beiden Gruppen der Wirkung des vermehrten und verminderten Verbrauchs und der neu aufgestellten, der functionellen inneren Structur der Organe auf ein mechanisches Princip, auf den Kampf der Theile zu - rückgeführt, so dass ihre hervorragende, allenthalben direct das Zweckmässige bis ins letzte Molekel und bis ins feinste Structurdetail gehende und die angemessensten Grössenver - hältnisse hervorbringende Wirksamkeit nicht mehr als eine teleologische, sondern als eine mechanische aufzufassen ist.

[165]

IV. Differenzirende und gestaltende Wirkungen der functionellen Reize.

Dieses Kapitel stellt entsprechend seiner Ueberschrift die Folgerungen dar, welche sich aus dem in den vorhergehenden Kapiteln II und III ableiten lassen. Als Consequenzen selbst noch der Anerkennung bedürfender Ausführungen können sie natürlich nur einen untergeordneten Werth haben und sollen nur dazu dienen, zu zeigen, wohin das von mir eingeführte Princip etwa führen kann, und eventuell zur Inangriffnahme mit den Mitteln unserer Zeit lösbarer, neu sich ergebender Fragen anregen.

Kein Geschehen kann einseitig bedingt sein; jede Aende - rung eines Zustandes muss durch eine hinzukommende ändernde Kraft hervorgebracht werden. So auch die Differenzirung der Organismen, sowohl die morphologische als die physiologische, sowohl die quantitative als die qualitative.

Wir wollen zunächst die morphologisch-qualitative Diffe - renzirung und zwar zuerst die Ausbildung der Grundqualitäten, die Entstehung der Gewebe, zu erörtern suchen.

Jede Gewebsart muss also ihre besondere Entstehungs - ursache gehabt haben, und es ergiebt sich daraus die Frage, ob sie sie heut zu Tage noch haben müssen, oder ob gegen - wärtig alle Qualitäten einfach durch Vererbung direct über -166IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.tragen werden. Die Vererbung als chemische Uebertragung der Qualitäten der Eltern auf die Kinder als Theilstücke der - selben ist kein Problem mehr, sondern eine mechanische Noth - wendigkeit. Dass sie letzteres trotz des Stoffwechsels ist, be - wirkt die Assimilation; denn diese ermöglicht die Uebertragung des Gesetzes der Trägheit von den physikalischen auf chemi - sche, mit Stoffwechsel verbundene Processe. Das Problem ist also statt der Vererbung vielmehr die Entwickelung, die Her - vorbildung des chemisch und morphologisch Differenzirteren aus dem Einfacheren ohne differenzirende äussere Einwirkun - gen, blos unter Zufuhr von Nahrungsmaterial. Dabei ist natür - lich die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass blos einige Gewebe rein in Folge der vererbten Entwickelungsfähigkeit sich differenziren, während die anderen Gewebe, so vielleicht die Stützsubstanzen, secundär durch Einwirkung seitens der an - deren aus dem embryonalen Blastem differenzirt werden. Wir wissen aber noch nichts über die Art, wie solche beiderlei Vor - gänge möglich sind, und wie sie in ihrem Wesen ablaufen; denn was wir beobachten, ist blos der Verlauf der äusseren Erscheinungen. Da die Veränderungen am erwachsenen Men - schen nur durch äussere umgestaltende Einwirkungen vor sich gehen, die embryonalen Differenzirungen dagegen ohne oder fast ohne solche differenzirende Reize stattfinden, so ist Ver - anlassung, anzunehmen, dass diese Resultate auf eine, wenn auch sicher gesetzliche, so doch andere und uns zur Zeit un - verständliche Weise[hervorgebracht] werden. Das Wesen der embryonalen Differenzirung und ihre physikalisch-chemischen Einzelursachen sind uns daher zur Zeit gänzlich verschlossen. Es hat demnach keinen Zweck, sich des Weiteren darüber zu ergehen, und es bleibt uns nur die Frage nach den vormali - gen, phylogenetischen Ursachen der Gewebsdifferenzirung; aber auch für die Beantwortung dieser Frage sind die thatsächlichen167IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.Unterlagen sehr gering und wir werden uns mit sehr hypothe - tischen Erwägungen begnügen müssen.

Ueber die wirklichen Ursachen der vormaligen Gewebs - differenzirung sind wir ohne alle Kunde, aber wir haben noch heut zu Tage Gelegenheit, das Entstehen einiger derartiger Differenzirungen in Folge bestimmter Ursachen zu beobachten.

So sehen wir nach einem Knochenbruche in der grossen Entzündungsmasse, wenn die Knochenenden nicht genügend fixirt sind, nicht blos Knochen -, sondern auch Knorpel - und Bindegewebsbildung auftreten, welche zur Entstehung einer Pseudarthrose, eines » falschen Gelenkes « führen. Diese Aus - bildung specifischer Gewebe aus einer noch indifferenten An - lage unter bestimmten Bedingungen ist ein Princip, welches histiogenetisch und vergleichend-anatomisch von der grössten Wichtigkeit ist; denn es würde uns eine discontinuirliche Ent - stehung der Bildungen gleichen Gewebes, z. B. der knorpelig vorgebildeten Skelettheile, anzunehmen gestatten und in dem gewählten Beispiele den Befund von E. Fick1)His und Braune, Archiv f. Anatomie und Entwickelungsgesch. 1879. p. 37. Bestätigt von C. Hasse u. G. Born im Zool. Anzeiger 1879. Nr. 21. erklären, dass die Rippen im Embryo von Tritonen sich von vorn herein ge - trennt von dem Axenskelet knorpelig anlegen, also nicht erst durch secundäre Abgliederung ihre Selbständigkeit erlangen.

Auch entsteht öfter Knochen im Bindegewebe an Stel - len, welche häufig gedrückt oder geschlagen werden, so die sogenannten Exercierknochen2)Virchow, Die krankhaften Geschwülste. Bd. II. und Reitknochen.

Alle solche Metamorphosen von Geweben sind für uns sehr bedeutungsvoll, denn wir sehen hier wirkliche Differenzirungen des einen Gewebes aus dem anderen und zwar nicht zufolge der Vererbung, wie bei der Neubildung eines abgeschnittenen168IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.Auges aus dem Stumpf des Tentakels einer Schnecke, sondern ohne Mitwirkung bestimmter Vererbung durch äussere Einwir - kungen. Aber die so constatirbaren Gewebsdifferenzirungen in Folge bekannter Ursachen beschränken sich vor der Hand nur auf Umbildungen der verschiedenen Bindesubstanzformen in einander.

Kann somit auch über die vormaligen Ursachen der phy - logenetischen Gewebsdifferenzirungen, da letztere gegenwärtig vererbt werden und uns jegliches Verständniss für die Selbst - differenzirung im Embryo fehlt, heut zu Tage nichts Sicheres festgestellt werden, so erscheint es doch nicht überflüssig, noch einige weitere Betrachtungen darüber anzustellen.

Die verschiedenen Gewebe werden von verschiedenen func - tionellen Reizen getroffen, welche eine chemische Umänderung in den Zellen derselben hervorbringen können, sei es nun eine Erregung, welche mit Stoffumsatz in der Form des Verbrauches verbunden ist, wie bei den Muskel -, Ganglien -, Nerven - und Sinneszellen, oder eine Erregung, welche vorwiegend mit Aus - scheidung einhergeht, wie bei den Drüsen unter Abscheidung des Secretes, bei den Stützsubstanzen unter Abscheidung von Intercellularsubstanz.

Es liegt uns nun daran, zu erörtern, ob diese die spe - cifische Function veranlassenden Reize bei der ursprünglichen Gewebsdifferenzirung mitgewirkt haben können, ob also auch hier eine Art Selbstgestaltung, Selbstdifferenzirung stattgehabt haben kann, oder ob die Ent - stehung der entsprechenden Verschiedenheiten ganz allein auf zufällige Variationen der Organismen und Erhaltung der Va - rietäten durch den Nutzen für das ganze Individuum, also rein auf Darwin’s und Wallace’s Principien zurückzuführen sind. Hierbei wird uns das im II. Kapitel über den Kampf der Theile Entwickelte zu statten kommen und wir werden uns169IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.mehrfach darauf zu beziehen oder dasselbe zu wiederholen haben.

Wenn z. B. einmal durch zufällige Variation in einigen Zellen der Körperoberfläche niederer augenloser Thiere Verbin - dungen entstanden waren, welche auf Licht in irgend einer Weise reagirten, sei es, dass sie dasselbe aufnahmen oder ver - mittelst Farbstoffkörnchen in Wärme umsetzten, oder sonstwie dadurch alterirt wurden, so war dies in dreierlei Weise mög - lich. Entweder wurde der Lebensprocess der noch indifferenten, an keinen anderen Reiz besonders angepassten und durch ihn erhaltenen Zelle durch das Licht in seiner Regenerationsfähig - keit, in der Assimilation, geschwächt; dann musste er im Kampf der Theile zu Grunde gehen, allmählich eliminirt wer - den, wie wir oben dargelegt haben. Oder die Vitalität der Verbindung wurde durch das Licht nicht alterirt, dann konnte sie bestehen bleiben, oder drittens, es wurde dadurch die As - similation gestärkt, dann musste sich die Substanz den Sieg erringen und sich ausbreiten, soweit nicht andere ebenso kräf - tige Substanzen der Nachbarschaft Widerstand zu leisten ver - mochten.

Indessen ist die Wahrscheinlichkeit schon des Vorkommens für diese drei Fälle nicht gleich gross, was nicht unwichtig ist, zu berücksichtigen. Der mittlere Fall, dass die Substanzen durch das Licht nicht im geringsten in ihrer Lebenskraft alterirt werden, ist blos ein Specialfall aus der Mitte der unendlichen Reihe der Möglichkeiten und als solcher, mathematisch ge - sprochen, höchst unwahrscheinlich, ganz abgesehen von dem fort - währenden Wechsel des Geschehens. Denn ebenso wie ein labiles Gleichgewicht sich in der Natur nicht als dauernder Zustand findet, ebenso wenig kann eine solche Substanz in dem Wechsel alles Geschehens bestehen, sofern sie nicht durch besondere regulatorische Ursachen fortwährend erhalten wird.

170IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.

Die beiden anderen Möglichkeiten dagegen haben, princi - piell betrachtet, gleiche Wahrscheinlichkeit ihres Vorkommens, aber nicht ihrer Erhaltung. Die erstere, diejenige, dass das Licht die Assimilation schwächend beeinflusst, hat, wie wir sahen, schon keine Chance, erhalten zu werden, gegenüber dem Specialfalle der Einflusslosigkeit des Lichtes und noch weniger natürlich gegenüber dem dritten, in welchem das Licht die Lebensfähigkeit erhöht. Daraus ergiebt sich, dass, während die Entstehung durch eine dauernd oder wiederkehrend ein - wirkende lebendige Kraft ungünstig und günstig beeinflusster Verbindungen gleich wahrscheinlich ist, doch blos die letztere Art der Verbindung erhaltungsfähig und damit auch steigerungs - fähig ist. Diese mathematische Wahrscheinlichkeit des Vor - kommens, verbunden mit der ausschliesslichen Möglichkeit der Erhaltung des Stärkeren im Kampf der Theile, giebt meiner Meinung nach derartigen theoretischen Betrachtungen schon einen gewissen positiven, nicht blos heuristischen Werth.

Im vorliegenden Falle folgert also, dass in noch indifferenten Zellen bei Variationen leichter Processe auftreten, welche durch Reize alterirt werden, und dass von ihnen nur derartige er - haltungsfähig sind und daher in den gegenwärtigen Zuständen sich vorfinden können, welche durch den Reiz in ihrer Assimi - lation gestärkt werden.

Der Kampf der Theile ist damit ein Princip der Züchtung von chemischen Processen in den Organismen, welche durch die lebendigen Kräfte der umgebenden Natur immer mehr gestärkt werden, also auch immer mehr darauf reagiren. Die Mög - lichkeiten solcher Verbindung sind natürlich ausserordentlich mannigfaltige, und der Kampf um’s Dasein der Individuen wird aus ihnen, wie oben dargelegt, blos diejenigen auslesen und der definitiven Erhaltung überliefern, welche sich in ihm als auch für das Ganze nützlich bewährt haben. So z. B. bei den171IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.Pflanzen solche Verbindungen, welche das Licht am vollkommen - sten verzehren, bei den Thieren in den Zellen der Netzhaut, dagegen Qualitäten, welche dasselbe am vollkommensten auf - nehmen, aber am wenigsten verzehren und zur Weiterleitung zum Gehirn am besten vorbereiten, so dass die Sehfähigkeit des Individuums eine möglichst scharfe wird. Es ist somit durchaus nicht ausgeschlossen, dass auch für denselben Reiz verschiedene Qualitäten sich ausbilden und in immer weiter gehender Weise durch ihn gezüchtet werden können, wenn einmal durch Variation verschiedene Substanzen aufgetreten sind, welche durch ihn erregt werden.

In gleicher Weise musste an alle specifischen Formen der lebendigen Kräfte der Natur, welche häufig oder dauernd genug vorkamen, Anpassung der Organismen eintreten, so lange die letzteren noch genügend variirten, so lange sie noch nicht durch specifische Ausbildung mit Regulation zur Erhaltung der speci - fischen Natur eine gewisse Widerstandsfähigkeit gegen alterirende äussere Einwirkungen erlangt hatten, wie wir sie den heut zu Tage lebenden Wesen von den Protisten bis zum Menschen zuschreiben müssen. So ist es erklärlich, dass es Organismen giebt, welche Aufnahmeorgane für alle specifischen, häufiger in der Natur vorkommenden Kraftformen, für Licht -, Wärme -, Schall -, chemische und Massenbewegung haben; und wenn electrische Bewegung verbreiteter, dauernder und in nicht zu heftiger Intensität vorkäme, so würde jedenfalls auch für sie ein besonderes Perceptionsorgan ausgebildet sein.

Es sei hier, um Missverständnissen vorzubeugen, paren - thetisch erwähnt, dass natürlich die Production lebendiger Kräfte durch die Organismen, also die Production von Massen -, Wärme -, Licht - und electrischer Bewegung, etwas ganz anderes als die Anpassung an einwirkende lebendige Kräfte ist und daher nicht hierher gehört.

172IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.

Ob nun für jede Schwingungsgeschwindigkeit innerhalb einer Kraftform, z. B. der Lichtbewegung, eine besondere An - passung gezüchtet worden ist, hing natürlich ausser von den möglichen chemischen Qualitäten von dem Nutzen solcher Einzel - anpassung für das Individuum ab.

Wenn das Individuum fähig war, mit drei differenten Organen die ganze Schwingungsreihe einer Kraftform zu percipiren, sie alle auf diese drei Componenten zu reduciren, so war damit seinem Bedürfniss genügt.

Da es jedenfalls für die Thiere von grossem Nutzen sein musste, für alle Kraftformen, welche den Raum durchströmen und welche daher Beziehungen zwischen fernen Theilen zu ver - mitteln vermögen, indem jeder entgegenstehende Theil die Kraft - formen nach seiner eigenen Natur mehr oder weniger aufnehmen und modificiren, also ihm erkennbare Zeichen seiner Anwesen - heit aufprägen muss, so war es selbstverständlich, dass von den Anpassungen, welche durch den Kampf der Theile für alle vorhandenen Kraftformen gezüchtet wurden, der Kampf der Individuen bestimmte auslas, und dieselben allmählich zu immer höherer Vollkommenheit der Wahrnehmung des äusseren Ge - schehens züchtete.

Da wir aber für die theoretisch als möglich anzunehmenden Schwingungen, welche schneller sind als die des ultravioletten Lichts, keine Organe haben, obgleich dies doch von Nutzen wäre, so können wir daraus vielleicht rückwärts schliessen, dass derartige Kraftformen, wenn überhaupt, nur sehr schwach oder sehr selten vorkommen. Die Ursache ihres Fehlens könnte man vielleicht in der Grösse der Molekel oder in ihren Spannungsverhältnissen zu einander erblicken, welche raschere Schwingungen als etwa 800 Billionen in der Secunde nicht gestatten. Es ist aber auch die andere Möglichkeit, welche wir z. B. gleich für unseren Mangel an Wahrnehmungsfähigkeit der173IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.ultravioletten, chemischen Strahlen des Lichts, annehmen müssen, dass die organische Materie mit den vorhandenen Elementen der Erde nicht im Stande war, aus diesen Schwingungen eine durch Nerven fortleitbare Bewegung herzustellen oder sie durch organische Substanzen unabsorbirt hindurch gehen zu lassen.

Sehr verschiedenartig unter sich sind sowohl die chemischen als die mechanischen Kraftformen und daher sind auch die An - passungen, welche für sie existiren, sehr mannigfache.

Für die Wirkung chemischer Kräfte ist die physikalische Vorbedingung innerhalb der beiden Gruppen in derartige Wir - kung zu einander tretender Stoffe, der flüssigen und der gas - förmigen, dieselbe: molecularer Contact, und daher bestehen im Wesentlichen blos zwei Organformen für die chemischen Percep - tionen. Aber wie die chemischen Qualitäten verschieden sind, so sind auch die Anpassungen daran verschieden. Und wenn wir auch noch kein Verständniss dafür haben, wie die derartigen Empfindungen stattfinden, so ist doch bekannt, dass wir tausende von verschiedenen Geschmacks - und Geruchsqualitäten empfinden können, welche in keiner Weise derartig gruppirt und zerlegt werden können, dass man sie auf eine Minderheit von Elementar - empfindungen zurückführen könnte, wie die Klänge und die Farben.

Die meisten specifischen Sinneselemente haben zunächst ein Aufnahmestück für die Sinnesbewegung, das Sinneshaar, dessen Entstehung und Differenzirung in zweierlei Weise gedacht werden kann, je nachdem dasselbe als Cuticulargebilde und dem Stoff - wechsel entzogen, also gleichsam blos mechanisch fungirend, oder als lebend und durch die Erregung chemisch verändert aufgefasst wird. Im letzteren, nach unserer Ansicht wahrschein - licheren Falle, kann es die Substanz des Sinneshaares selber sein, welche vom Sinnesreiz verändert und gekräftigt worden ist und daher proportional dieser Kräftigung sich entfaltet hat174IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.und selbständig durch grössere oder geringere Nahrungsaufnahme, sei es aus ihrer zugehörigen Zelle oder aus der Umgebung, sich regenerirt und vielleicht auch wächst. Letzteres, das Wachs - thum des Sinneshaares, wird natürlich nur innerhalb sehr enger Grenzen zweckdienlich sein, da ein zu starkes Wachsthum theils die perceptionsfähige Gestalt des ganzen Sinnesorganes, oder blos der Sinneszelle stören würde. So ist es verständlich, dass in den Sinnesorganen Processe gezüchtet worden sind, welche, wenn überhaupt, so nur in einem Minimum der Ueber - compensation fähig sind. Die letzterwähnte Art der Entstehung des Sinneshaares aus einem durch zufällige Variation aufge - tretenen Fortsatz der Zelle wäre die einfachste, und wir haben auch durch die Untersuchungen von W. Kühne1)Hermann’s Handb. d. Physiologie des Gesichtssinnes. p. 310. Stoffwechsel - erscheinungen in den Sehstäbchen kennen gelernt, welche sich in Aufquellung derselben bei der Thätigkeit äussern. Im ersteren Falle dagegen ist das Sinneshaar blos eine Ausscheidung der Sinneszelle und müsste, obgleich an sich todt, durch Auslese aus beliebigen Variationen im Kampf um’s Dasein nach Darwin, also ohne direct züchtende Wirkung des Kampfes der Theile die Fähigkeit erlangt haben, den Sinnesreiz aufzunehmen.

Indem der Sinnesreiz die Sinneszelle durchläuft, wird seine Qualität eine Aenderung erfahren, und es erscheint daher nicht auffallend, dass diese neue Qualität wieder ein beson - deres Organ, die nächstfolgende Ganglienzelle gezüchtet hat. So können durch ursprünglich vorhandene Uebercompensations - fähigkeit der Sinneszelle, welche zur Vermehrung führte, mehrere Zellen nach einander entstanden sein, welche von verschiedener Qualität sind und den Reiz beim Durchlaufen allmählich in der für die Gehirnganglienzellen nöthigen Weise metamorpho - siren, wie wir das von den drei Ganglienzellenschichten der175IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.Netzhaut uns vorstellen können. Ihre Natur ist schon so diffe - rent, dass sie ebenso wie auch der Sehnerv selber nicht durch Licht direct erregbar sind; ein Verhalten, welches auch bei den anderen Sinnesorganen insofern wiederkehrt, als die Erreg - barkeit der leitenden Theile für den specifischen Reiz entweder ganz fehlt oder eine vielmal geringere ist als die des Endorganes. An dem Umstand, dass nicht in allen Sinnesorganen der Reiz mehrere Ganglienzellen zu durchlaufen hat, wird ebensowohl oder noch mehr die Auslese im Kampfe der Ganzen als der Theile betheiligt gewesen sein, wie ja stets beide Kampfesarten beim Eintritt einer Neuerung gleichzeitig in züchtende Thätig - keit treten müssen, sodass jede einzelne immer blos Eine Com - ponente des Geschehens darstellt.

Ebenso wie die von aussen einwirkenden Reize sich be - stimmte Reactionssubstanzen im Kampfe der Theile züchteten, von welchen der Kampf der Individuen blos die dem Ganzen nützlichen auslas, in der gleichen Weise werden auch die vom Organismus producirten lebendigen Kraftformen und Reize sich Reactionssubstanzen züchten, von welchen wiederum blos die nützlichsten durch Auslese der Ganzen erhalten wurden: die glatten und die quergestreiften Muskeln, die Drüsenzellen und die Bindesubstanzen.

Auf die chemischen Reize, welche der Organismus produ - cirt, wollen wir noch besonders mit einem Worte hinweisen. Wie Pilocarpin auf die Schweissdrüsen direct Absonderung ver - anlassend wirkt, auch nach Nervendurchschneidung, ebenso können wohl chemische Bestandtheile des Blutes die Thätigkeit der Niere, vielleicht auch des Hoden und der Leber anregen. Für letzteres Organ wäre dabei der Regulationsmechanismus der Thätigkeit sehr einfach, wenn die durch das Pfortaderblut zugeführten Verdauungsbestandtheile die Erregung bewirkten. Vielleicht ist auch die Vergrösserung der Milchdrüse während176IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.der Schwangerschaft auf anregende Wirkung chemischer Be - standtheile, welche aus dem Stoffwechsel des Kindes stammen, zurückzuführen. Und die Regulation der Thätigkeit der Lymph - drüsen und der Milz wird meiner Meinung nach am besten als direct durch die Beschaffenheit des Blutes vermittelt zu denken sein.

Die im Organismus wirksamen mechanischen Reize, welche theils durch die Muskelthätigkeit, theils durch die Schwer - kraft producirt, theils auch von aussen her übertragen wer - den und die Theile bald aus einander zu ziehen, bald zu comprimiren streben, sind mannigfaltig nach Intensität, Loco - motionsgrösse, Dauer, Wiederkehr und Angriffswinkel, und können danach verschiedene Reactionen des Organismus ausge - bildet haben. Denn wo constant Eine bestimmte Combination dieser Eigenschaften vorkommt, wird sie im Stande sein, eine bestimmte Qualität zu züchten, wie wir das bei denjenigen Ge - weben, welche rein mechanischen Reizen ausgesetzt sind, bei den Bindesubstanzen sehen. Es wird ein anderer Reiz sein, welcher Knochen bildet, als der, welcher Gelenkknorpel am Leben erhält und vor der Zerstörung und Verknöcherung schützt. Und ebenso wird es ein anderer Reiz gewesen sein, welcher das leimgebende Bindegewebe und welcher die elastischen Fasern gebildet hat. Es sollen hier keine Hypothesen über die Charakterisirung der Reize für jede dieser Gewebsqualitäten ausgesprochen werden, aber sicher wird sie früher oder später versucht werden müssen, wenn die zu Grunde liegende Auffas - sung, dass der functionelle Reiz sei es identisch mit dem ursprüng - lich differenzirenden ist oder wenigstens gegenwärtig trophisch erhaltend wirkt, Anerkennung findet. Aber es wird eine sehr eingehende vergleichend-anatomische Erfahrung dazu gehören, um das Wesentliche, Gemeinsame der Bedingungen, unter welchen jede dieser Gewebsarten vorkommt, richtig zu erfassen, wenn schon die Bedingungen im einzelnen Individuum ver -177IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.schieden genug sind, um dennoch vielleicht annäherungsweise das Richtige zu erkennen. Von grossem Werthe werden dabei die Uebergangszonen zwischen diesen verschiedenen Differen - zirungen desselben Blastemes sein.

Der Grad der Anpassung des Gewebes oder der Zellen an den specifischen Reiz konnte nach dem im Kapitel von dem Kampf der Theile Dargelegten ein verschiedener sein. Einmal derartig, dass der Reiz zwar die Assimilation zu stär - ken im Stande ist, dass aber die organischen Substanzen auch ohne Reiz sich einigermassen zu regeneriren, also zu erhalten vermögen; ebenso wie wir annehmen, dass sie auch ohne Reiz sich, wenn auch langsamer, so doch continuirlich zersetzen.

Die im Kapitel III erwähnten Versuche an den Muskeln, Drüsen und Nerven ergaben aber nach Reizentziehung eine so rasche Entartung der Theile, dass der Reiz als unerlässlich nöthig zur Erhaltung für dieselben angesehen werden muss. Von unseren Seelenfunctionen ferner wissen wir, wie gering sie bleiben, wenn in der Jugend die Anregung derselben versäumt wird, und wie die Aufnahmefähigkeit durch längere geistige und sinnliche Unthätigkeit herabgesetzt wird, so dass auch hier der functionelle Reiz zur normalen Erhaltung unerlässlich nöthig zu sein scheint. Auch hatten wir Veranlassung anzunehmen, dass die matrices der Bindesubstanzen physiologischer Weise keine Intercellularsubstanz absondern, wenn sie nicht gereizt werden, wenn ihnen also nicht lebendige Kraft zugeführt wird. Es scheint daher, dass die Gewebe der höheren Thiere in ähn - licher Weise des Reizes zu ihrem normalen Leben bedürfen, wie die Pflanzen. Ob dies auch für die niederen Thiere gilt, ist natürlich ohne entsprechende Beobachtungen nicht zu beur - theilen. Wohl aber deutet die hohe Regenerationsfähigkeit, welche nach früheren Untersuchungen und nach den jüngstenRoux, Kampf der Theile. 12178IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.von P. Fraisse1)Tageblatt d. 52. Versammlung d. Naturforscher etc. in Baden - Baden 1879. p. 223. und J. Carrière2)Daselbst, p. 225. fast jeden abgeschnitte - nen oder ausgeschnittenen Theil aus der nächsten Umgebung wieder in seiner typischen Weise herzustellen vermag, darauf hin, dass hier die Zellen nicht durch und durch an ihre speci - fische Function angepasst sind, sondern dass jede, sei es im Kern, oder im Protoplasma noch einen Rest wirklichen em - bryonalen Stoffes enthält, welcher in Thätigkeit tritt, sobald und soweit er nicht mehr durch den Widerstand der physio - logischen Umgebung daran verhindert wird.

Die Anpassung an den Reiz muss eine um so vollkom - menere sein, je häufiger derselbe einwirkt. Und wenn eine Substanz gewohnt ist, täglich, stündlich erregt zu werden, so wird sie beim Ausbleiben des Reizes während mehrerer Tage mehr leiden, als eine andere, welche gewohnt ist, nur selten gereizt zu werden. Dies ist ein sehr wichtiges Moment. In der gleichen Weise kann auch Anpassung an eine gewohnte mittlere Intensität des Reizes stattfinden.

Knochen, welche häufiger gebraucht werden, wie z. B. die Extremitätenknochen, werden bei Inactivität leichter der Atrophie unterliegen, als seltener gebrauchte, wie die Schädelknochen.

Mögen die verschiedenen Gewebe ursprünglich in der Phy - logenese durch embryonale Variation oder irgendwelche post - embryonale Einwirkung entstanden sein und mag unter letz - teren der functionelle Reiz gewesen sein oder nicht, so sind die betreffenden Substanzen jedenfalls durch Einwirkung des letzteren, durch Züchtung von Reizsubstanzen unter dessen Herr - schaft gekommen, da wir sie gegenwärtig von ihm abhängig erblicken. Durch ihn ist daher die formale, der Function auch bei den niedersten Wirbelthieren so auf’s innigste angepasste179IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.Ausbildung der Theile hervorgerufen worden, und wir hatten im II. Kapitel Veranlassung zu der Annahme erhalten, dass auch zur gegenwärtigen formalen Ausbildung im embryonalen und postembryonalen Leben der functionelle Reiz für viele Theile, besonders für die Stützorgane unentbehrlich ist. Aber daraus erhalten wir keinen Anhaltepunkt zur Beurtheilung darüber, ob bei der gegenwärtigen embryonalen Entwickelung die embryonale Selbständigkeit der Theile von selber aufhört, weil durch Vererbung die Phylogenese in der Ontogenese von selber sich wiederholt, oder ob die selbständige Erhaltungs - fähigkeit der Theile auch im Embryo erst durch die Einwir - kung der functionellen Reize, also unter Züchtung von Reiz - substanzen stattfindet.

Sei das eine oder das andere richtig, so ist es verständ - lich, dass pathologische, also neue Knochenbildungen, Exostosen etc., mögen sie schon im Embryo sich ausbilden, oder erst später aus Resten embryonaler Substanz sich entwickeln, selbst - erhaltungsfähig sind, da sie keine Wiederholung phylogene - tischer Aequivalente darstellen und selber nicht unter Reizein - wirkung kommen. So können Exostosen lebenslang an einem Knochen unverändert sitzen, welcher selber bei Inactivität der beträchtlichsten Atrophie unterliegen würde.

Ebenso ist es verständlich, dass Drüsentheile, welche nie stark activ waren, welche vielleicht blos abgeschnürte Deck - epithelien sind, wie der Hirnanhang, die Zirbeldrüse und die Schilddrüse, auch nach Aufhebung ihrer Function, also ohne dass sie noch wie sonst von dem Oberflächenreiz getroffen wer - den, dauernd leben bleiben, während andere, thätige Drüsen nach vollkommener Reizentziehung schon in wenig Wochen gänzlich atrophiren.

Durch die Reizeinwirkung werden wir also abhängig von derselben, wie die Pflanzen abhängig vom Lichte sind und ohne12*180IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.dasselbe nicht normal leben können. Sie entwickeln sich als Embryonen im Dunkeln, aber zur späteren Entfaltung, zum späteren normalen Wachsthum bedürfen sie des Lichtes.

So können auch im erwachsenen Individuum, wo keine embryonalen Eigenschaften, von Geschwulstkeimen abgesehen, mehr vorhanden sind, die Theile blos noch durch Reizeinwirkung wachsen, denn sie sind jetzt ganz in Abhängigkeit vom Reiz gekommen.

Vollkommene Anpassung an den Reiz würde be - deuten, dass jede Substanz, blos von dem Reize, welcher sie physiologisch allein trifft, zur Function erregt, von ihm allein am Leben erhalten und von ihm zur Vermehrung veranlasst werden könnte. Aber so vollkommen ist die Anpassung bei keinem Gewebe gediehen, denn bekanntlich werden die Nerven und Muskeln von allen lebendigen Kräften mit Ausnahme des Schalles und des Lichtes erregt, wenn auch nach Grützner1)Pflüger’s Archiv f. Physiologie, Bd. 17. 1878. nicht in gleichem Maasse. Besondere Reizversuche mit ver - schiedenen Kraftformen unter Messung der Quantität der zur Reizung verwendeten oder gelangenden lebendigen Kraft werden erst die verschiedenen Anpassungen an besondere Reizformen zu ergeben haben.

Es müssen also, um das noch besonders hervorzuheben, in dem Leben aller Theile zwei Perioden unterschieden werden: eine embryonale im weiteren Sinne, wo die Theile sich von selber entfalten, differenziren und wachsen, und eine des Er - wachsenseins, wo das Wachsthum und bei Manchen auch schon der vollkommene Ersatz des Verbrauchten nur unter Einwirkung von Reizen stattfindet. Letztere Reize können dann auch Neues hervorbringen, welches wiederum, wenn es Generationen hin - durch so erzeugt worden ist, erblich wird, d. h. ohne diese181IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.Reize sich in den Nachkommen ausbildet, also in unserem Sinne embryonal wird.

Ebenso kann wohl auch ein allmähliches Sinken der Nothwendigkeit des Lebensreizes stattfinden, indem der Reiz allmählich abnimmt, kann durch Züchtung anderer Substanzen Anpassung an den geringeren Reiz eintreten und so können Organe trotz verminderter Activität erhalten bleiben, wie wir das bei den Ohrmuskeln des Menschen sehen, welche, wenn überhaupt, so blos durch irradiirende Reize schwach und nicht zur Contraction genügend erregt werden und trotzdem immer noch, wenn auch nur in sehr geringem Volumen, erhalten bleiben. Solche Erhaltung wird aber blos da möglich sein, wo das Organ keinen Kampf um den Raum zu bestehen hat, wie dies eben bei den Ohrmuskeln der Fall ist. An anderen Stellen, wo die Organe um den Raum kämpfen müssen, können weniger ge - brauchte Organe nur in einem so kleinen Theile erhalten bleiben, als durch das geringe Maass der Function genügend zur Wider - standsfähigkeit gekräftigt wird, wie dieses deutlich der rudi - mentär gewordene, aber thatkräftige rothe Musculus plantaris der Wade des Menschen zeigt.

Zu welcher Zeit nun für jedes Gewebe und in jedem Organ die Periode des embryonalen Lebens aufhört und die des Reiz - lebens beginnt, ist wahrscheinlich für jeden Theil verschieden. Wir zeigten, dass die Gefässe, die Knochen und die Binde - gewebsbildungen ihre normale Gestalt wahrscheinlich überhaupt nicht selbständig im Embryo ausbilden, sondern blos secundär. Und zwar ist diese Abhängigkeit wahrscheinlich nicht blos eine morphologische, indem irgend ein morphologischer Zusammen - hang zwischen der Ausbildung des Muskels und seiner Fascie besteht, sondern eine functionelle in der Weise, dass die dyna - mische Ordnung des Faserverlaufs der Fascie sich durch die embryonale Function der Muskeln ausbildet. Das Gleiche gilt182IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.von den Blutgefässen, welche wohl neben dem Herzen am frühesten von allen Theilen ihr Reizleben beginnen. Danach folgen vielleicht die bindegewebigen Bildungen, aber wohl in den verschiedenen Organen zu verschiedener Zeit. Das Allge - meine ist, dass diejenigen Organe, welche schon im Embryo ihre specifische Function versehen, auch schon im Embryo Reiz - leben führen werden, nach dem Maasse dieser Function. Ob die Drüsen schon fungiren, wissen wir im allgemeinen nicht, aber von der Niere und der Leber haben wir Grund es an - zunehmen.

Wenn es nicht Thiere gäbe, welche hörend und sehend geboren werden, so könnte man nach den Beobachtungen Preyer’s1)Kosmos, Zeitschr. f. monist. Weltauffass. Bd. III. p. 32., dass der Mensch erst mehrere Stunden nach der Geburt auf Licht und noch beträchtlich später auf Schall reagirt, glauben, dass die functionellen Reize für diese Sinnesorgane erst nöthig wären, um dieselben in functionsfähigen Zustand zu versetzen. Vielleicht auch müssen erst Nervenbahnen in den Centralorganen durch den Reiz für denselben wegsam ge - macht werden. Jedenfalls scheint es kein Unentwickeltsein in Folge Zeitmangels zu sein in der Weise, dass durchaus vierzig Wochen und einige Tage zur genügenden Ausbildung nöthig wären, denn dann müsste bei früh geborenen Kindern der Mangel sehr evident die entsprechende Zeit, zehn bis zwölf Wochen dauernd, hervortreten. Da dies nicht der Fall ist, so scheint es mir in der That annehmbar, dass den entsprechenden Theilen eine Vollendung in den feinsten Molecularverhältnissen fehlt, welche erst der functionelle Reiz hervorzubringen vermag.

Gehen wir nun nach dieser für ihren nothwendig hypo - thetischen Character etwas ausführlichen Betrachtung der quali - tativen Wirkung der Reize zur quantitativen, also vor -183IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.zugsweise gestaltenden Wirkung derselben über, um sie noch in einigen Eigenschaften kennen zu lernen, welche im vorigen Capitel beim Vergleich der eventuellen Leistungen durch den Reiz gekräftigter Processe mit den thatsächlichen Einrich - tungen der Organe nicht genügend erörtert worden waren.

Wir hatten gesehen, dass dem functionellen Reize eine die Assimilation stärkende Wirkung bis zur Uebercompensation des Verbrauchten zukommt und dass daher mit der Stärke oder Häufigkeit des Reizes auch seine stärkende Wirkung zunehmen müsse, womit ein Princip der zweckmässigsten quantitativen Selbstregulation der Organentwickelung gegeben war. Diese Selbstregulation wirkt in der Art, dass ein Organ durch stärkeren Gebrauch selber auch grösser und stärker und so zu grösseren Leistungen befähigt wird. Es ergiebt sich fernerhin auch, dass ein Organ, welches zur Assimilation des functionellen Reizes bedarf, bei vermindertem Gebrauch in seiner Ernährung sinken und eine Verkleinerung seines Volumens erfahren muss, welche eine höchst zweckmässige Materialersparniss darstellt. Dieses Geschehen ist aber an den Stoffwechsel gebunden und es ist morphologisch dabei einerlei, ob die Stoffzersetzung mehr oder weniger an die Function geknüpft ist, wie bei den Muskeln und Drüsen, oder etwa in einer gewissen Unabhängigkeit von ihr stattfindet, wie vielleicht bei den Stützsubstanzen. Von letzteren wissen wir eigentlich gar nichts darüber. Blos von den Knochen haben uns Kölliker und Wegner gelehrt, dass fortwährend durch besondere grosse Zellen, die Osteoblasten oder Myeloplaxen, Auflösung der Knochensubstanz an vielen Stellen des Organes stattfindet, während gleichzeitig an anderen Stellen durch andere Zellen, die Osteoblasten, Knochensubstanz neu gebildet wird, so dass also ein stetiger Stoffwechsel des Organes stattfindet; wenn er auch nicht, wie bei den Arbeitsorganen, innerhalb der Zellen sich vollzieht, sondern in gänzlicher Entfernung submacro -184IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.scopischer Theile und Neubildung an deren Stelle besteht. Ausserdem wissen wir, dass in der That bei Inactivität die Knochen schwächer werden, indem die einzelnen Bälkchen sich verdünnen und vermindern und so das ganze Organ schwächer wird. Eines der treffendsten Beispiele von Inactivitätsatrophie der Knochen bietet der vollkommene Schwund der Zahn - fortsätze der Kiefer nach dem Ausfallen der Zähne im Greisen - alter, durch welchen z. B. der Unterkiefer um bis 2 cm seiner Höhe erniedrigt und dadurch zu einer runden Spange von Bleistiftstärke reducirt wird. Diese Atrophie nun lässt sich in derselben Weise erklären, wie die Atrophie der Arbeitsorgane, indem bei Mangel des functionellen Reizes weniger oder kein Knochen neu gebildet wird, während die Knochenauflösung entweder dieselbe bleibt, oder nur weniger sich verringert. Welchen Gesetzen aber diese Knochenauflösung im Kampf der Osteoklasten gegen die Knochensubstanz folgt, an welchen Stellen sie stärker angreift, ob vielleicht an den Stellen, welche nicht mehr genügend durch den Reiz getroffen werden, oder an denen, welche schon lange fungirt haben, darüber ist nichts bekannt.

Ueber den Stoffwechsel und die physiologische Regenera - tion des Bindegewebes haben wir gleichfalls keine Kenntniss; aber vorkommende Atrophieen deuten auf einen Stoffwechsel des Gewebes hin, und es ist das Wahrscheinlichste, dass auch hier der Vorgang ähnlich wie bei den Knochen stattfindet, dass hier vielleicht die weissen Blutzellen normaler Weise, wie sie es bei der Entzündung pathologisch thun, die Fasern auflösen, während der verringerte functionelle Reiz die Bindegewebszel - len nur in zum Ersatze ungenügendem Maasse veranlasst, neue Fasern abzuscheiden.

Werden so alle Grössenverhältnisse in einer den physio - logischen Bedürfnissen entsprechenden Weise auf dem Wege185IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.der Selbstregulation ausgebildet, so geschieht das Gleiche in vielen Fällen durch dasselbe Princip mit den Gestaltver - hältnissen der Organe. Localisirt sich z. B. der Reiz vor - zugsweise an Einem Theile eines Organes, z. B. bei einer be - sonderen Bewegungsweise, an dem unteren oder oberen Rand eines Muskels, der aus Fasern von verschiedener Richtung be - steht, so werden sich die Muskelfasern blos an dieser Stelle vermehren, während vielleicht am entgegengesetzten Rande durch den geringen Gebrauch eine Atrophie stattfindet, wodurch dann die ganze Gestalt des Organes mit der Zeit eine Umän - derung erfährt. Dieses könnte z. B. vorkommen, wenn durch embryonale Variation die Gelenkenden eines Knochens eine die Bewegungsweise alterirende Aenderung der Gestalt erfahren haben; und umgekehrt kann das Gleiche an den Knochen stattfinden, wenn durch embryonale Variation die Muskelanord - nung verändert worden ist; denn es werden dann durch den anders wirkenden Druck der Muskeln bei der Thätigkeit die Gelenkenden entsprechend umgeformt werden. Das gleiche Schicksal muss dabei den zugehörigen Gelenkbändern zu Theil werden, und auch die Fascien müssen, entsprechend dem an - deren Zug, eine andere Structur erhalten. Als ein eclatantes Beispiel derartiger Umformung der Knochen erinnere ich an die Gestalt des Klumpfussskeletes; hier zeigen sich sämmt - liche Knochen der Fusswurzel und des Mittelfusses beträchtlich den neuen Verhältnissen entsprechend verändert. 1)Die Anschauung dieses Verhaltens verdanke ich Herrn Prof. W. Braune, welcher die Güte hatte, mir ein ausgezeichnetes Exemplar zur Untersuchung zu überlassen.Eine gleiche Umänderung der Gestalt des Organes durch ungleichmässige Inanspruchnahme seiner Theile musste im Gehirn stattfinden, wenn in besonderen Partien desselben durch besonders starken Gebrauch die eingelagerten specifischen Elemente zur Vermeh -186IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.rung angeregt und so die betreffende Gegend vor den anderen vergrössert wurde, nur dass hier der Process jedenfalls sehr langsam vor sich gegangen sein wird, so dass erst nach einer viele Generationen hindurch fortgesetzten Aenderung des Ge - brauches die Aenderung der Gestalt bemerkbar wurde, während dagegen bei den Muskeln und Knochen die Aenderung schon im Laufe weniger Jahre, ja bei kleinen Thieren schon in we - nig Monaten in erkennbarer Weise sich ausbildet, wenn durch künstliche oder pathologische Eingriffe eine Aenderung der Bewegung erzwungen worden ist.

Ob ungleiche Vertheilung der Function auch in den drü - sigen Organen stattfindet, ist nicht bekannt und blos in dem Falle wahrscheinlich, dass zuvor durch embryonale Variation ungleiche Qualitäten aufgetreten sind. Ich glaube daher, dass die Gestaltänderung dieser Organe bei der Activitätshypertro - phie vorzugsweise durch ungleiche Widerstände bedingt sind.

Aber nicht blos die äussere Gestalt, sondern auch die innere Structur kann durch dasselbe Princip der Stärkung durch den Reiz beeinflusst und direct auf das Zweckmässigste gebildet werden, insofern der Reiz selber bestimmte Gestalt besitzt oder anzunehmen bestrebt ist. Am erkennbarsten wird dies bei denjenigen Theilen, welche eine statische Function haben, da hier der Reiz bestimmte Formen annimmt, welche uns die graphische Statik erkennen lehrt. Jeder weiss, dass der Druck sich in einer gebogenen oder schief belasteten Säule nicht im ganzen Querschnitt gleichmässig vertheilt, und dass er sich längs gewisser Linien fortpflanzt. Diese Linien werden bestimmt von der eigenen Gestalt des Gebildes, sowie von der Lage und Gestalt der Fläche, auf welche der Druck zunächst übertragen wird. In der gleichen Weise muss sich der Druck auch in den Knochen innerhalb gewisser Linien am stärksten fortpflanzen, und die in diesen Richtungen liegenden knochen -187IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.bildenden Zellen (Osteoblasten) werden also am stärksten von dem Reize zur Knochenbildung getroffen und daher am stärk - sten knochenbildend thätig sein. Daraus ergiebt sich, dass diese Linien selbst bei gleichmässiger Vertheilung der Resorp - tion durch die Osteoklasten am meisten hervortreten müssen. Und es kommt ferner dazu, dass, wenn diese Linien genügend fest durch Knochensubstanz ausgebildet sind, sie den anderen Stellen den Druck entziehen, so dass nach der Resorption an diesen Stellen kein Knochen wieder gebildet werden kann. Unterbrechen ferner, wie wohl öfter vorkommen mag, die Osteo - klasten die Drucklinien, so wird sich der Druck auf andere benachbarte Partikel vertheilen und diese werden nun in Folge stärkeren Reizes stärker werden. Also auch in dem eigenartigen, mit gänzlicher Zerstörung der geformten Theile einhergehenden Stoffwechsel der Knochen muss sich immer wieder die den statischen Drucklinien entsprechende Structur ausbilden, wie es denn auch thatsächlich und zwar selbst in ganz neuen Ver - hältnissen, bei schief geheilten Knochenbrüchen etc. geschieht.

Auf dieselbe Weise finden auch die von Grossmann und J. Wolff als beim appositionellen Knochenwachsthum nöthig aufgewiesenen inneren Structurumwälzungen ihre Erklärung. Diese Autoren wandten gegen die Theorie vom rein appositionel - len Knochenwachsthum ein, dass bei demselben während des Wachsthums der Knochen zur fortwährenden Erhaltung immer derselben statischen Structur der Spongiosa fortwährende innere Umwälzungen unter Resorption und Neubildung stattfinden müs - sen, deren die Ausführung bestimmende Momente bisher allerdings gänzlich unbekannt waren. Nach dem hier dargelegten Prin - cipe der functionellen Selbstgestaltung der functionellen, in specie » statischen « Structur ergiebt sich von selber, das jeder Knochen während des Grösserwerdens immer von neuem die - selbe Structur in grösserem Maassstabe unter Auflösung und188IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.Anbildung erzeugen muss, so lange seine äussere Gestalt der früheren im mathematischen Sinne » ähnlich « bleibt und die Be - lastungsweise keine Aenderung erfährt. Das ist jetzt ebenso selbstverständlich, wie sich bei Aenderung dieser Verhältnisse die der neuen Druckvertheilung entsprechende Structur von selber ausbilden muss.

Es ist vielleicht nicht überflüssig, in einem solchen letzteren Falle, etwa bei einem Knochenbruche, den ganzen Vorgang nach unserer Auffassung durch zu denken. Durch die Zusammen - hangstrennung eines Knochens, auch wenn sie ohne Verletzung der Haut und ohne Zertrümmerung des Knochens an den Bruch - enden erfolgt, werden an der Bruchstelle die Osteoblasten der inneren und äusseren Knochenhaut, (des Endost und des Periost) und der den Knochen durchziehenden Haversischen Kanäle fortwährend kleinen Bewegungsinsulten ausgesetzt, wofür sie, die fest an den Knochen geschmiegt in fast absoluter Ruhe zu leben gewohnt sind, höchst empfindlich sein werden. Da mecha - nische Reize bei ihnen trophisch anregend wirken, so beginnen sie eine sehr ungestüme Vermehrung mit allmählich nachfol - gender, gegen die Bewegung schützender Knochenabsonderung, welche letztere zunächst so lange andauern wird, bis dieser Schutz ein genügender ist, bis die Ruhe wieder hergestellt ist, oder eventuell bis die knochenbildende Kraft erschöpft ist, was bei geschwächten Individuen nicht selten vor der neuen Con - solidirung stattfindet. Die Ruhe ist wieder hergestellt, wenn eine continuirliche, genügend dicke Knochenmasse beide Bruch - enden wieder verbindet. Ist dies geschehen, so werden die Verhältnisse mit einem Male andere; die fremden Reize hören auf und die einzigen Reize sind wieder die statischen, welche sich durch den Druck der alten Knochentheile in bestimmten Richtungen in die neugebildete Reactionsmasse fortpflanzen. Und es wird blos innerhalb dieser Drucklinien in Zukunft nach189IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.der Resorption wieder Neubildung stattfinden, so dass sich all - mählich die den neuen Verhältnissen entsprechende statische Structur ausbildet, während die übrige Kallusmasse und die etwaigen überstehenden Knochenenden mit der Zeit mehr und mehr resorbirt werden.

In ähnlicher Weise wird sich die Ausbildung der statischen Structur an den Sehnen, Aponeurosen, Bändern und Fascien und an dem Trommelfell vollzogen haben, indem gleichfalls diejenigen Zellen, welche am meisten von dem in bestimmten festen Richtungen am stärksten wirkenden Reiz, dem Zug, getroffen werden, am meisten Intercellularsubstanz abscheiden, und nach genügender Abscheidung den in anderen Richtungen liegenden Fasern den Reiz gänzlich entziehen, so dass sie nach ihrem physiologischen Schwund nicht wieder von neuem gebil - det werden können. Um es noch im Einzelnen auszuführen, so müssten in den Fascien und im Trommelfell, da sie nach verschiedenen Richtungen dem Zug unterworfen werden, im Laufe der Generationen blos die beiden Richtungen, welche am meisten in Anspruch genommen werden und auf welche sich auch alle anderen zerfällen lassen, als die alleinig insubstan - tiirten sich ausbilden, denn selbst bei ursprünglich verwirrter Faseranlage mussten diese Richtungen durch stärkere Reizung der in ihnen liegenden Zellen hypertrophisch werden, wonach sie allen Richtungen, welche schief zu ihnen liegen, mit der Grösse des Cosinus dieses Winkels den lebenerhaltenden Reiz entzogen und ihre Regeneration unmöglich machten. Zwei solche in geeigneten Richtungen zu einander stehende Componenten in einer Fläche werden, wenn sie genügend stark gestützt sind, alle anderen Richtungen vollkommen entspannen, und es müssen daher in allen flächenhaften Gebilden die Richtungen der beiden stärker in Anspruch genommenen Componenten schliesslich die alleinig insubstantiirten bleiben, indem sie alle anderen Rich -190IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.tungen durch Reizentziehung im Kampf der Theile besiegen. Es findet also dasselbe statt, wie bei den Knochen innerhalb dreier Dimensionen.

Die Thatsache des Vorkommens dieser Reducirung in vielen Richtungen stattfindender Wirkungen auf die am stärksten in Anspruch genommenen Componenten, diese höchst zweckmässige Zerlegung, welche wiederum etwas von selber ausgebildet zeigt, was die angewandte Physik erst seit relativ kurzer Zeit er - kannt und dargestellt hat, halte ich für eines der wichtigsten und unumstösslichsten Beweismittel für die von mir aufgestellte Reizhypothese und habe sie daher oben in dieser Weise ver - wendet. Die Beweiskraft liegt darin, dass die bezüglichen Bil - dungen unendlich vielgestaltig sind und trotzdem durch die aufgestellte Hypothese ihre vollkommenste Erklärung finden.

Wie viel Generationen aber zur Ausbildung einer so voll - kommenen Reduction auf zwei Componenten nöthig gewesen sind, kann natürlich erst beurtheilt werden, wenn wir durch Beobachtungen in neuen pathologischen Verhältnissen festge - stellt haben, wie gross die individuelle Anpassungsbreite in dieser Beziehung ist. Es darf aber nicht unerwähnt bleiben, dass wenigstens Andeutungen solcher Faserordnungen nach den constanten Richtungen stärksten Zuges bei diesen weichen Bil - dungen des Bindegewebes auch aus verwirrter Anlage, blos durch wiederholte Wirkung dieses Zuges auf dem Wege ein - facher mechanischer Umordnung hätten entstehen können.

Bei denjenigen bindegewebigen Organen, welche wie die Haut und die Gelenkkapseln abwechselnd in verschiedener Richtung in stärkster Weise in Anspruch genommen werden, konnte natürlich eine derartige Zerfällung auf zwei Compo - nenten nicht stattfinden, und es musste eine verwirrte Faseran - lage bestehen bleiben. Wenn aber trotzdem einige Richtungen wiederum vorzugsweise in Anspruch genommen wurden, so191IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.musste auch in diesen Richtungen die Faserung vorzugsweise zur Ausbildung gelangen, wie wir das in der Haut auf der Streckseite der Gelenke sehen.

Die Wirkung der stärkeren Activitätshypertrophie in den stärker gebrauchten Richtungen und der ihr folgenden Reizent - ziehung und Inactivitätsatrophie der weniger gebrauchten Rich - tungen beschränkt sich nicht blos auf Ausbildung des inneren Structurdetails der Organe, sondern sie erstreckt sich auch auf die Ausbildung der Lage und Gestalt ganzer binde - gewebiger Organe und ihre Producte tragen auch hier wieder den Charakter höchster Zweckmässigkeit.

Denken wir uns z. B. die Harnblase als eben phylogene - tisch neu entstandenes kleines Organ in der Wirbelthierreihe und als solches nur durch ein wenig Bindegewebe, in welchem keinerlei Sonderung von Faserzügen zu unterscheiden ist, an der vorderen Bauchwand befestigt. Wenn nun dieses Organ längere Zeit bestehen bleibt und wächst, so werden in der befestigenden gleichartigen Bindegewebsschicht allmählich Diffe - renzirungen eintreten, welche davon herrühren, dass der Zug des Organes und seines Inhaltes in manchen theils von der gewohnten Haltung des Thieres, theils von den Configurations - verhältnissen der Umgebung abhängigen Richtungen und an manchen Stellen stärker wird. Indem an diesen am stärksten in Anspruch genommenen Stellen das befestigende Gewebe hyper - trophirt, wird das umgebende und zwischenliegende Gewebe mehr und mehr entspannt und demgemäss atrophiren, genau wie vorhin in den kleineren Verhältnissen innerhalb der Organe. Sobald die bevorzugten Stellen stark genug sind, um den Zug allein auszuhalten, ist die Umgebung derselben ganz entspannt und wird ganz atrophiren, sodass die verstärkten Theile jetzt als discrete Bänder erscheinen. Diese Discre - tion wird um so stärker ausgeprägt sein, je constanter die Rich -192IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.tungen des Zuges sind, je weniger also durch Wechsel des Zuges die Umgebung wieder mit benutzt wird; so sehen wir an den accessorischen Gelenkbändern die Sonderung von der Umgebung so vollkommen scharf ausgebildet, dass sie geradezu glänzende Oberfläche haben, während dies bei den Bändern der Harnblase, entsprechend der vielfach wechselnden Zugrichtung, natürlich nicht der Fall ist. Mit demselben Umstand der mehr oder min - der grossen Constanz der Zugrichtung bildet sich, wie oben erwähnt, auch mehr oder weniger einheitliche Faserrichtung aus.

So führt dieses selbe Princip der trophischen Wirkung des functionellen Reizes im Kampf der Theile beim Bindegewebe, ausser zur Ausbildung der zweckmässigsten innern Structur, noch zur Ausbildung das Stärkste leistender discreter Organe an den leistungsfähigsten Stellen. Damit will ich aber nicht die Be - hauptung aufgestellt haben, dass alle Bänder auf diesem Wege der functionellen Selbstgestaltung entstanden seien; vielmehr wird die Anlage wohl manches Mal durch embryonale Variation nach Darwin stattgefunden haben und erst secundär die vor - handene Gestalt und die durchgehende Faserrichtung durch functionelle Anpassung ausgebildet worden sein. Dies scheint mir z. B. für die Ligg. coracoacrom., sacrospinos. und sacro - tuberos. der Fall gewesen zu sein. Entscheiden kann in diesen Fragen nur die eingehendste vergleichend-anatomische Unter - suchung; denn wo uns diese die Verhältnisse der ersten An - fänge derartig aufweist, dass sie durch functionelle Selbstge - staltung hätten hervorgebracht werden können, so werden wir keinen Anstand nehmen, sie ihr auch zuzuschreiben.

Auch bei den Knochen entstehen grössere Gestalt - verhältnisse als die statische Anordnung der Spongiosa aus denselben Principien. Da bei tragenden Säulen die äusseren Theile mehr zu tragen haben, so werden auch beim Knochen die äusseren Theile mehr zur Activitätshypertrophie angeregt193IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.werden und so den Knochen verdicken. In dem Maasse aber, als der Knochen sich aussen verdickt, werden die inneren Theile entlastet, sodass schliesslich im Innern durch Inactivi - tätsatrophie gänzlicher Schwund der Knochensubstanz entsteht, welcher zur Röhrenbildung führt. Es ist somit ein Princip ge - geben, den Knochen immer nach aussen hin zu verdicken und innen auszuhöhlen und dadurch mit immer weniger Knochen - substanz das Höchste an Festigkeit zu leisten, denn je grösser der Durchmesser einer hohlen Säule ist, um so weniger dick braucht ihre Wandung zu sein. Wenn wir nun auch nicht wissen, warum die derartige äussere Zunahme der Röhren - knochen nicht stetig fortschreitet, sondern ihr bestimmtes Ende findet, bei Säugethieren früher, bei Vögeln später, so muss doch der Vorgang selber auf die angegebenen Ursachen zurück - geführt werden. Und es ist kein Grund vorhanden, das Gesagte blos von den Röhrenknochen gelten zu lassen, sondern in gleicher Weise werden die Höhlungen im Stirnbein, im Ober - kieferbein, im Wespenbeinkörper, im Siebbeinlabyrinth und im Zitzenfortsatz des Schläfenbeines ihre dynamische Erklärung finden, wenn uns auch hier wieder die Ursache der Abgren - zung des Processes unbekannt ist. Welches Gewebe der Atro - phie nachfolgt und den freien Raum einnimmt, ob sich Knochen - mark bildet, wie in den Röhrenknochen, oder ob angrenzende Epithelien nachwachsend den Raum auskleiden, wie in den er - wähnten Höhlungen der Schädelknochen, oder ob dies wie bei den Vögeln durch Auswüchse der Lungen geschieht, wird jedenfalls durch accessorische Momente bestimmt, deren Er - klärung an dieser Stelle Niemand verlangen wird.

Auf dem Wege der Selbstgestaltung unter Reizeinwirkung entstehen wohl auch noch allenthalben an Stellen, wo grosse Verschiebungen benachbarter Organe gegeneinander stattfinden, durch Ueberdehnung und nachfolgende Atrophie des lockerenRoux, Kampf der Theile. 13194IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.Bindegewebes die Höhlungen der Schleimbeutel und Sehnen - scheiden. Dagegen ist wohl die Entstehung der Pleuroperitonaeal - höhle und noch mehr des Subduralraumes auf embryonale Variation zurückzuführen. Nicht blos der Schwund, sondern auch überhaupt die quantitative Ausbildung des lockeren Binde - gewebes, welche allenthalben z. B. zwischen benachbarten Muskeln genau dem Grade der vorkommenden Dislocation gegen - einander entspricht, kann als durch functionelle Selbstgestaltung hervorgebracht aufgefasst werden, da sie sich stets genau den individuellen Verhältnissen, wie sie durch Berufsthätigkeit etc. bedingt sind, angepasst zeigen. Sie brauchen und können daher nicht als durch beliebige Variation und Auslese des Zweck - mässigen nach Darwin entstanden angenommen werden.

Als Wirkung gestaltenden Reizes muss ferner die Ge - staltung des Lumens der Blutgefässe aufgefasst werden, welche, wie ich beschrieben habe, die Gestalt eines frei aus der runden seitlichen Oeffnung eines durchflossenen Rohres aus - springenden Flüssigkeitsstrahles darstellt. Ich zeigte, dass diese fein characterisirten Bildungen nur entstehen können, wenn die Blutgefässwandung, insbesondere die Intima (die innerste Haut), welche ja keine Gefässe hat, so dass also schon aus diesem Grunde die ernährenden Gefässe bei der Entstehung dieser Einrichtungen gar nicht hätten mitwirken können wenn die Intima die wunderbare Fähigkeit hat, allein dem kräftigen Seitendruck der Flüssigkeit Widerstand zu leisten, dagegen jedem Anprall von Flüssigkeitsstrahlen, auch den unmessbar feinsten, also jedem einseitig wirkenden Druck, vollkommen nachzugeben. Von einer mechanischen Selbstgestaltung durch den Flüssigkeitsstrahl kann hier nicht die Rede sein, da es unmöglich ist, dass eine Substanz, welche in gewissen Rich - tungen einen Druck von mehreren hundert Gramm, ohne im geringsten nachzugeben, auszuhalten vermag, in der dazu senk -195IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.rechten Richtung einem Druck von Milligrammen nachgeben sollte. Wir müssen hierfür schon an die Eigenschaften lebender Substanz appelliren; aber bei Annahme dieser von uns sup - ponirten, allerdings zur Zeit unverständlichen Eigenschaft, wie wir ja überhaupt die organischen Qualitäten noch nicht verstehen bei Annahme dieser Qualität ergeben sich dann alle die im ersten Kapitel erwähnten verschiedenen Gestaltungen der Blutgefässe in allen Theilen des Körpers von selbst.

Bei den Arbeitsorganen: Muskeln, Drüsen, Gan - glienzellen und Nerven, ist uns über eine bestimmte Form, in welcher der Reiz sich zu verbreiten strebt, und welche er daher den Gebilden, in welchen er sich verbreitet, zu verleihen tendirt, nichts Sicheres bekannt. Aber vermuthungsweise könnte man annehmen, dass aus solchem Grunde vielleicht die Nerven cylindrisch, im ganzen Verlauf gleich dick und im Querschnitt rund sind, und möglichst gerade, nie geschlängelt verlaufen, so dass Biegungen nur vorkommen, wenn sie durch äussere Verhältnisse erzwungen werden. Denn auch chemische Processe werden, wenn sie eine Richtung haben, dem Gesetz der Träg - heit folgen und die Richtung nicht ohne besondere Ursache ändern. Warum aber die sympathischen Fasern bandförmig sind, das vermögen wir nicht abzuleiten. Ebenso könnte man für die kugelige oder spindelförmige Gestalt der Ganglienzellen mit konischem Uebergang von und zu den Nerven vermuthen, dass dies durch die Ausbreitungsformen der Erregung bedingt sei. Aber es lassen sich bei unserer Unkenntniss der Verhält - nisse ebenso gut andere Vermuthungen darüber aufstellen.

Aber bezüglich der Verbindung der Ganglienzellen zu Zu - sammenordnungen (Coordinationen) der Gedanken und der Be - wegungen scheint der Reiz von direct gestaltendem Einfluss zu sein. Nach der heutigen Auffassung der Physiologie stellen wir uns die Zusammenordnung der seelischen Einzeleindrücke13*196IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.zu Gedanken und der Muskelfasern zu Bewegungen vor als vermittelt durch fadenförmige Verbindungen der Ganglienzellen, welche letzteren der Sitz der Einzel-Innervationen seien. In dem reichen angeborenen Fadennetz zwischen den Ganglien - zellen kann nun der Reiz Fäden ausbilden, gangbarer machen und so die betreffenden Ganglienzellen und ihre Functionen in festeren Zusammenhang bringen, sodass letztere leichter zugleich oder nach einander ablaufen. Das ist die Art, wie wir uns gegenwärtig den Vorgang der Uebung, so weit er in den Cen - tralorganen abläuft, vorstellen müssen.

Etwas evidenter ist die gestaltende Wirkung an den Muskeln, am wenigsten noch an den quergestreiften. Da in diesen letzteren, wie im vorigen Kapitel erwähnt, die Quer - streifung nach Durchschneidung des dem Muskel zugehörigen Nerven undeutlich wird, so scheint es, dass der Reiz zugleich eine polarisirende Wirkung auf die Disdiaklasten (Fleischprismen in der Muskelfaser) ausübt, und dass er so die Ordnung der - selben in Quer - und Längsreihen aufrecht erhält. Auch für andere Formverhältnisse der Faser kann der Reiz noch be - stimmend wirken; da ich indessen darüber eine Specialunter - suchung begonnen habe, so verzichte ich an dieser Stelle auf weitere Mittheilungen.

Bei den aus glatten Muskelfasern bestehenden Ge - bilden zeigt sich bestimmt eine Gestaltung, welche in Beziehung zur Wirkung des functionellen Reizes, sowie zur Funktion selber stehen. Zur Erklärung der bezüglichen Bildungen muss näm - lich angenommen werden, dass zur Erhaltung der glatten Muskeln nicht blos der functionelle Reiz, sondern auch die Function selber, die active Ueberwindung eines Widerstandes unter Verkürzung nöthig ist. Ein Umstand, der wohl von ana - tomischer Seite nicht bestritten werden wird, da jeder Anatom weiss, dass überall da, wo durch Entwickelungsänderung diese197IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.Gelegenheit geschwunden ist, auch die Muskeln schwinden. So sagt z. B. Henle1)J. Henle, Handb. der syst. Anatomie, Muskellehre p. 13 u. 16.: » Es ist eine bekannte anatomische Thatsache, dass Muskeln zu Bindgewebe entarten, wenn die Theile, zwischen welchen sie ausgespannt sind, unbeweglich werden. « Die glatten Muskelfasern nun haben bekanntlich keine bestimmten Ursprungs - und Ansatzpunkte, welche der Faserung bestimmte Richtungen ertheilen, sondern sie bilden Häute, in welchen sie eigentlich beliebig durch einander liegen könnten. Das ist aber nicht der Fall, sondern sie liegen, wie in Capitel I erwähnt, in den verschiedensten Organen, in denen sie vorkommen, immer blos in den Richtungen der stärksten Leistungsfähigkeit, und es spricht sich darin wieder die Re - duction auf die kräftigsten Componenten aus. So sahen wir in den cylindrischen Hohlorganen, dem Darm, den Harnleitern, den Samenleitern, den Blutgefässen etc., blos Quer - und Längs - muskelfasern, deren Entstehung wir abweichend von den be - sprochenen ähnlichen Verhältnissen der bindegewebigen Organe hier bei der Activität der Theile auf die Weise ableiten können, dass aus einer verwirrten Anlage diejenigen Fasern, welche in diesen Richtungen lagen, am meisten Gelegenheit zur Verkürzung und der Ueberwindung von Widerständen fanden und dem ent - sprechend den schief dazu gelagerten Fasern die Gelegenheit zur Thätigkeit benahmen. An den blasenförmigen Organen, wie der Harnblase und Gallenblase, welche blos in einer be - stimmten Richtung, gegeben durch die Abflussöffnung, einen locus minoris resistentiae darbieten, gegen welchen hin die stärkste Verkürzung möglich ist, haben wir Faserzüge, welche von diesem Orte aus meridional das Organ überziehen. Indem diese in der Function bevorzugte Richtung durch die Ab - fuhröffnung bestimmt gegeben ist, beraubt sie bei gehöriger materieller Unterstützung alle schief zu ihr liegenden Faserzüge198IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.der Thätigkeit um den Cosinus dieses Winkels, so dass blos die senkrecht dazu vorhandenen, also in Parallelkreisen das Organ überziehenden die nach ihr leistungsfähigsten sein mussten. Diese beiden aus diesen Gründen vorzugsweise ausgebildeten Fasern waren im Stande, die Fasern aller anderen Richtungen zu entspannen und damit dem Schwunde anheimzugeben.

Bei der Gebärmutter, welche beim Menschen nur relativ selten zur Contraction gelangt, können wir vielleicht die weniger vollkommen durchgeführte Anordnung auf diesen Umstand seltner Functionirung zurückführen, abgesehen von den Aenderungen, welche die seitliche Einmündung zweier Kanäle hervorbringt. Bei Säugethieren, welche, wie Kaninchen und Mäuse, ihre Ge - bärmutter mehr in dieser Weise gebrauchen, schien mir auch die Faserordnung vielmehr unseren Regeln zu entsprechen. Ich will gleich noch an dieser Stelle hinzufügen, dass ich geneigt bin, die rasche Atrophie der Muskelsubstanz der ver - grösserten Gebärmutter nach der Ausstossung des Kindes, welche das Organ in 14 Tagen um seines Gewichts verkleinert oder nach Ausstossung einer grossen Geschwulst als eine Folge der eingetretenen Entspannung aufzufassen; denn wenn bei diesem Organ schon eine Vergrösserung des Inhaltes durch Spannung zur Hypertrophie Veranlassung giebt, so kann auch die voll - kommene Entspannung nach der Entleerung des Inhaltes eine genügende Ursache zur Atrophie abgeben. Jedenfalls glaube ich nicht, dass die letztere eine Folge plötzlicher, mit der Aus - stossung eingetretener Anaemie ist, da die Ursache einer spastischen Verengerung der Gefässe unverständlich wäre und ohne Spasmus der Gefässmuskeln eine so plötzliche Verringerung der Blutzufuhr aus haemodynamischen Gründen nicht ableitbar ist. Im Gegentheil wird die Spannung der Blutsäule bestrebt sein, die einmal vorhandenen Bahnen in der Erschlaffung der Gebärmutter wieder, wie früher, zu füllen.

199IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.

Was die Drüsen angeht, so sind wir bei diesen Organen gänzlich ohne Kenntniss über etwaige gestaltende Wirkung ihres functionellen Reizes. Dies fällt mir um so schwerer zu be - kennen, als die Frage nach der Ursache der inneren Gestaltung eines dieser Organe, der Leber, die Veranlassung derjenigen Untersuchungen gewesen ist, deren Resultate ich in dieser Schrift dem Leser vorgelegt habe. Es war die Frage nach der Ursache des eigenthümlichen Verhaltens, dass der Schlauchtypus in der Anordnung der Leberzellen, welcher bei allen anderen Wirbelthierklassen vorhanden ist, bei den Säugethieren zu dem von Hering1)Wiener Sitzungsber. Bd. 54. 1866. und Kölliker2)A. Kölliker, Gewebelehre des Menschen. 1867. p. 425 ff. beschriebenen Fachwerktypus in der Anordnung der Zellen umgebildet ist. Ich glaube aber, dass trotz unseres gegenwärtigen Unvermögens die von mir auf - gestellten Principien dereinst zu einer Erklärung dieses schwie - rigen morphologischen Problemes werden führen können, wenn erst der ontogenetische und der phylogenetische Entstehungsmodus genauer erforscht sein wird, obgleich schon ein wesentlicher Anhaltepunkt durch die ausgezeichnete Arbeit von Toldt und Zuckerkandl3)Wiener Sitzungsber. 1875. dazu gegeben worden ist. Vielleicht ist es mir verstattet, an dieser Stelle die Bitte um eventuelle Zu - sendung von Stücken frisch in absoluten Alkohol oder in Müller’sche Lösung eingelegter Lebern niederster Säugethier - formen aussprechen zu dürfen und die geehrten Geber im Voraus meines Dankes und meiner Bereitwilligkeit zu jedem möglichen Gegendienste zu versichern.

Endlich ist bei der Schilderung der gestaltenden Wirkungen der functionellen Reize noch darauf hin zu weisen, dass auch die von uns sogenannte dimensionale Hypertrophie, die aus - schliessliche Vergrösserung der die Stärke der Function be -200IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.stimmenden Dimensionen der Organe bei der Activitätshyper - trophie, jedenfalls hierher zu zählen ist.

Die Zeiträume, innerhalb welcher die Selbstgestaltung der geschilderten Verhältnisse unter der Einwirkung der functio - nellen Reize stattgefunden hat, vermögen wir gegenwärtig grösstentheils nicht zu beurtheilen und es ist möglich, dass zu manchen Bildungen Hunderte oder Tausende von Generationen beigetragen haben. Nur für das Knochengewebe sahen wir, dass sie schon innerhalb des individuellen Lebens in erkenn - barer Weise sich ausbilden können. Die nöthigen Zeiträume sind für die verschiedenen Gewebe jedenfalls sehr verschieden; so wird es vielleicht unvergleichlich längere Zeit gedauert haben, bis die dynamische Anordnung der glatten Muskelfasern sich ausgebildet hat, als die geschilderte Structur der Sehnen - häute.

Man könnte nach dem Vorstehenden vielleicht vermuthen, ich sei der Meinung, dass im Grunde alle Bildungen durch Selbstgestaltung unter Einwirkung des functionellen Reizes ent - standen seien und durch letzteren am Leben erhalten werden müssten, und es bliebe nun zu erklären, woher die gestal - teten und somit gestaltenden Reize kommen sollten, wenn alle Gestaltung erst durch den Reiz entstünde. Es ist aber bereits oben bei der Betrachtung der qualitativen Reizwirkung hervorgehoben worden, dass die Theile unter die Herrschaft des Reizes erst nachträglich durch die dauernde oder wieder - holte Einwirkung der Reize gekommen sein können und viel - leicht auch in der Ontogenese gegenwärtig noch kommen, in - folge dessen Theilen, welche derartigen Reizen nicht oder blos sehr selten unterliegen, überhaupt keine Abhängigkeit von Rei - zen zugeschrieben werden kann. Die Erfahrung lehrt, dass die Anpassungsfähigkeit des Menschen, seine Fähigkeit zu lernen und sich an Einwirkungen zu gewöhnen, in der Jugend201IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.am grössten ist und mit zunehmendem Alter qualitativ und quantitativ abnimmt. Zugleich wird auch die sogenannte Rege - nerationsfähigkeit desselben, freilich erst im höheren Alter successive schwächer. Diese Erscheinungen finden bei unserer Auffassung des Lebens der Theile ihre vollkommene Erklärung. Indem nämlich unter der Einwirkung der Reize eine Züchtung entsprechender Reizsubstanzen und Reizformen stattfindet, geht die embryonale Indifferenz und selbständige Erhaltungsfähig - keit der Theile mehr und mehr verloren. Der Organismus wird durch längere Zeit hindurch fortdauernde Einwirkung bestimmter Reize immer vollkommener an dieselben angepasst, also diffe - renter und damit stabiler, sodass nachträglicher Umbildung zu neuen Eigenschaften und Formen ein immer grösseres Hinder - niss entgegen steht; denn das Indifferente wird natürlich leichter zu einer einseitigen Beschaffenheit sich unter Verlust seiner Vielseitigkeit ausbilden, als ein entschieden Differentes, ein - seitig Beschaffenes zu einem anders Beschaffenen sich umbilden kann. Da ferner die Ausbildung des Reizlebens mit dem Ver - lust der embryonalen selbständigen Vermehrungsfähigkeit ver - bunden ist, so wird damit auch die sog. Regenerationsfähigkeit successive verringert, worüber ich in einer experimentellen Arbeit Genaueres festzustellen beabsichtige.

Es ist oben dargelegt worden, dass diejenigen Gewebs - differenzirungen, welche ursprünglich die Vorfahren durch be - stimmte Reize erfahren haben, im Embryo ohne Reizeinwirkung entstehen können und wahrscheinlich grösstentheils entstehen. Dasselbe, wie für die Gewebsdifferenzirungen, musste auch für die formale Differenzirung gelten. Ursprünglich durch functio - nelle Anpassung Erwachsener erworbene formale Eigenschaften können im Embryo ohne diesen functionellen Reiz ausgebildet werden, und sich in der Jugendperiode ohne solche Thätigkeit, oder bei einem Minimum derselben, infolge der vererbten Eigen -202IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.schaften mehr oder minder vollkommen weiter ausbilden und sich eine Zeit lang erhalten. Aber allmählich werden sie beim Ausbleiben der Functionirung atrophiren und im Laufe von Generationen mehr und mehr individuell und auch in der Ver - erbung schwächer werden und schliesslich schwinden.

Daraus ergiebt sich, dass auch überschüssig gebildete em - bryonale Substanzen, wie sie Cohnheim 1. c. für die Ge - schwulstkeime annimmt, ihre embryonale Eigenschaft selbstän - digen Wachsthums behalten können, da sie entweder zufolge ihrer falschen Lage vor der Einwirkung der functionellen Reize geschützt sein können, oder, wenn dies nicht der Fall, infolge ihres Zurückgebliebenseins auf die später einwirkenden functio - nellen Reize nicht genügend reactionsfähig sind, um durch die - selben in absolute Abhängigkeit von ihnen gebracht zu werden.

So können vielleicht überschüssig gebildete, oder durch sonst einen Zufall von der Oberfläche abgeschnürte embryonale Epithelzellen durch ihr Entferntsein von der Oberfläche und von der Einwirkung des Oberflächenreizes ihre embryonalen Eigenschaften bewahren. Und es ist denkbar, dass auch nicht überschüssig gebildete Substanzen, wenn sie durch eine falsche Bildung in der Nachbarschaft vor dem functionellen Reize be - wahrt bleiben, infolge des verfehlten Anschlusses an die Function ihre embryonalen Eigenschaften behalten; so etwa embryonale Knorpel - oder Knochentheile, welche durch eine falsche Bildung in der Nachbarschaft entspannt oder entlastet worden sind.

Es muss noch ein Unterschied hervorgehoben werden, welcher in der Entstehung von Aenderungen durch embryonale Variation und durch functionelle An - passung nothwendig vorhanden sein muss. Die formalen Um - bildungen, welche auf dem Wege der Aenderung des Gebrauchs entstehen, sind von dem Ausgangspunkt der Veränderung nur nach und nach und immer nur nach gewissen Richtungen hin203IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.möglich. So konnten z. B. die inneren Gelenkbänder, die Ligg. cruciata des Kniegelenks und das Lig. teres des Hüftgelenkes, wenn sie, wie es für letzteres nach den Untersuchungen von Welcker1)Welcker, Zeitschr. für Anatomie von His u. Braune, Bd. I u. II. wahrscheinlich ist, durch functionelle Anpassung erworben worden sind, nur durch allmähliche Ausbildung der Gelenkkapsel nach innen bei ganz bestimmter, dies gestattender Anordnung der das Gelenk bewegenden Muskeln entstehen; ihre gegenwärtige vollkommene Selbständigkeit wäre demnach erst eine secundäre, durch weitere Veränderungen der äusseren Verhältnisse des Muskelapparates erworbene.

Die Aenderungen durch embryonale Variation dagegen, welche nicht durch den functionellen Reiz, sondern durch mini - male Aenderungen chemischer Qualitäten oder auf sonstige uns unbekannte Momente hin entstehen, können eigentlich, so viel wir es zur Zeit zu beurtheilen vermögen, nach jeder Richtung hin erfolgen und von jedem Standpunkt aus beliebige neue Formen hervorbringen. So könnte sie z. B. auf einmal ein mitten im Gelenk gelegenes, vollkommen von der Wandung freies Lig. teres hervorgehen lassen, ebenso wie sie auf einmal einen ganz neuen Muskel, etwa einen Abductor dig. V longus am Vorderarm hervorbringt. Sind nun aber solche embryonale Variationen entstanden, so werden sie, wenn die Zeit des Ge - brauches der Theile kommt, die Function derselben alteriren, und es wird durch die so erzwungene Aenderung der Function eine entsprechende Umgestaltung der Theile auf die vorstehend beschriebene Weise eintreten müssen. Wenn z. B. durch em - bryonale Variation ein Gelenkkopf verändert worden ist, wer - den die Muskeln anders gebraucht werden müssen, manche Gruppen sich stärker ausbilden, andere der Inactivitätsatrophie mehr oder weniger verfallen. Das Gleiche kann durch em -204IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.bryonale Veränderung der Bänder entstehen. Oder umgekehrt können durch embryonale Aenderungen der Muskeln, wie oben schon erwähnt, die passiven Theile, die Knochen und Bänder, umgestaltet werden. Welches von beiden das häufigere Vor - kommen ist, können wir zur Zeit nicht sicher beurtheilen. Ich bin aber geneigt, im Allgemeinen den activen Theilen in dieser Beziehung ein Uebergewicht über die passiven zuzuschreiben. Immer wird ein durch embryonale Variation veränderter Theil mit den Aenderungen seiner Function auch die Function ande - rer Theile alteriren und damit ihre entsprechende Umgestaltung veranlassen.

So wird durch das Princip der trophischen Reizwirkung auch beim Auftreten neuer Variationen die nöthige Harmo - nie im Baue und in der Function der verschiedenen Theile des Organismus von selber sich ausbilden. Wie rasch dieses geschieht und wie viel davon eventuell schon im Em - bryo stattfindet, kann nur durch besondere Einzelbeobachtungen festgestellt werden. Von denjenigen Gebilden, welche schon im Embryo fungiren, also den Blutgefässen, nach Preyer, wie erwähnt, auch vielen quergestreiften Muskeln und damit auch den Ganglienzellen und den Stützsubstanzen, muss die Möglichkeit der Ausbildung der Harmonie beim Auftreten neuer Charaktere während des Embryonallebens entschieden ange - nommen werden.

Es giebt nun aber auch Theile am Körper, welche gar keine active oder passive Function haben, sondern blos durch ihre Anwesenheit, durch ihr Sichtbarsein nach aussen hin nützen und aus diesem Grunde erhalten worden sind, wie z. B. viele Charaktere der geschlechtlichen Zuchtwahl. Der gewaltige Rückenkamm, welcher dem männlichen Triton zur Zeit der Brunst wächst, um nach derselben wieder rückgebil - det zu werden, der Hahnenkamm oder die Kehlkopflappen des205IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.Truthahns haben keine active Function, und ihre Gestalt ist somit durch embryonale Variation entstanden, ebenso wie nicht selten die Farbe und wohl immer die Zeichnung der Thiere. Wenn aber auch das ganze Organ keine Function hat, so haben doch die Theile eine Function im Ganzen, nämlich die, das Ganze darzustellen und zu erhalten. Indem hierbei die einen Theile mehr zu halten haben als die anderen, wird sich inner - halb des Ganzen eine ungleiche Function der Theile und da - mit eine entsprechende innere Structur des Ganzen ausbilden, in den vorliegenden Beispielen also eine statische Structur.

Das Gleiche gilt von den durch ihre äussere Form wirken - den Begattungsorganen. Hier ist die Gestalt sicher blos durch embryonale Variation entstanden. Aber die innere Einrichtung lässt erkennen, dass die einzelnen Bestandtheile sich nach dem Maasse ausgebildet haben, als sie zur Herstellung dieser Form beitragen. Ebenso ist es mit den anderen Theilen der Ge - schlechtsorgane. Die ganze Umbildung, durch welche z. B. die Eileiter von den Harnleitern abgetrennt worden sind, kann blos auf embryonale Variation und summirende Auslese nach Darwin, nicht auf directe functionelle Anpassung zurückge - führt werden, während die Structur ihrer Wandung aus Längs - und Ringmuskeln, wie oben dargelegt, nur eine Folge der functionellen Anpassung sein kann.

Ebenso gehören wohl die Hilfsapparate der Sinnesorgane hierher; denn blos die specifischen Theile können durch den Reiz selber beeinflusst werden, während die Hilfsapparate alle durch embryonale Variation geformt und blos in ihrer Structur durch functionelle Selbstgestaltung bestimmt werden.

Die embryonale Variation hat somit die Freiheit der äusseren Gestaltung der Theile in jeder beliebigen Weise; aber die innere Structur derselben, die Anordnung der Theile, welche diese Gestalt hervorbringen müssen, ist dann nicht mehr frei, sondern206IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.wird durch functionelle Selbstgestaltung eventuell mit Hilfe des Kampfes der Theile auf das Zweckmässigste eingerichtet.

Wenn dagegen die äussere Gestalt selber bestimmten Ein - wirkungen ausgesetzt ist, wie die Gestalt der Knochen und Bänder der Einwirkung der Muskeln, so ist auch sie nicht mehr frei, sofern der bestimmende Charakter des anderen Organes, hier der Muskeln, einmal gegeben ist.

Da im Embryo das Geschehen zunächst ein rein chemisches, Gestaltung aus chemischen Processen ist, so ergiebt sich von selber, dass gerade chemische Alterationen im Stande sein werden, die Gestaltung ganzer Organsysteme auf einmal zu beeinflussen, zu ändern, und es überbrücken sich so, wie schon A. Graf Kayserling1)Bulletin de la Société géol. de France. 2. sér. T. 10. p. 355. Cit. nach G. Seydlitz, Die Darwin’scheTheorie. 1875. p. 50. hervorgehoben hat, leichter grössere Kluften im Thierreich, wie die zwischen Reptilien und Vögeln und zwischen Amphibien und Säugern. Eine chemische Altera - tion kann eine so grosse formale Umänderung in einem Organ - system oder in allen Theilen des Organismus auf einmal her - vorbringen, wie sie durch functionelle Anpassung allein vielleicht nicht in Tausenden von Generationen entstanden sein würde. Ein eclatantes Beispiel dieser Art beschreibt von einer Pflanze W. Knop2)Berichte der Kgl. Sächs. Acad. d. Wiss. Bd. 30. p. 39.. Er sah bei Maispflanzen nach Vertauschung der schwefelsauren Magnesia der Nahrung mit unterschwefelsaurer Magnesia eine Umwandlung des ganzen Blüthenstandes mit Um - änderung der Blüthen selber entstehen, sodass an den meisten Pflanzen gar nicht mehr die Form eines Maiskolbens entstand. Nur an den niedrigsten Pflanzen traten später aus einer der unteren Blattscheiden die Spitzen der Hülle eines Maiskolbens hervor. Kölliker erwähnt3)Kölliker, Entwickelungsgesch. des Menschen etc. 1879. p. 177. gleichfalls ein sehr interessantes207IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.Beispiel, indem er sagt, dass bei mangelnder oder ungenügender Luftzufuhr zum bebrüteten Ei im Gefässhof des Hühnerembryo sich die von E. Klein beschriebenen Endothelblasen mit vielen Kernen und endogener Knospung ausbilden und zur Bildung von Blutgefässen in einer vom normalen Vorgange durchaus abweichenden Weise führen.

Da ferner, wie wir sahen, sehr Vieles in den Gestaltungen theils schon im Embryo und noch mehr im Erwachsenen von der Wirkung von Reizen abhängt, und da uns zugleich die Pathologie lehrt, dass die Gewebe ausser auf die functionellen Reize auch noch auf andere fremde Reize plastisch reagiren, so ergiebt sich von selber, dass die Bildungen verändert werden, von der normalen Gestaltung abweichen müssen, wenn die Ge - webe der Einwirkung fremder Reize unterworfen werden.

Eines der einfachsten Beispiele ist die Ausbildung des an - geborenen Plattfusses, welcher nach Martin, Volkmann, Lücke, O. Küstner1)Langenbeck’s Archiv. Bd. XXV. Heft 2. u. A. bei absolutem oder relativem Mangel an Fruchtwasser und daraus folgendem directen Druck der Gebärmutter auf die Kindestheile entsteht. Wenn nun aber, wie thatsächlich der Fall, die Entwickelung zumeist in normaler Weise abläuft, so beweist dies einen sehr vollkommenen Schutz des Organismus gegen andere, als die functionellen Reize. Es beweist, dass die formbildenden Reize normal sich selber im Embryo produciren, ohne äussere Einwirkungen. Wenn im jugendlichen Individuum künstliche Hyperaemie eines Theiles hervorgerufen, ihm also mehr Blut zugeführt wird, als er selber zufolge der ihm vererbten Eigenschaften auf dem Wege der oben erwähnten Selbstregulation sich zu verschaffen vermag, so entsteht abnorm starkes Wachsthum, also abnorme Bildung, da die Theile in diesem Stadium noch ohne Function wachsen208IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.können. Selbst im erwachsenen Individuum musste noch einigen Geweben, den Deckepithelien und den Stützgeweben, die Mög - lichkeit zuerkannt werden, blos infolge künstlich vermehrter Nahrungszufuhr stärker zu wachsen. Jeder Arzt kennt die oft sehr beträchtlichen Knochenverdickungen des Schienbeins nach heftigen mechanischen Insulten (wobei nebenher aber auch die Osteoblasten selber gereizt werden) und die Vermehrung des Bindegewebes bei chronischen Entzündungen. Diese Bildungen sind aber nicht dauerfähig, sondern sie schwinden allmählich wieder nach dem Maasse und nach der Geschwindigkeit des Stoffwechsels, wel - chem das betreffende Gewebe unterworfen ist. Eine Restitution des Geschwundenen nach dem Aufhören der Entstehungsursache kann nicht stattfinden, ausser wenn die Bildung durch vieljährige Dauer der Ursache zu einer stabilen, aus sich selbst erhaltungs - fähigen geworden ist. Uebrigens muss auch hier wieder, wie schon oben, daran erinnert werden, dass wir zumeist nicht wissen, ob selbst bei diesen Geweben die durch den Reiz her - vorgebrachte Hyperaemie die alleinige Ursache der Gewebs - vermehrung gewesen ist.

Da also die functionellen Reize so viel Zweckmässiges hervorbringen, so ist noch ein Wort über die Reizcentrali - sation des ganzen Individuums zu sagen, indem von ihr die für das Ganze zweckmässige Ausbildung der Theile abhängt. Die vom Gehirn ausgehenden Willensimpulse gehen durch die Ganglienzellenlager und die Nerven zu den Muskeln und be - einflussen damit, neben der Ausbildung dieser Theile, zugleich auch die ihrer Stützorgane, der Neuroglia (des Nervenkitts), der Sehnen, Knochen, Knorpel, Bänder und Fascien in quanti - tativer Weise. Indem von diesem Willenscentrum vermittelst der Bewegungsorgane auch die Zufuhr von Substanzen in den Körper stattfindet, unterliegen auch die Reize, welche von der inneren Oberfläche aus auf den Körper, auf die Verdauungs -209IV. Differenzirende u. gestaltende Wirkungen der function. Reize.organe reizend wirken, der Selbstregulation des Ganzen, und das Gleiche gilt, aber nur in unvollkommenerer Weise für die die äussere Oberfläche und die Sinnesorgane treffenden Reize, an welche sich der Organismus im Uebrigen zwangsweise an - passen muss.

So entsteht denn durch den Kampf der Theile und das in demselben zum Siege gelangte Reizleben auf dem nächsten Wege eine Vollkommenheit der Organisation, welche man bis vor wenigen Jahren kaum geahnt hat, und die wir im Einzelnen auch jetzt noch nicht im vollen Maasse kennen. Das Organ wird ausgebildet bis zur abstractesten Definition seiner Function, in einer Weise, wie wir sie bei unseren eigenen Werken blos theoretisch construiren, aber nicht practisch darstellen können. Es entsteht eine Zweckmässigkeit der Einrichtungen, wie sie das summirende und steigernde Princip Darwin’s und Wallace, der Kampf um’s Dasein unter den Individuen, für sich allein nie hätte hervorbringen können, wie sie blos durch das fort - währende Zusammenwirken des Kampfes der Individuen mit dem Kampfe der Theile möglich geworden ist.

Diese Vollendung der Theile bis zur materiellen Definition ihrer Function für das ganze Individuum mehr und mehr an den Organen und Geweben im Einzelnen nachzuweisen, wird zu den nächsten Aufgaben der Forschung gehören; insbesondere aber ist dies nöthig für die bisher fast ganz unbeachtet geblie - benen Functionen der verschiedenen Bindesubstanzen.

Roux, Kampf der Theile. 14
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V. Ueber das Wesen des Organischen.

In der unendlichen Mannigfaltigkeit des Naturgeschehens erkennen wir Eine Art von Processen, welche sich durch eine Summe von Eigenschaften so augenfällig von allem anderen Geschehen unterscheiden, dass sie schon in früher Zeit zur Eintheilung alles Seins und Geschehens in organisches und anorganisches geführt haben.

Trotzdem aber gelang es nicht, das eigentliche Wesen dieser Processe klar zu erfassen und zu definiren, wenn sich auch jedes Zeitalter daran versucht hat.

Je nach dem Standpunkt, auf welchem man stand, je nach den naturwissenschaftlichen Kenntnissen, welche man be - sass, musste das Urtheil verschieden ausfallen und der Wahr - heit mehr oder weniger nahe kommen. So ist es erklärlich, dass der grösste Naturforscher des Alterthums, Aristoteles, eine der besten, bis in die neuere Zeit gültigen Definitionen gegeben hat. Er erkannte, dass in den organischen Wesen jeder Theil bestimmte Verrichtungen habe, dass er ein Werk - zeug, ὄργανον, für das Ganze sei, und nannte daher das Ganze » Organismus «, Complex von Werkzeugen. Seitdem man indes - sen lebende Wesen ohne Organe hatte kennen lernen, Wesen, welche blos ein Continuum von gleichartiger Substanz darstel - len, ersah man, dass diese Definition doch nicht das Wesen,211V. Ueber das Wesen des Organischen.sondern blos eine hervorragende Eigenschaft der höheren Or - ganismen bezeichnete; und die Philosophen hatten ihr schon vordem ihren Beifall entzogen, weil ihnen die Innerlichkeit, die zusammenfassende Seele dabei zu fehlen schien.

Wir wollen versuchen, ob wir vom Standpunkte der Ge - genwart die Frage ein wenig weiter zu fördern, uns dem Wesen des Organischen ein wenig mehr zu nähern vermögen.

Die einheitliche Verbindung verschiedener Theile zum Gan - zen kann also nicht das Wesen sein, da es lebende Wesen ohne solche Theile giebt.

Ebenso wenig können die psychischen Functionen der Or - ganismen das Wesentliche bilden, denn wir haben keine irgend gegründete Veranlassung, sie auch den niedersten thierischen Organismen und den Pflanzen zuzuerkennen. Soweit wir sie kennen, können sie alle an ihnen beobachteten Functionen ohne Bewusstsein verrichten.

Ebenso wenig kann das mechanische Gedächtniss, das Ueberdauern der Wirkung über die Ursache als Characteristi - cum dienen, denn es ist nach dem Gesetze der Trägheit eine allgemeine Function der Materie oder richtiger eine Eigenschaft alles Geschehens.

Auch nicht das Für-Sich-Sein ist hier anzuführen, denn dieses kommt jedem durch seine Consistenz oder sonstige besondere Qualitäten von der Umgebung gesonderten Processe ebenso viel oder richtiger ebenso wenig zu; denn streng ge - nommen besteht es nirgends, sondern ist blos ein festeres un - ter sich Verbundensein und in Wechselwirkung stehen als mit der Umgebung, und der Grad desselben ergiebt sich aus der Art der Unterscheidung von der Umgebung und der Art der Verknüpfung unter sich ganz von selbst.

Es ist ferner weder die Aufnahme und der Verbrauch von lebendiger Kraft, noch die Umsetzung von Spannkraft, denn14*212V. Ueber das Wesen des Organischen.beide Arten des Kraftwechsels kommen im anorganischen Geschehen fortwährend vor. Und ebenso wenig ist es der Stoffwechsel in Verbindung mit dem Kraftwechsel; denn die Verbindung beider zeigt uns täglich die Verdampfung an der Oberfläche des Wassers, die Verwitterung der Felsen etc.

Auch nicht eine bestimmte Consistenz der organischen Stoffe bildet das Wesen, wenn gleich schon für die thätigen Theile Schwankungen derselben blos innerhalb gewisser enger Grenzen vorkommen; aber es giebt anorganische Stoffe von derselben Beschaffenheit. Eine bestimmte Consistenz kann dem - nach blos als eine günstige, vielleicht nothwendige Vorbedin - gung angesehen werden. Das Gleiche gilt von der Concen - tration, welche von den 12 Procent Wasser der Hülsen - früchte bis zu den 99 Procent Wasser, welche in den Quallen von dem Einen Procent fester Theile zu organischer Masse verbunden werden, schwankt.

Vielleicht ist eine gewisse gemeinsame chemische Zusam - mensetzung etwas Wesentliches, denn die Schwankungen in dieser Beziehung sind nicht sehr grosse, aber wohl nicht das Wesen selber; da die chemische Constitution des pflanzlichen Protoplasmas von dem thierischen bei seiner fast entgegenge - setzten Wirkungsweise jedenfalls sehr verschieden ist.

Nach Ausschluss dieser Eigenschaften bleiben blos noch wenige, welche in den engeren Kreis der Betrachtung gezogen werden müssen.

Zunächst gilt als wesentliches Characteristicum die Sen - sibilität, weil sie allen lebenden Wesen, wenn auch nicht allen Theilen derselben, eigen ist. Es ist die Fähigkeit orga - nischer Gebilde, auf Einwirkung lebendiger Kräfte ihre Gestalt in einer Weise zu ändern, welche nicht als einfach passive Umgestaltung durch die äussere Einwirkung angesehen werden kann, sondern nur durch Erregung eines bestimmten Zustandes213V. Ueber das Wesen des Organischen.in der Materie möglich ist, welcher in Erhöhung der Cohäsion oder in dem Wegfalle innerer Widerstände gegen letztere be - steht.

Diese Reaction in der Form der Reflexbewegung ist nur ein Specialfall der allgemeinen Reactionsfähigkeit aller Stoffe; aber obgleich es anorganische Stoffe giebt, wie z. B. ein Ge - menge von Chlorgas und Wasserstoff, welche durch Zufuhr lebendiger Kräfte auch unter chemischer Umsetzung in ihrer Cohäsion verstärkt werden, indem sie sich zu Körpern von ge - ringerem Raume verdichten, so ist doch die Reflexbewegung in so hohem Maasse von allen anorganischen Reactionen ver - schieden, dass sie als ein charakteristisches Merkmal angenom - men werden kann.

Indessen für sich allein genügt sie nicht zur Charakteri - sirung. Niemand wird, die anderen Eigenschaften weg ge - dacht, ein Gebilde mit dieser Eigenschaft als organisches be - zeichnen, und wir können uns auch organische Processe mit Stoffwechsel, Wachsthum, bestimmter Gestaltung vorstellen ohne diese Eigenschaft; nichts beweist uns, dass diese Eigenschaft dazu unerlässlich wäre. Doch wir greifen damit schon dem Folgenden vor. Die Sensibilität kann daher gleichfalls nur als eine eigenthümliche und sehr nützliche Nebeneigenschaft be - zeichnet werden.

Gehen wir nun zur Prüfung des Verhaltens der organischen Processe in den aprioristischen Eigenschaften alles Geschehens, zu dem räumlichen und zeitlichen Verhalten über, so sei zu - nächst das räumliche Verhalten, das der Ausbreitung des Organischen besprochen. Hier treffen wir auf wichtige Eigenschaften, auf das Wachsthum und die Fortpflanzung.

Das Wachsthum ist indess keine selbständige Eigen - schaft, sondern es bezeichnet blos das quantitative Verhalten einer anderen Eigenschaft, der Assimilation, und wird daher214V. Ueber das Wesen des Organischen.als in Abhängigkeit von dieser betrachtet werden müssen. Als einfaches Grösserwerden kommt Wachsthum bekanntlich auch bei den Anorganen vor, so bei den Krystallen, und ebenso auch als Ausbreitung eines im Anfang auf ein kleineres Gebiet beschränkten Processes auf grössere Dimensionen, wie bei der Luftbewegung durch Insolation oder bei der Verdampfung oder der Nebelbildung etc.

Aehnliches gilt von der Fortpflanzung, von dem sogenannten Wachsthum über das individuelle Maass hinaus. Sie ist gleich - falls abhängig von der Eigenschaft der Assimilation.

Aber das zeitliche Verhalten der organischen Processe ist von grosser Bedeutung.

Die organischen Processe sind, soweit wir gegenwärtig ur - theilen können, seit ihrer ersten Entstehung von ununterbrochener Dauer gewesen. Wir sind gezwungen eine fortlaufende Con - tinuität derselben vom Beginne an anzunehmen. Indessen es giebt auch anorganische Processe, welche seit ihrer Entstehung ewig continuirlich sind, wie das Organische, und nur in Inten - sität und Ausbreitung wechseln. Ewig ununterbrochen ist die Verwitterung an den Felsen, ewig ist der Wellenschlag des Meeres, ewig verdampft das Wasser, ewig scheint die Sonne seit ihrer Entstehung.

Dies beweist, dass die ewige Dauer, die Continuirlichkeit des Geschehens, an sich nicht das Wesen des Organischen trifft; und doch ist diese Dauer absolut nöthig. Denn wir wissen, dass, wenn einmal die Continuität des Lebens wirklich unter - brochen ist, sie durch nichts wieder hergestellt werden kann, dass der Faden dauernd zu Ende ist. Niemand stellt heut zu Tage in Abrede, dass die höheren Organismen continuirlich sich von niederen, einfacheren und einfachsten abgeleitet haben. Also müssen die organischen Processe dauerfähig gewesen sein. Die ununterbrochene Dauerfähigkeit ist die erste Vorbedingung215V. Ueber das Wesen des Organischen.des Organischen, obgleich sie keinen Unterschied von den an - organischen Processen einschliesst.

Wir werden zu untersuchen haben, durch welche Eigen - schaft die Dauerfähigkeit bei beiden garantirt wird.

Die organischen Processe sind chemische Processe. Das ist nichts Charakteristisches. Aber als solche sind sie mit Stoff - und Kraftwechsel, mit Verbrauch verbunden, und laufen bald ab, wenn nicht noch Bedingungen für die Dauer erfüllt sind.

Die anorganischen Processe mit Stoff - und Kraftwechsel dauern blos, weil und so lange die äusseren, sie fort und fort erzeugenden Bedingungen fortdauern; sobald sie nicht mehr von den äusseren Bedingungen erzeugt werden, geht auch der Process zu Ende. So läuft die Verwitterung fort, so lange die Atmosphärilien: Luft, Kohlensäure, Wasser die Gesteine be - rühren, und mit dem Aufhören dieses Zusammenkommens hört auch der Process auf, und wenn sie wieder zusammenkommen, beginnt der Process sofort wieder, weil er blos durch diese äusseren Momente bedingt ist. Der Process ist hier gar nichts für sich, sondern blos die Folge dieses Zusammenwirkens. Er wird daher gewöhnlich auch gar nicht für sich betrachtet, und es wird schon Ungeübten schwer fallen, solchen Process, welcher in einer Schicht an der Oberfläche der Gesteine ab - läuft, wirklich mit organischen Processen, welche in discreten Wesen sich vollziehen, in der Vorstellung vergleichbar neben einander hinzustellen.

Anders ist der organische Process: Seine Bedingungen sind nicht blos äussere, im Gegentheil, er ist etwas für sich und nicht blos von den äusseren Bedingungen abhängig. Wenn wir die äusseren Vorbedingungen der Organismen, z. B. die Nah - rungsmittel der Pflanzen und Sonnenlicht vereinen, oder wenn wir dasselbe mit den Nahrungsmitteln der Thiere thun, es ent - stehen keine organischen Processe daraus. Nur wenn diese216V. Ueber das Wesen des Organischen.Vorbedingungen in den organischen Process selber eingeführt werden, wird der Lebensprocess daraus vermehrt. Der Lebens - process trägt also die Ursache seiner Erhaltung in sich selber, und die Nahrung ist blos die Vorbe - dingung, während die anorganischen Processe blos diese äusseren Vorbedingungen brauchen, um so - fort zu entstehen.

Somit haben die organischen Processe eine Be - dingung mehr zu erfüllen, und es könnte scheinen, dass sie damit um so schwerer dauerfähig sein werden, als die an - organischen. Trotzdem ist das Resultat gerade das umgekehrte. Wir sehen den Lebensprocess dauerfähiger, wir sehen ihn in ewiger Continnität, trotz des Wech - sels der Bedingungen.

Dazu muss er noch besondere Eigenschaften haben, welche ihm diese Dauer ermöglichen, und wenn wir diese aufsuchen, müssen wir an die wesentlichen Eigenschaften des organischen Geschehens, an die unterscheidenden Merkmale vom Anorga - nischen herankommen.

Die erste Eigenschaft, welche ihn unter diesen ungünstigen Umständen in der Dauer begünstigt, ist die Assimilations - fähigkeit. Sie besteht darin, dass der organische Process das Vermögen hat, fremd beschaffene Theile in ihm gleiche umzuwandeln, differente Atomgruppirungen in ihm gleiche um - zugruppiren, also Fremdes qualitativ sich anzueignen und so das Nöthige sich selber zu produciren, wenn nur die Rohmaterialien dazu vorhanden sind. Das Wesen dieser Fähigkeit ist eine Art Selbstproduction, » Selbstgestaltung des Nöthigen «. Und diese ist schon ein wesentlicher Vorzug vor den anorganischen Processen.

Aber von den letzteren hat auch einer diese Eigenschaft, und ist doch nicht fähig, sich dauernd zu erhalten: » die Flamme «. 217V. Ueber das Wesen des Organischen.Auch sie hat die Fähigkeit, immer fremdes Material zu assi - miliren.

In dem Grade der Assimilationsfähigkeit können verschie - dene Möglichkeiten vorkommen, deren Dauerfähigkeit eine ver - schiedene und daher für unsere Untersuchung wichtige ist. Entweder assimilirt der Process weniger, als er verbrauchte, so musste er von selber bald aufhören. Diese Qualität schliesst also die Dauerfähigkeit principiell aus. Oder der Process assi - milirt eben so viel, als er verbrauchte, dann wird er nie über den Umfang, in welchem er entstanden ist, hinauskommen und wenn sich an seinem jeweiligen Aufenthaltsort die Bedingungen ändern, die Nahrung fehlt oder äussere störende Momente ent - stehen, so wird er zu Grunde gehen. Dass dies der Fall ist, ist bei dem fortwährenden Wechsel im Naturgeschehen sicher anzunehmen. Dauerfähig können daher allein nur solche Assi - milationsprocesse sein, welche mehr assimiliren, als sie ver - brauchen. Wenn dies in genügendem Maasse stattfindet, dass sie sich über grössere Räume mehr und mehr verbreiten können, so steigt dementsprechend auch die Wahrscheinlichkeit der Er - haltung im Wechsel der äusseren Bedingungen. Denn wenn auch der grösste Theil dabei zerstört wird, an irgend einer Stelle wird ein Theil erhalten bleiben.

Also neben der Assimilation ist das nächste all - gemeine Erforderniss der organischen Wesen die Uebercompensation des Verbrauches.

Diese Fähigkeit haben bekanntlich alle Organismen: wenn wir auch nicht wissen, wie sie im einzelnen zu Stande kommt. Aber sie lässt sich dynamisch definiren. Die Uebercompen - sation besteht darin, dass beim Ablauf des organischen Pro - cesses mehr Assimilationskräfte frei werden, als zum blossen Ersatze des Verbrauchten nöthig sind, oder umgekehrt, dass bei Ueberführung fremden Materials in dem Organismus Gleiches218V. Ueber das Wesen des Organischen.weniger Kräfte erfordert, als das assimilirte Material bei seiner Umsetzung bis zu den Endstadien des Processes zu liefern ver - mag, und dass diese gelieferten Kräfte Assimilationsfähigkeit haben. Das einfachste und daher verständlichste Beispiel bietet wiederum die Flamme. Sie zeigt uns oft durch Umsichgreifen in furchtbarer Weise ihre Eigenschaft, mehr zu assimiliren, als sie verzehrt. Trotzdem hat sie keine ewige Dauerfähig - keit auf der Erde. Dies liegt aber nicht an ihr, ihre Dauer - fähigkeit ist im Gegentheil sehr gross und widersteht bekannt - lich oft der Einwirkung der besten Dampffeuerspritze. Die Ursache ihres Zugrundegehens ist zumeist die Aufzehrung ihres Materials, und der Process würde in der Natur wol ebenso wie das Organische ewige Dauer haben, wenn er nicht rascher ver - liefe, als die anderen Naturprocesse wieder Material zu schaffen vermögen. Im Organischen dagegen bestehen zwei Arten von entgegengesetzten Processen, welche durch Selbstelimination des Ungeeigneten sich in ein ewige Dauer verbürgendes Gleich - gewicht gesetzt haben.

Es kann fernerhin vorkommen, dass Processe auftreten, welche zwar mehr assimiliren, als sie verbrauchen, aber trotz - dem nicht alles, was sie verbrauchen, zur Assimilation ver - wenden, sondern wo Kraft noch übrig bleibt, wo der Process noch etwas leistet, wie wir uns auszudrücken gewohnt sind, indem wir die Assimilation blos als Vorbedingung des letzteren Geschehens, der Leistung, würdigen. So leistet die Flamme ausser der Uebercompensation in der Assimilation noch die Bildung von Wärme, welche nicht zur Assimilation verwen - det, sondern an die Umgebung abgegeben wird, und ausser - dem producirt sie noch das Licht. Diese Leistungen nützen ihr nichts, sondern sind vielmehr für die Assimilation und die Dauerfähigkeit ein Verlust, eine unnöthige Ausgabe. Solche Processe müssen daher ceteris paribus jenen nachstehen, welche219V. Ueber das Wesen des Organischen.alle Kräfte zur Vergrösserung der Dauerfähigkeit verwenden. Dies Letztere braucht nun aber nicht blos in der Weise zu geschehen, dass alles direct auf Assimilation verwendet wird, sondern auch auf dem Wege der Leistungen, wenn dieselben indirect der Dauerfähigkeit zu Gute kommen. Wenn sie z. B. wie die Beweglichkeit der Monere die Nahrungserwerbsfähig - keit vergrössert. Durch Ausstrecken von Theilen des Körpers vergrössert sie ihren Ernährungsbezirk, und indem sie sich so - fort zusammenzieht, wenn etwas an einen Fortsatz gekommen ist, nimmt sie mehr Nahrung auf, als wenn sie blos als Kugel daläge. Auch wird durch die Contractilität die Verdauung be - schleunigt, indem bessere Vermischung der Theile im Inneren eintritt und die Entstehung der Gleichmässigkeit daher nicht blos auf die langsame Wirkung der Diffusion angewiesen ist, ganz abgesehen von dem Vortheil, welchen die freie Loco - motion durch das Verlassen eines erschöpften Nahrungsbezirkes gewährt.

Eine derartige Leistung, welche dem Ganzen nützt, welche also zu dessen Dauerfähigkeit beiträgt und aus diesem Grunde sich erhalten hat, heisst Function, Verrichtung für das Ganze. Die Lichtbildung ist also blos eine Leistung der Flamme oder richtiger der Verbrennung, keine Function derselben; denn sie nützt derselben nichts, sie ist blos eine unnütze Ausgabe in gleichem, wie die zu starke Wärmebildung. Am besten wäre es ihr, sie bildete nicht mehr, als sie zur Assimilation ver - wendet, sie wäre ein reiner Assimilationsprocess. So aber verzehrt sie nutzloser Weise rasend schnell ihr Nahrungsmaterial und bleibt hierin schon hinter den organischen Processen zurück.

Es besteht von früher her noch bei Vielen die Neigung, jeden solchen Process, der in einem Theile abläuft, aber zum Nutzen des mehr oder weniger complicirten Ganzen ist, als etwas Wunderbares anzusehen. Indessen dieser Nutzen für220V. Ueber das Wesen des Organischen.das Ganze liegt durchaus nicht in der Absicht der Theile. Die Theile leben blos für die eigene Erhaltung, und dass dabei etwas für das Ganze Nützliche geschieht, ist blos dadurch be - dingt, dass eben blos solche Eigenschaften übrig bleiben konnten und allein übrig geblieben sind, während die millionenmal mehr anderen, welche aufgetreten waren, ohne dem Ganzen zu nützen, das Ganze ruiniren und damit das Ganze und sich selber von der Dauer ausschliessen mussten. Aber es ist wohl unnöthig, die Wirksamkeit der Darwin’schen Principien hier weiter zu erläutern. Wenn man sich nur immer erinnern will, dass alles, was wir jetzt sehen, die Restbestandtheile sind des ganzen irdischen Geschehens vor unserer Zeit. Alle Processe, welche nicht dauerfähig in sich selbst waren, oder trotz dieser inneren Fähigkeit nicht zugleich dauerfähig in den äusseren Verhältnissen, hörten eben auf und wir finden von ihnen blos noch Spuren oder auch diese nicht; während alles, was im Lauf der Millionen Jahre und im ewigen Wechsel des Geschehens Dauerfähiges entstanden ist, sich aufgespeichert hat. Genau so, wie sich bei uns die Culturerrungenschaften aus der Unsumme vergänglicher, ephemerer Leistungen aufhäufen.

Läuft der obige Leistungsprocess der Monere, die Bewegung, continuirlich oder rhythmisch von selber ab, ohne besondere äussere Ursache, so heisst er automatisch, findet er blos auf eine äussere Einwirkung statt, so heisst er reflectorisch, und letztere Art hat von vorn herein vor der ersteren den Vorzug grösserer Dauerhaftigkeit. Denn es sind in der Umgebung nie die gleichen Umstände constant. Die gleichmässig fortgehende Leistung kann daher nicht immer den gleichen Nutzen haben; sie wird daher oft nutzlos sein, oft dagegen zu gering, wenn die äusseren Umstände günstiger sind, aber die Leistung nicht zu beeinflussen vermögen.

Dagegen stellen die reflectorischen Leistungen eine Wechsel -221V. Ueber das Wesen des Organischen.wirkung mit den äusseren Umständen, welche sie ausnützen sollen, her, die im höchsten Maasse günstig ist. Denn wenn die Umstände fehlen, wird auch die Leistung fehlen, wenn sie vorhanden sind, wird die Leistung entstehen und je nach der Intensität der äusseren Umstände wird sich von selber auch die Intensität der Leistung herstellen. Die Reflexthätigkeit ist somit ein höchst zweckmässiger Mechanismus der Selbstregulation, während die Automatie eine im Allge - meinen unzweckmässige Einrichtung mit Materialverschwendung und mit Insufficienz bei stärkeren Anforderungen darstellt. Automatie wird daher blos bei constanten Verhältnissen, con - stanten Umständen und Bedürfnissen, also sehr selten von Nutzen sein, wie sie denn auch thatsächlich nur selten und nie voll - kommen rein, z. B. bei den Wimperthieren oder bei den Herz - ganglien vorkommt. Denn sie wird auch da immer noch durch äussere Umstände regulirt.

Mit der Leistung tritt nun ein neuer Factor in dem Stoff - wechsel auf, der Verbrauch. So lange der Process blos Assimilationsprocess war und alles, was aus dem Material pro - ducirt wurde, in der Assimilation zur Uebercompensation ver - wendet wurde, war der Verbrauch eigentlich blos eine günstige Vorbedingung der Vergrösserung, des Wachsthums des Indivi - duums. Mit der Leistung aber traten Ausgaben ein, welche an sich die Assimilation nicht vergrössern, obgleich sie doch Material verzehren. Es werden in diesem Falle Processe nicht dauern können, in denen die Functionen mehr verzehren, als ersetzt werden kann. Dauerfähig werden blos diejenigen sein, wo ein ökonomisches Gleichgewicht zwischen dem Materialver - brauch bei den Functionen und der Grösse des indirecten Nutzens für die Nahrungsbeschaffung und die Assimilationsgeschwindig - keit besteht. Alle anderen Processe müssen zu Grunde gehen und sich somit aus der Reihe des Lebenden ausschalten.

222V. Ueber das Wesen des Organischen.

Mit der Leistung und dem Verbrauch tritt ein neues Er - forderniss ein, welches von der grössten Bedeutung ist und das ganze organische Geschehen beherrscht. Da die reflectorischen Leistungen die herrschenden sein müssen, diese aber ungleich - mässig stattfinden, so muss auch der Verbrauch gleichmässig bald erhöht bald vermindert sein, und es ist nun die Frage, wie sich dazu die Assimilation stellt. Geht sie gleichmässig fort, so wird bald Ueberschuss bald Gleichgewicht, bald bei starker anhaltender Function Tod, Selbstelimination eintreten. Um letzteres zu vermeiden, muss nothwendig die Assimilation in Abhängigkeit sein von dem Verbrauche oder von dem Reiz, welcher den Verbrauch hervorruft. Es muss also bei stärkerem Verbrauch das Bestreben, Nahrung aufzunehmen, und die Fähig - keit, sie zu assimiliren, gesteigert sein, statt durch die Ver - minderung des Stoffes geschwächt zu werden. Die Dauer - processe müssen Hunger haben. Dieses Wort ist hier natürlich nicht als eine bewusste Empfindung, sondern in der Bedeutung einer stärkeren chemischen Affinität zur Nahrung bei stärkerem Nahrungsbedürfniss aufzufassen. Also auch die Nahrungsaufnahme und die Assimilation müssen der Selbstregulation unterliegen, wie wir das auch noch in der einfachsten Weise bei der Flamme verwirklicht sehen. Das Gleiche muss von der Ausscheidung des Verbrauchten gelten. Findet diese Ausscheidung unab - änderlich gleichmässig statt, so würde bei stärkerem Verbrauch Anhäufung desselben eintreten, da die Ausscheidungsprodukte stets Differentes von dem Organismus, im günstigsten Falle einfach Unbrauchbares darstellen und mindestens durch ihre Anwesenheit hemmen oder, da sie chemisch nicht indifferent sind, die Lebensprocesse direct chemisch stören. Also auch die Ausscheidung muss der Selbstregulation durch das Bedürf - niss unterworfen sein, wofür wir wiederum das einfachste Bei -223V. Ueber das Wesen des Organischen.spiel in der Flamme haben. Je rascher sich die Flamme ver - zehrt, um so mehr bildet sie Hitze, um so mehr assimilirt sie, um so rascher findet aber auch durch die Verminderung des specifischen Gewichts die Abfuhr der Endproducte des Stoff - wechsels statt.

Selbstverständlich können ebenso wie von den reinen Assi - milationsprocessen auch von den mit Leistung verbundenen Processen blos diejenigen sich erhalten, welche mit Ueber - compensation einhergehen, aus denselben dort angeführten Gründen.

Die Abhängigkeit der Assimilation von dem Umsatz kann eine doppelte sein: entweder ist sie direct abhängig von dem Reize, indem dieser zugleich auch auf die Assimilation er - regend, steigernd wirkt, oder indirect, indem die Producte des durch den Reiz beschleunigten Stoffwechsels in irgend einer Weise die Assimilation anregen.

Mag nun die Abhängigkeit der Assimilation von dem Reize eine directe oder indirecte sein, so ist für uns wichtig der Grad dieser Abhängigkeit.

Einmal kann während der Unthätigkeit die Assi - milation ruhig weiter laufen, während der Thätig - keit aber und nach derselben noch eine Zeit lang erhöht sein. Diese Art Processe wird sehr erhaltungsfähig sein und ich glaube, dass sie sehr verbreitet ist, dass sie viel - leicht bei den niederen Thierstufen die allgemeine, die herrschende ist. Diese Processe sind daran kenntlich, dass sie zwar stärkere Leistungen auszuhalten vermögen, aber bei längerer Ruhe nicht der Inactivitätsatrophie unterliegen, da sie auch während der - selben assimiliren. Beseitigung für das Ganze überflüssig ge - wordener Theile kann also hier blos auf die langsame Weise der Auslese aus beliebigen Variationen nach Darwin statt - finden.

224V. Ueber das Wesen des Organischen.

Ist dagegen der Process derartig, dass für ihn der Reiz unentbehrlicher Lebensreiz geworden ist, ohne dessen Einwirkung nicht nur nicht die Leistung, sondern auch nicht die Assimilation gehörig vor sich geht, so wird dieser Process blos dann Chancen der Erhaltung haben, wenn dieser Reiz sehr oft einwirkt, wenn die Kräftigung fort und fort erfolgt und die Uebercompensation nach der Thätigkeit gross genug ist, um auch während der Ruhe längere Zeit auszuhalten. Es wird auch nöthig sein, dass schon die häufiger vorkommenden schwächeren Reize die Assimilation zu erregen im Stande sind. Bei dauerndem Fehlen des Reizes wird in Folge der mangeln - den Erregung der Assimilation Inactivitätsatrophie eintreten, bestehend in ungenügendem Wiederersatz des ohne Function allmählich selber verzehrten.

Diese Art Process ist somit an bestimmtere Existenzbe - dingungen gebunden, als die vorige, und wird daher von be - schränkterem Vorkommen in der ganzen Thierreihe und eventuell auch im einzelnen Organismus sein.

Aber sie hat Eigenschaften, welche ihr im Kampf um’s Dasein einen grossen Vorzug geben. Sie stellt innerhalb der vollkommensten Selbstregulation der Leistungsfähigkeit zugleich die grösste Sparsamkeit mit dem Material dar, indem diejenigen Theile, welche gebraucht werden, immer nach dem Maasse ihres Gebrauches gestärkt und vergrössert werden, während die nicht mehr gebrauchten der Rückbildung verfallen und das Material für ihre Erhaltung erspart wird. Diese Art der Pro - cesse stellt somit die höchste Oeconomie dar bei der höchsten Leistungsfähigkeit des Ganzen, aber auf Kosten der Selbständig - keit der Theile, die hier vollkommen aufgehört hat. Die Theile leben hier blos von der Function, welche sie dem Ganzen leisten, sie sind wie Staatsdiener, welche allmählich vollkommen blos Beamte geworden sind, gar keine Interessen mehr für sich225V. Ueber das Wesen des Organischen.haben, sondern vollkommen in dem Dienste aufgehen und ohne denselben nicht mehr leben können, nach der Pensionirung sofort atrophiren, wie es bei alten Beamten so häufig der Fall ist. Und man braucht sich nicht zu begnügen zu sagen: sie sind » wie solche Beamte «, sondern umgekehrt, derartige Beamte sind solche an Eine Verrichtung vollkommen angepasste Processe, wie denn der Mensch im Allgemeinen fast in allen seinen Theilen nach den Darlegungen der vorliegenden Schrift zu diesen Processen gehört.

Solche Verhältnisse finden sich wohl blos bei den höheren Organismen und bilden das charakteristische Merkmal derselben gegen die niederen, in denen die Theile auch noch für sich, ohne functionellen Reiz leben können und leben.

Zugleich sind, wie erwähnt, die Verhältnisse, unter denen sich diese Qualitäten ausbilden, derart, dass sie blos da durch den Sieg, durch Selbstzüchtung im Kampf der Theile entstehen können, wo der Reiz oft genug einwirkt, während sie an den Stellen, wo der Reiz selten wirkt, im Kampf der Theile unter - liegen müssen, selbst wenn geeignete Variationen hin und wieder aufträten. Der Kampf der Individuen aber wird sie infolge ihrer höchsten Leistungsfähigkeit für das Ganze bei einem Minimum von Materialverbrauch auf das Kräftigste zu erhalten streben.

Ich habe in dem Capitel von der Reizwirkung gezeigt, dass Veranlassung ist, eine derartige directe Abhängigkeit der ge - sammten Lebensprocesse der Zellen von dem functionellen Reize anzunehmen für Muskeln, Drüsen und wohl auch für die Sinnesorgane, in beschränkterem Maasse für die Nerven und Ganglienzellen; und der Umstand, dass bei vollkommener Reiz - entziehung nicht langsame Atrophie durch mangelnden Wieder - ersatz, sondern directe rasche Entartung des Vorhandenen ent - steht, spricht für die directe Leben erhaltende Wirkung desRoux, Kampf der Theile. 15226V. Ueber das Wesen des Organischen.functionellen Reizes. Ferner sahen wir, dass bei den Stütz - geweben, dem Binde - und Knochengewebe, das Verhältniss, wenn auch nicht derartig, dass directe Inactivitäts-Atrophie durch Degeneration bei Inactivität einträte, was bei der abgeschiedenen Intercellularsubstanz auch weniger möglich erscheint, so doch so ist, dass der Reiz die Zellen in ihrer Assimilation und in ihrer Abscheidung von Stützsubstanz kräftigt; denn nur so liess sich die Entstehung der der Reizform entsprechenden Structur dieser Theile erklären.

Alle die im Vorstehenden als allein dauerfähig nachge - wiesenen Qualitäten sind zugleich auch diejenigen, welche, ein - mal in Spuren aufgetreten, in dem betreffenden Gewebe im Kampf der Theile siegen und so zur Alleinherrschaft gelangen müssen, wie im Kapitel vom Kampf der Theile nachgewiesen worden ist, sodass also die Verbreitung dieser nützlichsten Eigenschaften, sobald sie einmal in Spuren aufgetreten waren, durch ihren doppelten Sieg in beiden Kämpfen eine rasche sein musste.

Wenn wir auf den Gesammtcharakter aller dieser lebens - wichtigsten Eigenschaften zurückblicken, so ist es der der Selbstgestaltung des zur Erhaltung Nöthigen, respective der Selbstregulation, und zugleich der Uebercompensation.

Selbstregulation und Uebercompensation sind also die Grundeigenschaften und die nöthigen Vor - bedingungen des Lebens. Mögen die Processe im Laufe der weiteren Differenzirung noch so complicirt geworden sein, diese Charaktere müssen erhalten sein und müssen bei allen neuen Bildungen überall wieder vorkommen, denn sie allein sind die Bürgen der Dauerfähigkeit im Wechsel der Verhält - nisse.

Die Selbstregulationsfähigkeit kann eine mehr oder minder grosse sein, je nach der Constanz oder Variabilität der Ver -227V. Ueber das Wesen des Organischen.hältnisse, und die Uebercompensation kann sich auf eine be - stimmte Lebensperiode beschränken und danach aufhören so - wohl für die einzelnen Gewebe, als in der Bildung von Ge - schlechtsproducten. Immerhin bleiben sie die nöthigsten und charakteristischsten Eigenschaften alles Organischen, die we - sentlichen Vorbedingungen des Organischen. Die Häufung dieser Eigenschaften aber nach mehrfachen Be - ziehungen hin und ihre Ausbildung bis zur gröss - ten Oekonomie bilden die erste wesentliche Eigen - schaft des Organischen. Erst als Zweites konnte dazu kommen die Fähigkeit der Contractilität, als Drittes die der Gestaltung aus chemischen Processen.

Was im Gegensatze zu dem Anorganischen, welches nur durch die äusseren Bedingungen erhalten wird und mit dem Wechsel derselben sofort in seiner bisherigen Natur aufhört, was entgegen diesem sich selber erhalten soll, wie das Orga - nische es muss, weil seine sonstigen eben erwähnten Eigen - schaften zu complicirte sind, um einmal abgebrochen in Kürze wieder von Neuem durch Zufälligkeit angelegt und dann zu höheren Graden gezüchtet werden zu können, das muss sich selbst zu reguliren vermögen. Wenn es im Wechsel der Ver - hältnisse gleichmässig fortgehen will, geht es einfach zu Grunde. Das ist nichts Neues, im Gegentheil eine nur zu bekannte, zu oft erfahrene Thatsache, und es gilt ebenso für die Theile wie für das Ganze, wie alle Grundbedingungen und Grundeigen - schaften in gleicher Weise für die Theile wie für die Ganzen zutreffen, denn das Ganze besteht blos aus den Theilen. Jedes muss sich an die Verhältnisse anpassen können, und das ist blos möglich durch die Selbstregulation, indem die geänderten Verhältnisse andere, dem Ganzen nützliche Functionen aus - lösen.

Die Selbstregulation ist die Vorbedingung, ist das Wesen15*228V. Ueber das Wesen des Organischen.der Selbsterhaltung. Mit den Grenzen der Selbstregulation hat auch die Selbsterhaltung ihre Grenzen.

Es liegt ausserhalb des Rahmens unserer Arbeit, alle Selbst - regulationen, welche im Laufe der späteren höheren Differen - zirung des Thierreiches aufgetreten sind, hier aufzuzählen. Pflüger hat eine Reihe derselben vor einigen Jahren zusam - mengestellt und auf die Thatsache ihres allgemeinen Vorkom - mens hingewiesen, ohne indessen ihre Bedeutung für die Ent - stehung und Charakterisirung des Organischen erkannt oder ausgesprochen zu haben.

Er stellte folgendes allgemeine Gesetz auf1)Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 15. 1875. p. 76.:

» Die Ursache jedes Bedürfnisses eines lebendigen Wesens ist zugleich die Ursache der Befriedigung des Bedürfnisses «, und fügt für das specielle Verhalten noch die beiden Gesetze hinzu: » Wenn das Bedürfniss nur einem bestimmten Organe zukommt, dann veranlasst dieses Organ allein die Befriedigung. «

» Wenn dasselbe Bedürfniss vielen Organen gleichzeitig zu - kommt, dann veranlasst sehr häufig nur ein Organ die Befrie - digung aller. «

Danach war er gewiss nahe daran, die Selbstregulation als erste wesentliche Eigenschaft des Organischen, weil allein die Dauer verbürgend, zu erkennen; aber statt dieses auszu - sprechen, schliesst er mit der Resignation2)l. c. p. 102.: » Wie diese teleo - logische Mechanik entstanden, bleibt eines der höchsten und dunkelsten Probleme. « Ich hoffe indessen, dass durch den Nachweis derjenigen Eigenschaften, welche allein in dem Dop - pelkampfe Sieg und damit Dauer gewinnen können, dieses Dunkel wenigstens in Bezug auf das Principielle der Entstehung etwas gelichtet worden ist.

Es war ihm hinderlich, dass er die Selbstregulationen für229V. Ueber das Wesen des Organischen.fertige, angeborene Mechanismen hielt, obgleich er in einem Hinweis auf das Verhalten in pathologischen Fällen schon den richtigen Weg betreten hatte. Wir sind aber keine » Spieldosen mit Tausend oder Millionen Liedern, welche auf Millionen mög - licher Weise im Laufe des Lebens eintretender Bedürfnisse be - rechnet und eingestellt sind «, mit denen er uns vergleicht, son - dern wir sind Einrichtungen, welche jeden Tag neue Lieder lernen können. Wie sich ein witziger Kopf, welcher in jeder Situation sofort das Wesentliche erfasst und geistreich pointirt zum Ausdrucke bringt, unterscheidet von einem blossen Colporteur von Witzen, der aus seinem angesammelten Vorrath den für die Situation passendsten aussucht, oder wie sich der richtige Arzt, welcher für jeden Krankheitsfall nach den individuellen Umständen desselben seine Ordination einrichtet, unterscheidet von dem blossen Routinier, der jeden Tag seine auswendig gelernten 50 Recepte immer von neuem an das kranke Publi - kum verkauft, ebenso unterscheidet sich der thierische Orga - nismus von einem fertigen Mechanismus, selbst von einem sol - chen mit Selbststeuerung.

Dieser letztere Ausdruck ist eigentlich die richtige Be - zeichnung für die Auffassung, welche Pflüger’s Arbeit zu Grunde liegt, nicht aber Selbstregulation. Die Selbststeuerung ist eine Selbstregulation, welche für eine bestimmte Variations - breite nach beiden Seiten von einem bestimmten Mittelpunkte hin eingerichtet ist; der Organismus aber hat Selbstregulatio - nen allgemeinsten Charakters, bei denen nach einiger Zeit des Verharrens in einer abweichenden Lage diese letztere zum Mit - telpunkt der neuen Variationsbreite wird; und wenn die Ab - weichung immer nach Einer Seite hin weiter fortgeht, so kann der neue Mittelpunkt viel seitwärts abliegen von dem Maximum der ursprünglichen Variationsbreite. Diese Distinction ist nicht so spitzfindig und überflüssig, wie sie vielleicht scheint; sie230V. Ueber das Wesen des Organischen.muss sogar entschieden betont werden, da die letztere Eigen - schaft die Grundlage der den Organismen innewohnenden gra - duell unbegrenzten Vervollkommnungsfähigkeit ist, während die erstere blos eine für sehr viele Fälle eingerichtete Stabili - tät darstellt.

Wenn ich mich nun noch mit einem Worte über das viel discutirte Problem der Entstehung des Lebens ergehe, so komme ich in Gefahr, damit gegen meine eigene Ueber - zeugung zu handeln.

Denn ich bin der Meinung, dass wir mit unseren heutigen Kenntnissen des Organischen nicht annähernd im Stande sind, auch nur für irgend eine Möglichkeit eine grössere Wahrschein - lichkeit herzuleiten, als für die andere. Ich beabsichtige daher auch blos, meine ablehnende Auffassung zu begründen.

Wenn es verdienstlich von Tyndall, Preyer1)Preyer, Deutsche Rundschau 1875, und Kosmos, Zeitschr. Bd. I. und Pflüger2)Pflüger’s Archiv. 1875. gewesen ist, auf die Aehnlichkeit des Verbren - nungsprocesses, des Feuers, dieses ältesten und meist gebrauch - ten Gleichnisses des Lebens, mit dem Lebensprocesse selber hinzuweisen, so vermögen wir doch nicht die geringste auf thatsächliche Beobachtungen sich stützende Vermuthung auszu - sprechen, dass der Lebensprocess sich aus dem Feuer herge - leitet habe. Wir kennen die Leistungen der Atome für sich und der organischen Gebilde viel zu wenig, um beurtheilen zu können, ob ein directer Uebergang vom Feuer zum Leben mög - lich gewesen ist. Ebenso erscheint es mir überflüssig, das ganze Weltall nach dem möglichen Ort der Entstehung theore - tisirend abzusuchen, da uns jegliche Vorstellungen über die nothwendigen Qualitäten dieses Ortes fehlen. Wir können uns, meine ich, bis auf Weiteres ebenso gut mit der Annahme zu - frieden geben, dass der Lebensprocess in irgend einem Stadium231V. Ueber das Wesen des Organischen.der Erdgeschichte seinen Anfang genommen habe; nur muss man nicht, wie immer geschieht, ihn gleich durchaus fertig mit geordneter Contractilität und dem Verbrauche entsprechender Assimilationsregulation verlangen.

Man muss vielmehr das Leben zunächst einfach als blossen Assimilationsprocess wie das Feuer begonnen zu haben denken. Allmählich bildeten sich dann unter dem Auftreten und Ver - schwinden zahlloser Varietäten, unter fortwährender Steigerung der dauerfähigen Eigenschaften, quantitative und qualitative Selbstregulationen in der Assimilation und im Verbrauch aus. Dem folgte die Entstehung von Reactionsqualitäten, als deren schon ausserordentlich hohe Stufe nach Einer Richtung hin, in vielleicht Millionen Jahre umfassenden Zeiträumen, nach und nach die Reflexbewegung gezüchtet wurde in der niederen Form, wie sie uns die Monere zeigt. Die weitere Ausbildung von Reactionen, wie fest geordnete Bewegung, specifische Sinnes - empfindung, folgte gewiss viel später und sie liegen unserer Vorstellung schon so viel höher, dass Niemand sie von der niedersten Stufe des Lebens verlangt. Aber die viel schwerere Erwerbung der ihnen zu Grunde liegenden Eigenschaften soll durchaus auf einmal als Spiel eines Zufalls erfolgt sein.

Was dazu gehört, ein Scheinfüsschen (Pseudopodium) zu bilden und zu bewegen, wie viel Millionen Molekel beim Aus - strecken in Ringform sich ordnen und sich einander nähern müssen, um nachher dasselbe beim Wiedereinziehen des Füss - chens in Längsrichtung zu thun, und was dazu gehört, diese Fähigkeiten zu erwerben, pflegt man nicht zu erwägen.

Auf die Reflexbewegung folgte wohl die Ausbildung fester, vererbbarer Richtungen, sowohl in Bewegungen als in Gestal - tungen, und damit das grosse Princip der Gestaltungen aus chemischen, dem Stoffwechsel unterliegenden Processen, das Grundprincip der Morphologie. Dieses erscheint mir um nichts232V. Ueber das Wesen des Organischen.leichter verständlich, als die Sensibilität, eher schwerer, trotz der häufig angeführten Analogie der Krystallbildung; denn letz - tere findet eben nicht aus Processen mit Stoffwechsel statt.

Wie man früher den Homunculus fix und fertig aus der Retorte hervorgehen lassen wollte, so verlangt man es heut zu Tage von der Monere. Das erscheint mir nicht unähnlich, als wenn man erwartete, dass zufällig einmal der Sturmwind ein in sich geordnetes Kunstwerk, etwa wie eine Beethoven’sche Symphonie bliese, oder dass er beim Zusammenbrechen alter Felsen aus den Trümmern einen stylgemässen dorischen Tem - pel aufbaute, oder dass ein Papua zufällig einmal die In - tegralrechnung entdeckte. Wenn einmal das, zu dessen Ent - stehung Jahrtausende lange Auslese immer des Besten nöthig gewesen ist, plötzlich auf einmal ebenso vollkommen aus der Hand des Zufalls hervorgehen kann, warum sollte es in diesen Fällen nicht auch stattfinden können? Sind sie doch eher viel - leicht noch einfacher, als die Zusammenordnungen der Theilchen bei der Bewegung der Monere, welche nicht einmal feste, son - dern fortwährend wechselnde sind.

Die Entwickelungsstufen von dem einfachen Assimilations - process bis zu dem mit Sensibilität und von diesem Letzteren bis zur Entstehung bestimmter, durch Vererbung übertragbarer Richtungen und von diesem bis zum Menschen, erscheinen mir nicht so ungleich. Das principiell Geleistete derselben ist nach unserem heutigen, allerdings gänzlich unzureichenden Verständ - niss ziemlich gleichwerthig; höchstens wird noch eine vierte Stufe, die ihren Anfang mit der Entstehung des Bewusstseins, mit der Zusammenfassung der Einzelerlebnisse zu einer Ge - sammtwirkung einzuschieben sein. Aber wenn das Wesen des Bewusstseins schon besser analytisch untersucht wäre, würde uns dasselbe vielleicht gar nicht so wesentlich erscheinen, um eine besondere Stufe für diese Art der Abstraction, aus welcher233V. Ueber das Wesen des Organischen.sich vielleicht das ganze übrige Seelentableau ableitet, darzu - stellen. Jedenfalls aber erscheint es willkürlich, anzunehmen, dass das Bewusstsein eine allgemeine Eigenschaft der Materie sei, blos damit wir sie nur nicht als für das Organische neu entstanden einführen müssen. Es sind unendlich viele ganz neue Qualitäten im Laufe der Entwickelung der Organismen aufgetreten und den ursprünglichen wenigen hinzugefügt wor - den, welche wir ebenso wenig in ihrer specifischen Qualität aus den Eigenschaften der Atome, des materiellen Substrates, an welches sie gebunden sind, und als dessen Functionen wir sie mit Recht betrachten, abzuleiten vermögen, als das Be - wusstsein aus den Ganglienzellen der Grosshirnrinde.

Es ist aber eine aus dem Streben nach Zurückführung des Mannigfachen auf das Einfache hervorgegangene Richtung unserer Zeit, die Qualitäten zu leugnen und zu sagen, weil die Monere dieselben Hauptfunctionen: Ernährung, Fortpflanzung und Re - flexbewegung hat, als die höheren Organismen, seien keine neuen Qualitäten aufgetreten. Denn die neuen seien blos Ab - kömmlinge, allmähliche Differenzirungen des Einfacheren. Aber ist ihr Differentes darum wirklich weniger neu? Jede chemische Veränderung der Organismen ist eine neue Qualität, und wenn sie noch so allmählich aus einer anderen hervorgegangen ist. Sogar jede Uebergangsstufe ist schon eine neue Qualität. Vor der Hand sind uns die chemischen Qualitäten Qualitäten im vollen Sinne des Wortes, solange als unsere Elemente noch nicht auf ein einziges zurückgeführt sind. Aber auch selbst dann noch, wenn alle Verschiedenheit nach Demokrit blos auf quantitative Unterschiede, auf ungleiche Gruppirung der Molekel Einer Grundsubstanz zurückgeführt sein würde; denn die verschiedenen chemischen Verbindungen, die verschiedenen Gruppirungen derselben Elemente haben thatsächlich verschie - dene Eigenschaften, sie verhalten sich verschieden, und es be -234V. Ueber das Wesen des Organischen.steht daher kein principieller Grund, die Annahme zu ver - weigern, dass, wie manche chemische Verbindungen Licht oder Elektricität produciren, nicht auch bestimmte chemische Pro - cesse die Fähigkeit haben sollen, die physikalisch-chemischen Erlebnisse des Individuums im Gehirn zu fixiren und sie durch Reizeinwirkung wieder in grösserer oder geringerer Ausdeh - nung erregen und zu einem Gesammteindrucke sich vereinigen zu lassen. Ob dieses Selbstbewusstsein die erste Abstraction war, oder ob diese zuerst durch andere öfter vorkommende, einander ähnliche Eindrücke, als die natürliche stärkere Er - regung des Gemeinsamen derselben entstanden ist, können wir als Nichtfachmann nicht erörtern. Es liegt uns blos daran, darauf hinzuweisen, dass vielleicht die psychischen Functionen gar nicht so etwas absolut von allem anderen Geschehen Dif - ferentes sind, als dass sie nicht ebenso wie dieses aus einer der vielen verschiedenen Qualitäten, welche in den Organismen vorhanden sind und nicht aufhören zu wirken, wenn sie auch einmal einige Decennien hindurch geleugnet werden, ableitbar wären. Auch hier wird die Entstehung eine sehr allmähliche gewesen sein. Es kann Jahrmillionen gedauert haben, ehe die erste Abstraction aus den alltäglichsten und genügend variiren - den Dingen als eine noch unbewusste Auffassung des Gemein - samen derselben gebildet worden ist, und dieselbe Zeit kann darüber hingegangen sein, ehe die regelmässige Wiederkehr des Schmerzes nach einem Schlage als nicht blosses regel - mässiges Nacheinander, sondern wohl enger mit einander Ver - bundenes aufgefasst worden ist, obgleich mir besonders die Er - fassung des Causalverhältnisses eine verhältnissmässig leichte Erwerbung zu sein scheint. Beisst doch jeder ältere Hund nicht mehr in den Stock, mit welchem man ihn schlägt, son - dern in die Beine des Schlagenden.

Dass man aber jede Eigenschaft, welche sich allmählich235V. Ueber das Wesen des Organischen.entwickelt hat und von welcher man daher nicht mit Bestimmt - heit den ersten Anfang, das erste Auftreten anzugeben vermag, auch den niedersten Organismen oder gar den anorganischen Processen zuschreibt, ist eine reine Willkürlichkeit und es ist, wie mir scheint, das ungelöste Problem des Kahlkopfes, welches hierbei noch die Sinne verwirrt. Ebenso gut wie man der Mo - nere Bewusstsein zuschreibt, kann man von dem Träger eines prächtigen Haarschopfes sagen, er habe einen Kahlkopf, denn auch bei Entstehung dieses kann man bekanntermassen den Anfang nicht bezeichnen, sofern die Haare einzeln ausgezogen werden.

Oder ebenso gut könnte man von einer Schachtel voll Zin - nober sagen, sie enthalte ausser der rothen auch zugleich noch blaue Farbe; denn wenn, mit einem unterhalb der Grenze der Wahrnehmbarkeit liegenden Minimum anfangend, allmählich mehr und mehr eines zweiten Farbstoffes hinzugefügt wird, kann kein Untersucher den Anfang des Zusatzes genau angeben.

Es scheint mir danach überflüssig, noch Weiteres über unsere gegenwärtige Unfähigkeit zur Beurtheilung der Zeit und des Ortes der vormaligen Entstehung des Lebens und des suc - cessiven Auftretens seiner wichtigsten Eigenschaften zu sagen, und ich begnüge mich damit, für die Anerkennung der Ueber - compensation und der Selbstregulation als erste wesentliche Eigenschaften des Organischen meine Stimme erhoben zu haben.

[236]

VI. Résumé.

Wir sahen im ersten Kapitel, dass die functionelle An - passung, welcher die Fähigkeit der directen Selbstgestaltung des Zweckmässigen auch unter ganz neuen Verhältnissen zu - kommt, von Darwin und Wallace keine Erklärung erfahren hat; dass sie einer solchen aber in hohem Maasse bedarf, weil sie dem Hauptprincipe dieser Autoren, der Entstehung des Zweckmässigen durch Auslese aus freien Variationen, die ge - fährlichste Concurrenz macht und durch die directe Gestaltung des Zweckmässigen den Schein eines metaphysischen Principes gewinnt.

Die derartige Wirkung der functionellen Anpassung be - kundet sich in der directen zweckmässigen Umgestaltung der Organe, wenn sie durch eine neu aufgetretene embryonale oder erworbene pathologische Variation eines Theiles in der Art und Grösse ihres Gebrauches dauernd verändert werden, oder wenn diese Aenderung durch eine Alteration der äusseren Lebens - bedingungen oder beim Menschen durch den freien Willen er - zwungen wird. Dieser längst bekannten Wirkungsweise wurde eine neue Gruppe von Wirkungen hinzugefügt, bestehend einmal in der Ausbildung der statischen Structur der Knochen und der bindegewebigen Organe, sowie in der entsprechenden dynami - schen Structur der aus glatten Muskelfasern gebildeten Organe,237VI. Résumé.und zweitens in der vollkommenen Anpassung der Blutgefäss - wandungen an die eigene Gestalt des Blutstromes.

Im zweiten Kapitel wurde gezeigt, dass in dem Organis - mus nicht alles Geschehen bis ins Einzelnste hinein, Molekel für Molekel, fest bestimmt ist, wie dies in Folge des Stoffwech - sels und des Wechsels der äusseren Bedingungen auch gar nicht möglich ist, sondern dass bei dem fortwährenden Vor - kommen von kleinen Variationen in den Qualitäten der Theile ein Kampf der neuen Qualitäten mit den alten um Nahrung und Raum stattfinden und von jeher in den Organismen statt - gefunden haben muss.

In diesem Kampf der Theile mussten, wie wir sahen, im - mer blos die in den vorhandenen Verhältnissen lebenskräftig - sten Qualitäten siegen und schliesslich allein übrig bleiben.

In denjenigen Organen, auf welche oft Reize, z. B. die Function auslösende Reize, einwirken, sind die siegreichen Eigenschaften diejenigen, welche durch den einwirkenden Reiz zugleich am meisten in ihrer Assimilationsfähigkeit gekräftigt werden.

Es werden so durch den Kampf der Theile Processeigen - schaften gezüchtet, welche im Stande sind, die Erscheinungen der functionellen Anpassung hervorzubringen, und zwar war dies eine Folge des Kampfes blos der Protoplasmatheilchen in den Zellen und des Kampfes der Zellen desselben Gewebes unter einander.

Dagegen führte der Kampf der verschiedenen Gewebe und Organe je unter einander ausser zur möglichsten Ausnutzung des Raumes im Organismus zur inneren Harmonie, zur Aus - bildung eines der physiologischen Bedeutung der Theile für das Ganze entsprechenden morphologischen Gleichgewichtes derselben.

Durch diese hervorragenden Leistungen des Kampfes der Theile zeigte sich indessen die Bedeutung des von Darwin238VI. Résumé.und Wallace aufgestellten Principes des Kampfes der Indi - viduen für die Entstehung der Mannigfaltigkeit und für die An - passung an die äusseren Bedingungen nicht im geringsten be - schränkt. Vielmehr ist das Verhältniss beider Kampfesarten derartig, dass aus den vom Kampf der Theile gezüchteten, im Allgemeinen lebenskräftigsten und am stärksten reagirenden Substanzen oder richtiger Processen der Kampf der Individuen um das Dasein überall diejenigen speciellen ausliest, welche auch in diesem zweiten Kampfe zu bestehen geeignet sind.

Während so der Kampf der Theile die Zweckmässigkeit im Innern der Organismen und die höchste Leistungsfähigkeit derselben im allgemeinen dynamischen Sinne hervorbringt, be - wirkt der gleichzeitige Kampf um’s Dasein unter den Individuen die Zweckmässigkeit nach aussen, das sich Bewähren in den äusseren Existenzbedingungen.

Für diese Wirkungsfähigkeit des Kampfes der Theile waren aber Eigenschaften als in den Organismen gelegentlich auf - getreten angenommen, und als in diesem Falle Sieg und Aus - breitung bis zur Alleinexistenz gewinnend nachgewiesen worden, deren thatsächliches Vorhandensein erst bewiesen werden musste. In Folge dessen wurde im III. Kapitel dieser Nachweis an - getreten und, wie ich glaube, in einer für die erste Fundirung des Ganzen genügenden Weise erbracht.

Es handelte sich um die eventuelle Eigenschaft des Proto - plasmas der verschiedenen Gewebe, durch den functionellen Reiz nicht blos zur specifischen Thätigkeit, sondern auch zur Assimilation (zum Ersatz und zur Uebercompensation des Ver - brauchten) angeregt zu werden. Dies ist diejenige Qualität, welche das Princip der functionellen Selbstgestaltung des Zweck - mässigen einschliesst.

Das Verhalten des Knochengewebes, die statische Structur auch in neuen Verhältnissen diesen angepasst hervorzubringen,239VI. Résume.spricht auf das Evidenteste für diese Eigenschaft ihrer Zellen und die rasch ablaufende Entartung der activ fungirenden Theile, der Muskeln, Nerven und Drüsen, bei gänzlicher Fernhaltung des functionellen Reizes scheint das Gleiche auch für diese Organe zu beweisen. Ausserdem zeigten wir, dass die bisherige Begründung der Activitätshypertrophie, sowie der Inactivitäts - atrophie auf mit der Function verbundene Alterationen der Blutzufuhr zu den Organen vollkommen unzutreffend ist, indem sie sowohl den allgemeinsten biologischen Erfahrungen wider - spricht, als auch specielle Thatsachen direct die Unmöglichkeit derartiger Entstehung beweisen.

Nachdem so die trophische Wirkung des functionellen Reizes, soweit uns möglich, festgestellt war, wurde die specielle morpho - logische Wirkungsweise dieses Principes noch besonders erörtert und im IV. Kapitel der Nachweis geführt, dass in der That diese Eigenschaft überall quantitativ und formativ das Zweck - mässige direct hervorzubringen vermag.

Durch die Fähigkeit des Kampfes der Theile, derartige Qualitäten zu züchten, musste eine viel höhere innere Voll - kommenheit, die Zweckmässigkeit der fungirenden Theile bis in’s letzte Molekel, hervorgebracht werden und viel rascher sich ausbilden, als wenn sie nach Darwin-Wallace durch Aus - lese aus formalen Variationen im Kampf um’s Dasein unter den Individuen hätte entstehen sollen und können.

Zum Schlusse warfen wir noch einen Blick auf das Orga - nische im allgemeinen und suchten dessen Wesen näher zu treten.

Da wir als die erste nothwendige Eigenschaft des Orga - nischen die Dauerfähigkeit auch unter wechselnden äusseren Bedingungen erkannten, so ergab sich als Grundeigenschaft des Organischen einmal die Fähigkeit der Selbstgestaltung des im Wechsel der Verhältnisse zur Erhaltung Nöthigen, mit der240VI. Résumé.Assimilation als erster Specialeigenschaft beginnend und durch vielfache Selbstregulationsmechanismen fortgeführt, und als zweite gleichwerthige Eigenschaft die Uebercompensation des Verbrauchten. Selbstregulation und Uebercompensation sind da - her die ersten wesentlichen Eigenschaften des organischen Ge - schehens und erst nach diesen konnte die Erwerbung der ein - zigen ebenso allgemeinen Eigenschaft, der Sensibilität, der Reflexbewegung, stattfinden.

Ist in der vorstehenden Arbeit vielleicht etwas zur Vervoll - ständigung und Abrundung der allgemeinen Entwickelungslehre der Organismen beigetragen worden, indem nachgewiesen wurde, welche allgemeinen Eigenschaften allein in dem Wechsel des Naturgeschehens Dauer gewinnen konnten und von Stufe zu Stufe durch Summation oder richtiger durch sich Ueberbieten von Variationen gesteigert werden mussten, so sind damit selbst - verständlich die Probleme des Geschehens an sich, des Mole - kular-Geschehens, wie es nach den physikalisch-chemischen Gesetzen aus bestimmten Ursachen auf bestimmte Weise sich vollzieht, nicht im geringsten gefördert.

Solches aber überhaupt von blossen Erhaltungs - und Stei - gerungsprincipien, wie sie die allgemeine Entwickelungslehre bilden, zu verlangen, heisst dasselbe, als etwa den Mathematiker ersuchen, die Geschwindigkeit der Wärmeschwingungen rein theoretisch zu bestimmen, heisst das concrete Geschehen, wel - ches durch Quantitäten bestimmt wird, rein aus den Qualitäten heraus (die wir nebenbei auch nicht kennen) entwickeln wollen. Dieses erscheint allerdings Manchem nicht unmöglich; und mich selbst fragte einst ein Gymnasialprofessor, ein ausgezeichneter Philologe, nachdem ich ihm die Methoden zur Bestimmung der Fluggeschwindigkeit der Kanonenkugeln beschrieben hatte, ver -241VI. Résumé.wundert, warum es dazu so umständlicher empirischer Methoden bedürfe, das liesse sich doch einfach berechnen. Gleicher Ansicht huldigen implicite die nicht wenigen Naturforscher, welche der Descendenzlehre vorwerfen, dass sie eigentlich keinen einzigen physiologischen Vorgang an sich erklärt habe.

So bleiben denn mit allem Geschehen auch die morpho - logischen Grundprobleme nach wie vor ohne jede Erklärung: die Ausbildung von Richtungen aus den an sich richtungslosen oder die Gestaltung aus den an sich gestaltlosen chemischen Processen und die embryonale Entwickelung, die Hervorbildung des Com - plicirten aus dem Einfachen ohne äussere differenzirende Ursache; und wir stehen vor diesen alltäglichen Erscheinungen nach wie vor als vor unfassbaren, unbegreiflichen Wundern.

Roux, Kampf der Theile. 16
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Specielles Inhaltsverzeichniss.

  • I. Kapitel. Die functionelle Anpassung.
    • A. Leistungen derselben. Allgemeine mechanische Zweckmässigkeitslehre p. 1. Wirkung des Gebrauches und Nichtgebrauches: Umfang der Wirkung p. 8. Art der Wirkung p. 15. Das Gesetz der dimensionalen Hypertro - phie p. 16. Nothwendigkeit dauernder Ursachen p. 22. Qualitative Wirkung p. 22. Begriff der functionellen Anpassung p. 27. Wir - kung der Function auf die Structur der Organe: der Knochen p. 27, der bindegewebigen Organe p. 28, der aus glatten Muskeln gebil - deten Organe p. 29. Functionelle Gestaltung der Blutgefässe p. 31.
    • B. Erblichkeit ihrer Wirkungen.
      • 1. Thatsächliches p. 34. Bedeutung der Erblichkeit für die Entwickelung der Organismen p. 35. Einwände p. 35. Beispiele der Vererbung p. 36. Bedeutung des Uebergangs vom Wasser - zum Luftleben p. 39. Unterschied der functionellen Anpassung und der Zuchtwahl in ihrer Wirkung p. 44..
      • 2. Theoretisches p. 47. Unterscheidung von Angeborenem und Vererbtem p. 47. Wirkung der functionellen Anpassung im Embryonalleben p. 48. Charakterisirung des Vererbten p. 50. Die embryonale Entwickelung p. 55. Das biogenetische Gesetz p. 57. Wesen der Vererbung p. 59. Analyse der embryonalen Entwicke - lung p. 61. Zeitliches der Vererbung p. 62.
  • II. Kapitel. Der Kampf der Theile im Organismus.
    • A. Begründung desselben p. 64. Vorbedingungen des Kampfes p. 65: Selbständigkeit der Theile p. 65. Unvollkommene Bestimmung der Einzelbildungen durch die Vererbung p. 66. Das Wachsthum p. 67. Der Stoffwechsel p. 69. Entstehung des Kampfes durch ungleiche Veränderungen der Theile p. 69.
    • B. Arten und Leistungen desselben. Eintheilung in Instanzen p. 73.
      • 1. Der Kampf der Molekel p. 73. a) Im einfachen Stoffwechsel: Bei ungleicher Assimilation p. 73. Bei ungleichem Verbrauch p. 74. Kampf um den Raum p. 74. Bei ungleich vollkommener Regeneration p. 75. Bei Aenderung der243Specielles Inhaltsverzeichniss.Nahrung p. 75. Bei Nahrungsmangel p. 75. Bei Selbstregulation des Ersatzes p. 75. Bei Uebercompensation des Verbrauches p. 76. Vorkommen dieser Verhältnisse p. 76. b) Bei Einwirkung von Reizen p. 77. Im Falle der Erhöhung der Assimilation p. 78. Bei Uebercompensation p. 78. Vorkommen p. 79. Bei ungleicher Auf - nahmefähigkeit des Reizes p. 80. Entstehung des Reizlebens p. 81. Wirkung verschiedener Reize p. 81. Aenderung der Reize p. 83. Selbststeigerung der Anpassung an den Reiz p. 83. Wirkung des Kampfes der Individuen p. 84. Allgemeiner Charakter der Leistun - gen des Kampfes der Molekel p. 85. Fernere Arten des Kampfes der Molekel p. 87.
      • 2. Der Kampf der Zellen p. 88. Im einfachen Stoffwechsel p. 89. Bei Reizeinwirkung p. 89. Nach dem Reizquantum p. 89. Bei verschiedenen Reizqualitäten p. 90. Unterschiede vom Kampf der Molekel p. 91. Kampf zwischen Zell - kern und Zellleib p 91. Begründung des Kampfes um den Raum p. 93. Kampf bei Ausscheidung der Stoffwechselproducte p. 95. Wirkungsgrösse des Kampfes der Zellen p. 95. Wirkung des Kam - pfes der Individuen p. 96.
      • 3. Der Kampf der Gewebe p. 96. Unterschied von den beiden ersten Kampfesweisen p. 96. Her - stellung des morphologischen Gleichgewichts p. 97. Mangel dieses Gleichgewichts im Erwachsenen p. 97, im Embryo p. 99. Kampf mit dem Bindegewebe p. 100. Normaler Kampf der Gewebe p. 101. Kampf der Reizgewebe p. 101.
      • 4. Der Kampf der Organe p. 103. Entstehung des morphologischen Gleichgewichts p. 103. Wech - selwirkung der Organe im Kampf um den Raum p. 103. Kampf der Reizorgane p. 104. Leistungen desselben p. 105. Kampf um die Nahrung p. 105. Uebersicht der Leistungen des Kampfes der Theile p. 106.
  • III. Kapitel. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize p. 111. Allgemeine Wirkungsweise durch den Reiz in der Assimilation gekräftigter Processe p. 112: Quantitative Selbstregulation p. 112. Ausgestaltung der Reizform p. 114. Fortwährend sich steigernde Differenzirung p. 115. Anpassung an die Reizintensitäten p. 116. Uebereinstimmung mit dem thatsächlichen Verhalten p. 116. Ver - halten der activ fungirenden Organe p. 117. Versuche mit Reiz - entziehung bei den Muskeln p. 117, bei den Drüsen p. 118, bei den Nerven p. 119. Pathologische Reizentziehung p. 123. Reizwirkung bei Sinnesorganen p. 124. Trophische Nerven p. 125. Entstehung der Geschwülste p. 133. Die Granulationsgeschwülste p. 135. Wirkung der functionellen Hyperaemie p. 137. Ursache der stärkeren Ernährung bei verstärkter Function p. 141. Wirkung verstärkter Nahrungszufuhr p. 141. Verschmähung der Nahrungs - aufnahme p. 142. Verhalten der Gewebe in der Jugend p. 144. Verhalten der Stützsubstanzen p. 144. Gegen die Passivität der Er - nährung p. 145. Formale Differenzirung im Embryo p. 145. Acti - vitätshypertrophie p. 149. Beweis der Selbstregulation der Blut - zufuhr nach dem Maasse des Verbrauches p. 150: Entwickelung16*244Specielles Inhaltsverzeichniss.der Geschwülste p. 150, der Parasiten p. 151, der metastatischen Tumoren p. 151, der Placenta p. 151. Beweis der Activität der Ernährung p. 152. Entstehung der Inactivitätsatrophie p. 158. Résumé p. 161.
  • IV. Kapitel. Differenzirende und gestaltende Wirkungen der functionellen Reize p. 165. Qualitative oder differenzirende Wirkung p. 165: Entstehung der Gewebe p. 165, der Sinneszellen p. 169, der Muskelzellen p. 175, der Stützsubstanzen p. 176. Grad der Anpassung an den functionellen Reiz p. 177. Scheidung des Lebens in embryonales und in Reizleben p. 180. Sinken der Anpassung an den Reiz p. 181. Quantitative oder gestaltende Wirkung p. 182: Quantitative Regulation p. 183. Functionelle Umbildung der äusseren Gestalt der Organe p. 185. Ausbildung der inneren Gestalt, der Structur p. 186: der Knochen p. 186, der Fascien etc. p. 189. Bildung dis - creter Bänder p. 191. Hohlwerden der Knochen p. 192. Entstehung der lockeren Verbindungen und der Schleimbeutel p. 194. Ent - stehung der hydrodynamischen Gestalt der Blutgefässe p. 194. Ausbildung der Coordinationen p. 105. Entstehung der dynami - schen Structur der Hohlmuskeln p. 196. Structur der Drüsen p. 199. Zeitliches der functionellen Selbstgestaltung p. 209. Unter - schied der Aenderungen durch embryonale Variation und durch functionelle Anpassung p. 202. Ausbildung der Harmonie der Theile p. 204. Entstehung der secundären Geschlechtscharaktere und der Geschlechtsorgane p. 204. Umgestaltende Wirkung chemi - scher Aenderungen p. 206. Schutz der Theile im Organismus vor fremden Reizen p. 207. Die Reizcentralisation p. 208. Charakter der erreichten Vollendung der Organisation p. 209.
  • V. Kapitel. Ueber das Wesen des Organischen p. 210. Unwesentliche Eigenschaften p. 210. Die Sensibilität p. 212. Das räumliche Verhalten p. 214. Die Bedingungen der Dauer - fähigkeit p. 215. Die Assimilation p. 216. Die Uebercompensation p. 217. Die Leistung p. 218. Die Function p. 219. Selbstregula - tion der Function: Die Reflexthätigkeit p. 220. Selbstregulation des Verbrauches: Hunger p. 221. Selbstregulation der Ausschei - dung p. 222. Selbstregulation der Assimilation p. 223. Leistungen letzterer Fähigkeit p. 224. Vorkommen derselben p. 225. Ge - sammtcharakter p. 226. Problem der Entstehung des Lebens p. 230.
  • VI. Kapitel. Résumé p. 236.

Druck von Breitkopf & Härtel in Leipzig.

About this transcription

TextDer Kampf der Theile im Organismus
Author Wilhelm Roux
Extent263 images; 61165 tokens; 8644 types; 449792 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

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Bibliographic informationDer Kampf der Theile im Organismus Ein Beitrag zur Vervollständigung der mechanischen Zweckmässigkeitslehre Wilhelm Roux. . VIII, 244 S. EngelmannLeipzig1881.

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LanguageGerman
ClassificationFachtext; Biologie; Wissenschaft; Biologie; core; ready; china

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