Von den Werken Theodor Fontane's erſchienen bisher in unſerm Verlage folgende Separat-Ausgaben:
Alle Rechte beſonders das der Überſetzung vorbehalten
Im Norden der Grafſchaft Ruppin, hart an der mecklenburgiſchen Grenze, zieht ſich von dem Städtchen Granſee bis nach Rheinsberg hin (und noch darüber hinaus) eine mehrere Meilen lange Seeenkette durch eine menſchenarme, nur hie und da mit ein paar alten Dörfern, ſonſt aber ausſchließlich mit Förſtereien, Glas - und Teeröfen beſetzte Waldung. Einer der Seeen, die dieſe Seeenkette bilden, heißt „ der Stechlin “. Zwiſchen flachen, nur an einer einzigen Stelle ſteil und quaiartig anſteigenden Ufern liegt er da, rundum von alten Buchen eingefaßt, deren Zweige, von ihrer eignen Schwere nach unten gezogen, den See mit ihrer Spitze berühren. Hie und da wächſt ein weniges von Schilf und Binſen auf, aber kein Kahn zieht ſeine Furchen, kein Vogel ſingt, und nur ſelten, daß ein Habicht drüber hinfliegt und ſeinen Schatten auf die Spiegel¬ fläche wirft. Alles ſtill hier. Und doch, von Zeit zu Zeit wird es an eben dieſer Stelle lebendig. Das iſt, wenn es weit draußen in der Welt, ſei's auf Island, ſei's auf Java, zu rollen und zu grollen beginnt oder gar der Aſchenregen der hawaiiſchen Vulkane bis weit auf die Südſee hinausgetrieben wird. Dann regt ſich's auch hier, und ein Waſſerſtrahl ſpringt auf und ſinkt wieder in die Tiefe. Das wiſſen alle, die den Stechlin umwohnen, und wenn ſie davon ſprechen, ſo ſetzen ſie1*4wohl auch hinzu: „ Das mit dem Waſſerſtrahl, das iſt nur das Kleine, das beinah Alltägliche; wenn's aber draußen was Großes giebt, wie vor hundert Jahren in Liſſabon, dann brodelt's hier nicht bloß und ſprudelt und ſtrudelt, dann ſteigt ſtatt des Waſſerſtrahls ein roter Hahn auf und kräht laut in die Lande hinein. “
Das iſt der Stechlin, der See Stechlin.
Aber nicht nur der See führt dieſen Namen, auch der Wald, der ihn umſchließt. Und Stechlin heißt ebenſo das langgeſtreckte Dorf, das ſich, den Windungen des Sees folgend, um ſeine Südſpitze herumzieht. Etwa hundert Häuſer und Hütten bilden hier eine lange, ſchmale Gaſſe, die ſich nur da, wo eine von Kloſter Wutz her heranführende Kaſtanienallee die Gaſſe durch¬ ſchneidet, platzartig erweitert. An eben dieſer Stelle findet ſich denn auch die ganze Herrlichkeit von Dorf Stechlin zuſammen; das Pfarrhaus, die Schule, das Schulzenamt, der Krug, dieſer letztere zugleich ein Eck - und Kramladen mit einem kleinen Mohren und einer Guirlande von Schwefelfäden in ſeinem Schaufenſter. Dieſer Ecke ſchräg gegenüber, unmittelbar hinter dem Pfarrhauſe, ſteigt der Kirchhof lehnan, auf ihm, ſo ziemlich in ſeiner Mitte, die frühmittelalterliche Feld¬ ſteinkirche mit einem aus dem vorigen Jahrhundert ſtammenden Dachreiter und einem zur Seite des alten Rundbogenportals angebrachten Holzarm, dran eine Glocke hängt. Neben dieſem Kirchhof ſamt Kirche ſetzt ſich dann die von Kloſter Wutz her heranführende Kaſtanienallee noch eine kleine Strecke weiter fort, bis ſie vor einer über einen ſumpfigen Graben ſich hin¬ ziehenden und von zwei rieſigen Findlingsblöcken flankierten Bohlenbrücke Halt macht. Dieſe Brücke iſt ſehr primitiv. Jenſeits derſelben aber ſteigt das5 Herrenhaus auf, ein gelbgetünchter Bau mit hohem Dach und zwei Blitzableitern.
Auch dieſes Herrenhaus heißt Stechlin, Schloß Stechlin.
Etliche hundert Jahre zurück ſtand hier ein wirk¬ liches Schloß, ein Backſteinbau mit dicken Rundtürmen, aus welcher Zeit her auch noch der Graben ſtammt, der die von ihm durchſchnittene, ſich in den See hinein¬ erſtreckende Landzunge zu einer kleinen Inſel machte. Das ging ſo bis in die Tage der Reformation. Während der Schwedenzeit aber wurde das alte Schloß niedergelegt, und man ſchien es ſeinem gänzlichen Ver¬ fall überlaſſen, auch nichts an ſeine Stelle ſetzen zu wollen, bis kurz nach dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelms I. die ganze Trümmermaſſe beiſeite geſchafft und ein Neubau beliebt wurde. Dieſer Neubau war das Haus, das jetzt noch ſtand. Es hatte denſelben nüchternen Charakter wie faſt alles, was unter dem Soldatenkönig entſtand, und war nichts weiter als ein einfaches Corps de logis, deſſen zwei vorſpringende, bis dicht an den Graben reichende Seitenflügel ein Hufeiſen und innerhalb desſelben einen kahlen Vorhof bildeten, auf dem, als einziges Schmuckſtück, eine große blanke Glaskugel ſich präſentierte. Sonſt ſah man nichts als eine vor dem Hauſe ſich hinziehende Rampe, von deren dem Hofe zugekehrter Vorderwand der Kalk ſchon wieder abfiel. Gleichzeitig war aber doch ein Beſtreben unver¬ kennbar, gerade dieſe Rampe zu was Beſonderem zu machen, und zwar mit Hilfe mehrerer Kübel mit exotiſchen Blattpflanzen, darunter zwei Aloes, von denen die eine noch gut im Stande, die andre dagegen krank war. Aber gerade dieſe kranke war der Liebling des Schloßherrn, weil ſie jeden Sommer in einer ihr6 freilich nicht zukommenden Blüte ſtand. Und das hing ſo zuſammen. Aus dem ſumpfigen Schloßgraben hatte der Wind vor langer Zeit ein fremdes Samenkorn in den Kübel der kranken Aloe geweht, und alljährlich ſchoſſen infolge davon aus der Mitte der ſchon ange¬ gelbten Aloeblätter die weiß und roten Dolden des Waſſerlieſch oder des Butomus umbellatus auf. Jeder Fremde der kam, wenn er nicht zufällig ein Kenner war, nahm dieſe Dolden für richtige Aloeblüten, und der Schloßherr hütete ſich wohl, dieſen Glauben, der eine Quelle der Erheiterung für ihn war, zu zerſtören.
Und wie denn alles hier herum den Namen Stechlin führte, ſo natürlich auch der Schloßherr ſelbſt. Auch er war ein Stechlin.
Dubslav von Stechlin, Major a. D. und ſchon ein gut Stück über Sechzig hinaus, war der Typus eines Märkiſchen von Adel, aber von der milderen Obſervanz, eines jener erquicklichen Originale, bei denen ſich ſelbſt die Schwächen in Vorzüge verwandeln. Er hatte noch ganz das eigentümlich ſympathiſch berührende Selbſtgefühl all derer, die „ ſchon vor den Hohenzollern da waren “, aber er hegte dieſes Selbſtgefühl nur ganz im ſtillen, und wenn es dennoch zum Ausdruck kam, ſo kleidete ſich's in Humor, auch wohl in Selbſtironie, weil er ſeinem ganzen Weſen nach überhaupt hinter alles ein Fragezeichen machte. Sein ſchönſter Zug war eine tiefe, ſo recht aus dem Herzen kommende Humanität, und Dünkel und Überheblichkeit (während er ſonſt eine Neigung hatte, fünf gerade ſein zu laſſen) waren ſo ziemlich die einzigen Dinge, die ihn empörten. Er hörte gern eine freie Meinung, je draſtiſcher und extremer, deſto beſſer. Daß ſich dieſe Meinung mit der ſeinigen deckte, lag ihm fern zu wünſchen. Beinah das Gegenteil. Paradoxen waren ſeine Paſſion. „ Ich bin nicht klug genug, ſelber welche zu machen, aber ich7 freue mich, wenn's andre thun; es iſt doch immer was drin. Unanfechtbare Wahrheiten giebt es überhaupt nicht, und wenn es welche giebt, ſo ſind ſie lang¬ weilig. “ Er ließ ſich gern was vorplaudern und plauderte ſelber gern.
Des alten Schloßherrn Lebensgang war märkiſch - herkömmlich geweſen. Von jung an lieber im Sattel als bei den Büchern, war er erſt nach zweimaliger Scheiterung ſiegreich durch das Fähnrichsexamen geſteuert und gleich darnach bei den brandenburgiſchen Küraſſieren eingetreten, bei denen ſelbſtverſtändlich auch ſchon ſein Vater geſtanden hatte. Dieſer ſein Eintritt ins Regiment fiel ſo ziemlich mit dem Regierungsantritt Friedrich Wil¬ helms IV. zuſammen, und wenn er deſſen erwähnte, ſo hob er, ſich ſelbſt perſiflierend, gerne hervor, „ daß alles Große ſeine Begleiterſcheinungen habe. “ Seine Jahre bei den Küraſſieren waren im weſentlichen Friedensjahre geweſen; nur anno vierundſechzig war er mit in Schleswig, aber auch hier, ohne „ zur Aktion “zu kommen. „ Es kommt für einen Märkiſchen nur darauf an, überhaupt mit dabei geweſen zu ſein; das andre ſteht in Gottes Hand. “ Und er ſchmunzelte, wenn er dergleichen ſagte, ſeine Hörer jedesmal in Zweifel darüber laſſend, ob er's ernſthaft oder ſcherzhaft gemeint habe. Wenig mehr als ein Jahr vor Ausbruch des vierundſechziger Kriegs war ihm ein Sohn geboren worden, und kaum wieder in ſeine Garniſon Brandenburg eingerückt, nahm er den Abſchied, um ſich auf ſein ſeit dem Tode des Vaters halb verödetes Schloß Stechlin zurückzuziehen. Hier warteten ſeiner glückliche Tage, ſeine glücklichſten, aber ſie waren von kurzer Dauer — ſchon das Jahr darauf ſtarb ihm die Frau. Sich eine neue zu nehmen, wider¬ ſtand ihm, halb aus Ordnungsſinn und halb aus äſthe¬ tiſcher Rückſicht. „ Wir glauben doch alle mehr oder weniger an eine Auferſtehung “(das heißt, er perſönlich8 glaubte eigentlich nicht daran), „ und wenn ich dann oben ankomme mit einer rechts und einer links, ſo is das doch immer eine genierliche Sache. “ Dieſe Worte — wie denn der Eltern Thun nur allzu häufig der Mi߬ billigung der Kinder begegnet — richteten ſich in Wirk¬ lichkeit gegen ſeinen dreimal verheiratet geweſenen Vater, an dem er überhaupt allerlei Großes und Kleines aus¬ zuſetzen hatte, ſo beiſpielsweiſe auch, daß man ihm, dem Sohne, den pommerſchen Namen „ Dubslav “bei¬ gelegt hatte. „ Gewiß, meine Mutter war eine Pommerſche, noch dazu von der Inſel Uſedom, und ihr Bruder, nun ja, der hieß Dubslav. Und ſo war denn gegen den Namen ſchon um des Onkels willen nicht viel einzu¬ wenden, und um ſo weniger, als er ein Erbonkel war. (Daß er mich ſchließlich ſchändlich im Stich gelaſſen, iſt eine Sache für ſich.) Aber trotzdem bleib 'ich dabei, ſolche Namensmanſcherei verwirrt bloß. Was ein Märkiſcher iſt, der muß Joachim heißen oder Woldemar. Bleib im Lande und taufe dich redlich. Wer aus Frie¬ ſack is, darf nicht Raoul heißen. “
Dubslav von Stechlin blieb alſo Witwer. Das ging nun ſchon an die dreißig Jahre. Anfangs war's ihm ſchwer geworden, aber jetzt lag alles hinter ihm, und er lebte „ comme philosophe “nach dem Wort und Vorbild des großen Königs, zu dem er jederzeit be¬ wundernd aufblickte. Das war ſein Mann, mehr als irgendwer, der ſich ſeitdem einen Namen gemacht hatte. Das zeigte ſich jedesmal, wenn ihm geſagt wurde, daß er einen Bismarckkopf habe. „ Nun ja, ja, den hab 'ich; ich ſoll ihm ſogar ähnlich ſehen. Aber die Leute ſagen es immer ſo, als ob ich mich dafür bedanken müßte. Wenn ich nur wüßte, bei wem; vielleicht beim lieben Gott, oder am Ende gar bei Bismarck ſelbſt. Die Stechline ſind aber auch nicht von ſchlechten Eltern. Außerdem, ich für meine Perſon, ich habe bei den9 ſechſten Küraſſieren geſtanden, und Bismarck bloß bei den ſiebenten, und die kleinere Zahl iſt in Preußen be¬ kanntlich immer die größere; — ich bin ihm alſo einen über. Und Friedrichsruh, wo alles jetzt hinpilgert, ſoll auch bloß' ne Kate ſein. Darin ſind wir uns alſo gleich. Und ſolchen See, wie den „ Stechlin “, nu, den hat er ſchon ganz gewiß nicht. So was kommt über¬ haupt bloß ſelten vor. “
Ja, auf ſeinen See war Dubslav ſtolz, aber deſto¬ weniger ſtolz war er auf ſein Schloß, weshalb es ihn auch verdroß, wenn es überhaupt ſo genannt wurde. Von den armen Leuten ließ er ſich's gefallen: „ Für die iſt es ein „ Schloß “, aber ſonſt iſt es ein alter Kaſten und weiter nichts. “ Und ſo ſprach er denn lieber von ſeinem „ Haus “, und wenn er einen Brief ſchrieb, ſo ſtand darüber „ Haus Stechlin “. Er war ſich auch be¬ wußt, daß es kein Schloßleben war, das er führte. Vor¬ dem, als der alte Backſteinbau noch ſtand, mit ſeinen dicken Türmen und ſeinem Luginsland, von dem aus man, über die Kronen der Bäume weg, weit ins Land hinausſah, ja, damals war hier ein Schloßleben geweſen, und die derzeitigen alten Stechline hatten teilgenommen an allen Feſtlichkeiten, wie ſie die Ruppiner Grafen und die mecklenburgiſchen Herzöge gaben, und waren mit den Boitzenburgern und den Baſſewitzens verſchwägert geweſen. Aber heute waren die Stechline Leute von ſchwachen Mitteln, die ſich nur eben noch hielten und beſtändig bemüht waren, durch eine „ gute Partie “ſich wieder leidlich in die Höhe zu bringen. Auch Dubslavs Vater war auf die Weiſe zu ſeinen drei Frauen gekommen, unter denen freilich nur die erſte das in ſie geſetzte Ver¬ trauen gerechtfertigt hatte. Für den jetzigen Schlo߬ herrn, der von der zweiten Frau ſtammte, hatte ſich daraus leider kein unmittelbarer Vorteil ergeben, und Dubslav von Stechlin wäre kleiner und großer Sorgen10 und Verlegenheiten nie los und ledig geworden, wenn er nicht in dem benachbarten Granſee ſeinen alten Freund Baruch Hirſchfeld gehabt hätte. Dieſer Alte, der den großen Tuchladen am Markt und außerdem die Mode¬ ſachen und Damenhüte hatte, hinſichtlich deren es immer hieß, „ Gerſon ſchicke ihm alles zuerſt “— dieſer alte Baruch, ohne das „ Geſchäftliche “darüber zu vergeſſen, hing in der That mit einer Art Zärtlichkeit an dem Stechliner Schloßherrn, was, wenn es ſich mal wieder um eine neue Schuldverſchreibung handelte, regelmäßig zu heikeln Auseinanderſetzungen zwiſchen Hirſchfeld Vater und Hirſchfeld Sohn führte.
„ Gott, Iſidor, ich weiß, du biſt fürs Neue. Aber was iſt das Neue? Das Neue verſammelt ſich immer auf unſerm Markt, und mal ſtürmt es uns den Laden und nimmt uns die Hüte, Stück für Stück, und die Reiherfedern und die Straußenfedern. Ich bin fürs Alte und für den guten alten Herrn von Stechlin. Is doch der Vater von ſeinem Großvater gefallen in der großen Schlacht bei Prag und hat gezahlt mit ſeinem Leben. “
„ Ja, der hat gezahlt; wenigſtens hat er gezahlt mit ſeinem Leben. Aber der von heute ... “
„ Der zahlt auch, wenn er kann und wenn er hat. Und wenn er nicht hat, und ich ſage: „ Herr von Stech¬ lin, ich werde ſchreiben ſiebeneinhalb, “dann feilſcht er nicht und dann zwackt er nicht. Und wenn er kippt, nu, da haben wir das Objekt: Mittelboden und Wald und Jagd und viel Fiſchfang. Ich ſeh 'es immer ſo ganz klein in der Perſpektiv', und ich ſeh 'auch ſchon den Kirchturm. “
„ Aber, Vaterleben, was ſollen wir mit'm Kirch¬ turm? “
In dieſer Richtung gingen öfters die Geſpräche zwiſchen Vater und Sohn, und was der Alte vorläufig11 noch in der „ Perſpektive “ſah, das wäre vielleicht ſchon Wirklichkeit geworden, wenn nicht des alten Dubslav um zehn Jahre ältere Schweſter mit ihrem von der Mutter her ererbten Vermögen geweſen wäre: Schweſter Adelheid, Domina zu Kloſter Wutz. Die half und ſagte gut, wenn es ſchlecht ſtand oder gar zum Äußerſten zu kommen ſchien. Aber ſie half nicht aus Liebe zu dem Bruder — gegen den ſie, ganz im Gegenteil, viel einzuwenden hatte —, ſondern lediglich aus einem allgemeinen Stech¬ linſchen Familiengefühl. Preußen war was und die Mark Brandenburg auch; aber das Wichtigſte waren doch die Stechlins, und der Gedanke, das alte Schloß in andern Beſitz und nun gar in einen ſolchen über¬ gehen zu ſehen, war ihr unerträglich. Und über all dies hinaus war ja noch ihr Patenkind da, ihr Neffe Wolde¬ mar, für den ſie all die Liebe hegte, die ſie dem Bruder verſagte.
Ja, die Domina half, aber ſolcher Hilfen unerachtet wuchs das Gefühl der Entfremdung zwiſchen den Ge¬ ſchwiſtern, und ſo kam es denn, daß der alte Dubslav, der die Schweſter in Kloſter Wutz weder gern beſuchte noch auch ihren Beſuch gern empfing, nichts von Um¬ gang beſaß als ſeinen Paſtor Lorenzen (den früheren Erzieher Woldemars) und ſeinen Küſter und Dorfſchul¬ lehrer Krippenſtapel, zu denen ſich allenfalls noch Ober¬ förſter Katzler geſellte, Katzler, der Feldjäger geweſen war und ein gut Stück Welt geſehen hatte. Doch auch dieſe drei kamen nur, wenn ſie gerufen wurden, und ſo war eigentlich nur einer da, der in jedem Augenblicke Red 'und Antwort ſtand. Das war Engelke, ſein alter Diener, der ſeit beinahe fünfzig Jahren alles mit ſeinem Herrn durchlebt hatte, ſeine glücklichen Leutnantstage, ſeine kurze Ehe und ſeine lange Einſamkeit. Engelke, noch um ein Jahr älter als ſein Herr, war deſſen Ver¬ trauter geworden, aber ohne Vertraulichkeit. Dubslav12 verſtand es, die Scheidewand zu ziehen. Übrigens wär' es auch ohne dieſe Kunſt gegangen. Denn Engelke war einer von den guten Menſchen, die nicht aus Berechnung oder Klugheit, ſondern von Natur hingebend und de¬ mütig ſind und in einem treuen Dienen ihr Genüge finden. Alltags war er, ſo Winter wie Sommer, in ein Leinwandhabit gekleidet, und nur wenn es zu Tiſch ging, trug er eine[richtige] Livree von ſandfarbenem Tuch mit großen Knöpfen dran. Es waren Knöpfe, die noch die Zeiten des Rheinsberger Prinzen Heinrich geſehen hatten, weshalb Dubslav, als er mal wieder in Ver¬ legenheit war, zu dem jüngſt verſtorbenen alten Herrn von Kortſchädel geſagt hatte: „ Ja, Kortſchädel, wenn ich ſo meinen Engelke, wie er da geht und ſteht, ins märkiſche Provinzialmuſeum abliefern könnte, ſo kriegt 'ich ein Jahrgehalt und wäre' raus. “
Das war im Mai, daß der alte Stechlin dieſe Worte zu ſeinem Freunde Kortſchädel geſprochen hatte. Heute aber war dritter Oktober und ein wundervoller Herbſttag dazu. Dubslav, ſonſt empfindlich gegen Zug, hatte die Thüren aufmachen laſſen, und von dem großen Portal her zog ein erquicklicher Luftſtrom bis auf die mit weiß und ſchwarzen Flieſen gedeckte Veranda hin¬ aus. Eine große, etwas ſchadhafte Marquiſe war hier herabgelaſſen und gab Schutz gegen die Sonne, deren Lichter durch die ſchadhaften Stellen hindurch ſchienen und auf den Flieſen ein Schattenſpiel aufführten. Garten¬ ſtühle ſtanden umher, vor einer Bank aber, die ſich an die Hauswand lehnte, waren doppelte Strohmatten ge¬ legt. Auf eben dieſer Bank, ein Bild des Behagens, ſaß der alte Stechlin in Joppe und breitkrempigem Filzhut und ſah, während er aus ſeinem Meerſchaum allerlei Ringe blies, auf ein Rundell, in deſſen Mitte,13 von Blumen eingefaßt, eine kleine Fontäne plätſcherte. Rechts daneben lief ein ſogenannter Poetenſteig, an deſſen Ausgang ein ziemlich hoher, aus allerlei Gebälk zuſammengezimmerter Ausſichtsturm aufragte. Ganz oben eine Plattform mit Fahnenſtange, daran die preußiſche Flagge wehte, ſchwarz und weiß, alles ſchon ziemlich verſchliſſen.
Engelke hatte vor kurzem einen roten Streifen an¬ nähen wollen, war aber mit ſeinem Vorſchlag nicht durchgedrungen. „ Laß. Ich bin nicht dafür. Das alte Schwarz und Weiß hält gerade noch; aber wenn du was rotes dran nähſt, dann reißt es gewiß. “
Die Pfeife war ausgegangen, und Dubslav wollte ſich eben von ſeinem Platz erheben und nach Engelke rufen, als dieſer vom Gartenſaal her auf die Veranda heraustrat.
„ Das iſt recht, Engelke, daß du kommſt ... Aber du haſt da ja was wie 'n Telegramm in der Hand. Ich kann Telegramms nicht leiden. Immer is einer dod, oder es kommt wer, der beſſer zu Hauſe geblieben wäre. “
Engelke griente. „ Der junge Herr kommt. “
„ Und das weißt du ſchon? “
„ Ja, Broſe hat es mir geſagt. “
„ So, ſo. Dienſtgeheimnis. Na, gieb her. “
Und unter dieſen Worten brach er das Telegramm auf und las: „ Lieber Papa. Bin ſechs Uhr bei dir. Rex und von Czako begleiten mich. Dein Woldemar. “
Engelke ſtand und wartete.
„ Ja, was da thun, Engelke? “ſagte Dubslav und drehte das Telegramm hin und her. „ Und aus Cremmen und von heute früh, “fuhr er fort. „ Da müſſen ſie alſo die Nacht über ſchon in Cremmen geweſen ſein. Auch kein Spaß. “
„ Aber Cremmen is doch ſo weit ganz gut. “
14„ Nu, gewiß, gewiß. Bloß ſie haben da ſo kurze Betten ... Und wenn man, wie Woldemar, Kavalleriſt iſt, kann man ja doch auch die acht Meilen von Berlin bis Stechlin in einer Pace machen. Warum alſo Nacht¬ quartier? Und Rex und von Czako begleiten mich. Ich kenne Rex nicht und kenne von Czako nicht. Wahr¬ ſcheinlich Regimentskameraden. Haben wir denn was? “
„ Ich denk doch, gnäd'ger Herr. Und wovor haben wir denn unſre Mamſell? Die wird ſchon was finden. “
„ Nu gut. Alſo wir haben was. Aber wen laden wir dazu ein? So bloß ich, das geht nicht. Ich mag mich keinem Menſchen mehr vorſetzen. Czako, das ginge vielleicht noch. Aber Rex, wenn ich ihn auch nicht kenne, zu ſo was Feinem wie Rex paſſ 'ich nicht mehr; ich bin zu altmodiſch geworden. Was meinſt du, ob die Gunder¬ manns wohl können? “
„ Ach, die können ſchon. Er gewiß, und ſie kluckt auch bloß immer ſo rum. “
„ Alſo Gundermanns. Gut. Und dann vielleicht Oberförſters. Das älteſte Kind hat freilich die Maſern, und die Frau, das heißt die Gemahlin (und Gemahlin is eigentlich auch noch nicht das rechte Wort) die erwartet wieder. Man weiß nie recht, wie man mit ihr dran iſt und wie man ſie nennen ſoll, Oberförſterin Katzler oder Durchlaucht. Aber man kann's am Ende ver¬ ſuchen. Und dann unſer Paſtor. Der hat doch wenigſtens die Bildung. Gundermann allein iſt zu wenig und eigentlich bloß ein Klutentreter. Und ſeitdem er die Siebenmühlen hat, iſt er noch weniger geworden. “
Engelke nickte.
„ Na, dann ſchick alſo Martin. Aber er ſoll ſich proper machen. Oder vielleicht iſt Broſe noch da; der kann ja auf ſeinem Retourgang bei Gundermanns mit 'rangehn. Und ſoll ihnen ſagen ſieben Uhr, aber nicht früher; ſie ſitzen ſonſt ſo lange rum, und man weiß15 nicht, wovon man reden ſoll. Das heißt mit ihm; ſie red't immerzu ... Und gieb Broſen auch' nen Kornus und funfzig Pfennig. “
„ Ich werd 'ihm dreißig geben. “
„ Nein, nein, funfzig. Erſt hat er ja doch was gebracht, und nu nimmt er wieder was mit. Das is ja ſo gut wie doppelt. Also funfzig. Knapſ 'ihm nichts ab. “
Ziemlich um dieſelbe Zeit, wo der Telegraphen¬ bote bei Gundermanns vorſprach, um die Beſtellung des alten Herrn von Stechlin auszurichten, ritten Wol¬ demar, Rex und Czako, die ſich für ſechs Uhr ange¬ meldet hatten, in breiter Front von Cremmen ab; Fritz, Woldemars Reitknecht, folgte den dreien. Der Weg ging über Wutz. Als ſie bis in Nähe von Dorf und Kloſter dieſes Namens gekommen waren, bog Woldemar vorſichtig nach links hin aus, weil er der Möglichkeit entgehen wollte, ſeiner Tante Adelheid, der Domina des Kloſters, zu begegnen. Er ſtand zwar gut mit dieſer und hatte ſogar vor, ihr, wie herkömmlich, auf dem Rückwege nach Berlin ſeinen Beſuch zu machen, aber in dieſem Augenblick paßte ihm ſolche Begegnung, die ſein pünktliches Eintreffen in Stechlin gehindert haben würde, herzlich ſchlecht. So beſchrieb er denn einen weiten Halbkreis und hatte das Kloſter ſchon um eine Viertelſtunde hinter ſich, als er ſich wieder der Haupt¬ ſtraße zuwandte. Dieſe, durch Moor - und Wieſengründe führend, war ein vorzüglicher Reitweg, der an vielen Stellen noch eine Grasnarbe trug, weshalb es andert¬ halb Meilen lang in einem ſcharfen Trabe vorwärts ging, bis an eine Avenue heran, die geradlinig auf Schloß Stechlin zuführte. Hier ließen alle drei die Zügel fallen und ritten im Schritt weiter. Über ihnen17 wölbten ſich die ſchönen alten Kaſtanienbäume, was ihrem Anritt etwas Anheimelndes und zugleich etwas beinah Feierliches gab.
„ Das iſt ja wie ein Kirchenſchiff, “ſagte Rex, der am linken Flügel ritt. „ Finden Sie nicht auch, Czako? “
„ Wenn Sie wollen, ja. Aber Pardon, Rex, ich finde die Wendung etwas trivial für einen Miniſterial¬ aſſeſſor. “
„ Nun gut, dann ſagen Sie was Beſſeres. “
„ Ich werde mich hüten. Wer unter ſolchen Um¬ ſtänden was Beſſeres ſagen will, ſagt immer was Schlechteres. “
Unter dieſem ſich noch eine Weile fortſetzenden Geſpräche waren ſie bis an einem Punkt gekommen, von dem aus man das am Ende der Avenue ſich auf¬ bauende Bild in aller Klarheit überblicken konnte. Da¬ bei war das Bild nicht bloß klar, ſondern auch ſo frappierend, daß Rex und Czako unwillkürlich anhielten.
„ Alle Wetter, Stechlin, das iſt ja reizend, “wandte ſich Czako zu dem am andern Flügel reitenden Wolde¬ mar. „ Ich find 'es geradezu märchenhaft, Fata Mor¬ gana — das heißt, ich habe noch keine geſehn. Die gelbe Wand, die da noch das letzte Tageslicht auffängt, das iſt wohl Ihr Zauberſchloß? Und das Stückchen Grau da links, das taxier' ich auf eine Kirchenecke. Bleibt nur noch der Staketzaun an der andern Seite; — da wohnt natürlich der Schulmeiſter. Ich verbürge mich, daß ich's damit getroffen. Aber die zwei ſchwarzen Rieſen, die da grad 'in der Mitte ſtehn und ſich von der gelben Wand abheben („ abheben “iſt übrigens auch trivial; entſchuldigen Sie, Rex), die ſtehen ja da wie die Cherubim. Allerdings etwas zu ſchwarz. Was ſind das für Leute? “
„ Das ſind Findlinge. “
Fontane, Der Stechlin. 218„ Findlinge? “
„ Ja, Findlinge, “wiederholte Woldemar. „ Aber wenn Ihnen das Wort anſtößig iſt, ſo können Sie ſie auch Monolithe nennen. Es iſt merkwürdig, Czako, wie hochgradig verwöhnt im Ausdruck Sie ſind, wenn Sie nicht gerade ſelber das Wort haben ... Aber nun, meine Herren, müſſen wir uns wieder in Trab ſetzen. Ich bin überzeugt, mein Papa ſteht ſchon ungeduldig auf ſeiner Rampe, und wenn er uns ſo im Schritt ankommen ſieht, denkt er, wir bringen eine Trauernachricht oder einen Verwundeten. “
Wenige Minuten ſpäter, und alle drei trabten denn auch wirklich, von Fritz gefolgt, über die Bohlenbrücke fort, erſt in den Vorhof hinein und dann an der blanken Glaskugel vorüber. Der Alte ſtand bereits auf der Rampe, Engelke hinter ihm und hinter dieſem Martin, der alte Kutſcher. Im Nu waren alle drei Reiter aus dem Sattel, und Martin und Fritz nahmen die Pferde. So trat man in den Flur. „ Erlaube, lieber Papa, dir zwei liebe Freunde von mir vorzuſtellen: Aſſeſſor von Rex, Hauptmann von Czako. “
Der alte Stechlin ſchüttelte jedem die Hand und ſprach ihnen aus, wie glücklich er über ihren Beſuch ſei. „ Seien Sie mir herzlich willkommen, meine Herren. Sie haben keine Ahnung, welche Freude Sie mir machen, mir, einem vergrätzten alten Einſiedler. Man ſieht nichts mehr, man hört nichts mehr. Ich hoffe auf einen ganzen Sack voll Neuigkeiten. “
„ Ach, Herr Major, “ſagte Czako, „ wir ſind ja ſchon vierundzwanzig Stunden fort. Und, ganz abgeſehen da¬ von, wer kann heutzutage noch mit den Zeitungen kon¬19 kurrieren! Ein Glück, daß manche prinzipiell einen Poſt¬ tag zu ſpät kommen. Ich meine mit den neueſten Nach¬ richten. Vielleicht auch ſonſt noch. “
„ Sehr wahr, “lachte Dubslav. „ Der Konſerva¬ tismus ſoll übrigens, ſeinem Weſen nach, eine Bremſe ſein; damit muß man vieles entſchuldigen. Aber da kommen Ihre Mantelſäcke, meine Herren. Engelke, führe die Herren auf ihr Zimmer. Wir haben jetzt ſechsein¬ viertel. Um ſieben, wenn ich bitten darf. “
Engelke hatte mittlerweile die beiden von Dubslav etwas altmodiſch als „ Mantelſäcke “bezeichneten Plaid¬ rollen in die Hand genommen und ging damit, den beiden Herren voran, auf die doppelarmige Treppe zu, die gerade da, wo die beiden Arme derſelben ſich kreuzten, einen ziemlich geräumigen Podeſt mit Säulchengalerie bildete. Zwiſchen den Säulchen aber, und zwar mit Blick auf den Flur, war eine Rokoko-Uhr angebracht, mit einem Zeitgott darüber, der eine Hippe führte. Czako wies darauf hin und ſagte leiſe zu Rex: „ Ein bißchen graulich, “— ein Gefühl, drin er ſich beſtärkt ſah, als man bis auf den mit ungeheurer Raumverſchwendung angelegten Oberflur gekommen war. Über einer nach hinten zu gelegenen Saalthür hing eine Holztafel mit der Inſchrift: „ Muſeum “, während hüben und drüben, an den Flurwänden links und rechts, mächtige Birkenmaſer - und Ebenholzſchränke ſtanden, wahre Prachtſtücke, mit zwei großen Bildern dazwiſchen, eines eine Burg mit dicken Backſteintürmen, das andre ein überlebensgroßer Ritter, augenſcheinlich aus der Frundsbergzeit, wo das bunt Landsknechtliche ſchon die Rüſtung zu drapieren begann.
„ Is wohl ein Ahn? “fragte Czako.
„ Ja, Herr Hauptmann. Und er iſt auch unten in der Kirche. “
„ Auch ſo wie hier? “
2 *20„ Nein, bloß Grabſtein und ſchon etwas abgetreten. Aber man ſieht doch noch, daß es derſelbe iſt. “
Czako nickte. Dabei waren ſie bis an ein Eck¬ zimmer gekommen, das mit der einen Seite nach dem Flur, mit der andern Seite nach einem ſchmalen Gang hin lag. Hier war auch die Thür. Engelke, voran¬ gehend, öffnete und hing die beiden Plaidrollen an die Haken eines hier gleich an der Thür ſtehenden Kleider¬ ſtänders. Unmittelbar daneben war ein Klingelzug mit einer grünen, etwas ausgefranſten Puſchel daran. Engelke wies darauf hin und ſagte: „ Wenn die Herren noch was wünſchen ... Und um ſieben ... Zweimal wird angeſchlagen. “
Und damit ging er, die beiden ihrer Bequemlich¬ keit überlaſſend.
Es waren zwei nebeneinander gelegene Zimmer, in denen man Rex und Czako untergebracht hatte, das vordere größer und mit etwas mehr Aufwand eingerichtet, mit Stehſpiegel und Toilette, der Spiegel ſogar zum Kippen. Das Bett in dieſem vorderen Zimmer hatte einen kleinen Himmel und daneben eine Etagere, auf deren oberem Brettchen eine Meißner Figur ſtand, ihr ohnehin kurzes Röckchen lüpfend, während auf dem unteren Brett ein Neues Teſtament lag, mit Kelch und Kreuz und einem Palmenzweig auf dem Deckel.
Czako nahm das Meißner Püppchen und ſagte: „ Wenn nicht unſer Freund Woldemar bei dieſem Arrange¬ ment ſeine Hand mit im Spiele gehabt hat, ſo haben wir hier in Bezug auf Requiſiten ein Ahnungsvermögen, wie's nicht größer gedacht werden kann. Das Püppchen pour moi, das Teſtament pour vous. “
„ Czako, wenn Sie doch bloß das Necken laſſen könnten! “
„ Ach, ſagen Sie doch ſo was nicht, Rex; Sie lieben mich ja bloß um meiner Neckereien willen. “
21Und nun traten ſie, von dem Vorderzimmer her, in den etwas kleineren Wohnraum, in dem Spiegel und Toilette fehlten. Dafür aber war ein Rokokoſofa da, mit hellblauem Atlas und weißen Blumen darauf.
„ Ja, Rex, “ſagte Czako, „ wie teilen wir nun? Ich denke, Sie nehmen nebenan den Himmel, und ich nehme das Rokokoſofa, noch dazu mit weißen Blumen, vielleicht Lilien. Ich wette, das kleine Ding von Sofa hat eine Geſchichte. “
„ Rokoko hat immer eine Geſchichte, “beſtätigte Rex. „ Aber hundert Jahr zurück. Was jetzt hier hauſt, ſieht mir, Gott ſei Dank, nicht danach aus. Ein bißchen Spuk trau 'ich dieſem alten Kaſten allerdings ſchon zu; aber keine Rokokogeſchichte. Rokoko iſt doch immer un¬ ſittlich. Wie gefällt Ihnen übrigens der Alte? “
„ Vorzüglich. Ich hätte nicht gedacht, daß unſer Freund Woldemar ſolchen famoſen Alten haben könnte. “
„ Das klingt ja beinah, “ſagte Rex, „ wie wenn Sie gegen unſern Stechlin etwas hätten. “
„ Was durchaus nicht der Fall iſt. Unſer Stechlin iſt der beſte Kerl von der Welt, und wenn ich das ver¬ dammte Wort nicht haßte, würd 'ich ihn ſogar einen „ perfekten Gentleman “nennen müſſen. Aber ... “
„ Nun ... “
„ Aber er paßt doch nicht recht an ſeine Stelle. “
„ An welche? “
„ In ſein Regiment. “
„ Aber, Czako, ich verſtehe Sie nicht. Er iſt ja brillant angeſchrieben. Liebling bei jedem. Der Oberſt hält große Stücke von ihm, und die Prinzen machen ihm beinah den Hof ... “
„ Ja, das iſt es ja eben. Die Prinzen, die Prinzen. “
„ Was denn, wie denn? “
„ Ach, das iſt eine lange Geſchichte, viel zu lang, um ſie hier vor Tiſch noch auszukramen. Denn es iſt22 bereits halb, und wir müſſen uns eilen. Übrigens trifft es viele, nicht bloß unſern Stechlin. “
„ Immer dunkler, immer rätſelvoller, “ſagte Rex.
„ Nun, vielleicht daß ich Ihnen das Rätſel löſe. Schließlich kann man ja Toilette machen und noch ſeinen Diskurs daneben haben. „ Die Prinzen machen ihm den Hof “, ſo geruhten Sie zu bemerken, und ich antwortete: „ Ja, das iſt es eben “. Und dieſe Worte kann ich Ihnen nur wiederholen. Die Prinzen — ja, damit hängt es zuſammen und noch mehr damit, daß die feinen Regi¬ menter immer feiner werden. Kucken Sie ſich mal die alten Rangliſten an, das heißt wirklich alte, voriges Jahr¬ hundert und dann ſo bis Anno ſechs. Da finden Sie bei Regiment Garde du Corps oder bei Regiment Gens¬ darmes unſere guten alten Namen: Marwitz, Wakenitz, Kracht, Löſchebrand, Bredow, Rochow, höchſtens daß ſich mal ein höher betitelter Schleſiſcher mit hinein ver¬ irrt. Natürlich gab es auch Prinzen damals, aber der Adel gab den Ton an, und die paar Prinzen mußten noch froh ſein, wenn ſie nicht ſtörten. Damit iſt es nun aber, ſeit wir Kaiſer und Reich ſind, total vorbei. Natür¬ lich ſprech 'ich nicht von der Provinz, nicht von Litauen und Maſuren, ſondern von der Garde, von den Regi¬ mentern unter den Augen Seiner Majeſtät. Und nun gar erſt dieſe Gardedragoner! Die waren immer piek, aber ſeit ſie, pour combler le bonheur, auch noch „ Königin von Großbritannien und Irland “ſind, wird es immer mehr davon, und je pieker ſie werden, deſto mehr Prinzen kommen hinein, von denen übrigens auch jetzt ſchon mehr da ſind, als es ſo obenhin ausſieht, denn manche ſind eigentlich welche und dürfen es bloß nicht ſagen. Und wenn man dann gar noch die alten mitrechnet, die bloß à la suite ſtehn, aber doch immer noch mit dabei ſind, wenn irgend was los iſt, ſo haben wir, wenn der Kreis geſchloſſen wird, zwar kein Parkett von Königen,23 aber doch einen Cirkus von Prinzen. Und da hinein iſt nun unſer guter Stechlin geſtellt. Natürlich thut er, was er kann, und macht ſo gewiſſe Luxuſſe mit, Gefühls¬ luxuſſe, Geſinnungsluxuſſe und, wenn es ſein muß, auch Freiheitsluxuſſe. So' nen Schimmer von Sozialdemokratie. Das iſt aber auf die Dauer ſchwierig. Richtige Prinzen können ſich das leiſten, die verbebeln nicht leicht. Aber Stechlin! Stechlin iſt ein reizender Kerl, aber er iſt doch bloß ein Menſch. “
„ Und das ſagen Sie, Czako, gerade Sie, der Sie das Menſchliche ſtets betonen? “
„ Ja, Rex, das thu 'ich. Heut wie immer. Aber eines ſchickt ſich nicht für alle. Der eine darf's, der andre nicht. Wenn unſer Freund Stechlin ſich in dieſe ſeine alte Schloßkate zurückzieht, ſo darf er Menſch ſein, ſo viel er will, aber als Gardedragoner kommt er da¬ mit nicht aus. Vom alten Adam will ich nicht ſprechen, das hat immer noch ſo' ne Nebenbedeutung. “
Während Rex und Czako Toilette machten und ab¬ wechſelnd über den alten[und] den jungen Stechlin ver¬ handelten, ſchritten die, die den Gegenſtand dieſer Unter¬ haltung bildeten, Vater und Sohn, im Garten auf und ab und hatten auch ihrerſeits ihr Geſpräch.
„ Ich bin dir dankbar, daß du mir deine Freunde mitgebracht haſt. Hoffentlich kommen ſie auf ihre Koſten. Mein Leben verläuft ein bißchen zu einſam, und es wird ohnehin gut ſein, wenn ich mich wieder an Menſchen gewöhne. Du wirſt geleſen haben, daß unſer guter alter Kortſchädel geſtorben iſt, und in etwa vierzehn Tagen haben wir hier 'ne Neuwahl. Da muß ich dann' ran und mich populär machen. Die Konſervativen wollen mich haben und keinen andern. Eigentlich mag24 ich nicht, aber ich ſoll, und da paßt es mir denn, daß du mir Leute bringſt, an denen ich mich für die Welt ſozuſagen wieder wie einüben kann. Sind ſie denn aus¬ giebig und plauderhaft? “
„ O ſehr, Papa, vielleicht zu ſehr. Wenigſtens der eine. “
„ Das is gewiß der Czako. Sonderbar, die von Alexander reden alle gern. Aber ich bin ſehr dafür; Schweigen kleid't nicht jeden. Und dann ſollen wir uns ja auch durch die Sprache vom Tier unterſcheiden. Alſo wer am meiſten red't, iſt der reinſte Menſch. Und dieſem Czako, dem hab 'ich es gleich angeſehn. Aber der Rex. Du ſagſt Miniſterialaſſeſſor. Iſt er denn von der frommen Familie? “
„ Nein, Papa. Du machſt dieſelbe Verwechslung, die beinah 'alle machen. Die fromme Familie, das ſind die Reckes, gräflich und ſehr vornehm. Die Rex natür¬ lich auch, aber doch nicht ſo hoch hinaus und auch nicht ſo fromm. Allerdings nimmt mein Freund, der Miniſterialaſſeſſor, einen Anlauf dazu, die Reckes wo¬ möglich einzuholen. “
„ Dann hab 'ich alſo doch recht geſehn. Er hat ſo die Figur, die ſo was vermuten läßt, ein bißchen wenig Fleiſch und ſo glatt raſiert. Habt ihr denn beim Ra¬ ſieren in Cremmen gleich einen gefunden? “
„ Er hat alles immer bei ſich; lauter engliſche. Von Solingen oder Suhl will er nichts wiſſen. “
„ Und muß man ihn denn vorſichtig anfaſſen, wenn das Geſpräch auf kirchliche Dinge kommt? Ich bin ja, wie du weißt, eigentlich kirchlich, wenigſtens kirchlicher als mein guter Paſtor (es wird immer ſchlimmer mit ihm), aber ich bin ſo im Ausdruck mitunter ungenierter, als man vielleicht ſein ſoll, und bei „ niedergefahren zur Hölle “kann mir's paſſieren, daß ich nolens volens ein25 bißchen tolles Zeug rede. Wie ſteht es denn da mit ihm? Muß ich mich in acht nehmen? Oder macht er bloß ſo mit? “
„ Das will ich nicht geradezu behaupten. Ich denke mir, er ſteht ſo wie die meiſten ſtehn; das heißt, er weiß es nicht recht. “
„ Ja, ja, den Zuſtand kenn 'ich. “
„ Und weil er es nicht recht weiß, hat er ſozuſagen die Auswahl und wählt das, was gerade gilt und nach oben hin empfiehlt. Ich kann das auch ſo ſchlimm nicht finden. Einige nennen ihn einen „ Streber “. Aber wenn er es iſt, iſt er jedenfalls keiner von den ſchlimmſten. Er hat eigentlich einen guten Charakter, und im cercle intime kann er reizend ſein. Er verändert ſich dann nicht in dem, was er ſagt, oder doch nur ganz wenig, aber ich möchte ſagen, er verändert ſich in der Art, wie er zuhört. Czako meint, unſer Freund Rex halte ſich mit dem Ohr für das ſchadlos, was er mit dem Munde verſäumt. Czako wird überhaupt am beſten mit ihm fertig; er ſchraubt ihn beſtändig, und Rex, was ich reizend finde, läßt ſich dieſe Schraubereien gefallen. Daran ſiehſt du ſchon, daß ſich mit ihm leben läßt. Seine Frömmigkeit iſt keine Lüge, bloß Erziehung, Angewohn¬ heit, und ſo ſchließlich ſeine zweite Natur geworden. “
„ Ich werde ihn bei Tiſch neben Lorenzen ſetzen; die mögen dann beide ſehn, wie ſie miteinander fertig werden. Vielleicht erleben wir 'ne Bekehrung. Das heißt Rex den Paſtor. Aber da höre ich eine Kutſche die Dorfſtraße' raufkommen. Das ſind natürlich Gunder¬ manns; die kommen immer zu früh. Der arme Kerl hat mal was von der Höflichkeit der Könige gehört und macht jetzt einen zu weitgehenden Gebrauch davon. Autodidakten übertreiben immer. Ich bin ſelber einer und kann alſo mitreden. Nun, wir ſprechen morgen früh weiter; heute wird es nichts mehr. Du wirſt dich26 auch noch ein bißchen ſtriegeln müſſen, und ich will mir 'nen ſchwarzen Rock anziehn. Das bin ich der guten Frau von Gundermann doch ſchuldig; ſie putzt ſich übrigens nach wie vor wie' n Schlittenpferd und hat immer noch den merkwürdigen Federbuſch in ihrem Zopf — das heißt, wenn's ihrer iſt. “
Engelke ſchlug unten im Flur zweimal an einen alten, als Tamtam fungierenden Schild, der an einem der zwei vorſpringenden und zugleich die ganze Treppe tragenden Pfeiler hing. Eben dieſe zwei Pfeiler bildeten denn auch mit dem Podeſt und der in Front deſſelben an¬ gebrachten Rokoko-Uhr einen zum Gartenſalon, dieſem Hauptzimmer des Erdgeſchoſſes, führenden, ziemlich pitto¬ resken Portikus, von dem ein auf Beſuch anweſender hauptſtädtiſcher Architekt mal geſagt hatte: ſämtliche Bau¬ ſünden von Schloß Stechlin würden durch dieſen ver¬ drehten, aber maleriſchen Einfall wieder gut gemacht.
Die Uhr mit dem Hippenmann ſchlug gerade ſieben, als Rex und Czako die Treppe herunter kamen und, eine Biegung machend, auf den von berufener Seite ſo glimpflich beurteilten ſonderbaren Vorbau zuſteuerten. Als die Freunde dieſen paſſierten, ſahen ſie — die Thürflügel waren ſchon geöffnet — in aller Bequem¬ lichkeit in den Salon hinein und nahmen hier wahr, daß etliche, ihnen zu Ehren geladene Gäſte bereits er¬ ſchienen waren. Dubslav, in dunkelm Überrock und die Bändchenroſette ſowohl des preußiſchen wie des wendiſchen Kronenordens im Knopfloch, ging den Eintretenden ent¬ gegen, begrüßte ſie nochmals mit der ihm eignen Herz¬ lichkeit, und beide Herren gleich danach in den Kreis der ſchon Verſammelten einführend, ſagte er: „ Bitte die28 Herrſchaften miteinander bekannt machen zu dürfen: Herr und Frau von Gundermann auf Siebenmühlen, Paſtor Lorenzen, Oberförſter Katzler, “und dann, nach links ſich wendend, „ Miniſterialaſſeſſor von Rex, Hauptmann von Czako vom Regiment Alexander. “ Man verneigte ſich gegenſeitig, worauf Dubslav zwiſchen Rex und Paſtor Lorenzen, Woldemar aber, als Adlatus ſeines Vaters, zwiſchen Czako und Katzler eine Verbindung herzuſtellen ſuchte, was auch ohne weiteres gelang, weil es hüben und drüben weder an geſellſchaftlicher Gewandtheit noch an gutem Willen gebrach. Nur konnte Rex nicht um¬ hin, die Siebenmühlener etwas eindringlich zu muſtern, trotzdem Herr von Gundermann in Frack und weißer Binde, Frau von Gundermann aber in geblümtem Atlas, mit Marabufächer erſchienen war, — er augenſcheinlich Parvenu, ſie Berlinerin aus einem nordöſtlichen Vorſtadt¬ gebiet.
Rex ſah das alles. Er kam aber nicht in die Lage, ſich lange damit zu beſchäftigen, weil Dubslav eben jetzt den Arm der Frau von Gundermann nahm und dadurch das Zeichen zum Aufbruch zu der im Neben¬ zimmer gedeckten Tafel gab. Alle folgten paarweiſe, wie ſie ſich vorher zuſammengefunden, kamen aber durch die von ſeiten Dubslavs ſchon vorher feſtgeſetzte Tafel¬ ordnung wieder auseinander. Die beiden Stechlins, Vater und Sohn, plazierten ſich an den beiden Schmalſeiten einander gegenüber, während zur Rechten und Linken von Dubslav Herr und Frau von Gundermann, rechts und links von Woldemar aber Rex und Lorenzen ſaßen. Die Mittelplätze hatten Katzler und Czako inne. Neben einem großen alten Eichenbüffett, ganz in Nähe der Thür, ſtanden Engelke und Martin, Engelke in ſeiner ſandfarbenen Livree mit den großen Knöpfen, Martin, dem nur oblag, mit der Küche Verbindung zu halten, einfach in ſchwarzem Rock und Stulpſtiefeln.
29Der alte Dubslav war in beſter Laune, ſtieß gleich nach den erſten Löffeln Suppe mit Frau von Gunder¬ mann vertraulich an, dankte für ihr Erſcheinen und ent¬ ſchuldigte ſich wegen der ſpäten Einladung: „ Aber erſt um zwölf kam Woldemars Telegramm. Es iſt das mit dem Telegraphieren ſolche Sache, manches wird beſſer, aber manches wird auch ſchlechter, und die feinere Sitte leidet nun ſchon ganz gewiß. Schon die Form, die Abfaſſung. Kürze ſoll eine Tugend ſein, aber ſich kurz faſſen, heißt meiſtens auch ſich grob faſſen. Jede Spur von Verbindlichkeit fällt fort, und das Wort ‚ Herr‘ iſt beiſpielsweiſe gar nicht mehr anzutreffen. Ich hatte mal einen Freund, der ganz ernſthaft verſicherte: ‚ Der häßlichſte Mops ſei der ſchönſte‘; ſo läßt ſich jetzt bei¬ nahe ſagen, ‚ das gröbſte Telegramm iſt das feinſte‘. Wenigſtens das in ſeiner Art vollendetſte. Jeder, der wieder eine neue Fünfpfennigerſparnis herausdoktert, iſt ein Genie. “
Dieſe Worte Dubslavs hatten ſich anfänglich an die Frau von Gundermann, ſehr bald aber mehr an Gundermann ſelbſt gerichtet, weshalb dieſer letztere denn auch antwortete: „ Ja, Herr von Stechlin, alles Zeichen der Zeit. Und ganz bezeichnend, daß gerade das Wort ‚ Herr‘, wie Sie ſchon hervorzuheben die Güte hatten, ſo gut wie abgeſchafft iſt. ‚ Herr‘ iſt Unſinn geworden, ‚ Herr‘ paßt den Herren nicht mehr, — ich meine natürlich die, die jetzt die Welt regieren wollen. Aber es iſt auch danach. Alle dieſe Neuerungen, an denen ſich leider auch der Staat beteiligt, was ſind ſie? Be¬ günſtigungen der Unbotmäßigkeit, alſo Waſſer auf die Mühlen der Sozialdemokratie. Weiter nichts. Und nie¬ mand da, der Luſt und Kraft hätte, dies Waſſer abzu¬ ſtellen. Aber trotzdem, Herr von Stechlin, — ich würde nicht widerſprechen, wenn mich das Thatſächliche nicht dazu zwänge — trotzdem geht es nicht ohne Telegraphie,30 gerade hier in unſrer Einſamkeit. Und dabei das be¬ ſtändige Schwanken der Kurſe. Namentlich auch in der Mühlen - und Brettſchneidebranche ... “
„ Verſteht ſich, lieber Gundermann. Was ich da geſagt habe ... Wenn ich das Gegenteil geſagt hätte, wäre es ebenſo richtig. Der Teufel is nich ſo ſchwarz, wie er gemalt wird, und die Telegraphie auch nicht, und wir auch nicht. Schließlich iſt es doch was Großes, dieſe Naturwiſſenſchaften, dieſer elektriſche Strom, tipp, tipp, tipp, und wenn uns daran läge (aber uns liegt nichts daran), ſo könnten wir den Kaiſer von China wiſſen laſſen, daß wir hier verſammelt ſind und ſeiner gedacht haben. Und dabei dieſe merkwürdigen Ver¬ ſchiebungen in Zeit und Stunde. Beinahe komiſch. Als Anno ſiebzig die Pariſer Septemberrevolution ausbrach, wußte man's in Amerika drüben um ein paar Stunden früher, als die Revolution überhaupt da war. Ich ſagte: Septemberrevolution. Es kann aber auch 'ne andre geweſen ſein; ſie haben da ſo viele, daß man ſie leicht verwechſelt. Eine war im Juni,' ne andre war im Juli, — wer nich ein Bombengedächtnis hat, muß da notwendig 'reinfallen ... Engelke, präſentiere der gnäd'gen Frau den Fiſch noch mal. Und vielleicht nimmt auch Herr von Czako ... “
„ Gewiß, Herr von Stechlin, “ſagte Czako. „ Erſt¬ lich aus reiner Gourmandiſe, dann aber auch aus Forſchertrieb oder Fortſchrittsbedürfnis. Man will doch an dem, was gerade gilt oder überhaupt Menſchheits¬ entwickelung bedeutet, auch ſeinerſeits nach Möglichkeit teilnehmen, und da ſteht denn Fiſchnahrung jetzt obenan. Fiſche ſollen außerdem viel Phosphor enthalten, und Phosphor, ſo heißt es, macht ‚ helle‘. “
„ Gewiß, “kicherte Frau von Gundermann, die ſich bei dem Wort „ helle “wie perſönlich getroffen fühlte. „ Phosphor war ja auch ſchon, eh 'die Schwe¬ diſchen aufkamen. “
31„ O, lange vorher, “beſtätigte Czako. „ Was mich aber, “fuhr er, ſich an Dubslav wendend, fort, „ an dieſen Karpfen noch ganz beſonders feſſelt — beiläufig ein Prachtexemplar — das iſt das, daß er doch höchſtwahr¬ ſcheinlich aus Ihrem berühmten See ſtammt, über den ich durch Woldemar, Ihren Herrn Sohn, bereits unter¬ richtet bin. Dieſer merkwürdige See, dieſer Stechlin! Und da frag ich mich denn unwillkürlich (denn Karpfen werden alt; daher beiſpielsweiſe die Mooskarpfen), welche Revolutionen ſind an dieſem hervorragenden Exemplar ſeiner Gattung wohl ſchon vorüber gegangen? Ich weiß nicht, ob ich ihn auf hundertfünfzig Jahre taxieren darf, wenn aber, ſo würde er als Jüngling die Liſſaboner Aktion und als Urgreis den neuerlichen Ausbruch des Krakatowa mitgemacht haben. Und all das erwogen, drängt ſich mir die Frage auf ... “
Dubslav lächelte zuſtimmend.
„ ... Und all das erwogen, drängt ſich mir die Frage auf, wenn's nun in Ihrem Stechlinſee zu brodeln beginnt oder gar die große Trichterbildung anhebt, aus der dann und wann, wenn ich recht gehört habe, der krähende Hahn aufſteigt, wie verhält ſich da der Stechlinkarpfen, dieſer doch offenbar Nächſtbeteiligte, bei dem Anpochen derartiger Weltereigniſſe? Beneidet er den Hahn, dem es vergönnt iſt, in die Ruppiner Lande hineinzukrähen,[oder] iſt er umgekehrt ein Feigling, der ſich in ſeinem Moorgrund verkriecht, alſo ein Bourgeois, der am andern Morgen fragt: ‚ Schießen ſie noch?‘ “
„ Mein lieber Herr von Czako, die Beantwortung Ihrer Frage hat ſelbſt für einen Anwohner des Stechlin ſeine Schwierigkeiten. Ins Innere der Natur dringt kein erſchaffener Geiſt. Und zu dem innerlichſten und verſchloſſenſten zählt der Karpfen; er iſt nämlich ſehr dumm. Aber nach der Wahrſcheinlichkeitsrechnung wird er ſich beim Eintreten der großen Eruption wohl ver¬32 krochen haben. Wir verkriechen uns nämlich alle. Helden¬ tum iſt Ausnahmezuſtand und meiſt Produkt einer Zwangslage. Sie brauchen mir übrigens nicht zuzu¬ ſtimmen, denn Sie ſind noch im Dienſt. “
„ Bitte, bitte, “ſagte Czako.
Sehr, ſehr anders ging das Geſpräch an der ent¬ gegengeſetzten Seite der Tafel. Rex, der, wenn er dienſt¬ lich oder außerdienſtlich aufs Land kam, immer eine Neigung ſpürte, ſozialen Fragen nachzuhängen und bei¬ ſpielsweiſe jedesmal mit Vorliebe darauf aus war, an das Zahlenverhältnis der in und außer der Ehe ge¬ borenen Kinder alle möglichen, teils dem Gemeinwohl, teils der Sittlichkeit zu gute kommende Betrachtungen zu knüpfen, hatte ſich auch heute wieder in einem mit Paſtor Lorenzen angeknüpften Zwiegeſpräch ſeinem Lieblings¬ thema zugewandt, war aber, weil Dubslav durch eine Zwiſchenfrage den Faden abſchnitt, in die Lage ge¬ kommen, ſich vorübergehend ſtatt mit Lorenzen mit Katzler beſchäftigen zu müſſen, von dem er zufällig in Er¬ fahrung gebracht hatte, daß er früher Feldjäger geweſen ſei. Das gab ihm einen guten Geſprächsſtoff und ließ ihn fragen, ob der Herr Oberförſter nicht mitunter ſchmerzlich den zwiſchen ſeiner Vergangenheit und ſeiner Gegenwart liegenden Gegenſatz empfinde, — ſein früherer Feldjägerberuf, ſo nehme er an, habe ihn in die weite Welt hinausgeführt, während er jetzt „ ſtabiliert “ſei. „ Stabilierung “zählte zu Rex 'Lieblingswendungen und entſtammte jenem ſorglich ausgewählten Fremdwörterſchatz, den er ſich — er hatte dieſe Dinge dienſtlich zu bearbeiten gehabt — aus den Erlaſſen König Friedrich Wilhelms I. angeeignet und mit in ſein Aktendeutſch herübergenommen hatte. Katzler, ein vorzüglicher Herr, aber auf dem Ge¬ biete der Konverſation doch nur von einer oft unaus¬33 reichenden Orientierungsfähigkeit, fand ſich in des Miniſterialaſſeſſors etwas gedrechſeltem Gedankengange nicht gleich zurecht und war froh, als ihm der hell¬ hörige, mittlerweile wieder frei gewordene Paſtor in der durch Rex aufgeworfenen Frage zu Hilfe kam. „ Ich glaube herauszuhören, “ſagte Lorenzen, „ daß Herr von Rex geneigt iſt, dem Leben draußen in der Welt vor dem in unſrer ſtillen Grafſchaft den Vorzug zu geben. Ich weiß aber nicht, ob wir ihm darin folgen können, ich nun ſchon gewiß nicht; aber auch unſer Herr Ober¬ förſter wird mutmaßlich froh ſein, ſeine vordem im Eiſenbahncoupé verbrachten Feldjägertage hinter ſich zu haben. Es heißt freilich ‚ im engen Kreis verengert ſich der Sinn‘, und in den meiſten Fällen mag es zutreffen. Aber doch nicht immer, und jedenfalls hat das Welt¬ fremde beſtimmte große Vorzüge. “
„ Sie ſprechen mir durchaus aus der Seele, Herr Paſtor Lorenzen, “ſagte Rex. „ Wenn es einen Augen¬ blick vielleicht ſo klang, als ob der ‚ Globetrotter‘ mein Ideal ſei, ſo bin ich ſehr geneigt, mit mir handeln zu laſſen. Aber etwas hat es doch mit dem ‚ Auch-draußen - zu-Hauſe-ſein‘ auf ſich, und wenn Sie trotzdem für Einſamkeit und Stille plaidieren, ſo plaidieren Sie wohl in eigner Sache. Denn wie ſich der Herr Oberförſter aus der Welt zurückgezogen hat, ſo wohl auch Sie. Sie ſind beide darin, ganz individuell, einem Herzenszuge gefolgt, und vielleicht, daß meine perſönliche Neigung dieſelben Wege ginge. Dennoch wird es andre geben, die von einem ſolchen Sichzurückziehen aus der Welt nichts wiſſen wollen, die vielleicht umgekehrt, ſtatt in einem ſich Hingeben an den Einzelnen, in der Beſchäftigung mit einer Vielheit ihre Beſtimmung finden. Ich glaube durch Freund Stechlin zu wiſſen, welche Fragen Sie ſeit lange beſchäftigen, und bitte, Sie dazu beglück¬ wünſchen zu dürfen. Sie ſtehen in der chriſtlich-ſozialenFontane, Der Stechlin. 334Bewegung. Aber nehmen Sie deren Schöpfer, der Ihnen perſönlich vielleicht nahe ſteht, er und ſein Thun ſprechen doch recht eigentlich für mich; ſein Feld iſt nicht einzelne Seelſorge, nicht eine Landgemeinde, ſondern eine Welt¬ ſtadt. Stöckers Auftreten und ſeine Miſſion ſind eine Widerlegung davon, daß das Schaffen im Engen und Umgrenzten notwendig das Segensreichere ſein müſſe. “
Lorenzen war daran gewöhnt, ſei's zu Lob, ſei's zu Tadel, ſich mit dem ebenſo gefeierten wie befehdeten Hofprediger in Parallele geſtellt zu ſehen, und empfand dies jedesmal als eine Huldigung. Aber nicht minder empfand er dabei regelmäßig den tiefen Unterſchied, der zwiſchen dem großen Agitator und ſeiner ſtillen Weiſe lag. „ Ich glaube, Herr von Rex, “nahm er wieder das Wort, „ daß Sie den, Vater der Berliner Bewegung‘ ſehr richtig geſchildert haben, vielleicht ſogar zur Zu¬ friedenheit des Geſchilderten ſelbſt, was, wie man ſagt, nicht eben leicht ſein ſoll. Er hat viel erreicht und ſteht anſcheinend in einem Siegeszeichen; hüben und drüben hat er Wurzel geſchlagen und ſieht ſich geliebt und ge¬ huldigt, nicht nur ſeitens derer, denen er mildthätig die Schuhe ſchneidet, ſondern beinah mehr noch im Lager derer, denen er das Leder zu den Schuhen nimmt. Er hat ſchon ſo viele Beinamen, und der des heiligen Kriſpin wäre nicht der ſchlimmſte. Viele wird es geben, die ſein Thun im guten Sinne beneiden. Aber ich fürchte, der Tag iſt nahe, wo der ſo Ruhige und zu¬ gleich ſo Mutige, der ſeine Ziele ſo weit ſteckte, ſich in die Enge des Daſeins zurückſehnen wird. Er beſitzt, wenn ich recht berichtet bin, ein kleines Bauerngut irgend¬ wo in Franken, und wohl möglich, ja, mir perſönlich geradezu wahrſcheinlich, daß ihm an jener ſtillen Stelle früher oder ſpäter ein echteres Glück erblüht, als er es jetzt hat. Es heißt wohl, ‚ Gehet hin und lehret alle Heiden‘, aber ſchöner iſt es doch, wenn die Welt, uns35 ſuchend, an uns herankommt. Und die Welt kommt ſchon, wenn die richtige Perſönlichkeit ſich ihr aufthut. Da iſt dieſer Wörishofener Pfarrer — er ſucht nicht die Menſchen, die Menſchen ſuchen ihn. Und wenn ſie kommen, ſo heilt er ſie, heilt ſie mit dem Einfachſten und Natürlichſten. Übertragen Sie das vom Äußern aufs Innere, ſo haben Sie mein Ideal. Einen Brunnen graben juſt an der Stelle, wo man gerade ſteht. Innere Miſſion in nächſter Nähe, ſei's mit dem Alten, ſei's mit etwas Neuem. “
„ Alſo mit dem Neuen, “ſagte Woldemar und reichte ſeinem alten Lehrer die Hand.
Aber dieſer antwortete: „ Nicht ſo ganz unbedingt mit dem Neuen. Lieber mit dem Alten, ſoweit es irgend geht, und mit dem Neuen nur, ſoweit es muß. “
Das Mahl war inzwiſchen vorgeſchritten und bei einem Gange angelangt, der eine Spezialität von Schloß Stechlin war und jedesmal die Bewunderung ſeiner Gäſte: losgelöſte Krammetsvögelbrüſte, mit einer dunkeln Kraftbrühe angerichtet, die, wenn die Herbſt - und Eber¬ eſchentage da waren, als eine höhere Form von Schwarz¬ ſauer auf den Tiſch zu kommen pflegten. Engelke prä¬ ſentierte Burgunder dazu, der ſchon lange lag, noch aus alten beſſeren Tagen her, und als jeder davon genommen, erhob ſich Dubslav, um erſt kurz ſeine lieben Gäſte zu begrüßen, dann aber die Damen leben zu laſſen. Er müſſe bei dieſem Plural bleiben, trotzdem die Damen¬ welt nur in einer Einheit vertreten ſei; doch er gedenke dabei neben ſeiner lieben Freundin und Tiſchnachbarin (er küßte dieſer huldigend die Hand) zugleich auch der „ Gemahlin “ſeines Freundes Katzler, die leider — wenn auch vom Familienſtandpunkt aus in hocherfreulichſter3*36Veranlaſſung — am Erſcheinen in ihrer Mitte verhindert ſei: „ Meine Herren, Frau Oberförſter Katzler “— er machte hier eine kleine Pauſe, wie wenn er eine höhere Titulatur ganz ernſthaft in Erwägung gezogen hätte — „ Frau Oberförſter Katzler und Frau von Gundermann, ſie leben hoch! “ Rex, Czako, Katzler erhoben ſich, um mit Frau von Gundermann anzuſtoßen, als aber jeder von ihnen auf ſeinen Platz zurückgekehrt war, nahmen ſie die durch den Toaſt unterbrochenen Privatgeſpräche wieder auf, wobei Dubslav als guter Wirt ſich darauf beſchränkte, kurze Bemerkungen nach links und rechts hin einzuſtreuen. Dies war indeſſen nicht immer leicht, am wenigſten leicht bei dem Geplauder, das der Haupt¬ mann und Frau von Gundermann führten, und das ſo pauſenlos verlief, daß ein Einhaken ſich kaum ermög¬ lichte. Czako war ein guter Sprecher, aber er verſchwand neben ſeiner Partnerin. Ihres Vaters Laufbahn, der es (urſprünglich Schreib - und Zeichenlehrer) in einer langen, ſchon mit Anno 13 beginnenden Dienſtzeit bis zum Hauptmann in der „ Plankammer “gebracht hatte, gab ihr in ihren Augen eine gewiſſe militäriſche Zugehörig¬ keit, und als ſie, nach mehrmaligem Auslugen, endlich den ihr wohlbekannten Namenszug des Regiments Alexander auf Czakos Achſelklappe erkannt hatte, ſagte ſie: „ Gott ..., Alexander. Nein, ich ſage. Mir war aber doch auch gleich ſo Münzſtraße. Wir wohnten ja Linienſtraße, Ecke der Weinmeiſter — das heißt, als ich meinen Mann kennen lernte. Vorher draußen, Schönhauſer Allee. Wenn man ſo wen aus ſeiner Gegend wieder ſieht! Ich bin ganz glücklich, Herr Hauptmann. Ach, es iſt zu traurig hier. Und wenn wir nicht den Herrn von Stechlin hätten, ſo hätten wir ſo gut wie gar nichts. Mit Katzlers, “aber dies flüſterte ſie nur leiſe, „ mit Katzlers iſt es nichts; die ſind zu hoch 'raus. Da muß man ſich denn klein machen. Und ſo toll iſt es am Ende doch37 auch noch nicht. Jetzt paſſen ſie ja noch leidlich. Aber abwarten. “
„ Sehr wahr, ſehr wahr, “ſagte Czako, der, ohne was Sicheres zu verſtehen, nur ein während des Dubslavſchen Toaſtes ſchon gehabtes Gefühl beſtätigt ſah, daß es mit den Katzlers was Beſonderes auf ſich haben müſſe. Frau von Gundermann aber, den ihr un¬ bequemen Flüſterton aufgebend, fuhr mit wieder lauter werdender Stimme fort, „ wir haben den Herrn von Stechlin, und das iſt ein Glück, und es iſt auch bloß eine gute halbe Meile. Die meiſten andern wohnen viel zu weit, und wenn ſie auch näher wohnten, ſie wollen alle nicht recht; die Leute hier, mit denen wir eigentlich Umgang haben müßten, ſind ſo difficil und legen alles auf die Goldwage. Das heißt, vieles legen ſie nicht auf die Goldwage, dazu reicht es bei den meiſten nicht aus; nur immer die Ahnen. Und ſechzehn iſt das wenigſte. Ja, wer hat gleich ſechzehn? Gundermann iſt erſt geadelt, und wenn er nicht Glück gehabt hätte, ſo wär 'es gar nichts. Er hat nämlich klein angefangen, bloß mit einer Mühle; jetzt haben wir nun freilich ſieben, immer den Rhin entlang, lauter Schneidemühlen, Bohlen und Bretter, einzöllig, zweizöllig und noch mehr. Und die Berliner Dielen, die ſind faſt alle von uns. “
„ Aber, meine gnädigſte Frau, das muß Ihnen doch ein Hochgefühl geben. Alle Berliner Dielen! Und dieſer Rhinfluß, von dem Sie ſprechen, der vielleicht eine ganze Seeenkette verbindet, und woran mutmaßlich eine reizende Villa liegt! Und darin hören Sie Tag und Nacht, wie nebenan in der Mühle die Säge geht, und die dicht herumſtehenden Bäume bewegen ſich leiſe. Mitunter natürlich iſt auch Sturm. Und Sie haben eine Pony - Equipage für Ihre Kinder. Ich darf doch annehmen, daß Sie Kinder haben? Wenn man ſo abgeſchieden lebt und ſo beſtändig aufeinander angewieſen iſt ... “
38„ Es iſt, wie Sie ſagen, Herr Hauptmann; ich habe Kinder, aber ſchon erwachſen, beinah alle, denn ich habe mich jung verheiratet. Ja, Herr von Czako, man iſt auch einmal jung geweſen. Und es iſt ein Glück, daß ich die Kinder habe. Sonſt iſt kein Menſch da, mit dem man ein gebildetes Geſpräch führen kann. Mein Mann hat ſeine Politik und möchte ſich wählen laſſen, aber es wird nichts, und wenn ich die Journale bringe, nicht mal die Bilder ſieht er ſich an. Und die Geſchichten, ſagt er, ſeien bloß dummes Zeug und bloß Waſſer auf die Mühlen der Sozialdemokratie. Seine Mühlen, was ich übrigens recht und billig finde, ſind ihm lieber. “
„ Aber Sie müſſen doch viele Menſchen um ſich herum haben, ſchon in Ihrer Wirtſchaft. “
„ Ja die hab 'ich, und die Mamſells die man ſo kriegt, ja ein paar Wochen geht es; aber dann bändeln ſie gleich an, am liebſten mit' nem Volontär, wir haben nämlich auch Volontärs in der Mühlenbranche. Und die meiſten ſind aus ganz gutem Hauſe. Die jungen Menſchen paſſen aber nicht auf, und da hat man's denn, und immer gleich Knall und Fall. All das iſt doch traurig, und mitunter iſt es auch ſo, daß man ſich geradezu genieren muß. “
Czako ſeufzte. „ Mir ein Greuel, all dergleichen. Aber ich weiß vom Manöver her, was alles vorkommt. Und mit einer Schläue .. nichts ſchlauer, als verliebte Menſchen. Ach, das iſt ein Kapitel, womit man nicht fertig wird. Aber Sie ſagten Linienſtraße, meine Gnädigſte. Welche Nummer denn? Ich kenne da beinah jedes Haus, kleine, nette Häuſer, immer bloß Bel-Etage, höchſtens mal ein Oeil de Boeuf. “
„ Wie? was? “
„ Großes rundes Fenſter ohne Glas. Aber ich liebe dieſe Häuſer. “
„ Ja, das kann ich auch von mir ſagen, und in39 gerade ſolchen Häuſern hab 'ich meine beſte Zeit verbracht, als ich noch ein Quack war, höchſtens vierzehn. Und ſo grauſam wild. Damals waren nämlich noch die Rinnſteine, und wenn es dann regnete und alles über¬ ſchwemmt war und die Bretter anfingen, ſich zu heben, und ſchon ſo halb herumſchwammen, und die Ratten, die da drunter ſteckten, nicht mehr wußten, wo ſie hin ſollten, dann ſprangen wir auf die Bohlen rauf, und nun die Bieſter' raus, links und rechts, und die Jungens hinterher, immer aufgekrempelt und ganz nackigt. Und einmal, weil der eine Junge nicht abließ und mit ſeinen Holzpantinen immer drauf losſchlug, da wurde das Un¬ tier falſch und biß den Jungen ſo, daß er ſchrie! Nein, ſo hab 'ich noch keinen Menſchen wieder ſchreien hören. Und es war auch fürchterlich. “
„ Ja, das iſt es. Und da helfen bloß Rattenfänger. “
„ Ja, Rattenfänger, davon hab 'ich auch gehört — Rattenfänger von Hameln. Aber die giebt es doch nicht mehr. “
„ Nein, gnädige Frau, die giebt es nicht mehr, wenigſtens nicht mehr ſolche Hexenmeiſter mit Zauber¬ ſpruch und einer Pfeife zum pfeifen. Aber die meine ich auch gar nicht. Ich meine überhaupt nicht Menſchen, die dergleichen als Metier betreiben und ſich in den Zeitungen anzeigen, unheimliche Geſichter mit einer Pelzkappe. Was ich meine, ſind bloß Pinſcher, die nebenher auch noch ‚ Rattenfänger‘ heißen und es auch wirklich ſind. Und mit einem ſolchen Rattenfänger auf die Jagd gehen, das iſt eigentlich das Schönſte, was es giebt. “
„ Aber mit einem Pinſcher kann man doch nicht auf die Jagd gehen! “
„ Doch, doch, meine gnädigſte Frau. Als ich in Paris war (ich war da nämlich mal hinkommandiert), da bin ich mit 'runtergeſtiegen in die ſogenannten Kata¬ komben, hochgewölbte Kanäle, die ſich unter der Erde40 hinziehen. Und dieſe Kanäle ſind das wahre Ratten¬ eldorado; da ſind ſie zu Millionen. Oben drei Millionen Franzoſen, unten drei Millionen Ratten. Und einmal, wie geſagt, bin ich da mit' runtergeklettert und in einem Boote durch dieſe Unterwelt hingefahren, immer mitten in die Ratten hinein. “
„ Gräßlich, gräßlich. Und ſind Sie heil wieder 'raus gekommen? “
„ Im ganzen, ja. Denn, meine gnädigſte Frau, eigentlich war es doch ein Vergnügen. In unſerm Kahn hatten wir nämlich zwei ſolche Rattenfänger, einen vorn und einen hinten. Und nun hatten Sie ſehen ſollen, wie das losging. ‚ Schnapp‘, und das Tier um die Ohren geſchlagen, und tot war es. Und ſo weiter, ſo ſchnell wie Sie nur zählen können, und mitunter noch ſchneller. Ich kann es nur vergleichen mit Mr. Carver, dem bekannten Mr. Carver, von dem Sie gewiß einmal geleſen haben, der in der Sekunde drei Glaskugeln wegſchoß. Und ſo immerzu, viele Hundert. Ja, ſo was wie dieſe Rattenjagd da unten, das vergißt man nicht wieder. Es war aber auch das Beſte da. Denn was ſonſt noch von Paris geredet wird, das iſt alles über¬ trieben; meiſt dummes Zeug. Was haben ſie denn Großes? Opern und Cirkus und Muſeum, und in einem Saal 'ne Venus, die man ſich nicht recht anſieht, weil ſie das Gefühl verletzt, namentlich wenn man mit Damen da iſt. Und das alles haben wir ſchließlich auch, und manches haben wir noch beſſer. So zum Beiſpiel Nie¬ mann und die dell' Era. Aber ſolche Rattenſchlacht, das muß wahr ſein, die haben wir nicht. Und warum nicht? Weil wir keine Katakomben haben. “
Der alte Dubslav, der das Wort „ Katakomben “gehört hatte, wandte ſich jetzt wieder über den Tiſch hin und ſagte: „ Pardon, Herr von Czako, aber Sie müſſen meiner lieben Frau von Gundermann nicht mit ſo41 furchtbar ernſten Sachen kommen und noch dazu hier bei Tiſch, gleich nach Karpfen und Meerrettich. Kata¬ komben! Ich bitte Sie. Die waren ja doch eigentlich in Rom und erinnern einen immer an die traurigſten Zeiten, an den grauſamen Kaiſer Nero und ſeine Ver¬ folgungen und ſeine Fackeln. Und da war dann noch einer mit einem etwas längeren Namen, der noch viel grauſamer war, und da verkrochen ſich dieſe armen Chriſten gerade in eben dieſe Katakomben, und manche wurden verraten und gemordet. Nein, Herr von Czako, da lieber was Heiteres. Nicht wahr, meine liebe Frau von Gundermann? “
„ Ach nein, Herr von Stechlin; es iſt doch alles ſo ſehr gelehrig. Und wenn man ſo ſelten Gelegenheit hat ... “
„ Na, wie Sie wollen. Ich hab 'es gut gemeint. Stoßen wir an! Ihr Rudolf ſoll leben; das iſt doch der Liebling, trotzdem er der älteſte iſt. Wie alt iſt er denn jetzt? “
„ Vierundzwanzig. “
„ Ein ſchönes Alter. Und wie ich höre, ein guter Menſch. Er müßte nur mehr 'raus. Er verſauert hier ein bißchen. “
„ Sag 'ich ihm auch. Aber er will nicht fort. Er ſagt, zu Hauſe ſei es am beſten. “
„ Bravo. Da nehm 'ich alles zurück. Laſſen Sie ihn. Zu Hauſe iſt es am Ende wirklich am beſten. Und gerade wir hier, die wir den Vorzug haben, in der Rheinsberger Gegend zu leben. Ja, wo iſt ſo was? Erſt der große König, und dann Prinz Heinrich, der nie' ne Schlacht verloren. Und einige ſagen, er wäre noch klüger geweſen als ſein Bruder. Aber ich will ſo was nicht geſagt haben. “
Frau von Gundermann ſchien auf das ihr als einziger, alſo auch älteſter Dame zuſtehende Tafelaufhebungsrecht verzichten zu wollen und wartete, bis ſtatt ihrer der ſchon ſeit einer Viertelſtunde ſich nach ſeiner Meerſchaumpfeife ſehnende Dubslav das Zeichen zum Aufbruch gab. Alles erhob ſich jetzt raſch, um vom Eßzimmer aus in den nach dem Garten hinausſehenden Salon zurückzukehren, dem es — war es Zufall oder Abſicht? — in dieſem Augen¬ blick noch an aller Beleuchtung fehlte; nur im Kamin glühten ein paar Scheite, die während der Eſſenszeit halb niedergebrannt waren, und durch die offenſtehende hohe Glasthür fiel von der Veranda her das Licht der über den Parkbäumen ſtehenden Mondſichel. Alles gruppierte ſich alsbald um Frau von Gundermann, um dieſer die pflichtſchuldigen Honneurs zu machen, während Martin die Lampen, Engelke den Kaffee brachte. Das ein paar Minuten lang geführte gemeinſchaftliche Geſpräch kam, all die Zeit über, über ein unruhiges Hin und Her nicht hinaus, bis der Knäuel, in dem man ſtand, ſich wieder in Gruppen auflöſte.
Das erſte ſich abtrennende Paar waren Rex und Katzler, beide paſſionierte Billardſpieler, die ſich — Katzler übernahm die Führung — erſt in den Eßſaal zurück und von dieſem aus in das daneben gelegene Spielzimmer begaben. Das hier ſtehende, ziemlich vernachläſſigte Billard43 war ſchon an die fünfzig Jahre alt und ſtammte noch aus des Vaters Zeiten her. Dubslav ſelbſt machte ſich nicht viel aus dem Spiel, aus Spiel überhaupt und intereſſierte ſich, ſoweit ſein Billard in Betracht kam, nur für eine ſehr nachgedunkelte Karoline, von der ein Berliner Be¬ ſucher mal geſagt hatte: „ Alle Wetter, Stechlin, wo haben Sie die her? Das iſt ja die gelbſte Karoline, die ich all mein Lebtag geſehen habe, “— Worte, die damals ſolchen Eindruck auf Dubslav gemacht hatten, daß er ſeitdem ein etwas freundlicheres Verhältnis zu ſeinem Billard unter¬ hielt und nicht ungern von „ ſeiner Karoline “ſprach.
Das zweite Paar, das ſich aus der Gemeinſchaft ab¬ trennte, waren Woldemar und Gundermann. Gunder¬ mann, wie alle an Kongeſtionen Leidende, fand es über¬ all zu heiß und wies, als er ein paar Worte mit Wol¬ demar gewechſelt, auf die offenſtehende Thür. „ Es iſt ein ſo ſchöner Abend, Herr von Stechlin; könnten wir nicht auf die Veranda hinaustreten? “
„ Aber gewiß, Herr von Gundermann. Und wenn wir uns abſentieren, wollen wir auch alles Gute gleich mitnehmen. Engelke, bring uns die kleine Kiſte, du weißt ſchon. “
„ Ah, kapital. So ein paar Züge, das ſchlägt nieder, beſſer als Sodawaſſer. Und dann iſt es auch wohl ſchick¬ licher im Freien. Meine Frau, wenn wir zu Hauſe ſind, hat ſich zwar daran gewöhnen müſſen und ſpricht höchſtens mal von „ paffen “(na, das is nicht anders, dafür is man eben verheiratet), aber in einem fremden Hauſe, da fangen denn doch die Rückſichten an. Unſer guter alter Kort¬ ſchädel ſprach auch immer von ‚ Dehors‘. “
Unter dieſen Worten waren Woldemar und Gunder¬ mann vom Salon her auf die Veranda hinausgetreten, bis dicht an die Treppenſtufen heran, und ſahen auf den kleinen Waſſerſtrahl, der auf dem Rundell aufſprang.
„ Immer, wenn ich den Waſſerſtrahl ſehe, “fuhr44 Gundermann fort, „ muß ich wieder an unſern guten alten Kortſchädel denken. Is nu auch hinüber. Na, jeder muß mal, und wenn irgend einer ſeinen Platz da oben ſicher hat, der hat ihn. Ehrenmann durch und durch, und loyal bis auf die Knochen. Redner war er nicht, was eigentlich immer ein Vorzug, und hat mit ſeiner Schwätzerei dem Staate kein Geld gekoſtet; aber er wußte ganz gut Beſcheid, und, unter vier Augen, ich habe Sachen von ihm gehört, großartig. Und ich ſage mir, ſolchen kriegen wir nicht wieder ... “
„ Ach, das iſt Schwarzſeherei, Herr von Gunder¬ mann. Ich glaube, wir haben viele von ähnlicher Ge¬ ſinnung. Und ich ſehe nicht ein, warum nicht ein Mann wie Sie ... “
„ Geht nicht. “
„ Warum nicht? “
„ Weil Ihr Herr Papa kandidieren will. Und da muß ich zurückſtehen. Ich bin hier ein Neuling. Und die Stechlins waren hier ſchon ... “
„ Nun gut, ich will dies letztere gelten laſſen, und nur was das Kandidieren meines Vaters angeht — ich denke mir, es iſt noch nicht ſo weit, vieles kann noch da¬ zwiſchen kommen, und jedenfalls wird er ſchwanken. Aber nehmen wir mal an, es ſei, wie Sie vermuten. In dieſem Falle träfe doch gerade das zu, was ich mir ſoeben zu ſagen erlaubt habe. Mein Vater iſt in jedem Anbetracht ein treuer Geſinnungsgenoſſe Kortſchädels, und wenn er an ſeine Stelle tritt, was iſt da verloren? Die Lage bleibt dieſelbe. “
„ Nein, Herr von Stechlin. “
„ Nun, was ändert ſich? “
„ Vieles, alles. Kortſchädel war in den großen Fragen unerbittlich, und Ihr Herr Vater läßt mit ſich reden ... “
„ Ich weiß nicht, ob Sie da recht haben. Aber wenn es ſo wäre, ſo wäre das doch ein Glück ... “
45„ Ein Unglück, Herr von Stechlin. Wer mit ſich reden läßt, iſt nicht ſtramm, und wer nicht ſtramm iſt, iſt ſchwach. Und Schwäche (die deſtruktiven Elemente haben dafür eine feine Fühlung), Schwäche iſt immer Waſſer auf die Mühlen der Sozialdemokratie. “
Die vier andern der kleinen Tafelrunde waren im Gartenſalon zurückgeblieben, hatten ſich aber auch zu zwei und zwei zuſammengethan. In der einen Fenſterniſche, ſo daß ſie den Blick auf den mondbeſchienenen Vorplatz und die draußen auf der Veranda auf und ab ſchreitenden beiden Herren hatten, ſaßen Lorenzen und Frau von Gundermann. Die Gundermann war glücklich über das Tete-a-tete, denn ſie hatte wegen ihres jüngſten Sohnes allerhand Fragen auf dem Herzen oder bildete ſich wenig¬ ſtens ein, ſie zu haben. Denn eigentlich hatte ſie für gar nichts Intereſſe, ſie mußte bloß, richtige Berlinerin, die ſie war, reden können.
„ Ich bin ſo froh, Herr Paſtor, daß ich nun doch einmal Gelegenheit finde. Gott, wer Kinder hat, der hat auch immer Sorgen. Ich möchte wegen meines Jüngſten ſo gerne mal mit Ihnen ſprechen, wegen meines Arthur. Rudolf hat mir keine Sorgen gemacht, aber Arthur. Er iſt nun jetzt eingeſegnet, und Sie haben ihm, Herr Prediger, den ſchönen Spruch mitgegeben,[und] der Junge hat auch gleich den Spruch auf einen großen weißen Bogen ge¬ ſchrieben, alle Buchſtaben erſt mit zwei Linien nebenein¬ ander und dann dick ausgetuſcht. Es ſieht aus wie 'n Plakat. Und dieſen großen Bogen hat er ſich in die Waſchtoilette geklebt, und da mahnt es ihn immer. “
„ Nun, Frau von Gundermann, dagegen iſt doch nichts zu ſagen. “
„ Nein, das will ich auch nicht. Eher das Gegenteil. Es hat ja doch was Rührendes, daß es einer ſo ernſt nimmt. Denn er hat zwei Tage dran geſeſſen. Aber wenn ſolch junger Menſch es ſo immer lieſt, ſo gewöhnt46 er ſich dran. Und dann iſt ja auch gleich wieder die Verführung da. Gott, daß man gerade immer über ſolche Dinge reden muß; noch keine Stunde, daß ich mit dem Herrn Hauptmann über unſern Volontär Vehmeyer ge¬ ſprochen habe, netter Menſch, und nun gleich wieder mit Ihnen, Herr Paſtor, auch über ſo was. Aber es geht nicht anders. Und dann ſind Sie ja doch auch wie ver¬ antwortlich für ſeine Seele. “
Lorenzen lächelte. „ Gewiß, liebe Frau von Gunder¬ mann. Aber was iſt es denn? Um was handelt es ſich denn eigentlich? “
„ Ach, es iſt an und für ſich nicht viel und doch auch wieder eine recht ärgerliche Sache. Da haben wir ja jetzt die Jüngſte von unſerm Schullehrer Brandt ins Haus genommen, ein[hübſches] Balg, rotbraun und ganz kraus, und Brandt wollte, ſie ſolle bei uns angelernt werden. Nun, wir ſind kein großes Haus, gewiß nicht, aber Mäntel abnehmen und 'rumpräſentieren, und daß ſie weiß, ob links oder rechts, ſo viel lernt ſie am Ende doch. “
„ Gewiß. Und die Frida Brandt, o, die kenn ich ganz gut; die wurde jetzt gerade vorm Jahr eingeſegnet. Und es iſt, wie Sie ſagen, ein allerliebſtes Geſchöpf und klug und aufgekratzt, ein bißchen zu ſehr. Sie will zu Oſtern nach Berlin. “
„ Wenn ſie nur erſt da wäre. Mir thut es beinahe ſchon leid, daß ich ihr nicht gleich zugeredet. Aber ſo geht es einem immer. “
„ Iſt denn was vorgefallen? “
„ Vorgefallen? Das will ich nicht ſagen. Er is ja doch erſt ſechzehn und eine Duſche dazu, gerade wie ſein Vater; der hat ſich auch erſt rausgemauſert, ſeit er grau geworden. Was beiläufig auch nicht gut iſt. Und da komme ich nun geſtern vormittag die Treppe 'rauf und will dem Jungen ſagen, daß er in den Dohnenſtrich geht und nachſieht, ob Krammetsvögel da ſind, und die Thür
47ſteht halb auf, was noch das beſte war, und da ſeh 'ich, wie ſie ihm eine Naſe dreht und die Zungenſpitze' raus¬ ſteckt; ſo was von ſpitzer Zunge hab 'ich mein Lebtag noch nicht geſehen. Die reine Eva. Für die Potiphar iſt ſie mir noch zu jung. Und als ich nu dazwiſchentrete, da kriegt ja nu der arme Junge das Zittern, und weil ich nicht recht wußte, was ich ſagen ſollte, ging ich bloß hin und klappte den Waſchtiſchdeckel auf, wo der Spruch ſtand, und ſah ihn ſcharf an. Und da wurde er ganz blaß. Aber das Balg lachte. “
„ Ja, liebe Frau von Gundermann, das iſt ſo; Jugend hat keine Tugend. “
„ Ich weiß doch nicht; ich bin auch einmal jung ge¬ weſen ... “
„ Ja, Damen ... “
Während Frau von Gundermann in ihrem Geſpräch in der Fenſterniſche mit derartigen Intimitäten kam und den guten Paſtor Lorenzen abwechſelnd in Verlegenheit und dann auch wieder in ſtille Heiterkeit verſetzte, hatte ſich Dubslav mit Hauptmann von Czako in eine ſchräg gegen¬ über gelegene Ecke zurückgezogen, wo eine altmodiſche Cauſeuſe ſtand, mit einem Marmortiſchchen davor. Auf dem Tiſche zwei Kaffeetaſſen ſamt aufgeklapptem Liqueur¬ kaſten, aus dem Dubslav eine Flaſche nach der andern herausnahm. „ Jetzt, wenn man von Tiſch kommt, muß es immer ein Cognac ſein. Aber ich bekenne Ihnen, lieber Hauptmann, ich mache die Mode nicht mit; wir aus der alten Zeit, wir waren immer ein bißchen fürs Süße. Creme de Cacao, na, natürlich, das is Damen¬ ſchnaps, davon kann keine Rede ſein; aber Pomeranzen oder, wie ſie jetzt ſagen, Curaçao, das iſt mein Fall. Darf ich Ihnen einſchenken? Oder vielleicht lieber Dan¬ ziger Goldwaſſer? Kann ich übrigens auch empfehlen. “
48„ Dann bitte ich um Goldwaſſer. Es iſt doch ſchärfer, und dann bekenne ich Ihnen offen, Herr Major ... Sie kennen ja unſre Verhältniſſe, ſo 'n bißchen Gold heimelt einen immer an. Man hat keins und dabei doch zugleich die Vorſtellung, daß man es trinken kann — es hat eigent¬ lich was Großartiges. “
Dubslav nickte, ſchenkte von dem Goldwaſſer ein, erſt für Czako, dann für ſich ſelbſt und ſagte: „ Bei Tiſche hab 'ich die Damen leben laſſen und Frau von Gunder¬ mann im ſpeziellen. Hören Sie, Hauptmann, Sie ver¬ ſtehen's. Dieſe Rattengeſchichte ... “
„ Vielleicht war es ein bißchen zu viel. “
„ I, keineswegs. Und dann, Sie waren ja ganz un¬ ſchuldig, die Gnäd'ge fing ja davon an; erinnern Sie ſich, ſie verliebte ſich ordentlich in die Geſchichte von den Rinn¬ ſteinbohlen, und wie Sie drauf 'rumgetrampelt, bis die Ratten rauskamen. Ich glaube ſogar, ſie ſagte ‚ Bieſter‘. Aber das ſchadet nicht. Das iſt ſo Berliner Stil. Und unſre Gnäd'ge hier (beiläufig eine geborene Helfrich) is eine Vollblutberlinerin. “
„ Ein Wort, das mich doch einigermaßen überraſcht. “
„ Ah, “drohte Dubslav ſchelmiſch mit dem Finger, „ ich verſtehe. Sie ſind einer gewiſſen Unausreichendheit begegnet und verlangen mindeſtens mehr Quadrat (von Kubik will ich nicht ſprechen). Aber wir von Adel müſſen in dieſem Punkte doch ziemlich milde ſein und ein Auge zudrücken, wenn das das richtige Wort iſt. Unſer eigenſtes Vollblut bewegt ſich auch in Extremen und hat einen linken und einen rechten Flügel: der linke nähert ſich unſrer geborenen Helfrich. Übrigens unterhaltliche Madam. Und wie be¬ ſeligt ſie war, als ſie den Namenszug auf Ihrer Achſel¬ klappe glücklich entdeckt und damit den Anmarſch auf die Münzſtraße gewonnen hatte. Was es doch alles für Lokalpatriotismen giebt! “
„ An dem unſer Regiment teilnimmt oder ihn mit¬49 macht. Die Welt um den Alexanderplatz herum hat übrigens ſo ihren eigenen Zauber, ſchon um einer gewiſſen Unreſidenzlichkeit willen. Ich ſehe nichts lieber als die große Markthalle, wenn beiſpielsweiſe die Fiſchtonnen mit fünfhundert Aalen in die Netze gegoſſen werden. Etwas Unglaubliches von Gezappel. “
„ Finde mich ganz darin zurecht und bin auch für Alexanderplatz und Alexanderkaſerne ſamt allem, was dazu gehört. Und ſo brech 'ich denn auch die Gelegenheit vom Zaun, um nach einem ihrer früheren Regimentskomman¬ deure zu fragen, dem liebenswürdigen Oberſten von Zeuner, den ich noch perſönlich gekannt habe. Hier unſre Stech¬ liner Gegend iſt nämlich Zeunergegend. Keine Stunde von hier liegt Köpernitz, eine reizende Beſitzung, drauf die Zeunerſche Familie ſchon in fridericianiſchen Tagen an¬ ſäſſig war. Bin oft drüben geweſen (nun freilich ſchon zwanzig Jahre zurück) und komme noch einmal mit der Frage: Haben Sie den Oberſten noch gekannt? “
„ Nein, Herr Major. Er war ſchon fort, als ich zum Regimente kam. Aber ich habe viel von ihm gehört und auch von Köpernitz, weiß aber freilich nicht mehr, in welchem Zuſammenhange. “
„ Schade, daß Sie nur einen Tag für Stechlin feſt¬ geſetzt haben, ſonſt müßten Sie das Gut ſehen. Alles ganz eigentümlich und beſonders auch ein Grabſtein, unter dem eine uralte Dame von beinah 'neunzig Jahren be¬ graben liegt, eine geborne von Zeuner, die ſich in früher Jugend ſchon mit einem Emigranten am Rheinsberger Hof, mit dem Grafen La Roche-Aymon, vermählt hatte. Merkwürdige Frau, von der ich Ihnen erzähle, wenn ich Sie mal wiederſehe. Nur eins müſſen Sie heute ſchon mitanhören, denn ich glaube, Sie haben den Guſtus dafür. “
„ Für alles, was Sie erzählen. “
„ Keine Schmeicheleien! Aber die Geſchichte will ich Ihnen doch als Andenken mitgeben. Andre ſchenken ſichFontane, Der Stechlin. 450Photographien, was ich, ſelbſt wenn es hübſche Menſchen ſind (ein Fall, der übrigens ſelten zutrifft), immer greulich finde. “
„ Schenke nie welche. “
„ Was meine Gefühle für Sie ſteigert. Aber die Geſchichte: Da war alſo drüben in Köpernitz dieſe La Roche - Aymon, und weil ſie noch die Prinz Heinrich-Tage geſehen und während derſelben eine Rolle geſpielt hatte, ſo zählte ſie zu den beſonderen Lieblingen Friedrich Wilhelms IV. Und als nun — ſagen wir ums Jahr fünfzig — der Zufall es fügte, daß dem zur Jagd hier erſchienenen König das Köpernitzer Frühſtück, ganz beſonders aber eine Blut - und Zungenwurſt über die Maßen gut geſchmeckt hatte, ſo wurde dies Veranlaſſung für die Gräfin, am nächſten Heiligabend eine ganze Kiſte voll Würſte nach Potsdam hin in die königliche Küche zu liefern. Und das ging ſo durch Jahre. Da beſchloß zuletzt der gute König, ſich für all die gute Gabe zu revanchieren, und als wieder Weihnachten war, traf in Köpernitz ein Poſtpaket ein, Inhalt: eine zierliche kleine Blutwurſt. Und zwar war es ein wunderſchöner, rundlicher Blutkarneol mit Gold¬ ſpeilerchen an beiden Seiten und die Speilerchen ſelbſt mit Diamanten beſetzt. Und neben dieſem Geſchenk lag ein Zettelchen: ‚ Wurſt wider Wurſt‘. “
„ Allerliebſt! “
„ Mehr als das. Ich perſönlich ziehe ſolchen guten Einfall einer guten Verfaſſung vor. Der König, glaub 'ich, that es auch. Und es denken auch heute noch viele ſo. “
„ Gewiß, Herr Major. Es denken auch heute noch viele ſo, und bei dem Schwankezuſtand, in dem ich mich leider befinde, ſind meine perſönlichen Sympathien ge¬ legentlich nicht weitab davon. Aber ich fürchte doch, daß wir mit dieſer unſrer Anſchauung ſehr in der Minorität bleiben. “
„ Werden wir. Aber Vernunft iſt immer nur bei51 wenigen. Es wäre das beſte, wenn ein einziger Alter - Fritzen-Verſtand die ganze Geſchichte regulieren könnte. Freilich braucht ein ſolcher oberſter Wille auch ſeine Werk¬ zeuge. Die haben wir aber noch in unſerm Adel, in unſrer Armee und ſpeziell auch in Ihrem Regiment. “
Während der Alte dieſen Trumpf ausſpielte, kam Engelke, um ein paar neue Taſſen zu präſentieren.
„ Nein, nein, Engelke, wir ſind ſchon weiter. Aber ſtell nur hin. ... In Ihrem Regiment, ſag 'ich, Herr von Czako; ſchon ſein Name bedeutet ein Programm, und dies Programm heißt: Rußland. Heutzutage darf man freilich kaum noch davon reden. Aber das iſt Unſinn. Ich ſage Ihnen, Hauptmann, das waren Preußens beſte Tage, als da bei Potsdam herum die ‚ ruſſiſche Kirche‘ und das ‚ ruſſiſche Haus‘ gebaut wurden, und als es immer hin und her ging zwiſchen Berlin und Petersburg. Ihr Regiment, Gott ſei Dank, unterhält noch was von den alten Beziehungen, und ich freue mich immer, wenn ich davon leſe, vor allem, wenn ein ruſſiſcher Kaiſer kommt und ein Doppelpoſten vom Regiment Alexander vor ſeinem Palais ſteht. Und noch mehr freu' ich mich, wenn das Regiment Deputationen ſchickt: Georgsfeſt, Namenstag des hohen Chefs, oder wenn ſich's auch bloß um Uniformab¬ änderungen handelt, beiſpielsweiſe Klappkragen ſtatt Steh¬ kragen (dieſe verdammten Stehkragen) — und wie dann der Kaiſer alle begrüßt und zur Tafel zieht und ſo bei ſich denkt: ‚ Ja, ja, das ſind brave[Leute]; da hab 'ich meinen Halt. ‘“
Czako nickte, war aber doch in ſichtlicher Verlegenheit, weil er, trotz ſeiner vorher verſicherten „ Sympathien “, ein ganz moderner, politiſch ſtark angekränkelter Menſch war, der, bei ſtrammſter Dienſtlichkeit, zu all dergleichen Über¬ ſpanntheiten ziemlich kritiſch ſtand. Der alte Dubslav nahm indeſſen von alledem nichts wahr und fuhr fort: „ Und ſehen Sie, lieber Hauptmann, ſo hab 'ich's per¬4*52ſönlich in meinen jungen Jahren auch noch erlebt und vielleicht noch ein bißchen beſſer; denn, Pardon, jeder hält ſeine Zeit für die beſte. Vielleicht ſogar, daß Sie mir zuſtimmen, wenn ich Ihnen mein Sprüchel erſt ganz her¬ geſagt haben werde. Da haben wir ja nun ‚ jenſeits des Niemen‘, wie manche Gebildete jetzt ſagen, die ‚ drei Alexander‘[gehabt], den erſten, den zweiten und den dritten, alle drei große Herren und alle drei richtige Kaiſer und fromme Leute, oder doch beinah 'fromm, die's gut mit ihrem Volk und mit der Menſchheit meinten, und dabei ſelber richtige Menſchen; aber in dies Alexandertum, das ſo beinah' das ganze Jahrhundert ausfüllt, da ſchiebt ſich doch noch einer ein, ein Nicht-Alexander, und ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen, der war doch der Häupter. Und das war unſer Nikolaus. Manche dummen Kerle haben Spottlieder auf ihn gemacht und vom ſchwarzen Niklas geſungen, wie man Kinder mit dem ſchwarzen Mann graulich macht, aber war das ein Mann! Und dieſer ſelbige Nikolaus, nun, der hatte hier, ganz wie die drei Alexander, auch ein Regiment, und das waren die Nikolaus-Küraſſiere, oder ſag 'ich lieber: das ſind die Nikolaus-Küraſſiere, denn wir haben ſie, Gott ſei Dank, noch. Und ſehen Sie, lieber Czako, das war mein Re¬ giment, dabei hab' ich geſtanden, als ich noch ein junger Dachs war, und habe dann den Abſchied genommen; viel zu früh; Dummheit, hätte lieber dabei bleiben ſollen. “
Czako nickte, Dubslav nahm ein neues Glas von dem Goldwaſſer. „ Unſre Nikolaus-Küraſſiere, Gott erhalte ſie, wie ſie ſind! Ich möchte ſagen, in dem Regimente lebt noch die heilige Alliance fort, die Waffenbrüderſchaft von Anno dreizehn, und dies Anno dreizehn, das wir mit den Ruſſen zuſammen durchgemacht haben, immer nebeneinander im Biwak, in Glück und Unglück, das war doch unſre größte Zeit. Größer als die jetzt große. Große Zeit iſt es immer nur, wenn's beinah 'ſchief geht,53 wenn man jeden Augenblick fürchten muß: ‚ Jetzt iſt alles vorbei‘. Da zeigt ſich's. Courage iſt gut, aber Ausdauer iſt beſſer. Ausdauer, das iſt die Hauptſache. Nichts im Leibe, nichts auf dem Leibe, Hundekälte, Regen und Schnee, ſo daß man ſo in der naſſen Patſche liegt, und höchſtens' nen Kornus (Cognac, ja haſt du was, den gab es damals kaum) und ſo die Nacht durch, da konnte man Jeſum Chriſtum erkennen lernen. Ich ſage das, wenn ich auch nicht mit dabei geweſen. Anno dreizehn, bei Großgörſchen, das war für uns die richtige Waffenbrüder¬ ſchaft: jetzt haben wir die Waffenbrüderſchaft der Orgel¬ dreher und der Mauſefallenhändler. Ich bin für Ru߬ land, für Nikolaus und Alexander. Preobraſhensk, Semenow, Kaluga, — da hat man die richtige An¬ lehnung; alles andre iſt revolutionär, und was revo¬ lutionär iſt, das wackelt. “
Kurz vor elf, der Mond war inzwiſchen unter, brach man auf und die Wagen fuhren vor, erſt der Katzlerſche Kaleſchwagen, dann die Gundermannſche Chaiſe; Martin aber, mit einer Stalllaterne, leuchtete dem Paſtor über Vorhof und Bohlenbrücke fort, bis an ſeine ganz im Dunkel liegende Pfarre. Gleich darauf zogen ſich auch die drei Freunde zurück und ſtiegen, unter Vorantritt Engelkes, die große Treppe hinauf, bis auf den Podeſt. Hier trennten ſich Rex und Czako von Woldemar, deſſen Zimmer auf der andern Flurſeite gelegen war.
Czako, ſehr müde, war im Nu bettfertig. „ Es bleibt alſo dabei, Rex, Sie logieren ſich in dem Rokokozimmer ein — wir wollen es ohne weiteres ſo nennen — und ich nehme das Himmelbett hier in Zimmer Nummer eins. Vielleicht wäre das Umgekehrte richtiger, aber ſie haben es ſo gewollt. “
54Und während er noch ſo ſprach, ſchob er ſeine Stiefel auf den Flur hinaus, ſchloß ab und legte ſich nieder.
Rex war derweilen mit ſeiner Plaidrolle beſchäftigt, aus der er allerlei Toilettengegenſtände hervorholte. „ Sie müſſen mich entſchuldigen, Czako, wenn ich mich noch eine Viertelſtunde hier bei Ihnen aufhalte. Habe nämlich die Angewohnheit mich abends zu raſieren, und der Toilettentiſch mit Spiegel, ohne den es doch nicht gut geht, der ſteht nun mal hier an Ihrem, ſtatt an meinem Fenſter. Ich muß alſo ſtören. “
„ Mir ſehr recht, trotz aller Müdigkeit. Nichts beſſer, als noch ein bißchen aus dem Bett heraus plaudern können. Und dabei ſo warm eingemummelt. Die Betten auf dem Lande ſind überhaupt das beſte. “
„ Nun, Czako, das freut mich, daß Sie ſo bereit ſind, mir Quartier zu gönnen. Aber wenn Sie noch eine Plauderei haben wollen, ſo müſſen Sie ſich die Haupt¬ ſache ſelber leiſten. Ich ſchneide mich ſonſt, was dann hinterher immer ganz ſchändlich ausſieht. Übrigens muß ich erſt Schaum ſchlagen, und ſo lange wenigſtens kann ich Ihnen Red 'und Antwort ſtehen. Ein Glück neben¬ her, daß hier, außer der kleinen Lampe, noch dieſe zwei Leuchter ſind. Wenn ich nicht Licht von rechts und links habe, komme ich nicht von der Stelle; das eine wackelt zwar (alle dieſe dünnen Silberleuchter wackeln), aber, wenn gute Reden ſie begleiten ... ‘ Alſo ſtrengen Sie ſich an. Wie fanden Sie die Gundermanns? Sonderbare Leute — haben Sie ſchon mal den Namen Gundermann gehört? “
„ Ja. Aber das war in ‚ Waldmeiſters Brautfahrt‘. “
„ Richtig; ſo wirkt er auch. Und nun gar erſt die Frau! Der einzige, der ſich ſehen laſſen konnte, war dieſer Katzler. Ein Karamboleſpieler erſten Ranges. Übrigens eiſernes Kreuz. “
55„ Und dann der Paſtor. “
„ Nun ja, auch der. Eine ganz geſcheite Nummer. Aber doch ein wunderbarer Heiliger, wie die ganze Sippe, zu der er gehört. Er hält zu Stöcker, ſprach es auch aus, was neuerdings nicht jeder thut; aber der „ neue Luther “, der doch ſchon gerade bedenklich genug iſt — Majeſtät hat ganz recht mit ſeiner Verurteilung —, der geht ihm gewiß nicht weit genug. Dieſer Lorenzen er¬ ſcheint mir, im Gegenſatz zu ſeinen Jahren, als einer der allerjüngſten. Und zu verwundern bleibt nur, daß der Alte ſo gut mit ihm ſteht. Freund Woldemar hat mir davon erzählt. Der Alte liebt ihn und ſieht nicht, daß ihm ſein geliebter Paſtor den Aſt abſägt, auf dem er ſitzt. Ja, dieſe von der neueſten Schule, das ſind die aller¬ ſchlimmſten. Immer Volk und wieder Volk, und mal auch etwas Chriſtus dazwiſchen. Aber ich laſſe mich ſo leicht nicht hinters Licht führen. Es läuft alles darauf hinaus, daß ſie mit uns aufräumen wollen, und mit dem alten Chriſtentum auch. Sie haben ein neues, und das überlieferte behandeln ſie deſpektierlich. “
„ Kann ich ihnen unter Umſtänden nicht verdenken. Seien Sie gut, Rex, und laſſen Sie Konventikel und Partei mal beiſeite. Das Überlieferte, was einem da ſo vor die Klinge kommt, namentlich wenn Sie ſich die Menſchen anſehen, wie ſie nun mal ſind, iſt doch ſehr reparaturbedürftig, und auf ſolche Reparatur iſt ein Mann wie dieſer Lorenzen eben aus. Machen Sie die Probe. Hie Lorenzen, hie Gundermann. Und Ihren guten Glauben in Ehren, aber Sie werden dieſen Gundermann doch nicht über den Lorenzen ſtellen und ihn überhaupt nur ernſt¬ haft nehmen wollen. Und wie dieſer Waſſermüller aus der Brettſchneidebranche, ſo ſind die meiſten. Phraſe, Phraſe. Mitunter auch Geſchäft oder noch Schlimmeres. “
„ Ich kann jetzt nicht antworten, Czako. Was Sie da ſagen, berührt eine große Frage, bei der man doch56 aufpaſſen muß. Und ſo mit dem Meſſer in der Hand, da verbietet ſich's. Und das eine wacklige Licht hat ohne¬ hin ſchon einen Dieb. Erzählen Sie mir lieber was von der Frau von Gundermann. Debattieren kann ich nicht mehr, aber wenn Sie plaudern, brauch 'ich bloß zuzu¬ hören. Sie haben ihr ja bei Tiſch' nen langen Vortrag gehalten. “
„ Ja. Und noch dazu über Ratten. “
„ Nein, Czako, davon dürfen Sie jetzt nicht ſprechen; dann doch noch lieber über alten und neuen Glauben. Und gerade hier. In ſolchem alten Kaſten iſt man nie ſicher vor Spuk und Ratten. Wenn Sie nichts andres wiſſen, dann bitt 'ich um die Geſchichte, bei der wir heute früh in Cremmen unterbrochen wurden. Es ſchien mir was Pikantes. “
„ Ach, die Geſchichte von der kleinen Stubbe. Ja, hören Sie, Rex, das regt Sie aber auch auf. Und wenn man nicht ſchlafen kann, iſt es am Ende gleich, ob wegen der Ratten oder wegen der Stubbe. “
Rex und Czako waren ſo müde, daß ſie ſich, wenn nötig, über Spuk und Ratten weggeſchlafen hätten. Aber es war nicht nötig, nichts war da, was ſie hätte ſtören können. Kurz vor acht erſchien das alte Faktotum mit einem ſilbernen Deckelkrug, aus dem der Wraſen heißen Waſſers aufſtieg, einem der wenigen Renommierſtücke, über die Schloß Stechlin verfügte. Dazu bot Engelke den Herren einen guten Morgen und ſtattete ſeinen Wetter¬ bericht ab: Es gebe gewiß einen ſchönen Tag, und der junge Herr ſei auch ſchon auf und gehe mit dem alten um das Rundell herum.
So war es denn auch. Woldemar war ſchon gleich nach ſieben unten im Salon erſchienen, um mit ſeinem Vater, von dem er wußte, daß er ein Frühauf war, ein Familiengeſpräch über allerhand difficile Dinge zu führen. Aber er war entſchloſſen, ſeinerſeits damit nicht anzufangen, ſondern alles von der Neugier und dem guten Herzen des Vaters zu erwarten. Und darin ſah er ſich auch nicht getäuſcht.
„ Ah, Woldemar, das iſt recht, daß du ſchon da biſt. Nur nicht zu lang im Bett. Die meiſten Langſchläfer haben einen Knacks. Es können aber ſonſt ganz gute Leute ſein. Ich wette, dein Freund Rex ſchläft bis neun. “
„ Nein, Papa, der gerade nicht. Wer wie Rex iſt, kann ſich das nicht gönnen. Er hat nämlich einen Verein58 gegründet für Frühgottesdienſte, abwechſelnd in Schön¬ hauſen und Finkenkrug. Aber es iſt noch nicht perfekt geworden. “
„ Freut mich, daß es noch hapert. Ich mag ſo was nicht. Der alte Wilhelm hat zwar ſeinem Volke die Re¬ ligion wieder geben wollen, was ein ſchönes Wort von ihm war — alles, was er that und ſagte, war gut — aber Religion und Landpartie, dagegen bin ich doch. Ich bin überhaupt gegen alle falſchen Miſchungen. Auch bei den Menſchen. Die reine Raſſe, das iſt das eigentlich Legitime. Das andre, was ſie nebenher noch Legitimität nennen, das iſt ſchon alles mehr künſtlich. Sage, wie ſteht es denn eigentlich damit? Du weißt ſchon, was ich meine. “
„ Ja, Papa ... “
„ Nein, nicht ſo; nicht immer bloß ‚ ja, Papa‘. So fängſt du jedesmal an, wenn ich auf dies Thema komme. Da liegt ſchon ein halber Refus drin, oder ein Hinaus¬ ſchieben, ein Abwartenwollen. Und damit kann ich mich nicht befreunden. Du biſt jetzt zweiunddreißig, oder doch beinah ', da muß der mit der Fackel kommen; aber du fackelſt (verzeih den Kalauer; ich bin eigentlich gegen Kalauer, die ſind ſo mehr für Handlungsreiſende) alſo du fackelſt, ſag' ich, und iſt kein Ernſt dahinter. Und ſo viel kann ich dir außerdem ſagen, deine Tante Sanctiſſima drüben in Kloſter Wutz, die wird auch ſchon ungeduldig. Und das ſollte dir zu denken geben. Mich hat ſie zeit¬ lebens ſchlecht behandelt; wir ſtimmten eben nie zuſammen und konnten auch nicht, denn ſo halb Königin Eliſabeth, halb Kaffeeſchweſter, das is 'ne Melange, mit der ich mich nie habe befreunden können. Ihr drittes Wort iſt immer ihr Rentmeiſter Fix, und wäre ſie nicht ſechsundſiebzig, ſo erfänd' ich mir eine Geſchichte dazu. “
„ Mach es gnädig, Papa. Sie meint es ja doch gut. Und mit mir nun ſchon ganz gewiß. “
59„ Gnädig machen? Ja, Woldemar, ich will es ver¬ ſuchen. Nur fürcht 'ich, es wird nicht viel dabei heraus¬ kommen. Da heißt es immer, man ſolle Familiengefühl haben, aber es wird einem doch auch zu blutſauer gemacht, und ich kann umgekehrt der Verſuchung nicht widerſtehen, eine richtige Familienkritik zu üben. Adelheid fordert ſie geradezu heraus. Andrerſeits freilich, in dich iſt ſie wie vernarrt, für dich hat ſie Geld und Liebe. Was davon wichtiger iſt, ſtehe dahin; aber ſo viel iſt gewiß, ohne ſie wär' es überhaupt gar nicht gegangen, ich meine dein Leben in deinem Regiment. Alſo wir haben ihr zu danken, und weil ſie das gerade ſo gut weiß, wie wir, oder vielleicht noch ein bißchen beſſer, gerade deshalb wird ſie ungeduldig; ſie will Thaten ſehen, was vom Weiberſtandpunkt aus allemal ſo viel heißt wie Verheiratung. Und wenn man will, kann man es auch ſo nennen, ich meine Thaten. Es iſt und bleibt ein Heroismus. Wer Tante Adelheid geheiratet hätte, hätte ſich die Tapferkeits¬ medaille verdient, und wenn ich ſchändlich ſein wollte, ſo ſagte ich das Eiſerne Kreuz. “
„ Ja, Papa ... “
„ Schon wieder ‚ ja, Papa‘. Nun, meinetwegen, ich will dich ſchließlich in deiner Lieblingswendung nicht ſtören. Aber bekenne mir nebenher — denn das iſt doch ſchlie߬ lich das, um was ſich's handelt — liegſt du mit was im Anſchlag, haſt du was auf dem Korn? “
„ Papa, dieſe Wendungen erſchrecken mich beinah '. Aber wenn denn ſchon ſo jägermäßig geſprochen werden ſoll, ja; meine Wünſche haben ein beſtimmtes Ziel, und ich darf ſagen, mich beſchäftigen dieſe Dinge. “
„ Mich beſchäftigen dieſe Dinge ... Nimm mir's nicht übel, Woldemar, das iſt ja gar nichts. Beſchäftigen! Ich bin nicht fürs Poetiſche, das iſt für Gouvernanten und arme Lehrer, die nach Görbersdorf müſſen (bloß, daß ſie meiſtens kein Geld dazu haben), aber dieſe Wen¬60 dung ‚ ſich beſchäftigen‘, das iſt mir denn doch zu proſaiſch. Wenn es ſich um ſolche Dinge wie Liebe handelt (wiewohl ich über Liebe nicht viel günſtiger denke wie über Poeſie, bloß daß Liebe doch noch mehr Unheil anrichtet, weil ſie noch allgemeiner auftritt) — wenn es ſich um Dinge wie Liebe handelt, ſo darf man nicht ſagen, ‚ ich habe mich damit beſchäftigt‘. Liebe iſt doch ſchließlich immer was Forſches, ſonſt kann ſie ſich ganz[und] gar begraben laſſen, und da möcht 'ich denn doch etwas von dir hören, was ein bischen wie Leidenſchaft ausſieht. Es braucht ja nicht gleich was Schreckliches zu ſein. Aber ſo ganz ohne Stimulus, wie man, glaub' ich, jetzt ſagt, ſo ganz ohne ſo was geht es nicht; alle Menſchheit iſt darauf geſtellt, und wo's einſchläft, iſt ſo gut wie alles vorbei. Nun weiß ich zwar recht gut, es geht auch ohne uns, aber das iſt doch alles bloß etwas, was einem von Verſtandes wegen aufgezwungen wird; das egoiſtiſche Gefühl, das immer unrecht, aber auch immer recht hat, will von dem allem nichts wiſſen und beſteht darauf, daß die Stechline weiterleben, wenn es ſein kann, in aeternum. Ewig weiterleben; — ich räume ein, es hat ein bischen was Komiſches, aber es giebt wenig ernſte Sachen, die nicht auch eine komiſche Seite hätten ... Alſo dich ‚ beſchäf¬ tigen‘ dieſe Dinge. Kannſt du Namen nennen? Auf wem haben Eurer Hoheit Augen zu ruhen geruht? “
„ Papa, Namen darf ich noch nicht nennen. Ich bin meiner Sache noch nicht ſicher genug, und das iſt auch der Grund, warum ich Wendungen gebraucht habe, die dir nüchtern und proſaiſch erſchienen ſind. Ich kann dir aber ſagen, ich hätte mich lieber anders ausgedrückt; nur darf ich es noch nicht. Und dann weiß ich ja auch, daß du ſelber einen abergläubiſchen Zug haſt und ganz auf¬ richtig davon ausgehſt, daß man ſich ſein Glück verreden kann, wenn man zu früh oder zu viel davon ſpricht. “
„ Brav, brav. Das gefällt mir. So iſt es. Wir61 ſind immer von neidiſchen und boshaften Weſen mit Fuchsſchwänzen und Fledermausflügeln umſtellt, und wenn wir renommieren oder ſicher thun, dann lachen ſie. Und wenn ſie erſt lachen, dann ſind wir ſchon ſo gut wie ver¬ loren. Mit unſrer eignen Kraft iſt nichts gethan, ich habe nicht den Grashalm ſicher, den ich hier ausreiße. Demut, Demut ... Aber trotzdem komm 'ich dir mit der naiven Frage (denn man widerſpricht ſich in einem fort), iſt es was Vornehmes, was Pikfeines? “
„ Pikfein, Papa, will ich nicht ſagen. Aber vornehm gewiß. “
„ Na, das freut mich. Falſche Vornehmheit iſt mir ein Greuel; aber richtige Vornehmheit, — à la bonne heure. Sage mal, vielleicht was vom Hofe? “
„ Nein, Papa. “
„ Na, deſto beſſer. Aber da kommen ja die Herren. Der Rex ſieht wirklich verdeubelt gut aus, ganz das, was wir früher einen Garde-Aſſeſſor nannten. Und fromm, ſagſt du, — wird alſo wohl Karriere machen; ‚ fromm‘ is wie 'ne untergelegte Hand. “
Während dieſer Worte ſtiegen Rex und Czako die Stufen zum Garten hinunter und begrüßten den Alten. Er erkundigte ſich nach ihren nächtlichen Schickſalen, freute ſich, daß ſie „ durchgeſchlafen “hätten, und nahm dann Czakos Arm, um vom Garten her auf die Veranda, wo Engelke mittlerweile unter der großen Marquiſe den Frühſtückstiſch hergerichtet hatte, zurückzukehren. „ Darf ich bitten, Herr von Rex. “ Und er wies auf einen Gartenſtuhl, ihm gerade gegenüber, während Woldemar und Czako links und rechts neben ihm Platz nahmen. „ Ich habe neuerdings den Thee eingeführt, das heißt nicht obligatoriſch; im Gegenteil, ich perſönlich, bleibe lieber bei Kaffee, „ ſchwarz wie der Teufel, ſüß wie die62 Sünde, heiß wie die Hölle “, wie bereits Talleyrand geſagt haben ſoll. Aber, Pardon, daß ich Sie mit ſo was über¬ haupt noch beläſtige. Schon mein Vater ſagte mal: „ Ja, wir auf dem Lande, wir haben immer noch die alten Wiener Kongreßwitze. “ Und das iſt nun ſchon wieder ein Menſchenalter her. “
„ Ach, dieſe alten Kongreßwitze “, ſagte Rex verbindlich, „ ich möchte mir die Bemerkung erlauben, Herr Major, daß dieſe alten Witze beſſer ſind als die neuen. Und kann auch kaum anders ſein. Denn wer waren denn die Verfaſſer von damals? Talleyrand, den Sie ſchon genannt haben, und Wilhelm von Humboldt und Friedrich Gentz und ihresgleichen. Ich glaube, daß das Metier ſeit¬ dem ſehr herabgeſtiegen iſt. “
„ Ja, herabgeſtiegen iſt alles, und es ſteigt immer weiter nach unten. Das iſt, was man neue Zeit nennt, immer weiter runter. Und mein Paſtor, den Sie ja geſtern abend kennen gelernt haben, der behauptet ſogar, das ſei das Wahre, das ſei das, was man Kultur nenne, daß immer weiter nach unten geſtiegen würde. Die ariſto¬ kratiſche Welt habe abgewirtſchaftet, und nun komme die demokratiſche ... “
„ Sonderbare Worte für einen Geiſtlichen, “ſagte Rex, „ für einen Mann, der doch die durch Gott gegebenen Ordnungen kennen ſollte. “
Dubslav lachte. „ Ja, das beſtreitet er Ihnen. Und ich muß bekennen, es hat manches für ſich, trotzdem es mir nicht recht paßt. Im übrigen, wir werden ihn, ich meine den Paſtor, ja wohl noch beim zweiten Frühſtück ſehen, wo Sie dann Gelegenheit nehmen können, ſich mit ihm perſönlich darüber auseinanderzuſetzen; er liebt ſolche Geſpräche, wie Sie wohl ſchon gemerkt haben, und hat eine kleine Lutherneigung, ſich immer auf das jetzt übliche: ‚ Hier ſteh 'ich, ich kann nicht anders‘ auszuſpielen. Mit¬ unter ſieht es wirklich ſo aus, als ob wieder eine gewiſſe63 Märtyrerluſt in die Menſchen gefahren wäre, bloß ich trau dem Frieden noch nicht ſo recht. “
„ Ich auch nicht, “bemerkte Rex, „ meiſtens Renom¬ miſterei. “
„ Na, na, “ſagte Czako. „ Da hab 'ich doch noch dieſe letzten Tage von einem armen ruſſiſchen Lehrer geleſen, der unter die Soldaten geſteckt wurde (ſie haben da jetzt auch ſo was wie allgemeine Dienſtpflicht), und dieſer Menſch, der Lehrer, hat ſich geweigert, eine Flinte loszuſchießen, weil das bloß Vorſchule ſei zu Mord und Totſchlag, alſo ganz und gar gegen das fünfte Gebot. Und dieſer Menſch iſt ſehr gequält worden, und zuletzt iſt er geſtorben. Wollen Sie das auch Renommiſterei nennen? “
„ Gewiß will ich das. “
„ Herr von Rex, “ſagte Dubslav, „ ſollten Sie dabei nicht zu weit gehen? Wenn ſich's ums Sterben handelt, da hört das Renommieren auf. Aber dieſe Sache, von der ich übrigens auch gehört habe, hat einen ganz andern Schlüſſel. Das liegt nicht an der allgemein gewordenen Renommiſterei, das liegt am Lehrertum. Alle Lehrer ſind nämlich verrückt. Ich habe hier auch einen, an dem ich meine Studien gemacht habe; heißt Krippenſtapel, was allein ſchon was ſagen will. Er iſt grad um ein Jahr älter als ich, alſo runde ſiebenundſechzig, und eigentlich ein Prachtexemplar, jedenfalls ein vorzüglicher Lehrer. Aber verrückt iſt er doch. “
„ Das ſind alle, “ſagte Rex. „ Alle Lehrer ſind ein Schrecknis. Wir im Kultusminiſterium können ein Lied davon ſingen. Dieſe Abc-Pauker wiſſen alles, und ſeitdem Anno ſechsundſechzig der unſinnige Satz in die Mode kam, ‚ der preußiſche Schulmeiſter habe die Öſterreicher geſchlagen‘ — ich meinerſeits würde lieber dem Zündnadel¬ gewehr oder dem alten Steinmetz, der alles nur kein Schulmeiſter war, den Preis zuerkennen — ſeitdem iſt es vollends mit dieſen Leuten nicht mehr auszuhalten. 64Herr von Stechlin hat eben von einem der Humboldts geſprochen; nun, an Wilhelm von Humboldt trauen ſie ſich noch nicht recht heran, aber was Alexander von Humboldt konnte, das können ſie nun ſchon lange. “
„ Da treffen Sie's, Herr von Rex, “ſagte Dubslav. „ Genau ſo iſt meiner auch. Ich kann nur wiederholen, ein vorzüglicher Mann; aber er hat den Prioritätswahnſinn. Wenn Koch das Heilſerum erfindet oder Ediſon Ihnen auf fünfzig Meilen eine Oper vorſpielt, mit Getrampel und Händeklatſchen dazwiſchen, ſo weiſt Ihnen mein Krippenſtapel nach, daß er das vor dreißig Jahren auch ſchon mit ſich rumgetragen habe. “
„ Ja, ja, ſo ſind ſie alle. “
„ Übrigens ... Aber darf ich ihnen nicht noch von dieſem gebackenen Schinken vorlegen? ... Übrigens mahnt mich Krippenſtapel daran, daß die Feſtſtellung eines Vor¬ mittagsprogramms wohl an der Zeit ſein dürfte; Krippen¬ ſtapel iſt nämlich der geborene Cicerone dieſer Gegenden, und durch Woldemar weiß ich bereits, daß Sie uns die Freude machen wollen, ſich um Stechlin und Umgegend ein klein wenig zu kümmern, Dorf, Kirche, Wald, See — um den See natürlich am meiſten, denn der iſt unſre pièce de résistance. Das andere giebt es wo anders auch, aber der See ... Lorenzen erklärt ihn außerdem noch für einen richtigen Revolutionär, der gleich mit¬ rumort, wenn irgendwo was los iſt. Und es iſt auch wirklich ſo. Mein Paſtor aber ſollte, beiläufig bemerkt, ſo was lieber nicht ſagen. Das ſind ſo Geiſtreichigkeiten, die leicht übel vermerkt werden. Ich perſönlich laſſ 'es laufen. Es giebt nichts, was mir ſo verhaßt wäre wie Polizeimaßregeln, oder einem Menſchen, der gern ein freies Wort ſpricht, die Kehle zuzuſchnüren. Ich rede ſelber gern, wie mir der Schnabel gewachſen iſt. “
„ Und verplauderſt dich dabei, “ſagte Woldemar, „ und vergißt zunächſt unſer Programm. Um ſpäteſtens zwei65 müſſen wir fort; wir haben alſo nur noch vier Stunden. Und Globſow, ohne das es nicht gehen wird, iſt weit und koſtet uns wenigſtens die Hälfte davon. “
„ Alles richtig. Alſo das Menü, meine Herren. Ich denke mir die Sache ſo. Erſt (da gleich hinter dem Bux¬ baumgange) Beſteigung des Ausſichtsturms, — noch eine Anlage von meinem Vater her, die ſich, nach Anſicht der Leute hier, vordem um vieles ſchöner ausnahm als jetzt. Damals waren nämlich noch lauter bunte Scheiben da oben, und alles, was man ſah, ſah rot oder blau oder orangefarben aus. Und alle Welt hier war unglücklich, als ich dieſe bunten Gläſer wegnehmen ließ. Ich empfand es aber wie 'ne Naturbeleidigung. Grün iſt grün und Wald iſt Wald ... Alſo Nummer eins der Ausſichts¬ turm; Nummer zwei Krippenſtapel und die Schule; Nummer drei die Kirche ſamt Kirchhof. Pfarre ſchenken wir uns. Dann Wald und See. Und dann Globſow, wo ſich eine Glasinduſtrie befindet. Und dann wieder zurück und zum Abſchluß ein zweites Frühſtück, eine altmodiſche Bezeich¬ nung, die mir aber trotzdem immer beſſer klingt als Lunch. ‚ Zweites Frühſtück‘ hat etwas ausgeſprochen Behagliches und giebt zu verſtehen, daß man ein erſtes ſchon hinter ſich hat ... Woldemar, dies iſt mein Programm, das ich dir, als einem Eingeweihten, hiermit unterbreite. Ja oder nein? “
„ Natürlich ja, Papa. Du triffſt dergleichen immer am beſten. Ich meinerſeits mache aber nur die erſte Hälfte mit. Wenn wir in der Kirche fertig ſind, muß ich zu Lorenzen. Krippenſtapel kann mich ja mehr als er¬ ſetzen, und in Globſow weiß er all und jedes. Er ſpricht, als ob er Glasbläſer geweſen wäre. “
„ Darf dich nicht wundern. Dafür iſt er Lehrer im allgemeinen und Krippenſtapel im beſonderen. “
Fontane, Der Stechlin. 566So war denn alſo das Programm feſtgeſtellt, und nachdem Dubslav mit Engelkes Hilfe ſeinen noch ziemlich neuen weißen Filzhut, den er ſehr ſchonte, mit einem motanartigen ſchwarzen Filzhut vertauſcht und einen ſchweren Eichenſtock in die Hand genommen hatte, brach man auf, um zunächſt auf den als erſte Sehenswürdigkeit feſtgeſetzten Ausſichtsturm hinaufzuſteigen. Der Weg da¬ hin, keine hundert Schritte, führte durch einen ſogenannten ‚ Poetenſteig‘. „ Ich weiß nicht, “ſagte Dubslav, „ warum meine Mutter dieſen etwas anſpruchsvollen Namen hier einführte. Soviel mir bekannt, hat ſich hier niemals etwas betreffen laſſen, was zu dieſer Rangerhöhung einer ehemaligen Taxushecke hätte Veranlaſſung geben können. Und iſt auch recht gut ſo. “
„ Warum gut, Papa? “
„ Nun, nimm es nicht übel, “lachte Dubslav. „ Du ſprichſt ja, wie wenn du ſelber einer wärſt. Im übrigen räum 'ich dir ein, daß ich kein rechtes Urteil über derlei Dinge habe. Bei den Küraſſieren war keiner, und ich habe überhaupt nur einmal einen geſehen, mit einem kleinen Verdruß und einer Goldbrille, die er beſtändig abnahm und putzte. Natürlich bloß ein Männchen, klein und eitel. Aber ſehr elegant. “
„ Elegant? “fragte Czako. „ Dann ſtimmt es nicht; dann[haben] Sie ſo gut wie keinen geſehen. “
Unter dieſem Geſpräche waren ſie bis an den Turm gekommen, der in mehreren Etagen und zuletzt auf bloßen Leitern anſtieg. Man mußte ſchwindelfrei ſein, um gut hinaufzukommen. Oben aber war es wieder gefahrlos weil eine feſte Wandung das Podium umgab. Rex und Cazko hielten Umſchau. Nach Süden hin lag das Land frei, nach den drei andern Seiten hin aber war alles mit Waldmaſſen beſetzt, zwiſchen denen gelegentlich die ſich hier auf weite Meilen hinziehende Seeenkette ſichtbar wurde. Der nächſte See war der Stechlin.
67„ Wo iſt nun die Stelle? “fragte Czako. „ Natürlich die, wo's ſprudelt und ſtrudelt. “
„ Sehen Sie die kleine Buchtung da, mit der weißen Steinbank? “
„ Jawohl; ganz deutlich. “
„ Nun, von der Steinbank aus keine zwei Boots¬ längen in den See hinein, da haben Sie die Stelle, die, wenn's ſein muß, mit Java telephoniert. “
„ Ich gäbe was drum, “ſagte Czako, „ wenn jetzt der Hahn zu krähen anfinge. “
„ Dieſe kleine Aufmerkſamkeit muß ich Ihnen leider ſchuldig bleiben und hab 'überhaupt da nach rechts hin nichts andres mehr für Sie als die roten Ziegeldächer, die ſich zwiſchen dem Waldrand und dem See wie auf einem Bollwerk hinziehen. Das iſt Kolonie Globſow. Da wohnen die Glasbläſer. Und dahinter liegt die Glas¬ hütte. Sie iſt noch unter dem alten Fritzen entſtanden und heißt die ‚ grüne Glashütte‘. “
„ Die grüne? Das klingt ja beinah 'wie aus' nem Märchen. “
„ Iſt aber eher das Gegenteil davon. Sie heißt nämlich ſo, weil man da grünes Glas macht, allerge¬ wöhnlichſtes Flaſchenglas. An Rubinglas mit Goldrand dürfen Sie hier nicht denken. Das iſt nichts für unſre Gegend. “
Und damit kletterten ſie wieder hinunter und traten, nach Paſſierung des Schloßvorhofs, auf den quadratiſchen Dorfplatz hinaus, an deſſen einer Ecke die Schule gelegen war. Es mußte die Schule ſein, das ſah man an den offenſtehenden Fenſtern und den Malven davor, und als die Herren bis an den grünen Staketenzaun heran waren, hörten ſie auch ſchon den prompten Schulgang da drinnen, erſt die ſcharfe, kurze Frage des Lehrers und dann die ſofortige Maſſenantwort. Im nächſten Augenblick, unter Vorantritt Dubslavs, betraten alle den Flur, und weil5*68ein kleiner weißer Kläffer ſofort furchtbar zu bellen anfing, erſchien Krippenſtapel um zu ſehen, was los ſei.
„ Guten Morgen, Krippenſtapel, “ſagte Dubslav. „ Ich bring 'Ihnen Beſuch. “
„ Sehr ſchmeichelhaft, Herr Baron. “
„ Ja, das ſagen Sie; wenn's nur wahr iſt. Aber unter allen Umſtänden laſſen Sie den Baron aus dem Spiel ... Sehen Sie, meine Herren, mein Freund Krippenſtapel is ein ganz eignes Haus. Alltags nennt er mich Herr von Stechlin (den Major unterſchlägt er), und wenn er ärgerlich iſt, nennt er mich ‚ gnäd'ger Herr‘. Aber ſowie ich mit Fremden komme, betitelt er mich Herr Baron. Er will was für mich thun. “
Krippenſtapel, ſtill vor ſich hinſchmunzelnd, hatte mittlerweile die Thür zu der ſeiner Schulklaſſe gegenüber gelegenen Wohnſtube geöffnet und bat die Herren, ein¬ treten zu wollen. Sie nahmen auch jeder einen Stuhl in die Hand, aber ſtützten ſich nur auf die Lehne, während das Geſpräch zwiſchen Dubslav und dem Lehrer ſeinen Fortgang nahm. „ Sagen Sie, Krippenſtapel, wird es denn überhaupt gehen? Sie ſollen uns natürlich alles zeigen, und die Schule iſt noch nicht aus. “
„ O, gewiß geht es, Herr von Stechlin. “
„ Ja, hören Sie, wenn der Hirt fehlt, rebelliert die Herde ... “
„ Nicht zu befürchten, Herr von Stechlin. Da war mal ein Burgemeiſter, achtundvierziger Zeit, Namen will ich lieber nicht nennen, der ſagte: ‚ Wenn ich meinen Stiefel ans Fenſter ſtelle, regier 'ich die ganze Stadt. ‘ Das war mein Mann. “
„ Richtig; den hab 'ich auch noch gekannt. Ja, der verſtand es. Überhaupt immer in der Furcht des Herrn. Dann geht alles am beſten. Der Hauptregente bleibt doch der Krückſtock. “
69„ Der Krückſtock “, beſtätigte Krippenſtapel. „ Und dann freilich die Belohnungen. “
„ Belohnungen? “lachte Dubslav. „ Aber Krippen¬ ſtapel, wo nehmen Sie denn die her? “
„ O, die hat's ſchon, Herr von Stechlin. Aber immer mit Verſchiedenheiten. Iſt es was Kleines, ſo kriegt der Junge bloß 'nen Katzenkopp weniger, iſt es aber was Großes, dann kriegt er' ne Wabe. “
„ 'ne Wabe? Richtig. Davon haben wir ſchon heute früh beim Frühſtück geſprochen, als Ihr Honig auf den Tiſch kam. Ich habe den Herren dabei ge¬ ſagt, Sie wären der beſte Imker in der ganzen Graf¬ ſchaft. “
„ Zu viel Ehre, Herr von Stechlin. Aber das darf ich ſagen, ich verſteh 'es. Und wenn die Herren mir folgen wollen, um das Volk bei der Arbeit zu ſehen — es iſt jetzt gerade beſte Zeit. “
Alle waren einverſtanden, und ſo gingen ſie denn durch den Flur bis in Hof und Garten hinaus und nahmen hier Stellung vor einem offenen Etageſchuppen, drin die Stöcke ſtanden, nicht altmodiſche Bienenkörbe, ſondern richtige Bienenhäuſer, nach der Dzierzonſchen Methode, wo man alles herausnehmen und jeden Augen¬ blick in das Innere bequem hinein gucken kann. Krippen¬ ſtapel zeigte denn auch alles, und Rex und Czako waren ganz aufrichtig intereſſiert.
„ Nun aber, Herr Lehrer Krippenſtapel “, ſagte Czako, „ nun bitte, geben Sie uns auch einen Kommentar. Wie is das eigentlich mit den Bienen? Es ſoll ja was ganz Beſondres damit ſein. “
„ Iſt es auch, Herr Hauptmann. Das Bienenleben iſt eigentlich feiner und vornehmer als das Menſchenleben. “
„ Feiner, das kann ich mir ſchon denken; aber auch vornehmer? Was Vornehmeres als den Menſchen giebt es nicht. Indeſſen, wie's damit auch ſei, ‚ ja‘ oder ‚ nein‘,70 Sie machen einen nur immer neugieriger. Ich habe mal gehört, die Bienen ſollen ſich auf das Staatliche ſo gut verſtehen; beinah 'vorbildlich. “
„ So iſt es auch, Herr Hauptmann. Und eines iſt ja da, worüber ſich als Thema vielleicht reden läßt. Da ſind nämlich in jedem Stock drei Gruppen oder Klaſſen. In Klaſſe eins haben wir die Königin, in Klaſſe zwei haben wir die Arbeitsbienen (die, was für alles Arbeits¬ volk wohl eigentlich immer das beſte iſt, geſchlechtslos ſind), und in Klaſſe drei haben wir die Drohnen; die ſind männlich, worin zugleich ihr eigentlicher Beruf beſteht. Denn im übrigen thun ſie gar nichts. “
„ Intereſſanter Staat. Gefällt mir. Aber immer noch nicht vorbildlich genug. “
„ Und nun bedenken Sie, Herr Hauptmann. Winter¬ lang haben ſie ſo dageſeſſen und gearbeitet oder auch ge¬ ſchlafen. Und nun kommt der Frühling, und das er¬ wachende neue Leben ergreift auch die Bienen, am mächtigſten aber die Klaſſe eins, die Königin. Und ſie beſchließt nun, mit ihrem ganzen Volk einen Frühlings¬ ausflug zu machen, der ſich für ſie perſönlich ſogar zu einer Art Hochzeitsreiſe geſtaltet. So muß ich es nennen. Unter den vielen Drohnen nämlich, die ihr auf der Ferſe ſind, wählt ſie ſich einen Begleiter, man könnte ſagen einen Tänzer, der denn auch berufen iſt, alsbald in eine noch intimere Stellung zu ihr einzurücken. Etwa nach einer Stunde kehrt die Königin und ihr Hochzeitszug in die beengenden Schranken ihres Staates zurück. Ihr Daſein hat ſich inzwiſchen erfüllt. Ein ganzes Geſchlecht von Bienen wird geboren, aber weitere Beziehungen zu dem bewußten Tänzer ſind ein für allemal ausgeſchloſſen. Es iſt das gerade das, was ich vorhin als fein und vornehm bezeichnet habe. Bienenköniginnen lieben nur einmal. Die Bienenkönigin liebt und ſtirbt. “
„ Und was wird aus der bevorzugten Drohne, aus71 dem Prinzeſſinnen-Tänzer, dem Prince-Conſort, wenn dieſer Titel ausreicht? “
„ Dieſer Tänzer wird ermordet. “
„ Nein, Herr Lehrer Krippenſtapel, das geht nicht. Unter dieſer letzten Mitteilung bricht meine Begeiſterung wieder zuſammen. Das iſt ja ſchlimmer als der Heineſche Aſra. Der ſtirbt doch bloß. Aber hier haben wir Er¬ mordung. Sagen Sie, Rex, wie ſtehen Sie dazu? “
„ Das monogamiſche Prinzip, woran doch ſchließlich unſre ganze Kultur hängt, kann nicht ſtrenger und über¬ zeugender demonſtriert werden. Ich finde es großartig. “
Czako hätte gern geantwortet; aber er kam nicht dazu, weil in dieſem Augenblicke Dubslav darauf auf¬ merkſam machte, daß man noch viel vor ſich habe. Zu¬ nächſt die Kirche. „ Seine Hochwürden, der wohl eigent¬ lich dabei ſein müßte, wird es nicht übelnehmen, wenn wir auf ihn verzichten. Aber Sie, Krippenſtapel, können Sie? “
Krippenſtapel wiederholte, daß er Zeit vollauf habe. Zudem ſchlug die Schuluhr, und gleich beim erſten Schlage hörte man, wie's drinnen in der Klaſſe lebendig wurde und die Jungens in ihren Holzpantinen über den Flur weg auf die Straße ſtürzten. Draußen aber ſtellten ſie ſich militäriſch auf, weil ſie mittlerweile gehört hatten, daß der gnädige Herr gekommen ſei.
„ Morgen, Jungens “, ſagte Dubslav, an einen kleinen Schwarzhaarigen herantretend. „ Biſt von Globſow? “
„ Nein, gnäd'ger Herr, von Dagow. “
„ Na, lernſt auch gut? “
Der Junge griente.
„ Wann war denn Fehrbellin? “
„ Achtzehnte Juni. “
„ Und Leipzig? “
„ Achtzehnter Oktober. Immer achtzehnter bei uns. “
„ Das iſt recht, Junge .... Da. “
72Und dabei griff er in ſeinen Rock und ſuchte nach einem Nickel. „ Sehen Sie, Hauptmann, Sie ſind ein bißchen ein Spötter, ſo viel hab 'ich ſchon gemerkt; aber ſo muß es gemacht werden. Der Junge weiß von Fehr¬ bellin und von Leipzig und hat ein kluges Geſicht und ſteht Red' und Antwort. Und rote Backen hat er auch. Sieht er aus, als ob er einen Kummer hätte oder einen Gram ums Vaterland? Unſinn. Ordnung und immer feſte. Na, ſo lange ich hier ſitze, ſo lange hält es noch. Aber freilich, es kommen andre Tage. “
Woldemar lächelte.
„ Na “, fuhr der Alte fort, „ will mich tröſten. Als der alte Fritz zu ſterben kam, dacht 'er auch, nu ginge die Welt unter. Und ſie ſteht immer noch, und wir Deutſche ſind wieder obenauf, ein bißchen zu ſehr. Aber immer beſſer als zu wenig. “
Inzwiſchen hatte ſich Krippenſtapel in ſeiner Stube proper gemacht: ſchwarzer Rock mit dem Inhaberband des Adlers von Hohenzollern, den ihm ſein gütiger Guts¬ herr verſchafft hatte. Statt des Hutes, den er in der Eile nicht hatte finden können, trug er eine Mütze von ſonderbarer Form. In der Rechten aber hielt er einen ausgehöhlten Kirchenſchlüſſel, der wie 'ne roſtige Piſtole ausſah.
Der Weg bis zur Kirche war ganz nah. Und nun ſtanden ſie dem Portal gegenüber.
Rex, zu deſſen Reſſort auch Kirchenbauliches gehörte, ſetzte ſein Pincenez auf und muſterte. „ Sehr intereſſant. Ich ſetze das Portal in die Zeit von Biſchof Luger. Prämonſtratenſer-Bau. Wenn mich nicht alles täuſcht, Anlehnung an die Brandenburger Krypte. Alſo ſagen wir zwölfhundert. Wenn ich fragen darf, Herr von Stechlin, exiſtieren Urkunden? Und war vielleicht Herr von Quaſt ſchon hier oder Geheimrat Adler, unſer beſter Kenner? “
73Dubslav geriet in eine kleine Verlegenheit, weil er ſich einer ſolchen Gründlichkeit nicht gewärtigt hatte. „ Herr von Quaſt war einmal hier, aber in Wahlange¬ legenheiten. Und mit den Urkunden iſt es gründlich vor¬ bei, ſeit Wrangel hier alles niederbrannte. Wenn ich von Wrangel ſpreche, mein 'ich natürlich nicht unſern ‚ Vater Wrangel‘, der übrigens auch keinen Spaß ver¬ ſtand, ſondern den Schillerſchen Wrangel ... Und außer¬ dem, Herr von Rex, iſt es ſo ſchwer für einen Laien. Aber Sie, Krippenſtapel, was meinen Sie? “
Rex, über den plötzlich etwas von Dienſtlichkeit ge¬ kommen war, zuckte zuſammen. Er hatte ſich an Herrn von Stechlin gewandt, wenn nicht als an einen Wiſſenden, ſo doch als an einen Ebenbürtigen, und daß jetzt Krippen¬ ſtapel aufgefordert wurde, das entſcheidende Wort in dieſer Angelegenheit zu ſprechen, wollte ihm nicht recht paſſend erſcheinen. Überhaupt, was wollte dieſe Figur, die doch ſchon ſtark die Karikatur ſtreifte. Schon der Bericht über die Bienen und namentlich was er über die Haltung der Königin und den Prince-Conſort geſagt hatte, hatte ſo merkwürdig anzüglich geklungen, und nun wurde dies Schulmeiſter-Original auch noch aufgefordert, über bauliche Fragen und aus welchem Jahrhundert die Kirche ſtamme, ſein Urteil abzugeben. Er hatte wohlweislich nach Quaſt und Adler gefragt, und nun kam Krippenſtapel! Wenn man durchaus wollte, konnte man das alles patriarchaliſch finden; aber es mißfiel ihm doch. Und leider war Krippenſtapel — der zu ſeinen ſonſtigen Sonderbarkeiten auch noch den ganzen Trotz des Autodidakten geſellte — keineswegs angethan, die kleinen Unebenheiten, in die das Geſpräch hineingeraten war, wieder glatt zu machen. Er nahm vielmehr die Frage ‚ Krippenſtapel, was meinen Sie‘ ganz ernſthaft auf und ſagte:
„ Wollen verzeihen, Herr von Rex, wenn ich unter Anlehnung an eine neuerdings erſchienene Broſchüre des74 Oberlehrers Tucheband in Templin zu widerſprechen wage. Dieſer Grafſchaftswinkel hier iſt von mehr mecklenburgiſchem und uckermärkiſchem als brandenburgiſchem Charakter, und wenn wir für unſre Stechliner Kirche nach Vorbildern forſchen wollen, ſo werden wir ſie wahrſcheinlich in Kloſter Himmelpfort oder Granſee zu ſuchen haben, aber nicht in Dom Brandenburg. Ich möchte hinzuſetzen dürfen, daß Oberlehrer Tuchebands Aufſtellungen, ſo viel ich weiß, unwiderſprochen geblieben ſind. “
Czako, der dieſem aufflackernden Kampfe zwiſchen einem Miniſterialaſſeſſor und einem Dorfſchulmeiſter mit größtem Vergnügen folgte, hätte gern noch weitere Scheite herzugetragen, Woldemar aber empfand, daß es höchſte Zeit ſei, zu intervenieren, und bemerkte: nichts ſei ſchwerer als auf dieſem Gebiete Beſtimmungen zu treffen — ein Satz, den übrigens ſowohl Rex wie Krippenſtapel ab¬ lehnen zu wollen ſchienen — und daß er vorſchlagen möchte, lieber in die Kirche ſelbſt einzutreten, als hier draußen über die Säulen und Kapitelle weiter zu de¬ battieren.
Man fand ſich in dieſen Vorſchlag, Krippenſtapel öffnete die Kirche mit ſeinem Rieſenſchlüſſel, und alle traten ein.
Gleich nach zwölf — Woldemar hatte ſich, wie ge¬ plant, ſchon lange vorher, um bei Lorenzen vorzuſprechen, von den andern Herren getrennt — waren Dubslav, Rex und Czako von dem Globſower Ausfluge zurück, und Rex, feiner Mann, der er war, war bei Paſſierung des Vor¬ hofs verbindlich an die mit Zinn ausgelegte blanke Glas¬ kugel herangetreten, um ihr, als einem mutmaßlichen Produkte der eben beſichtigten „ grünen Glashütte “, ſeine Miniſterialaufmerkſamkeit zu ſchenken. Er ging dabei ſo weit, von „ Induſtrieſtaat “zu ſprechen. Czako, der ge¬ meinſchaftlich mit Rex in die Glaskugel hineinguckte, war mit allem einverſtanden, nur nicht mit ſeinem Spiegel¬ bilde. „ Wenn man nur bloß etwas beſſer ausſähe ... “ Rex verſuchte zu widerſprechen, aber Czako gab nicht nach und verſicherte: „ Ja, Rex, Sie ſind ein ſchöner Mann, Sie haben eben mehr zuzuſetzen. Und da bleibt denn immer noch was übrig. “
Oben auf der Rampe ſtand Engelke.
„ Nun, Engelke, wie ſteht's? Woldemar und der Paſtor ſchon da? “
„ Nein, gnäd'ger Herr. Aber ich kann ja die Chriſtel ſchicken ... “
„ Nein, nein, ſchicke nicht. Das ſtört bloß. Aber warten wollen wir auch nicht. Es war doch weiter nach Globſow, als ich dachte; das heißt, eigentlich war es76 nicht weiter, bloß die Beine wollen nicht mehr recht. Und hat ſolche Anſtrengung bloß das eine Gute, daß man hungrig und durſtig wird. Aber da kommen ja die Herren. “
Und er grüßte von der Rampe her nach der Bohlen¬ brücke hinüber, über die Woldemar und Lorenzen eben in den Schloßhof eintraten. Rex ging ihnen entgegen. Dubslav dagegen nahm Czakos Arm und ſagte: „ Nun kommen Sie, Hauptmann, wir wollen derweilen ein bißchen recherchieren und uns einen guten Platz aus¬ ſuchen. Mit der ewigen Veranda, das is nichts; unter der Marquiſe ſteht die Luft wie 'ne Mauer, und ich muß friſche Luft haben. Vielleicht erſtes Zeichen von Hydropſie. Kann eigentlich Fremdwörter nicht leiden. Aber mitunter ſind ſie doch ein Segen. Wenn ich ſo zwiſchen Hydropſie und Waſſerſucht die Wahl habe, bin ich immer für Hydropſie. Waſſerſucht hat ſo was koloſſal Anſchauliches. “
Unter dieſen Worten waren ſie bis in den Garten gekommen, an eine Stelle, wo viel Buchsbaum ſtand, dem Poetenſteige gerad 'gegenüber. „ Sehen Sie hier, Hauptmann, das wäre ſo was. Niedrige Buchsbaum¬ wand. Da haben wir Luft und doch keinen Zug. Denn vor Zug muß ich mich auch hüten wegen Rheumatismus, oder vielleicht iſt es auch Gicht. Und dabei hören wir das Plätſchern von meiner Sansſouci-Fontäne. Was meinen Sie? “
„ Kapital, Herr Major. “
„ Ach, laſſen Sie den Major. Major klingt immer ſo dienſtlich ... Alſo hier, Engelke, hier decke den Tiſch und ſtell auch ein paar Fuchſien oder was gerade blüht in die Mitte. Nur nicht Aſtern. Aſtern ſind ganz gut, aber doch ſozuſagen unterm Stand und ſehen immer aus wie 'n Bauerngarten. Und dann mache dich in den Keller und hol uns was Ordentliches herauf. Du weißt ja, was ich zum Frühſtück am liebſten habe. Viel¬ leicht hat Hauptmann Czako denſelben Geſchmack. “
77„ Ich weiß noch nicht, um was es ſich handelt, Herr von Stechlin; aber ich möchte mich für Übereinſtimmung ſchon jetzt verbürgen. “
Inzwiſchen waren auch Woldemar, Rex und der Paſtor vom Gartenſalon her auf die Veranda hinaus¬ getreten und Dubslav ging ihnen entgegen. „ Guten Tag, Paſtor. Nun, das iſt recht. Ich dachte ſchon, Woldemar würde von Ihnen annektiert werden. “
„ Aber, Herr von Stechlin ... Ihre Gäſte ... Und Woldemars Freunde. “
„ Betonen Sie das nicht ſo, Lorenzen. Es giebt Umgangsformen und Artigkeitsgeſetze. Gewiß. Aber das alles reicht nicht weit. Was der Menſch am eheſten durchbricht, das ſind gerade ſolche Formen. Und wer ſie nicht durchbricht, der kann einem auch leid thun. Wie geht es denn in der Ehe? Haben Sie ſchon einen Mann geſehen, der die Formen wahrt, wenn ſeine Frau ihn ärgert? Ich nicht. Leidenſchaft iſt immer ſiegreich. “
„ Ja, Leidenſchaft. Aber Woldemar und ich ... “
„ Sind auch in Leidenſchaft, Sie haben die Freund¬ ſchaftsleidenſchaft, Oreſt und Pylades — ſo was hat es immer gegeben. Und dann, was noch viel mehr ſagen will, Sie haben nebenher die Konſpirationsleidenſchaft ... “
„ Aber, Herr von Stechlin. “
„ Nein, nicht die Konſpirationsleidenſchaft, ich nehm 'es zurück; aber Sie haben dafür was andres, nämlich die Weltverbeſſerungsleidenſchaft. Und das iſt eine der größten, die es giebt. Und wenn ſolche zwei Weltverbeſſerer zu¬ ſammen ſind, da können Rex und Czako warten, und da kann ſelbſt ein warmes Frühſtück warten. Sagt man noch Déjeuner á la fourchette? “
„ Kaum, Papa. Wie du weißt, es iſt jetzt alles engliſch. “
„ Natürlich. Die Franzoſen ſind abgeſetzt. Und iſt auch recht gut ſo, wiewohl unſre Vettern drüben erſt recht78 nichts taugen. Selbſt iſt der Mann. Aber ich glaube, das Frühſtück wartet. “
Wirklich, es war ſo. Während die Herren zu zwei und zwei an der Buchsbaumwandung auf und ab ſchritten, hatte Engelke den Tiſch arrangiert, an den jetzt Wirt und Gäſte herantraten.
Es war eine längliche Tafel, deren dem Rundell zugekehrte Längsſeite man frei gelaſſen hatte, was allen einen Überblick über das hübſche Gartenbild geſtattete. Dubslav, das Arrangement muſternd, nickte Engelke zu, zum Zeichen, daß er's getroffen habe. Dann aber nahm er die Mittelſchüſſel und ſagte, während er ſie Rex reichte: „ Toujours perdrix. “ Das heißt, es ſind eigentlich Krammetsvögel, wie ſchon geſtern abend. Aber wer weiß, wie Krammetsvögel auf franzöſiſch heißen? Ich wenigſtens weiß es nicht. Und ich glaube, nicht einmal Tucheband wird uns helfen können. “
Ein allgemeines verlegenes Schweigen beſtätigte Dubslavs Vermutung über franzöſiſche Vokabelkenntnis.
„ Wir kamen übrigens, “fuhr dieſer fort, „ dicht vor Globſow durch einen Dohnenſtrich, überall hingen noch viele Krammetsvögel in den Schleifen, was mir auffiel und was ich doch, wie ſo vieles Gute, meinem alten Krippenſtapel zuſchreiben muß. Es wäre doch 'ne Kleinig¬ keit für die Jungens, den Dohnenſtrich auszuplündern. Aber ſo was kommt nicht vor. Was meinen Sie, Lorenzen? “
„ Ich freue mich, daß es iſt, wie es iſt, und daß die Dohnenſtriche nicht ausgeplündert werden. Aber ich glaube, Herr von Stechlin, Sie dürfen es Krippenſtapel nicht anrechnen. “
Dubslav lachte herzlich. „ Da haben wir wieder die alte Geſchichte. Jeder Schulmeiſter ſchulmeiſtert an ſeinem Paſtor herum, und jeder Paſtor paſtort über ſeinen Schul¬ meiſter. Ewige Rivalität. Der natürliche Zug iſt doch,79 daß die Jungens nehmen, was ſie kriegen können. Der Menſch ſtiehlt wie’n Rabe. Und wenn er’s mit einmal unterläßt, ſo muß das doch ’nen Grund haben. “
„ Den hat es auch, Herr von Stechlin. Bloß einen andern. Was ſollen ſie mit ’nem Krammetsvogel machen? Für uns iſt es eine Delikateſſe, für einen armen Menſchen iſt es gar nichts, knapp ſo viel wie’n Sperling. “
„ Ach, Lorenzen, ich ſehe ſchon, Sie liegen da wieder mit dem ‚ Patrimonium der Enterbten‘ im Anſchlag; Sperling, das klingt ganz ſo. Aber ſo viel iſt doch richtig, daß Krippenſtapel die Jungens brillant in[Ordnung] hält; wie ging das heute Schlag auf Schlag, als ich den kurz¬ geſchornen Schwarzkopp ins Examen nahm und wie ſtramm waren die Jungens und wie manierlich, als wir ſie nach ’ner Stunde in Globſow wiederſahen. Wie ſie da ſo fidel ſpielten und doch voll Reſpekt in allem. ‚ Frei, aber nicht frech‘, das iſt ſo mein Satz. “
Woldemar und Lorenzen, die nicht mit dabei geweſen waren, waren neugierig, auf welchen Vorgang ſich all dies Lob des Alten bezöge.
„ Was hat denn, “fragte Woldemar, „ die Globſower Jungens mit einemmal zu ſo guter Reputation gebracht? “
„ O, es war wirklich ſcharmant, “ſagt Czako „ wir ſteckten noch unter den Waldbäumen, als wir auch ſchon Stimmen wie Kommandorufe hörten, und kaum daß wir auf einen freien, von Kaſtanien umſtellten Platz hinaus¬ getreten waren (eigentlich war es wohl ſchon ein großer Fabrikhof), ſo ſahen wir uns wie mitten in einer Bataille. “
Rex nickte zuſtimmend, während Czako fortfuhr: „ Auf unſerer Seite ſtand die bis dahin augenſcheinlich ſiegreiche Partei, deren weiterer Angriff aber wegen der guten gegneriſchen Deckung mit einemmale ſtoppte. Kaum zu verwundern. Denn eben dieſe Deckung beſtand aus wohl tauſend, ein großes Karree bildenden Glasballons, hinter die ſich die geſchlagene Truppe wie hinter eine80 Barrikade zurückgezogen hatte. Da ſtanden ſie nun und nahmen ein mit den maſſenhaft umherliegenden Kaſtanien geführtes Feuergefecht auf. Die meiſten ihrer Schüſſe gingen zu kurz und fielen klappernd wie Hagel auf die Ballons nieder. Ich hätte dem Spiel, ich weiß nicht wie lange, zuſehn können. Als man unſerer aber anſichtig wurde, ſtob alles unter Hurra und Mützenſchwenken aus¬ einander. Überall ſind Photographen. Nur wo ſie hin¬ gehören, da fehlen ſie. Genau ſo wie bei der Polizei. “
Dubslav hatte ſchmunzelnd der Schilderung zugehört. „ Hören Sie, Hauptmann, Sie verſtehn es aber; Sie können mit 'nem Dukaten den Großen Kurfürſten ver¬ golden. “
„ Ja, “ſagte Rex, ſeinen Partner plötzlich im Stiche laſſend, „ das thut unſer Freund Czako nicht anders; drei¬ viertel iſt immer Dichtung. “
„ Ich gebe mich auch nicht für einen Hiſtoriker aus und am wenigſten für einen korrekten Aktenmenſchen. “
„ Und dabei, lieber Czako, “nahm jetzt Dubslav das Wort, „ dabei bleiben Sie nur. Auf Ihr Spezielles! In ſo wichtiger Sache müſſen Sie mir aber in meiner Lieb¬ lingsſorte Beſcheid thun, nicht in Rotwein, den mein be¬ rühmter Miteinſiedler das ‚ natürliche Getränk des nord¬ deutſchen Menſchen‘ genannt hatte. Einer ſeiner mannig¬ fachen Irrtümer; vielleicht der größte. Das natürliche Getränk des norddeutſchen Menſchen iſt am Rhein und Main zu finden. Und am vorzüglichſten da, wo ſich, wenn ich den Ausdruck gebrauchen darf, beide vermählen. Ungefähr von dieſer Vermählungsſtelle kommt auch der hier. “ Und dabei wies er auf eine vor ihm ſtehende Bocksbeutelflaſche. „ Sehen Sie, meine Herren, verhaßt ſind mir alle langen Hälſe; das hier aber, das nenn 'ich eine gefällige Form. Heißt es nicht irgendwo: ‚ Laßt mich dicke Leute ſehn‘, oder ſo ähnlich. Da ſtimm' ich zu; dicke Flaſchen, die ſind mein Fall. “ Und dabei ſtieß er81 wiederholt mit Czako an. „ Noch einmal, auf Ihr Wohl. Und auf Ihres, Herr von Rex. Und dann auf das Wohl meiner Globſower, oder wenigſtens meiner Globſower Jungens, die ſich nicht bloß um Fehrbellin kümmern und um Leipzig, ſondern, wie wir geſehen haben, auch ſelber ihre Schlachten ſchlagen. Ich ärgere mich nur immer, wenn ich dieſe rieſigen Ballons da zwiſchen meinen Glob¬ ſowern ſehe. Und hinter dem erſten Fabrikhof (ich wollte Sie nur nicht weiter damit behelligen), da iſt noch ein zweiter Hof, der ſieht noch ſchlimmer aus. Da ſtehen nämlich wahre Glasungeheuer, auch Ballons, aber mit langem Hals dran, und die heißen dann Retorten. “
„ Aber Papa, “ſagte Woldemar, „ daß du dich über die paar Retorten und Ballons nie beruhigen kannſt. So lang ich nur denken kann, eiferſt du dagegen. Es iſt doch ein wahres Glück, daß ſo viel davon in die Welt geht und den armen Fabrikleuten einen guten Lohn ſichert. So was wie Streik kommt hier ja gar nicht vor und in dieſem Punkt iſt unſre Stechliner Gegend doch wirklich noch wie ein Paradies. “
Lorenzen lachte.
„ Ja, Lorenzen, Sie lachen, “warf Dubslav hier ein. „ Aber bei Lichte beſehen hat Woldemar doch recht, was, (und Sie wiſſen auch warum,) eigentlich nicht oft vorkommt. Es iſt genau ſo, wie er ſagt. Natürlich bleibt uns Eva und die Schlange; das iſt uralte Erbſchaft. Aber ſo viel noch von guter alter Zeit in dieſer Welt zu finden iſt, ſo viel findet ſich hier, hier in unſrer lieben alten Graf¬ ſchaft. Und in dies Bild richtiger Gliederung, oder meinet¬ wegen auch richtiger Unterordnung (denn ich erſchrecke vor ſolchem Worte nicht), in dieſes Bild des Friedens paßt mir dieſe ganze Globſower Retortenbläſerei nicht hinein. Und wenn ich nicht fürchten müßte, für einen Querkopf gehalten zu werden, ſo hätt 'ich bei hoher Behörde ſchon lange meine Vorſchläge wegen dieſer Retorten und BallonsFontane, Der Stechlin. 682eingereicht. Und natürlich gegen beide. Warum müſſen es immer Ballons ſein? Und wenn ſchon, na, dann lieber ſolche wie dieſe. Die laſſ 'ich mir gefallen. “ Und dabei hob er die Bocksbeutelflaſche.
„ Wie dieſe, “beſtätigte Czako.
„ Ja, Czako, Sie ſind ganz der Mann, meinen Papa in ſeiner Idioſynkraſie zu beſtärken. “
„ Idioſynkraſie, “wiederholte der Alte. „ Wenn ich ſo was höre. Ja, Woldemar, da glaubſt du nun wieder wunder was Feines geſagt zu haben. Aber es iſt doch bloß ein Wort. Und was bloß ein Wort iſt, iſt nie was Feines, auch wenn es ſo ausſieht. Dunkle Gefühle, die ſind fein. Und ſo gewiß die Vorſtellung, die ich mit dieſer lieben Flaſche hier verbinde, für mich perſönlich was Celeſtes hat ... kann man Celeſtes ſagen? ... “ Lorenzen nickte zuſtimmend, „ ſo gewiß hat die Vorſtellung, die ſich für mich an dieſe Globſower Rieſenbocksbeutel¬ flaſchen knüpft, etwas Infernaliſches. “
„ Aber Papa. “
„ Still, unterbrich mich nicht, Woldemar. Denn ich komme jetzt eben an eine Berechnung, und bei Berech¬ nungen darf man nicht geſtört werden. Über hundert Jahre beſteht nun ſchon dieſe Glashütte. Und wenn ich nun ſo das jedesmalige Jahresprodukt mit hundert multi¬ pliziere, ſo rechne ich mir alles in allem wenigſtens eine Million heraus. Die ſchicken ſie zunächſt in andre Fa¬ briken, und da deſtillieren ſie flott drauf los und zwar allerhand ſchreckliches Zeug in dieſe grünen Ballons hinein: Salzſäure, Schwefelſäure, rauchende Salpeterſäure. Das iſt die ſchlimmſte, die hat immer einen rotgelben Rauch, der einem gleich die Lunge anfrißt. Aber wenn einen der Rauch auch zufrieden läßt, jeder Tropfen brennt ein Loch, in Leinwand oder in Tuch, oder in Leder, über¬ haupt in alles; alles wird angebrannt und angeätzt. Das iſt das Zeichen unſrer Zeit jetzt, ‚ angebrannt und angeätzt‘. 83Und wenn ich dann bedenke, daß meine Globſower da mitthun und ganz gemütlich die Werkzeuge liefern für die große Generalweltanbrennung, ja, hören Sie, meine Herren, das giebt mir einen Stich. Und ich muß Ihnen ſagen, ich wollte, jeder kriegte lieber einen halben Morgen Land von Staats wegen und kaufte ſich zu Oſtern ein Ferkelchen, und zu Martini ſchlachteten ſie ein Schwein und hätten den Winter über zwei Speckſeiten, jeden Sonntag eine ordentliche Scheibe, und alltags Kartoffeln und Grieben. “
„ Aber Herr von Stechlin, “lachte Lorenzen, „ das iſt ja die reine Neulandtheorie. Das wollen ja die Sozial¬ demokraten auch. “
„ Ach was, Lorenzen, mit Ihnen iſt nicht zu reden ... Übrigens Proſit ... wenn Sie's auch eigentlich nicht verdienen. “
Das Frühſtück zog ſich lange hin, und das dabei geführte Geſpräch nahm noch ein paarmal einen Anlauf ins Politiſche hinein; Lorenzen aber, der kleine Schraubereien gern vermeiden wollte, wich jedesmal geſchickt aus und kam lieber auf die Stechliner Kirche zu ſprechen. Er war aber auch hier vorſichtig und beſchränkte ſich, unter An¬ lehnung an Tucheband, auf Architektoniſches und Hiſto¬ riſches, bis Dubslav, ziemlich abrupt, ihn fragte: „ Wiſſen Sie denn, Lorenzen, auf unſerm Kirchenboden Beſcheid? Krippenſtapel hat mich erſt heute wiſſen laſſen, daß wir da zwei vergoldete Biſchöfe mit Krummſtab haben. Oder vielleicht ſind es auch bloß Äbte. “ Lorenzen wußte nichts davon, weshalb ihm Dubslav gutmütig mit dem Finger drohte.
So ging das Geſpräch. Aber kurz vor zwei mußte dem allem ein Ende gemacht werden. Engelke kam und meldete, daß die Pferde da und die Mantelſäcke bereits aufgeſchnallt ſeien. Dubslav ergriff ſein Glas, um auf ein frohes Wiederſehn anzuſtoßen. Dann erhob man ſich.
6 *84Rex, bei Paſſierung der Rampe, trat noch einmal an die kranke Aloe heran und verſicherte, daß ſolche Blüte doch etwas eigentümlich Geheimnisvolles habe. Dubslav hütete ſich, zu widerſprechen, und freute ſich, daß der Beſuch mit etwas für ihn ſo Erheiterndem abſchloß.
Gleich danach ritt man ab. Als ſie bei der Glas¬ kugel vorbeikamen, wandten ſich alle drei noch einmal zurück, und jeder lüpfte ſeine Mütze. Dann ging es, zwiſchen den Findlingen hin, auf die Dorfſtraße hinaus, auf der eben eine ziemlich ramponiert ausſehende Halb¬ chaiſe, das lederne Verdeck zurückgeſchlagen, an ihnen vorüberfuhr; die Sitze leer, alles an dem Fuhrwerk ließ Ordnung und Sauberkeit vermiſſen; das eine Pferd war leidlich gut, das andre ſchlecht, und zu dem neuen Livree¬ rock des Kutſchers wollte der alte Hut, der wie ein fuchſiges Torfſtück ausſah, nicht recht paſſen.
„ Das war ja Gundermanns Wagen. “
„ So, ſo, “ſagte Czako. „ Auf den hätt 'ich beinah' geraten. “
„ Ja, dieſer Gundermann “, lachte Woldemar. „ Mein Vater wollt 'Ihnen geſtern gern etwas Grafſchaftliches vorſetzen, aber er vergriff ſich. Gundermann auf Sieben¬ mühlen iſt ſo ziemlich unſere ſchlechteſte Nummer. Ich ſehe, er hat Ihnen nicht recht gefallen. “
„ Gott, gefallen, Stechlin, — was heißt gefallen? Eigentlich gefällt mir jeder oder auch keiner. Eine Dame hat mir mal geſagt, die langweiligen Leute wären ſchlie߬ lich gerade ſo gut wie die intereſſanten, und es hat was für ſich. Aber dieſer Gundermann! Zu welchem Zwecke läßt er denn eigentlich ſeinen leeren Wagen in der Welt herumkutſchieren? “
„ Ich bin deſſen auch nicht ſicher. Wahrſcheinlich in Wahlangelegenheiten. Er perſönlich wird irgendwo hängen85 geblieben ſein, um Stimmen einzufangen. Unſer alter braver Kortſchädel nämlich, der allgemein beliebt war, iſt dieſen Sommer geſtorben, und da will nun Gundermann, der ſich auf den Konſervativen hin ausſpielt, aber keiner iſt, im Trüben fiſchen. Er intrigiert. Ich habe das in einem Geſpräch, das ich mit ihm hatte, ziemlich deutlich herausgehört, und Lorenzen hat es mir beſtätigt. “
„ Ich kann mir denken, “ſagte Rex, „ daß gerade Lorenzen gegen ihn iſt. Aber dieſer Gundermann, für den ich weiter nichts übrig habe, hat doch wenigſtens die richtigen Prinzipien. “
„ Ach, Rex, ich bitte Sie, “ſagte Czako, „ richtige Prin¬ zipien! Geſchmackloſigkeiten hat er und öde Redensarten. Dreimal hab 'ich ihn ſagen hören: ‚ Das wäre wieder Waſſer auf die Mühlen der Sozialdemokratie. ‘ So was ſagt kein anſtändiger Menſch mehr, und jedenfalls ſetzt er nicht hinzu: ‚ daß er das Waſſer abſtellen wolle. ‘ Das iſt ja eine ſchreckliche Wendung. “
Unter dieſen Worten waren ſie bis an den hoch¬ überwölbten Teil der Kaſtanienallee gekommen.
Engelke, der gleich frühmorgens ein allerſchönſtes Wetter in Ausſicht geſtellt hatte, hatte recht behalten; es war ein richtiger Oktobertag, klar und friſch und milde zugleich. Die Sonne fiel hie und da durch das noch ziemlich dichte Laub, und die Reiter freuten ſich des Spieles der Schatten und Lichter. Aber noch anmutiger geſtaltete ſich das Bild, als ſie bald danach in einen Seitenweg einmündeten, der ſich durch eine flache, nur hie und da von Waſſerlachen durchzogene Wieſenlandſchaft hinſchlängelte. Die großen Heiden und Forſten, die das eigentlich Charakteriſtiſche dieſes nordöſtlichen Grafſchafts¬ winkels bilden, traten an dieſer Stelle weit zurück, und nur ein paar einzelne, wie vorgeſchobene Kouliſſen wirkende Waldſtreifen wurden ſichtbar.
Alle drei hielten an, um das Bild auf ſich wirken86 zu laſſen; aber ſie kamen nicht recht dazu, weil ſie, wäh¬ rend ſie ſich umſchauten, eines alten Mannes anſichtig wurden, der, nur durch einen flachen Graben von ihnen getrennt, auf einem Stück Wieſe ſtand und das hoch¬ ſtehende Gras mähte. Jetzt erſt ſah auch er von ſeiner Arbeit auf und zog ſeine Mütze. Die Herren thaten ein Gleiches und ſchwankten, ob ſie näher heranreiten und eine Anſprache mit ihm haben ſollten. Aber er ſchien das weder zu wünſchen noch zu erwarten, und ſo ritten ſie denn weiter.
„ Mein Gott, “ſagte Rex, „ das war ja Krippenſtapel. Und hier draußen, ſo weit ab von ſeiner Schule. Wenn er nicht die Seehundsfellmütze gehabt hätte, die wie aus einer konfiszierten Schulmappe geſchnitten ausſah, hätt 'ich ihn nicht wieder erkannt. “
„ Ja, er war es, und das mit der Schulmappe wird wohl auch zutreffen, “ſagte Woldemar. „ Krippenſtapel kann eben alles — der reine Robinſon. “
„ Ja, Stechlin, “warf Czako hier ein, „ Sie ſagen das ſo hin, als ob Sie's beſpötteln wollten. Eigentlich iſt es doch aber was Großes, ſich immer ſelber helfen zu können. Er wird wohl 'nen Sparren haben, zugegeben, aber Ihrem geprieſenen Lorenzen iſt er denn doch um ein gut Stück überlegen. Schon weil er ein Original iſt und ein Eulengeſicht hat. Eulengeſichtsmenſchen ſind anderen Menſchen faſt immer überlegen.
„ Aber Czako, ich bitte Sie, das iſt ja doch alles Unſinn. Und Sie wiſſen es auch. Sie möchten nur, ganz wie Rex, wenn auch aus einem andern Motiv, dem armen Lorenzen was am Zeug flicken, bloß weil Sie her¬ ausfühlen: „ das iſt eine lautere Perſönlichkeit “. “
„ Da thun Sie mir unrecht, Stechlin. Ganz und gar. Ich bin auch fürs Lautere, wenn ich nur perſönlich nicht in Anſpruch genommen werde. “
„ Nun, davor ſind Sie ſicher, — vom Brombeer¬87 ſtrauch keine Trauben. Im übrigen muß ich hier ab¬ brechen und Sie bitten, mich auf ein Weilchen entſchuldigen zu wollen. Ich muß da nämlich nach dem Forſthauſe hinüber, da drüben neben der Waldecke. “
„ Aber Stechlin, was wollen Sie denn bei 'nem Förſter? “
„ Kein Förſter. Es iſt ein Oberförſter, zu dem ich will, und zwar derſelbe, den Sie geſtern abend bei meinem Papa geſehn haben. Oberförſter Katzler, bürgerlich, aber doch beinah 'ſchon hiſtoriſcher Name. “
„ So, ſo; jedenfalls nach dem, was mir Rex erzählt, ein brillanter Billardſpieler. Und doch, wenn Sie nicht ganz intim mit ihm ſind, find 'ich dieſen Abſtecher über¬ trieben artig. “
„ Sie hätten recht, Czako, wenn es ſich lediglich um Katzler handelte. Das iſt aber nicht der Fall. Es handelt ſich nicht um ihn, ſondern um ſeine junge Frau. “
„ A la bonne heure. “
„ Ja, da ſind Sie nun auch wieder auf einer falſchen Fährte. So was kann nicht vorkommen, ganz abgeſehen davon, daß mit Oberförſtern immer ſchlecht Kirſchen pflücken iſt; die blaſen einen weg, man weiß nicht wie. ... Es handelt ſich hier einfach um einen Teilnahme¬ beſuch, um etwas, wenn Sie wollen, ſchön Menſchliches. Frau Katzler erwartet nämlich. “
„ Aber mein Gott, Stechlin, Ihre Worte werden immer rätſelhafter. Sie können doch nicht bei jeder Oberförſtersfrau, die ‚ erwartet‘, eine Viſite machen wollen. Das wäre denn doch eine Rieſenaufgabe, ſelbſt wenn Sie ſich auf ihre Grafſchaft hier beſchränken wollten. “
„ Es liegt alles ganz exceptionell. Übrigens macht ich es kurz mit meinem Beſuch, und wenn Sie Schrit 'reiten, worum ich bitte, ſo hol' ich Sie bei Genshagen noch wieder ein. Von da bis Wutz haben wir kaum88 noch eine Stunde, und wenn wir’s forcieren wollen, keine halbe. “
Und während er noch ſo ſprach, bog er rechts ein und ritt auf das Forſthaus zu.
Woldemar hatte die Mitte zwiſchen Rex und Czako gehabt; jetzt ritten dieſe beiden nebeneinander. Czako war neugierig und hätte gern Fritz herangerufen, um dies und das über Katzler und Frau zu hören. Aber er ſah ein, daß das nicht ginge. So blieb ihm nichts als ein Meinungsaustauſch mit Rex.
„ Sehn Sie, “hob er an, „ unſer Freund Woldemar, trabt er da nicht hin, wie wenn er dem Glücke nach¬ jagte? Glauben Sie mir, da ſteckt ’ne Geſchichte dahinter. Er hat die Frau geliebt oder liebt ſie noch. Und dies merkwürdige Intereſſe für den in Sicht ſtehenden Erden¬ bürger. Übrigens vielleicht ein Mädchen. Was meinen Sie dazu, Rex? “
„ Ach Czako, Sie wollen ja doch nur hören, was Ihrer eignen frivolen Natur entſpricht. Sie haben keinen Glauben an reine Verhältniſſe. Sehr mit Unrecht. Ich kann ihnen verſichern, es giebt dergleichen. “
„ Nun ja, Sie, Rex. Sie, der ſich Frühgottesdienſte leiſtet. Aber Stechlin ... “
„ Stechlin iſt auch eine ſittliche Natur. Sittlichkeit iſt ihm angeboren, und was er von Natur mitbrachte, das hat ſein Regiment weiter in ihm ausgebildet. “
Czako lachte. „ Nun hören Sie, Rex, Regimenter kenn’ ich doch auch. Es giebt ihrer von allen Arten, aber Sittlichkeitsregimenter kenn’ ich noch nicht. “
„ Es giebt’s ihrer aber. Zum mindeſten hat’s ihrer immer gegeben, ſogar ſolche mit Askeſe. “
„ Nun ja, Cromwell und die Puritaner. Aber, long, long ago‘. Verzeihen Sie die abgedudelte Phraſe. Aber wenn ſich’s um ſo feine Dinge wie Askeſe handelt, muß man notwendig einen engliſchen Brocken einſchalten. In Wirk¬89 lichkeit bleibt alles beim alten. Sie ſind ein ſchlechter Menſchenkenner, Rex, wie alle Konventikler. Die glauben immer, was ſie wünſchen. Und auch an unſerm Stechlin werden Sie mutmaßlich erfahren, wie falſch Sie gerechnet haben. Im übrigen kommt da gerade zu rechter Zeit ein Wegweiſer. Laſſen Sie uns nachſehen, wo wir eigent¬ lich ſind. Wir reiten ſo immer drauf los und wiſſen nicht mehr, ob links oder rechts. “
Rex, der von dem Wegweiſer nichts wiſſen wollte, war einfach für Weiterreiten, und das war auch das richtige. Denn keine halbe Stunde mehr, ſo holte Stechlin ſie wieder ein. „ Ich wußte, daß ich Sie noch vor Gens¬ hagen treffen würde. Die Frau Oberförſterin läßt ſich übrigens den Herren empfehlen. Er war nicht da, was recht gut war. “
„ Kann ich mir denken, “ſagte Czako.
„ Und was noch beſſer war, ſie ſah brillant aus. Eigentlich iſt ſie nicht hübſch, Blondine mit großen Ver¬ gißmeinnichtaugen und etwas lymphatiſch; auch wohl nicht ganz geſund. Aber ſonderbar, ſolche Damen, wenn was in Sicht ſteht, ſehen immer beſſer aus als in natürlicher Verfaſſung, ein Zuſtand, der allerdings bei der Katzler kaum vorkommt. Sie iſt noch nicht volle ſechs Jahre verheiratet und erwartet mit nächſtem das Siebente. “
„ Das iſt aber doch unerhört. Ich glaube, ſo was iſt Scheidungsgrund. “
„ Mir nicht bekannt und auch, offen geſtanden, nicht ſehr wahrſcheinlich. Jedenfalls wird es die Prinzeſſin nicht als Scheidungsgrund nehmen. “
„ Die Prinzeſſin? “fuhren Rex und Czako a tempo heraus.
„ Ja, die Prinzeſſin, “wiederholte Woldemar. „ Ich war all die Zeit über geſpannt, was das wohl für einen Eindruck auf Sie machen würde, weshalb ich mich auch gehütet habe, vorher mit Andeutungen zu kommen. Und90 es traf ſich gut, daß mein Vater geſtern abend nur ſo ganz leicht drüber hinging, ich möchte beinah 'ſagen diskret, was ſonſt nicht ſeine Sache iſt. “
„ Prinzeſſin, “wiederholte Rex, dem die Sache beinah 'den Atem nahm. „ Und aus einem regierenden Hauſe? “
„ Ja, was heißt aus einem regierenden Hauſe? Regiert haben ſie alle mal. Und ſoviel ich weiß, wird ihnen dies ‚ mal regiert haben‘ auch immer noch angerechnet, wenigſtens ſowie ſich's um Eheſchließungen handelt. Um ſo großartiger, wenn einzelne der hier in Betracht kommenden Damen auf alle dieſe Vorrechte verzichten und ohne Rückſicht auf Ebenbürtigkeit ſich aus reiner Liebe vermählen. Ich ſage ‚ vermählen‘, weil ‚ ſich verheiraten‘ etwas plebeje klingt. Frau Katzler iſt eine Ippe-Büchſen¬ ſtein. “
„ Eine Ippe! “ſagte Rex. „ Nicht zu glauben. Und erwartet wieder. Ich bekenne, daß mich das am meiſten chokiert. Dieſe Ausgiebigkeit, ich finde kein andres Wort, oder richtiger, ich will kein andres finden, iſt doch eigent¬ lich das Bürgerlichſte, was es giebt. “
„ Zugegeben. Und ſo hat es die Prinzeſſin auch wohl ſelber aufgefaßt. Aber das iſt gerade das Große an der Sache; ja, ſo ſonderbar es klingt, das Ideale. “
„ Stechlin, Sie können nicht verlangen, daß man das ſo ohne weiteres verſteht. Ein halb Dutzend Bälge, wo ſteckt da das Ideale? “
„ Doch, Rex, doch. Die Prinzeſſin ſelbſt, und das iſt das Rührendſte, hat ſich darüber ganz unumwunden ausgeſprochen. Und zwar zu meinem Alten. Sie ſieht ihn öfter und möcht 'ihn, glaub' ich, bekehren, — ſie iſt nämlich von der ſtrengen Richtung und hält ſich auch zu Superintendent Koſeleger, unſerm Papſt hier. Und kurz und gut, ſie macht meinem Papa beinah 'den Hof und erklärt ihn für einen perfekten Kavalier, wobei Katzler91 immer ein etwas ſüßſaures Geſicht macht, aber natürlich nicht widerſpricht. “
„ Und wie kam ſie nur dazu, Ihrem Papa gerade Konfeſſions in einer ſo delikaten Sache zu machen? “
„ Das war voriges Jahr, genau um dieſe Zeit, als ſie auch mal wieder erwartete. Da war mein Vater drüben und ſprach, als das durch die Situation gegebene Thema berührt wurde, halb diplomatiſch, halb humoriſtiſch von der Königin Luiſe, hinſichtlich deren der alte Doktor Heim, als der Königin das ‚ Sechſte oder Siebente‘ geboren werden ſollte, ziemlich freiweg von der Not¬ wendigkeit der ‚ Brache‘ geſprochen hatte. “
„ Bißchen ſtark “, ſagte Rex. „ Ganz im alten Heim - Stil. Aber freilich, Königinnen laſſen ſich viel gefallen. Und wie nahm es die Prinzeſſin auf? “
„ O, ſie war reizend, lachte, war weder verlegen noch verſtimmt, ſondern nahm meines Vaters Hand ſo zu¬ traulich, wie wenn ſie ſeine Tochter geweſen wäre. ‚ Ja, lieber Herr von Stechlin, ‘ſagte ſie,, wer A ſagt, der muß auch B ſagen. Wenn ich dieſen Segen durchaus nicht wollte, dann mußt 'ich einen Durchſchnittsprinzen heiraten, — da hätt' ich vielleicht das gehabt, was der alte Heim empfehlen zu müſſen glaubte. Statt deſſen nahm ich aber meinen guten Katzler. Herrlicher Mann. Sie kennen ihn und wiſſen, er hat die ſchöne Einfachheit aller ſtattlichen Männer, und ſeine Fähigkeiten, ſoweit ſich überhaupt da¬ von ſprechen läßt, haben etwas Einſeitiges. Als ich ihn heiratete, war ich deshalb ganz von dem einen Gedanken erfüllt, alles Prinzeßliche von mir abzuſtreifen und nichts beſtehen zu laſſen, woraus Übelwollende hätten herleiten können: „ Ah, ſie will immer noch eine Prinzeſſin ſein. “ Ich entſchloß mich alſo für das Bürgerliche, und zwar „ voll und ganz “, wie man jetzt, glaub 'ich, ſagt. Und was dann kam, nun, das war einfach die natürliche Konſequenz. ‘“
92„ Großartig, “ſagte Rex. „ Ich entſchlage mich nach ſolchen Mitteilungen jeder weiteren Oppoſition. Welch ein Maß von Entſagung! Denn auch im Nichtentſagen kann ein Entſagen liegen. Andauernde Opferung eines Innerſten und Höchſten. “
„ Unglaublich! “lachte Czako. „ Rex, Rex. Ich hab 'Ihnen da ſchon vorhin alle Menſchenkenntnis abgeſprochen. Aber hier übertrumpfen Sie ſich ſelbſt. Wer Konventikel leitet, der ſollte doch wenigſtens die Weiber kennen. Erinnern Sie ſich, Stechlin ſagte, ſie ſei lymphatiſch und habe Vergißmeinnichtaugen. Und nun ſehen Sie ſich den Katzler an. Beinah' ſechs Fuß und rotblond und das Eiſerne Kreuz. “
„ Czako, Sie ſind mal wieder frivol. Aber man darf es mit Ihnen ſo genau nicht nehmen. Das iſt das Slaviſche, was in Ihnen nachſpukt; latente Sinnlichkeit. “
„ Ja, ſehr latent; durchaus vergrabner Schatz. Und ich wollte wohl, daß ich in die Lage käme, beſſer damit wuchern zu können. Aber ... “
So ging das Geſpräch noch eine gute Weile.
Die große Chauſſee, darauf ihr Weg inzwiſchen wieder eingemündet, ſtieg allmählich an, und als man den Höhe¬ punkt dieſer Steigung erreicht hatte, lag das Kloſter ſamt ſeinem gleichnamigen Städtchen in verhältnismäßiger Nähe vor ihnen. Auf ihrem Hinritte hatten Rex und Czako ſo wenig davon zu Geſicht bekommen, daß ein gewiſſes Be¬ troffenſein über die Schönheit des ſich ihnen jetzt dar¬ bietenden Landſchafts - und Architekturbildes kaum aus¬ bleiben konnte. Czako beſonders war ganz aus dem Häuschen, aber auch Rex ſtimmte mit ein. „ Die große Feldſteingiebelwand, “ſagte er, „ ſo gewagt im allgemeinen beſtimmte Zeitangaben auf dieſem Gebiete ſind, möcht 'ich in das Jahr 1375, alſo Landbuch Kaiſer Karls IV., ſetzen dürfen. “
„ Wohl möglich, “lachte Woldemar. „ Es giebt näm¬93 lich Zahlen, die nicht gut widerlegt werden können, und ‚ Landbuch Kaiſer Karls IV. ‘paßt beinah immer. “
Rex hörte drüber hin, weil er in ſeinem Geiſte mal wieder einer allgemeineren und zugleich höheren Auffaſſung der Dinge zuſtrebte. „ Ja, meine Herren, “hob er an, „ das geſchmähte Mittelalter. Da verſtand man's. Ich wage den Ausſpruch, den ich übrigens nicht einem Kunſt¬ handbuch entnehme, ſondern der langſam in mir heran¬ gereift iſt: „ Die Platzfrage geht über die Stilfrage. “ Jetzt wählt man immer die häßlichſte Stelle. Das Mittelalter hatte noch keine Brillen, aber man ſah beſſer. “
„ Gewiß, “ſagte Czako. „ Aber dieſer Angriff auf die Brillen, Rex, iſt nichts für Sie. Wer mit ſeinem Pincenez oder Monocle ſo viel operiert ... “
Das Geſpräch kam nicht weiter, weil in eben dieſem Augenblicke mächtige Turmuhrſchläge vom Städtchen Wutz her herüberklangen. Man hielt an, und jeder zählte. „ Vier. “ Kaum aber hatte die Uhr ausgeſchlagen, ſo begann eine zweite und that auch ihre vier Schläge.
„ Das iſt die Kloſteruhr, “ſagte Czako.
„ Warum? “
„ Weil ſie nachſchlägt; alle Kloſteruhren gehen nach. Natürlich. Aber wie dem auch ſei, Freund Woldemar hat uns, glaub 'ich, für vier Uhr angemeldet, und ſo werden wir uns eilen müſſen. “
Alle ſetzten ſich denn auch wieder in Trab, mit ihnen Fritz, der dabei näher an die voraufreitenden Herren herankam. Das Geſpräch ſchwieg ganz, weil jeder in Erwartung der kommenden Dinge war.
Die Chauſſee lief hier, auf eine gute Strecke, zwiſchen Pappeln hin, als man aber bis in unmittelbare Nähe von Kloſter Wutz gekommen war, hörten dieſe Pappeln auf, und der ſich mehr und mehr verſchmälernde Weg wurde zu beiden Seiten von Feldſteinmauern eingefaßt, über die man alsbald in die verſchiedenſten Gartenanlagen mit allerhand Küchen - und Blumenbeeten und mit vielen Obſtbäumen dazwiſchen hineinſah. Alle drei ließen jetzt die Pferde wieder in Schritt fallen.
„ Der Garten hier links, “ſagte Woldemar, „ iſt der Garten der Domina, meiner Tante Adelheid; etwas pri¬ mitiv, aber wundervolles Obſt. Und hier gleich rechts, da bauen die Stiftsdamen ihren Dill und ihren Meiran. Es ſind aber nur ihrer vier, und wenn welche geſtorben ſind — aber ſie ſterben ſelten — ſo ſind es noch weniger. “
Unter dieſen orientierenden Mitteilungen des hier aus ſeinen Knabenjahren her Weg und Steg kennenden Woldemar waren alle durch eine Maueröffnung in einen großen Wirtſchaftshof eingeritten, der baulich ſo ziemlich jegliches enthielt, was hier, bis in die Tage des Dreißig¬ jährigen Krieges hinein, der dann freilich alles zerſtörte,Fontane, Der Stechlin. 798mal Kloſter Wutz geweſen war. Vom Sattel aus ließ ſich alles bequem überblicken. Das meiſte, was ſie ſahen, waren wirr durcheinander geworfene, von Baum und Strauch überwachſene Trümmermaſſen.
„ Es erinnert mich an den Palatin, “ſagte Rex, „ nur ins chriſtlich Gotiſche transponiert. “
„ Gewiß, “beſtätigte Czako lachend. „ So weit ich urteilen kann, ſehr ähnlich. Schade, daß Krippenſtapel nicht da iſt. Oder Tucheband. “
Damit brach das Geſpräch wieder ab.
In der That, wohin man ſah, lagen Mauer¬ reſte, in die, ſeltſamlich genug, die Wohnungen der Kloſterfrauen eingebaut waren, zunächſt die größere der Domina, daneben die kleineren der vier Stiftsdamen, alles an der vorderen Langſeite hin. Dieſer gegenüber aber zog ſich eine zweite, parallel laufende Trümmer¬ linie, darin die Stallgebäude, die Remiſen und die Roll¬ kammern untergebracht waren. Verblieben nur noch die zwei Schmalſeiten, von denen die eine nichts als eine von Holunderbüſchen übergrünte Mauer, die andere da¬ gegen eine hochaufragende mächtige Giebelwand war, dieſelbe, die man ſchon beim Anritt aus einiger Ent¬ fernung geſehen hatte. Sie ſtand da, wie bereit, alles unter ihrem beſtändig drohenden Niederſturz zu begraben, und nur das eine konnte wieder beruhigen, daß ſich auf höchſter Spitze der Wand ein Storchenpaar eingeniſtet hatte. Störche, deren feines Vorgefühl immer weiß, ob etwas hält oder fällt.
Von der Maueröffnung, durch die man eingeritten, bis an die in die Feldſteintrümmer eingebauten Wohn¬ gebäude waren nur wenige Schritte, und als man da¬ vor hielt, erſchien alsbald die Domina ſelbſt, um ihren Neffen und ſeine beiden Freunde zu begrüßen. Fritz, der, wie überall, ſo auch hier Beſcheid wußte, nahm die Pferde, um ſie nach einem an der andern Seite gelegenen99 Stallgebäude hinüberzuführen, während Rex und Czako nach kurzer Vorſtellung in den von Schränken umſtellten Flur eintraten.
„ Ich habe dein Telegramm, “ſagte die Domina, „ erſt um ein Uhr erhalten. Es geht über Granſee, und der Bote muß weit laufen. Aber ſie wollen ihm ein Rad anſchaffen, ſolches wie jetzt überall Mode iſt. Ich ſage Rad, weil ich das fremde Wort, das ſo verſchieden ausgeſprochen wird, nicht leiden kann. Manche ſagen ‚ ci‘, und manche ſagen ‚ ſchi‘. Bildungsprätenſionen ſind mir fremd, aber man will ſich doch auch nicht bloßſtellen. “
Eine Treppe führte bis in den erſten Stock hin¬ auf, eigentlich war es nur eine Stiege. Die Domina, nachdem ſie die Herren bis an die unterſte Stufe be¬ gleitet hatte, verabſchiedete ſich hier auf eine Weile. „ Du wirſt ſo gut ſein, Woldemar, alles in deine Hand zu nehmen. Führe die Herren hinauf. Ich habe unſer beſcheidenes Kloſtermahl auf fünf Uhr angeordnet; alſo noch eine gute halbe Stunde. Bis dahin, meine Herren. “
Oben war eine große Plättkammer zur Fremden¬ ſtube hergerichtet worden. Ein Waſchtiſch mit Finken¬ näpfchen und Krügen in Kleinformat war aufgeſtellt worden, was in Erwägung der beinah liliputaniſchen Raumverhältniſſe durchaus paſſend geweſen wäre, wenn nicht ſechs an eben ſo vielen Thürhaken hängende Rieſen¬ handtücher das Enſemble wieder geſtört hätten. Rex, der ſich — ihn drückten die Stiefel — auf kurze zehn Minuten nach einer kleinen Erleichterung ſehnte, bediente ſich eines eiſernen Stiefelknechts, während Czako ſein Geſicht in einer der kleinen Waſchſchüſſeln begrub und beim Abreiben das feſte Gewebe der Handtücher lobte.
„ Sicherlich Eigengeſpinſt. Überhaupt, Stechlin, das muß wahr ſein, Ihre Tante hat ſo was; man merkt doch, daß ſie das Regiment führt. Und wohl ſchon ſeit lange. Wenn ich recht gehört, iſt ſie älter als Ihr Papa. “
7*100„ O, viel; beinahe um zehn Jahre. Sie wird ſechs¬ undſiebzig. “
„ Ein reſpektables Alter. Und ich muß ſagen, wohl konſerviert. “
„ Ja, man kann es beinahe ſagen. Das iſt eben der Vorzug ſolcher, die man ‚ ſchlank‘ nennt. Beiläufig ein Euphemismus. Wo nichts iſt, hat der Kaiſer ſein Recht verloren und die Zeit natürlich auch; ſie kann nichts nehmen, wo ſie nichts mehr findet. Aber ich denke — Rex thut mir übrigens leid, weil er wieder in ſeine Stiefel muß — wir begeben uns jetzt nach unten und machen uns möglichſt liebenswürdig bei der Tante. Sie wird uns wohl ſchon erwarten, um uns ihren Liebling vorzuſtellen. “
„ Wer iſt das? “
„ Nun, das wechſelt. Aber da es bloß vier ſein können, ſo kommt jeder bald wieder an die Reihe. Während ich das letzte Mal hier war, war es ein Fräu¬ lein von Schmargendorf. Und es iſt leicht möglich, daß ſie jetzt gerade wieder dran iſt. “
„ Eine nette Dame? “
„ O ja. Ein Pummel. “
Und wie vorgeſchlagen, nach kurzem „ Sichadjuſtieren “in der improviſierten Fremdenſtube, kehrten alle drei Herren in Tante Adelheids Salon zurück, der niedrig und verblakt und etwas altmodiſch war. Die Möbel, lauter Erbſchaftsſtücke, wirkten in dem niedrigen Raume beinahe grotesk, und die ſchwere Tiſchdecke, mit einer mächtigen, ziemlich modernen Aſtrallampe darauf, paßte ſchlecht zu dem Zeiſigbauer am Fenſter und noch ſchlechter zu dem über einem kleinen Klavier hängenden Schlachten¬ bilde: „ König Wilhelm auf der Höhe von Lipa “. Trotz¬ dem hatte dies ſtilloſe Durcheinander etwas Anheimelndes. 101In dem primitiven Kamin — nur eine Steinplatte mit Rauchfang — war ein Holzfeuer angezündet; beide Fenſter ſtanden auf, waren aber durch ſchwere Gardinen ſo gut wie wieder geſchloſſen, und aus dem etwas ſchief über dem Sofa hängenden Quadratſpiegel wuchſen drei Pfauenfedern heraus.
Tante Adelheid hatte ſich in Staat geworfen und ihre Karlsbader Granatbroſche vorgeſteckt, die der alte Dubslav wegen der ſieben mittelgroßen Steine, die einen größeren und buckelartig vorſpringenden umſtanden, die „ Sieben-Kurfürſten-Broſche “nannte. Der hohe hagere Hals ließ die Domina noch größer und herriſcher er¬ ſcheinen, als ſie war, und rechtfertigte durchaus die brüderliche Malice: „ Wickelkinder, wenn ſie ſie ſehen, werden unruhig, und wenn ſie zärtlich wird, fangen ſie an zu ſchreien. “ Man ſah ihr an, daß ſie nur immer vorübergehend in einer höheren Geſellſchaftsſphäre gelebt hatte, ſich trotzdem aber zeitlebens der angeborenen Zu¬ gehörigkeit zu eben dieſen Kreiſen bewußt geweſen war. Daß man ſie zur Domina gemacht hatte, war nur zu billigen. Sie wußte zu rechnen und anzuordnen und war nicht bloß von ſehr gutem natürlichen Verſtand, ſondern unter Umſtänden auch voller Intereſſe für ganz beſtimmte Perſonen und Dinge. Was aber, trotz ſolcher Vorzüge, den Verkehr mit ihr ſo ſchwer machte, das war die tiefe Proſa ihrer Natur, das märkiſch Enge, das Mißtrauen gegen alles, was die Welt der Schön¬ heit oder gar der Freiheit auch nur ſtreifte.
Sie erhob ſich, als die drei Herren eintraten, und war gegen Rex und Czako aufs neue von verbindlichſtem Entgegenkommen. „ Ich muß Ihnen noch einmal aus¬ ſprechen, meine Herren, wie ſehr ich bedaure, Sie nur ſo kurze Zeit unter meinem Dache ſehen zu dürfen. “
„ Du vergißt mich, liebe Tante, “ſagte Woldemar. „ Ich bleibe dir noch eine gute Weile. Mein Zug geht,102 glaub 'ich, erſt um neun. Und bis dahin erzähl' ich dir eine Welt und — beichte. “
„ Nein, nein, Woldemar, nicht das, nicht das. Er¬ zählen ſollſt du mir recht, recht viel. Und ich habe ſo¬ gar Fragen auf dem Herzen. Du weißt wohl ſchon, welche. Aber nur nicht beichten. Schon das Wort macht mir jedesmal ein Unbehagen. Es hat ſolch ausgeſprochen katholiſchen Beigeſchmack. Unſer Rentmeiſter Fix hat recht, wenn er ſagt: ‚ Beichte ſei nichts, weil immer un¬ aufrichtig, und es habe in Berlin — aber das ſei nun freilich ſchon ſehr, ſehr lange her — einen Geiſtlichen gegeben, der habe den Beichtſtuhl einen Satansſtuhl genannt. Das find 'ich nun offenbar übertrieben und habe mich auch in dieſem Sinne zu Fix geäußert. Aber andrerſeits freue ich mich doch immer aufrichtig, einem ſo mutig proteſtantiſchen Worte zu begegnen. Mut iſt, was uns not thut. Ein feſter Proteſtant, ſelbſt wenn er ſchroff auftritt, iſt mir jedesmal eine Herzſtärkung, und ich darf ein gleiches Empfinden auch wohl bei Ihnen, Herr von Rex, vorausſetzen. “
Rex verbeugte ſich. Woldemar aber ſagte zu Czako: „ Ja, Czako, da ſehen Sie's. Sie ſind nicht einmal genannt worden. Eine Domina — verzeih, Tante — bildet eben ein feines Unterſcheidungsvermögen aus. “
Die Tante lächelte gnädig und ſagte: „ Herr von Czako iſt Offizier. Es giebt viele Wohnungen in meines Vaters Hauſe. Das aber muß ich ausſprechen, der Un¬ glaube wächſt und das Katholiſche wächſt auch. Und das Katholiſche, das iſt das Schlimmere. Götzendienſt iſt ſchlimmer als Unglaube. “
„ Gehſt du darin nicht zu weit, liebe Tante? “
„ Nein, Woldemar. Sieh, der Unglaube, der ein Nichts iſt, kann den lieben Gott nicht beleidigen; aber Götzendienſt beleidigt ihn. Du ſollſt keine andern Götter haben neben mir. Da ſteht es. Und nun gar103 der Papſt in Rom, der ein Obergott ſein will und un¬ fehlbar. “
Czako, während Rex ſchwieg und nur ſeine Ver¬ beugung wiederholte, kam auf die verwegene Idee, für Papſt und Papſttum eine Lanze brechen zu wollen, entſchlug ſich dieſes Vorhabens aber, als er wahrnahm, daß die alte Dame ihr Dominageſicht aufſetzte. Das war indeſſen nur eine raſch vorüberziehende Wolke. Dann fuhr Tante Adelheid, das Thema wechſelnd, in ſchnell wiedergewonnener guter Laune fort: „ Ich habe die Fenſter öffnen laſſen. Aber auch jetzt noch, meine Herren, iſt es ein wenig ſtickig. Das macht die niedrige Decke. Darf ich Sie vielleicht auffordern, noch eine Promenade durch unſern Garten zu machen? Unſer Kloſtergarten iſt eigentlich das Beſte, was wir hier haben. Nur der unſers Rentmeiſters iſt noch gepflegter und größer und liegt auch am See. Rentmeiſter Fix, der hier alles zuſammenhält, iſt uns, wie in wirtſchaft¬ lichen Dingen, ſo auch namentlich in ſeinen Garten¬ anlagen, ein Vorbild; überhaupt ein charaktervoller Mann, und dabei treu wie Gold, trotzdem ſein Gehalt unbedeutend iſt und ſeine Nebeneinnahmen ganz unſicher in der Luft ſchweben. Ich hatte Fix denn auch bitten laſſen, mit uns bei Tiſch zu ſein; er verſteht ſo gut zu plaudern, gut und leicht, ja beinahe freimütig und doch immer durchaus diskret. Aber er iſt dienſtlich verhindert. Die Herren müſſen ſich alſo mit mir begnügen[und] mit einer unſrer Konventualinnen, einem mir lieben Fräulein, das immer munter und ausgelaſſen, aber doch zugleich bekenntnisſtreng iſt, ganz von jener ſchönen Heiterkeit, die man bloß bei denen findet, deren Glaube feſte Wurzeln getrieben hat. Ein gut Gewiſſen iſt das beſte Ruhekiſſen. Damit hängt es wohl zuſammen. “
Rex, an den ſich dieſe Worte vorzugsweiſe gerichtet hatten, drückte wiederholt ſeine Zuſtimmung aus, wäh¬104 rend Czako beklagte, daß Fix verhindert ſei. „ Solche Männer ſprechen zu hören, die mit dem Volke Fühlung haben und genau wiſſen, wie’s einerſeits in den Schlöſſern, andererſeits in den Hütten der Armut ausſieht, das iſt immer in hohem Maße fördernd und lehrreich und ein Etwas, auf das ich jederzeit ungern verzichte. “
Gleich danach erhob man ſich und ging ins Freie.
Der Garten war von ſehr ländlicher Art. Durch ſeine ganze Länge hin zog ſich ein von Buchsbaum¬ rabatten eingefaßter Gang, neben dem links und rechts, in wohlgepflegten Beeten, Ritterſporn und Studenten¬ blumen blühten. Gerade in ſeiner[Mitte] weitete ſich der ſonſt ſchmale Gang zu einem runden Platz aus, darauf eine große Glaskugel ſtand, ganz an die Stech¬ liner erinnernd, nur mit dem Unterſchied, daß hier das eingelegte blanke Zinn fehlte. Beide Kugeln ſtammten natürlich aus der Globſower „ grünen Hütte “. Weiter¬ hin, ganz am Ausgange des Gartens, wurde man eines etwas ſchiefen Bretterzaunes anſichtig, mit einem Pflaumen¬ baum dahinter, deſſen einer Hauptzweig aus dem Nach¬ bargarten her in den der Domina herüberreichte.
Rex führte die Tante. Dann folgte Woldemar mit Hauptmann Czako, weit genug ab von dem vor¬ aufgehenden Paar, um ungeniert miteinander ſprechen zu können.
„ Nun, Czako, “ſagte Woldemar, „ bleiben wir, wenn’s ſein kann, noch ein bißchen weiter zurück. Ich kann Ihnen gar nicht ſagen, wie gern ich in dieſem Garten bin. Allen Ernſtes. Ich habe hier nämlich als Junge hundertmal geſpielt und in den Birnbäumen geſeſſen; damals ſtanden hier noch etliche, hier links, wo jetzt die Mohrrübenbeete ſtehen. Ich mache mir nichts aus Mohrrüben, woraus ich übrigens ſchließe, daß wir heute welche zu Tiſch kriegen. Wie gefällt Ihnen der Garten? “
105„ Ausgezeichnet. Es iſt ja eigentlich ein Bauern¬ garten, aber doch mit viel Ritterſporn drin. Und zu jedem Ritterſporn gehört eine Stiftsdame. “
„ Nein, Czako, nicht ſo. Sagen Sie mir ganz ernſthaft, ob ſie ſolche Gärten leiden können. “
„ Ich kann ſolche Gärten eigentlich nur leiden, wenn ſie eine Kegelbahn haben. Und dieſer hier iſt wie geſchaffen dazu, lang und ſchmal. Alle unſre mo¬ dernen Kegelbahnen ſind zu kurz, wie früher alle Betten zu kurz waren. Wenn die Kugel aufſetzt, iſt ſie auch ſchon da, und der Bengel unten ſchreit einen an mit ſeinem ‚ acht um den König‘. Für mich fängt das Ver¬ gnügen erſt an, wenn das Brett lang iſt und man der Kugel anmerkt, ſie möchte links oder rechts abirren, aber die eingeborene Gewalt zwingt ſie zum Ausharren, zum Bleiben auf der rechten Bahn. Es hat was Symboliſches oder Pädagogiſches, oder meinetwegen auch Politiſches. “
Unter dieſem Geſpräche waren ſie, ganz nach unten hin, bis an die Stelle gekommen, wo der nachbarliche Pflaumenbaum ſeinen Zweig über den Zaun wegſtreckte. Neben dem Zaun aber, in gleicher Linie mit ihm, ſtand eine grüngeſtrichene Bank, auf der, von dem Gezweig überdacht, eine Dame ſaß, mit einem kleinen runden Hut und einer Adlerfeder. Als ſich die Herrſchaften ihr näherten, erhob ſie ſich und ſchritt auf die Domina zu, dieſer die Hand zu küſſen; zugleich verneigte ſie ſich gegen die drei Herren.
„ Erlauben Sie mir, “ſagte Adelheid, „ Sie mit meiner lieben Freundin, Fräulein von Schmargendorf, bekannt zu machen. Hauptmann von Czako, Miniſterial¬ aſſeſſor von Rex ... Meinen Neffen, liebe Schmargen¬ dorf, kennen Sie ja. “
Adelheid, als ſie ſo vorgeſtellt hatte, zog ihre kleine Uhr aus dem Gürtel hervor und ſagte: Wir haben noch106 zehn Minuten. Wenn es Ihnen recht iſt, bleiben wir noch in Gottes freier Natur. Woldemar, führe meine liebe Freundin, oder lieber Sie, Herr Hauptmann, — Fräulein von Schmargendorf wird ohnehin Ihre Tiſch¬ dame ſein. “
Das Fräulein von Schmargendorf war klein und rundlich, einige vierzig Jahre alt, von kurzem Hals und wenig Taille. Von den ſieben Schönheiten, über die jede Evastochter Verfügung haben ſoll, hatte ſie, ſoweit ſich ihr „ Kredit “feſtſtellen ließ, nur die Büſte. Sie war ſich deſſen denn auch bewußt und trug immer dunkle Tuchkleider, mit einem Sammetbeſatz oberhalb der Taille. Dieſer Beſatz beſtand aus drei Dreiecken, deren Spitze nach unten lief. Sie war immer fidel, zunächſt aus glücklicher Naturanlage, dann aber auch, weil ſie mal gehört hatte: Fidelität erhalte jung. Ihr lag da¬ ran, jung zu ſein, obwohl ſie keinen rechten Nutzen mehr daraus ziehen konnte. Benachbarte Adlige gab es nicht, der Paſtor war natürlich verheiratet und Fix auch. Und weiter nach unten ging es nicht.
Adelheid und Rex waren meiſt weit voraus, ſo daß man ſich immer erſt an der Glaskugel traf, wenn das voranſchreitende Paar ſchon wieder auf dem Rück¬ wege war. Czako grüßte dann jedesmal militäriſch zur Domina hinüber.
Dieſe ſelbſt war in einem Geſpräch mit Rex feſt engagiert und verhandelte mit ihm über ein bedroh¬ liches Wachſen des Sektiererweſens. Rex fühlte ſich da¬ von getroffen, da er ſelbſt auf dem Punkte ſtand, Irvingianer zu werden; er war aber Lebemann genug, um ſich ſchnell zurecht zu finden und vor allem auf jede nachhaltige Bekämpfung der von Adelheid geäußerten Anſichten zu verzichten. Er lenkte geſchickt in das Ge¬ biet des allgemeinen Unglaubens ein, dabei ſofort einer vollen Zuſtimmung begegnend. Ja, die Domina ging107 weiter, und ſich abwechſelnd auf die Apokalypſe und dann wieder auf Fix berufend, betonte ſie, daß wir am Anfang vom Ende ſtünden. Fix gehe freilich wohl etwas zu weit, wenn er eigentlich keinem Tage mehr ſo recht traue. Das ſeien nutzloſe Beunruhigungen, wes¬ halb ſie denn auch in ihn gedrungen ſei, von ſolchen Berechnungen Abſtand zu nehmen oder wenigſtens alles nochmals zu prüfen. „ Kein Zweifel, “ſo ſchloß ſie, „ Fix iſt für Rechnungsſachen entſchieden talentiert, aber ich habe ihm trotzdem ſagen müſſen, daß zwiſchen Rech¬ nungen und Rechnungen doch immer noch ein Unter¬ ſchied ſei. “
Czako hatte dem Fräulein von Schmargendorf den Arm gereicht; Woldemar, weil der Mittelgang zu ſchmal war, folgte wenige Schritte hinter den beiden und trat nur immer da, wo der Weg ſich erweiterte, vorüber¬ gehend an ihre Seite.
„ Wie glücklich ich bin, Herr Hauptmann, “ſagte die Schmargendorf, „ Ihre Partnerin zu ſein, jetzt ſchon hier und dann ſpäter bei Tiſch. “
Czako verneigte ſich.
„ Und merkwürdig, “fuhr ſie fort, „ daß gerade das Regiment Alexander immer ſo vergnügte Herren hat; einen Namensvetter von Ihnen, oder vielleicht war es auch Ihr älterer Herr Bruder, den hab 'ich noch von einer Einq[u]artierung in der Priegnitz her ganz deutlich in Erinnerung, trotzdem es ſchon an die zwanzig Jahre iſt oder mehr. Denn ich war damals noch blutjung und tanzte mit Ihrem Herrn Vetter einen richtigen Radowa, der um jene Zeit noch in Mode war, aber ſchon nicht mehr ſo recht. Und ich hab 'auch noch den Namenszug und einen kleinen Vers von ihm in meinem Album: ‚ Jegor von Baczko, Sekondelieutenant im Re¬ giment Alexander. ‘ Ja, Herr von Baczko, ſo kommt108 man wieder zuſammen. Oder doch wenigſtens mit einem Herren gleichen Namens. “
Czako ſchwieg und nickte nur, weil er Richtig¬ ſtellungen überhaupt nicht liebte; Woldemar aber, der jedes Wort gehört und in Bezug auf ſolche Dinge klein¬ licher als ſein Freund, der Hauptmann, dachte, wollte durchaus Remedur ſchaffen und bat, das Fräulein darauf aufmerkſam machen zu dürfen, daß der Herr, der den Vorzug habe, ſie zu führen, nicht ein Herr von Baczko, ſondern ein Herr von Czako ſei.
Die kleine Rundliche geriet in eine momentane Ver¬ legenheit, Czako ſelbſt aber kam ihr mit großer Cour¬ toiſie zu Hilfe.
„ Lieber Stechlin, “begann er, „ ich beſchwöre Sie um ſechſundſechzig Schock ſächſiſche Schuhzwecken, kommen Sie doch nicht mit ſolchen Kleinigkeiten, die man jetzt, glaub 'ich, Velleitäten nennt. Wenigſtens habe ich das Wort immer ſo überſetzt. Czako, Baczko, Baczko, Czako, — wie kann man davon ſo viel Aufhebens machen. Name, wie Sie wiſſen, iſt Schall und Rauch, ſiehe Goethe, und Sie werden ſich doch nicht in Widerſpruch mit dem bringen wollen. Dazu reicht es denn doch am Ende nicht aus. “
„ Hihi. “
„ Außerdem, ein Mann wie Sie, der es trotz ſeines Liberalismus fertig bringt, immer ſeinen Adel bis wenigſtens dritten Kreuzzug zurückzuführen, ein Mann wie Sie ſollte mir doch dieſe kleine Verwechslung ehr¬ lich gönnen. Denn dieſer mir in den Schoß gefallene ‚ Baczko‘ ... Gott ſei Dank, daß auch unſereinem noch was in den Schoß fallen kann ... “
„ Hihi. “
„ Denn dieſer mir in den Schoß gefallene Baczko iſt doch einfach eine Rang - und Standeserhöhung, ein richtiges Avancement. Die Baczkos reichen mindeſtens109 bis Huß oder Ziska, und wenn es vielleicht Ungarn ſind, bis auf die Hunyadis zurück, während der erſte wirkliche Czako noch keine zweihundert Jahre alt iſt. Und von dieſem erſten wirklichen Czako ſtammen wir doch natürlich ab. Erwägen Sie, bevor es nicht einen wirklichen Czako gab, alſo einen ſteifen grauen Filz¬ hut mit Leder oder Blech beſchlagen, eher kann es auch keinen ‚ von Czako‘ gegeben haben; der Adel ſchreibt ſich immer von ſolchen Dingen ſeiner Umgebung oder ſeines Metiers oder ſeiner Beſchäftigung her. Wenn ich wirklich noch mal Luſt verſpüren ſollte, mich ſtandes¬ gemäß zu verheiraten, ſo ſcheitre ich vielleicht an der Jugendlichkeit meines Adels und werde mich dann dieſer Stunde wehmütig freundlich erinnern, die mich, wenn auch nur durch eine Namensverwechslung, auf einen kurzen Augenblick zu erhöhen trachtete. “
Woldemar, ſeiner Philiſterei ſich bewußt werdend, zog ſich wieder zurück, während die Schmargendorf treu¬ herzig ſagte: „ Sie glauben alſo wirklich, Herr von ... Herr Hauptmann ... daß Sie von einem Czako her¬ ſtammen? “
„ So weit ſolch merkwürdiges Spiel der Natur über¬ haupt möglich iſt, bin ich feſt davon durchdrungen. “
In dieſem Moment, nach abermaliger Paſſierung des Platzes mit der Glaskugel, erreichte das Paar die Bank unter dem Pflaumenbaumzweige. Die Schmargen¬ dorf hatte ſchon lange vorher nach zwei großen, dicht zuſammenſitzenden Pflaumen hinübergeblickt und ſagte, während ſie jetzt ihre Hand danach ausſtreckte: „ Nun wollen wir aber ein Vielliebchen eſſen, Herr Hauptmann; wo, wie hier, zwei zuſammenſitzen, da iſt immer ein Vielliebchen. “
„ Eine Definition, der ich mich durchaus anſchließe. Aber, mein gnädigſtes Fräulein, wenn ich vorſchlagen dürfte, mit dieſer herrlichen Gabe Gottes doch lieber bis110 zum Deſſert zu warten. Das iſt ja doch auch die eigent¬ liche Zeit für Vielliebchen. “
„ Nun, wie Sie wollen, Herr Hauptmann. Und ich werde dieſe zwei bis dahin für uns aufheben. Aber dieſe dritte hier, die nicht mehr ſo ganz dazu gehört, die werd 'ich eſſen. Ich eſſe ſo gern Pflaumen. Und Sie werden ſie mir auch gönnen. “
„ Alles, alles. Eine Welt. “
Es ſchien faſt, als ob ſich Czako noch weiter über dies Pflaumenthema, namentlich auch über die ſich da¬ rin bergenden Wagniſſe verbreiten wollte, kam aber nicht dazu, weil eben jetzt ein Diener in weißen Baumwoll¬ handſchuhen, augenſcheinlich eine Gelegenheitsſchöpfung, in der Hofthür ſichtbar wurde. Dies war das mit der Domina verabredete Zeichen, daß der Tiſch gedeckt ſei. Die Schmargendorf, ebenfalls eingeweiht in dieſe zu raſchen Entſchlüſſen drängende Zeichenſprache, bückte ſich deshalb, um von einem der Gemüſebeete raſch noch ein großes Kohlblatt abzubrechen, auf das ſie ſorglich die beiden rotgetüpfelten Pflaumen legte. Gleich danach aber aufs neue des Hauptmanns Arm nehmend, ſchritt ſie, unter Vorantritt der Domina, auf Hof und Flur und ganz zuletzt auf den Salon zu, der ſich inzwiſchen in manchem Stücke verändert hatte, vor allem darin, daß neben dem Kamin eine zweite Konventualin ſtand, in dunkler Seide, mit Kopfſchleifen und tiefliegenden, ſtarren Kakadu-Augen, die in das Weſen aller Dinge einzudringen ſchienen.
„ Ah, meine Liebſte, “ſagte die Domina, auf dieſe zweite Konventualin zuſchreitend, „ es freut mich herzlich, daß Sie ſich, trotz Migräne, noch herausgemacht haben; wir wären ſonſt ohne dritte Tiſchdame geblieben. Er¬ lauben Sie mir vorzuſtellen: Herr von Rex, Herr von Czako ... Fräulein von Triglaff aus dem Hauſe Triglaff. “
Rex und Czako verbeugten ſich, während Wolde¬111 mar, dem ſie keine Fremde war, an die Konventualin herantrat, um ein Wort der Begrüßung an ſie zu richten. Czako, die Triglaff unwillkürlich muſternd, war ſofort von einer ihn frappierenden Ähnlichkeit betroffen und flüſterte gleich danach dem ſein Monocle wiederholentlich in Angriff nehmenden Rex leiſe zu: „ Krippenſtapel, weibliche Linie. “
Rex nickte.
Während dieſer Vorſtellung hatte der im Hinter¬ grunde ſtehende Diener den oberen und unteren Thür¬ riegel mit einer gewiſſen Oſtentation zurückgezogen; einen Augenblick noch und beide Flügel zu dem neben dem Salon gelegenen Eßzimmer thaten ſich mit einer ſtillen Feierlichkeit auf.
„ Herr von Rex, “ſagte die Domina, „ darf ich um Ihren Arm bitten. “
Im Nu war Rex an ihrer Seite und gleich danach traten alle drei Paare in den Nebenraum ein, auf deſſen gaſtlicher und nicht ohne Geſchick hergerichteter Tafel zwei Blumenvaſen und zwei ſilberne Doppelleuchter ſtanden. Auch der Diener war ſchon in Aktion; er hatte ſich in¬ zwiſchen am Büffett in Front einer Meißner Suppen¬ terrine aufgeſtellt, und indem er den Deckel (mit einem abgeſtoßenen Engel obenauf) abnahm, ſtieg der Wraſen wie Opferrauch in die Höhe.
Tante Adelheid, wenn ſich nichts geradezu Verſtimm¬ liches ereignete, war, von alten Zeiten her, eine gute Wirtin und beſaß neben anderm auch jene Direktoral¬ augen, die bei Tiſche ſo viel bedeuten; aber eine Gabe beſaß ſie nicht, die, das Geſpräch, wie's in einem engſten Zirkel doch ſein ſollte, zuſammenzufaſſen. So zerfiel denn die kleine Tafelrunde von Anfang an in drei Gruppen, von denen eine, wiewohl nicht abſolut ſchweig¬ ſam, doch vorwiegend als Tafelornament wirkte. Dies war die Gruppe Woldemar-Triglaff. Und das konnte nicht wohl anders ſein. Die Triglaff, wie ſich das bei Kakadugeſichtern ſo häufig findet, verband in ſich den Ausdruck höchſter Tiefſinnigkeit mit ganz ungewöhnlicher Umnachtung, und ein letzter Reſt von Helle, der ihr vielleicht geblieben ſein mochte, war ihr durch eine ſtupende Triglaffvorſtellung ſchließlich doch auch noch abhanden gekommen. Eine direkte Deſcendenz von dem gleichnamigen Wendengotte, etwa wie Czako von Czako, war freilich nicht nachzuweiſen, aber doch auch nicht aus¬ geſchloſſen, und wenn dergleichen überhaupt vorkommen oder nach ſtiller Übereinkunft auch nur allgemein an¬ genommen werden konnte, ſo war nicht abzuſehen, warum gerade ſie leer ausgehen oder auf ſolche Möglichkeit verzichten ſollte. Dieſer hochgeſpannten, ganz im Spe¬ ziellen ſich bewegenden Adelsvorſtellung entſprach denn113 auch das gereizte Gefühl, das ſie gegen den Zweig des Hauſes Thadden unterhielt, der ſich, nach ſeinem pommer¬ ſchen Gute Triglaff, Thadden-Triglaff nannte, — eine Zubenennung, die ihr, der einzig wirklichen Triglaff, einfach als ein Übergriff oder doch mindeſtens als eine Beeinträchtigung erſchien. Woldemar, der dies alles kannte, war dagegen gefeit und wußte ſeinerſeits ſeit lange, wie zu verfahren ſei, wenn ihm die Triglaff als Tiſchnachbarin zufiel. Er hatte ſich für dieſen Fall, der übrigens öfter eintrat als ihm lieb war, die Namen aller Konventualinnen auswendig gelernt, die während ſeiner Kinderzeit im Kloſter Wutz gelebt hatten und von denen er recht gut wußte, daß ſie ſeit lange tot waren. Er begann aber trotzdem regelmäßig ſeine Fragen ſo zu ſtellen, als ob das Daſein dieſer längſt Abgeſchiedenen immer noch einer Möglichkeit unterläge.
„ Da war ja hier früher, mein gnädigſtes Fräu¬ lein, eine Drachenhauſen, Aurelie von Drachenhauſen, und überſiedelte dann, wenn ich nicht irre, nach Kloſter Zehdenick. Es würde mich lebhaft intereſſieren, in Er¬ fahrung zu bringen, ob ſie noch lebt oder ob ſie viel¬ leicht ſchon tot iſt. “
Die Triglaff nickte.
Czako, dieſes Nicken beobachtend, ſprach ſich ſpäter gegen Rex dahin aus, daß das alles mit der Abſtammung der Triglaff ganz natürlich zuſammenhänge. „ Götzen nicken bloß. “
Um vieles lebendiger waren Rede und Gegenrede zwiſchen Tante Adelheid und dem Miniſterialaſſeſſor, und das Geſpräch beider, das nur ſittliche Hebungs¬ fragen berührte, hätte durchaus den Charakter einer ge¬ mütlichen, aber doch durch Ernſt geweihten Synodal¬ plauderei gehabt, wenn ſich nicht die Geſtalt des Rent¬ meiſters Fix beſtändig eingedrängt hätte, dieſes Domina¬ protegés, von dem Rex, unter Zurückhaltung ſeinerFontane, Der Stechlin. 8114wahren Meinung, immer aufs neue verſicherte, „ daß in dieſem klöſterlichen Beamten eine ſeltene Verquickung von Prinzipienſtrenge mit Geſchäftsgenie vorzuliegen ſcheine. “
Das waren die zwei Paare, die den linken Flügel, beziehungsweiſe die Mitte des Tiſches bildeten. Die beiden Hauptfiguren waren aber doch Czako und die Schmargendorf, die ganz nach rechts hin ſaßen, in Nähe der dicken Fenſtergardinen aus Wollſtoff, in deren Falten denn auch vieles glücklicherweiſe verklang. An die Suppe hatte ſich ein Fiſch und an dieſen ein Linſenpüree mit gebackenem Schinken gereiht, und nun wurden geſpickte Rebhuhnflügel in einer pikanten Sauce, die zugleich Küchengeheimnis der Domina war, herumgereicht. Czako, trotzdem er ſchon dem gebackenen Schinken erheblich zu¬ geſprochen hatte, nahm ein zweites Mal auch noch von dem Rebhuhngericht und fühlte das Bedürfnis, dies zu motivieren.
„ Eine geſegnete Gegend, Ihre Grafſchaft hier, “begann er. „ Aber freilich heuer auch eine geſegnete Jahreszeit. Geſtern abend bei Dubslav von Stechlin Krammetsvögelbrüſte, heute bei Adelheid von Stechlin Rebhuhnflügel. “
„ Und was ziehen Sie vor? “fragte die Schmargen¬ dorf.
„ Im allgemeinen, mein gnädigſtes Fräulein, iſt die Frage wohl zu Gunſten erſterer entſchieden. Aber hier und ſpeziell für mich iſt doch wohl der Ausnahme¬ fall gegeben. “
„ Warum ein Ausnahmefall? “
„ Sie haben recht, eine ſolche Frage zu ſtellen. Und ich antworte, ſo gut ich kann. Nun denn, in Bruſt und Flügel ... “
„ Hihi. “
„ In Bruſt und Flügel ſchlummert, wie mir ſcheinen115 will, ein großartiger Gegenſatz von hüben und drüben; es giebt nichts Diesſeitigeres als Bruſt, und es giebt nichts Jenſeitigeres als Flügel. Der Flügel trägt uns, erhebt uns. Und deshalb, trotz aller nach der andern Seite hin liegenden Verlockung, möchte ich alles, was Flügel heißt, doch höher ſtellen. “
Er hatte dies in einem möglichſt gedämpften Tone geſprochen. Aber es war nicht nötig, weil einerſeits die links ihm zunächſt ſitzende Triglaff aus purem Hoch¬ gefühl ihr Ohr gegen alles, was geſprochen wurde, verſchloß, während andrerſeits die Domina, nachdem der Diener allerlei kleine Spitzgläſer herumgereicht hatte, ganz erſichtlich mit einer Anſprache beſchäftigt war.
„ Laſſen Sie mich Ihnen noch einmal ausſprechen, “ſagte ſie, während ſie ſich halb erhob, „ wie glücklich es mich macht, Sie in meinem Kloſter begrüßen zu können. Herr von Rex, Herr von Czako, Ihr Wohl. “
Man ſtieß an. Rex dankte unmittelbar und ſprach, als man ſich wieder geſetzt hatte, ſeine Bewunderung über den ſchönen Wein aus. „ Ich vermute Monte¬ fiascone. “
„ Vornehmer, Herr von Rex, “ſagte Adelheid in guter Stimmung, „ eine Rangſtufe höher. Nicht Monte¬ fiascone, den wir allerdings unter meiner Amtsvor¬ gängerin auch hier im Keller hatten, ſondern Lacrimae Christi. Mein Bruder, der alles bemängelt, meinte freilich, als ich ihm vor einiger Zeit davon vorſetzte, das paſſe nicht, das ſei Begräbniswein, höchſtens Wein für Einſegnungen, aber nicht für heitere Zuſammen¬ künfte. “
„ Ein Wort von eigenartiger Bedeutung, darin ich Ihren Herrn Bruder durchaus wiedererkenne. “
„ Gewiß, Herr von Rex. Und ich bin mir bewußt, daß uns der Name gerade dieſes Weines allerlei Rück¬ ſichten auferlegt. Aber wenn Sie ſich vergegenwärtigen8*116wollen, daß wir in einem Stift, einem Kloſter ſind ... und ſo meine ich denn, der Ort, an dem wir leben, giebt uns doch auch ein Recht und eine Weihe. “
„ Kein Zweifel. Und ich muß nachträglich die Be¬ denken Ihres Herrn Bruders als irrtümlich anerkennen. Aber wenn ich mich ſo ausdrücken darf, ein kleidſamer Irrtum ... Auf das Wohl Ihres Herrn Bruders! “
Damit ſchloß das etwas difficile Zwiegeſpräch, dem alle mit einiger Verlegenheit gefolgt waren. Nur nicht die Schmargendorf. „ Ach, “ſagte dieſe, während ſie ſich halb in den Vorhängen verſteckte, „ wenn wir von dem Wein trinken, dann hören wir auch immer dieſelbe Ge¬ ſchichte. Die Domina muß ſich damals ſehr über den alten Herrn von Stechlin geärgert haben. Und doch hat er eigentlich recht; ſchon der bloße Name ſtimmt ernſt und feierlich und es liegt was drin, das einem Chriſtenmenſchen denn doch zu denken giebt. Und gerade wenn man ſo recht vergnügt iſt. “
„ Darauf wollen wir anſtoßen, “ſagte Czako, völlig im Dunkeln laſſend, ob er mehr den Chriſtenmenſchen oder den Ernſt oder das Vergnügtſein meinte.
„ Und überhaupt, “fuhr die Schmargendorf fort, „ die Weine müßten eigentlich alle anders heißen, oder wenigſtens ſehr ſehr viele. “
„ Ganz meine Meinung, meine Gnädigſte, “ſagte Czako. „ Da ſind wirklich ſo manche ... Man darf aber andrerſeits das Zartgefühl nicht überſpannen. Will man das, ſo bringen wir uns einfach um die reichſten Quellen wahrer Poeſie. Da haben wie beiſpielsweiſe, ſo ganz allgemein und bloß als Gattungsbegriff, die ‚ Milch der Greiſe‘, — zunächſt ein durchaus unbean¬ ſtandenswertes Wort. Aber alsbald (denn unſre Sprache liebt ſolche Spiele) treten mannigfache Fort - und Weiter¬ bildungen, ſelbſt Geſchlechtsüberſpringungen an uns heran, und ehe wir's uns verſehen, hat ſich117 die ‚ Milch der Greiſe‘ in eine ‚ Liebfrauenmilch‘ ver¬ wandelt. “
„ Hihi ... Ja, Liebfrauenmilch, die trinken wir auch. Aber nur ſelten. Und es iſt auch nicht der Name, woran ich eigentlich dachte. “
„ Sicherlich nicht, meine Gnädigſte. Denn wir haben eben noch andre, decidiertere, denen gegenüber uns dann nur noch das Refugium der franzöſiſchen Ausſprache bleibt. “
„ Hihi ... Ja, franzöſiſch, da geht es. Aber doch auch nicht immer, und jedesmal, wenn Rentmeiſter Fix unſer Gaſt iſt und die Triglaff die Flaſche hin und her dreht (und ich habe geſehen, daß ſie ſie dreimal herum¬ drehte), dann lacht Fix ... Übrigens ſieht es ſo aus, als ob die Domina noch was auf dem Herzen hätte; ſie macht ein ſo feierliches Geſicht. Oder vielleicht will ſie auch bloß die Tafel aufheben. “
Und wirklich, es war ſo, wie die Schmargendorf vermutete. „ Meine Herren, “ſagte die Domina, „ da Sie zu meinem Leidweſen ſo früh fort wollen (wir haben nur noch wenig über eine Viertelſtunde), ſo geb 'ich anheim, ob wir den Kaffee lieber in meinem Zimmer nehmen wollen oder draußen unter dem Holunder¬ baum. “
Eine Geſamtantwort wurde nicht laut, aber während man ſich unmittelbar danach erhob, küßte Czako der Schmargendorf die Hand und ſagte mit einem gewiſſen Empreſſement: „ Unter dem Holunderbaum alſo. “
Die Schmargendorf verſtand nicht im entfernteſten, auf was es ſich bezog. Aber das war Czako gleich. Ihm lag lediglich daran, ſich ganz privatim, ganz für ſich ſelbſt, die Schmargendorf auf einen kurzen aber großen Augenblick als „ Käthchen “vorſtellen zu können.
Im übrigen zeigte ſich's, daß nicht bloß Czako, ſondern auch Rex und Woldemar für den Holunder¬ baum waren, und ſo näherte man ſich denn dieſem.
118Es war derſelbe Baum, den die Herren ſchon beim Einreiten in den Kloſterhof geſehen, aber in jenem Augenblick wenig beachtet hatten. Jetzt erſt bemerkten ſie, was es mit ihm auf ſich habe. Der Baum, der uralt ſein mochte, ſtand außerhalb des Gehöftes, war aber, ähnlich wie der Pflaumenbaum im Garten, mit ſeinem Gezweig über das zerbröckelte Gemäuer fort¬ gewachſen. Er war an und für ſich ſchon eine Pracht. Was ihm aber noch eine beſondere Schönheit lieh, das war, daß ſein Laubendach von ein paar dahinter ſtehenden Ebereſchenbäumen wie durchwachſen war, ſo daß man überall, neben den ſchwarzen Fruchtdolden des Holunders die leuchtenden roten Ebereſchenbüſchel ſah. Auch das verſchiedene Laub ſchattierte ſich. Rex und Czako waren aufrichtig entzückt, beinahe mehr als zu¬ läſſig. Denn ſo reizend die Laube ſelbſt war, ſo zweifelhaft war das unmittelbar vor ihnen in großer Un¬ ordnung und durchaus ermangelnder Sauberkeit aus¬ gebreitete Hofbild. Aber pittoresk blieb es doch. Zu¬ ſammengemörtelte Feldſteinklumpen lagen in hohem Graſe, dazwiſchen Karren und Düngerwagen, Enten - und Hühnerkörbe, während ein kollernder Truthahn von Zeit zu Zeit bis dicht an die Laube herankam, ſei's aus Neugier oder um ſich mit der Triglaff zu meſſen.
Als ſechs Uhr heran war, erſchien Fritz und führte die Pferde vor. Czako wies darauf hin. Bevor er aber noch an die Domina herantreten und ihr einige Dankesworte ſagen konnte, kam die Schmargendorf, die kurz vorher ihren Platz verlaſſen, mit dem großen Kohl¬ blatt zurück, auf dem die beiden zuſammengewachſenen Pflaumen lagen. „ Sie wollten mir entgehen, Herr von Czako. Das hilft Ihnen aber nichts. Ich will mein Vielliebchen gewinnen. Und Sie ſollen ſehen, ich ſiege. “
„ Sie ſiegen immer, meine Gnädigſte. “
Rex und Czako ritten ab; Fritz führte Woldemars Pferd am Zügel. Aber weder die Schmargendorf noch die Triglaff erwieſen ſich, als die beiden Herren fort und die drei Damen ſamt Woldemar in die Wohn¬ räume zurückgekehrt waren, irgendwie befliſſen, das Feld zu räumen, was die Domina, die wegen zu verhandelnder difficiler Dinge mit ihrem Neffen allein ſein wollte, ſtark verſtimmte. Sie zeigte das auch, war ſteif und ſchweig¬ ſam und belebte ſich erſt wieder, als die Schmargendorf mit einemmale glückſtrahlend verſicherte: jetzt wiſſe ſie's; ſie habe noch eine Photographie, die wolle ſie gleich an Herrn von Czako ſchicken, und wenn er dann morgen mittag von Cremmen her in Berlin einträfe, dann werd 'er Brief und Bild ſchon vorfinden und auf der Rück¬ ſeite des Bildes ein „ Guten morgen, Vielliebchen. “ Die Domina fand alles ſo lächerlich und unpaſſend wie nur möglich, weil ihr aber daran lag, die Schmargen¬ dorf los zu werden, ſo hielt ſie mit ihrer wahren Meinung zurück und ſagte: „ Ja, liebe Schmargendorf, wenn Sie ſo was vorhaben, dann iſt es allerdings die höchſte Zeit. Der Poſtbote kann gleich kommen. “ Und wirklich, die Schmargendorf ging, nur die Triglaff zurücklaſſend, deren Auge ſich jetzt von der Domina zu Woldemar hinüber und dann wieder von Woldemar zur Domina zurückbewegte. Sie war bei dem allem120 ganz unbefangen. Ein Verlangen, etwas zu belauſchen oder von ungefähr in Familienangelegenheiten einge¬ weiht zu werden, lag ihr völlig fern, und alles, was ſie trotzdem zum Ausharren beſtimmte, war lediglich der Wunſch, ſolchem hiſtoriſchen Beiſammenſein eine durch ihre Triglaffgegenwart geſteigerte Weihe zu geben. Indeſſen ſchließlich ging auch ſie. Man hatte ſich wenig um ſie gekümmert, und Tante und Neffe ließen ſich, als ſie jetzt allein waren, in zwei braune Plüſchfauteuils (Erbſtücke noch vom Schloß Stechlin her) nieder, Woldemar allerdings mit äußerſter Vorſicht, weil die Sprungfedern bereits jenen Alters¬ grad erreicht hatten, wo ſie nicht nur einen dumpfen Ton von ſich zu geben, ſondern auch zu ſtechen anfangen.
Die Tante bemerkte nichts davon, war vielmehr froh, ihren Neffen endlich allein zu haben und ſagte mit raſch wiedergewonnenem Behagen: „ Ich hätte dir ſchon bei Tiſche gern was Beſſres an die Seite gegeben; aber wir haben hier, wie du weißt, nur unſre vier Kon¬ ventualinnen, und von dieſen vieren ſind die Schmargen¬ dorf und die Triglaff immer noch die beſten. Unſre gute Schimonski, die morgen einundachtzig wird, iſt eigentlich ein Schatz, aber leider ſtocktaub, und die Teſchendorf, die mal Gouvernante bei den Eſterhazys war und auch noch den Fürſten Schwarzenberg, deſſen Frau in Paris verbrannte, gekannt hat, ja, die hätt 'ich natürlich ſolchem feinen Herrn wie dem Herrn von Rex, gerne vorgeſetzt, aber es iſt ein Unglück, die arme Perſon, die Teſchendorf, iſt ſo zittrig und kann den Löffel nicht recht mehr halten. Da hab' ich denn doch lieber die Triglaff genommen; ſie iſt ſehr dumm, aber doch wenigſtens manierlich, ſo viel muß man ihr laſſen. Und die Schmargendorf ... “
Woldemar lachte.
„ Ja, du lachſt, Woldemar, und ich will dir auch121 nicht beſtreiten, daß man über die gute Seele lachen kann. Aber ſie hat doch auch was Gehaltvolles in ihrer Natur, was ſich erſt neulich wieder in einem intimen Geſpräch mit unſerm Fix zeigte, der trotz aller Bekennt¬ nisſtrenge (die ſelbſt Koſeleger ihm zugeſteht) an unſerm letzten Whiſtabend Äußerungen that, die wir alle tief bedauern mußten, wir, die wir die Whiſtpartie machten, nun ſchon ganz gewiß, aber auch die gute, taube Schi¬ monski, der wir, weil ſie uns ſo aufgeregt ſah, alles auf einen Zettel ſchreiben mußten. “
„ Und was war es denn? “
„ Ach, es handelte ſich um das, was uns allen, wie du dir denken kannſt, jetzt das Teuerſte bedeutet, um den, Wortlaut‘. Und denke dir, unſer Fix war dagegen. Er mußte wohl denſelben Tag was geleſen haben, was ihn abtrünnig gemacht hatte. Perſonen wie Fix ſind ſehr beſtimmbar. Und kurz und gut, er ſagte: das mit dem, Wortlaut‘, das ginge nicht länger mehr, die ‚ Werte‘ wären jetzt anders, und weil die Werte nicht mehr die¬ ſelben wären, müßten auch die Worte ſich danach richten und müßten gemodelt werden. Er ſagte, gemodelt‘. Aber was er am meiſten immer wieder betonte, das waren die, Werte‘ und die Notwendigkeit der, Umwertung‘. “
„ Und was ſagte die Schmargendorf dazu? “
„ Du haſt ganz recht, mich dabei wieder auf die Schmargendorf zu bringen. Nun, die war außer ſich und hat die darauf folgende Nacht nicht ſchlafen können. Erſt gegen Morgen kam ihr ein tiefer Schlaf, und da ſah ſie, ſo wenigſtens hat ſie's mir und dem Super¬ intendenten verſichert, einen Engel, der mit ſeinem Flammen¬ finger immer auf ein Buch wies und in dem Buch auf eine und dieſelbe Stelle. “
„ Welche Stelle? “
„ Ja, darüber war ein Streit; die Schmargendorf hatte ſie genau geleſen und wollte ſie herſagen. Aber122 ſie ſagte ſie falſch, weil ſie Sonntags in der Kirche nie recht aufpaßt. Und wir ſagten ihr das auch. Und denke dir, ſie widerſprach nicht und blieb überhaupt ganz ruhig dabei. ‚ Ja‘, ſagte ſie, „ ſie wiſſe recht gut, daß ſie die Stelle falſch hergeſagt hätte, ſie habe nie was richtig herſagen können; aber das wiſſe ſie ganz genau, die Stelle mit dem Flammenfinger, das ſei der ‚ Wortlaut‘ geweſen. “
„ Und das haſt du wirklich alles geglaubt, liebe Tante? Dieſe gute Schmargendorf! Ich will ihr ja gerne folgen; aber was ihren Traum angeht, da kann ich beim beſten Willen nicht mit. Es wird ihr ein Amt¬ mann erſchienen ſein oder ein Paſtor. Dreißig Jahre früher wär 'es ein Student geweſen. “
„ Ach, Woldemar, ſprich doch nicht ſo. Das iſt ja die neue Façon, in der die Berliner ſprechen, und in dem Punkt iſt einer wie der andre. Dein Freund Czako ſpricht auch ſo. Du mokierſt dich jetzt über die gute Schmargendorf, und dein[Freund], der Hauptmann, ſo viel hab ich ganz deutlich geſehen, that es auch und hat ſie bei Tiſche geuzt. “
„ Geuzt? “
„ Du wunderſt dich über das Wort, und ich wundre mich ſelber darüber. Aber daran iſt auch unſer guter Fix ſchuld. Der iſt alle Monat mal nach Berlin 'rüber und wenn er dann wiederkommt, dann bringt er ſo was mit, und wiewohl ich's unpaſſend finde, nehm' ich's doch an und die Schmargendorf auch. Bloß die Triglaff nicht und natürlich die gute Schimonski auch nicht, wegen der Taubheit. Ja, Woldemar, ich ſage ‚ geuzt‘, und dein Freund Czako hätt 'es lieber unterlaſſen ſollen. Aber das muß wahr ſein, er iſt amüſant, wenn auch ein bißchen auf der Wippe. Siehſt du ihn oft? “
„ Nein, liebe Tante. Nicht oft. Bedenke die weiten Entfernungen. Von unſrer Kaſerne bis zu ſeiner, oder123 auch umgekehrt, das iſt eine kleine Reiſe. Dazu kommt noch, daß wir vor unſerm Halliſchen Thor eigentlich gar nichts haben, bloß die Kirchhöfe, das Tempelhofer Feld und das Rotherſtift. “
„ Aber ihr habt doch die Pferdebahn, wenn ihr irgendwo hin wollt. Beinah 'muß ich ſagen leider. Denn es giebt mir immer einen Stich, wenn ich mal in Berlin bin, ſo die Offiziere zu ſehen, wie ſie da hinten ſtehen und Platz machen, wenn eine Madamm aufſteigt, manchmal mit' nem Korb und manchmal auch mit 'ner Spreewaldsamme. Mir immer ein Horreur. “
„ Ja, die Pferdebahn, liebe Tante, die haben wir freilich, und man kann mit ihr in einer halben Stunde bis in Czakos Kaſerne. Der weite Weg iſt es auch eigentlich nicht, wenigſtens nicht allein, weshalb ich Czako ſo ſelten ſehe. Der Hauptgrund iſt doch wohl der, er paßt nicht ſo ganz zu uns und eigentlich auch kaum zu ſeinem Regiment. Er iſt ein guter Kerl, aber ein Äquivoken¬ menſch und erzählt immer Nachmitternachtsgeſchichten. Wenn man ihn allein hat, geht es. Aber hat er ein Publikum, dann kribbelt es ihn ordentlich, und je feiner das Publikum iſt, deſto mehr. Er hat mich ſchon oft in Verlegenheit gebracht. Ich muß ſagen, ich hab 'ihn ſehr gern, aber geſellſchaftlich iſt ihm Rex doch ſehr überlegen. “
„ Ja, Rex; natürlich. Das hab 'ich auch gleich bemerkt, ohne mir weiter Rechenſchaft darüber zu geben. Du wirſt es aber wiſſen, wodurch er ihm überlegen iſt. “
„ Durch vieles. Erſtens, wenn man die Familien abwägt. Rex iſt mehr als Czako. Und dann iſt Rex Kavalleriſt. “
„ Aber ich denke, er iſt Miniſterialaſſeſſor. “
„ Ja, das iſt er auch. Aber nebenher, oder viel¬ leicht noch darüber hinaus, iſt er Offizier, und ſogar in unſrer Dragonerbrigade. “
124„ Das freut mich; da iſt er ja ſo gut wie ein Spezialkamerad von dir. “
„ Ich kann das zugeben und doch auch wieder nicht. Denn erſtens iſt er in der Reſerve, und zweitens ſteht er bei den zweiten Dragonern. “
„ Macht das 'nen Unterſchied? “
„ Gott, Tante, wie man's nehmen will. Ja und nein. Bei Mars la Tour haben wir dieſelbe Attacke geritten. “
„ Und doch ... “
„ Und doch iſt da ein gewiſſes je ne sais quoi. “
„ Sage nichts Franzöſiſches. Das verdrießt mich immer. Manche ſagen jetzt auch Engliſches, was mir noch weniger gefällt. Aber laſſen wir das; ich finde nur, es wäre doch ſchrecklich, wenn es ſo bloß nach der Zahl ginge. Was ſollte denn da das Regiment an¬ fangen, bei dem ein Bruder unſrer guten Schmargen¬ dorf ſteht? Es iſt, glaube ich, das hundertfünfund¬ vierzigſte. “
„ Ja, wenn es ſo hoch kommt, dann verthut es ſich wieder. Aber ſo bei der Garde ... “
Die Domina ſchüttelte den Kopf. „ Darin, mein lieber Woldemar, kann ich dir doch kaum folgen. Unſer Fix ſagt mitunter, ich ſei zu exkluſiv, aber ſo exkluſiv bin ich doch noch lange nicht. Und ſolch Verſtandes¬ menſch, wie du biſt, ſo ruhig und dabei ſo, abgeklärt‘, wie manche jetzt ſagen, und Gott verzeih mir die Sünde, auch ſo liberal, worüber ſelbſt dein Vater klagt. Und nun kommſt du mir mit ſolchem Vorurteil, ja, verzeih mir das Wort, mit ſolchen Überheblichkeiten. Ich er¬ kenne dich darin gar nicht wieder. Und wenn ich nun das erſte Garderegiment nehme, das iſt ja doch auch ein erſtes. Iſt es denn mehr als das zweite? Man kann ja ſagen, ſo viel will ich zugeben, ſie haben die Blechmützen und ſehen aus, als ob ſie lauter Hollän¬125 derinnen heiraten wollten ... Was ihnen ſchon ge¬ fallen ſollte. “
„ Den Holländerinnen? “
„ Nun, denen auch, “lachte die Tante. „ Aber ich meinte jetzt unſre Leute. Mißverſtehe mich übrigens nicht. Ich weiß recht gut, was es mit den großen Grenadieren auf ſich hat; aber die andern ſind doch ebenſogut, und Potsdam iſt doch ſchließlich bloß Potsdam.
„ Ja, Tante, das iſt es ja eben. Daß ſie noch immer in Potsdam ſind, das macht es. Deshalb iſt es nach wie vor die „ Potsdamer Wachtparade “. Und dann das Wort „ erſtes “ſpielt allerdings auch mit. Ein alter Römer, mit deſſen Namen ich dich nicht behelligen will, der wollte in ſeinem Potsdam lieber der Erſte, als in ſeinem Berlin der Zweite ſein. Wer der Erſte iſt, nun, der iſt eben der Erſte, und als die andern aufſtanden, da hatte dieſer „ Erſte “ſchon ſeinen Morgenſpaziergang ge¬ macht und mitunter was für einen! Sieh, als das zweite Garderegiment geboren wurde, da hatten die mit den Blechmützen ſchon den ganzen Siebenjährigen Krieg hinter ſich. Es iſt damit, wie mit dem älteſten Sohn. Der älteſte Sohn kann unter Umſtänden dümmer und ſchlechter ſein als ſein Bruder, aber er iſt der älteſte, das kann ihm keiner nehmen, und das giebt ihm einen gewiſſen Vorrang, auch wenn er ſonſt gar keinen Vorzug hat. Alles iſt göttliches Geſchenk. Warum iſt der eine hübſch und der andere häßlich? Und nun gar erſt die Damen. In das eine Fräulein verliebt ſich alles, und das andre ſpielt bloß Mauerblümchen. Es wird jedem ſeine Stelle gegeben. Und ſo iſt es auch mit unſerm Regiment. Wir mögen nicht beſſer ſein als die andern, aber wir ſind die erſten, wir haben die Nummer eins. “
„ Ich kann da beim beſten Willen nicht recht mit, Woldemar. Was in unſrer Armee den Ausſchlag giebt, iſt doch immer die Schneidigkeit. “
126„ Liebe Tante, ſprich, wovon du willſt, nur nicht davon. Das iſt ein Wort für kleine Garniſonen. Wir wiſſen, was wir zu thun haben. Dienſt iſt alles, und Schneidigkeit iſt bloß Renommiſterei. Und das iſt das, was bei uns am niedrigſten ſteht. “
„ Gut, Woldemar; was du da zuletzt geſagt haſt, das gefällt mir. Und in dieſem Punkte muß ich auch deinen Vater loben. Er hat vieles, was mir nicht zu¬ ſagt, aber darin iſt er doch ein echter Stechlin. Und du biſt auch ſo. Und das hab ich immer gefunden, alle die ſo ſind, die ſchießen zuletzt doch den Vogel ab, ganz beſonders auch bei den Damen.
Dies „ bei den Damen “war nicht ohne Abſicht geſprochen und ſchien auf das bis dahin vorſichtig ver¬ miedene Hauptthema hinüberführen zu ſollen. Aber ehe die Tante noch eine direkte Frage ſtellen konnte, wurde der Rentmeiſter gemeldet, der ihr in dieſem Augen¬ blicke ſehr ungelegen kam. Die Domina wandte ſich denn auch in ſichtlicher Verſtimmung an Woldemar und ſagte: „ Soll ich ihn fortſchicken? “
„ Es wird kaum gehen, liebe Tante. “
„ Nun denn. “
Und gleich darnach trat Fix ein.
Während Woldemar und die Domina miteinander plauderten, erſt im Tete-a-Tete, dann in Gegenwart von Rentmeiſter Fix, ritten Rex und Czako (Fritz mit dem Leinpferd folgend) auf Cremmen zu. Das war noch eine tüchtige Strecke, gute drei Meilen. Aber trotzdem waren beide Reiter übereingekommen, nichts zu über¬ eilen und ſich's nach Möglichkeit bequem zu machen. „ Es iſt am Ende gleichgültig, ob wir um acht oder um neun über den Cremmer Damm reiten. Das bißchen Abendrot, das da drüben noch hinter dem Kirchturm ſteht ... Fritz, wie heißt er? Welcher Kirchturm iſt es? ... “— „ Das iſt der Wulkowſche, Herr Haupt¬ mann! “— „ ... Alſo, das bißchen Abendrot, das da noch hinter dem Wulkowſchen ſteht, wird ohnehin nicht lange mehr vorhalten. Dunkel wird's alſo doch, und von dem Hohenlohedenkmal, das ich mir übrigens gern einmal näher angeſehen hätte (man muß ſo was immer auf dem Hinwege mitnehmen), kommt uns bei Tages¬ licht nichts mehr vor die Klinge. Das Denkmal liegt etwas ab vom Wege. “
„ Schade, “ſagte Rex.
„ Ja, man kann es beinah 'ſagen. Ich für meine Perſon komme ſchließlich drüber hin, aber ein Mann wie Sie, Rex, ſollte dergleichen mehr wallfahrtartig auffaſſen. “
128„ Ach Czako, Sie reden wieder tolles Zeug, dies¬ mal mit einem kleinen Abſtecher ins Läſterliche. Was ſoll ‚ Wallfahrt‘ hier überhaupt? Und dann, was haben Sie gegen Wallfahrten? Und was haben Sie gegen die Hohenlohes? “
„ Gott, Rex, wie Sie ſich wieder irren. Ich habe nichts gegen die einen, und ich habe nichts gegen die andern. Alles, was ich von Wallfahrten geleſen habe, hat mich immer nur wünſchen laſſen, mal mit dabei zu ſein. Und ad vocem der Hohenlohes, ſo kann ich Ihnen nur ſagen, für die hab 'ich ſogar was übrig in meinem Herzen, viel, viel mehr als für unſer eigent¬ liches Landesgewächs. Oder wenn Sie wollen, für unſre Autochthonen. “
„ Und das meinen Sie ganz ernſthaft? “
„ Ganz ernſthaft. Und wir wollen mal fünf Minuten wie vernünftige Leute darüber reden. Wenn ich ſage ‚ wir‘, ſo meine ich natürlich mich. Denn Sie ſprechen immer vernünftig. Vielleicht ein bißchen zu ſehr. “
Rex lächelte. „ Nun gut; ich will's Ihnen glauben. “
„ Alſo die Hohenlohes, “fuhr Czako fort. „ Ja, wie ſteht es damit? Wie liegt da die Sache? Da kommt hier ſo Anno Domini ein Burggraf ins Land, und das Land will ihn nicht, und er muß ſich alles erſt erobern, die Städte beinah und die Schlöſſer gewiß. Und die Herzen natürlich erſt recht. Und der Kaiſer ſitzt mal wieder weitab und kann ihm nicht helfen. Und da hat nun dieſer Nürnberger Burggraf, wenn's hoch kommt, ein halbes Dutzend Menſchen um ſich, ſchwäbiſche Leute, die mit ihm in dieſe Mördergrube hin¬ abſteigen. Denn ein bißchen ſo was war es. Und geht auch gleich los, und die Quitzows und die, die's ſein wollen, rufen die Pommern ins Land, und hier auf dieſem alten Cremmer Damm ſtoßen ſie zuſammen, und129 die paar, die da fallen, das ſind eben die Schwaben, die's gewagt hatten und mit in den Kahn geſtiegen waren. Allen vorauf aber ein Graf, ſo ein Herr in mittleren Jahren. Der fiel zuerſt und verſank in den Sumpf, und da liegt er. Das heißt, ſie haben ihn rausgeholt, und nun liegt er in der Kloſterkirche. Und dieſer eine, der da voran fiel, der hieß Hohenlohe. “
„ Ja, Czako, das weiß ich ja alles. Das ſteht ja ſchon im Brandenburgiſchen Kinderfreund. Sie denken aber immer, Sie haben ſo was allein gepachtet. “
„ Immer vorſichtig, Rex; im Kinderfreund ſteht es. Gewiß. Aber was ſteht nicht alles, — von Kinder¬ freund garnicht zu reden — in Bibel und Katechismus und die Leute wiſſen es doch nicht. Ich zum Beiſpiel. Und ob es nun drin ſteht oder nicht drin ſteht, ich ſage nur: ſo hat es angefangen, und ſo läuft der Haſe noch. Oder glauben Sie, daß der alte Fürſt, der jetzt dran iſt, daß der zu ſeinem Spezialvergnügen in unſer ſo¬ genanntes Reichskanzlerpalais gezogen iſt, drin die Bis¬ marckſchen Nachfolger, die ſich wahrhaftig nicht darnach drängten, ihre Tage vertrauern? Ein Opfer iſt es, nicht mehr und nicht weniger, und ein Opfer bringt auch der alte Fürſt, gerade wie der, der damals am Cremmer Damm als erſter fiel. Und ich ſage Ihnen, Rex, das iſt das, was mir imponiert; immer da ſein, wenn Not an Mann iſt. Die Kleinen von hier, trotz der ‚ Loyalität bis auf die Knochen‘, die mucken immer bloß auf, aber die wirklich Vornehmen, die gehorchen, nicht einem Machthaber, ſondern dem Gefühl ihrer Pflicht. “
Rex war einverſtanden und wiederholte nur: „ Schade, daß wir ſo ſpät an dem Denkmal vorbeikommen. “
„ Ja, ſchade, “ſagte Czako. „ Wir müſſen es uns aber ſchenken. Im übrigen, denk 'ich, laſſen wir in dem, was wir uns noch weiter zu ſagen haben, dieFontane, Der Stechlin. 9130Hohenlohes aus dem Spiel. Andres liegt uns heute näher. Wie hat Ihnen denn eigentlich die Schmargen¬ dorf gefallen? “
„ Ich werde mich hüten, Czako, Ihnen darauf zu antworten. Außerdem haben Sie ſie durch den Garten geführt, nicht ich, und mir war immer, als ob ich Fauſt und Gretchen ſähe. “
Czako lachte. „ Natürlich ſchwebt Ihnen das andre Paar vor, und ich bin nicht böſe darüber. Die Rolle, die mir dabei zufällt — der mit der Hahnenfeder iſt doch am Ende 'ne andre Nummer wie der ſentimentale ‚ Habe-nun-ach-Mann‘ — dieſe Mephiſtorolle, ſag' ich, gefällt mir beſſer, und was die Schmargendorf angeht, ſo kann ich nur ſagen: Von meiner Martha laſſ 'ich nicht. “
„ Czako, Sie münden wieder ins Frivole. “
„ Gut, gut, Rex, Sie werden unwirſch, und Sie ſollen recht haben. Laſſen wir alſo die Schmargendorf ſo gut wie die Hohenlohes. Aber über die Domina ließe ſich vielleicht ſprechen, und ſind wir erſt bei der Tante, ſo ſind wir auch bald bei dem Neffen. Ich fürchte, unſer Freund Woldemar befindet ſich in dieſem Augen¬ blick in einer ſcharfen Zwickmühle. Die Domina liegt ihm ſeit Jahr und Tag (er hat mir ſelber Andeutungen darüber gemacht) mit Heiratsplänen in den Ohren, mut¬ maßlich weil ihr die Vorſtellung einer Stechlinloſen Welt einfach ein Schrecknis iſt. Solche alten Jungfern mit einer Granatbroſche haben immer eine merkwürdig hohe Meinung von ihrer Familie. Freilich auch andre, die klüger ſein ſollten. Unſre Leute gefallen ſich nun 'mal in der Idee, ſie hingen mit dem Fortbeſtande der gött¬ lichen Weltordnung aufs engſte zuſammen. In Wahr¬ heit liegt es ſo, daß wir ſämtlich abkommen können. Ohne die Czakos geht es nun ſchon gewiß, wofür ſo¬ zuſagen hiſtoriſch-ſymboliſch der Beweis erbracht iſt. “
„ Und die Rex? “
131„ Vor dieſem Namen mach 'ich Halt. “
„ Wer's Ihnen glaubt. Aber laſſen wir die Rex und laſſen wir die Czakos, und bleiben wir bei den Stechlins, will ſagen bei unſerm Freunde Woldemar. Die Tante will ihn verheiraten, darin haben Sie recht. “
„ Und ich habe wohl auch recht, wenn ich das eine heikle Lage nenne. Denn ich glaube, daß er ſich ſeine Freiheit wahren will und mit Bewußtſein auf den Céli¬ bataire losſteuert. “
„ Ein Glauben, in dem Sie ſich, lieber Czako, wie jedesmal, wenn Sie zu glauben anfangen, in einem großen Irrtum befinden. “
„ Das kann nicht ſein. “
„ Es kann nicht bloß ſein, es iſt. Und ich wundre mich nur, daß gerade Sie, der Sie doch ſonſt das Gras wachſen hören und allen Geſellſchaftsklatſch kennen wie kaum ein zweiter, daß gerade Sie von dem allen kein Sterbenswörtchen vernommen haben ſollen. Sie ver¬ kehren doch auch bei den Xylanders, ja, ich glaube, Sie da, letzten Winter, mal kämpfend am Büffett geſehen zu haben. “
„ Gewiß. “
„ Und da waren an jenem Abend auch die Berchtes¬ gadens, Baron und Frau, und in lebhafteſtem Geſpräche mit dieſem bayeriſchen Baron ein diſtinguierter alter Herr und zwei Damen. Und dieſe drei, das waren die Barbys. “
„ Die Barbys, “wiederholte Czako, „ Botſchaftsrat oder dergleichen. Ja, gewiß, ich habe davon gehört; aber ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, ihn und die Damen geſehen zu haben. Und ſicherlich nicht an jenem Abend, wo ja von Vorſtellen keine Rede war, die reine Völkerſchlacht. Aber Sie wollten mir, glaube ich, von eben dieſen Barbys erzählen. “
„ Ja, das wollt 'ich. Ich wollte Sie nämlich wiſſen9*132laſſen, daß Ihr Célibataire ſeit Ausgang vorigen Winters in eben dieſem Hauſe regelmäßig verkehrt. “
„ Er wird wohl in vielen Häuſern verkehren. “
„ Möglich, aber nicht ſehr wahrſcheinlich, da das eine Haus ihn ganz in Anſpruch nimmt. “
„ Nun gut, ſo laſſen wir ihn bei den Barbys. Aber was bedeutet das. “
„ Das bedeutet, daß in einem ſolchen Hauſe ver¬ kehren und ſich mit einer Tochter verloben ſo ziemlich ein und daſſelbe iſt. Bloß eine Frage der Zeit. Und die Tante wird ſich damit ausſöhnen müſſen, auch wenn ſie, wie beinah gewiß, über ihr Herzblatt bereits anders verfügt haben ſollte. Solche Dinge begleichen ſich in¬ deſſen faſt immer. Unſer Woldemar wird ſich aber mittler¬ weile vor ganz andre Schwierigkeiten geſtellt ſehen. “
„ Und die wären? Iſt er nicht vornehm genug? Oder mankiert vielleicht Gegenliebe? “
„ Nein, Czako, von ‚ mankierender Gegenliebe‘, wie Sie ſich auszudrücken belieben, kann keine Rede ſein. Die Schwierigkeiten liegen in was anderm. Es ſind da nämlich, wie ich mir ſchon anzudeuten erlaubte, zwei Comteſſen im Hauſe. Nun, die jüngere wird es wohl werden, ſchon weil ſie eben die jüngere iſt. Aber ſo ganz ſicher iſt es doch keineswegs. Denn auch die ältere, wiewohl ſchon über dreißig, iſt ſehr reizend und zum Überfluß auch noch Witwe — das heißt eigentlich nicht Witwe, ſondern richtiger eine gleich nach der Ehe geſchiedene Frau. Sie war nur ein halbes Jahr verheiratet, oder vielleicht auch nicht verheiratet. “
„ Verheiratet, oder vielleicht auch nicht verheiratet, “wiederholte Czako, während er unwillkürlich ſein Pferd anhielt. „ Aber Rex, das iſt ja hoch pikant. Und daß ich erſt heute davon höre und noch dazu durch Sie, der Sie ſich von ſolchen Dingen doch zunächſt entſetzt ab¬ wenden müßten. Aber ſo ſeid ihr Konventikler. Schlie߬133 lich iſt all dergleichen doch eigentlich euer Lieblingsfeld. Und nun erzählen Sie weiter, ich bin neugierig wie ein Backfiſch. Wer war denn der unglücklich Glückliche? “
„ Sie meinen, wenn ich Sie recht verſtehe, wer es war, der dieſe ältere Comteſſe heiratete. Nun, dieſer glücklich Unglückliche — oder vielleicht auch umgekehrt — war auch Graf, ſogar ein italieniſcher (vorausgeſetzt, daß Sie dies als eine Steigerung anſehn), und hatte natür¬ lich einen echt italieniſchen Namen: Conte Ghiberti, der¬ ſelbe Name wie der des florentiniſchen Bildhauers, von dem die berühmten Thüren herrühren. “
„ Welche Thüren? “
„ Nun, die berühmten Baptiſteriumthüren in Florenz, von denen Michelangelo geſagt haben ſoll, ‚ ſie wären wert, den Eingang zum Paradieſe zu bilden‘. Und dieſe Thüren heißen denn auch, ihrem großen Künſtler zu Ehren, die Ghibertiſchen Thüren. Übrigens eine Sache, von der ein Mann wie Sie was wiſſen müßte. “
„ Ja, Rex, Sie haben gut reden von ‚ wiſſen müſſen‘. Sie ſind aus einem großen Hauſe, haben mutmaßlich einen frommen Kandidaten als Lehrer gehabt und ſind dann auf Reiſen gegangen, wo man ſo feine Dinge wegkriegt. Aber ich! Ich bin aus Oſtrowo. “
„ Das ändert nichts. “
„ Doch, doch, Rex. Italieniſche Kunſt! Ich bitte Sie, wo ſoll dergleichen bei mir herkommen? Was Hänſchen nicht lernt, — dabei bleibt es nun mal. Ich erinnere mich noch ganz deutlich einer Auktion in Oſtrowo, bei der (es war in einem kommerzienrätlichen Hauſe) ſchließlich ein roter Kaſten zur Verſteigerung kam, ein Kaſten mit Doppelbildern und einem Opernkucker dazu, der aber keiner war. Und all das kaufte ſich meine Mutter. Und an dieſem Stereoſkopenkaſten, ein Wort, das ich damals noch nicht kannte, habe ich meine italieniſche Kunſt gelernt. Die, Thüren‘ waren aber134 nicht dabei. Was können Sie da groß verlangen? Ich habe, wenn ſie das Wort gelten laſſen wollen, 'ne Panoptikumbildung. “
Rex lachte. „ Nun, gleichviel. Alſo der Graf, der die ältere Comteſſe Barby heiratete, hieß Ghiberti. Seiner Ehe fehlten indes durchaus die Himmelsthüren, — ſoviel läßt ſich mit aller Beſtimmtheit ſagen. Und deshalb kam es zur Scheidung. Ja, mehr, die ſchar¬ mante Frau (‚ ſcharmant‘ iſt übrigens ein viel zu plebejes und minderwertiges Wort) hat in ihrer Empörung den Namen Ghiberti wieder abgethan, und alle Welt nennt ſie jetzt nur noch bei ihrem Vornamen. “
„ Und der iſt? “
„ Meluſine. “
„ Meluſine? Hören Sie, Rex, das läßt aber tief blicken. “
Unter dieſem Geſpräch waren ſie bis an den Cremmer Damm herangekommen. Es dunkelte ſchon ſtark, und ein Gewölk, das am Himmel hinzog, ver¬ barg die Mondſichel. Ein paarmal indeſſen trat ſie hervor, und dann ſahen ſie bei halber Beleuchtung das Hohenlohedenkmal, das unten im Luche ſchimmerte. Hinunterzureiten, was noch einmal flüchtig in Erwägung gezogen wurde, verbot ſich, und ſo ſetzten ſie ſich in einen munteren Trab und hielten erſt wieder in Cremmen vor dem Gaſthauſe zum „ Markgrafen Otto “. Es ſchlug eben neun von der Nikolaikirche.
Drinnen war man bald in einem lebhaften Ge¬ ſpräch, in dem ſich Rex über die in der Stadt herr¬ ſchende Geſinnung und Kirchlichkeit zu unterrichten ſuchte. Der Wirt ſtellte der einen wie der andern ein gleich gutes Zeugnis aus und hatte die Genugthuung, daß135 ihm Rex freundlich zunickte. Czako aber ſagte: „ Sagen Sie, Herr Wirt, Sie haben da ein ſo ſchönes Billard: ich habe mir jüngſt erſt ſagen laſſen, wenn 's wirklich flott gehe, ſo könne man's im Jahr bis auf dreitauſend Mark bringen. Natürlich bei zwölfſtündigem Arbeitstag. Wie ſteht es damit? Für möglich halt 'ich es. “
Die Barbys, der alte Graf und ſeine zwei Töchter, lebten ſeit einer Reihe von Jahren in Berlin und zwar am Kronprinzenufer, zwiſchen Alſen - und Moltkebrücke. Das Haus, deſſen erſte Etage ſie bewohnten, unterſchied ſich, ohne ſonſt irgendwie hervorragend zu ſein (Berlin iſt nicht reich an Privathäuſern, die Schönheit und Eigenart in ſich vereinigen), immerhin vorteilhaft von ſeinen Nachbarhäuſern, von denen es durch zwei Terrain¬ ſtreifen getrennt wurde; der eine davon ein kleiner Baumgarten, mit allerlei Buſchwerk dazwiſchen, der andre ein Hofraum mit einem zierlichen maleriſch wir¬ kenden Stallgebäude, deſſen obere Fenſter, hinter denen ſich die Kutſcherwohnung befand, von wildem Wein um¬ wachſen waren. Schon dieſe Lage des Hauſes hätte dem¬ ſelben ein beſtimmtes Maß von Aufmerkſamkeit geſichert, aber auch ſeine Faſſade mit ihren zwei Loggien links und rechts ließ die des Weges Kommenden unwillkürlich ihr Auge darauf richten. Hier, in eben dieſen Loggien, verbrachte die Familie mit Vorliebe die Früh - und Nachmittagsſtunden und bevorzugte dabei, je nach der Jahreszeit, mal den zum Zimmer des alten Grafen ge¬ hörigen, in pompejiſchem Rot gehaltenen Einbau, mal die gleichartige Loggia, die zum Zimmer der beiden jungen Damen gehörte. Dazwiſchen lag ein dritter großer Raum, der als Repräſentations - und zugleich als E߬140 zimmer diente. Das war, mit Ausnahme der Schlaf - und Wirtſchaftsräume, das Ganze, worüber man Ver¬ fügung hatte; man wohnte mithin ziemlich beſchränkt, hing aber ſehr an dem Hauſe, ſo daß ein Wohnungs¬ wechſel oder auch nur der Gedanke daran, ſo gut wie ausgeſchloſſen war. Einmal hatte die liebenswürdige, beſonders mit Gräfin Meluſine befreundete Baronin Berchtesgaden einen ſolchen Wohnungswechſel in Vor¬ ſchlag gebracht, aber nur um ſofort einem lebhaften Widerſpruche zu begegnen. „ Ich ſehe ſchon, Baronin, Sie führen den ganzen Lennéſtraßenſtolz gegen uns ins Gefecht. Ihre Lennéſtraße! Nun ja, wenn's ſein muß. Aber was haben Sie da groß? Sie haben den Leſſing ganz und den Goethe halb. Und um beides will ich Sie beneiden und Ihnen auch die Spreewalds¬ ammen in Rechnung ſtellen. Aber die Lennéſtraßenwelt iſt geſchloſſen, iſt zu, ſie hat keinen Blick ins Weite, kein Waſſer, das fließt, keinen Verkehr, der flutet. Wenn ich in unſrer Niſche ſitze, die lange Reihe der heran¬ kommenden Stadtbahnwaggons vor mir, nicht zu nah und nicht zu weit, und ſehe dabei, wie das Abendrot den Lokomotivenrauch durchglüht und in dem Filigran¬ werk der Ausſtellungsparktürmchen ſchimmert, was will Ihre grüne Tiergartenwand dagegen? “ Und dabei wies die Gräfin auf einen gerade vorüberdampfenden Zug, und die Baronin gab ſich zufrieden.
Ein ſolcher Abend war auch heute; die Balkonthür ſtand auf, und ein kleines Feuer im Kamin warf ſeine Lichter auf den ſchweren Teppich, der durch das ganze Zimmer hin lag. Es mochte die ſechſte Stunde ſein und die Fenſter drüben an den Häuſern der andern Seite ſtanden wie in roter Glut. Ganz in der Nähe des Kamins ſaß Armgard, die jüngere Tochter, in ihren Stuhl zurückgelehnt, die linke Fußſpitze leicht auf den Ständer geſtemmt. Die Stickerei, daran ſie bis dahin141 gearbeitet, hatte ſie, ſeit es zu dunkeln begann, aus der Hand gelegt und ſpielte ſtatt deſſen mit einem Ball¬ becher, zu dem ſie regelmäßig griff, wenn es galt, leere Minuten auszufüllen. Sie ſpielte das Spiel ſehr geſchickt, und es gab immer einen kleinen hellen Schlag, wenn der Ball in den Becher fiel. Meluſine ſtand draußen auf dem Balkon, die Hand an die Stirn gelegt, um ſich gegen die Blendung der untergehenden Sonne zu ſchützen.
„ Armgard, “rief ſie in das Zimmer hinein, „ komm; die Sonne geht eben unter! “
„ Laß. Ich ſehe hier lieber in den Kamin. Und ich habe auch ſchon zwölfmal gefangen. “
„ Wen? “
„ Nun natürlich den Ball. “
„ Ich glaube, du fingſt lieber wen anders. Und wenn ich dich ſo daſitzen ſehe, ſo kommt es mir faſt vor, als dächteſt du ſelber auch ſo was. Du ſitzt ſo märchenhaft da. “
„ Ach, du denkſt immer nur an Märchen und glaubſt, weil du Meluſine heißt, du haſt ſo was wie eine Verpflichtung dazu. “
„ Kann ſein. Aber vor allem glaub 'ich, daß ich es getroffen habe. Weißt du, was? “
„ Nun? “
„ Ich kann es ſo leicht nicht ſagen. Du ſitzt zu weit ab. “
„ Dann komm und ſag es mir ins Ohr. “
„ Das iſt zu viel verlangt. Denn erſtens bin ich die ältere, und zweitens biſt du's, die was von mir will. Aber ich will es ſo genau nicht nehmen. “
Und dabei ging Meluſine vom Balkon her auf die Schweſter zu, nahm ihr das Fangſpiel fort und ſagte, während ſie ihr die Hand auf die Stirn legte: „ Du biſt verliebt. “
142„ Aber Meluſine, was das nun wieder ſoll! Und wenn man ſo klug iſt wie du ... Verliebt. Das iſt ja gar nichts; etwas verliebt iſt man immer. “
„ Gewiß. Aber in wen? Da beginnen die Fragen und die Fineſſen. “
In dieſem Augenblicke ging die Klingel draußen, und Armgard horchte.
„ Wie du dich verrätſt, “lachte Meluſine. „ Du horchſt und willſt wiſſen, wer kommt. “
Meluſine wollte noch weiter ſprechen, aber die Thür ging bereits auf und Lizzi, die Kammerjungfer der beiden Schweſtern, trat ein, unmittelbar hinter ihr ein Gerſonſcher Livreediener mit einem in einen Riemen geſchnallten Karton. „ Er bringt die Hüte, “ſagte die Kammerjungfer.
„ Ah, die Hüte. Ja, Armgard da müſſen wir freilich unſre Frage vertagen. Was doch wohl auch deine Meinung iſt. Bitte, ſtellen Sie hin. Aber Lizzi, du, du bleibſt und mußt uns helfen; du haſt einen guten Geſchmack. Übrigens iſt kein Stehſpiegel da? “
„ Soll ich ihn holen? “
„ Nein, nein, laß. Unſre Köpfe, worauf es doch bloß ankommt, können wir ſchließlich auch in dieſem Spiegel ſehen ... Ich denke, Armgard, du läßt mir die Vorhand; dieſer hier mit dem Heliotrop und den Stiefmütterchen, der iſt natürlich für mich; er hat den richtigen Frauencharakter, faſt ſchon Witwe. “
Unter dieſen Worten ſetzte ſie ſich den Hut auf und trat an den Spiegel. „ Nun, Lizzi, ſprich. “
„ Ich weiß nicht recht, Frau Gräfin, er ſcheint mir nicht modern genug. Der, den Comteſſe Armgard eben auf¬ ſetzt, der würde wohl auch für Frau Gräfin beſſer paſſen; — die hohen Straußfedern, wie ein Ritterhelm, und auch die Hutform ſelbſt. Hier iſt noch einer, faſt ebenſo und beinah noch hübſcher. “
143Beide Damen ſtellten ſich jetzt vor den Spiegel; Arm¬ gard, hinter der Schweſter ſtehend und größer als dieſe, ſah über deren linke Schulter fort. Beide gefielen ſich ungemein und ſchließlich lachten ſie, weil jede der andern anſah, wie hübſch ſie ſich fand.
„ Ich möchte doch beinah glauben ... “ſagte Meluſine, kam aber nicht weiter, denn in eben dieſem Augenblicke trat ein in ſchwarzen Frack und Escarpins gekleideter alter Diener ein und meldete: „ Rittmeiſter von Stechlin. “
Unmittelbar darauf erſchien denn auch Woldemar ſelbſt und verbeugte ſich gegen die Damen. „ Ich fürchte, daß ich zu ſehr ungelegener Stunde komme. “
„ Ganz im Gegenteil, lieber Stechlin. Um weſſent¬ willen quälen wir uns denn überhaupt mit ſolchen Sachen? Doch bloß um unſrer Gebieter willen, die man ja (vielleicht leider) auch noch hat, wenn man ſie nicht mehr hat. “
„ Immer die liebenswürdige Frau. “
„ Keine Schmeicheleien. Und dann, dieſe Hüte ſind wichtig. Ich nehm es als eine Fügung, daß Sie da gerade hinzukommen; Sie ſollen entſcheiden. Wir haben freilich ſchon Lizzis Meinung angerufen, aber Lizzi iſt zu diplomatiſch; Sie ſind Soldat und müſſen mehr Mut haben; Armgard ſprich auch; du biſt nicht mehr jung genug, um noch ewig die Verlegene zu ſpielen. Ich bin ſonſt gegen alle Gutachten, namentlich in Pro¬ zeßſachen (ich weiß ein Lied davon zu ſingen), aber ein Gutachten von Ihnen, da laß ich all meine Bedenken fallen. Außerdem bin ich für Autoritäten, und wenn es überhaupt Autoritäten in Sachen von Geſchmack und Mode giebt, wo wären ſie beſſer zu finden als im Regiment Ihrer Kaiſerlich Königlichen Majeſtät von Großbritannien und Indien? Irland laß ich abſichtlich fallen und nehme lieber Indien, woher aller gute Ge¬144 ſchmack kommt, alle alte Kultur, alle Shawls und Teppiche, Buddha und die weißen Elefanten. Alſo an¬ treten, Armgard; du natürlich an den rechten Flügel, denn du biſt größer. Und nun, lieber Stechlin, wie finden Sie uns? “
„ Aber meine Damen ... “
„ Keine Feigheiten. Wie finden Sie uns? “
„ Unendlich nett. “
„ Nett? Verzeihen Sie, Stechlin, nett iſt kein Wort. Wenigſtens kein nettes Wort. Oder wenigſtens unge¬ nügend. “
„ Alſo ſchlankweg entzückend. “
„ Das iſt gut. Und zur Belohnung die Frage: wer iſt entzückender? “
„ Aber Frau Gräfin, das iſt ja die reine Geſchichte mit dem ſeligen Paris. Bloß, er hatte es viel leichter, weil es drei waren. Aber zwei. Und noch dazu Schweſtern. “
„ Wer? Wer? “
„ Nun, wenn es denn durchaus ſein muß, Sie, gnädigſte Frau. “
„ Schändlicher Lügner. Aber wir behalten dieſe zwei Hüte. Lizzi, gieb all das andre zurück. Und Jeſerich ſoll die Lampen bringen; draußen ein Streifen Abendrot und hier drinnen ein verglimmendes Feuer, — das iſt denn doch zu wenig oder, wenn man will, zu gemütlich. “
Die Lampen hatten draußen ſchon gebrannt, ſo daß ſie gleich da waren.
„ Und nun ſchließen Sie die Balkonthür, Jeſerich, und ſagen Sie's Papa, daß der Herr Rittmeiſter ge¬ kommen. Papa iſt nicht gut bei Wege, wieder die neu¬ ralgiſchen Schmerzen; aber wenn er hört, daß Sie da ſind, ſo thut er ein übriges. Sie wiſſen, Sie ſind ſein145 Verzug. Man weiß immer, wenn man Verzug iſt. Ich wenigſtens hab 'es immer gewußt. “
„ Das glaub 'ich. “
„ Das glaub 'ich! Wie wollen Sie das erklären? “
„ Einfach genug, gnädigſte Gräfin. Jede Sache will gelernt ſein. Alles iſt ſchließlich Erfahrung. Und ich glaube, daß Ihnen reichlich Gelegenheit gegeben wurde, der Frage ‚ Verzug oder Nichtverzug‘ praktiſch näherzutreten. “
„ Gut herausgeredet. Aber nun, Armgard, ſage dem Herrn von Stechlin (ich perſönlich getraue mich's nicht), daß wir in einer halben Stunde fort müſſen, Opernhaus, ‚ Triſtan und Iſolde‘. Was ſagen Sie da¬ zu? Nicht zu Triſtan und Iſolde, nein zu der heikleren Frage, daß wir eben gehen, im ſelben Augenblick, wo Sie kommen. Denn ich ſeh 'es Ihnen an, Sie kamen nicht ſo bloß um ‚ five o'clock tea's‘ willen, Sie hatten es beſſer mit uns vor. Sie wollten bleiben ... “
„ Ich bekenne ... “
„ Alſo getroffen. Und zum Zeichen, daß Sie gro߬ mütig ſind und Verzeihung üben, verſprechen Sie, daß wir Sie bald wiederſehen, recht, recht bald. Ihr Wort darauf. Und dem Papa, der Sie vielleicht erwartet, wenn es Jeſerich für gut befunden hat, die Meldung auszurichten, — dem Papa werd 'ich ſagen, Sie hätten nicht bleiben können, eine Verabredung, Klub oder ſonſt was. “
Während Woldemar nach dieſem abſchließenden Geſpräch mit Meluſine die Treppe hinabſtieg und auf den nächſten Droſchkenſtand zuſchritt, ſaß der alte Graf in ſeinem Zimmer und ſah, den rechten Fuß auf einen Stuhl gelehnt, durch das Balkonfenſter auf den Abend¬Fontane, Der Stechlin. 10146Himmel. Er liebte dieſe Dämmerſtunde, drin er ſich nicht gerne ſtören ließ (am wenigſten gern durch vor¬ zeitig gebrachtes Licht), und als Jeſerich, der das alles wußte, jetzt eintrat, war es nicht, um dem alten Grafen die Lampe zu bringen, ſondern nur um ein paar Kohlen aufzuſchütten.
„ Wer war denn da, Jeſerich? “
„ Der Herr Rittmeiſter. “
„ So, ſo. Schade, daß er nicht geblieben iſt. Aber freilich, was ſoll er mit mir? Und der Fuß und die Schmerzen, dadurch wird man auch nicht intereſſanter. Armgard und nun gar erſt Meluſine, ja, da geht es, da redet ſich's ſchon beſſer, und das wird der Ritt¬ meiſter wohl auch finden. Aber ſo viel iſt richtig, ich ſpreche gern mit ihm; er hat ſo was Ruhiges und Geſetztes und immer ſchlicht und natürlich. Meinſt du nicht auch? “
Jeſerich nickte.
„ Und glaubſt du nicht auch (denn warum käme er ſonſt ſo oft), daß er was vorhat? “
„ Glaub 'ich auch, Herr Graf. “
„ Na, was glaubſt du? “
„ Gott, Herr Graf ... “
„ Ja, Jeſerich, du willſt nicht 'raus mit der Sprache. Das hilft dir aber nichts. Wie denkſt du dir die Sache? “
Jeſerich ſchmunzelte, ſchwieg aber weiter, weshalb dem alten Grafen nichts übrig blieb, als ſeinerſeits fortzufahren. „ Natürlich paßt Armgard beſſer, weil ſie jung iſt; es iſt ſo mehr das richtige Verhältnis, und überhaupt, Armgard iſt ſozuſagen dran. Aber, weiß der Teufel, Meluſine ... “
„ Freilich, Herr Graf. “
„ Alſo du haſt doch auch ſo was geſehen. Alles dreht ſich immer um die. Wie denkſt du dir nun147 den Rittmeiſter? Und wie denkſt du dir die Damen? Und wie ſteht es überhaupt? Iſt es die oder iſt es die?
„ Ja, Herr Graf, wie ſoll ich darüber denken? Mit Damen weiß man ja nie — vornehm und nicht vor¬ nehm, klein und groß, arm und reich, das is all eins. Mit unſrer Lizzi is es gerad 'ebenſo wie mit Gräfin Meluſine. Wenn man denkt, es is ſo, denn is es ſo, und wenn man denkt, es is ſo, denn is es wieder ſo. Wie meine Frau noch lebte, Gott habe ſie ſelig, die ſagte auch immer: ‚ Ja, Jeſerich, was du dir bloß denkſt; wir ſind eben ein Rätſel. ‘ Ach Gott, ſie war ja man einfach, aber das können Sie mir glauben, Herr Graf, ſo ſind ſie alle. “
„ Haſt ganz recht, Jeſerich. Und deshalb können wir auch nicht gegen an. Und ich freue mich, daß du das auch ſo ſcharf aufgefaßt haſt. Du biſt überhaupt ein Menſchenkenner. Wo du's bloß her haſt? Du haſt ſo was von 'nem Philoſophen. Haſt du ſchon mal einen geſehen? “
„ Nein, Herr Graf. Wenn man ſo viel zu thun hat und immer Silber putzen muß. “
„ Ja, Jeſerich, das hilft doch nu nich, davon kann ich dich nicht frei machen ... “
„ Nein, ſo mein 'ich es ja auch nich, Herr Graf, und bin ja auch fürs Alte. Gute Herrſchaft und immer denken, „ man gehört ſo halb wie mit dazu “, — dafür bin ich. Und manche ſollen ja auch halb mit dazu gehören ... Aber ein bißchen anſtrengend is es doch mitunter, und man is doch am Ende auch ein Menſch ... “
„ Na höre, Jeſerich, das hab 'ich dir doch noch nicht abgeſprochen. “
„ Nein, nein, Herr Graf. Gott, man ſagt ſo was bloß. Aber ein bißchen is es doch damit ... “
10*Woldemar — wie Rex ſeinem Freunde Czako, als beide über den Cremmer Damm ritten, ganz richtig mit¬ geteilt hatte — verkehrte ſeit Ausgang des Winters im Barbyſchen Hauſe, das er ſehr bald vor andern Häuſern ſeiner Bekanntſchaft bevorzugte. Vieles war es, was ihn da feſſelte, voran die beiden Damen; aber auch der alte Graf. Er fand Ähnlichkeiten, ſelbſt in der äußern Erſcheinung, zwiſchen dem Grafen und ſeinem Papa, und in ſeinem Tagebuche, das er, trotz ſonſtiger Moderni¬ tät, in altmodiſcher Weiſe von jung an führte, hatte er ſich gleich am erſten Abend über eine gewiſſe Verwandt¬ ſchaft zwiſchen den beiden geäußert. Es hieß da unterm achtzehnten April: „ Ich kann Wedel nicht dankbar genug ſein, mich bei den Barbys eingeführt zu haben; alles, was er von dem Hauſe geſagt, fand ich beſtätigt. Dieſe Gräfin, wie ſcharmant, und die Schweſter ebenſo, trotz¬ dem größere Gegenſätze kaum denkbar ſind. An der einen alles Temperament und Anmut, an der andern alles Charakter oder, wenn das zu viel geſagt ſein ſollte, Schlichtheit, Feſtigkeit. Es bleibt mit den Namen doch eine eigne Sache; die Gräfin iſt ganz Meluſine und die Comteſſe ganz Armgard. Ich habe bis jetzt freilich nur eine dieſes Namens kennen gelernt, noch dazu bloß als Bühnenfigur, und ich mußte beſtändig an dieſe denken, wie ſie da (ich glaube, es war Fräulein Stolberg, die149 ja auch das Maß hat) dem Landvogt ſo mutig in den Zügel fällt. Ganz ſo wirkt Comteſſe Armgard! Ich möchte beinah 'ſagen, es läßt ſich an ihr wahrnehmen, daß ihre Mutter eine richtige Schweizerin war. Und dazu der alte Graf! Wie ein Zwillingsbruder von Papa; derſelbe Bismarckkopf, dasſelbe humane Weſen, dieſelbe Freundlichkeit, dieſelbe gute Laune. Papa iſt aber ausgiebiger und auch wohl origineller. Vielleicht hat der verſchiedene Lebensgang dieſe Verſchiedenheiten erſt geſchaffen. Papa ſitzt nun ſeit richtigen dreißig Jahren in ſeinem Ruppiner Winkel feſt, der Graf war ebenſolange draußen! Ein Botſchaftsrat iſt eben was andres als ein Ritterſchaftsrat, und an der Themſe wächſt man ſich anders aus als am ‚ Stechlin‘ — unſern Stechlin dabei natürlich in Ehren. Trotzdem die Verwandt¬ ſchaft bleibt. Und der alte Diener, den ſie Jeſerich nennen, der iſt nun ſchon ganz und gar unſer Engelke vom Kopf bis zur Zeh'. Aber was am verwandteſten iſt, das iſt doch die geſamte Hausatmoſphäre, das Liberale. Papa ſelbſt würde zwar darüber lachen, — er lacht über nichts ſo ſehr wie über Liberalismus — und doch kenne ich keinen Menſchen, der innerlich ſo frei wäre, wie gerade mein guter Alter. Zugeben wird er's freilich nie und wird in dem Glauben ſterben: ‚ Morgen tragen ſie einen echten alten Junker zu Grabe‘. Das iſt er auch, aber doch auch wieder das volle Gegenteil davon. Er hat keine Spur von Selbſtſucht. Und dieſen ſchönen Zug (ach, ſo ſelten), den hat auch der alte Graf. Nebenher freilich iſt er Weltmann, und das giebt dann den Unter¬ ſchied und das Übergewicht. Er weiß — was ſie hier¬ zulande nicht wiſſen oder nicht wiſſen wollen — daß hinterm Berge auch noch Leute wohnen. Und mitunter noch ganz andre. “
150Das waren die Worte, die Woldemar in ſein Tage¬ buch eintrug. Von allem, was er geſehen, war er an¬ genehm berührt worden, auch von Haus und Wohnung. Und dazu war guter Grund da, mehr als er nach ſeinem erſten Beſuche wiſſen konnte. Das von der gräf¬ lichen Familie bewohnte Haus mit ſeinen Loggien und ſeinem diminutiven Hof und Garten teilte ſich in zwei Hälften, von denen jede noch wieder ihre beſondern Annexe hatte. Zu der Beletage gehörte das zur Seite gelegene pittoreske Hof - und Stallgebäude, drin der gräfliche Kutſcher, Herr Imme, reſidierte, während zu dem die zweite Hälfte des Hauſes bildenden Hochparterre ziemlich ſelbſtverſtändlich noch das kleine niedrige Sou¬ terrain gerechnet wurde, drin, außer Portier Hartwig ſelbſt, deſſen Frau, ſein Sohn Rudolf und ſeine Nichte Hedwig wohnten. Letztere freilich nur zeitweilig, und zwar immer nur dann, wenn ſie, was allerdings ziemlich häufig vorkam, mal wieder ohne Stellung war. Die Wirtin des Hauſes, Frau Hagelverſicherungsſekretär Schicke¬ danz, hätte dieſen gelegentlichen Aufenthalt der Nichte Hartwigs eigentlich beanſtanden müſſen, ließ es aber gehen, weil Hedwig ein heiteres, quickes und ſehr an¬ ſtelliges Ding war und manches beſaß, was die Schicke¬ danz mit der Ungehörigkeit des ewigen Dienſtwechſels wieder ausſöhnte.
Die Schickedanz, eine Frau von ſechzig, war ſchon verwitwet, als im Herbſt fünfundachtzig die Barbys ein¬ zogen, Comteſſe Armgard damals erſt zehnjährig. Frau Schickedanz ſelbſt war um jene Zeit noch in Trauer, weil ihr Gatte, der Verſicherungsſekretär, erſt im De¬ zember des voraufgegangenen Jahres geſtorben war, „ drei Tage vor Weihnachten “, ein Umſtand, auf den der Hilfsprediger, ein junger Kandidat, in ſeiner Leichenrede beſtändig hingewieſen und die gewollte Wirkung auch richtig erzielt hatte. Allerdings nur bei der Schickedanz151 ſelbſt und einigermaßen auch bei der Frau Hartwig, die während der ganzen Rede beſtändig mit dem Kopf genickt und nachträglich ihrem Manne bemerkt hatte: „ Ja, Hartwig, da liegt doch was drin. “ Hartwig ſelber indes, der, im Gegenſatz zu den meiſten ſeines Standes, humo¬ riſtiſch angeflogen war, hatte für die merkwürdige Fügung von „ drei Tage vor Weihnachten “nicht das geringſte Verſtändnis gezeigt, vielmehr nur die Bemerkung dafür gehabt: „ Ich weiß nicht, Mutter, was du dir eigentlich dabei denkſt? Ein Tag iſt wie der andre; mal muß man 'ran, “— worauf die Frau jedoch geantwortet hatte: „ Ja, Hartwig, das ſagſt du ſo immer; aber wenn du dran biſt, dann red'ſt du anders. “
Der verſtorbene Schickedanz hatte, wie der Tod ihn ankam, ein Leben hinter ſich, das ſich in zwei ſehr ver¬ ſchiedene Hälften, in eine ganz kleine unbedeutende und in eine ganz große teilte. Die unbedeutende Hälfte hatte lange gedauert, die große nur ganz kurz. Er war ein Ziegelſtreicherſohn aus dem bei Potsdam gelegenen Dorfe Kaputt, was er, als er aus dem dieſem Dorfnamen entſprechenden Zuſtande heraus war, in Geſellſchaft guter Freunde gern hervorhob. Es war ſo ziemlich der ein¬ zige Witz ſeines Lebens, an dem er aber zäh feſthielt, weil er ſah, daß er immer wieder wirkte. Manche gingen ſo weit, ihm den Witz auch noch moraliſch gutzuſchreiben und behaupteten: Schickedanz ſei nicht bloß ein Cha¬ rakter, ſondern auch eine beſcheidene Natur.
Ob dies zutraf, wer will es ſagen! Aber das war ſicher, daß er ſich von Anfang an als ein aufgeweckter Junge gezeigt hatte. Schon mit ſechzehn war er als Hilfsſchreiber in die deutſch-engliſche Hagelverſicherungs¬ geſellſchaft Pluvius eingetreten und hatte mit ſechsund¬ ſechzig ſein fünfzigjähriges Dienſtjubiläum in eben dieſer Geſellſchaft gefeiert. Das war aus beſtimmten Gründen ein großer Tag geweſen. Denn als Schickedanz ihn152 erlebte, hieß er nur noch ſo ganz obenhin „ Herr Ver¬ ſicherungsſekretär “, war aber in Wahrheit über dieſen ſeinen Titel weit hinausgewachſen und beſaß bereits das ſchöne Haus am Kronprinzenufer. Er hatte ſich das leiſten können, weil er im Laufe der letzten fünf Jahre zweimal hintereinander ein Viertel vom großen Loſe gewonnen hatte. Dies ſah er ſich allerſeits als perſön¬ liches Verdienſt angerechnet und auch wohl mit Recht. Denn arbeiten kann jeder, das große Los gewinnen kann nicht jeder. Und ſo blieb er denn bei der Verſicherungs¬ geſellſchaft lediglich nur noch als verhätſcheltes Zierſtück, weil es damals wie jetzt einen guten Eindruck machte, Perſonen der Art im Dienſt oder gar als Teilnehmer zu haben. An der Spitze muß immer ein Fürſt ſtehen. Und Schickedanz war jetzt Fürſt. Alles drängte ſich nicht bloß an ihn, ſondern ſeine Stammtiſchfreunde, die zu ſeiner zweimal bewährten Glückshand ein unbedingtes Vertrauen hatten, drangen ſogar eine Zeitlang in ihn, die Lotterieloſe für ſie zu ziehen. Aber keiner gewann, was ſchließlich einen Umſchlag ſchuf und einzelne von „ böſem Blick “und ſogar ganz unſinnigerweiſe von Mogelei ſprechen ließ. Die meiſten indeſſen hielten es für klug, ihr Übelwollen zurückzuhalten; war er doch immerhin ein Mann, der jedem, wenn er wollte, Deckung und Stütze geben konnte. Ja, Schickedanz 'Glück und Anſehen waren groß, am größten natürlich an ſeinem Jubiläumstage. Nicht zu glauben, wer da alles kam. Nur ein Orden kam nicht, was denn auch von einigen Schickedanzfanatikern ſehr mißliebig bemerkt wurde. Beſonders ſchmerzlich empfand es die Frau. „ Gott, er hat doch immer ſo treu gewählt, “ſagte ſie. Sie kam aber nicht in die Lage, ſich in dieſen Schmerz ein¬ zuleben, da ſchon die nächſten Zeiten beſtimmt waren, ihr Schwereres zu bringen. Am 21. September war das Jubiläum geweſen, am 21. Oktober erkrankte er,153 am 21. Dezember ſtarb er. Auf dem Notizenzettel, den man damals dem Kandidaten zugeſtellt hatte, hatte dieſer dreimal wiederkehrende „ einundzwanzigſte “gefehlt, was alles in allem wohl als ein Glück angeſehen werden konnte, weil, entgegengeſetztenfalls, die „ drei Tage vor Weihnachten “entweder gar nicht zu ſtande gekommen oder aber durch eine geteilte Herrſchaft in ihrer Wirkung abgeſchwächt worden wären.
Schickedanz war bei voller Beſinnung geſtorben. Er rief, kurz vor ſeinem Ende, ſeine Frau an ſein Bett und ſagte: „ Riekchen, ſei ruhig. Jeder muß. Ein Teſta¬ ment hab 'ich nicht gemacht. Es giebt doch bloß immer Zank und Streit. Auf meinem Schreibtiſch liegt ein Briefbogen, drauf hab' ich alles Nötige geſchrieben. Viel wichtiger iſt mir das mit dem Haus. Du mußt es behalten, damit die Leute ſagen können: ‚ Da wohnt Frau Schickedanz‘. Hausname, Straßenname, das iſt überhaupt das Beſte. Straßenname dauert noch länger als Denkmal. “
„ Gott, Schickedanz, ſprich nicht ſo viel; es ſtrengt dich an. Ich will es ja alles heilig halten, ſchon aus Liebe ... “
„ Das iſt recht, Riekchen. Ja, du warſt immer eine gute Frau, wenn wir auch keine Nachfolge gehabt haben. Aber darum bitte ich dich, vergiß nie, daß es meine Puppe war. Du darfſt bloß vornehme Leute nehmen; reiche Leute, die bloß reich ſind, nimm nicht; die quängeln bloß und ſchlagen große Haken in die Thürfüllung und hängen eine Schaukel dran. Überhaupt, wenn es ſein kann, keine Kinder. Hartwigen unten mußt du behalten; er iſt eigentlich ein Klugſchmus, aber die Frau iſt gut. Und der kleine Rudolf, mein Patenkind, wenn er ein Jahr alt wird, ſoll er hundert Thaler kriegen. Thaler, nicht Mark. Und der Schullehrer in Kaputt ſoll auch hundert Thaler kriegen. Der wird ſich wundern. Aber154 darauf freu 'ich mich ſchon. Und auf dem Invaliden¬ kirchhof will ich begraben ſein, wenn es irgend geht. Invalide iſt ja doch eigentlich jeder. Und Anno ſiebzig war ich doch auch mit Liebesgaben bis dicht an den Feind, trotzdem Luchterhand immer ſagte: ‚ Nicht ſo nah' ran‘. Sei freundlich gegen die Leute und nicht zu ſpar¬ ſam (du biſt ein bißchen zu ſparſam) und bewahre mir einen Platz in deinem Herzen. Denn treu warſt du, das ſagt mir eine innere Stimme. “
Dieſem allem hatte Riekchen ſeitdem gelebt. Die Beletage, die leer ſtand, als Schickedanz ſtarb, blieb noch drei Vierteljahre unbewohnt, trotzdem ſich viele Herrſchaften meldeten. Aber ſie deckten ſich nicht mit der Forderung, die Schickedanz vor ſeinem Hinſcheiden geſtellt hatte. Herbſt fünfundachtzig kamen dann die Barbys. Die kleine Frau ſah gleich „ ja, das ſind die, die mein Seliger gemeint hat. “ Und ſie hatte wirklich richtig gewählt. In den faſt zehn Jahren, die ſeitdem verfloſſen waren, war es auch nicht ein einziges Mal zu Konflikten gekommen, mit der gräflichen Familie ſchon gewiß nicht, aber auch kaum mit den Dienerſchaften. Ein perſönlicher Verkehr zwiſchen Erdgeſchoß und Beletage konnte natürlich nicht ſtattfinden, — Hartwig war einfach der alter ego, der mit Jeſerich alles Nötige durchzuſprechen hatte. Kam es aber aus¬ nahmsweiſe zwiſchen Wirtin und Mieter zu irgend einer Begegnung, ſo bewahrte dabei die kleine winzige Frau (die nie „ viel “war und ſeit ihres Mannes Tode noch immer weniger geworden war) eine merkwürdig gemeſſene Haltung, die jedem mit dem Berliner Weſen Unvertrauten eine Verwunderung abgenötigt haben würde. Riekchen empfand ſich nämlich in ſolchem Augenblicke durchaus als „ Macht gegen Macht “. Wie beinah jedem hierlandes Geborenen, war auch ihr die Gabe wirklichen Vergleichen¬ könnens völlig verſagt, weil jeder echte, mit Spreewaſſer getaufte Berliner, männlich oder weiblich, ſeinen Zuſtand155 nur an ſeiner eignen kleinen Vergangenheit, nie aber an der Welt draußen mißt, von der er, wenn er ganz echt iſt, weder eine Vorſtellung hat noch überhaupt haben will. Der autochthone „ Kellerwurm “, wenn er fünfzig Jahre ſpäter in eine Steglitzer Villa zieht, bildet — auch wenn er ſeiner Natur nach eigentlich der beſcheidenſte Menſch iſt — eine gewiſſe naive Kröſusvorſtellung in ſich aus und glaubt ganz ernſthaft, jenen Gold - und Silberkönigen zuzugehören, die die Welt regieren. So war auch die Schickedanz. Hinter einem Dachfenſter in der Georgen¬ kirchſtraße geboren, an welchem Dachfenſter ſie ſpäter für ein Weißzeuggeſchäft genäht hatte, kam ihr ihr Leben, wenn ſie rückblickte, wie ein Märchen vor, drin ſie die Rolle der Prinzeſſin ſpielte. Dementſprechend durchdrang ſie ſich, ſtill aber ſtark, mit einem Hochgefühl, das ſo¬ wohl Geld - wie Geburtsgrößen gegenüber auf Eben¬ bürtigkeit losſteuerte. Sie rangierte ſich ein und wies ſich, ſoweit ihre hiſtoriſche Kenntnis das zuließ, einen ganz beſtimmten Platz an: Fürſt Dolgorucki, Herzog von Devonſhire, Schickedanz.
Die Treue, die der Verſtorbene noch in ſeinen letzten Augenblicken ihr nachgerühmt hatte, ſteigerte ſich mehr und mehr zum Kult. Die Vormittagsſtunden jedes Tages gehörten dem hohen Paliſanderſchrank an, drin die Jubi¬ läumsgeſchenke wohlgeordnet ſtanden: ein großer Silber¬ pokal mit einem drachentötenden Sankt Georg auf dem Deckel, ein Album mit photographiſchen Aufnahmen aller Sehenswürdigkeiten von Kaputt, eine große Huldigungs¬ adreſſe mit Aquarellarabesken, mehrere Lieder in Pracht¬ druck (darunter ein Kegelklublied mit dem Refrain „ alle Neune “), Rieſenſträuße von Sonnenblumen, ein Dreiller mit dem eiſernen Kreuz und einem aufgehefteten Gedicht, von einem Damenkomitee herrührend, in deſſen Auftrag er, Schickedanz, die Liebesgaben bis vor Paris gebracht hatte. Neben dem Schrank, auf einer Ebenholzſäule,156 ſtand eine Gipsbüſte, Geſchenk eines dem Stammtiſch an¬ gehörigen Bildhauers, der darauf hin einen leider aus¬ gebliebenen Auftrag in Marmor erwartet hatte. Fauteuils und Stühle ſteckten in großblumigen Überzügen, des¬ gleichen der Kronleuchter in einem Gazemantel, und an den Frontfenſtern ſtanden, den ganzen Winter über, Mai¬ blumen. Riekchen trug auch Maiblumen auf jeder ihrer Hauben, war überhaupt, ſeit das Trauerjahr um war, immer hell gekleidet, wodurch ihre Geſtalt noch un¬ körperlicher wirkte. Jeden erſten Montag im Monat war allgemeines Reinmachen, auch bei Wind und Kälte. Dies war immer ein Tag größter Aufregung, weil jedesmal etwas zerbrochen oder umgeſtoßen wurde. Das blieb auch ſo durch Jahre hin, bis das Auftreten von Hedwig, die ſich einer ſehr geſchickten Hand erfreute, Wandel in dieſem Punkte ſchaffte. Die Nippſachen zerbrachen nun nicht mehr, und Riekchen war um ſo glücklicher darüber, als Hartwigs hübſche Nichte, wenn ſie mal wieder den Dienſt gekündigt hatte, regelmäßig allerlei davon zu er¬ zählen und mit immer neuen und oft ſehr intrikaten Ge¬ ſchichten ins Feld zu rücken wußte.
Die Barbys hatten alle Urſache, mit dem Schicke¬ danzſchen Hauſe zufrieden zu ſein. Nur eines ſtörte, das war, daß jeden Mittwoch und Sonnabend die Teppiche geklopft wurden, immer gerade zu der Stunde, wo der alte Graf ſeine Nachmittagsruhe halten wollte. Das ver¬ droß ihn eine Weile, bis er ſchließlich zu dem Ergebnis kam: „ Eigentlich bin ich doch ſelber ſchuld daran. Warum ſetz 'ich mich immer wieder in die Hinterſtube, ſtatt einfach vorn an mein Fenſter? Immer haſardier' ich wieder und denke: heute bleibt es vielleicht ruhig; willſt es doch noch mal verſuchen. “
Ja, der alte Graf war nicht bloß froh, die Wohnung zu haben, er hielt auch beinah abergläubiſch an ihr feſt. 157So lange er darin wohnte, war es ihm gut ergangen, nicht glänzender als früher, aber ſorgenloſer. Und das ſagte er ſich jeden neuen Tag.
Sein Leben, ſo bunt es geweſen, war trotzdem in gewiſſem Sinne durchſchnittsmäßig verlaufen, ganz ſo wie das Leben eines preußiſchen „ Magnaten “(worunter man in der Regel Schleſier verſteht; aber es giebt doch auch andre) zu verlaufen pflegt.
Im Juli dreißig, gerade als die Franzoſen Algier bombardierten und nebenher das Haus Bourbon end¬ gültig beſeitigten, war der Graf auf einem der an der mittleren Elbe gelegenen Barbyſchen Güter geboren worden. Auf eben dieſem Gute, — das landwirtſchaftlich einer von fremder Hand geführten Adminiſtration unterſtand, — vergingen ihm die Kinderjahre; mit zwölf kam er dann auf die Ritterakademie, mit achtzehn in das Regi¬ ment Gardeducorps, drin die Barbys ſtanden, ſolang es ein Regiment Gardeducorps gab. Mit dreißig war er Rittmeiſter und führte eine Schwadron. Aber nicht lange mehr. Auf einem in der Nähe von Potsdam veran¬ ſtalteten Kavalleriemanöver ſtürzte er unglücklich und brach den Oberſchenkel, unmittelbar unter der Hüfte. Leidlich geneſen, ging er nach Ragaz, um dort völlige Wieder¬ herſtellung zu ſuchen, und machte hier die Bekanntſchaft eines alten Freiherrn von Planta, der ihn alsbald auf ſeine Beſitzungen einlud. Weil dieſe ganz in der Nähe lagen, nahm er die Einladung nach Schloß Schuder an. Hier blieb er länger als erwartet, und als er das ſchön gelegene Bergſchloß wieder verließ, war er mit der Tochter und Erbin des Hauſes verlobt. Es war eine große Neigung, was ſie zuſammenführte. Die junge Freiin drang alsbald in ihn, den Dienſt zu quittieren, und er entſprach dem um ſo lieber, als er ſeiner völligen Wieder¬ herſtellung nicht ganz ſicher war. Er nahm alſo den Abſchied und trat aus dem militäriſchen in den diplo¬158 matiſchen Dienſt über, wozu ſeine Bildung, ſein Ver¬ mögen, ſeine geſellſchaftliche Stellung ihn gleichmäßig geeignet erſcheinen ließen. Noch im ſelben Jahre ging er nach London, erſt als Attaché, wurde dann Botſchafts¬ rat und blieb in dieſer Stellung zunächſt bis in die Tage der Aufrichtung des Deutſchen Reichs. Seine Beziehungen ſowohl zu der heimiſch-engliſchen wie zu der außer¬ engliſchen Ariſtokratie waren jederzeit die beſten, und ſein Freundſchaftsverhältnis zu Baron und Baronin Berchtes¬ gaden entſtammte jener Zeit. Er hing ſehr an London. Das engliſche Leben, an dem er manches, vor allem die geſchraubte Kirchlichkeit, beanſtandete, war ihm trotzdem außerordentlich ſympathiſch, und er hatte ſich daran ge¬ wöhnt, ſich als verwachſen damit anzuſehen. Auch ſeine Familie, die Frau und die zwei Töchter — beide, wenn auch in großem Abſtande, während der Londoner Tage geboren — teilten des Vaters Vorliebe für England und engliſches Leben. Aber ein harter Schlag warf alles um, was der Graf geplant: die Frau ſtarb plötzlich, und der Aufenthalt an der ihm ſo lieb gewordenen Stätte war ihm vergällt. Er nahm in der erſten Hälfte der 80er Jahre ſeine Demiſſion, ging zunächſt auf die Plantaſchen Güter nach Graubünden und dann weiter nach Süden, um ſich in Florenz ſeßhaft zu machen. Die Luft, die Kunſt, die Heiterkeit der Menſchen, alles that ihm hier wohl, und er fühlte, daß er genaß ſoweit er wieder ge¬ neſen konnte. Glückliche Tage brachen für ihn an, und ſein Glück ſchien ſich noch ſteigern zu ſollen, als ſich die ältere Tochter mit dem italieniſchen Grafen Ghiberti ver¬ lobte. Die Hochzeit folgte beinah unmittelbar. Aber die Fortdauer dieſer Ehe ſtellte ſich bald als eine Unmöglich¬ keit heraus, und ehe ein Jahr um war, war die Scheidung ausgeſprochen. Kurze Zeit danach kehrte der Graf nach Deutſchland zurück, das er, ſeit einem Vierteljahrhundert, immer nur flüchtig und beſuchsweiſe wiedergeſehen hatte. 159Sich auf das eine oder andre ſeiner Elbgüter zu begeben, widerſtand ihm auch jetzt noch, und ſo kam es, daß er ſich für Berlin entſchied. Er nahm Wohnung am Kron¬ prinzenufer und lebte hier ganz ſich, ſeinem Hauſe, ſeinen Töchtern. Von dem Verkehr mit der großen Welt hielt er ſich ſo weit wie möglich fern, und nur ein kleiner Kreis von Freunden, darunter auch die durch einen glück¬ lichen Zufall ebenfalls von London nach Berlin verſchlagenen Berchtesgadens waren, verſammelte ſich um ihn. Außer dieſen alten Freunden waren es vorzugsweiſe Hofprediger Frommel, Dr. Wrſchowitz und ſeit letztem Frühjahr auch Rittmeiſter von Stechlin, die den Barbyſchen Kreis bildeten. An Woldemar hatte man ſich raſch attachiert, und die freundlichen Gefühle, denen er bei dem alten Grafen ſo¬ wohl wie bei den Töchtern begegnete, wurden von allen Hausbewohnern geteilt. Selbſt die Hartwigs intereſſierten ſich für den Rittmeiſter, und wenn er abends an der Portier¬ loge vorüberkam, guckte Hedwig neugierig durch das Fenſter¬ chen und ſagte: „ So einen, — ja, das laſſ 'ich mir ge¬ fallen. “
Woldemar, als er ſich von den jungen Damen im Barbyſchen Hauſe verabſchiedet hatte, hatte verſprechen müſſen, ſeinen Beſuch recht bald zu wiederholen.
Aber was war „ recht bald “? Er rechnete hin und her und fand, daß der dritte Tag dem etwa entſprechen würde; das war „ recht bald “und doch auch wieder nicht zu früh. Und ſo ging er denn, als der Abend dieſes dritten Tages da war, auf die Halliſche Brücke zu, wartete hier die Ringbahn ab und fuhr, am Potsdamer - und Brandenburgerthor vorüber, bis an jene ſonderbare Reichs¬ tagsuferſtelle, wo, von mächtiger Giebelwand herab, ein wohl zwanzig Fuß hohes, rieſiges Kaffeemädchen mit einem ganz kleinen Häubchen auf dem Kopf freundlich auf die Welt der Vorübereilenden herniederblickt, um ihnen ein Paket Kneippſchen Malzkaffee zu präſentieren. An dieſer echt berliniſch-pittoresken Ecke ſtieg Woldemar ab, um die von hier aus nur noch kurze Strecke bis an das Kron¬ prinzenufer zu Fuß zurückzulegen.
Es war gegen acht, als er in dem Barbyſchen Hauſe die mit Teppich überdeckte Marmortreppe hinauf ſtieg und die Klingel zog. Im ſelben Augenblick, wo Jeſerich öffnete, ſah Woldemar an des Alten verlegenem Geſicht, daß die Damen aller Wahrſcheinlichkeit nach wieder nicht zu Hauſe waren. Aber eine Verſtimmung darüber durfte161 nicht aufkommen, und ſo ließ er es geſchehen, daß Jeſerich ihn bei dem alten Grafen meldete.
„ Der Herr Graf laſſen bitten. “
Und nun trat Woldemar in das Zimmer des wieder mal von Neuralgie Geplagten ein, der ihm, auf einen dicken Stock geſtützt, unter freundlichem Gruß entgegenkam.
„ Aber Herr Graf, “ſagte Woldemar und nahm des alten Herrn linken Arm, um ihn bis an ſeinen Lehnſtuhl und eine für den kranken Fuß zurechtgemachte Stellage zurückzuführen. „ Ich fürchte, daß ich ſtöre. “
„ Ganz im Gegenteil, lieber Stechlin. Mir hoch will¬ kommen. Außerdem hab 'ich ſtrikten Befehl, Sie, coûte que coûte, feſtzuhalten; Sie wiſſen, Damen ſind groß in Ahnungen, und bei Meluſine hat es ſchon geradezu was Prophetiſches. “
Woldemar lächelte.
„ Sie lächeln, lieber Stechlin, und haben recht. Denn daß ſie nun ſchließlich doch gegangen iſt (natürlich zu den Berchtesgadens), iſt ein Beweis, daß ſie ſich und ihrer Prophetie doch auch wieder einigermaßen mißtraute. Aber man iſt immer nur klug und weiſe für andre. Die Doktors machen es ebenſo; wenn ſie ſich ſelber behandeln ſollen, wälzen ſie die Verantwortung von ſich ab und ſterben lieber durch fremde Hand. Aber was ſprech 'ich nur immer von Meluſine. Freilich, wer in unſerm Hauſe ſo gut Beſcheid weiß wie Sie, wird nichts Überraſchliches darin finden. Und zugleich wiſſen Sie, wie's gemeint iſt. Armgard iſt übrigens in Sicht; keine zehn Minuten mehr, ſo werden wir ſie hier haben. “
„ Iſt ſie mit bei der Baronin? “
„ Nein, Sie dürfen ſie nicht ſo weit ſuchen. Armgard iſt in ihrem Zimmer, und Doktor Wrſchowitz iſt bei ihr. Es kann aber nicht lange mehr dauern. “
„ Aber ich bitte Sie, Herr Graf, iſt die Comteſſe krank? “
„ Gott ſei Dank, nein. Und Wrſchowitz iſt auch keinFontane, Der Stechlin. 11162Medizindoktor, ſondern ein Muſikdoktor. Sie haben von ihm rein zufällig noch nicht gehört, weil erſt vorige Woche, nach einer langen, langen Pauſe, die Muſikſtunden wieder aufgenommen wurden. Er iſt aber ſchon ſeit Jahr und Tag Armgards Lehrer. “
„ Muſikdoktor? Giebt es denn die? “
„ Lieber Stechlin, es giebt alles. Alſo natürlich auch das. Und ſo ſehr ich im ganzen gegen die Doktorhaſcherei bin, ſo liegt es hier doch ſo, daß ich dem armen Wrſcho¬ witz ſeinen Muſikdoktor gönnen oder doch mindeſtens ver¬ zeihen muß. Er hat den Titel auch noch nicht lange. “
„ Das klingt ja faſt wie 'ne Geſchichte. “
„ Trifft auch zu. Können Sie ſich denken, daß Wrſcho¬ witz aus einer Art Verzweiflung Doktor geworden iſt? “
„ Kaum. Und wenn kein Geheimnis ... “
„ Durchaus nicht; nur ein Kurioſum. Wrſchowitz hieß nämlich bis vor zwei Jahren, wo er als Klavierlehrer, aber als ein höherer (denn er hat auch eine Oper kom¬ poniert), in unſer Haus kam, einfach Niels Wrſchowitz, und er iſt bloß Doktor geworden, um den Niels auf ſeiner Viſitenkarte los zu werden. “
„ Und das iſt ihm auch geglückt? “
„ Ich glaube ja, wiewohl es immer noch vorkommt, daß ihn einzelne ganz wie früher Niels nennen, entweder aus Zufall oder auch wohl aus Schändlichkeit. In letzterem Falle ſind es immer Kollegen. Denn die Muſiker ſind die boshafteſten Menſchen. Meiſt denkt man, die Prediger und die Schauſpieler ſeien die ſchlimmſten. Aber weit gefehlt. Die Muſiker ſind ihnen über. Und ganz beſonders ſchlimm ſind die, die die ſogenannte heilige Muſik machen. “
„ Ich habe dergleichen auch ſchon gehört, “ſagte Wol¬ demar. „ Aber was iſt das nur mit Niels? Niels iſt doch an und für ſich ein hübſcher und ganz harmloſer Name. Nichts Anzügliches drin. “
163„ Gewiß nicht. Aber Wrſchowitz und Niels! Er litt, glaub’ ich, unter dieſem Gegenſatz. “
Woldemar lachte. „ Das kenn’ ich. Das kenn’ ich von meinem Vater her, der Dubslav heißt, was ihm auch immer höchſt unbequem war. Und da reichen wohl nicht hundertmal, daß ich ihn wegen dieſes Namens ſeinen Vater habe verklagen hören. “
„ Genau ſo hier, “fuhr der Graf in ſeiner Erzählung fort. „ Wrſchowitz’ Vater, ein kleiner Kapellmeiſter an der tſchechiſch-polniſchen Grenze, war ein Niels Gade-Schwärmer, woraufhin er ſeinen Jungen einfach Niels taufte. Das war nun wegen des Kontraſtes ſchon gerade bedenklich genug. Aber das eigentlich Bedenkliche kam doch erſt, als der allmählich ein ſcharfer Wagnerianer werdende Wrſcho¬ witz ſich zum direkten Niels Gade-Verächter ausbildete. Niels Gade war ihm der Inbegriff alles Trivialen und Unbedeutenden, und dazu kam noch, wie Amen in der Kirche, daß unſer junger Freund, wenn er als ‚ Niels Wrſchowitz‘ vorgeſtellt wurde, mit einer Art Sicherheit der Phraſe begegnete: ‚ Niels? Ah, Niels. Ein ſchöner Name innerhalb unſrer muſikaliſchen Welt. Und hoch er¬ freulich, ihn hier zum zweitenmale vertreten zu ſehen. ‘ All das konnte der arme Kerl auf die Dauer nicht aus¬ halten, und ſo kam er auf den Gedanken, den Vornamen auf ſeiner Karte durch einen Doktortitel weg zu eskamotieren. “
Woldemar nickte.
„ Jedenfalls, lieber Stechlin, erſehen Sie daraus zur Genüge, daß unſer Wrſchowitz, als richtiger Künſtler, in die Gruppe gens irrtabilis gehört, und wenn Armgard ihn vielleicht aufgefordert haben ſollte, zum Thee zu bleiben, ſo bitt 'ich Sie herzlich, dieſer Reizbarkeit eingedenk zu ſein. Wenn irgend möglich, vermeiden Sie Beziehungen auf die ganze ſkandinaviſche Welt, beſonders aber auf Dänemark direkt. Er wittert überall Verrat. Übrigens, wenn man auf ſeiner Hut iſt, iſt er ein feiner und gebildeter11*164Mann. Ich hab 'ihn eigentlich gern, weil er anders iſt wie andre. “
Der alte Graf behielt recht mit ſeiner Vermutung: Armgard hatte den Doktor Wrſchowitz aufgefordert zu bleiben, und als bald danach Jeſerich eintrat, um den Grafen und Woldemar zum Thee zu bitten, fanden dieſe beim Eintritt in das Mittelzimmer nicht nur Armgard, ſondern auch Wrſchowitz vor, der, die Finger ineinander gefaltet, mitten in dem Salon ſtand und die an der Büffettwand hängenden Bilder mit jenem eigentümlichen Miſchausdruck von aufrichtigem Gelangweiltſein und er¬ künſteltem Intereſſe muſterte. Der Rittmeiſter hatte dem Grafen wieder ſeinen Arm geboten; Armgard ging auf Woldemar zu und ſprach ihm ihre Freude aus, daß er gekommen; auch Meluſine werde gewiß bald da ſein; ſie habe noch zuletzt geſagt: „ Du ſollſt ſehen, heute kommt Stechlin. “ Danach wandte ſich die junge Comteſſe wieder Wrſchowitz zu, der ſich eben in das von Hubert Herkomer gemalte Bild der verſtorbenen Gräfin vertieft zu haben ſchien, und ſagte, gegenſeitig vorſtellend: „ Doktor Wrſcho¬ witz, Rittmeiſter von Stechlin. “ Woldemar, ſeiner In¬ ſtruktion eingedenk, verbeugte ſich ſehr artig, während Wrſchowitz, ziemlich ablehnend, ſeinem Geſicht den ſtolzen Doppelausdruck von Künſtler und Huſſiten gab.
Der alte Graf hatte mittlerweile Platz genommen, entſchuldigte ſich, mit der unglücklichen Stellage beſchwer¬ lich fallen zu müſſen, und bat die beiden Herren, ſich neben ihm niederzulaſſen, während Armgard, dem Vater gegenüber, an der andern Schmalſeite des Tiſches ſaß. Der alte Graf nahm ſeine Taſſe Thee, ſchob den Cognac, „ des Thees beſſren Teil, “mit einem humoriſtiſchen Seufzer beiſeit und ſagte, während er ſich links zu Wrſchowitz wandte: „ Wenn ich recht gehört habe, — ſo ein bißchen165 von muſikaliſchem Ohr iſt mir geblieben —, ſo war es Chopin, was Armgard zu Beginn der Stunde ſpielte ... “
Wrſchowitz verneigte ſich.
„ Chopin, für den ich eine Vorliebe habe, wie für alle Polen, vorausgeſetzt, daß ſie Muſikanten oder Dichter oder auch Wiſſenſchaftsmenſchen ſind. Als Politiker kann ich mich mit ihnen nicht befreunden. Aber vielleicht nur des¬ halb nicht, weil ich Deutſcher und ſogar Preuße bin. “
„ Sehr warr, ſehr warr, “ſagte Wrſchowitz, mehr geſinnungstüchtig als artig.
„ Ich darf ſagen, daß ich für polniſche Muſiker, von meinen früheſten Leutnantstagen an, eine ſchwärmeriſche Vorliebe gehabt habe. Da gab es unter anderm eine Polonaiſe von Oginski, die damals ſo regelmäßig und mit ſo viel Paſſion geſpielt wurde, wie ſpäter der Erl¬ könig oder die Glocken von Speier. Es war auch die Zeit vom ‚ Alten Feldherrn‘ und von ‚ Denkſt du daran, mein tapferer Lagienka‘. “
„ Jawohl, Herr Graff, eine ſchlechte Zeit. Und warr mir immerdarr eine beſondere Luſt zu ſehen, wie das Sentimentalle wieder fällt. Immer merr, immer merr. Ich haſſe das Sentimentalle de tout mon cœur. “
„ Worin ich, “ſagte Woldemar, „ Herrn Doktor Wrſcho¬ witz durchaus zuſtimme. Wir haben in der Poeſie genau dasſelbe. Da gab es auch dergleichen, und ich bekenne, daß ich als Knabe für ſolche Sentimentalitäten geſchwärmt habe. Meine beſondere Schwärmerei war ‚ König Renés Tochter‘ von Henrik Hertz, einem jungen Kopenhagener, wenn ich nicht irre ... “
Wrſchowitz verfärbte ſich, was Woldemar, als er es wahrnahm, zu ſofortigem raſchen Einlenken beſtimmte. „ ... König Renés Tochter, ein lyriſches Drama. Aber ſchon ſeit lange wieder vergeſſen. Wir ſtehen jetzt im Zeichen von Tolſtoj und der Kreuzerſonate. “
„ Sehr warr, ſehr warr, “ſagte der raſch wieder be¬166 ruhigte Wrſchowitz und nahm nur noch Veranlaſſung, energiſch gegen die Miſchung von Kunſt und Sektierer¬ tum zu proteſtieren.
Woldemar, großer Tolſtojſchwärmer, wollte für den ruſſiſchen Grafen eine Lanze brechen, aber Armgard, die, wenn derartige Themata berührt wurden, der Salon¬ fähigkeit ihres Freundes Wrſchowitz arg mißtraute, war ſofort aufrichtig bemüht, das Geſpräch auf harmloſere Gebiete hinüberzuſpielen. Als ein ſolches friedeverheißendes Gebiet erſchien ihr in dieſem Augenblicke ganz eminent die Grafſchaft Ruppin, aus deren abgelegenſter Nordoſt¬ ecke Woldemar eben wieder eingetroffen war, und ſo ſprach ſie denn gegen dieſen den Wunſch aus, ihn über ſeinen jüngſten Ausflug einen kurzen Bericht erſtatten zu ſehen. „ Ich weiß wohl, daß ich meiner Schweſter Meluſine (die voll Neugier und Verlangen iſt, auch davon zu hören) einen ſchlechten Dienſt damit leiſte; Herr von Stechlin wird es aber nicht verſchmähen, wenn meine Schweſter erſt wieder da iſt, darauf zurückzukommen. Es braucht ja, wenn man plaudert, nicht alles abſolut neu zu ſein. Man darf ſich wiederholen. Papa hat auch einzelnes, das er öfter erzählt.
„ Einzelnes? “lachte der alte Graf, „ meine Tochter Armgard meint ‚ vieles‘. “
„ Nein, Papa, ich meine einzelnes. Da giebt es denn doch ganz andre, zum Beiſpiel unſer guter Baron. Und die Baronin ſieht auch immer weg, wenn er anfängt. Aber laſſen wir den Baron und ſeine Geſchichten, und hören wir lieber von Herrn von Stechlins Ausfluge. Doktor Wrſchowitz teilt gewiß meinen Geſchmack. “
„ Teile vollkommen. “
„ Alſo, Herr von Stechlin, “fuhr Armgard fort. „ Sie haben nach dieſen Erklärungen unſers Freundes Wrſchowitz einen freundlichen Zuhörer mehr, vielleicht ſogar einen begeiſterten. Auch für Papa möcht ich mich167 verbürgen. Wir ſind ja eigentlich ſelber märkiſch oder doch beinah 'und wiſſen trotzdem ſo wenig davon, weil wir immer draußen waren. Ich kenne wohl Saatwinkel und den Grunewald, aber das eigentliche brandenburgiſche Land, das iſt doch noch etwas andres. Es ſoll alles ſo romantiſch ſein und ſo melancholiſch, Sand und Sumpf und im Waſſer ein paar Binſen oder eine Birke, dran das Laub zittert. Iſt Ihre Ruppiner Gegend auch ſo? “
„ Nein, Comteſſe, wir haben viel Wald und See, die ſogenannte mecklenburgiſche Seenplatte. “
„ Nun das iſt auch gut. Mecklenburg, wie mir die Berchtesgadens erſt neulich verſichert haben, hat auch ſeine Romantik. “
„ Sehr warr. Habe geleſen Stromtid und habe geleſen Franzoſentid ... “
„ Und dann glaub ich auch zu wiſſen, “fuhr Armgard fort, „ daß Sie Rheinsberg ganz in der Nähe haben. Iſt es richtig. Und kennen Sie's? Es ſoll ſo viel Intereſſantes bieten. Ich erinnere mich ſeiner aus meinen Kindertagen her, trotzdem wir damals in London lebten. Oder vielleicht auch gerade deshalb. Denn es war die Zeit, wo das Carlyleſche Buch über Friedrich den Großen immer noch in Mode war, und wo's zum Guten Ton g〈…〉〈…〉 ehörte, ſich nicht bloß um die Terraſſe von Sansſouci zu kümmern, ſondern auch um Rheinsberg[und] den Orden de la générosité. Lebt das alles noch da? Spricht das Volk noch davon? “
„ Nein, Comteſſe, das iſt alles fort. Und überhaupt, von dem großen König ſpricht im Rheinsbergiſchen niemand mehr, was auch kaum anders ſein kann. Der große König war als Kronprinz nur kurze Zeit da, ſein Bruder Heinrich aber fünfzig Jahre. Und ſo hat die Prinz - Heinrichzeit beklagenswerterweiſe die Kronprinzenzeit ganz erdrückt. Aber beklagenswert doch nicht in allem. Denn168 Prinz Heinrich war auch bedeutend und vor allem ſehr kritiſch. Was doch immer ein Vorzug iſt. “
„ Sehr warr, ſehr warr, “unterbrach hier Wrſchowitz. “
„ Er war ſehr kritiſch, “wiederholte Woldemar. „ Namentlich auch gegen ſeinen Bruder, den König. Und die Malcontenten, deren es auch damals ſchon die Hülle und Fülle gab, waren beſtändig um ihn herum. Und dabei kommt immer was heraus. “
„ Sehr warr, ſehr warr ... “
„ Denn zufriedene Hofleute ſind allemal öd und lang¬ weilig, aber die Frondeurs, wenn die den Mund auf¬ thun, da kann man was hören, da thut ſich einem was auf. “
„ Gewiß, “ſagte Armgard. Aber trotzdem, Herr von Stechlin, ich kann das Frondieren nicht leiden. Frondeur iſt doch immer nur der gewohnheitsmäßig Unzufriedene, und wer immer unzufrieden iſt, der taugt nichts. Immer Unzufriedene ſind dünkelhaft und oft boshaft dazu, und während ſie ſich über andre luſtig machen, laſſen ſie ſelber viel zu wünſchen übrig. “
„ Sehr warr, ſehr warr, gnädigſte Comteſſe, “ver¬ beugte ſich Wrſchowitz. „ Aber, wollen verzeihn, Comteſſe, wenn ich trotzdem bin für Frondeur. Frondeur iſt Krittikk, und wo Guttes ſein will, muß ſein Krittikk. Deutſche Kunſt viel Krittikk. Erſt muß ſein Kunſt, gewiß, gewiß, aber gleich danach muß ſein Krittikk. Krittikk iſt wie große Revolution. Kopf ab aus Prinzipp. Kunſt muß haben ein Prinzipp. Und wo Prinzipp is, is Kopf ab. “
Alles ſchwieg, ſo daß dem Grafen nichts übrig blieb, als etwas verſpätet ſeine halbe Zuſtimmung auszudrücken. Armgard ihrerſeits beeilte ſich, auf Rheinsberg zurückzu¬ kommen, das ihr trotz des fatalen Zwiſchenfalls mit „ Kopf ab “, im Vergleich zu vielleicht wiederkehrenden Muſik¬ geſprächen, immer noch als wenigſtens ein Nothafen erſchien.
169„ Ich glaube, “ſagte ſie, „ neben manchem andern auch mal von der Frauenfeindſchaft des Prinzen gehört zu habe. Er ſoll — irre ich mich, ſo werden Sie mich korrigieren — ein ſogenannter Miſogyne geweſen ſein. Etwas durchaus Krankhaftes in meinen Augen oder doch mindeſtens etwas ſehr Sonderbares. “
„ Sehr ſonderbarr, “ſagte Wrſchowitz, während ſich, unter huldigendem Hinblick auf Armgard, ſein Geſicht wie verklärte.
„ Wie gut, lieber Wrſchowitz, “fuhr Armgard fort, „ daß Sie, mein Wort beſtätigend, für uns arme Frauen und Mädchen eintreten. Es giebt immer noch Ritter, und wir ſind ihrer ſo ſehr benötigt. Denn wie mir Meluſine erzählt hat, ſind die Weiberfeinde ſogar ſtolz darauf, Weiberfeinde zu ſein, und behandeln ihr Denken und Thun als eine höhere Lebensform. Kennen Sie ſolche Leute, Herr von Stechlin? Und wenn Sie ſolche Leute kennen, wie denken Sie darüber? “
„ Ich betrachte ſie zunächſt als Unglückliche. “
„ Das iſt recht. “
„ Und zum zweiten als Kranke. Der Prinz, wie Comteſſe ſchon ganz richtig ausgeſprochen haben, war auch ein ſolcher Kranker. “
„ Und wie äußerte ſich das? Oder iſt es überhaupt nicht möglich, über das Thema zu ſprechen? “
„ Nicht ganz leicht, Comteſſe. Doch in Gegenwart des Herrn Grafen und nicht zu vergeſſen auch in Gegen¬ wart von Doktor Wrſchowitz, der ſo ſchön und ritterlich gegen die Miſogynität Partei genommen, unter ſolchem Beiſtande will ich es doch wagen. “
„ Nun, das[freut] mich. Denn ich brenne vor Neugier. “
„ Und will auch nicht länger ängſtlich um die Sache herumgehen. Unſer Rheinsberger Prinz war ein richtiger Prinz aus dem vorigen Jahrhundert. Die jetzigen ſind170 Menſchen; die damaligen waren nur Prinzen. Eine der Paſſionen unſers Rheinsberger Prinzen — wenn man will, in einer Art Gegenſatz von dem, was ſchon geſagt wurde — war eine geheimnisvolle Vorliebe für jungfräuliche Tote, beſonders Bräute. Wenn eine Braut im Rheinsbergiſchen, am liebſten auf dem Lande, geſtorben war, ſo lud er ſich zu dem Begräbnis zu Gaſt. Und eh 'der Geiſtliche noch da ſein konnte (den vermied er), er¬ ſchien er und ſtellte ſich an das Fußende des Sarges und ſtarrte die Tote an. Aber ſie mußte geſchminkt ſein und ausſehen wie das Leben. “
„ Aber das iſt ja ſchrecklich, “brach es beinahe leiden¬ ſchaftlich aus Armgard hervor. „ Ich mag dieſen Prinzen nicht und ſeine ganze Fronde nicht. Denn die müſſen ebenſo geweſen ſein. Das iſt ja Blasphemie, das iſt ja Gräberſchändung, — ich muß das Wort ausſprechen, weil ich ſo empört bin und nicht anders kann. “
Der alte Graf ſah die Tochter an, und ein Freuden¬ ſtrahl umleuchtete ſein gutes altes Geſicht. Auch Wrſcho¬ witz empfand ſo was von unbedingter Huldigung, bezwang ſich aber und ſah, ſtatt auf Armgard, auf das Bild der Gräfin-Mutter, das von der Wand niederblickte.
Nur Woldemar blieb ruhig und ſagte: „ Comteſſe, Sie gehen vielleicht zu weit. Wiſſen Sie, was in der Seele des Prinzen vorgegangen iſt? Es kann etwas In¬ fernales geweſen ſein, aber auch etwas ganz andres. Wir wiſſen es nicht. Und weil er nebenher unbedingt große Züge hatte, ſo bin ich dafür, ihm das in Rechnung zu ſtellen. “
„ Bravo, Stechlin, “ſagte der alte Graf. „ Ich war erſt Armgards Meinung. Aber Sie haben recht, wir wiſſen es nicht. Und ſo viel weiß ich noch von der Ju¬ riſterei her, in der ich, wohl oder übel, eine Gaſtrolle gab, daß man in zweifelhaften Fällen in favorem ent¬ ſcheiden muß. Übrigens geht eben die Klingel. An beſter171 Stelle wird ein Geſpräch immer unterbrochen. Es wird Meluſine ſein. Und ſo ſehr ich gewünſcht hätte, ſie wäre von Anfang an mit dabei geweſen, wenn ſie jetzt ſo mit einem Male dazwiſchen fährt, iſt ſelbſt Meluſine eine Störung. “
Es war wirklich Meluſine. Sie trat, ohne draußen abgelegt zu haben, ins Zimmer, warf das ſchottiſche Cape, das ſie trug, in eine Sofa-Ecke und ſchritt, während ſie noch den Hut aus dem Haare neſtelte, bis an den Tiſch, um hier zunächſt den Vater, dann aber die beiden andern Herren zu begrüßen. „ Ich ſeh 'euch ſo verlegen, woraus ich ſchließe, daß eben etwas Gefährliches geſagt worden iſt. Alſo etwas über mich. “
„ Aber, Meluſine, wie eitel. “
„ Nun, dann alſo nicht über mich. Aber über wen? Das wenigſtens will ich wiſſen. Von wem war die Rede? “
„ Vom Prinzen Heinrich. Aber von dem ganz alten, der ſchon faſt hundert Jahre tot iſt. “
„ Da konntet Ihr auch was Beſſeres thun. “
„ Wenn du wüßteſt, was uns Stechlin von ihm er¬ zählt hat, und daß er — nicht Stechlin, aber der Prinz — ein Miſogyne war, ſo würdeſt du vielleicht anders ſprechen. “
„ Miſogyne. Das freilich ändert die Sache. Ja, lieber Stechlin, da kann ich Ihnen nicht helfen, davon muß ich auch noch hören. Und wenn Sie mir's abſchlagen, ſo wenigſtens was Gleichwertiges. “
„ Gräfin Meluſine, was Gleichwertiges giebt es nicht. “
„ Das iſt gut, ſehr gut, weil es ſo wahr iſt. Aber dann bitt 'ich um etwas zweiten Ranges. Ich ſehe, daß Sie von Ihrem Ausfluge erzählt haben, von Ihrem Papa, von Schloß Stechlin ſelbſt oder von Ihrem Dorf und Ihrer Gegend. Und davon möcht' ich auch hören, wenn es auch freilich nicht an das andre heranreicht. “
„ Ach, Gräfin, Sie wiſſen nicht, wie beſcheiden es mit172 unſerm Stechliner Erdenwinkel beſtellt iſt. Wir haben da, von einem Paſtor abgeſehen, der beinah 'Sozialdemokrat iſt, und des weiteren von einem Oberförſter abgeſehen, der eine Prinzeſſin, eine Ippe-Büchſenſtein, geheiratet hat ... “
„ Aber das iſt ja alles großartig ... “
„ Wir haben da, von dieſen zwei Sehenswürdigkeiten abgeſehen, eigentlich nur noch den ‚ Stechlin‘. Der ginge vielleicht, über den ließe ſich vielleicht etwas ſagen. “
„ Den Stechlin? Was iſt das? Ich bin ſo glück¬ lich, zu wiſſen “(und ſie machte verbindlich eine Hand¬ bewegung auf Woldemar zu) „ ich bin ſo glücklich, zu wiſſen, daß es Stechline giebt. Aber der Stechlin! Was iſt der Stechlin? “
„ Das iſt ein See. “
„ Ein See. Das beſagt nicht viel. Seen, wenn es nicht grade der Vierwaldſtätter iſt, werden immer erſt inter¬ eſſant durch ihre Fiſche, durch Sterlet oder Felchen. Ich will nicht weiter aufzählen. Aber was hat der Stechlin? Ich vermute, Steckerlinge. “
„ Nein, Gräfin, die hat er nun gerade nicht. Er hat genau das, was Sie geneigt ſind am wenigſten zu ver¬ muten. Er hat Weltbeziehungen, vornehme, geheimnis¬ volle Beziehungen, und nur alles Gewöhnliche, wie bei¬ ſpielsweiſe Steckerlinge, hat er nicht. Steckerlinge fehlen ihm. “
„ Aber, Stechlin, Sie werden doch nicht den Empfind¬ lichen ſpielen. Rittmeiſter in der Garde! “
„ Nein, Gräfin. Und außerdem, den wollt 'ich ſehen, der das Ihnen gegenüber zuwege brächte. “
„ Nun dann alſo, was iſt es? Worin beſtehen ſeine vornehmen Beziehungen? “
„ Er ſteht mit den höchſten und allerhöchſten Herr¬ ſchaften, deren genealogiſcher Kalender noch über den Gothaiſchen hinauswächſt, auf du und du. Und wenn es173 in Java oder auf Island rumort oder der Geiſer mal in Doppelhöhe dampft und ſpringt, dann ſpringt auch in unſerm Stechlin ein Waſſerſtrahl auf, und einige (wenn es auch noch niemand geſehen hat), einige behaupten ſo¬ gar, in ganz ſchweren Fällen erſcheine zwiſchen den Strudeln ein roter Hahn und krähe hell und weckend in die Ruppiner Grafſchaft hinein. Ich nenne das vornehme Beziehungen. “
„ Ich auch, “ſagte Meluſine.
Wrſchowitz aber, deſſen Augen immer größer geworden waren, murmelte vor ſich hin: „ Sehr warr, ſehr warr. “
Es war zu Beginn der Woche, daß Woldemar ſeinen Beſuch im Barbyſchen Hauſe gemacht hatte. Schon am Mittwoch früh empfing er ein Billet von Meluſine.
„ Lieber Freund. Laſſen Sie mich Ihnen noch nach¬ träglich mein Bedauern ausſprechen, daß ich vorgeſtern nur gerade noch die letzte Scene des letzten Aktes (Ge¬ ſchichte vom Stechlin) mit erleben konnte. Mich verlangt es aber lebhaft, mehr davon zu wiſſen. In unſrer ſo¬ genannten großen Welt giebt es ſo wenig, was ſich zu ſehen und zu hören verlohnt; das meiſte hat ſich in die ſtillen Winkel der Erde zurückgezogen. Allen vorauf, wie mir ſcheint, in Ihre Stechliner Gegend. Ich wette, Sie haben uns noch über vieles zu berichten, und ich kann nur wiederholen, ich möchte davon hören. Unſre gute Baronin, der ich davon erzählt habe, denkt ebenſo; ſie hat den Zug aller naiven und liebenswürdigen Frauen, neugierig zu ſein. Ich, ohne die genannten Vorbedingungen zu erfüllen, bin ihr trotzdem an Neugier gleich. Und ſo haben wir denn eine Nachmittagspartie verabredet, bei der Sie der große Erzähler ſein ſollen. In der Regel freilich verläuft es anders wie gedacht, und man hört nicht das, was man hören wollte. Das darf uns aber in unſerm guten Vorhaben nicht hindern. Die Baronin hat mir etwas vorgeſchwärmt von einer Gegend, die ſie ‚ Oberſpree‘ nannte (die vielleicht auch wirklich ſo heißt),175 und wo's ſo ſchön ſein ſoll, daß ſich die Havelherrlich¬ keiten daneben verſtecken müſſen. Ich will es ihr glauben, und jedenfalls werd 'ich es ihr nachträglich verſichern, auch wenn ich es nicht gefunden haben ſollte. Das Ziel unſrer Fahrt — ein Punkt, den übrigens die Berchtes¬ gadens noch nicht kennen; ſie waren bisher immer erheb¬ lich weiter flußaufwärts — das Ziel unſrer Reiſe hat einen ziemlich ſonderbaren Namen und heißt das ‚ Eier¬ häuschen‘. Ich werde ſeitdem die Vorſtellung von etwas Ovalem nicht los und werde wohl erſt geheilt ſein, wenn ſich mir die ſo ſonderbar benamſte Spreeſchönheit perſön¬ lich vorgeſtellt haben wird. Alſo morgen, Donnerſtag: Eierhäuschen. Ein ‚ Nein‘ giebt es natürlich nicht. Ab¬ fahrt vier Uhr, Jannowitzbrücke. Papa begleitet uns; es geht ihm ſeit heut um vieles beſſer, ſo daß er ſich's zu¬ traut. Vielleicht iſt vier etwas ſpät; aber wir haben da¬ bei, wie mir Lizzi ſagt, den Vorteil, auf der Rückfahrt die Lichter im Waſſer ſich ſpiegeln zu ſehen. Und viel¬ leicht iſt auch irgendwo Feuerwerk, und wir ſehen dann die Raketen ſteigen. Armgard iſt in Aufregung, faſt auch ich. Au revoir. Eines Herrn Rittmeiſters wohlaffektionierte
Meluſine. “
Nun war der andre Nachmittag da, und kurz vor vier Uhr fuhren erſt die Berchtesgadens und gleich danach auch die Barbys bei der Jannowitzbrücke vor. Woldemar wartete ſchon. Alle waren in jener heitern Stimmung, in der man geneigt iſt, alles ſchön und reizend zu finden. Und dieſe Stimmung kam denn auch gleich der Dampf¬ ſchiffahrtsſtation zu ſtatten. Unter lachender Bewunderung der ſich hier darbietenden Holzarchitektur ſtieg man ein Gewirr von Stiegen und Treppen hinab und ſchritt, unten angekommen, an den um dieſe Stunde noch leeren Tiſchen eines hier etablierten „ Lokals “vorüber, unmittelbar auf176 das Schiff zu, deſſen Glocke ſchon zum erſtenmal geläutet hatte. Das Wetter war prachtvoll, flußaufwärts alles klar und ſonnig, während über der Stadt ein dünner Nebel[lag]. Zu beiden Seiten des Hinterdecks nahm man auf Stühlen und Bänken Platz und ſah von hier aus auf das verſchleierte Stadtbild zurück.
„ Da heißt es nun immer, “ſagte Meluſine, „ Berlin ſei ſo kirchenarm; aber wir werden bald Köln und Mainz aus dem Felde geſchlagen haben. Ich ſehe die Nikolai¬ kirche, die Petrikirche, die Waiſenkirche, die Schloßkuppel, und das Dach da, mit einer Art von chineſiſcher Deckel¬ mütze, das iſt, glaub 'ich, der Rathausturm. Aber freilich, ich weiß nicht, ob ich den mitrechnen darf. “
„ Turm iſt Turm, “ſagte die Baronin. „ Das fehlte ſo gerade noch, daß man dem armen alten Berlin auch ſeinen Rathausturm als Turm abſtritte. Man eiferſüchtelt ſchon genug. “
Und nun ſchlug es vier. Von der Parochialkirche her klang das Glockenſpiel, die Schiffsglocke läutete dazwiſchen, und als dieſe wieder ſchwieg, wurde das Brett aufgeklappt, und unter einem ſchrillen Pfiff ſetzte ſich der Dampfer auf das mittlere Brückenjoch zu in Be¬ wegung.
Oben, in Nähe der Jannowitzbrücke, hielten immer noch die beiden herrſchaftlichen Wagen, die's für ange¬ meſſen erachten mochten, ehe ſie ſelber aufbrachen, zuvor den Aufbruch des Schiffes abzuwarten, und erſt als dieſes unter der Brücke verſchwunden war, fuhr der gräflich Barbyſche Kutſcher neben den freiherrlich Berchtes¬ gadenſchen, um mit dieſem einen Gruß auszutauſchen. Beide kannten ſich ſeit lange, ſchon von London her, wo ſie bei denſelben Herrſchaften in Dienſt geſtanden hatten. In dieſem Punkte waren ſie ſich gleich, ſonſt aber ſo ver¬177 ſchieden wie nur möglich, auch ſchon in ihrer äußeren Erſcheinung. Imme, der Barbyſche Kutſcher, ein ebenſo martialiſch wie gutmütig dreinſchauender Mecklenburger, hätte mit ſeinem angegrauten Sappeurbart ohne weiteres vor eine Gardetruppe treten und den Zug als Tambour¬ major eröffnen können, während der Berchtesgadenſche, der ſeine Jugend als Trainer und halber Sportsmann zugebracht hatte, nicht bloß einen engliſchen Namen führte, ſondern auch ein typiſcher Engländer war, hager, ſehnig, kurz geſchoren und glatt raſiert. Seine Glotzaugen hatten etwas Stupides; er war aber trotzdem klug genug und wußte, wenn's galt, ſeinem Vorteil nachzugehen. Das Deutſche machte ihm noch immer Schwierigkeiten, trotzdem er ſich aufrichtige Mühe damit gab und ſogar das be¬ queme Zuhilfenehmen engliſcher Wörter vermied, am meiſten dann, wenn er ſich die Berlinerinnen ſeiner Be¬ kanntſchaft abquälen ſah, ihm mit „ well, well, Mr. Ro¬ binson “oder gar mit einem geheimnisvollen „ indeed “zu Hilfe zu kommen. Nur mit dem einen war er ein¬ verſtanden, daß man ihn „ Mr. Robinſon “nannte. Das ließ er ſich gefallen.
„ Now, Mr. Robinson, “ſagte Imme, als ſie Bock an Bock nebeneinander hielten, „ how are you? I hope quite well. “
„ Danke, Mr. Imme, danke! Was macht die Frau? “
„ Ja, Robinſon, da müſſen Sie, denk 'ich, ſelber nach¬ ſehen, und zwar gleich heute, wo die Herrſchaften fort ſind und erſt ſpät wiederkommen. Noch dazu mit der Stadtbahn. Wenigſtens von hier aus, Jannowitzbrücke. Sagen wir alſo neun; eher ſind ſie nicht zurück. Und bis dahin haben wir einen guten Skat. Hartwig als dritter wird ſchon kommen; Portiers können immer. Die Frau zieht ebenſo gut die Thür auf wie er, und weiter is es ja nichts. Alſo Klocker fünf: ein ‚ Nein‘ gilt nicht;Fontane, Der Stechlin. 12178where there is a will, there is a way. Ein bißchen is doch noch hängen geblieben von dear old England. “
„ Danke, Mr. Imme, “ſagte Robinſon, „ danke! Ja, Skat iſt das Beſte von all Germany. Komme gern. Skat iſt noch beſſer als Bayriſch. “
„ Hören Sie, Robinſon, ich weiß doch nicht, ob das ſtimmt. Ich denke mir, ſo beides zuſammen, das iſt das Wahre. That's it. “
Robinſon war einverſtanden, und da beide weiter nichts auf dem Herzen hatten, ſo brach man hier ab und ſchickte ſich an, die Rückfahrt in einem mäßig raſchen Trab anzutreten, wobei der Berchtesgadenſche Kutſcher den Weg über Molkenmarkt und Schloßplatz, der Barbyſche den auf die Neue Friedrichſtraße nahm. Jenſeits der Friedrichsbrücke hielt ſich dieſer dann dicht am Waſſer hin und kam ſo am bequemſten bis an ſein Kron¬ prinzenufer.
Der Dampfer, gleich nachdem er das Brückenjoch paſſiert hatte, ſetzte ſich in ein raſcheres Tempo, dabei die linke Flußſeite haltend, ſo daß immer nur eine geringe Entfernung zwiſchen dem Schiff und den ſich dicht am Ufer hinziehenden Stadtbahnbögen war. Jeder Bogen ſchuf den Rahmen für ein dahinter gelegenes Bild, das natürlich die Form einer Lunette hatte. Mauerwerk jeglicher Art, Schuppen, Zäune zogen in buntem Wechſel vorüber, aber in Front aller dieſer der Alltäglichkeit und der Arbeit dienenden Dinge zeigte ſich immer wieder ein Stück Gartenland, darin ein paar verſpätete Malven oder Sonnenblumen blühten. Erſt als man die zweitfolgende Brücke paſſiert hatte, traten die Stadtbahnbögen ſo weit zurück, daß von einer Ufereinfaſſung nicht mehr die Rede ſein konnte; ſtatt ihrer aber wurden jetzt Wieſen und pappelbeſetzte Wege ſichtbar, und wo das Ufer quaiartig179 abfiel, lagen mit Sand beladene Kähne, große Zillen, aus deren Innerem eine baggerartige Vorrichtung die Kies - und Sandmaſſen in die dicht am Ufer hin etablierten Kalkgruben ſchüttete. Es waren dies die Berliner Mörtel¬ werke, die hier die Herrſchaft behaupteten und das Ufer¬ bild beſtimmten.
Unſre Reiſenden ſprachen wenig, weil unter dem raſchen Wechſel der Bilder eine Frage die andre zurück¬ drängte. Nur als der Dampfer an Treptow vorüber zwiſchen den kleinen Inſeln hinfuhr, die hier mannigfach aus dem Fluß aufwachſen, wandte ſich Meluſine an Woldemar und ſagte: „ Lizzi hat mir erzählt, hier zwiſchen Treptow und Stralau ſei auch die ‚ Liebesinſel‘; da ſtürben immer die Liebespaare, meiſt mit einem Zettel in der Hand, drauf alles ſtünde. Trifft das zu? “
„ Ja, Gräfin, ſoviel ich weiß, trifft es zu. Solche Liebesinſeln giebt es übrigens vielfach in unſrer Gegend und kann als Beweis gelten, wie weitverbreitet der Zu¬ ſtand iſt, dem abgeholfen werden ſoll, und wenn's auch durch Sterben wäre. “
„ Das nehm 'ich Ihnen übel, daß Sie darüber ſpotten. Und Armgard wird es noch mehr thun, weil ſie gefühl¬ voller iſt als ich. Zudem ſollten ſie wiſſen, daß ſich ſo was rächt. “
„ Ich weiß es. Aber Sie leſen auch durchaus falſch in meiner Seele. Sicher haben Sie mal gehört, daß der, der Furcht hat, zu ſingen anfängt, und wer nicht ſingen kann, nun, der witzelt eben. Übrigens, ſo ſchön ‚ Liebes¬ inſel‘ klingt, der Zauber davon geht wieder verloren, wenn Sie ſich den Namen des Ganzen vergegenwärtigen. Die ſich ſo mächtig hier verbreiternde Spreefläche heißt nämlich der ‚ Rummelsburger‘ See. “
„ Freilich nicht hübſch; das kann ich zugeben. Aber die Stelle ſelbſt iſt ſchön, und Namen bedeuten nichts. “
12*180„ Wer Meluſine heißt, ſollte wiſſen, was Namen be¬ deuten. “
„ Ich weiß es leider. Denn es giebt Leute, die ſich vor ‚ Meluſine‘ fürchten. “
„ Was immer eine Dummheit, aber doch viel mehr noch eine Huldigung iſt. “
Unter dieſem Geſpräche waren ſie bis über die Breitung der Spree hinaus gekommen und fuhren wieder in das ſchmaler werdende Flußbett ein. An beiden Ufern hörten die Häuſerreihen auf, ſich in dünnen Zeilen hin¬ zuziehen, Baumgruppen traten in nächſter Nähe dafür ein, und weiter landeinwärts wurden aufgeſchüttete Bahn¬ dämme ſichtbar, über die hinweg die Telegraphenſtangen ragten und ihre Drähte von Pfahl zu Pfahl ſpannten. Hie und da, bis ziemlich weit in den Fluß hinein, ſtand ein Schilfgürtel, aus deſſen Dickicht vereinzelte Krickenten aufflogen.
„ Es iſt doch weiter, als ich dachte, “ſagte Meluſine. „ Wir ſind ja ſchon wie in halber Einſamkeit. Und da¬ bei wird es friſch. Ein Glück, daß wir Decken mitge¬ nommen. Denn wir bleiben doch wohl im Freien? Oder giebt es auch Zimmer da? Freilich kann ich mir kaum denken, daß wir zu ſechs in einem Eierhäuschen Platz haben. “
„ Ach, Frau Gräfin, ich ſehe, Sie rechnen auf etwas extrem Idylliſches und erwarten, wenn wir angelangt ſein werden, einen Miſchling von Kioſk und Hütte. Da harrt Ihrer aber eine grauſame Enttäuſchung. Das Eierhäuschen iſt ein ſogenanntes ‚ Lokal‘, und wenn uns die Luſt anwandelt, ſo können wir da tanzen oder eine Volksverſammlung abhalten. Raum genug iſt da. Sehen Sie, das Schiff wendet ſich ſchon, und der rote Bau da, der zwiſchen den Pappelweiden mit Turm und Erker ſichtbar wird, das iſt das Eierhäuschen. “
„ O weh! Ein Palazzo, “ſagte die Baronin und war181 auf dem Punkt, ihrer Mißſtimmung einen Ausdruck zu geben. Aber ehe ſie dazu kam, ſchob ſich das Schiff ſchon an den vorgebauten Anlegeſteg, über den hinweg man, einen Uferweg einſchlagend, auf das Eierhäuschen zu¬ ſchritt. Dieſer Uferweg ſetzte ſich, als man das Garten¬ lokal endlich erreicht hatte, jenſeits desſelben noch eine gute Strecke fort, und weil die wundervolle Friſche dazu einlud, beſchloß man, ehe man ſich im „ Eierhäuschen “ſelber niederließ, zuvor noch einen gemeinſchaftlichen Spaziergang am Ufer hin zu machen. Immer weiter flu߬ aufwärts.
Der Enge des Weges halber ging man zu zweien, vorauf Woldemar mit Meluſine, dann die Baronin mit Armgard. Erheblich zurück erſt folgten die beiden älteren Herren, die ſchon auf dem Dampfſchiff ein politiſches Geſpräch angeſchnitten hatten. Beide waren liberal, aber der Umſtand, daß der Baron ein Bayer und unter katho¬ liſchen Anſchauungen aufgewachſen war, ließ doch beſtändig Unterſchiede hervortreten.
„ Ich kann Ihnen nicht zuſtimmen, lieber Graf. Alle Trümpfe heut, und zwar mehr denn je, ſind in des Papſtes Hand. Rom iſt ewig und Italien nicht ſo feſt aufgebaut, als es die Welt glauben machen möchte. Der Quirinal zieht wieder aus, und der Vatikan zieht wieder ein. Und was dann? “
„ Nichts, lieber Baron. Auch dann nicht, wenn es wirklich dazu kommen ſollte, was, glaub 'ich, ausge¬ ſchloſſen iſt. “
„ Sie ſagen das ſo ruhig, und ruhig iſt man nur, wenn man ſicher iſt. Sind Sie's? Und wenn Sie's ſind, dürfen Sie's ſein? Ich wiederhole, die letzten Entſcheidungen liegen immer bei dieſer Papſt - und Rom-Frage. “
„ Lagen einmal. Aber damit iſt es gründlich vorbei, auch in Italien ſelbſt. Die letzten Entſcheidungen, von denen Sie ſprechen, liegen heutzutage ganz wo anders,182 und es ſind bloß ein paar Ihrer Zeitungen, die nicht müde werden, der Welt das Gegenteil zu verſichern. Alles bloße Nachklänge. Das moderne Leben räumt erbarmungs¬ los mit all dem Überkommenen auf. Ob es glückt, ein Nilreich aufzurichten, ob Japan ein England im Stillen Ozean wird, ob China mit ſeinen vierhundert Millionen aus dem Schlaf aufwacht und, ſeine Hand erhebend, uns und der Welt zuruft: „ Hier bin ich “, allem vorauf aber, ob ſich der vierte Stand etabliert und ſtabiliert (denn darauf läuft doch in ihrem vernünftigen Kern die ganze Sache hinaus) — das alles fällt ganz anders ins Gewicht als die Frage „ Quirinal oder Vatikan “. Es hat ſich über¬ lebt. Und anſtaunenswert iſt nur das eine, daß es über¬ haupt noch ſo weiter geht. Das iſt der Wunder größtes. “
„ Und das ſagen Sie, der Sie zeitweilig den Dingen ſo nahe geſtanden? “
„ Weil ich ihnen ſo nahe geſtanden. “
Auch die beiden voranſchreitenden Paare waren in lebhaftem Geſpräch.
An dem ſchon in Dämmerung liegenden öſtlichen Horizont ſtiegen die Fabrikſchornſteine von Spindlersfelde vor ihnen auf, und die Rauchfahnen zogen in langſamem Zuge durch die Luft.
„ Was iſt das? “fragte die Baronin, ſich an Wolde¬ mar wendend.
„ Das iſt Spindlersfelde. “
„ Kenn ich nicht. “
„ Doch vielleicht, gnädigſte Frau, wenn Sie hören, daß in eben dieſem Spindlersfelde der für die weibliche Welt ſo wichtige Spindler ſeine geheimnisvollen Künſte treibt. Beſſer noch ſeine verſchwiegenen. Denn unſre Damen bekennen ſich nicht gern dazu. “
183„ So, der! Ja, dieſer unſer Wohlthäter, den wir — Sie haben ganz recht — in unſerm Undank ſo gern unter¬ ſchlagen. Aber dies Unterſchlagen hat doch auch wieder ſein Verzeihliches. Wir thun jetzt (leider) ſo vieles, was wir, nach einer alten Anſchauung, eigentlich nicht thun ſollten. Es iſt, mein 'ich, nicht paſſend, auf einem Pferde¬ bahnperron zu ſtehen, zwiſchen einem Schaffner und einer Kiepenfrau, und es iſt noch weniger paſſend, in einem Fünfzigpfennigbazar allerhand Einkäufe zu machen und an der ſich dabei aufdrängenden Frage: ‚ Wodurch ermög¬ lichen ſich dieſe Preiſe?‘ ſtill vorbeizugehen. Unſer Freund in Spindlersfelde da drüben degradiert uns vielleicht auch durch das, was er ſo hilfreich für uns thut. Armgard, wie denken Sie darüber? “
„ Ganz wie Sie, Baronin. “
„ Und Meluſine? “
Dieſe gab kopfſchüttelnd die Frage weiter und drang darauf, daß die beiden älteren Herren, die mittlerweile herangekommen waren, den Ausſchlag geben ſollten. Aber der alte Graf wollte davon nichts wiſſen. „ Das ſind Doktorfragen. Auf derlei Dinge laſſ 'ich mich nicht ein. Ich ſchlage vor, wir machen lieber Kehrt und ſuchen uns im ‚ Eierhäuschen‘ einen hübſchen Platz, von dem aus wir das Leben auf dem Fluß beobachten und hoffentlich auch den Sonnenuntergang gut ſehen können. “
Ziemlich um dieſelbe Stunde, wo die Barbyſchen und Berchtesgadenſchen Herrſchaften ihren Spaziergang auf Spindlersfelde zu machten, erſchien unſer Freund Mr. Robinſon, von ſeinem Stallgebäude her, in Front der Lennéſtraße, ſah erſt gewohnheitsmäßig nach dem Wetter und ging dann quer durch den Tiergarten auf das Kron¬ prinzenufer zu, wo die Immes ihn bereits erwarteten.
184Frau Imme, die, wie die meiſten kinderloſen Frauen (und Frauen mit Sappeurbartmännern ſind faſt immer kinderlos), einen großen Wirtſchafts - und Sauberkeitsſinn hatte, hatte zu Mr. Robinſons Empfang alles in die ſchönſte Ordnung gebracht, um ſo mehr, als ſie wußte, daß ihr Gaſt, als ein verwöhnter Engländer, immer der Neigung nachgab, alles Deutſche, wenn auch nur an¬ deutungsweiſe, zu bemängeln. Es lag ihr daran, ihn fühlen zu laſſen, daß man's hier auch verſtehe. So war denn von ihr nicht bloß eine wundervolle Kaffeeſerviette, ſondern auch eine ſilberne Zuckerdoſe mit Streußelkuchen¬ tellern links und rechts aufgeſtellt worden. Frau Imme konnte das alles und noch mehr infolge der bevorzugten Stellung, die ſie von langer Zeit her bei den Barbys ein¬ nahm, zu denen ſie ſchon als fünfzehnjähriges junges Ding gekommen und in deren Dienſt ſie bis zu ihrer Verheiratung geblieben war. Auch jetzt noch hingen beide Damen an ihr, und mit Hilfe Lizzis, die, ſo diskret ſie war, doch gerne plauderte, war Frau Imme jederzeit über alles unterrichtet, was im Vorderhauſe vorging. Daß der Rittmeiſter ſich für die Damen intereſſierte, wußte ſie natürlich wie jeder andre, nur nicht — auch darin wie jeder andre —, für welche.
Ja, für welche?
Das war die große Frage, ſelbſt für Mr. Robinſon, der regelmäßig, wenn er die Immes ſah, ſich danach er¬ kundigte. Dazu kam es denn auch heute wieder und zwar ſehr bald nach ſeinem Eintreffen.
Eine große Familientaſſe mit einem in Front eines Tempels den Bogen ſpannenden Amor war vor ihn hingeſtellt worden, und als er dem Streußelkuchen (für den er eine ſo große Vorliebe hatte, daß er regelmäßig erklärte, ſowas gäb 'es in den vereinigten drei König¬ reichen nicht) — als er dem Streußel liebevoll und doch auch wieder maßvoll zugeſprochen hatte, betrachtete er das185 Bild auf der großen Taſſe, zeigte, was bei ſeiner Augen¬ beſchaffenheit etwas Komiſches hatte, ſchelmiſch lächelnd auf den bogenſpannenden Amor und ſagte: „ Hier hinten ein Tempel und hier vorn ein Lorbeerbuſch. Und hier this little fellow with his arrow. Ich möchte mir die Frage geſtatten — Sie ſind eine ſo kluge Frau, Frau Imme —: wird er den Pfeil fliegen laſſen oder nicht, und wenn er den Pfeil fliegen läßt, iſt es die Prieſterin, die hier neben dem Lorbeer ſteht, oder iſt es eine andre? “
„ Ja, Mr. Robinſon, “ſagte Frau Imme, „ darauf iſt ſchwer zu antworten. Denn erſtens wiſſen wir nicht, was er überhaupt vorhat, und dann wiſſen wir auch nicht: wer iſt die Prieſterin? Iſt die Comteſſe die Prieſterin, oder iſt die Gräfin die Prieſterin? Ich glaube, wer ſchon verheiratet war, kann wohl eigentlich nicht Prieſterin ſein. “
„ Ach, “ſagte Imme, in dem ſich der naturwüchſige Mecklenburger regte, „ ſein kann alles. Über ſo was wächſt Gras. Ich glaube, es is die Gräfin. “
Robinſon nickte. „ Glaub 'ich auch. And what's the reason, dear Mrs. Imme? Weil Witib vor Jungfrau geht. Ich weiß wohl, es iſt immer viel die Rede von virginity, aber widow iſt mehr als virgin. “
Frau Imme, die nur halb verſtanden hatte, verſtand doch genug, um zu kichern, was ſie übrigens ſittſam mit der Bemerkung begleitete, ſie habe ſo was von Mr. Robinſon nicht geglaubt.
Robinſon nahm es als Huldigung und trat, nachdem er ſich mit Erlaubnis der „ Lady “ein kurzes Pfeifchen mit türkiſchem Tabak angeſteckt hatte, an ein Fenſterchen, in deſſen mit einer kleinen Laubſäge gemachten Blumen¬ kaſten rote Verbenen blühten, und ſagte, während er auf den Hof mit ſeinen drei Akazienbäumen herunterblickte:186 „ Wer iſt denn der hübſche Junge da, der da mit ſeinem hoop ſpielt? Hier ſagen ſie Reifen. “
„ Das is ja Hartwigs Rudolf, “ſagte Frau Imme. „ Ja, der Junge hat viel Chic. Und wie er da mit dem Reifen ſpielt und die Hedwig immer hinter ihm her, wie¬ wohl ſie doch beinahe ſeine Mutter ſein könnte. Na, ich freue mich immer, wenn ich ausgelaſſene Menſchen ſehe, und wenn Hartwig kommt — ich wundere mich bloß, daß er noch nicht da iſt —, da können Sie ihm ja ſagen, wie hübſch Sie die verwöhnte kleine Range finden. Das wird ihn freuen; er iſt furchtbar eitel. Alle Portiers¬ leute ſind eitel. Aber das muß wahr ſein, es iſt ein reizender Junge. “
Während ſie noch ſo ſprachen, erſchien Hartwig, auf den Imme, ſkatdurſtig, ſchon ſeit einer Viertelſtunde ge¬ wartet hatte, und keine drei[Minuten] mehr, ſo war auch Hedwig da, die ſich bis kurz vorher mit ihrem kleinen Couſin Rudolf in dem Hof unten abgeäſchert hatte. Beide wurden mit gleicher Herzlichkeit empfangen, Hartwig, weil nach ſeinem Erſcheinen die Skatpartie beginnen konnte, Hedwig, weil Frau Imme nun gute Geſellſchaft hatte. Denn Hedwig konnte wundervoll erzählen und brachte jedesmal Neuigkeiten mit. Sie mochte vierundzwanzig ſein, war immer ſehr ſauber gekleidet und von heiter¬ übermütigem Geſichtsausdruck. Dazu krauſes, kaſtanien¬ braunes Haar. Es traf ſich, daß ſie mal wieder außer Dienſt war.
„ Nun, das iſt recht, Hedwig, daß du kommſt, “ſagte Frau Imme. „ Rudolfen hab 'ich eben erſt gefragt, wo du geblieben wärſt, denn ich habe dich ja mit ihm ſpielen ſehen; aber ſolch Junge weiß nie was; der denkt bloß immer an ſich, und ob er ſein Stück Kuchen kriegt. Na, wenn er kommt, er ſoll's haben; Robinſon ißt immer ſo wenig, wiewohl er den Streußel ungeheuer gern mag. Aber ſo ſind die Engländer, ſie ſind nicht ſo zugreifſch,187 und dann geniert ſich mein Imme auch, und die Hälfte bleibt übrig. Na, jedenfalls is es nett, daß du wieder da biſt. Ich habe dich ja ſeit deinem letzten Dienſt noch gar nicht ordentlich geſehen. Es war ja wohl' ne Hof¬ rätin? Na, Hofrätinnen, die kenn 'ich. Aber es giebt auch gute. Wie war er denn?
„ Na, mit ihm ging es. “
„ Deine krauſen Haare werden wohl wieder ſchuld ſein. Die können manche nicht vertragen. Und wenn dann die Frau was merkt, dann is es vorbei. “
„ Nein, ſo war es nicht. Er war ein ſehr anſtändiger Mann. Beinahe zu ſehr. “
„ Aber, Kind, wie kannſt du nur ſo was ſagen? Wie kann einer zu anſtändig ſein? “
„ Ja, Frau Imme. Wenn einen einer gar nicht an¬ ſieht, das is einem auch nicht recht. “
„ Ach, Hedwig, was du da bloß ſo red'ſt! Und wenn ich nich wüßte, daß du gar nich ſo biſt ... Aber was war es denn? “
„ Ja, Frau Imme, was ſoll ich ſagen, was es war; es is ja immer wieder dasſelbe. Die Herrſchaften können einen nich richtig unterbringen. Oder wollen auch nich. Immer wieder die Schlafſtelle oder, wie manche hier ſagen, die Schlafgelegenheit. “
„ Aber, Kind, wie denn? Du mußt doch 'ne Ge¬ legenheit zum Schlafen haben. “
„ Gewiß, Frau Imme. Und 'ne Gelegenheit, ſo denkt mancher, is' ne Gelegenheit. Aber gerade die, die hat man nich. Man iſt müde zum Umfallen und kann doch nicht ſchlafen. “
„ Verſteh 'ich nich. “
„ Ja, Frau Imme, das macht, weil Sie von Kindes¬ beinen an immer bei ſo gute Herrſchaften waren, und mit Lizzi is es jetzt wieder ebenſo. Die hat es auch gut un is, wie wenn ſie mit dazu gehörte. Meine188 Tante Hartwig erzählt mir immer davon. Und einmal hab 'ich es auch ſo gut getroffen. Aber bloß das eine Mal. Sonſt fehlt eben immer die Schlafgelegenheit. “
Frau Imme lachte.
„ Sie lachen darüber, Frau Imme. Das is aber nich recht, daß Sie lachen. Glauben Sie mir, es is eigentlich zum Weinen. Und mitunter hab 'ich auch ſchon geweint. Als ich nach Berlin kam, da gab es ja noch die Hängeböden. “
„ Kenn 'ich, kenn' ich; das heißt, ich habe davon gehört. “
„ Ja, wenn man davon gehört hat, das is nich viel. Man muß ſie richtig kennen lernen. Immer ſind ſie in der Küche, mitunter dicht am Herd oder auch gerade gegenüber. Und nun ſteigt man auf eine Leiter, und wenn man müde is, kann man auch 'runter fallen. Aber meiſtens geht es. Und nun macht man die Thür auf und ſchiebt ſich in das Loch hinein, ganz ſo wie in einen Backofen. Das is, was ſie' ne Schlafgelegenheit nennen. Und ich kann Ihnen bloß ſagen: auf einem Heuboden is es beſſer, auch wenn Mäuſe da ſind. Und am ſchlimmſten is es im Sommer. Draußen ſind dreißig Grad, und auf dem Herd war den ganzen Tag Feuer; da is es denn, als ob man auf den Roſt gelegt würde. So war es, als ich nach Berlin kam. Aber ich glaube, ſie dürfen jetzt ſo was nich mehr bauen. Polizeiverbot. Ach, Frau Imme, die Polizei is doch ein rechter Segen. Wenn wir die Polizei nich hätten (und ſie ſind auch immer ſo artig gegen einen), ſo hätten wir gar nichts. Mein Onkel Hartwig, wenn ich ihm ſo erzähle, daß man nicht ſchlafen kann, der ſagt auch immer: ‚ Kenn 'ich, kenn' ich; der Bourgeois thut nichts für die Menſchheit. Und wer nichts für die Menſchheit thut, der muß abgeſchafft werden. ‘“
189„ Ja, dein Onkel ſpricht ſo. Und war es denn bei deinem Hofrat, wo du nu zuletzt warſt, auch ſo? “
„ Nein, bei Hofrats war es nicht ſo. Die wohnten ja auch in einem ganz neuen Hauſe. Hofrats waren Trockenwohner. Und in dem, was jetzt die neuen Häuſer ſind, da kommen, glaub 'ich, die Hängeböden gar nicht mehr vor; da haben ſie bloß noch die Badeſtuben. “
„ Nu, das is aber doch ein Fortſchritt. “
„ Ja, das kann man ſagen; Badeſtube als Badeſtube iſt ein Fortſchritt oder, wie Onkel Hartwig immer ſagt, ein Kulturfortſchritt. Er hat meiſtens ſolche Wörter. Aber Badeſtube als Schlafgelegenheit is kein Fortſchritt. “
„ Gott, Kind, ſie werden dich aber doch nich in eine Badewanne gepackt haben? “
„ I bewahre. Das thun ſie ſchon der Badewanne wegen nich. Da werden ſie ſich hüten. Aber ... Ach, Frau Imme, ich kann nur immer wieder ſagen, Sie wiſſen nich Beſcheid; Sie hatten es gut, wie Sie noch unverheiratet waren, und nu haben Sie's erſt recht gut. Sie wohnen hier wie in einer kleinen Sommerwohnung, un daß es ein bißchen nach Pferde riecht, das ſchadet nich; das Pferd is ein feines und reinliches Tier, und all ſeine Verrichtungen ſind ſo edel. Man ſagt ja auch: das edle Pferd. Und außerdem ſoll es ſo geſund ſein, faſt ſo gut wie Kuhſtall, womit ſie ja die Schwindſucht kurieren. Und dazu haben Sie hier den Blick auf die Kugelakazien und drüben auf das Marinepanorama, wo man ſehen kann, wie alles is, und dahinter haben Sie den Blick auf die Kunſtausſtellung, wo es ſo furchtbar zieht, bloß damit man immer friſche Luft hat. Aber bei Hofrats ... Nein, dieſe Badeſtube! “
„ Gott, Hedwig, “ſagte Frau Imme, „ du thuſt ja, wie wenn es eine Mördergrube oder ein Verbrecherkeller ge¬ weſen wäre. “
190„ Verbrecherkeller? Ach, Frau Imme, das is ja gar¬ nichts. Ich habe Verbrecherkeller geſehen, natürlich bloß zufällig. Da trinken ſie Weißbier und ſpielen Sechsund¬ ſechzig. Und in einer Ecke wird was ausbaldowert, aber davon merkt man nichts. “
„ Und die Badeſtube ... warum is ſie dir denn ſo furchtbar, daß du dich ordentlich ſchudderſt? Der Menſch muß doch am Ende baden können. “
„ Ach was, baden! natürlich. Aber 'ne Badeſtube is nie' ne Badeſtube. Wenigſtens hier nicht. Eine Bade¬ ſtube is 'ne Rumpelkammer, wo man alles unterbringt, alles, wofür man ſonſt keinen Platz hat. Und dazu ge¬ hört auch ein Dienſtmädchen. Meine eiſerne Bettſtelle, die abends aufgeklappt wurde, ſtand immer neben der Badewanne, drin alle alten Bier - und Weinflaſchen lagen. Und nun drippten die Neigen aus. Und in der Ecke ſtand ein Bettſack, drin die Fräuleins ihre Wäſche hinein ſtopften, und in der andern Ecke war eine kleine Thür. Aber davon will ich zu Ihnen nicht ſprechen, weil ich einen Widerwillen gegen Unanſtändigkeiten habe, weshalb ſchon meine Mutter immer ſagte: ‚ Hedwig, du wirſt noch Jeſum Chriſtum erkennen lernen. ‘ Und ich muß ſagen, das hat ſich bei Hofrats denn auch erfüllt. Aber fromm waren ſie weiter nich. “
Während Hedwig noch ſo weiter klagte, hörte man, daß draußen die Klingel ging, und als Frau Imme öffnete, ſtand Rudolf auf dem kleinen Flur und ſagte, daß er Vatern holen ſolle und Hedwigen auch; Mutter müſſe weg.
„ Na, “ſagte Frau Imme, „ dann komm nur, Rudolf, un iß erſt ein Stück Streußel und beſtell es nachher bei deinem Vater. “
Bald danach nahm ſie denn auch den Jungen bei der Hand und führte ihn in das Nebenzimmer, wo die drei Männer vergnügt an ihrem Skattiſch ſaßen. Ein191 großes Spiel war eben gemacht; alles noch in Auf¬ regung.
Robinſon, als er Rudolfen ſah, nickte ihm zu und ſagte zu Imme: „ Das is ja der hübſche Junge, den ich vorhin auf dem Hof geſehen habe mit ſeinem hoop; — nice boy. “
„ Ja, “ſagte Imme, „ das is unſrem Freund Hartwig ſeiner. “ Hartwig ſelber aber rief ſeinen Jungen heran und ſagte: „ Na, Rudolf, was giebt's? Du willſt mich holen. Du ſollſt aber auch noch 'ne Freude haben. Kuck dir mal den Herrn da an, der dich ſo freundlich anſieht. Das is Robinſon. “
„ Haha. “
„ Ja, Junge, warum lachſt du? Glaubſt du's nich, wenn ich dir ſage, das is Robinſon? “
„ I bewahre, Vater. Robinſon, den kenn 'ich. Ro¬ binſon hat' nen Sonnenſchirm und ein Lama. Un der is auch ſchon lange dod. “
Unſere Landpartieler waren im Angeſicht von Spindlers¬ felde nach dem Eierhäuschen zurückgekehrt und hatten ſich hier an zwei dicht am Ufer zuſammengerückten Tiſchen niedergelaſſen, eine Laube von Baumkronen über ſich. Sperlinge hüpften umher und warteten auf ihre Zeit. Gleich danach erſchien auch ein Kellner, um die Be¬ ſtellungen entgegen zu nehmen. Es entſtand dabei die herkömmliche Verlegenheitspauſe; niemand wußte was zu ſagen, bis die Baronin auf den Stamm einer ihr gegen¬ überſtehenden Ulme wies, drauf „ Wiener Würſtel “und daneben in noch dickeren Buchſtaben das gefällige Wort „ Löwenbräu “ſtand. In kürzeſter Friſt erſchien denn auch der Kellner wieder, und die Baronin hob ihr Seidel und ließ das Eierhäuschen und die Spree leben, zugleich ver¬ ſichernd, „ daß man ein echtes Münchener überhaupt nur noch in Berlin tränke. “ Der alte Berchtesgaden wollte jedoch nichts davon wiſſen und drang in ſeine Frau, lieber mehr nach links zu rücken, um den Sonnenuntergang beſſer beobachten zu können; „ der ſei freilich in Berlin ebenſo gut wie wo anders. “ Die Baronin hielt aber aus und rührte ſich nicht. „ Was Sonnenuntergang! den ſeh 'ich jeden Abend. Ich ſitze hier ſehr gut und freue mich ſchon auf die Lichter. “
Und nicht lange mehr, ſo waren dieſe Lichter auch wirklich da. Nicht nur das ganze Lokal erhellte ſich,193 ſondern auch auf dem drüben am andern Ufer ſich hin¬ ziehenden Eiſenbahndamme zeigten ſich allmählich die ver¬ ſchiedenfarbigen Signale, während mitten auf der Spree, wo Schleppdampfer die Kähne zogen, ein verblaktes Rot aus den Kajütenfenſtern hervorglühte. Dabei wurde es kühl, und die Damen wickelten ſich in ihre Plaids und Mäntel.
Auch die Herren fröſtelten ein wenig, und ſo trat denn der erſichtlich etwas planende Woldemar nach kurzem Aufundabſchreiten an das in der Nähe befindliche Büffett heran, um da zur Herſtellung einer beſſeren Innentempe¬ ratur das Nötige zu veranlaſſen. Und ſiehe da, nicht lange mehr, ſo ſtand auch ſchon ein großes Tablett mit Gläſern und Flaſchen vor ihnen und dazwiſchen ein Deckelkrug, aus dem, als man den Deckel aufklappte, der heiße Wraſen emporſchlug. Die Baronin, in ſolchen Dingen die Scharfblickendſte, war ſofort orientiert und ſagte: „ Lieber Stechlin, ich beglückwünſche Sie. Das war eine große Idee. “
„ Ja, meine Damen, ich glaubte, daß etwas geſchehen müſſe, ſonſt haben wir morgen ſamt und ſonders einen akuten Rheumatismus. Und zurück müſſen wir doch auch. Auf dem Schiffe, wo ſolche Hilfsmittel, glaub 'ich, fehlen, ſind wir allen Unbilden der Elemente preisgegeben. “
„ Und ſie konnten wirklich nicht beſſer wählen, “unter¬ brach Meluſine. „ Schwediſcher Punſch, für den ich ein liking habe. Wie für Schweden überhaupt. Da Doktor Wrſchowitz nicht da iſt, können wir uns ungeſtraft einem gewiſſen Maß von Skandinavismus überlaſſen. “
„ Am liebſten ohne alles Maß, “ſagte Woldemar, „ ſo ſkandinaviſch bin ich. Ich ziehe die Skandinaven den ſonſt ‚ Meiſtbegünſtigten‘ unter den Nationen immer noch vor. Alle Länder erweitern übrigens ihre Spezialgebiete. Früher hatte Schweden nur zweierlei: Mut und Eiſen, von denen man ſagen muß, daß ſie gut zuſammen paſſen. Fontane, Der Stechlin. 13194Dann kamen die ‚ Säkerhets Tändſtickors‘, und nun haben wir den ſchwediſchen Punſch, den ich in dieſem Augen¬ blick unbedingt am höchſten ſtelle. Ihr Wohl, meine Damen. “
„ Und das Ihre, “ſagte Meluſine, „ denn Sie ſind doch der Schöpfer dieſes glücklichen Moments. Aber wiſſen Sie, lieber Stechlin, daß ich in Ihrer Aufzählung ſchwediſcher Herrlichkeiten etwas vermißt habe. Die Schweden haben noch eins — oder hatten es wenigſtens. Und das war die ſchwediſche Nachtigall. “
„ Ja, die hab 'ich vergeſſen. Es fällt vor meine Zeit. “
„ Ich müßte, “lachte die Gräfin, „ vielleicht auch ſagen: es fällt vor meine Zeit. Aber ich darf doch andrer¬ ſeits nicht verſchweigen, die Lind noch leibhaftig gekannt zu haben. Freilich nicht mehr ſo eigentlich als ſchwediſche Nachtigall. Und überhaupt unter anderm Namen. “
„ Ja, ich erinnere mich, “ſagte Woldemar, „ ſie hatte ſich verheiratet. Wie hieß ſie doch? “
„ Goldſchmidt, — ein Name, den man ſchon um ‚ Gold¬ ſchmidts Töchterlein‘ willen gelten laſſen kann. Aber an Jenny Lind reicht er allerdings nicht heran. “
„ Gewiß nicht. Und ſie ſagten, Frau Gräfin, Sie hätten ſie noch perſönlich gekannt? “
„ Ja, gekannt und auch gehört. Sie ſang damals, wenn auch nicht mehr öffentlich, ſo doch immer noch in ihrem häuslichen Salon. Dieſe Bekanntſchaft zählt zu meinen liebſten und ſtolzeſten Erinnerungen. Ich war noch ein halbes Kind, aber trotzdem doch mit eingeladen, was mir allein ſchon etwas bedeutete. Dazu die Fahrt von Hyde-Park bis in die Villa hinaus. Ich weiß noch deutlich, ich trug ein weißes Kleid und einen hellblauen Kaſchmirumhang und das Haar ganz aufgelöſt. Die Lind beobachtete mich, und ich ſah, daß ich ihr gefiel. Wenn man Eindruck macht, das behält man. Und nun gar mit vierzehn! “
195„ Die Lind, “warf die Baronin etwas proſaiſch ein, „ ſoll ihrerſeits als Kind ſehr häßlich geweſen ſein. “
„ Ich hätte das Gegenteil vermutet, “bemerkte Wol¬ demar.
„ Und auf welche Veranlaſſung hin, lieber Stechlin? “
„ Weil ich ein Bild von ihr kenne. Wir haben es, wie bekannt, ſeit einiger Zeit von einem unſrer beſten Maler auf unſrer Nationalgalerie. Aber lange bevor ich es da ſah, kannt 'ich es ſchon en miniature, und zwar aus einer im Beſitz meines Freundes Lorenzen befindlichen Aquarelle. Dieſe Kopie hängt über ſeinem Sofa, dicht unter einer Rubensſchen Kreuzabnahme. Wenn man will, eine etwas ſonderbare Zuſammenſtellung. “
„ Und das alles in Ihrer Stechliner Pfarre! “ſagte Meluſine. „ Wiſſen Sie, Rittmeiſter, daß ich die That¬ ſache, daß ſo was überhaupt in einem kleinen Dorfe vor¬ kommen kann, Ihrem berühmten See beinah 'gleichſtelle? Unſre ſchwediſche Nachtigall in Ihrem „ Ruppiner Winkel “, wie Sie ſelbſt beſtändig ſich auszudrücken lieben. Die Lind! Und wie kam Ihr Paſtor dazu? “
„ Die Lind war, glaub 'ich, ſeine erſte Liebe. Sehr wahrſcheinlich auch ſeine letzte. Lorenzen ſaß damals noch auf der Schulbank und ſchlug ſich mit Stundengeben durch. Aber er hörte die Diva trotzdem jeden Abend und wußte ſich auch, trotz beſcheidenſter Mittel, das Bildchen zu verſchaffen. Faſt grenzt es ans Wunderbare. Freilich verlaufen die Dinge meiſt ſo. Wär' er reich geweſen, ſo hätt 'er ſein Geld anderweitig verthan und die Lind viel¬ leicht nie gehört und geſehen. Nur die Armen bringen die Mittel auf für das, was jenſeits des Gewöhnlichen liegt; aus Begeiſterung und Liebe fließt alles. Und es iſt etwas ſehr Schönes, daß es ſo iſt in unſerm Leben. Vielleicht das Schönſte. “
„ Das will ich meinen, “ſagte die Gräfin. „ Und ich dank 'es Ihnen, lieber Stechlin, daß Sie das geſagt haben. 13*196Das war ein gutes Wort, das ich Ihnen nicht vergeſſen will. Und dieſer Lorenzen war Ihr Lehrer und Erzieher? “
„ Ja, mein Lehrer und Erzieher. Zugleich mein Freund und Berater. Der, den ich über alles liebe. “
„ Gehen Sie darin nicht zu weit? “lachte Meluſine.
„ Vielleicht, Gräfin, oder ſag 'ich lieber: gewiß. Und ich hätte deſſen eingedenk ſein ſollen, gerade heut und gerade hier. Aber ſo viel bleibt: ich liebe ihn ſehr, weil ich ihm alles verdanke, was ich bin, und weil er reinen Herzens iſt. “
„ Reinen Herzens, “ſagte Meluſine. „ Das iſt viel. Und Sie ſind deſſen ſicher? “
„ Ganz ſicher. “
„ Und von dieſem Unikum erzählen Sie uns erſt heute! Da waren Sie neulich mit dem guten Wrſchowitz bei uns und haben uns allerhand Schreckliches von Ihrem miſogynen Prinzen wiſſen laſſen. Und während Sie den in den Vordergrund ſtellen, halten Sie dieſen Paſtor Lorenzen ganz gemütlich in Reſerve. Wie kann man ſo grauſam ſein und mit ſeinen Berichten und Redekünſten ſo launenhaft operieren! Aber holen Sie wenigſtens nach, was Sie verſäumt haben. Die Fragen drängen ſich ordent¬ lich. Wie kam Ihr Vater auf den Einfall, Ihnen einen ſolchen Erzieher zu geben? Und wie kam ein Mann wie dieſer Lorenzen in dieſe Gegenden? Und wie kam er überhaupt in dieſe Welt? Es iſt ſo ſelten, ſo ſelten. “
Armgard und die Baronin nickten.
„ Ich bekenne, mich quält die Neugier, mehr von ihm zu hören, “fuhr Meluſine fort. „ Und er iſt unverheiratet? Schon das allein iſt immer ein gutes Zeichen. Durch¬ ſchnittsmenſchen glauben ſich ſo ſchnell wie möglich ver¬ ewigen zu müſſen, damit die Herrlichkeit nicht ausſtirbt. Ihr Lorenzen iſt eben in allem, wie mir ſcheint, ein Aus¬ nahmemenſch. Alſo beginnen. “
„ Ich bin dazu beſten Willens, Frau Gräfin. Aber197 es iſt zu ſpät dazu, denn das helle Licht, das Sie da ſehen, das iſt bereits unſer Dampfer. Wir haben keine Wahl mehr, wir müſſen abbrechen, wenn wir nicht im Eierhäuschen ein Nachtquartier nehmen wollen. Unter¬ wegs iſt übrigens Lorenzen ein wundervolles Thema, vorausgeſetzt, daß uns der Anblick der Liebesinſel nicht wieder auf andre Dinge bringt. Aber hören Sie ... der Dampfer läutet ſchon ... wir müſſen eilen. Bis an die Anlegeſtelle ſind noch mindeſtens drei Minuten! “
Und nun war man glücklich auf dem Schiff, auf dem Woldemar und die Damen ihre ſchon auf der Hinfahrt innegehabten Plätze ſofort wieder einnahmen. Nur die beiden in ihre Plaids gewickelten alten Herren ſchritten auf Deck auf und ab und ſahen, wenn ſie vorn am Bug¬ ſpriet eine kurze Raſt machten, auf die vielen hundert Lichter, die ſich von beiden Ufern her im Fluß ſpiegelten. Unten im Maſchinenraum hörte man das Klappern und Stampfen, während die Schiffsſchraube das Waſſer nach hinten ſchleuderte, daß es in einem weißen Schaumſtreifen dem Schiffe folgte. Sonſt war alles ſtill, ſo ſtill, daß die Damen ihr Geſpräch unterbrachen. „ Armgard, du biſt ſo ſchweigſam, “ſagte Meluſine, „ finden Sie nicht auch, lieber Stechlin? Meine Schweſter hat noch keine zehn Worte geſprochen. “
„ Ich glaube, Gräfin, wir laſſen die Comteſſe. Manchem kleidet es zu ſprechen, und manchem kleidet es zu ſchweigen. Jedes Beiſammenſein braucht einen Schweiger. “
„ Ich werde Nutzen aus dieſer Lehre ziehen. “
„ Ich glaub 'es nicht, Gräfin, und vor allem wünſch' ich es nicht. Wer könnt 'es wünſchen? “
Sie drohte ihm mit dem[]Finger. Dann ſchwieg man wieder und ſah auf die Landſchaft, die da, wo der am198 Ufer hinlaufende Straßenzug breite Lücken aufwies, in tiefem Dunkel lag. Urplötzlich aber ſtieg gerad aus dem Dunkel heraus ein Lichtſtreifen hoch in den Himmel und zerſtob da, wobei rote und blaue Leuchtkugeln langſam zur Erde niederfielen.
„ Wie ſchön, “ſagte Meluſine. „ Das iſt mehr, als wir erwarten durften; Ende gut, alles gut, — nun haben wir auch noch ein Feuerwerk. Wo mag es ſein? Welche Dörfer liegen da hinüber? Sie ſind ja ſo gut wie ein Generalſtäbler, lieber Stechlin, Sie müſſen es wiſſen. Ich vermute Friedrichsfelde. Reizendes Dorf und reizendes Schloß. Ich war einmal da; die Dame des Hauſes iſt eine Schweſter der Frau von Hülſen. Iſt es Friedrichs¬ felde? “
„ Vielleicht, gnädigſte Gräfin. Aber doch nicht wahr¬ ſcheinlich, Friedrichsfelde gehört nicht in die Reihe der Vororte, wo Feuerwerke ſozuſagen auf dem Programm ſtehen. Ich denke, wir laſſen es im Ungewiſſen und freuen uns der Sache ſelbſt. Sehen Sie, jetzt beginnt es erſt recht eigentlich. Die Rakete, die wir da vorhin geſehen haben, das war nur Vorſpiel. Jetzt haben wir erſt das Stück. Es iſt zu weit ab, ſonſt würden wir das Knattern hören und die Kanonenſchläge. Wahr¬ ſcheinlich iſt es Sedan oder Düppel oder der Übergang nach Alſen. Übrigens iſt die Pyrotechnik eine profunde Wiſſenſchaft geworden. “
„ Und es ſoll auch Perſonen geben, die ganz dafür leben und ihr Vermögen hinopfern wie früher die Hol¬ länder für die Tulpen. Tulpen wäre nun freilich nicht mein Geſchmack. Aber Feuerwerk! “
„ Ja, unbedingt. Und nur ſchade, daß alle die, die damit zu thun haben, über kurz oder lang in die Luft fliegen. “
„ Das iſt fatal. Aber es ſteigert andrerſeits doch auch wieder den Reiz. Sonderbar, gefahrloſe Berufe, ſolche,199 die ſozuſagen eine Zipfelmütze tragen, ſind mir von jeher ein Greuel geweſen. Intereſſe hat doch immer nur das va banque: Torpedoboote, Tunnel unter dem Meere, Luftballons. Ich denke mir, das Nächſte was wir er¬ leben, ſind Luftſchifferſchlachten. Wenn dann ſo eine Gondel die andre entert. Ich kann mich in ſolche Vor¬ ſtellungen geradezu verlieben. “
„ Ja, liebe Meluſine, das ſeh 'ich, “unterbrach hier die Baronin. „ Sie verlieben ſich in ſolche Vorſtellungen und vergeſſen darüber die Wirklichkeiten und ſogar unſer Programm. Ich muß angeſichts dieſer doch erſt kommenden Luftſchifferſchlachten ganz ergebenſt daran erinnern, daß für heute noch wer anders in der Luft ſchwebt und zwar Paſtor Lorenzen. Von dem ſollte die Rede ſein. Freilich, der iſt kein Pyrotechniker. “
„ Nein, “lachte Woldemar, „ das iſt er nicht. Aber als einen Aëronauten kann ich ihn Ihnen beinahe vor¬ ſtellen. Er iſt ſo recht ein Excelſior -, ein Aufſteigemenſch, einer aus der wirklichen Oberſphäre, genau von daher, wo alles Hohe zu Haus iſt, die Hoffnung und ſogar die Liebe. “
„ Ja, “lachte die Baronin, „ die Hoffnung und ſogar die Liebe! Wo bleibt aber das Dritte? Da müſſen's zu uns kommen. Wir haben noch das Dritte; das heißt alſo wir wiſſen auch, was wir glauben ſollen. “
„ Ja, ſollen. “
„ Sollen, gewiß. Sollen, das iſt die Hauptſache. Wenn man weiß, was man ſoll, ſo find't ſich's ſchon. Aber wo das Sollen fehlt, da fehlt auch das Wollen. Es iſt halt a Glück, daß wir Rom haben und den heiligen Vater. “
„ Ach, “ſagte Meluſine, „ wer's Ihnen glaubt, Baronin! Aber laſſen wir ſo heikle Fragen und hören wir lieber von dem, den ich — ich bin beſchämt darüber — in ſo wenig verbindlicher Weiſe vergeſſen konnte, von unſerm Wundermann mit der Studentenliebe, von dem Säulen¬ heiligen, der reinen Herzens iſt, und vor allem von dem200 Schöpfer und geiſtigen Nährvater unſers Freundes Stechlin. Eh bien, was iſt es mit ihm? ‚ An ihren Früchten ſollt ihr ſie erkennen, ‘— das könnt 'uns beinahe genügen. Aber ich bin doch für ein Weiteres. Und ſo denn atten¬ tion au jeu. Unſer Freund Stechlin hat das Wort. “
„ Ja, unſer Freund Stechlin hat das Wort, “wieder¬ holte Woldemar, „ ſo ſagen Sie gütigſt, Frau Gräfin. Aber dem nachkommen iſt nicht ſo leicht. Vorhin, da war ich im Zuge. Jetzt wieder damit anfangen, das hat ſeine Schwierigkeiten. Und dann erwarten die Damen immer eine Liebesgeſchichte, ſelbſt wenn es ſich um einen Mann handelt, den ich, was dieſe Dinge betrifft, ſo wenig ver¬ ſprechend eingeführt habe. Sie gehen alſo, wie heute ſchon mehrfach (ich erinnere nur an das Eierhäuschen), einer grauſamen Enttäuſchung entgegen. “
„ Keine Ausflüchte! “
„ Nun, ſo ſei's denn. Ich muß es aber auf einem Umwege verſuchen und Ihnen bei der Gelegenheit als Nächſtes ſchildern, wie meine letzte Begegnung mit Lorenzen verlief. Er war, als ich bei ihm eintrat, in erſicht¬ lich großer Erregung und zwar über ein Büchelchen, das er in Händen hielt. “
„ Und ich will raten, was es war, “unterbrach Meluſine.
„ Nun? “
„ Ein Buch von Tolſtoj. Etwas mit viel Opfer und Entſagung. Anpreiſung von Asceſe. “
„ Sie ſind auf dem richtigen Wege, Gräfin, nur nicht geographiſch. Es handelt ſich nämlich nicht öſtlich um einen Ruſſen, ſondern weſtlich um einen Portugieſen. “
„ Um einen Portugieſen, “lachte die Baronin. „ O, ich kenne welche. Sie ſind alle ſo klein und gelblich. Und einer fand einen Seeweg. Freilich ſchon lange her. Iſt es nicht ſo? “
„ Gewiß, Frau Baronin, es iſt ſo. Nur der, um den201 es ſich hier handelt, das iſt keiner mit einem Seeweg, ſondern bloß ein Dichter. “
„ Ach, deſſen erinnere ich mich auch, ja ich habe ſo¬ gar ſeinen Namen auf der Zunge. Mit einem großen C fängt er an. Aber Calderon iſt es nicht. “
„ Nein, Calderon iſt es nicht; es deckt ſich da manches, auch ſchon rein landkartlich, nicht mit dem, um den ſich's hier handelt. Und iſt überhaupt kein alter Dichter, ſondern ein neuer. Und heißt Joao de Deus. “
„ Joao de Deus, “wiederholte die Gräfin. „ Schon der Name. Sonderbar. Und was war es mit dem? “
„ Ja, was war es mit dem? Dieſelbe Frage that ich auch, und ich habe nicht vergeſſen, was Lorenzen mir antwortete: ‚ Dieſer Joao de Deus, ‘ſo etwa waren ſeine Worte, ‚ war genau das, was ich wohl ſein möchte, wo¬ nach ich ſuche, ſeit ich zu leben, wirklich zu leben an¬ gefangen, und wovon es beſtändig draußen in der Welt heißt, es gäbe dergleichen nicht mehr. Aber es giebt der¬ gleichen noch, es muß dergleichen geben oder doch wieder geben. Unſre ganze Geſellſchaft (und nun gar erſt das, was ſich im beſonderen ſo nennt) iſt aufgebaut auf dem Ich. Das iſt ihr Fluch, und daran muß ſie zu Grunde gehen. Die zehn Gebote, das war der Alte Bund; der neue Bund aber hat ein andres, ein einziges Gebot, und das klingt aus in: „ Und du hätteſt der Liebe nicht ... “.
„ Ja, ſo ſprach Lorenzen “, fuhr Woldemar nach einer Pauſe fort „ und ſprach auch noch andres, bis ich ihn unterbrach und ihm zurief: ‚ Aber, Lorenzen, das ſind ja bloß Allgemeinheiten. Sie wollten mir Perſön¬ liches von Joao de Deus erzählen. Was iſt es mit dem? Wer war er? Lebt er? Oder iſt er tot?‘
„ ‚ Er iſt tot, aber ſeit kurzem erſt, und von ſeinem Tode ſpricht das kleine Heft hier. Höre. “ Und nun begann er zu leſen. Das aber was er las, das lautete etwa ſo: „ ... Und als er nun tot war, der Joao202 de Deus, da gab es eine Landestrauer, und alle Schulen in der Hauptſtadt waren geſchloſſen, und die Miniſter und die Leute vom Hof und die Gelehrten und die Handwerker, alles folgte dem Sarge dicht gedrängt, und die Fabrikarbeiterinnen hoben ſchluchzend ihre Kinder in die Höh 'und zeigten auf den Toten und ſagten: Un Santo, un Santo. Und ſie thaten ſo und ſagten ſo, weil er für die Armen gelebt hatte und nicht für ſich. ‘““
„ Das iſt ſchön, “ſagte Meluſine.
„ Ja, das iſt ſchön, “wiederholte Woldemar, „ und ich darf hinzuſetzen, in dieſer Geſchichte haben Sie nicht bloß den Joao de Deus, ſondern auch meinen Freund Lorenzen. Er iſt vielleicht nicht ganz wie ſein Ideal. Aber Liebe giebt Ebenbürtigkeit. “
„ Und ſo ſchlag 'ich denn vor, “ſagte die Baronin, „ daß wir den mit dem C, deſſen Name mir übrigens noch einfallen wird, vorläufig abſetzen und ſtatt ſeiner den neuen mit dem D leben laſſen. Und natürlich unſern Lorenzen dazu. “
„ Ja, leben laſſen, “lachte Woldemar. „ Aber womit? worin? Les jours de fête ... “und er wies auf das Eierhäuschen zurück.
„ In dieſer Notlage wollen wir uns helfen, ſo gut es geht, und uns ſtatt andrer Beſchwörung einfach die Hände reichen, ſelbſtverſtändlich über Kreuz; hier: erſt Stechlin und Armgard und dann Meluſine und ich. “
Und wirklich, ſie reichten ſich in heiterer Feierlichkeit die Hände.
Gleich danach aber traten die beiden alten Herren an die Gruppe heran, und der Baron ſagte: „ Das iſt ja wie Rütli. “
„ Mehr, mehr. Bah, Freiheit! Was iſt Freiheit gegen Liebe! “
„ So, hat's denn eine Verlobung gegeben? “
„ Nein ... noch nicht, “lachte Meluſine.
Der andre Morgen rief Woldemar zeitig zum Dienſt. Als er um neun Uhr auf ſein Zimmer zurückkehrte, fand er auf dem Frühſtückstiſch Zeitungen und Briefe. Da¬ runter war einer mit einem ziemlich großen Siegel, der Lack ſchlecht und der Brief überhaupt von ſehr unmodiſcher Erſcheinung, ein bloß zuſammengelegter Quartbogen. Wol¬ demar, nach Poſtſtempel und Handſchrift ſehr wohl wiſſend, woher und von wem der Brief kam, ſchob ihn, während Fritz den Thee brachte, beiſeite, und erſt als er eine Taſſe genommen und länger als nötig dabei verweilt hatte, griff er wieder nach dem Brief und drehte ihn zwiſchen Daumen und Zeigefinger. „ Ich hätte mir, nach dem geſtrigen Abend, heute früh was andres gewünſcht, als gerade dieſen Brief. “ Und während er das ſo vor ſich hin ſprach, ſtanden ihm, er mochte wollen oder nicht, die letzten Wutzer Augenblicke wieder vor der Seele. Die Tante hatte, kurz bevor er das Kloſter verließ, noch ein¬ mal vertraulich ſeine Hand genommen und ihm bei der Gelegenheit ausgeſprochen, was ſie ſeit lange bedrückte.
„ Das Junggeſellenleben, Woldemar, taugt nichts. Dein Vater war auch ſchon zu alt, als er ſich ver¬ heiratete. Ich will nicht in deine Geheimniſſe ein¬ dringen, aber ich möchte doch fragen dürfen: wie ſtehſt du dazu? “
206„ Nun, ein Anfang iſt gemacht. Aber doch erſt obenhin. “
„ Berlinerin? “
„ Ja und nein. Die junge Dame lebt ſeit einer Reihe von Jahren in Berlin und liebt unſre Stadt über Er¬ warten. Inſoweit iſt ſie Berlinerin. Aber eigentlich iſt ſie doch keine; ſie wurde drüben in London geboren, und ihre Mutter war eine Schweizerin. “
„ Um Gottes willen! “
„ Ich glaube, liebe Tante, du machſt dir falſche Vor¬ ſtellungen von einer Schweizerin. Du denkſt ſie dir auf einer Alm und mit einem Milchkübel. “
„ Ich denke ſie mir gar nicht, Woldemar. Ich weiß nur, daß es ein mildes Land iſt. “
„ Ein freies Land, liebe Tante. “
„ Ja, das kennt man. Und wenn du das Spiel noch einigermaßen in der Hand haſt, ſo beſchwör 'ich dich ... “
An dieſer Stelle war, wie ſchon vorher durch Fix, abermals (weil eine Störung kam,) das Geſpräch mit der Tante auf andre Dinge hingeleitet worden, und nun hielt er ihren Brief in Händen und zögerte, das Siegel zu brechen. „ Ich weiß, was drin ſteht, und ängſtige mich doch beinahe. Wenn es nicht Kämpfe giebt, ſo giebt es wenigſtens Verſtimmungen. Und die ſind mir womöglich noch fataler ... Aber was hilft es! “
Und nun brach er den Brief auf und las:
„ Ich nehme an, mein lieber Woldemar, daß du meine letzten Worte noch in Erinnerung haſt. Sie liefen auf den Rat und die Bitte hinaus: gieb auch in dieſer Frage die Heimat nicht auf, halte dich, wenn es ſein kann, an das Nächſte. Schon unſre Provinzen ſind ſo ſehr verſchieden. Ich ſehe dich über ſolche Worte lächeln, aber ich bleibe doch dabei. Was ich Adel nenne, das giebt es nur noch in unſrer Mark und in unſrer alten Nachbar - und Schweſterprovinz, ja, da vielleicht noch207 reiner als bei uns. Ich will nicht ausführen, wie's bei ſchärferem Zuſehen auf dem adligen Geſamtgebiete ſteht, aber doch wenigſtens ein paar Andeutungen will ich machen. Ich habe ſie von allen Arten geſehen. Da ſind zum Beiſpiel die rheiniſchen jungen Damen, alſo die von Köln und Aachen; nun ja, die mögen ganz gut ſein, aber ſie ſind katholiſch, und wenn ſie nicht katholiſch ſind, dann ſind ſie was andres, wo der Vater erſt geadelt wurde. Neben den rheiniſchen haben wir dann die weſt¬ fäliſchen. Über die ließe ſich reden. Aber Schleſien. Die ſchleſiſchen Herrſchaften, die ſich mitunter auch Magnaten nennen, ſind alle ſo gut wie polniſch und leben von Jeu und haben die hübſcheſten Erzieherinnen; immer ganz jung, da macht es ſich am leichteſten. Und dann ſind da noch weiterhin die preußiſchen, das heißt die oſtpreußiſchen, wo ſchon alles aufhört. Nun, die kenn 'ich, die ſind ganz wie ihre Litauer Füllen und ſchlagen aus und be¬ knabbern alles. Und je reicher ſie ſind, deſto ſchlimmer. Und nun wirſt du fragen, warum ich gegen andre ſo ſtreng und ſo ſehr für unſre Mark bin, ja ſpeziell für unſre Mittelmark. Deshalb, mein lieber Woldemar, weil wir in unſrer Mittelmark nicht ſo bloß äußerlich in der Mitte liegen, ſondern weil wir auch in allem die rechte Mitte haben und halten. Ich habe mal gehört, unſer märkiſches Land ſei das Land, drin es nie Heilige gegeben, drin man aber auch keine Ketzer verbrannt habe. Sieh, das iſt das, worauf es ankommt, Mittelzuſtand, — darauf baut ſich das Glück auf. Und dann haben wir hier noch zweierlei: in unſerer Bevölkerung die reine Lehre und in unſerm Adel das reine Blut. Die, wo das nicht zutrifft, die kennt man. Einige meinen freilich, das, was ſie das ‚ Geiſtige‘ nennen, das litte darunter. Das iſt aber alles Thorheit. Und wenn es litte (es leidet aber nicht), ſo ſchadet das gar nichts. Wenn das Herz geſund iſt, iſt der Kopf nie ganz ſchlecht. Auf208 dieſen Satz kannſt du dich verlaſſen. Und ſo bleibe denn, wenn du ſuchſt, in unſrer Mark und vergiß nie, daß wir das ſind, was man ſo ‚ brandenburgiſche Geſchichte‘ nennt. Am eindringlichſten aber laß dir unſre Rheinsberger Gegend empfohlen ſein, von der mir ſelbſt Koſeleger — trotzdem ſeine Feinde behaupten, er betrachte ſich hier bloß wie in Verbannung und ſehne ſich fort nach einer Berliner Domſtelle — von der mir ſelbſt Koſeleger ſagte: ‚ Wenn man ſich die preußiſche Geſchichte genau anſieht, ſo findet man immer, daß ſich alles auf unſre alte, liebe Grafſchaft zurückführen läßt; da liegen die Wurzeln unſrer Kraft. ‘ Und ſo ſchließe ich denn mit der Bitte: heirate heimiſch und heirate lutheriſch. Und nicht nach Geld (Geld erniedrigt) und halte dich dabei verſichert der Liebe deiner dich herzlich liebenden Tante und Patin Adelheid von St. “
Woldemar lachte. „ Heirate heimiſch und heirate lutheriſch — das hör 'ich nun ſchon ſeit Jahren. Und auch das dritte höre ich immer wieder: ‚ Geld erniedrigt‘. Aber das kenn' ich. Wenn's nur recht viel iſt, kann es ſchließlich auch eine Chineſin ſein. In der Mark iſt alles Geldfrage. Geld — weil keins da iſt — ſpricht Perſon und Sache heilig und, was noch mehr ſagen will, be¬ ſchwichtigt zuletzt auch den Eigenſinn einer alten Tante. “
Während er lachend ſo vor ſich hin ſprach, überflog er noch einmal den Brief und ſah jetzt, daß eine Nach¬ ſchrift an den Rand der vierten Seite gekritzelt war. „ Eben war Katzler hier, der mir von der am Sonn¬ abend in unſerm Kreiſe ſtattfindenden Nachwahl erzählte. Dein Vater iſt aufgeſtellt worden und hat auch ange¬ nommen. Er bleibt doch immer der Alte. Gewiß wird er ſich einbilden, ein Opfer zu bringen, — er litt von Jugend auf an ſolchen Einbildungen. Aber was ihm ein Opfer bedünkte, waren, bei Lichte beſehen, immer bloß Eitelkeiten. Deine A. von St. “
Es war ſo, wie die Tante geſchrieben: Dubslav hatte ſich als konſervativen Kandidaten aufſtellen laſſen, und wenn für Woldemar noch Zweifel darüber geweſen wären, ſo hätten einige am Tage darauf von Lorenzen eintreffende Zeilen dieſe Zweifel beſeitigt. Es hieß in Lorenzens Brief:
„ Seit deinem letzten Beſuch hat ſich hier allerlei Großes zugetragen. Noch am ſelben Abend erſchienen Gundermann und Koſeleger und drangen in deinen Vater, zu kandidieren. Er lehnte zunächſt natürlich ab; er ſei weltfremd und verſtehe nichts davon. Aber damit kam er nicht weit. Koſeleger, der — was ihm auch ſpäter noch von Nutzen ſein wird — immer ein paar Anekdoten auf der Pfanne hat, erzählte ihm ſofort, daß vor Jahren ſchon, als ein von Bismarck zum Finanz¬ miniſter Auserſehener ſich in gleicher Weiſe mit einem, Ich verſtehe nichts davon‘, aus der Affaire ziehen wollte, der bismarckiſch-prompten Antwort begegnet ſei:, Darum wähle ich Sie ja gerade, mein Lieber, ‘— eine Geſchichte, der dein Vater natürlich nicht widerſtehen konnte. Kurzum, er hat eingewilligt. Von Herumreiſen iſt ſelbſtverſtändlich Abſtand genommen worden, ebenſo vom Redenhalten. Schon nächſten Sonnabend haben wir Wahl. In Rheinsberg, wie immer, fallen die Würfel. Ich glaube, daß er ſiegt. Nur die Fortſchrittler könnenFontane, Der Stechlin. 14210in Betracht kommen und allenfalls die Sozialdemokraten, wenn vom Fortſchritt (was leicht möglich iſt) einiges ab¬ bröckelt. Unter allen Umſtänden ſchreibe deinem Papa, daß du dich ſeines Entſchluſſes freuteſt. Du kannſt es mit gutem Gewiſſen. Bringen wir ihn durch, ſo weiß ich, daß kein Beſſerer im Reichstag ſitzt, und daß wir uns alle zu ſeiner Wahl gratulieren können. Er ſich perſönlich allerdings auch. Denn ſein Leben hier iſt zu einſam, ſo ſehr, daß er, was doch ſonſt nicht ſeine Sache iſt, mitunter darüber klagt. Das war das, was ich dich wiſſen laſſen mußte. ‚ Sonſt nichts neues vor Paris. ‘ Krippenſtapel geht in großer Aufregung einher; ich glaube, wegen unſrer auf Donnerstag in Stechlin ſelbſt angeſetzten Vorverſammlung, wo er mutmaßlich ſeine herkömmliche Rede über den Bienenſtaat halten wird. Empfiehl mich deinen zwei liebenswürdigen Freunden, beſonders Czako. Wie immer, dein alter Freund Lorenzen. “
Woldemar, als er geleſen, wußte nicht recht, wie er ſich dazu ſtellen ſollte. Was Lorenzen da ſchrieb, „ daß kein Beſſerer im Hauſe ſitzen würde “, war richtig; aber er hatte trotzdem Bedenken und Sorge. Der Alte war durchaus kein Politiker, er konnte ſich alſo ſtark in die Neſſeln ſetzen, ja vielleicht zur komiſchen Figur werden. Und dieſer Gedanke war ihm, dem Sohne, der den Vater ſchwärmeriſch liebte, ſehr ſchmerzlich. Außerdem blieb doch auch immer noch die Möglichkeit, daß er in dem Wahl¬ kampf unterlag.
Dieſe Bedenken Woldemars waren nur allzu be¬ rechtigt. Es ſtand durchaus nicht feſt, daß der alte Dubslav, ſo beliebt er ſelbſt bei den Gegnern war, als Sieger aus der Wahlſchlacht hervorgehen müſſe. Die Konſervativen hatten ſich freilich daran gewöhnt, Rheins¬211 berg-Wutz als eine „ Hochburg “anzuſehen, die der ſtaats¬ erhaltenden Partei nicht verloren gehen könne, dieſe Vor¬ ſtellung aber war ein Irrtum, und die bisherige Reverenz gegen den alten Kortſchädel wurzelte lediglich in etwas Perſönlichem. Nun war ihm Dubslav an Anſehen und Beliebtheit freilich ebenbürtig, aber das mit der ewigen perſönlichen Rückſichtnahme mußte doch mal ein Ende nehmen, und das Anrecht, das ſich der alte Kortſchädel erſeſſen hatte, mit dieſem mußt 'es vorbei ſein, eben weil ſich's endlich um einen Neuen handelte. Kein Zweifel, die gegneriſchen Parteien regten ſich, und es lag genau ſo, wie Lorenzen an Woldemar geſchrieben, „ daß ein Fort¬ ſchrittler, aber auch ein Sozialdemokrat gewählt werden könne. “
Wie die Stimmung im Kreiſe wirklich war, das hätte der am beſten erfahren, der im Vorübergehen an der Comptoirthür des alten Baruch Hirſchfeld gehorcht hätte.
„ Laß dir ſagen, Iſidor, du wirſt alſo wählen den guten alten Herrn von Stechlin. “
„ Nein, Vater. Ich werde nicht wählen den guten alten Herrn von Stechlin. “
„ Warum nicht? Iſt er doch ein lieber Herr und hat das richtige Herz. “
„ Das hat er; aber er hat das falſche Prinzip. “
„ Iſidor, ſprich mir nicht von Prinzip. Ich habe dich geſehn, als du haſt charmiert mit dem Mariechen von nebenan und haſt ihr aufgebunden das Schürzenband, und ſie hat dir gegeben einen Klaps. Du haſt gebuhlt um das chriſtliche Mädchen. Und du buhlſt jetzt, wo die Wahl kommt, um die öffentliche Meinung. Und das mit dem Mädchen, das hab 'ich dir verziehen. Aber die öffentliche Meinung verzeih' ich dir nicht. “
„ Wirſt du, Vaterleben; haben wir doch die neue Zeit. Und wenn ich wähle, wähl 'ich für die Menſchheit. “
14*212„ Geh mir, Iſidor, die kenn 'ich. Die Menſchheit, die will haben, aber nicht geben. Und jetzt wollen ſie auch noch teilen. “
„ Laß ſie teilen, Vater. “
„ Gott der Gerechte, was meinſt du, was du kriegſt? Nicht den zehnten Teil. “
Und ähnlich ging es in den andern Ortſchaften. In Wutz ſprach Fix für das Kloſter und die Konſervativen im allgemeinen, ohne dabei Dubslav in Vorſchlag zu bringen, weil er wußte, wie die Domina zu ihrem Bruder ſtand. Ein Linkskandidat aus Cremmen ſchien denn auch in der Wutzer Gegend die Oberhand gewinnen zu ſollen. Noch gefährlicher für die ganze Grafſchaft war aber ein Wanderapoſtel aus Berlin, der von Dorf zu Dorf zog und die kleinen Leute dahin belehrte, daß es ein Unſinn ſei, von Adel und Kirche was zu erwarten. Die ver¬ tröſteten immer bloß auf den Himmel. Achtſtündiger Arbeitstag und Lohnerhöhung und Sonntagspartie nach Finkenkrug, — das ſei das Wahre.
So zerſplitterte ſich's allerorten. Aber wenigſtens um den Stechlin herum hoffte man der Sache noch Herr werden und alle Stimmen auf Dubslav vereinigen zu können. Im Dorfkruge wollte man zu dieſem Zwecke be¬ raten, und Donnerſtag ſieben Uhr war dazu feſtgeſetzt.
Der Stechliner Krug lag an dem Platze, der durch die Kreuzung der von Wutz her heranführenden Kaſtanien¬ allee mit der eigentlichen Dorfſtraße gebildet wurde, und war unter den vier hier gelegenen Eckhäuſern das ſtatt¬ lichſte. Vor ſeiner Front ſtanden ein paar uralte Linden, und drei, vier Stehkrippen waren bis dicht an die Haus¬ wand heran geſchoben, aber alle ganz nach links hin, wo ſich Eckladen und Gaſtſtube befanden, während nach der213 rechten Seite hin der große Saal lag, in dem heute Dubslaw, wenn nicht für die Welt, ſo doch für Rheins¬ berg-Wutz, und wenn nicht für Rheinsberg-Wutz, ſo doch für Stechlin und Umgegend proklamiert werden ſollte. Dieſer große Saal war ein fünffenſtriger Längsraum, der ſchon manchen Schottiſchen erlebt, was er in ſeiner Erſcheinung auch heute nicht zu verleugnen trachtete. Denn nicht nur waren ihm alle ſeine blanken Wandleuchter verblieben, auch die mächtige Baßgeige, die jedesmal weg¬ zuſchaffen viel zu mühſam geweſen wäre, guckte, ſchräg geſtellt, mit ihrem langen Halſe von der Muſikempore her über die Brüſtung fort.
Unter dieſer Empore, quer durch den Saal hin, ſtand ein für das Komitee beſtimmter länglicher Tiſch mit Tiſch¬ decke, während auf den links und rechts ſich hinziehenden Bänken einige zwanzig Vertrauensmänner ſaßen, denen es hinterher oblag, im Sinne der Komiteebeſchlüſſe weiter zu wirken. Die Vertrauensmänner waren meiſt wohl¬ habende Stechliner Bauern, untermiſcht mit offiziellen und halboffiziellen Leuten aus der Nachbarſchaft: Förſter und Waldhüter und Vormänner von den verſchiedenen Glas - und Teeröfen. Zu dieſen geſellte ſich noch ein Torf¬ inſpektor, ein Vermeſſungsbeamter, ein Steueroffiziant und ſchließlich ein geſcheiterter Kaufmann, der jetzt Agent war und die Poſt beſorgte. Natürlich war auch Landbrief¬ träger Broſe da ſamt der geſamten Sicherheitsbehörde: Fußgendarm Uncke und Wachtmeiſter Pyterke von der reitenden Gensdarmerie. Pyterke gehörte nur halb mit zum Revier (es war das immer ein ſtreitiger Punkt), er¬ ſchien aber trotzdem mit Vorliebe bei Verſammlungen derart. Es gab nämlich für ihn nichts Vergnüglicheres, als ſeinen Kameraden und Amtsgenoſſen Uncke bei ſolcher Gelegenheit zu beobachten und ſich dabei ſeiner unge¬ heuren, übrigens durchaus berechtigten Überlegenheit als ſchöner Mann und ehemaliger Gardeküraſſier bewußt zu214 werden. Uncke war ihm der Inbegriff des Komiſchen, und wenn ihn ſchon das rote, verkupferte Geſicht an und für ſich amüſierte, ſo doch viel, viel mehr noch der gefärbte Schuhbürſtenbackenbart, vor allem aber das Augenſpiel, mit dem er den Verhandlungen zu folgen pflegte. Pyterke hatte recht; Uncke war wirklich eine komiſche Figur. Seine Miene ſagte beſtändig: „ An mir hängt es. “ Dabei war er ein höchſt gutmütiger Mann, der nie mehr als nötig aufſchrieb und auch nur ſelten auflöſte.
Der Saal hatte nach dem Flur hin drei Thüren. An der Mittelthür ſtanden die beiden Gensdarmen und rückten ſich zurecht, als ſich der Vorſitzende des Komitees mit dem Glockenſchlag ſieben von ſeinem Platz erhob und die Sitzung für eröffnet erklärte. Dieſer Vorſitzende war natürlich Oberförſter Katzler, der heute, ſtatt des bloßen ſchwarz-weißen Bandes, ſein bei St. Marie aux Chênes erworbenes eiſernes Kreuz in Subſtanz eingeknöpft hatte. Neben ihm ſaßen Superintendent Koſeleger und Paſtor Lorenzen, an der linken Schmalſeite Krippenſtapel, an der rechten Schulze Kluckhuhn, letzterer auch dekoriert, und zwar mit der Düppelmedaille, trotzdem er bei Düppel in der Reſerve geſtanden. Er ſcherzte gern darüber und ſagte, während er ſeine beneidenswerten Zähne zeigte: „ Ja, Kinder, ſo geht es. Bei Alſen war ich, aber bei Düppel war ich nich, und dafür hab 'ich nu die Düppel¬ medaille. “
Schulze Kluckhuhn war überhaupt eine humoriſtiſch angeflogene Perſönlichkeit, Liebling des alten Dubslav, und trat immer, wenn ſich die alten Kriegerbundleute von ſechsundſechzig und ſiebzig aufs hohe Pferd ſetzen wollten, für die von vierundſechzig ein. „ Ja, vierundſechzig, Kinder, da fing es an. Und aller Anfang iſt ſchwer. Anfangen iſt immer die Hauptſache; das andre kommt dann ſchon wie von ſelbſt. “ Ein alter Globſower, der bei Spichern mitgeſtürmt und ſich durch beſondere Tapferkeit hervorgethan215 hatte, war denn auch, bloß weil er einer von Anno ſiebzig war, ein Gegenſtand ſeiner beſonderen Bemängelungen. „ Ich will ja nich ſagen, Tübbecke, daß es bei Spichern gar nichts war; aber gegen Düppel (wenn ich auch nicht mit dabei geweſen) gegen Düppel war es gar nichts. Wie war es denn bei Spichern, wovon du ſo viel red'ſt, als ob ſich vierundſechzig daneben verſtecken müßte? Bei Spichern, da waren Menſchen oben, aber bei Düppel, da waren Schanzen oben. Und ich ſage dir, Schanzen mit'm Turm drin. Da pfeift es ganz anders. Das heißt, von Pfeifen war ſchon eigentlich gar keine Rede mehr. “ Eine Folge dieſer Anſchauung war es denn auch, daß in den Augen Kluckhuhns der Pionier Klinke, der bei Düppel unter Opferung ſeines Lebens den Palliſadenpfahl von Schanze drei weggeſprengt hatte, der eigentliche Held aller drei Kriege war und alles in allem nur einen Rivalen hatte. Dieſer eine Rivale ſtand aber drüben auf Seite der Dänen und war überhaupt kein Menſch, ſondern ein Schiff und hieß Rolf Krake. „ Ja, Kinder, wie wir nu da ſo 'rüber gondelten, da lag das ſchwarze Bieſt immer dicht neben uns und ſah aus wie' n Sarg. Und wenn es gewollt hätte, ſo wär 'es auch alle mit uns geweſen und bloß noch plumps in den Alſenſund. Und weil wir das wußten, ſchoſſen wir immer drauf los, denn wenn einem ſo zu Mute iſt, dann ſchießt der Menſch immer zu. “
Ja, Rolf Krake war eine fatale Sache für Kluckhuhn geweſen. Aber dasſelbe ſchwarze Schiff, das ihm damals ſo viel Furcht[und] Sorge gemacht hatte, war doch auch wieder ein Segen für ihn geworden, und man durfte ſagen, ſein Leben ſtand ſeitdem im Zeichen von Rolf Krake. Wie Gundermann immer der Sozialdemokratie das „ Waſſer abſtellen “wollte, ſo verglich Kluckhuhn alles zur Sozial¬ demokratie Gehörige mit dem ſchwarzen Ungetüm im Alſenſund. „ Ich ſag 'euch, was ſie jetzt die ſoziale Re¬ volution nennen, das liegt neben uns wie damals Rolf216 Krake; Bebel wartet bloß, und mit eins fegt er da¬ zwiſchen. “
Schulze Kluckhuhn war in der ganzen Stechliner Gegend ſehr angeſehen, und als er jetzt mit ſeiner Me¬ daille ſo daſaß, dicht neben Koſeleger, war er ſich deſſen auch wohl bewußt. Aber gegen Krippenſtapel, den er als Schulpauker und Bienenvater eigentlich nicht für voll an¬ ſah, kam er bei dieſer Gelegenheit doch nicht an; Krippen¬ ſtapel hatte heute ganz ſeinen großen Tag, ſo ſehr, daß ſelbſt Kluckhuhn ſeinen Ton herabſtimmen mußte.
Katzler, ein entſchiedener Nichtredner, begann, als er ſich mit ſeinem Notizenzettel, auf dem verſchiedene Satz¬ anfänge ſtanden, erhoben hatte, mit der Verſicherung, daß er den ſo zahlreich Anweſenden, unter denen vielleicht auch einige Andersdenkende ſeien, für ihr Erſcheinen danke. Sie wüßten alle, zu welchem Zweck ſie hier ſeien. Der alte Kortſchädel ſei tot, „ er iſt in Ehren hingegangen, “und es handle ſich heute darum, dem alten Herrn von Kortſchädel im Reichstag einen Nachfolger zu geben. Die Grafſchaft habe immer konſervativ gewählt; es ſei Ehren¬ ſache, wieder konſervativ zu wählen. „ Und ob die Welt voll Teufel wär '. “ Es liege der Grafſchaft ob, dieſer Welt des Abfalls zu zeigen, daß es noch „ Stätten “gebe. Und hier ſei eine ſolche Stätte. „ Wir haben, glaub' ich, “ſo ſchloß er, „ niemand an dieſem Tiſch, der das Parla¬ mentariſche voll beherrſcht, weshalb ich bemüht geweſen bin, das, was uns hier zuſammengeführt hat, ſchriftlich niederzulegen. Es iſt ein ſchwacher Verſuch. Jeder thut, ſoviel er kann, und der Brombeerſtrauch hat eben nur ſeine Beeren. Aber auch ſie können den durſtigen Wan¬ derer erfriſchen. Und ſo bitte ich denn unſern politiſchen Freund, dem wir außerdem für die Erforſchung dieſer Gegenden ſo viel verdanken, ich bitte Herrn Lehrer Krippen¬ ſtapel, uns das von mir Aufgeſetzte vorleſen zu wollen. Ein pro memoria. Man kann es vielleicht ſo nennen. “
217Katzler, unter Verneigung, ſetzte ſich wieder, während ſich Krippenſtapel erhob. Er blätterte wie ein Rechts¬ anwalt in einer Anzahl von Papieren und ſagte dann: „ Ich folge der Aufforderung des Herrn Vorſitzenden und freue mich, berufen zu ſein, ein Schriftſtück zur Verleſung zu bringen, das unſer aller Gefühlen — ich bin deſſen ſicher und glaube von den Einſchränkungen, die unſer Herr Vorſitzender gemacht hat, abſehen zu dürfen — zu kräftig¬ ſtem Ausdruck verhilft. “
Und nun ſetzte Krippenſtapel ſeine Hornbrille auf und las. Es war ein ganz kurzes Schriftſtück und ent¬ hielt eigentlich dasſelbe, was Katzler ſchon geſagt hatte. Die Betonungen Krippenſtapels ſorgten aber dafür, daß der Beifall reichlicher war, und daß die Schlußwendung „ und ſo vereinigen wir uns denn in dem Satze: was um den Stechlin herum wohnt, das iſt für Stechlin, “einen ungeheuren Beifall fand. Pyterke hob ſeinen Helm und ſtieß mit dem Pallaſch auf, während Uncke ſich um¬ ſah, ob doch vielleicht ein einzelner Übelwollender zu notieren ſei. Nicht um ihn direkt anzuzeigen, aber doch zur Kenntnisnahme. Broſe, der (wohl eine Folge ſeines Berufs) unter dem ungewohnten langen Stillſtehen ge¬ litten hatte, nahm im Vorflur, wie zur Niederkämpfung ſeiner Beinnervoſität, eine Art Probegeſchwindſchritt raſch wieder auf, während Kluckhuhn ſich von ſeinem Stuhl erhob, um Katzler erſt militäriſch und dann unter gewöhn¬ licher Verbeugung zu begrüßen, wobei ſeine Düppelmedaille dem Katzlerſchen Eiſernen Kreuz entgegenpendelte. Nur Koſeleger und Lorenzen blieben ruhig. Um des Super¬ intendenten Mund war ein leiſer ironiſcher Zug.
Dann erklärte der Vorſitzende die Sitzung für ge¬ ſchloſſen; alles brach auf, und nur Uncke ſagte zu Broſe: „ Wir bleiben noch, Broſe; morgen wird es Lauferei genug geben. “
„ Denk 'ich auch. Aber lieber laufen als hier ſo ſtille ſtehen. “
Draußen, unter dem Gezweig der alten Linden, ſtanden mehrere Kaleſchwagen, aber der des Super¬ intendenten fehlte noch, weil Koſeleger eine viel längere Sitzung erwartet und darauf hin ſeinen Wagen erſt zu zehn Uhr beſtellt hatte. Bis dahin war noch eine hübſche Zeit; der Superintendent indeſſen ſchien nicht unzufrieden darüber und ſeines Amtsbruders Arm nehmend, ſagte er: „ Lieber Lorenzen, ich muß mich, wie Sie ſehen, bei Ihnen zu Gaſte laden. Als Unverheirateter werden Sie, ſo hoffe ich, über die Störung leicht hinwegkommen. Die Ehe bedeutet in der Regel Segen, wenigſtens an Kindern, aber die Nichtehe hat auch ihre Segnungen. Unſre guten Frauen entſchlagen ſich dieſer Einſicht und dieſer unbedingte Glauben an ſich und ihre Wichtigkeit hat oft was Rührendes. “
Lorenzen, der ſich — bei voller Würdigung der Gaben ſeines ihm vorgeſetzten und zugleich gern einen ſpöttiſchen Ton anſchlagenden Amtsbruders — im all¬ gemeinen nicht viel aus ihm machte, war diesmal mit allem einverſtanden und nickte, während ſie, ſchräg über den Platz fort, auf die Pfarre zuſchritten.
„ Ja, dieſe Einbildungen! “fuhr Koſeleger fort, zu deſſen Lieblingsgeſprächen dieſes Thema gehörte. „ Ge¬ wiß iſt es richtig, daß wir ſamt und ſonders von Ein¬ bildungen leben, aber für die Frauen iſt es das täg¬219 liche Brot. Sie maltraitieren ihren Mann und ſprechen dabei von Liebe, ſie werden maltraitiert und ſprechen erſt recht von Liebe; ſie ſehen alles ſo, wie ſie's ſehen wollen und vor allem haben ſie ein Talent, ſich mit Tugenden auszurüſten (erlaſſen Sie mir, dieſe Tugenden aufzuzählen), die ſie durchaus nicht beſitzen. Unter dieſen meiſt nur in der Vorſtellung exiſtierenden Tugenden be¬ findet ſich auch die der Gaſtlichkeit, wenigſtens hierlandes. Und nun gar unſre Pfarrmütter! Eine jede hält ſich für die heilige Eliſabeth mit den bekannten Broten im Korb. Haben Sie übrigens das Bild auf der Wart¬ burg geſehen? Unter allen Schwindſchen Sachen ſteht es mir ſo ziemlich obenan. Und in Wahrheit, um auf unſere Pfarrmütter zurückzukommen, liegt es doch ſo, daß ich mich bei paſtorlichen Junggeſellen immer am beſten aufgehoben gefühlt habe. “
Lorenzen lachte: „ Wenn Sie nur heute nicht wider¬ legt werden, Herr Superintendent. “
„ Ganz undenkbar, lieber Lorenzen. Ich bin noch nicht lang in dieſer Gegend, in meinem guten Quaden - Hennersdorf da drüben, aber wenn auch nicht lange, ſo doch lange genug, um zu wiſſen, wie's hier herum ausſieht. Und Ihr Renommee ... Sie ſollen ſo was von einem Feinſchmecker an ſich haben. Kann ich mir übrigens denken. Sie ſind Äſthetikus, und das iſt man nicht ungeſtraft, am wenigſten in Bezug auf die Zunge. Ja, das Äſthetiſche. Für manchen iſt es ein Unglück. Ich weiß[davon]. Das Haus hier vor uns iſt wohl Ihr Schulhaus? Weißgeſtrichen und kein Fetzchen Gardine, das iſt immer 'ne preußiſche Schule. So wird bei uns die Volksſeele für das, was ſchön iſt, groß gezogen. Aber es kommt auch was dabei heraus! Mitunter wundert's mich nur, daß ſie die Bauten aus der Zeit Friedrich Wilhelms I. nicht beſſer konſervieren. Eigentlich war das doch das Ideal. Graue Wand, hundert Löcher drin220 und unten großes Hauptloch. Und natürlich ein Schilder¬ haus daneben. Letzteres das Wichtigſte. Schade, daß ſo was verloren geht. Übrigens rettet hier der grüne Staketenzaun das Ganze ... Wie heißt doch der Lehrer? “
„ Krippenſtapel. “
„ Richtig, Krippenſtapel. Katzler nannte ihn ja während der Sitzung mit einer Art Aplomb. Ich er¬ innere mich noch, wie mir der Name wohlthat, als ich ihn das erſte Mal hörte. So heißt nicht jeder. Wie kommen Sie mit dem Manne aus? “
„ Sehr gut, Herr Superintendent. “
„ Freut mich aufrichtig. Aber es muß ein Kunſt¬ ſtück ſein. Er hat ein Geſicht wie 'ne Eule. Dabei ſo was Steifleinenes und zugleich Selbſtbewußtes. Der richtige Lehrer. Meiner in Quaden-Hennersdorf war ebenſo. Aber er läßt nun ſchon ein bißchen nach. “
Unter dieſen Worten waren ſie bis an die Pfarre gekommen, in der man, ohne daß ein Bote voraus¬ geſchickt worden wäre, doch ſchon wußte, daß der Herr Superintendent mit erſcheinen würde. Nun war er da. Nur wenige Minuten waren ſeit dem Aufbruch vom Krug her vergangen, die trotz Kürze für Frau Kulicke (eine Lehrers¬ witwe, die Lorenzen die Wirtſchaft führte) ausgereicht hatten, alles in Schick und Ordnung zu bringen. Auf dem länglichen Hausflur, an deſſen äußerſtem Ende man gleich beim Eintreten die blinkblanke Küche ſah, brannten ein paar helle Paraffinkerzen, während rechts daneben, in der offenſtehenden Studierſtube, eine große Lampe mit grünem Bilderſchirm ein gedämpftes Licht gab. Lorenzen ſchob den Sofatiſch, darauf Zeitungen hoch aufgeſchichtet lagen, ein wenig zurück und bat Koſeleger, Platz zu nehmen. Aber dieſer, eben jetzt das große Bild bemerkend, das in beinahe reicher Umrahmung über dem Sofa hing, nahm den ihm angebotenen Platz nicht gleich ein, ſondern ſagte, ſich über den Tiſch vorbeugend:221 „ Ah, gratuliere, Lorenzen. Kreuzabnahme; Rubens. Das iſt ja ein wunderſchöner Stich. Oder eigentlich Aquatinta. Dergleichen wird hier wohl im ſiebenmeiligen Umkreis nicht oft betroffen werden, nicht einmal in dem etwas heraufgepufften Rheinsberg; in Rheinsberg war man für Watteauſche Reifrockdamen auf einer Schaukel, aber nicht für Kreuzabnahmen und dergleichen. Und ſtammt auch ſicher nicht aus dem ſogenannten Schloß Ihres liebenswürdigen alten Herrn drüben, Rieſenkathe mit Glaskugel davor. Ach, wenn ich dieſe Glaskugeln ſehe. Und daneben das hier! Wiſſen Sie, Lorenzen, das Bild hier ruft mir eine ſchöne Stunde meines Lebens zurück, einen Reiſetag, wo ich mit Großfürſtin Wera vom Haag aus in Antwerpen war. Da ſah ich das Bild in der Kathedrale. Waren Sie da? “
Lorenzen verneinte.
„ Das wäre was für Sie. Dieſer Rubens im Original, in ſeiner Farbenallgewalt. Es heißt immer, daß er nur Flamänderinnen hätte malen können. Nun, das wäre wohl auch noch nicht das Schlimmſte geweſen. Aber er konnte mehr. Sehen Sie den Chriſtus. Wohl jedem, der draußen war, und zu dem die Welt mal in andern Zungen redete! Hier blüht der Bilderbogen, Türke links, Ruſſe rechts. Ach, Lorenzen, es iſt traurig, hier ver¬ ſauern zu müſſen. “
Als er ſo geſprochen, ließ er ſich, vor ſich hin¬ ſtarrend, in die Sofa-Ecke nieder, ganz wie in andre Zeiten verloren, und ſah erſt wieder auf, als ein junges Ding ins Zimmer trat, groß und ſchlank und blond, und dem Paſtor verlegen und errötend etwas zuflüſterte.
„ Meine gute Frau Kulicke, “ſagte Lorenzen, „ läßt eben fragen, ob wir unſern Imbiß im Nebenzimmer nehmen wollen? Ich möchte beinahe glauben, es iſt das beſte, wir bleiben hier. Es heißt zwar, ein E߬ zimmer müſſe kalt ſein. Nun, das hätten wir nebenan. 222Ich perſönlich finde jedoch das Temperierte beſſer. Aber ich bitte, beſtimmen zu wollen, Herr Superintendent. “
„ Temperiert. Mir aus der Seele geſprochen. Alſo wir bleiben, wo wir ſind ... Aber ſagen Sie mir, Lorenzen, wer war das entzückende Geſchöpf? Wie ein Bild von Knaus. Halb Prinzeß, halb Rotkäppchen. Wie alt iſt ſie denn? “
„ Siebzehn. Eine Nichte meiner guten Frau Kulicke. “
„ Siebzehn. Ach, Lorenzen, wie Sie zu beneiden ſind. Immer ſolche Menſchenblüte zu ſehn. Und ſieb¬ zehn, ſagen Sie. Ja, das iſt das Eigentliche. Sechzehn hat noch ein bißchen von der Eierſchale, noch ein bißchen den Einſegnungscharakter, und achtzehn iſt ſchon wieder all¬ täglich. Achtzehn kann jeder ſein. Aber ſiebzehn. Ein wunderbarer Mittelzuſtand. Und wie heißt ſie? “
„ Elfriede. “
„ Auch das noch. “
Lorenzen wiegte den Kopf und lächelte.
„ Ja, Sie lächeln, Lorenzen, und wiſſen nicht, wie gut Sie's haben in dieſer Ihrer Waldpfarre. Was ich hier ſehe, heimelt mich an, das ganze Dorf, alles. Wenn ich mir da beiſpielsweiſe den Tiſch wieder ver¬ gegenwärtige, dran wir, drüben im Krug, vor einer halben Stunde geſeſſen haben, an der linken Seite dieſer Krippenſtapel (er ſei wie er ſei) und an der rechten Seite dieſer Rolf Krake. Das ſind ja doch lauter Größen. Denn das Groteske hat eben auch ſeine Größen und nicht die Schlechteſten. Und dazu dieſer Katzler mit ſeiner Ermyntrud. All das haben Sie dicht um ſich her und dazu dies Kind, dieſe Elfriede, die hoffentlich nicht Kulicke heißt. — ſonſt bricht freilich mein ganzes Begeiſterungsgebäude wieder zuſammen. Und nun nehmen Sie mich, Ihren Superintendenten, das große Kirchenlicht dieſer Gegenden! Alles nackte Proſa, wider¬ haarige Kollegen und Amtsbrüder, die mir nicht ver¬223 zeihen können, daß ich im Haag war und mit einer Großfürſtin über Land fahren konnte. Glauben Sie mir, Großfürſtinnen, ſelbſt wenn ſie Mängel haben (und ſie haben Mängel), ſind mir immer noch lieber als das Landesgewächs von Quaden-Hennersdorf, und mitunter iſt mir zu Mut, als gäbe es keine Weltordnung mehr. “
„ Aber Herr Superintendent ... “
„ Ja, Lorenzen, Sie ſetzen ein überraſchtes Geſicht auf und wundern ſich, daß einer, für den die hohe Kleriſei ſo viel gethan und ihn zum Superintendenten in der geſegneten Mittelmark und der noch geſegneteren Grafſchaft Ruppin gemacht hat, — Sie wundern ſich, daß ſolch zehnmal Glücklicher ſolchen Hochverrat redet. Aber bin ich ein Glücklicher? Ich bin ein Unglück¬ licher ... “
„ Aber Herr Superintendent ... “
„ ... Und möchte, daß ich eine hundertundfünf¬ zig-Seelen-Gemeinde hätte, ſagen wir auf dem ‚ toten Mann‘ oder in der Tuchler Heide. Sehen Sie, dann wär 'es vorbei, dann müßt' ich beſtimmt: ‚ du biſt in den Skat gelegt‘. Und das kann unter Umſtänden ein Troſt ſein. Die Leute, die Schiffbruch gelitten und nun in einer Iſolierzelle ſitzen und Tüten kleben oder Wolle zupfen, das ſind nicht die Unglücklichſten. Unglücklich ſind immer bloß die Halben. Und als einen ſolchen habe ich die Ehre mich Ihnen vorzuſtellen. Ich bin ein Halber, vielleicht ſogar in dem, worauf es ankommt; aber laſſen wir das, ich will hier nur vom allgemein Menſchlichen ſprechen. Und daß ich auch in dieſem Menſchlichen ein Halber bin, das quält mich. Über das andre käm 'ich vielleicht weg. “
Lorenzens Augen wurden immer größer.
„ Sehen Sie, da war ich alſo — verzeihen Sie, daß ich immer wieder darauf zurückkomme — da war ich alſo mit ſiebenundzwanzig im Haag und kam in die224 vornehme Welt, die da zu Hauſe iſt. Und da war ich denn heut in Amſterdam und morgen in Scheveningen und den dritten Tag in Gent oder in Brügge. Brügge, Reliquienſchrein, Hans Memling — ſo was müßten Sie ſehn. Was ſollen uns dieſe ewigen Markgrafen oder gar die faule Grete? Mancher, ich weiß wohl, iſt für's härene Gewand oder zum Eremiten geboren. Ich nicht. Ich bin von der andern Seite; meine Seele hängt an Leben und Schönheit. Und nun ſpricht da draußen all dergleichen zu einem, und man tränkt ſich damit und hat einen Ehr¬ geiz, nicht einen kindiſchen, ſondern einen echten, der höher hinauf will, weil man da wirken und ſchaffen kann, für ſich gewiß, aber auch für andre. Danach dürſtet einen. Und nun kommt der Becher, der dieſen Durſt ſtillen ſoll. Und dieſer Becher heißt Quaden - Hennersdorf. Das Dorf, das mich umgiebt, iſt ein großes Bauerndorf, aufgeſteifte Leute, geſchwollen und hartherzig, und natürlich ſo trocken und trivial, wie die Leute hier alle ſind. Und noch ſtolz darauf. Ach, Lorenzen, immer wieder, wie beneide ich Sie! “
Während Koſeleger noch ſo ſprach, erſchien Frau Kulicke. Sie ſchob die Zeitungen zurück, um zwei Couverts legen zu können, und nun brachte ſie den Rotwein und ein Cabaret mit Brötchen. In dünnge¬ ſchliffene große Gläſer ſchenkte Lorenzen ein, und die beiden Amtsbrüder ſtießen an „ auf beſſere Zeiten. “ Aber ſie dachten ſich ſehr Verſchiedenes dabei, weil ſich der eine nur mit ſich, der andre nur mit andern beſchäftigte.
„ Wir könnten, glaub 'ich, “ſagte Lorenzen, „ neben den „ beſſeren Zeiten “noch dies und das leben laſſen. Zunächſt Ihr Wohl, Herr Superintendent. Und zum zweiten auf das Wohl unſers guten alten Stechlin, der uns doch heute zuſammengeführt. Ob wir ihn durch¬ bringen? Katzler that ſo ſicher und Kluckhuhn und225 Krippenſtapel nun ſchon ganz gewiß. Aber ich habe trotzdem Zweifel. Die Konſervativen — ich kann kaum ſagen ‚ unſre Parteigenoſſen‘, oder doch nur in ſehr be¬ dingtem Sinne — die Konſervativen ſind in ſich ge¬ ſpalten. Es giebt ihrer viele, denen unſer alter Stechlin um ein gut Teil zu flau iſt. ‚ Fortiter in re, suaviter in modo‘, hat neulich einer, der ſich auf Bildung aus¬ ſpielt, von dem Alten geſagt, und von ‚ suaviter‘, wenn auch nur ‚ in modo‘, wollen alle dieſe Herren nichts wiſſen. Unter dieſen Ultras iſt natürlich auch Gunder¬ mann auf Siebenmühlen, der Ihnen vielleicht bekannt geworden iſt ... “
„ Verſteht ſich. War neulich bei mir. Ein Mann von drei Redensarten, von denen die zwei beſten aus der Waſſermüllerſphäre genommen ſind. “
„ Nun, dieſer Gundermann, wie immer die Dummen, iſt zugleich Intrigant, und während er vorgiebt, für unſern guten alten Stechlin zu werben, tropft er den Leuten Gift ins Ohr und erzählt ihnen, daß der Alte ſenil ſei und keinen Schneid habe. Der alte Stechlin hat aber mehr Schneid als ſieben Gundermanns. Gunder¬ mann iſt ein Bourgeois und ein Parvenu, alſo ſo ziem¬ lich das Schlechteſte, was einer ſein kann. Ich bin ſchon zufrieden, wenn dieſer Jämmerling unterliegt. Aber um den Alten bin ich beſorgt. Ich kann nur wiederholen: es liegt nicht ſo günſtig für ihn, wie die Gegend hier ſich einbildet. Denn auf das arme Volk iſt kein Verlaß. Ein Verſprechen und ein Kornus, und alles ſchnappt ab. “
„ Ich werde das meine thun, “ſagte Koſeleger mit einer Miſchung von Pathos und Wohlwollen. Aber Lorenzen hatte dabei den Eindruck, daß ſein Quaden - Hennersdorfer Superintendent bereits ganz andern Bildern nachhing. Und ſo war es auch. Was war für Koſe¬ leger dieſe traurige Gegenwart? Ihn beſchäftigte nurFontane, Der Stechlin. 15226die Zukunft, und wenn er in die hineinſah, ſo ſah er einen langen, langen Korridor mit Oberlicht und am Ausgang ein Klingelſchild mit der Aufſchrift: „ Dr. Koſe¬ leger, Generalſuperintendent. “
So ziemlich um dieſelbe Stunde, wo die beiden Amtsbrüder „ auf beſſere Zeiten “anſtießen, hielt Katzlers Pürſchwagen — die Sterne blinkten ſchon — vor ſeiner Oberförſterei. Das Blaffen der Hunde, das, ſolange der Wagen noch weit ab war, unausgeſetzt über die Waldwieſe hingeklungen war, verkehrte ſich mit einem Mal in winſeliges Geheul und wunderliche Freuden¬ töne. Katzler ſprang aus dem Wagen, hing den Hut an einen im Flur ſtehenden Ständer (von den ewigen „ Geweihen “wollte er als feiner Mann nichts wiſſen) und trat gleich danach in das an der linken Flurſeite gelegene, matt erleuchtete Wohnzimmer ſeiner Frau. Das gedämpfte Licht ließ ſie noch blaſſer erſcheinen, als ſie war. Sie hatte ſich, als der Wagen hielt, von ihrem Sofaplatz erhoben und kam ihrem Manne, wie ſie regel¬ mäßig zu thun pflegte, wenn er aus dem Walde zurück¬ kam, zu freundlicher Begrüßung entgegen. Ein als Weihnachtsgeſchenk für eine jüngere Schweſter beſtimmtes Batiſttuch, in das ſie eben die letzte Zacke der Ippe - Büchſenſteinſchen Krone hineinſtickte, hatte ſie, bevor ſie ſich vom Sofa erhob, aus der Hand gelegt. Sie war nicht ſchön, dazu von einem lymphatiſch-ſentimentalen Ausdruck, aber ihre ſtattliche Haltung und mehr noch die Art, wie ſie ſich kleidete, ließen ſie doch als etwas durchaus Apartes und beinahe Fremdländiſches erſcheinen. Sie trug, nach Art eines Morgenrockes, ein glatt herab¬ hängendes, leis gelbgetöntes Wollkleid und als Eigen¬ tümlichſtes einen aus demſelben gelblichen Wollſtoff her¬227 geſtellten Kopfputz, von dem es unſicher blieb, ob er einen Turban oder eine Krone darſtellen ſollte. Das Ganze hatte etwas Gewolltes, war aber neben dem Auffälligen doch auch wieder kleidſam. Es ſprach ſich ein Talent darin aus, etwas aus ſich zu machen.
„ Wie glücklich bin ich, daß du wieder da biſt, “ſagte Ermyntrud. „ Ich habe mich recht gebangt, dies¬ mal nicht um dich, ſondern um mich. Ich muß dies egoiſtiſcherweiſe geſtehen. Es waren recht ſchwere Stunden für mich, die ganze Zeit, daß du fort warſt. “
Er küßte ihr die Hand und führte ſie wieder auf ihren Platz zurück. „ Du darfſt nicht ſtehen, Ermyn¬ trud. Und nun biſt du auch wieder bei der Stickerei. Das ſtrengt dich an und hat, wie du weißt, auf alles Einfluß. Der gute Doktor ſagte noch geſtern, alles ſei im Zuſammenhang. Ich ſeh 'auch, wie blaß du biſt. “
„ O, das macht der Schirm. “
„ Du willſt es nicht wahr haben und mir nichts ſagen, was vielleicht wie Vorwurf klingen könnte. Ich mache mir aber den Vorwurf ſelbſt. Ich mußte hier bleiben und nicht hin zu dieſer Stechliner Wahlver¬ ſammlung. “
„ Du mußteſt hin, Wladimir. “
„ Ich rechne es dir hoch an, Ermyntrud, daß du ſo ſprichſt. Aber es wäre ſchließlich auch ohne mich gegangen. Koſeleger war da, der konnte das Präſidium nehmen ſo gut wie ich. Und wenn der nicht wollte, ſo konnte Torfinſpektor Etzelius einſpringen. Oder viel¬ leicht auch Krippenſtapel. Krippenſtapel iſt doch zuletzt der, der alles macht. Jedenfalls liegt es ſo, wenn es der eine nicht iſt, iſt es der andre. “
„ Ich kann das zugeben. Wie könnte ſonſt die Welt beſtehen? Es giebt nichts, was uns ſo Demut predigte wie die Wahrnehmung von der Entbehrlich¬15*228keit des einzelnen. Aber darauf kommt es nicht an. Worauf es ankommt, das iſt Erfüllung unſrer Pflicht. “
Katzler, als er dies Wort hörte, ſah ſich nach einem Etwas um, das ihn in den Stand geſetzt hätte, dem Geſpräch eine andere Wendung zu geben. Aber, wie ſtets in ſolchen Momenten, das, was retten konnte, war nicht zu finden, und ſo ſah er denn wohl, daß er einem Vortrage der Prinzeſſin über ihr Lieblingsthema „ von der Pflicht “verfallen ſei. Dabei war er eigent¬ lich hungrig.
Ermyntrud wies auf ein Taburet, das ſie mittler¬ weile neben ihren Sofaplatz geſchoben, und ſagte: „ Daß ich immer wieder davon ſprechen muß, Wladimir. Wir leben eben nicht in der Welt um unſert -, ſondern um andrer willen. Ich will nicht ſagen um der Menſchheit willen, was eitel klingt, wiewohl es eigentlich wohl ſo ſein ſollte. Was uns obliegt, iſt nicht die Luſt des Lebens, auch nicht einmal die Liebe, die wirkliche, ſondern lediglich die Pflicht ... “
„ Gewiß, Ermyntrud. Wir ſind einig darüber. Es iſt dies außerdem auch etwas ſpeziell Preußiſches. Wir ſind dadurch vor andern Nationen ausgezeichnet, und ſelbſt bei denen, die uns nicht begreifen oder übelwollen, dämmert die Vorſtellung von unſrer daraus entſpringen¬ den Überlegenheit. Aber es giebt doch Unterſchiede, Grade. Wenn ich ſtatt zu der Stechliner Wählerver¬ ſammlung lieber zu Doktor Sponholz oder zur alten Stinten in Kloſter Wutz (die ja ſchon früher einmal dabei war) gefahren wäre, ſo wäre das doch vielleicht das Beſſere geweſen. Es iſt ein Glück, daß es noch mal ſo vorübergegangen. Aber darauf darf man nicht in jedem Falle rechnen. “
„ Nein, darauf darf man nicht in jedem Falle rechnen. Aber man darf darauf rechnen, daß, wenn man das Pflichtgemäße thut, man zugleich auch das229 Rechte thut. Es hängt ſo viel an der Wahl unſers alten trefflichen Stechlin. Er ſteht außerdem ſittlich höher als Kortſchädel, dem man, trotz ſeiner ſiebzig, allerhand nachſagen durfte. Stechlin iſt ganz intakt. Etwas ſehr Seltenes. Und einem ſittlichen Prinzip zum Siege zu verhelfen, dafür leben wir doch recht eigentlich. Dafür lebe wenigſtens ich. “
„ Gewiß, Ermyntrud, gewiß. “
„ In jedem Augenblicke ſeiner Obliegenheiten ein¬ gedenk ſein, ohne erſt bei Neigung oder Stimmung an¬ zufragen, das hab 'ich mir in feierlicher Stunde ge¬ lobt, du weißt, in welcher, und du wirſt mir das Zeugnis ausſtellen, daß ich dieſem Gelöbnis nachge¬ kommen ... “
„ Gewiß, Ermyntrud, gewiß. Es war unſer Fun¬ dament ... “
„ Und wenn es ſich um eine ſittliche Pflicht handelt, wie doch heute ganz offenbar, wie hätt 'ich da ſagen wollen: bleibe. Ich wäre mir klein vorgekommen, klein und untreu. “
„ Nicht untreu, Ermyntrud. “
„ Doch, doch. Es giebt viele Formen der Untreue. Das Perſönliche hat ſich der Familie zu bequemen und unterzuordnen und die Familie wieder der Geſellſchaft. In dieſem Sinne bin ich erzogen, und in dieſem Sinne that ich den Schritt. Verlange nicht, daß ich in irgend etwas dieſen Schritt zurückthue. “
„ Nie. “
Das kleine Dienſtmädchen, eine Heideläufertochter, deren ſtorres Haar, von keiner Bürſte gezähmt, immer weit abſtand, erſchien in dieſem Augenblicke, meldend, daß ſie das Theezeug gebracht habe.
Katzler nahm ſeiner Frau Arm, um ſie bis in das zweite, nach dem Hof hinaus gelegene Zimmer zu führen. Als er aber wahrnahm, wie ſchwer ihr das Gehen230 wurde, ſagte er. „ Ich freue mich, dich ſo ſprechen zu hören. Immer du ſelbſt. Ich bin aber doch in Un¬ ruhe und will morgen früh zur Frau ſchicken. “
Sie nickte zuſtimmend, während ein halb zärt¬ licher Blick den guten Katzler ſtreifte, der, ſolange das ihm nur zu wohlbekannte Geſpräch über Pflicht ge¬ dauert hatte, von Minute zu Minute verlegener ge¬ worden war.
Und nun war Wahltagmorgen. Kurz vor acht er¬ ſchien Lorenzen auf dem Schloß, um in Dubslavs ſchon auf der Rampe haltenden Kaleſchewagen einzuſteigen und mit nach Rheinsberg zu fahren. Der Alte, bereits ge¬ ſtiefelt und geſpornt, empfing ihn mit gewohnter Herz¬ lichkeit und guter Laune. „ Das iſt recht, Lorenzen. Und nun wollen wir auch gleich aufſteigen. Aber warum haben Sie mich nicht an Ihrem Pfarrgarten erwartet? Muß ja doch dran vorüber “— und dabei ſchob er ihm voll Sorglichkeit eine Decke zu, während die Pferde ſchon anrückten. „ Übrigens freut es mich trotzdem (man widerſpricht ſich immer), daß Sie nicht ſo praktiſch ge¬ weſen[und] doch lieber gekommen ſind. Es is 'ne Politeſſe. Und die Menſchen ſind jetzt ſo ſchrecklich unpoliert und geradezu unmanierlich ... Aber laſſen wir's; ich kann es nicht ändern, und es grämt mich auch nicht. “
„ Weil Sie gütig ſind und jene Heiterkeit haben, die, menſchlich angeſehn, ſo ziemlich unſer Beſtes iſt. “
Dubslav lachte. „ Ja, ſo viel iſt richtig; Kopf¬ hängerei war nie meine Sache, und wäre das verdammte Geld nicht ... Hören Sie, Lorenzen, das mit dem Mammon und dem goldnen Kalb, das ſind doch eigent¬ lich alles ſehr feine Sachen. “
„ Gewiß, Herr von Stechlin. “
232„ ... Und wäre das verdammte Geld nicht, ſo hätt 'ich den Kopf noch weniger hängen laſſen, als ich gethan. Aber das Geld. Da war, noch unter Friedrich Wilhelm III., der alte General von der Marwitz auf Friedersdorf, von dem Sie gewiß mal gehört haben, der hat in ſeinen Memoiren irgendwo geſagt: ‚ er hätte ſich aus dem Dienſt gern ſchon früher zurück¬ gezogen und ſei bloß geblieben um des Schlechteſten willen, was es überhaupt gäbe, um des Geldes willen‘ — und das hat damals, als ich es las, einen großen Eindruck auf mich gemacht. Denn es gehört was dazu, das ſo ruhig auszuſprechen. Die Menſchen ſind in allen Stücken ſo verlogen und unehrlich, auch in Geldſachen, faſt noch mehr als in Tugend. Und das will was ſagen. Ja, Lorenzen, ſo iſt es ... Na, laſſen wir's, Sie wiſſen ja auch Beſcheid. Und dann ſind das ſchlie߬ lich auch keine Betrachtungen für heute, wo ich gewählt werden und den Triumphator ſpielen ſoll. Übrigens geh' ich einem totalen Kladderadatſch entgegen. Ich werde nicht gewählt. “
Lorenzen wurde verlegen, denn was Dubslav da zuletzt ſagte, das ſtimmte nur zu ſehr mit ſeiner eignen Meinung. Aber er mußte wohl oder übel, ſo ſchwer es ihm wurde, das Gegenteil verſichern. „ Ihre Wahl, Herr von Stechlin, ſteht, glaub 'ich, feſt; in unſrer Gegend wenigſtens. Die Globſower und Dagower gehen mit gutem Beiſpiel voran. Lauter gute Leute. “
„ Vielleicht. Aber ſchlechte Muſikanten. Alle Menſchen ſind Wetterfahnen, ein bißchen mehr, ein bißchen weniger. Und wir ſelber machen's auch ſo. Schwapp, ſind wir auf der andern Seite. “
„ Ja, ſchwach iſt jeder, und ich mag mich auch nicht für all und jeden verbürgen. Aber in dieſem ſpeziellen Falle ... Selbſt Koſeleger ſchien mir voll Zuverſicht233 und Vertrauen, als er am Donnerstag noch mit mir plauderte. “
„ Koſeleger voll Vertrauen! Na, dann geht es gewiß in die Brüche. Wo Koſeleger Amen ſagt, das iſt ſchon ſo gut wie letzte Ölung. Er hat keine glückliche Hand, dieſer Ihr Amtsbruder und Vorgeſetzter. “
„ Ich teile leider einigermaßen Ihre Bedenken gegen ihn. Aber was vielleicht mit ihm verſöhnen kann, er hat angenehme Formen und durchaus etwas Verbindliches. “
„ Das hat er. Und doch, ſo ſehr ich ſonſt für Formen und Verbindlichkeiten bin, nicht für ſeine. Man ſoll einem Menſchen nicht ſeinen Namen vorhalten. Aber Koſeleger! Ich weiß immer nicht, ob er mehr Koſe oder mehr Leger iſt; vielleicht beides gleich. Er iſt wie 'ne Baiſertorte, ſüß, aber ungeſund. Nein, Lorenzen, da bin ich doch mehr für Sie. Sie taugen auch nicht viel, aber Sie ſind doch wenigſtens ehrlich. “
„ Vielleicht, “ſagte Lorenzen. „ Übrigens hat Koſe¬ leger inmitten ſeiner Verbindlichkeiten und ſchönen Worte doch auch wieder was Freies, beinah 'Gewagtes und iſt mir da neulich mit Bekenntniſſen gekommen, faſt wie ein Charakter. “
Dubslav lachte hell auf. „ Charakter. Aber Lorenzen. Wie können Sie ſich ſo hinters Licht führen laſſen. Ich verwette mich, er hat Ihnen irgend was über Ihre ‚ Gaben‘ geſagt; das iſt jetzt ſo Lieblingswort, das die Paſtoren immer gegenſeitig brauchen. Es ſoll beſcheiden und unperſönlich klingen und ſozuſagen alles auf In¬ ſpiration zurückführen, für die man ja, wie für alles, was von oben kommt, am Ende nicht kann. Es iſt aber gerade dadurch das Hochmütigſte ... War es ſo was? Hat er meinen klugen Lorenzen, eh 'er ſich als ‚ Charakter‘ ausſpielte, durch ſolche Schmeicheleien ein¬ gefangen? “
„ Es war nicht ſo, Herr von Stechlin. Sie thun234 ihm hier ausnahmsweiſe unrecht. Er ſprach überhaupt nicht über mich, ſondern über ſich und machte mir dabei ſeine Konfeſſions. Er geſtand mir beiſpielsweiſe, daß er ſich unglücklich fühle. “
„ Warum? “
„ Weil er in Quaden-Hennersdorf deplaciert ſei. “
„ Deplaciert. Das iſt auch ſolch Wort; das kenn 'ich. Wenn man durchaus will, iſt jeder deplaciert, ich, Sie, Krippenſtapel, Engelke. Ich müßte Präſes von einem Stammtiſch oder vielleicht auch ein Badedirektor ſein, Sie Miſſionar am Kongo, Krippenſtapel Kuſtos an einem märkiſchen Muſeum, und Engelke, nun der müßte gleich ſelbſt hinein, Nummer hundertdreizehn. Deplaciert! Alles bloß Eitelkeit und Größenwahn. Und dieſer Koſeleger mit dem Konſiſtorialratskinn! Er war Galopin bei' ner Großfürſtin; das kann er nicht vergeſſen, damit will er's nun zwingen, und in ſeinem Ärger und Unmut ſpielt er ſich auf den Charakter aus und verſteigt ſich, wie Sie ſagen, bis zu Konfeſſions und Gewagtheiten. Und wenn er nun reüſſierte (Gott verhüt 'es), ſo haben Sie den Scheiterhaufenmann comme il faut. Und der erſte, der' rauf muß, das ſind Sie. Denn er wird ſo¬ fort das Bedürfnis ſpüren, ſeine Gewagtheiten von heute durch irgend ein Brandopfer wieder wett zu machen. “
Unter dieſem Geſpräche waren ſie ſchließlich aus dem Walde heraus und näherten ſich einem beinah 'meilenlangen und bis an den Horizont ſich ausdehnenden Stück Bruchland, über das mehrere mit Kropfweiden und Silberpappeln beſetzte Wege ſtrahlenförmig auf Rheinsberg zuliefen. Alle dieſe Wege waren belebt, meiſt mit Fußgängern, aber auch mit Fuhrwerken. Eins davon, aus gelblichem Holz, das hell in der Sonne blinkte, war leicht zu erkennen.
„ Da fährt ja Katzler, “ſagte Dubslav. „ Über¬ raſcht mich beinah '. Es iſt nämlich, was Sie vielleicht235 noch nicht wiſſen werden, wieder was einpaſſiert; er ſchickte mir heute früh einen Boten mit der Nachricht davon, und daraus ſchloß ich, er würde nicht zur Wahl kommen. Aber Ermyntrud mit ihrer grandioſen Pflicht¬ vorſtellung wird ihn wohl wieder fortgeſchickt haben. “
„ Iſt es wieder ein Mädchen? “fragte Lorenzen.
„ Natürlich, und zwar das ſiebente. Bei ſieben (freilich müſſen es Jungens ſein) darf man. glaub ich, den Kaiſer zu Gevatter laden. Übrigens ſind mehrere bereits tot, und alles in allem iſt es wohl möglich, daß ſich Ermyntrud über das beſtändige ‚ bloß Mädchen‘ allerlei Sorgen und Gedanken macht. “
Lorenzen nickte. „ Kann mir's denken, daß die Prinzeſſin etwas wie eine zu leiſtende Sühne darin ſieht, Sühne wegen des von ihr gethanen Schrittes. Alles an ihr iſt ein wenig überſpannt. Und doch iſt es eine ſehr liebenswürdige Dame. “
„ Wovon niemand überzeugter iſt als ich, “ſagte Dubslav. „ Freilich bin ich beſtochen, denn ſie ſagt mir immer das Schmeichelhafteſte. Sie plaudre ſo gern mit mir, was auch am Ende wohl zutrifft. Und dabei wird ſie dann jedesmal ganz ausgelaſſen, trotzdem ſie eigentlich hochgradig ſentimental iſt. Sentimental, was nicht über¬ raſchen darf; denn aus Sentimentalität iſt doch ſchließlich die ganze Katzlerei hervorgegangen. Bin übrigens ernſtlich in Sorge, wo Hoheit den richtigen Taufnamen für das Jüngſtgeborene hernehmen wird. In dieſem Stücke, vielleicht dem einzigen, iſt ſie nämlich noch ganz und gar Prinzeſſin geblieben. Und Sie, lieber Lorenzeu, werden dabei ſicherlich mit zu Rate gezogen werden. “
„ Was ich mir nicht ſchwierig denken kann. “
„ Sagen Sie das nicht. Es giebt in dieſem Falle viel weniger Brauchbares, als Sie ſich vorzuſtellen ſcheinen. Prinzeſſinnen-Namen an und für ſich, ohne weitere Zu¬ that, ja, die giebt es genug. Aber damit iſt Ermyn¬236 trud nicht zufrieden; ſie verlangt ihrer Natur nach zu dem Dynaſtiſch-Genealogiſchen auch noch etwas poetiſch Märchenhaftes. Und das kompliziert die Sache ganz erheblich. Sie können das ſehen, wenn Sie die Katz¬ lerſche Kinderſtube durchmuſtern oder ſich die Namen der bisher Getauften ins Gedächtnis zurückrufen. Die Katz¬ lerſche Kronprinzeß heißt natürlich auch Ermyntrud, Und dann kommen ebenſo ſelbſtverſtändlich Dagmar und Thyra. Und danach begegnen wir einer Inez und einer Maud und zuletzt einer Arabella. Aber bei Arabella können Sie ſchon deutlich eine gewiſſe Verlegenheit wahr¬ nehmen. Ich würde ihr, wenn ſie ſich wegen des Jüngſt¬ geborenen an mich wendete, was Altjüdiſches vorſchlagen; das iſt ſchließlich immer das beſte. Was meinen Sie zu Rebekka? “
Lorenzen kam nicht mehr dazu. Dubslav dieſe Frage zu beantworten, denn eben jetzt waren ſie durch das Stück Bruchland hindurch und raſſelten bereits über einen ein weiteres Geſpräch unmöglich machenden Stein¬ damm weg, ſcharf auf Rheinsberg zu.
Dubslav war in ausgezeichneter Laune. Das prachtvolle Herbſtwetter, dazu das bunte Leben, alles hatte ſeine Stimmung gehoben, am meiſten aber, daß er unterwegs und beim Paſſieren der Hauptſtraße bereits Gelegenheit gehabt hatte, verſchiedene gute Freunde zu begrüßen. Von der Kirche her ſchlug es zehn, als er vor dem als Wahllokal etablierten Gaſthauſe „ Zum Prinzregenten “hielt, in deſſen Front denn auch bereits etliche mehr oder weniger verwogen ausſehende Wahl¬ männer ſtanden, alle bemüht, ihre Zettel an mutma߬ liche Parteigenoſſen auszuteilen.
237Drinnen im Saal war der Wahlakt ſchon im Gange. Hinter der Urne präſidierte der alte Herr von Zühlen, ein guter Siebziger, der die groteskeſten Feudal¬ anſichten mit ebenſo grotesker Bonhomie zu verbinden wußte, was ihm, auch bei ſeinen politiſchen Gegnern, eine große Beliebtheit ſicherte. Neben ihm, links und rechts, ſaßen Herr von Storbeck und Herr van dem Peerenboom, letzterer ein Holländer aus der Gegend von Delft, der vor wenig Jahren erſt ein großes Gut im Ruppiner Kreiſe gekauft und ſich ſeitdem zum Preußen und, was noch mehr ſagen wollte, zum ‚ Grafſchaftler‘ herangebildet hatte. Man ſah ihn aus allen möglichen Gründen — auch ſchon um ſeines ‚ van‘ willen — nicht ganz für voll an, ließ aber nichts davon merken, weil er der, bei den meiſten Grafſchaftlern ſtark ins Gewicht fallenden Haupteigenſchaft eines vor ſo und ſo viel Jahren in Batavia geborenen holländiſch-javaniſchen Kaffeehändlers nicht entbehrte. Seines Nachbarn von Storbeck Lebensgeſchichte war durchſchnittsmäßiger. Unter denen, die ſonſt noch am Komiteetiſch ſaßen, befand ſich auch Katzler, den Ermyntrud (wie Dubslav ganz richtig vermutet) mit der Bemerkung, „ daß im modernen bürger¬ lichen Staate Wählen ſo gut wie Kämpfen ſei “, von ihrem Wochenbette fortgeſchickt hatte. „ Das Kind wird inzwiſchen mein Engel ſein, und das Gefühl erfüllter Pflicht ſoll mich bei Kraft erhalten. “ Auch Gunder¬ mann, der immer mit dabei ſein mußte, ſaß am Komitee¬ tiſch. Sein Benehmen hatte was Aufgeregtes, weil er — wie Lorenzen bereits angedeutet — wirklich im geheimen gegen Dubslav intrigiert hatte. Daß er ſelber unterliegen würde, war klar und beſchäftigte ihn kaum noch, aber ihn erfüllte die Sorge, daß ſein voraufgegangenes doppeltes Spiel vielleicht an den Tag kommen könne.
Dubslav wollte die Sache gern hinter ſich haben. Er trat deshalb, nachdem er ſich draußen mit einigen238 Bekannten begrüßt und an jeden einzelnen ein paar Worte gerichtet hatte, vom Vorplatz her in das Wahl¬ lokal ein, um da ſo raſch wie möglich ſeinen Zettel in die Urne zu thun. Es traf ihn bei dieſer Prozedur der Blick des alten Zühlen, der ihm in einer Miſchung von Feierlichkeit und Ulk ſagen zu wollen ſchien: „ Ja, Stechlin, das hilft nu mal nicht; man muß die Komödie mit durchmachen. “ Dubslav kam übrigens kaum dazu, von dieſem Blicke Notiz zu nehmen, weil er Katzlers gewahr wurde, dem er ſofort entgegentrat, um ihm durch einen Händedruck zu dem ſiebenten Töchterchen zu gra¬ tulieren. An Gundermann ging der Alte ohne Notiz¬ nahme vorüber. Dies war aber nur Zufall; er wußte nichts von den Zweideutigkeiten des Siebenmühlners, und nur dieſer ſelbſt, weil er ein ſchlechtes Gewiſſen hatte, wurde verlegen und empfand des Alten Haltung wie eine Abſage.
Als Dubslav wieder draußen war, war natürlich die große Frage: „ Ja, was jetzt thun? “ Es ging erſt auf elf, und vor ſechs war die Geſchichte nicht vorbei, wenn ſich's nicht noch länger hinzog. Er ſprach dies auch einer Anzahl von Herren aus, die ſich auf einer vor dem Gaſthauſe ſtehenden Bank niedergelaſſen und hier dem Liquerkaſten des „ Prinzregenten “, der ſonſt immer erſt nach dem Diner auftauchte, vorgreifend zu¬ geſprochen hatten.
Es waren ihrer fünf, lauter Kreis - und Partei¬ genoſſen, aber nicht eigentlich Freunde, denn der alte Dubslav war nicht ſehr für Freundſchaften. Er ſah zu ſehr, was jedem einzelnen fehlte. Die da ſaßen und aus purer Langerweile ſich über die Vorzüge von Allaſch und Chartreuſe ſtritten, waren die Herren von Molchow, von Krangen und von Gnewkow, dazu Baron Beetz und ein Freiherr von der Nonne, den die Natur mit beſonderer Rückſicht auf ſeinen Namen geformt zu239 haben ſchien. Er trug eine hohe ſchwarze Krawatte, drauf ein kleiner vermickerter Kopf ſaß, und wenn er ſprach, war es, wie wenn Mäuſe pfeifen. Er war die komiſche Figur des Kreiſes und wurde gehänſelt, nahm es aber nicht übel, weil ſeine Mutter eine ſchleſiſche Gräfin auf „ inski “war, was ihm in ſeinen Augen ein ſolches Übergewicht ſicherte, daß er, wie Friedrich der Große, jeden Augenblick bereit war, „ die ſich etwa einſtellenden Pasquille niedriger hängen zu laſſen. “
„ Ich denke, meine Herren, “ſagte Dubslav, „ wir gehen in den Park. Da hat man doch immer was. An der einen Stelle ruht das Herz des Prinzen, und an der andern Stelle ruht er ſelbſt und hat ſogar eine Pyramide zu Häupten, wie wenn er Seſoſtris geweſen wäre. Ich würde gern einen andern nennen, aber ich kenne bloß den. “
„ Natürlich gehen wir in den Park, “ſagte von Gnewkow. „ Und es iſt ſchließlich immer noch ein Glück, daß man ſo was hat ... “
„ Und auch ein Glück, “ergänzte von Molchow, „ daß man ſolchen Wahltag wie heute hat, der einen ordentlich zwingt, ſich mal um Hiſtoriſches und Bildungs¬ mäßiges zu kümmern. Bismarcken is es auch mal ſo ge¬ gangen, noch dazu mit 'ner reichen Amerikanerin, und hat auch gleich (das heißt eigentlich lange nachher) das rechte Wort dafür gefunden. “
„ Der hat immer das rechte Wort gefunden. “
„ Immer. Aber weiter, Molchow. “
„ ... Und als nun alſo die reiche Amerikanerin ſo runde vierzig Jahr ſpäter ihn wiederſah und ſich bei ihm bedanken wollte von wegen des Bildermuſeums, in das er ſie halb aus Verlegenheit und halb aus Ritter¬ lichkeit begleitet und ihr mutmaßlich alle Bilder falſch erklärt hatte, da hat er all dieſen Dank abgewieſen und ihr — ich ſeh 'und hör' ihn ordentlich — in aller240 Fidelität geſagt, ſie habe nicht ihm, ſondern er habe ihr zu danken, denn wenn jener Tag nicht geweſen wäre, ſo hätt 'er das ganze Bildermuſeum höchſt wahrſchein¬ lich nie zu ſehen gekriegt. Ja, Glück hat er immer gehabt. Im großen und im kleinen. Es fehlt bloß noch, daß er hinterher auch noch Generaldirektor der königlichen Muſeen geworden wäre, was er ſchließlich doch auch noch gekonnt hätte. Denn eigentlich konnt' er alles und iſt auch beinah 'alles geweſen. “
„ Ja, “nahm Gnewkow, der aus Langerweile viel gereiſt war, ſeinen Urgedanken, daß ſolcher Park eigent¬ lich ein Glück ſei, wieder auf. „ Ich finde, was Molchow da geſagt hat, ganz richtig; es kommt drauf an, daß man 'reingezwungen wird, ſonſt weiß man überhaupt gar nichts. Wenn ich ſo bloß an Italien zurückdenke. Sehen Sie, da läuft man nu ſo' rum, was einen doch am Ende ſtrapziert, und dabei dieſer ewige pralle Sonnenſchein. Ein paar Stunden geht es; aber wenn man nu ſchon zweimal Kaffee getrunken und Granito gegeſſen hat, und es iſt noch nicht mal Mittag, ja, ich bitte Sie, was hat man da? Was fängt man da an? Gradezu ſchrecklich. Und da kann ich Ihnen bloß ſagen, da bin ich ein kirchlicher Menſch geworden. Und wenn man dann ſo von der Seite her ſtill eintritt und hat mit einem Male die Kühle um ſich 'rum, ja, da will man gar nicht wieder' raus und ſieht ſich ſo ſeine funfzig Bilder an, man weiß nicht, wie. Is doch immer noch beſſer als draußen. Und die Zeit vergeht, und die Stunde, wo man was Reguläres kriegt, läppert ſich ſo heran. “
„ Ich glaube doch, “ſagte der für kirchliche Kunſt ſchwärmende Baron Beetz, „ unſer Freund Gnewkow unter¬ ſchätzt die Wirkung, die, vielleicht gegen ſeinen Willen, die Quattrocentiſten auf ihn gemacht haben. Er hat ihre Macht an ſich ſelbſt empfunden, aber er will es241 nicht wahr haben, daß die Friſche von ihnen ausgegangen ſei. Jeder, der was davon verſteht ... “
„ Ja, Baron, das is es eben. Wer was davon verſteht! Aber wer verſteht was davon? Ich jeden¬ falls nicht. “
Unter dieſen Worten war man, vom „ Prinzregenten “aus, die Hauptſtraße hinuntergeſchritten und über eine kleine Brücke fort erſt in den Schloßhof und dann in den Park eingetreten. Der See plätſcherte leis. Kähne lagen da, mehrere an einem Steg, der von dem Kies¬ ufer her in den See hineinlief. Ein paar der Herren, unter ihnen auch Dubslav, ſchritten die ziemlich wacklige Bretterlage hinunter und blickten, als ſie bis ans Ende gekommen waren, wieder auf die beiden Schloßflügel und ihre kurzabgeſtumpften Türme zurück. Der Turm rechts war der, wo Kronprinz Fritz ſein Arbeitszimmer gehabt hatte.
„ Dort hat er gewohnt, “ſagte von der Nonne. „ Wie begrenzt iſt doch unſer Können. Mir weckt der Anblick ſolcher Fridericianiſchen Stätten immer ein Schmerz¬ gefühl über das Unzulängliche des Menſchlichen über¬ haupt, freilich auch wieder ein Hochgefühl, daß wir dieſer Unzulänglichkeit und Schwäche Herr werden können. Tod, wo iſt dein Stachel, Hölle, wo iſt dein Sieg? Dieſer König. Er war ein großer Geiſt, gewiß; aber doch auch ein verirrter Geiſt. Und je patriotiſcher wir fühlen, je ſchmerzlicher berührt uns die Frage nach dem Heil ſeiner Seele. Die Seelenmeſſen — das empfind 'ich in ſolchem Augenblicke — ſind doch eine wirklich troſtſpendende Seite des Katholizismus, und daß es (ſelbſtverſtändlich unter Gewähr eines höchſten Willens) in die Macht Überlebender gelegt iſt, eine Seele frei zu beten, das iſt und bleibt eine große Sache. “
„ Nonne, “ſagte Molchow, „ machen Sie ſich nicht komiſch. Was haben Sie für 'ne Vorſtellung vom liebenFontane, Der Stechlin. 16242Gott? Wenn Sie kommen und den alten Fritzen frei beten wollen, werden Sie 'rausgeſchmiſſen. “
Baron Beetz — auch ein Anzweifler des Philoſophen von Sansſouci — wollte ſeinem Freunde Nonne zu Hilfe kommen und erwog einen Augenblick ernſtlich, ob er nicht ſeinen in der ganzen Grafſchaft längſt bekannten Vortrag über die „ ſchiefe Ebene “oder „ c'est le premier pas qui coute “noch einmal zum beſten geben ſolle. Klugerweiſe jedoch ließ er es wieder fallen und war ein¬ verſtanden, als Dubslav ſagte: „ Meine Herren, ich meinerſeits ſchlage vor, daß mir unſern Auslug von dem Wackelſtege, drauf mir hier ſtehen (jeden Augenblick kann einer von uns ins Waſſer fallen), endlich aufgeben und uns lieber in einem der hier herum liegenden Kähne über den See ſetzen laſſen. Unterwegs, wenn noch welche da ſind, können wir Teichroſen pflücken und drüben am andern Ufer den großen Prinz Heinrich-Obelisken mit ſeinen franzöſiſchen Inſchriften durchſtudieren. Solche Rekapitulation ſtärkt einen immer hiſtoriſch und patrio¬ tiſch, und unſer Etappenfranzöſiſch kommt auch wieder zu Kräften. “
Alle waren einverſtanden, ſelbſt Nonne.
Gegen vier war man von dem Ausfluge zurück und hielt wieder vor dem „ Prinzregenten “, auf einem mit alten Bäumen beſetzten Platz, der wegen ſeiner Dreiecks¬ form ſchon von alter Zeit her den Namen „ Triangel¬ platz “führte. Die Wahlreſultate lagen noch keineswegs ſicher vor; es ließ ſich aber ſchon ziemlich deutlich er¬ kennen, daß viele Fortſchrittlerſtimmen auf den ſozial¬ demokratiſchen Kandidaten, Feilenhauer Torgelow, über¬ gehen würden, der, trotzdem er nicht perſönlich zugegen243 war, die kleinen Leute hinter ſich hatte. Hunderte ſeiner Parteigenoſſen ſtanden in Gruppen auf dem Triangel¬ platz umher und unterhielten ſich lachend über die Wahl¬ reden, die während der letzten Tage teils in Rheinsberg und Wutz, teils auf dem platten Lande von Rednern der gegneriſchen Parteien gehalten worden waren. Einer der mit unter den Bäumen Stehenden, ein Intimus Torgelows, war der Drechslergeſelle Söderkopp, der ſich ſchon lediglich in ſeiner Eigenſchaft als Drechslergeſelle eines großen Anſehns erfreute. Jeder dachte: der kann auch noch mal Bebel werden. „ Warum nicht? Bebel is alt, und dann haben wir den. “ Aber Söderkopp verſtand es auch wirklich, die Leute zu packen. Am ſchärfſten ging er gegen Gundermann vor. „ Ja, dieſer Gundermann, den kenn 'ich. Brettſchneider und Börſen¬ filou; jeder Groſchen is zuſammengejobbert. Sieben Mühlen hat er, aber bloß zwei Redensarten, und der Fortſchritt iſt abwechſelnd die ‚ Vorfrucht‘ und dann wieder der ‚ Vater‘ der Sozialdemokratie. Vielleicht ſtammen wir auch noch von Gundermann ab. So einer bringt alles fertig. “
Uncke, während Söderkopp ſo ſprach, war von Baum zu Baum immer näher gerückt und machte ſeine Notizen. In weiterer Entfernung ſtand Pyterke, ſchmunzelnd und ſichtlich verwundert, was Uncke wieder alles aufzuſchreiben habe.
Pyterkes Verwunderung über das „ Aufſchreiben “war nur zu berechtigt, aber ſie wär 'es um ein gut Teil weniger geweſen, wenn ſich Unckes aufhorchender Dienſt¬ eifer ſtatt dem Sozialdemokraten Söderkopp lieber dem Geſpräch einer nebenſtehenden Gruppe zugewandt hätte. Hier[plauderten] nämlich mehrere „ Staatserhaltende “von dem mutmaßlichen Ausgange der Wahl und daß es mit dem Siege des alten Stechlin von Minute zu Minute ſchlechter ſtünde. Beſonders die Rheins¬16 *244berger ſchienen den Ausſchlag zu ſeinen Ungunſten geben zu ſollen.
„ Hole der Teufel das ganze Rheinsberg! “verſchwor ſich ein alter Herr von Kraatz, deſſen roter Kopf, während er ſo ſprach, immer röter wurde. „ Dies elende Neſt! Wir bringen ihn wahr und wahrhaftig nicht durch, unſern guten alten Stechlin. Und was das ſagen will, das wiſſen wir. Wer gegen uns ſtimmt, ſtimmt auch gegen den König. Das iſt all eins. Das iſt das, was man jetzt ſolidariſch nennt. “
„ Ja, Kraatz, “nahm Molchow, an den ſich dieſe Rede vorzugsweiſe gerichtet hatte, das Wort, „ nennen Sie's, wie Sie wollen, ſolidariſch oder nicht; das eine ſagt nichts, und das andre ſagt auch nichts. Aber mit Ihrem Wort über Rheinsberg, da haben Sie's freilich getroffen. Aufmuckung war hier immer zu Hauſe, von Anfang an. Erſt frondierte Fritz gegen ſeinen Vater, dann frondierte Heinrich gegen ſeinen Bruder, und zuletzt frondierte Auguſt, unſer alter forſcher Prinz Auguſt, den manche von uns ja noch gut gekannt haben, ich ſage: frondierte unſer alter Auguſt gegen die Moral. Und das war natürlich das Schlimmſte. (Zuſtimmung und Heiterkeit.) Und beſtraft ſich zuletzt auch immer. Denn wiſſen Sie denn, meine Herren, wie's mit Auguſten ſchließlich ging, als er durchaus in den Himmel wollte? “
„ Nein. Wie war es denn, Molchow? “
„ Ja, er mußte da wohl 'ne halbe Stunde warten, und als er nu mit' nem Anſchnauzer gegen Petrus 'raus¬ fahren wollte, da ſagte ihm der Fels der Kirche: ‚ König¬ liche Hoheit, halten zu Gnaden, aber es ging nicht anders ‛. Und warum nicht? Er hatte die elftauſend Jungfrauen erſt in Sicherheit bringen müſſen. “
„ Stimmt, ſtimmt, “ſagte Kraatz. „ So war der245 Alte. Der reine Deubelskerl. Aber ſchneidig. Und ein richtiger Prinz. Und dann, meine Herren, — ja, du mein Gott, wenn man nu mal Prinz is, irgend was muß man doch von der Sache haben ... Und ſo viel weiß ich, wenn ich Prinz wäre ... “
Um ſechs ſtand das Wahlreſultat ſo gut wie feſt; einige Meldungen fehlten noch, aber das war aus Ort¬ ſchaften, die mit ihren paar Stimmen nichts mehr ändern konnten. Es lag zu Tage, daß die Sozialdemokraten einen beinahe glänzenden Sieg davon getragen hatten; der alte Stechlin ſtand weit zurück, Fortſchrittler Katzen¬ ſtein aus Granſee noch weiter. Im ganzen aber ließen beide beſiegte Parteien dies ruhig über ſich ergehen; bei den Freiſinnigen war wenig, bei den Konſervativen gar nichts von Verſtimmung zu merken. Dubslav nahm es ganz von der heiteren Seite, ſeine Parteigenoſſen noch mehr, von denen eigentlich ein jeder dachte: „ Siegen iſt gut, aber zu Tiſche gehen iſt noch beſſer. “ Und in der That, gegeſſen mußte werden. Alles ſehnte ſich danach, bei Forellen und einem guten Chablis die langweilige Prozedur zu vergeſſen. Und war man erſt mit den Forellen fertig, und dämmerte der Reh¬ rücken am Horizont herauf, ſo war auch der Sekt in Sicht. Im „ Prinz-Regenten “hielt man auf eine gute Marke.
Durch den oberen Saal hin zog ſich die Tafel: der Mehrzahl nach Rittergutsbeſitzer und Domänen¬ pächter, aber auch Gerichtsräte, die ſo glücklich waren, den „ Hauptmann in der Reſerve “mit auf ihre Karte ſetzen zu können. Zu dieſem Gros d'Armee geſellten247 ſich Forſt - und Steuerbeamte, Rentmeiſter, Prediger und Gymnaſiallehrer. An der Spitze dieſer ſtand Rektor Thormeyer aus Rheinsberg, der große, vorſtehende Augen, ein mächtiges Doppelkinn, noch mächtiger als Koſeleger, und außerdem ein Renommee wegen ſeiner Geſchichten hatte. Daß er nebenher auch ein in der Wolle gefärbter Konſervativer war, verſteht ſich von ſelbſt. Er hatte, was aber ſchon Jahrzehnte zurücklag, den großartigen Gedanken gefaßt und verwirklicht: die oſtelbiſchen Provinzen, da, wo ſie ſtrauchelten, durch Guſtav Kühnſche Bilderbogen auf den richtigen Pfad zurückzuführen, und war dafür dekoriert worden. Es hieß denn auch von ihm, „ er gälte was nach oben hin “, was aber nicht recht zutraf. Man kannte ihn „ oben “ganz gut.
Um halb ſieben (Lichter und Kronleuchter brannten bereits) war man unter den Klängen des Tannhäuſer¬ marſches die hie und da ſchon ausgelaufene Treppe hinaufgeſtiegen. Unmittelbar vorher hatte noch ein Schwanken wegen des Präſidiums bei Tafel ſtattge¬ funden. Einige waren für Dubslav geweſen, weil man ſich von ihm etwas Anregendes verſprach, auch ſpeziell mit Rückſicht auf die Situation. Aber die Majorität hatte doch ſchließlich Dubslavs Vorſitz als ganz un¬ denkbar abgelehnt, da der Edle Herr von Alten-Frieſack, trotz ſeiner hohen Jahre, mit zur Wahl gekommen war; der Edle Herr von Alten-Frieſack, ſo hieß es, ſei doch nun mal — und von einem gewiſſen Standpunkt aus auch mit Fug und Recht — der Stolz der Grafſchaft, überhaupt ein Unikum, und ob er nun ſprechen könne oder nicht, das ſei, wo ſich's um eine Prinzipienfrage handle, durchaus gleichgültig. Überhaupt, die ganze Geſchichte mit dem „ Sprechen-können “ſei ein moderner Unſinn. Die einfache Thatſache, daß der Alte von Alten-Frieſack da ſäße, ſei viel, viel wichtiger als eine248 Rede, und ſein großes Präbendenkreuz ziere nicht bloß ihn, ſondern den ganzen Tiſch. Einige ſprächen freilich immer von ſeinem Götzengeſicht und ſeiner Häßlichkeit, aber auch das ſchade nichts. Heutzutage, wo die meiſten Menſchen einen Friſeurkopf hätten, ſei es eine ordent¬ liche Erquickung, einem Geſicht zu begegnen, das in ſeiner Eigenart eigentlich gar nicht unterzubringen ſei. Dieſer von dem alten Zühlen, trotz ſeiner Vorliebe für Dubslav, eindringlich gehaltenen Rede war allgemein zugeſtimmt worden, und Baron Beetz hatte den götzen¬ haften Alten-Frieſacker an ſeinen Ehrenplatz geführt. Natürlich gab es auch Schandmäuler. An ihrer Spitze ſtand Molchow, der dem neben ihm ſitzenden Katzler zuflüſterte: „ Wahres Glück, Katzler, daß der Alte drüben die große Blumenvaſe vor ſich hat; ſonſt, ſo bei veau en tortue, — vorausgeſetzt, daß ſo was Feines über¬ haupt in Sicht ſteht — würd 'ich der Sache nicht ge¬ wachſen ſein. “
Und nun ſchwieg der von einem Thormeyerſchen Unterlehrer geſpielte Tannhäuſermarſch, und als eine beſtimmte Zeit danach der Moment für den erſten Toaſt da war, erhob ſich Baron Beetz und ſagte: „ Meine Herren. Unſer Edler Herr von Alten-Frieſack iſt von der Pflicht und dem Wunſch erfüllt, den Toaſt auf Seine Majeſtät den Kaiſer und König auszubringen. “ Und während der Alte, das Geſagte beſtätigend, mit ſeinem Glaſe grüßte, ſetzte der in ſeiner alter ego - Rolle verbleibende Baron Beetz hinzu: „ Seine Majeſtät der Kaiſer und König lebe hoch! “ Der Alten-Frieſacker gab auch hierzu durch Nicken ſeine Zuſtimmung, und während der junge Lehrer abermals auf den auf einer Rheinsberger Schloßauktion erſtandenen alten Flügel zueilte, ſtimmte man an der ganzen Tafel hin das „ Heil dir im Siegerkranz “an, deſſen erſter Vers ſtehend geſungen wurde.
249Das Offizielle war hierdurch erledigt, und eine gewiſſe Fidelitas, an der es übrigens von Anfang an nicht gefehlt hatte, konnte jetzt nachhaltiger in ihr Recht treten. Allerdings war noch immer ein wichtiger und zugleich ſchwieriger Toaſt in Sicht, der, der ſich mit Dubslav und dem unglücklichen Wahlausgange zu be¬ ſchäftigen hatte. Wer ſollte den ausbringen? Man hing dieſer Frage mit einiger Sorge nach und war eigentlich froh, als es mit einemmale hieß, Gundermann werde ſprechen. Zwar wußte jeder, daß der Siebenmühlener nicht ernſthaft zu nehmen ſei, ja, daß Sonderbarkeiten und[vielleicht] ſogar Scheiterungen in Sicht ſtünden, aber man tröſtete ſich, je mehr er ſcheitere, deſto beſſer. Die meiſten waren bereits in erheblicher Aufregung, alſo ſehr unkritiſch. Eine kleine Weile verging noch. Dann bat Baron Beetz, dem die Rolle des Feſtordners zuge¬ fallen war, für Herrn von Gundermann auf Sieben¬ mühlen ums Wort. Einige ſprachen ungeniert weiter, „ Ruhe, Ruhe! “riefen andre dazwiſchen, und als Baron Beetz noch einmal an das Glas geklopft und nun, auch ſeinerſeits um Ruhe bittend, eine leidliche Stille hergeſtellt hatte, trat Gundermann hinter ſeinen Stuhl und begann, während er mit affektierter Nonchalance ſeine Linke in die Hoſentaſche ſteckte.
„ Meine Herren. Als ich vor ſo und ſo viel Jahren in Berlin ſtudierte “(„ na nu “), „ als ich vor Jahren in Berlin ſtudierte, war da mal 'ne Hinrichtung ... “
„ Alle Wetter, der ſetzt gut ein. “
„ ... war da mal 'ne Hinrichtung, weil eine dicke Klempnermadamm, nachdem ſie ſich in ihren Lehr¬ burſchen verliebt, ihren Mann, einen würdigen Klempner¬ meiſter, vergiftet hatte. Und der Bengel war erſt ſieb¬ zehn. Ja, meine Herren, ſo viel muß ich ſagen, es kamen damals auch ſchon dolle Geſchichten vor. Und ich, weil ich den Gefängnisdirektor kannte, ich hatte250 Zutritt zu der Hinrichtung, und um mich' rum ſtanden lauter Aſſeſſoren und Referendare, ganz junge Herren, die meiſten mit 'nem Kneifer. Kneifer gab es damals auch ſchon. Und nun kam die Witwe, wenn man ſie ſo nennen darf, und ſah ſo weit ganz behäbig und beinahe füllig aus, weil ſie, was damals viel beſprochen wurde,' nen Kropf hatte, weshalb auch der Block ganz beſonders hatte hergerichtet werden müſſen. Sozuſagen mit 'nem Ausſchnitt. “
„ Mit 'nem Ausſchnitt ...; gut, Gundermann. “
„ Und als ſie nun, ich meine die Delinquentin, all die jungen Referendare ſah, wobei ihr wohl ihr Lehrling einfallen mochte ... “
„ Keine Verſpottung unſrer Referendare ... “
„ ... Wobei ihr vielleicht ihr Lehrling einfallen mochte, da trat ſie ganz nahe an den Schaffotrand heran und nickte uns zu (ich ſage ‚ uns‘, weil ſie mich auch anſah) und ſagte: ‚ Ja, ja, meine jungen Herrens, dat kommt davon ... ‘ Und ſehen Sie, meine Herren, dieſes Wort, wenn auch von einer Delinquentin her¬ rührend, bin ich ſeitdem nicht wieder losgeworden, und wenn ich ſo was erlebe wie heute, dann muß einem ſolch Wort auch immer wieder in Erinnerung kommen, und ich ſage dann auch, ganz wie die Alte damals ſagte: ‚ Ja, meine Herren, dat kommt davon. ‘ Und wovon kommt es? Von den Sozialdemokraten. Und wovon kommen die Sozialdemokraten? “
„ Vom Fortſchritt. Alte Geſchichte, kennen wir. Was Neues! “
„ Es[giebt] da nichts Neues. Ich kann nur be¬ ſtätigen, vom Fortſchritt kommt es. Und wovon kommt der? “ Davon, daß wir die Abſtimmungsmaſchine haben und das große Haus mit den vier Ecktürmen. Und wenn es meinetwegen ohne das große Haus nicht geht, weil das Geld für den Staat am Ende bewilligt werden251 muß — und ohne Geld, meine Herren, geht es nicht “(Zuſtimmung: „ ohne Geld hört die Gemütlichkeit auf “) — „ nun denn, wenn es alſo ſein muß, was ich zugebe, was ſollen wir, auch unter derlei gern gemachten Zu¬ geſtändniſſen, anfangen mit einem Wahlrecht, wo Herr von Stechlin gewählt werden ſoll, und wo ſein Kutſcher Martin, der ihn zur Wahl gefahren, thatſächlich gewählt wird oder wenigſtens gewählt werden kann. Und der Kutſcher Martin unſers Herrn von Stechlin iſt mir immer noch lieber als dieſer Torgelow. Und all das nennt ſich Freiheit. Ich nenn 'es Unſinn und viele thun des¬ gleichen. Ich denke mir aber, gerade dieſe Wahl, in einem Kreiſe, drin das alte Preußen noch lebt, gerade dieſe Wahl wird dazu beitragen, die Augen oben helle zu machen. Ich ſage nicht, welche Augen. “
„ Schluß, Schluß! “
„ Ich komme zum Schluß. Es hieß anno ſiebzig, daß ſich die Franzoſen als die ‚ glorreich Beſiegten‘ be¬ zeichnet hätten. Ein ſtolzes und nachahmenswertes Wort. Auch für uns, meine Herren. Und wie wir, ohne uns was zu vergeben, dieſen Sekt aus Frankreich nehmen, ſo dürfen wir, glaub 'ich, auch das eben citierte ſtolze Klagewort aus Frankreich herübernehmen. Wir ſind beſiegt, aber wir ſind glorreich Beſiegte. Wir haben eine Revanche. Die nehmen wir. Und bis dahin in alle Wege: Herr von Stechlin auf Schloß Stechlin, er lebe hoch! “
Alles erhob ſich und ſtieß mit Dubslav an. Einige freilich lachten, und von Molchow, als er einen neuen Weinkübel heranbeſtellte, ſagte zu dem neben ihm ſitzenden Katzler: „ Weiß der Himmel, dieſer Gundermann iſt und bleibt ein Eſel. Was ſollen wir mit ſolchen Leuten? Erſt beſchreibt er uns die Frau mit 'nem Kropf, und dann will er das große Haus abſchaffen. Ungeheure Dämelei. Wenn wir das große Haus nicht mehr haben,252 haben wir gar nichts; das iſt noch unſre Rettung, und die beinah' einzige Stelle, wo mir den Mund (ich ſage Mund) einigermaßen aufthun und was durchſetzen können. Wir müſſen mit dem Zentrum paktieren. Dann ſind wir egal 'raus. Und nun kommt dieſer Gundermann und will uns auch das noch nehmen. Es iſt doch' ne Wahrheit, daß ſich die Parteien und die Stände jedes¬ mal ſelbſt ruinieren. Das heißt, von ‚ Ständen‘ kann hier eigentlich nicht die Rede ſein; denn dieſer Gunder¬ mann gehört nicht mit dazu. Seine Mutter war 'ne Hebamme in Wrietzen. Drum drängt er ſich auch immer vor. “
Bald nach Gundermanns Rede, die ſchon eine Art Nachſpiel geweſen war, flüſterte Baron Beetz dem Alten - Frieſacker zu, daß es Zeit ſei, die Tafel aufzuheben. Der Alte wollte jedoch noch nicht recht, denn wenn er mal ſaß, ſaß er; aber als gleich danach mehrere Stühle gerückt wurden, blieb ihm nichts anderes übrig, als ſich an¬ zuſchließen, und unter den Klängen des „ Hohenfried¬ bergers “— der „ Prager “, darin es heißt, „ Schwerin fällt “, wäre mit Rückſicht auf die Geſamtſituation viel¬ leicht paßlicher geweſen — kehrte man in die Parterre¬ räume zurück, wo die Majorität dem Kaffee zuſprechen wollte, während eine kleine Gruppe von Allertapferſten in die Straße hinaustrat, um da, unter den Bäumen des „ Triangelplatzes “, ſich bei Sekt und Cognac des weiteren bene zu thun. Obenan ſaß von Molchow, neben ihm von Kraatz und van Peerenboom; Molchow gegenüber Direktor Thormeyer und der bis dahin mit der Feſtmuſik betraute Lehrer, der bei ſolchen Gelegen¬ heiten überhaupt Thormeyers Adlatus war. Sonder¬ barerweiſe hatte ſich auch Katzler hier niedergelaſſen (er ſehnte ſich wohl nach Eindrücken, die jenſeits aller „ Pflicht “lagen), und neben ihm, was beinahe noch mehr überraſchen konnte, ſaß von der Nonne. Molchow und253 Thormeyer führten das Wort. Von Wahl und Politik — nur über Gundermann fiel gelegentlich eine ſpöttiſche Bemerkung — war längſt keine Rede mehr, ſtatt deſſen befleißigte man ſich, die neueſten Klatſchgeſchichten aus der Grafſchaft heranzuziehen. „ Iſt es denn wahr, “ſagte Kraatz, „ daß die ſchöne Lilli nun doch ihren Vetter heiraten wird, oder richtiger, der Vetter die ſchöne Lilli? “
„ Vetter? “fragte Peerenboom.
„ Ach, Peerenboom, Sie wiſſen auch gar nichts; Sie ſitzen immer noch zwiſchen Ihren Delfter Kacheln und waren doch ſchon 'ne ganze Weile hier, als die Lilli-Geſchichte ſpielte. “
Peerenboom ließ ſich's geſagt ſein und begrub jede weitere Frage, was er, ohne ſich zu ſchädigen, auch ganz gut konnte, da kein Zweifel war, daß der, der das Lilli-Thema heraufbeſchworen, über kurz oder lang ohne¬ hin alles klarlegen würde. Das geſchah denn auch.
„ Ja, dieſe verdammten Kerle, “fuhr v. Kraatz fort, „ dieſe Lehrer! Entſchuldigen Sie, Luckhardt, aber Sie ſind ja beim Gymnaſium, da liegt alles anders, und der, der hier 'ne Rolle ſpielt, war ja natürlich bloß ein Hauslehrer, Hauslehrer bei Lillis jüngſtem Bruder. Und eines Tages waren beide weg, der Kandidat und Lilli. Selbſtverſtändlich nach England. Es kann einer noch ſo dumm ſein, aber von Gretna Green hat er doch mal gehört oder geleſen. Und da wollten ſie denn auch beide hin. Und ſind auch. Aber ich glaube, der Gretna Greenſche darf nicht mehr trauen. Und ſo nahmen ſie denn Lodgings in London, ganz ohne Trauung. Und es ging auch ſo, bis ihnen das kleine Geld ausging. “
„ Ja, das kennt man. “
„ Und da kamen ſie denn alſo wieder. Das heißt, Lilli kam wieder. Und ſie war auch ſchon vorher mit dem Vetter ſo gut wie verlobt geweſen. “
254„ Und der ſprang nu ab? “
„ Nicht ſo ganz. Oder eigentlich gar nicht. Denn Lilli iſt ſehr hübſch und nebenher auch noch ſehr reich. Und da ſoll denn der Vetter geſagt haben, er liebe ſie ſo ſehr, und wo man liebe, da verzeihe man auch. Und er halte auch eine Entſühnung für durchaus mög¬ lich. Ja, er ſoll dabei von Purgatorium geſprochen haben. “
„ Mißfällt mir, klingt ſchlecht, “ſagte Molchow. „ Aber was er vorher geſagt, ‚ Entſühnung‘, das iſt ein ſchönes Wort und eine ſchöne Sache. Nur das ‚ Wie‘, — ach, man weiß immer ſo wenig von dieſen Dingen, — will mir nicht recht einleuchten. Als Chriſt weiß ich natürlich (ſo ſchlimm ſteht es am Ende auch nicht mit einem), als Chriſt weiß ich, daß es eine Sühne giebt. Aber in ſolchem Falle? Thormeyer, was meinen Sie, was ſagen Sie dazu? Sie ſind ein Mann von Fach und haben alle Kirchenväter geleſen und noch ein paar mehr. “
Thormeyer verklärte ſich. Das war ſo recht ein Thema nach ſeinem Geſchmack; ſeine Augen wurden größer und ſein glattes Geſicht noch glatter.
„ Ja, “ſagte er, während er ſich über den Tiſch zu Molchow vorbeugte, „ ſo was giebt es. Und es iſt ein Glück, daß es ſo was giebt. Denn die arme Menſch¬ heit braucht es. Das Wort Purgatorium will ich ver¬ meiden, einmal, weil ſich mein proteſtantiſches Gewiſſen dagegen ſträubt, und dann auch wegen des Anklangs; aber es giebt eine Purifikation. Und das iſt doch eigent¬ lich das, worauf es ankommt: Reinheitswiederherſtellung. Ein etwas ſchwerfälliges Wort. Indeſſen die Sache, drum ſich's hier handelt, giebt es doch gut wieder. Sie be¬ gegnen dieſem Hange nach Reſtitution überall, und namentlich im Orient, — aus dem doch unſre ganze Kultur255 ſtammt, — finden Sie dieſe Lehre, dieſes Dogma, dieſe Thatſache. “
„ Ja, iſt es eine Thatſache? “
„ Schwer zu ſagen. Aber es wird als Thatſache genommen. Und das iſt ebenſogut. Blut ſühnt. “
„ Blut ſühnt, “wiederholte Molchow. „ Gewiß. Daher haben wir ja auch unſere Duellinſtitution. Aber wo wollen Sie hier die Blutſühne hernehmen? In dieſem Spezial¬ falle ganz undurchführbar. Der Hauslehrer iſt drüben in England geblieben, wenn er nicht gar nach Amerika gegangen iſt. Und wenn er auch wiederkäme, er iſt nicht ſatisfaktionsfähig. Wär 'er Reſerve-Offizier, ſo hätt' ich das längſt erfahren ... “
„ Ja, Herr von Molchow, das iſt die hieſige An¬ ſchauung. Etwas primitiv, naturwüchſig, das ſogenannte Blutracheprinzip. Aber es braucht nicht immer das Blut des Übelthäters ſelbſt zu ſein. Bei den Orien¬ talen ... “
„ Ach, Orientalen ... dolle Geſellſchaft ... “
„ Nun denn meinetwegen, bei faſt allen Völkern des Oſtens ſühnt Blut überhaupt. Ja mehr, nach orientaliſcher Anſchauung — ich kann das Wort nicht vermeiden, Herr von Molchow; ich muß immer wieder darauf zurückkommen — nach orientaliſcher Anſchauung ſtellt Blut die Unſchuld als ſolche wieder her. “
„ Na, hören Sie, Rektor. “
„ Ja, es iſt ſo, meine Herren. Und ich darf ſagen, es zählt das zu dem Feinſten und Tiefſinnigſten, was es giebt. Und ich habe da auch neulich erſt eine Ge¬ ſchichte geleſen, die das alles nicht bloß ſo obenhin beſtätigt, ſondern beinahe großartig beſtätigt. Und noch dazu aus Siam. “
„ Aus Siam? “
„ Ja, aus Siam. Und ich würde Sie damit be¬ helligen, wenn die Sache nicht ein bißchen zu lang wäre. 256Die Herren vom Lande werden ſo leicht ungeduldig, und ich wundere mich oft, daß ſie die Predigt bis zu Ende mitanhören. Daneben iſt freilich meine Geſchichte aus Siam ... “
„ Erzählen, Direktorchen, erzählen. “
„ Nun denn, auf Ihre Gefahr. Freilich auch auf meine ... Da war alſo, und es iſt noch gar nicht lange her, ein König von Siam. Die Siameſen haben nämlich auch Könige. “
„ Nu, natürlich. So tief ſtehen ſie doch nicht. “
„ Alſo da war ein König von Siam, und dieſer König hatte eine Tochter. “
„ Klingt ja wie aus 'm Märchen. “
„ Iſt auch, meine Herren. Eine Tochter, eine richtige Prinzeſſin, und ein Nachbarfürſt (aber von geringerem Stande, ſo daß man doch auch hier wieder an den Kandidaten erinnert wird) — dieſer Nachbarfürſt raubte die Prinzeſſin und nahm ſie mit in ſeine Heimat und ſeinen Harem, trotz alles Sträubens. “
„ Na, na. “
„ So wenigſtens wird berichtet. Aber der König von Siam war nicht der Mann, ſo was ruhig einzu¬ ſtecken. Er unternahm vielmehr einen heiligen Krieg gegen den Nachbarfürſten, ſchlug ihn und führte die Prinzeſſin im Triumphe wieder zurück. Und alles Volk war wie von Sieg und Glück berauſcht. Aber die Prin¬ zeſſin ſelbſt war ſchwermütig. “
„ Kann ich mir denken. Wollte wieder weg. “
„ Nein, ihr Herren. Wollte nicht zurück. Denn es war eine ſehr feine Dame, die gelitten hatte ... “
„ Ja. Aber wie ... “
„ Die gelitten hatte und fortan nur dem einen Ge¬ danken der Entſühnung lebte, dem Gedanken, wie das Unheilige, das Berührtſein, wieder von ihr genommen werden könne. “
257„ Geht nicht. Berührt is berührt. “
„ Mit nichten, Herr von Molchow. Die hohe Prieſter¬ ſchaft wurde herangezogen und hielt, wie man hier viel¬ leicht ſagen würde, einen Synod, in dem man ſich mit der Frage der Entſühnung oder, was daſſelbe ſagen will, mit der Frage der Wiederherſtellung der Virginität beſchäftigte. Man kam überein (oder fand es auch viel¬ leicht in alten Büchern), daß ſie in Blut gebadet werden müſſe. “
„ Brrr. “
„ Und zu dieſem Behufe wurde ſie bald danach in eine Tempelhalle geführt, drin zwei mächtige Wannen ſtanden, eine von rotem Porphyr und eine von weißem Marmor, und zwiſchen dieſen Wannen, auf einer Art Treppe, ſtand die Prinzeſſin ſelbſt. Und nun wurden drei weiße Büffel in die Tempelhalle gebracht, und der hohe Prieſter trennte mit einem Schnitt jedem der drei das Haupt vom Rumpf und ließ das Blut in die da¬ neben ſtehende Porphyrwanne fließen. Und jetzt war das Bad bereitet, und die Prinzeſſin, nachdem ſiameſiſche Jungfrauen ſie entkleidet hatten, ſtieg in das Büffelblut hinab, und der Hoheprieſter nahm ein heiliges Gefäß und ſchöpfte damit und goß es aus über die Prinzeſſin. “
„ Eine ſtarke Geſchichte; bei Tiſch hätt 'ich mehrere Gänge paſſieren laſſen. Ich find' es doch entſchieden zu viel. “
„ Ich nicht, “ſagte der alte Zühlen, der ſich in¬ zwiſchen eingefunden und ſeit ein paar Minuten mit zu¬ gehört hatte. „ Was heißt zu viel oder zu ſtark? Stark iſt es, ſo viel geb 'ich zu; aber nicht zu ſtark. Daß es ſtark iſt, das iſt ja eben der Witz von der Sache. Wenn die Prinzeſſin bloß einen Leberfleck gehabt hätte, ſo fänd' ich es ohne weiteres zu ſtark; es muß immer ein richtiges Verhältnis da ſein zwiſchen Mittel und Zweck. Ein Leberfleck iſt gar nichts. Aber bedenken Sie, 'ne richtigeFontane, Der Stechlin. 17258Prinzeſſin als Sklavin in einem Harem; da muß denn doch ganz anders vorgegangen werden. Wir reden jetzt ſo viel von ‚ großen Mitteln‘. Ja, meine Herren, auch hier war nur mit großen Mitteln was auszurichten. “
„ Igni et ferro, “beſtätigte der Rektor.
„ Und, “fuhr der alte Zühlen fort, „ ſo viel wird jedem einleuchten, um den Teufel auszutreiben (als den ich dieſen Nachbarfürſten und ſeine That durchaus an¬ ſehe), dazu mußte was Beſonderes geſchehn, etwas Beel¬ zebubartiges. Und das war eben das Blut dieſer drei Büffel. Ich find 'es nicht zu viel. “
Thormeyer hob ſein Glas, um mit dem alten Zühlen anzuſtoßen. „ Es iſt genau ſo, wie Herr von Zühlen ſagt. Und zuletzt geſchah denn auch glücklicherweiſe das, was unſre mehr auf Schönheit gerichteten Wünſche — denn wir leben nun mal in einer Welt der Schönheit — zufrieden ſtellen konnte. Direkt aus der Porphyrwanne ſtieg die Prinzeſſin in die Marmorwanne, drin alle Wohlgerüche Arabiens ihre Heimſtätte hatten, und alle Prieſter traten mit ihren Schöpfkellen aufs neue heran, und in Kaskaden ergoß es ſich über die Prinzeſſin, und man ſah ordentlich, wie die Schwermut von ihr abfiel und wie all das wieder aufblühte, was ihr der räuberiſche Nachbarfürſt genommen. Und zuletzt ſchlugen die Dienerinnen ihre Herrin in ſchneeweiße Gewänder und führten ſie bis an ein Lager und fächelten ſie hier mit Pfauenwedeln, bis ſie den Kopf ſtill neigte und ent¬ ſchlief. Und iſt nichts zurückgeblieben, und iſt ſpäter die Gattin des Königs von Annam geworden. Er ſoll aller¬ dings ſehr aufgeklärt geweſen ſein, weil Frankreich ſchon ſeit einiger Zeit in ſeinem Lande herrſchte. “
„ Hoffen wir, daß Lillis Vetter auch ein Einſehen hat. “
„ Er wird, er wird. “
Darauf ſtieß man an und alles brach auf. Die Wagen waren bereits vorgefahren und ſtanden in langer259 Reihe zwiſchen dem „ Prinz-Regenten “und dem Tri¬ angelplatz.
Auch der Stechliner Wagen hielt ſchon, und Martin, um ſich die Zeit zu vertreiben, knipſte mit der Peitſche. Dubslav ſuchte nach ſeinem Paſtor und begann ſchon un¬ geduldig zu werden, als Lorenzen endlich an ihn heran¬ trat und um Entſchuldigung bat, daß er habe warten laſſen. Aber der Oberförſter ſei ſchuld; der habe ihn in ein Geſpräch verwickelt, das auch noch nicht beendet ſei, weshalb er vorhabe, die Rückfahrt mit Katzler ge¬ meinſchaftlich zu machen.
Dubslav lachte. „ Na, dann mit Gott. Aber laſſen Sie ſich nicht zu viel erzählen. Ermyntrud wird wohl die Hauptrolle ſpielen oder noch wahrſcheinlicher der neu¬ zufindende Name. Werde wohl recht behalten ... Und nun vorwärts, Martin. “
Damit ging es über das holperige Pflaſter fort.
In der Stadt war ſchon alles ſtill; aber draußen auf der Landſtraße kam man an großen und kleinen Trupps von Häuslern, Teerſchwelern und Glashütten¬ leuten vorüber, die ſich einen guten Tag gemacht hatten und nun ſingend und johlend nach Hauſe zogen. Auch Frauensvolk war dazwiſchen und gab allem einen Bei¬ geſchmack.
So trabte Dubslav auf den als halber Weg gel¬ tenden Nehmitzſee zu. Nicht weit davon befand ſich ein Kohlenmeiler, Dietrichs-Ofen, und als Martin jetzt um die nach Süden vorgeſchobene Seeſpitze herumbiegen wollte, ſah er, daß wer am Wege lag, den Oberkörper unter Gras und Binſen verſteckt, aber die Füße quer über das Fahrgeleiſe.
Martin hielt an. „ Gnädiger Herr, da liegt wer. Ich glaub ', es iſt der alte Tuxen. “
17*260„ Tuxen, der alte Süffel von Dietrichs-Ofen? “
„ Ja, gnädiger Herr. Ich will mal ſehen, was es mit ihm is. “
Und dabei gab er die Leinen an Dubslav und ſtieg ab und rüttelte und ſchüttelte den am Wege Liegenden. „ Awer Tuxen, wat moakſt du denn hier? Wenn keen Moonſchien wiehr, wiehrſt du nu all kaput. “
„ Joa, joa, “ſagte der Alte. Aber man ſah, daß er ohne rechte Beſinnung war.
Und nun ſtieg Dubslav auch ab, um den ganz Unbehilflichen mit Martin gemeinſchaftlich auf den Rückſitz zu legen. Und bei dieſer Prozedur kam der Trunkene einigermaßen wieder zu ſich und ſagte: „ Nei, nei, Martin, nich doa; pack mi lewer vörn upp'n Bock. “
Und wirklich, ſie hoben ihn da hinauf, und da ſaß er nun auch ganz ſtill und ſagte nichts. Denn er ſchämte ſich vor dem gnädigen Herrn.
Endlich aber nahm dieſer wieder das Wort und ſagte: „ Nu ſage mal, Tuxen, kannſt du denn von dem Branntwein nich laſſen? Legſt dich da hin; is ja ſchon Nachtfroſt. Noch 'ne Stunde, dann warſt du dod. Waren ſie denn alle ſo?
„ Mehrſchtendeels. “
„ Und da habt ihr denn für den Katzenſtein ge¬ ſtimmt. “
„ Nei, gnäd'ger Herr, vör Katzenſtein nich. “
Und nun ſchwieg er wieder, während er vorn auf dem Bock unſicher hin und her ſchwankte.
„ Na, man 'raus mit der Sprache. Du weißt ja, ich reiß' keinem den Kopp ab. Is auch alles egal. Alſo für Katzenſtein nich. Na, für wen denn? “
„ Vör Torgelow'n. “
Dubslav lachte. „ Für Torgelow, den euch die Berliner hergeſchickt haben. Hat er denn ſchon was für euch gethan? “
261„ Nei, noch nich. “
„ Na, warum denn? “
„ Joa, ſe ſeggen joa, he will wat för uns duhn un is ſo ſihr för de armen Lüd. Un denn kriegen wi joa'n Stück Tüffelland. Un ſe ſeggen ook, he is klöger, as de annern ſinn. “
„ Wird wohl. Aber er is doch noch lange nich ſo klug, wie ihr dumm ſeid. Habt ihr denn ſchon ge¬ hungert? “
„ Nei, dat grad nich. “
„ Na, das kann auch noch kommen. “
„ Ach, gnäd'ger Herr, dat wihrd joa woll nich. “
„ Na, wer weiß, Tuxen. Aber hier is Dietrichs - Ofen. Nu ſteigt ab und ſeht Euch vor, daß Ihr nicht fallt, wenn die Pferde anrucken. Und hier habt Ihr was. Aber nich mehr für heut. Für heut habt Ihr genug. Und nu macht, daß Ihr zu Bett kommt und träumt von, Tüffelland‘. “
Woldemar erfuhr am andern Morgen aus Zeitungs¬ telegrammen, daß der ſozialdemokratiſche Kandidat, Feilen¬ hauer Torgelow, im Wahlkreiſe Rheinsberg-Wutz geſiegt habe. Bald darauf traf auch ein Brief von Lorenzen ein, der zunächſt die Telegramme beſtätigte und am Schluſſe hinzuſetzte, daß Dubslav eigentlich herzlich froh über den Ausgang ſei. Woldemar war es auch. Er ging davon aus, daß ſein Vater wohl das Zeug habe, bei Dreſſel oder Borchardt mit viel gutem Menſchen¬ verſtand und noch mehr Eulenſpiegelei ſeine Meinung über allerhand politiſche Dinge zum beſten zu geben; aber im Reichstage fach - und ſachgemäß ſprechen, das konnt 'er nicht und wollt' er auch nicht. Woldemar war ſo durchdrungen davon, daß er über die Vorſtellung einer Niederlage, dran er als Sohn des Alten immer¬ hin wie beteiligt war, verhältnismäßig raſch hinwegkam, pries es aber doch, um eben dieſe Zeit mit einem Kom¬ mando nach Oſtpreußen hin betraut zu werden, das ihn auf ein paar Wochen von Berlin fernhielt. Kam er dann zurück, ſo waren Anfragen in dieſer Wahlangelegen¬ heit nicht mehr zu befürchten, am wenigſten innerhalb ſeines Regiments, in dem man ſich, von ein paar In¬ timſten abgeſehen, eigentlich ſchon jetzt über den unlieb¬ ſamen Zwiſchenfall ausſchwieg.
Und in Schweigen hüllte man ſich auch am Kron¬266 prinzen-Ufer, als Woldemar hier am Abend vor ſeiner Abreiſe noch einmal vorſprach, um ſich bei der gräflichen Familie zu verabſchieden. Es wurde nur ganz obenhin von einem abermaligen Siege der Sozialdemokratie ge¬ ſprochen, ein abſichtlich flüchtiges Berühren, das nicht auffiel, weil ſich das Geſpräch ſehr bald um Rex und Czako zu drehen begann, die, ſeit lange dazu aufgefordert, gerade den Tag vorher ihren erſten Beſuch im Barby¬ ſchen Hauſe gemacht und beſonders bei dem alten Grafen viel Entgegenkommen gefunden hatten. Auch Meluſine hatte ſich durch den Beſuch der Freunde durchaus zu¬ friedengeſtellt geſehen, trotzdem ihr nicht entgangen war, was, nach freilich entgegengeſetzten Seiten hin, die Schwäche beider ausmachte.
„ Wovon der eine zu wenig hat, “ſagte ſie, „ davon hat der andre zu viel. “
„ Und wie zeigte ſich das, gnädigſte Gräfin? “
„ O, ganz unverkennbar. Es traf ſich, daß im ſelben Augenblicke, wo die Herren Platz nahmen, drüben die Glocken der Gnadenkirche geläutet wurden, was denn — man iſt bei ſolchen erſten Beſuchen immer dankbar, an irgend was anknüpfen zu können — unſer Geſpräch ſofort aufs Kirchliche hinüberlenkte. Da legitimierten ſich dann beide. Hauptmann Czako, weil er ahnen mochte, was ſein Freund in nächſter Minute ſagen würde, gab vorweg deutliche Zeichen von Ungeduld, während Herr von Rex in der That nicht nur von dem ‚ Ernſt der Zeiten‘ zu ſprechen anfing, ſondern auch von dem Bau neuer Kirchen einen allgemeinen, uns nahe bevor¬ ſtehenden Umſchwung erwartete. Was mich natürlich erheiterte. “
Woldemars Kommando nach Oſtpreußen war bis auf Anfang November berechnet, und mehr als einmal267 ſprachen im Verlaufe dieſer Zeit Rex und Czako bei den Barbys vor. Freilich immer nur einzeln. Verab¬ redungen zu gemeinſchaftlichem Beſuche waren zwar mehr¬ fach eingeleitet worden, aber jedesmal erfolglos, und erſt zwei Tage vor Woldemars Rückkehr fügte es ſich, daß ſich die beiden Freunde bei den Barbys trafen. Es war ein ganz beſonders gelungener Abend, da neben der Baronin Berchtesgaden und Dr. Wrſchowitz auch ein alter Malerprofeſſor (eine neue Bekanntſchaft des Hauſes) zugegen war, was eine ſehr belebte Konverſation herbei¬ führte. Beſonders der neben ſeinen andern Apartheiten auch durch langes weißes Haar und große Leuchte-Augen ausgezeichnete Profeſſor, hatte, — geſtützt auf einen un¬ entwegten Peter Cornelius-Enthuſiasmus, — alles hin¬ zureißen gewußt. „ Ich bin glücklich, noch die Tage dieſes großen und einzig daſtehenden Künſtlers geſehen zu haben. Sie kennen ſeine Kartons, die mir das Bedeutendſte ſcheinen, was wir überhaupt hier haben. Auf dem einen Karton ſteht im Vordergrund ein Tubabläſer und ſetzt das Horn an den Mund, um zu Gericht zu rufen. Dieſe eine Geſtalt balanciert fünf Kunſtausſtellungen, will alſo ſagen netto 15000 Bilder. Und eben dieſe Kartons, ſamt dem Bläſer zum Gericht, die wollen ſie jetzt fort¬ ſchaffen und ſagen dabei in naiver Effronterie, ſolch ſchwarzes Zeug mit Kohlenſtrichen dürfe überhaupt nicht ſo viel Raum einnehmen. Ich aber ſage Ihnen, meine Herrſchaften, ein Kohlenſtrich von Cornelius iſt mehr wert als alle modernen Paletten zuſammengenommen, und die Tuba, die dieſer Tubabläſer da an den Mund ſetzt — verzeihen Sie mir altem Jüngling dieſen Ka¬ lauer —, dieſe Tuba wiegt alle Tuben auf, aus denen ſie jetzt ihre Farben herausdrücken. Beiläufig auch eine miſerable Neuerung. Zu meiner Zeit gab es noch Beutel, und dieſe Beutel aus Schweinsblaſe waren viel beſſer. Ein wahres Glück, daß König Friedrich Wilhelm IV.268 dieſe jetzt etablierte Niedergangsepoche nicht mehr erlebt hat, dieſe Zeit des Abfalls, ſo recht eigentlich eine Zeit der apokalyptiſchen Reiter. Bloß zu den dreien, die der große Meiſter uns da geſchaffen hat, iſt heutzutage noch ein vierter Reiter gekommen, ein Miſchling von Neid und Ungeſchmack. Und dieſer vierte ſichelt am ſtärkſten. “
Alles nickte, ſelbſt die, die nicht ganz ſo dachten, denn der Alte mit ſeinem Apoſtelkopfe hatte ganz wie ein Prophet geſprochen. Nur Meluſine blieb in einer ſtillen Oppoſition und flüſterte der Baronin zu: „ Tuba¬ bläſer. Mir perſönlich iſt die Böcklinſche Meerfrau mit dem Fiſchleib lieber. Ich bin freilich Partei. “
Die Abende bei den Barbys ſchloſſen immer zu früher Stunde. So war es auch heute wieder. Es ſchlug eben erſt zehn, als Rex und Czako auf die Straße hinaustraten und drüben an dem langgeſtreckten Ufer Tauſende von Lichtern vor ſich hatten, von denen die vorderſten ſich im Waſſer ſpiegelten.
„ Ich möchte wohl noch einen Spaziergang machen, “ſagte Czako. „ Was meinen Sie, Rex? Sind Sie mit dabei? Wir gehen hier am Ufer entlang, an den Zelten vorüber bis Bellevue, und da ſteigen wir in die Stadt¬ bahn und fahren zurück, Sie bis an die Friedrichsſtraße, ich bis an den Alexanderplatz. Da iſt jeder von uns in drei Minuten zu Haus. “
Rex war einverſtanden. „ Ein wahres Glück, “ſagte er, „ daß wir uns endlich mal getroffen haben. Seit faſt drei Wochen kennen wir nun das Haus und haben noch keine Ausſprache darüber gehabt. Und das iſt doch immer die Hauptſache. Für Sie gewiß. “
„ Ja, Rex, das ‚ für Sie gewiß‘, das ſagen Sie ſo ſpöttiſch und überheblich, weil Sie glauben, Klatſchen269 ſei was Inferiores und für mich gerade gut genug. Aber da machen Sie meiner Meinung nach einen doppelten Fehler. Denn erſtlich iſt Klatſchen überhaupt nicht inferior, und zweitens klatſchen Sie gerade ſo gern wie ich und vielleicht noch ein bißchen lieber. Sie bleiben nur immer etwas ſteifer dabei, lehnen meine Frivolitäten zunächſt ab, warten aber eigentlich darauf. Im übrigen denk 'ich, wir laſſen all das auf ſich beruhn und ſprechen lieber von der Hauptſache. Ich finde, wir können unſerm Freunde Stechlin nicht dankbar genug dafür ſein, uns mit einem ſo liebenswürdigen Hauſe bekannt gemacht zu haben. Den Wrſchowitz und den alten Malerprofeſſor, der von dem Engel des Gerichts nicht loskonnte, — nun die beiden ſchenk' ich Ihnen (ich denke mir, der Maler wird wohl nach Ihrem Geſchmacke ſein), aber die andern, die man da trifft, wie reizend alle, wie natür¬ lich. Obenan dieſer Frommel, dieſer Hofprediger, der mir am Theetiſch faſt noch beſſer gefällt als auf der Kanzel. Und dann dieſe bayriſche Baronin. Es iſt doch merkwürdig, daß die Süddeutſchen uns im Geſell¬ ſchaftlichen immer um einen guten Schritt vorauf ſind, nicht von Bildungs, aber von glücklicher Natur wegen. Und dieſe glückliche Natur, das iſt doch die wahre Bildung. “
„ Ach Czako, Sie überſchätzen das. Es iſt ja richtig, wenn Sie da ſo die Würſtel aus dem großen Keſſel herausholen und irgend eine Loni oder Toni mit dem Maßkrug kommt, ſo ſieht das nach was aus, und wir kommen uns wie verhungerte Schulmeiſter daneben vor. Aber eigentlich iſt das, was wir haben, doch das Höhere. “
„ Gott bewahre. Alles, was mit Grammatik und Examen zuſammenhängt, iſt nie das Höhere. Waren die Patriarchen examiniert, oder Moſes oder Chriſtus? Die Phariſäer waren examiniert. Und da ſehen Sie, was dabei herauskommt. Aber, um mehr in der Nähe270 zu bleiben, nehmen Sie den alten Grafen. Er war freilich Botſchaftsrat, und das klingt ein bißchen nach was; aber eigentlich iſt er doch auch bloß ein un¬ examinierter Naturmenſch, und das gerade giebt ihm ſeinen Charme. Beiläufig, finden Sie nicht auch, daß er dem alten Stechlin ähnlich ſieht? “
„ Ja, äußerlich. “
„ Auch innerlich. Natürlich 'ne andre Nummer, aber doch derſelbe Zwirn, — Pardon für den etwas abgehaſpelten Berolinismus. Und wenn Sie vielleicht an Politik gedacht haben, auch da iſt wenig Unterſchied. Der alte Graf iſt lange nicht ſo liberal und der alte Dubslav lange nicht ſo junkerlich, wie's ausſieht. Dieſer Barby, deſſen Familie, glaub' ich, vordem zu den Reichsunmittelbaren gehörte, dem ſteckt noch ſo was von ‚ Gottesgnadenſchaft‘ in den Knochen, und das giebt dann die bekannte Sorte von Vornehmheit, die ſich den Liberalismus glaubt gönnen zu können. Und der alte Dubslav, nun, der hat dafür das im Leibe, was die richtigen Junker alle haben: ein Stück Sozialdemokratie. Wenn ſie gereizt werden, bekennen ſie ſich ſelber dazu. “
„ Sie verkennen das, Czako. Das alles iſt ja bloß Spielerei. “
„ Ja, was heißt Spielerei? Spielen. Wir haben ſchöne alte Fibelverſe, die vor der Gefährlichkeit des Mit-dem-Feuerſpielens warnen. Aber laſſen wir Dubslav und den alten Barby. Wichtiger ſind doch zuletzt immer die Damen, die Gräfin und die Comteſſe. Welche wird es? Ich glaube, wir haben ſchon mal darüber ge¬ ſprochen, damals, als wir von Kloſter Wutz her über den Kremmerdamm ritten. Viel Vertrauen zu Freund Woldemars richtigem Frauenverſtändnis hab 'ich eigent¬ lich nicht, aber ich ſage trotzdem: Meluſine. “
„ Und ich ſage: Armgard. Und Sie ſagen es im Stillen auch. “
271Es war zwei Tage vor Woldemars Rückkehr aus Oſtpreußen, daß Rex und Czako dies Tiergartengeſpräch führten. Eine halbe Stunde ſpäter fuhren ſie, wie ver¬ abredet, vom Bellevuebahnhof aus wieder in die Stadt zurück. Überall war noch ein reges Leben und Treiben, und Leben war denn auch in dem aus bloß drei Zimmern verſchiedener Größe ſich zuſammenſetzenden Kaſino der Gardedragoner. In dem zunächſt am Flur gelegenen großen Speiſeſaale, von deſſen Wänden die früheren Kommandeure des Regiments, Prinzen und Nichtprinzen, herniederblickten, ſah man nur wenig Gäſte. Daneben aber lag ein Eckzimmer, das mehr Inſaſſen und mehr flotte Bewegung hatte. Hier, über dem ſchräg geſtellten Kamin, drin ein kleines Feuer flackerte, hing ſeit kurzem das Bildnis des „ hohen Chefs “des Regiments, der Königin von England, und in der Nähe eben dieſes Bildes ein ruhmreiches Erinnerungsſtück aus dem ſechs¬ undſechziger und ſiebziger Kriege: die Trompete, darauf derſelbe Mann, Stabstrompeter Wollhaupt, erſt am 3. Juli auf der Höhe von Lipa und dann am 16. Auguſt bei Mars la Tour das Regiment zur Attacke gerufen hatte, bis er an der Seite ſeines Oberſten fiel; der Oberſt mit ihm.
Dies Eckzimmer war, wie gewöhnlich, auch heute der bevorzugte kleine Raum, drin ſich jüngere und ältere Offiziere zu Spiel und Plauderei zuſammengefunden hatten, unſer ihnen die Herren von Wolfshagen, von Herbſtfelde, von Wohlgemuth, von Grumbach, von Raſpe.
„ Weiß der Himmel, “ſagte Raſpe, „ wir kommen aus den Abordnungen auch gar nicht mehr heraus. Wir haben freilich drei Sendens im Regiment, aber es ſind der Sendbotſchaften doch faſt zu viel. Und dies¬ mal nun auch unſer Stechlin dabei. Was wird er ſagen, wenn er oben in Oſtpreußen von der ihm zu¬ gedachten Ehre hört. Er wird vielleicht ſehr gemiſchte272 Gefühle haben. Übermorgen iſt er von Trakehnen wieder da, mutmaßlich bei dem ſcheußlichen Wetter ſchlecht ajuſtiert, und dann Hals über Kopf und in großem Trara nach London. Und London ginge noch. Aber auch nach Windſor. Alles, wenn es ſich um chic handelt, will doch ſeine Zeit haben, und gerade die Vettern drüben ſehen einem ſehr auf die Finger. “
„ Laß ſie ſehn, “ſagte Herbſtfelde. „ Wir ſehen auch. Und Stechlin iſt nicht der Mann, ſich über derlei Dinge graue Haare wachſen zu laſſen. Ich glaube, daß ihn was ganz andres geniert. Es iſt doch immerhin was, daß er da mit nach England hinüber ſoll, und einer ſolchen Auszeichnung entſpricht ſelbſtverſtändlich eine Nicht¬ auszeichnung andrer. Das paßt nicht jedem, und nach dem Bilde, das ich mir von unſerm Stechlin mache, gehört er zu dieſen. Er ficht nicht gern unter der Deviſe ‚ nur über Leichen‘, hat vielmehr umgekehrt den Zug, ſich in die zweite Linie zu ſtellen. Und nun ſieht es aus, als wär 'er ein Streber. “
„ Stimmt nicht, “ſagte Raſpe. „ Für ſo verrannt kann ich keinen von uns halten. Stechlin ſitzt da oben in Oſtpreußen und kann doch unmöglich in ſeinen Muße¬ ſtunden hierher intrigiert und einen etwaigen Rivalen aus dem Sattel geworfen haben. Und unſer Oberſt! Der iſt doch auch nicht der Mann dazu, ſich irgend wen aufreden zu laſſen. Der kennt ſeine Pappenheimer. Und wenn er ſich den Stechlin ausſucht, dann weiß er, warum. Übrigens, Dienſt iſt Dienſt; man geht nicht, weil man will, ſondern weil man muß. Spricht er denn engliſch? “
„ Ich glaube nicht, “ſagte von Grumbach. „ Soviel ich weiß, hat er vor kurzem damit angefangen, aber natürlich nicht wegen dieſer Miſſion, die ja wie vom blauen Himmel auf ihn niederfällt, ſondern der Barbys wegen, die beinah zwanzig Jahre in England waren273 und halb engliſch ſind. Im übrigen hab ich mir ſagen laſſen, es geht drüben auch ohne die Sprache. Herbſt¬ felde, Sie waren ja voriges Jahr da. Mit gutem Deutſch und ſchlechtem Franzöſiſch kommt man überall durch. “
„ Ja, “ſagte Herbſtfelde. „ Bloß ein bißchen Landes¬ ſprache muß doch noch dazu kommen. Indeſſen, es giebt ja kleine Vademekums, und da muß man dann eben nachſchlagen, bis man's hat. Sonſt ſind hundert Vokabeln genug. Als ich noch zu Hauſe war, hatten wir da ganz in unſrer Nachbarſchaft einen verdrehten alten Herrn, der — eh 'ihn die Gicht unterkriegte — ſich ſo ziemlich in der ganzen Welt herumgetrieben hatte. Pro neues Land immer neue hundert Vokabeln. Unter anderm war er auch mal in Südrußland geweſen, von welcher Zeit ab — und zwar nach vorgängiger, vor einem großen Liqueurkaſten ſtattgehabten Anfreundung mit einem uralten Popen — er das Amendement zu ſtellen pflegte:, Hundert Vokabeln; aber bei' nem Popen bloß fünfzig?‘ Und das muß ich ſagen, ich habe das mit den hundert in England durchaus beſtätigt gefunden. ‚ Mary, please, a jug of hot water, ‘ſo viel muß man weghaben, ſonſt ſitzt man da. Denn der Naturengländer weiß gar nichts. “
„ Wie lange waren Sie denn eigentlich drüben, Herbſtfelde? “
„ Drei Wochen. Aber die Reiſetage mitgerechnet. “
„ Und ſind Sie ſo ziemlich auf Ihre Koſten ge¬ kommen? Einblick ins Volksleben, Parlament, Oxford, Cambridge, Gladſtone? “
Herbſtfelde nickte.
„ Und wenn Sie nun ſo alles zuſammennehmen, was hat da ſo den meiſten Eindruck auf Sie gemacht? Architektur, Kunſt, Leben, die Schiffe, die großen Brücken? Die Straßenjungens, wenn man in einemFontane, Der Stechlin. 18274Cab vorüberfährt, ſollen ja immer Rad neben einem her ſchlagen, und die Dienſtmädchen, was noch wichtiger iſt, ſollen ſehr hübſch ſein, kleine Hauben und Tändel¬ ſchürze. “
„ Ja, Raſpe, da treffen Sie's. Und iſt eigentlich auch das Intereſſanteſte. Denn ſogenannte Meiſterwerke giebt es ja jetzt überall, von Kirchen und dergleichen gar nicht zu reden. Und Schiffe haben wir ja jetzt auch und auch ein Parlament. Und manche ſagen, unſres ſei noch beſſer. Aber das Volk. Sehen Sie, da ſteckt es. Das Volk iſt alles. “
„ Na, natürlich Volk. Oberſchicht überall ein und dasſelbe. Was da los iſt, das wiſſen wir. “
„ Und eigentlich hab 'ich die ganzen drei Wochen auf' nem Omnibus geſeſſen und bin abends in die Ma¬ troſenkneipen an der Themſe gegangen. Ein bißchen gefährlich; man hat da ſeinen Meſſerſtich weg, man weiß nicht wie, ganz wie in Italien. Bloß in Italien giebt es vorher doch immer noch ein Liebesverhältnis, was in Old-Wapping — ſo heißt nämlich der Stadt¬ teil an der Themſe — nicht mal nötig iſt. Und dann, wenn ich zu Hauſe war, ſprach ich natürlich mit Mary. Viel war es nicht. Denn die hundert Vokabeln, die dazu nötig ſind, die hatte ich damals noch nicht voll. “
„ Na, 's ging aber doch? “
„ So leidlich. Und dabei hatt 'ich mal' ne Scene, die war eigentlich das Hübſcheſte. Meine Wohnung befand ſich nämlich eine Treppe hoch in einer kleinen ſtillen Querſtraße von Oxford-Street. Und Mary war gerade bei mir. Und in dem Augenblicke, wo ich mich mit dem hübſchen Kinde zu verſtändigen ſuche ... “
„ Worüber? “
„ In demſelben Augenblicke ſieht ein Chineſe grinſend in mein Fenſter hinein, ſo daß er eigentlich eine Ohr¬ feige verdient hätte. “
275„ Wie war denn das aber möglich? “
„ Ja, das iſt ja eben das, was ich das Londoner Volksleben nenne. Alles mögliche, wovon wir hier gar keine Vorſtellung haben, vollzieht ſich da mitten auf dem Straßendamm. Und ſo waren denn auch an jenem Tage zwei Chineſen, ihres Zeichens Akrobaten, in die Querſtraße von Oxford-Street gekommen, und der eine, ein dicker ſtarker Kerl, hatte einen Gurt um den Leib, und in der Öſe dieſes Gurtes ſteckte 'ne Stange, auf die der zweite Chineſe hinaufkletterte. Und wie er da oben war, war er gerade in Höhe meiner Beletage und ſah hinein, als ich mich eben bemühte, mich Mary klar zu machen. “
„ Ja, Herbſtfelde, das war nu freilich ein Pech, und wenn Sie wieder drüben ſind, müſſen Sie nach hinten hinaus wohnen oder höher hinauf. Aber inte¬ reſſant iſt es doch. Und ich bezweifle nur, daß Stechlin in eine gleiche Lage kommen wird. “
„ Gewiß nicht. Daran hindern ihn ſeine Mo¬ ralitäten. “
„ Und noch mehr die Barbys. “
18*Woldemar, von der ihm bevorſtehenden Aus¬ zeichnung unterrichtet, kürzte ſeinen Aufenthalt in Oſt¬ preußen um vierundzwanzig Stunden ab, hatte trotzdem aber, nach ſeinem Wiedereintreffen in Berlin, nur noch zwei Tage zur Verfügung. Das war wenig. Denn außer allerlei zu treffenden Reiſevorbereitungen lag ihm doch auch noch ob, verſchiedene Beſuche zu machen, ſo bei den Barbys, bei denen er ſich für den letzten Abend ſchon brieflich angemeldet hatte.
Dieſer Abend war nun da. Die Koffer ſtanden gepackt um ihn her, er ſelber aber lehnte ſich, ziemlich abgeſpannt, in ſeinen Schaukelſtuhl zurück, nochmals überſchlagend, ob auch nichts vergeſſen ſei. Zuletzt ſagte er ſich: „ Was nun noch fehlt, fehlt; ich kann nicht mehr. “ Und dabei ſah er nach der Uhr. Bis zu ſeinem am Kronprinzenufer angeſagten Beſuche war noch faſt eine Stunde. Die wollt 'er ausnutzen und ſich vorher nach Möglichkeit ruhn. Aber er kam nicht dazu. Sein Burſche trat ein und meldete: „ Hauptmann von Czako. “
„ Ah, ſehr willkommen. “
Und Woldemar, ſo wenig gelegen ihm Czako auch kam, ſprang doch auf und reichte dem Freunde die Hand. „ Sie kommen, um mir zu meiner engliſchen Reiſe zu gratulieren. Und wiewohl es ſo ſo damit277 ſteht, Ihnen, glaub 'ich's, daß Sie's ehrlich meinen. Sie gehören zu den paar Menſchen, die keinen Neid kennen. “
„ Na, laſſen wir das Thema lieber. Ich bin deſſen nicht ſo ganz ſicher; mancher ſieht beſſer aus, als er iſt. Aber natürlich komm 'ich, um Ihnen wohl oder übel meine Glückwünſche zu bringen und meinen Reiſe¬ ſegen dazu. Donnerwetter, Stechlin, wo will das noch mit Ihnen hinaus! Sie werden natürlich Londoner Militärattaché, ſagen wir in einem halben Jahr, und in ebenſoviel Zeit haben Sie ſich drüben ſportlich ein¬ gelebt und etablieren ſich als Sieger in einem Steeple Chaſe, vorausgeſetzt, daß es ſo was noch giebt (ich glaube nämlich, man nennt es jetzt alles ganz anders). Und vierzehn Tage nach Ihrem erſten großen Sport¬ ſiege verloben Sie ſich mit Ruth Ruſſel oder mit Geraldine Cavendiſh, haben den Bedforder - oder den Devonſhire-Herzog als Rückendeckung und gehen als Generalgouverneur nach Mittelafrika, links die Zwerge, rechts die Menſchenfreſſer. Emin ſoll ja doch eigentlich aufgefreſſen ſein. “
„ Czako, Sie machen ſich's zu nutze, daß die Mittagsſtunde glücklich vorüber iſt, ſonſt könnten Sie's kaum verantworten. Aber rücken Sie ſich einen Seſſel 'ran, und hier ſind Zigaretten. Oder lieber Zigarre? “
„ Nein, Zigaretten ... Ja, ſehen Sie, Stechlin, ſolche Miſſion oder wenn auch nur ein Bruchteil da¬ von ... “
„ Sagen wir Anhängſel. “
„ .. Solche Miſſion iſt gerade das, was ich mir all mein Lebtag gewünſcht habe. Bloß ‚ Erhörung kam nicht geſchritten‘. Und doch iſt gerad 'in unſerm Regi¬ ment immer was los. Immer iſt wer auf dem Wege nach Petersburg. Aber weiß der Teufel, trotz der vielen Schickerei, meine Wenigkeit iſt noch nicht' ran gekommen. 278Ich denke mir, es liegt an meinem Namen. Hier hat „ Czako “ja auch ſchon einen Beigeſchmack, einen Stich ins Komiſche, aber das Slaviſche drin giebt ihm in Berlin etwas Apartes, während es in Petersburg wahrſcheinlich heißen würde: ‚ Czako, was ſoll das? Was ſoll Czako? Dergleichen haben wir hier echter und beſſer. ‘ Ja, ich gehe noch weiter und bin nicht einmal ſicher, ob man da drüben nicht Luſt bezeugen könnte, in der Wahl von ‚ Czako‘ einen Witz oder verſteckten Affront zu wittern. Aber wie dem auch ſei, Winterpalais und Kreml ſind mir ver¬ ſchloſſen. Und nun gehen Sie nach London und ſogar nach Windſor. Und Windſor iſt doch nun mal das denkbar Feinſte. Rußland, wenn Sie mir ſolche Früh¬ ſtücksvergleiche geſtatten wollen, hat immer was von Aſtrachan, England immer was von Colcheſter. Und ich glaube, Colcheſter ſteht höher. In meinen Augen gewiß. Ach, Stechlin, Sie ſind ein Glückspilz, ein Wort, das Sie meiner erregten Stimmung zu gute halten müſſen. Ich werde wohl an der Majorsecke ſcheitern, wegen verſchiedener Mankos. Aber ſehn Sie, daß ich das einſehe, das könnte das Schickſal doch auch wieder mit mir verſöhnen. “
„ Czako, Sie ſind der beſte Kerl von der Welt. Es iſt eigentlich ſchade, daß wir ſolche Leute wie Sie nicht bei unſerm Regiment haben. Oder wenigſtens nicht genug. ‚ Fein‘ iſt ja ganz gut, aber es muß doch auch mal ein Donnerwetter dazwiſchen fahren, ein Cynismus, eine Bosheit; ſie braucht ja nicht gleich einen Giftzahn zu haben. Übrigens, was die Patentheit angeht, ſo fühl 'ich deutlich, daß ich auch nur ſo gerade noch paſſiere. Nehmen Sie beiſpielsweiſe bloß das Sprachliche. Wer heutzutage nicht drei Sprachen ſpricht, gehört in die Ecke ... “
„ Sag 'ich mir auch. Und ich habe deshalb auch mit dem Ruſſiſchen angefangen. Und wenn ich dann279 ſo dabei bin und über meine Fortſchritte beinah’ erſtaune, dann berapple ich mich momentan wieder und ſage mir: ‚ Courage gewonnen, alles gewonnen‘. Und dabei laſſ' ich dann zu meinem weitern Troſt all unſre preußiſchen Helden zu Fuß und zu Pferde an mir vorüber ziehen, immer mit dem Gefühl einer gewiſſen wiſſen¬ ſchaftlichen und mitunter auch moraliſchen Überlegenheit. Da iſt zuerſt der Derfflinger. Nun, der ſoll ein Schneider geweſen ſein. Dann kam Blücher, — der war einfach ein ‚ Jeu‘er. Und dann kam Wrangel und trieb ſein verwegenes Spiel mit ‚ mir und mich‘. “
„ Bravo, Czako. Das iſt die Sprache, die Sie ſprechen müſſen. Und Sie werden auch nicht an der Majorsecke ſcheitern. Eigentlich läuft doch alles bloß darauf hinaus, wie hoch man ſich ſelber einſchätzt. Das iſt freilich eine Kunſt, die nicht jeder verſteht. Das Wort vom alten Fritz: ‚ Denk’ Er nur immer, daß Er hundert¬ tauſend Mann hinter ſich hat, ‘dies Troſtwort iſt manchem von uns ein bißchen verloren gegangen, trotz unſrer Siege. Oder vielleicht auch eben deshalb. Siege pro¬ duzieren unter Umſtänden auch Beſcheidenheit. “
„ Jedenfalls haben Sie, lieber Stechlin, zu viel davon. Aber wenn Sie erſt Ihre Ruth haben ... “
„ Ach, Czako, kommen Sie mir nicht immer mit ‚ Ruth‘. Oder eigentlich, ſeien Sie doch bedankt dafür. Denn dieſer weibliche Name mahnt mich, daß ich mich für heut 'Abend am Kronprinzenufer angemeldet habe, bei den Barbys, wo's, wie Sie wiſſen, freilich keine Ruth giebt, aber dafür eine ‚ Meluſine‘, was faſt noch mehr iſt. “
„ Verſteht ſich, Meluſine is mehr. Alles, was aus dem Waſſer kommt, iſt mehr. Venus kam aus dem Waſſer, ebenſo Hero ... Nein, nein, entſchuldigen Sie, es war Leander. “
„ Egal. Laſſen Sie's, wie's iſt. Solche verwechſelte280 Schillerſtelle thut einem immer wohl. Übrigens können Sie mich in meinem Coupé begleiten; vom Kronprinzen¬ ufer aus haben Sie knapp noch halben Weg bis in Ihre Kaſerne. “
Das Coupé that ſeine Schuldigkeit, und es ſchlug eben erſt acht, als Woldemar vor dem Barbyſchen Hauſe hielt und, ſich von Czako verabſchiedend, die Treppe hinauf ſtieg. Er fand nur die Familie vor, was ihm ſehr lieb war, weil er kein allgemeines Geſpräch führen, ſondern ſich lediglich für ſeine Reiſe Rats erholen wollte. Der alte Graf kannte London beſſer als Berlin, und auch Meluſine war ſchon über ſiebzehn, als man, bald nach dem Tode der Mutter, England verlaſſen und ſich auf die Graubündner Güter zurückgezogen hatte. Darüber waren nun wieder nah 'an anderthalb Jahrzehnte ver¬ gangen, aber Vater und Töchter hingen nach wie vor an Hydepark und dem ſchönen Hauſe, das ſie da bewohnt hatten, und gedachten dankbar der in London verlebten Tage. Selbſt Armgard ſprach gern von dem Wenigen, deſſen ſie ſich noch aus ihrer frühen Kindheit her er¬ innerte.
„ Wie glücklich bin ich, “ſagte Woldemar, „ Sie allein zu finden! Das klingt freilich ſehr ſelbſtiſch, aber ich bin doch vielleicht entſchuldigt. Wenn Beſuch da wäre, nehmen wir beiſpielsweiſe Wrſchowitz, und ich ließe mich hinreißen, von der Prinzeſſin von Wales und in natür¬ licher Konſequenz von ihren zwei Schweſtern Dagmar und Thyra zu ſprechen, ſo hätt 'ich vielleicht wegen Dänenfreundlichkeit heut' Abend noch ein Duell auszu¬ fechten. Was mir doch unbequem wäre. Beſſer iſt beſſer. “
Der alte Barby nickte vergnüglich.
„ Ja, Herr Graf, “fuhr Woldemar fort, „ ich komme, mich von Ihnen und den Damen zu verabſchieden, aber281 ich komme vor allem auch, um mich in zwölfter Stunde noch nach Möglichkeit zu informieren. In dem Augen¬ blick, wo der gänzlich ignorante Kandidatus in ſeinen Frack fährt, guckt er — ſo was ſoll vorkommen — noch einmal ins Corpus juris und lieſt, ſagen wir zehn Zeilen, und gerad 'über dieſe wird er nachher gefragt und ſieht ſich gerettet. Dergleichen könnte mir doch auch vorbehalten ſein. Sie waren lange drüben und die Damen ebenſo. Auf was muß ich achten, was ver¬ meiden, was thun? Vor allem, was muß ich ſehn und was nicht ſehn? Das letztere vielleicht das Wichtigſte von allem. “
„ Gewiß, lieber Stechlin. Aber ehe wir anfangen, rücken Sie hier ein und gönnen Sie ſich eine Taſſe Thee. Freilich, daß Sie den Thee würdigen werden, iſt ſo gut wie ausgeſchloſſen; dazu ſind Sie viel zu aufgeregt. Sie ſind ja wie ein Waſſerfall; ich erkenne Sie kaum wieder. “
Woldemar wollte ſich entſchuldigen.
„ Nur keine Entſchuldigungen. Und am wenigſten über das. Alles iſt heutzutage ſo nüchtern, daß ich immer froh bin, mal einer Aufregung zu begegnen; Aufregung kleidet beſſer als Indifferenz und jedenfalls iſt ſie intereſſanter. Was meinſt du dazu, Meluſine? “
„ Papa ſchraubt mich. Ich werde mich aber hüten, zu antworten. “
„ Und ſo denn wieder zur Sache. Ja, lieber Stech¬ lin, was thun, was ſehn? Oder wie Sie ganz richtig bemerken, was nicht ſehn? Überall etwas ſehr ſchwieriges. In Italien vertrödelt man die Zeit mit Bildern, in England mit Hinrichtungsblöcken. Sie haben drüben ganze Kollektionen davon. Alſo möglichſt wenig Hiſto¬ riſches. Und dann natürlich keine Kirchen, immer mit Ausnahme von Weſtminſter. Ich glaube, was man ſo mit billiger Wendung „ Land und Leute “nennt, das iſt282 und bleibt das Beſte. Die Themſe hinauf und hinunter, Richmond-Hill (auch jetzt noch, trotzdem wir ſchon No¬ vember haben) und Werbekneipen und Dudelſackspfeifer. Und wenn Sie bei Paſſierung eines ſtillen Squares einem ſogenannten ‚ Straßen-Raffael‘ begegnen, dann ſtehen bleiben und zuſehen, was das ſonderbare Genie mit ſeiner linken und oft verkrüppelten Hand auf die breiten Straßenſteine hinmalt. Denn dieſe Straßen-Raffaels haben immer nur eine linke Hand. “
„ Und was malt er? “
„ Was? Das wechſelt. Er iſt im ſtande und zaubert Ihnen in zehn Minuten eine richtige Sixtina aufs Trottoir. Aber in der Regel iſt er mehr Ruysdael oder Hobbema. Landſchaften ſind ſeine Force; dazu See¬ ſtücke. Die Klippe von Dover hab 'ich wohl zwanzig¬ mal geſehn und über das Meer hin den zitternden Mondſtrahl. Da haben Sie ſchon was zur Auswahl. Und nun fragen Sie Meluſine. Die hat von London und Umgegend viel mehr geſehn als ich und weiß, glaub' ich, in Hampton-Court und Waltham-Abbey beſſer Beſcheid als an der Oberſpree, natürlich das Eierhäuschen ausgenommen. Und wenn Meluſine verſagen ſollte, nun, ſo haben wir ja noch unſere Tochter Cordelia. Cordelia war damals freilich erſt ſechs oder doch nicht viel mehr. Aber Kindermund thut Wahrheit kund. Armgard, wie wär 'es, wenn du dich unſers Freundes annähmeſt. “
„ Ich weiß nicht, Papa, ob Herr von Stechlin da¬ mit einverſtanden iſt oder auch nur ſein kann. Viel¬ leicht ging 'es, wenn du nur nicht von meinen ſechs Jahren geſprochen hätteſt. Aber ſo. Mit ſechs Jahren hat man eben nichts erlebt, was, in den Augen andrer, des Erzählens wert wäre. “
„ Comteſſe, geſtatten Sie mir ... die Dinge an ſich ſind gleichgültig. Alles Erlebte wird erſt was durch den, der es erlebt. “
283„ Ei, “ſagte Meluſine. „ So bin ich zum Erzählen noch mein Lebtag nicht aufgefordert worden. Nun wirſt du ſprechen müſſen, Armgard. “
„ Und ich will auch, ſelbſt auf die Gefahr hin einer Niederlage. “
„ Keine Vorreden, Armgard. Am wenigſten, wenn ſie wie Selbſtlob klingen. “
„ Alſo wir hatten damals eine alte Perſon im Hauſe, die ſchon bei Meluſine Kindermuhme geweſen war, und hieß Suſan. Ich liebte ſie ſehr, denn ſie hatte wie die meiſten Iriſchen etwas ungemein Heiteres und Gütiges. Ich ging viel mit ihr im Hydepark ſpazieren, wohnten wir doch in der an ſeiner Nordſeite ſich hinziehenden großen Straße. Hydepark erſchien mir immer ſehr ſchön. Aber weil es tagaus tagein dasſelbe war, wollt 'ich doch gern einmal was andres ſehen, worauf Suſan auch gleich einging, trotzdem es ihr eigentlich verboten war. ‚ Ei freilich, Comteſſe, ‘ſagte ſie, ‚ da wollen wir nach Martins le Grand. ‘ ‚ Was iſt das?‘ fragte ich; aber ſtatt aller Antwort gab ſie mir nur ein kleines Mäntelchen um, denn es war ſchon Spätherbſt, ſo etwa wie jetzt, und dunkelte auch ſchon. Aus dem, was dann kam, muß ich annehmen, daß es um die fünfte Stunde war. Und ſo brachen wir denn auf, unſre Straße hinunter, und weil an dem Parkgitter ent¬ lang lauter große Röhren gelegt waren, um hier neu zu kanaliſieren, ſo ſprang ich auf die Röhren hinauf, und Suſan hielt mich an meinem linken Zeigefinger. So gingen wir, ich immer auf den Röhren oben, bis wir an eine Stelle kamen, wo der Park aufhörte. Hier war gerad' ein Droſchkenſtand, und Hafer und Häckſel lagen umher und zahlloſe Sperlinge dazwiſchen. In der Mitte von dem allem aber ſtand ein eiſerner Brunnen. Auf den wies Suſan hin und ſagte: ‚ Look at it, dear Armgard. There stood Tyburn-Gallows. ‘ Und wer284 ſo viel geſtohlen hatte, wie gerad 'ein Strick koſtete, der wurde da gehängt. “
„ Eine merkwürdige Kindermuhme, “ſagte Stechlin. „ Und erſchraken Sie nicht, Comteſſe? “
„ Nein, von Erſchrecken, ſo lange Suſan bei mir war, war keine Rede. Sie hätte mich gegen eine Welt verteidigt. “
„ Das ſöhnt wieder aus. “
„ Und kurz und gut, wir blieben auf unſerm Weg und ſtiegen alsbald in ein zweirädriges Cab, aus dem heraus wir ſehr gut ſehen konnten, und jagten die Ox¬ fordſtraße hinunter in die City hinein, in ein immer dichter werdendes Straßengewirr, drin ich nie vorher gekommen war und auch nachher nicht wieder gekommen bin. Bloß vor zwei Jahren, als wir auf Beſuch drüben waren und ich den alten Plätzen wieder nachging. “
„ Ich glaube, “ſagte Meluſine, „ daß du bei dieſem zweiten Beſuch eine gute Anleihe machſt. Denn von dem mit Suſan Geſehenen wirſt du zur Zeit nicht mehr viel zur Verfügung haben. “
„ Doch, doch. Und nun hielt unſer Hanſom-Cab vor einem großen Hauſe, das halb wie ein Palaſt und halb wie ein griechiſcher Tempel ausſah, und unter deſſen Säulengang hinweg wir in eine große, mit vielen hundert Menſchen erfüllte Halle traten. Über ihren Köpfen aber lag es wie ein Strom von Licht, und ganz nach hinten zu, wo die Lichtmaſſe ſich zu verdichten ſchien, ſtanden auf einem Podium zwei in rote Röcke gekleidete Be¬ dienſtete mit ein paar großen Behältern links und rechts neben ſich, die wie Futterkiſten mit weit aufgeklapptem Deckel ausſahen. “
„ Und nun laß Stechlin raten, was es war. “
„ Er braucht es nicht zu raten, “fuhr Armgard fort, „ er weiß es natürlich ſchon. Aber er muß trotz¬ dem aushalten. Denn er hat es ſelber ſo gewollt. 285Alſo Podium und Rotröcke ſamt aufgeklappter Kiſte links und rechts. Und die hell erleuchtete Uhr darüber zeigte, daß es nur noch eine Minute bis ſechs war. An ein ſich Herandrängen war nicht zu denken, und ſo flogen denn die Brief - und Zeitungspakete, die noch mit den letzten Poſtzügen fort ſollten, in weitem Bogen über die Köpfe der in Front Stehenden weg, was aber dabei ſtatt in die Behälter bloß auf das Podium fiel, das wurde von den Rotröcken mit einer geſchickten Fu߬ bewegung in die Futterkiſten wie hineingeharkt. Und nun ſetzte der Uhrzeiger ein, und das Fliegen der Pakete ſteigerte ſich, bis genau mit dem ſechſten Schlag auch der Deckel jeder der beiden Kiſten zuſchlug. “
„ Reizend, Comteſſe. Natürlich ſeh 'ich mir das an, und wenn ich ein Rendezvous mit der Königin darüber verſäumen müßte. “
„ Nichts Antimonarchiſches, “lachte der alte Graf. „ Und ſo kommen Suſans Unthaten ſchließlich noch ans Licht. “
„ Und meine eignen dazu. Glücklicherweiſe durch mich ſelbſt. “
Das Geſpräch ſetzte ſich noch eine Weile fort, und allerlei Schilderungen aus dem Klein - und Alltagsleben behielten dabei die Oberhand. Ein paarmal, weil er wohl ſah, daß Woldemar gern auch andres zu hören wünſchte, verſuchte der alte Graf das Thema zu wechſeln, aber beide Damen blieben bei „ shopping “und „ five o'clock tea “, bis Meluſine, der Woldemars Ungeduld ebenfalls nicht entgangen war, mit einemmale fragte: „ Haben Sie denn je von Traitors-Gate gehört? “
„ Nein, “ſagte Woldemar. „ Ich kann es mir aber überſetzen und meine Schlüſſe daraus ziehn. “
„ Das reicht aus. Alſo natürlich Tower. Nun ſehen Sie, Traitors-Gate, das war meine Domäne, wenn Beſuch aus Deutſchland kam und ich wohl oder übel286 den Führer machen mußte. Vieles im Tower lang¬ weilte mich, aber Traitors-Gate nie, vielleicht deshalb nicht, weil es ziemlich zu Anfang liegt, ſo daß ich, wenn wir’s erreichten, immer noch bei Friſche war, nicht ab¬ geſtumpft durch all die Schrecklichkeiten, die dann weiter¬ hin folgen. “
„ Alſo Traitors-Gate muß ich ſehn? “
„ Unbedingt. Freilich, wenn ich dann wieder er¬ wäge, daß an dieſer berühmten Stelle nichts unmittel¬ bar Wirkungsvolles zu ſehn iſt, ſo muß ich mich bei meinen Ratſchlägen auf Ihre Phantaſie verlaſſen können. Und ob das geht, weiß ich nicht. Wer aus der Mark iſt, hat meiſt keine Phantaſie. “
Der alte Graf und Armgard ſchwiegen, und auch Meluſine ſah wohl, daß ſie mit ihrer Bemerkung etwas zu weit gegangen war. Irgend eine Reparierung ſchien alſo geboten. „ Ich will’s aber doch mit Ihnen wagen, “nahm ſie das Geſpräch wieder auf und lachte. „ Trai¬ tors-Gatte. Nun ſehen Sie, Sie kommen da vom Ein¬ gange her einen ſchmalen Gang entlang, und mit einem Male haben Sie ſtatt der grauen Steinwand ein eiſen¬ beſchlagenes Holzthor neben ſich. Hinter dieſem Thor aber befindet ſich ein kleiner, ganz unten in der Tiefe gelegener Waſſerhof, von dem aus eine mehrſtufige Treppe heraufführt und an eben der Stelle mündet, an der Sie ſtehn. Und nun rechnen Sie dreihundert Jahre zurück. Wem ſich die Pforte damals aufthat, um ſich hinter ihm wieder zu ſchließen, der hatte vom Leben Abſchied genommen .... Es ſind da, verzeihen Sie das Wort, lauter glibbrige Stufen und wer alles ſtieg dieſe Stufen hinauf: Eſſex, Sir Walter Raleigh, Thomas Morus und zuletzt noch jene Clanhäuptlinge, die für Prince Charlie gefochten hatten und deren Köpfe, wenige Tage ſpäter, von Temple-Bar herab, auf die City niederſahen. “
„ Liegt, Gott ſei Dank, weit zurück. “
287„ Ja, weit zurück. Aber es kann wiederkommen. Und gerade das war es, was immer, wenn ich da ſo ſtand, den größten Eindruck auf mich machte. Dieſe Möglichkeit, daß es wiederkehre. Denn ich erinnere mich noch ſehr wohl — ja, du warſt es ſelbſt, Papa, der es mir erzählte — daß Lord Palmerſton einmal, un¬ wirſch über die koburgiſche Nebenpolitik (ich glaube während der Krimkriegtage) ſich dahin geäußert hätte: „ Dieſer Prince - Conſort, er thäte gut, ſich unſer Traitors-Gate bei Ge¬ legenheit anzuſehn. Es iſt zwar ſchon lange, daß Könige da die glibbrige Treppe hinaufgeſtiegen ſind, aber es iſt doch noch nicht ſo lange, daß wir uns deſſen nicht mehr entſinnen könnten. Und ein Prince-Conſort iſt noch lange nicht ein König. “
Woldemar, als Meluſine dies mit überlegener Miene geſagt hatte, lächelte vor ſich hin, was die Gräfin der¬ artig verdroß, daß ſie mit einer gewiſſen Ge¬ reiztheit hinzuſetzte: „ Sie lächeln. Da ſeh 'ich doch, wie ſehr ich im Rechte war, Ihnen die Phantaſie ab¬ zuſprechen. “
„ Verzeihen Sie mir ... “
„ Und nun werden Sie auch noch pathetiſch. Das iſt die richtige Ergänzung. Im übrigen, wie könnt 'ich mit Ihnen ernſthaft zürnen! Ein berühmter deutſcher Profeſſor ſoll einmal irgendwo geſagt haben: ‚ niemand ſei verpflichtet, ein großer Mann zu ſein. ‘ Und ebenſo¬ wenig wird er ‚ große Phantaſie‘ als etwas Pflicht¬ mäßiges gefordert haben. “
Woldemar küßte ihr die Hand. „ Wiſſen Sie, Gräfin, daß Sie doch eigentlich recht hochmütig ſind? “
„ Vielleicht. Aber mancher entwaffnet mich wieder. Und zu dieſen gehören Sie. “
„ Das iſt nun auch wieder aus dem Ton. “
„ Ich weiß es nicht. Aber laſſen wir's. Und ver¬288 ſprechen Sie mir lieber, mir von Windſor oder London aus eine Karte zu ſchreiben ... nein, eine Karte, das geht nicht ... alſo einen Brief, darin Sie mir ein Wort über die Engländerinnen ſagen, und ob Sie jede taillenloſe Rotblondine drüben auch ſo ſchön gefunden haben werden, wie's von den Kontinentalen, wenn ſie dies Thema berühren, faſt immer verſichert wird. “
„ Es wird davon abhängen, an wen ich gerade denke. “
„ Nach dieſer Bemerkung iſt ihnen alles verziehn. “
Woldemar blieb bis neun. Er hatte gleich in den Zeilen, in denen er ſich anmeldete, die Damen wiſſen laſſen, daß er ſeinen Beſuch auf eine kurze Stunde be¬ ſchränken müſſe. So war er denn bei guter Zeit wieder daheim. Auf ſeinem Tiſche fand er ein Briefchen vor und erkannte Rex 'Handſchrift. „ Lieber Stechlin, “ſo ſchrieb dieſer, „ ich höre eben, daß Sie nach London gehn. In der Zeitung, wo's ſchon geſtanden haben ſoll, hab' ich es überſehn. Ich beglückwünſche Sie von Herzen zu dieſer Auszeichnung und lege ihnen eine Karte bei, die Sie (wenn's Ihnen paßt) bei meinem Freunde Ralph Waddington einführen ſoll. Er iſt Advokat und einer der angeſehenſten Führer unter den Irvingianern. Fürchten Sie übrigens keine Bekehrungs¬ verſuche. Waddington iſt ein durchaus feiner Mann, alſo zurückhaltend. Er kann ihnen aber mannigfach behilflich ſein, wenn Ihnen daran gelegen ſein ſollte, ſich um das Weſen der engliſchen Diſſenter, ihre Chapels und Tabernakels zu kümmern. Er iſt ein Wiſſenſchaftler auf dieſem Gebiet. Und ich kenne ja Ihre Vorliebe für derlei Fragen. “
Stechlin legte den Brief unter den Briefbeſchwerer und ſagte: „ Der gute Rex! Er überſchätzt mich. Diſſenter¬ ſtudien. Es genügt mir, wenn ich einen einzigen Quäker ſehe. “
Was Rex da ſchrieb, hatte doch ein Gutes gehabt: Woldemar, erheitert bei dem Gedanken, ſich durch Ralph Waddington in ein Tabernakel eingeführt zu ſehn, ſah ſich mit einemmale einer gewiſſen Abſpannung entriſſen und war froh darüber, denn er brauchte durchaus Stimmung, um noch einige Briefe zu ſchreiben. Das ging ihm nun leichter von der Hand, und als elf Uhr kaum heran war, war alles erledigt.
Der andre Morgen ſah ihn ſelbſtverſtändlich früh auf. Fritz war um ihn her und half, wo noch zu helfen war. „ Und nun, Fritz, “ſo waren Woldemars letzte Worte, „ ſieh nach dem Rechten. Schicke mir nichts nach; Zeitungen wirf weg. Und die drei Briefe hier, wenn ich fort bin, die thue ſofort in den Kaſten ... Iſt die Droſchke ſchon da? “
„ Zu Befehl, Herr Rittmeiſter. “
„ Na, dann mit Gott. Und jeden Tag lüften. Und paß auf die Pferde. “
Damit verabſchiedete ſich Woldemar.
Von den drei Briefen war einer nach Stechlin hin adreſſiert. Er traf, weil er noch mit dem erſten Zuge fortkonnte, gleich nach Tiſch bei dem Alten ein und lautete:
Fontane, Der Stechlin. 19290„ Mein lieber Papa. Wenn du dieſe Zeilen er¬ hältſt, ſind wir ſchon auf dem Wege. ‚ Wir‘ das will ſagen: unſer Oberſt, unſer zweitälteſter Stabsoffizier, ich und zwei jüngere Offiziere. Aus deinen eignen Soldatentagen her kennſt du den Charakter ſolcher Ab¬ ordnungen. Nachdem wir ‚ Regiment Königin von Gro߬ britannien und Irland‘ geworden ſind, war dies ‚ uns drüben vorſtellen‘ nur noch eine Frage der Zeit. Dieſer Miſſion beigeſellt zu ſein, iſt ſelbſtverſtändlich eine große Ehre für mich, doppelt, wenn ich die Namen, über die wir in unſerm Regiment Verfügung haben, in Er¬ wägung ziehe. Die Zeiten, wo man das Wort ‚ hiſtoriſche Familie‘ betonte, ſind vorüber. Auch an Tante Adel¬ heid hab 'ich in dieſer Sache geſchrieben. Was mir perſönlich an Glücksgefühl vielleicht noch fehlen mag, wird ſie leicht aufbringen. Und ich freue mich deſſen, weil ich ihr, alles in allem, doch ſo viel verdanke. Daß ich mich von Berlin gerade jetzt nicht gerne trenne, ſei nur angedeutet; du wirſt den Grund davon unſchwer erraten. Mit beſten Wünſchen für dein Wohl, unter herzlichen Grüßen an Lorenzen, wie immer dein Woldemar. “
Dubslav ſaß am Kamin, als ihm Engelke den Brief brachte. Nun war der Alte mit dem Leſen durch und ſagte: „ Woldemar geht nach England. Was ſagſt du dazu, Engelke? “
„ So was hab 'ich mir all immer gedacht. “
„ Na, dann biſt du klüger geweſen als ich. Ich habe mir gar nichts gedacht. Und nu noch drei Tage, ſo ſtellt er ſich mit ſeinem Oberſt und ſeinem Major vor die Königin von England hin und ſagt: „ Hier bin ich. “
„ Ja, gnäd'ger Herr, warum ſoll er nich? “
„ Is auch 'n Standpunkt. Und vielleicht ſogar der richtige. Volksſtimme, Gottesſtimme. Na, nu geh291 mal zu Paſtor Lorenzen und ſag ihm, ich ließ ihn bitten. Aber ſage nichts von dem Brief; ich will ihn überraſchen. Du biſt mitunter' ne alte Plappertaſche. “
Schon nach einer halben Stunde war Lorenzen da.
„ Haben befohlen ... “
„ Haben befohlen. Ja, das iſt gerade ſo das Richtige; ſieht mir ähnlich ... Nun, Lorenzen, ſchieben Sie ſich mal 'nen Stuhl' ran, und wenn Engelke nicht geplaudert hat (denn er hält nicht immer dicht), ſo hab 'ich eine richtige Neuigkeit für Sie. Woldemar iſt nach England ... “
„ Ah, mit der Abordnung. “
„ Alſo wiſſen Sie ſchon davon? “
„ Nein, ausgenommen das eine, daß eine Depu¬ tation oder Geſandtſchaft beabſichtigt ſei. Das las ich und dabei hab 'ich dann freilich auch an Woldemar gedacht. “
Dubslav lachte. „ Sonderbar. Engelke hat ſich ſo was gedacht, Lorenzen hat ſich auch ſo was gedacht. Nur der eigne Vater hat an gar nichts gedacht. “
„ Ach, Herr von Stechlin, das iſt immer ſo. Väter ſind Väter und können nie vergeſſen, daß die Kinder Kinder waren. Und doch hört es mal auf damit. Napoleon war mit zwanzig ein armer Leutnant und an Anſehn noch lange kein Stechlin. Und als er ſo alt war, wie jetzt unſer Woldemar, ja, da ſtand er ſchon zwiſchen Marengo und Auſterlitz. “
„ Hören Sie, Lorenzen, Sie greifen aber hoch. Meine Schweſter Adelheid wird ſich Ihnen übrigens wohl anſchließen und von heut 'ab eine neue Zeit¬ rechnung datieren. Ich nehm' es ruhiger, trotzdem ich einſehe, daß es nach großer Auszeichnung ſchmeckt. Und iſt er wieder zurück, dann wird er auch allerlei Gutes19*292davon haben. Aber ſo lang er drüben iſt! Ich trau 'der Sache nicht. Von Behagen jedenfalls keine Rede. Die Vettern ſind nun mal nicht zufrieden zu ſtellen; vielleicht ärgern ſie ſich, daß es draußen in der Welt auch noch ein ‚ Regiment Königin von Großbritannien und Irland‘ giebt. Das beſorgen ſie ſich lieber ſelbſt und nehmen ſo was, wenn andre damit kommen, wie' ne Prätenſion. Wie ſtehen denn Sie dazu. Sie haben die Beefeaters vielleicht in Ihr Herz geſchloſſen wegen der vielen Diſſenter. Ein Kardinal, der freilich auch noch Gourmand war, ſoll mal geſagt haben: ‚ Schreck¬ liches Volk; hundert Sekten und bloß eine Sauce. ‘“
„ Ja, “lachte Lorenzen, „ da bin ich freilich für die ‚ Beefeaters‘, wie Sie ſagen, und gegen den Kardinal. Das mit den hundert Sekten laſſ 'ich auf ſich beruhn, (mein Geſchmack, beiläufig, iſt es nicht) aber unter allen Umſtänden bin ich für höchſtens eine Sauce. Das iſt das einzig Richtige, weil Geſunde. Die Dinge müſſen in ſich etwas ſein, und wenn das zutrifft, ſo iſt eigentlich jede ‚ Sauce‘, und nun gar erſt die Sauce im Plural, von vornherein ſchon gerichtet. Aber laſſen wir den Kardinal und ſeine Gewagtheiten und nehmen wir den Gegenſtand ſeiner Abneigung: England. Es hat für mich eine Zeit gegeben, wo ich bedingungslos dafür ſchwärmte. Nicht zu verwundern. Hieß es doch damals in dem ganzen Kreiſe, drin ich lebte: „ Ja, wenn wir England nicht mehr lieben ſollen, was ſollen wir dann überhaupt noch lieben? “ Dieſe halbe Vergötterung hab' ich noch ehrlich mit durchgemacht. Aber das iſt nun eine hübſche Weile her. Sie ſind drüben ſchrecklich 'runtergekommen, weil der Kult vor dem goldenen Kalbe beſtändig wächſt; lauter Jobber und die vornehme Welt obenan. Und dabei ſo heuchleriſch; ſie ſagen „ Chriſtus “und meinen Kattun. “
„ Is leider ſo, wenigſtens nach dem bißchen, was293 ich davon weiß. Und alles in allem, und neuerdings erſt recht, bin ich deshalb immer für Rußland geweſen. Wenn ich da ſo an unſern Kaiſer Nikolaus zurückdenke und an die Zeit, wo ſeine Uniform als Geſchenk bei uns eintraf und dann als Kirchenſtück in die Garniſons¬ kirche kam. Natürlich in Potsdam. Wir haben zwar die Reliquien abgeſchafft, aber wir haben ſie doch auf unſre Art, und ganz ohne ſo was geht es nu mal nicht. Mit dem alten Fritzen fing es natürlich an. Wir haben ſeinen Krückſtock und den Dreimaſter und das Taſchentuch (na, das hätten ſie vielleicht weglaſſen können), und zu den drei Stücken haben wir nu jetzt auch noch die Nikolaus-Uniform. “
Lorenzen ſah verlegen vor ſich hin; etwas dagegen ſagen, ging nicht, und zuſtimmen noch weniger.
Dubslav aber fuhr fort: „ Und dann ſind ſie da forſcher in Petersburg und geht alles mehr aus dem Vollen, auch wenn die beſten Steine mitunter ſchon 'rausgebrochen ſind. So was kommt vor; is eben noch ein Naturvolk. Ich kann das ‚ Schenken‘ eigentlich nicht leiden, es hat ſo was von Beſtechung und ſieht aus wie' n Trinkgeld. Und Trinkgeld iſt noch ſchlimmer als Beſtechung und paßt mir eigentlich ganz und gar nicht. Aber es hat doch auch wieder was Angenehmes, ſolche Tabatiere. Wenn es einem gut geht, iſt es ein Familien¬ ſtück, und wenn es einem ſchlecht geht, iſt es 'ne letzte Zuflucht. Natürlich, ein ganz reinliches Gefühl hat man nicht dabei. “
Lorenzen blieb eine volle Stunde. Der Alte war immer froh, wenn ſich ihm Gelegenheit bot, ſich mal ausplaudern zu können, und heute ſtanden ja die denk¬ bar beſten Themata zur Verfügung: Woldemar, Eng¬ land, Kaiſer Nikolaus und dazwiſchen Tante Adelheid,294 über die zwar immer nur kurze Worte fielen, aber doch ſo, daß ſie, weil ſpöttiſch, die gute Laune des Alten weſentlich ſteigerten.
Und in dieſer guten Laune war er auch noch, als er, um die fünfte Stunde ſeinen Eichenſtock und ſeinen eingeknautſchten Filzhut vom Riegel nahm, um am See hin, in der Richtung auf Globſow zu, ſeinen gewöhn¬ lichen Spaziergang zu machen. Unmittelbar am Süd¬ ufer, da wo die Wand ſteil abfiel, befand ſich eine von Buchenzweigen überdachte Steinbank. Das war ſein Lieblingsplatz. Die Sonne ſtand ſchon unterm Horizont, und nur das Abendrot glühte noch durch die Bäume. Da ſaß er nun und überdachte ſein Leben, Altes und Neues, ſeine Kindheits - und ſeine Leutnantſtage, die Tage kurz vor ſeiner Verheiratung, wo das junge blaſſe Fräulein, das ſeine Frau werden ſollte, noch Lieblings¬ hofdame bei der alten Prinzeß Karl war. All das zog jetzt wieder an ihm vorüber, und dazwiſchen ſeine Schweſter Adelheid, in jenen Tagen noch leidlich gut bei Weg, aber auch ſchon hart und herbe wie heute, ſo daß ſie den reizenden Kerl, den Baron Krech, bloß weil er über ein ſchon halbabgeſtorbenes ‚ Verhältnis‘ und eine freilich noch fortlebende Spielſchuld verfügte, durch ihre Tugend weggegrault hatte. Das waren die alten Geſchichten. Und dann wurde Woldemar geboren, und die junge Frau ſtarb, und der Junge wuchs heran und lernte bei Lorenzen all das dumme Zeug, das Neue (dran vielleicht doch was war), und nun fuhr er nach England 'rüber und war vielleicht ſchon in Köln und in ein paar Stunden in Oſtende.
Dabei ſah er vor ſich hin und malte mit ſeinem Stock Figuren in den Sand. Der Wald war ganz ſtill; auf dem See ſchwanden die letzten roten Lichter, und aus einiger Entfernung klangen Schläge herüber, wie wenn Leute Holz fällen. Er hörte mit halbem Ohr295 hin und ſah eben auf die von Globſow her herauf¬ führende ſchmale Straße, als er einer alten Frau von wohl ſiebzig gewahr wurde, die, mit einer mit Reiſig bepackten Kiepe, den leis anſteigenden Weg herauf¬ kam, etliche Schritte vor ihr ein Kind mit ein paar Enzianſtauden in der Hand. Das Kind, ein Mädchen, mochte zehn Jahr ſein, und das Licht fiel ſo, daß das blonde wirre Haar wie leuchtend um des Kindes Kopf ſtand. Als die Kleine bis faſt an die Bank heran war, blieb ſie ſtehn und erwartete da das Näherkommen der alten Frau. Dieſe, die wohl ſah, daß das Kind in Furcht oder doch in Verlegenheit war, ſagte: „ Geih man vorupp, Agnes; he deiht di nix. “
Das Kind, ſich bezwingend, ging nun auch wirk¬ lich, und während es an der Bank vorüberkam, ſah es den alten Herrn mit großen klugen Augen an.
Inzwiſchen war auch die Alte herangekommen.
„ Na, Buſchen, “ſagte Dubslav, „ habt Ihr denn auch bloß Bruchholz in Eurer Kiepe? Sonſt packt Euch der Förſter. “
Die Alte griente. „ Jott, jnädiger Herr, wenn Se doabi ſinn, denn wird he joa woll nich. “
„ Na, ich denk 'auch; is immer nich ſo ſchlimm. Und wer is denn das Kind da? “
„ Dat is joa Karlinens. “
„ So, ſo, Karlinens. Is ſie denn noch in Berlin? Und wird er ſie denn heiraten? Ich meine den Rentſch in Globſow. “
„ Ne, he will joa nich. “
„ Is aber doch von ihm? “
„ Joa, ſe ſeggt ſo. Awers he ſeggt, he wihr et nich. “
Der alte Dubslav lachte. „ Na, hört, Buſchen, ich kann's ihm eigentlich nich verdenken. Der Rentſch is ja doch ein ganz ſchwarzer Kerl. Un nu ſeht Euch mal das Kind an. “
296„ Dat hebb ick ehr ook all ſeggt. Un Karline weet et ook nich ſo recht un lacht man ümmer. Un ſe brukt em ook nich. “
„ Geht es ihr denn ſo gut? “
„ Joa; man kann et binah ſeggen. Se plätt't ümmer. Alle ſo'ne plätten ümmer. Ick wihr oak diſſen Summer mit Agneſſen (ſe heet Agnes) in Berlin, un doa wihr'n wi joa toſamen in'n Cirkus. Un Karline wihr ganz fidel. “
„ Na, das freut mich. Und Agnes, ſagt Ihr, heißt ſie. Is ein hübſches Kind. “
„ Joa, det is ſe. Un is ook en gaudes Kind; ſe weent gliks un is immer ſo patſchlich mit ehre lütten Hänn '. Sünne ſinn immer ſo. “
„ Ja, das is richtig. Aber Ihr müßt aufpaſſen, ſonſt habt Ihr 'nen Urenkel, Ihr wißt nicht wie. Na, gu'n Abend, Buſchen. “
„ 'n Abend, jnäd'ger Herr. “
Der Baron Berchtesgadenſche Wagen fuhr am Kron¬ prinzen-Ufer vor und die Baronin, als ſie gehört hatte, daß die Herrſchaften oben zu Hauſe ſeien, ſtieg langſam die Treppe hinauf, denn ſie war nicht gut zu Fuß und ein wenig aſthmatiſch. Armgard und Meluſine begrüßten ſie mit großer Freude. „ Wie gut, wie hübſch, Baronin, “ſagte Meluſine, „ daß wir Sie ſehn. Und wir erwarten auch noch Beſuch. Wenigſtens ich. Ich habe ſolch Kribbeln in meinem kleinen Finger, und dann kommt immer wer. Wrſchowitz gewiß (denn er war drei Tage lang nicht hier) und vielleicht auch Profeſſor Cujacius. Und wenn nicht der, ſo Dr. Puſch, den Sie noch nicht kennen, trotzdem Sie ihn eigentlich kennen müßten, — noch alte Bekanntſchaft aus Londoner Tagen her. Mög¬ licherweiſe kommt auch Frommel. Aber vor allem, Baronin, was bringen Sie für Wetter mit? Lizzi ſagte mir eben, es neble ſo ſtark, man könne die Hand vor Augen nicht ſehn. “
„ Lizzi hat Ihnen ganz recht berichtet, der richtige London Fog, wobei mir natürlich Ihr Freund Stechlin einfällt. Aber über den ſprechen wir nachher. Jetzt ſind wir noch beim Nebel. Es war draußen wirklich ſo, daß ich immer dachte, wir würden zuſammenfahren; und am Brandenburgerthor, mit den großen Kande¬298 labern dazwiſchen, ſah es beinah 'aus wie ein Bild von Skarbina. Kennen Sie Skarbina? “
„ Gewiß, “ſagte Meluſine, „ den kenn 'ich ſehr gut. Aber allerdings erſt von der letzten Ausſtellung her. Und was, außer den Gaslaternen im Nebel, mir ſo eigentlich von ihm vorſchwebt, das iſt ein kleines Bild: langer Hotelkorridor, Thür an Thür, und vor einer der vielen Thüren ein paar Damenſtiefelchen. Reizend. Aber die Hauptſache war doch die Beleuchtung. Von irgend woher fiel ein Licht ein und vergoldete das Ganze, den Flur und die Stiefelchen. “
„ Richtig, “ſagte die Baronin. „ Das war von ihm. Und gerade das hat Ihnen ſo ſehr gefallen? “
„ Ja. Was auch natürlich iſt. In meinen italie¬ niſchen Tagen — wenn ich von ‚ italieniſchen Tagen‘ ſpreche, ſo meine ich übrigens nie meine Verheiratungs¬ tage; während meiner Verheiratungstage hab 'ich Gott ſei Dank ſo gut wie garnichts geſehn, kaum meinen Mann, aber freilich immer noch zu viel — alſo während meiner italieniſchen Tage hab' ich vor ſo vielen Himmel¬ fahrten geſtanden, daß ich jetzt für Stiefeletten im Sonnenſchein bin. “
„ Ganz mein Fall, liebe Meluſine. Freilich bin ich jetzt nebenher auch noch fürs Japaniſche: Waſſer und drei Binſen und ein Storch daneben. In meinen Jahren darf ich ja von Storch ſprechen. Früher hätt 'ich viel¬ leicht Kranich geſagt. “
„ Nein, Baronin, das glaub 'ich Ihnen nicht. Sie waren immer für das, was Sie jetzt Realismus nennen, was meiſtens mehr Ton und Farbe hat, und dazu ge¬ hört auch der Storch. Deshalb lieb' ich Sie ja gerade ſo ſehr. Ach, daß doch das Natürliche wieder obenauf käme. “
„ Kommt, liebe Meluſine. “
299Meluſinens kribbelnder kleiner Finger behielt recht. Es kam wirklich Beſuch, erſt Wrſchowitz, dann aber — ſtatt der drei, die ſie noch nebenher gemutmaßt hatte — nur Czako.
Der Empfang des einen wie des andern der beiden Herren hatte vorn im Damenzimmer ſtattgefunden, ohne Gegenwart des alten Grafen. Dieſer erſchien erſt, als man zum Thee ging; er hieß ſeine Gäſte herzlich will¬ kommen, weil er jederzeit das Bedürfnis hatte, von dem, was draußen in der Welt vorging, etwas zu hören. Da¬ für ſorgte denn auch jeder auf ſeine Weiſe: die Baronin durch Mitteilungen aus der oberen Geſellſchaftsſphäre, Czako durch Avancements und Demiſſionen und Wrſcho¬ witz durch „ Krittikk “. Alles, was zur Sprache kam, hatte für den alten Grafen ſo ziemlich den gleichen Wert, aber das Liebſte waren ihm doch die Hofnachrichten, die die Baronin mit glücklicher Ungeniertheit zum beſten gab. Wendungen wie „ ich darf mich wohl Ihrer Diskretion verſichert halten “waren ihr gänzlich fremd. Sie hatte nicht bloß ganz allgemein den Mut ihrer Meinung, ſon¬ dern dieſen Mut auch in betreff ihrer jedesmaligen Spezial¬ geſchichte, von der man in der Regel freilich ſagen durfte, daß ſie deſſelben auch dringend bedürftig war.
„ Sagen Sie, liebe Freundin, “begann der alte Graf, „ was wird das jetzt ſo eigentlich mit den Briefen bei Hofe? “
„ Mit den Briefen? O, das wird immer ſchöner. “
„ Immer ſchöner? “
„ Nun, immer ſchöner, “lachte hier die Baronin, „ iſt vielleicht nicht gerade das rechte Wort. Aber es wird immer geheimnisvoller. Und das Geheimnisvolle hat nun mal das, worauf es ankommt, will ſagen den Charme. Schon die beliebte Wendung „ rätſelhafte Frau “ſpricht dafür; eine Frau, die nicht rätſelhaft iſt, iſt eigentlich gar keine, womit ich mir perſönlich freilich eine Art Todes¬300 urteil ausſpreche. Denn ich bin alles, nur kein Rätſel. Aber am Ende, man iſt, wie man iſt, und ſo muß ich dies Manko zu verwinden ſuchen .... Es heißt immer ‚ üble Nachrede, drin man ſich mehr oder weniger mit Vorliebe gefalle, ſei was Sündhaftes‘, Aber was heißt hier ‚ üble Nachrede‘? Vielleicht iſt das, was uns ſo bruch¬ ſtückweiſe zu Gehör kommt, nur ein ſchwaches Echo vom Eigentlichen, und bedeutet eher ein zu wenig als ein zu viel. Im übrigen, wie's damit auch ſei, mein Sinn iſt nun mal auf das Senſationelle gerichtet. Unſer Leben verläuft, offen geſtanden, etwas durchſchnittsmäßig, alſo langweilig, und weil dem ſo iſt, ſetz 'ich getroſt hinzu: ‚ Gott ſei Dank, daß es Skandale giebt‘. Freilich für Armgard iſt ſo was nicht geſagt. Die darf es nicht hören. “
„ Sie hört es aber doch, “lachte die Comteſſe, „ und denkt dabei: was es doch für ſonderbare Neigungen und Glücke giebt. Ich habe für dergleichen gar kein Organ. Unſre teure Baronin findet unſer Leben langweilig und ſolche Chronik intereſſant. Ich, umgekehrt, finde ſolche Chronik langweilig und unſer alltägliches Leben inter¬ eſſant. Wenn ich den Rudolf unſers Portier Hartwig unten mit ſeinem Hoop und ſeinen dünnen langen Berliner Beinen über die Straße laufen ſehe, ſo find 'ich das intereſſanter als dieſe ſogenannte Pikanterie. “
Meluſine ſtand auf und gab Armgard einen Kuß. „ Du biſt doch deiner Schweſter Schweſter, oder mein Er¬ ziehungsprodukt, und zum erſtenmal in meinem Leben muß ich meine teure Baronin ganz im Stiche laſſen. Es iſt nichts mit dieſem Klatſch; es kommt nichts dabei heraus. “
„ Ach, liebe Meluſine, das iſt durchaus nicht richtig. Es kommt umgekehrt ſehr viel dabei heraus. Ihr Barbys ſeid alle ſo ſchrecklich diskret und ideal, aber ich für mein Teil ich bin anders und nehme die Welt, wie ſie iſt; ein Bier und ein Schnaderhüpfl und mal ein Haberfeld¬301 treiben, damit kommt man am weiteſten. Was wir da jetzt hier erleben, das iſt auch ſolch Haberfeldtreiben, ein Stück Fehme. “
„ Nur keine heilige. “
„ Nein, “ſagte die Baronin, „ keine heilige. Die Fehme war aber auch nicht immer heilig. Habe mir da neulich erſt den Götz wieder angeſehn, bloß wegen dieſer Scene. Die Poppe beiläufig vorzüglich. Und der ſchwarze Mann von der Fehme ſoll im Urtext noch viel ſchlimmer geweſen ſein, ſo daß man es (Goethe war damals noch ſehr jung) eigentlich kaum leſen kann. Ich würde mir's aber doch getrauen. Und nun wend 'ich mich an unſre Herren, die dies difficile Kampffeld, ich weiß nicht ritterlicher - oder unritterlicherweiſe, mir ganz allein überlaſſen haben. Dr. Wrſchowitz, wie denken Sie darüber? “
„ Ich denke darüber ganz wie gnädige Frau. Was wir da leſen wie Runenſchrift ... nein, nicht wie Runenſchrift ... (Wrſchowitz unterbrach ſich hier mißmutig über ſein eignes Hineingeraten in's Skandinaviſche) — was wir da leſen in Briefen vom Hofe, das iſt Krittikk. Und weil es Krittikk iſt, iſt es gutt. Mag es auch ſein Mi߬ brauch von Krittikk. Alles hat Mißbrauch. Gerechtigkeit hat Mißbrauch, Kirche hat Mißbrauch, Krittikk hat Mi߬ brauch. Aber trotzdem. Auf die Fehme kommt es an, und das große Meſſer muß wieder ſtecken im Baum. “
„ Brrr, “ſagte Czako, was ihm einen ernſten Augen¬ aufſchlag von Wrſchowitz eintrug. —
Als man ſich nach einer halben Stunde von Tiſch erhoben hatte, wechſelte man den Raum und begab ſich in das Damenzimmer zurück, weil der alte Graf etwas Muſik hören und ſich von Armgards Fortſchritten über¬ zeugen wollte. „ Dr. Wrſchowitz hat vielleicht die Güte, dich zu begleiten. “
So folgte denn ein Quatremains und als man da¬ mit aufhörte, nahm der alte Barby Veranlaſſung, ſeiner302 Vorliebe für ſolch vierhändiges Spiel Ausdruck zu geben, was Wrſchowitz, deſſen Künſtlerüberheblichkeit keine Grenzen kannte, zu der ruhig lächelnden Gegenbemerkung veran¬ laßte, daß man dieſer Auffaſſung bei Dilettanten ſehr häufig begegne. Der alte Graf, wenig befriedigt von dieſer „ Krittikk “, war doch andrerſeits viel zu vertraut mit Künſtlerallüren im allgemeinen und mit den Wrſcho¬ witzſchen im beſonderen, um ſich ernſtlich über ſolche Worte zu verwundern. Er begnügte ſich vielmehr mit einer ge¬ meſſenen Verbeugung gegen den Muſikdoktor und zog, auf einer nebenſtehenden Cauſeuſe Platz nehmend, die gute Frau von Berchtesgaden ins Geſpräch, von der er wußte, daß ihre Munterkeiten nie den Charakter „ goldener Rück¬ ſichtsloſigkeiten “annahmen.
Wrſchowitz ſeinerſeits war an dem aufgeklappten Flügel ſtehen geblieben, ohne jede Spur von Verlegen¬ heit, ſo daß ein Sichkümmern um ihn eigentlich nicht nötig geweſen wäre. Trotzdem hielt es Czako für angezeigt, ſich ſeiner anzunehmen und dabei die herkömmliche Frage zu thun „ ob er, der Herr Dr. Wrſchowitz, ſich ſchon in Berlin eingelebt habe? “
„ Hab 'ich, “ſagte Wrſchowitz kurz.
„ Und beklagen es nicht, Ihr Zelt unter uns auf¬ geſchlagen zu haben? “
„ Au contraire. Berlin eine ſchöne Stadt, eine ſerr gutte Stadt. Eine ſerr gutte Stadt pour moi en parti¬ culier et pour les étrangers en général. Eine ſerr gutte Stadt, weil es hat Muſikk und weil es hat Krittikk. “
„ Ich bin beglückt, Dr. Wrſchowitz, ſpeziell aus Ihrem Munde ſo viel Gutes über unſre Stadt zu hören. Im allgemeinen iſt die ſlaviſche, beſonders die tſchechiſche Welt ... “
„ O, die tſchechiſche Welt. Vanitas vanitatum. “
„ Es iſt ſehr ſelten, in nationalen Fragen einem ſo freien Drüberſtehn zu begegnen ... Aber wenn es Ihnen303 recht iſt, Dr. Wrſchowitz, wir ſtehen hier wie zwei Schild¬ halter neben dieſem aufgeklappten Klavier, — vielleicht daß wir uns ſetzen könnten. Gräfin Meluſine lugt ohne¬ hin ſchon nach uns aus. “ Und als Wrſchowitz ſeine Zu¬ ſtimmung zu dieſem Vorſchlage Czakos ausgedrückt hatte, ſchritten beide Herren vom Klavier her auf den Kamin zu, vor dem ſich die Gräfin auf einem Fauteuil nieder¬ gelaſſen hatte. Neben ihr ſtand ein Marmortiſchchen, drauf ſie den linken Arm ſtützte.
„ Nun endlich, Herr von Czako. Vor allem aber rücken Sie Stühle heran. Ich ſah die beiden Herren in einem anſcheinend intimen Geſpräche. Wenn es ſich um etwas handelte, dran ich teilnehmen darf, ſo gönnen Sie mir dieſen Vorzug. Papa hat ſich, wie Sie ſehn, mit der Baronin engagiert, ich denke mir über berechtigte bajuvariſche Eigentümlichkeiten, und Armgard denkt über ihr Spiel nach und all die falſchen Griffe. Was müſſen Sie gelitten haben, Wrſchowitz. Und nun noch einmal, Hauptmann Czako, worüber plauderten Sie? “
„ Berlin. “
„ Ein unerſchöpfliches Thema für die Mediſance. “
„ Worauf Dr. Wrſchowitz zu meinem Staunen ver¬ zichtete. Denken Sie ſich, gnädigſte Gräfin, er ſchien alles loben zu wollen. Allerdings waren wir erſt bei Muſik und Kritik. Über die Menſchen noch kein Wort. “
„ O, Wrſchowitz, das müſſen Sie nachholen. Ein Fremder ſieht mehr als ein Einheimiſcher. Alſo frei weg und ohne Scheu. Wie ſind die Vornehmen? Wie ſind die kleinen Leute? “
Wrſchowitz wiegte den Kopf hin und her, als ob er überlege, wie weit er in ſeiner Antwort gehen könne. Dann mit einem Male ſchien er einen Entſchluß gefaßt zu haben und ſagte: „ Oberklaſſe gutt, Unterklaſſe ſerr gutt; Mittelklaſſe nicht ſerr gutt. “
304„ Kann ich zuſtimmen, “lachte Meluſine. „ Fehlen nur noch ein paar Details. Wie wär 'es damit? “
„ Mittelklaſſberliner findet gutt, was er ſagt, aber findet nicht gutt, was ſagt ein andrer. “
Czako, trotzdem er ſich getroffen fühlte, nickte.
„ Mittelklaſſberliner, wenn ſpricht andrer, fällt in Krampf. In verſteckten Krampf oder auch in nicht ver¬ ſteckten Krampf. In verſtecktem Krampf iſt er ein Bild des Jammers, in nicht verſtecktem Krampf iſt er ein Affront. “
„ Brav, Wrſchowitz. Aber mehr. Ich bitte. “
„ Berliner, immer an der Tete. So wenigſtens glaubt er. Berliner immer Held. Berliner weiß alles, findet alles, entdeckt alles. Erſt Borſig, dann Stephenſon, erſt Rudolf Hertzog, dann Herzog Rudolf, erſt Pfeffer¬ küchler Hildebrand, dann Papſt Hildebrand. “
„ Nicht geſchmeichelt, aber ähnlich. Und nun, Wrſcho¬ witz, noch eins, dann ſind Sie wieder frei ... Wie ſind die Damen? “
„ Ach, gnädigſte Gräfin ... “
„ Nichts,