PRIMS Full-text transcription (HTML)
Der Streit des Philanthropiniſmus und Humaniſmus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unſrer Zeit
Jena,bei Friedrich Frommann1808.

Ihrer Koͤniglichen Majeſtaͤt der Koͤniginn Caroline von Baiern

in tiefſter Ehrfurcht gewidmet von

dem Verfaſſer.

Allergnaͤdigſte Koͤniginn!

Wer fuͤr eine heilige Angelegenheit der Menſch - heit ſpricht, darf mit der Zuverſicht, nicht ungehoͤrt zu ſprechen, an Eure Koͤnigliche Ma - jeſtaͤt ſich wenden.

Dieſe feſte Ueberzeugung hat auch mir den Muth gegeben, vor dem Throne Eurer Majeſtaͤt dieſe Schrift niederzulegen, die ein oͤffentliches Document ſeyn ſoll, mit welcher hohen Achtung und mit welchem Ernſt ich fuͤr den wichtigen Beruf erfuͤllt bin, Theil zu nehmen an der Leitung der oͤffentlichen Bil - dung des biedern, kraftvollen, in der Cul - tur Germaniens zu einer großen Rolle berufe - nen Volkes, das ſich mit Stolz Ihr Volk nennt.

Mit tiefſter Ehrſucht

Eurer Koͤniglichen Majeſtaͤt

allerunterthaͤnigſtgehorſamſter

Niethammer.

[1]

Ueber die Unterrichts-Syſteme unſrer Zeit.

1[2][3]

Einleitung.

Der Streit der beiden entgegengeſetzten Extreme der Paͤdagogik, der ſich in unſern Tagen zum Ausbruch entzuͤndet hat, betraf zunaͤchſt nur die Gymnaſien und Gelehrten-Schulen. Die Wichtigkeit dieſer Inſtitute, die eigentlich den Kern der Nationalbildung zu pflegen beſtimmt ſind, begruͤndet und rechtfertiget hinreichend das lebhafte Intereſſe, das ſich fuͤr die Entſcheidung jenes Streitpunktes gezeigt hat, und eine ruhige Unter - ſuchung des Gegenſtandes noch immer zu wuͤnſchen und ſelbſt zu fordern ſcheint. Allein dieſer Streit ſelbſt iſt nicht befriedigend zu entſcheiden, ohne ihn auf den gan - zen Umfang des Erziehungsunterrichts*)Was unter Erziehungs-Unterricht zu verſtehen ſey, muß zwar durch den Zuſammenhang ſelbſt klar werden; doch iſt es vielleicht nicht überflüſſig, ein paar Worte zur Rechtfertigung dieſes aus -1*4Einleitung.zudehnen, und das Grundprincip der Oppoſition im Gan - zen zu faſſen. Derſelbige Gegenſatz der Paͤdagogik, der in Anſehung des Gymnaſialunterrichts als verderblich angeklagt worden, hat auch in dem uͤbrigen Schulunterricht wie in dem Privatunterricht das Uebergewicht gewonnen, und wirkt nur um ſo nachtheiliger, weil die Meiſten das Uebel nicht einmal recht kennen, und fuͤr Geſundheit halten, was die ei - gentliche Krankheit iſt. Dem paͤdagogiſchen Beduͤrfniß der Zeit waͤre ſonach durch bloße Beilegung des uͤber*)nicht ganz gewöhnlichen Ausdrucks zu ſagen. Erſtens, daß er mit Er - ziehungslehre verwechſelt und als Anweiſung zum Erzie - hen verſtanden werde, iſt zwar nicht geradezu unmöglich, wie die analoge Zuſammenſetzung des Wortes Erziehungslehre ſelbſt be - weiſt; aber doch ſchon deshalb kaum zu beſorgen, weil das Wort Unterricht ſtäts nur von der Praxis des Unterrichtens ſelbſt, nie - mals aber, wie das Wort Lehre in der obigen Zuſammenſetzung, von einer Theorie gebraucht wird. Zweitens hat das Wort Erzie - hungsunterricht, in der ihm hier beigelegten Bedeutung, die Analogie der Worter Schulunterricht, Kinderunterricht, Jugendunterricht für ſich, in welchen ebenfalls das erſte Wort der Zuſammenſetzung nicht ſowohl dem allgemeinen Begriff des Unter - richts einen beſtimmten Gegenſtand, als vielmehr einer beſtimmten Art des Unterrichts die Periode ihrer Dauer bezeichnet. Da es nun für den Zweck dieſer Abhandlung darauf ankam, ein Wort zu finden, welches den Begriff des Unterrichts, ſoweit er die allgemeine Bildung umfaßt, nicht nur in ſeinem ganzen Umfang, ſondern zugleich auch in ſeinem beſtimmten Gegenſatze zu der ſpeciellen Bildung (der Be - rufserlernung, des Fachſtudiums ꝛc. ) deutlich bezeichnete: ſo ſchien die Zuſammenſetzung des Ausdruckes Erziehungsunterricht verant - wortlich und ſelbſt des Bürgerrechts in der Sprache um ſo eher würdig zu ſeyn, da keiner der drei obengenannten Ausdrücke jenen Begriff ganz erſchöpft, dagegen aber der Ausdruck Erziehungsunter - richt, ſofern die eigentliche Erziehung mit dem Uebergang des Lehrlings zum Berufsunterricht geendigt iſt, die Periode der allgemeinen Bildung vollkommen richtig bezeichnet.5Einleitung.den Gymnaſialunterricht erhobnen Streites nicht gehol - fen: es iſt hier weniger noͤthig, den Frieden zu bringen als den Krieg, den einmal erhobnen Streit in ſeiner ganzen, noch nichtdurchaus erkannten, Allgemeinheit auf - zufaſſen, und das herrſchende Unterrichtsſyſtem unſeres Zeitalters in ſeinem ganzen Umfang anzugreifen.

Ich verkenne nicht die großen Schwierigkeiten, welche dieſem Unternehmen entgegenſtehen. Fuͤrs erſte kann es ſchon an ſich leicht uͤbel gedeutet werden, mit einer ſolchen allgemeinen Beſchuldigung gegen ein gan - zes Zeitalter aufzutreten; zumal zu einer Zeit, wo man ohnedem bis zum Ueberdruß oft das Zeitalter, gerecht und ungerecht, ins Allgemeine hin angeklagt hoͤren muß, und wo ſich uͤberdies durch ſo manche Stimme, welche oͤffentlich vernommen worden, wohl bewieſen hat, daß es auch in dieſem Fache noch nicht an Maͤnnern fehle, die das Rechte kennen. Fuͤrs andre iſt ſelbſt durch die Erbitterung, mit welcher der zuerſt entſtandne Streit gefuͤhrt worden, eine ruhige Entſcheidung ſehr erſchwert, und eine parteiloſe Beurtheilung der anzuſtellenden Un - terſuchung kaum zu hoffen. Fuͤrs dritte, da es nicht einmal bloß darauf ankoͤmmt, jenen Streit beizulegen, der, als ein wiſſenſchaftlicher rein in den Graͤnzen des wiſſenſchaftlichen Gebietes gehalten, eine reine Entſchei - dung wenigſtens zuließe; da es vielmehr darauf an - koͤmmt, ein Unterrichtsſyſtem anzugreifen, das, in der herrſchenden Denkart der Zeit wurzelnd, ſelbſt ohne noch als Syſtem in ſeiner vollen Beſtimmtheit ſcienti - fiſch dargeſtellt zu ſeyn, einen weit verbreiteten Einfluß6Einleitung.gewonnen hat, der weniger auf deutlich gedachten Gruͤnden, als auf vorgefaßten Meinungen, unbeſtimm - ten Intereſſen und unentwickelten Anſichten beruht, ge - gen die am Ende eine wiſſenſchaftliche Eroͤrterung nicht viel vermag: kann der Einzelne, der den Angriff wagt, als einer, der gegen den Strom ſchwimmt, ſich kaum einen guͤnſtigen Erfolg verſprechen.

Bei der hohen Wichtigkeit aber, welche die Ange - legenheit hat, koͤnnen alle Bedenklichkeiten mich nicht abhalten, meine Ueberzeugung von der Nothwendigkeit einer allgemeinen Reform des Erziehungsunterrichts uͤberhaupt, eben ſo wie meine Anſicht der dabei zu befolgenden Grundſaͤtze freimuͤthig auszuſprechen. Ich beſcheide mich gern, daß ich Vielen damit nichts Neues ſagen werde; aber auch ſie werden es nicht mißbilligen koͤnnen, daß die Grundſaͤtze eines richtigeren Unter - richtsſyſtems oͤffentlich zur Sprache gebracht und zur weiteren Pruͤfung vorgelegt werden, welche ſie zwar fuͤr ſich laͤngſt gekannt und geuͤbt haben moͤgen, aber allgemeiner bekannt und gemeinnuͤtziger zu machen bis jetzt verhindert waren. Eben ſo beſcheide ich mich auch gern, nicht den ganzen voreingenommenen Theil des Publicums uͤberzeugen zu koͤnnen; wohl wiſſend, daß uͤberhaupt eine Meinung, die ihren Sitz mehr in Gewohnheit und Neigung als in deutlich gedachten Gruͤnden hat, immer ſchwer zu aͤndern ſey, und daß insbeſondre es auch den Vertheidigern des modernen Unterrichtsſyſtems an ſcheinbaren Gruͤnden nicht fehlen koͤnne. Aber ich weiß doch auch, daß ſelbſt von denen,7Einleitung.die jetzt mit dem Strome ſchwimmen, Viele gern um - kehren wuͤrden, wenn ſie nur wuͤßten, woran ſie ſich halten ſollten, und daß es fuͤr ſie vielleicht nur einer klaren Andeutung des rechten Weges bedarf, um ſie darauf zuruͤck zu bringen: beſonders aber, daß ſich nicht wenige Aeltern finden, die, fuͤr eine zweckmaͤßige Bil - dung ihrer Kinder beſorgt, durch den ſchwankenden Zuſtand der Unterrichtstheorie nur um ſo mehr beun - ruhiget ſind, je mehr ſie das Mangelhafte der herr - ſchenden Methode ſo wie das Gewicht der dagegen erhobnen Beſchwerden fuͤhlen, ohne doch aus der Ver - wirrung der ſich widerſprechenden Meinungen ſich ſelbſt zu einer klaren und feſten Ueberzeugung durcharbeiten zu koͤnnen. Darf ich mir verſprechen, auch nur Eini - gen aus dieſer Zahl Beruhigung zu geben und Ver - trauen zu Befolgung einer richtigern Methode zu er - wecken: ſo darf ich mein Unternehmen wenigſtens nicht fuͤr uͤberfluͤſſig halten, wenn es mir auch nicht gelin - gen ſollte, den groͤßeren Zweck zu erreichen, den ich dabei im Auge habe.

Wenn dieſer Zweck in der Aufſchrift der Ab - handlung nicht in ſeinem ganzen Umfang ausgedruͤckt ſcheinen ſollte, indem man auf den erſten Anblick glau - ben koͤnnte, Philanthropinismus und Hu - manismus zunaͤchſt nur auf die beiden uͤber den Gymnaſial-Unterricht entzweiten Parteien deuten zu muͤſ - ſen: ſo wird eine naͤhere Anſicht zeigen, daß die ge - waͤhlten Namen vollkommen geeignet ſeyen, den Gegen - ſatz des modernen und aͤlteren Unterrichts -8Einleitung.ſyſtems uͤberhaupt und ſogar der alten und mo - dernen Paͤdagogik ſelbſt im Allgemeinen zu be - zeichnen; ſo paradox es auch uͤbrigens klingen mag, zwei ſo ſcharf entgegengeſetzte Syſteme durch ſo nah verwandte Namen gleichzuſetzen. Die Benennung des Humanismus paßt keinesweges bloß auf die Par - tei, welche das Studium der ſogenannten Humanio - ren in den Gelehrten-Schulen gegen uͤbel berechnete Beeintraͤchtigungen in Schutz nimmt; ſie paßt vielmehr in einem noch weit eminenteren Sinne auf die ganze aͤltere Paͤdagogik uͤberhaupt, deren Grundcharakter es immer war, mehr fuͤr die Humanitaͤt als fuͤr die Animalitaͤt des Zoͤglings zu ſorgen, und die ihre Forderungen gegen die moderne uͤberwiegende Bildung zur Animalitaͤt noch immer, obgleich nur als minder - zaͤhlige Oppoſition, fortſetzt. Das moderne Erziehungs - ſyſtem dagegen, welchem vermoͤge deſſelben Eintheilungs - grundes die Benennung des Animalismus zukaͤme, wird ſchicklicher durch den Namen des Philanthro - pinismus bezeichnet: nicht nur weil dieſes Syſtem in ſeinem vollendeten Gegenſatze gegen das aͤltere zu allererſt in dem Philanthropin hervortrat, und weil die Erinnerung an ſeinen geſchichtlichen Zu - ſammenhang mit jenem genug bekannten Inſtitute ſeine weſentliche Eigenthuͤmlichkeit am beſtimmteſten ausdruͤckt; ſondern auch, weil jenes Syſtem von ſeinen allerneue - ſten Pflegern und Vertheidigern nicht weniger als von ſeinen fruͤheren Begruͤndern als eine Wohlthat fuͤr die Menſchheit betrachtet und angekuͤndiget wird. Dieſes Bezeichnende der beiden Benennungen9Einleitung.ſelbſt wird zugleich zur Rechtfertigung dienen, daß uͤberhaupt die Oppoſition mit beſonderen Namen be - zeichnet worden; da ſonſt allerdings Namen der Sy - ſteme bei Beſchreibung und Beurtheilung derſelben nicht nur meiſtens unnoͤthig, ſondern, wiefern ſie leicht als Sectenbezeichnungen gehaͤſſig gedeutet werden koͤn - nen, ſogar nachtheilig und verwerflich ſind.

Der Ruͤckblick auf die erſte Entſtehung des Philan - thropinismus, womit die Abhandlung ſelbſt beginnt, ſchien um ſo nothwendiger, da es von der einen Seite fuͤr die richtige Beurtheilung des herrſchenden Erzie - hungs - und Unterrichts-Syſtems unſrer gegenwaͤrtigen Zeit ſelbſt ſo wichtig iſt, die Anfaͤnge deſſelben in der Periode ſeines erſten Erſcheinens aufzufaſſen und ſeine allmaͤlige Ausbreitung in den Ereigniſſen, die ihm den Weg gebahnt haben, zu beobachten, von der andern Seite aber unlaͤugbar dieſer geſchichtliche Zuſammen - hang ſo haͤufig verkannt oder uͤberſehen wird, daß die in unſern Tagen heftiger erneuerten Bewegungen des Philanthropinismus vielen der Zuſchauer des Streites fuͤr ein ganz anderes neues Phaͤnomen gelten, und ſelbſt viele der Vertheidiger wie der Widerſacher jener neueſten paͤdagogiſchen Oppoſition verwundert ſeyn duͤrften, als philanthropiniſche Grundſaͤtze aufgefuͤhrt zu ſehen, was ſie als ein allerneueſtes paͤdagogiſches Evangelium ergriffen oder ver - worfen, gehaßt oder geliebt haben.

Daß der Philanthropinismus in der kurzen ge - ſchichtlichen Ueberſicht ſeiner Entwickelung weniger von10Einleitung.der Seite ſeines Einfluſſes auf die Volksſchulen und auf den haͤuslichen Erziehungsunterricht, als von der Seite ſeines Verhaͤltniſſes zu den Gelehrten-Schulen aufgefaßt iſt, wird inſofern, als eben in den letztern Anſtalten die Erſcheinungen deſſelben am ſtaͤrkſten her - vortreten, nicht mißbilliget werden; ſo wie auch das Entſchuldigung verdienen wird, daß ich, von Erſchei - nungen unſeres Zeitalters redend, als Teutſcher da - bei nur Teutſchland im Sinne hatte.

Muͤnchen, den 28ſten Febr. 1808.

[11]

Erſter Abſchnitt. Hiſtoriſcher Geſichtspunkt der Unterſuchung.

In der neueren Erziehungsgeſchichte von Teutſchland ſind die Philanthropine der hervorſtechendſte Punkt. Durch ſie iſt die Oppoſition rein ausgeſprochen, welche ſich gegen die aͤltere Paͤdagogik uͤberhaupt und gegen das fruͤhere Unterrichts-Syſtem insbeſondere nach und nach gebildet und ſeitdem nicht nur auf alle oͤffentli - chen Unterrichtsanſtalten, ſondern auch auf die haͤusliche Erziehung, nur bald mehr bald weniger, Einfluß ge - wonnen hat.

Waͤre auch nicht der Urſprung des allerneueſten Unterrichts-Syſtems, das in unſern Tagen den hefti - gen Streit uͤber Erziehungs-Unterricht und oͤffentliche Unterrichtsanſtalten veranlaßt hat, in der That aus der Anſicht des Philanthropinismus unmittelbar abzu - leiten; ſo muͤßten wir doch, um den Zuſtand des oͤf - fentlichen und haͤuslichen Unterrichts unſrer Zeit in12Erſter Abſchnitt.dem lehrreichen Zuſammenhang ſeiner allmaͤligen Bil - dung zu erkennen und den daruͤber erhobnen Streit der beiden entgegengeſetzten Theorieen nicht theoretiſch, ſondern praktiſch entſcheiden zu[lernen], auf jene Pe - riode der Philanthropine mit unſrer Betrachtung zuruͤck - gehen.

Wie aber fuͤr den Hiſtoriker uͤberhaupt ſich in dem Fluſſe der Begebenheiten nichts iſolirt, und ſelbſt ſolche hervorſtechende Punkte ihm nicht als außer dem Zuſammenhange des Ganzen entſtandne fremde Phaͤno - mene, vielmehr ſelbſt als Producte der gleichzeitigen Ereigniſſe und in mannichfaltiger Wechſelbeziehung mit denſelben ſtehend erſcheinen: ſo duͤrfen wir auch die Philanthropine nicht als eine im bloßen Reiche der Be - griffe von ungefaͤhr entſtandne Theorie, als einen Einfall, der ſich geltend zu machen gewußt habe, be - trachten; wir muͤſſen vielmehr auch ſie in ihrem Zu - ſammenhang mit der damaligen Bildungs-Periode uͤber - haupt, und aus dem Umtriebe des damaligen Zeitgei - ſtes im Ganzen erkennen.

Eine Veranlaſſung, welche zunaͤchſt die Unter - richts-Methode des Philanthropinismus, die uns hier vorzugsweiſe beſchaͤftiget, in Anregung gebracht hat, zeigt ſich allerdings theils in der Man - gelhaftigkeit der oͤffentlichen Unterrichtsanſtalten, die von Tag zu Tag fuͤhlbarer wurde, theils in der wirk - lichen Fehlerhaftigkeit, zu welcher die urſpruͤngliche Ein -13Hiſtoriſcher Geſichtspunkt d. Unterſuchung.richtung der Schulen und Gymnaſien nach und nach ausgeartet war.

In der Zeit des Wiederaufbluͤhens der Wiſſen - ſchaften in Teutſchland, welche auch den oͤffentlichen Lehranſtalten ihre im Ganzen noch bis auf den heutigen Tag erhaltne Grundform gegeben hat, in jener Zeit, wo die alten Sprachen noch als die einzigen Sprachen der Cultur und inſofern als ausſchließende Bedingung aller Bildung galten, wo jene Sprachen uͤberdies oft ſelbſt die ganze Summe des Wiſſens bei den Lehrern ausmachten, war es natuͤrlich und ſelbſt nothwen - dig, daß in dem Erziehungsunterricht fuͤr alle, die auf Bildung Anſpruch machten, ein Uebergewicht auf die Erlernung jener alten Sprachen gelegt wurde. Dieſe Grundform der oͤffentlichen Unterrichtsanſtalten fuͤr Ge - lehrte blieb lange unveraͤndert. Theils lebte noch in den Anſtalten ſelbſt der beſſere Geiſt fort, der ſie be - gruͤndet hatte, und man hatte Grund, mit ihren Zoͤg - lingen zufrieden zu ſeyn; theils waren alle Verhaͤltniſſe der Verfaſſungen und des Lebens einfacher, die Zeit weniger unruhig, die Noth weniger druͤckend, der Um - trieb der Menſchen weniger heftig, und man machte daher auch an die Erziehung ſelbſt weniger ſtrenge For - derungen. Gleichwohl mußte ſchon die immer haͤufiger werdende Ausartung jener Anſtalten, die den ganzen Unterricht mehr und mehr in ein bloßes mechaniſches Erlernen der alten Sprachen verwandelten, zuletzt einen Widerwillen gegen dieſelben erregen, der in dem Grade zunehmen mußte, in welchem die Einſicht lebendiger14Erſter Abſchnitt.wurde, daß das Studium der alten Sprachen nicht Zweck an und fuͤr ſich ſelbſt, ſondern nur Voruͤbung und Mittel ſeyn ſolle, die vollendetſten Meiſterwerke der Cultur mit der Leichtigkeit, die der Genuß eines Kunſtwerkes und die davon zu erlangende Bildung for - dert, leſen und ſtudiren zu koͤnnen. Da nun, dieſer Einſicht gerade entgegen, die Schulen immer mehr uͤber dem bloßen Mittel den Zweck ſelbſt zu vergeſſen ſchienen, die Sprachen nur um der Sprachen willen trieben, und hie und da ihren ganzen Unterricht in ein mechaniſches Wort - und Buchſtabenweſen ausarten ließen, ſo mußte der laͤſtige und nutzloſe Zwang des Sprachunterrichts nur um ſo verhaßter, und eben des - halb eine Erloͤſung davon als erſte Bedingung einer gruͤndlichen Reform des Erziehungsunterrichts betrachtet werden.

In dieſem Haſſe lag einer der erſten Keime des Philanthropinismus. Wie der Haß aber nie Maͤßi - gung kennt, ſo uͤberſprang er auch hier ſein Ziel. Man begnuͤgte ſich nicht damit, den wirklichen Mißbrauch anzugreifen, und deſſen Abſtellung zu verlangen, ſon - dern gieng zu dem andern Extrem einer gaͤnzlichen Herabwuͤrdigung des allgemeinen Studiums der ſoge - nannten gelehrten Sprachen uͤber.

Allein ſelbſt dieſe eine negative Veranlaſſung des Philanthropinismus wird nur unvollkommen erklaͤrt, wenn man ſie bloß von dieſer Seite auffaßt; ſelbſt dieſe Geringſchaͤtzung der alten Sprachen hat weit15Hiſtoriſcher Geſichtspunkt d. Unterſuchung.tiefer in der zur Herrſchaft vorgedrungenen Denkart jenes Zeitalters liegende Gruͤnde. Noch weit weniger aber laͤßt ſich die poſitive Oppoſition des Philanthropi - nismus, welche den eigenthuͤmlichen Charakter von deſ - ſen Unterrichtstheorie ausmacht, die uͤberwiegende Tendenz auf ſogenannten Real-Unterricht, aus der bloßen Negation des Sprach-Unterrichts er - klaͤren. Um die merkwuͤrdige Erſcheinung recht zu be - greifen, muß man die herrſchende Denkart des Zeital - ters im Ganzen auffaſſen.

Der große Impulſator ſeiner Zeit, mit welchem fuͤr Teutſchland eine neue Bildungs-Epoche uͤberhaupt beginnt, und der auch die Umgeſtaltung der Erziehungs - lehre unter uns begruͤndet hat, iſt Friedrich der Zweite. In dem Reiche, das er durch ſeinen kraͤftigen Geiſt erſchaffen hat, erhielt zuerſt die teutſche Cultur eine vorherrſchende Richtung auf Induſtrie und Gewerbfleiß. Die Forderung realer Nuͤtzlichkeit war jetzt an der Tagesordnung; reale Nuͤtzlichkeit aber hieß nur Eintraͤglichkeit, materielle Production. Die laute, von der Regierung ſelbſt ausgehende Anpreiſung und auszeichnende Beguͤnſtigung des Landbaues, des Fabrikenweſens, des Handels, der Induſtrie ꝛc. mußte unausbleiblich auf uͤberwiegende Schaͤtzung mechani - ſcher und techniſcher Geſchicklichkeit wirken. Allein, es iſt nicht bloß mechaniſche Betriebſamkeit, Gewerb - und Kunſtfleiß, Handel und jede Art von Induſtrie, die man aus dem maͤchtig angeregten Umtriebe hervorgehen ſieht: derſelbe Geiſt, dieſelbe Tendenz, dieſelbe Reg -16Erſter Abſchnitt.ſamkeit zeigt ſich auch in allen Zweigen des Denkens und der Bildung uͤberhaupt. In der Erziehung, in der Religion, in der Philoſophie, in dem ganzen Um - kreiſe der Geiſtesthaͤtigkeit, war praktiſch jetzt das allgemeine Loſungswort; nur was unmittelbar ins Leben eingreifend, in der Anwendung foͤrderlich war, wurde geachtet. Das ganze Gebiet des Wiſſens gewann dadurch neues Leben und eine neue Geſtalt; die Wiſſenſchaften wurden mit angeſtrengtem Ei - fer umgearbeitet, um ſie von ihrer praktiſchen Seite darzuſtellen, und ſie fuͤr die Praxis nuͤtzlich zu machen.

Was der große Reformator ſeiner Zeit durch dieſe aufgeregte allgemeine Thaͤtigkeit nach Außen zunaͤchſt in ſeinem Volk bewirkte, hat die Mitwelt in Erſtaunen geſetzt, und muß bei der ſpaͤten Nachwelt noch Bewun - derung finden. Aber nicht bloß ſein Reich hat er durch ſeinen gewaltigen Geiſt umgeſchaffen; von ihm gieng un - verkennbar auch der Impuls aus, der nach und nach eine Totalreform der teutſchen Cultur bewirkte. Die Haupt - ſtadt ſeines Reiches war es, die den Ton in der ſchrift - ſtelleriſchen Welt in Teutſchland angab, wie ſeine Ar - mee es war, die uͤberall zum Muſter genommen wurde, und ſeine Regierungskunſt, die uͤberall eifrige Nach - ahmung fand. Dankbar wird die Geſchichte ſeine Zeit als Epoche einer hoͤchſtnoͤthigen und hoͤchſtwohlthaͤtigen Geiſtes-Revolution bezeichnen, durch welche der Geiſt der Traͤgheit und der muͤſſigen Speculation verbannt, das Reich des Aberglaubens erſchuͤttert, die Feſſel der17Hiſtoriſcher Geſichtspunkt d. Unterſuchung.ſupranaturaliſtiſchen Buchſtaben-Auctoritaͤt zerbrochen, die ſchlummernde Kraft geweckt, das Denken frei gemacht worden iſt.

Aber ſelbſt durch dieſe glaͤnzenden Vorzuͤge wird der Hiſtoriker ſich nicht blenden laſſen, dieſelbe Epoche nicht zugleich als den Zeitpunkt zu bezeichnen, mit wel - chem der Erdgeiſt ſeine verderbliche Herrſchaft unter uns begonnen.

Wie die Richtung des Geiſtes auf die Erde in der angeregten aͤußeren Betriebſamkeit mehr und mehr zunahm, der Trieb nach Geld und Gewinn durch die Eintraͤglichkeit der materiellen Productionen aller Art immer mehr gereizt wurde, und dadurch die Geſammt - kraft der Nation uͤberwiegend nach dieſer Seite lenkte, theilte ſich dieſelbe Richtung auch der geiſtigen Thaͤtig - keit mehr und mehr mit. Nicht nur gewannen die Zweige des Wiſſens, die mit der materiellen Production in naͤherer Beziehung ſtehen, wie z. B. Mathematik, Phyſik, Chemie, ein entſchiednes Uebergewicht, und wur - den in dem Maße, in welchem ſie ſich durch Erfin - dung realer Vortheile fuͤr Gewerb und Induͤſtrie aus - zeichneten, mehr geſucht und mehr bezahlt, waͤhrend rein wiſſenſchaftliche Behandlung derſelben Zweige des Wiſſens immer weniger Freunde fand: ſondern ſogar das rein geiſtige Gebiet des Wiſſens blieb von dem Einfluſſe jenes Geiſtes nicht ganz frei, ſelbſt das Reinſte und das Hoͤchſte ward nicht unbefleckt erhalten: die Religion zu gemeinem Moralismus, das Chriſten -218Erſter Abſchnitt.thum zum Eudaͤmonismus, die Theologie zum Na - turalismus, die Philoſophie zum Synkretismus und Materialismus, die Weltweisheit zur Erdweisheit, die Wiſſenſchaft zur Pulsmacherei erniedrigt. So begann in der Geiſtesrevolution der damaligen Zeit, neben den unverkennbaren Fortſchritten vielfaͤltiger Bildung, zu - gleich unter dem Namen von Aufklaͤrung ein Ruͤckſchreiten der wahren Cultur, ein Haß alles rein Geiſtigen, Idealen, in Kunſt und Wiſſenſchaft, durch welchen auch jedes Erheben uͤber das Irdiſche als myſtiſche Glaͤubelei in uͤbeln Ruf gebracht, alles Leben in Ideen als Enthuſiaſterei verſpottet wurde.

Wem dieſe Schilderung von der Schattenſeite je - ner merkwuͤrdigen Entwickelungsperiode teutſcher Cultur zu grell ſcheinen moͤchte, erinnere ſich nur an die lau - ten Klagen der Beſſeren jener Zeit, die der geruͤhmten Aufklaͤrung als einer wahren Entgeiſtung der Nation ſich vergebens entgegen ſtemmten.

Was in einem ſolchen Reiche, bei ſolcher Stim - mung der Mehrzahl, bei vorherrſchender Auctoritaͤt jener Denkart, auch die Erziehung fuͤr eine Rich - tung nehmen, und wie ſie, zuruͤckwirkend, der allge - meinen Tendenz eine verdoppelte Geſchwindigkeit geben mußte, iſt leicht zu erachten.

Von der einen Seite zeigt ſich das Gute der all - gemeinen Tendenz auch in der Paͤdagogik. Mehr Be -19Hiſtoriſcher Geſichtspunkt d. Unterſuchung.triebſamkeit, Thaͤtigkeit kam auch in den Unterricht; der alte Schlendrian ward aus ſeiner traͤgen Behag - lichkeit aufgeſtoͤrt; man berechnete mehr, was eigentlich zu thun ſey, was man bezwecke, und wie mans am beſten erreichen koͤnne; Maͤngel und Gebrechen der her - gebrachten Erziehungsweiſe wurden kuͤhn angegriffen, der Mißbrauch des bloßen Zeichen - und Buchſtabenwe - ſens im Erziehungsunterrichte der verdienten Gering - ſchaͤtzung bloßgeſtellt; ein groͤßerer[Umfang] der Lehrge - genſtaͤnde und vielſeitigere Behandlung derſelben wurde unerlaßlich gefordert, und dadurch zugleich um ſo noth - wendiger gemacht, auf Verbeſſerung der Methode zu denken, um in kuͤrzerer Zeit mehr zu leiſten.

Von der andern Seite aber zeigt ſich auch das Nachtheilige der allgemeinen Tendenz eben ſo unverkenn - bar in der Paͤdagogik. Da der Impuls der Cultur aus dem Realen kam, aus dem aufgeregten Intereſſe fuͤr die Außenwelt und den Gewinn, der in derſelben und fuͤr dieſelbe zu machen war; ſo mußte ſchon dies auch der Paͤdagogik eine uͤberwiegende Richtung nach Außen geben, die Kenntniß der Außenwelt zur erſten For - derung des Unterrichts erheben, und dagegen die Be - ſchaͤftigung des Lehrlings mit den geiſtigen Gegenſtaͤn - den der Innenwelt in Mißcredit bringen. Doch haͤtte ſich damit die Forderung der allgemeinen Bil - dung, welche die Hauptaufgabe der Schule iſt, viel - leicht noch vereinigen laſſen, wiefern durch verbeſſerte Lehrmethode und angeſtrengten Fleiß der Lehrer und Schuͤler auch noch fuͤr die neugeforderten Lehrgegen -2*20Erſter Abſchnitt.ſtaͤnde Zeit gewonnen worden waͤre. Da aber die Verfaſſung des neu geſchaffnen Reiches zugleich von allen Seiten die Beduͤrfniſſe vermehrt, die Laſten er - hoͤht, die Nothwendigkeit ſchnellen Erwerbes vergroͤßert, und die Unterthanen gezwungen hatte, alle ihre Kraͤfte fuͤr ihre Subſiſtenz anzuſtrengen; da zu eben dieſem Zwecke auch die Kinder fruͤher zur Arbeit angehalten werden mußten und alles in Amt und Brod zu kom - men eilte: da mußte nicht nur die Schulzeit abgekuͤrzt, ſondern auch unmittelbar fuͤr Erwerbszweck und Brod - wiſſenſchaft verwendet werden; da kamen die Realien zur Tagesordnung in den Schulen, da mußte vor allem andern auf materielle Kenntniſſe das Hauptgewicht gelegt, und die Uebung geiſtiger Lehrgegenſtaͤnde hintan - geſetzt werden. In dieſer Stimmung mußte man ins - beſondre bald auch finden, daß es weit beſſer in der Welt forthelfe, lebende Sprachen zu verſtehen, als jene todten, die als ein todtes Capital ohne Vortheil ſeyen; und man darf ſich kaum noch wundern, daß die Herab - wuͤrdigung des Studiums der alten Sprachen bis zu dem Grade zunahm, daß endlich ſogar laut und oͤffent - lich die Erlernung jener Sprachen fuͤr entbehrlich er - klaͤrt wurde, und ſelbſt Maͤnner von Anſehen, die ſich der einſeitigen Behauptung ernſtlich widerſetzten, doch nicht verhindern konnten, daß nicht nur die Erlernung der alten Sprachen, ſondern das philoſophiſche Stu - dium uͤberhaupt und die Bekanntſchaft mit der alten claſſiſchen Welt, in den Schulen immer mehr vernach - laͤſſiget wurde, und am Ende faſt nur noch in einigen Cloſterſchulen die aber eben deshalb als Muſter des21Hiſtoriſcher Geſichtspunkt d. Unterſuchung.Pedantismus galten ein ganz ungeſtoͤrtes Aſyl fand.

In dieſer Gaͤhrung der alten und der neuen Un - terrichts-Methode, waͤhrend noch in den Gymnaſien bald die eine bald die andere ſich im Uebergewicht er - hielt, trat mit einemmal das Philanthropin als erſter Verſuch einer vollſtaͤndigen Darſtellung der mo - dernen Theorie hervor.

Was lange zuvor ſchon in einzelnen Schulen im Eizelnen verſucht, der alten Lehrart im Stillen unter - geſchoben, mit den alten Lehrgegenſtaͤnden nach und nach vertauſcht worden war, ohne großes Aufſehen zu erregen, frappirte gleichwohl jetzt, da die Oppoſition, als zuſammenhangende Theorie in einer Anſtalt von ganz neuer Art ausgefuͤhrt, auftrat. Auch war der Beyfall, den das moderne Inſtitut fand, nicht von langer Dauer, und die Erſcheinung gieng geſchwind genug voruͤber.

Im Ganzen aber taͤuſcht auch nur jenes Voruͤber - gehende der Erſcheinung uͤber den merkwuͤrdigen Gang, den ſie genommen. Eigentlich nur der Name des Philanthropins verſchwand, das Syſtem ſelbſt aber, welches in Verfaſſung, Beduͤrfniß und herrſchen - der Denkart ſeine Wurzel hatte, breitete ſich ſelbſt nach allen Seiten weiter aus. Wer die Ereigniſſe ſchaͤrfer ins Auge faßt, ſieht das Syſtem des Philan - thropinismus, mit Verlaͤugnung des verdaͤchtig ge -22Erſter Abſchnitt.wordnen Namens, nicht nur in eignen Inſtituten wirklich fortdauern, ſondern auch in oͤffentliche und Privat-Erzie - hungsanſtalten mehr und mehr uͤbergehen, und ſelbſt in der paͤdagogiſchen Schriftſtellerei von dem baͤnderei - chen Reviſionswerk an bis auf die kindiſchſte der zahllo - ſen ſeitdem emanirten Kinderſchriften herab herrſchen.

Denſelben Gang, den die teutſche Cultur uͤberhaupt von dem Reiche des großen teutſchen Koͤniges aus zu den andern Staaten unſers Vaterlandes nahm, ſieht man auch den Philanthropinismus nehmen; und es verdient als eine merkwuͤrdige Erſcheinung ausgehoben zu wer - den, daß jene moderne Erziehungsweiſe von den Regie - rungen in dem Maße mehr beguͤnſtiget wurde, in wel - chem ſie dem Beiſpiel des großen Vorbildes getreu, auch die ſogenannte Landes-Cultur, naͤmlich Ackerbau, Gewerb - und Kunſtfleiß aller Art, vorzugsweiſe be - guͤnſtigten.

Inzwiſchen blieben doch uͤberall die oͤffentlichen Unterrichtsanſtalten geſetzlich in der alten Form und Verfaſſung. Man erkannte zwar die alte Methode von Tag zu Tag mehr als unbefriedigend, je dringender das Beduͤrfniß mechaniſcher und techniſcher Fertigkeiten zum Behuf des wachſenden Gewerbumtriebes wurde; und als man endlich in dieſem Treiben und Draͤngen die eigentliche Beſtimmung der Schule ganz vergaß, und ſich zu der Hoͤhe des Princips, ſie als bloße Vor - ſchule zur kuͤnftigen buͤrgerlichen und Berufs-Beſtim - mung zu erklaͤren, erhoben hatte, mußte die Zweckwi -23Hiſtoriſcher Geſichtspunkt d. Unterſuchung.drigkeit des herkoͤmmlichen Gymnaſialunterrichts, der eigentlich bloß auf allgemeine Bildung (wie es dem Erziehungsunterricht zukoͤmmt) und, wiefern er auf ſpecielle Bildung Ruͤckſicht nahm, bloß auf Gelehrten-Bildung berechnet war, nur um ſo greller hervortreten, nachdem inzwiſchen auch das Be - duͤrfniß und die Gelegenheit, durch Kenntniß und Ge - ſchick in den vielfaͤltigen Verhaͤltniſſen des aͤußeren prakti - ſchen Lebens ſchnell ſein Gluͤck zu machen, die Zahl der Studirenden vermindert, und dagegen einen ganz neuen Stand von Schuͤlern erzeugt hatte, die in der Schule nichts weiter ſuchten, als nur ſo ſchleunig wie moͤglich fuͤr den Gewerbsberuf, dem ſie ſich beſtimmten, die noͤthigen Vorkenntniſſe zu erwerben. Als man nun die Gymnaſien, denen es ohnehin an Schuͤlern, die ſich dem Studiren widmeten, hie und da ſchon zu mangeln anfieng, mehr den Beduͤrfniſſen jener neuen Art von Schuͤlern anzupaſſen verſuchte, wurde eben die - ſes Zuſammenmiſchen heterogener Lehrbeduͤrfniſſe in ei - ner und derſelben Lehranſtalt gerade dadurch, daß Lehr - linge von ſo ganz verſchiedenartiger kuͤnftiger Beſtimmung ihre Vorbereitung durch einerlei Unterricht erhalten ſoll - ten, als die hoͤchſte Unvollkommenheit der oͤffentlichen Schulen fuͤhlbar. Gleichwohl fehlte es bald an Geld, bald an Muth zu einer gaͤnzlichen Reform der Lehran - ſtalten, und man begnuͤgte ſich damit, den Unterricht in dieſem und jenem Stuͤcke, bald mehr bald weni - ger, nach dem Beduͤrfniß des Augenblicks zu modeln und dem herrſchenden Zeitgeſchmack anzupaſſen. Die Halbmethode, die dadurch eingefuͤhrt wurde, die nur24Erſter Abſchnitt.hie und da im Einzelnen beſſerte, bald dieſem bald jenem Lehrſtoff etwas abbrach und es dem andern zu - legte, im Ganzen aber die Mangelhaftigkeit nur ver - mehrte, wurde theils in ihrer Mangelhaftigkeit nicht erkannt, theils ließ man ſich durch ein dunkles Gefuͤhl obgleich man es ſich ſelbſt vielleicht nur als einen unverdienten Reſpect vor dem Alterthum des Schlen - drians erklaͤrte noch immer abhalten, die ganze alte Methode geſetzlich umzuwerfen; theils ertrug man das Mangelhafte ſtillſchweigend in dem Vertrauen, daß verſtaͤndige Lehrer, was der Methode gebrach, in der Anwendung durch ihre Lehrweisheit erſetzen wuͤrden. In der That hatte auch hier die Praxis Auswege ge - funden, die Fehler der Theorie zu mildern, indem die Lehrer ſelbſt mehr Ruͤckſicht auf den kuͤnftigen Beruf ihrer Lehrlinge nahmen, und dieſem Unterſchiede gemaͤß dafuͤr ſorgten, keinen mit Dingen, die fuͤr ihn entbehrlich waren, aufzuhalten, und dagegen auf andre, deren Kenntniß fuͤr ſeinen kuͤnftigen Berufskreis noͤthiger ſchienen, deſto mehr Gewicht zu legen.

So war, bei uͤbrigens unrichtiger Theorie und unſyſtematiſchem Verfahren, durch die Praxis fuͤr das dringendſte Beduͤrfniß noch leidlich geſorgt, und zu - gleich, durch geſetzliche Erhaltung der alten Form der Schulen, fuͤr eine kuͤnftige Zeit, wo eine richtigere Theorie ſich wieder zum leitenden Princip erheben wuͤr - de, die Werkſtaͤtte einer gruͤndlicheren Bildung be - wahrt.

25Hiſtoriſcher Geſichtspunkt d. Unterſuchung.

In dieſem ungewiſſen Zuſtande ſchwankte der Philanthropinismus mehrere Jahrzehnte hin - durch, im dunkeln Gefuͤhl ſeiner Untauglichkeit alle Formen verſuchend, ſeit der Auferſtehung der Philoſo - phie vor dem maͤchtig vordringenden beſſeren Geiſte auf der Flucht, und ſchon auf die letzte Hoffnung ei - nes Succurſes aus der Peſtalozziſchen Schule beſchraͤnkt. Da erſchien er ploͤtzlich in ſeiner gefaͤhrlichſten Geſtalt, auf der Hoͤhe ſyſtematiſcher Vollendung kuͤhn genug, nicht nur ſeine Theorie als die allein wahre zu erklaͤ - ren und zur geſetzlichen Norm zu erheben, ſondern zu - gleich auch die einer guͤnſtigeren Zukunft geſetzlich noch erhaltnen Freiſtaͤtten der allgemeinen Bil - dung, durch Verwandlung in bloße Berufsſchu - len, fuͤr immer zu zerſtoͤren.

Durch dieſen Angriff aber auf die letzte Schutz - wehr einer beſſern Bildung hat er ſelbſt die allgemeine Stimme gegen ſich aufgerufen, und oͤffentliche War - nungstafeln gegen ſeinen Irrthum auszuſtellen genoͤthi - get. Mit jenem Schritte hat er ſeinen Kreis nunmehr durchlaufen und ſeine Beſtimmung wiefern ihm eine ſolche in der allgemeinen Bildungsgeſchichte der Menſch - heit zuerkannt werden kann in ſo weit erfuͤllt, als er in ſeiner fruͤheren Periode dem Erziehungsunterricht uͤberhaupt einen neuen Impuls gegeben und umfaſſen - dere Anſpruͤche an denſelben zur Sprache gebracht, in ſeiner neueſten Geſtalt aber gegen ſeinen eignen Miß - brauch die allgemeine Aufmerkſamkeit aufgerufen und das Beduͤrfniß einer gaͤnzlichen Reform ſeiner Unter -26Erſter Abſchnitt.richtsanſtalten fuͤhlbar gemacht, zugleich aber auch die noͤthige Umwandlung der Schulen und Gymnaſien durch das Beiſpiel ſeiner eignen Organiſationen naͤher gelegt und als ausfuͤhrbar gezeigt, und fuͤr die Reform ſelbſt die doppelte Warnung gegeben hat, die Mißgriffe und Ausartungen der alten Methode nicht zu uͤber - ſehen, und die gegruͤndeten Forderungen der neuen Theorie nicht zu verkennen.

Fragt man uͤbrigens, was denn der Philanthro - pinismus in ſeiner allerneueſten Geſtalt Eigenthuͤmli - ches habe, ſo findet man, außer der charakteriſtiſchen Aneignung eines problematiſchen Satzes, von welchem weiter unten noch die Rede ſeyn wird, kaum etwas anderes, als die Kuͤhnheit, die Extreme einer ſtrengen Folgerung aus dem Princip nicht zu ſcheuen, welche ſich da insbeſondre aͤußerte, wo es darauf ankam, fuͤr die erweiterten Lehranſtalten den Umfang der Lehrge - genſtaͤnde zu beſtimmen. In allem andern zeigt ſich nur eine groͤßere Ausdehnung der fruͤheren Anſichten und Behauptungen. So iſt in Abſicht des Verhaͤlt - niſſes zwiſchen Sprach - und Sach-Studium der erſte rohe Gegenſatz, der beide als contradictorie opposita betrachtet, nur dahin erweitert worden, daß jenes ſo - genannte Sach-Studium (worunter ſie ſtreng genom - men nur die Bekanntſchaft mit dem Gewerb-Material verſtehen) nicht bloß dem kuͤnftigen Handwerksmann, ſondern ſelbſt dem Gelehrten unentbehrlich ſey, um ihn von der Einſeitigkeit des ſogenannten Sprach-Stu - diums abzubringen. In Abſicht des Sprach-Studiums27Hiſtoriſcher Geſichtspunkt d. Unterſuchung.ſelbſt vermißt man ſogar die oben geruͤhmte Kuͤhnheit der Conſequenz. Denn, obgleich die alten Sprachen auf ein Minimum von Zeit fuͤr etwas weniges Latein be - ſchraͤnkt, und faſt durch ein graeca sunt, non legun - tur! abgefertiget ſind: ſo muß man ſich doch ſelbſt uͤber dieſe geringe Condeſcendenz zu dem alten Schlen - drian um ſo mehr wundern, je naͤher von der einen Seite es lag, den Nicht-Gelehrten von jenem, noch aus den Anfaͤngen der Gymnaſial-Einrichtung abſtam - menden, Zwange ganz zu befreien, und je ſchein - barer von der andern Seite ſelbſt fuͤr den Gelehrten das Studium der alten Sprachen ſich als ganz ent - behrlich erklaͤren ließ, nachdem die teutſche Cultur die Hoͤhe wirklich erreicht hat, in ihrer eignen Sprache alle Wiſſenſchaften behandeln, die claſſiſchen Schriften der Alten darſtellen, und ſelbſt Claſſiker aufweiſen zu koͤnnen. Um ſo mehr aber verdient jene Kuͤhnheit des Syſtems in Beſtimmung des Umfangs der Lehrgegen - ſtaͤnde Bewunderung, nachdem es ſogar jenes ſich von ſelbſt anbietende Auskunftsmittel zu Vereinfachung des ſogenannten Lehrſtoffes von der Hand gewieſen hatte. Bedenkt man naͤmlich alle die Schwierigkeiten, welche der philanthropiniſche Grundſatz, daß die Schulen uͤberhaupt vor allen Dingen als Vorſchulen fuͤr den kuͤnftigen Beruf der Lehrlinge betrachtet und behandelt werden muͤſſen, in ſeiner wirklichen Anwendung auf die Lehranſtalten findet; wie wenig fuͤrs erſte ſchon an und fuͤr ſich waͤhrend der Schuljahre eines Menſchen deſſen kuͤnftiger Beruf ſich mit ſolcher Sicherheit beſtim - men laͤßt, daß die Vorkenntniſſe, die er in der Folge28Erſter Abſchnitt.noͤthig haben werde, darnach berechnet werden koͤnnten; wie mannichfaltig und verſchiedenartig fuͤrs zweite die Lehrgegenſtaͤnde einer Anſtalt werden muͤſſen, welche fuͤr alle Arten von Beruf die erforderlichen Vorkennt - niſſe zu lehren uͤbernimmt; um wie vieles endlich dieſe Schwierigkeit noch ſteigt, wenn in einer und ebender - ſelben Art von Lehranſtalten nicht nur die geſammte hoͤhere Buͤrger-Bildung, ſondern zugleich auch die Ge - lehrten-Bildung vereiniget werden foll: ſo muß man geſtehen, daß der Muth, zur Ausfuͤhrung ſolcher An - ſtalten wirklich Hand anzulegen, nur auf der Hoͤhe des Princips begreiflich wird, zu welchem ſich der aller - neueſte Philanthropinismus erhoben, und das er auf eine ihm ganz eigenthuͤmliche charakteriſtiſche Weiſe verſtanden und angewendet hat, des Princips naͤmlich: daß die Bildung uͤberhaupt nur Eine, mithin der Art nach gar nicht verſchieden ſey, und ſich darin kein anderer als ein Grad-Unterſchied denken laſſe. Nur auf dieſer Hoͤhe des Princips war es moͤglich, fuͤr die verſchiedenſten Arten von Lehrlingen einerley Lehrform und Lehrſtoff anzuordnen und zu dem letzteren die ganze Encyklopaͤdie des Wiſſens aufzuneh - men. In dieſer Anſicht iſt ſogar auch das conſequent, ſelbſt dem Nicht-Gelehrten die Erlernung der gelehrten Sprachen nicht ganz zu erlaſſen.

Conſequenz alſo kann man dieſem allerneueſten Syſtem des Philanthropiniſmus nicht abſprechen. Aber, ob dieſe Conſequenz auch reale Wahrheit habe, ob dieſe Methode, bei allem Anſchein von praktiſcher Vor -29Hiſtoriſcher Geſichtspunkt d. Unterſuchung.zuͤglichkeit, den ſie ſich zu geben ſucht, auch den wah - ren praktiſchen Beduͤrfniſſen entſpreche, iſt eine hoͤhere und ſehr nothwendige Frage.

Das Folgende hat die Abſicht, dieſe Frage einer wiſſenſchaftlichen Pruͤfung zu unterwerfen. Hier, in dieſem hiſtoriſchen Abſchnitte, ſey es mir nur noch er - laubt, einige geſchichtliche Reſultate zu ziehen, und auf einige Zeichen der Zeit hinzudeuten, welche in Bezie - hung auf dieſen Gegenſtand der Aufmerkſamkeit werth ſeyn duͤrften.

Erſtens fuͤr die philanthropiniſche Lehrart ſelbſt ſpricht der Erfolg nichts weniger als guͤnſtig. Was iſt denn aus den Philanthropinen, in denen doch die Lehr - art nach ihrem ganzen Umfang ungehindert wirken kann, Hohes und Vortreffliches hervorgegangen? Haben ſie denn auch nur Einen Lehrling aufzuweiſen, der ſelbſt im Felde des praktiſchen Wiſſens etwas Großes gelei - ſtet, oder in irgend einem praktiſchen Geſchaͤft ſich vor - zuͤglich ausgezeichnet haͤtte? Soll denn nun die Schuld von dieſer auffallenden Erſcheinung gar nicht in der Lehrart ſelbſt, ſondern nur in zufaͤlligen Hinderniſſen, die ihrer vollen Ausuͤbung im Wege ſtanden, geſucht werden? Sollte wirklich ein ganz eignes Ungluͤck des Philanthropiniſm gewollt haben, daß ſich unter ſo vielen Lehrlingen, die durch ſeine Schule gelaufen ſind, auch nicht Ein vorzuͤglicher Kopf gefunden haͤtte? Dies iſt ſo wenig wahrſcheinlich, daß man vielmehr, ohne un - gerecht zu ſeyn, den Schluß ziehen darf: daß die Lehr -30Erſter Abſchnitt.art die Schuld trage, daß ſie die Kraft der Seele nicht uͤbe, den Flug des Geiſtes laͤhme, und daß, durch ſie zur Erde herabgezogen, der Menſch (wofern nicht eine ausgezeichnet treffliche Natur ihn in die Hoͤhe haͤlt,) in Gemeinheit verſinke, und fuͤr allen Adel der Denk - art, fuͤr alle wahre Humanitaͤt, wahrhaft verbildet und unempfaͤnglich gemacht werde.

Will man aber von dem Philanthropiniſmus, was er in ſeiner Ganzheit nicht leiſtet, in ſeiner Halbheit erwarten? Haben denn die Zwitterſchulen, die halb neologiſch dem Philanthropiniſmus, halb palaͤologiſch dem alten Schlendrian huldigten, auf den alten Rock den neuen Lappen flickten, viel Großes bewirkt? Es iſt doch eine eigne hiſtoriſche Erſcheinung, daß man faſt immer, wo man nach der Bildung eines ausgezeichne - ten Mannes fragt, auf eine alte Schule trifft, und wo man eines ausgezeichneten Mannes bedarf, noch immer gern nach Maͤnnern aus der alten Schule fragt. Wenn nun das nicht ebenfalls bloß Zufall ſeyn ſoll, und mit - hin das Verdienſt von dieſer, wie die Schuld von je - ner Lehrart, nicht wohl bezweifelt werden kann: ſo muß man geſtehen, daß die Geſchichte ihre Warnung deut - lich genug ausgeſprochen hat.

Zweitens aber weit wichtiger noch iſt die Lehre, welche die Geſchichte uͤber die Folgen der Denkart, die den Philanthropiniſmus erzeugt und von ihm genaͤhrt wird, ausgeſprochen hat. Wohin jene Denkart fuͤhre, die das irdiſche Intereſſe zum hoͤchſten erhebt, das gan -31Hiſtoriſcher Geſichtspunkt d. Unterſuchung.ze Gluͤck einer Nation in die Maſſe materieller Pro - duction, den ganzen Werth des Einzelnen in den Er - werb mechaniſcher Fertigkeit ſetzt, alle Aufklaͤrung in der Leerheit von ſchimpflichem Aberglauben ſucht und alle geiſtige Thaͤtigkeit auf dieſe Ausleerung beſchraͤnkt, das wahre hoͤhere Intereſſe dagegen nicht kennt, alles Ideale fuͤr Traͤumerei erklaͤrt und haßt, wie dieſe Denkart jede beſſere Triebfeder im Menſchen laͤhme, jede hoͤhere Kraft zerſtoͤre, jeden wahren Enthuſiasmus toͤdte, jeden aͤchten Patriotiſmus im Keime erſticke, al - les zum ſeelenloſen Maſchiniſmus herunterziehe, und da - mit ſelbſt die Selbſtſtaͤndigkeit der Nation gefaͤhrde: das kann fuͤr die, die ſehen wollen, in unſern Tagen nicht mehr zweifelhaft ſeyn.

Man kann dieſen Anſichten, wiefern ſie die Noth - wendigkeit einer gaͤnzlichen Umwandlung der oͤffentli - chen Unterrichtsanſtalten andeuten ſollen, wichtige hiſto - riſche Bemerkungen entgegenſetzen.

Den herrſchenden Zeitgeiſt, kann man ſagen, hat zu keiner Zeit eine Erziehungslehre gemeiſtert, vielmehr wo einmal eine vorherrſchende Richtung eines Zeital - ters ſich zeigt, da findet eine neue Erziehungslehre nur Eingang und Einfluß, wiefern ſie mit jener Richtung harmoniſch iſt. Auch der Philanthropiniſmus war mehr Erzeugniß als Urſache der Bildung ſeiner Zeit. Wie will man denn jetzt mit einer neuen Unterrichtstheorie, die dem Geiſt der Zeit zuwider iſt, den Geiſt der Zeit zu bannen hoffen? Waͤre dies nicht eben ſo thoͤricht,32Erſter Abſchnitt.als den rollenden Wagen durch Eingreifen in ein Rad aufhalten zu wollen? Wie ſollte auch nur eine ſolche Theorie Eingang finden? Wie ſoll die gegenwaͤrtige Generation zu dem Willen gelangen, die kommende an - ders zu erziehen, ſo lange ſie ihr Wollen und Thun, ihr Streben und Treiben fuͤr das rechte und wahre haͤlt? Will man hoffen, daß die Regierungen einer ſolchen Theorie durch geſetzliche Vorſchrift Eingang ver - ſchaffen, ſo iſt woͤhl zu bedenken, ob nicht vielmehr die Schulen leer ſtehen werden, wenn ſie den Forderungen des Zeitgeſchmackes ſo wenig entſprechen? Und dann, empfaͤngt nicht die Cultur jetzt ihre Richtung von der Noth der Zeit? Man muß jetzt fuͤr den Augen - blick nur ſorgen; der Vater will nur das vom Sohn erlernt, was ihm im Augenblick zu Brod verhilft; es wird nicht helfen, wenn wir etwas anders lehren laſ - ſen; und es wuͤrde ſelbſt nicht billig ſeyn, da ideale Bildung zu verlangen, wo mit realer Noth ein ſchwe - rer Kampf um Subſiſtenz zu kaͤmpfen iſt.

So ſcheinbar aber auch dieſe hiſtoriſchen Einwen - dungen ſich moͤgen machen laſſen, ſo ſind ſie doch kaum mehr als ein Glaukom. Fuͤrs erſte iſt die Noth der Zeit ſo furchtbar nicht, als Traͤgheit und Gleichguͤltig - keit gegen das Beſſere, die zu allen Zeiten den durch - greifenden Reformen aͤhnliche Wehklagen entgegenzuſtel - len geſucht haben, in uͤbertriebnen Schilderungen vor - ſpiegeln moͤchten: und eine Regierung, die das Rechte will, kann jenes Herandraͤngen zum fruͤhen Brod und Gewinn nicht zum Maßſtab der oͤffentlichen Erziehung33Hiſtoriſcher Geſichtspunkt d. Unterſuchung.nehmen wollen; ſie wird vielmehr demſelben einen Damm entgegenſetzen muͤſſen. Fuͤrs zweite iſt auch das Zeitalter keineswegs ſo unempfaͤnglich fuͤr das Ideale, daß ein Erziehungsplan, der darauf mehr Gewicht als auf das Materiale legt, einen allgemeinen Widerſpruch zu fuͤrchten haͤtte. Zwar hat das philanthropiniſche Syſtem ſo vieles, was dem oberflaͤchlichen Raͤſonne - ment ſehr gruͤndlich ſcheint und wohlgefaͤllt; deswegen kann es ihm an einer großen Zahl von Freunden und Vertheidigern nicht fehlen. Allein als herrſchende Denk - art kann dies Niemand ausrufen wollen, der auf die Zeichen der Zeit merkt, und ſie verſteht.

Ein andrer Geiſt, dem jener der Aufklaͤrung nur als Vorlaͤufer Platz gemacht hat, iſt mit der Wieder - auferweckung des aͤchten philoſophiſchen Denkens unter uns erſchienen, und hat ſeit zwanzig Jahren aller beſ - ſern Koͤpfe unter uns in allen Arten des Wiſſens und des Geſchaͤftes ſich bemaͤchtiget. Dieſelbe merkwuͤrdige Reform, welche das Ideale wieder zu der Ehre, Rea - litaͤt zu ſeyn, hervorgerufen hat, iſt in dem ganzen Um - kreis unſrer Bildung, in Wiſſenſchaft und Kunſt, in Philoſophie und Religion, in allen Zweigen des Thuns und Lebens in unzweideutigen Erſcheinungen ſichtbar; die Ueberzeugung von der Schaͤdlichkeit nicht nur, ſon - dern ſelbſt von der gaͤnzlichen Untauglichkeit jenes plum - pen Realiſmus iſt nicht mehr bloße unſichere Meinung dieſes oder jenes Einzelnen; die Idealitaͤt der Wahr - heit und die Wahrheit des Idealen, von aller Vernunft als Wahrheit Geforderten und Vorausgeſetzten, wird334Erſter Abſchnitt. Hiſtor. Geſichtsp. d. Unterſ.immer allgemeiner und lauter anerkannt, die Stimme derer, die jene Ueberzeugung hoͤhnen, immer heimlicher und ſchwaͤcher. Mit einem Wort, ein beſſerer Geiſt, der Geiſt des Humaniſmus, hat ſich wieder auf - gerichtet; und die ſich noch in den Zeiten des anbre - chenden Philanthropiniſmus glauben und halten, werden ſich bald um ein halbes Jahrhundert aͤlter fin - den, als die Zeit, welche ſie als fuͤr das Beſſere noch unreif mit naiver Keckheit zu verſchreien ſuchen.

Dieſe Stimmung, die ſich eben in der Paͤdagogik am ſtaͤrkſten ausgeſprochen hat, in dem Unwillen, mit welchem der modernſte Philanthropiniſmus aufgenom - men worden iſt, verſpricht auch einer gruͤndlichen Re - form der Paͤdagogik einen guͤnſtigen Erfolg, den man mit um ſo groͤßerer Zuverſicht erwarten und verheißen kann, je zuverſichtlicher jenes allgemeine Aufſtreben ei - nes beſſeren Geiſtes der Humanitaͤt erwarten laͤßt, daß ſofern nur nicht zunehmende Roth der Zeit die Menſchen in ihrer phyſiſchen Exiſtenz bedraͤngt und ſie in die ausſchließende Sorge fuͤr das animale Leben zuruͤckſchreckt, bald die Rede nicht mehr ſowohl da - von ſeyn werde: ob man mit einem neuen Unterrichts - plane dem Zeitalter vorauseilen duͤrfe oder koͤnne? als vielmehr davon: ob man mit dem Unterrichtsplane hin - ter dem Zeitalter zuruͤckbleiben, und daſſelbe aufhalten wolle?

[35]

Zweiter Abſchnitt. Wiſſenſchaftlicher Geſichtspunkt der Unterſuchung.

Eine bloß hiſtoriſche Andeutung entgegengeſetzter Syſteme ſetzt der wiſſenſchaftlichen Unterſuchung derſel - ben allerlei Schwierigkeiten entgegen. Da die wiſſen - ſchaftlichen Gegenſaͤtze ſich in der Erfahrung nicht leicht in ihrer ganzen ſcharfbegraͤnzten Geſtalt darſtellen, ſon - dern meiſtens gleich wechſelſeitig etwas von dem ent - gegengeſetzten Extreme zur Milderung aufnehmen, ſo - nach die Praxis in der Regel anders erſcheint als die Theorie: ſo finden ſich nicht nur auf beiden Seiten leicht allerlei Ausfluͤchte, Berufungen auf Ausnahmen und Modificationen, durch welche den Einwuͤrfen ſchon vorgebeugt ſeyn ſoll, ſondern auch Recriminationen von Uebertreibung, Einſeitigkeit und Befangenheit, die den Streit endlos machen wuͤrden, wenn der Streitpunkt ſelbſt erſt uͤberall dagegen geſichert werden muͤßte. Die vorangeſchickte kurze hiſtoriſche Ueberſicht hat daher auch nicht die Abſicht, den Geſichtspunkt der Unterſu -3*36Zweiter Abſchnitt.chung ſelbſt zu fixiren, ſondern ſollte nur zum Belege dienen, daß die Syſteme, die hier dargeſtellt und ge - pruͤft werden ſollen, nicht bloß in Gedanken, ſondern in der That exiſtiren, und die Gefahr, auf welche hin - gedeutet wird, nicht bloß eine eingebildete ſey. Dage - gen ſollen hier die beiden Syſteme des Erziehungs-Un - terrichts, ohne alle weitere Ruͤckſicht auf ihre hiſtoriſche Beſchaffenheit, mit welcher ſie ſich in der Erfahrung zeigen, einzig als ſtreng wiſſenſchaftlicher Gegenſatz auf - gefaßt und gepruͤft werden. So allein wird es moͤg - lich ſeyn, nicht nur die wiſſenſchaftliche Pruͤfung, ohne Beſchuldigung einer Parteilichkeit, ruhig durchzufuͤhren, ſondern auch, von dem wiſſenſchaftlich beſtimmten Ge - ſichtspunkt aus, beiden Syſtemen volle Gerechtigkeit wi - derfahren zu laſſen, das Extrem in beiden und den Vereinigungspunkt beider ſicher zu erkennen.

1.

Der Hauptgegenſatz, auf den es bei Beur - theilung der entgegengeſetzten Unterrichtsſyſteme an - koͤmmt, liegt unſtreitig in der Idee des Menſchen ſelbſt und ſeiner Beſtimmung, oder vielmehr in der willkuͤrlichen Conſtruction des Begriffes vom Menſchen, in welcher jene Idee (oder, nach der wiſſenſchaftlichen Sprache, der Begriff a priori von dem Menſchen) von der einen oder von der an - dern Seite unvollſtaͤndig und unrichtig aufgefaßt wird. Da der willkuͤrlich conſtruirte Begriff vom Menſchen dem Syſteme der Erziehung und Bildung deſſelben zum Grundprincip dienen muß, ſo wird nothwendig37Wiſſenſchaftl. Geſichtspunkt d. Unterſuchung.das Syſtem ſelbſt auch vollſtaͤndig oder unvollſtaͤndig, richtig oder unrichtig, je nachdem der aufgeſtellte oder ſtillſchweigend zu Grunde gelegte Begriff vom Men - ſchen gefaßt iſt. In den Hauptbeziehungen, in denen die Idee des Menſchen verſchieden aufgefaßt werden kann, iſt deshalb auch der Hauptgegenſatz der beiden Unterrichtsſyſteme zu ſuchen: in dem Gegenſatz von Geiſt und Thier, Vernunft und Kunſtver - ſtand, Rationalitaͤt und Animalitaͤt, die in dem Menſchen zu Einem wunderbaren Ganzen ver - knuͤpft ſind.

So alt auch die Unterſcheidung dieſer zweifachen unerklaͤrbar zuſammengeſetzten Natur des Menſchen iſt, ſo vielſeitig ſie auch beleuchtet, ſo wiederholt ſie bei den verſchiedenſten Veranlaſſungen in Erinnerung gebracht worden: ſo wird ſie doch von Theoretikern und Praktikern, die es mit dem Menſchen zu thun ha - ben, immer aufs Neue wieder uͤberſehen; und man darf ſich nicht wundern, auch in Theorie und Praxis des Erziehungsunterrichtes den Gegenſatz vergeſſen und durcheinander gemengt, oder einſeitig aufgefaßt zu fin - den. Der letztere Fall iſt hier naͤher in Betrachtung zu ziehen.

2.

Wird in dem Erziehungsunterrichte die zweifa - che Natur und Beſtimmung des Menſchen, durch Abſtraction von ſeiner animalen Natur und ſei -38Zweiter Abſchnitt.nem Verhaͤltniſſe zur Außenwelt, verkannt, ſeine gei - ſtige Natur allein als ſein ganzes Weſen, ſein Leben in Ideen als ſeine einzige Beſtimmung betrachtet: ſo werden dadurch zwar ſehr hohe Forderungen in Ruͤck - ſicht der Erziehung und des Unterrichtes begruͤndet, und es kann ſogar fuͤr die Theorie vortheilhaft ſeyn, durch eine ſolche Abſtraction ſich die Aufgabe des Er - ziehers in ihrer hoͤchſten Wichtigkeit zu vergegenwaͤrti - gen, um nicht, durch den Blick auf die mannichfaltigen aͤußeren Verhaͤltniſſe und Beduͤrfniſſe des Menſchen ver - worren, auf das minder Wichtige zu viel Gewicht zu legen, und dagegen das unbedingt Wichtige zu vernach - laͤſſigen. Allein, wie alle Abſtraction einſeitig iſt und auf einſeitige Anſichten und Reſultate fuͤhrt, wofern ſie nicht, bloß zum Behuf der freien Betrachtung vorge - nommen, um einen Gegenſtand theilweiſe deſto ſchaͤrfer aufzufaſſen, vermittelſt gleichmaͤßiger Beachtung und Zu - ſammenfaſſung aller Theilmerkmale, vollſtaͤndig durch - gefuͤhrt wird: ſo muß auch ein Erziehungsſyſtem, das den Menſchen, mit der bezeichneten Abſtraction, bloß in ſeiner geiſtigen Natur und Beſtimmung betrachtet, auf Forderungen gefuͤhrt werden, die nicht nur in den beſchraͤnkten aͤußeren Verhaͤltniſſen, unter denen die al - lermeiſten Menſchen in dieſer Welt leben muͤſſen, un - ausfuͤhrbar ſind und inſofern mit allem Recht uͤber - ſpannt heißen, ſondern die auch uͤberall kein Object ihrer Anwendung haben und inſofern fuͤr zwecklos gel - ten, und noch mehr, die in ſich ſelbſt unguͤltig, einſei - tig und unvollſtaͤndig ſind.

39Wiſſenſchaftl. Geſichtspunkt d. Unterſuchung.

Auf dieſer einen Seite ſteht daß Syſtem des oben ſo benannten Humaniſmus, das bei aller Wuͤrde und Erhabenheit ſeiner Anſichten von dem Weſen und der Beſtimmung des Menſchen, bei aller Vortrefflich - keit ſeiner Forderungen an die Erziehung und Bildung deſſelben, gleichwohl von dem Vorwurfe der Einſeitig - keit und Ueberſpannung nicht freigeſprochen werden kann, ſofern es ſeiner Grundanſicht conſequent bleibt. Es iſt wahr, das Unbedingte in dem Menſchen iſt die Vernunft, und ſeine geiſtige Natur begruͤndet ſein eigentliches Weſen; das Animale hingegen, was er mit der ganzen uͤbrigen thieriſchen Welt gemein hat, wird nicht ohne Grund zu ſeinem Weſen ſo wenig ge - zaͤhlt, daß die Benennung der Menſchheit, der Humanitaͤt, bloß ſeine geiſtige Natur, mit gaͤnzlicher Abſtraction von der animalen, bezeichnet. Es ſcheint daher auch vollkommen begruͤndet, daß die Erziehung und Bildung des Menſchen ſich, mit Hintan - ſetzung ſeiner niedrigen Natur, ausſchließend mit dem beſchaͤftige, was nicht nur als das Hoͤchſte in ihm, ſondern ſogar als ſein Weſen ſelbſt gedacht wird. Al - lein der Menſch iſt weder jene geiſtige noch jene ani - male Natur allein, weder das eine noch das andre Abſtractum allein; und nicht nur der Menſch ſelbſt wird unrichtig gedacht, wenn er als der eine oder als der andre unterſchiedne Theil ſeines Weſens allein ge - dacht wird, ſondern auch der eine wie der andre Theil ſeines Weſens wird unrichtig gedacht, wenn er außer der Verbindung mit dem andern gedacht wird. Was uͤbrig bleibt, wenn ich in dem Weſen des Men -40Zweiter Abſchnitt.ſchen Geiſt und Vernunft wegdenke, erſcheint frei - lich, als bloße Thierheit, veraͤchtlich; aber die Thier - heit im Menſchen iſt von Geiſt und Vernunft nicht abgeſondert, durch die Verbindung mit dieſen aber ſelbſt etwas Heiliges; und man duͤrfte wohl den Paͤdagogi - kern, welche die animale Natur des Menſchen mit Fuͤ - ßen treten zu muͤſſen meinen, mit dem Apoſtel zurufen: wiſſet, daß euer Leib ein Tempel des heiligen Geiſtes iſt, der in euch iſt! Eben ſo erſcheint das, was uͤbrig bleibt, wenn ich in dem Weſen des Menſchen al - les Animale wegdenke, als reine Geiſtigkeit, als das allein Ehrwuͤrdige in ihm: aber die Geiſtig - keit im Menſchen iſt ſo wenig ein von Animalitaͤt ab - geſondert fuͤr ſich Beſtehendes, als die Thierheit in ihm ein von Geiſt und Vernunft iſolirtes fuͤr ſich Be - ſtehendes iſt; in der Verbindung mit dem Animalen aber ſteht auch die geiſtige Natur des Menſchen un - ter ganz andern Bedingungen, als wir ſie denken, wenn wir ſie durch Abſtraction iſolirt als reinen Geiſt denken.

Die Weltleute laͤcheln, oder lachen auch wohl gar, uͤber die Schulphiloſophen mit ihren Redensarten von der rein geiſtigen Natur des Menſchen; und ſie ſind ihres Triumphes immer gewiß, indem ſie nur auf die unabweiſbaren, zum Theil ſchreienden, Beduͤrfniſſe hin - deuten duͤrfen, die den Philoſophen wie die uͤbrigen Menſchen an ſeine thieriſche Natur und ſeine irdiſche Abſtammung mahnen. Eben dadurch iſt es ihnen auch ſo leicht, alle die Forderungen einer beſondern Sorg -41Wiſſenſchaftl. Geſichtspunkt d. Unterſuchung.falt fuͤr die hoͤhere Natur des Menſchen, die von den Philoſophen aufgeſtellt werden, entweder durch Hinwei - ſung auf die Noth phyſiſcher Beduͤrfniſſe der Menſchen niederzuſchlagen, oder als bloße gutmuͤthige Schwaͤr - merei abzuweiſen.

Trifft gleich jener Spott nicht den rechten Punkt, ſo trifft er doch nicht unverſchuldet. Indem die Hu - manitaͤts-Philoſophen durch logiſche Abſtraction die geiſtige Natur des Menſchen iſoliren, und dieſes logi - ſche Abſtractum allein als das eigentliche Weſen des Menſchen vorſtellen, begehen ſie einen logiſchen Fehler, der ſie zu ſchwaͤrmeriſchen Anſichten in der That ver - leitet. Indem ſie aber auf jenes logiſche Gebilde, das zwiſchen Himmel und Erde ſchwebend nirgends eine wahre Heimath hat, praktiſche Forderungen gruͤnden, fehlt dieſen ſelbſt auch Zweck und Bedeutung. Wird das Weſen des Menſchen als reine Geiſtigkeit iſolirt gedacht, ſo wird er ſelbſt damit von der ganzen ſicht - baren Welt iſolirt, ſo hat er mit ihr keinen andern Zu - ſammenhang und ſie fuͤr ihn keine andere Bedeutung, als daß er von ihr Nahrung fuͤr ſein thieriſches Leben bezieht, das er ſelbſt als etwas Erniedrigendes und faſt als eine Verunreinigung an ſich betrachtet, und von welchem er befreit zu werden ſich ſehnt und ſich ſelbſt zu befreien ſtrebt, um als reiner Geiſt in ſeinem unge - truͤbten Glanze hervorzugehen! Daran hangen dann, fuͤr diejenigen wenigſtens, die ihren Anſichten conſequent bleiben, alle die Schwaͤrmereien der Geringſchaͤtzung und Verachtung dieſes Erdenlebens, die in der Idee42Zweiter Abſchnitt.zwar mit einem reinen andaͤchtigen wahrhaft ehrwuͤrdi - gen Gemuͤthe verbunden ſeyn koͤnnen, in der Praxis aber auch ſelbſt bei einem ſolchen Gemuͤthe ihre Un - tauglichkeit dadurch zeigen, daß ſie alles kraͤftige Wir - ken nach Außen laͤhmen, alles Beſtreben des Geiſtes, ſeinen Ideen in der Außenwelt Wirklichkeit zu geben, worinn allein das wahre Handeln beſteht, hindern, und dem Leben eines ſolchen Gemuͤthes in ſeinen Ideen, dem Streben deſſelben nach Vervollkommnung und Voll - endung, eine Verſchloſſenheit geben, durch die es als der vollendetſte Egoiſmus erſcheint, indem alle ſeine Ar - beit und Muͤhe keinen andern Zweck hat, als es ſelbſt und ſeine eigne Vollkommenheit, lediglich um vollkom - men zu ſeyn.

Jene falſche Abſtraction und die daraus entſprin - gende Einbildung von der reinen Geiſtigkeit des Men - ſchen erſcheint aber praktiſch noch ſchaͤdlicher und zu - gleich in großer Albernheit bei denen unſrer jungen Zeitgenoſſen, die auf ihrem rein geiſtigen Standpunkt ſich fuͤr alle Verhaͤltniſſe des eigentlichen Geſchaͤftes auf Erden zu vornehm duͤnken, die fuͤr die hohen Ideen, mit welchen ihre Intelligenz das Univerſum zu umfaſ - ſen waͤhnt, auf dieſer Erde keinen Punkt der Anwen - dung ſehen, durch den nicht ihre reine Geiſtigkeit ver - unreiniget wuͤrde, die eben deshalb jede poſitive Kennt - niß und jede Fertigkeit veraͤchtlich von ſich weiſen, die noͤthig iſt, um den Ideen Wirklichkeit in dieſer Erden - welt zu geben. An deren Beiſpiel zeigt ſich um ſo auffallender, daß mit dem Abſtractionswahn, der den43Wiſſenſchaftl. Geſichtspunkt d. Unterſuchung.Menſchen als reine Intelligenz nimmt, nicht nur eine ungegruͤndete Verachtung ſeiner animalen Natur ver - bunden iſt, ſondern auch die hohe Bedeutung ſelbſt ver - loren geht, welche die ganze ſichtbare Welt eben durch den unerklaͤrbaren Zuſammenhang und die unaufloͤsliche Einheit derſelben mit dem Unſichtbaren hat, und welche der Menſch auch ſeinem Handeln in dieſer Welt beile - gen muß, ſobald er erkennt, daß ſein Leib nicht, von dem Geiſte getrennt, bloß die Maſchine iſt, ſein thieri - ſches Leben zu tragen, ſondern, von dem Geiſte innigſt durchdrungen, das Organ, ſein geiſtiges Leben in der aͤußeren Welt darzuſtellen und ihm dadurch einen Inn - halt zu verſchaffen, ohne welchen es in leerer Traͤume - rei verkoͤmmt.

Dahin fuͤhrt, ſobald nur Conſequenz beobachtet wird, die einſeitige Abſtraction, die den Begriff des Menſchen nur von dieſer einen Seite faßt; und es iſt hohe Zeit, offen zu geſtehen, daß die bezeichnete Huma - nitaͤts - Philoſophie nicht ohne Schuld iſt, wenn ihren theoretiſchen Behauptungen Myſticiſmus und ihren prak - tiſchen Forderungen Unausfuͤhrbarkeit und Untauglich - keit in den Lebensverhaͤltniſſen vorgeworfen wird; daß vielmehr die philoſophiſche Weisheit auch darinn von dem Weltverſtand, den ſie ſo gern uͤberall herunterſe - tzen moͤchte, beſchaͤmt und mit Recht verſpottet und zu - ruͤckgewieſen wird, ſo lange ſie auf unvollſtaͤndige Ab - ſtractionen Theorieen baut, denen ſie mit verblendetem Eifer Einfuͤhrung ins Leben und ſogar geſetzliche Kraft zu verſchaffen trachtet.

44Zweiter Abſchnitt.

Auf demſelben Abwege nun finden wir unlaͤugbar auch das Extrem des Erziehungsunterrichts, welches durch den Humaniſmus repraͤſentirt, in ſeiner hi - ſtoriſchen Erſcheinung zwar auf mancherlei Weiſe modifi - cirt und gemildert, im Ganzen aber auf dieſelbe Weiſe ausgeſprochen wird. Indem der Humaniſmus fordert: daß ausſchließend der Geiſt des Menſchen geuͤbt und gebildet, mit Bildung des Koͤrpers keine Zeit verloren, auch die Geiſtesuͤbung ſelbſt ausſchließend an geiſtigen Gegenſtaͤnden, an den heiligen Ideen, die allein einen unvergaͤnglichen ewigen Werth haben, angeſtellt, auf materielle Gegenſtaͤnde der ſichtbaren vergaͤnglichen Welt gar keine Ruͤckſicht dabei genommen werde, u. dgl. ; macht er ſich, zwar nicht der Inconſequenz, aber der Einſeitigkeit, die aus der Halbheit ſeines Princips her - vorgeht, unſtreitig ſchuldig; und man darf ſich nicht wundern, wenn ihn in dem Urtheil der verſtaͤndigen Weltleute alle die Vorwuͤrfe der Ueberſpannung, der Schwaͤrmerei, des Mangels an Weltkenntniß u. ſ. w. treffen, die oben im Allgemeinen als gegruͤndet aufge - zeigt worden ſind.

Damit kann jedoch keinesweges geſagt ſeyn ſollen: daß der Humaniſmus nichts Wahres enthalte; am al - lerwenigſten aber: daß diejenigen recht haben, die, ver - kennend das Wahre, ewig Ehrwuͤrdige, das der Huma - niſmus in Schutz nimmt, in demſelben nur das Ein - ſeitige und Ueberſpannte erblicken und verſpotten, ſelbſt aber nicht weniger einſeitig auf das entgegengeſetzte Ex - trem uͤberſpringen und, indem ſie den Maͤngeln von45Wiſſenſchaftl. Geſichtspunkt d. Unterſuchung.jenem abzuhelfen meinen, dem allerverderblichſten Miß - brauch huldigen. Die folgende Pruͤfung beider Syſte - me wird dies einleuchtend genug zeigen; jetzt iſt es vor allem andern darum zu thun, auch den Gegenſatz mit moͤglichſter Beſtimmtheit aufzufaſſen.

3.

Wird in dem Erziehungsunterrichte die zweifa - che Natur und Beſtimmung des Menſchen, durch Ab - ſtraction von ſeiner geiſtigen Natur und ſeinem Verhaͤltniſſe zur Innenwelt, verkannt, ſeine animale Natur als die unzweifelhafte ſolide Realitaͤt ſeines Weſens, ſein Schaffen und Wirken in materiellen Din - gen als die einzige unzweifelhafte Beſtimmung deſſelben betrachtet: ſo muß dies zwar ohne Zweifel in den Maß - regeln des Erziehens und Unterrichtens von der einen Seite eine gewiſſe Nuͤchternheit begruͤnden, die vor my - ſtiſcher Verbildung der Zoͤglinge hinlaͤnglich ſichert, und von der andern Seite antreiben, fuͤr alles zu ſorgen, was dem Lehrling im ſpaͤteren Leben zu ſeinem Berufe in dieſer Welt und zu einem gluͤcklichen Fortkommen in derſelben behuͤlflich und in Zeiten des Dranges und der Noth zu wiſſen unentbehrlich ſeyn duͤrfte. Allein, wenn jene erſte Abſtraction, die den Menſchen als bloß geiſtige Natur betrachtet, ſchon theoretiſch unguͤltig und praktiſch nachtheilig iſt, ſo muß beides noch bei weitem mehr in dieſer letztern Abſtraction eintreten, die den Menſchen als bloß animale Natur betrachtet. Was je - ne Anſicht vom Menſchen auffaßt, iſt in jeder Bezie - hung der wichtigere Theil ſeines Weſens, ſeine hoͤ -46Zweiter Abſchnitt.here Natur; welche verkennen, das Weſen des Men - ſchen ſelbſt, die Humanitaͤt, verkennen heißt: was dagegen die letztere Anſicht vom Menſchen auffaßt, iſt in jeder Beziehung der minder wichtige Theil ſeines Weſens, ſeine niedere Natur, das, was er mit dem ganzen Thierreiche gemein hat, und was eben des - halb auch mit Recht den Namen der Humanitaͤt nicht theilt, ſondern als Animalitaͤt der Menſchen-Natur nur beigezaͤhlt wird. So gewiß es uͤberall nachtheili - ger iſt, die Sorge fuͤr das minder Wichtige zu uͤber - treiben und das Wichtigere daruͤber zu vernachlaͤſſigen, als umgekehrt, mit Hintanſetzung des minder Wichtigen, das Wichtigere mit einer zu aͤngſtlichen Sorgfalt zu pflegen: ſo gewiß muß der Nachtheil, den die Einſei - tigkeit der letztern Abſtraction des Begriffes vom Men - ſchen in dem Unterrichtsſyſteme zur Folge hat, unend - lich viel groͤßer ſeyn, als in dem entgegengeſetzten Sy - ſteme je zu fuͤrchten iſt. Die Gefahr erſcheint aber noch um ſoviel furchtbarer, wenn man bedenkt: fuͤrs erſte, daß die Sorge fuͤr geiſtige Bildung des Menſchen uͤber - haupt, da ein freiwilliger natuͤrlicher Antrieb dazu ihm, bei ſeiner Traͤgheit zur Reflexion, (welche ſogar als die Erbſuͤnde bezeichnet worden,) faſt ganz mangelt, ſo unentbehrlich, und eben deshalb nicht ſo leicht zu uͤber - treiben iſt, als die Sorge fuͤr die animale Bildung, welche bei dem ohnehin ſo maͤchtigen Antriebe dazu, der in der Natur des Menſchen ſelbſt liegt, nur gar zu leicht uͤbertrieben werden kann; fuͤrs zweite aber, daß aus demſelben Grunde auch die Vernachlaͤſſigung der beſondern Sorge des Erziehers fuͤr die animale Bil -47Wiſſenſchaftl. Geſichtspunkt d. Unterſuchung.dung ſeines Zoͤglings, wenn er ihn dafuͤr im Geiſtigen mehr uͤbt, wenig Nachtheil haben kann, da die an gei - ſtigen Gegenſtaͤnden erlangte Geiſtesfertigkeit ihm er - forderlichen Falles auch fuͤr animale Zwecke dienen kann, und uͤberdies theils eigner Vortheil theils oft ſelbſt die Noth ein ſcharfer Sporn iſt, ihn noch ſpaͤterhin zum Erlernen verſaͤumter fuͤr animale Zwecke noͤthiger Kennt - niſſe anzutreiben, dagegen aber die vernachlaͤſſigte gei - ſtige Bildung einerſeits von keiner Art animaler Bil - dung erſetzt werden kann, andrerſeits in irdiſchem Vor - theil und leiblicher Noth ſo wenig einen Sporn findet, der den Menſchen zum Nachholen des Verſaͤumten an - triebe, daß vielmehr beide ſogar der gereifteren geiſti - gen Bildung noch gefaͤhrlich werden, um ſo mehr alſo den kaum aufgekeimten Saamen derſelben zu erſticken drohen; ſo daß eine Bildung, die den Zoͤgling mit uͤber - wiegender Sorgfalt zur Vernunft zu wecken verſaͤumt, und dagegen die animale Thaͤtigkeit noch mehr in ihm aufregt, die Humanitaͤt deſſelben, wofern nicht eine beſonders kraͤftige Natur ihn bewahrt oder ein eigner Schutzgeiſt ihn rettet, unfehlbar verbildet, und es we - nigſtens das Verdienſt des animalen Bildners nicht iſt, wenn ſeine Kunſt nicht in eine Bildung zur Beſtia - litaͤt*)Unerachtet es dem Zwecke dieſer Schrift entgegen iſt, Namen zu nennen, ſo mag doch hier eine Ausnahme ſtatt finden in Abſicht einer kleinen Schrift, die unlaͤngſt uͤber das, was der Erziehung Noth iſt, ein heftiges, aber treffliches Wort geſagt hat, und eine ehrenvolle Erwaͤhnung beſonders verdient: Über die Schulbildung zur Bestialitaͤt. Ein Programm zur Eroͤffnung des neuen ausſchlaͤgt.

48Zweiter Abſchnitt.

Auf dieſer Seite ſteht das Syſtem des oben ſo benannten Philanthropinismus, das bei aller Soliditaͤt und Nuͤchternheit ſeiner Anſichten von dem Weſen und der Beſtimmung des Menſchen, und bei aller Nachdruͤcklichkeit ſeiner Forderungen an die Erzie - hung und den Unterricht deſſelben, gleichwohl dem Vor - wurfe der gefaͤhrlichſten Einſeitigkeit nicht entgehen kann: gefaͤhrlich, nicht bloß weil ſie das unbedingt Wichtige verkennt, und das unbedingt Nothwendige verſaͤumt, ſondern auch weil ſie, den Sinn auf das Sichtbare heftend, den Unglauben in Abſicht auf das Unſichtbare verbreitet und vermehrt. Es iſt wohl na - tuͤrlich, auf die Realitaͤt dieſer ſichtbaren Welt etwas rechtes zu halten; und ich will in dieſem ſoliden Glau - ben um ſo weniger jemanden ſtoͤren, da ich die Bedeu - tung recht wohl kenne, in welcher er wirklich ſolid iſt, welche jedoch ſchwerlich bei jenen zutreffen moͤchte, die das Zuverlaͤſſige in die Handgreiflichkeit ſetzen. Aber es iſt doch auch faſt handgreiflich unwahr, daß dem Sichtbaren allein Realitaͤt zukomme, und der Menſch muß ſeine ganze beſſere Natur verlaͤugnen, dem nichts fuͤr wahr und unbezweifelt gilt, als was ihm in die Sinne faͤllt, und der darauf den ſeichten Grundſatz baut: am ſicherſten ſey es, fuͤr das zu ſorgen, was wir gewiß haben! Welche Gewißheit, der das Evange - lium entgegenſetzt: du Narr, dieſe Nacht wird man deine Seele von dir fordern!

*)Lehrkurses in der Kantonsschule zu Aarau, von Ernst Au - gust Evers. Aarau, 1807. 41 S. 4.
*)49Wiſſenſchaftl. Geſichtspunkt d. Unterſuchung.

Es iſt aber um ſo mehr nothwendig, dieſe Denk - art hier in ihrem wahren Lichte zu zeigen, nicht bloß weil ſie ſo natuͤrlich iſt und deshalb ſo viele Anhaͤnger hat, ſondern insbeſondre auch weil ſie als die Haupt - grundlage des Philanthropinismus noch nicht genug beachtet iſt. Folgendes ſind die Grundzuͤge zu einer vollſtaͤndigeren Schilderung dieſes einſchmeichelnden Sy - ſtems.

Dieſes Erdenleben hat der Menſch; ſeinen Koͤr - per fuͤhlt er, und die Luſt, die in ihm ſich regt; die Welt, die in ihm ſich ſpiegelt, beruͤhrt er, um ſich von ihrer Soliditaͤt unwiderſprechlich zu uͤberzeugen, und den hohen Werth, den ſie fuͤr ihn hat, ſpuͤrt er in dem Vergnuͤgen, das er nicht nur von ihrem Anblick, ſon - dern noch kraͤftiger, indem er von ihr verſchlingt, em - pfindet. Doch waͤr er darinn nur dem Thiere gleich, das auch, wie er, des Daſeyns Luſt genießt. Allein ſein hoher Vorzug vor dem Thiere wird ihm unverkenn - bar durch das Bewußtſeyn ſeines Geiſtes ſelbſt bewaͤhrt. Zwar, ihn, den Unſichtbaren, ſehen kann er nicht: allein die Wahrheit ſeines Daſeyns bleibt ihm doch nicht zweifelhaft; er erkennt ſie in den Lebensplanen, die ſein Geiſt entwirft, die ſeinem Leben erſt Bedeu - tung, Zweck und Einheit geben. Kann auch das Thier mit Zweck und Plan ſich dieſe Erde unterwerfen, aus tauſend Freuden und Genuͤſſen, die ſie darbeut, ſich die reizendſten, die reichſten und die dauerndſten erwaͤh - len, die Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft klug in Eins verbinden, mit Scharfſicht und geuͤbtem Blick450Zweiter Abſchnitt.Erfahrungen vergleichen und darnach vorausgeſehne Folgen ſchlau berechnen und verhuͤten oder ſuchen, und ſo durch uͤberlegten Plan die Freude ſeines Daſeyns ungetruͤbt erhalten und verdoppeln? Das aber kann der Menſch durch ſeinen Geiſt, und das verbuͤrgt ihm das reale Daſeyn dieſes Geiſtes, durch den er das vermag. Das aber deutet ihm auch die Beſtimmung ſeines Gei - ſtes, den Zweck, wozu er ihn erhalten hat, und wozu er ihn auch mit Sorgfalt bilden und gebrauchen ſoll: das Leben naͤmlich moͤglichſt angenehm zu machen, die Arten und die Mittel des Genuſſes moͤglichſt zu ver - mehren, des Lebens Leiden und Gefahren kluͤglich vor - zubeugen oder auszuweichen, ſein Gluͤck nicht ſelbſt durch Unbedachtſamkeit zu ſtoͤren, und keine guͤnſtige Gelegenheit der Freude zu verſaͤumen, um nach voll - brachter Laufbahn einſt, zufrieden mit ſich ſelbſt, im Frieden ſich zu ſeinen Vaͤtern zu verſammeln. Wel - cher Gebrauch, den der Menſch von ſeinem Geiſte ma - chen moͤchte, haͤtte mehr Realitaͤt, als eben dieſer? Welche Bildung, die man ihm geben moͤchte, waͤre ſeiner wuͤrdiger, ſeiner eigentlichen Beſtimmung ange - meſſener, als eben die, die ihn am ſicherſten in den Stand ſetzt, die Erforderniſſe eines gluͤcklichen Daſeyns moͤglichſt vollkommen zu erfuͤllen? Ueber dieſe Graͤnze hinaus liegt ein uns unbekanntes Land, vielleicht das leere Nichts! Vielleicht auch, laͤugnen koͤnnen wir es nicht, ein neues Land der Freude fuͤr die Sterb - lichen in ſeeliger Unſterblichkeit! Doch wer verbuͤrgt es uns? Die Menſchen moͤgen ſich daran im ſtillen An - ſchauen weiden und ergoͤtzen, die Leidenden ſich Troſt51Wiſſenſchaftl. Geſichtspunkt d. Unterſuchung.aus dieſer Hoffnung ſchoͤpfen: der Kluge laͤßt ſich nicht bethoͤren, ſein Handeln darnach zu berechnen. Er haͤlt ſich an die Gegenwart, an das, was keinem Zweifel unterworfen iſt; fuͤr eine ungewiſſe Zukunft ſeine Zeit und ſeine Kraft verwenden, nennt er bei dem rechten Namen: Schwaͤrmen! und weiß von dieſem Fehler rein ſich zu erhalten. Was da iſt, faßt er, und ge - brauchts; was ſeyn wird, laͤßt er ſich nicht kuͤmmern: wie er es weder laͤugnet noch behauptet, ſo hoffet er auch nichts und fuͤrchtet nichts davon! Koͤmmt eine beßre Zukunft? Wohl! er wird, auch ſie zu brauchen, ſchon verſtehen oder lernen. Koͤmmt ſie nicht? ſo hat er wenigſtens auch nichts auf ſie vorausbezahlt, und ſeine Rechnung ſchließt ihm rein! So kann er dem Beruf der Gegenwart, den er mit Sicherheit erkennt, mit ganzer Kraft und ganzer Seele leben.

Es iſt nicht zu verkennen, daß die angedeuteten Grundſaͤtze des Syſtems ſich ſehr verſtaͤndig und un - ſchuldig ankuͤndigen. Nichtsdeſtoweniger ſind ſie ſo entſchieden unvernuͤnftig und verderblich, die Vernunft und Menſchheit entehrend, daß es fuͤr die, die ſehen wollen, hier nicht einmal eines beſondern Beweiſes die - ſer Beſchuldigung bedarf.

Und doch ſind ſie die Hauptgrundlage des Phil - anthropinismus! Ihr werdet das mir nicht glauben; und ich glaube euch gern, daß ihr entweder den Phil - anthropinismus nicht fuͤr ſo gefaͤhrlich, oder das, was ihr mit euern Kindern treibet, nicht fuͤr Philanthro -4*52Zweiter Abſchnitt.pinismus haltet: wuͤrdet ihr denn ſonſt ſo ganz mit Abſicht eure Kinder ſelbſt verderben? Aber eben darum halte ich nur fuͤr um ſo dringender, euch auf das, was ihr mit euern Kindern treibet oder treiben laſſet, auf - merkſam zu machen, und euch wohlmeinend nachdruͤck - lich zu warnen.

Philanthropinismus iſt es, wenn ihr unter - laſſet, fruͤh ſchon in dem Herzen eurer Kinder den Glauben, dieſe zarte Pflanze, die der Menſchheit Keim enthaͤlt, zu naͤhren und zu pflegen, den Glauben an das Unſichtbare, Goͤttliche, an die Ideen, an das, was allein den Menſchen groß und hoch macht und ehrwuͤrdig, was realer iſt und wahrer und beſtaͤndiger, als alles, was man mit den Haͤnden greift; wenn ihr dieſen Glauben, der, in des Geiſtes tiefſtem Inneren gegruͤndet, fuͤr den Menſchen das Sigel der Vernunft und ihre Offenbarung und, wie die Vernunft ſelbſt, in ihm unvertilgbar iſt, nicht achtet in dem Kinde; wenn ihr dieſem Glauben, der nur durch Glauben koͤmmt und nur im Glauben ſeine Nahrung findet, mit Unglauben nur begegnet; wenn ihr aus kindiſcher Ge - ſpenſterfurcht vermeidet, euern Kindern Gott, den Un - ſichtbaren, nur zu nennen, damit ſie daran ja nicht etwa lernen moͤchten, an Geiſter, Hexen, wohl gar an den Teufel ſelbſt zu glauben; wenn ihr meinet, den fruͤh erſtickten und erſtorbnen Keim des Glaubens ſpaͤterhin, wenn erſt der Lehrling zum Verſtand gekommen, durch eure Katechismusformeln, oder gar durch eure trocke - nen Begriffe und Beweiſe von dem Daſeyn Gottes und53Wiſſenſchaftl. Geſichtspunkt d. Unterſuchung.einer hoͤhern Welt leicht wieder zu beleben, oder zu er - ſetzen: wenn ihr uͤberhaupt verſaͤumet, in dem Lehrling fruͤh den Sinn fuͤr Geiſt und Geiſtiges zu wecken, die Innenwelt, die ihm noch naͤher liegt als ſelbſt die Außenwelt, ihm aufzuſchließen; wenn ihr ihm die Welt der Phantaſie, das eigentliche Jugendland, verſchließet, und dagegen ihn in den Kreis der ſtarren aͤußeren Um - gebungen hinein methodiſch bannet; wenn ihr nichts eiliger und eifriger mit ihm betreibt, als die Materie und ihre Formen von allen Seiten zu betrachten, und zu meſſen und zu zaͤhlen; wenn ihr nichts angelegent - lichers wißt, als mit Beſchauen eurer Cabinete, bunter Voͤgel, Schnecken, Muſcheln, Steine und ſo weiter, die ganze Unterrichtszeit auszufuͤllen; wenn ihr ſogar in euern Bilderbuͤchern euern Kindern nicht etwa ſchoͤ - ne Formen oder auch nur freie luſtige Geſtalten, ſon - dern Meſſer, Scheere, Nadel, und dergleichen Dinge zeichnet, die ſie richtiger und wahrer taͤglich in natura ſehen, und die in aller Welt nichts weiter als ihre eigne unbedeutende Geſtalt vermoͤgen zu bedeuten oder anzudeuten; wenn ihr den Menſchen, anſtatt in ſeinen großen Muſtern ihn zu zeigen, in denen er in ſeiner Herrlichkeit erkannt wird und das Herz zum Glauben an der Menſchheit Adel und zu Muth und That begei - ſtert, dem Lehrling nur in einer anatomiſchen Tabelle weiſet, ihn die Ribben zaͤhlen laſſet, und eine Weis - heit darein ſetzet, daß er etwa einen Muſkel euch mit Namen nenne; wenn ihr Fauſts Geſundheits-Katechis - mus mit dem Chriſtlichen vertauſchet; wenn ihr zum ernſten Gegenſtand des Unterrichts ſogar das Compli -54Zweiter Abſchnitt.mentenbuͤchlein machet: wenn ihr uͤberhaupt eure Kin - der hunderterlei mit einemmal lernen und treiben laſ - ſet, um ihnen die Zeit zu verkuͤrzen: wenn ihr auf der einen Seite hart gegen ihren Koͤrper, ſie in kaltem Waſſer, Regen, Schnee und Eiß umtreibet, um ſie ab - zuhaͤrten, als haͤtten ſie in Lappland ihre Unterkunft zu ſuchen, auf der andern Seite uͤbertrieben weich, vor jeder geiſtigen Anſtrengung aͤngſtlich ſie bewahret; die Elemente eiligſt uͤberſpringet, damit das Kind nur nicht verdrießlich werde, in keiner Uebung eine Virtuo - ſitaͤt, nichts Fleckenloſes, fordert, um nur ja das Kind zu uͤbler Laune nicht zu reizen; euch ſcheuet, zu Ge - daͤchtnißuͤbungen es anzuhalten, weil es damit ſich quaͤ - len moͤchte, dafuͤr ihm lieber etwas vorerklaͤrt und vor - erzaͤhlt, und mit ihm leſet, und ſo ihm Fluͤchtigkeit und Oberflaͤchlichkeit, Zerſtreuungsſucht und Leſewuth zur anderen Natur erziehet:

Das alles, und noch vieles dieſer Art, was ich euch treiben ſehe, iſt Philanthropiniſmus, der aus Unglauben koͤmmt, und, wo er auch nicht da - her koͤmmt, doch dahin fuͤhrt. Ich bin jedoch weit entfernt, euch alle zu beſchuldigen, daß die Vorliebe, die ihr zu dieſer Art von Paͤdagogik und Erziehungsun - terricht gefaßt habt, auch bei euch aus jener vergifte - ten Quelle komme: wie koͤnnte ich auch ſo vermeſſen und ungerecht ſeyn wollen! Ich kenne ſelbſt ſo Viele, die in der beßten Ueberzeugung dieſen Weg fuͤr ihre Kinder waͤhlen, weil ſie nicht ahnen, wohin er fuͤhrt: ſie freuen ſich vielmehr der Weisheit unſrer Paͤdago -55Wiſſenſchaftl. Geſichtspunkt d. Unterſuchung.gen, die einen Weg erfunden haben, auf dem die Kin - der weit fruͤher, ſchneller, leichter zur Vernunft zu fuͤh - ren ſind, als nach dem pedantiſchen Wegweiſer der al - ten Paͤdagogik jemals moͤglich geweſen waͤre. Was wiſſen nicht jetzt alles unſre Kinder ſchon in zarter Kindheit, was ihren Aeltern ſelbſt in ſpaͤten Jahren noch ganz unbekannt iſt? wie entwickelt zeigt ſich nicht ihr Geiſt ſchon in der fruͤhſten Jugend? wie loͤſen ſie nicht, zu einer Zeit, wo ſonſt die Kinder kaum anfien - gen ihr Einmaleins muͤhſam zu memoriren, die ſchwer - ſten Rechnungsexempel ſchon mit Leichtigkeit im Kopfe auf? wie wiſſen ſie nicht, in einem Alter, wo ſonſt die Kinder kaum Buchſtaben zuſammenzuſetzen verſtan - den, ſchon Sachen aller Art mit Gelaͤufigkeit in ihre Theile zu zerlegen und die Theilſtuͤcke puͤnktlich anzuge - ben und zu beſchreiben? Was muß ſich nicht von ei - ner Methode, die den jungen Geiſt ſo fruͤh zu wecken und herauszubilden verſteht, fuͤr ein maͤchtiger Fortſchritt der einzelnen Lehrlinge und der ganzen Cultur erwar - ten laſſen? So denket ihr, und habt nichts Ar - ges draus; ihr ahnet nicht, daß es nur Spreu und Kohlen ſind, die durch eine Art von Zauberei als Gold herumgeboten werden! Ihr haltet fuͤr Vernunft, was nur der aufgeregte animale Geiſt iſt!

Dieſer animale Geſt, den der Apoſtel den na - tuͤrlichen Menſchen (ψυχικὸν ἄνϑϱωπον) nennt, flieht die Vernunft! Gewohnt, auf derbem Grund und Boden alles feſt zu faſſen, ſcharf zu greifen, mit leiblich hellem Auge alles klar zu ſehen, muß er eine56Zweiter Abſchnitt.natuͤrliche Abneigung gegen das Land der Vernunft haben, wo er fuͤr ſeinen Tact nichts Feſtes findet, wo ſeiner Zerlegungskunſt die Geſtalten nicht[ſtehen], wo er mit offnem Auge im Dunkeln tappt. Dar inn liegt die Gefahr dieſer Unterrichtsweiſe, die obgleich nicht gerade uͤberall aus Haß der Vernunft das Land der Vernunft flieht und den Lehrling in dem Lande der materiellen Soliditaͤt eingeſchloſſen haͤlt: ſie gruͤndet die Gewohnheit, das Reale ausſchließend nach dieſer Soliditaͤt zu meſſen, und fuͤhrt dadurch unausbleiblich zum Unglauben, d. i. zum Mangel an Ver - nunft; denn Glaube iſt Vernunft! Was aber die Fortſchritte der Geiſtes-Cultur betrifft, die ihr von der geruͤhmten paͤdagogiſchen Methode euch verſprechet, und die ihr vielleicht als Fortſchrit - te der Vernunft betrachtet; ſo taͤuſcht euch nur auch darinn der animale Geiſt. Habt ihr denn von eurer Bildungsweiſe andre Proben von Cultur, als die von animalem Kunſtverſtand und Kunſtfleiß zeugen, aufzuweiſen? Iſt aber darinn etwas andres, als ein hoͤherer Grad von dem, was wir auch bei den Thieren finden? Kunſt - und Zweck-Verſtand iſt nicht Vernunft! und zur freien Kunſt, die der Vernunft angehoͤrt, erzieht ihr jenen nie! Auch kann euch aus der Voͤlkergeſchichte nicht unbekannt ſeyn, daß die Cultur des Kunſtverſtandes ziemlich enge Graͤnzen hat, und daß ein hoher Grad deſſelben neben faſt verſchwundener Vernunft ſtatt finden kann!

Nur ſoviel wollte ich gleich hier vorlaͤufig zur57Wiſſenſchaftl. Geſichtspunkt d. Unterſuchung.Warnung ſagen; ich hoffe, weiterhin die Taͤuſchung und die Gefahr, womit ſie die wahre Cultur bedroht, klar ins Licht zu ſetzen. Ich kehre jetzt zur wiſſenſchaft - lichen Beſtimmung des Geſichtspunktes zuruͤck, der oben als das Grundmerkmal dieſes einen Extrems des Er - ziehungsunterrichts angegeben worden iſt.

Wie unvollſtaͤndig dieſes Unterrichtsſyſtem den Be - griff des Menſchen gefaßt habe, wird nur um ſo auf - fallender, wenn man die Ruͤckſicht auf die Zukunft, die es eine ungewiſſe nennt, ganz beſeitiget. Iſt denn der Menſch, wenn wir ihn auch nur nach ſeinem Daſeyn in dieſer Erſcheinungswelt betrachten, als eine bloß animale Natur zu beurtheilen und zu be - handeln? Man mag die beiden Elemente ſeines We - ſens, Geiſt und Leib, Vernunft und Thier, nehmen und beſtimmen, wie man will; immer muß daraus hervorleuchten, daß er durch beide einer zwei - fachen Ordnung von Gegenſtaͤnden angehoͤrt, und daß es alſo ſchon nicht logiſch richtig ſey, beide Elemente in der Vereinigung, in der ſie den Menſchen conſtitui - ren, nicht wechſelſeitig beide durcheinander, ſondern einſeitig nur das eine durch das andre zu beſtimmen. Wer wollte denn aus jener logiſchen Combination des Begriffes vom Menſchen, als eines Vernunftkoͤr - pers, mit logiſcher Conſequenz ein Recht ableiten, die Vernunft nur als ein Accidens des Koͤrpers, als etwas, das nur durch und fuͤr den Koͤrper da iſt, zu betrachten? Fuͤrs erſte laͤßt es ſich und einen ſo bedeutenden moͤglichen Fall darf die Abſtraction nicht58Zweiter Abſchnitt.uͤberſpringen wenigſtens als moͤglich denken, daß je - ne beiden in dem Begriffe vom Menſchen abgeſondert und wieder vereinigt gedachten Elemente ſeines Weſens auch in ihrer Vereinigung ihre eigne Beſtimmung ab - geſondert behielten: das Rationale die ſeinige in der Geiſterordnung, in dem Reiche der Vernunft; das Ani - male die ſeinige in der Koͤrperordnung, in dem Reiche der Thierheit. Fuͤrs zweite aber, will man dies auch in Anſpruch nehmen, und nicht gelten laſſen, daß Ver - nunft und Koͤrper in ihrer Vereinigung doch iſolirt ne - ben einander beſtehen und jedes ſeine eigne Beſtimmung haben ſoll; ſo wird man doch eben ſo wenig einen con - ſequenten Grund zu entdecken vermoͤgen, welcher zu der Behauptung berechtigte: daß die Vernunft nur durch den Koͤrper beſtimmt werde; wie in dem Sy - ſtem geſchieht, das dem Philanthropiniſmus zu Grunde liegt, wo die Vernunft fuͤr gar nichts wei - ter gilt, als was den Koͤrper fuͤr ſeine Zwecke diri - girt; als man im Gegentheil logiſch conſequent finden kann, zu behaupten: daß der Koͤrper nur durch die Vernunft beſtimmt werde; wie in dem Syſteme ge - ſchieht, das dem Humaniſmus zu Grunde liegt, wo der Koͤrper fuͤr gar nichts anderes gilt, als was die Vernunft fuͤr ihre Zwecke traͤgt.

Soll unſre Anſicht von der wunderbaren Einheit der Doppelnatur des Menſchen nicht durch unſre Con - templation einſeitig werden, ſo muß unumgaͤnglich die Beſtimmung der beiden Elemente, in welche wir uns die Natur des Menſchen zerlegen, als wechſelſeitig ge -59Wiſſenſchaftl. Geſichtspunkt d. Unterſuchung.faßt werden. Wir muͤſſen uns eben ſo den Koͤrper beſtimmt durch die Vernunft denken, wie die Ver - nunft beſtimmt durch den Koͤrper. Beide erſchei - nen dadurch anders, als die iſolirte, oder einſeitig ver - bundne, Betrachtung ſie uns zeigt. Der Koͤrper, beſtimmt durch die Vernunft, iſt geheiliget zum Tempel des Geiſtes Gottes, aber auch zugleich geweiht zum Werkzeug der Vernunft, und berufen zu dem Dien - ſte des Herrn, zu deſſen Plan und Willen, der in der Vernunft geoffenbart iſt und durch die Vernunft er - kannt wird, thaͤtig mitzuwirken mit aller Kraft und al - len Miteln, welche ihm gegeben ſind. Die Vernunft, beſtimmt durch den Koͤrper, findet eben dadurch ein beſtimmtes Ziel ſich vorgezeichnet, und eine beſtimmte Bahn zu dieſem Ziele, ihre angewieſene Arbeit, einen ſichern Wirkungskreis, der ihrer unbeſtimmten Thaͤtig - keit die feſte Richtung giebt.

Koͤnnen nun die Philanthropiniſten nur dieſe wiſ - ſenſchaftliche Forderung nicht verwerfen, ſo koͤnnen ſie auch nicht laͤugnen, daß der Menſch ſeine Beſtimmung nicht aus dem Koͤrper erkennen und nach dem anima - len Beduͤrfniß berechnen koͤnne, daß er ſie vielmehr aus der Vernunft und durch die Vernunft einſehen muͤſſe, und daß dazu unumgaͤnglich vor allen andern ſeine Vernunft geuͤbt und gebildet werden muͤſſe.

So laͤßt ſich nach bloß ſtreng logiſcher Conſequenz die Einſeitigkeit dieſes Syſtems einleuchtend darthun, und es kann nichts weiter helfen, dagegen ſich auf die60Zweiter Abſchnitt.inconſequenten Anwendungen eben dieſes Syſtems, in denen allerlei Nachhuͤlfen angebracht ſind, zu berufen, da dieſe vielmehr ſelbſt die unzweideutigſten Zeugen von der gefuͤhlten Untauglichkeit des Syſtems ſind.

4.

Dieſer durch willkuͤrliche Conſtruction des Be - griffes vom Menſchen entſtehende Gegenſatz bildet un - ſtreitig die Hauptgrundlage des Unterſchiedes der beiden entgegengeſetzten Unterrichtsſyſteme; und eine charakteriſti - ſche Schilderung derſelben wird immer auf dieſen Gegen - ſatz zuruͤckgehen muͤſſen. Andere Verſchiedenheiten der beiden entgegenſtehenden Extreme gehen als entferntere Folgen aus derſelben Grundlage hervor. Es iſt aber fuͤr den gegenwaͤrtigen Zweck entbehrlich, ſie beſonders auszuheben und abzuleiten; ſie werden in der folgenden Unterſuchung der Grundſaͤtze beider Syſteme ausfuͤhr - lich genug zur Sprache kommen. Dagegen wird es nicht uͤberfluͤſſig ſeyn, an eine andre Hauptruͤckſicht gleich hier noch zu erinnern, die nicht ſowohl den Streit uͤber den Unterricht als vielmehr uͤber den Erziehungs - Unterricht betrifft.

Das eine Erziehungsſyſtem ſchließt aus dem Kreiſe des Erziehungs-Unterrichts alle Ruͤckſicht auf kuͤnftige Lebensbeſtimmung ganz und gar aus; das an - dre will in denſelben Kreis des Unterrichts durchaus nichts aufnehmen laſſen, wovon nicht eine beſtimmte Beziehung auf kuͤnftige Berufsbeſtimmung zu erkennen iſt. Dieſelbe Verſchiedenheit der Forderungen liegt61Wiſſenſchaftl. Geſichtspunkt d. Unterſuchung.zwar auch ſchon in der oben gezeichneten Grundlage beider Syſteme; ſie hat aber doch zugleich einen aͤußern Grund, den man beſſer geradezu ans Licht zieht, als ihn ſein Weſen im Verborgnen fort treiben laͤßt.

Es zeigt ſich naͤmlich ein uͤberwiegender Hang, die Vorbereitung auf den kuͤnftigen Lebensberuf der Kinder in die Erziehungsperiode hineinzuziehen; und man ſucht dieſe Maßregel von der einen Seite durch die Noth, die Kinder moͤglichſt fruͤh zum Brodverdienſt zu bringen, von der andern Seite aber dadurch zu be - gruͤnden, daß man in der Schule nicht nur die beßte, ſondern ſogar die einzige Gelegenheit habe, die Kinder mit richtigeren Kenntniſſen ihres Berufs bekannt zu machen, welche man um ſo weniger ungenuͤtzt laſſen duͤrfe, da die gewoͤhnlichen Gelegenheiten, ein Gewerb oder ein Handwerk ꝛc. zu lernen, gar zu untaug - lich und zu weit hinter den Fortſchritten der techniſchen, oͤkonomiſchen ꝛc. Theorie zuruͤckgeblieben ſeyen, und folglich die Cultur des Landes die erwuͤnſchten Fort - ſchritte gar nicht machen koͤnne, wenn man nicht jene Gelegenheit zu Huͤlfe nehme. Inzwiſchen wuͤrde dieſe Anſicht hier nicht einmal eine Erwaͤhnung verdienen, wenn ſie nicht zugleich als Beweis betrachtet werden muͤßte, daß die richtige Anſicht von der eigentlichen Beſtimmung des Erziehungsunterrichts faſt ganz zu Grund gegangen ſey. Der Vorſchlag ſteht ungefaͤhr jenem gleich, der zum Gegenſtand der Predigten auch Diaͤtetik, Oekonomik u. dergl. erheben wollte. Ohne ein gaͤnzliches Verkennen des wahren Zweckes jener62Zweiter Abſchnitt.Anſtalten, und eine daraus entſpringende Geringſchaͤtzung deſſen, was ſie thun und leiſten, haͤtte ein ſolcher Vor - ſchlag, ſeiner ſoliden Vortheilhaftigkeit unerachtet, doch nimmermehr gemacht werden koͤnnen. Wie koͤnnte et - was ſo Frivoles vorgeſchlagen werden, wenn die hohe Wichtigkeit jener Anſtalten erkannt und ihre ehrwuͤrdige Beſtimmung geachtet waͤre?

Daran alſo iſt hier zu erinnern: daß die Er - ziehung die Erweckung und Bildung der Ver - nunft in dem Kinde ſey; daß die Periode der Kind - heit dies nicht nur vor allem andern beduͤrfe, ſondern ſogar unbedingt fordere; daß, dieſe Forderung vernach - laͤſſigen, die Grundpflicht der Erziehung verſaͤumen, und dagegen, willkuͤrlich eine andre Forderung an die Stelle von jener ſetzen, die aͤlterliche Vollmacht uͤberſchreiten und das Recht des Kindes verletzen heiße. Woher erhielte doch (wenn wir nicht den Geſetzen der Barbarei noch Kraft und Guͤltigkeit einraͤumen wol - len?) der Vater ein Recht, die Erziehung ſeines Kin - des nach Willkuͤr zu behandeln? Hat uͤberhaupt ſein Recht, es zu erziehen, einen andern Grund, als ſei - ne in dem allgemeinen Geſetze der Fortpflanzung der Vernunft gegruͤndete Pflicht, es zum Men - ſchen d. i. zur Vernunft zu erziehen, weil Ver - nunft nur durch Vernunft gebildet wird, und es ſich mithin nicht ſelbſt zur Vernunft bilden kann? Wie darf der Vater, dieſem allgemeinen Vernunftgeſetz entgegen, jene Beſtimmung willkuͤrlich aͤndern?

63Wiſſenſchaftl. Geſichtspunkt d. Unterſuchung.

Iſt aber dieſer Grundſatz nicht zu verwerfen, ſo kann uͤber die Beſtimmung des Erziehungsunter - richts ebenfalls kein Zweifel weiter obwalten, und das eine Extrem, welches ihm eine ausſchließende Be - ziehung auf kuͤnftige Berufsbeſtimmung geben will, muß ohne weiters als voͤllig unerlaubt abgewieſen werden, ſobald nicht mehr zweifelhaft iſt, daß Bildung zum Beruf nicht Bildung der Vernunft, ſondern Bil - dung bloß des Kunſtverſtandes ſey, deren theo - retiſche Verwechſelung allein jene praktiſche Umtauſchung noch entſchuldbar macht. Das andere Extrem, das aus dem Erziehungsunterricht alle Ruͤckſicht auf kuͤnf - tige Berufsbeſtimmung unbedingt ausſchließt, kann da - gegen hoͤchſtens inſofern einer Uebertreibung beſchuldiget werden, als es entweder uͤberhaupt alle Unterrichtsge - genſtaͤnde, die auf Berufsverhaͤltniſſe und Lebensbeduͤrf - niſſe Beziehung haben, verwirft, ohne zu beachten, daß dieſelben Gegenſtaͤnde auch zur Vernunftbildung angewendet werden koͤnnen, oder ſie auch dann in die Erziehungsperiode durchaus nicht aufnehmen will, wenn ſie unbeſchadet des eigentlichen Erziehungszweckes, der Vernunftbildung, mit angeknuͤpft werden koͤnnten.

Das wahre Verhaͤltniß der Ausdehnung oder Be - ſchraͤnkung des Erziehungsunterrichts in dieſer letztern Ruͤckſicht laͤßt ſich, wiefern der Gegenſatz ſelbſt nur aus aͤußeren Verhaͤltniſſen abgenommen iſt, auch aus dieſen nur entſcheiden: aus der Dauer der Erziehungsperiode hauptſaͤchlich, und aus der Faͤhigkeit der Lehrer und der Lernenden. Die Frage iſt dann aber nicht mehr64Zweiter Abſchnitt.allgemein: was in den Umfang des Erziehungsunter - richts gehoͤre? ſondern ſie verwandelt ſich in die beſon - dre Frage: was der Erziehungsunterricht, wenn er hoͤchſtens bis zum zwoͤlften Lebensjahr des Zoͤglings fortgefuͤhrt werden kann, alles aufzunehmen und zu leiſten vermoͤge? Muß man dieſe Graͤnze der Erzie - hungsperiode als durch Noth oder Geſetz beſtimmt gel - ten laſſen, ſo kann zwar beſſere Methode, Faͤhigkeit und Fleiß der Lehrer und der Schuͤler noch einigen Un - terſchied in der Ausdehnung des Unterrichts begruͤnden; doch hat dies in dem allgemeinen Naturgeſetze der Ent - wickelung des Geiſtes ſeine Graͤnze, und man kann nicht eine Ausdehnung ins Unendliche annehmen: als Regel aber laͤßt ſich wohl behaupten, daß ſelbſt unter den guͤnſtigſten Umſtaͤnden vor dem zwoͤlften Lebensjahre die Vernunftbildung den Grad der Vollendung ſchwer - lich ſchon erreicht haben koͤnne, daß ihrer unbeſchadet auch noch allerlei anderes mit dem Lehrling nach Ge - fallen betrieben werden koͤnne; vielmehr iſt es in der Regel ſicher zu fruͤh, die Periode der Erziehung ſchon mit dem zwoͤlften Lebensjahre zu ſchließen, und der Ge - ſetzgeber muß die Noth uͤberwiegend finden, um eine ſolche Abkuͤrzung der Erziehungsperiode im Allgemeinen zu geſtatten. Iſt dies aber unveraͤnderlich beſtimmt, ſo muß man die gegebne Zeit nur um ſo ſorgſamer zu Rathe halten.

Ich kann den Streit der beiden Extreme uͤber die - ſen Punkt nicht treffender erlaͤutern, als durch Ver - gleichung mit einer wohlgeordneten Staatsoͤkonomie, in65Wiſſenſchaftl. Geſichtspunkt d. Unterſuchung.welcher nicht nur auf Verbeſſerung der Einnahmen und Verminderung der Ausgaben, ſondern hauptſaͤchlich auf Purification der Etats gedrungen und jede Forderung, die nicht ſtreng zu dem beſtimmten Verwaltungszweig gehoͤrt, unerbittlich abgewieſen wird. Soll dieſe heil - ſam ſtrenge Ordnung nur in den Finanzabtheilungen, nicht auch in den Geſchaͤftskreiſen eingefuͤhrt werden? Dadurch entſteht die groͤßte Verwirrung in dem Unter - richtsgeſchaͤft, daß man ihm alles zuweiſen, von ihm alles fordern zu duͤrfen glaubt, was man durch Unter - richt verbeſſern zu muͤſſen oder zu koͤnnen meint. Wie tauſendmal und bis zum Ueberdruß und Aerger hoͤrt und lieſt man die Frage wiederholt: ſollte man nicht auf dies und dies auch ſchon in den Schulen Ruͤck - ſicht nehmen? Fragte man doch dagegen auch nur ein einzigesmal: reicht denn auch der Geſchaͤfts-Etat der Schulen ſo weit? oder: wie weit reicht er uͤberhaupt? reicht die Ennahme (wenn die Schulzeit geſetzlich nur vom ſechſten bis zum zwoͤlften Lebensjahre dauert, und in den Volksſchulen alſo, die noch immer meiſtens bloß im Winter gehalten werden, nicht mehr als drei Jahre einer fruͤhen, die Geiſtesentwickelung kaum beginnenden Lebensperiode zaͤhlt) auch nur fuͤr die nothwendige Aus - gabe (die Vernunft-Erweckung) zu? Sicher wuͤrde, wenn man nur daran haͤtte denken wollen, ſo manche unbeſonnene Zumuthung an den Erziehungsunterricht unterblieben, und ſo mancher wirkliche Mißgriff in demſelben nicht geſchehen ſeyn! Es iſt deshalb eine hoͤchſt nothwendige Forderung an die Paͤdagogiker: ihren Etat rein zu erhalten.

566Zweiter Abſchnitt.

5.

Was aber nun die Vereinigung der bei - den entgegengeſetzten Unterrichtsſyſteme und den wiſſenſchaftlichen Geſichtspunkt der Beurthei - lung derſelben betrifft, ſo fuͤhrt uns auch dazu am natuͤrlichſten und einfachſten die moͤglichſt vollſtaͤndige und umfaſſende Conſtruction des Begriffes vom Men - ſchen. Begruͤndet die unvollſtaͤndige, nach einer ein - ſeitigen Abſtraction gefaßte, Conſtruction jenes Begrif - fes die beiden Extreme der Unterrichtstheorie; ſo laͤßt ſich ſchon daher erwarten, daß die Ergaͤnzung des Be - griffes durch Zuſammenfaſſen der einſeitigen Abſtractio - nen den Mittelpunkt bilden werde, in dem ſich die beiden Extreme vereinigen, und von welchem aus es moͤglich ſeyn wird, eine Ueberſicht uͤber beide zu gewinnen, das, was in beiden Wahres iſt, zu erken - nen, und eben deshalb mit voller Gerechtigkeit beide zu beurtheilen.

Es wird dabei fuͤr unſern Zweck nicht noͤthig ſeyn, auf eine tiefere Eroͤrterung der metaphyſiſchen Ele - mente des Begriffes vom Menſchen einzuge - hen; es iſt hinreichend, die angezeigten Elemente die - ſes Grundbegriffes unſrer Theorie Geiſt und Leib, Vernunft und Thier aufzufaſſen, ihrer Trennung als einer logiſchen Operation eingedenk zu bleiben, die Willkuͤrlichkeit, mit welcher das eine oder das andre Abſtractum fuͤr das Ganze genommen iſt, aufzuheben, und ſo den Begriff durch eine vollſtaͤndi - ge Conſtruction in ſeiner Ganzheit herzuſtellen. Wie67Wiſſenſchaftl. Geſichtspunkt d. Unterſuchung.aber uͤberall durch bloßes Aneinanderknuͤpfen zweier Endpunkte der Mittelpunkt nicht hergeſtellt wird, ſo reicht es auch hier nicht zu, die beiden Abſtracta bloß aneinander zu reihen, um den Begriff vollſtaͤndig zu faſſen: es iſt vielmehr ſehr wohl zu beruͤckſichtigen, daß die beiden Elemente ſich durchdringen, und Ein drittes aus beiden zuſammengeſetztes Ganze bilden, deſſen Zu - ſammenſetzung ſelbſt nicht weiter erfaßt und verſtanden werden kann, ſo daß ſich kein Punkt angeben laͤßt, von dem man ſagen moͤchte: da hoͤre die Thierheit auf und fange die Vernunft an; oder umgekehrt: da hoͤre die Vernunft auf und fange die Thierheit an.

Nach dieſer Forderung den Begriff des Men - ſen aufgefaßt, muß einleuchtend werden, was nicht zu oft erinnert werden kann, daß der Menſch nicht nur weder Vernunft allein noch Thier allein, ſondern auch nicht beides nebeneinander, ſondern durch - aus beides als Eines, und inſofern uͤberhaupt weder Vernunft, noch Thier, ſondern ein Drittes aus beiden, durch Vernunft modificirte Thier - heit und durch Thierheit modificirte Ver - nunft, ſey; die Vernunft in ihm durchaus an Thier - heit (an ſinnliches Bewußtſeyn), und Thierheit durch - aus an Vernunft (an rein geiſtiges Bewußtſeyn) ge - bunden: der Leib durchaus ein Tempel des heiligen Geiſtes, der Geiſt durchaus umſchloſſen von der Welt, dem Tempel Gottes.

Faſſen wir nun darnach auch die Beſtimmung des Menſchen, ſo tritt dabei derſelbige Fall ein,5*68Zweiter Abſchnitt.daß die wahre Anſicht nicht durch bloßes Aneinander - knuͤpfen der beiden Gegenſaͤtze gefunden werden kann, ſondern nur indem man beide als einander wechſelſeitig durchdringend und beſtimmend denkt.

In der Thierheit laͤßt ſich der Begriff von Beſtimmung des Menſchen nicht ſuchen, da die Thierheit in dem Menſchen nicht von der Vernunft iſolirt gedacht werden kann, durch die Verbindung mit der letztern aber nicht nur (negativ) aufhoͤrt reine Thierheit zu ſeyn, ſondern auch (poſitiv) etwas ande - res wird. Es darf naͤmlich ja nicht uͤberſehen werden, daß der Vorzug, den der Menſch durch jene Verbin - dung der Vernunft mit der Thierheit in ihm vor dem Thiere voraus hat, nicht bloß in dem ſinnlichen Bewußtſeyn ſeines thieriſchen Lebens beſteht, ſon - dern in dem geiſtigen Bewußtſeyn von ſeiner animalen Natur; in welchem Bewußtſeyn der Menſch ſelbſt ſeine Thierheit uͤber die Thierheit erhoben erblickt, ſo daß er ſogar im thieriſchen Genuſſe Vernunft bleibt, und einen hoͤhern Zweck deſſelben ſieht, und in allen Arten von Genuß Geiſt ſucht und fordert, nicht etwa nur zu Erhoͤhung der Luft den Genuß zu wuͤrzen, ſon - dern ihn zu weihen, und ihn ſeiner wuͤrdig zu machen; wie man im Gegentheil von dem, der die rohe ſinnli - che Luſt ſucht, allgemein den Ausdruck braucht: daß er ſich zum Thier erniedrige. Verkennt man nur dieſe Umwandlung der animalen Natur des Men - ſchen nicht, welche die Verbindung mit Vernunft in ihr hervorbringt, ſo muß man auch erkennen, daß der69Wiſſenſchaftl. Geſichtspunkt d. Unterſuchung.Menſch einer von der ſinnlichen Ordnung der Dinge verſchiednen hoͤhern geiſtigen Ordnung angehoͤ - re, in welcher ſeine eigentliche Beſtimmung um ſo gewiſſer zu ſuchen ſey, da er ſelbſt ſeine animale Natur dazu erhoben und darauf angewieſen findet.

Eben ſo muß auf der andern Seite die Beſtim - mung des Menſchen nicht aus ſeiner Ver - nunft allein, ſondern aus ihrer Verbindung mit der Thierheit in ihm, abgeleitet werden. Die Vernunft, als reine Vernunft in dem Menſchen gedacht, iſt ein durchaus Unbeſtimmtes, das wir in dieſer Abſtraction weder an ſich ſelbſt begreifen, noch auch in ſeinen Aeu - ßerungen (den Ideen) faſſen und verſtehen, die fuͤr uns erſt Innhalt und Beſtimmtheit bekommen in ihrer Anwendung auf die objective Welt. Wir begreifen ſo - gar die Vernunft ſelbſt nicht anders als in ihrer Be - ziehung auf ein Objectives, und die Ideen, wenn wir ſie in ihrer abſoluten Reinheit auffaſſen wollen, wer - den uns voͤllig innhaltleer oder verſchwinden uns viel - mehr ganz; wie um nur dies eine Beiſpiel zur Er - laͤuterung zu nennen die Ideen der Moral ohne beſtimmte Bedeutung ſind, wenn wir ſie ohne ihre Be - ziehung auf die objecte Welt denken wollen, und eine Moralitaͤt, die nicht ein Darſtellen moraliſcher Ideen in der objectiven Welt ſeyn will, eine leere Schwaͤr - merei iſt. So wird die Vernunft dem Menſchen ſelbſt erſt durch ſeine animale Natur zum beſtimmten Be - wußtſeyn fixirt, und ſonach kann ſeine Beſtimmung weder aus der Vernunft allein erkannt, noch durch70Zweiter Abſchnitt.Vernunft allein ausgefuͤhrt werden. Ueberſieht man nun nur dieſe weſentliche Beziehung nicht, in welcher die animale Natur des Menſchen zu ſeiner Vernunft ſteht, ſo wird man auch um ſo weniger in der Abſtrac - tion reiner Geiſtigkeit die eigentliche Be - ſtimmung deſſelben ſuchen wollen, da er durch die Vernunft ſelbſt an ſeine animale Natur und durch die - ſe an die objective Welt gewieſen iſt, um darinn die beſtimmten Andeutungen der Vernunft zu verſtehen.

Wenden wir nun dieſe Anſichten von dem Be - griffe des Menſchen auf die Theorie des Erzie - hungsunterrichts an, ſo finden wir die Vereini - gung der beiden entgegengeſetzten Extreme in der be - ſchriebnen Doppeleinheit der menſchlichen Natur. Der Unterricht, der den Menſchen zur Vernunft zu bilden hat, muß ihn als dieſe Doppel-Natur betrachten und be - handeln, als ein Weſen, welches nicht bloß zur Ver - nunft geweckt, ſondern auch, die Vernunft in Wort und Werk außer ſich darzuſtellen, befaͤhiget werden ſoll. Keine von beiden Bedingungen darf der Erzie - her in ſeinem Unterrichte vernachlaͤſſigen, wenn er die Forderung vollſtaͤndig erfuͤllen will, die Zoͤglinge zum vollen Gebrauche ihrer Vernunft und zu umfaſſender Erfuͤllung ihrer Beſtimmung auf Erden anzuleiten.

Damit iſt zugleich der Hauptgeſichtspunkt zur Be - urtheilung der beiden entgegengeſetzten Unterrichtsſyſte - me feſtgeſetzt, von welchem aus es leicht iſt, beiden volle Gerechtigkeit widerfahren zu laſſen. Hier mag71Wiſſenſchaftl. Geſichtspunkt d. Unterſuchung.es hinreichend ſeyn, das Verhaͤltniß derſelben gegenſei - tig zu einander und wechſelſeitig zu dem umfaſſende - ren Syſteme in einigen Umriſſen zu zeichnen.

In ihrer ſtrengen Conſequenz wiſſenſchaftlich ge - faßt, ſind beide nothwendig ganz falſch; wie uͤberall, wo ein Theil fuͤr das Ganze genommen wird, alle auf die einſeitige Anſicht gegruͤndete Behauptungen durchaus falſch ſind. Dies hindert aber nicht, einzuraͤumen, daß in beiden ein Theil des wahren Syſtems ſey, und daß ſie gegenſeitig einander rectificiren und ergaͤnzen. Der Philanthropiniſmus nimmt gegen den Huma - niſmus die Nothwendigkeit in Schutz, in der Vil - dung des Lehrlings ſeine Beziehung zur objectiven Welt zu beruͤckſichtigen; und hat darinn von dem wiſſenſchaftlichen Geſichtspunkt aus beurtheilt voll - kommen recht. Iſt der Menſch nicht bloß Geiſt, und kann er als bloßer Geiſt nicht handeln, ſondern muß ſogar ſeine Aufgabe ſich nach ſeiner Beziehung auf die objective Welt erſt beſtimmen, ſo muß er auch, wenn er nicht fuͤr dieſe Welt verbildet und in der Er - fuͤllung ſeiner Beſtimmung in derſelben behindert wer - den ſoll, fuͤr dieſe Welt geuͤbt werden. Allein eben dieſe Grundanſicht des Philanthropiniſmus iſt nur wahr als Gegenſatz des Humaniſmus, der die Natur des Menſchen, die er ganz vergeiſtiget, von jener Seite ver - kennt; an und fuͤr ſich ſelbſt aber iſt ſie unwahr, nicht nur inwiefern ſie dieſelbe Beziehung auf die objective Welt in einer niedrigen Ruͤckſicht faßt, den Menſchen als fuͤr die Erde allein beſtimmt betrachtet, ſondern72Zweiter Abſchnitt.auch inwiefern ſie ſich iſolirt und in dem Erziehungs - unterricht als ausſchließend conſtituirt, die geiſtige Na - tur des Menſchen nicht als etwas Selbſtſtaͤndiges aner - kennt, und fuͤr dieſelbe keine andre Ruͤckſicht gelten laſ - ſen will, als die fuͤr ihre Anwendung in der materiel - len Welt ſorgt. Der Humaniſmus dagegen nimmt gegen den Philanthropiniſmus die Selbſtſtaͤn - digkeit der geiſtigen Natur des Menſchen und ihre Un - abhaͤngigkeit von der materiellen Welt in Schutz, und behauptet damit etwas ganz Wahres. Iſt der Geiſt des Menſchen nicht bloß ſinnliches Bewußtſeyn, nicht bloß das Raͤderwerk, das die thieriſche Maſchine in Be - wegung und Leben erhaͤlt, ſondern vielmehr geiſtiges Bewußtſeyn, Kraft und Bewußtſeyn eines rein geiſti - gen Lebens, ſo muß auch dieſes hoͤhere Daſeyn und Bewußtſeyn im Menſchen zur lebendigen Erkenntniß gebracht und in dem Lehrling ausgebildet werden. Al - lein dieſe Grundanſicht des Humaniſmus iſt ebenfalls nur wahr als Gegenſatz des Philanthropiniſmus, der das Daſeyn einer rein geiſtigen Natur des Menſchen, durch welche er mit einer hoͤhern Ordnung der Dinge zuſammenhange, nicht anerkennen will, und dem Geiſte kein anderes reales Seyn als in ſeinem Verhaͤltniß zu der materiellen Welt zugeſtehen will: ſobald aber der Humaniſmus ſeine Anſicht als ausſchließend in dem Erziehungsunterricht conſtituiren, und den Unterricht auf rein geiſtige Uebung des Lehrlings anlegen will, iſt er nicht minder in ſeinem ganzen Umfang unwahr, als der Philanthropiniſmus auf dem entgegengeſetzten Extreme.

73Wiſſenſchaftl. Geſichtspunkt d. Unterſuchung.

Ein großer bedeutender Unterſchied aber zwiſchen dieſen beiden Extremen findet in Vergleichung mit dem oben entwickelten hoͤheren Geſichtspunkt, zum Vor - theil des Humaniſmus, ſtatt, der dem letztern einen entſchiednen Vorzug, ſelbſt in ſeiner Einſeitigkeit, vor dem entgegengeſetzten Unterrichtsſyſteme ſichert. Der Theil der zweifachen Natur des Menſchen, den der Humaniſmus vorzugsweiſe bildet und gegen die Unter - druͤckung des Philanthropiniſmus beſchuͤtzt, iſt eben ſo in jeder Hinſicht der wichtigere, wie der andere Theil der menſchlichen Natur, den er vernachlaͤſſiget, in jeder Hinſicht der minder wichtige iſt. Was er verſaͤumt, wenn er in der ſtrengſten Conſequenz ſeines Gegenſatzes den Lehrling lediglich in Ideen und zu Ideen bilden will, iſt hoͤchſtens die Uebung, die Ideen in ihrer Be - ziehung auf die objective Welt zu erkennen und ihnen in dieſer Welt Wirklichkeit zu geben. Darauf beſchraͤnkt ſich auch der Hauptvorwurf, den der Philanthropiniſ - mus ihm macht: daß er die Lehrlinge nicht zum prak - tiſchen Leben bilde, und ſie nur in Worten nicht in Sachen uͤbe. Allein, abgeſehen davon, daß der Unterricht, ſobald er nur wirklich Ideen (des Wah - ren, Guten und Schoͤnen) und nicht leere Traͤu - mereien zum Gegenſtand haben ſoll, irgend eine Art der Darſtellung der Ideen, welche immer objectiv iſt, zu Huͤlfe nehmen muß, wodurch jener Vorwurf ſich vollkommen hebt, wird die Kunſt, den Ideen objective Wirklichkeit zu geben, in der That am natuͤrlichſten zuerſt in den Worten geuͤbt, indem das Kind ange - leitet wird, ſeine Gedanken und Gefuͤhle auszudruͤcken,74Zweiter Abſchnitt. Wiſſenſch. Geſichtspunkt ꝛc.welche dabei als Sachen gelten, die es behandeln lernt. Zudem iſt die Behandlung der Sachen, ſo - fern darunter materielle Gegenſtaͤnde verſtanden wer - der, als ein beſondrer Beruf zu betrachten, dem eine Uebung darinn zwar noͤthig iſt, der aber ſein Be - duͤrfniß nicht zu einer Forderung der allgemeinen Bildung machen darf, und fuͤr ſeine Zwecke jene Ue - bung ſpaͤterhin nach der Erziehungsperiode noch lange erwerben kann, und um ſo leichter erwerben wird, je mehr Fertigkeit er in der hoͤheren in der That allge - mein menſchlichen Kunſt erlangt hat, Ideen in Worten darzuſtellen. Dagegen iſt der Theil der menſchlichen Natur, auf deſſen Ausbildung der Philan - thropiniſmus das Hauptgewicht legt, in jeder Hinſicht der minder wichtige, wie der Theil, den er vernachlaͤſ - ſiget, der unbedingt wichtige iſt; ſo daß man bei dem Anblick all ſeines mannichfaltigen aͤngſtlichen irdiſchen Treibens wohl anwenden moͤchte, was da geſchrieben ſteht: Martha, Martha, du haſt viel Sorge und Muͤ - he; Eins aber iſt noth: Maria hat das gute Theil er - waͤhlet!

Deshalb wird auch im Folgenden, bei aller Un - parteilichkeit, die Vergleichung der beiden entgegenge - ſetzten Unterrichtsſyſteme doch durchaus ſo entſchieden zu Gunſten des Humaniſmus ausfallen, daß man bei - nah ſelbſt an den Uebertreibungen dieſes Syſtemes Ge - fallen finden, und ſonach den Namen der ohnehin fuͤr ein einſeitiges Syſtem wohl zu gut iſt wieder fuͤr die richtige Theorie in Beſitz nehmen moͤchte.

[75]

Dritter Abſchnitt. Von den Grundſaͤtzen des Erziehungsunterrichts im Allgemeinen.

Erſte Abtheilung. Darſtellung der Grundſaͤtze beider Syſteme.

Es ſind zwei Hauptruͤckſichten, aus denen der Streit der beiden entgegengeſetzten Unterrichtsſyſteme gefaßt werden muß: die eine betrifft den Zweck des Erziehungsunterichts, die andre die Mittel zu dieſem Zwecke. In Anſehung beider findet zwi - ſchen beiden Syſtemen eine große Differenz ſtatt, wel - che hier mit moͤglichſter Beſtimmtheit dargeſtellt, jedoch nicht in ihren anſtoͤßigen Extremen, in welchen die Wi - derlegung leicht aber auch nicht befriedigend iſt, ſon - dern in einer moͤglichſt veredelten Geſtalt gezeichnet werden ſoll.

76Dritter Abſchnitt.

Um deſto leichter die Verſchiedenheit beider Sy - ſteme uͤberſehen zu koͤnnen, werden die Hauptgrundſaͤtze beider nebeneinander geſtellt.

Grundſaͤtze

A. des Humaniſmus.B. des Philanthropiniſmus.
I. Ueber den Zweck des Erziehungs - unterrichts.
1. Der Erziehungsunter - richt hat einen eignen fuͤr ſich beſtehenden Zweck, all - gemeine Bildung des Menſchen. 2. Es koͤmmt bei dem Erziehungsunterricht nicht ſowohl darauf an, be - ſtimmte Kenntniſſe zu ſammeln, als viel - mehr darauf, den Geiſt zu uͤben.1. Der Erziehungsun - terricht hat keinen eige - nen fuͤr ſich beſtehenden, ſondern nur den relativen Zweck, Bildung des Menſchen fuͤr ſeine kuͤnftige Beſtimmung in der Welt. 2. Es koͤmmt bei dem Erziehungsunterricht nicht ſowohl darauf an, den Geiſt an und fuͤr ſich zu uͤben, als vielmehr darauf, ihn mit der moͤglich groͤßten Maſ - ſe brauchbarer Kennt - niſſe auszuruͤſten.
77Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
Humaniſmus. 3. Der Erziehungsunter - richt uͤbt den Geiſt der Lehrlinge, nicht ſowohl um ihn zu beſtimmten Ge - ſchaͤften geſchickt zu machen, ſondern es iſt ihm vielmehr Bildung des Geiſtes an und fuͤr ſich ſelbſt Zweck. 4. Es iſt uͤberhaupt in dem Erziehungsunterrichte nicht ſowohl darum zu thun, den Lehrling fuͤr dieſe Welt zu bil - den; wozu er in ſpaͤte - ren Jahren ſeines Lebens noch Zeit und Gelegenheit genug findet; als vielmehr fuͤr die hoͤhere Welt des Geiſtes ihn zu bilden; welche Bildung, wenn er nicht darinn ei - nen feſten Grund in ſeiner Jugend gelegt hat, fuͤr ihn oft ganz verloren iſt, da ihm in ſpaͤtern JahrenPhilanthropiniſmus. 3. Dem Erziehungsun - terricht kann Bildung des Geiſtes an und fuͤr ſich ſelbſt nicht Zweck ſeyn; ſie gilt ihm vielmehr fuͤr etwas zweck - loſes, ſofern nicht dadurch der Geiſt zu beſtimm - ten Geſchaͤften ge - ſchickt gemacht werden ſoll. 4. Es iſt zweckwidrig, in dem Erziehungsunter - richte ſchon den Lehrling zu der hoͤhern Bil - dung des Geiſtes fuͤr eine andre Welt fuͤh - ren zu wollen; wozu er in ſpaͤtern Jahren ſeines Lebens erſt die erforderli - che Reife des Verſtandes erlangt: dagegen iſt es um ſo nothwendiger, die Bil - dung fuͤr dieſe Welt in Zeiten mit ihm anzu - fangen; ihn mit Sachen bekannt zu machen, damit nicht die bloß an Wor -
78Dritter Abſchnitt.
Humaniſmus. das, was er fuͤr ſeinen Beruf zu lernen und zu thun hat, meiſtens keine Zeit mehr laͤßt, an jener hoͤhern Bildung des Geiſtes fuͤr eine an - dre Welt mit Ernſt und Erfolg zu arbeiten.Philanthropiniſmus. ten betriebene Bildung ihn mit der Welt fremd laſſe, fuͤr das eigentliche Handeln untauglich ma - che, und ihn wohl gar auf den Abweg ſchwaͤrme - riſcher Ideen und dar - aus entſpringenden un - thaͤtigen Lebens ver - leite.
II. Ueber die Mittel des Erziehungs - unterrichts,
a. die Unterrichtsgegenſtände betreffend.
1. Der Erziehungsun - terricht bedarf fuͤr ſeinen Zweck nicht viele Un - terrichtsgegenſtaͤnde; wodurch der Lehrling nur zerſtreut und an gruͤnd - lichem Lernen gehin - dert wird: dafuͤr muß der Lehrling in den wenige - ren Unterrichtsgegen - ſtaͤnden bis zur hoͤch - ſten Stufe der Kennt -1. Der Erziehungsun - terricht kann ſich, bei der taͤglich wachſenden Aus - dehnung des unermeßlichen Reiches des Wiſſenswuͤr - digen, nicht mehr darauf beſchraͤnken, den Lehrling die ganze Erziehungsperio - de hindurch mit einigen wenigen Gegenſtaͤn - den aufzuhalten, es muß vielmehr darauf geſehen
79Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
Humaniſmus. niß und der Fertig - keit fortgefuͤhrt werden. 2. Fuͤr die Uebung des Geiſtes, wie ſie von dem Erziehungsunter - richt gefordert werden kann, eignen ſich nicht Sachen, ſondern Ideen, nicht materielle, ſondern gei - ſtige Gegenſtaͤnde, um den Lehrling des hoͤchſten menſchlichen Vorzuges, des Lebens in Ideen oder einer freien Erkennt - niß, ſoviel nur immer moͤglich iſt, theilhaftig zu machen, damit er nicht in dem ſpaͤter folgenden thaͤ - tigen Leben ſich in die Region gemeiner Brod - kenntniß ganz vexliere. 3. Die beſtimmtenPhilanthropiniſmus. werden, den Kreis der Unterrichsgegenſtaͤn - den moͤglichſt zu er - weitern, um dem Kin - de ſchon den moͤglich groͤßten Umfang von Kenntniſſen zu ver - ſchaffen. 2. Fuͤr die Uebung des Geiſtes, wie ſie von dem Erziehungsunter - richt geleiſtet werden ſoll, eignen ſich nicht Ideen, welche ſtreng genommen nur Worte ſind, ſondern Sachen, nicht geiſtige Gegenſtaͤnde, ſondern materielle, damit nicht der Geiſt durch bloße Be - ſchaͤftigung mit Buchſta - ben und anſchauungs - leeren Worten ſich in die Region hohler Wort - kenntniß verirre und fuͤr das thaͤtige Leben ganz untauglich werde. 3. Die beſtimmten
80Dritter Abſchnitt.
Humaniſmus. Kenntniſſe, die der Lehrling durch den Erzie - hungsunterricht erlangen ſoll, ſind ebenfalls nur geiſtiger Art, die Ideen des Wahren, Guten und Schoͤnen; denn es iſt die Hauptauf - gabe der Erziehung, bei dem Kinde einen ſolchen Grund jener Bildung in Ideen zu legen, daß es, hinausgehend aus der Schule ins Leben und in beſtimmte Berufsgeſchaͤfte, jene Bildung der Hu - manitaͤt, die eigentliche Menſchenbildung, ſei - nem Geiſte ſo tief einge - praͤgt mit ſich nehme, daß ſie unter allem Drang kuͤnftiger Berufsarbeit un - vertilgbar und unter aller Noth eines kuͤmmerlichen Schickſals unzerſtoͤrbar blei - be.Philanthropiniſmus. Kenntniſſe, die der Lehrling durch den Erzie - hungsunterricht erlangen ſoll, ſind meiſtens mate - rieller Art, eine aus - gebreitete Sachkennt - niß; denn es iſt die Haupt - aufgabe der Erziehung, den Lehrling mit allen zu ſei - ner kuͤnftigen Lebensbeſtim - mung erforderlichen Vor - kenntniſſen ſo auszuruͤſten, daß er, hinaustretend aus der Schule in das Leben und in beſtimmte Berufs - geſchaͤfte, alle die Kennt - niſſe und Fertigkeiten mit ſich bringe, die eine gruͤnd - liche Erlernung ſeines Be - rufes vorausſetzt, und die ihn allein in den Stand ſetzen, ſein Berufsgeſchaͤft uͤber das Handwerksmaͤ - ßige zu erheben, und durch Erweiterung und Verfei - nerung deſſelben ſeinen Ar - beiten die Vollendung zu geben, die den Producten cultivirter Nationen eigen
81Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
Humaniſmus. 4. Die Unterrichtsgegen - ſtaͤnde, oder die Darſtel - lungen jener Ideen, muͤſ - ſen eine durchaus claſſi - ſche Form haben; die Aus - wahl derſelben kann eben darum kein anderes Gebiet als das des Alterthums finden, in - dem unlaͤugbar wahre Claſ - ſicitaͤt in allen Arten der Darſtellung des Wahren, Guten und Schoͤnen in ihrer groͤßten Vollendung nur bei den claſſiſchen Na - tionen des Alterthums an - getroffen wird.Philanthropiniſmus. iſt und den Wachsthum der Cultur eines Volkes am ſicherſten documentirt. 4. Der Form nach muͤſ - ſen die Unterrichtsgegen - ſtaͤnde nur moͤglichſt deut - lich und beſtimmt ſeyn; welches die einzige Claſſicitaͤt iſt, die hier ſtatt findet. Die Auswahl der - ſelben aber kann auf das Gebiet des Alter - thums um ſo weni - ger beſchraͤnkt werden, da unlaͤugbar in allen Ge - genſtaͤnden des Wiſſens insbeſondre der phyſikali - ſchen und techniſchen Kennt - niſſe die neuere Zeit Fort - ſchritte gemacht hat, von denen das Alterthum noch nicht einmal eine Ahnung hatte.
b. die Unterrichtsmethode betreffend.
1. Der Erziehungsun - terricht muß das Lernen durchaus als ernſtes1. Der Erziehungsunter - richt muß das Lernen auf jede moͤgliche
682Dritter Abſchnitt.
Humaniſmus. Geſchaͤft behandeln, um den Lehrling durch fruͤh angeſtrengte Thaͤtig - keit zum Fleiß und zur Arbeitſamkeit zu gewoͤh - nen. 2. Es muͤſſen nicht al - le Unterrichtsgegen - ſtaͤnde mit Einemmal angefangen werden; der An - fangsunterricht iſt vielmehr auf die wenigen ei - gentlichen Elemen - taruͤbungen zu be - ſchraͤnken, theils um den Lehrling nicht durch An - haͤufung von Lehrſtoff ver - worren und verzagt zu machen, theils um ihn de - ſto ſchneller zu der unerlaß - lichen Fertigkeit in den Elementen zu fuͤhren. Der Fortſchritt zu einer hoͤhern Lehrperiode iſt nach er - langter hinreichen - der Fertigkeit in den vorgeſchriebnen Lehr -Philanthropiniſmus. Weiſe erleichtern und verſuͤßen, um dem Lehrling das Geſchaͤft zur Luſt zu machen, und da - durch Neigung zur Arbeit in ihm zu erwecken und zu begruͤnden. 2. Es muͤſſen alle Un - terrichtsgegenſtaͤnde mit Einemmal an - gefangen werden, und der Anfangsunterricht iſt nicht auf die wenigen ei - gentlichen Elemen - taruͤbungen zu be - ſchraͤnken, theils um den Lehrling nicht durch die Trockenheit der einfoͤr - migen Beſchaͤftigung ab - zuſchrecken und verdrießlich zu machen, theils um ihn gleich von Anfang an zu einer umfaſſenderen Be - ſchaͤftigung, wie ſie der Reichthum ſo mannichfal - tiger zu erlernender Gegen - ſtaͤnde erfordert, zu gewoͤh - nen. Der Fortſchritt zu
83Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
Humaniſmus. kenntniſſen zu bemeſ - ſen. 3. Der Erziehungsun - terricht uͤberhaupt muß ſich auf einzelne Kreiſe des Wiſſens be - ſchraͤnken, die er den Lehrling nicht nur in der ganzen Mannichfaltigkeit ihrer einzelnen Gegenſtaͤn - de auffaſſen, ſondern auch ſyſtematiſch ordnen lehrt, um ihn dadurch zum ſtreng logiſchen Denken zu ge - woͤhnen, und ihn die Kunſt des ſyſtematiſchen Ordnens an den kleineren Kreiſen, die er zu uͤberſehen vermag, ſo gruͤndlich zu lehren, daß er, wenn er ſich in der Folge an umfaſſendere Ge - biete des Wiſſens wagt, nicht in den ungluͤcklichen Wahn verfalle, irgend ein Gebiet des Wiſſens durchPhilanthropiniſmus. einer hoͤheren Lehrperiode iſt nach dem allgemei - nen Fortgang in dem geſammten Lehrſtoff zu beſtimmen. 3. Der Erziehungsun - terricht muß ſich auf die ganze Sphaͤre des Wiſſens ausdehnen, die er, ſo weit es nur irgend ausfuͤhrbar iſt, in ihrer Allgemeinheit und in ih - rem durchgaͤngigen Zuſam - menhang encyklopaͤdiſch mit dem Lehrling zu umfaſſen ſucht, indem das Einzelne nur aus ſeiner Allgemein - heit richtig begriffen wer - den kann, und derjenige, dem es an Ueberſicht des Ganzen fehlt, der nicht die ganze Sphaͤre des Wiſ - ſens aus ihrem Mittel - punkt zu uͤberſchauen ver - mag, auch von den einzel - nen Kreiſen des Wiſſens und ihren einzelnen Ge - genſtaͤnden nur halbe und
6*84Dritter Abſchnitt.
Humaniſmus. Ueberfliegen des Stoffes umfaſſen zu koͤnnen. 4. Der Erziehungsun - terricht muß darauf berech - net werden, von den Gei - ſtesthaͤtigkeiten, welche die Natur bei dem Menſchen zuerſt entwickelt, den moͤg - lichſten Vortheil zu ziehen, und ſie zugleich zu einem vorzuͤglichen Grade auszu - bilden; weshalb insbeſon - dere das Gedaͤchtniß des Lehrlings zu uͤben und zu benutzen iſt, indem die Uebung deſſelben die Seele ſtaͤrkt und naͤhrt, und der Menſch nur das Wiſſen, was er in ſeinem Gedaͤcht - niß feſt haͤlt, ſein Eigen - thum nennen kann.Philanthropiniſmus. ſchiefe Vorſtellungen ha - ben kann. 4. Der Erziehungsun - terricht muß darauf berech - net werden, der Natur in Entwickelung der Gei - ſteskraͤfte an die Hand zu gehen, und vorzuͤglich die ſogenannten hoͤhern See - lenvermoͤgen, die den Hauptvorzug des Menſchen ausmachen, moͤglichſt fruͤ - he in dem Kinde zu erwe - cken, um ſie zu einer aus - gezeichneten Fertigkeit zu bilden; weshalb insbeſon - dre die Urtheilskraft des Lehrlings fruͤh zu uͤben iſt, indem vorzuͤglich durch deren Uebung die Ver - nunft geweckt wird, und der Menſch nur das, was er im klaren Begriffe hat, ſein Eigenthum nennen kann.
85Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.

Zweite Abtheilung. Vergleichung der Grundſaͤtze beider Syſteme.

I. Ueber den Zweck des Erziehungs - unterrichts.

1.

Welchen eignen fuͤr ſich beſtehenden Zweck ſollte doch der Erziehungsunterricht haben? Das Kind iſt nur Keim des Menſchen, die Erziehung nur die Pflege dieſes Keimes zur Entwickelung, die Kindheit nur die Zeit der Vorbereitung fuͤr das eigentliche Leben und die Zeit des Handelns. Wie das Kind ſelbſt an und fuͤr ſich keine Beſtimmung hat, als die Beſtimmung der Entwickelung zu einem kraftvoll thaͤtigen Leben in ſpaͤteren Jahren, ſo muß auch der Zweck der Erziehung und des Erziehungsunterrichts in den ſpaͤteren Lebensjahren des Menſchen geſucht werden.

Mit dieſem ſiegenden Argumente fuͤr ſeinen erſten Grundſatz kann der Philanthropinismus beginnen. Al - lein in dieſer Allgemeinheit der Anſicht liegt der Streit - punkt nicht. Auch der Hamanismus leitet den Zweck des Erziehungsunterrichts von der ſpaͤteren Lebensbe - ſtimmung des Lehrlings ab. Die eigentliche Differenz beider entſteht vielmehr von der einen Seite eben in86Dritter Abſchnitt.der Frage uͤber die Lebensbeſtimmung des Menſchen uͤberhaupt, von der andern Seite in der Frage uͤber das Geſchaͤft der Vorbereitung zu jener Beſtimmung und den Antheil daran, der dem Erziehungsunterricht zukomme.

Zunaͤchſt alſo, um den eigentlichen Gegenſatz recht zu faſſen, muͤſſen wir auf die Frage zuruͤckgehen: Was iſt die Beſtimmung des Menſchen auf Erden?

Betrachtet man, in der mißverſtandnen Anſicht des einen Extrems, deſſen Einfluß auf die fruͤhere Paͤdago - gik unverkennbar iſt, die Erde nur als ein Jammer - thal, das der Menſch nur zu durchwandern habe, um ſich von allem Irdiſchen zu reinigen und ſich zum Him - mel, in welchem ſeine eigentliche Heimath ſey, nach der ſich ſeine Seele ſehne, wuͤrdig zu bereiten: ſo hat der Menſch mit dieſer Erde nichts zu thun, und auch fuͤr ſie nichts zu lernen. Dafuͤr iſt es um ſo wichtiger fuͤr ihn, zu lernen, wie er der Erde ſich entſchlagen, alles Irdiſchen ſich entaͤußern, und dagegen der geiſtigen Seeligkeit des Anſchauens Gottes wuͤrdig, und zum Theil ſchon hienieden theilhaftig werden koͤnne.

Wird der Zweck des Erziehungsunterrichts nach dieſer Anſicht von der Beſtimmung des Menſchen gefaßt, ſo wird freilich dieſer Zweck ein ganz eigener, naͤmlich: der natuͤrlichen Richtung des Blickes auf die Erde gleich von Anfang an bei dem Kinde entgegenzu - arbeiten, es mit bloßen Abſtractionen und mit Ueber -87Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.irdiſchem zu beſchaͤftigen, um ihm vorzuͤglich durch den Unterricht, als das wirkſamſte Mittel, die Richtung des Blickes nach dem Himmel zur zweiten beſſeren Na - tur zu erziehen. Aber, wie waͤre jene Anſicht zu ver - theidigen?

Wir wollen nicht unterſuchen, wiefern die dem Philanthropinismus entgegengeſetzte aͤltere Paͤdagogik ſich dieſer Verkehrtheit ſchuldig gemacht habe; aber ge - ſtehen muͤſſen wir doch, daß der aͤußere Zuſtand der Menſchen, der Staaten und der ganzen Cultur, den uns die Geſchichte als gleichzeitig mit jener Erziehungs - weiſe zeigt, zum wenigſten nicht glaͤnzend ſey.

Unſtreitig hat der Philanthropinismus gegen jene Uebertreibung recht; und es war ein wahres Verdienſt, daß er an den Mißbrauch derſelben erinnerte, und ge - gen den Abweg, auf den ſie gefuͤhrt hatte, eingreifend warnte. Der Philanthropinismus war es, der zuerſt mit vollem Eifer die Forderung geltend machte: daß der Menſch, auch der Erde angehoͤrig, ſeinen Blick nicht bloß gen Himmel richten koͤnne, und wenn er auch nicht gerade ſeinen Himmel auf Erden finden wolle doch auch auf Erden eine vernuͤnftige Ord - nung zu ſchaffen, und moͤglichſt zu vervollkommnen und zu befeſtigen habe; daß der Blick, der, bloß gen Him - mel gerichtet, die Erde vergeſſen wolle, unſtatthafte Ueberſpannung, wahre Schwaͤrmerei ſey, welcher man kraͤftig entgegen arbeiten muͤſſe; und daß dieß nicht zweckmaͤßiger geſchehen koͤnne, als indem man an die88Dritter Abſchnitt.des Menſchen ſo wuͤrdige Aufgabe: daß es durch ſein Wirken beſſer auf Erden werden muͤſſe, nachdruͤcklich erinnere, und dieß ſchon dem jugendlichen Gemuͤthe tief einpraͤge, und daſſelbe zu dieſer beſtimmten Thaͤtig - keit von der fruͤheſten Entwickelung an gewoͤhne und anleite.

Allein ſo wahr und zweckmaͤßig in ihrer Art auch dieſe Anſicht iſt, ſo iſt ſie doch nur wahr als Gegen - ſatz gegen jenes Extrem des Humanismus. Und ſelbſt in dieſem Gegenſatze laͤßt ſich eine Uebertreibung nicht verkennen, indem die Gefahr weit groͤßer vorgeſtellt wird, als ſie in der That iſt. Liegt denn etwa in dem Kinde an und fuͤr ſich eine vorherrſchende Richtung des Blickes uͤber die Erde weg nach dem Himmel, daß es ſo noͤthig waͤre, eine Gewoͤhnung zur entgegengeſetz - ten Richtung zur allgemeinen Aufgabe des Erziehungs - unterrichts zu machen? Oder iſt nicht vielmehr die Richtung des Blickes nach der Erde die erſte, natuͤrliche, allgemeine, vorherrſchende bei dem Kinde? und muß nicht vielmehr alſo eine Gewoͤhnung zur entgegengeſetz - ten Richtung allgemeine Aufgabe der Erziehung ſeyn, wenn der Menſch nicht durch ſeine eigne Natur mit ſich ſelbſt und ſeinem wahren Weſen entzweit werden ſoll? Jene Anſicht kann alſo nur gegen eine zufaͤllige Verbildung, gegen eine wirkliche Ausartung der rechten Methode, Wahrheit und Recht haben. Wo der Er - ziehungsunterricht die Kinder wirklich zu Schwaͤrmern verbildet, wo er ſie gewoͤhnt, die Erde ganz zu vergeſſen und ſelbſt zu verachten, wo er anfaͤngt, ſie zu einem89Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.muͤſſigen Beſchauen einer unſichtbaren Welt zu gewoͤh - nen, und gegen wahre Anſtrengung der Geiſteskraft gleichguͤltig zu machen, da waͤre es Zeit, der ge - faͤhrdeten Jugend ſich anzunehmen, und zum Thun, zur Praxis, zu rufen. Wo aber hat irgend ein Schulunterricht bis jetzt jene Wirkung hervorgebracht? Kann uͤberall ein Jugendunterricht dieſe Wirkung her - vorbringen? Wer hat je den Blick eines Kindes ſo zum Himmel zu richten vermocht, daß es der Erde ganz vergeſſen haͤtte? Die Erde ſelbſt hat Schwerkraft genug im Menſchen, um ihn zu ſich hinabzuziehen, wie er auch kuͤnſtlich uͤber ſie hinausgehoben werden moͤchte; und es kommen fuͤr die Meiſten fruͤh genug Beduͤrf - niß, Drang und Noth, die ſie zur koͤrperlichen Arbeit rufen und ſie maͤchtig genug an die Erde mahnen.

Will man alſo ganz aufrichtig ſeyn, ſo wird man geſtehen muͤſſen, daß der Philanthropinismus, ſofern er gegen eine poſitive Schaͤdlichkeit des aͤlteren Erziehungsunterrichts ſich richtete, faſt nur mit ſelbſt - geſchaffnen Geſpenſtern kaͤmpfte, und daß ſeine Anklage nur einen Punkt der Anwendung in der negativen Nachtheiligkeit des aͤlteren Erziehungsunterrichts finde, inwiefern darinn nichts gethan wurde, das Kind zu ſeinem kuͤnftigen Wirken auf Erden anzuleiten. Gerade dies aber: ob dies geſchehen ſolle? iſt erſt noch die Frage.

Dagegen wird mit weit mehr Grunde dem Philan - thropinismus das entgegengeſetzte Extrem vorgeworfen,90Dritter Abſchnitt.daß er die Erde ſelbſt als die Beſtimmung des Men - ſchen auf Erden betrachte, und daß ſeine Unterrichts - weiſe den Lehrling dahin bringe, uͤber der Erde den Himmel zu vergeſſen und ſelbſt zu verachten, oder damit mir Niemand dieſen Ausdruck als Myſticismus mißdeute! in dem irdiſchen Treiben Gott und die Religion zu verlaͤugnen, und ſeine eigne hoͤhere Natur und ſeine wahre Beſtimmung zu verkennen.

Wollen wir indeß auch einraͤumen, daß in dieſem Vorwurf ebenfalls Uebertreibung liege, daß der Philan - thropinismus wenigſtens nicht direct auf dieſe materielle Verbildung ausgehe, ſo wird man doch fuͤrs erſte nicht laͤugnen koͤnnen, daß er indirect dahin fuͤhre, und fuͤrs zweite wird man auch einraͤumen muͤſſen, daß der Hu - manismus eben ſo wenig direct auf ideelle Verbildung ausgehe. Sind aber beide Syſteme in Abſicht auf den Gegenſatz, den ſie uͤber die erſte Hauptfrage bilden, als Extreme in gleichem Grade verwerflich erkannt: ſo laͤßt ſich um ſo unparteiiſcher von dem wiſſenſchaftlichen Geſichtspunkt uͤber beide entſcheiden.

Gehen wir auf die umfaſſende Anſicht von der zweifachen Beſtimmung des Menſchen zuruͤck, und betrachten dieſe ſogar als von beiden Syſtemen des Philanthropinismus und Humanismus ebenfalls anerkannt; ſo entſteht zwiſchen beiden doch die neue Frage: ſoll der Erziehungsunterricht auf beide Beſtim - mungen des Menſchen Ruͤckſicht nehmen oder nur auf Eine von beiden, und auf welche von beiden? Nach91Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.dieſer Ruͤckſicht unterſcheiden ſich eigentlich die beiden Syſteme uͤber die Frage: ob der Erziehungsunter - richt einen eignen Zweck habe?

Sprechen wir naͤmlich beide Syſteme auch ganz von der einſeitigen Anſicht uͤber die Beſtimmung des Menſchen frei, und geben zu, daß weder der Philan - thropinismus fuͤr die Erde allein, noch der Humanis - mus fuͤr den Himmel allein den Menſchen bilden wolle, ſo ſtehen doch beide darinn einander entgegen, daß das eine dieſe, das andre die entgegengeſetzte Ruͤckſicht zur aus - ſchließenden des Erziehungsunterrichts erheben will. Der ſtrengere Humaniſmus nimmt die Erziehungsperiode fuͤr die hoͤhere geiſtige Bildung des Menſchen, fuͤr die Hu - manitaͤtsbildung, als das Wichtigere ausſchließend in Anſpruch, und weiſt dagegen die Bildung fuͤr das thaͤ - tige Leben und die Berufsbeſtimmung ausſchließend dem ſpaͤteren Lebensalter zu; der Philanthropiniſmus hinge - gen will auch ſchon die Erziehungsperiode fuͤr die Berufsbildung benutzen, und kann wenigſtens als Ausrede vorſchuͤtzen, daß die Bildung gleich von An - fang an, um Einſeitigkeit zu vermeiden, ſich uͤber den ganzen Umfang der Unterrichtsgegenſtaͤnde verbreiten muͤſſe.

Darauf alſo ruht der Gegenſatz in der Behaup - tung des Humaniſmus: daß der Erziehungsunterricht einen eignen fuͤr ſich beſtehenden Zweck habe; gegen die Behauptung des Philanthropiniſmus: daß der Erziehungsunterricht keinen eignen fuͤr ſich92Dritter Abſchnitt.beſtehenden Zweck habe; und die Entſcheidung zwiſchen beiden koͤmmt nun auf die allgemeinere Frage der Methodik zuruͤck: laͤßt ſich die Vertheilung der Unterrichtsgegenſtaͤnde rechtfertigen, die einer gewiſſen Periode des Unterrichts nur eine gewiſſe Claſſe von Gegenſtaͤnden zuweiſt, oder iſt es zweckmaͤßiger, alle Unterrichtsgegenſtaͤnde gleich vom Anfang des Unterrichts an zugleich zu betreiben? Verdient die ſimultane oder die ſucceſſive Ordnung in Behandlung der Unterrichts - gegenſtaͤnde den Vorzug?

Was uͤber dieſe Frage von der Seite der Methodik zu ſagen iſt, wird weiter unten ſeine Stelle finden; hier muͤſſen wir ſie von der Seite ihrer unmittelbaren Beziehung auf die zweifache Natur und Beſtimmung des Menſchen faſſen.

Unlaͤugbar iſt, fuͤrs erſte, daß die Bildung zur Vernunft bei dem Menſchen uͤberhaupt Schwierigkeit findet, indem die ſinnliche Thaͤtigkeit von Natur bei ihm ein entſchiednes Uebergewicht, und dagegen in demſelben Maße die rein geiſtige Thaͤtigkeit weniger Regſamkeit hat, ſo daß ſie, ſich ſelbſt allein uͤberlaſſen, uͤber jene ſich kaum emporarbeiten wuͤrde, und einer beſondern Erweckung und Pflege durchaus nicht ent - behren kann, um zu einer Selbſtſtaͤndigkeit zu gelangen. Wir beduͤrfen fuͤr dieſe Behauptung weder pſychologiſche noch tiefere metaphyſiſche Gruͤnde; hieruͤber iſt die taͤg - liche Erfahrung ein unverwerflicher Zeuge, wir duͤrfen nur ſehen, wie die Kinder, ohne alle abſichtliche93Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.Belehrung, unmittelbar durch ihre vernuͤnftige oder unvernuͤnftige Umgebung ſind und werden. Kann man aber dies nicht laͤugnen, ſo muß man ſchon daraus die Nothwendigkeit anerkennen, dieſen Zweig der Bildung zum Gegenſtand der ſorgfaͤltigſten Pflege zu machen. Welche Pflege aber waͤre ſorgſamer, oder vielmehr welche andre abſichtliche Pflege ge - nießt das Individuum, als die der Erziehung? Schon darum alſo muͤßte der Erziehungsunterricht die Bildung der Vernunft zu ſeinem Hauptzweck machen. Fuͤrs zweite aber, die Bildung der Vernunft gedeiht nur leicht in einem offnen, unbefangnen, noch unzertheilten und unverbildeten jugendlichen Gemuͤth, und wird im ſpaͤtern Lebensalter in dem Maße ſchwieriger, in dem die Vernunft laͤnger unangeregt geblieben und dagegen der ſinnliche Verſtand herausgebildet worden. Wird alſo die Bildung der Vernunft im Jugendunterricht verſaͤumt, ſo iſt der Lehrling in der groͤßten Gefahr, daß ſie fuͤr ſein ganzes Leben verſaͤumt ſey; und der Erzieher, dem die Vormundſchaft der Vernunft uͤber den noch unmuͤndigen Lehrling anvertraut war, hat eine ſchwere Verantwortung.

Dieſen Anſichten zufolge laͤßt ſich keinen Augenblick zweifeln, daß der Erziehungsunterricht die Bildung der Vernunft, die eigentliche Humanitaͤtsbil - dung, zu ſeinem Hauptzweck machen muͤſſe, und daß die Periode der Erziehung nicht ohne Grund fuͤr dieſen Zweck ausſchließend in Anſpruch genommen werde. Denn auch dies iſt uͤberdem noch ganz unlaͤugbar wahr,94Dritter Abſchnitt.daß gerade das Unſichtbare, Hohe, Goͤttliche, was zum ganzen Menſchen und zwar eminent gehoͤrt, und doch in ihm nicht durch ſich ſelbſt allein mit Sicherheit zum Leben und zur Herrſchaft koͤmmt, durch die Erziehung zur Gewoͤhnung und zum feſten Glauben kommen muͤſſe, und daß, wo immer die Erziehung dies verſaͤume, ein Zufall nur die Menſchheit in dem Menſchen rette, den ein uͤberwiegendes Gewicht zur Erde niederzieht, wenn die Erziehung nicht das Gegengewicht, das allerdings auch in ihm liegt, zum kraͤftigen Entgegenwirken frei macht. Wo aber gar durch die Erziehung ſelbſt das natuͤrliche Uebergewicht im Menſchen noch durch Kunſt vermehrt wird, da wird man wenigſtens ſich nicht ver - wundern duͤrfen, wenn Gleichguͤltigkeit gegen das Hoͤchſte, Unempfaͤnglichkeit fuͤr das Ehrwuͤrdigſte, Kaltſinn gegen Religion, Geringſchaͤtzung wahrer Geiſtesgroͤße und niedriger Sklavenſinn uͤberhand nimmt.

Aus Gruͤnden alſo, die in der Natur des menſch - lichen Geiſtes ſelbſt und in dem allgemeinen Geſetze ſeiner Entwickelung liegen, wird jene Ausſcheidung gerechtfertiget, die der Humaniſmus macht, indem er die Humanitaͤtsbildung zum ausſchließenden Zweck des Erziehungsunterrichts beſtimmt.

Aber auch ſelbſt den aͤußeren Umſtaͤnden, unter welchen die meiſten Menſchen leben, iſt jene Forderung des Humaniſmus angemeßner als der Grundſatz des Philanthropiniſmus.

95Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.

Iſt es denn nicht wirklich ſo im Leben, daß die Periode des Menſchen, bis zu ſeinem Eintritt in die Welt, die einzige iſt, in welcher er Zeit hat, fuͤr ſeine Bildung zur Vernunft zu ſorgen? Sobald die Periode eintritt, wo die Sorge fuͤr ſeine buͤrgerliche Exiſtenz anhebt, muß jene Forderung weichen, und tritt in den Hintergrund zuruͤck. Iſt alſo ſeine Bildung zur Huma - nitaͤt in jener fruͤheren Periode verſaͤumt, ſo iſt nicht nur die Gelegenheit nicht mehr fuͤr ihn da, denn mit ſolcher Sorgſamkeit auf die Faſſungskraft der ein - zelnen Individuen berechnet, als es im Erziehungsun - terricht geſchehen ſoll, wird die Belehrung uͤber Gott und Goͤttliches und Geiſtiges, wenigſtens in keiner andern oͤffentlichen Anſtalt ertheilt ſondern es fehlt ihm ſelbſt die Zeit, um das Verſaͤumte wieder einzu - bringen.

Der Grundſatz des Philanthropiniſmus ſetzt eine ganz ideale Anſicht des Menſchenlebens, wie dieſes in der Praxis gar nicht vorhanden iſt, voraus, um richtig erfunden zu werden. Nur dann laͤßt ſich der Grund - ſatz: ſchon die Erziehungsperiode als Vorbereitung auf die ſpaͤtere Berufsbeſtimmung zu behandeln, recht - fertigen, wenn man das ganze Leben des Menſchen als Eine gleichfoͤrmige Folge von Bildung annimmt. Nur dann waͤre es moͤglich und raͤthlich, ſchon den Erzie - hungsunterricht zu Einlernung von Kenntniſſen fuͤr den kuͤnftigen Beruf zu verwenden, wenn die kuͤnftige Be - rufsbeſtimmung ſelbſt auch fuͤr die weitere Ausbildung der Humanitaͤt noch Zeit und Gelegenheit anboͤte. Wo96Dritter Abſchnitt.dies nicht iſt, wie es denn wirklich nicht iſt, und unter den gegebnen Verhaͤltniſſen unſrer Staats - und buͤrgerlichen Verfaſſungen ſich auch nicht erwarten laͤßt da wird die Humanitaͤtsbildung auf Koſten der Berufsbildung vernachlaͤſſiget und auf - geopfert, wenn man nicht den Erziehungsunterricht der erſteren allein beſtimmt, ſondern ihn auch fuͤr die letztere zugleich, oder gar ausſchließend benutzen will.

Wem dies noch einen Augenblick zweifelhaft ſeyn koͤnnte, der kann ſich noch von einer andern Anſicht aus eine Ueberzeugung darin verſchaffen, wenn er ſich nur die Frage vorlegt: mit welchem Rechte der Staat die Volksſchulen als Zwangsſchulen erklaͤren koͤnnte, wenn er ſelbſt ſie als bloße Vorſchulen fuͤr den kuͤnfti - gen Veruf einrichten laſſen wollte? Wer nicht ſchon eine unbefugte Ausdehnung der polizeilichen Gewalt als Recht des Staates vorausſetzt, wird ſchwerlich ein Recht kennen, die Staatsbuͤrger zu einer vollkommneren Erlernung von Gewerb, Handthierung, Induſtrie ꝛc. zu zwingen; ſo ſehr auch die Bequemlichkeit, Ge - maͤchlichkeit, der Glanz, Erwerb, Reichthum, und was alles noch ſonſt aus jener Cultivirung der Gewerbsge - ſchicklichkeit Nuͤtzliches hervorgehen mag, fuͤr das Beſ - ſerbefinden der Geſellſchaft erwuͤnſcht ſeyn moͤgen. Der Staat kann durch die Regierung alle polizeilichen Er - munterungsmittel fuͤr jenen Zweig der Cultur in Bewe - gung ſetzen; er kann die veralteten Einrichtungen, die durch altvaͤteriſchen Handwerksſchlendrian den Fortſchritt der Kunſtgeſchicklichkeit aufhalten, einer Reform unter -97Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.werfen, das gewoͤhnliche Lehrjungen-Geſellen - und Meiſterweſen, ſofern es die Kunſt - und Gewerbs-Cultur hindert, entweder ganz aufheben oder doch einer ſtrengen Aufſicht unterordnen, die Befugniß, Lehrjungen anzu - nehmen, auf die geſchickteren Meiſter beſchraͤnken, und daneben, wo es ausfuͤhrbar iſt, ſelbſt oͤffentliche In - duſtrie-Handlungs - und Handwerks-Schulen anlegen, Lehrlinge darinn mildthaͤtig unterſtuͤtzen, durch Preiße aufmuntern, in Anſtellungen beguͤnſtigen u. ſ. w. aber, ſelbſt zu dieſen Schulen zu zwingen, wird eine weiſe Regierung nicht geſtatten: Wie wollte ſie denn zu jenen allgemeinen Volksſchulen zwingen, wenn ſie auch nichts anderes als Handwerksſchulen werden ſollten? Das Recht des Staates, zur Volksſchule zu zwingen, beruht, mit Einem Wort, nicht auf einem willkuͤrlichen, ſondern auf einem unbedingten Zwecke des Staats, auf der unbedingten Forderung an jeden Staatsbuͤrger, daß er Menſch ſey, d. h. daß er Religion habe, eine hoͤhere Welt und eine hoͤhere Beſtimmung des Menſchen erkenne und durch dieſelbe Recht und Pflicht zu unterſcheiden vermoͤge, daß er an die Realitaͤt der Vernunft glaube und die Forderungen derſelben dadurch praktiſch ehre, daß er auch in ſeinem Thun auf Erden alles ihren Idealen moͤglichſt anzunaͤhern ſtrebe.

Darinn liegt der eigne fuͤr ſich ſelbſt beſte - hende Zweck des Erziehungsunterrichts; dazu benutzt der Staat die Volksſchule, zu der er zwingen kann, denn dazu wir koͤnnen dieſe Beſchaͤmung nicht ver -798Dritter Abſchnitt.bergen! iſt Zwang bei den Meiſten noͤthig, weil kein ſinnlicher Vortheil dazu lockt. Eben deshalb iſt es um ſo wichtiger, den Zweck des Erziehungsunter - richts zu iſoliren, und alle Ruͤckſicht auf das ſpaͤtere Berufsleben abzuſchneiden, den Lehrling anzuhalten, daß er ohne einen ſchon vorliegenden handgreiflichen Vor - theil lerne, damit in ihm fruͤhe der Sinn geweckt und gebildet werde, der nicht bei allem, was er thun ſoll, ſogleich fragt, wozu das nuͤtzt, und faͤhig iſt, etwas auch um ſein ſelbſt willen zu lieben und zu achten und mit Ernſt zu treiben.

Dazu iſt die Schule und die Schulzeit. Das hat in unſern alten Schulen (wenn auch nicht nach einem ſo beſtimmt ausgeſprochnen Princip angeordnet) tief gelegen, die mit der Chriſtenlehre, neben Schreiben, Leſen und Rechnen, den ganzen Ingendunterricht der Mehrheit ausfuͤllten. Das aber hat die Weltklugheit des Philanthropiniſmus leer und unnuͤtz und ſogar verbildend gefunden.

Es mag auch ſeyn, daß es hie und da in der That ſo war, daß mit dem Princip des Humaniſmus Mißbrauch getrieben, daß wirklich ein Uebergewicht der Bildung fuͤr das Nichtſinnliche dadurch bewirkt und eine Ungeſchicklichkeit fuͤr das thaͤtige Leben erzeugt wurde. Aber dann hat es nur an Mangel und Feh - lerhaftigkeit der Methode gelegen, und eine Reform derſelben erfordert, mehr nicht. Die Methode ſelbſt laͤßt ſich aus dem Mißbrauch derſelben nicht widerlegen. 99Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.Auf die Frage: wird der Schuͤler fuͤr ſein ganzes Leben und Handeln in der ſichtbaren Welt verbildet, wenn er nicht ſchon in der Schule dafuͤr gebildet wird? iſt die Entſcheidung nicht ſchwer. Welche Gefahr fuͤr das praktiſche Leben braͤchte denn jene Beſchraͤnkung des Erziehungsunterrichts auf das Hoͤhere, Geiſtige, rein Menſchliche? Wird denn dadurch das Bilden des Lehr - lings fuͤr das Leben und den Beruf uͤberhaupt ausge - ſchloſſen, oder wird es nur aus dem Erziehungsunter - richt ausgeſchloſſen? Wird es nicht vielmehr als Unter - richtsaufgabe fuͤr die der Schule unmittelbar folgende Periode durch das Princip des Humaniſmus ſelbſt gefordert? Fordert denn das Princip des Humaniſmus etwas anderes, als daß nur nicht beide Aufgaben ver - einiget, beide Arten des Unterrichts zugleich betrieben werden ſollen?

Ihr koͤnnet darauf erwiedern: wir muͤſſen darum beides in der Schule verbinden, weil fuͤr den groͤßten Theil der Menſchen die Schule die einzige Gelegenheit iſt, in der ſie eigentlichen Unterricht erhalten, und ſie folglich gar nicht lernen, was ſie nicht in der Schule lernen. Allein ich kann euch antworten: fuͤrs erſte iſt zu ſolchem Unterricht Gelegenheit zu machen; fuͤrs zweite iſt der eigentliche Unterricht, die theoretiſche Anweiſung, nicht die einzige und beſonders in Abſicht auf die eigentliche Praxis in Gewerb und Induſtrie nicht einmal die zweckmaͤßigſte Gelegenheit des Lernens. Die eigentliche Schule fuͤr die Praxis iſt die Praxis, und der Lehrling lernt das Leben fuͤr die Welt am ſicherſten7*100Dritter Abſchnitt.durch das Leben in der Welt, ſeinen Beruf am gruͤnd - lichſten, indem er Hand anlegt. So wird die ſchein - bare Verſaͤumniß der Schule bei dem Lehrling nach ſeinem Austritt aus der Schule erſetzt. Welchen Erſatz aber bietet das ſpaͤtere Leben des Schuͤlers an, wenn in der Schule die hoͤhere Bildung der Vernunft an ihm verſaͤumt worden, die ſpaͤterhin da ſie noch die ungetheilte Offenheit und Empfaͤnglichkeit des jugend - lichen Gemuͤths bedarf, um wahres Eigenthum des Menſchen zu werden kaum mehr zu erſetzen iſt?

Dagegen werdet ihr kaum in Abrede ſtellen koͤnnen, daß man mit Recht die groͤßte Beſorgniß von eurem Grundſatz hege, durch den ihr als Zweck des Erzie - hungsunterrichts die Vorbereitung des Lehrlings auf ſein Berufsgeſchaͤft erklaͤret, den Hauptzweck der Er - ziehung aus den Augen ruͤcket, und der Schule die fuͤr ihre eigentliche Beſtimmung noͤthige Zeit entziehet. Ihr werdet deshalb auch es mir nicht verargen, wenn ich meine Beſorgniß laut werden laſſe, und vor einem Mißgriff oͤffentlich warne, den ich fuͤr wahre Bildung hoͤchſt gefaͤhrlich halte. Die Schule iſt die Bil - dungszeit des Menſchen, naͤmlich der Menſchheit in dem Menſchen; und dieſe edle Zeit den Kindern rauben, um ihr jugendlich Gemuͤth mit allem Tand der Erde anzufuͤllen, iſt gleich ſo unerlaubt, als ſie dem Moloch opfern!

Die Zeit iſt gekommen, wo man dies wieder ſagen kann, weil man damit nicht mehr iſt, wie die Stimme101Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.des Predigers in der Wuͤſten, weil man auf gleiche Denkart da und dort ſchon rechnen darf.

Aber ich kann eure Beſorgniß von dem Grundſatz des Humaniſmus, daß er die Lehrlinge fuͤr die Welt und das praktiſche Leben verbilde, euch noch von einer andern Seite her als uͤbertrieben und ungegruͤndet zeigen.

Fuͤrs erſte, wer fuͤr das Unbedingte gebildet iſt, der iſt allein eigentlich gebildet, und bringt Bildung auch zum Bedingten mit. Wer eine andere Realitaͤt, als die der Erde, kennen, und eine hoͤhere Beſtimmung dieſer Welt und ſeines Lebens glauben gelernt hat, fuͤr einen ſolchen hat dieſes Leben einen ganz andern Ernſt, als den der Noth! Der letztere allein macht kleinlich und gemein, der erſtere erhebt den Menſchen: den letz - tern aber allein kennt der, der bloß fuͤr das Bedingte gebildet wird, und ihm iſt alles Spielerei, wo nicht die Noth mit ihrem Ernſte ihm entgegentritt. Mit einem weit edleren Sinne nimmt jener das Leben, als dieſer. Ein Gemuͤth, erhoben zum Himmel durch Re - ligion, erblickt ſelbſt die Erde in einem himmliſchen Lichte; waͤhrend ein Gemuͤth, verſunken in irdiſchem Treiben und Thun, ſelbſt fuͤr den Himmel nur einen irdiſchen Blick behaͤlt. Jener treibt ſein irdiſches Ge - ſchaͤft mit der Begeiſterung, die nur aus dem Glauben an das Goͤttliche koͤmmt, und ertraͤgt das Ungluͤck mit der Reſignation, die nur der Glaube an ein hoͤheres Daſeyn giebt; waͤhrend der Andre fuͤr ſein irdiſches102Dritter Abſchnitt.Geſchaͤft keinen andern Trieb, als den des groͤbern oder feinern Eigennutzes, kennt, und im Ungluͤck keine andre Reſignation, als den verbißnen Unmuth der Verzweiflung. So wird die Bildung fuͤr das Zeitliche ſelbſt durch die zu Grund gelegte Bildung fuͤr das Ewige veredelt.

Fuͤrs zweite aber, auch ſogar die Bildung fuͤr die Welt und das Leben wird gruͤndlicher, als nach dem Grundſatze des Philanthropiniſmus geſchieht, vorbereitet, wenn die Bildung zur Vernunft im Erziehungsunterricht vorausgeſchickt und zur Grundlage von jener gemacht wird. Ihr fuͤrchtet den Unterricht des Humaniſmus, weil ſich gar kein Gegenſtand, mit dem er es zu thun haͤtte, ſehen laͤßt, und es den An - ſchein hat, daß er am Ende ſich nur mit Traͤumereien abgebe. Allein, was der Humaniſmus will, iſt ja nicht ein Umtreiben des Lehrlings in gehalt - und form - loſen Phantaſieen von einer unſichtbaren Welt. Iſt gleich der Gegenſtand des Unterrichts, mit dem er ſich beſchaͤftiget, nicht ein roher Stoff, mehr das leibliche Auge im Betaſten, als das geiſtige Auge im Fixiren zu uͤben tauglich, ſo iſt er doch nichts deſto weniger ein Gegenſtand, und, obſchon nur in Worten dargeſtellt, doch nicht ein bloßes Wort: das Wort iſt nur die Form, in der ſich die Ideen, die hier die Sachen ſind, dem Bewußtſeyn darſtellen; und es wird Niemand, der die Geſetze der Entwickelung des Geiſtes kennt, zu laͤugnen wagen, daß dem Blicke, der an ſolchen Gegenſtaͤnden der Innenwelt im Auffaſſen103Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.geuͤbt und geſchaͤrft worden, auch die Gegenſtaͤnde der Außenwelt mit Beſtimmtheit zu faſſen und mit Klarheit zu durchſchauen weit eher moͤglich ſeyn werde, als dem, der noch ſoviel mit materiellem Stoffe oder ſogenannten Sachen umgetrieben worden.

So erhellt, daß ſelbſt fuͤr den Zweck, den der Philan - thropiniſmus fuͤr den hoͤchſten oder vielmehr fuͤr den einzigen des Erziehungsunterrichts erklaͤrt, mehr gewon - nen als verloren werde, wenn man die Periode der Erziehung ausſchließend der Humanitaͤtsbil - dung beſtimme; und daß der Philanthropiniſmus, ſelbſt wenn er den Erziehungsunterricht bloß als Vorbe - reitung fuͤr die Berufsbeſtimmung der Lehrlinge betrachtet, demſelben keinen zweckmaͤßigeren Gegenſtand vorſchreiben koͤnnte, als die Uebung an Ideen, wie ſie die Hu - manitaͤtsbildung fordert.

Endlich iſt auch noch zu bedenken, daß ſich dieſe Ordnung nicht umkehren laͤßt, wie der Philanthro - piniſmus anzunehmen ſcheint. Die Uebung an dem rohen Stoffe giebt dem Geiſte nicht die Uebung, auch das Unſichtbare zu ergreifen; ſie lehrt ihn nicht einmal das Sichtbare recht faſſen. Daß ihr mit dem Kinde ſpielend um die Erde laufet, wird ſeinen Geiſt nicht wecken, nicht beleben, nicht erheben; die Erde liegt dem Kinde viel zu nah, um ſeinem Geiſte die rechte Nahrung zu geben; das Sehenswerthe an der Erde ſelbſt iſt das Unſichtbare, was aber, wenn das Auge des Geiſtes nicht ſchon an den Ideen ſich fuͤr das104Dritter Abſchnitt.Unſichtbare geuͤbt hat, an dem Sichtbaren nur um ſo ſchwerer iſt zu ſehen und ſehen zu lehren. Deshalb iſt es um ſo bedenklicher, den Erziehungsunterricht auf Uebung an Sachen zu beſchraͤnken; denn, ſoll er ſich bloß mit der Oberflaͤche und den rohen Theilſtuͤcken der Sachen beſchaͤftigen, ſo iſt und bleibt und macht er geiſtlos, und kann ſelbſt als bloße Voruͤbung auf Ideen ſo wenig gelten, daß er vielmehr den Blick dafuͤr mehr und mehr abſtumpft; ſoll er aber die Ideen in den Sachen faſſen lehren, ſo faͤngt er offenbar beim Schwerſten an, und fuͤhrt was ihr mir viel - leicht am ſchwerſten glauben werdet am leichte - ſten zu dem, was ihr am meiſten fuͤrchtet, zur Schwaͤrmerei!

Es bleibt ſonach, von welcher Seite man auch den Streitpunkt faſſe, unverkennbar die richtigere An - ſicht, die dem Erziehungsunterrichte einen eignen fuͤr ſich beſtehenden Zweck beſtimmt, die Huma - nitaͤts-Bildung welche aufs hoͤchſte gefaͤhrdet iſt, wenn ihr nicht der ganze Unterricht der Erziehungs - periode gewidmet bleibt.

Man koͤnnte nur noch fragen: ob nicht wenigſtens bei denjenigen Lehrlingen, bei denen die Periode des Erziehungsunterrichts viel laͤnger, und ſogar bis uͤber das achtzehnte Lebensjahr hinaus, dauere, eine Ver - bindung der beiden Zwecke ſtatt finde, und der Unter - richt ſich auch auf Berufsbildung ausdehnen laſſe? Es iſt darauf aber hier nur Folgendes zu antworten.

105Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.

Die Humanitaͤtsbildung hat in Ruͤckſicht auf Extenſion und Intenſion verſchiedne Grade. In der gewoͤhnlichen Schulbildung muß man ſich meiſtens ſchon damit begnuͤgen, den Geiſt nur einigermaßen von den Feſſeln der Animalitaͤt frei zu machen, um ihn vor dem Untergehen in der Thierheit zu bewahren. Dieſer Grad der Vernunftbildung in der groͤßern Maſſe der Einzelnen wuͤrde aber nicht hinreichen, die Vernunftbil - dung im Ganzen zu erhalten; vielmehr ſetzt die Erhal - tung von jener ſelbſt die letztere voraus. Dieſe letztere aber iſt nur moͤglich durch die Claſſe von Individuen, die, von dem Schickſal beguͤnſtiget, freier von dem Druck der thieriſchen Noth, ausgezeichnet durch Kraft und Regſamkeit des Geiſtes, berufen ſind, als Prieſter der Vernunft ihr heiliges Feuer auf Erden zu bewahren und zu erhalten. Wer dieſem heiligen Dienſte ſich weiht, uͤbernimmt die Verbindlichkeit, die Humanitaͤts - bildung bis zur moͤglichſten Vollendung in ſich zu reali - ſiren; und fuͤr ihn dauert eben deshalb auch die Periode des Erziehungsunterrichts nothwendig laͤnger, ohne daß ihm jedoch dieſe laͤngere Dauer der Erziehungsperiode Zeit zu andern heterogenen Zwecken anboͤte. Wer jenen heiligen Zweck der hoͤheren Humanitaͤtsbildung kennt, und einſieht, daß ſie nicht einer beſondern Kaſte, ſondern der ganzen Claſſe angehoͤrt, die ſich vorzugs - weiſe die gebildete nennt; wer zugleich weiß und bedenkt, wie wichtig es fuͤr die ganze Menſchheit iſt, daß jener Zweck in ſeinem weiteſten Umfang erfuͤllt werde: der muß es fuͤr ein Verbrechen gegen die Menſchheit anerkennen, die edle fuͤr dieſen Zweck be -106Dritter Abſchnitt.ſtimmte Zeit ſo gering zu achten, daß er rathen koͤnnte, ſie zum Behuf des Broderwerbes abzukuͤrzen! Was fuͤr ein Mittel bliebe uns denn noch, die Bildung der Vernunft zu erhalten, wenn wir ſie nicht mehr in dem Kreiſe der Gebildeten durch eine dem Ideale ſich moͤglichſt annaͤhernde Humanitaͤtsbildung erhalten wollten?

2.

Nicht nur, daß der Erziehungsunterricht einen eignen fuͤr ſich beſtehenden Zweck habe, ſondern auch, worinn dieſer Zweck beſtehe, iſt in dem Obigen bereits im Allgemeinen ausgeſprochen. Gleichwohl zeigen ſich in Abſicht auf naͤhere Beſtimmung des letztern Punktes neue Differenzen, die einer beſondern Eroͤrterung be - duͤrfen.

Es findet in Abſicht auf den Zweck des Er - ziehungsunterrichts ein zweifacher Hauptgegen - ſatz ſtatt; ſofern dieſer Zweck entweder bloß formell, von Bildung des Geiſtes an und fuͤr ſich ſelbſt, oder bloß materiell, von Erwerbung be - ſtimmter Kenntniſſe, verſtanden, dieſer zweifache Gegenſatz ſelbſt aber wiederum auf bloß geiſtige oder auf bloß materielle Gegenſtaͤnde, und entweder auf bloße Contemplation oder auf bloße Praxis bezogen wird. Nach dem Princip des Humaniſmus naͤmlich hat der Erziehungsunterricht erſtens bloß formelle Bildung des Geiſtes107Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.zum Zweck, und zweitens dieſe formelle Bildung des Geiſtes einerſeits auf Uebung an bloß geiſtigen Gegenſtaͤnden zu beſchraͤnken, andrerſeits auf bloß contemplative Fertigkeit zu beziehen. Nach dem Princip des Philanthropiniſmus hinge - gen hat der Erziehungsunterricht erſtens bloß mate - rielle Uebung des Geiſtes zum Zweck, und zweitens dieſe materielle Bildung des Geiſtes einerſeits auf Kenntniß bloß materieller Gegenſtaͤnde zu beſchraͤnken, andrerſeits auf bloß praktiſche Anwendbarkeit zu beziehen.

Es iſt um ſo nothwendiger, den eigentlichen Wi - derſtreit der beiden Syſteme uͤber dieſen Punkt durch eine ausfuͤhrlichere Eroͤrterung ins Licht zu ſetzen, da er in Theorie und Praxis haͤufig mißverſtanden worden und Mißgriffe veranlaßt hat, und in der That auch weder richtig verſtanden noch richtig aufgeloͤſt werden kann, wenn nicht die verwickelten Beziehungen ſcharf ins Auge gefaßt werden.

Auf den erſten Anblick ſcheint vielleicht Manchen die Vereinigung beider Extreme keiner großen Schwie - rigkeit unterworfen, indem man ja nur die entgegenge - ſetzten Forderungen verbinden, mit der formellen Bildung des Geiſtes die materielle verknuͤpfen, und beide ſowohl auf geiſtige als auf materielle Gegenſtaͤnde ausdehnen, und eben ſowohl auf con - templative als auf praktiſche Geſchicklichkeit be - ziehen duͤrfe.

108Dritter Abſchnitt.

Allein, nehmen wir die beiden Unterrichtsſyſteme in dem oben aufgeſtellten ſtrengen Gegenſatz, ſo iſt dieſer Vereinigungsvorſchlag eine wahre petitio prin - cipii; denn, nach jener ſtrengen Entgegenſetzung wird eben das von beiden gelaͤugnet, daß zum Ideale menſchlicher Bildung die vereinigte Erfuͤllung jener entgegengeſetzten Forderungen noͤthig ſey. Neh - men wir aber auch beide Syſteme hier nicht in dem ſcharfen Extrem, und ſetzen ihre Differenz fuͤr die gegenwaͤrtige Unterſuchung bloß darein: daß beide, von derſelben Vorausſetzung des Ideals menſchlicher Bildung uͤberhaupt ausgehend, nur fuͤr unmoͤg - lich erkennen, daſſelbe im Erziehungsunterricht ganz zu erfuͤllen, und deshalb nothwendig finden, die in dem Ideale vereinigten Forderungen deſſelben zu trennen, und nur Einen der beiden Haupttheile zur eigenthuͤmlichen Aufgabe des Erziehungsunterrichts zu machen; ſo verfehlt gleichwohl der obige Vereini - gungsvorſchlag den eigentlichen Streitpunkt ganz. Ge - hen die Syſteme ſchon von der Vorausſetzung aus, daß der Erziehungsunterricht, weil er nicht die beiden Hauptbedingungen des Ideals menſchlicher Bil - dung zu erfuͤllen vermoͤge, auf Eine von beiden allein beſchraͤnkt werden muͤſſe; ſo kann man verſtaͤn - digerweiſe nicht mehr den Gegenſatz dadurch aufloͤſen wollen, daß man ohne weiters vorſchlaͤgt: der Er - ziehungsunterricht ſoll beide Hauptbedin - gungen erfuͤllen. Wenn nur Eines von den beiden direct entgegengeſetzten Extremen in dem Erziehungsun - terricht ſtatt finden kann, ſo gibt es keinen andern109Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.directen Ausweg, als ſich fuͤr Eines von beiden unbe - dingt zu erklaͤren; und das einzige Princip fuͤr dieſe Entſcheidung iſt die Wichtigkeit oder Unentbehrlichkeit der einen oder der andern Beſtimmung des Erziehungs - unterrichts.

Wenn man bei dem Streit uͤber das letztere Ent - ſcheidungsprincip auch nicht auf jene entferntere Dif - ferenz der beiden Syſteme uͤber den Begriff von dem Weſen und der Beſtimmung des Menſchen zuruͤckgehen will, um von dorther die Entſcheidung uͤber die Wich - tigkeit des Geiſtigen oder Materiellen zu begruͤnden; ſo wuͤrde man doch uͤber den vorliegenden Punkt der Un - terſuchung fuͤr das Princip des Humaniſmus ein Ueber - gewicht darinn anerkennen muͤſſen, daß er denjenigen Theil der Geiſtesbildung zum Zweck des Erziehungsun - terrichts erhebt, fuͤr den außer dem Erziehungsunterricht ſo wenig geſorgt und ſo ſchwer zu ſorgen iſt.

Aber es iſt keinesweges noͤthig, ſich fuͤr eines der beiden Extreme direct zu entſcheiden; es zeigt ſich noch ein anderer Ausweg, der einer naͤheren Erwaͤgung werth iſt, waͤre es auch nur, um die Entſcheidung nicht zu uͤbereilen. In derſelben Ruͤckſicht iſt es wohl nicht uͤberfluͤſſig, die Faͤlle der Entſcheidung hier zur Ueberſicht zuſammenzuſtellen.

Angenommen, daß der Erziehungsunterricht nicht zureicht, das Ideal menſchlicher Bildung in ſeinen beiden Hauptforderungen vollſtaͤndig zu er -110Dritter Abſchnitt.fuͤllen, und man ſich begnuͤgen muͤſſe, die Aufgabe theilweiſe zu vollziehen; ſo iſt dieſe Theilung auf zweierlei Weiſe moͤglich: man kann naͤmlich entweder bloß den Einen in dem Ideal enthaltnen Haupttheil, oder von jedem der beiden Haupttheile einen Theil in den Erziehungsunterricht aufnehmen. Der erſtere dieſer beiden Faͤlle iſt weniger verwickelt, und bedarf keiner weitlaͤufigen Unterſuchung; was uͤber denſelben ſo eben kurz beruͤhrt worden iſt, mag hier hinreichen. Der andre Fall dagegen koͤmmt hier mehr in Betracht, weil er den Mittelweg enthaͤlt, den die gewoͤhnliche Praxis, die Extreme ſcheuend, ſich erwaͤhlt, und auf dem ſie, eines feſten leitenden Princips ent - behrend, ſich in unaufloͤsliche Unbeſtimmtheit verwickelt.

Will man alſo, nach der zweiten hier bezeichneten Anſicht, den Gegenſatz beider Extreme gleichwohl durch Vereinigung beider aufloͤſen, beide entgegengeſetzte Forderungen in dem Erziehungsunterricht verbinden: ſo kann dies nur dadurch geſchehen, daß man dieſe For - derungen beide nur zum Theil erfuͤllt, von bei - den nur Etwas in den Erziehungsunterricht aufnimmt.

Allein damit iſt der Streit zwiſchen beiden Extre - men nicht entſchieden, vielmehr erneuert er ſich damit unausbleiblich. Dann fragt ſich naͤmlich erſt von neuem: Wieviel von jedem Extrem ſoll in den Er - ziehungsunterricht aufgenommen werden? von beiden gleich viel? oder von dem einen mehr, von dem111Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.andern weniger? und von welchem von beiden mehr, von welchem weniger?

Freilich hat ſich die Praxis hie und da die Ent - ſcheidung uͤber dieſe Fragen leicht zu machen gewußt, indem ſie ein bischen Philanthropiniſmus ihrer alther - gebrachten humaniſtiſchen Methode anfuͤgte, oder ein bischen Humaniſmus ihrer modernen philanthropiniſchen Unterrichtsweiſe beimiſchte: von beidem nach Gutduͤnken! Manche ſind ſogar der toleranten Meinung, daß es am Ende gleichviel ſey, das eine oder das andre Prin - cip anzunehmen, wenn man ſich nur vor den aus - ſchweifenden Folgerungen in Acht nehme, deren das eine wie das andre Syſtem ſich ſchuldig mache, indem es ſeinen Satz zu weit treibe. Es ſcheint ihnen, man koͤnne ſich das Princip des Humaniſmus allen - falls gefallen laſſen, den Erziehungsunterricht auf den bloß formellen Zweck, der Bildung des Geiſtes, zu beziehen; wenn man nur die Einſeitigkeit vermeide, die bloß Folge der uͤberſpannten Grundanſicht des Hu - maniſmus (von dem Menſchen als rein geiſtigem Weſen) ſey, alle materielle Uebungsgegenſtaͤnde ganz auszuſchließen, und auf praktiſche Bildung des Geiſtes gar keine Ruͤckſicht zu nehmen: oder auch um - gekehrt, man koͤnne das Princip des Philan - thropiniſmus wohl gelten laſſen, den Erziehungs - unterricht auf den bloß materiellen Zweck, der Erlernung beſtimmter Kenntniſſe, zu beziehen; wenn man ſich nur vor der Uebertreibung huͤte, die bloß aus der einſeitigen Grundanſicht des Philanthropiniſmus (von112Dritter Abſchnitt.dem Menſchen als animalem Weſen) herruͤhre, alle Erlernung geiſtiger Gegenſtaͤnde ganz auszu - ſchließen, und auf contemplatives Wiſſen gar keine Ruͤckſicht zu nehmen.

Allein von dergleichen Reconciliatoren, denen ein Extrem ſoviel gilt als das andre, indem ſie in einer beliebigen Zuſammenmiſchung das eine durch das andere ſo lange modificiren, bis ſie beide wie identiſch ausſehen, kann hier eben ſo wenig im Ernſt die Rede ſeyn, als von jenen Praktikern, die mehr der Mode wegen, als aus innrer Ueberzeugung, hier ein wenig dem Humaniſ - mus und dort ein wenig dem Philanthropiniſmus huldigen, und bloß nach Gutduͤnken bald von dieſem bald von jenem eine beliebige Doſis gebrauchen. Die Rede kann vielmehr nur davon ſeyn, das Princip aufzuſtellen, nach welchem die vorgeſchlagne, theilweiſe vorzunehmende, Vereinigung der entgegengeſetzten For - derungen beſtimmt, und feſtgeſetzt werden ſoll, wie - viel von jedem der beiden Extreme in den Umkreis des Erziehungsunterrichts aufzunehmen ſey.

Bei dem Verſuche aber, ein ſolches Princip aufzuſtellen, zeigt ſich ſogleich, daß man auf den ent - ferntern ſtrengen Gegenſatz der beiden Unterrichtsſyſteme zuruͤckgefuͤhrt wird; denn der eigentliche Streitpunkt betrifft nicht ſowohl die Beiordnung als vielmehr die Unterordnung beider Extreme. In der Bei - ordnung beider, wenn das Materielle fuͤr eben ſo wichtig gilt als das Geiſtige, und umgekehrt das113Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.Contemplative fuͤr eben ſo wichtig als das Prak - tiſche, gaͤbe es kein anderes Princip der Vereinigung als die voͤllige Gleichheit des Quantums, daß naͤmlich der Erziehungsunterricht auf beide For - derungen gleichviel Ruͤckſicht zu nehmen habe. Allein mit dieſer Entſcheidung wird keines von beiden Syſtemen ſich befriedigen, da jedes derſelben ſeine For - derung fuͤr wichtiger haͤlt, ſonach ihr Princip ſelbſt ſchon das der Unterordnung des entgegengeſetzten Syſtems iſt, wenn ſie auch von der allerſtrengſten Forderung ihres Extrems etwas nachzulaſſen ſich ent - ſchließen koͤnnen. Der Streit iſt alſo in der That nur durch das Princip der Unterordnung zu ent - ſcheiden, und man kann nicht vermeiden, auf die Unter - ſuchung zuruͤckzugehen: welches von beiden Syſtemen das Wichtigere fordere?

Wir werden, nach der oben ſchon naͤher bezeich - neten Forderung der beiden Syſteme, die Frage auch in der Ruͤckſicht des zweifachen Gegenſatzes zweifach auffaſſen muͤſſen: a) iſt Bildung des Geiſtes an und fuͤr ſich, oder Erwerbung einer beſtimm - ten Maſſe von Kenntniſſen der wichtigere Zweck des Erziehungsunterrichts? b) iſt das Geiſtige und Contemplative oder das Materielle und Praktiſche die wichtigere Aufgabe deſſelben?

a.

Der erſtere Hauptgegenſatz ſcheint zwar fuͤrs erſte mit dem Grundprincip des Widerſtreits zwiſchen8114Dritter Abſchnitt.Humaniſmus und Philanthropiniſmus gar nichts ge - mein zu haben, und inſofern nicht hieher zu gehoͤren, fuͤrs zweite uͤberhaupt nur eine theoretiſche Spitzfindig - keit zu ſeyn, die ſich in der Praxis von ſelbſt aufhebe.

Allein, was den erſtern Punkt betrifft, ſo laͤßt ſich leicht erkennen, daß ſich die Grundtendenz des einen wie des an - dern Syſtems nur verſteckt, die dem Gegenſatz allerdings zu Grunde liegt. Streng genommen, will naͤmlich der Hu - maniſmus die formelle Geiſtesbildung in dem Er - ziehungsunterricht in der Abſicht iſoliren, um die Ab - neigung gegen alle materiellen Unterrichts - gegenſtaͤnde, die ihm eigenthuͤmlich iſt, deſto unge - ſtoͤrter befriedigen zu koͤnnen. Aus demſelben Grunde will der Philanthropiniſmus die materielle Geiſtes - bildung (die, in der Allgemeinheit dieſes Gegenſatzes genommen, nicht zu denken iſt als Erwerbung bloß materieller Kenntniſſe mit Ausſchluß aller Kenntniß geiſtiger Gegenſtaͤnde, ſondern als Erwerbung beſtimmter Kenntniſſe uͤber - haupt ſowohl von geiſtigen als von materiellen Ge - genſtaͤnden,) in dem Erziehungsunterricht iſoliren, um die Abneigung gegen alle geiſtige Erkennt - nißgegenſtaͤnde, die ihm eigenthuͤmlich iſt, um ſo ungehinderter ausuͤben zu koͤnnen. Schon inſofern ge - hoͤrt die Eroͤrterung dieſes Gegenſatzes allerdings hieher, und duͤrfte hier nicht uͤbergangen werden, wenn auch nicht andre Ruͤckſichten dieſer Unterſuchung hier eine Stelle ſicherten.

115Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.

Was aber den zweiten Punkt betrifft, ſo iſt zwar nicht zu verkennen, daß formelle und materielle Bildung des Geiſtes gar nicht von einander zu trennen ſind, indem ſie in Wechſelwirkung ſtehen und einander wechſelſeitig vorausſetzen und bedingen. Es iſt uͤberall keine Uebung des Geiſtes durch Un - terricht denkbar, die nicht ein Etwas der Er - kenntniß zum Gegenſtande habe; und umgekehrt: es iſt uͤberall kein Erwerben einer Kenntniß durch Unterricht denkbar, das nicht zugleich eine Uebung des Geiſtes bewirke. Indem alſo der Geiſt an einem beſtimmten Gegenſtand der Erkenntniß geuͤbt wird, erwirbt er ſich zugleich die Kenntniß deſſelben; und umgekehrt: indem er ſich die Kenntniß beſtimmter Ge - genſtaͤnde erwirbt, wird er an denſelben zugleich geuͤbt. Es ſcheint demnach ein wahrer Gegenſatz hierinn gar nicht ſtatt finden zu koͤnnen. Allein, obſchon Uebung des Geiſtes mit Erlernung von beſtimmten Kenntniſſen, und Erlernung von beſtimmten Kenntniſſen mit Uebung des Geiſtes nothwendig verbunden, und eine ohne be - ſtimmte Erkenntnißgegenſtaͤnde vorzunehmende Uebung des Geiſtes eben ſo undenkbar iſt, als eine ohne alle Uebung des Geiſtes zu erwerbende Erlernung beſtimmter Erkenntnißgegenſtaͤnde: ſo laͤßt ſich doch jene Entgegen - ſetzung in dem Princip des Humaniſmus und des Philanthropiniſmus damit nicht als in ſich widerſpre - chend, oder als etwas, das ſich durch die Praxis von ſelbſt hebe, abweiſen. Der wahre, die Praxis ſelbſt weſentlich veraͤndernde, Gegenſatz liegt naͤmlich nicht in der Trennung jener beiden Zwecke des Unterrichts,8*116Dritter Abſchnitt.ſondern in der Frage: welcher von beiden in dem Er - ziehungsunterricht als der primaͤre behandelt wer - den ſolle?

Nach dieſer Anſicht von dem Verhaͤltniß der beiden Unterrichtszwecke entſteht die in der That verſchiedne zweifache Beſtimmung des Erziehungsunterrichts: wird die Bildung des Geiſtes als der primaͤre Zweck angenommen, ſo ſind die Unterrichtsgegenſtaͤnde nur als Mittel zu betrachten; iſt aber die Erwerbung beſtimmter Kenntniſſe als der primaͤre Zweck anzuſehen, ſo iſt die Uebung des Geiſtes nur Mittel. Im erſtern Falle wird die Wahl der Unterrichts - gegenſtaͤnde lediglich nach der Tauglichkeit derſelben zu der beabſichtigten Geiſtesbildung beſtimmt: es wer - den aus dem ganzen Umfang der Erkenntnißgegenſtaͤnde nur diejenigen und nur ſo viele auserleſen, als den Forderungen der bezweckten Geiſtesuͤbung angemeſſen ſcheint; ohne alle Ruͤckſicht darauf, ob dieſe Erkennt - nißgegenſtaͤnde dem Lehrling auch noch ſonſt zu etwas nuͤtz, oder ob ihm nicht zu anderen Zwecken andre Erkenntnißgegenſtaͤnde noch weit noͤthiger ſeyn moͤchten. Im andern Falle hingegen muß entweder die Wahl der Unterrichtsgegenſtaͤnde auf den ganzen Umkreis der Erkenntniß ausgedehnt werden, weil Alles wiſſenswuͤrdig iſt; wie denn auch der modernſte Philanthropiniſmus in ſeiner ſyſtematiſchen Vollendung in dieſes Labyrinth gerathen iſt, aus dem er, da keine ſchuͤtzende Ariadne einen leitenden Faden reichen wollte, keine andre Rettung fand, als ſich in117Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.das Meer der geſammten Encyklopaͤdie des Wiſſens zu ſtuͤrzen; oder es muß, da doch am Ende nicht die ganze Encyklopaͤdie des Wiſſens in den Erziehungsunterricht aufgenommen werden kann, ent - weder willkuͤrlich ein Theil von Erkenntnißgegenſtaͤnden ausgehoben, oder nach einem aͤußeren Zweck ein mehr oder minder Wichtiges von Kenntniſſen ausgeſchieden werden, deſſen Erlernung als Zweck des Erziehungs - unterrichts zu fordern waͤre: welche Beſtimmung der Auswahl in neue endloſe Schwierigkeiten verwickelt.

Eine gleiche Differenz entſteht, durch den aufge - faßten Gegenſatz uͤber den Zweck des Erziehungsunter - richts, auch in Abſicht auf die Behandlung der Unterrichtsgegenſtaͤnde. Es laͤßt ſich leicht ein - ſehen, wie ganz anders der Unterricht betrieben werden muß, wenn er lediglich dazu beſtimmt wird, dem Lehr - ling eine gewiſſe Maſſe von Gegenſtaͤnden beizubringen, als wenn es darauf ankoͤmmt, den Geiſt des Lehrlings zu wecken und zu bilden.

Sucht man nun eine Entſcheidung dieſes Streites nach dem Princip der Unterordnung, ſo muß die Er - klaͤrung ohne Zweifel fuͤr das Syſtem des Humaniſmus ausfallen. Erſtens, den Geiſt zu bilden, den Menſchen zur Vernunft zu erwecken, iſt nicht nur die wichtigere, ſondern ſogar die unbedingte Aufgabe des Erziehungsunterrichts; und was der Er - zieher auch durch ſeinen Unterricht ſonſt leiſten moͤchte, ſofern er dabei verſaͤumt, den Geiſt des Lehrlings frei118Dritter Abſchnitt.zu machen und die Vernunft deſſelben zur Selbſtſtaͤn - digkeit zu entwickeln, waͤre im Vergleich mit dieſem Zwecke nicht nur werthlos, ſondern ſogar eine unverant - wortliche Verletzung der heiligen Pflicht, welche den Grund und Zweck aller menſchlichen Erziehung aus - macht. Zweitens beduͤrfte es noch irgend eines zweiten Grundes fuͤr dieſe Entſcheidung kann Nie - mand bezweifeln, daß, wenn man auch die Wichtigkeit der entgegengeſetzten Zwecke des Erziehungsunterrichts nur nach der groͤßeren Nuͤtzlichkeit und Brauchbarkeit abmeſſen wollte, gleichfalls die Anſicht des Humaniſmus den Vorzug verdiene. Ein durch Unterricht aufgeweckter und ſich ſelbſt gegebner Geiſt beherrſcht leicht und ſicher jedes Geſchaͤft und jeden Gegenſtand, und es bedarf in der That des muͤhſaͤligen Ringens mit dem rohen Stoffe nicht, um ihn der Herrſchaft unſres Geiſtes zu unterwerfen, der Geiſt kann dieſe Uebermacht in ſeiner eignen Sphaͤre ſich erringen. Eine noch ſo große Maſſe von Kenntniſſen dagegen, womit der Unterricht den Geiſt anfuͤllen mag, macht an und fuͤr ſich den Lehrling noch nicht brauchbar, vielmehr bedarf ſie ſelbſt, um nicht eine todte unbrauchbare Maſſe zu bleiben und wohl gar den Geiſt zu erdruͤcken, der Belebung und Beherrſchung des zur Selbſtſtaͤndigkeit gebildeten Gei - ſtes. Drittens iſt auch die Bildung des Geiſtes die ſicherſte und unverlierbarſte Wirkung des Erziehungs - unterrichts, waͤhrend die Summe eingeſammelter Kennt - niſſe bei Vielen in Vergeſſenheit verſchwindet, oft ohne eine Spur zuruͤckzulaſſen.

119Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.

Man darf alſo unbedenklich ausſprechen: daß Bil - dung des Geiſtes der Hauptzweck des Er - ziehungsunterrichts ſey. Dadurch aber wird nicht ausgeſchloſſen, daß zugleich auch auf Erwerbung beſtimmter Kenntniſſe Ruͤckſicht genommen werde. Ohne hier noch zu unterſuchen, welche beſtimmte Kenntniſſe der Erziehungsunterricht ſich zur Aufgabe machen koͤnne, laͤßt ſich doch im Allgemeinen die Forderung aufſtellen: daß nicht bloß auf Bildung des Geiſtes uͤber - haupt, ſondern zugleich auch auf Erwerbung beſtimmter Kenntniſſe bei dem Lehrling zu ſehen ſey; denn es wird mit Recht als ein weſentlicher Theil der allgemeinen Bildung betrachtet, daß der Menſch von dem unermeßlichen Reiche des Wiſſens - wuͤrdigen eine moͤglichſt ausgebreitete und beſtimmte Kenntniß habe.

Dieſe Forderung ſteht mit der erſtern nicht mehr im Widerſpruch; vielmehr ſind, in dieſer Unterordnung, beide vollkommen vereiniget. Erſtens kann nach der hier feſtgeſtellten Unterordnung der Hauptzweck nicht mehr dem Nebenzweck aufgeopfert, das unbedingt Wichtige nicht mehr uͤber dem minder Wichtigen verſaͤumt werden, und gleichwohl iſt neben der Forderung des unbedingt Nothwendigen, ſofern durch Fleiß, beſſere Methode und ſorgfaͤltigere Benutzung der vollkommneren Unter - richtsmittel nicht nur jener Hauptzweck erfuͤllt, ſondern auch noch zu Erweiterung des Planes Zeit gewonnen wer - den kann, dem minder Nothwendigen, bloß Nuͤtzli - chen, der Erwerbung empfehlungswuͤrdiger Kenntniſſe,120Dritter Abſchnitt.die ausgebreitetſte Beruͤckſichtigung nicht verſagt. Zwei - tens aber laͤßt ſich die Erwerbung beſtimmter Kennt - niſſe mit der Hauptaufgabe der Uebung des Geiſtes um ſo leichter vereinigen, inwiefern ſelbſt fuͤr den Zweck der geiſtigen Uebung die Erkenntnißgegenſtaͤnde ſo ge - waͤhlt werden koͤnnen, daß ſie jenem zweiten unterge - ordneten Zwecke zugleich entſprechen.

b.

Der zweite Hauptgegenſatz, der uͤber den Zweck des Erziehungsunterrichts zwiſchen dem Humaniſmus und Philanthropiniſmus ſtatt findet, und der oben in der Frage ausgedruͤckt worden: iſt das Geiſtige und Comtemplative oder das Materielle und Praktiſche die wichtigere Aufgabe des Erziehungs - unterrichts? laͤßt ſich am beſtimmteſten faſſen und zur Aufloͤſung vorbereiten, wenn man die Einwuͤrfe ſelbſt hoͤrt, welche die Syſteme ſich wechſelſeitig machen.

Wenn der Humaniſmus nicht bloß den Er - ziehungsunterricht auf formelle Bildung des Geiſtes, ſondern auch die formelle Geiſtesuͤbung auf das Gebiet des Geiſtes beſchraͤnkt, wird von dem Philanthropiniſmus mit Recht dagegen eingewendet: daß dadurch ſelbſt die formelle Bildung des Geiſtes einſeitig werde. Soll denn der Geiſt nur den Geiſt ſehen, nicht auch die Welt erkennen lernen? Kann die Bildung des Geiſtes fuͤr eine voll - ſtaͤndige gelten, die ihn nur fuͤr die geiſtige Erkenntniß ausruͤſtet, fuͤr das große Gebiet der Weltkenntniß aber121Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.ihn ganz ungeuͤbt und ungebildet laͤßt? Muß nicht, wie das Object der Erkenntniß ein zweifaches iſt, auch die Uebung des Geiſtes eine zweifache ſeyn? Der Erziehungs - unterricht muß alſo, wenn auch nur formelle Bildung des Geiſtes ſein Zweck ſeyn ſoll, ſich gleichwohl auf beide Arten der Erkenntniß ausdehnen, auch materielle Gegenſtaͤnde mit aufnehmen, und den Lehrling auch zur Weltbetrachtung anleiten: ſonſt erfuͤllt er ſeinen Zweck nur halb, und fuͤhrt offenbar zur Einſeitigkeit; wie man an den Lehrlingen des Humaniſmus auch unlaͤugbar ſieht und mit Recht tadelt.

Wenn aber auch der Humaniſmus materielle Gegenſtaͤnde des Unterrichts mit aufnimmt, und den Lehrling an Objecten der Außenwelt uͤbt, dabei aber die materiellen wie die geiſtigen Unterrichtsgegen - ſtaͤnde bloß zum Objecte der Contemplation macht, und den Lehrling nur zu contemplativer Fertig - keit uͤbt; ſo wird dagegen abermals mit Recht von dem Philanthropiniſmus eingewendet: daß dadurch, nur von einer andern Seite, ſelbſt die formelle Bil - dung des Geiſtes einſeitig werde. Iſt denn der Menſch bloß zum Beſchauen und Betrachten, und nicht vielmehr zum Thaͤtigſeyn, zum Handeln, geboren? Wie ſoll er denn handeln in der Welt, wenn er nur zum Speculiren angeleitet worden? Wollen wir lauter Stubengelehrte erziehen? Wie ſoll das praktiſche Leben zur rechten Regſamkeit und zum noͤthigen Umtrieb kom - men, wenn man ſchon die Kinder zur muͤſſigen Con - templation verbildet? Was helfen uns alle Wiſſenſchaft122Dritter Abſchnitt.und Gelehrſamkeit, wenn ſchon der Erziehungsunterricht allen praktiſchen Blick ertoͤdtet, und alles praktiſche Geſchick unmoͤglich macht? Das aber thut jene Einſei - tigkeit des Humaniſmus, die ſelbſt den Bauer und den Handwerksmann im Unterricht behandelt, als waͤren ſie zu bloßen Buchſtabengelehrten geboren, ſie nicht nur von der aͤußeren Welt ganz abzieht und ſie bloß mit Religion und dergleichen Gegenſtaͤnden des unſichtbaren Geiſterreiches beſchaͤftiget, ſondern auch ſelbſt an den Gegenſtaͤnden der Außenwelt, die ſie ihnen vielleicht noch hie und da zeigt, ſie durchaus nur zur ſpeculati - ven Contemplation hinlenkt, und jede Hinweiſung auf praktiſche Anwendung ſorgfaͤltig vermeidet. Was koͤn - nen da ſelbſt die materiellen Uebungsgegen - ſtaͤnde zu der ſo unentbehrlichen Bildung fuͤr die Praxis nuͤtzen, wenn man ſie bloß zum Gegenſtand ſcientifiſcher Betrachtung macht?

In dieſer zweifachen Beſchuldigung gegen den Humaniſmus, in welcher ſein Grundſatz uͤber den Zweck des Erziehungsunterrichts ſowohl in Ruͤckſicht der Materie als in Ruͤckſicht der Form als ein - ſeitig dargeſtellt wird, zeigt ſich die Forderung des Philanthropiniſmus faſt ſiegend, und wer den Streit - punkt nur von dieſer einen Seite faßt, der wird immer geneigt ſeyn, ſich fuͤr die Anſicht des Philanthropiniſ - mus zu erklaͤren, die an ſich bei den Meiſten die groͤßere Evidenz fuͤr ſich hat. Allein es iſt deshalb nur um ſo noͤthiger, auch die entgegengeſetzte Anſicht ſchaͤrfer ins Auge zu faſſen, um ſich zu uͤberzeugen, daß ſie,123Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.in ihrer ſtrengen Conſequenz genommen, nicht weniger einſeitig ſey.

Wenn der Philanthropiniſmus nicht bloß den Erziehungsunterricht auf materielle Bildung des Geiſtes, d. i. auf Erwerbung einer beſtimmten Maſſe von Kenntniſſen, beſchraͤnkt, ſondern auch dieſe Maſſe beſtimmter Kenntniſſe ausſchließend aus dem Gebiete der Materie im ſtrengen Sinne des Wortes, aus dem Koͤrperreiche, waͤhlt; ſo wird von dem Humaniſ - mus dagegen mit Recht eingewendet: daß dadurch ſelbſt die materielle Bildung des Geiſtes ein - ſeitig werde. Soll denn der Geiſt nur die Materie, nicht auch den Geiſt erkennen? Iſt nur die ſichtbare Welt fuͤr den Menſchen wiſſenswuͤrdig? Darf er mit der unſichtbaren Welt ganz unbekannt gelaſſen werden? Kann ſein Wiſſen fuͤr vollſtaͤndig gelten, wenn er bloß die Sachenwelt kennt, in der Ideenwelt aber fremd bleibt? Muß nicht, wie das Object der Erkenntniß ein Zweifaches iſt, auch das Wiſſen ein zweifaches ſeyn? Der Erziehungsunterricht muß alſo, wenn er ſich auch nur materielle Bildung des Geiſtes zum Zweck nimmt, ſich gleichwohl auf beide Arten von Kenntniß ausdehnen, auch geiſtige Gegenſtaͤnde mit aufnehmen, und das Wiſſen des Lehrlings auch auf das Gebiet der Ideen erweitern: ſonſt erfuͤllt er ſeinen Zweck nur halb, und fuͤhrt offenbar zur Einſeitigkeit; wie man an den Lehrlingen des Philanthropiniſmus auch unver - kennbar ſieht, und mit Recht tadelt.

124Dritter Abſchnitt.

Wenn aber auch der Philanthropiniſmus geiſtige Gegenſtaͤnde des Unterrichts mit aufnimmt, und den Lehrling mit dem Gebiete der Ideen bekannt macht, ſo iſt damit die Forderung, die an den Erziehungsun - terricht zu machen iſt, noch nicht erfuͤllt. Wenn man alles Lernen, der geiſtigen eben ſowohl als der mate - riellen Gegenſtaͤnde, lediglich nach ihrer praktiſchen Anwendbarkeit bemißt, und nur das lernen laͤßt, was fuͤr irgend einen praktiſchen Zweck nothwendig iſt: ſo wird dies von dem Humaniſmus ebenfalls mit Recht fuͤr Einſeitigkeit erklaͤrt. Iſt denn der Menſch nur des Handthierens wegen in der Welt, daß er nichts wiſſen und nichts lernen ſoll, als was er dazu braucht? Iſt es nicht des Menſchen hoͤchſter Vorzug, daß er als Intelligenz ſich frei von allem, was ihn an ſeine irdiſche Abkunft und an ſeine Ver - gaͤnglichkeit erinnert, zu reinem Anſchauen ſeiner eignen hoͤheren Natur, des Geiſterreiches und des ganzen Uni - verſums erheben kann? Wollen wir ſchon in dem Kinde dieſen hohen Vorzug ſeines Geiſtes verbilden, daß wir ſo eifrig ſind, alle ruhige Betrachtung von ihm ganz entfernt zu halten, und ſogar ſein Lernen in der Schule (die einzige Beſchaͤftigung in dem Leben der Allermei - ſten, in der ſie zu einer freien Betrachtung gelangen koͤnnen) durchgaͤngig auf irdiſchen Zweck und Gewinn zu beziehen? Iſt denn der Menſch zum Laſtthier nur geboren, daß er ſogar nichts lernen ſoll, was ihm nicht ziehen oder tragen helfe? Wie ſoll er jemals ſei - nen Geiſt zum Himmel frei erheben, wenn er ſelbſt auf Erden nichts frei und ohne Umſicht nach Gewinn125Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.betrachten ſchon in fruͤhſter Kindheit lernen ſoll? Wie will der Menſch zu reiner Betrachtung, die allein wahrhaft die Seele hebt und ſtaͤrkt, ſich je aufrichten, wenn er ſchon als Kind nichts rein betrachten darf? Was ſoll aus der Menſchheit werden, wenn wir ſelbſt durch unſern Unterricht im Kinde ſchon des Geiſtes Fluͤgel laͤhmen und zerknicken? Das aber thut jene Einſeitigkeit des Philanthropiniſmus, die ſelbſt den Gelehrten im Unterricht behandelt wiſſen will, als waͤre er beſtimmt den Pflug zu fuͤhren oder an dem Weber - ſtuhl zu ſitzen, die nicht nur den Lehrling uͤberhaupt von der inneren Welt ganz abzieht und ihn bloß mit der Natur in dem ſichtbaren Koͤrperreiche beſchaͤftiget, ſondern auch ſelbſt an den Gegenſtaͤnden der Innen - welt, die Wohlſtandes halber mit zum Unterricht noth - duͤrftig beigezogen werden muͤſſen, ihn nicht zu einer reinen ruhigen Contemplation anleitet, ihn vielmehr mit ſtaͤtem Umblicken nach Praxis und Anwendbarkeit umtreibt, und ſelbſt beim Unterricht uͤber Moral und Religion ihn alles darauf beziehen lehrt, daß er ſich des langen Lebens und Wohlergehens auf Erden be - fleißige! Was koͤnnen da ſelbſt die geiſtigen Unter - richtsgegenſtaͤnde zu der ſo unerlaßlichen Bil - dung der Humanitaͤt helfen, wenn man auch ſie als bloß zu irdiſchem Zweck und Gebrauch beſtimmt betrachten und anwenden lehrt?

Wird dieſe zweifache Anklage gegen die Einſeitig - keit des Philanthropiniſmus in Abſicht auf den Zweck des Erziehungsunterrichts einer aufmerkſameren Beach -126Dritter Abſchnitt.tung gewuͤrdiget, ſo werden doch ſelbſt die Anhaͤnger dieſes Syſtems das große Gewicht, das die Gegen - gruͤnde des Humaniſmus haben, nicht ablaͤugnen koͤn - nen, und anerkennen muͤſſen, daß auf die Forderungen des letzteren nothwendig Ruͤckſicht zu nehmen ſey.

Aber, eben indem man die Extreme verlaͤßt und eine als nothwendig anerkannte Vereinigung derſelben verſucht, erhebt ſich der Streit uͤber das Princip der Vereinigung von neuem. Wie ſoll die Vereinigung der entgegengeſetzten Forderungen in dem Erziehungs - unterricht geſchehen? Wie viel von jedem der bei - den Extreme ſoll aufgenommen werden? von beiden gleich viel? oder von welchem mehr, von welchem weniger?

Eine Aufloͤſung dieſes Problems, die in der obigen Darſtellung des Gegenſatzes angedeutet iſt, kann hier wenigſtens beruͤhrt werden. Wenn wir das Menſchen - geſchlecht nach der zweifachen Hauptverſchiedenheit der Berufsbeſtimmung auf Erden getheilt betrachten, ſo ſcheint die natuͤrlichſte Aufloͤſung des Streites, daß man dem Humaniſmus die Gelehrten, dem Philanthropiniſmus die Gewerbsleute zu - weiſe, indem jenen das geiſtige Gebiet der Innenwelt zur Contemplation, dieſen hingegen das materielle Ge - biet der Außenwelt zur Praxis ohnehin angehoͤre. Da dieſe Abtheilung durch den geſellſchaftlichen Verein der Menſchen ſelbſt nothwendig gemacht und in den buͤr - gerlichen Verhaͤltniſſen unſrer Staaten durchaus einge -127Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.fuͤhrt iſt, ſo ſcheint in der That auch ein zweifacher Zweck des Erziehungsunterrichts dadurch begruͤndet zu ſeyn, welcher nicht in jedem Individuum, ſondern nur im Ganzen der buͤrgerlichen Geſellſchaft in Erfuͤllung gehen ſoll.

Darnach haͤtte dann der Philanthropiniſmus recht, ſeinen Antheil an dem Erziehungsunterricht zuruͤckzufor - dern, der ihm bisher durch die Alleinherrſchaft des Humaniſmus entzogen war, indem der Erziehungsun - terricht fuͤr alle Lehrlinge aller Arten und Claſſen ohne Unterſchied bloß auf geiſtige Gegenſtaͤnde und contem - plative Uebung bezogen wurde; und er haͤtte nur darinn Unrecht, daß er die Forderung zum vollſtaͤndigen Ex - trem umkehrte, fuͤr alle Lehrlinge aller Arten und Claſ - ſen ohne Unterſchied den Erziehungsunterricht bloß auf materielle Gegenſtaͤnde und praktiſche Uebung zu be - ziehen.

Allein der hier vorgeſchlagne Ausweg zur Ent - ſcheidung des Streites fuͤhrt nicht auf den rechten Punkt. Auf dieſem Wege wuͤrde die Trennung, welche durch die Aufgabe des geſelligen Vereins begruͤndet und eine Unvollkommenheit iſt, die durch die Er - ziehung, ſo weit es die Beſchraͤnkungen geſtatten, auf - geloͤſt werden ſoll, vielmehr vollendet und ver - ewiget werden. Eben dann, wenn ſchon die Er - ziehung in den Individuen nicht den Menſchen, ſondern den Buͤrger beruͤckſichtigte, wuͤrde das Handwerksprincip uͤber beide Hauptclaſſen des128Dritter Abſchnitt.geſelligen Vereins ausgedehnt, und der ehrwuͤrdige Vereinigungspunkt, in welchem ſich beide als Eins und zu Einer Beſtimmung berufen, als Glieder Eines Leibes, als Werkzeuge Einer Vernunft, und als Kinder Eines Gottes erkennen lernen, unverantwortlich ver - nichtet. Nach einer ſolchen Theilung des Erziehungs - unterrichts wuͤrde auch der Gelehrte nur zum Hand - werker ſeiner Art gebildet, und es waͤre fuͤr reine Fortbildung der Vernunft nirgend eine Anſtalt vor - handen.

Nimmt man aber, dieſer Anſicht zufolge, die Menſchenbildung als Eigenthum aller Individuen, und will fuͤr keine Claſſe von Lehrlingen die Forderun - gen des einen oder des andern Syſtems allein und ausſchließend gelten laſſen; ſo waͤre noch ein anderer Ausweg der Entſcheidung durch Trennung der beiden Forderungen: wenn man naͤmlich fuͤr alle Claſſen von Lehrlingen entweder den Zweck des Humaniſmus oder den des Philanthropiniſmus zur ausſchließenden Aufgabe des Erziehungsunterrichts machte, und die entgegenge - ſetzte Forderung der ſpaͤteren Lebensveriode des Men - ſchen zuwieſe. Allein, welches von beiden Syſtemen man auch fuͤr den Erziehungsunterricht waͤhlen moͤchte: ſo bliebe doch immer fuͤrs erſte die gegruͤndete Einwen - dung, daß der fruͤhſte Unterricht am entſcheidendſten und bleibendſten wirke und ſonach durch jene Einrich - tung auf die eine oder die andre Seite ein Uebergewicht gelegt, und inſofern Einſeitigkeit begruͤndet werden wuͤrde; fuͤrs zweite bliebe doch noch immer zweifelhaft129Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.und von einem hoͤheren Princip aus zu entſcheiden, welches von beiden Syſtemen den wahren Zweck des Erziehungsunterrichts in der That am vollkommenſten erfuͤlle. Daß auf die Seite des Humaniſmus auch hier die Entſcheidung ausfallen muͤßte, laͤßt ſich zwar zum voraus erwarten. Allein, da die Gruͤnde der Entſcheidung bei der nachfolgenden Pruͤfung des Ver - einigungsvorſchlages ohnehin ausfuͤhrlicher zur Sprache kommen muͤſſen, ſo kann die Unterſuchung uͤber dieſen Punkt um ſo mehr ausgeſetzt bleiben, da auch noch andre Gruͤnde vorhanden ſind, die auf keinen Fall eine ſolche Trennung geſtatten, und dieſer Fall nur in der Abſicht hier beſonders angefuͤhrt worden iſt, um keine von den moͤglichen Hauptanſichten der Aufloͤſung des Problems ganz unberuͤhrt zu laſſen.

Es waͤre ſonach auch in Abſicht auf dieſen zweiten Hauptgegenſatz uͤber den Zweck des Erziehungsunter - richts nur noch der Ausweg uͤbrig, die entgegengeſetzten Forderungen theilweiſe zu vereinigen, die Lehrlinge theils zur Contemplation an materiellen ſowohl als an geiſtigen Unterrichtsgegenſtaͤnden anzuleiten, theils zur Praxis an geiſtigen ſowohl als mate - riellen Unterrichtsgegenſtaͤnden zu uͤben.

Allein auch hier tritt wieder derſelbe Fall ein, wie oben. Daß man nach Gutduͤnken mit der con - templativen Uebung des Schuͤlers an geiſtigen Gegen - ſtaͤnden auch ein bischen contemplative Uebung an ma - teriellen Gegenſtaͤnden, zugleich aber auch mit der con -9130Dritter Abſchnitt.templativen Uebung ein bischen praktiſche, und zwar nicht nur an geiſtigen, ſondern auch ein bischen an materiellen Gegenſtaͤnden, im Unterricht verbinde, oder auch umgekeht: entſcheidet in der Sa - che nichts, giebt fuͤr die Theorie des Erziehungsunter - richts kein Licht, fuͤr die Praxis deſſelben kein leitendes Regulativ. Mit einem Wort, es iſt auch hier keine andre Entſcheidung anwendbar als durch das Prin - cip der Unterordnung. Auf die Frage alſo - Welche von beiden Hauptruͤckſichten iſt in dem Erziehungsunterricht die wichtigere? muͤſſen wir zuruͤckkommen; die Beantwortung von die - ſer Frage aber iſt von dem Begriff des Menſchen, als dem Grundprincip, und von der unbedingten Be - ſtimmung der Erziehung (als Bildung der Ver - nunft) abzuleiten.

Als der unbedingt wichtigere Theil von dem We - ſen des Menſchen wird die Vernunft anerkannt; die Vernunft erhalten, heißt die Menſchheit erhal - ten. Die Erhaltung der Vernunft auf Erden aber iſt die unbedingte Aufgabe der Erziehung, und darauf ruht der ganze Begriff der allgemeinen Bildung, die auch aus dem Grunde mit Recht die Humanitaͤts - oder Menſchen-Bildung heißt, weil ſie als an - gebornes Recht des Menſchen anerkannt werden muß, und deshalb auch von jedem menſchlichen Individuum gefordert wird.

Darnach entſcheidet ſich die obige Frage. Erſtens, die geiſtigen Gegenſtaͤnde gehoͤren unmittelbar131Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.dem Gebiete der Vernunft an; unbekannt mit ihnen kann Keiner ſeyn, der zur Vernunft gebildet ſeyn ſoll. Die Erziehung alſo, deren ausſchließende Beſtimmung es iſt, die Individuen zur Vernunft zu bil - den, darf ſie mit jenen Gegenſtaͤnden nicht unbekannt laſſen. Dies iſt laͤngſt ſo entſchieden anerkannt, daß es ſogar als Geſetz unter uns aufgeſtellt und angenom - men iſt: die Freiſprechung der Kinder aus der Schule vorzugsweiſe nach ihren Kenntniſſen in den geiſtigen Unterrichtsgegenſtaͤnden abzumeſſen. Zweitens, die reine Contemplation iſt das wirkſamſte Erwe - ckungsmittel fuͤr den Geiſt, und ein ſo weſentliches Bildungsmittel der Vernunft, daß nur ſie den Men - ſchen eigentlich in dem Wirbel ſinnlicher Eindruͤcke und Beſtrebungen aufrecht erhaͤlt. Was vermoͤchte denn den Geiſt frei zu machen von den Gegenſtaͤnden, und ihn zu einer Herrſchaft uͤber ſie zu erheben, wenn es nicht die ruhige Betrachtung vermoͤchte? Die Er - ziehung kann alſo die Anleitung der Lehrlinge zur rei - nen Contemplation durchaus nicht entbehren, und ar - beitet entſchieden ihrer hohen Beſtimmung entgegen, wenn ſie die Betrachtung goͤttlicher und menſchlicher, irdiſcher und himmliſcher Dinge durch Beziehungen auf allerlei willkuͤrliche Zwecke ſtoͤrt und truͤbt, und durch ſtaͤtes Hinweiſen auf Erreichung ſolcher Zwecke zwar den Verſtand uͤbt, die Vernunft aber in demſel - ben Maße verwahrloſt.

So tritt die Forderung des Humaniſmus nicht nur als die wichtigere, ſondern als die in der9*132Dritter Abſchnitt.That unbedingte voran. Dieſe Forderung muß der Erziehungsunterricht vor allen andern, und zwar ſo vollſtaͤndig als moͤglich erfuͤllen.

Wollte auch der Philanthropiniſmus dawider noch einwenden: daß der Lehrling zu jenen hohen Gegen - ſtaͤnden ſo fruͤh noch gar nicht reif ſey, und daß ſonach mit einem Unterricht, fuͤr welchen dem Kinde noch die Faͤhigkeit fehle, die Zeit verſchwendet werde, die weit zweckmaͤßiger mit anderen, dem jugendlichen Geiſte angemeßneren, Gegenſtaͤnden ausgefuͤllt werden koͤnnte; ſo iſt dies nur eine von den gewagten Be - hauptungen, die zwar auf den erſten Anblick blenden, bei naͤherer Beleuchtung aber in ihrer ganzen Nich - tigkeit erkannt werden. Das Gebiet des Geiſtes und der Vernunft in ſeinen Gruͤnden zu erfaſſen, als ſcien - tifiſche Metaphyſik aus Principien es zu conſtruiren, iſt freilich keine Aufgabe fuͤr den erſt ſich entwickelnden Geiſt. Aber, ſollen wir glauben, daß es eine fuͤr einen ſolchen Geiſt angemeßnere Aufgabe ſey, das Gebiet der Materie und der Natur in ſeinen Gruͤnden zu erfaſ - ſen und als ſcientiſiſche Phyſik aus Principien es zu conſtruiren? Und doch wollt ihr die Natur zum er - ſten Gegenſtand des Unterrichts machen? Wo mag denn alſo der Unterſchied liegen? Darinn, weil die Natur ſich mit Haͤnden greifen laͤßt? Wenn ihr es freilich ſo verſteht, dann iſt gar nichts mehr dage - gen zu ſagen, als daß ihr ſehr genuͤgſam ſeyd mit dem, was ihr Vernunftbildung nennet. Aber, wenn ihr erſt einſehen werdet, es wird freilich dann133Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.ſchon viel verdorben oder verloren ſeyn! daß ein Studium der Natur, das zur Vernunftbildung dienen ſoll, ganz andre Anſichten nehmen, ganz andre Forde - rungen erfuͤllen muͤſſe: dann werdet ihr auch geneigt ſeyn, zu geſtehen, daß die Natur in der That noch weniger als die Vernunft unmittelbar ſich zum Ge - genſtand des Erziehungsunterrichts eigne, und daß zum Studium der Natur, wenn es nicht in muͤſſige Spie - lerei ausarten ſoll, ſchon ein erſtarkter Geiſt erfordert werde. Wollen wir aber von einer Betrachtungsart ſprechen, wie ſie dem jugendlichen Geiſte angemeſſen iſt, ſo iſt nicht abzuſehen, warum dem Kinde die Welt des Geiſtes, die es in ſeinem Herzen traͤgt, fremder ſeyn ſoll, als die Welt des Koͤrpers, die von außen es umgiebt. Es iſt alſo nur Uebereilung, welche eine Ue - bung des Kindes an geiſtigen Gegenſtaͤnden fuͤr zu ſchwer oder gar fuͤr unmoͤglich erklaͤrt, und uͤberdies materielle Gegenſtaͤnde des Unterrichts als Voruͤbung vorſchlaͤgt, da vielmehr die letztern ſelbſt (ſofern ſie zu einer wahren Vernunftuͤbung, nicht bloß zu einer ſinn - lichen Beſchauung, dienen ſollen) eine hoͤhere Uebung des Geiſtes ſchon vorausſetzen, und dagegen die geiſti - gen Gegenſtaͤnde eine ganz andre Voruͤbung erfordern.

Ueberdies ſprechen fuͤr die Forderung des Humaniſ - mus auch noch die zufaͤlligen Ruͤckſichten: erſtens, daß die meiſten Menſchen, wenn ſie nicht in ihrem Erzie - hungsunterricht gelernt haben, ihren Geiſt zu freier, reiner, ungetruͤbter und uneigennuͤtziger Betrachtung der Welt aufzurichten und zu dem unſichtbaren Hoͤch -134Dritter Abſchnitt.ſten zu erheben, in ihrem ſpaͤtern Lebensalter weder Neigung noch Kraft noch Zeit dazu finden, und mit - hin dieſe Grundlage und erſte Bedingung aller all - gemeinen menſchlichen Bildung fuͤr ihr ganzes Leben entbehren: zweitens, daß die groͤßte Maſſe ma - terieller Kenntniſſe ihm dieſer Mangel nicht erſetzen kann; indem, wenn er auch zu ſeinem Berufsgeſchaͤfte alle die Kennntiſſe mitbringt, die er dazu braucht, er doch gerade das nicht weiß, was er als Menſch vor allem andern wiſſen ſollte: drittens endlich, daß nicht die Uebung der contemplativen Fertigkeit an und fuͤr ſich zur Praxis verbildet, ſondern nur eine verkehr - te Behandlung der contemplativen Beſchaͤftigung zu dem praktiſchen Ungeſchick fuͤhrt, das man als den Fehler ſogenannter Buchſtaben - und Schulgelehrten ta - delt; daß vielmehr der Geiſt, der ſich durch contem - plative Uebung zum ſcharfen Auffaſſen und genauen Durchforſchen ſeines Gegenſtandes gewoͤhnt hat, durch dieſelbe Uebung auch Mittel und Zweck richtig zu faſ - ſen und zu verbinden im Stande ſeyn muß, ſonach die ſicherſte Uebung zur Praxis mitbringt, die von theoretiſchem Unterricht zu erwarten iſt.

Wird nun aber gleich auf dieſe Weiſe auch hier - inn die Forderung des Humaniſmus uͤber den Zweck des Erziehungsunterrichts obenan geſtellt; ſo wird doch dadurch die Ruͤckſicht auf die entgegengeſetzte Forderung des Philanthropiniſmus uͤber denſelben Punkt nicht ausgeſchloſſen, ſondern vielmehr ausdruͤcklich verlangt, daß auch auf dieſe ſo ſorgfaͤltig135Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.und ſo viel Bedacht genommen werde, als die hoͤhere unbedingte Forderung der allgemeinen Menſchen - bildung es geſtattet, und die durch verbeſſerte Methode und wohlberechnete Benutzung der Erziehungsjahre zu gewinnende Zeit moͤglich macht. Der Erziehungsun - terricht ſoll allerdings den Lehrling auch zur Weltbe - trachtung fuͤhren, ihn auf den Reichthum und die Wun - der der Natur aufmerkſam machen, ihn die großen Tha - ten der Menſchen und ihre merkwuͤrdigen Schickſale ken - nen lehren, und ihn uͤberhaupt mit den mannichfaltigſten materiellen Kenntniſſen ausruͤſten. Die Graͤnze aber fuͤr dieſe, unſtreitig auch lobenswuͤrdige, Erweiterung des Wiſſens und der Kenntniſſe in dem Erziehungs - unterricht bleibt jene unbedingte Forderung der Vernunftbildung. Nur ſofern die materiellen Unterrichtsgegenſtaͤnde entweder ſelbſt als Bedingung und Mittel zur Vernunftbildung mitgehoͤren, ſofern der Menſch auch in der Außenwelt die Vernunft und Gott erkennen, nicht gedankenlos wie das Thier die Erde anſtarren und den Himmel gar nicht ſehen, ſon - dern die Wunder Gottes auch in ſeiner Welt erblicken und verehren lernen ſoll, oder unbeſchadet jener hoͤ - heren Bildung des Geiſtes dem Erziehungsunterricht noch angefuͤgt werden koͤnnen: nur inſofern, und nur in dieſer Unterordnung kann es verſtattet ſeyn, ſie aufzunehmen.

Was aber die geforderte praktiſche Uebung der Lehrlinge betrifft, ſo iſt dieſe allerdings fuͤr eine ganz verfehlte Anſicht zu erklaͤren, da nicht nur die Gegen -136Dritter Abſchnitt.ſtaͤnde des Erziehungsunterrichts uͤberhaupt zu einer ſolchen Anweiſung ſich gar nicht eignen, ſondern uͤber - all ein Lehren der Praxis ohne Praxis wenig fruchten kann, und die ſpaͤter folgende Praxis die praktiſche Geſchicklichkeit noch ſtreng genug uͤbt.

II. Ueber die Mittel des Erziehungs - unterrichts.

Die Verſchiedenheit der Principien uͤber den Zweck des Erziehungsunterrichts muß von ſelbſt auch uͤber die Mittel zu Erreichung dieſes Zweckes verſchiedne Anſichten und Forderungen begruͤnden. Es zeigen ſich aber bei naͤherer Betrachtung der vorge - ſchlagnen Mittel ſelbſt noch mancherlei Verſchiedenhei - ten, die bei Vergleichung der Grundſaͤtze uͤber dieſen Punkt der entgegengeſetzten Unterrichtsſyſteme zur Spra - che zu bringen ſind, wenn der Geſichtspunkt der Be - urtheilung richtig gefaßt, und der Streit unparteiiſch entſchieden werden ſoll.

Die Eintheilung der Mittel des Erziehungsunter - richts in die zwei Hauptclaſſen, a) der Unterrichts - gegenſtaͤnde, b) der Unterrichtsmethode, kann der Anordnung dieſer Unterſuchung zur Grundla - ge dienen.

137Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
a. Von den Unterrichtsgegenſtaͤnden.
1.

Die erſte Hauptdifferenz zwiſchen Humaniſmus und Philanthropiniſmus in Abſicht auf die Gegenſtaͤnde des Unterrichts betrifft die Zahl derſelben.

Nach der althergebrachten Weiſe des Humaniſmus war der Erziehungsunterricht auf ſehr wenige Gegen - ſtaͤnde beſchraͤnkt. Nicht nur fuͤr die Volksbil - dung begnuͤgte man ſich mit Leſen, Schreiben, Rechnen und Religion, ſondern auch ſelbſt fuͤr die Gelehrtenbildung forderte man kaum etwas mehr als eine vertrautere Bekanntſchaft mit den Spra - chen und der Geſchichte Latiums und Graͤ - ciens. Dieſe Beſchraͤnkung des Umfangs der Unter - richtsgegenſtaͤnde mag wohl zum Theil von der Be - ſchraͤnktheit hergekommen ſeyn, in welcher der ganze Zuſtand des Wiſſens und der Gelehrſamkeit uͤberhaupt noch bei unſern Voraͤltern ſich befand, und von dem beſchraͤnkten Ideale, nach welchem man die Vollen - dung der Bildung in jenen fruͤheren Zeiten maß; ſo wie ſpaͤterhin die Bequemlichkeit des Schlendrians das Ihrige beigetragen haben mag, jene Beſchraͤnkung zu erhalten. Allein es iſt doch auf der anderen Seite nicht zu mißkennen, daß ſich dieſelbe Beſchraͤnkung des Umfangs der Unterrichtsgegenſtaͤnde auch als eine frei - willige, auf den ganz verſtaͤndigen Grund gebaut, denken laͤßt, der in der Maxime ausgedruͤckt iſt:138Dritter Abſchnitt. beſſer, Weniges ganz, als Vieles halb wiſſen. Auch hat die alte humaniſtiſche Unterrichts - weiſe jene Beſchraͤnkung in der That dazu benutzt, dem Wiſſen und der Bildung der Lehrlinge in der kleineren Ausbreitung mehr Tiefe, in dem engeren Kreiſe mehr Sicherheit und Vollendung zu geben, die wenigeren Unterrichtsgegenſtaͤnde zu einer deſto hoͤheren Stufe der Crkenntniß und Fertigkeit fortzufuͤhren.

Der Philanthropiniſmus hat dagegen nicht ohne Grund auf Erweiterung dieſes eng gezognen Kreiſes gedrungen. Man kann freilich dabei einen Augenblick in Verſuchung ſeyn, ihm den Vorwurf zu machen, daß er der unſtreitig richtigen Maxime: beſſer, We - niges ganz, als Vieles halb wiſſen, die un - ſtreitig falſche: ex omnibus aliquid in toto nihil vorgezogen habe. Allein die Gerechtigkeit fordert, die Gruͤnde, welche wenigſtens die verſtaͤndigeren Philan - thropen geleitet haben, in einem guͤnſtigeren Lichte zu zeigen.

Fuͤrs erſte, koͤnnen die Philanthropen ſagen, hat ſich das Gebiet des Wiſſens und der Gelehrſamkeit nach allen Seiten zu unuͤberſehbar erweitert, und es ſind eben dadurch in gleichem Maße auch die Forde - rungen geſteigert worden, die man ſowohl in Ruͤckſicht der Bildung uͤberhaupt an jeden Einzelnen zu machen berechtiget iſt, als auch an den Erziehungsunterricht ſtellen muß. Zu einer Zeit, wo der Baum der Er - kenntniß, ſchon zu einem unermeßlichen Umfang ange -139Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.wachſen, taͤglich neue Zweige treibt, ſollte der Erzie - hungsunterricht allein ſich an ein paar faſt abgeſtorb - ne Aeſte halten? Wie wollten wir bei unſern Kin - dern ſelbſt einſt, wann ſie muͤndig geworden, eine ſol - che Vernachlaͤſſigung verantworten?

Fuͤrs zweite aber iſt nicht nur uͤberhaupt jetzt mehr als ſonſt zu lernen, und deshalb auch ſchon in dem Erziehungsunterricht die Maſſe der Lehrgegenſtaͤnde zu vergroͤßern, ſondern es iſt vor allem auch nothwen - dig, den Geiſt ſchon fruͤh an eine groͤßere Ausbreitung zu gewoͤhnen, indem er bei der entgegengeſetzten Ge - woͤhnung des Humaniſmus, ſich in einige wenige Krei - ſe des Wiſſens gleichſam einzuſchließen, nicht dazu gelangen kann, die große Maſſe von Kenntniſſen zu beherrſchen, die durch unermuͤdete Forſchungen der Einſichtsvollſten ans Licht gebracht und der Menſchheit als Gemeingut gegeben ſind.

Fuͤrs dritte, was jene geruͤhmte Maxime betrifft: beſſer, Weniges ganz, als Vieles halb wiſſen; ſo muß man, bei aller Wahrheit, die ſie ent - halten mag, doch auch nicht vergeſſen: erſtens, daß ſelbſt durch das ganz Wiſſen das wenig Wiſſen nicht erſetzt wird, und bei dem vielen Wiſſenswuͤrdi - gen, deſſen Kenntniß man heut zu Tage von jedem Menſchen mehr oder weniger fordert, wenigſtens das Wenig Wiſſen in keiner Ruͤckſicht als ein Vorzug vorgeſtellt werden ſollte; zweitens, daß bei dem we - nig Wiſſen ſelbſt die Tendenz auf das ganz Wiſ -140Dritter Abſchnitt.ſen nur Pedanten macht, die, um das große Ganze des Reiches der Erkenntniß unbekuͤmmert, Maulwuͤrfen gleich nur einen Punkt ſuchen, an dem ſie ſich eingra - ben, um eine kleine Flaͤche nach allen Richtungen zu durchwuͤhlen, nie aber ſich zum Lichte durcharbeiten, ſondern vielmehr, auch darinn jenem Vorbilde gleich, von allen Seiten, wo ſie ſich zu einem lichten Punkt des Uebergangs zum Lande der wahren vollen Erkennt - niß durchgegraben, blind und ſcheu ſich in ihre ſelbſt - gegrabnen Gaͤnge zuruͤckziehen.

Fuͤrs vierte, muß man auch nicht uͤberſehen, daß mit der Erweiterung des Wiſſens uͤberhaupt auch die Unterrichtsmethode merkwuͤrdige Fortſchritte gemacht hat, durch die es moͤglich iſt, ſchon im Erziehungsun - terricht unbeſchadet der Gruͤndlichkeit der Kenntniſſe den Umfang derſelben betraͤchtlich zu erweitern. Wie vieles hat man nicht durch die Verbeſſerung der Me - thode in der kuͤrzeſten Zeit zu lehren gelernt, womit man ehedem einen großen Theil der Unterrichtszeit zu - brachte? um wie viel geht durch die geſchicktere Be - handlung jetzt das Lernen ſchneller? Iſt alſo auch jetzt mehr, als ſonſt, zu lernen, ſo iſt dafuͤr jetzt auch manches leichter zu lernen, als es ſonſt zu lernen war. Man kann alſo auch jetzt mehr lehren und mehr fordern. Und man muß ſogar den Umfang der Lehr - gegenſtaͤnde erweitern, wenn nicht der Lehrling, den ſchon vordem die Eintoͤnigkeit des Unterrichts bei ſo wenigen Gegenſtaͤnden mit Langerweile quaͤlte, jetzt bei einem durch beſſere Methode aufgeweckteren Kopfe al -141Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.le Luſt zum Lernen, und ſeine Zeit ſelbſt, verlie - ren ſoll.

So geneigt man aber auch ſeyn mag, dieſen Gruͤn - den des Philanthropiniſmus Gerechtigkeit widerfahren zu laſſen, ſo kann man doch nicht verkennen, daß ſie bei ſchaͤrferer Pruͤfung mehr glaͤnzend als wahr befun - den werden.

Fuͤrs erſte, was zunaͤchſt die geruͤhmten Fortſchrit - te in Verbeſſerung der Unterrichtsmethode betrifft, ſo kann man, bei aller Anerkennung des wirklich Guten, das die modernen Paͤdagogiker darinn geleiſtet haben, ſich doch nicht verbergen, daß die errungnen Vortheile bei weitem zu hoch angeſchlagen werden. Es iſt un - laͤugbar, daß mehrere der verſuchten Erleichterungen und Abkuͤrzungen des Unterrichts, zur Ergoͤtzlichkeit der Lehrlinge und zur Zeiterſparniß erſonnen, ſich, gleich andern Plusmachereien, als bloß ertraͤumte Vortheile bewieſen haben, und als wahre Unwege erfunden wor - den ſind, andre derſelben Art die alte Methode an we - ſentlichem Vortheil wenigſtens nicht uͤbertrafen, und uͤberhaupt wenn man recht aufrichtig ſeyn will die ganze neue Methode des Unterrichts nur durch ei - ne kuͤnſtliche Acceleration der Entwicklung der Lehrlinge den Schein erlangt, ſchneller zum Ziel zu fuͤhren; gegen welche traurige Taͤuſchung das canis festinans coecos peperit catulos! wohl zur nachdruͤcklichen Warnung aufgeſtellt werden darf.

142Dritter Abſchnitt.

Wenn man aber auch einraͤumt, daß die moderne Paͤdagogik durch weſentliche Verbeſſerungen der Me - thode moͤglich gemacht habe, den Lehrling, unbeſchadet der Gruͤndlichkeit, in kuͤrzerer Zeit weiter zu bringen, als nach der alten Methode moͤglich war: ſo muß man doch dieſe geruͤhmten Fortſchritte der Methodik mit Beſonnenheit beurtheilen, und nicht ſogleich von unge - meßnen Vortheilen traͤumen. Alles Lernen hat ſeine Schwierigkeiten, die ſich durch keine Methode ganz he - ben oder auch nur ins Unendliche vermindern laſſen, und die Entwickelung des Geiſtes iſt an Naturgeſetze gebunden, deren Graͤnze keine Kunſt der Lehrart zu uͤberſchreiten vermag. Dies muß man im Auge be - halten, um nicht mit jenen Paͤdagogikern zu waͤhnen, daß man durch jene Verbeſſerung der Methode Berge verſetzen, die Lehrlinge mit dem ganzen Umfang des Wiſſens bekannt machen, oder doch die Lehrgegenſtaͤnde des Erziehungsunterrichts nach Willkuͤr vermehren koͤnne.

Was aber den Einfall betrifft, als beduͤrfe es ei - ner Vermehrung der Unterrichtsgegenſtaͤnde, um dem Kinde die Langeweile zu vertreiben, und ihm nicht Un - luſt am Lernen durch Einfoͤrmigkeit deſſelben zu erwe - cken; ſo mag man wohl zugeben, daß die geringe Zahl von Lehrgegenſtaͤnden oͤfters dem Lehrling Langeweile verurſacht habe: aber dann war es ſicher nicht Schuld der Lehrgegenſtaͤnde, die inneren Gehalt genug haben, um die ganze Aufmerkſamkeit des Kindes zu beſchaͤf - tigen, oder ihrer geringen Zahl, die ſo viel Abwechſe -143Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.lung, als noͤthig und heilſam iſt, ſchon anbieten, ſon - dern des Lehrers, der den Lehrgegenſtaͤnden kein In - tereſſe abzugewinnen, und die Aufmerkſamkeit des Schuͤlers nicht zu erregen wußte. Bei einem ſolchen Lehrer aber wird auch die groͤßte Mannichfaltigkeit von Lehrgegenſtaͤnden die Langeweile der Schuͤler nicht ver - hindern koͤnnen. Dagegen laͤßt ſich mit mehr Grund behaupten, daß uͤbermaͤßige Anhaͤufung des Lehrſtoffes Lehrer und Schuͤler verwirren, und die letztern theils durch die Maſſe erſchrecken, theils durch die Mannich - faltigkeit zerſtreuen werde.

Fuͤrs zweite, es iſt allerdings ein glaͤnzendes Ar - gument, das man von der Erweiterung aller Wiſſen - ſchaften nimmt, um dadurch die Forderungen an den Erziehungsunterricht zu ſteigern, indem man daran er - innert, wie viel heutzutage zu lernen ſey, um mit dem taͤglichen Fortruͤcken aller Wiſſenſchaften nur einiger - maßen gleichen Schritt zu halten, und alles das zu lernen, was in unſern Tagen Keinem mehr unbekannt ſeyn duͤrfe, der auf den Namen eines Gebildeten An - ſpruch mache. Aber wir ſind dabei in einem gefaͤhrli - chen Irrthum befangen, und taͤuſchen uns ſelbſt zu unſrer eignen und unſrer Kinder Qual und Verbil - dung.

Es iſt ſchwer, hieruͤber die volle Wahrheit zu ſa - gen; denn man kann den Irrthum nicht von Grund aus heben, ohne den faulen Fleck unſrer ganzen mo - dernen Cultur empfindlich zu beruͤhren.

144Dritter Abſchnitt.

Eben darinn liegt der Hauptſitz des Verderbens unſrer ganzen Cultur uͤberhaupt, daß wir den Wahn haben herrſchend werden laſſen, die wahre Cultur beruhe ausſchließend in dem Wiſſen, und liege in der Breite des Wiſſens. Wir haben uns bere - den laſſen, die Bildung beſtehe in dem Wiſſen ſelbſt, und bilden uns ein, daß ein Menſch in dem Grade gebildeter ſeyn muͤſſe, in dem er mehr Kenntniſſe aller Art habe. Dadurch ſind wir dahin gekommen, daß unſer ganzes Beſtreben nach Bildung in die Tendenz nach Vielwiſſerei ausgeartet iſt; daß wir von jedem, der fuͤr gebildet gelten will, for - dern, daß er eine Art von lebendiger Encyklopaͤdie des Wiſſens, zum wenigſten in compendio, vorſtelle, und von allem mitzuſprechen verſtehe; daß wir als ſchimpf - lich fuͤr jeden ſogenannten Gebildeten erklaͤren, nicht von allem Beſprechbaren wenigſtens etwas zu wiſſen, und irgend einen Punkt auf dem ganzen weiten Ge - biete des Wiſſens anzuerkennen, uͤber welchen er nicht jeden ſeines Gleichen eben ſo gut belehren als etwas von ihm lernen koͤnnte. Seitdem iſt die Polyhiſtorie Ton geworden, und durch den Zwang der Mode un - umgaͤngliches Erforderniß an jeden, der auf ſogenann - ten guten Ton Anſpruch macht, ſeitdem iſt die Ta - ſchenbuchs-Weisheit, die Magazins - und Journal-Wiſ - ſenſchaft an der Tagesordnung, ſeitdem ertoͤnen von allen Seiten Vorleſungen fuͤr Frauen und Dilettanten, ſeitdem ſtudirt und lieſt alles, um ſich zu bilden, und dieſe Bildungsliebe iſt in das National-Laſter einer unerſaͤttlichen Leſegier ausgeartet, die immer nur Neues145Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.verſchlingen will und, um nur mit der Weisheit des Tages gleiche Linie zu halten, verſchlingen muß.

In dieſem Schwindel fordern wir nun freilich unvermeidlich auch ſchon im Erziehungsunterricht ei - ne Menge von Kenntniſſen. Wer Alles lernen ſoll, muß wohl unſtreitig fruͤh anfangen Viel zu ler - nen. Soll der Lehrling auch nur in den Stand kommen, nach der Schule das ſouveraͤne Bildungsmit - tel der Journal - und Zeitungen - Leſerei mit Nutzen zu gebrauchen, ſo muß er ja doch ſchon in dem Reich - thum von Ideen, die darinn vorkommen, einigerma - ßen orientirt ſeyn; und umgekehrt: der Vorrath von Kenntniſſen, die der Lehrling in der Schule einſam - melt, kann um ſo ausgebreiteter ſeyn, da das Approfondiren derſelben in der Schule nicht mehr ſo noͤthig iſt, nachdem eben durch jenes ſouveraͤne Mittel fuͤr die Fortbildung der in der Schule nur zu eroͤffnenden Kenntniſſe hinreichend geſorgt iſt.

Koͤnnten wir uns doch von dieſem Schwindel einen Augenblick erholen, um klar zu ſehen, wohin wir uns mit unſrer ganzen Cultur verirrt haben! Es iſt offenbar, daß wir den Cirkel von der Seite des Er - ziehungsunterrichts allein weder theoretiſch noch praktiſch loͤſen koͤnnen; wir muͤſſen der andern Wechſelwirkung zugleich begegnen. So lange jene Anſicht die herr - ſchende bleibt, der Wiſſerei fuͤr Cultur gilt; ſo lange muß nicht nur im Allgemeinen die Tendenz nach Wiſſerei ebenfalls herrſchend bleiben, ſondern eben10146Dritter Abſchnitt.deshalb auch im Erziehungsunterricht die Oberhand behalten. Wir muͤſſen daher auf jene Anſicht, als den tiefer liegenden Grund des Irrthums, mit unſrer Pruͤ - fung zuruͤckgehen.

Faſſen wir die herrſchende Meinung ſchaͤrfer, und fragen uns: iſt denn die Vorausſetzung wahr, daß eine ſolche Wiſſerei zur Bildung des Individuums gehoͤre? iſt es denn wahr, daß ein Menſch, um ge - bildet zu ſeyn, von Allem, was auf dem weiten Reiche des Wiſſens vorgeht, wiſſen muͤſſe? Wir wollen nicht laͤugnen, daß Wiſſen ein Mittel der Bildung ſey: aber iſt es denn das einzige Mittel der Bildung? und, iſt es auch nur ein ſicheres Mittel derſelben? Wir wollen den Irrthum, daß das Wiſſen an und fuͤr ſich, die Maſſe eingeſammelter Kenntniſſe, Bildung gebe, zunaͤchſt noch nicht einmal beruͤhren; wir wollen auch an die traurige Erfahrung nicht einmal erinnern, daß mit einer großen Maſſe von Kenntniſſen ein großer Grad von Uncultur in Ei - nem Individuum verbunden keine ganz ungewoͤhnliche Erſcheinung ſey. Wir wollen uns vorerſt nur an die Frage halten: ob die Allwiſſerei, die Ausbreitung uͤber das ganze Gebiet des Wiſſens, eine nothwendige Bedingung der Bildung ſey?

Man kann freilich fuͤrs erſte mit Grund behaupten, daß das wenig Wiſſen uns die Pedanten mache, die engherzig und einſeitig, nur einen iſolirten Punkt des Wiſſens kennend, uͤber alles andre außer ihrem147Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.Kreiſe unwiſſend, nur das fuͤr wichtig hltaen, was ſie wiſſen, und mit ihrer beſchraͤnkten handwerksmaͤßi - gen Kenntniß in jeder Geſellſchaft von gutem Ton entweder ganz ſtumm bleiben muͤſſen, oder laͤcherlich und unertraͤglich werden; und es ſcheint allerdings, daß das Uebel am gruͤndlichſten gehoben werde, wenn man eine Bekanntſchaft mit dem ganzen Umfang alles Wiſſens als allgemeine Bedingung der Bildung aufſtelle, indem der Pedantiſmus in der Wiſſen - ſchaft nicht ſowohl in der Beſchraͤnktheit auf einen iſolirten Punkt des Wiſſens, als vielmehr darinn be - ſtehe, dieſen iſolirten Punkt fuͤr das ganze allein merk - wuͤrdige Wiſſen zu halten und ſowohl das große Ganze der Erkenntniß ſelbſt als den Zuſammenhang jenes einzelnen Punktes mit demſelben zu ignoriren.

Allein zuvoͤrderſt, die den Pedantiſmus ſo veraͤchtlich hinſtellen, vergeſſen meiſtens, daß das, was ſie ſo nennen, mehr Großes in der Welt geleiſtet hat, als jenes, was ſich aufgeblaſen dem Pedantiſmus ge - genuͤber ſtellt, je leiſten wird. Der Pedantiſmus iſt freilich nur Einſeitigkeit, und inſofern in Ver - gleichung mit dem Ideal des Wiſſens, das in ſeiner Vollendung Allſeitigkeit verlangt, Unvollkommen - heit. Allein, bedenke man doch recht, was man denn fordert, wenn man von Allen Allſeitigkeit des Wiſſens fordert! Wer weiß, wie viel dazu gehoͤrt, den ganzen Kreis des Wiſſens ſein zu nennen, der wird von ſelbſt es unmoͤglich finden, die Forderung ſo allgemein zu ſtellen. Nur die wenigen Auserwaͤhlten, von der10*148Dritter Abſchnitt.Gottheit Genius Geweihten, duͤrfen ungeſtraft die Hand nach jenem Preiß ausſtrecken. Wir andern wollen, ſelbſt mit Gefahr ſo Vielen als Pedanten zu erſcheinen, uns beſcheiden, vor allem andern ganz das Wenige zu wiſſen, was wir zu treiben in der Welt von Gott be - rufen ſind, und uns nicht laſſen zu dem Frevel bereden, des Berufs vergeſſend nach jenem Alles Wiſſen auszu - ſchweifen. Die Breite des Wiſſens ſteht mit der Tiefe deſſelben fuͤr die endliche Kraft des Menſchen im um - gekehrten Verhaͤltniß, und bei den Meiſten muß es in dem Maße flacher werden, in welchem es an Umfang waͤchſt. Von Allem tief zu ſchoͤpfen, uͤberſteigt die Kraft und Zeit der Meiſten: von Allem aber nur die Oberflaͤche faſſen, macht fad und leer, und mag viel - leicht den Schein der Politur verſchaffen, wird aber laͤcherlicher Wahn, wenn ſichs als hohe Bildung bruͤſtet.

Sodann, haben wir denn mit unſerm Alleslernen den boͤſen Daͤmon des Pedantiſmus wirklich ausge - trieben, oder iſt er nicht mit mehr als ſieben andern boͤſen Geiſtern zuruͤckgekehrt? Der Maͤnner Pedantiſmus wurde ſonſt doch noch durch der Frauen unverkuͤnſteltes Gemuͤth und ihren freien Sinn gemildert: aber jetzt? Sind nicht ſie ſelbſt, die Alleswiſſerinnen, von dem allerſchlimmſten Pedantiſmus ergriffen? Koͤnnen wir denn noch die Studirſtube in ihrer Geſellſchaft ver - geſſen? Koͤnnen wir denn noch bei ihnen unſer Wiſſen gegen reines Gold natuͤrlichen Gefuͤhls und unver - ſchrobnen Urtheils austauſchen? Zahlen ſie nicht jetzt149Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.uns mit unſrem eignen Papier? So weit haben wir uns mit unſerm falſchen Ideal von Bildung, und mit unſrer Sucht des Wiſſens verirrt. Wir ſind alle, Maͤnner und Frauen, ſo gelehrt und ſo allwiſſend geworden, daß kein Austauſch von Ideen mehr zwi - ſchen uns ſtatt findet, das Keiner mehr von irgend etwas reden kann, wovon die Andern nicht wenigſtens die Miene annehmen, eben ſo viel oder noch mehr zu wiſſen. Ein ſolches Uebermaß von Pedantiſmus haben wir erzeugt, das Uebel uͤberall verbreitet, das wirk - ſamſte Gegenmittel ſelbſt zerſtoͤrt, und ſo die Krankheit faſt unheilbar gemacht.

Ueberdies iſt jener Aufwand weder erforderlich noch vermoͤgend, dem Uebel zu begegnen. Der e[i]gent - liche Pedantiſmus in dem Wiſſen, und die daraus entſpringende Einſeitigkeit der Kenntniß und der Bildung, woruͤber man mit Recht klagte, kam nicht von der Beſchraͤnkung auf wenige Gegenſtaͤnde des Wiſſens, ſondern davon her, daß man theils das Erlernen der wenigen Gegenſtaͤnde ſelbſt einſeitig betrieben, theils an den Zuſammenhang derſelben mit dem großen Ganzen der Erkenntniß gar nicht gedacht hat. Dieſer offenbare Mißbrauch durfte allerdings nicht bleiben, und es iſt ein unlaͤugbares Verdienſt der modernen Cultur, daß ſie darauf aufmerkſam gemacht und auf eine gruͤndliche Reform deſſelben gedrungen hat. Allein ſie hat ſich in dem Mittel dagegen vergriffen. Es iſt weder eine den Kraͤften des Idividuums unangemeſſene Ausdeh - nung uͤber das geſammte Gebiet des Wiſſens, noch150Dritter Abſchnitt.eine Ausbreitung auf mehrere Kreiſe deſſelben erforder - lich, um uns vor der gefuͤrchteten Einſeitigkeit zu ver - wahren: es iſt fuͤr dieſen Zweck vollkommen hinreichend, wenn nur einerſeits der kleinere Kreis von Kenntniſſen ſelbſt nicht mehr mit der kleinlichen Pedanterie unbe - deutender und unfruchtbarer Anſichten und ſchaler Be - merkungen betrachtet, mit mehr Umſicht, Geiſt und Kraft behandelt, andrerſeits aber dabei ſtaͤts das Be - wußtſeyn klar erhalten wird, daß die Kenntniſſe, die man cultivirt, nicht ein in ſich beſchloſſenes iſolirtes Ganzes ausmachen, ſondern nur integrirende Theile des großen Ganzen ſeyen.

Sollen wir denn aber kann man nun fuͤrs zweite ſagen von dem ganzen Reichthum, der ſich in allen Gebieten der Wiſſenſchaft durch die unermuͤdeten An - ſtrengungen der Forſcher taͤglich vermehrt, gar keine Notiz nehmen, gar keinen Nutzen ziehen? Ich will nicht noch einmal fragen: ob eine ſolche Aufgabe nicht unſre Kraͤfte uͤberſteige? Wir muͤßten am Ende, mit Anerkennung der Schranke unſrer Kraft, das Ideal gleichwohl anſtreben, und ſeine Forderung ſo weit als moͤglich zu erreichen ſuchen! Aber wichtiger iſt es, uns mit Beſonnenheit zu fragen: ob denn auch die For - derung ſelbſt gegruͤndet ſey und wir nicht etwa mit einem bloßen Phantom uns taͤuſchen?

Es iſt wahr, es laͤßt ſich kaum zweifeln, daß es eine Aufgabe fuͤr den menſchlichen Geiſt ſey, das ganze Gebiet der Erkenntniß zu erſchoͤpfen, und daß Alles,151Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.was das gemeinſame Beſtreben fuͤr die Erkenntniß zu Tage foͤrdert, als Gemeingut fuͤr Alle beſtimmt ſey. Allein es miſcht ſich hier ein neuer zweifacher Irrthum ein: wir nehmen als Aufgabe fuͤr jedes einzelne Indi - viduum, was die Aufgabe nur der Menſchengattung im Ganzen ſeyn kann; und wir ſuchen die Theilnahme der Individuen an dem errungenen Gemeingut der Erkenntniß nur im Wiſſen und im Unterricht, die wir vielmehr nur im Leben und in der Praxis, als Antheil an dem allgemeinen Fortſchritt der Cultur durch Wiſſen, ſuchen ſollten.

Was das Erſtere betrifft, ſo vernichten wir die wahre Aufgabe durch die falſche Anſicht, die wir davon nehmen. Gerade dadurch, daß wir die ganze Aufgabe als fuͤr jeden Einzelnen ganz gegeben betrachten und behandeln, halten wir die Erreichung derſelben unaus - bleiblich auf. Die endliche Kraft des Menſchen faßt die ganze Aufgabe nur in ihrer Vertheilung an die Individuen, und nur dadurch, daß die Einzelnen nach Gaben und nach Kraͤften ſich in das Einzelne theilen und jeder ſeinen Theil ganz zu erfuͤllen ſtrebt, koͤnnen wir im Ganzen uns dem Ideale der Bildung naͤhern, deſſen Vollendung wir fordern. Kehren wir nun dieſe wahre Anſicht um, fordern wir von jedem Einzelnen das Ganze, ſollen Alle Alles wiſſen und erlernen: ſo verzehrt ſich die endliche einzelne Kraft in fruchtloſer Anſtrengung, bleibt in wahrer individueller Bildung zuruͤck, und kann unmoͤglich die allgemeine Bildung vorwaͤrts bringen. Wird dieſe falſche Beſtrebung, wie152Dritter Abſchnitt.ſie in unſrer modernen Cultur taͤglich mehr das Ueber - gewicht gewinnt, in irgend einem Zeitalter allgemein, ſo muß damit ein allgemeines Ruͤckſchreiten der Cultur beginnen. Auf dieſem gefaͤhrlichen Punkte ſtehen wir, und es iſt die hoͤchſte Zeit, daß wir die verkehrte An - ſicht verlaſſen, und die ungereimte Forderung praktiſch aufgeben und theoretiſch vernichten. Es iſt die hoͤchſte Zeit, daß wir zu der Beſonnenheit kommen, einzu - ſehen, daß unſre Sucht nach vielem Wiſſen und unſer wechſelſeitiges Ueberbieten durch Mehr Wiſſen eine Verirrung ſey, die uns um alle wahre Bildung im Ganzen und im Einzelnen bringt, daß wohlverſtandner Eifer fuͤr Erhaltung und Erhoͤhung der Cultur nichts dringender von uns fordere, als daß wir auf den falſchen Ruhm des Alles Wiſſens Aller ganz verzichten, daß nicht jeder Einzelne das Wiſſen als ſeine Be - ſtimmung betrachte und in ſeiner weiteſten Ausdehnung ſuche, ſondern vielmehr anerkenne, daß das Wiſſen nur Weniger, das Thun aber Aller Beruf in der Welt ſey, und Alle dem Wiſſen nur ſo viel Kraft und Zeit widmen ſollen, als ſie nicht verhindert, durch Thun in ihrem Berufe das Hoͤchſte zu leiſten.

So ſollten wir alſo in der That zu der alten Beſchraͤnktheit und Duͤrftigkeit der Kenntniſſe zuruͤck - kehren? ſo ſollten wir wieder in allem unwiſſend blei - ben, was nicht das Tagwerk unſers Lebens unmittelbar beruͤhrt? ſo ſollten all die herrlichen Entdeckungen, die der lebendig aufgeregte Geiſt in allen Zweigen der Wiſ - ſenſchaft taͤglich macht, wieder in den engen Kreis der153Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.gelehrten Innung eingeſchloſſen werden, und es ſoll nichts mehr davon auf alle Einzelnen uͤbergehen? Allerdings! Es ſoll nicht nur, ſondern es wird unaus - bleiblich uͤbergehen! nur nicht unmittelbar, nicht dadurch, daß Alle es lernen, und zum Gegenſtand des Wiſſens machen, ſondern durch die Beruͤhrung in den Reſultaten und das daraus hervorgehende all - gemeine Leben des Geiſtes und der Ideen, das allein die Bildung aus Wiſſen iſt, die Allen angehoͤrt und ungelernt in Alle uͤbergeht. Das Wiſſen fuͤhrt ja nicht allein zur Bildung, und ſelbſt die Bildung, die aus Wiſſen koͤmmt, ſollen nicht Alle durch Wiſſen erlangen. Der Wege zur Bildung ſind mancherlei, und die verſchiednen Individuen ſollen die verſchiednen Wege gehen. Die berufen ſind, das Feld des Wiſſens anzubauen, und in dieſer Art von Thaͤtigkeit zu der allgemeinen Cultur mitzuwirken, moͤgen ihr Leben dem Wiſſen weihen; denn ſie erfuͤl - len ihre Beſtimmung nur durch Wiſſen. Die ihre Eigenthuͤmlichkeit zu einer andern Arbeit ruft, koͤnnen nicht ihr Leben derſelben Thaͤtigkeit des Wiſſens wid - men, in einem andern Kreiſe haben ſie zu wirken, und daß ſie dieſen ganz erfuͤllen, darinn ruht ihre eigne Bil - dung und ihr Beitrag zu der allgemeinen Bildung. Die Bildung koͤmmt ja nicht allein aus Wiſſen; ihre Quelle ſtroͤmt aus jeder individuellen Thaͤtigkeit des Geiſtes, wie verſchieden ſie auch ſey, ſobald ſie nur in ihrer ganzen Kraft ſich regt, und mit ſich ſelbſt har - moniſch ſich entwickelt: und doch wollen wir, der mannichfaltigen Gaben Gottes vergeſſend, auf die Eine154Dritter Abſchnitt.Art von Bildung uns alle eigenſinnig beſchraͤnken? Darinn eben fehlen wir mit unſerm Alles Lernen wollen: wir nehmen irrig das Product der mannich - faltigſten Geiſtesthaͤtigkeit fuͤr die Aufgabe aller indivi - duellen Thaͤtigkeit, das, was aus dem einzelnen Thun Aller hervorgeht, fuͤr das, was jeder Einzelne thun ſolle. Die Bildung koͤnnen wir dem Bluͤthenduft in einem Blumengarten vergleichen, dem erquickenden Hauche, der dem ſtillen kraͤftigen Leben der man - nichfaltigſten einzelnen Blumen entſtroͤmt, jeder einzel - nen als erhoͤhtes Labſal zuruͤckkehrt. Woher ſoll uns die Bildung kommen, wenn wir alle ein - zeln das ſtille eigenthuͤmliche Leben fliehen, das indi - viduelle Seyn und Wirken unſrer nicht wuͤrdig, und eine Vertheilung und Aufloͤſung unſrer Kraft ins unbe - ſtimmte Allgemeine fuͤr unſre wahre hoͤhere Beſtimmung halten? Aber, wollten wir auch dieſe Anſicht nicht gelten laſſen, daß die wahre allgemeine Bildung nur das Product der individuellen, des ſtillen Wir - kens und der ruhigen Entwickelung der Eigenthuͤmlich - keit der Einzelnen ſey; wollten wir auch glauben, daß ſich eine allgemeine Bildung als eine ſtehende Maſſe denken laſſe, von der ſich jeder nach Gefallen ſeinen vollen Antheil bis zur Ueberſaͤttigung ſelbſt zutheilen koͤnne; glaubten wir auch, Schmetterlingen gleich, die von einer Blume zur andern fliegend eine ganze Flora ſich zueignen, die Fruͤchte der Beſtrebungen Anderer im leichten Fluge erhaſchen zu koͤnnen: ſo iſt wohl zu bedenken, daß Bildung nicht wie Blumenſtaub ſich einathmen laͤßt, ſondern das innre Leben ſelbſt iſt,155Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.das aus den Producten eines Andern und mit denſel - ben eben ſo wenig in uns uͤberzugehen vermag, als das Leben der Pflanze in den Schmetterling. Es iſt unwiderſprechlich: ein Wiſſen, das der Neigung des Individuums zuwider aufgedrungen, mit Widerwillen und mit zerſtreuender Oberflaͤchlichkeit betrieben, kaum etwas mehr als ein leichtes Naſchen von dem Baume der Erkenntniß iſt, kann weder fuͤr die allgemeine noch fuͤr die individuelle Bildung etwas leiſten, und ſelbſt die geiſtige Beſchaͤftigung des Lernens bildet nur da - durch, daß ſie, der Eigenthuͤmlichkeit des Individuums angemeſſen, der Neigung entſprechend, mit Liebe, mit geſammeltem Gemuͤthe und mit vollem Ernſt getrieben wird; dagegen, das Gemuͤth mit erkuͤnſtelter Gewalt zum Wiſſen zwingen und zugleich auf tauſendfaͤltige Gegenſtaͤnde zerſtreuen, bildet nicht nur nicht, ſondern fuͤhrt unausbleiblich zur Verbildung.

Koͤnnen wir von jenem ungluͤckſeligen Wahn und Streben nicht zuruͤckkommen, die Bildung in der Maſſe und Mannichfaltigkeit der Kenntniſſe zu ſuchen, ſo hilft ohne Zweifel auch alles Predigen uͤber Erziehung und Unterricht nichts. Muͤſſen Alle Alles wiſſen, ſo muͤſſen auch Alle Alles lernen; und da die moderne Cultur, indem ſie durch jene ungemeßne Forderung die Kunſt um ſo vieles laͤnger gemacht hat, nicht zugleich auch das Leben laͤnger machen konnte, ſo muß in die Intenſion des Lebens gelegt werden, was in der Pro - tenſion deſſelben keinen Raum gewinnen kann, ſo muß ſchon das Kind angehalten werden, eine groͤßere Maſſe156Dritter Abſchnitt.von Kenntniſſen zu verſchlingen und ſich zugleich an Verſchlingen groͤßerer Kenntnißmaſſen zu gewoͤhnen, um durch dieſe Gewohnheit ſo viel moͤglich jener un - uͤberſehbaren Aufgabe der Cultur gewachſen zu werden. Waͤre es dagegen moͤglich, jenen Wahn im Ganzen unſrer Cultur wieder zu verdraͤngen und die richtigere Anſicht uͤber wahre Bildung geltend zu machen; ſo muͤßte dies von ſelbſt auf den Erziehungsunterricht den wohlthaͤti - gen Einfluß haben, daß wir die Zahl der Lehrgegen - ſtaͤnde nach einem andern Maßſtabe beſonnener waͤhl - ten; und wir ſollten ſchon darum uns aufs ſorgfaͤltigſte vor uͤbelberechneter Anhaͤufung des Lehrſtoffes fuͤr unſre Kinder huͤten, damit wir nicht ſelbſt ſchon durch den fruͤhen Unterricht ſie verleiten, ſich ein Ziel zu ſetzen, das die Allerwenigſten ohne Nachtheil anſtreben koͤnnen.

Iſt es aber gleich nicht moͤglich, jene Tendenz der Zeit in ihrem Laufe zu hemmen, iſt deshalb ſogar auch zu erwarten, daß ſelbſt dieſe dawider aufgeſtellte War - nung mit dazu beitragen werde, der darauf zu gruͤn - denden Forderung fuͤr den Erziehungsunterricht das Ohr zu verſchließen; ſo kann doch die Theorie ihre Pflicht nicht vergeſſen noch verlaͤugnen, den Sitz der Krankheit aufzudecken, und die vorzuſchlagenden Heil - mittel darnach zu berechnen. Fangen wir wenigſtens an, dem allgemeinen Verfall der Cultur durch beſſer uͤberlegte Bildung der kommenden Generation entge - gen zu arbeiten, hoͤren wir doch auf, nach jenem ver - ſchrobnen Ideale unſre Kinder mit verkehrtem Treiben zu verbilden, die Kraͤfte ihres kaum erwachten Geiſtes157Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.in einem Meer von Sachen zu verſchwemmen, ihren Geiſt mehr zu zerſtreuen als zu ſammeln, ihnen gleich von Jugend an die falſche Richtung auf das unbe - ſtimmte Allgemeine zu geben, anſtatt ſie zu ruhigem energiſchem individuellem Seyn und Wirken vorzu - bereiten.

Aber die Frage von der Zahl der Gegenſtaͤnde, welche der Erziehungsunterricht beduͤrfe, laͤßt ſich von jener allgemeinen Anſicht aus allein nicht entſcheiden; denn, theile man nach dem Obigen dem Erziehungs - unterricht Viel oder Wenig zu lehren zu, ſo bleibt doch immer die naͤhere Frage: Wie viel oder wie wenig? Und uͤberhaupt duͤrfen, wir nicht aus den Augen laſſen, daß wir auf die Anſichten von dem Zweck des Erziehungsunterrichts zuruͤckgehen muͤſſen, um ſowohl die Frage als die Antwort ſelbſt beſtimmt zu faſſen.

Hat der Erziehungsunterricht die Vorbereitung des Lehrlings zu ſeiner kuͤnftigen Berufsbeſtimmung zum Zweck, ſo iſt unſtreitig ſchon deshalb eine große Zahl von Lehrgegenſtaͤnden aufzunehmen, weil der kuͤnftige Beruf des Lehrlings ſo fruͤhe noch nicht ſo beſtimmt ſeyn kann, daß man darnach ſein Unterrichtsbeduͤrfniß ſo genau berechnen koͤnnte. Da man nicht wiſſen kann, zu was fuͤr einem Berufe der Lehrling in der Folge noch Anlage und Luſt zeigen werde, und da es nicht einmal recht waͤre, ſeine Lebensbeſtimmung durch den Unterricht ſelbſt gleichſam deſpotiſch feſtſetzen zu wollen,158Dritter Abſchnitt.ſo muß man ihm waͤhrend der Erziehungsperiode vie - lerlei Kenntniſſe beibringen, damit er nach der ge - meinen Redensart in alle Saͤttel gerecht ſey!

Man ſollte freilich meinen, es waͤre weit natuͤrlicher, dieſes Argument vielmehr umzukehren: da man ſo fruͤh nicht wiſſen koͤnne, zu welcher Art von Geſchaͤft ſich bei dem Lehrling Anlagen und Neigung, zum Theil durch den Unterricht ſelbſt, entwickeln werden, ſo koͤnne man den Unterricht nicht als Vorbereitung auf eine noch nicht zu beſtimmende Beſtimmung behandeln, und es ſey die natuͤrlichſte Maßregel, ſich vor Mißgriffen ſicher zu ſtellen, wenn man den ganzen Unterricht des Kindes ausſchließend auf das beziehe, was an ihm beſtimmt iſt, und worauf der Unterricht doch immer fruͤher oder ſpaͤter bezogen werden muß, auf die Menſchheit in ihm. Allein wir ſind ſo kuͤnſtlich geworden, daß uns das Natuͤrlichſte nirgend mehr ge - nuͤgen will, weil wir uns alles zutrauen. Inzwiſchen laͤßt ſich doch kaum laͤnger verbergen, daß wir uns verirrt und verrechnet haben, und was weiter oben uͤber den Zweck des Erziehungsunterrichts vorgebracht worden iſt, wird wenigſtens hinreichen, einiges Miß - trauen gegen jene moderne Beſtimmung deſſelben zu erregen, die man mit ſolcher Zuverſicht als Grundſatz ausgeſprochen und in der Praxis befolgt hat. Inſofern kann ich auch hier das Argument fuͤr die Nothwendig - keit vieler Gegenſtaͤnde des Erziehungsunterrichts wenigſtens als zweifelhaft annehmen und daneben fuͤr die entgegengeſetzte Behauptung das Recht, gehoͤrt zu werden, geltend machen.

159Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.

Hat der Erziehungsunterricht nur die Bil - dung des Lehrlings zum Menſchen zu ſeinem Zwecke, ſo iſt unſtreitig ſchon deshalb keine große Zahl von Lehrgegenſtaͤnden aufzunehmen, weil dieſe Bildung, wie oben erinnert worden iſt, uͤberhaupt im Wiſſen allein nicht beſteht, am allerwenigſten aber in der Maſſe von Kenntniſſen und in der Vielwiſſerei, welche vielmehr unausbleiblich Verbildung nach ſich zieht. Wie alle Bildung nur durch energiſchen Gebrauch der Kraͤfte erzeugt wird, dadurch daß man etwas rechtes und tuͤchtiges leiſtet, ſo kann auch die Bildung, die durch Wiſſen erworben werden ſoll, nicht durch das viel und oberflaͤchlich Wiſſen, das den Geiſt vielmehr zer - ſtreut als anſtrengt, ſondern nur durch das recht und gruͤndlich Wiſſen erlangt werden; und es ergiebt ſich daraus fuͤr die Beſtimmung der Zahl von Lehrgegen - ſtaͤnden des Erziehungsunterrichts das unverwerfliche Regulativ: nicht mehrere Gegenſtaͤnde aufzu - nehmen, als zufolge der Entwickelungsſtufe der Lehrlinge und der gegebenen Unter - richtsfriſt gruͤndlich gelernt werden koͤnnen. Da das gruͤndliche Wiſſen zwar zunaͤchſt auf Erſchoͤpfung eines Gegenſtandes und ſeiner beſtimmten Sphaͤre gerichtet ſeyn muß, jedoch auch die Ausbrei - tung auf die naͤchſtverwandten Gegegenſtaͤnde und ihre Kreiſe nicht nur nicht ausſchließt, ſondern vielmehr ſofern die Erſchoͤpfung eines Gegenſtandes dadurch be - dingt iſt ausdruͤcklich fordert: ſo werden ſelbſt die, die dem entgegengeſetzten Syſteme zugethan ſind, dieſes Regulativ nicht ganz verwerflich finden.

160Dritter Abſchnitt.

Noch ein anderer Unterſchied aber in Ruͤckſicht der[Quantitaͤt] der Unterrichtsgegenſtaͤnde koͤmmt zum Vor - ſchein, wenn man auf die zweite Differenz uͤber den Zweck des Erziehungsunterrichts ſein Augenmerk richtet; wiefern entweder bloß auf formelle oder bloß auf mate - rielle Bildung des Geiſtes geſehen wird.

Koͤmmt es auch bloß auf formelle Bildung des Geiſtes an, ſo ſcheint doch die Zahl der Unterrichtsge - genſtaͤnde, ſelbſt wenn man dabei bloß die Bildung des Menſchen als Menſchen im Auge hat, nicht ge - ring ſeyn zu koͤnnen, wenn nicht abermals der Vor - wurf ſtatt finden ſoll, daß der Erziehungsunterricht zur Einſeitigkeit fuͤhre; denn vielſeitig kann die Bil - dung an einfoͤrmigem Uebungsſtoff und einartigen Lehrgegenſtaͤnden doch nicht wohl werden. Fuͤrs erſte aber ſcheint es in der That nur ſo; denn warum ſollte nicht vielſeitige Betrachtung Eines Gegenſtandes ebenfalls zu einer vielſeitigen Bildung fuͤhren? und umgekehrt, wie ſollte die Betrachtung vieler Gegenſtaͤnde, die aus Mangel an Zeit einſeitig werden muß, eine vielſeitige Bildung begruͤnden koͤnnen? Fuͤrs zweite, wenn gleichwohl zugeſtanden werden muß, daß die Bildung des Geiſtes durch Un - terricht einen groͤßeren Umfang von Gegenſtaͤnden erfor - dere, ſo folgt daraus noch lange nicht die Nothwen - digkeit einer ungemeſſenen Vermehrung derſelben; viel - mehr kann es vollkommen hinreichend ſeyn, nur einige der verſchiedenſten Arten von Gegenſtaͤnden zu waͤhlen, um durch deren Diverſitaͤt den Geiſt in den am meiſten161Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.entgegengeſetzten Richtungen zu uͤben: welcher Verviel - faͤltigung von Uebungsgegenſtaͤnden durch das oben aufgeſtellte Regulativ eine unverletzliche Graͤnze vorge - zeichnet iſt.

Koͤmmt es aber auf materielle Bildung des Geiſtes, auf das Erlernen einer beſtimmten Maſſe von Kennt - niſſen an, welche der Erziehungsunterricht dem Lehrling beibringen ſoll; ſo kann man in Abſicht auf die Quan - titaͤt der Unterrichtsgegenſtaͤnde eine Graͤnzlinie ſchon dadurch ziehen, daß man den Zweck des Erziehungsun - terrichts auf Bildung des Menſchen als Menſchen beſchraͤnkt: wodurch die ganze Maſſe von Kenntniſſen, die fuͤr irgend einen willkuͤrlichen Zweck gefordert wer - den moͤchten, abgeſchnitten wird. Fuͤrs zweite, inwie - fern ſelbſt zur Bildung des Menſchen als Menſchen eine gewiſſe Summe beſtimmter Kenntniſſe gefordert werden will, iſt erſtens ſchon oben gezeigt, daß ſich dieſe Forderung uͤberhaupt nicht auf das ganze Ideal des Wiſſens ausdehnen laſſe, und bei Allen, deren Beruf nicht die Wiſſenſchaft ſelbſt iſt, auf einen kleinen Kreis beſchraͤnkt ſey, und darauf ſogar beſchraͤnkt wer - den muͤſſe, um nicht in die ungluͤckliche Sucht nach Wiſſerei und ſomit in wahre Verbildung auszuarten. Sodann laͤßt ſich eben dieſe Beſchraͤnkung ſowohl im Allgemeinen als fuͤr den Erziehungsunterricht noch naͤher dadurch beſtimmen, daß 1) zur Bildung des Menſchen als Menſchen keine andere beſtimmte Kenntniß unbe - dingt gefordert wird, als die der Ideen, 2) ſelbſt aus dieſem Gebiete der Erkenntniß nur die Ideen der11162Dritter Abſchnitt.Religion und Pflicht in den gewoͤhnlichen Umfang des Erziehungsunterrichts fuͤr alle die aufgenommen werden, die demſelben nicht eine laͤngere Reihe von Jahren widmen koͤnnen, 3) die Erwerbung aller an - deren materiellen Kenntniß aber theils dem ſpaͤteren praktiſchen Leben zugewieſen, theils nur als Uebungs - mittel fuͤr die Bildung des Geiſtes behandelt, theils nur als Zugabe mitgenommen wird, in der Unterord - nung unter die Erwerbung der noͤthigen Fertigkeit in jenen unbedingt nothwendigen Kenntniſſen, wenn dieſen letztern noch ein Theil der Unterrichtszeit durch Fleiß und beſſere Methode abgewonnen werden kann, endlich 4) daß man der allgemeinen Bildung, (der Bildung des Menſchen zum Menſchen,) in Abſicht auf Erwerbung beſtimmter Kenntniſſe nur bei denen eine groͤßere Ausdehnung giebt, die eine laͤngere Reihe von Jahren dem Erziehungsunterricht widmen koͤnnen. Aber auch dabei iſt noch vor einer Verirrung zu warnen. Da dieſe Letztern die Gluͤcklichen ſind, die, von dem Schickſal mit Mitteln und Kraͤften dazu beguͤnſtiget, den Beruf haben, ſelbſt einen hoͤhern Grad der allgemeinen Bildung zu erlangen, und zu Erhal - tung und Erhoͤhung der Humanitaͤtsbildung auf Erden mitzuwirken, ſo muͤſſen eben deshalb auch dieſe dem Erzieher als die Geweihten gelten, die er nicht wagen ſollte mit unheiligen Haͤnden anzutaſten, und auf den Abweg der Barbarei zu fuͤhren, daß ſie ihre der Hu - manitaͤt und Vernunft geweihte Bildungszeit durch Fach - und Handwerksſtudien vergeuden und ent - heiligen.

163Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.

So loͤſt auch dieſe Frage von der Zahl der Ge - genſtaͤnde, die der Erziehungsunterricht aufzunehmen habe, ſich zu Gunſten des Humaniſmus auf, ohne daß jedoch die Mangelhaftigkeit deſſelben uͤber dieſen Punkt, auf welche der Philanthropiniſmus aufmerkſam gemacht zu haben das Verdienſt hat, in Schutz genommen oder fortgepflanzt wuͤrde. Das Beſtreben des Philanthro - piniſmus, dem Erziehungsunterricht mehr Umfang und Ausdehnung zu geben, iſt an ſich nicht tadelhaft; aber wenn dieſe Ausdehnung erſtens uͤberhaupt nach einem uͤberſpannten Ideale gemacht wird, zweitens den wich - tigeren Gegenſtaͤnden Abbruch thut, und drittens der Gruͤndlichkeit des Lernens und der Kenntniſſe ſchadet und zur Zerſtreuung und Oberflaͤchlichkeit des Wiſſens verleitet, dann iſt es noͤthig, laut dagegen zu warnen, und zu einem uͤberlegteren Verfahren aufzufordern.

2.

Die zweite Hauptdifferenz zwiſchen Humaniſmus und Philanthropiniſmus in Abſicht auf die Gegenſtaͤnde des Erziehungsunterrichts betrifft die Art derſelben.

Hier treffen wir den Punkt, in welchem der Ge - genſatz der beiden Unterrichtsſyſteme in unſern Tagen am ſchaͤrfſten hervorgetreten iſt. Es war von Anbeginn an und iſt noch das Feldgeſchrei der Philanthro - piniſten: nicht Worte ſondern Sachen! Man wollte gefunden haben, daß der Humaniſmus Menſchen bilde, denen der Buchſtabe alles gelte, die nicht die Sachen ſondern, die Zeichen derſelben, die Worte11*164Dritter Abſchnitt.fuͤr das Wichtigſte halten, und die eben darum in den Sachen meiſt unwiſſend bleiben. Ganz ungegruͤndet war auch die Beſchuldigung nicht. Der Humaniſmus hatte in ſeiner Ausartung nicht nur den hoͤheren Un - terricht großentheils auf Philologie, und dieſe auf Wort - und Buchſtabenſtudium reducirt, ſondern auch den niederen Unterricht, außer den mechaniſchen Beſchaͤftigungen des Leſens, Schreibens und Rechnens, meiſt auf eine trockne Worterklaͤrung des Katechis - mus beſchraͤnkt, und dadurch in beiden Arten des Un - terrichts den Geiſt zur Beſchaͤftigung mit lauter leeren Formeln und Zeichen ohne alle Lebendigkeit der An - ſchauung gewoͤhnt. Daß ein ſolcher Unterricht den Geiſt in der That verbilde, und es eine Wohlthat fuͤr die Menſchheit ſey, dieſen unverantwortlichen Mißbrauch auszurotten, kann kein Unbefangner einen Augenblick laͤugnen. Allein, einestheils hat der Philanthropiniſ - mus dieſen Vorwurf offenbar uͤbertrieben, anderntheils den Humaniſmus in ſeiner richtigeren Anſicht daruͤber nicht einmal begriffen und eben deshalb eine im Gan - zen in der That irrige und ungegruͤndete Beſchuldigung vorgebracht. Ueberdies, indem er eben davon Veran - laſſung nahm, im Gegenſatz von Worten jetzt viel - mehr Sachen als Gegenſtaͤnde des Erziehungsunter - richts zu fordern, iſt damit nur ein anderer, nicht weniger nachtheiliger, Mißbrauch an die Stelle getreten, und jenem Uebel doch nicht abgeholfen.

Es muß vor allen Dingen das Mißverſtaͤndniß aufgeloͤſt werden, wodurch der Philanthropiniſmus zu165Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.jenem Irrthum verleitet worden, und welches auf der verworrenen Entgegenſetzung von Sachen und Wor - ten beruht.

Geht man auf die Eintheilung der Gegenſtaͤnde uͤberhaupt zuruͤck, ſo zeigt ſich zunaͤchſt die Unter - ſcheidung derſelben in die der Außenwelt und die der Innenwelt, die mit einer bekannten Benennung als reale und ideale einander entgegengeſetzt wer - den. Allein die Unvollſtaͤndigkeit dieſer Eintheilung und Benennung macht ſich ſchon dadurch kenntlich, daß man, den einen Theil des Gegenſatzes Sachen nennend, fuͤr den andern Theil keine andre Bezeichnung kennt, als die der Worte. Zwar giebt es eine Anſicht, von welcher aus auch ſelbſt dieſer Entgegenſetzung etwas Wahres zugeſtanden werden kann: wiefern naͤmlich die hoͤchſten idealen Gegenſtaͤnde (die Ideen) in dem Worte ihre eigenthuͤmlichſte Erſcheinungsweiſe fuͤr uns haben. Dann aber wird dem Ausdruck Wort eine Aus - dehnung der Bedeutung gegeben, die ihm in dem Sprach - gebrauche uͤberall nicht zukoͤmmt, und die eben deshalb nur Verwirrung anrichten kann. Aber der eigentliche Grund der Verwirrung, die ſich in dem paͤdagogiſchen Streite uͤber die Unterrichtsgegenſtaͤnde findet, liegt weit tiefer in dem Mangel richtiger Unterſcheidung der Gegenſtaͤnde uͤberhaupt, und in dem Ueberſprin - gen und Verwechſeln der Eintheilungsgruͤnde, das durch unbeſtimmte Benennungen der Ge - genſaͤtze veranlaßt und unterhalten wird. Da dieſe von den Meiſten vernachlaͤſſigte ſchaͤrfere Unterſcheidung in166Dritter Abſchnitt.der Paͤdagogik uͤberhaupt ſo vielfaͤltige Verwirrung zur Folge hat, und bei der gegenwaͤrtigen Frage un - erlaßlich iſt, ſo wird eine ausfuͤhrlichere Auseinander - ſetzung derſelben hier ſelbſt von denen nicht als uͤber - ſtuͤſſig erklaͤrt werden, die fuͤr ſich nichts Neues darinn finden.

Halten wir uns zunaͤchſt an die Haupteintheilung, die der Philanthropiniſmus im Auge hat, indem er den Humaniſmus des bloßen Wortkrams im Er - ziehungsunterricht beſchuldiget, und dagegen Sachen oder, wie er es auch nennt, Realien als die einzigen wahren Unterrichtsgegenſtaͤnde mit ſolchem Ungeſtuͤm fordert. Er laͤßt es keinen Augenblick zweifelhaft, was er unter dieſen ſogenannten Realien verſtehe, naͤm - lich die materiellen Gegenſtaͤnde der Außen - welt; was er alſo aus dem Erziehungsunterricht ent - weder ganz oder doch großentheils ausgeſchloſſen haben will, muͤſſen wir, den Geſetzen des Gegenſatzes zufolge, als die geiſtigen Gegenſtaͤnde der Innenwelt bezeichnen, welche wir, der Sprachanalogie gemaͤß, Idealien nennen koͤnnen. So ſchiene nicht nur an ſich in dieſer Entgegenſetzung kein ſonderlicher Mißver - ſtand ſtatt zu finden, ſondern auch die zu unterſuchende Frage, nach der einfachen Eintheilung, leicht ſo zu ſtellen: ſollen zu Gegenſtaͤnden des Erziehungsunter - richts bloß Realien oder bloß Idealien oder beides zugleich gebraucht werden?

Allein in Ruͤckſicht auf beide bezeichnete Zweige des Unterrichtsmaterials ſind bedeutende Mißverſtaͤnd -167Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.niſſe verborgen, die auf Theorie und Praxis des Un - terrichts einen nachtheiligen Einfluß haben, wenn ſie unaufgedeckt umgangen werden.

Selbſt in Abſicht auf die Realien, deren Be - ſtimmung keiner großen Vieldeutigkeit oder Unbeſtimmt - heit zu unterliegen ſcheint, wenn man ſie, im reinen Gegenſatz gegen das Geiſtige, als das Ausge - dehnte, Raͤumliche, Materielle betrachtet, findet doch eine verkehrte Anſicht und Anwendung im Unter - richt ſtatt, indem (durch den Gegenſatz) die Gegen - ſtaͤnde der materiellen Welt bloß atomiſtiſch als eine zertheilte Maſſe vorgeſtellt, und weder von dem innern Leben der einzelnen Koͤrper, von ihrem dynamiſchen Seyn, noch von ihrem vereinigten Seyn durch Wech - ſelwirkung die rechte Anſicht gefaßt, und noch viel weniger auf die hoͤhere Bedeutung der materiellen Natur Ruͤckſicht genommen wird, daß ſie als eine Erſcheinungsart der Idee betrachtet werden kann, in welcher eben ſo, wie in der geiſtigen Natur, das dieſen beiden gemeinſchaftliche Dritte Hoͤhere geoffen - bart iſt. In dieſer letztern Ruͤckſicht gefaßt und behan - delt, waͤre auch die materielle Welt ein zur Ver - nunftbildung ganz geeigneter Gegenſtand, Aber, nimmt der Philanthropiniſmus wohl dieſe Anſicht von den Realien, die er fordert? Und waͤren ſie dann fuͤr den Erziehungsunterricht zu gebrauchen?

Bei weitem groͤßer aber iſt die Unbeſtimmtheit in Abſicht auf die Idealien im Unterricht, indem ſich168Dritter Abſchnitt.unter der allgemeinen Anſicht von dem Reiche des Geiſtes leichter mehrere unaufgeloͤſte Gegenſaͤtze ver - ſtecken. Man begnuͤgt ſich meiſtens, das Gebiet der geiſtigen Gegenſtaͤnde durch den Gegenſatz bloß negativ beſtimmt zu denken, und begreift darunter in einem unbeſtimmten Gedanken alles was nicht Sache, nicht dem materiellen raͤumlichen Object ange - hoͤrig iſt. Allein die Negation an ſich giebt uͤberhaupt keine Beſtimmung, und das durch dieſe Negation abge - ſonderte geiſtige Gebiet enthaͤlt eine verwirrende Mannichfaltigkeit von Gegenſtaͤnden, die uͤberdies nichts Stehendes ſind und fuͤr die Betrachtung ſich ſchwer fixiren laſſen; es bedarf alſo hier der ſorgfaͤltigſten Unterſcheidung derſelben, um eine klare Ueberſicht zu gewinnen und feſtzuhalten.

Nehmen wir den Geiſt uͤberhaupt in ſeiner gaͤnz - lichen Abſonderung von allem Koͤrperlichen und Materiellen, ſo bleibt uns gar nichts uͤbrig, als ſein freies Thun und Denken und das Geſetz von beiden: darauf beſchraͤnkte ſich das rein geiſtige Gebiet. Aber eben dieſes rein geiſtige Gebiet iſt voͤllig inhaltleer, und wir koͤnnen dabei gar nichts Beſtimmtes und da ein unbeſtimmtes Denken kein Denken iſt uͤberall gar nichts denken. Wir muͤſſen alſo, um irgend einen ſogenannten geiſtigen Ge - genſtand denken zu koͤnnen, jene Abſonderung zum Theil wieder aufheben, und den in der Abſtraction abgeſonderten Geiſt in ſeiner Beziehung zu einem Ob - jectiven denken. Naͤhmen wir nun dieſes Objective169Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.nur als die Koͤrperwelt, und den Geiſt als Den - kendes bloß in ſeiner Beziehung zu dieſer, ſo muͤßten wir das ganze Gebiet des Geiſtes auf Begriffe und Empfindungen von der Koͤrperwelt und ſeinem Thun und Leiden in derſelben reduciren; dann waͤre die ganze geiſtige Welt nichts anderes als der Be - griff der koͤrperlichen, das durch die Abſtractions - kraft des Geiſtes zu Stande gebrachte ideale Gegen - bild der koͤrperlichen Welt. Dann gaͤbe es auch keinen andern Unterſchied zwiſchen materiellen und geiſtigen Gegenſtaͤnden, als den zwiſchen Sache und Begriff, Gegenſtand und Ab - ſtractum.

Auf dieſer unvollkommnen Unterſcheidung beruht jener Vorwurf, den der Philanthropiniſmus dem Hu - maniſmus macht, daß er gaͤnzlich verabſaͤume, die Lehrlinge mit Sachen zu beſchaͤftigen oder wie es die Peſtalozziſche Schule ausdruͤckt ſie zur An - ſchauung zu fuͤhren, durch welches Verſaͤumniß alle Lebendigkeit der Erkenntniß verloren gehe und ſich in eine bloß formelle Einſicht verwandle. Inſofern die aͤltere Paͤdagogik in der That den Fehler begangen haͤtte, im Unterricht uͤber materielle Gegenſtaͤnde anſtatt der anſchaulichen Belehrung ſich bloß abſtracter Beſchreibungen ſolcher Gegenſtaͤnde zu bedienen, waͤre jener Vorwurf nicht ungegruͤndet, und die Zu - ruͤckfuͤhrung auf Anſchauung eine weſentliche Ver - beſſerung des Unterrichts uͤber materielle Gegen - ſtaͤnde. Aber es beſteht weder der eigentliche Fehler170Dritter Abſchnitt.des Humaniſmus darinn, noch iſt der Vorſchlag des Philanthropiniſmus das rechte Mittel gegen den eigent - lichen Fehler des Humaniſmus. Nicht die bloß ab - ſtracte Behandlung materieller Gegenſtaͤnde iſt dem Unterricht des Humaniſmus vorzuwerfen, ſon - dern das Ausſchließen materieller Gegen - ſtaͤnde uͤberhaupt aus dem Unterricht, und das Be - ſchraͤnken deſſelben auf bloß geiſtige Gegen - ſtaͤnde. Um die Bedeutung dieſes Gegenſatzes voll - ſtaͤndig zu faſſen, muß man auf einen ganz andern Eintheilungsgrund zuruͤckgehen.

Die Koͤrperwelt iſt nur ein Theil des Objec - tiven, mit welchem wir den Geiſt als Denkendes in Beziehung zu denken haben: der Geiſt, als Denken - des, bezieht ſich auf das ganze Object, in welchem Geiſterwelt und Koͤrperwelt vereiniget iſt. In der erſtern Beziehung hat der Geiſt ſich ſelbſt zum Object, und eben deshalb nicht bloß Begriffe und Empfindungen von materiellen Gegenſtaͤn - den und ihrem Wirken und ihren Geſetzen, ſon - dern auch Vorſtellungen und Gefuͤhle von geiſtigen Gegenſtaͤnden, von ſeinem eignen Denken, Handeln und Leiden und den Geſetzen deſſelben. Dieſer Unterſchied zwiſchen materiellen und geiſtigen Gegenſtaͤnden iſt ein ganz andrer als der oben angedeutete, in welchem das Geiſtige bloß als das abſtrahirte Bild des Materiellen gefunden wurde. In dem hier aufgezeigten letzteren Gegenſatz iſt das Geiſtige von dem Materiellen171Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.ganz unabhaͤngig, eine von allem Koͤrperlichen, Raͤum - lichen ganz verſchiedne Art.

Aber auch ſelbſt in dieſer hoͤheren Bedeutung iſt der Gegenſatz noch nicht erſchoͤpft. Der Geiſt iſt nicht bloß der Materie, ſondern dieſe beiden zugleich ſind einem gemeinſchaftlichen Dritten Hoͤheren entge - genzuſetzen. Indem wir den Geiſt als Denkendes auch auf dieſes Hoͤhere beziehen, finden wir den hoͤchſten Kreis geiſtiger Gegenſtaͤnde. Wir koͤnnen die - ſes Hoͤchſte, von dem Geiſt und Koͤrper gemein - ſchaftlich ausgehen oder abſtammen, das Abſolute, zwar nicht unter den Begriff bringen, aber doch als Idee faſſen, und in der zweifachen Reihe ſeiner indi - viduellen ſowohl geiſtigen als koͤrperlichen Er - ſcheinungen zum Gegenſtand unſrer Betrachtung, Be - wunderung, auch wohl unſrer dynamiſchen oder atomi - ſtiſchen Erklaͤrung machen.

Dieſe Gegenſtaͤnde alle zuſammengenommen begreift man unter der Claſſe von geiſtigen Gegenſtaͤn - den, wenn man ſie den materiellen entgegenſetzt. Dieſe alſo, nicht jene Abſtractionen von koͤrperlichen Ge - genſtaͤnden und deren Einwirkungen auf den Geiſt, (ob - gleich auch dieſe Abſtractionen nur moͤglich ſind durch die Ideen, die ihnen zu Grunde liegen,) machen, im Gegenſatze von den Realien des Unterrichtsmaterials, die Idealien deſſelben aus, und ſollen hier aus - ſchließend durch die Benennung von geiſtigen Un - terrichtsgegenſtaͤnden, wie die Realien durch172Dritter Abſchnitt.die Benennung materieller Gegenſtaͤnde be - zeichnet werden.

Ein weſentliches Mißverſtaͤndniß aber in Abſicht auf die geiſtigen Gegenſtaͤnde, welches den Streit des Philanthropiniſmus gegen den Humaniſmus am meiſten verwirrt hat, ruht noch auf einer andern irri - gen Anſicht und bedarf noch einer beſondern Aufloͤſung. Die geiſtigen Gegenſtaͤnde uͤberhaupt, die hoͤch - ſten Ideen ſelbſt wie ihr leiſeſter Abdruck in Gefuͤhlen und Ahnungen des Hoͤchſten, Ewigen, welche nicht in den Raum hervortreten und dem leiblichen Auge er - ſcheinen koͤnnen, geſtalten ſich in dem Schema der Sprache, und erſcheinen, indem ſie wie ein gluͤck - lich gefundner, obſchon durch unverſtaͤndige Nachbeterei faſt widerlich gewordner Ausdruck trefflich bezeichnet ſich ausſprechen. So iſt das Wort die natuͤr - liche Erſcheinungsform der Ideen und reingeiſtigen Gegenſtaͤnde.

Aber eben daraus, daß dieſe Form der geiſtigen Gegenſtaͤnde oͤfters theils nicht tief genug erwogen, theils nicht genau genug von der Sache unterſchieden wird, entſtehen die ſonderbarſten Mißgriffe. Erſtens, indem eine Idee, ein Gefuͤhl ꝛc. in einem einzelnen Wort ausgeſprochen iſt, und folglich mit dem Wort, wenn es verſtanden werden ſoll, die Idee, das Gefuͤhl ꝛc. vollſtaͤndig verbunden werden muß, bleibt das Wort fuͤr Alle, denen die damit bezeichnete Idee ꝛc. fremd iſt, ein leerer Schall, mit welchem ſie gleichwohl173Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.irgend ein verworrnes Etwas von Gedanken vielleicht verbinden. Zweitens, indem von einem ſolchen Wort eine Erklaͤrung in Worten gegeben wird, bildet man ſich oft ein, den geiſtigen Gegenſtand durch die Erklaͤrung des Wortes erfaſſen zu koͤnnen, taͤuſcht ſich aber oft nur durch eine etymologiſche Ab - leitung, die nur zufaͤllig den rechten Sinn andeutet, haͤufig aber von demſelben abfuͤhrt; oder die zur Er - klaͤrung gebrauchten Worte werden ſelbſt nicht ver - ſtanden, weil die Ideen, die ſie enthalten, dem Ler - nenden ebenfalls fremd ſind. Drittens kann allerdings eben dieſe Art von Belehrung, durch Erklaͤrung von Worten, welche bei geiſtigen Gegenſtaͤnden angewendet wird, auch zu dem Mißbrauch verleiten, ſie auf die materiellen Gegenſtaͤnde auszudeh - nen, die ja auch an beſtimmte Worte, als ihre Zei - chen, gebunden ſind: es ſcheint naͤmlich, daß man ein Sachwort eben ſo gut als ein Ideenwort durch Erklaͤrung oder Beſchreibung deutlich machen, und ſonach die Anſchauung umgehen koͤnne. Dies Letztere nun iſt durchaus fehlerhaft, indem die Sache ganz verſchieden iſt von der Idee; dieſe, als der Vernunft eigenthuͤmlich, kann von jedem vernuͤnftigen Individuum unmittelbar conſtruirt und eben dadurch auch verſtanden werden; jene, als von dem Indivi - duum unabhaͤngig vorhanden, kann nur durch wirkliche Anſchauung verſtanden werden, und aller Aufwand von Worten, der zu Beſchreibung derſelben gemacht wird, iſt nur Verſchwendung von Zeit und Muͤhe, und in der That ein bloßer Wortkram, den man174Dritter Abſchnitt.mit Recht aus dem Unterrichte verbannt wiſſen will. Viertens, in Abſicht auf die Darſtellung der geiſtigen Gegenſtaͤnde durch Wort und Rede, iſt vorzuͤg - lich der Unterſchied wohl zu beherzigen, ob die Dar - ſtellung unmittelbar das Ausſprechen der Ideen, der Gefuͤhle ꝛc. zur Mittheilung an Andre, und inſofern gleichſam die Erſcheinung derſelben ſelbſt, oder ob ſie nur mittelbar die Beſchreibung dieſer Erſcheinung ſeyn ſolle. Die Darſtellungen der erſtern Art gehoͤren der Kunſt, die der letztern Art der Wiſſenſchaft an.

Dieſe Unterſcheidung iſt fuͤr den Erziehungsunterricht um ſo mehr von Wichtigkeit, weil die Vernachlaͤſſigung derſelben ohne Zweifel Schuld iſt, daß man das eigentliche Object des Unterrichts in geiſtigen Gegenſtaͤnden ſo haͤufig verkannt hat, naͤmlich die Darſtellungen derſel - ben in der Kunſt der Rede, in denen ſie nicht nur die Seele durch Aufregung der innerſten Tiefen des Geiſtes ergreifen, ſondern ſich auch in einer feſten Ge - ſtaltung gleichſam fuͤr die Betrachtung fixiren. Die hoͤchſten Ideen, die zwar in allen vernuͤnftigen Indivi - duen liegen, aber nicht in allen zu beſtimmten Gedan - ken hervortreten, laſſen ſich in ſolchen Darſtellungen begeiſterter Maͤnner zum Eigenthum Aller erheben, und insbeſondre auch zum allgemeinen Object des Unterrichts machen.

Man ſieht deutlich, daß die Paͤdagogen eben da - durch, weil ſie dieſen letzteren Unterſchied nicht ſcharf genug gefaßt hatten, mit dem Erziehungsunterricht175Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.uͤber die geiſtigen Gegenſtaͤnde in Verlegenheit kamen. Die Schwierigkeit, dieſe Gegenſtaͤnde fuͤr die Betrachtung des Lehrlings zu fixiren, ſchien ihnen faſt unuͤberwindlich, und da ſie eigentlich keine andre Dar - ſtellung von geiſtigen Gegenſtaͤnden kannten, als die Beſchreibung derſelben in ſchulgerechten Definitio - nen, ſo waren ſie nicht ohne Grund beſorgt, daß dieſe den Horizont der Kinder uͤberſteigen, und die beſchrie - benen Gegenſtaͤnde ſelbſt ihrer Einſicht verſchloſſen blei - ben moͤchten: wodurch abermals eine wahre Seite des Vorwurfs gegen den Humaniſmus der aͤlteren Paͤda - gogik hervorgeht: daß er nicht Sachen ſondern nur Worte gelehrt habe; denn zu bloßen Worten der leeren Form der geiſtigen Gegenſtaͤnde arten alle Darſtellungen von Ideen in der Rede allerdings aus, ſobald die Ideen ſelbſt, die hier die Sachen ſind, nicht verſtanden werden.

Eben damit aber hebt ſich auch die geringſchaͤtzige Meinung von ſelbſt auf, die der Philanthropiniſmus uͤber Wort und Sprache, als Gegenſtaͤnde des Erziehungsunterrichts, laut gemacht und verbreitet hat, und es zeigt ſich vielmehr, welche hohe noch immer nicht genug beachtete Bedeutung Wort und Spra - che nicht nur an und fuͤr ſich ſondern auch als Unter - richtsgegenſtand haben. Die Sprache iſt die Er - ſcheinungsform des Geiſtes, ſein unmittelbarer Leib; in ihr ſpricht er aus und ſtellt dar fuͤr ſich ſelbſt und An - dere ſeines gleichen nicht nur ſich ſelbſt und ſein eignes innerſtes Weſen, ſondern auch was hoͤher und was176Dritter Abſchnitt.niedriger iſt, als er. Durch das Wort wird die koͤrperloſe Idee verkoͤrpert und fuͤr die Betrachtung fixirt, die geiſtloſe Sache vergeiſtiget und fuͤr die Be - obachtung beweglich gemacht. Der Unterricht knuͤpft ſich deshalb nicht nur nothwendig an das Wort an, ſelbſt da wo die Sache vorgezeigt werden kann, ſon - dern es iſt auch, wenn man das Wort ſelbſt und ſeine Form zum Gegenſtand des Unterrichts erhebt, ſo wenig ein leerer Wortkram zu fuͤrchten, daß man vielmehr umgekehrt behaupten darf: der ſchlechteſte Wortunterricht (da vom Worte einerſeits die Idee, das Gefuͤhl ꝛc. andrerſeits die Sache nie ſo getrennt ſeyn kann, daß der Geiſt nicht wenigſtens be - ſtrebt waͤre, dem Schalle ein geiſtiges Bild oder Schema unterzulegen,) rege noch immer mehr Geiſt auf, als ein nicht ganz guter Sachunterricht. In der That vertheidigen die den Humaniſmus uͤber ſeine Liebe zum Wort und Wortſtudium gar ungeſchickt, die zu verſtehen geben, daß ja das Wortſtudium ein nothwendiges Uebel ſey, wenn man der Sachen und Genuͤſſe, die das Alterthum anbiete, theilhaftig werden wolle!

Mit dieſer, freilich nur unvollkommnen, Unterſchei - dung der verwickelten Gegenſaͤtze, (die nur in der hoͤch - ſten Wiſſenſchaft mit vollſtaͤndiger Beſtimmtheit aus - einander geſetzt werden koͤnnen,) iſt gleichwohl die Ver - wechſelung und verworrne Anſicht von Begriff und Gegenſtand, geiſtigen und materiellen Ge - genſtaͤnden, Wort und Sache, Idealem und177Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.Realem, wenigſtens ſo weit aufgeloͤſt, daß wir theils die mißverſtandne Anklage des Philanthropiniſmus ge - gen den Humaniſmus uͤber dieſen Gegenſtand zur Ent - ſcheidung bringen, theils die Frage ſelbſt, auf die es hier vornehmlich ankoͤmmt: ob materielle oder geiſtige Gegenſtaͤnde den Hauptinnhalt des Erziehungsunterrichts ausmachen ſollen? mit der erforderlichen Beſtimmtheit beant - worten koͤnnen.

Wenn der Philanthropiniſmus dem aͤlteren Unter - richtsſyſteme Mangel an Ruͤckſicht auf Sachkennt - niß vorwirft, ſo gewinnt dieſe Beſchuldigung dadurch vorzuͤglich den Schein von großer Wichtigkeit, weil man Begriff und Sache mit Abſtraction und Anſchauung verwechſelt und deshalb als ausgemacht annimmt, daß der Humaniſmus, der die Sachen vom Erziehungsunterricht ausſchließe, eine Beſchaͤfti - gung mit bloßen Abſtractionen ſey, und dem Lehrling anſtatt des lebendigen Baumes der Erkenntniß ein ausgedoͤrrtes Gerippe logiſcher Abſtractionen, Defi - nitionen und Deſcriptionen gebe.

Aber, man vergeſſe nur ja nicht, daß erſtens dem Begriffe nicht bloß Sachen ſondern auch Ideen gegenuͤberſtehen und ſowohl Sachen als Ideen durch die Anſchauung mit dem Begriffe vermittelt ſeyn muͤſſen, wenn dieſer nicht eine bloße hohle Form ſeyn ſoll; daß zweitens der Begriff eben ſo wie er bei materiellen Gegenſtaͤnden durch die aͤußere An -12178Dritter Abſchnitt.ſchauung auf die Sache bezogen werden muͤſſe, um zu einer wahren lebendigen Erkenntniß erhoben zu werden, bei geiſtigen Gegenſtaͤnden durch die innere Anſchauung auf die Idee und ihre Conſtruction im Gedanken oder ihre Erſcheinung im Gefuͤhl bezogen werden muͤſſe, um eine wahre Erkenntniß zu ſeyn. Wo dieſe Belebung des Begriffes durch Anſchauung und Beziehung auf ſeinen Gegenſtand, dieſer ſey nun Sache oder Idee, unterlaſſen wird, da iſt er ſelbſt nichts anderes als ein bloßes Abſtractum, und die Beſchaͤftigung mit ſolchen Abſtracten fuͤhrt allerdings zu dem Fehler den man dem Humaniſmus vorge - worfen hat einer todten Erkenntniß bloßer Formeln, die in der That nichts weiter ſind als ein ſeelenloſer Wortkram.

Allein, derſelbe Fehler, der allerdings ein großer Fehler iſt, kann bei beiden Arten von Gegenſtaͤnden, bei den materiellen wie bei den geiſtigen, bei den Sachen wie bei den Ideen, ſtatt finden, und wird dadurch nicht verbeſſert, daß man die Gegen - ſtaͤnde wechſelt. In dem Gebiete der Sachen, wie in dem Gebiete der Ideen, kann derſelbe geiſtloſe Mechaniſmus einreißen, daß man ſich und An - dere gewoͤhnt, Begriffe in ihrer gaͤnzlichen Abſtraction von der Sache zu denken, das Zeichen anſtatt des Bezeichneten feſtzuhalten, die lebendige Anſchauung uͤber der todten Formel ganz zu vergeſſen. Aber dieſen Feh - ler dadurch verbeſſern wollen, daß man, anſtatt in beiden Arten von Gegenſtaͤnden die Anſchauung179Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.ſelbſt mit dem Begriffe zu verbinden, neben todte Formeln und Zeichen von Gegenſtaͤnden der in - nern Anſchauung todte Beſchauung von Gegen - ſtaͤnden der aͤußeren Anſchauung ſtellt, heißt aus uͤbel nur aͤrger machen. Wird denn z. B. der, den wir mit einer geiſtloſen Buchſtabengelehrſamkeit und trocknen grammatiſchen Wortkraͤmerei zu einer lateiniſchen oder griechiſchen Sprachmaſchine gebildet haben, dadurch Geiſt und Leben bekommen, daß wir ihn mit allen Steinen, Pflanzen und Thieren der Erde bekannt machen laſſen? Es bleibt ewig wahr: was vom Fleiſche geboren iſt, das iſt Fleiſch, und was vom Geiſte geboren wird, das iſt Geiſt. Dem Geiſte wird auch die Materie Geiſt, waͤhrend dem Mechaniſ - mus auch ſogar der Geiſt verknoͤchert; und ſo kann eure mechaniſche Sachkenntniß das Gebrechen der leeren Wortkenntniß nicht heilen, ſondern wird vielmehr die Zahl der Gebrechen nur vermehren, und beide ſind in gleicher Verdammniß. Die wahre Loͤſung des Raͤthſels iſt, daß man im Gebiete der aͤußeren, wie in dem der inneren Anſchauung weder den Ge - genſtand allein noch deſſen Begriff allein in ſeiner Abſtraction auffaſſe und verfolge, ſondern in beiden Gebieten Gegenſtand und Begriff in ihrer Vereinigung behandle, beide zwar unter - ſcheide, aber auch beide wieder verbinde. Aber im Ge - biete der innern Anſchauung nur mit Ab - ſtractionen, im Gebiete der aͤußeren An - ſchauung nur mit Sachen ſich beſchaͤftigen, bringt ſo wenig die intendirte Vereinigung hervor, daß es12*180Dritter Abſchnitt.vielmehr die Trennung nur vermehrt. Wo aber die Beſchaͤftigung mit geiſtigen Gegenſtaͤnden jene Forderung ſchon erfuͤllt, das Innere des Geiſtes mit lebendiger Anſchauung auffaßt und dadurch die Beziehung ſowohl als die Erklaͤrung der Gefuͤhle, Ideen ꝛc. ſelbſt belebt: da findet erſtens der Vorwurf nicht ſtatt, daß es den Begriffen an Sachen fehle; denn hier ſind die Ideen und Gefuͤhle ſelbſt die Sachen d. h. der Innhalt der Begriffe; und zwei - tens bedarf es keines Ueberſprungs in das Gebiet der materiellen Gegenſtaͤnde, um zu jenen (entwe - der wirklich oder nur vermeintlich) leeren Begrif - fen Sachen zu finden, die auf dieſem Gebiete gar nicht zu ſuchen ſind.

Ob aber, wenn auch jener richtig bemerkte Fehler in der Behandlung der geiſtigen Unterrichtsge - genſtaͤnde auf die bezeichnete Weiſe vermieden oder verbeſſert wird, es nicht gleichwohl nothwendig bleibe, auch materielle Gegenſtaͤnde in den Erziehungs - unterricht aufzunehmen? iſt eine andere Frage, die, nach der obigen Berichtigung beſtimmter geſtellt, aller - dings naͤher erwogen werden muß. Beduͤrfen wir auch nicht der Beſchaͤftigung des Lehrlings mit materiellen Gegenſtaͤnden als eines Correctivs gegen die fehlerhafte Beſchaͤftigung deſſelben mit geiſtigen Gegenſtaͤnden, ſo kann ſie doch in andern Ruͤckſichten noͤthig, und viel - leicht ſogar noͤthiger, als die Beſchaͤftigung mit geiſti - gen Gegenſtaͤnden ſeyn. Dies fuͤhrt uns denn auf unſre Hauptfrage zuruͤck, mit deren Entſcheidung auch dieſer Zweifel ſich von ſelbſt loͤſt.

181Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.

Faßt man die Frage: ob der Erziehungsun - terricht ſich mit geiſtigen oder mit mate - riellen Gegenſtaͤnden beſchaͤftigen ſolle? in Beziehung auf den Zweck deſſelben im Allgemeinen, ſo theilt ſich abermals die Antwort nach der Differenz der beiden entgegengeſetzten Unterrichtsſyſteme uͤber den Zweck des Erziehungsunterrichts. Wird, nach der An - ſicht des Philanthropiniſmus, die Vorbereitung auf die ſpaͤtere Berufs - und Lebens-Thaͤtigkeit des Lehrlings zum Hauptzweck des fruͤheren Unterrichts erhoben, ſo iſt es allerdings nicht conſequent, allgemein fuͤr alle Lehr - linge das Hauptgewicht auf die materiellen Unter - richtsgegenſtaͤnde zu legen. Da die Berufs - und Lebens-Beſchaͤftigung ſelbſt ſich nach den Objecten in zwei Hauptarten abtheilt, deren eine die materiel - len, die andre die geiſtigen Gegenſtaͤnde zum unmittelbaren Objecte hat, ſo muͤßte auch der Er - ziehungsunterricht den einen Theil der Lehrlinge fuͤr materielle, den andern fuͤr geiſtige Berufsbe - ſtimmung vorbereiten, ſonach auch den einen mit materiellen, den andern aber mit geiſtigen Un - terrichtsgegenſtaͤnden vorzugsweiſe beſchaͤftigen. Demnach haͤtte auch hierinn der Humaniſmus, der den Erziehungsunterricht auf geiſtige Gegenſtaͤnde beſchraͤnkt, wenigſtens eben ſo viel und inwiefern die geiſtige Berufsart unſtreitig immer die wichtigere bleibt und am wenigſten vernachlaͤſſiget werden darf, wo die wahre und allſeitige Cultur eines Landes nicht untergehen ſoll, ſogar noch weit mehr Recht, als der Philan - thropiniſmus; und der ganze Streit zwiſchen beiden182Dritter Abſchnitt.loͤſte ſich zur Verwunderung einfach dadurch auf, daß man dem einen wie dem andern die ihm gebuͤhrende Claſſe von Lehrlingen ausſchließend zuwieſe, und dem einen ſo wenig als dem andern verſtattete, ſich entwe - der ganz oder auch nur theilweiſe in die ihnen nicht zuſtaͤndigen Lehrclaſſen zu verbreiten, daß weder der Humaniſmus die zu kuͤnftigem materiellem Berufe beſtimmten Lehrlinge mit geiſtigen, noch der Philan - thropiniſmus die zu kuͤnftigem geiſtigem Berufe beſtimmten Lehrlinge mit materiellen Unterrichts - gegenſtaͤnden aufhalten, noch weniger aber eine Vereinigung beider zu einer ungluͤckſeeligen, beide Zwecke zugleich zerſtoͤrenden, Zwitteranſtalt ſtatt finden duͤrfte.

Allein, iſt denn die Vorausſetzung ſo ganz uͤber alle Einwendung erhoben? Liegt nicht vielmehr der erſte Erſchleichungsfehler, der die ganze Verwirrung in Theorie und Praxis des Erziehungsunterrichts gebracht hat, eben darinn, daß man ſich hat bereden laſſen, Vorbereitung auf die Berufsbildung ſey der Zweck des Erziehungsunterrichts? So lange wir uns nicht von dieſem Grundirrthnm wieder gaͤnzlich befreit haben, iſt in dem wichtigſten Geſchaͤft der Erziehung kein Heil zu hoffen. Auf dieſen Punkt muß alſo im - mer wieder zuruͤckkommen, wer dem Uebel gruͤndlich begegnen will. Strenger noch, als oben geſchehen iſt, darf der Gegenſatz ausgeſprochen werden:

Vorbereitung auf die Berufsbildung iſt durchaus nicht unmittelbarer Zweck des Erziehungs -183Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.unterrichts, ſondern der unmittelbare Zweck deſſel - ben iſt ausſchließend Menſchenbildung.

Nicht darinn hat der Humaniſmus unrecht, daß er die Menſchenbildung zum ausſchließenden Zweck des Erziehungsunterrichts beſtimmte, ſondern nur darinn, daß er, ſeiner Grundtendenz ungetreu, geiſtige Berufs - bildung mit Menſchenbildung verwechſelte, und die Lehrlinge mehr zu Gelehrten als zu Menſchen bildete. Inzwiſchen iſt es eine in der That nicht bloß dem Humaniſmus eigene, ſondern auch von dem Philan - thropiniſmus verſchuldete Verwechſelung von Begriffen, die ſich in der vorherrſchenden Richtung unſrer ganzen modernen Cultur auf die moͤglich groͤßte Maſſe von Kenntniſſen ſogar als allgemein verbreitet zeigt, daß die Menſchenbildung oder wie ſie nach dem gewoͤhnlicheren Sprachgebrauche der Paͤdagogik heißt die allgemeine Bildung, im Gegenſatze von Be - rufsbildung, faſt ganz als gleichbedeutend mit gelehrter Bildung behandelt wird. Aber es iſt deshalb nur um ſo noͤthiger, beides ſchaͤrfer von einan - der zu unterſcheiden, und vorzuͤglich den Begriff der Menſchenbildung, die wir als ausſchließenden Zweck des Erziehungsunterrichts betrachten, genauer zu beſtimmen.

Im Allgemeinen begreift man unter Menſchen - bildung Bildung des Menſchen als Menſchen, abgeſehen von aller Verſchiedenheit individueller Be - ſchaffenheiten und Beziehungen deſſelben, oder die184Dritter Abſchnitt.Bildung der Menſchheit in dem Individuum. Da - durch iſt der Gegenſatz gegen Berufsbildung aller - dings inſofern ſchon naͤher bezeichnet, als bei der letz - tern eine Ruͤckſicht auf die mannichfaltigſte Verſchieden - heit der Geſchaͤfte und der dazu erforderlichen Kenntniſſe und Fertigkeiten nothwendig eintritt. Doch iſt dies eigentlich nur eine negative Beſtimmung dieſes Gegen - ſatzes, und insbeſondre der Unterſchied zwiſchen Men - ſchenbildung und gelehrter Bildung laͤßt ſich daraus keinesweges befriedigend darthun. Außerdem aber iſt jene allgemeine Beſtimmung des Begriffes von Menſchenbildung auch an ſich unzureichend, den Begriff zu erſchoͤpfen.

Fragt man aber naͤher: worinn beſteht die Bil - dung des Menſchen als Menſchen, oder die Bil - dung der Menſchheit in dem Individuum? ſo laͤßt ſich leicht erkennen, daß man abermals auf den Begriff der Menſchheit, als das Grundprincip, zuruͤckge - fuͤhrt wird, und daß die Schwierigkeit, dieſen letztern Begriff beſtimmt zu faſſen, und die entgegengeſetzten Anſichten, aus welchen er wirklich gefaßt wird, den Hauptgrund enthalten, warum der Begriff der Men - ſchenbildung theils ſo unbeſtimmt, theils ſo verſchie - den verſtanden wird. Gehen wir nun auf jenen Grund - begriff mit unſrer Frage zuruͤck, ſo iſt ohne Zweifel das Erſte, was wir am wenigſten uͤberſehen duͤrfen, das unbedingte Merkmal der Menſchheit, die Ver - nunft, die den weſentlichen Unterſchied des Men - ſchen von dem Thiere begruͤndet, und bei aller Ver -185Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.ſchiedenheit der menſchlichen Individuen in allen Eine und dieſelbe iſt. Demnach waͤre Men - ſchenbildung nichts anderes als Bildung der Vernunft in dem Individuum.

Iſt aber Menſchenbildung in dieſem Sinne des Wortes, als Vernunftbildung, die aus - ſchließende Aufgabe des Erziehungsunterrichts, ſo folgt daraus von ſelbſt, daß dieſer Unterricht ſich auch nur mit Vernunftgegenſtaͤnden, alſo mit geiſtigen Gegenſtaͤnden in der engſten Bedeutung des Wor - tes, zu beſchaͤftigen habe. Die Kenntniſſe, die allein nothwendig durch den Erziehungsunterricht in dem Lehrling entwickelt werden muͤſſen, ſind die Ideen der Gottheit, Nothwendigkeit und Freiheit, welche das ganze Object der Vernunft umfaſſen. Darinn, daß der Menſch die Idee des Ewigen und ſeiner Erſcheinung in dem Naturreiche und dem Menſchenſtaate, oder wie es vielleicht populaͤrer ausgedruͤckt wird ein hoͤheres Seyn uͤberhaupt und eine darauf gegruͤndete und ſich beziehende hoͤhere Bedeutung ſowohl der Naturwelt als der Men - ſchenwelt erkenne, beſteht die intellectuelle Vernunftbildung; die praktiſche Ver - nunftbildung aber einerſeits in lebendigem Glau - ben an Gott und ſein unſichtbares ewiges Reich, in feſtem Vertrauen auf ſeine Regierung der Natur - und Menſchenwelt und ihrer Schickſale, in tiefer Achtung der uns noch unaufgedeckten Beſtimmung dieſer ſicht - baren Welt, und in ehrfurchtsvoller Beachtung der186Dritter Abſchnitt.wunderſamen Werke und des unermeßlichen Stre - bens und Wirkens der Natur - und Menſchenkraͤfte, andrerſeits in thaͤtiger Mitwirkung zu Bearbeitung die - ſer ſichtbaren Welt nach dem in unſerer Vernunfter - kenntniß liegenden Ideale ihrer Vollendung d. i. in Religioſitaͤt und Moralitaͤt; welche letztere ih - rem Innhalte nach nichts anderes ſeyn kann, als die Virtuoſitaͤt des Individuums in Abſicht auf das Ideal der Vollendung ſowohl der Natur als des Men - ſchenvereins. Beides zuſammengenommen begruͤndet weſentlich die Vernuͤnftigkeit des Menſchen, und muß bis auf einen gewiſſen Grad von Lebendigkeit der Einſicht und des Gefuͤhls bei jedem Individuum vorhanden ſeyn, wofern es fuͤr vernuͤnftig gel - ten ſoll.

Inwiefern nun der Menſch nur dadurch, daß er zum Bewußtſeyn und zur Erkenntniß der Vernunft erweckt worden iſt, fuͤr vernuͤnftig und ſonach fuͤr einen Menſchen gelten kann, durch die Vernunft - bildung alſo die Bildung zum Menſchen be - dingt iſt, macht dieſe Vernunftbildung unſtreitig die unbedingte Aufgabe des Erziehungsunterrichts ſo ent - ſchieden aus, daß von Rechtswegen bei keinem Indivi - duum die Erziehung beendiget werden ſollte, ſo lange jene nothwendige Menſchenbildung bei demſel - ben noch zweifelhaft waͤre. Aus demſelben Grunde aber wird auch der Erziehungsunterricht auf dieſe Ver - nunftbildung bei derjenigen Claſſe von Lehrlingen mit Recht beſchraͤnkt, die entweder, durch den Drang187Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.aͤußerer Umſtaͤnde auf eine kurze Erziehungszeit beengt, zu fruͤhe zur Berufsarbeit uͤbergehen muͤſſen, um eine ausgebreitetere Bildung ſich zu eigen machen zu koͤnnen, oder, durch innre Geiſtesbeſchraͤnkung verhindert, zu einer freieren Bildung ſich zu erheben nicht vermoͤgen.

Allein, dieſe Vernunftbildung wuͤrde in Ab - ſicht auf die bedeutende Claſſe derjenigen Lehrlinge, bei denen eine laͤngere Reihe von Jahren der Erziehung gewidmet iſt, den ganzen Umfang des Erziehungsun - terrichts in der That nicht ausfuͤllen. Man koͤnnte zwar jene Aufgabe der Vernunftbildung intenſiv ſteigern, die Behandlung des beſtimmten geiſtigen Unterrichts - materials bis zu einer hoͤheren Stufe der Entwickelung mit dem Lehrling fortſetzen: aber, theils iſt eine ſolche inten - ſive Steigerung weniger Unterrichtsgegenſtaͤnde, bei der es bloß darauf angelegt iſt, die Zeit auszufuͤllen, an ſich ſchon tadelhaft; theils waͤre es ein offenbarer Miß - brauch dieſes Unterrichts, wenn er die Vernunft des Lehrlings nicht bloß wecken und anregen, ſondern im eigentlichen Sinne ausfuͤllen wollte; theils ſoll der fuͤr eigentliche Vernunftentwickelung nicht nothwendige Theil der Unterrichtszeit allerdings zu andern Zwecken ver - wendet werden; theils bedarf uͤberhaupt die Vernunft - bildung bei denen, deren Erziehung eine laͤngere Periode von Jahren dauert, weniger einer ſolchen unmittelba - ren Einwirkung durch Unterricht uͤber Vernunftgegen - ſtaͤnde, indem bei einer laͤngeren Dauer der Erziehung die Vernunft mehr der natuͤrlichen Entwickelung uͤber - laſſen werden kann. Bei dieſer Claſſe von Lehrlingen188Dritter Abſchnitt.ſcheint es alſo nicht nur erlaubt, ſondern ſogar zweck - maͤßig, ſie nicht mit dem kleineren Kreiſe eigentlicher Vernunftgegenſtaͤnde aufzuhalten, und ſie in Zeiten zu andern Kenntniſſen fortzufuͤhren, um ſie nicht durch Beſchraͤnktheit des Unterrichtskreiſes und Einfoͤrmigkeit des Materials theils zu ermuͤden, theils zu einer klein - lichen und pedantiſchen Verarbeitung ins Einzelne zu verfuͤhren.

So gegruͤndet aber auch an ſich die Anſicht iſt, daß wenigſtens fuͤr Lehrlinge dieſer Art der Erziehungsun - terricht uͤber den Umkreis der bloßen Vernunftbil - dung erweitert werden muͤſſe, ſo iſt es doch nichts deſtoweniger eine Uebereilung, wenn man ſich dadurch verleiten laͤßt, ſowohl den oͤffentlichen Unterricht in Buͤrgerſchulen und Gymnaſien, als auch den Privat - unterricht, ſoweit er jenen Anſtalten parallel laͤuft, faſt ausſchließend der Vorbereitung auf den kuͤnfti - gen Beruf der Lehrlinge zu beſtimmen. Man hoͤrt freilich fragen: was ſollen denn die Lehrlinge, die bis ins fuͤnfzehnte oder achtzehnte Lebensjahr oder auch noch laͤnger im Unterricht bleiben, außer den gewoͤhnlichen Schulkenntniſſen (die doch wohl nicht ins Unendliche fort intenſiv geſteigert werden ſollen?) noch lernen, wenn man ſie nicht mit unmittelbaren Voruͤbungen zu ihrem kuͤnftigen Berufe beſchaͤftigen will? und wozu koͤnnte man die Zeit, die ſolche Schuͤler ha - ben, nuͤtzlicher anwenden? Aber, laſſe man ſich nur darinn nicht irre machen: alle unmittelbare Ruͤckſicht auf Berufsbildung muß von dem Erziehungs -189Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.unterricht ſchlechthin ausgeſchloſſen bleiben. Wir koͤnnen zwar eine Lehranſtalt anlegen, in der wir alle Kenntniſſe, die z. B. dem kuͤnftigen Handelsmann, Forſtmann, Architekten, Chirurgen und jeder andern Art von Profeſſion oder Gewerb noͤthig oder nuͤtzlich ſeyn moͤgen, lehren laſſen; und dieſe Anſtalt kann eine ſehr zweckmaͤßige, heilſame, dringenden Beduͤrfniſſen angemeſſene ſeyn. Aber, was ſie auch ſeyn mag, eine Erziehungsſchule iſt ſie nicht. Es giebt nur zwei Arten von Schulen: Erziehungsſchulen und Berufsſchulen; und das unterſcheidende Merkmal der erſtern iſt, daß ſie ſich ausſchließend mit Men - ſchenbildung beſchaͤftigen.

Iſt denn aber nicht ſchon durch die obige Eroͤr - terung ſelbſt beſtaͤtiget, daß die Menſchenbildung zu wenig Stoff zu Beſchaͤftigung der Lehrlinge auf eine laͤngere Dauer der Erziehungsperiode anbiete?

Vergeſſen wir nur nicht, daß in dem Obigen die Rede allein von Vernunftbildung war, welche nicht die ganze Menſchenbildung, obgleich das erſte weſentliche Erforderniß und ein Haupttheil der - ſelben iſt. Darinn eben liegt die Taͤuſchung, die durch eine ſchaͤrfere Unterſcheidung des Begriffs von Men - ſchenbildung gehoben werden muß.

Von dem Begriff der Menſchenbildung finden zwei Hauptanſichten ſtatt, jenachdem man dabei entweder nur das Grundmerkmal oder das190Dritter Abſchnitt.Ideal der Menſchheit in dem Individuum vor Augen hat. Sofern der Unterricht bloß darauf gerich - tet iſt, Bewußtſeyn und Erkenntniß der Vernunft in dem Lehrling zu erwecken, iſt er zwar allerdings Menſchenbildung, und verdient mit Recht dieſen ehrwuͤrdigen Namen, weil die Vernunft das Grund - merkmal der Menſchheit iſt. Aber, ſo wenig die Vernunft der ganze Menſch iſt, ſo wenig kann jene Vernunftbildung fuͤr die ganze Men - ſchenbildung gelten. Der ganze Menſch iſt die mit den mannichfaltigſten Anlagen und Kraͤften zu Einem wunderbaren Ganzen vereinigte Vernunft: die vollendete allſeitige und harmoniſche Ausbildung dieſes Einen Ganzen iſt das Ideal der Menſchheit, dem wir den alten oft verkannten ehrwuͤrdigen Namen der Humanitaͤt mit Recht erhalten. Sofern der Unterricht darauf gerichtet iſt, dieſe Forderung des Ideals der Menſchheit in den Lehrlingen, ſo weit es moͤglich iſt, zu realiſiren, iſt er hoͤhere Menſchen - bildung, und kann nicht treffender als mit dem Namen der Humanitaͤtsbildung in dem be - deutungsvollſten Sinne dieſes Wortes bezeichnet werden. Sonach theilt ſich die Menſchenbildung uͤber - haupt in Vernunftbildung und Humani - taͤtsbildung, oder nach einer anderen An - ſicht in nothwendige und freie Menſchen - bildung: die Vernunftbildung als nothwen - dig, inwiefern ſie als Bedingung der Menſchheit nicht nur von allen Individuen, die menſchliches Antlitz tragen, ohne Ausnahme gefordert wird, ſondern auch191Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.in dem Verein vernuͤnftiger Weſen Gegenſtand des Zwanges iſt, den die entwickelte Vernunft gegen die noch Unmuͤndigen anzuwenden die Befugniß und Ver - pflichtung hat; die Humanitaͤtsbildung als frei, inwiefern die Forderung des Ideals der Menſchheit nur Gegenſtand des freien Anſtrebens der Individuen ſeyn kann.

Nach dieſer genaueren Unterſcheidung kann wohl der Grundſatz, der die Menſchenbildung als aus - ſchließenden Zweck des Erziehungsunterrichts aufſtellt und damit alle unmittelbare Ruͤckſicht auf kuͤnftigen Beruf der Lehrlinge aus jenem Kreiſe ganz und gar ausſchließt, wenigſtens von der Seite Niemanden mehr zweifelhaft ſeyn, daß dieſe Aufgabe ein zu beſchraͤnktes Material fuͤr diejenigen Lehrlinge anbiete, deren Er - ziehung ein groͤßerer Theil ihrer Lebenszeit gewidmet iſt; vielmehr iſt ſelbſt fuͤr dieſe Claſſe von Lehrlingen die Forderung der Humanitaͤtsbildung eine Auf - gabe, zu deren vollſtaͤndiger Erfuͤllung ſogar die ihnen vergoͤnnte laͤngere Reihe von Erziehungsjahren kaum zureicht. Fuͤr alle Claſſen und Arten von Lehrlingen bleibt alſo der volle Gegenſatz der Menſchenbildung und Berufsbildung in dem Erziehungsunterricht: bei keiner Art von Lehrlingen ſoll die letztere einge - miſcht, fuͤr alle ohne Unterſchied die erſtere, nur mit der den Verhaͤltniſſen und Kraͤften der Lehrlinge ange - meſſenen Abſtufung, allein und ausſchließend beruͤckſich - tiget werden.

192Dritter Abſchnitt.

Eben damit aber iſt nicht nur die Ruͤckſicht auf materielle ſondern auch die auf geiſtige Berufs - arten von dem Umfang des Erziehungsunterrichts ausgeſchloſſen, und es ſoll nicht mehr Bildung zum Gelehrtenberuf mit Humanitaͤtsbildung ver - wechſelt werden. Der Gelehrten - und Geſchaͤfts - Beruf iſt wie der Kuͤnſtler - und Gewerbs-Be - ruf getheilte und beſchraͤnkte Thaͤtigkeit des Menſchen, und darinn hat der erſtere vor dem letzteren nichts voraus; der eine ſo wenig als der andre giebt eine freie Bildung; der eine wie der andre, und oft der erſtere noch mehr als der letztere, wenn er nicht auf freie Bildung gegruͤndet iſt, macht ein - ſeitig, kleinlich, pedantiſch, zunftmaͤßig. So wenig kann eigentliche Gelehrtenbildung mit Humani - taͤtsbildung fuͤr gleichbedeutend gelten. Wodurch aber unterſcheiden ſich denn beide? Gerade darinn, was wir in unſerer modernen Cultur ſo auffallend ver - wechſelt finden; darinn: daß die Gelehrtenbil - dung das Wiſſen als Wiſſen und um des Wiſ - ſens willen zu ihrer Berufsaufgabe hat, und auf dieſe einzige Thaͤtigkeit ſich beſchraͤnkt, waͤhrend die Humanitaͤtsbildung das Wiſſen nur als Bildungsmittel behandelt und dieſe Thaͤtigkeit nicht als die einzige, ſondern nur als eine von den mehreren, die ſie zu uͤben hat, betrachtet. Wir haben die freie Bildung gaͤnzlich aus den Augen verloren, ſeitdem unſre Cultur einzig nach gelehrter Bildung ſtrebt, und es iſt faſt ſeltſam, daß man in einem Zeit - alter, in welchem bloß Gelehrſamkeit als Bil -193Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.dung gilt, die Humaniſten, die doch ſicher nicht zu den Letzten unter den Gelehrten gehoͤren, am meiſten herabſetzt! Es iſt Zeit, daß jene ungluͤckliche Verwechſelung der beiden Begriffe aufgedeckt, und einſtweilen wenigſtens aus der Theorie des Erziehungs - unterrichts weggeſchafft werde.

Demnach ſoll von Rechtswegen ſelbſt aus dem Gymnaſialunterricht die Gelehrtenbildung gaͤnzlich ausgeſchloſſen werden. Manchen wird die Behauptung paradox vorkommen, und ſie werden mit einer Miene triumphirender Ueberlegenheit fragen: ſoll alſo ſelbſt der Gymnaſialunterricht nicht mehr Vorberei - tung zum akademiſchen ſeyn? Die Gymna - ſien waren in ihrer urſpruͤnglichen Einrichtung An - ſtalten der freien Bildung; wie auch ihre innere Einrichtung veraͤndert worden ſey oder noch veraͤndert werden moͤge, jene Beſtimmung derſelben muß heilig und unverletzlich erhalten werden. Jene Anſtalten zu einer unfreien Bildung verwenden, iſt ein Ver - gehen an der Menſchheit. Den Kern der Cultur einer Nation bildet und bewahrt die Zahl der gluͤcklichen, von der Gottheit mit aͤußeren Mitteln und inneren Kraͤften beguͤnſtigten Staatsbuͤrger, denen es eben durch dieſe Vorzuͤge vergoͤnnt iſt, das Ideal der freien Menſchenbildung anzuſtreben: moͤgen ſie dann ſich dem Staatsdienſt, der Wiſſenſchaft, der Kunſt oder was immer fuͤr einer Berufsbeſtimmung widmen, oder durch ihre Lage im Falle ſeyn, ohne beſtimmte Berufs - beſchaͤftigung zu leben, durch jene gemeinſchaftliche13194Dritter Abſchnitt.freie Erziehung ſind ſie ſich gleich, und machen den Stand der Gebildeten aus, der, von allen Staͤn - den und Claſſen der Staatsbuͤrger ausgehend, das geiſtige Leben der Nation, deſſen Verderbniß alſo der geiſtige Tod derſelben iſt. Verdorben aber werden ſie unausbleiblich, wenn Zeit und Mittel, die ihnen zur freien Menſchenbildung gegeben ſind, zu un - freier Berufsbildung verbraucht werden. Alle Berufsbildung iſt als ſolche ihrer Natur nach unfrei, ſelbſt die des Gelehrtenberufes nicht ausgenommen; und nur dadurch, daß ſie auf die Grundlage einer freien Bildung gebaut wird, wird ſie ſelbſt frei. Die wahre Vorbereitung zum akademi - ſchen Unterricht geben daher die Gymnaſien, indem ſie, ihrer urſpruͤnglichen Beſtimmung getreu, bei ihren Lehrlingen einen feſten Grund der freien Menſchen - bildung legen, die der akademiſche Unterricht zuerſt vollendet, ehe er ſeine Zoͤglinge zu einem ſpeciellen Berufsſtudium fortfuͤhrt. Eine andre Vorbereitung fuͤr die Univerſitaͤt laͤßt ſich den Gymnaſien nicht auf - dringen, ohne ihrer weſentlichen Beſtimmung und der wahren Cultur der Nation ſelbſt zuwider zu handeln. Welche andre Vorbereitung aber koͤnnte man auch mit Recht von ihnen fordern? Wer mit einem gewiſſen Grade von Vollendung freier Bildung zu ſei - nem Berufsſtudium uͤbergeht, wird ſicher darinn nicht langſamer fortſchreiten als der, deſſen Vorberei - tung im Zuſammenſchleppen einer ganzen Maſſe von Vorkenntniſſen beſtand. Was aber noch weit und uͤber allen Vergleich mehr ſagen will mit welchem ganz195Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.andern Sinn wird jener ſein Berufsſtudium anſehen und treiben, als dieſer?

Was man alſo auch einwenden moͤge; es bleibt unumſtoͤßlich: fuͤr alle Arten und Claſſen von Lehrlin - gen nach den verſchiednen Abſtufungen derſelben iſt Menſchenbildung der ausſchließende Zweck des Erziehungsunterrichts. Sonach laͤßt ſich die Frage: ob die Gegenſtaͤnde des Erziehungsunterrichts geiſtig oder materiell ſeyn ſollen? nicht nach der obigen Vorausſetzung entſcheiden: daß die Gegenſtaͤnde nach den verſchiednen Berufsbeſtimmungen der Lehr - linge verſchieden zu waͤhlen ſeyen; vielmehr muͤſſen wir dieſe Vorausſetzung ſelbſt, als irrig erkannt, verlaſſen, und die Frage nunmehr unmittelbar darauf ſtellen: erfordert die Menſchenbildung geiſtige oder materielle Unterrichtsgegenſtaͤnde?

Sehen wir dabei, nach der obigen Unterſcheidung, bloß auf die nothwendige Menſchenbildung, ſo muͤſſen wir den geiſtigen Unterrichtsgegen - ſtaͤnden, wie ebenfalls ſchon oben bemerkt worden, wenn auch nicht den ausſchließenden Vorzug doch die erſte Stelle einraͤumen. Es fordert an und fuͤr ſich ſchon die Natur der Vernunftbildung die Beſchaͤf - tigung mit Vernunftgegenſtaͤnden, inwiefern durch Be - trachtung derſelben das Bewußtſeyn der Vernunft in dem Individuum geweckt und belebt wird. Außerdem aber machen es auch noch andre Gruͤnde noͤthig, gerade diejenigen Lehrlinge, bei denen der Erziehungsunterricht13*196Dritter Abſchnitt.auf jene Vernunftbildung im ſtrengſten Sinne des Wortes beſchraͤnkt iſt, vorzugsweiſe mit geiſtigen Gegenſtaͤnden zu beſchaͤftigen. Fuͤrs erſte iſt fuͤr die Lehrlinge dieſer Art meiſtentheils die kurze Erziehungs - zoit die einzige, in der ſie zu einem beſonnenen Nach - denken uͤber die hoͤchſten und heiligſten Angelegenheiten des Menſchen geweckt und angehalten werden koͤnnen; und es iſt um ſo wichtiger, dieſe Zeit fuͤr jene Ange - legenheiten mit moͤglichſter Sorgfalt zu benutzen, da nur dann, wenn der Erziehungsunterricht einen feſten Grund in dieſer Art von Vernunfterkenntniß gelegt hat, dieſelbe auch noch ſpaͤterhin klar und lebendig genug iſt, um nicht unter dem Druck koͤrperlicher Arbeit und eines ſorgenvollen Lebens ganz unterzugehen. Fuͤrs zweite muß die Erziehungszeit zum Unterricht in jenen Gegenſtaͤnden auch aus dem Grunde vorzugsweiſe ver - wendet werden, weil einestheils nur, wenn das Be - wußtſeyn derſelben fruͤh belebt wird, der feſte Glaube ſich bildet, der die wahre Grundlage der Vernunftbil - dung iſt, anderntheils aber, da die natuͤrliche Richtung des Sinnes mehr auf das materielle Object geht und keine Neigung zu genauerer Erwaͤgung jener hoͤheren geiſtigen Gegenſtaͤnde fuͤhrt, ausdruͤckliche Anleitung und bei Vielen ſogar Zwang erforderlich iſt, um ſie zum Nachdenken uͤber dieſelben zu erwecken und zu ge - woͤhnen, dazu aber nur die Erziehungszeit Gelegenheit und Befugniß anbietet. Fuͤrs dritte iſt es auch in Hinſicht auf formelle Bildung des Geiſtes von Wich - tigkeit, gerade die Claſſe von Lehrlingen, die durch ihre ganze Lebens - und Berufsbeſtimmung an die materielle197Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.Welt angewieſen und gewiſſermaßen gefeſſelt ſind, we - nigſtens im Erziehungsunterricht auch zu Betrachtung der geiſtigen Welt anzuleiten, inwiefern fuͤr die Bil - dung des Geiſtes uͤberhaupt und ſelbſt fuͤr die Beſchaͤf - tigung mit materiellem Stoff die Uebung an geiſtigen Gegenſtaͤnden (da ſie groͤßere Anſtrengung fordert) wirk - ſamer iſt, als die Uebung an materiellen. Inzwi - ſchen iſt Beſchaͤftigung mit materiellen Unter - richtsgegenſtaͤnden doch auch ſelbſt bei Lehrlingen dieſer Art nicht ganz ausgeſchloſſen: einestheils, inwie - fern eine aufmerkſamere und verſtaͤndige Betrachtung der materiellen Gegenſtaͤnde allerdings auch ein weſentli - ches Erforderniß der Bildung iſt, und umgekehrt mate - rielle Gegenſtaͤnde zu Uebung genauer Beobachtung einen ſehr zweckmaͤßigen Stoff anbieten; anderntheils, inwie - fern ſich auch in der materiellen Welt die geiſtigen Gegenſtaͤnde, die Ideen, die Werke und Wunder Got - tes erkennen laſſen, die einen Theil von dem Innhalt der Vernunftbildung ausmachen, und es zu einer feſten Begruͤndung der Vernunftbildung nicht wenig beitraͤgt, wenn Lehrlinge dieſer Art gewoͤhnt werden, auch durch die Naturbetrachtung ihr Gemuͤth zum Unſichtbaren zu erheben und Gott auch in der Natur zu ſehen.

Auf dieſe beiden Ruͤckſichten aber iſt bei ſolchen Lehrlin - gen die Beſchaͤftigung mit materiellen Gegenſtaͤn - den zu beſchraͤnken, und nicht nur der Belehrung uͤber geiſtige Gegenſtaͤnde im engeren Sinne des Wortes, ſondern auch der Uebung derjenigen Fertigkeiten, die als weſentliche Huͤlfsmittel der Selbſtbildung zu betrachten198Dritter Abſchnitt.ſind, naͤmlich der Uebung des Leſens und Schrei - bens, unterzuordnen. So nuͤtzlich und foͤrderlich es auch immer fuͤr ſolche Lehrlinge in Hinſicht ihres Be - rufes und Gewerbes ſeyn moͤchte, ſie mehr mit mate - riellen Gegenſtaͤnden bekannt zu machen, ſo muß doch jeder ſolche Verſuch aus dem Kreiſe des Erziehungs - unterrichts ganz ausgeſchloſſen bleiben, wenn er nicht ſeiner weſentlichen Beſtimmung, die Lehrlinge zur Ver - nunft zu fuͤhren und ihren Kopf aufzuwecken, ungetreu werden ſoll.

Betrachten wir aber die Gegenſtaͤnde des Erzie - hungsunterrichts in ihrer Beziehung auf die freie Menſchenbildung, ſo zeigt ſich in Abſicht auf die Wahl zwiſchen geiſtigen und materiellen Unterrichtsgegenſtaͤnden ein voͤllig veraͤndertes Verhaͤltniß. Sobald wir uns nur von dem Vorur - theil, das ſich eingeſchlichen hat, wieder losmachen koͤnnen: die freie Bildung darein zu ſetzen, daß der bewundernswuͤrdigen Mannichfaltigkeit von Anlagen und Kraͤften zum Trotz alle Individuen in Eine Form eingezwaͤngt werden; muß uns auch uͤber jenen Streitpunkt wieder die natuͤrliche Anſicht aufgehen.

Es iſt der widernatuͤrlichſte Widerſpruch, der je zur wirklichen Ausfuͤhrung gekommen, daß wir unſrer freien Bildung durchaus die Richtung geben, eine totale Einfoͤrmigkeit aller Individuen zu erzwingen. Waͤhrend ein beſſerer Geſchmack die Schnei -199Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.derſcheere aus unſern Gaͤrten verbannt hat, haben wir ſie in unſern freien Bildungsanſtalten eingefuͤhrt. Da ſoll kein Lehrling der natuͤrlichen Richtung ſeiner Anla - gen folgen, da ſoll keine ausgezeichnete Kraft ſich ihrer Natur gemaͤß ungehindert entwickeln, da ſollen Alle ſich in gleicher Linie bewegen, Alle daſſelbe treiben, Alle in Allem etwas leiſten, Alle derſelben Cenſur un - terliegen. Und dies iſt nicht etwa nur durch einen zufaͤlligen Mißgriff ſo; nein! man hat es in ein foͤrm - liches Syſtem gebracht, und auf ein Princip gegruͤndet, mit dem man den[Gipfel] paͤdagogiſcher Weisheit er - rungen zu haben glaubt. Man hat ſich ein Ideal des vollendeten Menſchen erſonnen, das jeder einzelne Menſch als moͤglichſt vollendetes Exemplar darſtellen ſoll; und jenes Ideal hat man zuſammengeſetzt aus allen erdenklichen Eigenſchaften, Vorzuͤgen und Vollkommenheiten, die ſich in den ein - zelnen Individuen zerſtreut und weil ſie, als vor - herrſchend im Einzelnen, andre Eigenſchaften, Vorzuͤge und Vollkommenheiten in demſelben Individuum zu - ruͤckdraͤngen, vereinzelt finden. Man hat ferner angenommen, daß dieſe Vereinzelung nur aus der Er - ziehung komme, die nicht Sorge genug getragen habe, alle Kraͤfte in jedem Individuum auszubilden, und daraus hat man geſchloſſen, daß man nur dieſe Ein - ſeitigkeit der Bildung vermeiden duͤrfe, um alle menſchliche Vollkommenheiten bis zu einem Grade in jedem Individuum zu vereinigen. Daher will man auch in Abſicht auf die Erziehung und Bil -200Dritter Abſchnitt.dung der Individuen durchaus keinen Unterſchied der Art ſondern nur dem Grade nach zugeben.

Die Moͤglichkeit, wie ein ſolcher Widerſpruch habe Platz greifen und ſich ſo weit verbreiten koͤnnen, laͤßt ſich aus der hier angedeuteten Anſicht allenfalls begrei - fen, der Widerſpruch ſelbſt aber wird dadurch nur um ſo auffallender. Das nennt man Bildung und noch dazu freie Bildung des Menſchen, daß man ſeine Individualitaͤt vernichtet, und ihn zu einem duͤrftigen Compendium aller menſchlichen Fertig - keiten und Geſchicklichkeiten umgeſtaltet? So wenig achtet man das Weſen der Menſchheit, die eben in dem mannichfaltigſten Reichthum von Individualitaͤt in ihrer herrlichſten Kraft erſcheint, daß man die Ver - nichtung dieſer Individualitaͤt als das Ideal der Bildung des Menſchengeſchlechts betrach - tet? So wenig kennt man die Graͤnzen des Bildungs - geſchaͤfts, daß man, anſtatt die natuͤrliche Entwicke - lung der Individualitaͤt bloß zu leiten und zu unterſtuͤtzen, ſie vielmehr aufzuheben und nach einem unbeſtimmten allgemeinen Schema umzubil - den trachtet? Zum Gluͤck gelingt es der Kunſt nicht leicht, die Natur zu unterdruͤcken, und ſo wird auch jener Mißgriff unſrer Erziehungsweiſe wenigſtens die kraͤftigere Individualitaͤt nicht uͤberwinden und vielleicht, wie es in der Welt der Freiheit ſo oft geſchieht, der unnatuͤrliche Zwang nur die Kraft um ſo mehr aufre - gen. Unterdeſſen bedarf dieſe Claſſe von Individuen uͤberhaupt am wenigſten der kuͤnſtlichen Nachhuͤlfe der201Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.Erziehung, und dagegen wird die groͤßere Zahl, deren Entwickelung die Leitung der Kunſt beduͤrfte, durch eben dieſe Kunſt nach jener Anſicht mißleitet und, ſo weit die Wirkung der kuͤnſtlichen Erziehung reicht, in der That verbildet. Ueberhaupt aber, auch abgeſehen von dieſen Folgen, iſt das Beſtreben an ſich ſchon ver - kehrt, die Individualitaͤt nach einem Ideal, das nur ein Abſtractum der verſchiednen Indivi - dualitaͤten iſt, und das nirgend als in der ungeſun - den Phantaſie des unbedachtſamen Abſtrahenten exiſtirt, bilden zu wollen. Eilen wir doch, uns von dieſer un - natuͤrlichen Einbildung wieder frei zu machen, und kehren mit unſerm Bildungsgeſchaͤft zu der allein naturgemaͤßen Aufgabe zuruͤck, die Individualitaͤt der Lehrlinge zur moͤglichſten Vollendung zu entwickeln.

Iſt nur erſt dieſer ungluͤckſeelige Irrthum aufge - deckt, ſo loͤſt ſich ſchon damit auch ein Theil der Frage uͤber die Art der Gegenſtaͤnde des Erziehungsunterrichts von ſelbſt auf. Wie die Lehrlinge nach der Verſchie - denheit ihrer individuellen Natur verſchiedne Neigun - gen, Anlagen, Talente haben, die eine verſchiedne Be - ſtimmung und Ausbildung zu verſchiednen Fertigkeiten erfordern, und ſchon dadurch eine groͤßere Mannich - faltigkeit der freien Bildung begruͤnden; ſo erfordert dieſelbe Verſchiedenheit auch im Unterricht die gleiche Ruͤckſicht. Wie ſich bei dem einen Lehrling mehr koͤrperliche, bei dem andern mehr geiſtige Gewandtheit findet, ſo iſt auch ſelbſt in der gei -202Dritter Abſchnitt.ſtigen Entwickelung und Bildung der eine mehr fuͤr die geiſtigen, der andre mehr fuͤr die mate - riellen Gegenſtaͤnde empfaͤnglich, der eine mehr ge - ſchickt, die geiſtige, der andre mehr die materielle Welt geiſtig zu faſſen und zu durchdringen. Wollen wir nun den fuͤr geiſtige Gegenſtaͤnde Empfaͤng - licheren mit materiellen, und den fuͤr materielle Gegenſtaͤnde Empfaͤnglicheren mit geiſtigen Ge - genſtaͤnden quaͤlen, und die freie Bildung darein ſetzen, daß beide wider ihre Neigung und Anlage ge - zwungen werden, ſich etwas anzueignen, was ihrer Individualitaͤt zuwiderlaͤuft? Oder verlangt nicht viel - mehr die freie Bildung, auch darinn die Indivi - dualitaͤt frei zu laſſen, daß wir die Unterrichtsgegen - ſtaͤnde nach der individuellen Verſchiedenheit der Lehr - linge waͤhlen?

Freilich kann man dieſe Ruͤckſicht auch zu aͤngſt - lich nehmen. Den Erziehungsunterricht fuͤr jedes In - dividuum individuell einzurichten, iſt nicht nur unaus - fuͤhrbar, weil im tauſendſten Falle ſogar die oͤkonomi - ſchen Mittel dazu fehlen, ſondern auch an ſich unthun - lich, weil eine ſo aͤngſtlich berechnete kuͤnſtliche Behand - lung des Lehrlings dem Zweck einer freien Bildung widerſpricht. Es iſt hinreichend, die Unterſcheidung nur im Allgemeinen anzuwenden, den Lehrling vorzuͤg - lich mit derjenigen der beiden Hauptarten von Lehrge - genſtaͤnden zu beſchaͤftigen, fuͤr welche ſich bei ihm eine vorherrſchende Anlage zeigt.

203Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.

Die Beſorgniß, daß eben durch ein ſolches An - ſchließen des Unterrichts an die individuelle Verſchie - denheit der Lehrlinge nicht nur dem Ideal der Bil - dung, welches die Entwickelung aller Kraͤfte in dem Individuum verlange, nicht entſprochen, ſondern ſogar wirkliche Einſeitigkeit erzogen werde, hebt ſich dadurch von ſelbſt, daß es fuͤrs erſte nur ein mißver - ſtandnes Ideal iſt, nach welchem man eine ſolche unbedingte Allſeitigkeit der Bildung bei den Individuen bezielt, das wahre Ideal der Bildung vielmehr nur eine harmoniſche Ausbildung der indivi - duellen Anlagen fordert, fuͤrs zweite aber nur eine ganz irrige Anſicht individuelle Ausbildung mit Einſeitigkeit verwechſeln kann, vielmehr die wahre Bildung der Individualitaͤt allerdings auch daruͤber wachen muß, die Einſeitigkeit abzuhalten; wozu aber nicht eine ausfuͤhrliche Kenntniß des entge - gengeſetzten Unterrichtsmaterials, ſondern nur eine Hin - deutung auf daſſelbe erforderlich, und meiſt ſchon die bloße Erwaͤgung der naͤchſten Verwandtſchaftskreiſe beider Gebiete hinlaͤnglich iſt.

Wir koͤnnen ſonach ſchon aus der hier entwickelten Anſicht den Grundſatz aufſtellen: daß fuͤr die freie Bildung der Unterrichtskreis ſich in die zwei Haupt - gebiete der geiſtigen und der materiellen Unter - richtsgegenſtaͤnde theile.

Ob dieſem Grundſatze zufolge auch unſre freien Bildungsanſtalten ſelbſt in zwei ganz verſchiedne204Dritter Abſchnitt.Inſtitute zu theilen waͤren? iſt eine Frage, die dar - aus allein noch nicht entſchieden werden kann. Inzwi - ſchen iſt damit auf jeden Fall die Nothwendigkeit an - gedeutet, in der Anordnung des Erziehungsunterrichts auf jene Hauptverſchiedenheit der Individualitaͤt Ruͤck - ſicht zu nehmen; und dies betrifft ſowohl den Haupt - vorwurf, den man der alten humaniſtiſchen Einrichtung unſrer Gymnaſien gemacht hat, als die vermeinte Ver - beſſerung, die man von der modernen philanthropiniſti - chen Reform derſelben ſich verſpricht. Durch die vor - malige Beſchraͤnkung des Unterrichts auf geiſtige Ge - genſtaͤnde war allerdings nur fuͤr die Individualitaͤt der einen Hauptclaſſe von Lehrlingen geſorgt, und man klagte mit Recht, daß eine große Zahl von Schuͤlern ohne allen Erfolg und Nutzen mit Dingen gequaͤlt werde, fuͤr welche ſie kein Talent und oft nicht einmal Sinn haben. Aber dieſelbe Klage erſchallt bereits von unſern philanthropiniſtiſchen Lehranſtalten, die den Un - terricht faſt ausſchließend auf materielle Gegenſtaͤnde beſchraͤnkt haben; eine große Zahl von Schuͤlern (und zwar meiſt die talentvolleren) jammern, daß ſie ihre beſte Zeit mit Zaͤhlen und Anatomiren von Steinen, Kraͤutern, Thieren und dem ganzen rohen Stoff, aus dem man das moderne Lehrmaterial zuſammengeſetzt hat, verlieren muͤſſen.

Von beiden Seiten wird der Grund der Be - ſchwerde inſofern unrichtig gefaßt und angegeben, daß man die Verſchiedenheit von dem kuͤnftigen Beruf der Schuͤler ableitet, und behauptet: dem kuͤnftigen205Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.Gelehrten und Geſchaͤftsmann nuͤtze der materielle Lehrſtoff nichts, weder an ſich ſelbſt ſeinem Innhalt nach, noch durch die formelle Geiſtesuͤbung fuͤr mate - rielle Gegenſtaͤnde, mit welchen er unmittelbar nie etwas zu thun habe; dagegen nuͤtze eben ſo wenig der ideelle Lehrſtoff dem kuͤnftigen Gewerbs - und Hand - werksmann etwas, indem der Theil des ideellen Wiſ - ſens, den er als Menſch beduͤrfe, ſich auf Religions - und Pflichtenlehre beſchraͤnke, die formelle Geiſtesuͤbung aber fuͤr ideelle Gegenſtaͤnde, mit denen er nie etwas unmittelbar zu thun habe, ihm entbehrlich, die Uebung fuͤr materielle Gegenſtaͤnde aber um ſo nothwendiger ſey. Was dieſe Behauptung Wahres hat, iſt nur wahr, wenn die Anſicht umgekehrt wird. Das Unter - richtsbeduͤrfniß wird entſchieden durch die Individualitaͤt der Lehrlinge; die darnach eingerichtete Bildung ent - ſcheidet den kuͤnftigen Beruf. Dies iſt der natuͤrliche Gang, der ſich nicht nach Willkuͤr umkehren laͤßt. Will man den kuͤnftigen Beruf zur Richtſchnur des Erziehungsunterrichts nehmen, wer entſcheidet denn den kuͤnftigen Beruf des Lehrlings? Der muͤndige Erzieher freilich; aber doch wohl nicht nach Laune und nach eitlem Streben? und uͤberhaupt, wornach vernuͤnftigerweiſe anders, als nach den Anlagen des Kindes, die der erſte Unterricht beſtimmt genug erkennen laͤßt? Sind aber die Anlagen des Kindes fuͤr die eine oder die andre Hauptart der Bildung als vorherrſchend erkannt, ſo behandle man es auch im Unterrichte ſeiner Natur gemaͤß, und unternehme nicht, es gewaltſam in das entgegengeſetzte Gebiet hinuͤber zu treiben. Daß das206Dritter Abſchnitt.Individuum in ſeiner Art etwas Vollendetes leiſte, iſt das wahre Ideal der Bildung; die Individuen in ihrer Art zu vollenden, iſt ſonach die wahre Auf - gabe auch des Erziehungsunterrichts. Die in ihrer Art vollendet aus dem Erziehungsunterricht der freien Bildung hervorgehen, ſind auch vollendet fuͤr ihre Art des Berufes gebildet, und werden ſicher in demſelben etwas Vorzuͤgliches zu leiſten vermoͤgen. So beſtimmt die freie Bildung den kuͤnftigen Be - ruf des Individuums, nicht umgekehrt: der kuͤnftige Beruf die freie Bildung deſſelben.

Die gegenſeitige Beſchwerde ſelbſt loͤſt ſich ſonach in die richtigere Anſicht auf, daß erſtens die Unter - richtsgegenſtaͤnde uͤberhaupt nicht nach dem kuͤnf - tigen Beruf ſondern nach dem gegenwaͤrtigen Beduͤrfniß der Lehrlinge zu waͤhlen ſind, zwei - tens eine Verſchiedenheit des Unterrichtsbeduͤrfniſſes unmittelbar durch die individuelle Verſchieden - heit der Lehrlinge beſtimmt wird, und folglich drittens es allerdings ein verkehrtes Verfahren iſt, ein Talent fuͤr Ideelles mit Materiellem, und dagegen ein Talent fuͤr Materielles mit Ideellem umzutreiben, wo - durch hoͤchſtens eine Mittelmaͤßigkeit erreicht werden kann, und in jedem Falle die Schuͤler mit Unrecht, und dem Weſen der freien Bildung zuwider, ge - quaͤlt werden.

Ob man nach dieſer Anſicht die Lehranſtalten in verſchiedne Inſtitute trennt, oder in Einer und derſelben207Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.Anſtalt fuͤr das verſchiedne individuelle Beduͤrfniß der Lehrlinge durch verſchiedne Abtheilungen ſorgen will, iſt an ſich gleichguͤltig. Die Hauptſache iſt, daß dem Grundſatze zufolge der Erziehungsunterricht die Indi - vidualitaͤt der Lehrlinge ſchone und ehre, und derſelben gemaͤß die Unterrichtsgegenſtaͤnde auch ihrer Art nach beſtimme. Mit allem Recht fordert man, daß nicht alle Zoͤglinge der freien Bildungsanſtalten bloß mit geiſtigen Gegenſtaͤn - den beſchaͤftiget werden; weil dies diejenigen, die da - fuͤr nicht Talent haben, nur aufhaͤlt, anſtatt daß ſich ihr Geiſt durch Uebung an materiellen Gegenſtaͤnden ſchnell und kraͤftig entwickeln wuͤrde. Aber mit dem gleichen Rechte fordert man, daß nicht alle Zoͤglinge der freien Bildungsanſtalten bloß mit materiellen Gegenſtaͤnden beſchaͤftiget werden; weil dadurch alle, die nicht ausgezeichnetes Talent dafuͤr haben, nur auf - gehalten werden, anſtatt daß ſich durch Uebung an geiſtigen Gegenſtaͤnden ihr Geiſt weit ſchneller und kraͤftiger entwickeln wuͤrde.

Um aber dieſe Entſcheidung ganz unparteiiſch zu faſſen, muß man ſich noch von einem andern Vorur - theil frei gemacht haben.

Soll der Unterricht uͤber materielle Gegenſtaͤnde eben ſo wie der Unterricht uͤber geiſtige Gegenſtaͤnde ſeinen Hauptzweck erfuͤllen, den Geiſt der Lehrlinge zu bilden, ſo kann er eben ſo wenig in bloßem Beſchauen und Zergliedern einzelner koͤrperlicher Objecte als in208Dritter Abſchnitt.dem Enumeriren und Betrachten des aͤußeren Zuſam - menhanges ihrer Geſammtheit als eines Naturſyſtems beſtehen. Man kann freilich damit den Anfang ma - chen, die Aufmerkſamkeit des Lehrlings auf die Außen - welt zu richten, indem man ihn einzelne Naturobjecte naͤher ins Auge faſſen und beobachten laͤßt. Man kann ſolche Beobachtungen einzelner materieller Gegen - ſtaͤnde auch als Anfangsuͤbungen des Geiſtes benutzen, inwiefern es nicht nur leichter ſcheint, analyſirende Operationen des Geiſtes an ſolchen Gegenſtaͤnden vor - zunehmen, die als fixirte und ruhende der Betrachtung leichter ſtehen, um ſie nach ihren einzelnen Eigenſchaf - ten aufzufaſſen, ſondern es auch allem Anſehen nach eine einfachere Operation des Geiſtes iſt, einen von außen gegebnen Gegenſtand zu analyſiren, indem dies nur die einfache contemplative Thaͤtigkeit des Geiſtes erfordert, waͤhrend bei einem geiſtigen (obgleich auch gegebnen) Gegenſtand zugleich die productive Thaͤtigkeit des Geiſtes noͤthig iſt, um den Gegenſtand fuͤr die Betrachtung zu fixiren. Allein, was das Erſtere betrifft, ſo hat der Menſch die Außenwelt ſo nah vor Augen, und ſie dringt ſich ihm ſo unwillkuͤrlich und unabweis - lich auf, daß man es wohl als entbehrlich erklaͤren kann, erſt auf eine kuͤnſtliche Weiſe den Blick des Lehrlings auf ſie zu richten. In Ruͤckſicht auf das Zweite aber, die Anfangsuͤbungen mit ſolchen materiel - len Gegenſtaͤnden zu machen, iſt wohl zu bemerken, daß eben die geprießene Leichtigkeit den Vorſchlag ver - daͤchtig macht. Denn, wird eine ſolche Betrachtung ſogenannter Naturgeſtaͤnde wirklich leicht gemacht, ſo209Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.iſt ſie nur eine Spielerei, die das Kind zwar eine Weile amuͤſiren mag, ſeinen Geiſt aber vielmehr laͤhmt als ſtaͤrkt; ſoll ſie aber ſo angeſtellt werden, daß ſie den Geiſt wirklich erweckt und erhebt, ſo hoͤrt ſie auf leicht zu ſeyn: denn, ſie muß dann nicht ein bloßes Hin - und Herfahren auf der Oberflaͤche der Objecte, ſondern ein Eindringen in deren innere Natur ſeyn, was aber nicht mit dem anatomiſchen Meſſer (welches nur Bruchſtuͤcke des Ganzen und eine vervielfaͤltigte Oberflaͤche deſſelben vorlegen kann) ſondern mit der Idee geſchehen muß, die allein das Innere auch der koͤrperlichen Natur faßt. Ob dieſe Aufgabe aber, ein materielles Object auf die angedeutete Weiſe geiſtig zu faſſen, leichter ſey, als die gleichmaͤßige geiſtige Be - trachtung eines geiſtigen Objects, laͤßt ſich mit Grunde bezweifeln, und wird noch problematiſcher, wenn man zugleich bedenkt, daß auch die geiſtigen Gegenſtaͤnde wie die materiellen gegebne (naͤmlich in Beziehung auf die contemplative Function des Geiſtes) ſind, bei deren Betrachtung alſo der Geiſt ebenfalls nur einfach thaͤtig iſt, inwiefern die Ideen eben ſo wenig als die Koͤrper durch die Contemplation erſt hervorgebracht, ſondern vielmehr eben ſo wie die letztern nur aufgefaßt werden. Selbſt, daß die geiſtigen Gegenſtaͤnde durch eine beſondre Thaͤtigkeit des Geiſtes fuͤr die Betrach - tung erſt fixirt werden muͤſſen, waͤhrend die materiellen als ruhende ſich von ſelbſt darſtellen, hat nur inſofern Grund, als man die Lehrlinge unmittelbar in ihr eig - nes Innre zuruͤckfuͤhren, und ſie ihr Bewußtſeyn zer - gliedern und aus demſelben unmittelbar die Ideen und14210Dritter Abſchnitt.Gefuͤhle auffaſſen lehren will. Dies moͤchte freilich als Anfangsuͤbung ſeine großen Schwierigkeiten haben, iſt aber auch ganz und gar nicht nothwendig; denn Ideen und Gefuͤhle, durch einen eminenten Geiſt gefaßt und in Worten dargeſtellt, ſind nicht we - niger als ein Koͤrper ein ruhendes Object fuͤr die Betrachtung: und mit dieſen geiſtigen Objecten die geiſtige Betrachtung beginnen, kann zum mindeſten nicht ſchwerer ſeyn als dieſelbe Operation an materiellen Objecten.

So zeigt es ſich, daß die wahre Natur der gei - ſtigen Unterrichtsgegenſtaͤnde eben ſo ſehr ver - kannt iſt, als die der materiellen, und daß die Meinung von der groͤßeren Leichtigkeit der letzteren nur auf jener irrigen Anſicht derſelben beruht. Es wird nicht uͤberfluͤſſig ſeyn, in Abſicht auf die letztern hier noch eine beſtimmtere Erklaͤrung hinzuzufuͤgen.

Die Außenwelt, recht betrachtet, kann ein Gegen - bild der Innenwelt, die Welt der Sachen ein Abdruck von der Welt der Ideen genannt werden. Die Außen - welt mit Geiſt ſehen lehren, heißt lehren, ſie als des Geiſtes Abbild zu betrachten. Soll alſo der Unterricht uͤber materielle Gegenſtaͤnde ſeinen Zweck erfuͤl - len, ſo muß er von Ideen ausgehen und zu denſelben hinfuͤhren. Die Sachen als Sachen ſind nicht das Object des Erziehungsunterrichts, ſofern es dabei hauptſaͤchlich auf Bildung des Geiſtes ankoͤmmt; das bloße Auffaſſen derſelben iſt ein faſt mechaniſcher Act,211Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.der den Geiſt wenig uͤbt: die Ideen, die ſich in den Sachen darſtellen, ſind es eigentlich, die den Gegen - ſtand des Unterrichts ausmachen, ſofern er ſich mit Sachen beſchaͤftiget. Sonach iſt es auch an den mate - riellen Unterrichtsgegenſtaͤnden eigentlich das Geiſtige, Unſichtbare, was der Geiſt des Lehrlings zu faſſen und zu fixiren lernen muß. Ein Unterricht, der die Rea - lien nach der hier vorgeſchriebnen Weiſe behandelt, erhebt ſich allerdings uͤber den Vorwurf, den man dem Philanthropiniſmus zu machen hat; aber er fuͤhrt auch in der That zum Idealen, wohin als zur Schwaͤrmerei der Philanthropiniſmus eben nicht will, zum Theil aber auch nicht aus Grundſatz ſondern nur aus Ungeſchick nicht gelangt.

Wird man auch in dem, was hier geſagt iſt, Schwaͤrmerei finden? Es iſt beinah zu fuͤrchten, denn es klingt ja beinah naturphiloſophiſch! Ich koͤnnte mir die Beſchuldigung allenfalls gefallen laſſen. Das Uebrige lautet doch, hoffe ich, natuͤrlich und ſcharf genug, um mich der Schwaͤrmerei nicht verdaͤchtig zu machen. Aber das Schlimmre kann ich bei dem Obi - gen mit der Naturphiloſophie leicht gemeinſchaftlich haben, daß es von den Paͤdagogen eben ſo wie jene von den Philoſophen mißverſtanden wird. Einſtweilen will ich mich hier damit ſchuͤtzen, daß ich an ein Ana - logon erinnre, das in der Peſtalozziſchen Methode auf - genommen iſt, nach welcher die materiellen Unterrichts - gegenſtaͤnde mehr nach ihren Verhaͤltniſſen als in ihrer Subſtantialitaͤt aufzufaſſen gelehrt wird. Aber, ich14*212Dritter Abſchnitt.ſage abſichtlich: ein Analogon; denn, da in jener Schule der hoͤchſte Werth auf aͤußere Anſchauung ge - legt, ſonach nur die raͤumlichen Verhaͤltniſſe beachtet werden, ſo bleibt die Idee unberuͤhrt, und es laͤßt ſich noch mit Grund bezweifeln, ob durch die Peſtalozziſche Behandlungsweiſe der materiellen Unterrichtsgegenſtaͤnde der Geiſt nur ſo viel Uebung erlange, als durch philanthropiniſtiſches Sachſtudium dann erreicht werden kann, wenn dabei vorzugsweiſe auf ſyſtematiſche Ueber - ſicht einzelner Gebiete von Naturgegenſtaͤnden gedrun - gen wird.

Findet ſich aber obige Anſicht ſowohl der mate - riellen als der geiſtigen Unterrichtsgegen - ſtaͤnde gegruͤndet, ſo geht auch von dieſer Seite her - vor, daß jede der beiden Hauptarten ihre eigne Stei - gerung und Rangordnung vom Leichteren zum Schwie - rigeren hat, jede alſo fuͤr ſich unabhaͤngig von der andern mit dem Lehrling durchgefuͤhrt werden kann, je nachdem er vermoͤge ſeiner Individualitaͤt fuͤr die eine oder die andre mehr Anlage hat.

Damit iſt vorerſt die irrige Anſicht verworfen, welcher zufolge der Unterricht uͤber materielle Gegenſtaͤnde als der leichtere nicht nur den Anfang des Unterrichts bei allen Lehrlingen ohne Unterſchied machen, ſondern auch als Vorbereitung auf die gei - ſtigen Lehrgegenſtaͤnde dienen ſoll. Wenn der Unterricht uͤber Naturgegenſtaͤnde nach der obigen An - gabe das Ideelle an denſelben auffaſſen lehren ſoll, ſo213Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.iſt die Aufgabe, wie ſich leicht erkennen laͤßt, fuͤr den Anfaͤnger viel zu ſchwer; er muß vielmehr ſelbſt ſchon mehrere Stufen des Naturunterrichts durchlaufen, um ſich fuͤr jene ideelle Naturanſicht vorzubereiten, die allein als Vorbereitung im Materiellen zu dem Unter - richt uͤber geiſtige Gegenſtaͤnde gelten kann. Wenn aber jener Anfang des Naturunterrichts auch nicht bloß ſo mechaniſch, wie gewoͤhnlich, oder als bloße Spielerei betrieben wird, wobei der Geiſt uͤberhaupt ſo wenig fuͤr Natur - als fuͤr Ideen-Anſicht etwas ge - winnen kann; wenn er auch in der That richtig ſo behandelt wird, daß er als zweckmaͤßige Vorbereitung auf die hoͤhere Anſicht der Natur fuͤr diejenigen Lehr - linge, die dafuͤr mehr als fuͤr das rein geiſtige Gebiet der Ideen Anlage haben, dient, ſo iſt dieſe Uebung doch ihrer Art und Natur nach von der entgegenge - ſetzten des Auffaſſens der rein geiſtigen Gegenſtaͤnde ſo verſchieden, daß ſie als eigentliche Vorbereitung auf das Letztere nicht angewendet werden kann. Diejenigen Lehrlinge alſo, die fuͤr das Letztere mehr Anlage haben, ſind auch zunaͤchſt in dieſer letztern Art gleich von An - fang an zu uͤben, und in dieſem Gebiet nach und nach zu der hoͤhern Anſicht fortzufuͤhren.

Dies kann um ſo weniger bezweifelt werden, da fuͤrs zweite in dem Obigen zugleich die irrige Anſicht aufgedeckt iſt, als faͤnden ſich in dem Gebiete der rein geiſtigen Unterrichtsgegenſtaͤnde ſolche Schwie - rigkeiten, die fuͤr den Anfaͤnger unuͤberwindlich waͤren; weshalb man eben ſeine Zuflucht zu den Naturgegen - ſtaͤnden wenigſtens fuͤr den Anfang nehmen muͤſſe.

214Dritter Abſchnitt.

Das Verhaͤltniß kehrt ſich vielmehr in der That um. Da die Naturgegenſtaͤnde mit dem Kinde am Anfang des Erziehungsunterrichts die ernſte und tiefe Behandlung, die allein zu einer wahren Naturkenntniß vorbereiten und fuͤhren kann, nicht zulaſſen, ſo kann ſelbſt bei denjenigen Lehrlingen, die durch ihre Indivi - dualitaͤt mehr fuͤr das Naturſtudium geeignet ſind, der Anfang des Unterrichts nicht mit Naturgegenſtaͤnden gemacht werden; vielmehr muß ſelbſt dieſe Claſſe von Lehrlingen anfaͤnglich an geiſtigen Gegenſtaͤnden geuͤbt werden, die auch in ihren leichteſten Anfaͤngen doch zu ideeller Bildung fuͤhren, die zum rechten Naturſtudium nicht weniger als zum Ideenſtudium er - forderlich iſt, man mag dabei auf materielle beſtimmte Kenntniß der Natur oder nur auf die an dem Stu - dium derſelben zu erwerbende formelle Bildung des Geiſtes ſehen.

Dieſelbe Forderung, auch bei dieſer Claſſe von Lehrlingen den Anfang des Unterrichts mit geiſtigen Gegenſtaͤnden zu machen, geht zugleich auch daraus hervor, daß am Eingang des Erziehungsunterrichts ohne - hin die Anlagen der Lehrlinge ſelten ſich ſchon ſo ent - ſchieden zeigen, daß man beſtimmt ſagen koͤnnte, zu welcher der beiden Hauptarten von Studien ſie ſich eignen werden, ſonach der Elementarunterricht ſelbſt erſt daruͤber entſcheiden muß. Nun koͤnnte es zwar ſcheinen, daß es am natuͤrlichſten waͤre, die Probe mit beiden Arten von Gegenſtaͤnden zu machen. Allein, außerdem daß aus dem oben aufgewieſenen Grunde215Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.die Probe mit Naturgegenſtaͤnden nicht gemacht werden kann (indem eine bloß oberflaͤchliche ſpielende Beſchaͤf - tigung mit Naturgegenſtaͤnden bei allen Kindern ohne Unterſchied eine gewiſſe Liebhaberei findet, ohne daß ſich daraus auf wahre Neigung oder Anlage zu denſel - den ſicher ſchließen ließe); außerdem iſt auch mit unſichern Proben keine Zeit zu verlieren, und muß folglich auch aus dem Grunde mit den geiſtigen Unterrichtsgegenſtaͤnden bei allen Lehrlingen ohne Ausnahme der Anfang gemacht werden, weil dieſe Gegenſtaͤnde erſtens materiell als beſtimmte Kenntniſſe von jedem Individuum wenigſtens in einem gewiſſen Umfang gefordert werden, zweitens formell in Abſicht auf Uebung des Geiſtes auch fuͤr das Naturſtudium eben ſo wie fuͤr das Ideenſtudium eine zweckmaͤßige Uebung des Geiſtes geben, folglich jeden Lehrling, zu welcher von beiden Hauptarten von freier Bil - dung er in der Folge uͤbergehen moͤge, gehoͤrig vorbe - reiten.

So geht der Erziehungsunterricht in Abſicht auf die Verſchiedenheit der Unterrichtsgegenſtaͤnde nothwen - dig bei allen Lehrlingen ohne Ausnahme von den gei - ſtigen Gegenſtaͤnden aus, theilt ſich aber, ſobald die Individualitaͤt der Lehrlinge ſich hinreichend entwi - ckelt hat, um ihre Anlagen fuͤr die eine oder die andre der beiden Hauptarten entſchieden erkennen zu laſſen, in zwei verſchiedne Claſſen, deren jede in ihrer Art die Lehrlinge zur moͤglich hoͤchſten ihrer Stufen hinan fuͤhrt.

216Dritter Abſchnitt.

Keine der beiden entgegengeſetzten Claſſen aber ſchließt die Unterrichtsgegenſtaͤnde der andern unbedingt aus. Die Vereinigung aber, da ſie auch hier nicht nach Willkuͤr geſchehen kann, ſo daß man nach Gut - duͤnken dem Unterricht uͤber materielle Gegenſtaͤnde ein wenig von geiſtigen Gegenſtaͤnden, oder umgekehrt dem Unterricht uͤber geiſtige Gegenſtaͤnde ein wenig von ma - teriellen beimiſchte, ſteht unter dem Geſetze der Un - terordnung und wird darnach ſo beſtimmt: daß in je - der der beiden entgegengeſetzten Unterrichtsarten auf die Unterrichtsgegenſtaͤnde der andern ſoviel Ruͤckſicht genommen werde, als noͤthig iſt, um den Zuſammen - hang beider in dem geſammten Umfang des Wiſſens zu der Klarheit und Lebendigkeit des Bewußtſeyns zu er - heben, die erforderlich iſt, von beiden Seiten Einſeitig - keit und Pedantiſmus, das wahre Widerſpiel aller freien Bildung, abzuhalten.

Beſondere Anmerkung.

Es liegt nicht in den Graͤnzen dieſer allgemei - nen Eroͤrterung des Grundſatzes uͤber die Art der Unterrichtsgegenſtaͤnde, die Gegenſtaͤnde ſelbſt einzeln aufzuzaͤhlen, und ihr Verhaͤltniß zum Er - ziehungsunterricht naͤher zu beſchreiben. Eine Ausnahme davon macht aber mit Recht der eine Gegenſtand, der ein Hauptpunkt des Streites zwiſchen Humaniſmus und Philanthropiniſmus iſt, naͤmlich das Sprachſtu -217Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.dium oder die Philologie im engeren Sinne des Wortes.

Der Philanthropiniſmus hat dieſes Studium als leeren Wortkram angeklagt, und als Bildungs - mittel geradezu verworfen. Denn was er davon als Nothbehelf noch beibehalten hat, kann weder zur Bil - dung dienen, noch iſt es in dieſer Abſicht aufgenommen worden, ſondern wird nur noch gelehrt und gelernt, inwiefern es in irgend einer Beziehung als Erwerb - mittel dienen kann. Man hat die Heftigkeit, mit der gegen jene Maßregel geſprochen worden, einſeitig, eigenliebig, illiberal gefunden: ich gedenke auch nicht die Heftigkeit, als ſolche, zu vertheidigen. Aber, wer die Folgen jener Maßregel in ihrem ganzen Umfang uͤberſieht, wird nicht verwunderlich finden, daß der Genius der Menſchheit zuͤrnend hervortritt, wenn dieſe in Gefahr iſt, planmaͤßig wenn auch in der redlich - ſten Abſicht der Barbarei zugefuͤhrt zu werden.

Ich will mich hier nicht darauf berufen, daß es das erſte Geſetz in der Bildung des Menſchengeſchlech - tes iſt: keinen Punkt einmal errungner Bil - dung untergehen zu laſſen; und daß man aus dieſem Grunde berechtiget iſt zu fordern, daß eine gruͤndliche Kenntniß von den reichen Schaͤtzen errung - ner Bildung der großen Nationen der Vorwelt mit Sorgfalt gepflegt und unterhalten werde. Kein Staat kann jenen Theil der freien Bildung vernachlaͤſſigen, ohne den Zuſammenhang mit der alten Welt zu unter -218Dritter Abſchnitt.brechen, die Bekanntſchaft mit den bereits geſchehenen Fortſchritten der Vernunft als entbehrlich zu erklaͤren, und mit dieſem Undank gegen die herrlichſten Werke der Menſchheit und die glaͤnzendſten Offenbarungen der Vernunft in eine Unwiſſenheit zu verfallen, die zu allen Zeiten als Barbarei mit Recht verrufen worden iſt, die in einem verworrenen und verwerflichen Stre - ben, das laͤngſt Erfundne zu erfinden, das laͤngſt Voll - endete von neuem zu erſchaffen, die Kraft ohne Frucht zu bringen verzehrt, und ſo den ſichern Fortſchritt der Cultur aufhaͤlt, und ein unvermeidliches Ruͤckſchreiten beginnt. Sicher gehoͤrt es zu den erſten Forderungen an einen Staat, der fuͤr civiliſirt gelten will, daß in ſeiner Grundverfaſſung dafuͤr geſorgt ſey, die Bekanntſchaft mit der fruͤheren Cultur zu erhalten, und die gelehrte Bildung, deren Beſtreben vernuͤnftiger - weiſe nur auf jenen Zweck gerichtet ſeyn kann, auf alle Art zu unterſtuͤtzen und zu beguͤnſtigen; und wo dies fehlt, wo dies Beſtreben vielmehr geringſchaͤtzig behandelt, ohne Aufmunterung bleibt, da bedarf es nicht einmal einer poſitiven Unterdruͤckung, um in Kurzem Barbarei und Vandaliſmus herbeizufuͤhren.

Man halte mir nicht entgegen, daß nur laͤcherli - cher Eigenduͤnkel pedantiſcher Philologen ſich einbilden koͤnne, das Heil einer Nation hange vom grie - chiſch und lateiniſch Lernen derſelben ab, da dieſe Praͤconen der alten Sprachen doch vielmehr gerade an der von ihnen am meiſten geprießenen Nation, den Griechen ſelbſt, den klarſten Beweis vom Gegentheil219Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.erblicken wuͤrden, wenn ihr Worteifer den philologi - ſchen Nebel vor ihren Augen nur einen Augenblick zu zerſtreuen vermoͤchte. Wie ſind denn die Grie - chen zu ihrer hohen Cultur gelangt, die doch be - kanntlich nicht lateiniſch und griechiſch gelernt haben? Der Triumph, mit dem ſich dieſe Einwendung ankuͤndiget, iſt viel zu voreilig. Es bliebe mir noch immer uͤbrig, zu ſagen, daß ein originelles Volk, das ſich ſelbſt Muſter ſeyn mußte und, unter den auszeich - nendſten Beguͤnſtigungen ſeiner Lage und ſeiner Schick - ſale, ſeyn konnte, ſich nicht als Maßſtab fuͤr andre Nationen anwenden laſſe. Sodann koͤnnte ich mich auf das Beiſpiel der Roͤmer berufen, deren Cultur bekanntlich in Abſicht ihres glaͤnzendſten Theils ſich auf griechiſch Lernen zuruͤckfuͤhren laͤßt. Daß die ganze neuere Cultur durch wiedererwecktes Studium der alten Cultur begruͤndet iſt, wird auch Niemand laͤugnen wollen. Ich koͤnnte endlich auch das wichtige Wort fuͤr mich geltend machen, das unlaͤngſt von dem be - ruͤhmten Gelehrten-Inſtitut in Frankreich durch ſeine Repraͤſentanten vor den Thron des Kaiſers gebracht, auf den Verfall der alten Literatur, eine Folge der revolutionaͤren Barbarei, ernſtlich warnend hindeutete. Es fehlt mir alſo nicht an Gruͤnden und Auctoritaͤten, die ich jener Behauptung entgegenſetzen koͤnnte. Aber ich wuͤrde Unrecht haben, durch bloße Berufung auf die letztern mich der hiſtoriſchen Unwiſſenheit theilhaftig zu machen, die in der Einwendung ſelbſt liegt. Haben denn nicht auch die Griechen die Cultur ihrer Vorwelt gekannt, ſtudirt und benutzt? Und wenn220Dritter Abſchnitt.ſie aus Nationalparteilichkeit die fremde Quelle, aus der ſie geſchopft hatten, oft zu verbergen wußten, ſol - len wir deshalb blindlings alles als ihr Eigenthum annehmen? Wollen wir vergeſſen, was ſie von Aegyp - tern, Perſern, Indiern ꝛc. gelernt und geborgt haben, und wovon wir in ihrer Religion, in ihrer Philoſopie beſonders die unverkennbarſten Spuren finden? Freilich haben ſie nicht das Studium der Sprachen jener Voͤl - ker zum allgemeinen Gegenſtand ihres Erziehungsunter - richts gemacht: aber das wollen ja auch wir nicht. Nur die gelehrte Bildung ſoll in jedem civiliſirten Staate erhalten und gepflegt werden, und nur die In - dividuen, die durch ihr Talent dazu berufen ſind, den von der Vorwelt uns uͤberlieferten Schatz der allgemei - nen Bildung bewahren zu helfen, ſollen auch die Spra - chen der Vorwelt (und zwar nicht bloß der occidentalen ſondern auch der orientalen) lernen und kennen. Dies iſt auch bei den Griechen nicht verſaͤumt worden, in deren gelehrten Schriften noch Belege genug davon zu finden ſind. Wenn ſie es aber auch verſaͤumt haͤtten, ſo wuͤrde dies noch immer gegen unſre Forderung nichts beweiſen, da unſtreitig ſo Vieles von der aͤlte - ren Cultur durch die Ueberlieferung ſo entſtellt zu uns gelangt iſt, daß wir wenigſtens das Studium der alten Sprachen ſelbſt noch jetzt nicht entbehren koͤnnen, um aus den uns erhaltnen Urkunden uns eine richtigere Vorſtellung von der ganzen alten Welt und ihrer Cul - tur zu verſchaffen.

Mit der letzteren Bemerkung koͤnnte ich auch der andern Einwendung begegnen, die das Studium der221Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.alten Sprachen aus dem Grunde als entbehrlich ver - urtheilt, weil man die Sache ſelbſt, den Innhalt, aus Ueberſetzungen eben ſo gut kennen zu lernen im Stande ſey. Allein, ich habe bereits erklaͤrt, daß ich es uͤber - haupt fuͤr eine unzulaͤngliche Vertheidigung des Stu - diums der alten Sprachen halte, wenn man es bloß als das Mittel vorſtellt, zu einer nothduͤrftigen Bekannt - ſchaft mit dem Innhalt derſelben zu gelangen; und obgleich jene oben entwickelte Forderung, die Kenntniß der geſammten fruͤheren Cultur der Vorzeit in keinem civiliſirten Staate untergehen zu laſſen, ein Grund fuͤr das Studium der alten Sprachen iſt, der insbeſon - dre, wenn er als Angelegenheit nicht ſowohl des Indi - viduums als vielmehr des Staates und des kosmopo - litiſchen Intereſſe’s im Ganzen der Menſchheit betrachtet wird ein unverkennbar ſchweres Gewicht hat: ſo will ich ihn doch hier nicht einmal in Anſchlag brin - gen, ſondern die Forderung, das Studium der Sprachen zu einem weſentlichen Mittel der freien Bildung zu machen, lediglich auf den Werth des Sprachſtudiums an und fuͤr ſich ſelbſt gruͤnden.

Iſt nicht die Sprache das unmittelbarſte Medium, in welchem der Geiſt ſeine herrlichſten Schoͤpfungen darſtellt? Und wer will zum Genuß der Bluͤthen der hoͤchſten Cultur eines Volkes gelangen, ohne deſſen Sprache zu verſtehen, in deren faſt nie durch eine Nachahmung zu erreichenden Eigenthuͤmlichkeit jene Bluͤthen ſich geſtaltet haben? Philologie iſt freilich nur Liebe zum Wort und mit dieſer philologi -222Dritter Abſchnitt.ſchen Witzelei mag man veraͤchtlich auf dieſe Liebe als etwas Kleinliches hindeuten! Aber, vergeſſe man nur nicht, daß dieſe Liebe zum Wort eine wahre Kunſt - liebe iſt. Was wollen doch die Miſologen mit ihrem Haß gegen das Wort? Wer will denn reden wider das Wort, als ob es nichts waͤre? und wider die Rede, als waͤre ſie keiner Achtſamkeit werth? Iſt denn nicht das Wort das unmittelbarſte, allgemeinſte, freieſte, bedeutungsvollſte, bildſamſte Werk des Geiſtes, in dem er ſich ſelbſt darſtellt? Iſt die Rede nicht eine hohe Kunſt, eine Vereinigung von Kuͤnſten Muſik, Plaſtik, Mahlerei? Wie ſtellt nicht der Geiſt durch die Rede, ſcharf abgeſchnitten und wo das rechte Ver - moͤgen des Ausdrucks iſt zugleich glatt abgerundet, in dem Subjecte des Satzes die hervortretende plaſti - ſche Geſtalt dar? Wie belebt er nicht eben dieſe plaſti - ſche Geſtalt mit mahleriſcher Kunſt, mit Mitteln, die ſogar noch innhaltvoller und beweglicher als die der Mahlerei ſelbſt ſind, indem er den Gegenſtand in kuͤnſt - leriſcher Ordnung vor die Phantaſie bringt und vor ihr voruͤbergehen laͤßt, ihn in Praͤdicaten mahlt, die eben ſo klar und lebendig ſein Inneres als ſein Aeußeres erblicken laſſen, wo jedes Wort eine Geſtalt, jede Wendung eine Gruppirung, jede Wahl des Wor - tes eine Nuͤance des Gemaͤhldes ausdruͤckt, wo auch die Sylbe ſignificant wird, wo alles charakteriſtiſch ſeyn muß? Und wie vereiniget nicht die Kunſt der Rede mit der Darſtellung fuͤr das Auge zugleich ſo wunder - bar eine eigne Kunſt der Darſtellung fuͤr das Ohr in Wohlklang, in Rhythmus, in Gang und Fall der223Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.Sylben und Worte: beide Motive fuͤr Auge und Ohr ſo in einander verſchmolzen, wie nur Muſik und Mi - mik ſie verſchmelzen koͤnnen; indem ſie die Zeichnung des Wortes fuͤr das Auge mit der Zeichnung des Rhyth - mus fuͤr das Ohr verbindet, den luſtig in Zweigen bewegten Vogel z. B. zugleich in der Lieblichkeit ſeiner Toͤne nachahmt, oder das Stampfen des Roſſes im Klang der Worte ertoͤnen laͤßt.

Und von dem Studium dieſer Kunſt, in welcher als Naturkunſt (ſofern ſie nicht durch Reflexion von gegebenen Vorbildern abſtrahirt und darnach gelernt war) die Alten Meiſter ſind, will man mit der Ver - achtung ſprechen, als toͤdte es im Worte den Geiſt. Freilich, wem es uͤberhaupt gleich gilt, wie er ſich ausdruͤcke, wem von dem Geiſt, der in der Rede ſelbſt erſcheint, nichts geoffenbart, wem der Nerv jenes in - nern Auges und Ohres, womit die Schilderei des Wortes erfaßt ſeyn will, erſtorben oder abgeſtochen iſt, dem kann die Kunſt ſelbſt nichts gelten, dem muß das Studium derſelben leer und zwecklos duͤnken, der wird auch das hier Geſagte Boͤhmiſch finden. Doch wird es Wenigen ſo ganz an Sinn fuͤr die Kunſt der Sprache fehlen, daß ihnen nicht wenigſtens in groben Zuͤgen etwas davon einleuchtend gemacht werden koͤnnte. Die von ihnen es wagen, das Sprachſtudium zu hoͤh - nen, mag man nur daran erinnern, wie oft ſie das, was ſie gedacht haben, auf eine Weiſe ſagen, in welcher Niemand ihr Gedachtes recht erkennen kann, und wo ſie nicht ſelten ſich ſelber nachhelfend erklaͤren224Dritter Abſchnitt.muͤſſen: ſo wollt ich ſagen! Sie ſprechen frei - lich gewoͤhnlich dieſe Correctivformel ſo unbefangen aus, daß man wohl ſieht, ſie halten es nicht fuͤr eine Schan - de, oder fuͤhlen vielleicht gar die Schande nicht, zu be - kennen, daß ſie die Kunſt des Sprechens des Darſtellens des Gedachten durch Worte dieſe Kunſt, die ein weſentlicher Vorzug des Menſchen iſt, nicht verſtehen; und wenn man ſie daran erinnert, ſo nen - nen ſie das Pedantiſmus, und meinen: in verbis simus faciles, oder zu Teutſch: auf eine Hand - voll Worte mehr oder weniger koͤmmt es nicht an! gerade wie es dem ſchlechten Mahler auf einen Topf voll Farben auch nicht ankoͤmmt! Das moͤchte ihnen denn auch fuͤr ihre Perſon hingehen. Aber wenn ſie nun kommen, und uns die Kunſt, in der ſich die Bil - dung des Geiſtes erprobt, wie ſich an dem Studium ihrer Werke der Geiſt bildet, herunterſetzen und das Studium derſelben als unnuͤtz vorſtellen wollen, dann verſchulden ſie, daß man ohne Schonung ihnen an der Rede ihres Mundes den Unterſchied unter recht und nicht recht Sagen des Gedachten, zugleich aber auch den Schimpf, dieſer dem menſchlichen Geiſte unerlaß - lichen Kunſt ſo ganz zu ermangeln, einleuchtend mache, damit ſie ſich beſcheiden muͤſſen, nicht fuͤr Schwaͤr - merei zu erklaͤren, was uͤber Kunſt des Sprechens und deren Studium die Kuͤnſtler die Philolo - gen ſagen.

Wenn man aber koͤnnen die Philanthropen dagegen einwenden dieſer erkuͤnſtelten Wortverthei -225Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.digung auch noch ſo viel einraͤumen will, ſo beweiſt ſie doch hoͤchſtens nur fuͤr Sprachſtudium uͤber - haupt als Bildungsmittel. Das aber haben wir ſo wenig jemals gelaͤugnet, daß wir vielmehr das Stu - dium der Mutterſprache weit dringender als je ein Philolog empfohlen und betrieben haben: nur das haben wir zweckwidrig befunden, daß der Schuͤler ſeine ganze Zeit auf die Sprachen des alten Roms und Grie - chenlands wende, in ſeiner eignen Mutterſprache aber ein Fremdling bleibe. Und in dieſer Meinung kann uns das ganze obige Roͤſonnement nicht ſtoͤren, da vollkommen alles, was darinn von dem Sprachſtu - dium geruͤhmt iſt, auch durch das Studium der Mut - terſprache erreicht werden kann.

Was die Philologen auf dieſe Einwendung laͤngſt gruͤndlich erwiedert haben, koͤmmt mir nicht zu, hier zu wiederholen. Es wird hinreichend ſeyn, Folgendes zu bemerken.

Zuvoͤrderſt iſt es allerdings wahr, daß man an jeder gebildeten Sprache, und folglich auch an der unſrigen, die ihre Claſſiker hat, die Sprache ſtudi - ren kann. Allein, ſelbſt mit der groͤßten Parteilich - keit wird es Niemand wagen zu behaupten, daß die Muſterhaftigkeit der alten Schriftſteller von den neue - ren erreicht ſey. Wo iſt denn bei einem Schriftſteller unſrer Nation die doch in Vergleichung mit den Schriftſtellern andrer neuern Nationen einen ehrenvollen Rang einnehmen die Leidenſchaftloſigkeit, die Ruhe,15226Dritter Abſchnitt.die Laune im Ernſt und der Ernſt in der Laune, die ungeſtoͤrte Harmonie des Innhalts und der Darſtellung, die Gleichfoͤrmigkeit, Sicherheit, Einheit und Einfach - heit, die den Schriften der Alten das Gepraͤge hoher Vollendung giebt? Sollten wir denn nun an dem weniger Vollendeten uns uͤben? Sollten wir uns mit unſerm Studium auf die Copieen beſchraͤnken, da wir die Originale vor uns haben, nach denen unſre Mei - ſter ſelbſt ſich erſt gebildet haben? Es iſt aber um ſo wichtiger, ſich bei dieſem Studium an die vollen - detſten Muſter zu halten, da es dabei nicht ſowohl darauf ankoͤmmt, grammatiſche, rhetoriſche und poe - tiſche Regeln zu abſtrahiren, nach denen man ſeine eignen Darſtellungen modle, als vielmehr darauf, ſich von Gehalt und Form der Meiſterwerke unmittelbar begeiſtern zu laſſen.

Sodann aber, ſelbſt was das grammatiſche Stu - dium der Sprache betrifft, ſo iſt die Grammatik zwar im Ganzen in allen Sprachen dieſelbe und inſofern wenig Unterſchied, an welcher beſtimmten Sprache ſie gelernt werde. Doch iſt jede lebende, ſich ſonach noch weiter bildende, Sprache zu jenem Zwecke ſchon we - niger geſchickt, weil ſie noch immer zu viel Unent - ſchiednes darbietet, das zwar die Regel ſelbſt nicht zweifelhaft machen kann, aber doch das Auffaſſen der - ſelben, da ſie nicht gleichfoͤrmig anzuwenden und ſo - gar die Zahl der Ausnahmen noch nicht einmal zu be - ſtimmen iſt, ſehr erſchwert. Noch mehrere Schwie - rigkeiten aber hat, nach bekannten Erfahrungen, das227Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.grammatiſche Studium, wenn es an der Mutterſprache erlernt werden ſoll; ſo daß ſelbſt nach der philanthro - piniſchen Methode haͤufig vorgezogen wird, mit den Lehrlingen, die irgend eine andre lebende Sprache er - lernen ſollen, die grammatiſchen Uebungen lieber an dieſer letztern anzuſtellen. Bei den Lehrlingen alſo, die eine oder die andre alte Sprache zu erlernen ha - ben, wird man dieſe mit um ſo mehr Recht auch zur Grundlage der grammatiſchen Uebungen machen duͤrfen, da man dabei nichts verlieren ſondern nur gewinnen kann. Man darf aber unbedenklich noch um einen Schritt weiter gehen, und fordern, daß nicht nur die zum eigentlichen gelehrten Studium geeigneten Lehr - linge, ſondern auch diejenigen, die zum wenigſten Eine neuere fremde Sprache zu lernen haben, die auf die alte lateiniſche gepfropft iſt, dem alten Grundſatze der Gruͤndlichkeit gemaͤß im Lateiniſchen wenigſtens einen Grund legen, und deshalb auch ihre Grammatik an jener alten Sprache erlernen ſollen.

Endlich, will man denn fuͤr nichts rechnen, daß die alten Sprachen nicht nur das Vorbild aller neueren cultivirten Sprachen und ihre ſchriftſtelleriſchen Werke das Muſter fuͤr die Claſſiker aller neuen cultivirten Nationen ſind, ſondern daß ſie auch das einzige ge - meinſchaftliche Band ausmachen, das die Cultur aller neueren Voͤlker umſchlingt, nicht nur die gemeinſchaft - liche Quelle, aus der ſie alle geſchoͤpft haben, ſon - dern auch den einzigen gemeinſchaftlichen Grund und Boden, auf dem ſie alle unmittelbar ſich erkennen und15*228Dritter Abſchnitt.verſtehen? Kann irgend ein Volk die Kenntniß jener Sprachen der vollendetſten Geiſtescultur der Vorwelt bei ſich untergehen laſſen, ohne auf den Genuß der herrlichſten Geiſteswerke der alten Zeit Verzicht zu thun, und ſich zugleich von dem gemeinſchaftlichen Vereini - gungspunkte aller Cultur der neuen Zeit auszuſchließen?

Will man aber auch alles dies nicht als beweiſend genug gelten laſſen, um das Studium der alten Sprachen zu einem nothwendigen Gegenſtand des freien Erziehungsunterrichts zu machen; will man alſo durchaus keinen materiellen Zweck der Erziehung anerkennen, zu welchem das Stu - dium der alten Sprachen ein nothwendiges Mittel ſey: ſo wird man doch in Hinſicht auf formellen Zweck der Erziehung wenigſtens das nicht in Abrede ſtel - len wollen, daß das Studium der alten Sprachen vermoͤge deren inneren Feſtigkeit, Geſetzmaͤßigkeit und Conſequenz eine Uebung des Geiſtes ſey, die dem Stu - dium der Mathematik voͤllig gleich komme, gleichwohl aber von dem letztern auch wieder ſo verſchieden ſey, daß nicht nur von einem und demſelben Schuͤler beide zugleich mit Nutzen getrieben werden koͤnnen, ſondern es auch nach der individuellen Verſchiedenheit der Koͤpfe bei manchem Schuͤler, deſſen Geiſt fuͤr die Mathematik weniger empfaͤnglich iſt, ein faſt unerſetz - liches Surrogat der letztern ſey, und deshalb mit Recht immer als ein Hauptmittel der freien Bildung beibehalten und geachtet werden muͤſſe.

229Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
3.

Die dritte Hauptdifferenz zwiſchen Philanthropi - niſmus und Humaniſmus in Abſicht auf die Unterrichts - gegenſtaͤnde betrifft die Form derſelben uͤberhaupt und den Werth des claſſiſchen Alterthums in Beziehung auf den Erziehungsunterricht insbeſondre.

Nach dem, was bereits im Vorhergehenden ge - ſagt iſt, kann die Beantwortung dieſes Punktes kuͤr - zer gefaßt werden.

Es laͤßt ſich zum voraus nicht anders erwarten, als daß der Philanthropiniſmus, nachdem er das ganze Gewicht der Bildung auf die Maſſe des Wiſſens geworfen, von der Form nicht viel halten koͤnne. Noch weniger aber kann er eine beſondre Forderung in Anſehung der Form der Unterrichtsgegen - ſtaͤnde als wichtig anſehen, da die Sachen, auf deren Kenntniß er das Hauptgewicht legt, auch in der Darſtellung fuͤr den Unterricht keine andere als die ihrer Natur entſprechende moͤglichſt ſcharf begraͤnzte Form erheiſchen.

Wenn man aber auch noch nicht einmal die For - derungen der freien Bildung dagegen geltend ma - chen will, die in Abſicht der Form ohne allen Zwei - fel hoͤher geſtellt werden muͤſſen; wenn man auch nur die nothwendige Bildung, die der Erziehungs - unterricht zu leiſten hat, nicht in der ganz graſſen Beſchraͤnkung auf ſogenannte Sachgegenſtaͤnde230Dritter Abſchnitt.nimmt, ſondern auf die oben bezeichneten Ideen aus - dehnt: ſo geht ſchon die ganz entgegengeſetzte For - derung in Anſehung der Form hervor. Die Ideen werden nicht objectiv ohne durch die Form ihrer Darſtellung. Sobald ich alſo Ideen als Gegen - ſtaͤnde des Erziehungsunterrichts anerkenne, muß ich auch eine Ruͤckſicht auf die Form der Unterrichtsge - genſtaͤnde als nothwendig anerkennen, und zugeben, daß es keinesweges gleichguͤltig iſt, in welcher Form z. B. die Religionsgegenſtaͤnde fuͤr den Erziehungsun - terricht dargeſtellt ſeyen.

Nimmt man aber erſt eine naͤhere Ruͤckſicht auf die freie Bildung durch Erziehungsunterricht, dann muß man die Forderung in Abſicht auf die Form der Unterrichtsgegenſtaͤnde als ganz unerlaßlich erkennen, man mag auf materielle oder formelle Bildung des Geiſtes ſehen. In Abſicht auf die materielle Bil - dung des Geiſtes, oder die beſtimmten Kennt - niſſe, mit denen der Erziehungsunterricht die Lehrlinge auszuruͤſten hat, kommen zwar auch bei der freien Bildung Unterrichtsgegenſtaͤnde vor, bei denen wenig - ſtens auf freie Form nicht Anſpruch gemacht wer - den kann; aber ſelbſt bei dieſen iſt es nicht gleich - guͤltig, in welcher Form uͤberhaupt ſie darge - ſtellt werden: am allerwenigſten aber kann es gleich - guͤltig ſeyn in Abſicht auf die Unterrichtsgegenſtaͤnde, die einer freien Form nicht nur empfaͤnglich ſind, ſon - dern ſie auch ausdruͤcklich fordern. In Abſicht auf die formelle Bildung des Geiſtes aber iſt es231Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.ohnehin von der groͤßten Wichtigkeit, daß die Idee der Schoͤnheit dem jugendlichen Geiſte durch ſorgfaͤltig gewaͤhlte muſterhafte Formen der Unterrichtsge - genſtaͤnde tief eingepraͤgt und gleichſam zur Gewohn - heit oder zur zweiten Natur werde. Hat doch ſelbſt der Philanthropiniſmus noͤthig gefunden, den Kin - dern von den Sachgegenſtaͤnden, die man fuͤr ſie ſo nothwendig haͤlt, geſchmackvollere Bilder in die Haͤnde zu geben; wie ſollte man in Abſicht auf die Ideen, bei deren Darſtellung die Form weit wichtiger iſt, ge - ringere Forderungen machen? Wie die Ideen ſelbſt, als das eigenſte Eigenthum des Geiſtes, den Geiſt am kraͤftigſten anregen, und deshalb vorzugsweiſe zu Ge - genſtaͤnden des Erziehungsunterrichts beſtimmt ſind, ſo wird auch durch die Form der Darſtellung der Ideen in der Sprache das Gemuͤth am maͤchtigſten ergriffen, und es iſt deshalb vorzuͤglich eine unerlaßliche Forde - rung, bei den Gegenſtaͤnden des Erziehungsunterrichts darauf die ſorgfaͤltigſte Ruͤckſicht zu nehmen.

Welche Folgerung daraus in Abſicht auf den zwei - ten obigen Differenzpunkt, die Unentbehrlichkeit des claſſiſchen Alterthums, ſich ergebe, iſt leicht zu erachten.

Sieht man bloß auf eigentliche ſogenannte Sach - gegenſtaͤnde, ſo muß man darinn, wenigſtens was die Sachen betrifft, wohl der neueren Zeit die Gerechtigkeit widerfahren laſſen, daß ſie ſowohl in ausgebreiteterem Umfaſſen des ganzen Objects der232Dritter Abſchnitt.Natur, als auch in feinerem beſonders mechaniſchem Zergliedern einzelner Objecte und hauptſaͤchlich in kunſtmaͤßigerem Experimentiren, die aͤltere Zeit allerdings uͤbertroffen habe. Inſofern koͤnnen wir alſo die letztere, als Lehrmeiſterin, entbehren. Doch hat ſelbſt in dieſer Hinſicht die aͤltere Zeit einen Vor - zug vor der neueren, den kein Verſtaͤndiger laͤug - nen und am allerwenigſten gegen die Vorzuͤge unſrer Sachkenntniſſe verachten wird: den Vorzug der rei - nen Beobachtung, des ruhigen Naturblickes, der die Erſcheinungen ſcharf faßt und durchdringt; wie denn z. B. die Beobachtungen eines Hippokrates, nach dem einſtimmigen Zeugniſſe aller Aerzte und Naturfor - ſcher, ein bis auf den heutigen Tag unerreichtes Mu - ſter ſind.

Selbſt in Hinſicht auf die Sachgegenſtaͤnde alſo iſt es eine ungegruͤndete Behauptung, daß wir das claſſiſche Alterthum ganz entbehren koͤnnen. Vielmehr auch in dieſer Ruͤckſicht bleibt das Studium des Alterthums ein hoͤchſt dringendes Beduͤrfniß unſrer Zeit. Man kann von unſerer Naturforſchung ſagen: daß ſie den Kampf der Elemente aufgeregt habe; und dieſer glaͤnzende Vorzug unſrer Zeit laͤßt ſich viel - leicht nicht bezeichnender und ruhmvoller zugleich aus - druͤcken! Aber ſie iſt ſelbſt nun im Kampfe mit den Elementen begriffen, und greift noch ohne ſicheren Richtpunkt da und dort mit ihrem Ruͤſtzeug zwar kraͤf - tig und ruͤſtig ein, aber ohne recht zu wiſſen, wo es hinaus will. In dieſem Zuſtand einer allgemeinen233Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.Gaͤhrung der Naturwiſſenſchaften iſt ein Punkt, an dem ſich die Forſcher orientiren moͤgen, unentbehrlich: in dieſem allgemeinen Kampfe, deſſen Verſohnung erſt in einer fernen Zukunft zu hoffen ſteht, beduͤrfen die Kaͤmpfer einen Ruhepunkt, der ſie wenigſtens zu momentaner Verſoͤhnung vereinige. Welchen andern Punkt aber, das unruhige Streben wenigſtens auf Au - genblicke zu beſaͤnftigen, koͤnnten ſie finden, als eben jene ruhige noch nicht zum Streit entzuͤndete Anſicht der Natur, die uns als Muſter in den Ueberreſten der alten claſſiſchen Zeit aufbewahrt iſt?

Daß nicht auch in Abſicht auf die Form der Darſtellung unſre Naturforſcher von den Alten ſollten zu lernen haben, und die Letzteren auch in dieſer Ruͤck - ſicht unentbehrliche Muſter fuͤr uns ſeyen: wer moͤchte daran zweifeln? Welche moderne Schrift dieſer Art ließe ſich denn aufweiſen, in der die Form mit der Sache ſo ganz Eines waͤre, wie wir auch dies in jenen Muſtern des Alterthums finden?

Sehen wir aber auf die ideellen Gegenſtaͤnde des Unterrichts, ſo kann das Beduͤrfniß, ſich an die Muſter des Alterthums zu halten, noch weit weniger zweifelhaft ſeyn. Unſtreitig haben auch wir in dieſem Gebiete des Ideellen, in Abſicht auf Innhalt und Form, unſre Claſſiker, und es waͤre eine offenbare Ungerechtigkeit gegen die Schriftſteller unſrer Nation, zu behaupten, daß man nichts Muſtermaͤßiges bei ihnen finde. Allein fuͤrs erſte wird doch auch darinn kein234Dritter Abſchnitt.Unparteiiſcher den Vorzug des Alterthums laͤugnen wol - len, und es alſo ſchon inſofern eine unerlaßliche Auf - gabe der freien Bildung bleiben, ſich zum Anſchauen der unerreichten Originale ſelbſt zu erheben. Fuͤrs zweite auch in dieſem Gebiete der Ideen iſt unſre Zeit in Abſicht auf Innhalt und Form in einem Kampfe begriffen, der ſeine Verſoͤhnung erſt von der Zukunft erwartet. Man entruͤſtet ſich gegen die Ver - kehrtheit unſerer jungen Generation, man klagt uͤber ihre Keckheit und Meiſterloſigkeit, man zuͤrnt oder ſpottet uͤber ihre Schwaͤrmerei und Abgeſchmacktheit, und man moͤchte gern das ganze Unweſen mit Feuer und Schwerdt vertilgen, das man als den Keim der Zerſtoͤrung unſrer ganzen Cultur betrachtet. Dem Ru - higeren erſcheint die Gefahr nicht ſo groß, und er kann auf keinen Fall wuͤnſchen, daß gegen jenes frei - lich noch verworrne Streben Gewalt angewendet werde: iſt das Werk von Gott, denkt er mit Ga - maliel ſo werdet ihrs nicht hindern. Wohl aber muß er wuͤnſchen, daß, die ſo klagen, ihrer eignen Schuld dabei nicht vergeſſen moͤchten, um das wahre Huͤlfsmittel nicht laͤnger zu verkennen. Auch auf dem Gebiete der Ideen iſt das Ungluͤck nicht jener unver - ſoͤhnte Kampf uͤber Innhalt und Form: durch den Kampf muß die Verſoͤhnung kommen. Das Ungluͤck vielmehr iſt, daß der Kampf durch eine zufaͤllige Aus - artung entſtellt iſt, und der einzig ſichre Punkt, ſich zu orientiren, von den Kaͤmpfern theils nicht gekannt, theils nicht genug beachtet iſt. Weſſen aber iſt die Schuld davon, als eben derer, die jenen Punkt in235Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.unſrer Cultur faſt haben untergehen laſſen die Kenntniß der Urbilder der Vorzeit, die, aus noch ungetrenntem Gemuͤth und ungetheiltem Streben her - vorgegangen, durch Harmonie des Gefuͤhls und des Gedanken, des Innhalts und der Form, durch ihre Einheit, Innigkeit und Gediegenheit wie durch ihre Reinheit, Klarheit und Haltung nicht nur uner - reichte Muſter fuͤr uns ſind, uns zu erheben und zu begeiſtern, ſondern auch leuchtende Sterne, in dem Kampfe der Zeit unſerm Herzen Beruhigung und Hoff - nung auf die Zukunft der Verſoͤhnung einzufloͤßen, und dem Geiſt in der Verwirrung des Streites das rechte Ziel unverruͤckt vor Augen zu halten? Duͤrfen wir uns wundern, wenn der Streit der Generation, wel - cher der Leitſtern der Vorzeit verſchwunden iſt, kein Ziel mehr kennt?

Endlich keine von allen Nationen der neueren Zeit kann in Abſicht auf Bildung des Geſchmackes der Mu - ſter des Alterthums weniger entbehren, als gerade die unſrige. Die Italiener, die Spanier, die Eng - laͤnder, die Franzoſen haben ihre Claſſiker und halten darauf. Die Teutſchen aber? Ihre Claſſiker haben ſie wohl unſtreitig ſo gut, wie jene: aber halten ſie denn auch darauf? Hat nicht ein unſeeliger Schwin - delgeiſt unſre Nation in ihrer Leſewuth ergriffen? Wird nicht der aͤrmlichſte Roman, das frivolſte Schauſpiel mit eben der Gier als ein Meiſterwerk von Goͤthe oder Schiller verſchlungen, mit eben dem Leichtſinn das letztere wie die erſtern vergeſſen? Welche Plattheit236Dritter Abſchnitt. herrſcht in dem oͤffentlichen Urtheil uͤber Geiſteswerke? Mit welcher Frivolitaͤt werden die erſten Geiſter unſrer Nation in unſrer Mitte ſelbſt herabgeſetzt? Welche andre Nation hat mit gleicher Geringſchaͤtzigkeit und Unbeſonnenheit ihre Nationalwerke behandelt? Welchen unſrer Claſſiker kennt und ehrt denn das Volk? Wel - chen koͤnnen wir ihm nennen, den es als untadel - haftes Muſter gelten ließe? So fehlt es der Mehr - zahl unter uns nicht nur an allem Geſchmack und Kunſtgefuͤhl, ſo wie an aller Sicherheit des Urtheils uͤber Kunſtwerth aͤchter Geiſteswerke, ſondern was das Schlimmſte iſt es fehlt uns auch das Mittel, dieſem Mangel zu begegnen. Die Bildung des Ge - ſchmacks und Kunſturtheils einer Nation iſt nur da - durch moͤglich, daß ſie ihre eignen Meiſterwerke kennt und ehrt, und ſie von Mund zu Mund fortpflanzt. Wer aber nennt mir auch nur Eins von unſern teut - ſchen Meiſterwerken, dem dieſes Gluͤck geworden waͤre? Hat nicht das Herrlichſte wie das Gemeinſte das glei - che Schickſal der Ephemere? Was koͤmmt denn unter uns auch nur zum zweiten Leſen, ich will nicht ſagen auf die zweite Generation? An welchem Werke der teutſchen Kunſt ſollte alſo ſich der Geſchmack unſrer Nation bilden? Wir ſetzen dafuͤr unſer Heil auf die Aeſthetik, und hoffen ſchon durch dieſe es noch zu zwingen! Aber wir bedenken nicht, daß erſtens ſelbſt die vollendetſte Kunſttheorie zwar das Kunſturtheil ſchaͤrfen und berichtigen, Kunſtgefuͤhl aber nicht ge - ben kann; zweitens aber unſre Aeſthetik ſelbſt in der hoͤchſten Verwirrung und im Streit, und mit nichts237Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.eifriger beſchaͤftiget iſt, als die Kunſtwerke unſrer Na - tion herabzuwuͤrdigen, das Vertrauen zu denſelben zu zerſtoͤren, und ſo den ſicherſten Maßſtab des nationa - len Kunſturtheils zu verdraͤngen, um ein Gewirr ge - wagter Kunſtregeln dafuͤr an die Stelle zu ſetzen. In dieſem Zuſtande beduͤrfen wir nichts dringender als Kunſtmuſter, die eine unwiderſprochene Auctoritaͤt ha - ben, an denen ſich das Kunſturtheil in der Verwor - renheit unſrer Aeſthetik in der die Verſoͤhnung des Kampfes noch am allerweiteſten entfernt zu ſeyn ſcheint einſtweilen wenigſtens orientiren und aufrecht erhalten koͤnne. Und dieſe einzige unangefochtene Rettung unſres Geſchmacks vor unſrer Aeſthetik bieten uns nur die claſſiſchen Kunſtwerke des Alterthums an. Moͤge nur der gute Genius unſrer guten Nation dieſes Licht unter uns nicht verloͤſchen laſſen, daß es uns leuchte, bis der Tag (unſrer Aeſthetik) anbreche und der Mor - genſtern aufgehe in unſern Herzen!

Uns aber bleibt fuͤr die Bildung eines National - geſchmacks noch etwas anderes durch den Erziehungs - unterricht zu thun, naͤmlich: unſre nationalen Geiſtes - werke national zu machen! Dies kann nicht geſchehen, ſo lange wir nicht das wahrhaft Vortreffliche und wirk - lich Claſſiſche bleibend und feſt zu machen ſuchen, ſo lange nicht das Beßte von Munde zu Munde geht, ſo lange nicht von Generation zu Generation daſſelbe Meiſterwerk fortgepflanzt und geehrt wird, ſo lange die unſeelige Sucht nach ewigem Wechſel unter uns wuͤthet, ſo lange wir von dem ſchrecklichen Leſeſchwin -238Dritter Abſchnitt. del uns nicht erholen. Wie ſollen wir aber uns davon erholen, ſo lange wir ſelbſt in unſerm Erziehungsun - terricht nichts Stehendes anerkennen, ſo lange wir unſern Kindern ſelbſt die Sucht nach Varietaͤt anbilden, ſo lange wir nicht nur die Leſebuͤcher, ſondern ſelbſt die Katechismen in unſern Schulen ins Unendliche fort veraͤndern und vervielfaͤltigen, ſo lange wir fortfahren, in dem Material der Geiſtesbildung nicht nur Genera - tion von Generation, und Stand von Stand, ſondern ſogar Familie von Familie zu trennen, ſo daß nicht nur der Vater den Sohn und die Mutter die Tochter, ſondern auch der Hoͤhere den Niedrigern und ſogar ein Schuͤler den andern uͤber gar nichts mehr verſteht, was ſie gelehrt werden? Soll es mit unſrer Bildung beſſer werden, ſo muͤſſen wir ernſtlich darauf denken, in dem Unterrichtsmaterial feſte Punkte herzuſtellen, die als Ver - einigungspunkte der Bildung dienen koͤnnen. Und dazu ſollten wir vor allem andern die claſſiſchen Geiſteswerke unſrer Nation anwenden. Das Herrlichſte aus ihnen muͤßte ſchon durch den Erziehungsunterricht zum Ge - meingut der Nation erhoben werden; das muͤßten Alle lernen und Alle kennen, damit unbekannt zu ſeyn muͤßte als Beweis von Barbarei beſchimpfend ſeyn Dies ſelbſt ſchon wuͤrde eine ſichere Grundlage der National - bildung ſeyn, zugleich aber auch noch dadurch wohlthaͤ - tig auf die Bildung unſrer Nation wirken, daß der Hang zu immerwaͤhrender Veraͤnderung geiſtiger Ge - nuͤſſe etwas gemindert, ein ſichrer Maßſtab des wirk - lich Achtungswerthen gebildet, gegen das Mittelmaͤßige Eckel, gegen das Platte und Frivole Abſcheu erzeugt,239Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.zugleich aber mehr Verehrung des Vortrefflichſten unter uns erweckt, Vertrauen auf die Kraft der Nation und ihre Geiſteswerke genaͤhrt und der gegruͤndete National - ſtolz gepflegt wuͤrde, deſſen Mangel ſich in der uͤber - triebenen Demuth, womit wir fremde Werke uͤber - ſchaͤtzen, noch immer zu unſerm Nachtheil offenbart.

b. Die Unterrichtsmethode betreffend.
1.

Der Grundſatz des Philanthropiniſmus, das Lernen dem Lehrling auf jede moͤgliche Weiſe zu erleichtern und zu verſuͤßen, hat vorzuͤglich folgende zwei ſcheinbare Gruͤnde fuͤr ſich anzufuͤhren: 1) fruͤhe allzugroße Anſtrengung ſey fuͤr die Geſundheit nachtheilig; 2) nach einer bekannten pſychologiſchen Beobachtung habe die Schwierigkeit der Arbeit etwas Abſchreckendes, und im Gegentheil mache Luſt und Lieb zu einem Ding alle Muͤh und Arbeit gering.

Allein, ohne noch an den ſchimpflichen Mißbrauch zu erinnern, der die Maxime des Verſuͤßens der Arbeit fuͤr die Kinder bis zu der Albernheit, das Al - phabet in Zucker zu backen, ausgedehnt hat, iſt dieſe methodiſche Maßregel, als in ſich verwerflich, ſelbſt bei maͤßigerem Gebrauche doch nicht zu vertheidi -240Dritter Abſchnitt. gen. Es wird hinreichend ſeyn, den angegebnen Gruͤnden nur die wichtigſten Einwendungen entgegen - zuſtellen.

Erſtens, was den Nachtheil fuͤr die Geſundheit betrifft, welchen die fruͤhe große Anſtrengung der Kin - der zum Lernen haben ſoll, ſo iſt die Uebertreibung ganz offenbar. Man duͤrfte ſich dagegen nur auf die Erfahrung berufen, wie viele Gelehrte, die von ihrer zarteſten Kindheit an in geiſtiger Anſtrengung zugebracht haben, langer Lebensdauer und der vollſten Geſundheit genießen. Freilich fehlt es auch nicht an Beiſpielen ſolcher, die fruͤher ſterben, oder doch an ſchwaͤchlicher Ge - ſundheit leiden. Allein man vergleiche nur die Zahl von jenen und dieſen, und vergeſſe nur nicht, wie viele der Letztern von der Geburt an ſo ſchwaͤchlich waren, daß ſie bei jeder andern Lebensart wahrſchein - lich ſich noch fruͤher verzehrt haͤtten, und zum Theil um dieſer Schwaͤchlichkeit willen den Gelehrten-Stand erwaͤhlt haben: ſo wird man noch immer ein großes Mißverhaͤltniß zum Vortheil der Erſtern finden. Wollte man dagegen auch auf der andern Seite abrechnen, daß die Gelehrten durch frugale Lebensart, die ihnen meiſt durch kuͤmmerliche Verhaͤltniſſe von Jugend an zur Nothwendigkeit geworden iſt, an Geſundheit und Lebensdauer gewinnen, und man nicht als Beweis von allgemeiner Unſchaͤdlichkeit fruͤher geiſtiger Anſtrengung aufſtellen duͤrfe, was auf ganz andern Gruͤnden beruhe; ſo koͤnnte doch ſelbſt dieſe Berechnung jenes Verhaͤltniß nicht ſo zum Nachtheil aͤndern, daß man nicht noch241Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.immer jene Erfahrung als Gegenbeweis gegen die uͤber - triebne Beſoxgniß anfuͤhren duͤrfte.

Allein, wir beduͤrfen nicht einmal jener Erfahrung als Gegenbeweiſes, da das Argument ſelbſt, was man auch zu deſſen wirklicher Begruͤndung oder bloßer Aus - ſchmuͤckung vorbringe, ſchon auf den erſten Anblick ſich als eine von den Uebertreibungen ankuͤndiget, an denen unſer Zeitalter ſo reich iſt, wo es auf neologiſche Ver - folgung und Ausrottung einer alten, obgleich erprob - ten, Gewohnheit oder Sitte ankoͤmmt, die der Weich - lichkeit der Zeit nicht gefaͤllt.

Anſtrengung des Geiſtes kann dem Koͤrper nie anders, als nur auf einem hohen Grade des Miß - brauchs, nachtheilig ſeyn. Man darf ſogar ohne Be - denken behaupten, daß mehr Kinder durch zu fruͤhe koͤrperliche Anſtrengung zu Grunde gehen, als durch geiſtige: ſo daß in Abſicht auf die koͤrperlich arbeitende Volks-Claſſe die Schule, als Bewahrung vor allzu - fruͤher harter Arbeit, oͤfters zur Schonung der Geſund - heit der Lehrlinge dient. Will man aber auch das Ge - ſundheitsargument nicht ſowohl von dieſer Seite geltend machen, als vielmehr von der unmittelbar koͤrperlichen; wie man denn vorzuͤglich uͤber Mangel an Bewegung, freier Luft u. ſ. w. geſchrieen hat: ſo iſt doch auch an all dem Geſchrei nichts weiter, als daß man uns eine an einigen Siechlingen gemachte Beobachtung als all - gemeine Regel, und ungereimte Uebertreibungen hypo - chondriſcher Makrobiotiker als gruͤndliche Beobachtung16242Dritter Abſchnitt. aufdringen will. Wer einen Siechling zu erziehen hat, der mag ihn auch ruͤckſichtlich der geiſtigen Be - ſchaͤftigung nach den aͤngſtlichen Vorſchriften der Ma - krobiotik behandeln: aber als Regel ſtelle man uns nur nicht vor, was nur fuͤr die Siechlinge paßt, und nur der Faulheit der Geſunden ſchmeichelt! Noch iſt unſre Generation im Ganzen nicht zu dem Grade koͤr - perlicher Aſthenie herabgeſunken, daß wir unſern Kin - dern nichts rechtes mehr zuzumuthen uns getrauen duͤrften.

Fuͤrs zweite aber, was die pſychologiſche Bemer - kung betrifft, daß man dem Kinde die Arbeit verſuͤßen muͤſſe, um ihm Luſt zur Arbeit zu machen: ſo gehoͤrt ſie zu den ſchielenden Anſichten, die ihre Oberflaͤchlich - keit durch einen gewiſſen Glanz der Neuheit zu verber - gen wiſſen, indem ſie ſich einem wahren Mißbrauch gegenuͤber ſtellen, gegen den ſie allerdings recht haben. Freilich kann man einem Kinde den Unterricht zum Eckel machen, wenn der Lehrer aus Ungeſchick den Gegenſtand falſch angreift und den Lehrling nur mar - tert; und es fehlt auch nicht an Beiſpielen von Einzel - nen, denen gewiſſe Lehrgegenſtaͤnde durch ihre Lehrer verhaßt geworden ſind. Allein welcher ſchiefe Schluß iſt es, der von dieſem Datum auf Verleidung der Ar - beit durch Anſtrengung uͤberhaupt gemacht wird. Nicht die Anſtrengung, ſondern die verkehrte und fruchtloſe Anſtrengung macht eine Arbeit verhaßt. Im Gegen - theil die Anſtrengung ſelbſt macht die Arbeit zur Luſt, ſobald ſie nur gedeiht. Das iſt eine ganz bekannte243Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.und unlaͤugbare Erfahrung, daß dem Kinde gerade das die meiſte Freude macht, was es mit Muͤhe errun - gen hat. Die Muͤhe, wenn ſie nur gelingt, hat ihren Lohn in ſich ſelbſt: das Kind fuͤhlt ſich in dem, was es geleiſtet hat, und ſchoͤpft aus dem Gelungnen ſelbſt den Muth zu neuem Unternehmen.

Ich muß hier noch eine andre Bemerkung machen, die damit in Verbindung ſteht. Die dem Kinde alles zur Luſt machen wollen, waͤhlen auch das hoͤchſt ver - werfliche Mittel, das Kind fuͤr alles zu bezahlen. Daß du verdammt ſeyeſt mit deinem Gelde, moͤchte man ei - fernd mit dem Apoſtel ausrufen! Soll denn alles in der Welt nur um des Geldes willen geſchehen? und was fuͤr ein anderes Intereſſe will man denn von Menſchen in der Folge fordern, denen man ſchon als Kindern dies als das einzige Motiv einpraͤgt, in denen man dadurch ſelbſt alles beſſere und wahre Intereſſe toͤdtet? Will man denn recht mit Gewalt den ſchoͤnen Sinn vernich - ten, der die Arbeit um der Arbeit willen thut, und ſich belohnt findet, wenn ſie gelungen iſt? Und, wenn man dieſen Lohn nicht belebend genug fuͤr das Kind haͤlt (obgleich eine richtige Beobachtung das Gegentheil ſicher entdecken wird), wenn man eine aͤußere Beloh - nung noͤthig glaubt: ſoll denn des Lehrers und der Aeltern Beifall ganz und gar nichts gelten, er, deſſen Gewicht alles Gold der Welt fuͤr ein nicht ver - bildetes Kind aufwiegen muß?

Noch weit verkehrter aber wird jene Anſicht, wenn man die Natur des Menſchen ſelbſt genauer auffaßt. 16*244Dritter Abſchnitt. Die Kraft der Traͤgheit in dem Menſchen iſt nicht bloß eine Negation von Kraft, ſie iſt vielmehr eine wider - ſtrebende Kraft. Eigentliche Luſt zur Arbeit iſt eben darum von Natur nicht in ihm; vielmehr dem naͤmli - chen Geſchaͤft, das er ſpielend thut, wenn ers aus Laune und aus freiem Willen gewaͤhlt hat, widerſtrebt ſein Trieb, ſobald er es als Arbeit, die ihm auferlegt iſt, betrachtet. Dies kann man taͤglich an den Kindern ſehen, und ſieht es auch zu ſeinem Aerger an Alten, die wie Kinder in dieſer Ruͤckſicht geblieben ſind. Das naͤmlich koͤmmt heraus bei jener Zucht, die alle Arbeit nur auf Luſt des Kindes will ankommen laſſen: alte Kinder, die zu jeder Arbeit eine eigne Laune abwarten wollen, und immer von der Stimmung reden, die erſt kommen muͤſſe, ehe ſie etwas zu thun vermoͤchten, die nur dann arbeiten, wenn ſie die Arbeit zum Beduͤrfniß, zum Vertreiben der Langenweile noͤthig haben.

Ob das Menſchen ſind, wie man ſie in der Welt braucht, will ich hier gar nicht fragen. Die Welt hat darinn eine eigne Zucht; die Noth lehrt nicht bloß beten, ſie lehrt auch arbeiten, und wers nicht in ſeiner Jugend gelernt hat, der muß es doch noch oft in ſpaͤ - tern Jahren lernen: er verliert dabei am meiſten, durch den Schmerz, den ihm der Druck der Noth nun dop - pelt fuͤhlbar macht. Aber davon muͤſſen wir doch reden, daß die Erziehung ihre Pflicht ſehr ſchlecht er - fuͤllt, wenn ſie die Noth zum Supplement erſt noͤ - thig hat!

245Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.

Dann aber, wie wenig iſt es doch des Menſchen wuͤrdig, nicht Herr ſeiner ſelbſt zu ſeyn! Herr ſeiner ſelbſt iſt der Menſch nur durch die Kraft ſeines Ent - ſchluſſes; dieſer muß auch fuͤr das Unerfreuliche ihm zu Gebote ſtehen. Arbeitſamkeit iſt eine Tugend des Willens, eine Gewoͤhnung des Entſchluſſes, eine zweite Natur durch Uebung. Ohne eine ſolche Umwandlung zu einer andern Natur findet keine eigentliche Arbeit - ſamkeit ſtatt, keine Feſtigkeit noch Staͤtigkeit im Thun. Wie aber ſoll dieſe andre Natur, die nur durch Ge - woͤhnung werden kann, entſtehen, wo die Gewoͤhnung ganz verſaͤumt, und ſogar die entgegengeſetzte Gewoͤh - nung (der Arbeitsſcheue, des ſich ſelber Nachſehens, des unentſchloßnen Umgehens) zur zweiten Natur erzo - gen wird? Nur wer ſeines Entſchluſſes Herr iſt, wird jede Arbeit auch entſchloſſen angreifen; und nur wer im entſchloßnen Angreifen ſeiner Arbeit eine lange Ue - bung bis zur Fertigkeit hat, wird ohne Scheu und ohne Widerwillen an ſeine Arbeit denken.

Dahin muß die Erziehung es bringen, die Natur des Menſchen darinn umzuaͤndern; und dazu iſt der einzig wahre Weg, das Kind ſchon fruͤh zu abgemeßner Arbeit anzuhalten. Deshalb iſt es ſchon von Wichtig - keit, fruͤhzeitig eine Zahl von Stunden taͤglich feſtzu - ſetzen, die dem Geſchaͤft gewidmet ſind, und in unun - terbrochner Ordnung eingehalten werden. Dies aber iſt es nicht allein. Vorzuͤglich iſt das Lernen (die gei - ſtige Beſchaͤftigung) ein durchgreifendes Mittel zu jenem Zweck. Denn Traͤgheit zur Reflexion, Scheue vor246Dritter Abſchnitt. Anſtrengung des Kopfes, hauptſaͤchlich iſt es, was den Menſchen in tauſend Faͤllen am Handeln hindert. Und dies zeigt ſich ſelbſt auch ſchon am Kinde. Noch im - mer leichter wird ein Kind zu koͤrperlicher Arbeit ſich anhalten laſſen, als zu geiſtiger; und man kann wohl ſehen, daß ein Kind der Schule zu entgehen jede koͤr - perliche Arbeit willig uͤbernimmt, nicht aber umgekehrt, daß es, um koͤrperlicher Arbeit zu entfliehen, ſich zur Schule fluͤchtet. Gerade dies iſt der Beweis, daß man das rechte Mittel getroffen hat, das Kind zur Arbeit zu gewoͤhnen, wenn man damit anfaͤngt, was es am wenigſten thun mag. Das uͤbt die Kraft des Willens, die Traͤgheit uͤberall zu uͤberwinden. Und, wie es des Menſchen Loos iſt, nichts rechtes ohne Kampf zu ſeyn und zu beſitzen, ſo iſt ihm eben dieſe Uebung, die ihm einen ernſten Kampf mit ſich ſelbſt auflegt, vor allen andern noͤthig.

Der Humaniſmus hat auch hierinn alſo in dop - pelter Hinſicht das Rechte getroffen. Der Grundſatz, den er uͤber dieſen Punkt aufſtellt, iſt ohne Zweifel richtig, und zeugt von einer weit unbefangneren und tieferen Beobachtung der Natur des Menſchen, als der entgegengeſetzte Grundſatz des Philanthropiniſmus. Ueberdies aber iſt auch ſelbſt das Mittel, das der Humaniſmus vorzieht, in der That vorzuͤglich fuͤr den Zweck geeignet. Gerade weil der Menſch die geiſtige Beſchaͤftigung am meiſten ſcheut, und dieſe alſo den ſtaͤrkſten Entſchluß fordert, iſt es zweckmaͤßig, nicht nur uͤberhaupt mit dem Lernen, und ſonach mit geiſtiger247Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.Beſchaͤftigung, die Gewoͤhnung zum Geſchaͤft anzufan - gen, ſondern mit dem Schwereren des geiſtigen Ge - ſchaͤfts, indem der Geiſt von allem Sachwerk, das die Traͤgheit und Paſſivitaͤt des Geiſtes naͤhrt, ganz ent - fernt, und in das Gebiet der geiſtigen Objecte ſelbſt gleich eingefuͤhrt wird. Dadurch koͤmmt in das Ge - ſchaͤft der rechte Ernſt; die Spielerei, die an das Sach - object ſich immer leicht anhaͤngt, faͤllt weg, der Lehr - ling muß zu ernſter Arbeit ſich bequemen, und wenn darinn der Geiſt erſt recht erſtarkt iſt, geht er mit voller Kraft zu jeder andern Arbeit uͤber, jede andre im Vergleich mit jener leicht findend, und durch Ue - bung in dem Schwereren jedem andern Geſchaͤfte ganz gewachſen.

Eben ſo verhaͤlt es ſich von einer andern Seite. Die Arbeitſamkeit iſt naͤmlich auch noch in einer andern Ruͤckſicht Gewoͤhnung, und muß in der Erziehung mit gebildet werden. Wer die Arbeit nur als Uebergang zur Ruhe betrachtet, und nur arbeitet, um auszuruhen, verdient nicht den Namen eines Arbeiters. Das Leben des Menſchen iſt Thun, und Erhohlung iſt nur Mittel zur Arbeit; jenes alſo heißt die Ordnung der Vernunft verkehren. Dahin aber fuͤhrt auch jene Maxime des Philanthropiniſmus, die den Lehrling nicht will an - ſtrengen laſſen. Soll das Kind nur arbeiten, ſo lange es Luſt hat, ſo tritt unausbleiblich jene verkehrte Ord - nung ein; der Lehrling ermuͤdet bald, und um ſo eher, wenn er weiß, daß er der Arbeit los wird, ſobald er ſich derſelben uͤberdruͤſſig zeigt. So wird man nie ihn248Dritter Abſchnitt. dahin bringen, daß der groͤßere Theil ſeiner Zeit der Arbeit gewidmet werde; unvermeidlich wird die Zeit des Spielens und des Muͤſſigganges ſich verlaͤngern, und die Stundenzahl fuͤr das Geſchaͤft der kleinere Theil des Lebens werden. Wo ſoll dann der Lehrling rechte Arbeitſamkeit lernen, wenn man ihm ſchon von der fruͤhſten Jugend an ſeinen Hang zur Traͤgheit auch zur zweiten Natur angebildet hat? Wird ihm nicht jede Eintheilung ſeiner Zeit, die mehr der Arbeit als dem Nichtsthun zuweiſen will, eine Laſt ſeyn, der er auf jede moͤgliche Weiſe ſich zu entziehen ſucht? Wie viel darinn die Gewoͤhnung thue, beweiſen die vielen Bei - ſpiele der entgegengeſetzten Art, von Maͤnnern, denen es unertraͤglich und das Leben ſelbſt eine Laſt iſt, wenn ſie nicht beſtimmte Arbeit zu thun haben. Laſſe man nur nicht ſolche Erfahrungen ungenutzt, und erwarte das Unmoͤgliche! Soll die Erziehung etwas ſeyn und leiſten, ſo kann ſies nur, wenn ſie den Menſchen zu dem Beſſern fuͤhrt, die Tugenden ihm giebt, zu de - nen eigner Trieb durch Neigung nicht in ihm iſt, weil ihn vielmehr der entgegengeſetzte Trieb zu et - was anderm treibt. Erziehung uͤberhaupt, was iſt ſie, wenn ſie nicht die Erſchaffung einer andern Natur des Menſchen iſt? Nicht einer ihm fremden Natur welches abermals eine Unmoͤglichkeit fordern hieße aber der beſſern Natur, die nur durch den Willen, und den Entſchluß, und die Gewohnheit des Entſchluſſes zum Durchbruch und zum Stehen koͤmmt. Jung ge - wohnt, alt gethan! iſt ein altes Sprichwort, das durch ſein Alter nichts an ſeinem Reſpect verloren ha -249Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.ben ſollte. Gewoͤhne man das Kind zur Spielerei, verſuͤße ihm die Arbeit, um ſie ihm zum Spiel zu machen es wird nicht fehlen, daß es durch ſein ganzes Leben mit der Arbeit ſpiele. Die ſchlechte Na - tur fruͤh durch Gewoͤhnung uͤben, heißt, ſie unausrott - bar machen! Gewoͤhne man das Kind zum Ernſt und Fleiß, erſchwere ihm zwar nicht die Arbeit, aber be - harre dabei unerbittlich, als auf einer unumſtoͤßlichen Ordnung der Natur, daß geſchehe, was geſchehen ſoll, daß es thue, was aufgegeben iſt, und regelmaͤßig und mit Fleiß es thue: das Kind wird bald die Arbeit lernen, und endlich ſelbſt mit Freude thun, und ein Beduͤrfniß zu der Arbeit fuͤhlen. Iſt ſo bei ihm die zweite beſſere Natur zur Reife gelangt, dann iſt der Menſch er ſelbſt geworden, dann kann man ruhig ihn ſich ſelber uͤberlaſſen.

2.

Der Philanthropiniſmus hat, ſeiner ganzen Rich - tung gemaͤß, auch den Grundſatz der Methodik fuͤr den Erziehungsunterricht aufgeſtellt: daß man den geſammten Lehrſtoff gleich vom Anfang des Un - terrichts an in ſeinem vollſtaͤndigen Umfang auffaſſen und als ein ſyſtematiſches Ganze durch alle Stufen des Unterrichts durchfuͤhren muͤſſe; und es gilt ziemlich allgemein fuͤr eine bedeutende Verbeſſerung der Methode, die dadurch gewonnen worden ſey.

Stellt man den Fragepunkt bloß darauf: ob man nur Einen Lehrgegenſtand, oder doch nur we -250Dritter Abſchnitt. nige, mit Einemmal betreiben, oder mit mehreren zugleich den Lehrling beſchaͤftigen ſolle? ſo iſt der Streit nicht neu, ſondern ſchon aus den aͤlteſten Zei - ten der Paͤdagogik bekannt, und nach entgegengeſetzten Anſichten entſchieden worden. Allein in dieſem be - ſchraͤnkten Sinne darf hier die Frage nicht gefaßt wer - den; es liegt vielmehr in der Natur des vollendeten Philanthropiniſmus, ihr eine umfaſſendere Bedeutung zu geben. Die Hauptanſicht naͤmlich, von der wir ausgehen muͤſſen, um den Sinn des modernen Unter - richtsſyſtems auch in dieſem Punkte vollſtaͤndig darzu - ſtellen, beruht darauf, daß wir den geſammten Lehr - ſtoff als ein Syſtem betrachten, das nicht theil - weiſe ſondern, immer als ein Ganzes, nur grad - weiſe aufzufaſſen ſey. Das Hauptargument fuͤr den obigen Grundſatz beſteht deshalb auch nicht ſowohl darinn: a) daß die Trockenheit der einfoͤrmigen Be - ſchaͤftigung mit wenigen Lehrgegenſtaͤnden den Lehrling verdrießlich mache und vom Lernen abſchrecke; obgleich auch dieſer Grund von den Philanthropiniſten nicht verſchmaͤht wird; als vielmehr darinn: b) daß man gleich von Anfang an den Lehrling theils an umfaſſende Beſchaͤftigung uͤberhaupt, theils an Ueber - ſicht ſeines Gegenſtandes gewoͤhnen muͤſſe; c) der ſyſte - matiſchen Verbindung des geſammten Lehrſtoffes aber insbeſondre auch dazu beduͤrfe, um das Ineinander - greifen der Lehrgegenſtaͤnde zu den ſchnelleren Fort - ſchritten zu benutzen, die heut zu Tage im Erziehungs - unterricht gemacht werden muͤſſen, wenn man nur einigermaßen dem Reichthum der Kenntniſſe gewachſen,251Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.und mit den reißenden Fortſchritten der Wiſſenſchaften auf gleicher Linie bleiben wolle.

Von der Guͤltigkeit dieſer Gruͤnde insbeſondre haͤngt alſo auch die Entſcheidung uͤber den obigen Grundſatz ab.

Was nun zunaͤchſt den zuletzt geſtellten Grund be - trifft, ſo iſt ein Theil deſſelben ſchon durch die fruͤ - here Unterſuchung niedergeſchlagen, indem die Voraus - ſetzung, daß der ſogenannte Lehrſtoff fuͤr den Erzie - hungsunterricht eine unermeßliche Ausdehnung uͤber die geſammte Encyklopaͤdie des Wiſſens erfordere, als unguͤltig aufgezeigt worden iſt. Wird dieſe ungegruͤn - dete Vorausſetzung verlaſſen, und der Umfang der Gegenſtaͤnde des Erziehungsunterrichts auf ſeine natuͤr - lichen Graͤnzen zuruͤckgefuͤhrt, ſo erſcheint es ſchon um einen großen Theil weniger bedenklich, den Lehr - ling in allen Unterrichtsperioden mit dem ganzen Kreiſe des Lehrſtoffes zu beſchaͤftigen. Inzwiſchen haͤngt die Guͤltigkeit oder Unguͤltigkeit des Grundes von der groͤ - ßern oder kleinern Zahl der Lehrgegenſtaͤnde nicht ab, und man wuͤrde ſich irren, eine weitere Unterſuchung daruͤber nach der ſchon oben vorgenommnen Reduction der Lehrgegenſtaͤnde fuͤr uͤberfluͤſſig zu halten. Auch bei wenigen Gegenſtaͤnden des Unterrichts bleibt immer die Frage: ſoll man ſie alle zugleich oder alle einzeln nacheinander mit dem Lehrling betreiben? Und wenn fuͤr die erſtere Methode durch den Grund entſchieden werden ſoll, daß von der ſyſtematiſchen Verbindung252Dritter Abſchnitt. der Lehrgegenſtaͤnde und ihrem Ineinandergreifen ein ſchnellerer Fortſchritt des Lernens zu erwarten ſey, ſo fragt ſich erſt noch, ob denn auch dieſe Anſicht fuͤr ſo ganz unbezweifelt gelten koͤnne? In der That liegt dabei eine Taͤuſchung zu Grunde. Man kann aller - dings durch Verbindung einzelner Lehrgegenſtaͤnde das gleichzeitige Erlernen derſelben befoͤrdern; man kann z. B. das Leſenlernen durch gleichzeitig angeſtellte Schreibuͤbungen unterſtuͤtzen, man kann Arithmetik mit Geometrie, Phyſik mit Mathematik, Mathematik und Naturkunde mit Geographie, auch Logik mit Mathe - matik, u. ſ. w. verbinden: und es laͤßt ſich ſogar ein wichtiger Grund fuͤr dergleichen Vereinigungen von Lehrgegenſtaͤnden aus der pſychologiſchen Beobachtung ableiten: daß die Lehrlinge nicht ſelten das, was nur als Nebenbemerkung, oft bloß beiſpielsweiſe eingeſchaltet, im Unterricht vorkoͤmmt, ſchaͤrfer faſſen, als das, worauf man direct ihre Aufmerkſamkeit richten will. Allein fuͤrs erſte kann, was bei den unmittelbar ver - wandten Unterrichtsbeſchaͤftigungen ſtatt findet, nicht als eine in der ganzen Ausdehnung auf den geſammten Umkreis der Lehrgegenſtaͤnde guͤltige Regel aufgeſtellt werden; denn, obgleich alle Theile des Wiſſens ver - wandt ſind, ſo wird doch der Vortheil, den die ent - fernteren Verwandtſchaften anbieten, zu unbedeutend, um den Schwierigkeiten, die ſich in jedem einzelnen Theile finden, in ihrer Zuſammenhaͤufung das Gleich - gewicht zu halten. Fuͤrs zweite iſt nicht zu uͤberſehen, daß man ſogar bei ſehr nahe verwandt ſcheinenden Beſchaͤftigungen ſich in den Hoffnungen eines großen253Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.Zeitgewinns, die man ſich gemacht hatte, getaͤuſcht gefunden hat. Man hat z. B. viel Aufhebens von der vermeinten Verbeſſerung machen hoͤren, gleich mit den Anfangsuͤbungen des mechaniſchen Leſens ein ſtaͤtes Hinweiſen des Kindes auf den Sinn des Geleſenen zu verbinden; haͤtte aber das unzeitige Triumphiren uͤber die angebliche Unvernunft der alten Methode eine kalt - bluͤtige Beobachtung zugelaſſen, ſo wuͤrde man ſchon laͤngſt allgemein bemerkt haben, daß der Gewinn nur ſcheinbar ſey, daß die Kinder, denen die Aufmerkſam - keit auf das Zeichen und die mechaniſche Beſchaͤftigung mit demſelben laͤſtig iſt, nur zu geneigt ſind, auf das Bezeichnete uͤberzuſpringen, und dann nur mit um ſo mehr Ernſt und Zwang zum Zeichen zuruͤckgefuͤhrt wer - den muͤſſen, und gleichwohl nur um ſo laͤnger mit dem laͤſtigen Geſchaͤft des mechaniſchen Leſenlernens zu - bringen und ſich martern muͤſſen; ſo daß ein Kind, mit dem man beide Beſchaͤftigungen getrennt nach einander vornimmt, unſtreitig leichter und ſchneller, als nach jener Methode, zum Ziele koͤmmt. Fuͤrs dritte laͤßt ſich derſelbe Vortheil, den das gleichzeitige Behandeln des ganzen ſyſtematiſch verbundnen Unterrichtsſtoffes bewirken ſoll, vollkommen erreichen, wenn bei ge - trennter Behandlung deſſelben der Lehrer, was etwa von einem verwandten Gegenſtande benutzt werden kann, als Aufmunterungsmittel bloß wie zufaͤllig ein - fließen laͤßt; ohne daß dazu noͤthig waͤre, ſaͤmmtliche Gegenſtaͤnde fuͤr jede Unterrichtsſtufe ſyſtematiſch an einander gereiht zu behandeln.

254Dritter Abſchnitt.

Eben ſo wenig beweiſt der zweite Grund die Nothwendigkeit einer ſolchen Unzertrennlichkeit der Un - terrichtsgegenſtaͤnde. Fuͤrs erſte, verlaͤßt man die falſche Richtung, die unſre moderne Cultur genommen hat, die wahre Bildung in einer encyklopaͤdiſchen Ver - breitung uͤber das geſammte Gebiet des Wiſſens zu ſuchen, ſo faͤllt von ſelbſt auch das vermeinte Be - duͤrfniß jener formellen Geiſtesuͤbung, durch die ſchon das Kind zu einer ſolchen widernatuͤrlichen Verbreitung gewoͤhnt werden ſoll: Man wird fuͤrs zweite vielmehr um ſo noͤthiger finden, die ſchwerere Gewoͤhnung des Kindes, daß es ſich auf Einen Gegenſtand con - centriren lerne, zur formellen Hauptaufgabe des Un - terrichts zu machen, und deshalb auch der vereinzelten Behandlung der Unterrichtsgegenſtaͤnde den Vorzug zu - erkennen. Fuͤrs dritte iſt es in der That hoͤchſt unpſy - chologiſch, eine Gewoͤhnung zur Ueberſicht durch An - haͤufung von Gegenſtaͤnden, die den noch ungeuͤbten Blick nur verwirren kann, bewirken zu wollen, waͤh - rend man dagegen das einzige methodiſche Mittel fuͤr jenen Zweck naͤmlich den Lehrling zunaͤchſt zur Ueber - ſicht einzelner Gegenſtaͤnde zu gewoͤhnen, und ihn eben dadurch zu einer allgemeinen Ueberſicht uͤber den gan - zen Umfang derſelben vorzubereiten gerade durch jene Maßregel ſelbſt zerſtoͤrt. Die alte Lehrmethode hat allerdings darinn haͤufig gefehlt, daß ſie bei ihrer Vereinzelung der Lehrgegenſtaͤnde im Erziehungsunter - richt an eine Vereinigung derſelben zu wenig gedacht, und die Lehrlinge oft bloß beim Vereinzelten feſtgehal - ten hat. Gegen dieſen Mißbrauch hat alſo zwar der255Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.Philanthropiniſmus recht; aber das entgegengeſetzte Extrem, zu dem er uͤbergegangen iſt, hat in der That mehr Nachtheil als jener Mißbrauch ſelbſt, den man entweder durch ein am Ende der Unterrichtsperiode vorgenommenes Zuſammenfaſſen der erlernten Gegen - ſtaͤnde leicht ergaͤnzen, oder auch ohne eine eigene Anweiſung daruͤber den Lehrlingen ſelbſt zur Ergaͤnzung uͤberlaſſen kann.

Das Hauptargument alſo fuͤr den obigen Grund - ſatz, welches die Nothwendigkeit darthun ſollte, den geſammten Lehrſtoff gleichzeitig in allen ſeinen Theilen durch alle Stufen des Erziehungsunterrichts durchzu - fuͤhren, zeigt ſich als unhaltbar; und ſomit koͤmmt die ganze Differenz auf die alte didaktiſche Streitfrage zu - ruͤck, welche nicht von einer ſyſtematiſchen Gleichzeitigkeit aller Lehrgegenſtaͤnde durch alle Lehrperioden hindurch, ſondern nur davon handelt: ob man mehrere Unter - richtsgegenſtaͤnde zu gleicher Zeit neben einander mit dem Lehrling anfangen und betreiben ſolle, oder ob es rathſamer ſey, ſich bei Einem Gegenſtande ſo lange aufzuhalten, bis der Lehrling darinn eine hinlaͤngliche Fertigkeit erworben habe?

Wenn aber auch der Streitpunkt nur ſo geſtellt wird, ſo zeigt ſich doch, daß nur gegen den wirklichen Mißbrauch der Vereinzelungsmethode das Argument gilt, das man fuͤr die entgegengeſetzte Cumulationsme - thode geltend zu machen ſucht. Einfoͤrmige Beſchaͤfti - gung widerſtrebt allerdings der beweglichen und fluͤch -256Dritter Abſchnitt.tigen Natur des Kindes, und erregt ihm eben deshalb Langeweile und bei fortdauernder Anſtrengung Wider - willen. Dies ſcheint hinreichend fuͤr die Nothwendig - keit zu beweiſen, mehr Mannichfaltigkeit in das Unter - richtsgeſchaͤft zu bringen. Allein, man hat ſich auch darinn viel zu ſehr uͤbereilt. Fuͤrs erſte iſt ja uͤberall nicht die Rede davon, das Kind den ganzen Tag un - unterbrochen mit Einem und ebendemſelben Lehrgegen - ſtande zu beſchaͤftigen. So ſtreng auch die Unterrichts - ſtunden ſelbſt gleich vom erſten Anfang an mit dem Kinde eingehalten werden muͤſſen, ſo iſt doch die Zahl derſelben Anfangs nothwendig beſchraͤnkt, und die ganze uͤbrige Zeit wird dem Kinde freigelaſſen. Sobald man nur dies Eine recht bedenkt, ſo wird man ſchon die Beſorgniß uͤbertrieben finden, dem Lehrling Widerwillen zu erregen, wenn man ihn taͤglich einige Stunden fuͤr Eine Beſchaͤftigung fixiren wollte; der beſonnene Er - zieher wird vielmehr den Unterricht als Mittel betrach - ten, das Kind in ſich ſelbſt zu ſammeln und allmaͤlig zu ernſterem Nachdenken zu gewoͤhnen; um ſo weniger alſo kann er wuͤnſchen, durch Mannichfaltigkeit von Lehrgegenſtaͤnden den Unterricht ſelbſt zu einem Zerſtreu - ungsmittel zu machen. Fuͤrs zweite begruͤndet Einzeln - heit des Gegenſtandes an und fuͤr ſich noch gar nicht Einfoͤrmigkeit der Beſchaͤftigung mit demſelben. Ein Lehrer, der den Gegenſtaͤnden Intereſſe abzugewinnen weiß, wird das Mittel verſchmaͤhen, durch Anhaͤufung von Lehrſtoff die Aufmerkſamkeit des Lehrlings zu un - terhalten; er wird, ſo viel als mit dem Zwecke des Unterrichts vertraͤglich iſt, Mannichfaltigkeit und In -257Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.tereſſe in jeden einzelnen Gegenſtand zu legen vermoͤ - gen; ein ungeſchickter Lehrer aber wird durch alles Zu - ſammenhaͤufen von Lehrſtoff die Langeweile nicht abwen - den, die ſein Unterricht dem Kinde verurſacht. Fuͤrs dritte muß man nur nicht vergeſſen, die Unterrichtsperio - den zu unterſcheiden, und nicht, was fuͤr den aller - erſten Anfang des Unterrichts gilt, auf die ganze Dauer der Unterrichtszeit ausdehnen. So wie die Zahl der nach und nach einzeln erlernten Lehrgegen - ſtaͤnde ſich vermehrt, waͤchſt erſtens die Mannichfaltig - keit des Unterrichtsmaterials von ſelbſt an, indem neben den neuen Aufgaben die aͤlteren wiederholt werden muͤſſen, und zweitens, ſo wie die Uebung des Lehrlings zunimmt, wird es auch um ſo leichter moͤglich, mehrere Gegenſtaͤnde zugleich in den Unterricht aufzunehmen.

Eine Uebertreibung alſo iſt in jener Anſicht nicht zu verkennen. Inzwiſchen ſoll aus den hier entgegen - geſtellten Bemerkungen nicht gerade gefolgert werden, daß der erſte Unterricht ſchlechthin nur mit einem einzi - gen Gegenſtand anzufangen ſey; die Abſicht war ledig - lich, den uͤbereilten Schluß ins Licht zu ſetzen, welcher, zufolge einer halbwahren Vorausſetzung, eine unbe - ſtimmte Vervielfaͤltigung der Unterrichtsgegenſtaͤnde un - bedingt fordert.

Erſcheint aber dieſe Forderung, der obigen Pruͤ - fung zufolge, als grundlos, ſo zeigt ſie ſich ſogar als voͤllig verwerflich, wenn man auf die Gruͤnde der ent - gegengeſetzten Forderung ſieht.

17258Dritter Abſchnitt.

Es iſt laͤngſt durch eine allgemeine Beobachtung beſtaͤtiget, daß nichts die Fortſchritte des Lernens mehr aufhaͤlt, als wenn vielerlei mit Einemmal angefangen wird. Die Anhaͤufung des Lehrmaterials an ſich ſchon macht den Lehrling zaghaft, indem er ſich die Arbeit, die er nicht uͤberſehen kann, noch weit ſchwieriger denkt, als ſie wirklich iſt. Noch mehr aber muß er ſich nie - dergeſchlagen fuͤhlen durch die langſamen Fortſchritte, die er in den mannichfaltigen Uebungen macht, in de - nen er ſich verſucht; waͤhrend er, wenn ſeine Kraft auf wenigere Aufgaben concentrirt wird, in dem ſchnelleren Ueberwinden der Schwierigkeit ſeine Kraft fuͤhlt, und die merklichen Fortſchritte, die er zu machen im Stande iſt, ihm Luſt erwecken, und ihn mit Muth zur An - ſtrengung und Vertrauen zu ſich ſelbſt fuͤr die folgen - den ſchwereren Aufgaben beleben. Sodann iſt es auch keinem Zweifel unterworfen, daß es nur ein ſcheinbarer Gewinn iſt, wenn der Lehrling in vielerlei Gegenſtaͤn - den zugleich etwas lernt. Die Rechnung (wenn etwas dieſer Art dem Calcul unterliegt) iſt ganz einfach. Soll eine gewiſſe Zahl von Gegenſtaͤnden in einer be - ſtimmten Zeit bis zu einem gewiſſen Grade der Fertig - keit erlernt werden, ſo iſt das Facit daſſelbe, ob man jeden der vorgeſchriebnen Gegenſtaͤnde einzeln bis zu dem beſtimmten Grade von Fertigkeit uͤbt, und ſo den ganzen Umkreis der Gegenſtaͤnde nacheinander durch - laͤuft, oder ob man alle vorgeſchriebnen Gegenſtaͤnde gleichzeitig in einer gewiſſen Reihenfolge von Graden uͤbt, und ſo mit allen zugleich dem beſtimmten Grade von Vollendung entgegenruͤckt. Demnach waͤre auf259Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.der einen Seite ſo wenig als auf der andern ein Ge - winn; und der Streit waͤre voͤllig leer und grundlos. Bei genauerer Betrachtung aber zeigt ſich, daß der Cal - cul nicht anwendbar iſt, und daß es den Geſetzen der Geiſtesentwickelung mehr entſpricht, die Uebungen zu vereinzeln. Sollen mehrere Elemente zugleich geuͤbt werden, ſo dauert nothwendig die Elementaruͤbung viel zu lang, indem jedem Uebungsgegenſtand zu wenig Zeit gewidmet werden kann, um ſchnelle Fortſchritte darinn zu thun. Die Folge davon iſt, daß entweder der Lehrling, der in keiner der Aufgaben einen rechten Fortgang ſieht, in der That verdrießlich wird und dann um ſo weiter zuruͤckbleibt, oder der Lehrer, um dieſem Uebel zuvorzukommen, uͤber die Elemente hin - wegeilt, wodurch der letzte Betrug aͤrger wird als der erſte. Man kann vor dieſem Verſehen nicht oft und ernſtlich genug warnen. Es liegt ohnehin nur zu ſehr in unſerm paͤdagogiſchen Zeitgeiſte, nicht nur die unnoͤ - thigen ſondern auch die unvermeidlichen Schwierigkeiten des Unterrichts zu beſeitigen, und alles zu umgehen, was dem Lehrling Unluſt erregen koͤnnte; und dieſelbe Stimmung hat es zu einem allgemeinen Beſtreben ge - macht, alle wahre Elementaruͤbung zu verwerfen. Wie man in der Muſik fuͤr pedantiſche Barbarei haͤlt, den Lehrling mit dem Fingerſatz, mit der Scala u. ſ. w. einen Augenblick aufzuhalten, vielmehr gleich damit anfaͤngt, ein Stuͤckchen klimpern, ein Liedchen traͤllern zu lehren, wobei ſich die Kinder ungemein, nebenher aber noch weit mehr die kindiſchen Alten amuͤſiren, die nun ſchon von der kuͤnftigen Virtuoſitaͤt der kleinen17*260Dritter Abſchnitt.Virtuoſen traͤumen: ſo treibt mans, ſo gut es gehen will, in allen Theilen des Unterrichts. Die Folge da - von iſt, daß ein guter Theil der Lehrlinge ſich das ganze Leben hindurch mit den Elementen plagen muß, in den ſpaͤteren Unterrichtsperioden, wo den wichtig - ſten Gegenſtaͤnden die ganze Zeit gewidmet ſeyn ſollte, durch immerwaͤhrendes Zuruͤckkehren zu Elementarpunk - ten unaufhoͤrlich unterbrochen und gehindert iſt, und zu einer Zeit, wo er ſich zu weit wichtigeren Beſchaͤfti - gungen reif erkennt, mit Verdruß und Widerwillen zu den verſaͤumten Elementen ſich zuruͤckgewieſen ſieht, eben deshalb ungeduldig das Studium derſelben mei - ſtens ganz von ſich weiſt, und ſelbſt wenn er noch Ge - duld genug dazu gewinnen koͤnnte, doch nicht mehr Geſchick genug dazu hat, ſie ſich ſo ganz eigen zu machen, daß er nicht immerfort dem gruͤndlicher Unter - richteten Bloͤßen geben, und ſich tauſendfaͤltigen Be - ſchaͤmungen ausgeſetzt ſehen ſollte. Das Allerſchlimmſte aber iſt, daß das Ueberſpringen der Elemente ſelbſt den Faͤhigeren ein unuͤberwindliches Hinderniß wird. [Eine] wahre Virtuoſitaͤt iſt in keiner Art von Uebung zu er - warten, wenn die Elemente verſaͤumt werden. Wollen wir alſo nicht ſelbſt durch unſre Methode Mittelmaͤßig - keit und Stuͤmperhaftigkeit bei unſern Kindern ein - heimiſch machen, ſo muͤſſen wir auf das kindiſche Prun - ken mit dem Koͤnnen unſrer Kinder Verzicht thun, ſo muͤſſen wir uns das Hinwegeilen uͤber die Elemente nicht ferner erlauben, ſo muͤſſen wir es fuͤr einen Ge - winn achten lernen, wenn unſre Kinder in allem an - dern außer den Elementen unwiſſend ſind. Sollen261Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.aber die Kinder bei den Elementen feſtgehalten werden, ſo kann man nicht hunderterlei Uebungen mit ihnen gleich - zeitig anfangen, um ſie doch durch concentrirte Kraft uͤber eine Art der Elementaruͤbung um die andre moͤg - lichſt ſchnell hinwegzubringen.

Daß dabei nicht die Meinung ſeyn kann, jeden einzelnen Lehrling bei den Elementaruͤbungen ſo lange aufzuhalten, bis er z. B. in den Schreibuͤbungen die Grundſtriche eben ſo vollkommen zu machen verſteht als der talentvollſte ſeiner Mitſchuͤler, kann hoͤchſtens fuͤr die, die gern mißdeuten wollen, dieſer ausdruͤcklichen Erwaͤhnung beduͤrfen: die Grade der Schuͤler werden bei jeder Methode verſchieden bleiben.

3.

Eine dritte Hauptdifferenz in Abſicht auf die Me - thode des Erziehungsunterrichts hat die moderne Didak - tik dadurch begruͤndet, daß ſie dem Lehrling alle Unter - richtsgegenſtaͤnde in der ſyſtematiſchen Form geben zu muͤſſen meint. Man will in allem vom Princip mit dem Lehrling ausgehen, ihn alles aus dem Funda - mente begreifen laſſen; er ſoll ſelbſt das Abc nicht mehr anders als aus der Mechanik der Sprachorgane lernen. Dies glaubt man nothwendig, theils um den Lehrling an gruͤndliches ſyſtematiſches Wiſſen zu gewoͤh - nen, theils weil man eine richtige Erkenntniß des Be - onderen und Einzelnen nur aus dem Allgemeinen fuͤr moͤglich haͤlt. Welche Scheinweisheit zu dieſen Be -262Dritter Abſchnitt.hauptungen verleitet hat, ſoll die folgende Unterſuchung wenigſtens andeuten.

Unſtreitig iſt es eine Behauptung, die ſich hoͤren laͤßt: daß die volle Beſtimmtheit der Erkenntniß nur aus dem Allgemeinen kommen koͤnne, daß alle Betrach - tung und Unterſuchung des Einzelnen uns deſſen Weſen nicht aufzuſchließen vermoͤge, daß wir, um dieſes zu erkennen, aufſteigen muͤſſen zu der Idee, und daß ſelbſt die Idee des Einzelnen, wenn ſie mehr ſeyn ſoll als ein bloßer Einfall, nur aus der Grundidee des Ganzen zu erfaſſen ſey; daß ſonach halbe und ſchiefe Vorſtel - lungen unbedenklich ſelbſt die beſtimmteſten Kenntniſſe, wenn ſie nur im Einzelnen aufgefaßt worden, genannt werden duͤrfen, ſofern das Einzelne nur halb erkannt iſt, wenn es nur als Einzelnes, und nur als Ge - genſtand, und nicht in der Idee des Ganzen gedacht und erkannt wird; welche halbe Erkenntniß, ſofern ſie ſich als ganze nimmt und giebt, auch eine ſchiefe iſt.

In dem Sinne aber, der ſtreng genommen jener Behauptung zu Grunde liegt, daß nur in der hoͤch - ſten metaphyſiſchen Erkenntnißart die volle Wahrheit der Erkenntniß zu finden ſey, wird ſie am allerwe - nigſten von dem Philanthropiniſmus verſtanden, der ſo weit entfernt iſt, der Metaphyſik eine Wahrheit ein - zuraͤumen, daß er vielmehr ſolche ausſchließend in der materiellen Realitaͤt und ihrer Beobachtung ſucht. Ihm hat die Behauptung vielmehr nur den Sinn: man263Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.muͤſſe den Lehrling in allen einzelnen Zweigen des Wiſ - ſens von den allgemeinen Anſichten, die man durch Beobachtung errungen habe, ausfuͤhren, und eben des - halb auch ſo viel moͤglich von dem allgemeinſten Zu - ſammenhang alles Wiſſens mit ihm ausgehen, ihn durchaus vom Centrum zur Peripherie, vom Allgemei - nen zum Beſondern, vom Abſtracten zum Concreten fuͤhren.

In welchem Sinne man aber auch die Behaup - tung nehme, ſo iſt doch immer jene Anwendung ver - kehrt, die man davon auf die Unterrichtsmethode zu machen verſucht. Wir wollen nicht in Anregung brin - gen, was ſich gegen die Behauptung ſelbſt, im einen wie im andern Sinne verſtanden, einwenden ließe; wir wollen nicht geltend machen, daß eine unmittelbare Erkenntniß der hoͤchſten metaphyſiſchen Wahrheit (vor - ausgeſetzt auch, daß die Metaphyſiker damit ſchon ganz im Reinen waͤren,) der Natur dieſer Erkenntnißart zufolge immer nur den Allerwenigſten zu Theil werden kann, dagegen aber die natuͤrliche Erkenntnißart, die das Eigenthum Aller iſt, durch Beobachtung und Ver - gleichung des Einzelnen volle Deutlichkeit, Beſtimmtheit und Wahrheit in ihrem Kreiſe erlangen kann, ohne zu dem hoͤchſten Princip aufzuſteigen; auch den Vorwurf, den man der Allgemeinheit empiriſcher Kenntniſſe und Grundſaͤtze macht, wollen wir jener Behauptung nicht entgegenhalten: nur gegen die Anwendung, die man davon auf die Methode des Erziehungsunterrichts ge - macht hat, wollen wir unſre Einwendung richten.

264Dritter Abſchnitt.

Koͤnnten wir denn verſtaͤndigerweiſe, wenn auch das ganze Syſtem des Wiſſens vollendet da ſtaͤnde, als Grundſatz der wahren Methode aufſtellen, den Unter - richt beim hoͤchſten Princip anzufangen? Wie wenig muß doch der, dem dieſer Weg der rechte duͤnken koͤnnte, die Natur des Geiſtes und ſeiner Entwickelung kennen. Nirgend hebt das Erkennen mit dem Allge - meinen an; die natuͤrliche Ordnung fuͤhrt zuerſt auf das Einzelne und Beſondre, und fordert erſt an dieſem und durch dieſes das Hoͤhere und Allgemeinere; der Trieb, das Aehnliche zu ſuchen (der Trieb der Syn - theſis), iſt fruͤher als der Trieb, die Unterſchiede zu erkennen (der Trieb der Analyſis). Die Erkenntniß iſt in ihrem Entſtehen nur auf beſtimmtes Einzelnes ge - richtet, und geht erſt ſpaͤter zunaͤchſt auf eine Ver - knuͤpfung der Dinge ihrem aͤußeren Zuſammenhang nach, und dann erſt auf Erforſchung ihres inneren Weſens und auf eine Vereinigung derſelben ihrem inneren Zu - ſammenhang nach. Dieſe Ordnung der ſtufenweiſe ſich entwickelnden Erkenntniß, wie ſie ſich auch in der Ge - ſchichte der Entwickelung des menſchlichen Geiſtes zeigt, laͤßt ſich nicht willkuͤrlich umaͤndern.

Man kann dagegen etwa noch einwenden: dieſen Gang mußte die Entwickelung der menſchlichen Erkennt - niß uͤberhaupt nehmen, um unſer Geſchlecht zu der Ein - heit des Wiſſens, als zu dem Mittelpunkte, hindurch zu fuͤhren, von dem wir die ganze Sphaͤre der Erkennt - niß uͤberſchauen und beherrſchen; nachdem aber der menſchliche Geiſt jene Hoͤhe der Erkenntniß einmal er -265Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.ſtiegen hat, ſind auch die Individuen von der Laſt befreit, daß ſie noch immer alle einzeln dieſelbe ſteile und rauhe Bahn muͤhſam durchwandeln muͤßten, und eben dies iſt der Triumph der Methode, daß ſie jeden einzelnen Lehrling auf ebenem Wege von den gewonne - nen allgemeinen Anſichten aus leicht und ſchnell durch die ganze Maſſe der Erkenntniſſe hindurch fuͤhrt, und ihm die Zeit und Muͤhe ſpart, ſich aus dem chaotiſchen Gewirr von Gegenſtaͤnden zu einer allgemeinen Anſicht erſt hinaufzuarbeiten.

Wie eine ſolche Meinung habe entſtehen koͤnnen, laͤßt ſich wohl begreifen. Bei einem Lehrer, der eben erſt den muͤhſamen Weg vom Einzelnen zum Allgemei - nen durchlaufen, und von der einen Seite noch im friſchen Angedenken hat die Muͤhe, die es ihn gekoſtet, ſich aus dem Chaos des Einzelnen zu einer klaren Ue - berſicht empor zu ſchwingen, von der andern Seite aber zu der Einſicht durchgedrungen iſt, wie wenig doch an und fuͤr ſich die bloße Einzeln-Kenntniß ſey, wie ſie theils nur etwas werde, von einem hoͤhern Stand - punkt angeſehen, theils uͤberall nur Werth habe als die Unterlage des Allgemeinen, wie dagegen durch die allgemeine Anſicht ſelbſt das Einzelne ein ganz ande - res Licht gewinne, eine Tiefe und Bedeutſamkeit, die alle Klarheit und Beſtimmtheit des einzelnen Beſchauers und Beobachters ihm nicht zu geben vermochte; was iſt natuͤrlicher, als daß er im erſten Feuer waͤhnt: er ſey den ganz verkehrten Weg gekommen, und es ſey ſeine Pflicht, ſeine Zoͤglinge richtiger zu fuͤhren. Wozu266Dritter Abſchnitt.ſoll er ſie erſt durch alle die Irrſale auch hindurch ſchleppen, die er durchwandern muͤſſen, um zu dem Licht hindurch zu dringen? warum ſie nicht alſogleich zu dem hoͤchſten Standpunkt ſelbſt fuͤhren, um von da aus mit ihnen das unermeßliche Gebiet des Wiſſens, uͤberſchauend und ordnend nach dem Princip, zu durch - wandern? Was fuͤr einen ganz anderen Geiſt muß nicht der Unterricht gewinnen, wenn er gleich vom Princip, von der umfaſſenden, erleuchtenden und ord - nenden Anſicht, ausgeht? Wie viele Zeit wird da nicht gewonnen, die ſonſt in dem Kampfe mit der unerkannten ungeordneten Maſſe verloren geht, um nur einige freie Ausſicht zu erringen?

Natuͤrlich iſt alſo ohne Zweifel dieſe Anſicht: aber iſt ſie denn auch wahr? Schon dieſe kurze Ge - ſchichte ihrer Enſtehung zeigt, daß ſie nicht auf Gruͤn - den einer ruhigen Ueberlegung und einer erprobten Er - fahrung ruht, ſondern vielmehr nur in der feurigen Einbildung von Lehrern ihren Sitz hat, die jung und jugendlich zu ihrem Geſchaͤfte kommen, und in demſel - ben noch neu und unerfahren, mit den Gruͤnden der alten bewaͤhrten Methode unbekannt, ſich zu Reforma - toren der Didaktik berufen glauben. Doch, einer ſol - chen indirecten Widerlegung beduͤrfen wir nicht; wir wollen lieber geradezu aufweiſen, daß die vorgeſchla - gene Verbeſſerung der Methode die hoͤchſte Unnatur und ein Verkennen der Geſetze des Geiſtes und der Erkenntniß ſey.

267Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.

Fuͤrs erſte iſt es ein fruchtloſes Bemuͤhen, dem Individuum die Muͤhe erſparen zu wollen, daß es ſich ſelbſt vom Einzelnen der Erkenntniß zum Allgemeinen erhebe; wie es nur eine Taͤuſchung iſt, zu glauben, daß ſich das Allgemeine der Erkenntniß geben laſſe. Das Allgemeine will der Geiſt nicht ler - nen; und er lernts auch nimmermehr! Er muß es finden als ſein Eigenthum, in dem er ſich ſelbſt fin - det. Ihr aber wollet es ihm lehren, verſuchts, ihm ſolches aufzudringen, und bedenket nicht, daß ihr nichts anderes koͤnnet, als es ihn finden laſſen, daß er, wenn ihr es ihm unmittelbar geben wollet, es nicht verſteht, und wenn er es auch verſteht, es nicht von euch empfaͤngt, und verſchmaͤhen wuͤrde, wenn es bloß von euch kaͤme. In dem Allgemeinen, das ihr ihm unmittelbar zu geben verſuchet, ohne es ihn ſelbſt finden zu laſſen, gebt ihr ihm euch ſelbſt: euch aber will er nicht, er will nur ſich durch euch. Und in der That, es iſt ein Gluͤck, daß es ſo iſt. Waͤre ihm denn Wahrheit, was er auf euer Wort euch glaubte? und wuͤrde nicht der Sinn fuͤr Wahrheit ſelbſt in ihm am allermeiſten dann gefaͤhrdet, wenn er, was ihr als Grund und Boden aller Wahrheit ihm verkuͤndet, auf euer bloßes Wort und Zeugniß ohne Pruͤfung glaubte?

Fuͤrs zweite, dann eben iſt das Allgemeine ein todter anſchauungsloſer Begriff fuͤr den Lehrling, wenn er ihn von euch empfangen, ihn nicht ſelbſt gebildet hat; und wenn auch nicht verſaͤumet wird, was doch bei jener Generaliſirmethode ſo haͤufig geſchieht, 268Dritter Abſchnitt.das Abſtractum zum wenigſten an einigen concreten Exemplaren nachzuweiſen, ſo wird dies doch dem allge - meinen Begriffe nicht die Lebendigkeit zu geben vermoͤ - gen, die er haben wird, wenn der Lehrling angewieſen worden iſt, ihn aus dem Concreten ſelbſt zu finden. Wo aber ſogar auch jenes verſaͤumt wird, wo der Lehrer, um den Lehrling nur deſto weiter in dem Ge - biet des Wiſſens umherzufuͤhren, bei den allgemeinen Anſichten verweilt, da artet der Unterricht, weit entfernt, den Geiſt, wie man ſich einbildet, zu erwe - cken und zu erheben, vielmehr in den geiſtloſen Mechaniſmus eines bloßen Formelweſens aus, und ge - rade das, was der Philanthropiniſmus dem Humaniſ - mus am empfindlichſten vorgeworfen hat, daß er in Buchſtaben und Formeln den Geiſt ertoͤdte, geſchieht nach jener Methode, die den Lehrling zwar zu den Sa - chen fuͤhrt, um ihn durch reale Anſchauung gegen lee - re Begriffe zu verwahren, ſtatt der Sachen ſelbſt aber (um ihm deſto mehr zu geben) ihm nur todte Abſtrac - ta, hohle Formeln und anſchauungsleere Begriffe giebt, die weder fuͤr den Verſtand noch fuͤr die Anſchauung ſind, und ſelbſt im Gedaͤchtniß nicht einmal haften. So macht man den Lehrling erſt recht zur Maſchine, waͤhrend man ihn am lebendigſten zur Anſchauung der Natur und zum Umfaſſen derſelben in großen Blicken gefuͤhrt zu haben waͤhnt.

Fuͤrs dritte, eben durch die Methode, den ganzen Unterricht durchaus nur auf allgemeine Anſichten zu gruͤnden oder gar zu reduciren, wird der Lehrling ver -269Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.woͤhnt, uͤber das Beſondere ganz wegzuſehen, das Ein - zelne als Einzelnes ſeiner Aufmerkſamkeit gar nicht werth zu halten, die Beobachtung die er bald mit einem Secten-Namen Empiriſmus nennen lernt, hochmuͤthig zu verachten, in erlernten abſoluten For - meln ſich allein weiſe zu duͤnken und aus nachgeſproch - nen unverſtandnen Principien uͤber alles a priori ab - zuſprechen; ſo daß ganz eigentlich von ſolchen gilt, was oben in dem Grundſatze des Humaniſmus ſo aus - gedruͤckt worden, daß ſie durch Ueberfliegen des Stoffes die Gebiete des Wiſſens am ſicherſten und allein umfaſſen zu koͤnnen waͤhnen.

Die Natur des Geiſtes fordert den gerade umge - kehrten Weg. Zuerſt faßt der Geiſt das Einzelne, und da - mit er es nicht unbeſtimmt und flatterhaftig faſſe, vom Einzelnen zum Einzelnen leichtſinnig uͤberſpringe, ohne ir - gend einen Gegenſtand oder Gedanken recht feſtzuhalten, muß er geuͤbt werden, bei dem Einzelnen betrachtend zu verweilen. So muß er auch das naͤchſte wie das hoͤhere Allgemeine, worinn das Einzelne zuſammenhaͤngt, durch einzelne Verbindungen von Einzelnem kennen lernen, die er haͤufig von ſelbſt ohne alle beſondre Anleitung findet, oder zu denen man ihn durch Anleitung leicht fuͤhren kann. Daß er die allgemeinen Anſichten findet, wenn er dazu angeleitet wird, ſie zu ſuchen, iſt nicht weniger wunderbar, als daß er ſie auch ohne alle An - leitung findet; vielmehr iſt das Erſtere ſelbſt nur durch das Letztere moͤglich: und darinn liegt der Hauptauf - ſchluß uͤber dies ganze Unterrichtsgeheimniß. Die all -270Dritter Abſchnitt.gemeinen Begriffe, die nach der gewoͤhnlichen Anſicht als Abſtractionen betrachtet werden, die man durch Induction finde, ſind nichts anders als die Ideen ſelbſt, die ſich in den Gegenſtaͤnden darſtellen, und die - ſe Ideen ſind das Eigenthum des Geiſtes. Dem Lehr - ling kann daher der allgemeine Zuſammenhang der Din - ge nicht fremd ſeyn, vielmehr iſt die hoͤchſte Ein - heit derſelben in dem Weſen des Geiſtes ſelbſt ausge - druͤckt. Deshalb wacht das Streben nach jener Ein - heit der Erkenntniß von ſelbſt in ihm auf, und es be - darf nicht großer Kunſt, es zu wecken, vielmehr einiger Vorſicht, es nicht zu fruͤh hervorzurufen oder hervor - treten zu laſſen, und es unter ſo geregelter Diſciplin zu halten, daß es die Mittelſtufen nicht uͤberſpringe, und unbekuͤmmert um das naͤchſte Allgemeine unmittelbar auf das entferntere uͤbergehe.

Aus dem letztern Grunde iſt es um ſo nothwen - diger, die Kunſt des Generaliſirens der Begriffe und des ſyſtematiſchen Ordnens der Gegenſtaͤnde an kleine - ren Kreiſen von Kenntniſſen, von unten auf vom Ein - zelnen, mit dem Lehrling zu uͤben. Hat er nur einen Schritt zu der Allgemeinheit der Erkenntniß ſelbſtthaͤ - tig gethan, ſo entſteht ihm damit ſelbſt die Ahnung ei - nes groͤßeren Zuſammenhanges, und ſo wie er in meh - reren einzelnen Gebieten des Wiſſens ſich zu einer glei - chen Allgemeinheit erheben lernt, erweitert ſich die For - derung einer umfaſſenderen Vereinigung, und tritt im - mer klarer und beſtimmter das Bewußtſeyn der unbe - dingten Einheit als der hoͤchſten Form des Geiſtes und271Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.des Wiſſens bei ihm hervor. Nur wenn er die Schritte zu der Allgemeinheit der Erkenntniß auf die bezeichnete Weiſe regelmaͤßig thun lernt, kann fuͤr ihn die Forderung einer unbedingten Einheit der Erkennt - niß Innhalt und Bedeutung haben.

So wichtig iſt es, daß darinn die rechte Methode beobachtet werde. Eine allgemeine Anſicht, die der Lehrling ſelbſt gefunden hat, fuͤhrt ihn weiter, und weckt ihn lebendiger zur Univerſalitaͤt des Wiſſens, als alle allgemeinen Saͤtze, die ihr ihm inoculiren wollt. Und noch mehr! Die Eine allgemeine Anſicht, die er ſelbſt gefunden, hat in ſich fuͤr ihn weit mehr Wahr - heit, Deutlichkeit und Anwendbarkeit, als alles Allge - meine, was ihr ihm in noch ſo kuͤnſtlich ausgedachten Formeln geben koͤnnet, die fuͤr ihn um ſo bedeutungs - loſer und unverſtaͤndlicher ſind, je geſunder und kraͤfti - ger ſein Geiſt iſt.

Und jene aͤchte didaktiſche Kunſt hat der moderne Paͤdagogiſmus verdraͤngt, der keinen Unterricht fuͤr gruͤndlich haͤlt, der nicht die Spitze des Princips zur Baſis macht. In der That erſcheint jenes Beginnen eben ſo verkehrt, als wollte jemand, der die weiteſte Ausſicht auf der Spitze der Pyramide gefunden, fuͤr Andere dieſe Spitze mit der herrlichen Ausſicht auf den Boden herunterſtellen, um ihnen zum Hinaufſteigen an die Baſis Luſt zu machen. Jenes Beginnen wird nur darum nicht durchaus eben ſo verkehrt gefunden, als dieſes, weil die Seichtigkeit unſrer Pſychologie noch272Dritter Abſchnitt.immer den Wahn unterhaͤlt, als koͤnne man den Geiſt, den man, als frei, zugleich geſetzlos denkt, nach Will - kuͤr behandeln und lenken. Vergeſſe man nur auch hierbei nicht, daß der Geiſt unter unwandelbaren Ge - ſetzen ſtehe, und ſich wider dieſelben nicht behandeln laſſe. Seine Entwickelung iſt in keiner Hinſicht der Kunſt ſo unterworfen, daß jede Kuͤnſtelei an ihm aus - fuͤhrbar waͤre: ſie iſt es auch in dieſer Ruͤckſicht nicht, und eben deshalb wird auch kein Unbefangner ſich wundern, daß die Methode unſrer modernen Paͤdago - gik mit allen ihren allgemeinen Anſichten, Grundſaͤtzen und Begriffen, die ſie in allen Faͤchern des Wiſſens an ihre Lehrlinge austheilt, nichts andres als einge - bildete Schwindelkoͤpfe bildet, die aller ſoliden Kennt - niſſe baar und ledig mit einigen unverſtandnen For - meln das ganze Gebiet des Wiſſens zu beherrſchen ſich anmaßen, und ihre abſolute Ignoranz ungeſchickt genug hinter einem hohlen Geſchwaͤtz vom Abſoluten zu ver - ſtecken ſuchen, wodurch ſie die Lehre vom Abſoluten ſelbſt beſchimpfen.

Es giebt nur Eine wahre, den Geſetzen des Gei - ſtes ganz angemeſſene, Methode, kuͤnſtlich, durch Un - terricht zu Entwickelung einer gruͤndlichen Allgemeinheit und Einheit der Erkenntniß bei dem Lehrling mitzuwir - ken. Und dieſe Eine Methode iſt: vom Einzelnen und Vielen, als der breiten Baſis, zur Einheit des Prin - cips allmaͤlig aufzuſteigen, und in einzelnen kleineren Kreiſen, die der Lehrling bald zu uͤberſehen vermag, das Eine im Vielen finden, und dann wieder das Eine273Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.in dem Vielen ſuchen zu lehren. Dieſelbe Norm gilt aber nicht nur fuͤr alle einzelne Gebiete der Erkenntniß, zu welchen man den Lehrling einfuͤhren will; ſie gilt auch fuͤr die Vereinigung der einzelnen Gebiete des Wiſſens zu einem allgemeinen Syſteme. Von der Ein - heit einzelner Erkenntnißkreiſe zur Verknuͤpfung derſelben in einer allgemeineren ſyſtematiſchen Einheit der ver - ſchiednen einzelnen Kreiſe von Kenntniſſen muß der Lehrling fortgefuͤhrt werden, damit er auch das ganze Syſtem der Erkenntniß als Eines in dem Vielen, und als Vieles in dem Einen, mit eigner Anſchauung und mit eigner Einſicht aufbauen lerne. So ſoll er vom Einzelnen zum Hoͤheren, vom Hoͤheren zum Hoͤheren und Hoͤheren und Hoͤchſten fortſchreiten: dies iſt die Stufenleiter der empiriſchen Erkenntniß, die jeder durch - laufen muß, der eine wahre lebendige eigene Anſchauung und Erkenntniß von der Einheit des Syſtems in dem Umfang alles Wiſſens erlangen ſoll, und nicht auf fremde Treu und Glauben blindlings nachbeten will, was dieſer oder jener ihm von einer ſolchen Einheit vorgeſprochen. Nur ſo wird auch der Lehrling zugleich vor dem Wahn bewahrt werden, daß das Einzelne Nichts und ſeiner Aufmerkſamkeit nicht werth ſey, und vielmehr lernen muͤſſen, daß das Allgemeine Nichts ſey, wenn es nicht das Einzelne zur lebendigen Unterlage habe.

Dies iſt die unbedingte, auf einem unabaͤnderli - chen Geſetze des Geiſtes ruhende Forderung, und man wuͤrde daran nie haben zweifeln koͤnnen, wenn man18274Dritter Abſchnitt.nicht vergeſſen haͤtte, daß die Erkenntniß, die der Un - terricht zu entwickeln hat, nicht die unbedingte, ſondern eine empiriſche ſey, die der unbedingten nur zur Er - weckung dienen ſoll. Indem man glaubte, die unbe - dingte Erkenntniß ſelbſt unmittelbar, mit Umgehung der empiriſchen, geben zu koͤnnen, hat man eben die Miß - griffe gemacht, die mit der abſoluten Hohlheit der un - gluͤcklichen Individuen endigten, an denen der verkehrte Verſuch angeſtellt worden iſt.

Endlich iſt noch anzumerken, daß allerdings nicht alle Lehrlinge zu der hoͤchſten Einheit der Erkenntniß zu fuͤhren ſind, daß aber auch fuͤr ſolche, die nur einen kleinen Umfang von Kenntniſſen ſich zu erwerben im Stande ſind, die bezeichnete Methode die allein richtige ſey, indem ſie immer in den beſchraͤnkteren Kreiſen ſelbſt eine klare Einſicht, und von dem Zuſammenhang derſelben mit einer hoͤhern Einheit des Wiſſens zum wenigſten eine lebendige Ahnung erweckt, die immer von unſchaͤtzbarem Werth fuͤr den Menſchen iſt, ſie mag fruͤher oder ſpaͤter, oder auch in dieſem Leben nie, in eine deutliche Erkenntniß uͤbergehen.

4.

Eines der allerwichtigſten Probleme in der Theo - rie des Erziehungsunterrichts betrifft die Frage: wie weit er der Natur eingreifen ſolle oder duͤrfe?

Der Grundſatz, den der Philanthropiniſmus dar - uͤber angenommen und in Umlauf gebracht hat, iſt ei -275Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.ner der gefaͤhrlichſten dieſes Syſtems. Der Natur in der Entwickelung der Geiſteskraͤfte an die Hand zu gehen, wie es in dem Grund - ſatze ausgedruͤckt worden, iſt allerdings eine des vernuͤnftigen Erziehers wuͤrdige Aufgabe, und ſo wird auch der Erziehungsunterricht auf denſelben Zweck mit Recht berechnet. Aber, wenn dieſer Behauptung in der Erklaͤrung der Sinn untergelegt wird: vor - zuͤglich die ſogenannten hoͤheren Seelen - vermoͤgen moͤglichſt fruͤhe zu erwecken; ſo iſt die Anſicht eben ſo gewagt als unpſychologiſch, und verleitet zu einer hoͤchſt fehlerhaften Behandlung der Lehrlinge.

Der Natur in ihren Evolutionen vorgreifen, iſt uͤberall gefaͤhrlich, und die Verwegenheit bleibt auch hier nicht ungeſtraft. Man kann allerdings die Entwi - ckelung des Geiſtes durch kuͤnſtliche Mittel beſchleuni - gen; aber dem Erkuͤnſtelten gebricht immer ein Theil der innern Kraft, die in der natuͤrlichen Entwickelung reift; das Fruͤhreife kann nie dem regelmaͤßig Gezei - tigten gleichgeſtellt werden, und man darf wohl die philanthropiniſche Accelerationsmethode dem Stich des Wurmes vergleichen, der die Zeitigung des Apfels zwar beſchleuniget, aber auch die volle Entwickelung hemmt, und das fruͤhe Abfallen herbeyfuͤhrt. Die lieb - liche Außenſeite kann eine Weile taͤuſchen und ſelbſt Bewunderung erregen; aber den Wurm im Kerne laͤßt ſie nicht vergeſſen! Und, welch einen andern Anblick ſelbſt im Aeußern giebt nicht das Kerngeſunde? 18*276Dritter Abſchnitt.Man ſage nicht: das Gleichniß hinke, das uͤberlegte Wirken auf den Geiſt des Kindes koͤnne dem Stich des unvernuͤnftigen Inſectes in den Apfel nicht verglichen werden. Sie ſind darinn wenigſtens vollkommen gleich, daß beide die Natur in ihrer organiſchen Entwickelung hindern; und ich koͤnnte leicht die Vergleichung noch viel weiter ausdehnen, wenn ich indiſcret ſeyn wollte!

Unlaͤugbar iſt es ein Grundfehler unſrer modernen Erziehung uͤberhaupt, daß man nicht genug eilen zu koͤnnen glaubt, die Kinder zu Verſtand zu bringen und, wie mans nennt, vernuͤnftig zu machen, daß man die natuͤrliche Entwickelung ihrer Geiſteskraͤfte nicht abwar - ten kann, und in der Bluͤthezeit ſchon die Fruͤchte will. Und gerade darein ſetzt man den Vorzug der Me - thode, daß ſie dieſe Acceleration der Entwickelung zu bewirken im Stande iſt. Was das Kind aus ſich ſel - ber macht, wenn man ihm nur Zeit laͤßt, achtet der Lehrer gar nicht mehr, indem er vielmehr annimmt, daß es gar nichts werde, als wozu er es bilde. Die - ſes Beſtreben hat auf den Erziehungsunterricht insbe - ſondere den Einfluß geaͤußert, daß man alles anwendet, die Urtheilskraft moͤglichſt fruͤhe in dem Kinde zu erwecken und auszubilden, ohne zu bedenken, wie ſehr dies dem natuͤrlichen Gange der Geiſtesentwickelung wi - derſtreite. Das Kind urtheilt freilich auch; aber ſeine Urtheile ſind nur einfache Verbindungen von Praͤ - dicaten und Subject: die Urtheilskraft in jenem hoͤ - hern Sinne des Wortes, das Eindringen in das In - nere der Gegenſtaͤnde, das Auffaſſen ihres Weſens und277Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.ihrer tiefer liegenden Merkmale und Verbindungen, iſt dem Kinde gar nicht eigen, und koͤmmt erſt mit dem Erwachen des Geiſtes zum vollen Bewußtſeyn der Ver - nunft. Bei dem Kinde zeigt ſich noch nicht mehr als das erſte Erwachen der intellectuellen Thaͤtigkeit, in dem Triebe der Wißbegierde, welche, auf die Ge - genſtaͤnde in ihrer Einzelnheit gerichtet, nur dieſe ſelbſt faßt ohne alle andre Ruͤckſicht und Beziehung, als auf deren individuell beſtimmte Form. Das Einzelne zu faſſen und zu behalten, iſt mit einem Worte die Na - tur des Kindes: einzelne Kenntniſſe zu ſammeln, und ſie dem Gemuͤthe einzupraͤgen, iſt ſonach ſeine natuͤrli - che Aufgabe. Viel weiter bringt auch ſelbſt die kuͤnſtliche Behandlung doch das Kind nicht. Denn, was geſchieht, indem der fruͤhſte Unterricht ſchon die Kinder zum Urtheilen uͤber die Gegenſtaͤnde fuͤhren will? Der Geiſt des Kindes geht nur auf die einzelnen Ge - genſtaͤnde, und von einem auf den andern uͤber; fixirt man auch mit ihm einen Gegenſtand fuͤr die Betrach - tung, ſo heftet er ſich an die Oberflaͤche, die man ihn auch mit einiger Beſtimmtheit faſſen lehren kann. Fruchtlos aber iſt die Muͤhe, ihn zum Auffaſſen der inneren Verhaͤltniſſe der Gegenſtaͤnde und der Gedanken und ihres allgemeinen Zuſammenhangs zu fuͤhren; und die Folge davon iſt, daß das Kind entweder ganz be - taͤubt und in der That faſt dumm wird, oder daß es die Urtheile (weil es ſie weder ſelbſt zu finden, noch ſich anders als durch das Gedaͤchtniß anzueignen ver - mag) nur lernt, und zum Nachbeter wird, und daß es, wenns hoch koͤmmt, aͤhnliche Urtheile zwar278Dritter Abſchnitt.vielleicht verſucht und wagt, aber eben weil es ein Kind iſt doch nur an der Oberflaͤche bleibt, und ein Schwaͤtzer wird; wobei es meiſtens noch uͤber - dies ein Kluͤgling iſt, der anmaßend beſſere Beleh - rung verachtet.

Vor dieſem Fehler der modernen Paͤdagogik ernſt - lichſt zu warnen, iſt um ſo noͤthiger, weil die Verſu - chung dazu ſo groß iſt. Der Menſch gefaͤllt ſich uͤberall in dem beſonders, was er durch Kunſt glaubt der Na - tur abgedrungen zu haben, und betrachtet ſo gern als reinen Gewinn, was er auf dieſem Wege erringen zu koͤnnen hofft. Bei jenem paͤdagogiſchen Kunſtſtuͤck aber findet ſich noch uͤberdies die Eitelkeit der Aeltern durch den Anſchein fruͤh gebildeter Vernunft der Kinder ge - ſchmeichelt und beſtochen. Verblendet von der Freude, daß das Kind ſchon ſo vernuͤnftig ſpricht, ſehen viele Aeltern die Seichtigkeit des Geſchwaͤtzes und die See - lenloſigkeit der Nachbeterei nicht, vor der ſie erſchrecken wuͤrden, koͤnnten ſie die Erſcheinung in ihrem ganzen Zuſammenhang uͤberſehen. Ich habe mehrmal ſchon, wenn ich meinen Unglauben gegen die bewunderte Me - thode laut werden ließ, Aeltern in großem Erſtaunen erblickt, und die Schwierigkeit erkannt, die aͤlterliche Eitelkeit fuͤr eine richtigere Anſicht zu gewinnen. Ich weiß alſo, daß ſo Manche, die dies leſen, glauben werden, daß ſie mich leicht eines andern uͤberzeugen wuͤrden, wenn ſie mir nur ihre Kinder zeigen koͤnnten. Allein ich kann ſo wenig ihrer Meinung ſeyn, daß ich vielmehr zum voraus weiß, bei ihnen denſelben Fehler279Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.der Methode auch noch von einer andern Seite zu fin - den, den ich ihnen hier mit vorruͤcken muß, ob er gleich nicht eigentlich den Unterricht ſondern die Er - ziehung unmittelbar betrifft.

Die Sucht, die Kinder recht bei Zeiten vernuͤnftig zu machen, zeigt ſich naͤmlich auch in der Mode der ſittlichen Bildung. Alles ſoll das Kind aus vernuͤnfti - gen begriffenen Gruͤnden thun: das nennt ihr das Vor - recht des vernuͤnftigen Weſens! Und nun martert ihr euch und das Kind, ihm alle eure Gebote und Ver - bote vernuͤnftig zu machen: ihr zeigt ihm alle eure Gruͤnde, die ihr fuͤr das Kind geeignet haltet, und wollt es uͤberzeugen, daß ihr ihm nur das Gute und das Rechte geheißen, damit es nun aus Ueberzeugung von dem Rechten eurem Befehl als ſeinem eigenen folge. Das klingt gar ſehr vernuͤnftig, und faſt erhaben! So werdet ihr die wahren Autonomen bilden, die, wie es der Vernunft gebuͤhrt, keinem andern Gebot, als ihrem eigenen, ſich unterwerfen! Aber, ich bitte euch, ſehet doch genauer zu, was ihr thut. Ihr wollet das Kind vernuͤnftig machen, und behandelt es, als ob es ſchon vernuͤnftig waͤre! Ihr werdet ſagen: dadurch eben, und dadurch allein, wird die Ver - nunft gebildet, daß man ſie als Vernunft behandelt. Allein eben mit der halben Wahrheit dieſer Anſicht taͤu - ſchet ihr euch. Als Vernunft ſollt ihr freilich das Kind behandeln, denn nur ſo werdet ihr es zur Vernunft bilden. Aber heißt denn das Vernunft, dem Kinde unaufhoͤrlich von Vernunft vorreden? Was bildet280Dritter Abſchnitt.denn in andern Kindern, mit denen nicht ein ſolch Ge - ſchwaͤtz verfuͤhrt wird, die Vernunft? Man meint heut zu Tage alle Virtuoſitaͤt und alle Tugend mit Do - ciren und Predigen zu begruͤnden, und es iſt deswegen des Redens unter uns kein Ende: daruͤber wird das Handeln ganz vergeſſen. Fanget doch nur mit dem Handeln bei dem Kinde an, und laſſet im Uebrigen ſeine Vernunft ihren Weg gehen. Ihr ſeyd euern Kin - dern die Vernunft, und was ihr ihnen ſaget, gilt ihnen wie ein Geſetz der reinen Vernunft. Was ihr ihnen gebietet, gilt ihnen als Vernunftgebot, und ſoll ihnen als ein ſolches gelten. Es bedarf alſo fuͤr ſie keiner weitern Gruͤnde zum Gehorſam: hier iſt Vernunft, nicht erſt uͤber Gruͤnde lang mit ihnen noch zu unterhandeln, vielmehr unbedingten Gehorſam zu verlangen. Glaubet nur nicht, daß ihr damit das Kind zwinget, ohne Grund zu handeln. Dann eben waͤre es keine Vernunft, wenn ein ſolcher Zwang deſ - ſelben moͤglich waͤre. So gewiß es Vernunft iſt, han - delt es mit Grund, entweder mit dem allgemeinen noch unentwickelten Grunde, daß es dem Kinde zukomme zu gehorchen, oder mit dem ſchon entwickelten Gedanken, daß die Handlung gut ſeyn muͤſſe, weil die Aeltern ſie befohlen haben, und mit dem damit zugleich eintreten - den Beſtreben, den Grund ſelbſt aufzuſuchen. Dies bildet das Kind zum vernuͤnftigen Handeln, waͤhrend jenes unzeitige Gerede es nur zum Schwaͤtzer und ich darf es nicht verſchweigen vielleicht wohl gar zum Sophiſten und zum Heuchler bildet. Zum Schwaͤ - tzer: denn, wer uͤber alles, was er thun will,281Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.erſt eine Predigt von den Gruͤnden ſich zu halten hat, wird ſicher mehr im Leben ſchwatzen als handeln. Zum Sophiſten? O ja! Glaubt mir nur; wenn das Kind erſt eine Fertigkeit darinn erlangt hat, die Mo - tive ſeiner Handlungen in Verſtandesgruͤnde (meiſtens von den nuͤtzlichen oder ſchaͤdlichen Folgen der Hand - lungen hergenommen) aufzuloͤſen, wird es bald fuͤr alles, was es gern thun oder nicht thun moͤchte, reich genug an Scheingruͤnden ſeyn, womit es euch ſelbſt oft in Verlegenheit ſetzen wird. Und durch euer eignes Beiſpiel, da ihr oͤfters in den Fall kommet, dem Kin - de nicht den wahren, wenigſtens nicht den ganzen Grund eurer Gebote ſagen zu koͤnnen, wird es in die - ſem Fehler nur noch mehr beſtaͤrkt, ſobald es ſich nur einmal von euch in den Gruͤnden getaͤuſcht gefunden hat. Zum Heuchler? Allerdings auch dahin kann, beſonders bei einem verſteckten Charakter, das fruͤhzei - tige Raͤſonniren uͤber die Beweggruͤnde des Handelns verfuͤhren; das Kind lernt bald ſeines Herzens Triebe in ein guͤnſtiges Licht ſtellen, und ſelbſt unlautere Zwe - cke mit lauteren Gruͤnden bemaͤnteln, mit denen es Andere und bisweilen auch ſich ſelbſt taͤuſcht.

Doch, fuͤr meinen Zweck iſt es hier hinreichend, den Nachtheil wenigſtens angedeutet zu haben, den die zu fruͤhe Erweckung des Urtheils bei dem Kinde nicht bloß in intellectueller, ſondern auch ſogar in mo - raliſcher Hinſicht hervorbringen kann. Nachdem da - durch vorlaͤufig auf eine der nachtheiligſten Anwendun - gen des obigen philanthropiniſchen Grundſatzes auf -282Dritter Abſchnitt.merkſam gemacht worden, komme ich zu der Unter - ſuchung der Hauptfrage zuruͤck: welches das wahre Verhaͤltniß des Erziehungsunter - richts zu der natuͤrlichen Geiſtesentwicke - lung des Lehrlings ſey?

Der Erziehungsunterricht, als kuͤnſtliche Einwir - kung auf den Geiſt der Lehrlinge, kann ſich zur Auf - gabe machen, erſtens entweder alle einzelnen Geiſtes - kraͤfte oder nur die vorzuͤglichſten derſelben zu uͤben, die minder wichtigen dagegen ſich ſelbſt zu uͤberlaſſen, zweitens in beiden Faͤllen entweder die natuͤrliche Ent - wickelung bloß zu leiten und zu foͤrdern, oder den Gang der natuͤrlichen Entwickelung zu beſchleunigen. Gleich bei der erſtern Ruͤckſicht zeigt ſich aber, daß man in Gefahr iſt, ſich in willkuͤrliche Beſtimmungen der Pſy - chologen zu verwickeln. Welches ſind denn die einzel - nen Geiſteskraͤfte, die wir uͤben wollen? kennen wir ſie alle ſo beſtimmt? laſſen ſie ſich fuͤr die Uebung iſoliren? welches ſind die vorzuͤglichſten? welches die minder wichtigen? Wer ſich mit den Enumeratio - nen eines pſychologiſchen Compendiums begnuͤgt, wird allerdings mit dieſen Fragen nicht in Verlegenheit kom - men; er findet unter der Eintheilung in hoͤhere und niedere Seelenvermoͤgen alles ſchon claſſificirt, wie ers braucht. Aber, wer ſich je beſonnen hat, daß z. B. Gedaͤchtnißkraft, die er unter den niedern Seelen - kraͤften rubricirt findet, ſogar als die Wurzel des ge - ſammten Bewußtſeyns unſrer Zeitexiſtenz betrachtet wer - den muß; daß die Einbildungskraft, der in der283Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.naͤmlichen Claſſe ihre Stelle angewieſen worden, als das Leben des Geiſtes gelten kann, u. ſ. f. dem muß ſchon deshalb jene Claſſification als willkuͤrlich und ein - ſeitig, und in jedem Fall als untauglich erſcheinen, dar - auf eine Theorie der Behandlung des Geiſtes zu gruͤn - den. Eben ſo findet man ſich in Abſicht auf den zweiten Punkt verlaſſen, wenn man fragt: welches denn der natuͤrliche Gang der Entwickelung der Geiſtes - kraͤfte ſey? ob ſie alle zugleich, oder einige fruͤher, an - dre ſpaͤter ſich entwickeln? und welches die fruͤher, wel - ches die ſpaͤter erſcheinenden ſeyen? Man hoͤrt in Ab - ſicht auf dieſen zweiten Punkt ſogar die metaphyſiſche Behauptung einmiſchen: daß, da das Kind Vernunft ſey, in demſelben auch alle Seelenvermoͤgen zugleich vorhanden ſeyn muͤſſen, und ſich eben ſo wenig ein Punkt ſeines Daſeyns denken laſſe, in welchem ihm ein Seelenvermoͤgen fehle oder ein Seelenvermoͤgen neu in ihm entſtehe, als ſich denken laſſe, daß ſeinem Leib ein neues Glied anwachſe. Und daraus folgert man: daß alſo auch der Erziehungsunterricht auf gleichzeitige Ue - bung aller Seelenkraͤfte Ruͤckſicht zu nehmen habe.

Wollten wir auf dergleichen ſpeculative Saͤtze und Eintheilungen die Entſcheidung unſrer Frage ſtuͤtzen, und es dabei uns bequem machen, die Unterlage, die wir aus der Metaphyſik und Pſychologie borgen, ohne weiters als zuverlaͤſſig vorauszuſetzen, ſo koͤnnten wir ohne Zweifel leicht fertig werden, und waͤren auch durch die paͤdagogiſche Obſervanz und Verjaͤhrung allenfalls hinreichend gedeckt. Wollten wir aber ſo gruͤndlich284Dritter Abſchnitt.ſeyn, die Grundlage ſelbſt zu unterſuchen, ſo iſt klar, daß wir nach den einmal ſchon oben erregten Bedenk - lichkeiten nicht umhin koͤnnten, uns mit Metaphyſikern und Pſychologen in einen weitausſehenden Streit einzu - laſſen, der uns am Ende ſchwerlich zum Ziele fuͤhren duͤrfte. Zum Gluͤcke aber zeigt ſich uns in dieſer Ver - legenheit ein Ausweg, der uns einen ruhigeren Ausgang verſpricht.

Die Behauptungen der Metaphyſiker und Pſycho - logen laſſen wir auf ihrem Grund oder Ungrund beru - hen. Sicherer wenigſtens, wenn auch nicht ganz un - truͤglich, wird es immer ſeyn, wenn wir uns an die einfachen Beobachtungen halten, welche eine laͤngere Erfahrung an die Hand giebt. Dieſe aber ergeben in Abſicht auf unſre Unterſuchung, daß die Seelenkraͤfte des Kindes ſich nicht durchaus gleichfoͤrmig und gleich - zeitig entwickeln, daß das beſtimmte Hervortreten der einen fruͤher, der andern ſpaͤter geſchieht. Nun ent - ſteht freilich, wenn man weiter fragt: in welcher Ord - nung geſchieht das Hervortreten derſelben? die vorige Verlegenheit. Denn, ſagen wir: zuerſt zeigt ſich die Gedaͤchtnißkraft, dann die Urtheilskraft, u. ſ. w. ſo denkt man gleich wieder an die willkuͤrlichen Beſtimmungen, welche die Pſychologen von dieſen Kraͤften gegeben haben, und die Folge davon iſt, daß man ſich nicht nur durch die ſcharfe Abtrennung, welche in der pſychologiſchen Abſtraction liegt, wieder von dem Geiſte des Lehrlings eine unrichtige Vorſtellung macht, ſondern auch ſich einbildet, es laſſe ſich wirklich eine285Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.ſolche einzeln gedachte Kraft einzeln gleichſam heraushe - ben, und wie ein Schuh uͤber einen Leiſten ſchlagen. Dagegen giebt es, da wir doch die bekannten Worte zur Bezeichnung nicht entbehren koͤnnen, kein anderes Verwahrungsmittel, als daß man ſich unausgeſetzt ver - gegenwaͤrtige, daß die iſolirten Abſtractionen nicht iſo - lirte Theile eines mechaniſchen, ſondern unterſchiedene Functionen eines organiſchen Ganzen bezeichnen; wor - aus ſich dann von ſelbſt die praktiſche Folgerung ergiebt, daß man auch die kuͤnſtliche Richtung und Behandlung einer ſolchen Function nicht iſolirt vornehmen koͤnne, ſondern immer mittelbar auch auf das Ganze wirke. Daran muͤſſen wir uns halten, daß keine Anlage des Geiſtes iſolirt ausgebildet werde, daß alle Seelenkraͤfte eine Veraͤnderung leiden, wenn eine derſelben veraͤndert wird, daß der Geiſt, an welchem einzelnen Objecte, nach welcher einzelnen Richtung man ihn auch uͤbe, im - mer im Ganzen zugleich erweitert werde, da er ein Or - ganismus iſt, in welchem jede einzelne Bewegung ſich dem Ganzen nach den Geſetzen ſeines ſyſtematiſchen Zu - ſammenhangs mittheilt. Damit ſoll jedoch nicht be - hauptet werden, daß eine kuͤnſtliche Einwirkung auf den Geiſt nicht das natuͤrliche Gleichgewicht ſeiner Kraͤfte ſtoͤren koͤnne; was allerdings durch unlaͤugbare Er - fahrungen widerlegt wuͤrde: ſondern es ſoll nur von der einen Seite daran erinnern, daß der Lehrer gewoͤhn - lich die Wirkung ſeines Unterrichts unrichtig berechne, indem er auf den Geiſt des Lehrlings wie auf eine Ma - ſchine einwirken zu koͤnnen glaubt, ohne die Reactionen zu bedenken, durch welche der geiſtige Organiſmus das286Dritter Abſchnitt.geſtoͤrte Gleichgewicht herzuſtellen ſelbſtſtaͤndig ſtrebt; von der andern Seite ſoll damit vorlaͤufig gewarnt werden, nicht in der Bedeutung mechaniſcher Abtrennung zu neh - men, was hier von abgeſonderten Uebungen des Ge - daͤchtniſſes, des Urtheils u. ſ. w. zu ſagen iſt.

Betrachten wir nun die intellectuellen Anlagen und Kraͤfte des Lehrlings, die das Object der kuͤnſtlichen Einwirkung des Erziehungsunterrichts ausmachen, aus dem Geſichtspunkt der hier vorangeſchickten kurzen Er - oͤrterung, ſo finden wir ſie in dem natuͤrlichen Gang ihrer ſtufenweiſen Entwickelung in folgender Ordnung hervortreten: 1) Auffaſſen des Einzelnen, 2) Verbinden von Einzelnem, 3) Trennen von Verbundnem und Einzelnem, 4) Wie - derverbinden von beidem, und Verknuͤpfen zu einer hoͤheren Einheit. Will man nun dieſe unterſchiednen Functionen des freien Denkens mit meta - phyſiſchen Kunſtausdruͤcken durch Theſis, Analy - ſis und Syntheſis bezeichnen, oder in der pſy - chologiſchen Kunſtſprache durch Anſchauung, Ge - daͤchtniß, Urtheil u. ſ. w. ausdruͤcken, ſo iſt dagegen nichts einzuwenden, wenn man ſich nur die Anſicht klar erhaͤlt, daß die gemachte Unterſcheidung der geiſtigen Functionen nicht eine Trennung des Geiſtes in einzelne zu iſolirende Theile iſt.

Der bezeichneten Ordnung nun zufolge waͤre unſre Frage ſo zu ſtellen: ſoll der Unterricht, als die kuͤnſt -287Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.liche Entwickelung der intellectuellen Kraͤfte des Lehr - lings, ſich genau an jenen Stufengang der natuͤrlichen Entwickelung derſelben halten, und ſich auf Uebung und hoͤhere Ausbildung der von der Natur bereits entwickel - ten Fertigkeiten beſchraͤnken, oder ſoll er eben darein ſeine Kunſt ſetzen, der Natur in ihrer langſamen Ent - wickelung zu Huͤlfe zu kommen, und diejenigen Fertig - keiten, die ſie ſpaͤter entwickelt, durch vorlaͤufige Ue - bung fruͤher zur Reife zu bringen? Oder, wenn wir uns jener gewoͤhnlichen Terminologie bedienen wollen: ſoll der Unterricht ſich auf Gedaͤchtnißuͤbung be - ſchraͤnken, oder ſoll er mit Umgehung dieſer Uebung ſo - gleich die Verſtandesuͤbung zu ſeiner Hauptaufgabe machen?

Darinn ſind ſich die Grundſaͤtze der beiden Unter - richtsſyſteme uͤber dieſen Punkt entgegengeſetzt, daß nach der aͤlteren Methode die Gedaͤchtnißuͤbungen, nach der neueren die Verſtandesuͤbungen die Hauptbeſchaͤftigung des Erziehungsunterrichts ausmach - ten. Fragt man nun: welche von beiden An - ſichten die richtige ſey? ſo laͤßt ſich gleich auf den erſten Anblick erkennen, daß beide inſofern unrichtig ſeyen, als jede nur die Eine Art von Uebung fuͤr den ganzen Umfang des Erziehungsunterrichts beſtimmen will. Wenn der Unterricht, anſtatt die Geiſteskraft, die in dem natuͤrlichen Gange der Geiſtesentfaltung zu - erſt hervortritt, zu uͤben, die ſpaͤter ſich entwickelnde zu wecken und hervorzuheben ſucht, ſo iſt dies Verfah - ren nicht weniger einſeitig, als wenn er, nachdem ſchon288Dritter Abſchnitt.die Periode einer ſpaͤter ſich entfaltenden Geiſteskraft eingetreten iſt, noch bei der erſtern Uebung beharrt. Selbſt wenn man auch den Grundſatz einraͤumen wollte, daß die Kunſt des Unterrichts der Natur gleichſam vor - greifen und die Geiſtesentwickelung beſchleunigen ſolle, was noch bedenklichen theoretiſchen und praktiſchen Zweifeln unterliegt wuͤrde man doch nicht laͤugnen koͤnnen, daß es nachtheilig ſey, die Uebung der fruͤher entwickelten intellectuellen Functionen, namentlich die des Gedaͤchtniſſes, ganz zu vernachlaͤſſigen; ſo wie im Gegentheile niemals ſtreitig geweſen iſt, daß der Erziehungsunterricht, wenn er ſich ausſchließend auf Gedaͤchtnißuͤbung beſchraͤnke, eine große Luͤcke in ſeiner Kunſt ſich zu Schulden kommen laſſe: wie denn auch nur die hoͤchſte Ausartung des Humaniſmus der Vorwurf trifft, daß er auch den ſpaͤteren Unterricht bei bloßer Gedaͤchtnißuͤbung habe bewenden laſſen.

Daß der Erziehungsunterricht die Uebung aller in - tellectuellen Functionen des Geiſtes ſich zur Aufgabe zu machen habe, waͤre demnach gar nicht weiter zu be - zweifeln. Die Frage waͤre nur noch: ob er ſich genau an den Gang der natuͤrlichen Entwickelung derſelben zu halten, oder nach einer kuͤrzeren Uebung der fruͤher her - vortretenden Fertigkeiten ſogleich zur Erweckung der ſpaͤ - ter nachfolgenden Anſtalt zu treffen habe?

Es iſt bekannt, mit welchem entſchiedenen Bei - fall die letztere Methode unter uns aufgenommen wor - den, mit welchen Lobpreißungen der Philanthropiniſ -289Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.mus vorzuͤglich aus dem Grunde uͤberall gefeyert wird, weil er, den Unterricht ſogleich faſt ausſchließend mit Verſtandesuͤbungen beginnend, die Kinder ſo ausgezeichnet fruͤhe zu Verſtande bringe. Aber es iſt eben deshalb nur um ſo noͤthiger, ſich gegen jenen Mißbrauch und das Vorurtheil, worauf er gegruͤn - det iſt, laut zu erklaͤren; und, obgleich ſchon oben vorlaͤufig ſowohl auf die Nachtheile jener Methode als auf die beſondern Einfluͤſſe, denen ſie die weitverbrei - tete Beguͤnſtigung hauptſaͤchlich zu verdanken hat, hin - gedeutet worden, ſo muͤſſen doch hier die Gruͤnde ge - gen dieſelbe noch ausfuͤhrlicher vorgelegt werden.

Fuͤrs erſte, was jene Methode verſaͤumt, in - dem ſie die, dem naturgemaͤßen Gange der Geiſtes - entwickelung zufolge hauptſaͤchlich der Gedaͤchtniß - uͤbung beſtimmte, Unterrichtszeit dieſer Beſtimmung entzieht, und zu Verſtandesuͤbungen verwendet, iſt keinesweges ſo gering zu achten. Indem ſie der Natur gleichſam vorgreift, und dagegen das, was von der Natur gegeben iſt, vernachlaͤſſiget, verurſacht ſie einen unerſetzlichen Verluſt. Aber eben darinn liegt das Vorurtheil, das jenen Mißbrauch beguͤnſtiget: man haͤlt das Verſaͤumte weder fuͤr einen Verluſt, noch fuͤr unerſetzlich. Beides aber iſt in der That gegruͤndet.

Zunaͤchſt, die Unerſetzlichkeit des Verſaͤumten laͤßt ſich aus mehr als Einem Grunde nicht bezweifeln. Uebergeht der Unterricht die fruͤhere Zeit, in welcher19290Dritter Abſchnitt.die erwachende intellectuelle Thaͤtigkeit vorherrſchend zum Auffaſſen des Einzelnen geneigt iſt, und dieſer Trieb ſich in der dem Kinde eigenthuͤmlichen Wißbe - gierde zeigt; verſaͤumt er dieſe Entwickelungsperiode, in der das Gedaͤchtniß (das Verbinden des Einzel - nen) die meiſte Bildſamkeit hat, ohne von dieſer ent - wickelteren Geiſtesthaͤtigkeit den moͤglichſten Vortheil zu ziehen: ſo iſt fuͤr den Lehrling dieſer Vortheil unwie - derbringlich verloren. Mit aller Anſtrengung bis zur Quaal bringt er es, wenn jene Periode der Bildſam - keit der Kraft voruͤber iſt, nicht mehr dahin, zu ler - nen, was er in der fruͤheren Periode mit geringer Muͤhe gelernt haͤtte. Das Allerſchlimmſte aber iſt, daß er nicht nur das nicht gelernt hat, was er haͤtte lernen koͤnnen, ſondern daß er auch ſogar das Geſchick zu ſolchem Lernen verloren hat: die Kraft, die er zur rechten Zeit nicht geuͤbt, ſteht ihm ſpaͤterhin nicht mehr zu Gebot, und laͤßt ſich ſelbſt mit aller An - ſtrengung ſo nicht wieder herſtellen, wie ſie, in dem naturgemaͤßen Gange der Entwickelung ergriffen und geuͤbt, wuͤrde geworden ſeyn; ſie iſt durch die ver - ſaͤumte Uebung entweder ſo gut wie verloren gegangen, oder ſie iſt etwas ganz anderes geworden.

Es iſt aber noch eine andre, gewoͤhnlich nicht ge - nug beachtete, Hauptruͤckſicht, aus welcher die Schwie - rigkeit erhellt, die Verſaͤumniſſe der fruͤheren Unter - richtsuͤbungen ſpaͤter wieder einzubringen. Der beim erſten Erwachen des Geiſtes vorherrſchende intellectuelle Trieb geht zwar auf das Faſſen des beſtimmten Ein -291Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.zelnen, aber weder auf das Fixiren deſſelben zur beſtimmten Anſchauung, noch auf das Behalten des Fixirten. Beide letztere Functionen liegen nicht in jenem Triebe, ſondern muͤſſen durch den Ent - ſchluß zu Stande gebracht werden. Daraus erklaͤrt ſich auch die Ueberwindung, die es koſtet, den Lehrling dazu zu bringen. Jener Entſchluß und die Ausfuͤh - rung deſſelben erfordern eine Kraftanſtrengung, die der Lehrling als Muͤhe fuͤhlt, zu der er eben darum ſich nicht leicht entſchließt. Schon das momentane Fixiren einer Vorſtellung, um ſie naͤher zu betrachten, das Hemmen der natuͤrlichen Fluͤchtigkeit, mit der die jugendliche Phantaſie von Gegenſtand zu Gegenſtand uͤberſpringt, wird dem Kinde ſchwer. Noch mehr aber iſt das Memoriren ihm eine Laſt, der es ſich gern entzieht, und zu der es nur mit Zwang gebracht werden kann. Wenn nun der fruͤhere Unterricht ver - ſaͤumt, den Lehrling in dieſer Anſtrengung ſeines Wil - lens zu uͤben, ſo waͤchſt auch von dieſer Seite die Schwierigkeit, die noͤthige Fertigkeit in jener Uebung zu erlangen; und je laͤnger die Uebung verſchoben, je ſpaͤter das Kind dazu angehalten wird, deſto ſchwe - rer wird ſie ihm, deſto weniger iſt zu hoffen, daß das Verſaͤumte nachgeholt werde, da nicht nur einer bekannten Erfahrung zufolge die Gewoͤhnung des Wil - lens mit den Jahren an Schwierigkeit zunimmt, ſon - dern auch die abnehmende Bildſamkeit der intellectu - ellen Kraft den Entſchluß zur Anſtrengung derſelben von Tag zu Tag mehr erſchwert.

19*292Dritter Abſchnitt.

Aus dieſem zweifachen Grunde iſt es alſo unguͤl - tig, wenn die modernen Paͤdagogen meinen: der Lehrling verliere durch das Unterlaſſen jener fruͤheren Uebungen nichts; indem er dafuͤr etwas anderes lerne, was Andere, die mit jenen Uebungen den Anfangs - unterricht hinbringen, erſt ſpaͤter lernen muͤſſen, koͤnne er das fruͤher aufgeſchobne Geſchaͤft leicht nachholen, und um ſo leichter, da er es mit um ſo mehr Ver - ſtand treiben koͤnne, waͤhrend es eben dadurch in den fruͤheren Jahren eine ſo unſaͤgliche Marter werde, weil das Kind es noch gar nicht recht anzugreifen wiſſe. Die oben entwickelten Gruͤnde haben unſtreitig klar ge - nug dargethan, daß ſich auch darinn die Ordnung der Natur nicht nach Willkuͤr verkehren laſſe. Man kann aber, zugleich in Ruͤckſicht auf die letztere Wen - dung, die dem Gegenargument gegeben worden, auch noch insbeſondre geltend machen, daß vielmehr eben durch jene Verkehrung der natuͤrlichen Ordnung den Lehrlingen eine Marter fuͤr das ganze Leben bereitet werde, indem einestheils die auch ſpaͤter nicht nachge - holte Gedaͤchtnißuͤbung ſie an jedem umfaſſenden Ge - ſchaͤft hindert, anderntheils aber der Verſuch des ſpaͤ - teren Nachholens des Verſaͤumten mit um ſo bitterer Aufopferung verknuͤpft iſt, da der Lehrling, nachdem er einmal zum Roͤſonnement uͤber die Gegenſtaͤnde ange - leitet, und zu dieſer freieren Bewegung des Geiſtes gewoͤhnt worden, nicht nur mit verdoppeltem Wider - willen zu der mechaniſchen Beſchaͤftigung des Memori - rens zuruͤckkehrt, ſondern auch ſogar mit aller Anſtren - gung doch meiſtens ſeinen Zweck nicht mehr erreicht.

293Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.

Sodann, was die Meinung betrifft, daß die Verſaͤumniß jener von der Natur geforderten fruͤheren Unterrichtsuͤbungen nicht als ein bedeutender Verluſt zu betrachten ſey, ſo laͤßt ſich auch dieſe leicht als grundlos zeigen.

In Abſicht auf das Fixiren der Gegen - ſtaͤnde kann man zwar allenfalls behaupten: daß dies eben ſo wohl durch die Verſtandesuͤbungen zur Fertigkeit erhoben werden koͤnne, und ſogar noch beſtimmter geuͤbt werde, indem man das Kind mehr gewoͤhne, Gegenſtaͤnde der aͤußeren Anſchauung fuͤr die Beobachtung zu fixiren. Allein die Anſicht iſt nur halb wahr. Bei materiellen Naturgegenſtaͤnden zwar, die ihrer ruhenden Natur zufolge fuͤr die Betrachtung ſtill ſtehen, mit Beobachtung zu verweilen, lehren jene Uebungen; geiſtige Gegenſtaͤnde aber, die ver - moͤge ihrer beweglichen Natur fuͤr die Betrachtung erſt fixirt werden muͤſſen, zur Verſtandesuͤbung feſtzu - halten, ſetzt vielmehr ſchon Gedaͤchtnißuͤbung voraus. Es ergiebt ſich daraus alſo ſogar ein neuer Nachtheil der verſaͤumten fruͤheren Uebung des Ge - daͤchtniſſes, daß naͤmlich ſelbſt der wichtigere Theil der Verſtandesuͤbung darunter leidet.

Eben ſo kann man in Abſicht auf das Memori - ren zwar allenfalls behaupten: daß es durch die Ver - ſtandesuͤbungen entbehrlich werde, indem es ſogar weit zweckmaͤßiger ſey, die Maſſe von Kenntniſſen in allge - meinen Ueberſichten zu faſſen, als ſich mit mechaniſchem294Dritter Abſchnitt.Einlerern der einzelnen Gegenſtaͤnde abzugeben, welches nicht einmal zu einer allgemeinen Ueberſicht verhelfe, wenn nicht die Verſtandesuͤbung hinzukomme, welche erſt Ordnung und Einheit in die Maſſe der mit dem Gedaͤchtniß gefaßten einzelnen Kenntniſſe bringe. Au - ßerdem ſey es eine ſelbſt ſprichwoͤrtlich gewordne Erfah - rung (beati memoria exspectant iudicium), daß vorherrſchende Gedaͤchtnißfertigkeit der Urtheils - kraft, die doch die edlere und wichtigere intellectuel - le Kraft des Menſchen ſey, Abbruch thue. Allein was das Erſtere betrifft, ſo iſt es eine ganz irrige Meinung, daß allgemeine Ueberſichten die Kenntniß des Einzelnen entbehrlich machen; vielmehr, wenn die allgemeinen Begriffe, Grundſaͤtze, Claſſificationen, mit welchen man das Einzelne zu beherrſchen ſich einbildet, (die uͤbrigens doch ſelbſt auch im Gedachtniß feſtgehal - ten ſeyn wollen, und inſofern Gedaͤchtnißfertigkeit vor - ausſetzen!) nicht bloße hohle und todte Formeln ſeyn ſollen, ſo muͤſſen ſie mit der lebendigen Anſchauung des Einzelnen verbunden ſeyn, die nur durch ein ge - uͤbtes Gedaͤchtniß moͤglich iſt. Was aber die zweite Einwendung betrifft, ſo beruht ſie auf einem bloßen Vorurtheil. Will man als eine pſychologiſche Beob - achtung geltend machen, daß man Individuen findet, bei denen ſich mit einem außerordentlichen Grade von Gedaͤchtnißkraft ein faſt gaͤnzlicher Mangel an Urtheils - kraft verbinde, ſo hat man um ſo mehr unrecht, dies als ein pſychologiſches Geſetz auszuſprechen, da zum mindeſten eben ſo viele Beiſpiele von Menſchen aufge - ſtellt werden koͤnnen, bei denen mit dem eminenteſten295Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.Gedaͤchtniß die tiefſte und ausgebreiteteſte Denkkraft ver - bunden iſt: und man darf ſich auf die unlaͤugbare Er - fahrung berufen, daß die groͤßten Koͤpfe aller Zeiten durch ihr Gedaͤchtniß ausgezeichnet waren, und nur durch dieſen Vorzug zu leiſten vermochten, was ſie Großes geleiſtet haben. Dem ſprichwoͤrtlichen Aus - druck von Geringſchaͤtzung der Gedaͤchtnißfertigkeit koͤn - nen wir den Ausſpruch eines alten Philoſophen, dem Niemand Urtheilskraft abſprechen wird, entgegenſetzen: tantum scimus, quantum memoria tenemus! Die Geringſchaͤtzung der Gedaͤchtnißkraft ſelbſt aber, als ei - ner niederen, ſo wie dagegen die Ueberſchaͤtzung der Urtheilskraft, als einer hoͤheren intellectuellen Kraft, darf man unbedenklich fuͤr ein pſychologiſches Vorur - theil erklaͤren. Uebrigens, wenn man uns auf die ab - ſchreckenden Beiſpiele, die aus der alten Memorirme - thode des Erziehungsunterrichts hervorgegangen ſind, verweiſen will, ſo laͤßt ſich mit vollem Recht erwiedern, daß dieſe nur gegen den Mißbrauch der Gedaͤchtniß - uͤbung gelten, wo naͤmlich das Memoriren eigentlich das einzige Geſchaͤft des Unterrichts war, und wo man ſolches ganz maſchinenmaͤßig betrieb, ohne mit demſel - ben weder gleichzeitig noch auch ſpaͤterhin Verſtandes - uͤbungen zu verbinden. Und ſelbſt von jenem Miß - brauch des Memorirens darf man ſagen, daß er weni - ger Koͤpfe verdorben habe, als der moderne Mißbrauch der Verſtandesuͤbungen; wie ſich auch daraus leicht er - klaͤren laͤßt, daß der beſſere Kopf das Memoriren nicht mechaniſch treibt, und an dem Erlernten aus eignem Antrieb Verſtandesuͤbungen anſtellt, waͤhrend er, nach296Dritter Abſchnitt.der modernen Weiſe von dem Lehrer an dem Gaͤngel - bande der ſogenannten Verſtandesuͤbungen gefuͤhrt, zu - gleich bei dem magern Stoff dieſer Verſtandesuͤbungen aufgehalten wird, und, indem er nicht leicht aus eig - nem Antrieb Gedaͤchtnißuͤbungen anſtellt, des reichhal - tigeren Stoffes zu ſelbſtthaͤtigen Verſtandesuͤbungen entbehrt. In der That iſt es ſchon in formeller Hinſicht ſehr wichtig, daß der Lehrling fruͤh zu Ge - daͤchtnißuͤbungen angehalten werde. Dieſe Uebung iſt die einzige, die er ſelbſtſtaͤndig vornehmen muß, bei der ihm kein Anderer helfen kann, und zu der er ſogar genoͤthiget iſt, ſelbſt eine Methode zu finden, wie er die Aufgabe am ſicherſten zu loͤſen vermoͤge. Schon deshalb iſt es ein weſentlicher Verluſt fuͤr die Geiſtes - bildung des Kindes, wenn dieſe Uebung ganz vernach - laͤſſiget wird. Wie wenig vermag doch dieſen Verluſt die ſogenannte Verſtandesuͤbung zu erſetzen, bei der dem Lehrling alles vordocirt, vormonſtrirt, vordemon - ſtrirt und voranalyſirt wird, und er nur zum Auffaſ - ſen, Nachſehen und Nachſprechen des Vorgezeigten und Vorgeſprochenen Anleitung erhaͤlt, fuͤr ſelbſtthaͤtige Gei - ſtesbeſchaͤftigung aber wenig Nahrung findet. Noch groͤßer aber wird man den Verluſt finden, den der Lehrling durch verſaͤumte Gedaͤchtnißuͤbung leidet, wenn man ernſtlicher erwaͤgen will, daß nur der fuͤr recht unterrichtet gelten kann, der ein lebendiges Bild von dem ganzen Umfang ſeiner Kenntniſſe ſich zu erhalten vermag, daß insbeſondre in allen ideellen Beſchaͤftigun - gen nur der etwas bedeutendes zu leiſten im Stande iſt, der die ganze Reihe von Ideen, die zu dem Um -297Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.kreis ſeines Geſchaͤftes gehoͤren, mit Sicherheit und Feſtigkeit ſich gegenwaͤrtig zu erhalten die Kraft hat, daß fuͤr ſo Viele das Gedaͤchtniß der einzige Grund und Boden iſt, auf welchem die Ideen Wurzel fuͤr ſie zu faſſen vermoͤgen, daß ſie ſelbſt von Gott und Tu - gend nur ſo viel mit klarem und lebendigem Bewußt - ſeyn feſthalten, als ſie davon in heiligen Geſaͤngen und Spruͤchen feſtzuhalten gelernt haben, daß uͤberhaupt in dem eminenteſten Sinne des Worts der oben ange - fuͤhrte Ausſpruch wahr iſt: tantum scimus, quan - tum memoria tenemus!

Fuͤrs zweite aber, was jene Methode fuͤr einen poſitiven Nachtheil bewirkt, indem ſie den ganzen Er - ziehungsunterricht in eine faſt ausſchließende Verſtan - desuͤbung verwandelt, verdient noch tiefere Beher - zigung.

Die ſogenannten Verſtandesuͤbungen, wie ſie der Philanthropiniſmus mit den Lehrlingen vorzu - nehmen pflegt, theilen ſich nach einer genaueren Unter - ſcheidung in Uebungen des Anſchauens und Uebungen des Urtheilens; und es iſt um ſo nothwendiger, dieſe Unterſcheidung feſtzuhalten, da beide Arten von Uebung meiſtens mit einander verbunden werden, ob man gleich von jeder derſelben einen eignen Zweck angiebt. Die Uebungen des Anſchauens beſtehen naͤmlich in dem kuͤnſtlichen Betrachten materi - eller Gegenſtaͤnde, und ſollen in dieſer Eigenſchaft den Zweck haben, den Sinn zu uͤben; die Uebungen298Dritter Abſchnitt.des Urtheilens aber beſtehen in dem intellectuellen Zergliedern materieller Gegenſtaͤnde, und ſollen in die - ſer Eigenſchaft den Zweck haben, den Verſtand zu uͤben: in Abſicht auf beide Uebungen aber findet man faſt immer daſſelbe Object und dieſelbe Form der Be - trachtung angewendet.

Wenn wir nach der obigen Anſicht von der natuͤrlichen Entwickelung der intellectuellen Anlagen die Uebungen des Anſchauens mit dem Auf - faſſen des Einzelnen, die Uebungen des Ur - theilens mit dem Analyſiren des Einzelnen vergleichen; ſo muͤßten wir allerdings dieſe Methode, die den Unterricht gleich an die erſte Erſcheinungsart der intellectuellen Thaͤtigkeit anſchließt, naturgemaͤßer finden als die entgegengeſetzte, die von beſondern Ue - bungen des Anſchauens gar nichts wiſſen will, und wir muͤßten eben ſo wohl dies der letzteren Me - thode als einen weſentlichen Mangel anrechnen, als daß ſie uͤberhaupt auf die Uebung der Sinne gar keine Ruͤckſicht nahm. Allein, wie man auch den Vor - wurf ſtelle und ausdruͤcke, ſo trifft er doch entweder nicht zur Sache, oder er iſt in einem ganz andern Sinn wahr, als er in jener erſten Methode genommen wird.

Daß der Unterricht alle intellectuellen Anlagen des Kindes uͤben ſolle, iſt eine ungegruͤndete Forderung; vielmehr iſt es ein unweiſer Zeitverderb, ſich mit Ue - bungen aufzuhalten, die der natuͤrliche nothwendige299Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.Gebrauch der Kraͤfte von ſelbſt mit ſich bringt. Warum ſollen wir denn Zeit damit verlieren, das Merken auf die Gegenſtaͤnde der Außenwelt in beſondern Uebun - gen des Anſchauens dem Kinde zu dociren, da ſeine erwachende Aufmerkſamkeit von Natur auf jene Gegenſtaͤnde gerichtet iſt, die es allenthalben umgeben und mit maͤchtigem Reiz anziehen? Oder warum ſol - len wirs zu einer eigenen Aufgabe des Unterrichts ma - chen, in beſondern Uebungen der Sinne das Kind ich will nicht ſagen: uͤberhaupt ſehen, hoͤren, fuͤhlen ꝛc. zu lehren; welches ohnehin um wenig ver - ſtaͤndiger waͤre, als wenn wir es lebendig ſeyn lehren wollten; ſondern nur: beſtimmter, ſchaͤrfer ſehen, hoͤren, fuͤhlen ꝛc. zu lehren, da es nur Augen, Oh - ren ꝛc. aufzuthun braucht, um darinn jede noͤthige Fertigkeit zu erlangen, und ſolche beſondre kuͤnſtliche Uebungen eines oder des andern Sinnes nur als Me - dicin bei dem einen oder dem andern Kinde, wo ein Sinn von Natur verwahrloſt iſt, eine Anwendung fin - den? Jener vermeinte Vorzug der neueren Unterrichtsme - thode, daß ſie ſich auch auf ſolche Uebungen ausbreitet, iſt nur ein neuer Beweis, daß man ſich in nichtswuͤrdiger Kuͤnſtelei gefaͤllt. Oder ſind wir wirklich ſchon ein ſo entnervtes und entartetes Geſchlecht, daß man, was ſonſt nur als Heilmittel fuͤr Schwaͤchlinge angewendet wurde, uns als allgemein nothwendiges paͤdagogiſches Mittel vorſchlagen darf?

Von einer andern Seite hat wohl der Vorwurf Wahrheit, inwiefern naͤmlich die aͤltere Unterrichtsme -300Dritter Abſchnitt.thode allerdings zu wenig Ruͤckſicht darauf genommen hat, theils uͤberhaupt den contemplativen Sinn fuͤr die Außenwelt, theils insbeſondre den Kunſtſinn zu uͤben. Nimmt man aber den Vorwurf in dieſer Bedeutung, dann paßt er wenigſtens nicht hierher, und wird wahrhaftig durch jene modernen Uebungen des Anſchauens am allerwenigſten gehoben, die genauer betrachtet nichts anderes als Zergliederungen einzelner materieller Naturgegenſtaͤnde, und inſofern in der That mehr Uebungen des Ur - theilens als Uebungen des Anſchauens ſind, ſonach dem angedeuteten wahren Beduͤrfniß gar nicht abzuhelfen vermoͤgen.

Dagegen iſt es nicht nur uͤberfluͤſſig, ſondern ſo - gar naturwidrig, mit ſolchen Uebungen des An - ſchauens den Erziehungsunterricht anzufangen, da die erſte kuͤnſtliche Uebung des Geiſtes vielmehr auf Verbinden einzelner Gegenſtaͤnde in ihrer Ganzheit, als auf ein Zerlegen derſelben in ihre Theile gerichtet wer - den muß. Es vereiniget ſich aber in jener Methode des Philanthropiniſmus vorzuͤglich der zweifache Haupt - fehler: daß der Lehrling erſtens, indem er gleich von vorn herein auf die Außenwelt, auf die ſein Geiſt die natuͤrliche uͤberwiegende Richtung hat, auch die kuͤnſtliche Richtung erhaͤlt, die Innenwelt ganz aus dem Geſichte verliert; und zweitens ihm, indem man ihn auch an den Gegenſtaͤnden der Außenwelt nur zum Zergliedern anleitet, der herrliche Sinn des ruhi - gen ungetheilten Faſſens verbildet, und zu der301Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.Kritiſirſucht der Grund gelegt wird, die Alles, ſey es geiſtig oder leiblich, nur mit analyſirendem Blicke be - trachtet, und unfaͤhig macht, irgend etwas in ſeiner Ganzheit mit ungetheiltem Gemuͤthe aufzunehmen; wo - durch der Lehrling ſelbſt auch die Außenwelt aus dem Geſichte verliert, und es wenigſtens das Verdienſt die - ſer Methode nicht iſt, wenn er noch etwas anderes uͤbrig behaͤlt als die Fertigkeit, Fragmente der Außenwelt in ihren raͤumlichen Verhaͤltniſſen zu faſſen.

Betrachtet man jene Uebungen des An - ſchauens auch bloß in der erſtern Ruͤckſicht, als kuͤnſtliche Richtung der Aufmerkſamkeit auf Gegenſtaͤn - de der Außenwelt, ſo iſt ſchon von dieſer Seite der Nachtheil, den ſie fuͤr wahre Bildung des Geiſtes ha - ben, unverkennbar. Zuvoͤrderſt, indem ſo fruͤh ſchon der Anfang damit im Unterricht gemacht werden ſoll, kann der natuͤrlichen Faͤhigkeit des Lehrlings zufolge die Betrachtung nur auf der Oberflaͤche verweilen, und es iſt ſchon an ſich ein Verluſt, daß die koſtbare Zeit mit einer Beſchaͤftigung verbracht wird, die weder ernſthaft noch gruͤndlich genug, und kaum etwas mehr als eine Spielerei iſt, bei welcher der Geiſt des Lehr - lings weder formell noch materiell an rechter Bildung gewinnt. Sodann wird dadurch auch der Lehrling zu einer ernſtlicheren Anſtrengung nicht nur nicht vorbe - reitet und geſtaͤrkt, ſondern vielmehr verwoͤhnt, die ſpie - lende Beſchaͤftigung mit Gegenſtaͤnden, (die er als Lieb - haberei treiben wuͤrde, wenn ſie ihm nicht zum Ge - ſchaͤft gemacht wuͤrde,) als Geſchaͤft zu betrachten, ſo302Dritter Abſchnitt.daß er ſich zur ſchwereren Beſchaͤftigung dann ſchwer entſchließt. Wann aber im Leben, und wo ſoll die Ge - woͤhnung zu dem nicht ſowohl Schwereren, als vielmehr nur Beſchwerlicheren geſchehen, wenn ſie nicht in der fruͤhen Jugend, wo der Zwang anwend - bar iſt, geſchehen will? Der groͤßere Nachtheil aber iſt, daß eben damit der Unterricht, als kuͤnſtliche Ein - wirkung auf den Geiſt, gleich von Anfang an ſeine Hauptaufgabe verſaͤumt, der natuͤrlichen Entwickelung der intellectuellen Thaͤtigkeit die unentbehrliche Nach - huͤlfe zu leiſten, ihr die Richtung auf die Innenwelt zu geben.

Die einzigen Anſchauungsuͤbungen, die als kuͤnſtliche Richtung des Geiſtes in jeder Art des erſten Unterrichts unentbehrlich ſind, ſind die an Gegenſtaͤn - den der Innenwelt, welche nicht wie die der Außen - welt von ſelbſt der Betrachtung ſtehen, ſondern erſt zum Stehen gebracht werden muͤſſen. Dieſe Uebungen muͤſſen aber fruͤh anfangen, ehe der Geiſt ſeine Bild - ſamkeit dazu durch uͤberwiegende Richtung auf die Außenwelt verliert; und es iſt deshalb doppelter Ver - luſt, die Bildungszeit mit Außendingen auszufuͤllen, die dem Geiſte, ſo lang er zu einer tieferen Betrach - tung noch nicht reif iſt, nichts zu geben vermoͤgen, und ohnehin ſo unvermeidlich eine ſolche Breite unſers Le - bens einnehmen.

Betrachtet man aber jene Uebungen des An - ſchauens in der andern Ruͤckſicht, als kuͤnſtliche Zer -303Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.gliederung der Gegenſtaͤnde in ihre Theile, Eigenſchaf - ten, Verhaͤltniſſe ꝛc. wodurch man den Geiſt zweckmaͤ - ßig anzuregen glaubt, ſo wird die Warnung doppelt noͤthig, daß fuͤr die wahre Bildung des Geiſtes nichts Nachtheiligeres vorgenommen werden kann, als das zu fruͤhe Wecken eines zergliedernden Raͤſonnements uͤber die Dinge der den Lehrling umgebenden Welt. Schon dadurch wird das fruͤhe Einfuͤhren des Lehrlings in eine Art von Anatomie der aͤußeren Gegenſtaͤnde ver - werflich, daß es den ungetruͤbten klaren Sinn, der die Gegenſtaͤnde ohne widernatuͤrliche Zerſplitterung ihrer freien Geſtalt anſpruchslos aufnimmt und, offen jedem Eindruck, den die ihm noch ungetheilte Natur giebt, unbefangen ſich der Welt erfreut, ſo fruͤh ſchon unter - bricht, und fruͤher als es recht und gut iſt die Ent - zweiung in das kindliche Gemuͤth bringt. Soll uns zu der Unnatur die paͤdagogiſche Kuͤnſtelei verfuͤhren, daß wir ſelbſt dem Kinde nicht mehr ſeine Welt ein ungetruͤbtes Ganze bleiben laſſen wollen? Der junge Superklug, der den Baum, anſtatt ſich an ſeiner Ge - ſtalt zu ergoͤtzen, in Wurzel, Stamm und ſo weiter zergliedert und ſeine mathematiſchen Dimenſionen auf - zaͤhlt, iſt ein Schiefkopf, der dem ungebildeten Natur - kinde weit nachſteht, dem der Baum noch gar nichts weiter iſt als ein Ort, wo er Obſt und Vogelneſter ſucht.

Noch weit ſchlimmer iſt jedoch, daß jenes uͤbereil - te Hervorrufen des Raͤſonnements der ganzen Bildung des Lehrlings uͤberhaupt eine falſche Richtung giebt. 304Dritter Abſchnitt.Wie er die Naturgegenſtaͤnde bloß als Object des Ana - lyſirens betrachten lernt, wird ihm bald Alles ohne Unterſchied zum bloßen Gegenſtand der Zergliederung und der Kritik. Dieſe unnatuͤrliche Tendenz, alles zu kritiſiren, alles und jedes, das Gedicht wie eine ge - lehrte Abhandlung, die Rede wie den ſcientifiſchen Vor - trag, das Schauſpiel wie ein gemeines Handwerkspro - duct ꝛc. bloß zum Gegenſtand der Beurtheilung zu ma - chen, dieſes Unvermoͤgen, irgend etwas rein und un - getheilt mit unbefangnem Gemuͤth aufzunehmen, dieſe heilloſe Verwoͤhnung, ſelbſt bei den hoͤchſten Werken der Natur und Kunſt den Maßſtab der Kritik nie ver - geſſen und ſich dem ungeſtoͤrten Anſchauen derſelben hingeben zu koͤnnen, iſt durch die ganze Richtung unſrer Cultur ſo weit unter uns verbreitet, daß man uͤberall laut genug daruͤber klagen hoͤrt. Und gleich - wohl will man nicht ernſtlich daran denken, jene Hauptquelle davon, die in den ſo geruͤhmten Verſtan - desuͤbungen unſerer modernen Unterrichtsmethode liegt, endlich zu verſtopfen? So lange wir nicht dieſe Methode wieder verlaſſen, kann jener Fehler nicht wie - der ausgerottet werden. So lange wir unſre Kinder, vom fruͤhſten Erwachen ihrer Geiſtesthaͤtigkeit an, aus - ſchließend damit beſchaͤftigen, Gegenſtaͤnde und Begriffe in ihre Theile aufzuloͤſen, ſie in ihre Elemente zu zer - legen, ihre Beziehungen aufzufaſſen u. ſ. w. duͤrfen wir uns wenigſtens nicht wundern, wenn wir auch je - nen Fehler bei unſern Kindern finden, wenn ihnen Nichts ganz bleibt, wenn Nichts von ihnen in ſeiner Ganzheit und Einheit gefaßt, mit Allem vielmehr ohne305Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.Unterſchied, was ihnen vorkoͤmmt, dieſelbe zur unab - weislichen Gewohnheit gewordne Operation des Zerle - gens vorgenommen wird. Und dies erfolgt ſelbſt un - ter den Haͤnden der Meiſter in dieſer Zerlegungskunſt, (Verſtandesuͤbung genannt): welche Oberflaͤchlichkeit und unertraͤglich ſeichtes Raͤſonnement uͤber Alles muß nicht erſt unter den Haͤnden eines dieſer Kunſt nicht maͤchtigen Juͤngers entſtehen?

Dahin alſo kommen wir mit unſerer Vermeſſen - heit, den natuͤrlichen Evolutionen der intellectuellen Anlagen mit unſern didaktiſchen Operationen kuͤnſtlich vorgreifen zu wollen!

Doch kann dies keinesweges ſo verſtanden ſeyn, daß der Erziehungsunterricht uͤberhaupt weder die Ur - theilskraft des Lehrlings uͤben, noch ihn zur Betrach - tung der Außenwelt anleiten ſolle. Die Forderung iſt nur die: den naturgemaͤßen Gang der Entwickelung des Geiſtes einzuhalten, und ſich auf das Unentbehr - liche zu beſchraͤnken.

Der natuͤrlichen Entwickelung der Geiſtesthaͤtigkeit aber gemaͤß iſt, daß nicht mit der Theilung der Gegen - ſtaͤnde ſondern mit ihrer Verknuͤpfung angefangen wer - de. Und das Unentbehrliche iſt, den Lehrling zu den Uebungen an Gegenſtaͤnden der Innenwelt zu fuͤhren, zu denen er weder durch einen aͤußeren Antrieb noch durch eignen freien Entſchluß gelangt. In dieſer zwei - fachen Beziehung nur iſt obige Behauptung der in20306Dritter Abſchnitt.Anſpruch genommenen Methode entgegengeſetzt. Ue - bung der Anſchauung aber und Uebung des Urtheils wird auch hier gefordert: nur ſoll nicht die letztere vor der erſtern geſchehen, und beide vorzugs - weiſe an geiſtigen Gegenſtaͤnden.

Zuerſt die Uebung der Anſchauung, heißt uns: der Lehrling ſoll erſt etwas lernen, ehe er raͤſonniren will. Er ſoll aber das Noͤthige zuerſt ler - nen, d. h. die geiſtigen Gegenſtaͤnde. Uebung des Anſchauens geiſtiger Gegenſtaͤnde als fruͤhere Unterrichtsuͤbung iſt keine andere als Gedaͤchtniß - uͤbung. Zum ſelbſtſtaͤndigen Anſchauen geiſtiger Ge - genſtaͤnde, d. h. zum ſelbſtſtaͤndigen Auffaſſen der Ideen - welt, iſt der jugendliche Geiſt noch nicht reif, er muß vielmehr dazu erſt geuͤbt werden. Dieſe Uebung aber fordert, daß er vor allen Dingen geiſtige Gegen - ſtaͤnde fixiren, zum Stehen bringen, lerne. Dazu iſt noͤthig, daß ſie ihm objectiv werden; objectiv aber werden ſie in den Darſtellungen derſelben durch die Rede, in den Ausſpruͤchen, in denen ſie von geweihten und begeiſterten Menſchen eine Form erhalten haben, durch welche ſie objectiv geworden ſind. In dieſer objectiven Form Ideen in ſich aufnehmen, heißt geiſtige Gegenſtaͤnde ſich zur Anſchauung bringen, und in dem Memoriren ſolcher Ausſpruͤche iſt ſonach die Auf - gabe fuͤr den Anfangsunterricht geloͤſt. Je mehr die - ſer Art der Lehrling zu lernen angehalten wird, deſto reicheren Stoff ſammelt er fuͤr die zweite Hauptperiode des Unterrichts, die Uebung des Urtheils; waͤh -307Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.rend ſein Geiſt durch jene Beſchaͤftigung des Memo - rirens ſolcher Gegenſtaͤnde die mannichfaltigſte Uebung und Ausbildung andrer Art zugleich gewinnt.

Damit loͤſt ſich auch die Bedenklichkeit derer, die zwar gegen die Realien im Unterricht auch declamiren, aber wenn ſie angeben ſollen, was ſie denn zweck - maͤßiges zu ſubſtituiren wiſſen, verlegen ſind und ver - ſtummen.

Die Uebung des Urtheils kann an geiſtigen Gegenſtaͤnden fruͤher angefangen werden, ohne die Nachtheile zu bewirken, die oben von derſelben Uebung der Kinder an Naturgegenſtaͤnden angegeben worden ſind. Außerdem wird auch an geiſtigen Gegen - ſtaͤnden das Urtheil tiefer und gruͤndlicher geuͤbt, als an irgend einem Gegenſtand der aͤußeren Anſchauung der Faſſungskraft des Kindes zufolge moͤglich iſt. Wenn wir dem Kinde z. B. in irgend einer Fabel oder in einer andern Erzaͤhlung ein Verhaͤltniß des Rechts, der Pflicht, der Sitte ꝛc. vorhalten, und ſolche mit demſelben zergliedern, ſo wird dies die intellectuelle Thaͤtigkeit des Lehrlings unſtreitig lebendiger aufregen, als durch irgend eine Zergliederuung einer aͤußeren An - ſchauung moͤglich waͤre. Oder, um ein anderes Bei - ſpiel zu waͤhlen, das den Sachfreunden zugleich die Wortuͤbung in einem guͤnſtigeren Lichte zeigen kann: wenn wir den Lehrling Woͤrter in ihrer etymologiſchen Bedeutung auffaſſen und deren Sinn nach dieſer Ab - leitung beſtimmen laſſen, ſo kann ſich daran eine20*308Dritter Abſchnitt.Schaͤrfe und Puͤnktlichkeit des Urtheils bilden, die durch keine noch ſo ſcharfe Zergliederung irgend eines Sachge - genſtandes erreicht zu werden vermag. Oder laſſen wir den Lehrling den Unterſchied ſinnverwandter Woͤrter beſtimmen; ſo iſt dies abermals eine Uebung des Ur - theils, die an keinem Realgegenſtande in gleichem Maße zu erreichen ſteht.

Was die Uebung des Anſchauens und Ur - theilens an materiellen Gegenſtaͤnden betrifft, ſo kann dieſe, nachdem das Auge des Geiſtes an Gei - ſtigem geuͤbt und erſtarkt iſt, allerdings auch vorgenom - men werden. In formeller Ruͤckſicht kann ſogar die hoͤ - here Bildung des Geiſtes, wenn einmal durch die fruͤhere geiſtige Beſchaͤftigung ein guter Grund gelegt iſt, eben - ſowohl an Sachen als an Ideen fortgeſetzt werden, indem von da an, wo die hoͤhere Erkenntniß anhebt, auch die Sachen als Ideen zu betrachten ſind. Der Unterricht kann ſogar von dieſer Periode an in zwei verſchiedne Zweige getheilt werden, deren einer an Naturideen, und der andre an Geiſtesideen die hoͤhere Ausbildung des Geiſtes fortſetzt. In mate - rieller Ruͤckſicht aber ſoll ohnehin der Erziehungsunter - richt die Lehrlinge, nachdem ſie dazu faͤhig geworden, auch zur Betrachtung der Außenwelt fuͤhren, weil es des Menſchen uͤberhaupt unwuͤrdig iſt, dieſe Welt, in der er lebt, gedankenlos zu durchwandern, die Wun - der Gottes, die ſie darbietet, nicht zu kennen, und die Erde nur wie einen Erdkloß zu betrachten. Der Er - ziehungsunterricht muß alſo allerdings auch dazu anlei -309Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.ten, die Welt in ihrer Mannichfaltigkeit und Bedeut - ſamkeit, Erhabenheit und Wunderhaftigkeit, verſtaͤndig zu betrachten. Aber dazu fuͤhrt er nur den ſchon er - ſtarkten und zur reifen Ueberlegung geuͤbten Geiſt. Und dazu wird er nicht viel Zeit zu verwenden noͤthig haben; denn, außerdem daß der am Geiſtigen gereifte Geiſt das Aeußere mit Schnelligkeit faßt und uͤberblickt, iſt es fuͤr die allgemeine Bildung zur Humanitaͤt auch ſchon genug, den Sinn dafuͤr geweckt zu haben: es bedarf meiſtens nichts weiter, als ihm eine Richtung zur ver - ſtaͤndigen Betrachtung der Welt zu geben, wenn man zuvor ſchon dafuͤr geſorgt hat, ihn ſo zu veredeln, daß er nicht durch kleinliche Anſichten des großen Gegen - ſtandes ſelbſt in das Geiſtloſe und Gemeine verſinke.

Anſchauung der Außenwelt, als Uebung des aͤſthetiſchen Sinnes, des Sinnes fuͤr große und ſchoͤne Naturformen, zu einer iſolirten Beſchaͤfti - gung zu erheben, hat der Erziehungsunterricht keine Zeit; aber er verbindet ſie mit den Kunſtuͤbungen, die von dem modernen Unterrichtsſyſtem mit vollem Recht wieder als ein weſentlicher Theil der freien Bil - dung zuruͤckgefordert worden ſind.

Endlich iſt nicht zu vergeſſen, daß die Aufgabe mit den Uebungen des Anſchauens und Ur - theilens allein wenn dieſe auch weder auf die Außenwelt noch auf die Innenwelt ausſchließend be - ſchraͤnkt werden noch nicht erſchoͤpft ſey; daß die hoͤchſte Function der intellectuellen Thaͤtigkeit, die Ver -310Dritter Abſchnitt. Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. ꝛc.einigung des Einzelnen, Getrennten und Verbundenen in Einem Syſteme zur hoͤchſten Einheit des Denkens, den allerwichtigſten Theil der Aufgabe des Erziehungs - unterrichts in ſeiner ganzen Vollendung ausmache. Es iſt aber hier daruͤber nichts weiter hinzuzufuͤgen, weil der Grundſatz, dem natuͤrlichen Gang der Geiſtesentwi - ckelung darinn vorzugreifen oder nicht, kaum einer Con - troverſe unterworfen ſeyn kann.

[311]

Vierter Abſchnitt. Anwendung der allgemeinen Grundſaͤtze auf die verſchiednen Arten des Erziehungsunterrichts.

Es ſind uͤber dieſen Gegenſtand vorzuͤglich zwei Hauptcontroverſen der beiden Unterrichtsſyſteme in naͤ - here Erwaͤgung zu ziehen, die, an ſich durch ihren bedeu - tenden praktiſchen Einfluß auf die ganze Nationalbil - dung wichtig, auch theoretiſch bemerkenswerth ſind durch den Widerſpruch, in welchem ſie ſelbſt gegen einander ſtehen.

1) Die eine betrifft den Grundſatz: daß der Er - ziehungsunterricht uͤberhaupt nicht der Art ſondern nur dem Grade nach verſchieden ſey.

2) Die zweite beſteht in der Behauptung: daß der Erziehungsunterricht auf die kuͤnftige Berufsbe - ſtimmung vorzuͤgliche Ruͤckſicht zu nehmen habe.

312Vierter Abſchnitt.

1.

Gerade dann, wenn es als Zweck des Erziehungs - unterrichts betrachtet werden muͤßte, die Lehrlinge zu ih - rer kuͤnftigen Berufs - und Lebensbeſtimmung direct vorzubereiten und zu bilden, koͤnnte die Artver - ſchiedenheit deſſelben, ſowohl in der Behandlung als in der Wahl der Unterrichtsgegenſtaͤnde, gar keinem Zweifel unterliegen. Wie ſollte denn eine und dieſelbe Art des Unterrichts fuͤr den kuͤnftigen Gelehrten z. B. wie fuͤr den zum Handwerker beſtimmten Lehrling durch bloße Gradverſchiedenheit zweckmaͤßig gemacht werden koͤnnen?

Daruͤber kann wenigſtens im Allgemeinen kein Streit ſeyn, daß der Lehrling, deſſen kuͤnftige Beſtim - mung vorzugsweiſe Kopfarbeit ſeyn wird, eine von derjenigen verſchiedne Uebung beduͤrfe, die dem Lehrling noͤthig iſt, deſſen kuͤnftige Beſtimmung Hand - arbeit ſeyn ſoll. Man koͤnnte zwar ſagen: der Ein - theilungsgrund ſelbſt ſey hoͤchſt mangelhaft, es gebe fuͤr den Menſchen keine bloße Hand arbeit, und die Er - ziehung eben ſoll dafuͤr ſorgen, daß es keine bloße Handarbeit mehr gebe, daß alle Handarbeit zugleich Kopfarbeit werde, daß jedes Geſchaͤft nicht nur mit Nachdenken und Ueberlegung uͤberhaupt, ſondern aus - druͤcklich auch nach den beſtimmten Geſetzen und Re - geln geſchehe, welche wiſſenſchaftlich dafuͤr aufzuſtellen ſeyen, daß mit einem Wort alle Praxis ſich auf deut - liche Kenntniß der Theorie ſtuͤtze. Allein dieſer Ein - wurf iſt in Abſicht auf unſre Behauptung von keinem313Anwendung der allgemeinen Grundſaͤtze ꝛc.Belang, da die Zweideutigkeit nur auf einer Verwech - ſelung von Eintheilungsgruͤnden beruht, die ſich leicht heben laͤßt.

Die ganz gemeine Eintheilung der Verufsarbeiten in Kopf - und Handarbeiten, welche das In - ſtrument zum Eintheilungsgrunde nimmt, und hier um ſo zweckmaͤßiger angewendet wird, da es eben auch das Inſtrument iſt, auf deſſen Bildung die Erziehung eine beſondre Ruͤckſicht zu nehmen hat, erſchoͤpft aller - dings nicht den Begriff, auf den es hier ankoͤmmt; es muß zugleich die Eintheilung der Berufsthaͤtigkeit in Beziehung auf ihr Object ſowohl als auf ihre Form in Betrachtung gezogen werden.

Nehmen wir die Eintheilung der Arbeit nach ih - rem Object, ſo bezieht ſie ſich entweder auf die In - nenwelt (das Geiſtige) oder auf die Außenwelt (das Materielle), und iſt in der erſtern Beziehung vorzugs - weiſe geiſtige Arbeit (in zweifacher Bedeutung, ſowohl in Ruͤckſicht des Objectes als des Inſtrumen - tes,) in der zweiten Beziehung aber in Ruͤckſicht des Objectes materielle Thaͤtigkeit, die in Ruͤckſicht des Inſtruments entweder als koͤrperliche Arbeit (Handarbeit) betrachtet wird, obgleich auch der Geiſt dabei geſchaͤftig iſt, oder als intellectuelle Thaͤ - tigkeit, inwiefern der Koͤrper dabei nicht geſchaͤftig iſt, obgleich ſie ſich auf die Koͤrperwelt bezieht. Neh - men wir aber die intellectuelle Thaͤtigkeit uͤberhaupt in Beziehung auf ihre Form, ſo iſt314Vierter Abſchnitt.ſie entweder betrachtend oder hervorbringend (theoretiſch oder praktiſch). Beide, bezogen auf das Object uͤberhaupt, zerfallen in die beſondre Ein - theilung: betrachtende Thaͤtigkeit, in Beziehung auf die Innenwelt ſpeculativ, in Beziehung auf die Außenwelt contemplativ; hervorbringende Thaͤtigkeit, in Beziehung auf die Innenwelt pro - ductiv, in Beziehung auf die Außenwelt opera - tiv. Durch dieſe umſtaͤndlichere Eroͤrterung hebt ſich jedoch nicht nur die Zweideutigkeit des Gegenſatzes zwiſchen Kopf - und Handarbeit auf, ſondern es laͤßt ſich nach derſelben auch leichter die Verſchiedenheit der Arbeiten uͤberhaupt uͤberſehen, auf die es vornehm - lich ankoͤmmt, wenn man von den Ruͤckſichten ſpricht, die der Erziehungsunterricht auf kuͤnftige Berufsbeſtim - mung der Lehrlinge zu nehmen habe.

Wenn nun dieſer Eintheilung zufolge die Lehrlinge als zu der einen oder andern, der Art nach verſchied - nen, Berufsarbeit beſtimmt betrachtet werden muͤſſen, und der Erziehungsunterricht darauf Ruͤckſicht zu neh - men hat, ſo ſcheint es gar nicht zweifelhaft, daß auch der Erziehungsunterricht der Art nach verſchieden ſeyn muͤſſe.

Wenn bei dem Individuum, deſſen Beruf auf Erden die Innenwelt betrifft, und alſo entweder ſpe - culative oder productive geiſtige Beſchaͤftigung iſt, unſtreitig vorzugsweiſe die Geſchicklichkeit erfordert wird, das Gebiet des Geiſtes zu deutlicher und be -315Anwendung der allgemeinen Grundſaͤtze ꝛc.ſtimmter Anſchauung zu bringen, die Geiſtesideen ent - weder objectiv zu machen, ſie fuͤr Andre auszuſprechen und darzuſtellen, oder ſie in ihrer Objectivitaͤt, in der von Andern bewirkten Darſtellung derſelben, lebendig und klar aufzufaſſen, und ihnen Anwendung und Ein - fluß auf die Beſtimmung der geiſtigen Exiſtenz des Menſchenſtaates zu geben: ſo iſt unſtreitig auch fuͤr einen ſolchen die Uebung zu dieſer Geſchicklichkeit ein Haupterforderniß. Wer die Wahrheit verkuͤnden, Ge - ſetze geben, den Staat verwalten, das Recht hand - haben ꝛc. ſoll, muß vor allen andern der Geiſtesideen faͤhig und der Geiſtesideen Meiſter ſeyn; der muß im Stande ſeyn, ſie objectiv zu machen, ſie in Begriffe zu faſſen, die geiſtigen Verhaͤltniſſe in ihren feinſten Unterſchieden zu erkennen, in ihren verwickeltſten Be - ziehungen klar zu ſondern, ſie in ihrem Zuſammenhang unter ſich und mit der Grundidee, als ihrem Princip, ſicher zu ergreifen und feſt zu halten, den Fall unter die Regel, die Regel unter das Princip zu ſubſumiren, u. ſ. f.

Alles dies erfordert ſchon eine Geiſtesuͤbung von ganz andrer Art als ſelbſt die damit am naͤchſten ver - wandte (contemplative) Geiſtesbeſchaͤftigung mit der Außenwelt. Wer die Aufgabe hat, die Außen - welt (betrachtend) in allen ihren Gegenſtaͤnden und Verhaͤltniſſen zu durchdringen, die Naturgegenſtaͤnde in ihrer Einzelnheit mit Klarheit, in ihrem Zuſam - menhange mit Beſtimmtheit, in ihrer Vielheit mit Ueberſicht, und in ihrer Einheit mit Umſicht zu faſſen316Vierter Abſchnitt.und zu ordnen: der muß vor allen andern der Natur - ideen faͤhig, und der Naturideen Meiſter ſeyn; der muß im Stande ſeyn, die Naturideen ſubjectiv zu ma - chen, auch die Außenwelt als Idee zu ſehen, und ihre Theile und Ordnung als Darſtellungen der Idee zu erkennen. Zu dieſer contemplativen Fertig - keit in Abſicht auf die Gegenſtaͤnde der Außenwelt wird eine ganz andre Uebung erfordert, als zu jener ſpeculativen Fertigkeit in Abſicht auf die Ge - genſtaͤnde der Innenwelt, wenn gleich in beiden die Geiſtesthaͤtigkeit auch als bloß betrachtende ge - dacht wird.

Die Verſchiedenheit erſcheint aber noch groͤßer, wenn man in Erwaͤgung zieht, daß die Geiſtesthaͤtig - keit auch in der Contemplation eben o wenig als in der Speculation eine bloß betrachtende iſt. Es ſcheint zwar, daß, waͤhrend die Speculation ihre Gegenſtaͤnde (der Innenwelt) ſelbſt erſt fuͤr die Betrachtung componiren und fixiren muͤſſe, die Con - templation ihre Gegenſtaͤnde (der Außenwelt) als gegeben und ruhend nur aufnehmen und ordnen duͤrfe. Allein das Geſchaͤft des wahren Contemplators erfor - dert allerdings mehr. So wie ſie dem leiblichen Auge gegeben ſind, ſind die Gegenſtaͤnde der Außenwelt nur Gegenſtaͤnde der gemeinen Betrachtung, bei der ſich die Geiſtesthaͤtigkeit nur auf der niedrigen Stufe des bloßen Fachwerkmachens zeigt. Der wahre Contempla - tor durchdringt die Gegenſtaͤnde, ſucht ihre innere Verwandtſchaft auf; er hat eben ſo die inneren Geſetze317Anwendung der allgemeinen Grundſaͤtze ꝛc.der Naturwelt, wie jener die inneren Geſetze der Gei - ſteswelt zu faſſen und zu entwickeln: und wie jener die ideellen Gegenſtaͤnde fuͤr die Speculation componirt, ſo hat dieſer die materiellen Gegenſtaͤnde fuͤr die Con - templation zu decomponiren, ſie in Ideen aufzuloͤſen; (worinn allein die rechte Kunſt der Naturforſchung ſich bewaͤhrt.)

Wenn wir alſo die Geſchaͤfte der Menſchen auf Erden auch nur von dieſer einen Seite der betrachtenden Geiſtesthaͤtigkeit in Anſchlag bringen, ſo zeigt ſich doch ſchon, daß ſie eine der Art nach verſchiedne Uebung erfordern, und folglich auch der Erziehungsunterricht, inwiefern er die Lehr - linge zu ihrer Beſtimmung auf Erden vorbereiten ſoll, nicht auf eine bloße Gradverſchiedenheit berech - net werden duͤrfe.

Noch ſtaͤrker aber tritt die Forderung einer Art - verſchiedenheit in Abſicht auf den Erziehungsun - terricht hervor, wenn wir die Geſchaͤfte der Men - ſchen auf Erden von der andern Seite der hervorbringenden Geiſtesthaͤtigkeit be - trachten.

Wer operativ die Naturkraͤfte auf beſtimmte techniſche oder andre willkuͤrliche Zwecke richten, ſie zu groͤßeren oder kleineren Abſichten anwenden und ge - branchen will, der bedarf nicht nur eine von der con - templativen Anſicht ganz verſchiedne Kenntniß der Au -318Vierter Abſchnitt.ßenwelt, ihrer Gegenſtaͤnde, Wirkungsarten und Ver - wandtſchaften, ſondern zugleich auch eine eigne Uebung koͤrperlicher Geſchicklichkeit, um fuͤr die willkuͤrlichen oder gegebnen Zwecke den materiellen Stoff zu verknuͤ - pfen oder der Naturkraft die erforderliche Richtung zu geben. Eben ſo, wer productiv Ideen darſtellen, in der Kunſt der Rede ausſprechen, oder in materiel - lem Stoff ausdruͤcken will, bedarf nicht nur eine von der ſpeculativen Fertigkeit ganz verſchiedne Anſicht der Innenwelt, ſondern zugleich auch eine eigne Kunſt, die Mittel der Darſtellung gehoͤrig zu behandeln; wor - inn ſelbſt wieder eine ſo große Verſchiedenheit eintritt, je nachdem die Ideen in dem zauberiſchen Stoff der Sprache oder des Tons, oder in der Maſſe todter Materie ausgedruͤckt werden ſollen.

Demnach wuͤrde man den Widerſpruch kaum be - greifen: dem Erziehungsunterricht von der einen Seite directe Vorbereitung der Lehrlinge zu den verſchiedenen Berufsarten zur Pflicht zu machen, und doch von der andern Seite ihn auf eine bloße Gradverſchie - denheit zu berechnen; wenn man nicht den Aufſchluß davon in der uͤberſpannten Anſicht faͤnde, die als ein herrſchender Irrthum unſrer ganzen modernen Cultur ſchon oben zur Sprache gebracht worden, in der An - ſicht naͤmlich: daß alle Menſchenindividuen zu gleichfoͤrmigen Exemplaren des Menſchenideals ge - bildet werden ſollen; woraus man die Forderung ab - leitet: daß der Erziehungsunterricht das Gleichgewicht, welches durch die Berufsbeſtimmung geſtoͤrt werde,319Anwendung der allgemeinen Grundſaͤtze ꝛc.durch Nachhuͤlfe der den Berufsfertigkeiten nachgeſetzten Geiſtesuͤbungen, herſtelle, und deshalb den Lehrling, deſſen Beruf in der Ideenwelt iſt, doch auch zugleich in der materiellen Welt, und dagegen den, deſſen Be - ruf in der materiellen Welt iſt, doch auch zugleich in der Ideenwelt uͤben und ausbilden muͤſſe, damit die verhaßte Einſeitigkeit von allen Seiten abgehalten und dagegen die beliebte Allſeitigkeit von allen Seiten er - zielt werde!

Das Wahre iſt, daß beide Behauptungen zugleich falſch ſind; ſowohl: daß der Erziehungsunterricht die Aufgabe habe, die Lehrlinge zu ihrem kuͤnftigen Berufe vorzubereiten; als auch: daß er auf eine bloße Gradverſchiedenheit zuruͤckgefuͤhrt werden koͤnne. Beides iſt in folgenden zwei allgemei - nen Betrachtungen naͤher zu eroͤrtern.

2.

Abgeſehen von aller Ruͤckſicht auf die Verſchieden - heit kuͤnftiger Berufsbeſtimmungen der Lehrlinge, erfor - dert ſchon die Artverſchiedenheit der Indivi - duen an und fuͤr ſich auch eine Artverſchieden - heit des Erziehungsunterrichts, und es muß vielmehr die umgekehrte Anſicht als die wahre geltend gemacht werden: daß die Artverſchiedenheit der Individuen, als deren innerer Beruf, die Art des Erziehungsunterrichts, als die zweckmaͤßige Ausbildung ihrer Anlagen, und dadurch mittelbar auch die Art ihres aͤußeren320Vierter Abſchnitt.Berufes, als die von ihnen in dieſer Welt zu leiſtende Arbeit, beſtimme.

Die Maxime, von der Beſtimmung des aͤußeren Berufs auszugehen und darnach feſtzuſetzen, was mit dem Lehrling zu thun ſey, muß ſogleich in ihrer Nich - tigkeit erkannt werden, ſobald man ſich nur ernſtlich fragt: wodurch denn der aͤußere Beruf eines Indivi - duums beſtimmt werde? Daß nach dem gewoͤhnlichen Gang der Dinge tauſend Zufaͤlligkeiten, aͤußere Gluͤcks - verhaͤltniſſe, Standesunterſchied u. ſ. w. oft bloß Ei - telkeit oder Laune der Aeltern, der Lebensbeſtimmung des Menſchen die Entſcheidung geben, wird hier, wo es auf wiſſenſchaftliche Unterſuchung ankoͤmmt, Nie - mand geltend machen wollen. Muß man aber zuge - ben, daß hierinn keine Zufaͤlligkeit, ſonach auch keine Willkuͤr, ſtatt finden, und der Beruf eines Indivi - duums nur durch ſeine Individualitaͤt beſtimmt werden koͤnne: ſo muß man auch einraͤumen, daß man den ganz verkehrten Weg einſchlage, indem man die Beſtimmung des Erziehungsunterrichts von der Be - ſtimmung des kuͤnftigen Berufes der Lehrlinge abhaͤn - gig machen wolle.

Allein dieſe natuͤrliche Beſtimmungsart des Berufes nach der Artverſchiedenheit der Individuen fand in der unnatuͤrlichen Philanthropie unſrer Zeit ein Hinderniß von ganz eigner Art, das ſich durch eine uͤbelverſtandne Behauptung der Zeitphiloſophie zu decken wußte. Man trieb die Anſicht von der Gleichheit321Anwendung der allgemeinen Grundſaͤtze ꝛc.der Individuen ſo weit, daß man, von einer Art - verſchiedenheit der Individuen zu ſprechen, fuͤr eine Verletzung der Vernunft hielt.

Die Bildung, ſagte man, ſoll nur Eine ſeyn, wie die Vernunft ſelbſt nur Eine, der Geiſt nur Einer, und das Object der Erkenntniß nur Eines iſt. Alles ſoll von Allen erkannt werden, fordert das Ideal der allgemei - nen Bildung. Dieſes Ideal wird freilich nicht von Al - len in ſeiner Vollſtaͤndigkeit erreicht, weil nicht Allen die Bedingungen zu dem Allen der Erkenntniß gegeben ſind, weil innerliche und aͤußerliche Beſchraͤnkungen die Einzelnen bald mehr bald weniger verhindern, ſich des Ganzen zu bemaͤchtigen. Allein Alle ſind doch, als Vernunft, dazu beſtimmt, zu dem Ganzen der Erkennt - niß zu gelangen, und der Unterricht darf darinn nicht eine willkuͤrliche Beſtimmung machen; ſeine Aufgabe iſt, zu jenem Ziele Alle, ſo weit als moͤglich, hinan zu fuͤhren, jedem Individuum gerade von der Seite mehr nachzuhelfen, von der es am meiſten einer Nach - huͤlfe bedarf, und ſo gleichfoͤrmig die Hinderniſſe, die ſich bei den Einzelnen finden, moͤglichſt zu beſeitigen. Darinn kann es keinen andern Unterſchied, als den des Grades, geben. Der Unterricht fuͤhrt Jeden zu dem Ganzen der Erkenntniß, ſo weit es nach den Kraͤften eines Jeden moͤglich iſt. Wer will denn wagen, vor - zuſchreiben, was dieſer oder Jener aus dem Ganzen der Erkenntniß auffaſſen, was er unbeachtet laſſen ſoll? Da jeder Menſch, als Menſch, die Beſtimmung und die Faͤhigkeit zur ganzen Bildung in ſich traͤgt, darf21322Vierter Abſchnitt.keiner ausgeſchloſſen, oder nach Gutduͤnken auf dieſen oder jenen Theil des Unterrichts beſchraͤnkt werden, und es waͤre Vermeſſenheit, darinn eine willkuͤrliche Abthei - lung machen zu wollen. Es giebt keine andre Abthei - lung als die Graͤnze in dem allgemeinen Fortruͤcken, die ſich durch Anlagen und Fleiß eines Jeden bildet. Auf welcher Stufe des allſeitigen Ausbildens Jeder ſtehen bleibt, da beſtimmt er ſelbſt den Grad der Bildung, der ihm zukoͤmmt, waͤhrend er in Abſicht auf die Art derſelben mit allen vernuͤnftigen Individuen auf glei - cher Linie ſteht, auf welcher ihn in irgend einem Punkte abſichtlich zuruͤckzuſetzen Niemand ein Recht ha - ben kann.

Allein, was von dieſer uͤberſpannten Anſicht und uͤbertriebenen Bedenklichkeit zu halten ſey, iſt oben ſchon beſtimmt genug auseinander geſetzt worden. Ohne uns zu deren Widerlegung auf eine weitausſehende Unterſu - chung einzulaſſen, begnuͤgen wir uns, zwei Hauptpunkte geltend zu machen, die bei Beſtimmung der Artver - ſchiedenheit des Erziehungsunterrichts vor - zugsweiſe in Anſchlag kommen.

Der eine Hauptpunkt, der einem Widerſpruch we - niger unterworfen iſt, betrifft die Verſchiedenheit des Geſchlechts. Will man einerlei Bildung dem Manne geben und dem Weibe? Will man auch hierinn nur einen Gradunterſchied des Unterrichts vielleicht ſtatuiren? Welches moͤchte wohl die Graͤnzlinie ſeyn, die den Grad bezeichnet, wo die Bildung des maͤnnli -323Anwendung der allgemeinen Grundſaͤtze ꝛc.chen Geſchlechts die des weiblichen, oder umgekehrt die Bildung des weiblichen Geſchlechts die des maͤnnlichen uͤberſteigen muͤßte? Wir wollen aber unſre Widerle - gung nicht auf die Verlegenheit bauen, in welche unſre Gegner durch dieſe Inſtanz verſetzt werden muͤßten; wir wollen vielmehr geradezu darauf dringen, daß ſie uns ein dicectes Ja oder Nein auf die Frage ertheilen: ob die Bildung des Weibes in der That von Einer und der - ſelben Art mit der Bildung des Mannes ſeyn muͤſſe? Viele unſrer Unterrichtstheoretiker, wollten ſie ganz auf - richtig ſeyn, wuͤrden geſtehen muͤſſen, daß ſie in ihrer Theorie das ganze ſchoͤne Geſchlecht voͤllig vergeſſen, und eben deswegen ihren Faden ſo ungehindert nacheinander fortgeſponnen haben; wenigſtens erwaͤhnen ſie dieſer hoͤchſt wichtigen Ruͤckſicht ſo wenig, daß man ſich jener Vermuthung kaum enthalten kann. Wir wollen ſie aber auch mit dieſer Beſchuldigung nicht weiter draͤngen, ſon - dern annehmen, ſie ſeyen von der Ueberzeugung aus - gegangen, und werden es mit einem entſchloßnen Ja bekraͤftigen, daß auch zwiſchen Mann und Weib in Ab - ſicht auf geiſtige Anlagen keine Artverſchiedenheit ſtatt finde, und eben deshalb auch der Unterricht fuͤr beide ſich uͤber Einen Leiſten ſchlagen laſſe.

Aber eben dieſe Vorausſetzung iſt entſchieden irrig. In dem weiblichen Gemuͤthe iſt uͤberall nicht die Tren - nung, die dem maͤnnlichen eigen iſt. Der Geiſt des Mannes hat die Einheit nur durch Trennung und Ver - bindung, ihm iſt es charakteriſtiſch, durch Analyſis zur Syntheſis zu gelangen; in dem Geiſte des Weibes da -21*324Vierter Abſchnitt.gegen iſt die Einheit Theſis, das reine ungetheilte Ganze. So iſt das Weib im Gegenſatz vom Manne, im Denken, wie im Fuͤhlen und im Thun, in Allem gleich ungetheilt und unmittelbar; und man zerſtoͤrt dieſen herrlichen Charakter des weiblichen Weſens, wenn man in das weibliche Gemuͤth die Treunung bringt, die bei dem Manne als Durchgang zur geiſtigen Vollendung in ſeiner Art unentbehrlich und unerlaßlich iſt. Ob dieſer Charakter des maͤnnlichen, oder jener des weib - lichen Geiſtes der hoͤhere, und welcher von beiden der vortrefflichere ſey? laͤßt ſich ſtreiten. Wenn der hoͤchſte Vorzug der Vernunft die Syntheſis waͤre, die durch eine vollendete Analyſis bedingt iſt; wenn die Behaup - tung unbedingt wahr waͤre, daß die Wahrheit nur in der mittelbaren Kenntniß durch Begriffe, die Moralitaͤt nur in der Vollziehung mittelbar erkannter Forderungen, die Kunſt nur in der Vollziehung mittelbar erdachter Regeln beſtaͤnde: dann ſtaͤnde das Weib, deſſen Grund - charakter die Unmittelbarkeit im Denken, Thun und Fuͤhlen iſt, und das eben darum zu jenem Ideal, der mittelbaren Virtuoſitaͤt durch Freiheit, ſich weder ſelbſt erheben, noch durch irgend eine Kuͤnſtelei erhoben wer - den kann, dem Manne weit nach. Aber, wer das Weſen jener Unmittelbarkeit tiefer erforſcht, und eingeſe - hen hat, welche hohe Vortrefflichkeit die unmittelbare Erkenntniß des Wahren, Guten und Schoͤnen habe, die dem Weibe eigenthuͤmlich iſt; wer es weiß, mit welcher Sicherheit das Weib das Rechte trifft, daß ihr Urtheil ſelbſt fuͤr des Mannes weit geſuchte und doch ſo oft nicht richtige analytiſche Erkenntniß ein zuverlaͤſſiger325Anwendung der allgemeinen Grundſaͤtze ꝛc.Probirſtein iſt; wer zugleich erkennt, daß ſelbſt das Hoͤchſte, was je ein maͤnnlicher Genius hervorgebracht hat, aus einer gleichen Unmittelbarkeit kam: der wird jene Eigenthuͤmlichkeit des weiblichen Geiſtes in Verglei - chung mit der des maͤnnlichen nicht gering achten; er wird einraͤumen muͤſſen, daß man grundlos um den Vorzug ſtreite, da beide incommenſurabel ſind, beide von unendlichem Werth und unendlichen Perfectibilitaͤt in ihrer Art. Wer aber dies erkannt hat, wird auch nicht weiter laͤugnen koͤnnen, daß es im hoͤchſten Grade unverſtaͤndig ſey, das Weib auf dieſelbe Weiſe bilden zu wollen, wie den Mann; in Allem nach Begriff und Regel, mit fleißiger Zergliederung und ſelbſt Zerſplitte - rung der Begriffe und der Regeln.

Zwar haͤtten ſchon laͤngſt abſchreckende Beiſpiele ge - nug auf die Verkehrtheit der modernen weiblichen Bildung aufmerkſam machen koͤnnen. Aber man ſuchte den Grund der widernatuͤrlichen Erſcheinung nur in der Halbheit der Bildung, und meinte, daß bei vollſtaͤndig durchgefuͤhrter Bildung etwas ganz Vortreffli - ches wuͤrde geworden ſeyn. So ſehr konnte man in Theorie und Praxis des Erziehungsunterrichts vergeſſen, was ſonſt in Theorie und Praxis als Eigenthuͤmlichkeit des Weibes bekannt und anerkannt genug iſt. So ſehr hat man vergeſſen, das Weib in ſeiner Art zu bilden und zu der Vollendung zu erheben, zu der dieſes Ge - ſchlecht beſtimmt iſt, daß man gar nicht mehr ſehen wollte, zu welcher Unnatur man es verbildete, indem man es nach Maͤnner Art zu bilden unternahm.

326Vierter Abſchnitt.

Der andre Hauptpunkt betrifft die Artverſchie - denheit der Individuen in beiden Geſchlechtern. In der Idee kann man freilich ſagen: Alle haben zu Allem die Anlage, denn die Vernunft iſt nur Eine, und Alle ſeyen Vernunft. Die das behaupten, moͤgen dann allerdings wohl auch nur einen Gradunterſchied unter den Menſchen annehmen, inwiefern nach jener Anſicht die Individuen ſich nicht anders als dadurch un - terſcheiden koͤnnten, daß die Anlagen, die bei Jedem alle vorhanden ſeyn muͤßten, nur bei dem Einen in hoͤherem, bei dem Andern in geringerem Grade vor - handen waͤren; einige bei Einigen nur bis auf ein Mi - nimum vermindert. Allein es iſt nicht noͤthig, daß wir uns uͤber dieſe ſpeculative Behauptung in ſpitzfindige Unterſuchungen einlaſſen; wir wollen den tiefſinnigen Satz mit ſeiner Folgerung zugeben, und bloß ganz ein - fach fragen: ob es irgend Jemand der Muͤhe werth halten koͤnne, ein ſolches Minimum von Anlage bei ei - nem Lehrling bilden zu wollen? Wer z. B. wird ein Kind, dem wie es die gewoͤhnliche Redensart aus - druͤckt alle Anlage zur Muſik fehlt, mit muſikali - ſchen Uebungen quaͤlen, bloß weil ſie nach dem obigen Satze gleichwohl (wie eine qualitas occulta) als in der Seele vorhanden ſupponirt werden muͤßte? So - dann, wenn man auch der metaphyſiſchen Behauptung praktiſche Folge geben wollte, ſo duͤrfte zugleich vor allem andern auch die Folgerung geltend gemacht wer - den, daß bei dem organiſchen Zuſammenhang aller gei - ſtigen Anlagen des Menſchen doch auch die weniger hervortretenden, ſelbſt wenn auf deren Uebung keine be -327Anwendung der allgemeinen Grundſaͤtze ꝛc.ſondre Ruͤckſicht genommen wird, mit der Uebung der vorherrſchenden Anlagen verhaͤltnißmaͤßig fortruͤcken und ſich entwickeln; fuͤr welche Behauptung ſich ſogar das ſpaͤte Erwachen mancher Talente als Beweis anfuͤhren ließe.

Gerade dadurch alſo beſteht in der That eine Artverſchiedenheit unter den Individuen, daß ſie obgleich Alle, der Idee nach, zu Allem em - pfaͤnglich und mit Allem ausgeruͤſtet, was die Ver - nunft iſt und hat, in Abſicht auf die Miſchung der Anlagen ſo ganz verſchieden ſind, daß bei dem Einen dieſe bei dem Andern andre Anlagen ſo entſchieden vorherrſchen, daß er als dies beſtimmte Individuum nur durch dieſe hervortretenden Anlagen ausgezeichnet iſt, und die andern in ihm ſchlummernden (qualitates occultae) gar nicht mit gerechnet werden. Da es nun nur der Muͤhe lohnt, die vorherrſchenden Anlagen mit beſondrer Sorgfalt auszubilden, die andern aber entweder gar nicht, oder doch ſehr wenig in Betracht kommen koͤnnen, ſo ſind zwei Individuen, in denen ſich verſchiedne Anlagen auszeichnen, durch dieſe verſchiedne Miſchung der Anlagen (obgleich wir an - nehmen wollen, daß alle Anlagen der Vernunft in bei - den ſeyen und von dieſen Anlagen nur einige verſchie - dene ſich dem Grade nach unterſcheiden) doch als zwei verſchiedne Arten fuͤr die praktiſche Behandlung des Erziehungslehrers zu betrachten.

Sonach muß auch von dieſer Seite eine Artver - ſchiedenheit des Erziehungsunterrichts als328Vierter Abſchnitt.nothwendig anerkannt werden; ohne daß es erſt noͤ - thig waͤre, dieſe Forderung von der Verſchiedenheit der Berufsarten abzuleiten. Die Lehrlinge ſind durch ihre eigne Natur verſchieden, und erfordern alſo auch in der kuͤnſtlichen Befoͤrderung ihrer Geiſtesentwickelung eine verſchiedene Behandlung. Wenn auch die Ver - nunft in Allen gleich iſt, ſo tritt ſie doch in den Ein - zelnen in großer Mannichfaltigkeit hervor, und eben durch dieſes Hervortreten der Mannichfaltigkeit indivi - dualiſirt ſie. Dadurch ſpricht ſie auch den inneren Beruf der Individuen aus, und die Verſchiedenheit innerer Berufsarten iſt eben ſo mannichfaltig als die Verſchiedenheit der Individuen. Da nun der dadurch ausgeſprochene innere Beruf eines Individuums auch das Ziel ſeiner Bildung ausdruͤckt, das, wozu es ſich, abgeſehen von allen aͤußeren Verhaͤltniſſen deſſel - ben zu der Welt, bilden ſoll, ſo muß auch der Er - ziehungsunterricht, inwiefern er zu Herbeifuͤh - rung jenes Zieles mitwirken ſoll, verſchieden ſeyn. Man muß die Fertigkeit im Lehrling uͤben, durch die er ſich auszeichnet, und in welcher ſeine Natur ſeine Beſtimmung ausgeſprochen hat: ihn zu etwas anderm bilden wollen, hieße die Natur verkehren, der Weltre - gierung vorgreifen.

Da aber ein verſchiednes Ziel auch verſchiedne Mittel fordert, ſo muß der Erziehungsunterricht, wie der innere Beruf der Lehrlinge verſchieden iſt, auch ver - ſchiedne Unterrichtsmittel anwenden. Den Lehrling, der durch ſeine Natur zum Mathematiker beſtimmt iſt, wird329Anwendung der allgemeinen Grundſaͤtze ꝛc.der verſtaͤndige Erzieher nicht zum Dichter bilden wol - len, ſo wie den zum Dichter beſtimmten nicht zum Ma - thematiker. Jenem alſo muß er eine andre Bildung ge - ben als dieſem. Wenn er nun fuͤr beide das Studium der Philologie z. B. beſtimmt, weil er es um der ſtren - gen, der Mathematik am naͤchſten kommenden, Metho - de willen fuͤr jenen, um der, die Darſtellung durch Rede als Kunſt einpraͤgenden, Muſterhaftigkeit willen fuͤr dieſen zweckmaͤßig haͤlt: ſo iſt auch in dieſer An - wendung des Mittels nicht ein Grad -, ſondern ein Art-Unterſchied. Den Mathematiker bloß weni - ger als den Dichter mit Philologie beſchaͤftigen, waͤre eine veraͤchtliche Stuͤmperei der Didaktik! Den Phil - anthropiniſten aber bleibt kein anderer Ausweg. Da ſie einmal dem Erziehungsunterricht den Zweck geben, daß ſich die Lehrlinge des ganzen Gebietes der Erkennt - niß ſo viel als moͤglich iſt bemaͤchtigen, ſo koͤn - nen ſie, ohne inconſequent zu werden, bei keinem einzelnen Lehrling einen einzelnen Lehrgegenſtand aus - nehmen, ſondern muͤſſen jedem alle Lehrgegenſtaͤnde mit - theilen, und ſonach wo es an Zeit und Kraft fuͤr alle gebricht ſich in allen gleichmaͤßig mit einem Minimum erlangter Kenntniß befriedigen: welches dann ohne Zweifel nichts anders heißt als, die Stuͤmperei organiſiren.

Wollte man dagegen nun noch einwenden, daß nach der obigen Anſicht fuͤr jedes Individuum da es in dem Begriff des Individuums liege, daß keines dem andern vollkommen gleich ſey ein ganz eigner330Vierter Abſchnitt.Erziehungsunterricht noͤthig ſeyn wuͤrde, welches un - ſtreitig als unausfuͤhrbar betrachtet werden muͤſſe: ſo laͤßt ſich fuͤrs erſte mit Recht erwiedern, daß die Theo - rie zufaͤllige Schranken der Ausfuͤhrbarkeit ihrer For - derungen nicht als Regulativ reſpectiren koͤnne, ſie muß vielmehr ihre Poſtulate, die in der Zergliederung der ganzen Idee des Zweckes liegen, unangeſehen ihrer Ausfuͤhrbarkeit oder Nichtausfuͤhrbarkeit unter gegebnen zufaͤllig beſchraͤnkten Umſtaͤnden, um ſo mehr in ihrer ganzen Strenge und Wichtigkeit auch fuͤr die Praxis aufſtellen, um einestheils die Ausfuͤhrung vorzuberei - ten, indem ſie durch die aufgeſtellte Forderung ein Su - chen nach den Mitteln veranlaßt, anderntheils um auf die Aushuͤlfsmittel, die vorhanden oder herbeizuſchaffen ſind, aufmerkſam zu machen, damit jene gepruͤft und benutzt, und dieſe in Ueberlegung genommen werden; fuͤrs zweite aber waͤre die Forderung nicht bloß uͤber - trieben, ſondern in der That falſch, indem ausdruͤcklich die Rede nur von den ſich auszeichnenden Ver - ſchiedenheiten der individuellen Anlagen war, auf welche beſondre Ruͤckſicht genommen, und alſo eine wirkliche Verſchiedenheit des Erziehungsunterrichts ge - gruͤndet werden ſollte.

Die Hauptverſchiedenheiten aber, die einen wirkli - chen Gegenſatz bilden, und deshalb eine ſolche beſondre Beruͤckſichtigung erfordern und verdienen, ſind nicht unbeſtimmbar mannichfaltige, ſondern die in der obi - gen Eintheilung der Berufsarbeiten beſtimmt und voll - ſtaͤndig aufgezaͤhlten. Wird alſo nur fuͤr jene durch ei -331Anwendung der allgemeinen Grundſaͤtze ꝛc.ne zweckmaͤßige Einrichtung des Erziehungsunterrichts geſorgt, ſo wird jedes Individuum in ſeiner Art zu dem Grade von Ausbildung, deſſen ſeine Anlagen faͤ - hig ſind, leicht gelangen, ohne daß im Allgemeinen ei - ne mehr individualiſirte kuͤnſtliche Nachhuͤlfe als dieje - nige erforderlich waͤre, die jeder Lehrer einer Claſſe z. B. in Ruͤckſicht auf die Gradverſchiedenheit ſeiner Schuͤler eintreten laſſen muß.

3.

Was endlich die Ruͤckſicht auf die kuͤnfti - ge Berufs - und Lebensbeſtimmung der Lehr - linge betrifft, die man von dem Erziehungsunterricht fordert, ſo iſt oben bereits erinnert worden, daß die Forderung vielmehr umzukehren ſey: daß der Erzie - hungsunterricht vielmehr den Beruf, als der Beruf den Erziehungsunterricht be - ſtimmen muͤſſe. Inzwiſchen, da die Anſicht, wel - cher zufolge der Erzieher mit ſeinem Unterricht vor - nehmlich auf den kuͤnftigen Beruf ſeiner Lehrlinge zu ſehen haͤtte, ſich von Seite der praktiſchen Brauchbar - keit einleuchtend empfielt, und jene Behauptung alſo, welche dieſe Ruͤckſicht ganz auszuſchließen ſcheint, be - denklich gefunden werden koͤnnte: ſo kann eine genaue - re Unterſuchung der Gruͤnde der gegenſeitigen Behaup - tung hier um ſo weniger umgangen werden, da die Forderung ſelbſt etwas ganz Wahres enthaͤlt, das nur in einer verkehrten Anſicht genommen und angewendet wird.

332Vierter Abſchnitt.

Sobald wir den Menſchen nicht bloß als Men - ſchen uͤberhaupt, ſondern als Glied der menſchlichen Geſellſchaft betrachten, (welches Letztere ſogar eine noth - wendige Bedingung ſeines vernuͤnftigen Daſeyns ſelbſt iſt;) muͤſſen wir von einer aͤußeren Beſtimmung deſſelben eben ſo wohl als von ſeiner inneren Be - ſtimmung ſprechen, und koͤnnen ſonach als Erzieher und Bildner auch nicht umgehen, die Bildung unſrer Lehrlinge auf die Stelle zu berechnen, die ſie in der Welt (der Geſellſchaft der Menſchen) einnehmen ſollen. Da der Menſch ſeine Beſtimmung auf Erden nicht in einer abſtracten Allgemeinheit, als Menſch uͤberhaupt, ſondern an einer beſtimmten Stelle, in beſtimmten Ver - haͤltniſſen, mit einem beſtimmten Geſchaͤft, zu erfuͤllen hat: ſo kann er auch nicht in der abſtracten Allgemein - heit als Menſch, ſondern muß in Beziehung auf be - ſtimmte Verhaͤltniſſe gebildet werden, um ſeinen be - ſtimmten Antheil an der allgemeinen Aufgabe, welche das Menſchengeſchlecht auf Erden hat, erfuͤllen zu koͤn - nen. Inſofern kann der Erziehungsunterricht doch auch die Ruͤckſicht auf die weſentliche Verſchiedenheit der Individuen in Anſehung ihrer aͤußeren Beſtim - mung nicht aus den Augen ſetzen. Je nachdem der Lehrling zu dieſem oder jenem Geſchaͤft auf Erden vor - zugsweiſe beſtimmt iſt, hat er dieſe oder jene Fertig - keit, dieſe oder jene Kenntniß vorzugsweiſe noͤthig, und muß alſo auch dieſe oder jene Bildung vorzugsweiſe erhalten.

Dies iſt auch die Anſicht, aus welcher die in der neueren Paͤdagogik controvers gewordne, vielfach beſtrit -333Anwendung der allgemeinen Grundſaͤtze ꝛc.tene, Frage: ob das Kind zum Menſchen oder zum Buͤrger zu erziehen ſey? unſtreitig am be - ſtimmteſten gefaßt werden kann.

Nach der obigen Anſicht erhellt, daß man ſich ſelbſt mißverſteht, wenn man glaubt, jene Erziehung trennen zu koͤnnen. Es ſind nur Begriffsverſchiedenheiten, Ab - ſtractionen, jene Abſonderung zwiſchen Menſch und Buͤrger. Der Menſch iſt weder als Menſch allein, noch als Buͤrger allein zu betrachten; er wird weder als das Eine noch als das Andre allein geboren. Auf dieſer Erde erſcheint er nicht als Menſch uͤberhaupt, ſondern als integrirender Theil der Menſchheit, und im Verhaͤltniß zu den Menſchen, als beſtimmtes Glied ihrer Geſellſchaft. Wollen wir alſo nicht einer bloß theoretiſchen Abſtraction, welche die beiden objectiv un - zertrennlichen Verhaͤltniſſe ſubjectiv (im Begriffe) trennt, Einfluß auf unſer praktiſches Verfahren im Erziehungs - unterricht geben, und dieſes dadurch einſeitig machen; ſo koͤnnen wir den Menſchen eben ſo wenig als Men - ſchen uͤberhaupt, dies hieße: fuͤr eine Welt, die gar nicht exiſtirt; als bloß zum Buͤrger erziehen wollen; welches Letztere in der That hieße: das zum Mittel des Mittels machen, was vielmehr der Zweck ſeyn ſoll; inwiefern wir naͤmlich die buͤrgerlichen Verhaͤltniſſe, oder den Geſellſchaftsverein der Men - ſchen, nur als Bedingung und Mittel betrachten koͤnnen zu dem hoͤheren Zwecke der Bildung der Menſchheit.

334Vierter Abſchnitt.

Eben ſo kann man auch noch nach einer andern Anſicht ſagen: da der Menſch ſich nicht von die - ſer Welt iſoliren und ſich eine Beſtimmung fuͤr ſich ſelbſt geben koͤnne, ſondern zu dieſer Welt in Beziehung ſtehe, und zum Handeln auf dieſe Welt beſtimmt ſey, in Ruͤckſicht dieſes Handelns aber eine große Verſchie - denheit ſtatt finde, und nicht jeder Einzelne alle Arten deſſelben thun koͤnne, Verſchiedne alſo Verſchiednes thun muͤſſen; ſo koͤnne auch der Erzieher nicht Umgang nehmen, bei ſeinem Zoͤgling vor allen Dingen darauf zu ſehen, zu welcher Art des Handelns (Geſchaͤſ - tes, Berufes,) in dieſer Welt er beſtimmt ſey, um darnach auch die ihm zu ertheilende Bildung zu be - meſſen, und die Art des Unterrichts zu de - ſtimmen.

Allein, ſo viel Gewicht man auch auf dieſe Argu - mentationen legen mag, ſo geben ſie doch auch nur eine einſeitige Aufloͤſung des Problems, und begruͤnden die Forderung nicht, die man daraus in der Anwen - dung auf den Erziehungsunterricht ableiten will.

Die eigentliche Differenz, um die ſich die obigen Argumentationen drehen, betrifft das zweifache Verhaͤlt - niß des Individuums, inwiefern es einerſeits als ſelbſt - ſtaͤndig und unabhaͤngig, andrerſeits aber doch nur als integrirender Theil nicht nur der Menſchheit uͤberhaupt, ſondern des Univerſums im Ganzen, betrachtet werden muß. Nun iſt aber bei der Frage: fuͤr welches jener beiden Verhaͤltniſſe der Erziehungsunterricht den Men -335Anwendung der allgemeinen Grundſaͤtze ꝛc.ſchen bilden ſolle? die Aufloͤſung, die den ganzen Er - ziehungsunterricht durch das letztere Verhaͤltniß allein beſtimmen will, eben ſo einſeitig, als die entgegenge - ſetzte, die ihn durch das erſtere Verhaͤltniß allein be - ſtimmt. Was aber dabei noch eine ganz beſondre Auf - merkſamkeit verdient, iſt die Endloſigkeit der Ruͤckſicht, die nach jener Aufloͤſung als Regulativ zu Beſtimmung des Erziehungsunterrichts aufgeſtellt wird. Wer ermißt denn das Verhaͤltniß, welches das Individuum zu dem unuͤberſehbaren Ganzen hat? Wer kann ſagen: dazu oder dazu iſt das Individuum in dieſer Welt beſtimmt? Koͤnnen wir aus dem Univerſum berechnen, welche Ar - beit einem Menſchen aufzutragen ſey? Wenn wir aber einen ſolchen beſtimmten Punkt nicht finden koͤnnen, wie wollen wir doch dem Erziehungsunterricht irgend eine feſte Richtung geben? So verwickelt uns jene vermeinte Aufloͤſung, die man eben ſo einleuchtend als heilſam fuͤr die Praxis findet, mit unſrer Aufgabe in der That in eine unaufloͤsliche Unbeſtimmtheit, aus der wir uns nur retten koͤnnen durch die Ruͤckkehr zu dem entgegengeſetzten Geſichtspunkt, welchem zufolge wir den Erziehungsunterricht allein nach der Indivi - dualitaͤt der Lehrlinge ermeſſen, und ohne alle Ruͤckſicht auf aͤußeren Beruf lediglich nach dem in - neren Berufe der Individuen beſtimmen.

Dies iſt der einzige Weg, auf dem wir zu einer Beſtimmtheit in der Anwendung des Erziehungsunter - richts auf die Lehrlinge gelangen koͤnnen. Da wir das Verhaͤltniß der Individuen zu dem Univerſum nicht336Vierter Abſchnitt.aus dem Univerſum berechnen koͤnnen, ſo bleibt uns zur Berechnung nur der entgegengeſetzte Punkt, das Individuum, in deſſen Individualitaͤt auch ſein Ver - haͤltniß zum Univerſum ausgedruͤckt iſt. Folgen wir alſo nur in der Behandlung der Lehrlinge dem inne - ren Berufe derſelben, und bilden die Anlagen aus, die wir als die ausgezeichnetſten an ihnen finden; ſo bil - den wir ſie auch fuͤr ihren aͤußeren Beruf am zweck - maͤßigſten und ſicherſten, waͤhrend wir damit auch am unfehlbarſten jene Differenz aufloͤſen: das Individuum fuͤr ſich ſelbſt und fuͤr das Univerſum zugleich zu bilden und zu Vollendung ſeiner zweifachen Beſtimmung moͤg - lichſt weit hinan zu fuͤhren.

In dieſer Umkehrung alſo nur bleibt die Forderung wahr: daß der Erziehungsunterricht ſich nach der kuͤnf - tigen Beſtimmung der Lehrlinge richten muͤſſe. Fuͤr die Praxis wird dadurch ſicher nichts verloren, daß jene un - mittelbare Beziehung des Unterrichts auf den kuͤnftigen Beruf verlaſſen wird. Denn, wird der Lehrling nur nach ſeinen individuellen Anlagen gruͤndlich ausgebildet, ſo wird er in dem Beruf, zu dem er durch Anlagen und Ausbildung beſtimmt und vorbereitet uͤbergeht, jede Forderung zu erfuͤllen im Stande ſeyn; wobei das Berufsgeſchaͤft ſelbſt nichts verlieren, ſondern nur ge - winnen kann. Und wenn man die beiden Maximen neben einander ſtellt: dieſer Schuͤler ſoll ein Gelehrter werden, und iſt dieſer Abſicht ge - maͤß im Unterricht zu behandeln; und dage - gen: dieſer Schuͤler zeichnet ſich durch vor -337Anwendung der allgemeinen Grundſaͤtze ꝛc.zuͤgliche Geiſtesanlagen aus und iſt darinn hauptſaͤchlich durch den Unterricht zu uͤben; ſo kann es nicht ſchwer ſeyn zu erkennen, welche von beiden die vernuͤnftigere iſt.

4.

Nach dieſen vorausgeſchickten Eroͤrterungen haben wir nur noch die verſchiednen Hauptarten des Erziehungsunterrichts nach unſrer Anſicht zu beſtimmen.

Der Erziehungsunterricht uͤberhaupt theilt ſich, gemaͤß der Artverſchiedenheit der Lehrlinge, nach zwei Hauptruͤckſichten: nach der Verſchiedenheit des Geſchlechts, und nach der Verſchiedenheit der individuellen Anlagen der Lehrlinge.

Die erſtere Ruͤckſicht bildet die Abtheilung: in den Unterricht fuͤr die maͤnnlichen, und in den Unter - richt fuͤr die weiblichen Lehrlinge. In der zwei - ten Ruͤckſicht aber begreift die erſte Claſſe außer denjenigen Lehrlingen, deren innerer Beruf zu einem geiſtigen Berufsgeſchaͤft durch ausgezeichnete Gei - ſtesfaͤhigkeit unzweideutig iſt, auch noch ſolche be - ſonders, die zwar von der Natur nicht gerade durch eminente Geiſtesgaben beguͤnſtiget, dafuͤr aber von dem Schickſal mit Gluͤcksguͤtern bereichert, frei von der Noth und dem Druck aͤußerer Verhaͤltniſſe, zu einer ausgebreiteteren Geiſtesbildung Zeit und Mittel zu verwenden haben. Sind gleich die Letz -22338Vierter Abſchnitt.tern in dem Eintheilungsgrunde nicht unmittelbar mit begriffen, ſo laͤßt ſich doch gegen dieſe Ausdehnung der Eintheilung inſofern kein gegruͤndeter Einwurf machen, als auch ſolche aͤußere Verhaͤltniſſe des Individuums, wie ſeine inneren, nicht als bloßer Zufall, ſondern vielmehr beide auf gleiche Weiſe als Beſtimmungen einer hoͤhern Ordnung zu betrachten ſind, die zur Be - ſtimmung der Individualitat unabaͤnderlich gehoͤren und gerechnet werden muͤſſen. Die andere Claſſe dieſer Abtheilung wird im Gegenſatz von jener bloß negativ beſtimmt als die Claſſe derjenigen Individuen, die von dem Schickſal weder innerlich noch aͤu - ßerlich vorzuͤglich beguͤnſtiget ſind.

Fuͤr die letztere Claſſe muß ſich der Erzie - hungsunterricht auf die oben ſogenannte nothwen - dige Menſchenbildung oder Vernunftbil - dung beſchraͤnken, und ſich damit begnuͤgen, die in - tellectuelle Thaͤtigkeit der Lehrlinge nur zu wecken und ſo weit auszubilden, daß ſie zum lebendigen Bewußt - ſeyn der Vernunft und einer hoͤhern Welt gelangen. In Abſicht auf die Geſchlechtsverſchieden - heit der Lehrlinge muß zwar auch in dieſer Claſſe ein Unterſchied anerkannt werden; aber er iſt doch nicht ſo bedeutend, daß der Unterricht fuͤr beide Geſchlechter nothwendig getrennt werden muͤßte. Ueberhaupt iſt der Erziehungsunterricht fuͤr dieſe Claſſe ſo einfach, daß es hier keiner weitern beſondern Beſtimmungen daruͤber bedarf.

339Anwendung der allgemeinen Grundſaͤtze ꝛc.

Wichtiger iſt die naͤhere Beſtimmung des Erzie - hungsunterrichts fuͤr die erſtere Hauptclaſſe der - jenigen Lehrlinge, die der freien Menſchenbil - dung oder der Humanitaͤtsbildung angehoͤren. Hier tritt auch in Abſicht auf die Geſchlechts - verſchiedenheit ein ſo bedeutender Unterſchied ein, daß nothwendig zwei verſchiedne Hauptarten des Unterrichts A) fuͤr die weiblichen, und B) fuͤr die maͤnnlichen Lehrlinge angeordnet werden muͤſſen. Eine naͤhere Beſtimmung dieſer beiden Hauptarten des Erziehungsunterrichts ſoll den Schluß unſrer Unterſu - chung machen.

A. Beſtimmung des Erziehungsunterrichts fuͤr freie Bildung des weiblichen Geſchlechts.

Nach dem, was oben uͤber die Eigenthuͤmlichkeit des weiblichen Geiſtes und Gemuͤthes, im Gegenſatz des maͤnnlichen, geſagt worden, waͤre hier nur an das Ideal vollendeter freier Bildung des Wei - bes zu erinnern, und dann in Abſicht auf die Metho - de, die ſich nach dem Ideale leicht erkennen laͤßt, mehr vor verkehrter Behandlung zu warnen, als das Verfah - ren der richtigeren Bildung weitlaͤuftig zu beſchreiben. Allein, was auch uͤber dieſe Aufgabe geſagt werden moͤch - te, bleibt unvermeidlichem Mißverſtande ausgeſetzt, ſo22*340Vierter Abſchnitt.lange uͤber des Weibes eigentliche Beſtimmung eine theils ſo unſichere, theils ſo unrichtige Meinung herrſcht, als unſre moderne Cultur verbreitet hat. Ich muß alſo auch dieſen Punkt hier mit in unſre Unterſu - chung ziehen.

Der Berufskreis fuͤr das ganze weibliche Geſchlecht iſt der haͤusliche Kreis. Vor allem andern gehoͤrt zum Berufe der Frau, was ſie als Gattin und als Mutter leiſten, was ſie fuͤr den Mann und fuͤr die Kinder ſeyn ſoll. Dies aber nicht allein, ſondern auch das ganze Hausweſen uͤberhaupt gehoͤrt zu dem Berufskreiſe des Weibes. Von dem unterſten Grade an, auf dem die Frau alle haͤuslichen Geſchaͤfte mit eigner Hand verrich - ten muß, bis zu dem hoͤchſten, auf dem ſie keine Hand mehr ſelbſt anlegt, von dem einfachſten Haushalt der aͤrmlichſten Huͤtte bis zum reichſten und glaͤnzendſten in unſern Palaͤſten, gebuͤhrt der Frau die innere Verwal - tung des Hausweſens, Anordnung, Leitung und Re - gierung des Ganzen, ſofern es eine Familie bilden ſoll. Der Mann, deſſen Beſtimmung das oͤffentliche Leben oder ſonſt das Wirken nach außen iſt, kann jene Ge - ſchaͤfte nicht uͤbernehmen. Es iſt ſonſt ſchon als Grund - ſatz ausgeſprochen worden: das Weib ſoll erhalten, was der Mann erwirbt. Man kann hinzuſetzen: ſie ſoll auch anwenden und umtreiben, was er durch ſein Ver - dienſt gewinnt. Daß dies nicht uͤberall anwendbar und ausfuͤhrbar iſt, beweiſt nichts gegen die Richtigkeit der Anſicht, ſondern deutet nur auf einen Mangel der Bil - dung oder auf ein Verderbniß des[Charakters] mancher341Anwendung der allgemeinen Grundſaͤtze ꝛc.Weiber. Die Frau, die ein ganz gemeinſchaftliches gleiches Intereſſe mit dem Manne haben ſoll, iſt die natuͤrliche Verwalterin des Vermoͤgens, (ſofern es nicht ſelbſt Berufsobject des Mannes iſt); und ſelbſt die Sitte hat darinn der Frau eine eigenthuͤmliche Sphaͤre ſo entſchieden zugewieſen, daß der Mann, der in dieſe Art von Geſchaͤfte eingreift und ſich damit befaßt, dies nur ganz heimlich thun muß, wenn ihn nicht Spott und ſelbſt Spottnamen, die darauf haften, treffen ſollen. Die moderne Erziehung des weiblichen Ge - ſchlechts hat dieſe Berufsbeſtimmung des Weibes ver - daͤchtig, bei dieſen und jenen wohl auch veraͤchtlich ge - macht; man hat die Beſchaͤftigung mit den Gegenſtaͤn - den des Hausweſens ohne Ausnahme als unfrei und des freien Weibes unwuͤrdig vorgeſtellt. Dies verdient un - ſtreitig Tadel. Zwar das Kochen und Backen, und Waſchen und Flicken, worein die ſtreng altmuͤtterliche Erziehung den Hauptvorzug ihres Unterrichts ſetzte, wol - len wir nicht als Bildungsmittel in unſre Gynaͤceen zu - ruͤckrufen. Aber, daß die haͤuslichen Geſchaͤfte ohne Unterſchied als unter der Wuͤrde des freien Weibes vor - geſtellt werden, iſt eben ſo irrig, als wollte man be - haupten, daß es unter der Wuͤrde des freien Mannes ſey, um Brod zu arbeiten; und eine Frau, die dieſen weſentlichen Theil ihres Berufes gar nicht anerkennt, iſt wie der Mann, der aus lauter Freiheitsſinn kein Amt annehmen zu koͤnnen glaubt. Daß die Frauen dieſen Theil ihres Berufes mißkennen, daß ihnen veraͤchtlich erſcheine, was ſie als active Mitglieder der Geſellſchaft zu leiſten wenn wirs vornehm ausſprechen wollen 342Vierter Abſchnitt.zum Opfer zu bringen haben, kann wenigſtens eine Er - ziehungslehre aus Principien nicht zugeben.

Man kann dieſe Anſicht von dem Berufe des Wei - bes kleinlich und gemein finden, man kann behaupten, daß das Weib durch die glaͤnzenden Anlagen ſeines Gei - ſtes zu viel Hoͤherem berufen ſey, man kann mir das Muſter einer Aſpaſia zum Beweis vorhalten, mich an alles Herrliche erinnern, was der Frauen Geiſt geſchaf - fen hat, und dann fragen: ob ich gleichwohl noch des Weibes Bildung auf jenen kleinlichen Kreis beſchraͤnken wolle? Ich habe darauf zweierlei zu erwiedern.

Fuͤrs erſte iſt ſchon oben wiederholt erklaͤrt, daß die Bildung nicht durch den Beruf, ſondern der Beruf durch die Bildung beſtimmt werde. Dieſer Grundſatz gilt fuͤr die Bildung des weiblichen Geſchlechts auf gleiche Weiſe, wie fuͤr die des maͤnnlichen. Der Erziehungsunterricht fuͤr die freie Bildung hat keinen anderen Richtpunkt als die Geiſtesanlagen der Lehrlinge, und keine andre Ruͤckſicht als die der moͤglichſt vollendeten Ausbildung derſelben. Wie der maͤnnliche Lehrling durch den Erziehungsunter - richt keine andre Vorbereitung zu ſeinem kuͤnftigen Be - rufe erhaͤlt, als die moͤglichſt vollendete freie Bildung und die moͤglichſt vollkommne Entwickelung der ihm ei - genthuͤmlichen Geiſtesanlagen, ſo auch der weibliche Lehrling. Wie bei dem Knaben die vollendetſte Bildung ſeiner Individualitaͤt auch die vollendetſte Bildung deſ - ſelben fuͤr ſeine Beſtimmung auf Erden iſt, ſo auch bei dem Maͤdchen. Jene Anſicht von dem Berufe des weib -343Anwendung der allgemeinen Grundſaͤtze ꝛc.lichen Geſchlechtes alſo kann der Forderung der hoͤchſten Vollendung der weiblichen Bildung durchaus keinen Ab - bruch thun; vielmehr, da der Beruf fuͤr jeden Men - ſchen nur das iſt, wozu er ihn macht, ſo muß auch jener weibliche Beruf aufhoͤren, kleinlich zu ſeyn, ſobald unſre Erziehung die Geiſtesbildung des Weibes zu der Veredlung erhebt, durch die ſie auch ihren Beruf zu veredeln im Stande iſt.

Aber ſchon hierinn iſt ein weſentlicher Unterſchied zwiſchen maͤnnlicher und weiblicher Bildung zu beobach - ten, der haͤufig uͤberſehen wird. Bei dem Knaben iſt die Beſtimmung zu irgend einem Berufe nie zweifelhaft, und obgleich die freie Bildung darauf mit Recht keine unmittelbare Ruͤckſicht nimmt, ſo bricht ſich doch an der Ausſicht auf beſtimmte Verhaͤltniſſe, die ſeiner war - ten, das Unbeſtimmte der Ausbildung ſeiner Anlagen im Erziehungsunterricht. Bei dem Maͤdchen dagegen, wenn jener Berufskreis nicht anerkannt wird, fehlt alle Berufsbeſtimmung uͤberhaupt, und eben deshalb laͤuft dann auch die Ausbildung der weiblichen Anlagen im Erziehungsunterricht, ohne Richtung und ohne Graͤnze, ins Unbeſtimmte aus. Daher dann auch die Unſicher - heit im weiblichen Erziehungsunterricht, daß man nicht recht weiß, was man will. Man unterrichtet und bil - det, ohne zu wiſſen wozu noch wohin; und man haͤlt ſich in dieſer Verlegenheit zuletzt zum groͤßten Un - gluͤck! lediglich an das allgemeine unbeſtimmte Ideal eines geiſtreichen Weibes, das nicht bloß durch Witz und durch Kunſt, ſondern ſogar durch344Vierter Abſchnitt.Wiſſenſchaft und Gelehrſamkeit! glaͤnzen ſoll. Gerade dadurch aber geht dem weiblichen Erzieher die Tramon - tane ganz verloren, und er kann keinen andern Punkt finden, ſich wieder zu orientiren, als wenn er zu der Frage zuruͤckkehrt: welches die eigentliche Beſtim - mung des Weibes ſey?

Es iſt noch aus einem andern Grunde, der aber mehr die Erziehung ſelbſt, als den Erziehungsunterricht betrifft, von großer Wichtigkeit, an dieſe Frage zu er - innern. Nur dadurch, daß die Mutter ihre Toͤchter den haͤuslichen Kreis ſchon von dem fruͤhſten Alter an als ihre eigentliche Beſtimmung anſehen und achten lehrt, kann ſie ihnen auch fuͤr ihre Bildung die rechte Stimmung und Richtung geben. Lernt das Maͤdchen jene Beſtimmung nicht ehren, wird es ſogar durch Lehre und Beiſpiel der Mutter veranlaßt, ſie zu verachten und als ein laͤngſt veraltetes Vorurtheil der Urgroßah - nen von ſich zu weiſen: ſo weiß es entweder gar nicht mehr, was es will; wie die Mutter es ebenfalls nicht weiß und (nachdem die einzig guͤltige Anſicht verworfen iſt) auch nicht wiſſen kann; oder, was noch nachthei - liger iſt, es nimmt ſich eben jenes unbeſtimmte Ideal weiblicher Bildung zu ſeiner Beſtimmung, und greift in beiden Faͤllen unſicher in den Kreis der Bildungsmittel ein, wechſelt damit nach Laune, und treibt nichts mit der Staͤtigkeit und mit dem vollen Ernſt, die mit dem Gedanken an eine unabaͤnderliche Berufsbeſtimmung ſich von ſelbſt verbinden.

345Anwendung der allgemeinen Grundſaͤtze ꝛc.

Am allernothwendigſten aber iſt es, das Maͤdchen fruͤh mit der Anſicht, daß ſeine eigentliche Beſtimmung in dem haͤuslichen Kreiſe ſey, dadurch vertraut zu ma - chen, daß man es zur Haͤuslichkeit gewoͤhne. Das fruͤhe Anhalten zu weiblichen Arbeiten kann zwar dieſe Forderung zum Theil erfuͤllen; aber allein iſt es dazu nicht hinreichend. Das Wichtigere iſt, daß man das ſtille Wirken unerlaßlich fordere. Das Prunken, und das Streben nach Oeffentlichkeit zerſtoͤrt das Weſen der weiblichen Denkart, wie der eigentlichen Beſtim - mung des Weibes. Wie ſoll unſern Toͤchtern doch die Stille des haͤuslichen Kreiſes ertraͤglich bleiben, wenn wir ſelbſt ſie von der fruͤhſten Jugend an in allen oͤffentlichen Zerſtreuungen umtreiben? Aber nicht bloß dadurch allein verbilden wir ſie fuͤr die Haͤuslichkeit; wir ſchaden dieſer Tugend nicht viel weniger dadurch, daß wir ſogar den Unterricht unſrer Tochter ſo oͤffent - lich machen, daß ſie nichts lernen und nichts hervor - bringen ſollen, was nicht zur Schau geſtellt werde! Wie ſoll dem ſo verwoͤhnten Maͤdchen doch noch die ſtille haͤusliche Thaͤtigkeit gefallen, die dem Publicum unbekannt bleibt? Es iſt in der That noͤthig, zu erinnern, daß auch darinn der Erziehungsunterricht der Maͤdchen anders zu behandeln ſey, als der der Knaben. Bei dem Knaben, der mehr oder weniger zum oͤffentlichen Geſchaͤft beſtimmt iſt, hat zwar auch jene Oeffentlichkeit, die man ſeinen unvollkommnen Anfangsverſuchen giebt, ihren entſchiednen Nachtheil; der Nachtheil aber, den derſelbe Fehler bei den Maͤd - chen hervorbringt, iſt noch ungleich groͤßer.

346Vierter Abſchnitt.

Uebrigens hat der Erziehungsunterricht, dem oben ausgeſprochnen Grundſatze gemaͤß, auch bei dem Maͤd - chen eben ſo wenig als bei dem Knaben den Berufs - kreis zu ſeiner Aufgabe. Was das Maͤdchen fuͤr ſei - nen eigentlichen Beruf zu lernen hat, die geſammte Koch-Naͤh-Strick - und Stick-Kunſt, welche ehedem als die Encyklopaͤdie des ganzen weiblichen Studiums gegolten hat, ſammt allen andern Kuͤnſten und Fertig - keiten, die man noch ſonſt fuͤr den haͤuslichen Berufskreis unmittelbar als noͤthig fordern kann, ſchließt der eigent - liche Erziehungsunterricht fuͤr das weibliche Geſchlecht ausdruͤcklich aus, den Umfang ſeiner ganzen Aufgabe rein und unvermiſcht nach den Bedingungen ermeſſend und beſtimmend, die zu der freien Bildung des Wei - bes als nothwendig erkannt werden.

Ehe ich zu der Darſtellung dieſer Bedingungen des weiblichen Erziehungsunterrichts uͤbergehen kann, muß ich zu der zweiten oben angekuͤndigten Eroͤrterung zuruͤckkehren, welche die hoͤhere Anſicht von der ange - gebenen Berufsbeſtimmung des Weibes betrifft.

Fuͤrs zweite alſo, der Vorwurf: daß die auf - geſtellte Anſicht von dem Berufe des Weibes kleinlich und gemein ſey; laͤßt ſich mit Recht fuͤr Mißverſtand und ſelbſt fuͤr Kleinlichkeit erklaͤren. Ich will nicht einmal daran erinnern, wie eine Frau von wahrer freier Bildung auch den Kreis der haͤuslichen Wirk - ſamkeit erweitern und veredeln koͤnne. Ich will nur auf die nothwendigen Forderungen hoͤherer Bildung347Anwendung der allgemeinen Grundſaͤtze ꝛc.aufmerkſam machen, die ſchon in den haͤuslichen Ver - haͤltniſſen ſelbſt ausgeſprochen ſind. Sind nicht die Frauen die erſten Erzieherinnen und Bildnerinnen der Kinder? Iſt ihnen nicht das wichtige Geſchaͤft anver - traut, die Keime des Edeln und Hohen in den jun - gen Herzen der Soͤhne wie der Toͤchter zu pflanzen und zu pflegen? Einen ſolchen Beruf will man gemein nennen? das ſoll des freien Weibes unwuͤrdig ſeyn? Worinn koͤnnte doch der Frauen Talent und Geiſt ſich glaͤnzender zeigen, als in der Bildung ihrer Kinder? Sodann, wie viel kann nicht das Weib dem Manne ſeyn? Erholung nicht nur und Erheiterung von ſeiner Arbeit, ſondern auch die Sammlung des Geiſtes, die er als Correctiv gegen die durch alle Berufsarbeit ent - ſtehende Trennung und Einſeitigkeit bedarf, und uͤber - dies Erhebung des Gemuͤths zu allem Guten, Schoͤnen und Vortrefflichen, Beruhigung in allem Mißgeſchick des Lebens, und Begeiſterung zu jedem ſchweren Un - ternehmen, ſoll er in ihrem Umgang finden. Und das waͤre wenig, was eine Frau von Gemuͤth und Geiſt zu leiſten haͤtte? Wie viel wird nicht ſchon erfordert, ſoll nur dies von ihr geleiſtet werden?

Will man die Wichtichkeit dieſes Berufes der Frauen noch auffallender erkennen, ſo darf man nur die Unfaͤhigkeit, jene Forderungen zu erfuͤllen, in ihren Folgen betrachten. Es giebt kein nachtheiligeres Ver - haͤltniß, als wenn die Frau den Mann nicht an Bil - dung erreicht, ihm darinn nicht wenigſtens nahe koͤmmt. Es iſt ſchon ſchlimm, daß ſie dann dem Manne fuͤr348Vierter Abſchnitt.ſeine beſſere Exiſtenz nichts ſeyn kann, daß er durch ſie die Bildung nicht gewinnt, die er bedarf und die er bei dem Weibe finden ſoll: noch weit ſchlimmer aber iſt, daß die Frau ſelbſt, wenn ſie dem Manne nichts weiter ſeyn kann als eine Magd, von dem Manne auch nicht ihm gleich geachtet und behandelt wird, den beſſern, allein achtbaren, Theil der Zuneigung des Mannes entbehrt, und, indem ſie von dem Manne nicht erhoben wird, auch die Bildung verliert, die ſie in ſeinem Umgange gewinnen wuͤrde, eben dadurch aber auch fuͤr die Kinder das weder iſt noch wird, was ſie ſeyn ſollte; waͤhrend auf der andern Seite der Mann, den ſie nicht zu feſſeln vermag, außer dem Hauſe ſucht, was er in demſelben nicht findet, der Fa - milie ſeine Erholungszeit, die ihr gebuͤhrte, entzieht, in zerſtreuenden Vergnuͤgungen, die er mit Ausſchluß ſei - ner Familie ſucht, Geld, das ihr gemeinſchaftlich ge - hoͤrt, verzehrt, und ſich Verfuͤhrungen ausſetzt, indeß je - ne eigenſuͤchtige Parteilichkeit zu Hauſe aͤhnliche Ver - ſchwendungen veranlaßt, und jene gleichguͤltige Ver - nachlaͤſſigung zu Schadloshaltungen anreizt, die das Familiengluͤck moraliſch und ſelbſt oft phyſiſch vergif - ten.

Darauf erwiedert man vielleicht: Gerade dar - um wolle man ſich jene erniedrigende Forderung, daß die Frau ſich um das Hausweſen bekuͤmmern ſolle, nicht wieder aufdringen laſſen, damit die Frau nicht an gemeine Arbeit ihre Zeit verlieren muͤſſe, die ſie weit edler den Kuͤnſten und den Wiſſenſchaften und aller349Anwendung der allgemeinen Grundſaͤtze ꝛc.Art von Geiſtesuͤbung widme, um den Mann durch Geiſt und Bildung feſſeln zu koͤnnen.

Ich will dagegen nicht fragen: ob jene Geiſtesbil - dung nicht oͤfter dazu dienen muͤſſe, die Maͤnner zu locken, als den Mann zu feſſeln? Aber daran muß ich erinnern, was dieſe geiſtreichen, in ihrem Berufe verwahrloſten, Weiber in ihrem Hauſe ſind. Unfaͤhig oder abgeneigt, die Pflege ihrer Kinder zu uͤbernehmen oder auch nur zu leiten, uͤberlaſſen ſie dieſe dem Ge - ſinde; und waͤhrend die kunſt - und geiſtreichen Muͤtter muſiciren, ſingen, zeichnen, malen, ſtudiren, dichten, Buͤcher leſen oder ſchreiben, ſind die ungluͤcklichen Kin - der ohne Aufſicht und Anleitung, koͤrperlich und gei - ſtig verwahrloſt. Dem Manne ergeht es nicht beſſer. Die Kunſt - und Geiſteswerke, ſelbſt die witzigen Ein - faͤlle der geiſtreichen Frau ſind nicht fuͤr ihn, als wenn er die Probe zu uͤberhoͤren hat, und wenn er von der Arbeit koͤmmt, um in der Unterhaltung mit ſeiner Frau im Schooſe ſeiner Familie ſich zu erholen, findet er die Frau entweder durch geiſtige Anſtrengung abge - ſpannt, oder von einem Schwarm von Witzlingen um - geben, von denen ſie ſich bewundern laͤßt. Daneben muß er, wenn das Hausweſen nur einigermaßen im Gange erhalten werden ſoll, ſich einer Menge zerſtreuen - der haͤuslicher Beſorgungen unterziehen, die ſeine Ge - ſchaͤfte unterbrechen, und die er nicht ohne innere Be - ſchaͤmung uͤbernehmen kann. Gleichwohl kann er von der einen Seite den Verfall des Hausweſens nicht hin - dern, von der andern Seite keine Ordnung erhalten,350Vierter Abſchnitt.und wird am Ende durch unertraͤgliche Unordnung, Unreinlichkeit und Liederlichkeit in der Haushaltung eben ſo aus dem Hauſe vertrieben als jener durch Mangel an ertraͤglicher Unterhaltung; ſo daß ſich in Abſicht auf den Mann die Geiſtloſigkeit und der Geiſtesuͤberfluß der Frau in einem und demſelben Re - ſultate endigen.

So weſentlich iſt ſelbſt der letzte Punkt in der oben aufgeſtellten Anſicht uͤber den eigentlichen Beruf des Weibes, daß ſie das Haus beſorge. Wie wollte man doch veraͤchtlich finden, daß die Frau auch dieſen Theil ihres Berufes mit Treue erfuͤlle? Man darf auch hierinn ſich auf ein allgemeines Gefuͤhl und Ur - theil berufen. Eine weibliche Erſcheinung jener Art, wie ſie die moderne Erziehung haͤufiger aufweiſt, kann zwar glaͤnzen, eine Weile auch ergoͤtzen, aber keine rei - ne Freude gewaͤhren, indeß eine Frau, die als Gattin, Mutter und Familienhaupt ihre Stelle ausfuͤllt, in je - dem Falle ehrwuͤrdig iſt.

Der Vorwurf alſo: daß die aufgeſtellte Anſicht von dem Berufe des Weibes kleinlich und gemein ſey; wird nach der hier gegebnen Erklaͤrung wohl nicht weiter ſtatt finden koͤnnen, und wir duͤrfen des - halb auch auf dieſen weiblichen Beruf die Ermahnung: wer ein Amt hat, der warte ſeines Amtes! um ſo ernſt - licher und um ſo mehr anwenden, da die Erfuͤllung dieſer Berufspflichten die Frau an vielſeitiger Geiſtes - bildung eben ſo wenig hindert, als der Mann durch351Anwendung der allgemeinen Grundſaͤtze ꝛc.ſein Amt gehindert iſt, auch ein geiſtreicher Geſellſchaf - ter zu ſeyn.

Der eigentliche Erziehungsunterricht fuͤr das weib - liche wie der fuͤr das maͤnnliche Geſchlecht bleibt ohne - hin, wie ſchon erklaͤrt worden, von jeder unmittelbaren Beziehung auf den bezeichneten Beruf des Weibes gaͤnz - lich frei, und lediglich auf allgemeine freie Bildung zu beziehen. Dieſelbe Forderung an die weibliche Bil - dung hat man auch in der neueren Zeit mehr unter uns geltend gemacht. Aber man hat leider die Mittel oft ſehr ungluͤcklich gewaͤhlt. Schon daß man als Zweck behandelte, was nur als Mittel haͤtte angewendet werden ſollen, war hoͤchſt fehlerhaft. Daß man Uebung in den freien Kuͤnſten zu einem Hauptgegenſtand des weiblichen Erziehungsunterrichts erhob, verdient an ſich zwar keinen Tadel: daß man aber einen Haupt - zweck dieſer Uebung darein ſetzte, daß die Weiber Kuͤnſtlerinnen und Virtuoſinnen ſeyn ſollten, waͤhrend man verſtaͤndigerweiſe nur Erweckung des Kunſtſinnes und Belebung des Kunſtgeſchmackes dabei haͤtte bezwe - cken ſollen, hat zu den Ausartungen weiblicher Bildung gefuͤhrt, die allerdings Tadel verdienen. Noch fehler - hafter aber hat man den weiblichen Erziehungsunterricht theils durch die Einfuͤhrung der Schuͤlerinnen in das wiſſenſchaftliche Gebiet, theils durch die, dem weibli - chen Geiſte widerſprechende, Behandlung der wiſſenſchaft - lichen Gegenſtaͤnde gemacht. Man hat die Maͤdchen, nachdem man ſie des Studiums der Hauswirthſchaft, nicht nur (mit Recht) im Erziehungsunterricht, ſondern352Vierter Abſchnitt.auch (mit Unrecht) uͤberhaupt, enthoben, in das Gebiet der Gelehrſamkeit eingefuͤhrt, ſie in Wiſſenſchaft und Kunſt analyſiren, theoretiſiren, raͤſonniren, kritiſiren, demonſtriren, dociren gelehrt, welches alles ſie un - gemein ſchlecht kleidet, von ihnen ſchlecht geleiſtet wird, und ſie verbildet. Man hat mit einem Worte die weibliche Bildung voͤllig wie die maͤnnliche behandelt: ein Mißgriff, der nur moͤglich war, indem man die Eigen - thuͤmlichkeit des weiblichen Geiſtes ganz vergeſſen hatte. In dieſer Ruͤckſicht iſt es noͤthig, die Forderungen in Erinnerung zu bringen, die an den Erziehungsunter - richt des weiblichen Geſchlechts zu machen ſind.

Der eigenthuͤmliche Charakter des weiblichen Gei - ſtes iſt die Unmittelbarkeit des Denkens, Thuns und Fuͤhlens. Wahrheit, Tugend, Schoͤnheit kennt das Weib durch unmittelbares lebendiges Gefuͤhl. Dieſes Gefuͤhl den Frauen in Begriffe, Geſetz und Regel auf - loͤſen, heißt, ihnen ihre Welt zerſtoͤren. Der Mann faßt das Gebiet des Wiſſens und der Kunſt, dem Charakter ſeines Geiſtes gemaͤß, nur durch Aufloͤſung in Begriff, Geſetz und Regel, und nur indem er dieſe Aufloͤſung vollſtaͤndig durchfuͤhrt, gelangt er zu der Einheit und Beſtimmtheit ſeiner Einſicht, die ihm Si - cherheit in Beſtimmung des Einzelnen giebt. Zu dieſer Vollendung der Analyſis gelangt der weibliche Geiſt nicht; durch fragmentariſche Verſuche ſolcher Aufloͤſun - gen aber wird er nur irre gemacht, und vermag dann im einzelnen Falle das Rechte, das er ſonſt unmittel - bar zu treffen verſteht, mit halbem Umblick nach der353Anwendung der allgemeinen Grundſaͤtze ꝛc.halbgefaßten Regel gar nicht mehr zu finden. Dieſe Art von Geiſtesbildung alſo, die man dem weiblichen Geſchlecht auf gleiche Weiſe wie dem maͤnnlichen geben will, befoͤrdert nicht nur nicht, ſondern hindert viel - mehr die wahre weibliche Bildung. Nicht Principien ſollen die Weiber ſtudiren und in Anwendungen kunſt - gerecht zergliedern. Ihr Gefuͤhl iſt unmittelbar das Princip und die Anwendung; und wir duͤrfen die Frauen nur lehren, ihr Gemuͤth auszuſprechen und darzuſtellen, um zu hoͤren oder zu ſehen, was oft alle kunſtgerechte Schlußfolge und alle regelrechte Abmeſſung der Maͤnner nicht eben ſo vollendet zu Tag foͤrdert. Dieſes Gefuͤhl zur hoͤchſten Lebendigkeit und Sicherheit auszubilden, iſt das Ideal und die Aufgabe des weib - lichen Erziehungsunterrichts.

Weg alſo aus dem Erziehungsunterricht des Wei - bes alles Studium von Wiſſenſchaften, und alle Theo - rie. Durch wiſſenſchaftliche Zergliederung von Be - griffen zur Wahrheit, durch Analyſirung von Geſetzen zur Tugend, durch Erlernung von theoretiſchen Regeln zur Kunſt, kann und ſoll das Weib nicht gefuͤhrt werden. Alles lernt ſie in der unmittelbaren Anwen - dung am leichteſten und ſicherſten; die hoͤchſten Ideen der Wiſſenſchaft und Kunſt faßt ſie in den concreten Darſtellungen der redenden und bildenden Kuͤnſte mit Tiefe des Gemuͤths, waͤhrend ſie in dem Anſchauen und Nachahmen ſolcher Darſtellungen die Tiefe des Gemuͤthes ſelbſt aufregt und belebt.

23354Vierter Abſchnitt.

Auf dieſe allgemeine Anſicht kann hier die Be - ſtimmung der Artverſchiedenheit des weiblichen Erzie - hungsunterrichts beſchraͤnkt werden, da ſich, ſobald nur die angedeutete Artverſchiedenheit des weiblichen Geiſtes richtig aufgefaßt iſt, die richtigere Behandlung dieſes Unterrichts kaum verfehlen laͤßt.

B. Beſtimmung des Erziehungsunterrichts fuͤr freie Bildung des maͤnnlichen Geſchlechts.

Da der Anwendung der Beſtimmungen, die im Vorhergehenden uͤber den Erziehungsunterricht im All - gemeinen gegeben worden, bei dem maͤnnlichen Ge - ſchlechte nicht ſolche Eigenthuͤmlichkeiten, wie bei dem weiblichen Geſchlechte ſich finden, entgegenſtehen, ſo iſt uͤber dieſe beſondre Art des Erziehungsunterrichts nur noch Weniges hinzuzuſetzen.

Die freie Bildung des Mannes umfaßt die ganze Claſſe der Individuen, die auf eine hoͤhere Geiſtes - bildung Anſpruch haben und Zeit verwenden koͤnnen. Ob nun gleich dabei auf kuͤnftige Berufsbeſtimmung keine Ruͤckſicht zu nehmen iſt, ſonach in dieſer Be - ziehung keine Verſchiedenheit des Unterrichts eintreten kann, ſo findet gleichwol ein Artunterſchied ſtatt, der nicht uͤberſehen werden darf.

355Anwendung der allgemeinen Grundſaͤtze ꝛc.

Dieſer Unterſchied, den allerdings der Philan - thropiniſmus auffallender gemacht und dadurch die Be - ruͤckſichtigung deſſelben zur Sprache gebracht hat, indem er auf Buͤrgerbildung drang, und Buͤrger - ſchulen forderte, laͤßt ſich nach der oben entwickelten Anſicht durch die Bemerkung der Hauptverſchiedenheit der Geiſtesanlagen beſtimmen, daß ein Theil der In - dividuen mehr fuͤr die Geiſtesideen, ein anderer mehr fuͤr die Naturideen empfaͤnglich iſt. Dieſe Eintheilung kann zugleich als die Hauptgrundlage be - trachtet werden, nach der ſich die Lehrlinge in der Folge auch in die beiden Hauptclaſſen des Berufes theilen, inwiefern die erſtern mehr zum Gelehrten - die letztern mehr zum Gewerbs-Beruf Verwandt - ſchaft, Neigung und Geſchick haben.

Die letztern verdienen auch unſtreitig eine beſondre Ruͤckſicht, nicht inwiefern die Verſchiedenheit des aͤu - ßeren Berufes dies erfordert, ſondern inwiefern das Gedeihen der Geiſtesbildung ſelbſt davon abhaͤngig iſt, daß ſie an der Hauptart von Objecten geuͤbt werden, die ihrer Individualitaͤt entſpricht. In dieſer Ruͤckſicht wird mit Recht gefordert, daß fuͤr dieſe Individuen eine eigne Art des Erziehungsunterrichts eingerichtet werde, worinn die Naturgegenſtaͤnde das Haupt - object der Uebung ausmachen.

Da aber dieſe Eigenthuͤmlichkeit der Geiſtesanlage ſich ſelten ſchon in den erſten Jahren ſo ganz entſchie - den auszeichnet, daß darauf ſchon im Anfangsunter -23*356Vierter Abſchnitt.richt eine beſondre Ruͤckſicht eintreten koͤnnte; ſo blei - ben beide Claſſen in dem Anfangsunterricht vereiniget bis zu der Epoche, wo ſich die Anlage fuͤr die eine oder die andre Art von Bildungsgegenſtaͤnden anfaͤngt zu entſcheiden.

Die wichtigere Claſſe bleibt unſtreitig immer die fuͤr Geiſtesideen zu bildende, die man unter der Benennung des Gelehrten-Standes zuſammenfaßt.

Der Gelehrten-Stand, wenn die Benen - nung nicht in der engen Beſchraͤnkung bloß der eigent - lich ſo genannten Gelehrten, die ſich ausſchließend mit dem ſpeculativen und contemplativen Theil des Wiſſens beſchaͤftigen, ſondern in der Ausdehnung ge - nommen wird, die ihr politiſche Verfaſſung, Sitte, Convenienz oder eine innere Nothwendigkeit gegeben hat, in welcher ſie den ganzen Stand der Staats - beamten und Geſchaͤftsmaͤnner, mit einem Wort Alle in ſich begreift, deren Lebensbeſtimmung in der Welt der Geiſtesideen iſt, macht allerdings den Kern einer Nation aus, und iſt als der Schatz - bewahrer aller Kenntniſſe und Bildungsmittel anzuſe - hen. Ihm iſt die Bewahrung des ganzen Heiligthums der geiſtigen Bildung anvertraut; er bildet die Tra - dition, in welcher die Geiſteswerke aller Zeiten aufbe - wahrt und lebendig erhalten werden. Dieſer Stand hat deshalb auch unſtreitig ruͤckſichtlich der allgemeinen Bildung nach der Vollendung zu ſtreben, die den ganzen Umfang aller Kenntniſſe in ihrer ſyſtematiſchen357Anwendung der allgemeinen Grundſaͤtze ꝛc.Verknuͤpfung aufnimmt, und nach der Univerſa - litaͤt, die alles wahrhaft Muſterhafte aller Zeiten allen Zeiten zu erhalten hat. Zu dieſer Beſtimmung reicht es nicht hin, nur dieſe oder jene Kenntniß einzeln zu faſſen, die geiſtige Cultur bloß dieſer oder jener Zeit ſich bekannt zu machen: es wird dazu vielmehr eine zuſammenhangende Ueberſicht von dem Syſteme des Wiſſens, und eine univerſelle Kenntniß des Wiſſens - wuͤrdigen aller Zeiten erfordert.

Dies iſt die Aufgabe, die der Gelehrten - Stand ſtreng genommen freilich nur in der en - geren Bedeutung des Wortes zu erfuͤllen hat. Aber, es iſt nicht hinreichend, daß nur einzelne wenige In - dividuen, (vorzugsweiſe Gelehrte genannt,) ſich mit dieſer Aufgabe beſchaͤftigen: vielmehr dieſer Stand in allen ſeinen Gliedern hat dieſe Aufgabe gemeinſchaftlich zu erfuͤllen, und von Rechtswegen ſollte zu den hoͤhe - ren Berufsarten des Staatsdienſtes, der Regierung, der Geſetzgebung, der Rechtsverwaltung, der Sitten - bildung, der Religionsverkuͤndigung ꝛc. deren Object in den Ideen iſt, der Zugang Keinem geſtattet wer - den, der ſich nicht durch Bildung in dem Gebiete der Geiſtesideen hinreichend dazu legitimirt haͤtte.

Die Forderung iſt von der hoͤchſten Wichtigkeit. Denn, die von der Menſchheit errungne Cultur die unerſchuͤtterlichſte Grundlage der Humanitaͤt ſoll nicht bloß uͤberhaupt erhalten werden, d. h. in todten Buchſtaben, in Buͤchern und Bibliotheken auf -358Vierter Abſchnitt.bewahrt, und nur von den wenigen Waͤrtern des myſterioͤſen, fuͤr alle Uebrigen bloß in der Einbildung exiſtirenden, Schatzes gekannt ſeyn; ſondern ſie ſoll lebendig erhalten, d. h. als das Eigenthum aller Nationen und Zeiten, in jeder Nation ſo weit nur immer moͤglich verbreitet werden, und vor allem andern allem oͤffentlichen Leben einer Nation Regſamkeit und Richtung geben. Dazu aber iſt unerlaßlich, daß alle die, die vorzugsweiſe das oͤffentliche Gemein - leben einer Nation zu leiten den Beruf haben, in je - nem Heiligthum des hoͤchſten geiſtigen Lebens einge - weiht ſeyen. Durch ſie geht am unfehlbarſten das hoͤhere geiſtige Leben auch in die Nation uͤber, und wird eigentlich national. Freilich dringen nicht Alle, die das Schickſal in jene Claſſe fuͤhrt, zur hoͤchſten Univerſalitaͤt des geiſtigen Lebens durch, um es ganz in ſich aufzunehmen. Aber dieſe Verſchiedenheit laͤßt ſich fuͤr die Haupttendenz, die jener Claſſe vorzuſchrei - ben iſt, nicht zum Regulativ erheben: was in ſich als wahr und gut erkannt iſt, muß angeſtrebt werden, wenn auch nicht jede individuelle Kraft zum Hoͤchſten hinan zu reichen vermag. Es iſt ſchon wichtig, daß in Allen der Glaube lebendig erhalten werde, daß die Richtung nach jenem hoͤchſten Ziele der Bildung Vielen unerlaßlich ſey; und dieſer Glaube wird nur durch die Richtung ſelbſt lebendig erhalten: denn, faͤllt nur erſt das eigne Anſtreben eines geiſtigen Zieles bei der Mehrzahl derer, die dazu berufen ſind, hinweg, ſo folgt Zweifel, Gleichguͤltigkeit, und ſelbſt Verſpottung des Strebens Anderer bald nach.

359Anwendung der allgemeinen Grundſaͤtze ꝛc.

Daraus dringt ſich mir zum Schluſſe von ſelbſt die Bemerkung auf, die ich der allgemeinſten Aufmerk - ſamkeit wuͤrdig erachte: daß der Staat, der in dem Gelehrten-Stande eine Vernachlaͤſſigung dieſer Univerſalitaͤt der Bildung zulaͤßt, oder wohl gar ſelbſt der Bildung jenes Standes die Richtung ausſchließend auf die Brod - d. i. Berufs-Wiſſenſchaften giebt, nicht nur ſeiner Stelle in dem Range gebildeter Nationen verluſtig werde, ſondern auch aufhoͤre, in dem geiſtigen Weltreiche der Bildung der Menſchheit ein actives Mitglied zu ſeyn.

Jena, gedruckt bei Frommann und Weſſelhöft.

About this transcription

TextDer Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unsrer Zeit
Author Friedrich Immanuel Niethammer
Extent373 images; 73397 tokens; 8716 types; 544564 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

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Bibliographic informationDer Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unsrer Zeit Friedrich Immanuel Niethammer. . [3] Bl., 359 S. FrommannJena1808.

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Fraktur

LanguageGerman
ClassificationFachtext; Pädagogik; Wissenschaft; Pädagogik; core; ready; china

Editorial statement

Editorial principles

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.

Publication information

Publisher
  • dta@bbaw.de
  • Deutsches Textarchiv
  • Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and Humanities (BBAW)
  • Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW)
  • Jägerstr. 22/23, 10117 BerlinGermany
ImprintBerlin 2019-12-09T17:33:32Z
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Holding LibraryStaatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz
ShelfmarkSBB-PK, Ne 1128<b>
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