Die wir dem Schatten Weſen ſonſt verliehen, Seh'n Weſen jetzt als Schatten ſich verziehen.
An einem Novemberabend bekam ich, (der Leut¬ nant der Reſerve liegt als längſt abgethan bei den Papieren des deutſchen Heerbannes) Ober¬ regierungsrath Dr. jur. K. Krumhardt, unter meinen übrigen Poſtſachen folgenden Brief in einer ſchönen feſten Handſchrift, von der man es kaum für möglich halten ſollte, daß ſie einem Weibe zugehöre.
„ Lieber Karl!
Velten läßt Dich noch einmal grüßen. Er iſt nun todt, und wir haben Beide unſeren Willen be¬ kommen. Er iſt allein geblieben bis zuletzt, mit ſich ſelber allein. Daß ich mich als ſeine Erbnehmerin aufgeworfen habe, kann er freilich nicht hindern; das liegt in meinem Willen, und aus dem heraus ſchreibe ich Dir heute und gebe Dir die Nachricht von ſeinem Tode und ſeinem Begräbniß. Dieſer Brief gehört, meines Erachtens, zu der in ſeinen Angelegenheiten (wie lächerlich dieſes Wort hier klingt!) noch nöthigen Korreſpondenz. Seinen Ton entſchuldige. Es klingt hohl in dem Raume, inW. Raabe. Die Akten des Vogelſangs. 12welchem ich ſchreibe: Er hat die Leere um ſich gelaſſen, und wie ein Kind nenne ich Dich, Karl, noch einmal Du und bei Deinem Taufnamen, es ſoll kein Griff in die Zukunft ſein; es iſt nichts als ein augenblickliches letztes Anklammern an etwas, was vor langen Jahren ſchön, luſtig, freudenvoll und hoffnungsreich geweſen iſt. Auch Deine liebe Gattin wird den Ton verzeihen, wenn ſie auch gottlob nichts weiß von der Angſt, die wir Weiber haben können in einem ſo leeren Raume. Ihre Angſt im Dunkeln wird ſie ja wohl auch ſchon gehabt haben in ihrem Leben.
Helene Trotzendorff als ein ſich fürchtendes Kind? — Nein, doch nicht! — So iſt es nicht! — Die wilde Thörin möchte ſich nur entſchuldigen, daß ſie Euch ruhigen Seelen durch ihre Nachricht den bürgerlichen und häuslichen Frieden ſtört. Von jetzt an, lieber Karl, gedenke meiner als einer mit dem Freunde zu den Todten Gegangenen; ich wollte, ich könnte ſagen: in den Frieden.
Euer Freund Leon war ſehr aufmerkſam, doch Eure Frau Fechtmeiſterin hat mir das Recht zu¬ erkannt, das Begräbniß zu beſorgen. Er, der Herr Kommerzienrath des Beaux, thut mir nur die nöthigen Wege. Nun bin ich allein mit dem Freunde und freue mich über ihn und könnte ihm wieder3 wie unter den Holunderbüſchen zwiſchen den Buchs¬ baumeinfaſſungen der Aurikelbeete, unſeren Kind¬ heitsgärten, oder auf unſeren Bergen und Wald¬ wieſen in den Haarbuſch greifen und ihn Schelm nennen oder einen ſchlechten Menſchen. Verdient hätte er das heute, wie vor Jahren. Er hatte in ſeinem Frieden noch denſelben Zug um Naſe und Mund wie vor Jahren, wenn er mich zu Thränen vor Ärger und Erboßung, und Dich, guter, alter Jugendkamerad, zu einem Citat aus einem deutſchen oder lateiniſchen Klaſſiker gebracht hatte.
Die Frau Fechtmeiſterin hat das große ſchlaue Kind wahrhaftig wie ein kleinſtes, dummſtes, hilf¬ loſeſtes Kind beſorgt und zu Tode gepflegt. Sie iſt jetzt nahe an die neunzig Jahre alt und ſagt: ‚ Daß ich das noch thun mußte, hat mich das ganze letzte halbe Jahr durch auf den Beinen erhalten; ich hatte es ihm ja aber auch ſo verſprochen, wenn ich auch niemals geglaubt habe, daß mal ein Ernſt aus ſeinem Spaß werden könne. ‛ Sie konnte es nicht wiſſen, daß er immer Ernſt aus dem Spaße machte! —
Wenn wir nun zuſammenſäßen, ſo könnte ich Dir noch vieles ſagen. Zu ſchreiben weiß ich nichts mehr; ich bin auch ſehr müde.
1*4Mit den beſten Wünſchen für Dich und Dein Haus
Helene Trotzendorff, Widow Mungo. “
„ Was hältſt Du ſo den Kopf mit beiden Hän¬ den? “fragte mich recht ſpät am Abend meine Frau, nachdem die Kinder längſt gekommen waren, um mir eine gute Nacht zu wünſchen. „ Haſt Du heute wieder mal kein Stündchen Zeit für uns übrig gehabt, armes Männchen? Großer Gott, dieſe Berge von Akten! Was haben wir denn eigentlich noch von Dir? “
Sie lehnte ſich bei dieſen Worten über meine Stuhllehne und legte mir ihre kühle Hand auf die Stirn.
„ Die böſen Akten ſind es diesmal nicht, mein armes Weibchen. Es iſt etwas viel Grimmigeres. Was erſchrickſt Du denn? Dich und Deine Kinder geht es nur recht mittelbar was an. “
Ich gab ihr den Brief der Wittwe Mungo, der mich in dieſer Nacht über die gewohnte Zeit hinaus von dem allabendlichen Plauderſtündchen im Wohn¬ zimmer ferngehalten hatte, und Anna nahm ihn, wenn nicht erſchreckt, ſo doch ſehr verwundert und ge¬ ſpannt, und ſah natürlich zuerſt nach der Unterſchrift.
5„ Von Helene Trotzendorff? “
„ Von der Wittwe Mungo. “
Die Pfeife war mir längſt ausgegangen; ich ſtand auf, um ſie mechaniſch wieder anzuzünden, und ging nun in meiner Arbeitsſtube auf und ab, während Anna an meinem Schreibtiſche, in meinem Arbeits¬ ſtuhl Platz nahm und zwiſchen den freilich berghohen, ihr ſo ärgerlichen Aktenhaufen das liebe Geſicht über den unheimlich wunderlichen Brief aus Berlin beugte, um es ſofort, jetzt doch im höchſten Grade erſchreckt, wieder zu erheben und mir zuzuwenden.
„ Velten todt? Unſer — Dein Freund Andres! — Und ſie — Helene — die Wittwe Mungo, allein bei ihm! “
Das Blatt zitterte in ihren Händen, als ſie weiter las; aber ſie machte weiter keine Bemerkungen, bis ſie fertig war, das Schreiben niederlegte, mit der Hand darüber ſtrich, wie um es zu glätten.
„ Aber das iſt ja ein entſetzlicher Brief! In ſeiner Unverſtändlichkeit doch gar nicht ſo, wie ich ſie mir nach Deinen — euren Reden und Erzählungen vorgeſtellt habe, daß Unſereine trotz ihres Erſchreckens und Mitgefühls wieder einmal nicht weiß, was ſie dazu ſagen ſoll. Velten Andres todt, und die ameri¬ kaniſche Thalermillionärin jetzt als ſeine Todtenwache, wie es ſcheint in ſeiner leeren Dachſtube. Was will6 ſie denn jetzt da? Ganz dumm und irre wird man hierbei! Du lieber Gott, wie machen ſich doch die Menſchen aus puren Grillen das Leben ſchwer und das Sterben zu einem Komödienſchluß! Na, was ſiehſt Du mich an? Wenn es nicht ſo trauriger Ernſt wäre, ſo möchte man wirklich ſagen: Aus ſeiner Rolle iſt Keiner von Beiden gefallen. Und der gute Leon iſt auch natürlich wieder da und ſteht dabei wie der brave Menſch im Hintergrund, der auf dem Theater immer dabei iſt, wenn ſo eine Kataſtrophe eintritt, daß doch wenigſtens Einer als vernünftiger Theilnehmer den Kopf ſchüttelt. Aber freilich — Du mußt und willſt doch auch wohl als erſter alter guter Freund und Bekannter von Allen jetzt zu ihr nach Berlin? “
„ Morgen — wenn es mir irgend möglich iſt. “—
„ Weshalb ſollte Dir das nicht möglich ſein? In ſolchem Fall darf ſich jeder Menſch ſeinen Ur¬ laub ſelber geben. Ich für mein Theil werde morgen dieſen unheimlichen Brief bei hellem Tageslicht leſen. Jetzt iſt er mir wie ein Stein auf den Kopf ge¬ fallen, und ich gehe zu den Kindern. Die Mädchen ſind eben aus dem Theater nach Hauſe gekommen. Das iſt in dieſem Augenblick meine einzige Rettung nach dieſer Lektüre. Der Himmel bewahre ſie uns7 vor zu viel Einbildungskraft und erhalte ihnen einen klaren Kopf und ein ruhiges Herz. “
„ Ganz meine Meinung, liebe Anna, “ſeufzte ich, und dann ließ ich den Brief Helenens unter meinen Aktenhaufen, zog den Arm meines klugen, klaren und ruhigen Weibes unter den meinigen und wir gingen zuſammen zu den Kindern. — Das ſind ſchon ziemlich erwachſene junge Leutchen mit wenn auch jungen, ſo doch eigenen Lebenserfahrungen und Intereſſen: von Velten Andres und Helene Trotzen¬ dorff wußten ſie nichts, oder doch nur wenig. Und das Wenige konnte jetzt bloß ein romantiſches Intereſſe für ſie haben. Mit den Akten des Vogel¬ ſangs hatten die perſönlich nichts mehr zu ſchaffen. Ob ſie ſpäter einmal perſönlichen Nutzen aus ihnen ziehen werden, wer kann das wiſſen?
Daß mein Vater nur auf das zu dem Landes¬ orden hinzugeſtiftete Verdienſtkreuz erſter Klaſſe und den Titel Rath die Anwartſchaft beſaß, ſagt Alles über unſere geſellſchaftliche Stellung im deutſchen Volk, um die Zeit herum, da ich jung wurde in der Welt. In welchem juriſtiſchen Sonderfach er ein8 Beamteter war, iſt wohl gleichgültig, daß er aber ein ſehr tüchtiger Beamter war, haben alle ſeine Vorgeſetzten anerkannt, und viel häufiger von ſeinem Verſtändniß in den Geſchäften Gebrauch gemacht, als ſie ihren Vorgeſetzten gegenüber laut werden ließen. Es handelte ſich in ſeinem Amt viel um Zahlen, und er hatte einen hervorragenden Zahlen¬ ſinn, womit, beiläufig geſagt, meiſtens auch ein entſprechender Ordnungsſinn verbunden iſt. Beides gab ihm eine Stellung in unſerer heimiſchen Bureau¬ kratie, die für unſer häusliches Behagen nicht immer von dem beſten Einfluß war; denn die Vorſtellung, nicht ſtudirt und es dadurch zu etwas Beſſerem ge¬ bracht zu haben, verbitterte nur zu häufig nicht nur ihm, ſondern auch uns, das heißt meiner Mutter und mir, das Leben.
Ich habe übrigens in meiner heutigen ober¬ regierungsräthlichen Stellung dergleichen wackere Herren gleichfalls gottlob unter mir und hole mir nicht ſelten für meinen Amtsberuf nicht nur Aufklärung, ſondern auch Rath von ihnen. Das Bild meines ſeligen Vaters aber, mit dem zu dem Landesorden hinzu¬ geſtifteten Verdienſtkreuz erſter Klaſſe auf der Bruſt, habe ich in Lebensgröße (nach ſeinem Tode nach einer guten Photographie gefertigt) über meinem Schreib¬ tiſche hängen, und hole mir auch von ihm heute9 noch Aufklärung und Rath, und nicht bloß in meinen Geſchäften, ſondern im Leben überhaupt. —
Meine Mutter war eine Frau, deren höchſte Lebenswünſche und Anſprüche durch den Titel Räthin ganz und gar erfüllt wurden. Sie war eine gute Mutter und beſte der Gattinnen, wenn das Letztere vom vollſtändigen Aufgehen in den Anſichten, Mei¬ nungen, Worten und Werken des Gatten abhängig iſt. Sie fühlte ſich wohl in der Zucht, in welcher er ſie und ſein Haus hielt, und ich glaube nicht, daß ſie je einen anderen Willen haben konnte, als den ſeinigen.
Geſchwiſter habe ich nicht gehabt, wenigſtens nicht ſolche, die ſo lange geathmet hätten, um von Einfluß auf mein Leben zu werden. Den Erſatz hier¬ für lieferte die Nachbarſchaft und zwar in ergiebigſter Weiſe, und davon handelt denn auch, um es hier ſchon kurz zu ſagen, die Akte, die ich jetzt anlege. Wem zum Beſten, wer mag das ſagen? Jedenfalls mir zu eigenſter Seelenerleichterung und aus tief¬ gefühltem Bedürfniß nach Einem, nach Etwas, das einen ruhig anhört, ausſprechen läßt und nicht eher dazu redet, bis das Ganze vorliegt. Daß es nicht eine Perſonalakte in der wirklichſten Bedeutung dieſes Wortes iſt, nimmt in meinen Augen den Aufzeich¬ nungen nichts von ihrem Werth. —
10Die Nachbarſchaft! Ein Wort, das leider Gottes immer mehr Menſchen zu einem Begriff wird, in den ſie ſich nur mühſam und mit Aufbietung von Nach¬ denken und Überdenken von allerlei behaglicher Lektüre hineinzufinden wiſſen. Unſereinem, der noch eine Nachbarſchaft hatte, geht immer ein Schauder über, wenn er hört oder lieſt, daß wieder eine Stadt im deutſchen Volk das erſte Hunderttauſend ihrer Ein¬ wohnerzahl überſchritten habe, ſomit eine Großſtadt und aller Ehren und Vorzüge einer ſolchen theilhaftig geworden ſei, um das Nachbarſchaftsgefühl dafür hin¬ zugeben.
Wir zu unſerer Kinderzeit hatten es noch, dieſes Gefühl des nachbarſchaftlichen Zuſammenwohnens und Antheilnehmens. Wir kannten einander noch im „ Vogel¬ ſang “und wußten voneinander, und wenn wir uns auch ſehr häufig ſehr übereinander ärgerten, ſo nahmen wir doch zu anderen Zeiten auch wieder ſehr Antheil im guten Sinne an des Nachbars und der Nachbarin Wohl und Wehe. Auch Gärten, die an¬ einander grenzten und ihre Obſtbaumzweige einander zureichten und ihre Zwetſchen, Kirſchen, Pflaumen, Äpfel und Birnen über lebendige Hecken weg nach¬ barſchaftlich austheilten, gab es da noch zu unſerer Zeit, als die Stadt noch nicht das „ erſte Hundert¬ tauſend “überſchritten hatte, und wir: Helene Trotzen¬11 dorff, Velten Andres und Karl Krumhardt, Nachbar¬ kinder im Vogelſang unter dem Oſterberge waren. Bauſchutt, Fabrikaſchenwege, Kanaliſationsarbeiten und dergleichen gab es auch noch nicht zu unſerer Zeit in der Vorſtadt, genannt „ Zum Vogelſang “. Die Vögel hatten dort wirklich noch nicht ihr Recht verloren, der Erde Loblied zu ſingen; ſie brauchten noch nicht ihre Baupläne dem Stadtbauamt zur Be¬ gutachtung vorzulegen. Wir hatten von ihren Neſtern unſere Hecken, Büſche und Bäume voll und unſere Freude dran; trugen aber deſſenungeachtet nicht auf eine „ Katzenſteuer “an, und ſchlugen oder ſchoſſen jeden wackern Kater todt, der nach ſeinem Rechte mal im Bauplan der guten Mutter Natur mit einem: „ Immer und ewig Mäuſe? “herumſtieg und von der ſämtlichen Käfer -, Fliegen -, Raupen -, Schmetterlings - und Würmerwelt nicht nur als ein Wohlthäter, ſondern auch als ein Rächer geachtet wurde.
Wohin reißt mich dieſes Rückgedenken? Bedenke Dich, Oberregierungsrath, Doctor juris K. Krumhardt und bleibe bei der Sache! Bei der Stange! würde Dein Freund Velten zu jener Zeit — unſerer Zeit geſagt haben. —
Mein Vater, Oberregierungsſekretär Krumhardt, hatte ſein Haus im Vogelſang von ſeinem Vater geerbt, und der wieder von ſeinem Vater. Darüber12 hinaus verlor ſich unſere Kenntniß des Beſitzſtandes in der Nacht der Zeiten. Es war jedenfalls ein altes Haus, das nicht nur die drei ſchleſiſchen Kriege, ſondern auch den ſpaniſchen Erbfolgekrieg miterlebt hatte als Zeitengenoſſe. Das Nachbarhäuschen, das ſeiner äußeren Erſcheinung nach etwas jünger war, hatte Dr. med. Andres erſt bei ſeiner Niederlaſſung in der Stadt und der Vorſtadt Vogelſang käuflich an ſich gebracht. Seine Wittwe und ſein Junge gründeten ihre Wohnorts - und (möglicherweiſe) auch ihre Unterſtützungsberechtigung auf dieſen, der Zeit nach noch ziemlich naheliegenden „ Eintrag “ins Hypothekenbuch; aber auch ſie fühlten ſich ihres Be¬ ſitzthums ſicher und gehörten von Anfang an dazu — nämlich zur Nachbarſchaft im alten, echten Sinne, und mein Vater war nach dem Tode des Doktors ganz ſelbſtverſtändlich von der Obervormundſchaft der Witwe als „ Familienfreund “beigegeben worden.
Zugezogen war nur, jenſeits der Grünen Gaſſe, Mrs. Trotzendorff from New York, in eine Mieth¬ wohnung. Wie aber deren Kind ſein Bürgerrecht unter dem Oſterberge im Vogelſang erwarb und es aufgab, darüber mögen denn dieſe Akten mit allen dazu gehörigen Dokumenten das Nähere berichten. Ich werde mir die möglichſte Mühe geben, nur als Protokolliſt des Falles aufzutreten. Wenn ich dann13 und wann an dem Federhalter nage, meiner Privat¬ gefühle, Stimmungen, Meinungen und ſo weiter wegen, ſo bitte ich die geehrten Herren und Damen auf dem Richterſtuhle des Erdenlebens, hier, in Sachen Trotzendorff gegen Andres, oder Velten Andres contra Wittwe Mungo, nicht darauf zu achten. Meine Frau ſagte ſeiner Zeit:
„ Guter Gott, wie dankbar können wir doch ſein, daß Du nicht ſo warſt wie die beiden Anderen von euch. So haben wir doch wenigſtens unſer geregeltes Daſein und unſere Kinder um uns. Aber auf deren vernünftige, ordentliche Erziehung wollen wir auch recht Achtung geben. Es wäre mir zu entſetzlich, wenn eines von ihnen auch ſo ins Wilde wüchſe! “—
Dr. med. Valentin Andres, der Vater unſeres Freundes Velten Andres, war ein echter und gerechter Vorſtadtdoktor, ein gutmüthiger Menſch und ein guter Arzt, welchem letztern nur die Berge und die übrige ſchöne Natur für ſeine Liebhaberei, die Inſektenkunde, oft zu nahe lagen. Er war recht häufig nicht zu finden, wenn er an einem Krankenbette, bei einem Unglücksfall oder ſonſt in ſeinem Beruf höchſt nötig war. Seine Abhandlung über Cynips scutellaris; die Gallapfelweſpe, machte ſeiner Zeit in den be¬ treffenden Kreiſen Aufſehen und iſt auch heute noch von den Fachgenoſſen geſchätzt. Zum Sanitätsrath14 aber brachte er es nicht durch dieſelbe, und das geringe Vermögen, welches er bei ſeinem Tode ſeiner Wittwe und ſeinem Sohn zu dem kleinen Hauſe und von ihm als von ſeinem Vater und Großvater her. Letzterer ſoll ein nach unſeren Begriffen ſehr wohl¬ habender Mann geweſen ſein; aber wie verkrümelt ſich die Wohlhabenheit, der Reichthum in der Folge der Geſchlechter! —
Ich für mein Theil habe nur eine ganz dunkle Erinnerung an den Doktor Andres. Mein Nachbar¬ ſchaftsleben war nur mit ſeinem Jungen und der „ Frau Doktern “; aber ſeine Käfer - und Schmetterlings¬ ſammlungen in den Glaskäſten an den Wänden haben doch einen Einfluß auf mich gehabt und behalten ihn heute noch, und ſein friedliches Bild gleitet mir noch manchmal auf einem Waldwege um unſere jetzige „ Großſtadt “entgegen.
Wie kopfſchüttelnd oder lächelnd er ſeinem Sohn auf deſſen Wegen dann und wann erſchienen sein mag? — Und was er aus ſeinem Lebensvermögen weiter gegeben haben mag an dieſen, ſeinen Sohn Andres — unſern Freund? — —
Was nun die Frau Doktor Andres anbetrifft, ſo ſteht deren freundliches Bild hell und klar in meiner Seele und kann nie darin auslöſchen. Sie15 hat an meiner Mutter Wochenbett geſeſſen und gut nachbarſchaftlich in meine Wiege geſehen; ich habe an ihrem Sterbelager geſeſſen und ſie in ihrem Sarge geſehen — ebenſo gut nachbarſchaftlich (ich gebrauche das Wort trotz Allem, was nachher hierüber zu den Akten kommt). Zwiſchen meiner Wiege und ihrem Sarge aber haben ſo viele gute, liebe, lange Jahre des Zuſamenlebens und Verkehrs von Haus zu Haus gelegen, daß wir wahrlich zu einander gehörten; obgleich mein Vater — ihr Familienfreund war, ſie nur ſelten „ begriff “, ſie recht häufig ſehr ängſtete und dann und wann noch viel mehr ärgerte; und obgleich meine Mutter in allem dieſen der Anſicht und Meinung meines Vaters war und „ Amalien “faſt noch weniger „ begriff “als er.
Natürlich wurzelten neun Zehntel aller Mi߬ verſtändniſſe in dem Vorhandenſein meines Freundes Velten in dieſer auf bürgerlichem Ordnungsſinn ge¬ gründeten Erdenwelt. Weshalb hatte denn aber auch die Obervormundſchaftsbehörde nach dem Tode des Doktors der Vormünderin des Jungen den Ober¬ regierungsſekretär Krumhardt als Familienberather beigegeben? Da mußte ſich denn freilich manches zu¬ ſpitzen, was von Natur keine Schärfe hatte, wenigſtens auf der einen Seite. — Mit den Gärten ſind heut¬ zutage zwar auch die Vögel im Vogelſang ausgerottet;16 aber in den Wäldern jenſeits des Oſterberges ſingen auch heute noch, traditionell, vielleicht einige davon, was für ein ſauberer Vogel Velten Andres war, und was für eine unzurechnungsfähige Vormünderin ſeine Mutter. Freilich hatte er ja auch eine Eierſammlung ſeiner Zeit, bis ihn — gerade ſeine Mutter hier auf dem Felde ſeiner Liebhabereien zurechtwies und ſich die „ grauſame, unnütze Spielerei “verbat. Natürlich unter gänzlich unberechtigtem Hinweis auf ſeinen ſeligen Vater, der nie ein Vogelneſt ausgenommen hatte.
„ Aber gucke mal, da ſeine Käferſammlung und ſeine Schmetterlinge. That es denen nicht weh, wenn er ſie auf ſeine Nadeln ſpießte? “hätte der Sohn ſeines Vaters der Mutter antworten und ſie fragen dürfen. „ Da, mach Du Dir einen Eierkuchen draus, “ſagte er jedoch nur zu mir, mir die ausge¬ blaſene Herrlichkeit über die Hecke zuſchiebend. „ Die Alte hat auch Recht, wenn ſie mir dieſer Dummheit wegen die Hoſen nicht mehr flicken will. Sie mufft, und ich lege mich lieber auf Briefmarken. “
Wann hätten wir je im Vogelſang die Nachbarin Andres „ muffen “ſehen? Daß ſie weinen konnte, wußten wir daſelbſt. Aber muffen? Dieſe Schmach konnte ihrem lieben, freundlichen Geſicht nur Unſer¬ einer und alſo am beſten ihr eigen Fleiſch und Blut aus ſeinen Schulbubenerlebniſſen und Redensarten17 anthun. Auf das Lachen war ſie von Natur einge¬ richtet, oder, noch beſſer, auf das ruhige, ſtille Sonnen¬ lächeln, das ohne irgend zu Tage liegenden Grund eben aus der Tiefe kommt und alſo da iſt, weil ein¬ mal ein bevorzugtes armes Menſchenkind die Welt ſchön ſieht.
Wie muß ich heute mit Helene Trotzendorffs Brief vor Augen daran denken, wie ſchön die Mutter Velten Andres 'die Welt ſah!
„ Die Frau iſt unzurechnungsfähig, der Junge ein verwahrloſter Strick, und bei den Leuten Familien¬ freund ſpielen zu ſollen und Vernunft reden zu müſſen, eine Aufgabe, die Einen zur Verzweiflung bringen kann! “rief mein Vater, aus dem Nachbarhauſe nach Hauſe — unſerm — ſeinem Hauſe heimkommend und den Hut verdrießlich doch ſorgſam neben meinen Cornelius Nepos auf den Tiſch ſtellend. „ Karl, was iſt das wieder geweſen und was für eine Rolle haſt Du bei dieſer neuen Albernheit geſpielt? Sie haben das Hartlebenſche Gartenhaus beinahe in Brand geſteckt, Frau. “
Ja, ich hatte den Cornelius Nepos und das Leben des Alkibiades, des Klinias Sohn, vor mirW. Raabe. Die Akten des Vogelſangs. 218und das Herz voll Angſt vor meinem „ Alten “, und verquollene Augen und heiße, ſchwarz-ſchmierige, zitternde Pfoten; und zu überſetzen hatte ich:
At mulier, quae cum eo vivere consuerat, muliebri sua veste contectum aedificii incendio mortuum cremavit — aber das Weib, das mit ihm zu leben gewohnt war, verbrannte den mit ihrem Frauenrock bedeckten Leichnam in dem brennenden Hauſe.
„ Heraus mit der Wahrheit, Junge! Da drüben kriegt man doch nichts anderes als Phantaſterei und Lügen zu hören, “rief mein Vater und faßte nun auch mich an der Schulter wie er „ drüben “wahr¬ ſcheinlich den Freund Velten und „ gegenüber “die kleine Helene Trotzendorff gefaßt und geſchüttelt hatte. Aus mir ſchüttelte er jedenfalls die ganze Wahrheit heraus.
„ Wir haben bloß Komödie geſpielt in Hartlebens Pavillon. Velten hat ſie angegeben, weil — weil — wir jetzt — in der Schule den Alkibiades haben! “ſchluchzte ich.
„ Eine ſchöne Komödie, die auf Brandſtiftung hinausläuft! Was meinſt Du dazu, Mutter? “
Meine Mutter rang nur ſtumm die Hände, mein Vater aber hatte ihr doch nun die Sache etwas deut¬ licher auseinanderzuſetzen.
19„ Daß ihnen in der Schule aus den Griechen und Römern ſaubere Exempel vor die Augen geſtellt werden, das iſt freilich leider eine Thatſache, Frau, “brummte er. „ Und da iſt denn auch ſo eine Ge¬ ſchichte von einem griechiſchen General — Alkibiades heißt er — die haben ſie auf dem Hartlebenſchen Grundſtücke aufführen wollen und mit Streichhölzern, Schießpulver und Kolophonium, was weiß ich, ge¬ wirthſchaftet; und daß das Mädchen bloß mit ver¬ brannter Schürze, die ſie dem Musjeh Alkibiades, ich meine dem Schlingel Velten, überdecken wollte, aus Hartlebens getrockneten Krautbündeln herausge¬ kommen iſt, das iſt auch nur ein Wunder, wie es ſolchen Narrenköpfen paſſirt. “
„ Du lieber Gott! Du lieber Gott! Und Du biſt auch wieder mit dabeigeweſen, Karlchen? “wimmerte meine Mutter.
„ Velten hat Alles gleich gelöſcht mit den Händen und mit Waſſer aus dem Brunnen in ſeiner Mütze! “ſchluchzte ich.
„ Und ſitzt jetzt mit den Händen in Watte und Leinöl, “brummte mein Vater. „ Nicht einmal ein regelrechtes Schmerzgeheul und Gewinſel kriegt man aus ihm heraus. Verſtockt beißt der Taugenichts die Zähne aufeinander und glotzt nur von Zeit zu Zeit angſtvoll auf die Mama, was die zur Sache von ſich2*20giebt. Ja die! Wer doch von Gottes und Rechts wegen in Thränen ſchwimmen ſollte, das müßte die Frau Nachbarin Amalie ſein; denn der dumme Junge muß arge Schmerzen haben. Aber thut ſie es? Bewahre! Lieber ſterben als dem zum Richtigen redenden Nachbar und Familienfreund ſeine Verant¬ wortlichkeit durch Zuſtimmung zu erleichtern. Natür¬ lich beißt auch die Frau Doktor nur die Zähne zu¬ ſammen, ſagt nur von Zeit zu Zeit: ‚ Aber Velten, das war doch zu dumm!’ und läßt mich gewohnter¬ maßen in den Wind und ins Blaue reden. “
„ Die arme Amalie! “ſeufzte meine Mutter.
„ Du bedauerſt ſie wohl gar noch? “fuhr mein Vater faſt gröblich ſie an. „ Das kannſt Du Dir dreiſt für andere und beſſere Gelegenheiten ſparen. “
Und mit einem Blick auf mich fuhr er fort: „ Na, reden wir nicht weiter hierüber. Übrigens, um den neuen Skandal (der Dich, mein Sohn, bei¬ läufig auch mit vor die Polizeibehörde bringen wird) völlig auszukoſten, war ich denn auch drüben bei der dritten von euch drei lieben Jugendfreundinnen, Adolfine — bei der berühmten (ich will kein anderes Wort gebrauchen) bei der berühmten Frau Agathe — unſerer theuren Miſtreß Trotzendorff. Nu, was ich da zu hören bekam, das hätte ich mir vorher ſchon ſelber ſagen können. Saß die Perſon wieder ſofort21 auf dem hohen Pferde, als ob die ſämmtlichen ver¬ einigten Staaten von Nordamerika es ihr geſattelt und gezäumt hätten! — Das habe das Kind eben aus einem größeren Leben als das unſerige hier von drüben mitgebracht, daß es die Welt (die Närrin ſagte wahrhaftig: die Welt!), daß es die Welt nicht mit unſeren hieſigen Philiſteraugen (dies iſt freilich mein Ausdruck), mit unſeren hieſigen Philiſteraugen anſehe. Der Spaß ſei ja gottlob wieder glücklich ab¬ gelaufen; Hartleben werde ſich wohl auch zufrieden geben, wenn man vernünftig mit ihm ſpreche, und auf die verbrannte Schürze des Kindes komme es gar nicht an; für die werde ſein Papa drüben in New York wohl noch aufzukommen wiſſen. — Damit holte ſie mir das naſeweiſe Balg unter den Händen weg und hob es, wie Niobe ihr letztes aus den Büchern unſeres Jungen, auf den Schooß. Der Hinweis auf den Schwindler, den Erzſchwindler Trotzendorff, ihren Mann, imponirte mir aber ſo, daß ich nur meinen Hut nehmen konnte und ſagen: Da hört alles Ein¬ greifen von verſtändiger Seite gründlich auf! Du lieber Himmel, was für eine Nachbarſchaft! Junge, Junge, ich rathe Dir, daß Du bei den Grundſätzen Deiner Eltern wie bei Deinen Büchern bleibſt und Dich exakt hältſt. Dich wenigſtens kann ich windel¬ weich hauen, wenn Du mir bloß noch ein wenig22 mehr in dem Affenſpiel rundum die Purzelbäume mitſchlägſt und nicht Deine bürgerlichen, geſunden, nüchternen fünf Sinne bei einander behältſt! “
„ Ja, bitte, bitte, beſter Karl, thue das und mache Deinen Eltern und Deinen Herrn Lehrern Freude! “ſagte meine Mutter. „ Ach, Vater, aber können denn die armen Frauen, die Amalie und Agathe dafür, daß die eine ihren armen Doktor ſo früh verloren hat und die andere ihren — “
Sie brach ab, und mein Vater brummte nur: „ Na, was Deine Andere dazu beigetragen hat, hier jetzt wieder als abenteuerliche amerikaniſche Stroh¬ wittwe im Vogelſang zu ſitzen, darüber ſind die Akten noch nicht mit allen dazu gehörigen Dokumenten ver¬ ſehen. Für die Doktorin mag Deine Entſchuldigung zu mildernden Umſtänden beitragen. Adolfine. “
Welch eine Nachbarſchaft! Jawohl, das war es, was trotz aller Warnungen und Drohungen, Aufregungen und Ärgerniſſe meines braven ſeligen Vaters mir den Vogelſang unter dem Oſterberge bis heute noch zu einem Zauber macht, der mich dahin bannt, obgleich er ſo ſehr, ſo ganz und gar Recht hatte mit ſeinen Warnungen vor dieſem Zauber. 23Bin ich nicht heute der Einzige von uns Dreien, der ſeine geſunden fünf Sinne exakt und pragmatiſch bei einander gehalten und es nach bürgerlichen Begriffen (ſehr wohl berechtigten!) zu einer ſoliden Exiſtenz in der ſchwankenden Erdenwelt gebracht hat? Und hält mich dieſer alte Zauber heute nicht mehr denn je — der Zauber der Nachbarſchaft, trotzdem daß Velten Andres und Helene Trotzendorff auf anderen Wegen und, nach unſeren bürgerlichen Begriffen, verloren ge¬ gangen ſind in der Welt und die Welt nicht gewonnen haben? Wenigſtens der arme Velten. Die hundert¬ fache Millionärin, die Wittwe Mungo, geborene Trotzendorff, iſt ja wohl nicht ganz ſo ſehr zu beachſel¬ zucken wie der ganz verrückte Menſch, der arme kurioſe Kerl, der Andres! Schade um ihn, wozu hätte der es mit ſeinen Talenten und ſeinen vielen guten Gelegenheiten, es zu was zu bringen, es in der Welt zu etwas bringen können!
Aber pragmatiſch, pragmatiſch, Karl Krumhardt! Das heißt referire Dir ſelber ſo werkmäßig als möglich, Oberregierungsrath Doctor juris Krumhardt, um Dir ſelber wenigſtens Deinen Standpunkt in Sachen Andres contra Trotzendorff oder umgekehrt klar zu halten. Wenn nicht wegen eines anderen Publikums, möchte es Deiner Kinder wegen wohl der Mühe werth ſein.
24Wir, Velten und ich, waren ungefähr zehn oder zwölf Jahre alt, als wir anfingen, mehr und mehr aufzuhorchen, wenn in unſere Kinderſpiele, Schul¬ arbeiten und Dummejungenſtreiche der Name Trotzen¬ dorff hineinklang, mit bedenklichem Kopfſchütteln von Seiten meiner Eltern, mit bedauerndem von Seiten der Mutter Veltens. Da hieß es in unſerm Hauſe: „ Konnte man das nicht vorausſehen? “und im Nachbar¬ hauſe: „ Die arme Agathe! “ Bei uns: „ Der Schwindler mußte ja zu dieſem Ende kommen, und nun ſchickt er uns das leichtſinnige Geſchöpf, ſeine Frau, auch gar noch wieder über den Hals! “ Nebenan: „ Mit ſo einem armen kleinen Kinde! Und ſo weit her, über die See; ganz allein mit dem kleinen Mädchen über das große Meer! “
Die weite See, wo Robinſon Cruſoe ſeine Wunderinſel fand und wir, Velten und ich, ſo gern eben eine ſolche geſucht hätten; — das große Meer, über welches Sindbad der Seefahrer ſchiffte und ſeine tauſend und ein Abenteuer erlebte, über welches Wittington (dreimal Lord Mayor von London) ſeine Katze verhandelte und vom Negerkönig drei Säcke voll Goldſtaub für das brave Thier zurückempfing: das war es, was natürlich zuerſt unſere Knaben¬ phantaſie erregte.
„ Du, “ſagte Velten, „ es kommt eine Frau mit25 einem kleinen Mädchen aus Amerika wieder hierher nach dem Vogelſang. Meine Mutter kennt ſeine Mutter und Deine Mutter kennt ſie auch. “
„ Das weiß ich auch ſchon. Mein Vater und meine Mutter haben aber auch ſeinen Vater gekannt und ſagen, er ſei ein Taugenichts. “
„ Davon hat meine Mutter nichts geſagt, aber kennen thut ſie ihn auch. Das iſt mir übrigens ganz Wurſt; aber das Wurm! Hol mal Deinen Atlas. So eine dumme Schürze und Zimperlieſe auf dem Atlantiſchen Ocean, wenn wir ihn nur in der Geo¬ graphieſtunde haben und bloß Dummheiten vom Doktor Klebmaier zu hören kriegen, wenn wir nicht wiſſen, wie weit er reicht! Na, laß ſie mir nur kommen. Drüben bei Hartlebens haben ſie ſich ein¬ gemiethet; meine Mutter hat ihnen dabei geholfen. “
„ Mein Vater und meine Mutter auch. Es geht ihnen recht ſchlecht, und man muß ſich ihrer annehmen, ſagen ſie! Weißt Du, ſie ſind eben Alle gute Freunde miteinander geweſen, die Alten. Ja, wir ſollen uns ihrer annehmen! “
„ Meinetwegen. Was ich dazu thun kann, wird gemacht. Von einem Mädchen mehr ſoll mir diesmal noch nicht übel werden, obgleich wir des Zeugs ſchon eigentlich borſtig hier zu viel im Vogelſang haben. Überall ſtehen ſie Einem im Wege und über keine26 Hecke kann man ſteigen, ohne daß man zwiſchen einen Haufen von ihnen fällt und fünf Minuten nachher das Gezeter angeht: Wenn Du Dich nicht aus unſerem Garten ſcherſt, ſagen wir's Deinem Vater! Übrigens, Karlchen, kannſt Du mir noch mal Deinen Lederſtrumpf leihen, ich will doch lieber vorher, ehe die Kreatur einrückt, über Amerika nach¬ leſen. “
Wie viele deutſche Jungen haben dieſe Cooper¬ ſchen Lederſtrumpferzählungen „ für die Jugend be¬ arbeitet “, hinübergelockt in das Land der Langen Flinte, der Großen Schlange und des Renard ſubtil? Ob das bei Mr. Charles Trotzendorff aus dem Vogelſang auch der Fall geweſen war, kann ich nicht in den Akten nachweiſen, was ſeine Jugendzeit betrifft. Aus ſpäteren Dokumenten geht mir hervor, daß es ſich nicht ſo verhielt; — daß ihn weder der edle Unkas noch der tapfere Major Heyward und auch nicht die ſtolze ſchwarzhaarige Cora und die blonde liebliche Alice an - und dorthingezogen hatten, ſondern ganz was anderes: etwas, was nicht das Geringſte mehr mit jener wundervollen lügenhaft-wahren Kinder-Ur¬ waldswelt zu ſchaffen hatte; nämlich ganz einfach das Geſchäft in den glorreichen Vereinigten Staaten von Nordamerika. Auch aus dem edlen deutſchen Vater¬ lande, vom grünen Rhein und aus dem Vogelſang kann27 das deutſche Gemüth die vollkommene Befähigung mit übers Waſſer nehmen, nicht nur mit Mssrs. Longbow, Snake, Renard and Company vortrefflich auszu¬ kommen, ſondern ſelbſt ſie bei günſtiger Gelegenheit dergeſtalt übers Ohr zu hauen, daß ſie ſich den ferneren Import von dergleichen Konkurrenz am liebſten gänz¬ lich verbitten würden. Aber das ſind Geſchichten aus Väterzeiten. Ich habe wie geſagt wenig über Herrn Charles Trotzendorff in meinen Papieren. In unſerer Heimathſtadt war er[]Auswanderungsagent und wanderte ſeiner Zeit ſelber aus und zwar aus zwingenden Gründen. Seine Frau, die Freundin und Schulbankgenoſſin meiner Mutter und der Nachbarin Andres, nahm er aus dem Vogelſang mit. Sie ſoll in ihrer Jugend¬ blüte ſehr ſchön geweſen ſein und war auch eine noch nicht häßliche Erſcheinung, als er ſie uns dahin für eine Zeit wiederſchickte: „ zur Aufbewahrung für beſſeres Glück, “wie mein Vater ſagte, und wie es ſich ſpäter auch wirklich ſo herausgeſtellt hat.
Es war Veltens Mutter, an welche „ Mrs. “ Agathe Trotzendorff dann und wann aus Amerika ſchrieb; Velten hat bei ſeinem „ großen Aufräumen “wohl ein halb Dutzend Briefe mit überſeeiſchem Poſt¬ ſtempel in den Ofen geſchoben. Soviel ich mich er¬ innere, war weder ſtiliſtiſch noch ethiſch das Geringſte daran verloren; jedenfalls ging aus ihnen hervor,28 daß Mr. Charles Trotzendorff ein großer Schwindler war, der ſeine Sache verſtand, alſo Glück gehabt hatte, es wieder haben konnte und jedenfalls im Pech ſich zu helfen wußte. Das letzte Schreiben berichtete über ihn, daß er recht im Pech ſitze, von „ ſchlechten Menſchen unglaublich betrogen worden ſei “und deshalb fürs erſte ſeinen Haushalt auflöſen müſſe. Wie uns, das heißt mir und Freund Velten ſpäter die Sache klar wurde, war er damals nur mit ge¬ nauer Noth an einem längeren Aufenthalt in Sing - Sing vorbeigeglitten. Jedenfalls war er nach dem in jener Zeit noch mit einigem Recht „ fern “ge¬ nannten Weſten verduftet und hatte Weib und Kind dem Vogelſang wieder zugeſchoben. Was wußten mir im Vogelſang von Mr. Fisk und der Erieeiſen¬ bahn, von Mr. Tweed, dem Tammanyring und Sing-Sing? —
Sie kamen an, die deutſch-amerikaniſche Mutter und little Ellen, das amerikaniſche kleine Mädchen, und bezogen auf Hartlebens Anweſen die von uns ihnen im Nebengebäude daſelbſt gemiethete Wohnung. Der Einzug ging vor, während wir Beide, Velten und ich, in der Schule waren. Als wir nach Hauſe kamen, fanden wir unſere beiden Mütter in erkleck¬ licher Aufregung und zitternder Rathloſigkeit bei einander ſitzend, und horchten wie Jungens horchen, wenn29 ihre Mütter die Hände ſtumm im Schooße ringen oder ſie laut ſchreiend über den Köpfen ausſpreizen, als wollte ihnen nicht bloß das Himmelsgewölbe, ſondern auch die Stubendecke auf die Hauben fallen.
„ Das Frauenzimmer iſt ja als eine komplette Närrin heimgekommen! “ächzte meine Mutter.
„ Du lieber Himmel, was wird das werden! “ſeufzte die Nachbarin Andres.
„ Weißt Du, Amalie, wie ich hier ſitze? “
Veltens Mutter ſchüttelte den Kopf.
„ Vollſtändig mit dem Eindruck, als ob wir — wir Beide hier im Vogelſang Schuld daran ſeien, daß Hartlebens Nebenhaus nicht Unter den Linden in Berlin, oder noch großartiger irgendwo drüben bei den Amerikanern in New York oder ſonſtwo liege. Und mit den hundert Thalern, die der Schlingel Trotzendorff meinem Mann für die Einrichtung ge¬ ſchickt hat, hätten wir ſelbſtverſtändlich unſerer hieſigen Frau Herzogin häusliche Ausſtattung drüben bei Hartlebens beſchaffen müſſen für dieſe — dieſe, unſere Miſtreß oder Lady oder wie wir ſie ſonſt zu betitu¬ liren haben! Bitt 'ich Dich! “
„ Die arme Agathe. “
„ Bedauere ſie gar noch! Nimm es mir nicht übel, hier bin ich doch anders. Ich für mein Theil werde ihr bei ſpäterer, kommender Gelegenheit meine30 Meinung nicht vorenthalten, daß ſie ſich in unſere Verhältniſſe zu ſchicken habe, und mir nicht in ihre. “
„ Großer Gott, ihre Verhältniſſe! “ſeufzte Veltens Mutter.
„ Nun, ich meine eben ihre großartigen früheren, nicht ihre jetzigen. Ja, da magſt Du wohl wieder recht haben, Malchen, und ich werde mich auch für mein Theil bemühen, ihr dieſelben ſo behaglich und verſtändlich zu machen, wie es mir möglich iſt. “
Ich ziehe ſelbſtredend im beſten Sinne des übelverwendeten Wortes dieſe Unterhaltung der Mütter aus den Akten. Daß wir dummen Jungen das ſo nicht aufbewahrten, iſt ſelbſtverſtändlich. Wir zwei — Velten und ich — wußten nur, daß etwas ganz aus der Regel Fallendes und durchaus nicht ganz und gar Angenehmes dem Vogelſang die Ruhe aufgeſtört hatte und die Behaglichkeit für unabſehbare Zeit (wie mein Vater meinte) zu kränken drohte. Übrigens gewannen wir ſofort die Überzeugung, daß die Geſchichte uns Beide gar nichts angehe, und mit der „ neuen Schürze bei Hartlebens “wollten wir ſchon bald fertig werden, wie mit den anderen dummen31 Gänſen auf den Schulwegen, in den Gärten und Gaſſen bei Sommerſonnenſchein und Winterſchnee.
So warteten wir denn mit dem Kinn auf dem Zaun wie zwei europäiſche Indianer nach Hartlebens Wigwam hinüber.
„ Aus den beiden dummen Engländerinnen, Cora und Alice, mache ich mir gar nichts, “ſagte Velten, „ aber wenn dieſe Neue roth, grün, gelb und blau angemalt käme, wie Junithau im Pfadfinder, dann wär doch noch was, und mal was Neues hier bei uns in der ewigen Langweilerei aus dem Cocon gekrochen. “
„ Du! Da kommt Deine Mutter mit ihr! Ach, der Dreikäſehoch! Guck, läßt ſich auch noch an der Hand führen, und — richtig — hat natürlich ge¬ weint und zimpert noch und läßt ſich nachziehen, als ob Deine Mutter der richtige Oger wäre und ihr bei euch zu Hauſe bloß von Kinderfleiſch lebtet. Na, nun mach nur, Velten, daß Du auch nach Hauſe kommſt. Du haſt ſie wahrſcheinlich heute zu Tiſche, — guck, da nimmt Deine Mutter das große Balg in eurer Gartenthür gar noch auf den Arm! Na, adjö, da rufen ſie auch bei uns nach mir, und meinen Vater kennſt Du. “
Es war ein Sonnabend und keine Schule am Nachmittag; wir lagen alſo am Oſterberg unter einem32 Buſch, und ich vernahm den erſten Bericht über das erſte Zuſammentreffen der Familien Andres und Trotzendorff beim Suppennapf.
„ Ja, ſie waren bei uns zur Fütterung, “erzählte Velten. „ Die engliſche Madame auch. Die kann deutſch, aber ſie thut manchmal, als ob ſie es ver¬ geſſen habe. Die Kleine kann nur engliſch, das heißt amerikaniſch: Die richtige Wilde! Und ſie ſind ſchauderhaft vornehm, das heißt, eigentlich geweſen. Es iſt übrigens nur gut, daß meine Mutter noch vornehmer iſt und auch ein bißchen engliſch kann, durch meinen Vater. So ging es denn ſo ziemlich glatt ab, nur ich kriegte es natürlich zu hören von meiner Alten, daß jetzt das Hinflegeln mit beiden Ellenbogen auf dem Tiſche aufzuhören habe, und daß ſich eine Maſſe Anderes nicht ſchicke. Die Kleine hat den Teufel in ihren Augen und greinte, und auf gelbe Erbſen, dicke Bohnen, Steckrüben, Moorrüben und ſonſt unſer Futter ſcheint ſie noch nicht recht einge¬ richtet zu ſein. Sie hat eine Mohrin als Amme ge¬ habt und Mohren als Bediente; aber meine Mutter hat ſie zuletzt doch zum Lachen gebracht und daß ſie mich angrinſte. Ihre Mama war zuletzt die einzige die bei ihrem Jammergeſicht blieb, und nach Tiſche meiner Mutter auch jetzt wieder was vorweinte. Ellen heißt die Krabbe; auf deutſch Helene, und33 meine Mutter hatte ſie auf dem Sofa auf dem Schooße und tröſtete ſie Beide. Da habe ich mich ge¬ drückt, denn den ganzen Nachmittag ſo was auszu¬ halten, konnte Keiner von mir verlangen. Na, Mitleid will ich ja wohl gerne mit haben, wie meine Mutter verlangt; aber kriegt ſie mich, dieſer neuen fremden Nachbarſchaft wegen, auch noch an das Engliſche, ſo werfe ich auf. An dem Latein und dem Franzöſiſchen haben wir gerade genug in der Schule. Puh, Mitleiden! Hat da jemals Einer mit uns Mitleiden gehabt, Karlchen? “
„ Nee, “ſagte ich.
„ Aber wie ſollen wir uns denn mit der Kröte verſtändlich machen, wenn wir kein Engliſch können? Auf unſern Buckel laden ſie ſie doch ab; darauf nehme ich jetzt ſchon Gift. Übrigens habe ich auch verſprechen müſſen, nicht den ganzen Nachmittag vom Hauſe wegzubleiben. Drunten in unſerer Laube ſitzt die ganze Proſtemahlzeit beiſammen und hat Mitleid. Deine Mutter auch, Krumhardt. “
Nun bin ich mit meinen Erinnerungen wieder am Abend jenes Tages, an welchem wir in Hart¬ lebens Gartenhaus den Tod des Themiſtokles auf¬W. Raabe. Die Akten des Vogelſangs. 334geführt hatten. Es waren damals ſchon einige Jahre ſeit der Rückkehr der Miſtreß Trotzendorff in den Vogelſang hingegangen, und Miß Ellen hatte, auch mit unſerer, Veltens und meiner Beihilfe doch all¬ gemach ganz gut Deutſch gelernt, hörte (wenn ſie Luſt hatte) auch auf den Ruf: Helene! Lene! Lenchen und — wir waren alle drei in den echteſten und ge¬ rechteſten Flegeljahren.
Daß die Deutſch-Amerikanerin eine dumme, auf¬ geblaſene, einfältige Gans ſei, hatten wir zwei Jungen längſt heraus, und ebenſo, daß ſie doch ein Gutes hatte, nämlich daß man mit ihr aufſtellen konnte, was man wollte, wenn man ſie nur recht zu nehmen wußte. Mein Vater hatte nichts gethan, den Eindruck, den die Arme auf uns gemacht hatte, zu verbeſſern. Meine Mutter war natürlich der Meinung meines Vaters, wenn auch in einem etwas mildern Grade. Und nur die Nachbarin Andres war ganz und gar dabei geblieben, daß man Mitleid mit ihr haben müſſe und gab der Anſicht bei jeder vorkommenden Gelegenheit nicht bloß Worte, ſondern fügte auch die That dazu. —
Ach, wie ich es mir jetzt überlege, kamen die Gelegenheiten recht häufig! Viel häufiger als die Briefe und Geldſendungen des Gatten und Vaters Trotzendorff aus den Vereinigten Staaten von Nord¬35 amerika. Dem wollte es noch immer nicht wieder recht glücken, und aus meines Vaters Munde ſchnappte ich das Wort auf: „ Gieb acht, Adolfine, und erinnere mich ſeiner Zeit an mein heutiges Wort: demnächſt hören wir gar nichts mehr von ihm. Wir und die Stadt haben die Frau und das Mädchen allein auf dem Halſe. Von Heimathberechtigung kann ja wohl nicht die Rede ſein, aber wohin ſollte die Kommune ſie abſchieben, wenn der Gauner ſeinen Verpflichtungen gegen ſeine Familie genügend nachgekommen zu ſein glaubt, oder, was mir wahrſcheinlicher iſt, wenn ſie ihn irgendwo da drüben an einem Strick an einem Baume in die Höhe gezogen haben werden. Nach oben ſtrebte er ja auch ſchon hier zu Lande, aber hier hatte er doch nur mit den ordentlichen Behörden, Gerichten und nicht mit dem Lynchſyſtem zu thun. “
In einem Hauſe, in welchem ſolche Reden über ihren Papa geführt wurden, fühlte ſich weder die Mutter noch das Kind des exotiſchen Sünders ſo wohl und in verhältnißmäßiger Sicherheit, wie es ſich für eine treue Nachbarſchaft im Vogelſang eigent¬ lich gebührte. Da bot das Häuschen und Stübchen der Nachbarin Andres einen behaglicheren Unterſchlupf. Es wurde dorten allen Sündern viel leichter ver¬ geben als — bei uns. Ich habe eben wahr zu ſein, wenn ich durch dieſe Blätter bei meiner Nach¬3 *36kommenſchaft irgend einen Nutzen ſtiften will, und ſo ſage ich, daß auch ich ſelber mich lieber bei der Mutter Veltens zu den Sündern, als bei meinen eigenen Eltern zu den Gerechten zählen ließ. —
Alſo das Unglück war wieder einmal geſchehen und hier hole ich es noch einmal hinein in die Akten aus der feinen unaufgeſchriebenen Vergangenheit, unſeren Kindertagen! Es hatte Feuerlärm im Vogel¬ ſang gegeben. Ich hatte die Hand meines Vaters am Kragen gefühlt, meine Mutter hatte die Hände gerungen, der Nachbar Hartleben hatte ſeiner „ Ameri¬ kaniſchen “zum zwanzigſten Mal gedroht, ſie mit ihrem Balge beim nächſten Quartal auf die Gaſſe zu ſetzen — „ einerlei, wer mir dann zu meiner rückſtändigen Miethe verhilft! “— Lenchen-Timandra hatte ſich, wie immer bei ſolchen Gelegenheiten, auf dem Oſterberge in den Wald geſchlagen und ver¬ geblich nach ſich rufen und ſuchen laſſen, der Haupt¬ ſünder, mit ſeinen „ nichtsnutzigen Pfoten “wahrlich in Leinöl und Watte, agirte in der Sofaecke den Heros weiter, indem er ſeine nicht kleinen Schmerzen ſo gut als möglich verbiß, und Frau Amalie ſeufzte:
„ Junge, Junge, Dein ſeliger Vater! Das war wieder ein Tag und Streich, bei dem wir Beide ihn mit Thränen von Neuem vermiſſen. Großer Gott, Velten, wen haben wir denn jetzt, der uns ſagen37 könnte, was aus Dir, Du Strick, noch mal werden ſoll? “
„ 0h heaven, und mein Mann! “ächzte Miſtreß Trotzendorff; doch da zuckte die Doktorin Andres nur die Achſeln und meinte ablehnend:
„ Die Hauptſache iſt jetzt Hartleben mit ſeiner Drohung für Dich, Agathe. “
„ Der Grobian! Der unverſchämte Menſch! “wimmerte die Exmillionärin vom New Yorker Breiten Weg. „ O, wenn doch mein Mann hier wäre. “
„ Nun, nun, “meinte Veltens Mutter, „ der würde uns wohl nicht viel helfen. Jawohl, grob war er, der gute Nachbar, und Recht hätte er eigentlich wohl, Ernſt zu machen, und Dich mit Deinem armen Würmchen auf die Gaſſe zu ſetzen. Velten, Velten, was habt ihr angerichtet. “
„ Puh, “rief aber jetzt Andres der jüngere, die umwickelten Hände erhebend und wie ein kranker Affe grinſend, „ da iſt doch mein Vater noch! “
„ Dein Vater? Dein armer ſeliger Vater? “ſtammelte Frau Amalie.
„ Hat der etwa nicht dem Nachbar Hartleben und ſeiner Frau und ſeiner Schwiegermutter ein halb Dutzend Mal das Leben gerettet? Hat er ihn nicht wieder zurecht gebracht, als das Wagenrad über ihn weggegangen war? Und hat Hartleben Dir nicht38 geſchworen, Mutter, Du ſollteſt nicht bloß Deinetwegen ſondern auch wegen meines Vaters zu jeder Stunde bei Tage und bei Nacht bei ihm anklopfen, wenn Du was von ihm brauchteſt? Und hat er Dir nicht zuge¬ ſchworen, wenn er Dich nöthig hätte, käme er auch zu
Dir und Du ſollteſt immer das letzte und beſte Wort bei ihm haben und dafür bedankt ſein? “
„ Man muß die Güte der Menſchen aber auch nicht zu ſehr in Anſpruch nehmen, Kind, “lächelte die Nachbarin Andres trotz aller Aufregung und Sorge des Tages.
„ Soll das etwa wieder ein Stich auf mich ſein, Amalie? “fragte die Nachbarin Trotzendorff, ihr Taſchentuch in Bereitſchaft ſetzend und im Begriff, ihren fragbedenklichen Lebensjammer der Schlechtig¬ keit und Bosheit der Welt überhaupt und alſo auch der Mutter Veltens aufzuladen.
„ Da kommt Herr Hartleben und bringt Lenchen. “ Ich war's, der vom Fenſter her dieſes erlöſende Wort in dieſe „ Geſellſchaft am Krankenlager “warf, und es war der Kranke, der aufſprang und gegen die Thür lief und zwar mit den Worten:
„ Was ſchreit es denn ſo? ... Wenn Herr Hartleben ihm — “
Er kam nicht zum Schluß ſeiner Rede. Hart¬ leben hatte „ ihm “, das heißt dieſer anderen jungen39 Sünderin nicht ihren Lohn dahin aufgezahlt, wohin er von Rechts wegen gehörte, er zog nur die „ wider¬ borſtige Range “am Arm hinter ſich her durch den Garten, und trat mit ihr ins Haus und in die Stube und ſagte, ohne ſich um ſeine Madame Trotzen¬ dorff im geringſten zu kümmern:
„ Sehen Sie doch mal nach, Frau Doktern. Ich meine ſie hat auch eine häßliche Brandwunde am Ellbogen. Ich habe ſie oben am Oſterberge mit dem Geſicht im Graſe und mit dem Arm im feuchten kühlen Erdboden und Mooſe begraben gefunden. Ich war wegen einer Holzabfuhr da oben, und bin dem verbiſſenen Geſchluchze ſeitwärts in den Buſch nachgegangen. Iſt das eine Komödie! iſt das eine Schwefelbande! Na, nu fangen Sie nur nicht auch an zu ſchluchzen, Madame — Miſtreß Trotzendorff. Lieber Gott, Frau Doktern, und nun fangen auch Sie noch an, den alten Hartleben wehleidig anzuſehen! Ja, das iſt recht, ſehen Sie erſt nach dem Kinde. Nicht wahr eine arge Brandblaſe. Und damit in den Wald laufen, ſoweit als möglich von den Menſchen weg. Je ärger der Schmerz, deſto dickköpfiger die Verſtockung, der Trotz und Eigenſinn. Na, na, die Beiden paſſen zuſammen, Frau Doktern, Ihr Junge und dies kurioſe Geſchöpfe, unſer Lenchen Trotzendorff. Ich ſage nichts, aber wenn dieſe Zwei ſich durch die40 Jahre und in der Nachbarſchaft noch näher anein¬ ander heranſpielen, ſo giebt das mal 'nen Haushalt mit Mord und Todſchlag. “
„ Ich bin nicht trotzig! ich bin nicht eigenſinnig! Ich ging nur auf den Oſterberg hinauf, weil Velten wieder Alles allein für ſich haben wollte und den Großartigen ſpielen. Mir that es ſo weh, mir that es weher als wie ihm. Karlchen weiß es, wie er iſt, und ich will mich nicht von euch Allen eine Heultrine ſchimpfen laſſen! “weinte, ſchluchzte unter wahrem Thränenſtrome Helene Trotzendorff jetzt unter den Händen der beiden Mütter. Das heißt, eigentlich nur unter den Händen der Nachbarin Andres, denn die Nachbarin Trotzendorff konnte Verwundungen nicht gut anſehen, geſchweige denn hilfebringend feſt und kräftig anrühren.
Das Kind ſtand große Schmerzen aus; aber es behielt während des Verbandes den Unheilskameraden im Auge und rief mit dem Fuße aufſtampfend: „ Ja, gucke nur. Bilde Dir nur nichts drauf ein, dummer Junge, daß Du ein Junge biſt. Und wenn uns Herr Hartleben jetzt Deiner Dummheit wegen aus dem Hauſe wirft, ſo will ich auch allein ſchuld daran ſein und gehe wieder in die Welt und nach Amerika und ſuche meinen Papa. Nicht wahr, Ma, und wenn wir den gefunden haben, dann können wir wieder auf den41 Vogelſang aus unſerer eigenen Kutſche herunter¬ ſehen? “
„ Nun höre Einer! höre ſie Einer! “brummte Hartleben. „ Und was ſchwatzt der kleine Racker von mir und was ich thun werde oder nicht? Aber da ſie denn einmal die Rede auf die Sache gebracht hat, ſo wollen wir auch bei ihr bleiben. Frau Doktern, was Hartlebens Anweſen angeht, ſo wiſſen Sie, wie Sie dazu ſtehen — Sie im Vogelſang! Und alſo auch zu dem Wohnungskündigen und dergleichen. Alſo wenn es Madame Trotzendorff nicht mehr bei mir — aber eigentlich bei Ihnen nicht mehr gefällt, ſo muß ſie das mit Ihnen ausmachen. Von wegen meiner iſt ſie ſicher. Wir zu unſerer Zeit waren ja eben auch Kinder und Jungen im Vogelſang und haben ihn oft unſicher genug gemacht. Was mich aber nicht abhält, dem Haupträuberhauptmann, dem Musjeh Velten da ein bißchen anzurathen, ſich doch manchmal ein warnendes Beiſpiel an ſeinem Freunde Karlchen hier, dem Karl Krumhardt zu nehmen. Wenn ein Skandalmacher im Vogelſang exiſtirt, dem ich noch nicht mit einer Tracht Prügel habe drohen oder aufwarten müſſen, ſo iſt er das. Alſo grüße Du Deinen Herrn Vater, Karl, und mache ihm fernerhin alle Freude. Miſtreß — Madame Trotzen¬ dorff: Hartleben kann wohl grob, ſackgrob werden,42 wenn er das Recht dazu hat; aber ein Unmenſch iſt er nicht und wo er ſieht, daß weder Hart - noch Sanft - Dreinreden hilft, da weiß er ſich auch zu beſcheiden — vorzüglich bei den Damens. Alſo empfehle ich mich und, liebe Frau Trotzendorff, wenn unſere Frau Doktern Ihrem Wurm für dieſe Nacht ein Lager da auf ihrem Sofa machen würde, wie ſie's auch mal meinem kleinen ſeligen Hans gethan hat, ſo hielte ich das für das Beſte. Das Kind wird doch wohl dieſe Nacht durch ein bißchen unruhig ſein und Pflege verlangen und Sie, liebe Madame, recht ſtören. Habe ich ſchon wieder zu viel geſagt? na, denn guten Abend rundum. Zwiſchen uns Beiden bleibt Alles wie es iſt, Frau Doktern. “
Er war gegangen, und Lenchen Trotzendorff bekam ihr Lager für dieſe Nacht und manche folgende im Andresſchen Hauſe, dem rechten Nachbar¬ hauſe.
„ Ich bin Dir ſo dankbar, Amalie, aber meine unglückſeligen Nerven! Und dann biſt Du ja auch eine Doktorsfrau und ſelbſt eine halbe Ärztin, Du liebe, liebe Seele, “wimmerte die Nachbarin Agathe.
43Ich habe dem Nachbar Hartleben Raum zu ſeinen Eräußerungen gegeben. Es lag mir daran, dieſen guten Mann aus der Erinnerung mir hinzumalen, wie er war und ſich gab zum Beſten ſeiner Nachbar¬ ſchaft. Have pia anima! ſanft ruhe ſeine Aſche: er hat's auch um den Ritter mehrerer Orden, Dr. jur. Oberregierungsrath Krumhardt verdient, daß der ihn ſeinen Nachkommen nach den Akten, wenn auch nicht aktenmäßig aufbewahre als ein Zeichen, wie es vordem zuging im Vogelſang. Sein ſchmeichelhaftes Wort über mich auf dem vorigen Manuſkriptblatt kommt hierbei wahrlich nicht in Betracht, ſondern vielmehr ein vollkommenes Gegentheil davon. Es half ſehr, wenn der Nachbar Hartleben ſeine Meinung über den Sohn meines Vaters dahin abgab:
„ Bengel, wenn ich Du wäre, ſo hätte ich geſtern doch nicht mit den Händen in den Hoſentaſchen dabeigeſtanden und die Anderen allein es ausfechten laſſen. “
Ich war dann wirklich das nächſte Mal nach beſten Kräften mehr mit dabei. Gewöhnlich litten dann aber leider nicht nur die Jacken, Hoſen, Naſen und Augen, ſondern auch die Gefühle der Eltern ſehr unter dieſer Beſſerung in Nachbar Hartlebens Sinne. Die „ Frau Doktern “hatte dann nicht nur mit einem Waſchnapf für die blutende Naſe, einer44 Kompreſſe für das geſchwollene Sehorgan, ſondern auch noch mehr mit ſanftüberredender Bitte im Nachbarhauſe „ einzuſpringen “, wie Velten ſich aus¬ drückte.
„ Meiner iſt natürlich der Hauptſünder geweſen. Sagen Sie es ihm nur ja recht ordentlich, Herr Nachbar! “—
Mein wackerer, braver Vater! meine gute ſorgen¬ volle Mutter! ſie hatten wahrlich ihre täglichen und nächtlichen Nöthe im Vogelſang. Leider aber tröſtet und erquickt den Menſchen auf ſeinem Erdengange auch die ſicherſte Gewißheit, daß er Recht habe, oder es jedenfalls bekommen werde, wenig. Meine Eltern hatten vollkommen Recht, und wußten das auch, aber Genuß zogen ſie kaum aus ihrem Wiſſen. Dieſes konnte ſie nur darin beſtärken, ihr eigen Fleiſch und Blut möglichſt auf dem richtigen Wege zu erhalten, auf daß und damit die Welt beſtehe und ordnungs¬ gemäß an nachfolgende Geſchlechter weitergegeben werde. Nach beſten, treueſten, ſorglichſten Kräften haben ſie ſo an mir gethan, und — gottlob, ich weiß, daß meine Frau und meine Kinder mit ihren Er¬ ziehungsreſultaten zufrieden ſind. Sie ſehen alle mit Reſpekt zu dem alten Herrn Rath, dem „ Großpapa “, über meinem Schreibtiſche auf, und meine Frau ſagt dann auch wohl lächelnd:
45„ Du, es iſt möglich, daß Du es nicht glaubſt; aber ich glaube, die Mama, Deine Mutter, ſetzte häufiger ihren Willen gegen ihn da auf dem Bilde durch, als ich den meinigen Dir gegenüber. Vor¬ züglich was die Kinder anbetrifft. “
„ Sie theilten ſich eben auch in die Verantwortlich¬ keit dafür gegenüber der Welt, mein Schatz. “—
Ja, ja, ſo redet man über den Schreibtiſch weg, am trauten Winterofen, in der Gartenlaube über die, ſo ihrer Arbeit für diesmal entledigt ſind, über die Gras wächſt und zu denen noch einige Zeit ihre Nächſten im Leben kommen, bis Straßenzüge, Eiſen¬ bahngeleiſe oder im beſten Falle der Ackerpflug über ſie weggehen, und ihre Stätte nicht mehr gefunden, doch auch nicht mehr geſucht wird.
Ja, über den Schreibtiſch weg ſehe ich heute (nicht mit leiblichen Augen) auf unſern alten Kirch¬ hof im Vogelſang, wo ſie den Rath und die Räthin Krumhardt, den Doktor und die Frau Doktern Andres und den Nachbar Hartleben ſo nachbarſchaftlich neben¬ einander gebettet haben, und wo wir, meine Kinder, mein Weib und ich, wo Velten Andres und Helene Trotzendorff nicht ihre Ruheſtätten bei ihren beſten Erziehern finden werden. Jetzt liegt auch er ſchon zwiſchen Backſteinmauern und Cement-Kunſthandwerk, der Friedhof des Vogelſangs; damals lag er noch46 vollſtändig im Grün, und eine lebendige Hecke ging um ihn her. Hohe Bäume überſchatteten ihn und die Vögel ſangen da noch — auch die Nachtigal zu ihrer Zeit, und hier war's, wo wir, wenn uns der Weg zum Walde hinauf zu ſonnig war, nicht Schiller und Goethe (die hingen uns von der Schule her aus dem Halſe, wie Velten ſich ausdrückte) ſondern Alexander Dumas den Vater laſen und mit ſeinen drei Musketieren, wie er, die Welt eroberten.
Und dann —
Und dann —
Und wenn ſich alle Schulmeiſter der Welt auf den Kopf ſtellen, oder vielmehr feſt hinſetzen aufs Katheder: ſie erobern die Welt zwiſchen dem ſechzehnten und zwanzigſten Lebensjahre doch nicht durch moraliſch, ethiſch und politiſch gereinigte Anthologien. Der „ Unſinn “, der Mondenſchein, der „ frivole Ungeſchmack “und die Nachtigal, der „ Blödſinn “, der Lindenduft, das ferne Wetterleuchten und die hübſche Jungfer47 Lorelei im lichten Sommerkleide im Mondlicht be¬ halten doch ihr Recht: der Spiegel behält ſein Recht; aber nicht die Rute dahinter ...
„ Das Gewitter ſcheint doch heraufzukommen, Velten! “ſage ich, während wir jetzt noch im Mondlicht neben einem Grabe ſtehen, auf dem eine einfache Steinplatte in Goldſchrift den Namen Valentin Andres, Doktor der Arzneikunde, nebſt Geburts - und Todes -, Jahres - und Tagesdatum trägt; und Velten Andres lacht:
„ Laß es kommen,
und das iſt wieder aus einem Poeten, den man um dieſe Lebenszeit ſehr gern citirt, wenn auch die Citate wie die Fauſt aufs Auge paſſen. Aus dem Ferdinand Freiligrath iſt's, der auch nicht von den Herren Lehrern zu den Klaſſikern gezählt wird, ſich ſelber nicht dazu zählte, und doch auf ungezählte Hunderttauſende, Millionen von Schuljungen von größerem Einfluß iſt als der Dichter des Egmont, der Iphigenie und des Torquato Taſſo. —
Seinen Vater kennt Velten eigentlich nur aus den Erzählungen ſeiner Mutter.
„ Nur der Mutter und meinetwegen hat er ſich was aus dem Sterben gemacht, für ſich ſelber nichts, “48ſagte der Sohn ſeines Vaters. „ Kommt dieſer Sofa¬ held uns hier auf dem Kirchhofe mit ſeinem dummen Gewitter! Geh Du dreiſt nach Haus und hol Dir einen Regenſchirm, wenn Deine Alten Dich wieder loslaſſen; Miß und ich bleiben hier, bis wir naß ſind bis auf die Knochen. Famos, da verkriecht ſich die holde Luna und da haben wir die Proſtemahlzeit, wie ſie in Schödlers Buch der Natur ſteht. Komm raſch nach Hauſe, Lenchen! Deine Alte kenn ich, die wird ja rein verrückt beim leiſeſten Donner, und auf meine Alte und mich wird's natürlich allein ab¬ geladen, wenn Du morgen mit einer Schnupfennaſe herumläufſt. “
„ Lächerlich machen laſſe ich mich nicht, “ſagt Helene und ſetzt ſich auf einen halbverſunkenen Grab¬ ſtein neben dem des Doktors Andres. „ Ich bleibe hier, wie Du geſagt haſt! Aber auch allein. Bilde Dir ja nicht ein, Du Schafskopf, daß Du morgen mit mir renommiren willſt. Karlchen, nimm ihn auf den Arm und trag ihn zu ſeiner Mama. Ja, ich bleibe hier und denke an meinen Vater; — was kümmern mich eure Todten und dummen Gewitter? In Amerika kommt das ganz anders, und kommt mein Vater, um uns wieder zu ſich zu holen, ſo — o Himmel, Velten! “
Sie hatte trotz ihrer ſtolzen Worte doch einen49 kleinen Schrei ausgeſtoßen, ob des erſten, grellen Leuchtens und raſch nachfolgenden Krachs aus der Höhe. Sie duckte ſich auch vor dem Platzregen, aber ſie biß die Zähne zuſammen und blieb auf ihrem Sitze.
„ Jetzt ſei keine Närrin, Lenchen. Komm mit nach Hauſe. “
„ Nein. “
„ Thu es Karls wegen. Der arme Teufel beſieht Redensarten, an denen er wochenlang zu kauen hat, wenn er mit verdorbenem Sonntagsſtaat heim kommt. “
„ Er kann ja laufen. Ihr könnt meinetwegen Beide laufen; ich finde meinen Weg ſchon allein. Ich denke an meinen Vater in Amerika und brauche keinen andern hier. Meine Mutter ſagt, wenn er kommt, iſt er reicher und vornehmer und ſtärker als Alle hier. “
„ Es iſt wahrhaftig Hagel dabei, und die Sache wird ungemüthlich, Karl, “brummt Velten. „ Na, bei ſchönem Wetter habe ich nichts dagegen, daß Du die Märchenprinzeß herausbeißeſt, Miß Ellen; jetzt hör auf mit Deinem Schnack; — und gehſt Du nicht willig, ſo brauch ich Gewalt, ſagt Goethe, und nun komm Herzchen —
W. Raabe. Die Akten des Vogelſangs. 450Der ſechzehnjährige Signor Petrucchio hat den Rock abgeriſſen und ihn dem ſein wildes, phantaſtiſches Köpfchen mit beiden Armen gegen den niederraſſelnden Hagel - und Platzregenſturm ſchützenden Kinde über¬ geworfen, das nur ſchwach widerſtrebende aufgegriffen und zwar mit dem ferneren Citat aus dem Sekun¬ daner-Klaſſikerthum:
fügt aber hinzu: „ Eigentlich iſt's umgekehrt: die Kröte hat das Wort. Ja, zapple nur, Kröte, kleine Rieſenkröte! Dieſen Abend ſind mir noch in Deutſchland, und Deiner Mama Vereinigte Staaten von Nord¬ amerika und ſonſtigen Herrlichkeiten können mir — kommen. “
Wie Helene und Velten von den Müttern empfangen werden, habe ich nicht in den Akten; was mich ſelber betrifft, ſo wird mein Vater wohl geſagt haben:
„ Endlich könnten dieſe Dummheiten wohl auf¬ hören. Allotria auf dem Kirchhofe! Und übrigens ſcheinſt Du mir auch ſeit längerer Zeit ſchon Dich einer recht überflüſſigen, wenn nicht ſchädlichen Leſerei51 zu ergeben. Bleib 'bei Deinen wirklichen Büchern und meinetwegen auch älteren Poeten; aber laß mir dieſe dummen Romane und ſogenannten neueren Dichter aus dem Hauſe, mein Sohn. Nebenan da zur Vernunft zu reden, hilft ja nichts; da laß ich den Narreteien allmählich ihren Weg; aber hier in meinen vier Pfählen bleibt Verſtand Verſtand, Sinn Sinn, Unſinn Unſinn und Schund Schund. Was iſt Deine Meinung, Adolfine? “
„ Bis auf die Knochen muß der Junge durchweicht ſein. Eine wahre Überſchwemmung hat er mir in die Stube mitgebracht. Gott ſei Dank, Kind, daß Du wenigſtens mit heiler Haut wieder da biſt. Mir beben noch die Glieder — das ſieht ſchön aus im Garten nach dem Hagel und Gewitter. Geh jetzt hin und zieh Dir was Trockenes an und vor allen Dingen Pantoffeln. “
Habe ich mir ſo ſehr Pantoffeln und ſo ſehr „ was Trockenes “nach dem Rath meiner armen, guten Mutter angezogen, daß man es mit Mißbehagen aus dieſen Blättern mir anmerkt?
Ich glaube nicht.
4*52Was erzieht Alles an dem Menſchen! Und wie werden mit allen anderen Hoffnungen und Be¬ fürchtungen Eltern-Sorgen und - Glücksträume zu nichte und erweiſen ſich als überflüſſig oder beſſer, als mehr oder weniger angenehmer Zeitvertreib im Erdendaſein!
Als ein wohlgerathener Sohn, als ein älterer verſtändiger Mann, als wohlgeſtellter Familienvater, als „ angeſehener “, höherer Staatsbeamter erzähle ich heute weiter vom Vogelſang, und theile zuerſt mit, daß mir, wenn nicht die beſten Lateiner und Griechen auf unſerm illuſtren Gymnaſium, ſo doch die beſten Engländer waren. Der für dieſen Unterrichtszweig vom Staate beſoldete Oberlehrer und Doktor war, obgleich er ein ganzes halbes Jahr „ in London geweſen war “, durchaus nicht ſchuld daran. Wir hatten das einzig und allein dieſer „ kleinen amerikaniſchen Krabbe “zu verdanken, die zuerſt uns in den Vogelſang die ver¬ blüffende Offenbarung brachte, daß allerhand nichts¬ nutzige Sprachen nicht nur todt zu unſerm Elend in den Grammatiken und in Büchern ſtänden, ſondern wirklich und wahrhaftig lebendig ſeien und bei aller¬ hand Völkerſchaften außerhalb des deutſchen Vater¬ landes tagtäglich im Gebrauch und um uns im Vogelſang zu „ imponiren “.
„ Imponiren laſſe ich mir nicht. Schlage mal53 auf im Lexikon: nasty, “ſagte Velten, lange vor unſeren Sekundaner-Mondſchein - und - Gewitter - Abenden mit Heine, Geibel und Uhland in der Taſche und im Hirn und Herzen. „ Boy heißt Junge, Bengel oder dergleichen, das weiß ich; aber Nasty boy hat das Balg zu mir geſagt und die Zunge herausgeſteckt. Gieb mir das Buch, wenn Du es nicht finden kannſt. “
Er riß mir das Lexikon aus den Händen, fand das Wort, und — von da an bis zu Shakeſpeare, Byron und dem übrigen Groß und Klein iſt wieder einmal nur ein Schritt geweſen.
Als wir Primaner geworden waren, hatte Miß Ellen Trotzendorff ſich zu einem allerliebſten, naſe¬ weiſen, eigenſinnigen deutſchen Backfiſch herausge¬ wachſen, aber ihr Engliſch oder Amerikaniſch ſo ziemlich vergeſſen: wir aber konnten es. Velten ausgezeichnet, ich mittelmäßig, doch auch vollkommen genügend für ein rühmliches Schulabgangszeugniß in dieſer Hinſicht. Miſtreß Trotzendorff, die mit ein paar angelernten Phraſen von New York herübergekommen war, blieb bei denſelben: übrigens wuchs ſie ſich, wie der Vogelſang ſagte, im Laufe der Jahre allgemach aus einer armen Perſon, die für ihre Kümmerniſſe nichts konnte, zu einer kompletten Närrin heraus. Und obgleich ſie auch dafür eigentlich nichts konnte, ſo54 ließ der Vogelſang hier doch keine Entſchuldigung gelten, ausgenommen die Nachbarin Andres, die mit¬ leidig und geduldig bei dem Wort blieb:
„ Die arme Agathe! “—
Jawohl, wir hatten Alle unſere Noth mit der „ armen Agathe “; Jeder auf ſeine Weiſe. In der beſten die Frau Doktor Andres, in der ſchlimmſten des wirklich armen Weibes eigenes Kind. Was für eine Närrin wäre das geworden, wenn nicht der Vogelſang in allen ſeinen Nuancen, Schattirungen und Abſchattirungen um es herum geweſen wäre? Welche Bilder und Gedanken ſteigen mir da auf, wie ich wieder den Brief in die Hand nehme, den mir Helene Trotzendorff, verehlichte Mungo aus Berlin geſchrieben hat, und der mich dazu gebracht hat, dieſe Blätter mit meinen Lebenserinnerungen zu füllen!
Während mir, Velten und ich, wie letzterer ſich ausdrückte, unſern Stiefel fortgingen, wuchs unſere Kleine auf wie eine gebannte, verzauberte Prinzeſſin aus dem Märchenbuch der Brüder Grimm. Sie war klug und ſchön und wurde immer klüger und immer ſchöner; aber ſie hatte in Lumpen zu gehen, im wilden Walde im bloßen Hemde zu irren, auf bloßen Füßen Waſſer zu holen für die Küche und die goldenen Haare auf der Heide als Gänſemädchen55 zu ſtrählen. Und leider war ſie in ihrer Verzauberung im Vogelſang nicht ſo geduldig wie die ins Elend gerathene Königstochter der lieben Sage. In den Bäumen am Oſterberge ſaß ſie wohl auch dann und wann auf einem bequemen Zweig als Allerleirauh; aber „ die Haare ſehr nach innen “, wie wiederum Velten ſich zierlich und bezeichnend ausdrückte. Wer ſie zu Thränen der Reue, Rührung und Ergebung bringen wollte, mußte das fein anfangen, und gelang es eigentlich nur der Nachbarin Andres: Thränen der Wuth und Bosheit ihr zu entlocken, war recht leicht, und dieſen „ Spaß “machte ſich Velten Andres, der Sohn ſeiner Mutter, nur zu häufig. Was Helene Trotzendorff Gutes aus dem Vogelſang in ihres Vaters Königreich ſpäter mitgenommen hat, hat ſie zum größten Theil doch nur den Beiden zu danken gehabt. —
„ Nun höre ſie Einer da drüben, “ſagte um dieſe Lebenszeit mein Vater, in unſerer Gartenlaube beim Sonntagsnachmittagskaffee von der Zeitung aufſehend. „ Da liegen ſie ſich wieder bei der Doktorin in den Haaren — einerlei ob es Spaß oder Ernſt iſt; die Paſſanten bleiben ſtehen und die Nachbarſchaft legt ſich in die Fenſter und hat ihren Grund dazu. Und die Amalie lacht dazu! Endlich könnte ſie doch be¬ denken, daß ſie keine Kinder mehr ſind. Junge, Junge, wenn ich Dich nur erſt glücklich auf der56 Univerſität habe! Sieh doch mal über die Hecke, Frau, und frage Deine Amalie, was ſie nun wieder vorhaben. — Der Lärm iſt ja unerträglich. “
Jawohl, der Lärm war unerträglich, vorzüglich für mich, der trotz ſeiner beſſern Erziehung und Be¬ aufſichtigung, oder gerade wegen derſelben, ſo gern mit dabei geweſen wäre; aber —
„ Was habt ihr denn, Kinder? “fragte, ihr Strickzeug niederlegend, meine Mutter über den nachbarlichen Zaun, und — da ſind ſie ſchon mit hochrothen Köpfen, Fräulein Ellen und Velten Andres, und hinter ihnen erſcheinen die Mütter, Miſtreß Trotzendorff in Thränen — und die Frau Doktern ſagt über deren Schulter weg mit ihrem Lächeln:
„ Ja, es war die höchſte Zeit, daß von hier aus mal wieder eingeſchritten wurde. Jetzt reden Sie Vernunft, Nachbar Krumhardt; ich bin mit der meinigen vollſtändig zu Ende. “
Es war am Tage vorher eine Hundertdollar¬ note aus Nordamerika im Vogelſang angelangt, und Mrs. A. Trotzendorff hatte, ohne alte Schulden in der Nachbarſchaft abzutragen, ſofort an dieſem Sonntag¬ nachmittag ihre Vernunft walten laſſen, das Wort genommen und es behalten trotz Veltens naſeweiſen unverſchämten Einredens, trotz der Frau Amalie57 abwehrenden Kopfſchüttelns und Lächelns, ja auch trotz ihres Lachens.
Sie hatte ein gar liebes, doch auch vielbe¬ deutendes Lachen an ſich durch ihr ganzes Leben, die Frau Doktorin Amalie Andres; aber es wirkte auch am heutigen Tage ſo wenig auf Deutſch-Amerika wie meines braven Vaters nüchterne, ehrliche Ernſt¬ haftigkeit.
Die neunte Woge iſt ja wohl im Auf und Nieder des Meeres die Woge der Götter und des Glückes, und wenn das auf den Waſſern mit Hilfe des Windes wirklich der Fall iſt, weshalb ſollte da nicht auch im Auf und Nieder des Menſchenlebens ſolch 'eine neunte Woge den muthigen Schwimmer zur Höhe heben? Nach den dann und wann aus den Vereinigten Staaten im Vogelſang einlaufen¬ den Briefen hob ſich Mr. Charles Trotzendorff mindeſtens wieder auf der ſiebenten, wenn nicht gar achten Welle: „ Daß er die armen Seelen, ſeine Närrin von Frau und das Kind nicht ganz abge¬ ſchüttelt hat und für ſie verſchollen iſt, iſt mir frei¬ lich ein Wunder; aber ein Schwindler war er, und ein Schwindler bleibt er, und was an ſeinen Rimeſſen hängen mag, das möchte ich auch nicht Alles auf meinem Gewiſſen haben, “ſagte mein Vater. Doch:
„ O, lieber Krumhardt, beſter Nachbar, “ruft58 jetzt die Frau Nachbarin Agathe. „ O, mein Charles! mein armer herrlicher Charles! mein Einziger! Ich weiß das ja nur zu gut, wie ihr hier über ihn denkt. Glaubt ihr, ihr hättet es mir dieſe langen ſchreck¬ lichen Jahre durch nicht merken laſſen? Wenn auch nicht durch Worte, doch auf jede mögliche andere Weiſe! Und nun ſchreibt er: wir könnten anfangen, die Fühlhörner wieder aus dem Schneckenhauſe zu ſtecken, er thue es auch. Elly, die Schneiderin kommt doch übermorgen gewiß? O Gott und wenn ich dann mit meinem vollen Herzen zu euch komme, ſo ſitzt ihr da und zieht Geſichter in mein Glück; der Eine auf die eine Weiſe, der Andere auf die andere. Ich bin ja ganz gewiß dankbar und weiß, wie ſehr ich euch für ſo manche Güte verpflichtet bin; aber ich weiß auch, daß Charles ganz gewiß ſeine und meine Schuld bei euch abtragen wird. Dem Himmel ſei Dank, daß ich mir und meinem armen Kinde bald nicht mehr jeden armſeligen Fetzen auf dem Leibe nachrechnen laſſen muß! Und, Amalie, Hartleben will ich ja auch fürs erſte noch nicht mein entſetzliches Unterkommen bei ihm kündigen und mich nach einer anſtändigeren Wohnung in der Stadt um¬ ſehen. Fragt doch nur Ellen, ob wir nicht ganz genau wiſſen, was wir an dem Vogelſang haben, wenigſtens bis jetzt gehabt haben. Nur noch eine59 kurze Zeit abwarten ſchreibt er ja, gottlob, alſo, bitte, habt auch ihr gütigſt nur noch eine kleine Weile Geduld mit uns! Ihr ſollt uns ja auch drüben ſpäter willkommen ſein, und das ſage ich beſonders Dir, lieber Velten. Jawohl, Dir! Schneide Du nur Deine Geſichter und zupfe Ellen am Ärmel! Das Kind hat's ja leider Gottes hier in unſerem Hunger und Kummer vergeſſen, in was für eine andere Welt es hineingehört von Vater und Mutter wegen. Beſter Krumhardt, in dieſer Hinſicht werden Sie ganz auf meiner Seite ſtehen, wenn ich unſerer guten Amalie jetzt ganz offen ſage, daß der junge Mann, ihr Sohn, unſer guter Velten, nicht von dem beſten Einfluß auf — ich will mal ſagen, ſeine Um¬ gebung iſt. Mit bloßem Geſichterziehen und ſpitzigen lächerlichen Anmerkungen und allem übrigen von der Art kommt man nicht durch die Welt, lieber Velten, und beſuchſt Du uns ſpäter wirklich vielleicht einmal auf dem Broadway, ſo werden Dir mein herrlicher Gatte, Ellens Pa — und die große Welt ſelber Dir das noch etwas klarer machen, als ich es könnte und — hier Luſt dazu hätte. “
Dieſer Sommer-Sonntagnachmittag, der eigentlich ganz gemüthlich und vogelſangmäßig angefangen hatte, ging wieder einmal recht unbehaglich zu Ende. Die Nachbarin Trotzendorff irrte ſich doch ſehr, wenn ſie60 meinte, meinen Vater durch ihre unvermuthete Hin¬ weiſung und den Angriff auf den armen guten Velten ganz für ihre ſonſtigen Anſchauungen, ſowie überhaupt ihre Lebensanſchauung gewonnen zu haben. Es war dem ernſten würdigen Herrn Manches nicht recht an meinem beſten Freunde, aber eigentlich gar nichts an Miſtreß Agathe Trotzendorff und gar an Mr. Charles Trotzendorff.
Nun, was den Letzteren anbetraf, ſo genügte faſt immer eine wegſchleudernde Handbewegung und eine lang hingeblaſene Tabakswolke, um den vollkommen und für immer aus Raum, Zeit und Kauſalität für den Obergerichtsſekretär Krumhardt hinauszuweiſen.
Da er dazu aufgefordert worden iſt, ſo nimmt er das Wort, mein ſeliger Vater, und ſagt der Nachbarin Agathe ſeine Meinung, giebt ſie vor der geſammten Freundſchaft umher zu Protokoll. Ohne im geringſten wegen Injurien belangt werden zu können, erklärt er ſie für die albernſte, unzurechnungs¬ fähigſte Gans, die jemals dem Vogelſang durch ihr Gegacker und Geſchnatter die Harmonie geſtört habe. Wie er ſelbſt meinetwegen wohl ſeine Hoffnungen hat, aber ſich keine Illuſionen macht, ſo ſind ihm Illuſionen des Nebenmenſchen vollkommen unerfind¬ lich und alſo auch unbegreiflich. Obgleich er ſelber die mehr oder weniger ſpärlich aus Amerika ein¬61 laufenden Banknoten und Wechſel zu deutſchem Gelde zu machen hat, glaubt er doch im Grunde an ſie nie recht und hat immer das Gefühl, der trans¬ atlantiſche Telegraph ſei ihm bei dem Bankier mit dem einheimiſchen Staatsanwalt zuvorgekommen und zwar in lakedämoniſcher Kürze durch das eine Wort: Schwindel! Er iſt ein eifriger Zeitungsleſer und weiß, daß merkwürdige Sachen in der Welt[vor¬ kommen und] merkwürdige Leute ein kurioſes Glück haben, nicht bloß in den Vereinigten Staaten von Nordamerika, ſondern auch im deutſchen Vaterlande, aber an ſeinen alten Schulbankgenoſſen Charles Trotzendorff glaubt er weder im deutſchen Vaterlande noch in den Vereinigten Staaten von Nordamerika; Es giebt auch Illuſionen der Verneinung. Sie nehmen überhaupt wunderliche Formen und Farben an, unſere — Täuſchungen im Daſein auf dieſer Erde. —
Wie deutlich die verſtörte Gruppe in der Garten¬ laube mir heute noch vor Augen ſteht! Miſtreß Trotzendorff in kindiſchen Thränen, Helene in trotzigen; meine Mutter in verhaltenen, verlegenen, aber ganz und in Allem der „ Anſicht des Vaters “. Freund Velten mit einem zugekniffenen und einem nach Miß Ellen hinüberblinzelnden Auge und über¬ haupt einem Geſicht wie: „ Herr Gott, wozu Dein62 ſchönes Wetter und Deine angenehme Welt, wenn Keiner was damit anzufangen weiß? “— und die einzige auch jetzt dem Vogelſang vollkommen Ge¬ wachſene, „ unſere Amalie “, ſeine Mutter, Nachbar Hartlebens Frau Doktern — die Frau Doktorin Amalie Andres! —
Im Grunde iſt ſie doch die Einzige von Allen, vor der auch mein Vater Reſpekt hat und auf die er hört, wenn er das Wort genommen hat, und ſie es nach ihm nimmt, trotzdem er als „ Familienfreund “auch ihr gegenüber das Wort: „ Unzurechnungsfähiges Frauenzimmervolk “oft genug hinter den Zähnen brummt. Und ſie ſagt jetzt, „ ihr “Kind — nicht ihren „ dummen Jungen “, ſondern die „ arme Kleine von drüben überm Weg und überm Weltmeer “zu ſich heranziehend:
„ Lieber Nachbar Krumhardt, ich bitte! — Aber ihr Leutchen, was ſeid ihr für ein Volk! Wie ſoll ſich denn Unſereins hier durchfinden, wenn Jeder rundum Recht hat von ſeinem Standpunkt aus? Beſte Agathe, was hätte ich wohl und der arme Velten dieſe letzten, langen, traurigen Jahre ohne den ver¬ ſtändigen treuen Freund unſerer Familie, ohne unſern Familienfreund anfangen ſollen? Und wie undank¬ bar ſind wir oft geweſen! Wie oft haben wir es beſſer verſtehen wollen als er! Ja, Nachbar Krum¬63 hardt, das iſt nun eben Ihr Schickſal, daß Sie in eine ſolche Geſellſchaft von Phantaſiemenſchen geſetzt worden ſind und Geduld haben müſſen. Wie oft habe ich mir in ſchlafloſen Nächten vorgehalten: im Grunde biſt Du die Allerſchlimmſte, Amalie! Selbſt Agathe Trotzendorff fährt nicht ſo närriſch wie Du auf den Wolken und ihren Hirngeſpinſten über dem Vogel¬ ſang im blauen Himmel umher. Da habe ich denn wohl nach Entſchuldigungen geſucht, und die beſte nur auf unſerm Kirchhofe gefunden: Hätte der Liebe da, der dort unter ſeinem grünen Hügel liegt, Dich nicht ſo ſehr verzogen und mit ſich in die Höhe gezogen, ſo möchteſt Du ja auch wohl vernünftiger und ver¬ ſtändiger in den tagtäglichen Dingen und Angelegen¬ heiten ſein und Deinen Velten beſſer erziehen und dem Herrn Oberregierungsſekretär weniger Verdruß machen können. Sehen Sie, beſter Nachbar, und dieſe Entſchuldigung hat dann gerade das Gegentheil von meiner und Veltens Beſſerung bewirkt. Ich habe mir verhältnißmäßig glückliche Thränen abge¬ trocknet und bin doch mit beſſerem Gewiſſen auf meinem Kopfkiſſen eingeſchlafen als ich mich drauf hingelegt hatte. Und weil mir denn hier plötzlich ſo in eine allgemeine Beichte hineingerathen ſind, ſo kann ich nur ſagen, daß ich am anderen Tage nach jeder ſolchen Gewiſſensbißnacht ſtets die allermög¬64 lichſten und Ihnen verdrießlichſten Einwendungen gegen Sie hatte, beſter, theurer Freund — und wie geſagt, ſo haben Sie eben mit uns Geduld haben müſſen, dieſe letzten ſchweren Jahre durch, wo Sie unſere einzige treue, ſorgliche, männliche Stütze in der nahen Nachbarſchaft und der weiten Welt waren, Herr Nachbar. Sie ſchütteln den Kopf, weil ich hier ſo in den ſchönen Sonntagsabend hinein¬ ſchwatze und ich bin noch nicht fertig, ſondern komme jetzt auf Agathe. Ja, Nachbar, da ſehen Sie mich nur an: gegen die habe ich die nämliche vergebliche treue Familienfreundsrolle geſpielt, wie Sie gegen mich. Wie habe ich der, in Ihrem Sinne, Herr Nachbar, Vernunft geſprochen, ohne das Geringſte auszurichten. Eben noch, wie Sie ſelber von hier aus gehört haben. Und das Reſultat? Wie immer! Wie ich gegen Sie, Herr Regierungsſekretär: Halb Thränenfluth, halb zehn ausgeſpreizte arme wehrloſe dumme Weiberkrallen! Gerade ſo wie ich! Nur ein kleiner, ganz kleiner Unterſchied: ſie ſucht immer noch ein Glück, welches es doch nicht giebt; ich will nur aus angeborener Schwäche und Ängſtlichkeit mir manchmal nicht gern eine erträgliche Stunde ver¬ derben laſſen. O ja, auch deshalb wäre es für uns beide Frauen wohl beſſer, wenn ich meinen Velten von Hauſe wegſchickte, und ihr ihr liebes Kind auch65 genommen würde, um unter beſſere Zucht und ſtrengere Obhut zu kommen, als ſie, und ein bißchen auch ich, leiſten können. Aber ſie will ihre Helene für den lebenden Vater bei ſich aufbewahren, und ich frage mich bei Allem: was würde Valentin dazu ſagen? Was würde der todte Vater zu Dir und Deinem Velten ſagen? Und das nimmt mir auch gegen Agathe alle Waffen aus der Hand. Ja, ſchütteln Sie nur den Kopf, Nachbar; Sie haben vollkommen Recht: wir bedürfen eines Vormundes auch wo, oder beſonders wo, wie in unſerem Fall, unſere Kinder und unſere Männer für uns armen Weibsleute mit im Spiel ſind. Freilich iſt's kein dankbares Geſchäft, gerade da den Vor¬ mund ſpielen zu müſſen! Leider wiſſen Sie das auch mir gegenüber aus tauſendfacher Erfahrung Nachbar Krumhardt; alſo “— und ſo weiter und ſo weiter noch eine geraume Weile.
Aber mein Vater hielt ſich auch ſchon ſeit einer geraumen Weile den Kopf mit beiden Händen um nicht zu ſagen: mit beiden Händen die Ohren zu. Was ſie ſagen wollte, die Frau Doktorin Amalie Andres, wußte er wohl; jedoch wie ſie es heraus¬ brachte, das ging ihm doch über die Bäume, nicht nur ſeines Hausgartens, ſondern auch des ganzen Vogelſangs. Und noch dazu in Gegenwart derW. Raabe. Die Akten des Vogelſangs. 566Kinder — der Unmündigen — dieſes jungen Volkes, dem da eine ſaubere Heckenpredigt gehalten wurde, auf die es ſich freilich bei jeder nachfolgenden Lebens¬ thorheit und Nichtsnutzigkeit berufen konnte.
Man brauchte da nur den Schlingel, den Velten, anzuſehen, wie der, nach außen mit dem komödianten¬ hafteſten Armenſündergeſicht, nach innen hinein ſeine „ glorioſe Alte “herzte und küßte und den ernſten, treumeinenden Familienfreund zum Narren und für einen Narren hielt.
Und dann gar die verzogene Krabbe der ent¬ mündigungsreifen Amerikanerin aus dem Vogelſang! Dies junge Ding, das Hartleben heute mit der Peitſche aus ſeinem Lieblingsbirnenbaum herunterholen wollte, um ihm morgen den Korb mit der ganzen Ernte und einem Blumenſtrauß darauf perſönlich ins Dach¬ ſtübchen auf ſeinem Anweſen hinaufzutragen! Dieſe „ kleine Affe “, die einen ſelbſt in dieſen jungen Jahren zur Verzweiflung bringen konnte mit ihren angeborenen „ Allüren “und den aus allem, was nichtsnutzig im Leben war, zugelernten; gleich¬ viel ob es mütterliche Erziehung, Modenzeitung, Leihbibliothekslektüre oder Herumtreiberei mit allen jungen Taugenichtſen des Vogelſanges in Wald und Feld hieß!
Ich habe dieſen einen Sonntagnachmittag von67 vielen Hunderten ſeinesgleichen, und nicht bloß im Sommer, ſondern auch in jeder anderen Jahres¬ zeit, wenn nicht aktenmäßig, ſo doch aus den Akten ſo deutlich und farbenfriſch als möglich zu Papier gebracht. Es erübrigte mir alſo nur noch, auch zu ſchildern, wie mein Vater all das Seinige: Pfeife, Tabakskaſten, Zeitung, Amtsblatt an ſich nahm und immer als ein durch Weiberlärm, Dummheit, Gezeter betäubter, durch feuchte Taſchentücher und trockenſte Albernheit aus jedwedem Konzept gebrachter Familien¬ vater, Familienfreund und wohlmeinender Nachbar, im Sommer die Gartenlaube, im Winter die Familien¬ ſtube, hinter ſich ließ und ſich in ſein Reich, eine Treppe hoch, zurückzog und mich gewöhnlich mit ſich nahm. Ich verzichte drauf; aber ſeinen Griff verſpüre ich heute noch am Oberarm, wie ich mich in dieſem düſtern Wind - und Reifmond, mit Miſtreß Mungos Brief vor mir, in jene doch ſo unſchuldige, glück¬ ſelige, ſonnedurchleuchlete Zeit zurückdenke. Dann aber ſehe ich auch zu dem Bilde des alten Herrn über meinem Schreibtiſch unter einigen Gewiſſens¬ biſſen auf und — möchte das Nachgefühl ſeiner grimmigen, aber treuen Fauſt an meinem Arm wahrlich nicht miſſen; auch durch mein ganzes ferneres Leben.
5*68Und doch! Mit welchem Verdruß, Trotz und mehr oder weniger deutlichem Widerſtreben habe ich zu jenen Zeiten, da er noch mehr als eine Erinnerung war, jenen guten Griff erduldet! Und wie oft habe ich mich von ihm frei gemacht und bin mit den beiden Anderen durchgegangen im Vogelſange in den Vogelſang und auf den Oſterberg, aus der Niederung zu den Höhen, aus dem Alltag in den Sonntag, aus der griechiſchen und lateiniſchen Grammatik in die Tauſend und eine Nacht, aus Vegas Logarithmen, aus der Mathematik und Arithmetik in die wirkliche Idealität von Zeit und Raum, in das raum - und zeitloſe Jugendphantaſiereich von Velten Andres und Helene Trotzendorff!
Auf dem Oſterberge waren wir auch wieder alle drei zuſammen an jenem Abend, der auf den eben beſchriebenen ſtürmiſchen Familien - und Nachbar¬ ſchaftsſonntagnachmittag folgte. Die zwei Anderen, wie gewohnt, ihre eigenen Wege gehend, ich ver¬ ſtohlen etwas ſpäter einem verſtohlenen Wink und Zeichen Veltens folgend. Der Wald war ſelbſt damals ſchon dort oben von ziemlich wohlgehaltenen Pfaden durchſchnitten, wie man ſie heute in den Bädern als „ Promenadenwege “kennt. Hier und da hatte ſogar ſchon irgend ein Naturliebhaber und Wohlthäter der Menſchheit eine Bank aufgeſtellt, die69 meiſten in das Gehölz und Gebüſch hinein, doch eine oder zwei auch an den Rand des Hügels, mit dem Blick ins Thal und auf die liebe Heimathſtadt und hochfürſtliche Reſidenz, halb in dieſem Thale und halb im offenen Lande.
Auf dieſer Bank am Waldrande, im tiefſten Frieden der Natur, fand ich auch diesmal die beiden ärgſten Störenfriede des Vogelſangs, den Sünder in die eine Ecke gedrückt, die Sünderin in die andere, ſo daß in der Mitte vollkommen Raum für mich, den guten Freund, übrigblieb. Da Neumond im Kalender ſtand, ſo war der Abend ziemlich dunkel. Die vereinzelten Sterne oben zählten nicht; nur die Lichter der Stadt in der Tiefe und die Gaslaternen ihrer Straßen und Plätze gaben einen bemerkens¬ werten Schein. Im fürſtlichen Schloß ſchien „ irgend was los zu ſein “, denn das leuchtete ſogar ſehr hell in die warme Sommernacht hinein und zu dem Oſterberge empor. Im Walde war es ſtill; wildes Gethier, das nächtlicher Weile in ihm aufgewacht und ſich bemerkbar gemacht hätte, gab's nicht mehr drin; die Fledermäuſe, die ihre Kreiſe um uns zogen, zählten nicht; ihre weichen Fittiche ſtörten den Frieden der Natur nicht. Nur vom Bahnhof her dann und wann das Pfeifen und Ziſchen einer Lokomotive, und aus den drei Bier - und Konzertgärten der letzte70 Wiener Walzer, der Hochzeitsmarſch aus dem Tann¬ häuſer und der Hohenfriedberger harmoniſch in¬ einanderdudelnd und den Abendfrieden hier oben wenig ſtörend.
„ So! Da ſitzt ihr wieder! “
„ Jawohl; und Gott ſei Dank, frommer Sohn Karl, daß auch Du noch da biſt, Tugendbold! Keine fünf Minuten hätte ich es mit dem Mädchen da länger allein hier ausgehalten. So 'ne ganz ver¬ rückte Priſe! Iſt Der das Gezeter, Gezerr, Geplärr und Geplapper da unten zu Hauſe auf die Nerven gefallen! Jawohl, Dich brauchten wir gerade recht nothwendig, Krumhardt. Da ich mit meiner Mutter nicht gegen ſie ankomme, ſo rücke Du ihr noch einmal mit Deinem Herrn Vater auf den Leib und kratze Deinen eigenen Verſtandskaſten aus, um ihr Ver¬ nunft zu ſprechen. Da haben unſere Mütter — ich meine meine und ihre — eine ſaubere Pflanze gro߬ gezogen. Höre ſie nur, höre ſie nur, Krumhardt! Ja, leg nur los, Elly — Miß Ellen Trotzendorff: die Nachbarſchaft im Vogelſang iſt ganz Ohr! “
„ Wäre Deine Mutter nicht, Velten, ſo könnte ich Dich — könnte ich Dich — “
„ Erdroſſeln, erwürgen, vergiften, Dir jedenfalls mit beiden Krallen in die Haare fallen, und beide Fäuſte voll Skalp bergunter nach Hauſe rennen. 71Da, greif zu und zieh mir die Kopfhaut ab, Mamſell Squaw, und das übrige Fell meinetwegen mit. Mir liegt nichts dran. “
Es war die höchſte Zeit, daß ich mich zwiſchen ſie ſetzte, denn Helenchen war vollkommen bereit, von der Erlaubniß, die ihr da eben gegeben wurde, Gebrauch zu machen. Ihr beſter Kamerad im Vogel¬ ſang hatte ihr wirklich ſeinen Strubbelkopf zu be¬ liebigem Verfahren hingehalten; nun aber ſprang ſie doch nur auf von der Bank und ſtand vor uns am Rande des Oſterberges und ſtreckte uns die Fauſt zu und ſchnuckte und ſchluchzte zwiſchen den zuſammen¬ geklemmten Zähnen durch:
„ Und ich glaube doch an meinen Vater! Ihr mögt alle ſagen, was ihr wollt. Ihr könnt die Naſen verziehen und rümpfen, ihr könnt den Kopf ſchütteln und ihr könnt meiner Mama Sottiſen ſagen, wie ihr wollt: ich glaube ihr doch, meiner Mama! Ich glaube doch an meinen armen Vater, er mag ſein wie er will! Und was könnt ihr hier im Vogelſang von ihm wiſſen? Ich, die ich als bloßes Wickelkind hierhergebracht worden bin, weiß doch noch mehr von der wirklichen Welt als ihr alle — Deine Mutter ausgenommen, Velten. Aber die iſt auch eine Märchenkönigin — eine viel höhere als die da unten, die kleine Durchlaucht da in ihrem72 lächerlichen Reſidenzſchloß da unten! Das ſind ihre Fenſter — ſeht ihr, und ſo ſollen meine Spiegel¬ ſcheiben auch noch einmal leuchten, und noch viel heller! Deine Mutter braucht keine Kronleuchter über ſich und keine türkiſchen Teppiche, und wäre ſie meine Mutter und ich ihr Kind, ſo wollte ich auch nichts davon. Aber jetzt bin ich meines Vaters und meiner Mutter Kind und eine freie Republikanerin und Amerikanerin, und ich glaube an meinen Vater und werde auch meine Salons haben und Bediente, ſchwarze und weiße, Kammerfrauen und hohe Fenſter, Kronleuchter und Teppiche und Reitpferde und Wagen und Pferde und meine Loge im Theater und alles Andere! Ja, und nun geh nur hin, Velten, und ſage es Deiner Mutter, was ich geſagt habe und daß alle ihre Güte und Lehre an mich weggeworfen geweſen iſt; aber ſage ihr auch, daß ich ſo ſchreien muß, ich weiß nicht was, nur weil ihr Alle, Alle mich dazu getrieben habt, Jeder auf ſeine Art. Ach Gott, was bin ich für ein armes Mädchen und ſo unglücklich in der Welt! “...
Vor einem Jahre noch würde Velten Andres, kreiſchend vor Vergnügen ob dieſes „ himmliſchen Witzes “, dieſer „ ausgezeichneten Komödie “, ſich auf den Kopf vor der Bank auf dem Oſterberge geſtellt haben. Jetzt war dem ſchon nicht mehr ſo. Er73 lachte nicht mehr, ſprang nicht mehr auf, ſondern blieb ruhig auf ſeinem Platz auf unſerer Bank; aber faßte mich mit noch faſt ſchärferm Griffe, als mein Vater, am Arm und ſagte, auch zwiſchen den zu¬ ſammengebiſſenen Zähnen durch:
„ Nun höre ſie, Beſterzogener, Treueſtbehüteter, Verſtändigſter und Vernünftigſter unſerer ganzen Blaſe — ich meine nicht die herzogliche Reſidenz¬ ſtadt — da unten: was kann der Vogelſang, meine Mutter und Dein Vater, was — kann ich noch dazu thun, um in dieſem Mücken - dem - Nacht¬ ſchmetterlingshirnkaſten, Ordnung zu ſtiften? Alſo — vivat natürlich der Papa Trotzendorff mit allen ſeinen ſchönen Ausſichten für ſich, für Lenchen und unſere Allerſchönſte und Beſte, Lenchens Mama! Aber ungefangene Fiſche kann man nicht braten, ſagte ſchon der weiſe Kikero im vollen Senat zu meinem lieben Freunde Catilina; alſo — verrücktes Herze, an Deiner Stelle ſetzte ich mich doch fürs Erſte mal wieder ruhig da auf die Bank neben den braven Karl. Was? Du willſt nicht? Habe ich mich etwa heute noch nicht genug geärgert? Guck einer, wie der Mieze die Augen im Dunkeln leuchten! Was? Nun wohl am liebſten in den hieſigen Urwald hinein, oder kopfüber, kopfunter bergab nach Hart¬ lebens Anweſen und nach Hauſe? Na, denn meinet¬74 wegen nochmal die Hände aus den Hoſentaſchen! Da kann ich meine Pauke an Dich und die Welt auch ſtehend halten. Na, Wurm? “
Nun war er doch, nicht aufgeſprungen, ſondern langſam aufgeſtanden, und ſie duckte ſich wirklich vor ihm, ohne daß er ſie an den Schultern nieder¬ zudrücken brauchte, und nahm mit dem Worte: „ Hansnarr! “ihren Platz auf der Bank an meiner Seite wieder ein. Er aber ſtand und redete ſeiner¬ ſeits ſeinen Unſinn in den Sommerabend hinein, wie mein Vater ſich ganz gewiß ausgedrückt haben würde.
„ Recht hat ſie eigentlich, Krumhardt. Ein fideler Nachmittag war's und zwar ſehr auf ihre Koſten. Aber habe ich nicht mit ihr auf demſelben Roſt ge¬ legen, während die liebe Verwandtſchaft und gute Nachbarſchaft die Kohlen unter uns ſchürte. Um den zehnten Auguſt herum ſind wir auch. Da iſt wieder eine! Ihr habt doch für nichts Augen! Die Thränen des heiligen Laurentius, Krumhardt; wie Du aus der Schule beſſer wiſſen ſollteſt als ich! Selbſt der Himmel ſchnuppt ſich uns zuliebe. Noch eine! Wer ſoll denn da keine Wünſche haben, wenn ihm das ganze Firmament Gewährung winkt? Bloß aufpaſſen, Miez, daß der Wunſch mit dem Fallen der Sternſchnuppe ſtimmt: nachher iſt alles in Richtigkeit,75 als ob die Weltregierung, der Vogelſang mit, Hand und Siegel dazugegeben und Dein Vater, Krum¬ hardt, die Regiſtratur in der himmliſchen Kanzlei beſorgt hätte. “
„ Laß endlich mal meinen Vater aus dem Spiel, Andres! “
„ Warum denn? Sage ich denn etwa gegen den was? Gar nichts! Iſt er nicht etwa auch heute nachmittag wieder der Einzige geweſen, der ganz und gar Recht hatte und wußte, was er wollte? Da nehme ich ſelbſt meine Mutter nicht aus, denn ein Frauenzimmer bleibt doch auch die. Ja, Elly, das iſt eben unſer Jammer, daß wir Zwei doch nur von unſeren Müttern erzogen worden ſind. Wie die Flügelengel haben ſie uns unter beiden Armen und wollen uns mit in die Höhe nehmen; jede auf ihre Weiſe; und wenn Dein Vater, Krumhardt, es auf ſeine Weiſe mit Dir ebenſo machen will, und auch uns aus guter Nachbarſchaft gern an den Beinen auf dem richtigen Erdboden feſthalten möchte: wer hat was dagegen einzuwenden? Ich wahrhaftig nicht — noch dazu ſo nahe vor dem Abiturienten¬ examen ... da ſchnuppt ſich wieder einer! Na, was haſt Du Dir eben gedacht und gewünſcht, Karlchen? “
Ich konnte es nicht leugnen, mit dem Wort76 waren in demſelben Moment alle meine Gedanken und Wünſche bei dieſem Examen geweſen. —
„ Du kommſt durch! “lachte Velten. „ Mit Eins A natürlich! Selbſtverſtändlich erlebt nicht bloß Dein Vater, ſondern auch Deine Mutter dieſe Ehre an Dir. Aber nun Du, Mädchen, woran haſt Du ge¬ dacht und was haſt Du Dir gewünſcht, als dieſer Stern fiel? “
„ Ich habe ihn gar nicht geſehen. Aber das iſt auch einerlei. Für mich mögen ſo viele fallen als ſie wollen, ich wünſche wie immer nur eines: daß es für mich wieder ſo wird wie ich es drüben gehabt habe in Amerika als kleines Kind, ehe ich hier im Vogelſang ins Elend gebracht wurde; ehe meine Mama mit mir auf dem Arme zu euch hier im Vogelſang ins Elend kam. “
„ Du kriegſt Deinen Wunſch, — da fiel eine, “jauchzte Velten. „ Na, was ſagſt Du nun, Krum¬ hardt? ... Alſo nur weiter, Du verunglückter Paradiesvogel, verflogener Tropenengel, “brummte er dann. „ So? Das iſt alſo das Reſultat aus Deinen Studien im Hey und Spekter und bei Mutter Andres und ihrem Sohn Velten:
Was? ſchwarz ſollten wir uns hier auch wohl noch färben, der brave Karl Krumhardt und der böſe Velten Andres, um Dir Deine verfloſſenen Livreenigger ganz zu erſetzen? Und dabei ſoll Dein Vater nicht wüthend werden, Krumhardt, und meine Mutter noch immer ein und aus wiſſen in dieſem ihrem ſogenannten Kindergemüthe? Na, da möchte ich wahrhaftig, der Papa Trotzendorff hätte denn bald wirklich mal wieder das Glück, was er verdient, und käme erſter Kajüte und holte Dich vierſpännig, mit Allem, was an Dir hängt, wieder weg. Mir — wollte ich ſagen, Hartleben kam es ja einerlei ſein. Meiner Mutter — da ſchnuppt ſich wieder einer! “
Von Neuem iſt Helene Trotzendorff aufgeſprungen; jetzt aber bitterlich und zornig weinend. Sie ſchreit ihren beſten Freund aus der Nachbarſchaft faſt an, mit dem Fuße aufſtampfend:
„ Ich ſage Dir wie Karl: laß unſere Väter zufrieden! Was ich an Deiner Mutter gehabt habe in eurem Vogelſang und wie lieb und gut ſie iſt, das weiß ich wohl, und brauchſt Du mir wirklich nicht vorzurechnen. Und mit Deinen albernen Stern¬ ſchnuppen — ja was haſt Du Dir denn bei der letzten gedacht? Biſt Du beſſer und vernünftiger mit Deinen Wünſchen geweſen als ich? Dich kenne ich doch, Du Phantaſt! Jawohl, da hat der Herr78 Oberregierungsſekretär ganz Recht, wenn er Dich ſo nennt — wenn er Dich einen Phantaſten und Seiltänzer nennt und Dir prophezeit, daß Du noch mal den Hals brechen wirſt, einerlei, ob Du jetzt Dein Schulexamen beſtehſt oder nicht, einerlei, ob Du Schuſter, Schneider Miniſterexcellenz oder Alexander der Große werden willſt. Von Dir laſſe ich mir eure Wohlthaten im Vogelſang am allerwenigſten vorrücken. Da, da fiel wieder eine, und jetzt habe ich mir gedacht: O, wenn Du dem einmal zu Hauſe, das heißt drüben über dem Meer, bei uns zu Hauſe Alles vergelten könnteſt, was er und der Vogelſang, und ſeine liebe Mutter und Alle hier an uns gethan haben. “
„ Du, die fiel, ehe Du den Wunſch hatteſt! “ſagte Velten.
„ So? Dann wünſche Du Dir meinetwegen bei der nächſten Schnuppe was Du willſt, ich habe für heute mal wieder genug von euren hieſigen Dumm¬ heiten und gehe nach Hause. “
„ Den ſeligen Diogenes ſeine Tonne wünſche ich mir, “lachte Velten Andres. „ Den Heckpfennig, den Däumling und das Tellertuch der Rolands¬ knappen, den Knüppel aus dem Sack, das Vergnügen, Perſepolis in Brand zu ſtecken und ein friedliches Ende auf Salas y Gomez. Fallet, ihr Sterne und79 winket Gewährung! Übrigens habe auch ich für heute abend genug des Blödſinns. Alſo:
Sie machte eine Fauſt und holte wie zum Schlage aus, drückte ihm aber doch nur dieſe ge¬ ballte kleine Hand auf die Stirn:
„ Du biſt und bleibſt ein ganz alberner Peter, Velten. Komm, Karl; meinetwegen mag er ſich in ſeine Tonne ſtecken und ſich den Oſterberg allein herunterrollen — meinetwegen über eure ganze Stadt und den Vogelſang weg. “
„ Da fiel eine! “lachte Velten Andres. „ Der Wunſch gilt! “
Sie ſchlug die Hand weg, die er ihr doch bot; er aber zog ihren Arm doch unter den ſeinigen:
„ Nun aber im Ernſt, mach 'ein Ende mit dem Unſinn. Heute iſt der Wagen mit den ſilbernen Laternen für das gnädige Fräulein gottlob noch nicht vorgefahren, und das Gequik und Gezeter von neulich unter der Armenmannsbuche, wo Jemand erſt mit der lächerlichen Schleppe am Buſch hängen blieb, um ſodann über dem Wurzelwerk ſich auf die Naſe zu legen und nach ſeinem beſten Velten um Hilfe zu ſchreien, will ich nicht wieder haben. O80 Thränen des heiligen Laurentius, ſie werden uns da unten vor Schlafengehen noch einmal ſchön die Leviten leſen! Da freue ich mich ſchon auf meine Mutter. “
„ Deine Mutter iſt viel zu gut für Dich! “rief Miß Ellen, noch einmal mit dem Ärmel über die Augen fahrend, der letzten Zornesthränen wegen.
„ Jawohl, da haſt Du zum erſten Mal heute abend Recht, “ſagte Velten. „ Von der Scheußlichkeit der Menſchheit hat ſie nur ſehr dunkle Begriffe, und ich thue deshalb auch mein Möglichſtes, ihr nach und nach klarere beizubringen. “
So mußte er damals ſchon zu denken und zu reden; ein Herr in einem Reich, das leider auch nicht ſehr von dieſer Welt war. Ich habe es in den Akten, wenn auch nicht aktenmäßig. Ich habe dies Alles aus Ungeſchriebenem, Unprotokollirtem, Un¬ geſtempeltem und Ungeſiegeltem heraus und ſtehe für es ein. Ich muß es aber heute ſehr aus der Tiefe holen, daß damals auf dem Oſterberge, um den zehnten Auguſt jenes Jahres herum, wir Nachbar¬ kinder des Vogelſangs die Thränen des heiligen Laurentius ſo fallen ſahen und ihr leuchtendes81 Niedergleiten mit ſo wunderlichen Gedankenſpielen begleiteten.
Aktenmäßig kann ich es leider bezeugen, daß er, Velten Andres, wirklich beim Maturitätsexamen durchfiel und dem Vogelſang wieder mal eine der Enttäuſchungen und Genugthuungen bereitete, die er dem guten Ort, ſo lange er ſich dort aufhielt, immer von Neuem ſchuldig zu ſein glaubte.
„ Man kann ſeiner armen Mutter nicht einmal rathen, ihn gleich ganz hier zu behalten und einen Schuſter aus ihm zu machen, “ſagte mein Vater, mein „ Zeugniß der Reife “in der Hand. „ Unter den Komödianten wäre er vielleicht noch am beſten aufgehoben, der Windſack! Da haſt Du es, mein Sohn, wie es kommen mußte. Nun geh 'hin und höre Dir an, wie nebenan die Klagelieder Jeremiä lauten. O, ich hatte dort Vormund und nicht bloß Familienfreund ſein müſſen! “
„ Dann hätteſt Du doch wohl nur noch mehr Ärger davon gehabt, beſter Krumhardt, “ſagte meine Mutter, mit wohlberechtigter Genugthuung über unſern eigenen Familienſtolz mich in den Armen haltend. Für mich ſelbſt lag an dieſem Tage die Sache ſo, daß ich mich des glücklichen Anlangens an dieſem Ziel natürlich ſehr freute, jedoch des Behagens darob durchaus nicht vollkommen frohW. Raabe. Die Akten des Vogelſangs. 682war. Dazu war Velten doch ein zu guter Freund von mir und wußte ich zu genau, wie Vieles er beſſer wußte als ich, und wie es im Grunde doch nur die Mathematik geweſen war, die ihm das Bein geſtellt hatte. Konnte er, Velten, dafür, daß er nach ſeinem Ausdruck da ein leeres Loch im Gehirn hatte, wo das meinige nach innen vollgeſtopft war und nach außen hin den betreffenden Buckel ge¬ trieben hatte? Es iſt zwar eine Thorheit, aber wie oft griff ich ſpäter meinen Jungen nach den Köpfen und taſtete ſorgenvoll nach den Höckern und Gruben, die ihnen die Begabung zum ruhigen Wandel auf der breiten Straße der goldenen Mittelmäßigkeit ver¬ bürgen ſollten! Und am bedenklichſten dann, wenn meine Gattin einen außergewöhnlich offenen Kopf an einem der armen Kerle bemerkt haben wollte. —
Ich ging alſo vor dem Freund aus dem Vogelſang weg, um nach dem Wunſche oder Willen meines Vaters ſelbſtverſtändlich Jurisprudenz zu ſtudiren; und — da die Wacht am Rhein und die am Niemen ebenfalls ihren Anſpruch an mich er¬ hoben — nach einer mitteldeutſchen Univerſität, die mir Gelegenheit bot, mit möglichſt geringen Koſten mich mit dem römiſchen Recht und dem damals gültigen deutſchen Schießgewehr bekannt zu machen; wenigſtens in den Grundzügen.
83Aus dieſer Zeit habe ich folgenden Brief in den Akten:
„ Lieber Freund!
Denn dafür halte ich Dich noch trotz Schiller und aller Würde, die jegliche ſchöne Vertraulichkeit zwiſchen Dir und mir zu einem Dinge der Unmöglichkeit machen ſollte. Du kannſt es mir ja übrigens ſagen oder ſchreiben, wenn es Dir gar nicht mehr paßt, das bisherige angenehme Verhältniß zwiſchen uns.
Einfach großartig war es von Dir. Mathematik ſehr gut — Latein gut — Griechiſch faſt gut — Geſchichte und ſo weiter gut — deutſche Sprache und Litteratur genügend. Menſch, Göttergünſtling, da Du ihn doch fürs Erſte weniger brauchſt, ſo pumpe mir ihn, Deinen wohlorganiſierten Hirn¬ kaſten, für nächſte Oſtern bloß auf acht Tage. Auf Ehre, Du kriegſt ihn beſtens geſchont um¬ gehend zurück; aber die Idee, ihn aufzuſtülpen und vor dem Rathe der Zehn mit ihm aufs Seil gehen zu können, ſteigt mir derartig in den meinigen, daß meine Alte eben ſchon gefragt hat: ‚ Junge, was haſt Du jetzt wieder im Kopfe?‘ Die Benachrichtigung aber: ‚ Ich ſchreibe an Karlchen Krumhardt, daß ich mir ein Muſter an ihm nehme, “hat ſie gottlob ſofort beruhigt, ob meines6*84Stierens ins Blaue, und ich ſoll Dich von ihr grüßen. — Mir ſelber liegt ja leider weniger dran, mich nicht noch mal zu blamiren; aber der alten Frau möchte ich doch den Verdruß, und Deinem würdigen Erzeuger ſein melancholiſches Behagen an meiner Schande nicht zum zweiten Mal zum vollen Auskoſten anbieten. Ich büffle. Und Du Ochſe treibſt Dich feſſellos in der ſüßen Freiheit herum; und theure Angehörige, ſowie Staat und Kirche halten Dir ſchon die volle Krippe und den warmen Stall bereit, wenn Du heimkehrſt von der blumigen Wieſe Deiner jungen Ungebunden¬ heit. Mir blühte bis jetzt hier im Vogelſang bloß die Eſelswieſe, und wäre ich nicht ich und meine Alte ſie, ſo wäre die Geſchichte einfach nicht zum Aushalten geweſen, der faulen Redensarten wegen ob meiner bodenloſen Faulheit. Na ja! Hätte mich nicht auch unſer allerhöchſt Regierender, das heißt eigentlich mehr unſere allergnädigſte Landes¬ mutter kommen laſſen, um mich perſönlich kennen zu lernen und mir ins Gewiſſen zu reden, ſo hätte allgemach meine Mutter Jedem, der ſich ſonſt nach mir erkundigte, nur ſagen können: ‚ Unterm Sofa ſteckt er. Locken Sie ihn mal! Ich kriege ihn weder durch Güte noch durch Gewalt mehr drunter weg. ‘— Cäſar und ſein Glück! 85Die Geſchichte iſt ſo ulkig, daß ſie ſogar meiner Alten die Kummerthränen getrocknet hat. Dir, mein Junge, ſchreibe ich ſie nur, um ſie, wenn ſie ſonſt brieflich an Dich gelangen ſollte, aus das richtige Maß herunterzudrücken. Eigentlich war es Unſinn; aber da kein Anderer augenblicklich vorhanden war, ſo mußte ich wohl dran: ich habe Schlappen für die menſchliche Geſellſchaft ge¬ rettet! ... Du kennſt die öde Jammerſeele in Baumwolle, Watte und mit Glacé. Mußte es dem Optimatenſimpel — äh, hä, jä, nä — ein¬ fallen, auf die brüchige Stelle im Eiſe zu gerathen und durchzubrechen! God gracious! würde Miſtreß Trotzendorff gekreiſcht haben; aber Ellie, die das hochnäſige Vieh beinahe mit herunter¬ geriſſen hätte ins Verderben, ſetzte ſich gottlob nur zeternd neben das Loch, in welchem der Tropf verſchwunden war; das Übrige kannſt Du Dir denken. Ein Rieſenulk, aber etwas kühler Natur! Und mit dem Kopfe, wie eine Fliege an der Fenſterſcheibe, in der feuchten Tiefe herumzu¬ ſurren und vergeblich nach dem Auswege zu ſuchen, auch gerade kein Vergnügen, noch dazu mit der Verpflichtung, einen anderen Blechſchädel am Schopfe zu halten und mit nach oben zu nehmen. Na, er — athmete lang und athmete tief86 und begrüßte das himmliſche Licht — Schiller iſt nicht unten geweſen, ſonſt würde ſein Taucher¬ gedicht um ein Merkliches kürzer ſein und ſich wahrſcheinlich auf ein ‚ Brr! Pfui Deubel!‘ beſchränken, höchſtens mit dem Zuſatz: ‚ Lieber nicht zum zweiten Mal!‘ Daß wir — Schlappe und ich, nicht länger unten blieben, als nöthig war, kann uns kein Menſch verdenken. Kurz, alſo ich brachte die Honoratiorenpuppe glücklich wieder zu Tage, fand das halbe Reſidenzneſt in vorſichtiger Entfernung um die Bruchſtelle ver¬ ſammelt: von dem Reſt ſchweigt des Sängers Beſcheidenheit. So dumme verbrüllte Frauen¬ zimmergeſichter, wie die des Vogelſangs, möchte ich aber doch nicht gern wieder um mich ſehen — um den glorioſeſten Schnupfen in der Welt nicht! Sie ſämmtlich mit ſtrömenden Augen, ich mit fließender Naſe und etwas verkrackeltem linkem Handgelenk.
Volle vierzehn Tage hat es gedauert, bis die Arche wieder auf dem Trockenen ſaß. Meine Alte war ſelbſtverſtändlich die Erſte, die den Fuß wieder auf feſten Boden ſetzte und meinte: ‚ Junge, wenn es nun nicht ſo gut für uns ab¬ gelaufen wäre?‘
87, Cäſar und ſein Glück, und Unkraut ver¬ geht nicht, Mama!‘
Unſer Backfiſch betrug ſich wie gewöhnlich wie verrückt bei der Geſchichte, war zum An¬ beißen, und verdiente ſelbſtverſtändlich mal wieder Prügel; er war zu nett in ſeinem Kummer. Aber was hatte das Balg mir einen Korb zu geben, und mit dem Maulaffen Schlappe auf das Windeis zu laufen? Ich wollte gar nichts ſagen, Carlos, wenn Du es geweſen wäreſt, den ſie gegen mich ausſpielte.
Si vales, bene est, ego valeo, bis auf die dumme linke Vorderpfote, die ich fürs Erſte noch in Windeln und Schindeln zu tragen habe.
V. Andres. “
„ Schlappe “hieß der gerettete Zeit - und Schul¬ genoſſe eigentlich nicht; das war nur ſein Schulname. Sein wirklicher Name liegt bei meinen Akten; übrigens gehörte ſein Träger zur maßgebendſten Geſellſchafts¬ ſchicht unſerer Landeshauptſtadt und ich habe ſeine Schweſter geheirathet und eine gute Frau an ihr be¬ kommen.
Ach, was helfen die beſten Karten Dem in der Hand, der keinen Gebrauch von ihnen machen kann?
Was half es Velten Andres, daß Schlappes Papa ſeiner Mutter und ihm mehr als einen Beſuch88 machte und ihn aufrichtigſt ſeiner hohen Protektion verſicherte? Was half es ihm, daß Sereniſſimus und Sereniſſima ihn ſich vorſtellen ließen und ihm gleichfalls ihre freundlichſte Gunſt verſprachen?
Nichts, da er blieb, was und wie er war!
Ob ihm das Leben zu einem hölzernen Löffel einen goldenen Napf unter die Naſe ſchob; ob es ihm einen goldenen Löffel in die Hand gab und einen irdenen Napf auf den Tiſch ſchob (was ihm auch paſſirt iſt), es blieb ein und dasſelbe, da er auch ein und derſelbe blieb, nämlich derſelbe ewig unbe¬ rechenbare odd fellow des Vogelſangs — who had no harm in him, and who had parts if he would use them, wie man in Cambridge von einem ähnlichen Menſchen ſagte, der es nach der Meinung der Ver¬ nünftigen in der Welt gleichfalls zu wenig mehr als zu einem ſchlimmen Ende brachte. Da er nur ſich ſelber ſchadete, ging es ja aber auch eigentlich Keinen was an, in welcher Weiſe er ſich ſeiner Fähigkeiten bediente.
„ Es iſt und bleibt eben der dumme Tropf aus Eurem Märchenbuche, der Hans im Glück. Vom Pferd auf den Elefanten, vom Elefanten auf den Eſel und ſo abwechſelnd, bis er endlich einmal auf platter Erde auf dem Rücken liegen bleiben wird, “ſchrieb mir mein Vater um dieſe Zeit. „ Die Avancen,89 die ihm ſein Zufallrettungswerk in der hieſigen beſten Geſellſchaft in die Hand gab, hat er richtig wieder verſpielt. Wie auf unſerem Bureau erzählt wurde, haben Durchlaucht zu dem Herrn Vater Eures unter das Eis gerathenen Schulfreundes längſt bemerken müſſen: ‚ Schade um den jungen Mann; ich würde ihn gern im Auge behalten haben. ‘— Mein einziger Troſt iſt, daß Du, mein Sohn, wenigſtens fürs Erſte ſeinem verderblichen Einfluß aus dem Wege gerückt biſt. Ob er demnächſt ſein Examen beſtehen wird, weiß der liebe Himmel. Wenn nicht, was dann mit ihm? frage ich Dich! “...
Ich habe mich nun wirklich erſt für eine Periode von anderthalb Jahren des Näheren zu beſinnen. Man hatte damals ſo viel mit ſich ſelber zu thun, und die Tage gingen ſo leicht hin, daß es in der That ſeine Schwierigkeiten haben würde, ganz Genaues darüber zu Papier zu bringen. Wir ſind noch in den Ferien zu Hauſe beiſammen: ich als Student und er noch als Schüler, und es iſt für mich ein gewiſſermaßen peinliches Verhältniß. Für ihn nicht.
Auch Helene Trotzendorff iſt noch im Vogelſang. Aber ſie ſteigt nicht mehr über die grüne Hecke oder90 den Gartenzaun, bricht auch nicht mehr unter der erſteren durch, ſondern lehnt nur an ihnen: das ſchönſte Mädchen nicht bloß der Vorſtadt, ſondern der ganzen Stadt, hochgewachſen, goldblonden Haars, doch dunkel von Augen und Augenbrauen. Die Nachbarn ſagen, ſie ſei vorzeitig in die Höhe ge¬ ſchloddert, aber das iſt eine dumme und mehrfach auch vom Neid der Konkurrentinnen eingegebene Redensart. Im Waldgebirge Leukos, im arkadiſchen Gebiete des Pan und auf dem thrakiſchen Hämus würde man anders von ihr geſprochen und ſie jeden¬ falls unter die zwanzig amniſiadiſchen Nymphen ge¬ zählt haben, die ſich Artemis, wie Kallimachus ſingt, von ihrem Vater Zeus als Begleiterinnen ausgebeten hatte.
Mein Freund Velten ging freilich noch weiter und ſetzte mich durch philologiſch-mythologiſche Kennt¬ niſſe über Verhältniſſe in Erſtaunen, von denen ich keine Ahnung aus der Schule mitgebracht hatte.
„ Dieſes Frauenzimmer, “ſagte er. „ Guck ſie Dir nur an, Menſch! Trägt ſie nicht den von den Kyklopen geſchmiedeten cydoniſchen Bogen der Diana ſelber? Und umklammert das prachtvolle Wurm nicht Tag und Nacht in ihrer Einbildung die Knie ihres Erzeugers mit der Bitte, ihr dreißig Städte und ſämmtliche Gebirge der Erde zu ſchenken? Kalli¬91 machus in ſeinem Hymnus hat's. Lies es ſelber nach, wenn es Dir Spaß macht: mir macht es ſchon längſt kein Vergnügen mehr, ſie von ihren Phantaſien abzubringen, und ich habe es auch aufgegeben. “
„ Du ſcheinſt Dich aber jetzt ſehr mit ſolchen Sachen abzugeben. Woher haſt Du denn dieſes Alles? “
„ Sehr aus mir ſelber, “ſagte Velten Andres, den ſie faſt ein Jahr nach mir für die Universitas litterarum reif erklärten. —
Es ſchien damals, drüben in Amerika, einen kleinen Niedergang in den Angelegenheiten Mr. Charles Trotzendorffs gegeben zu haben. Mutter und Tochter wohnten noch bei Hartleben und warteten nicht im Optimatenviertel der Stadt auf den völligen Aufgang der Glücksſonne von „ Papa “. Mutter Andres hatte noch mehrfach zwiſchen den Bäcker, den Fleiſcher ſowie die Milchfrau und den Kaufmann Tienemann und — Miſtreß Agathe Trotzendorff treten müſſen. Aber das iſt ſo: ein heißer, glänzender Tag bricht öfter, als die Leute an Regentagen glauben wollen, aus wechſelndem Gewölk hervor. Und manchmal bleibt es denn auch für die, welche „ dieſe Witterung brauchen “können, „ ſchön “bis zum Abend. —
Wie geſagt, ich habe wenig über dieſe Zeit in den Akten, was Velten und Helene anbetrifft. Mein92 kluger und wackerer Vater trug den Verhältniſſen in einer Weiſe Rechnung, die ihm Velten Andres am allerwenigſten zugetraut haben würde. Wenn er mich im Vogelſang feſt im Griff gehalten hatte, ſo ließ er mir jetzt merkwürdig freie Bahn.
Ich darf wahrlich nicht darüber lächeln, aber es iſt ſo! Sein Ideal war, das, was er zu protokolliren und in die Regiſtratur zu nehmen hatte, durch mich zu Protokoll und in die Regiſtratur geben zu ſehen: „ Es iſt mein Wunſch, daß Du Dich zu der beſten Geſellſchaft hältſt. Wir, Deine Mutter und ich, haben unſer Leben darauf eingerichtet von Deiner Geburt an. Laß mich an Dir erleben, was ich ſelber nicht habe abreichen können. “
Selbſtverſtändlich war ich daraufhin einer vor¬ nehmen Verbindung beigetreten, der ſchon die höchſten Spitzen der maßgebenden Kreiſe unſerer heimathlichen Reſidenz angehört hatten als jugendfrohe Jünglinge; und ich kann es nicht leugnen: einige Male kam mir in dieſer Lebensepoche ob meiner damaligen Verpflichtungen und Ehren der Vogelſang dann und wann ſo ſehr aus dem Geſicht, daß Velten Andres vollkommen Recht hatte, wenn er mich an den Beinen aus den Lüften wieder herunterzog durch das Wort:
„ Bengel, von hier unten aus geſehen — aus der Froſchperſpektive betrachtet, biſt Du wirklich gro߬93 artig! perpendikular-maleriſch. Schade, daß Du Dich nicht ſelber ſo ſehen kannſt! Wie ſiehſt Du den fliegenden Göttergünſtling, Mama? “
„ Werde nicht unanſtändig, Junge, “ſagte die Frau Doktorin. „ Fliege Du nur ſelber erſt mal ſo. “
„ Könnte mir nur im Traume einfallen! “
„ Was haben wir vom wachen Leben mehr als unſere Träume? “fragte unſere Frau Nachbarin, und damit war ich denn damals ſchon wieder unten im wirklichen und wahrhaftigen Vogelſang — in der beſten Nachbarſchaft, die auf dieſer verworrenen, feindſeligen Erde möglich iſt. —
Noch einmal ging ich aus den Ferien nach Göttingen, ehe wir beiden Nachbarſöhne wieder zu¬ ſammentrafen und zwar in Berlin. Am Tage meiner Abreiſe aber kam drüben bei Hartleben ein Brief an, der Alles „ zu Hauſe “veränderte: die neunte Woge, die Woge des Glückes, des Erfolges rollte heran, goldglänzend, leuchtend, funkelnd von aller Herrlich¬ keit und Pracht der Welt, ſpülte hinein in den Vogel¬ ſang und trug zurückrauſchend Helene Trotzendorff und ihre Mutter weg daraus. Mr. Charles Trotzen¬ dorff ſchrieb einen kurzen Brief, in welchem er dürr, nüchtern und wie als ob es ſich ſo von ſelber ver¬ ſtehe, mittheilte, daß er demnächſt als zehnfacher Dollarmillionär ſich die Ehre geben werde, alte94 Freunde zu begrüßen und zugleich Weib und Kind zu ſich zu holen.
Wie mir mein von Vorgeſetzten und Unter¬ gebenen anerkannter guter Geſchäftsſtil abhanden kommt, je länger ich dieſe Blätter beſchreibe, je klarer und deutlicher ich mir das zu Sinnen und Gedanken bringe, was ich hier dem Papier übergebe! Was bis jetzt das Nüchternſte war, wird jetzt zum Ge¬ ſpenſtiſchſten. Sie wackeln, die Aktenhaufen, ſie werden unruhig und unruhiger um mich her in ihren Fächern an den Wänden und machen mehr und mehr Miene, auf mich einzuſtürzen. Ich kann nichts da¬ gegen; zum erſten Mal will an dieſem Schreibtiſch, jawohl an dieſem Schreibtiſch, die Feder in meiner Hand nicht ſo wie ich; und Velten Andres iſt wieder Schuld daran. Was meinem armen Vater ſeiner Zeit ſo oft Verdruß und Sorgen machte, das Übergewicht dieſes „ Menſchen “über mich, das iſt heute noch ebenſo ſehr da, wie in jenen Tagen, wo er mich durch die Hecke und über die Zäune des Vogelſangs zu jedem Flug ins Blaue aus dem Schul -, Haus - und Familienwerkeltag wegholte und wir Helene Trotzendorff mit uns nahmen, wenn ſie uns nicht gar voranflog.
95In Berlin verfiel ich ihm ſofort wieder.
Wie der Tag vor mir ſteht, an welchem ich dieſem „ kraſſen Fuchs “in der vollen Hahnenhaftig¬ keit meines vornehmen Verbindungsbewußtſeins meinen erſten Beſuch machte, nachdem ich mir herablaſſender¬ weiſe ſeine Adreſſe auf der Univerſitätsquäſtur hatte geben laſſen!
„ Studioſus Philoſophiae Valentin Andres, Dorotheenſtraße Numero 00, Hintergebäude 3 Treppen, Frau Fechtmeiſterin Feucht, “lautete ſie, und es war ein Apriltag nach den Oſterferien, als ich mit meiner Berliner Matrikel in der Taſche meinen Weg dorthin nahm. Wenn das Hinterhaus hielt, was das Vorder¬ haus verſprach, ſo hatte der Neuling im Weltleben es gut getroffen; gewöhnlich iſt das aber freilich nicht der Fall. Nicht ohne Grund bin ich hier etwas ausführlich.
An einem ziemlich eleganten Schneiderladen (Herrenmoden) vorbei, ſchritt man durch den ge¬ wölbten Hausflur, vorüber an der mit Teppichen belegten, in den erſten Stock führenden Treppe auf einen umfangreichen Hof, über den etwas nerven¬ ſchwache Gemüther ſich nur mit einiger Bedenklichkeit dem Hintergebäude zu wagen konnten. Der Eigen¬ thümer des Hauſes, einer der erſten Hufſchmiede der Stadt, bediente daſelbſt ſeine Kunden, und nicht96 Jeder geht gern zwiſchen zwei Reihen Gäulen durch, die ihm alle die Hintertheile zuwenden und nicht alle ganz gutwillig ihr Schuhwerk in Behandlung geben. Schmiedegeſellen, Reitknechte, Stallknechte, Kutſcher in Livree und ohne ſolche walteten ihres Amtes zwiſchen ihren Schutzbefohlenen, je nach dem Temperamente derſelben und dem eigenen mehr oder weniger lärm¬ haft. Aus der Halle des Seitengebäudes leuchteten die Schmiedefeuer und klangen die Hämmer in das Gewieher, die Flüche, Begütigungen und die ſonſt übliche Unterhaltung zwiſchen Menſch und Menſch, Menſch und Vieh, Thier und Menſch hinein. Man hatte wirklich zu ſchreien, wenn man ſich hier nach der Frau Fechtmeiſterin Feucht erkundigte.
Aber da war das Hintergebäude und wer mit uneingeſchlagenem Schädel oder Bruſtkaſten zu ihm gelangte, der fand auch wohl ohne zu fragen die Pforte, von der aus die Treppe in den dritten Stock emporging.
Ich hatte damals das Glück, gelangte in das dritte Stockwerk und zog auf dem dämmrigen Vor¬ platze die Glocke.
„ Frau Fechtmeiſterin Feucht? “
„ Bin ich, “ſagte eine kleine, zierliche alte Dame zwiſchen fünfzig und ſechzig Jahren.
„ Studioſus Andres? “
97„ Dort jene Thür, mein Herr. “
Ich grüßte, und die kleine Frau ſetzte mir einen vollkommnen Hofdamenknicks hin; meinen Freund fand ich in einer der bekannten Berliner Studentenbuden zu Hauſe und Beſuch bei ihm: einen feinen, eleganten, ſchmächtigen jungen Herrn mit ſchwarzen Haaren, von etwas kränklicher Geſichts¬ farbe und von ungemein höflich-ſchüchternem Weſen. Gottlob auch bereits mit dem Hut in der Hand.
„ Guten Tag, Krumhardt, “ſagte Velten, als ob er mich noch über die Hecken des Vogelſangs grüßte. „ Biſt Du da? ... Auf Wiederſehen, des Beaux! Übrigens könnte ich euch Leute doch auch der Bequemlichkeit wegen gleich miteinander bekannt machen. Mein Provinzialfreund, Herr Karl Krum¬ hardt, der Rechtswiſſenſchaft möglichſt Befliſſener — Herr Leon des Beaux aus dem Vorderhauſe, ſeines Zeichens — “
„ O, ich bitte Sie, Herr Andres! Ich möchte jetzt nicht ſtören; — wenn Sie mir erlauben — “
„ Menſchenkind, nehmen Sie ſich alle Freiheiten bei mir, die Ihnen angenehm ſind. Ich werde mir bei Ihnen zu Hauſe ſelbſtverſtändlich das Gleiche erlauben. “
„ Ich bitte darum! “rief der intereſſante, bleiche,W. Raabe. Die Akten des Vogelſangs. 798ſchwarzhaarige Jüngling und entſchlüpfte mit ſcheuen Verbeugungen, ſowohl gegen Velten wie gegen mich.
„ Es iſt der Sohn des Schneiders aus meinem Vorderhauſe, “ſagte Velten. „ Seine Ahnen haben unter Ludwig dem Neunten gegen die Ungläubigen geſtritten, haben Toulouſe gegen Simon von Montfort vertheidigt, im Löwengolf Galeeren gegen die Beys von Tunis, Tripolis und Algier kommandirt und unter Ludwig dem Vierzehnten, dem Edikt von Nantes und der Frau von Maintenon zuliebe, ſelber auf ſolchen gemüthlichen Fahrzeugen gerudert. Der Zweig des Geſchlechts, der ſich unterm Großen Kurfürſten hierher nach Berlin ins Trockene gerettet hat, ſcheint mir jetzt auch ſein Schäflein ins Trockene zu bringen. Ich glaube, ich kann Dir die Firma des Beaux empfehlen für Deinen Bedarf an Hoſen, Jacken und Weſten. Die Schweſter des guten Jungen heißt Leonie, Du findeſt ſie im Vorderhauſe im erſten Stock — Blüthnerſcher Flügel, deutſche, franzöſiſche, engliſche Litteratur und was ſonſt zu einer höhern Tochter gehört. Ich kann Dich vorſtellen, aber nehme die Verantwortung nicht auf mich, denn das Fräulein iſt auch hübſch — immer noch ſüdfranzöſiſches Genre. Leonie des Beaux! Wie klingt Dir das von einer Schneidertochter hier im Lande der Fritzen und Karlinen? Wie mir ſcheint, hat die ganze Familie99 ein gut Stück Romantik aus der Langue d'Oc in den märkiſchen Sand durch die Jahrhunderte hinein¬ gerettet. Na kurz, die Geſellſchaft gehört zu der noch immer ſo genannten franzöſiſchen Kolonie, und ich benutze die Gelegenheit, mein Franzöſiſch zwiſchen Leon und Leonie aufzupoliren. “
Ich hatte ihn reden laſſen müſſen. War das der Menſch, dem ich im Innerſten doch mit meiner deutſchen Burſchenherrlichkeit zu imponiren ge¬ wünſcht hatte? Es ging ein Zug von ſo frühreifer Welterfahrung und Weltgewandtheit durch dies Alles, daß ich nur verblüfft brummen konnte:
„ Na, Du ſcheinſt Dich ja auch ohne Beihilfe recht gut außerhalb des Vogelſangs und der Schul¬ ſtube orientirt zu haben! “
Da flog es dunkel über ſein eben noch ſo lachendes Geſicht:
„ Doch wohl nicht ganz ohne das, was Du Beihilfe nennſt. Halb ſchob es, halb zog es, wenn Du die Weiber zu den Menſchen rechneſt. “
„ Du biſt ſeit vierzehn Tagen in Berlin und in der weitern Welt, Du kraſſer Fuchs? “
„ Und ich habe daheim Miß Ellen Trotzendorff aus dem Vogelſang in den Eiſenbahnwagen erſter Klaſſe geholfen und meiner Alten über den Zaun des Vogelſangs verſprochen, es ferner gut zu machen. 7*100Lieber Junge, in dieſer Beziehung hat Deines Vaters Gebrumm ebenfalls gar nichts genutzt: es bleibt eben für mich bei der Weibererziehung. Soll etwa Großvater Goethe den zweiten Theil ſeines Fauſts bloß für ſich und eure frechdummen Litteratur¬ geſchichtsſchreiber zuſammen geſtolpert und geholpert haben? Nee, nee, mein Junge! Ich habe mich von den Weibern erziehen laſſen und laſſe mich von den Weibern weiter erziehen. Geh Du nur hin; ich bleibe bei den Müttern, bei den Frauen und bei den Mädchen. Übrigens, Menſch, wäre es doch recht freundlich und herablaſſend von Dir, wenn es Dein erſter Weg geweſen wäre, mich bei der Frau Fecht¬ meiſter Feucht aufzuſuchen. “
„ Gehört die etwa auch ſchon zu den Schürzen, hinter denen Du Dich im Daſein außerhalb der philoſophiſchen Fakultät verkriechen willſt? “
„ Sehr! “lachte Velten Andres.
Wir waren alſo wieder zuſammen. Was ich aus eigener Erfahrung und aus den Briefen meiner Eltern von den letzten Vorgängen im Vogelſang wußte, konnte er mir und ſich nun noch einmal, wie unſere damalige Redensart lautete, zu Gemüthe101 führen. Er that es; und da er von allen Menſchen, die ich im Privat - wie im Geſchäftsleben kennen gelernt habe, der Einzige geweſen iſt, dem nie etwas drauf ankam, wann, wo, wie und vor wem er ſich lächerlich machte, ſo hätte er wohl einen beſſern Schreiber ſeiner Geſchichte, als ich bin, verdient. Wenn ich in dem einen Augenblick den vernünftigen Leuten zu Hauſe Recht geben und ſagen mußte, er iſt wirklich ein unzurechnungsfähiger Narr und Phantaſt! ſo wurde mir doch ſchon im nächſten Moment ſo heiß bei ſeinen Worten, Blicken und Geſten, daß ich ihm um den Hals hätte fallen mögen: „ Du biſt und bleibſt doch der famoſeſte, beſte Kerl in der Welt, Velten! Geben Dir die Götter nur ein bißchen Glück auf Deinem Wege, ſo ſtirbſt Du nicht auf Salas y Gomez, wohl aber, nachdem Du vielleicht leider auch Dein Perſepolis in Brand geſteckt haſt, zu Babylon. Alter Junge, was iſt das aber für ein Glück, daß wir uns von Kindesbeinen an kennen: daß viele Andere Dich ernſt nehmen, verlangſt Du wohl ſelber nicht! “
Er lag auf dem Sofa, mit den Beinen über der Lehne, er ſaß auf dem Stuhl, er ſaß auf dem Tiſche, er lief auf und ab, während er jetzt mir erzählte von dem Vogelſang und Helenen Trotzendorff. Von Zeit102 zu Zeit griff er nicht ſich, ſondern mir in die Haare und ſchüttelte mir den Kopf mit einem:
„ Lache nicht, Menſch! Oder ja, lache nur, denn das thue ich ja ſelber über mich, wenn ich mich aus der Haut eines von euch Pachydermen bei ſogenannter ruhiger Überlegung beurgrunze. Weißt Du, und das Frauenzimmer kann wirklich nichts dafür! Es hat das Seinige in wahrhaft großartiger Weiſe gethan, ſich mir zu verekeln. Wenn es ſich da drüben in Amerika ſo weiter ſpielt, wie hier bei uns im Vogel¬ ſang, ſo kann es ſich, ſich, ſich zu was bringen in der Welt — ſagt auch meine Mutter, und bei deren lieben, alten Falten um den Mund weiß man denn auch nie, ob ſie ſich ins Roſige hinaufziehen oder ins graueſte Elend herunter. Na kurz und gut, das Mädchen und ſeine Mutter iſt weg, und der Vogel¬ ſang hat: Gott ſei Dank! geſagt. Ich auch. Denn dies hielt kein Menſch mehr aus — ſelbſt meine Mutter nicht. Ein paar Löffel von dem letzten Reſt unſerer Kinderſuppe haſt Du ja auch noch ab¬ gekriegt; aber den Napf gründlich auszuſcharren, das hatten die Götter allein mir vorbehalten und mich auch wahrſcheinlich ſchon darum noch ein Jahr länger als Dich auf der Schulbank ſitzen laſſen. Freilich, den Miſter Trotzendorff im Vogelſang einrücken ſehen,103 war allein ſchon das Vergnügen werth. Die Kröte! Ich meine meiner Mutter Helenchen.
Den ‚ Bazar‘, von dem nachher auch bei Schiller die Rede iſt, hielten ſie ja ſchon längſt bei Hart¬ lebens. Lies den Quatſch Don Manuels ſelber nach, und denke Dir mich, das Mädel, meine Alte, ihre alte verkehrte Schachtel von Mama, Deine Eltern, den alten Hartleben, kurz, den ganzen Vogelſang in all den Glanz, der da in der Braut von Meſſina zu Tage kommt, hinein. Die Sorte Schlappe und Familie, das heißt das übrige Neſt in ſeinen Spitzen der Geſellſchaft laß ja nicht aus der Komödie heraus und male Dir die vier Wochen, die ihrer Abfahrt, nicht aus dem Vogelſang, ſondern aus dem Hotel de l'Europe vorangingen, ſelber. Weißt Du, was Dein Vater ſagte, als wir vom Bahnhof nach Hauſe zogen, Krumhardt? “
„ Nun? “fragte ich, nicht ohne einige Sorge, meinem beſten Freund ſofort die Naſe einſchlagen zu müſſen.
„ ‚ Es ſteckt doch leider viel Gemeinheit in der Menſchheit!‘ ſagte er, und hatte wieder mal, wie meiſtens, Recht. “
„ Die alte Nachbarſchaft und Freundſchaft iſt104 alſo doch wenigſtens bis zu der Abreiſe zuſammen¬ geblieben, Velten? “
„ Jawohl. Aber da frage nur den alten Hart¬ leben nach dem Dank, den er für ſeine langjährige Gaſtfreundſchaft gehabt hat von Papa und Mama Trotzendorff! “
„ Und Helene? “
Da faßte der Freund meine Schulter.
„ Wäre dieſer ganze Quark des Erzählens werth, wenn die nicht auch bei uns zu meiner Mutter Kind geworden wäre? Wie hätte man vor Luſt kreiſchen können, wenn man nicht ſelber mit an dem Wurm erzogen hätte! Jetzt offen geſagt, ich ganz beſonders ſehr, Krumhardt! Carlos, ſie gehörte doch zu uns, und ſo laſſe ich ſie auch noch nicht fahren. Sie weiß es auch ſelber, was für ein gut Stück von uns ſie mit in die neue Herrlichkeit, drüben jenſeits des Oceans, nimmt. Krumhardt, ich nehme gar nichts dafür, mich auch vor Dir bodenlos lächerlich zu machen: es ſteht geſchrieben, daß ich dem Geſchöpfchen bis an der Welt Ende nachlaufen ſoll. “
„ Über Berlin? “fragte ich, um doch etwas zu ſagen.
„ Jawohl über Berlin! Habe ich mein Leben und damit auch alle meine Wege nicht noch vor mir? “
Er hob den linken Arm, deſſen gelähmtes Hand¬105 gelenk ihn nur für den vaterländiſchen Kriegsdienſt untauglich gemacht hatte.
Es leuchtete eine ſolche ſiegesſichere, lachende, unverſchämte Zuverſicht aus ſeinen Augen, klang ſo ſehr aus ſeiner Stimme, daß er wirklich nicht nöthig hatte, mich auch noch derartig mit der geſunden, eiſernen Rechten auf die Schulter zu klopfen, daß ich nicht nur körperlich in die Kniee knickte, ſondern mir auch ſeeliſch niedergedrückt, zuſammengeſchnürt — kurz, klein vorkam.
Er erzählte nun des Genauern, wie ſich die letzten Tage des Aufenthalts der Familie Trotzen¬ dorff im Vogelſang abgeſponnen hatten. Wie der Glanz, den der Vater der Familie mit ſich brachte, ſeine Wirkung nicht bloß auf den Vogelſang, ſondern auch auf die ganze Stadt ausübte. Es mochte wiederum nur ein trügeriſches „ bengaliſches “Licht ſein; aber das Meteor ſtand doch lang genug am Himmel über dem Oſterberge, um das Volk, das ſeiner Meinung nach wahrlich nicht in Finſterniß ſaß und ſich durchſchnittlich für ſehr helle hielt, zum ſtaunenden Aufſehen zu bringen. Merkwürdiger¬ weiſe hatten ſämmtliche offizielle öffentliche Wohl¬ thätigkeitsanſtalten der Reſidenz, vor Allem die unter hochfürſtlichen Schutz ſtehenden Stiftungen und Stifter, ſodann aber auch die Kleinkinderbewahr¬106 anſtalten, die Krippen und ſo weiter, ja auch der Verein zur Beſſerung entlaſſener Strafgefangener ſich des kurzen Aufenthalts Mr. Charles Trotzen¬ dorffs im erſten Gaſthof der Stadt (mit Familie) auf eine Weiſe zu erfreuen, die nur für ausnehmend nüchterne, ſchlechte Charaktere nichts Erſtaunliches an ſich hatte. Kein anderer Ortseingeborener hatte in ſo kurzer Zeit ſo oft in den öffentlichen Blättern der Stadt geſtanden als Mr. Charles Trotzendorff. Seit Menſchengedenken hatte kein Anderer wie er es ſo verſtanden, ſich binnen kürzeſter Zeit ſo ſehr loben zu laſſen. Daß es vom fürſtlichen Reſidenzſchloß an bis in den Vogelſang hinein zu feine Naſen gab, denen er zu gut roch, ließ ſich freilich nicht leugnen und alſo auch nicht ändern. Seine Durchlaucht ver¬ weigerte eine nachgeſuchte Audienz. Mein Vater brummte: „ Schwindel! “ Veltens Mutter ſeufzte: „ Mein armes, liebes Kindchen! “und der alte Hart¬ leben meinte: „ Wiſſen Sie, Frau Doktern, ich kann lange zurückdenken, aber ſolch eine Komödie, mit ſolch einem Hanswurſt als Hauptperſon drin, hab ich doch noch nicht erlebt hier in der Nachbarſchaft! Herrje, was hat das Karlchen, der Kerl, zugelernt ſeit er vor Jahren ſeinen Abſchied von hier nehmen mußte! “
„ Weißt Du, Carlos, “ſagte Velten Andres zu mir, „ die Alte ließ ſich gerade in jenen reizenden107 Wochen mal wieder das Neue Teſtament von mir vorleſen, und da kamen wir denn naturgemäß auf die Situation im Evangelium Johannis. Es war auch Nacht, das heißt ſpät am Abend, und wir ſaßen bei der Lampe und waren beim dritten Kapitel: Es war aber ein Menſch unter den Phariſäern, mit Namen Nikodemus, ein Oberſter unter den Juden; der kam zu Jeſu bei der Nacht und ſprach zu ihm — ‚ Du, da hat wer geklopft, ‘ſagte Mutter, und da war ſie, unſere Kleine, und, ſtand ſcheu in der Stuben¬ thür und wagte ſich nicht herein — ſie wagte ſich nicht herein, gerade wie der ſpitzbärtige Jüd und Schrift¬ gelehrte. Ob der aber bei ſeinem Beſuch ſo ge¬ ſchluchzt hat wie das Kind, kann ich nicht wiſſen, glaube es auch nicht. Sie hatten ſie ſchon im Hotel de l'Europe in Purpur und köſtliche Leinwand nach der neuſten Modenzeitung ausſtaffirt, aber die Haupt¬ ſache war doch das naßgeweinte Taſchentuch. Mit dem in den Händen that ſie nun einen Sprung zu meiner Alten Seſſel und lag vor ihr auf den Knieen und zog mit beiden Armen und Händen ihren Hals zu ſich herunter und winſelte: ‚ Tante Andres, ich kann nicht ſo von euch — von Dir, Dir, Dir fortgehen. O bitte, bitte, verzeihe mir's, daß ich's nicht ändern kann, und daß es mir auch Vergnügen macht! Ich habe mich auch jetzt ja nur weggeſtohlen,108 um es Dir noch einmal zu ſagen, daß ich euch — Dich, Dich und den Vogelſang ſo lieb habe, und daß es mir ſo leid thut, daß ich daraus fort muß! O, könnte ich euch doch mitnehmen. Wir haben ja nun das viele Geld und das Glück, von dem Mama immer geredet und ſich damit in unſerm Elend ge¬ tröſtet hat; aber mein Vater lacht und ſagt: Non¬ sense, und es iſt wieder mal Alles, was ich denke und fühle, nichts als Unſinn — Jawohl, Velten, Du haſt mir daſſelbe oft genug geſagt und ich bin oft genug wüthend darüber geworden; aber nun ſage es mir dreiſt noch einmal. Jetzt biete ich Dir keine Ohrfeige mehr dafür an. Die ganze Welt kommt mir mit einem Mal ſo dumm und unſinnig vor, daß auf das Bißchen, was ich von der Sorte dazu gebe, wirklich nichts ankommt. Tante, Tante, liebſte, beſte Tante Andres, laß es mich nicht entgelten, daß ich ſo gern weggehe von hier und mich ſo ſehr auf das neue Leben freue. Wenn Du mich nicht lieb behältſt, iſt ja Alles nichts; und dem alten lieben Hartleben ſag auch, daß ich nichts dafür kann, daß meine Eltern ſo grob gegen ihn geweſen ſind. Zu Dir wage ich mich ja noch bei Abend aus dem Hotel heraus; aber zu Hartleben wage ich mich nicht mehr bei Tage und bei Nacht; o bitte, bitte, ſagt es ihm — Du auch, Velten! — daß er immer der beſte109 alte Menſch geweſen iſt und ich von uns allen Dreien, Dir, Velten, Karlchen Krumhardt und mir die Einzige geweſen ſei, die es ganz genau mußte, daß es Unrecht war, wenn wir ihn alle Tage halb zu Tode ärgerten! Ach Gott, was hätte ich noch Alles zu ſagen! O küſſe mich nur nicht, Tantchen Andres! oder doch, doch küſſe mich nur — es war ja zu ſchön, zu gut hier bei euch, und wenn Du es nicht weißt, was ich auf dem Herzen habe, ſo kann ich uns nicht helfen. “
„ Deine Mutter kann ich mir hierbei vorſtellen, Velten, “ſagte ich.
„ So? Ja, Du haſt freilich immer mehr ge¬ konnt als ich; aber in dieſer Hinſicht meine ich doch, daß Du Dich irrſt. Du meinſt, ſie brüllte ſich das Herz aus dem Leibe? Sie hätte die Kleine in Krämpfen hin und hergeriſſen? Nicht die Idee! Famos hielt ſie ſich, die alte Rieſin, für meinen Geſchmack in der tragiſchen Stunde beinahe zu ruhig. Aber am andern Morgen ſchon wußte ich natürlich, daß ſie wieder mal das einzig Richtige getroffen hatte. Das weißt Du, wie oft ſie auf uns hineingepredigt hat; aber ſo wie diesmal hat ſie noch nie zu Einem von uns Dreien geſprochen: Gehe in Frieden! — Das Kind iſt an dem Abend in Frieden aus dem Vogelſang gegangen und hat an der Gartenthür leiſe hingeweint: ‚ Ja,110 Du haſt Recht; Vater und Mutter gehen freilich vor, und ich gehe ja auch gern mit ihnen; aber Du bleibſt dicht hinter mir, Tante Male, und ich will Deine Hand immer an meinen Rockfalten haben. Und wenn — wenn mal — ſo viel — Dummes über mich hier nach dem Vogelſang geſchrieben wird, wie über Papa, ſo glaubſt Du es nicht eher, bis Du Velten geſchickt haſt, um nachzuſehen. Aber ich will auch jede Woche ſelber ſchreiben. ‘“
Ich war natürlich auch nach Berlin bloß des Studirens wegen gekommen. Damit wurde es dies¬ mal gar nichts. Die ſchlimmſten Befürchtungen meines armen Vaters trafen ein; ich verfiel für die nächſte Zeit wieder vollſtändig dem Verderben, das nach der Meinung aller Verſtändigen in der Heimath von dem Freunde ausging. Ich hatte ihn wieder, und er hatte mich wieder am Kragen, und wie ſich die Vögel mit demſelben Gefieder ſofort wieder um ihn zuſammengefunden hatten, das mußte ein Wunder ſein auch für Den, der an keine Wunder in dieſer nüchternen Welt glaubte.
Da war zuerſt ſeine Wirthin, die Frau Fecht¬ meiſterin Feucht. Ein Anderer hätte die Millionen¬111 ſtadt jahrelang nach der ausſuchen können, ohne ſie zu finden: auf ihren jetzigen jungen Herrn, auf „ ihren Velten “ſchien ſie ſchon jahrelang gewartet zu haben, um, „ was ſehr nöthig war “, Mutterſtelle an ihm zu vertreten.
Wir klopften ſchon am zweiten Abend unſeres Zuſammenſeins an ihre Thür, und er ſtellte mich der kleinen Dame vor mit den Worten:
„ Hier iſt noch Einer aus dem Vogelſang, gnä¬ dige Frau. Ein bißchen langweilig, aber ſonſt auch ein guter Kerl und erziehungsfähig, ſogar ein wenig über das Maß ſeiner Bildungsbedürftigkeit hinaus. “
Dem naſeweiſen, ſcharfmäuligen Pennal einen „ dummen Jungen “aufzubrummen, wäre wohl das Sachgemäße geweſen, aber wie immer kam ich auch jetzt nicht dazu, meine Stellung dem Knaben gegen¬ über zu wahren.
„ Von Jena? “fragte die elfenhafte kleine Greiſin, noch immer die Klinke ihrer Thür in der Hand haltend.
„ Von Göttingen. “
„ War zur Zeit meines Seligen auch noch ein anſtändiger Aufenthalt. Bitte näher zu treten, Herr, wenn ich recht gehört habe: Studioſus juris Krum¬ hardt? “
Ich konnte das nur beſtätigen; aber mußte mich112 doch ein wenig zuſammennehmen, um es mit der nothwendigſten Höflichkeit und Freundlichkeit zu thun; doch —
„ Weshalb kommen Sie nicht von Jena? “fragte die Frau Fechtmeiſterin jetzt ſchon von ihrem Sofa aus. „ Setzen Sie ſich doch, Velten; und Sie auch, Herr Krumhardt, und nehmen Sie mir meine Frage nicht übel: ich komme nämlich von Jena, mein Mann iſt da begraben und ich bin dort jung geweſen, da erkundige ich mich denn bei den jetzigen jungen Herren gern ſo nach dort und der alten Zeit, eben hier von Berlin aus, wo Keiner von uns eigentlich ſo recht weiß, ob er dahin gehört. “
Da ſaß ſie, ein weißhaarig[Mütterchen], mit ſcharfem, hübſchem Altfrauengeſichtchen und Augen, die auf jeder Menſur dem Gegner imponiren mußten, und das „ Keiner von uns “kam ſo ſelbſtverſtändlich, natürlich, ſachgemäß heraus, mit einem Anklang von Fechtboden und Kneipe, daß — es gar nicht anders möglich geweſen war: ſie und Velten Andres mußten ſich im Leben treffen. Der Wohnungsnachweis: Frau Fechtmeiſterin Feucht war vom Schickſal nur für meinen Freund Velten berechnet geweſen, im Treppen¬ hauſe der Friedrich-Wilhelms-Univerſität zu Berlin. —
„ So ſetze Dich doch, Menſch, “ſagte der junge Weiſe aus dem Vogelſang, der bereits die andere113 Sofaecke neben ſeiner Frau Wirthin einnahm; ich aber ſtand freilich noch und ſah mich immer noch um. Die ganze Welt kam hier gar nicht in Betracht; aber in ganz Deutſchland gab es kein Wittwenſtübchen, das dieſem glich. Mitten in dieſem Berlin dieſe ganze deutſche Jugend, ſoweit ſie ſich in Jena und auf ihren Verbindungsbildern zuſammengefunden hatte! Alle Wände damit bedeckt; — dazwiſchen, wo nur ein Räumchen, alles voll von Schattenriſſen mit allen Couleuren an Mütze und Band. Waffen¬ trophäen ſtatt des Spiegels, Schläger und Stulpen und was ſonſt dazu gehört, wo nur noch was auf¬ zuhängen war. Keine Ritterdame des romantiſchen Mittelalters hatte je zu der Ausſtattung ihres Ahnen¬ ſaales und ihrer Kemenate ſo gepaßt, wie die Frau Fechtmeiſterin Feucht zu dem Schmuck und der Zierde ihres Altweiberſtübchens, wie geſagt: mitten in dieſem Berlin!
„ Sie ſehen ſich wie Jeder zuerſt bei mir um, und wundern ſich, Herr Krumhardt, “lächelte die feine Greiſin. „ Ja, wundern Sie ſich nur. Seine Meſſer ſchärft ſich unſer Herrgott ſelber, aber den Schleifſtein drehen ihm die Menſchen. Da die alten Bilder — die Fliegen ſind tüchtig drüber geweſen — ſie haben auch ihr Theil an den deutſchen Geſchichten der letzten Jahre. Es ſind ein paar gute KlingenW. Raabe. Die Akten des Vogelſangs. 8114drauf, die unſer Herrgott nöthig gehabt hat; und da haben wir den Schleifſtein ihm mit gedreht; das heißt nämlich mein Seliger! Ich habe nur an ihm und euch jungen Leuten meinen Spaß — Gott ver¬ zeihe es mir! — meine Freude gehabt, denn ich bin auch mal jung geweſen, meine Herren. “
„ Das iſt recht, Frau Fechtmeiſterin, “brummte Velten, „ renommiren Sie nur dem alten Mann da mit Ihrer Jugend. Er kann's gebrauchen. “
In dieſem Augenblick klopfte es an der Thür und —
„ Das iſt mein Schneider! “lachte Velten Andres. „ Nun hab ich ja meine ganze gegenwärtige Be¬ kanntſchaft in eurer Weltſtadt vollſtändig bei ein¬ ander. “
Der junge Herr aus dem Vorderhauſe, den ich geſtern ſchon in der Stube des Freundes getroffen hatte, ſchob ſich ſchüchtern herein in das Gemach der Frau Fechtmeiſterin.
„ Ich darf doch? “
„ Ja, kommen Sie nur, Leon, “ſagte die Frau Fechtmeiſterin. „ Weshalb haben Sie Ihre Schweſter nicht mitgebracht? Aber freilich, die hat ſchon am Morgen bei mir geſeſſen, das liebe Kind, um mir Geſellſchaft zu leiſten. “
„ Und um mal von was Anderem zu hören als115 von des Lebens bezahlten und unbezahlten Schneider¬ rechnungen, “lachte Velten.
„ Redet man davon ſo viel bei uns, Herr Andres? “fragte der junge Herr und reiche Haus¬ ſohn aus dem Vorderhauſe ein wenig vorwurfsvoll.
„ Nein! Wahrhaftig nicht. Soweit ich bis jetzt darüber urtheilen kann, des Beaux. Ich habe im Gegentheil bereits meinem Freund Krumhardt davon erzählt, wie kurios anders das da drüben bei euch rauſcht, klingt und tönt. Wie das da bunt durchein¬ ander geht. Troubadourgeklimper, Albigenſer Schwert - und Speergeraſſel, Hugenottiſcher Orgelklang und Chorgeſang. Der Knabe aus der germaniſchen Pro¬ vinz iſt ſchon feſt überzeugt, daß er in dieſem ſeinen Berlin keine zweite gleich großartige Schneiderbude finden wird. Da habe ich Ihnen natürlich ſchon vorgearbeitet, Leon; übrigens bürge ich auch für jeden Pump, den er bei euch anlegt. “
„ Aber Herr Andres? “
„ Jawohl, mein Herr Andres, “ſagte die Frau Fechtmeiſterin Feucht, „ ſeien Sie nicht zu naſeweis und ausfallend. Dafür kennen auch wir Beide uns doch erſt zu kurze Zeit, als daß ich für alle ſchlechten Witze hier bei mir den Fechtboden hergeben möchte. “
„ Karl, ich werde wieder verkannt, “ſeufzte kläg¬ lich mein Schulfreund aus dem Vogelſang. „ Was8*116habe ich denn anders ſagen wollen, als daß Sie ein famoſer Kerl ſind, des Beaux; — ein Pracht¬ menſch, der allen ſeinen großen Ahnen vor und nach dem Edikt von Nantes die Stange hält. Hat denn der Große Kurfürſt nicht ſeine Leute zu euch geſchickt, um ſich den Rock bei euch wenden zu laſſen? He, und da ſoll ich nicht einmal meinen Freund Krumhardt in das Vorderhaus empfehlen dürfen, um ihn hier am Ort in die beſte Geſellſchaft zu bringen? “
„ Das läßt ſich wieder hören, Leon, “meinte die Frau Fechtmeiſterin.
Leon des Beaux aber drückte Velten Andres mit Thränen in den Augen die Hand und ſagte ſchämig zu mir: „ Mein Herr, es wird mir eine große Ehre ſein, auch Ihre Bekanntſchaft zu machen. Herrn Studioſus Andres kenne ich ſchon, habe ich die Ehre zu kennen. “
„ Laſſen Sie das Vergnügen nicht aus, “brummte der „ Junge aus dem Vogelſang “.
„ Nun ſage mir vor allen Dingen, wie biſt Du eigentlich zu der Bekanntſchaft mit dem, wie es ſcheint, wirklich nicht übeln ſcheuen Jüngling, dieſem117 Schneider mit dem Namen Leon des Beaux ge¬ kommen? “fragte ich ſpäter am Abend auf dem Wege zur Kneipe den Freund.
„ Wie man öfters zu allem Schönen, Nützlichen, Guten und Angenehmen ſowie dem Gegentheil kommt — durch Zufall. Ich zog ihn wie damals Schlappen heraus; aber diesmal nicht unterm Eiſe weg, ſondern aus dem Feuer — nämlich unſerer ſchlechten Redens¬ arten. “
„ Unſerer ſchlechten Redensarten? “
„ Wenn Dir dumme Witze, anzügliche Be¬ merkungen, rüde Anrempeleien lieber ſind und beſſer klingen, mir auch Recht. Die Fabel oder Wahrheit von der Krähe, die ſich zum erſten Mal für Äſops Lob heiter mit Pfauenfedern beſteckte, kennſt Du wohl noch. Sie kam in dieſem Abkömmling des Landes des Weins und Ölbaums, der Sonne und der Geſänge von Neuem auf die Bühne der Welt, und ich natürlich ganz zur rechten Zeit, um meinen Spaß und nachher auch ein bißchen meinen Ernſt daran zu haben. Das romantiſche Rindvieh hatte ſich an einem der erſten Tage meines hieſigen Aufenthalts aus ſeiner Akademie für körperliche Be¬ kleidungskunſt im rothen Schloß in unſere Bude für geiſtige Maskirung dem alten Fritz gegenüber ver¬ irrt, das heißt, ſich als Hoſpitant in ein Kolleg über118 Aſthetik, in das ich auch die Naſe ſteckte, eingeſchlichen. Dummeres gab es gar nicht, ich meine nicht den leſenden Herrn Profeſſor, ſondern meinen Freund Leon des Beaux; doch das Letztere wurde mir erſt klar, als ich ihn zu Hauſe beſucht hatte. Fürs Erſte war er für mich nur das in dem Dornbuſch hängen¬ gebliebene ſcherzhafte Schafvieh. Philiſter über ihn! Der Hauptflegel, ein langer Bierlümmel mit der erb¬ rechtlichen Anwartſchaft auf den Landrath, Regierungs¬ präſidenten oder ſonſt ſo was Schönes, der, wie ſich nachher mir erklärte, mit dem Papa des Beaux hing, das heißt nach endlich bereinigtem Pump ſeine Rechnung noch mit ihm abzumachen hatte! Wie ich provinziales Unſchuldswurm ſofort in die Narrenthei¬ ding hineingerieth und mich ſonderbarerweiſe auch der Situation gewachſen fühlen konnte, iſt mir bis jetzt noch ein Räthſel. Es muß wohl ſo in mich gelegt ſein, und im Grunde war's doch auch wieder nur der reine Vogelſang, wenn es da hieß: der Bengel muß doch bei jedem Unſinn und Skandal das Maul und die Fauſt im Spiel haben. Na kurz, Du kannſt Dir das Ding jetzt ſchon ausmalen. Erſt Hinhorchen, ſodann ulkhaftes Vergnügen an dem Hauptwitz, Nähergehen, Umſchlagen des Spaßes in ſein Gegen¬ theil, darauf die gewöhnlichen Redensarten bis zu dem: Herr, der dumme Junge ſind doch nur Sie! ... 119Die Hauptſache war, daß ich meinen idealiſchen Schneider herausriß. Was ſich nachher ſachgemäß mit den Herren Kommilitonen an den Vorgang knüpfte, iſt erledigt und Rechenſchaft nach Goethes ſämtlichen Werken Band eins gegeben worden. Selbſtverſtänd¬ lich fühlte auch ich mich ein Manſen und
Wie ſagt doch der andere Kerl aus Weimar? ... Die Blinden in Genua horchen auf meinen Schritt, oder ſo ungefähr. Fürs Erſte glaube ich mich in dieſer Hinſicht hier bei euch im großen Weltleben gut genug geraucht zu haben. — Meinen zitternden Schneiderſohn nahm ich unterm Arm: Nu, nur nicht ohnmächtig werden, Sie armes naſſes Huhn. Sagen Sie mir um Gottes willen, was wollten Sie hier in dieſer gemiſchten Geſellſchaft? und dann, wo wohnen Sie; — mein Name iſt übrigens Andres. — Meiner des Beaux — Leon des Beaux, ſtammelte das Geſchöpf. — Aus Paris? — Aus der Dorotheen¬ ſtraße. Da wir denn ſo ziemlich unter einem Dache wohnten, wie ſich auswies, benutzten wir ein und die¬ ſelbe Droſchke nach Hauſe, denn der Knabe war zum Gehen nicht mehr ganz in der nöthigen Beinverfaſſung. Daß er mir am folgenden Tage bei meiner Frau120 Fechtmeiſterin einen Beſuch machte, war ſchicklich, würde meine Mutter ſagen. Daß er mich einlud, nun auch zu ihm zu kommen und die Seinigen kennen zu lernen, unnöthig ... Krumhardt, ich kann jetzt auch Dich dort einführen in die Familie! Würde es Dir Vergnügen machen, das Haus des Beaux und Fräulein Leonie des Beaux kennen zu lernen? “
Wenn ich heute an jene Redensart des Freundes denke und das Haus des Beaux, ſo wird es ſehr licht um mich, und der Schein geht von den Leuten aus, zu denen ich damals geführt wurde. Der Junge aus dem Vogelſang, von der Schulbank, aus dem Pandektenkolleg und der Korpskneipe lernte wieder ein Stück Erde oder Welt kennen, von dem er nichts gewußt hatte, von dem er ohne Velten Andres auch wohl nie etwas erfahren haben würde. Seine übrigen gleichalterigen Lebensgenoſſen würden ihm wohl nicht dazu verholfen haben; ſchon in der Befürchtung, ſich vor ihrer Welt durch zu genaue Bekanntſchaft mit ihrem Schneider lächerlich zu machen. —
Sie kam uns von ihrem Flügel entgegen, Fräulein Leonie des Beaux. Ein hochgewachſenes, ruhiges Mädchen, ein ſchönes Mädchen, deſſen freund¬ lichem Geſicht es nichts that, wenn ſich über den großen, aber etwas kurzſichtigen ſchwarzen Augen die121 ſchwarzen Brauen dann und wann in eins zuſammen¬ zogen. Böſe wollte ſie dann nur ſelten hinſehen, nur etwas ſchärfer.
„ Hinweiſe auf das Mittelmeer, Donjons, Falken¬ jagd, Zelter, Windſpiele und König Renés Minnehöfe kannſt Du Dir ſparen, Krumhardt, “ſagte Velten. „ Ich habe ſie alle ſchon ſelber gemacht. Auch den auf den Kaſtellan von Couçy und die Dame von Fayel. Übrigens, Karl, ſtandeſt Du geſtern vor der lieben Kleinen gerade ſo dumm, wie wenn Du in Obertertia die Uhlandſche Simpelei dem Oberlehrer Knutmann zu deklamiren hatteſt. “
Er ſagte dieſes natürlich nicht in ihrer Gegen¬ wart, ſondern als wir wieder vor der Thür waren und fügte hinzu: „ Nun, was meinſt Du zu den Leuten? “
Man kann bei dem, was man „ von den Leuten meint “, auch ein Gefühl haben von ihrer Umgebung, welches vollſtändig dazu gehört und nicht davon zu trennen iſt. Dieſes traf hier ganz und gar ein, und ich mußte nichts zu erwidern als: „ Ausnehmend anſtändig. “
Heute würde ich ſagen: es war ein vornehmes Haus, in welches wir gekommen waren; aber man hat ja ſo ſeine beſondere Redensart für jede Lebens¬ epoche. — Es war ein ſehr wohlhabendes Haus, das122 auf dem beſten Wege war, zu einem reichen zu werden. Mir imponirte es ſehr, meinem Freunde Velten nicht im mindeſten; der war da ſofort da ſo bei ſich, wie früher bei Hartleben im Vogelſang und jetzt bei der Frau Fechtmeiſterin Feucht. Und es war daſſelbe, wie zwiſchen den grünen Hecken des Vogelſangs: es kam wieder ein ſchönes Mädchen für ihn an den Zaun, nur diesmal nicht, um ſich mit ihm zu zanken, zu vertragen und wieder zu zanken. Leonie des Beaux zankte ſich mit Niemand in der Welt und vor Allem nicht mit Einem, dem ſie ſich zu Dank verpflichtet glaubte, weil er gegen „ unſer Kind “, ihren Bruder gut geweſen war.
„ Aber es ſind ja auch Beide ein paar Kinder, “ſagte ſie ſpäter, als wir Zwei vertrauter und ganz bekannt miteinander geworden waren. „ Ihr Herr Freund und mein armer Leon paſſen zu einander wie Hand und Handſchuh. Herr Andres iſt freilich die Hand. Ich freue mich recht, daß ſie zuſammen¬ gekommen ſind, wenn auch durch eine ſo lächerlich¬ tragiſche Thorheit meines närriſchen Bruders. O Herr Krumhardt, bitte, machen Sie meinen Bruder nicht lächerlich! Man kann auch in einer Stadt wie Berlin noch immer in einem ſtillen Märchenwinkel aufwachſen, und das ſind wir Beide, Leon und ich; und mein Papa hat dazu geholfen (meine Mama123 iſt lange todt), daß wir ſo geworden ſind — Leon beſonders, den er hat von uns Zweien immer die unruhigſte Phantaſie und Seele. Übrigens iſt er doch auch ein rechter, guter Kaufmann. Er führt die Bücher da unten in unſerm Geſchäft, und Papa iſt recht mit ihm zufrieden. Aber Papa iſt eigentlich auch ſehr mit daran ſchuld, daß wir ſo aufgewachſen ſind in Einbildung und Träumen. Das hat ſich ſo von einer Generation zur andern weitergegeben, ſeit wir unter Ludwig dem Vierzehnten nach Branden¬ burg zu dem Großen Kurfürſten gekommen ſind. Ach, Herr Krumhardt, die Kinder des Schneiders des Beaux haben ihr Hausheiligthum und ihre Ritter¬ buchbibliothek wie der edle Junker Don Quixote von la Mancha. Hat Leon Sie noch nicht hineingeführt? Das wundert mich! Herr Vel — Herr Andres ſitzt ſehr häufig dort und hat auch ſchon manches Merk¬ würdige da gefunden wie er ſagt. Soll ich für Sie da auch ſagen: Seſam öffne Dich? “
„ Das würde ſehr liebenswürdig von Ihnen ſein, gnädiges Fräulein. “
„ O, ſpotten Sie nur über die Firma des Beaux, Vater und Sohn! “—
Es war hier wirklich kein Grund zum Spotten. Das Haus des Beaux hatte nicht nur ſeinen Salon, ſeinen Konzertflügel ſammt reichen Teppichen, Kron¬124 leuchtern, ſchönen Ölgemälden, Kupferſtichen und dergleichen, was ſonſt zum laufenden Tag gehört; es hatte auch ſeine Bücherei, und in dieſem nüchternen Berlin des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts, heraus wie aus dem ſiebenzehnten Säkulum in den Einzelheiten noch viel weiter zurück in den Zeiten und Hiſtorien, ſein Muſeum. Wie die Leutchen es zuſammengebracht hatten, war ſchon an und für ſich ein hiſtoriſches Wunder.
„ Von unſeren angeſtammten Familienheilig¬ thümern haben wir wenig mitbringen können in die Mark, “erklärte Fräulein Leonie. „ Vieles iſt geerbt oder angeheirathet; aber echt iſt Alles. Papa kommt durch ſeinen Beruf nicht ſelten nach Paris, und dann reiſt er gewöhnlich auch nach Südfrankreich und ſein Vater und Großvater haben das auch ſo gemacht. Papa kommt nie nach Hauſe ohne ſich und uns Kindern etwas von dorther mitzubringen. Bitte, nehmen Sie Platz! “
Das ſah man, als ſie ſich an dem ſchwerfälligen, kugelfüßigen, grünbehangenen Studirtiſche in der Mitte des Gemachs niederließ, daß nicht nur Alles umher echt war, ſondern daß auch ſie zu dieſem Raum gehörte, und — ihr Bruder auch.
„ Hier ſitzen wir denn und denken uns zurück, “ſagte Leonie. „ Dann liegt auch für unſeren Vater,125 oder gerade für den erſt recht, der Tag und unſer Geſchäft wie auf einem anderen Weltball. Und hier iſt an Leon und mich Alles gekommen, was wir für unſer Beſtes halten, und was den Leuten mit vollem Recht ſehr komiſch erſcheinen muß, wenn wir damit unter ſie gerathen. Ich komme wohl nicht in die Verlegenheit; aber mein armer Bruder von ſeinem Schreibpult im Comptoir drunten leider doch dann und wann, und ſo neulich wieder in Ihrer Univer¬ ſität, wo Herr Andres ſo gütig war, ſich ſeiner an¬ zunehmen. Er, Leon, hat es noch nicht recht gelernt, den Traum und das Leben auseinanderzuhalten, und kommt alſo nur zu oft wie ein geſchlagenes Kind nach Hauſe, und es koſtet Wochen in dieſem unſeren Phantaſieſtübchen, ehe er ſich wieder zurechtgefunden hat in der Welt. Wir haben eigentlich da draußen in der Zeitlichkeit einen großen Umgang, und darunter ſucht er denn wie der alte Grieche nach Menſchen, die zu ihm paſſen. Ach, wenn er dann nur ausge¬ nutzt und gehänſelt würde, ſo wollte ich gar nichts ſagen; aber er wird auch gekränkt und bis aufs tiefſte verwundet, und wenn ich auch die Älteſte und die Vernünftigſte bin — ein noch älterer Bruder von uns iſt, als ich noch ein ganz junges Kind war, bei Mars la Tour gefallen — ſo kann ich doch nur allzu oft ihm gar nicht helfen. O, wenn ein Menſch es werth126 wäre, einen echten Freund zur Seite zu haben, ſo iſt das mein armer Bruder; und jetzt, Herr Krumhardt, nehmen Sie es mir nicht übel, jetzt hält er wieder einmal Ihren Herrn Freund, Herrn Andres, für einen ſolchen, und ich, ich — ich weiß nicht, wie ich Ihnen das ſagen kann und ob ich es Ihnen ſagen darf: ich weiß nicht, ob ich Freude oder Angſt haben ſoll. Mein Bruder hat ſo viele Bekanntſchaften ge¬ habt, aber dies iſt die erſte, in der ich mich ganz und gar nicht zurechtfinden kann. O bitte, ſagen Sie es ſich ſelber beſſer als ich es kann! Aber es wäre nicht edel und gut von Ihrem Freunde, wenn er meinen lieben närriſchen Leon noch mehr als ein Anderer und bloß etwas feiner, alſo ſchlimmer, als ein armes Spielzeug behandeln würde. “
Es hatte mein Freund Velten, von unſerm erſten Zuſammenaufwachen im Leben und Vogelſang an, mir nie ſo ganz und gar mit Allem, was in und an ihm war, vor der Seele geſtanden, wie in dieſem Augenblick. Ich hätte eine Monographie über ihn ſchreiben und Doktor darauf werden können; aber zu erwidern wußte ich hier und jetzt nichts als:
„ Gnädiges Fräulein, da können Sie ganz ruhig ſein. Luſtig macht ſich Der nur über ſich ſelber. Da fragen Sie nur im Vogelſang nach. Ich will gerade nicht ſagen, daß er einen guten Ruf dort hatte in127 dieſer Hinſicht; aber das war doch einfach bloß darum, weil ihn eigentlich nur drei Leute da ganz genau kannten. Seine Mutter, ich und — Ell — Fräulein Helene Trotzendorff. “
„ Wohl eine liebe Tante von Ihrem Herrn Freunde? “fragte Leonie, und ich hatte mich wirklich erſt einen Augenblick darauf zu beſinnen, auf wen die Frage ſich bezog. Aber es war ja auch richtig, damals iſt Miſtreß Mungos Mädchenname zum erſten Male in dem hiſtoriſchen Traumſtübchen der Geſchwiſter des Beaux genannt worden.
Er iſt noch oft dort erklungen. Er wurde ein ſehr vertrauter Klang da.
„ Siehſt Du, Karl, man findet überall die Leute, zu denen man paßt. Wie wir hier zuſammenhocken, wir Vier jetzt, iſt das nicht gerade dasſelbe, wie damals, als wir Drei aus dem Vogelſang auf dem Oſterberge im Wald lagen und das niedliche Reſidenz¬ neſt unter uns hatten. Haben mir heute Abend nicht ebenſo dies Berlin unter uns? Nur immer über den Dingen bleiben und möglichſt wenig von ihnen haben wollen! Fragen Sie nur den Kandidaten128 beider Rechte hier, Fräulein Leonie. Der ſteht vor dem Referendarexamen und beantwortet Ihnen jegliche Frage aus und über Banauſien mit Eins A. Leon, Sie ſind und bleiben ein Rieſe, und wenn Sie mich noch ſo ſchafsmäßig anſtarren. Was ſagen Sie übrigens zu dem letzten New Yorker Bericht meiner Kleinen, Fräulein Leonie? Das arme Wurm ſcheinen ſie drüben ſchon ſauber eingeſeift zu haben; ich wollte, ich hätte ſie heute Abend auch hier bei uns, um ihr den Kopf zurechtzuſetzen. Und Sie würden mir dabei helfen, nicht wahr, Fräulein Leonie? “
„ Sie hat Ihnen einen ſehr hübſchen Brief geſchrieben, Herr Andres, “ſagte Leonie des Beaux leiſe. „ Sie ſcheint in einem großen Leben zu leben und giebt ſich doch alle Mühe, treue — Freundſchaft zu halten mit — mit — “
„ Dem Vogelſang, dem Oſterberge, kurz, der deutſchen Kinderſtube, “lachte Velten. „ Das wollte ich ihr aber auch gerathen haben, “ſetzte er ein wenig mit den Zähnen auf der Unterlippe hinzu, und dann kaum hörbar für ſich: „ Sie weiß es ja aber auch, daß ich ſie ihr ganzes Leben lang nicht loslaſſe. “
Leonie hatte das letzte Wort aber doch gehört. „ Giebt es ſolch einen feſten Griff auf dieſer Erde? “
„ Was man will, kann man durchſetzen, “meinte129 unſer alter Oberlehrer Doktor Langemann auf unſerm Gymnaſium zu Hauſe. Fragen Sie nur Krumhardt, Fräulein, der hat ſich in ſeiner Lebensauffaſſung auch nach dem Wort gerichtet und geht als Sieger zu den Todten. “
„ Rede kein Blech, Velten! “
„ Ich bin niemals mehr gediegenes Erz geweſen als an dieſem Abend und unterm Auge des alten Hugenottenpaſtors und des jungen Albigenſerritters da an der Wand. Die haben ſie vielleicht ihrer Zeit lebendig gebraten, aber haben die Zwei nicht noch heute ihre Fauſt am Kragen hier meines intimen Freundes Monſieur Leon des Beaux aus Albi? Übrigens haben wir, Lenchen und ich, ſchon lange vor Ihrer Frage, Fräulein Leonie, eine Wette auf dem Oſter¬ berge darauf hin gemacht, wer von uns Beiden den feſteſten Griff habe und den Anderen zu ſich holen werde. Selbſtverſtändlich und naturgemäß hat ſie gegenwärtig die obere Hand, und ich werde es meiner Alten zu Hauſe nicht erſparen können: ich muß hinüber zu ihr nach Amerika. “— — — —
Es iſt unaktenmäßig in den Akten: wir haben damals ſolche Unterhaltungen gefühlt in Leons und Leonies romantiſchem Zauberſtübchen in der Stadt Berlin. Und es ſind auch ſolche Briefe, von denen Velten Andres redete — Briefe, die Helene Trotzen¬W. Raabe. Die Akten des Vogelſangs. 9130dorff hinter dem Rücken von Vater und Mutter geſchrieben hatte, dort von Hand zu Hand gegangen. Wie ſehr erwachſene, verſtändige, vernünftige Leute wir draußen in den Gaſſen der Reichshauptſtadt ſein mochten, in Leonie des Beaux 'Reiche waren wir noch dergeſtalt unmündig Volk, daß wir die höchſten Ehrenſtellen und Sitze im Kinderhimmel des Evangeliums hätten in Anſpruch nehmen dürfen. Und wir wußten es natürlich nicht und hielten uns im Gegentheil für außerordentlich weltklug. Fräulein Leonie vielleicht ausgenommen.
Die achtete mit immer größeren, ſchärferen und — ängſtlicheren Augen auf den neuen Freund ihres Bruders, auf den närriſchen Velten Andres. Daß es mir freilich damals aufgefallen wäre, kann ich nicht ſagen: ich kann es eben nicht genug wiederholen, daß das Meiſte aus dieſer Vergangenheit mir ſelber erſt klar und deutlich wird und einen logiſchen Zuſammenhang gewinnt, wie ich dieſe Blätter be¬ ſchreibe und — paginire.
Ob er, der Junge aus dem Vogelſang, je in ſeinem Leben einen Begriff davon bekommen hat, was dieſe großen, anfangs ſo freudigen, dann mehr und mehr ernſten, traurigen Augen für ihn bedeuteten, weiß ich nicht. Wie viele treu beſorgte Blicke aus lieben Augen gehen Einem verloren, während man auf131 das Zwinkern, das Schielen und Blinzeln der Welt rundum nur zu genau achtet und ſich ſein Theil Ärger, Kummer, Sorgen, Verdruß und Verzweiflung daraus holt!
Seltſamerweiſe hatte Leonie des Beaux das größte Vertrauen zu mir, und durch mich wußte ſie allgemach ebenſo gut als ich, wie es im Vogelſang ausſah, oder vielmehr (ſchon damals) ausgeſehen hatte. Sie kannte nicht bloß die Familie Krumhardt, Vater, Mutter und Sohn, ſondern ſie kannte auch den alten Hartleben und Miſtreß Trotzendorff — letztere in ihrer Verdunkelung wie im blendendſten Glanze. Sie hatte an jeder grünen Hecke mitgelehnt, in jeder Gartenlaube mitgeſeſſen; ſie kannte den Oſterberg und die zierlichen Promenadenwege und Bänke am Rande des Waldes, und die Ausſicht auf die kleine zierliche Reſidenz drunten im Thal. Wovon ſie aber am genaueſten Beſcheid wußte, das war — ſeine Mutter, die Frau Doktorin Andres und ihr Häuschen — neben uns an, hinter dem nächſten nachbarſchaftlichen lebendigen Liguſter -, Stachel - und Johannisbeerzaun zwiſchen Mein und Dein im Hypothekenbuch. Ja, wie ich das jetzt ſchreibe, erfahre ich es erſt, wie gut ſie bei ſeiner Mutter Beſcheid wußte — damals — und wie ſie vom Keller bis zum Dache ſich in dem kleinen Hauſe9*132unter dem Oſterberge zurechtgefunden haben würde, wenn man ihr den Thürgriff in die Hand gegeben hätte. Ach, wie häufig geſchieht das, daß wir ſeufzen: „ Ja, wenn Das und Das geweſen wäre, ſo hätte ſich Alles ſo leicht zum Beſſeren — zum Beſten wenden können! Es war ja ſo einfach, es lag ja ſo vor der Hand! Man brauchte in der und der Stunde, in dem und dem Augenblick nur zuzugreifen, um das Richtige für einen ganzen langen, guten, glückſeligen Lebensweg zu treffen. Eine Wendung von der Rechten nach der Linken, oder umgekehrt, genügte vollſtändig, wenn wir nicht ſo blind, ſo dumm geweſen wären! “— Was wiſſen wir aber eigentlich hierüber? — — — — —
Das Verhältniß zwiſchen Velten und Leon, dem beſten klarſten Kopfe des Vogelſangs und dem beſten harmloſeſten und verworrenſten der Stadt Berlin, vertiefte ſich ebenfalls immer mehr. Für dieſes weiß ich kein edleres und ſchöneres Gleichniß als das ſehr edle und ſehr ſchöne: Die Freundſchaft zwiſchen einem lieben, klugen, bis in den Tod und das Lächerlichwerden getreuen Hunde und ſeinem Herrn, Eigenthümer und — beſten Freunde. Damals!
In Velten Andres hatte der arme glückliche, reiche Hausſohn aus dem Schneiderladen Alles ge¬ funden, was er bis dahin in Berlin und der weiten133 Welt außerhalb des Familienzauberthurms vergeblich geſucht hatte — einen von der allgemeinen Heerſtraße gleich ihm verlaufenen Genoſſen, der in der rechten Weiſe über ihn lachte und ihm mit jedem Lachen und Lächeln und durch jeden kameradſchaftlichen Schlag auf die Schulter, jedes Zupfen am Ohr das Herz mit in die Höhe hinaufnahm. Nein, das Herz nicht; nur den Kopf. —
Kein Hund und keine Liebende konnten um dieſe Lebensſtunde auf den Geliebten, den Herrn und den Freund genauer achtgeben, beſorgt-freudiger auf jedes Wort, jeden Wink, jede Bewegung beim ſtillen Nebeneinander und im menſchenvollen Geſellſchafts¬ zimmer, kurz, bei jeder Lebenskomödienſcene paſſen, als Leon und Leonie des Beaux auf Alles, was Velten Andres ſagte und that, oder — nicht ſagte und nicht that. Daß er das ſo deutlich wußte wie ich, glaube ich nicht: ſein ſpäterer Lebensweg ſpricht dagegen. Er war es eben zu ſehr gewöhnt, daß die Leute ihm nachſahen, und er nicht über ſie hinweg, ſondern durch ſie durch in ſeine Welt hinein auf ſeine Weiſe, die nur ſehr ſelten mit der — unſrigen übereinſtimmte. Mit der unſrigen! denn wie oft habe ich ſchon zu Hauſe, im Vogelſang, den Vernünftigen dort Recht geben müſſen, wenn ſie meinten: „ Der Junge iſt rein verrückt! “—
134Es war ein wunderlich behagliches Leben dort bei der Frau Fechtmeiſterin Feucht in Veltens erſtem Studentenſtübchen und in des alten deutſch-franzöſiſchen Schneidermeiſters und ſeiner Kinder Zaubererinnerungs¬ raum. Von außen ſah man es dem Hauſe in der Doro¬ theenſtraße wahrhaftig nicht an, was es in ſeinem innerſten Innern barg. Daß ich, ein deutſcher Studioſus der Jurisprudenz, nach Berlin gekommen ſei, um mich in meiner Wiſſenſchaft daſelbſt noch mehr zu vervollkommnen, ging mir von Tag zu Tage mehr aus dem Begriff verloren. In dieſer Beziehung war es ein Glück zu nennen, daß mein Aufenthalt mir nur kurz von meinem Vater bemeſſen worden war. Die Einzige, der ich zu Hauſe dieſes Semeſter hätte begreiflich machen können, war die Frau Doktorin Andres. Die aber wußte natürlich ſchon ſehr Beſcheid, wies auf einen Haufen Briefe aus der Reichshauptſtadt und lächelte trübe:
„ Ja, ich weiß ſchon. Daß ſich das Kind drüben in Amerika wieder zu den Seinen finden würde, wußte ich. “
Mit einem leiſen Seufzer und ſeinem Blick über die nächſte Nähe fügte ſie hinzu und glaubte feſt an ihr eigen Wort:
„ Du kennſt ihn ja, lieber Karl, und weißt, wie wenig Einfluß ich von jeher auf ihn gehabt habe. “
So reden die Weiber, wie ſie das Glück und135 das Elend, das Beſte und das Schlimmſte auf dieſem Erdball weitergeben! —
Er iſt doch mein Freund geweſen und ich der ſeinige. Ich habe ſein Leben mit erlebt, und doch, gerade hier, vor dieſen Blättern, überkommt es mich von Seite zu Seite mehr, wie ich der Aufgabe, davon zu reden, ſo wenig gewachſen bin. Ich habe Alles erreicht, was ich erreichen konnte; er nichts — wie die Welt ſagt — und — wie ich mich zuſammen¬ nehmen muß, um den Neid gegen ihn nicht in mir aufkommen zu laſſen! Was kann ich heute an ſeinem Grabhügel Anderes ſein, als ein nüchterner Protokoll¬ führer in ſeinem ſiegreich gewonnenen Prozeß gegen meine, gegen unſere Welt? Was aber würde erſt ſein, wenn ich auch nicht mein liebes Weib, meine lieben Kinder gegen dieſen „ verlorengegangenen “, dieſen — beſitzloſen Menſchen mir zu Hilfe rufen könnte? —
Wie geſagt, ich mußte nach Haus ins erſte juriſtiſche Examen und ließ ihn in Berlin, in einer Geſellſchaft, oder beſſer Genoſſenſchaft, die damals ſchon nicht mehr aus der Familie des Beaux be¬ ſtand.
136Das Beſte aus dem Vogelſang, der Form wie dem Gehalt nach, in der Dorotheenſtraße zu Berlin! Wie in dem Stübchen der Frau Fechtmeiſterin die Trophäen des alten, ſeligen Jenenſers Laniſtra, oder wie Leon ihn in ſeinen Chroniken fand: Maistre escrimeur, ihr innerlichſtes Behagen durch ein leiſes Schüttern und Klirren ausdrückten! Wie die Frau Fechtmeiſterin manchmal ihren „ närriſchſten und liebſten dummen Jungen “am Ohr nahm und rief: „ Jetzt hören Sie aber auf, Sie junger Schulfuchs! Sind wir die ſieben Schwaben an Einem Spieß, oder ſind wir die vier Haymonskinder auf Einem Gaul? Ich weiß es wirklich nicht. Und Sie, Fräulein Leonie? Geht es Ihnen auch ſo wie mir, daß Sie nie recht wiſſen, was das Menſchenkind eigentlich für Ernſt nimmt? Ja, ob er jemals in ſeinem Leben ſchon irgend was für Ernſt genommen hat? Ich für mein Theil habe mir ſeit lange nicht ſo oft wie jetzt meinen Seligen hergewünſcht, um dieſem jungen Leichtſinn und Phantaſtikus den richtigen Waffenſegen zu geben, daß die Philiſter ihn uns nicht auf ſeinem Lebens¬ wege zum Krüppel geſchlagen im Chauſſeegraben liegen laſſen. Velten, Velten, nehmen Sie das Wort der Fechtmeiſterin Feucht drauf an, daß ſie ihrer Zeit manche gute Klinge aus mancher feſten Fauſt hat ſchlagen ſehen. Nicht Alles, was auf der Menſur137 in den Lüften blitzt und leuchtet, ſitzt nachher auf die richtige Weiſe und bringt eine ſaubere Abfuhr zuwege. Da mag man doch aufs Tapet bringen, was man will, Herr Andres: ſolch ein armer, unſchuldiger, pudelnärriſcher Draufgänger, mit der Gabe den Spieß zu ärgern, wie Sie, iſt mir weder in Jena noch hier in Berlin, noch ſonſt in meinem lieben, langen Leben vorgekommen. Den Herrn Leon frage ich nicht um ſeine Meinung; aber was iſt Ihre Anſicht, Fräulein des Beaux? “
„ Man kann auch unter den Fußtritten der Leute auf der Landſtraße und in der Gaſſe auf Salas y Gomez ſterben, “ſagte Leonie des Beaux leiſe. Damals ging das Wort an mir vorüber in der lachenden, luſtigen Unterhaltung, wie das ſo gewöhnlich iſt, und ich habe mich vielleicht höchſtens einen kurzen Augenblick darüber verwundert, wie das Mädchen dazu kam. Heute haftet mein Blick, von meinem Schreibtiſch aus, über das benachbarte Hausdach hinweg, auf einer bewaldeten Hügelkuppe. Das iſt der Oſterberg, auf dem wir, da wir noch Kinder waren, die Sternſchnuppen, die Thränen des heiligen Laurentius, fallen ſahen, und es verſuchten, bei jedem fallenden Funken einen Wunſch zu haben, um ihn in Erfüllung gehen ſehen zu können.
Einen Tod auf Salas y Gomez, das heißt138 einen einſamen Tod, aber — nach dem Wege und Siege des Welteroberers wünſchte ſich Velten Andres damals.
Sein Wunſch iſt ihm erfüllt worden! Er hat die Welt überwunden und iſt mit ſich allein ge¬ ſtorben. — — — — — — — — — — — —
Alſo, wie geſagt, ich ließ ihn in Berlin, beſtand zu Hauſe ehrenvoll, und wie es mein Vater auch gar nicht anders erwartet hatte, mein erſtes juriſtiſches Examen, wurde der nächſten Behörde, die eine Lücke für mich aufzuweiſen hatte, als rechtskundiger Kate¬ chumene zugeteilt, entſprach den Anforderungen meiner Vorgeſetzten und ſah, wie mein Papa, dem zweiten „ ſtärkern Licht “, das heißt der nächſten Prüfung, mit nicht ungerechtfertigtem Vertrauen entgegen. Er kam einige Male in den Ferien zu ſeiner Mutter heim, und ſtellte dem Vogelſang ſowie der Reſidenz ſeinen Freund, Herrn Leon des Beaux, vor, indem er ihm ſein Bett in ſeinem Schülerſtübchen unterm ſchrägen Dache der Frau Doktorin abtrat, ſelber auf dem Sofa kampirte und (auch durch mich) in der Hauptſtadt verbreitete: den Titel „ Vicomte “habe die Familie im Laufe der Jahrhunderte einſchlafen laſſen, aber die franzöſiſche Republik erkenne ihn heute noch an, und der ſchüchterne junge Menſch habe für Jeden,139 der ihn zu nehmen wiſſe, einen unbegrenzten Kredit bei ſeinem Herrn Vater in der Taſche.
„ Das geht ja noch über Schlappe! “ſeufzten unſere Zeitgenoſſen in der Heimath, fügten jedoch be¬ ruhigt hinzu: „ Na, er wird wohl wieder nichts damit anzufangen wiſſen und ſeine guten Karten nicht aus Dummheit, ſondern purer Suffiſance abermals aus der Hand geben. “
„ Was haben Sie den Herrſchaften hier eigentlich über mich aufgebunden? “fragte wohl (und hatte das Recht dazu) der Sohn und Erbe des jetzt wohl¬ habendſten und berühmteſten Schneidermeiſters von Berlin an der Spree, in gewohnter, ſchüchterner Verlegenheit die Hände aneinander reibend. „ Die Leute ſind doch ganz gewiß nicht meinetwegen ſo liebenswürdig gegen mich an dieſem entzückenden Orte. “
„ Bloß Ihretwegen, Leon! Ich habe nur bei¬ läufig fallen laſſen, daß Sie mein guter Freund ſind, und daß mir Ihr Herr Vater ſein Haus und einen Credit illimité, das heißt Rieſenpump, bei ſich eröffnet habe. Krumhardt kann das bezeugen, und unſere Alte da auch, Monsieur le vicomte. “
„ Ja, ja! “lachte die Frau Doktorin Andres. „ Beruhigen Sie ſich aber nur, mein lieber Freund; ſolchen ſchlimmen Ruf unter den Leuten können Sie140 ſich ſchon gefallen laſſen. Es iſt noch nicht die ſchlimmſte Art, um verlegen zu werden, wenn Einem die Leute in den Gaſſen nachgucken. “
„ Monstrari digito, “entfuhr mir ſelbſtverſtändlich, und ebenſo ſelbſtverſtändlich fuhr Velten Andres fort im Citat:
„ Et dicier Hic est! “fügte aber natürlich hinzu und zwar grinſend: „ Herrje, er weiß auch hierfür ein Citat! Leon, wünſchen Sie heute nach¬ mittag im Kaſinokonzert den vornehmen Fremden zur Darſtellung zu bringen, oder legen Sie ſich lieber mit mir in den Wald am Schluderkopfe und wehren mir die Fliegen ab? “
„ Aber Velten?! “murmelte ſelbſt die Nachbarin Andres; doch ihr Sprößling meinte:
„ Ich arbeite ja dabei an ſeiner Bildung, Mama. Na, wie iſt's, Leon? Und wie iſt's mit Dir, Aus¬ kultatore oder zu deutſch: Aufmerker, auch, nach Heyſes Fremdwörterbuch: Sitzungszuhörer? “
Auch ich verzichtete auf das Gartenkonzert der beſſern oder beſten Geſellſchaft des Städtleins, und ſo durchſtreiften wir die Wälder auf den Hügeln auch diesmal wieder wie in unſerer Knabenzeit, und unſere Kameradin, Helene Trotzendorff, ging wieder mit uns. Velten hatte wieder einen Brief von ihr in der Taſche, über den er mit ſeiner Mutter ſchon141 Manches geſprochen hatte, und von dem er nunmehr auf dem Schluderkopfe auch uns genauere Mittheilung machte. —
Wir hatten heute alle unſere Kindermärchen¬ winkel in unſerm frühern Zauberreich wieder aufge¬ ſucht, der Freund und ich, und uns vor dem „ hohen Gaſt aus der Reichshauptſtadt “nicht im mindeſten genirt. Vor wem hatte ſich übrigens Velten Andres auch je in irgend einer Weiſe genirt?
Er hatte uns geführt. Von Buſch zu Baum, vom Fels zum Weiher durch den ganzen Zauber¬ wald mit einem fortwährenden „ Weißt Du noch, Karlchen, hier? Erinnerſt Du Dich noch, Krumhardt, da? “bis auf den Schluderkopf zu einem kurios ver¬ äſtelten hohen Eichbaum, an dem freilich für die drei Nachbarkinder aus dem Vogelſang ein wirkliches Abenteuer hing —
Hier hatte ſie ſich einmal verklettert, und ihm war es nicht möglich geweſen, ſie aus den Lüften und ſchwankenden Zweigen wieder herunterzuholen und ihr zu feſtem Boden unter den Füßen zu ver¬ helfen: ich hatte in die Stadt hinunter nach Beiſtand laufen und den Nachbar Hartleben mit ſeinen Leuten und mit Stricken und Leitern zu Hilfe rufen müſſen.
142Die Sonne war ſchon im Untergehen; ſie leuchtete aber auf dieſer Höhe noch durch den Buſchwald und die Wipfel glühten in ihrem Scheine. Wir Zwei aus dem Vogelſang lagen in dem hohen Graſe, Leon des Beaux ſaß auf einem Baumſtumpfe, hatte auf den Knieen die feinen Ariſtokratenhände zuſammengelegt, blickte zum Zenith und träumeriſch in die Runde, ſah auf den Freund und ſeufzte:
„ O, Herr — wenn ich es doch nur ſagen könnte, wie mir zu Muthe iſt. Welch ein wunder¬ voller Tag das wieder war — “
„ Für einen Menſchen, der mit Stangen im Land der Goldorangen und Citronen, im Orient und am Nordkap war, aus Albi ſtammt, den Großen Kurfürſten in Germanien zum Pathen hat, den ge¬ ſchmackvollſten und nahrhafteſten Schneider von Berlin zum Papa, ſich Leon des Beaux nennt, und als königlich preußiſcher Kommerzienrath dermaleinſt einen wirklichen Künſtler mit der Schöpfung ſeines Grab¬ denkmals beauftragen wird! Leon, das Wundervollſte iſt doch noch für Sie zurück und kommt jetzt erſt. Der Abend iſt freilich ſchön genug dazu. “
Er, Velten Andres, ſprach das ſo mürriſch, ſo verbiſſen giftig, daß ich mich auf dem Ellbogen emporſtemmte, um ihn beſſer betrachten zu können, und Leon ihn faſt ängſtlich anſtarrte.
143Er, im Graſe liegend, die Hände unterm Kopf, zog die bei der Rettung meines Schwagers „ Schlappe “halbgelähmte drunter hervor, wies in die Höhe:
„ Der Aſt da oben war es, Carlos! Da hatte ſie ſich verklettert, hing, klammerte ſich an und kreiſchte. Ich ſchlafe ziemlich traumlos, aber meine Blamage von dem Tage kommt mir doch dann und wann immer noch Nachts im Schlafe. Das war der meinige — mein Aſt meine ich! Was durch Nach¬ klettern und naturhiſtoriſch als Wickelaffe zu leiſten war, glaube ich möglich gemacht zu haben. Meine erſte wirklich verlorene Lebensſchlacht, des Beaux! Den Krumhardt, den höre ich noch zetern, ehe ihm der einzig richtige Philiſtergedanke kam und er zu Thal ſtürzte, den Nachbar Hartleben herauf - und uns herunterzuholen. Wißt ihr, Kinder, ſo iſt der Menſch: dieſen Baum und was dran hing und hängt, werde ich bei keiner Lebens -, Haupt - und Staatsaktion mehr los: es iſt das erſte Mal geweſen, daß ich des Menſchen Unzu¬ länglichkeit auf dieſer Erde auch an mir in Erfahrung gebracht habe. Kein geſchlagener Held, kein verblüffter Philoſoph hat mich auf ſeinem Schlachtfelde oder in ſeinem Syſtem ſeit dem Nachmittag was Neues zu lehren. Es iſt nichts mit dem Heroenthum in dieſer Werkeltagswelt, Leon, und deshalb bin ich ſeit heute morgen feſt entſchloſſen, Helm und Harniſch an den144 Nagel zu hängen, jeglichen Federbuſch als Staub¬ wedel zu vergeben und vor Allem das gelahrte Tinten¬ faß in den Goſſenſtein zu gießen, den Plato und den Ariſtoteles zuzuklappen und Schneider zu werden! Meine Alte billigt meinen Entſchluß; an Ihren Papa habe ich bereits geſchrieben, des Beaux. Was fällt euch an? Entzückung oder Schmerzen? “
Wir ſtanden aufrecht auf den Beinen, Leon und ich, und ſtierten auf ihn herunter.
„ Biſt Du nicht bei Troſte, Velten? “
„ Wie gewöhnlich! Sonſt aber nur ein neuer Unſinn von dem Schlingel! würde der Vogelſang ſagen, “lachte der wirkliche Heros des Vogelſangs, ſich nur noch etwas behaglicher unter der Eiche, in der ſich einſt Fräulein Helene Trotzendorff verklettert hatte, zurechtlegend. „ Ja, ſo iſt es, meine Herren! So halten wir uns für frei und werden an Ketten geführt. Und die eiſernen ſind nicht die unzerrei߬ barſten; jeder im Spinnweb zappelnde Brummer kann darüber nachſagen. Sie und Ihre liebe Schweſter, Leon, ebenfalls, aber gottlob mit frommſeligen, närriſchen Traumaugen — ich bitte Sie, des Beaux, ſehen Sie nicht ſo dumm aus: es verhält ſich ſo! Es iſt wahrlich keine kleine Vergünſtigung der Götter, wie ihr guten Kinder im blauen Himmel der Provence an euren Goldfäden über der Mark Brandenburg145 und der Stadt Berlin ſchwingen zu dürfen! .. Krum¬ hardt. Dein Protokollführergeſicht iſt mir niemals ſo ſympathiſch geweſen wie in dieſem Augenblick! Wenn Du dereinſt Deinen Kindern von Deinem Jugend¬ freunde erzählſt, ſo vergiß nicht, mit melancholiſchem Kopfſchütteln zu ſeiner Entſchuldigung anzuführen: Der arme Tropf konnte nichts dafür; das Mädel hatte ihm eben eines ihrer Goldhaare durch die Naſe gezogen und zog ihn daran ſich nach; — ſo wurde er zum Schneider und ging für die Wiſſen¬ ſchaft verloren drüben in der Atlantis. Der Baum ſteht nicht umſonſt da, und ich liege nicht ohne Grund hier unter ihm. Drunten im Vogelſang ſitzt meine Alte vor ihrer Korreſpondenz mit Amerika, und hier in der Taſche trage ich den letzten Brief Miß Ellens aus Saratoga: das Mädchen verklettert ſich noch einmal, und ich muß ihr wiederum nach; es iſt keine Hilfe und Abwehr dagegen! “
Auch er ſtand jetzt auf den Füßen. Ich hatte ihn nie ſo ſchön, ſtolz und grimmig geſehen. Er hob wie drohend die geſunde rechte Fauſt zu dem ſchickſalvollen Geäſt über uns auf, zu der luftigen Höhe, in der ſie voreinſt gehangen hatten, die zwei Kinder aus dem Vogelſang, in zitternder, wimmernder Todesangſt und im ohnmächtigen, vergeblichen Ringen mit der Unmöglichkeit, Hilfe zu ſchaffen.
W. Raabe. Die Akten des Vogelſangs. 10146„ Willſt Du uns den Brief nicht leſen laſſen, oder vorleſen, Velten? “
Er holte ihn zögernd aus der Taſche, hielt ihn mir hin und zog ihn raſch zurück.
„ Nein! Man muß zu viel zwiſchen den Zeilen leſen. Was könnt ihr davon wiſſen? Du gar nichts, Karl; vielleicht noch eher etwas der Träumer Leon da. Es iſt aber Unſinn; ſchade, daß wir nicht Ihr Fräulein Schweſter hier mit uns haben, des Beaux. Die würde freilich mit ihren lieben, treuen, klugen Augen am klarſten ſehen. Meine Mutter meint, das Kind ſei für uns verloren, der Aff 'habe ſich ſchon zu hoch für den Vogelſang verſtiegen und Mr. Charles Trotzendorff ſein Recht an ihn mit Zinſen genommen. Möglich! Aber was hilft ihre Überzeugung mir? Ich höre das arme Ding zwiſchen ſeinen lachenden Zeilen kreiſchen und meinen Namen rufen wie damals dort oben auf dem Aſt. Wie damals muß ich ihr nach! Aber diesmal wirſt Du nicht zum Nachbar Hartleben um Stricke und Leitern herunterlaufen dürfen, alter Junge. Ich hole ſie mir aus ihrer Verkletterung diesmal ohne fremde Hilfe. Niemals habe ich in meinem Leben etwas ſo ſicher gewußt wie das! Jawohl, wenn Ihre Schweſter, wenn Leonie hier wäre, die würde mit den rechten, mit meinen Augen zwiſchen den147 Zeilen des albernen Geſchmiers leſen und mir den rechten Waffenſegen geben. A la rescousse, mon preux chevalier! Und ſomit bleibt es dabei: ich werde dem fernen Weſten nicht bloß als deutſcher Doktor der Weltweisheit, ſondern auch als inter¬ nationaler Reiſender in Herrenkonfektion imponiren. Für ein halbes Jahr müſſen Sie mir ſchon Ihren Comptoirſtuhl im Geſchäft Ihres Herrn Vaters über¬ laſſen, Meſſire Leon des Beaux. Bei der Frau Fechtmeiſterin Feucht reden wir demnächſt noch das Weitere hierüber. Jetzt aber ſage ich Dir, Krum¬ hardt, ſieh Du nicht ſo dumm aus! “
Drunten im Thal ſagte ſeine Mutter zu mir:
„ Der arme Junge! Er hat Dir erzählt, was er jetzt vor hat, Karl, und es nutzt nichts, ihm dagegen mit tauſend Gründen zu kommen. Und ich laſſe mich leider Gottes nur zu gern mit meinem Beſſer¬ wiſſen beiſeite ſchieben. Da liegt der Brief¬ wechſel, den ich mit meinem armen Kinde geführt habe, die Jahre durch: es iſt die gewöhnliche tragiſche Poſſe. Die Welt der Gewöhnlichkeit, der Gemein¬ heit gewinnt es uns wieder ab, die Firma Trotzen¬ dorff behält ihr Recht; aber der Geiſt Gottes ſchwebt zu allen Zeiten über den Waſſern und bezeugt ſein Recht auf jede Weiſe, auch die wunderlichſte. Auch die Illuſion gehört eben zu ſeinen Mitteln, die Erde10*148grün zu machen und ſchön zu erhalten, und Dein närriſcher Schulgenoß läßt nicht von ſeinen Illuſionen, lieber Karl. Er kann das Mädchen noch nicht auf¬ geben, und er ſagt die Wahrheit, wenn er meint, daß auch ſie noch immer nur auf ihn wartet und nach ihm um Hilfe ausſieht. Möchte ich das ändern, wenn ich's könnte? Nein, nein! Ganz gewiß nicht! Auch ich halte ja, Gott ſei Dank, meine Illuſionen noch immer feſt, wenn auch nicht mit ſeinem lachen¬ den Herzen. Sie iſt ja auch in eurer Kinderzeit zu meinem Kinde geworden, und ich weiß, was ſie werth iſt, und unter allen Umſtänden — ja allen — werth bleiben wird. Auch wenn ſie ihm verloren geht. Wenn er fern ſein wird, habe ich Zeit, mir das, nicht bloß in ſchlafloſen, ſorgenvollen Nächten, ſondern auch da, an meinem Fenſterchen im Sonnenſchein, zurecht¬ zulegen. Dein guter, treuer Vater, lieber Krum¬ hardt, ſitzt hier jetzt häufiger als ſonſt bei mir und erzieht noch wie ſonſt an mir und meinen Kindern; jetzt meint er, mein Junge habe nun den erſten praktiſchen Einfall in ſeinem Leben gehabt. Soll da Unſereine trotz ihrer Sorgen und Ängſte nicht lachen? Euer netter, reicher, junger Freund aus Berlin, mein lieber Freund, euer Herr Leon, hat uns auch in dieſer Hinſicht einen großen Dienſt er¬ wieſen. Er hat ihn, ich meine Deinen guten Papa,149 wenigſtens zu einem kleinen Theil mit der Un¬ zurechnungsfähigkeit meines Velten ausgeſöhnt. Ach Gott, von welchen Mächten werden wir doch be¬ herrſcht und hin - und her gezogen? — ‚ Ich hätte den Burſchen nie für ſo praktiſch gehalten und es ſoll mich ſchon freuen, Frau Nachbarin, wenn ich mich wenigſtens zur Hälfte geirrt habe, ‘ſagt er, Dein Herr Vater, ſeit er in Erfahrung gebracht hat, daß auch große, wirkliche Geſchäftsmänner etwas von ihm halten und ihn gar auf ſeinen närriſchen Wegen fördern. Sieh, Kind, ich rede ja nur ſo offen und frei mit Dir, weil Du von uns Allen hier im Vogel¬ ſang der einzige wirklich Verſtändige biſt und mit Deinem Herzen und Gemüthe doch auch zu mir und Helene und Deinem Freunde gehörſt — weil Du zu meinen Vogelſangkindern gehörſt! Alſo nimm Dir aus dem Unſinn, den ich ſchwatze, heraus, was Du dermaleinſt vielleicht brauchen kannſt, um uns unſer hieſiges Recht, wenn nicht vor der weiten Welt, ſo doch vor Dir ſelber, angedeihen zu laſſen. Denn ſieh, eben weil ich nicht an das Glück meines Velten im Sinne der Welt glaube, ſo möchte ich gerade deshalb, als ſeine arme, angſtvolle Mutter, Einen haben, der in der richtigen Weiſe, wenn keinem Anderen, ſo doch ſich ſelber von uns mit vollem150 Verſtändniß erzählte und ſich all unſer Schickſal zurechtlegte. “
Es iſt kein größeres Wunder, als wenn der Menſch ſich über ſich ſelbſt verwundert.
Wie habe ich dieſes Manuſkript begonnen, in der feſten Meinung von einer Erinnerung zur andern, wie aus dem Terminkalender heraus, nüchtern, wahr und ehrlich farblos es fortzuſetzen und es zu einem mehr oder weniger verſtändig-logiſchen Abſchluß zu bringen. Und was iſt nun daraus geworden, was wird durch Tag und Nacht, wie ich die Feder von Neuem wieder aufnehme, weiterhin daraus werden? Wie hat dies Alles mich aus mir ſelber herausgehoben, mich mit ſich fortgenommen und mich aus meinem Lebens¬ kreiſe in die Welt des todten Freundes hineingeſtellt, nein, geworfen! Ich fühle ſeine feſte Hand auf meiner Schulter und ſein weltüberwindend Lachen klingt mir fortwährend im Ohr. Ach, könnte ich das nur auch zu Papier bringen, wie es ſich ge¬ hörte; aber das vermag ich eben nicht und ſo wird mir die ſelbſt auferlegte Laſt oft zu einer ſehr pein¬ lichen, und Alles, was ich über den Fall: Velten Andres thatſächlich in den Akten habe und durch151 Dokumente oder Zeugen beweiſen kann, reicht nicht über die Unzulänglichkeit weg, ſowohl der Form, wie auch der Farbe nach.
Als ich als Aſſeſſor an unſerem heimathlichen Stadtgericht ihn wieder in Berlin aufſuchte, hatte er ſein Lebensmärchen ferner wieder richtig wahr ge¬ macht und ſaß über den Geſchäftsbüchern des Vaters des Beaux als der „ merkwürdigſte Volontär, der mir jemals vor Augen und ins Comptoir gekommen iſt, “wie der alte liebenswürdige Herr meinte.
„ Sie glauben es aber nicht, Herr Aſſeſſor, “fügte er hinzu, „ wie mein Sohn an ihm hängt, aber noch weniger, daß meine Tochter, meine Leonie, es geweſen iſt, die für alle meine Bedenklichkeiten das Gegenwort hatte und ſtets behauptete: was der junge Herr vor habe, ſei keine Thorheit, Schnurre und Grille, ſondern er wiſſe wohl, was er wolle, und ſie würde an ſeiner Stelle ganz gewiß ganz Dasſelbige wollen. Er will es nämlich verſuchen, in den Vereinigten Staaten ſein Glück zu machen, und da hat er ja auch wohl Recht. Mit unſerm deutſchen Doktor der Philoſophie würde es da drüben in dieſer Hinſicht wohl etwas langſam gehen. Dergleichen geiſtigen Überfluß ſchickt ihnen das alte Vaterland ſchon etwas ſehr reichlich hinüber und ſo ein alter deutſcher Schneidermeiſter hat vielleicht auch ſeine152 Verbindungen in der neuen Welt und kann einem armen, ſtrebſamen Teufel möglicherweiſe eher zu einem auskömmlichen Unterkommen verhelfen. Als von einem armen Teufel darf ich freilich meinen Kindern nicht von Ihrem Herrn Freunde ſprechen, Herr Aſſeſſor; alſo, bitte, erwähnen Sie von dieſem meinen Ausdruck nichts gegen ſie. Wir ſind eben eine wunderliche Geſellſchaft in dieſem Hauſe, das Hinterhaus eingeſchloſſen. Manchmal denke ich, die einzige Vernünftige von uns Allen ſitzt da hinten hinaus, nämlich dieſe Frau Fechtmeiſterin. Na, ſchlägt Die aber auch die Hände über unſern Doktor zuſammen! Sie habe doch in Jena und ſonſt auf ihren Univerſitäten manchen kurioſen Geſellen kennen gelernt, aber ſo einen verrückten wie ihren Freund Andres noch nicht, meint ſie. Das einzige Glück iſt, daß ſie ſich doch nicht ausnimmt, wenn ſie von der Kolonie — der Narrenkolonie redet, die ſich hier in der Dorotheenſtraße zuſammengefunden habe. Die Einzige übrigens, die mir bei der Geſchichte wirkliche Sorge macht, Herr Aſſeſſor, das iſt meine Leonie. Mein Junge findet ſich ſchon noch zurecht im praktiſchen Leben, denn auch dazu haben mir von der Kolonie, diesmal meine ich unſere franzöſiſche, die Anlage unſerm Kurfürſten ſeiner Zeit mitgebracht und zur Verfügung geſtellt. Wird er nicht Kommerzien¬153 rath, ſo wird er doch Kommiſſionsrath, oder das Ge¬ ſchäft macht ihn dazu, ob er will oder nicht. Aber das Mädchen — was von eu — unſerm deutſchen Blut in das im Laufe der letzten zwei Jahrhundert herein¬ gekommen iſt, das entzieht ſich vollſtändig meiner Be¬ rechnung. Meinen armen Leon verſtehe ich zur Noth noch ziemlich genau aus mir ſelber; aber meine Leonie — lieber Herr Aſſeſſor, ich wollte viel drum geben, wenn ich ſagen dürfte, daß ich auch ihren Sprüngen folgen könnte. Hieße ſie nicht noch wie mir Anderen des Beaux, ſo merkte es der doch keiner von uns königlich preußiſchen Staatsbürgern mehr an, daß ſie auch einer ſogenannten Tanzmeiſter¬ nation entſprungen ſei. Ich habe ja gegen den Ver¬ kehr mit dem Hinterhauſe nicht das Geringſte ein¬ zuwenden; aber etwas zu viel iſt's mir doch, daß ſie nur bei der Frau Fechtmeiſterin zu finden iſt, wenn man nach ihr fragt und ſucht. Ich nenne ſie oft nur la Belle au bois dormante, wenn ich wieder einen von meinen Jungen oder Leuten habe hin¬ ſchicken müſſen, um ſie in das gewöhnliche Leben heimzuholen. “— —
Da war wieder der lärmvolle Hof, auf dem die vornehmſten Roſſe der großen Hauptſtadt dem be¬ rühmteſten Hufarzt und ſeinen Gehilfen in die Kur gegeben wurden. Da war wieder der dunkle Eingang154 und die ſteile, enge Treppe, die zu der Frau Fecht¬ meiſterin Feucht und ihrer wechſelnden ſtudentiſchen Mietherſchaar hinaufführte. Die Thürglocke hatte noch denſelben ſchrillen Klang wie früher, und was die Thür öffnete, war noch dasſelbige ritterliche Zwergen¬ weiblein wie früher, und wer ſich am wenigſten ver¬ ändert hatte, das war die Frau Fechtmeiſterin Feucht; und wie immer mit dem Strickzeug in den Händen und dem dazu gehörigen Garnknäul unterm linken Arm: wohin kommen alle die Strümpfe, die ſolche liebe, auf dem Altentheil und ihren Erinnerungen ſitzende alte Damen ſtricken? Von denen, die aus den Händen der Frau Fechtmeiſterin hervorgingen, hätte es manch ein akademiſcher Bürger der Friedrich - Wilhelms-Univerſität zu Berlin durch manch ein Semeſter ſtatiſtiſch ganz genau nachweiſen können. —
Sie erkannte mich nicht gleich. Es lagen ja zwei Staatsexamen zwiſchen unſerm letzten Zuſammen¬ ſein und dem heutigen Beſuch.
„ Sie? “rief ſie dann. „ Alſo endlich? Wenn ich nach einem Menſchen auf Erden ausgeſehen habe, ſo ſind Sie das. “
Und mir die Thür ihres Stübchens öffnend, ſchob ſie mich hinein.
„ Da haben wir den Zweiten aus dem Vogel¬ ſang, Leonie. Jetzt aber auf die Menſur mit mir,155 Aſſeſſor Krumhardt. Sehen Sie wohl, daß Ihnen die Schmarre über der Naſe daheim bei Ihren Leuten am grünen Tiſch nichts geſchadet hat! Und der Andere Treſenhüpfer und Ellenreiter drunten bei des Beaux Sohn und Nachfolger! Sie kennen doch Fräulein Leonie des Beaux noch, Herr Kommilitone? “
O, wohl kannte ich ſie noch! Das liebe Mädchen erhob ſich wie ſonſt aus ihrem Seſſel, der abſonder¬ lichen, greiſen Freundin gegenüber, ſie ſchien mir noch ruhig-ſchöner, ſtattlich-vornehmer geworden zu ſein und lächelte:
„ So leicht vergißt man doch wohl ſeine guten Freunde nicht, Mama Feucht! Vorzüglich wenn man aus dem Vogelſang — “
„ Nach Berlin kommt und endlich einmal wieder die weißeſte Hand aus dem Roman von der Roſe küſſen möchte. “
Sie reichte ſie mir, lächelnd, aber nicht zum Kuß, und ſagte: „ Hier, Herr Aſſeſſor, wie ſonſt aus der Schneiderwerkſtatt und dem Herzen der Romantik heraus; ſeien Sie uns willkommen. Da mit der alten Treue unſer altes, närriſches Spielzeug doch auch ſein Recht bei Ihnen behalten hat, Messire Charles du Pré-aux-clercs. “
„ Von der Schreiberwieſe! “rief ich, die feine Ironie wohl verſtehend. „ Jawohl, jawohl, gnädiges156 Fräulein! Und der Chevalier sans peur et sans reproche da unten im Vorderhauſe hinter den Ge¬ ſchäftsbüchern des Herrn Kaſtellans, ſitzt heute beſſer zu Roß auf ſeinem Dreibein, mit der Feder hinterm Ohr, als je ein Rittersmann, der in Stahl und Eiſen auszog für das Trecrestien, franc royaume de France; und die Frau Fechtmeiſterin Feucht iſt ſchon abgef — geſchlagen, noch ehe ſie ſich recht aus¬ gelegt hat für ihr Ritterthum von der Saale. “
„ Wenn ein junger Menſch zuerſt doch nach Jena gehörte und vom Hausberge und dem Fuchsthurm in die Welt hätte hineinſehen müſſen, ſo war das doch mein Herr Velten, “ſeufzte, zugleich verdroſſen und betrübt, die Frau Fechtmeiſterin. „ O, dies Berlin! Wie kann ein deutſcher Student mit Berlin ſein Daſein anfangen und in Berlin hängen bleiben? Und noch dazu ein Kind mit ſolchen Naturgaben wie dieſes, das meinen Seligen zu Rührungsthränen gebracht haben würde; — trotz ſeiner lahmen Linken der beſte Schläger, den ſie jetzt hier haben, und — verkriecht ſich nun hinter einem Comptoirtiſch! Der Kalk fällt mir darüber von den Wänden. “
„ Da hat die Frau Fechtmeiſterin Recht, “lächelte Leonie. „ Die Wände drüben in Ihres Herrn Freundes Stube, erzählen freilich mit Jammer von den Triumphen, die dort die hohe Kunſt gefeiert hat! 157Und verſuchen Sie ſich nur mit meinem Bruder, Herr Aſſeſſor. Die Welt kehrt ſich freilich gänzlich um: der Schneider geht auf die Menſur, und Ger¬ maniens Heldenjugend, wenn nicht auf den Schneider¬ tiſch, ſo doch in die doppelte Buchführung und — “
Eben hatte ſich draußen in der Vorſaalthür ein Schlüſſel gedreht und ein Schritt erklang im Gange. Die junge Dame erröthend und wie erſchreckt brach ab in ihrer Rede.
klang es draußen aus einem franzöſiſchen Volksliede, das uns vordem Leonie des Beaux in ihrem Salon im Vorderhauſe dann und wann zum Flügel ge¬ ſungen hatte.
„ Da haben mir ja die Tafelrunde aus den Contes de ma mère l'Oie wieder einmal beinahe vollſtändig beiſammen, “rief Velten Andres; und ich ſehe ihn wieder vor mir in ſeiner Pracht, wie man ſich in der Jugend den Lord Byron und im Alter den jungen Goethe vorſtellt. Mit dem kecken, lachenden, ſiegesſicheren Auge und dem Schelmenzug um den Mund — den Liebling der Götter und des Vogelſangs, den Weltüberwinder von Leichtſinns Gnaden. Ich habe ihn nie ſo wieder geſehen wie158 jetzt unter den Trophäen der Frau Fechtmeiſterin Feucht, wo er uns nunmehr wie ein Kind von ſeinen Plänen für die nächſte Zukunft ſprach, als von dem Selbſtverſtändlichſten, was auf dieſer Erde von Jeder¬ mann vorgenommen werden könne.
Er ſchob es Alles aus dem Wege, was ich ein¬ zuwenden hatte; — die alte ritterliche Frau und Leonie hatten keine Waffen gegen ihn: das ſchöne Mädchen übrigens auch keine anderen als ihre melancholiſch ſcheuen, ihre großen, ſehnſüchtigen Augen, die ihre liebe Gewalt nur hinter ſeinem Rücken kundgeben konnten und von deren ihm ge¬ hörenden Wunderreichthum er nichts wußte.
Wir waren ſehr „ heiter “an dem Morgen, vor¬ züglich als auch Leon, der um dieſe Lebensſtunde zu der eleganteſten Tiergartenritterſchaft der jungen Weltſtadt gehörte, in Stiefeln und Sporen dazukam.
„ Als ich vorhin von Ihrem dreibeinigen Roß hinter Ihrem Pult mich herabſchwang, lieber Freund, habe ich doch auch eine Genugthuung gehabt, “ſagte Velten. „ Ihr Papa hat mich auf die Schulter ge¬ klopft und gemeint: ‚ Sehen Sie, cher ami, nicht bloß Ihre Herren Profeſſoren können Vorleſungen halten und Examina anſtellen und Diplome verleihen, auf welche hin ſelbſt ſo 'n Belletriſte wie Sie ſich durch die Welt ſchlagen und es in ihr zu etwas bringen159 kann. Meinem eigenen Jungen ſind Sie wahrhaftig ſchon um mehrere Naſenlängen vor im Weltver¬ ſtändniß. In einem halben Jahre ſchicke ich Sie dahin, wohin ich ihn befördern wollte, offen geſtan¬ den, Herr Andres, um ihn Ihren übeln Einwirkungen zu entziehen. In Tailor made suits drüben überm Ocean Ihr deutſches Gemüth zur Sache hinzugethan, und Sie können dreiſt dort den Laden aufmachen, wie hier am Ort mein Großpapa, Monsieur Ray¬ mond Guy des Beaux, deſſen Papa, wie wir in unſerm Familienarchiv haben, dem alten Fritz nach Kunersdorf auf den Ruinen von Küſtrin im Chorrock und Bäffchen franzöſiſch predigen und ihn tröſten durfte “.
Wie Schade, wie Schade war es, daß er auch jetzt von den Augen, die ihn aus dem Verborgenen auf allen Wegen und bei allen Worten begleiteten, nichts wiſſen ſollte, nach dem Willen des Geſchicks!
Wir haben, ſeit ich angefangen habe, dieſe Akten des Vogelſangs zu kollationiren, das bekommen, was man einen ſchönen Winter nennt — erfriſchenden, jahreszeitgemäßen Froſt, wenig Heulſtürme, aber viel Schnee. Auch in der Nacht, in der ich jetzt weiter160 ſchreibe, ſchneit es wieder. Unaufhörlich rieſelt ſeit dem Nachmittag das weiße Gewirbel nieder und macht die Erde ſtill, glatt und rein. Wenn ich ans Fenſter und nach der nächſten Gaslaterne hinüberſehe, kann ich mich nur ſchwer von dem ſchönen Schauſpiel los¬ reißen; von allen Naturerſcheinungen bringt der Schneefall (vom warmen Zimmer aus geſehen) die behaglichſten Bilder und Traumminuten mit ſich. Der Schnee wärmt. Ich kenne Leute, egoiſtiſche Zärtlinge, die es ſich behaglich vorſtellen, von ihm zugedeckt, als haus - und heimathloſer, hungriger Wanderer auf der Landſtraße müde einzuſchlafen und ſich aus der ungemüthlichen, bitteren Wirklichkeit ſanft hinauszu¬ träumen.
Wie kommt es nur, daß mir das alte welſche Lied, ſchön wie irgend ein deutſches — den ganzen Abend durch nicht aus dem Sinn will? Daß ich es immer von Neuem ſummen muß, während der Schnee fällt, die Thäler ausfüllt und die Berge niederdrückt, indem er ſich weiß, farblos auf ſie legt?!
Es iſt nun ſchon lange Jahre her, ſeit uns Leonie des Beaux das Lied in der Dorotheenſtraße zu Berlin zum erſten Mal ſang. Die hohen Berge,161 die tiefen Thäler, die weiten Meere der Erde haben es nicht verhindert, daß Velten Andres und Helene Trotzendorff wieder zuſammenkamen; ſie ſind auch nicht Schuld daran geweſen, daß ſie ſich nicht wieder¬ fanden für das Erdenleben.
Der Jugendfreund aus dem Vogelſang hat ſein Wort gehalten, daß er von dem Mädchen nicht laſſen werde, daß er ihr nachſteigen werde, wohin ſie ſich auch verklettert haben möge, daß er aber freilich jetzt nicht mehr den Freund aus dem Nachbarhauſe zu Thal laufen laſſen werde, um den Vogelſang zur Hilfe heraufzurufen auf den Schluderkopf.
Er war vor dem Beginn ſeiner Weltfahrten nur noch einmal zu Hauſe, um Abſchied von ſeiner Mutter und uns zu nehmen. Ich ging damals auch ſchon auf Freiersfüßen, und da weiß man ja, wie das dann geht mit dem verliebten jungen Menſchen und ſeinen Gefühlen für ſeine liebſten und treueſten Schulbankgenoſſen. Ihre Sorgen und Hoffnungen, Leiden und Freuden ſind wahrlich um ſolche Lebens¬ ſtunde nicht mehr die unſrigen. Mit einem: „ Na, dann mach's gut, Alter! “iſt der Abſchied, auch unter den beſten Freunden, an einer Straßenecke, am Bahnhof oder auf einem Hafenkai raſch abgethan. Es iſt eine Seltenheit — (immer unter beſagten Um¬ ſtänden!), daß einem von beiden, dem Oreſt oderW. Raabe. Die Akten des Vogelſangs. 11162dem Pylades, dem Kaſtor oder dem Pollux, dem David oder dem Jonathan die Cigarre der Rührung wegen ausgeht, und iſt es ausnahmsweiſe mal der Fall, ſo iſt der Bewegteſte, und das iſt faſt immer der Zurückbleibende, im Stande, den Scheidenden um Feuer zu bitten. —
Es war diesmal nicht mehr die ganze Nachbar¬ ſchaft, welche dieſem Scheidenden nach dem Bahnhof das Geleit gegeben hatte. Meine greiſen Eltern fühlten, kopfſchüttelnd, nicht die Verpflichtung dazu. „ Es iſt doch zu ſehr eine Narrenfahrt und ich bezweifle, daß ich ſowohl dem Jungen wie der Alten das für die Gelegenheit gewünſchte Geſicht ziehen kann, “hatte mein Vater geſagt; und meine Mutter hatte gemeint: „ Ich glaube auch nicht, daß Amalie dieſer Aufmerk¬ ſamkeit und Antheilnahme von unſerer Seite bedarf. Hat ſie ſich jemals im Guten und im Böſen das Ge¬ ringſte von uns ſagen laſſen? Sie haben eben Beide immer ihren eigenen Kopf. “—
Was bedeuteten dieſe Blätter, wenn ich nicht wahr auf ihnen wäre? Im tiefſten Grunde war ich vollſtändig der Meinung meiner Eltern — ſo lange ſie das Wort hatten und Vernunft ſprachen, und verfiel ebenſo gründlich immer von Neuem ſchon der wortloſen Überredungskraft der zwei Anderen aus der nächſten Nachbarſchaft. Es genügte ſchon voll¬163 ſtändig, daß Velten mich lachend auf die Schulter ſchlug und ſeine Mutter dabei mir zunickte. Ein¬ dringlicher war's natürlich, wenn die weiſe alte Frau noch hinzufügte:
„ Höre ja nicht auf den Narren, Freund Karl. Bleibe Du ruhig auf Deinem Wege und halte die Welt aufrecht; nicht bloß hier im Vogelſang, ſondern auch für den Vogelſang! “
So war es auch bei dem diesmaligen Abſchied¬ nehmen auf dem Bahnhofe. Der Lebensmuth und die Siegesgewißheit des ſcheidenden Freundes überwäl¬ tigten das nüchterne Beſſerwiſſen, das ich noch mit dorthin genommen hatte, völlig. Und als mir Velten noch ſagte:
„ Ich verlaſſe mich feſt darauf, daß Du mir ge¬ wißlich meine Stelle bei der Alten vertrittſt und Dich ihrer gegebenen Falls nach Kräften annimmſt, “da konnte ich mich nur fragen:
„ Ja, wird das möglich ſein und je nöthig wer¬ den können? “
Ich verſprach es aber, wahrhaftig mit feuchten Augen und ſtockendem Herzen — mit dem beſten Willen, ſeinen Platz am Herde meines Nachbarhauſes feſtzuhalten und die „ alte Frau “nicht einſam dort ſitzen zu laſſen, während er ſeine Siege in der Welt erfocht. —
11*164Wir ſahen ihn abfahren, wie damals Helene Trotzendorff. Es war eben ein anderer Zug, ein Vergnügungszug, angelangt und ein Gewühl aufge¬ regten und dem Anſchein nach ſehr vergnügten Volkes, das unſerer Stadt und ihrer hübſchen landſchaftlichen Umgebung ſeinen Beſuch zugedacht hatte, quoll uns daraus entgegen. Der Morgen war ſchön, die Sonne ſchien, ein fröhlicher Schenktiſch war von einem ſorg¬ lichen Komitee errichtet worden, die fremden Lieder¬ genoſſen oder Sangesbrüder kamen nicht nur mit ihrem muſikaliſchen Hoch, ſondern auch mit viel Durſt bei uns an und eine einheimiſche Blechmuſikbande brach mit ſchmetterndem Hall zum Willkommen los: die Stadt und Reſidenz hatte ſich ſehr vergrößert und verſchönert ſeit dem Tage, an welchem Mr. Charles Trotzendorff ſein Weib und ſein Kind aus ihr weg und zu ſich holte, und der jetzige Bahnhof, von welchem ich nun die Frau Nachbarin, die Mutter des Freundes, nach Hauſe führte, ſtand damals auch erſt auf dem Papier und lag noch auf den Tiſchen der fürſtlichen Landesbaudirektion. —
Die „ Frau Doktorin “hatte ihren Arm in den meinigen gelegt, und ſie, die bis in ihr höchſtes Alter hinein einen leichten, ſchwebenden Schritt ge¬ habt hat, bedurfte auf dieſem Heimwege doch einer165 Stütze; ich wiederholte mir im Innerſten das Ver¬ ſprechen, welches ich dem Freunde gegeben hatte.
Als wir das Getümmel hinter uns hatten, ſah ſie ſich wie erſchreckt um, wie man ſich umſieht, wenn man etwas ſehr Wichtiges hinter ſich vergeſſen, oder etwas ſehr Werthvolles verloren zu haben glaubt. Dann aber faßte ſie meinen Arm mit beiden Händen, in¬ dem ſie ſtehen blieb, zu mir glanzvoll aufſah und rief:
„ Und das mußt Du doch ſelber ſagen, beſter Karl, daß ihr Alle bis jetzt ihm gegenüber doch immer Unrecht behalten habt! O, bitte, ſprich mir nicht dagegen! Ich habe meine Luſt an ihm, meinen Glauben an ihn, meine Hoffnung auf ihn, von jetzt an freilich nöthiger denn je. O ihr Alle, Alle! Wir ſind ſo gute Nachbarn geweſen unſer ganzes Leben lang — laßt es uns bleiben — wir ſind ja nur noch ſo wenige beiſammen! Sieh, das iſt nun mein dummer phantaſtiſcher Kopf: jetzt iſt es doch wieder ganz anders mit der Welt in Licht und Farbe, als wie es noch vor fünf Minuten war! Da ſah ich ihm noch in die Augen und mit ſeinem Sieg über die Welt auch den meinigen drin. Dieſe entſetzliche Blech¬ muſik da hinter uns! ... Wie die Leute doch ſo vergnügt ſein können und ſo geſchäftig-eilig! Bitte, laß uns etwas raſcher gehen! — Wozu denn dieſer Lärm, dieſe fürchterliche Eile in der Welt? 166Wie wird er darin zurechtkommen? Er hat das ja leider von mir, daß er es mit nichts, wie andere Leute, eilig hat und ſich Zeit zu Allem nimmt, und gern allein für ſich ſitzt, wie ſeine thörichte alte Mutter. O bitte, ſage es auch Deinen Eltern, bitte ſie, daß ſie mich fürs Erſte wenigſtens allein für mich laſſen, bis ich mich wenigſtens etwas wieder in mir zur Ruhe gefunden habe. Mein Gott, ſind wir Mütter ſchuld daran, wenn wir unſeren Kindern unſer Beſtes mit auf den Weg geben und ſie elend dadurch machen? Wenn wir uns getäuſcht hätten! Es wäre zu troſtlos, wenn er ſeinen Willen durch¬ ſetzte und den meinigen mit, und es doch nichts weiter als ein Märchengeſpinnſt, ein höhniſch-hübſches Schattenſpiel an der Wand wäre! Wenn er mir das Kind heimbrächte und es doch ſeine Lebensbe¬ dingungen drüben hätte! Komm raſch — raſch nach Hauſe, beſter Junge. Der Strauß pflegt ſeinen Kopf in den Sand zu ſtecken und die alte Doktern Andres ſteckt ihren in den Vogelſang. Aber bitte, halte mir für die nächſte Zeit Deinen lieben, guten Vater vom Leibe! Iſt das nicht der Nachbar Hartleben, der ſich dort in ſeinem Rollſtuhl in die warme Sommerluft fahren läßt? ... Jawohl, Nachbar, er läßt Sie vor allen Anderen noch einmal herzlich grüßen, und Sie thun mir einen Gefallen, wenn Sie ſich heute167 Abend noch auf ein Stündchen zu mir herüberſchieben laſſen, daß wir noch ein wenig über ihn zuſammen ſchwatzen können. Wir Zwei müſſen jetzt mehr denn je treulich und feſt zuſammenhalten, Herr Nachbar. “
„ Jawohl, Frau Nachbarin! Zumal da ich heute mein Grundſtück meiner kümmerlichen Geſundheits¬ umſtände wegen abgegeben habe, bis auf das Haus und den Morgen Gartenland dabei, um doch wenig¬ ſtens noch ein bißchen was Grünes vom Fenſter aus im Auge zu haben. Das wird eine großartige Kon¬ ſervenfabrik gerade Ihnen gegenüber, Frau Doktern. Ja, ja, die Welt verändert ſich um Einen her, ohne daß man es eigentlich merkt, wie das ja auch in der Bibel ſteht. Hat mir recht leid gethan, Frau Nach¬ barin, daß ich unſeren Herrn Velten nicht mit nach dem Bahnhofe bringen konnte, zumal wie diesmal vielleicht auf Nimmerwiederſehen, denn davon hilft uns Niemand, Frau Doktern, die Jüngſten ſind wir Alten hier im Vogelſang nicht mehr, und was Einem drüben über dem großen Waſſer Alles paſſiren kann, davon lieſt man ja tagtäglich das Menſchenmöglichſte von Glück und Unglück in der Zeitung. Na, iſt der Lump — nichts für ungut, liebe Frau — dorten ein allmächtiges Thier und unzähliger Millionär ge¬ worden, da wird's unſer junger Herr ja auch wohl machen; und wenn der mal, und vielleicht gar noch168 dazu mit einer jungen Frau heimkommt, dann ſtellt ſich Das, was vom Vogelſang noch vorhanden iſt, ſicherlich auf die Zehen und bringt ihm ein muſi¬ kaliſches Hoch, dreimal doller, als wie das, womit ſie da eben wieder mal vom Bahnhofe in die Berge ziehen. Aber wie es ausfallen mag, dabei bleibt's, Frau Nachbarin, wie ſie uns auch den Vogelſang verbauen mögen: die Ausſicht zwiſchen uns auf ein¬ ander ſollen ſie uns nicht verbauen. Er hat auch mir verſprochen, mal an mich zu ſchreiben, mein ewiger Sappermenter, unſer Tauſendſaſa! Ich habe ihn ſo manches Mal auf den Trab bringen müſſen, und ſein Mädchen, ich meine die kleine Himmelskröte aus meiner Erkerwohnung, mit, und zwar nicht immer mit den lieblichſten und höflichſten Worten. Aber winken Sie mir nur mit einem Briefe von ihm, Frau Doktern, ich laſſe mich 'ranrollen mit meinen jetzigen verdammten gichtbrüchigen Knochen und heule mit Ihnen oder reibe mir die Hände mit Ihnen, wie's ihm beliebt und er ſich ſein Leben bei den Antipopoden einrichtet. Daß da wieder eine Kurioſität herauskommt, das ſteht mir baumfeſt. Dieſe Gewißheit iſt mir doch natürlich aus meiner Bekanntſchaft und Freundſchaft mit ihm herausge¬ wachſen, wie je ein Stamm da oben in meinem Waldeigenthum, und da kann ich mich wirklich ſchon jetzt169 vor dieſer neuen Fahrt im Geiſt mit meinen Gedanken verklettern und mir die Frage ſtellen: was wird das unſinnige Menſchenkind nun jetzt wieder anſtellen? Na, na, liebſte, beſte Frau Nachbarin, jetzt machen Sie mir kein böſes Geſichte! Den Troſt haben wir doch jedenfalls aus tauſendfältiger Erfahrung: Neun Leben hat ihm ja auch die Mutter Natur mitgegeben. Sie mögen ihn Alle beſſer kennen als ich; aber wenn ihn Einer ganz genau kennt, ſo iſt das der alte Hart¬ leben, denn wie oft bin ich hinter dem Burſchen her¬ geweſen, mit der hellen Wuth über ihn, dem erſten beſten Knüppel und Holzſcheit, oder mit beiden Händen vor dem Bauche, um mir mein Pläſirvergnügen an ihm zuſammenzuhalten und es den Spitzbuben nicht zu ſehr merken zu laſſen. Jawohl iſt Dem keine Mauer, hinter der es für ihn in allen fünf Welt¬ theilen was zu holen giebt, zu hoch. Und was die Mauern anbetrifft, durch die man auf Erden vor Verdruß mit dem Kopfe rennen möchte, na, die rennt er eben ein oder weiß auch' nen Weg um ſie herum¬ zufinden, wovon ich ebenfalls hier im Vogelſang und auf meinem ſeligen Grundſtücke die allermöglichſten Erfahrungen habe. Alſo machen Sie ſich nur nicht zu viele Sorgen um ihn, Frau Nachbarin. Mit Dem hat's keine Noth, ob er als ein reicher Mann wie der Halunke Karlchen Trotzendorff uns nach Hauſe kommt,170 oder ob er eines Abends anklopft und ſagt: ‚ Da bin ich wieder, Herr Hartleben; es iſt mir diesmal nicht geglückt und es wäre mir ein Gefallen, wenn Sie dieſe Nacht einen Platz auf dem Stroh und morgen früh einen Tauſendmarkſchein zum neuen Anfangen für mich hätten. ‘ Aber zu dem Letzteren noch Eines zu Ihrem Troſt, Frau Doktern! Wenn Einer hier im Vogelſang im Stillen auf Ihren Herrn Sohn gepaßt hat, ſo bin ich das und weiß: er klopft nie¬ malen ſo an. Ein Kopfkiſſen auf dem letzten Stroh müßte man dem ſchon mit vielen Fineſſen und Höf¬ lichkeiten ankomplimentiren. Der junge Satan hatte das weichſte Herz hier im ganzen Vogelſang — nehmen Sie es mir nicht übel, daß ich auch vor Ihnen ſo rede, Herr Karl, Herr Aſſeſſor! — aber wenn es Dem einmal gefriert, ſo wird ein Eisklumpen draus, mit dem man der ganzen Menſchheit den Hirnkaſten einſchmeißen könnte! Und nun nehmen Sie es nicht übel, Frau Nachbarin und Herr Krum¬ hardt, daß ich Sie ſo lange aufgehalten habe, aber ich habe ja heute auch von einem Eigenthum Abſchied genommen, das mir mein ganzes Leben durch ans Herz gewachſen geweſen iſt, und ſo bin ich denn bei Ihnen mit auf dem Bahnhofe in Gedanken geweſen, mehr als ein Anderer hier im Vogelſang, und weiß Sie zu erkennen, liebſte Frau Nachbarin. In früheren171 Jahren hätten Sie mir ein Wort wie mein jetziges nicht angeſehen und geglaubt, Herr Aſſeſſor. Da hatten Sie wohl nur gelacht über den Nachbar Hart¬ leben, den alten Grobian. Aber ſo in einem ſolchen Jammerrollſtuhl, da hat es ſich was mit der Menſchen Arm - und Beinkräften und geſunder Lunge; da ſche¬ nirt ſich auch Unſereiner nicht, mit ſeinen intimeren Meinungen herauszugehen; und nun, Herr Aſſeſſor, ſehe ich, daß die Frau Doktern am liebſten mit ihren Gedanken allein ſein möchte, alſo bringen Sie ſie ſtill nach Hauſe und grüßen Sie auch Ihre Eltern. Ich als neugebackener Rentner laſſe mich noch ein Stück um die Promenade kutſchiren — Herr Gott, wer mir dies Vergnügen noch vor fünf Jahren prophezeit hätte! Recht guten Morgen, liebe Herrſchaften ... “
So bringe ich es zu den Akten, wie der Vogel¬ ſang ſprach, indem ich hundert Worte in eines ziehe, während der Schnee der heutigen Winternacht unab¬ läſſig weiter herabrieſelt. Und ich muß dabei die linke Hand übers Auge legen, während ich ſchreibe; als ob mir die Sonne zu hell und blendend drauf läge. Es iſt nicht das und iſt es doch. Was trübt das Auge mehr als der Blick in verblichenen Sonnen - und Jugendglanz?
172Ich habe ſie häufig in meinem Berufe zu ſuchen, die Verſchollenen in der Welt; ſie zu einem be¬ ſtimmten Termin zu citiren und ſie, wenn ſie nicht erſcheinen, für todt zu erklären und ihren Nachlaß den Erben oder dem Fiskus zu überantworten. Meiſtens iſt es armes kümmerliches Volk, das ſo verloren geht und geſucht werden muß, doch von Zeit zu Zeit iſt da auch Einer oder Eine verſchollen, auf deren Wege auch den abgehärteſten Beamten die Phantaſie und das Bedürfniß des Menſchen, Wunder, wenn nicht an ſich, ſo doch an Anderen zu erleben, unwiderſtehlich nachlockt.
Das iſt nun bei meinem Freund Velten Andres nicht im mindeſten der Fall geweſen. Von Myſterien und Romantik habe ich nicht das Geringſte zu no¬ tiren. Er iſt ſtets mit uns in Korreſpondenz ge¬ blieben, hat alle Verkehrswege via Southampton, Bremen und Hamburg, ja auch den unterſeeiſchen Telegraphen benutzt, um in möglichſter Verbindung mit dem Vogelſang zu bleiben. Ich bin eben in ſeinem Leben über nichts im Dunkeln geblieben, als — über ihn ſelber. Das war ja aber nicht ſeine Schuld! Dieſe lag hier nur an mir, und ſolches iſt öfters der Fall als die Leute glauben.
Schreibe ich übrigens denn auch nicht jetzt nur deshalb dieſe Blätter voll, weil ich doch mein Mög¬173 lichſtes thun möchte, um mir über dieſen Menſchen, einen der mir bekannteſten meiner Daſeinsgenoſſen, klar zu werden? Aber es iſt immer, als ob man Fäden aus einem Gobelinteppich zupfe und ſie unter das Vergrößerungsglas bringe, um die hohe Kunſt, die der Meiſter an das ganze Gewebe gewendet hat, daraus kennen zu lernen.
Wenn je ein Menſch für das Leben unter allen Formen und Bedingungen ausgerüſtet war, wenn je einer das Seinige dazu gethan hatte, ſich ſeine Schutz - und Angriffswaffen zu ſchmieden, ſo war das Velten Andres. Mit allen den Vorzügen und Tugenden begabt, die Ophelia aufzählt und von denen der däniſche Prinz ſo ſchlechten Gebrauch machte, ging er wahrlich nicht von „ Wittenberg “nach den Ver¬ einigten Staaten von Nordamerika und ſpäter ſeines Weges weiter.
Man hat einen guten Ausdruck dafür, wenn Einem das mühelos oder anſcheinend mühelos zu¬ fällt, um was Andere ſich ſehr quälen müſſen. „ Es fliegt ihm an “, ſagt man, und beneidet den Glück¬ lichen, zuckt auch wohl bedenklich die Achſeln dabei und zieht „ im Ganzen ein ſolides Sitzfleiſch doch vor “. Letzteres hat auch ſeine Vorzüge und nimmt ſeinen gebührenden Platz ſpäter im Lehnſtuhl am warmen Ofen, oder in der Juliſonne fröſtelnd, aber behaglich174 mit vollſtem Recht ein. Er, mein Freund, iſt in ſeinem kurzen Leben Alles geweſen: Gelehrter, Kauf¬ mann, Luftſchiffer, Soldat, Schiffsmann, Zeitungs¬ ſchreiber — aber gebracht hat er es nach bürgerlichen Begriffen zu Nichts und ich kann es auch nicht zu dieſen Akten beibringen, daß er ſich je um etwas Anderes die richtige Mühe gegeben habe, als um das kleine Mädchen aus dem Vogelſang, die heutige Wittwe Mungo aus Chicago. —
Es läuft immer auf, wenn auch melancholiſche, ſo doch nüchterne Nachüberlegung hinaus; aber auch an dieſem Abend muß ich wieder ſeufzen: Wie anders hätte doch ſein Leben werden können, wenn er ein Ohr gehabt hätte für die ſüße Stimme aus der Heimath und Augen für die tiefen, treuen, traurigen Blicke, die ſcheu, angſtvoll, verſtohlen ihm hier folgten und ſo gern bis zum Ende, mochte das auch werden wie es wollte, über ihn gemacht hätten.
Mit dem Hauſe des Beaux, das heißt dem alten Herrn und Freund Leon iſt er übrigens im regen Verkehr geblieben; und wenn er einmal wie des Spaßes wegen, als ein recht wohlhabender Mann,175 für Deutſchland wenigſtens, aufgetreten iſt, ſo iſt ihm wirklich das zum größten Theil angeflogen aus dem großen Geſchäft in der Dorotheenſtraße zu Berlin. Daß Religioſität und Geſchäftsſinn nicht feindliche Geschwiſter ſind, hat nicht allein das Haus Israel bewieſen; auch die frommen Vertriebenen, die auf der Mayflower „ drüben “landeten, haben das ebenſo¬ wohl bewieſen, wie dieſe alten Hugenotten des Edikts von Nantes in der Mark Brandenburg. Und ſie reichen ſich auch heute noch die Hand durch die ganze Welt: Synagoge, Kirche und Börſe! Das Haus des Beaux konnte einem Freunde ſchon Empfehlungsbriefe nach New York oder New Orleans mitgeben, die ihm die Wege ebneten und ſeinen Auf¬ ſtieg erleichterten, ſelbſt wenn er nur kam, um zum zweiten Mal den Verſuch zu machen, ein armes Mitgeſchöpf aus der Verkletterung herabzuholen, ſonſt aber ſich wenig aus den Herrlichkeiten der Zeit¬ lichkeit machte.
Es iſt ihm zum zweiten Mal nicht gelungen, und mit der Hilfe aus dem Vogelſang war diesmal gar nichts gethan. Was half es, daß ihm, wie ihm damals der alte Hartleben mit Leitern und Stricken beiſprang, jetzt ſeine Mutter ihre auch in Sorgen, Angſt und Kummer immer ſonnigen Briefe ſchrieb und die ſeinigen, nach ſeiner Weiſe, immer ſcherzhafter,176 immer luſtiger, immer ſiegesgewiſſer wurden, je tiefer er „ in den Quark hineinwatete “und in der Puppen¬ komödie die Fäden mit ziehen half? Sie ſpielten ſich da nur ſelber eine liebe rührende Komödie vor, die, was die Nachbarſchaft anging, Niemand zum Lachen oder Lächeln brachte.
„ Ich hätte es nie geglaubt, “ſagte mein Vater ſehr ernſthaft, „ der Menſch ſcheint ſein bisheriges Narren¬ weſen doch nicht ganz unnützlich getrieben zu haben. Da hält mich eben, auf dem Wege vom Gericht her, der Prokuriſt von Seligmacher und Söhne mit einem Privatbriefe von drüben, aus der Firma Charles Trotzendorff und Kompagnie, weißt Du, Mutter, unſerm Karl Trotzendorff, an und darin iſt von ihm, ich meine dem Jungen drüben, in einer Weiſe die Rede, die ich niemals für möglich gehalten haben würde. Der poetiſche Hanswurſt ſcheint völlig ins Gegentheil umgeſchlagen zu ſein. Ja, er ſcheint ſich eine Stellung in der dortigen Litteratur gemacht zu haben und an einem Handelsblatt in einer Art ſein Maulwerk ſchriftlich bethätigt zu haben, daß es ihm, wenn auch wohl nur zufällig, die Bekanntſchaft und, wie es ſcheint, Achtung eines ihrer Allergrößeſten dorten, nämlich was das Geld anbetrifft, zugezogen hat. Das wäre denn ja recht gut und erfreulich und ſo wird er ſich darein ergeben, daß es mit dem177 Mädchen, der jungen Dame nichts geworden iſt. Bei Seligmacher und Söhne haben ſie heute morgen von der Familie drüben, ich meine die Trotzendorffs, die Verlobungsanzeige der Tochter zugeſchickt gekriegt. Du mußt doch mal zu der Nachbarin hinüberſehen, ob die ſchon was Genaueres weiß und wie ſich der Junge jetzt zu der Sache verhalten wird. Doch dieſes nur beiläufig. Ich war auch bei Arnemann; — er iſt nicht mehr abgeneigt, auf meine Bedingungen einzugehen. Man trennt ſich ja zwar nicht gern von der hieſigen Gemüthlichkeit, aber es hat ſich doch all¬ mählich zu viel hier im Vogelſang um uns her verändert. Die Fabrik auf Hartlebens Grundſtück verſperrt mir den letzten Blick auf den Oſterberg, und dann halte ich es auch für unſern Aſſeſſor beſſer, daß ihn unter jetzigen veränderten Lebensverhältniſſen die Reſidenz nicht hier unter den kleinen Leuten auf¬ ſuchen muß. Ich meine, Mutter, wir machen in nächſter Woche den Kontrakt über den Verkauf von Haus und Garten perfekt. “
„ Wenn Du meinſt, Krumhardt, “ſagte meine Mutter mit zitternder Stimme.
„ Ich meine, daß mir dieſe freilich ernſte Sache ſchon ſo reiflich überlegt haben, daß wohl wenig mehr dazu zu ſagen iſt. Was giebt es denn eigent¬ lich noch, was uns hier feſthalten könnte? SchonW. Raabe. Die Akten des Vogelſangs. 12178der Schatten allein, den mir da hinten die neue Feuermauer auf meine Roſenplantage wirft, verdirbt mir das ganze Pläſir an der Liebhaberei. Mit dem Kaffeetiſch im Garten unter dieſen Fabrikgerüchen iſt's auch nichts mehr. Unſere Plätze im letzten Grün des Vogelſangs haben wir ſicher auf dem Papier bei der Friedhofverwaltung. Alſo, Junge, Karl, Herr Aſſeſſor Krumhardt, es bleibt dabei; der alte Pelikan hackt ſich noch mal die Bruſt ſeiner Nachkommenſchaft wegen auf. Wir ziehen in die Stadt, der veränderten Verhältniſſe wegen. Laß es mich erleben, daß ich an Dir einen herzoglichen Regierungs¬ rath herangezogen habe, ſo ſoll es mir auch nicht darauf ankommen, auf meine Roſen - und Aurikeln¬ zucht zu verzichten. Man kann auch im Nothfall an den Hyazinthen und Geranien ſeine Befriedigung finden, und dafür, denke ich, mein Sohn, wirſt Du eben immer, wie für Deine alten Eltern, ein ſonniges Gelaß in Deinen neuen Geſellſchafts - und Wohnungs¬ verhältniſſen übrig haben. Die Gelegenheit in der Archivſtraße, die Mutter und ich uns zum Beiſpiel neulich angeſehen haben, hat nach hinten heraus und doch nach der Sonnenſeite ein Altentheil, was für ſo einen ſubalternen quieszierten Obergerichtsſetretär mit ſo einem, ihm Freude machenden Sohne — jetzt kann ich Dir das wohl ſagen, mein Junge! — paßt,179 als ob der Bauherr ſeiner Zeit ihn mit ſeinen Be¬ dürfniſſen eigens dafür ins Auge gefaßt hätte. Nicht wahr, Mutter, wir finden uns ſchon, unſerm Jungen zuliebe, in die veränderten Verhältniſſe? “
„ Ja, ja, ja! obgleich es mir doch ſchwer an¬ kommen wird, “ſchluchzte die gute alte Frau. „ Freilich rückt uns hier das Neue zu arg auf den Leib, und wo man aus dem Fenſter guckt, iſt es das Alte nicht mehr; aber weißt Du, Mann, es wird mir doch ſein als wie damals, wo man den Sargdeckel auf unſer kleines Mädchen legen wollte und ich auch nicht glauben konnte, daß es möglich und nöthig ſei. Kein eigenes Waſchhaus mehr und keinen Platz zum Wäſchetrocknen im eigenen Garten! Aber es iſt ja richtig, das ſchlechte Tanzlokal, das da dicht an unſerer grünen Hecke aufgewachſen iſt, paßt nicht einmal mehr zu unſeren Verhältniſſen, alſo zu unſerm Karl ſeinen gar nicht. Und Du haſt Recht, Krumhardt, die Eltern ſind dazu da, daß ſie ihre Kinder in die Höhe bringen und in immer beſſere Geſellſchaft, bis in die beſte, wenn's möglich, und das iſt freilich hier im Vogelſang niemals möglich geweſen, alſo — wie Gott will. Ich habe mich in ſo Vieles im Leben finden müſſen und werde mich auch hierein finden. Das Kind wird es ja auch, und vielleicht auch mit ſeinen Kindern einſehen, was Vater und Mutter an12*180ihm gethan haben und es ihnen noch in ihrem Grabe gedenken. “
Nun hätte ich noch einmal hiergegen ein¬ reden können, um die Sache in die rechte Be¬ leuchtung zu rücken; aber was würde es geholfen haben? Wahrhaftig, ich bin es nicht geweſen, der die zwei treuen, wackeren Seelen mit ihren Wurzeln aus dem Boden hob und ſie ſo in ihren greiſen Tagen in ein fremdes Erdreich verſetzte! Ihre liebe menſchliche Thorheit war's, die da Pflicht, Pflichten, Vorzug, Gewinn, Ehre, Lob, Ruhm und Glück ſah, wo die übrigen Millionen unſerer Brüder und Schweſtern im Erdenleben — ebendasſelbe ſahen. Sie hatten ihren Kopf darauf geſetzt, daß der Vogel¬ ſang nicht mehr zu ihnen „ paſſe “, und ſie nicht zu dem Vogelſang.
„ Aufgeſetzt iſt der Kontrakt, Frau, “ſagte mein Vater, „ und wenn es Dir recht iſt, kann Arnemann heute noch zur Ausfertigung und Unterſchrift kommen, zu einem ruhigen Schlaf kommen wir jetzt doch nicht anders mehr. “
Meine Mutter iſt alſo an dieſem Tage nicht mehr bei der Nachbarin Andres geweſen, um das Genauere über das Privatſchreiben aus Amerika an Seligmacher und Söhne und Velten und Helene Trotzendorff zu hören, ihre Theilnahme zu beweiſen181 und, wenn möglich, Troſt zuzuſprechen. Ich aber habe mich gegen Abend noch einmal durch das Schlupf¬ loch aus unſerer Kinderzeit, das wunderreiche, damals freilich längſt wieder zugewachſene Schlupfloch in der lebendigen Hecke zwiſchen den Nachbargärten gezwängt und die alte Thürklinke, deren Griff Einem ſeit Menſchengedenken ſo häufig in der Hand blieb, von Neuem aufgedrückt, um hier, bei der Frau Doktorin, wo die Welt ſich doch eigentlich am meiſten verändert hatte, mich an das ſonnig unverwüſtlich Bleibende im Wechſel der Witterung des Erdentages zu halten. Ich fand die Frau Doktorin allein im Vogelſang über ihrem Brief aus den Vereinigten Staaten.
Die Abendſonne ſchien der Nachbarin in das Fenſter, als ich mit ſorgendem ſchwerem Herzen zu ihr kam, und ſie hatte auch geweint, die Frau Nachbarin Andres. Die elegante Karte, die mein Vater bei Seligmacher und Söhne gefunden hatte, und auf welcher Mr. and Mrs. Mungo ſich allen Freunden und Bekannten in den Vereinigten Staaten als mit¬ einander für Glück und Unglück, für Geſundheit und Krankheit, für Leben und Tod Verbundene empfahlen,182 lag auch auf dem Nähtiſchchen der Frau Doktorin, und der Begleitbrief Veltens daneben.
Die Mutter des Freundes reichte mir ihre Hand, nachdem ſie ihr feuchtes Taſchentuch zwiſchen die Blumentöpfe in ihrer Fenſterbank geſchoben hatte, und ſagte: „ Sieh, das iſt freundlich von Dir, Karl. Wenn ſich die Welt um Einen her verändert, hält man ſich am beſten an die Jungen aus ſeiner alten Bekanntſchaft, an die, welche ihr Recht noch vom nächſten Tag erwarten, luſtig in der neuen Fluth ſchwimmen, und aus ihrem jungen Recht an die Zeit den Alten wenigſtens den Kopf ein wenig zurecht¬ ſetzen können, wenn auch nicht das Herz. Elly hat ſich verheirathet, Velten hat geſchrieben. Da iſt ſein Brief und Du kannſt ihn leſen. Ich hätte es nie für möglich gehalten, daß ſich der Vogelſang ſo ſehr für mich verändern könnte. Aber ſo geht es eben, wenn der Menſch es nicht glauben kann, daß ihm ſeine liebſten Hoffnungen aus dem Leben weggewiſcht werden können. “
Sie ſah ſich hier in ihrem Stübchen, in welchem ſie unter all ihren Erinnerungen ſaß, wie die Frau Fechtmeiſterin Feucht in der Dorotheenſtraße zu Berlin unter den ihrigen, mit einem kummervollen Blicke um: „ Wie doch Alles dem Menſchen auf ein¬ mal ſo ganz andere Geſichter ſchneiden kann! Und183 doch iſt es nur das eine Bildchen dort, das kleine Lichtbild da über der Kommode, deſſen liebe, lachende Augen mir mein Altfrauenheim verwüſtet und Alles über - und durcheinander geſchoben haben wie bei einem Umzug oder nach einem Brande. Da — lies ſeinen Brief! Was er dazu thun kann, daß die alte Frau im Vogelſang nicht ganz aus ihrer Faſſung kommt, das beſorgt er natürlich auf ſeine alte Weiſe. Unter kriegt ihn auch das nicht; aber man müßte eben nicht zwiſchen den Zeilen leſen können, um ſich von ihm auf dieſe ſeine Weiſe unterkriegen zu laſſen. “
Ach, wie dieſe beiden Leute bis in die feinſten Nervenfädchen, bis in die flüchtigſten Seelen¬ ſtimmungen hinein ſich nachzutaſten, ſich nachzu¬ fühlen wußten! Sie machten einander nichts weis, und das war, ausnahmsweiſe, für ſie ein großes Glück: für andere, und leider die Mehrzahl der auf dieſer Erde ſich näher und nächſt Angehenden, wäre es freilich das Gegentheil geweſen. Es iſt nicht immer das Behaglichſte, wenn Zwei oder Mehrere die zuſammengehören, ſich zu gut verſtehen. Die einzige Möglichkeit für ein wenigſtens gedeihliches Hüttenbauen und Zuſammenwohnen liegt dann einzig und allein in dem Sichaufeinanderverſtehen. 184Ich habe das auch aus meiner Amts - und Geſchäfts¬ praxis ſehr, ſehr in den Akten. —
Velten ſchrieb:
„ Sie haben ſie uns genommen, Mutter, und ſind völlig in ihrem Recht, da ſie das nach ihrer Meinung beſte Theil für ſie gewählt haben. Ich habe ſie verloren; aber diesmal bin ich nicht ſchuld daran, das Glück der Erde verpaßt zu haben. Du weißt, wie oft man mir das bei Euch zu Hauſe aufzuriechen gab, und, wenn die beleidigte Naſe darob nicht lief, wie die eines geſchlagenen Schul¬ jungen, ſondern ſich nur trocken-tückiſch krauſte, nicht nur von allen Schlechtigkeiten menſchlichen Charakters, ſondern auch von abſoluter, boden¬ loſer, randundbandloſer Charakterloſigkeit ſprach. Ich habe das Meinige gethan, durch Stunden, Tage, Wochen, Monate und Jahre, bei Tag und Nacht, bei Allem, was ich gethan, überdacht und gedacht habe, den ſchönen Schmetterling für mich — für uns feſtzuhalten: nun ſtehe ich wieder wie ein Schuljunge, und beſehe an den Fingern den bunten Farbenſtaub von den Flügeln des entflatterten Buttervogels und denke vor Allem an die alte Frau zu Hauſe, die da ſitzt und ſich fragt: Was für eine Naſe wird er diesmal machen? — Mutter, mein — unſer185 liebes armes kleines Mädchen, was würde dem jetzt mit einem zerfließenden Liebhaber gedient ſein? Alſo — trocken überſchlucken und ein Kreuz über eine närriſche Lebensepoche ziehen, wie über eine Kalenderwoche, die bis Donnerstag im Sonnen¬ ſchein lag und am Freitag in einen Landregen überging! Unſerm lieben Wildfang gebe ich gar keine Schuld; — kann man überhaupt einem Menſchenkinde Schuld an ſeinem Schickſal geben? Was kann die Lerche gegen den Spiegelblitz, der ſie aus der blauen Luft in die Verſandtſchachtel und die Bratpfanne holt? Mit ihrem tückiſchen Glanz haben ſie auch unſer liebes Singvögelchen aus dem Vogelſang hernieder in ihr Netz ſtürzen machen und ihr nicht nur das arme, dumme, kleine Schädelchen und Gehirnchen, ſondern auch das ſchöne weite Herz eingedrückt. Sie wird eine ſtatt¬ liche Miſtreß Mungo: die Nadel der Kleopatra, jetzt im hieſigen Centralpark, die doch ſchon in Ägypten viel geſehen hat, und hier im Lande täglich auch noch manches ſieht, ſah nimmer ein ſchöneres, vornehmeres Weib an ſich vorbei und durch ihren Schatten gleiten. So wächſt das immer aus dem Schlamm empor, einerlei ob am Nil oder am Hudſon! Mir fehlen wieder mal die Knöpfe am Hemdärmel, alte Mutter zu Hauſe; aber Elly wird186 ſie mir nicht annähen, worauf wir doch ſo feſt gerechnet und des Lebens Seligkeit vom Vogel¬ ſang aus gegründet hatten; und das erinnert mich nun gerade erſt recht an Deinen alten Nähtiſch, auf dem dieſer Brief, wenn der Ocean ihn nicht verſchlingt, demnächſt liegen wird und erinnert mich an Deinen Seſſel dabei und das leere „ Schawelche “daneben und den Blick durch die Epheuranken, über den Garten weg, auf den Nachbar Hartleben und ſein Anweſen (Strohwittwe Trotzendorff und Töchterlein eingeſchloſſen) hinein in den ganzen Vogelſang, und — ich bin wieder allein auf die alte Frau im Korbſeſſel an dem Fenſter angewieſen und ein Vagabund — ein Wanderer im Leben — zerlumpter denn je. In die hieſigen Verhältniſſe habe ich mich übrigens eingelebt, daß ich meinen jüngſten Freunden keinen Grund zur Verwunderung mehr gebe. Wünſcheſt Du mich auch als Millionär wiederzuſehen wie Mr. Charles Trotzendorff? Oder ziehſt Du den deutſch-amerikaniſchen Staatsmann, Muſter: Karl Schurz, vor? Meine Vogelſang¬ ſtudien im Engliſchen, unſerer Kleinen zuliebe, kommen mir jetzt wundervoll zu ſtatten. Die Phraſen und den Tonfall um eine „ Mäh “jauch¬ zende Menſchenanſammlung zum „ Bäh “jammern zu bringen, und das politiſche Thier, Menſch ge¬187 nannt, mit einem Strick durch die Naſe oder um den Hals, für Klios ewige Tafeln und vergäng¬ lichen Griffel als notirungswerth zu dreſſiren, lernt ſich bald. Sollte Freund Krumhardt, ich meine unſer Karlchen — nicht den Alten, aus ſeiner Ge¬ ſchäftspraxis demnächſt mal einen neuen edlen Kinkel nebſt Spulrad und Märtyrerglorie in der lieben Heimath für einen überſeeiſchen Heros-Be¬ freier zur Verfügung haben, ſo reflektire ich darauf und bitte, aus guter alter Kameradſchaft mir die Vorhand zu laſſen. Eine republikaniſche Bürger¬ krone für einen Märtyrer aus dem neuen deutſchen Reich! Das Ding wird leider ſchwer zu finden ſein, denn den alten wahren Otto den Schützen von ſeinem Wergzupfen und Wolleſpulen im Reichstage zu entführen, würde ihm doch ſelber auch jetzt noch nicht recht in die gelbweiße Küraſſiermütze paſſen. Aber wie ſang Fräulein Leonie des Beaux in der Dorotheenſtraße zu Berlin?
Da bin ich wieder bei meinem in der Fifth Avenue verzauberten armen Mädchen! Siehe Goethes Epilog zu dem Trauerſpiele Eſſex:
188Ja, ja, was nimmt man ſich Alles vor zu Glück und Ruhm und zum Beſten der Welt in der Welt, bis der Narrenkönig dem dieſe Welt gehört — ſiehe Schillers Jungfrau von Orleans — Einem das Bein ſtellt und alle Weiſen, Helden und weg¬ gelaufenen Schuljungen auf die Gefühle eines Zahn¬ arztes, der ſelber Zahnweh hat, hinunterdrückt! Du weißt es, Mutter, und kannſt es mir bezeugen, daß die Scheu der Leute, ſich vor der Menſchheit, das heißt den Nächſten ihresgleichen lächerlich zu machen, mir leider immer nur zu ſehr gemangelt hat; aber die Sehnſucht, mir ſelber endlich einmal wieder lächerlich vorzukommen und ſomit das rich¬ tige Maaß für die Dinge dieſer Erde wieder zu gewinnen, iſt mir bis jetzt auch nicht in ſolcher Fülle und Üppigkeit zu theil geworden. Zu Hauſe im Vogelſang, würde das wohl noch am leichteſten zu erreichen ſein, Deinem lieben Korbſtuhl gegen¬ über und mit des ſeligen Vaters geliebter erſten Originalausgabe des Wandsbecker Boten auf Deinem Nähtiſche und mit der einzigen Ausſicht über Deine Buchsbaum - und Blumenbeete, meine189 Stachelbeerbüſche und unſere grüne Hecke, auf den Nachbar Hartleben und ſein Anweſen. Da ginge es wohl noch am leichteſten an, dem theuren Ahnherrn in dem Buche, dem Vetter Andres und dem braven Vetter Michel im eigenen Buſen ſein Recht wieder¬ zugeben; aber — †!? † —
Frage Karl um ſeine Meinung hierüber, doch — laß es lieber auch nur. Daß der Frager bei ſolchen Gelegenheiten den Gefragten und ſeine Antwort im Voraus ziemlich genau kennt, würde auch diesmal und hier nichts zur Sache thun; aber aus Deinen Briefen weiß ich ja, daß auch um Euch dort im Vogelſang allgemach die Deko¬ ration ſich ſo ſehr verändert, daß er — der Freund — ſich da binnen Kurzem am allerwenigſten noch zurechtfinden wird. Aus Büſchen werden Bäume, aus Bäumen Hausmauern, aus Grün Grau. Aus obſtſtehlenden (freilich meiſtens dazu verführten) Schuljungen werden die beſten Verwaltungsbeamten und Regierungsräthe, ſowie die ſchärfſten Staats¬ anwälte, und — aus dem nichtsnutzigſten Schlingel des Vogelſangs wird (wenigſtens was ich dazu thun kann) the most glorious tramp, der glo¬ rioſeſte Landſtreicher, der je auf den Wegen der Welt den anſtändigen Paſſanten einen Schauder und Schrecken eingejagt hat, wenn er an einem190 Stadtthor nach ſeinen Papieren gefragt wurde, nimmer dergleichen aufzuweiſen hatte und vielleicht auch erſt in irgend einem Bedford goal als alter Keſſelflicker anfangen wird, ſich über the Pil¬ grims progress, über ſeines Lebens Pilgerfahrt die letzte Rechnung abzulegen.
Meine liebe, liebe Mutter, Du kannſt nichts dafür, und mein Vater auch nicht. Solches war mir an der Wiege geſungen, aber nicht von Dir mit Deinem: „ Buko von Halberſtadt “, oder: „ Schlaf, Kindchen, ſchlaf, da draußen geht ein Schaf “. Es kauert immer eine andere Sängerin auf der anderen Seite des erſten Schaukelkahns menſchlichen Schickſals und ſummt ihren Sang in ihre Hexenbartſtoppeln, und der ſtammt von den Müttern viel weiter hinabwärts und iſt der allein maaßgebende.
Alſo ſtreich Dir die Sorgen - und Unmuths¬ falten wieder einmal aus dem lieben tapferen Ge¬ ſichte und halte Dich weiter an der Väter Er¬ fahrung, daß Unkraut ſo leicht nicht vergeht. Sage mit dem alten Vertrauen auf unſern eigenthümlichen, unveräußerlichen eiſernen Beſtand von Familien¬ adel: „ O, dieſer dumme Junge! “— Und halte feſt: wir ſind doch die Zwei geweſen, welche die wenigſten Sorgen im Vogelſang auf unſerm Hirn191 und Herzen geduldet haben, und ſo ſoll es bleiben! Veränderte Dekorationen ſollen uns nie etwas an¬ haben; halte Deinen Platz an unſerm Herde feſt und mir den meinigen: ich komme ebenſo ſehr als Sieger wieder wie — Mr. Charley Trotzendorff. Es giebt ein verſchiedenartiges Achſelzucken der Leute in der Welt: ich hoffe mir das meinige, nach meiner Weiſe, mit ebenſo gutem Recht zu verdienen, wie er das ſeinige, und das Nachgaffen und den Neid der Welt auch. Ziehe meinetwegen hier auch Freund Karl Krumhardt über unſere Hecke als Kommentator bei, wenn Dir ob ſolchen beglückenden Ausſichten in die Zukunft doch etwas nüchtern und unheimlich zu Muthe werden ſollte. —
In der Heimath und zumal im Vogelſang bin ich fürs Erſte nichts nutze — und auch Dir nicht, armes, tapferes Mütterchen. Übrigens ſind und bleiben wir Zwei immer beiſammen, ob auch ein paar Tropfen Waſſer und einige Krümel Erdboden mehr uns trennen. Zu den Füßen der Treue bleibe ich ſitzen, wenn es mir auch nicht vergönnt wurde, zu den Füßen der Liebe Werg zu ſpinnen. Nach dem Wocken der Omphale freut man ſich ordentlich auf den nemeiſchen Löwen, die ler¬ näiſche Hydra, den erymanthiſchen Eber und vor allem Andern auf die Stymphaliden und die192 Ställe des Augias. Daß ich Dir gerade die gol¬ denen Äpfel aus den Gärten der Heſperiden heim¬ bringen werde, iſt mir ſelber etwas zweifelhaft; aber darauf verlaß Dich, und Du kannſt auch in der Nachbarſchaft davon erzählen und damit re¬ nommiren: den Cerberus hole ich mir ſicherlich aus der Unterwelt herauf, wenn auch nur um das große Schreckniß der ewigen Nacht mir beim kurzen Lebenstageslicht ſo genau und gemüthlich wie möglich zu beſehen. Philoſophie ſtudiren nennt man das vor den Kathedern nach geſchriebenen Heften — frage nur Freund Krumhardt danach, der ſich des bürgerlichen Anſtands wegen ſein Theil da¬ von hat in die Feder diktiren laſſen. Und vom Lehrſtuhl des Profeſſors der Weltweisheit bis zum Schneidertiſch des Hauſes der des Beaux iſt auch wieder einmal nur ein Schritt. Hab ich mir meinen Freund Leon auf den Buckel geladen, ſo ſoll ich ihn natürlich auch darauf behalten. Vater des Beaux ſchreibt mir, der Junge werde ihm, ohne meine Beaufſichtigung, von Tag zu Tage unter den Händen mehr zu einem Narren und es bleibe ihm nichts übrig als den Knaben mir nachzu¬ ſchicken; eine Reiſe um die Erde unter meiner Führung erſcheine ihm als das letzte Mittel, den Phantaſten für den künftigen Kommiſſions - oder193 Kommerzienrath zu ernüchtern. Ich werde alſo nicht umhin können, das, wenigſtens für die erſten Stationen meiner eigenen Weltwanderung, noch einmal zu meinem Gepäck zu legen; habe alſo zurückgeſchrieben: das Kind möge kommen, ich würde das Zutrauen zu verdienen ſuchen. Ja¬ wohl, das Zutrauen unter den Leuten! Erhalte mir das Deinige, alte Frau!
Dein Sohn und Erbe Velten Andres. “
Es iſt eine kalte Nacht, in der ich dies zu den Akten hefte; aber ich habe das fröſtelnde Zuſammen¬ ziehen der Schulterblätter doch mehr dem klareiſigen Hauch, der von der letzten Seite dieſes Briefes aus¬ geht, zuzuſchreiben, als der Winterwitterung draußen vor dem Fenſter. Und wenn man — damals — dieſes Schreiben in der Stadt unter den Bekannten, den Leuten, herumgezeigt hätte, würden ſie alle geſagt haben:
„ Der alte ewig überhitzte Wirrkopf! Es bleibt dabei, er kann auf nichts zu ſeinem Fortkommen rechnen, als auf das Glück der Betrunkenen und die Vorſehung, die über die Unmündigen wacht. “—
W. Raabe. Die Akten des Vogelſangs. 13194Ich habe weiter zu berichten, was ſich in der nächſten Nähe um mich her zutrug.
Der Erſte, der nach Velten den Vogelſang ver¬ ließ, und auch nie wieder, was der Freund doch that, darin vorſprach, war Nachbar Hartleben. Er ſagte, als er zum letzten Mal in ſeinem Rollſtuhl vor unſerer Gartenthür hielt:
„ Weißt Du, Junge, Herr Aſſeſſor Krumhardt ſollte ich ſagen, weißt Du, ein Vergnügen iſt es nicht, ſo als ſo ein Sack voll Elend, ſchlechtem Appetit und nächtlicher Wehklage und Schlafloſigkeit ſich um ſein zerſtückelt Anweſen rumrollen zu laſſen; aber ſo iſt der Menſch: ſo lange er Luft ſchnappen kann, giebt er den Athem nicht gern auf. Alſo da bin ich noch und mache ſo lange Gebrauch von dem alten Freund¬ ſchaftsverkehr über die Straße, als es angeht. Noch pläſirlicher hielte ich den Jammer natürlich aus, wenn mir mein Wald da oben hinterm Oſterberge nicht immer im Kopfe herumginge. Das iſt der leidige Satan! Und vorzüglich jetzt ſo im ange¬ nehmſten Sommer, wenn das ſo grün da herunter¬ winket und Einer mit ſeinem Holzverkehr und Handel, von ſeinen Sägemühlenabnehmern gar nicht zu reden, nur eine lahme Fauſt zurück und aufwärts machen kann. Da gucken Sie nur, Herr Obergerichtsſekre¬ tarius, wie das da oben auf meinem Schluderkopfe195 im Sonnenſchein liegt und Einem unter Gottes blauen Himmel den Eſel bohrt und ſakermentſch Einen jetzt nur noch dazu verlockt, eben unſerm lieben Herrgott einen böſen Leumund bei den Erbberechtigten zu machen. Es iſt ein Elend — ein Elend — ein Elend Frau Obergerichtsſekretärin, und Sie haben ganz Recht gehabt, daß Sie die Sache über Ihr Anweſen mit Arnemann in Richtigkeit gebracht haben. Sie ziehen nun demnächſt, und ich habe auch Ihnen und der guten alten Zeit nachzuſehen. Nun bleibt mir nur für meine noch übrigen paar Jahre die Frau Doktorin. Ja, ja, ſo wird der Menſch allgemach von allem Guten und Angenehmen entwöhnet! Manch¬ mal kommt's mir wirklich ſo vor, als ſei auch das nur zu unſerm Beſten von da oben ſo eingerichtet, um uns den Abſchied von hier unten nicht zu ſchwer zu machen. Und wenn man denn wieder von den Jüngeren und Jüngſten hört! Da hat ja wohl unſer Herr Velten — da kann ich wohl eher als hier bei unſerem Aſſeſſor ſagen: unſer Junge, von den Ja¬ panern hergeſchrieben, daß er ſich jetzt mit ſeinem vor¬ nehmen Berliner Freunde, den wir ſeiner Zeit hier auch im Vogelſang hatten, da aufhalte und vergnügt grüßen laſſe. Paſſen Sie auf, Herr Nachbar, Der bringt es gerade ſo gut wie unſer Karlchen Trotzen¬ dorff, unſer Zeitgenoſſe, zu was Ordentlichem da13 *196draußen; — wenn's nur nicht immer auf Ein und dasſelbe hinausliefe am letzten Ende! Was dieſes anbetrifft, ſo muß man ſich erſt ſo wie ich mich jetzt in dieſem Einſpänner von hinten rum kutſchiren laſſen müſſen, um zu dem richtigen Taxat von allem Pläſirvergnügen im Leben zu kommen. Die Er¬ innerung an das Gute, was man ſeiner Zeit genoſſen hat, iſt immer noch das Beſte, wenn auch leider Gottes Verdrießlichſte. Auch mit dem kleinen Mädchen, das hier bei mir und zwiſchen uns im Vogelſang aufwuchs, und unſerem Velten ſcheint das nichts ge¬ worden zu ſein. Schade drum! Die Madame oder Miſtreß war zwar die richtige Gans; aber das Wurm, das jetzt da drüben überm großen Waſſer ſechs¬ ſpännig fährt, gehört immer auch noch zu meinen angenehmen Erinnerungen. Karlch — Herr Aſſeſſor, Kinder, in welche vergnügte Wüthenhaftigkeit habt ihr öfters den Nachbar Hartleben gebracht, und was gäbe er heute drum, wenn er euch nur noch einmal mit dem Peitſchenſtiel durch ſeinen Garten nachſetzen und aufs Nachbargrundſtück oder in den Wald hinaus¬ jagen könnte. Aber ich ſehe, Sie haben Ihre Akten unterm Arm, Herr Aſſeſſor, und müſſen in Ihr Ge¬ ſchäft. Nehmen Sie es nicht für ungut, wenn ich Sie mit meinem Geſchwätz aufgehalten habe. In ſo einem Marterſtuhl iſt man ja einzig und allein197 nur auf ſein Maulwerk angewieſen. Wenn ich Ihnen, Herr Sekretär und Frau Sekretärin, mit meinem andern noch übrigen Fuhrwerk beim Auszuge zu Dienſten ſein kann, ſoll's gern geſchehen. Dem alten Hartleben, dem Grobian, ſoll man's nicht nachſagen aus der Stadt, daß er nicht doch alles in allem ein guter Vogelſänger Nachbar geweſen ſei. Mit dem freundſchaftlichen Verkehr ſpäter, aus der Stadt her¬ aus und hinein wird's wohl ein bißchen hapern. Na, ich denke immer noch ein paar Jährchen es zu machen, daß Sie mich hier auf den Rädern finden, wenn Sie aus dem neuen Leben heraus das alte hier am Ort mal wieder aufſuchen wollen. Recht ſchönen guten Abend, liebe Herrſchaften! Schieb den Krüppel um ein Haus weiter, Lümmel da hinter mir; die Frau Doktern hat mir verſprochen, mir noch ein weniges mehr aus ihrem Velten ſeinem letzten Brief vorzuleſen, und der Satansjunge hat das immer ſo an ſich gehabt, daß er einem mit ſeinen Schnurren, Abenteuern, Meinungen und Anſichten wie mit einem Schnaps aufwartet. Ich meine immer, einmal mußt Du den auch noch wiederſehen, Hartleben, und wenn er auch noch ſo lange ſeine Mutter und den Vogelſang auf ſich warten läßt! “—
Vier Wochen ſpäter mußten wir ihn begraben, den Nachbar Hartleben, und zu Oſtern des folgenden198 Jahres verließen auch wir, die Familie Krumhardt, Vater, Mutter und Sohn, den Vogelſang. Meine Eltern fügten ſich den höheren Anſprüchen, die ihrer Meinung nach meinetwegen das Leben an ſie machte, und ich fügte mich meinen treubeſorgten Eltern. Wer wehrt ſich gegen die Liebe ſeines Vaters und ſeiner Mutter und wenn ſie auch noch ſo ſehr mit Sorglichkeiten, die man nicht mehr kennt, mit Thor¬ heiten, über die man hinaus iſt, und mit mancherlei Anderem, was einem im Grunde lächerlich, ja ärger¬ lich vorkommt, verquickt iſt?
Und wenn mir etwas ferne ſein muß, ſo iſt das Überhebung über die ſubalterneren Gefühle und Stimmungen des Menſchen in ſeinem Daſein auf Erden gerade an dieſer Stelle! In den Akten habe ich es nicht, aber tief in meinem innerſten Bewußt¬ ſein, daß ich die theure, altgewohnte Heimathſtelle mit Allem, was mir heute mit ſchauernd wehmüthigen Heimwehgefühlen in dieſer kalten Winternacht nahe¬ tritt, damals leichter, viel leichter und freier athmend aufgab, als die zwei armen Alten.
Auf der Bühne des Lebens hört man eben nicht vor jedem Scenenwechſel die Klingel des Regiſſeurs. Man findet ſich zwiſchen den gewechſelten Kouliſſen und vor dem veränderten Hintergrund und ver¬ wundert ſich gar nicht. Ob man ſie gut oder ſchlecht199 ſpielt, ſeine Rolle iſt Jedem auf den Leib gewachſen und das jedesmalige Koſtüm gleichfalls. Nur in ſeltenen ſtillen Augenblicken gelangt wohl ein und der Andere dazu, ſich vor die Stirn zu ſchlagen: „ Ja, wie iſt denn das eigentlich? War das ſonſt nicht anders um Dich her und in Dir? Wie kommſt Du zu allem dieſen und gehörſt Du wirklich hierher, und iſt das nun Ernſt oder Spaß, was Du jetzt hier treibſt oder treiben mußt? Und wem zuliebe und zum Nutzen? “
Das ſind dann freilich ſehr kurioſe Gedanken¬ ſtimmungen. Wie aus einem unbekannten ſchauer¬ lichen Draußen haucht das vor den Theaterlichtern Einen fremd und kalt an, meiſtens wenn die Bühne einmal um einen her leer geworden iſt; aber dann und wann bei gefüllter Scene im Gewühl der Edlen, Ritter, Bürger, Damen des Hofes, der Mönche, Herren und Frauen, Herolde, Beamten, Soldaten, kurz des ganzen zu dem ewig wechſelnden und ewig gleichen Schauſpiel gehörigen Volksſpiels. Und ſo raſch als möglich fort damit! Dergleichen Nach¬ denken ſtört ſehr bei der Durchführung der zuge¬ theilten Rolle, bringt nur Stockungen hervor und ein verehrliches Publikum, von der Hofloge bis zu den höchſten Galerien zu einem ironiſchen Lächeln, bedauernden Achſelzucken, wiehernden Hohnlachen,200 Pfeifen und Ziſchen. Und mit vollem Recht! Es iſt ein ſchweres Eintrittsgeld, das man für die Tragikomödie des Daſeins zu erlegen hat. „ Paß auf Dein Stichwort, Du da, König oder Narr da auf den Brettern, und ſtöre uns das Behagen nicht, von Vergnügen kann ja ſo ſchon wenig die Rede ſein! “—
Leider recht bald wurde um mich her die Bühne, wenigſtens für einen Augenblick, ſehr leer und gab ungeſtörten Raum zu jeglichem Monolog über Sein und Nichtſein, und ob es beſſer ſei und ſo weiter, und ſo weiter. Nämlich meinen Eltern bekam die veränderte Umgebung durchaus nicht; und hier beuge ich die Stirn tief über dieſes Blatt! Hätte ich nicht doch mehr dazu thun müſſen und ſollen, daß ſie in ihren Greiſentagen ihr An - und Ein¬ fügungsvermögen in das Ungewohnte mir zuliebe nicht zu ſehr überſchätzten? Und die Braut, die ich ihnen dann in das Haus, nein, nicht in das Haus, ſondern die Miethwohnung inmitten der Stadt, wenn auch der „ beſten Gegend “der Stadt brachte, die wußte nichts von dem Vogelſang und brachte ihren Sonnenſchein nur für mich mit in die Archivſtraße. Die Blumenzucht in der Fenſterbank konnte meinem Vater ſeinen Vorſtadtgarten nicht erſetzen, und noch viel weniger die vornehme Stadtgegend meiner201 armen Mutter den Verkehr über die lebendige Hecke und die von einem blühenden Apfelbaum zum andern auf eigenem ſicherm Grund und Boden ausgeſpannte Waſchleine und was ſich an behaglichem Verdruß und verdrießlichem Wohlbehagen daran knüpfte. Wenn ich mir jetzt, mit dem Kopfe in der Hand, überlege, was ich dagegen thun konnte, daß ſie ihren Willen, auf ihrem und — meinem Wege aufwärts als grämliche Sieger zu fallen, nicht bekamen, und mir ſagen darf: „ Wenig! “ſo iſt das auch ein Troſt, aber nur ein geringer, und man hat erſt an ſeine eigenen Nachkommen und deren Tröſtungen zu denken, ehe man ſich wieder beruhigter, gelaſſener vor ſolch einem Aktenbündel, wie dieſes hier vor¬ liegende, im Seſſel zurechtrückt. —
Jawohl, mein Weg ging aufwärts in der Rangordnung des Staatskalenders und der bürger¬ lichen Geſellſchaft: meine Eltern ſtarben — die Mutter zuerſt und der Vater ihr bald nach; und ich heirathete. Daß ich ihnen „ Schlappes “Schweſter als liebe Braut und gute Tochter zuführte, war der beiden guten und lieben alten Leute letzte Freude und drückte ihnen das letzte Siegel auf die Gewi߬ heit, daß auch ich ein guter braver Sohn geweſen ſei, daß ich allen ihren Erwartungen entſprochen habe und mich auch fernerhin aller hohen und202 höchſten Ehren und Genugthuungen unſerer Welt im Kleinſten würdig erweiſen werde und alſo aller durch zwei ganze treuſorgliche Elternleben aufgewendete Ängſte, Mühen, Kümmerniſſe und Entſagungen werth.
Wahrlich, ich ſchreibe nicht, um in dieſen Blättern Komödie zu ſpielen und von Thränen zu fabeln und zu faſeln, die auf irgend eine Seite der Handſchrift gefallen ſeien (ich weiß es ja eigentlich ſelber nicht, wie ſich dieſes Alles plötzlich infolge jenes Briefes aus Berlin, den Helene Trotzendorff, den Mrs. Mungo ſchrieb, in den tagtäglichen Aktenwechſel auf meinen Schreibtiſch ſchiebt!), aber ich nehme mir wieder die Muße, zu dem Bildniß über dieſem Schreibtiſche, dem alten theuren Herrn, mit dem verkniffenen deutſchen Schreibergeſicht und dem zu dem Landes¬ orden hinzugeſtifteten Ehrenkreuz erſter Klaſſe auf der Bruſt melancholiſch-dankbar aufzuſchauen.
„ Wer hatte es beſſer mit Dir im Sinne als Der? “— — —
Der Weg nach dem Friedhofe jenſeits des Vogelſangs führte noch immer durch unſere vordem ſo grüne Kindheitsgaſſe. Jetzt vorbei an den Plätzen, wo vordem Hartlebens weitgedehntes Anweſen ge¬ weſen war und meiner Eltern Haus, mein Vaterhaus und ihrer Väter Haus gelegen hatte.
Es iſt eine Redensart: „ Ich komme ſelten mehr203 in die Gegend! “ Wie ſchwer ſie einem aufs Herz fallen kann, das ſollte ich am Begräbnißtage meines Vaters im vollſten Maaße erfahren.
Ich war nicht ſo häufig in die Gegend ge¬ kommen, wie ich geſollt hatte, und nun war gerade die rechte Gelegenheit, um zu erkennen, wie ſehr ſie ſich verändert hatte, nicht ſeit unſeren Kinderjahren, ſondern ſeit dem Tage, an welchem die Nachbarin Andres, die Frau Doktern, dort von uns Allen allein zurückgelaſſen worden war.
Es giebt auch eine Redensart: „ Das iſt mir bis jetzt nicht aufgefallen! “und dann kommt plötz¬ lich die Gelegenheit, der Augenblick, die Stunde, der Tag, wo das um ſo eindringlicher Einem ans Herz gelegt wird. Ich hatte wirklich ſo viel mit meinen perſönlichen Lebensangelegenheiten, mit mir ſelber zu ſchaffen gehabt, daß ich mich um das, was hinter mir lag und wenn auch in nächſter Nähe, wenig be¬ kümmern konnte, und der Vogelſang war mir davon nicht ausgenommen geweſen. —
Zwiſchen den neuen Mauern der Fabriken, Miethshäuſer, Tanzlokale war's allein die alte Frau, die Mutter Veltens, welche, wie ſie es dem Sohne verſprochen hatte, nicht von ihrer Heimſtätte ge¬ wichen war, und trotz des neuen Lebens, das ihr von allen Seiten unbehaglich, ſpöttiſch, ja drohend204 ſich andrängte, ihr Häuschen, ihr Gärtchen, ihre lebendige Hecke feſthielt. Wieviel Vernunft hatten meine Eltern deswegen die letzten Jahre hindurch vergeblich auf ſie hineingeredet!
„ Er hat ſeinen Willen gewollt und hat ihn nun in aller Herren Länder zu Land und Meer: ich habe den meinigen hier im Vogelſang und wenn es auch nur des Kitzels wegen wäre, der mir zukommt, wenn er heimkommt und ich ihn frage: ‚ Na, Velten, wie war's denn draußen?’ “antwortete in den verſchieden¬ artigſten Variationen (auch je nach der Jahreszeit verſchieden) die Frau Doktorin Andres im Vogelſang auf Alles, was ihr Häuſerſpekulanten, ſachverſtändige Freunde und wohlmeinende Freundinnen vortragen mochten, um ihr den Sinn zu brechen und ihr zum Beſten zu rathen. Es war mit der Frau jetzt immer noch ebenſowenig anzufangen wie vor Jahren, wenn mein Vater als „ Familienfreund “von einer Er¬ ziehungskontroverſe mit ihr nach Hauſe kam.
Und nun war es kaum acht Tage her, daß er zum letzten Mal in dem kleinen hartnäckigen Häus¬ lein geweſen war, um ſich in der altgewohnten, treu¬ freundſchaftlich-nachbarlichen Weiſe zu ärgern und ſich wieder zu vertragen mit der Frau „ Exnachbarin “. Nun ſtammte der wertheſte Kranz auf ſeinem Sarge aus dem letzten Hausgarten des Vogelſangs, und205 Veltens Mutter hatte ihn ſelbſt gebracht und mit mir und meiner jungen Frau, die nichts mehr von dem Vogelſang wußte, neben dem ſchwarzen Schrein geſeſſen und mir mehrfach die Hand aufs Knie ge¬ legt und geſeufzt:
„ Ich werde ihn ſehr, ſehr vermiſſen, Deinen guten Vater, beſter Karl! Nun bin ich die Letzte von den Alten unterm Oſterberge. Manchmal in dem jetzigen Lärm dort um mich her, wenn ich ſo von meinem Strickzeug am Fenſter aufſehe, kommt es mir doch wirklich vor, als gehöre auch ich nicht mehr dahin; aber ich habe es ihm ja verſprochen, daß er mich jederzeit dort in ſeines Vaters und ſeinem eigenen alten Weſen noch vorfinden ſoll, und ſo muß ich noch etwas bleiben. Wer verdunkelt Einem nun noch mit einem: ‚ Auf ein Wort, Frau Nachbarin!‘ das Fenſter, um Einen feſter in der Gewißheit, zur Seite und gegenüber die beſte liebſte Nachbarſchaft zu haben, nach dem Vorgucken und Beſuch wieder ſich ſelbſt zu laſſen? Kommt ihr jungen Leute, ſo könnte man ſich ſo vorkommen wie ein ein halb Jahrhundert vor der Erlöſung für einen Augenblick aufgewachtes Dorn¬ röſchen, das ſich nicht ſeinem Prinzen in Mantel, Federbarett und Tricot, ſondern einem durch die Hecke gedrungenen Liebhaberphotographen gegenüber findet. Ja ſieh, lieber armer Junge, ſo ſchwatzt die alte206 Doktern Andres ihren gewohnten Unſinn ſelbſt am Sarge Deines Vaters, ihres guten, treueſten Freundes! Aber glaub mir, wenn ihr ihn morgen früh durch den Vogelſang geleitet, ſo ſieht ihm über ihren Zaun dort eine Freundin mit naſſen Augen und vollem Herzen nach und ſagt: Da begraben ſie einen Mann, den Dir das Schickſal dort an die Hecke geſetzt hatte, um Dir ein Muſter an ihm zu nehmen, Dein ganzes Leben lang, Mutter Andres! Alles für unſere Jungen! Natürlich er auf ſeine Weiſe, ich auf die meinige. Und daß ſeine Art gut war, das bezeugt ihm am beſten die kleine Frau hier hinter ihrem feuchten Taſchentuch, Karl. Ziehen Sie es mir noch einen Moment hinunter, Kindchen, und geben Sie mir einen Kuß, und nun gute Nacht, und habt ferner euren Troſt aneinander und gönnt uns Alten unſere Ruhe, wenn unſere Schlafenszeit gekommen iſt. “
Es war ein ſchöner, ſonniger Morgen, an welchem wir meinen Vater begruben. Mit einem ſtattlichen Gefolge, an dem er wohl ſeine Genug¬ thuung haben mochte, und wie es ihm da, wo man ſonſt wohl am wenigſten an ſo etwas denkt, auf207 ſeines Lebens Höhe, als etwas ſehr Wünſchenswerthes, ſehr Erſtrebenswerthes erſchienen ſein mag. Wie oft hat er von dem Fenſter unſeres Wohnzimmers aus die Kutſchen gezählt, die bei ſolchen Gelegenheiten die Theilnahme der Beſten im Volke leer, aber würdig zur Darſtellung bringen! ... Und nicht, daß ich nun von einem erhabeneren Standpunkt hierüber wegge¬ ſehen hatte: o, als der rechte Sohn meines Vaters habe ich ſehr genau darauf geachtet, wer ihm und mir die gebührende Ehre gab und wer nicht. —
Aber wo war das Fenſter im Vogelſang, an dem die Krumhardts ſeit Generationen von Vater zu Sohn ihre ſtatiſtiſchen Bemerkungen in dieſer Hinſicht gemacht hatten, bis — ſie ſelber für einen Andern in gleiche hineinfielen? Ein vierſtöckiges Haus hatte Arnemann auf das alte Familiengrundſtück ge¬ ſetzt, und vom Erdſtock bis zum Dache kamen Dutzende von Geſichtern jeder Art an die neuen Fenſter, um das „ ſchöne Begräbniß “zu ſehen. Und was ſonſt ein lieber, zum Übrigen, Gleichen gehöriger Schmuck der Feld - und Gartengaſſe geweſen war, das Stück grüne Hecke der Frau Doktor Andres, das war nun¬ mehr ein Etwas, das ſeine Zeit ganz und gar über¬ lebt hatte und durch ſein Nochvorhandenſein nur kümmerlich-lächerlich wirkte.
Und wie an dem betrübten Tage, in dem208 traurigen Zuge mein Auge doch nur dieſen grünen Punkt in all dem neuen fremden Mauerwerk ſuchte und ſich der Exbürger des Orts mit einer Art von Heimwehgefühl dort feſtzuklammern ſuchte! Und nun — gerade vor dem Anweſen der Familien Krumhardt und Andres redeten die beiden würdigen geiſtlichen Herren, zwiſchen denen ich hinter dem Sarge ſchritt, ſo treulich und wohlmeinend das Paſſende auf mich ein, daß es eine rechte Unhöflich¬ keit von mir geweſen ſein würde, wenn ich ihnen nicht nach rechts und nach links hin das Ohr geliehen hätte! So habe ich damals trotz allem nur flüchtig hingrüßen können nach der greiſen Freundin und Nachbarin an dem zerfallenden morſchen Garten¬ thürchen und ganz außer acht gelaſſen, daß ſie nicht allein an der Pforte zu ihrem ſo tapfer feſtgehaltenen Reiche ſtand, um den Familienfreund vorbeiziehen zu ſehen. Es hätte auch doch wohl eine Störung im Zuge gegeben, wenn — Velten Andres an dem Morgen aus ſeinem Garten ſofort an meine Seite getreten wäre! — — — — — — — —
Er hat ſich an das Ende des Zuges angeſchloſſen und mich alſo auf dem ernſten Wege davor bewahrt, Aufſehen durch eine augenblicklich unſchickliche Auf¬ regung über ein plötzliches unvermuthetes Wiederſehen zu erwecken. Auf dem Friedhofe ſelbſt aber, wo die209 frühere Freundſchaft auch jetzt noch nach Möglichkeit gute Nachbarſchaft hielt und ihren Grundbeſitz im Grundbuche, wenn auch nicht Hypothekenbuche, feſt zuſammen hatte ſchreiben laſſen, konnte er mir die Überraſchung nicht erſparen.
Dicht neben ſeinem Vater war dem meinigen die Grube gegraben (Nachbar Hartleben lag nur ein paar Schritte weiter ab, und der übrige Vogelſang, hier noch immer im Grün, und mit der Ausſicht auf den Oſterberg und Schluderkopf, rundum) und ſtanden die Schaufeln für die Liebes -, Ehren - und Achtungs¬ gabe des Grabgefolges in die friſch aufgeworfenen Schollen fruchtbaren Gartenbodens geſtoßen.
Und wenn man den gleichgültigſten Kanzleiver¬ wandten, den langweiligſten Klub - und Stammtiſch¬ genoſſen ſo mit einem dieſer Spaten die letzte Achtung erweiſt, liegt nicht nur die nächſte Umgebung, ſondern die ganze Welt in einer Beleuchtung, die für den Schreibtiſch und den L'hombretiſch kaum die rechte ſein würde: begrabe aber Deinen Vater, Deine Mutter, Dein Kind, und achte dann, in dem Licht, das eben kein Licht iſt, darauf, wer Dir zu dem „ Erde zu Erde “das Werkzeug in die Hand giebt und an wen Du es weitergiebſt! ...
In die Hand reicht es uns Chriſtenleuten nach geſchriebenem und ungeſchriebenem Recht die Kirche,W. Raabe. Die Akten des Vogelſangs. 14210wenn es gewünſcht worden iſt; aus der Hand nahm es mir der Nächſte mir zur Seite und ſagte:
„ Das war ein wohlmeinender, braver und kluger Mann, Krumhardt. Mögen Deine ſpäteſten Enkel noch ſüße Früchte mit ſeinen wackeren Knochen vom Baume des Lebens werfen ... “
Velten! ... Velten Andres! Nun verletzte ich doch den Anſtand, indem ich zurücktretend dem Chef des Entſchlafenen, der nach mir nach der Schaufel hatte greifen wollen, auf den Fuß trat. Den Spaten reichte Velten ihm:
„ Bitte, Herr Obergerichtspräſident. “
Später ſind keine Störungen mehr vorgefallen. Es iſt nur gethan und geſagt worden, was bei ſolchen Gelegenheiten gethan und geſagt zu werden pflegt. Ich, der ich mehr als ein Anderer (auch als der Freund) von den Vorzügen des alten Herrn Kenntniß hatte und überzeugt war, kann es bezeugen, daß mir nichts über ihn geſprochen wurde, was nicht die volle Wahrheit war. Als wir ihn dann ließen, und ein Jeder, der ihm die letzte Ehre gegeben hatte, aus ſolcher Störung des tagtäglichen Tages - und Ge¬ ſchäftslaufs heimging oder fuhr, hatten wir, der Vater und der Sohn, es freilich uns gleichfalls ge¬ fallen laſſen müſſen, was dann noch mehr oder weniger anekdotenhaft aus dem Lebensverlauf des211 Obergerichtsſekretärs Krumhardt heraufgeholt wurde, bis noch näherliegender Tages - und Daſeins-Ge¬ ſprächſtoff den Ruhenden in ſeiner Ruhe ließ neben ſeinen nächſten guten Nachbarn: ſeinem Weibe und dem Doktor der Heilkunde Valentin Andres. — —
Er fuhr nicht mit mir nach Hauſe. Er ſagte mir auf dem Kirchhofe nur noch: „ Später, mein Junge! Wir haben für Alles Zeit; “brachte mich aber doch an den Wagen an der Friedhofspforte, ließ den hohen Chef des weiland Obergerichtsſekretärs Krumhardt und ſeinen Sohn einſteigen, drückte mir über den Schlag noch einmal die Hand: „ Ich hoffe Dich ſchon heute noch gemüthlicher ſprechen zu können. Guten Morgen, Alter. “
„ Was war denn das für ein eigenthümlicher Herr, lieber Aſſeſſor? “fragte der hohe, amtlich dem Hauſe Krumhardt Vorgeſetzte; und als ich ihn, ſo weit das möglich war, darüber in Kenntniß geſetzt hatte, ſagte er:
„ Hm, hm, ja, ich erinnere mich dunkel. Der Sohn eines Vorſtadtarztes und ein toller Chriſt vor Jahren. Nahm nicht einmal Seine Durchlaucht14 *212einiges Intereſſe an ihm? Jawohl, jawohl, ganz richtig! Andres! Eine Zeitlang hatte der junge Menſch hier wirklich die beſten Avancen. Sie und er waren Nachbarn, Herr Aſſeſſor, und ſcheinen noch in freundſchaftlichem Verkehr mit ihm zu ſtehen. Man hielt ihn damals für ein junges Genie; aber er iſt uns doch, wie das gewöhnlich zu geſchehen pflegt, dann bald gänzlich aus den Augen gekommen. Es würde wirklich auch mich ein wenig intereſſiren, zu erfahren, was jetzt eigentlich aus ihm geworden iſt. “
Wahrſcheinlich hat der würdige Mann es nur auf die Zeit und Umſtände, unter welchen er ſeinen Wunſch äußerte, geſchoben, daß ich ihm nur ſehr ungenügend Aufklärung gab. —
Zu Hauſe fand ich, was man zu finden pflegt, wenn man von einem ſolchen Geſchäft heimkehrt: das Haus nach Möglichkeit gereinigt und aufgeräumt — nach der Kataſtrophe ſo viel friſche, ſonnige Alltags¬ luft als möglich eingelaſſen — nach Möglichkeit Alles in der alten Ordnung — ſo wenig als möglich Stearin -, Chlor - und Blumengeruch: das alte Geräthe in gewohnter Ordnung, nur noch etwas peinlicher, um Einen herum und — eine Lücke in ſich, eine Leere, eine Öde um ſich, die natürlich je den Um¬ ſtänden nach mehr oder weniger empfindlich empfunden werden. Aber ich konnte auch mein gutes kleines213 Weibchen in der ſchwarzen ernſtgemeinten Trauer¬ kleidung in den Arm nehmen und „ Schlappen “, dem jüngſten Regierungsrath des Landes und meinem Schwager, ſowie einigen anderen, meiner Frau zum Troſt und zur Aufrichtung gegenwärtigen Mitglieder ihrer Familie für ihre Theilnahme danken.
„ Es iſt doch recht betrübt, daß Du heute gar keine eigenen Verwandten haſt, “ſagte, nachdem ſie Alle ihre Pflicht gethan hatten und gegangen waren, meine Frau, ſich an meinem Schreibtiſche an meine Seite ſchmiegend und gottlob ſo dicht als möglich. „ Armer Mann! Aber mich haſt Du doch und nicht wahr, das iſt doch auch ein Troſt? Und nun wollen wir von jetzt an noch feſter zuſammenhalten und uns immer lieber haben — nicht wahr, Du armer lieber Mann? Und daß Du Dich gleich wieder in Dein Arbeitszimmer geſetzt haſt, das iſt ſehr Unrecht von Dir und gehört ſich gar nicht! Deine Frau gehört heute zu Dir, und wenn Du nicht zu mir herüber¬ kommſt, ſo bleibe ich hier bei Dir und draußen habe ich ſchon Beſcheid gegeben: ſie ſollen, wenn es nicht ganz und gar nöthig iſt, keinen Menſchen mehr zu uns hereinlaſſen! “
Bei Allem, was der Menſch auf Erden je der Götter Wohlwollen, die Güte Gottes genannt hat, konnte es mir noch deutlicher gemacht werden, was214 ich an ſicherm Eigenthum, an dem Reichthum dieſer Erde gewonnen hatte, was mir davon gegeben worden war auf meinem Wege bis zu dieſem betrüblichen Tage? —
Wir blieben den Tag über für uns allein. Als ich meiner Kleinen aber von der Heimkehr Velten Andres 'erzählte, ſagte ſie:
„ Ah, der gehört natürlich zu uns, Dein beſter Freund! Ich kenne ihn ja eigentlich kaum; aber wie oft iſt bei uns, in meiner Eltern Hauſe, von ihm und was er an meinem Bruder gethan hat, die Rede geweſen! Ich war zu jener Zeit, als er für uns ſein Leben gewagt hat, noch ein zu junges Kind, um ſeine Heldenthat ganz zu faſſen; aber ich ſehe heute noch meine Mutter in Ohnmacht und im Wein¬ krampf und meinen Vater außer ſich. Nachher iſt leider weniger gut von ihm geſprochen worden und Papa hat ärgerlich gemeint, es ſei Schade, daß ſo ganz und gar nichts mit ihm anzufangen ſei; und dabei bin ich denn, weißt Du, auch ſo nach und nach herangewachſen, und habe mir meine eigene Meinung gebildet, und Du biſt gekommen und haſt mir dabei geholfen, das heißt, Du weißt es wohl ſelber am¬ beſten, wie Du mich nicht nur aus meines Vaters Hauſe, ſondern auch in alle möglichen anderen An¬ ſichten über Gott und die Welt hinein und für Dich215 zurechtgezogen haſt. Nun weiß ich heute faſt ebenſo gut wie Du in eurem alten Vogelſang und um Helene Trotzendorff und die Frau Doktorin Andres und Deinen Velten und alles Übrige Beſcheid — freilich, wenn ich auf einen Menſchen geſpannt ſein muß, ſo iſt das Dein Freund Velten, aus dem Keiner von euch je recht klug geworden zu ſein ſcheint, nimm das mir nicht übel. Und ganz derſelbe wie ſonſt nach eurer Beſchreibung ſcheint er auch ge¬ blieben zu ſein. Ich wäre in ſeiner Stelle jetzt ſchon längſt bei Dir — noch dazu an ſolch einem böſen, ſchmerzlichen, traurigen Tage wie heute! “
So plauderte ſie und verſuchte es immer von Neuem mit dem linken Zeigefinger mir die Stirnfalten wegzuſtreichen und mir über den „ traurigen Tag “leichter hinwegzuhelfen.
Es war ein wunderlicher geſpenſtiſcher Tag, ein unruhiger Tag, trotz der Stille, in der die Welt uns Zwei ließ, oder der Anweiſung an der Vorſaalthür zufolge laſſen mußte. Der friſche Hügel auf dem Vogelſangkirchhofe war nicht Schuld daran: ſo etwas drückt den Menſchen nur in den Winkel und womöglich einen dunkeln, drückt ihn nieder in einen leer gewor¬ denen Großvaterſtuhl, oder auch wohl auf ein niederes Kinderſchemelchen, drückt ihm die ſchwere Hand auf die Augen, auf die Stirn. Unruhe in die Glieder bringt216 das nicht; ich aber hatte den ganzen Tag über Unruhe in den Gliedern, denn ich begriff noch weniger als meine Frau, wo Velten jetzt eigentlich blieb?
Es konnte doch keine Täuſchung geweſen ſein! Ich hatte ihn doch plötzlich auf dem Kirchhofe an meiner Seite geſehen! Er hatte zu mir geſprochen; ich fühlte noch immer den Druck ſeiner Hand auf den meinigen; und — ich hatte im Auf - und Ab¬ ſchreiten durch das Zimmer Momente, in welchen ich nicht mehr an ihn glaubte und einen Eid über ſeine Rückkehr in die Heimath nicht zu den Akten abgegeben haben würde. Als er dann in der Dämmerung kam, fand er mich über dem Reichsſtrafgeſetzbuch, dem Paragraphen: Fahrläſſiger Meineid, und in der kopfſchüttelnden Gewißheit, daß die meiſten Juſtizver¬ brechen hierbei begangen werden, und daß Jupiter, der über die Schwüre der Verliebten lacht, über die Urtheile der hier zuſtändigen Richter ſehr häufig mit den Zähnen zu knirſchen hätte. — Daß ich ſolches aber jetzt hier niederſchreibe, beweiſt nur auch, in welche Ferne mir heute, in dieſer Winternacht, während der Schnee noch immer ununterbrochen niederrieſelt, jener ſo dunkle unruhvolle Sommerſonnentag, der Tag, an welchem ich meinen Vater begrub und an welchem Velten Andres ihm vom Hauſe ſeiner Mutter aus die letzte Ehre erwies, gerückt iſt.
217Er aber, mein Freund Velten, ſteht wieder gerade ſo geſpenſtiſch wie damals neben meinem Seſſel, legt mir die Hand auf die Schulter und fragt:
„ Nun, Alter, noch nicht des Spiels überdrüſſig? “
Da habe ich denn in dieſer heutigen kalten, farbloſen Winternacht, mit den ewig von Neuem ſich aufhäufenden Aktenſtößen um mich her, mit all den Enttäuſchungen, Sorgen, Ärgerniſſen, die nicht nur das öffentliche Leben, ſondern auch das Privatleben mit ſich bringt, und im grimmen Kampf mit dem Überdruß, der Enttäuſchung, der Langenweile und dem Ekel an der ſchleichenden Stunde, doch noch ein¬ mal ein: „ Nein! “geſagt, dem ſtolz-ruhigen Schatten gegenüber, der ſo weſenhaft Velten Andres in meinem Daſein hieß.
Ich habe und halte meiner Kinder Erbtheil. Das Spielzeug des Menſchen auf Erden, das ja auch einmal meinen Händen entfallen wird, wollen ſie aufgreifen, und ich — ich fühle mich ihnen gegenüber dafür noch verantwortlich! —
Doch jener Sommertag, an welchem ſich der Freund über das letzte Stückchen lebendiger Hecke im Vogelſang lehnte, um dann ſeinem, ihm vom218 Staate geſetzten Vormund oder „ Familienfreund “, dem alten Obergerichtsſekretär Krumhardt auch die letzte, Ehre zu erweiſen, iſt ja noch nicht vorüber in dieſen Blättern. Die Dämmerung zieht ſich in jener Jahreszeit weit in die Nacht hinein, und wie geſagt, er kam erſt in der Dämmerung, der Freund, und ein neuer Morgen leuchtete über dem Oſterberge auf, ehe er wieder ging und beim Abſchiednehmen lächelte:
„ Nun, hab 'ich die Scheherezade oder den Märchenerzähler im Karawanſerai zu Bagdad ver¬ gnüglich geſpielt? Seht nur —
Aber, ihr habt es ſo gewollt, Kinderchen: und Eines iſt ſicher: in meinem Leben wißt ihr jetzt faſt ebenſo gut Beſcheid wie ich ſelber. Was meint die gnädige — die junge Frau? Nicht wahr, ſie faßt nachher ihr Stück beſtes Eigenthum feſter und etwas ängſtlich in die Arme: ‚ O Gott, Karl, und mit dieſem entſetzlichen Menſchen biſt Du aufgewachſen in eurem Vogelſang und haſt mir von ihm ſo gut geſprochen, wenn einmal wieder in den letzten Jahren die Rede auf ihn gekommen iſt? O, wie dankbar müſſen wir dem lieben Gott Beide ſein, daß er noch früh genug ein Einſehen gehabt und ihn auf alle vier Straßen der Welt verwieſen und ihm nur Gras219 und Welle, Sonne und Wind gelaſſen, aber Dich Armen, zu Deinem Beſten mir hier anbefohlen hat!’ “
„ Sie bleiben doch nun auch, wenigſtens für einige Zeit, hier bei uns? “fragte Schlappes Schweſter; er aber wendete ſich wieder zu mir:
„ Die alte Heldin dort hinter der letzten Hecke des Vogelſangs! Der Brief, in dem ich ihr meinen Beſuch von Southampton aus anmeldete, iſt erſt heute Morgen hier angelangt. So fand ſie mich geſtern Abend an unſerer Gartenthür lehnend, als ſie von Dir und Deines Vaters Sarge nach Haus kam. Ich brauche ein Jahr mindeſtens, um ihr für den diesmaligen Schrecken, den ich ihr einjagte, Genugthuung zu geben. Du lieber Himmel, ſie da in den Armen zu halten, und die alten guten Redens¬ arten im alten Ton wieder zu hören! O, wie oft habe ich in der Fremde ihr: Du dummer Junge! im Ohr gehabt, — und nun es ſich wieder zwiſchen Lachen und Weinen ſagen laſſen zu dürfen! Eine Stunde hatte ich am Zaun zu warten, bis ſie mit dem Hausſchlüſſel kam, den verlaufenen Hund ein¬ zulaſſen. Da habe ich Zeit gehabt, mir die neue Mauerwerksherrlichkeit zu betrachten, in der ſie — ſie allein das Ihrige — das Unſerige feſtgehalten hatte; — und für wen? für wen? Da ſtand der Narr, der von der Schmetterlings - und Seifenblaſen¬220 jagd heimgekommene Narr und ſuchte nach rechts und nach links und nach gegenüber die alten Freunde und Bäume — fremde Gaffer und fremde Mauern um ſich her. Sie haben es ihr zugebaut, das ſonnige, grünende, blühende, lachende Familienerbe; ſie aber hat Freund und Freundin, Nachbar und Nachbarin, Buſch und Baum gehen und fallen ſehen, hat dem Schalten über ihren Aurikelbeeten ſtandgehalten und ihren Seſſel vor ihrem Nähtiſchchen an ihrem Fenſter nicht weggerückt. Sie hat alle Tatzen weg¬ geſchlagen und nicht ihret - ſondern meinetwegen. Gnädige Frau, Karl Krumhardt — meinetwegen! ... Meinetwegen hat ſie, wie weiland die Juden in Jeruſalem die Riemen von den Sätteln und das Leder von den Schilden abgenagt und das Heilig¬ thum gehalten unter dem Fabriklärm von Hartlebens Grundſtück her und der Tanzmuſik aus dem Tivoli und der Centralhalle. Ob ich als Bettler oder als Millionär, wie weiland Mr. Charles Trotzendorff, heimkam, iſt ihr wohl recht gleichgültig geweſen; über ihrer Häkelnadel, ihrem Strickſtrumpf, hinter ihrer lieben Brille, hat ſie nur die Gewißheit feſt¬ gehalten: ‚ Den Schlingel, das arme Kind kenne ich zu gut, um nicht zu wiſſen, wie das feſt darauf rechnet, ſich noch einmal hinter meiner Schürze zu verſtecken und ſich an meinen Rock zu klammern und:221 Mama! Mama! zu heulen. Wer ſollte um den Narren Beſcheid wiſſen, wenn ich nicht? Hätte er mir das Kind, die Helene heimbringen können, ſo wäre es freilich etwas Anderes geweſen; aber das iſt wohl nicht ſeine ſchlimmſte Fehljagd nach dem Glück geweſen, daß Miſtreß Mungo nicht in das letzte Grün des Vogelſangs hineinpaßte. ‘— Jetzt laßt mich gehen, Leutchen; jawohl, gnädige Frau, für einige Zeit bleibe ich im Lande, und nun machen Sie kein zu bedenkliches Geſicht hierzu. Ich laſſe Ihnen Ihr wohlerworbenes Eigenthum. Sehen Sie da lächelt Freund Krumhardt — ſelbſt nach ſeinem traurigen Tagesgeſchäft. Es geht doch nichts über eine trauliche Abendunterhaltung ſo bis in den nächſten Morgen hinein! “
Ob ich gelächelt habe, kann ich nicht ſagen; aber das weiß ich, daß, als er gegangen war und wir nun wieder allein bei der ſchon in den Tag hinein¬ glimmenden Lampe waren, meine Frau ſich wie angſt¬ voll an mich drängte, mir die Arme um den Hals warf und rief:
„ Welch ein Menſch, welch ein lieber und un¬ heimlicher Menſch! Alſo das iſt Dein Freund? Mit dem biſt Du aufgewachſen in eurer Vorſtadt, während in meiner Eltern Hauſe Niemand von euch wußte. O, jetzt begreife ich es, daß Der einem Menſchen das222 Leben retten kann, bloß um ſich über ihn luſtig zu machen, wie er über meinen Bruder Ferdy! Daß er um ein thörichtes Mädchen ſeine Mutter, ſein Vater¬ land, ſeine Ausſichten in der Heimath aufgeben konnte, und — ſieh — ſo recht ſagen kann ich es nicht, aber ich fühle es und weiß es ſicher, daß, wenn er nachher ſcherzhafte Briefe an ſeine Mutter über ſeine Täuſchungen und Enttäuſchung geſchrieben hat, die ihm aus dem Herzen und einem ruhigen, für mich als ein armes Frauenzimmer etwas zu ruhigen Herzen gekommen ſind. Mit welchem Lächeln er von Dir, mein beſter Karl, als von meinem Eigen¬ thum ſprach! Sieh, wir wiſſen nicht, wie er jetzt heimgekommen iſt, ob mit Geld oder ohne; aber ein Eigenthum hat Der nicht mehr in der Welt und an der Welt, und was für mich und Unſeresgleichen ſehr troſtlos iſt: will es auch nicht haben. Was kann denn Der von alle dem, was uns Anderen Freude macht, noch gebrauchen? Und was kann ihm noch Sorge machen und Schmerz und Verluſt fürchten laſſen, nach Allem, was er uns erzählt und wie er zu uns ge¬ ſprochen hat in dieſer Nacht? Der hat keines Menſchen Hilfe und Troſt mehr nöthig, — auch Deinen nicht, Karl. O, das iſt ein ſehr gefährlicher Menſch; jetzt be¬ greife ich wohl, daß hier in unſerer kleinen Welt Niemand etwas mit ihm hat anfangen können, daß223 nirgends für ihn ein Ruheplatz geweſen iſt. Aber iſt es ein Glück, ſo unverwundbar auf ſeinem Wege durchs Leben zu werden wie dieſer, Dein Freund Velten, der an Allem, was uns Anderen begegnen mag, jetzt nur Antheil nimmt wie wir auf unſerem Theaterplatz, einerlei, ob es das Luſtigſte oder das Traurigſte, das Dümmſte oder das Klügſte, das Häßlichſte oder das Schönſte iſt, was vor ihm aufgeführt wird? Und was noch ſchlimmer iſt, auch in ihm! Ich ſchwatze wohl thörichtes Zeug; aber wie hätte ich in meinen Kreiſen je erfahren können, daß es ſo etwas in der Welt geben kann? Daß Menſchen über das Leben und den Tod, über Alles, was uns Anderen wichtig, ſüß oder bitter iſt, ſo ruhig werden könnten? Ach, Karl, der iſt doch noch ganz anders, als wie Du ihn mir geſchildert haſt. Und, weißt Du noch eins — eure arme Leonie in Berlin, von der Du mir erzählt haſt, be¬ greife ich wohl; aber die Andere — die hier aus dem Vogelſang, ganz und gar nicht. Wenn ſie, dieſe Helene Trotzendorff, nicht doch nur, euch närriſchen dummen Leuten gegenüber zum Trotz, eine ganz gewöhnliche dumme Gans geweſen iſt, hat ſie eine ſchwere Verantwortung auf ſich genommen. Ich, für mein Theil, ich — “
„ Nun, mein Herz? “
224„ Ich hätte auf dieſen greulichen Menſchen ge¬ wartet und mein Recht an ihn nicht ſo leicht hinge¬ geben! “
Es war nach dem Begräbnißtage meines Vaters. Die Kleine ſah nach all den ſchlimmen, wunderlichen und abenteuerlichen Aufregungen, zwiſchen der er¬ löſchenden Lampe und dem kommenden Tageslicht übernächtig, abgeſpannt, ja völlig unglücklich drein, aber lächeln mußte ich doch über das mir ſcheu¬ trotzig zugerufene Wort. Sie aber ſprang auf aus ihrer Sofaecke, blies die Lampe aus und rief:
„ Ja, es iſt mir ganz einerlei, ob Du lachſt oder brummig ſiehſt: Dein Freund Velten Andres gefällt mir ausnehmend, und ich kann das um ſo ruhiger ſagen, als ich hier gar nicht für mich ſpreche. “
„ Und für wen? “
„ Für uns Alle. Jawohl! Und da meine ich etwa nicht bloß, wie Du mir natürlich abzuſehen glaubſt, uns arme, in die Konvenienz gebannte Frauenzimmer, denen da mal was Neues aufgeht, ſondern euch mit, ja, euch Männer vor Allem! Wir nehmen doch höchſtens ein etwas tieferes Intereſſe an ſolch einem neuen Phänomen an unſerem be¬ ſchränkten Horizont; aber ich glaube, wäre ich ein Mann, und noch dazu einer aus der hieſigen Stadt und Geſellſchaft, ſo müßte ich dann und wann neidiſch225 auf ſolch einen übrigens im Grunde gräßlichen Menſchen werden. “
Ach, und er war ſo gut, und hielt ſich ſo ſtill, und that keinem ſeiner hieſigen Mitmenſchen was — faſt ein volles Jahr im Vogelſang. Faſt ein volles Jahr hindurch gab es in der faſt zur Großſtadt herangewachſenen Reſidenz keinen kleinbürgerlicher von ſeinen Renten lebenden Rentner (wenn auch nicht in Schlafrock und Pantoffeln) als wie Velten Andres. Das Intereſſe an ihm erloſch bald vollſtändig; wie Mr. Charles Trotzendorff war er wahrlich nicht heim¬ gekehrt; übrigens wußte auch ſeine jetzige Nachbar¬ ſchaft im Vogelſang kaum noch etwas von Joſeph; das heißt in dieſem Falle von dem Doktor Andres und ſeiner Familie.
Gegen alle Schulfreunde und ſonſtige Jugendge¬ noſſen hatte er im Verkehr eigentlich nur das eine Wort:
„ Schauderhaft müde. “
Wenn, er dann gähnend vielleicht noch hinzuge¬ ſetzt hatte:
„ Ausſchlafen! “und der gute Freund mehr und mehr zu dem Bewußtſein gelangte, daß er ſeinerſeits eigentlich nichts mitzutheilen habe; ſo war es dennW. Raabe. Die Akten des Vogelſangs. 15226freilich für beide Theile das Beſte, wenn ſolche Unter¬ haltung nicht fortgeſetzt wurde, ſondern der Verkehr überhaupt unterblieb. Helläugig, lebendig, wach und das Spazierſtöckchen ſchwingend, ging dann der „ Be¬ ſuch “, in der feſten Überzeugung:
„ Wieder einmal Einer, der zu große Roſinen im Sack hatte und nachher das gewöhnliche Pech im Leben gehabt hat. Schade um den alten, lieben Kerl! “
Ich habe ſelber einigen ſolcher guten Leute von dem Fenſterſtuhl der Frau Doktorin mit das Geleit gegeben bis zu dem morſchen Thürchen in der letzten grünen Hecke des Vogelſangs, ihnen, an dieſer Hecke lehnend, nachgeſehen, und, wenn ich es konnte, meine Gedanken haben dürfen über das Wachen und das Schlafen in dieſer Welt.
Aber auch mir gegenüber verhielt der Freund ſich ſchweigſamer, als es mir eigentlich recht ſchien. Ich erfuhr über ſeine Erlebniſſe im Grunde jetzt aus ſeinem Munde nicht mehr, als was er im Laufe der Jahre darüber an ſeine Mutter geſchrieben hatte. Auf einem Spaziergange gelangten wir auf dem Oſterberge auch wieder einmal auf die Stelle, von wo wir drei Kinder: er, Helene Trotzendorff und ich einſt um den Laurentiustag die Sternſchnuppen fallen ſahen und unſere Wünſche für das Leben gehabt hatten.
Ich erinnerte ihn daran und er legte mir die227 Hand gelaſſen auf die Schulter und ſagte ohne alle Aufregung, ohne Lächeln, aber auch ohne Stirnrunzeln:
„ Mir haben ſie ſo ziemlich Wort gehalten, die fallenden Sterne. Einem beſcheidenen Gemüth wird ſchon das Seinige zu theil, und weiß es ſich zu be¬ ſcheiden, wo es nicht anders geht. Was wünſchte ich mir damals doch? Wenn ich nicht irre, den Heckepfennig, den Däumling und das Tellertuch der drei Rolandsknappen. Ich habe das Alles gehabt und habe es noch, ſo weit es mir zum täglichen Gebrauch nöthig iſt. Auf das Vergnügen, Perſepolis in Brand zu ſtecken, verzichtet man, wenn man ſein letztes Schulheft in den Ofen geſteckt hat. Auch ein ‚ berauſchter Triumphtod zu Babylon‘ erſcheint mir nicht mehr als das löblichſte Exit homo sapiens, ab geht der Narr. Ich wünſche nüchtern zu ſterben, oder wenn Du lieber willſt — vollkommen ernüchtert. So eigenthumslos als möglich. Übrigens habe ich ein gutes Gedächtniß und es war kaum nöthig, daß Du mich eben auf dieſem Platze an jenen Sommer¬ abend erinnerſt. Auch von der Tonne des Diogenes war ja wohl damals bei ſolch 'einem fallenden Stern die Rede? Nun, in der habe ich mich jetzt, der alten Frau da unten zuliebe, in ihrem Ofenwinkel gewälzt, oder wälzen dürfen. Man muß ſich Alles gefallen laſſen, lieber Krumhardt. Und auch die15 *228Menſchen nicht in ihren Illuſionen ſtören. Die alte Frau da unten im Vogelſang zum Beiſpiel iſt noch immer der Meinung, daß ihr Söhnchen die Welt durch ſeine Thatkraft überwunden habe und weiter überwinden werde. Die ſcherzhafte Idee, in mir einen Helden meinem Vater und dem Vaterland, der Hebamme und der Menſchheit überliefert zu haben, hat ſie ſo manches Jahr durch und vorzüglich jetzt während meiner längeren Abweſenheit ſo fröhlich und heiter aufrecht erhalten, daß es eine Sünde wäre, ihr die Illuſion zu nehmen. Hier hört auch für mich das Spiel mit der Welt auf: das wäre ein zu ſchlechter Spaß, Der nun noch als Wolke vor die Abendſonne ziehen zu wollen! Beiläufig, ich habe ihr einen ihr ausreichend imponirenden Haufen Dollars auf den Tiſch gelegt, ſoll ich vor ihr nun auch meine leeren Taſchen umwenden und ihr ſagen: Mama, Du haſt vergeblich das letzte Grün aus dem Vogelſang für das Geſchöpf, das auch ſehr, ſehr Dein Geſchöpf iſt, für den dummen Jungen, Deinen Velten feſtgehalten!? — Ich habe oft im Leben Komödie ſpielen müſſen, vorzüglich in den letzten Jahren, und wie der Kaiſer Auguſtus hätte ich mich meiner Begabung dafür wohl rühmen dürfen: jetzt und hier am Platz aber, dieſer alten Frau gegenüber, fällt es mir ſchwer, das Wort vom Schlafen, dem229 Ausſchlafenmüſſen wie vor den Andern als ein Scherzwort, und um Fliegen — wollte ich ſagen Narren abzuwehren, feſtzuhalten. Nein, nein, die Sonne iſt ihr übergenug verbaut worden; das Licht, das ihr in ihrem ſtilltapfern, lieben, ſchönen Leben von mir ausgegangen iſt, ſoll ihr nicht ausgehen, ſo weit das an mir liegt! Sie ſoll ihre Freude an mir behalten! “
Ich konnte dem Mann, über den alſo wirklich Niemand etwas Genaueres wußte als ich, nur ſtumm die Hand drücken; eine mündliche Erwiderung gab es hierauf nicht.
Velten lächelte:
„ Es war um das Jahr Siebenzehnhundertſieben¬ undſechzig und der größte Egoiſt der Litteraturge¬ ſchichte alſo achtzehn Jahre alt, da er ſeinem Freunde Behriſch den Rath zuſang:
und er hat ſelber ſein Leben in Poeſie und Proſa danach eingerichtet und es iſt ihm wohl gelungen. Es war im Salon der Mrs. Trotzendorff als mir beim zufälligen Blättern in allen möglichen Bilder¬ büchern jenes Wort des frühreifen Lebenshelden in230 Puder, Kniehoſe, ſeidenen Strümpfen und Schnallen¬ ſchuhen in dem rechten Augenblick wieder vor die Augen kam. Unſer Dämonium bedient ſich viel öfter als man merkt, ſolcher Mittelchen, um uns unter die Arme zu greifen, ſowie auch um uns davor zu behüten, uns lächerlicher zu machen, als unbedingt zum Fortbeſtehen der Welt durch den Verkehr von Hans und Grete nöthig iſt. Man kann auch von einem achtzehnjährigen Jungen was lernen, zumal wenn der Genius dem Bengel die Stirn berührt hat. Es war der Geſellſchaftsabend, an welchem mir unſere Kleine aus dem Vogelſang zum erſten Mal ganz deutlich machte, was Alles zu einem elenden Gut auf der wankenden Erde werden kann. Verſe habe ich nie gemacht; aber die Fähigkeit habe ich doch, im Komiſchen wie im Tragiſchen das momentan Gegenſtändliche, wenn Du willſt, das Maleriſche, das Theatraliſche jedesmal mit vollem Genuß und in voller Geiſtesklarheit objektiv aufzufaſſen: ich habe an jenem, der alte Goethe würde ſagen bedeutenden Abend dem Papa Trotzendorff das Blatt aus ſeinem Renommirtiſchexemplar geriſſen, es fein zuſammen¬ gefaltet und in die Bruſttaſche geſchoben. Manchen Leck in meinem Lebensſchiff habe ich bis zum heutigen Tage damit zugeſtopft, und — jetzt, meine ich, haben wir die ſchöne Natur von dieſem Ausſichtspunkt aus,231 auf dem wir voreinſt unſere Wünſche an die fallenden Sterne knüpften, genug bei hellem Tage beſehen und wir können gehen. “
Wir gingen — ſtiegen noch einmal den Zickzack¬ weg am Oſterberge hinunter. Jetzt konnte da nicht mehr Elly unter der Armenmannsbuche über eine Wurzel ſtolpern und ſich eine blutende Naſe holen. Der Weg war „ planirt “worden, und wo der ſchöne, alte, morſche Baum ſeine Zweige über ihn geſtreckt hatte, ſtand jetzt eine weiß geſtrichene Zinkfigur, eine Nachbildung der Canovaſchen Hebe und daneben deutete an einem anderen wohlgepflegten Pfade eine Hand auf einer Tafel nach einem „ Aſyl für Nerven¬ kranke “, deſſen Aufblühen in ſeinem Waldbeſitz am Schluderkopf Vater Hartleben glücklicherweiſe auch nicht mehr erlebt hatte und alſo auch nicht deshalb keine Ruhe in ſeinem Grabe zu haben brauchte. Um die ſpäte Nachmittagsſtunde war die Gegend hier von Spaziergängern und Spaziergängerinnen recht belebt. Es begegneten uns mehrere, die uns grüßten, oder die ich zu grüßen hatte; und die öfters einen Blick über die Schulter nach meinem Begleiter zurück¬ warfen. Daß uns Jemand begegnet ſei, der etwas aus ihm „ zu machen gewußt “hätte, oder ihn nur annähernd richtig in ſeine Lebensordnung und ſeine Erfahrungen über menſchliche Zuſtände und Schickſale232 hätte einordnen können, habe ich nicht in den Akten.
Am allerwenigſten konnte das mein Schwager „ Schlappe “, der uns auch entgegenſtieg, ſeinen Weg ſich nach gewiſſen rothen und gelben Zeichen — Kur¬ zeichen — an den Bäumen regelnd, um ein ihm gottlob nur hypochondriſch angeflogenes Herzleiden im Keime zu erſticken.
„ Siehe da, die beiden Seelenverwandten! Die zwei Inſeparables aus der Voliere da unten, eurem Vogelſang. Habe bei Deiner Mama über die ſtadt¬ bekannte, drollige letzte Hecke geſehen, Velten, und mich über die liebe alte Dame wieder einmal recht gefreut. Dieſe beneidenswerten Nerven! Unter der Konzertmuſik aus dem Tivoli das fürſtliche Intelli¬ genzblatt zu leſen und ſich doch dabei freundlich nach der Geſundheit eines Nebenmenſchen erkundigen zu können! Und mit ſolchem Behagen auf dem Geſicht! Wie befindeſt aber eigentlich Du Dich, alter Menſch und Räthſel der hieſigen Menſchheit? Velten, verant¬ worten kannſt Du's beinahe nicht, wie Du die orts¬ angehörige Alltagswelt, ſo weit ſie noch zu Dir hin¬ reicht, intriguirſt. Man ſieht Dich nicht, man hört Dich nicht, Du könnteſt allgemach die Wohlwollendſten dahin bringen, ſich bei der Polizeidirektion nach Dir zu erkundigen oder ſogar das edle Inſtitut auf Dich233 aufmerkſam zu machen. Kommen ſo die Welteroberer nach Hauſe, oder iſt das nur eine neue Weiſe von Dir, der Reſidenz das Problem zu löſen, wie man Weltüberwinder wird? “
„ Die älteſte, einfachſte und behaglichſte Weiſe, ſowohl was die Welteroberung als was die Welt¬ überwindung angeht, lieber Rath bei der Regierung, “ſagte Velten Andres.
„ Man trägt ein Wort von Dir in der Stadt herum über Ausſchlafenmüſſen, “ſagte der Schwager. „ Der Freiherr von Münchhauſen beim ſeligen Land¬ gerichtsrath Immermann hat ein ähnliches. Nicht wahr, Du machteſt mich neulich darauf aufmerkſam, Karl? Unſereiner kommt ja zu dergleichen Lektüre leider zu ſelten, und ich habe wirklich noch nicht Zeit gefunden, in dem Buche nachzuleſen, inwieweit Deine Redewendung uns gegenüber eine ſcherzhafte Reminiscenz daraus iſt. Nun, Andres, vielleicht biſt Du ſelber gelegentlich ſo freundlich, mir nähere Aus¬ kunft darüber zu geben. Aber ich habe die Herren wohl ſchon zu lange aufgehalten; — ſo geht das eben immer, wenn ältere Zeit - und Altersgenoſſen, Schul¬ bankgenoſſen, auf ſolchen altbetretenen Wegen ein¬ ander begegnen! Schönſten guten Abend, liebe Leute, und meine Grüße an Deine Gattin, Krumhardt. “
Im Vogelſang ſaß auch ich noch ein Stündchen234 unter der Konzertmuſik aus dem Tivoligarten mit dem Freunde und ſeiner Mutter. Er wußte jeden¬ falls ſein gefühllos gewordenes Herz wohl zu ver¬ bergen und auf der wankenden Erde an dieſem feſten Punkte es wie vordem leichtbewegt in all den Lichtern, Farben und Schatten, die Menſchen im wahrſten Sinne miteinander verwandt machen, ſpielen zu laſſen. Wie da der Schatten der hohen Brandmauer, der jetzt von meiner Eltern und meinem Heimweſen auf uns fiel, wieder ſich lichtete! Wie es wieder wie Abendſonne aus unſerer, Veltens und meiner Kinder¬ zeit, und aus der Zeit, da Amalie, Agathe und Adolfine auch noch Kinder, junge Mädchen, Bräute und junge Frauen waren, durch Baumgezweig nur tanzende Schatten auf die kleine Laube warf und den Tiſch drin, auf welchem Veltens Vater noch ſeine Rezepte für die ganze Nachbarſchaft unter dem Oſter¬ berg ſchrieb! Da war freilich auch wieder nicht die Rede von großen Abenteuern; aber noch weniger von einem Blatt, das in der fünften Avenue zu New York aus einem Salontiſchbuch geriſſen worden war. Da gewann eine liebe Vergangenheit ihr Recht wieder und behielt es für eine gute Stunde von Neuem mit ſeinem: Weißt Du wohl noch, Mutter? und ihrem: Denkt ihr wohl noch daran, ihr böſen Jungen? — Der Nachbar Hartleben kommt in Hausſchuhen mit der235 letzten Anklage gegen den Schlingel, den Velten, über die Gaſſe, um ſich von der Frau Doktern das Ver¬ ſprechen abnehmen zu laſſen, ſeiner „ Madame “Trotzen¬ dorff die Miethe zu ſtunden und ihr eine neue Tapete in die Wohnſtube zu kleben. — „ Und nun das Wurm da, “brummt der Nachbar, „ ja, Frau Nach¬ barin, da drückt es ſich an Sie an und macht fromme Augen, als ob es noch niemalen ein Wäſſer¬ lein getrübt und heute meinen Pudel friſirt hätte. Ich hätte Ihnen das Vieh mitgebracht, aber es ſchämt ſich ſeiner Verunſtaltung, daß es kein Prügel und keine Bratwurſt unterm Sofa hervorkriegen. Mit ihrer Mutter Putzſchere iſt die Krabbe daran geweſen und hat das Beeſt verſchnitten, daß kein Menſch es mehr herauskriegt, wo es in der Natur¬ geſchichte hingehört. Jawohl, Frau Doktern, Gottes Lohn reicht hier nicht aus, da müſſen Sie ſchon das Ihrige dazu gethan haben, auf daß ich mir ſolche angenehme Inquilinenſchaft von einem Jahre ins andere gefallen laſſe und ſogar noch dankbar bin. “
— Wir ſind Kinder — junges Volk — und das ſchönſte Mädchen des Vogelſangs lehnt ſich als Jung¬ frau über Veltens Mutter: „ Bei Dir bleibe ich auch in der weiteſten Ferne und bitte, bitte, nimm es Mama nicht übel, was ſie Dir heute wieder geſagt hat, nach dem Briefe von Papa. Sie kann ja nichts236 dafür, daß wir nirgends recht hinpaſſen. Ich auch nicht, liebſte, beſte Tante Andres! Und ich durch Deine Güte und Liebe und Barmherzigkeit noch weniger als Mama! “...
Ja, weißt Du noch, Velten? Erinnerſt Du Dich wohl noch daran, Krumhardt? — „ Wie ſteht es denn mit euren Schularbeiten für morgen, Jungen, wenn ich fragen darf? “ Es iſt mein eigener braver, ſorg¬ licher Vater, mein ſeliger Vater, der in Schlafrock und Hauskäppchen mit der langen Pfeife an die Hecke ge¬ kommen iſt, wo jetzt die hohe Brandmauer des Nachbar¬ hauſes ſich erhebt. Und meine Mutter mit dem Strick¬ zeug in der Hand und dem Garnknäuel unterm Arm kommt auch unſerer Laube heran. Es iſt mehr und mehr wie eine Wiederbringung im Fleiſch für den Vogelſang: in Fleiſch und Blut, mit jedem Geſtus und Tonfall ſind ſie wieder da bei der Frau Doktorin Andres, Alle ſind ſie wieder heraufgeſtiegen und — am lebendigſten für den Mann neben der heiter¬ ſchönen Greiſin, der auf ſeiner Bruſt das Blatt trägt mit dem erſten Vers der dritten Ode an Behriſch:
und im grimmigſten Ernſt ſein Leben nunmehr darauf eingerichtet zu haben glaubt.
237Wenn ich dann nach Hauſe komme, finde ich vielleicht meinen Schwager bei meiner Frau ſitzen, und er fragt mich:
„ Nun ſage mir, haſt Du noch immer nicht genug von dieſem maulfaulen, bodenlos langweiligen, gänzlich verödeten Patron, dieſem Miſter, Senhor oder Mon¬ ſieur Andres, Deinem Freund Velten? Sieh mich nur, bitte, nicht in der veralteten, vorwurfsvollen Weiſe an, lieber Krumhardt; auch das intenſivſte Dankbarkeitsgefühl muß ſich allmählich einem ſolchen unnahbaren, unfaßbaren, ewig gähnenden und ewig grinſenden Burſchen gegenüber abſtumpfen. Weiß der Himmel, wir ſind ihm ſeiner Zeit mit den mög¬ lichſten Avancen nahe gegangen; aber wie er uns jetzt heimgekommen iſt, möchte ich doch manchmal wünſchen, es habe mich damals ein Anderer aus der kühlen Pfütze heraufgeholt, und ich dürfe ihm, ohne im nächſten Abendblatt auf die Eſelswieſe getrieben zu werden, ſagen: Menſch, laufen Sie mir noch einmal in den Weg, ſo mache ich den Verein für öffentliche Geſundheitspflege auf Sie aufmerkſam und denunzire Sie als endemiſch gefahrbringend. “
Er war nicht ohne Witz, mein armer ſeliger Schwager Schlappe. Durch ein Herzleiden iſt er uns nicht entriſſen worden vor einem Jahre.
238Ich nehme wieder einmal über dieſen Blättern die Stirn zwiſchen beide Hände und wundere mich von Neuem und ſuche es mir zurecht zu legen, weshalb und warum in dieſer Weiſe ich ſie, nun ſchon durch ſo manche lange winterliche Nacht, mit ſolchen Zeichen und Bildern fülle.
Da iſt mir aber heute aus Leſſings litterariſchem Nachlaß eine Seite unter die Augen gekommen, auf welcher der Wolfenbüttler Bibliothekar über ſeinen „ Ungenannten “ſchreibt:
„ Ich habe ihn darum in die Welt gezogen, weil ich mit ihm nicht länger allein unter einem Dache wohnen wollte. “
Ich glaube das iſt's! — Oder doch ähnlich ſo. Mein ganzes Leben lang habe ich mit dieſem Velten Andres unter einem Dache wohnen müſſen und er war in Herz und Hirn ein Hausgenoſſe nicht immer von der bequemſten Art, — ein Stubenkamerad, der Anſprüche machte, die mit der Lebensgewohnheit der Anderen nicht immer leicht in Einklang zu bringen waren, ein Kumpan mit Zumuthungen, die oft den ganzen Seelenhausrath des ſoliden Erdenbürgers ver¬ ſchoben, daß kein Ding anſcheinend mehr an der rechten Stelle ſtand. Ich hatte es verſucht — wer weiß wie oft! — während er draußen ſich umtrieb und ich zu Hauſe geblieben war, ihn auf die Gaſſe239 zu ſetzen. Das war vergeblich, und nun — da er für immer gegangen iſt, will er ſein Hausrecht feſter denn je halten: ich aber kann nicht länger mit ihm allein unter einem Dache wohnen. So ſchreibe ich weiter. —
Mein erſter Junge wurde mir geboren, und ich bat ſelbſtverſtändlich Velten zu Gevatter; er aber lehnte die Pathenſchaft ab, der kirchlichen Formeln wegen, die damit verknüpft ſind.
„ Kann ich dem Geſchöpf irgend einmal in ſeinem Leben nützlich ſein, was ich übrigens, der Ver¬ ſchiedenheit der Jahre wegen, bezweifle, ſo wird das gern geſchehen, “ſagte er. „ Ausgeſchloſſen iſt's ja nicht, daß wir einmal einander ſpäter im Leben be¬ gegnen und eine Strecke miteinander gehen; kann er mich dann gebrauchen, ſo ſoll er den Freund ſeines Vaters an mir finden. Jetzt nenne ihn nur ruhig Ferdinand nach Deinem Schwager Schlappe. Das und Du genügen, um ihm aus den Windeln in die Hoſen zu helfen. Deine kleine, gute Frau haſt Du auch wohl nicht gefragt, ob ſie wirklich und auf¬ richtig mich für ihr Würmchen als einen wünſchens¬ werthen Führer und Begleiter, ſowohl im wilden Walde der Welt, von dem ſie gottlob nichts weiß, als auch im hieſigen geregelten Lebensverkehr, den ſie zu eurem Glück ausgezeichnet kennt, in die240 Standesamtsliſte und das Kirchenbuch eingetragen ſehen möchte? Ich bezweifle beides — Deine Anfrage und ihre Zuſtimmung. “
Was das eine anbetraf, irrte er ſich, bei dem andern hatte er nicht Unrecht.
„ Herz, “war ich gegengefragt worden, „ haſt Du Dir das ganz genau überlegt? Der Name Valentin ſchon iſt jetzt ſo ungewöhnlich, und — Velten! ... Velten! Ach, wenn nur nicht von dem Namen gerade hier in der Stadt und in meiner Familie immer ſo wunderlich die Rede geweſen wäre! Ich habe ja wahrhaftig nichts gegen Deinen Freund — im Gegen¬ theil, Du weißt es ſelbſt, wie intereſſant er mir iſt, weil Alles, wenn er zu Beſuch kommt, Alles, worauf die Rede kommen mag, in Façon und Farbe ſo ganz anders iſt, als wie ich und wir in unſeren Kreiſen es bis jetzt geſehen haben. Du biſt ja auch und doch ein guter, verſtändiger Menſch und mein lieber Alter geblieben, trotzdem er Dein beſter Freund von Kindes¬ beinen an iſt — nein, nein, nein, in der Hinſicht habe ich gar keine Befürchtungen, aber komm und ſieh Dir das Kind an — bitte, komm und ſieh es mit den Fäuſtchen vor ſeinem Herzensmäulchen im Schlaf in ſeinem Bettchen, und bitte, bitte, laß es nicht Velten taufen! Er iſt ja ſo gut und klug und edel, Dein Freund; aber hart iſt er doch, oder doch241 hart geworden in ſeinem Leben, und ich möchte mein Kind, unſern lieben Jungen, doch hier bei uns be¬ halten, in unſerm gewöhnlichen gewohnten Leben — ich weiß nicht, wie ich es ſagen und ausdrücken ſoll, aber ich könnte jetzt das arme Würmchen nicht Velten rufen, und es ſpäter mal als alte Frau ſo nach Hauſe kommen ſehen, wie die herzige alte Frau, eure Frau Doktor aus dem Vogelſang, Deinen Freund Velten! “
Selbſtverſtändlich hat mein Schwager Ferdinand meinen Erſtgeborenen über die Taufe gehalten. —
Und nun habe ich es auch mir ſelber wieder deutlich zu machen, wie es zuging, daß ich eigentlich nichts von Bedeutung über ſeinen letzten Aufenthalt bei uns in der Heimathſtadt zu den Akten bringen kann, als eben ſein abermaliges und letztes Weggehen aus ihr. „ Das macht ſich ſo! “ſagen die Leute, und ich habe auch für mein Theil nichts in der Hand, womit ich mich gegen dieſes Wort urälteſter menſchlicher Er¬ fahrung wehren könnte.
Es machte ſich auch zwiſchen Velten Andres und mir ſo. — Er hatte mir wenig zu ſagen; ich ihm eigentlich gar nichts. Meine Amtsgeſchäfte vermehrten ſich gerade in dieſem Sommer ſehr, und dazu kam das Kind im Hauſe, dem gegenüber er ſich auf einen Standpunkt ſtellte, auf den ihm meine Frau noch weniger als auf irgend einen anderen folgen konnte.
W. Raabe. Die Akten des Vogelſangs. 16242„ Wenn er ſich gar nicht um es bekümmerte, wollte ich gar nichts ſagen, “meinte ſie oft voll¬ ſtändig entrüſtet. „ Das kann man von euch Manns¬ leuten eben nicht verlangen, wenn ihr nicht zufällig perſönlich dazu gehört. Aber die Art und Weiſe wie er es mir aus den Kiſſen nimmt und es mir von hinten und vorn beſieht und die Naſe rümpft und läſter¬ lich lacht und den Kopf ſchüttelt und ſeine Reden und Redensarten dabei, die laſſe ich — die laſſen wir — wenigſtens Ferdy und ich uns lieber nicht gefallen. Und daß Du das oft ſo ruhig anhörſt, Männchen, begreife ich auch nicht. So ein armes, herziges Geſchöpfchen und noch dazu vor ſeiner Mutter Ohren, einen Ausbund von einem Eſel, einen Narren zu nennen, der auch beſſer gethan hätte, zu bleiben, wo er war, das ſchickt ſich nicht, und mein Bruder Ferdinand mit ſeinen dümmſten Witzen iſt mir immer noch lieber, als dieſer Dein Freund, dem, leider Gottes für ihn! ſein Spaß ſo bitterer Ernſt iſt, daß ich ihn bedaure und mir ganz ſchlecht zu Muthe wird und ich ihm meinen Jungen ſofort aus den Händen riſſe, wenn er ihn, Gott ſei Dank, nicht von ſelber gleich wieder hergäbe! “
Eine Frau, die einen Freund ihres Mannes nicht an der Wiege ihres Kindes leiden kann, iſt ein gewaltig hindernder Faktor in ſo einem Verkehr243 von Haus zu Haus: ich erinnere mich nur eines einzigen freundlichen Sonnabendnachmittags, an welchem unſer Kinderwagen auch in die letzte Garten¬ laube der Nachbarſchaft des Vogelſangs hineinge¬ ſchoben wurde, um meiner Frau zu dem Ausrufe zu verhelfen:
„ O Gott, dieſe liebe alte Dame! Iſt es denn eine Möglichkeit, daß die Deinen Freund Velten ſo in den Armen gehalten und ſo abgeküßt hat, wie ich unſern Ferdinand, ſowie wir wieder zu Hauſe ſind? “—
Es war ſo um die Mitte des Septembers ge¬ worden. Seit vierzehn Tagen oder drei Wochen hatten wir uns wieder einmal nicht in unſeren Wohnungen aufgeſucht, waren uns auch auf Spazier¬ wegen nicht begegnet, als mich an einem warmen, ſtillen Spätnachmittage plötzlich ſo ein Gefühl über¬ kam, als ſei ich ſchuld hier an einem Verſäumniß und als brauche man im Vogelſang keine der mir möglichen Entſchuldigungen gelten laſſen. Dieſes Gefühl wurde ſo peinlich, daß ich ganz ärgerlich nach dem Hut griff mit einem: „ Dieſer Menſch hat doch wahrhaftig mehr Zeit als Unſereiner! “
Ich ging zu ihm und — ſchickte nach einer halben Stunde einen Boten zu meiner Frau mit der Benach¬16 *244richtigung, daß ſie mich nicht zum Abendthee zu er¬ warten habe; vielleicht werde ich auch ein wenig ſpät in der Nacht erſt heimkommen. Was ſollte ihr mit ihrem Kindchen an der Bruſt ſolch ein ſpätabend¬ liches Erſchrecken für eben dieſe Nacht? —
In dem alten ſchmalen Buchsbaumgang kam mir der Freund von dem Häuschen zu der letzten grünen Hecke unſerer Jugendzeit entgegen, mit dem Geſicht, das er aller Welt machte, nachdem er ſich wieder bei uns „ eingewöhnt “hatte. Und ſolch ein Geſicht läßt ſich denn auch einem guten oder beſten Freunde gegen¬ über nicht leicht in andere Falten legen.
„ Sieh, das iſt freundſchaftlich von Dir, “ſagte er. Ich blickte nach dem offenen Fenſter der Frau Doktorin hin und da ſie mir nicht wie gewöhnlich freundlich von dorther zunickte, fragte ich, wie man ſo fragt:
„ Was macht die Mutter? “
„ Auch die wird ſich freuen, Dich zu ſehen! “und ſo ſchüttelten wir uns die Hände und ſchritten dem Hauſe der Nachbarin Andres zu. „ Noch einmal zu ſehen, wäre wohl das richtigere Wort, lieber Alter! “ſagte Velten Andres und dabei faßte er freilich meinen Arm wie mit eiſernem Griff — wie um mich bei ſich feſtzuhalten und aufrecht in meinem Erſchrecken, und ſah nicht dabei drein wie Einer, der die245 Welt für einen guten oder — ſchlechten Spaß hält, unter allen Umſtänden aber nur für einen Spaß! ...
„ Die Mutter — Deine Mutter — “
„ Es geht ihr ſeit acht Tagen nicht zum Beſten, doch ſeit geſtern — “
„ Hat es ſich zum Beſſeren gewendet? Aber Menſch, und wir haben von alledem nichts gewußt? Wie unrecht das von euch geweſen iſt. Ihr wißt doch, welche Theilnahme — “
„ Die alte Nachbarſchaft ſich ſchuldig iſt. Selbſtverſtändlich! Es war ihr freundlicher Wille. Weshalb wollen wir die lieben Leutchen in ihrem Behagen beunruhigen? meinte ſie und hatte Recht, wie immer in ihrem ſonnigen Leben. Es iſt ein altes Unterleibsleiden, das ſich von Neuem gerührt hat; aber es hat ſich in der That jetzt zum Beſſeren ge¬ wendet. Komm alſo und ſieh ſelber. Ich habe unter meinen beſonderen Freunden, den Chineſen in San Franciſco eine Zeitlang als Ati Kambang, zu Deutſch der Herr Sanitätsrath, eine Rolle geſpielt. Ja, ſie iſt auf gutem Wege! “
Ich verbiß, was ich von Unbehagen, Selbſt¬ vorwürfen und Ärger über den Menſchen an meiner Seite in mir hatte, und trat wieder einmal über die ausgetretene liebe Schwelle des „ Doktorhauſes “des einſtigen Vogelſangs.
246Was für Schatten von draußen jetzt darauf hinfallen, was für Töne auf es hineinkreiſchen mochten, im Innern nichts verändert! Alles an ſeinem Platze wie vor Jahren. Da des Freundes Schülerpult neben dem Schreibtiſch des Vaters. Sein Bücherbrett mit den abgegriffenen Schulausgaben der lateiniſchen und griechiſchen Klaſſiker und der Weihnachts - und Geburtstagslitteratur von Robinſon über den Steuer¬ mann Sigismund Rüſtig und die Lederſtrumpf¬ erzählungen bis zu den billigen Schillerausgaben der deutſchen Klaſſiker. An den Wänden zwiſchen und neben den Familienphotographien und was ſonſt ſich da zu finden pflegt, die ſelbſtgefertigten Glaskaſten mit den Käfer - und Schmetterlingsſammlungen des letzten Velten Andres. Lauter Dinge und Sachen, die mir heute noch lebendiger ſind, als der Inhalt meines eigenen Hauſes und der Stube, in welcher ich in dieſer Nacht dieſes aus meinen Akten her¬ vorhole, um es revidirt ihnen von Neuem beizu¬ fügen!
Wie hatte ſich in den paar Tagen, da ich ſie nicht gehört hatte, die theure, wohlbekannte Stimme verändert, die mir aus dem hinter der Familienſtube gelegenen Schlafzimmer entgegenklang!
„ Velten! — um Gottes willen — “
„ Aber Du biſt noch da, Junge? Der Zug geht247 um ſechs Uhr. Steh auf, Velten, um ſechs Uhr geht der Zug. Der Zug geht um ſechs Uhr und Du mußt noch packen. Steh auf, Junge, der Koffer ſchließt nicht recht, Du mußt aufſtehen, Velten, der Zug geht um ſechs Uhr. Du mußt Deine Reiſetaſche packen, Velten. Junge, um ſechs Uhr geht der Zug! “
„ Seit geſtern beſchränkt ſich hierauf ihre ganze Vorſtellungsfähigkeit und ihr Ausdrucksvermögen. Sie hat ihr ſchönes, heiteres Leben durch ſtill geſeſſen; nun ergreift auch ſie die Unruhe. Wir Menſchen in ihrem jetzigen Zuſtande haben das dann und wann ſo an uns, daß wir für uns oder Andere zur Reiſe zuſammenpacken laſſen, oder ſelber zuſammenpacken, gerade wenn die Fahrt zu Ende, der Weg zurück¬ gelegt iſt. Tritt näher und ſetze Dich, Du ſtörſt ſie nicht durch Deinen Beſuch. “
„ Armer Freund. “
„ Ja, ſo verflüchtigt ſich auch dieſes liebe Bild! “
„ Aber Junge, Junge, Du verſäumſt den Zug, wenn Du nicht aufſtehſt! Steh auf, Velten! Packe Deinen Koffer, um ſechs Uhr geht der Zug. Packe Deine Reiſetaſche, “klang es aus den Kiſſen der Sterbenden, und die Wärterin, eine mir auch wohl¬ bekannte alte Freundin aus dem Vogelſang, Riekchen Schellenbaum, meinte:
„ Sie iſt nur ein bißchen unruhig, die Frau248 Doktern, aber Schmerzen und Ängſten hat ſie gottlob weiter nicht mehr, Herr Velten. “
„ Jawohl, das ſind nun alle ihre Sorgen, Krum¬ hardt, daß ſie mich zur rechten Zeit aus dem Bett kriegt, daß ich meine Reiſetaſche, meinen Koffer packe, nichts vergeſſe und den Zug zum Glück nicht ver¬ ſäume, “ſagte der Sohn, ſich über die Mutter beugend und leiſe und zärtlich ihre Hand nehmend.
„ Velten, Velten, Du verſäumſt wahrhaftig den Zug, wenn Du nicht aufſtehſt und Deinen Koffer packſt! Sieh, da kommt die Sonne ſchon! “
Leiſe ſtrich der Sohn über die Stirn der Mutter und wendete ſich zu mir:
„ Das letzte war ein neues Wort. Die anderen wiederholt ſie, wie geſagt, ſeit anderthalb Tagen. “
„ Das wird ein ſchöner aber heißer Tag, “mur¬ melte die Sterbende mit einem leiſen Seufzer und dann blieb ſie ſtill und ſchien in einen ganz vor¬ ſtellungsloſen, traumfreien Schlaf zu ſinken, nur daß ihre Athemzüge ſchwerer und ſchwerer wurden.
„ Einer der Schlimmſten, die ich geſehen habe, war der alte Hartleben, Herr Velten, “ſagte, wie um ein tröſtendes Wort dazu zu geben, Riekchen Schellen¬ baum. „ Dem kam der ganze Schluderkopf, ich meine ſein Waldbeſitzthum dran, in ſeinen letzten Tagen und Nächten über den Leib. Lauter gefällte Stämme!249 und Alles wollte über ihn hinrollen. Ja, das war ein ſchwerer Kampf! Aber, wie Herr Andres ganz richtig ſagen, das ſind ſo unſere Phantaſien. “
„ Das Lungenödem wird wohl erſt in der Nacht eintreten, “ſagte Velten. „ Ihr Tag iſt zu Ende, und es iſt ein ſchöner, ruhiger und vor Allem nicht zu heißer Tag geweſen. Alle ihre Sorgen ſind von mir gekommen: dies, daß ich auch jetzt die Zeit nicht verſäume, war nun ihre letzte. Ob das animaliſche Herz nun ein wenig ſchneller oder langſamer erlahmt, iſt wohl von keiner Bedeutung. Mutter! meine Mutter! Liebe, alte Mutter, Du mein einziger, wirklicher Freund, was habe ich Dir heimgebracht als meine Kunſt, auch vor Dir Komödie ſpielen zu können und Dir Deinen freundlichen Daſeinstraum nicht zu ſtören? Ja, ja, Freund Carlos, und auch ich kann ſagen, daß ich meine Rolle dieſes letzte Jahr durch gut durchgeführt habe: ſie ſchläft ein in der Gewißheit, mich mit einem Herzen ſo reich, ſo leichtbewegt, ſo feſt, ſo ſiegesſicher, ſo unverwundbar wie das ihrige zurückzulaſſen ... “
„ Velten! “
Er wendete ſich zu der greiſen, ſechzigjährigen Wärterin, dem „ Riekchen Schellenbaum “all unſerer Nachbarfamilien, mit einem ſtummen Wink; dann nahm er mich am Arm und führte mich aus der250 Kammer fort und bot mir eine Cigarre an. Er zündete eine an, und ſo lehnten wir wieder in dem kleinen Garten an der letzten grünen Hecke unſerer Jugendzeit. Ich fröſtelnd in dem kalten Mauerſchatten von meiner Eltern Anweſen her, und ohne zu wiſſen, was ich ihm ſagen ſollte. So ſprach denn auch ich, wie unbewußt und nicht zu ihm, ſondern für mich den furchtbaren Rath:
„ Der ſchickte ſeine Vulpius nach Frankfurt am Main, um den Hausrath ſeiner Mutter zu verſteigern; aber der Thor hatte ſelbſt ſich ſchon längſt einen neuen geſammelt und ſammelte weiter daran, um ihn Erben zu hinterlaſſen, denen er ſchwer auflag. Ja, ſo ſeid ihr, Karl Krumhardt! Du haſt es ebenfalls recht behaglich in Deinen ſicheren vier Wänden und doch aus dem alten, verſchwundenen Neſte, weiland hier zur Linken, manches mit in das neue Haus hinübergenommen, was Kindern und Kindeskindern dereinſt ſchwer aufliegen wird. “
Nun wendete er ſich von der lebendigen, ſtaubigen, gemeinen Vorſtadtgaſſe ab und gegen ſein Elternhaus, ſagte jedoch weiter nichts: ich aber habe oft, oft an ſeinen Blick und die begleitende Bewegung mit der251 lahmen Linken damals denken müſſen, und jedesmal waren dann meine vier ſicheren Wände drohend, beängſtigend auf mich eingerückt, es war mir bänglich und aſthmatiſch zu Muthe, ich traute auch dem zier¬ lichen Stuck des Plafonds nicht: ja, ich fühlte mich dann jedesmal recht unbehaglich in meinen vier Pfählen und im Erdenleben überhaupt.
Er hatte Recht gehabt, der Freund. Am ſpäten Abend war das Todesathmen eingetreten und gegen vier Uhr Morgens hatte ſich auch „ dieſes liebe Bild verflüchtigt “. Wer kann ein Lächeln, den Klang einer Stimme, das Neigen einer Stirn, die Bewegung, den Druck und die Wärme einer Hand in den — Akten feſthalten?
Als ich gegen neun Uhr zu Velten kam, fand ich ihn ruhig bereits mit den nöthigen Vorbereitungen und Formalitäten zur Beerdigung beſchäftigt. Ich wollte ihn, auch im Auftrage meiner Frau, aus ſeinem leeren Hauſe mit in unſere Gaſtzimmer nehmen, aber er wollte nicht. Lächelnd wies er die dringende, wiederholte Bitte ab.
„ Ich bin euch dankbar, Kinder, “ſagte er, „ und könnte wohl auch kommen, wenn die Kleine jetzt nicht252 ihren Buben hätte. Soll ich eine karthagiſche Mutter aus ihr machen, die ihr Wurm dem Moloch opfert? Ich glaube, ſie ſähe es in meinen Armen ebenſo gern, wie in denen des feurigen Götzen. Sie hat mich nach braver Frauenart zu gut kennen gelernt im Laufe der letzten Zeit, und ich müßte doch wohl einmal mich über eure Wiege beugen und dem Jungen den Finger hinhalten. Weißt Du, Karl, wir wollen der Guten ſolches Schwanken zwiſchen Freundſchaft und Mißtrauen, zwiſchen Neigung und Abneigung erſparen. Und übrigens iſt auch Die da nebenan in ihrem ſtillen Frieden mir immer auch noch Geſellſchaft und zu Rath und Troſt da. Wir danken euch beſtens, alter Freund; aber laßt uns nur unſere letzten Zwiegeſpräche in dieſen Tagen allein mitein¬ ander halten. Wir haben noch Einiges miteinander abzumachen, wobei ſelbſt die freundlichſt und freund¬ ſchaftlichſt geſinnten Dritten nur fremd wirken können. “
Dagegen war nichts zu ſagen; aber ein Achſel¬ zucken eigentlich auch nicht recht angebracht. Ich ſah alſo den Freund nur am Begräbnißtage wieder.
Wir gaben auch der Frau Doktorin Amalie Andres die letzte Ehre, — diesmal ein kleines Geleit, doch um das Grab eine gar ehrenvolle Corona:, die älteſten und älteren Leute (meiſtens geringen Standes) aus dem Vogelſang, die noch die ganze Nachbarſchaft,253 wie ſie da jetzt unter ihren Hügeln ſchlief, im Leben gekannt hatten. Und Manche kamen mehr oder weniger ſcheu heran und gaben Velten und mir die Hand und ſagten: „ Das war eine liebe Frau, die Frau Mutter und erſt der Herr Vater, der Herr Doktor, Herr Velten! Bei uns Alten behalten ſie ihr An¬ denken, wie ſie jetzt da ſo bei einander liegen nach Gottes Willen, und nun nehmen Sie es ſich nur nicht zu viel zu Herzen, Herr Velten, Herr Andres! “
Kinder ſpielten jetzt nicht mehr an Mondſchein¬ abenden auf dem Friedhofe des Vogelſangs. Es war eine hohe, ſolide Mauer um ihn gezogen worden, ein ſchweres, eiſernes Gitterthor ſperrte ihn ab und eine ſtrenge Kirchhofsordnung regelte den Beſuch. Und —
Der Morgen nebelig und grau und regendrohend — der erſte Herbſttag des Jahres — werde ich je einen Leſer haben, kann ich ihn auf eine Seite zu Anfang dieſes Aktenkonvoluts verweiſen, wo die Sphinx auch auf dem Kirchhofe des Vogelſangs nur vor dem mondbeglänzten, romantiſchen Zauberſchloß des Daſeins lag, nicht vor dem Leben ſelbſt, vor Beth - Chaim, dem „ Hauſe des Lebens “.
254„ Der Jude oder ſemitiſche Hellene hat von ſeinem Recht als Poet Gebrauch gemacht, als er, wie mir anderen Proſaiker auch, die löwentatzige Belle aux énigmes vor die falſche Thür als Hüterin und Räthſelaufgeberin legte, “ſagte Velten, als wir auf dem Heimwege vom Kirchhofe auf jene unſere Kinder¬ ſpiel - und Mondſcheinabende kamen.
Als ich ihn dann noch einmal aufforderte und dringender bat, wenigſtens jetzt meine Gaſtfreundſchaft anzunehmen, erwiderte er:
„ Ich bin da wirklich nichts nutz. Man nimmt zu leicht Leute, ohne es zu wollen, auf Wege mit, wo ſie nicht hingehören; und Du haſt einen großen und angenehmen Verkehr, den ich nicht gern ſtören möchte. Aber, lieber Alter, Du ſelber wirſt mich nie ſtören: weißt Du, komm Du zu mir! Auch ich glaube dem¬ nächſt für die beſte Geſellſchaft und angenehmſte Unterhaltung ſorgen zu können. “
Er blieb alſo in ſeinem Häuschen, und als ich ihn natürlich ſchon am folgenden Tage wieder dort aufſuchte und nach ſeinen Plänen für die weitere Zukunft fragte, meinte er lächelnd:
„ Die iſt geſichert. Beruhige Dich und Alle, die Intereſſe daran nehmen, in dieſer Hinſicht völlig. Gerade nicht hier am Ort, doch habe ich gerade am Ort hier die ſchönſte Gelegenheit, ſie noch ſicherer zu255 ſtellen, ich erwarte nur noch das erſte Ofenfeuer dazu. “
„ Das erſte Ofenfeuer? “
„ Mir iſt niemals ein Winter zu meinem Fort¬ kommen im Leben mehr zu paß gekommen, als wie der diesjährige. Jawohl, demnächſt heizen wir, Krumhardt. “—
Ja, und er iſt ſo gut wie ſein Wort geweſen. Als das Wetterglas ſeines Vaters nach Reaumur unter zwölf Grad in der Wohnſtube ſeiner Eltern ſank, fing er an zu heizen, und zwar mit ſeinem Erbtheil aus und vom Vogelſang. Er heizte mit ſeinem Hausrath.
Es war Riekchen Schellenbaum, die am Tage nach dem erſten Ofenfeuer nicht zu mir, ſondern zu meiner Frau mit der Nachricht kam:
„ Mit der ſeligen Frau Doktern ihrem Nähtiſch hat er angefangen. Ich bin faſt des Todes ge¬ worden als er ihn im Hofe entzweiſchlug und mich mit den Beinen Feuer anmachen ließ. Mit den Schubladen und Allem, was drinnen war, hat er ſelbſt weiter geheizt! Der arme Herr! O, wenn doch der Herr Aſſeſſor mal kommen würde und nach ihm ſehen! Heute Morgen hat er des ſeligen Herrn Vaters Schreibtiſch von der Wand abgerückt, und ich256 bin auch nur in der Stadt, weil er mich um eine Säge hineingeſchickt hat. “
„ Du weißt, wie ich ihm entgegengekommen bin, Karl! “rief meine Frau. „ Ich habe ganz gewiß mein Möglichſtes gethan, um ihn Deinetwegen gern zu haben; aber hat mich nun mein innerliches Ge¬ fühl getäuſcht? Jetzt magſt Du ſagen, was Du willſt, ich ſage: großer Gott, wie kann nur ein Menſch ſo ſein wie dieſer, Dein Freund? Und Dem haſt Du Dein Kind, meinen armen Jungen am Altar in die Arme geben wollen! O Gott, wie kann ein Menſch, ich meine, Gott ſei Dank, nicht Dich, ſo ohne alles Gefühl ſein? “
„ Es iſt ein unbezahlbarer Menſch, “meinte Schlappe, der dazu kam, lachend. „ Ob er je zu irgend einer Zeit ſeines Lebens recht bei Troſte ge¬ weſen iſt, weiß ich nicht; aber ſage mal, Schwager, würde es unter dieſen neuen Schnurren nicht doch zu Deiner Freundespflicht werden, ihn unter Kuratel ſtellen zu laſſen? Eure Familie hat ja wohl ſchon ſeit Generationen das Onus, das Haus Andres zu bevormündeln? “
Ich war den Tag über wirklich nicht in meiner Schreibſtube zu entbehren und hatte mich durch viel¬ fachen und vielfarbigen Menſchenverdruß, und viel Menſchenangſt und Elend durchzuarbeiten, aber ich257 wurde ihn nicht aus dem Sinne los, ja, um deſto weniger aus dem Sinne los, je mehr ſich mir des Menſchenthums Anhängſel aufdrängten. Es waren meiſtens wieder nur Eigenthumsfragen, zu denen auch ich mein löſendes Wort geben ſollte, und das Gezerr und Gebelfer, der Grimm und Hohn, mehr oder weniger unter der Maske des dem Menſchen einge¬ borenen Gerechtigkeitsſinnes zu Tage blühend. Und dann war es doch wieder ein anderer Übergang aus meinem ruhigen, behaglichen Heim, von dem Kamin, wo mein Weib mit ihrem Kindchen an der Bruſt auf niedrigem Schemel leiſe ihr Wiegenlied ſang, zu dem Ofen im Vogelſang, vor dem der wunderliche Freund ſich frei machte — nicht von den Sachen, ſondern von dem, was in der Menſchen Seele ſich den Sachen anhängt und ſie ſchwer und leicht, kurz zu dem macht, was wir Anderen im Leben ein Glück oder ein Unglück zu nennen pflegen.
Ich konnte ihm bei meinem Eintritt weiter nichts ſagen, als:
„ Es iſt unheimlich warm bei Dir, Velten! “
„ Gemüthlich! ... Deutſch-gemüthlich, was? Ihr habt ja den Ausdruck, macht Anſpruch darauf, ihn in der Welt allein zu haben, alſo bleib auch Du ganz ruhig bei ihm, Krumhardt. “
W. Raabe. Die Akten des Vogelſangs. 17258„ Laß uns nach Möglichkeit vernünftig ſprechen, Andres — “
„ Ich habe die Jungfer Schellenbaum heute morgen um eine Säge in die Stadt geſchickt; ſie wird ſelbſtverſtändlich bei euch geweſen ſein, mit den Händen über dem Kopfe und ſämmtlichen Geiſteskräften in Unordnung: Bringſt Du das Entmündigungs¬ dokument für mich ſchon mit, mein Carlos? “
„ Wir wiſſen wenigſtens in unſerm Alltage ſchon Beſcheid über das, was Du hier begonnen haſt und wirklich weiter zu treiben ſcheinſt; aber Du könnteſt in unſerer Alltagswelt doch einen Unterſchied zwiſchen mir und den Übrigen machen. Velten, was ſoll dies ſein? “
„ Ein äußerliches Aufräumen zu dem innerlichen, liebſter Freund! Ein leichtbewegtes Herz und ſo weiter — wozu nützen uns die weiſeſten Ausſprüche großer Lehrer, wenn man ihnen nichts weiter ent¬ nimmt, als eine Stimmung für den Augenblick? Ein Hinweis darauf, daß der Meiſter ſelber keinen Ge¬ brauch von ſeinem Diktum gemacht habe, verſchlägt nichts. Hat er ſein leichtbewegtes Herz durch ſeine achtzig Jahre mit ſich geſchleppt, ſo iſt das ſeine Sache geweſen und hat auch vielleicht zum Vortheil der Litteraturgeſchichte — um ſie intereſſanter zu machen — ſo ſein müſſen. Soll deshalb kein Anderer die Fäden abſchneiden dürfen, die ihn mit dem Erden¬259 ballaſt verknüpfen? Ja, ich heize in dieſem Winter mit meinem hieſigen Eigenthum an der wohlgegrün¬ deten Erde, mit meinen Habſeligkeiten aus dem Vogelſang. “ Er ſprach das Wort „ Habſeligkeiten “in einer Weiſe aus, die man im Werkeltagsverkehr nicht zu hören bekommt.
Ja, er heizte durch den ſeltſamen Winter mit alle dem, wovon ſich andere Leute nur ſehr ſchwer, und wenn es gar nicht anders geht, und manchmal nur mit Thränen in den Augen trennen. Und er trieb das Ding äußerſt ſyſtematiſch und hatte dabei an mir einen Zuſchauer und Theilnehmer, der nur durch ſeine Ruhe abgehalten wurde, mit einem: „ Aber Velten, auch das? “mit beiden Händen dreinzu¬ greifen und dem Autodafé Einhalt zu thun.
Ich wehrte mich vergebens gegen das Intereſſe, das ich von Tag zu Tage mehr an dem ſeltſamen Zerſtörungswerk nahm. Meinem Weibe gegenüber den abſcheulichen, den „ unſinnigen Menſchen “noch zu rechtfertigen, hatte ich bald aufgegeben, aber bald wär's auch nöthig geworden, daß ich mich nur noch verſtohlen vom Hauſe nach dem Vogelſang wegge¬ ſchlichen hätte.
„ Karl, Karl, “jammerte meine arme gute Kleine, „ o, Karl, bitte, bitte, werde mir nicht ſo wie Der! Bitte, denke immer an uns, an das Herze da in der17 *260Wiege und auch ein bißchen an mich, wenn Du Deinen Freund nicht laſſen willſt, nicht laſſen kannſt! Er hat ja freilich keine Familie wie Du; aber ich habe doch noch erſt die letzte Nacht geträumt, auch Du habeſt mich mit unſerm Jungen — ich meine unſere letzte Photographie — verbrannt wie er die Bilder ſeiner Eltern und ſeiner als ganz kleines Kind geſtorbenen Schweſter! O bitte, da nimm uns, Ferdy und mich, doch lieber jetzt gleich mit und ſchieb uns in euren Ofen in Deinem Vogelſang! “
Worin lag nun der Zauber, der mich ſelbſt ſolche herzzerreißende Klagelaute überhören ließ, mich gegen das einſtimmende Winſeln meines Erſtgeborenen taub machte und mich jeden Tag nach der alten Heimſtätte trieb, die jetzt zu einer Stätte der Ver¬ nichtung geworden war?
Wahrlich nicht ein unbewegliches, unbewegtes Herz, ſondern ganz das Gegentheil!
Wohl ſelten iſt je einem Menſchen die Gelegen¬ heit geboten worden, ſeine „ beſten Jahre “in die un¬ ruhvolle Gegenwart ſo zurückzurufen, wie mir in Velten Andres 'Krematorium. Wie wir im Vogel¬ ſang in der Nachbarſchaft trotz Allem doch wie eine Familie gelebt hatten, das erfuhr ich nun noch einmal im reichſten Maaße und konnte meine Lebensakten in wünſchenswertheſter Weiſe dadurch vervollſtändigen. 261Der Wanderer auf der wankenden Erde ſchob aus ſeinem Hausrath kaum ein Stück in den Ofen oder auch auf den Küchenherd, an dem nicht auch für mich eine Erinnerung hing und mit ihm in Flammen aufging und zu Aſche wurde. Vom Keller bis zum Dache war in dem Häuschen kein Nagel eingeſchlagen, an welchem nicht auch für mich etwas aus den Tagen hing, wo wir die Räthſelaufgeberin vor dem Thore des Lebens eben nur dem Haupt und den Brüſten nach kannten und noch nicht den Tatzen nach.
Es war ein Zurück - und Wiederdurchleben ver¬ gangener Tage ſondergleichen. Die Woche, in der wir uns mit der Entleerung der Boden-Rumpel¬ kammer des Hauſes beſchäftigten, vergeſſe ich in meinem ganzen Leben nicht, und ich ſchreibe nicht ohne Grund: wir! Was wühlten wir da alles auf aus dem Familienplunder der „ Frau Doktern “? Sie hatte ſich von nichts trennen können, was je dem Gatten und dem Sohn lieb geweſen und überdrüſſig geworden war. Sie hatte es ihnen aus den Augen gerückt und ſich ſelber, ſozuſagen, ein Hausmuſeum daraus gemacht. Wie wog der Sohn des Vaters Ziegenhainer in der Hand, wie holte er aus einem Kaſten mit allerhand abgängigen chirurgiſchen Inſtru¬ menten ſeine Cerevismütze hervor und drehte ſie in den Händen! Wie kam mir mit dem Schaukelpferd,262 das ich unter dem Dachwinkel hervorzog, jener Weih¬ nachtsabend zurück, an welchem wir es zuerſt ritten und Velten meinte: „ Ich hatte mir ein Thier mit Rädern und wirklichem Fell auf den Wunſchzettel geſchrieben; aber ſage nur nichts davon. “ Er hat es damals auch bald mir allein überlaſſen, es war nichts für ihn; ich aber hätte ihn auch nun noch gern gefragt: „ Auch das in den Ofen? “und ihn gebeten: „ Laß es mir für meinen Jungen! “
Es wäre eine pſychologiſch-philoſophiſche Ab¬ handlung darüber zu ſchreiben, weshalb ich weder die Frage noch die Bitte that, ſondern ſelbſt es mir auf die Schulter lud und es ihm die Treppe hinunter zum Küchenherd trug. Ja — er hatte mich auch jetzt wieder unter ſich, es war von meiner Beſitzfreudigkeit aus keine Abwehr gegen ſeine Eigenthumsmüdig¬ keit: ich habe ihm geholfen, ſein Haus zu leeren und ſich frei zu machen von ſeinem Beſitz auf Erden! —
Aber es ließ ſich nicht Alles verbrennen, woran für dieſen grimmigen, ruhebedürftigen, unſtät ge¬ wordenen Gaſt im Leben, wie wir Juriſten uns aus¬ drücken, ein pretium affectionis haftete. Metall, Glas und Porzellan brannten nicht, und doch wollte er auf ſeinen ferneren Wegen ſich nicht mit der Vor¬ ſtellung plagen, wer jetzt die Feder in ſeines Vaters263 Tintenfaß tauche und aus ſeiner Mutter Mundtaſſe trinke, und auf welcher Kommode, im Trödel erhandelt, die Bronzeuhr ſtehe, auf die man nie rechnen konnte, wenn man einmal im Hauſe Andres die richtige Tageszeit zu wiſſen wünſchte, und die doch mit ihrem zirpenden Glockenſchlag ſo viele gute Stunden ein - und ausgeläutet hatte. Wir kamen auch hierüber weg. Zerſtören iſt leichter als aufbauen: ein altes wahres Wort, das mein armer Freund ſeinerſeits ebenfalls ſo in die Praxis überſetzte, daß, wenn ich zu Weib und Kind heimgekommen war, meine Frau mitten in der Nacht oder gegen Morgen ſich auf dem Ellbogen aufrichtete, mir über die Stirn ſtrich und rief:
„ Mann, nun ſchläfſt Du ja wieder nicht! Großer Gott, iſt er denn nicht bald fertig? Ich halte Dies nicht länger aus und Du auch nicht! “
„ Beruhige Dich, mein Kind — “
„ Wie kann ich mich beruhigen, wenn ſolch ein Unhold Dich mir unter den Händen austauſcht und allmählich zu einem Anderen macht? Oder iſt das etwa nicht ſo? Glaubſt Du, ich merkte es nicht, wie Dir jetzt von Tag zu Tag mehr ſo Manches über¬ drüſſig, einerlei und zur Laſt wird, was doch zum Leben gehört? O, mein beſter Karl, wenn wir, Ferdy und ich, Dir auch einmal zur Laſt würden, wie264 Deinem entſetzlichen Freunde ſein Hausrath und ſein Haus in eurem unheimlichen, ſchrecklichen Vogel¬ ſang! “
Nachher wurde es mir in dieſer Nacht doch wieder etwas zweifelhaft, ob ein leichtbewegtes Herz ein elend Gut auf der wankenden Erde ſei und der Freund im Rechte, ſich davon frei zu machen.
Daß er ſich wie Heroſtrat für das Pantheon der Weltgeſchichte vorbereite, behaupteten gegen das Ende des damaligen Winters nur die alten guten geiſt¬ reichen Bekannten vom Schlage Schwager Schlappe und Genoſſen, und hatten ihren ſouveränen Spaß daran. Die Mehrzahl des Theiles der Stadtbevölkerung, der von ihm wußte, blieb dabei, er ſei einfach für das Landesirrenhaus reif; und doch ſchlug die[Stimmung] mehr und mehr für ihn um. Und daran war dann wie gewöhnlich eine Minderzahl ſchuld, die meiſtens ihre Meinung nur ſo beiläufig über ihn ausſprach, der er aber doch ſehr im Kopfe herumge¬ gangen ſein mußte und auf deren Worte Manche, ja Viele etwas gaben. Als mir ein hoher Chef ſagte: „ Ein drolliger Patron; aber unter Umſtänden eigentlich265 zu beneiden und nachahmungswerth! “wußte ich, daß nicht nur völlige Billigung, ſondern auch der Neid aus ihm redete und, jedenfalls, längere nachdenkliche Beſchäftigung mit dieſem Menſchen, der „ die the¬ baiſche Wüſte in den Vogelſang übertragen zu wollen ſchien “. Letzteres Wort ſtammt jedoch nicht aus den juriſtiſchen Kreiſen der Reſidenz, ſondern aus den theologiſchen. Der augenblickliche Lieblingsprediger der Stadt (unverheirathet) ſprach es. —
Zu Anfang März war Alles vernichtet, woran für ihn und ſehr oft auch für mich eine Erinnerung gehaftet hatte, und was er nicht in anderer Leute Händen oder Beſitz, ſei es zu Nutzen oder Vergnügen, wiſſen wollte. An den Wänden deuteten auf ab¬ geblaßten Tapeten dunklere Flecke an, wo Bilder gehangen hatten. Was die Bücherſchränke und Regale anbetraf, ſo konnte es darin und darauf nicht öder ausſehen als in eines anderen berühmteren Phantaſie¬ menſchen Studirſtübchen, nachdem der Pfaffe, der Barbier, die Haushälterin und die Nichte dort Kehr¬ aus gemacht hatten. Der ſpäte Enkel ſehe ſich in ſeinen eigenen vier Wänden um, denke ſich Alles fort, was in irgend einer Weiſe was zu ſagen, was vertraute und vertrauliche Form und Farbe für ihn hat und erlaſſe es mir, von dieſem Aufräumen maleriſch weiter zu ſchreiben. Hat ihn ſein Eigenthum266 an und auf der Erde auch ſchon einmal in der rechten Art beängſtet, ſo wird er auch wohl die richtige Art und Weiſe, den Kopf zu ſchütteln, heraus¬ finden. Überhebung von geſichertem Beſitz her und dürftiger Scherz aus momentanem Behagen wird kaum etwas damit zu thun haben. Aber er ſelber, Velten Andres, ließ dem Omnia exeunt ſeiner Vogel¬ ſang-Tragödie ſowohl nach griechiſchem wie nach engliſchem Muſter noch ein Satyrſpiel folgen, das ihn aber diesmal beinahe — nicht mit der Sanitäts¬ behörde, ſondern mit der Polizei in Konflikt ge¬ bracht hätte.
Er lud den Vogelſang wie zur Plünderung eines abgerupften Weihnachtsbaumes in ſein Haus ein.
Er gab den noch vorhandenen alten guten Be¬ kannten der Nachbarſchaft alles das preis, was ohne eine Bedeutung für ihn war und erregte dadurch natürlich einen Zuſammenlauf, der für einige Stunden den Verkehr in der Gaſſe völlig unterbrach.
Eingeladen hatte er mich nicht zu dieſem letzten Kehraus; aber ich kam dazu, und zwar mit meiner Frau am Arme, von einem Nachmittagsſpaziergang über den Oſterberg.
„ Was iſt denn das da vor Deines Freundes Hauſe, Mann? “
Sie hatte die erſten Anemonen und Leber¬267 blümchen da oben im Walde gefunden und gepflückt und drückte ſich mit dem Frühlingsſtrauß ängſtlich an mich an.
„ Siehſt Du's, da hat er es! Sie ſtürmen ihm das Haus! Was hat er nun wieder Neues — Schändliches angefangen — Dein — Freund? “
Es ſah in der That bedrohlich aus; und wir hatten Mühe, durch den menſchenvollen Garten zu der Hausthür zu gelangen, die er aus den Angeln hatte heben laſſen, und mit welcher auf der Schulter ein alter Hausknecht weiland Nachbar Hartlebens durch das Gewühl das Freie zu erreichen ſuchte. Nun fand es ſich aber, daß es doch im Ganzen lauter gute alte Bekannte und Freunde waren, die er ſich aus den „ letzten Gaſſen “und von den Zäunen des Vogel¬ ſangs mit dem Wort: „ Seht zu, Kinder, was ihr von dem Kram gebrauchen könnt! “eingeladen hatte, wie der König im Evangelium das Volk zu ſeinem Feſtmahl. Sie machten auch gern Platz, ſo viel es ihnen möglich war und zogen die Mützen, und Einigen, denen ich zu hoch geſtiegen war, als daß ſie mir die Hand hätten reichen können, mußte ich ſie hinhalten: „ Na, alter Freund, das geht hier luſtig zu! “
„ Ja, ſagen Sie mal, Herr Aſſeſſor! So was hat der Vogelſang gewiß noch nicht erlebt. Zu ſo was gehörte einzig und allein unſere ſelige268 Frau Doktern und unſer Herr Velten, der Herr Sohn! “...
Es ging freilich nicht bloß gierig, ſondern auch luſtig zu. Aus dem benachbarten Tivoligarten hatte das Getümmel nicht nur die Kellner und Kellnerinnen, ſondern auch faſt das geſamte Perſonal des eben dort vorhandenen „ Theatre-Variété “hergezogen, um „ ſich den Spaß anzuſehen. “ Miß Athleta, die ſtärkſte Dame der Welt und Signor Volcano, der Feuermenſch, die „ größte Senſationsnummer der Gegenwart “, John Arden, der Weltmeiſterſchaft-Springer und die drei Schweſtern Larſen, die internationalen Excentrique - Sängerinnen, Fräulein Miranda, die Piſton-Virtuoſin und Herr German Fell, von der Anthropologie ge¬ nannt „ das gefundene Mittelglied “, der unübertreff¬ lichſte Affendarſteller beider Hemiſphären: ſie waren alle wie von Velten Andres zu ſeinem Kehraus ge¬ rufen und traten mit den Geladenen aus dem alten Vogelſang die letzten Buchsbaumeinfaſſungen der „ Rabatten “der Frau Doktern nieder und ſchienen von der neuzugezogenen kopfſchüttelnden Nachbarſchaft und der verblüfften Polizei allein für die Sache das volle Verſtändniß mitgebracht zu haben.
Und Velten ſchien das auch zu wiſſen und be¬ handelte ſie als hochwillkommene Ehrengäſte. Im Sturm der Plünderung behielt er Zeit für einen269 Händedruck mit dem von der Wiſſenſchaft ſo lange und ſchmerzlich vermißten und endlich gefundenen An¬ thropomorphen mit nicht hervorſtehendem Eckzahn, wie für einen Händedruck mit Miß Athleta, bei dem er aber ſchmerzzuckend das linke Bein hochzog und die Luft ziſchend zwiſchen ſeinen auf die Unterlippe geſetzten Zähnen durchblies.
Nimmer war mein Honoratiorentöchterlein, mein Weib, Schlappes Schweſter, in ſo ausbündig zweifel¬ hafte Geſellſchaft gerathen, wie jetzt und hier. Immer ängſtlicher drängte ſich die liebe, kleine Hand mit dem Schneeglöckchenſtrauß vom Oſterberg mir an, je weiter wir gegen die jetzt thürloſe Hauspforte vordrangen.
„ O Gott, Mann! “flüſterte ſie, als aus der Mitte der ihn lachend vertraulich umdrängenden Sisters Larsen, der drei internationalen „ Excentrique “- Sängerinnen, der Freund auch ihr lächelnd die Hand entgegenſtreckte:
„ Aber, gnädige Frau, wie freundlich von Ihnen! Doch weshalb ſo ſpät? “
„ Der greulige Menſch! Dachte er etwa auch, ich ſollte ihm bei ſeinem letzten menſchenfeindlichen Aufräumen helfen? “ſagte meine arme Kleine auf dem Heimwege und nachher, trotz Allem, noch öfter, wenn die Rede auf ihn kam. Augenblicklich ſtammelte ſie nur:
270„ Wir kamen zufällig über den Oſterberg, Herr Andres; und hier durch den Vogelſang. “
„ O und wie Sie mir recht kommen, Frau Aſſeſſor, gnädige Frau, “ächzte hinter uns eine halb durch Thränen, halb durch Lachen erſtickte Weiber¬ ſtimme. Eine harte, abgearbeitete Weiberfauſt be¬ förderte die größte Senſationsnummer der Gegen¬ wart, den Feuermenſchen Volcano, aus dem Wege, packte dann mich am Oberarm, ſchob uns, mein Weib und mich, gegen die Hausthür der Frau Doktor Velten vor, und dann — auf den Sohn der beſten Frau des Vogelſangs mit zitterndem Zeigefinger deutend, kreiſchte Riekchen Schellenbaum:
„ Ja, Karl — Herr Aſſeſſor, wollte ich ſagen; die ganze Stadt ſollte man hierzu zuſammenrufen! Ja, die Herrſchaften kommen zur richtigen Stunde, um ihm, dem Herrn da, zu ſagen, daß dies eine Sünde und Schande iſt! Hier der Frau Aſſeſſorin, Herr Velten, habe ich mein Elend ja wohl ſchon ſeit Monaten des Abends klagen dürfen; aber heute reicht das nicht mehr aus. Hier vor allen Leuten muß ich es ausrufen und ausſchreien, was ich ausſtehe und ausgeſtanden habe. Bin ich ſchon im Irrenhauſe, oder ſoll ich erſt herein? O Gott, Herr Velten, wenn mich doch die ſelige Frau Mutter mit hinunter in ihr ruhiges Grab genommen hätte — zehntauſend¬271 mal wäre mir das lieber geweſen, als wie daß ich dieſen Winter durch das liebe Ihrige ſelber mit in meiner Schürze habe in den Ofen und auf den Küchenherd tragen müſſen! Lieber Herr Aſſeſſor, Herzenskarlchen, ich habe ja auch zu Ihnen gehört, und Sie auf den Armen getragen, und auch bei Ihren lieben Eltern bin ich ein - und ausgegangen in guten Tagen und habe zugegriffen in böſen — Sie können es mir bezeugen, daß ich mich habe zu¬ ſammennehmen können und ihm nicht die guten, lieben Sachen vor die Füße geſchmiſſen habe und nicht die Schürze über den Kopf geſchlagen habe und ihm nicht wie eine Verrückte aus dem Hauſe gelaufen bin! Nun gucke Einer, wie mich das ſchwarze Mohren¬ geſicht hier aus dem Tivoli angrinſt! Nicht wahr, Herr Aſſeſſor, da von Spukmeyers ſeligem Gras¬ garten her, und hier, wo ich auf Ihres Herrn Vaters Grundſtück als junges Kindsmädchen auch ihm das Laufen gelehrt habe, ihm, der ſich jetzt dieſe Geſell¬ ſchaft hergebeten hat, um ſich mit anzuſehen, wie er ſein Vater - und Mutterhaus zu einer Brandſtatt und Räuberhöhle macht. Da holt ſich die lahme Brandten ihr ungeſegnet Theil am Eigenthum mit dem Waſchfaß, in dem ich ihm ſeiner ſeligen Mutter Hemden ge¬ waſchen habe! Vor meinen Augen, als ob ich allein zu gar nichts gehörte, und ich kein Herz im Leib272 hätte, was ſich vor Wehmuth und Gift umwenden könnte! Als ob ich allein in dieſem Juchhe an meinen Thränen verſticken müßte! Gehen Sie mal weg, Mamſell Luftſpringerſche — da ſchleppt ſich, wahrhaftigen Gottes, die Bande aus dem Hunger¬ winkel mit meinem — mit der ſeligen Frau Doktern Küchenſchrank, als wenn ich nicht jetzt noch den Schlüſſel dazu in der Taſche hätte! Nach dem ſoll mir aber wer kommen! Die guten Sachen! Und als ob man ſelber gar nicht vierzig Jahre lang damit hantiert hätte und ſie kennte! — Alles wie vor die Hunde. Wer die beſten Zähne hat zuerſt damit dran! — Oh, die Ruppſäcke! Wie beim jüngſten Gericht. Jawohl, am jüngſten Gerichtstage, Herr Andres, da wird auch noch die Frau Mutter gegen Sie auferſtehen und Ihnen ſagen, daß Dieſes hier wirklich nicht in der Ordnung iſt und nach Menſchen¬ ordnung zugeht, nicht wahr, Herr Aſſeſſor, nicht wahr, Frau Aſſeſſorn? “
Sie ſtand ihm jetzt dicht, Naſe gegen Naſe, gegenüber, dem Liebling des Vogelſangs, den ſie voreinſt auf den Armen getragen, deſſen Mutter ſie zu Tode gewartet hatte und der ihr nun Solches anthat. Giftig bohrten ihre Augen in ſeine ruhigen, freundlichen. Die Fäuſte zitterten und zuckten ihr, wie vor dem Zuſchlagen. —
273„ Das iſt nun leider ſo, Riekchen, “lächelte der Unmenſch. „ Den Küchenſchrank hat die Familie Steinbeiß aus dem Hungerwinkel, aber den Schlüſſel haſt Du. Die Hausthür hat auch ſchon einen Lieb¬ haber gefunden; aber den Schlüſſel dazu habe ich noch — es iſt mein Letztes von meinem Beſitzthum im Vogelſang. Willſt Du ihn? “
Er hob ihn in die Höhe, wie wenn man einem Kinde oder einem Hunde etwas Begehrenswerthes zeigt; meine Frau klammerte ſich immer feſter an mich an und flüſterte: „ Es iſt ſcheußlich! “ Aber die alte, treue Dienerin des Hauſes Andres, erſt mit beiden Armen weit um ſich greifend, wie nach etwas im Leeren Vergangenen, reckte die dürre Fauſt auf und kreiſchte:
„ Jawohl, zum Zeugniß von der Welt Dank und Lohn! Und zum Andenken an den Herrn Vater und die Frau Mutter, und mögen ſie ſich nicht in ihren Gräbern umwenden wegen Ihnen, Herr Velten, und das iſt mein letzter Wunſch und Abſchied, Herr Andres. “
Er legte den Schlüſſel zu ſeinem leeren oder aus¬ geleerten Vaterhaus nun dem vor Gift und Galle zitternden alten Mädchen in die Hand, die ihn bei ſeinen erſten Schritten auf der Erde mitgehalten und ihm geholfen hatte, ſeine Mutter auf dem TodtenbettW. Raabe. Die Akten des Vogelſangs. 18274für den Sarg zurecht zu legen. Die Schellenbaumen aber griff ihn und fuhr mit ihm ab und zwar mit einem Laut wie ein verwundetes Thier, und der Vogel¬ ſang lachte ihr nach und das Theatre-Variété aus dem Tivoli gleichfalls, als ob dieſer „ ſpaßhafte und kurioſe Herr “jetzt ſeinen beſten Witz zu ſeiner „ Generoſität “als Zugabe gegeben habe.
„ Herrſchaften, ein Schuft, wer mehr giebt, als er hat! “rief jetzt aber er, ſich auf ſeiner Hausthür¬ treppe hoch aufrichtend und ſeinen Feſtgäſten freund¬ lich aber feſt die Thür in der Gartenhecke weiſend. Und es ward leer um ihn, wie es in ſeinem Hauſe geworden war. Aus dem war freilich nicht das Ge¬ ringſte mehr zu holen. Die letzten Nachzügler aus der alten Freundſchaft des Vogelſangs waren ſchon belaſtet mit Sparren, Bohlen und Brettern, die auf den völligen Abbruch hindeuteten, an uns vorbei¬ geſchlüpft: aber auch von ihnen hatten einige doch ſcheu, verlegen und wie verdutzt ob der Sache noch eine freie Hand hingehalten und geſagt: „ Wir be¬ danken uns auch recht ſchön, Herr Andres. “
Auch das Theatre-Variété hatte genug von dem Spaß und ſich empfohlen. Alle ſehr heiter bis auf den Affenmenſchen. Der ſchien mit einem Male auf allen ihm von der Wiſſenſchaft und den Herren Darwin, Häckel, Virchow, Waldeyer und ſo weiter275 auferlegten Werth verzichten zu wollen. Dieſer Künſtler zögerte noch einen Augenblick, verlegen, ſchüchtern, als ob er noch etwas zu ſagen habe, aber nicht recht damit aus ſich heraus könne. Plötzlich jedoch fiel der „ Thier¬ heit dumpfe Schranke “unter Geſten und Mimik, die den homo sapiens als Publikum zu hellem Jauchzen hätten bringen können; er ſtieg, ſozuſagen, aus dem Pavian oder Gorilla heraus, die geſchmeidigen Muskeln ſteiften ſich und — Menſchheit trat auf die entwölkte Stirn: Herr German Fell aber trat auf Velten Andres mit einer Hölzernheit zu, die ihn in der Meinung verſchiedener älterer Herren aus meiner Kanzleiverwandtſchaft ſehr gehoben haben würde, bot ihm die Hand und ſagte:
„ Mein Herr, Sie haben mir während der letzten Monate dann und wann nebenan die Ehre gegeben; Sie verzeihen alſo, wenn ich mir heute hier bei Ihnen das Vergnügen gemacht habe. Bei ſo kurzer und vager Bekanntſchaft würde es — ſuchen Sie das beſſere Wort — würde es unangebracht ſein, wenn ich um Ihre Freundſchaft bitten wollte; Sie werden mich jedoch auch nicht verachten, weil ich dann und wann etwas mehr als Andere Affe bin. In gedrückten Mußeſtunden pflege ich mich jedenfalls immer noch wie andere von uns Primaten mit transcendentaler Menſchenkunde zu beſchäftigen; ich habe ebenfalls einige18*276Semeſter in Wittenberg ſtudirt, ehe ich zu den Anthro¬ poiden ging. Mein Herr, Ihr Ruf iſt während der letzten Wochen auch zu uns, und alſo auch zu mir ge¬ drungen; ich habe dann und wann mit Intereſſe ein Stündchen mit vor Ihrem Ofen geſeſſen. Siehe da, habe ich mir geſagt, auch einmal wieder Einer, der aus ſeiner Haut ſteigt, während die Übrigen nur daraus fahren möchten! Mein Herr, ich wünſche einen recht guten Abend und nicht bloß für den heutigen Tag. “
„ Mein Herr, “rief aber jetzt Velten Andres, der ſeinen unheimlichen Wandnachbar aus dem Theatre - Variété mit immer ſteigendem Erſtaunen hatte reden laſſen, „ mein Herr, nun bitte ich doch, mir genauer zu ſagen, mit wem ich eigentlich die Ehre habe — “
„ Mit Einem vom nächſten Aſt, mein Herr. Vom nächſten Aſt im Baum Yggdraſil. Man kann ſich auf mehr als eine Art und Weiſe dran und drin verklettern, mein Herr. Mit unſeren Perſonal¬ bezüglichkeiten dürfen wir uns wohl gegenſeitig ver¬ ſchonen. Auf bürgerlich feſten Boden hilft wohl Keiner dem Andern wieder hinunter; aber reichen wir uns wenigſtens die Hände von Zweig zu Zweig. Mein Herr, ich danke Ihnen. “
Wofür er dankte, ſagte er weiter nicht. Meine Frau hat es nie begriffen, ich aber habe mir auch277 nicht die vergebliche Mühe gegeben, es ihr begreiflich zu machen. Sonderbarerweiſe reichte auch unſer Freund Velten ſeine Hand nur wie mechaniſch und ohne eigentlich genaues Verſtändniß der Sache her. Herr German Fell drückte ſie ihm, ließ ſie fallen, ſah den verkletterten Nachbar in der Welteſche mit dem ganzen melancholiſchen Chimpanſeernſt in das verdutzte Geſicht, ſchurrte, ſozuſagen, ganz und gar wieder in ſeine Kunſt, das Leben zu überwinden, hinab und folgte, runden Rückens, ſo ſehr als möglich Vierhänder, den Theatre-Variété-Genoſſen, die den halben Winter durch im Tivoli hinter meines Vaters Grundſtück auf Spukmeyers „ ſeligem Grasgarten “meinem Jugendfreunde die verſtändnißvollſten Nach¬ barn in Stadt und Vorſtadt geweſen waren.
Nun hatten wir ſie für uns allein, die ver¬ wüſtete Kindheitsidylle. Leiſe zog meine Frau an mir, doch wagte ſie nicht einmal flüſternd ihren Wunſch, die Leere und Öde auch ſo ſchnell als möglich hinter ſich zu laſſen und mich mitzunehmen, auszu¬ ſprechen. Ich aber konnte ſo noch nicht ſcheiden, ich konnte den armen Freund, dem eben ſo grimmig Recht und Unrecht gegeben worden war, nicht in ſeiner thürloſen Hauspforte allein ſtehen laſſen. Ich mußte noch nach Herrn German Fell ein Wort für unſern letzten Abſchied vom Vogelſang finden, und ob der278 Ton mehr oder weniger gezwungen herauskam, ich ſchlug den Freund lachend auf die Schulter:
„ Sieh auf, alter närriſcher Menſch! Ein leicht bewegtes Herz iſt ein elend Gut auf der wankenden Erde und die vollgültigſte Gegenzeichnung des Wortes haſt Du eben in wunderlichſter Weiſe erhalten. Sie würden es rundum ſelbſt nicht der Zeitung glauben, wenn man es ihnen durch die erzählte, daß es Eures¬ gleichen heute noch giebt und auch nicht bloß vor Zeiten mal in der thebaiſchen Wüſte oder auf der Straße nach Olympia gegeben hat. Du haſt Deinen Willen gehabt und durchgeführt, nun thu aber auch uns den Gefallen und komm wenigſtens für die letzten Tage und Nächte in der Heimath mit uns nach Hauſe. “
Wir ſtanden jetzt in dem Wohnzimmer ſeiner Eltern, in dem er ſo gründlich mit ſeinem beſten Eigenthum aufgeräumt hatte, der eigenthumsmüde Mann, der freie Weltwanderer. Und er ſah auf und um ſich her, wie Einer, der einen Schlag vor die Stirn erhalten hat und ſein Selbſtbewußtſein nur mühſam wieder zuſammenfindet. Er that mir in tiefſter Seele leid und zu helfen war ihm nicht: er hatte aus ſeinem verödeten Vaterhauſe den Nachbar im Gezweig des Baumes Yggdraſil mit ſich auf allen ſeinen ferneren Wegen durch das Daſein zu279 ſchleppen. Mich und mein zitterndes, ihre Angſt und ihre Thränen hinunterſchluckendes Weibchen mochte er ſchon los werden aus der Erinnerung an ſeinen letzten Abend zu Hauſe; aber Herrn German Fell nicht. Der blieb ihm darin! —
„ Ich möchte doch heute Abend noch einmal der Vorſtellung da neben mir an beiwohnen. Wie man doch Seinesgleichen, ſo was zu Einem gehört, nur dadurch und dann kennen lernt, wenn es Einem ſo im Gedränge den Ellbogen in die Seite ſetzt; nicht wahr, Karl? Den Affenmenſchen aus dem Tivoli dürfte ich Ihnen doch wohl nicht als Freund, Gaſt und Gaſtfreund mitbringen, gnädige Frau? Alſo bitte, Kinder, laßt es dabei, daß wir einander ſo wenig als möglich durch unſer Vorhandenſein in dieſer wimmelnden Welt geniren. In einer ge¬ ſchäftlichen Angelegenheit muß ich freilich auch vom Deutſchen Hofe aus Dich beläſtigen, lieber Carlos. “
Ich fühlte den Arm meiner Frau immer mehr an meiner Bruſt erzittern. Sie hielt in der heißen Hand noch immer ihr armes Sträußchen erſter Frühlings¬ blumen; jetzt aber entfiel es ihr und verſtreute ſich auf dem ſchmutzigen, zerſtampften Fußboden unter Scherben von zerſchlagenem Geſchirr, Tapetenfetzen und werthloſeſten Trümmern von Hausgeräth.
„ Komm Du mit nach Hauſe! “flüſterte ſie. 280„ Ich halte dieſes nicht länger aus! O, mein armes kleines, liebes Kind zu Hauſe! Bitte, komm, ich muß zu meinem Kinde — Das laß ich mir nicht nehmen, wenn er auch Dich verwirrt. Ich halte mein Eigen¬ thum an der Welt feſt! Bleib, wenn Du willſt — ich will nach Hauſe und zu meinem Kinde! Ja, bleib, bleib und ſteige mit ihm und ſeinem anderen Freunde, dem gräßlichen Affenmann, ſo hoch Du willſt aus unſerm armen lieben Leben in die Höhe: ich will zu meinem Kinde und meinem Eigenthum an der Welt! “
Sie iſt uns fortgelaufen, mit dem Arm und Ellenbogen vor den Augen, ſelber wie ein Kind, das ſich vor einem Schlage fürchtet.
„ Gute Nacht, Velten. “
„ Gute Nacht, Krumhardt. “...
Ich holte meine Anna erſt an der zweitnächſten Straßenecke ein. Als ich mein Eigenthum wieder an mich nehmen wollte, weigerte es ſich deſſen durch mehrere Gaſſen. Mit faſt böſem Blick wies die Kleine, ſtatt meinen Arm zu nehmen, nach dem Vogel¬ ſang zurück:
„ Ich habe dem Herrn Generalſuperintendenten, verſprochen, Dir für gut und böſe zu gehören, und ich habe mir ſelber verſprochen, nur da zu ſein und zu bleiben, wo Du biſt und gehſt und ſtehſt, Karl; aber —281 dahin bringſt Du mich nicht mit zehn Pferden wieder! Dahin ſetze ich in meinem Leben meinen Fuß nicht wieder. O lieber Gott, was machen Deine Menſchen aus Deiner ſchönen Welt! “— — —
Ich habe den Freund im Leben nicht wieder¬ geſehen. Als er am nächſten Tage nicht zu mir kam und ich am Abend im „ Deutſchen Hofe “nach ihm fragte, wußte man nur, daß er ſeine Rechnung be¬ richtigt habe, aber nicht, ob er ſich noch in der Stadt aufhalte.
Von London aus machte er es ſchriftlich mit mir ab, es unſerem Riekchen Schellenbaum amtlich und gerichtlich glaubhaft zu machen, daß zu dem Haus¬ ſchlüſſel, mit dem es als mit ſeinem „ einzigen An¬ denken “abgefahren war, auch der „ neue Bauplatz “, einer der beſten im neuen Vogelſang, gehöre.
Ich habe eine längere Pauſe in der Abfaſſung oder Niederſchrift dieſer Annalen und Hiſtorien des alten Vogelſangs machen müſſen. Als ich das letzte Blatt zu den Akten brachte, ſchneite es noch; nun läuft wieder ein grüner Schimmer über den Oſterberg und meine Kinder tragen Hände voll von den282 nämlichen Frühlingsblumen, die ihre Mutter in Velten Andres 'verwüſtetem, ausgeleertem Heimweſen aus der Hand gleiten ließ, ins Haus.
Wir hatten viel Sorge im Hauſe. Wir fürchteten, unſern älteſten Sohn, den ſeiner Zeit Velten nicht aus der Taufe hatte heben wollen, am Typhus zu ver¬ lieren; aber der Junge iſt uns erhalten geblieben und munter wieder auf den Beinen, und ich habe die Feder zum Beſten ſeines Hausarchivs von Neuem aufgenommen. Wir ſind im März eines neuen Lebensjahres, und ich halte wieder den Brief in der Hand, den mir Mrs. Mungo im November des vorigen Jahres aus Berlin ſchrieb.
„ Velten läßt Dich noch einmal grüßen. Er iſt nun todt. Wir haben unſern Willen bekommen. Er iſt allein geblieben bis zuletzt, mit ſich ſelber allein, ohne Eigenthum an der Welt. “...
Könnte ich ihr doch — könnte ich von hier an Helenen Trotzendorff die Feder in die Hand geben und ſagen:
„ Nun ſchreibe Du weiter. Schließe das Akten¬ ſtück ab! “...
Ich habe in den langen Jahren kaum etwas von dem Freunde gehört. Nach Hauſe, wenn man bei ihm nach ſeinem vernichteten Hauſe dieſen Aus¬283 druck gebrauchen könnte, iſt er nicht wieder gekommen, und geſchrieben hat er an mich auch nicht. Aber da mich meine Stellung in unſerem kleinen Staatsweſen dann und wann nach Berlin führte, ſo bin ich mit dem Hauſe des Beaux in einiger Verbindung ge¬ blieben. Kommerzienrath des Beaux — Leon des Beaux hält, trotzdem er längſt zu den bedeutenderen Bankiers und Kapitaliſten der Reichshauptſtadt ge¬ hört, das alte gute Verhältniß aus „ unſerer Uni¬ verſitätszeit “noch aufrecht. Das väterliche Geſchäft in der Dorotheenſtraße beſteht aber nicht mehr (aus einem Schneiderladen gelangt man ja wohl nicht zu dem Titel Kommerzienrath?) und Leon ſelber bringt die Rede nie darauf, und ſie gern auf etwas Anderes, wenn ſie darauf kommt. Da ich auch jetzt in ſeinen Geſchäftsſtuben nichts zu thun habe, kenne ich ihn nur in ſeinem Familien - und Geſellſchaftskreiſe in ſeiner Villa einer vornehmen Vorſtadt. Er iſt auch verheirathet und hat eine gute, für ihn paſſende Frau bekommen. Er iſt Vater von zwei Kindern, einem Sohn und einer Tochter. Der Junge wird Friedrich gerufen, das Mädchen Viktoria: die traditionellen alt: franzöſiſchen Familientaufnamen der des Beaux aus dem Languedoc figuriren nur noch in den Tauf¬ ſcheinen der Kinder. Die jetzige Madame des Beaux weiß nichts mehr von dem Familien-Wunderwinkel284 in der Dorotheenſtraße, wo Leonie und Leon des Beaux ihr, ihres Vaters und ihrer Väter Eigenthum in Angeſtammtem und Zuerworbenem feſthielten und ihren Lebensſtolz drauf gründeten. Sie, Frau Wera des Beaux, vordem zweite Liebhaberin am *** theater, hat ſich in den guten Leon trefflich hinein¬ zufinden verſtanden; ſie iſt eine tüchtige Berliner Haus¬ frau und zugleich eine vornehme Frau, die die Stellung ihres Gatten wohl zu wahren weiß; aber von Albi, Simon von Montfort, Raimund von Toulouſe, Peter von Caſtelnau weiß ſie nichts, die Bartholomäusnacht kennt ſie nur aus den Meyer¬ beerſchen Hugenotten und das Edikt von Nantes —
„ Für das muß ich eigentlich dem Himmel un¬ beſchreiblich dankbar ſein, “ſagte ſie mir einmal lachend an ihrem Theetiſch. „ Wie ſollten ohne es Leon und ich uns wohl in der Welt zuſammengefunden haben, Herr Oberregierungsrath? “
Fritz und Viky, die beiden Kinder des lieben harmloſen, freundlichen Paares, wiſſen nur von Sedan, Gravelotte, der dritten Einnahme von Paris und von Kaiſer Wilhelm und ſeinen „ Paladinen “; von den Paladinen der „ Tante Leonie “aber wenig mehr. Sie ſind eben eine geraume Zeit nach Sedan, Metz und der dritten Einnahme von Paris in die deutſche Welt hineingekommen, und das Eigenthum ihrer Vor¬285 fahren väterlicher Seite hat kaum noch viel Bedeutung für ſie. Was in der Dorotheenſtraße noch pietätvoll zuſammengetragen worden war, das dient in der jetzigen Villa des Beaux in den Gemächern nur noch hie und da zur Zier, und im Salon der Frau Kommerzienräthin ſchaut der erſte brandenburgiſche Ahnherr, der Sieur Antoine des Beaux, dem der Große Kurfürſt ſeiner Zeit die Hand geſchüttelt hat, von der Wand aus ſeinem Clair-obscur ernſt, aber auch ruhig in das Plein-air des laufenden Tages hinein. Das Bild hat Kunſtwerth: von wieviel Wänden wird es wohl noch auf fremde Leute hinunterſehen?
Und Leonie? Leonie des Beaux?
Von der wiſſen die Kinder ihres Bruders nur zu ſagen, daß ſie ſehr gut, aber nur einmal auf längere Zeit zu ihnen und Papa und Mama vom Rheine her gekommen ſei, ohne daß Einer im Hauſe oder ſonſt Jemand ſehr krank gelegen habe.
Leonie des Beaux hatte ſich wie Velten Andres ihres Eigenthums an der Welt entledigt, ſie war Diakoniſſin zu Kaiſerswerth geworden und diente dem Herrn jetzt auf einer „ Arbeitsſtation “in Deutſch - Lothringen. Da ich die Feder auch nicht in ihre Hand legen kann, hatte ich dieſes zu den Akten zn bringen, ehe ich weiter ſchreibe in Sachen Velten Andres und — Helene Trotzendorff. — — —
286Ich bin wieder auf dem erſten Blatt der Chronik des Vogelſangs.
„ Du mußt und willſt doch auch wohl als erſter guter alter Freund von Allen nach Berlin? “hatte meine Frau an jenem Novemberabend gefragt, und: „ Morgen, wenn es mir irgend möglich iſt, “hatte ich ihr geantwortet. Dann waren wir Beide, Anna und ich, zu unſerem jungen Volk gegangen, um uns zu vergewiſſern, daß wenigſtens da noch Alles in Ordnung auf Erden ſei. Am anderen Mittag war ich in Berlin. Meine Stellung in unſerem Staatsweſen erlaubte mir, den nöthigen Urlaub, wenigſtens für einige Tage, mir ſelber zu geben.
„ Erkälte Dich nicht, Alter, “hatte meine Frau geſagt. „ Bedenke Deinen Rheumatismus und denke auch ein wenig an Deine Jahre und daß wir im November ſind. “
Ich bedachte freilich Manches in meinem Blitz¬ zuge; auch nicht zum mindeſten meine wohlgezählten achtundvierzig Lebensjahre. Würde ich aber noch einmal von meinen Thüren, die ein Bedienter öffnete, von meiner behaglichen Luftheizung, meinen amt¬ lichen Ausſichten auf die Zukunft und darin den Titel Excellenz, ja, würde ich auch nur noch einmal von Weib und Kindern reden, ſo liefe das nur auf eine Wiederholung von ſchon Geſagtem hinaus. 287Während einer unbehaglichen Wirthstafel hatte ich mir zu überlegen, ob ich am Beſten erſt den Kommerzienrath des Beaux in ſeiner Villa oder Miſtreß Mungo im Kaiſerhof von meiner Ankunft benachrichtige und ihnen die weitere Führung über¬ laſſe. Zwiſchen drei und vier Uhr Nachmittags aber ſtand ich allein in der Dorotheenſtraße vor dem Hauſe, in welchem die alte Hugenottenfamilie zum letzten Mal ihre Lebensandenken zuſammengehäuft und Velten Andres eigenthumslos ſeinen Weg über die Erde beendet hatte. Seit meinen Studenten¬ jahren war ich nicht wieder in dieſe Gegend der Stadt gekommen und von dem Hauſe war nur die Nummer geblieben, was die Gaſſenſeite anbetraf. Vater des Beaux nahm nicht mehr das Maaß der oberen Zehntauſend der Stadt, und der Hofſchmied beſchlug nicht mehr die Hufe ihrer Roſſe in der Dorotheenſtraße: nach der Gaſſenſeite hin hatte ſich die Dekoration vollſtändig verändert, ſoweit ich meiner Erinnerung trauen konnte. An der Architek¬ tur der zweiten Hälfte der achtziger Jahre des Jahr¬ hunderts emporblickend, konnte ich, mit dem Briefe Helene Trotzendorffs daheim auf meinem Schreib¬ tiſche, in meinen und des Vogelſangs Aktenkonvolut, mich nur fragen:
288„ Frau Fechtmeiſterin Feucht? Ein Irrthum iſt doch wohl ausgeſchloſſen? “
Ich habe auf meinem Wege durch meinen Beruf und vorzüglich während der zwei Jahre, in welchen ich zu Hauſe der Oberſtaatsanwaltſchaft als Mit¬ arbeiter zugetheilt war, in mancherlei Örtlichkeiten mich zurechtzufinden gelernt. Hier hatte ich nur den Neubau zu durchſchreiten, um merkwürdigerweiſe in dem neueſten Berlin das wenn nicht älteſte, ſo doch ältere noch vollſtändig an Ort und Stelle zu finden. Das weite lärmvolle Gehöft des Hofhufſchmieds war überbaut worden und bis auf einen brunnenartigen, lichtloſen Lichthof verſchwunden. Doch der Frau Fechtmeiſterin Feucht und ihrem Reich hatte die Zeit nichts an¬ haben können. Ich fand ſie Beide noch, wie ſie vor Jahren geweſen waren; das Hintergebäude der großen Firma des Beaux und die Frau Fechtmeiſterin. Sie hatten ſich Beide gar nicht, oder nur ganz unmerklich verändert, das eine, rauchgeſchwärzt, mit jetzt ſeinen hundertundzwanzig, die andere, weiß, zierlich, das richtige Märchenweiblein mit faſt ihren neunzig Jahren auf dem Nacken! —
Wie kam es, daß auf den dunkeln, ſteilen289 Treppen, die zu der alten Frau hinaufführten, dieſer Vers, daß die ſüße Stimme, die das Lied uns in dem vornehmen Salon des Vorderhauſes ſo oft ge¬ ſungen hatte, mir plötzlich wieder in den Sinn kam? Es waren doch eigentlich nur wenige Jahre her, daß wir dort in dem Zauberwalde Brozeliand zu¬ ſammenſaßen und über der Berliner Schneider¬ werkſtatt aller romantiſchen Wunder voll, proven¬ çaliſche Minneſänger, altfranzöſiſche Chroniken und hugenottiſche Streitſchriften und Liederbücher durch¬ blätterten, und nun ſchien mir nichts davon übrig zu ſein als dieſer Ton, dieſer Vers! Und ſchauerlich merkwürdig kam mir dazu eine ſpätere Winternacht in das Gedächtniß zurück und ein anderer Vers, aber nicht aus einem franzöſiſchen Volksliede, ſondern aus einem deutſchen Klaſſiker. Im ſtillen, von ſeinem Eigenthum an der Erde ſich leerenden Vater¬ hauſe im Vogelſang murmelte ihn Velten Andres bei ſeinem Vernichtungs - und Befreiungswerk vor ſich hin:
Dorotheenſtraße Numero 0 — Hintergebäude — Frau Fechtmeiſterin Feucht — Studioſus Valentin Andres! Ich zog im dritten Stockwerk wie ein ebenW. Raabe. Die Akten des Vogelſangs. 19290Erwachender die Glocke und erkannte auch ihren Klang wieder.
„ So etwas mußte es wohl ſein, was uns Zwei noch einmal im Leben zuſammenbringen konnte, Herr Krumhardt, “ſagte dann ganz dieſelbe Stimme, die vor Jahren mich ſo oft freundlich begrüßt und auch dann und wann gar mütterlich gewarnt und geſcholten hatte. „ Sie treten wohl erſt einen Augen¬ blick bei mir ein, ehe Sie in ſein Zimmer hinüber¬ gehen, Herr Oberregierungsrath. Sie hat Sie wohl nicht ſo früh hier in Berlin erwartet; aber mir konnten Sie nicht früh genug kommen. In meinem Alter kann man ja wohl Alles leicht nehmen, aber Dieſes wird mir doch zu ſchwer allein zu tragen. Seit dem Morgen ſitzt ſie wieder auf ſeinem Bett, mit den Ellbogen auf den Knieen und den Kopf zwiſchen den Händen. “
„ Sie? Allein mit ihm? Helene? Helene Trotzendorff? “
„ Die große amerikaniſche Dame. Haben Sie nicht auch von ihr und ihren Reichthümern in der Zeitung geleſen? “
Die alte Frau faßte mit ihrer dürren, alters¬ harten, kühlen Hand meine heiße.
„ Kommen Sie, Herr. Es hat Zeit, daß Sie zu ihr gehen. Sie ſcheint nichts mehr von Zeit und291 Stunde zu wiſſen; aber ſeit ſie mir geſagt hat, daß Sie kommen würden, ſind mir in der Erwartung die Minuten zu Jahren geworden, denn gegen wen könnte ich ſo meiner Seele Luft machen, wem könnte ich hiervon ſo erzählen als wie Ihnen? Wem kann man denn ſo was begreiflich machen als wie Einem, der auch mit dazu gehört hat von Anfang an? “
Die Sonne geht um dieſe Jahreszeit gegen halb fünf Uhr unter. Die breiten Straßen, die großen Plätze der Stadt lagen noch in ihrem Lichte; in dem Stübchen der Frau Fechtmeiſterin Feucht war es merkwürdigerweiſe noch hell, das Stückchen Himmelszelt vor dem Fenſter, für den November¬ nachmittag lichtblau und wolkenfrei wie am ſchönſten Sommermorgen. Wohl ein Vierteljahrhundert war hingegangen, ſeit ich zum erſten Mal zwiſchen dieſen vier Wänden geſtanden und verwundert umher und von der Bewohnerin auf die Wände geſtarrt hatte. Nun ſtand ich wieder ſo; — während in den langen Jahren um mich her nichts an ſeinem Platze ge¬ blieben war, hatte ſich hier nichts verändert. Die Zeit, die mit ſo leiſer, ſanfter Hand über die Stirn der kleinen greifen Elfin geſtrichen hatte, hatte auch in ihrer Umgebung nichts von der Stelle gerückt, nichts in den Winkel geworfen, nichts unter den Auktionshammer gebracht, nichts — in den Ofen19*292geſchoben. Die Frau Fechtmeiſterin Feucht allein von uns Allen hatte ihr Eigenthum noch vollſtändig beiſammen, und da ſtand ſie nun wie damals mit dem Strickzeug in den Händen und dem Garnknäul unter der Achſel und deutete plötzlich um ſich herum auf die Waffentrophäen und die ungezählten Schatten¬ bilder vergangener Burſchenherrlichkeit und ſeufzte:
„ Weshalb mußte Der, an den ich von euch Allen als den Letzten mein ganzes Herz gehängt hatte, mir ſo was zuleide thun? Setzen Sie ſich, Herr Oberregierungsrath. “
Da ſaß ſie mir wieder gegenüber, am Fenſter wie die Frau Doktern im Vogelſang, in ihrem Korb¬ ſtuhl und mit ihrem Strickzeug, aber diesmal Ge¬ ſpinnſt und Knäul im Schooße und ſagte:
„ Er hat drüben — jetzt bei der Frau Mungo, einen Vers über ſich an die Wand geſchrieben, den können Sie nachher leſen, jetzt aber muß ich es erſt von der Seele los ſein, was ich mit ihm erlebt habe — ich, das alte, alte Weib, mit dem Kinde, ja mit dieſem Kinde, dem jungen Menſchen! “
Sie hatte bei ihren Jahren wohl Recht, ſo von Velten Andres und auch von uns Andern als Kindern zu reden, und ſie ſprach auch wie eine märchener¬ zählende Großmutter in der Dämmerſtunde; ich konnte nur ſitzen und hören.
293„ Was meinen Sie wohl, wie Ihnen zu Muthe wird, Herr Oberregierungsrath, wenn plötzlich ſo ein unbekannter alter Menſch vor Ihnen ſteht und fragt: ‚ Frau Fechtmeiſterin, nehmen Sie immer noch dumme Jungen in Koſt und Logis?‘ Und dann Ihnen ſagt: ‚ Ich bin Der und Der!‘ und Sie nachher nur ſagen können: ‚ Ja, Kind, dann komm[herein!?‘” ]
Sie erwartete natürlich keine Antwort auf die Frage, ſondern fuhr mit der Hand auf meinem Knie fort:
„ Ich vergeſſe den Tag in meinem Leben nicht. Es iſt am letzten fünfzehnten Juni geweſen, am Nachmittage, ſo um dieſe Tageszeit, wo es bei mir klingelt, und ich frage, mit wem ich die Ehre habe, und der Beſuch ſagt: ‚ Ich bin der Studioſus der Weltweisheit Velten Andres. Wiſſen Sie, Frau Fechtmeiſterin, und da Ihr Zettel noch immer aushängt und meine alte Bude zufällig frei iſt, möchte ich ſie noch einmal wiederhaben. ‘— Herr Oberregierungsrath, wenn ein Geſpenſt Sie am hellen lichten Tage auf die Schulter klopft und Ihnen einen Namen wie vom Kirchhof her nennt, können Sie nicht heller als wie ich ſchreien: ‚ Was wollen Sie? Wer wollen Sie ſein?‘ Eine gute halbe Stunde hat's gedauert, ehe ich mich in ihn, meinen Schlimmſten und meinen Beſten ge¬ funden und mich noch mal über den lieben Gott294 gewundert habe, daß er mich auch Dieſes noch bei Lebenskräften und geſunden Verſtandesſinnen erleben laſſen will. Seine Zeit wollte es freilich haben, bis ich mir aus dem gegenwärtigen Spuk meinen alten lieben Sohn von damals herausgeholt hatte und an ihn glauben konnte. Nicht daß er, mein Velten, etwa wie ein Spuk ausgeſehen hätte; nein, ganz reſpektabel grau, nur mit ein bißchen zu viel Haut und zu wenig Fleiſch auf den Knochen und müde, Herr Oberregierungsrath! Müde, müde! wie Einer, der ſeit einem Menſchenalter nicht von den Füßen gekommen iſt! Todtmüde von ſeinem Wege durch ſein junges Leben! Natürlich nöthige ich ihn denn aufs Sofa und da ſitzt er und ſagt nichts, aber lacht; und das, Herr, das Lachen hat meinem letzten Zweifel ein Ende machen müſſen. Menſchen¬ möglich iſt es ja nicht; aber Ihre Stube iſt frei, Velten, ‘habe ich geſagt. ‚ Soll ich nach Ihrem Ge¬ päck ſchicken, oder wollen Sie es ſelber holen — ich weiß nicht woher?, — ‚ Ja, das weiß ich auch nicht!‘ lacht er mich wieder an und reicht mir über den Tiſch da ſeine Brieftaſche. ‚ Meine Papiere für die Polizei und die Miethe wie ſchicklich pränumerando, behalten Sie gleich den ganzen Bettel, ich gehe heute früh zu Bette. ‘— ‚ Und keine Wäſche? Und keine Bücher? ‛ — ‚ Nichts!‘ — ‚ O du lieber, lieber Gott, ſo295 kommen Sie zu der Fechtmeiſterin Feucht zurück?‘ — ‚ So!‘ ſagt er nur und reicht mir über den Tiſch die Hand, und ich fühle wohl, daß die ein bißchen fieberiſch iſt; aber meine iſt ja deſto kälter und ſo faſſe ich feſt zu und rufe: ‚ Ja, wenn das ſo iſt, bleibſt Du natürlich bei mir. Es iſt zwar ſpät am Tage für mich; aber für Einen langt's wohl noch. Dich füttere und flicke ich mit unſeres Herrgotts Hilfe noch heraus!‘ Ja, ja, Herr Oberregierungsrath, in dem Augenblicke habe ich den Mann Du genannt, als hätte ich ihn wie ein Kind auf dem Arme! Daß das nicht ſo war, konnte ich damals ja noch nicht wiſſen. Aber drüben ſitzt die Frau auf ſeinem leeren Bett; ich darf Sie wirklich nicht ſo lange aufhalten hier bei mir, Herr Krumhardt, Sie ſind nebenan wohl nöthiger. Alſo kurz: er hat ſein letztes halbes Jahr bei mir zugebracht und iſt bei mir geſtorben. Mühe hat er mir nicht gemacht und Unkoſten auch nicht; aber (und hier leuchteten die Augen der faſt Neunzigjährigen wie die eines greiſen Feldherrn über ein Schlacht¬ feld) Freude hat er mir auch jetzt wieder gemacht: er war doch der Närriſchſte, aber auch der Tapferſte von euch Allen. Schade, daß er zu feine Nerven mitbekommen hatte und ſo, ſo, ſo ſein Leben führen und ſo, ſo zum Ende kommen mußte, wenn er nicht296 als euer Aller Narr oder im Irrenhauſe zu Grunde gehen wollte. “
murmelte ich bis ins Tiefſte durch das ruhige Wort der verſtandesklaren Greiſin erſchüttert.
„ Das iſt es, was er drüben mit Kohle an die Wand geſchrieben hat. Nun ſitzt die Frau Mungo davor und hält den Kopf mit beiden Händen darüber, das arme Ding. Als ob ſie die Schuld davon trüge, daß euer Velten eigenthumlos über und von der Erde gegangen iſt! Was hilft es mir, daß ich der lieben Seele zurede: ‚ Du konnteſt nichts daran ändern, Herz; ‘es mußte eben auch einmal einen ſolchen Egoiſten zu euch Anderen, wenn auch nur der Rarität wegen, in der Welt geben. In ein Kloſter, wie meine liebe Leonie, konnte Der nicht gehen. Mitleiden hat er wohl gehabt, aber ein barmherziger Bruder ſteckte nicht in ihm. Oh, wie die Zwei ſich zum erſten Mal wiederſahen bei der Fechtmeiſterin Feucht, die barmherzige Schweſter aus dem Diakoniſſenhauſe am Rhein und Dieſer von allen Straßen der Welt, Beide ohne Eigenthum auf und an der Erde! “
„ Leonie des Beaux und Velten Andres? “ſtammelte ich.
297„ Ja, die Beiden auch. Sie erinnern ſich der Zeit wohl, wo das Vorderhaus noch ſtand, und wir Alle, ſelbſt ich, noch jung waren. Nun war es im September, und er hatte ſich vollkommen bei mir eingerichtet, das heißt eigentlich ich ihm Alles. Nicht aus meinem Geldbeutel; in ſeiner Brieftaſche hat er genug Scheine aus aller möglichen Herren Länder gehabt, daß ich ihm davon nicht bloß noch ein halb Dutzend Hemden, ſondern auch alles Übrige beſorgen konnte — nach ſeinem jetzigen kurioſen Leben wohl noch auf Jahre hinaus. Auch in der Leihbibliothek hatte ich ihn abonniren müſſen; denn ausgegangen iſt er kaum mehr; da entſchuldigte er ſich immer mit ſeinen kranken Füßen. Auf ſeinem alten Studenten¬ ſofa und ſeinem Bett hat er gelegen und den lieben langen Tag und auch manchmal die Nacht durch ge¬ leſen, Alles, was ihm einmal gefallen hat in ſeiner Kindheit und Jugend, und immer aus den alten, ſchmierigen, ekligen, zerriſſenen Bänden von Olims Zeiten. Brachte ich ihm ein, neues Exemplar, ließ er's liegen und meinte: ‚ Mutter Feucht, das iſt das Rechte nicht. ‘— Ja, ja, man konnte ſich bei Allem irgend etwas denken, aber man mußte ſich wirklich ſehr in ſeine Grillen und Schrullen hineinfinden. Und ſehen Sie mal, Herr Oberregierungsrath, das iſt jetzt denn auch wirklich mein Stolz und meine Freude,298 daß er mit denſelbigen, ich meine die Schrullen und Grillen, nur bei mir eine Unterkunft geſucht hat. Ja, er iſt freilich nicht der einzige von meinen alten Herren, dem gegenüber ich die Jüngere geblieben bin mit Gottes gnädigem Beiſtand. Aber da brauchen Sie nur auf die Straße hinauszugucken: wenn ſo Eine von uns über ihre Jugendſchwäche herausge¬ kommen iſt, da weiß ſie ſchon ihren ihr vom Herrgott anbefohlenen Wackelkopf und Knickebein auch an der Linden - und Friedrichſtraßenecke durchs Gewühl zu dirigiren. Überheben Sie ſich ja nicht über Ihre liebe Frau unbekannterweiſe, Herr Krumhardt. Wenn Sie die jetzt gut behandeln und handhaben, thut die Ihnen vielleicht auch noch mal das Gleiche. “
Der letzte Schein der Herbſtſonne war längſt von dem Stückchen Himmelszelt vor unſerm Fenſter gewichen; die Dämmerung kam raſch, und ich hätte gern hier das Protokoll abgekürzt; aber wenn wer jetzt was zu den Akten zu geben hatte, ſo war das doch die Frau Fechtmeiſterin Feucht, und ich unterbrach ſie nicht durch überflüſſige Bemerkungen meinerſeits, zumal ſie ſelber ſagte:
„ Ich komme ſofort auf die Hauptſache, Herr Oberregierungsrath, aber ihr Herz hat Unſereine auch voll bei ſolcher Sache! “
Ich konnte, nachdem ſie ſich die Augen getrocknet299 hatte, nur die beiden lieben tapferen Knochenhände faſſen, in die ſich Velten Andres zu ſeiner letzten Pflege gegeben hatte.
„ Herrgott, wie habe ich dann ſeine und meine Stube voll gehabt von der vergangenen Zeit. Wie er es erfahren hat, daß ſein Freund wieder da ſei und im alten Quartier, weiß ich nicht; aber er war auch ſofort da, der Herr Kommerzienrath, und was es dann für Scenen zwiſchen ihnen gegeben hat, davon weiß auch Niemand zu erzählen als ich. Wie haben ſie in Güte und in Gewalt an ihm gezerrt und gezogen, daß er mit ihnen kommen ſollte! Als wenn es bei Dem jemals der Welt Pracht und Herr¬ lichkeit gethan hätte! Sein Behagen hat er wie alle anderen Leute durch ſein Leben haben wollen, aber nur auf ſeine eigene kurioſe Art, und ſo hat er es zuletzt nur bei der Fechtmeiſterin Feucht finden können. Und der Herrgott hat ihm Gnade dazu geſchenkt; eigentlich ſo recht krank iſt er gar nicht geweſen; ſein Herz hat nicht mehr gewollt, haben dem Herrn Kommerzienrath ſeine Doktoren geſagt. Er iſt auch gar nicht weiter von Fleiſch gefallen, ſondern im Gegentheil. Er ſchob es auf ſeine Füße, daß er lieber lag als ging; aber die hätten wohl auch ausgehalten, wenn das dumme Herz gewollt hätte. Das hatte aber Alles, Alles aufgegeben und ſo auch ſeine Füße. 300Sehen Sie, Herr Oberregierungsrath, an meinem armen Velten habe ich erſt als Neunzigjährige gelernt, daß es eine Dummheit iſt, wenn man ſagt: der Menſch braucht nur zu wollen. Dieſer wilde Menſch konnte nicht mehr wollen, und ſo hätte ihn auch Schweſter Leonie mit dem beſten Willen nicht wieder auf die Füße ſtellen und in den Tumult draußen in unſerer Dorotheenſtraße ſtoßen können, ſelbſt wenn ſie gewollt hätte! Aber wenn Eine auch ſchon aus dem Menſchenlärm heraus iſt, ſo iſt das meine Leonie, meine Leonie des Beaux! Sie iſt zuerſt mit ihrem Bruder gekommen; aber dann auch allein. — Oh, wenn ich an die alte Zeit in dem alten Vorder¬ hauſe denke, wie ſchön ſie war, ich meine meine Leonie, und wie ſchön ſie ſpielte und ihre alten franzöſiſchen Lieder ſang und Alles mitten in dieſem Berlin wie ein fremdländiſches Märchen war — oh! ... Aber nun war dies jetzt noch tauſendmal mehr wie aus einer andern Welt heraus, als wie das Frühere. Stellen Sie ſie ſich nur vor, die Beiden, gerade die Beiden, die ſo wieder aus ihren jungen Tagen und Phantaſien ſich ſo wieder bei der Fechtmeiſterin Feucht zuſammenfinden mußten und nichts mehr um ſich und in ſich von der Erde Herrlichkeit und was ſonſt der Menſch zu ſeinem Wohlbehagen und ſeiner Freude als ſein Eigenthum um ſich feſthält und für es301 nicht bloß mit dem Schläger, ſondern auch mit Mund, Hand und Herzen auf die Menſur tritt! Sehen Sie, Herr Oberregierungsrath, nacherzählen kann ich es nicht, aber verſtanden und mitgefühlt habe ich, was da im letzten Monat zwiſchen dieſen zwei Menſchenkindern vorgegangen iſt. Zuſammen hätten Die nie kommen können, aber ſich darüber ausſprechen, wie ſie durchs Leben gekommen ſind, das konnten ſie und das haben ſie gethan und ſind friedlich und ruhig voneinander geſchieden — ganz ruhig, viel, viel ruhiger als damals im Vorderhauſe, wo ſie das Leben noch vor ſich hatten. Aber — großer Gott, das iſt ja vollſtändig Nacht, und die arme Frau da drüben hat noch immer kein Licht! “
Völlig Nacht war es wohl noch nicht; aber volle Abenddämmerung freilich.
„ Bitte, gehen Sie jetzt hinüber; ich komme mit der Lampe nach, “ſagte die Frau Fechtmeiſterin, und zögernd, bangend erhob ich mich, betäubt, mühſam nach Athem ringend ſtand ich und ſuchte vergeblich nach irgend etwas in mir, was mir den wunderlich ſchweren, ſchreckenvollen Weg zu der Thür da drüben302 leichter und lichter machen konnte. Es giebt ſo Augenblicke, Zeiten, Umſtände im Menſchenleben, wo man es vollkommen vergeſſen hat, daß ſich in der Welt im Grunde nachher „ Alles von ſelber macht “.
Wie iſt eben jetzt, da ich dieſes bei offenem Fenſter und Frühlingsſonnenſchein an einem geſchäfts¬ loſen Feiertagsmorgen zu den Akten des Vogelſangs bringe, dem alten Gemeinplatz wieder ſein volles Recht geworden! —
Der Frühlingsanfang fällt immer in den Monat März, aber in dieſem Jahr ſind auch die hohen Oſtern hineingefallen. Ich ſchreibe am Morgen des erſten Oſtertages, und über das Nachbardach ſieht mir noch immer, unverdaut, die höchſte Kuppe des Oſterbergs auf den Schreibtiſch. In der Frühlingsſonne liegt der liebe Hügel ſchon, auf dem wir unſere glücklichſten und ahnungsvollſten Jugendträume träumten und die Sterne fallen ſahen, noch einige Wochen und das junge Buchengrün wird von dem Oſterberge herüber¬ leuchten: wie ſich auch das immer wieder von ſelber macht!
Aber was hilft es dem Menſchen in ſeinem einzelnen Bedrängniß, daß Himmel und Erde jung bleiben und ſein Geſchlecht auch? Gegenwärtig blendet mich über meinem Protokoll der Glanz von303 Himmel und Erde, und ich muß dagegen mit der Linken die Augen verdecken, wenn die Rechte die Feder weiter führen ſoll. „ Kind, erſt nach der Kirche! “hat meine Frau glücklicherweiſe vorwurfsvoll zu meiner muſikaliſchen Älteſten geſagt: ich würde ſonſt mich auch wohl ſelber gegen den Flügel und die junge Frühlingsluſt in Tönen im zu nahe ge¬ legenen Nebengemach haben wehren müſſen. —
Von ſelber hatte es ſich trotz meines innerlichſten ſchaudernden Widerſtrebens gemacht, daß ich in dem Gemache ſtand, wo Velten Andres geſtorben war und Helene Trotzendorff auf ſeiner leeren Bett¬ ſtatt ſaß.
Helene Trotzendorff! Unſere Elly aus dem Vogelſang — verwittwete Miſtreß Mungo — unſere Helene. Mit den Ellenbogen auf den Knieen und dem Kopf in den Händen, im letzten grauen Tages¬ licht des Monats November — die Öde um ſich her — eigenthumlos, beſitzesmüde in der Welt, ſie, die in New York zu den reichſten Bürgerinnen der Vereinigten Staaten gerechnet wurde!
„ Ellen! “
„ Biſt Du das, Karl? “fragte ſie, das Geſicht langſam aus den Händen erhebend.
Wie viele Jahre waren es her, daß wir unſere Stimmen nicht mehr gehört hatten? Und wie ſie304 nun aus dem langen Zeitraum ſich ſo fremd und doch ſo bekannt entgegenklangen!
Sie richtete ſich auf zu ſtattlicher Höhe. In der Erinnerung hatte ich ſie, wenn nicht klein, doch von nur mittlerem Wuchs und zierlich gelenkig. Alle Hügel, Büſche, Mauern, ja auch Bäume um den Oſterberg herum konnten ja davon berichten, wie ſie ſich durchzuwinden, zu ſpringen und zu klettern wußte. Nun ſtand ſie in dem letzten grauen Licht des Novembertages ſo ganz anders als Die, auf welche ich mich die letzten Tage vorbereitet hatte, um ihr hilfreiche Hand in einem großen Schmerz zu leiſten. Später bei Tageslicht würde ich wohl geſehen haben, daß ſie noch immer eine ſchöne Frau war, trotz dem Silber, in das ſich ihr goldenes Haar verwandelt hatte, doch das geht zu den Akten wie ſo manches Andere von geringer Bedeutung. Als die Frau Fechtmeiſterin jetzt mit der Lampe kam, ſah ich auch auf ihrer weißen, klugen, vom Alter nur leicht gefurchten Stirn das Wort geſchrieben:
Sie reichte mir jetzt erſt die eine Hand her, dann auch die andere, und über die Schulter nach dem leeren Bett zurückblickend ſagte ſie:
305„ Wie gut von Dir, daß Du auf meinen Brief ſo raſch durch Dein Kommen geantwortet haſt. Ich hätte Dich gern früher hier gehabt, aber — er wollte es nicht. Eure gute Leonie und mich hat er ſich um ſich gefallen laſſen müſſen, wohl oder übel. Da habe ich, da haben wir auch unſern Willen gehabt! Sie, eure Leonie, iſt nun wohl ſchon wieder in ihren Frieden heimgekehrt; aber ich — ich habe noch nicht wieder gehen können. Ja, Karl, ich habe hier ge¬ ſeſſen und auf Dich gewartet, um Dir von uns zu ſprechen — von ihm und mir, und wenn es auch nur wäre, um einen beſſern Platz in Deinem Gedächtniß zu bekommen, als ich ihn bis jetzt gehabt habe, ſeit er Dir zuletzt bei euch — im Vogelſang von mir geſprochen hat. “
Nun hätte ich ihr ſagen müſſen, wie wenig von ihr zwiſchen uns die Rede geweſen war in der Zeit, da Velten Andres mit ſeinem Eigenthum in der Heimath aufräumte; aber die Frau Fechtmeiſterin ließ mir glücklicherweiſe nicht die Zeit.
„ Ja, ſprechen Sie ſich nur aus, armes, liebes Frauchen; der Herr Oberregierungsrath iſt immer ein guter Zuhörer geweſen, “ſagte ſie und fügte kopf¬ ſchüttelnd bei: „ Wo die Leute aus ſo verſchiedenen Welten kommen wie jetzt bei mir, da muß man jaW. Raabe. Die Akten des Vogelſangs. 20306wohl für Jeden ein anderes Wort haben. Fräulein Leonie — “
Miſtreß Mungo fuhr mit einem ſo wilden Schulterzucken auf, daß die Alte nur noch einmal den Kopf ſchüttelte, die Lampe ein wenig weiter in die Mitte des Tiſches rückte und — Helene Trotzen¬ dorff und Karl Krumhardt mit Velten Andres allein ließ. —
„ Er wollte nichts mehr um ſich haben, der ver¬ rückte Menſch, “hatte mir vorhin die Frau Fecht¬ meiſterin noch mitgetheilt. „ Nichts weiter brauche er, als einen Tiſch, einen Stuhl und ein Bett. Du lieber Gott, als ob hier jemals bei meinem jungen Volk vom Überflüſſigen hätte die Rede ſein können! Er aber ſchob Alles und Jedes von ſich ab und mir vor die Thür. Ja, ſehen Sie ſich nur drüben um. Um ein feſtes Herz zu kriegen, hat er ſich zu einem Thier, zu einem Hund gemacht; — ſehen Sie ſich nur bei ihm um, Herr Oberregierungsrath. “
Das that ich nun bei dem trüben Licht der kleinen Lampe und empfand nichts von einer Be¬ freiung von der Schwere des Erdendaſeins in dieſer Leere, ſondern im Gegentheil, den Druck der Materie ſchwerer denn je auf der Seele. Ich hätte freier geathmet im Staube, der aus hundert Fächern die Wände uns verenget, unter dem Trödel, der mit307 tauſendfachem Tand in dieſer Mottenwelt uns dränget. Die Luft entging mir, und es war mir eine Er¬ löſung aus traumhaft wüſtem Bann, als mich doch noch eine Menſchenſtimme anſprach, und die Freundin, unſere Freundin, ſagte:
„ Laß uns niederſitzen, lieber Karl; “und mit hartem Lächeln hinzufügte: „ erzählend trübe Mär vom Tod der Könige. “
Sie ſprach das Dichterwort engliſch: „ Let us sit upon the ground, and tell sad stories of the death of kings, “und als ich nach dem Stuhl griff, ließ ſie ſich wieder auf der eiſernen Bettſtatt nieder, von der ſie ſich bei meinem Eintritt erhoben hatte, und deutete auf den Platz ihr zur Seite:
„ Dahin, mein Freund! Erinnerſt Du Dich wohl noch der Bank auf dem Oſterberge, von welcher aus wir vor hundert Jahren einmal die Sterne fallen ſahen und die Götter verſuchten, indem wir unſere Wünſche und Hoffnungen damit verknüpften? “
Sie wartete meine Antwort nicht ab, ſondern fuhr haſtig fort, als fürchte ſie ſogar, durch eine Zwiſchenrede in ihrem wilden Drange, ihrer Seele Luft zu machen, aufgehalten zu werden:
„ Seht, “(ſie ſprach, als ob Velten noch wie damals zwiſchen uns ſitze), „ ich hätte mir lieber die Zunge abgebiſſen, als ganz wahr davon geſprochen,20 *308wie ich mir mein Lebensglück dachte. Und ihr kanntet das ja auch zur Genüge; meine arme Mutter hat gut dazu geholfen, und ich kannte euer Grinſen und Lachen. Das war euer albernes Jungensrecht, und er vor Allem hat Gebrauch davon gemacht — nicht bloß im Vogelſang und auf dem Oſterberge, ſondern auch im großen Leben, drüben in Amerika, in London, in Paris und Rom, wo mir nachher einander ge¬ troffen haben! Und wir haben einander wieder ge¬ troffen, Karl. Wie wir uns ſträuben mochten, wir mußten einander ſuchen — bis in den Tod, bis auf dieſes harte Bett, in allem Sturm und Sonnenſchein des Daſeins bis hinein in dieſen Novemberabend. Das war noch ſtärker als er, und er hielt ſich für ſehr ſtark; ich aber kenne ihn in ſeiner Schwäche. Da er ſich nicht anders gegen mich wehren konnte und mich überall in ſeinem Leben, in ſeinen Gedanken und Träumen und in ſeinem Thun fand, da er mich nicht aus ſeinem Eigenthum an der Welt los wurde, mußte er ja allem Beſitz entſagen, alles Eigenthum von ſich ſtoßen und hat — doch vergeblich — den Vers dort an die Wand geſchrieben! Es war ja auch nur ein thörichter Knabe, der mit ſeinem leichtbewegten Herzen zuerſt in jenen nichtigen Worten Schutz vor ſich ſelber ſuchte! “
Sie wies auf die ärmlich weißgetünchte309 Wand, auf die letzte Spur von Velten Andres 'Erdenwanderſchaft; dann nahm ſie das Geſicht in beide Hände und ſenkte das Haupt tiefer, und ein Froſtſchauer ſchien ihr über den Nacken zu laufen. Nun griff ſie nach meiner Hand und drückte ſie zu¬ ſammen, daß ſie ſchmerzte:
„ Sprich nicht zu mir, Karl! Was könnteſt Du ſagen? Laß mich ſprechen! Wen habe ich denn auf der ganzen weiten Erde, zu dem ich von mir reden könnte? Ich, die ich die ganze weite Erde zum Eigen¬ thum habe und nur die mit Gold gefüllte Hand hinzuhalten brauche, um meinen Willen zu haben, wie ich ihn auf dem Oſterberg in mein Herz deſto zorniger verſchloß, weil ihr ſchon zuviel davon wußtet! Wäre ich doch wie Andere, die ſich damit tröſten können und es auch thun, daß ſie verkauft worden ſeien, daß es von Vater und Mutter her ſei, wenn ſie gleich wie Andere auf dem Markte der Welt eine Waare geweſen ſind! Aber das wäre eine Lüge, und gelogen habe ich nie, und feige bin ich auch nicht, und wenn er was von mir wußte, war es das. Was ich geworden bin, iſt aus mir ſelber, nicht von meiner armen Mutter her und noch weniger von meinem Vater. In unſerm Vogelſang unter unſerm Oſterberge war ich dieſelbe, die ich jetzt war, wo ich hier lag vor dieſem Bett und ihn mit meinen310 Armen umſchloſſen hielt und auf ſeine letzten Worte wartete. Da ſtrich er mir mit ſeiner Hand noch einmal über die Stirn und lächelte: ‚ Du biſt doch mein gutes Mädchen!‘ Das war auch wie in unſeren Wäldern zu Hauſe, wo er mich mit dem Worte tauſendmal zum Küſſen und Kratzen, zu Thränen und zum Fußaufſtampfen brachte. Was wußte eure weiche, fromme Leonie von ihm und mir? Deine liebe Frau zu Hauſe, in Deinem lieben Hauſe, Karl, könnte da vielleicht noch mehr von uns wiſſen, denn die lebt nicht allein im Traum, ſondern hat Dich und ihre Kinder und nicht bloß die Geſchichte ihrer Väter von vor Jahrhunderten und ihr Reich Gottes von heute. Was hatte dieſe Fromme, Milde, Sanfte ſich zwiſchen mich und ihn zu drängen? Was wollte ſie hier? Ich, ich, ich, die Wittwe Mungo hatte allein das Recht, in dieſem leeren Raum mit ihm den Kampf bis zum Ende zu ringen. Auch ihn zu begraben hatte ich keinen von euch nöthig, auch euren Herrn Leon nicht, obgleich ich mir deſſen Freundlich¬ keit gefallen laſſen habe. Was hattet ihr ihm in ſeinen letzten Tagen und Stunden hinſprechen können, was ihm den alten Glanz in ſeinen Augen feſtgehalten hätte? Lache nicht über meine greiſen Haare, über das verrückte alte Frauenzimmer. Vor zwei Jahren war ich, ich, die Wittwe Mungo, mit meiner Jacht311 von Brindiſi nach Alexandrien gekommen und er als Dolmetſcher auf einem Pilgerſchiff durch den Suez¬ kanal von Dſcheddah; da haben wir uns auch ge¬ troffen im Hotel an der Wirthstafel. Was wißt ihr hier im Land von uns Beiden? Damals hat auch er mich ſeine alte Nilſchlange genannt — oh, ich habe ſeinetwegen mir ja die ganze Gelehrſamkeit von Pough¬ keepſie zuſammentragen müſſen in mein armes Hirn: ſie waren auch in unſerm Alter, der Mark Anton und ſeine ägyptiſche Königin. Sie waren auch alte Leute, er über die Fünfzig hinaus, ſie vierzig Jahre alt, und haben doch ihren Kampf um ſich kämpfen müſſen bis zum Tode, bis ſie beide todt waren. Sie zuletzt! Ja, auch ich lebe noch und habe noch meine ganze Herr¬ lichkeit um mich her und ſie nicht verloren wie die Ägypterin die ihrige bei Aktium. Ja, merkſt Du, ich habe ſeinetwegen Geſchichte und auch Litteraturgeſchichte getrieben. Da iſt noch ein ander Paar aus meinen Büchern. Am achtzehnten Oktober Achtzehnhundert¬ dreizehn hat euer alter Goethe — nicht mehr der junge, der uns den giftigen Vers gab, den Vers, der unſer Leben vergiftet hat! — ja, was wollte ich ſagen? ja, hat euer alter Goethe ſein letztes ſchönes Gedicht gemacht — auf die Eliſabeth von England, die ihrem Liebſten den Kopf abſchlagen laſſen mußte. Das konnte die Wittwe Mungo — nein, das konnte312 Helene Trotzendorff nicht, wie gern ſie ihm auch oft den Fuß auf das Herz, das gefühlloſe Herz geſetzt haben würde! Sie hat ihm nur die Hand darunter legen dürfen — hier auf ſeinem Sterbebett, in ſeiner Todesſtunde, darunter legen müſſen! Wie konnte ſie anders, die Witwe Mungo, da er ſie nicht er¬ würgt und ſie auch nicht angeſpieen hatte — da der arme Komödiant das elendeſte Gut auf dieſer Erde, das leichtbewegte Herz trotz aller Reime eurer Poeten und aller Sprüche eurer Weiſen in ſeiner Bruſt hatte behalten müſſen, ſo ſüß und ſo bitter wie ich, die arme Komödiantin, das meinige, trotzdem daß ich mit dem Vogelſang und dem Oſterberg auch unſer liebes fürſtliches Reſidenzſchloß im Thal und die ganze Stadt und das halbe Herzogthum aus meinen amerikaniſchen Eiſenbahnen und Silberbergwerken kaufen könnte?! Sein weiſes, thörichtes Haupt in meiner leeren Hand — meiner leeren, leeren be¬ ſitzloſen Hand: oh wie Schade, daß Du kein Vers¬ macher biſt, Du guter Freund Karl, ſonſt ſollteſt Du über Velten Andres 'und Helene Trotzendorffs Sterne, Wege und Schickſale ein Lied machen. Ob Du ein Philoſoph biſt, weiß ich nicht; aber daß Du ein kluger, guter, verſtändiger Mann biſt, das weiß ich; und ſo wenn wir jetzt wohl auf Nimmerwieder¬ ſehen von einander ſcheiden, dann gehe heim zu313 Deiner lieben Frau und Deinen lieben Kindern und erzähle den letzteren zu ihrer Warnung von Helene Trotzendorff und Velten Andres und wie ſie frei von allem Erdeneigenthum ein trübſelig Ende nahmen. Schreib in recht nüchterner Proſa, wenn Du es ihnen, der beſſern Dauer wegen, zu Papier bringen willſt, und laß ſie es in Deinem Nachlaß finden, in blauen Pappendeckeln, wie ich ſie immer noch unter Deines guten Vaters Arme ſehe; und da er darauf ſchreiben würde: ‚ Zu den Akten des Vogelſangs‘, ſo kannſt Du das ihm zu Ehren auch thun, ehe Du ſie in Dein Hausarchiv ſchiebſt — ein wenig abſeits von Deinen eigenſten Familienpapieren. “— — —
Dieſe Blätter beweiſen es, daß ich — diesmal ein wenn auch treuer, doch wunderlicher Protokoll¬ führer — nach ihrem Willen gethan habe, doch ab¬ ſeits von meinen und der Meinigen Lebensdokumenten werden ſie nicht zu liegen kommen. Die Akten des Vogelſangs bilden ein Ganzes, von dem ich und mein Haus ebenſowenig zu trennen ſind, wie die eiſerne Bettſtelle bei der Frau Fechtmeiſterin Feucht, und314 die Reichthümer der armen Miſtreß Mungo. Der Menſchheit Daſein auf der Erde baut ſich immer von Neuem auf, doch nicht von dem äußerſten Umkreis her, ſondern ſtets aus der Mitte. In unſerem deutſchen Volke weiß man das auch eigentlich im Grunde gar nicht anders.
So habe ich wenig mehr zu der Sache beizu¬ bringen. —
„ Du ſollteſt mit mir nach Hauſe kommen, He¬ lene, “ſagte ich wieder, nachdem wir von unſerem trau¬ rigen Sitz aufgeſtanden waren. „ Wenigſtens für einige Zeit. In meiner Frau würdeſt Du eine liebe Freundin finden, und auch die Kinder würden Dir nicht mi߬ fallen. Laß uns nicht ſo, laß uns nicht hier ſcheiden. Komm zu uns, komm mit mir in die alte Heimath und erwarte dort den Frühling! Die Bank auf dem Oſterberge ſteht noch, und wir ſollten da noch einmal zuſammen ſitzen in der Abendſonne und die Wälder, die Hügel, das Thal, die Welt und den Vogelſang auch noch einmal zu uns reden und uns rathen laſſen auf der wankenden Erde. Glaubſt Du nicht, daß ſie auch Dir eine andere Sprache ſprechen werden, als dieſe dunklen Wände und der nichtige Spruch dort, dem kein Menſch weniger Folge gegeben hat, als ſein Verfaſſer? “
Sie hat den Kopf geſchüttelt, die arme reiche315 Frau, die Wittwe Mungo, wie ſeiner Zeit Velten in ſeinem thür - und fenſterloſen Hauſe im Vogelſang.
„ Laß mich, beſter Freund, “ſagte ſie. „ Was ſollte die Wittwe Mungo bei Deinen lieben Kindern und Deiner guten Anna? Ich wollte Dich ja auch nicht bei ſeinem Begräbniß haben, Karl. Frage die alte Frau da draußen, wie glücklich ich hier — jetzt — in meinem Beſitz, meinem Eigenthum, meinem Reichthum in der Welt geweſen bin. Was hätte die Heilige, die Franzöſin, eure — ſeine Leonie ihm noch in ſein todtes, taubes Ohr flüſtern können? Aber ich, ich habe das gekonnt, nachdem ich ihm die Augen zugedrückt hatte und ihn im Arm hielt, die Nacht durch. Ich habe ihm viel zu erzählen gehabt, wie es mir ergangen iſt im Leben, ſeit dem Abend, an welchem er in meines Vaters Hauſe das Blatt aus dem Buche riß, und da hat er mir vergeben; denn weißt Du, wie er jetzt gelächelt hat in ſeinem be¬ friedigten Willen, das hat aus meinem wilden, albernen, kranken Hirn das Lächeln verſcheucht, mit dem er mir in New York das Blatt hinhielt: Sei gefühllos! Siehſt Du, das — ſein Geſicht, ſein gutes Lachen eine Stunde nach ſeinem Tode, das gehört nun mir für alle Zeit, mein einziges Eigen¬ thum für alle Zeit. So mein Eigenthum, daß auch Niemand mit mir nur darüber reden ſoll, und des¬316 halb kann ich auch mit Dir nicht nach Hauſe gehen; die Heimath würde mir und ihm nur zu verwirrend dreinreden und mir an meinem einzigen Beſitz auf Erden zerren und zupfen. Auch die Berge und Thäler der Heimath würden ſich nur zwiſchen uns, zwiſchen Velten Andres und Helene Trotzendorff drängen. Ich kann ſie nicht wiederſehen, und ſie ſollen mir ſein Geſicht ſo laſſen, wie ich vorgeſtern das Tuch darüber gedeckt habe. “—
Da habe ich es auch ihr, wie ſeiner Zeit Velten gegenüber, aufgeben müſſen, die im Alltage Fremd¬ gewordene in mein Haus einzuladen als lieben und kranken Gaſt; ſie aber hat die Frau Fechtmeiſterin Feucht geküßt und ihr weinend den Kopf auf die Schulter gelegt und geſchluchzt:
„ Mutter, daß Du nicht mit mir kommen wirſt, das weiß ich; alſo ſieh, damit man uns, Dich und mich, nie von hier austreiben könne, habe ich dieſes Haus gekauft, Deines lieben Stübchens und dieſer vier Wände wegen. Euer Freund, Herr Leon, iſt mir auch dabei behilflich geweſen, lieber Krumhardt. Sie mögen wohnen bleiben und ihr Leben und ihre Geſchäfte treiben da draußen, der Gaſſe zu; was kümmert uns das?! Aber hier ſoll Niemand weiter ein Recht haben, als die Frau Fechtmeiſterin Feucht und Helene Trotzendorff. Ich werde wohl noch oft317 und weit in die Welt hinaus müſſen, ihr Guten; aber wo ich auch ſein mag, will ich die Sicherheit dieſes meines Eigenthums haben; denn nicht wahr Mutter, Du läßt mir dieſen Raum und duldeſt nicht daß ſie die Worte da an der Wand übertünchen! Und wenn ich zu Dir komme, nimmſt Du mich auf wie — ihn? “
„ Aber Kind, ich bin neunzig Jahre alt — “
„ Wenn ich nicht zu Dir komme wie Velten Andres, und Du haſt mich nöthig wie er Dich, ſo merke ich das und erfahre es, wo ich auch ſein mag. Fürs Erſte gehe ich ja auch nicht weit von hier weg. Laß es ſo ſein, wie ich ſage! “— — — — — —
Nun ſchritten wir durch die menſchenvollen Gaſſen der Stadt, die Wittwe Mungo und ich. Um uns her ſchienen ſie wirklich noch ein anderes heftiges, leidenſchaftliches Intereſſe an dem Beſitz und Eigenthum der Erde zu nehmen. Ich weiß es in der That nicht, um was für ein ſtaatliches, politiſches, ſoziales Problem es ſich unter den Leuten handelte, welche Menſchen¬ verſammlung einberufen oder auseinandergetrieben worden war, und über welche Frage man wieder mal nicht einig hatte werden können. Namen von Führern im Gezerr klangen um uns her — ſehr berühmt für den Tag, ſehr zeitungsgerecht — mit Wuth, Hohn, Spott oder jubelndem Beifall aus¬318 geſprochen oder herausgeſchrieen. Es handelte ſich ſicherlich um hohe Dinge; aber wie viele Leute gab es da in dem Gedränge, die der Wittwe Mungo höflich Platz gemacht haben würden, wenn ſie gewußt hätten, wer die Frau in Trauerkleidung an meinem Arm war, und über welche Mittel ſie verfügte, den Neid der Menſchheit zu erregen und Menſchen glück¬ lich zu machen!
Sie wohnte natürlich im berühmteſten Gaſthauſe der Stadt, und ich brachte ſie bis zu deſſen Thür:
„ Was thun wir weiter mit der Nacht? “fragte ſie in dem Lichterglanz, inmitten der herbeieilenden Dienerſchaft. „ Willſt Du noch ein Stündchen mit heraufkommen, und ſollen wir noch ein wenig von anderen Sachen plaudern? Unſere Geſandtin hat mir heute Morgen geſchrieben und mich dringend ge¬ beten, den heutigen Abend bei ihr nicht zu ver¬ ſäumen. Willſt Du mich dahin begleiten? Wir werden ſehr willkommen ſein, und Mr. Irving, der berühmte Komödiant, iſt aus London inkognito hier. Willſt Du den Monolog: To be or not to be von ihm hören? Der Herr wird mir einer Tournee drüben bei uns zuliebe gewiß gern den Gefallen thun. “
„ Lebe wohl, Helene. Laß uns Beide dazu thun, daß wir einander noch einmal wiederſehen, gefeſteter in uns auf der wankenden Erde. “
319„ Können wir das? Ja, ſo lebe wohl für heute, mein Freund, mein Freund, und habe Dank dafür, daß Du zu mir gekommen biſt. Ich wußte keinen Anderen, den ich rufen konnte! “
So haben wir wieder Abſchied von einander genommen. Ob für immer, wer kann's ſagen? Ich hätte nun noch auch diesmal Freund Leon aufſuchen können in Berlin, aber ich wußte es ja, daß ich die Schweſter Leonie nicht mehr bei ihm finden würde. Es war mir wirklich unmöglich, ſeinem Lebensbehagen jetzt die rechte Theilnahme entgegenzubringen, ſeine Wera ſingen, ſeine Viktoria Klavier ſpielen zu hören und mit ihm den Erben der Troubadourharfe, der Albigenſerlanze und des Hugenottenſchwerts der Ahnen, ſeinen braven Friedrich vom Kadettenhauſe zu Lichterfelde durch alle möglichen neuen kriegeriſchen Ehren der Familie bis zu dem Prädikat Excellenz zu begleiten.
Eine ſchlafloſe Nacht in meinem Gaſthauſe; dann der Morgen und die Heimfahrt: — Trüber Tag. Feld! — Die Wälder, Felder, Dörfer, Städte und die Bahn¬ höfe mit ihrem Getreide im triefenden November¬ regen und Nebel. Am Spätnachmittag vom Regen und Nebel gleichfalls verhangen, der Oſterberg und — ein erſtes Aufathmen!
Das Haus, die Frau und die Kinder! ... Und320 ſo gegen Mitternacht am warmen Ofen, in allem Be¬ hagen Leon des Beaux ', Annas Seufzer:
„ Mein Gott, und ſie weiß gar nichts mit ihren ungezählten Millionen anzufangen? “
„ O doch! Sie hat Land und Meer um den Erd¬ ball zur Verfügung. Sie baut Paläſte, Krankenhäuſer, kauft Bücher, Bilder, Bildſäulen, unterſtützt — “
„ Aber das iſt doch gar nichts! Das ändert an ihr und an der Welt nichts. Ach, ich ſollte an ihrer Stelle ſein! “
„ Du? “fragte ich geſpannt. „ Was wollteſt Du denn mit ihrem vielen Gelde beginnen? “
„ Nun — ich habe doch meine Kinder?! “— — — — — — — — — — — —
Es iſt ein lichtgrüner, ſchöner Frühlingstag, an welchem ich dieſes zu Papier bringe. Ich könnte auf dem Blatte den ſpäteſten Nachkommen noch einmal mit hinaufnehmen auf die Bank im Sonnenſchein von heute auf dem Oſterberge; aber ich ſchließe: > Die Akten des Vogelſangs.
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