PRIMS Full-text transcription (HTML)
Die Alpen in Natur - und Lebensbildern.
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Und habe ich ein Lied gemacht Das voller klingt und freier, Es klingt von Eurer Gluth entfacht Ihr Alpen, Euch zur Feier. Und iſt es arm und reizentblößt, Iſts, wie Ihr ſelbſt, noch nicht erlöſt't: Ich ſang, wie mir's der Gott beſchied, Der überm Schnee ſein heiſ'res Lied Dem Adler gab und Geier. (L. Seeger. )
[I]
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[II][III]
Die Alpen in Natur - und Lebensbildern.
Mit 16 Illuſtrationen und einem Titelbilde in Tondruck nach Originalzeichnungen von Emil Rittmeyer.
Leipzig,Hermann Coſtenoble.St. Gallen, Zürich, Scheitlin's Buchhandlung. 1861.Meyer & Zeller.
[IV][V]

Herrn Iwan von Tſchudi gewidmet vom Verfaſſer.

[VI][VII]

Inhalts-Verzeichniß.

  • Seite
  • Das Alpengebäude. 1
  • Granit. 19
  • Erratiſche Blöcke. 27
  • Karrenfelder. 33
  • Nagelfluh. 39
  • Der Goldauer Bergſturz. (Mit Illuſtration.) 45
  • Der Bannwald. (Mit Illuſtration.) 65
  • Die Wettertanne. (Mit Illuſtration.) 81
  • Legföhren. (Mit Illuſtration.) 89
  • Die Alpenroſe. 97
  • Südliche Alpenthäler. 105
  • Kaſtanienwald. (Mit Illuſtration.) 111
  • Eine Nebel-Novelle. 119
  • Nebelbilder. 131
  • Wetterſchießen. 135
  • Hoch-Gewitter. 139
  • Der Waſſerfall. 147
  • Der Schneeſturm im Gebirge. 165
  • Rother Schnee. 177
  • Die Rüfe. 183
  • Die Lauine. (Mit Illuſtration.) 195
  • Der Gletſcher. (Mit Illuſtration.) 213
  • Alpenglühen. 239
  • Alpenſpitzen. (Mit Illuſtration.) 247
  • Berg-Straßen und Alpen-Päſſe. (Mit Illuſtration.) 287
  • Die Hospitien. 315
  • VIIISeite
  • Sennenleben in den Alpen. (Mit Illuſtration.) 331
  • Das Alpenhorn353
  • Der Geißbub. (Mit Illuſtration.) 361
  • Der Wildheuer. (Mit Illuſtration.) 373
  • Alpſtubeten oder Aelplerfeſt. (Mit Illuſtration.) 385
  • Holzſchläger und Flößer. (Mit Illuſtration.) 397
  • Auf der Jagd. (Mit Illuſtration.) 409
  • Dorfleben im Gebirge. (Mit Illuſtration.) 425
Verzeichniß der Illuſtrationen.
  • Titelblatt. 1. Alpenſpitze. 247
  • 2. Alpenſtraße. 287
  • 3. Alpſtubeten oder Aelplerfest. 385
  • 4. Auf der Gemſenjagd. 409
  • 5. Bannwald. 65
  • 6. Begräbniß. 425
  • 7. Bergſturz. 45
  • 8. Edelkaſtanie. 111
  • 9. Geißbub. 361
  • 10. Gletſcher. 213
  • 11. Holzflößer. 397
  • 12. Lauinen-Ausgrabung. 195
  • 13. Legföhren. 89
  • 14. Wettertanne. 81
  • 15. Wildheuer. 373
  • 16. Wildkirchli. 331
[1]

Das Alpengebäude.

Die Natur
Vermag nicht unter ähnlicher Geſtalt
Den Fortgenuß der Dinge zu gewähren.
Sie wechſelt ihre Formen, und ſie läßt
Des Einen Bild in andre übergehen,
Doch mit Verſchiedenheit von Geiſt und Kraft.
So wächſt der unermeßne Reichthum auf,
Und ewig zeigt ſich eine andere,
Und doch dieſelbe Welt.
Knebel.

Die Alpen ſind einer der großartigſten Beweiſe von der Majeſtät der Schöpfungsgewalt.

Staunt der denkende Menſch ſchon alle die Wunder und erhabenen Zeugniſſe der erſchaffenden, erhaltenden und auflöſenden Kraft in der Natur an, welche täglich, ſtündlich vor ſeinem ſehen¬ den Auge, nach einem großen gemeinſamen Organiſationsgeſetze Neues geſtaltet, Exiſtirendes bewegt und belebt, Verbrauchtes, Vollendetes wieder dem Urquell der Materie oder einer neuen Beſtimmung im großen Kreislaufe der Schöpfung zuführt und ihm einen Maßſtab für die nimmer raſtende, Alles ergreifende, Alles umfaſſende Thätigkeit des wollenden, ordnenden, Alles durch¬Berlepſch, die Alpen. 12Das Alpengebäude. dringenden und vollbringenden großen Geiſtes im Univerſum giebt, dann wird er tief ergriffen, erſchüttert vor jenem impoſanten Rieſenbau der Alpen ſtehen, der von Gewalten emporgerichtet wurde, für deren materielles Entſtehen und Wirken die Naturwiſſenſchaften zwar allgemeine, aus den Erſcheinungen gewonnene Normen auf¬ ſtellen und ihr Verhältniß zu anderen Naturgeſetzen nachweiſen, deren ganze Aufgabe, Ausdehnung und Gränzen im Weltall das menſchliche Ergründen und Erkennen aber nur zu ahnen vermag.

Nur wenige Menſchen kennen die wirkliche und volle Ma¬ jeſtät des Alpengebäudes. Sie entſchleiert ſich da am Aller¬ wenigſten, wo die breiten Heerſtraßen über Joche und Bergſättel laufen, oder wo das kleinliche Treiben des alltäglichen Verkehrs¬ lebens an die Fußſchemel dieſes Schöpfungswunders ſich heran¬ gewagt hat. In die Geheimniſſe der verborgenen Gebirgswelt mußt Du hineindringen, in die Einſamkeit der ſcheinbar ver¬ ſchloſſenen Schluchten und Thaltiefen, wo der Kulturtrieb des Menſchen ohnmächtig ermattet, weil er die Schwäche ſeines Stre¬ bens gegenüber der Erhabenheit der Alpennatur erkennt, über Urwelt-Getrümmer mußt Du klimmen, durch Gletſcherlabyrinthe und Eiswüſten in das Tempelheiligthum eingehen, welches ſich dort vor Deinem erbangenden Blicke frei und kühn in den Aether empor¬ wölbt. Da wird ſie Dir entgegentreten die unbeſchreiblich hohe Pracht der Alpenwelt in ihrer ganzen Herrlichkeit und Größe, da wirds mit Geiſterſtimmen Dich mächtig umrauſchen, und über¬ wältiget wirſt Du niederſinken vor dieſen verkörperten Gottesge¬ danken. Und haſt Du Dich dann aufgerafft von dem erſten gewaltigen Eindrucke, haſt Du im Anſchauen der gigantiſchen Maſſen das Herz Dir ausgeweitet und empfänglich gemacht für noch größere und herrlichere Offenbarungen, dann richte kühn eine Frage an jene Mauſoleen urvordenklicher Zeiten, dann forſche, welche Hand ſie emporgehoben hat aus der Tiefe ewiger Nacht in das Reich des Lichtes, dann ſchlage die Geſchichte ihrer3Das Alpengebäude. Schöpfungstage in den Felſenblättern dieſer verſteinerten Welt¬ chronik nach und erforſche ihren Exiſtenzzweck; und die großen todten Maſſen werden ſich beleben, es wird ſich Dir ein Blick erſchließen in den unendlichen Kreislauf der Ewigkeit.

Gedankenvoll, verſtandvoll iſt die Schöpfung,
Ein großes Herz, das Wärm 'in alle Adern,
In alle Nerven Gluth der Fühlung gießt
Und ſich in Allem fühlet.
Herder.

In weit geſtrecktem Halbbogen durchziehen die Alpen das ſüdliche Europa, ein Glied jenes koloſſalen Erdrippen-Baues, der den, ins mittelländiſche Meer hinausragenden Landzungen der Iberiſchen, Italieniſchen und Osmaniſch-Helleniſchen Halbinſeln als Pyrenäen, Apennin, Tſchar-Dagh und Hämus ihren inneren Halt giebt. Sie ſind Reſultate und Gebilde viel hunderttauſend¬ jähriger Kryſtalliſationen und Niederſchläge aus einſtigen Ur¬ meeren. In verſchiedenen Epochen erfolgten dann Hebungen und Senkungen, abermalige Ueberfluthungen und neue Ablagerungen, und endlich durchbrachen feuerflüſſige Produkte aus den Schmelz¬ öfen des Erdinneren dieſe vielfach übereinander lagernden Schichten,

Wer Zeuge jener Umwälzungen und Ausbrüche hätte ſein kön¬ nen, als in den Central-Alpen der eigentlichſte, innere Kern des rieſigen Berggebäudes, die Granite, Gneiſe und kryſtalliniſchen Schiefer aus den Tiefen der Erdrinde emporgedrängt, von den ſtrahlend aufſchießenden Maſſen der hornblendartigen Geſtein¬ durchbohrt und in Fächerform aufgerichtet wurden? Wie ohne mächtig möchten die Momente des wildeſten Natur-Aufruhrs die wir kennen, wie unbedeutend Erdbeben und Meeresſturm, Vulkan-Ausbruch und Felſenſturz der Jetztzeit gegen jene Kata¬ ſtrophen erſcheinen, welche dem Alpengebäude ſeine gegenwärtige Geſtalt gaben? Wie hat unſer Verſtand ſo ganz und gar keinen1*4Das Alpengebäude. Anhaltepunkt, um einen nur einigermaßen entſprechenden Begriff für jene welterſchütternden Epochen zu bilden? Vertauſendfachten wir den furchtbarſten Aufruhr des wildeſten Gewitters, welches die geſteigerte Phantaſie auszumalen im Stande iſt, dächten wir uns alle Feuerſchlünde der zur Kriegsführung der Völker auf Er¬ den exiſtirenden Geſchütze auf einer Stelle verſammelt, auf ein Kommandowort losgebrannt wie nichtig würden ſie immerhin noch im Verhältniß zu jenen Momenten ſein, in welchen die noch Milliarden und abermals Milliarden von Kubikklaſtern feſter Ge¬ ſteine der Central-Alpen aus ihren Fugen geriſſen zerbarſten, und zerſprengt, himmelhoch aufgerichtet oder übereinander geworfen wurden?

zur Zeit, als noch ein Flammenbrand
Gen Himmel lohte aus der Berge Kuppen,
Als ſich in Schmerz die Erde kreiſend wand.
Formlos geballt lag ſie in wilden Gruppen;
In Fluthendrang und durch der Flamme Kraft
Sollt 'ſie verklärt, ein Phönix, ſich entpuppen.
Und Alles, was ſie ſchuf, war rieſenhaft.

Es hat die größte Wahrſcheinlichkeit für ſich, daß die meiſten der erdgeſtaltenden Vorgänge langſam, ſehr langſam ſich ent¬ wickelt haben mögen. Denn zuverläſſig iſt der Härtezuſtand der Geſteine während der großen Revolutionsperioden ein viel minder ſpröder, weniger erfeſteter geweſen, als heute, ſo daß die beiden, jedenfalls am Bedeutſamſten bei der Ergeſtaltung betheiligten Fak¬ toren: die Centrifugal - (oder mechaniſche, durch den Erdumſchwung bedingte Anziehungs-Kraft und die Expanſion (Ausdehnung) durch Gaſe, Dämpfe, Waſſerdruck aus dem Erdinnern, leichter und ſtetiger auf die Geſtaltung einwirken konnten. Aber eben ſo ſicher iſt es auch, daß andere phyſikaliſche Geſetze, wie von Anbeginn der Materie beſtanden, wie z. B. das Geſetz der Schwere, aktive Augenblicke in der äußeren Bildungsgeſchichte des Alpen¬ baues herbeigeführt haben müſſen, die, energiſch in ihren Wirkungen,5Das Alpengebäude. zu dem Furchtbarſten gehören, was der menſchliche Gedanke nur zu erfaſſen vermag. Tauſend Merkmale bezeugen dies bei näherer Betrachtung des Gebirgsreliefs, namentlich die noch heute an pitoresken Formen reichen, ſcharfkantigen Linien und Brüche der Dolomit-Gebirge, die ſich weder abrunden, noch verwitternd zer¬ bröckeln, die abenteuerlichen Zickzack-Ornamente und wunderbar phantaſtiſchen Formenſpiele in den Kalkalpen, ſoweit dieſe nicht durch Firn-Einlagerungen oder Ueberdeckung mittelſt jüngerer Fels¬ gebilde dem Auge entzogen werden, dies bezeugen die großen Thalriſſe und Schluchten, wie die in der Via-Mala, im Tamina¬ thale, in der Trientſchlucht, die ſchlundähnlichen Mündungen der meiſten ſüdlichen Walliſer und Engadiner Seitenthäler, deren beide Thal - oder Schluchtwände heute noch die ineinander paſſenden Bruchflächen (mitunter bis in die kleinſten Details erhalten) zeigen, das beſtätigen die kahlen, im Material-Profil ſich präſentirenden Felſenköpfe, die, ſenkrecht abſinkend, alle übereinander liegenden Schichten dem Blicke preisgeben, während der Pendent, der abge¬ brochene, einſt gegenüberſtehende, nunmehr fehlende, maſſige Gegen - Part in die Tiefen verſunken iſt, wie z. B. am Wallenſee die Wände der Churfirſtenkette, die Felſenfronten des Frohnalpſtockes und Axen am Vierwaldſtätter-See u. a. m.

Betrachten wir dann weiter jene majeſtätiſchen Strebemaſſen, die gleich gigantiſchen Obelisken frei und kühn in die Wolken emporſteigen, Zinken wie das unerklimmbare, ſchneenackte, 13850 Fuß hohe Matterhorn, die blendende Firnpyramide der faſt eben ſo hohen Dent blanche, das neunzinkige Gipfeldiadem des Monte Roſa (von 14200 Fuß Höhe), welche unmöglich in ihrer Pfeiler - Geſtalt, wie wir ſie jetzt ſehen, durch die Erdkruſte aus der Tiefe hervorgeſtoßen ſein können, ſondern nichts als vereinzelt ſtehen¬ gebliebene Ruinen-Reſte des ehemaligen alten Berggebäudes ſind, was für gräßliche Zertrümmerungs-Akte müſſen es geweſen ſein, die jene dazwiſchen nun fehlenden Glieder loſtrennten und wahrſcheinlich6Das Alpengebäude. in die Tiefen, aus denen ſie emporgeſtiegen waren, zurückſinken ließen? denn, daß allmählige Verwitterung dieſe Felſenthürme ſo abgenagt und modellirt habe, dagegen ſprechen eine Menge von Gründen.

In keinem anderen Gebirge Europas liegen Entſtehung, Zer¬ ſtörung und Neugeſtaltung ſo unmittelbar und in ſo markigen Zügen nebeneinander, wie in den Alpen; an Großartigkeit der Formen, an Mannigfaltigkeit der Zerklüftung und Verwerfung der Schichten werden ſie von keinem anderen unſeres Continentes über¬ troffen.

Es ragt die heilige Urſchöpfungszeit,
Von Felſenzacken eine Rieſenwelt,
Ein wildes Urgebirge weit und breit,
In ſtarrer Pracht zum blauen Himmelszelt.
(K. Beck.)

Aber kein anderes Berggebäude unſeres Erdtheiles vermag auch einen ſolchen Mineralreichthum, eine ſo inſtruktive Skala des Erdbildungsprozeſſes aufzuweiſen, wie die Alpen. Freilich werfen Umbiegungen oder gänzlich abnormer Wechſel der Schichten, eingelagerte Sedimentſtreifen in den kryſtalliniſchen Geſteinen und widerſtreitende Stratificationen dem Geologen oft faſt unlösbare Räthſel in den Weg und öffnen ihm Thor und Thür zu den abenteuerlichſten Hypotheſen.

Um ſich ein annähernd richtiges Bild von der inneren Kon¬ ſtruktion, von dem Material-Bau, von der geognoſtiſchen Auf¬ einanderfolge der Geſteinsarten in den Alpen zu machen, denke man ſich, daß ein einſtiges Urmeer durch unbeſtimmbar lange Schöpfungs - und Erdgeſtaltungs-Perioden hindurch Schlammſchichten ablagerte, wie wir einen ähnlichen Prozeß im Kleinen heute noch an den Ufern der Flüſſe und nach Ueberſchwemmungen wahrnehmen können. Jede dieſer Perioden verſchlang ganz oder theilweiſe die damals auf den emporgetauchten Inſeln oder Kontinenten, oder in7Das Alpengebäude. den Gewäſſern zur lebensvollen Entwickelung gelangten Thiere und Pflanzen und begrub dieſelben in ihren Ablagerungsſchichten. Ganze Generationen von Organismen, die in unſeren Zeiten nicht mehr exiſtiren, gingen mit ihnen unter. Dieſe eingeſchloſſenen Zeugen der verſchiedenen Epochen organiſchen Lebens (jetzt als Verſteine¬ rungen oder Petrefakten und Pflanzenabdrücke in den Gebirgs¬ ſchichten gefunden) wurden die Erkennungszeichen und Merkmale, nach denen die Wiſſenſchaft der Geologie die Blätter ihrer Schöpfungsgeſchichte ordnet. Die Reihefolge derſelben iſt, wo ſie nicht gewaltſam geſtört wurde, übers ganze Erdenrund die gleiche. Es müſſen alſo die älteren und älteſten Ablagerungen oder Sedi¬ ment-Gebilde zu unterſt und die je ſpäter erfolgten jederzeit dar¬ über liegen. Alſo ſtellt es ſich auch im Alpenlande und in ſeiner Umgebung dar.

Eine Wanderung bergwärts von Süddeutſchland aus führt uns durch die geologiſchen Gebiete aller Hauptepochen und iſt am Beſten geeignet, die Entwickelungselemente und deren Gliederung vorzuführen. Die große bayeriſche Ackerbau-Ebene zwiſchen Donau und Inn, die Flächen von Nürnberg, Ulm, Augsburg, München bis in die Nähe von Paſſau, gehören den jüngſten Ablagerungen oder Alluvial-Gebilden an; überall, wo man durch die fort¬ dauernden Humus-Bildungen einen Spatenſtich ins Erdreich thut, kommt man auf Kiesgruben, Schuttablagerungen oder torfähnliche Unterlagen. Unter dieſen zeigen ſich Diluvial-Gebilde, theils geſchichtete, theils ungeſchichtete Lager von Blöcken, namentlich auch ſogenannte erratiſche Schichten. Steinbrüche ſind ſo ſelten, daß man in den Dorffluren mancher Gegenden hölzerne Grenzſteine ſetzt. Ein Schritt weiter ſüdwärts bringt uns in bergiges Terrain, ins Bayeriſche Hochland, ins Allgäu, an den Bodenſee und in das größte und breiteſte Thal Europas, in das Schwei¬ zeriſche Mittelland (zwiſchen Jura und Alpen), in welchem Zürich, Bern, Freiburg und Lauſanne liegen. Wieſe und Wald wechſelt8Das Alpengebäude. mit agrikolen Diſtrikten, die Gegend wird farbiger, formiger, Bäche und Flüſſe nehmen einen beſchleunigteren Lauf an und ſammeln ſich in tief ausgeſpülten Seebecken an der Vorberge Fuß. Noch bekränzen die rundlich weichſchwellenden Formen der Laubhölzer Anhöhe und Niederung; weithin ſind die Halden mit zerſtreuten Wohnungen überſäet; Dörfer und Städte bergen raſch pulſirendes, haſtig drängendes, nach Erwerb ringendes Leben. Es iſt das Gebiet der Molaſſe-Gebilde, die nach den eingeſchloſſenen Muſcheln ſich theils als Niederſchläge aus ſalzigen Meeresgewäſſern, theils als ſolche aus ſüßen Waſſern ausweiſen und meiſt als blaugraue Sandſteine, Mergel - und Lettenſchichten, Süßwaſſerkalk, Muſchel¬ ſandſtein und große Konglomerat-Bänke Nagelfluh genannt darſtellen. Die Berge dieſer Zone zeigen nur rundliche, hügelhafte Formen; in der Schweiz wachſen dieſe bei etwas entſchiedeneren Linien bis zu einer Hebung von 6000 Fuß an (Speer, Rigi, Napf).

Abermals ein Schritt weiter dem Gebirge zu und in daſſelbe ſchon eintretend, gelangen wir nach Salzburg, Sonthofen, in das öſterreichiſche Vorarlberg, in die Kantone Appenzell, St. Gallen, Glarus, Schwyz, nach Sarnen im Kanton Unterwalden, an den ſchönen Thuner-See. Der Ackerbau verläßt uns immer mehr, die Landſchaft wird entſchieden alpenhaft, der Laubwald zieht ſich zurück und Nadelholzforſte treten an deſſen Stelle; Viehzucht beginnt die vorherrſchende Beſchäftigung des Volkes zu werden. Die leuchtend grellen Farben rother Ziegeldächer und weißbetünchter Häuſer ver¬ ſchwinden allgemach; ſilbergrau auf grün, gebleichte Schindeldächer auf den Holzhäuſern in Mitte ſchwellender Matten treten als charakteriſtiſche Momente hervor. Die Molaſſe-Geſteine verſchwin¬ den; ein anderes Gebilde ſchiebt ſich unter denſelben hervor, das alſo älter iſt und ſich durch das ganze mittägige Europa, tief nach Afrika und Aſien hinein verbreitet zeigt. Es iſt das der Eocen-Bildungen, welche, in Flyſch - und Nummuliten¬9Das Alpengebäude. Geſteine*)Die Bezeichnung Eocen rührt vou einigen in dieſe Geſteinsarten eingeſchloſſenen Organismen (Pflanzenabdrücke, Muſcheln, Thierüberreſte) her, deren Arten in der Gegenwart noch exiſtiren, als Verſteinerungen aber ſich zuerſt in dieſer Formation zeigen. Nummuliten-Gebilde haben ihre Benennung von einer in denſelben in großer Menge vorkommenden verſteinerten, linſenförmigen Muſchel (Nummulites nummularia, vom Gebirgsbauer auch Batzenſteine , Kümmiſteine genannt, welche geſpalten einen ſpiralförmigen Kanal mit einer Unmaſſe von Kämmerchen zeigt. Abbildung in Vogt's Geologie, 2. Aufl., 1. Bd. pag. 626. unterſchieden, bald als Schiefer und Sandſtein, bald als kalkartige Geſteine in reſpektabeln Gebirgsketten und ſchroff abgeriſſenen Felſen-Façaden auftreten. Begreiflich beſteht nicht die ganze Aufgipfelung eines ſolchen Gebirgs-Individuums lediglich aus dieſem Geſtein, ſondern daſſelbe iſt entweder nur das vorherr¬ ſchende, wie in der ſtolzen Bergpyramide des Nieſen (7280 Fuß) am Thunerſee, wo die Flyſchlager eine Durchſchnitts-Dicke von 4500 Fuß erreichen, oder, es iſt das zu oberſt aufliegende, in ſchwindelnde Höhe mit emporgehobene Geſtein wie an der Schrattenfluh im Emmenthal oder an den zackiggebrochenen, ſchein¬ bar in ſich ſelbſt zuſammengeſunkenen Ralligſtöcken und auf dem Niederhorn im Juſtithale (Thuner-See), wo Nummulitenkalk die oberſten Kämme bildet. Auch der Gipfel des ſommerlichen Tou¬ riſtenzieles, das berühmte Faulhorn, iſt rauher ſandiger Schiefer der Flyſchzeit und das verfaulende Geſtein verlieh dem Berge ſeinen Namen. Noch weiter hinauf bis zu 10 und 11 Tauſend Fuß, wurde Flyſch - und Nummuliten-Sand nur auf die äußerſten Kuppen der Glariden und des Tödi gehoben; dort be¬ deckt es wie aufgeſtülpte Hauskäppchen die Silberſcheitel dieſer Berg¬ greiſe, deren gewaltige Körpermaſſe aus, kryſtalliſchen Felsarten (Gneis) beſteht.

Aber es bedarf durchaus nicht der Wanderung auf ſolche Höhen, um das Geſtein kennen zu lernen; auch das Thal birgt es. Jene ſchwarzen immer feuchten Felſenwände der Tamina¬10Das Alpengebäude. Schlucht, in welcher der heiße Sprudel der Pfäferser Heilquelle liegt, das zerbröckelnde Geſtein um Bad Fidris im Prätigau, die nächſte Umgebung des Stachelberger Bades im Glarner Thale ſind Flyſch-Geſteine. Hier ſtehen wir an der Gränze einer der großen Schöpfungsepochen unſeres Erdkörpers; denn mit den Eocen - Gebilden ſchließt ſich die große Hauptgruppe der jüngſten Ab¬ lagerungen, welche der Geologe die Tertiär-Formationen nennt. Alles, was unter ihnen liegt, alle Berge, die alpenwärts vor unſerm Blicke ſich erheben, ſind älter, gehören früheren Zeiten an. Die Wiſſenſchaft rubricirt ſie als Gebilde der Sekundär-For¬ mation. Das ganze Terrain, in welchem dieſe Geſteine ſich zei¬ gen, muß damals, als die Molaſſe-Gebilde abgelagert wur¬ den, ſchon als Feſtland exiſtirt und über das ſ. g. Urmeer herausgeragt haben. Es war viel größer, dieſes Kontinent, als es ſich heute zeigt; die darunter liegende große Gruppe der Kreide - Gebilde hat bei der Hebung der Alpen die Flyſch-Decke an vielen Stellen durchbrochen und zur Seite geworfen. Am Auffallendſten ſieht man es in den Vorarlberger Alpen, ganz beſonders in der Säntis - und Churfirſten-Kette, dann in den Schwyzer Alpen, wo namentlich die Mythenſtöcke bei Schwyz wie durchs Fleiſch hervor¬ geſtoßene Zähne daſtehen, in den Nidwaldner Alpen, am zerzackten Pilatus, an der Schaafmatt, am Scheibengütſch, am Brienzer Rothhorn und an anderen Bergen des Berner Oberlandes. Unter der Bezeichnung Kreide-Formation denke man ſich indeſſen keines¬ weges Felſen von weißer Schreibe-Kreide; die Geologen haben auch hier wieder alle Geſteinsarten, welche die gleichen Verſteine¬ rungen und organiſchen Ueberreſte wie die weiße Schreibe-Kreide einſchließen, alſo der gleichen großen Niederſchlagsepoche ange¬ hören, als eine Formation zuſammengefaßt und nach der Kreide benannt. Sie iſt eins der am Weiteſten auf der Erdoberfläche ver¬ breiteten Gebilde und nimmt z. B. in Nordamerika eine Fläche von 120 Meilen Breite und 300 Meilen Länge ein.

11Das Alpengebäude.

Die Fluhen und Kämme dieſes Geſteines ſind ſchroffer em¬ porgerichtet, kühner, markirter in den Linien als die des Flyſch, maleriſch-zackige Felſen-Façaden oft in überraſchend ſchöner Detailzeichnung. Alle jene großartigen Uferdekorationen am wilden Wallenſee, am Vierwaldſtätter - und Brienzer-See mit ihren Pfeilerarkaden und Winkelvorſprüngen, ihren Niſchen und Eckſäulen, deren Gruppirung und Gegenwirkung eine landſchaftlich ſo bezau¬ berndſchöne iſt, gehören der Kreide-Formation an. Da zeigen ſich ſchon ausgeprägte Alpenformen in grotesken Maſſen, gleichſam vor¬ geſchobene Poſten der impoſanten Gipfel-Armee, welche im Rücken derſelben ihr Lager aufgeſchlagen hat. Selten erreichen die Kreide¬ felſen die Höhe der Schneegränze, alſo 7000 bis 8000 Fuß. Aber auch in dieſer Formation unterſcheidet die Wiſſenſchaft in den Alpen wieder vier Geſteinsarten. Die unterſte derſelben iſt der Spa¬ tangenkalk oder Neocomien, ſo genannt von Neocomum oder Neuchâtel, in welcher Gegend er hauptſächlich entwickelt iſt; auf ihm lagert der Rudiſten - oder Caprotinenkalk, von dem in der Schilderung der Karrenfelder Weiteres zu finden iſt; über dieſem wieder der Gault, ein an Verſteinerungen ſehr reicher Sandſtein, und obenauf endlich als jüngſtes Gebilde der Seewerkalk.

In einer großen Strecke der Berner Alpen, namentlich zwi¬ ſchen Rhône und Aar, iſt die Kreideformation gänzlich verſchwun¬ den und ein noch älteres Geſtein, der an Petrefakten ſehr reiche Jurakalk, erſetzt deren Stelle. Hier treten wir ins Hochgebirge ein; wir ſtehen auf der unterſten Stufe der treppenförmig an¬ ſteigenden großen Alpenthäler. Durch jede Lücke der erhabenen Strebemaſſen leuchten Firnfelder und überſchneite Hochkulme her¬ nieder, von ihnen brauſen jäh über die Felſenwände die zu Schaumflocken zerſtäubenden Waſſerfälle herab, die bald in ge¬ ſchloſſenen, vollen, breiten Garben zu Thal ſtürzen wie die Fälle des Reichenbaches und Giesbaches, oder in funkelnden Waſſerſtaub12Das[Alpengebäude]. aufgelöſt, wehenden Schleiern gleich herniederwallen wie der Oltſchi¬ bach, Staubbach und alle die anderen des Lauterbrunner-Thales. Das Volksleben entfaltet ſich nicht mehr in reichen Dörfergruppen weit zerſtreut über Halde und Höhe, hinunter ins Thalbett, an die Ufer der Ströme, da wo Weg und Steg Kommunikation bie¬ ten und die Wohnung geſchützt iſt gegen klimatiſche Unbilden, hat es ſich geflüchtet, und nur im Sommer wandern die Bewohner mit ihrem Vieh nomadiſch auf die Hochweiden der Alpen. Die Gebirge-aufrichtenden, Alpen-geſtaltenden Kräfte haben hier gewal¬ tig und energiſch gewirkt; man ſieht es, daß man den centralen Erhebungskratern ſich nähert. Wie ein Ringgebirge mit ſchroffem, innerem Abſturz den centralen vulkaniſchen Herd umgiebt, ſo kehrt die erſte, zuweilen auch eine zweite, dritte Kalkkette dem Granit¬ gebirge ſteile, oft hoch in die Schneeregion aufſteigende Felſen¬ wände zu. Stets fallen die Schichten der Kalkalpen nach Außen zu, ein Beweis, wie dieſe Decke gewaltſam bei der Bildung der Alpen von den aus der Erdtiefe aufgeſtiegenen Granitmaſſen zer¬ ſprengt und in ſchiefe Richtung gebracht wurde.

Als dieſe Gebirge noch nicht in ihren heutigen wilden, kühnen Formen daſtanden, als die Kalkfelſen nur flache, zerſtreut aus dem vorweltlichen Meere hervorragende Eilande bildeten, da muß eine Rieſenvegetation auf denſelben gewuchert haben, und gräuliche Ungeheuer belebten die Tiefen. Im Grund begraben wird hier, dort gefunden Vergangner Pflanzen ſteingewordne Spur; Gebein von Thierart, die vorlängſt entſchwunden, Die abgelegten Kleider der Natur. Und wollt ihr dann in ſtaunenden Gedanken Die Gliedermaſſen euch zuſammenfügen, Sinds Rieſen, überragend alle Schranken, Ihr ſchaut Urwelt in großen Schreckenszügen. ((Lenau.) )Es iſt die einſtige Heimath der Ichthyoſaurier und Pleſioſauren, jener 50 Fuß langen, zwitterhaften, Ungethüme, halb Krokodil, halb Fiſch; es iſt die Fundſtätte der rieſigen Petrefakten, die wir13Das Alpengebäude. als Ammonshörner und Nautilus kennen. Viele Gipfel der Kalklagen gehen weit über die Schneelinie hinaus; das Oldenhorn erreicht 9617 Fuß, das Weißhorn 9272 Fuß, der Urirothstock 9027, die Altels 11,187, die Windgelle 9818 und das Scher¬ horn 10,147 Fuß.

In den öſtlichen Alpen, wo in der äußeren Konfiguration des Gebirges mehr die Plateaubildung vorherrſcht, vertreten die noch älteren Trias-Dolomite und Keuper, ſo wie die Lias-Geſteine die Stelle der Jura-Kalke.

Wir ſind an der Grenzlinie der neptuniſchen Niederſchläge angelangt; wir treten in das Gebiet der, wahrſcheinlich zu den älteſten Rindengeſteinen der Erde gehörenden Schichten, in die Schiefer-Alpen, welche die, aus dem Erd-Innern aufgeſtiegenen, granitiſchen Kernmaſſen umkleiden oder theilweiſe ganz in dieſelben übergehen. Da überraſcht den vom Norden kommenden Alpen¬ wanderer eine auffallende Erſcheinung. Bisher nahm er wahr, daß alle Felſenſchichten, deren Lagerungsprofile er in den Thal¬ wänden oft ſehr deutlich erkennen konnte, meiſt ſchräg gegen das Flachland hin, abfallen, unverkennbar ſo: als ob ſie durch die Alpen emporgehoben und in dieſe ſchiefe Lage gebracht worden ſeien. Jetzt mit einemmal zeigt ſich die entgegengeſetzte Erſchei¬ nung. Unter den ungeheueren Kalk-Koloſſen, deren ſchräg gen Norden oder Nordweſt einſinkende Schichten ſich bis in die Wolken erheben, wachſen plötzlich Strebepfeiler empor, welche im rechten Winkel jene zu ſtützen ſcheinen. Das ſehen wir, wenn wir vom Genferſee durchs Rhône-Thal ins Wallis einwandern, an dem zackigen Kalk-Dome der Dent du Midi bei Evionaz, oder wenn wir vom freundlichen Brienz durchs Haslithal nach dem Grimſel-Hospiz aufſteigen, dort, hinter dem Quer-Riegel des Kirchet , in der maleriſchen Thal-Mulde Im Grund , wo das Urbach - und Mühle-Thal münden, oder noch auffallender auf der Gotthards-Straße, hinter Altorf bei der Klus , und weiter14Das Alpengebäude. nach Amſteg zu, wo deutlich die nach Norden abfallenden Kalk¬ ſchichten auf dem ſteil gen Süden einſinkenden Gneismaſſen la¬ gern. Hier alſo begegnen wir den erſten ſichtbaren Spuren jener furchtbaren Hebel, welche das ganze große, herrliche Alpengebäude mittel - oder unmittelbar aufrichteten. Die Schieferdecke iſt auf un¬ geheuere Strecken hin zerſprengt, zerriſſen, verworfen, mit empor¬ gehoben, umgebogen oder durch die Feuereinwirkungen in ihren Grundſtoffen verwandelt. Nur in Savoyen in einem Theile des Arve-Thales, in Piemont in den Thalgebieten der obern Iſère und der Dora-Baltea, im ſüdlichen Wallis und in vielen Theilen der Graubündner Alpen, beſonders auch im Unter-Engadin, haben die als graue, grüne und Belemniten-Schiefer bekannten Ge¬ ſteinskörper noch Zuſammenhang behalten und bilden rieſige Ge¬ birgsketten. Wo aber die kryſtalliniſchen Centralmaſſen als: Alpengranit, Protogin, Gneis und Glimmerſchiefer durchgebrochen ſind und alles vorhanden Geweſene zur Seite geworfen haben, da ſtreben ſie in ſenkrechter Stellung wie Glieder koloſſaler Fächer empor.

Es ſind die weithin ſichtbaren Oberhäupter des ſtillen, erha¬ benen Alpenreiches, die in ernſter Majeſtät ganz Central-Europa beherrſchend überſchauen, von deren Giganten-Schultern der firnſtrahlende Regenten-Mantel mit den Gletſcher-Schleppen herab¬ wallt; es ſind die rieſigen Gipfel des wie aus der Ewigkeit ſtammenden Montblanc (14,800 Fuß), des mit neunzinkiger Krone geſchmückten Monte Roſa (14,284 F.), der noch unerſtiegenen großartigſten Gebirgspyramide des Matterhornes (13,900 F.), der wilden Miſchabelhörner (14,032 F.), des in unvergleichlicher Pracht aufragenden Weißhornes (13,900 F.), der kühn dräuenden Felſen - Lanzen eines Finſteraarhornes (13,160 F.), und der jähen Schreck¬ hörner (12,568 F.), des einſamen Adula - oder Vogelberges (10,454 F.), des Gletſcher-umpanzerten Piz Bernina (12,475 F.), der Silvretta (10,516 F.), der Ortles-Spitz (12,030 F.) und des Groß-Glockners in Tyrol (12,185 F.).

15Das Alpengebäude.
O, du biſt ſchön, erhabner Rieſendom,
Wenn dich der Himmel freudig überblaut,
Der Sonnenaufgang einen Strahlenſtrom
Auf deine ſtarren Augenlider thaut.
K. Beck.

Alle von der Phantaſie erſchaffene Größe muß im Vergleich mit den Alpen klein erſcheinen ſagt Bonſtetten. Und in der That, es kann auf dem europäiſchen Kontinente wohl kaum einen gewaltigeren, erſchütternderen Anblick geben als den, von geeigne¬ tem Standpunkte in der Berner Alpenkette aus (z. B. von der Höhe der Gemmi, oder vom Torrenthorn ob Leuk, oder beim Wild¬ horn am Rawyl-Paß), auf die ſüdlich gegenüberliegenden Walliſer - Alpen. Es iſt ein Panorama von unbeſchreiblicher Erhabenheit, von faſt grauenhafter Pracht. Die großen geſpaltenen Seitenthäler des Wallis erſcheinen ſo ſchreckhaft ernſt und dräuend, ſie tauchen in ihrer, durch die ſchwarzgrünen Nadelwälder geſtimmten finſteren Färbung ſo urthümlich und ſagenhaft-düſter im Mittelgrunde auf und kontraſtiren ſo ſchaurig gegen die ſie überragenden, blendend weißen Firn-Façaden, daß mancher entſchloſſene Berggänger nach dieſem Eindruck ſich beſinnen würde dieſelben zu betreten. Und doch iſt gerade in ihren Tiefen das großartigſte Naturſchauſpiel verborgen. Der Hintergrund des Zermatter - oder Nicolaithales und des Einfiſchthales werden von keinem anderen Alpthale an Majeſtät übertroffen, ſelbſt nicht von dem berühmten Chamouny.

Die gianitiſchen Centralmaſſen ſind aber durch ſpätere Er¬ ſchütterungen und Kataſtrophen wieder ſo entſetzlich zerſpalten und umgeſtaltet, in neue Gruppen getrennt und in ihrer ganzen Kon¬ figuration verändert worden, daß nur der ordnende Scharfblick des Geologen deren einſtigen wahrſcheinlichen Zuſammenhang wieder¬ herzuſtellen vermag. Unberechenbare chemiſche Umwandelungen ein¬ zelner Partieen, namentlich in den Schiefergebirgen, haben ſtatt¬ gefunden. Hitze-Einwirkung, Dämpfe, Gas - und Säure-Durch¬ dringung, Zertrümmerung und durch Miſchung entſtandene Neu¬ bildung haben meilengroße Alpen-Parzellen in neue Geſteine16Das Alpengebäude. verwandelt, wohin namentlich die Verrucano-Gebilde gehören. Mächtige Gypsadern durchziehen, als ſpätere chemiſche Verbin¬ dungen, die kryſtalliniſchen Maſſen, und hornblendartige Ge¬ ſteine ſteigen als Erruptiv-Garben, wie Schlote aus der Unter¬ welt, im innerſten Kern der centralen Stöcke auf, in den höchſten Spitzen derſelben zu Tage tretend. Dieſes chemiſch-zerſetzende, all¬ mählig auflöſende, neue Prozeſſe vorbereitende Laboratorium im Erd-Innern, als deren Sicherheits-Ventile Alexander v. Humboldt die Vulkane bezeichnet, arbeitet auch unter dem Alpen-Maſſiv noch immer fort. Beweiſe dafür liefern die zahlreichen kohlenſauern Gasquellen, die vielen Sauerbrunnen, die, giftige und ſtickſtoff¬ haltige Dünſte ausathmenden, gefährlichen Mofetten im Engadin und manche andere Erſcheinungen.

Nicht durch den ganzen von Südweſt gen Nordoſt laufenden Alpenwall zeigt ſich an der nördlichen Abdachung die gleiche, vom jüngeren zum älteren Gebilde regelmäßig fortſchreitende Geſteins¬ folge, wie wir ſie auf den letzten Seiten ſkizzirten; gar häufig er¬ ſcheint dieſelbe unterbrochen oder gar auf den Kopf geſtellt. Dies iſt namentlich der Fall in dem großen, wie es ſcheint nach Innen eingeſtürzten, jetzt von den Schienen der Eiſenbahn durchſchnitte¬ nen Alpenkeſſel zwiſchen dem Glärniſch, den Churfirſten und dem Kalanda; dort zeigen ſich die älteren Schichten den jüngeren auf¬ gelagert, ſo daß hier eine der größten Umwälzungen ſtattgefunden haben mag. Ringsum an den genannten Bergen beſtätigen die abgebrochenen Schichtenköpfe die Annahme eines umfangreichen Einſturzes der Gebirge; die Verrucano-Maſſen treten hier als ſchöne rothe Melſer Konglomerate und Sernf-Schiefer dicht an die Eiſenbahn heran.

Ganz anders geſtaltet ſich das Alpenbild von einem ſüdlichen Standpunkte aus. Der Abſturz der Maſſen iſt viel ſchroffer, un¬ vermittelter, als vom Norden geſehen. Die Bergfronten zeigen ſich einerſeits durch ihre gen Mittag gekehrte Lage und durch die17Das Alpengebäude. kräftigere Inſolation viel weiter hinauf ſchneefrei, blos das kahle, nackte Felſen-Skelett darbietend, anderſeits fehlen vielfach die bunt belebten Mittelgründe, die abgeſtuften, farbenheiteren Vor¬ berge. Oben iſts eintöniger in Linie und Kolorit. Der geologiſche Schichtenwechſel und die durch dieſen indirekt herbeigeführte Man¬ nigfaltigkeit und landſchaftliche Beweglichkeit mangelt. Den Nord¬ abhang umfängt längs der ganzen Kalkalpen, vom Jura bis nach Ungarn hinein, ein Gürtel lachender, blauer Binnenſeen; am Süd¬ hang drängen ſich deren nur wenige im Gebiet der See-Alpen zu¬ ſammen. Die Grajiſchen, Cottiſchen und Meer-Alpen im Weſten und die Tyroler, Carniſchen und Noriſchen Alpen im Oſten, ent¬ behren, mit Ausnahme einiger ſehr kleiner Waſſerbecken, gänzlich dieſes belebenden Schmuckes. Der Grund dieſer auffallenden Ver¬ ſchiedenheit liegt auch hier wieder in der Geſteinsart des Bodens. An die kryſtalliniſchen und Schiefer-Gebilde der Weſtlichen Alpen gränzt unmittelbar die jüngſte Alluvial-Anſchwemmung Sardiniens und der Lombardei. Erſt in Venetien treten wieder Kalk-Berge als Mittelglieder zwiſchen den beiden genannten Formationen auf.

Die Erhebung, des Alpengebäudes und des mittelbar durch dieſes zugleich mitgehobenen Jura war ferner zugleich eine Noth¬ wendigkeit für die Kulturentwickelung Central-Europas. Ohne dieſe Gebirgsmaſſen würden die meteorologiſchen und alle davon abhängigen Zuſtände unſeres Erdtheiles weſentlich andere ſein. Ohne Alpen wären zunächſt Deutſchland und die Niederlande den austrocknenden, zerſtörenden Einflüſſen heißer, aus den afrikani¬ ſchen Wüſten herüberwehender Winde blosgelegt. Der Föhn, eine Fortſetzung des ſüdlichen Sirocco, der in den Hochalpenthälern mit furchtbarer Raſerei tobt, würde unaufgehalten, ungebrochen und ungeſchwächt in ſeiner hohen Temperatur über Deutſchland einherbrauſen und die Agrikultur ganz anderen als den jetzt herr¬ ſchenden Bedingungen unterſtellen. Umgekehrt dagegen würde die, nur unter den Einflüſſen milder Lüfte gedeihende ſüdliche VegetationBerlepſch, die Alpen. 218Das Alpengebäude. der reichgeſegneten Po-Ebene durch eindringende, jetzt von den Alpen aufgehaltene, winterliche Nordſtürme zur Unmöglichkeit wer¬ den. Es würde ſomit der klimatiſche Wechſel bezüglich der herr¬ ſchenden Temperaturverhältniſſe ſchon ein bedeutend anderer ſein.

Hiermit geſtaltete ſich aber auch die Thätigkeit der Wolken¬ bildungen und dadurch zugleich die Summe der atmoſphäriſchen Niederſchläge anders. Das Alpengebiet, in welchem relativ die jährlich größte Regen - und Schneemenge in Europa niederfällt, iſt der unverſiegbare Waſſerlieferant für die Rhein -, Donau -, Rhône - und Po-Länder; ohne die reichhaltigen Schneemagazine im Hochgebirge würden dieſe Ströme mit ihren tauſendfach ver¬ zweigten Quellenſyſtemen zu unbedeutenden Waſſeradern herab¬ ſinken. Alle jene natürlichen Verkehrsſtraßen, welche die Flüſſe Jahrtauſende lang bildeten, ehe der Schienenweg ſie überflügelte, würden nicht zu ihrer hiſtoriſchen Bedeutung für Handel und Ge¬ werbe gelangt ſein.

Das Alpengebäude ſchließt einen unerſchöpflichen Reichthum von Naturwundern ein. Kein anderes Gebirge Europas umfaßt ſo wie die Alpen die Flora dreier Zonen: die nordiſch-arktiſche und gemäßigte reichen der tropiſchen die Hand und wir finden Reprä¬ ſentanten der Vegetation von mehr als dreißig geographiſchen Breitegraden auf kleinem Raume. In keinem anderen Gebirge unſeres Erdtheils tritt das Walten der atmoſphäriſchen Thätigkeit in ſo furchtbarer Größe und unter ſo gewaltigen Kraftäußerungen auf; und in keinem zeigt ſich die Summe der Gegenſätze im Leben ſeiner Bewohner ſo auffallend als im Alpenlande. Einzelne Bil¬ der von allen dieſen Berührungspunkten zu geben, ſei Aufgabe nachſtehender Blätter.

[19]

Granit.

Was uranfänglich iſt, das iſt auch unanfänglich
Und Unanfängliches nothwendig unvergänglich.
Was irgend wo und wann hat ſelber angefangen.
Kann nicht der Anfang ſein und muß ein End 'erlangen.
Der Anfang nur allein kann nie zu Ende gehn,
Weil er aus Nichts entſtand, Nichts ohn' ihn kann entſtehn.
(Rückert. )

Granit iſt eine ſymboliſche Größe, in Gemeinſchaft mit dem Marmor der hiſtoriſche Stein. Wie im Thierreich der Löwe, ein Repräſentant edler Eigenſchaften, phyſiſcher Kraft, als König in herrſchender Macht daſteht, in der Pflanzenwelt die Eiche ein Bild der Feſtigkeit und Ausdauer, des ſtolzen Trotzes gegen Sturm und Wetter abgiebt, ſo gilt der Granit als das Un¬ überwindliche, Unveränderliche im Reiche der todten, anorganiſchen Geſteine, nach beſchränktem materiellen Begriff: als ein Körper der beinahe ewigen Exiſtenz. Jahrtauſende ſcheinen ſpurlos an ihm vorüberzurauſchen und die zerſtörenden Gewalten der Zeit ohnmäch¬ tig an ſeinen Maſſen abzugleiten. Wo Werke für die fernſten Menſchengeſchlechter, ſichtbare Denkſäulen für die Annalen der Ge¬ ſchichte errichtet werden ſollten, wo ägyptiſche Dynaſten ihre koloſſalen Königsgräber in jenen Pyramiden aufthürmten, die, an2*20Granit. dem Felſenufer der Wüſte hinlaufend, noch heute als die rieſigſten Arbeiten menſchlicher Kraft angeſtaunt werden, da griff der kühne Bauherr zum granitiſchen Geſtein und glaubte der zeitlichen Hinfälligkeit alles von Menſchenhand Geſchaffenen ein Schnippchen geſchlagen zu haben. Ja, die früheren Forſcher in den Natur¬ wiſſenſchaften konſtruirten vom Granit aus das Fundament unſeres Erdballes, ſahen in ihm den Urgroßpapa, den Ahnherrn des ge¬ ſammten Mineralreiches und nannten ihn naiverweiſe Urgeſtein . Und doch iſt auch er nur ein Interpunktionszeichen in den Welt¬ ſchöpfungsperioden, ein unbedeutender Sekundenſtrich auf dem Zifferblatt der Ewigkeit, etwas Gewordenes , das einſt wieder eben ſo in das All aufgelöſt wird, wie es aus demſelben hervorging.

Granit iſt im Touriſtenverkehr, im Munde begeiſterter Alpen¬ ſchwärmer ein großes, viel umfaſſendes Wort, ein unbewußt ge¬ brauchtes Nomen collectivum, unter dem der Laie Alles zuſam¬ menfaßt, was ihm ſo ſcheint, als müſſe es das berühmte Geſtein der Ehrenſäulen und Triumphbogen ſein. Es giebt viel intelli¬ gente Leute, die, wenn ſie in den Alpen ſchwarz und weiß ge¬ ſprenkelte Felſen ſehen, dieſe rundweg für Granit halten; und doch kommt in den Alpen verhältnißmäßig wenig eigentlicher maſſiger Granit vor, wohl aber ſehr viel granitiſches Geſtein. Werden wir alſo zunächſt klar darüber, was eigentlich Granit (von granum, das Korn) ſei, und lernen wir deshalb die Natur und die Beſtandtheile deſſelben ein wenig genauer kennen.

Granit und Gneis iſt im Grunde genommen ein und daſſelbe Kompoſitum, ein aus den 3 Mineralſpecies: Feldſpath, Quarz und Glimmer zuſammengeſetztes Geſtein. Iſt daſſelbe körnig, maſſig¬ gemengt, ſo wird es Granit genannt; iſts dagegen ſchieferig, geſtreift, läßt ſich eine gewiſſe Schichtung darin erkennen, ſo heißt es Gneis .

Der Granit iſt kein Konglomerat, kein durch mechaniſche Bindemittel zuſammengeleimtes Produkt urſprünglich verſchieden¬21Granit. artiger Mineralſubſtanzen; er iſt ein ſelbſteigenes Gebilde, welches die einſt, im flüſſigen Zuſtande gemiſchten, verſchiedenartigen mine¬ raliſchen Species durch Kryſtalliſation nebeneinander ausſchied. Ein zwar nicht ganz treffendes, aber doch annähernd erläuterndes Beiſpiel von dem wahrſcheinlichen Kryſtalliſationsprozeß des Gra¬ nites läßt ſich aus der Chemie geben. Jedermann kann dies kleine Experiment probiren. Kochſalz und Salpeter gemeinſchaftlich in Waſſer, bis zur Sättigung, aufgelöſt, ſo daß beide Salze völlig vermiſcht erſcheinen, kryſtalliſiren, wenn die Flüſſigkeit allmälig verdunſtet, ſich ausſcheidend wieder ſelbſtſtändig: das Kochſalz in rechtwinkeligen Würfeln, der Salpeter in langen ſechsſeitigen Säul¬ chen, ſo daß jedes der beiden Salze wieder die demſelben aus¬ ſchließlichen Eigenſchaften zeigt.

Feldſpath, meiſt milchweiß oder gräulich, auch röthlich, ſtellt die Hauptmaſſe, beinahe die Hälfte des eigentlichen maſſiven Gra¬ nites dar, zwiſchen welchem weiße, ſeltener gelblich oder grünlich gefärbte kryſtalliniſche, glasartig durchſichtige Quarzkörnchen die Grundmaſſe bilden und dünne, glänzende Glimmerplättchen einge¬ lagert ſind. Dieſe normale Zuſammenſetzung weicht aber an den verſchiedenen Fundorten ſehr von einander ab. Wer eine Badekur zu St. Moriz im Ober-Engadin macht, kann bei jedem Spazier¬ gange gleich einige Varietäten am Wege ſammeln; denn der Ber¬ nina-Granit iſt grün, ſerpentinhaltig, während der vom gegenüber¬ liegenden Piz Languard rothen Feldſpath mit milchweißem Quarz enthält. Noch auffallender iſt der Farbenunterſchied des Granits am Lago maggiore; der von Baveno, gegenüber den Borromäiſchen Inſeln, iſt ſchön pfirſichblüthenroth, während der berühmte ſ. g. Miarolo bianco aus den Brüchen des ganz nahe dabei liegenden Monte Orfano weiß iſt und wie ein gänzlich anderes Geſtein aus¬ ſieht. Der Letztgenannte gab das Baumaterial zu vielen der ſchön¬ ſten Kirchen Nord-Italiens ab; namentlich ſind auch die herrlichen Säulen am Eingange des Mailänder Domes aus dieſem Geſtein22Granit. gearbeitet. Fehlt der charakteriſtiſche glitzernde Glimmer in der Maſſe und iſt derſelbe durch ſchwarze oder ſchwärzlich-grüne Horn¬ blende vertreten, dann heißt das Geſtein nicht mehr Granit, ſon¬ dern Syenit . Es iſt über alle Theile der Erde weit verbreitet, erhielt ſeinen Namen von der Stadt Syene in Ober-Aegypten (wo es in Menge vorkommt) und wird ſeiner Feſtigkeit halber als vor¬ treffliches, politurfähiges Baumaterial ſehr geſchätzt. Die Pyra¬ miden und Obelisken beſteben meiſt aus Syenit. In unſeren Al¬ pen kommt er vorherrſchend auf der Südſeite vor, z. B. im Val Pellina (in welches der Col de Collon aus dem Walliſer Val d'Hérins führt), bei Migiandone an der Symplon-Straße, in der Umgebung von St. Moriz und Campfér im Ober-Engadin ꝛc.

Aber der normale Granit kommt auch mit Zuſätzen vor, die ſeinen Charakter ganz ändern; dahin gehört der vom Montblanc. Bei ihm iſt der Quarz glaſig-grau, der Feldſpath weiß, der Glim¬ mer dunkelgrün ohne Glanz in Prismen kryſtalliſirt und beige¬ miſchte perlmutter-ähnlich glänzende, lebhaft grüne Talk-Blättchen geben ihm eine charakteriſtiſche Färbung. De Sauſſure, einer der geiſtvollen Begründer der Alpen-Geologie, glaubte als er den Montblanc zuerſt umwanderte und beſtieg, vor dem älteſten Ge¬ birge der Erde zu ſtehen und nannte deshalb das Geſtein Pro¬ togin , d. h. Erſtgeborener. Seit jener Zeit iſt, obgleich un¬ eigentlich, der Name für den Talkgranit beibehalten worden.

Das Meiſte, was in den Central-Alpen für Granit gehalten wird, iſt granitiſcher Gneis, im Volksmunde Gaisberger genannt, weil die höchſten Berge, auf welche die Gaiſen (Ziegen) ſteigen, aus dieſem Geſtein beſtehen. Er iſts, an dem die At¬ moſphärilien jene phantaſtiſch aufragenden Felſenthürme ausſägen und bildneriſch Ornamente improviſiren, welche, im Chamouny - Thal in ſcharfe Spitzen auslaufend, ſehr bezeichnend Aiguilles genannt werden; aus ſeinem ſ. g. Urmaterial formen ſich die wunderſamen Steinſtacheln, welche die Aufgipfelung großer Berg¬23Granit. individuen garniren, oder wie ausgeſtellte Wachtpoſten hie und da aus den umfangreichen Firnwüſten hervorragen. Wir würden ſol¬ cher ſchlanker Felſennadeln noch weit mehr erblicken, wenn nicht eine große Zahl derſelben im perennirenden Schnee verſteckt wäre. Hier verräth ſich uns die verwundbare Achillesferſe der für unzer¬ ſtörbar gehaltenen Urgeſteine . Der Gneis iſt, wie ſchon be¬ merkt, ſchiefriger, tafelförmiger Struktur. Bei der Alpenerhebung wurden auch die Gneisſtraten gehoben und als nächſte Umhüllung der centralen Granitmaſſen oft ſenkrecht auf die Bruchkante geſtellt. Die Maſſe muß nun an verſchiedenen Stellen von verſchiedener Härte geweſen ſein, genug, während einzelne Theile wie un¬ angetaſtet den verwitternden Einwirkungen widerſtanden, wurden andere von den Atmoſphärilien dermaßen zerſetzt, ausgenagt und zerſtört, daß ſie gänzlich verſchwanden und nur jene iſolirten Zacken zurückblieben. Beiſpiele im Großen liefern die Aiguille verte, die ſchlanke Aig. de Dru, die Aig. du Moine, die ungemein zerſplit¬ terten Aiguilles de Charmoz, die Aig. Rouges alle zu beiden Seiten des Chamounythales, die Schreckhörner und Grindelwalder Vieſcherhörner in den Berner Alpen, die ganze ſüdliche Thal¬ wand des Graubündneriſchen Bergell u. A. m.

Aber noch eine andere Art der Verwitterung granitiſchen Ge¬ ſteines zieht in den Alpen unſere Aufmerkſamkeit auf ſich und zwar in höchſt ſonderbarer Weiſe und an Orten, wo man ſich die Er¬ ſcheinung nicht gleich erklären kann. Dieſe zeigt ſich in den ſ. g. Teufelsmühlen oder Felſenmeeren auf den äußerſten Gipfeln vieler iſolirter Berge. Ein Beiſpiel möge erläuternd für viele gelten. Zu den beſuchteſten Ausſichtspunkten des Berner Oberlandes gehört das Sidelhorn nächſt dem Grimſelpaß. Vom Hospiz aus beſteigt man es bequem in 2 bis Stunden. Je mehr man ſich dem Kulme nähert, deſto mehr häufen ſich große, unordentlich übereinander geworfene Felſentrümmer, bis endlich die äußerſte Höhe ganz mit ſolch einem Chaos von loſe geſchichteten24Granit. granitiſchen Gneisblöcken überſäet iſt. Bisweilen ſcheinen ſie eine gewiſſermaßen gegliederte Lagerung einzunehmen, etwa ſo wie in¬ einander geſtellte Teller; dann wieder an anderen Stellen zeigt ſich ein ziemlich geordneter treppenähnlicher Aufbau; meiſt aber liegen ſie ohne erkennbare Anordnung durcheinander. Dieſe auf Gipfeln jedenfalls auffallende Erſcheinung iſt gleicherweiſe ein Reſultat der Granit-Verwitterung, aber ſolcher Maſſen, in denen mehr oder minder die Schalen-Struktur einſt vorwaltete. Die Gebrüder Schlagintweit bilden im Atlas zu ihren Neuen Unterſuchungen über die phyſikaliſche Geographie und Geologie der Alpen ſolche ausgewaſchene Gneisſchalen ab. Wenn der phantaſiereiche Jean Paul ſich des ſchönen Bildes bedient: Die Gräber ſeien die Bergſpitzen einer fernen neuen Welt, ſo ſind hier in Wirk¬ lichkeit die Bergſpitzen die Gräber einer fernen vergangenen. (G. Studer.)

Die großartigſten und impoſanteſten Koloſſe granitiſcher Ge¬ ſteine finden wir nur in den Centralmaſſen der Alpen. Dort über¬ gipfeln ſie oft in ſo furchtbarer Erhabenheit, als ſenkrecht aufſtei¬ gende Felſenpaläſte, die tiefen Thalkeſſel, daß man vor ihrer Größe zurückſchreckt. Wer noch nie die düſterprächtige Pyramide des Finſteraarhornes vom Abſchwung am Aargletſcher aus er¬ blickte, wie ſie in kaltem Ernſt nackt aus den Firnlagern in die Wolken ſteigt, wer den Montblanc noch nicht auf der Süd-Oſt¬ ſeite umwanderte und die volle, prächtige Kernform ſeines Maſſivs vom Gramont aus, oder vom Zinalgletſcher (in der Tiefe des Einfiſchthales) die rieſigen Felſenſtirnen des Grand Cornier, der Dent blanche und des Weißhornes rund um ſich her mit einem Blick überſah, der wird ſchwerlich einen richtigen idealen Maßſtab für die wahrhaft koloſſalen Verhältniſſe ſich konſtruiren können. Und dennoch werden alle dieſe granitiſchen Giganten dem Ein¬ drucke nach, welchen ſie auf das ſtarr-ſtaunende Auge machen, weit übertroffen von jenem jähpralligen Abſturz, welchen der Monte25Granit. Roſa im Thalſchluß von Macugnaga zeigt. Es iſt die erſte ver¬ tikale Größe des Europäiſchen Kontinentes. Die Madatoren der Kalkzone wie die Diablerets, das Dolden - und Gspaltenhorn, Blümlisalp u. A. zeigen gewaltige Felſenfronten; aber ſie ſchwin¬ den jenen Granitkörpern gegenüber zu Maſſen zweiten Ranges zuſammen.

Wir nannten den Granit den hiſtoriſchen Stein der Erde; für die Alpen iſt er es in mehr als einer Beziehung. Seine ernſten Felſenwände wurden oft Denkſäulen großer Thaten, welche den erhabenſten Momenten des klaſſiſchen Altherthums gleichzuſtel¬ len ſind. Jener unerſchrockene Ruſſe Suworoff, ein moderner Epa¬ minondas, welcher ſich eher zwiſchen den Klüften begraben laſſen wollte, als von der Stelle weichen, ließ, als ſeine Gardekolonnen am 25. Sept. 1799 die Franzoſen unter Gaudin im engen Val Tremola zurückgeſchlagen hatten, mit lakoniſcher Kürze in die Granitwand die Worte Suwarow Victor zu ewigem Gedächtniß eingraben; am nächſten Tage waren die Gneisſchroffen dort, wo die Teufelsbrücke in kühnem Bogen die Sturzwellen der Reuß überbaut, Zeugen eben ſo kühner Heldenthaten. Ueber die grani¬ tiſchen Einöden des großen Sanct Bernhard führte Bonaparte, im Mai 1800, ſeine Armee zum Siege von Marengo, und als die, auf ſein Geheiß, durchbrochene Simplon-Straße, der erſte große Alpenweg, fertig war, ließ er, ſtolz auf ſein Werk, in eine Licht¬ öffnung der Gallerie von Gondo einmeißeln: Aere Italo MDCCCV. Nap. Imp. Auf Granitboden wurde Andreas Hofer, der Sandwirth von Paſſeyr, geboren, und zwiſchen Granit¬ felſen ſchlug er ſeine glorreichen Schlachten zur Befreiung Tyrols. Aber auch weiter zurückgehend in ältere Zeiten begegnen wir Gro߬ thaten, eben ſo körnig und feſt wie das Geſtein, auf dem ſie ge¬ ſchahen. Benedikt Fontana hauchte auf den Gneiskryſtallen der Malſerhaide ſeine Heldenſeele mit den freudigen Worten aus: Nur wacker dran, o Bundesgenoſſen! laßt Euch durch mein26Granit. Fallen nicht irren! Iſts doch nur um Einen Mann zu thun. Heute mögt Ihr freies Vaterland und freie Bünde retten. Werdet Ihr ſieglos, bleibt den Kindern ewiges Joch! Das ſind Worte wie Granit und Urgeſtein; es iſt, als ob von dem Charakter der Felsart etwas ins Blut des Volkes übergegangen wäre. Und dann die gewaltige Decemberſchlacht von 1478 im Livinenthale bei Giornico, wo ein Hirtenhäuflein die zehnfach überlegenen Mailän¬ der unter dem Grafen Borelli aufrieb, daß ihr Blut den Schnee bis Bellinzona roth färbte; dann die Heldengräber der 3000 Eid¬ genoſſen bei Arbedo, die in dem Verzweiflungskampfe von 1422 der Uebermacht von 24,000 Lombarden erlagen; der Walliſer doppelte Bluttaufe bei Ulrichen und auf der Grimſel um 1419, und viele andere Zeugniſſe männlichen Muthes und kühner That, ſind es nicht Erinnerungen, die ſich ihr Denkmal mit Flam¬ menlettern für Menſchengedenken auf die Felſentafeln dieſer grani¬ tiſchen Koloſſe niederſchrieben?

Iſt die Zeit auch hingeflogen,
Die Erinn'rung weichet nie;
Als ein lichter Regenbogen
Steht auf trüben Wolken ſie.
Uhland.

Aber noch mehr erzählt uns der ſtumme Stein, von noch wei¬ ter zurückliegenden Zeiten, von einer Epoche, in welcher die Alpen ſchon, wie wir ſie heute ſehen, aufgerichtet daſtanden, in welcher aber das menſchliche Geſchlecht noch nicht exiſtirte. Dieſe Ge¬ dächtnißſteine ſind die Erratiſchen Blöcke.

[27]

Erratiſche Blöcke.

Da iſt ein Blühen rings, ein Duften, Klingen,
Das um die Wette ſprießt und rauſcht und keimt,
Als gält 'es jetzt, geſchäftig einzubringen,
Was ſtarr im Schlaf Jahrtauſende verſäumt.
Das iſt ein Glänzen rings, ein Funkeln, Schimmern
Der Städt' im Thal, der Häuſer auf den Höh'n!
Kein Ahnen, daß ihr Fundament auf Trümmern,
Kein leiſer Traum des Grabs, auf dem ſie ſtehn!
(Anaſtaſius Grün. )

Ja! ſie ſtehen auf Trümmern, viele Städte des Alpenlandes, auf Blockwällen und Felſenfragmenten, die aus den Centralketten des Gebirges ſtammen. Freilich liegt dieſe Trümmer-Baſis nicht allenthalben offen zu Tage; der Arbeiter, der das Fundament zu einem Neubau ausſticht, oder der Bergmann, der nach einer friſchen Brunnenquelle gräbt, findet ſie erſt in einiger Tiefe der oberſten Bodenſchicht. Aber nicht blos verſteckt im Erdreich, ſondern frei und offen, auf dem Felde und im Walde des Hügellandes, ja ſo¬ gar droben auf den Vorbergen der Alpen und am Jura, bis zu einer Höhe von 5000 Fuß, findet man Felſenblöcke, die der Na¬ tur ihres Geſteines nach, 20 bis ſogar 45 Schweizerſtunden (über 28 deutſche Meilen) weiter drinnen in den Central-Alpen heimath¬28Erratiſche Blöcke. berechtigt ſind. Man nannte ſie deshalb Fündlinge oder Irr¬ blöcke . Sie zeigen theils abgerundete Flächen, wie Rollſteine und Flußkies, theils friſche ſcharfkantige Bruchlinien, als ob ſie eben erſt vom Mutterfelſen abgeſprengt wären, in allen Größen, vom Umfange einer Kegelkugel bis zu ſolchen kubiſchen Körpern, daß aus dem Material eines einzigen, bei Zürich im Felde ge¬ legenen ſ. g. rothen Ackerſteines anno 1674 in Höngg ein reſpectables, zweiſtöckiges, maſſives Haus gebaut werden konnte, welches folgende Inſchrift trägt:

Ein großer rother Ackerſtein
In manches Stück zerbrochen klein
Durch Menſchenhänd und Pulversg'walt
Macht jezund dieſes Hauſes G'ſtalt.
Vor Unglück und Zerbrechlichkeit
Bewahr es Gottes Gütigkeit.

Früher hat es einmal dem Grafen Benzel-Sternau gehört. Der Block aber, aus deſſen Geſtein das Haus erbaut wurde, ſtammt aus der Tiefe der Glarner Gebirge, etwa vom Freiberge oder aus dem Sernf-Thale.

Das Woher? hat der Wiſſenſchaft wenig Mühe gemacht; aus der Struktur, Farbe und mineraliſchen Miſchung der Granit -, Gneis -, Glimmer -, Verrucano - und Schiefer-Fündlinge, ſo wie aus der Lage des Fundortes zu den Thalſyſtemen der Alpen, konnte man bald entziffern, zu welcher Centralmaſſe ſie gehörten. Aber das Wie? des Transportes machte den Naturforſchern der letz¬ ten fünfzig Jahre viel zu ſchaffen. Die Einen vermutheten, es habe einſt, bei den letzten Gebirgshebungen, ein extraordinär¬ großartiges, vulkaniſches Natur-Bomben-Werfen ſtattgefunden, bei welchem die Alpen dieſe Fragmente ausgeſpien und meilenweit über Berg und Thal geſchleudert hätten. Dieſe kühne Phantaſie wurde aber bald zerſtört durch die thatſächliche Nachweiſung einer¬ ſeits der Regelmäßigkeit, mit welcher viele dieſer Blöcke wie in einer Linie an den Bergeshalden abgelagert wurden, anderſeits29Erratiſche Blöcke. des Innehaltens beſtimmter Verbreitungsbezirke zu den Stammge¬ bieten. Andere ließen den Transport durch enorme Ueberſchwem¬ mungen beſorgen, die jene, oft hunterttauſende von Centnern wie¬ genden Laſten aus den Alpen herniedergewälzt haben ſollten; allein auch dieſe Hypotheſe wurde raſch durch phyſikaliſche Beweiſe in ihrer Unhaltbarkeit zurückgewieſen. Erſt als die Theorie über Natur und Bewegung der Gletſcher (welchen ein ſpäterer Abſchnitt dieſes Buches gewidmet iſt), angeregt durch den Walliſer Ingenieur Venetz, fortgeführt und ausgebildet durch Agaſſiz und Forbes, eine Menge der ſeltſamſten Erſcheinungen in den Alpen beleuchtete und erklärte, gelangte man auch zu dem Schluß: daß die erratiſchen Blöcke durch einſtige ungeheuer große Eisgletſcher, welche bis in das Schweizeriſche Mittelland hinaus¬ gereicht haben müſſen, an ihre dermalige Lagerſtätte befördert worden ſeien. Wie in dem ſpäteren Abſchnitte nach¬ gewieſen werden ſoll, bewegen ſich die Gletſcher von der Höhe der Gebirge langſam dem Thale zu und transportiren auf ihrem Rücken die von den zur Seite ſtehenden Felſen abgebröckelten Ge¬ ſteine bis zu der Stelle, an welcher die Gletſcher, in Folge war¬ mer Temperatur, abſchmelzen und ihre Felſenlaſten abladen. Dieſe Geſteinswälle, welche ſich an dem Ende oder der Stirn eines Gletſchers anhäufen, werden Frontmoränen genannt.

Das Vorhandenſein ſolcher hufeiſenartig aufgebauter hoher Fündlingswälle oder einſtiger Frontmoränen im Schweizeriſchen Mittellande, z. B. bei Bern, Surfee, Bremgarten, Zürich, Rapper¬ ſchwyl u. ſ. w., gab den erſten Beweismoment für den Gletſcher¬ transport der Irrblöcke ab. In Zürich ſind der Promenaden¬ hügel, die Anhöhen, auf denen der Großmünſter, die Kirche von Neumünſter, der Lindenhof u. ſ. w. ſtehen, Reſte einer ſolchen ehemaligen großen Frontmoräne. Ein zweites Beweismittel wurde darin gefunden, daß die Fündlingsblöcke, ſelbſt wenn ſie aus dem härteſten Geſtein beſtehen, ebenſolche eingeritzte Furchen und Linien30Erratiſche Blöcke. zeigen wie das Felſenbett, über welches die Gletſcher der Jetztzeit ſich hinweg bewegen. Vermöge des Druckes der ungeheueren Eis¬ laſt ritzt dieſe nämlich bei ihrem Fortrutſchen über den Geſteins¬ boden mit kleinen, ſehr harten, ſcharfen Quarzkryſtallen Linien ein, die wie mit dem Glaſer-Diamant geſchnitten ausſehen. Geröll - Blöcke, die von den wilden Alpenſtrömen heruntergeſchwemmt wur¬ den, tragen dieſe Kennzeichen nicht. Die erratiſchen Blöcke tragen ſomit, in Folge dieſer von der Natur ihnen ſelbſt aufgedrückten Schriftzüge, gleichſam den Reiſepaß ihrer zurückgelegten Wander¬ tour bei ſich, mit der Viſa jeder Thalſchaft verſehen, durch welche ſie ihre Wege nahmen. Das dritte und bedeutendſte Argument für die Annahme, daß die Fündlinge durch Gletſcher transportirt wurden, fand man in den ſ. g. Rundhöckern (Roches mutonnées). In den meiſten Alpenthälern, deren himmelanſtrebende Wände aus ſchwer verwitterndem Geſtein, aus granitiſchen Maſſen, beſtehen, erblickt man nämlich bis in gewiſſe Höhen (oft bis zu tauſend Fuß über der jetzigen Thalſohle) Ab¬ rundungen, regelmäßige Streifungen und geglättete Partieen, deren Schliff oft ſo fein ausgeführt iſt, daß er im Sonnenſchein ſpiegel¬ blank glänzt. Beim Niederſteigen vom Todtenſee auf der Pa߬ höhe der Grimſel nach dem Hospiz, dann weiter drunten bei der ſ. g. Hählen-Platte, auf dem Trümmerfeld nächſt dem Gott¬ hards-Hospiz, und an hundert anderen Stellen der Schweiz kann man ſolche Rundhöcker beſehen, befühlen und, wo ſie nicht mit der ſchwefelgelben Flechte Lecidea geographica überzogen ſind, deren Politur bewundern. Dieſes gleiche Phänomen zeigt ſich uns aber auch unmittelbar neben dem Gletſcher, neben einem Gorner -, Vieſcher -, Aletſch -, Findelen - und Zinal-Gletſcher; wir können es verfolgen von dem Geſtein an, welches unter dem Eis hervorragt, bis weit hinauf an die Thalwand, wir können es verfolgen in horizontaler Linie, ſtundenweit thalauswärts, ohne Unterbrechung, gleichviel ob die Geſteinslagerungen und Geſteins¬31Erratiſche Blöcke. arten vielmals wechſeln. Nach ſolchen Dokumenten wird die Ver¬ muthung zur unbezweifelbaren Thatſache, daß dieſe Thaltiefen, welche jetzt zum Theil mit uralten Waldungen überwachſen ſind, einſt von rieſenhaften Gletſchern ausgefüllt wurden. Es zeigt ſich aber in der Regelmäßigkeit der Ablagerung erratiſcher Geſteine end¬ lich noch ein Beweismittel, welches die anderen weſentlich unter¬ ſtützt und ergänzt. Hierunter iſt nicht nur jene, ſchon erwähnte, egale Ablagerung der Linie und gleichen Höhe nach erfolgte zu verſtehen, wie ſie ſich an den Anhängen niederer gehügelter Berge der Voralpen, des Mittellandes und des Jura-Gebirges zeigt, ſondern die regelmäßige Gruppirung der Irrblöcke nach Farbe, Stoff und Qualität ihres Geſteines. Man wird z. B. an den beiden Seiten eines breiten Thales, deſſen Tiefe wieder droben im Gebirge ſich in mehre Seiten und Nebenthäler veräſtelt, nie bunt durcheinander, herüben und drüben die gleichen grünen, rothen, weißen, braunen, grob - und feinkörnigen, faſerigen oder blätterigen Granit -, Diorit -, Gneis -, Schiefer - oder Kalk-Brocken finden, ſondern ſie werden verſchieden ſein. Verdeutlichen wir uns dieſen Umſtand ein wenig näher. Denken wir uns den Gletſcher als einen Hauptſtrom, der aus dem Zuſammenfluß mehrer Gebirgs¬ flüſſe entſteht, ſo wie jeder dieſer Gebirgsflüſſe wieder aus der Einmündung von Nebenflüſſen ſein Waſſerquantum erhält, denken wir uns ferner, daß nun jeder dieſer Nebenflüſſe von ſeinen ihn eingränzenden Felſen-Ufern Geſteinsfragmente aus dem Gebirge mit herunterbringt, ſo würden dieſe, weil das Waſſer in ſeinem Laufe ſich vermiſcht, wahrſcheinlich die mitgebrachten Steine auch unterein¬ ander mengen. Die Gletſcher aber, als feſte Eiskörper (wenn wir das Bild eines Strom-Syſtemes feſthalten) vermiſchen ſich nicht, wenn ſie im breiten Gletſcher-Hauptthale zuſammenkommen, wie das be¬ wegliche, flüſſige Waſſer, ſondern ſetzen ihren Weg nebeneinander, wenn auch ſcheinbar als vereinigte große Eismaſſe fort, und die auf denſelben liegenden, langen Trümmergeſteins-Linien (die Moränen) 32Erratiſche Blöcke. zeigen weithin an, aus wie viel Seiten - und Nebengletſchern der Hauptgletſcher zuſammengeſetzt iſt. Darum bleiben auch die, aus den verſchiedenen Thälern ſtammenden Geſteine geſchieden. Und darum wurden von den einſtigen Rieſengletſchern die, durch dieſe beförderten, erratiſchen Blöcke je nur auf derjenigen Thalſeite abgelagert, welche mit den tiefer im Gebirge liegenden Seitenthälern korreſpondirt. Der bekannte ſchweizeriſche Geologe Eſcher von der Linth hat eine, auf lang¬ jährige Unterſuchungen gegründete, Karte der Verbreitungsbezirke aller nördlich von den Alpen in der Schweiz gefundenen Irrblöcke her¬ ausgegeben. Wir finden ſolche erratiſche Geſteine aber auch an der Südſeite der Alpen. Die Lombardiſchen Binnengewäſſer des Lago mag¬ giore, des Comer - und Garda-See's ſind an ihren Ausflußenden von ganz ähnlichen Blockwällen geſchloſſen wie der Züricher-Sempacher - und Baldegger-See in der Schweiz. Außerdem zeigt ſich das er¬ ratiſche Phänomen auch in dem Gebiete anderer Gebirge; die Py¬ renäen, das ſchottiſche Hochland, die ſchwediſchen Kjölen, die Vo¬ geſen, die Cordilleren Amerikas haben eben ſo gut ihre Wander¬ blöcke wie die Alpen.

Dieſe auf beiden Hemiſphären auftretende Erſcheinung zuſam¬ mengefaßt, führt demnach zu der Annahme, daß einſt eine Periode allgemeiner Erkältung und Vereiſung exiſtirt haben muß, die wohl das jüngſte Ereigniß im Bildungsprozeſſe unſeres Erdkörpers war. Denn wo man auch ſolche Irrblöcke findet, immer zeigen ſie ſich als das letzte Ablagerungsmaterial, das erſt dann an ſeinen ge¬ genwärtigen Standort gelangte, als das Alpengebäude mit ſeinen Thälern und Schluchten, Flußbetten und Seebecken ſchon, wie wir es heute ſehen, beſtand.

[33]

Karrenfelder.

Wer ergründet der Schöpfung heilige Kraft,
Die in ihren ewigen, weiten Kreiſen
Durch Zerſtörung wieder Neues ſchafft.
(Maltitz. )

Auf jene verlaſſenen, vegetations-entblößten Gegenden der tropiſchen Zone, auf die unüberſehbaren Sandfelder Afrikas und Aſiens, übertrug der Sprachgebrauch ausſchließlich die Schilderung Moſis vom Ausſehen der Erde am erſten Schöpfungstage und nannte dieſe unheimlichen gluthdurchwehten Flächen vorzugsweiſe Wüſten . Auch die Alpen haben ihre Wüſten, ihre Reviere des ſcheinbar vollendeten Naturtodes, wo die Tributkraft der ewigen Gebärerin erſtirbt; aber ſie ſtellen ſich in ganz anderer Form, un¬ ter anderen Umſtänden, mit weſentlich anderem Material dar, als die Saharen. Gewöhnlich ſucht man ſie droben über der Schnee¬ linie, in den unverſiegbaren Firnmulden und auf den Gletſcher¬ hängen, wo die durchdringende Kälte jede organiſche Entwickelung im Keime zu zerſtören droht. Wie aber eine ſpätere Schilderung unſeres Buches zeigen wird, ſieht es da droben in den Eismaga¬ zinen keinesweges ſo verſtorben aus; im Gegentheil, die Lebens¬ pulſe der Erde durchzittern auch dieſe Einöden in regelmäßigenBerlepſch, die Alpen. 334Karrenfelder. Schlägen, und ein ſtill geſchäftiges Treiben arbeitet, kaum erkenn¬ bar aber ſtetig, im Dienſte des großen wunderbaren Naturhaus¬ haltes, um die dieſem Theile gewordene Aufgabe zu erfüllen und zur Erhaltung des Ganzen beizutragen. Hier alſo werden wir das Analogon nicht zu ſuchen haben. Und in der That, es giebt noch ödere, noch weit abgeſtorbenere Gegenden im Gebirge als die Schneewüſten, große, weit ausgedehnte Strecken in unbetrete¬ nen Wildniſſen, die, von jeder Vegetation entblößt, in ewig ſtarrer Reſignation daliegen; dies ſind die Schratten - oder Karrenfelder, von den Romanen Lapiaz genannt.

Droben im Gebirge, ſeitwärts der begangenen Päſſe und be¬ lebten Alpweiden, im Gebiet der Kalkzone bei einer Höhe von 4000 bis 6000 Fuß, liegen kahle, nackte Steinflächen, oft ſtunden¬ lang, faſt horizontal ausgebreitet, die ſo zerfurcht und von tief ausgewaſchenen Hohlkehlen durchkreuzt ſind, daß ſie ausſehen, als ob ein wogendes Meer mit ſeinen Wellenhügeln plötzlich hier ver¬ ſteinert wäre und ein unentwirrbares Netz aufgegipfelter Wogen zurückgelaſſen hätte. Mitunter ſind ſie ſo ſchreckhaft zerklüftet und von klaftertiefen Rinnſalen ausgefreſſen, daß es unter allen Umſtänden unmöglich iſt, über dieſelben hinweg, ſei es im Sprung, durch Klettern oder im Balancirſchritt, einen Weg ausfindig zu ma¬ chen. Denn die zwiſchen dieſen Vertiefungen ſtehen gebliebenen Geſteinsreſte laufen wie ſchmale Dämme, ſcharf, wie die Schneide eines Meſſers, nebeneinander her, brechen plötzlich ab und werden von breiten Querkanälen durchſchnitten; bald wieder ſehen ſie aus wie Kämme, deren einzelne Zinken in den verſchiedenſten Höhen abgebrochen ſind, eine wie von rieſigen Inſtrumenten nach allen Richtungen zerhackte, hohlgeſchabte, durchſägte, ausgemeißelte Fläche, ein ſteinernes Splitter - und Zacken-Meer voll der bizarrſten For¬ men, die nicht ſelten an die Gletſchernadeln erinnern. Dazwiſchen tiefen ſich Löcher ab, trichterförmig, ähnlich den Kratern der Vul¬ kane, oder ſie verſinken wie ſchief ins Innere ſich verlierende Ka¬35Karrenfelder. näle; dann wieder öffnet ſich ein mehre Klaftern breiter, aus¬ gehöhlter Keſſel, deſſen Boden wie der eines Siebes durchlöchert iſt. An anderen Stellen ſcheint in dieſem Chaos wieder ein ge¬ wiſſes Formengeſetz bei der Eroſion gewaltet zu haben, denn die Trümmermaſſen gewinnen beinahe das Anſehen des Zellenbaues in den Honigtafeln der Bienenſtöcke, weshalb der Hirt ſie auch be¬ zeichnend Steinwaben nennt. Summa, es iſt ein Urbild der ſchrecklichſten Zerſtörung im Kleinen.

Dies Alles iſt ein Reſultat der Verwitterung, des unmerklichen aber erfolgreichen Ausſchleifens durch Gletſcher -, Schnee - und Re¬ genwaſſer, der ausdörrenden, ſprödemachenden Sonnenhitze und der zerſpaltenden, auseinander treibenden, abſprengenden Kälte, der vollſten ununterbrochenen Einwirkung der Atmoſphärilien auf den Geſteinskörper. Und weil gerade an dieſem Kalk ſich mehr als an jedem anderen die Verwitterung zeigt, und weil ſelbſt die in dem¬ ſelben enthaltenen Muſcheln nur fragmentariſch, zertrümmert vor¬ kommen, ſo haben die Geologen denſelben vorzugsweiſe Rudiſten¬ kalk , oder nach den organiſchen Einſchlüſſen (Caprotina am¬ monia und gryphoides d'Orb. ) auch Caprotinenkalk genannt. Außerdem führt er auch noch die volksthümliche Bezeichnung Schrattenkalk , weil Schratten beim Aelpler ſo viel wie Berg¬ riſſe und Spalten bezeichnen, vielleicht durch Verſetzung des r aus dem ſchrift-deutſchen Worte Scharte (engl. Shard, Scherbe) entſtanden. Weil endlich, an den kahlen, nackten Felſen¬ flächen, beſonders im Kanton Unterwalden, die Rudiſten auffal¬ lend hervortreten und ſonderbare, ungewöhnliche Figuren auf dem Fond des Geſteines formiren, ſo nannte man daſſelbe auch Hie¬ roglyphenkalk .

Offenbar iſt die Auflöslichkeit dieſes Kalkes eine ſehr ver¬ ſchiedene, wodurch die Zerfurchung entſtanden iſt. Da nun auf dieſen morſchen Felſenknochen, die im Sommer unerträgliche Hitze rückſtrahlen, auch nicht ein Stäubchen fruchtbarer Erde haftet, 3*36Karrenfelder. da ferner das im Frühjahr, während der großen Schneeſchmelze, in der ſubalpinen Region entſtehende oder nach Regengüſſen ſich ſammelnde Waſſer durch die ausgewühlten Rinnen und Löcher ſo¬ fort ſpurlos in die Eingeweide der Berge hinabeilt, um am Fuße derſelben als Quelle hervorzuſprudeln, ſo iſt es erklärlich, daß die¬ ſen Flächen jede Bedingung fehlt, um Pflanzen, und wären es die genügſamſten, zu ernähren. So weit das Auge über die troſtloſe, bleiche, einſame Felſenfläche ſchweift, ſieht es traurig, erſtorben aus. Wo aber keine Blume blüht und ihre Honigkelche öffnet, da ſummt auch kein Inſekt, da gaukelt kein Falter, ſchwirrt kein Kä¬ fer, wo kein Kräutchen, kein Grashalm ſich in die Felſenſpalte einzuklammern vermag, ſelbſt nicht einmal Mooſe ihr mageres Le¬ ben friſten können, da raſtet auch nicht das kleinſte Höhlenthier¬ chen, und wo Weg und Steg ſo zerſtört ſind wie in dieſen Karrenfeldern, da verirrt ſich kein Gratthier hin. Sogar die Vö¬ gel ſcheinen dieſe Stätte der Verwilderung zu fliehen, denn nie ſieht man Schneekrähen oder Bergdohlen, Steinhühner oder Flüh¬ lerchen, Falken oder Adler auf dieſelben ſich niederlaſſen. So¬ mit dürfen die Schrattenfelder ſehr füglich die Wüſten der Alpen genannt werden. Wo dagegen die Karrenfelder an die Weiden angränzen, wo alſo angeſchwemmte Erde in den Vertiefungen ſich abgelagert hat, da entwickelt ſich auch die üppigſte Vegetation, die man in den Alpen finden kann. Solche Stellen dienen oft den Wurzelgräbern als beſte Fundgrube ihres gefährlichen Erwerbes.

Wie überall, wo Düſteres, Unerklärliches, Außerordentliches ſich zeigt, der Volksglaube die Einwirkung übernatürlicher Kräfte vorausſetzt, ſo nimmt auch hier die Erklärung ihre Zuflucht zu bö¬ ſen Geiſtern und infernaliſchen Mächten. Zwerge und Erdgnomen, vom Volke Schrättli genannt, ſinds, die die Steine ſo ausboh¬ ren und durchbrechen; ihnen iſt der feſte Erdkörper ein Nichts , durch welches ſie wie die Schärmäuſe ſich durchwühlen. Eine an¬ dere Ueberlieferung erzählt: die Schrattenfluh im Entlebuch (Luzern) 37Karrenfelder. ſei ehedem eine der ſchönſten Alpenweiden im Lande geweſen und habe zwei Brüdern gehört, welche dieſelbe gemeinſchaftlich verwal¬ teten. Als darauf Einer von Beiden blind geworden ſei, da habe man Theilung des Gutes beſchloſſen und die Ausführung dem Ge¬ ſunden übertragen. Dieſer aber habe den blinden Bruder über¬ vortheilt, die Marchſteine falſch geſetzt und ſich den größten und ſchönſten Theil der Alp angeeignet. Wie ſolche Kunde dem Blin¬ den überbracht worden ſei, habe dieſer ſeinen Bruder darüber zur Rede geſtellt. Der Ungerechte aber habe ſich verheißen und ver¬ ſchworen: Der Teufel ſolle ihn holen und die Weide zerreißen, wenn er nicht ganz ehrlich getheilt habe. Da ſei denn ein furcht¬ bares Wetter entſtanden, der Berg habe gebebt, Satanas ſei er¬ ſchienen und der Schwur in Erfüllung gegangen. Der Teufel habe allen Raſen und nutzbares Erdreich vom Berge abgeſtreift und zwar ſo begierig und eifrig, daß man noch heutigen Tages die Spuren ſeiner Krallen im Geſtein als jene Rinnen erblicke. Während die Weide des Blinden unverſehrt blieb, verfiel der An¬ dere der Hölle.

Es liegt, laſſen wir das Motiv der Erzählung außer Spiel, tiefer und wahrer Sinn dieſer Sage zu Grunde. Die unverſtän¬ dige Menſchenhand, welche die Berge ihrer Wälder ſo beraubte, daß der Boden kahl, den Zerſtörungen durchs Wetter preisgegeben wurde, war die Teufelsfauſt, welche den Berg verwüſtete;

Geſtorben iſt der Fichtenwald,
Verwittert ſind die Zinken;
Nur grau Geſtein, ſo alt und kalt
Liegt da, mir graus zu winken.
Witte.

Man ſuchte die Karrenfelder als Reſultate der einſtigen großen Gletſcher-Eroſion darzuſtellen, zumal ſie oft mit anderen unver¬ kennbaren Gletſcherſpuren in Verbindung auftreten. Genauere Unterſuchungen haben jedoch die Unhaltbarkeit dieſer Hypotheſe zur Genüge nachgewieſen. Der Gletſcherſchliff, deſſen im Abſchnitt: Granit ſchon Erwähnung geſchah, hat gerade die Eigenthümlich¬38Karrenfelder. keit einer gleichmäßigen Abnutzung und Abrundung der Geſteine, während ein ächtes Schrattenfeld die Unregelmäßigkeit und Un¬ gleichheit ſelbſt iſt. Die bedeutendſten, größten und ausgepräg¬ teſten Karrenfelder liegen in den Kantonen Appenzell, St. Gallen, Glarus und Schwyz; das renommirteſte und beſuchenswertheſte iſt das auf der Silberen. Von dem idylliſchen Klönthaler See (jetzt ſeit Eröffnung der Eiſenbahn nach Glarus, der Wallfahrtsort aller Touriſten) erreicht man daſſelbe, den Weg über den Pragel faſt bis auf die Paß-Höhe verfolgend und dann links abbiegend, in bis 3 Stunden. Die Kalkfläche des Karrenfeldes auf der Silberen iſt ſo weiß, daß man dieſelbe, von Weitem geſehen, für ein Schneefeld hält. Andere Schratten ſind am Nordhang der Churſirſte am Scherenberg unweit des Leiſtkammes, die ausnahms¬ weiſe an manchen Stellen faſt ganz mit Alpenroſen überwuchert ſind, dann am Meßmer auf der Weſtſeite der Säntiskette der Silberplatte entlang, ferner am Kerenzerberg (leicht mittelſt der Eiſenbahn am Wallenſee zu erreichen), an den Bergen des Wäggithales, am Fluhbrig, Frohnalpſtock, am Bauen (Vierwald¬ ſtätter See), am Sätteliſtock, auf dem Brünigpaß, am Kaiſerſtock, an den Päſſen des Rawyl und Sanetſch, Tour d'Ay, Tour de Mayen und vielen anderen Orten.

[39]

Nagelfluh.

Geheimnißvoll am lichten Tag
Läßt ſich Natur des Schleiers nicht berauben,
Und was ſie deinem Geiſt nicht offenbaren mag.
Das zwingſt du ihr nicht ab mit Hebeln und mit Schrauben.
Goethe.

Wenn Du, lieber Leſer, auf deiner ſommerlichen Schweizerreiſe, oder Du, lieber Schweizer, aus dem deutſchen Reich über den Boden¬ ſee kommend bergwärts wanderſt, durchs fröhliche Appenzeller Länd¬ chen, oder durch das induſtrielle freundliche Toggenburg, oder noch mehr weſtwärts durchs behäbige Emmenthal und Entlibuch, oder wenn Du in dem reizend, in parkartiger Umgebung gelegenen Hôtel Bellevue bei Thun eine Körper, Herz und Geiſt ſtärkende Villegiatur machſt, und der freundliche Beſitzer, Herr Knechten¬ hofer, Dich an der engliſchen Kapelle vorüber zum Pavillon Saint Jacques hinaufführt, von wo aus man einen prächtigen Nieder¬ blick auf ein reiches Bild hat, auf das ſtolze, in alterthümlichem Geſchmacke mit einem Koſtenaufwande von Millionen Franken durch Herrn von Rougemont erbaute Schloß, auf die Karthauſe und den Thuner-See, auf den Nieſen, die Stockhornkette und im40Nagelfluh. vollen Rundblick auf die rieſigen Firndome der Jungfrau, des Mönch, Eiger und vieler anderer, oder wenn Du auf den Rigi ſteigſt, oder ſogar nur auf den Freudenberg ob St. Gallen, dann fällt Dein Blick oft auf Felſenwände, die dem üblichen Be¬ griff nach nicht eigentlich Felſen ſind, weil ſie wie Frontwände großer Kiesgruben ausſehen. Betrachte dieſes konglomerirte Ge¬ ſtein doch ein wenig näher, verweile einige Augenblicke bei ihm; Dein Zeitverluſt wird, biſt Du anders dilettirender Freund der Naturwiſſenſchaften, reichlich belohnt werden.

Dieſes ſonderbare Gebilde iſt Nagelfluh , ein tertiäres Anſchwemmungs-Produkt, ein aus Geſchiebe und Rollſteinen kom¬ ponirter Natur-Füllbau, in die Periode der Molaſſezeit gehörend; alſo eines der jüngſten Schuttgeſteine, die wir kennen. Die Nagel¬ fluh kommt in mächtigen Maſſen und ſtundenweit verbreiteten Flächen blos an der nördlichen Abdachung der Alpen vor und geſtaltet hier die erſten Anhöhen und Berge. Am und im Jura iſt ihr Auftreten nur ſporadiſch, wie z. B. um Pruntrut, Delsperg, an dem berühmten Felſenthor der Pierre pertuis, in der kühlen Einſiedler-Schlucht St. Verena bei Solothurn, um Aarburg und Aarau und im Teufelskeller bei Baden. Außerdem zeigt ſich die Nagelfluh nur noch in Vorder-Indien.

Dieſes den ſogenannten Puddingſteinen verwandte Konglomerat beſteht aus mächtigen, oft ſogar bis zu mehren tauſend Fuß Dicke anwachſenden Schichten abgelagerter Rollſteine, die mittelſt eines kalkhaltigen, unter Säuren aufbrauſenden Cementes miteinander verbunden ſind, mitunter ſo außerordentlich feſt, daß beide Theile eine gleichmäßig harte Maſſe bilden und beim Sprengen in glatter Fläche ſpalten, ſo daß der Bruch ebenmäßig durch Cement und Rollſteine geht. Dieſe Feſtigkeit iſt ſo bedeutend, daß man die Nagelfluh einiger Gegenden, wie z. B. die unter dem Namen des Degersheimer und Solothurner Marmors bekannten Arten, zu Werken der Bildhauerei, zu großen Brunnenbecken und monu¬41Nagelfluh. mentalen Arbeiten, ja ſogar zu Mühlſteinen benutzt hat. Die Größe der in den Cement eingebackenen Rollſteine variirt außer¬ ordentlich; man findet deren, die wie winzige Hirſekörnchen neben¬ einander liegen und ſomit der Schicht das Anſehen eines grob¬ körnigen Sandſteinlagers geben, und wiederum ſolche von dem Umfange großer klafterhaltiger Blöcke.

Dies Alles würde aber die Nagelfluh noch zu keinem beſonders intereſſanten Naturprodukt machen, wenn nicht ein Paar Umſtände dabei noch vorwalteten, die bisher noch keine genügende Aufklärung fanden. Die Nagelfluh beſteht nämlich, wie eine jede Kiesgrube, aus den verſchiedenartigſten, kugelig, oblong oder flach-rundlich abgeſchliffenen Geſteins-Fragmenten. Je nach ihrer Farbe und qualitativen Zuſammenſetzung hat man ſie in die beiden Haupt¬ gruppen der bunten - und der Kalk-Nagelfluh abgetheilt. Zur bunten Nagelfluh gehören jene Konglomerate, welche, wie der Name ſchon ſagt, in reicher Farben-Moſaik prangen. Da finden wir feurigrothe Porphyrkugeln neben hellleuchtenden ſaftig-apfelgrünen Granit-Rollſteinen, warm violettgefärbte Spilit-Cylinder neben ſchwarzgrün getiegerten Serpentin-Ovalen, goldokerfarbige, abgerun¬ dete Kalkſtein-Gerölle neben fleiſchfarbig geaderten Feldſpath-Sphä¬ roiden, ein ſchönes, reiches Bild bunter Gruppirung der ver¬ ſchiedenfarbigſten Geſteine. Minder brillant ſieht die Kalk-Nagelfluh aus. Bei ihr ſind gebrochene graue, blaue und ſchwärzliche Töne vorherrſchend; doch giebt es auch ſolche, die davon abweicht, wie z. B. die Nagelfluh am Fuße des Speers bei Weſen am Wallen¬ ſee, welche faſt das Anſehen von Rothwurſt oder Gothaer Preßkopf hat. Denn in dem dunkelrothen eiſenhaltigen Cement ſind weiße Feldſpath-Geſchiebe eingebacken, die wie fette Speckwürfel ausſehen, und wieder andere kalkhaltige Geſteine, die man ohne ſonderliche Anſtrengung der Phantaſie für Schweineſchwarte und Keſſelfleiſch halten kann. Unmittelbar hinter dem Bahnhof in Weſen kann der Kurioſitätenfreund ſich Bruchſtücke dieſes Naturſpieles aufleſen.

42Nagelfluh.

Der eine bis jetzt noch unerklärt gebliebene Umſtand beruht nun dann, daß man Geſchiebe von Felsarten (und zwar in Menge) darin findet, welche entweder in den Alpen gar nicht oder doch nur in den ſüdlichen Thälern derſelben vorkommen (d. h. deren heutige Flußgebiete gegen Süden auslaufen, wie das der Rhône, des Ticino und Inn), oder daß Geſchiebe von Geſteinsarten wieder gänzlich in der Nagelfluh fehlen, die man in großer Menge darin erwarten ſollte, weil ſie in den Alpen außerordentlich reichlich vorhanden ſind. Es bleibt ſomit nichts Anderes übrig, als anzu¬ nehmen: daß die Rollſteine der Nagelfluh von Gebirgen herrühren, die bei einer der großen Erdumwälzungen gänzlich zertrümmert, dann durch die Friktion in den Fluthungen des Urmeeres abge¬ ſchliffen und gerundet, hierauf in gewaltigen Schichten abgelagert, von Cementſchlamm umhüllt und endlich bei der Hebung der Alpen mit aus den Meerestiefen emporgehoben wurden.

Eine zweite noch intereſſantere, aber auch noch minder erklär¬ liche Erſcheinung iſt die der Impreſſionen. Sucht man nur einige Augenblicke an blosgelegten Nagelfluh-Felſen, namentlich an ſolchen, deren Bindemittel nicht zu hart iſt, ſo daß man die Roll¬ ſteine leicht aus ihnen herauslöſen kann, ſo wird man von letzteren Exemplare finden, welche tiefe, muldenförmige Eindrücke von ihren unmittelbaren Nachbarn erhalten haben, etwa ſo, als wenn man in friſches, geknetetes Brod irgend einen beliebigen harten Gegen¬ ſtand eindrücken würde. Nun ſind aber beide Steine in der Regel von gleich harter Maſſe, und der Stein Nummero Zwei, welcher die Impreſſion in dem von Nummero Eins hervorbrachte, erhält an einer anderen Stelle von einem dritten Nachbar ſelbſt wieder ganz ähnliche Quetſchungen oder Vertiefungen. Da man nun doch annehmen muß, daß die Rollſteine, ehe ſie rundlich abgeſchliffen wurden, bereits hart und ſpröde waren, ſo iſt es ſchwer erklärlich, wie ſie von gleich harten Nebenkörpern ſolche Eindrücke empfangen konnten.

43Nagelfluh.

Wollte man annehmen, jene Rollſteine ſeien zur Zeit ihrer Ablagerung noch in ziemlich weichem Zuſtande, ſomit leichter em¬ pfänglich für Impreſſionen geweſen, ſo muß man einen gleichen Härtegrad auch bei denjenigen Steinen vorausſetzen, welche die Eindrücke hervorbrachten. Zwei gleich weiche Körper aber werden bei Preſſungen ſich wohl abplatten, nicht aber der eine in den anderen eindringen. Hierzu kommt noch eine andere Erſcheinung, welche unzweifelhaft darauf hinweiſt, daß alle Nagelfluhſteine vor ihrer Umhüllung mit Cement ſchon ſehr erhärtet waren; dies iſt die ſpiegelglatte, geſtreift-glänzende Politur vieler derſelben an verſchiedenen Stellen. Man findet Exemplare, die, wie vom Steinſchleifer behandelt, in der Sonne weithin blitzend ſtrahlen, gleich blanken Glasſcherben, andere, die ſcharf geritzte, fun¬ kelnde, in Menge nebeneinander liegende Linien zeigen und den körnigen Kalkſtein an der Oberfläche faſt wie faſerigen Asbeſt erſcheinen laſſen, und noch andere, an denen das Wunder¬ laboratorium der Natur ſo energiſche Inciſionen hervorgebracht hat, als ob die Steine mit einem diamantenen Hohl-Hobel aus¬ gekehlt worden wären. Die meiſten dieſer Politurſtreifen tragen metalliſchen Glanz. Unzweifelhaft rührt die ganze Erſcheinung von der Hebung der Maſſen oder einem von den Alpen ausge¬ übten Seitendruck her, wobei die Steine mit unberechenbarer Vehemenz über einander hinglitten und ſich gegenſeitig, durch die Friktion erhitzt, abſchliffen. Solch ein polirter Stein giebt Ge¬ legenheit zu einer reizenden mikroſkopiſchen Spielerei. Bringt man denſelben unters Inſtrument und läßt entweder helles Lampenlicht, oder, noch beſſer, die Sonne in geeignetem Strahlenbrechungswinkel darauf reflectiren, ſo entſtehen unbeſchreiblich prächtige Farben¬ effekte. Ein Kaleidoſkop, in welches die brillanteſt gefärbten Glas¬ ſtückchen eingelegt wurden, vermag nicht ſolch eine flimmernde, ſchwirrende, im eigentlichſten Sinne kämpfende Farbenpracht zu entwickeln, wie die winzig kleinen geſchliffenen Kryſtallchen des44Nagelfluh. ſchlichten grauen Kalkſteinchens. Bald gruppirt ſichs in den rein¬ ſten feurigſten Prismenfarben zu einem Roſetten-Cyklus oder zu bunten Flammen ausſtrahlenden Sternchen, dann gleicht es einer vom Feuerwerker abgebrannten tauſendgarbigen Girandole oder diamantenen Ranken-Verſchlingungen, deren Enden ins Innere des Körpers hineinzuſchliefen ſcheinen, dann wieder gläſern durchſchimmernden, regellos ſich kreuzenden Aſtbau-Figuren oder architektoniſchen Gliederungen mit Bandkarniſen und Pilaſtern, mit Kreuzrippchen und Konſolen wie von Geiſterhänden zu Oberons Feenpalaſt zuſammengefügt, kurzum eine Welt im Kleinen, voll abenteuerlicher Phantasmagorieen, entfaltet ſich hier dem ſtaunen¬ den Blicke. Und doch iſts nur ein unſcheinbares Bröcklein aus dem großen Trümmerhaufen einer untergegangenen Welt und er¬ innert an Byron's Manfred:

Berge ſind geſtürzt,
Wolken zerklüftend, mit gewaltigem Stoß
Die Bruderalpen ſchütternd! angefüllt
Das grüne Thal mit der Zerſtörung Trümmern,
Gedämmt die Flüſſe durch den jähen Sturz;
In Nebeln hob ſich das gepreßte Waſſer
Und neue Gänge grub ſich der Quell!
[45]
Bergsturz.

Druck von F. A. Brockhaus in Leipzig.

Der Goldauer Bergſturz.

Das Lebenszeichen des Lebens iſt Zerſtörung.
Gutzkow.

Unſer Erdkörper iſt in einem ununterbrochenen Zertrümmerungs - und Wiedererzeugungs-Prozeß begriffen. Der Kreislauf alles Stof¬ fes, den wir am Deutlichſten im Keimen, Wachſen, Abſterben und Verweſen der Pflanze erkennen, weil er innerhalb eines kur¬ zen, unſerem Wahrnehmungsvermögen naheliegenden Zeitraumes vor ſich geht, findet eben ſo, aber in großen, Jahrhunderttauſende umfaſſenden Epochen, am Fundamental-Gebäude unſerer Erde ſtatt; nur ſtellt er hier weniger einen eigentlichen Stoffwechſel, als viel¬ mehr einen Formenwechſel dar.

Betrachten wir den Boden, auf dem wir gehen, das Garten -, Acker - und Nutzland, welches unſere Früchte, Brenn - und Bauhölzer erzeugt, den Straßenſtaub, den der Sturmwind hoch in die Lüfte wirbelt und durcheinander mengt, wollten wir das Alles genau unter dem Mikroſkop betrachten und ſeine einzelnen Subſtanzen ausſcheiden, ſo würden uns neben unzählbaren Theilchen halb und ganz verweſter Pflanzen - und Thierorganismen, kaum erkennbarer46Der Goldauer Bergſturz. Infuſorien und vorzeitlicher Schnecken-Panzer, eben ſo viele und noch mehr unendlich kleine Fragmente ehemaliger Gebirge: eine bunte Miſchung glaſiger Quarzſplitter und farbiger Schieferblätt¬ chen, hellglänzender Glimmerkryſtalle und kantiger Porphyrkörn¬ chen, durchſichtiger Feldſpathgeſteine und dichter Kalkpartikelchen erſcheinen, die hier zu Staub zermalmt einem neuen Umgeſtaltungs¬ prozeſſe entgegenſehen.

Dieſe umgeſtaltende Thätigkeit und die durch dieſelbe herbei¬ geführte allmählige Formveränderung unſerer Erdrinde kann unſer Auge nur da erkennbar wahrnehmen, wo die im Dienſte der Natur¬ kräfte ſtehenden Bewegungsmittel am Großartigſten ſich entfalten: zunächſt am Strande und im Gebirge.

Am Ufer des Meeres, der Binnenſeen, ja ſogar der Flüſſe, ſehen wir neue Ablagerungen von angeſchwemmten Erd - und Ge¬ ſteinsſubſtanzen, ſogenannte Strandbildungen entſtehen, aus dem Grunde der oceaniſchen Gewäſſer neue Inſeln auftauchen, alſo das Gebiet des Feſtlandes ſich vergrößern, während an anderen Orten das ununterbrochene Arbeiten der Wellen, die Brandung, allmählig feſte Felſenwände auswäſcht oder ganze Stücken Ufer¬ landes losreißt, um ſie in die Tiefe zu verſenken.

Dieſes Ausebenungsbeſtreben zeigt ſich im Gebirge bei Weitem in draſtiſcheren Erſcheinungen. Jedes raſche Schmelzen des Hoch¬ gebirgsſchnees im Frühjahr, jedes heftige, mit großen Regengüſſen verbundene Gewitter, jeder Gletſcher auf ſeinem Rücken, ſendet aus den Höhen alljährlich eine Unzahl von Geſteinstrümmern in die Schluchten und Tobel, auf die Alpweiden und in die Thal¬ gelände und die an deren Fuße liegenden See - und Meeresbecken hernieder, die, wenn wir die Wahrſcheinlichkeitsrechnung zu Hülfe nehmen wollten, innerhalb irgend einer großen Zeitfriſt unter Mit¬ hülfe der Atmoſphärilien ebenfalls zu einer völligen Ausebenung von Berg und Thal führen müßten, wenn nicht inzwiſchen neue,47Der Goldauer Bergſturz. ungeahnte Kataſtrophen eintreten, die einen Strich durch unſere Rechnung machen.

Der Alpenbewohner nennt Ereigniſſe derart und die davon verwüſteten Gegenden Rüfe , Steinrieſeten , Gante oder G'ſchütten , und in jedem größeren, von etwas ſteilen Bergwänden eingeſchloſſenen Thale der Schweiz, Tyrols und der übrigen Alpenländer kann man ſolche, verſteinerten Strömen gleichende, aller Vegetation entbehrende Trümmerwüſten erblicken. Bei heftig niederbrauſendem Hochgewitter verſanden und überdecken ſie mit ihrem Schutt binnen wenig Stunden zuvor fruchtbares, werthvolles Ackerland oder kräuterreiche Matten und zerſtören deren Ertragsfähigkeit auf viele Jahrzehnte hinaus.

Dieſe ſind nicht zu verwechſeln mit den eigentlichen Felſen¬ ſtürzen und Bergrutſchen, welche von Zeit zu Zeit die Alpen heimſuchen und zu den furchtbarſten Naturereigniſſen gehören. Faſt alle werden mittel - oder unmittelbar durch die Einwirkung des Waſſers herbeigeführt. Entweder bohrt, frißt und ſprengt das, nur tropfenweiſe, in ganz unbedeutende Felſenſpalten der härteſten Ge¬ ſteine eindringende, im Winter gefrierende und durch die aus¬ dehnende Kraft des Froſtes den Spalt gleichſam wie mit einem Keil unmerklich erweiternde Waſſer ſo konſequent und ausdauernd, daß die vom Muttergeſtein abgeſprengten Felſenmaſſen, allmählig ihrer natürlichen Baſis beraubt, im Frühjahr oder Sommer beim Schmelzen des eingedrungenen Eiſes, endlich ihr Gleichgewicht ver¬ lieren und zu Thal ſtürzen, oder die Reihenfolge und geringe Feſtigkeit des auf einander lagernden Geſteines und deſſen Ab¬ dachung (oder deſſen Fallen , wie man in der Geologie ſich aus¬ drückt), ſind Urſache der Bergſtürze. Letzteres kann nur in den¬ jenigen Alpen vorkommen, die nicht aus kryſtalliniſchen Geſteinen (Granit, Gneis, Glimmerſchiefer, Porphyr, Syenit, überhaupt Feldſpath-haltigen Geſteinen), wie die Central-Alpen, ſondern aus Sedimentbildungen (wie ſolche in der Schilderung48Der Goldauer Bergſturz. des Alpengebäudes erörtert wurden) beſtehen. Hier wirkt dann das Waſſer direkt und zwar das in großer Menge ins Erdreich und in die Steinſchichten eindringende und dieſelben auflöſende Regen - und Schneewaſſer.

Ganz beſonders iſt dies bei denjenigen Gebirgen der Fall, deren unterſte Geſteinslage aus einer kompakten, wenig poröſen Maſſe beſteht, die das in die Tiefe eindringende Waſſer nur in ſehr geringem Grade aufſaugt, wie z. B. harte Leberfelsſchichten, Thonſchiefer, derbe Kalke u. a. Liegt nun auf dieſer ein fau¬ lendes, leicht verwitterbares, zur Auflöſung geneigtes Gebirgs¬ material, wie z. B. rother Mergel, und über dieſem wieder eine mächtige Schicht anderen Geſteines von geringer Dichtheit, wie Sandſtein, Nagelfluh, oder überhaupt eine das Waſſer filtrirende, gern durchlaſſende Felsart, ſo iſt es eine ganz natürliche Folge, daß das Waſſer entweder ſo lange durchſickert, bis es auf die unterſte, dichteſte Geſteinslage kommt und in unterirdiſchen Kanälen und Ritzen, der Abdachung des Felſen folgend, hinabrinnt, um aus tauſend Erdarterien und Tropflöchern geſpeiſt als Quelle wieder irgendwo zu Tage zu treten, oder, wenn es ſich nicht genügend Abzug verſchaffen kann, zerſetzt und löſt es allmählig die leicht verwitterbare Mittelſchicht auf und verwandelt dieſe in einen zähen Schlammbrei.

Jetzt hängt es vom Gange der Witterung und der örtlichen Lage ab, was aus dieſer halbflüſſigen Erdſchicht werden ſoll. Tritt nach anhaltendem Regen ſehr trockene Witterung ein, ſo verdunſten nach und nach die aufgeſchluckten Waſſer wieder, der Brei erhärtet, dörrt aus und die drohende Gefahr wird abgewendet. Treibt aber der Föhn oder der Weſtwind fortwährend neue Regenmaſſen ins Land, ſtemmt der aufgeweichten Schicht ſich kein, von der Natur ſelbſt errichteter, dauerhafter Querdamm entgegen, bricht die ab¬ wärts drängende Maſſe durch, ſo entſteht eine Schlammlauine, die, wohin ſie ihren trägen aber unaufhaltſamen Lauf richtet, wie49Der Goldauer Bergſturz. die Lava des Vulkanes alles ihr im Wege Stehende einſchließt, ausfüllt, ummauert und oft mehre Klaftern hoch überdeckt. Was ſie erreicht, wird unrettbar zerſtört. Von einem ſolchen Schlamm¬ ſtrome wurde im Juli 1795 ein großer Theil des reizend am Vierwaldſtätter-See gelegenen Dorfes Wäggis vernichtet und in die Fluthen verſenkt. Er kündete ſich in der Nacht des 15. Juli durch ein ſeltſames eintöniges Brauſen an, das nach der Meinung des Volkes aus den Kellern zu kommen ſchien. Als es Tag wurde, ſahen die Einwohner mit Entſetzen die dicke, dunkelrothe Schlamm¬ lauine mehre Klaftern hoch und wohl eine Viertelſtunde breit, einem Ungeheuer gleich, gegen das Dorf ſich heranwälzen. Ihre Bewegung war indeſſen ſo langſam, daß alle fahrende Habe von den Einwohnern geflüchtet werden konnte. Volle vierzehn Tage dauerte es, bis die wandernde Schlamm-Maſſe das Seegeſtade erreichte; aber eine Menge Häuſer und vortrefflicher Grundſtücke wurden ein Raub des Ereigniſſes.

Solche Schlammlauinen aber, die keinen Ausbruch finden, werden mittelbare Urſache der Felsſtürze. Die auf der Schlammlage ſtark geneigt ruhenden Geſteinsſchichten reißen vermöge eigener Schwere und Wucht ſich los und glitſchen auf dem ſchmierigen Erdreich der Tiefe zu.

Das empörte Weltmeer, der feuerſpeiende Berg, die Schrecken des amerikaniſchen Urwaldes, der Samum in der Wüſte, ſind Erſcheinungen, die das Blut in den Adern ſtarren machen können, aber kein Sturm auf offenem Ocean, wenn den Seefahrer der Untergang aus tauſend Wellengräbern angähnt, kein Ausbruch eines ſeine Feuergarben himmelan ſtrahlenden Vulkans, kein Wald¬ brand des amerikaniſchen Urwaldes können Entſetzen erregender wirken, als jener ſchreckliche Moment, in welchem der Gebirgs¬ bewohner ſeinem Weibe, ſeinen Kindern und Nachbarn zuruft: Fliehet! der Berg kommt! Nur noch ein Phänomen kommt dem Bergſturz an ſeelenzerſetzender Unheimlichkeit gleich: das Erd¬Berlepſch, die Alpen. 450Der Goldauer Bergſturz. beben. Wo ein Bergſturz losbricht, da iſt Alles, was im Be¬ reiche ſeiner zermalmenden Gewalt liegt, faſt im gleichen Augen¬ blicke eine Beute des Todes, wo die Gefahr ſich ankündet. Man denke ſich jene ſtabilen Gebirgsmaſſen, welche ſeit Menſchen¬ gedenken in todter, indifferenter Ruhe wie ein Naturbau für urewige Zeiten zu Häupten der Menſchen thronten, plötzlich, wie von unſichtbarer Hand ihrer ſtützenden Unterlage beraubt, in Be¬ wegung ſchwankend ſich lostrennend und mit Blitzesſchnellig¬ keit auf das friedlich daliegende Thal niederſtürmend.

Solch ein furchtbares Ereigniß zerſtörte im Kanton Schwyz die Dörfer Goldau, Rötten, Buſingen und Lowerz binnen wenig Minuten durch den Einſturz des nördlich über dieſen Ortſchaften liegenden Roßberges.

Die Jahre 1804 und 1805 waren ſehr regneriſch geweſen und ihr Nachfolger 1806 fuhr unverdroſſen fort, wäſſerige Niederſchläge im Ueberfluß und in ungewöhnlicher Fülle auf das Alpenland nieder¬ zuſenden. Ganz beſonders zeichnete ſich in dieſer Beziehung der Hochſommer durch anhaltende Landregen aus, welche am Ende des Auguſtmonates und namentlich am erſten September in eigentliche Wolkenbrüche auszuarten drohten.

Es iſt ſchon ein unliebſames Bild, welches nach vielwöchent¬ lichen Regengüſſen die Landſchaft einer ebenen Gegend in ihrem durchweichten, überſättigten Habitus darbietet. Aber es iſt nicht zu vergleichen mit dem Ausſehen einer Gebirgslandſchaft am Ende einer ſolchen Witterungsperiode; aus jeder Schlucht, aus jedem Waldwinkel blickt Zerſtörung hervor, überall rüttelts und nagts am Beſtehenden. In eigenwillig ausgegrabenen Rinnen und Runſen ſchäumen und poltern die hoch angeſchwellten, von allen Halden und Berghängen zuſammenfließenden Wildwaſſer ſchmutzig und erdfahl hernieder. Alle Hohlwege ſind tief ausgeſpült und die vom umgebenden Erdkitt entblößten, bunt geſprenkelten, hiero¬ glyphiſch-marmorirten Rollſteine, welche ſonſt unbeachtet einfarbig im51Der Goldauer Bergſturz. Boden ſtecken, leuchten ſo durchſichtig blank, wie von des Schleifers Hand polirt, daß ſie im Glanze ihres erhöhten Kolorits, eine natürliche Diluvial-Moſaik darſtellen. Zottig hängt das blos¬ gelegte Wurzelgeflecht der Rothtanne und Lärche, des Bergahorn (Acer pseudoplatanus) und der Alpenerle (Alnus viridis), des ſtruppigen Wachholderbuſches (Juniperus sabina) und anderen Ge¬ ſträuches, das an den abſchüſſigen Wegrändern ſteht, über dieſelben herunter, und wo das ſuchende Wühlen des Waſſers die Nahrungs¬ ſchichten des lockeren Waldbodens ausgewaſchen und zu Thal ge¬ ſchwemmt hat, da ſinken die ihrer eigenen Schwere nicht mehr mächtigen ſtolzen Stämme, dieſe Ariſtokraten der Pflanzenwelt, kraftlos um, vom Wetter gefällte Schlagbäume, die Paſſage des freien Waldverkehrs hemmend. Das riſſig-ſchuppige Rindenkleid der Bäume, ſchwammig-vollgetränkt von der überreichen Regen¬ ſpende, hat ſeine warmen, wohlthuenden, braunrothen Okertöne verloren und Stamm und Aſtwerk ſtarren finſter in die ſchwarze Säulenhalle der Forſte hinein. Jenes mährchenhaft geheimnißvolle Waldesdunkel fehlt, das alle Gegenſtände der Perſpektive ver¬ duftend ins Unbeſtimmte auflöſt. Alles hat die dunſtende Regen¬ durchſichtigkeit grell ins linienhaft ſcharf Begränzte überſetzt und präciſirt.

Noch zerzauſter, ermatteter, zerknickter, genuſſesmüder erſcheint die Bourgeoiſie der Bergvegetation, die individuenreiche Klaſſe der Hochkräuter, alle jene geſellſchaftlichen Tafelrunden der Waldfarren, die brennendroth blühenden Epilobium-Kerzen, die neugierig über ihren Stand hinausſchauenden Hieracien und Alles, was, wie aus Duft und Glanz gewebt , ein ſommerlanges Blumenleben hier oben verjauchzt; es iſt als ob muthwillige Buben eine Pflanzen¬ ſchlacht geliefert hätten. Nur die ſpargelſchüſſigen Saftſtengel der Orchideen mäſten ſich bei dem Ueberfluß und jene Knappenſchaft der Kräuterwelt, die auf Hieb und Stich mit Pfeil und Lanze gewappnete Reiſigen-Schaar der zäh-ſtengelichen Diſtelgewächſe hat4*52Der Goldauer Bergſturz. trotzig der niederſchlagenden Waſſergüſſe die ſcharfen Kanten und Spitzen entgegengeſtreckt und heldenmüthig widerſtanden. Es ſind die gleichen alten Kämpen, die in den Stürmen des Winters, wenn das quatte, weiche Zellengefüge faſt aller anderen niederen Phanerogamen gährend ſich zerſetzt, obgleich marklos, dennoch aufrecht, wie auf dem Poſten erfrorene Schildwachen daſtehen, und mit ihren gebleichten nackten Blüthenſchädeln in den allgemeinen Naturſchlaf hineingrinſen, bis Boreas oder die Wucht des auf ihr Geripp ſich lagernden Schnees auch ſie umknickt und der übrigen verweſenden Maſſe beifügt. Ihre Deviſe ſollte ſein: Treu bis in den Tod!

Und nun vollends das Proletariat der Vegetation, das ge¬ meine, niedrig am Boden kriechende Volk der Gräſer, dieſes Grund¬ aggregat alles deſſen, was unmittelbar Nahrung liefert, die breiten ſchilfblätterigen Schwingelarten, die luftigen, kupferroth¬ ſpiegelnden Windhalme, die federbuſchigen Calamagroſten und die fettlaubigen Hirſegräſer mit ihren geſpreizten krakehligen Aehren¬ dolden, die zarten ſchüchternen Schmielen und die derben behäbigen Poaceen, wie ſo gänzlich erſchlafft liegen ſie da. Die elaſtiſche, langausgiebige Widerſtandsfähigkeit, die Muskelkraft der ſchlanken Rispen iſt gebrochen, wie von den darüber hinfluthenden Regen¬ bächen glatt gekämmt, ſchmiegen ſie ſich den Bodenformen ſklaviſch an. Item! Ein allgemeines Betrunkenſein herrſcht in der Pflanzen¬ welt und der Regen hats ihr gezeigt, wie es ausſieht, wenn er Meiſter iſt. Denn die Regenmenge in den Alpen iſt eine ganz andere als in den flachen Gegenden. Während die ſüddeutſche Hochebene jährlich im Durchſchnitt nur 24 bis 25 Zoll Regen hat und die norddeutſche Tiefebene gar nur 22 Zoll, ſteigt dieſelbe in den inneren Alpenthälern auf 54 Zoll und auf dem großen St. Bernhard nach ſiebenjährigem Durchſchnitt gar auf 73 Zoll.

Aber dies Alles charakteriſirt die Eigenthümlichkeiten lang¬ andauernden naſſen Wetters im Gebirge noch nicht allein; verwandte53Der Goldauer Bergſturz. Momente zeigen ſich auch drunten in der Ebene nach einem ſoliden Landregen.

Was der ganzen Erſcheinung ein viel unheimlicheres Gepräge giebt, iſt die tiefe Schwermuth, in welche die ganze Landſchaft verſunken iſt. Die hohen Berge ſind nicht ſichtbar; Wolken haben ſich wie graue Trauermäntel um ihre Schultern gehangen. Wäh¬ rend ſchon bei hellem, lachendem Himmel nur ein geringeres Quantum Horizont in das Bergthal hereinleuchten kann als in das unbegrenzte Flachland, ſo wird dem bischen Tageshelle bei trübem Wetter vollends der freie Eintritt durch die Bergkoloſſe verkümmert. Die Regenwolken mögen ſich vielleicht nicht tiefer gegen den Erdboden niederſenken als wo anders auch; aber da¬ durch, daß man mittelſt der naheſtehenden Felſenmaſſen einen Maßſtab für den Hochgang der Wolken erhält, wähnt man, die ganze Atmoſphäre laſte wie ein böſer Traum auf der Gegend. Nicht ſelten iſts der Fall, daß Fremde bei ſolchem Wetter von einer Angſt und Bangigkeit befallen werden, als ob ihnen das entſetzlichſte Unglück bevorſtände.

In dieſer landſchaftlichen Verfaſſung befand ſich denn auch das Goldauer Thal, als unerwarteter Weiſe am Vormittage des 2. September das Regenwetter plötzlich innehielt, während der Horizont einfarbig melancholiſch umwölkt blieb. Am frühen Mor¬ gen dieſes Tages bemerkten Landleute, die auf der Höhe des Gnypenberges (der öſtliche Theil des Roßberges) und am ſ. g. Spitzenbühl Ställe beſaßen, ganz friſche, weit auseinander klaffende Riſſe im Erdreich und an den Felſenwänden. Der Raſen war an manchen Stellen übereinander geſchoben und in den be¬ nachbarten Waldungen hörte man von Zeit zu Zeit ein dumpfes, dem Rottenfeuer ähnliches Knallen, gleichſam als ob Wurzelwerk gewaltſam zerſprengt würde. Daneben ſtürzte von einer Felſenfluh am Gemeinde-Märcht fortwährend Nagelfluh-Geſtein hernieder; da aber ſolche Ablöſungen ſtets im Frühjahr nach der Schnee¬54Der Goldauer Bergſturz. ſchmelze und jederzeit nach heftigen Regengüſſen zu erfolgen pfleg¬ ten und die Bewohner des Röthner Berges ſchon längſt an ſolches Krachen und Fallen gewöhnt waren, ſo legten ſie auch diesmal den Kundgebungen wenig Werth bei und vermutheten höchſtens, daß in einer tieferliegenden, ohnedies ziemlich wüſten Gegend ſich eine Bräche oder Erdſchlipf ablöſen möchte. Dieſes Nieder¬ ſtürzen von Felſentrümmern unter fortwährend aufſteigenden Staub¬ nebeln vermehrte ſich indeſſen von Stunde zu Stunde, die Luft zitterte in fortwährender Oscillation und die Anwohner des Ro߬ berges in weitem Umkreiſe empfanden jederzeit die Erſchütterungen des Bodens. Leute, die mit Kartoffelhacken, Holzfällen oder Vieh¬ gaumen auf dem Felde oder den umliegenden Berghöhen beſchäf¬ tigt waren, richteten, ſtets von Neuem aufgeſchreckt, immer wieder den Blick nach dem Roßberge.

Am Spätnachmittage, es hatte auf dem Kirchthurme zu Arth Uhr geſchlagen, öffnete ſich plötzlich auf halber Höhe des ſanft geneigten Berges an der Rüthi-Weide eine große Erdſpalte, welche zuſehends weiter, tiefer, breiter und länger wurde. Der umliegende Raſenboden wendete ſich ſelbſt, ſo daß er, wie umgeackert, die braunſchwarze Bodenkrume zu Tage kehrte. Zugleich begann der, in gleicher Höhe liegende Zanswald unheimlich lebendig zu werden, Zuerſt ſchwankten die hohen, ſchlanken, ausgewachſenen Tannen, wie von unſichtbarer Hand bewegt, leicht hin und her, etwa ſo, als wenn im Sommer der Wind über das halbreife Korn hin¬ ſtreicht, daß es zu wogen ſcheint. Dieſe wellenförmige Bewegung wuchs, aber in widerſtreitenden Rhythmen, ſo daß in dem unregel¬ mäßigen und heftigen Schwanken die Stämme und ihre Baum¬ kronen durch - und gegeneinander ſchlugen. Mit krächzendem Ge¬ ſchrei flogen Raben, Krähen, Häher und andere dort niſtende Waldvögel auf und eilten in flüchtenden Schwärmen gen Südweſt den Forſten an den Abhängen des Rigi zu. Jetzt trug ſich das ſchiebende Stoßen und Schwanken, das wellenhafte Steigen und55Der Goldauer Bergſturz. Fallen auch auf den Raſenboden über; es ſah aus, als ob rieſige Schärmäuſe denſelben unterwühlten. Zugleich begann ein leiſe anhebendes Gleiten und Hinabrutſchen der ganzen oberen Gegend, das immer erkennbarer und eilender wurde. Die Tannenwälder ſträubten ſich der raſchen Bewegung zu folgen und erſchienen, nach Ausſage der Leute, welche das ganze furchtbare Phänomen vom Anfang bis zu Ende in bangſter Aufmerkſamkeit mit anſahen, etwa ſo, als wenn man Haare wider ihre natürliche Wuchs - und Wurzellage kämmt.

In immer geſteigerteren Progreſſionen nahm die angſterfüllende Erſcheinung zu; in immer weiteren Kreiſen, in immer ausgedehn¬ terem Umfange wurden angränzende Matten und Wiesgelände, Obſtbaumgärten und Hofſtatten ſammt Stallungen, Menſchen und Vieh mit in die ungeheuerliche Bewegung hineingezogen. Das Volk, welches den Grund und Boden, auf dem es geboren und groß geworden war, unter ſeinen Füßen weichen fühlte, ſchreckte entſetzt auf und flüchtete, ſeine Heimath zu verlaſſen. Da Donner und Knall! als ob die Urfundamente der Erdrinde zer¬ borſten wären, ein raſſelnd-ſchmetterndes Krachen, ein knatterndes Gepraſſel, als ob ein tauſendzackiges Blitzbündel aus den ver¬ derbendrohenden Wolken auf einen Schlag zernichtend in die Grundpfeiler der Berge hineingefahren wäre und das Innerſte der Gebirge zerſprengt und zertrümmert hätte. Die Steinbergerfluh, eine Felſenmaſſe von mehren Millionen Kubikklaftern, ſammt allem darauf ſtehenden Hochwald und die darunter terraſſirt ſich nieder¬ ſenkende, mehr als hundert Fuß hohe Nagelfluh-Wand des Ge¬ meinde-Märcht waren eingeſtürzt. Dies war das Signal zu einem allgemeinen Zerſtörungsakt; denn nun begann ein Schau¬ ſpiel, welchem an furchtbarer Großartigkeit kaum eine andere Er¬ ſcheinung zu vergleichen iſt. In wildeſter Auflöſung jagten Felſen¬ blöcke und Steinſplitter, Erdſchlamm und Raſenfetzen, Geſträuch¬ knäuel und Baumſchäfte, Alles in bald hoch aufwirbelnde, bald56Der Goldauer Bergſturz. fallende Staubwolken gehüllt, über die Berghalde dem Goldauer Thale zu. Ein Trümmerfragment ſchien das andere an Geſchwin¬ digkeit überholen zu wollen; es war ein Wettrennen der rohen Materie. Die chaotiſch ſich häufenden Sturzmaſſen, die hetzende Schnelligkeit, die allgemeine Verwirrung wuchſen von Augenblick zu Augenblick. Hausgroße Gebirgsbrocken mit aufrecht darauf ſtehenden Tannen ſauſten, wie von dämoniſchen Fäuſten geſchleu¬ dert, frei ſchwebend, gleich fliegenden Vögeln, hoch durch die Lüfte; andere Felſenſcherben ricorchettirten wie Geſchoſſe einer Rieſen¬ kanonade, von Zeit zu Zeit aufſetzend, immer wieder in hohen Bogen emporgeſchnellt; noch andere prallten auf der Sturzbahn mit ihren Sturmesgenoſſen zuſammen und zerſpritzten wie die Funken weißglühender Eiſenſtangen unter der Wucht des Eiſen¬ hammers. Es war eine Scene aus dem Titanenkampfe der grie¬ chiſchen Mythe.

Hinunter praſſelt und donnert und dröhnt,
Was eben noch den Berg gekrönt,
Der Berg, zerſchmettert zu Schutt und Kies,
Der See, gefüllt mit Geröll und Gries
Das rollt und wälzt ſich endlos fort
Und ſchwillt und wächſt von Ort zu Ort;
Zerknickt die Tannen mit grauſer Kraft
Und ſchießt als Wurfſpeer weiter den Schaft.
Der Boden zittert und wankt und wiegt,
Bis rings die Stätte begraben liegt.
Weithin begraben Hügel und Grund
Des Berges Flanken ſchrundig und wund,
Mit Splittern und Grand das Thal gefüllt
Und leichenfahl Alles ringsum verhüllt.
(M. Waldau.)

Binnen wenig Minuten waren über hundert Wohnhäuſer und eben ſo viele Ställe und Scheunen zerſtört; denn die ganze Halde des Roßberges, bis faſt hinauf zum Gnypenſpitz, deſſen äußerſten Gipfel ein großes hölzernes Kreuz ſchmückt, war damals mit be¬ wohnten Häuſern überſäet, und drunten im Thal zwiſchen dem Zuger - und Lowerzer-See lagen die begüterten Ortſchaften Goldau,57Der Goldauer BergſturzBuſingen und Lowerz. Vierhundert und ſieben und fünfzig Men¬ ſchen fanden ein großes gemeinſames Grab unter dem Trümmer¬ felde.

Und bei dieſem ſchrecklichen Ereigniß, welch wunderbare Ret¬ tungsgeſchichten. Faſt zu alleroberſt unterm Spitzenbühl wohnte damals Bläſi Mettler mit ſeinem blutjungen 19jährigen Weibe Agathe. Als drüben am Gemeinde-Märcht der hölliſche Spektakel losging, wähnte der an Hexen und Geſpenſter glaubende Berg¬ bauer, böſe Geiſter trieben dort ihr Spiel. Das heulende Ge¬ ſchrei der Waldeulen hielt er für Jubelgeſang teufeliſcher Dämo¬ nen, das Pfeifen und Brauſen in dem Felsgeklüfte für Jammer¬ rufe verfluchter Seelen, welche ihn warnen wollten, und die donnernden Einſtürze des Berges für Werke des Satans oder für Vorboten des jüngſten Gerichtes. Von Jugend auf im Aberglau¬ ben erzogen, vollgepfropft und vollgeſtopft mit Sagen von Schatz¬ gräbern, Kobolden und Unholden, einſam, abgeſchloſſen von aller menſchlichen Geſellſchaft lebend, ſchuf ihm ſeine rege Phantaſie die abenteuerlichſten Bilder. Um nun ſich, ſein Weib und Kind zu ſichern gegen die Angriffe des böſen Feindes, eilte er ſpringenden Fußes hinab ins Pfarrhaus nach Arth und bat den dortigen geiſt¬ lichen Herrn unter Thränen und Schluchzen, mit ihm hinaufzu¬ kommen und zu benediciren, d. h. die böſen Geiſter zu bannen. Noch während er jammerte und erzählte, brach die Kataſtrophe völlig los. Mettler, ganz von Sinnen, zog ſeine Schuhe aus und rannte wie wahnwitzig ſeinem mehr als eine Stunde entfernten Hauſe zu. Der Zweifel, ob ſein geliebtes Weib und ſein vier Wochen altes Kind ein Opfer des Bergſturzes geworden ſeien, brachte ihn beinahe um den Verſtand. Wie wars unterdeſſen droben gegangen? Das arme junge Weib in entſetzlichſter Bangigkeit bei dem fort¬ während zunehmenden gräßlichen Getöſe, bei der faſt ununterbro¬ chenen Erſchütterung der Hütte, verlebte während ihres Mannes Abweſenheit Stunden der unſäglichſten Angſt. Da kam die Zeit58Der Goldauer Bergſturz. heran, in welcher ſie, nach Landesſitte, für ihr Kind den Abend - Brei zu kochen gewohnt war. Schon hatte ſie Milch und Mehl eingerührt und das Feuer auf dem Heerde angezündet, um mit dem Kochen zu beginnen, als der donnerähnliche Knall und ein Wanken des Hauſes in ſeinen Grundmauern ſie tödtlich erſchreckte. Unſchlüſſig, ob ſie bleiben oder fliehen ſolle, ſprang ſie in die Stube, entſchloſſen mit dem Kinde ins Freie zu flüchten, wenn es wach ſei, anderenfalls aber deſſen Schlaf nicht zu ſtören und im Hauſe zu bleiben. Und ſiehe, das Kind lag wachend, ohne Geſchrei in der Wiege. Eilends reißt ſie daſſelbe unter Herzen und Küſſen empor, nimmt aus dem Gänterli (Wandſchrank) ihres Mannes geringe Baarſchaft und eilt über die Schwelle, während der Boden unter ihren Füßen lebendig geworden zu ſein ſcheint. Kaum hat ſie den Gaden (Stall) ihres Heimweſens erreicht und raſtet, athemlos ſich umkehrend, einen Augenblick, als ſie ſteht, wie ihr ſo eben verlaſſenes Wohnhaus zertrümmert, in jagender Flucht der Tiefe zugeſchleudert wird, und ein tobendes Meer der Ver¬ wüſtung an ihren umnachtenden Blicken vorüberjagt. So findet ſie der ſchweißtriefend herbeieilende Bläſi. Bei dem gänzlichen Verluſte all ſeiner Habe dankte der arme Mann dennoch mit Thränen der Rührung dem Himmel für die Rettung der Seinen.

Etwa 500 Schritt tiefer wohnte ſein Bruder Baſtian, der zur Zeit des Bergſturzes mit dem Vieh ſich auf der Allmendweide am Rigi befand. Die Frau deſſelben aber mit zwei kleinen Kin¬ dern war im Hauſe, als es vom Sturz ergriffen und verſchüttet wurde. Wie das gräßliche Ereigniß ausgetobt hatte und das Volk ſich ſchüchtern dem Schauplatz des Schreckens wieder näherte, eilten auch die Eltern und Geſchwiſter der Frau Mettler hinauf, um zu ſehen, was aus ihr und ihren Kindern geworden ſei. Vom Hauſe war keine Spur zu erblicken; Alles lag im großen Trüm¬ mergrabe. Nur in einiger Entfernung von jener Gegend, wo das Haus geſtanden hatte, lag in Mitte der Schlamm-Maſſe ein mit ge¬59Der Goldauer Bergſturz. dörrtem Buchenlaub geſtopfter Bettſack und auf demſelben ſchlafend, im Hemdchen das kleinſte Kind. Mit Lebensgefahr ſtieg der Onkel deſſelben in die breiweiche, mit Steinblöcken untermengte Schutt¬ lauine und rettete den kleinen Schläfer. Nur wenig Schlamm war ihm ins Geſicht geſpritzt, ſonſt war er völlig unverſehrt. Welch wunderbare Fügung das Kind in Mitte des tauſendfach einherbrauſenden Todes erhalten hatte, wie die Trümmer des ein¬ ſtürzenden Hauſes und das ſchwere Dachgebälk gefallen ſein mö¬ gen, ohne das Kind zu berühren, wie dieſes, gleichſam von unſicht¬ baren Händen getragen mit dem gleichen Polſter, auf welchem es vor der Kataſtrophe ſchlief, auf den Trümmerhaufen mag niederge¬ legt worden ſein, iſt faſt unerklärlich. Jetzt iſts ein 58 jähriger Mann, Sebaſtian Meinrad Mettler, der in Goldau drunten wohnt.

Die wunderbarſte der vielen Rettungsgeſchichten ereignete ſich aber in der Gemeinde Buſingen, unweit des Lowerzer-Sees. Dort bewohnte Joſeph Lienhard Wiget, ein baumfeſter, kerngeſunder Mann von 32 Jahren ſammt Frau und fünf Kindern ſein ſchönes, bäuerlich-wohlhäbiges Heimweſen zum unteren Lindenmoos. Er war ein glücklicher, zufriedener Mann. Als der Bergſturz los¬ brach, war Wiget mit den Seinigen im Grasgarten beſchäftigt Obſt aufzuleſen, welches Regen und Wind herabgeſchlagen hatten. Eilends erfaßte der beſonnene Mann, als er den Berg kommen ſah, ſeine beiden älteſten Knaben und lief mit ihnen einer dem Roßberge gegenüberſtehenden Anhöhe zu, indem er ſeiner Frau dringend zurief, ihm mit den kleineren Kindern ſchleunigſt zu fol¬ gen. Die Mutter, welche ein im Hauſe ſchlafendes eilfmonatliches Kind nicht dem gräßlichen Schickſale preisgeben wollte, flog noch¬ mals in die Wohnung. Ihr folgte durch eine andere Thür die Magd Franziska mit dem fünfjährigen Marianneli. Im Moment des Eintretens in die Stube umfinſtert ſich Alles, völlige Nacht verhüllt das unter Donnerkrachen zerberſtende Haus und die Ar¬ men ſind verſchüttet. Franziska fühlt ſich hin - und hergeſchleudert,60Der Goldauer Bergſturz. niedergeworfen und hat endlich das Gefühl, als ob ſie in einen endloſen Abgrund ſtürze; die Beſinnung verläßt ſie. Als ſie wie¬ der zu ſich kommt, vermag ſie nicht ſich zu rühren noch zu regen und fühlt, daß ſie wie eingemauert, rings von kaltem, naſſem Schlamm umgeben, auf dem Kopfe ſteht. Nur das Geſicht iſt ihr frei, ſo daß ſie athmen kann. Da wähnt ſie, der Untergang der Welt ſei eingetreten, alles Lebende vernichtet und ſie allein in Mitte des Erdballes, in ihrem Grabe das einzige noch lebende Weſen. So, in tödtlicher Angſt betend, hört ſie eine weinerliche Stimme, immer lauter werdendes Wimmern; ſie ruft, fragt und erkennt an der Antwort, daß es die kleine Marianne iſt, von wel¬ cher das Stöhnen herrührt. Trotz der gräßlichen Lage, fühlt ſie ſich hoch entzückt, noch ein lebendes Weſen, und dazu ein ge¬ liebtes, in ihrer Nähe zu wiſſen. Geſpräch und Austauſch der Mittheilungen beginnen. Marianneli erzählt, daß es zwiſchen Ge¬ ſträuch und Balken auf dem Rücken liege, ſich nicht rühren könne, aber durch einen ſchmalen Streifen der Finſterniß ins Grüne blicken könne. Die fromme Franziska hält es für eine Ausſicht ins Paradies. Unter anhaltendem Gebet, Seufzen, Klagen und Weinen vergeht geraume Zeit. Da hören Beide die Töne einer Glocke. Es iſt das friedliche Abendgeläute vom Steinerberge, die um 7 Uhr ertönende f. g. Betglocke. Jetzt überzeugt ſich Fran¬ ziska, daß der Welt Untergang noch nicht hereingebrochen ſei, und leiſes Hoffen auf Rettung dämmert in ihrer Seele auf. Beide rufen um Hilfe, ſie ſchreien, aber vergeblich! Todtenſtille wie im Grabe herrſcht rings in kalter Finſterniß. Jetzt taucht zum erſten Mal der folternde Gedanke: Lebendig begraben! in Fran¬ ziskas Seele auf. Aber ſie muß ihn niederkämpfen, verbergen vor dem armen Kinde, um deſſen Angſt nicht noch zu vermehren. Sie hören das ſpätere zu Nachtläuten in Steinen und beten aufs Neue, ohne Unterbrechung, ſtundenlang; aber keine Errettung will ſich zeigen. Nun empfindet das Kind auch ſtechende Schmer¬61Der Goldauer Bergſturz. zen am Unterkörper und die Marter nagenden Hungers. Fran¬ ziska will vor Leid vergehen, ihrem Liebling nur leere Troſtesworte ſtatt reeller Speiſe und Labung reichen zu können. Sie muntert daſſelbe unter allerlei Vorſpiegelungen (an deren Erfüllung ſie ſelbſt nicht glaubt) auf, ſich zufrieden zu geben und ſucht das arme leidende Weſen zu beſänftigen. Die Klagen des Kindes werden immer ſchwächer, immer gebrochener, unartikulirter, end¬ lich ſchweigen ſie ganz. Gott ſei Dank, es hat es überſtan¬ den! ſeufzt das treue Mädchen und bereitet ſich ſelbſt zum Abſchiede vom Leben vor; denn die Leidensſtunden fangen jetzt an faſt unerträglich zu werden, und Todeskälte durchſchauert, fieber¬ haft ſchüttelnd, Mark und Bein. Nach entſetzlich mühevollen, lan¬ gen, langen Verſuchen gelingt es ihr endlich, die Füße aus dem umgebenden feſten Schlamm etwas zu befreien, ſo daß ſie dieſel¬ ben bewegen und dadurch wieder einige Cirkulation des Blutes hervorrufen kann. Der ganze übrige Körper bleibt nach wie vor ſtarr eingemauert. Wie entſetzlich martervoll eine ſolche Lage ſein mag, vermögen Worte nicht auszumalen.

Endlich iſt eine ganze lange Nacht in dieſem halbtodtähnli¬ chen Zuſtande durchwacht. Die Morgenglocke am Steinerberge und dann auch die zu Steinen ertönt; ſie läutet abermals Hoff¬ nung in das beinahe gebrochene Herz. Wiederum entſtrömen tief¬ innige Gebete ihren krampfhaft gepreßten Lippen, und wie ein Strahl der aufgehenden Sonne dringt gewaltſam die zuverſichtliche Ueberzeugung in ſie ein, daß ſie heute errettet werde. Da! o Wunder! ertönt auch wieder die Stimme des geſtorben geglaubten Kindes! Ein krampfhafter Schlaf hatte ihm die Nacht abgekürzt. Es klagt aufs Neue über Hunger, heftige Schmerzen und ruft der Franziska, ihr zu helfen.

Mit Tagesanbruch war der troſtloſe Gatte und Vater mit ſeinen beiden Knaben wieder an die Schauerſtätte geeilt, wo er ſchon am vorhergehenden Abend gearbeitet, um womöglich die62Der Goldauer Bergſturz. Leichen ſeiner geliebten Angehörigen aufzufinden. Die verfloſſene Nacht war die qualvollſte ſeines Lebens geweſen. Ein Bettler, obdachlos, verwaiſt hatte er, der kurz zuvor begüterte Mann, die Barmherzigkeit anderer Menſchen für ſich und ſeine beiden Knaben anſprechen müſſen. Alſo mit Tagesanbruch begann er, unterſtützt von Freunden, aufs Neue ſeine Nachſuchungen. Nach ſtunden¬ langem Arbeiten erblickt er endlich einen Fuß, dann Kleider. Es iſt ſein Weib! Mit haſtiger Sorge arbeitet er, ſchafft, ſeine Rieſen¬ kräfte aufs Aeußerſte anſtrengend, mit Leichtigkeit gewaltige Maſſen zur Seite und hat endlich den ganzen Körper vom Schutt befreit. Da liegt die entſeelte Gattin, zerquetſcht, ein Opfer ihrer Mutter¬ liebe und Muttertreue, die beiden kleinſten Kinder ans Herz ge¬ preßt. Wilder Schmerz durchraſt die Seele des armen Mannes, laut heulend ſtürzt er nieder neben den geliebten Leichnamen und erfüllt die Luft mit ſeinen herzzerreißenden Klagen. Aber, o wun¬ derbare Fügung! Dieſe Jammerlaute dringen bis in die Gräber der beiden lebend Verſchütteten. Beide rufen und ſchreien um Hülfe und die draußen Stehenden vernehmen es. Zuerſt wird nach langem Suchen Marianneli gefunden, befreit und hervorge¬ zogen. Des Kindes Schenkelbein war zerbrochen. Dann ſpäter fand man auch die Magd. Beide wurden dem Leben zurückge¬ geben. Vierzehn volle Stunden hatten ſie mit Körperleiden, Tod und Verzweiflung lebendig begraben gekämpft.

Die Meiſten der Verſchütteten werden eines jähen, momen¬ tanen Todes geſtorben, ihr Körper zerſchmettert worden ſein. Aber wie Viele mögen auch, ähnlich der erretteten Franziska, in der Tiefe der Schutt - und Schlamm-Maſſen mit gebrochenen Gliedern oder völlig unverletzt, körperlich geſund noch Tage lang geſchmach¬ tet und der Erlöſung entgegengehofft haben, um endlich in Ver¬ zweiflung dem qualvollen Hungertode zu erliegen?

Die Summe der damals aus den genannten Ortſchaften mittelbar durch Hilfe oder unmittelbar durch beſonnene ſchleunige63Der Goldauer Bergſturz. Flucht oder durch Abweſenheit vom Hauſe Geretteten beträgt etwa die Hälfte (220) der durch den Sturz ums Leben Gekommenen. Erſchütternd und wahrhaft tragiſch iſt das Schickſal einer Reiſe¬ geſellſchaft, welche den Rigi (in Vorausſetzung baldiger Beſſerung des Wetters) erſteigen wollte. Sie beſtand aus Mitgliedern alter, edler Familien: dem Herrn v. Diesbach und ſeiner Gemahlin, einer geb. v. Wattenwyl, dem Frl. v. Diesbach, dem Obriſt Victor v. Steiger, den Herren Gebrüder May, Jenner von Breſtenberg, einigen Knaben und deren Informator, einem Herrn Jahn aus Gotha. Am Spätnachmittage hatte die Geſellſchaft Arth verlaſſen und wollte zu Fuß nach Schwyz wandern; die Beſteigung des Rigi hatte man aufgegeben. Herr von Diesbach, die Gebr. May und der Lehrer waren einige hundert Schritt hinter der übrigen Reiſegeſellſchaft zurückgeblieben und ſahen dieſelbe ſcherzend und plaudernd ins Dorf Goldau einwandern. Eben wollten auch die Zurückgebliebenen die verhängnißvolle Stätte betreten, als der Donnerton des Einſturzes ſie erſchreckte. Sie blicken hinauf, ſehen die Maſſe in wilder Bewegung dem Thale zujagen und flüchten eiligſt auf der Straße zurück, in der ſichern Vorausſetzung, daß ihre vorangegangenen Freunde ein Gleiches thun werden. Unweit des Punktes, wo ſie erſchöpft raſten, ſchlagen Steinhagel und Felsgetrümmer nieder. Als der entfeſſelte Aufruhr ſich gelegt, eilen ſie wieder dem nunmehr verſchütteten Dorfe zu. Soweit das ſpähende Auge blickt, nur Zerſtörung, nur Schuttwälle, nur wüſtes Chaos, kein Zeichen, nicht die mindeſte Andeutung von dem nur zu gewiſſen Schickſal der verunglückten Freunde und An¬ gehörigen. Der Schmerz der Zurückgebliebenen und ihr Jammer um den Verluſt ſoll herzzerreißend geweſen ſein.

Noch jetzt bildet das Trümmerfeld von Goldau ein Wanderziel aller Reiſenden, die den Rigi und den Vierwaldſtätter-See beſuchen.

Mehre Jahrzehnte hindurch ſah die ganze Gegend, in welcher einſt Goldau lag, erſtorben, unheimlich-ruinenhaft, wie eine vom64Der Goldauer Bergſturz. Fluch betroffene Stätte aus; bei Schritt und Tritt erinnerten Felſenſcherben den Wanderer an den ſchaudererregenden 2. Sep¬ tember 1806. Jetzt hat die Zeit gemildert und die ſchmückende Hand der Vegetation jene traurigen, erinnernden Eindrücke etwas verwiſcht. Jene Trümmergeſteine ſind mit Moos und ſaftigen Saxifragen überkleidet, luſtig wuchern violblaue Kampanulen und duftender weißer Steinklee aus den Rispengräſern und Diſtel¬ pflanzen zwiſchen dem Schutt hervor, anſtrebendes Buſchwerk und zerſtreutes Tännicht überſchatten die Felſenblöcke, und wenn kommende Generationen in das neue Jahrtauſend übertreten, wer¬ den nur undeutliche Umriſſe noch auf die große Grabesſtätte hin¬ deuten.

Längſt über alten Schutt iſt unermeſſen
Geworfen friſcher Triften grünes Kleid;
Gleich wie ein ſtilles, freundliches Vergeſſen
Sich ſenkt auf dunkler Tag 'uraltes Leid.
(A. Grün.)
[65]
Bannwald.

Druck von F. A. Brockhaus in Leipzig.

Der Bannwald.

Die Wurzeln ſind verſunken in Nacht,
Mit Runzeln iſt der Stamm bedeckt,
Doch ſein Geäſt in Jugendpracht
Sich grün und friſch in die Wolken ſtreckt.
Was unten am Stamm verrunzelt ward
In Knorren und Riſſen rauh und hart,
Das blüht hoch oben ſüß und hold
Und trinket freudig der Sonne Gold.
Max Waldau.

Es giebt in der Welt der Organismen keine Erſcheinung, die in ſo vollendetem Einklange mit der ſtillen Erhabenheit der Cen¬ tral-Alpen ſteht, wie der Gebirgs-Urwald. Der Grundbegriff vege¬ tativer Beſchaulichkeit und ſinnenden, träumeriſchen Pflanzenlebens erhält durch ihn ſeinen höchſten ſichtbaren Ausdruck; in ihm tritt uns noch das volle, freie Walten der Natur in großen, markigen Zügen entgegen. Der wohlbewirthſchaftete, regelrecht gezogene und gepflegte Kulturforſt des Tieflandes iſt eine abgeſchwächte Er¬ ſcheinung gegenüber der patriarchaliſchen Würde und dem hohen greiſenhaften Ernſt eines alten Bannwaldes in den Alpen. Beide verhalten ſich zu einander wie die praktiſche, nüchtern-berechnende Neuzeit zu dem romantiſchen, urkräftigen, wilden Mittelalter. Denn in der That ragt der Alpen-Urwald als ein Stück vorzeit¬ lichen Lebens in unſere Tage herüber und mancher der mehrhundert¬Berlepſch, die Alpen. 566Der Bannwald. jährigen Bäume war einſt Zeuge der Großthaten, welche heute die Sage verherrlichet.

Die Bezeichnung Urwald hat durch fremde Reiſebeſchrei¬ bungen eine ſo ausgeprägte Begriffsgränze bekommen, daß unſere Phantaſie unwillkürlich einen Gedankenſprung über den Ocean macht. Es läßt ſich aber ein Vergleich mit dem amerikaniſchen Urwalde nur inſofern aufſtellen, als man damit den jungfräuli¬ chen Urnaturzuſtand des von der menſchlichen Kulturhand noch un¬ berührten Alpenwaldes bezeichnen will; dieſer iſt das einzige, bei¬ den eigenthümliche charakteriſtiſche Merkmal. In allen anderen Beziehungen beruhen ſie auf den entſchiedenſten Gegenſätzen.

Der tropiſche Urwald zeigt einen unermeßlichen Reichthum von Pflanzenformen in den feurigſten und prangendſten Farben, eine ſo unerſchöpfliche Individuenzahl, daß der Bodenraum von geringem Umfang dem Naturforſcher Ausbeute, Beſchäftigung und Studienſtoff für lange Zeiten bietet. Der Alpenurwald da¬ gegen iſt einförmig, anſpruchslos; verhältnißmäßig nur wenige Charakterpflanzen bilden die Elemente ſeiner Zuſammenſetzung. Aber auch dieſe bieten in ihren normalen Körperformen wiederum nichts Auffallendes, Fremdartiges dar. Noch weniger prangt der Alpenwald in anziehendem Farbenſchmucke; dunkeles, ernſtes Ko¬ lorit iſt allenthalben über ihn ausgegoſſen und nur gebrochene, trübe Tinten ſchleichen ſcheu ineinander über. Vergleicht man dann vollends das biologiſche Moment beider, ſo giebt uns der amerikaniſche Urwald ein vollendetes Bild des üppigſten, unver¬ wüſtlichſten, ſiegreichen Lebens, eine Verherrlichung der vegetabi¬ liſchen Wiedergeburt; er iſt ein ununterbrochener Jubel der Auf¬ erſtehung, das immerwährende Oſterfeſt im Pflanzenreiche; überall verbirgt ſich der Akt der Auflöſung unter der reichen, überwuchern¬ den Blätterfülle des jungen ſchimmernden Nachwuchſes, und die Seligkeit ewiger Jugend ſcheint hier zu herrſchen. Der Alpen¬ urwald iſt ein ſtiller Todtenacker, eine jener trüben, finſteren Ver¬67Der Bannwald. weſungsſtätten der Natur, wo Leben und Zerſtörung in materieller Wechſelwirkung unmittelbar in einander übergreifen. In düſterer Schwermuth umſtehen die zähen, dunkelgrünen Arven und ſchlanken Lärchenbäume die modernden Leichen ihrer Vorfahren, paraſitiſch, ſaugt und trinkt der wuchernde Schwamm Lebenskraft und Leibes¬ nahrung aus dem Zellengerippe ſeines abgeſtorbenen Stammes. Und endlich gar das Thierleben, das kreiſchende, flatternde, ſchreiende, brüllende Thierleben des amerikaniſchen Waldes gegen die monotone, öde, ſchaurige Stille des alpinen Gebirgsforſtes! Welch grelle Gegenſätze! Dort tumultuariſcher Lärm zankender Pa¬ pageien, akkompagnirt vom ſchauerlichen, ſchrillen Geſchrei raufen¬ der, bösartiger Affen, widerliche Figurationen in der ergreifenden Harmonie der Cicaden, die das großartigſte Conzert in den bra¬ ſilianiſchen Urwäldern aufführen; dazwiſchen das wimmelnde Leben unzähliger Libellen und metallblanker Fliegen, die wie blitzende Juwelen die Luft durchſummen, das unheimliche Huſchen fliehender großer Echſen, das Raſcheln ringelnder Vipern und Schlangen und die ſchauerweckenden heulenden Klagetöne einer Menge unge¬ ſehener Thiere aus dem Innern des ungeheuerlichen Pflanzenlaby¬ rinths, während der Alpen-Hochwald höchſtens vom hohlen, hämmernden Takte der Spechte widertönt, oder aus hoher Luft der pfeifende, gezogene Ruf der Adler und Geier die lautloſe Stille unterbricht. Nur bisweilen rafft die todte Natur ſich auf und ſtimmt Donnerakkorde an, wenn die Elemente im Streit liegen, die Waldbäche ſchäumend austreten und über Felſentrüm¬ mer ihre Sturzwellen peitſchen, oder die Lauinen in die Tiefe her¬ niederwettern und der Sturm brauſend durch die Wipfel fegt.

So arm und finſter, ſo verſchloſſen und rauh der Alpenurwald ſeinem Milchbruder jenſeit des Weltmeeres nachzuſtehen ſcheint, ſo wunderbar geheimnißvolle Eigenthümlichkeiten und ſeltſame, wilde Reize birgt ſeine ſchauerliche Tiefe.

Nicht jeder Bannwald iſt ein Urwald. Der letzteren giebt es5*68Der Bannwald. eigentlich wenige mehr. Nur in den ſchwach bevölkerten und ſtark bewaldeten großen Hochalpenkantonen Graubünden und Wallis trifft man ſie noch an, und auch hier nur in den Territorien der¬ jenigen Gemeinden, welche Holzüberfluß haben, oder deren Wälder zum Theil ſo tief, verſteckt und unzugänglich im Gebirge liegen, daß die Transportkoſten des Herausſchaffens beim Abholzen den üblichen Marktwerth des Holzes aufzehren würden. Dies iſt na¬ mentlich der Fall in den umfangreichen uralten Waldungen Unter¬ engadins: im Val Sampuoir (der Gemeinde Schleins), im Scher¬ genthal unterm Piz Mondin, im Liſchana-Tobel am Piz St. Jon, in mehren Seitenpartieen des Scarlthales, im Val Zeznina, in der Waldung Surſa ſalm des Uinna-Thales, und ganz beſonders in dem großen Dubenwalde des Turtman-Thales im Wallis.

Bannwälder dagegen hat jedes Hochgebirgsdorf, das von jäh anſteigenden Thalwänden eingeſchloſſen und deshalb von Lauinen, Steinſchlägen oder Erdrutſchen bedroht iſt. Der Bannwald iſt eine durch die Umſtände gebotene Vorſichtsmaßregel, nicht eine durch Holzüberfluß herbeigeführte Vernachläſſigung des Forſtbetrie¬ bes. Es giebt Gemeinden, die, in Folge ſchlechter Forſtwirthſchaft, entſchiedenen Mangel an Brennmaterial haben, daſſelbe kaufen, ſtundenweit aus anderen Gemeindewaldungen herbeifahren müſſen, und dennoch nahe über ihren Häupten große Bannwaldungen ſtehen haben, die ſie nicht abholzen dürfen. Ein Beiſpiel dieſer Art giebt das Dorf Andermatt im Urſerenthale mit dem darüber¬ liegenden St. Anna-Walde.

Der Bannwald hat die Aufgabe, durch die Summe ſeiner hochaufſtehenden ſtarken Baumſtämme, das Losbrechen und Herab¬ rutſchen der während des Winters ſich anhäufenden Schneemaſſen, alſo die Bildung von Grundlauinen zu verhindern, nicht, wie man gewöhnlich glaubt, Lauinen, die bereits in Gang gekommen ſind, wie ein Damm aufzuhalten. Gegen letztere würde ein ſol¬ cher Wald nur wenig Jahre Widerſtand leiſten; in jedem Frühjahr69Der Bannwald. würden die oberen Waldesränder durch den jähen Anprall der Lauinen (die, wie erzählt, ihre regelmäßigen Abzugskanäle oder Lauinen-Züge haben) ſtark beſchädigt und die jeweilig vorderſten Baumreihen wie Strohhalme umgeknickt werden; nach wenigen Jahrzehnten möchte ein wüſter Holz - und Steintrümmerhaufen ſtatt des ſchützenden Bannwaldes zu erblicken ſein. Dieſe Vorkehrungs¬ nothwendigkeit ſahen die Alpenbewohner ſchon vor Jahrhunderten ein und ſchonten deshalb die geeigneten Waldungen, legten ſie in Bann , d. h. erklärten ſie durch Gemeindebeſchluß als unantaſt¬ bar. Und wie in früheren Zeiten gar oft die Strafe für die Ueberſchreitung eines Geſetzes in ungeheuerliche, myſtiſche, mit dem Volksaberglauben in engſter Beziehung ſtehende Wunderakte ge¬ kleidet wurde, welche unſichtbare Mächte über den Verbrecher verhängen, ſo galten auch die Bäume des Bannwaldes als ge¬ heiligte Gegenſtände. Schiller hat dieſen Volksglauben in ſeinen Wilhelm Tell (3. Akt, 3. Scene) eingewebt. Der Knabe Wal¬ ther fragt:

Vater, iſts wahr, daß auf dem Berge dort Die Bäume bluten, wenn man einen Streich Drauf führte mit der Axt

Tell:

Wer ſagt das, Knabe?

Walther:

Der Meiſter Hirt erzählts die Bäume ſeien Gebannt, ſagt er, und wer ſie ſchädige, Dem wachſe ſeine Hand heraus zum Grabe.

Tell:

Die Bäume ſind gebannt, das iſt die Wahrheit. Siehſt Du die Firnen dort, die weißen Hörner, Die hoch bis in den Himmel ſich verlieren?

Walther:

Das ſind die Gletſcher, die des Nachts ſo donnern Und uns die Schlaglawinen niederſenden.

Tell:

So iſts, und die Lawinen hätten längſt Den Flecken Altdorf unter ihrer Laſt Verſchüttet, wenn der Wald dort oben nicht Als eine Landwehr ſich dagegen ſtellte.

Der Glaube, daß es blutende Bäume gebe, war im Mittel¬ alter weit verbreitet. Die Blutlinde auf Burg Freienſtein bei Wiesbaden ſoll ihren Namen daher haben; die heilige Eiche zu70Der Bannwald. Romove blutete, als die preußiſchen Ordensritter ſie fällten; ebenſo der berüchtigte Holzbirnbaum im Walde bei Lupfig (Kant. Aargau), und nordiſche Mährchen berichten viele ähnliche Geſchichten (vgl. Rochholz, Schweizerſagen).

Die Forſtkultur, welche bis in die allerjüngſte Zeit gerade in den Hochalpenkantonen ſo zu ſagen gar nicht exiſtirte, konnte ſich ſomit auch nicht auf eine rationelle Behandlung der Bannwälder erſtrecken. Dieſe waren und ſind zum Theil noch Prototype des ſinnloſeſten, ſchädlichſten Konſervatismus. In der Meinung, daß durchaus kein Stamm gefällt werden dürfe, wurden die mehrhun¬ dertjährigen Bäume abſtändig, ſtürzten um und beſchädigten durch ihren Fall nicht nur die nebenſtehenden, jüngeren, kräftigen Bäume, ſondern zerſtörten auch dadurch, daß der Stock ſammt Wurzeln und Ballen aus der Erde riß, die meiſt dünn auf den Felſen liegende Bodenſchicht der Dammerde. Oder wo der Windbruch ein Stück Wald warf, da nahmen die Gemeindeangehörigen gerade eben das Holz heraus, was ihnen momentan dienlich war, und ließen das übrige liegen, wodurch begreiflich die Regeneration, der junge, kläftige Nachwuchs ſehr gehindert wurde. Darum ſehen viele Bann¬ wälder, namentlich in den Urkantonen und im Teſſin, Wallis und Graubünden entſetzlich wild und zerſtört aus. Eine Wanderung durch einen ſolchen wird uns näher vertraut mit ſeinen charakte¬ riſtiſchen Eigenthümlichkeiten machen.

Alle Bannwälder beſtehen faſt nur aus Nadelholz, beſonders aus Arven oder Zirbelkiefern (Pinus cembra) und Lärchen (Pi¬ nus larix), die vorherrſchend in den öſtlichen Alpen, namentlich in der rhätiſchen Plateaubildung als geſchloſſene Maſſen bis zu 6000 pariſ. Fuß übers Meer anſteigen, und aus Rothtan¬ nen oder Fichten (Pinus abies L.) und Kiefern (Pinus syl¬ vestris), auch Dähle genannt, die mehr in den weſtlichen Alpen die Waldbeſtände bilden und deren ſammethafte Vegetations¬ gränze meiſt ſchon bei 5500 Fuß aufhört. Das Holz der71Der Bannwald. Alpenbäume iſt, weil es unter dem hindernden klimatiſchen Ein¬ fluſſe langdauernder Winter viel langſamer wächſt, auch viel der¬ ber, zäher, feſter, härter, engere Jahresringe abſetzend, als das des tiefliegenden, in fetter Dammerde wurzelnden, raſch wachſenden Waldes der Hügelregion oder des Flachlandes. Darum hat der Baum des Alpenwaldes nicht nur bei einem Alter, wo er drunten als ſchlagfähig und ausgewachſen angeſehen wird, ein noch viel unausgebildeteres Ausſehen, ſondern ſein Wuchs wird auch ge¬ drungener, trotziger, widerſtandsfähiger, ohne deshalb, wenn er nach Jahrhunderten ſeine möglichſte Größe erlangt hat, niedriger zu ſein als die Tanne, Lärche und Kiefer des Tieflandes. Laub¬ holz kommt in den Waldungen der Hochwälder äußerſt wenig vor; die einzigen Laubbäume, welche hin und wieder einige Verbrei¬ tung haben, ſind der Berg-Ahorn (Acer pseudoplatanus L.) und die weißſtämmige Birke (Betula alba), die bis 5000 Fuß anſteigen. Weiter hinauf, über die hier angegebenen Gränzen hin¬ aus, hört die Waldform auf, die Bäume bilden keine geſchloſſenen Beſtände mehr, ſtehen zerſtreut umher und gehen endlich in Zwerg¬ formen oder ſ. g. Knieholz über.

Am Bedeutendſten iſt das Leben der kleinſten und niedlichſten Pflanzenorganismen, der Laub - und Lebermooſe und der Flechten in dieſen Wäldern entwickelt. Ganz beſonders reiche Fundgruben erſchließen ſich dem Bryologen auf den granitiſchen Centralknoten und Waſſerſcheiden der Alpenkette. Von der wu¬ chernden Fülle der oft mehr als Fuß hoch ſchwellenden Polſter, welche die Mooſe am Boden große Strecken weit bilden, macht man ſich kaum einen wahren Begriff. Alles überkleiden, um¬ ranken, beſpinnen ſie mit ihren reizenden, unendlich mannigfaltigen Formen; ſie ſind gewiſſermaßen das mildernde, verwiſchende, aus¬ ſöhnende Element der Pflanzenwelt in dieſen finſteren Baumlaby¬ rinthen, unter deren weichen Umarmungen die Trümmer allmählig dem Blicke entzogen werden und verſinken. Was der heißdampfende,72Der Bannwald. Schlangen und gefährliches Gewürm bergende Blätterboden für die tropiſchen Urwälder iſt, das ſind die dichten Mooskiſſen für die Alpenwälder. Niſtet in ihnen nun gleich nicht jene den Natur¬ forſcher bedrohende Natternbrut, ſo ſind ſie doch für den, welcher einen alten Bannwald durchklettern will, nicht minder gefährlich, weil in dieſen unheimlich elaſtiſchen Maſſen kein ſicherer Tritt zu finden iſt und der Fuß, zwiſchen verborgene Steine tretend, leicht umknicken und durch eine Bänderluxation beſchädigt werden kann.

Das ausgedehnteſte Kontinent ſtellen die Aſtmooſe oder Hypnaceen, von denen Hypnum triquetrum und splendens als die, auch in den Wäldern Deutſchlands verbreitetſten, am Be¬ kannteſten ſind. Außer dieſen beiden Arten füllen die Alpenwälder noch Hypnum molluscum die lebhaft grün leuchtenden H. den¬ ticulatum und sylvaticum, das gelbbräunliche H. tamariscinum, das ſaftige, feuchte, lange Ranken treibende H. purum und das wunderſchöne H. striatum mit ſeinen zarten grünen Fühlfäden und den auf haardünnen Stengeln neugierig die Sammetfläche überſchauenden kümmelkornähnlichen Saamenkapſeln. Faſt ebenſo maſſig treten die Gabelmooſe auf, ganz beſonders der reiſer¬ ſtengelige Gabelzahn (Dicranum scoparium), leuchtend ſaftgrüne, atlasglänzende, mollige Polſter webend und das, weit umfang¬ reicher ſich veräſtelnde wellenförmige Gabelmoos (D. undulatum). Dazwiſchen ſchmarotzen eine Menge Flechten, unter denen Cetraria islandica, das isländiſche Moos und C. cucullata, die Tartſchenflechte ihren korallenartigen Aſtbau am Bemerkbarſten hervorſchieben.

Aus dieſer dichten Moosdecke ragen die knorrigen, riſſig¬ grauen Arven, die harzſpendenden, luftiggenadelten, ſchlanken Lär¬ chen und ockerbraunen Tannen wie aus einem großen, warmhalten¬ den Winterpelze hervor. Nur an etwas lichteren Stellen und Waldblößen haben graugrüne Heidelbeerſträuche (Vaccinium Myrtillus), das Herrgottsſüppli oder Sauerklee (Oxalis aceto¬73Der Bannwald. sella), der gemeine Kellerhals (Daphne Mezereum), die kugel¬ köpfige Klettendiſtel (Carduus personata), die wollköpfige Kratzdiſtel (Cirsium eriophorum), der kriechende, ſchlangen¬ ähnliche Bärlapp (Lycopodium annotinum), die keck aufſtreben¬ den Zirkelgruppen von Farrenkräutern, namentlich Aspidium lonchitis, lobatum, Cystopteris montana und Polypodium al¬ pestre, der weiße Germer (Veratrum album), und wo es noch luftiger und freier wird: das niedrige Geſtrüpp des Zwergwach¬ holders (Juniperus nana), das Berg-Johanniskraut (Hype¬ ricum montanum), das Weidenröschen (Epilobium alpestre und Gesneri) mit ſeinen karminglühenden Kronen, die heideartige reizende Azalea procumbens mit ihren lederartigen Blättern und viele andere Alpenpflanzen ſich emporgekämpft und dominiren über die Mooſe.

Wir verlaſſen aber den Bannwald noch lange nicht; wir dringen erſt recht in ſeine ſtillen, geheimnißvollen Verſtecke ein. Der Weg bergauf, durch das die Füße immer mehr umſtrickende Moos, in welches man bis in die Kniee einſinkt, wird immer be¬ ſchwerlicher. Bald verſperrt ein entwurzelter, bleich vermodernder Stamm das Fortkommen. Er muß überſtiegen werden. Es folgen noch ein zweiter, dritter und weiter hinauf ein ganzes Verhau, eine förmliche Naturbarrikade. Gleich zerbrochenen Schwefelhöl¬ zern liegen die entſchalten, grau-vermodernden Todtenknochen des Waldes umher;

In dunkler Nacht, wenn Stern 'und Mond nicht glänzen,
Umquillt phosphoriſch Licht den morſchen Baum.
Traun ihn umwallt von ſeinen todten Lenzen
Ein leuchtender und ſchöner Grabestraum.
(A. Grün.)

Es iſt das Schlachtfeld einer Lauine, die der Frühling als donnernden Liebesgruß ſeinen Kindern herabſandte. Daneben liegt die Bahn, die ſie durchfahren; die alten, bleichen, vermorſchten Stämme, die ihre Umarmung tödtete, bezeichnen den Weg, an dem die Schleppe ihres Schneekleides hinſtreifte. Welch ein Bild74Der Bannwald. der Zerſtörung! Welch groteske, abenteuerliche Gruppirungen von zerſplitterten Bäumen, übereinander gewälzten Geſteinstrümmern, hochaufgeworfenen Schuttwällen, durchwühlten Erdhaufen und Ge¬ ſtrüppfaſchinen! Und wie geſchäftig umklettern Flechten, Pilze und Mooſe die Gefallenen und ſaugen ihnen gierig die letzten Lebenstropfen aus. Orthotrichum speciosum, dieſes lebhaft¬ gelbgrüne Moos, das auch die alten Obſtbäume des Flachlandes nicht unverſchont läßt, überzieht in Gemeinſchaft einer Unmaſſe von grauen und fahlen Flechten das abgeſtorbene Tannengezweige gänzlich. Die Stämme umkriecht in gewundenen Ranken die Georgia mnemosynum; in den Spalten und Rißwunden haben freudiggrüne Aſtmooſe, namentlich Hypnum puichellum und serpens ſich angeſiedelt, äußerſt zarte, lebhaft-purpurrothe Frucht¬ ſtielchen treibend; an manchen Stellen breiten ſich Knotenmooſe wie Bryum longicollum und capillare als dicht gedrängte Schöpfe gelbgrün-glänzend, große Flächen in Beſchlag nehmend, aus. Dies ſind nur einige der form - und farbeſchönen Paraſiten, die durch die Zierlichkeit ihres Baues und ihren leuchtenden Glanz das Auge entzücken. Dazwiſchen aber drängen ſich Legionen unſchöner Flechten hervor, wie die graugrüne Biatora icmadophila mit den fleiſchfarbenen Apothecien, die ungemein große hellbraune Sticta pulmonacia, die ſchmutzig-zinnoberrothe Lepra cinnabarina und die ſchwefelgelbe, ſtaubige L. sulphurea u. a.

In dieſen mikrokosmiſchen Anſiedelungen der Pflanzenwelt lebt und webt nun eine Inſekten-Bevölkerung von Raubſpinnen und Ameiſen, Tauſendfüßlern und Milben, Käfern, Fliegen und Würmern in beſtändigem Kriege, gräbt ſich Höhlen in der korkig¬ ſchwammigen Textur des verfaulenden Holzes, ſpinnt ſich Neſter zwiſchen den Mooszweigen, verſchanzt ſich unter dem Thallus der Flechten, liegt im Hinterhalt auf dem Sprunge, oder beſorgt mit ängſtlicher Geſchäftigkeit die häuslichen Bedürfniſſe der kleinen Oekonomie. Welch eine unendlich reiche Welt im Kleinen erſchließt75Der Bannwald. ſich hier in Mitte der großen, ſcheinbar erſtorbenen Waldesein¬ ſamkeit? Welch ein unabſehbares Feld für die Forſchungen des Naturfreundes umfaßt ein einziger vermodernder Baumſtrunk mit ſeinen ſichtbaren und verborgenen Bewohnern? Ein ganzes Men¬ ſchenalter würde nicht ausreichen, um den Lebensprozeß und die Lebensaufgabe eines jeden dieſer unſcheinbaren, minutiöſen Thier¬ chen, ſein Entſtehen und Vergehen, den Organismus ſeines Kör¬ pers und die Funktionen der einzelnen Glieder, ſein Schlafen und Wachen, ſein Genießen und Ertragen, ſeine Neigungen, Bedürf¬ niſſe und Kämpfe, ſeine Lebensdauer und ſeine Abhängigkeit vom großen allgemeinen Schöpfungsgeſetze, und wiederum die Be¬ ziehung und das gegenſeitige Verhältniß aller untereinander er¬ gründen zu können. Die Gränzen unſerer Forſchung ſind be¬ ſchränkt. Der Menſch iſt nicht geboren, die Probleme der Welt zu löſen, wohl aber zu ſuchen, wo das Problem angeht, und ſich ſodann in der Gränze des Begreiflichen zu halten. (Goethe. )

Durch dieſen improviſirten Natur-Plänterſchlag weiter vorzu¬ dringen iſt faſt unmöglich; zu Hunderten liegen die entwurzelten, zerſpällten, gebrochenen Stämme umher, durch - und übereinander geworfen und wehren mit den hinausſtarrenden nackten Aſtarmen und den gen die Wolken gekehrten Wurzelknorren jeder Annähe¬ rung. Dazwiſchen aber ſproßt junges, ſtrammes Tännicht auf; ja ſogar aus den Rumpfen der abgeknickten Waldrieſen ſtrömt neues Leben und beſtrebt ſich zu grünen, zu regeneriren. Einige hun¬ dert Schritte ſeitwärts tieft ſich ein Tobel ab, der Gletſcher¬ bach rauſcht dumpf herauf, dort wird etwas beſſer fortzukom¬ men ſein.

Tobel heißen in den Schweizer Alpen jene unangebauten, menſchenleeren, kleinen Seitenthäler, oder zwiſchen hohe, bewaldete, felſenriſſige Berge eingeſchnittene Schluchten, deren Tiefe ein Flu߬ bett ausfüllt, ſo daß die Thalſohle für den Verkehr unpraktikabel iſt. Die Wände fallen gewöhnlich ſehr ſteil ab und das Ganze76Der Bannwald. endet in einer wilden unbetretenen Waldung oder in einer jäh gegen den Gebirgskamm anſteigenden, öden, aller Vegetation ent¬ blößten, trümmerbedeckten Rüfe oder Runſe. Es iſt ein uralt deut¬ ſches Wort, das ſchon in Notkers Pſalmen vorkommt. Im Kant. Bern nennt mans Krachen , in den franzöſiſchen Bergen Gorge . In dieſe wüſten, unheimlichen Tobel verlegt der Volksglaube den Aufenthalt böſer Geiſter und geſpenſtiſcher Unholde. Die Be¬ wohner der Umgegend von Bellinzona laſſen im Sementina-Tobel die Seelen der Geizhälſe, ungerechten Vormünder und Wucherer ſchmachten; der Lenker ſchreibt die Schlamm-Ergüſſe und Verhee¬ rungen, welche aus der Jllhorn-Schlucht hervorbrechen, dorthin verbannten Verfluchten zu; vom Skalära-Tobel weiß der Stadt - Churer viel ungeheuerliche Sagen von polternden Dämonen, Heerdmandli und Mooswybli zu erzählen, und das ſ. g. Enziloch unterm ausſichtreichen Napf im Entlibuch gilt ausſchlie߬ lich als die Heimath abgeſchiedener reicher Blutſauger und Arme¬ Leute-Bedrücker; gemeiniglich werden ſie nur die Thalherren ge¬ nannt, und wenn Nachts der Sturm die Schlucht durchheult, daß die Tannen krachen und Felſenblöcke praſſelnd in die Tiefe ſtürzen, ſo ſagt das Volk: es zieht ein neuer Thalherr ein! An ſol¬ chen Tobeln ſind alle großen Alpenthäler ſehr reich, ganz beſon¬ ders aber die Graubündner Thalſchaften Prätigau, Davos, Schanfigg, Unterengadin und Border-Rheinthal das Wallis und Teſſin. Gewöhnlich läuft der dieſelben durchziehende Fußweg (wenn ein ſolcher vorhanden iſt), in großen Krümmungen, der Grund-Dispoſition des Tobels folgend, auf halber Höhe hin, buch¬ tet häufig weit zur Seite ein, ſekundäre, tobelähnliche Mündungen umgehend, und ſenkt ſich nur dann in ſteilem, holperigem, von kahlgelegten Wurzeln durchflochtenem Pfade zur Schluchtentiefe nieder, wenn er das Tobel durchſchneiden muß.

Auch hier hat die Einſamkeit, aber wieder in ganz anderer Weiſe, ihre Stätte aufgeſchlagen. Es iſt hochromantiſche Wildniß,77Der Bannwald. ſchauerig und doch anheimelnd, auch ein Schauplatz der unab¬ läſſig am Gebirgskörper nagenden Zerſtörung, aber ganz anderer Art als alle übrigen. Bunte Gruppirungen in ungemeiner For¬ menmannigfaltigkeit von herabgewälzten Granitblöcken, glattge¬ ſchliffenen Kalkſteintafeln und kleineren Geſchiebe-Ablagerungen bauen ſich im Bachbett auf, ornamentale Phantaſieſpiele der Natur, über welche das kryſtallene oder leuchtend hellgrüne Wald¬ waſſer in Kaskadellen herabplätſchert.

Die Pygmäen der Pflanzenwelt, die Mooſe, Flechten und Saxifragen haben auch hier, auf den Felſen, ſich wieder ange¬ ſiedelt. Mit haardünnen Wurzelfingerchen klammern ſie ſich in den Geſteinsporen feſt, bohren immer tiefer hinein, durchflechten dieſelben aufs Emſigſte und umſchlingen jede kleine Erhabenheit ſo innig, daß es oft Mühe koſtet, ſolch einen kleinen Eigenſinn von ſeiner Scholle abzulöſen. Die Flechten ſaugen ſich noch viel feſter ein, ſie erſcheinen gleichſam wie aus dem Felſen heraus¬ gewachſene mineraliſche Blüthen. Alle aber ſind wieder andere Arten als jene auf den vermodernden Bäumen vorkommenden. Zunächſt iſt es das weitverbreitete Mohrenmoos (Andreaea rupestris) und das alpine Steinmoos (A. alpina), das mit ſeinem bronzeſchwarzen und ſchmutziggrünen Raſen die Felſen be¬ kleidet; dann das gezackte Sternmoos (Mnium serra¬ tum) mit den purpurroth gefärbten Blatträndern und Rippen und das krummgeſpitzte Perlmoos (Weisia curvirostris) u. a. m. Die zähe Lebenskraft dieſer Felſenpflanzen iſt außerordentlich groß; in heißen Sommern, wo die prallende Sonnenhitze die Stein¬ blöcke in dieſen tiefen eingeſchloſſenen Tobeln aufs Heftigſte er¬ hitzt, bekommen dieſe Steinmooſe mitunter wochenlang keinen Tropfen Waſſer als Nahrung: lediglich an der nächtlichen Kühle müſſen ſie neue Lebenskraft ſchöpfen. Dort, wo das Bachwaſſer die Wände beſpritzt und immer feucht hält, kommen das bleiche Knotenmoos (Bryum pallens), ferner Angstroemia virens,78Der Bannwald. Blindia crispula, Bartramia ithyphylla und Oederi, ſchattige Felſen haushoch überziehend, in Maſſe vor. Und wo endlich die Wände vom herabrinnenden Waſſer eigentlich triefen, da mäſtet das kupferbraune Aſtmoos (Hypnum rufescens) ſeine dicken, derben Blätterſchweife.

Der überſchattete Pfad ſteigt längs des Tobels bergan. Wir verſuchen eine zweite Waldexcurſion und dringen wieder in die Säulenhallen ein. Diesmal iſts kein mooſiger Grund, auf dem wir emporklettern; hundertjährige Schichten von Tannen-Nadeln liegen übereinander, zu einem elaſtiſchen Boden ineinandergefilzt. Das eng veräſtelte Dach iſt ſo dicht geflochten, daß nur ſpärliche Lichtblitze von Oben in die tiefe Waldnacht eindringen können; Im Labyrinthe fließt in kargen Tropfen Durchs Laubgewölb 'das Licht, Staubregen kaum! Lenau. darum gedeiht auch das Moos nicht. Aber eine neue, höchſt aben¬ teuerliche Erſcheinung überraſcht uns; in langen zottigen Schöpfen hängt die graugrünliche Bartflechte (Usnea barbata) von den halbverdorrten Aeſten herab. Nicht ein Fädchen dieſer müſſigen Zottelpflanzen bewegt ſich in der windſtillen Mittags¬ wärme; aber durchzieht nur ein leiſer Lufthauch den Wald, dann ſchwankt und ſchweift es unheimlich durch die tiefe Dämmerung, alle beſtimmten Umriſſe verſchwinden, der ganze Einblick geräth in flirrende, huſchende Bewegung und die Alten vom Berge ſchei¬ nen Leben zu gewinnen. In den Engadiner Arvenwäldern kommt eine Varietät vor, Usnea longissima, die mehre Ellen lange dünne Striemen ſpinnt. An den Lärchen dagegen wuchert vorzüg¬ lich die ochergelbe Bandflechte (Evernia divaricata) und gemiſcht unter dieſen der mähnenartige Moosbart (Bryopogon jubatus), auch ſchwarze Bartflechte (Alectoria jubata) genannt, weil ihre äußerſt feinen, mehr als ſpannenlangen Haare tiefbraune Färbung haben.

79Der Bannwald.

Der Empormarſch wird beſchwerlich, weil immer ſteiler und glatter auf dem Genadel. Herabgerollte Felſenbrocken, Druiden - Altären gleich, zeigen ſich hie und da. Ihre Summe wächſt, der Wald lichtet ſich, je höher, deſto mehr, und bald ſtehen wir vor einem maleriſchen, mit ſchwerfaltigen Moosteppichen überhangenen Trümmer-Chaos, halb Forſt, halb Bergſturz. Wir ſtoßen auf die zweite Aufgabe des Bannwaldes: Schutzmittel gegen die ſ. g. Steinſchläge zu ſein. Auf und an den kahlen, verwitternden Gebirgsgrathen geſchichteter Formationen, ſammeln ſich die losge¬ ſprengten, abgeſchüttelten Fluhſcherben an, das gleiche Trümmer - Material, welches auf den Gletſchern die Moränen komponirt, und bedecken weit hinauf die Halden. Ein Theil derſelben rutſcht oder rollt beim Niederſturz weit hinab der Tiefe zu und dies ſind die Steinſchläge. Mancher ſehr frequente Weg im Gebirge würde nur mit Lebensgefahr paſſirbar, mancher Ort unbewohnbar ſein, wenn er gegen dieſen niederſchmetternden Steinregen nicht durch einen Bannwald geſichert wäre. So häuft ſich das Geſteins-Material in der Höhe am Waldesrande an und bildet dort einen durch die Zeit von ſelbſt ſich aufbauenden ſchützenden Damm. Ein in male¬ riſcher und botaniſcher Beziehung prachtvoll mit Felſentrümmern eines Bergſturzes dicht durchwürfelter ernſter Wald dieſer Art iſt der Waſener Wald an der Gotthardsſtraße.

Eine dritte Aufgabe der Bannwälder iſt endlich auch noch: gegen Erdrutſche zu ſchützen. Das tief eindringende Wurzel¬ werk, welches durch die meiſt dünnen Schichten der aufgelagerten Dammerde in die Felſenritzen ſich einkeilt, verhindert, daß bei heftigen und andauernden Regengüſſen die aufgeweichte Erde ab¬ rutſcht. Kahlſchläge an ſolchen Stellen und Ausſtocken des Wurzelwerkes haben ſchon zu den traurigſten Ereigniſſen geführt. Das Dorf Tſchappina am Heinzenberge im Domleſchger Thal (Graubünden) iſt gegenwärtig im Rutſchen begriffen. Alljährlich verändert ſich die Lage und Größe der Grundſtücke, ſo daß die80Der Bannwald. Beſitzungen der Gemeinde-Bürger trotz Vermeſſung und Gränzſtein nie mehr feſtzuſtellen ſind. Ob je eine draſtiſche Kataſtrophe ein¬ treten werde, iſt nicht zu berechnen; vorläufig bewohnt das Volk die alte Scholle und rutſcht allmählig dem Thale mit zu. Aehn¬ lich ging es dem theilweiſe untergegangenen Dorfe Buſerein ober¬ halb Schiers im Prätigau. Auch dort fing das Land an, in Folge der Ausrottung eines großen Waldes, zu wandern, der Raſen ſchob ſich faltig übereinander, Bäume verſanken ſpurlos, und am 18. März 1805 endete die Erſcheinung mit dem Ein - und Abſturz des hal¬ ben Dorfes. Alle Alpenthäler haben ſchon mehr oder minder unter den Erdrutſchen zu leiden gehabt, am Meiſten die Schweizeriſchen, weil die Volksſouveränetät dieſes Freiſtaates in der ſtaatlichen Oberaufſicht im Forſtweſen eine Beeinträchtigung der perſönlichen Freiheit erblickte und darum in ſehr vielen Kantonen erſt, als es faſt zu ſpät war, die Wohlthat eines Forſtgeſetzes angenommen wurde.

So ſiehts im Alpen-Bannwalde aus. Steigen wir über ihn hinaus.

[81]
Wettertanne.

Druck von F. A. Brockhaus in Leipzig.

Die Wettertanne.

ein ſchattiger Baum,
Der fächernd kühle Zweige bewegt,
Wenn dicht um die Sonne den Raum
Mit glühenden Strahlenbüſcheln durchfegt,
Und deſſen gaſtlich breites Dach
Bedrängte ladet in ſicheres Fach.
(Waldau.)

Licht! Luft! wir treten ins Freie. Der obere Waldgürtel liegt hinter uns. Er ſchließt zwiſchen 5000 und 5500 Fuß über dem Meere ab. Weiter bergwärts ſteigen nur kurzkräuterige, dichtbe¬ wachſene, friſchgrüne Alptriften an, hie und da unterbrochen von ſporadiſch ausgeſtreuten kleinen Holzbeſtänden und einzelnen Tan¬ nen, Arven und Lärchen. Vorpoſten grüner Jäger Ihren Heeren vor ſich wagend. ((A. Grün.) )Wie eine Tirailleurkette dringen ſie gegen die Schneeregion vor, gleichſam die Rechte der Pflanzenwelt gegen den alten Urfeind alles Lebenden zu ſchirmen. Zu dieſen kühnen Plänklern des Wal¬ des gehört ganz beſonders die Wettertanne.

Man ſpricht von Charakterbäumen, welche der Landſchaft einen ihr eigenthümlichen Ausdruck, ein phyſiognomiſches Gepräge geben; die Wettertanne iſt ein ſolcher; aber auch ein Baum¬Berlepſch, die Alpen. 682Die Wettertauue. charakter, gewiſſermaßen eine perſönliche Größe, ein aus der Menge bedeutſam hervortretendes Individuum. Ebenſo wie der einzelne Bürger in ſeinem ſchlichten Wirkungskreiſe nur einen klei¬ nen Theil des großen Ganzen, des Staates ausmacht und in der Bevölkerung verſchwindet, ebenſo geht der einzelne Baum im Walde auf; er zählt nur in der Summe der Stämme mit und verſchwimmt bei geringer Entfernung in dem großen grünen Blättergewölbe, in der ſich durchflechtenden und umzweigenden Veräſtelung.

Anders die einzeln ſtehende, den Wald überragende Wetter¬ tanne; ſie gleicht jenen Auserwählten, die durch Geiſt und Kraft, durch kühnes Werk und freie That aus der Summe ihrer Zeitge¬ noſſen bedeutſam heraustreten, und was der Dichter von den wahrhaft großen Fürſten ſingt:Völker verrauſchen, Namen verklingen, Finſtere Vergeſſenheit Breitet die dunkel nachtenden Schwingen Ueber ganze Geſchlechter aus. Aber der Fürſten einſame Häupter Glänzen erhellet, Und Aurora berührt ſie Mit den ewigen Strahlen, Als die ragenden Gipfel der Welt ((Schiller.) )das darf man theilweiſe auch auf die Wettertanne anwenden.

Es giebt wenig andere Bäume, die ſo friſchen, freien Muth an der Stirn tragen, in ſo ſtolzer, ſtrammer Eigenwilligkeit, in ſo freudigem Selbſtvertrauen daſtehen, wie dieſe ſturmzerzauſten, ver¬ witterten Hochlandstannen. Erinnert die Eiche an jene eiſen¬ feſten Nordlandsrecken, von denen die Nibelungen und die Sänger des Mittelalters uns Wunderdinge erzählen, ſo mahnt die derbe trotzige Haltung der Schirmtanne an die Kämpen von Morgar¬ ten und Sempach. Es iſt eben ein Gebirgsbaum von der äußerſten Wurzelfaſer bis zur letzten Kronſproſſe.

83Die Wettertanne.

Schon mancher tüchtige Forſtbotaniker und Pflanzenphyſiolog, der daheim in ſeinen wellenförmig gehügelten, prächtigen Staats¬ wäldern wacker bewandert war, ſtand, wenn er ein Neuling in die Alpen kam, im erſten Augenblicke verlegen und wußte nicht, wohin er dieſen Sonderling rubriciren ſollte. Denn der eigentliche Tan¬ nentypus iſt an ihm oft ganz verwiſcht, wenn ſichs ſo kronleuchter¬ ähnlich mit aufwärts gebogenen Zweigen emporgipfelt, als wärs der Baſtard von einer Fichte und einer amerikaniſchen Agave. Und doch zirkulirt kein Tropfen ſolch heißländiſchen Gluthſaftes in ſei¬ nen Adern, ſondern reines, unverfälſchtes, harziges Tannenblut, urgeſund, genährt vom ewigen Schnee ; dieſe Schermtaxe (wie ſie in den öſterreichiſchen Alpen genannt wird) iſt nicht mehr und nicht weniger als eine ſchlichte, ächte Rothtanne, wie deren jährlich Millionen von den Holzknechten drunten für Bau - und Brennmaterial gefällt und zu Markte gefahren werden. Aber eine andere Schule des Lebens hat die Wettertanne durchmachen müſſen als die verzogenen Weichlinge, die ſchlanken jungfräulich¬ aufgeſchoſſenen Nadelſchafte der Tieflands-Wälder, ſie hat ſich ihr Emporkommen erkämpfen müſſen, Zoll für Zoll, und daher ihr oft abnormer Wuchs, davon die Narben in Holz und Borke.

Die Wettertanne, die iſolirt auf den Alpweiden bis 6000 F. und in Graubünden ſogar bis gegen 7000 par. F. emporſteigt, iſt kein ausgeſpartes Ueberbleibſel einſtiger Baumarmeen dieſer äußerſten Baum-Vegetations-Zone; ſie iſt ein im Selbſtſtändig¬ keitstriebe erwachſener Einſiedler. Vor Jahrhunderten hat es da droben ſchon große Wälder gegeben. Mächtige Wurzelſtorren und verſunkene Stämme deuten auf verſchwundene Forſte hin. Faſt allenthalben im Hochgebirge begegnet man ſolchen Baumgeſpenſtern einer vergangenen Waldgeneration, ſolchen Ruinen des Pflanzen¬ reiches, die von ihrer Zeit berichten, in welcher es noch herrliche Hochforſte gab, bevor der ſouveräne Unverſtand und die merkantile Spekulation ihre barbariſchen Streifzüge in die ſtille Alpenwelt6*84Die Wettertanne. unternahmen. Dieſe ſturmgebrochenen ſilbergrauen Denkſäulen ſind ausſchließliches Eigenthum der Hochgebirgs-Welt, und zwar der freien Gebirgswelt, in welche die (bei der Thalwaldung nöthige) Cenſurſcheere des Forſtmannes, das Paragraphenthum und die Verordnungen des modernen Staates noch nicht hindrangen. Die rationelle Waldwirthſchaft dürfte ſolch ehrwürdige Reliquien im wohlgeordneten Forſthaushalte nicht dulden, ſie wären reglements¬ widrig. Drunten im Prinzipienlande muß die Natur produziren nach Artikel und Vorſchrift, nach Berechnung und Maß, nach Ziel und Zeit, wie es der materielle Nutzen der Menſchen verlangt. Hier oben im Gebirge waltet noch der ungehemmte volle freie Ausſtrom der unerſchöpflichen Schöpfungskraft, und dieſem ver¬ danken auch die Grenzpoſten der Wettertanne ihre Exiſtenz.

Eine Wettertanne (im Romaniſchen Pin oder Sapins , im Waatlande Gogant genannt) iſt alſo ein vereinzelt auf der Alpweide ſtehender Baum, der, wie ſchon aus ſeinem Namen her¬ vorgeht, ein ingründlich verwettertes Ausſehen hat. Meiſt iſts eine Tanne, deren ſchwere, weit ausreichende Aſtarme ſchon wenige Fuß über dem Boden beginnen und normal in verjüngtem Maße bis zur Krone ſich wiederholend, ein dicht verfilztes Schutzdach geſtal¬ ten; oft aber auch iſts eine Baumfigur, die alle Geſetze des Tannenwuchſes zu verſpotten ſcheint. Unſere Abbildung zeigt das gänzlich Abnorme des Aſtbaues einer ſolchen. Während die frei¬ ſtehende Tieflandstanne an ihrem ſchlanken Säulenſchaft ringsum in pyramidaler Symmetrie die horizontal abſtehenden Aeſte archi¬ tektoniſch gegliedert aufſtuft, und ein jeder derſelben in ſeiner elaſtiſchen Haltung, in der ſo formſchön, leicht nach oben gekrümm¬ ten flachen Bogenlinie wieder ein Muſter eleganten Wuchſes zu nennen iſt, zeigt dieſe Wettertanne in Aufgipfelung und Aſtſtellung ein völlig fremdes, neues Bild. Das ſcheint nicht ein Baum, nein! das ſcheinen ſechs bis acht Bäume an einem Mutterſtamm, eine ganze Tannenfamilie zu ſein. Hier iſt der kokett-geradlinige85Die Wetterlaune. Schaft in eine derbe, knorrige Walze, von gedrungenem, breit¬ ſpurigem Wuchſe umgewandelt. Man erkennt zwar das ehrliche Beſtreben des ſenkrechten Emporwuchſes noch; aber da hat die Un¬ gunſt äußerer Verhältniſſe, da haben Stürme, Lauinen und Ge¬ witter ohne Zahl ſo an ihr herumgezwackt und verſtümmelt und amputirt, daß ſie über und über voll Riſſe und ſchwer vernarbter Wunden, voll Knoten und Mißgeſtaltungen geworden iſt. Man könnte die Wettertanne einen Märtyrer der Baumwelt nennen, wenn mehr paſſives Element in ihr läge. Aber dieſer Baum iſt ein ſo widerſpenſtiger Geſell, wie man keinen zweiten findet, der allen und jeden Hemmniſſen und Chikanen zum Trotz doch ſeinen Kopf durchſetzt und, wenngleich hundertmal am innerſten Le¬ bensnerv empfindlich, faſt tödtlich getroffen, dennoch mit unver¬ wüſtlicher Lebenskraft aufs Neue ſich emporarbeitet. Ein köſtlicher Burſch, ſo durch und durch voll Energie, ſo männlich unbeugſam, wie geſagt ein Baumcharakter, an dem jeder rechte Mann ſeine Freude haben muß.

Und nun der Aſtbau! ja, das iſt ganz das gleiche aktive Weſen, das nämliche Durchſetzen a tout prix wie beim Stamm. Da will jeder kleine Zweig ſein Selbſtſtändigkeits-Recht behaupten und auf eigene Fauſt ein Stück Baum werden. Es iſt eine Rand¬ zeichnung zu dem Sprüchwort: Wie die Alten ſungen, ſo zwit¬ ſchern die Jungen. Ganz entgegen dem horizontalen Aſtwuchs¬ beſtreben der Tieflandstanne, hebt hier der Aſt, nach kurzer, wage¬ rechter Lage ſich plötzlich wie ein Schwanenhals und ſteigt nun ſenkrecht, gleich einer in der Luft wurzelnden kleinen Tanne em¬ por. Aber dieſe Aeſte ſind nicht rund um den Baum gleichmäßig vertheilt, ſondern auf der einen Seite, wo der Blitz raſirt und heruntergeſchmettert oder der Sturm exartikulirt hat, fehlts, während auf der anderen Seite nur um ſo dichtere, intenſivere Zweig - und Nadelfülle erwächſt. Hin und wieder ragen dann auch verdorrte, völlig abgeſtorbene Aſtzacken dazwiſchen hervor und hel¬86Die Wettertanne. fen, mit den daran hangenden Bartflechten, den Eindruck des Ge¬ ſammtbildes nur noch um ſo wilder ſtimmen. Die Urſache dieſer merkwürdigen Aſtbildung iſt in vielen Umſtänden zu ſuchen. Ent¬ weder tritt die ſogenannte Trockniß , eine Baumkrankheit, ein, welche die eigentliche Aſtſpitze ausdörrt, ſo daß dann die Haupt¬ triebkraft in die Seitenäſte tritt und einer derſelben ſich ſo ent¬ wickelt, daß er die anderen überholt und, lokal durch ſeine Nach¬ barn behindert, kerzengerade emporſtrebt; oder das weidende Vieh, namentlich Ziegen, in ihrer leidenſchaftlichen Naſchbegierde, nagen, ſoweit ſie an der jungen Tanne hinaufreichen können, die äußerſten Schößlinge ab, und der Aſt, in ſeiner natürlichen Ent¬ wickelungsaufgabe gehemmt, ſucht einen anderen Ausweg nach Oben; oder Schnee und Sturm drücken die Endzacke des Zweiges ab, oder der Blitz ſchlägt ſie weg, genug, Beraubung, Verſtümmelung ſind die Veranlaſſung, nicht nur des abnormen Aſt¬ baues, ſondern auch der buſchigen, dichtſtruppigen Nadelbelaubung. Weiter unten im geſchützten Walde trifft man keine ſo verwitter¬ ten ausgearteten Tannen.

Ein koloſſales Exemplar, dreigipfelig wie eine zum Schwur aufgehobene Hand, ſteht in den Valzeiner Alpen (am Eingang ins Prätigau, Graubünden), deſſen Stamm in Stockhöhe ( Fuß über der Erde) ſieben Fuß im Durchmeſſer hat.

Das Alter der meiſten iſt ſchwer zu beſtimmen, indem die eigentlichen Veteranen oft kernfaul werden und ſomit die Zahl der Jahresringe nicht zu beſtimmen iſt. Ueberdies werden höchſt ſelten Wettertannen abſichtlich gefällt, da ſie für die Alpenwirthſchaft ſehr nützlich und ein treffliches Mittel gegen Lauinenbildung ſind. Be¬ denkt man, wie auffallend langſam die Bäume in der Gebirgshöhe, ſelbſt bei geſchützter Lage wachſen, ſo kann man ſicher annehmen, daß es viele 300jährige Wettertannen giebt.

Man hat ſchon oft die Frage aufgeworfen, ob Pflänzlinge ſorgſam gepflegter Forſt-Baumſchulen, namentlich ſolcher, die aus87Die Wettertanne. dem Samen geſchloſſener, alſo geſchützter, Waldmaſſen des Flach¬ landes gezogen wurden, ſich zu ſo hartlebigen Trutztannen hier oben in der Nähe des permanenten Winters ausbilden, überhaupt in dieſen ſturmumbrauſten Höhen ſich akklimatiſiren könnten. Die Alpen-Forſtmänner bezweifeln es; ſie halten den im Flachlande ge¬ wonnenen Waldſamen für zu verweichlicht. Es geht der Pflanze wie dem Menſchen; im Fleiſch und Blut muß ſie beim Volke ſtecken, die Spartaner-Natur, durch Generationen hindurch muß ſie ſich ſelbſthelfend geſtählt haben, wenn ſie nicht zur leidigen Parodie herabſinken ſoll. Bezüglich des Samens benutzt man dagegen ſehr gern den von den Hochlandstannen für Forſt¬ ſaaten im Tieflande, ſowie ja auch die Getreidearten, welche in hoher Lage wuchſen, ſehr gern zum Saatkorn für tiefere Gegenden benutzt werden.

So borſtig und brummig ſolch eine Wettertanne nun auch drein ſchaut, als ob ſie mit allen anderen Bäumen in Haß und Hader lebte und deshalb in dieſe Einſamkeit ſich zurückgezogen habe, ſo ſehr ſie das leibhafte Ebenbild eines alten, zerhaue¬ nen, narbenbedeckten Kriegers iſt, der hundertmal mit dem Tode auf der Menſur, doch immer wieder ſich frei kämpfte, ein ſo zuthunlicher, gaſtfreundſchaftlicher Baum iſt ſie. Gerade wie man unter den alten Haudegen und Eiſenfreſſern die gemüthreichſten und herzlichſten Kumpane findet, ſo auch bei dieſen unter tauſend Ge¬ fahren und Nöthen grau gewordenen Bauminvaliden. Sie iſt ein Obdach und Aſyl gewährendes, von der Natur errichtetes Hospi¬ tium, unter deſſen Schutz ſich das weidende Vieh flüchtet, wenn plötzlich ſchwarze Unwetter daherbrauſen, Regenwolken ſtrömend ſich entleeren oder Hagelladungen in dichten Maſſen herniederſchmettern. Freilich fielen dann ſchon oft die ſchönſten Häupter einer Alpen¬ heerde unter ſolch einem Baume dem Gewitter zum Opfer, wenn der Blitz einſchlug. Aber auch im ſengenden Hochſommer, wenn die Sonne beinahe im Zenith ſteht und auf der ganzen großen88Die Wettertanne. Alpweide kein ſchirmendes Plätzchen zu finden iſt, ſucht das Vieh inſtinktmäßig die Wettertannen auf und lagert behaglich im kühlen¬ den erfriſchenden Schatten derſelben. Dieſem Doppeldienſt, bei gutem und ſchlimmem Wetter, verdankt ſie wahrſcheinlich ihren Na¬ men ebenſo ſehr als ihrem Ausſehen.

Steht nun ein ſolcher Bergveteran droben auf der Paßhöhe oder auf dem Scheitel einer Alpſtaffel, oder dort, wo ſich die Pfade kreuzen, als weithin ſichtbares Wegzeichen, dann trifft ſichs ſchon, daß ſie zur zweiten Arche Noah wird; ſchnaufende Wanderer mit großen Alpenſtöcken, ſchwitzende Laſtträger, naturſchwelgende Tou¬ riſtinnen mit großen Strohhüten und aufgelöſtem Lockenhaar, be¬ packte Saumroſſe und deren Führer raſten, allen Unterſchied der Stände vergeſſend, mitten unter der hier Sieſta haltenden Kuh¬ heerde, ein uridylliſches Genrebild. Ja, wenns rundum ſo brennend ſonnengelb auf der ausgebreiteten, herrlichen Landſchaft lagert und die Gebirgsproſpekte mit bläulich ſchimmerndem Duft¬ ſchleier überzogen ſind, wenn Mücken, Käfer, Bienen und anderes fliegende kleine Geſindel in beläſtigender Zudringlichkeit wonne¬ trunken umherſurrt und die vor Hitze zitternde Luft kein leiſer Windhauch bewegt, dann liegt ſichs paradieſiſch wohlig im Schat¬ ten der gaſtlichen Wettertanne;

des dichten Mooſes
Sanft nachgiebige Schwellung iſt ſo ruhlich.
Möge hier mich holder Schlummer beſchleichen,
Mir die Schlüſſel zu meinen Schätzen ſtehlen
Und die Waffen entwenden, meines Zornes,
Daß die Seele, rings nach Außen vergeſſend
Sich in ihre Tiefen hinein erinnere.
(Lenau.)

B'hüt euch Gott ihr lieben ſchönen Wettertannen.

[89]
Legföhren.

Druck von F. A. Brockhaus in Leipzig.

Legföhren.

Wie ſtehn auf hoher Alpenfluh
So klein die Bäume da!
Sie werden niedrer immerzu,
Je mehr dem Himmel nah.
Sie legen ab der Krone Stolz,
Des Wipfels rauſchend Laub,
Den ſchlanken Stamm, das volle Holz,
Und beugen ſich zum Staub.
(Stoeber.)

Jede Pflanze hat ihre Vegetationsregion, ihre horizontalen und vertikalen Exiſtenzbezirke, innerhalb welcher ſie mit Erfolg leben, gedeihen und ſich fortpflanzen kann; über dieſe Gränzen hinaus fehlen ihr die bedingenden Elemente zum Beſtehen, ſie ver¬ kümmert, ſiecht, wird zur Krüppelform oder ſtirbt gänzlich ab. Dieſe Erſcheinung zeigt ſich tauſendfältig: ſie iſt die Grundlage der Pflanzen-Geographie. Die Palmen, Cacteen, Sycomoren, Drachen - und Gummibäume, die Baumwoll - und Kaffeeſtaude und andere Pflanzen tropiſcher Klimate friſten als Kabinetsſtücke ihr Leben bei uns nur durch ſorgſame Pflege in der künſtlich erzeugten Wärme der Gewächshäuſer, während dagegen unſere, an friſchere, kältere, nördlichere Temperatur gebundenen Laubwälder, unſere herr¬ lichen Eichen und Buchen, unſere früchtegeſegneten Aepfel - und90Legſöhren. Birnenbäume das heiße, trockene Klima der ſandigen Tropen nicht zu ertragen vermögen. Dieſe Bedingungen der flächenhaften Ver¬ breitung berührt uns bei dem Pflanzenbilde, welches wir auf den nächſten Seiten betrachten wollen, nicht; wir haben es mit der Verbreitungsfähigkeit der Pflanze, nach der Höhe der Bodenlage, zu thun.

Es iſt bekannt, daß die Weinrebe in Mittel-Europa über 2300 Fuß ihre Trauben, ſelbſt in ſonniger Lage, nicht mehr reifen kann, daß der Nußbaum bis zu circa 3000 Fuß, das Kernobſt nur bis etwa 3500 Fuß zu ſteigen vermag, und daß die Garten - und Getreidefrüchte des Flachlandes in den rauhen Alpen über drei bis viertauſend Fuß nicht mehr gedeihlich fortkommen; kleine, durch lokale Umſtände begünſtigte Experimente können hier nicht in Betracht gezogen werden. Dieſes Einhalten gewiſſer Höhen¬ gränzen zeigt ſich auch beim Waldbaum, ſowohl bei den Laub - als den Nadelhölzern. Letztere ſteigen (wie ſchon S. geſagt) als wal¬ dige Geſammtmaſſe in den Alpen bis zu circa 5500 F. über dem Meere an. Aber die vertikale Erhebung nimmt gegen den Nordpol hin bedeuteud ab. So ſteigt die gemeine Kiefer (Pinus syl¬ vestris) unterm 46. und 47. Grad nördl. Breite (in den Alpen) fröhlich, in normaler Baumform, bis zu 6000 F. über dem Meere an, während ſie im ſkandinaviſchen Dovre-Gebirge unterm 62. Grad n. Br. mir bis 2800 F. und in Jemtsland (Norwegen), an den Kjölen unterm 63. Grad, ſich nur bis 1500 F. zu erbeben vermag. Ueber dieſe Höhengränze hinaus verliert ſie ihre baumförmige Hal¬ tung, ſinkt zur Zwergform, zur verkrüppelten, beinahe ſtrauchartigen Geſtalt herab und heißt dann im Rieſengebirge Krumm - oder Knieholz , in den Tyroler Alpen Sprutföhre oder Reiſch¬ ten , im Welſchtyrol Müghi vom botaniſchen Namen: Pinus mughus (oder umgekehrt), in den Salzburger Bergen Lätſchen , in Oeſterreich Lägken, Löcken (d. h. Gelegtes), im romaniſchen Graubünden Zuondra oder Zundern und in der deutſchen91Legföhren. Schweiz am bezeichnendſten Legföhre. Schon aus der Reich¬ haltigkeit dieſer Nomenklatur läßt ſich erkennen, daß die Zwerg¬ kiefer durch die ganzen Alpen verbreitet iſt. Mit der Alpenerle oder Droosle (Betula alnus viridis), ebenfalls einer Krüppel¬ form der eigentlichen Erle, beſchließt ſie den Holzwuchs im Gebirge. Ob ſie eine eigene Species oder eine blos durch Umſtände cor¬ rumpirte Abart der eigentlichen Kiefer iſt, darüber walten verſchie¬ dene Meinungen.

Der Totaleindruck der Legföhre, der ganze Habitus iſt ein überraſchender, höchſt origineller; er giebt ſo recht ein, dem Cha¬ rakter des Hochgebirges entſprechendes, vegetabiliſches Attribut ab. Betrachtet man nur Holz und Aſtwerk, wie das ſich krümmt und rankt, und abenteuerliche, phantaſtiſche Geſtalten formt. Bietet der Aſtbau mancher anderer Bäume ſchon hin und wieder wunderliche Figuren dar, ſo tritt doch bei ihnen immer mehr oder minder das Innehalten einer kennzeichnenden Architektur, das Walten beſtimm¬ ter, die Individuen und ihre Sippſchaft kennzeichnenden Geſetze, wenn auch oft in freier Anwendung, in der Stamm -, Aſt - und Zweigbildung hervor. Dies Alles verſchwindet bei der Legföhre. Allenthalben trägt ſie das Gepräge des Unſymmetriſchen, Be¬ ſchränkten, Gehemmten, Unterdrückten. Nur ſklaviſch windet ſie ſich, wurmartig, unheimlich ſchlangenhaft, am Boden hin: ſeufzend, aber dennoch mit unendlicher Zähigkeit, ſcheint ſie ihr Leben zu durchſchleichen. Sie iſt unter den Coniferen der vollendete Ge¬ genſatz zu der, allen gewaltſamen Druck überwindenden, ſiegreich triumphirenden Wettertanne. Der Widerſtand der Zwergkiefer iſt nur ein heimlicher, paſſiver, der blos an den gegen oben ſich krümmenden Wipfelenden zum Durchbruch, zur Geltendmachung ſei¬ ner Rechte kommt. Trotz dieſer leidenden Haltung haben die, meiſt glatten, braunen Stämme etwas Maſtiges, Fettes, während die Rinde der gewöhnlichen Föhre rauh, mager, zerriſſen iſt und trocken ausſieht. Sehr lange bleiben die Blattnarben ſichtbar.

92Legföhren.

Je nachdem der Stamm mehr in geſtreckter Linie mit hoch und kräftig ſich emporrichtender Krone, oder gewunden, knorrig¬ verdreht, mit nur kurzen, dicht ſtruppigen Gipfelausläufern am Bo¬ den hinkriecht, unterſcheidet man die Legföhre in die ſchlankere Pinus pumilio als die, mehr in tieferer Lage vorkommende, und in die ſehr verkrüppelte Pinus mughus, welche bis faſt gegen die Schneegränze hinanſteigt und den Kalkboden dem der granitiſchen Geſteine vorzieht. Da die urſprüngliche Aſtſtellung der Kiefer büſchelförmig iſt, ſo durchflechten, umranken und verweben ſich auch die Aeſte und Zweige der Legföhre in ihrem engen, beſchränkten Raume auf eine ſo unlösbare Weiſe, wie es in der Schling¬ pflanzenwelt nicht bunter durcheinander vorkommen kann. Solch einen Weichſelzopf von Legföhrenäſten zu entwirren, dürfte den her¬ kuliſchen Aufgaben beizuzählen ſein. Dieſer niedergedrückte, horizon¬ tale Wuchs wird zunächſt dadurch veranlaßt, daß hier oben ſieben bis acht Monate lang ein ſtrenger Winter herrſcht, der mit enormen Schneelaſten tyranniſch ſeinen Fuß auf den Nacken dieſer Pflanze ſetzt und ſie nur in der kurzen Sommerpauſe aufathmen läßt. Die außerordentliche Geſchmeidigkeit und Elaſtizität der ſchlanken, höch¬ ſtens 2 bis 3 Zoll im Durchmeſſer erreichenden Stämme, bequemt dieſe dem bedeutenden Drucke leicht an. Dazu kommt die Ab¬ ſchüſſigkeit des Terrains, auf welchem die Legföhren am liebſten wachſen. Je ſteiler daſſelbe iſt, deſto gepreßter liegt die Krumm¬ holzkiefer. Da, wo der Boden minder geneigt iſt, richten ſich die Stämme leichter auf und erreichen bisweilen eine vertikale Höhe von 15 Fuß.

Am ſeltſamſten geſtalten ſich die Stämme, wo ſie über her¬ vorragende, nach Innen ſich abwölbende Felſenſtirnen hinauswach¬ ſen. Da machen ſie dann von der erlangten Souveränetät in wahrhaft ſeltſamen Formen Gebrauch, bohren in Spiralwindungen allerhand Arabesken in die Lüfte freiragend hinaus und hängen weitarmig, als ſchwebende Bäume, über gräulichen Abgründen. 93Legföhren. Tollkühne Geißbuben, die ihre zottige Herde oberhalb ſolcher ſchrof¬ fen, viele hundert Fuß ſich abtiefenden Fluhwände weiden, wagen ſich dann wohl zum Zeitvertreib, alle Gefahr verachtend, auf dieſe ſchreckerregenden Naturſchaukeln hinaus und üben da, völlig ſchwindelfrei, herztief aufjauchzend, allerlei akrobatiſche Künſte. Ein ſolcher verwegener Hirtenbub im Muottathale, von dem Pfarrer ſeiner Gemeinde darüber ernſtlich zurechtgewieſen und mit den Worten gewarnt: Diesmal hat dich dein heiliger Schutzengel im Arm gehalten, ſonſt wärſt du herabgeſtürzt und todtgefallen! er¬ widerte keck: Herr Pfarr, ſo wyt wi n i uſſä goh, goht der Schutzengel nöd!

Die Nadeln der Legföhre ſitzen, wie bei der Kiefer, je zu zwei oder drei in einer Scheide und gruppiren ſich büſchelförmig, wodurch der Zweig das Anſehen eines dichten, borſtigen Pinſels erhält. In ihrer Reproduktionskraft iſt die Legföhre ſehr ſchwach. Da ſie nicht ausſchlagsfähig iſt, ſo bewerkſtelligt ſie ihre Fortpflan¬ zung lediglich durch Samen.

Auch ſelbſt in den Früchten der Legföhre bethätigt ſich das Ungewöhnliche, dem Charakter der rauhen Gebirgsnatur Entſpre¬ chende. Während nämlich die gewöhnliche Kiefer ihre längli¬ chen, koniſch geſtalteten Zapfen jährlich abſtößt, behält die Legföhre dieſelben, nachdem ſie im September fruchtreif geworden ſind, den Winter über, ſammt den darin eingeſchloſſenen Samenkörpern am Zweig und läßt letzteren erſt im Spätfrühling, wenn der Boden ſchneefrei geworden iſt, ausfliegen. Der geſprungene, nun flach ſphäriſch auseinander ſpreizende, kupferbraune Kieferzapfen bleibt dann aber noch einige Jahre am Büſchel ſitzen, bis er ſilbergrau verwittert, eine ehrwürdige Antiquität, endlich abfällt. So kommts, daß man an einem und demſelben Buſche zu Anfang Juli männ¬ liche und weibliche orangengelbe, karminroth-punktirte Blüthenkätz¬ chen und die abgeſtorbenen, verwitterten Samenbehälter des dritt¬94Legföhren. letzten Jahres unweit von einander erblicken kann, eine Erſchei¬ nung, die in der Pflanzenwelt wenig vorkommt.

Die Legföhre iſt ferner eine der beſcheidenſten Pflanzen, die es giebt. Da, wo keine andere Holzkultur, höchſtens nur Mooſe oder Saxifragen exiſtiren könnten, bekleidet ſie mit ihren dichten, tiefgrünen Büſchelkolonien große, kahle, trockene Kalkwände, beſon¬ ders an den ſüdſeitigen Abhängen in der Höhe von 5000 bis 6000 Fuß, dicht verfilzte Decken bildend, oft ſo kompakt und feſt ineinander gedrängt, daß man im buchſtäblichſten Sinne auf den Zweigen und Wipfeln gehen könnte. Dies iſt aber immer wegen der außerordentlichen Elaſtizität der Maſſe ein mißliches Unter¬ nehmen und läßt ſich wohl bergabwärts, unmöglich aber bergan ausführen, obgleich die biegſamen Zweige ſo zu ſagen dem Klette¬ rer die Hand reichen. Darum vermeidet der Aelpler ſie auch und macht lieber einen Umweg über Gletſcher und auf loſem Geröll, als durch dieſe fußumſtrickenden Fanggarne. Auf Glimmerſchiefer trifft man das Krummholz auch in feuchten, ſumpfigen Mulden an, und einzelne Exemplare hat man ſogar in der Tiefe von nur 2500 Fuß über dem Meere gefunden. Waſſerfluthen, Lauinen, oder der Wind mögen Samen dahinab getragen haben. Ja, ſo¬ gar in den umfangreichen Moorbrüchen zwiſchen Augsburg und München, im ſ. g. Haspelmoor, hat man ſie bei 1600 Fuß über dem Meere getroffen und deshalb Sumpfföhre (Pinus uliginosa) genannt. Selten wachſen im dichten Geſtrüpp der Gebirgs-Leg¬ föhre andere Pflanzen. Selbſt auf der glatten Rinde des Stam¬ mes zeigt ſich nicht einmal irgend eine Schmarotzerpflanze; höch¬ ſtens trifft man die goldgelbe Cetraria juniperina, eine Flechte des Hochgebirges und Verwandte des Isländiſchen Mooſes, hie und da an.

Flieht nun der Menſch dieſes ſtille undurchdringliche Dickicht, ſo dient es um ſo mehr dem Alpenwild als willkommener Schlupf¬ winkel, um ſich den Verfolgungen des Jägers zu entziehen. Vor95Legföhren. allen anderen halten ſich Bären gern darin auf, wenn man ihnen nachſetzt, und haben ſie dieſes Aſyl erreicht, ſo ſind ſie ziemlich ſicher vor jedem Angriff. Darum wird das Legföhren-Geſtrüpp im Davos (Graubünden) auch Bärenkrys genannt. Tem¬ porär halten ſich Bergfüchſe (deren eigentlicher Bau am liebſten unter Felſen) darin auf, um Beute zu erhaſchen; der Marder geht dort auf die Jagd und der weiße Haſe (Lepus variabilis) flüch¬ tet ſich hinein. Im Spätherbſt iſts der Lieblingsaufenhalt des Spiel¬ hahns (Tetrao tetrix L.) und am Rande der nahen Schnee¬ gränze niſtet das Weißhuhn oder Alpenſchneehuhn (Tetrao lagopus) unter dem Schutz der kleinen mageren Krummholz-Geſträuche. Die ſtändige Bewohnerin derſelben aber iſt die Ringamſel, welche jähr¬ lich zweimal in dieſem Verſteck brütet, der vorübergehenden Bewohner, wie Kernbeißer, Kreuzſchnäbel u. ſ. w., nicht zu ge¬ denken.

So ſehr nun dieſer Föhrenhag den Jäger freut, weil er in der Regel Wild darin findet, einen ſo peinlichen, düſteren, ja faſt ſchauerigen Eindruck macht er auf den Alpen-Naturfreund. Unbeſchreibliche Einförmigkeit trotz der bizarren Aſtvariationen, trübe, träumeriſche Melancholie lagert über ſolchen finſteren Ge¬ hängen, das Gefühl des Unheimlichen, des Verlaſſenſeins beſchleicht den Wanderer, wo der Pfad lange durch Legföhrenhorſte führt. Es iſt, als ob die Natur hier eingeſchlafen wäre, und unwillkür¬ lich wird man an Grimms Mährchen vom Dornenröschen erinnert. Das Knieholz iſt im Gebirge etwa das, was in der Fläche die Heide iſt. Paſcher und Schleichhändler an der Gränze wählen es gern zu Raſt - und Ablöſungsplätzen, und mancher Kampf zwiſchen dieſen und den Gränzjägern iſt ſchon in ſolchem Geſtrüpp vorge¬ fallen. Am Maſſenhafteſten iſt die Legföhre wohl am Wolfgang bei Davos (Graubünden) und am Ofnerberg (Unter-Engadin) bis hinab zur Alp Stabl-dſchod entwickelt; auch an den Abhängen des Scarl-Thales kommt ſie in mächtigen Strecken vor. Kleinere96Legföhren. Beſtände trifft man allenthalben in den Kalkalpen bei einer Höhe von 5000 Fuß und darüber.

Die Legföhre iſt endlich durchaus kein ſchlechtes Strauchwerk oder forſtwirthſchaftliches Unkraut; ſie iſt eine höchſt nützliche, kon¬ ſervirende Schutzpflanze, ein kerniger Damm gegen die deſtruiren¬ den Tendenzen der Alpverwilderung. Was der Menſch durch Bannwälder und ähnliche Defenſivmittel zu erſtreben bemüht iſt, beſorgt ſie naturgemäß von ſich aus. Ohne Legföhren exiſtirte manche kräftige, ſaftreiche, kräuterüppige Alpmatte nicht mehr; los¬ gebröckeltes Steingeröll und Bergſchutt hätten ſchon manche Alp zerſtört. Ihr zähes Flechtwerk nimmt im Herbſte die erſten aus der Atmoſphäre niederfallenden Schneeladungen in ſeine Geſträuchs¬ maſchen auf und bindet dadurch allen ſpäter fallenden Schnee an die geneigte Fläche; ſo verhindert ſie poſitiv das Anbrechen von Grundlauinen und aller durch dieſe herbeigeführten Verheerungen. Ebenſo vereitelt ſie energiſch die Bildung von Rüffen und Stein¬ ſchlägen, und fängt als natürliches Faſchinenverhau alle niederrol¬ lenden Felsablöſungen auf. Sie läßt ferner den wildeſten Schlag¬ regen, die furchtbarſten Gewittergüſſe nur wie ein regulirendes Filtrum durch und trägt dadurch außerordentlich zur Vermehrung guter anhaltender Quellen und zur Erhaltung tieferliegender Raſen¬ halden bei; und endlich begünſtigt ſie unter ſicherem Schutz die Humusbildung durch das abgefallene Genadel in hohem Grade.

Bis in die jüngſte Zeit achtete man die Legföhre lediglich um dieſes indirekten Nutzens willen; höchſtens daß der Aelpler ſich für ſeine Sennhütte etwas Brennmaterial aus derſelben verſchaffte. Neuerdings haben aber Holzmangel und rationelle Waldwirthſchaft den Werth dieſes Waldwuchſes geſteigert, und jetzt durchforſtet man dieſelben ebenſo wie eigentliche Wälder. Die Brennkraft des Hol¬ zes kommt dem der Buche faſt gleich, und die daraus gewonnenen Kohlen werden ſehr geſchätzt.

[97]

Die Alpenroſe.

Du biſt, o Alpenroſe,
Der Blumen Kron 'und Preis,
Die einz'ge Dornenloſe
In Deiner Schweſtern Kreis;
Du wohnſt als Königinne
So recht auf höchſtem Thron,
Und blühſt in reiner Minne
Dem freien Alpenſohn.
M. Klotz.

Hinter Oberhauſen am Thunerſee erhebt ſich eine jähe, ſpitze Felſenfluh, ſo unzugänglich, daß ſelbſt Gemſen ſie zu erklimmen ſcheuen. Kein Wildheuer ſteigt hinauf, um das dort wachſende Futtergras mit Lebensgefahr zu mähen, kein Wurzelgräber ſucht an dieſen Wänden ſeinen kümmerlichen Erwerb. Und doch wachſen da droben die ſchönſten und ſeltenſten Alpenpflanzen, wie man ſie weit umher nicht in ſo prangenden, tiefleuchtenden Blüthen findet, beſonders die purpurbraunen, faſt ſchwarzrothen Fluhblüemli oder Badönickli (Primula veris elatior), eine Zierde der Schwebelhüetli , wie ſie die Oberländerinnen an ſommerlichen Feſttagen tragen.

In altersgrauer Zeit lebte zu Oberhauſen ein ſehr reicher Bauer mit ſeinem einzigen Töchterlein. Es war das ſchönſteBerlepſch, die Alpen. 798Alpenroſe. Meitſchi am ganzen See. So viel Freier ſie hatte, ſo wenig ſchien ihr einer derſelben vornehm genug, um ihm die Hand für Lebenszeit zu reichen. Unter dieſen war auch Einer mit treuem, red¬ lichem Herzen in unendlicher Liebe ihr zugethan; aber Eiſi (Eliſa¬ beth) verwarf ihn wie die anderen und ließ ihn nur am Narren¬ ſeile trotten. Einſtmals, am Aelpler Sonntage Abends, als der Burſch das Mädchen mit Wein regalirte, ſchien ſie ſeinen Be¬ theuerungen Gehör ſchenken zu wollen und ſagte: ſie ſei entſchloſſen, ſein Weib zu werden, wenn er ihr von jener berüchtigten Felſenſpitze Fluhblüemli holen wolle. Statt zurückzuſchrecken, ging Johannes freudig auf den Vorſchlag ein, denn er war ein verwegener Klette¬ rer. Schon mit dem nächſten Morgengrauen eilte er durch die Allment am Geribach zur wilden Fluh hinauf. Wie ein Eichkätz¬ chen chräsmete er an den glatten Wänden umher; die ſchmalſte Ritze, der unbedeutendſte Vorſprung mußte ihm dienen, krampfhaft mit Zehen und Fingern ſich einzuklammern. Schon war das ſchwere Werk faſt gelungen, ſchon ſieht er die Spitze nah ob ſeinem Haupte, und Triumph! ſchon hat er die erſte, die zweite, die dritte Preisblume gepflückt, da bröckelt ein Stein los, er verliert das Gleichgewicht und, in der nächſten Minute liegt der arme Tropf grauſam zerfallen, zu Tode geſtürzt am Fuße der Fluhwand. Wenige Stunden ſpäter geht Eiſi fröhlich ſingend am Felſen vorüber. Ein Blick! ein Schrei! und ohnmächtig zuſammengeſunken liegt ſie neben Dem, den ihr Hochmuth in jähen Tod getrieben. Die errungenen Blumen hielt der treue Burſch noch in ſeiner Hand. Gram und Irrſinn brachen Elſi's Herz.

U n a der Flueh, wo Hans iſch g'lege,
Wachſt us ſym Bluet e Blueme n uf;
D’Alproſe, wie ’re d’Lüt jetz ſäge.
Ihr Meitleni get Achtig druf!
Die Bluemi dra ſy roth wie Bluet
U ſtah im dunkle Laub gar guet.
99Alpenroſe.

Alſo die Volksſage von der Entſtehung der Alpenroſe.

Keine Blume des Hochgebirges iſt von Dichtern ſo gefeiert worden, keine ſo poetiſch in das Leben der Bergbewohner einge¬ drungen wie die Alpenroſe; aber auch keine erweckt in der Vorſtel¬ lung des Gebirgsunkundigen ſo unklare und unrichtige Bilder, wie eben dieſe. An den Namen Roſe ſich haltend, hätte er ein Recht, dieſen auf eine alpine Verwandte der vielgefeierten Blumen¬ königin zu übertragen, und das Hochgebirge würde ihn nicht ein¬ mal Lügen ſtrafen. Im Gegentheil haben die Alpen der Roſe einen neuen, poetiſchen Glanz verliehen; denn gerade ſie ſind es, wo die Roſe (faſt) ohne Dornen glüht, und ſomit das Sprüch¬ wort ſeine Wahrheit verliert. Das iſt die wirkliche Roſe der Alpen , die reizende Rosa alpina, die nicht ſelten in den lichten Hochwaldungen der montanen und ſubalpinen Region vorkommt und bis zur Gränze der Weinrebe hinabſteigt. Sie bildet Sträuche und blüht im Juni und Juli. Dennoch wird nicht ſie gemeint, wenn im Gebirge von Alpenroſen die Rede iſt, ebenſowenig wie man an wirkliche Veilchen denken darf, wenn das Alpenveilchen (Cyclamen Europaeum) genannt wird. Der poetiſche Sinn des Volkes hat Alpen - oder Bergroſe diejenige Pflanze genannt, die in der Botanik Rhododendron , alſo zu deutſch Roſenbaum heißt. Indeſſen giebt auch dieſe Bezeichnung keine richtige Vor¬ ſtellung von der Wirklichkeit. Im Gegentheil verbindet ſich damit eine neue Verwechslung; denn urſprünglich kam dieſer poetiſche Name dem Oleander zu, und Linné war es, der ihn von dieſem Prachtſtrauche des Südens willkürlich auf unſeren Alpenſtrauch übertrug. (K. Müller. ) Im Volksmunde hört man die Bezeichnung Alpenroſe eigentlich wenig; faſt jede Thalſchaft hat ihren eigenen Namen dafür. So nennt man ſie im Berner Oberlande Bären¬ bluſt , im Entlibuch und Unterwaldnerlande Hühnerblume (weil die Berghühner ſich darin aufhalten), in Uri Juupe , im Glarner Thal Rafauslen , im Aargau Herznägeli , im Tyroler Ziller¬7*100Alpenroſe. thal Zundern , im Teſſin Dros u. ſ. w. Das Geſchlecht der Rhododendren gehört zu der natürlichen Verwandtſchaft der Haide¬ kräuter oder Ericineen oder auch zu den noch näher ſtehenden Heidelbeergeſträuchen oder Vaccineen. Es giebt keine andere Strauch¬ pflanze, mit welcher die Europäiſche Alpenroſe ſich beſſer vergleichen ließe, als mit dem Gebüſch der Rauſchbeere (Vaccinium uligino¬ sum) und der Preiſſelsbeere (V. Vitis Idaea), die in den Alpen ebenfalls bis zu 7000 Fuß Höhe vorkommen. Mit weithin ſich verzweigendem, niederem Geſtrüpp, erinnern die Alpenroſen auch einigermaßen an den Buchsbaum, namentlich durch ihr Laub; ſonſt aber haben ſie mit demſelben durchaus nichts gemein. Sie bilden eine eigene kleine Familie, welche man Rhodoraceen genannt hat, und umfaſſen die drei Gattungen: 1) der in den nördlichen Nie¬ derungen und Torfweiden wachſenden Porſte (Ledum), 2) der Azaleen, die in den Alpen blos als zierliches, immergrünes, liegen¬ des (A. procumbens), roſaroth blühendes Zwerggeſträuch häufig zwiſchen 5000 und 7500 F. vorkommen, und 3) Rhododendra. Alle drei haben den Umſtand gemeinſchaftlich, daß ihre Blatt - und Blüthenknoſpen von großen Hüllſchuppen bedeckt ſind, weshalb ſie zapfenförmig aus den Zweigen hervorbrechen. Dieſen Entwicke¬ lungsmoment können wir freilich in der Regel nicht beobachten, weil er faſt immer unterm Schnee ſich vorbereitet. So wie der Frühling in den Höhen von 4000 bis 6500 F. allmählig Schritt um Schritt emporrückt, und die deckende Schneehülle mit weichem Odem hinweghaucht, iſt auch der lichtbraune, hornartige Knospen¬ panzer ſchon geplatzt, und Blätter und Blüthenknöpfchen ſtecken neugierig ihr junges friſches Grün hervor, um ſich die Pracht ihrer Mutter, der erhabenen großen Alpenwelt, zu betrachten. Der Wanderfreund ſieht dieſe Phaſen alle nicht; er tritt erſt im Juli und Auguſt in den reichgeſchmückten Alpengarten, wenn ſchon der ganze Rhododendren-Flor in vollen feuerigen Flammen ſteht, und die rubinglühenden Glockenſträußchen ihre Sternkelche erſchloſſen101Alpenroſe. haben. Mit welcher Wonne begrüßt dann der müde, keuchende Wan¬ derer den erſten Alpenroſenſtrauch und eilt trotz aller Erſchöpfung im Fluge zu dem Felſen empor, von dem die Röschen ihm die lächelnden Grüße der Alpennatur zuwinken; wie oft begleiten ſie ihn mit ihrer ewigen Anmuth mitleidig durch lange Felſenlaby¬ rinthe und verkünden ihm Leben und volles Genüge in einer öden Welt von grauſenhaften Steintrümmern. Ueberall gleich reizend dekorirt die Alpenroſe tauſendfältig das tauſendfältig wechſelnde Land ihrer Heimath und glüht bald als einzelne Roſenflamme über dem ziſchenden Sturz des Eisbaches, bald überzieht ſie die ganze Fläche des Berges, der ſich mit ſeinem Purpurteppich im Spiegel des Alpſees malt, oder ſtreut ihre Blüthen geſellig in den vielfarbigen Flor der Alpen. (Tſchudi.)

In den Alpen giebt es nur zwei Formen einer Species. Die verbreitetſte und bis zu den Höhen von 6500 Fuß über dem Meere an¬ ſteigende iſt die roſtfarbene (Rhod. ferrugineum, romaniſch Flur bella), deshalb ſo genannt, weil die länglich lanzettförmigen, dun¬ kelgrünglänzenden, lederartig derben Laubblätter auf der unteren Seite dicht mit einzeln kaum erkennbaren, roſtbraunen Drüſen¬ pünktchen überſäet ſind, die derſelben ein tief okerfarbenes, mit¬ unter ſogar kaffeebraunes Anſehen verleihen. Dies ſind die vor¬ jährigen, alſo überwinterten Blätter, welche an der Kehrſeite ſo ge¬ bräunt erſcheinen; die jungen heurigen, weichen Blättchen lachen leuchtend an den Zweigſpitzen im jubelndſten Maigrün und kon¬ traſtiren durch dieſe Farbenfriſche bis zur Sommerneige ungemein hebend gegen den geſetzten Ernſt der älteren. Erſt im Herbſt ſchwindet das brauſend-jugendliche Anſehen, und die Rückſeite über¬ zieht ein lichter goldiger Anflug. Die andere Form, der ge¬ franzte Alpenbalſam (Rhododendron hirsutum), hat gewim¬ perte, d. h. am Rande mit oft langen, weißen Härchen beſetzte, mehr eirund geformte Laubblätter, die meiſt oben und unten gleich grün ſind, doch auch bisweilen an der Kehrſeite mit hellbraunen102Alpenroſe. Drüſenpünktchen luftig und dünn überſtreut ſich zeigen. Sie kommt mehr in den tieferen, beſchatteten, felſigen Bergen, beſonders der öſtlichen Alpen vor, ſteigt nie über 6000 Fuß empor und wird hin und wieder ſchon bei 2000 Fuß überm Meere gefunden. Aus dieſem Blätterfond quillt nun im Juni und Juli die brennend¬ rothe Blüthen-Dolde, je aus 6 bis 10 prangenden fünfzackigen Blüthenkelchen zuſammengeſetzt. Das zierlich geformte Glöckchen ſchimmert im Innern durchſichtig ſammetweich faſt wie ein molliges Camellien-Blatt; aber an der äußeren Fläche iſt es mit hellen, be¬ ſtimmt hervortretenden ſchwefelgelben Pünktchen geſprenkelt, die demſelben ein widerſtandsfähiges, abgehärtetes, robuſtes Anſehen geben. Nach dem Feuer ihrer Blüthen variiren die Alpenroſen ungemein, vom zarteſten, duftigſten Roſa bis hinauf ins glühendſte Karminroth. Im Allgemeinen will man wahrnehmen, daß die Tiefe und Gluth der Färbung mit dem höheren Standort der Pflanze auch zunimmt. Die gewimmpte Alpenroſe iſt gewöhnlich die blaſſere, hellere, zuweilen mit leichtem Hinüberſpielen in eine kaum ange¬ deutete violette Tendenz. Zu den abſoluten Seltenheiten gehört das weißblühende Rhododendron im Maderanerthal (bei Amſtäg an der Gotthardsſtraße), in einigen Walliſer Seitenthälern, auf der Hundwyler Höhe (Kanton Appenzell), im Tyroler Paznaun und im Pinzgau ſollen ſie zu Zeiten vorkommen.

Wo große Halden mit blühenden Alpenroſen überzogen ſind, wie z. B. auf Itrammen-Alp (wenn man von Grindelwald gegen die Wengern-Alp anſteigt), oder an der öſtlichen Abdachung des Alp¬ ſiegels (unweit vom Weißbad, Kanton Appenzell), oder an den lichten Waldungen von Zermatt gen den Riffel hinauf, oder im Ober-Engadiner Fex-Thal, da ſtrahlt, weithin ſichtbar, eine Farbenpracht im brennendſten Rubinfeuer, die in der Ausdeh¬ nung ihres Eindruckes etwa nur dem Blüthenmeere eines Obſt¬ waldes im Mai zu vergleichen iſt. Wie bei dieſem iſts ein früh¬ lings-brünſtiges Knospen und Drängen und Koſen dicht neben103Alpenroſe. einander, ein großes kollegialiſches Blühen, das jauchzende Genießen einer gemeinſamen Jugend, man möchte faſt ſagen ein millionen¬ fältiges roſarothes Farben-Konzert. Und dabei hat die Alpenroſe noch eine weſentliche Aehnlichkeit mit der Baumblüthe; wie das Karmin-Glöckcken ſeine volle Lebensfreude genoſſen hat und die Stunde des Scheidens naht, da welkt es nicht, langſam am Sten¬ gel abſterbend, verkommend und Bedauern erregend, oder ſeine ſchöne Gluthfarbe verlierend und kläglich zuſammenſchrumpfend wie viele der ſchönſten Blumen, nein, mit fröhlichem freien Ent¬ ſchluſſe, wirft es noch einen ſehnſüchtig vollen Blick auf alle ſeine lieben Genoſſen, auf die weißen glänzenden Firnhäupter, auf die ganze ſchöne Alpenwelt, drückt dem Nebenglöckchen noch einen brennendheißen Abſchiedskuß auf die Lippen und ſpringt dann mit einem Satze leicht in den vorüberrauſchenden Waldbach oder den zu Schaum aufgelöſten Gebirgsſtrom, und kein ſterbliches Auge be¬ kommt es wieder zu ſehen.

Unſer Alpenröschen iſt ein eigenſinniges Pflänzchen; es läßt ſich nicht willig in die Tieflandsgärten und herrſchaftlichen Parke ver¬ ſehen, um nach des blumiſtiſchen Künſtlers Gutfinden unter allerlei ſervilem Pflanzentande ſklaviſch die Rabatten zu ſchmücken, es iſt kein feiles Röschen , das zu Jedermanns Belieben und Gebot ſteht; ein freies Kind freier Berge, blüht es nur dort, wo ſeine Heimath iſt, wo es dem Himmel näher als die Menſchen, auch in vollen Zügen die reineren Aetherlüfte trinkt.

Sie grämts und härmts im Herzen,
Verpflanzt ſie eine Hand;
Sie ſtirbt an Heimwehſchmerzen
In jedem fremden Land.

Und zugleich iſts dabei das reizendſte Symbol jungfräulicher Reinheit und Unſchuld; im großen Pflanzenreiche giebts kaum noch eine Blüthe, die, gebrochen, ſo raſch die Schönheit und das Feuer ihrer Farbe verliert und zu Tode getroffen dahinſiecht, wie die Al¬ penroſe. Wetter und Sturm, Hitze und Froſt, Regen und Schnee, 104Alpenroſe. alle Unbilden der Natur erträgt ſie heiter und muthvoll, und ſtrahlt nur um ſo lebensfröhlicher, wenn ein freundlicher Sonnenblick aufs Neue ſie beglückt. Nur vor der Menſchenhand ſchreckt ſie zurück, erzittert bebend und entfärbt ſich, denn ſie bringt ihr den Tod. Auffallend raſch verändert ſie das lautere, tranſparente Purpurgold in bläuliche Mißfarbe, und nur derjenige hat Alpenroſen in ihrer ganzen Prachtfülle geſehen, wer ſie am Felſenhange blühend erblickte.

In die Berge hinein, in das liebe Land,
In der Berge dunkelſchattige Wand!
In die Berge hinein, in die ſchwarze Schlucht,
Wo der Waldbach toſ't in wilder Flucht!
Hinauf zu der Matten warmduftigem Grün,
Wo ſie blühn
Die rothen Alpenroſen.
(C. Morell.)
[105]

Südliche Alpenthäler.

Noch geſtern unter Schnee und kahlen Tannen!
Heut bei Oliven und Orangenbäumen!
Ich ſah mein Glück und mein 'es nur zu träumen,
Und das Geträumte liebend zu umſpannen.
J. G. Müller.

Italien iſt das Land der Sehnſucht, der Jugendträume und lieblichſten Ideale. Jeder Gymnaſiaſt, wenn er mit voller Luſt ſei¬ nen Virgil, Horaz, Ovid oder Tibull durchſchwelgt, macht einen Gedankenſprung nach Süden ins klaſſiſche Römerland und freut ſich der Stunde, wo er ſeinen Lieblingsdichtern auf Schritt und Tritt nachwandeln kann. Wird dann in ſpäteren Jahren endlich der langgenährte Wunſch befriedigt, eilt der beflügelte Schritt zum Römerzug über die Alpen hinab in die lombardiſche Ebene, hat der Verlangende den Sabiniſchen Himmel über ſich erblauen ſehen, in den Grotten und an den Kaskadellen Tivolis das ewig nach¬ klingende Ille terrarum mihi praeter omnes angulus ridet ſinnend wiederholt, dann begegnet es wohl, daß er etwas kühler geſtimmt zurückkehrt.

Woher dieſe bei italieniſchen Reiſen oft wiederkehrende Er¬ ſcheinung? dieſe vermeintliche Enttäuſchung?

Ein Umſtand iſts, der manche Erwartung überſpannt und zu¬ gleich die ſpäteren Effekte merklich abſchwächt; das iſt die Intro¬ duktion zur italieniſchen Reiſe, es iſt der erſte Tag jenſeit der106Südliche Alpenthäler. Alpen. Die Steigerung der landſchaftlichen Schönheit iſt eine ſo ſtürmiſch-wachſende, Augen und Sinne ſo völlig übernehmende, wenn man vom Gotthard oder Bernhardin herabkommt, daß nach dem Wonnerauſch dieſer Ouvertüre man begreiflich immer ein noch lebhafteres Crescendo, ein Wachſen der Fülle landſchaftlicher Pracht und Herrlichkeit erwartet. Aber dies, iſt man über das para¬ dieſiſche Gebiet der piemonteſiſchen und lombardiſchen Seen hin¬ aus, tritt nicht nur nicht in dem erwarteten Maße ein, ſondern im Gegentheil, vorläufig ſogar ein Abfallen, eine Verminderung jener wilden Sinneſtürmer.

Unſtreitig gehört das Herabſteigen von bedeutenden Alpen¬ höhen in die oft verſchwenderiſch-reich von der Natur ausgeſtatteten ſüdlichen Thäler zu den größten Reiſegenüſſen, die ſich überhaupt darbieten können. Man würde, um die ausgeſuchteſten Eindrücke vorzubereiten, die Scenerie der meiſten großen Alpenſtraßen nicht raffinirter zuſammenſtellen können, als es im Alpenbau bereits der Fall iſt. Schon dieſſeit der Berge beginnt das Herabſtimmen, das Zurückdrängen der bangenden Seele in ihre innerſten Tiefen. Hier gähnt vorm Gotthard die wilde, lebloſe, trümmer-überſäete Schöllenen-Schlucht und endet erſt droben, wo bei der Teufels¬ brücke die Gneisſchroffen eng zuſammentreten. Nur für wenig Augenblicke geſtattet das idylliſche Urſeren-Thal ein Freiaufathmen, eine kurze Friedensraſt. Ganz die gleichen Schreckenspforten verſchließen als Via mala und Roffla-Schlucht die beiden öſtlichen großen ita¬ lieniſchen Kommerzialſtraßen über den Bernhardin und Splügen, oder als Deſilé de Marengo den Paß über den Großen St. Bernhard. Nun hebt bei allen dieſen Päſſen das eigentliche Stei¬ gen erſt an, zu den baumloſen, halberſtorbenen Höhen, immer im Zickzack, immer einförmiger und kahler.

Es führt uns bald längs brauſenden Geſtaden
Durch Wüſten bald, durch jäher Klüfte Mitte,
Es bebt das Herz, es zittern unſ're Tritte,
Und wir entſagen gern, um das nur baten.
107Südliche Alpenthäler.

Fortwährend mahnen Gallerien und Zufluchtshäuſer auf Schritt und Tritt daran, daß in der ſchlimmen Jahreszeit der Tod auf den Wanderer lauert, um mit einem Löwenſprung als Lauine oder im wüthenden Wirbel als Schneeſturm ſeine Beute zu packen.

Iſt nun die Freude an der farbigen, blühenden, lebensvollen Natur faſt auf den Gefrierpunkt herabgeſchraubt, hat uns die hei¬ tere Welt der Organismen faſt ganz verlaſſen, ſind wir auf der öden Paßhöbe von 6500 Fuß angelangt, dann erſchließt ſich, erſt eng und begränzt, dann immer mehr ſich erweiternd ein neuer Niederblick auf neues Leben. Die erſte Stunde bietet noch wenig; doch grüßen ſchon hie und da die reizenden Aretien-Polſter mit ih¬ ren blendendweißen Vergißmeinnicht-Aeuglein, die fröhlichen, rothen, nelkenartigen Silenen, und die beſcheidenen Androſaceen, immer geſellſchaftsweiſe verſammelt. Noch etwas weiter hinab kommen dann ſchon Anemonen und Veroniken, holzſtengelige Strauchpflänz¬ chen, und drüben an den Felſenwänden kriechen als Vorboten der Baumregion die Lazzaroni der Alpen, die Legföhren herab. Mit welchem Jubel wird die erſte Lärchen - oder Rothtanne begrüßt! wie lieben alten Bekannten ſchwingen wir ihnen den Hut entgegen.

Nun wächſt es mit jeder neuen Krümmung des Weges. Die einzelnſtehenden Bäume ſchaaren ſich ſchon gruppenweis zuſammen und gehen in kleine Waldflecken über, die an den Seitenhängen emporklimmen. Rundliche Laubholzkuppeln miſchen ſich darunter, weißſchalige Birken leuchten von Weitem vereinzelt daraus hervor. Die ganze Pflanzendecke ſchwillt wieder an und gewinnt an Kraft, Höhe und Leben. Noch um eine Straßenecke herum, und plötzlich öffnet ſich ein tiefausgedehnter Niederblick in das zu Füßen liegende Hauptthal. Die Bergkouliſſen ſchieben von beiden Seiten korreſpondirend ſich vor, immer matter nach dem Hintergrund zu erblauend. Dörfer, Weiler, ſchlanke Kirchthürme winken herauf, und wie ein großer Faden verbindet ſie die lange ſchmale Linie der Kunſtſtraße. Da hinab alſo gehts in das erſehnte Land der108Südliche Alpenthäler. Jugendträume. Bald iſt der erſte Ort erreicht. Die dicken Steinmauern und die kleinen Fenſteröffnungen erzählen, daß hier der Winter noch lange und ſtrenge ſein Recht geltend mache, wäh¬ rend es doch ſo fröhlich ſommerlich, ſo freundlich warm und lebens¬ durſtig gegen die öden Paßhöhen ausſieht. Die Leute unterm Splügen, auf der Südſeite, haben darum eine ſolche Thalſtrecke Campo dolcino , das liebliche Feld, genannt, während es Dem¬ jenigen, der aus Italien heraufſteigt, ſchon recht unfreundlich und indolcino vorkommt. Was aber iſts gegen die nächſte Thalſtrecke? wie ſchwillt und quillt da die Vegetation, wie treibts da in jeder Pflanze, wie wird Alles ſo maſſig, behäbig und voll! Das iſt eben ein in unverhältnißmäßigen Progreſſionen wachſendes Na¬ turleben, das uns hellauf aus jedem Strauch, jedem Baum, jeder Gruppe anlacht. Droben waren unſere Augen arme, dürftige Hungerleider, Schmalköſtlinge geworden; nun ſie nur etwas be¬ ſcheidene Nahrung bekommen, ſchwelgen ſie ſchon luſtig und voll Freude. Gehts doch dem armen Mann im Leben eben ſo, der nur an Entbehrung und Sorgen gewöhnt, ſich plötzlich zu einem Kröſus gehoben wähnt, wenn er einmal ein Goldſtück als Eigen¬ thum in ſeiner Hand hält. Aber nur Geduld, wir ſollen noch an den Tiſch des reichen Mannes, an die luxuriös beſetzte Tafel des Verſchwenders geführt werden.

Denn weiter ſtets mit jedem Schritte
Taucht eine neue Welt hervor:
Ein andres Volk und andre Sitte,
Ein Gartenland mit reichem Flor.
Als wärs ein Vorbot des Sirocco,
Weht heiß der Mittagswind herauf,
Und überm Thale von Miſocco
Geht ſchon Italiens Himmel auf.
(Ad. Stoeber.)

Wie erſt die Thalſperren la Cluſe am Großen Bernhard und von Dazio Grande am Gotthard, oder der Ruinen-Riegel von Miſox unterm Bernhardin und die Thalſtufe von Stozzo am Splü¬ gen überwunden ſind, (allenthalben natürliche Gränzen der vom109Südliche Alpenthäler. Süden her bergwärts empordringenden warmländiſchen Vegetation) da erſchließen ſich neue, ungeahnte, landſchaftliche Bilder. Es ſind ſchon noch die von hohen, felſigen Bergen begränzten Thäler, aber die wildkühne Schönheit, die trotzig herausfordernde Haltung iſt gebändigt. Jener einheitliche, großartige Schnitt, der breite volle Wurf, die feſte beſtimmte Zeichnung, welche die nördlichen Alpenthäler ſo unverkennbar charakteriſirt, iſt verſchwunden; gleich¬ ſam tändelnd hat die Natur aus ihrem unerſchöpflich reichen Schatze die Gegend verſchwenderiſch mit allerlei Schmuck über¬ hangen und geziert. Es liegt entſchieden etwas Weibliches, Edel¬ gefallſüchtiges in ihnen gegenüber der ruhigen, männlichen Größe und dem ſtoiſchen Ernſt derer am Nordhang. Ueppige, ſinnliche Lebensfreude athmet die ganze Gegend, und tauſend kleine kokette Gruppen feſſeln hier den Blick.

Neue Pflanzenformen nehmen die Aufmerkſamkeit in Anſpruch, oder wo es alt-bekannte, längſt befreundete ſind, geben ſie ſich in eleganterem Schwung. Zunächſt ſind es die ſtrotzend-ſaftigen, mannshohen Maisſtengel mit den breit überhängenden, leuchtend¬ grünen, ſchilfartigen Blättern, Urbilder ſchwelgender Lebensfülle, die weithin die Felder der Thalſohle bedecken. Das Türkenkorn (Zea, Melgone im Teſſiner Italieniſch) muß faſt die Hälfte der Getreidefrüchte hier erſetzen. Weizen und Roggen (Biava), wäh¬ rend er in Deutſchland erſt in das erſterbende, abbleichende Grau¬ grün übergeht, ſteht hier ſchon ſchnittreif, leuchtend gelb. Das Nadelholz iſt aus dem Thal verdrängt; hinauf an die Bergwände hat es flüchten müſſen, drunten pflegt ſich nur rundgewipfeltes Laubholz. Der Nußbaum, die Weißeller (Betula incana) und die finſtere Ulme zeigen ſich in Menge. Letztere aber kann mit ihrer Schwermuth die heitere Sorgloſigkeit der Landſchaft nicht verſtim¬ men. Ein übermüthiger Wildfang umſpinnt ſie mit ſeinem Blätter¬ netz und rankt voll Humor an dem düſteren Murrkopf hinauf. Es iſt die fröhliche Weinrebe, die in ſorgloſem Leichtſinn empor¬110Südliche Alpenthäler. turnt, und luftige, flatternde Guirlanden von Baum zu Baum ſchwingt. Hui! iſt das ein geniales Sichgehenlaſſen, ein graziöſer Muthwille gegenüber der bevormundeten, vom Winzer ängſtlich un¬ ter Zaum und Zügel gehaltenen Pfahlrebe unſerer Kultur-Weinberge! Hier zeigt ſie ihr wahres Naturell, da lebt und ſtrebt in ihr der Feuergeiſt, den ſie durch die Traube als ſprudelnden Lebens¬ quell zollt; und wo man den loſen Stürmer einfing, wo der praktiſche Eigennutz ſeinem brauſenden Wildwuchs Gränzen zu ſetzen ſuchte, da ließ man ihm dennoch immer Freiheit genug, in niederen Laubengängen rankend mit den Geſpielen ſeiner Jugend ſich zu umarmen.

Weiter begegnen wir dem Maulbeerbaum, deſſen Blätter-Ernte für die Seidenraupenzucht beſtimmt iſt, der unſchönen Feige mit der dünnen Belaubung, und noch einem Baume, der uns durch ſeinen impoſanten Wuchs, durch glänzende Blätterfülle, über¬ haupt durch markvolles Ausſehen vor allen anderen auffällt. Es iſt die Edel-Kaſtanie, der ſüdlichen Thäler größte Zierde. Jeder einzelnſtehende Baum derſelben, mit einem übermooſten Felſenblock oder einem Hüttchen darunten, dann dicht dahinten

Mit verwegenem Sprung bergunterſtürzend
Und über die Felſen den Weg ſich kürzend,
Schneeweißen Schaum verſpritzend,
Im Sonnenlicht blitzend,

der ungefüge, feſſellos einherjagende, durchſichtiggrüne Bergſtrom und die immer weichere violett angehauchte Färbung der Berge in des Thales Perſpektive, jede ſolche Gruppe iſt ein Bild, eine Calame'ſche Studie.

[111]
Edelkastanie.

Druck von F. A. Brockhaus in Leipzig.

Kaſtanienwald.

Du warſt mir ein gar trauter, lieber
Geſelle, komm, du ſchöner Tag,
Zieh noch einmal an mir vorüber,
Daß ich mich deiner freuen mag.
Lenau.

Ein ſüdliches Vegetationsbild voll Leben, Anmuth und drängen¬ der Fülle, in feſten markigen Formen, baut ſich der Kaſtanienwald an den Böſchungen der kleinen Seitenthäler auf, welche in die ſüdlichen Abhänge der Alpen einſchneiden. Lebhaft erinnert er, als hoher, hehrer Laubwald, an die prachtvollen Buchenhaine Deutſchlands und Dänemarks; aber unter dem mächtig wirkenden Einfluſſe des wärmeren Klimas und der zauberhaften Verklärung ſüdlicher Beleuchtung übertrifft er jene an Ueppigkeit und Farben¬ glanz. Er iſt ein Epos, eine Odyſſee der Baumwelt, kühn und er¬ greifend wie ein Harmonieengang Paleſtrinas, himmelaufjauchzend wie das Halleluja in Händels Meſſias.

Drüben, jenſeit der Berge, im ſchwarzen, tiefſinnigen Bann¬ walde, der vergangenen Zeiten nachträumt, beſchleichen unheimliche Gefühle den Eintretenden; Schwermuth überſchleiert ſeine Einſam¬ keit, und der Alpengeiſt weht in kalter Größe an ihm vorüber. 112Kaſtanienwald. Hier, im Kaſtanienwalde, iſt Alles genießende Gegenwart, friſches drängendes Streben, hier frohlockt die Seele und ſchweift in trunkener Begeiſterung den holdeſten Phantaſieen nach. Er liegt freilich auch in einer viel tieferen Vegetationszone als jener. Denn während der alpine Nadelhochwald ſich hauptſächlich in der Region von 3000 bis 5500 Fuß ausbreitet, erreicht der alpine Kaſtanien¬ wald ſchon mit 2700 Fuß ſeine mittlere Gränze und kommt aus¬ nahmsweiſe bei Soglio im Bergell noch in der Höhe von 3500 Fuß vor. Die ſchönſten Wälder dieſer Art an den Alpen beſitzen Piemont und Welſch-Tyrol. Außerdem iſt die Kaſtanie durchs ganze ſüdliche Europa verbreitet, deckt im nördlichen Griechenland große Flächen der Ebene und ſteigt im mittleren Hellas hoch ins Gebirge hinauf. In Spanien und Portugal überzieht ſie in großen Beſtänden die höheren Berge oder bildet einen abſchließenden Gür¬ tel unterhalb kalter Spitzen und zeigt ſich als maſſenhafter Wald¬ baum in den Cevennen und im Limouſin. Deutſchland kennt ſie faſt nur vereinzelt als Zierde der Parkanlagen.

Die Edelkaſtanie oder der Maronenbaum (Fagus castanea L. oder Castanea vesca) iſt ein ächter Gebirgsbaum des Südens und nicht zu verwechſeln mit der wilden oder Roßkaſtanie (Aescu¬ lus Hippocastanum L.), welche ihrer fächerförmigen Aufſtellung der Blätter und daherigen dichten Belaubung halber oft zu An¬ lagen von Alleen benutzt wird. Wuchs und Holz, Blüthen, Laub und Früchte ſind gänzlich verſchieden von jener. Aber je nach ihrem Standorte ändert auch die Edelkaſtanie den phyſiognomiſchen Ausdruck ihrer Stammform und Beaſtung, ſo daß man ſie als einzelnſtehenden Baum oft beinahe nicht wiedererkennt, wenn man ſie zuvor nur in Waldmaſſe ſah.

Hier (im Walde) wächſt der walzenförmige Schaft in männ¬ licher Kühnheit und Friſche den Wolken entgegen; Muskelfülle und ausgiebige Kraft ſchauen aus jeder Faſer. In vermittelnder Ver¬ wandtſchaft ſteht er zwiſchen der ſtraffen, kernigen Stammform der113Kaſtanienwald. glattrindigen Buche und dem nervigen Habitus der rauh-riſſigen Sommereiche. Um und um iſt Race und ſelbſtſtändiger Halt in der Erſcheinung. So lange er jung iſt, wird der Stamm von einem ſaftigen, drall-anſchließenden Rindenkleide umſchloſſen, deſſen olivengrünes Zellengewebe durchſchimmert; durchaus iſt daſſelbe mit weißen, linſengroßen Punkten (Lenticellen) überſäet, die ihm ein jugendfrohes, heiteres Anſehen verleihen. Hat er dann die zwölf erſten Jahre ſeiner Kindheit zurückgelegt und eine Höhe von etwa 20 Fuß erreicht, dann bekommt er einen buntgeſprenkelten Ueber¬ wurf; grünlich-grau iſt der Grundton des Rindengewandes, auf dem ſich helle Flecken ſilberfarben abheben, täuſchend ähnlich wie bei der deutſchen Weißbuche. Bei beiden rührt dieſe Farbenver¬ änderung von Flechtenbildungen (Verrucaria epidermidis und analepta) her, welche in reicher Verbreitung den Stamm über¬ ziehen. Nach abermals einem Jahresdutzend tritt der Baum ins Mannesalter; die Rinde vertrocknet und mit dem Abſterben der unterliegenden Safthaut-Schichten ändert ſich die Farbe nochmals. Jetzt dehnt ſich die Holzfülle in die Höhe und Breite, der Stamm¬ umfang nimmt bedeutend zu, die Borke reißt und Furchen durch¬ ziehen den nun dunkelgebräunten Stammpanzer.

Die Aſt - und Zweig-Entfaltung beginnt bei der im Walde ſtehenden Kaſtanie erſt ziemlich hoch oben und greift in ſtarken, ſperrigen Linien weit umher energiſch aus, ſo daß die Nachbar¬ bäume in einander überragend, bei reicher Belaubung, ein dichtes Blätterdach wölben. Dämmerig wie in unſeren kompakten Nadel¬ forſten, gewährt der Kaſtanienwald in den drückend heißen Som¬ mermonaten eine heimlich kühle Zufluchtsſtätte. Man bedarf ſolcher in den kleinen ſüdlichen Alpthälern. Die Sohle derſelben iſt oft überraſchend ſchmal; nur der holperige, allen gegebenen Kurven ſich ſklaviſch anſchmiegende Weg und der kryſtallklare, wellen¬ hüpfende Bergbach haben Raum nebeneinander, dann gehts auf beiden Seiten ziemlich ſteil in die Höhe. In dieſe ſchluchtartigenBerlepſch, die Alpen. 8114Kaſtanienwald. Einſchnitte lagert ſich die volle Wucht der Sonnenſtrahlen und er¬ hitzt die Felſenwände oft in hohem Grade. Kein Dorf, kein Wei¬ ler, kein Hof liegt unten im Thale, alle droben an den prächtig grünen Berghängen. Dort componirt ſich, namentlich an der Ab¬ dachung der Monte-Roſa-Gruppe, jede einzelne Ortſchaft aus einer Menge kleiner zerſtreuter Gemeinden (cantoni), die aus großen reſpektabelen Steinhäuſern im italieniſchen Styl, je mit einer Ka¬ pelle, beſtehen. Aber man kann viele derſelben kaum ſehen, weil ſie in den Wipfelwald der Kaſtanien verhüllt ſind. Ein reizend¬ idylliſches Bild dieſer Art ſtellt z. B. das Dorf Roſſa im Seſia - Thale dar, wo der vielleicht prächtigſte Kaſtanienwald der ganzen ſüdlichen Alpen-Abdachung ſteht. Dieſe Hochlage der Dörfer giebt den Monte-Roſa-Thälern in Piemont ein durchaus von dem Cha¬ rakter der nördlichen Alpthäler abweichendes Anſehen. Bei dem Schmuck, den ihnen die diamantklaren, mit leicht grünlichem An¬ hauch gleichſam ſchillernden Bergbäche und die durch dieſelben ge¬ bildeten kryſtallhellen Waſſerbecken verleihen, würden dieſe Thäler die ſchönſten der ganzen Alpenwelt ſein, wenn ihre Berge nach der Höhe zu farbiger und formenreicher wären. Aber nicht ſelten gehen ſie in eine faſt troſtloſe Monotonie über, die ganz beſonders in den Grajiſchen Alpen vorherrſcht.

Nicht allenthalben ſtehen die Bäume ſo dicht. Früher z. B. bedeckte den Monte Cenere, über welchen die ſehr frequente Land¬ ſtraße von Bellinzona nach Lugano führt, ein dichter Kaſtanien¬ wald; da ſich aber viel Raubgeſindel und Wegelagerer in demſel¬ ben aufhielt, ſo lichtete man ihn bedeutend. Hierdurch gewannen die Bäume an Licht und Raum und dehnen jetzt ihre Aſtkuppeln ungemein wohlig aus.

Ganz anders präſentirt ſich der frei und einzelnſtehende Baum. Im erſten Blicke gleicht er in dem übermüthigen, trotzigen Umſich¬ zacken der Prinzipal-Aeſte, in der breitſpurigen, knotig-poſitiven Kon¬ ſtitution des kurzen, vierſchrötigen Stammklotzes, in der warzig¬115Kaſtanienwald. vernarbten Rinde, kurz im ganzen Holzaufbau, der deutſchen Winter¬ eiche wie ein Spiegelbild. Eben ſo wie bei dieſer giebt es Stämme von gewaltigem Umfang. Solche von 20 bis 30 Fuß Circumferenz ſind nicht ſelten; im Val Miſocco ſteht einer, der 3 Fuß ob dem Boden 32 Fuß mißt. Der berühmteſte Baum iſt bekanntlich jener am Aetna, Caſtagno di cento cavalli genannt, deſſen Umfang 180 Fuß beträgt. Da aber ſeine Höhe in durchaus keinem Ver¬ hältniß zu ſeiner Breiten-Wölbung ſteht, ſo erſcheint er in einiger Entfernung eher wie ein rieſenhafter Buſch. In der That zeigt er auch nicht einen maſſiven Stamm, ſondern eine Gruppe von fünf Aſt-Koloſſen, die aus einem jetzt unter der Erde verborgenen Stamm-Fundamente ausgehen.

Die Edel-Kaſtanie iſt in ihrer Ausſchlagsfähigkeit und Re¬ produktionskraft außerordentlich; ſie gehört zu den zäh-lebigſten Bäumen. Stämme, hohl wie die geſpenſtiger, alter Weiden, in denen einige Männer bequem wie in, einem Pavillon Platz haben würden (improviſirte Schilderhäuſer der Landſchaft), ja ſogar ſolche, in denen der caprajo (Ziegenhirt) ſein Feuer anzuzünden pflegt, um ein armſelig Gericht Polenta darüber zu bereiten, Stämme, deren innere Wandflächen ſchwarz verkohlt ſind, grü¬ nen friſch und fröhlich in den Laubkronen. Ein oft nur wenige Fuß breiter Rinde-ſtreifen mit ſeinen Splintzellen, der ſich an dem faſt völlig entrindeten Stamm emporzieht, bringt dem Gipfel hin¬ reichende Nahrung zu.

In ebenmäßiger Uebereinſtimmung mit der noblen männlichen Haltung des Stammes, ſeiner formſtolzen Kuppelbildung und dem ausgedehnten Aſtumfange ſteht auch die charakteriſtiſche Zeichnung des Laubes. Die länglich-lanzettförmigen Blätter ſtrotzen von Eigenwillen und ſelbſtherrlichem Ausdruck. Lebhaft würden ſie an das antike Attribut des Sänger-Preiſes, an das edelgeformte Lor¬ beerblatt erinnern, wenn ſie zu den harmloſen friedlichen Laubge¬ ſtalten gehörten; aber als Kinder ihres ſtolzen Hochaufſtrebenden8*116Kaſtanienwald. Vaters ſtrömt auch deſſen ritterliches Blut in ihren Adern. Rundum am Rande ſtrecken ſie, als Enden der Blattrippen, ſcharfe, leicht¬ gekrümmte Stachelſpitzen hinaus, die jedes Blatt keck waffnen und ihm ein durch und durch energiſches Anſehen verleihen. Feſt und dauerkräftig, zäh und ſolid iſt das ganze derbe Zellengewebe, glatt und glänzend die friſche tiefgrüne Oberfläche jedes Blattes. Darf ſich der Baum in ſeinem ganzen zuverſichtlichen Weſen, in ſeiner heroiſchen Architektur, dreiſt mit dem Urbilde der Kraft und Stärke, mit der deutſchen Eiche, auf gleiche Linie ſtellen, ſo darf es nicht weniger das Blatt in ſeiner freien Naturwüchſigkeit.

Eben ſo appart und eigenförmig wie Stamm und Belaubung ſind endlich auch die Früchte und ihre Hülle. Unter unſeren euro¬ päiſchen Pflanzen giebt es keine, welche ihre Samen in ſolche dicht, mit langen, ungemein ſpitzen Nadeln bewaffnete Hülſen ein¬ ſchließt. Die Frucht der wilden oder Roß-Kaſtanie hat auch eine ähnliche, mit ſcharfen Dornen beſetzte äußere Schale, aber die Dor¬ nen ſind kurz, ſtehen weit auseinander und erinnern höchſtens an die Geſtalt der mittelalterlichen Morgenſtern-Waffe. Die Hülle der Marone oder eßbaren Kaſtanie, (die im October reift), iſt ein zu Schutz und Trutz gewaffnetes Noli me tangere, eine unantaſtbare Stachelkugel, das vollendet ähnliche Miniatur-Ebenbild eines zuſam¬ mengerollten Igels oder afrikaniſchen Stachelſchweines. Würde dieſelbe beim Ausreifen nicht von ſelbſt in drei Theile zerplatzen, ähnlich wie die Becher der Buchnüßchen, ſo möchte es ſchwer hal¬ ten, die Kaſtanie aus ihrer dornumpanzerten Feſte zu gewinnen. Bekanntlich bildet ſie bei den niederen Volksklaſſen des ſüdlichen Europa während der Wintermonate ein Hauptnahrungsmittel, das die Stelle des Brodes vertreten muß; ſeit der immer mehr in Auf¬ nahme kommenden Kultur der Kartoffel ſcheint indeſſen der Werth der Kaſtanie abzunehmen. In Italien iſt Chatigna , ein mit Salzwaſſer aus dem Mehl der Marone bereiteter Brei, noch in vie¬ len Gegenden tägliches Tiſchgericht; im Teſſin ißt man die Frucht117Kaſtanienwald. ſowohl geſotten, Farud als auch auf dem Roſt gebraten, Brasch. Vorſichtig gedörrt kann man ſie beinahe ein ganzes Jahr lang aufheben. Ein großer tragkräftiger Baum mag in günſtigen Jah¬ ren fünf Centner Früchte liefern. Die Ernte der Inſel Korſika allein wird jährlich auf hunderttauſend Kronen geſchätzt. Im Bergell, wo bei Soglio und weiter draußen auf der Schuttfläche des durch den Bergſturz von 1618 begrabenen Dorfes Plurs ganze Waldungen ſtehen, hat man ein Sprüchwort: Quantas moscas, tantas castanies , welches ſagen ſoll, ſo viel Fliegen ein feucht¬ heißer Sommer bringt, eben ſo viel Kaſtanien liefert die gleiche Jahresernte.

Der ſoeben erwähnte Standort bei Soglio iſt um deswillen beſonders intereſſant, weil hier die, an das kalte, ſchneeluftige Klima der eigentlichen Alpenregion gebundene Arve (Pinus cembra) ihre Zapfen mit den ſüßen eßbaren Zirbelnüßchen unmittelbar neben der Kaſtanie reift, und beide Bäume geſellſchaftliche Wald¬ komplexe, der Branten genannt, bilden.

Aber auch nach ihrem Tode, nachdem ſie aufgehört hat, als ſchönſter Laub-Baum des Südens die Landſchaft feſtlich und lebens¬ voll zu ſchmücken und durch ihre Früchte zu ernähren, zeigt ſich die Kaſtanie im Werthe ihres Holzes noch als edle, hervorragende Pflanze. Denn dieſes ſteht an Feſtigkeit, Ausdauer und Solidität dem der Eiche unmittelbar zur Seite, und würde, da ſeine Jahres¬ ringe durch weitwandige Gränzröhren wie bei der Eiche auffallend von einander geſchieden ſind, ſelbſt in ſeinen phyſikaliſchen Eigen¬ ſchaften dem Eichenholze völlig gleichſtehen, wenn ihm nicht die charakteriſtiſchen, großen Markſtrahlen gänzlich fehlten. Die Meer-gebietende Dogenſtadt Venedig, das reiche lachende Genua, die gewaltigen Werfte Englands bauten ihre rieſigen Dreimaſter, ihre gewaltigen Kauffahrtei - und Kriegsſchiffe aus Kaſtanienholz, weil es von Würmern und den zerſtörenden Bohrmuſcheln (Phola¬ den) nicht angegriffen wird. Die mächtigen Balkengelüſte der118Kaſtanienwald. prächtigen Weſtminſter-Halle in London, welche der verſchwende¬ riſche Richard II. von England gegen das Ende des 14. Jahr¬ hunderts erbauen ließ, die Dachgebälke vieler der herrlichſten gothiſchen Kathedralen Frankreichs und Spaniens beſtehen aus dem Holze unſeres vortrefflichen Baumes, und ſind noch heute ſo trag¬ kräftig und unverſehrt als vor 500 Jahren. Schon vom leben¬ den Baume wird behauptet, daß er weder dem Inſektenfraß noch ſonſt irgend einer Krankheit ausgeſetzt ſei, als dem Hohlwerden im Alter. Aber ein gefürchtetes Thier birgt ſich vorzugsweiſe gern unter ſeinen Wurzeln, nämlich der gemeine Skorpion (Scorpio europaeus). Die Italiener, welche mit dem ſ. g. Skorpionöl (das gegen den Stich giftiger Fliegen, Wespen und Bienen gut ſein ſoll) noch bisweilen im Lande umherziehen, fangen die zur Berei¬ tung dieſes Oeles nöthigen Skorpionen durch Ausgraben der Erde unter Kaſtanienwurzeln. Aus den jungen Zweigen werden ſehr dauerhafte, ſpannſcharfe Faßreife gefertiget, wie denn auch Fäſſer, deren Dauben aus Käſtenholz geſpalten wurden, beinahe unverwüſtlich ſein und den Wein trefflich konſerviren ſollen. Als Brennholz dagegen hat die Edel-Kaſtanie durchaus keinen Werth; die Scheite glimmen nur, ohne beſondere Hitzkraft.

So wächſt und ſchmückt, ſo nutzt und vergeht des ſüdlichen Alplandes ſchönſter Laub-Baum.

In dieſes Waldes leiſem Rauſchen
Iſt mir, als hört 'ich Kunde wehn,
Daß alles Sterben und Vergehn
Nur heimlich-ſtill vergnügtes Tauſchen.
[119]

Eine Nebel-Novelle.

Aus dem reizendſten Winkel des Genfer-Sees bei Montreux und Chillon führen zwei Wege übers Gebirge in den Kanton Bern und ins Saane-Thal. Der eine derſelben, la Tinière, iſt ſteinig, unwegſam und minder begangen, während der Pfad über den Jaman bequem, ziemlich belebt und leicht zu finden iſt. Man glaube indeſſen nicht, daß dieſe beiden Gebirgswege eigentliche Päſſe ſeien, wie ſie in den Hochalpen-Kantonen Glarus, Uri, Graubünden und Wallis vorkommen, oder wie ſie im Chamouny über die bekannten Cols führen; ihre Scheitelhöhe erreicht nir¬ gends 4700 Fuß über dem Meeresſpiegel, und der Weg über den Jaman bietet mindeſtens alle halbe Stunden eine menſchliche Wohnung.

Bei heiterem Wetter gewährt dieſer Bergübergang unvergleich¬ lich ſchöne Rückblicke auf den See und ſeine reiche, maleriſche Uferſcenerie; überraſchen den Wanderer jedoch Nebel und Nacht auf dieſen Höhen, dann ſind Weg und Steg ungeheuerlich wie überall im Gebirge, und wehe dem, der keinen Führer hat oder vom rechten Wege abirrt.

120Eine Nebel-Novelle.

Bei drückender Mittagswärme hatte ich am 15. September 1852 Vevey verlaſſen und ſchlenderte unentſchloſſen längs dem See die Straße hinab. Schon oft hatte mich die einſamſtehende Felszacke der Dent de Jaman von Weitem freundlich winkend zu einem Beſuche eingeladen, aber ſo oft ich auf dem Dampfſchiff an ihr vorüberfuhr, lag ſie außerhalb meiner Reiſeroute. Heute kam mir die Dent in meinem Wohin-Zweifel ganz gelegen, und vor Clarens links vom Wege abbiegend, vor mir die hohe Naye, ſtieg ich zwiſchen Weinbergen gegen Chailly und Chernex empor. Immer freier und prachtvoller entfaltet ſich die große, umfaſſende Rundſchau, je höher man ſteigt. Es iſt ein Bild, das in ſeinem Reichthum an hoher Majeſtät und idylliſcher Einfachheit, an Far¬ benpracht und Formenfülle bei völliger Harmonie der Gegenſätze ſeines Gleichen im ganzen, weiten Alpenlande ſucht.

Der Himmel hatte allgemach eine mißliche Färbung angenom¬ men, bleigrau und eintönig dehnte er ſich über die prachtvolle Landſchaft aus und die Sonne ſchien mattgelb und ſchläfrig hin¬ ein. Ein deutſcher Profeſſor, der mit ſeinen Zöglingen über den Col de Jaman herabkam, empfahl mir das Bergwirthshaus En avant bei Mr. Dufour, und ſein wie ein Laſtpferd mit Taſchen, Nachtſäcken, Torniſtern und Botaniſirbüchſen bepackter Führer meinte: da hätte ich die beſte Gelegenheit, den Regen abzu¬ warten.

Verdrießlich überraſcht ſah ich dem halb lachend, halb keuchend forttrabenden Laſtträger nach, und ein fragender Blick hinauf zur Sonne, die gläſern, faſt ſtrahlenlos hinter der, von wäſſerigen Dünſten erfüllten Atmoſphäre ſtand, ſo wie unheimliches, ſchmutzig¬ graues Gewölk an der Dent du Midi ſchienen mir leider die un¬ erwartete Wahrheit des Wetterpropheten zu beſtätigen. Umkehren war von jeher meine Paſſion nicht, ſelbſt in Fällen, wo mein Ortsſinn mir ſagte, daß ich auf falſchem Wege ſei. Darum galt es jetzt einen Schritt zuzulegen. Raſcher, als ich gehofft, kam ich121Eine Nebel-Novelle. zu der freundlichen Hüttenkolonie. Die Bauern von Montreux, denen die umliegenden fetten Bergwieſen gehören, waren hier oben, um ihr Oehmd (Grummet, zweites Heu) einzuheimſen. Da geht es denn bei Mr. Dufour lebendiger her als ſonſt, beſonders am Abend.

Kaum hatte ich bei einer Flaſche trefflichen Waadtländer Wei¬ nes eine halbe Stunde geraſtet, als einer der Bergbauern mit der tröſtlichen Nachricht eintrat: y pliau (es regnet). Alſo der Profeſſoren-Führer hatte doch recht gehabt. Dieſer Pliau verdich¬ tete ſich aber zuſehends, und mit dem raſchen Eintritt der Däm¬ merung ſchienen alle Schleuſen der himmliſchen Bäche gezogen zu ſein. Abendbrod, Gute Nacht, zu Bett! war das einzige Rettungsmittel gegen den im Anmarſch begriffenen Unmuth. Morgen kanns ja beſſer ſein.

Gegen Morgen, als ich erwachte: O weh! Fortſetzung vom vorigen Abend. Das Rieſeln der Waſſerfäden über die geſättig¬ ten, glänzenden Dachziegeln in die erklingende Blechrinne, und das plätſchernde Abtröpfeln der Traufe aufs Pflaſter hat gleich jedem anderen monotonen Geräuſch eine magnetiſch einſchläfernde Kraft. Auch ich erlag ihren Einwirkungen. Nach 9 Uhr er¬ wachte ich zum zweiten Mal. Ein Blick durchs Fenſter, Ne¬ bel und dichter Regen! Von der Gegend waren nur die näher gelegenen Partieen ſichtbar! Drunten, nach dem See zu, der ſonſt ſo reizende Einblick, war dicht verſchleiert durch graue, tiefhängende Wolken. Die Tagesparole: Hierbleiben und in Geduld Abwarten! diktirte ſich von ſelbſt.

Ich hatte tauſend Prozent vor jedem ähnlichen Unfall, wenn er mir zum Beiſpiel in einer, von aller Welt abgeſchnittenen, ein¬ ſamen Alpenhütte begegnet wäre, voraus; denn Mr. Dufours Wohnung war ein ganz ordentliches Häuschen, das genugſam ge¬ gen die Unbilden der Witterung ſchützte, und das Bett in meinem122Eine Nebel-Novelle. weißgetünchten Kämmerlein, obwohl hart, war immerhin beſſer als ein feuchtes Alp-Heulager.

Ueberall, wo man ſich gegenſeitig durch das Mittel der Sprache verſtändigen kann, findet der nach Unterhaltung ſich ſehnende Rei¬ ſende ſelbſt beim einſeitigſten und trockenſten Geſellſchafter irgend ein Hinterpförtchen, um ihn aus der Verſchanzung des nüchternen Ja und Nein hinaus auf das Feld der Gedanken-Aeußerung zu drängen, und dort läßt ſich von einem Jeden, und wäre es der ungebildetſte Bauer, immer noch Etwas lernen. Aber auch dieſes beſcheidene Mittel hört auf, wenn man ſich nicht gegenſeitig ver¬ ſtändigen kann. So ging's auch mir. In meinen Schuljahren waren mir die Stunden des franzöſiſchen Sprachunterrichtes immer die langweiligſten, und ich wäre hier gänzlich troſtlos daran ge¬ weſen, wenn mich in ſpäteren Jahren nicht die Nothwendigkeit ge¬ zwungen hätte, das in der Jugend Verſäumte nachzuholen. Jetzt ſprach ich nun zwar grammatikaliſch Franzöſiſch, und die Wirthin, ſo wie einige der anweſenden Bauern, verſtanden mich wohl, aber ich verſtand ihr verſchwimmend romaniſch-franzöſiſches Patois nur unzuſammenhängend, meiſt halb errathend. Dieſes Hinderniß mußte überwunden werden; mit einer wahren Sündfluth von comment s'appelle cela? und qu'est cela ? begann ich mir ein Vokabularium anzulegen. Das führte denn zu einem höchſt komiſchen Vorfall. Zur Erluſtigung ſämmtlicher Gäſte, die eben¬ falls wie ich an der Langeweile litten, begann ich nämlich Schule zu halten, aber in umgekehrtem Verhältniß, das heißt ſo, daß ich, der ich einziger Schüler, war und acht oder zehn trinkende und rauchende Lehrer um mich ſitzen hatte, dieſen meine Fragen vor¬ legte und Alle, wie aus einem Munde, mich beantwortend unterrich¬ teten. Da gabs denn tüchtig zu lachen. Ein paar Maß des ſchon erwähnten Yvorner Weines, der hier ſpottbillig iſt, unter¬ ſtützten meine wißbegierigen Beſtrebungen, und in meinem Tage¬ buche füllte ſich Seite um Seite. Dieſer Spaß vertrieb uns123Eine Nebel-Novelle. einige Stunden Zeit, dann verlor er nach und nach ſeine Spann¬ kraft, und draußen lief, nach wie vor, das naſſe Einerlei vom Himmel hernieder. Wie begonnen, ſo endete der Tag, und auch, die zweite Nacht. Der dritte Morgen brachte abermals Nebel und Regen in Strömen. Jetzt fing die Geſchichte an ernſtlich langweilig zu werden.

Abermals war Mittag vorüber. Während ich, mit den Fin¬ gern am Fenſter trommelnd, gedankenlos in die große General¬ wäſche der Natur hinausſchaue, kommen zwei junge kräftige Män¬ ner, der eine bedeutend größer und breitſchulteriger als der andere, gegen das Wirthshaus heraufgewandert, ſo gründlich und vollſtändig durchnäßt, daß ſie nicht naſſer werden konnten. Die Hüttenkoloniſten, meine Freunde und Lehrer von geſtern, kannte ich ſämmtlich; dies waren neue Geſichter, Grund genug, mein Intereſſe an ihrer Perſon, ihrem Erſcheinen zu erhöhen. Woher? Wohin? Hierbleiben oder Weiterwandern? Fremd oder Einheimiſch? fragte ich mich ſelbſt mit Neugierde, denn ein Kom¬ men unter ſolchen Umſtänden war ein Ereigniß, mußte irgend einen triftigen Grund bei dieſem triefenden Regen haben. Der Eine, Größere, ging geraden Schrittes auf den vor dem Hauſe ſtehenden Brunnentrog und ſeine immerwährend laufende Röhre zu, begann Stock und Schirm abzulegen, überhaupt zu irgend einem Geſchäft ſich anzuſchicken. Was? auch noch waſchen? bei dieſer exemplariſchen Durchnäſſung, wo der ganze Körper ſchon einem unfreiwilligen Vollbade ſeit geraumer Zeit ausgeſetzt ſein mußte? Das ſchien mir Luxus zu ſein. Jetzt zog er ſeine dicken, ſchweren, rindsledernen Schuhe aus, hielt dieſelben unter den lau¬ fenden Waſſerſtrahl und ſchwenkte ſie zwei, drei Mal aus, wie man ein unreinliches Glas ſäubert; er hatte Sand und kleine Kieſel drin gehabt. Dieſe Abhilfe war mir ein wenig allzu radikal, ſo konnte nur ein Naturmenſch handeln, der mit Wind und Wetter auf Du und Du ſteht.

124Eine Nebel - Novelle.

Wie Beide eingetreten waren, hörte ich zu meinem nicht ge¬ ringen Erſtaunen, daß ſie über den Paß Plan de Jaman wollten. Bei dieſem Wetter? fragte ich überraſcht. Warum nicht? war die Antwort. Oho!? ſtrammte ſich das Ehrgefühl in mir an, was Ihr könnt, iſt auch mir möglich. Alſo im Ernſt über Plan de Jaman? Ja, Herr! nach Montbovon! war die deutſche Antwort des Großen, eines Berner Oberländer Burſchen aus dem Simmenthal, dem die Wirthin geſagt, daß ich ein Rei¬ ſender aus der deutſchen Schweiz ſei. Wollt Ihr mein Führer ſein? Gern, Herr! entgegnete er freundlich, während ſeine großen treuen Augen mein Vertrauen in ihn beſtärkten; geben Sie mir nur Ihren Reiſeſack, ich will ihn ſchon tragen, hab 'ſchon oft mit fremden Herren über die Berge gehen müſſen! Topp! Abgemacht. Zeche bezahlt, Alles in die noch friedlich¬ trockene Seehundfell-Taſche wohl verwahrt gepackt, auch mein Porte¬ feuille mit Paß und Papiergeld; den Alpſtock zur Hand, und nun B'hüt di Gott, Herr Wirth, Frau Wirthin, liebe Nachbarn! Fort, hinaus! in Nebel und ſtrömenden Regen.

In den erſten zehn Minuten war ich hinſichtlich des Durch¬ näßtſeins meinen beiden Begleitern völlig ebenbürtig. Durch Wald gings bergauf. Durch die Runſen, in den Hohlwegen und wo ſonſt nur irgend eine Einſenkung an der Abdachung des Berges war, kam das Wildwaſſer herabgeſchoſſen mit jagender Haſt, in überſtürzender Eile. Alle paar hundert Schritte mußten wir durch dieſe improviſirten Bäche ſchreiten, einige Male auf Schußlänge in denſelben marſchiren. Es währte nicht lange, ſo hätte auch ich Mr. Dufours Brunnen brauchen können, um meine Schuhe von läſtigem Sande zu ſäubern, den das ſtrömende Waſſer mir hinein¬ geſpült hatte. Alles das, was mich im trockenen, ſchützenden Wirthsſtübchen als ſo außerordentlich überraſcht hatte, machte ich jetzt ſelbſt ganz reſignirt, oder nicht einmal reſignirt, ſondern in freudiger Stimmung mit.

125Eine Nebel-Novelle.

Nach ungefähr dreiviertelſtündigem Steigen waren wir auf der Höhe des Col; uns zur Rechten der verwitterte Felszahn des Jaman, ſchwarzgrau und geiſterhaft aus dem ſchweren Nebelmantel hervorſchauend. Hier, wo ſonſt bei hellem Wetter jene bezaubernd ſchöne Ausſicht ſich entfaltet, die als die prächtigſte am ganzen Leman gilt, ſtanden wir in kalter Zugluft, im überſtrömenden Re¬ gen, eingehüllt in ein trübes, unheimliches Dunſtmeer, das nur da und dort ſich maſſiger, ſchwerer zuſammenballte, während an ande¬ ren Stellen die Nebel vom Winde zerriſſen, in geſtreckten, phan¬ taſtiſchen Formen und Gebilden, wie Nachzügler des wilden Heeres, vorüberjagten. Der kurze Alpenraſen war durch den Regen un¬ gemein glatt und ſchlüpfrig geworden, ſo daß auf ihm, wo der Weg ſich ſenkte, nicht wohl mit feſtem und ſicherm Tritt zu gehen war. Von eigentlichen Wegen kann indeß, wie überall auf einer Alpweide, nicht füglich die Rede ſein; da laufen Hunderte ſchein¬ barer Pfade, d. h. langer Linien, welche die Raſen - und Pflanzen¬ decke des Bodens durchſchneiden, und wo entweder das nackte Ge¬ ſtein zu Tage tritt, oder geröllähnliches Steingebröckel den Weg zu bilden ſcheint, hunderte ſolcher Pfade laufen nebeneinander her, durchkreuzen ſich, brechen ab und geſtalten, zumal im Nebel, ein Labyrinth, das Jeden, der mit der Gegend nicht ganz wohl be¬ kannt und ſicher vertraut iſt, leicht ihre führen kann.

Mein Simmenthaler Führer ließ eine lange Reihe heller, ju¬ belnder Jauchzer ertönen, trotz Näſſe der Kleider und Ungunſt des Wetters. Das iſt ächt ſennenmäßig. Seine Jodler wurden be¬ antwortet von mehren Seiten her, aber von wem? konnten wir nicht ſehen; aus dem Nebel kamen die Antworten.

Raſchen Schrittes gings bergab; mitunter im beflügelten Ba¬ lancirſchritt, mitunter halbgleitend, ſo daß der Alpſtock faſt dieſel¬ ben Dienſte leiſten mußte, wie wenn man über ein flachabſchüſſiges Firnfeld hinabgleitet. Es währte nicht lange, ſo kamen wir bei einer großen reinlichen Alphütte an. Wir waren auf Freiburger126Eine Nebel-Novelle. Gebiet. Hier ſchied unſer Drittmann von uns, und dies gab Ver¬ anlaſſung in die Sennerei einzukehren, um ein Wenig zu raſten. Dieſe hier verſäumte halbe Stunde am erwärmenden, helllodernden Feuer wurde Urſache eines Abenteuers, das ſelbſt in der Rück¬ erinnerung mir jedesmal neue Schrecken bereitet.

Als wir nämlich die Hütte ſelbander verließen, hatte der Ne¬ bel ſich ſo gewaltig verdichtet, daß wir buchſtäblich uns kaum er¬ kennen konnten, wenn wir nicht unmittelbar Schulter an Schulter ſtanden; auf doppelte Schrittlänge waren ſelbſt nicht einmal die Umriſſe einer menſchlichen Geſtalt zu erkennen. Dieſer Umſtand bedingte es, die geſpannteſte Aufmerkſamkeit dem zu verfolgenden Pfade zu widmen und die Sorge um den rechten Weg, ſo wie der ungewöhnliche Kraftaufwand, um nicht auszugleiten, verſetzte uns trotz der ſchneidend kalten, regenerfüllten Luft in ſolche Transſpira¬ tion, daß wir Beide nicht weniger ſchwitzten, als wie man in der Mittagsſonnengluth eines heißen ſchwülen Julitages beim Bergan¬ ſteigen zu ſchwitzen pflegt. Mehrmals zeigte es ſich, daß wir nicht ganz genau die rechte Richtung inne gehabt hatten, als es galt, Häge und trennende Einfriedigungen zu überſteigen, wie ſie allent¬ halben in den untern Staffeln, Maienſäßen oder Heubergen der Alpen vorkommen. Ein paar Dutzend Schritte rechts oder links, und wir hatten immer den rechten Pfad wiedergefunden, der durch ein Gatterthor lief oder, wie dies noch öfter vorkommt, durch große treppenförmig gelegte Steine bezeichnet iſt, welche es ermög¬ lichen, das Knüppelflechtwerk rittlings zu überſteigen. So gings eine geraume Zeit fort. Wir hatten das Wirthshaus En allières nicht betreten, in Rückſicht der früheinbrechenden Nacht, denn ſchon begann es entſchieden zu dunkeln. Jetzt galt es, wieder über einen ziemlich hohen Hag zu ſteigen, und unſerer bisher als zweckmäßig ſich erwieſenen Praxis gemäß, gingen wir längs deſſelben, um den Durchſchnittspunkt zu entdecken; rechts ging es ſanft geneigt bergab, links ſtieg es. Wir ſuchten, aber vergebens. Es handelte ſich127Eine Rebell-Novelle. hier weniger darum, bequem über den Zaun zu kommen, als durch Auffindung des gewöhnlichen Ueberganges uns des rechten Weges zu verſichern, welcher, nach der wiederholten Ausſage meines Füh¬ rers, dann gar nicht mehr zu verfehlen ſei, wenn wir ungefähr noch zehn Minuten hinter uns hätten. Durch das wiederholte Hin - und Hergehen an dem Hag hatten wir auch den Punkt verloren, wo wir zuerſt angelangt waren, und die Nacht rückte immer ent¬ ſchiedener heran, je mehr Zeit wir mit Suchen verſäumten. Noch¬ mals eine tüchtige Strecke links bergan! aber keine Spur deſſen, was wir ſuchten; wiederum rechts bergab durch den dunkelgrauen Nebel, und zwar im beeilten Avancirſchritt, aber eben ſo vergeb¬ lich; noch weiter hinab, es fing an ſteil und ſehr abſchüſſig zu werden, immer nichts. Mein Führer, dem das Ding ſelbſt nicht gleichgültig war, entſandte einige Hilfsſignale in Form lang¬ angehaltener helljohlender Jauchzer; aber keine Antwort. Er wiederholte ſeine Anſtrengungen aus einer anderen Tonart, mit einem Aufwand aller ſeiner jodelnden Liebenswürdigkeit, ſo alpin, als ob er in der übermüthigſten allerheiterſten Seelenſtimmung ſei, aber eben ſo vergeblich als vorher. Trotzdem, daß mir unſere Lage ſelbſt einige Beſorgniß zu erwecken anfing, konnte ich dennoch das Lachen nicht unterdrücken über dieſe von der Verlegenheit und Angſt erpreßte, gezwungene Heiterkeit. Was nun thun?

Bergab müſſen wir noch, nicht wahr? Ja wohl, Herr! nach meiner Berechnung iſts keine Viertelſtunde mehr bis zum Hongrinbach, über den eine Brücke führt, und da iſts ein breiter durch den Wald führender Weg! Gut! alſo nicht lange be¬ ſonnen! wir durchbrechen den Hag, halten uns, indem wir bergab ſteigen, weder allzu links, noch allzu rechts, und wenn wir am Hon¬ grinbache ankommen, folgen wir dem Laufe deſſelben ſo lange, bis er uns zum Brückli führt! Meinet Ihr nicht auch? Nach einiger Zögerung willigte mein Führer in dieſen Vorſchlag, als das unter den obwaltenden Umſtänden einzige Mittel, um zum128Eine Nebel-Novelle. Ziele zu gelangen. Geſagt, gethan. Immer abſchüſſiger wurde unſer Terrain, immer ſchwarzgrauer wurden Nebel und Nacht, im¬ mer unbehaglicher unſere Stimmung in der warmdunſtenden, am Körper enganſchließenden naſſen Kleidung, und Regen floß, ach! fortwährend in überreichlichem Maße.

Wir mochten wohl wieder eine Viertelſtunde oder auch nicht ſo lange gerutſcht, geklettert, überhaupt weiter gekommen ſein, als wir durch ein brauſendes Geräuſch wahrzunehmen glaubten, am Hongrinbache angelangt zu ſein. Aber da gings ſteil wie über ein Kirchendach hinunter. Mehre Verſuche zeigten, daß wir uns beſſer rechts halten mußten. Alſo wieder in dieſer Richtung vor¬ wärts. Der Nebel hatte ſich ein wenig gehoben, ſo daß wir, ſo weit es die Nacht zuließ, die Gegenſtände in unſerer näheren Um¬ gebung unterſcheiden konnten. Noch ein paar Dutzend Schritte, und hell leuchtete der weiße Schaum des jagenden Gewäſſers durch die Dunkelheit zu uns herauf. Jetzt galt es, längs des Gebirgs¬ baches ſo lange fortzuklettern, bis wir zur Hongrinbrücke gelangen würden. Unter außergewöhnlichen Anſtrengungen, durch wildes Geſtrüpp und dorniges Geſträuch, das die Haut blutig ritzte und die Kleider zerfetzte, arbeiteten wir uns mühſam durch. Oft war das Terrain ſo jäh, daß wir bei jedem Schritt fürchten mußten, in den Strom zu ſtürzen oder den Hals zu brechen. Darum ſon¬ dirte mein Führer ſtets vorher mit dem Stock, wie weit wir trauen durften, denn ſehen konnten wir kaum, wohin wir traten. Nach einer unter ſolchen Hinderniſſen zurückgelegten tüchtigen Strecke war uns plötzlich das Weiterkommen aufs Neue abgeſchnitten; denn links herab, in einer Runſe, ſchäumte ein Wildwaſſer, meiner Berechnung nach 6 bis 8 Schritt breit, welches ſich in den Hongrin¬ bach ergoß. Wollten wir nicht wieder den eben unter unſäglichen Mühen überwundenen Abhang hinaufklimmen, um droben nicht um ein Haarbreit weiter oder beſſer daran zu ſein als hier, ſo blieb uns nichts Anderes übrig, als das ſchießende Waſſer zu129Eine Nebel-Novelle. durchwaten. Deß wurden wir einig. Ich faßte meinen Führer feſt in den Arm, Beide ſtemmten wir unſere Stöcke gegen die reißenden Schaumwellen, und ſo traten wir unſere Wanderung an. Das Waſſer ging uns bis an die Kniee, und unter den Füßen rollten uns die großen Kieſel hinweg, daß es galt, den Fuß zu jedem neuen Schritt recht feſt zu ſetzen. Rechts mußte ein Waſſer¬ fall oder Aehnliches ſein, denn da tobte es mit ohrenbetäubendem Geräuſch hinab, ſehen konnten wir die Urſache nicht.

Weiß der Himmel, welch unſeliger Einfall, oder welcher Um¬ ſtand plötzlich meinen Führer veranlaſſen mochte, ſich aus meinem Arm loszumachen (er ging mir zur Rechten) genug, eine Be¬ wegung, ein Fehltritt, ein Schrei, und verſchwunden war er. Wie ich vollends hinübergekommen bin, kann ich nicht mehr ſagen. War es der Schrecken, das Entſetzen, was mir ungewöhn¬ liche Kraft und Sicherheit des Schrittes gab, war es Glück, oder war die Stelle, welche ich noch zu durchwaten gehabt, minder gefährlich, ich weiß es nicht. Nur das weiß ich, daß ich drü¬ ben am anderen Ufer an nacktem Wurzelwerk, an Baum-Aeſten, durch verworrenes Geſträuch mich aus dem Waſſer mit drängender Haſt herausarbeitete und in peinlicher Seelenangſt längs demſelben, ſchreiend, mit dem langen Alpenſtocke in das Waſſer hineintaſtend, fortkletterte. Wie ich vermuthet, ſo beſtätigte es ſich; ein 6 bis 8 Fuß hoher Waſſerfall war es, über welchen mein Führer hinab¬ ſtürzte. Meine Lage war in der That quälend. Ziemlich ermattet, durch und durch naß, ſehr hungernd, eine ganze, lange, raben¬ ſchwarze Nacht im ſtrömenden Regen, in völlig unbekannter Gegend vor mir und ein Menſchenleben entweder verloren oder in größter Gefahr umzukommen! Ueberdies hatte der verunglückte Führer meine Taſche auf dem Rücken, in welcher, nebſt Wäſche und anderem Nothbedarf, meine Papiere und Gelder ſich befanden. Ich rief, ich ſchrie aufs Neue in das donnernde Gepolter hinein, ich ſtieß mit dem Alpenſtock in die wildſchäumende Fluth, kurz ich ver¬Berlepſch, die Alpen. 9130Eine Nebel-Novelle. ſuchte Alles, was mir die augenblickliche Verzweiflung eingab, aber vergeblich!

Schon wollte ich, abgeſpannt und heiſer, meine Rettungsver¬ ſuche aufgeben, als ich plötzlich meinen Stock am Ende erfaßt fühle. Wie ein elektriſcher Schlag durchzuckte es mich; ich rufe aufs Neue, ziehe und ſiehe da! vor mir taucht aus der Tiefe eine menſchliche Geſtalt auf, mein Führer, der beſinnungslos, dem Tode des Ertrinkens nahe, wie es ſcheint, durch irgend einen im Bett dieſer Runſe liegenden Felſenblock aufgehalten, minuten¬ lang (ob ganz unter dem Waſſer oder mit dem Kopfe über dem¬ ſelben, wußte er ſelbſt nicht) dagelegen und durch mein Schreien und Stoßen zur Beſinnung geweckt worden war. Zwei leibliche Brüder, die nach Jahre langer Trennung ſich wiederfinden, kön¬ nen einander nicht herzlicher umarmen, als mein Führer mich und ich ihn. Er blutete ſtark am Hinterkopfe und vermochte nicht feſt aufzutreten, weil er ſich einen Fuß bös verſtaucht hatte. Nachdem wir ſitzend geraſtet und berathſchlagt hatten, was nun zu thun ſei, (ſpäter als Abends 7 Uhr konnte es unmöglich ſein) ſtolperten und hinkten wir mit halb zerriſſenen Kleidern, ſehr ermattet und wolfsartig hungernd weiter, mit dem feſten Vorſatz, die erſte Hütte, die wir finden würden, zu unſerem Nachtlager zu erobern mit oder ohne Zuſtimmung des Beſitzers gleichviel.

Und ſiehe, das Geſchick war uns günſtig. Es währte nicht lange, ſo tauchte in der Dunkelheit der Nacht der Giebel irgend eines Gebäudes vor uns auf, und um die Ecke deſſelben biegend, leuchteten uns plötzlich zwei helle Fenſter entgegen. Hurrah! Land! Licht! Menſchen!

Zu ſolchen Abenteuern kann dem Wanderer im Gebirge der Nebel verhelfen.

[131]

Nebelbilder.

Und unter den Füßen ein nebliges Meer,
Erkennt er die Städte der Menſchen nicht mehr:
Durch den Riß nur der Wolken
Erblickt er die Welt,
Tief unter den Waſſern
Das grünende Feld.
Schiller.

Ein ſo heimtückiſcher und boshafter Schleicher der Nebel auch im Gebirge iſt, der ſchon manchen handfeſten Aelpler auf den Todespfad führte und fröhlichen, nach Ausſicht ſchmachtenden Berg¬ wanderern die mühſam erklommenen Höhenpunkte mit hämiſcher Schadenfreude plötzlich ſo verſchleierte, daß ſie unverrichteter Dinge wieder abziehen mußten, ſo neckiſche und joviale Komödien führt er auf, wenn er juſt guter Laune iſt, oder wenn er aus ſei¬ nen luftigen Höhen herabſteigt, um die Thalleute auch einmal in¬ gründlich zu ärgern. In letzterem Falle lagert er ſich dann breit und ungeſchlacht über Felder und Wälder, auf Märkte und Gaſſen, und nur der, welcher im Berglande wohnt, vermag ſeinen athem¬ erſchwerenden, miasmatiſch-verdorbenen Dünſten zu entfliehen. Denn droben auf freiem Bergesgipfel ſteht der Naturfreund dann im hellen goldigen Sonnenſchein und ſieht auf ein wogendes Milch¬ meer hinab, aus dem nur verwandte Höhepunkte gleich Eilanden9*132Nebelbilder. emporſteigen; oder wenn die geballten Maſſen ſich ſehr tief ſenken, begegnets auch, daß das goldene Kreuz eines im Thale liegenden hohen Kirchthurmes glänzend hervorragt, einſam, ſymboliſch, über¬ windend. Drunten aber in der unſichtbaren verhüllten Tiefe kreiſcht und hallt und dröhnt viel lauter und ſchallender das Ge¬ triebe der Menſchen als ſonſt; denn der Nebel iſt ein trefflicher Reſonanzleiter nach Oben, während er in umgekehrtem Verhältniß dämpft. Indeſſen dieſe Erſcheinung kann man auch in jedem Berglande finden, ſie iſt nicht ein bezeichnendes Attribut der Alpen.

Ueberraſchender, ungewöhnlicher, ein ächtes Phänomen des entſchiedener gehobenen Gebirgslandes iſt jene magiſche Lufterſchei¬ nung, welche im mitteldeutſchen Harz unter dem Namen des Brockengeſpenſtes bekannt iſt und auf vielen Höhepunkten der Alpen ſich nicht ſelten zeigt. Sie beſteht in der Schattenſpiegelung von Gegenſtänden und Perſonen auf der Fläche einer aus der Tiefe aufſteigenden, freiſchwebenden Nebelwolke, bei ſonſt völlig heiterem Horizont. Am häufigſten begegnet man dieſer phyſikali¬ ſchen Phantasmagorie auf ſolchen Höhen, die entweder von Bin¬ nen-Seen oder ſumpfigen Thalſohlen umgeben ſind, welche bei ent¬ ſprechenden atmoſphäriſchen Zuſtänden leicht Dünſte entbinden, die in Nebelform aufſteigen. Als ſolche Punkte ſind bekannt der Rigi, der neueſter Zeit durch ſeine bequemen Straßenzugänge und die Erbauung eines gemüthlichen und eleganten Berggaſthofes viel erſtiegene Pilatus, das Brienzer Rothhorn u. A.

Unter außergewöhnlichen Umſtänden beobachtete der Kantons¬ forſt-Inſpektor Herr Coaz aus Chur (Bernina-Beſteiger) eine ſolche Erſcheinung auf dem Gipfel des Piz Curvêr (zwiſchen dem Scham¬ ſer und Oberhalbſteiner Thal in Graubünden). Es hatte Ende Juni 1843 plötzlich deftig geſchneit; der Winter verſuchte einen Ausfall gegen den lachenden Sommer und ſchlug für wenig Tage ſeine weißen Zelte weit und breit über die Gebirgshöhen der Rhä¬ tiſchen Alpen auf.

133Nebelbilder.

Unter ſehr erſchwerenden Umſtänden, aber bei völliger Wind¬ ſtille und glockenreiner Atmoſphäre hatten Herr Coaz, der ihn be¬ gleitende Ingenieur und der Führer den 9158 par. F. über dem Meere erhabenen Gipfel erſtiegen und die beabſichtigten Beobach¬ tungen für trigonometriſche Meſſungen bald beendet. Da zog ein vom Fuße des Piz Curvêr gegen das Oberhalbſtein abfallendes wildes Gebirgsthälchen beſonders die Aufmerkſamkeit der Berggäſte auf ſich. Da drunten rauſchte und donnerte es faſt ununterbrochen; eine Lauine weckte die andere und ſtürzte von den ſchroffen, felſigen Seitenwänden in die Tiefe des Thales, wo oft mehre vereint in einem breiten, gewaltigen Silberſtrome ſich langſam zur Ruhe wälzten. So Schlag auf Schlag, ſo voll Leben, ſo glänzend, ſagt Herr Coaz, war mir noch auf keiner meiner Gebirgsfahrten dieſes großartige Schauſpiel zu ſehen vergönnt. Noch folgte mein Auge einer der letzten Lauinen, die allmählig in immer größeren Zwiſchenzeiten ſtürzten, als ich über derſelben einen ſchwachen Ne¬ bel ſich bilden ſah. Auch den Felſen, an denen ſich die feuchtge¬ wordene Atmoſphäre abkühlte, entquollen Nebelhaufen, zogen ſchlei¬ chend einander entgegen und zerfloſſen in kurzer Zeit in einen wal¬ lenden grauen Nebelſee, der die Tiefe des Thales verhüllte. Aus unſichtbaren Quellen genährt, wogte dieſer See immer höher her¬ auf, ſchwoll bis zu meinen Füßen heran und trat endlich als dunkler Nebelſchleier empor. Und in dieſem ineinandertreibenden Gewölk bildeten ſich, anfänglich ſchwach und zerfließend, aber immer wieder und immer kräftiger erſcheinend, die Farben des Regenbogens. Sie vereinten ſich endlich zu einem brillanten, kreisrunden Bande; ein zweites umſäumte in etwas ſchwächerem Glanze erſteres und fand ſich bald ſelbſt concentriſch von einem noch lichteren dritten umfangen. Der innerſte Ring erſchien in einem Durchmeſſer von circa 3 Fuß bei einer Entfernung von ungefähr 30 bis 40 Fuß. Entzückt von dieſer Erſcheinung ſprang ich auf, ward aber eben ſo plötzlich zur Säule; denn ſiehe! mitten im Regenbogen ſprang mit134Nebelbilder. gleicher Haſt eine dunkle Geſtalt auf und blieb jetzt eben ſo erſtarrt ſtehen. Ich ſchwang meinen Hut, machte tiefe Bücklinge, und das Geſpenſt zeigte ſich eben ſo erfreut und höflich. Die Erſcheinung hielt mehre Minuten an und verſchwand alsdann mit dem Regen¬ bogen im grauen Nebel, der von einem leichten Windhauch weiter getragen bald zerſtob. Es war vier Uhr Nachmittags.

Zu leichterer Erklärung möge beigefügt werden, daß das Thäl¬ chen, aus welchem der Nebel aufſtieg, gegen Oſt ſich öffnete. Als daher die Sonne nach dem weſtlichen Horizont ſank, trat daſſelbe ſtreckenweis allmählig in Schatten, wodurch die Temperatur ziem¬ lich raſch fiel und die durch die häufigen Lauinenſtürze und die hohe Temperatur während des Mittages entwickelten Waſſerdämpfe zu Nebel condenſirte, die mit den, noch von der Sonne beſchienenen, wärmeren und leichteren, höheren Luftſchichten in Berührung tretend ſich wieder auflöſten.

Von einem gleichen, in den hauptſächlichſten Thatſachen gänz¬ lich übereinſtimmenden Nebelbilde berichtet, im Fremdenbuche des Appenzeller Weißbades, Herr G. Kuhn aus Dresden, welches er am 24. September 1855 auf Ebenalp nach ſtarkem Regenwetter beobachtete. Scharfkantig ſchwebte in dem Nebelbilde der Schatten ſeines Kopfes mit dem Hute, wenig über Lebensgröße, von weißem Licht umfloſſen; darum ein dunkler Ring, dann ein Kranz der hellſten Regenbogenfarben, etwa 4 Ellen im Durchmeſſer. Auch der übrige Körper ſammt dem Alpenſtocke war, aufrecht ſtehend in der Farbenſcheibe, deutlich abgeſpiegelt, jedoch nach unten etwas langgezogen. Neben dieſer Silhouette ſtand der dunkele Schatten ſeines Führers; ging letzterer etliche Schritte ſeitwärts, ſo ſah ein Jeder ſein Schattenbild allein ohne das des Nebenmannes. Wa¬ ckelten ſie mit den Köpfen, ſo wackelte der ganze Regenbogenkreis mit. Hier dauerte das ganze Schauſpiel wohl eine Viertelſtunde.

[135]

Wetterſchießen.

Es dröhnet zwiſchen den Bergen an ſchwülem Sommertag
Ein wildes Schießen und Lärmen wie ferner Donnerſchlag.
Der Schall dringt weit in die Lande auf Rieſenſchwingen hinein,
Schreckt auf die Vögel vom Baume, das Wild im ſicheren Hain.
Sie ſagen, das ſeien die alten, die düſteren Jägersleut,
Verbannt in die grauſige Wildniß ſeit alter, verſchollener Zeit.
F. Otte.

In der Tiefe des Lauterbrunner-Thales, da wo es gen Süd¬ weſt umbiegend den Namen Ammerten-Thal annimmt, liegt hoch droben, am Fuße der Jungfrau, zwiſchen dieſer und der Ebnefluh, ein gräßlich wild vergletſchertes ſtundenlanges Thal, das Rotthal. Von unten geſehen entzieht es ſich den Blicken gänzlich, und man hält es für kaum glaublich, daß da, wo man an dem Rieſenkörper der Jungfrau kaum ein Felſenband unterſcheiden kann, ſich ein umfangreiches Thal bergen ſollte. Es iſt in der That wohl einer der furchtbarſten und grauſigſten Schreckenswinkel nicht nur der Alpen, ſondern des ganzen Europäiſchen Kontinentes. Von her¬ abdrängenden Gletſchern die Granit - und Alpenkalk-Wände, welche den Schauerkeſſel einſchließen, ſo ſchrundig zerriſſen und zu einem Trümmer-erfüllten Tobel ausgefreſſen, daß die verwitterten noch hangenden Maſſen den Wanderer, der ſich hier heraufwagt, mit Furcht und Schreck erfüllen.

136Wetterſchießen.

So unerreichbar dieſe Schauer-Terraſſe (von unten geſehen) ſcheint, ſo ziemlich leicht iſt ſie vom geübten Berggänger über die ſtufenförmig ſich aufbauenden Wechſelſchichten der Geſteine zu er¬ reichen. Beim Eingang in das Thal, etwa 8700 Fuß über dem Meere (oder 4500 F. über der Sohle des Ammerten-Thales) iſt der Firn, welcher die ganze Schlucht füllt, keine tauſend Schritte breit. Kahle, ſchroff aufſteigende Granitbänke engen ihn wie Schleuſen ein, über die er aus ſeinem ſtillen Bett ſich hinausdrängt und ſeine Maſſen dann wohl zweitauſend Fuß tief über ſchwindelnde Abſtürze, bald in hängenden Bogen, bald in zerriſſenen, aufgetrie¬ benen Gletſcherbrüchen auf die Stufſteinalp hinabdrängt. Man hat die Gletſcherſturzmaſſen ſchon oft mit momentan erſtarrten Waſſer¬ fällen verglichen; hier reicht dieſe ohnehin etwas hinkende Paral¬ lele nicht aus. Das Chaos der zerborſtenen, übereinandergeſtürzten und ineinandergekeilten Eisriffe, das Wirrſal der dazwiſchen klaf¬ fenden, nach allen Richtungen hinabgähnenden Schlünde und hin¬ einhangenden Fluhbrocken iſt ſo außerordentlich, daß man Stellen ſo grauſiger Wildniß nicht viel in den Alpen findet. Will man indeß das Gleichniß beibehalten, ſo erſcheint das Rotthal als ein von himmelhohen Felſenwänden eingeſchloſſenes Meer, das im wil¬ deſten Emporſchäumen plötzlich erſtarrt, ſeine Maſſen nun über die Ufer hinausſchiebt und bald in wirr-zerſcherbten Splittern hoch aufthürmt, bald dieſelben ihr Gleichgewicht verlieren und grauſe Laſten losreißen läßt, die im Schmetterſturze zerſtäubend wie Ströme zu Thal fließen. Da kein Kräutchen, ſelbſt nicht das dürrſte Grashälmchen hier wächſt, ſo verirren ſich auch faſt nie Gemſen hierher, und weil ſolche Thiere hier nicht zu ſuchen ſind, ſo kommts, daß auch keine Gemſenjäger ſich hierher verſteigen. Nur vom Schafbuben der oberen Stufſteinalp wird jener Schauer¬ ort von Zeit zu Zeit vielleicht einmal aus Langeweile erklommen.

Nach der im Berner Oberlande allgemein kurſirenden Sage ſollen im Mittelalter und noch nach den Zeiten der Reformation137Wetterſchießen. Poltergeiſter und böſe Dämonen, welche die Wohnungen der Menſchen vermeintlich beunruhigten, von Hexenmeiſtern, fahrenden Schülern und Teufelsbeſchwörern in verſchloſſene Gefäße gebannt und in dieſes abgelegene Thal getragen worden ſein. So kam das Rot¬ thal, das außerdem keines ehrlichen Chriſten Fuß betrat, in Ver¬ ruf und galt als der Aufenthalt böſer Geiſter. Ganz beſonders ſollen auch die alten Thalherren von Lauterbrunn hierher verwünſcht worden ſein und daſelbſt noch ihr Weſen treiben.

Dieſe Sage nun ſteht in Beziehung zu einer ſeltſamen Natur¬ erſcheinung. Es iſt nämlich im ſchweizeriſchen Mittellande der Kantone Freiburg, Bern, Solothurn und Aargau eine im Hoch¬ ſommer, um die Erntezeit, nicht ſeltene Erſcheinung, daß man bei völlig wolkenloſem Firmament, am Tage oder auch Abends und Nachts in der Luft ein dumpfes, der Kanonade ähnliches Geräuſch, ein ſeltſames Toſen und Knallen hört. Nach des Volkes Meinung ſoll es von einem geiſterartigen Spuk, von einer wilden Jagd herrühren, mit welcher die verfluchten Herren vom Rotthale hoch durch die Lüfte ziehen; nach dem Volksglauben der weſtlichen So¬ lothurner Bauern ſollen es jedoch die Geiſter der in der Schlacht bei Murten erſchlagenen Burgunder ſein, welche mit Heerestroß und Alarm ihren luftigen Umzug halten. In Berneriſch-Röthen¬ bach (Amtes Signau im Emmenthal) ſagt man: Die Rotthaler exerciren, es giebt anderes Wetter. Der einſichtige, vorurtheils¬ freie Bewohner ſchreibt die ſonderbare Erſcheinung jedoch natür¬ lichen Veranlaſſungen zu, und glaubt dieſe in wirklich vorgefallenen entfernten militairiſchen Uebungen, oder in bedeutenden Gletſcher - Lauinenſtürzen, oder Gewittern ſuchen zu ſollen, deren Reſonanz durch geeignete Luftſtrömung bis zu dem Ohre des Hörers getragen werde. Nun aber haben vielfache und ausgedehnte Nachforſchungen herausgeſtellt, daß nirgendwo im weiten Umkreiſe um die ange¬ gebene Zeit militairiſches Pelotonfeuer oder Kanonaden, noch Ge¬ witterentladungen ſtattgefunden haben. Das Gepolter von Gletſcher¬138Wetterſchießen. ſtürzen aber, ſo furchtbar dieſelben auch im Gebirge widerhallen, iſt in einer Entfernung von 18 Stunden nicht zu hören. Doch angenommen, man könnte bei günſtiger Windrichtung und ſehr reiner Luft der Gletſcher Donner ſo weit hören, ſo ſtürzen doch nicht ſo enorm viele Lauinen nacheinander, daß man das davon herrührende Getöſe mit wenig Unterbrechungen ſtundenlang hören könnte. Ueberdies nimmt die Erſcheinung, jemehr man ſich den Alpen nähert, ab, und findet häufig bei Nordweſtwind ſtatt. Der Meteorolog Hugi in Solothurn, welcher dem Phänomen viel Auf¬ merkſamkeit widmete und es oft beobachtete, ſagt, daß der Schall keinesweges von den Alpen herzukommen ſcheine, ſondern vielmehr von Weſten, alſo aus dem Jura, wo es aber bekanntlich keine Gletſcher und ſommerlichen Lauinen giebt.

Thatſache iſt, daß nach dieſem, vom Volke Wetterſchießen genannten atmoſphäriſchen Phänomen, in der Regel ſanfter, an¬ haltender, nie ſtarker, von elektriſchen Erſcheinungen begleiteter Re¬ gen einzutreten pflegt und der Barometer in unruhigem Fallen begriffen iſt.

Die eigentliche Urſache der Erſcheinung iſt noch nicht ergrün¬ det. Sonderbarerweiſe hat ſich mit derſelben außer Prof. Hugi wie es ſcheint kein Phyſiker weiter befaßt. Dieſer nimmt an, daß das dumpfe Wetterſchießen zunächſt eine Wirkung des Ueber¬ ganges atmoſphäriſcher, luftiger Formen in dichtere, dunſtige, wäſſerige Formen, oder die Wirkung von Luftzerſetzung ſei; daher, wie bei allen heftigen Zerſetzungen, Getöſe. Es wäre demnach das Wetterſchießen gerade die entgegengeſetzte Procedur wie das ſogenannte Wetterleuchten , bei welchem geſättigte Dünſte der Atmoſphäre durch Entladung der Elektricität wieder in reinere, dünnere Luftformen übergehen. Auffallend iſt es, daß die Er¬ ſcheinung eben nur in dem genannten Landſtriche vernommen wird, ſonſt nirgends im Alpen-Vorlande.

[139]

Hoch-Gewitter.

Donnernd hallt des Todes Waidruf
Ringsum in Gebirg und Thalen,
Plötzlich zündet er die Nacht an
Mit den hingeſchoßnen Strahlen.
Immer lauter ſchreit der Donner
Durch die grauſen Finſterniſſe;
Aus gebrochnen Wolken ſtürzen
Rauſchend ſich die Regengüſſe.
Lenau.

Jedes Gewitter, wo man demſelben auch begegnen mag, ſei es auf der gedehnten Ebene des Getreidelandes und der un¬ wirthlichen Haide oder auf offenem Meere oder im zerklüfteten Ge¬ birge, überall iſt es ein furchtbar-erhabenes Schauſpiel, allent¬ halben der gleiche Entſetzen erweckende Aufruhr der Elemente, die gleiche erſchütternde Rieſenſprache des Donners, der die Seele er¬ zittern macht. Die Natur-Scenerie aber und der landſchaftliche Aufbau der Gegend, über welcher ein Gewitter ſich entladet, ge¬ ſtalten daſſelbe in ſeiner charakteriſtiſchen Erſcheinung, in ſeinem unmittelbaren Total-Eindrucke dennoch weſentlich anders. Dies iſt namentlich beim Gewitter im Gebirge der Fall.

Während bekanntermaßen Berg und Wald die Bildung der Wolken ſehr begünſtigen, erſcheinen letztere dennoch in den Alpen140Hoch-Gewitter. ſelten als jene, meilengroße Flächen zugleich überdeckende, elektriſch - geladene Dunſt-Meere, wie ſie allſommerlich das flache Land be¬ drohen; die hochaufragenden Gebirgszüge werden zu trennenden Keilen, welche die Gewitter in viele Special-Wolkenladungen zer¬ ſchneiden und dadurch veranlaſſen, daß ſie gemeiniglich nur von kurzer Dauer ſind und auch quantitativ nicht ſo heftig ſich ent¬ laden als im Flachlande oder auf offenem Meere. Die durch raſchen Temperaturwechſel eben ſo raſch abgekühlten Luftſchichten und die Ausgleichungsbeſtrebungen derſelben mittelſt der als natürliche Luft - Ventile der Thäler anzuſehenden Windſtrömungen, tragen die Ge¬ witter-geſättigten Wolken gewöhnlich ziemlich ſchnell durch eine Gebirgsgegend hindurch, ſo daß die Summe der nur ſehr kurze Zeit dauernden elektriſchen Entladungen im Gebirge mindeſtens dreimal ſo groß iſt als die der mit Andauer und Gemächlichkeit ſich austobenden Wetter. Dies iſt das normale Verhältniß, wel¬ ches indeſſen keineswegs ausſchließt, daß es einzelne Koryphäen von Gewittern geben kann, welche über große Theile des Alpenlandes zu gleicher Zeit ihre verderbenbergende Wolkendecke ausbreiten. Der eklatanteſte Fall aus neueſter Zeit iſt das berühmte Gewitter vom 24. Juni 1859, welches bekanntlich die Schlacht von Solfe¬ rino (Lombardei) unterbrach und um die gleiche Stunde in allen Gauen der Schweizer und Savoyer Alpen mit unerhörter Wildheit toſte. Nicht minder denkwürdig iſt jenes ältere vom 27. Auguſt 1834, welches von Südweſt aufziehend, faſt den ganzen Kanton Graubünden und viele benachbarte Länder, alſo mindeſtens eine Fläche von einigen hundert Quadratmeilen verheerend heimſuchte.

Dagegen ſind die Gebirgsgewitter als individuelle meteoriſche Erſcheinungen weit großartiger, impoſanter, man möchte faſt ſagen theatraliſch-pomphafter und in ihren Schlag - und Knall-Effekten draſtiſcher als im Tieflande. Schon die Introduktion, mit welcher ein ſolches aufzieht, iſt weit dramatiſcher, die Erwartungen ſteigern¬ der als in der Ebene. Dort (in der Ebene) bereitet ſich das Ge¬141Hoch-Gewitter. witter oft ſtundenlang mit klaſſiſchem Ernſt und entſetzlicher Ruhe vor und läßt, bei dem umfaſſenden Horizont, dem aufmerkſamen Naturfreunde hinlänglich Zeit, das allmählige Formiren und Kon¬ glomeriren der, zuletzt zu einer maſſigen ſchwarzen Wand ſich vereinigenden, verſchiedenen Wolken-Kontingente zu beobachten; es iſt dort ein ſtill-majeſtätiſches Auftreten voll furchtbarer Hoheit. Hier, im Gebirge, wo die Ausſicht vom Thale oder von einer unbe¬ deutend hohen Voralp aus meiſt ſehr beſchränkt iſt, zieht der geheim¬ nißvolle Gaſt gewöhnlich ſchon ziemlich fix und fertig aus der Tiefe dunkel herauf und rückt mit Sturmſchritten vor. Jetzt beginnt auch die Gegend ſich prachtvoll-unheimlich zu dekoriren. Die Nadelwälder verſinken in ſchwarze Nacht, kein Gipfel tritt mehr ſelbſtſtändig hervor; die Felſengruppen verlieren ihre trennenden Profil-Contu¬ ren und verſchmelzen zu geſpenſtergrauen unförmlichen Maſſen, über welche der Waſſerfall in ſeltſamer Geſchäftigkeit, wie die verwirrt ſuchenden Gedankenſprünge eines Irrſinnigen herabeilt; der See liegt ſtumm, todt, ohne Glanz, einer erſtarrten indifferenten Fläche gleich. Was dort an Beleuchtung ſchwindet, das häuft ſich grell, faſt augentödtend, an anderen Stellen; die Matten und Wieſen des Vordergrundes ſchwellen brennend-grün, als wollten ſie gewaltſam ihre innerſte Lebenskraft mit Einemmale ausſtrömen; die Wege und Straßenlinien der Thalſohle treten in nie geſehener Schärfe blaßgelb hervor, und über Allem leuchten ſchreiend-weiß die Firnen herab, erſchreckende Gegenſätze in dem tiefgeheinmißvoll¬ düſteren Bilde. Alle Farbenharmonie iſt aus der Landſchaft ver¬ ſchwunden; ſie ſieht aus wie ein von krankhaft erhitzter Phantaſie geſchaffenes, alle natürliche Auffaſſung höhnendes Gemälde. Mit dieſer entſetzlichen Scenerie kontraſtirt in angſterfüllendem Maße die fieberhafte Aufregung, welche Menſchen und Thiere über¬ fällt. Die liegenden Heu-Schwaden der Wieſe werden eilends ge¬ mandelt; ſchreiend, tobend treibt der Senn ſein Vieh zuſammen; Jodelruf und Jauchzer ſind verſtummt, nur drängende Geſchäf¬142Hoch-Gewitter. tigkeit iſt der ſich kundgebende Lebensausdruck. In der Höhe dro¬ ben umſchwärmen Bergdohlen kreiſchend ihre Felſenneſter, Spyr und Mauerſchwalbe ſind verſchwunden, der Geſang der Waldvögel verſtummt, nur der Fink ſchreit unaufhörlich nach Regen.

Jetzt ſtößt der Vorbote des hereinbrechenden Gewitters, der Wind, ſeine erſten Athemzüge aus, wirbelt den Staub ſchrägkreiſelnd auf und ſchüttelt die Wälder mit ſtarker Fauſt. Der See erwacht; ein fröſtelnder Schauer läuft über ſein Antlitz. Die Hochſpitzen und vergletſcherten Rieſenhäupter des Gebirges umhüllen dichte Ne¬ belkappen, immer tiefer ſinken die Wolkenballen und ziehen, wie die wilde Jagd, mit zunehmender Haſt durchs Thal. Mehr und mehr umnachtets die Gegend, die grelle Färbung mattet ab, Alles wird ſchwarz. Da durchzuckt der erſte blaue Blitz die Nacht. Immer ungeſtümer wird die atmoſphäriſche Thätigkeit:

Brauſend fliegt des Todes Jagdhund
Sturm , bergan in wilder Eile,
Seinen Herrn zu ſuchen, irrt er
Durch die Felſen mit Geheule.
Lenau.

Die Wälder ächzen unterm drängenden Sturmdruck, abgeriſſe¬ nes Laub durchflattert die Lüfte, und allgemeines, ſchweres Rauſchen ertönt ringsum. Jetzt rollt auch der Donner tiefbrummend drein. Aber dieſes Vorſpiel währt nicht lange. Energiſch, wie die Alpen¬ welt in allen ihren Erſcheinungen und Lebensbethätigungen iſt, ſtürmt auch hier die Entwickelung in überſtürzenden Progreſſionen vor. Nach wenig Minuten iſt das Unwetter in ſeiner ganzen furchtbar-wilden Größe losgebrochen.

Es kracht die Welt in Wettern,
Als wollt 'am Felsgeſtein
Der Himmel ſich zerſchmettern.

Zickzackblitze, weit mehr, als man im Flachlande ſieht, anſchei¬ nend raſcher, weniger als eine Tauſendſtel Sekunde beanſpruchend, fahren um der Berge Lenden, oft zuſammengefaßt, aus einem Kno¬ ten vielfach nach allen Enden herausziſchend, wie die aus Jovis143Hoch-Gewitter. Hand geſchleuderten Blitzbündel. Jedes Donners Rollen, das ſein Reſonanz-Maaß ſchon genügend in den Wolkenkammern findet, brüllt außerdem, im hundertſtimmigen Echo aus allen Felſenklüften und Thaltiefen zurückgeworfen, wieder hervor und bildet gleichſam in ſeiner nicht enden wollenden Permanenz eine Grund-Fermate, auf welcher ſich die neuen, accentuirten Solo-Schläge wie die vor¬ wärtsſchreitende Melodie der impoſanten Gewitter-Symphonie ab¬ löſen. Es iſt ein Akt der Natur-Souveränetät, deſſen Eindruck völlig zerſchmetternd auf den Zeugen derſelben wirkt. Schlägts dann vollends gar in eine Wettertanne oder eine einzeln ſtehende Alphütte ein, dann kracht die Salve, als ob ringsum das Felſen¬ gebäude ſchier in Milliarden Fetzen zerſpritzen ſollte.

Das iſt in ſchwachen Umriſſen das Bild eines hochgehen¬ den Wetters. Sie ſteigen in den Alpen bis über 14000 Fuß; denn de Sauſſure ſah ſie an der Dôme de Gouté unterm Mont¬ blanc-Gipfel, und die Bewohner von Zermatt beobachteten ſolche, die noch über der Spitze des Matterhornes ſich entluden. Im Weſten von Mexiko ſah Alex. v. Humboldt Gewitterſpuren an der höchſten Spitze des Toluca-Hauptgipfels bei 14720 Fuß Höhe; in den peruaniſchen Cordilleren überfiel die Reiſenden Bouguer und la Condamine auf dem Pichincha ein Gewitter in der Höhe von 15500 Fuß, und viele glaubwürdige Berichte erzählen von ſolchen, die in den Pyrenäen bei 10000 Fuß und darüber tobten.

Die meiſten Gewitter ſtreichen aber im Gebirge tiefer; zwei - bis dreitauſend Fuß über der Thalſohle mag die aëriſche Region derſelben ſein. Daß ſie indeſſen noch viel tiefer ſinken können, beſtätigen tauſendfache Ausſagen der Alpenbewohner. Ja, es iſt ſogar ein Fall konſtatirt, daß bei dem Gewitter, welches am 26. Aug. 1827 zwei Geiſtliche während der Vesper im Kloſter Admont in Oeſterreich erſchlug, das Kreuz des 114 Fuß hohen Kloſter¬ thurmes noch über die Wolken herausragte und das Gewitter ſelbſt etwa nur 90 Fuß vom Erdboden entfernt war. Dieſer Tiefgang144Hoch-Gewitter. eines Gewitters giebt dann in anderer Weiſe Gelegenheit zu einem majeſtätiſchen Schauſpiel, bei deſſen Anblick man ſich über die Scheidegränze irdiſcher Hinfälligkeit und menſchlicher Ohnmacht hinausträumt; es iſt die Entladung eines Gewitters im Thale, wenn man, erhaben über demſelben, ſich in der Alpenregion be¬ findet. Wie auf des Olympos heiligen Höhen ſteht der Wanderer gleich einem Jupiter tonans; unter ihm lagert, ein ſchwarzgraues Ungeheuer, das Verderben drohende Wolkenmeer; einer Rieſen¬ ſchlange gleich, umkriecht die elektriſch geladene Maſſe das Gebirge. Keine Hütte, kein Haus erblickt man in den Tiefen; denn verſun¬ ken in ſchauerliche Nacht iſt Alles, was an die Wohnſtätten der Lebenden erinnert. Weiter hinaus kann man dann wieder große Gebirgszüge frei in ihrem ganzen Relief überſehen; das Gewitter bildet gleichſam eine Brücke hinüber zu den anderen Bergen. Da zuckts zu unſeren Füßen; matt roſafarben fahren die entfeſſelten Feuernattern der Blitze in eigenwillig gegen ſich ſelbſt revoltiren¬ den Bahnen durch den Schreckensſchleier, der über der Landſchaft ſchwebt. Jetzt kracht es von unten herauf, gewaltig aber dumpf, und mit hundertfältigem Echo hallen es die Thäler grollend nach, bis die Schreckenstöne matt erſterben. Immer wiederholt ſich das ſchrecklich ſchöne Schauſpiel, immer und immer leckt es aufs Neue mit feurigen Zungen aus den Tiefen herauf, und abermals ertönt des Donners tauſendſtimmiger Zorn. Der Wanderer aber ſteht in lichter Höhe, erhaben wie ein Gott, über der Zerſtörungswuth der Elemente. Ihn umgiebt Frieden und liebliche Ruhe, über ſeinem Haupte wölbt ſich in durchſichtiger Klarheit des Himmels unerreich¬ barer Bau, und ein Triumph des Lichtes über die Finſterniß ſtrahlt in ewiger Reinheit, Wärme und Leben ſpendend, die Sonne herab. Noch viel erhabener iſt dieſes Schauſpiel des Nachts. Die Fremden, welche vom 27. zum 28. Juni 1860 auf dem Pilatus übernachte¬ ten, finden keine Worte, um die unausſprechliche Pracht des furcht¬ baren Gewitters zu ſchildern, welches ſich Morgens zwiſchen 2 bis145Hoch-Gewitter. 3 Uhr zu ihren Füßen mit einem wahren Feuergarbenmeer entlud, während ob ihren Häupten das Sternenzelt rein und hehr am nächt¬ lichen Himmel in ſtiller Größe prangte. Daß die Blitze nicht ſelten von Unten nach Oben aufzacken und einſchlagen, beſtätigen alle Bergbewohner. Dieſen Elektro-Meteoren ſchreibt man auch die eigenthümliche Verglaſung mancher Felſen zu, welche man am Dôme de Gouté, an der Spitze des Kaerpfſtockes (Glarus), am Ortler (Tyrol), Venediger Spitz (Salzburg), Ankogl (Kärnthen) u. ſ. w. trifft. Man hat ſolche Blitz-Glaſuren auch an der Pic du Midi und am Mont Perdu (Pyrenäen) gefunden. Daß aber emporſchlagende Blitze auch Menſchen tödten können, beweiſt ein Fall aus Steyermark. Auf dem Gipfel eines ſehr hohen Berges ſteht die Kirche St. Urſula. Am 1. Mai 1700 lag dieſes Gottes¬ haus im vollſten Sonnenglanze, während an halber Berghöhe ein dickes Gewitter tobte. Von den in der Kirche verſammelten Betern wurden ſieben an der Seite des Berichterſtatters, Dr. Werloſchnigg, erſchlagen.

Gerade da, wo die Gefahr vermeintlich am Größten ſein ſollte, in der Gewitterwolke ſelbſt, ſcheint ſie am Mindeſten, oder doch nicht mehr als anderswo zu ſein. Phyſiker, Ingenieure und Rei¬ ſende, welche von Gewitterwolken unverſehens eingehüllt wurden, bevor ſie Zeit hatten, dem ſcheinbar-entſetzlichen, blitzbewaffneten Myſterium zu entfliehen, ſind ſtets ohne Beſchädigung daraus her¬ vorgegangen. So die franzöſiſchen Kapitäne Peytier und Hoſſard, welche dreizehnmal in den Jahren 1816 und 1825 bis 1827 auf den Gebirgen Troumouſe, Pic d'Anie, Pic Leſtibète und Pic de Baletouſe, in Höhen von 5 10000 Fuß ſtundenlang in furchtbaren Gewittern, unmittelbar am Heerde derſelben verweilten, wurden nie im Mindeſten verletzt, während man drunten im Thale ſie für verloren hielt. Sie berichten nur, daß ihre Haare und die Quaſten ihrer Kopfbedeckung ſich emporrichteten. Abbé Richard, welcher zum Zweck des Studiums ſich abſichtlich in die MitteBerlepſch, die Alpen. 10146Hoch-Gewitter. wetternder, Blitze entſendender Wolken begab, hörte die furchtbaren Schläge des Donners nicht mehr, ſondern nur ein Geräuſch, als ob man beſtändig mit Nüſſen raſſele. Dem entgegen berichtet der Geolog Prof. Theobald in Chur, welcher ſich während des ſchon erwähnten Solferino-Gewitters (24. Juni 1859) zwiſchen der Tſchiertſcher - und Urden-Alp in den elektriſchen Wolken befand, daß die Schläge kurz, wie Kanonenſchüſſe, aber von hellerem, mehr krachendem Tone geweſen ſeien und man das Rollen des Donners erſt weiterhin gehört habe. Die Folgen der Gewitter in den Alpen wollen wir in der Beſchreibung der Rüfenen zuſammen¬ faſſen.

[147]

Der Waſſerfall.

Wie, wenn gelind anfächelt der Weſt, vom Gipfel des Maſtbaums,
Vielgeſchlängelt, im wechſelnden Schwung der Wimpel herabſchweift,
Bald in die Länge geſtreckt, bald eingeſchlürft im Geringel
Fallend und wieder gehoben, ein Spiel des ſcherzenden Zephyrs;
Immer, wenn kaum er die Welle berührt mit der züngelnden Spitze,
Zuckt er zurück, flammt ſchillernd empor und flattert am Himmel:
Alſo ſchwebt in der wehenden Luft der ätheriſche Gießbach
Mannigfaltig bewegt, vom Rand der ragenden Felswand
Hochab wallend, gefangen im Fall, nun hierhin, nun dorthin
Flatternd, ohne den Grund mit dem fluthigen Schweif zu berühren.
Oben erſcheint er als Strom, ein der Luft entſtürzender Meerſchwall,
Hoch in der Mitt 'ein Gewölk, und unten ein weißlicher Nebel.
Denn in der Tiefe hinab des hundertklaftrigen Jähfalls
Löſt ſich die Woge verdünnt zur Wolk' und verdunſtet als Rauchdampf.
Nur hoch oben donnert er ſtets und droht, in dem Herſturz
Alles mit reißender Fluth zu verſchwemmen; allein es verwandelt
Sanft ſich in Milde die Wuth, und er netzt, ſtaubregnend, das Hüglein,
Daß auch die zarteſten Kräuter des Frühlings unter ihm aufblühn.
Baggeſen.

Der Staubbach-Fall im Lauterbrunnen-Thale des Berner Oberlandes, ſchon hundertmal beſchrieben und gezeichnet, in Ge¬ dichten beſungen und geprieſen, in jedem gedrängten Handbuche der Geographie genannt, ſo daß jedes Schulkind ſeinen Namen kennt, iſt der vornehmſte Repräſentant jener weitverbreiteten Gat¬ tung von Waſſerfällen, die in Folge ihrer außerordentlichen Sturz¬10*148Der Waſſerfall. höhe ſich faſt ganz zu verflüchtigen ſcheinen, bis ſie die Sohle ihres neuen Strombettes erreichen. Durch dieſen Umſtand wird er aber zugleich zum Proteus wie wenig andere und bietet in den verſchiedenen Tages - und Jahreszeiten ſo wunderbare Metamor¬ phoſen dar, daß er fortwährend ein anderer zu ſein ſcheint und darum die verſchiedenartigſten und entgegengeſetzteſten Kritiken über ſich ergehen laſſen mußte.

Auch er unterliegt, wie jeder andere Waſſerfall, den bedingen¬ den Einwirkungen derjenigen Naturereigniſſe, welche ſeine Waſſer¬ menge bereichern, vergrößern und ſomit ſeinem Sturz mehr Körper verleihen, oder im Gegentheil dieſelbe vermindern, ſchwächen und das Schauſpiel des Falles bei der außerordentlichen Höhe von mehr als achthundert Fuß faſt in Nichts auflöſen. Nach lange andauerndem Regenwetter, nach heftigen Gewittern und im Früh¬ ſommer, wenn der Schnee von den Alpen geht, iſt der Staubbach und alle ſeine in den Alpen vielfach zerſtreuten Form-Genoſſen eine impoſante, mitunter ſogar ſchrecklich-ſchöne Erſcheinung, die auf je¬ den Beſucher tiefen Eindruck machen wird. Iſts jedoch im Hoch¬ ſommer nach wochenlanger Trockenheit, ſo begegnet es ſchon, daß man ſtatt des berühmten Staubbach-Falles nur die hohe naſſe Ge¬ birgswand zu ſehen bekommt, über welche ſonſt die ſchöne Waſſer¬ garbe herabzuſchießen pflegt, vom eigentlichen Waſſerfall aber keine Spur entdeckt. Nächſt dieſen Umſtänden, welche alſo über¬ haupt die Exiſtenz des Waſſerfalles bedingen, ſind es noch andere, welchen Rechnung getragen werden muß. Selbſt beim Vorhanden¬ ſein genügender Waſſerfülle iſt es nicht gleichgültig, um welche Tageszeit man den Staubbach beſucht. Liegt er im Schatten, iſts Nachmittags, dann wird er bei Weitem nicht ſo voll und reich erſcheinen, als am Vormittage, wenn die Sonnenſtrahlen jeden Waſſertropfen durchglänzen und die Milliarden der zu Waſſerſtaub aufgelöſten, blinkenden Körperchen in einer Brillanz und funkelnden Pracht erſcheinen laſſen, die außerordentlich in ihrer Art ſind. 149Der Waſſerfall. Wieder einen anderen und doch verwandten Zauber übt das bleiche, weiche Vollmondlicht auf den, gleich einem Schleier, von der Fluhwand herniederſchwebenden Fall aus.

Endlich kommt auch noch viel darauf an, mit welchen Erwar¬ tungen, mit welcher Receptivität der Reiſende zum Staubbach kommt. Wer kurz zuvor die donnernden Katarakte des Rheinfalles bei Schaffhauſen, des Aarfalles an der Handeck, des Buffalora im Val Miſocco und anderer, in großen geſchloſſenen Maſſen und im engbegränzten, landſchaftlichen Raume daherbrauſenden Gebirgs¬ ſtröme ſah und von ihrer Wirkung noch erſchüttert, nun ins Lauter¬ brunnen-Thal tritt und dort Aehnliches erwartet, der wird freilich ſehr enttäuſcht werden. Der Staubbach iſt mit wenig Ausnahme - Momenten eine Erſcheinung zarter, elegiſcher Natur, die weit mehr empfunden als angeſtaunt und bewundert ſein will.

In einer Höhe von faſt 900 Fuß ſpringen zwei Strom-Arme über die ſenkrecht abfallende Felſenwand hinaus, und vereinigen ſich raſch zu einer beweglichen Waſſerſäule, von der nur ein kleiner Theil an einer Klippe zerſchellt, alles Uebrige aber in freier Luft ſich in Millionen Perlen auflöſt und zuletzt in ſchimmernden Regen¬ ſtaub verdünnt, der theils auf beträchtliche Weite die Matten um¬ her mit immerwährendem Thau benetzt, theils ſich in einem tiefen Waſſerbecken wieder ſammelt, in welchem leuchtende Regenbogen durcheinander weben. Der Staubbach iſt nicht groß durch einen unaufhaltſam wilden Strom, der an maleriſch zerklüfteten Felſen¬ maſſen ſchäumend und mannigfaltig ſich bricht oder durch den Donner ſeines Falles die Lüfte erſchüttert und die Ausrufe des Erſtaunens verſchlingt; aber er iſt erhaben durch ſeinen himmel¬ hohen Fall, durch die Waſſermaſſen, welche ſich weiß und weich wie Milch in unaufhörlicher Folge aus der Höhe hinabdrängen, durch ſein allmähliges Hinſchwinden in Nebel und durch das Feuer ſeiner Regenbogen, beſonders aber auch durch ſein, mit der Sanftheit des Ganzen ſo wundervoll harmonirendes, leiſes und150Der Waſſerfall. zartes Geräuſch, das nicht von einer einzelnen Stelle herkommt, ſondern den Zuſchauer allenthalben wie Geiſterſtimmen zu umgeben ſcheint. Hieraus ergiebt ſich, was Künſtler gegen dieſe Naturſchön¬ heit einwenden; der gerade Fall bietet ihnen zu wenig Anhalte¬ punkte für maleriſche Unterbrechungen, die Weichheit in der ſucceſſiven Bewegung der Maſſen verwandelt ſich auf der Leinwand in ſteifen Stillſtand, und weder das Glanzlicht des Waſſers noch die Zauberſchimmer der Regenbogen laſſen ſich im Gemälde ſo wiedergeben, daß ſie äſthetiſch ſchön und durchſichtig erſcheinen.

Die erſte Bedingung zum Vollgenuß ſeiner Schönheit iſt Sonnenglanz; dieſer währt an den längſten Sommertagen von un¬ gefähr 7 Uhr Morgens bis Mittags, weil er von demjenigen Berge ſelbſt dem Bach entzogen wird, über deſſen unterſte Stufen er ſich hinabwirft. Nicht nur die Regenbogen im Keſſel, wo die zerſtobenen Waſſer ſich ſammeln, auch die fliegenden Waſſer¬ flocken in der Luft bedürfen des Sonnenſcheines. Jedes Stäub¬ chen wird bemerkbar durch ſeine Vermittelung, und der Inhalt der Nebelſäule ſcheint doppelt ſo groß, wenn die Gunſt der Tages¬ königin ihr unverkümmert ſtrahlt. Zugleich ergötzt in hohem Grade der Schatten des Baches an der Felswand; er ſcheint ein zweites, ſtygiſch-geſchwärztes, mit wetteifernder Schnelle herabſchwebendes Gewäſſer zu ſein.

Man ſchreitet gewöhnlich zuerſt nach der Stelle, wo der Bach zu Boden regnet, als wollte man ihn erſt fühlen, bevor man ihn ruhig betrachtet. Es iſt ein Keſſel, wo die Schauluſtigen zu ſtehen pflegen. Man erklettert den Hügel von Felstrümmern, den ſich der Bach links von ſeinem Niederſtürze gebildet hat, und ſchaut hinab in ein weites Becken, das unabläſſig von tauſendfachem Schaumgekräuſel wimmelt. Auch jenſeits liegen Schutthaufen, die von Oben heruntergeworfen wurden, und zwiſchen dieſen beiden Bollwerken rieſelt in freiem Durchgang der geſammelte Bach da¬ von. Unverkennbar rührt die Tiefe ſeines Beckens und dieſe Oeff¬151Der Waſſerfall. nung nach der Lütſchine von der Gewalt der Waſſermaſſe her, die nach Gewittern und bei großer Schneeſchmelze hier im Mittelpunkte des Falles Raum geſchafft, ohne doch die Hügel rechts und links zu vermindern; denn dieſe haben ſich aus allerlei Steinen empor¬ geſchichtet, um mit trotziger Kraft den Anfang des Bachbettes ein¬ zudämmen.

Auf der rechten Seite kann man leicht in den Keſſelcirkus hinabgelangen. Alsbald wird man von einem doppelten Regen¬ bogen umringt, der, einem Nimbus gleich, ſo genau mit uns ver¬ ſchmilzt, daß er Schritt um Schritt, ſo lange wir im Sonnenglanz und im Thaunebel bleiben, bald vorrückt, bald zurückweicht, wo wir gehen und ſtehen. Die Waſſertropfen hängen ſich an die Kleider und glühen einzeln wieder in unvergleichlicher Pracht. Aber die Näſſe geſtattet nicht, ſich dieſes Feengewandes lange zu freuen; ein fröſtelndes Gefühl treibt um ſo eher aus der Tiefe wieder ans Ufer, da die Gefahr am Tage liegt, von irgend einem zufällig herabgeflözten Steine plötzlich und ſelbſt tödtlich verletzt zu werden.

In einiger Entfernung lagert es ſich dann auf Wieſenhalden wonnig und ſicher; ſorglos genießt der Wanderer, was ihm bisher entgangen war. Mit unermüdetem Staunen erhebt ſich das Auge nach der hohen, im Blau des Himmels ſcharf gezeichneten, dunkel¬ grauen Kante, wo die Najade zweitheilig ihr fliegendes Gewand in die Lüfte hängt. Eine Hälfte des Baches, nur unmerkbar von der anderen getrennt, fällt beinahe ſenkrecht herab und würde effektlos an der Felswand niedergleiten, wenn dieſe nicht von Oben bis unter die Mitte der Höhe ſich unmerklich zurückzöge und nun der Waſſerſäule freieres Fortſchweben geſtattete. Die untere Hälfte der Bergwand tritt aber wieder entſchieden hervor, und nun zerſplittert die Maſſe in jenen Giſcht und Staub, der ſo duftig und ätheriſch niederſchwebt und an den Bachſturz in den ſalzburgiſchen Alpen erinnert, welchen das Landvolk bezeichnend mit dem Namen des152Der Waſſerfall. Schleierfalles taufte. Die innere Partie des Staubbaches fällt abwärts der Mitte ihres Weges, als wollte ſie verſuchen ſich an¬ zuhalten, auf eine ſchräg vorſtehende Bank der Fluh, und rieſelt von da in tauſend blendenden Schaumſtrahlen vollends an dem dunkeln Geſtein nach dem Keſſel hinab, während die äußere durch Schnelligkeit und Schwere die Luft unter ſich preſſend in Millionen Schaumbläschen immer mehr zerſchellt und weit herum einen immer¬ währenden Thau zur Erde ſpritzt.

Es iſt unterhaltend, das Waſſer von ſeinem Ausſtrömen an der hohen Felsrinne bis zu ſeinem Zerſtieben mit dem Blicke zu verfolgen. Erſt bricht es ſo wüthend hervor, daß man vor dem furchtbaren Sturze erſchrickt, aber kaum hundert Fuß gefallen, breitet ſichs reichlich aus; die zuſammengedrängte Säule zerfließt in einzelne ſchneeweiße Wölkchen, die man Waſſer-Raketen nennen möchte, weil ſie, forteilend gleich jenen flammenden Feuerköpfen, einen Schweif zurücklaſſen, der eine halbe Sekunde lang ihre Bahn bezeichnet, bis ſie, völlig in Waſſerfunken auseinanderſprühend, ſich zur Unſichtbarkeit verlieren.

Lieblich iſt im Staubbach das mannigfaltige Spiel des Win¬ des. Das Waſſer erregt durch ſich ſelbſt und ſeinen Fall beſtän¬ digen Luftzug; doch dieſe Bewegung trägt allein die feinen Thau¬ tropfen ins Weite und kann nicht den Bach im Ganzen ergreifen. Sobald aber ein Windſtoß den Gießen überfällt, ſo zeigen ſich überraſchende, ſeltſame Erſcheinungen. Oft geſchiehts, wenn der Föhnwind mit heftiger Gewalt gegen die Mündung des Baches ſtößt, daß dadurch das Waſſer ganz zurückgetrieben wird und zu¬ weilen zwei Minuten lang faſt kein Tropfen über den Berg her¬ abfällt. Zu anderen Zeiten führt der Luftzug ganze Schaaren durchſichtiger Wölkchen aus dem ſchwebenden Dunſtnebel davon und bietet höchſt ergötzliche Schauſpiele dar. Am Luſtigſten aber iſts, wenn ein kräftiger Sturm den geſammten Bach droben in der Höhe erfaßt und entweder thaleinwärts oder thalauswärts ſo gänz¬153Der Waſſerfall. lich aus ſeinem luftigen Gleis nach einer Seite verweht, daß un¬ ten der Runs ohne Waſſerſchwall bleibt, der kleine Vorrath im Keſſel verſiegend nach der Lütſchine (in welche der Bach ſich er¬ gießt) entſchwindet, und die erſchrockenen zahlreichen Fiſchchen in ihren Spielen übereilt, nur kümmerlich in einzelnen Bachgrübchen das Naß ihrer Exiſtenzbedingung übrig finden. Dann eilen in ſolchen Augenblicken jubelnde Kinderſchaaren nach dem Strombette und fangen in froher Emſigkeit die wehrloſen Forellen aus den Vertiefungen, wo ſie plätſchern, in herbeigetragene Kübel und Näpfe. Aber mitten in der luſtigen Freibeuterei läßt der Wind¬ ſtoß droben nach, der Bach gewinnt unverweilt ſein altes Bett, und die geängſteten Fiſche ſchlüpfen pfeilſchnell unter den Händen der Kinder davon, während die muthwilligen Fiſcher, naß bis über die Knöchel, in Haſt an die beiderſeitigen Ufer entſpringen, eine abermalige Repetition der Ebbe abwartend.

Dies ſind die Metamorphoſen des Staubbaches im Sommer und bei guter Witterung. Ganz andere, nicht minder ſehenswür¬ dige bietet der Winter, der Frühling und die Zeit zerſtörender Anſchwellung nach einem Platzregen dar.

Im Winter, wenn Schnee ins Thal fällt, hängen ſich die Flocken an dem unteren Felſenſatz der Staubbachwand an, gefrieren bei zunehmender Kälte und durch das darüberfließende Waſſer ge¬ ſättiget zu Eis, das nun launenhaft modellirt, allerlei größere oder kleinere Zapfen bildet. Prächtiger Glanz, der im Sonnen¬ ſchein völlig blendet, erfüllt das ſtaunende Auge, und der Berg ſcheint transparent hellbläulich glaſirt zu ſein. Tritt dann gelin¬ deres Wetter ein, oder löſt warmer Föhnwind die winterlichen Eisbande, dann ſtürzen große Stücken dieſer unförmlichen Zapfen unter krachendem Getöſe in die Tiefe. Unten aber im Keſſel häuft ſich die Eistrümmer-Maſſe, thürmt ſich zu einem Splitterhügel em¬ por und geſtaltet durch die darüber ſpritzenden, während der kalten Nächte ſchnell anfrierenden Waſſertropfen einen Miniatur-Gletſcher154Der Waſſerfall. mit allen ſeinen Konfigurationen. Ja, die Waſſertropfen vereiſen oft ſchon im Sturze, wenn es recht bitter kalt iſt, fallen raſch zu Boden und experimentiren augenſcheinlich die Bildung des Hagels vor unſeren Augen. Zunächſt an der Fluh, droben beim Ausfall des getheilten Baches, erwachſen allmählig zwei ungeheuere Eis¬ ſäulen wie nach den Geſetzen der im Feenreiche geltenden Baukunſt, die in die freien Lüfte hinaus ihre Säulen und Schlöſſer kon¬ ſtruirt. Reißen dann beide, durch die Schwere des eigenen Ge¬ wichtes gedrängt, oder durch laue Südwinde in ihrer ſtützenden Baſis untergraben, urplötzlich ab, ſo krachen ſie mit ſolcher Vehe¬ menz auf den Gletſcher im Keſſel, daß Alles rundum erzittert und ein Erdbeben hereinzubrechen ſcheint. Von größter Wirkung iſts, wenn beide Säulen zugleich einſtürzen, und ergötzlich iſt die immer¬ währende Regenerirung dieſer Atlas-Pilaſter, ſobald neue Fröſte eintreten. Wie aber im Frühling, beſonders im Mai, die warmen Lüfte mächtiger werden, ſchmilzt auch der Eishügel im Keſſel mit ſichtbarer Eile zuſammen und löſt ſich wie bei den Gletſchern zuerſt an der Felſenwand ab, ſo daß ſich zwiſchen den Eismaſſen und dem Geſtein eine furchtbare Kluft öffnet, deren Tiefe ſchon oft gegen 70 Fuß maß. Noch bis in die Hälfte des Monats Juni hinein erhalten ſich Reſte dieſer winterlichen Erſtarrung. Oft entſteht ein wunderſchönes azurfarbenes Portal, durch welches das geſchmolzene Waſſer abfließt, ganz wie bei den Gletſchern, oder das herabſtürzende Waſſer bohrt ſich zugleich vermöge ſeines größe¬ ren Wärmegehaltes einen vertikalen Schlot, der in den Eisſchacht ausmündet. Auch hier erzeugt die hineinſcheinende Sonne wieder Farbengaukeleien, die unvergleichlich in ihrer Art ſind.

Dieſem heiteren und ungefährlichen Anblicke ſteht die Wuth des Baches am Tage hereinbrechender und über die Höhen des Pletſchberges ſich ausgießender Gewitter furchtbar gegenüber.

Brüllend, mächtig angeſchwollen und vom Schlamm der auf¬ gelöſten Erde ſchwarz gefärbt, ſchießt dann der Strom in zwei155Der Waſſerfall. dichten Armen, wie aus ungeheueren Brunnenröhren, von der Zinne der hohen, jetzt das grollende Gewölk unmittelbar berührenden Felſenwand in die Lüfte heraus. Eine Laſt von Steinen, viele davon über einen Centner ſchwer, führt der entfeſſelt einher¬ brauſende Strom mit ſich und ſchleudert ſie wie gigantiſchen ſchwar¬ zen Hagel hinab ins Thal. Von den Vorſprüngen der Felſenwand abprallend, wiederholen ſie ihre Bogenſprünge, bis ſie zuletzt in ſchmetterndem Sturze den Schuttkeſſel erreichen. Die wechſelſeitige Friktion, der elektriſche Anprall der Steine erhitzt dieſe ſo, daß ſchwefeliger Brandgeruch ringsum ſich verbreitet. Dann kommen auch Baumſtämme, entwurzelte Tannenbäume in dem heulenden Waſſerſchwalle herab, und je nach Größe oder Gewicht fliegen einige, von Windſtößen entführt, gleich verirrten Schindeln eines abgedeckten Hauſes um ſich ſelber wirbelnd, langſam durch die Lüfte hernieder, während andere wie Rieſenpfeile von der Höhe daherſchmettern und unten tief in das Erdreich ſich einbohren. Die ſonſt ſilberhelle, ſanft ſchwebende Waſſergarbe gleicht einer uner¬ meßlichen, verkehrten dunkelbraunen Rauchſäule, deren Wallen und Wogen deſto ausgedehnter wird, je näher ſie dem Boden ſinkt. Oft von einer Windsbraut fortgerafft, fällt ſie thalauf oder thalab von der lothrechten Bahn ihres Schwerpunktes weit verſchlagen in die Tiefe, oder ſie ſtäubt über die ganze Breite des Thales nach der gegenüberſtehenden Mauer der hohen Schiltwaldfluh hinaus. Ja, es begegnet dann ſogar, daß der dicke Schlammſchwall gleich wirbelndem Rauch in die Höhe gejagt, rückwärts überſchlagend, an den Ort ſeines Urſprunges zurückgetrieben, von Neuem den ſau¬ ſenden Sturz beginnt, und in ſekundenlanger ſchauerlicher Blöße die Felſenwand und den fortwährenden Steinhagel als ſelbſtſtän¬ diges Schreckensbild ſehen läßt. Schwarze, laſtſchwer hereinhän¬ gende Wolkendecken, die den ſchmalen Streifen des, über die hohen Felſenwände des engen Thales hereinſchauenden Himmels ver¬ bergen, das gelbe Feuer der im Grunde der Landſchaft oder156Der Wasserfall. an den Höhen der Felſenwände hinziſchenden Blitze und das fürch¬ terlich praſſelnde, Alles erſchütternde Rollen des Donners dienen dann dem wüthenden Gewäſſer als ſchreckliche, aber auch furchtbar erhabene Begleitung. Eine Scene aus dem Final-Drama des Weltgerichtes ſcheint verwirklichet zu werden, wenn ein ähnliches Wetter wie das eben beſchriebene über das Thal hereinbricht, und es bedarf jener Beſonnenheit und ſtoiſchen Ruhe, die der Gebirgs¬ bewohner aus ſeinem täglichen Kampfe mit den Elementen gewinnt, um hier nicht die Geiſtesgegenwart zu verlieren und auf jeden An¬ griff gefaßt zu ſein, der dem Thale durch Ueberſchwemmung droht.

Schließen wir dieſe ausführliche Schilderung eines alpinen Waſſerfalles, der unerſchöpflichen Stoff darbietet, mit dem beruhi¬ genden, mild anſprechenden Bilde ſeiner Erſcheinung im blaſſen Lichte des Mondenſcheines.

Verliert ſich die Sonne hinter die Berge, ſo werden durch die verſchieden gezackten Erhöhungen der Felſenwand lange Striche von dunkelen Schatten hervorgebracht, welche die Waſſerſäule in einzelne Parzellen zu zerſchneiden ſcheinen und den in der Be¬ ſchattung liegenden Theil des Falles faſt gänzlich unſichtbar machen. Wenn endlich das helle Sonnenlicht in der Luft durchaus ver¬ ſchwunden iſt, ſo breitet ſich allmählig todte Bläſſe über die ganze Fluh aus, der Reichthum des Waſſers ſcheint völlig zu verſiegen und nur noch ein kleines unbedeutendes Bächlein über die Felſen hinabzuſchleichen. Mit Einbruch der Nacht verliert ſich das Ein¬ zelne des majeſtätiſchen Sturzes und ſeiner Bewegungen je mehr und mehr. Nur eine weiße Rieſengeſtalt, ein geiſterbleiches Nebel¬ bild, das in langfaltigem, ſtarr herabhängendem Mantel unver¬ wandt an der Felſenmauer lehnt, überragt hoch die ſchweigend im Dunkel gelagerten braunen Friedenshütten der Menſchen. Aber nicht lange währt dieſe unheimliche Uebergangsperiode; bald kehrt wieder Leben in die Geſtalt. Ueber den ewigen Firnzinken der Jungfrau ſteigt der blaſſe Freund der Noth und der Nacht, der157Der Waſſerfall. magiſche Proſpektenmaler der künftigen Welt, für die wir brennen und weinen der ſtille Vollmond herauf und gießt ſein myſte¬ riöſes Licht über die Alpen aus. Nun ſchimmert nicht nur die Schaumſäule ſelbſt im reinen Silberglanze, ſondern auch die Waſſer¬ ſtrahlen am unterſten Abſatze der Staubbachfluh wandeln ſich zu einem weißfunkelnden Brillantregen um, der in halb erblaßtem Farbenſpiel den gaukelnden Zauber des Tages durch Regenbogen¬ ähnliche Verſchlingungen nachzuahmen ſich bemüht; geiſterhaft um¬ weben die Diamant-Funken den Träumer, welcher in ſo einſamer Nachtſtunde ſich hierher begiebt.

Hin durch die Fluren flüſterts heimlich ſacht,
Daß liebeglühend alle Blumen beben.
Aufſtöhnt der Wind! Im dunklen Schoß der Nacht
Entfaltet ſich ein tauſendfältig Leben!
Rittershaus.

Ganz ein anderes Bild geſtaltet der volle, waſſermächtige Bergſtrom, wenn er in ſeinem Bett durch Felſentreppen oder hohe, faſt vertikale Schichten-Abſtürze unterbrochen, plötzlich zum ver¬ zweifelten Sprung in die Tiefe genöthigt wird. Dies iſt der eigent¬ liche Waſſerfall im engeren und präciſeren Sinne. Was dort bei den ſanft herabſinkenden, halb vom Winde getragenen, leicht ver¬ wehten Staubfällen zur Idylle ſich verkörpert und als ein zartes Adagio ſeine ewigen, geiſterhaft-flüſternden Weiſen rauſcht, das wird beim großen körperreichen Stromſturze zur energiſchen Kraft¬ äußerung, zur gewaltigen tragiſchen Kataſtrophe, zum donnernden Furioſo. Jene ſind zarte weibliche Erſcheinungen, die aus ohn¬ mächtigem Hingeben an das Unvermeidliche entſtehen, dieſe ſind thatkräftige Akte entſchloſſenen männlichen Dranges, zu vergleichen dem entbrannten Muthe eines zur äußerſten verzweifelten Gegen¬ wehr getriebenen, ſeine Selbſtſtändigkeit und Zuſammengehörigkeit vertheidigenden Volkes.

In dieſer kernigen, kräftigen Haltung ſind ſie begreiflich auch nach ihrem landſchaftlichen Effekte viel maleriſcher, lebendig-beweg¬158Der Waſſerfall. ter und an Formen mannigfaltiger, je nachdem die Felſenarchitektur, über welche die Waſſermaſſen herabſtürzen, ſich geſtaltet. Es hängt viel von der Verwitterungsfähigkeit des Geſteines und deſſen Bruch¬ figuren ab. Da, wo granitiſche oder überhaupt kryſtalliniſche Fels¬ arten die Baſis der Sturzwände bilden, wo alſo die Konſiſtenz und Dauerkräftigkeit bedeutend iſt, zeigt ſich der Waſſerfall auch als großartiges, einheitlich maſſenhaftes Schauſpiel. Dennoch variiren auch dieſe außerordentlich. Der Buffalora im Val Miſocco (Graubünden), welcher über eine faſt lothrechte Wand herabkommt, ſchießt droben in vollſter Vehemenz als geſchloſſene, kompakte Säule, wie ein kryſtallener Kanonenſchuß weit über den Felſenrand hinaus und fährt als runder konſiſtenter Körper zur Tiefe nieder, ohne direkt die Gneisfront, über die er herabſtürzt, zu berühren. Er unterliegt alſo, bezüglich ſeiner Sturzverhältniſſe, den gleichen Bedingungen wie der Staubbach im Lauterbrunnen-Thale, nur daß er, vermöge ſeines größeren Waſſervolumens und ſeines minder hohen Falles halber, ſich nicht verflüchtigend auflöſt wie jener, ſondern eben ſo en gros unten ankommt, wie er droben ſein Bett verließ. Er iſt eben der kühne männliche Pendant zum ſchmachtend-weiblichen Staubbach.

Dieſer gleichen Kategorie gehören die ricochetirenden Fälle an. Der Piumegna bei Faido kommt über die Alpenterraſſen von Pian del Lago, welche die weſtliche Thalwand des Teſſiner Val Leven¬ tina bilden, in Cascadellen als munterer, kräftig genährter Berg¬ bach herab, und ſieht ſich plötzlich in dem Fall, kein Flußbett mehr zu haben, ſondern einen Satz auf gut Glück ins Unbeſtimmte über eine vertikale Glimmerwand wagen zu müſſen. Er thuts, ſtaucht unten aber, ſtatt in einen ſeine Schaumwellen ſammelnden Keſſel zu fallen, auf eine Felſenplatte, ſo daß er in bildlichem Aufſchrei, wie eine Fächer-Fontäne wieder emporſpritzt und einen Bogenſatz hinaus ins Freie macht, der einer ſchönen Maraboutfeder gleicht. Aehnlich verhält ſichs mit der Cascade des Pélérins, die 150 Fuß159Der Waſſerfall. hoch, als Abfluß des gleichnamigen Gletſchers im Chamouny-Thale herabſtürzt und mit Federkraft wieder emporſchnellend ſich einen Ausweg ſucht.

Weſentlich anders verhält ſich's mit jenen, die eigentlich ihr Flußbett nicht verlaſſen, ſondern innerhalb deſſelben über mehr oder minder hohe Stufen hinunterſpringen müſſen. Der impoſanteſte Repräſentant dieſer Gattung iſt der berühmte Toſa-Fall im Piemon¬ teſiſchen Val Formazza. Als der Waſſer-reichſte (der nur dem Rhein¬ fall bei Schaffhauſen nachſteht) verurſacht er in ſeinem Granit - Gehäuſe auch den ärgſten Spektakel. Mehr denn 80 Fuß breit und in einer Geſammthöhe von etwa 400 Fuß ſtürzt die Toccia, nach unten ſich erweiternd, über drei Abſätze und löſt ihre Waſſermaſſen in ſiedend brandende Schaumwolken auf, denen dicke Waſſerſtaub - Nebel fortwährend entſteigen. Ihm zur Seite, wenn auch nicht ſo waſſermächtig, aber noch wilder in der Umgebung ſteht der Aare - Fall an der Handeck im Hasli-Thale (Berner Oberland). Er ſtürzt in eine mehr als 200 Fuß tiefe Granitkluft hinab, Anfangs bis zur Hälfte des Kataraktes in gebundener, ſtrahlend-glatter Maſſe; dann aber zerſchellt dieſelbe an aufragenden Felszacken, die unzer¬ ſtörbar ſcheinen, ſo furchtbar, daß Alles in weiße ſchneeartig ausſehende, zerſtiebende Halbkugeln ſich auflöſt und in dieſem Zuſtande von Treppe zu Treppe hinabkocht. Noch großartiger, was die Umgebung und Felſen-Dekoration anbelangt, iſt der Bérard - oder Poyaz-Fall bei Valorcine an der Tête noire (Uebergang von Martigny im Wallis zum Chamouny-Thal). Der Zugang zu dieſem bereitet ſchon auf Außerordentliches vor. Am Eingange einer Felſen¬ ſchlucht ſpannt ſich eine etwa 30 Fuß lange Holzbrücke über Tiefen, aus denen von Ferne unbeſtimmtes Brauſen hervortönt. An him¬ melhohe Felſenwände angelehnt, liegen koloſſale Granitblöcke wild durch einander geworfen und bilden, dicht an einander gedrängt, natürliche Tunnel. Auf gut angebrachten ſteinernen Treppen gehts dann bald auf - bald abwärts, in zwei aufeinander folgende Sou¬160Der Waſſerfall. terrains, dann auf etwas flachen, mit Fichten bewachſenen Boden, wo noch Alpenroſen das Auge erfreuen, darauf in einen dritten, längeren, ganz dunkelen Granit-Gang von vielleicht 50 Schritt Tiefe, und endlich über eine ſolide Holzbrücke ans Tageslicht. Und ſiehe, der Wanderer ſteht plötzlich unter dem herrlichen, grandioſen Waſſerfalle, der ſich größtentheils über eine gewaltige flache Granit¬ platte, die wohl 50 Fuß über den Zuſchauer hervorragt, in eine ſchauerliche Tiefe von etwa 250 Fuß mit furchtbarem Getöſe hin¬ unterſtürzt. Ein kleiner Waſſerarm windet zur Rechten der Granit¬ platte ſich durch und vereiniget, etwas tiefer, ſich mit der großen Waſſermaſſe, ſo daß der Anblick einige Aehnlichkeit mit dem eben¬ erwähnten Handeckfall hat, wo ſich der Aerlenbach in den Arm der brauſenden Aar wirft. Das ganz Eigenthümliche dieſes Waſſer¬ falles iſt die abſolute Abgeſchiedenheit und die grandioſe Einrahmung in dunkle, ſtygiſche Felſenmaſſen, deren Enden ſo ſcharf vom Zahne der Zeit ausgekehlt, zugeſpitzt und modellirt ſind, als ob die tüch¬ tigſten Steinmetzen hier ihre Meiſterarbeit zuſammengeſtellt hätten, um irgend ein großartiges gothiſches Bauwerk auszuſchmücken. Man möchte dieſen Fall ſeiner Einrahmung wegen einen gothiſchen Waſſerfall nennen, indem die Hunderte von anſtrebenden Säulchen und Pilaſtern ganz den Charakter und die Zeichnung herrlicher, mittelalterlicher Dome haben. Weder die Glommen - und Bram¬ men-Fälle im hohen Norwegen, noch die effektreichen Trollhäta-Fälle in Schweden, noch jene an der ſteierſchen Gränze, in Tyrol und der Schweiz haben irgend ein Seitenſtück zu dieſem in ſeiner Art einzigen Schauſpiel.

Es ließe ſich nun von hier an abwärts eine vollſtändige Formen-Skala von Alpen-Waſſerfällen aus dem Gebiete der grani¬ tiſchen Geſteine aufſtellen; wir erwähnen indeſſen deren nur noch zwei als geeignete Repräſentanten der verſchiedenen Abſtufungen. Der eine iſt der Fall des Hinterrheines in der Roffla (zwiſchen Viamala und Splügen in Graubünden) deſſen Sturzfundament161Der Waſſerfall. ſteil-treppenförmig abſinkt und daher vielleicht das entſprechendſte Beiſpiel einer Jäh-Kaskade im Flußbett iſt; der andere iſt der Fall der Reuß unter der Teufelsbrücke auf der Gotthardsſtraße, der mehr die flach geneigte Kaskadenform repräſentirt. Als Muſter eines konſtanten, treppenförmig ebenmäßigen Kaskadellen - Falles kann der Freſſinone beim Ausgang der Gondo-Galerie auf dem Simplon gelten.

Zwiſchen allen dieſen mitten inne liegen die garnirten Waſſerfälle. Der vornehmſte derſelben in den Alpen iſt der Piſſevache im unteren Rhône-Thale. Die zackig-zerſprengte, ter¬ raſſenförmig ausgeſtufte Struktur des Felſenkörpers, über den die glänzende Sallenche in wollig runder Maſſe ſich herniederbeugt, und die accompagnirenden Nebenkaskaden, welche in unzähligen Strahlen plätſchernd, hüpfend oder in zerſtauchender Haſt hernieder¬ brauſend die Hauptmaſſe umgeben, ſchaffen ein ſo vielſeitig bewegtes Bild, daß hätte der Piſſevache die reiche, buntgeſchmückte Um¬ gebung eines Gießbaches am Brienzer See, er der bunteſte Waſſer¬ fall der Alpen wäre. Zur gleichen Gruppe, der Anordnung nach gehö¬ rig, und doch wieder außerordentlich verſchieden von dem eben beſchrie¬ benen ſind die Fälle des Schmadribaches in der äußerſten Tiefe des Ammerten-Thales. In der Mitte, voll und hoch aufſchäumend, brauſt der Kern des Gletſcherbaches, ein eigentlicher Waſſerfall über eine ſchwarze zerſpaltene Felſenmaſſe herab, kahl und ſchauerlich¬ wüſt, unmittelbar darüber die gewaltigen Eispyramiden des Breit¬ hornes, Groß - und Tſchingelhornes. Dieſem Hauptſtrahl rechts und links zur Seite hüpfen und plätſchern eine Menge ſchmaler Waſſerfaden von den Granit-Treppen hernieder, bald in langer, ſchmächtiger Form, bald gebrochen und im Winkel verſtaucht, daß man von dem drängenden Getümmel, in welchem der ſtäubende brauſende Wirrwarr die milchweißen, dunſtigen Waſſerflocken aus¬ einanderſpritzt, um ſie im nächſten Augenblicke wieder zu vereinen, ganz irre wird. Nach unten zu, wie bei der Achſe eines ausge¬Berlepſch, die Alpen. 11162Der Waſſerfall. ſpreizten Fächers, ſammeln ſich die zerſtreueten Waſſerſtrahlen in einem ausgewaſchenen Trümmerbecken, und kaum vereint, jagen ſie mit überſtürzender Eile ſchräg hinab, zwiſchen Felſenthoren hindurch, um abermals in neuen kleineren Fällen dem Uebermuthe ihrer Ju¬ gendkraft die Zügel ſchießen zu laſſen. (Abbildung aller bisher genannten Waſſerfälle, mit Ausnahme des erſt vor wenig Jahren zugänglich gemachten Bérard-Falles, findet man in meinem, bei J. J. Weber in Leipzig 1854, ohne meinen Namen erſchienenen: Illuſtrirten Alpenführer. Berlepſch.)

Das Kaskaden-Syſtem wiederholt ſich in großem Zuſchnitt bei den Waſſerfällen der Jurakalk-Alpen. Dort veranlaſſen Schichten¬ wechſel, verſchiedenartig geneigte Hebung der Sedimente und Aus¬ ſtufung der Schichtenköpfe eine natürliche Treppenanlage in den Flußbetten der Voralpen, welche ſich am bedeutſamſten in den vier¬ zehn Kaskaden-Etagen des weltberühmt gewordenen Gießbaches am Brienzer See (gegenüber von Brienz) ausprägen. Er iſt dadurch, daß er ungemein bequem liegt, ein nobler, comfortabler Gaſthof dicht neben einen ſeiner Sturzfälle gebaut wurde, und während des Sommers wöchentlich mehrmals hinter ſeinen Schaumwellen bei Nacht bengaliſche Flammen angezündet werden, welche die Waſſer¬ maſſen in transparent glühende Feuerſtröme umwandeln, das Wan¬ derziel aller Touriſten geworden. In noch größeren Cäſuren treten die Reichenbach-Fälle, zwiſchen Meyringen und Roſenlaui auf; ſie vereinigen eine Muſterkarte aller bisher beſchriebenen Formen, frei¬ lich ohne allenthalben deren erſchütternde Großartigkeit zu beſitzen.

Es erübriget endlich noch, einer Gattung von Waſſerfällen zu gedenken, die in großem Maßſtabe, minder im Gebirge als viel¬ mehr am Fuße deſſelben vorkommen; dieſe ſind die Laufen oder Stromſchnellen. Schon die Bezeichnung ſagt deutlich, daß ſie weniger eigentliche Fälle, als beſchleunigte, ſchräg-abjagende Flu߬ maſſen ſind, gewiſſermaßen von der Natur gebaute, gigantiſche Wehre. Der renommirteſte Laufen iſt der weltbekannte Rheinfall163Der Waſſerfall. bei Schaffhauſen, der ſchon zu oft beſchrieben und abgebildet wurde, und ſomit eine nochmalige Schilderung überflüſſig macht. In klei¬ nerem Maßſtabe finden ſich ähnliche bei anderen Alpenflüſſen, ſo z. B. der Fall des Inn bei ſeinem Ausfluſſe aus dem St. Morizer See im Ober-Engadin. Eigentliche Stromſchnellen im engeren Sinne, alſo Stellen, an denen der Strom in Folge ſtarker Neigung ſeines Flußbettes einen beſchleunigteren Lauf annimmt und ſchräg über flache Platten hinabſchießt, hat faſt jeder Gebirgsſtrom, ſobald er in die Zonen der ſedimentären Bildungen hinaustritt. Solche Stromſchnellen ſind Urſache, daß mancher bedeutende Fluß nicht ſchiffbar benutzt werden kann.

Bei Laufenburg an der ſchweizeriſch-badenſchen Gränze, durch¬ ſetzt feſter Alpen-Gneis in Form eines Felſendammes das Klippen - Bett des Rheines und nöthiget dieſen, zwiſchen gewaltigen Blöcken hindurch, über ſtark geneigte Schichtenlagen des kryſtalliniſchen Geſteines mit reißender Vehemenz hinabzujagen. Da der Maſſen¬ ſturz ungeachtet ſeines brüllenden Lärmens und ſtellenweiſe ſchäu¬ menden Weſens doch ganz und gar den Charakter des eigentlichen Waſſerfalles verliert, weil die Oberfläche des Stromes, ſtark wellenförmig fluthend, doch ziemlich glatt bleibt, ſo haben Wage¬ hälſe, offenbares Va-banque-Spiel mit ihrem Leben treibend, es ſchon oft verſucht mit kleinen geeigneten Nachen über dieſe wilden Stromſchnellen hinabzufahren. Einigen gelang das mehr als tollkühne Unternehmen, andere kamen dabei um. Zu letzteren gehörte der junge Lord Montague, der wunderbarerweiſe am gleichen Tage auf dieſe Weiſe ſein Leben einbüßte, an welchem ſein Stammſchloß in England abbrannte. Der Schiffer, welcher ihn fuhr, vermochte ſich zu retten. Erfahrene Schiffer pflegen ohne Schaden ihre Fahrzeuge hinabzulaſſen. Noch präciſer formt ſich die Stromſchnelle beim ſ. g. kleinen Laufen unweit Koblenz am Rhein, einige Stunden oberhalb Laufenburg.

11*164Der Waſſerfall.

Der Bergſtrom und ſeine Waſſerfälle ſind eine der ſtolzeſten Zierden des Alpenlandes, und mit begeiſterten Worten beſingt F. L. von Stollberg das erhabene Schauſpiel

Unſterblicher Jüngling,
Du ſtrömeſt hervor aus der Felſenkluft.
Kein Sterblicher ſah die Wiege des Starken!
Es hörte kein Ohr das Lallen des Edlen im ſprudelnden Quell!
Wie biſt du ſo ſchön in ſilbernen Locken!
Wie biſt du ſo furchtbar im Donner der hallenden Felſen umher!
O eile nicht ſo zum grünlichen See!
Jüngling! noch biſt du ſtark wie ein Gott!
Frei wie ein Gott!
[165]

Der Schneeſturm im Gebirge.

Tollheit iſt
Der Muth des Menſchen,
Wenn ein Gott ihm zürnt.
Stollberg.

Zu den ungeſtümſten und ſchreckenerregendſten Naturerſchei¬ nungen des Hochgebirges gehören die Schneeſtürme. Von ihrer Heftigkeit, Gewalt und von der quantitativen Dichtheit der Schnee¬ menge, welche durch die Lüfte getragen die Möglichkeit zuläßt, daß binnen wenig Minuten kurz vorher noch ſichtbare Wege gänzlich vergraben und fußhoch überdeckt werden, kann nur derjenige ſich einen lebhaften Begriff machen, der die wilden Kraftäußerungen der Elemente im Gebirge ſchon in anderer Weiſe kennen lernte. Der Schneeſturm in den Alpen iſt gleichſam der entgegengeſetzte Pol einer anderen, eben ſo furchtbaren, atmoſphäriſchen Erſcheinung, nämlich des Samum der Wüſte. Wie dort der raſend einherbrau¬ ſende Flügelſchlag des Wüſtenwindes unberechenbare Milliarden glühendheißer Sandkörnchen emporhebt und in jagender Flucht durch die Lüfte trägt, tiefe Mulden hier aufwühlt, um neue, vor¬ her nicht dageweſene, haushohe Hügel dort abzuladen, ſo er¬166Der Schneeſturm. füllt der Schneeſturm die Luft auf große Entfernungen hin mit dichten, ringsumher Alles verfinſternden Wolken kleiner feiner Schneekryſtalle, die Alles durchdringen, an Alles ſich einbohren und mit der Atmoſphäre eine völlig verſchmolzene Maſſe zu ſein ſcheinen. Die Verwandtſchaft der mechaniſchen Thätigkeit dieſer beiden ſchrecklichen Lufterſcheinungen iſt frappant und bietet ſelbſt bis in die kleinſten Einzelheiten Parallelen dar, freilich eben im¬ mer unter den Bedingungen der äußerſten Temperatur-Gegenſätze.

Der Schnee des Hochgebirges iſt, ſowohl nach Geſtalt und Umfang, als nach Dichtheit und ſpecifiſcher Schwere ſeiner einzel¬ nen Körpertheilchen, in der Regel weſentlich verſchieden vom Schnee der Tiefebene und des Hügellandes. Wenn er auch unter gleichen Bedingungen entſtehen mag, ſo iſt doch höchſt wahrſcheinlich ſein Bildungsproceß ein viel einfacherer; ja, es fragt ſich, ob er nicht unmittelbar aus jenen Elementarkörperchen beſteht, aus deren, nach organiſcher Anordnung erfolgender Konglomeration ſich die Schnee¬ flocke, wie man ſie drunten im Lande allgemein kennt, erſt konſtruirt. Denn in die Geheimniſſe der Schneekryſtalliſation ſind die Natur¬ wiſſenſchaften bis jetzt wenig erſt eingedrungen; nur Vermuthungen und Wahrſcheinlichkeitsgründe konnten ſie darüber aufſtellen: in welcher Region und unter welchen meteorologiſchen Einflüſſen die erſte Schneebildung beginnt, und es iſt noch eine ſchwebende Frage, ob der, ſtets nach dem Geſetz der drei - oder ſechskantigen oder ſechsſtrahligen Form ſich darſtellende, ſymmetriſch-ſchöne Schnee¬ ſtern durch das Anſchließen kleiner, unendlich feiner, aber ſchon vorhandener Eisnädelchen entſtehe, oder ob er durch Anhängen (Adhäſion) der dunſtförmig im Aether ſchwebenden Waſſerbläschen und deren Gefrieren ſeine allmählige Bildung vom Centrum aus herbeiführe. Die beiden Schneearten, nämlich der Hochſchnee und der Flockenſchnee, verhalten ſich etwa zu einander wie der chemiſche Gehalt und das ſpecifiſche Gewicht der ſchweren, mit vie¬ len Stoffatomen geſättigten Luft tiefliegender Regionen, gegenüber167Der Schneeſturm. jener feinen, dünnen, leichten, reinen Bergluft, die, je höher man in den Dunſtkreis empordringt, um ſo mehr ſich verflüchtiget.

Die große, breite, fette Flocke des Tieflandes iſt eine Ver¬ einigung vieler, mehr oder minder vollſtändig ausgebildeter, flächen¬ haft-kryſtalliſirter Eisſterne, die deshalb, weil die Schwere der darin enthaltenen gefrorenen Waſſertheilchen nach ihrem räumlichen Umfange in keinem Verhältniß zu der zu durchſchneidenden Luft ſteht, langſam wie ein von den Windwellen getragenes Fallſchirm¬ chen aus der Höhe niederſchwebt, und nur dann eine beſchleunig¬ tere Geſchwindigkeit annimmt, wenn ſie in Temperaturſchichten her¬ abſinkt, welche vermöge größerer Wärmemenge die im Froſt ge¬ bundenen Waſſeratome theilweiſe löſen und die ganze Wolke durchfeuchten.

Ganz anders verhält ſichs mit dem Hochſchnee. Der erſte Blick ſchon zeigt ein ganz anderes Gebilde. Er iſt viel feiner, mehliger oder eigentlich ſand-ähnlich, trockener und darum ſelbſtſtän¬ dig beweglicher. Theils zeigt er unterm Mikroskop blos prismen¬ förmige Nädelchen, oder unendlich kleine, aber kompakte keilförmige, ſechskantige Pyramiden, theils aber ſtellt er ſich auch in einer mehr der ſphäriſchen Geſtalt annähernden Weiſe dar, und zwar ſo, daß er einen kugelförmigen centralen Körper zeigt, an dem, ähn¬ lich der mittelalterlichen Waffe des Morgenſternes, kleine Spitzen nach allen Radien hin ausſtrahlen. Daß ſolch ein, ſeinem Um¬ fange nach kleinerer, wahrſcheinlich auch dichterer und darum ſchwe¬ rerer Körper in ganz anderem Geſchwindigkeitsmaße die Luft durch¬ ſchneiden kann und darum bewegungsfähiger iſt, wenn der Wind ihn treibt, als die netzförmig breite, viel mehr Raum einnehmende Schneeflocke, iſt begreiflich.

Vermöge ſeiner Feinheit profilirt der Hochlandsſchnee aber auch die Gegenſtände, auf die er fällt, viel feiner, zeichnet deren Konturen viel detaillirter, und ſchließt den kleinſten Formgebilden ſich ungemein ſchmiegſam, gleichſam nur beſtaubend an, wo die168Der Schneeſturm. volle, flaumige Schneeflocke des Tieflandes in großen behäbigen Linien, oft ziemlich ſchwerfällig, die beſchneiten Gegenſtände nur deckt. Dieſe ſubtilen Kandirungen kann man indeſſen nur im Herbſte, namentlich an Kräutern, verdorrten Samen-Dolden und an den kleinen zierlichen Kryptogamen der Alpenpflanzen wahrnehmen, wenn die Atmoſphäre ihre Anfangsverſuche im Be¬ ſtauben mit gleichſam gefrorenem Nebel macht. Dieſes leichte Be¬ ſchneien iſt nicht zu verwechſeln mit der, auch im Hügel - und Flachlande vorkommenden verwandten Erſcheinung des ſ. g. Duft oder Pick , welcher Pflanzen, Steine und andere Dinge kryſtalli¬ ſirend überkleidet, wenn dichter Nebel bei tiefer, unterm Gefrier¬ punkte ſtehender Temperatur über einer Landſchaft lagert.

Es ſoll nun keinesweges behauptet werden, daß unter allen Umſtänden die Bildung von Flockenſchnee in den Hochalpen un¬ möglich ſei. Vielmehr verſichert der bekannte ſchweizeriſche Berg¬ ſteiger, Herr Weilenmann, daß er während ſeiner Beſteigung des Grand Combin am 10. Auguſt 1858 bei einer Höhe von circa 12,000 F. über dem Meere und bei einer Temperatur von 6 Grad Wärme in ein dichtes Schneegeſtöber des dickſten, ſchwerſten Flocken¬ ſchnees gekommen ſei.

Bei der ungemeinen Feinheit der einzelnen Körperchen des Hochſchnees iſt es aber auch vornehmlich deren große Trockenheit, welche ſie auszeichnet. Dieſe iſt Folge der in den oberen Regionen während des ganzen Jahres faſt ununterbrochen herrſchenden niede¬ ren Temperatur. Im normalen Zuſtande iſt der Hochſchnee ſo ſpröde, ſo abgeſchloſſen eigenkörperig, daß er ohne kräftige Wärme¬ einwirkung ſich eben ſo wenig zuſammenballen läßt, wie eine Hand¬ voll trockenen feinen Sandes.

Mit dieſem Material treibt nun der Wind auf den Höhen und in den Einſattelungen des Gebirges, welche 5000 Fuß über¬ ſteigen, ſein mehr als übermüthiges Spiel, packt plötzlich einige Hunderttauſend Kubikklaftern dieſes feinen Eisſtaubes, wirbelt ihn169Der Schneeſturm. ſpielend hoch, hoch in die Lüfte empor, und überläßt es der dort herrſchenden Windrichtung, ihn wieder in Form des dichteſten Schneefalles, oder zerſtreut als glitzernden Eisnadel-Regen abzuſchüt¬ teln, wo es ihm beliebt. Le Montblanc fume sa pipe ſagen die Thalleute von Chamouny, wenn's von der Schneekuppel dieſes höchſten europäiſchen Berges bei hellem, tiefblauem Himmel wie Dämpfe aufſteigt und leiſe verweht wird. Oder der Wind, in ſeinem radikalen Fegen über die alten Firnwüſten, hebt irgend eine, ihm nicht am rechten Platze liegende Ladung ſolch trockenen Hochſchnees auf und ſchleudert ihn unverſehens in tiefere Berg¬ becken oder Uebergangspunkte, während wenig Minuten Schnee¬ batterieen und Querdämme aufbauend oder mühſam ausgeſchaufelte Hohlwege nivellirend, wozu eine Arbeiter-Compagnie tagelange Zeit bedurft haben würde. Darum läßt ſich auch zwiſchen dieſen bös¬ artigen Neckereien des Windes und dem Fall der eigentlichen Staublauinen oft keine beſtimmte Gränze ziehen, weil die Wir¬ kungen des Einen faſt jenen der Anderen gleichkommen.

Aber alle dieſe tollen Luftmanöver ſind nichts weniger als eigentliche Schneeſtürme; der Charakter dieſer fürchterlich tobenden Erſcheinung iſt weit wilder, zorniger, feindſeliger. Wehe dem ar¬ men Wanderer oder Roßtreiber, der in eine heftige Tormenta wie der Teſſiner den Schneeſturm bezeichnend nennt geräth, und doppelt Wehe über ihn, wenn er nicht ein von den Un¬ bilden des Wetters längſt abgehärteter Mann, wenn er ein Fremdling aus milderen Klimaten iſt, der dem jähen Anprall und der nachhaltig-einbohrenden Wuth der Elemente nicht Entſchloſſen¬ heit, ſtählernen Muth, ſtramme Kraft, zähe Ausdauer entgegen zu ſetzen vermag. Er iſt, wenn nicht Wunder ihn retten, ein Kind des Todes. Schon Tauſende fielen dem Ungethüm als Opfer, wenn ſie mit den Vorboten eines Schneeſturmes unbekannt waren oder wohlgemeinten Warnungen nicht folgend, ihren Weg fortſetzten. Denn erfahrungsgemäß toben die Guxeten am Bösartigſten in170Der Schneeſturm. jenen Alpeneinſchnitten, durch welche Bergſtraßen und Päſſe hin¬ durchführen, und zwar ſonderbarer Weiſe beim Nordwinde an der ſüdlichen Abdachung und beim Südwinde an der nördlichen am Heftigſten. Berüchtiget ſind in dieſer Beziehung ganz beſonders der Große St. Bernhard im Wallis, der Gotthard im Kanton Uri, der Bernhardin und der Panixer Paß in Graubünden. Auf letzterem ward ein großer Theil des ruſſiſchen Heeres unter Su¬ worow, bei der Retirade im October 1799, eine Beute der Schnee¬ ſtürme. Nach mündlichen Verſicherungen der Bernhardiner Mönche iſt in den letzten zehn Jahren nicht ein einziger Menſch am Großen St. Bernhard durch einen Schneeſturm mehr ums Leben gekommen.

Der Aelpler kennt die Zeichen genau, welche den böſen Gaſt anmelden. Die ſonſt matte, indifferent gräulich-weiße Färbung des Horizontes, von der die Schneehülle der Berge kaum merklich im Farbentone ſich ablöſt, wird beſtimmter, dicker, geſättigter, man ſieht ihr gleichſam den größeren Stoffgehalt an; entfernte Gebirgs¬ züge, deren nackte Felſenknochen deutlich erkennbar heraustraten, werden erſt leicht, dann aber immer trüber und dichter verſchleiert, bis ſie zuletzt ganz verſchwinden. Die Luft iſt ruhig, ſehr kalt, ohne jene kräftige ſäuerliche Winterfriſche zu athmen, welche an heiteren Januarmorgen im Flachlande die vom langen Stubenſitzen verdumpften Sinne völlig neu belebt; trockene, froſtige, harte Luft füllt die Atmoſphäre. Dazu lagert ringsumher unbeſchreiblich¬ lautloſe Stille über der erſtorbenen Einöde. Das ſprungfertige Volk der Gemſen, welches im Sommer dieſe Höhen belebt, wohnt jetzt in tieferliegenden Forſten, das pfeifende Murmelthier liegt im Winterſchlafe erſtarrt in ſeiner Höhle, und ſelbſt die, im Winter kreiſchend die zerſpaltenen, ſchwer erſteigbaren Granitzinnen um¬ kreiſende Bergdohle hat ſich in ihr Kluftenneſt geflüchtet; kein dür¬ res Laub raſchelt an den Aeſten, denn in dieſen Höhen hat der Baumwuchs aufgehört, und die melancholiſche Legföhre und das171Der Schneeſturm. Alpenroſen-Gebüſch ſchlummern tief unterm Schnee, kein Wind¬ hauch rieſelt Schneekörner über die jähen Fluhſätze, allenthalben herrſcht jene bange Stille, welche an ſchwülen Sommertagen dem Ausbruche eines heftigen Gewitters voranzugehen pflegt. Die ein¬ zigen Laute, welche der Wanderer vernimmt, ſind ſein eigenes tiefes Athmen, das Schnauben der Roſſe (wenn er mit dem Schlitten das Gebirge paſſirt) und das knitternde Aechzen des getretenen Schnees.

Nähert ſich nun die Kataſtrophe, dann hüllen maſſige graue Wolken auch die näherliegenden Bergſpitzen ein und laſten ſo dick und ſchwer auf ihnen, als wollten ſie für eine Ewigkeit hier Poſto faſſen. Noch immer iſts Zeit, die ſchützende Cantoniera, (Refuge, Zufluchtshaus) oder das gaſtliche Hospitium zu erreichen, wenn es nicht allzufern iſt, aber auch immer dämmeriger wirds, der Abend ſcheint den Mittag überſprungen zu haben. Plötzlich er¬ ſchreckt den beſorglich-eilenden, ſchon halb ermüdeten Reiſenden ein heftiger, ſcharfer Windſtoß, der ihm eine Handvoll emporgerafften Schnee entgegenwirft; dann iſts wieder ruhig, ſtill rundum, wie vorher. Dieſe intermittirenden Vorläufer wiederholen ihre Mahnung noch einigemal, gewöhnlich nach immer kürzer aufeinander folgenden Pauſen. Es ſind die äußerſten und letzten Erinnerungs¬ zeichen zur Flucht. Denn nun beginnt ein ſeltſames unheimliches Tönen in den Felſenkammern und Steinſchluchten, erſt leiſe und ſeufzend, dem wimmernde Antwort von der entgegengeſetzten Seite folgt, dann vernehmlicher, näher, ſtärker, aber raſch weit und wei¬ ter verklingend in anderen Gebirgsrevieren; es iſt, als ob ferne ver¬ wehte Stimmen um Hilfe riefen. Dieſe durch die Luft ſtreichenden Klagen tönen jetzt aus einer dritten und vierten Ecke hervor, aber ſo getragen, ſo einförmig und hohl, ſo ganz anders als im Lande drunten, wenn um die Zeit des Aequinoktiums der Wind durch Kamin und Thürſpalten ſeine jammernden Melodieen heult. Das Roß vorm Schlitten haut feſter mit den Hufen in den unſicheren, lockeren Pfad, und ſchnaubt öfter und unwillig, ſein Inſtinkt172Der Schneeſturm. verräth ihm die nahende Gefahr; unaufgefordert ſtrengt es ſeine Kräfte in erhöhtem Maße an, raſcher fort zu kommen und keu¬ chend folgt ihm ſein Treiber. Dem winſelnden Uniſono geſellt ſich jetzt ein tiefer Grundton zu; die dazwiſchen liegenden Stimmen mehren ſich, die Disharmonieen werden voller, und mit ihnen ſchwillt das Getöſe immer wilder, immer mächtiger, immer lauter an und durchheult die Lüfte. Noch wenig Augenblicke und nun entladen auch die Schneewolken ihren Inhalt und ſenden einen Hagel feiner, nadelſpitzer Eispfeile mit ſolch unbändiger Gewalt hernieder, daß alle entblößten Theile des Körpers auf das Schmerz¬ hafteſte von ihnen getroffen werden. Der faſt erſchöpfte Wanderer kehrt der Seite, von welcher die Maſſen am Tollſten herabwüthen, den Rücken zu; aber was hilfts? Die jagenden Fluthen der Eisnadeln ſchlagen gleich den brandenden Meereswellen um ihn zuſammen, und ſo wie dieſe, zu Schaum zerſpritzt, dem Orkane ſich wieder entgegenwerfen, ſo ändern auch die, ſeine Schultern beſtrei¬ chenden Schneeſtaubwolken ihre Fluchtbahn und greifen in kreiſeln¬ dem Wirbel den Betäubten von vorn an. Er kann Nichts ſehen und deckt wechſelsweiſe mit Arm und Hand und Tuch die Augen, die Wangen, das ganze Angeſicht, welches von der ſchneidenden Kälte und den brennenden Stichen aufzuſchwellen beginnt, er kann nicht athmen, denn die zu Eis verkörperte Luft fährt wie ätzendes Gift durch die Reſpirationsorgane in die Lunge und bohrt ſich bei jedem Athemzuge wie mit tauſend Spitzen feſt. Er iſt hereingebrochen, der furchtbare Schneeſturm des Gebirges mit all ſeinem Entſetzen, ſeiner gräßlichen Wildheit, und umwüthet Alles, was in ſeinem Bereiche liegt. Das iſt ein Hetzen und Peitſchen durch die Lüfte, das tobt und ſtöhnt und pfeift und brauſt um die ſtarren Felſenhörner, als ob die Atmoſphäre wahnwitzig geworden wäre und die Introduktion zum letzten Gericht beginnen ſollte. Und in Mitte dieſes Aufruhrs ſteht der Menſch, der Herr des Erd¬ balles, der mit Eiſen und Dampf die Materie ſich dienſtbar gemacht173Der Schneeſturm. und die Elemente ſeinem Willen unterjocht zu haben wähnt, er ſteht da, ein armes, ohnmächtiges, verlaſſenes Geſchöpf in grauſen¬ hafter Schneewüſte, eine ſichere Beute des Todes, wenn die Sinne ihm ſchwinden, wenn die letzte Kraft ihn verläßt.

Denn, tritt auch eine kurze Pauſe in dem entſetzlichen Auf¬ ruhr ein, kann der Ueberfallene für wenige Sekunden die Augen öffnen, ſo ſieht er keine Spur des zu verfolgenden Weges mehr. So tief wie er, oft bis an die Kniee, im friſchgefallenen und ab den Bergen zuſammengewehten Schnee ſteht, eben ſo tief und ſtellen¬ weiſe noch tiefer liegt derſelbe überall. Darum hat die Vorſicht der Thalbewohner dieſſeits und jenſeits vielbegangener Päſſe ſchon ſeit alter Zeit die Einrichtung getroffen, 20 bis 30 Fuß hohe Schneeſtangen vor Wintersanfang, längs des ganzen Paßweges ins feſte Geſtein zu ſetzen, die bei verwehetem Pfade als Alligne¬ ment dienen. In ergiebigen Wintern iſts indeſſen ſchon vorge¬ kommen, daß an manchen Stellen auch dieſe Stangen unter dem von allen Seiten zuſammengewehten Schnee verſchwanden. Denn in der oberen Alpenregion, d. h. in der abſoluten Höhe zwiſchen 5500 und 7000 Fuß über dem Meereſſpiegel, und in der ſubniva¬ len oder unteren Schneeregion zwiſchen 7000 und 8500 Fuß, fällt der Schnee in ganz anderer Menge als in der Ebene, wo nicht nur das Quantum des auf Einmal gefallenen Schnees weit unbe¬ deutender als im Gebirge iſt, ſondern wo auch ſteter Temperatur¬ wechſel mehrmals in einem Winter die ganze Schneedecke wieder hinwegrollt.

Müdewerden, Schläfrigkeit, Hinſinken vor Ermattung, allmäh¬ liges Schwinden der Beſinnung und endliches Erſtarren vor Kälte ſind die Progreſſiv-Stadien des herbeiſchleichenden Todes. Jedes Jahr fordert ſeine Opfer. Die Erinnerung an traurige Ereigniſſe dieſer Art lebt traditionell im Munde des Volkes, das am Fuße ſolcher Bergübergänge wohnt, lebhaft und in Menge fort. Von den vielen Beiſpielen mögen nur zwei hier einen Platz finden.

174Der Schneeſturm.

Im Jahre 1817 hatten fünf Hannoveraner einen Pferdetrans¬ port in die Lombardei gebracht und befanden ſich auf dem Heim¬ wege. Alle waren kräftige, geſunde Männer, die daheim ſchon manche Unbilden des Wetters erfahren und mit leichter Mühe über¬ wunden hatten. Im Dorfe Bernardino, Stunde ſüdlich unter dem gleichnamigen Bergübergange im Kanton Graubünden (auf der Linie von Chur nach Bellinzona), wo ſie einkehrten, warnte man ſie dringend, ihren Weg fortzuſetzen, weil ein Schneeſturm im Anzuge und deshalb die Paſſage lebensgefährlich ſei. Allein an¬ gefeuert durch ſtarken Veltliner Wein und im Bewußtſein des Voll¬ beſitzes ihrer ungeſchwächten phyſiſchen Kräfte, gaben ſie allen Vor¬ ſtellungen kein Gehör und rüſteten zur verhängnißvollen Reiſe. Damals beſtand die gegenwärtige Kunſtſtraße noch nicht, und das jetzt, oberhalb der Victor Emanuels-Brücke, am kleinen Moëſola - See ſtehende ſturmestrotzige, feſte ſteinerne Berghaus auf der Ueber¬ gangshöhe exiſtirte eben ſo wenig. Es war ſomit vom Dorfe Ber¬ nardino bis nach Hinterrhein im Rheinwaldthal ein ununterbroche¬ ner Marſch von Stunden Entfernung, zu welchem aber bei dem, durch die gefallene Schneemenge, erſchwerten Fortkommen, mindeſtens 5 Stunden Zeit nöthig wurden. Die Unbeſonnenheit der Fremden konnte ein anweſender Landmann aus dem Dorfe Hinter¬ rhein nicht mit anſehen, und Er, der ſich ſelbſt nicht getraut hatte, den Heimweg anzutreten, ſchloß ſich nun, als alle Gegenreden fruchtlos blieben, den Tollkühnen an, um ihnen mindeſtens als Führer zu dienen. Das Unwetter brach in ſeiner ganzen Furcht¬ barkeit los, als die Wanderer ungefähr die Höhe des Paſſes er¬ reicht hatten. Anfangs unter leichtſinnigen Scherzen, dann mit ernſtlichem Aufwand aller Kräfte, endlich mit Verzweiflung, kämpf¬ ten ſie wie Männer gegen den übermächtigen Feind an, allein vergebens. So ſehr der wackere Rheinwäldler Allem aufbot, um die Unglücklichen zu retten, ſo ſank dennoch Einer nach dem Anderen, zum Sterben ermattet und bei vollem Bewußtſein reſignirend, dem175Der Schneeſturm. Tode in die Arme. Lange beſtrebte ſich der opferfähige Gebirgs¬ bauer mindeſtens den Letzten zu retten; aber auch hier erkannte er nur zu bald, daß er ſelbſt unterliegen müſſe, wenn er ſeinen Vor¬ ſatz nicht aufgebe und den geringen Reſt der ihm übrig gebliebenen Kräfte auf ſeine eigene Rettung verwende. Er erreichte zwar lebend ſeinen Geburtsort, aber mit gänzlich erfrorenen Händen und Füßen; Finger und Fußzehen mußten amputirt werden. Er ward zum Dank für ſeine Menſchenfreundlichkeit ein Krüppel.

Ein anderer tragiſcher Fall ereignete ſich auf der Gotthards¬ ſtraße in der Nacht vom 9. zum 10. April 1848. Die italieniſche Poſt, welche am Nachmittage den Berg in der Richtung von Ander¬ matt nach Airolo überſchreiten ſollte, hatte, durch enorme Schnee¬ maſſen aufgehalten, ſich bedeutend verſpätet. Mit Pferden und Schlitten die Straße zu paſſiren war unmöglich, und Condukteur Simen entſchloß ſich deshalb die Poſtfelleiſen mit den Briefſchaften und Paqueten durch Träger über den Gotthard zu befördern. Unter dieſen Trägern befand ſich auch Joh. Joſ. Regli, Steinhauer von Profeſſion. Als die Karavane Urſeren verließ, ſtürmte es zwar wild und warf Schneemaſſen in dichter Menge nieder; indeſſen die muthigen Berggänger glaubten dennoch dem Wetter trotzen zu dür¬ fen und drangen tapfer vorwärts. Als ſie jedoch etwas über das zweite Drittel des Weges zurückgelegt hatten, brach ein Schnee¬ ſturm über die Lucendro-Alp mit ſolch vehementer Gewalt herein und verwehte die Straße dermaßen, daß Alle die Richtung ver¬ loren. Rundum war es vollendet finſtere Nacht. Der Sturm peitſchte wie mit Skorpionen-Geißeln die ſeiner Vernichtungs-Wuth preisgegebenen pflichtgetreuen Männer. Noch immer hielten ſie Stand und ſuchten trotz alles Ungemaches ihr Ziel zu erreichen. Endlich als ſie ziemlich auf der Höhe des Paſſes in der Gegend von San Carlo beim ſ. g. Waſſerloch (Valeggia) angelangt waren, vermochte Regli nicht weiter zu kommen. Die Kameraden, obgleich ſelbſt ſchwer bepackt, verſuchten es dennoch, ihren Schick¬176Der Schneeſturmſalsgenoſſen durch den mehr als 3 Fuß hohen weichen Schnee mit fortzuſchleppen; aber auch ſie verließ allmählig die Kraft und ſie erkannten das Gräßliche ihrer Lage, den ſicher drohenden Tod, wenn ſie nicht den ermatteten Freund aufgeben und zurücklaſſen würden. Man packte ihn deshalb dicht in Mäntel und wollene Decken, brachte ihn unter eine ſchützende Felſenwand und ließ ſämmtliche Felleiſen und Transportgegenſtände bei ihm zurück, um möglichſt raſch das Hospiz zu erreichen und Hilfe von dort zu requiriren. Es war nur noch zehn Minuten entfernt und doch brauchten die Männer faſt eine und eine halbe Stunde, bis ſie das rettende Aſyl erreichten. Sofort brach der Direktor dieſes Samariterhauſes, Herr Lombardi, mit Hilfsmannſchaft, Geräthen und Laternen auf, den Unglücklichen zu retten. Er kam zu ſpät. Regli, ganz überſchneit, daß man ihn kaum finden konnte, war erfroren.

Rother Schnee.

Reiche Fülle der Natur!
Labyrinth zu neuem Leben!
Kürzend tauſend Wege tauſendfach,
Ueberall belebend, allbelebt.
Herder.

Auf Hochgebirgswanderungen begegnet man nicht ſelten ziem¬ lich ausgedehnten Schneeflecken, die ſchon von ferne durch ihre unverkennbar rothe oder gelbröthliche Färbung den Blick auf ſich ziehen und in der Nähe ausſehen, als ob rother Wein in unge¬ meſſener Menge über den Firn ausgeſchüttet worden ſei. Der Volksglaube, deſſen geflügelte Phantaſie in jede außergewöhnliche, dem Alltagsverſtande nicht ſofort entzifferbare Erſcheinung das Myſteriöſe, Geiſterhafte hineinträgt, ſah auch in dieſem fremdarti¬ gen Naturprodukte die körperhafte Kundgebung ſchauerlich-geheimni߬ voller Mächte; es waren Fußſtapfen der rächenden Nemeſis, ſicht¬ bare Zeichen der Vergeltung, der göttlichen Strafe, für einſt be¬ gangene ungerechte Thaten, und der Aelpler regiſtrirte den rothen Schnee in das Archiv ſeiner Sagenwelt. Ungetreue Säumer, die mit ihren Saumroſſen feuerige italieniſche Weine, namentlich den dunkelrothen Pulsſtürmer aus dem Veltlin, über die Alpen trans¬ portiren, hätten hier (ſo glaubte man) von Trunkſucht übermannt,Berlepſch, die Alpen. 12178Rother Schnee. die Legel (Fäßchen) geöffnet und von dem ihnen auf Treu und Glauben anvertrauten Gute ſündlich gezecht; dafür ſeien nun ihre durſtigen Diebesſeelen verdammt, an den Firn gebunden, und müßten, der Nachwelt zur Warnung, ſo lange hier in Eis und Kälte ſchmachten, bis irgend eine mitleidige lebende Seele ſie er¬ löſe. Die Erlöſungsform iſt aber eine höchſt gemüthliche, an die antike Ovation erinnernde. Jeder Tropfen des neubelebenden, muskelſpannenden, mutherhöhenden Veltliners iſt in der Einöde der Hochgebirgswelt, wenn die Kräfte ſchwinden wollen, ein Arkanum von unbezahlbarem Werth; der beſonnene Berggänger geizt mit der kleinen Neige ſeiner Feldflaſche wie ein Harpagon und ſpart die¬ ſelbe für den letzten und äußerſten Nothfall vorſichtig auf. An dieſes Kleinod appellirt nun der Volksglaube; wer aus freiem An¬ trieb ſeinen letzten koſtbaren Schluck mit den armen Seelen theilt und einige Tropfen auf den rothen Schnee ausgießt, der ſühnt die ſtrafende Gerechtigkeit und erlöſt die Verdammten aus dem kalten Fegefeuer.

Dieſes, unter Umſtänden, ſchweren Opfers iſt der Alpenwan¬ derer unſerer Tage, Dank den Forſchungen der Naturwiſſen¬ ſchaften! überhoben; die gebannten Geiſter ſind durch den Höllen¬ zwang des Mikroſkops ſammt und ſonders erlöſt, und der Feuer¬ tropfen muß nicht mehr zur rettenden That die Mesalliance mit dem ertödtend kalten Schnee eingehen.

Ein ganz anderes, ungeahntes Leben, als das ſtumme Seufzen und die Marterqual geſpenſtiger Trunkenbolde, ſtrömt durch dieſe Schichten der ſcheinbar anorganiſchen Erſtarrung; eine Welt des undenkbar Kleinen wächſt und ſchafft und regenerirt hier. Der geiſtvolle Horaz Benedict de Sauſſure war der Erſte, der, auf ſei¬ nen Chamouny-Reiſen 1760, den rothen Schnee unterſuchte und in dem geſchmolzenen Waſſer rothe Kügelchen fand, die das fär¬ bende Prinzip abgaben. Da ſie leblos dalagen, ſo hielt er, und nach ihm viele andere Naturforſcher, dieſe Subſtanzen für Pflanzen¬179Rother Schnee. bläschen, Blüthenſtaub, Gallert-Algen, ſchleimige Haut - oder Ader¬ mooſe, und man nannte ſie Protococcus nivalis oder Schnee-Schleipe. Der Kanonikus Lamon vom großen St. Bernhardskloſter forſchte der Erſcheinung weiter nach und äußerte in der Verſammlung ſchwei¬ zeriſcher Naturforſcher zu Lauſanne 1828 zuerſt die Vermuthung, daß die rothen Kügelchen Thiere, Infuſorien ſein möchten. Der gute ſpekulative Bernhardinermönch mußte gehäſſige Anfeindungen und ſpottende Erwiederungen genug ertragen; denn ſeine Hypotheſen fanden wenig Glauben, und Hugi, in ſeiner Alpenreiſe, wies mit dem höchſten Unwillen dieſe neueſten Entdeckungen zurück, indem er nochmals den ganzen vegetabiliſchen Aufbau dieſer im Eis wur¬ zelnden vermeintlichen Pflänzchen ſammt Aeſten, Zweigen und ar¬ terienartig verlaufenden Zäſerchen genau beſchrieb. Aber der Mönch hatte dennoch recht. Es lebt eine vielgeſtaltige, wunderbar orga¬ niſirte Fauna von Infuſorien in den Kryſtallpaläſten des Firn¬ ſchnees von 7000 bis 9000 Fuß überm Meere, die dort ſich her¬ umtummelt und ganz beſonders geſchäftige Thätigkeit entwickelt, wenn durch Einwirkung der Sonnenwärme ein Theil der zu Eis gebundenen Waſſertheilchen ſchmilzt und den Firn heftig durch¬ feuchtet. Nie erſcheinen ſie im Gletſcher und nie im friſch gefalle¬ nen ſandig-trockenen Schnee, ſondern ſtets im Firn und am liebſten an jenen ſonnigen Abhängen, wo friſcher Schnee ſich raſch in Firn (körniger, griſſelicher Eisſchnee) verwandelt. Eine Generation mag vielleicht einige Monate in voller Aktivität leben, während welcher ſie in brennendem Hochroth, einem Mittelton zwiſchen Karmin und Zinnober, den Firn bis gegen zwei Zoll tief durchdringt, aber durch die vorherrſchend weiße Farbe des Firnſchnees in ihrem Farben-Effekt geſchwächt, nur roſaroth erſcheint. Nach Vollendung ihrer Lebens¬ friſt und unbekannten Lebensaufgabe geht ſie in bräunlichen und zuletzt ſchwarzen Moder über, der nach und nach verſinkt oder den Firn ſtrichweiſe durchfurcht.

Der Engländer Shuttleworth, mit hinlänglichen für wiſſen¬12*180Rother Schnee. ſchaftliche Unterſuchungen konſtruirten Apparaten ausgerüſtet, unter¬ nahm nun eine Entdeckungsreiſe ins Reich dieſer kleinſten Eis¬ thierchen und förderte auffallende Reſultate zu Tage. Die ſchwei¬ zeriſchen Naturforſcher Deſor und Karl Vogt ſetzten die Forſchungen, mit vergleichenden Unterſuchungen über verwandte Infuſorien am Neuenburger See, fort und ſo iſt heute durch die Erkenntniſſe der exakten Wiſſenſchaften jener Zauber der Alpengeiſter und verbann¬ ten Säumer-Seelen endgültig für alle Zeiten gelöſt.

Die Hauptmaſſe des rothen Schnees wird von einem Infuſo¬ rien-Geſchlechte (Disceraea nivalis) gebildet, welches ſich durch einen rundlichen oder eiförmigen Kieſelpanzer auszeichnet, der nur wenig vom Thiere abſteht, aber hell und durchſichtig iſt; mitunter ſchließt er jedoch auch ſo enge an, daß ſeine Gegenwart durchaus nicht zu erkennen iſt, beſonders wenn das Thier ſich bewegt. An dem ſpitzeren Ende des minutiöſen Thierchens unterſcheidet man bei hinreichender Vergrößerung zwei orangegelbe Lippen, von denen zwei lange fadenähnliche Rüſſel ausgehen, die wohl die doppelte Körperlänge haben mögen. Während das Thierchen ſich bewegt, ſind ſie in fortwährender Vibration und ſcheinen alſo ſeine rudern¬ den Arme zu ſein, da es keine Wimperorgane um den Mund hat, wie die meiſten anderen Infuſorien. Hält es in ſeiner Ruder - Promenade inne, ſo zieht es die beiden Rüſſel mit einer ruckenden Bewegung ein, und bei völlig ruhenden Thieren ſind ſie gar nicht wahrzunehmen. Die erwachſenen Thiere ſind meiſt gänzlich un¬ durchſichtig.

Eben ſo merkwürdig wie die körperliche Organiſation und Lebensweiſe dieſes, nur in einer Kältetemperatur von mindeſtens Null-Grad exiſtenzfähigen, unendlich kleinen Geſchöpfchens iſt, eben ſo wunderbar iſt die Art ſeiner Vermehrung. Dieſelbe erfolgt nach noch unbekannten Geſetzen und Bedingungen bald durch Thei¬ lung, ſo daß das Thier ſich in 2, 3, 4, 6 oder 8 Stückchen ſpal¬ tet, von denen jedes nun ein eigenes ſelbſtſtändiges Individuum181Rother Schnee. wird, wächſt, und endlich, wenn es ihm und ſeinen Geſchwiſtern zu eng im umgebenden Elternhauſe wird, den gemeinſamen Kieſel¬ panzer ſprengen, um nun auf eigene Fauſt zu leben und zu rudern in dem kleinen Weltall, das unſerem Auge faſt wie ein Nichts er¬ ſcheint, oder ſie pflanzen ſich durch Abſenker fort, die als waſſer¬ helle Bläschen wie minutiöſe Schweißtropfen am Originalpanzer heraustreten, wachſen, ſich ablöſen, ſtrohgelb, dann roth werden, bis ſie dem Mutterthiere gleich ſind.

Die Beobachter nehmen endlich noch eine dritte Fortpflanzungs - Art, nämlich durch Eier, an, erklären jedoch ihre dahin bezüg¬ lichen Wahrnehmungen für ſehr ungenügend, um mit einiger Zuverläſſigkeit eine Behauptung aufſtellen zu können. Thatſache iſt es, daß man in allem rothen Schnee kleine Kügelchen von ro¬ ther Farbe findet, die oft unter den ſtärkſten Vergrößerungen nur wie Punkte erſcheinen, und neben denen ſich alle Stufen der wach¬ ſenden Größe bis zu derjenigen der vollkommenen Disceräen erkennen laſſen, eben ſo wie die Uebergänge von der runden Kugelform zu der Eiform.

Außer dieſen Infuſorien zeigt ſich in allen Arten des rothen Schnees noch ein zweites Produkt, das aus einer dunkelrothen, ins Blaue oder Braune ſpielenden Kugel beſteht, um welche eine Menge heller, durchſichtiger, koniſcher oder pyramidal zugeſpitzter Körper angeſetzt ſich zeigen, die der Erſcheinung das Anſehen eines roſettirt geſchliffenen Steines, oder eines mit kleinen Dia¬ manten beſetzten Rubins geben. Das Verhältniß der inneren, rothen Kugel zu den aufgeſetzten, wie Kryſtalle glänzenden Stück¬ chen iſt ſehr verſchieden, und da dieſe räthſelhaften Organismen ſich nicht bewegen, ſo wiſſen die Beobachter nicht, ob ſie dieſelben ins Pflanzenreich zu den Protococcus-Arten, oder zu den Infuſions - Thierchen zählen ſollen.

Ein drittes, noch weniger beobachtetes Individuum, welches nach allen Unterſuchungen nie im rothen Schnee fehlt, aber gleich¬182Rother Schnee. falls leblos zu ſein ſcheint, iſt ein bräunlich, gelblich oder grün¬ liches Weſen, das niemals roth, wie längliche Bläschen ſich zeigt. Auch von dieſem können die Naturforſcher noch, nicht mit Beſtimmt¬ heit ſagen, ob es eine Alge (alſo Pflanze), oder ob es ein Thierchen ſei.

So ſchafft und wirkt der unendlich große Gottesgeiſt der Natur in einem Elemente, deſſen Sein und Weſen uns gemeinig¬ lich gleichbedeutend mit dem Tode iſt, und eröffnet uns die Per¬ ſpective in eine neue, ungeahnte Welt voll lebender Weſen, von deren Exiſtenz und Entſtehung wir uns kaum einen Begriff machen können.

[183]

Die Rüfe.

Stolzen Haupts im Sonnenſtrahle
Stehn die Rieſen unbeſiegt,
Während etwas Staub im Thale
Ihnen von den Sohlen fliegt.
Anaſt. Grün.

Alle großen Alpenthäler, die in den Formationen der Schiefer -, Kalk - und Flyſch-Gebilde liegen und von ſtarren Seitenwänden eingeſchloſſen werden, zeigen ſtreckenweiſe zwei landſchaftliche Erſchei¬ nungen, die ſelbſt dem oberflächlichſten Beobachter auffallen müſſen. Ganz beſonders laſſen ſich dieſelben im romantiſchen Rheinthale wahr¬ nehmen. Auf der, wegen ihrer prächtigen Alpendekorationen mit Recht hochgeprieſenen Eiſenbahnlinie (vielleicht der ſchönſten des Kon¬ tinentes), welche von den Ufern des Bodenſees nach Graubündens Hauptſtadt Chur führt, erblickt man von den Stationen Haag, Werdenberg und Sevelen aus, am jenſeitigen Rheinufer im Für¬ ſtenthume Lichtenſtein unter den fünftauſend Fuß hohen Felſenfron¬ ten der Drei Schweſtern , gleichmäßig in einer Böſchung von etwa zwanzig Grad, vom Rhein gegen die Berge anſteigende, theils mit Wald und Wieſe, theils mit Weingärten überwachſene Halden, die ſtellenweiſe von breiten, grauen, vegetationsloſen Steinſchutt - Linien, ähnlich dem trockenliegenden Bett bedeutender Flüſſe, unter¬184Die Rüfe. brochen werden. Auffallender und ausgedehnter zeigen ſich dieſe ſchiefen Ebenen tiefer im Thale, hinter Ragaz, zwiſchen den Sta¬ tionen Meyenfeld und Landquart, am Fuße des maleriſchen, keck¬ ausgezackten, 8000 Fuß hohen Falknis, und am bedeutendſten, wenn man die Landquart paſſirt hat, bis Chur, immer auf der gleichen öſtlichen Seite, unter den originellen pyramidal-zuge¬ ſpitzten Hörnern der Hochwang - und Montaline-Kette. Alle ſind Reſultate der allmähligen Gebirgsverwitterung, der immerwähren¬ den Herabſchwemmung losbröckelnden Geſteines, alſo der fortdauern¬ den Alluvion, wie ſie ſchon Seite 47 erwähnt wurde; freilich wohl das Reſultat von Jahrtauſenden. Denn viele Ortſchaften Grau¬ bündens, die ſchon im frühen Mittelalter genannt werden, liegen auf ſolchen Anſchwemmungs - und Schutt-Hügeln. Dieſe breitge¬ dehnte, ſtetig-anſteigende, ſchiefe Ebene, durch nahe liegende hohe Felſen-Proſpekte geſchloſſen, wird, wie geſagt, von breiten Schutt¬ rinnen durchſchnitten, die wie durch einen Trichter geſchüttet, oben am Bergabhange ſchmal, nach unten, gegen den Rhein zu, im Thale breit ſich ausdehnen. Das ſind die ſchrecklichen, von den Anwoh¬ nern gefürchteten Rüfen, die Abzugskanäle der im Gebirge ſich entladenden Donner - und Hagel-Wetter, der plötzlich in Strömen herniederbrauſenden Platzregen und der Schneeſchmelze, die während des größten Theiles vom Jahre trocken und trotzig-indif¬ ferent daliegen, aber, wenn ſie zu thun bekommen und raſch in Aktivität gerathen, dann um ſo Schrecken-erregender arbeiten. Ein Spaziergang in eine dieſer unheimlichen Werkſtätten wird uns näher mit deren Detail-Anordnung, deren durchaus eigenthümlichen Eindrücken bekannt machen. Wählen wir dazu die Rüfe, welche aus dem verrufenen, wenig beſuchten, von keinem Geſpenſter-Gläu¬ bigen betretenen Skalära-Tobel zwiſchen Chur und Trimmis herab¬ kommt, par excellence die große Rüfe genannt, und ſteigen wir aus dem breiten verſandeten Rheinthale bergwärts auf.

Drunten decken magere, mit kurz-rispigen Gräſern dicht be¬185Die Rüfe. wachſene Almend-Weiden, im heißen Sommer dürr, kränkelnd und verbrannt, die emporſteigende Ebene. Sie haben etwas Sammet¬ artiges, Anheimelndes im Frühjahr und nach lebenverjüngenden Regenperioden; denn gerade die niedrigen Seggen-Arten, dieſe freundlichen, beſcheidenen Gräſer-Zwerge, welche den pflanzlichen Grundton dieſer Wildwieſen angeben, beſonders Carex alba mit den feinen ſchlanken Stengelchen und den darum gruppirten hellgrünen Frucht-Knötchen, dann Carex pulicaris, deren niedliche, kaum finger¬ lange Samen-Lanzen mit den ſchwärzlich verkohlten Körnerhülſen ſo neugierig in die Welt hinausſchauen, und die dichtraſigen Koelerien mit den pfriem-ähnlichen, dünnen, kurzen Grashälmchen, geben dem wellenförmigen Boden ein ſo einladend-weiches Anſehen, wie die kurzen gedrängten Kräuter der höheren Regionen den Alpweiden. Wirklich erinnert manch anderes Pflänzchen an die ſchwellenden Polſter unſerer natürlichen Alpen-Divans, wo es ſich ſo diogeneiſch - genügſam und ſeelenheiter ruhen und ins erblauende, tief drunten liegende Menſchenland hinabſinnen läßt. Dennoch iſt ſo eine Bündner Almend-Wieſe vor und zwiſchen den Rüfen etwas ganz Anderes als eine gewöhnliche Almend - oder Alp-Weide. Kurzes, ſtrammes Tannengeſträuch, dicht gedrungen ineinander genadelt, mitunter etwas legföhrenartig, ſchon recht alpin-gnomenhaft, und zerſtreute Fichten mit darunter gebetteten Steinblöcken, treten ſpora¬ diſch darin auf. Nach und nach geht die Weide in aſchgraue, von Geſchieben und Schwemmland bedeckte, ſandige Wüſten über. Hier iſt mit Einemmal der botaniſche Charakter ein total veränderter. Mannshohes Buſchwerk friſtet, bei abwechſelndem Ueberfluß an Feuchtigkeit und intermittirender brennender Trockenheit, ſeine Exi¬ ſtenz; es ſind lauter zählebige Sträucher: der gemeine Sanddorn (Hippophaë rhamnoides), der Eſſigdorn oder Weinſchöttling (Ber¬ beris vulgaris) mit den violett bethauten, rothleuchtenden Beeren - Trauben und den ſcharf genadelten lederartigen Blättern, die dem Sevenbaum ähnelnde, roſigblühende, deutſche Tamariske (Tamarix186Die Rüfe. germanica), viele Weidenarten, namentlich auch die Rosmarin - Weide und eine kleinblätterige Gattung der Salix purpurea von ungemeiner Schönheit und Eleganz der feinen nobelen Blätterform. Am Boden ſteht hin und wieder der ſtark nach bitteren Mandeln riechende, weiße Steinklee (Trifolium officinale) und überraſchen¬ der Weiſe Fremdlinge, die wir hier im Thale zu ſehen nicht ge¬ wohnt ſind, weil ihre Heimath einige Tauſend Fuß höher liegt; es ſind vom Wetter herabgeſchwemmte Alpenpflanzen, Auswanderer, die ſich hier unten angeſiedelt haben und wirklich ſich zu akklimati¬ ſiren ſcheinen. Dort wirkt freundlich die kleine, blaßblaue Alpenglocke (Campanula pusilla), und neben ihr die traganth-artige Berglinſe (Phaca astragalina) ziemlich behaart mit den weißen, blauzuge¬ ſpitzten Blümchen; dann der Berg-Spitzkeil (Oxitropis montana), und im Sande kriecht, etwas unbehaglich und desorientirt, die ſonſt in der Höhe ſo freundlich grüßende, wolfsmilchblätterige Saxifraga aizoides mit den ſafrangelben, fünfblätterigen Blümchen und korpulenten Fruchtknoten. Es drängt uns, dies unliebſame Strand-Boskett zu verlaſſen, welches durch breitgewipfelte, einiger¬ maßen an die Pinie des Südens erinnernde Fichten noch melan¬ choliſcher geſtimmt wird.

Die hellgrau, mitunter ſilberſchimmernd glänzenden Schiefer¬ ſcherben mit den reichlich dazwiſchen geſtreuten weißen Feldſpath - Brocken nehmen zu, die Partie wird verwüſteter, zerriſſener, der Boden brennt von der rückſtrahlenden Sonnengluth, er iſt ganz vegeta¬ tionsentblößt; wir ſtehen am Rand der Rüfe, wo ſie in ungehemm¬ ter Bequemlichkeit Jahrhunderte lang ſich ausdehnte und alles Nutz¬ land ringsum mit ihrem ſpröden, zu ſandartigem Staub verwittern¬ den Gebirgsunrathe verwüſtete. Die Eiſenbahn mußte gegen ſolche alt eingewurzelte Ungezogenheiten vorkommenden Falles ſich verwah¬ ren; ſie bannte den unbändigen Raufbold, legte ihm eine techniſche Zwangsjacke in Form eines, aus ſeinem eigenen Geſteinsmaterial gepflaſterten, tief ausgehöhlten Kanales an, und dieſen Weg muß187Die Rüfejetzt bei jeder Rüfe das ſchmutzige ſchwarzgraue, hetzende Wildwaſſer hinab in den Rhein nehmen, wenn anders der wilde Alpengeiſt nicht über kurz oder lang auf den neckenden Einfall kommt, den Leuten zu zeigen, daß all ihre Weisheit und Vorſicht ohnmächtig und nutzlos iſt, ſo bald er von der Gewalt des Stärkeren Gebrauch machen will. Denn wenn das Wetter losgeht, weiß man nie mit Sicherheit, wo eine Rüfe anbricht. Darum, wenn im Frühjahr der Föhn andauernd heftig in der Höhe weht und der Hochſchnee eilends ſchmilzt, oder wenn ein Gewitter losbricht, müſſen die Anwohner dieſer zur Landesplage gewordenen Kanäle Tag und Nacht auf der Wache ſtehen und ſchon am Fuße der Gebirge, dort wo die Schlamm - geſättigten Ströme aus den Schluchten hervorbrechen, Acht haben, daß ſich das normale Bett nicht verſtopfe; wird dies verfehlt, ſo bohrt das mit raſendem Ungeſtüm einherbrauſende Wildwaſſer ſich neue Bahnen, bricht in die Güter ein und zerſtört Alles, was ihm im Wege liegt. Daher kommts, daß Weinberge, die ſonſt ſehr bedroht waren, jetzt, wo die Rüfe ein anderes Bett ſich gewühlt hat, nun völlig geſchützt im Frieden ihre köſtlichen Trauben reifen können. Manchmal fällt im Dorfe Trimmis kein Tropfen Regen und im eine Viertelſtunde entfernten Maſchänzer und Skalära - Tobel hängt ein Gewitter, das in ſündfluthlichen Strömen ſich ent¬ ladet und wie aus Malakoff-Baſtionen ſeine Blitz-Salven ununter¬ brochen herausfeuert. Bald geht beim Hochwetter die eine, bald die andere Rüfe, während eine von beiden trocken liegt; und doch ſind beide kaum viertauſend Fuß (in horizontaler Projektion) von einander durch einen Gebirgskeil getrennt. Man weiß darum nie, von welcher Seite das Unglück hereinbricht.

Verlaſſen wir für eine kurze Strecke den Rüfen-Kanal, um auf anmuthigerem Wege hinauf in die oberen, wilderen Partieen zu ſteigen. Der Pfad führt durch fette, im gaukelndſten Blumen¬ flor prangende Kultur-Wieſen, auf denen, neben den allgemein be¬ kannten Wieſenkräutern, beſonders viele hell-lilla-blühende Sca¬188Die Rüfe. bioſen (Scabiosa columbaria), der gelbe Sichel-Klee (Medicago falcata) und die prangend blauen Kerzen der Wieſen-Salbey (Salvia pratensis) im Juni und Juli als charakteriſtiſch-kolorirende Pflanzen auftreten. O, ſo ein Schlenderweg in einem dieſer paradieſiſchen Alpenwinkel bei goldig-ſonniger Beleuchtung, wo ein wogender Blumen-Ocean die Stätten wilder Zerſtörung zu überwuchern ſich beſtrebt, wo weitarmig-ausgreifende Nußbäume ihren hohen Blätter¬ frieden wölben und der ſüßduftende Hollunder, dieſes ewig an Kleiſts Käthchen erinnernde Attribut mittelalterlicher Burgen-Roman¬ tik, ſeine ſchweren Blüthendolden in zuvor kaum geſehener Menge ausſtreut, wo der Fernblick in ein Berg - und Thal-Panorama ver¬ ſinkt, bei deſſen Anſicht die Seele hellaufjauchzend, ſich in die Natur ergießen möchte, ſo ein Schlenderweg, nicht allenthalben zu finden, iſt für Jeden, der offenen Sinn und herzliche Freude an Gottes großer, herrlicher Alpenwelt hat, ein unſchätzbares Kleinod.

Weiter! Wie ſichs die Bündner Bauern zu Nutz machen und das Nützliche mit dem Nützlichen verbinden, das ſieht man hier; wo Andere an der Gränze ihrer Grundſtücke Holzhage aufführen, die ſie alljährlich korrigiren und ausbeſſern müſſen, da lieſt der Bewohner des Hochgerichts der fünf Dörfer (ſo heißt die Gegend zwiſchen Chur und der Landquart) die herabgeſchwemmten, ſein Nutzland verderbenden Steine auf und baut bruſthohe Mauern daraus. Das trifft man übrigens in anderen Thälern auch. Auf dieſen Mauern und aus den Spalten derſelben quellen in dichter Fülle der ſaftige weißblühende Mauerpfeffer (Sedum album), ſeiner dicken körnerartigen Blätter halber auch Steinweizen genannt, und daneben ſein Zunft-Kumpan, der blendend-goldgelb-blühende ſcharfe Mauerpfeffer (Sedum acre), ein fröhlich wucherndes fettes Felſenpflänzchen mit tropiſchem Habitus. Darunter in ernſterer Färbung die faſt peterſilienartig ausſehende gemeine Mauerraute (Asplenium ruta muraria) und eines der netteſten Farrenkräuter, die es giebt, das reizende, kleine, ſchmale Palmenzweiglein dar¬189Die Rüfe. ſtellende Asplenium trichomanes, die beide ihre Samen auf den Rückſeiten der Blätter tragen.

Der Weinbau iſt auf dieſen Felſenſchutt-Terraſſen, namentlich drunten bei Jenins und Malans, vortrefflich im Schwunge. Hier wird ein feuriger, dunkelrother, ſehr ſchwerer Wein gebaut, der nach agrikultur-chemiſchen Unterſuchungen ſeinen bedeutenden Gerbſtoff¬ gehalt hauptſächlich von dem Feldſpath bekommen ſoll, der dem Boden in Menge beigemiſcht iſt. Ueberall glimmerts und glitzerts, blendendweiß, lecker und appetitlich, wie Marzipan von dieſen Feld¬ ſpathſtückchen. Unſer Weg geht noch weiter hinauf, in den Wald. Ein Anflug junger Tannen, dazwiſchen dornumſtarrte Steinhalden, nimmt uns auf. Der Weg iſt ſand-wüſt, aber eine Wildniß wuchernder Waldkräuter umgiebt uns.

Hinein! in den ſonndurchflimmerten Tann!
Das iſt eine Luſt im grünen Hag,
Es blüht, was immer nur blühen mag.
Blauglöcklein ſchwingen die vollen Becher
Und gravitätiſch entfaltet den Fächer
Die Duenna der Blumen, das Farrenkraut.
Erdbeeren breiten die ſüßen Rubine
Zur Schau aufs Moos, und mit Kennermiene
Die ernſte Aglei den Kram beſchaut
Und nickt verneinend, will nicht ganz glauben
Dem funkelnden Schein, doch die Blüthentrauben
Der Berberis lachen ſie heimlich aus.
Corrodi.

Durch ſolches Tändelſpiel unterhalten, ſind wir unvermerkt im dichten, immer dunkler werdenden Walde hinauf geſtiegen. Da lichtet ſich's; noch wenig Schritte und wir ſtehen an der Uferwand der wilden Rüfe. Das iſt kein Waldbachbett, nicht das Rinnſal eines verſiegten Bergſtromes; das iſt ein leibhaftiger Steintrümmer - Gletſcher, der mitten durch den ſtolzen Forſt in beträchtlicher Breite ſich Bahn gebrochen hat. Wie eine ungeheuere Schlange windet das graue, grauſenhafte Chaos ſich hinab, wir können das Ende deſſelben nicht erblicken. Nichts als ſcharfkantige Schiefer¬190Die Rüfe. linge und Felſenſcherben im tollen Durcheinander, Brocken in allen Kalibern, fauſtgroß bis zu ſolchen, die an Umfang einem hoch¬ geladenen Erntewagen gleichkommen. Dazwiſchen ſtarren abgeknickte, faſerig-zerſplitternde Baumrumpfe, mächtige Wurzelſtocken, die ihre knorrigen Arme in die Lüfte ſtrecken, und andere Waldrudera her¬ vor, die in das Getrümmer geklemmt, hier auf Erlöſung harren, bis die nächſte herabraſende Sturmfluth neues Material aus den Bergen bringt und das im Bette liegende weiter vor ſich herſchiebend, wieder in Bewegung ſetzt. Zu beiden Seiten hat die beſorgte Menſchenhand rieſige Seitendämme von regelloſen Bruchquadern aufgeführt, die mit den Moränen der Gletſcher einige Verwandt¬ ſchaft haben. Es giebt viel Stätten gräulicher Zerſtörung im Gebirge; die Rüfen gehören zu den erſchreckendſten.

Je weiter hinauf, deſto ebener wird das Bett; nur kleineres Geſtein, oft nur grauer zerriebener feingeſchlemmter Sand, füllen daſſelbe; eine ſeichte Rinne lauwarmen, grau-trüben Bergwaſſers murmelt leiſe hinab. Dies Rieſeln und das einförmige Streichen der Luft durch die Wipfel des Tannenwaldes zu beiden Seiten ſind die einzigen Naturlaute in dieſer öden, ureinſamen Gegend. Geradeaus, in der aufſteigenden Perſpektive der Rüfe, liegt das eigentliche Skalära-Tobel. Es iſt keines jener ſchauerigſchönen, forft¬ umnachteten, tiefgeheimnißvollen Waldtobel mit dem phosphores¬ cirenden Moosgrün im feuchten Grunde und dem naiven, male¬ riſch-gelegenen Knüppelſteg über den plätſchernden, friſchen Berg¬ bach, es iſt eine offene, baumloſe Schlucht, in welche die Sonne unbehindert hineinſcheint, von kahlen zerfreſſenen, abgeſchieferten, bröckeligen Felſenwänden, einige tauſend Fuß hoch, eingeſchloſſen, an denen man die bänderartig gebogene, wellenförmig geknickte Schichten-Struktur der granulirten, grau-ſandigen Schiefer ſtudiren kann. In eigentlicher Pyramidenform (nicht paraboliſch), wachſen die ſpitz im Triangel auslaufenden Felſenkouliſſen hintereinander auf, die tieferen immer die vorderen überragend, und an den Kan¬191Die Rüfe. ten verſuchen magere Tannen linienweiſe den Gänſemarſch zur Spitze hinauf; hinten ſchließt die Schlucht im Kernſtocke des Mon¬ taline mit einer Maſſe zerfurchter, in ſteilſter Abdachung einge¬ freſſener Schutt-Rinnen. Alſo an und für ſich ſiehts bei Tage gar nicht ſo grauſig hier aus. Was iſts auch, das uns ſo mit unheim¬ lichen Gefühlen im Anblick dieſer romantiſchen Wildniß erfüllt? Es iſt das Bewußtſein, an einer Zerſtörungsſtätte zu weilen, wo unſichtbare, gleichſam dämoniſch-waltende Kräfte ihren Sitz haben und vom Fundamentalbau des Gebirges fort und fort Theile ab¬ ſprengen, um damit den Fleiß und das Kulturbeſtreben der Sterb¬ lichen zu höhnen; es iſt die unheimliche Thätigkeit, die geiſter¬ haft hier waltet und zu allerlei Phantasmen verleitet; es iſt die Mahnung an den Geſpenſterglauben des Volkes, welcher die unreinen Seelen berüchtigter Verſtorbener (wie in Plato's Phädon) um ihre Gräber irren läßt und den Aufenthalt derſelben hierher verlegt. Hier iſt nach der Sage der Eingang ins Schattenreich, hier wandelt, an einem Lieblingsplätzchen, der hölliſche Proteus in allerlei Geſtalten und erſchreckt die Neugierigen. Fürwahr, für Macbethiſche Hexen-Sabathe oder Fauſtiſche Mephiſto-Beſchwörun¬ gen giebts wohl wenige geeignetere Lokale als das verrufene Skalära-Tobel. He! es wäre doch luſtig, wenn drüben aus dem dichten Erlengebüſch plötzlich eine Erſcheinung wie die des Kako¬ dämon im Byron'ſchen Manfred, ſo eine Samiels-Geſtalt im grü¬ nen Jägerwams mit ſpaniſchem Filzhut, hakenförmiger Adlernaſe und glühend-ſchwarzen Augen hervorträte! Ob wir wohl erſchrecken würden? hihihihihi lachts gellend, ſataniſch, dicht hinter uns aus lauſchigem Waldesdunkel hervor. Herr des Himmels! was iſt das? es kann doch Niemand unſere Gedanken belauſcht haben und neckend, auf unſere provocirenden Wünſche einen Trumpf ausſpie¬ len wollen? Wie? Oder hätte die Rockenphiloſophie recht, die von allerlei Spuk und dem Hereinragen einer myſtiſchen Geiſterwelt in die unſere docirt? hihihihihi! gellts zum zweiten Mal192Die Rüfe. hell, hoch herab. Ein Steinwurf nach dem Fichtengipfel jagt einen Buntſpecht auf, der lachend davon fliegt. Hoho! wenn das Teufelaustreiben ſo raſch geht, dann iſt's eine billige Kunſt.

Für den, der im Gebirgswandern nicht ſchon etwas Takt erlangt hat, iſt's unrathſam, gegen die Tiefe des Skalära-Tobels aufwärts klimmend, ohne Führer vorzudringen. Im Sommer 1859 botaniſirte ein norddeutſcher Apotheker in dieſer Wildniß, verſtieg ſich, ſo daß er weder vorwärts noch zurück konnte, und mußte eine ganze lange Nacht auf ſchmalem Raſenband an jäher Felſenfluh zubringen, bis man ihn am andern Morgen fand und ſehr ermattet nach Chur brachte.

Und nun der Losbruch einer Rüfe ſelbſt, d. h. die plötzlich eintretende Entladung eines Gewitters, eines Wolkenbruches und, in Folge deſſen, die aus dem Hintergrunde eines ſolchen Tobels hereinbrechenden, von allen Jähhängen, aus allen Berg - und Schlucht-Runſen zuſammengeronnenen, unten im Bett der Rüfe ſich vereinigenden Wildwaſſer! Es iſt eine Thätigkeit entfeſſelter Gewalten in der Natur, die an furchtbarer Großartigkeit und Zerſtörungskraft der ſchrecklichen Lauine gleichſteht. Das iſt nicht jenes ſchäumende, in tauſend Kaskaden herabfluthende, immer wilde Schauſpiel eines angeſchwollenen Bergſtromes, das iſt eine dicke ſchwarze Schlammſuppe, die mit ſchwerfälliger Geſchwindig¬ keit, mit roher, plumper Haſt ſich bewegt. Ihr fehlt das dem Waſſer, ſelbſt in der wildeſten Aufregung, immer eigenthümlich Graziöſe der Bewegung, die Leichtigkeit der galoppirenden über¬ müthig-jagenden, brandenden, ſich überſchlagenden oder zerberſtenden und ſchaumaufſpritzenden Wellen; hier iſt Alles beſtialiſch, brutal, dämoniſch. Der angeſchwollene Bergſtrom iſt einem ſcheuge¬ wordenen, muthig-edlen Roſſe zu vergleichen, das ventre-a-terre durchgeht, aber dennoch bei ſeiner entfeſſelten, jagenden Wild¬ heit immer die Straßenlinie nicht aus den Augen verliert, auf der es fortſtürmt; die brüllende Rüfe dagegen iſt ein raſend gewor¬193Die Rüfe. dener Stier, der in blinder Wuth keinen Weg ſieht, mit zu Bo¬ den geſenktem Haupt in die Erde hineinwühlt, eine Welt auf ſeine Hörner nehmen würde und dem Abgrund zutobt, in dem er ſein Grab findet.

Die Rüfe beginnt nicht mit Vorboten kleiner Waſſerſendungen, mit irgend einigen introducirenden Symptomen; man hört ſie höchſtens von Weitem tobend anrücken, oft (wenn das Wetter, welches ſie erzeugte, lange andauert) verſchwommen mit dem heil¬ loſen Aufruhr in den Lüften, ſo daß man nicht unterſcheiden kann, was zurückgeworfener Widerhall des Donners aus den Klüften iſt und was vom Stürzen der, von der Rüfe in Gang gebrachten Steine herrührt. Plötzlich bricht ſie hervor, ein ſtürmendes Unge¬ heuer, ein brüllendes, ſteinerfülltes Meer, ein Produkt der raſend¬ ſten Gewalt. Wie ſchon erwähnt, fließt oder ſtrömt ſie nicht eigent¬ lich, ſondern der wäſſerig-dünne Schlammfluß wälzt oder ſtößt Ge¬ trümmerhaufen, Etagen-hoch vor ſich her, in beſtändigem Sturzfall und doch ſofort ergänztem Wiederaufbau, eine wandernde, leben¬ dig gewordene Felſen-Ruinen-Wand. Bei einigen Rüfen gehts indeſſen gar nicht ſo ſchnell; oft lacht ſchon wieder heiterer Himmel überm Thal und die Sonne leuchtet warm drein, bis der gräßliche Unhold aus ſeinem Hinterhalte hervorbricht. Dies iſt namentlich bei der Skalära-Rüfe der Fall, die dafür aber quantitativ das Meiſte liefert. Es iſt ein unbeſchreiblich hohles, Alles übertönen¬ des Gepolter, in der Summe des tobenden Lärmes etwa der heftigſten Kanonade beim Sturm-Geheul zu vergleichen, wo der ganze Skandal, ſich zu einem großen, runden, brauſenden, krachen¬ den Tonballen ineinander verwebt, der ſtundenweit hörbar iſt.

Nun gilt es nur, das Ungethüm im Gange zu erhalten. Baut ſie einmal einen Querdamm aus ihren zentnerſchweren Steinkoloſſen auf, häuft ſich hinter demſelben einmal die andrän¬ gende Maſſe, können die am Ufer mit großen Haken und Stangen beſchäftigten, ſchreienden Anwohner nicht irgendwo eine BreſcheBerlepſch, die Alpen. 13194Die Rüfe. öffnen, dann blicht ſie ſonſtwo anders am Ufer durch, wühlt ſich ein neues Bett, reißt Bäume, ganze Waldlinien um, und der Zerſtörung tiefer liegender, werthvoller Gelände ſind alle Thore geöffnet.

In neueſter Zeit iſt viel Zweckmäßiges geſchehen, um dieſe Unholde in ihrer Kraft zu ſchwächen. Man hat drinnen, wo der Herd der Zerſtörung iſt, wo das Zuſammenrotten der Schutt¬ maſſen beginnt, die Rüfen mit Thalſperren verbaut. So im Summa-Prada-Bach, im Domleſchg, im Medelſer-Thal, im Rhein¬ wald und Puſchlav. Die großartigſte, nächſt der ſehenswerthen bei Mollis (im Kanton Glarus, wohl eine der erſten), iſt jene im Graubündner Münſterthale.

[195]
Lauinen-Ausgrabung.

Druck von F. A. Brockhaus in Leipzig.

Die Lauine.

Grün wird die Alpe werden,
Stürzt die Lawin 'einmal;
Zu Berge ziehn die Heerden,
Fuhr erſt der Schnee zu Thal.
Euch ſtellt, Ihr Alpenſöhne,
Mit jedem neuen Jahr
Des Eiſes Bruch vom Föhne
Den Kampf der Freiheit dar.
Uhland.

Jede maſſenhafte, ſtürzende Bewegung bereits zu Boden ge¬ fallenen, angehäuften Schnees wird in den Alpen, je nach den ortsüblichen Abweichungen Laue, Lauwe, Lauine, im Tyrol Lähne , in den rhätoromaniſchen Bergen Lavigna genannt. Die in der hochdeutſchen Schriftſprache eingebürgerte Schreibweiſe Lawine kommt im Munde des Gebirgsvolkes kaum vor. Wurzel¬ wortjäger haben auch der Entſtehung und Grundbedeutung dieſes Wortes ſchon weidlich nachgeſetzt und wunderbares Wild aus dem düſtern Walde ihrer Vermuthungen aufgetrieben; die Einen holen das Latein herbei und weiſen unfehlbar nach, daß es nur vom Verbum labor, lapsus sum, labi herkommen könne, während Andere ſich in Metaphern verſteigen und meinen, die Löwin habe bei dem Worte zu Gevatter geſtanden, weil der Schneeſturz mit13*196Die Lauine. der gleichen Wuth und Kraft jenes wilden Thieres über die Felſen¬ wände ins Thal hinabſetze. Hält man den einfachen Volksausdruck feſt, ſo hat man wohl auch das Wurzelwort lau raſch gefunden; mit der Bezeichnung Laue oder Lauine wollte der ſprach¬ ökonomiſche Bergbewohner kurz die ganze Erſcheinung zuſammen¬ faſſen und benennen, die ſich ihm bei der Wiederkehr der lauen Lüfte in jedem Frühjahre zeigt.

Die Lauine iſt die Milchſchweſter der Rüfe, gleichſam das winterliche Ebenbild dieſes im Sommer ſo ungeberdig tobend aus den Höhen hereinbrechenden Unholdes. Wie bei jener iſt es ein Abſchüttelungs-Proceß des Uebermaßes deſſen, was die Höhen nicht zu bergen vermögen, wie jene, tritt auch die Lauine ſchrecken¬ erregend in dräuender Wildheit, donnernd und weithin durch die Thäler widerhallend einher, wie jene, hat ſie ihre trümmer¬ bedeckten Sturzbahnen, über welche ſie furchtbar herniederrauſcht, wie jene, richtet ſie im bewohnten Kulturlande alljährlich viel Unheil an und iſt der gefürchtetſte Gaſt jedes Alpthales.

Aber ſie iſt ungleich mannigfaltiger als die Rüfe, weil ſie viel öfter und faſt allenthalben im Hochgebirge wiederkehrt. Kaum mag es einen bedeutenden Gebirgszug geben, der nicht ſeine all¬ jährlich regelmäßigen Lauinenſtürze hat. Hier hängts dann begreif¬ lich von der Figuration der Berge und Felſenwände, von ihrer mehr oder minder dem Schneefall, der Schneeanhäufung aus¬ geſetzten Lage ab, wie groß, ſtark und heftig die Lauine wird und je nach ihrem früheren oder ſpäteren Auftreten, der Dichtheit ihres Materials, der Urſache ihrer Entſtehung und dem Effekt ihrer Wirkung unterſcheidet der Aelpler verſchiedene Arten.

Es iſt eine, im Nicht-Alpenlande beinahe ſtereotyp gewordene Meinung, daß irgend eine unbedeutende, äußere Veranlaſſung, z. B. das Schneekörnchen, welches der Fittigſchlag eines Vogels in rollende Bewegung ſetzt, die Lufterſchütterung, welche durch Geräuſch, durch das Knallen einer Peitſche, das Klingeln einer Saumroß -197Die Lauine. Glocke, ja ſelbſt durch Huſten und Sprechen entſtehe, hinreichend oder vielmehr nöthig ſei, um den Sturz einer Lauine herbeizuführen. So wenig es ſich in Abrede ſtellen läßt, daß ſolche Veranlaſſungen unter Umſtänden allerdings Urſache von Schneeſtürzen werden kön¬ nen, ebenſowenig ſind ſie jedoch Bedingung derſelben: im Gegen¬ theil die maſſenhafteſten, furchtbarſten, gefährlichſten und regelmä¬ ßigſten Lauinen werden durch ganz andere Faktoren hervorgerufen.

Man kann ſie zunächſt füglich in Winter - und Sommer - Lauinen eintheilen. Den erſteren gehören die ſchrecklichen, gefürch¬ teten, unregelmäßig hereinbrechenden Staub-Lauinen an. Sie ſind gewiſſermaßen die ſtärkſte Form der Schneeſtürme. Entweder packt ein um die Gipfel brauſender Hochſturm unberechenbare Laſten jenes feinen, ſandähnlichen, kurz vorher gefallenen Schnees, hebt denſelben auf und läßt ihn als undurchdringliche Staubwolke da fallen, wo plötzlich die tragende Kraft des Windes gebrochen wird, oder es iſt neuer Schnee, der auf ſehr glatter Unterlage alten, obenher vereiſten Firnes liegt, durch einen Windſtoß ins Gleiten geräth, durch wachſende Maſſe auch an Gewicht, Druck und Schnel¬ ligkeit der Bewegung wächſt, und ſo über irgend eine Wand herab¬ fährt. Die hierdurch herbeigeführte Wirkung iſt eine doppelte. Einerſeits hüllt der niederſtürzende Schnee-Ocean in ſekundenkurzer Zeit Gegenden, Häuſer, Perſonen, Vieh ſo vollſtändig ein, daß in vielen Fällen dieſelben tief, tief vergraben liegen und nur eiligſte Hilfe Rettung ermöglicht, andererſeits aber iſt die, durch den raſchen Sturz veranlaßte Compreſſion der Luft ſo gewaltig, daß, wie bei Exploſionen von Pulverthürmen, lediglich durch den Luft¬ druck, große Felſenblöcke, Häuſer, Viehſtälle, kurzum Gegenſtände jeder Art, welche die Lauine mit ihrem Schneekitt nicht einmal erreichte, zur Seite geſchoben, emporgeſchnellt, über Abgründe durch die Luft getragen, kurz und gut in kapriciöſeſter Weiſe dislocirt werden. Weil der Wind zunächſt Urſache des Entſtehens derſelben iſt, ſo werden ſie auch Wind-Lauinen genannt; indeſſen können198Die Lauine. gerade bei dieſen fliegenden Schnee-Schmetterwolken auch andere Hebel Bewegung-hervorrufend wirken. Bei dieſem auf geneigter glatter Fläche ruhenden Staubſchnee genügt irgend ein gegebener Anſtoß, um viele Juchart große Schneefelder ins Rutſchen zu bringen, und hier iſt die Entſtehung der vulgären, in den Sprach¬ gebrauch übergegangenen paraboliſchen Redensart von dem: Lawi¬ nen-ähnlichen Anwachſen zu ſuchen.

Die denkwürdigſten Unglücksfälle in den Alpen ſind durch den Ausbruch ſolcher Staub-Lauinen entſtanden. Im Jahre 1719 am 14. Januar zerſtörte eine ſolche das Dorf Leukerbad im Wallis bis auf wenig Hütten, und ſchüttete eine ſolche unerhörte Schnee¬ laſt auf die Häuſer, daß nur ein geringer Theil der in ihren Wohnungen lebendig Begrabenen ſich wieder ans Tageslicht arbei¬ ten konnte. Ein Knabe, Stephan Roth, war volle acht Tage lang ohne Speiſe und Trank in einem Winkel des Kellers einge¬ bannt und vermochte mit ſeinen geringen Kräften nicht den eiſigen Kerker zu zerſtören. Laut ſang er zum Lobe Gottes Pſalmen und Kirchenlieder, und wurde dadurch bei den energiſchen Nachgrabungen gehört, befreit und aus ſeiner Nacht hervorgezogen. Ungeachtet aller Pflege ſtarb er in der nächſten Woche; 55 Menſchen-Opfer hatte das Ungeheuer verſchlungen. Im darauf folgenden Jahre begaben ſich, bei außergewöhnlich ſtarkem Schneefall, auch enorm viele Lauinen-Unfälle; im Dorfe Obergeſtelen (Wallis) wurden im Februar 120 Häuſer und Ställe mit 84 Menſchen und über 400 Stück Vieh von einer Lauine erſchlagen, und eine andere ver¬ ſchüttete zu Fettan im Unterengadin im gleichen Jahre 61 Men¬ ſchen. In der Gegend von Brieg im Wallis kamen 40 Menſchen ums Leben, ungerechnet der vielen einzelnen Fälle am großen St. Bernhard, im Vieſcher-Thale u. a. O. Anno 1749 wurde beinahe das ganze Dorf Ruäras im Tavetſch (Graubünden) von einer ſolchen Lauine, die an dem 2 Stunden entfernten Criſpalt herniederbrauſte, mit fortgeriſſen und über 100 Menſchen in der¬199Die Lauine. ſelben begraben. Da die Lauine in der Nacht niederging, während einer Zeit, wo alle Bewohner des Unglücksdorfes feſt ſchliefen, ſo erfuhren viele, deren Häuſer entweder nicht zertrümmert, oder nur mit Stumpf und Stiel ſanft zur Seite geſchoben wurden, Anfangs gar nichts von dem entſetzlichen Vorfall und wunderten ſich beim Erwachen nur darüber, daß die Nacht ſo lange dauere, bis ſie endlich ſich überzeugten, daß ſie in einer Schnee-Baſtille eingemauert ſeien. Durch eigene und fremde Hilfe wurden etwa 60 Menſchen gerettet. Das bedeutendſte Staub-Lauinen-Unglück aus neuerer Zeit iſt jenes, welches 1827 das Walliſer Dorf Biel ereilte und 40 Menſchen als Opfer verſchlang. Indeſſen ſind außerordentlich viele Beiſpiele von wunderbaren, ja ſogar komiſchen Rettungen bekannt. So z. B. wurde im December 1836 im Averſer-Thale (in Graubünden) ein Haus, in welchem 12 ſpielende Kinder verſammelt waren, von einer Lauine ergriffen, horizontal fortgeſchoben und total mit feinem Schnee zugedeckt, ſo daß ſelbſt der Firſt nicht hervorſchaute. Die Eltern der Kleinen, gelähmt vom Schrecken, eilten mit Schaufeln und Spaten jener Gegend zu, in welcher ſie das Haus verſchüttet glaubten; aber noch ehe ſie beginnen konnten ernſtlich zu arbeiten, kamen die Kinder, eins nach dem andern, wohlbehalten aus dem Schnee hervorgekrochen. Noch drolliger iſt jener Vorfall, welchen Bilibaldus Pirckheimerus in ſeinem Bellum Helveticum Maximiliani I. aus der Zeit des Schwabenkrieges von 1498 erzählt; damals waren im Engadin 400 kaiſerliche Landsknechte von einer Staub-Lauine verſchlungen und über eine Anhöhe hinabgeworfen worden; aber o Wunder! bald lebte die ganze Schneemaſſe wie ein Ameiſen-Haufen, und unter dem ſchallendſten Gelächter ihrer unberührt gebliebenen Kriegs¬ kameraden, krochen Alle ohne Ausnahme wieder hervor, Einige wohl beſchädigt, aber Keiner tödtlich verletzt.

Von der Schnellkraft des erzeugten Luftdruckes kann man, ohne Beiſpiele, ſich kaum eine richtige Vorſtellung machen. Im200Die Lauine. Graubündner St. Antönien-Thal, (durch welches ein Paßweg aus dem Prätigau über die Rhätikon-Kette ins Gargellen - und Monta¬ funer-Thal führt) ſah ein Knecht weit droben an der Bergwand, vielleicht Stunde von ſeinem Standpunkte, eine Lauine an¬ brechen und eilte, einen Stall zu erreichen, der ziemlich geſichert ſtand. Obgleich dieſer etwa nur 14 Schritte entfernt war, ſo ver¬ mochte er denſelben doch nicht zu erreichen, ſondern wurde vom vorausjagenden Windſtoß ergriffen, über das Dalfazzer Tobel hinübergeſchleudert und dort von der mit Blitzesſchnelle nachfol¬ genden Lauine begraben. Anno 1754 wetterte von Piz Muraun eine Staub-Laui über St. Placis-Thal herab, füllte das ganze Thal von der Landſtraße bis Caprau, ſchleuderte einen aus Granit gehauenen Tränktrog von Falcaridas bis Brulf eine Viertelſtunde weit hinüber, und lediglich der Seitenwind dieſer Laui warf noch die Kuppel des öſtlichen Kloſterthurmes von Diſſentis herunter, obgleich derſelbe eine halbe Stunde vom eigentlichen Strich ent¬ fernt war. Daß die Lauine Wälder-Parcellen von einigen Tauſend Stämmen radikal durch den Luftdruck entwurzelt, oder im Schafte wie Schwefelhölzchen abknickt und weitumher ausſtreut, gehört gar nicht zu den Seltenheiten; jedes Hochalpthal liefert jährlich Bei¬ ſpiele mehr als wünſchenswerth.

In der Regel iſt es der Fall, daß eine angebrochene Lauine durch die energiſche Luftſtrömung und das donnernde, Luftſchwin¬ gungen erzeugende Geräuſch den Fall von anderen ſekundären Lauinen veranlaßt, und hieraus läßt ſich jene Mittheilung wohl erklären, welche aus dem Lauterbrunnen-Thale berichtet, daß im vorigen Jahrhundert die Stuffen-Laui 24 Stunden lang geſtürzt ſei. Ein Fall aus allerjüngſter Zeit beſtätiget Aehnliches. Im Frühjahr 1854 fand ein ſo anhaltender Lauinen-Sturz an der Schattenſeite des Realper Thales ſtatt, daß in der Ausdehnung von mehr als Stunden-Länge eine Schneemaſſe nach der anderen durch Luftdruck und Erſchütterung in Bewegung geſetzt wurde. 201Die Lauine. Wege und Straße waren mit feſtem, kompaktem Schnee 25 bis 30 Fuß hoch bedeckt, ſo daß man, um die Kommunikation zu öffnen, Tunnel durch die improviſirten Schneefelſen treiben mußte. Lauinen waren an Stellen herniedergekommen, wo ſeit Menſchen¬ gedenken keine ſolchen gefallen waren.

Greif 'an mit Gott! Dem Nächſten muß man helfen.
Es kann uns Allen Gleiches ja begegnen.

Dieſer Spruch in Schillers Wilhelm Tell iſt eine der Lebens¬ praxis des Gebirgsvolkes abgelauſchte große Wahrheit. Sie be¬ währt ſich in ſo hohem Grade kaum irgendwo mehr als in den Alpen. Während Läſſigkeit oder vielmehr ein gewiſſes gemächliches Anſichkommen-Laſſen einen der unvertilgbaren Grundzüge im Charakter aller Hirtenvölker bildet, und ihr von Hauſe aus kontem¬ platives Weſen, ihre im langſamſten Takte vorſchreitende Bedäch¬ tigkeit jeden raſchen Entſchluß, jede wenig überlegte Handlung zurückhält, ſo iſt die Hilfsfreudigkeit, der aufopfernde Muth und die ans Herkuliſche gränzende Ausdauer bei Unglücksfällen, die durch Naturereigniſſe herbeigeführt wurden, wahrhaft großartig und läßt das Rein-Menſchliche im herrlichſten Lichte erſcheinen. Der brave Mann denkt an ſich ſelbſt zuletzt. Es ſind Stunden fieberhaft-emſigen Schaffens in bangſter Erwartung, um das Leben lieber Angehörigen, Freunde, Gemeinde-Genoſſen oder völlig fremder unbekannter Menſchen zu retten. Wo ſind die rechten Stellen, an denen Vergrabene, dem Erſtickungs - oder Erſtarrungs-Tode nahe, mit dem gnadenloſen Feinde alles Lebenden kämpfen? Häuft nicht vielleicht jeder Spatenſtich, jede Schaufel voll zur Seite ge¬ worfenen Schnees den Grabhügel nur um ſo höher über dem Geſuchten? Denn wunderbarerweiſe hören die droben Arbeitenden in der Regel kaum etwas von dem Hilferuf und dem Angſtgeſchrei der Verſchütteten, während umgekehrt Errettete vielfach und über¬ einſtimmend erzählten, jedes Wort der über ihnen Suchenden ver¬ ſtanden, ja die Stimmen von Bekannten genau unterſchieden zu202Die Lauine. haben. Nun verſetze man ſich in die peinigende, ſchon durch die umgebende Kälte gräßliche Lage armer Lauinen-Opfer, und addire das gräßliche Bewußtwerden hinzu, daß Hilfe von Freundeshand wenige Schritte weiter auf falſcher Fährte ſich bis zur Erſchöpfung abmüht. Da, wo dann Menſchen-Weisheit am Ende iſt, beginnt der feine Inſtinkt des Thieres, und wie der Prairie-Hund ſtunden¬ weit die Fährte ſeines Herrn oder des verirrten Kindes verfolgt und endlich die Geſuchten findet, ſo iſt's auch hier der treue Haus - Genoſſe des Aelplers, deſſen feiner Geruch die Lagerſtelle Vergra¬ bener entdeckt und zur rechten Spur leitet. Der Werth der Hospiz - Hunde vom großen St. Bernhard, Simplon und Gotthard iſt zu ſprüchwörtlich geworden, und in Tſchudi's herrlichem Thierleben der Alpenwelt ſo umfaſſend und treu geſchildert, als daß hier ausführlicher von ihnen die Rede ſein könnte.

Außerordentlich verſchieden in Urſache der Entſtehung, in Charakter und Wirkung, von jenen, aus lockerzuſammenhängendem Schnee beſtehenden, meiſt im Winter fallenden Staub-Lauinen, ſind die Schloß -, Schlag - oder Grund-Lauinen. Dieſe ſind ein Phänomen des Frühjahrs, wenn die Natur ihr Auferſtehungs¬ feſt feiert, und das Hochgebirge die winterlichen Träume aus den Erinnerungsfalten ſchüttelt. Hier iſts ſchon ganz anderes Material, nicht jener ſandähnlich trockene, feine Schnee, der, ein Spiel der Lüfte, von den Winden umhergeſchleudert wird, bahn - und ziellos, hier iſts alter ferniger Schnee, welcher den Winter über an und auf den Abhängen lag, ſich verdichtete, Firn wurde, alſo eine viel kompaktere, körperfeſtere Geſtalt annahm.

Nicht der Wind, der den Schnee wolkendick emporwirbelt, nicht die kleinen Urſachen, welche unbedeutende Parcellen in Gang ſetzen, nicht bloße Luft-Erſchütterung allein, vermögen die Grund - Lauine zum Fall zu bringen; ihren furchtbaren Sturz bereiten die lauen Lüfte, die einziehende Wärme vor. Dieſe durchdringen die kleinen hohlen Räumchen in den unabſehbar-großen Schnee¬203Die Lauine. hängen, löſen leckend Kryſtällchen, die dem Raſen, dem Felſen, zunächſt aufliegen, in flüſſiges Waſſer auf, das den Boden ſchlüpfrig macht und den unmittelbaren Zuſammenhang beider vernichtet. Alſo langſam vorbereitet, der natürlichen Stütze oder Unterlage theilweiſe beraubt, vermag die Kohäſion der einzelnen Schnee¬ partikelchen das ganze, große, untenher gehöhlte Schneefeld nicht mehr zu halten; das Geſetz der nach Unten ſtrebenden Schwere macht ſeine Rechte geltend, die Maſſe löſt ſich ab und rutſcht, je nach der mehr oder minder ſtarken Neigung des Berges, von Sekunde zu Sekunde an Beſchleunigung gewinnend, der Tiefe zu. Alles, was ihr im Wege liegt oder ſteht, wird in die Verderben drohende Sturzmaſſe hineingewickelt und zu Thal geführt. Die Berner Oberländer nennen ſie Schmelz-Lauinen. Gegen den Anbruch dieſer Grund-Lauinen zu wirken, ſind zunächſt die Bann¬ wälder (vgl. S. 68) beſtimmt. Aber noch kleinere Pflanzenkörper vermögen viel, um den Schnee beſſer an den Boden zu feſſeln, gleichſam mit ihm zu verflechten und das Abſtürzen zu verhindern, namentlich die auf den Planggen und ſteil abſchüſſigen Hochhalden wachſenden Wildgräſer und Kräuter, das Material, aus dem der arme Wildheuer ſeine Kuh oder ſeine Ziegen mit Winterfutter verſorgt. Dort, wo es im Sommer abgemäht wird, zeigen ſich im folgenden Frühjahr faſt überall Rutſch - und Schlag-Lauinen, wäh¬ rend die ſtehengebliebenen, im Herbſt abgeſtorbenen Grashalme ein natürliches, zähes Bindemittel zwiſchen dem Boden und dem Schnee bilden.

Die meiſten Grund-Lauinen haben ihre regelmäßigen Paſſagen, ihre ausgefegten, von Weitem kenntlichen Schurfrinnen, Lauinen¬ züge genannt, durch welche ſie allfrühjährlich herniederraſen. Sie ſtehen in einiger Verwandtſchaft mit den Betten der Rüfen, nur ſind ſie minder trümmererfüllt, ſondern zeigen mehr glatt aus¬ gehobelte breite Felſenrinnen (bis 100 Fuß Durchmeſſer), in denen allerdings immer etwas Gebirgsſchutt zurückbleibt. Die Bewohner204Die Lauiue. des Tavetſch ſchneiden im Spätſommer droben in den Regionen, wo der ſtammförmige Baumwuchs bereits aufgehört hat, das Buſch¬ werk der Alpen-Erle an minder geneigten Halden ab, binden Faſchinen daraus und legen dieſe in die Lauinenzüge, um die Fallkraft der zum Sturz geneigten Schneemaſſen in ihrem zer¬ ſtörenden Effekt zu ſchwächen. Die auf ſolche Weiſe von der Lauine mit zu Thal hinabgeriſſenen Bündel braucht der Aelpler nicht herabzutragen oder zu ſchlitten; er nimmt ſie, wenn der Sturzſchnee im Hochſommer vollends drunten zergangen iſt, als Brennreiſig aus dem wüſten Schutthaufen,

Wo gehüllt in graue Laken
Schlafend die Lauinen liegen,

heraus, und weiß dergeſtalt ſogar die ihm feindliche Kraft-Aeußerung ſich dienſtbar zu machen. Eine Sturzbahn der Lauine durch Menſchen¬ hand vorzeichnen zu wollen, würde ein ohnmächtiges Beſtreben ſein.

Da man alſo die Verwüſtungs-Züge kennt, (welche meiſt recht¬ winkelig zur Thalſohle einmünden), da der Aelpler an der Form und Richtung der Wolken, an der Durchſichtigkeit der Atmo¬ ſphäre, aus dem Abbröckeln der kleinen Schneegarnituren von den oberen vertikal-ausgekehlten Felsgeſimſen die Lufttemperatur in der Höhe und deren ungefähren Wärmegehalt vom Thale aus beurtheilen kann, ſo fällt es ihm, geſtützt auf Erfahrungs-Normen, auch nicht ſchwer, die Zeit zu berechnen, binnen welcher die Grund-Lauinen anbrechen müſſen; hiernach kann er ſeine Vorſichtsmaßregeln ein¬ richten. Denn gar viele Lauinenzüge durchkreuzen ſtark began¬ gene Thalwege und machen die Paſſage in den Frühjahrsmonaten höchſt gefährlich; ſo z. B. in den bewohnten Walliſer und Urner Seitenthälern, alle jene Stellen auf den Kunſtſtraßen der Alpen, wo Galerien angebracht ſind, auch einzelne Stellen in frequenten Thälern, durch welche Poſtſtraßen führen, wie z. B. im Grau¬ bündner Oberhalbſtein, im Engadin, in vielen Thälern Savoyens u. ſ. w. Außerordentlich übelberüchtiget in dieſer Beziehung iſt205Die Lauine. eine Thalſtrecke in Davos (Graubünden) zwiſchen Glaris und Wieſen, vorzugsweiſe und die Eigenſchaft zum Eigennamen erhe¬ bend in der Züga genannt. Wo Häuſer und Ställe in ſol¬ chen ungeheuerlichen Gegenden erbaut werden mußten, ſtellte die Vorſicht der Thalbewohner dieſelben immer auf Vorſprünge der Berg-Gehänge, über welche Schneeſtürze vorausſichtlich nicht herein¬ brechen können. Alle permanenten Lauinenzüge haben ſelbſtſtändige Namen erhalten; ſo z. B. im Haslithal die Golper -, Schütz -, Mäder - und Loch-Laui, am Mettenberg ob Grindelwald die Breit - und Schmal -, die Steg -, Doldis -, Brunnhorn - und Hochthurm-Lauine. Mitunter aber ſcheint ein Berg wie auseinanderfallend ſich in lau¬ ter kleine Lauinen auflöſen zu wollen, und dann reichen keine Namen mehr hin, die Zahl der Schneeſtürze vollſtändig anzuzeigen.

Eben ſo irrthümlich wie vielſeitig das Entſtehen der Lauinen aufgefaßt wird, eben ſo unrichtig iſt oft das Bild, welches die Phantaſie ſich von der äußeren Erſcheinung des Phänomens wäh¬ rend des Sturzes entwirft. Es iſt kein kugelnder Ballen, wie man wohl glaubt, der oben in der Bildungsheimath klein wie ein Kohlkopf, nun durchs Herabrollen und durch das maſſenhafte An¬ hängen der Schneetheilchen immer größer wird, und endlich einem Globus von koloſſalem Durchmeſſer gleicht, der unten erſt, wie eine Bombe zerplatzend, ſeine Schneeladungen ausſtreut; ein ſolch progreſſives, ſphäriſches Formen, wie man es vor Eintritt des Thauwetters im Tieflandswinter wohl ſpielweiſe von Knaben ausführen ſieht, wenn ſie einen Schneemann bauen wollen, würde mindeſtens eine gleichmäßig geneigte, von keinen Felſentreppen und Fluhwänden unterbrochene, alſo der Hügelformation ähnliche Abdachung eines Berges vorausſetzen. Der Sturz einer Lauine, jeder Gattung, gleicht faſt immer dem Bilde eines in völligſten Schaum aufgelöſten Waſſerfalles. Gewöhnlich hört man den Sturz früher, als man ihn ſieht. Durch den donnernden Schall plötz¬ lich aufgeſchreckt, richtet der Blick des mit der außerordentlichen206Die Lauine. Erſcheinung nicht vertrauten Fremdlings ſich gewöhnlich in die Höhe und ſucht am Firmamente die Gewitterwolken, welche die gewaltig tönenden Schwingungen hervorrufen; aber droben im tiefen blauen Aether lagert lichte Ruhe, kein Wölkchen ſchwimmt im Luft-Oceane. Schon rollt das Getöſe nachhallend durch die Thäler und erneuert jetzt abermals, ſtärker anſchwellend, die erſchüt¬ ternden Tonwellen, als das Auge niederſinkend drüben am Silber - Mantel des Berges rauchendes, von den Lüften verwehtes, ſtäuben¬ des Gewölk und unmittelbar darunter eine gleitende, niederwallende Bewegung an den kaum zuvor noch in ſtarrer Todesruhe dalie¬ genden Firnhängen wahrnimmt. Scheinbar langſam, im ſtolzen getragenen Zeitmaß, ſchwebt die Schnee-Kaskade wie breite Atlas¬ bänder über die Felſenwände herab, ſtaucht tiefer an hervortretenden Fluhſätzen auf, zerſtiebt in wollig-runde Schaumbogen und zer¬ flatternde Wolken-Wimpel, wie die Intervallen eines Strom - Kataraktes, oder verliert ſich ſekundenlang in verborgene Schluchten und ſinkt, das Schauſpiel von Stufe zu Stufe wiederholend, hin¬ unter, bis ſie auf flach auslaufenden Alpmatten oder im tiefen Trümmer-Becken zur Ruhe kommt. Mit dem Verſchwinden des vermeintlichen Stromes, verhallen auch die, den Fall begleitenden, grollenden Donner, und der Wanderer überzeugt ſich ſtaunend, daß beide Thätigkeiten in unmittelbarer Wechſelbeziehung zu einander ſtanden. Dort aber, wo der ſcheinbare Staubbach herniederwallte, zeigt eine ſchmutzige, fahlfarbene Linie in Mitte des blendenden Firnes, daß hier mehr als blos Schnee, daß Erde und Geſtein¬ ſchutt mit herabgekommen ſein muß, von denen Spuren zurückblieben.

Dies iſt das Bild einer ſommerlichen Grund-Lauine von ent¬ ferntem, geſichertem Standpunkte ruhig und gemächlich betrachtet. Könnte man mit bedeutend vergrößerndem, ſcharf-ſpecialiſirendem Tubus die ſtürzende Lauine dem Auge näher rücken, wie ganz an¬ ders würde dieſe ſich geſtalten, wie würde ſie, gleich den ungeahnten Zellgeweben der Organismen unterm Mikroſkop, ſich plötzlich zu207Die Lauine. unermeßlichen Schneewolken ausweiten, in deren Umhüllung cy¬ klopiſche Felſenquadern, wuchtige Eismarren und zerriſſene Raſen¬ fetzen ihren Schmetterflug pfeifend und heulend zurücklegen. Was dem freien Auge wie harmlos herabſchwebende Schaummaſſe er¬ ſchien, wird in der Nähe zur tobend-jagenden Furie; denn es fehlt uns, wie überall in den Alpen, ſo auch hier für die Entfernung, jeglicher Maßſtab, nach welchem die Höhen zu beurtheilen ſind, an deren unterbrochen-vertikaler Fläche die Lauine herabſtürzt. Würde man die ungefähre Höhe jener Stelle, wo die Lauine ſich begrub, in Zahlen von der Höhe des Punktes, an dem ſie ſich ablöſte, ſubtrahiren und die gewonnene Differenz mit der Summe der Sekunden (ſo lange das Naturſpiel währte) dividiren, ſo würde man einen Geſchwindigkeits-Quotienten für die enorme Fall-Eile er¬ halten, der zugleich den donnernden Gang aufklärte.

Eine Frühjahrs-Grund-Lauine in möglichſter Nähe geſehen iſt Entſetzen-erregend, faſt unbeſchreiblich. Alle Worte und Bezeich¬ nungen ſind unzureichend, um dieſes Chaos, dieſe völlige Auf¬ löſung, dieſe gemeinſchaftliche, augenblicklich zugleich ſich entwickelnde Orkan -, Erdbeben -, Bergſturz - und Gewitter-Erſcheinung zu ſchildern. Aufruhr, Flucht, Zerſtörung, Vernichtung, begleitet von raſendem in einander verwobenem Knirſchen des ſich ſelbſt zerpreſſenden Schnees, dem ſtöhnenden Krachen zerſplitternder Bäume, dem ziſchenden Fliegen geſchleuderter Felsgeſteine und deren krachendem Anprall an die Gebirgswände, ſchrillem Gepraſſel, genug unde¬ finirbarem, ohrenbetäubendem Getümmel, deſſen Echo aus allen Thal-Ecken hundertfältig zurückgeſchleudert aufs Neue ſich in dieſes Wüthen vermengt, das iſt der Total-Eindruck einer Grund-Lauine in der Nähe. Ihr Material iſt fetter, dichter, ſchwerer als das luftiger Staub-Lauinen; darum keilt es ſich auch mit eiſerner Zähig¬ keit, dort wo es hineinfällt, feſt. Perſonen und Thiere von einer Schlag-Lauine verſchüttet, ſind meiſt unrettbar verloren; ſie bricht ihnen das Genick und Rückgrath, oder legt ſich hermetiſch dicht um den208Die Lauine. Körper an, ſo daß der Erſtickungstod unvermeidlich erfolgt. Der Schnee dieſer Lauinen wird ſo feſt in einander geſchlagen, daß Menſchen oder Thiere, nur bis an den Hals darin ſteckend, ſich unmöglich ohne Hilfe Anderer herausarbeiten können. Daher kommts auch, daß man in Thälern, durch welche ein ſcharfſtrömender Gebirgsbach fließt, noch im Hochſommer darüber gewölbte Schnee¬ brücken findet, welche von einem Lauinenſturze herrühren. Dieſe ſind oft ſo kompakt und dauerfeſt, daß man mit Roß und Wagen darüber fahren könnte. Sie entſtehen dadurch, daß der Bergbach von einem Lauinenſturz in ſeinem Bett behindert, ſich vermöge ſeines größeren Wärmegehaltes durchfrißt und den Bogen allmählig erweitert. Gelingt dies dem Fluſſe nicht, iſt der Schneedamm zu dicht, zu mächtig, zu hoch, ſtaut er das Waſſer zurück, ſo kann großes Unglück die tieferliegenden Orte des Thales bedrohen. Denn es ereignet ſich nicht ſelten, daß eine Lauinen-Ladung nicht nur die enge Thalſohle bis zu irgend einer Höhe ausfüllt, ſon¬ dern ſelbſt an der gegenüberliegenden Böſchung noch wieder aufwärts geſchoben wird. Wenn dann die in den Thalengen com¬ primirte Sonnenwärme den Schneedamm mürbe macht und zerfrißt, ſo bricht das zum See angewachſene Bachwaſſer mit ſeiner dynamiſchen furchtbaren Gewalt durch, reißt ringsum Uferge¬ lände ab, entwurzelt Bäume und Sträucher, zertrümmert Stege, Brücken, Mühlen, Häuſer und Ställe, ſchwemmt Nutzhölzer, Säge¬ blöcke, große Steine, Menſchen und Vieh mit fort, und verwüſtet tiefergelegene Gegenden weit hinaus.

Zwiſchen den beiden beſchriebenen Lauinenformen, liegt mitten inne eine dritte, die theils ſelbſtſtändig als Lauiſturz auf¬ tritt, noch mehr aber Veranlaſſung einer jener beiden Sturzformen werden kann; dieſe wird herbeigeführt durch die ſ. g. Wind¬ ſchirme, Schneeſchilde oder Schneebritte. Das Bildungs¬ princip dieſer im Gebirge gefährlichen Accumulationen und die Geſtalt derſelben im Kleinen kennt jeder Bewohner des Flach¬209Die Lauine. landes aus Erfahrung. Es ſind jene Schneekappen und ſpannen¬ hoch, ſenkrecht-aufgebauten Schneeleiſten, welche entſtehen, wenn bei verhältnißmäßig milder Temperatur und ſtarkem Schneefall der Wind von einer Seite große fette Flocken an Gebäude, Brunnen, Stackete und andere Gegenſtände wirft. Hat das Schneien dann nachgelaſſen, ſo verdichtet ſich die lockere Maſſe immer mehr, beugt ſich nach vorn über, und zuletzt nehmen dieſe durch Einwirkung der Sonnenſtrahlen und des Wiedergefrierens oft ſeltſam modellirten Schneeverzierungen eine völlig hängende Geſtalt an. Nun, was hier im Kleinen ſich zeigt, formt der dichte Schneefall in den felſigen Alpen, deren Wände beinahe ſenkrecht von allerlei Spalten, Bändern, Ueberwölbungen und Façade-Geſimſen unterbrochen wer¬ den, im Großen, und zwar ſo koloſſal, daß überhangende, vom Felsgemäuer völlig abgelöſte Schneedächer, auf nur ſchmaler Baſis ruhend, entſtehen, die zentnerſchwer, jeden Augenblick niederzu¬ ſchmettern drohen. Dieſe Damoklesſchwerte hangen feſt, bis ſie unter der Laſt ihrer eigenen Schwere zuſammenbrechen, oder durch laue Luft, Thauwetter, Föhn, oder veränderte Richtung des Windes losreißen. Dieſe ſinds, nach denen der Säumer, der Rutner, über¬ haupt jeder im Winter das Gebirge durchwandernde Aelpler ängſt¬ lich meſſende Blicke emporſendet, dieſe ſinds, die durch den geringfügigſten Umſtand, durch einen Schall, eine Lufterſchütterung ihres kaum vorhandenen Gleichgewichtes, ihres Zuſammenhanges mit der ſchmalen Felſenbaſis beraubt werden können, ſie ſinds, wegen derer der Poſtillon mit der Peitſche nicht klatſcht, der Säu¬ mer früherer Zeiten, als es noch keine Schutzgallerien gab, die Schellen am Halſe der Thiere umwickelte, wenn er die engen Defile's der Schöllenen am Gotthard, der Cardinell am Splügen und ähnliche Schluchten paſſirte, und dieſe ſinds, auf welche Schiller in ſeinem Bergliede hindeutet:

Und willſt du die ſchlafende Löwin nicht wecken,
So wandle ſtill durch die Straße der Schrecken.
Berlepſch, die Alpen. 14210Die Lauine.

Schon viele Unfälle ſind durch den Losbruch von Windſchilden vorgekommen. Im März 1824 wurde auf dem Bernardino der Poſtſchlitten mit 13 Perſonen (Reiſende, Wegbahner, Conducteur und Poſtillon) von ſolch einem Sturze ergriffen und in einen voll¬ geſchneiten Abgrund geſchleudert, aus dem eilf Menſchen wieder gerettet wurden; ein Wegbahner jedoch und der Landammann von Rovredo im Val Miſocco waren durch den bloßen Druck an das Straßengeländer getödtet worden. Auf dem Skaletta-Paß zwiſchen dem Engadin und Davos (Graubünden) wurde in den zwan¬ ziger Jahren eine ganze Karavane von 52 Schlitten durch ein los¬ geriſſenes Windſchild ſammt Menſchen und Vieh verſchüttet; einige derſelben hatte der vorausjagende Windſtoß weit durch die Lüfte geſchleudert. Indeſſen kam Niemand dabei um, weil es lockerer, ſandiger Schnee war. In der Cardinell, ehedem einem wegen ſeiner Windſchilde heillos verrufenen Paſſe, ſchleuderte der Luftdruck eines ſtürzenden Windſchildes im Winter 1800 beim Durchzug der franzöſiſchen Armee unter General Macdonald einen Tambour in den Abgrund, wo er unverſehrt angekommen ſein mochte, denn man hörte ihn in der Tiefe mehrere Stunden lang trommeln. Da es aber unmöglich war, dem Unglücklichen Hülfe zu ſenden, ſo wurde er ein Opfer der Kälte und des Hungers. Martin Meuli von Rufenen betrat 1807 ſpät Abends mit ſeinem Kameraden Chriſtian Menn und einigen Saumroſſen die Cardinell. Plötzlich rauſchte eine Lauine herab und ſtürzte letzteren ſammt ſeinem Pferde in den Abgrund. Meuli blieb unverſehrt auf beiden Seiten von hohen Wällen Lauinenſchnees eingeſchloſſen und brachte die kalte Winter¬ nacht unter einem vorragenden Felſen zu, indem er ſich in eine Welle Tuch, die er auf ſeinem Saumroß hatte, einwickelte und dadurch ſein Leben friſtete.

Solche ſtürzende Windſchirme verdecken, gleich den Grund¬ lauinen, oft die Bergſtraßen mit haushohen Schneeſchanzen, ſo daß die Rutner mit dem bloßen Ausſchaufeln nicht würden Bahn ſchaffen211Die Lauine. können, ſondern Gallerieen durch dieſelben brechen müſſen. Dies war ganz beſonders auf den Graubündner Hochpäſſen in dem ſchnee¬ reichen Winter 1859 auf 1860 der Fall.

Die Anwohner ſolcher Paſſagen erzählen wunderbare Geſchichten von dem inſtinktiven Vorgefühl mancher Thiere, die den Sturz von Lauinen gleichſam ahnen oder man möchte faſt ſagen prophe¬ zeihen. So iſt es notoriſch, daß an jenen Abhängen, die in irgend einer Weiſe von regelmäßigen Lauinenzügen berührt werden, ſelten oder faſt nie Spuren von Gemſen im Schnee zu finden ſind. Die Bewohner der Bergwirthshäuſer und Hospitien verſichern, daß kurz vor dem Eintritt von Staublauinen und vor dem Sturz von Windſchilden die Bergdohlen aus der Höhe herabkommen, ſich gleichſam zu den menſchlichen Wohnungen flüchtend und dieſe krei¬ ſchend umflattern. Abgerichtete, zum Aufſuchen Verunglückter be¬ ſtimmte Berghunde ſollen ebenfalls kurz vor dem Anbrechen von Lauinen und Guxeten eine ſichtbare Unruhe verrathen, und auf dem Simplon hats deren gegeben, die laut heulten und hinaus ver¬ langten, um ihrer Beſtimmung gemäß zu ſuchen. Die auffal¬ lendſte Witterung jedoch zeigen die Pferde. Wir haben ſchon bei Darſtellung des Schneeſturmes geſehen, daß das Pferd vor dem Losbruch des Unwetters unaufgefordert ſeine äußerſten Kräfte an¬ ſtrengt, um raſcher vorwärts zu kommen und wenn möglich das ſchützende Haus noch zu erreichen. Ueber den Scaletta-Paß ſoll früher ein Roß lange Jahre den Säumerdienſt mitgemacht haben, welches regelmäßig durch Sträuben und Stetigwerden den bevor¬ ſtehenden Sturz von Lauinen anzeigte, während es ſonſt das ge¬ duldigſte und leitſamſte Thier von der Welt war. Die Säumer, welche es deshalb hoch achteten, verließen ſich bei zweifelhaftem Wetter faſt ganz auf dieſes Pferd. Einſt hatte es auch im Winter Paſſagiere mittelſt Schlitten zu befördern und an einer Stelle un¬ weit der Paßhöhe angelangt, wollte es durchaus nicht von der Stelle. Die Reiſenden, unverſtändig genug und der Führer zu14*212Die Lauine. nachgiebig, trieben mit den äußerſten Mitteln das Roß zum Wei¬ tergehen an. Endlich, nachdem es durch lautes Wiehern ſeinen Unwillen über die Unvernunft der Menſchen zu erkennen gegeben, zog es aufs Neue mit äußerſtem Aufwande aller Kräfte an und ſuchte durch ein faſt verzweifeltes Vorwärtseilen der drohenden Gefahr zu entfliehen. Wenige Sekunden weiter, plötzlich Krach und Wurf! Die Lauine hatte die Reiſenden ſammt dem treuen, klugen Roß begraben.

Die Gebirgsbewohner können durch befühlende Handprobe und durch Beſichtigung des Schnees denſelben ziemlich richtig taxiren, wie weit er für Lauinen reif ſei, und danach richten ſie ihre Ueber¬ berg-Reiſen ein. Gewöhnlich werden dieſe, wenn ſie über lange und wilde Päſſe gehen, geſellſchaftlich unternommen, dann aber doch immer ſektionsweiſe, ſo daß die einzelnen Schlitten ſtets in einiger Entfernung von einander laufen; ſollte ſich dann irgendwo ein Schneefall ereignen, ſo werden doch nicht Alle zugleich davon ergriffen, und die verſchont Gebliebenen können ihren verſchütteten Gefährten zu Hülfe kommen.

Die Lauinen ſind nur eine Erſcheinung der tieferen Regionen, beſonders jener um und unter der Gränze der Holzvegetation; über 10,000 Fuß abſolute Erhebung kommen ſie kaum mehr vor. Es giebt ſchon, ſelbſt in den bedeutendſten Höhen, Schneerutſche, die ſich abwärts bewegen, und bei warmer Südluft fallen die an¬ gewehten Garnirungen von den jähen Grathen mitunter herab; aber ſolche ſehr unbedeutende Partial-Ablöſungen tragen zu wenig den Charakter der Lauinen, als daß ſie dieſe Bezeichnung ver¬ dienten. Für jene tiefer liegenden Regionen ſind ſie im Ganzen genommen, trotz ihrer verheerenden Wildheit, eine wohlthätige Erſcheinung; denn ſie befreien große Strecken Alpenweidelandes durch einen einzigen Akt von unberechenbaren Schneelaſten, zu deren Entfernung die Sonnen - und Luft-Wärme bis weit in den Hoch¬ ſommer hinein zu ſchmelzen haben würde.

[213]
Gletſcher.

Druck von F. A. Brockhaus in Leipzig.

Der Gletſcher.

Reiche mir, Führer, den Stab, und waffne die Sohlen mit Zacken,
Denn erklimmen muß ich dort jenen prächtigen Eisberg!
Leite mich weiter hinauf und halte mich, daß ich nicht ſinke.
Jetzt, jetzt bin ich ihm nahe, dem Gipfel! Hier ſteh 'ich und athme
Reinere Luft, und ſtarre hinab in die offenen Klüfte,
Blicke ſtaunend umher auf die Reihen der Eispyramiden,
Sehe dort fern am Felſen hinauf die einſamen Hütten
Glücklicher Sennen, und Ziegen, die fetten Weiden verfolgend.
Wie es unter mir donnert! Mir iſt, als bebte der Eisberg,
Drohte zu berſten und mich zu begraben unter die Trümmer!
Ha! wie dort der gewaltige Strom aus der Pforte des Eisthurms,
Gleich als würd' er geſchleudert, in ſchwärzlichen Wogen hervorſchäumt
Und ſich, befruchtend, ergießt in den Schooß des blühenden Thales!
Stäudlin.

Was die Lauine im wilden Sturme entfeſſelter Leidenſchaft während wenigen Augenblicken vollbringt, das führt der Gletſcher im langſam bedächtigen Vorſchritt aus. Beide haben die gleiche Aufgabe: das Hochgebirge von der drohenden Schnee-Ueberlaſtung zu befreien und einer allgemach entſtehenden Total-Erkältung des Alpengebäudes und ſeines Anlandes vorzubeugen; beide ſind aus¬ gleichende Faktoren, vermittelnde Ableitungskanäle, beide ſtreben einem Ziele zu, aber auf verſchiedenen Wegen. Die Lauine iſt eine jugendliche, unbeſonnene Erſcheinung, die allen Boden unter den Füßen verlierend, mit einem kühnen Satze dem Opfertode ſich in214Der Gletſcher. die Arme wirft und ihren, erſt in der Bildung begriffenen, noch zuſammenhangloſen Schnee-Körper in irgend einem abgelegenen Gebirgswinkel des Thales wie ein Selbſtmörder verborgen der Auflöſung anheimgiebt, der Gletſcher iſt ein alter beſonnener Oekonom im Gebirgshaushalte, der anſcheinend faul und ſtillſtehend, dennoch in ununterbrochener Thätigkeit, mit ruhigem praktiſchen Takt, das Uebermaß des lockeren Hochgebirgsſchnees ſammelt und zu feſtem, körperhaftem Eis verdichtet, langſam ins Thal hinabbe¬ fördert. Er iſt einer der vielen tauſend wunderbaren Beweiſe von der Alles regelnden göttlichen Anordnung im großen Organismus des Naturlebens, die jedem Ding ſein Maß und Ziel giebt und durch den großen Kreislauf der Materie vor dem abſoluten Tode bewahrt.

Alles, was im Sommer von den Höhen der Schneeregion und eingeſchaltet in die Gebirgsrinnen weiß ins Thal, ins Alpendorf herableuchtet, nennt der deutſche Schweizerbauer ſummariſch Glet¬ ſcher , der Tyroler Ferner , der Romane Vadret , der Unter-Walliſer und Savoyarde Glacier . Er macht keinen phyſikaliſchen Unterſchied zwiſchen Schnee und Eis, ihm iſt Beides ziemlich identiſch. Anders die Wiſſenſchaft; ſie unterſcheidet dem Material und ſeiner Dichtheit, ſeiner Höhenlage nach, den lockeren Hochgebirgsſchnee über 10,000 Fuß Höhe, von dem tiefer vorkommenden, grieſelich-körnigen, älteren Firn-Schnee , (der eben ſeinen Namen von der Bezeichnung Fern , welches im Idiom vorjährig bedeutet, erhielt) und dieſen wieder vom eigentlichen durchſichtigen, kompakten Gletſcher-Eis. Letzteres entſteht aus Erſterem durch eine Menge unvermerkt vor ſich gehender Umwande¬ lungen dieſer kryſtalliniſchen Waſſerformen. Es repräſentirt ſomit der feine Hochſchnee in den höchſten Regionen gleichſam die Periode der Kindheit. Durch eigene Schwere und Druck der hinterliegenden Maſſen gleitet er langſam tiefer und wird nach und nach durch Wärme-Einwirkung inniger zu körnigen Konglomeraten verbunden,215Der Gletſcher. er tritt ins Jünglings-Alter des Firnes über. Abermals zwiſchen den Felſengaſſen tiefer geſchoben und ſomit in immer wärmere Regionen hinabwandernd, geht er weiteren neuen Umgeſtaltungs - Phaſen entgegen, ſchluckt niederfallenden Regen auf, bindet dieſen durch die innewohnende Kälte ebenfalls zu Kryſtallen und verdichtet ſich endlich zum poröſen Eis; er tritt ins Mannesalter über und wird das Material des Gletſchers. Jetzt hat er, wie der Mann im Leben, die größten Drangſale zu beſtehen. Eingeklemmt in tiefe Gebirgsſchluchten muß der Gletſcher den Windungen und dem Fall ſeines Flußbettes folgen, gegebene Verhältniſſe zwingen ihn. Wir ſagen abſichtlich Flußbett; denn nicht nur, daß ſein Körper einem zwiſchen Berg - und Felſenketten herabkommenden, zu Eis erſtarrten Strome gleicht, ſondern der Gletſcher fließt auch, er be¬ wegt ſich, dem Fluſſe gleich, nach der Tiefe fort, freilich nur mit jener geringen Geſchwindigkeit, mittelſt welcher der Datum-Zeiger auf großen Wanduhren ſeine Wanderung fortſetzt. Er muß Laſten herabgeſtürzter Steine auf ſeinem Rücken tragen, Furchen zer¬ reißen ſeine Oberfläche, und zerbrechend in Scherben ſtürzt er der Tiefe zu, bis er im Thal das Ende ſeiner Lebensbahn erreicht und aufgelöſt zu Waſſer dem Strome, dem Meere zueilt.

Es iſt ſchwer, ſich einen annähernd richtigen Begriff vom wirklichen Weſen und realen Ausſehen eines Gletſchers zu machen. Die beſten Abbildungen, ſelbſt getreue Photographieen, geben ſtets nur trockene, oberflächliche, man möchte ſagen hölzerne Bilder. Immer iſt der Raum, ſelbſt der größten gemalten oder gezeichneten Hochgebirgs-Landſchaft zu klein, um auch nur annäherungsweiſe die gigantiſche Größe eines Gletſchers in ſeinen erſchreckenden Maſſen anzudeuten; die Verhältniſſe werden immer kleinlich, nichtsſagend. Höchſtens vermag das Stereoſkop, wenn recht vorzügliche Partial - Aufnahmen in daſſelbe eingeſchoben werden, theilweiſe eine Idee von der Großartigkeit dieſes Phänomens zu geben. Selbſt in einiger Entfernung, von einem benachbarten, gegenüberliegenden216Der Gletſcher. Berge geſehen, ſchwinden die mächtigſten Gletſcher unter dem Druck der imponirenden Felſen-Umgebung zu untergeordneten, ſchmutzig - weißen Streifen zuſammen. Dieſe, die Gebirgsrieſen der Granit - und Kalk-Dome mit ihren Zinken, Riffen und Kämmen, ſteigen frei und kühn in die Lüfte, zeigen die Größe ihrer Körperfülle in kräftigen, derben Linien und geben durch dieſe mehrſeitigen Profile Anhaltepunkte für die Höhen-Dimenſionen; der Gletſcher birgt die Summe ſeines unberechenbaren Inhaltes in den Gebirgs-Einſchnit¬ ten, welche er ausfüllt, er iſt ein begrabener Körper, der nur die einſeitige Oberfläche bloslegt. Darum kann auch hier nur wieder eine Wanderung über den Rücken dieſer Eisſchlange, der Einblick in ſeine Spalten, Abgründe und geheimnißvollen Tiefen, das Be¬ treten eines Gletſcher-Thores uns einläßlich inſtruiren.

Ausgebildete, alle charakteriſtiſchen Merkmale an ſich tragende Gletſcher giebt es nur in den Central-Stöcken der Alpen, dort wo die Gebirgshebung unmittelbar und energiſch ſtattfand. Die größten und umfangreichſten Gletſcher-Reviere ſind die Central-Maſſen des Montblanc, der Walliſer und Berner Alpen, der Bernina in Grau¬ bünden und der Oezthaler-Gruppe im Tyrol, alſo jene, welche in ihre Hochmulden die ausgebreitetſten Firn-Magazine einſchließen. Bedeutende Gletſcher erſten Ranges enthalten außerdem die graji¬ ſchen Alpen Savoyens, die Tödi-Gruppe auf der Gränze von Uri, Glarus und Graubünden, die Centralmaſſe des Adula oder Rhein¬ waldhornes, die Silvretta-Gruppe im Unter-Engadin, die Ortler - Gruppe und die Tauern der Salzburger und Kärnthniſchen Alpen. Unausgebildete Gletſcher und ſolche von ſekundärem Range finden ſich in allen Alpentheilen, welche die abſolute Höhe von 8000 Fuß erreichen und in dieſer Höhe nur einigermaßen nennenswerthe Hoch¬ flächen einſchließen, die Schneevorräthe anzuſammeln geeignet ſind. Gletſcher in Bergzügen ſuchen zu wollen, die in ihrer mittleren Erhebung die Schneegränze (7000 8000 Fuß) nicht überſchreiten, würde ein vergebliches Beginnen ſein.

217Der Gletſcher.

Wir ſteigen durch Wieſen und Arvenwald leicht bergan. Dichte Baumgruppen verdecken noch alle Ausſicht. Jetzt hellt es ſich auf und wir betreten, das Schattendunkel verlaſſend, nackten felſigen Boden, der ſeltſamerweiſe in allerlei Hohlbuchtungen und wellen¬ förmigen Segmenten wie vom Bildhauer ausgemeißelt und abge¬ ſchliffen erſcheint. Auf Trümmerhalden und koloſſalen Steinblöcken oder aus den Felſenritzen, deren Oeffnung ſich mit Erde ausgefüllt hat, wuchern, ein belebender Schmuck der öden Gehänge, leuchtend blühende Alpenroſen in reichlicher Menge. Noch einen Bergriegel umwandernd, und die Ausſicht öffnet ſich, wir ſtehen vor der Stirn des Gletſchers. Kirchthurmhohe Wände ſteigen auf und verſperren das weitere Vordringen. Iſt das ein weiß überſchneiter, urſprünglich ſchmutzig-grauer Felſen, der hier in phantaſtiſcher Bild¬ nerei überhangend hervorragt? Dem widerſprechen ſofort transparent¬ ſchimmernde, glasartig-erſcheinende Einſchnitte in der Wand, die wie tiefgelegte Falten ſich längs derſelben einſchmiegen. Wir klettern über merkwürdig aufgehäufte Blockwälle ſcharfkantiger Fel¬ ſenfragmente, roh aufgerichtete Barrikaden von bedeutender Höhe und dringen von Neugierde getrieben näher gegen die räthſelhafte Wand vor. Jetzt entdecken wir am Fuße derſelben einen weitge¬ wölbten Kanal, der in den feenhafteſten Farben ſchimmernd, nach ſeiner Tiefe hinein ſich in unbeſtimmte Nacht verliert. Jetzt ahnen wir, daß wir vor einer gigantiſchen Eiswand ſtehen. Jenes graue Geſtein, welches wir im erſten Anblick für den ſelbſteigenen Körper einer Felſenfronte hielten, ſind nur eingebackene Geſteinsreſte, mit denen der Gletſcher-Abſturz überſtreut iſt. Nun erſchließt ſich uns die erſte Ahnung von der erſchreckenden Maſſenhaftigkeit eines Glet¬ ſchers, nun erſt drängt ſich uns die Vermuthung auf, daß die rieſige Trümmerſchanze, welche wir ſo eben überſtiegen, aus Geſteins¬ ſcherben beſteht, welche vom Gletſcher herunterſtürzten. Ein ober¬ flächlicher Blick, ſelbſt wenn wir zuvor nie uns mit Mineralogie beſchäftigten, ſagt uns, indem wir nach Stoff, Korn und Farbe218Der Gletſcher. die vorliegenden Brocken mit dem abgeſchliffenen Geſtein, über wel¬ ches wir wanderten, vergleichen, daß es ganz anderer Abſtammung iſt. Dieſe aufgebauten Haufen werden Front-Moränen, Stirn - Gandecken, Firnſtöße genannt. Sie ſind Reſultate der allmähligen Gebirgszertrümmerung und Muſterkarten der Felſenarten, welche die Gletſcher umſtehen. Der Gletſcher hat ſie aus zwei oder noch mehr Stunden entfernten Hochgebirgs-Revieren auf ſeinem Rücken lang¬ ſam hierher transportirt, und wir erhalten durch ſie den erſten Be¬ weis von der wandernden Thätigkeit des ſcheinbar ſtillſtehenden Eisgebäudes. Die Oeffnung aber, welche unten an der Eiswand ſich zeigt, iſt das ſ. g. Gletſcherthor, aus dem ein breiter, kräftiger Bach abgeſchmolzenen Eiswaſſers hervorſtrömt:

der Gletſcher Milch,
Die aus den Runſen ſchäumend niederquillt.

Das Waſſer iſt milchweiß oder hellgräulich-trübe, ſelten durch¬ ſichtig klar. Woher die Färbung? Der Gletſcher mit ſeiner millionenfach-zentnerſchweren Laſt langſam über den Granit - oder Kalkfelſen ſeiner Stromſohle hinabgleitend, ſchleift unerkennbar feine Theilchen des Geſteins ab und färbt mit dieſen das Gletſcherwaſſer. Die ausgekehlten Flächen, die wir kurz vorher durchwanderten, ſind gleichfalls Reſultate dieſer polirenden Thätigkeit. Man trifft am Riffel, längs des Gorner-Gletſchers unterm Monte Roſa und nahe bei Zermatt, am Vieſcher-Gletſcher im Oberwallis und an den Borden vieler anderer, ſolche wunderbar polirte Gneis - und Granit - Hügel, welche Kunde geben, daß einſt der Gletſcher, als er größer, höher, breiter war, über dieſe Stelle hinwegging und ſie alſo ab¬ rundete.

Manche Gletſcher haben gar kein Gletſcherthor, ſondern laufen, flach wie eine Muſchel ſich ausbreitend, ſchwach geneigt über die Thalſohle aus; ſo der prachtvolle Rhône-Gletſcher in der Tiefe des Wallis, der Roſegg-Gletſcher an der Bernina-Gruppe u. A. Wieder Andere haben hohe impoſante Gletſcherthore, ähnlich den219Der Gletſcher. Portalen gothiſcher Dome. Die größten und ſchönſten derſelben findet man am Glacier des Bois im Chamonny-Thal, aus dem der Arveiron hervorſtrömt, in manchen Jahren mehr als hundert Fuß hoch, am Mortiratſch-Gletſcher unter der Bernina-Gruppe, der den Flaty-Bach zum Inn entſendet, und am Marcell-Gletſcher. So verlockend es iſt, in dieſe laſurblau oder glasgrün ſchillernden Eishallen einzudringen, ſo gefährlich iſts, weil fortwährend Steine, die droben auf dem Rücken des Gletſchers an deſſen Abſturz liegen, herabſtürzen, oder ſelbſt Eiswürfel ſich ablöſen und herniederfallen.

Blau iſt die eigentliche Farbe des Gletſcher-Eiſes, wie über¬ haupt die alles reinen Waſſers; indeſſen müſſen dennoch verſchie¬ dene Umſtände auf die mehr oder minder intenſive Färbung ein¬ wirken, weil einige ſich beſonders durch die prachtvolle Tiefe ihres Blau auszeichnen. Dahin gehören namentlich der Arolla-Gletſcher im Val d'Herins, der Roßboden-Gletſcher an der Simplonſtraße, der vielbeſuchte Roſenlaui-Gletſcher unweit Meyringen im Berner Oberlande, und der obere Grindelwald-Gletſcher. Perſonen, die in die Spalten eines ſolchen mährchenhaft beleuchteten Eisgebäudes eintreten, werden magiſch von einem blauen Lichte übergoſſen, das alle anderen Farben tödtet oder doch abſchwächt und das blühend¬ rothe, geſunde Antlitz erſtirbt in einem fahlen, blaſſen Leichenton. Es iſt ein wirklich geiſterhaftes Blau, eine, man möchte faſt ſagen ſpukhafte Farben-Erſcheinung; denn das gleiche Stück Eis, welches in der Gletſcher-Grotte von ſich aus tief Indigofeurig ſtrahlt, verliert, an das Licht des Tages gebracht, ſein ganzes herrliches Colorit und erſcheint farblos durchſichtig wie jedes andere Stück Fluß - oder See-Eis.

Wir müſſen, um auf die Höhe unſeres Gletſchers zu gelangen, an den Seitenwänden durch wildes Geſtrüpp und über zerklüftete, verwaſchene Gebirgsrudimente emporklettern.

Der erſte Eindruck, den die vordere Gletſcher-Oberfläche auf den Beſchauer macht, iſt in der Regel kein anmuthig überraſchender. 220Der Gletſcher. Die Meiſten ſehen ſchmutzig, wie mit Sand und zerſtoßenem Berg¬ ſchutt beſtreut aus, etwa einen verwandten Anblick bereitend als wie im Frühjahr, wenn nach bedeutendem Schneefall in den Städten Thauwetter eintritt. Es giebt Gletſcher, die dermaßen mit Geröll und Gebirgsunrath überlagert ſind, daß man auf eine lange Strecke hin gar kein Eis erblickt. Dieſer ſchmutzige Bewurf rührt von den Mittel-Moränen oder Guffern her, die wir gleich näher werden kennen lernen.

Je weiter wir empordringen, deſto zerklüfteter wird die Fläche, aber auch deſto reiner tritt der Eiskörper wieder hervor. Da feſſeln denn unſere Aufmerkſamkeit zunächſt auffallend-geſtaltete, riſſig-zer¬ klüftete, pyramidal-emporgezackte, rieſige Eisſplitter, die auf die Bruchkante geſtellt, bald überhangend-geneigt, bald ſtarr und trotzig auf breiter Baſis, in poſitiver Haltung verharrend, das abenteuer¬ lichſte Durcheinander plaſtiſcher Modelle vorführen. Noch einige Schritte hinaufklimmend am Gletſcherrande, erreichen wir einen freien Ausſichtspunkt. Himmel! welche Zerſtörung, welches Klippen - und Zacken-Meer, welches wüſte Formen-Gewirr? Was iſt das Trümmerfeld eines Bergſturzes gegen dieſes, ganz außer dem Gebiete unſerer herkömmlichen Anſchauungsweiſe liegende, mehr als phantaſtiſche Chaos? Hier iſt nicht das Rohe, Steinbrüchige, Abſolut-Anorganiſche der Felſen-Stürzlinge, wie wir es allent¬ halben ſchon ſahen, hier leuchtet unverkennbar bildneriſches Element aus Allem hervor, ein ausgeartetes, uns völlig fremdes Formengeſetz, zu dem wir jedoch den leitenden Gedanken nicht raſch genug herausfinden können, tritt uns entgegen. Unſere Augen ſchweifen beängſtiget und neugierig-ſuchend umher, und immer mehr entdecken ſie eine Grunddispoſition, ohne jedoch den erwünſchten Ruhe - und Anhaltspunkt finden zu können. Hat ein titaniſcher Architekt hier den Verſuch gewagt, dem geiſterhaften Alpenkönige aus Eisquadern ein Luſtſchloß errichten zu wollen, und hat er ſeinen ornamentalen Phantaſieen in bizarrſter Form Körper verliehen,221Der Gletſcher. das Bauwerk aber unaufgeführt liegen laſſen? So drängt ſichs in uns, wenn wir zum Erſtenmal denjenigen Theil eines großen Gletſchers überſchauen, der mit ſ. g. Gletſcher-Nadeln bedeckt iſt. Woher in ganzer Breite dieſe ſeltſame Scherben-Anhäufung? Wollen wir zur Verſtändigung uns eines Vergleiches bedienen, ſo ſagen wir: es iſt der Waſſerfall des Gletſcher-Fluſſes. Wie der Strom da, wo ihm plötzlich ſein Bett fehlt und abbricht, weil auch das Thal eine Stufe macht, in Giſcht und Schaum zerſtäubt hinunter tobt, um dann drunten in einem tieferliegenden Bett ſeinen Weg fortzuſetzen, ſo hat auch hier der langſam-fortrückende Glet¬ ſcher plötzlich den Boden unter ſich verloren, die ſpröden Eismaſſen konnten ſich nicht halten, ſpalteten, riſſen von ihrer Schwere ge¬ drängt ab und ſtürzten hinunter. Aber Brocken auf Brocken häuften ſich dieſelben ſo an, daß die Tiefen-Differenz dem Auge entſchwand und wir nun blos die, in ſtarker Neigung abwärts ſtrebende Ober¬ fläche der Eistrümmer-Summe erblicken. Es würden auch Scherben ſein ähnlich denen, wie wir ſie im Kleinen während des Win¬ ters in den Städten erblicken, wenn der Conditor ſeine Eiskeller neu mit Vorräthen verſorgen läßt; hier aber modelliren unſichtbare Hände an den geſtürzten Gletſcher-Brüchlingen herum, höhlen die¬ ſelben aus, ſchleifen ſie ab, und die verborgenen Künſtler, welche ihnen ſtets neue Formen geben, ſind die Sonne, erwärmte Lüfte, Regenſchlag und rückkehrender Froſt. Dieſe Modelleure und Pla¬ ſtiker lecken und waſchen bald an dieſer, bald an jener Stelle längs der kryſtalliſchen Bruchkanten herum und formen ſo wunderſam, daß aus dieſer nimmerraſtenden Thätigkeit jene ungeordnete und doch einheitliche Geſammt-Wirkung entſteht, welche ſo frappirt. Weil aber alle behülflichen Faktoren von Oben wirken, ſo wird auch die Kuppe der Eistrümmer am Eheſten angegriffen und daher die Obelisken - oder Thurm-ähnliche Form, die man bezeichnend Gletſcher-Nadeln nannte, weil ihre Spitzen oft ungemein ſcharf gegen das Zenith auslaufen. Exemplare von dreißig bis fünfzig222Der Gletſcher. Fuß Höhe ſind am Gorner-Gletſcher ob Zermatt (im Wallis), am Glacier des Bois unterm Chapeau und am Montanvert, ſo wie tiefer drin am Glacier du Talèfre (beide im Chamouny-Thal) und am Paſterzen-Gletſcher beim Groß-Glockner durchaus keine Seltenheiten. Auch der Rhône - und die beiden Grindelwald-Glet¬ ſcher ſind reich an ſolchen. Sie überdecken bei Manchem viertel¬ ſtundengroße Flächen.

Aber, ſo wie die Schaumwolken des Waſſerfalles drunten raſch die gefangenen Luftbläschen wieder entlaſſen und ſich zu der glatten, homogenen Fluß-Fläche wieder vereinen, eben ſo verwachſen die Eis¬ trümmer, nicht weit unter ihrer Katarakt-Linie, mittelſt Kompreſſion, Durchfeuchtung und Wiedergefrieren der eingeſickerten, tropfbar¬ flüſſig gewordenen Abſchmelzwaſſer, bald wieder zu einem Körper - Ganzen, das am Ende die kompakte Gletſcher-Front bildet.

Weiter hinauf! Wir können nun den Gletſcher endlich betreten. Es iſt gegen Mittag und die Sonne ſcheint warm. Wie ganz anders, als wir ſie uns dachten, geſtaltet ſich nun die ziemlich ebene Oberfläche. Sie iſt von tauſend und abermals tauſend Rinnen und Rinnchen durchfurcht, die kreuzend und mäanderiſch ihre Bahnen gebildet haben. Emſig eilen die kleinen Waſſeradern des kaum einen Grad Wärme haltenden, diamantklaren Eiswaſſers größeren bach-ähnlichen Furchen zu, deren Bett ebenfalls aus durchſichtig¬ hellem Gletſcher-Eis beſteht. Dieſe Bäche aber ſtürzen nach kurzem Laufe, laut rauſchend in tiefe, trichterförmige Löcher, Mühlen oder Moulins genannt, in denen ſie ſpurlos verſchwinden. Es ſind geheime Kanäle, die in allerlei Windungen und Verzweigungen bis auf den Felſengrund des Gletſchers hinabreichen und dem aus dem Gletſcherthor hervorquellenden Gletſcherbach Nahrung zuführen. Die ganze ſanft gewölbte Oberfläche des Gletſchers glitzert und leuchtet vom Reflex der Sonnenſtrahlen auf dem blanken, waſſerüberron¬ nenen Eiſe; eine unendlich fieberhaft-zitternde Beweglichkeit iſt über die ganze Eishalde ausgegoſſen, ſo daß ein wie von Monaden223Der Gletſcher. belebtes Flimmern entſteht. Feſten Fußes und ſicheren Trittes läßt ſichs ganz gut über den ſchwitzenden, glanz-erfüllten Gletſcher wan¬ dern; wer aber nicht derb zutritt und etwas Anlage zum Ausgleiten hat, kann verſichert ſein, alle zwei bis drei Minuten im Naſſen zu ſitzen. Dieſe unheimliche Lebendigkeit, dieſes glurrende, ſingende Rieſeln in den netzförmig die Spiegelfläche überſpinnenden Rinnen währt, ſo lange die Sonne ihre auflöſenden, froſt-zerſetzenden Strahlen niederſendet; ſobald dieſe hinter die umſtehenden Berge tritt, ver¬ ſtummt allgemach das kleine Leben, der erſtarrende Todeshauch ſtreift über die Eiswüſte und bindet die rieſelnden Tropfen wieder zu Kryſtallen, und noch ehe es Nacht geworden, lagert lautloſe Grabesſtille auch über dieſem Alpenwinkel.

Das Weiterwandern würde nun gar keine Schwierigkeiten haben, wenn nicht eine neue Zerklüftung des Gletſchers, diesmal aber nicht in aufrecht ſtehenden Trümmern, ſondern nach unten, ſich zeigte. Es ſind die berühmten und berüchtigten Querſpal¬ ten oder Crevasses welche bis zu bedeutender Höhe hinauf den Gletſcher durchziehen. Manche der alpinen Eismeere ſind von dieſen Tiefriſſen ſo durchſetzt und zerborſten, daß ein Wandern über dieſelben faſt zur Unmöglichkeit wird, oder doch in ein Labyrinth führt, aus welchem ſich herauszufinden eine ſchwierige Aufgabe iſt. Es giebt der Beiſpiele genug, daß Reiſende mit Führern bei nebel¬ freiem Wetter, am hellen Tage, auf Gletſchern, die kaum eine halbe Stunde breit waren, deren beiderſeitige Felſenufer man alſo in allernächſter Nähe ſehen konnte, ſich ſo zwiſchen den Spalten ver¬ irrten, daß ſie viele Stunden brauchten, um einen Ausweg zu finden. Beiſpiele von Unglücksfällen ſollen in dem ſpäter folgenden Ab¬ ſchnitte Alpenſpitzen erzählt werden. Die Gletſcherſpalten haben an der Oberfläche gewöhnlich eine ſehr in die Länge gezo¬ gene elliptiſche Form, deren beide Enden ſpitz auslaufen. Breite und Länge derſelben variirt je nach der Abdachung und Mächtig¬ keit der Gletſcher außerordentlich; es giebt ſolche, die, wenn ſie224Der Gletſcher. unlängſt erſt entſtanden, leicht überſprungen werden können, und wiederum ſolche, die zwölf Fuß und mehr breit ſind. Meiſt ſteht dann die Breite im Verhältniß zur Länge-Ausdehnung derſelben, und man hat deren ſchon geſehen, die quer über den ganzen Glet¬ ſcher, von einem Ufer deſſelben, bis zum andern liefen, alſo faktiſch den Gletſcher in zwei Hälften theilten. Nach der Tiefe zu ver¬ engen ſich die meiſten. Der Einblick in dieſelben gewährt in der Regel das gleiche ſchöne Farbenſpiel, wie bei den ſo eben er¬ wähnten Nadeln; beſonders läßt ſich die geaderte Struktur des Gletſcher-Eiſes gut an den Spalten-Wänden beobachten. Die Spalten entſtehen aus ähnlichen Urſachen, wie die Gletſcher-Katarakte; zu ſtarke Spannung der Eismaſſen führen dieſelben herbei. Die Naturforſcher Hugi und Agaſſiz, welche behufs ſpecieller Studien ſich Hütten auf den Gletſchern erbauen ließen und Wochen lang dort verweilten, haben das Spaltenwerfen genau beobachtet. Es kündete ſich durch ein krachendes Getöſe im Innern des Eiskörpers an, welch letzterer, ähnlich wie bei einem Erdbeben, erzitterte. Bald darauf zeigten ſich Riſſe wie die einer geſprungenen Fenſterſcheibe an der Oberfläche, deren Fortrücken und Längerwerden mit den Augen verfolgt werden konnte. Oft war es jedoch auch der Fall, daß die Spalte unmittelbar nach ihrer Entſtehung ſofort mehrere Cen¬ timeter weit auseinander klaffte. Die Erweiterung bildet ſich dann nach und nach immer mehr aus. Es iſt indeß entgegengeſetzt auch beobachtet worden, daß bereits ausgebildete, breite und tiefe Glet¬ ſcherſpalten, in Folge der Konfiguration des Gletſcher-Bodens, ſich wieder ſchloſſen und gleichſam vernarbten. Gewöhnlich ſieht man nur wenige mit Waſſer gefüllt, weil einerſeits viele derſelben mit unterirdiſchen Tunnels und Kanälen in Verbindung ſtehen mögen, mittelſt welcher das aufgenommene Gletſcherwaſſer ſogleich weiter¬ befördert und dem Hauptbache zugeſandt wird, andererſeits weil die, vom gewöhnlichen Fluß - oder See-Eis weſentlich verſchiedene Struktur des Gletſcher-Eiſes eine ununterbrochene Infiltration des225Der Gletſcher. Waſſers zuläßt. Letzteres iſt viel poröſer als das durch ſtarken Froſt aus flüſſigem Waſſer entſtandene Eis. Das Gletſcher-Eis, welches, wie ſchon oben bemerkt, mittelſt einer Menge von Me¬ tamorphoſen aus dem kryſtalliſirten Schnee der Hochgebirge ſich ausbildet, enthält allenthalben ſehr kleine, linſenförmige, plattge¬ drückte Luftbläschen und iſt durch und durch von unendlich fei¬ nen Haarſpalten nach allen Seiten und Richtungen hin durch¬ woben, welche ſofort Flüſſigkeiten, die über dem Eis ausgeleert werden, aufnehmen und einſaugen. Profeſſor Agaſſiz ſtellte Verſuche mit aufgelöſtem Farbſtoff an und ſah denſelben, mittelſt der unend¬ lich feinen Aederchen, das ganze Stück Eis ſchleunigſt durchdringen, als ob es ein aufſaugender Schwamm wäre; binnen kurzer Zeit war es bis auf 15 Fuß Tiefe von dem Fernambuc-Waſſer roth gefärbt.

Vermöge dieſer, dem Gletſcher-Eiſe eigenen hohlen Räume entwickelt ſich auch in demſelben die allſeitigſte, größte Thätigkeit. Der jetzige Forſt-Inſpektor des Kantons Graubünden, Herr Coaz (erſter Erſteiger der Bernina-Spitze, deſſen Mittheilungen wir noch einigemal erwähnen werden) hatte behufs topographiſcher Ver¬ meſſungen des Val Morteratſch, ſein Zelt unweit des Gletſcher - Randes aufgeſchlagen und unternahm von dort aus ſeine Excur¬ ſionen. Die Seiten-Rande der Gletſcher ſind ſehr mannigfaltig gebildet; bald liegen ſie ruhig und geſchloſſen unmittelbar an der Thalſeite an, bald erheben ſie ſich in ſenkrechten, zerborſtenen Eiswänden, bald überbauen letztere die Ufer, ſo daß man ein gutes Stück unter den Gletſcher hineingehen kann. An manchen Stellen finden ſich Moränen zu Seiten-Wällen angehäuft, an anderen gränzt die ſaftige Alpenweide unmittelbar an das Eis. Einſt beſuchte er auch gegen Mittag an einem trüben, nebeligen Tage, eine Gletſcherhöhle, die vom Rande des Morteratſch-Gletſchers (Bernina-Gruppe) ſich gegen die Thalſohle ſenkte. Er ſtieg unter die 5 bis 6 Fuß hohe Wölbung hinein und beobachtete die über ihm hangenden Eismaſſen mit ihren rundlichen oder ovalenBerlepſch, die Alpen. 15226Der Gletſcher. Blaſenräumen; durch einige derſelben tröpfelte Waſſer in regel¬ mäßigen Pulsſchlägen. Zugleich bemerkte er aber im Eis an den gleichen Stellen kleine Waſſerwirbel von etwa ½ Zoll Durchmeſſer, die mit großer Schnelligkeit ſich bewegten. Da er ſie früher nicht geſehen hatte, ſo mußten ſie erſt während der Beobachtung, wahr¬ ſcheinlich durch die ausgeſtrömte Körperwärme entſtanden ſein. Daß die Vertiefung, in welcher der Wirbel ſich drehte, ein zu Tage geſchmolzener Blaſenraum ſei, durfte mit Gewißheit angenommen werden. Um nun eine Rinne zu entdecken, welche durch das Eis zu Häupten der Beobachter dem Wirbel das Waſſer zuführe, nahm Herr Coaz die Loupe zur Hand, konnte jedoch nichts entdecken. End¬ lich half ihm ein kleines ſchwarzes Stäubchen, das an der Ober¬ fläche des hangenden Eisgewölbes hinſchoß, aus ſeinen Zweifeln und beſtätigte die Annahme der vermutheten feinen Rinne. Sie lief in ſchiefer Richtung nach der kleinen Vertiefung zu und führte den Wirbel herbei. Bald darauf beobachtete er zwei ſolcher Wir¬ bel nahe bei einander, die entgegengeſetzte Strömung zeigten. Als ſie weiter in die Höhle eindrangen, wurde das Eis immer blaſenfreier, reiner und dunkler in der Färbung. Die Eiswände waren ganz naß; an verſchiedenen Stellen tröpfelte Waſſer vom Gewölbe, der Gletſcher befand ſich in ſeiner größten Lebensthätig¬ keit. Hier nahm eine wunderbare Erſcheinung die Aufmerkſam¬ keit des Beobachters ganz beſonders in Anſpruch; es war ein kleiner, faſt einen Fuß Breite meſſender Bach, der über dem Kopfe des Beſuchers an der etwas geneigten, äußerſt poröſen Eisdecke feſtgehalten, raſch dahinfloß. Ein ſolches Phänomen frappirt un¬ gemein, indem hier das Waſſer nur theilweiſe dem gewaltigen Geſetze der Schwere folgend, demſelben faſt Hohn zu ſprechen ſcheint. Bezeichnend nannte er dieſe Erſcheinung Hangende Bäche. Noch tiefer drinnen öffnete ſich eine Spalte, durch welche von oben ein voller Lichtſtrom ſich ergoß und in dem kryſtallhellen Eiſe das reinſte, mildeſte, lichteſte Blau erzeugte, wie es nur die Tiefe der227Der Gletſcher. geheimnißvollen Gletſcherwelt bewahrt. Dieſe bietet überhaupt für den forſchenden Geiſt wie für das empfängliche Gemüth weit mehr, als der erſte flüchtige Beſuch eines Gletſchers vermuthen läßt.

Das Empordringen an den Ufern eines Gletſchers iſt mitun¬ ter nicht minder ſchwierig und gefahrvoll als wie der Aufmarſch über die, mittelſt Schneebrücken verdeckten, tiefen Gletſcherſpalten. Ein von Prof. Forbes (aus Edinburgh) erzählter Vorfall möge bei¬ ſpielsweiſe das Geſagte beſtätigen und zugleich zeigen, wie ſehr gefährlich das Allein-Reiſen auf Gletſchern iſt; über die Schneebrücken fin¬ den ſich weitere Mittheilungen in dem Abſchnitte Alpenſpitzen.

Mitte September 1842 beſuchte Herr Forbes von Chamouny aus das einſame, im ſ. g. Mer de Glace gelegene Vorgebirge Tré¬ laporte, einen Felsrücken öſtlich unter der Aiguille de Charmoz. Da daſſelbe nirgends hin führt, ſo pflegt es höchſtens von den Schäfern beſucht zu werden, welche von Zeit zu Zeit heraufkommen, um ihren auſſichtslos in der Einöde während des Sommers wei¬ denden Schaafen Salz zu bringen. Herr Forbes, mit dem Skizziren der kühnen Umriſſe der Aiguille du Dru und du Moine beſchäfti¬ get, ſandte ſeinen Führer Auguſt Balmat nach Trinkwaſſer aus, welches, da das Vorgebirge Trélaporte nur aus öden Granitmaſſen beſteht, ſchwer zu finden iſt. Als der Führer nach ½ Stunde noch nicht zurückgekehrt war und zu befürchten ſtand, daß er ſich unter den wilden Felſen verirrt habe, ſo brach der Naturforſcher ſelbſt auf, ihn zu ſuchen. Nach einiger Zeit ſah er ihn mit zwei Bur¬ ſchen aus Chamouny, die nach der berühmten Gletſcher-Inſel Jardin gehen wollten, daher kommen. Sie führten einen Mann, der völlig erſchöpft und geiſtesabweſend zu ſein ſchien und deſſen Anzug in Fetzen herabhing. Auch der Führer Auguſt zeigte ſich ſehr ermattet, denn er hatte, um den fremden Mann zu retten, ſich den größten Gefahren ausgeſetzt. Der Fremdling, ein Ameri¬ kaner, der am Morgen des vorhergehenden Tages allein aufgebro¬ chen war, das Mer de Glace zu durchwandern, hatte, an den ein¬15*228Der Gletſcher. ſamen Abhängen von Trélaporte emporkletternd, ſich verſtiegen und die ganze Nacht auf einer faſt unnahbaren Klippe zugebracht. Nach ſeiner Erzählung war er am vorhergehenden Nachmittage ausgeglitten, an einem Felſen herabgeſtürzt, und wäre wahrſcheinlich zerſchmettert in der Tiefe angekommen, wenn nicht ſeine Kleider an wil¬ dem Geſträuch hangen geblieben wären und ſo ſeinen völligen Todes¬ ſturz gehemmt hätten. Darauf hatte er eine Felsplatte erreicht, die, rings von ſchauerlichen Abgründen umgeben, für ihn zum hoffnungsloſen Gefängniß ward. Die Nacht war nicht allzu kalt, ſo daß er ſein Leben unter zerſetzender Angſt zu friſten vermochte, und als es Tag geworden war, hatte er die beiden jungen Männer in großer Ferne erblickt und ſie durch Rufen herbeigezogen. Die kühnen Berg¬ gänger kletterten nun zwar auf weiten Umwegen ſo nahe herzu, daß ſie über ihm ſich poſtiren konnten; aber ihre gemeinſchaftlichen Anſtrengungen würden nicht ausgereicht haben, ihn zu erlöſen, wenn nicht, wie durch eine Fügung der Vorſehung, Herr Forbes am gleichen Morgen dieſe ſelten beſuchte Gegend betreten und ſeinen Führer nach Waſſer ausgeſandt haben würde. Während dieſer nun nach Waſſer ausſpähte, erblickte er die mit Rettungsverſuchen ſich abmühenden Burſchen und ſchloß unaufgefordert ſich ihnen an. Seinem ſeltenen Muthe, ſeiner Ausdauer und Verwegenheit, ſo wie ſeinen enormen phyſiſchen Kräften gelang es endlich, den Aermſten aus einer Lage zu befreien, in welcher ſelbſt die verwegene Gemſe umgekommen wäre. Balmat erzählte, daß er, an einer faſt glatten Felſenwand, gleichſam klebend, ſeinen Fuß habe ausgleiten fühlen, als er das ganze Gewicht des fremden Mannes auf ſich trug, und ſchon ſich und den Anderen verloren gegeben habe, als er ſich noch anklam¬ mern und halten konnte. Nachdem Herr Forbes Alle mit Wein ein wenig geſtärkt hatte, ſandte er den Fremden, deſſen Gehirnnerven be¬ denklich afficirt zu ſein ſchienen, in Begleitung der beiden Burſche nach Chamouny hinab, während er mit Balmat ſelbſt den Schreckensort aufſuchte. Seine ausführliche Schilderung deſſelben beſtätigt, daß es229Der Gletſcher. eine mit Gras und Wachholder-Gebüſch bewachſene, nur einen Fuß breite und wenig Fuß lange Felſenplatte war, die im Rücken von einer beinahe überhangenden Granitwand geſchloſſen wurde und vorn mehrere Hundert Fuß ſenkrecht abſtürzte. Es mußte faſt wie ein Wunder erſchei¬ nen, daß der Unglückliche überhaupt rutſchend oder fallend dieſen Punkt erreichen konnte; ohne das aufhaltende, ſeinen Sturz hemmende Geſträuch, in welchem noch Fetzen der zerriſſenen Blouſe hingen, wäre er über die Felſenplatte hinaus, ohne dieſelbe zu berühren, der Tiefe zugeſtürzt. Auf dieſer Plattform, die kaum genügenden Raum für einen Menſchen bot, mußte der Fremde die ganze lange finſtere Nacht über, ohne einen Fuß zu regen, aufrecht ſtehend zubringen, immer den gräßlichen Tod des Verhungerns oder des zerſchellenden Sturzes vor Augen, ohne Ausſicht und Hoffnung auf Errettung.

Die Zerklüftung der Ufer iſt die Erzeugerin der Moränen. Werfen wir einen Blick auf die unſerem Buche beigeheftete Ab¬ bildung eines Gletſchers (zu welchem die mittlere Parthie des Gornergletſchers mit dem Riffelhorn und dem Monte Roſa im Hintergrunde, die Motive abgaben, während das Gletſcherthor um ein inſtruktiv-überſichtliches Bild zu geben verkürzt einge¬ zeichnet wurde), ſo erblicken wir hinter der Region der Gletſcher - Nadeln, langgezogene Steinlinien, welche ſich weit bis in die Per¬ ſpective fortſetzen. Dies ſind die Moränen oder Gandecken, auch Gufferlinien genannt. Was Hitze und Froſt, Regen und Unwetter an den Gebirgsmauern zerſetzen, losſpalten, ab¬ bröckeln, das fällt hinunter auf die Firnfelder (wenns in den Hochregionen iſt) oder auf die Gletſcherränder und rückt mit dieſen Maſſen fort. Der Firn wie der Gletſcher haben ſozuſagen eine ausſtoßende Kraft, ſie leiden keine fremden Stoſſe in ihrem Körper; was Jahre lang in Firnſchründen begraben lag, wird durch die Abſchmelzung der Oberfläche und den gleichſam hebenden Druck im Fortrücken, nach und nach auf den Rücken des Eiskör¬ pers gebracht. So auch die Felſenbrocken. Triffts nun, daß,230Der Gletſcher. ähnlich der Ineinander-Mündung zweier Flüſſe, zwei Gletſcher¬ thäler zu einem Strombett ſich vereinigen, alſo das aus zwei verſchiedenen Heimath-Kammern ſtammende Eis gemeinſchaftlich ſeinen Weg nach der Tiefe zu fortſetzt, ſo vereinigen ſich auch die beiden inneren Rand - oder Seiten-Moränen zu einer Mittel - Moräne und zeigen nun eine Gufferlinie längs der ganzen Mitte des Gletſchers. So viel Seiten - oder Sekundär-Gletſcher in den Haupt-Gletſcher münden, ſo viele Gufferlinien entſtehen. Unſer Bild zeigt drei Central-Moränen, in Wahrheit aber hat der Gornergletſcher acht Gufferlinien, die ſich durch Schärfe und Pa¬ rallelismus auszeichnen. Die Maſſenhaftigkeit des hier angehäuf¬ ten Bergſchuttes iſt oft ſo bedeutend, daß man auf einer unmit¬ telbar vom Gebirge gebildeten Trümmerhalde zu ſtehen wähnt. Die Central-Moräne beim Abſchwung , welche aus der Mündung des Finſter - und Lauter - Aargletſchers entſteht, auf der die Na¬ turforſcher Hugi und Agaſſiz ihre Hütten behufs mehrwöchentlicher Beobachtungen und Meſſungen errichten ließen, iſt ein Schuttwall von beinahe 400 Fuß Breite und ſtellenweiſe 30 Fuß Höhe über dem Gletſcher-Niveau. Oft ſind jedoch dieſe Moränen auch nur ſchmale Reihen, gleichſam perlenſchnur-ähnlich mit kleinen Unter¬ brechungen fortlaufender, einzelner Steine, die über die ganze Länge des Gletſchers hinabſteigen. Mit auffallender Beharrlich¬ keit halten dieſe Steinlinien die eingeſchlagene Richtung feſt und verlieren ſie oft ſelbſt dann nicht ganz, wenn ein großer Gletſcher¬ bruch mit ſeinen Nadeln und Scherbenkoloſſen ihre Direktion unterbricht.

Außer den eigentlichen Moränen begegnen wir auf dem ſanft¬ gewölbten Rücken des Gletſchers noch ſeparirten Steinblöcken, gleichſam ſich abſchließenden Sonderlingen oder Einſiedlern, die, weil ſie rundum vom verwandten Geſteins-Material entblößt ſind, den Atmoſphärilien Gelegenheit zu höchſt auffallenden, mit dem Entſtehen und der Geſtalt der Gletſcher-Nadeln verwandten Eis¬ bildungen geben; es ſind die ſogenannten Gletſchertiſche. 231Der Gletſcher. Bei dem während der warmen Jahreszeit ununterbrochen andauern¬ den Abſchmelzen der Gletſcher-Oberfläche, wird diejenige Stelle des Eiſes, auf welcher ein derber Steinblock, eine dicke Gneis¬ oder Schiefer-Platte liegt, vor den auflöſenden, unmittelbaren Ein¬ wirkungen der Sonnenſtrahlen und warmen Winde geſchützt; es iſt alſo natürlich, daß rundum die Eisfläche allmählig abſchmilzt, während derjenige Theil des Eiskörpers, der von dem Steine be¬ deckt iſt, konſervirt wird, gleichſam ausgeſpart ſtehen bleibt. So wächſt der Eisträger oder Pfoſten, wie der Fuß eines runden Tiſches, allgemach aus dem Gletſcherboden, wird an den Seiten von der ihn umſtreichenden, einige Grad Wärme haltigen Luft ſtets beleckt und abſchmelzend gemindert, ſchlanker geformt, während die aus dieſer Eisſäule ruhende Steinplatte gegen die energiſchen Sonnen¬ ſtrahlen und deren raſch wirkende Schmelzkraft ſchirmt. Solche Gletſchertiſche, faſt wie rieſige Pilze ausſehend, finden ſich nicht auf allen Gletſchern, doch aber auf den meiſten großen. Die ſchönſten trifft man auf dem Unteraar-Gletſcher, wo Agaſſiz Fußgeſtelle bis zu acht Fuß Höhe maß, auf dem Theodul-Gletſcher (Unterm Matterhorn) mit Platten von 20 Fuß Länge und 6 Fuß Breite, während der Eisfuß oft ſo dünn iſt, daß man ihn umſtürzen zu können glaubt, häufig auf dem Liapey - oder Durand-Gletſcher im Val Hérémence (Wallis) mit Platten von 30 Grad Neigung, auf dem Paſterzen-Gletſcher in Tyrol. Auf dem Glacier de Léchaud (Montblanc-Maſſe) traf Prof. Forbes ſogar einen Gletſcher¬ tiſch, der aus einer prächtigen flachen Granitplatte von 23 Fuß Länge, 17 Fuß Breite und etwa 3 Fuß Dicke beſtand und deſſen ſchöngeadertes, zierliches Eis-Piedeſtal bis Ende Auguſt eine Höhe von dreizehn Fuß erreichte. Wird dann das Untergeſtell zu ſchwach, ſo daß die Steinplatte ihr Gleichgewicht verliert, ſo ſtürzt dieſe herab, und ſofort beginnt der Abſchmelzungsproceß rund um die Platte aufs Neue, während der Eisrumpf des zerſtörten Tiſches von den Atmoſphärilien vollends aufgelöſt wird.

232Der Gletſcher.

In auffallendem Gegenſatze zu dieſen, über das Gletſcher - Niveau emporgehobenen, großen Felstrümmern und der früher er¬ wähnten, gleichſam ausſtoßenden Kraft der Gletſcher, ſteht das Einſinken kleinerer Gegenſtände in das Eis. Wir finden dürre, vom Winde heraufgewehte Laubblätter, todte Schmetterlinge und Käfer oder kleine Steine auf dem Gletſcher, die 1 bis Zoll tief in das Eis eingeſunken ſind. Daß dieſelben nicht eingebacken in den Firn aus den Höhen heruntergebracht und hier erſt wieder an die Oberfläche befördert wurden, beweiſen die ſcharfen Konturen des nach oben offenen Loches, welche ganz genau den Umriſſen des fraglichen Gegenſtandes entſprechen. So ſehr nun dieſe Thatſache den anderen Erſcheinungen widerſpricht, ſo erklärlich iſt dieſelbe. Be¬ kanntlich nehmen Körper je nach ihrer mehr oder minder dunklen Färbung ein größeres oder kleineres Wärme-Quantum auf; ſchwarze Körper am Meiſten. Es iſt alſo begreiflich, daß die Inſolation oder Sonnenſtrahlung auf ſolche dunkle Gegenſtände draſtiſcher ein¬ wirkt als auf das weiße, die Sonnenſtrahlen zurückſtoßende Eis und dieſe Körper in Folge größerer Menge aufgenommener Wärme, dieſe gegen das unter - und um-liegende Eis ausſtrahlen, alſo dadurch Abſchmelzung verurſachen. Ebendeshalb, weil die Gegen¬ ſtände klein ſind, werden ſie ganz von der Sonnenwärme durch¬ drungen; große Felſenplatten wie bei Moränen und Gletſchertiſchen werden nur an der Oberfläche erhitzt, ohne die aufgenommene Wärme ſo weit in ihrem Innern nach unten fortpflanzen zu können, daß dadurch eine Schmelzung des unterliegenden Eiſes herbeige¬ führt würde.

Zu den Moränen und Gletſchertiſchen geſellt ſich endlich noch eine dritte verwandte Erſcheinung, welche uns beim Beſuche eines ſolchen Eismeeres auffällt: die Schuttkegel und Sandhügel. Sie entſtehen einfach dadurch, daß bei lebhafter Schmelzung der Gletſcher - Oberfläche, Steinchen, Grien und Geröllſchlamm von den Schmelz¬ bächen zuſammengeſchwemmt werden, ſo daß ſie kleine Alluvial -233Der Gletſcher. Ablagerungen bilden. Dieſe ſchützen vermöge ihrer Dicke das darunterliegende Eis gegen die Wirkungen der Sonnenſtrahlen, während der rundum frei zu Tage tretende Gletſcher abſchmilzt; ſo bilden ſich jene den Maulwurfshaufen ähnlichen Hügel, die bis 12 Fuß hoch werden und meiſt den dreifachen Umfang ihrer Höhe einnehmen.

Alle dieſe fremden, dem Gletſcherrücken aufgebürdeten Felſen - Rudera werden durch den Gletſcher zu Thale transportirt und geben ſelbſt eins der weſentlichſten Beweismittel von der Bewe¬ gung dieſer Eisſtröme ab. Die Menge der auf ſolche Art aus den Hochregionen in die Tiefen getragenen Trümmer iſt außerordentlich verſchieden und läßt ſich nur nach den Stirnwällen oder Front¬ moränen ſchätzen, welche im Laufe der Jahrtauſende ſich am Ende des Gletſchers abgelagert haben. Die rieſigſten Stirnwälle finden ſich am Fuße des Bois-Gletſchers im Chamouny-Thal, von denen der aus dem Jahre 1820 ſtammende die jüngſte der großen Ab¬ lagerungen iſt. Eine gräuliche Wildniß von Steinen jeder Größe und Geſtalt hat alle frühere Wieſen-Kultur verdrängt, und ein jetzt bewaldeter Moränenberg von ſechstauſend Fuß Länge, les Tignes genannt, zeigt, was ein einziger Gletſcher zu Thal ſchafft. Jetzt liegt das Dorf Lavanchi am öſtlichen Abhange des koloſſalen älteſten Steinwalles. Einer der herniedergeſchafften Fel¬ ſen iſt ſo groß, daß man ihm, als ſelbſtſtändigem Individuum, einen Eigennamen: Pierre de Lisboli gab.

Die Thatſache, daß jeder Gletſcher wandert und ſich jährlich eine beſtimmte Strecke vor - oder abwärts bewegt, iſt eine erſt neuere Entdeckung der Wiſſenſchaft, während das Gebirgsvolk die¬ ſelbe ſchon ſeit Jahrhunderten kannte. So ſehr dem Tiefländer die Erſcheinung konſtant ſich fortbewegender, auf hartem Grund und Boden der Tiefe zuwandernder, ſpröder Eismaſſen befremdend ſein mag, ſo wenig erklärlich würden dem Gebirgsbewohner ſtill ruhende, lokal an die Scholle gebannte Eisflächen ſein. Die234Der Gletſcher. Bewegung der Gletſcher iſt eine durch die Abdachungsverhältniſſe der Gletſcherbette bedingte und darum ſehr verſchiedene. Im All¬ gemeinen bewegt ſich der Gletſcher in der Mitte ſeines Körpers raſcher als an den beiden Uferſeiten, in der Höhe ſtärker als in der Tiefe. Nach Agaſſiz und ſeiner Gefährten Meſſungen auf dem Aargletſcher, während der Monate Juli bis September in verſchie¬ denen Jahren, betrug das Fortrücken täglich etwa 8 Zoll. Pro¬ feſſor Forbes fand an einigen Gletſchern des Montblanc noch eine raſchere Bewegung. Doch läßt auch hier ſich durchaus keine nor¬ male Durchſchnittszahl aufſtellen, indem der Einfluß der mittleren Jahrestemperatur erfahrungsgemäß außerordentlich einwirkt. Nach den von Ziegler am Grindelwaldgletſcher angeſtellten Beobachtun¬ gen über die Bewegung im Winter, zeigte ſich dieſelbe im Januar am Schwächſten, etwas entſchiedener im December, bedeutend leb¬ hafter im Februar, und noch mehr zunehmend im März und April. Ueberhaupt ſcheint jeder Gletſcher während des Winters ziemlich zu ruhen und im Frühjahre mit dem Erwachen der Natur auch ſeine Thätigkeit aufs Neue aufzunehmen. Aber nicht blos im All¬ gemeinen an der Oberfläche iſt die Bewegungsfähigkeit der Glet¬ ſcher eine verſchiedene, ſondern auch nach ihrer vertikalen Tiefe zu, ſo daß die größte Bewegung an der Oberfläche ſich zeigt, eine verminderte in der Mitte, und die geringſte in der dem Felsboden aufliegenden Tiefe.

Die Gletſcher-Theorie ſtellte ſchon ſehr verſchiedene Behaup¬ tungen und Folgerungen über die Natur der Gletſcher-Bewegung auf. Die älteſten Unterſucher, namentlich der geiſtreiche, um die Naturgeſchichte und Phyſik der Alpen ſo hochverdiente de Sauſſure nahm ein beſtändiges Gleiten der Eismaſſen über den geneigten Boden an; Andere und unter ihnen der noch ältere Scheuchzer, ſchrieben der durch den Froſt herbeigeführten Ausdehnung der kry¬ ſtalliſirten wäſſerigen Subſtanzen die Hauptſchiebekraft zu und ſchufen die Expanſions - oder Dilatations-Theorie. Prof. Hugi, der die235Der Gletſcher. oben beſchriebenen Haarſpalten kennen gelernt hatte, nahm einen all¬ gemeinen Durchfeuchtungs-Proceß an, gleichſam als ob der Glet¬ ſcher wie ein Schwamm flüſſig-wäſſerige Beſtandtheile in Menge aufnähme, dieſe dann gefrören und dadurch ein Treiben nach der Tiefe zu herbeigeführt würde. Noch Andere wollten ein eigent¬ liches Rollen oder Wälzen der Eismaſſen beweiſen. Nach allen bisherigen Unterſuchungen ſcheint ganz beſonders die von oben herab drängende, drückende Schwere der, hinter dem Gletſcher la¬ gernden, ungeheueren Schneemaſſen die vornehmſte, unaufhörlich wirkende Haupttriebkraft zu ſein, welche den ſtarren Eisſtrom in Bewegung hält (Gravitations-Theorie). Demnächſt mag das Weichen der Maſſen an den Sturzſchwellen und an der Front weitere Ur¬ ſache zum leichteren Nachrücken geben. Endlich mag aber auch die durch die Haarſpalten begründete größere Nachgiebigkeit des Eiſes zu dem ganzen auffallenden Phänomen das Ihrige beitragen.

Wo dieſe Eisſtröme der Alpen durchgehends, bis an ihr Ende, in geneigten Gebirgsrinnen ſich fortbewegen, da hat der Bergbe¬ wohner, welcher ſie nicht betritt, auch nichts von denſelben zu fürch¬ ten. Anders iſts mit denjenigen Gletſchern, welche in der Höhe ſich bilden, eine Zeit lang normal ihren Weg fortſetzen, plötzlich aber das Bett verlieren, weil das Felſen-Individuum, auf welchem ſie ruhen, jähwandig abſinkt. Solche, die man hangende Glet¬ ſcher nennt, brechen begreiflich, wo ſie an der Sturzwand ankom¬ men, trümmernweiſe los und ſtürzen als Gletſcher-Lauinen zu Thal. Begreiflich hat ſich die Kultur und der menſchliche Fleiß am Fuße ſolch unermüdlicher Eisſchleuderer nicht angeſiedelt und ſie entladen ihr Bruchmaterial ohne Schaden in wüſte Gründe. Doch aber giebt es Beiſpiele genug, daß ſolche Gletſcher-Stürze dennoch im bebauten Lande und in den bewohnten Gegenden mittelbar un¬ berechenbaren Schaden anrichteten. Das markanteſte Beiſpiel die¬ ſer Art iſt das Unglück, welches der Gietroz-Gletſcher oder viel¬ mehr deſſen angehäufte Sturzmaſſen am 16. Juni 1818 im Bagne¬236Der Gletſcher. thal und Unterwallis anrichteten. Erſteres ſtellt fünf Stunden oberhalb Sembranchier einen ſehr engen Schlund dar, im Sü¬ den von dem ſteilen Bollwerk des Mauvoisin, gen Norden von dem 11400 Fuß hohen Mont Pleureur beherrſcht, deſſen Fuß eine etwa 500 Fuß hohe Felſenwand bildet. Ueber dieſe hängt, von den hohen Firn-Regionen herniederkommend, der Gietroz-Gletſcher. Zu allen Jahreszeiten und faſt täglich ſtürzen von demſelben un¬ förmliche Eislaſten ins Thal hernieder, häufen ſich unten an der Felſenwand zu rieſigen Gletſchertrümmerhügeln, unter denen das wilde Thalwaſſer, die Dranſe hervorbricht. Während der Jahre 1815 bis 1818 hatten ſich die Eisbrüchlinge in zuvor nie geſehener Weiſe vermehrt, und im Winter des zuletzt gedachten Jahres ver¬ ſtopfte ſich der immer enger gewordene, gewölbe-ähnliche Abfluß dermaßen, daß er zuletzt gänzlich zufror und der Dranſe nicht den mindeſten Abfluß geſtattete. Der Eisdamm zog ſich quer durchs ganze Thal, lehnte ſich zu beiden Seiten an die Bergwände an und hatte eine Höhe von mehr als zweihundert Fuß erreicht. Be¬ greiflich ſtaute ſich das Flußwaſſer immer mehr und mehr an und bildete endlich einen See, der eine halbe Stunde lang und gegen 700 Fuß breit war. Mit Entſetzen ſahen die Bewohner von Lourtier, Champsec, Chables bis hinaus nach Martigny das fortwährende Wachſen der Waſſermaſſe. Der Druck derſelben wurde immer mächtiger, heftiger und es ließ ſich vorausberechnen, daß beim Eintreten der warmen Jahreszeit der Damm nicht genügende Widerſtandsſtärke beſitzen werde, um einen radikalen Durchbruch zu verhüten. Viele Ortſchaften wanderten förmlich aus, indem ſie beim Beginn der einigermaßen milden Jahreszeit mit Habe und Gut in die höher gelegenen Alphütten flüchteten. Ingenieure, nament¬ lich der geniale Venetz, unterſuchten den Stand und riethen an: eine große Rinne in den Eisdamm zu hauen, ſo weit er noch nicht vom Waſſer beſpült ſei, ſo daß, wenn der See noch ſteigen würde, er durch dieſe Rinne ſeinen allmähligen Abfluß finde; zugleich237Der Gletſcher. glaubte man, daß das abfließende Waſſer die Oeffnung tiefer ſchmelzen, alſo erweitern werde und dadurch nach und nach der ganze See, ohne Schaden anzurichten, geleert werden könne. Aber leider währten die Berathungen und gutachtlichen Berichte zu lange. Man hatte zwar unter Venetz's Leitung einen 700 Fuß langen Stollen ins Eis getrieben, der anfänglich ganz die erwarteten und gewünſchten Dienſte leiſtete und einen weſentlichen Theil des Sees ſchadlos ableitete. Aber die heiße Juniſonne und die Waſſerwärme bohrten und fraßen ſo eindringlich an dem Eisdamme, daß derſelbe am Nachmittage des 16. Juni 1818 nicht mehr widerſtehen konnte, einbrach und nun eine Waſſermaſſe von 530 Millionen Kubikfuß mit Einemmal, bei einer ſchier raſenden Geſchwindigkeit, durch das ganze Thal herabfluthete. Was den unbändig einherjagenden, völ¬ lig entfeſſelten Wogen im Wege lag, wurde eine Beute derſelben; ganze Dörfer ſchwemmte die reißende Fluth hinweg, zuſammen mehr als fünfhundert Gebäude; Tannen, ſchlank und ſchaftmächtig wie die Cedern des Libanon, kämpften in den Wellen mit hausgroßen Eis¬ blöcken, und im Grunde der tobenden Furie kanonirten mit dumpfem Donner-Gebrüll die hinweggeriſſenen Felſen-Brocken. Schutt, Ge¬ röll und Unrath überdeckten das ganze Bagne - und Rhône-Thal bis hinab an den Genfer-See. Trotzdem, daß durch Signale alle Thalbewohner von dem gräßlichen Ereigniß eilends in Kenntniß geſetzt und verwarnt wurden, büßten dennoch 34 Menſchen ihr Le¬ ben dabei ein. Den verurſachten Schaden ſchätzte man auf eine Million alter Schweizerfranken. Mit dieſem entſetzlichen Vorfall war aber das Uebel durchaus nicht gehoben; ſchon im nächſten Jahre war der Gletſcher-Damm aufs Neue zu faſt gleicher Höhe an¬ gewachſen und drohte mit Wiederholung der Schreckens-Kataſtrophe. Da leitete der Ingenieur Venetz Quellwaſſer mittelſt langer Holz¬ rinnen auf den Eisdamm und entfernte durch dieſes erwärmte Waſſer, welches wie eine Säge einſchnitt, eine Parthie Eis nach der an¬ deren, ſo daß ohne allen Schaden die Gefahr abgewandt wurde. 238Der Gletſcher. Seitdem muß faſt regelmäßig jährlich die Operation wiederholt werden.

Ein Seitenſtück zum Gietroz iſt der Biesgletſcher im vielbe¬ ſuchten Nicolaus-Thal (Kanton Wallis). Er hängt mit einer Nei¬ gung von etwa 45 Grad an der öſtlichen Abdachung des koloſſalen Weißhornes und würde in ſeiner ganzen Mächtigkeit herabſtürzen, wenn ihn nicht der Froſt an den Boden heftete. Daß die Laſt aber zeitweiſe das Uebergewicht über dieſes Bindemittel gewinnt, haben die entſetzlichen Gletſcher-Stürze der Jahre 1636, 1736, 1786 und ganz beſonders der vom 27. December 1819 bewieſen. Letz¬ terer zerſtörte lediglich durch den Luftdruck das jenſeit des Thales, an den Abhängen des Grabenhornes, gelegene Aelpler-Dorf Ran¬ dah. Häuſer und Ställe wurden kopfüber weitweg zur Seite ge¬ ſchleudert, Mühlſteine fand man auf Kanonenſchuß-Weite von ihrem ehemaligen Beſtimmungsorte, Dachbalken waren eine Viertelſtunde höher hinauf in einen Wald geworfen worden, die Spitze des Kirchthurmes ſtak verkehrt wie ein in den Boden getriebener Keil in einer Wieſe, Vieh lag zerquetſcht mehrere Hundert Klaftern durch die Luft getragen, weitumher und nahe an hundert Häuſer wurden beſchädigt. Wunderbarer Weiſe verloren nur wenig Menſchen bei dieſer Kataſtrophe das Leben. Der Gletſcher hat ſeit dieſem Radikal-Sturze wieder ſo an Maſſe gewonnen, daß ein ähnliches Ereigniß in vielleicht nicht zu langer Zeit zu befürchten ſteht.

[239]

Alpenglühen.

Ein Feuermeer liegt an des Himmels Rande,
In das die Sonn 'ihr breites Antlitz taucht:
Schon ſchweben Wölkchen auf aus jenem Brande,
Und glänzen hell, in gleiche Gluth getaucht;
Ihr letzter Blick hängt zitternd auf dem Lande,
Nach welchem ſie ein kühles Lüftchen haucht,
Und nur die Wölkchen ſind, als ſie verſunken
Dort ruht, von ihrer Roſengluth noch trunken.
L. Pyrker.

Es iſt erreicht, unſer faſt 8300 Fuß hohes Wanderziel, wir ſtehen auf dem Gipfel des Faulhornes. Ein goldgelber, ſonnen¬ geſättigter Juli-Abend lagert rings auf dem Gebirge und die ganze Natur ſcheint in wonniger Erholung tief aufzuathmen von dem laſtenden Druck der Sonnenſchwüle. Ha! wie prächtig und kühn ſie emporſtreben die rieſigen Firnzinken des Berner Oberlandes, wie ſie hinaufragen in unbeſchreiblicher Klarheit zum lichtdurch¬ drungenen Himmelsblau, das alle Welt mit lindem Arm umſchlingt, drüben, die breite felſenzerfurchte Wetterhorn-Pyramide mit der blanken Schneebruſt, die tieferliegenden, jähen Schreckhörner und ihr ſtolzer, dominirender Nachbar, das einſame Finſteraarhorn, an welches ſich die ganze Kette der Vieſcherhörner anlehnt; dann geradeaus die gewaltige Felſenfront des Eiger und ihm über die240Alpenglühen. Schultern ſehend die Schnee-Kapuze des Mönches; und nun im leuch¬ tenden Silbergewande die majeſtätiſche Jungfrau mit ihrem Tra¬ banten-Heer, weit hinein rechts, das ganze endloſe Zacken - und Klippen-Gewirr der Gränz-Alpen gen Wallis! Alle Gruppen tre¬ ten beſtimmt, durch ſcharf gezeichnete Linien getrennt, aus dem Gan¬ zen hervor; mit einem großen, vollen Blick halten wir Heerſchau über die Veteranen der Berner Alpen. Noch ſtrömt warmes Leben durch das majeſtätiſche Rundbild. Nur drunten, wo die Hütten von Grindelwald heimelig in den Keſſel gebettet liegen, iſt der Abend eingezogen und hat ſeinen blauen Friedensſchleier über das Lütſchinen-Thal geworfen.

Jetzt ein Blick mehr weſtlich. Der Beleuchtungs-Effekt wird ſchwankend; der rein-blaue Aether verliert die Intenſität ſeiner beſtimmten Färbung, welche die Konturen der Schneegipfel ſo ſcharf und lineal-begränzt ablöſt, er geht allmählig in ein indifferen¬ tes, zwiſchen bläulichen (alſo rein durchſichtigen) und gelblich-ange¬ hauchten Strahlenbrechungen ſchwankendes Luftfluidum über. Die¬ ſes aber reflektirt mittelbar wieder auf die unter ſolchem Horizont liegenden Alpen der Wild - und Oldenhorn-Gruppe und auf die Berge des Engſtligen - und Kien-Thales, ſo daß das Intereſſe für dieſe Parthie ſehr geſchwächt wird. Noch weiter rechts ſinkt das Auge hinab auf die glitzernde Fläche des Thuner Sees, hinter dem die Frutiger - und Simmenthaler Alpen mit dem geradlinigen, ſchö¬ nen Eckpfeiler des Nieſen aufſteigen. Immer mehr gehen die Maſſen leicht verſchwimmend in einander über; warmer, leuchtender Abend¬ nebelrauch, hellokerfarbene Sonnendämpfe hüllen die Höhenzüge ein, ſo daß die Umriſſe der einander vorliegenden Bergkouliſſen kaum mehr zu unterſcheiden ſind. Je mehr und mehr der Blick weiter ſchweift, deſto undeutlicher zerfließen alle landſchaftlichen Ge¬ bilde; ein glänzender, goldener Dunſt-Ocean hat Alles verſchlungen, und ſonnentrunken badet das wellenförmige Mittelland und der ferne Jura in ſeinen weichen Wellen.

241Alpenglühen.

Welcher Abſtand in der Farbenpracht, die ſo verſchwenderiſch über Berg und Thal ausgegoſſen iſt! und doch haben wir erſt den Halbkreis des großen, majeſtätiſchen Rundbildes durchwandert. Denn in ähnlichem Maaße wie die Lichtanhäufung gegen die Stelle hin wächſt, an welcher die Sonne binnen Kurzem niederſinken wird, in verwandter Weiſe ſtuft auch dieſelbe nach dem nördlichen Horizonte hin ſich ab. Da liegt drunten in ſtiller Tiefe das ge¬ müthliche Brienz mit ſeinen kaffebraunen Holzhäuſern; flächenhafte Schatten haben ſich breit in die See-Mulde hineingelagert und beginnen leiſe und ſacht die Bergeshalden gegen uns heranzuklim¬ men. Den Thalbewohnern iſt das ſtrahlende Tagesgeſtirn ſchon länger als eine Stunde entſchwunden. Feierliche Abendruhe wal¬ tet über ihren Hütten; nebelgraue Dünſte ſchleichen aus dem Tän¬ nicht hervor und umfangen wie ſanfte Schlummerlieder die däm¬ merigen Bergeshalden.

Da klingen wohlbekannte Töne aus der Tiefe zu uns herauf, aber ſo fern und verſchmolzen, ſo geiſterhaft zart verhallend, wie Harmonie der Sphären; es iſt der Alphornbläſer drunten an den Giesbachfällen, der ſpät angelangten Gäſten ſein einſames Abendlied ſchalmeit. Das Echo vom Brienzer Rothhorn trägts zu uns her¬ über. Lange lauſchen wir den melancholiſchen Tönen, die ſehnſucht¬ erweckend uns durch die Seele ziehen:

Ihr linder Athem ſchmiegt, gleich einem Traumgeſicht,
Sich um den äußern Saum der irdiſchen Geſtalten,
Und läßt den tiefern Reiz, den Glanz und Farbe nicht,
Nicht Duft und Blühn verleiht und ihre Formen walten.

Des Führers Mahnung unterbricht das ſinnende Schweigen, das Alle gebannt hielt. Wir wenden uns und ſind überraſcht von der Wandlung, welche am Rieſengebäude des Hochgebirges während der kurzen Friſt unſerer Rundſchau vor ſich gegangen iſt. Die ſanft anſteigende Halde der Wergiſthaler Alp, auf der wir geſtern beiBerlepeſch, die Alpen. 16242Alpenglühen. unſerem Herabkommen von der Wengern-Scheidegg ein Blumen¬ meer feurigblühender Alpenroſen durchwanderten, und Itrammen - Alp, die noch vor wenig Minuten in ſonnenheiterer Beleuchtung dalagen, ſie ruhen nun im blauen Schatten; der Eiger aber und die Jungfrau und die ganze Bergkette erſcheinen roſig-ange¬ haucht in ihren Firn-Lagern und Gletſcher-Hängen, indeſſen das Ge¬ ſtein von Sekunde zu Sekunde immer dunkelrother ſich färbt. Es iſt das Alpenglühen, das herrlich-erhabene Schauſpiel, welches be¬ ginnt. Ein ſtrahlenloſer, ſcharlach-feueriger Gluthball, ruht die Sonne auf dem langgeſtreckten Rücken des Chaſſeral und färbt alle Gegen¬ ſtände, die noch im Bereich ihrer Beleuchtung liegen, mit tiefpur¬ purnen Tinten. Unſere Kleider, Wäſche, ja ſelbſt unſer Antlitz er¬ ſcheinen im brennenden Orange und die graue Leinwandblouſe un¬ ſeres Führers ſieht carminviolett aus. Mit Rieſenſchritten klimmen jetzt die dunkelen Bergſchatten an den Alpen hinauf und paralyſi¬ ren alle Farben und Formen, die noch vor wenigen Augenblicken die einzelnen Felsgebilde ſo draſtiſch-markirt hervortreten ließen; aber im gleichen Maaße wächſt auch die Intenſität des Alpenglü¬ hens. Von Augenblick zu Augenblick ſteigert ſich das Feuer. Uns entſchwindet jetzt im Weſten der, ſcheinbar zu rieſiger, bisher noch nie geſehener Größe ausgedehnte, einer dunkelglimmenden Kohle gleichende Sonnenball. Jetzt iſt es nur noch eine Halbkugel, die mit breiter Baſis auf dem Jura ruht; nun nur noch ein flacher Cirkelſchnitt, eine rundlich-gehobene Längenfläche, die hinter dem zwanzig Stunden entfernten Bergwall hervorſchaut, jetzt noch eine ſchmale Linie, ein Stern, ein blitzender Punkt, fahr wohl! Segensgeſtirn, große Freudenbotin der Welt! Uns iſt ſie entſchwunden! Drüben aber an den Eiszinnen der höchſten Alpen hat ſie noch ihre Fanale angezündet, die wie rothflüſſiges Metall emporlohen. Es iſt ein Flammen-Dithyrambus, welchen die Natur im Abſchiede von ihrer Lebensfreundin noch jubelnd durch die anbrechende Nacht hinausjauchzt.

243Alpenglühen.
Ha! ſieh 'der Alpen Haupt umſchlungen,
Vom Flammenkranz und gluthumrollt,
Als ob zu ſparen ihr gelungen
Ein Theil von ihrem Tagesgold!
Als ob tagüber ſie gefangen
Zum Kranz die Roſen all' im Thal;
Als ob bei Tag Dir von den Wangen,
Du Volk des Thals, das Roth ſie ſtahl!
Anaſt. Grün.

Es iſt kein alltägliches Phänomen, das wir hier anſtaunen; es giebt Jahre, in denen das volle, wirkliche Alpenglühen zu den Seltenheiten gehört. Woher der tiefe brennende Gluthton, der die¬ ſem prachtvollen Naturſchauſpiele den bezeichnenden Namen gegeben hat? Andere Gegenſtände im Scheine der dunkelroth untergehen¬ den Sonne reflektiren auch, je nach der Receptionsfähigkeit ihres urſprünglichen Farbentones, im bedeutend erhöhten, erwärmten Lichte, aber ſie erreichen nicht jenes intenſive, tranſparent-heiße Incarnat wie die beſchneiten Gipfel der Hochalpen an einem, durch das Zuſammenwirken verſchiedener Umſtände günſtig disponir¬ ten Abende. Es mögen folgende drei weſentliche Faktoren ſein, welche das Alpenglühen herbeiführen: die Natur und Dichtigkeit der Körper, welche die Strahlen der Sonne einſaugen und wieder¬ geben; die Höhe und Lage der beſchienenen Gipfel, und der auffallende, bedeutende Abſtand der Färbung zwiſchen der Dämme¬ rung in den Tiefen und der grellen Beleuchtung jener Kulmen.

Der Firn iſt eine, an der Oberfläche halbdurchſichtige Maſſe zahlloſer Legionen kleiner, ſelbſtſtändiger Kryſtallkörperchen, deren minutiöſe, dem unbewaffneten Auge kaum erkennbare, glatte Spie¬ gelflächen die Feuerſtrahlen der Sonne aufnehmen und in allen Brechungslinien untereinander zurückwerfen. Dieſer Reflexions - Reichthum iſt ſo groß, daß manche der kleinen Spiegelkryſtalle, welche durch ein hervorſtehendes, winziges Schneekörnchen beſchat¬ tet werden, alſo nicht unmittelbar den Einwirkungen der Sonnen¬ ſtrahlen blosgegeben ſind, ihren Glanz erſt aus zweiter Hand, durch die Ausſtrahlung eines anderen, nachbarlichen kleinen Eisſpiegels16*244Alpenglühen. empfangen. So durchdringt die abendliche Sonnengluth die halbdurch¬ ſichtige Oberfläche der Firnmaſſe und ſammelt dadurch eine Strahlen - Anhäufung, eine entwickelte Lichtmenge, wie ſie in keinem anderen Gegenſtande, das durchſichtige Waſſer und die zu Wolken verdich¬ teten Dünſte ausgenommen, ſich konzentriren kann. Wie außeror¬ dentlich die Reflexionsfähigkeit der Eisnädelchen iſt, aus denen der Schnee beſteht, können wir an kalten Sonnenſcheintagen im Win¬ ter wahrnehmen, wenn der Wind lockeren Schneeſtaub aufjagt und dieſer wie Diamanten funkelnd in der Luft umherirrt.

Der zweite, mächtigere, das Alpenglühen ganz beſonders be¬ fördernde Umſtand iſt in der hohen Lage der Schneegipfel zu der tiefen Sonnenſtellung zu ſuchen. Jener meteorologiſche Proceß, wel¬ cher die Abendröthe in der Atmoſphäre veranlaßt, giebt auch den Firnen ihre Gluth. Wenn wir auf hohem Berge ſtehen, ſo ſehen wir die Sonne als ſtrahlenloſe, hochrothe Kugel hinabſinken, wäh¬ rend ſie den Bewohnern der Ebene nur tiefgelb, aber in voller ſtrahlenſchießender Glorie entſchwindet. Die Urſache dieſer ſchein¬ baren Farbenveränderung rührt von den, in den unterſten Schichten der Atmoſphäre, bei der raſchen, abendlichen Abkühlung in verdich¬ teten Zuſtand übergehenden Dünſten her, welche, wie alle Waſſer¬ dämpfe, nach den Erfahrungen der Optik vorzugsweiſe die rothe Seite des Spektrums durchlaſſen. Je länger nun die Linie iſt, welche der Sonnenſtrahl durch die, mit kondenſirten Waſſergaſen gefüllte Atmoſphäre zu machen hat, deſto intenſiver erſcheint auch die rothe Färbung, alſo, je höher der Punkt liegt, welcher von der untergehenden Sonne beleuchtet wird, deſto kräftiger und feuriger wird auch ſeine Abendbeleuchtung bei wolkenfreiem Him¬ mel ſein. Aber dieſe beiden Momente würden dennoch den maje¬ ſtätiſchen Lichteffekt des Alpenglühens nicht in dem erhöhten Maaße erreichen, wenn nicht noch eine dritte, okulartäuſchende Helfershel¬ ferin dabei mitwirkte, nämlich die auffallende Farbendifferenz zwi¬ ſchen der im Blaudunkel des Erdſchattens bereits verſenkten Tiefe245Alpenglühen. der Thalgelände und jener gluthdurchdrungenen Färbung der Firn¬ felder. Gerade eben aus dem Gegenſatze von greller Beleuchtung und Licht-Armuth reſultiren die brillanteſten Farbenſpiele. Ein Feuerwerk bei Tage abgebrannt, iſt todt, glanzlos, weil Licht auf Licht ſich ebenſowenig abhebt wie Weiß von Weiß oder Schwarz von Schwarz; erſt der dunkele Hintergrund der Nacht giebt den Raketen ihre funkelnde Pracht.

Die Gluth, welche die Alpenſpitzen umwogte, iſt verſchwunden; kalte, fahle Leichenbläſſe überzieht das ganze weite Schneegebirge;

Und wo noch kaum in Flammen ein Sonnentempel ſtand,
Da lagert nun ein Kirchhof, umringt von ſchwarzer Wand.

Es iſt ein fröſtelnder, unheimlicher Anblick. Der Uebergang ans dem vollen, reichprangenden Schmucke feuriger Beleuchtung und ſcharfer Zeichnung in dieſe eiſige, öde, bläulich-graue Unge¬ wißheit iſt allzujäh und zu unvermittelt; ein leibhaftiges Bild des Todes. Aber es währt nicht lange, ſo kehrt nochmals einiges Le¬ ben wieder in die Färbung zurück. Denn blicken wir nach der Stelle des Sonnen-Unterganges:

O Zauber über Zauber! am Himmel aufgethan
Vom Abend bis zum Morgen ein brennend rother Plan.
Jetzt auf - und nieder - wogend, jetzt fließend ſpiegelglatt
Und durch und durch von goldnen und Purpurfarben ſatt
Seeger.

Das endloſe Feld der feurigſten Abendröthe ſtammt empor und ſtrahlt einen leichten, warmen Ton über die Gletſcher und Schneewüſten aus. Noch einmal überzieht ſie ein leichter roſen¬ farbener Anflug; aber er iſt matt, matt wie das letzte, allerletzte Lächeln eines geliebten Sterbenden.

In tiefen Frieden verſenkt, beginnt nun das große majeſtä¬ tiſche Alpenreich den einlullenden Träumen von des Tages Won¬ nenrauſch ſich zu überlaſſen. All das ſummende, ſurrende kleine Leben in den Lüften iſt erſtorben; die trotzigen, plump-anrennen¬ den Käfer und das leicht-beſchwingte, gaukelnde Völklein der Fal¬ ter, die Legionen der unverſchämt-zudringlichen, paraſitiſch-läſtigen246Alpenglühen. Fliegen und Alles, was ſommerfroh im Aether des Tages ſich wiegt, Alle haben ihre ſtille, heimliche Schlafſtätte geſucht un¬ ter den Blumenglocken und Blattdächern oder in den Riſſen der Baumborke und des zerſpaltenen Felſengeſteines, Die Nachtfalter erwachen nun aus ihren lichtſcheuen Tagträumen und zählen takti¬ rend mit den befiederten Fühlfäden die Sekunden ab, bis ſie ihren ſchwerfällig-flatternden Flug beginnen; Eulen und Fledermäuſe machen ihre luftigen Runden, und wo das Thierleben in der Nacht untergegangen zu ſein ſcheint, da tritt das Leben der Pflanze üppi¬ ger und duftiger hervor.

Auf unſerem Berggipfel aber weht ein ſchneidend-kalter Wind. Wir flüchten in Peter Bohrens gaſtliches Faulhornhaus zum warmen Ofen, zur dampfenden Suppe, denn draußen iſt es völlig Nacht geworden und das majeſtätiſche Sternenzelt prangt im unendlichen Univerſum, ein ewiger Hymnus dem allgewaltigen Schöpfer.

[247]
Eine Alpenſpitze.

Druck von F. A. Brockhaus in Leipzig.

Alpenſpitzen.

Hart iſt die Schule der Höhen, wie jene ſpartaniſche Mutter:
Kehrt nicht als Sieger der Sohn, kehr 'er mir nimmer zurück!
Doch nur feſter ihr an, nur inniger ſchmiegt ſich der Zögling,
Und mit unendlichem Weh' engt ihm die Ebne die Bruſt.
Rotter.

Ganz anderer Natur als jene harmloſen, eine edle Neugierde befriedigenden Rigi-Promenaden und Faulhorn-Viſiten ſind die Erſteigungen hoher, firnumlagerter, ſchwer-erklimmbarer und darum ſelten betretener Alpenſpitzen. Dieſe gehören den Auserkohrenen der emporſteigenden Wanderwelt. Nur Wiſſens-Durſt und ritter¬ licher Forſcherdrang, der heilige Trieb, im Dienſte der ewigen Wiſſenſchaft dem Bau und Leben der Erde, dem geheimnißvollen Zuſammenhange alles Geſchaffenen nachzuſpüren, wie er einen Forſter, Alexander von Humboldt und Bonpland, einen Clapper¬ ton, Barth, Vogel und Livingſtone, einen Franklin, Roſſ, Johann von Tſchudi, Burne, Gebrüder Schlagintweit und andere Helden der Polar - und Aequatorial-Expeditionen begeiſterte oder wie er die kühnen de Sauſſure, Hegetſchwyler, Eſcher, Hugi, Forbes, Agaſſiz, Deſor u. A. auf jene von Eis ſtarrenden, faſt alles248Alpenſpitzen. organiſchen Lebens baaren Gebirgszinnen trieb, oder endlich die männliche, freie, helle Luſt an dem überwältigenden Reize, den das Außerordentliche, Wild-Erhabene bietet, können zu ſolchen ge¬ fahrvollen Unternehmungen anregen. Es ſind Thaten, zu denen muthiger Entſchluß und feſter Wille, große körperliche Kraft und nachhaltige Ausdauer gehören, die ohne Abhärtung und fröhliche Entſagung liebgewordener Gewohnheiten nicht auszuführen ſind. Es ſind aber auch Thaten, die ſowohl intellektuell wie materiell mit Sorgfalt vorbereitet ſein wollen. Ohne ſelbſtbewußten Zweck, ohne leitenden Gedanken, ohne entſprechende Vorſtudien und wiſſen¬ ſchaftliche Unterlage verflachen ſolche Expeditionen zu müßigen, werth - und reſultatloſen Waghalſereien, die lediglich auf den mageren Ruhm Anſpruch machen dürfen: da droben geweſen zu ſein. Was K. Müller im Vorwort zu ſeinen Anſichten aus den deut¬ ſchen Alpen über das Reiſen im Allgemeinen ſo treffend ſagt: daß erſt die Kenntniß der Natur und ihrer ſich uns offenbarenden Geheimniſſe den ächten, vollen Genuß beim Reiſen gewähre, daß jährlich Tauſende aus den Alpen zurückkehren, ohne die Alpen ken¬ nen gelernt zu haben, weil ihnen die Einſicht zu den Ausſichten mangele, das gilt in erhöhtem Maaße ganz beſonders auch von Solchen, die Mittel und Zeit, Mühe und Leben daran ſetzen, um von ihrer Montblanc-Erſteigung prahlend erzählen zu können.

Und endlich will eine Bergbeſteigung dieſer Art, die ihr Wan¬ derziel in den Regionen über zehntauſend Fuß ſucht, mit großer Sorgfalt und gründlicher Sachkenntniß ausgerüſtet ſein. In jene vegetations-entblößten, todten, ſtarren Eiſesfelder, wo meilenweit keine menſchliche Hilfe, kein ſchützendes Obdach zu erblicken iſt, wo kein gaſtfreundlicher Willkommen dem erſchöpften Wanderer ent¬ gegentönt, in jene ſchauerlich-erhabenen Einöden muß Alles, was zu des Lebens dringendſtem Bedarf gehört, an Speiſe und Trank, Holz und Decken, mit emporgetragen werden. Um Abgründe über¬ ſchreiten, Jähwände erklimmen, in glatte Eisdächer Stufen hauen249Alpenſpitzen. und ſchlüpfrige Firnfelder möglichſt ungefährdet durchwandern zu können, bedarf es Leitern und Stricke, Beile und Fußeiſen, deren Transport neben Kompas und Fernrohr, Thermometer und Ba¬ rometer, Karten -, Zeichen - und Koch-Apparat den Aufmarſch we¬ ſentlich behindern. Beſteigt ein einzelner Reiſender den Mont¬ blanc, wozu drei Tage Zeit gehören, ſo bedarf er nach dem obrig¬ keitlichen Reglement vier Führer, deren jeder 120 Francs Lohn und nach beendeter Tour noch einen Napoleon Trinkgeld bekommt, und um für die Bedürfniſſe dieſer fünf Perſonen zu ſorgen, ſind wie¬ derum fünf Träger nöthig, deren jeder 50 bis 60 Francs für den ganzen Weg bekommt, ſo daß die Koſten zwiſchen 900 und 1000 Francs zu ſtehen kommen.

Führer giebts in den Alpen wie Sand am Meer, aber nur ſehr wenige, die für centrale Expeditionen das erforderliche Zeug haben. Hier genügen Körperkräfte und genaue Lokalkenntniß nicht allein; hier müſſen Muth, Umblick, entſchiedene Beſonnenheit und vor allen Dingen Geiſtesgegenwart den übrigen obligatoriſchen Führer-Eigenſchaften beigeſellt ſein. Wehe dem, der, des Gebirges unkundig, an Schwindler geräth, die in der Höhe keinen Beſcheid wiſſen; er iſt ſo gut wie verlaſſen. Aber es giebt auch Führer, ihres Gewerbes Gemsjäger und Wildheuer, die durch lange Praxis ihren Ortsſinn ſo wunderbar ausgebildet haben, daß ſie an Alpen¬ ſtöcken fremder Gegenden, die nie zuvor ihr Fuß betrat, dennoch mit ſpähendem Scharfblick den Weg durch Felſenlabyrinthe und Eiswüſten herauszufinden wiſſen, der zum Ziele führt. Solch ein mit ſeltenem Orientirungstalent begabter Führer war Maduz von Matt im Glarner Kleinthal (eigentlich ein Schwabe), der bei offenem warmen Sinn für Naturſchönheiten, außerordentlich beſorgt um ſeine Klienten war und allenthalben Rath wußte. Als die Herren G. Studer von Bern und M. Ulrich von Zürich zum Erſtenmal den Monte Leone im Wallis, und Herr Prof. Oswald Heer von Zürich (bekannter Botaniker und Entomolog) zum Erſtenmal den Piz Linard250Alpenſpitzen. im Unter-Engadin beſtiegen, nahmen ſie den Maduz, der nie zuvor dort geweſen war, mit, und er führte ſie ſicher und wohlbe¬ halten hinauf. Ein anderer Führer, der als vieljähriger Begleiter Hugi's und Agaſſiz's mit dieſen die Wagfahrten aufs Finſteraar¬ horn, auf die Jungfrau, Schreckhörner und andere Alpenſpitzen erſten Ranges machte und die ganze Expedition ſtets leitete, war der muthige Jacob Leuthold von Im-Boden (Haslithal). Von Bei¬ den wird auf folgenden Blättern mehr die Rede ſein.

Am Früheſten unter allen wurde der höchſte Gipfel Europas, der Montblanc (14800 Fuß), im Jahre 1786 von Dr. Paccard aus Genf unter Leitung des Jacob Balmat von Chamouny er¬ ſtiegen; ihm folgte am 1. u. 2. Auguſt des nächſten Jahres de Sauſſure in Begleitung von 18 Führern und Trägern. Seit jener Zeit wurde er öfter mit und ohne Erfolg das Ziel kühner Männer, und gegenwärtig vergeht faſt kein Sommer, in welchem nicht Fremde, namentlich Engländer, ihn in Angriff nehmen. Viel ſpäter wurden die erſten Verſuche zur Erklimmung der bedeutendſten Höhenpunkte in den deutſchen Alpen gewagt; zuerſt die des Ortles - Spitz auf Veranlaſſung des Erzherzogs Johann von Oeſterreich durch den Bergofficier Gebhard und den Paſſeyer Jäger Joſeph Pichler im September 1804 u. 1805. Dann die der Jungfrau (12827 Fuß) durch die Gebrüder Meier von Aarau am 3. Aug. 1811 und am 3. Sept. 1812, denen eine dritte Ascenſion am 10. Sept. 1828 von 6 Grindelwaldnern, eine vierte am 28. Auguſt 1841 von den Profeſſoren Agaſſiz, Forbes, Deſor und Duchâtelier, und endlich eine fünfte am 14. Auguſt 1842 von Herrn Gottlieb Studer von Bern folgten. Seitdem iſt ſie zu wiſſenſchaftlichen Zwecken nie mehr be¬ ſucht worden. In die gleiche Zeit der erſten Jungfrau-Expedition fällt auch der erſte, durch die Herren Meier unternommene, aber mi߬ glückte Verſuch der Erſteigung des Finſteraarhornes (des höchſten Gipfels in den Berner Alpen, 13160 Fuß), welcher ſpäter der Natur¬ forſcher Hugi von Solothurn in den Jahren 1828 u. 1829 wie¬251Alpenſpitzen. derum große Opfer brachte; nur zwei ſeiner Führer erreichten die eigentliche äußerſte Spitze bei der dritten Erſteigung. Erſt im Auguſt und am 6. Septbr. 1842 gelang es Herrn Sulger aus Baſel, zweimal die Kuppe zu erklimmen und droben eine Fahne aufzu¬ pflanzen. Seitdem iſt dieſer Punkt nie mehr überwunden worden. Die Schreckhörner (12568 Fuß) ſind ſo unzugänglich, daß die höchſte Zacke derſelben bis jetzt wohl noch nie betreten wurde; am 8. Aug. 1842 verſuchten die Naturforſcher Eſcher von der Linth, Girard und Deſor ihr Glück, erreichten aber nur die Spitze des großen Lauteraarhornes. Die angeblich dem Engländer Euſtace An¬ derſon am 6. Aug. 1857 gelungene Ascenſion wird allgemein be¬ zweifelt, weil durchaus keine Beweismittel für dieſelbe erſtellt werden konnten. Das Wetterhorn oder die Hasli-Jungfrau (11412 Fuß) galt lange für unerſteigbar; am 28. Aug. 1844 betraten die Naturforſcher Deſor, Dollfuß u. A. zuerſt den ſüdlichſten Gipfel, das Roſenhorn genannt, und zwei Tage ſpäter ſollen die beiden Führer Bannholzer und Jaun auch die höchſte Spitze erklommen haben. Seit 1845, wo die Herren Fankhauſer und Dr. Roth von Bern am 9. Juli das Mittelhorn dieſes Stockes erreichten, iſt derſelbe nie mehr beſucht worden. Alle anderen Erſteigungen bedeutender Centralknoten-Spitzen des Alpengebäudes fallen in die jüngſte Zeit.

Dem Monte Roſa wurde ſchon ziemlich frühzeitig von den Herren Vincent 1819, Zumſtein 1820 u. 1822, Freiherrn Ludwig von Welden 1822, Aufmerkſamkeit geſchenkt; aber keiner derſelben erreichte das Gornerhorn oder die höchſte Spitze, ſondern nur die, jetzt allgemein nach ihnen benannten, niedrigeren Höhepunkte dieſes neun-gipfeligen Koloſſes: Vincentpyramide, Zumſteinſpitz (14064 Fuß) und Ludwigshöhe (13350 Fuß). Erſt nachdem die Profeſſoren Ordinaire u. Puiſeux 1847, die Herren Prof. Melch. Ulrich v. Zürich u. Gottl. Studer von Bern 1848 u. 1849 und die Gebrüder Schlagintweit 1851 u. 1852 vergebliche Anſtrengungen gemacht hatten, das Gornerhorn zu erklettern, gelang es 1855 den252Alpenſpitzen. Herren Smith aus Great-Yarmouth, die höchſte Spitze zu ge¬ winnen. Wir kommen im Verlaufe unſerer weiteren Erzählung nochmals darauf zurück, Aehnlich gings mit dem Tödi im Glarner Lande und vielen Anderen. Treten wir auf die Beſchreibung des Verlaufes und der Schwierigkeiten einer ſolchen Expedition etwas näher ein.

Zu den putzigſten, von der Nothwendigkeit diktirten Inter¬ mezzos bei großen Gletſcher-Expeditionen gehören die zum Zweck des Uebernachtens improviſirten Lagerhütten. Natürlich werden ſolche blos dann nöthig, wenn die Erſteigung eines Berges mehr als den Zeitraum eines Tages beanſprucht, wie dies z. B. beim Montblanc, Finſteraarhorn und bei der Jungfrau der Fall iſt, oder wenn längerer Aufenthalt in den hohen Firn - und Gletſcher - Revieren, behufs wiſſenſchaftlicher Forſchungen, Temperatur-Be¬ obachtungen und Gletſcher-Studien nöthig wird. Dann iſts entweder nur ein niſchenähnlich-gewölbter, überhängender Felſen am Rande der Schnee - und Eis-Anhäufungen, oder eine Höhle, die, gegen die Wetterſeite ſchützend, als Bivouac-Local dienen müſſen wie ſolche z. B. der Ruſſe du Hamel im Auguſt 1820 auf dem Grand Mulet 9000 Fuß üb. d. M. bei der Montblanc-Beſteigung, oder der engliſche Naturforſcher Forbes 1842 in der Tiefe des Mer de Glace unter dem Tacul (Montblanc-Gruppe) beinahe 7000 Fuß üb. d. M. und im gleichen Jahre der famoſe Gebirgs-Gänger und begeiſterte Alpenfreund, Herr Gottlieb Studer (von Bern) am Fuße des Wannehornes nächſt dem Aletſch-Gletſcher (ca. 8000 Fuß üb. d. M.) bei ſeiner Jungfrau-Beſteigung bezogen; oder es findet der Aufbau einer wirklichen Hütte aus Trümmer-Geſtein auf dem wandernden Fundament einer Moräne, wenn nicht gar auf dem feſtgefrorenen Firn ſelbſt, ſtatt. Solche Baracken, die in ihrer naiven Architektur an die urthümlichſten Bauverſuche unciviliſirter Völker erinnern, und gegen welche die armſeligſten Sennhütten in der Regel noch komfortable Wohnungen ſind, ließen z. B. 253Alpenſpitzen. de Sauſſure auf dem Col de Geant in einer Höhe von ca. 10000 Fuß, Hugi beim Verſuche der Jungfrau-Erſteigung im Roth¬ thal, ferner auf dem Unteraargletſcher, auf dem Loetſchen-Gletſcher und am Fuße des Finſteraarhornes (1829) errichten. Die Form u. Konſtruktion derſelben iſt vorſündfluthlich-einfach. Gewöhnlich werden auf den, am Boden gezeichneten Linien eines länglichen Quadrates aus übereinander gelegten Glimmer - und Gneis-Scher¬ ben vier Seitenwände, einige Fuß hoch errichtet und die Fugen mit Raſenſchollen (wenn und wo es deren nämlich noch giebt) oder vom Geſtein abgelöſten Mooslappen ausgeſtopft. Ein an der Frontſeite ausgeſpartes Loch dient als Portal des Gebäudes. Ueber dieſen naiven Pferch werden dann in angemeſſenen Inter¬ vallen die 5 bis 6 Fuß langen Alpenſtöcke horizontal als Dach¬ gebälk gelegt, und eine lange, darüber ausgebreitete, durch be¬ ſchwerende Steine feſtgehaltene, wollene Decke vollendet den Bau.

Europäiſche Berühmtheit erlangte die, für die Profeſſoren Agaſſiz, Carl Vogt, E. Deſſor, Nicolet, H. Coulon und F. Pour¬ talès, beim Abſchwung auf dem Aargletſcher (5 Stunden vom Grimſelhospiz) 1840 erbaute, ſpäter reſtaurirte Cabane, welche dieſe Naturforſcher in ihrem köſtlichen Humor Hôtel des Neuchâtelois tauften, mehrere Sommer hindurch wochenlang bewohnten und vielfache Beſuche von Reiſenden daſelbſt empfingen. Auch die Pro¬ feſſoren Forbes von Edinburg und Heath von Cambridge verweil¬ ten 1841 etwa 3 Wochen in derſelben. Deſor entwirft launige Bilder von dieſem Aufenthalte. Zu unterſt war der Eisboden des Gletſchers mit Schieferplatten ausgelegt, über denen eine dicke Lage von dürrem Wildheu und eine gegen Feuchtigkeit ſchützende große Wachsleinwand-Plane ſich ausbreiteten. Das war die gemeinſchaft¬ liche Matratze des Schlafkabinets für die 6 Naturforſcher. Sau¬ bere Betttücher und wollene Decken ergänzten das Arrangement, wodurch daſſelbe ein bäuriſch-wohlbäbiges Anſehen bekam. Vor dem Schlafzimmer waren Küche und Speiſezimmer etablirt, eben¬254Alpenſpitzen. falls unter dem Dache des großen ſchwärzlichen Glimmerſchiefer - Felſenblockes, welcher das ganze Gebäude ſchützte. Ein Tuch, quer¬ über an einen befeſtigten Stab gehängt, diente ſtatt Vorhang und Thür. Unter einem anderen benachbarten Blocke war das Maga¬ zin für Lebensmittel und der Keller angelegt. Nahte nun die Mit¬ tagszeit heran, ſo verſammelten ſich die hungernden Gelehrten, und obgleich die Normal-Speiſen, Reis und Schaaffleiſch, nur wenig ab¬ wechſelten, welche einer der Führer kochte, ſo geſtanden doch Alle, daß ein Mittagseſſen in freier Luft an der großen Gneistafel vor dem eben beſchriebenen Gletſcher-Hôtel eine Delikateſſe zu nennen ſei. Die Taſſe Kaffee und Cigarre nach dem Eſſen in unmittel¬ barem vis-a-vis der Schreckhörner und des Finſteraarhornes erhöh¬ ten den Genuß der lebhaften Diskuſſionen. Eine Stunde ſpäter ging Jeder wieder ſeinen Forſchungen nach. Die Abende waren kurz; man ging, wie die Hühner, mit der Sonne ſchlafen, un¬ mittelbar nach dem Nachteſſen, weil die Temperatur meiſt raſch un¬ ter den Gefrierpunkt fiel. Alle die zahlreichen, am Tage über die Gletſcher laufenden Bächlein verſchwanden, eins nach dem anderen, das Geräuſch der durch dieſe gebildeten Waſſerfälle verſtummte all¬ mählig, und völlig lautloſes, tiefes Schweigen ſenkte mit der Nacht ſich auf die weite, todte Eisfläche. Demungeachtet litten die küh¬ nen Gletſcher-Männer durchaus nicht an Froſt; die in den Grau¬ bündner und beſonders in den Walliſer Alpen als Deckbetten ge¬ bräuchlichen Schaafpelz-Decken veranlaſſen eine ſolche Wärme-An¬ häufung, daß das Verbleiben unter denſelben, trotz der draußen herrſchenden Kälte, mitunter faſt unerträglich wird. Dieſe wahrhaft goldenen Vließe für jeden Hochgebirgswanderer bilden darum auch eines der vornehmſten Requiſiten in der ambulanten Bagage einer Gletſcher-Expedition.

Das Beſteigen außerordentlicher Gipfelpunkte der Alpen würde für den ſchwindelfreien, muskelkräftigen Mann keine ſo beſonders rühmens - und redenswerthe Aufgabe ſein, wenn einigermaßen Kon¬255Alpenſpitzen. tinuität in den zu überwindenden Parthieen herrſchte, d. h. wenn die Gletſcher und ihre Spalten, der Firn und ſeine Schründe, der Hochſchnee in ſeiner Mächtigkeit und Konſiſtenz jahrein, jahraus ſich gleich blieben und tüchtige, lokalkundige Führer daher mit Zu¬ verſicht voraus wüßten, welche Hilfs - und Transport-Mittel man gebrauche, welcher Weg der beſte, wann die größte Kraftanſtren¬ gung von Nöthen und wo die drohendſte Gefahr zu beſtehen ſei. Aber erfahrungsgemäß iſt die Metamorphoſe des Terrains nirgends einer ſo ewigen Wandelung und Transfiguration unterworfen als in den hohen und höchſten Alpenregionen. Wo heuer Mulden und tiefe Schneebecken ſich zeigen, thürmen vielleicht im nächſten Jahre Schnee-Hügel und Weheten ſich auf; wo in dieſem Sommer Wege über Firnhalden gemächlich und leicht zu überwinden ſtetig anſteigen, ragen im kommenden, wenn er ſchneearm und andauernd heiß iſt, Felſenriffe und Geſteins-Grathe hervor, die geeignet ſind, den tüch¬ tigſten Führer völlig zu desorientiren. Solcher Ungewißheiten hal¬ ber, muß eine Expedition (abgeſehen von den Eventualitäten plötz¬ lich umſchlagender Witterung) immer auf das Schlimmſte gefaßt und vorbereitet ſein.

Umſichtige Berggänger haben den Fundamental-Grundſatz: ſo lange als irgend möglich auf dem Aberen , d. h. auf dem von Schnee und Eis befreiten Raſen oder Felſen zu bleiben, weil hier in der Regel der Tritt ſicherer, das Klettern minder mühſam, über¬ haupt das Fortkommen raſcher möglich, ausgiebiger iſt als auf dem trügeriſchen, dem Menſchen fremden und feindlichen Element des Firnes und Gletſchers. Es iſt ungefähr der gleiche Gegenſatz wie zwiſchen der Fahrt auf feſtem Lande und jener auf dem Waſſer. Einzig, bei faulem, bröckelichem Geſtein und jähen Schutthalden und beim Hinabſteigen, wo man gewöhnlich die direkteſten Linien wählt, zieht man den Marſch auf dem Schnee vor.

Die erſten bedeutenden Hinderniſſe im raſchen und direkten Aufſteigen veranlaſſen gewöhnlich die Gletſcherſpalten. Es256Alpenſpitzen. gieb wohl kaum eine namhafte bedeutende Alpenſpitze, deren Ba¬ ſis nicht von einem Eisſtrom umſchlungen iſt oder an deren Flan¬ ken nicht ein ſolcher mehr oder minder ausgebildet herabgleitet. Das Umgehen der Spalten iſt, wo man den Gletſcher überſehen kann, eine zwar langweilige, aber in der Regel gefahrloſe Aufgabe. Indeſſen giebt es auch ungleiche, gewiſſermaßen gehügelte Gletſcher, wie z. B. ob dem Glacier de la Vanoise (zwiſchen Mont Cenis und dem Iſèrethal), auf denen man durchaus keine beſtimmten Di¬ rektionslinien einhalten kann. Die Verirrung auf einem ſolchen querſpaltenreichen Gletſcherfelde kann unter Umſtänden in die ge¬ fährlichſten Situationen führen, weil bei der faſt abſoluten Aehn¬ lichkeit der Spalten untereinander das Erkennen einer zweckdien¬ lichen Avancir-Linie ebenſo ſchwer iſt als das Wiederherausfinden des Rückweges. Ueberfällt Unkundige in ſolch einem Labyrinth der Nebel, dann dürfen ſie von großem Glück ſagen, wenn ſie ſich her¬ ausfinden.

Höchſt wahrſcheinlich ſind die Ende Auguſt 1849 myſteriös auf dem Griesgletſcher (Paß aus Ober-Wallis nach dem Val Formazza) verſchwundenen Reiſenden (Gebrüder Leonard aus Paris und Dr. Wolfrath aus Frankfurt), von denen man eine Zeit¬ lang fabelte, der ehemalige Grimſelwirth Peter Zybach habe ſie berau¬ ben und ermorden laſſen, einem ſolchen Umſtande erlegen. Je ſpäter im Sommer man die Gletſcher-Region betritt, um ſo zer¬ klüfteter wird man dieſelbe antreffen.

Nicht minder gefährlich als die Gletſcherſpalten ſind die un¬ kennbar dieſelben überwölbenden ſ. g. Schneebrücken. Sie ent¬ ſtehen bei andauerndem Schneefall durch die gleiche wunderbare Aggregation einzelner Flocken und Eiskryſtällchen, welche auch im Tieflande den Gartengeländern oder einzeln ſtehenden Pfählen und Pfoſten ſchiefe überhängende Schneehauben aufſetzt oder im Ge¬ birge die lauinen-veranlaſſenden Schneeſchilder formt. Wenn der ganze Gletſcher von neugefallenem Schnee bedeckt iſt, ſo ſind ſolche257Alpenſpitzen. Schneebrücken platterdings nicht zu erkennen. Hat es auf die Schneebrücken inzwiſchen wieder geregnet oder hat die Sonne die obere Schicht erweicht, daß dieſe einſinkend ſich verdichtet und dann wieder friert, ſo kann man ohne alle Gefahr darüber hinweg¬ gehen; eine Fuß dicke Schneebrücke, wenn ſie keine allzubreite Span¬ nung hat, trägt ihren Mann. Um jedoch dem bei Gletſchertouren ſehr oft vorkommenden Einbrechen zu begegnen, knüpfen ſich Führer und Geführte in Entfernung von etwa 4 Schritten an ein langes, um den Leib geſchlungenes Seil, damit, wenn Einer derſelben einſinken ſollte, die Uebrigen ihn leicht hervorziehen können. Das Unter¬ laſſen dieſer Vorſichtsmaßregel hat ſchon viel traurige Fälle zur Folge gehabt. Im Jahre 1821 ſtürzte auf der Höhe des Grindel¬ waldgletſchers der junge, waatländiſche Pfarrer Meuron in eine 121 Fuß tiefe Spalte und wurde erſt ſpät, nach Ableitung des unterm Gletſcher fließenden Baches, todt heraufgezogen und auf dem Grindel¬ walder Friedhofe zur Ruhe beſtattet. Sein jüngſtes Opfer ver¬ ſchlang der gleiche Gletſcher am 10. Juni 1860. Ebenſo kamen Dr. Bürſtenbinder aus Berlin auf dem Oezthal-Gletſcher in Tyrol 1846 und ein vornehmer Ruſſe auf dem Findelen-Gletſcher im Sommer 1859 durch ähnliche Stürze ums Leben. Im Juli 1836 fiel der Führer Michael Devouaſſon auf dem Glacier du Talêfre, unweit des Jardin, in eine ſolche Spalte, arbeitete ſich aber unter Hilfe ſeines Taſchenmeſſers, mit dem er Tritte in die Eis¬ wände grub, wieder mühſam hervor. Sein Torniſter, den er dabei verloren, wurde zehn Jahre ſpäter ſtückweiſe, 4300 Fuß weiter un¬ ten, am Fuß des Couvercle, vom Gletſcher wieder ausgeworfen. In ähnlicher Weiſe rettete ſich auf dem Roſegg-Gletſcher (am Ber¬ nina) ein in eine Gletſcherſpalte geſtürzter Gemſenjäger, der, weil die Wände der über 60 Fuß tiefen Spalte unten zu weit ausein¬ ander lagen, ſich den Alpenſtock an das eine Bein band und ſo, die Kluft überſpreizend, ſich langſam hinaufarbeiten konnte. Auf dem Trift-Gletſcher (Kant. Bern) ſtürzte 1803 der Gemſen¬Berlepſch, die Alpen. 17258Alpenſpitzen. jäger Peter Moor von Gadmen in einen Gletſcher-Schlund, aber dennoch ſo glücklich, daß er auf einen Eisvorſprung zu ſtehen kam und dort ſich halten konnte. Unten in grauſiger Tiefe rauſchten ſtrudelnde Gewäſſer, und kalte eiſige Luft wehte aus dem Abgrunde herauf. Sonderbarerweiſe hörte er die Zurufe ſeiner Kameraden ſcharf und deutlich, ohne daß dagegen dieſe ſeine laut geſchrienen Antworten verſtehen konnten. Um nun den verunglückten Freund zu retten, eilten die Anderen vier Stunden weit, bis zu den erſten Häuſern, hinab und kehrten erſt gegen Abend mit dem Rettungs¬ material zurück. Nachdem der halberſtarrte Mann in der Eisgruft den ihm zugeworfenen Strick feſt um ſeinen Körper geſchlungen hatte und frei-ſchwebend einige Fuß hoch, gezogen worden war, riß derſelbe und der Unglückliche ſtürzte abermals auf den Abſatz zurück. Jetzt war das Seil zu kurz, weil deſſen eine Hälfte ſich drunten befand; es blieb darum nichts Anderes übrig als nochmals den vierſtündigen Weg bei Nacht hin und zurück zu machen, um endlich am anderen Morgen den lebendig Begrabenen mit einem kräftigeren Seil nach 16ſtündiger Angſt zu erlöſen. Noch wunderbarer iſt folgender Fall: Chriſtian Bohren kam am 7. Juli 1787 in Begleitung des Taglöhners In-Aebnit über den zwiſchen dem Wetterhorn und dem Mettenberg liegenden Oberen Grindelwald-Gletſcher, im Begriff, Schaafe und Geißen an den Mettenberg zu führen, als plötzlich eine Schneebrücke unter ihm einbrach und er in einen 64 Fuß tiefen Gletſcher-Riß hinabſtürzte. Er brach den Arm und fiel die Hand aus dem Gelenk; dennoch verlor er die Geiſtesgegenwart nicht. Glücklicherweiſe fand er unterm Gletſcher eine Oeffnung, welche der vom Wetterhorn herabfließende Weißbach ausgegraben hatte. Durch dieſen 130 Fuß langen Stollen kroch er mühſam dem Laufe des Waſſers unterm Eiſe entgegen und entging auf dieſe Weiſe dem Schickſal, lebendig begraben, verhungern zu müſſen.

De Sauſſure, als er im Juli 1778 von der Aiguille du Midi herabſtieg, brach plötzlich durch den Schnee mit beiden Füßen259Alpenſpitzen. ein, doch ſo, daß er auf einem Eisſattel ſitzen blieb, während die Füße frei in einen tiefen Abgrund hinabhingen. Sein Führer Peter Balmat, unmittelbar hinter ihm, hatte das gleiche Schickſal. Raſch beſonnen rief dieſer: Halten Sie ſich ruhig, mein Herr, machen Sie nicht die kleinſte Bewegung, ſonſt ſind Sie verloren! Dem anderen Führer, der nicht eingeſunken war, rief Peter, ohne auch nur ein Glied zu rühren, zu, er möge raſch unterſuchen, nach welcher Richtung die Spalte verlaufe und welches ihre Breite ſei. Dabei beſchwor er Herrn von Sauſſure aufs Dringendſte, ſo ruhig als nur möglich ſich zu verhalten, weil die kleinſte Bewegung un¬ fehlbar ihren Sturz in die Tiefe herbeiführen würde. Als der zweite Führer mit der größten Behutſamkeit das Terrain rekog¬ noscirt und die Figur der Spalte erkannt hatte, legte er kreuz¬ weiſe zwei lange Alpenſtöcke vor Herrn v. Sauſſure, mit deren Hilfe ſich dieſer vorſichtig aus ſeinem ſchwebenden Sitz emporhob, rettete, und dann mit Hand anlegte, in gleicher Weiſe den Peter aus ſeiner gefahrvollen Lage zu befreien. Der Scharfſinn iſt nie erfin¬ deriſcher, als wenn die Noth zum Aeußerſten drängt. Das be¬ währte ſich, um mit dem Kapitel der Schneebrücken endlich zu ſchließen, auch am 4. Auguſt 1829, bei Hugi's Rückkehr vom Fin¬ ſteraarhorn. Durch die warme Temperatur war der Schnee am Nachmittage ſo ſehr aufgeweicht, daß jeden Augenblick einer der am Seil befeſtigten Reiſegefährten bis an die Bruſt einſank. Da die Schründe oft in einer Breite von 10 bis 20 Fuß den Weg verſperrten und meiſt mit einer, nur ganz dünnen, erweichten Firn¬ kruſte überwölbt waren, ſo ordnete der vortreffliche Führer Jakob Leuthold an: ſich platt auf den Bauch zu legen und alſo rutſchend oder ſchiebend die gräßlichen Abgründe zu paſſiren, um der Gefahr einzubrechen, durch die Vertheilung der Körperlaſt auf eine größere Fläche, leichter zu entgehen. Das gleiche Vorſichtsmittel prakticirte Herr Weilenmann bei ſeinem Herabſteigen vom Piz Corvatſch und Piz Lat. (Bernina-Gruppe.)

17*260Alpenſpitzen.

Hat der Bergſteiger nun den Gletſcher ſeiner Länge oder Breite nach überſchritten, ſo iſts nicht ſelten der Fall, daß ihm der Uebergang auf das wieder zu betretende, feſte Geſtein noch uner¬ wartete Schwierigkeiten bereitet. Der Felſen ſchmilzt in Folge ſeiner größeren Wärme-Kapazität die zunächſt auf ihm lagernden Gletſcher-Ränder derart ab, daß dieſe in einer Höhe von 4, 6, 10, ja bis 20 Fuß von ihm abſtehen. Läßt ſich nun kein Punkt fin¬ den, an welchem der Wanderer den vom Schmelzwaſſer ſchlüpfrigen Boden durch einen vorausſichtlich gelingenden Sprung erreichen kann, ſo bleibt ihm nichts als das Herabturnen am Seile übrig.

In ſehr vielen Fällen iſts jedoch gar nicht nöthig oder auch nicht möglich, das feſte Geſtein zu betreten, ſondern man geht direkt allmählig vom Gletſcher auf den Firn über. Dieſer iſt wegen ſei¬ ner körnigen, minder zuſammenhängenden Struktur und wegen der größeren Bewegungs - und Anſchmiegungs-Fähigkeit gewöhnlich auch weniger zerriſſen. Es giebt Firnfelder, über die man ſtundenweit, ohne auf das mindeſte Hinderniß zu ſtoßen, gehen und ſteigen kann, die alſo das raſche Fortkommen außerordentlich begünſti¬ gen. Aber es giebt auch ſolche, die in Folge des ungleichen, zer¬ ſpaltenen Felſenbettes, auf dem ſie ruhen, von Riſſen und Zerklüf¬ tungen durchkreuzt werden, die unter dem Namen der Firn¬ ſchründe (Rimayes) bekannt ſind. Schauerlich-ſchöne Ein¬ blicke eröffnen ſich in ſolche große Firnhöhlen. Oft ſind ſie von unſchätzbarer Tiefe, im Innern durchſichtig-azurblau beleuchtet, ſo magiſch und ſanft, daß man an Kühleborns Zauberpalaſt in de la Motte-Fouqué's Undine erinnert wird. Die von den Geſimſen und Plafonds herabhangenden granulirten Eiszapfen, ähnlich den Stalaktiten-Gebilden in den Kalkſinter - und Tropfſtein-Grotten, er¬ höhen das Mährchenhafte, und erreichen dieſe gar wieder den Bo¬ den der ſchräg-abſinkenden Schneehöhlen, ſo erſcheinen ſie dann wie die Tragpfeiler hochgewölbter Dome und ſind wohlgeeignet, der Phantaſie zu allerlei fabelhaften Arabesken Anhaltepunkte zu geben. 261Die eigentlichen und für die Bergſteigung inkonvenabelſten Firnſchründe ſind jedoch jene, welche am Fuße hoher Felſenkämme vorkommen, von denen die Firnhalden ſteil abfallen. Indeß umgeben ſie auch die meiſten Berggipfel und ahmen deren Figuration in entſprechenden Konturen nach. Hat ein Berg mehrere Schneeterraſſen, ſo zeigt er auch meiſt in der Nähe jeder Terraſſe einen Bergſchrund, und ein Gipfel kann deren zwei bis drei haben. Zuweilen, wenn ſehr reich¬ lich Schnee fällt, wird der Bergſchrund von Lauinen ausgefüllt, und aus dieſem Grunde ſind ſchneereiche Jahre den Erſteigungen der Hochgipfel ſehr günſtig.

Die größte zu überwindende Schwierigkeit beſteht gewöhnlich darin, daß die gegenüberſtehende Schnee - oder Eis-Wand bedeu¬ tend höher als der diesſeitige Standpunkt iſt. Haben die Führer ſich nun auf ſolche Fälle vorbereitet, und eine Leiter mitgenommen, dann iſt die Kluft in der Regel leicht zu paſſiren; eine ſolche Lei¬ ter beſteht aus einer etwa 20 Fuß langen, armsdicken, zähen Stange, durch welche Quer-Sproſſen oder Pflöcke getrieben ſind, die als Tritte dienen. Aber nicht ſelten tritt der Fall ein, daß eine Berg - Expedition auf andere Weiſe ſich zu helfen ſuchen muß, und da fördert dann die alle Gefahr verachtende Keckheit mitunter recht waghalſige Verſuche zu Tage. Einige der intereſſanteſten erzählt Herr G. Studer. Als er bei ſeiner, mit Herrn Weilenmann, Ende Auguſt 1856 unternommenen Erſteigung des Mont Velan (11588 Fuß, Walliſer Alpen) den Glacier de Proz überſchritten hatte, war am Fuße eines mächtigen Felſenpfeilers, der direkt gegen die höchſte Kuppe des Berges aus dem Firn aufſteigt, ein klaffender Berg¬ ſchrund zu paſſiren. Die Führer Andreas Dorſat und Pierre Morey überſchritten die Eiskluft an der ſchmalſten Stelle mit ver¬ wegener Gewandtheit und kletterten an der gegenüberſtehenden Eis¬ wand bis zu einem, durch vorragende gewaltige Blöcke geſicher¬ ten Standpunkte hinauf. Von hier warfen ſie das eine Seil-Ende herab. Herr Weilenmann war der Erſte, der die ſchwindelige As¬262Alpenſpitzen. cenſion vornahm, indem er das Seil um den rechten Arm ſchlang und unter Nachhilfe des mit der linken Hand regierten Bergſtockes (deſſen ſcharfe eiſerne Spitze er kräftig ins Eis einſchlug) ſich über den Abgrund emporziehen ließ. Herr Studer folgte in gleicher Weiſe. Noch komplicirter war die Transſcenſion eines Firnſchrundes bei der Erſteigung des Grand Combin (13261 Fuß, Walliſer Alpen) am 10. Auguſt 1858 durch die beiden gleichen Gebirgsforſcher. Dort war die enorm tiefe Kluft oben nur etwa zwei Fuß breit, aber die gegenüberliegende Eiswand ragte ſieben Fuß höher, ſenkrecht auf. Die Führer, Gebrüder Felley (von Lourtier) wußten auch hier raſch Rath. Zwei lange Bergſtöcke wurden in einer Höhe von etwa fünf Fuß über der Oeffnung der Spalte horizontal in die jenſeitige Firnwand feſt genug eingebohrt, damit ſie als treppenartige Stützpunkte für den Fuß dienen konnten. Darauf ließ Benjamin Felley dem Rande des Schrundes ſo nahe als möglich ſich auf Hände und Kniee nieder. Sein Bruder Moritz trat auf deſſen Rücken und Schulter, benutzte dieſe ſanft ſich em¬ porhebende, lebendige Treppe, ſo wie die eingebohrten Stöcke als Fuß-Stützpunkte, und ſchwang, mit den Händen tief eingreifend, ſich dann flink und kräftig nach dem oberen, weniger ſteil abge¬ ſchnittenen und in ſeiner Maſſe auch mehr gelockerten Firngehänge empor, bis er eine ſichere Stellung gewonnen hatte. Als er dieſe erreicht, wurde ihm das Seil zugeworfen; ein zweiter Führer band deſſen unteres Ende ſich um den Leib und konnte mit Hilfe deſſel¬ ben nunmehr leichter hinaufklettern. Auf gleiche Weiſe wurden die Uebrigen und das Gepäck hinaufgezogen. Nur der letzte Führer (Benjamin) mußte das Manöver mit etwas mehr Unbequemlich¬ keit ausführen, weil er die Stütze der beiden Alpenſtöcke entbehrte, die man ebenfalls ſchon hinaufgezogen hatte. Auf dem Rück¬ wege mußte die, ſieben Fuß tiefer liegende Firnfläche, am Seil durch herzhaften Hinabſprung erreicht werden; einer der Führer war vor¬ angeſprungen und fing die Nachkommenden mit offenen Armen auf.

263Alpenſpitzen.

Freilich iſts auch ſchon der Fall geweſen, daß ſolche Firnſchründe ſich als unüberwindbar zeigten und die völlige Erſteigung einer Hochgebirgs-Kuppe nahe am Ziele darum ſcheiterte. Dieſe Fatali¬ tät begegnete dem verſtorbenen rüſtigen Berggänger Hoffmann aus Baſel 1846 am Tödi; ein ſechzig Fuß breiter Schneeſchlund auf dem oberſten Firnwalle, zwiſchen der Tödi-Kuppe und dem Piz Ruſein, nöthigte ihn und ſeine renommirten Führer in einer Höhe von 10800 Fuß (alſo 344 Fuß unter der Spitze) zur Umkehr.

Bevor das Beſteigen hoher Alpenſpitzen ſo populär wurde, wie es heut zu Tage wirklich iſt, kurſirten, ſelbſt in guten Schrif¬ ten, wunderbare Faſeleien über allerlei körperliche Zufälle, denen die Bergwanderer ausgeſetzt ſein ſollten. Bald wurde die Luft als ſo exorbitant verdünnt dargeſtellt, daß das Athemholen faſt zur Un¬ möglichkeit werde; bald ſollte den Gipfelſtürmern Blut aus Mund, Naſe und Ohren quellen; daneben ſollten Kongeſtionen, Brechreiz, Druck auf Bruſt und Magen und allerlei Mißbehaglichkeiten als unvermeidliche Uebel ſich bei Jedermann zeigen, der in eine Höhe von 10000 Fuß und darüber empordringe. Ja, man konſtruirte ſogar eine der Seekrankheit entſprechende Bergkrankheit mit ihren Symptomen, Exacerbationen, Remiſſionen, Kriſen ꝛc. und ſtellte eine förmliche Arzneimittellehre dagegen auf. Die Berggän¬ ger unſerer Tage wiſſen nichts von dieſer Krankheit. Es mag ſchon hier und da einmal Naſenbluten eintreten, aber ſicherlich nur in Folge der durch das Bergſteigen veranlaßten bedeutenden Blut¬ wallung; Uebelkeiten mögen ſolche Leute befallen, die überhaupt an Magenſchwäche leiden, und Mattigkeit iſt eine ſehr natürliche Kon¬ ſequenz der Abſpannung des Körpers, wenn man bei großer Kräfte - Konſumtion 6 und 8 Stunden lang in verdünnter Luft und unter mancherlei Gefahren bergauf marſchirt. Die einzigen, wirklich exiſtirenden, etwas ſtörend auf den Körper und ſeine normalen Funktionen einwirkenden Erſcheinungen ſind der kaum zu löſchende, wahrhaft brennende Durſt bei Abweſenheit entſchiedenen Appetites,264Alpenſpitzen. den die Bergbewohner ſehr bezeichnend Durſthunger nennen, und die den Augen drohende Entzündung, die in das ſ. g. Schnee¬ blindwerden ausarten kann, wenn man die Sehorgane nicht durch eine blaue oder graue Brille gegen die andauernd blenden¬ den, heftigen Einwirkungen der grellen Schnee-Reflexe auf ſtunden¬ langen Firnwanderungen ſchützt. Aber nicht nur die Augen greift dieſe Licht-Rückſtrahlung des Schnees an, ſondern ſogar auch die entblößten Theile des Körpers, vor allen das Antlitz, wenn man daſſelbe nicht durch einen farbigen Schleier ſchützt. Dieſe Einwir¬ kung äußert ſich in ſo hohem Grade, daß ein völliges Verbrennen der Haut, wie jenes in der ſchärfſten Sonnenhitze, eintritt, dem dann Blaſen und Wundwerden mit ſpäteren Schorfen folgen. Schleier ſind freilich für die unbeſchränkte Ausſicht ſehr hinderlich und vermehren die ohnedies herrſchende Hitze in hohem Grade, da ſie allen Luftzutritt abſperren. Um ſich zu erfriſchen, ballen die Führer Schnee zuſammen und legen denſelben in den Nacken, ein Kühlungsmittel, das kräftigen Naturen in jenen Hochregionen nicht ſchadet, wo ohnedies, Geiſt wie Körper, entfeſſelter und unab¬ hängiger von äußeren Einflüſſen ſind.

Wir kehren zum Bergmarſche zurück. Die Firnſchründe ſind nicht die letzten der zu überwindenden Schwierigkeiten; es häufen ſich deren neue, die unter Umſtänden gefahrbringend ſein können. Zu dieſen gehören zunächſt die Eishänge. In bedeutenden Hö¬ hen ſchmilzt Sonnenwärme oder Föhnwind an jähen Abhängen die Oberfläche des Firnes, mitunter bis auf mehrere Fuß Tiefe. Das der Kryſtalliſation durch Wärmeaufnahme entbundene Waſſer durch¬ dringt den Schnee, friert jedoch während der Nacht wieder. Hier¬ aus entſteht eine Eisfläche, die, um einen hinkenden Vergleich an¬ zuwenden, dem, im Tieflande bekannten, ſ. g. Glatteis verwandt iſt, nur, daß ſie eben viel dicker, kompakter, maſſiger wird. Solche Eisrücken zu erklimmen, erfordert immer viel Arbeit, Mühe und Geduld; hier muß das Beil helfen, um mittelſt deſſelben Tritte in265Alpenſpitzen. das ſpröde Material zu hauen. Es muß ein gutes, erprobtes In¬ ſtrument ſein, welches ein gewandter Arm regiert; einmal der Hand, der leicht erſtarrenden, entfallen, macht der Verluſt deſſelben einen quittirenden Strich durch die Rechnung und aus dem zu erwarten¬ den großen Loos plötzlich eine Niete. Das Empordringen einer Geſellſchaft unter ſolchen Umſtänden, wo Schritt für Schritt erſt geſchaffen, geebnet, geſichert werden muß, iſt dann höchſt langſam, langweilig und erkältend. Bei Studers erſter Erſteigung des Großen Rinderhornes (10670 Fuß, Wallis-Berner Gränze) mu߬ ten gegen 400 ſolcher Stufen in den übereisten Jähhang gehauen werden, ein Zeitverluſt von mehreren Stunden. Bergſteiger-Regel iſts, eine ſolche Kunſttreppe, ſo viel immer möglich, geradeanſteigend zu beſchreiten, ſo daß das Geſicht dem Eis zugekehrt bleibt; der Fuß tritt mit der Spitze weit ſicherer als mit der Seitenkante auf.

Höchſt gefährlich ſind ſolche vereiste, ſteile Hänge, wenn friſch gefallener Schnee die glatten Eisſpiegel maskirt. Es fehlt nicht an haarſträubenden Schreckensgeſchichten zur Illuſtrirung des Ka¬ pitels von den Schneerutſchen, die urplötzlich mit der, auf der obe¬ ren, neugefallenen Schicht wandernden Geſellſchaft über der darun¬ ter verborgenen Eisbahn ſich in Bewegung ſetzten. Hugi hätte bei ſeinem zweiten Verſuch der Finſteraarhorn-Erſteigung beinahe durch ſolch einen Schneeſchlipf das Leben eingebüßt, wenn der entſchloſſene Leuthold ihn nicht noch im letzten Augenblicke mit nervigem Arm ergriffen und gerettet hätte. Das furchtbarſte Er¬ eigniß dieſer Art iſt jenes, welches die völlige Beſteigung des Mont¬ blanc durch den ruſſiſchen Naturforſcher, Hofrath Hamel vereitelte. Derſelbe war mit den beiden engliſchen Gelehrten der Oxforder Univerſität, Herren Dornford und Henderſon, unter Begleitung der kundigſten Chamounyführer (J. M. Coutet, Math. Balmat, Favret, Jules Devouaſſon u. A.) und vielen Trägern für Komfortabilitäten, Lebensmittel, mathematiſche und phyſikaliſche Inſtrumente, am 16. Auguſt 1820 von Prieuré ausgezogen, hatte am Grand Mou¬266Alpenſpitzen. let übernachtet und befand ſich am folgenden Tage bei ausgezeich¬ net günſtigem Wetter 9 Uhr Morgens bereits in der Nähe des Petit Plateau unterm Dôme de Gouté, von wo aus der Gipfel des Montblanc in 2 bis 3 Stunden zu erreichen iſt. Die Führer brachen ſchon in Glückwünſche aus, ſagten, daß nun alle Hinder¬ niſſe überwunden, weder Gefahren noch Eisſpalten mehr zu befürch¬ ten wären, überhaupt, daß noch nie eine Beſteigung ſo glücklich, geſchwind und ohne jeden Unfall ausgeführt worden ſei als eben dieſe. Die ganze Expedition war voll der beſten Hoffnung und ſah im Voraus ſich ſchon auf dem Kulminationspunkte der Wan¬ derung. Hofrath Hamel hatte Zettel geſchrieben, welche er einem aus Sallenches mitgenommenen kräftigen und brünſtigen Tauber um den Hals binden und dieſen dann fliegen laſſen wollte, um den Verſuch zu machen, ob dieſer ſein, in gerader Linie etwa fünf Stunden entferntes Weibchen im Taubenſchlage wieder auffinden werde; die Gelehrten freuten ſich ſchon auf den Ehrenplatz, wel¬ chen das von ihnen eigenhändig vom Gipfel des höchſten europäi¬ ſchen Berges abgeſchlagene Protogin-Stück in den Kabineten der mineralogiſchen Sammlungen zu Petersburg, London ꝛc. einnehmen würde, kurzum Jeder hing eigenen Lieblingsgedanken und Plänen nach. Alle marſchirten Einer hinter dem Anderen, weil man gern in die Fußſtapfen des wegbahnenden, erſten Führers tritt, welcher dann von Zeit zu Zeit, der Erholung halber, von einem Anderen abgelöſt wird. Niemand gab einen Laut von ſich, denn die An¬ ſtrengung hatte Alle ein Wenig ermattet. Noch war ich der Letzte , erzählt Herr Hamel (in der Bibliothèque universelle), gewöhn¬ lich ging ich zwölf Schritte weit fort und hielt dann an, um auf meinen Stock mich ſtützend fünfzehn Athemzüge zu thun; denn ich fühlte, daß ich in dieſer Weiſe vorankommen würde, ohne mich zu erſchöpfen. Durch eine grüne Brille und den Flor, welcher mein Geſicht verhüllte, richtete ich zählend die Blicke auf die Fußſtapfen, als ich plötzlich wahrnahm, daß der Schnee unter mir weiche. Da267Alpenſpitzen. ich glaubte nur auszugleiten, ſo verſuchte ich auf der linken Seite mich mit meinem Stocke feſtzuhalten, aber vergeblich. Der zu meiner Rechten ſich anhäufende, aufbäumende Schnee wirft mich um, überdeckt mich und ich fühle von unwiderſtehlicher Gewalt mich abwärts fortgeriſſen. Anfangs wähnte ich, dieſer Umſtand begegne mir allein; als ſich aber der Schnee dergeſtalt über mir an¬ häufte, daß er mir den Athem entzog, ſo glaubte ich, eine große Lauine komme vom Montblanc herab, welche ihn vor ſich herjage. Ich rief, aber wie es ſchien umſonſt! Meine Gefährten ſah ich nicht mehr. Jeden Augenblick erwartete ich, von der Maſſe erdrückt zu werden; jedoch ſuchte ich im Hinabrollen beſtändig mich umzu¬ drehen und wandte alle Kräfte an, den Schnee, in welchen einge¬ hüllt ich gleichſam ſchwamm, zu zertheilen. Endlich gelang es mir den Kopf daraus zu befreien und ich erblickte einen großen Theil des Abhanges in Bewegung; da ich jedoch mich dem Rande des rutſchenden Theiles ziemlich nahe ſah, ſo ſtrengte ich meine Kräfte aufs Aeußerſte an, den feſtliegenden Schnee zu erreichen, auf wel¬ chem es mir endlich möglich war, ſicheren Fuß zu faſſen. Jetzt erſt erkannte ich die wirkliche Gefahr; ich ſah, daß ich mich faſt am Rande einer Spalte befand, welche den Abhang begränzte. Zugleich ſah ich Herr Henderſons Kopf noch näher dem Abgrunde aus dem ſtockenden Schnee hervorragen, und etwas weiter Herrn Dorn¬ ford nebſt drei Führern, Alle mit verzweifelt kämpfender Anſtren¬ gung bemüht, gleich mir ſicheren Boden zu gewinnen. Sie erreich¬ ten glücklich ihr Ziel, aber die fehlenden fünf Uebrigen konnte ich nicht entdecken. Immer noch hoffte ich, ſie aus dem nun ſich ſtauenden Schnee hervorkriechen zu ſehen, als Balmat uns zurief, daß ſich Leute von uns in dem Abgrunde befänden. Dieſe Kunde durchzuckte mich wie ein Wetterſchlag! fünf Menſchen lebendig be¬ graben und dies durch meine und meiner Freunde Veranlaſſung. Dornford warf ſich unter den wildeſten Geberden des Schmerzes auf den Schnee, und Henderſons Zuſtand erſchien momentan ſo268Alpenſpitzen. zerrüttet, daß er böſe Folgen befürchten ließ. Welch unendliche Gefühle der Freude uns elektriſch durchſtrömten, als wir bei unſerem Spähen an einer Stelle den Schnee erſt wenig, dann immer entſchiedener ſich bewegen ſahen, als nach einigen Augenblicken einer der verloren Geglaubten ſich daraus hervorwand, iſt nicht zu beſchreiben. Ein jubelndes Hurrah! begrüßte ihn und es verdoppelte ſich, als nach kurzer Friſt wir noch einen Zweiten ſich emporkämpfen ſahen. Schon loderte unſere Hoffnung in hellen Flammen auf, auch die noch fehlenden drei Anderen erſcheinen zu ſehen; es war ver¬ geblich. Nach langen, mühevollen, aber erfolgloſen Nachforſchun¬ gen, ſo weit ſolche bei dem gänzlichen Mangel an Schaufeln und ähnlichen Werkzeugen möglich waren, trat die ganze Geſellſchaft, ſo nahe dem Ziele, in trübſter Stimmung den Rückweg an, weil die Führer erklärten, daß unabweisbar neue Schneerutſche auf die¬ ſen folgen würden, namentlich in jenen Gegenden, die noch zu durchwandern ſeien. Abends 9 Uhr langte die Karavane mit der Schreckensbotſchaft im Thale an. Jene drei Opfer aber ſchlafen den Todesſchlaf in den Eiskellern des Montblanc.

Es ſind jedoch nicht dieſe den Grundlauinen verwandten Schnee¬ rutſche allein, die den Wanderer in bedeutenden Höhen bedrohen, ſondern auch zu Häupten deſſelben losbrechende, eigentliche Lauinen und Eisbrüche können ihn begraben oder erſchlagen. Eine allen Berggängern bekannte, ſehr berüchtigte Stelle dieſer Art iſt die ſ. g. Schneeroſe oder Schneerunſe am Tödi. Es iſt ein kleines, etwa ½ Stunde langes Felſenthal unter der Gelben Wand , welches von einer, in beträchtlicher Höhe ſenkrecht abgeriſſenen, gewaltigen Eismauer geſchloſſen wird. Von letzterer ſtürzen zeitweiſe große Eisblöcke herab, die in furchtbaren Sprüngen bis an das untere Ende des Thales rollen. Da eine Wanderung durch die Schnee¬ roſe ſtets mit einiger Gefahr verbunden iſt, ſo eilen die Tödiſtei¬ ger ſtets auf das Drängendſte, dieſe heilloſe Stätte in möglichſt kürzeſter Friſt zu paſſiren. Dr. Hegetſchwyler von Zürich, den be¬269Alpenſpitzen. rühmten Botaniker und Monographen dieſes koloſſalen Bergſtockes, hätte beinahe eine ſolche Schmetter-Kanonade zermalmt. Er wagte, von ſechs Reiſegefährten und Führern begleitet, am 12. Auguſt 1822 den dritten Verſuch zur Erſteigung des Tödi. In jener Schreckens¬ runſe angekommen, ſtanden bereits drei Perſonen der Expedition völlig geſichert unter dem Schutze überhangender Felſen, und die Führer waren eben beſchäftigt, den Letzten am Seil durch die ge¬ fährlichſte Stelle dieſer Todesſchlucht zu geleiten, da dröhnte es donnernd durch die Einöde. Toſend und dröhnend jagte ein Glet¬ ſcherſturz aus jener Höhe des eisbeladenen Grates herab. Angſt¬ ruf der Führer erfüllte die Luft; Schneegerieſel von allen Seiten, dann ſchreckliche Todesſtille für ein paar Augenblicke! Nun rauſchte es wieder ſtärker; in Schneegeſtöber, wie in Rauch gehüllt, fuhren kleine Eisſtücke in den Abgrund und durch die Schlucht ge¬ rade auf die darin Weilenden zu. Da dieſe ſich dicht an die Felſenwand ſchmiegten und anklammerten, ſo ging der Strom über ſie ohne bedeutende Beſchädigung hinweg. In ſtummer, gräßlich peinlicher Angſt verharrten die geſichert Stehenden noch ein paar bange Augenblicke; da hörte der Strom auf und einander fröhlich zurufend, erkannten ſich die Geretteten. Die Gletſcherſtücke waren durch den tiefen Sturz völlig zerſplittert und zermalmt und dadurch faſt unſchädlich geworden.

Das Schreckens-Arſenal der Hochgebirgs-Phänomene iſt aber noch lange nicht erſchöpft. Je mehr wir uns den erſehnten Gipfelpunkten nähern, deſto mehr häuft ſich die Summe der Fährlichkeiten und Hinderniſſe. Zunächſt hat man die weit überhangenden Schnee - Weheten zu fürchten, welche über oft ſchauerlich tiefen Abgründen an den mehrere taufend Fuß ſenkrecht abſinkenden Felſenfronten der Alpen auffallend breite, hohl gewölbte, trügeriſche Vorſprünge hinaus¬ bauen, die jeder mechaniſchen Stütze entbehren; nur durch den Froſt - Verband der ineinander verflochtenen Eisnädelchen, durch die Kohä¬ renz der Schneeflocken werden ſie gehalten und getragen. Ein gering¬270Alpenſpitzen. fügiger Umſtand kann ſolche, in die Luft hinausragende, gleich Dächern die Felſen übertraufende Firngerüſte löſen und zum Tief¬ ſturz bringen. Herr Weilenmann hat deren am Gufferhorn (Adula - Gruppe) beobachtet, die mehr als 30 Fuß frei hinausſtehend, Muſter kühner Schneearchitektur genannt zu werden verdienen. Man hat ſich alſo wohl zu hüten, auf ſolche überhangende Weheten zu weit hinaus zu gehen. Ferner bereitet das ſ. g. faule Geſtein, d. h. die durch Eroſion und durch die Thätigkeit der Atmoſphärilien ab¬ gelöſten, bröckeligen Felſenfragmente, dem Berggänger große Ver¬ legenheiten, ſei es, daß der Fuß keinen ſicheren Stand auf dem¬ ſelben hat und fortwährend ſich in der Gefahr befindet abzugleiten, ſei es durch Ablöſung oberhalb, alſo durch entſtehenden Stein¬ hagel. Auch dünne Felſen-Nadeln, die wie Spitzthürmchen gothi¬ ſcher Kathedralen ſich präſentiren und Angeſichts von Abgründen umklettert werden müſſen, gehören nicht ſelten zu den kleinen Mali¬ cen der letzten Marſch-Stunden.

Der letzte eigentlichſte Kernpunkt, die äußerſte Kulmination iſt bei ſehr vielen Alpenſpitzen auch noch die härteſte der zu knacken¬ den Nüſſe. Manche mit der ſorgfältigſten Vorbereitung ausge¬ rüſtete Expedition ſcheiterte ganz oder theilweiſe noch dicht unter der dominirenden Scheitelzinke, weil man zu ſpät erkannte, den Streifzug gegen das Bollwerk von der unrechten, unzugänglichen Seite unternommen zu haben (wie ſolches bei allen Monte Roſa - Beſteigungen vor dem Jahre 1855 der Fall war) oder weil den Gipfelſtürmern jene wahrhaft unheimliche Kaltblütigkeit und grauenhafte Reſignation neben den muskelfriſchen Kräften fehlten, welche nöthig ſind, ſolche Wagſtücke auf Leben und Tod zu be¬ ſtehen. Einige Beiſpiele werden genügende Erläuterung geben.

Die letzte Paſſage zum Gipfel der Bernina-Spitze (12475 par. Fuß, Ober-Engadin) beſteht aus einem ſcharfen Gletſcher - Grat, der ſteiler als der Firſt des ſteilſten Kirchendaches, ja bei¬ nahe ſenkrecht, wohl zweitauſend Fuß, einerſeits gegen das Val271Alpenſpitzen. Rosegg, andererſeits gegen einen Gletſcher-Cirkus abfällt. Bei der am 13. Septbr. 1850 erfolgten erſten Beſteigung dieſer giganti¬ ſchen Central-Maſſe überwand den Sattel Herr Coaz (Forſtinſpektor in Chur) mit ſeinen beiden Führern rittlings rutſchend. Am Groß - Glockner (12158 par. Fuß, Tyrol) führt der Weg über einen 36 Fuß langen, nur 4 bis 6 Zoll breiten Felſenſattel, vom Schnee leicht geebnet, zum eigentlichen Gipfel; der öſterr. Major Sonklar Edler von Innſtädten paſſirte ihn mit 3 Gefährten und 5 Führern halb kriechend, halb reitend am 4. Septbr. 1855. Aehnlich, aber noch komplicirter iſt der Zugang zum Monte Roſa (14284 par. Fuß). Johannes Zumtaugwald überſchritt bei der am 14. Auguſt 1855 erfolgten zweiten Beſteigung, den kaum einen Fuß breiten Kamm aufrecht, die Schneekante ſchwindelfrei durch Niedertreten verebnend, als obs im flachen Felde wäre; Herr Weilenmann, der verwegene Berggänger, folgte ihm (nach eigenem Geſtändniß) mit angehaltenem Athem und nicht ohne Schauern, ebenfalls aufrecht gehend. Hiermit war aber der Kulm der äußerſten Spitze noch nicht erreicht; jetzt galt es eine zwar nur wenig Schritte breite, aber glänzend-glatt mit Eis überzogene Felſenplatte zu traverſiren, welche abſchüſſig auf die jäh gen den Gorner-Gletſcher niederſin¬ kende Schneewand ausläuft. Wie auch dieſe überwunden war, ſo mußte endlich noch eine faſt vertikale, kaminähnliche Runſe erklet¬ tert werden, welche direkt auf den äußerſten Kulm führt. Im Er¬ ſteigen derſelben ſchiebt ſich zu guter Letzt noch eine überragende Felſenplatte vor, welche ohne Beihilfe gewandter, feſter und muthiger Kameraden unmöglich zu überturnen iſt. Peter Zumtaug¬ wald ſpreizte ſich wie ein Kaminfeger feſt in die Wände der Schlucht ein, ließ ſeinen Vetter Johannes dann auf ſeine Schultern treten, und ſo ward es Letzterem möglich, den Vorſprung mit kräftigem Armſchwung zu überwinden. Eine Sekunde lang ſchwebte er da¬ bei über Untiefen. Wie er erſt droben war, gings mit den Ande¬ ren raſch, mittelſt des Seiles. Ein hilfloser Archivrath, deſſen272Alpenſpitzen. bei dieſer Expedition oft gedacht wird, mußte, wie ein Gü¬ terballen am Krahnen, den Strick um den Leib gebunden, hinauf¬ gehißt werden. Der Unglückliche hatte kurz vorher, ehe man den ſchwindeligen Grat paſſirte, den Arm aus der Schulter gerenkt, und nach langem, vergeblichem Ziehen und Stoßen war es den Füh¬ rern, die keine ſonderlichen chirurgiſchen Kenntniſſe beſaßen, gelun¬ gen, das Glied wieder einzurichten. Eine ähnliche Paſſage iſt die über den Roththal-Sattel, etwa 12000 Fuß ü. d. M., bei Erſtei¬ gung der Jungfrau (12827 Fuß); ſie erfordert feſten Tritt und an Abgründe gewöhnte Augen, um nicht vom Schwindel er¬ griffen zu werden. Dennoch ſpart auch dieſer Berg ſeine ſchreck¬ hafteſten Schauermomente bis zu dem äußerſten Gipfelpunkt. Zu dieſem führt nur ein ſcharf-zugeſchnittener Kamm, deſſen Breite zwiſchen 6 bis 10 Zoll wechſelt, während die Gehänge der beiden Seiten 60 bis 70 Grad Neigung haben. Als die Profeſſoren Agaſſiz, Forbes, Duchatelier und Deſor denſelben am 28. Auguſt 1841 erreicht hatten, glaubten ſie nicht weiter kommen zu können. Der unerſchrockene Jakob Leuthold behauptete indeſſen das Gegen¬ theil, und um ſofort den Beweis zu führen, legte er ſein Gepäck ab und ſtieg in der Art vorwärts, daß er an der linken Seite des Schneekammes ging, während er die Schärfe des Grates im buch¬ ſtäblichſten Sinne unterm rechten Arm hatte und auch auf der rech¬ ten Seite den Stock einſetzte. So ging er langſam und beſonnen an dem entſetzlichen Abgrunde hin, indem er ſo viel als möglich den Schnee zu einem Pfade zuſammentrat und den Uebrigen die Er¬ ſteigung möglich machte. Bei der am 8. Auguſt 1842 von den Profeſſoren Eſcher von der Linth, Girard und Deſor verſuchten Erſteigung der Schreckhörner (12568 Fuß, Berner Alpen), bei welcher ſie indeſſen nur bis auf die Spitze des großen Lauteraar¬ hornes kamen, wurde die Geſellſchaft, als ſie auf der Schneide eines felſigen Kammes ging, unvermuthet am Weiterkommen ge¬ hindert; der Weg war durch einen etwa 10 Fuß tiefen ſenkrechten Ein¬273Alpenſpitzen. ſchnitt vom Hauptſtocke des Berges getrennt, auf welchem einige hundert Schritte weiter der Gipfel winkte. Der Einſchnitt ſelbſt ſtellte einen ſcharfen Schneerücken dar, wie er auf den letzten Sei¬ ten mehrfach beſchrieben wurde. Während man noch konſultirte, ob man ſich am Strick hinablaſſen, oder das Hinderniß zu umge¬ hen ſuchen ſollte, ſprang der Führer Bannholzer, ohne ſich anbin¬ den zu laſſen, mit einem Satze auf den Schneeſattel hinab. All¬ gemeiner Schrei des Entſetzens! denn man hielt den Wagehals für verloren; allein er kam, ohne ſich wehe zu thun, rittlings auf den Schneeſattel zu ſitzen, und ohne ſich an das Rufen, Bitten, Fluchen der anderen Führer zu kehren, ſtieg er die gegenüberſte¬ hende Zacke hinan, erreichte die Höhe und winkte, ihm zu folgen. Einer nach dem Andern wurde am Seil hinabgelaſſen, und ohne Unfall kletterte die ganze Karavane dem Muthigen nach. Da er¬ wartete ſie in unmittelbarſter Nähe des Gipfels wiederum eine letzte Schwierigkeit. Auf etwa 50 Fuß Länge wird der Kamm ſo ſchmal, daß er kaum 18 Zoll Breite hat, während auf beiden Seiten Abgründe von etwa 4000 Fuß beinahe vertikalen Abſturzes gähnen. Hier hatten ſelbſt die verwegenſten Führer nicht den Muth, aufrecht zu gehen, ſondern überkrochen die Stelle, mit ſtarr vor ſich blicken¬ den Augen, wie Quadrupeden, bis das erſehnte Ziel erreicht war. Schließlich noch die Erſteigung des Finſteraarhorns (13160 Fuß). Hugi war bei ſeinem dritten Verſuche der Erſteigung dieſes höchſten Gipfels der Berner Alpen am 10. August 1829 bis auf den hangenden Hochfirn gekommen, den man von allen guten Standpunkten der nördlichen Schweiz, beſonders vom Faulhorn aus, ſo deutlich ſehen kann. Um nun zu den Mittelfelſen in der oberſten Ausſpitzung des Firnes und des Hornes ſelbſt zu gelan¬ gen, war eine im eigentlichſten Sinne hängende Eisfläche zu paſ¬ ſiren. Es konnte nur mittelſt eingehauener Tritte geſchehen. Die Führer Leuthold und Währen gingen ſofort ans Werk, ſchlugen den Fuß feſt in die eingehauene Stufe, ließen ihn etwas anfrieren,Berlepſch, die Alpen. 18274Alpenſpitzen. um feſter zu ſtehen, und meißelten dann weiter. Es war ein hals¬ brechender Moment, ſie an dieſer Wand gleichſam hangend zu er¬ blicken. Endlich war die gefährliche Arbeit beendet und die Ueber¬ ſchreitung ſollte vor ſich gehen. Leuthold kam, um Profeſſor Hugi zuerſt herüberzuholen, erklärte ihm aber zugleich auf das Beſtimm¬ teſte, daß, wenn er ausglitſche, Rettung unmöglich ſei und er, ſei¬ ner eigenen Sicherheit halber, nicht einmal den Verſuch eines ret¬ tenden Handgriffes wagen werde. Das Ende vielfacher Verſuche war, daß kein einziger Mann der ganzen Expedition (unter denen tüchtig bewährte Berggänger ſich befanden) die Eishänge zu über¬ ſchreiten wagte. Leuthold und Währen erklommen einzig das ſchwindelhohe Ziel.

Wenn du den Muth verlierſt, verliereſt du die Kraft
Zu wirken, und dein Werk verkümmert krüppelhaft.
Rückert.

Der Augenblick, in welchem man einen berühmten Gipfel nach unſäglichen Mühen und lebenbedrohenden Gefahren betritt, hat im¬ mer etwas Erſchütterndes, faſt möchte man ſagen Feierliches; es iſt ein Moment höherer Weihe, wenn rundum im faſt endloſen Ketten-Reigen ein weitgedehnter Horizont von Berggeſtalten und Thaltiefen auftaucht. Da liegt ſie ausgebreitet uns zu Füßen, die herrliche, gewaltige, große Alpenwelt, Firſt an Firſt, Grat an Grat, Kulm über Kulm, und wie der Blick eines Mächtigen der Erde bei ſeinem Regierungs-Antritt alle die Nationen, Völker und Stämme überfliegt, die fortan ſeiner Leitung ſich fügen wollen, ſo findet auch hier eine geiſtige Beſitz-Ergreifung, eine Heerſchau im Dienſte der Intelligenz ſtatt. Dem wohl bewanderten Berg¬ gänger ſchlägt die ausgebreitete Gipfelwelt ſein eigenes Tagebuch, das Souvenir ſeiner ſommerlichen Freuden, Leiden, Genüſſe und Entbehrungen auf; von allen Seiten winken ihm Freunde aus früheren Tagen, die er ſofort wiedererkennt, grüßend entgegen und das Auge überſchwebt im Spazierfluge alle bekannten Höhen, Joche und Fluh-Toſſen. Da begegnet es unterwegs Geſtalten, ehrwürdi¬275Alpenſpitzen. gen, hochaufgerichtet ſtolzen, aus der großen Menge bedeutſam her¬ vortretenden, ſilbergeſcheitelten Greiſen, auf denen es ſinnend haf¬ tet: es kennt ſie, ohne ſofort ſie zu erkennen, Karte, Fernrohr und Führer kommen dem ſuchenden Gedächtniß zu Hilfe! Ah! Grüß Gott, lieber Alter! Du auch da! Wie ganz anders ſiehst Du von hier aus? Ich habe Dir immer von anderer Seite in Dein ernſtes Antlitz geſchaut, wie Du Deinen verſteinerten Träumen nach¬ ſinnst, und heute ſchauſt Du mich nur verſtohlen über die Schul¬ tern an! So ſchweift der Blick in flüchtiger Rundreiſe immer weiter über die Zacken und Zinken des Rieſenreliefs, gleitet hinab zu heimelig eingebetteten Thalſpalten, und überſpringt glitzernde Flußadern, bis er beim Ausgangspunkte wieder anlangt, um nach dieſem orientirenden Fluge in die Special-Muſterung einzutreten. Und vollends jenes erbebende Gefühl, wenn es ein Gipfel iſt, den nur höchſt ſelten oder zuvor noch nie eines Menſchen Fuß betrat; dies iſt dann eine Inauguration, erhabener, großarti¬ ger, als jede andere, durch Menſchen-Sinn und Hand bereitete. Warum läuft durch alle Zeitungen die Nachricht, wenn endlich eine, der ganzen gebildeten Welt längſt bekannte, ſchon unendlich oft auf Karten und Panoramen gezeichnete, in Büchern genannte Al¬ penſpitze von Bedeutung zum Erſtenmal erſtiegen wurde? Weil es eine kleine Kolumbus-That iſt, weil die kühnen Männer einen Bau¬ ſtein zum großen Tempelheiligthume der Naturwiſſenſchaften hinzu¬ fügten. Alle Schrecken und Bedrängniſſe ſind vergeſſen, die Gletſcherſpalten und Firnſchründe mit ihren trügeriſchen Brücken, der ſchwindelſtarre Abgrund und die weichenden Trümmerhalden liegen als überwundene Feinde hinter uns, und jauchzend hebt ſich das Herz und klopft mächtiger in ſeines Gottes größerer Nähe.

Wie aber mag dieſer Gefühlsſturm ſich erſt ſteigern, wenn, wie es bei der erſten Erſteigung des Tödi am 10. Auguſt 1837 der Fall war, die unerſchrockenen Bergkämpen, längere Zeit im Nebel berganklimmend, an der Um - und Ausſchau gehindert, plötzlich, wie18*276Alpenſpitzen. die grauen verhüllenden Schleier reißen, in freudigem Schrecken erkennen, daß rundum alle Gipfel tiefer liegen als der, auf wel¬ chem ſie ſtehen, und unbewußt der langerſehnte Zielpunkt erreicht iſt. So ergings den ſtählernen, mit eiſerner Konſequenz vordringen¬ den Gebirgsmännern: Bernhard Voegeli, einem 60jährigen verwegenen Gemsjäger und Wildheuer in Begleitung ſeines Sohnes Gabriel und des kühnen Thomas Thut, alle Drei in den Obbordbergen hin¬ ter dem Dorfe Linththal (Kanton Glarus) daheim. Alle bis dahin mit dem größten Aufwande veranſtalteten Expeditionen waren ſämmtlich nicht ans Ziel gelangt, und im ganzen Glarner Gro߬ thale galt es für unbeſtreitbare Thatſache, daß der Tödi unerſteigbar ſei, wie heute noch das Matterhorn, die Dente blanche, das Wei߬ horn und Mont Cervin der Walliſer Alpen für unerklimmbar gelten.

Mit der Erſteigung eines ſolchen äußerſten Höhepunktes iſt indeſſen, nach Ueberwindung aller aufgezählten Hinderniſſe und Fährlichkeiten, oft noch wenig erreicht, wenn nicht auch der Himmel dem Unternehmen ganz außerordentlich günſtig und die Atmoſphäre ſehr rein iſt. Jene Tage ſind ſelten, an denen auf Höhen von mehr als eilftauſend Fuß die Temperatur einigermaßen mild, der Aufenthalt behaglich oder auch nur erträglich iſt; gewöhnlich variirt die Wärme in den Regionen über 12000 Fuß an ganz ſonnenkla¬ ren Sommertagen Mittags im Schatten nur um wenig Grad über oder unter dem Gefrierpunkte. De Sauſſure fand auf dem Mont¬ blanc im Schatten , und in der Sonne , ; Hugi am Finſteraarhorn im Auguſt 1 Uhr Mittags im Schatten , R., in der Sonne 0, ; Agaſſiz auf der Jungfrau Ende Auguſt 3 Uhr Nachmittags im Schatten ; Coaz auf dem Piz Bernina 13. Septbr. Abends 6 Uhr in der Sonne + R. Freilich ſind auch einzelne Fälle von außerordentlicher Temperatur-Höhe bekannt; ſo z. B. fand Herr v. Dürler auf dem Tödi Mitte Auguſt 1 Uhr Nach¬ mittags im Schatten + , C. und in der Sonne + , C.; Zum¬ ſtein bei ſeinem Monte Roſa-Erſteigungs-Verſuch in 13920 Fuß Höhe277Alpenſpitzen. + , R. (ob Sonne oder Schatten, iſt unbekannt) und Weilen¬ mann auf dem Piz Linard (bei 10516 Fuß) Anfang Juli, Mittags 11 Uhr, ſogar + 17° R. an der Südſeite in der Sonne. In¬ deſſen beeinträchtigt der geringe Wärme-Gehalt der Luft die Gipfel-Erklimmer in den meiſten Fällen wenig; die Begleiter Agaſ¬ ſiz's tanzten bei ihrem Strahlegg-Uebergange (10380 Fuß ü. d. M.) und wälzten ſich, den Buben gleich, im Schnee, die Führer ver¬ ſuchten einen Hoſenlupf (Schwingen oder Ringen) und der alte ſechzigjährige Bernhard Voegeli ſtreckte ſich nach errungener Tödi - Erſteigung gemächlich auf den Schnee und ſchnarchte bald ganz behaglich. Allgemein rühmen die Birgmannen eine eigene Elaſti¬ cität der Luft, die bei aller Friſche dennoch die größte Müdigkeit paralyſirt; aber ebenſo einmüthig klagen ſie andererſeits über die große Trockenheit der Atmoſphäre, welche ein eigenthümliches Spröde¬ werden der Haut und anderer Gegenſtände veranlaßt, ſo daß letz¬ tere ungemein leicht der Hand entgleiten.

Ein zweiter, den Genuß oft weſentlich beeinträchtigender Fak¬ tor iſt die meiſt ſehr geringe Durchſichtigkeit der Luft nach der Tiefe zu. Während dieſelbe nach oben ſo außerordentlich tranſpa¬ rent iſt, daß der leere Himmelsraum im Zenith faſt ſchwarz¬ blau oder wie dunkel angelaufener Stahl ausſieht, erſcheinen die fernen Berge, vom Montblanc oder Monte Roſa aus geſehen, in beinahe dunkelgelber Färbung, und ſelbſt die Firnfelder nehmen einen gelben Schein an. Dagegen verſchwimmen die Thaltiefen, von Höhepunkten, wie die eben genannten, durch die über den Tiefen lagernden Dünſte ins beinahe Unerkennbare; nur bei ganz hellem Himmel kann man vom Montblanc, deſſen Ausſichtskreis im Halbmeſſer auf 70 Stunden geſchätzt wird, die zunächſt gelegenen Alpenketten ſcharf und deutlich erkennen, weiterhin verſchleiert ſich Alles immer mehr und mehr, bis es ins abſolut Unbeſtimmte übergeht. Indeſſen variiren, je nach örtlicher Lage und nächſter Umgebung der Gipfel, auch hier die Niederblicke und Ausſichten278Alpenſpitzen. ungemein. Vortrefflich ſchildert dies Studer in ſeinen Gletſcher¬ fahrten: Die Ausſicht von der Jungfrau iſt mehr erhaben als ſchön. Ja, auf das Gemüth desjenigen, der zum Erſtenmal ihre Zinne betritt und dem ſie die koloſſalen, in ihrer ernſten Pracht faſt unheimlich ausſehenden Bilder des Umkreiſes enthüllt, wirkt ſie wahrhaft erſchütternd. Das Bunte, Reizende fehlt; kein blauer See erfreut dort das Auge, denn auf den Spiegel des Thuner¬ ſees blickt es ſo tief hinunter, daß er an Farbe und Charakter einem düſteren Alpenſee ähnlich, zwiſchen öden, baumloſen Berg¬ höhen zu liegen ſcheint. Die lieblichen Landflächen ſind zu ent¬ fernt, um ihren Reiz zu entfalten. Das trübe Grau, das ſie wie eine Dämmerung bedeckt, verſchwimmt in dem finſteren Dunſt, der den weiten Horizont geſtaltlos umzieht und keine Formen, keine Farbe mehr erkennen läßt. Im weiten Kreiſe begränzt von den farbloſen Niederungen oder dem düſteren Horizonte breitet ſich eine Welt von zerriſſenen Gletſchern, ſchneeigen Hochthälern, mannigfach verſchlungenen Firn - u. Felſenkämmen aus, über welcher man in ſchauerlicher Einſamkeit thront und welche unter dem ſchwarzblauen Firmamente von dem gebrochenen Lichtſchimmer einer mattſtrahlenden Sonne beleuchtet iſt. Der Tödi, der die ganze öſtliche Schweiz dominirt, bietet einen unermeßlichen Geſichtskreis dar; man kann ſagen, man ſieht nur zu viel. Das Einzelne ver¬ ſchwindet unter dem Ganzen, und auch dort verſchwimmen die ent¬ fernten Niederungen in nebeligen Dunſt, und das ungeheuere Alpen¬ gebiet, das man überſieht, zeigt wenige einzelne, großartige Gruppen oder Gebilde, die das Auge vorzugsweiſe feſſeln. Die Berner Hochalpen und Bernina ſind ſchon zu entfernt, um einen ſehr impoſanten Eindruck hervorzubringen. Dagegen erhält die Ausſicht vom Mont Velan (11588 Fuß üb. d. M.) ihren hohen Reiz gerade durch das großartige, maleriſche Bild und den ſo verſchieden¬ artig ausgeprägten Charakter der einzelnen ſichtbaren Gebirgsgruppen. Das Specielle tritt lohnend hervor. Das Auge muß nicht ermü¬279Alpenſpitzen. den, ein unabſehbares Gewirr gleichförmiger Bergketten zu ent¬ ziffern; jede hat ihr beſonderes Gepräge, und man kann ſich kaum ſatt ſehen an den ſcharf gezeichneten ſchönen Formen der überall deutlich hervortretenden Gipfelgeſtalten. Man ſchaut noch an die Rieſenhäupter des Montblanc und Grand Combin empor, und em¬ pfindet in dem überwältigenden Eindrucke die Macht ihrer Größe. Und dennoch giebt der weite Geſichtskreis Zeugniß von der Erha¬ benheit des Standortes, und mit Stolz beherrſcht der Blick tauſend mächtige Gipfel, die ſich vor ihm beugen müſſen. In älteren Reiſebeſchreibungen wird Mancherlei davon gefabelt, daß man am hellen Mittage auf ſolch außerordentlichen Höhepunkten die Sterne funkeln ſehen könne; alle die neueren Bergſteiger wiſſen auch hiervon nichts zu berichten.

Zu den originellſten Momenten gehört die Art und Weiſe, wie die Bergſteiger der verſchiedenen Zeiten und Nationen unter¬ einander korreſpondiren und mit der Bewohnerſchaft angränzender Thäler telegraphiſch ſignaliſiren. Ueberall nämlich, wo ein Gipfel zum Erſtenmal erſtiegen wird, laſſen die Sieger irgend ein Zeichen ihrer Anweſenheit zurück, wie die alten Römer das hoc iter Caesaris. Beſteht eine ſolche Expedition nur aus Hirten und rüſti¬ gen Thalleuten oder Wanderfreunden der Alpenwelt, die das Ueber¬ maß ihrer phyſiſchen Kräfte an irgend ſolch einem Koloß erproben wollen, weil er ihnen jahraus, jahrein ins Fenſter ſchaut, dann bauen ſie als Promemoria für künftige Geſchlechter aus zuſammen¬ geleſenen Felſentrümmern eine kleine Pyramide, und das erſte Ge¬ ſchäft eines paſſionirten Bergſteigers, ſo wie er auf der Höhe an¬ kommt, iſt: dieſes ſ. g. Steinmandli zu unterſuchen, ob daſ¬ ſelbe nicht irgend einen Zettel, eine Nachricht von den vorhergehen¬ den Erſteigern enthält. Um ſolche für vielleicht ferne Zeiten be¬ ſtimmte Korreſpondenzen gut zu konſerviren, werden die hier oben geleerten Weinflaſchen benutzt. Sie, die für die Tiefe ſchwarzer Keller-Nächte beſtimmt, manchen Mondenwechſel einſam in der Erde280Alpenſpitzen. Tiefen vertrauerten, ſind nun auserwählt, auf den äußerſten Gipfeln des Erdballes eine praktiſche Interpretation des hoffnungs-heiteren post nubila Phoebus (durch Nacht zum Licht) zu bethätigen, ſie, die bisher Träger und Hülle geiſtiger Getränke waren, dienen nun dem geiſtigen Fluidum des menſchlichen Gedankens und werden mittel¬ bare Vermittler und Begrüßungs-Poſtillone zwiſchen gänzlich un¬ bekannten Perſonen. Der aus dem Notizbuche geriſſene Zettel mit den Namen der Beſteiger, Datum und allfälligen Aufzeichnungen über Wärme, Ausſicht, beſtandene Abenteuer u. ſ. w. (dem es mit¬ unter nicht an witzigen, konfidentiellen Scherzen fehlt, je nachdem der Weingeiſt den Gehirn-Barometer hinaufgetrieben hatte) wird in die Flaſche verſenkt und dieſe feſt gepfropft, in die Mitte des umge¬ benden Steinmandli verwahrt, ſo daß Sturm, Regen und Schnee ihr nichts anhaben können. Weilenmann fand auf dem Monte Roſa-Gipfel in einer ſolchen Flaſche nächſt einem Couvert mit Grüßen und Notizen auch noch breite, rothe und ſchwarze, ſeidene Bänder, welche die Gebrüder Smith von Great-Yarmouth, die erſten Beſucher der höchſten Spitze (Gebrüder Schlagintweit waren blos bis zu einem 22 Fuß unter dem höchſten Kulm liegenden Punkte vorgedrungen), dort zurückgelaſſen hatten; er ſchnitt kleine Streifen ab, von denen er ſpäter, nach ſeiner Heimkehr, Abſchnitte den Herren Smith brieflich zuſandte, als Zeichen der Nachfolgerſchaft. Solche Depoſitionen erinnern lebhaft an die mittelalterliche Sitte: in Thurmknöpfe und Grundſtein-Gemäuer, Dokumente und Mün¬ zen für ferne unbekannte Generationen niederzulegen.

Wo ſich die Bergſteiger aber auf eine Celebrirung ihrer Er¬ rungenſchaft vorbereitet haben, da wehen, als Zeichen der Beſitz¬ nahme eines Punktes, Fahnen ins Thal herab, die unten mit dem Fernrohr (oder dem italiſchen Feldſpiegel , wie die Gebirgs¬ bauern ſagen) erkannt werden können. Gemeiniglich ſind es im¬ proviſirte Standarten, rothe Foulards mit Bindfaden an einen im Steinmandli befeſtigten Stock gebunden, oder wie bei Coaz's Bernina¬281Alpenſpitzen. Beſteigung das weiße eidgenöſſiſche Kreuz im rothen Felde, das triumphirend über Gletſcher und Firnfelder flaggte. Da aber ſolche Trophäen gar ſehr den Hochſtürmen ausgeſetzt ſind und in der Regel bald umfallen, oder (wie auf dem Piz Linard, welche Weilenmann fand) vom Blitze zerſplittert und verſengt werden, ſo ließ Hugi auf dem Finſteraarhorn eine aus Eiſendraht gefertigte, mit Harztuch überzogene Fahne aufpflanzen, welche man vom Grim¬ ſelhoſpiz, von Bern, ja ſelbſt von Solothurn aus (einer Entfernung von 19 Schweizerſtunden oder 12 geographiſchen Meilen), durch den Tubus beobachtete. Die originellſte, vom momentanen Sich¬ zuhelfenwiſſen zeugende Fahne etablirten die Gebrüder Schlagintweit am Monte Roſa, wo ſie in Ermangelung entſprechenden Flaggen¬ ſtoffes ein Hemd an die Stange banden, die in Betreff des Humors faſt noch von jener übertroffen wird, die Studer auf dem Rinderhorn aufhißte; auch dort mangelte, als man den Aufmarſch antrat, ein Fahnentuch, und der Wirth des einſam gelegenen Berg¬ wirthshauſes Schwarenbach wußte ſich nicht anders zu helfen, als daß er eine alte Weſte zu dieſem Zweck dem Spiel der Lüfte preisgab.

Wie ſchon erwähnt, werden die Beſteiger durch gute Perſpektive mit den Augen vom Thale aus auf ihrer Tour verfolgt, und es war ſchon der Fall, daß man, als endlich die langerſehnte Fahne luſtig auf dem Gipfel flatterte, in der Tiefe mit Kanonen - und Böllerſchüſſen weithin den Thalbewohnern das Gelingen der Expe¬ dition verkündete. Es entſpricht den allgemeinen akuſtiſchen Be¬ dingungen und Geſetzen, daß die auf der Bergſpitze Weilenden dieſe Freuden-Signale hörten, weil die Schallſchwingungen, vielfach von den Bergwänden zurückgeworfen, heraufdringen mußten, während Piſtolenſchüſſe auf ſolchen alle anderen überragenden Höhen, aus Mangel katakuſtiſcher Faktoren, beinahe ſpurlos, ohne allen Effekt verſchwinden und darum im Thale durchaus nicht gehört werden. Ueberhaupt iſt abſolute, lautloſe, feierliche Stille, die durch keine282Alpenſpitzen. Lebens-Aeußerung unterbrochen wird, ein beinahe ſchauerlich-charak¬ teriſtiſches Merkmal ſolcher äußerſter Höhepunkte, die in ewiger Sabbathruhe daliegen; nur wenn der Sturm die Gipfel umbrauſt, dann erbebt die Luft ſeufzend unter den Windſtößen, und langge¬ zogene heulende Disharmonieen umtanzen im wilden Reigen die grauſe Einſamkeit.

In dieſen Höhen hat das organiſche Leben als normale Er¬ ſcheinung aufgehört. Selten iſts, im Schnee Spuren von Gemſen¬ tritten zu finden, und ebenſo ungewöhnlich, einen, der noch in der unteren Schneeregion niſtenden Vögel zu erblicken; nur bisweilen kreiſt ein Steinadler oder Lämmergeier um eine der benachbarten Spitzen und unterbricht die hehre Stille mit ſeinem gedehnten, ſchrillen Pfii und Hiä . Wohl aber begegnet man nicht ſelten den Leichen kleinerer Thiere, namentlich ſolchen von Inſekten, die urſprünglich dem Tieflande angehörend, durch irgend eine empor¬ wirbelnde Windſäule hier heraufgetragen wurden und auf dem Schnee raſch ihren Tod fanden. Herr v. Dürler ſah auf dem vereisten Kulm des Tödi während ſeines Mittagsmahles einen Schmetterling (Papilio brassicae, Kohlweißling) in mattem Fluge vorüberflattern, den ebenfalls der Sturm in dieſe Todesfelder ver¬ ſchlagen hatte. Auch dürre Laubblätter von Buchen und Ahornen wurden ſchon wiederholt auf den Firnen von 11 und 12 Tauſend Fuß angetroffen, immer aber, vermöge ihrer größeren Wärme - Kapazität, einige Linien tief in ſcharfen Umriſſen in den Schnee eingeſunken. Nur das Pflanzenreich hat hie und da noch einige verlorene Gränzpoſten; ſo zeigen ſich an felſigen Stellen bei 10,000 Fuß noch die Aretia helvetica und glacialis, letztere mit ihren feu¬ rigrothen Vergißmeinnicht-Sternlein auf graugrünem Laubkiſſen, die erſtorbene Einöde ein wenig belebend; ferner Poa alpina var. frigida, und am Schreckhorn ſogar bei 11,000 Fuß noch der behaarte Gletſcher-Hahnenfuß (Ranunculus glacialis L.). Noch einige Moosarten wagen ſich hierherauf, indeſſen äußerſt ſpärlich, und als283Alpenſpitzen. allerletzte Repräſentanten des Pflanzenreiches, zeigen ſich auf den äußerſten Spitzen noch ein Paar Flechten, z. B. Parmelia elegans und muralis, Cetraria nivalis Ach., und auf dem Gipfel der Jungfrau die nach dieſer getaufte Umbilicaria virginis.

Wie es da droben, auf dieſen äußerſten Kulminationspunkten unſeres Erdtheiles ausſieht, iſt zum Theil ſchon geſagt worden. Die Gipfel des Montblanc, Tödi, Mont Velan, Cima de Jazzi u. a. ſtellen ſich als ſanft rundlich anſteigende, gewölbte, große Schneekiſſen auf breiter Baſis dar, auf denen ganz ungefährlich zu weilen iſt. Der Galenſtock (Berner-Urner Gränze 11,073 Fuß) zeigt ſich gen Weſten ebenfalls als ſanft abgerundete Schneekuppel, die aber gen Oſten faſt ſenkrecht, mehrere tauſend Fuß plötzlich ab¬ fällt. Der Kulm des Groß-Glockner in Tyrol iſt ein unebener, felſiger Platz von grünem Chloritſchiefer, der höchſtens für 12 Per¬ ſonen Raum bietet. Die ſüdliche Zacke der Schreckhörner (85 Fuß niedriger als die nördliche, höchſte, noch unerſtiegene) bietet etwa 10 Quadratfuß Oberfläche, in Form eines Bogens oder Halbmondes, dar, deſſen Konvexität nach Norden gerichtet iſt. Dagegen bildet der Gipfel des Finſteraarhorns einen wellenförmigen Grat von etwa 20 Fuß Länge und nur 1 bis Fuß Breite, der jäh nach beiden Seiten abfällt. Gleiche oder ähnliche Formen zeigt die Jungfrauſpitze; ſie fällt wie das Dach eines Zeltes mit 60 bis 70 Grad Neigung, bei einer Breite von nur 6 bis 10 Zoll, als harter Schneefirſt ab, und das Eisdach des Großen Rinderhornes iſt vollends ſo entſetzlich zugeſchärft, daß es dem kühnſten Wagehalſe, bei dem ſteilen Anſteigen der Schneide, unmöglich wird, hinauf zu reiten oder kletternd zu rutſchen. Der Bernina-Gipfel bietet gar nur ſo viel Platz, daß kaum 3 Perſonen neben einander ſtehen können und der Grand Combin läuft in eine abſolute Firnſpitze, aus, auf welche man ſich nicht wagen darf. Wir finden ſomit eine reichhaltige Muſterkarte von Formen, ſowohl ſolchen, die Schnee und Eis improviſiren und alljährlich, je nach den Abſchmelzungen284Alpenſpitzen. oder Akkumulirungen neu modelliren, als auch ſolchen, die in aller¬ hand Geſtalt als Fels auslaufen. So mühevoll und gefährlich die Erklimmung einer Alpen-Hochſpitze iſt, ebenſo ſchwer fällt dann das Scheiden von derſelben. Es iſt ein Abſchied, vielleicht für immer von einer, weit über dem kleinlichen Treiben der Menſchen erhabenen, ſchönen Welt. Der Rückzug iſt oft mit noch mehr Schwie¬ rigkeiten verknüpft als das Emporſteigen; denn, ſind Führer und Reiſende jetzt zwar mit dem Wege und ſeinen Hinderniſſen ver¬ trauter als vorher, ſo iſt die Summe der Kräfte nicht mehr ſo groß, die Oberfläche des Schnees durch die Einwirkung der Tages¬ wärme weicher, naſſer, einſturzfähiger und das Hinabklettern an Felſenwänden viel umſtändlicher und unzuverläſſiger als das Hinaufklettern, weil man den ſicheren Tritt immer erſt unter ſich ſuchen muß, der im andern Falle von ſelbſt dem Auge ſich darbietet. Es kommt indeſſen auch vor, daß die Sonne die Spuren der Fu߬ tritte hinwegleckt und man dann beim Rückmarſch dieſen Leitfaden verliert. Dann durchfurchen am Nachmittage Gletſcherbäche die Oberfläche der Eisrücken und machen den Weg ungemein ſchlüpfrig. Wie verhängnißvoll ſelbſt auch dieſe kleinen, mit lautem Getöſe in die Gletſcherſpalten ſtürzenden Waſſeradern für den ſorglos oder ermattet dahinſchlendernden Berggaſt werden können, beweiſt eine Anekdote, welche Herr Weilenmann bei Gelegenheit ſeiner Monte Roſa-Tour erzählt. Einer der Engländer, welche von der Partie geweſen waren, rutſchte in ſolch einem Gletſcherbache aus und ver¬ ſchwand plötzlich. Die Führer ſtürzen mit Entſetzens-Schrei nach und ergreifen ihn, der fortgleitend, eben dem Abgrunde eines 30 bis 40 Fuß breiten, tiefen, mit Waſſer gefüllten Trichters zugeſchwemmt werden ſollte, an Arm und Kleidern, um ihn herauszuziehen. Der Menſch hatte, horribile dictu, Gummiſchuhe angezogen und deshalb keinen feſten Tritt. Ueber Schneefelder, die nicht gar zu ſteil abſinken, rutſcht man ſtehend, den Stock nach hinten gehalten, wie ein Schlittſchuhläufer pfeilſchnell hinunter. Es will geübt285Alpenſpitzen. ſein. Anfänger geben ergötzliche Intermezzi zum Beſten. Ueber¬ haupt macht auch hier, wie in allen Dingen, Uebung den Meiſter. Der tägliche Umgang mit den Elementen des Hochgebirges macht die Führer nicht nur ſo keck und vertraut, ſondern namentlich auch außerordentlich gewandt. Es iſt faſt unglaublich, mit welcher Si¬ cherheit und Leichtigkeit der Aelpler, große Laſten auf dem Rücken, die ſchwierigſten Paſſagen überwindet. Als Hugi bei ſeiner dritten Finſteraarhorn-Expedition mit lahmem Fuße kaum mehr weiter konnte, packte ihn Leuthold nolens volens auf ſeinen Rücken und eilte mit ihm über den Gletſcher hinab, während es ſtürmte und die Nacht hereinbrach. Die anderen beiden erprobten Führer Währen und Zemt wetteiferten mit jenem, ihren Herrn zu tragen. Hugi ſagt, es ſei ihm unbegreiflich geweſen, wie dieſe Männer, ohne Stock, mit beiden Händen ihre Laſt haltend, Schründe in tiefer Dämmerung überſprungen hätten, wo Alles trügeriſch und unſicher geweſen ſei.

Schon weiter oben ſind Beiſpiele von der Verwegenheit der Führer gegeben worden, mit welcher ſie halsbrechende Sprünge wagen; hier noch eins, das nach anderer Seite hin die Tollkühn¬ heit derſelben beleuchtet. Gottl. Studer hatte, bei der Rückkehr von der Jungfrau, ſeine Kopfbedeckung in einen tiefen Firnſchrund fallen laſſen, der ſtufenlos und jäh, wie das ſteilſte Thurmdach mit ſchiefer Eisfläche abſank; gegen die Tiefe verengten ſich die Gründe des Schrundes, während die entgegengeſetzte Wand wie eine hohe lothrechte Mauer mit vielen Eisnadeln aus dem nächt¬ lichen Dunkel aufſtieg. Der Führer Bannholzer, den der Verluſt der Mütze ärgerte, rief raſch entſchloſſen, daß er nachſehen müſſe, wo das Stück liege, und ließ, ungeachtet alles Abmahnens, das Seil um den Leib befeſtiget, ſich in den grauſigen Schlund hinab¬ gleiten. In bedeutender Tiefe angekommen, wo er auf einem ab¬ gebrochenen, jeden Augenblick mit Einſturz bedrohten Eispfeiler Stützpunkte für den Fuß fand, ſieht er die verlorene Kappe, 286Alpenſpitzen. aber noch tiefer unter ſeinem Standorte, liegend. Der oben von zwei Männern gehaltene Strick reicht nicht mehr aus. Der toll¬ kühne Bannholzer bindet ſich los und ſteigt vollends in die eiſige Grabesnacht hinab. Nach banger Pauſe ertönt ſein jauchzender Ruf aus der Tiefe. Er hatte ſeine Beute erreicht und kam glücklich wieder ans Tageslicht. Trotzdem er in einer Tiefe von mindeſtens hundert Fuß war, ſetzte, nach ſeiner Verſicherung, der Bergſchrund noch in unergründliche Tiefen fort.

Es iſt ein beneidenswerthes Tagewerk, welches der Naturfreund vollbracht hat, wenn er am Abend körperlich unverletzt, geiſtig gehoben, reich an Erfahrungen und bereichert im Schatze ſeines Wiſſens, drunten in den Hütten der Menſchen, ein Gefeierter des Tages, wieder anlangt; es iſt ein Genuß und ein Bewußtſein, deſſen nur Wenige von der großen Menge der Alpenwanderer ſich erfreuen können. Noch nie iſt dies Streben ſchöner und edler gewürdiget worden als durch Friedr. von Tſchudi's Antwort auf die Frage: Was ſoll der Menſch da oben? Es iſt das Gefühl geiſtiger Kraft, das ihn durchglüht und die todten Schrecken der Materie zu überwinden treibt; es iſt der Reiz, das eigene Menſchenvermögen, das unendliche Vermögen des intelligenten Willens an dem rohen Widerſtande des Staubes zu meſſen; es iſt der heilige Trieb, im Dienſte der ewigen Wiſſenſchaft dem Bau und Leben der Erde, dem geheimnißvollen Zuſammenhange alles Geſchaffenen nachzu¬ ſpüren; es iſt vielleicht die Sehnſucht des Herrn der Erde, auf der letzten, überwundenen Höhe im Ueberblick der ihm zu Füßen liegenden Welt das Bewußtſein ſeiner Verwandtſchaft mit dem Unendlichen durch eine einzige, freie That zu beſiegeln.

Alpenſtraße.

Druck von F. A. Brockhaus in Leipzig.

[287]

Gebirgs-Päſſe und Alpen-Straßen.

Lob verdient, was, gering nur, der wenig Bemittelte leiſtet,
Wie das größere Werk des reicher vom Glücke Begabten.
Jeder doch thut nur ſo viel, als nach Maßgab 'der Kräfte ihm obliegt.
Hoch über Beiden drum ſteht, deß Muth bei der Kräfte Beſchränktheit
Rieſenhaft Großes erfaßt und rühmlich zur Ausführung bringt.

Ueber die höchſten Grate der alpinen Centralketten läuft die Gränzſcheide germaniſchen und romaniſchen Elementes; beide würden ſchroff und ſtarr getrennt an den entgegengeſetzten Abhängen, ein¬ ander fremd, und unherührt von den nachbarlichen Eigenthümlich¬ keiten, durch Jahrtauſende fortexiſtirt haben, wenn nicht die Völker und ihr Lebens-Verkehr in den tiefſten Einſenkungen der Gebirgs¬ züge ſich begegnet wären. Es war ein natürliches Bedürfniß der erſten Bewohner, welche in den Alpenthälern ſich anſiedelten, noch andere Wege aus ihrer abgeſchloſſenen Einſamkeit zu finden, als blos dem Fall der Bäche und Ströme hinab in die Ebene zu folgen; ſie drangen dieſſeits und jenſeits, dem Laufe der Gewäſſer entgegen¬ ſchreitend, zu den Quellen derſelben empor, und hier begegneten beide Elemente einander. Daß dieſe Beſtrebungen jenen früheſten Zeiten angehören, in denen das Alpenland zuerſt aus dem Dunkel der Geſchichte auftaucht, beweiſt die noch heute gebräuchliche Be¬288Gebirgs - Päſſe und Alpen-Straßen. zeichnung Paß ; es war der passus (Schritt), welchen die Römer auf ihren Eroberungszügen über die Alpen thaten. Als die Welt¬ herrſchaft derſelben gen Norden ſich auszudehnen begann, da über¬ ſchritten der römiſche Conſul Julius Caſſius im Kampfe wider die Cimbern und Teutonen, und nach ſeiner Niederlage, Marius mit den römiſchen Legionen den Mont Cenis oder Mont Genèvre (der Cottiſchen Alpen); Julius Cäſar drang über den Mons Penninus (Großer St. Bernhard) gegen die Salaſſier vor, und nach der Grün¬ dung der Colonia Praetoria Augusta kurz vor Chriſti Geburt, wurde zu Kaiſer Auguſtus Zeiten dieſer Paß ein viel begangener Weg. Ueppigkeit, Zwietracht und Laſter der entnervten Römer führte den Sturz ihres Weltreiches herbei, und jetzt drangen die früher von ihnen bekriegten nordiſchen Schaaren, namentlich Sueven und Vandalen, Burgundionen und Alemannen, über dieſe Päſſe nach Italien ein. Nur Werken des Streites, der Eroberung, Zerſtörung und feindſeliger Abſichten dienten bis dahin die wüſten, beſchwerlich zu paſſirenden Bergpfade. Mit dem Verrinnen der, alle damaligen Zuſtände erſchütternden, Alles umgeſtaltenden Völkerwanderungen fanden die ſittlich-hebenden und veredelnden Segnungen des Chriſten¬ thums auch in den Alpen Eingang, und hier begegnen wir auf den einſamen Höhen des Lukmanier-Paſſes dem Friedensboten und Glaubensapoſtel Columban und ſeinen Schülern. Dieſer Berg - Uebergang wurde nun die gebräuchlichſte Straße der fränkiſchen und carolingiſchen Fürſten; Pipins Heer zog über dieſelbe dem Papſt Stephan III. zu Hilfe, Karl der Große holte ſich auf dieſem Alpen¬ wege die Kaiſerkrone, und die Lehrer, welche dieſer erhabene Herr¬ ſcher aus dem Süden kommen ließ, um Bildung, Künſte und Wiſſenſchaften bei ſeinen Völkern einzuführen, mögen über die Felſenrücken des Lukmanier gewandert ſein. Neben ihm beſtand der Splügen, die alte Lombarden-Straße, als einer der bedeutendſten Heereswege des Mittelalters; ſchon zu Kaiſer Antonins Zeiten war er eine bekannte Römer-Paſſage.

289Gebirgs-Päſſe und Alpen-Straßen.

Mit dem Zunehmen des Verkehrs zwiſchen dem Süden und Norden Europas, mit dem Beginn des transalpinen Landhandels, mit dem Aufkommen der pomphaften Römerzüge, welche die Deutſchen Könige unternahmen, um ſich vom Papſt mit dem Deutſchen Reiche belehnen und zum Kaiſer krönen zu laſſen, mit den Kämpfen derſelben in Italien, kamen dann auch die Alpenpäſſe des Brenner, Bernhardin, Septimer und Julier in Aufnahme. Letzterer war vom 13ten bis 15ten Jahrhundert die Haupthandelsſtraße zwiſchen Venedig und Deutſchland oder Frankreich.

Der Werth und die Bedeutung der Alpenpäſſe ſtieg von Jahrhundert zu Jahrhundert. Es giebt wenig große Heerſtraßen Europas, die geſchichtlich ſo denkwürdig und furchtbar-erhaben daſtehen wie dieſe wilden Gebirgswege; die größten Feldherren faſt aller Jahrhunderte haben um ihren Beſitz geſtritten, und auf den einſamſten Höhen, ja oft in Mitte des ewigen Schnees finden wir Trümmer alter Landwehren und Befeſtigungswerke, wie auf dem Gargellen-Joch im Rhätikon und auf dem zehntauſend Fuß hohen Matterjoch die Theodul-Schanze. Wir brauchen nicht an Baldirons Schaaren im dreißigjährigen Kriege, an Suwaroffs ſchreckliche Kämpfe auf dem Gotthard und ſeinen Rückzug über den Pragel und Panixer-Paß, an Buonapartes Uebergang über den großen St. Bernhard zur Schlacht von Marengo und an Andreas Hofers Vertheidigung Tyrols zu erinnern, um die poli¬ tiſche und ſtrategiſche Wichtigkeit der Alpenpäſſe darzulegen. Nicht die aufbauenden, ſegensvollen und länderbeglückenden Entwickelungs - Phaſen des Friedens, nicht die mächtigen Pulſationen des völker¬ verbindenden, kulturfördernden Handels gaben die Veranlaſſung zu dem erſten Kunſtſtraßenbau über den Simplon. Le canon, quand pourra-t-il passer les Alpes? war die wiederholt drängende Frage Napoleons I. an den rapportirenden Ingenieur-Offizier. Kanonen, Heeresſäulen und Kriegestroß raſch und leicht übers Gebirge ſchaffen zu können, war der Zweck des großen Eroberers. Aber das kühneBerlepſch, die Alpen. 19290Gebirgs-Päſſe und Alpen-Straßen. Werk, deſſen Ausführung kurze Zeit vorher für eine tolle Phanta¬ ſterei gegolten haben mag, gab den Impuls zu anderen, ebenſo großartigen Straßenbauten, deren jetzt mehr als ein Dutzend die Hoch-Alpen überſpannen.

Der Begriff Alpen-Paß iſt ein ſehr relativer. Es giebt deren, die der gewöhnlichſte Fußgänger ſehr leicht und völlig ge¬ fahrlos paſſiren kann, die kaum einige Anſtrengung verurſachen, und es giebt andererſeits wieder ſolche, die, über Gletſcher und Eisfelder führend, nicht weniger Ausdauer, Sicherheit und ſchwindelfreien Kopf bedingen, als die Erſteigung bedeutender Alpengipfel. Man kann ſie daher zunächſt eintheilen in ſolche, welche zu Kunſt - und Fahrſtraßen gebaut ſind, auf denen Winter und Sommer ein reges Leben herrſcht und über die tägliche Eil - und Poſtwagen fahren; ferner in Saumpfade, die während der guten Jahreszeit lebhaft benutzt werden und ſelbſt auch im Winter für Schlitten - Paſſage dienen, und endlich in ſolche, die nur Fußpfade oder Gletſcherpäſſe ſind.

Die künſtlich angelegten Alpenſtraßen ſind Meiſterwerke der Baukunſt, Triumphe des menſchlichen Verſtandes und der eiſernſten Ausdauer. Ihre Erbauer: Napoleon I., Kaiſer Franz I. von Oeſterreich, König Victor Emanuel von Sicilien und die Schweizeriſchen Gebirgskantone Graubünden, Teſſin und Uri haben ſich Denkmale durch dieſelben errichtet, welche die Pyramiden und Tempelbauten der alten Völker übertreffen. Es gab zwar ſchon vor dem Beginn unſeres Jahrhunderts gepflaſterte Alpenſtraßen, wie z. B. die über den Septimer; aber ihre Anlage war ſo ſchwer¬ fällig und ohne alle Berückſichtigung für nur einigermaßen erleich¬ tertes Fortkommen, daß es für ein ziemlich gewagtes Unternehmen galt, dieſelben mit Wagen zu paſſiren. Conſul Buonaparte war, wie erwähnt, der erſte kühne Unternehmer, der in den Jahren 1801 bis 1806 den fahrbaren Weg über den Simplon bauen ließ. Wichtig für den Handel waren von jeher die Päſſe über den Gott¬291Gebirgs-Päſſe und Alpen-Straßen. hard, Splügen und Bernhardin. Seit vielen Jahrhunderten wur¬ den alle Waaren aus und nach Italien über dieſe drei Päſſe auf dem Rücken der Maulthiere und Saumroſſe getragen, die in oft langen Zügen die engen Gebirgswege ganz einnahmen. Graubün¬ den erkannte den unberechenbaren Werth fahrbarer Alpenſtraßen und unternahm zuerſt allein auf eigene Koſten den Bau der Bern¬ hardin-Straße während der Jahre 1823. bis Hierdurch wurde Oeſterreich genöthigt dem Beiſpiel zu folgen und baute den Splügen; und als die Waldſtätte, beſonders Uri erkannten, daß der Waaren - und Perſonen-Verkehr, welcher bisher über den Gott¬ hard gegangen war, ſich mehr den öſtlichen Fahrſtraßen zuwandte, da wurde endlich 1828 bis 1830 auch dieſer Paß gebaut.

Alle Bergſtraßen ſteigen dem Laufe ziemlich bedeutender Flüſſe entgegen, wie z. B. der Gottbard der Reuß und dem Ticino, der Bernhardin dem Hinter-Rhein und der Möeſa, das Stilfſerjoch der Adda und Etſch, der Brenner längs des Eisacktales u. ſ. w. An¬ fangs iſt die Steigung meiſt eine ſehr geringe, die Richtung eine ziemlich direkte. Je tiefer die Kunſtſtraßen ins Gebirge eindringen, je lebendiger der Lauf der ihnen entgegenkommenden Bergwaſſer wird, deſto mehr weichen Richtung und Steigung ab. Bald nöthi¬ gen enge Felſenſchluchten zu komplicirteren Bauten. Hochgeſprengte Brücken, durchbrochene Felſenthore, lavirende Zickzackwege beginnen, und die Steigung wächſt auf 6 bis 7 Procent. Da die ganze Konfiguration des Alpengebäudes gen Norden eine flacher gedehnte, minder ſteile Abdachung zeigt als gen Süden, ſo häufen ſich die Schwierigkeiten meiſt auch auf letztgedachter Seite.

In zahlreichen Schlangenwindungen (Tourniquets, Giravolte) ſtuft ſich hier die bald in den Fels eingeſprengte, bald durch Mauerwerk gehobene Straße in der Schlucht hinauf. Die Kehren oder Ränk , wie der Fuhrmann die Curven nennt, mittelſt deren die Straße in eine höhere oder tiefere Etage tritt und die meiſt aufgemauert ſind, ſehen von der Tiefe wie übereinander errichtete19*292Gebirgs-Päſſe und Alpen-Straßen. Baſtionen eines Feſtungswerkes aus. Am Auffallendſten zeigt ſich dieſe Anordnung in dem jäh abfallenden Val Tremola, auf der ſüdlichen Abdachung der Gotthardsſtraße. Von Airolo hinaufſtei¬ gend denkt man das Ende dieſer Windungen nicht erreichen zu können; denn wenn man die Höchſte erklommen zu haben glaubt, ſo wachſen immer und immer wieder neue, mit Schutzſteinen ge¬ ſpickte Mauer-Vorſprünge aus der öden, baumloſen, mit ſchwar¬ zen Glimmerſchiefer-Trümmern bedeckten, ſteil aufſteigenden Halde heraus, und erſt nachdem man 46 ſolcher Windungen überwunden hat, erreicht man das Hoſpiz. Reich an ſolchen Straßen-Zickzacken iſt auch der Splügen, ſowohl auf der Nordſeite, als gen Süden nach Iſola hinab, der Bernhardin gegen das Dorf Hinterrhein zu, und das Stilffer Joch vom Dorfe Trafoi aufwärts im An¬ geſicht des Madatſch-Gletſchers und des gewaltigen Ortler-Maſſivs.

Mitunter bedingt aber auch ein die Hauptrichtung der Straße durchſchneidendes, tiefes Querthal die Umgehung deſſelben und verlängert dadurch die Linie außerordentlich. Dies zeigt ſich ganz beſonders bei der Ganther-Schlucht am Simplon. Dort muß, vom zweiten Stundenſtein von Brieg im Wallis aus, die Straße eine volle Wegſtunde öſtlich einbiegen, um den Uebergangspunkt der Ganther-Brücke zu gewinnen. Man ſieht das in gerader Linie kaum ¾ Stunden entfernte, ſechſte Schutzhaus drüben über der tiefen Schlucht hoch oben liegen und braucht drei und eine halbe Stunde auf breiter ebener Chauſſee, ehe man es erreicht.

Um in den ungeheuerlichſten Gegenden, da wo die Schnee¬ ſtürme am Raſendſten wüthen, dem Wanderer im Winter eine Zu¬ fluchtsſtätte zu bieten, ſind in gemeſſenen Entfernungen feſte, ſtei¬ nerne Zufluchtshäuſer oder Refuges errichtet, die zum Theil von den für die Straßenarbeit und zum Wegbahnen angeſtellten Rut¬ nern oder Cantonniers bewohnt werden, eine Art ſibiriſcher Verbannung. Während der wildeſten Wintermonate findet der Hilfeſuchende in den unbewohnten Zufluchtshäuſern ſo viel geſpalte¬293Gebirgs-Päſſe und Alpen-Straßen. nes Holz, um ſich ein Feuer im Kamin anzünden zu können, und wohl auch ein Brod und ein Bündel Heu für den Fall, daß er und ſein Roß durch Lauinenſturz oder hoch verwehte Schneewege genöthigt würde, länger als einen Tag ſich hier aufhalten zu müſ¬ ſen. Auf der Simplon-Straße ſind außer dem großen Hoſpiz, dem alten Hoſpiz, den Dörfern Beriſal, Simpelen und Gſteig dennoch innerhalb neun Wegſtunden neun Zufluchtshäuſer, von de¬ nen das 5te und 6te, ſo wie das 8te und 9te, je nur etwa eine gute Viertelſtunde von einander entfernt liegen.

Von noch größerer Wichtigkeit für die Sicherheit der Straßen im Winter und Frühjahr ſind die Gallerien. Es ſind entweder durch den Felſen getriebene Tunnel, wie z. B. auf dem Stilfſer Joch die dritte Gallerie im Vallone della neve, die Gallerien bei Gondo und Algaby am Südabfall des Simplon u. a. oder künſtlich aufgemauerte und gewölbte Gänge mit Schießſcharten-ähn¬ lichen Oeffnungen, wie die in der Schöllinen-Schlucht beim Brüg¬ wald am Gotthard und auf vielen anderen Bergſtraßen, welche die Beſtimmung haben, Mann, Roß und Geſchirr an notoriſch unſiche¬ ren, den regelmäßig wiederkehrenden Grundlauinen ausgeſetzten Stellen gegen das Begrabenwerden im Schnee zu ſichern. Sie ſind ſo feſt konſtruirt, daß die Lauinen mit ihren furchtbaren Sturz¬ ſchlägen den in den Gallerien Weilenden nichts anhaben können und donnernd über dieſelben hinweg der Tiefe zu wettern. Frei¬ lich iſts auch ſchon begegnet, daß Schneeflächen in ungewöhnlicher Breite losriſſen und die Gallerien an beiden Ausgängen verſchütte¬ ten. Indeſſen kommt dann gewöhnlich raſch Hilfe der Rutner, welche die Schnee-Barrikaden durchbrechen und die Eingeſchloſſenen befreien.

Es giebt aber auch Gallerien, welche zum Schutz gegen das Waſſer errichtet werden mußten, weil Bergſtröme in breiten, vollen Kaskaden direkt auf die Straße herniederſchießen und die Paſſage unmöglich machen würden; eine ſolche iſt die Kaltwaſſer-Gallerie auf dem Simplon. Hier hängt der Kaltwaſſer-Gletſcher in nächſter294Gebirgs-Päſſe und Alpen-Straßen. Höhe dräuend über der Straße und entſendet während der wär¬ meren Jahreszeiten einen kräftigen Bach milchig-trüben Abſchmelz - Waſſers, das in luſtigem Bogen über das mittelſte der eilf Gallerien - Fenſter herabbrauſt. Der Wanderer ſteht hinter dem Waſſerfall in der mit Kalkſinter überzogenen Gallerie und ſieht durch die jagenden Strahlen-Garben hindurch. Aber auch außerdem ſchützen die Gal¬ lerien im Frühjahr noch gegen die während des Winters durch herabträufelndes, wiedergefrierendes Schneewaſſer gebildeten, koloſ¬ ſalen Eiszapfen, welche im Frühjahr ſich von den zu Häupten hangenden Felſenmaſſen ablöſen und mit Blitzgeſchwindigkeit in furchtbarer Vehemenz herniederſchmettern.

Die längſte aller Schutzgallerien iſt die all' aque rosse ge¬ nannte 1530 Fuß lange auf der Splügenſtraße, die ihren Namen vom herabſickernden, eiſenhaltigen Waſſer, welches die Felſen roth färbt, erhalten hat. Sie will freilich gegenüber den Rieſenarbeiten der Neuzeit, z. B. gegen den 8310 Schweiz. Fuß langen Hauenſtein - Tunnel (Baſelland) wenig bedeuten, galt aber lange als ein Wun¬ derſtück alpiner Baukunſt. Kreuze an der Straße bezeichnen die Stellen, wo Wanderer, durch Lauinen oder Schneeſtürme verſchüttet, den Tod fanden.

Den Paß-Scheitel bezeichnet in der ein hochaufgerichtetes, großes, roh-gezimmertes, hölzernes Kreuz als Siegeszeichen, daß die Höhe des Weges erreicht iſt, als Mahnung zum Dankgebet für Gottes Schutz. Die Hoſpitien oder Berghäuſer liegen gewöhnlich ſchon wieder etwas ſüdlich unter der Uebergangshöhe, um gegen die von beiden Seiten antobenden Stürme einigermaßen geſchützt zu ſein; ſo iſts auf dem Simplon, Gotthard und Splügen.

Auf dieſen cultivirten Alpen-Uebergängen waltet noch die alte, reichbelebte, vielgeſtaltige Landſtraßen-Romantik, welche die Eiſenbahnen in der Ebene völlig verdrängt haben. Da bimmelt noch das weittönende, disharmoniſche Schellengeläute von dem Sechsgeſpann der ſchweren, robuſten Fuhrmannspferde vor dem hoch¬295Gebirgs-Päſſe und Alpen-Straßen. gewölbten, mit weißer Plane ſtraff überzogenen, breiträderigen Fracht¬ wagen, und der roh-gemüthliche Blaukittel klatſcht ſeine Peitſchen - Variationen dazwiſchen und accompagnirt dieſelben bisweilen mit einer Auswahl der gebräuchlichſten Kernflüche. Staub dampft in langgezogenen Wolken auf. Ein welſchländer Viehhändler treibt ſeine Heerde jungen, ſchwarzen und dunkelbraunen Melkviehs und eine Anzahl Määßſtiere , die zur Maſtung beſtimmt ſind, auf den Lauiſer (Lugano) Markt. Voran geht der Knecht mit dem halb¬ hohen Bergſtecken und dem obligatoriſchen Regenſchirm unterm Arm (denn kein Teſſiner und kein Appenzeller geht auf die Reiſe ohne dieſes Präſervativ-Mittel). Auf der Schulter hängt der Melk¬ tern , und laut johlend erſchallt ſein hocheingeſetztes, anhaltendes, dann aber im geſchleiften Tonfall ſinkendes Ooo ohoho¬ hohoho, komm wädli, wädli, wädli! womit er das Vieh lockt, weidlich voranzuſchreiten. In Mitte der blöckenden Rinderſchaar, mehr treibend als haranguirend, dagegen kräftig demonſtrativ auf den Rücken ſeiner nächſten Umgebung mit Stockprügeln einwirkend, geht ein Dolmetſcher, ein heruntergekommener Viehhändler, der ſein Hab und Gut durch fehlgeſchlagene Spekulationen verlor. Er iſt des italieniſchen Patois völlig mächtig, weil er ſeit einem Vierteljahrhundert ununterbrochen nach der Lombardei handelte und Vieh trieb. Jetzt, da ihm das letzte Stück daheim vergantet worden iſt, dient er ſeinem Nachbar als Mäkler und Unterhändler um Tagelohn und Tantième. Den Schluß des ganzen, langausgedehnten Zuges bildet der eigentliche Entrepreneur der Alpen-Karavane. Der größte Theil ſeines Vermögens ſteckt in dieſem wandernden Kapital. Jetzt kommts auf gut Glück an, ob die Nachfrage lebendig iſt, ob gute Preiſe gelten, oder ob der Markt mit ſchönem Vieh über¬ trieben und das Verlangen flau iſt. Schlägt die Spekulation ein, ſo kann er einige tauſend Franken raſch verdienen. Aber ebenſo viel kann er auch verlieren, wenn er um jeden Preis losſchlagen muß; denn ſeine fünfzig Stück Jungvieh zehn bis zwölf Tage296Gebirgs-Päſſe und Alpen-Straßen. über einige Bergpäſſe wieder heim zu treiben, für die er nicht genug Futter hat, ſie zu überwintern, das käme ihm noch theuerer. Tief ſinnend ſchreitet er hinter ſeinem Schickſalszuge her. Da ſchreckt ihn Wagenrollen, lautes Geſchrei, Verwirrung in der Heerde aus ſeinen berechnenden Meditationen auf. Der Eilwagen kommt in raſchem Trabe von der Paßhöhe herab; der auf hocherhabenem Sitze ſeiner kutſcherlichen Würde vollbewußte Poſtillon, dem als einer dem Staate dienenden Perſon Alles, ſelbſt eine Heerde Rind¬ vieh ausweichen muß, fährt ſcharf in die gehörnte Schaar hinein. Toben und Fluchen, Locken und Prügeln der Treiber, Peitſchen¬ knall und Gelächter des Roſſelenkers, Angſtgeſchrei einer nerven¬ ſchwachen Dame im Coupé, welche für ihre perſönliche Sicherheit fürchtet, Blöcken der Kühe aus allen Tonarten und heiſeres Hunde - Gebell vermengen und verwickeln ſich mit den dicken Staubwolken zu einer großen kataſtrophetreibenden Scene. Einige Kühe kehren um und wollen den Heimweg antreten, aber Schnautz , der vigi¬ lante, alt-erprobte Heerdenhund, der nur die ihm obliegende Pflicht des ſtrikteſten, unbedingteſten Vorwärts kennt und keine Notiz von den hindernden Umſtänden nimmt, übt ſeine Ordnungspolizei mit unerbittlicher Strenge aus; er hat ſo eben mit der B'plätzed (einer geſcheckten Kuh, die an der Stirn einen weißen Plätz oder Flecken hat) einen Kampf zu beſtehen, die den Beweis ihres Rechtes mit dem Kopfe durchſetzen will, während s'Möhrli , ein ſanftes, verſtändiges Kuhtſchi ruhig ihren Schritt fortgeht. Sie iſt darum auch gewürdiget, den zuſammengerollten Mantel des Herrn als Halsband zu tragen. Die Viehtreiber ſchimpfen gegen den Poſtillon und Kondukteur, der auf dem Wagendeck liegend, den ihm zuſtändigen Sitz an einen Engländer abgetreten hat; die Poſtleute repliciren in gleicher Weiſe. Durch den Alles umbrau¬ ſenden Tumult werden die Pferde unruhig, eines ſpringt über die Stränge, die Verwirrung nimmt zu, der Eilwagen muß halten. Gro¬ ßer Moment! Allgemeiner Skandal! Stürmiſche Sprachverwirrung! 297Gebirgs-Päſſe und Alpen-Straßen. Briccone! Kaibe-Dunders-Hagel! maldetto villano! scempiotto! Strahls-Chogg! ſchreits und tobts von beiden Seiten.

A delightful complication! En avant la voiture! Jar kene Ordnung nich! tönts aus der Diligence. Endlich löſt ſich der Kon¬ flikt. Die Heerde zieht weiter bergwärts, der Wagen rollt mit doppelter Geſchwindigkeit dem Thale zu. Die vielen Krümmungen des Weges hindern den gewandten, mit feſter Hand vom hohen Bock herab leitenden Wagenlenker nicht, den ſcharfen Trab beizube¬ halten. Im Nu eilt er am begegnenden Kameraden vorüber, der abgeſtiegen, neben den Pferden herſchlendert und nur langſam den ſchweren Transport bergauf zu ſchaffen vermag. Ein ſpöttelnder Zuruf begrüßt dieſen, der ihn am folgenden Tage mit Proteſt bei abermaliger Begegnung zurückgiebt. Ueber Alle fliegt indeſſen un¬ geahnt, ungehört und ungeſehen an den Eiſendrähten des Tele¬ graphen, der jede Alpenſtraße begleitet, die Nachricht aus der italieniſchen Halbinſel herüber: Garibaldi hat Palermo einge¬ nommen!

Wie ganz anders geſtaltet ſich das Leben auf der Alpenſtraße im Winter. Schon Mitte Oktober legen die erſten, von den Wol¬ ken abgeſchüttelten Schneeladungen auf dem gefrorenen Boden der Paßhöhen den Grund zum ſpäteren Schlittwege. Iſt der Herbſt heiter und ſonnenhaft, weht vorherrſchend warme Südluft, ſo wer¬ den dieſe Fundamentalſchichten wohl theilweiſe wieder durch die Tageswärme aufgelöſt. Aber immerhin bleiben ſporadiſche, kleine Reſte liegen, die namentlich auf der Schattenſeite und durch die nächtlichen Fröſte ſich konſerviren. So oft es im Thale regnet, ſchneit es auf den Höhen. Dieſe ſchüchternen, immer noch wieder zurückgeſchlagenen Verſuche wiederholen ſich, bis eines Tages die ganze Gegend bis weit hinab eingeſchneit iſt und der Winter ſeinen völligen Einzug hält. Jetzt wird der Berg für Räderfuhrwerk geſperrt; der Schlittendienſt beginnt, ſowohl für die Poſt, als für den Frachttransport. Auf den franzöſiſchen Päſſen über Mont298Gebirgs-Päſſe und Alpen-Straßen. Cenis (6354 Fuß), Col de Lautaret (6443 Fuß) und Mont Genèvre (5741 Fuß) in den Grajiſchen Alpen, zeigt er nichts ſehr Auffallendes. Die Reiſenden werden in große, ſechsſitzige Poſtſchlitten gepackt, die 10 bis 12 Pferde Vorſpann erhalten. Schimmel ſind ſeit Olimszeiten zu dieſem Dienſt beſtimmt, weil Cavallo bianco mai stanco weiße Pferde nie müde werden. Statt der Glasfenſter müſſen hölzerne Klappladen den Dienſt ver¬ ſehen, durch deren klaffende Fugen und Aſtlöcher der Sturm pfeift und den feinen, ſtaubartigen Schnee in den dunkeln Raum hineinkontrebandirt. Anders iſts auf den Walliſer und Graubünd¬ ner Paßſtraßen, über welche jetzt mit ſchweizeriſchem Geſchirr der Poſtdienſt bis Colico piano am Comerſee (Splügen-Paſſage) und bis Arona am Lago maggiore (über Simplon) beſorgt wird. Mit großen bequemen Wagen fährt man, ſo weit es aber , d. h. ſo weit die Straße ſchneefrei iſt, am Berg empor. Sporadiſche Schneeflecken zu beiden Seiten melden die abſolut-winterliche Region an. Kommt nun endlich der konſtante, weiße, glatte Gleitweg, dann erblickt der Paſſagier eine Anzahl kleiner, ein - und zweiſitziger Schlitten, die ohne Dach und Fach, ohne Bewachung ſicher und unangetaſtet hier umgeſtürzt neben der Straße liegen.

Scenen, die an Nordpol-Expeditionen lebhaft erinnern, ent¬ wickeln ſich nun hier. Der Poſtillon tritt mit beiden Füßen eine Futter-Krippe in den Schnee, wirft Heu hinein, daß die Pferde eine Interims - Collazione einnehmen und zu neuer Anſtrengung ſich reſtauriren können; der Kondukteur wählt die für ſeinen jedes¬ maligen Transport geeignetſten Fahrzeuge aus, läßt ſie auf die Kufen ſtellen, und die Umladung der Güter, Briefſäcke, Koffer, und Paſſagiere beginnt. Letztere erhalten jeder einen hieb - und ſchußfeſten, dicken Büffel-Mantel. Es iſt ein rühmenswerther Akt der Humanität, daß die Eidgenoſſenſchaft ſolche zweckmäßige Prä¬ ſervative hier bereit hält. Wenn es ein trockener, kalter Winter¬ tag und heller Himmel iſt, dann herrſcht in der Regel das hei¬299Gebirgs-Päſſe und Alpen-Straßen. terſte, ungezwungenſte Leben unter den Reiſenden; Maler würden Stoffe zu draſtiſchen Genrebildern, voll des köſtlichſten Humors, finden; Seitenſtücke zu den ſommerlichen Rendez-vous unter den Wettertannen. Windet und ſchneiet es aber ſcharf, hängt die Atmoſphäre voll mißmüthig-grauer Wolken und heult der Sturm in den Felſengaſſen, dann giebts freilich herzlich unliebſame Scenen. Der große, feſte Eilwagen bleibt nun gut verſchloſſen ebenſo ſchutzlos und unbewacht ſeitwärts an der Straße ſtehen wie vorher die Schlitten, bis die über den Berg entgegenkommende Poſt an dieſer Stelle die Schlitten verläßt und die gleiche Trans¬ lokation der Paſſagiere im umgekehrten Verhältniß vornimmt. Früher gabs Schlitten zum Transport für weibliche Reiſende, in welche die Perſonen wie Wickelkinder eingepackt wurden. Dieſe be¬ ſtanden aus langen, ſargähnlichen Kaſten mit reinlichen Betten, ſo daß eine Perſon völlig ausgeſtreckt ſich hineinlegen konnte, mit einer vierfachen wollenen Decke und darüber mit einem feſt¬ geſchnallten Wagenleder bis an den Oberkörper zugedeckt wurde. Es war eine gegen Kälte und Wind vollkommen ſchützende Ein¬ richtung. Begreiflich mußte die Reiſende auf der Höhe des Paſſes ihre Lage ändern, um mit dem Kopfe höher zu liegen als mit den Füßen.

Jeder Poſtſchlitten erhält nur ein Pferd. Im erſten ſitzt der Poſtillon, im letzten der Konducteur, um den ganzen Zug überſchauen zu können. Die Pferde aller übrigen Schlitten gehen ohne Leitung. Iſt ſtarker Schnee gefallen, ſo wurde ſchon vorher ein mit Ochſen beſpannter Bahnſchlitten vorausgeſandt, den ein halb Dutzend ſtarke Männer, die Rutner, mit Schaufeln be¬ gleiten, um, wo nöthig, nachzuhelfen. Höchſt umſtändlich und koſtſpielig iſt die Beförderung von herrſchaftlichen Reiſewagen in dieſer Jahreszeit; ſie müſſen auseinander genommen, in ihre Theile zerlegt und auf mehrere Schlitten verpackt werden, wobei dann jener, welcher den Kutſchenkaſten trägt, noch ganz beſonderer Bedienung300Gebirgs-Päſſe und Alpen-Straßen. und eines ununterbrochenen Anſpannens mit Balancir-Seilen be¬ darf, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Da, wo einfache La¬ dungen leicht und ungefährdet über etwas ſchmale Stellen hin¬ weggleiten, läuft ſo ein Kutſchkaſten-belaſteter Schlitten nicht ſelten Gefahr, in den Abgrund zu ſtürzen, wenn nicht die begleitende Mannſchaft friſch und umſichtig Hand anlegt. Denn je weiter man am Berge hinaufkommt (beſonders an freien, dem Spiel der Winde ausgeſetzten Wendungen), deſto ungleicher wird die An¬ häufung des Schnees. Einzelne Stellen erſcheinen wie gefegt, ſo dünn liegen die glitzernden, winterlichen Kryſtalle auf der Straße, während an anderen Stellen ungeheuere Maſſen zuſammengeweht wurden. Je tiefer im Winter oder gegen das Frühjahr zu man nun den Berg paſſirt, deſto größer iſt begreiflich auch das Schnee - Quantum. Da iſts denn nicht ſelten der Fall, daß der Weg, trotzdem er über 6 bis 10 Fuß hohe Schneelagen führt, dennoch zwiſchen ſtockwerkhohen Schnee-Batterien durchläuft, oder wo durch Lauinenſturz oder Weheten der Schnee ſo gewaltig ange¬ häuft iſt, daß man wirkliche, jähe Hügel mühſam überklettern müßte, da brechen die Rutner Gallerien und Tunnel durch dieſelben.

Die allergefährlichſten Paſſagen ſind im Frühjahr jene, welche an Abgründen vorüberführen. Nach und nach baut der angewehte Schnee nämlich überhangende Vorſprünge an, die wie koloſſale Dachtraufen über das eigentliche Straßen-Fundament oder die Stütz¬ mauern frei hinausragen. Gar leicht läßt ſich der mit der Straße nicht ganz ſpeciell bekannte Fuhrmann oder Poſtillon, bei der gänzlich veränderten und maskirten Geſtalt des Wegs, verlei¬ ten, den ſcheinbar bequemeren, am äußerſten Rande hinführenden Pfad zu wählen, nicht ahnend, daß er im eigentlichſten Sinne durchaus keinen Boden unter den Füßen hat und mit ſeinem Ge¬ ſchirr gleichſam ſchwebend über einen Abgrund hinfährt. Ein geringfügiger Umſtand kann ſolch eine Schneelehne, die den ganzen301Gebirgs-Päſſe und Alpen-Straßen. Winter über wie mit Cement gemauert ſteinfeſt hielt, zum Sturz bringen und Roß und Mann tief drunten begraben.

Es iſt dies (neben den zahlreichen Lauinenſtürzen) eine jener vielen Urſachen, welche den ſteilabfallenden, in Schlangenwin¬ dungen aufgemauerten, engen Paßſchluchten ſo ominöſe Namen gaben, wie am Gotthard das Val Tremola (Thal des Zitterns), am Splügen oberhalb Isola den Passo della Morte (Todespaß) ꝛc.

Der Weg iſt im Winter bei tiefem Schnee nur immer für eine Schlittenbreite geöffnet; zu beiden Seiten ſind hohe Schnee - Wälle emporgeworfen. Darum ſind Ausweichſtationen nothwendig, wo die von der Höhe kommenden Ueberberg-Karavanen an ausge¬ buchteten Stellen warten müſſen, wenn ſie eines Zuges in der Tiefe anſichtig werden, bis dieſer mit ihnen gekreuzt hat. An denjenigen Stellen der Straße, die in Windungen anſteigen, iſts der Fall, daß die Poſtillone dem vorderſten Pferd noch einen kräftigen Streich mit der Peitſche verſetzen und dann vielleicht für eine Viertelſtunde das Geſchirr verlaſſen, um auf näherem, nieder¬ getretenem Wege gerade aufzuſteigen. Die Reiſenden pflegen dann, wenn das Pferd ermatten will, durch einen Schneeballen - Wurf daſſelbe anzuſpornen. Es giebt dann aber auch Zeiten, in denen die Straße ſtreckenweiſe ſo unbedingt ausfüllend verweht wird, daß die Poſt faktiſch auf dem Paß ſtecken bleibt und ſich gratuliren muß das Hoſpiz oder Berghaus zu erreichen. Hier pauſirt ſie vielleicht einen ganzen Tag lang, bis die Straße wieder genügend praktikabel gemacht iſt. Weihnachten 1859 mußten 4 Kondukteure 4 Tage lang auf dem Gotthardshoſpiz die Oeffnung des Val Tremola abwarten.

Dieſes Oeffnen und Fahrbarhalten der Straße iſt Sache der Rutner, Rottori oder Cantonniers. Man wähnt im Flachlande, der Forſt - und Hüttenmann, der Bauer und Chauſſeewärter und ähnliche Leute ſeien völlig gegen Wind und Wetter abgehärtet. Es fragt ſich, ob ſie jenes unerhört-zählebige Weſen, jene faſt un¬302Gebirgs-Päſſe und Alpen-Straßen. verwüſtliche Ausdauer und jene Stahl - und Eiſenkräfte entwickeln könnten, ohne welche der Rottore nicht denkbar iſt. Es liegt ſchon im Mark und Bein des Bergmannes, in ſeinen, man möchte ſagen, zu Federharz gewordenen Sehnen und Muskeln, in den (wie es ſcheint) gegen die Kälte-Einwirkungen wie abgeſtumpften, härteren Organismen des menſchlichen Körpers, daß er ein ganzes Mannes¬ alter hindurch, Jahr für Jahr, den gefährlichen und beſchwerlichen Dienſt bei guter Geſundheit verrichtet. Die Rutner werden von den betreffenden Landesregierungen (auf dem Gotthard von der Schweizeriſchen Eidgenoſſenſchaft, die jährlich fünfzig bis ſechszig Tauſend Francs für den Schneebruch dieſes einzigen Paſſes be¬ zahlt) angeſtellt. In früheren Zeiten, bevor eigentliche Straßen - Ordnungen beſtanden, geſchah es, daß die Kommunikation halbe Monate lang durch übermäßigen Schneefall gehemmt war; jetzt kann eine ſolche Unterbrechung ſich höchſtens nur auf einen bis zwei Tage ausdehnen.

Gewöhnlich wird die Arbeit in zwei große Hälften getheilt. Die erſtere iſt die ſogenannte Fürleite . Sie hat, ſo oft es ſtark ſchneite, den eigentlichen erſten Durchbruch zu erzwingen. Mit einem Dutzend feſter, ſtarker Zugochſen vor dem Bahnſchlitten, geht der Fürleiter ins wüſte Schnee-Dickicht hinein. Ein Thier wird vor das andere geſpannt, weil zwei nebeneinander ſich leicht im Geſchirr verwickeln würden. Die beſten und dauerkräftig¬ ſten Pferde würden viel leichter ermüden als das Ochſengeſpann. Durch dieſe, auf beiden Seiten des Berges in Angriff genommene erſte Arbeit entſteht nur ein unbedeutender Pfad. Die begleitenden Rutner gehen hinter dem Schlitten her und ſchaufeln die erſte Weg-Anlage einigermaßen aus. Eine zweite Arbeiter-Kompagnie iſt weniger radikaler Natur; ſie hat die konſervative Aufgabe, den nun einigermaßen geöffneten Graben auszuweiten und in fahr¬ barem Zuſtande zu erhalten. Es ſind die Weger oder Rutner mit dem Hauptweger an der Spitze.

303Gebirgs-Päſſe und Alpen-Straßen.

So gefahrvoll beide Zweige dieſer Arbeit ſind, ſo ſelten iſts der Fall, daß Leute dabei umkommen. Sie kennen die örtlichen Beſchaffenheiten des Berges ſo genau wie die Lokalitäten ihrer Wohnſtube; ſie achten vorſichtig auf jede Wind - und Wetter-Aen¬ derung und taxiren deren Folgen, ſie wiſſen den Lauinen faſt inſtinktmäßig auszuweichen. Poſtillone, Fuhrleute, Säumer, überhaupt, wer den Berg überſchreitet, Alle beachten genau die Mahnungen und Rathſchläge der Rutner, und wo dieſelben aus Uebermuth oder Leichtſinn verworfen wurden, erfolgten gewöhnlich Unglücksfälle.

Iſt nun die Höhe von der Poſt glücklich erreicht, haben Paſſagiere und Pferde ſich geſtärkt, dann gehts mit blitzſchneller Geſchwindigkeit unter lautem Jauchzen und Jubeln, durch die eiſig¬ wehende Winterluft hinab. Bisweilen ſchneidet der ganze Zug ſchnurgerade die Straßenwindungen ab, wenn der Schnee nicht zu hoch liegt oder wo eine Diagonal-Linie (Contrapendenza) gebro¬ chen wurde. Nach Mühſeligkeiten vieler Art kommt der Reiſende wieder im Thale an, und begrüßt mit freudigen Gefühlen die Wohnungen des erſten Dorfes. Im Vergleich mit den im Flach¬ lande häufig vorkommenden Unglücksfällen durch umgeworfene Poſtwagen und ſcheue Pferde, begegnen auf den Alpen-Paſſagen glücklicherweiſe wunderbar wenig Schreckens-Ereigniſſe dieſer Art. Um ſolche aber auch, wenn ſie vorkommen ſollten, ſo viel immer möglich, in ihren Effekten zu ſchwächen, werden im Winter auf den Schweizer Alpenſtraßen nie gedeckte, mit Fenſtern verſehene Schlitten benutzt, damit, im Falle des Umwerfens, die Paſſagiere nicht durch Glasſcherben verwundet werden können. Aus gleichem Grunde haben die franzöſiſchen und ſardiniſchen Ueberberg-Schlitten nur hölzerne Jalouſien ſtatt der Glasfenſter. So iſt das Leben auf den fahrbaren Bergſtraßen.

Weſentlich anders geſtaltet es ſich auf den vielbegangenen, nicht fahrbaren Alpenpäſſen. Dort zeigt ſich das Verkehrsleben304Gebirgs-Päſſe und Alpen-Straßen. noch in ſeiner uralterthümlichen, naiv-naturwüchſigen Einfachheit ſowohl im Charakter der Straßen-Anlage, als aller darauf bezüglichen Einrichtungen. Wo die Natur den Durchgang nicht genügend öffnete, da haben Menſchenhände nur wenig nachgeholfen, und wo Sümpfe oder weichender Boden den Pfad unſicher machten, ver¬ ſenkte der Alpenbauer ungeſchlachte Felſentrümmer und ſchuf ein Cyklopenpflaſter, das einigermaßen an die hie und da vorkommen¬ den Fragmente alter Römerſtraßen erinnert. Hier durchwandert der Berggänger an lauinengefährlichen Stellen keine Schutzgallerien, nirgends gewähren Zufluchtshäuſer Rettung bei einbrechenden Schneeſtürmen. Höchſtens errichteten die korreſpondirenden Thal¬ ſchaften auf der Uebergangshöhe, wie z. B. auf dem Fluela-Paß in Graubünden, eine ärmliche Holzhütte, in der den Pferden etwas Futter geſtreut werden kann, oder kunſtlos improviſirte Steingaden, wie an der Daubenkehr auf der frequenten Gemmi-Paſſage. Uebri¬ gens iſt es todt und erſtorben zwiſchen den Ausgangs - und End¬ punkten, und Pferdegerippe, neben dem Wege liegend, berichten von den zahlreichen Unglücksfällen, die in dieſen Einöden zur Winters¬ zeit ſich ereignen. Denn die meiſten Päſſe ſind landſchaftlich außerordentlich langweilig und ermüden den Fußgänger durch ihre unerquickliche Monotonie. In breiter, einförmiger Gebirgs-Rinne, zu beiden Seiten von unintereſſanten Felſenformen eingeſchloſſen, und von einem indifferenten Gebirgsbach ohne ſonderlich ſchöne Kaskaden durchfloſſen, ſteigen die Paß-Aufgänge mehrere Stunden lang auf holperig-ſteinigem Wege an, gewähren auf der Höhe weder Fernſicht noch entſchädigenden Tiefblick, ſondern führen, der vorhergehenden Partie entſprechend, wieder in gleicher Weiſe ins jenſeitige Thal hinab. Dies iſt ganz beſonders bei vielen Tyroler und Schweizeriſchen Voralpen-Päſſen der Fall. Der Pragel zwiſchen Glarus und Schwyz (4750 Fuß) iſt ein Muſter dieſer Langweilig¬ keit, welcher aber auch mehrere andere Päſſe der eigentlichen, inneren Alpen, z. B. der Septimer (7114 Fuß), der Albula und Fluela in305Gebirgs-Päſſe und Alpen-Straßen. Graubünden, über das Pfietſcher Joch (6905 Fuß) und mehrere Päſſe über die Tauern nicht nachſtehen.

Weſentlich energiſcher, unterhaltender, formenreicher und oft überraſchend ſchöne Ausſichten plötzlich erſchließend, ſind die Päſſe der centralen und weſtlichen Schweiz. Zu dieſen gehören zuvörderſt jene, die wegen ihrer großen Frequenz einigermaßen mit Schutzmitteln ausgeſtattet ſind. Vornehmſter Repräſentant derſelben iſt der Große St. Bernhard zwiſchen Wallis und Savoyen mit ſeinem berühmten, gaſtfreundlichen Hospitium. Er iſt nicht minder Wanderziel ſommer¬ licher Touriſten als Reiſemittel für jährlich viele Tauſende. An Wichtigkeit iſt ihm die Grimſel (Paßhöhe bei der Hausegg, 6785 Fuß) zur Seite zu ſtellen; über dieſen Paß wird der bedeutendſte Kä¬ ſehandel aus dem Kanton Bern nach Italien getrieben. Er gehört zu den begangenſten Alpen-Paſſagen, weshalb auch die Thalſchaft Hasli ein feſtes, ſteinernes Gebäude als Hospitium unweit der Paßhöhe gründete und dotirte. Jeder arme Wanderer wird hier, wie auf dem Gotthard, Simplon und Großen St. Bernhard, im Win¬ ter wie im Sommer unentgeldlich übernachtet und verpflegt. Der dritte, mit ſolchen Hospitien ausgerüſtete, nicht fahrbare Hochalpen - Paß iſt, der Lukmanier in Graubünden, bezüglich ſeiner Umgebung gleichfalls wieder ein Muſter landſchaftlicher Langweiligkeit.

Auf und an vielen Hochalpenpäſſen, die zur täglichen Kommu¬ nikation dienen, ſind Berghäuſer oder Taurenhäuſer , wie ſie in Tyrol heißen, erbaut, die von Bauern bewirthſchaftet werden, wo man gegen Zahlung, wie in anderen Wirthshäuſern, dürftiges Lager und Zehrung erhält. Deutſche Berühmtheit hat das Berg¬ haus Schwarenbach auf dem Gemmi-Paß durch Werners Schauer - Komödie der vierundzwanzigſte Februar erhalten. Die dort zu Grunde gelegte, verhängnißvolle Mordthat iſt indeſſen leere Fiktion. Gemmi und Grimſel, wie faſt alle aus den Berner Alpen ins Wallis führenden Päſſe, erſchließen auf ihren Höhen, wenn auch be¬ ſchränkte, doch imponirende Ausſichten auf bedeutende Hochalpengruppen.

Berlepſch, die Alpen. 20306Gebirgs-Päſſe und Alpen-Straßen.

Da der ſüdliche Abhang der Alpen, wie ſchon früher erwähnt, immer ſteiler iſt als der gen Norden auslaufende, ſo ſind auch die Paßniedergänge an dieſer Seite immer jäher und ſtotziger. Von der Grimſel-Höhe führt der gut geebnete Pfad über die ſteile Meyenwand zum Rhône-Gletſcher hinab, und an der Gemmi wurde ein ſolcher gar in die faſt vertikal ſich erhebende, beinahe 2000 Fuß hohe Balmwand geſprengt. Es iſt einer der abenteuerlichſten Wege, der überhaupt in den Alpen vorkommt. Eine tiefe, düſtere Felſen¬ ſpalte klafft von unten bis hinauf in der Wand; in dieſer wurde durch künſtliche Aufmauerung oder durch Ausbrechen ein etagen¬ förmig ſich übereinander emporwindender Felſengang erzwungen, der dem Wanderer ſelten mehr als einige Dutzend Schritte zeigt. Lautſchallendes Echo, wie in den leeren Hallen einer großen Kirche, begleitet jedes geſprochene oder gerufene Wort. Mehr als eine halbe Stunde lang hört der vom Bade Leuk aufſteigende Wanderer in der ſenkrechten Schlucht von oben herab die Jauchzer der Herunterkommenden, ohne ſie früher zu ſehen, als bis er ihnen un¬ mittelbar begegnet. Mitunter iſt der durch Bruſtwehr-Mauern ge¬ ſchützte Niederblick in die felſige Wüſtenei mehr als ſchauerig, und während Stunden ſieht man, ſo oft der Weg ſich wieder aus¬ buchtet, immer aufs Neue das Leukerbad ſenkrecht zu Füßen liegen. Auf dieſen Päſſen begegnet man zur Seltenheit noch dem Säu¬ mer und ſeinen Saumroſſen.

Seit dem Bau der Kunſtſtraßen iſt dieſe, Jahrhunderte lang, während des ganzen Mittelalters bis auf die jüngſt vergangene Zeit gebräuchliche Art des Transportes der Handelswaaren auf dem Rücken der Pferde und Maulthiere, faſt gänzlich verſchwunden. Nur auf den nicht fahrbaren, aber dennoch ſehr frequenten Alpen¬ päſſen, wie z. B. auf der Gemmi, begegnet man denſelben noch vereinzelt. Jedes Saumthier trägt einen aus hölzernen Sparren konſtruirten Sattel, der auf beiden Seiten weit herabreicht und den Rücken vom Halsbug bis zu den Hüften überdeckt. An und307Gebirgs-Päſſe und Alpen-Straßen. auf dieſen Sattel werden die Waarenballen, welche eine ziemlich gleichmäßige Geſtalt haben müſſen, ſo vertheilt aufgeladen, daß die ganze Laſt von höchſtens drei Centnern im Gleichgewicht hängt. Herkömmlich iſts, daß die Saumthiere Maulkörbe tragen; man traf dieſe Einrichtung, um zu verhindern, daß die Pferde wäh¬ rend des Marſches am Wege ſtehendes Gras abweiden und da¬ durch den ganzen Zug der hintereinander gehenden Thiere auf¬ halten. Außerdem war jedes Saumroß mit einer Glocke ver¬ ſehen, damit auf den früher ſehr ſchmalen Pfaden, namentlich während der Winterszeit, einander begegnende Karavanen an den beſtimmten Ausweicheplätzen ungehindert paſſiren konnten. Ueber die ganze Laſt des Thieres wird eine große Wachstuch-Decke aus¬ gebreitet, meiſt braunroth bemahlt und mit dem Namen des Säu¬ mers verſehen. Da auf jeder Seite des Packſattels die aufge¬ ladenen Waaren ziemlich weit hervorſtehen, ſo bedarf jedes Pferd begreiflich einen ziemlich breiten Weg-Raum, und dieſer Umſtand nöthiget die Thiere, nicht in der Mitte des Pfades, wo ſie an den ſteilen, oft hervorſtehenden oder überhängenden Felſen-Ecken leicht anſtoßen oder hängen bleiben könnten, zu gehen, ſondern längs dem Rande des Paß-Weges, alſo oft unmittelbar an Ab¬ gründen. Eine Kleinigkeit, ein einziger unvorſichtiger Tritt, kann das Thier zum zerſchellenden Sturze in Schauertiefen bringen. Dieſe Kavalkaden, ein Saumroß hinter dem andern, von Weitem durch lautes harmoniſches Gebimmel ſchon ſich ankündigend, waren ehedem eine weſentlich zierende Staffage der Alpenlandſchaften. Jeder Säumer führte 6 bis 7 Pferde, und eine ſolche Sektion wurde ein Staab Roſſe genannt.

Die Unternehmer dieſer organiſirten Alpen-Karavanen theilten ſich, je nach der Strecke, welche ihre Transport-Züge zu begehen pflegten, in Strackfuhrleute oder Adrittura-Säumer und in Rood¬ fuhrleute. Erſtere paſſirten den Berg, ohne ihre Waaren ab¬ zugeben, vom italieniſchen Stapelplatz (Chiavenna, Bellinzona,20*308Gebirgs-Päſſe und Alpen-Straßen. Meran, Aoſta u. ſ. w.) bis zu dem dieſſeit der Alpen gelegenen Speditions-Orte; letztere jedoch gingen nur bis auf den Scheitel des Berges, wo die Mauthhäuſer, Suſten oder Dogana ſtanden, und dort wurde umgeladen, dort übergaben die ennetbirgiſchen oder wälſchen Säumer ihr Frachtgut den diſſentbirgiſchen Roo¬ dern. Gewöhnlich trafen ſie um die Mittagszeit droben ein und da entwickelte ſich denn für wenige Stunden ungemein reger Ver¬ kehr und lautes, ſchreiendes Leben in dieſen ſonſt todten Einöden.

Dieſe Transport-Art iſt, wie geſagt, ſeitdem fahrbar-gemachte ſichere Kunſtſtraßen beſtehen, gänzlich verſchwunden. Auch die Zoll - und Mauth-Häuſer auf den Paßhöhen und an den Linien, die innerhalb der ſchweizeriſchen Eidgenoſſenſchaft liegen, ſind einge¬ gangen und werden zu anderen Zwecken verwendet, ſeit eine allge¬ meine, große Grenz-Zollkette alle Kantone umfaßt; nur noch einzelne Namen, wie z. B. Dazio grande (großer Zoll) im Livi¬ nenthal auf der Gotthards-Route, erinnern an die alten Zuſtände. Innerhalb der ganzen Schweiz exiſtiren ſeit der neuen Bundes - Verfaſſung von 1848 weder Zölle noch Chauſſee - und Brücken - Gelder.

Das Saumroß, ſo wie das noch heutigen Tages vielfach be¬ nutzte Bergpferd, welch letzteres zum Tranport der Touriſten im Sommer, ſo wie in manchen Gegenden zum Hinauf - und Herab¬ ſchaffen der Sennhütten-Utenſilien und Milchprodukte von und nach den Alpweiden verwendet wird, iſt kleinen, gedrungenen Schlages, derbknochig und muskelkräftig, keinesweges ſchön und ebenmäßig im Bau. Seine Beine ſind kurz, die Hufen plump, aber mit langen Feſſeln, wodurch größere Elaſticität in den Gang kommt; in der Bruſt iſt es ſehr breit, hinten meiſt überbaut und im Haarwuchs an den Mähnen und Füßen gewöhnlich verwildert. Steht es nun auch an Lebhaftigkeit des Temperamentes, an Grazie der Bewegung und Adel der Haltung, als Arbeitspferd hinter dem bevorzugten Reit - und Wagenpferde des ebenen Landes309Gebirgs-Päſſe und Alpen-Straßen. unverkennbar zurück, ſo giebt es dieſem an Treue, gutem Willen und Klugheit, überhaupt an ſoliden, praktiſchen Eigenſchaften nicht nur nichts nach, ſondern übertrifft daſſelbe noch, was Vorſicht und wunderbar fein ausgebildeten Inſtinkt anbelangt. Es geht unge¬ mein ſicher; ſein Schritt auf dem rauhen, ſteinigen und abſchüſſi¬ gen Pfade iſt bedächtig ausgewählt, und höchſt ſelten wird man ein Saumroß ſtolpern oder ſtraucheln ſehen. Läßt man ihm freie Wahl, ſo findet es ſelbſt, ohne unzeitiges Leiten und Lenken, die rechten, ihm paſſenden Tritte und vermeidet den äußerſten, am Abgrunde hinführenden Wegrand, wo es denſelben zu fürchten hat.

Der nunmehr eingegangene Stand der Säumer umfaßte eine brutale, rohe, gegen alles civiliſirte Leben völlig abgeſtumpfte Menſchenklaſſe; das zweite Wort, was aus ihrem Munde ging, war nur eine Läſterung oder ein Kernfluch. Der gefahrvolle und mühſelige Beruf, ſo wie der ewige Kampf mit den Elementen, bildete in ihnen ſtarre Härte und Todesverachtung aus. Die Meiſten von ihnen erfroren früher oder ſpäter Hände und Füße, oder wurden ſonſt am Körper verſtümmelt, wenn nicht übermäßiger Genuß geiſtiger Getränke und Entzündungskrankheiten ſie zeitig ins Grab legten oder der Lauinen-Tod ſie jählings ereilte. Man hat berechnet, daß allein auf den Graubündner Straßen, in früheren Zeiten, jährlich 3 bis 4 Säumer ums Leben kamen.

Weſentlich verſchieden von den bisher beſchriebenen Päſſen ſind endlich noch jene einſamen, außerordentlich rauhen und un¬ heimlichen, oft ſtundenlang über Gletſcher und Firnfelder führen¬ den Fußpfade, die faſt nur von Schwärzern, Paſchern und Gränz¬ ſoldaten, oder von Hirten, Boten und Laſtträgern im Sommer begangen werden. Auch hier ſtuft ſichs wieder in viele Schatti¬ rungen und Unterabtheilungen ab. Den meiſten fehlt mehr oder minder die betretene, ſichtbare Weglinie, alſo das, was dem Auge erkennbar den begangenen Pfad anzeigt; durch waldige Tobel, am Rande finſterer Schluchten, über Alpweiden und zerriſſene Ge¬310Gebirgs-Päſſe und Alpen-Straßen. röllhalden lavirt der, mehr in der Erinnerung des Paß-Gängers vorhandene oder durch einzelne Orientirungs-Momente eigentlich erſt zu ſchaffende Weg nach dem kluftigen Felſen-Gewirr hinauf, in deſſen tiefſter Einſattelung der Uebergangspunkt liegt. Hier ſenkt ſich nicht, wie auf jenen couranten Päſſen, eine muldige Hochebene zwiſchen dem breiten Rücken des Gebirgszuges ein, mit dem in bei¬ nahe ewigen Naturſchlafe ruhenden Bergſee; meiſt ſcheidet der ſcharfe zackige, wenige Fuß breite Grat das Dieſſeits und Jenſeits, pracht¬ volle Rück - und Vorblicke geſtattend, wie z. B. beim Juchli (6905 Fuß) zwiſchen dem Engelberger - und Melch-Thal im Kanton Unter¬ walden, bei der Gocht in den Churfirſten zwiſchen Quinten am Wallen-See und Alt-St. Johann im Toggenburg, bei der Saxer Lucke im Appenzeller Alpſtein u. a. m. Paßpfade dieſer Art zeigen ſich meiſt in den zerriſſenen, an Felſenſplittern reichen Kalkalpen.

Wilder und in der Regel ungeheuerlicher ſind jene Scheideggen, die über die Schneegränze heinaufſteigen, wie es z. B. bei dem Segnas - oder Flimſer-Paß, (8081 Fuß, zwiſchen den Kantonen Glarus und Graubünden) der Fall iſt, wo ein ſchmaler, ſchwarz-grauer Kalkrücken aus den Firnlagern ſteil aufſteigt; hier iſt das berühmte Martinsloch, ein natürliches Felſenfenſter von bedeutender Breite in der Tſchingelwand, durch welches im März und September während drei Tagen die Sonne das Glarner Dorf Elm beſcheint. Auf dieſem Paß wüthen die Schneeſtürme mit diaboliſcher Wucht und ſchon viele Wanderer wurden hier oben eine Beute derſelben. Andere, welche ſich verirrten und glaubten, der Weg führe durch das Martinsloch, ſtürzten über den Felſenhang herunter und mußten von den Aelplern, ſchwer verwundet, hinabgeſchafft werden. Noch ſchauerlicher iſt der weſtliche Nachbar deſſelben, der 8500 Fuß hohe Kiſten-Paß, der von Linththal (Kanton Glarus) nach Brigels (im Bündner Vorder-Rheinthal) führt. Dort zieht ſich der Weg an den Felſenwänden des Ruchi nach dem ſ. g. Hohen Loch 311Gebirgs-Päſſe und Alpen-Straßen. und von dieſem über ſchmale Grasplanken und Felſenbänder zur Muttalp. Das Hohe Loch geht durch einen röthlichen Kalk¬ felſen und bietet einen ſo ſchmalen Durchpaß dar, daß nur eine Perſon um die andere denſelben durchkriechen kann. Steckt man den Kopf durch das Loch, ſo ſieht man aus dieſem Felſenfenſter unmittelbar in die grauenvolle Tiefe des Limmerntobels hinab. Nur kühne Gemſenjäger und entſchloſſene, ſchwindelfreie Berggänger wagen dieſen Weg zu nehmen, da man außerdem lange durch den im ſchauerlichen Limmerntobel fließenden Bach waten und an einer Stelle, beim Nothſtein, von einem Felſenabſatze in das Waſſer herunterſpringen muß, wenn der Bach, wie dies häufig geſchieht, das Tannenbäumchen hinweggeſchwemmt hat, das die Jäger dort hinſtellen, um an demſelben hinunter zu klettern.

Es giebt indeſſen weit höher ſteigende Gletſcher-Päſſe, die viel ungefährlicher zu begehen ſind, wie z. B. das Langtaufer Joch (9697 Fuß) am Oezthaler Ferner und das Hochthor (7860 Fuß) unterm Groß-Glockner in Tyrol, der Paß über Monte Moro (8386 Fuß), Col d' Oren (9687) über den Arolla-Gletſcher aus dem Val d' Hérins ins Piemonteſiſche Val Pellina, und ganz be¬ ſonders das Matterjoch oder Passage St. Théodule (10242 Fuß) unterm Mont Cervin, aus dem Zermatter Thal ins Tournanche, welchen, trotzdem er vier Stunden über Gletſcher-Eis führt, nicht nur Weiber begehen, ſondern der im October und November, wenn die Gletſcherſpalten mit tragenden Schneebrücken überſpannt ſind, ſo¬ gar mit Maulthieren und Vieh betrieben wird.

Die ſchlimmſten Uebergänge endlich, die indeſſen die, zum feſt¬ ſtehenden Begriff gewordene Bezeichnung Paß kaum mehr ver¬ dienen, ſind jene, nur ganz beherzten, ſtahlkräftigen, völlig ſchwin¬ delfreien Männern paſſirbar möglichen Eiswüſten-Wege, die allen den gleichen Bedingungen und Zufällen unterliegen wie Expedi¬ tionen zu den Hochalpen-Spitzen. Es giebt deren einige, die großen Ruf in der Touriſten-Welt haben und allſommerlich mehrere¬312Gebirgs-Päſſe und Alpen-Straßen. mal unter Leitung erprobter und renommirter Führer überſchritten werden. Dahin gehören: der vierzehnſtündige Gletſchermarſch über die Strahlegg (10379 Fuß), ein Eisrücken zwiſchen den Schreck¬ hörnern und dem Finſteraarhorn im Berner Oberlande, auf dem direkten Wege von der Grimſel nach Grindelwald, bei welchem der Unteraar -, Finſteraar - und Untere Grindelwald - Gletſcher ihrer gan¬ zen Länge nach paſſirt werden müſſen; ferner die Paſſage über Col de Géant (10500 Fuß) in der Montblanc-Gruppe, die von Chamouny über die ganze Länge des Glacier des Bois oder Mer de Glace und den Glacier du Tacul zwiſchen den Aiguilles du Dru (11471 Fuß), du Moine (11580 Fuß) und du Géant (13019 Fuß) öſtlich, und den Aiguilles de Charmoz (10255 Fuß), Blaitière und Montblanc du Tacul weſtlich, anſteigend, über den Glacier d'Entrèves hinab in 16 Stunden nach Cormajeur führt, wovon mehr als die Hälfte des Weges über Gletſcher. Am 15. Auguſt 1860 verunglückten drei, den erſten Familien von Wales angehörende Engliſche Reiſende beim Hinabſteigen nach Cormajeur. Sie gingen über einen Grat, der links und rechts einen Abgrund hatte; da brach der zu hinterſt Gehende aus Müdigkeit zuſammen, glitſchte im Fall über den Schnee hinweg, und riß den Führer und ſeine beiden Reiſekameraden mit ſich fort. Die beiden anderen Führer, welche die Enden des angelegten Seiles hielten, thaten das Möglichſte, um die vier Unglücklichen aufzuhalten; aber umſonſt! ſie mußten nachlaſſen, wenn ſie nicht ſelbſt mit zu Grunde gehen wollten. Die Stürzenden rollten fünf Kilometer weit den Abhang hinunter und ihr Fall löſte eine Lauine, die ihnen nachrollte, ſie überholte und begrub. Am andern Morgen fand von Cormajeur requirirte Hilfsmannſchaft die vier Leichen, faſt unkenntlich mit gebrochenen Schädeln, die eine unter einem großen Felſenſtück. Sie wurden am 17 Auguſt, in Begleitung aller zur Zeit anweſenden Fremden, auf dem Friedhof von Cor¬ majeur beerdigt.

313Gebirgs-Päſſe und Alpen-Straßen.

Zu dieſer Kategorie gehören ferner noch die Eispfade über den Saasgrat von Zermatt über den Findelen-Gletſcher zwiſchen dem Strahl - und Rimphiſchhorn hindurch zum Mattmark-See, dann die Pracht - Paſſage von Evolena im Val d' Hérins über den Ferpecle-Gletſcher um die Tête Blanche und über den Zmutt-Gletſcher nach Zermatt, dann der Weg vom Riffelhorn übers Weißthor (11138 Fuß) in furchtbar jähem Abſturz hinab nach Macugnaga im piemonteſiſchen Val d'Anzasca. Der Weg vom Riffelhaus bis zur Höhe des Weißthores iſt, obgleich er über den Gornergletſcher und ein ge¬ waltiges Firnfeld führt, doch durchaus nicht gefährlich oder ſehr beſchwerlich. Nur auf der Höhe, wo ſich eine unbeſchreiblich ſchöne Ausſicht gen Oſten und Süden erſchließt, iſt ein Schneekamm mit größter Vorſicht zu paſſiren, weil jenſeit deſſelben der furchtbare, gegen 8000 Fuß tiefe Krater von Macugnaga jäh abſtürzend ſich öffnet. Ein Fehltritt, ein einziges Ausgleiten muß den unvermeid¬ lichen Todesſturz in dieſen Abgrund zur Folge haben. An dieſer entſetzlichen Felſenwand, die von einer Unmaſſe von Runſen zer¬ furcht iſt, zwiſchen denen wieder kleine ſcharfkantige Gräte her¬ vorragen, muß der Paßgänger über ganz verwittertes Geſtein hin¬ abſteigen. Der Fuß hat keinen ſicheren Tritt, die Hand keinen feſten Anhalt; ununterbrochen bröckelt das faulige Geſtein los. Mitunter iſt der Kletterpfad ſo jäh, daß der tiefer ſtehende mit ſeinem Kopf an den Fuß des über ihm befindlichen Wanderge¬ noſſen anſtößt. Schon bei hellem Wetter iſts ſchwierig, ſich aus dieſem Chaos herauszufinden, geſchweige denn, wenn Nebel das Monte-Roſa-Maſſiv einhüllen oder Schneeſtürme den Wanderer über¬ raſchen; er iſt dann unrettbar verloren, wenn nicht die Hand der Vorſehung ihn leitet. Alle anderen Gletſcherpäſſe übertrifft aber endlich an Großartigkeit der Hochgebirgs-Scenerie der abenteuerliche Col de Trift, der erſt ſeit wenig Jahren gangbar gemacht, aus dem Walliſer Einfiſch-Thal nach Zermatt führt. Die Paſſage iſt dort ſo ungeheuerlich, daß unter anderen Schwierigkeiten eine bei¬314Gebirgs-Päſſe und Alpen-Straßen. nahe ſenkrechte Eiswand Tritt für Tritt, wie auf den Leitern in der Breſche einer mit Sturm zu nehmenden Feſtung erklommen, und eine ebenfalls faſt vertikale Felſen-Mauer mit Hilfe einer einge¬ ſchmiedeten eiſernen Kette kletternd, frei am Abgrunde ſchwebend, transverſirt werden muß.

Man klagt im Flachlande über ſchlechte Wege, wenn der Boden vom andauernden Regen aufgeweicht, oder eine neue Straße friſch mit Kies überſchüttet, oder ein Waldweg mit Wurzelwerk verwachſen iſt. Was wollen ſolche kleine Unannehmlichkeiten gegen jene der gewöhnlichſten, vielbegangenen Paßwege im Gebirge, und dieſe wiederum im Vergleich zu denen ſagen, deren zuletzt Erwähnung geſchah.

Die Hospitien.

Ich habe von Paläſten viel geſehen,
Ich bin gewandelt durch die weiten Hallen;
Es hat mir aber keiner ſo gefallen,
Als den ich eben ſah auf Bergeshöhen.
Das iſt ein wahrhaft königliches Haus:
Die Liebe gehet ein und aus.
Es öffnet freudig ſeine hohen Kammern,
Wenn winterlich die wilden Stürme ſauſen,
Die Elemente durch einander brauſen,
Und tief im Schnee die armen Pilger jammern.
Und eilig ſendet es zur böſen Stunde,
Wenn mitternächtige Lauinen rollen,
Und hoch die Gletſcherbäche angeſchwollen,
Zur Rettung aus die klugen treuen Hunde.
J. J. Peſtalozzi.

Es wird außerordentlich viel theoretiſches Chriſtenthum in der Welt gelehrt und gedruckt und von der Nächſtenliebe mit Oſten¬ tation gepredigt und mit den Werken der Barmherzigkeit Miſſion getrieben, und die aus allem dem entſpringende Gottſeligkeit wird mit einer ſolchen Summe von ingründlicher Gelehrſamkeit und kauſtiſchem Scharfſinn der duldenden Menſchheit auseinandergeſetzt, daß es keine zweite Wiſſenſchaft giebt, die ſchon ſo viel Papier, Buchdruckerſchwärze, Beredſamkeit und Menſchenblut gekoſtet hat316Die Hospitien. als eben die Lehre von den höchſten und edelſten Gütern und Auf¬ gaben des Menſchen-Geſchlechtes; aber in die freiwillige, uneigen¬ nützige Praxis iſt das herrliche Gebot der Bergpredigt: Liebe deinen Nächſten wie dich ſelbſt , nur ſehr vereinzelt und bedin¬ gungsweiſe übergegangen. Zu dieſen ſehr ſporadiſch auftretenden Erſcheinungen des bethätigten Chriſtenthums gehören die Hospitien in den Alpen. Hospitium heißt im Lateiniſchen die Herberge und auch die Gaſtfreundſchaft. Während in ſolchen Fällen gar häufig die wörtlichen Bezeichnungen nur ſchöne Aushängeſchilder für minder ſchöne Beſtrebungen zu ſein pflegen, ſtoßen wir hier umgekehrt auf eine ſehr beſcheidene Benennung weit größerer, edlerer Lebensauf¬ gaben. Hier iſt nicht blos Einkehr für Hungernde und Ermattete; der ſehr elaſtiſche Begriff der Gaſtfreundſchaft wird hier nicht nur zur vollendeten Thatſache, ohne Anſehen der Perſon, des Volkes und des Glaubens-Bekenntniſſes, ſondern das uneigennützige Be¬ ſtreben: der bedrängten Menſchheit zu nützen, zu helfen, wo Mangel, zu retten, wo Gefahr vorhanden iſt, freiwillig (ohne Be¬ rechnung des zu erwartenden Dankes) das Werk des Samariters zu üben, das iſt der Kern der Aufgabe. Und er wird zu Tage gefördert, recht und ſchlicht, ſtill und geräuſchlos, ohne phari¬ ſäiſches Geſchrei. Sie, die dieſem Werke der ächten Humanität ſich weihen, rufen nicht ſcheinheilig in die Welt hinaus: Ich und mein Haus wollen dem Herrn dienen! ſondern ſie thun, was ſie verſprechen.

Unſere Hospitien prangen alſo nicht mit der Außenſeite, noch mit Eigenſchaften, die ſie entweder gar nicht, oder doch nur ſehr bedingter Weiſe beſitzen; ihre Firma iſt keine geſchminkte Lüge. Ebenſowenig hüllt ſich die Ausübung des Barmherzigkeitswerkes in frömmelnden Nimbus oder in geſalbte Phraſendreherei und tar¬ tüffiſches Schleicherthum; gerade und derb, wie die Natur des Bergbewohners iſt, begrüßt und behandelt der Spittler den bei ihm Einkehrenden. Der alte Zybach auf der Grimſel, ehe er ſich317Die Hospitien. zu dem, weiter unten zu erzählenden, dummen Streiche verleiten ließ, war das Urbild eines gemüthlichen, klugen und praktiſchen Alpenbauern, bieder und anſpruchslos; man leſe Agaſſiz's geologiſche Reiſen, um ſein Lob aus vollem Herzen verkünden zu hören. Der alte, ſiebenzigjährige Direktor Lombardi auf dem Gotthard und ſein intelligenter Tochtermann, ſind Leute ſo friſch und frei, wie die ſie umwehende Bergluft. Und vollends gar in den Hospitien, denen Mönche vorſtehen, wie auf dem Großen Bernhard und dem Simplon, herrſcht ein fröhlicher, lebensfreudiger Ton, eine geſellige Unge¬ zwungenheit, die mit dem herkömmlichen Begriffe eines Conventes anfangs ganz unvereinbar erſcheinen.

Und endlich die Gebäude ſelbſt, dieſe einfachen, feſten, dick¬ wandigen, ſteinernen Berghäuſer, wie ſtehen ſie ohne allen äußeren Schmuck, ohne jedes kokettirende Moment, ſo urnatürlich und altersergraut da, oft eher ausgebauten Ruinen ähnelnd, als Lokalen, die öffentlichen, allgemeinen Beſtimmungen dienen! Form und Charakter entſprechen ſo recht der wilden, ſteintrümmer-erfüllten, rauhen Gebirgs-Umgebung, die an den neunmonatlichen, zähen, ſtürmiſchen Winter erinnert. Einzig das Simplon-Hoſpiz, vom weltſtürmenden, alle ſeine Pläne im großen Maßſtabe anlegenden Frankenkaiſer Napoleon I. begonnen, dann aber erſt zwanzig Jahre ſpäter von den Bernhardinern erworben und ausgebaut, dehnt ſich wie ein Alpenſchloß palaſtähnlich, vierſtockig, vielfenſterig auf dem Bergübergange aus.

Alle Hospitien, deren es in den Alpen etwa fünfzehn giebt, ſind milde Stiftungen, größeren oder kleineren Umfanges, welche die Aufgabe haben, je nach ihren Mitteln jeden Reiſenden, der es verlangt, unentgeldlich zu beherbergen, Armen eine Mahlzeit gratis zu verabfolgen, oder wenn allzuwildes Wetter den Wanderer zwingen ſollte, länger zu bleiben, ihn während dieſer Zeit zu verpflegen, und bei Schneeſtürmen durch Glockenläuten oder durch Ausſendung von Spürhunden Verirrte auf den rechten Weg zu leiten. Nicht318Die Hospitien. alle Alpenpäſſe erfreuen ſich dieſer großen Wohlthat; nur die Uebergänge über Col de Lautaret (Mont Genèvre), Mont Cenis, über den Großen und Kleinen Bernhard, Simplon und Gotthard, über die Grimſel, San Giacomo im Teſſin und über den Lukmanier ſind mit Hospitien ausgerüſtet. Alle anderen haben höchſtens Berghäuſer (in Tyrol Tauernhäuſer), in denen ums Geld gewirth¬ ſchaftet wird. Ihre Höhenlage iſt immer nur wenige tauſend Fuß unter der Linie des perennirenden Schnees. Auf dem Gotthard beginnt der Schneefall in der Regel ſchon Mitte Oktober und dauert bis gegen das letzte Drittel des Monats Mai; er währt alſo volle ſieben Monate. Außerdem giebts keinen Tag im Kalender, an dem es nicht ſchon in dieſem oder jenem Jahrgange geſchneit hätte. Oft iſts im Juli und Auguſt ſo empfindlich kalt in dieſer Höhe von 6388 Fuß überm Meeresſpiegel, daß Blumen, wie im Winter, an den Fenſtern frieren, und Tag für Tag geheizt werden muß. Der Lago grande nächſt dem Ospizio hat gewöhnlich bis Anfangs Juli Eis, und im Winter giebt es Nächte, deren beißende Kälte mit jener von Nova Sembla und Spitzbergen kon¬ kurriren mag. Mehr als die Hälfte der Tage eines Jahres hüllen das Haus dichte Nebel ein, während vielleicht in den Thälern oder auf höheren Bergen ſonnenheiteres Leben lacht. Denn die Paßübergänge ſind auch die Wege, auf denen die wäſſerigen Dunſt¬ koloſſe aus den ſüdlichen, feuchtwarmen Thälern die Alpen über¬ ſchreiten und als ſchwere Wolkenmäntel und trübe Nebelkappen ſich um die nächſten Felſenpfeiler hängen, bis ſie entweder der Südwind hinüber treibt und zu eigentlichen Regen-Urnen formirt, oder der ſchärfere Nord dieſelben zurückdrängt. Ungefähr ähnlich geſtaltet ſichs um das Hoſpiz auf dem Col de Lautaret (6443 Fuß). Auf dem Großen Bernhard wächſt bei einer Höhenlage von 7368 Fuß die Zahl der Wintermonate auf neun, und die ganz heiteren, ſonnenhellen Tage des Jahres ſind raſch gezählt. Alles Brennmaterial muß viele Stunden weit hinausgeſchafft werden.

319Die Hospitien.

Alle dieſe Umſtände ins Auge gefaßt, gehört ungewöhnliche Reſignation dazu, ospitaliere zu werden. Denn der bloße Wunſch, eine freie Stelle einzunehmen, gleichſam eine Pfründe anzutreten, kann unmöglich zu einem ſolchen Akt der Entſagung verleiten. Es iſt keine Sinecure, keine Spital-Verwalterſtelle, wie die eines großen ſtädtiſchen Armen - und Krankenhauſes; ſchwere Pflichten (oft ohne genügende Mittel) und Entbehrungen aller Art laſten auf derſelben. Um dieſe Verhältniſſe etwas näher beleuchten zu können, müſſen wir die Hospitien klaſſifiziren.

Voran ſtehen die vier großen Mönchs-Klöſter auf dem Großen und Kleinen St. Bernhard, Mont Cenis und Simplon. Sie werden von Auguſtiner-Chorherren bewohnt und bewirthſchaftet, und die Gründung der drei erſteren geht hoch ins Alterthum hinauf. Das Hoſpiz auf dem Mont Cenis (5969 Fuß) ſoll von Karl dem Großen gegründet worden ſein, wurde durch Napoleon I. im Jahre 1801 weſentlich vergrößert und diente dem Papſt Pius VII. 1812 als Aſyl. Die Stiftung des Kloſters auf dem Großen St. Bern¬ hard erfolgte im Jahre 962 durch den heil. Bernhard von Menthou (einer edlen ſavoyiſchen Familie entſproſſen), obwohl die Annalen der Biſchöfe von Lauſanne ſchon eines früheren, 832 beſtandenen Kloſters gedenken, deſſen Gründung ebenfalls Karl dem Großen zugeſchrieben wird. Archiv und Dokumente ſind durch Feuersbrünſte, welche zweimal dieſe einſamen Gebäude heimſuchten, gänzlich ver¬ nichtet worden. Die gegenwärtigen großen Gebäude ſtammen aus der Mitte des 16. Jahrhunderts, werden von 12 Auguſtiner-Chor¬ herren und einer Anzahl dienender Brüder, den berühmten Mar¬ ronniers, bewohnt und ſind zur Beherbergung von 70 bis 80 Fremden eingerichtet. Das Simplon-Hoſpiz iſt Eigenthum des großen Bernhards-Kloſters, hat eine Verwaltung mit dieſem und wird von demſelben mit 4 bis 6 Geiſtlichen, unter der Leitung eines Subpriors, verſehen. Das Hospitium auf dem Kleinen St. Bernhard endlich iſt vielleicht das älteſte unter allen, obwohl auch320Die Hospitien. hier keine ſchriftlichen Urkunden als Beweismittel vorhanden ſind. Es iſt weit dürftiger ausgeſtattet als die vorhergenannten, wird von der Gemeinde zu Aoſta in ſeinen Bedürfniſſen unterſtützt und von einigen delegirten Brüdern des Großen Bernhard bewohnt. Der Tradition zufolge ſoll Hannibal auf dieſer Höhe geraſtet und Kriegsrath gehalten haben, weshalb ein mit großen, rohen Stein¬ blöcken eingefaßter Raum auf der Ebene der Paßhöhe noch der Cirque d'Annibal genannt wird. Die jungen Geiſtlichen, welche ſich zum Dienſt in dieſen Klöſtern entſchließen, treten gewöhnlich ſchon mit dem zwanzigſten Lebensjahre ein, und übernehmen die Verpflichtung, fünfzehn Jahre hier oben zu bleiben. Viele von ihnen erliegen vor der Zeit der Härte des Klimas und den An¬ ſtrengungen oder Lebensgefahren, wenn ſie im Winter und Früh¬ jahr nach dem Fall von Lauinen oder wilder Schneeſtürme mit den Hunden die vorgeſchriebenen Excurſe machen, um allfällig Ver¬ unglückten beiſtehen zu können. Die wenigen erträglichen Sommer - Monate, während welcher Vergnügungs-Reiſende hier heraufkommen, ſind die einzige Rekreation für die ſonſt ſehr entbehrenden Mönche. Während dieſer Zeit genießen ſie aber ihr Leben auch in vollen Zügen, widmen ſich ganz der Unterhaltung, machen Ausflüge mit den Damen auf benachbarte Ausſichtspunkte, muſiciren am Piano und wiſſen durch ihr feines, kavaliermäßiges Benehmen ſich die Gunſt aller ihrer Gäſte in hohem Grade zu erwerben. Die Wiſſen¬ ſchaften ſcheinen ihnen den Kopf nicht beſonders ſchwer zu machen, und wenn auch hier und da ein Einzelner ſich mit irgend einer Disciplin beſchäftiget, ſo ſind die Reſultate doch immer ziemlich unbedeutend.

Die Freundlichkeit des Entgegenkommens und die Aufmerk¬ ſamkeit in Behandlung der Fremden, wenn deren nicht allzuviel ſchon Einquartierung genommen haben, iſt wirklich groß. Bereits beim Eintritt kommt, wie in einem guten Hôtel, irgend ein die¬ nender Bruder dem Ankömmling entgegen und führt ihn, je nach deſſen Stande, entweder in das Refektorium oder in ein großes,321Die Hospitien. neben der Küche liegendes, für die ärmeren Volksklaſſen beſtimmtes Zimmer. Hier wird der Gaſt ſofort mit einem Imbiß regalirt, wenn es nicht ohnedies Tiſchzeit iſt. Fremde der gebildeten Stände ſpeiſen mit den Chorherren an der gleichen Tafel und erhalten eine, für dieſe Höhe wirklich reiche und reichliche Speiſenfolge neben delikaten Weinen. Die ärmeren, auf abſolut unentgeldliche Verpflegung Anſpruch machenden Paſſanten werden mit kräftigen Suppen, Fleiſch, Brod und einem kleinen Glas Branntwein zur Weiter-Reiſe geſtärkt oder, wenn es Abend iſt, zur reinlichen, be¬ quemen und warmen Schlafſtätte geführt. Auf dem Großen St. Bernhard werden weibliche Gäſte in einem beſonderen, neben dem eigentlichen Hoſpiz befindlichen, kleinen Gebäude, Hôtel de St. Louis genannt, beherbergt. Ebenſo ſind, der Ordensregel ge¬ mäß, bei den großen Mahlzeiten Mittags und Abends 6 Uhr, Damen von der gemeinſamen Tafel ausgeſchloſſen, was indeſſen die Mönche nicht hindert, außer dieſer Zeit den weiblichen Gäſten in franzöſiſcher Galanterie einen großen Theil ihrer freien Zeit zu widmen; denn Franzöſiſch iſt die allgemeine Verkehrsſprache in dieſen vier Kloſter-Hospitien. Das Vermögen der mit dem Großen Bernhard affiliirten beiden anderen Anſtalten (Kleiner Bernhard und Simplon) mag bedeutend ſein. Immerhin ſind aber auch die Opfer, welche ſie gemeinnützig bringen, groß. Die jährliche Fre¬ quenz der auf dem Simplon im Hoſpiz einkehrenden Wanderer ſchwankt zwiſchen 10 und 12 Tauſend; die derer auf dem Großen Bernhard zwiſchen 16 und 20 Tauſend, ſo daß das Budget der Ausgaben im letztgenannten Hoſpiz mitunter die Höhe von hun¬ derttauſend Francs erreicht.

Lange nicht ſo günſtig iſt ſeinen ökonomiſchen Mitteln und Lokalitäten nach das Gotthards-Hoſpiz geſtellt. Die Stiftung deſſelben fällt wahrſcheinlich in den Anfang des 14. Jahrhunderts. Seit dem Jahre 1682 wurde daſſelbe von zwei Kapuzinern (mit einigen Unterbrechungen durch Kriegsfälle, Brand, Zerſtörung) bisBerlepſch, die Alpen. 21322Die Hospitien. zum Jahre 1841 bewirthſchaftet, ſeit welcher Zeit es in die Hände eines, nicht dem geiſtlichen Stande angehörenden, ſehr berufseifri¬ gen Direktors, des allbekannten, alten Lombardi überging. Dieſer wohnt Winter und Sommer dort oben, hat die Verpflichtung, da¬ für zu ſorgen, daß die Straße immer, namentlich bei ſchlechtem Wetter, gehörig beaufſichtiget ſei, und muß deshalb in der böſen Jahreshälfte täglich, theils ſelbſt, theils durch ſeine Leute, die Straße durchwandern laſſen und mit den zum Schneebruch ange¬ ſtellten Individuen ſich ins Einvernehmen ſetzen. Um die Aufſuchung und Beſorgung allfällig verirrter Reiſender bewerkſtelligen zu kön¬ nen, iſt ihm von Seite der Teſſiner Regierung die Verpflichtung auferlegt, beſtändig einen ſtarken Knecht und für die Beſorgung weiblicher Reiſenden eine Magd, ſo wie mindeſtens ein Pferd zu unterhalten, mittelſt deſſen er Fremde, die ihren Weg unmöglich zu Fuß fortſetzen können, nach den Schirmhäuſern zu Airolo oder Urſeren zu transportiren hat. Denn auch er hat die beſtimmte Auf¬ gabe, Reiſende, ſo lange ſie den Weg nicht fortſetzen können, wie immer nöthig, zu verpflegen. Tutti gli uomini sono fratelli ed eguali , heißt es in dem Regierungs-Erlaß, tutti hanno diritto ai medesimi servigi, ai medesimi benefici (Alle Menſchen ſind hier Brüder und gleich, alle haben Anrechte auf die gleichen Dienſte und Wohlthaten). Das iſt eine ſchöne, den Kanton Teſſin und ſeine Staatsmänner ehrende Geſinnung. Aber das Hoſpiz iſt arm, gänzlich mittellos; es beſaß nie einen Fond und muß ſeine Unter¬ ſtützungs-Quellen, die jährlich über zehntauſend Franken in Anſpruch nehmen, auf dem Wege milder, freiwilliger Beiträge zu unterhalten ſuchen. Dieſe fließen aber ſo ſparſam, daß beinahe jedes Jahr mit einem Paſſiv-Saldo abgeſchloſſen werden muß. Da iſts denn eine herzlich ſchwere Aufgabe, mildthätig ſein zu müſſen, ohne die genügenden Mittel dazu in den Händen zu haben. Die Zahl der alljährlich hier verpflegten armen Reiſenden variirt zwiſchen 10 und 12 Tauſend, und iſt unverkennbar im Zunehmen, ohne daß323Die Hospitien. auch die Mittel wachſen. Hier könnten reiche Leute, wenn ſie an der Scheidegränze des irdiſchen Lebens angekommen, den letzten Willen über ihre Güter niederlegen, ſich ein hundertfach größeres Verdienſt um die leidende Menſchheit erwerben und innigerer Segenswünſche gewärtig ſein als bei vielen anderen Dotationen für Fonds, die ohnedies ſchon bedeutende Güter gehäuft haben. Denn: mit einem Labetrunke, mit einem Biſſen Brod, dem in grauſiger Felſen-Einöde ſchmachtenden Armen, oder gar dem durch die entfeſſelte Wuth, der Elemente in ſeinem Leben Bedroh¬ ten, mittelbar rettend ſich nahen zu können, iſt ſicherlich ein ſchönes, erhebendes Bewußtſein. Möchte die hier beiläufig eingeworfene Bemerkung irgendwo Widerhall im Herzen humaner Menſchen finden!

Die Regierung des Kantons Teſſin, in deren Gebiet das Gotthardshoſpiz liegt, liefert je zeitweilig aus ihrem Zeughauſe, für den Militairdienſt unbrauchbar gewordene Kleidungsſtücke zur Vertheilung an die Armen. Die Art und Weiſe, wie hier, ſo wie in den von Mönchen beſorgten Hospitien, die bei großer Kälte und wildſtürmiſchem Wetter faſt beſinnungslos ankommenden, halb erfrorenen Reiſenden behandelt werden, iſt höchſt zweckmäßig. An¬ fangs werden ſie in einem kalten Zimmer umhergeführt und er¬ halten entweder erwärmten Rothwein oder eine Art ſchwachen Grog. Dann werden die dem Froſt am meiſten ausgeſetzt geweſenen Kör¬ pertheile in Schneewaſſer getaucht, mit Schnee gerieben und ſo, wie die Cirkulation des Blutes lebendiger eintritt, legt man ſie in ein erwärmtes Zimmer, deckt ſie tüchtig mit Wolldecken zu und reicht ihnen die nöthigen Speiſen. Hierauf folgt in der Regel ein lethargiſcher Schlaf, der mitunter bis zu 20 Stunden andauert. Nach dem Erwachen ſind die Halb-Patienten gewöhnlich ſo reſtau¬ rirt, daß ſie nach eingenommener Mahlzeit ihre Reiſe weiter fort¬ ſetzen können. Jene unendlich wohligen Gefühle und die ſelige Behaglichkeit, welche den Bergwanderer umfängt, der bei wildem21*324Die Hospitien. Wetter hier einkehrt, und ſo wohlwollende, menſchenfreundliche, herzliche Aufnahme findet, ſind nicht zu beſchreiben, und freiwillig, ohne irgend welche Aufforderung, erlegt gewiß der Fremde, welcher über nur einige Mittel gebieten kann, gern den Werth deſſen, was er uneigennützig empfing. Freilich giebts auch Reiſende der wohl¬ habenderen Stände, die ſchmutzig genug ſind, ohne irgend eine Gabe weiter zu ziehen.

In allen bisher genannten Hospitien werden jene berühmten Hunde gehalten, die bei gefährlichem Wetter mit den Knechten ausziehen und durch ihren, in außerordentlich hohem Grade ent¬ wickelten Witterungs-Inſtinkt, Verirrte oder Verunglückte aufſuchen helfen. Durch ſehr kräftigen Körperbau und durch ungewöhnliche Abhärtung vermögen ſie den tobendſten Schneeſtürmen nachhaltig zu widerſtehen. Eine genau charakteriſirende Beſchreibung dieſer vortrefflichen Thiere findet man in Tſchudis Thierleben der Alpen¬ welt. Auf dem Gotthard werden gegenwärtig noch ein Bernhards¬ hund (Weibchen), eine Kamſchatka-Race, und zwei Leonbergerhunde (Geſchenk vom Stadtrath Eſſig in Stuttgart) unterhalten, die nach den Verſicherungen der Hoſpiz-Bewohner ſehr gute Dienſte leiſten ſollen.

Die Summe der wirklichen Unglücksfälle hat in den letzten Jahren ſehr abgenommen. Am Großen St. Bernhard iſt ſeit langer Zeit kein erheblicher Fall mehr vorgekommen. Schlimmer geſtaltete ſich das Verhältniß auf dem Gotthard, wegen des regelmäßigen obligatoriſchen Poſt-Betriebes. Außer dem ſchon pag. 175 dieſes Buches erzählten Falle ereignete es ſich wenige Wochen früher (12. März 1848), daß in den ſ. g. Plangen, oberhalb des Schirmhauſes am Mätteli , dreizehn Männer, welche die Poſt begleiteten, ſammt Pferden und Schlitten durch eine gewaltige Lauine bis zur Reuß hinuntergeſchleudert wurden. Drei derſelben, Familienväter, fanden nebſt 9 Roſſen ihr Grab im Sturzſchnee; die anderen konnten durch eiligſt herbeigerufene Hilfe gerettet werden. Wahrhaft tragiſch aber325Die Hospitien. iſt das Schickſal, welches bei dieſen Rettungsverſuchen einen der eifrigſten Helfer, den Rathsherrn Joſeph Müller von Hospenthal ereilte. Auch er war mit ausgezogen, ſeinen Nachbarn beizuſtehen, wurde aber in der Gegend, welche im Harniſch heißt, mit noch zwei Anderen von einer neuen Lauine verſchüttet und kam dabei um. Im gleichen Jahre, am 27. Oktober, wurde die von Airolo kommende Poſt beim Schirmhauſe Ponte Tremola gleichfalls von einer Lauine verſchüttet; ein Reiſender von Bergamo blieb todt, die anderen wurden gerettet. Die jüngſten Unfälle ereigneten ſich am 2. November 1855, an welchem Tage drei Männer von einem unerwartet losbrechenden Schneeſchild weit in die Tiefe hinabge¬ ſchleudert wurden, aber durch vereinte, angeſtrengte Kräfte gerettet werden konnten.

Weſentlich anderen Charakters iſt das, ſeiner Größe und Be¬ deutung nach hierher gehörige, berühmte Grimſel-Hoſpiz; es trägt heutzutage weit mehr das Gepräge eines, der Spekulation dienenden, offenen Bergwirthshauſes, in welchem für Geld Alles zu haben iſt, was den Gaumen kitzelt, als den Charakter jener un¬ eigennützigen, gemeinwohlthätigen Anſtalten. Schon der Umſtand, daß daſſelbe von der Landſchaft Oberhasli an den jeweiligen Spittler verpachtet wird, weiſt ihm eine weſentlich andere Stel¬ lung an. Hierzu kam ehedem die Berechtigung des Spittlers, von jedem Vorüberziehenden einen Zoll für ſeine Inſtandhaltung des Weges zu verlangen und die ausgeſprochene Erlaubniß: fürs Geld Wirthſchaft treiben zu dürfen. Wenn der Pächter nun zugleich auch die Verpflichtung hatte, arme Reiſende übernachten und mit einer einfachen Mahlzeit verpflegen zu müſſen, ſo ſtand ihm anderer¬ ſeits das Recht zu, innerhalb der ganzen Schweiz kollektiren laſſen zu dürfen und ſich an dem Facit für ſeine vermeintlichen Wohl¬ thaten zu erholen. Rechnet man hinzu, daß die Grimſel-Paſſage bei weitem nicht jener für den Handel und Völker-Verkehr ſo all¬ gemein gebräuchliche Weg iſt wie der über den Gotthard, daß ſo¬326Die Hospitien. mit eigentlich nur die Armen der zunächſt anſtoßenden Thalſchaften von dieſer Einrichtung profitirten, ſo ergiebt ſich aus allem dem, daß das Grimſelhaus nicht mehr und nicht weniger als ein eigent¬ liches Bergwirthshaus, keinesweges ein Hoſpiz im oben angeführ¬ ten Sinne iſt. Ueberdies hält der Spittelpächter mit ſeiner Familie den Winter über keinesweges in dem, mehr als 700 Fuß tiefer als das Gotthardshaus gelegenen Grimſelſpital (5780 Fuß) aus, ſondern er verläßt daſſelbe im November mit dem Vieh und kehrt erſt Anfang März dahin zurück. Während des ſtrengſten Viertel¬ jahres bleibt blos ein Knecht (höchſtens deren zwei) im Spital, mit der Aufgabe, den Weg zunächſt beim Hauſe im Stande zu halten, Hunde während ſtarken Schneegeſtöbers auszuſenden und, wenn die Hunde anſchlagen, durch lautes Rufen die Richtung des Weges anzuzeigen. Dieſer Winteraufenthalt iſt freilich faſt einer ſibiriſchen Verbannung gleich zu achten, da in ſtrengen und ſchneereichen Wintern Wochen, ja Monate vergehen, ehe irgend Jemand den Weg paſſirt, ſomit auch aller Verkehr mit den zunächſt gelegenen Dörfern abgeſchnitten iſt. Die nächſte menſchliche Woh¬ nung iſt das, überdies Stunden entfernte, Walliſer Dorf Oberwald. Bedenkt man nun, daß bei tiefem Schnee eine Weg¬ ſtunde Entfernung oft die drei - und vierfache Zeit in Anſpruch nimmt, als bei trockenem, harten Boden, erwägt man ferner, daß der Schneefall in dieſer Gegend gar nicht ſelten eine ſolche Höhe gewinnt, daß der Knecht zu den oberſten Fenſtern des Hauſes her¬ ausſteigen muß, um den Zugang zur Thür freiarbeiten zu können, und endlich, daß Lauinenſtürze ſchon wiederholt das große, feſte, kaſematten-ähnliche Gebäude zu zerſtören drohten, ſo wird man zugeben, daß das Loos eines Winterknechtes auf der Grimſel trauriger und ertödtender iſt, als das eines im Zellen-Gefängniß abgeſonderten Züchtlinges.

Früher war es dem Spittler vergönnt, kollektirend im Lande umherzuziehen oder Kollekteure für ſeinen Zweck auszuſenden. Da327Die Hospitien. ſich jedoch ergab, daß viel Schelmerei unter dieſem Vorwande ge¬ trieben wurde, und man außerdem in Erfahrung brachte, daß der Spittelpächter durch außerordentlich wachſenden Fremden-Beſuch im Sommer und durch tüchtige Rechnungen ein vortreffliches Ge¬ ſchäft in ſeiner unbelauſchten und unkontrolirbaren Einöde mache, ſo ſank der gute Wille mildthätig ſteuernder Leute, und in den meiſten Kantonen wurde ihm das Einſammeln unterſagt, wogegen die Regierungen ihm zeitweiſe aus ihren Kantonal-Armenfonds eine Gabe verabfolgten. Ueberdies beträgt die Summe der hier ver¬ pflegten Armen jährlich nur zwiſchen 909 und 1600 Perſonen.

Ein berühmt gewordener Kriminalfall trug weſentlich dazu bei, die Verhältniſſe des Grimſelſpitales öffentlich zu beleuchten.

Seit dem Jahre 1836 hatte Peter Zybach von Meyringen als Pächter das Grimſelſpital mit den dazu gehörigen Weiden und Kollektur-Rechten um den jährlichen Zins von 2500 Francs inne gehabt und zu Jedermanns Zufriedenheit verwaltet. Er ſelbſt hatte die größte Urſache, mit ſeinem Pacht-Objekte zufrieden zu ſein, in¬ dem es ſich herausſtellte, daß er während des Sommers von den wohlhabenden Touriſten jährlich etwa 14000 Francs einnahm. Der Pacht-Vertrag ging mit Schluß des Jahres 1852 zu Ende, und da Zybach auf der Grimſel zum wohlhabenden Manne gewor¬ den war, ſo gabs für den Termin einer Neupachtung mehr Aſpi¬ ranten als ihn allein. Ueberdies kurſirte das Gerücht, man werde das Spital an öffentliche Verſteigerung bringen und in ſolch einer Auction möchte es hoch hinaufgetrieben werden. Zybach proponirte der Landſchaftskommiſſion einen neuen vieljährigen Pachtvertrag mit bedeutend erhöhtem Zins, ohne jedoch die Zuſtimmung der Behörde zu erhalten. Da kam plötzlich die Nachricht aus der Grimſel-Wildniß ins Haslithal hernieder, das Spital ſei in der Nacht des 5. Novembers binnen wenig Stunden niedergebrannt. Nach Ausſage der drei Knechte, ſollte ein Fremder Abends ange¬ kommen ſein und im mittleren Stockwerk logirt haben. Nachts328Die Hospitien. halb zwölf Uhr ſeien die Knechte durch das Bellen des Hundes aufgeweckt worden, und als ſie hinaus in den Gang getreten, ſei ihnen die helle Flamme entgegengeloht. Das Feuer ſei unverkenn¬ bar durch Unvorſichtigkeit des Gaſtes entſtanden und dieſer ver¬ brannt. Die Brunſt habe ſo unendlich raſch überhand genommen, daß alle Rettungsverſuche vergeblich geweſen ſeien. Das für 20000 Francs aſſekurirte Mobiliar ſei verbrannt. Trotz des ſehr hohen Schnees begab ſich eine Unterſuchungskommiſſion zur Grimſel hinauf, und bald ſtellte es ſich heraus, daß faſt das ganze fahrende Hab und Gut verſteckt, alſo gerettet war. Zybach wurde ſchwan¬ kend in ſeinen Antworten, wollte dann die Anſprüche auf Ent¬ ſchädigung fallen laſſen, war ſogar ſo unklug, dem Unterſuchungs - Beamteten Beſtechungs-Anträge zu machen, wenn er ſchweige, und als dieſer unerſchütterlich in ehrenhafter Handhabung ſeiner Pflicht blieb, ſtürzte ſich der unglückſelige Brandſtifter in den, hinterm Hoſpiz befindlichen Grimſelſee, um durch Selbſtmord der Schande einer harten Kriminalſtrafe zu entgehen. Allein Zy¬ bach wurde gerettet und ins Gefängniß ſammt ſeinen Knechten ab¬ geführt. Hier ergab die Unterſuchung, daß auf Zybachs Veran¬ laſſung und unter Verſprechen einer Belohnung von 750 Francs, die Knechte ſich bereit erklärt und, nachdem ſie die Effekten in Sicherheit gebracht, das Gebäude ſelbſt angezündet hatten.

Zybach, ohnedies bei der Bevölkerung der Thalſchaft nicht ſehr beliebt, weil er raſch zum wohlhabenden und dieſe ſeine Wohl¬ habenheit accentuirenden Mann ſich emporgeſchwungen hatte, wurde nun nicht nur im ganzen Haslithal ohne Weiteres verdammt, ſon¬ dern der Zorn des Volkes fand namentlich dadurch noch neue Nahrung zu unverſöhnlichem Haß, als durch die Einäſcherung des Grimſel-Hoſpizes den Leuten die Möglichkeit genommen war, im Frühjahr bei Zeiten in Geſchäften des Käſehandels nach Italien, die Grimſel paſſiren zu können. Denn von Guttannen, dem letzten Dorfe des Haslithales, iſts Stunden bis zum Hoſpiz, und von329Die Hospitien. dort wieder einige Stunden bis ins Wallis hinab, und zwar ſehr anſtrengenden, im Winter höchſt gefährlichen Weges. Eine gute Raſt wird alſo zur unabweisbaren Nothwendigkeit, und zu dieſem Zwecke war eigentlich das Grimſelſpital geſtiftet worden.

Der Staatsanwalt mußte bei Zybach den Antrag auf Todes¬ ſtrafe ſtellen, und das Urtheil der Aſſiſen des Berner Oberlandes lautete: Todesſtrafe, während die Complicen zu zwölfjährigen Ketten verurtheilt wurden. Die von Zybach an den Großen Rath des Kantons gerichtete Appellation wandelte im Wege der Gnade die Todesſtrafe in lebenslängliches Zuchthaus um, weil Zybach während ſeiner ganzen Lebenszeit ein rechtſchaffener Ehrenmann und vor¬ trefflicher Familien-Vater geweſen war, und als der Unglückliche einige Jahre ſeiner Strafe abgebüßt hatte und die Aerzte erklärten: eine Veränderung ſeines Aufenthaltes ſei nothwendig, wenn man ihn nicht faktiſch todtſchlagen wolle, wurde ihm auf Verwenden ſeiner Familie die übrige Strafzeit vollends erlaſſen unter der Bedingung, daß er nach Amerika auswandere. Jetzt lebt der unglückliche Mann unerkannt, unter einem anderen Namen in Deutſchland. Wo? weiß Niemand. Das Grimſelhoſpiz iſt aber vergrößert und zweckmäßiger eingerichtet wieder neu erbaut und allſommerlich der Sammelplatz der Touriſtenwelt.

Dies ſind die großen, weltbekannten, vielgenannten Alpen¬ hospitien. Es giebt ihrer aber noch eine Hand voll, die nicht bekannt und gerühmt, wenig beſucht und noch weniger von der Freigebigkeit mildthätiger Menſchen bedacht, ein ſtilles, einſames Leben verkümmern; es ſind jene kleinen, mittelloſen Zufluchtsſtätten am alten Alpen-Wanderweg des Lukmanier, die von armen Bauern bewirthſchaftet werden. In der Tiefe des Val Blegno, hinter Olivone ſchlangelt ſich der Weg zur Paßhöhe hinauf, und hier liegen, je in einigen Stunden Entfernung, die beiden kleinen Samariter-Häuſer zu Caſaccia und Camperio. Sie wurden vom heil. Carlo Borromeo geſtiftet aus den Mitteln der von ihm auf¬330Die Hospitien. gehobenen Humiliaten-Orden, die ſeinen reformatoriſchen Beſtre¬ bungen ſich widerſetzten, ſind aber jetzt ſo unendlich verarmt, daß ſie nur mehr den Namen noch tragen, als ihren Zweck erfüllen. Noch weit verkommener und aller Unterſtützungs-Mittel beraubt ſind vollends jene drei, die auf der graubündneriſchen Seite des Berges liegen: Santa Maria, das ganz ärmliche und unſaubere San Gallo, und tiefer San Johann ohne Lebensmittel und jeg¬ liche Gabe. Das ehemals reiche Kloſter Diſſentis ſollte ſie ur¬ kundlich ausſtatten und verpflegen; ſeit aber die Mönche ſelbſt nicht viel haben und ſie wegen unordentlicher Haushaltung vom Staate gewiſſermaßen bevormundet werden mußten, geben dieſe Wohlthätigkeits-Anſtalten immer mehr ihrem gänzlichen Ruin ent¬ gegen. Ein klein wenig beſſer iſt das Ospizio in Valle bei Airolo und jenes All' Acqua (beim Waſſerfall des heil. Carl) im Bedretto-Thale beſtellt.

An allen anderen Alpenwegen, mögen ſie noch ſo rauh und gefährlich ſein, exiſtiren keine ſolch ſchöne Stätten hilfsfreundlicher Menſchenliebe. Höchſtens hat der Erwerbstrieb ein Berghaus irgendwo angeſiedelt, wenn die Paſſage lebendig und der baare Geldverdienſt vorausſichtlich iſt; im Uebrigen iſts jedem armen Teufel auf dieſen Päſſen freigeſtellt, nach Belieben zu verhungern oder zu erfrieren.

So ſtehe denn, du ſchöne Gotteshütte
Du Bergpalaſt, vor allen groß und theuer!
Auf deinem Herd erlöſche nie das Feuer!
Nimm alle Armen auf in deine Mitte!
Bleib immer du das königliche Haus,
In dem die Liebe gehet ein und aus.
(J. J. Peſtalozzi. )
[331]
Waldkirchli.

Druck von F. A. Brockhaus in Leipzig.

Sennenleben in den Alpen.

Zur grünen Alpe kehrt die Herde wieder,
Weithin ertönt ihr froher Glockenſchall.
Der Wildbach ſtürzt vom Klippenhange nieder
Ein Freudenthränenſtrom, dem Lenz entgegen;
Froh ſonnen ſich der Alpe Felſenglieder
Im warmen Schein, der Frühling klimmt verwegen
Zum Schneeberg auf und ruft ihn jubelnd wach:
Der ſchüttelt ſich den Winter ab, den trägen,
Und ſchleudert ihm Lauinendonner nach.
Lenau.

Fremdartig und halb ſagenhaft, faſt wie eine romantiſche Reminiscenz aus längſt vergangenen Zeiten, ragt die patriar¬ chaliſche Alpenwirthſchaft in unſer modernes Jahrhundert herüber. Nachdem wir allenthalben den Landwirth und Oekonomen des Flachlandes an den Fortſchritten der Neuzeit, an Erfindungen und Entdeckungen in den ihn berührenden Gebieten der Chemie, Mechanik und Phyſik lebhaft und mit Erfolg Antheil nehmen ſehen, nachdem er den Segen ſeiner Scheunen und die Schätze ſeiner Ställe mittelſt der Eiſenbahn auf unſere Märkte bringt, in den erſten Hôtels zu Mittag ſpeiſt, ſtädtiſche Kleider zu tragen, ſtädtiſche Häuſer zu bauen, ſtädtiſche Manieren anzunehmen und den guten, alten, herkömmlichen, abgerundeten und feſtſtehenden Begriff Bauer allmählig abzuſtreifen beginnt, will es Manchem332Sennenleben in den Alpen. nicht recht in den Sinn, daß es ganz in der Nähe jener Eiſenbahnen, jenes drängenden, ſtädtiſchen Lebens, noch eine Bauernwelt geben ſoll, die gewiſſermaßen erſt auf der geſchichtlich-zweiten Kulturſtufe der Völker-Entwickelung ſteht, und ähnlich, wie die Tartaren und Mongolen, als Nomaden während eines Theiles vom Jahre, Haus und Hof, Weib und Kind verläßt, um mit dem, in Herden be¬ ſtehenden Reichthume tagereiſenweit nach Plätzen im Gebirge zu wandern, wo friſche, junge Nahrung für das Vieh wächſt. Und doch iſt es ſo. Die in den Alpen weit hinauf zerſtreut liegenden Weide¬ plätze mit ungemein kräftigen, kurzen, dichten, ſehr milchhaltigen Futterkräutern, bilden einen weſentlichen Theil des National-Reich¬ thumes im Gebirge und werfen jährlich viele Millionen Gulden an Gewinn ab.

Aber eben darum, weil das Aelplerleben in den Sennhütten etwas Ungewöhnliches, Außerordentliches, Fremdartiges iſt, ſo trägt der, welcher die Alpen noch nicht beſuchte, gern die Romantik der landſchaftlichen Umgebung, die großartigen Eindrücke der Alpenwelt, wie ſie ihn aus Gemälden entgegentraten, vermiſcht mit einer poetiſch-idealen Auffaſſung der Sitten, Trachten und Lebens¬ weiſe des Volkes, auf das Sennerleben über, und konſtruirt ſich ausgeſchmückte Traumbilder, die in der Wirklichkeit nicht exiſtiren.

Die Alpenwirthſchaft iſt ganz anders, als man ſich dieſelbe bisweilen denkt. Sie exiſtirt faktiſch nur während des Spätfrüh¬ lings, im Sommer und bis in die erſten Herbſtmonate hinein. Während des Winters herrſcht in den Alpen ebenſogut Stallwirth¬ ſchaft, als wie überall, bei jedem Bauern. Derjenige nun, welcher mit ſeiner Herde während der guten Jahreszeit ins Gebirge hinauf zieht, iſt ein Senn. In der Schweiz iſts Aufgabe der Männer, in den öſtlichen Alpen, im bayeriſchen Oberlande und in Oeſter¬ reich meiſt Geſchäft der Weiber, der Sennerin, Almerin.

Ein Senn (romaniſch ( Sejniun ) iſt, mit wenig Ausnahmen, ein ungemein proſaiſcher Gebirgsbauer. Sein Vieh iſt ſein Haupt¬333Sennenleben in den Alpen. beſitz, und darum die Quelle ſeines Lebensunterhaltes und Ver¬ dienſtes, der Gegenſtand ſeines Studiums, Nachdenkens und ſeiner größten Sorgfalt, ſein Stolz, kurzum der ſächliche Inbegriff ſeiner vorzüglichſten irdiſchen Lebensaufgabe. Nach der Größe ſeiner Herde rangirt er in der Geſellſchaft ſeiner Gemeindsgenoſſen, nach ihr wird er geſchätzt und aus ihr ſchreibt ſich ſein heimathli¬ ches Anſehen, ſeine Dorf-Magnatenſchaft her. So iſts in den meiſten Alpenthälern. Indeſſen giebts auch in Alpendörfern reiche Bauern, die ſich nicht mit der Viehzucht und Alpenwirthſchaft be¬ faſſen und ihre Alpen in Lehenzins geben.

Nicht jeder Vieh-beſitzende Gebirgsbauer fährt ſelbſt auf Alp ; die Größe ſeiner Herde entſcheidet darüber. Wer 24 und mehr Kühe beſitzt, heißt ein Sennten-Bauer , weil dieſe Anzahl, beſonders wenn ein Zuchtſtier dabei iſt, ein Senntum genannt wird. Wer weniger beſitzt, hat nach dem Ausdruck der Appenzeller blos ein Schüppeli Vech. Solch größere Vieh-Beſitzer, in den italieniſchen Bergen alpadore genannt, haben entweder eigene Alpweiden, oder ſie nehmen deren in Lehenzins, oder ſie benutzen (was am Meiſten der Fall iſt) die Gemeinde-Alpen oder Hirtenen und laden ſelbſt z'Alp. Kleinere Bauern, die nur wenige Kühe beſitzen, gehen im Frühling wohl perſönlich in die Voralpen Berggüter oder Maienſäße (auch Allmeinden); aber wenn das Vieh dann im Juli und Auguſt in die höheren Weiden (die ſ. g. mittleren und oberen Staffeln, italieniſch: stabii oder corti) ge¬ trieben wird, ſo übergeben eine Anzahl von Nachbaren ihr Vieh einem gemeinſamen Sennen, mit dem ſie dann am Schluß der Alpenzeit (gewöhnlich Michaelistag) Abrechnung halten. Um aber eine ſolche Auseinanderſetzung des Käſe - und Butter-Ertrages der verſchiedenen Intereſſenten feſtſtellen zu können, da nicht eine Kuh ſo viel Milch giebt als die andere, ſo gehen ſämmtliche Betheiligte während der Dauer der Alpzeit an zwei beſonders hierzu beſtimmten Tagen hinauf auf Alp goh meſſe (engadiniſch: in süras ), 334Sennenleben in den Alpen. d. h. in Gegenwart ſämmtlicher Antheilhaber wird eine jede Kuh gemolken, ihre Milch gemeſſen und nach dieſem Ergebniß der Bruch¬ theil des Einzelnen am gemeinſchaftlichen Gewinn feſtgeſtellt. Der mit der Milchwirthſchaft beauftragte Senn beſorgt nun während der ganzen Alpzeit mit ſeinen Gehilfen alle Tages¬ geſchäfte und empfängt dafür einen bedungenen Lohn oder Antheil am Ertrag.

Um jedoch die Alpenweiden in gutem Stande zu erhalten und bei der größten Freiheit auf den Bergen dennoch allgemeine Ord¬ nung zu handhaben, der Jeder ſich unterziehen muß, wählen alle Alpengenoſſen einen Alpmeiſter , eine Art Gebirgspolizei, der die Alp in Ehren halten, ſchützen und ſchirmen ſoll, als wie ſein eigen Gut, der Weg und Steg machen und Acht haben ſoll, daß Niemand im Birg heue (Wildheu mache) bis nach St. Jakobs¬ tag, der die Alpgenoſſen anhalte, jährlich einen Tag die Alp zu ſäubern und zu ſteinen und Aehnliches mehr. So ſchreibts das Alpbüchli vor, eine naive, von den Bauern in der Alp¬ gemeinde ſelbſt gegebene Geſetzeſammlung, die jährlich einmal verleſen und beſtätiget oder je nach Bedürfniß durch Mehrheits¬ beſchluß abgeändert werden muß.

Der Winter verläuft einförmig und ſtill. Die Alpendörfer ſind tief eingeſchneit; oft fehlt die Verbindung von einem Thaldorf zum andern, oft ſogar, wo die Häuſer weit zerſtreut im Grunde liegen, die Kommunikation der Wohnungen unter einander. Die einzigen Geſchäfte, welche die Thalbauern in die Höhe lockt, iſt entweder das Herabſchlitten des Holzes oder des Wildheues. (Man ſehe den drittnächſten Abſchnitt: Der Wildheuer.) In manchen Alpengegenden iſts auch der Fall, daß der Senn, wenn er die Vorräthe des einen Heuſtadels aufgefüttert hat, einen andern, vielleicht eine Stunde davon entfernten Stall mit ſeiner Kuhherde bezieht, einen dritten und vierten, alſo ſelbſt im Winter ein wanderndes Leben führt, bis die Alpzeit kommt.

335Sennenleben in den Alpen.

Endlich zieht der Frühling auch ins Alpenland ein.

Es hat der Lenz auf ſeinen Bahnen
Die ganze Welt zur Luſt geweckt;
Die Hoffnung hat die grünen Fahnen
An allen Zweigen aufgeſteckt!
Es baut im innerſten Gemüthe
Der Frieden ſeinen heil'gen Dom.
Ein Freudenbrief iſt jede Blüthe
Und jeder Quell ein Letheſtrom!
Ritterhaus.

Es iſt Ende Mai! Der langerſehnte Tag der Alpfahrt kommt, des Auferſtehungsfeſtes im Wirthſchaftskalender der Sennen. Schon mehrere Tage vorher war er droben mit dem Knecht, hatte den Weg, wo er vielleicht durch eine Lauine zerſtört war, wieder¬ hergeſtellt, das Dach nachgeſehen, überhaupt die nöthigſten Vor¬ kehrungen zum Einzug der Gäſte getroffen. Jetzt ſchmücken ſich die Sennen und alle, welche in die Berge mitziehen. Die Schweſter heftet dem Bruder, s Maiteli ihrem Buob , d' Schwaigeri im Tyrol ſich ſelbſt, Blumenſträuße mit Flittergold oder Kränze von jungem Laub und Buchsbaum auf den Hut; bunte Bänder flattern und winken, das blendendweiße, hoch über die gebräunten Arme hinaufgewickelte Linnenhemd, kontraſtirt gut gegen die ſchar¬ lachrothe Tuchweſte und die leuchtend-gelben, ledernen Kniehoſen der Appenzeller und Toggenburger, oder wo überhaupt noch Volks¬ tracht exiſtirt, und wo das, auch in die ſtillen Gebirgsthäler ein¬ dringende Nivellirungs - und Verflachungsbeſtreben unſerer Zeit nicht jede Spur urwüchſiger Selbſtſtändigkeit in des Volkes Thun und Denken, Kleidung und Sitten verwiſcht hat. Denn es giebt auch große Alpenthäler, in denen aller Spiritus, jede poetiſche Seite des Volkslebens verſchwunden iſt und nur die hausbackenſte, nüchternſte, kahl-alltäglichſte Proſa waltet. Die Kühe ſind ge¬ ſtriegelt und wie g'ſchlecket , daß ſie im goldigen Sonnenſchein glänzen und kein Waſſertropfen auf den glatten Haaren haften würde. Mit korybantiſchem Jauchzen und Zauren , die einen unver¬336Sennenleben in den Alpen. wüſtlichen Humor bekunden, eröffnet da, wo blos Männer zur Alp fahren , der Zuſenn , mit dem weißgeſcheuerten oder buntbe¬ malten Melkeimerli auf der Schulter, den Zug. Ihm folgen die ſchönſten und größten Kühe mit den fußhohen, meſſingblechenen Trychlen (Glocken), die an breiten, ledernen, mit allerhand farbig ausgenähtem Putzwerk verſehenen Halsbändern hängen. Dieſe Glocken, deren gewöhnlich nur drei bei einem Zuge ſind, bauchen oberhalb am Henkel ziemlich breit aus, oft einen Fuß im Durch¬ meſſer, laufen nach unten ſchmaler zuſammen und verurſachen ſolch einen heilloſen, trommelähnlich-alarmirenden und doch nicht unhar¬ moniſchen Lärm, daß man ihn bei geeigneter Luft eine Stunde weit hört. Man legt dieſe Rieſen-Schellen den Kühen nur für die Dauer an, während welcher der Zug durch die Dörfer geht, um Pracht mit der Herde zu treiben und alles Volk herbeizulocken. Iſt dieſer Zweck erreicht, dann wird das gewichtige Spektakel-In¬ ſtrument den Kühen wieder vom Halſe genommen, weil erfahrungsge¬ mäß das lange Tragen derſelben den Lungen der Thiere nachtheilig iſt.

Jetzt entſtehen in den Dörfern, durch welche der Zug kommt, völlige Volksaufläufe; denn Alt und Jung will des Korde Urche - Bübli's (Konrad Ulrich) oder des Franz-Antony-Lismer-Seppelis ſchöne Chüena (Kühe) die Revüe paſſiren laſſen und mit Ken¬ nermiene deren Bau und G'ſchlachtheit prüfen. Der Berg¬ bauer hat ſeine Kuh-Aeſthetik, die mit den feinſten Nüancirungen ungemein heikel und wähleriſch in Farbe, Stellung der Füße, Hörner und anderer Eigenſchaften diſtinguirt. Blökend und ſprin¬ gend, gleich als ob ſie es wiſſe, daß es hinauf gehe zu den gewür¬ zigen, nahrhaften Alpweiden, folgt nun, in lange Reihe aufgelöſt, die ganze Herde der Kühe, Galtlinge, Ziegen und Lämmer, mitten darunter brummend und mürriſch der Sultan des Stall - Serails, der Muni , heute der Sündenbock des allgemeinen Spottes; denn der Volkswitz bindet altherkömmlich dieſem Sen¬ tenpfaar (Zuchtſtier) den Melkſtuhl, mit Blumen geſchmückt, zwiſchen337Sennenleben in den Alpen. die Stirngabel der Hörner. Neben dem Zug gehen im leinenen Futterhemd und in der groben Zwillichhoſe der Gaumer (Hirt) und der Handbub , den Zuſenn mit Juchz'gen und Jodeln ſekun¬ dirend. Den Schluß endlich bildet das Saumroß mit den Käſerei - Geräthſchaften und der Herden-Beſitzer in unverkennbarem Selbſt¬ bewußtſein des augenblicklich zu feiernden Triumphes.

Im Allgemeinen bleiben Weiber und Kinder in den Thal¬ dörfern zurück. Aber es giebt in Graubünden, z. B. im Davos und in Mutten, ſo wie im Wallis Ortſchaften, die mit Kind und Kegel ins Sommerdorf auswandern, und ihren Winter-Aufenthalt, die Häuſer verſchloſſen, vollſtändig verlaſſen; höchſtens daß ein alter Mann als Wächter zurückbleibt. So gehts hinauf auf die Berge, in die Alpen.

Das iſt die maleriſche, fröhliche Seite eines Alpenfahrt-Bildes. Aber es giebt auch Herden-Expeditionen im Hochgebirge, bei denen es nicht nur beſchwerliche Paſſagen zu überwinden, ſondern Kräfte und Umſicht zu brauchen, ja ſogar das Leben zu riskiren gilt. Dies iſt vornehmlich der Fall, wenn die Alpweide jenſeit eines Gletſchers liegt und es gilt, die ſchlüpfrige, hähle Eisfläche mit ihren verbor¬ genen Spalten und Schründen zu überſchreiten. Da bedarf es denn beſonderer baulicher Vorkehrungen; mit Hilfe des Pickels und der Axt hat man Stege und Bretterbrücken improviſirt, oder Wege durch die Eislabyrinthe gebahnt und mit ſandigem Geröll und Erde beſtreut, um dem Vieh den inſtinktmäßigen Widerwillen gegen das ihm unheimliche, fremde und trügeriſche Element zu benehmen. Oft ſträubt ſich die Herde mit unverwüſtlichem Trotz, die glaſige Eisſpiegelfläche zu betreten, und die Sennen ſind ge¬ nöthigt, zu den verzweifeltſten Zwangsmitteln zu greifen. Ja, es giebt ſogar Alpen, zu denen ein Haupt Vieh nach dem andern wie Waarenballen am Flaſchenzuge des Krahnen über hohe Felſen¬ wände hinabgelaſſen werden müſſen.

Schmucklos, einfach, wie ein Wurf aus freier Hand, traulichBerlepſch, die Alpen. 22338Sennenleben in den Alpen. und einladend wie ein herzlicher Gruß des Willkommens auf den Matten, mitunter ſogar theatraliſch-maleriſch (wie z. B. auf der Alp Büls unter den Churfirſten am Wallenſee) liegt das ſchützende Dach der ſtillen Sennhütte im Kräutermeer der Alpweide da. Der ganze Bau iſt in den wälderreichen Gegenden durchaus Block¬ hauskonſtruktion, alſo lediglich aus Holz errichtet, das von der langjährigen Wirkung der Sonnenſtrahlen tief gebräunt wurde. Nur der wenige Fuß hohe Unterbau iſt grobes Steingefüge, oft Mauerwerk wie aus vorkulturlichen Zeiten. Ueber dieſem einſtöckigen, kunſtloſen Erdgeſchoß, das ſeiner naiven, ungeſuchten Natürlichkeit halber ganz mit der in ihrer Einfachheit majeſtätiſchen und erha¬ benen Gebirgswelt harmonirt, ruht das flache, ſilbergrau-glänzende, derbe Schindeldach. Es iſt mit ſchweren Steinen belaſtet, damit der wilde Föhn, des Aelplers älteſter Landsmann , wenn er aus dem Süden warm einherbrauſt, über die Felſenklippen niederſtür¬ zend ſich in die Bergmulden einbohrt und

ſeine Donnerwürfe wirft,
Daß Wald und Fels herunterbricht erſchrocken,

die Friedenshütte unangetaſtet laſſe. Dieſe iſt des Sennen und ſeiner Gehilfen Aſyl während der Sommermonate. In denjenigen Alpen, wo gute Ordnung herrſcht und für das Vieh vorſorgliche Einrichtungen getroffen wurden, ſind nahe bei der Sennhütte Gaden oder Stallungen errichtet, in denen die Herde während drückender Mittagswärme und in kalten Nächten oder während der wilden Wetter eingeſtellt wird. Nicht überall hat die rationelle Praxis ſolche Einrichtungen getroffen, und es giebt noch Alpen genug, in denen die Wettertanne der einzige Zufluchtswinkel des armen Viehs während der Hitze und der furchtbaren Hochgewitter iſt. Die dem Gebirgsbewohner angeborene und anerzogene Läſſigkeit vermag es nicht zu überwinden, daß irgend eine Neuerung in der Alp vorgenommen werde. Wie es zu Pfuchähni's (Ur-Urgroßvaters) Zeiten war, ſo wird die Alpenwirthſchaft auch heute noch betrieben.

339Sennenleben in den Alpen.

Iſts irgend thunlich, ſo wird die Sennhütte an einen Felſen¬ klotz gebaut oder, wenn er überhängt, ſogar zum Theil unter den¬ ſelben geſchoben, um im Fond einen recht kühlen Platz für den Milchkeller zu gewinnen. Rinnt vollends gar ein friſcher Quell oder eiſiger Gletſcherbach in der Nähe, ſo leitet der Aelpler das Waſſer gern durch ſein Magazin, um die von der Milch geſäuerte Luft durch die entſtehende Ventilation zu entfernen und dagegen friſche, dem Waſſer entſtrömende Lufttheilchen dem Gemache zuzu¬ führen. Die nächſte Umgebung einer Sennhütte iſt faſt immer ein bodenloſer Koth, in dem ſtrotzend-fettes Blakenkraut und Alpen¬ ſauerampfer wuchernd wächſt. Das Innere entſpricht in den meiſten Fällen dieſer unſauberen Umgebung und iſt eine kräftig-korrigirende Strahlendouche für jedes durch ſublime Phantaſien erhitzte Gehirn. Denn Reinlichkeit und Akkurateſſe ſind allenthalben nichts weniger als hervorragende Attribute viehzüchtender Völker, und der Aelpler beſtrebt ſich durchaus nicht, hierin als Ausnahme zu erſcheinen. Der leuchtende, farbenheitere Feſttagsanzug, der das Auge bei der Auffahrt ſo anregend ergötzte, iſt verſchwunden. Weite, derbleinene Beinkleider, die in allen Schattirungen der Stallbeſchäftigung ſchillern, und ein ditto Futterhemd, d. h. eine blouſenähnliche Jacke ohne Schlitz auf der Bruſt, bilden mit den ſchweren klappernden Holzſchuhen und einem enganliegenden Käppchen die ganze Beklei¬ dung des Sennen.

Die Entrée zum Innern der Sennhütte führt ſogleich zu den centraliſirten Gemächern. Nach altgermaniſcher Sitte iſt Wohn¬ zimmer und Küche, Speiſelokal und Ankleidekammer zu einem Geſammt-Appartement vereinigt, und hier kann man buchſtäblich am gaſtlichen Herde weilen. Letzterer und das über ihm aufge¬ hängte Milchkeſſi nehmen den meiſten Raum ein und bekunden dadurch ihre hohe Bedeutung. Hier iſt die Stelle, wo der chemiſche Scheidungsproceß vorgenommen wird, der die erſte konſiſtente Grund¬ lage zu den delikaten Schweizerkäſen legt. Bezeichnend wird22*340Sennenleben in den Alpen. darum auch dieſe Lokalität der Weller (wo die Milch erwellet oder leicht aufgekocht wird) genannt. Unter dem Herd darf man ſich indeſſen keine eigentliche kulinariſche Vorrichtung denken, etwa ſo, wie man ſie in alten Bauernhäuſern findet mit umfangreichem Schlotfang; ſolche Weitläufigkeiten paſſen nicht zur Einfachheit der alpinen Baukunſt. Etwa ſo, wie es, jugendſeligen Andenkens, der gute Robinſon Cruſoe aus Noth einrichtete, arrangirt heutiges Tages der Senn in den Schweizer Alpen ſeine Küchen-Vorkehrung; ein ſchwarzes, verkohltes Loch im vorderen Winkel der Hütte mit einigen Steinen eingefaßt, ohne Kamin oder Rauchleitung, ſtellt den Herd dar. Ein Verſprechen hinter dem Herde hier zu geben, wäre nicht wohl möglich. Daneben ſteht ein ſenkrecht-aufgerichteter, oben und unten eingezapfter und deshalb drehbarer Baum mit langem, eiſernem Arm, der ſogenannte Turner , an den der große Milch¬ keſſi gehangen wird. Der Rauch mag ſehen, wo er ſeinen Ausweg findet, es ſteht ihm frei, zur Thür, oder durch die Dachklinſen, oder durch die Ritzen zwiſchen dem Gebälk hinauszuſchleichen. Darum iſt das Innere jeder Sennhütte auch wacker eingeräuchert. Iſt die Alpenluft rein, fein, dünn und wenig mit Waſſer-Atomen geſättigt, ſo werden die Dämpfe auffallend raſch konſumirt, ſo daß ſie die Reſpirations-Organe nicht ſonderlich beläſtigen. Schneits und regnets aber, ſo daß die Luft ſchwer aufs Dach drückt, dann iſt der ohnehin zughafte, kalte Aufenthalt in der Hütte des Rauches halber faſt kaum erträglich. Die weiteren Komforts für die aller¬ dringendſten täglichen Bedürfniſſe ſind: ein etwa 2 Fuß langer Klapptiſch, der in Angeln an der Wand befeſtiget der Raumerſparniß halber nach dem Gebrauch zurückgeſchlagen werden kann; dann eine Truhe in Form einer Bank längs der Wand, ein Holzklotz, der die Dienſte eines Seſſels zugleich vertreten, und ein Napfenbrett, das die Stelle eines Schrankes verſehen muß, auf dem allerlei Ge¬ räthſchaften, Brod und Kleidungsſtücke aufbewahrt werden. Außerdem hängt vielleicht eine Büchſe im Winkel, wenn der Senn zugleich341Sennenleben in den Alpen. Jagdliebhaber iſt, und in den katholiſchen Gebirgstheilen iſt bei ſtrenggläubigen Bauern das Weihwaſſerkeſſeli mit dem Nuſter (Pater noster oder Roſenkranz) nicht vergeſſen, welches vielleicht noch durch ein an das Brett-Getäfer geklebtes Heiligen-Helgeli von Kloſter Einſiedeln zur Erhöhung der häuslichen Andacht ver¬ mehrt wird. Alle übrigen in der Hütte vorkommenden Geräth¬ ſchaften gehören zur Butter - und Käſe-Bereitung. Das Schlafgemach iſt ſehr verſchieden angebracht. Im Berner Oberlande, wo die Sennhütte an ihrer Eingangsfront, eine Art kunſtloſer Vorhalle in Form eines Peristylum hat, das Mulchedach oder der Melk¬ gang genannt (weil im Schutz deſſelben das Vieh bei ſchlechtem Wetter gemolken wird), befindet ſich das Ruhe-Lager oder Gaſtere in dieſem Dach-Vorbau; in anderen Gegenden wurde daſſelbe über den Schweineſtall verlegt und heißt Trileten. Welche Annehm¬ lichkeiten für dieſen Fall aus der unmittelbarſten Nähe der unruhigen, ewig-grunzenden Schlafkameraden und durch ihre penetranten Ausdünſtungen erwachſen, iſt begreiflich. Uebrigens ſteht das Lager ſelbſt an Urſprünglichkeit ſeiner Einrichtung dem Charakter und der Einfachheit der ganzen Hütte durchaus nicht nach; ein mit Wildheu ausgeſtopfter Matrazzen-Sack, die ungeſtörte Heimath einer Legion von ſpringenden Blutſaugern, und eine Wollendecke oder, wie im Wallis und Graubünden, eine aus Schaaffellen zuſammengeſetzte Decke, bilden die ganze Ausrüſtung der Schlafſtätte. Iſt nun das Schindeldach nicht gut verwahrt, ſo begegnets, daß bei ſolidem, kräftigem Regenwetter der Schläfer einem unfreiwilligen Tropfbade aus¬ geſetzt wird, oder wenn, wie vorher erwähnt, das flache Hüttendach an einen erklimmbaren Felſenklotz anlehnt, ſo klettern die naſeweiſen, nie raſtenden Ziegen Nachts auf demſelben herum und verurſachen ſolch einen unheimlichen Skandal, als ob der gehörnte Pferdefüßler da droben ſein ungeheuerlich Weſen triebe. So ſiehts in den idyl¬ liſchen, romantiſchen Sennhütten aus, die im letzten Fenſterln und ähnlichen poetiſchen Produktionen auf der Bühne ſo reizend erſcheinen.

342Sennenleben in den Alpen.

In jeder, einigermaßen großen Alpenwirthſchaft der Schweiz hauſen gewöhnlich drei Aelpler und ein Knabe; Weiber beſorgen dieſelbe, wie ſchon erwähnt, nur in den öſterreichiſchen und bayeri¬ ſchen Alpen, ſo wie in einigen Thälern des Wallis. Major domus iſt der Senn; entweder ſelbſt Herdenbeſitzer oder Beauftragter einer Societät, führt er das Regiment, beſorgt die Käſerei ſammt deren Magazine und iſt zugleich Buchhalter des Geſchäftes. Memorial, Lagerſtrazze, Conto corrente und Hauptbuch finden ſich entweder in einem mit Papier durchſchoſſenen Quartkalender vereinigt, der hinter einem angenagelten Holzſpahn an der Wand ſteckt, oder irgend ein kleines Taſchen-Notizbuch enthält die Hieroglyphen der ganzen Geſchäfts-Abwickelung. Sein Beiſtand und Handlanger iſt der Sennbub, Handbub, Schorrbueb, Junger, oder im Wallis der Pató , der wie der Senn den größten Theil der Zeit in der Hütte zubringt; er hat die Gefäße zu reinigen (die im Gegenſatz zum beſchriebenen Habitus der Hütte auffallend ſauber gehalten werden, weil von dieſem Umſtande die Güte der zu gewinnenden Milchprodukte abhängt) und dem Senn unmittelbare Handhilfe zu leiſten, iſt aber nicht immer ein 14 oder 15 jähriger Bube, ſondern oft ein derber Geſell, der ſeine Dreißig überwunden hat. Die Ver¬ mittelungsperſon zwiſchen Berg und Thal, der Käſemerkurius und Heimaths-Telegraph, iſt der Zuſenn , welcher alle Alpenprodukte hinab und Holz ſammt Viktualien herauf zu ſchaffen hat; im Walliſer Patois wird er gemüthlich bezeichnend Lamieiy (l'ami, der Freund) genannt. Ihm ſteht, wo gute Einrichtungen getroffen ſind, ein Saumroß zu Dienſten. Der eigentliche Hirt endlich iſt der Chüener, Gaumer, Kühbub oder Rinderer , im Wallis Vigly (vigilantia, die Wachſamkeit?); ſeine ausſchließliche Obliegenheit iſt's, das Senntem auszutreiben und zu hüten. An ſicheren Orten, wo kein Vieh ſtürzen und kein Raubthier der Herde ſchaden kann, liegt er halbe Tage lang bei gutem Wetter am Boden, ſchaut in die herrliche Gebirgslandſchaft hinaus, jodelt nach Herzensluſt in343Sennenleben in den Alpen. die Thäler hinab und iſt ſelig im träumeriſchen Nichtsthun. Gilts aber, das Vieh auf ſteiler Alp zu hüten, dann muß er am ſchwin¬ delnden Abgrunde gehen, zu äußerſt, wohin das weidende Thier ſich nicht getraut, und auf Schritt und Tritt geht der Tod dicht neben ihm. Beim Sturm und Hochgewitter, im ſtrömenden Regen und zu jeder Tageszeit muß er ſeinen lebensgefährlichen Beruf erfüllen, und da iſt's nicht ſelten, daß er Tage lang in völlig durch¬ näßten Kleidern verbleiben muß. Dies iſt die Kehrſeite des ſo reizend geſchilderten Hirtenlebens. Aber auch der Senn bekommt ſein Theil davon, wenns Wochen lang regnet, Nebel wie böſe Geiſter des Gebirges ſich grau und unheimlich um die Hütte lagern, das naſſe Holz nicht brennen will und Wind und eiſiger Luftzug durch die Hütte fegen, daß die Glieder erſtarren, oder wenns gar im Juli ſchneit und fußhoch Flocken wirft, daß das Vieh Tage lang kein Hälmlein Futter findet, vor Hunger brüllt und keine Milch giebt. So auffallend und ſichtbarlich die Herde auf der Alp wäh¬ rend eines guten Sommers ſich mäſtet, ſo ſehr verelendet und magert ſie in einem kalten, naſſen Sommer ab.

Des Aelplers Tagesordnung iſt höchſt einförmig, Sonntag und Wochentag die gleiche, kein Glockenklang läutet die Sabbath¬ ruhe ein, kein ſchmuckes Kleid bezeichnet den Feiertag, kein Schluck Wein netzt am Wirthstiſch den durſtigen Gaumen am Abend. Während die ganze Landſchaft noch träumeriſch nebelblau dem frühen Morgen in den Armen ruht, die Thäler tief drunten däm¬ mernd dampfen und Streifen weißen Nebelrauches durch die Schluchten und Tobel ſchleichenAls wälzte fraßesmatt, träg, auf dem Bauch Dahin die Schlange ſich, der Ewigkeit, (Lenau. )während die Nacht durchs Morgenſternlein ihren Scheidegruß ſendet und des Himmels frohes Antlitz und der Eisberge Schneegipfel von des Tages erſtem Kuſſe leiſe erröthen, erhebt ſich der Senn von ſeinem harten Heulager und melkt, während der Handbub Feuer344Sennenleben in den Alpen. anzündet. Die gewonnene Milch wird ſogleich in dem großen Keſſi erhitzt, und mit Etſcher (ſauere Schotte) geſchieden, daß ſie gerinnt und ſich ausſcheidet in Käsbulderen und Molke. In¬ deſſen iſt auf morgenheiteren Schwingen der volle Tag herabgeſchwebt.

Sonnenaufgang! Goldne Pfeile
Schießen nach den weißen Nebeln,
Die ſich röthen, wie verwundet,
Und im Glanz und Licht zerrinnen.
Endlich iſt der Sieg erfochten
Und der Tag, der Triumphator,
Tritt in ſtrahlend voller Glorie
Auf den Nacken des Gebirges.
H. Heine.

Das Sennenvolk hat zu Morgen gegeſſen, der Hirt treibt aus, der Handbub ſäubert ſeine Geräthe, und der Senn fährt fort, ſeine Milchprodukte zu bearbeiten. Häusliche Arbeiten füllen den Tag reichlich aus. Iſts dann Abend geworden, entſchläft der müde Tag allmählig, ſinkt das ewige Flammenherz der Welt , die Sonne, hinter den Bergen nieder, dann lockt der Hirt oder der Senn mit dem Ruggüßler oder mit dem Kuhreihen die Thiere zur Hütte, entleert die ſtrotzenden Euter von der fetten, rahm¬ ähnlichen Milch, und die Procedur vom Morgen, ſammt Abendeſſen und Reinigen der Geräthe, ſchließen die Tagesgeſchäfte. Bei ein¬ brechender Nacht tritt dann in den katholiſchen Gegenden der Senn vor ſeine Hütte hinaus, ſingt mit lauter Stimme durch einen großen hölzernen Milchtrichter (die Volle genannt) in der Choral - Melodie der Präfation ein Gebet, meiſt Strophen aus dem Evan¬ gelium Johannis, und den engliſchen Gruß. Die anderen Hirten im Gebirge und die im Freien übernachtenden Wildheuer oder Wurzelgräber, die es hören, knieen fromm nieder und beten ein Pater noſter und Ave Maria dabei. Dieſer ſpäte Ruf erſetzt in den ſtillen, einſamen Alpen die Abendglocke, welche in den Thälern zum Dankgebet für die Segnungen des verlebten Tages auffordert, und dient zugleich dem von der Nacht überraſchten, vielleicht ver¬345Sennenleben in den Alpen. irrten Wanderer als gaſtfreundliche Einladung. Mit der Gaſt¬ freundſchaft hats indeſſen, namentlich in den wälſchen Alpen, mitunter ſeine Haken. Die Hirten in den entlegenen Alpen ſträuben ſich oft außerordentlich, Fremde zu übernachten, aus Furcht, Verbrechern Unterſchlauf zu geben. Sie können ſichs nicht denken, daß man Vergnügens halber oder um der Wiſſenſchaft willen in den Felſen herumklettert, ſie wähnen, nur Noth und Flucht treiben in die Berge hinein. Im Tyrol halten ſie Bergwanderer häufig für Abgeſandte der Regierung, welche die Zuſtände des Volkes, ihren Viehſtand und Verdienſt auskundſchaften wollen. Nun wirds bald eine neue Steuer geben , iſt gewöhnlich der Refrain der Ungläu¬ bigen. Andere Sennen auf Pacht-Alpen, oder ſolche, die von Geſellſchaften angeſtellt ſind, verweigern aufs Gewiſſenhafteſte jede Spende, oder geben nur um Gotteswillen dem beinahe ver¬ ſchmachtenden Wanderer etwas alten Zieger (trockenen Käſe) und ein wenig Milch, nehmen aber um keinen Preis Geld dafür, um nicht in den Verdacht der Veruntreuung zu kommen. Dies iſt, wie geſagt, in den weniger von Touriſten durchſtreiften Gegenden, nament¬ lich in den Seitenthälern des Engadin der Fall.

Iſt in der Hütte Alles dann beendet, ſo gehts zur Ruhe aufs Wildheu, unter die Schnetzli-Decke , und ein kräftiger, tiefer Schlaf ſtärkt die ermatteten Glieder dieſer harmloſen Naturmenſchen.

Nur eine Intervalle tritt wie ein freundlicher Ruhepunkt in das Einerlei der Alpzeit ein. Es iſt das Aelplerfeſt, die Alp¬ ſtoberte , die Aelpler Kilbi , oder wie es ſonſt noch in den ver¬ ſchiedenen Thalſchaften genannt wird. Dieſem widmen wir ſpäter einen beſonderen Abſchnitt. In den katholiſchen Gegenden iſt bisweilen ein öffentlicher Vormittagsgottesdienſt damit verbunden. Nur ſehr wenig Alpen haben Kapellen oder Gotteshäuſer, in denen während des ganzen Sommers einmal Gottesdienſt gehalten wird. Die größte Kapelle ſteht auf einer der ſchönſten Alpen, die es giebt, auf dem Urner Boden; ſie ſieht einer ſtattlichen Kirche gleich, und346Sennenleben in den Alpen. der Pfarrhelfer von Spiringen im Schächenthal (Tells Heimaths - Thal) lieſt dort den zahlreich verſammelten Sennen die Meſſe. Gleichen Urſprunges iſt das Kirchlein mit dem Kloſter Maria zum Schnee am Rigi. Dann ſteckt ganz hinten im Kalfeuſerthal des St. Galler Oberlandes die reizend, zwiſchen zahlreichen Fels¬ ſturztrümmern gelegene kleine Kapelle St. Martin, und im Martell-Thale (Vintſchgau, Tyrol) ſteht einſam die Kapelle Maria - Schmelz , urſprünglich für die Ofenknechte des eingegangenen Schmelzwerkes gebaut; jetzt kommt im Sommer allſonntäglich der Kaplan von Thal hierher.

Der originellſte Tempel dieſer Art iſt das Wildkirchli im Appenzeller Lande. Eine Felſenhöhle an hoher, ſenkrechter Berg¬ wand (unter der ſchönen Ebenalp), in die ſich, wäre ſie nicht von den Altvätern zu einer Stätte der Gottes-Verehrung geweiht, der Gaisbub mit ſeiner Herde vor dem Gewitterſturme flüchten würde, giebt die Hallen des Gotteshauſes ab, ſchlicht, kunſtlos, ein Naturgewölbe, wie es aus der Hand der geſtaltenden Schöpfung hervorging. Kein Marmoraltar, kein Gebilde von Künſtlerhand trägt die geweihten Geräthe; ein ſchlichter Schragen, von des Zimmerers Beil bearbeitet, verſieht den Dienſt, der Altar iſt mit einem Teppich verhangen, und neben friſch gepflückten Alpen¬ roſen in den Vaſen flackern die Kerzen im Zugwinde gegen die Tiefe der Höhle, das Marterkreuz andampfend, vor dem die Menge in den Staub ſinkt. Das Wildkirchli iſt dem heiligen Michael geweiht, und alljährlich am Schutzengel-Feſt hält ein Kapuziner droben Gottesdienſt. Da liegt das Volk auf den Knieen, ſchlägt reuig an die Bruſt und murmelt ſeine Gebete. Ob die Einkehr in des Gemüthes Tiefen ihm wohl erſchloſſen iſt? Ob es nach ſeiner Weiſe Selbſtſchau hält in dem Herz-erſchütternden, alle Quellen der Seele öffnenden Augenblicke? Das Weihrauchfaß dampft; mechaniſch, dienſtbefliſſen, unberührt von der Gewalt des Gott-geweihten Augenblickes, ſchwingt es der miniſtrirende Knabe,347Sennenleben in den Alpen. ein matter, ſinnebethörender Ambradunſt ſteigt auf; was iſt er gegen den großen Weihrauchduft des Sommermorgens, der die hohen, hehren Gebilde der Alpenklippen umwogt? Jetzt kündet des Glöckleins weittönender Schall, fern hinab in des Seealpſee - Thals Tiefen es an, daß das Myſterium der Wandlung hoch droben an jäher Felſenwand vor ſich gegangen iſt, und der einſame Tauner auf Maarwies oder ob der Felſenbaſtei des Alpſiegleten, der nicht zum Feſt herüberkommen konnte, weil der Dienſt ihn an ſeine Hütte bannt, hört des Glöckleins mahnenden Ruf, ſchlägt an die Bruſt und murmelt gewohnheitsgemäß ſeinen Spruch dazu. Drunten in der Schwendi ſitzt die Matrone auf den Treppenſteinen, vor ihres Tochtermannes Haus, die Roſenkranz-Schnur zwiſchen den dürren, zitternden Händen. Auch ſie hört des Glöckleins Schall und betet; aber ihre Gedanken weilen nicht im Heiligthume des ererbten Glaubens. Ihre Erhebung ſchweift wohl hinauf, aber nicht in die glanzerfüllten Räume des Alls, wo nach ihrer kind¬ lichen Meinung, jenſeit der Wolken, die Gebenedeite auf dem Strahlenthrone weilt, umgeben von Engelſchaaren: ihr Sinnen und geiſtiges Empfinden erhebt ſich nur zur Ebenalp. Sie denkt des heute zu feiernden Feſtes, wie es in ſeiner ländlichen Pracht vor ihrer Mädchenzeit freudevoll vorüberrauſchte. Damals vor fünfzig Jahren war ſie die Schönſte der ganzen Inneren Rhoden; des Franz-Antoni's Mareieli mußte bei allen Tanzſpinnenen und winterlichen Abendverſammlungen ſein, die es weit umher gab, ſie war die Zierde jeder Alpſtubete und der Urnäſcher Chilbi, des leidenſchaftlich-fröhlichſten Hirtenfeſtes im ganzen Appenzeller Lande. Im Kranze der ſingenden Mädchen war ſie Tonangeberin; ihre helle, glockenreine Stimme jauchzte am Freudigſten hinaus gegen die Bergwände und als ob das Echo Mareieli bevorzugend zu ſeinem Lieb erkoren hätte, gab es nur ihren Juchzger freudevoll accentuirt, überlaut zurück, während der Widerhall vom Geſang der Uebrigen nur wie Folie klang, von der Mareielis Jubel dia¬348Sennenleben in den Alpen. mantklar ſich ablöſte. O! ſie hatte eine herrliche, harmloſe Jugend verlebt, und juſt am Schutzengelfeſte wars, wo ſie der Sepp von ihren Eltern zum Weibe begehrte. Jetzt iſt er todt, ſchon zwanzig Jahre lang; der heil. Michael war ihm kein Schutzengel geweſen, denn juſt unterm Wildkirchli war er beim Laubſammeln geſtürzt und todt gefallen. Nun ſitzt's Mareieli drunten allein, alt, gebrech¬ lich und arm. Des Glöckleins Klang läutet ihr Erinnerung: Freude und Gram zugleich ins lebensmüde Herz.

Wir kehren zur Alp zurück! Vorhin wurde des Kuhreihens gedacht. Dieſer weltberühmt gewordene Hirtengeſang, der in Frank¬ reich einſt bei Todesſtrafe verboten wurde, weil bei ſeinen Klängen die Soldaten der Schweizerregimenter vom Heimweh befallen, maſſenweiſe deſertirten und den Bergen zueilten, der wirkliche ächte Chüereiha iſt faſt gänzlich verſchwunden; vollſtändig hört man ihn ſelten mehr. Er iſt, wie ſchon geſagt, das Eintreibelied, welches der Kuhhirt unter der Stallthür ſingt und durch dieſe, dem Vieh bekannten Töne daſſelbe herbeilockt. Um ſie folgſamer zu machen, giebt er ihnen aus dem Läcktäſchli ein wenig Salz. Der Text zum Appenzeller Kuhreihen lautet! Wönd d er iha Loba? (Wollt ihr herein Kühe?) Allſamma mit Nama, di alta, di junga, allſamma Loba, Loba, Lo ba. Chönd (Kommet) allſamma, allſamma, Loba, Loba. Wenn i em Vech ha pfeffa (wenn ich dem Vieh habe gepfiffen), ha pfeffa, ha pfeffa, ſo chönd allſamma zuha ſchlicha, ſchlicha, wol zuha da zuha. Trib iha allſamma, wohl zuha, bas zuha. Höpſch ſönds ond frei, holdſälig dazue. Loba, Lo ba. Wääs wohl, wenn ers Singa vergod: wenn e Wiega i dr Stoba ſtod, wenn de Ma mit Füſta dre ſchlod ond der Loſt (Wind) zue ala Löchera inablost. Lo ba, Loba, Loba, Lo ba. Trib iha, iha alſamma, n'alſamma: die Hinked, die Stinked; die B'bletzed, die Gſchegget; die Gflecket, die Bläſſet; die Schwanzert, die Tanzert; Glinzeri, Blinzeri; d' Lehneri, d' Fehneri; d' Schmalzeri, d' Hasleri, d' Moſeri;349Sennenleben in den Alpen. s' Halböhrli, s' Möhrli; s' E-äugli, die erſt Gel ond die Alt, der Großbuch ond die Ruch; d' Langbeneri, d' Haglehneri, trib iha wohl zuha, da zuha, bas zuha. Lo ba. Sit das i g'wibet ha, ha n i ke Brod me k'ha, ſit das i g'wibet (ge¬ weibet, geheirathet) ha, ha n i ke Glöck me k'ha! Loba! Wenns aſa wohl god ond niena ſtill ſtod, ſo jo grotha, (wenns alſo wohl geht und nirgends ſtill ſteht, ſo iſts ja gerathen), s'iß kena Lüta bas, as öſera Chüeha; ſie trinkid oſ ſem Bach, ond mögid trüeha (S'iſt keinen Leuten beſſer als unſeren Kühen, ſie trinken aus dem Bach und mögen gedeihen) . So wenig Poeſie im Ganzen iſt, ſo muß man doch die große Gemüthlichkeit anerkennen, die darin liegt, wenn der Hirt, ſeine Kühe beim Namen aufrufend, anfragt, ob ſie herein wollen, und in Mitte dieſer alpinen Harmloſigkeit plötzlich an die Mißhelligkeiten ſeines Eheſtandes er¬ innert wird, ſich jedoch raſch zu tröſten weiß.

Die waatländer Aelpler im Ormonds-Thal haben einen ähn¬ lichen Kuhreigen (Ranz-des-Vaches), nur daß er bei Weitem mehr poetiſchen Schwung hat. Der Anfang deſſelben lautet:

Les armailles Colombetta
bon matin son lévâ,
Ah! ah! lioba, lioba, por t' aria.
Venidé toté, petité, grozzé,
Et bliantz 'é néré, d'zouven é autre,
Dézo stou tzano, yo yié ario,
Dézo stou trimblio, yo yié trinzo!
Lioba! lioba! por t' aria. etc. etc.
Die Hirten der Colombetta
Sind früh aufgeſtanden!
Ho! Ho! Kühe, Kühe! zum Melken.
Kommt alle, kleine und große
Und weiße und ſchwarze, junge und alte
Unter dieſe Eiche, wo ich Euch melke,
Unter dieſe Espe, wo ich (die Milch) gerinnen laſſe!
Kühe! Kühe! zum Melken u. ſ. w.

Der Eindruck, den ſolche Aelpler-Geſänge auf das Thier ma¬ chen, iſt unauslöſchlich. Denn wenn Kühe von Alpenzucht aus dem Geburtslande entfernt werden und ſpäter durch Zufall den Refrain wieder hören, ſo ſcheinen alle Erinnerungen an ihre frühe¬ ren Bergweiden wieder in ihnen wach zu werden; ſie ſchlagen aus, thun völlig ungeberdig, rennen umher und durchbrechen in ihrer Raſerei die Zäune. Ueberhaupt äußert das Vieh, welches auf den350Sennenleben in den Alpen. Alpen groß gezogen wurde, im Frühjahr ein ſehnendes Verlangen nach den Bergen; es iſt unſtät im Weiden, wähleriſch im Freſſen und beruhiget ſich nicht eher, bis der ihm innewohnende Natur¬ trieb nach dem Hochgebirge befriedigt wird. Corrodi ſagt in ſeinen Alpenbriefen: Die Alpenkühe haben Intelligenz. Wenn Du bergan gehſt über die Weiden und die ſchönen Thiere erheben den Kopf ſo klug und fragend nach Dir, dann meinſt Du, Du müſſeſt ihnen den Paß vorzeigen! Das ſind keine Kühe, wie ſie im Land unten vor alle möglichen Fuhrwerke geſpannt und abgekarrt werden, daß man an den Hüftknochen den Hut aufhängen könnte, das ſind Honoratioren, bewußtvoll, ſich fühlend, nicht Vieh mehr, ſon¬ dern Thier. Da iſt Race, Schnitt, Charakter. Glaubſt Du, ein Thalkühlein würde Empfindung zeigen, wenn ſie die große Glocke getragen und man ſie ihr wieder abnähme? Nein. Geh aber und frag ', wie die Leitkuh traurig wird und nicht mehr freſſen mag, wenn man ſie ihrer Glocke beraubt ꝛc.

Die Leitkuh iſt das ſchönſte Thier des Sennthums, und weil ſie von allen Kühen am Weiteſten, alſo gleichſam an der Spitze derſelben geht, wird ſie die Heer-Kuh genannt und trägt eine Glocke. Begegnet es nun, daß ein ſolches Thier, das in ſeinen früheren Verhältniſſen den Vorzug genoß, Führerin der Schaar zu ſein, durch Kauf zu einer anderen Herde kommt und ſoll ſich hier der Prinzipalität einer anderen Leitkuh unterordnen, ſo ent¬ ſteht nicht ſelten ein Kampf auf Tod und Leben. Die penſionirte Leitkuh greift die, im Beſitz der Glocke ſich befindliche Vorgeſetzte an, und zwar mit einer Entſchloſſenheit und mit einer Wuth, daß die intervenirenden Hirten oft große Mühe haben, die Kämpferinnen auseinander zu bringen. Weil ſie um den Vorrang ringt, wird ſie deshalb in der Sennenſprache auch d' Ringgeri genannt. Ganz ähnlich verhält es ſich mit den Zuchtſtieren der Herden. Einſichtige und aufmerkſame Hirten verhüten es, daß zwei Sennten, deren jedes einen Pfaar hat, auf unmittelbar aneinander ſtoßende351Sennenleben in den Alpen. Weiden getrieben werden; kein Graben und Zaun, ſelbſt keine Schlucht würde die eiferſüchtig aufeinander werdenden Muni von einem Zweikampfe abhalten, der in der Regel mit einem Ver¬ luſte endet. So wars im Sommer 1856 der Fall, daß auf den Almend-Weiden der Gemeinde Tamins (im Vorder-Rheinthal) zwei Herden auf dieſelbe getrieben wurden und durch die Sorgloſigkeit der Gaumer ſich ſo näherten, daß beide gehörnten Großherren ein¬ ander anſichtig wurden. Unter tiefem Gebrüll, mit zum Angriff geſenkten Häuptern ſtürzten ſie aufeinander los und der Stierkampf begann. Lautlos, erwartungsvoll ſahen die Herden beider Parteien zu. Die herbeigeeilten Hirten wagten es nicht ſich zwiſchen die wüthenden Thiere zu werfen, und das ſchöne, aber koſtbare Schau¬ ſpiel endete damit, daß nicht nur der Beſiegte in den Abgrund ſtürzte, ſondern auch der Sieger im wuchtigen Anlauf ſich nicht zu halten vermochte und ſeinem Feinde folgte.

So entſchiedene Abneigung der Senn gegen Reinlichkeit und Akkurateſſe in ſeinem alpinen Hausweſen hat, ſo ſehr beſorgt iſt er dennoch um das Gelingen ſeines Manufaktes, ſeines Milchproduk¬ tes. Ihm widmet er die größte Sorgfalt und Pflege, und wie der große Reben-Kultivateur und Wein-Producent den Kenner mit Wohlbehagen in ſeinen unterirdiſchen Räumen zwiſchen den Fäſſer - Alleen herumführt, ſo weiß ſich der tüchtige Senn etwas auf ſeine Käſe-Speicher einzubilden. Der arme Talpi, dem die Käſe ver¬ tſchaaggen d. h. mißrathen, verderben, bleibt Jahre lang Gegen¬ ſtand des Dorfgeſpöttes, und es giebt deren, die heutiges Tages noch von ihres Großvaters Zeiten her einen Spitznamen tragen müſſen. Die Anerkennung, ein perfekter Chäſer zu ſein, iſt, (wer ſollte es glauben!) ſogar von Einfluß bei Liebesverhältniſſen; s' Maitli vermags nicht zu ertragen, wenn ihr Bub nicht als ein perfekter Senn gilt, und manche Bröggleri (d. h. Stolze) hat dar¬ um ihrem Liebesbewerber einen Korb gegeben, wenn er ſonſt ſchon wacker Batzen beſaß. Es kann nicht auffallen, wenn man bedenkt,352Sennenleben in den Alpen. daß Käſe für das getreidearme Gebirgsland ein weſentlicher Be¬ ſtandtheil der täglichen Nahrung iſt und daß man die geſammten Milchprodukte des ganzen Alpenlandes, einſchließlich Selbſtverbrauch und Ausfuhr, jährlich auf mehr als hundert Millionen ſchwerer Gulden ſchätzt. Denn was die Schweiz allein an dem allenthalben ſo beliebten Schweizer-Käſe verſendet, erreicht die Höhe von minde¬ ſtens acht Millionen Franken.

Nicht die Sehnſucht zur Thalheimath, nicht der Mangel an Futter nöthigen den Sennen zum Rückzug von Staffel zu Staffel; es giebt viele Alpen, die nicht eigentlich abgeweidet ſind, wenn die Herde ſie verläßt. Das Eintreten kälterer Nächte in dieſen Höhen iſts, was ihn erfahrungsgemäß vertreibt; darum kommts vor, daß in milden Jahrgängen ausnahmsweiſe der Senn einige Wochen länger auf Alp bleibt, als es ſonſt üblich iſt. Herbſtelet es nun entſchieden, kandiren die Nachtfröſte mit ihren Reifen Blatt und Halm, entfärben ſich die Laubkronen und zieht der Wald ſein buntſcheckiges Kleid an, dann mahnts den Hirten die Alp zu entladen. Vor ſeiner Hütte zündet er am Vorabend der Abfahrt ein luſtiges, weit ins Thalgelände hinableuchtendes Feuer an, das uralte Flammenzeichen der Gebirgsvölker, durch das ſie in ihren Freiheitskämpfen korreſpondirten, und überlaut jauchzend rollen ſie die glühenden Klötze über die Felſenhänge hinab, daß die Fun¬ ken zerſtiebend die Lüfte durcheilen. Das Thalvolk ſiehts, und lauſcht und freut ſich der Heimkehr der Herden.

Hin iſt die Poeſie des Hirtenlebens fürs laufende Jahr, und im Beſitz des errungenen Gewinnes, im Andenken an die Freuden der Alpzeit, zieht der Senn hinab und zehrt an der Erinnerung in der tief eingeſchneiten Winterhütte des Thales im Hoffen auf die Wiederkehr des Frühlings.

[353]

Das Alphorn.

Zu Straßburg auf der Schanz, da ging mein Trauern an;
Das Alphorn hört ich drüben wohl anſtimmen,
Ins Vatterland mußt ich hinüber ſchwimmen,
Das ging nicht an.
(Altes Volkslied.)

In den Rahmen eines idylliſchen Bildes aus dem Hochge¬ birge gehört das Alphorn, ein Inſtrument, das ſo wenig zu den muſikaliſchen gezählt wird und doch ſo große Wirkungen und eigen¬ thümliche Stimmungen hervorruft, freilich auch nur in ſeiner urſprünglichen Heimath. Es gehört die Großartigkeit der hohen Gebirgswelt dazu, die gigantiſchen Felſenſtirnen ob engen Thälern, mit ihrem bezaubernden Echo, die friſche, reine Luft und deren ge¬ ſchloſſene Strömungen, um die eigenthümliche Tonfärbung zu er¬ zeugen, wie ſie kein anderes muſikaliſches Inſtrument beſitzt, und die hier ſo mächtig ergreift und entzückt.

Einfach wie die große, hohe Alpennatur und das dieſelbe be¬ wohnende Volk iſt auch der äußere Bau dieſes Hirten-Inſtrumentes mit ſeinen gewaltigen und doch wieder ſo zarten, ſehnſuchtsvolles Heimweh erregenden Tönen. Das Ganze repräſentirt den In¬Berlepſch, die Alpen. 23354Das Alphorn. ſtrumentenbau in ſeiner früheſten Kindheit. Ein Alphorn iſt aus zwei Theilen zuſammengeſetzt; das obere bildet eine junge Tanne von ungefähr 5 Fuß Länge, welche nach dem unteren Ende hin breiter ausläuft und gewöhnlich mit einem Eiſen hohl ausgebrannt oder auch ausgebohrt wird. Das untere Theil beſteht aus einem zweiten Stück Tannenholz, das gekrümmt und becherartig erweitert iſt und eine Länge von etwa Fuß einnimmt. Das iſt der ganze äußere Bau. In neuerer Zeit verſuchte man dem oberen, dünnen Ende ein Mundſtück aufzuſetzen, ähnlich wie bei den großen alten Trompeten, um dadurch den Ton raſcher und präciſer hervor¬ bringen zu können und das Inſtrument ſelber für größere und aus¬ geführtere Weiſen zu gewinnen. Allein was hierin gewonnen wurde, ging auf der anderen Seite in weit größerem Maße wieder ver¬ loren. Das Inſtrument, urſprünglich ohne Mundſtück geblaſen, verlor durch dieſen Anſatz die Größe und Poeſie des Tones, den Schmelz und den zauberhaften Klang der (muſikaliſch bezeichneten) Naturtöne , wenn allerdings nicht geläugnet werden kann, daß es durch die künſtliche Erweiterung einen runden, volleren Ton erhielt. Es ergiebt ſich ungefähr das gleiche Verhältniß wie bei dem alten Waldhorne ohne Ventilen und den neueren Maſchinenhörnern: dort Einfachheit und Größe, ein unausſprechliches Wohl und Wehe; hier ein etwas bedeckter, umflorter Ton, aber inſtrumentlich erweitert und zu allen harmoniſchen Wendungen und Tonver¬ ſetzungen fähig gemacht.

Der allgemeine Charakter des Alphorntones kommt dem einer etwas gedämpften, großen Trompete am Nächſten, läßt aber keinen ſpeciellen Vergleich zu mit den beſtehenden Inſtrumenten. Von der erwähnten Trompete beſitzt das Alphorn den Metallton und als Holzinſtrument die Weichheit und Fülle einer guten Klarinette. Durch ſeine Länge dagegen gewinnt es die Klangſtärke einer acht¬ füßigen Orgelſtimme, annähernd dem Bourdon in der mittleren Lage ein Gemiſch von Metallklang und Holztoncharakter, eigen¬355Das Alphorn. thümlich wie das ganze Inſtrument ſelber. Der Tonumfang iſt ungefähr in der gleichen Ausdehnung wie der einer Trompete, innerhalb welchem hauptſächlich die Mittellage benutzt wird, weil die Töne dieſer Lage leichter hervorzubringen ſind und auch die Klang¬ farbe die ſchönſte iſt.

Die Wirkungen des Alphorntones hängen dagegen von einer Menge äußerer Umſtände, ja ſelbſt von Zufälligkeiten ab. In unmittelbarer Nähe gehört, klingt das Alphorn rauh, unangenehm, mehr mit einem heiſeren Geſtöhn, als mit einem klangvollen Tone zu vergleichen. Schon in einiger Entfernung vermindert ſich dieſe Rauheit (zu welcher auch die bedeutende Lungen-Anſtrengung des Bläſers viel beitragen mag) und der Ton zieht klangvoll, weich, fein und zart fibrirend über die Thäler dahin, ſich mächtig ausbrei¬ tend, je weiter die Luft den Ton trägt. Bei heiterem Himmel, überhaupt bei reiner Luft klingt der Ton hell, markirt, ſcharf, glän¬ zend und ähnelt hier in ſeinem Klangcharakter am Meiſten der Trompete. An gewitterſchwülen Tagen oder ſonſt bei bedecktem Himmel nimmt der Ton des Alphornes einen melancholiſch-düſter gefärbten Charakter an, ſehnſuchtsvoll, wunderbar-eigenthümlich klagend, jenen Ton, der ſchmerzlich in uns nachklingt, wehmüthige Stim¬ mungen in uns wachruft und dem wir doch nicht entfliehen können, denn er zaubert und bannt unſere Seele, entzückt und berauſcht unſere Sinne. Es mag ein Theil ſein von Orpheus, durch Milde und ſeelentiefe Zartheit, Alles bewältigendem Tone. Eine beſon¬ dere Merkwürdigkeit in der hohen Gebirgswelt findet ſich bezüglich unſeres Inſtrumentes darin, daß gewiſſe Felſenwände und darunter liegende Thäler oder bewaldete Felſenparthien den Klang des Alp¬ hornes ganz eigenthümlich umgeſchaffen wiedergeben. Leider hat bis jetzt die Phyſik in Bezug auf Akuſtik die Reſonanz der Ge¬ birgswände für den Ton, die Verſchiedenheit des Tones gegen dieſe oder jene Felſenwand, oder einer mit Felſenwänden abge¬ ſchloſſenen, Echo erzeugenden Gegend noch nicht ſo genau in23*356Das Alphorn. den Kreis ihrer Studien gezogen, daß ſich Geſetze aufſtellen ließen wie im Bereiche der muſikaliſchen Inſtrumente und ihrer akuſtiſchen Wirkungen.

Die Weiſe des Alphornes, das ſeine jungfräuliche Reinheit bewahrte und noch nicht zum konzertirenden Inſtrumente emporge¬ ſchraubt wurde, iſt eine kleine, fanfarenartige Melodie von wenig Takten und variirt je nach der Laune, Fertigkeit oder Phantaſie des Bläſers. Immerhin aber iſt ſie rhythmiſch und zwar ſtreng¬ rhythmiſch, ſogar herb, zerhackt zu nennen. Da das Alphorn nur für die großartigen Raum-Verhältniſſe der Gebirgswelt geſchaffen iſt, ſo liegt auch ſein Zweck nahe und ſchließt damit jede größere, melodiſch ausgeführte Weiſe faſt von ſelbſt aus; das Echo iſt ſein Ziel. Dieſe wenigen Takte, mit dem in der Regel etwas länger und kräftiger gehaltenen Schlußton, ſind hinreichend, ein prachtvolles Natur-Konzertſtück mittelſt des Echos zu erzeu¬ gen. Die Weiſe oder die Melodiefigur ſelbſt iſt ſo kurz, daß zwiſchen ihr und dem Widerhall eine merkliche Pauſe liegt, ſo daß das Echo dieſelbe unverwiſcht und ungeſtört zu uns herübertragen kann. Gewöhnlich wählen die Alphornkünſtler , die ſich in der Regel für die unermüdliche Bereitwilligkeit und modulirende Vir¬ tuoſität des Echos mit einer Kleinigkeit honoriren laſſen, ſolche Standpunkte, welche eine mehrmalige Repetition des Echos veran¬ laſſen. Wie dieſe widerhallenden Felſenſtimmen ſelber auftreten, iſt ſehr verſchieden. Man hört deren, die drei - bis viermal rück¬ kehrend, immer voller und muthiger anſchwellen, alſo im crescendo ſich wiederholen, gleichſam als ob der Ton, an die Granitwände anſchlagend, von deren feſtem, körnigem Weſen gekräftiget, etwas annehme; dann wieder, an anderen Orten, jauchzt das erſte Echo hell und lebendig in reiner, freudiger Fülle wie ein wahres urchiges Alpenkind, ermattet dann aber von Stufe zu Stufe, und klingt die folgenden Repetitionen in elegiſch aushallenden, weit, weit in die Berge hinein verfliegenden Reminiscenzen nach, wie357Das Alphorn. der vergeiſtigende Aushauch einer ſchönen Seele; und wieder umgekehrt giebt es dann auch ſolche, die faſt mit Scheu, mit mäd¬ chenhaft-verſchämtem Zögern beim Erſtenmal antworten, dann Muth faſſen, ſich aufraffen und laut und beſtimmt hervortreten, ſofort aber wieder erſchreckend zuſammenfahren, verwirrt durcheinander¬ murmelnd unverſtändlich werden und faſt bedeutungslos auslau¬ fen. Genug, ebenſo mannigfaltig wie der plaſtiſche Bau der Alpen und ihrer Felſenſtirnen und die verſchiedene Entfernung der Berge iſt, welche die Reſonanzflächen abgeben, ebenſo variirend ſind die akuſtiſchen Reſultate in ihrer mehr oder minder raſchen Aufeinan¬ derfolge und in der Fülle und Kraft ihres Tones. Wenige Schritte rechts oder links, auf - oder abwärts des vorher eingenommenen Standpunktes, verändern oft auffallend den Gegenſchall-Effekt. Könnte man die Schwingungswellen, welche den Ton durch die Lüfte tragen, ſehen und fixiren, es würden neue wunderbare Räthſel ſich darbieten, welche zu löſen einen Aufwand von Unter¬ ſuchungen veranlaſſen müßte. So aber müſſen wir uns einfach mit den gegebenen, unentſchleierten Reſultaten begnügen, die ſo zauberhaft-ſchöne Wirkungen hervorbringen. Nun aber ſind die ſteigende und fallende Tonſtärke und die ſo abweichenden Intervallen innerhalb jeder Echo-Repetition nicht die einzigen Probleme, die dem lauſchenden und denkenden Hörer ſich aufdrängen, es zeigen ſich noch ganz andere Geheimniſſe aus dem Gebiete der Tonerzeu¬ gung. Die Weiſe wird hinübergetragen an die Schallwand und kommt das Erſtemal in gleicher Tonhöhe zurück, rein, ſcharf, markirt, wie das Original; das zweite Echo iſt jedoch ſchon um faſt einen Viertelton geſunken, hat die rhythmiſche Lebendigkeit verloren, klingt matt, etwas langſamer, ſchier hinſterbend. Welcher Umſtand, wel¬ ches unbekannte Luft-Medium, welches Reſonanz-Geheimniß trans¬ ponirt die Reproduktion des erſten ſo reinen, markigen Echos? Wir haben das Echo unterhalb des Faulhornes beobachtet, wohl zwanzig¬ mal wiederholen laſſen und immer daſſelbe Sinken des Tones bei358Das Alphorn. dem zweiten Echo und die gleiche, langſame Bewegung, ein faſt ſynkopirtes Hinziehen der Melodie zurückerhalten. Die verminderten Schwingungen durch die große Entfernung erklären wohl einzig das Sinken und allmählige Hinſterben des Tones. Ein anderes, wieder abweichendes Beiſpiel giebt das Echo des Alphornbläſers auf Alpiegeln gegen die Buſtiglen-Läger zu, wenn man von Grin¬ delwald gegen die Wengern-Scheidegg (im Berner Oberlande) auf¬ ſteigt. Dort ſcheint der Itrammenwald die ganze Tonſumme der Alphorn-Melodie aufzufangen und in ſeinen Tannenhallen tauſend¬ fach-reflektirend zu vermengen; denn das Echo kehrt, wie die rollen¬ den Orgelklang-Maſſen aus dem majeſtätiſchen Gewölbe eines Münſters, in mächtig-ergreifenden, großen, vollen Wogen, rund ineinander verfloſſen, zurück, ein gewaltiger, erſchütternder Hymnus, den Alpendom durchfluthend.

Am Genußreichſten iſt des Alphornes Zauberſchall, wenn er dem Wanderer unerwartet entgegenklingt. Wir ſtiegen eines ſchönen Sommermorgens aus dem Lauterbrunnen-Thale gegen die Hütten und Speicher des Wengenberges, auf ſteilem Pfade, durch uralte Tannen mit langzottigen Aeſten, empor. Rechts drüben ſtrahlte die herrliche Jungfrau, die hohe ſtille Königin des Alpenreiches in unvergleichlicher Pracht und Klarheit; von der Höhe und aus dem Thalgrunde herauf tönte das melodiſche Glockengeläute der Herden. Da drang an unſer Ohr ein langgehaltener Ton von den Felſen¬ wänden der Jungfrau herüber. Ein Alphorn , rief freudig über¬ raſcht Einer dem Andern zu, und Alle ſtanden ſtill, in vollen Zügen genießend, was ſelbſt eine Beethoven'ſche Symphonie nicht zu bieten vermag. Der Hirt begann ſeine Künſte und wir lauſchten athemlos den ſympathie-entzündenden Tönen, die aus den Gletſchern der Jung¬ frau herüber zu wehen ſchienen; den Bläſer vermutheten wir in einer Entfernung von mindeſtens einer halben Stunde, und beeilten uns denſelben aufzuſuchen. Wie groß aber war unſer Erſtaunen, als wir um eine Waldecke biegend den Alphorniſten, links ab dem359Das Alphorn. Wege, ganz in unſerer Nähe erblickten, ihn, den wir weit ent¬ fernt geglaubt und deſſen Felſen-Jodler jetzt breit und derb ertönten.

Das Alphorn wird leider nicht mehr häufig geblaſen, und es will ſcheinen, als ob der Gebrauch deſſelben immer ſeltener werde. Selbſt wo es noch zu finden iſt, mißhandeln es meiſt Stümper und quälen damit ſich und die getäuſchten Zuhörer, wie z. B. auf dem Rigi. In der Orcheſterkompoſition iſt uns, mit Ausnahme von Meyerbeers Ziegenoper Dinorah keine weitere Einführung und Gebrauch des Alpenhornes bekannt. In Roſſini's Tell tritt die Schalmei, im Tone der Hoboe verwandt, im Mittelſatze der Ouvertüre charakteriſtiſch auf und zeichnet eine Seite der Alpen¬ muſik , welche noch weniger kultivirt wurde, als das Alphorn. Welchen großartigen, eigenthümlichen Effekt würde Roſſini in der Grütliſcene erreichen, wenn er hier ein Alphorn angebracht hätte, das durch die ſtille Nacht, wie von den Bergen herüberklingend, die bedeutungsvolle, große Schwurſcene national einzuleiten. Die Wirkung müßte eine gewaltige ſein.

Man hat auch ſchon verſucht, Alphörner zu ſtimmen, um mit ihnen Quartetten oder auch nur zweiſtimmig zu blaſen. Der Ver¬ ſuch ſcheint nicht gelungen zu ſein, da ſich auf unſeren Bergtouren immer nur Solokünſtler producirten. Dagegen haben Alphorn¬ bläſer ſich ſchon das Vergnügen gemacht, von entfernten, einander gegenüberliegenden Alpen, zu korreſpondiren, was bei der Ver¬ ſchiedenheit der Höhe oder Tiefe des Tones und den auftauchenden Echo's eine unbeſchreiblich ſchöne Wirkung hervorbrachte. Wir hörten einmal im Berner Oberlande in der Nähe von Kanderſteg einem ſolchen muſikaliſchen Wettſtreite , einem Alphornkriege zu. Das Intereſſanteſte dabei war, daß das antwortende Alphorn genau einen ganzen Ton tiefer in der Stimmung ſtand, als das rufende. Dieſe, mit ganz verändertem Toncharakter zurückgegebene Antwort machte eine frappante Wirkung. In früheren Zeiten war der Ge¬ brauch des Alphornes allgemeiner; mit dem Eindringen neuer360Das Alphorn. Lebensformen in die ſtillen Alpenthäler, mit dem allmähligen Ver¬ ſchwinden der alten volksthümlichen Gebräuche und Trachten, ver¬ ſchwand auch das Alpenhorn. Früher, als der Kuhreigen noch allgemein in den Bergen exiſtirte, wurde dieſer Aelpler-Sang mit dem Alphorne begleitet, oder ſogar die Melodie deſſelben allein auf dem Alphorne geblaſen; auch dieſer Gebrauch iſt geſchwunden. Sein Urſprung geht weit zurück; Conrad Geßner erwähnt deſſelben in ſeinem 1555 gedruckten Buche vom Pilatus-Berge, nennt es lituum alpinum und ſagt, daß es eilf Fuß Länge habe. Im vier¬ zehnten Jahrhundert diente es den muthigen und mannhaften Entli¬ buchern und Unterwaldnern als Signalhorn, um aus weiter Ferne den anrückenden Feind zu verkünden, und heutiges Tages wer¬ den ihm mit Qual einige Töne abgerungen, um ein Trinkgeld einzuziehen. Andere Zeiten, andere Sitten.

Geisbub.

Druck von F. A. Brockhaus in Leipzig.

[361]

Der Geißbub.

Juheh, der Geißbueb bi n i ja!
Mys Hörnli u my Geißle da
Thüe mir no nit verleide.
Im Täſchli ha n i Chäs u Brod;
Mys Haar iſt chruus u d' Backe roth,
U d's Herz voll Luſt und Freude.
Jungi, Alti,
Melchi, Galti,
Großi, Chleini,
Hübſchi, G'meini
Führe n ig uf Berg und Weid.
G. J. Kuhn.

Flüſterndes, ſäuſelndes Glockengeläute, ineinander verſchwim¬ mend, bald fern vom Winde verweht und erſterbend, verſtummend, dann plötzlich wieder laut anſchwellend, im gaukelnden Durch¬ einander eine akkordloſe Harmonien-Fülle, ſtrömt von der Höhe hernieder. Nun tönt einfarbig, hohl, aber doch auch von den Lüften weich modulirt und abgerundet ein Hornruf dazwiſchen, der kommt und geht, bald nah und grell ans Ohr ſchlägt, dann wieder weit, weit hinein ins Schluchten-Gewirr der Felſen ſich verkriecht, ein neckiſcher Kobold, der Verſteckens zu ſpielen ſcheint. 362Der Geißbub. Du ſtehſt und lauſcheſt dieſem geiſterhaften Klangſpiel, das zaube¬ riſch und unbeſtimmt daher weht, und Dich gefangen hält, ein neuer, wunderbarer Reiz der Alpenwelt. Es iſt der Geißbub, der droben an den Flühen ſeine genäſchige, neckiſche, kletternde Herde weidet. Er hat uns erblickt und ein freude-ſchmetterndes Juhu ſendet er uns als kernigen Alpengruß herüber.

Der Geißbub iſt ein Attribut der Gebirgswelt wie der Laui¬ nendonner und das Alpenglühen, wie der Gemsjäger und das flie¬ hende, pfeifende Murmelthier. Er iſt ein Schmuck der Berge, ein jovial die hohen Fluhtoſſen und Felſenwüſten belebendes Element. Wohin kein Senn die ſchweren Thiere treiben darf, weil Weg und Steg verſchwinden und die Kräuterdecke nur wie zerzauſte Flocken am verwitternden Geſteine hangt, da klettert der braune, fröhliche Knabe mit der meckernden Ziegenſchaar hinauf und träumt ſich größer und reicher und ſeliger als Ordens-Komthure und Kapital - Regenten.

Und doch iſts gewöhnlich der ärmſte Bube des Dorfes, oft vaterlos oder ganz verwaiſt, der nicht die Jugendfreude anderer Kinder kennen lernte, nicht am elterlichen Herde Schutz und Nah¬ rung und Frieden fand. Damit er nicht der Gemeinde zur Laſt falle und früh ſein Brod verdienen lerne, wies ihn die Vormund¬ ſchaft hinaus in die Einöde des Gebirges, wo ſonſt keines Men¬ ſchen Fuß weilt. Dort iſt ſein Aufenthalt vom beginnenden Früh¬ ling bis ſpät hinaus ins Jahr; dort zieht Mutter Natur an ihrem Buſen ihn groß und tränkt ihn mit reinem Aether und macht ihn groß und ſtark zum gefährlichen Beruf, den er ſpielend und mit Freude erfüllt. Aber er liebt ſie auch, die nährende Mutter, und der wie ein wildes Reis aufgeſchoſſene, halb verwilderte Knabe ſchwelgt in Genüſſen, die wir bedürfnißvollen Thalmenſchen kaum zu ahnen vermögen.

Der Bergbauer theilt die große reiche Tafel, welche die Alpen ſeinem Viehſtande darbieten, nach ſeiner Konvenienz, nach der Mög¬363Der Geißbub. lichkeit: den größten Nutzen aus den Weideplätzen zu ziehen, in verſchiedene Klaſſen ein. Was drunten in der Nähe der menſch¬ lichen Wohnungen und in den Vorderen Berggütern liegt, das ſchneidet die Senſe für die winterlichen Vorratskammern, für die aromatiſchen Heuſtöcke ab. Weiter hinauf, was ſanft geneigt als flächenhafte Halde oder Hochmulde ſich ausdehnt, iſt zu Kuhalpen gerechtſamt und verbrieft und wird nach den verſchiedenen Staf¬ feln mit einer beſtimmten Anzahl Vieh beſtoßen und abgeätzt . Was darüber hinausliegt, ſteil und ſteinig wird, wo nur ganz kurzes Futter wächſt, das ſteht im Alprodel als Schaafalp verzeichnet und wird in Tyrol und Graubünden an die Bergamasker Hirten verpachtet oder, in anderen Gegenden, ſonſt vom Schäfler abgeweidet. Und jene Parzellen endlich, die dann noch wilder und zerklüfteter ſind, wo nur Legföhren und Alpenroſengeſträuch den kleinen Kräuterwuchs überwuchern, oder die Holzſchläge und Forſt-Stocketen , in denen eine reichfarbig-blühende Flora prangt, nach der das große Milch-Vieh aber wenig Gelüſten zeigt, dieſe gehören dem Geißbuben und ſeiner Herde an.

Es iſt ein ganz anderes, lebensfriſcheres, beſtimmteres Naturell, das aus ſolch einem Geißbuben herausſchaut, als das träge, ver¬ ſchwommene Element des ſtrumpfſtrickenden Schäfers in der nord¬ deutſchen Heide, oder des halb-ſtumpfſinnigen, platt-vegetirenden Dorfhirten in den Agrikultur-Diſtrikten. Hier iſt Elaſticität, Feſtig¬ keit, Raçe, wenn auch noch ſo roh und naturwüchſig. Durch das tägliche Verweilen in der Wildniß und bei ſteter Uebung weiden dieſe 12 bis 16jährigen Knaben ſo vertraut mit allen anwendbaren Vortheilen im Felſenklettern, daß man ebenſowohl über ihre eminente Gewandtheit als naturaliſtiſche Gymnaſtiker, wie über ihre ſeltene Unerſchrockenheit und ihren reſoluten Ueberblick, mit welchem ſie den rechten Pfad ausſpähen, erſtaunt. Da, wo man wähnt, es könne kaum eine Maus auf dem ſchmalen Felſen¬ karnieß vorüberſchlüpfen, geſchweige denn eines Menſchen Fuß Raum364Der Geißbub. für Tritte finden, ſpäht der Geißer Wege für ſich und ſeine Ziegen aus. Pfeifend und johlend kriecht er wie eine Katze an den Ab¬ ſätzen herum, denn er hat ein Kletterbedürfniß in den Gliedern, das ihn nicht ruhen läßt. Schwindel iſt ein Ding, das nicht in ſeinem Begriffs-Vokabularium ſteht. Als J. G. Kohl auf ſeinen Alpenreiſen einen Gotthards-Bergbauer fragte, ob denn ſein Bube keine Furcht habe, an den Zacken herumzuklettern, antwortete dieſer ihm: non ha paura di cervello d. h. er hat keine Gehirnfurcht (Schwindel); als Säugling iſt er mit Ziegenmilch genährt worden, und das giebt Berggeſchick und Klettermuth. Das iſt der gleiche Volksglaube wie mit dem Gemſenblut, von dem ältere Alpenbe¬ ſchreiber faſeln, daß die Jäger es warm tränken, um den Schwindel zu verlieren.

Und adlerartig-ſcharf bildet das Auge ſich aus, eine Kräf¬ tigung der Sehorgane, die ans Mährchenhafte gränzt. So ein Bube zeigt uns auf ſtundenweit entfernten Höhepunkten Gemſen, beſchreibt ihre Bewegungen und ſpecialiſirt das Terrain nach ſeinen kleinſten Formverhältniſſen, wo der Ungeübte nur eine große, un¬ belebte Geſammtmaſſe erblickt. Aus ſolchen Buben werden dann in der Regel auch die verwegenſten Wildheuer, die furchtloſeſten und leidenſchaftlichſten Gemſenjäger. Ich habe Geißbuben geſehen, die den Ernſt eines in der Schule des Lebens geſtählten Mannes hatten; unter der braunen, verwitterten Wildheit des Antlitzes ſchaute etwas von der kalten Energie jener Marmorgeſichter hervor, welche die Helden alter Zeiten auszeichnete. O! Exemplare ſolcher Jungen giebts, die, wenn ſie auf einem in der Weide liegenden Felſenbrocken ſtehen, trotz der zerlumpten Lodenhoſe und dem formloſen, alten Filzdeckel etwas Diktatoriſches in ihrem ganzen Weſen haben; in dem ruhig beobachtenden Blicke, in den jugend¬ lich-entſchloſſenen Mienen des verbrannten Geſichtes, in der dreiſten, ungezwungenen Haltung, liegt das ausgeprägte Bewußtſein: Hier bin ich Herr! Und er iſts im vollſten Maße, er iſt Allein¬365Der Geißbub. herrſcher in dem von ihm betriebenen Gebiete. Gehen wir hinauf auf die Hochalp in die Steinrieſete oder in die Gocht, wo der Geißer hauſt! Er, der vorhin uns mit einem elektriſchen Juchz¬ ger , wie man ihn weit und breit in den Bergen nicht mehr hört, bewillkommnete, hält uns nun, wo wir ihm näher kommen, keines Grußes werth. Keck ſchaut er uns ins Geſicht, als ob er fragen wollte: Und nun? Es liegt etwas Herausforderndes in dem meſſenden Blicke, und dabei ſpielt ein verſchlagenes Lächeln, wie fernes Wetterleuchten, um die Mundwinkel. Nun gut! grüßen wir ihn zuerſt und richten wir irgend eine Frage an ihn. Die ſeinem Ohre fremden Laute müſſen ihm unendlich komiſch klingen, denn das Lächeln nimmt einen leicht höhnenden Ausdruck an; es zuckt über die Stirn, als ob er ſagen möchte: Ach! Ihr Mode - Mannli, was wollt auch Ihr da in meinem Revier? Nöthigen wir ihn endlich zu einer Antwort, ſo fragt es ſich noch ſehr, obs nicht eine ziemlich abweiſende, wenn nicht gar trotzige iſt. Er be¬ trachtet es eben als abſolut überflüſſiges Unternehmen, da in die Wildniß zu ihm herauf zu ſteigen, und man darf es ſolchen in dieſer Einöde aufgewachſenen, fern von allem geſelligen Umgange abgeſchnittenen, urnatürlich-entwickelten Knaben nicht verübeln, wenn Mißtrauen gegen fremde Leute in ihm wohnt. Eine Ausnahme davon machen die Appenzeller Buben; das Bedürfniß, in einem derben, ungeſuchten Witze ihren Anſchauungen und plötzlichen Launen Luft zu machen, der im ganzen Volke tiefwurzelnde Hang zur Spöttelei, tritt bei dieſen Buben ſchon draſtiſch zu Tage, und es bedarf eines recht gemüthlichen, durchaus nicht empfindlichen Eingehens auf den angeſchlagenen Ton, um ſie zu einiger Vertrau¬ lichkeit zu bewegen. Hat man dies Ziel erreicht, dann iſt ſolch ein Knabe aber mitunter auch ein wahrer Goldkerl voll friſcher, urwüchſi¬ ger Gedanken, wie eine flott gewurzelte a la prima-Skizze eines genia¬ len Malers. Aug. Corrodi ſchwärmt (in ſeinen genialen Alpenbrie¬ fen) mit Recht für den Hanbiſchli (Johann Baptiſt) auf der Ebenalp.

366Der Geißbub.

Aber auch den Gefahren gegenüber ſind ſolche Buben völlig Herren ihres Revieres; von der Vermeſſenheit ihres Muthes, von ihrer ſpannfriſchen, nervigen Schlagbereitſchaft, von ihrer momen¬ tanen Entſchloſſenheit, macht man ſich kaum einen Begriff. Sie ſind gleichſam auf der Menſur großgewachſen, haben von Jugend auf den feindlichen Elementen trotzen lernen, und darum überraſcht ſie auch durchaus Nichts. Wehe dem Räuber, der ein Herdeſtück anzugreifen wagt, er hats mit einem hartnäckigen, beſonnenen und entſchloſſenen Kämpfer zu thun. Am Meiſten habens die Buben auf die großen Raubvögel abgeſehen; wiſſen ſie das Neſt eines ſolchen, ſo iſts um die junge Brut geſchehen. Beiſpiele von den frecheſten Wageſtücken, um Neſter von Stoßvögeln auszuneh¬ men, giebts in den Alpen allenthalben. Aber auch den Alten ge¬ genüber ſtehen ſie ihren Mann. Ein Bravourſtück jüngſter Zeit möge hier Platz finden. Gegen Ende des Juli 1859 befand ſich der vierzehnjährige Knabe Jann Guler auf einer Schaafalp im Gemeindsgebiete von Kloſters (Prätigau), da wo es im Hafen heißt. Schon früher hatte er einigemal einen großen Raubvogel in den Lüften über ſeinem Weideplatze kreiſen ſehen und war des¬ halb beſonders aufmerkſam. Eines Tages ſieht er plötzlich ſeine Thiere aufgeſchreckt auseinanderfahren, und in der nächſten Sekunde ſtürzt ein völlig ausgewachſener Adler hernieder und verfolgt ein in die Legföhren ſich flüchtendes Lamm. Der Knabe, raſch ent¬ ſchloſſen, ſpringt mit ſeinem eiſenbeſchlagenen Bergſtecken zu dem Gebüſch, in welches der Raubvogel ſich ſo völlig verſtrickt hatte, daß er von den Flügeln keinen Gebrauch machen konnte; hier hämmerte nun der Knabe ſo lange energiſch auf den Adler ein, bis dieſer tödtlich getroffen erlag.

Nicht mindere Beſonnenheit, Muth, Ausdauer und Gewandt¬ heit entwickeln die Geißbuben, wenn eines ihrer Thiere ſich ver¬ ſtiegen oder verjuckt hat, d. h. durch einen Sprung auf einen Felſenſatz gekommen iſt, von dem es weder vor noch zurück kann. 367Der Geißbub. Denn wo nur irgend eine grüne Stelle lockt, klettern die Ziegen wie die Schaafe hin, erblicken dann von der Höhe unter ſich aber¬ mals neue Raſenbänder und ſpringen von Abſatz zu Abſatz, oft klafterhoch, hinab, bis ſie nicht weiter können. Da wird es dann Aufgabe des hütenden Knaben, das gefangene Thier zu löſen. Unſer Illuſtrator Rittmeyer hat auf dem beigegebenen Blatt einen ſolchen Moment dargeſtellt. Das iſt ganz die zähe, unnachgiebige, ſtörriſche Natur eines ächten Vollblut-Geißbuben. Beide, Thier und Knabe, ſind wie aus einem Stück gegoſſen. Droben ſchweben die Adler, die durch das Klagegeſchrei der Ziege aufmerkſam gemacht, dieſe, ohne des Buben Erlöſung, durch Flügelſchlag in die Tiefe geſtürzt und als Beute zerfleiſcht haben würden. Und kämen ſie noch jetzt, eher ließ ſich der Bube mit in den Abgrund nieder¬ ſchmettern, als daß er ſeine Geißmutſch losließe. Eine Schrot¬ ladung ihm in den Rücken gegeben, würde das hartnäckige, ſtarr¬ ſinnige Weſen des Buben nicht brechen.

Im Hochgebirge bleiben die Schaafe oft Monate lang ſich ſelbſt überlaſſen und nagen die ſporadiſch an den Felſen hangen¬ den Raſenſtellen ab. Es genügt dann, daß der Eigenthümer vom Thal oder von ſeiner Hütte aus (wo er mit dem Großvieh weilt) täglich einigemal durchs Fernrohr ſeine Schaafe beobachtet und überzählt. Entdeckt er nun, daß ſich einige derſelben verſtiegen haben, ſo ſteigt er auf die Höhe des Gebirges, von der aus er glaubt ſenkrecht von oben herab den Schaafen beikommen zu können. Der Entſchloſſenſte, meiſt ein Bube unſerer Zeichnung, wird dann am Seil hinabgelaſſen. Da begegnets denn, daß die Thiere ſcheu gemacht durch die von oben herniederſchwebende Erſcheinung, dieſe wahrſcheinlich für einen Raubvogel halten, ſich zu flüchten ſuchen, und ſämmtlich in den Abgrund ſtürzen. Dann aber kommts auch wieder vor, daß man die genaue Richtung verfehlt hat und der Bube noch über manches Raſenband, oder längs glatter Felſen¬ wände, an denen er faſt nur wie eine Schwalbe klebend ſich zu368Der Geißbub. halten vermag, weiter klettern muß. Hat er dann wirklich die Thiere erreicht, dann kommt erſt das eigentlich Lebensgefährliche der Aufgabe. Auf ſchmaler Felſenkante muß er das Thier er¬ greifen, nach ſich ziehen oder Angeſichts des oft ſchaurigen Abgrun¬ des das Thier ſich über den Kopf heben und ſo belaſtet, nur mit einer freien Hand zum Anklammern, den Rückweg antreten, bis er das Seil erreicht, an dem dann das wiedergewonnene Herdenhaupt gebunden und emporgezogen wird. Dieſes Manöver ſetzen ſolche Buben drei, vier und mehrmal fort, bis ſie ihren Zweck erreicht haben. Sie ſind durch Nichts abzuſchrecken, und es iſt oft vielleicht weniger der eigentliche Werth, um den es ſich hier handelt, als das eigenwillige, ſtarrköpfige Durchſetzen eines einmal gefaßten Entſchluſſes.

Und dann der Lohn aller dieſer Gefahren, Entbehrungen und Widerwärtigkeiten? Betrachten wir die Lebensweiſe dieſer origi¬ nellen Halbwilden im Kulturlande ein wenig näher. Der Geißer treibt gewöhnlich Morgens ſehr früh vom Thal aus eine große Menge Milchgeißen ins Gebirge hinauf. Er bat ſein näſchiges, neugieriges, überall hin excurſirendes Hornvölklein gut in Ordnung und kommt mit demſelben viel raſcher in die Höhe hinauf, als man glauben ſollte; ehe die Sonne nur einigermaßen hoch ſteht, iſt er ſchon mehrere Stunden weit von ſeinem Dorfe. Dort überläßt er die Herde ihrem bon plaisir, legt an einem ihm bequemen Platze ſich nieder und verträumt im Ideenkreiſe ſeiner Geißbubenphiloſophie den Tag. Hat er Hunger, ſo muß ein Stück hartes, trockenes Gerſtenbrod und etwas Käſe ihm zur Sättigung dienen, hat er Durſt, ſo zieht er die erſte beſte Ziege herbei, legt ſich unter ihre Euter und melkt in den Mund hinein, daß es ſchäumt. Rückt dann der hohe Mittag heran, der mit ſengender Gluth die Felſen¬ wände erhitzt, dann ſucht der Knabe für ſich und ſeine Herde ein ſchattiges Plätzchen, wo alle zuſammen Sieſta halten. So auch für einbrechende Hochgewitter hat er Höhlen oder Felſenbuchten,369Der Geißbub. in die er ſich flüchtet. Iſts aber ein kalter, regneriſcher Sommer, dann hat der arme, barfußlaufende Tropf höchſtens einen alten Sack über die Schultern zum Schutz gegen die Näſſe. Deſſen un¬ geachtet iſt er fröhlich und ſcheint die Unbilden der Witterung wenig zu fühlen. Abends dann treibt er heim, hat ſeinen Hut mit Alpenblumen geſchmückt, und kehrt ſo friſch und kräftig ins Dorf zurück, als er am Morgen auszog. So gehts vom frühen Frühjahr bis in den Spätherbſt. Und als baaren Lohn erhält er fürs Stück jährlich zwei bis drei Batzen. Es gehört eben Gei߬ bubenſtoff zu ſolch einem Menſchen.

Am Südabhange der Alpen giebts große prachtvolle, lang¬ haarige Thiere. Im Herbſt, wenn ſie keine Milch mehr geben, werden ſie in die Wälder getrieben, ohne Aufſicht und Huth ſich ſelber überlaſſen, und erſt im Frühjahr, wenn ſie dem Gitzelen nahe ſind, halb verwildert wieder eingefangen. Nach Belgien, Frank¬ reich und England werden die zarten Ziegenfelle in großen Maſſen zur Verwendung für Glacé-Handſchuhe ausgeführt. Ob wohl eine unſerer ſchönen Leſerinnen ſchon je daran gedacht hat, wenn ſie ihre feinen, weichen, dehnbaren und parfümirten Handſchuhe anzog, daß der Stoff dazu aus den wildeſten und entlegenſten Gegenden der Alpen ſtamme, wo die Gizzi und ihr Bub ein armſeliges, dürftiges, aber freies Leben friſten?

Das Geißhirtenleben hat auch ſeine ſchauerlich-romantiſche Seite. Wenn Nachts die Eulen in den Wäldern ſchreien, daß es wie ein hölliſches Jauchzen klingt, ähnlich wie mans beim Heuet in den Bergen hört, dann ſagt das Volk, es ſei der wilde Gei߬ ler. Mit dem ſoll es folgende Bewandniß haben. Ein großer Geißbube, der vor Uebermuth und Langeweile oft nicht wußte, womit er die Zeit ſich vertreiben ſollte und ſchon tauſend tolle Streiche mit ſeinen Thieren begonnen hatte, gerieth auf den Ein¬ fall, einen großen, ſtarken Bock zu kreuzigen, d. h. ihn an ein aus rohen Baumſtämmen improviſirtes Kreuz mit Schlingpflanzen oderBerlepſch, die Alpen. 24370Der Geißbub. Stricken anzubinden, als Heiland aufzurichten und dann ſeine Herde davor zu treiben, mit der er Kirche halten wollte. Dieſer Frevel wurde aber augenblicklich beſtraft. Ein furchtbares Ge¬ witter zog herauf, jagte mit ſchrecklichem Donner und Blitz die Herde auseinander und erſchlug den Buben ſammt dem gekreuzig¬ ten Bock, ſo daß Aelpler ihn am anderen Tage mit gräßlich ver¬ zogenem Geſicht und über und über ſchwarz am Körper fanden. Zur Strafe aber für ſeinen gottloſen Muthwillen müſſe er nun Nachts als wilder Geißler umgehen. Im Walde bei Adlenbach im Kanton Glarus hört man ihn Abends pfeifen, von wo aus er dann über die Alpen treibt. So meldets der Volksglauben. Aber es giebt auch verhexte und verzauberte Ziegen. Corrodi's Hannbiſchli erzählte auf der Ebenalp wörtlich folgende Geſchichte: Eben im Herbſt iſt en Roßma (Roßhirt) uf de Siegel ui (auf den Alpſiegel hinauf), ebe daß er e Roß hät müſſe ſuche. So hät er das Roß nit gfunde, 's iſt niene gſi (es iſt nirgends geweſen), und ſo iſt er in e Stadel ie cho (in einen Stall hineingekommen) ufem Siegel. Chuebode häßts. So ſind ſiebe Motſchgäße (un¬ gehörnte Ziegen) drin gſi i dem Stadel. So hät's e ghungeret; ſo denkt er, er wöll ſuge (er wolle ſaugen, d. h. melken), und ſo wie-n-er wott ſuge, het's ke Milch ge, het's ke Strich gha (es hat keine Milch gegeben, keinen Strich gehabt); do ſät er: du Oflat du, biſch gad e Bock! (du Unflath du, biſt nur ein Bock). Und ſo händ die andere Gäße nebet ihm zue glachet. So hei's em gfürcht und ſo hei er gſät, das ſeiid Onghür (das ſeien Ungeheuer), da göng er wieder. Und ſo lauf er e halb Viertelſtond wit abe und d'Gäße ſeiid em naheglaufe und heiid en all usglachet. Und ſo iſt er halt in Sämtis abi und hät's Roß gfunde und iſt mit i's Land uſi gfahre (hinaus gefahren), und het's verzellt, wie's em im Chue¬ bode gange ſei: es ſeiid Onghür dobe, es ſei nöd ganz richtig, 's hei em gruſam gfürcht, er ſei glaufe, daß er d'Füß faſt ver¬ lore hei.

371Der Geißbub.

So wenig beneidenswerth das Loos eines alpinen Geißbuben auch erſcheinen mag, ſo iſts dennoch ein gemächliches und freund¬ liches gegenüber dem von manchen Schaafhirten in den Alpen. Wir meinen hierbei nicht die Bergamasker Schäfer, die auch außer¬ ordentlich frugal leben und ſich nicht getrauen von ihren ſelbſt producirten Käſen zu eſſen; ſondern jene, in einer freiwilligen Verbannung den Sommer verlebenden Schaafhirten wie am Zäſen¬ berg unterm Eiger und ähnliche. Der Zäſenberg liegt in der Tiefe des unteren Grindelwaldgletſchers, gegenüber von den Schreck¬ hörnern, und iſt rings vom Eis umgeben. Hier wirthſchaften zwei Hirten mit einem Buben, mehreren hundert Schaafen und einigen Ziegen. Die eine ihrer Sennhütten iſt unter einem Granitblock ausgegraben, und die andere ſchmiegt ſich an dieſe, aus roh über¬ einander gelegten Gneisſcherben errichtet, an. Die Genügſamkeit dieſer Hirten überſteigt, nach Hugi's Verſicherung, der ſie beſuchte, alle Begriffe. Zwei kleine Kübel und eine Pfanne ſind die ganzen Geräthſchaften des einen Hirten. Der andere, welcher kleine Schaafkäſe bereitet, hat ein paar Stückchen Hausrath mehr, Alles aber in urthümlichſter Einfachheit. Das Holz muß mehr als zwei Stunden weit übers Eismeer heraufgetragen werden; nichtsdeſto¬ weniger gehen ſie mit ihrem Bischen künſtlicher Wärme ſehr ver¬ ſchwenderiſch um und ſtopfen nicht einmal die Klinſen zwiſchen den Steinen mit Moos oder Heu aus, um die Wärme zuſammen¬ zuhalten. Alles Denken, alles Weiterſtreben ſcheint hier aufzu¬ hören, und über die vorzeitlichen Einrichtungen hinaus wird Neue¬ rungen kein Zutritt geſtattet. Vom fröhlichen Leben, das auf an¬ deren Alpen herrſcht, iſt hier nicht die mindeſte Spur. Die Sprache ſcheint den Leuten eingefroren zu ſein; ihr ganzes Weſen iſt ſo froſtig und kalt wie die wilde, große Eisnatur, welche ſie umgiebt. Kein Menſch kommt zu ihnen hierher, und begegnets, daß einmal Touriſten über die Strahlegg kommen, die ſie von ferne ſehen, ſo iſts ein Ereigniß in dieſer gewaltigen Einöde; zu keinem Dorfe24*372Der Geißbub. kommen ſie den ganzen Sommer über hinab, auf keine befreundete Alp können ſie zum Zeitvertreib gehen; zu keinem theilnehmenden Menſchen vermag das Johlen des Hirtenrufes zu dringen. Unter ſich ſprechen dieſe Troglodyten ebenſo wenig, und nur ein kurz ab¬ gebrochener gellender Ruf ladet die Ziegen zum dargereichten Salz und zum Melken ein. Die Schaafe aber irren, ohne je die Hütte zu ſehen, immer auf den Kämmen und Graten umher. Was dann im Spätjahr die Herde, nachdem ſie nach Grindelwald wieder hinabgezogen iſt, noch übrig gelaſſen hat, das weiden endlich die Gemſen noch ab. Noch trauriger iſt der Oberaarhirt daran; im Jahre 1841 bei Agaſſiz's Beſteigung der Jungfrau hatte man ein armes Bübchen von zwölf Jahren aus dem Wallis daherauf geſchickt, das ſchlecht gekleidet und ſchlecht genährt, ein ſtupides Ausſehen hatte. Es war für drei Monate mit Lebensmitteln ver¬ ſehen; ſein Brod war ſo hart wie der Granit ſeiner jämmerlichen Hütte, und der Käſe war trockner als das Heu, auf dem das arme Kind ſchlief. So ſchlimm haben es nun freilich nicht alle Schäfler; es giebt deren, die ein ganz gemüthliches Leben führen. Da iſt z. B. der Schäfler auf den Churfirſt-Alpen, ein ungemein freundlicher und beredter Burſch, der aber das Unglück hat, keine Hütte zu beſitzen. Man wollte ihm droben unterm Falzloch, wo der Uebergang ins Toggenburg iſt, eine Hütte bauen; aber die kunſtloſen Naturmauern wurden, wie der Mann behauptet, immer wieder von unſichtbaren Händen eingeriſſen und die Arbeiter mit Steinwürfen verfolgt, ſo daß der Bau unmöglich wurde und auf¬ gegeben werden mußte. Seitdem weiden die Schaafe unangefoch¬ ten im Felſenkeſſel des Käſera-Ruck, und der Hirt hospitirt in den Hütten von Büls.

Dies iſt eine der Kehrſeiten vom Leben in den freien Alpen.

[373]
Wildhäuer.

Druck von F. A. Brockhaus in Leipzig.

Der Wildheuer.

Und weiter, höher, ſteiler treibt die Haſt,
Der Unmuth fort, der Berge trüben Gaſt,
Auf Klippen, wo den Pfad die Furcht verſchlingt,
Wohin verzweifelnd nur die Gemſe ſpringt.
Lenau.

Droben, auf jenen Felſenköpfen, die vom Thal geſehen für den menſchlichen Fuß unerreichbar ſcheinen, dort wo die kleinen runden, maigrünen Raſenpolſter, eine freundliche, das Auge beruhi¬ gende Unterbrechung, an den glatten, ſenkrechten, grauen Fluh¬ wänden hangen und die, von der Verwitterung geriſſenen, klaffenden Zacken-Linien des todten, ſpröden Geſteines mildernd überkleiden, da wo man höchſtens die Horſte des Adlers und Lämmergeiers ſucht, dort iſt der Ernteplatz für den Wildheuer.

Als Armgart, das vom Kummer gequälte Weib, in Schillers Wilhelm Tell, dem Landvogt Geßler auf offener Straße ſich vor das Roß niederwirft und jammernd ihm entgegenruft: Mein Mann liegt im Gefängniß; Die armen Waiſen ſchrei'n nach Brod Habt Mitleid, Geſtrenger Herr, mit unſerm großen Elend! 374Der Wildheuer. und Rudolph der Harras ſie darauf fragt: Wer ſeid Ihr? Wer iſt Euer Mann? da antwortet ſie mit zitternder Stimme: Ein armer Wildheuer, guter Herr, vom Rigiberge, Der überm Abgrund weg das freie Gras Abmähet von den ſchroffen Felſenwänden, Wohin das Vieh ſich nicht getraut zu ſteigen. und der ſtolze Ritter, wohl wiſſend, welch trauriges Loos dieſer Erwerb iſt, bittet nun ſelbſt für den Mann: Bei Gott! ein elend und erbärmlich Leben! Ich bitt 'Euch, gebt ihn los, den armen Mann! Was er auch Schweres mag verſchuldet haben, Strafe genug iſt ſein entſetzlich Handwerk.

Ja, wahrlich, es iſt ein armſelig Leben, ein müheſam Tagewerk, voller Entbehrungen, gegen Wind und Wetter kämpfend, ſtets mit einem Fuße auf der Gränzlinie zwiſchen Leben und Tod ſchreitend. Denn zu Wildheuplätzen werden lediglich jene ſchwer nahbaren Grashalden im Hochgebirge, meiſt über der Waldregion gelegen, alſo in einer Höhe von 6000 Fuß und darüber, erklärt, die ihrer ſteilen Böſchung halber weder mit Schaafen noch Ziegen, viel weni¬ ger mit ſchwerem Großvieh betrieben werden können, oder zu denen der Aufgang für eine Herde völlig unpraktikabel iſt.

Hierher, wo höchſtens der Wageſprung der ſchwindelfreien Gemſe noch Boden findet, anklammernd ſich feſtzuhalten, hier¬ her wagt der Menſch ſich im Kampfe um ſeine Exiſtenz, hier ſucht er Winterfutter für das, ihn und die Seinen ernährende Stall¬ thier; und wenn das Bibelwort Moſis dem Arbeiter ſein hartes Loos prophezeit: Im Schweiße deines Angeſichts ſollſt du dein Brod eſſen , ſo muß man beim Wildheuer hinzufügen: als Lohn deines Arbeitsmuthes und deiner Todesverachtung, darfſt du deine Milch trinken. Denn es giebt Wildheuplätze, wo der er¬ werbungsluſtige Wagehals den ganzen Tag über die Fußeiſen375Der Wildheuer. nicht ablegen darf, weil er zu ſeinem Schutz bei Schritt und Tritt mit den Stachel-Sohlen ſich am Boden einbohren muß.

Dieſe ungeheuerlichen Gegenden, die faſt einem Beſitzthum im Monde gleich zu achten ſind, weil ihr Werth erſt durch die Tollkühnheit des Wagehalſes geſchaffen wird, der, um der Ausſicht auf einen dürfti¬ gen Gewinn halber, ſein Leben als Einſatz riskirt, dieſe kulturun¬ fähigen Wildniſſe, ſollte man meinen, müßten Gemeingut alles Alpen¬ volkes, ein und deſſelben politiſch zuſammengehörenden Landes ſein. O nein. Die Eroberungsſucht und Habgier des Menſchen und deſſen Beſtreben, durch Verträge ſeinen Beſitzſtand ſicher zu ſtellen, dringt auf Erden ſo weit, als das Auge zu reichen vermag. Da, wo Gränzſteine und trennende Holzhäge oder tiefeingeſchnittene Runſen und Tobel als natürliche Gränzen des Mein und Dein im Gebirge nicht ſichtbar ſcheiden, läuft die Gemeinde-March eines Alpendorfes in idealer Linie über geborſtene Felſenzacken und um¬ nachtete Abgründe, über Gletſcher und Firnfelder, durch Wüſte¬ neien, in welche vielleicht noch nie eines Menſchen Fuß hindrang.

Aber innerhalb dieſer Gemeinde-Gränzen handelt es ſich um Aufſtellung einer zweiten Linie, welche die guten, für den Weide¬ gang brauchbaren Alpenmatten von den gefährlichen Grashalden oder Böſenen trennt, und dieſe ſteht nicht allenthalben feſt. Darum herrſcht ſelbſt hier oben, in dieſen wildeſten Gegenden des Gebirges, der alte, wohl nimmer endende Hader zwiſchen den Schickſals-Antipoden Arm und Reich. Denn der habliche, im Bewußtſein des Beſitzes ſich fühlende Bauer, der ſo glücklich iſt, ein ganzes Sennthum Vieh zur Sömmerung auf die Alpen treiben zu können, der ſeine Stimme im Gemeinderathe mit Nach¬ druck erheben darf, weil er zur Geld-Ariſtokratie des Dorfes zählt, dieſer will ſich den Vollgenuß ſeiner Privat - oder Kommunal - Rechte nicht um einen Zoll ſchmälern laſſen und begehrt nach altem Landesbrauch die wachſenden Kräuter zur Weide für ſein Vieh, ſo weit man mit Kuh und Kalb ätzen könne. Dies iſt376Der Wildheuer. freilich ſehr relativ, und es kommt dabei viel auf die Schwere des Viehs, deſſen Kletterfähigkeit und auf das Riſiko an, welches jeden¬ falls derjenige übernimmt, der Herden an Orte treibt, die wenig geeignet für Weideplätze ſind. Der arme Wildheuer dagegen, auf dem der Ernſt des Lebens bitter laſtet, der mit Todesgefahr ſchwer nach dem kümmerlichen Erwerbe ringt, der vielleicht kaum ein mageres Zicklein ſein Eigenthum nennt, der aber ebenſo gut anſpruchsberechtigter Gemeinds-Genoſſe iſt, wie der vermögliche Sennten-Bauer, findet die Gränze für den Anfang ſeiner Sichel¬ thätigkeit zum Abmähen des den Armen gehörenden Wildheues ſchon einige hundert Fuß tiefer in den Alpen. Darum ſtehen die Anſprüche der Beſitzenden und die der Beſitzloſen in denjenigen Gegenden immer auf der Menſur, wo nicht durch endgültigen Ge¬ meinde-Beſchluß allen Interpretationen ein für allemal vorgebeugt wurde.

Der Wildheuer übt ſeinen halsbrechenden Beruf begreiflich nur während weniger Wochen im Jahre aus, gemeiniglich in den Monaten Auguſt und September; die übrige Zeit hindurch iſt er Kleinbauer, Tagelöhner, im Herbſt vielleicht Gemſenjäger, im Winter Weber, Holzſchnitzler, Dorf-Handwerker oder Waldarbeiter. Entweder durch Gemeinde-Beſchluß oder durch das Geſetz ein für allemal, (Glarus den 13. Auguſt), wird der Tag feſtgeſetzt, von welchem an das Wildheuet erlaubt iſt. Aus einer Haushaltung darf in der Regel nicht mehr als ein Mann gehen.

Um Mitternacht vor der Eröffnungsfriſt zieht der Wildheuer aus; mit Tages Anbruch will er ſchon auf jener Plangge ſein, die er ſich als Ernteplatz auserwählt hat. Freudigen Muthes nimmt er Abſchied von ſeinem Heimet , von Weib und Kind, vielleicht für ewig, auf Nimmerwiederſehen. Die Senſe, der Bergſtock, die Fußeiſen, ein Garn oder Tuch, um das zu ge¬ winnende kurze Heu darin zu den Wild-Gaden zu tragen, und ein Säcklein mit Lebensmitteln bilden die ganze fahrende Habe377Der Wildheuer. des armen Mannes. Mitunter folgt ihm eine Ziege als getreue Genoſſin und milchſpendende Quelle in ſeine Einſamkeit. So gehts durch die Nacht fort, bergauf. Wie es dämmert, juheit er mit ſchmetternder Stimme in die ſchweigende Felſenwelt hinein, an welcher er auf ſchmalem Pfade emporklimmt. Weich moduli¬ rend wirft das Echo den dargebrachten Morgengruß zurück, und von verſchiedenen Seiten, von nah und fern, antworten die Stim¬ men anderer Kameraden, die auf gleicher Bergfahrt begriffen ſind. Es geſchieht aus Ungeduld und Beſorgniß, um auszukundſchaften, ob ihm nicht ein Anderer zuvorgekommen ſei. Denn zu Schutz und Trutz muß der Wildheuer gerüſtet ſein, nicht nur gegen die Unwirthlichkeit der Gebirgsnatur, ſondern auch gegen ſeinesgleichen, gegen den Konkurrenten ſeines Erwerbes, der ihm vielleicht den Platz ſtreitig machen will. Da hats ſchon blutige Kämpfe geſetzt, dicht am Abgrunde, da wo jeder unbewachte Tritt über die Schwelle zur Ewigkeit führen kann.

Das Heuen iſt aber außer den genannten, noch von anderen Fährlichkeiten bedroht. Schon mancher Wildheuer wurde von her¬ abſtürzenden Steinen erſchlagen, die von höher gelegenen Felſen¬ wänden abbröckelten; andere ereilte der Tod, wenn ſie die vom ſchweren Gewitterregen urplötzlich hochangeſchwellten Runſen durch¬ waten wollten, ausglitten und vom jagenden Wildwaſſer fortge¬ riſſen wurden. Oder jäher Schneefall, der auf Höhen von 6000 Fuß und darüber im Hochſommer keine ſeltene Erſcheinung iſt, überdeckt und verkittet die ſchmalen Felſenbänder binnen wenig Minuten dermaßen, daß über dieſelben hinabzuſteigen faſt unmög¬ lich wird. Und ſolche Quergurte ſind an den vertikal aufſtreben¬ den Rieſenkörpern der Berge meiſt die einzigen natürlichen Zu¬ gänge, deren der Wildheuer ſich bedienen kann, um zu ſeinen Fluhſätzen oder Bergbetten zu gelangen.

Je wärmer und beſtändiger die Witterung im Auguſt und September iſt, deſto reichlicher fällt auch die Bergheu-Ernte aus,378Der Wildheuer. und ineinandergerechnet vermag jeder Mann täglich wohl einen Zentner einzubringen. Er verdient damit etwa einen Tagelohn von 3 bis 4 Franken. Tritt aber ſtürmiſches Wetter ein, weht der in der Höhe oft wildbrauſende Wind das geſchnittene Kamm¬ heu über die Wand hinab, daſſelbe weit umher zerſtreuend, oder ſchwemmen brauſende Regengüſſe daſſelbe fort, dann iſt freilich viel Gefahr und mühevolle Arbeit umſonſt geweſen. Denn das Wildheu beſteht größtentheils aus zarten, dünnſtengeligen, kurzen Kräutern und Gräſern von ungemein zierlichem Wuchſe, eine wahre Liliputaner-Vegetation, gegenüber dem halmenreichen, hochgeſchoſſe¬ nen, breitblätterigen Feiſthen der Thalwieſen. Die duftende Mutteri (Meum mutellina) mit ihren weißen Doldenblüthen nimmt die vornehmſte Stelle unter den Futterpflanzen ein; ſie gilt für das milchergiebigſte Alpenkraut, dem das Adelgras oder Riz (Plantago alpina, Alpenwegerich) an Milchgehalt zunächſt ſteht. Mit ihnen konkurriren: die flach an den Boden gedrückte Bergbenedikte (Geum montanum, Bergnelkenwurz) mit breiten, fingerkrautartigen Blättern und großen roſettirten Goldblüthen, das niedliche, weißblumige Alpenmaslieb (Chrysanthemum al¬ pinum), der zierliche Mannsſchild (Androsace obtusifolia und chamaejasme) und das runde Frauenmänteli (Alchemilla vulgaris), auch Thaumänteli genannt, weil die mittelalterliche Heilkunſt und der Volksglaube dem, auf die nierenförmig-rund¬ lichen, ſeidenharigen Blätter niedergeſchlagenen Thau Wunder¬ kräfte zuſchrieb. Dazwiſchen birgt ſich der hygrometriſch-empfind¬ liche Eberwurz (Carlina acaulis), der zwergartige Alpenehren¬ preis (Veronica alpina), das niedrige, brennendgelb blühende Fingerkraut (Potentilla aurea), der feingeſtaltete Alpenſchwin¬ gel (Festuca pumila und nigrescens), der niedliche Felſen - Windhalm (Agrostis alpina) und die ihrer Nährkraft halber hochgeſchätzte Romeye (Poa alpina, Alpen-Rispengras). Aus dieſem, oft dicht ineinander gefilzten Kräuterraſen erheben ſich ferner379Der Wildheuer. ſporadiſch das Frauen-Schüheli oder der Wundkrautklee (Anthyllis vulneraria und alpina), die ſchwarzgrün-kelchige Schaafgarbe (Achillea atrata) auf niederem, mit vielfach ge¬ ſchlitzten Blättchen garnirtem Stengel, der prächtige Alpenklee (Trifolium alpinum und montanum) mit ſeinen herrlichen fleiſch¬ rothen, großblüthigen Blumenknäueln, der vereinzelt wachſende Knöterich (Polygonum viviparum) über ſeine lanzettförmigen Blätter langſtengelig die mit rothen Knötchen beſetzte weiße Blu¬ menähre hervorſtreckend, dann die aus dichtem Raſenſchopf die azurblauen Blumenköpfchen emportreibende, niedliche, pfriemen¬ blätterige Rapunzel (Phyteuma haemisphaericum), der bunte Hafer (Avena versicolor), die purpurgoldigen Crepis-Arten, die brennend-violetten Campanulen, die behaarten Hieracien, die lappenblätterigen Alchemillen, die Aretien, Androſaceen, die endloſe Sippſchaft der Gramineen und wie die kräftigen, aromati¬ ſchen Bergpflanzen alle heißen. Dieſe zuſammen komponiren das Wildheu, welches darum auch von ungemein ſtarkem Geruch iſt, das Vieh viel raſcher mäſtet und eine an Butterkügelchen ungleich reichhaltigere Milch liefert als das Thalheu. In Norwegen halten es die Bergbauern der Kjölen für ein Polychreſtmittel wider alle Viehkrankheiten; deshalb holen ſie es mit Lebensgefahr von den höchſten Zacken und Zinken, und heben ein Bündel davon als Ar¬ kanum bis zur nächſten Ernte auf.

Iſt das Heu je vom einen zum anderen Tage glücklich ge¬ dörrt, ſo gilts, daſſelbe an einem tieferliegenden, beſſer zugänglichen Platze zu ſammeln. Dieſer Theil der Arbeit iſt nicht minder be¬ ſchwerlich und gefahrvoll als der des Abmähens ſelbſt. Wenn die Felſenwand, ob welcher der Heuplatz liegt, nicht zu hoch oder zer¬ klüftet iſt, dann wirft der Wildheuer die in grobe Leintücher oder Netze zuſammengepackten Burdenen einfach hinab, ſteigt unbelaſtet hinterher und befördert Alles an den Ort ſeiner Beſtimmung. Iſt aber der Felſenhang ſehr tief, ſo daß durchs Werfen die380Der Wildheuer. ſchweren, feſt zuſammengeſchnürten Bündel beim Auffallen zerplatzen könnten, oder iſt die abſinkende Fluh ſtark mit Geſtrüpp und Knieholz bewachſen, in welchem das Ballot hängen bleiben könnte, dann hat der Wildheuer keine andere Wahl, als die zentnerſchweren Laſten auf den Schultern hinabzutragen, hinabzutragen auf Pfaden, die oft kaum Raum bieten, einen Fuß vor den anderen zu ſetzen.

Man denke ſich eine Felſenwand mehrere hundert Fuß faſt loth¬ recht über der darunterliegenden, üppiggrünen Alpen-Terraſſe auf¬ ſteigend und hoch droben auf dem Felſengerüſt die Wildheu - Plangge. Dieſe ungeheuere Strebemaſſe, gegen welche der größte Münſter, das rieſigſte Bauwerk der Erde Spielzeug zu ſein ſchei¬ nen, beſteht aus emporgerichteten, gleichſam auf die Kanten ge¬ ſtellten Schiefer -, Kalk - oder Dolomit-Schichten. Die Verwitterung hat in verſchiedener Höhe einzelne Lagen abgeblättert, gebrochen und zu Thal geſtürzt, ſo daß, gleichſam terraſſirt, horizontal ge¬ neigte Bruchkanten an der gewaltigen Front, wie Geſimſe an einem Gebäude hinlaufen. Je nach der Dicke der abgebrochenen Schich¬ ten, ſind begreiflich auch dieſe Geſimſe nur wenige Zoll oder Fuß breit und bilden jene Felſenbänder , oder wenn ſie bewachſen ſind, ſ. g. Grasbänder (Draie), die vom Thal geſehen, gleich dünnen, zarten, grünen Litzen die graue oder okerfarbige Felſen¬ front überſpinnen. Es ſind die Pfade des Gemſenjägers, des Wildheuers Rechts wächſt die Wand jäh, glatt, ſenkrecht in die Lüfte empor bis zum nächſten Raſenband oder bis zu den Gipfel¬ zacken, links ſinkt ſie ebenſo ſteil in die Tiefe nieder. Da¬ zwiſchen liegt der Felſenweg, abſchüſſig, ſchlüpfrig, bröcklig, oft nur wenig Spannen breit. Frei kann das Auge über das große Thalbild hinſchweifen, wenn der Kopf ſchwindelfrei und an die gewaltigen Eindrücke gewöhnt iſt; ein unſeliger Blick in die erblauende Tiefe, hinab auf die Gipfelpyramiden der Tannen¬ wälder, die zu Moosdecken zuſammengeſchrumpft zu ſein ſcheinen, reißt den Mann mit magnetiſcher Kraft zum Todesſturz.

381Der Wildheuer.
Verſchwunden iſt das letzte Leben,
hier grünt kein Blatt, kein Vogel ruft,
Und ſebſtl der Pfad ſcheint bang zu beben,
So zwiſchen Wand und Todeskluft.
Lenau.

Aber das Bergvolk iſt ſo gewöhnt an die Größe und Maje¬ ſtät ſeiner Alpenwelt, ſo vertraut mit den entſetzlichen Schreck¬ niſſen der Gebirgsnatur, daß es da droben, wo jeder Andere zittern würde, erſt recht in ſeinem Elemente lebt und webt. Die meiſten Unglücksfälle, welche beim Herabtragen ſich ereignen, entſtehen da¬ durch, daß der Träger mit ſeiner Bürde an irgend einem Strauch oder Felſenvorſprung hängen bleibt, das Gleichgewicht verliert und ſtürzt. Schon frühzeitig nimmt der Vater den Buben mit in die Berge, daß er ſich gewöhnen lerne. Anfangs ſchreitet dieſer wohl etwas befangen längs den Abgründen, hält ſich am Geſtein feſt und läßt mit Herzklopfen, in bangender Neugier den Blick nieder¬ ſinken auf die Waldnacht in den Tobeln, auf den tief drunten rauſchenden Bergbach oder auf die ſilberblinkenden, ſteinbeſchwerten Schindeldächer der Sennhütten, während der Alte mit ſchwerer Laſt im Nacken, ſichergewohnten Schrittes ihm folgt, überrechnend, ob er mit dem Ertrage ſeines Tagewerkes den Zins auf Michaeli werde decken können. Aber es macht dem Buben Freude, es iſt der Durchbruch des zähen, trotzigen, nach Selbſtſtändigkeit ringen¬ den Naturells, das allen Gebirgsvölkern eigen iſt, die im Kampfe mit der ſie umgebenden Natur groß werden. Welches Loos harrt denn des Knaben? Muß er nicht das Handwerk des Vaters auch einſt ergreifen? Ihm bleibt keine Wahl.

Weiter drunten, wo der Berg ſich behaglich auszudehnen be¬ ginnt, am Fuße der Schreckenswände, ſtehen kleine Heuſpeicher, kunſtloſe Holzhütten, Bargaun nennt ſie der romaniſche Grau¬ bündner, Gäden der deutſche Schweizer; in dieſen birgt der erntende Wagehals ſein gewonnenes Wildheu den Herbſt über, bis der Schlittweg des Winters ihm bequeme Gelegenheit giebt, die382Der[ Wildheuer]. Vorräthe vollende ins Thal hinab zu bringen. Oft aber fehlen auch dieſe armſeligen Nomaden-Magazine, und vertrauend auf gut Glück und den Rechtlichkeitsſinn ſeiner Nachbarn, ſpeichert er die errungene Habe im Freien auf, wo einiger Schutz gegen Sturm und Unwetter iſt. Solche Heu-Feimen werden um einge¬ rammte Stangen feſtgetreten und mit großen Steinen beſchwert. Nicht ſelten aber iſts der Fall, daß, wenn der arme Mann um Weihnachten ſein gewonnenes Futter holen will, die Berghaſen oder anderes hungeriges Wild, ſeine Vorräthe halb aufgezehrt haben.

Im Winter, wenn dann Weg und Steg dick eingeſchneit ſind und alle Felſenvorſprünge unter der großen allgemeinen weißen Decke verſchwimmen, wennEisblumen ſtarr kryſtallen an den Scheiben Wie ein Gehege gen der Sturmnacht Toſen, (A. Grün. )dann geht der Wildheuer mit ſeinem Hornſchlitten auf dem Rücken, ſobald der Schnee trägt , d. h. ſich feſt geſetzt und eine harte Kruſte bekommen hat, hinauf zu ſeinen Magazinen, ladet einen derben Schochen feſtgeſchnürt auf, ſtellt ſich dann zwiſchen die hoch heraufgehenden Kufen an die Stirn ſeines Fahrzeuges, und dieſes gleitend in Bewegung ſetzend, jagt er mit Lokomotiven - Geſchwindigkeit über die Abhänge hinab. Auch dieſer letzte Theil der ſorgenvollen Arbeit iſt noch mit großer Gefahr verbunden, weil gar häufig, wenn drunten im Thal Alles pickelhart gefroren iſt, in der Höhe weit mildere Lüfte wehen oder gar der warme Föhn regiert und dann Lauinen losbrechen, die den Mann ſammt ſeinem Geſchirr begraben. Darum bereitet ſich der Tyroler, wenn er mit ſeinen Gefährten zum Hatzen oder Heuziehen in die Berge geht, auf alle Schickſalsfälle vor, und ein gemeinſames Gebet er¬ öffnet das bedrohliche Tagewerk. Glückt das oft wiederholte Wag¬ ſtück, kehren Alle wohlerhalten und friſchen Sinnes heim, dann wird das Gelingen durch eine gemeinſame Zeche, das Hatzermahl gefeiert.

383Der Wildheuer.

Nicht alles Heu, welches im Winter ab den Bergen geſchlittet wird, iſt nur Wildheu; es giebt auch Bergwieſen, die ebenſo be¬ wirthſchaftet werden wie die im Thale liegenden fetten oder Mahd - Wieſen. Liegen dieſe nun zu entfernt vom Dorfe oder des Eigenthümers Heimet , dann wird der Ernte-Ertrag derſelben, ebenſo wie das Wildheu in Gäden aufgeſpeichert, und entweder an Ort und Stelle im Winter gefüttert, oder in angegebener Weiſe zu Thal geſchlittet. Die Verwegenheit und das Geſchick, mit denen der Heuſchlitter ſeine, ihn hoch überragende, mehrere Zentner wuchtige Ladung dirigirt, iſt bewundernswürdig. Völlig vertraut mit den Gefahren, welche ihn bedrohen, kennt er die (jetzt mit Schnee ausgefüllten) Schluchten, durch welche ſeine Eisbahn läuft, bis in die kleinſte Einzelnheit genau; mit ſcharfem Blick und ſiche¬ rer Berechnung zirkelt er die Bogenfahrt ab, ſo daß er pfeilſchnellen Fluges dicht am ſchauerlichen Abgrunde mit ſeiner Laſt vorüber¬ ſtürmt; nur wenig Fuß Fehlberechnung in der Curve, würde ihn hinabſchleudern in Untiefen, aus denen es keine Rückkehr giebt.

Dem Muthigen hilft Gott und Kein Muthiger erbleicht vor kühner That! Dieſe Worte Schillers finden volle Anwen¬ dung auf alle Wildheuer, namentlich aber auch auf jenen tollküh¬ nen Molliſer (Kanton Glarus), der einſt von den Heubergen unterm Frohnalpſtock bei ſeiner Fahrt zu Thal den allerdirekteſten und ſchnurgeradeſten Weg über die treppenförmig ſich abtiefenden Fluh¬ ätze nahm. Sichere Zeichen verkündeten ihm, als er droben ge¬ laden hatte, daß Lauinenſtürze zu befürchten ſtänden. Mehrere Stel¬ len ſeines gewöhnlichen Weges lagen in den Schreckensbahnen dieſer Donnergrüße des Winters; ihm drohte der entſetzliche Tod: verſchüttet zu werden. Jede Minute Zögerung vergrößerte die Ge¬ fahr. Da entſchloß er ſich kurz, befahl dem Himmel ſeine Seele und wählte unter zwei Schreckniſſen das kleinere. Wer das Ter¬ rain kennt, hält ſolch ein Unternehmen für Wahnwitz; denn es iſt weitaus mehr Wahrſcheinlichkeit, daß der Wagehals dabei um¬384Der Wildheuer. kommt, als daß ſeine Force-Tour gelingt. Genug, unſer Heu¬ ſchlitter unternahms, ſtellte ſich jedoch nicht an die Spitze ſeines Trains, ſondern klammerte ſich hinter demſelben an, ſteckte den Kopf ins Heu und überließ das Weitere der Fügung des Schick¬ ſals. Und ſiehe, die kühne That gelang, den muthigen Mann rettete ſeine gewaltige Entſchloſſenheit.

[385]
Alpſtubeten oder Älplerfeſt.

Druck von F. A. Brockhaus in Leipzig.

Alpſtubete oder Aelplerfeſt.

Ich ſeh vor mir den ſtillen Alpenſee,
Von hoher Bergwand ſorglich eingegränzt.
Wie lacht vom Haupte nicht der friſche Kranz
Dornloſer Alpenroſen, überhängt ins Thal,
Und ſchüttelt ſeine Blüthendolden aus
Aufs junge Volk, das auf der Matte tanzt
Beim Klang des Hackbretts und der luſt'gen Geige.
Da ſchwingt der Burſche hoch ſein Sennenkind
Und ſtampft im Jugendübermuth den Raſen,
Indeß ein helles Jauchzen wiederhallt,
Der Freude Rottenfeuer, von den Bergen.
O, unverſiegbar biſt du friſcher Quell
Des Lebens, wie du ſprudelſt aus dem Volke,
Wenns nicht in Dämme künſtlich eingezwängt,
Nein, frei hinrollt in ſelbſtgeſchaff'nen Wegen.
Carl Morell.

Das Volksfeſt! Dieſes Erinnerungs-heitere, Freude-verheißende Wort, an dem die Hoffnung von Tauſenden fröhlich emporrankt, dieſes ſtrahlende Geſtirn im trüben Gedränge des einförmigen Alltagslebens! wie ſehr entſchwindet unter dem Einfluſſe der fort¬ ſchreitenden, mächtig-umgeſtaltenden Zeit, immer mehr ſein urſprüng¬ liches, kindliches, harmloſes Weſen! wie verliert es täglich mehrBerlepſch, die Alpen. 25386Alpſtubete oder Aelplerfeſt. an friſchem Geiſt und Gehalt, und bleicht zum blaſſen, mark - und körperloſen Schemen ab! Schon müſſen ſinnenberauſchendes Ge¬ pränge und eitler Tand jene Gemüths-Armuth und Blöße decken, die mit dem Ueberwuchern des Scheins, auch bei den Feſten, wie eine böſe Seuche immer ſchrecklicher um ſich greift. Da tritt uns denn ein Aelplerfeſt in ſeiner ungeſuchten Einfachheit, in ſeiner natürlich-ſprudelnden Luſt, als eine wohlthuende Erſcheinung ent¬ gegen. Wie ſich ſo Manches in Sitten und Gebräuchen noch rein und ungeſchminkt beim Gebirgsvolke erhalten hat, gleich als ob der harte, feſte Grund und Boden, auf dem es lebt, auch in ſein Denken und Handeln übergegangen wäre, ſo ſehen wir noch heute den kecken, muskelſtrammen Burſchen auf der Alp die Spiele üben, an denen ſich die Aelterväter vor Jahrhunderten ergötzten und ihrer Zeit ein kräftiges und unerſchrockenes Geſchlecht gaben.

Alpſtubeten oder Dorfeten ſind Hirtenfeſte, die ſo alt ſein mögen, als die Sennerei, die ſo lange beſtehen, als die Herden zur Alp getrieben werden. Ihr Name iſt ebenſo naiv und an die Anfänglichkeit der Zuſtände erinnernd, wie ihr Weſen und Verlauf heute noch iſt. In jenen zerſtreuten Gebirgsdörfern, die aus den allmähligen Anſiedelungen und Familien-Erweiterungen entſtanden, die abſeit der großen Handelswege und Verkehrsſtraßen lagen, gab es bis in die jüngſte Zeit, und giebts ſogar heute noch in Savoyen, Wallis, Graubünden und Tyrol keine Wirthshäuſer mit großen Lokalitäten. Die Alpenbauern kannten das Bedürfniß nicht, zu einem ihrer Nachbarn zu gehen, um bei demſelben für Geld zu zechen; Geld überhaupt kurſirt in manchen Bergdörfern faſt das ganze Jahr nicht, weil Jeder ſelbſt erzeugt, was er für ſein Haus bedarf. Wohl aber ſtellte ſich bei ihnen das Bedürfniß geſelligen Lebens, freundnachbarlichen Beſuches zum Zweck der Unterhaltung ein, und da es, wie geſagt, keine Geſellſchaftshäuſer und kein Caſino in den Gebirgsorten giebt, ſo ging man in die Stube des Anderen, und dieſe Viſite wurde eine Stuberta genannt. 387Alpſtubete oder Aelpſerfeſt. Die Bezeichnung wurde aber auch ganz beſonders auf jene Zu¬ ſammenkünfte junger Leute angewendet, welche zu Spiel, Geſang und Tanz ſich in der größten oder am Bequemſten gelegenen Stube eines Nachbarn zuſammenfanden, und dieſe improviſirten Geſell¬ ſchaften beſtehen überall in den Alpen und im Schwarzwalde noch. Sie ſind nun keinesweges immer ſo harmloſen, idylliſchen Charak¬ ters, dieſe eigentlichen Stubenzuſammenkünfte, wie man behaupten will, ſondern ſie ſind vielſeitig Urſache immer größerer Entſitt¬ lichung des Volkes.

Anders verhält ſichs mit unſeren Alpfeſten, auf welche man, da es gleichfalls Beſuche und Vergnügungs-Anläſſe, wie die drunten im Dorfe, ſind, auch den gleichen Namen übertrug. Der Tag ihrer Feier ſteht ebenſo feſt wie der eines Kalender-Heiligen, und hängt, wie ſchon bemerkt wurde, in den katholiſchen Gebirgsgegen¬ den meiſt mit der Feier eines Patronatsfeſtes zuſammen. Alles Bergvolk, das während des Sommers ſich mehr vereinſamt fühlt als zu jeder anderen Jahreszeit, weil die Hälfte droben in den Alpen, die andere Hälfte drunten im Thale lebt, ſtrömt nun mit Ungeduld dem allgemeinen Sammelplatze zu, hört Predigt und Meſſe herkömmlich an, und wenn dieſer althergebrachten Sitte Genüge gethan iſt, dann werden alle geiſtigen und geiſtlichen Ge¬ danken für dieſen Tag quittirt, die kommenden Stunden ge¬ hören nur der ausgelaſſenſten Freude. Alles Volk prangt im Sonntagsſtaat, in hellen, leuchtenden Farben. Dazwiſchen man¬ gelts nicht, daß auch ein Senn im Ehrenkleid der Stall-Arbeit, wenn nicht zum Schmuck, doch zur maleriſchen Ergänzung der Gruppen, ſich zwiſchen den Feſtgenoſſen bewegt. Unter lautem Jubelruf und johlenden Zauren und Löcklen , daß die Berg¬ wände es gellend wiederhallen und die Lüfte von klingender Freude erfüllt ſind, ſpringt nun jeder Sennbub mit dem Mädchen ſeiner Neigung zu den umliegenden Sennhütten. Hier iſt ſchon Alles auf den Beſuch vorbereitet; Krapfen und Küchli, Birnenweggen25*388Alpſtubete oder Aelplerfeſt. und geſchwungener Nidel (zu Schaum geſchlagener fetter Rahm), lockend feines, weißes Weizenbrod und Wein, genug, was des Alpenſohnes Kunſt vermag, wird hier in Menge zum fröhlichen Mahl aufgetiſcht. Das iſt ein Scherzen und Koſen, ein Föppeln und Necken, mitunter weidlich derb und unglimpflich, wies eben Sitte iſt da droben.

Noch einmal trennt ſich das junge Volk. Die Mädchen ziehen ſchaarenweiſe ſingend umher, ſuchen die bekannten Stellen auf und zwingen die Gnomen der Felſenwände, durch alle Tonarten hin¬ durch ihnen als Echo zu ſekundiren. Es iſt der vollendetſte Ueber¬ muth, die aufs Aeußerſte geſpannte Elaſticität des Humors und der Freudenbegierde, die ſich zu entladen beſtrebt und nun jeden Anlaß benutzt, um das Ueberſelige der Stimmung zu bethätigen.

Die Sonne ſteht hoch! Der Himmel ſtrotzt im tiefſten Blau des unendlichen Aethers! Da jauchzts und ruggüßelet es aus jedem Winkel hervor, von allen Halden herab. Wo irgend eine Hütte hinterm Tannenſchopf verborgen liegt, oder wo es über einen Bühel hinaufführt in ein anderes Berggut, oder der ſchmale, ſchlängelnde Pfad hinüberläuft übers Tobel zur Nachbar-Alp, von allen Seiten ſtrömts herbei, das genußdurſtige Volk, elektriſche Freudenblitze durch die Lüfte ſchleudernd. Hei! drunten auf dem Plan der Bergwieſe, welch ein Gedränge, welch wogendes, ſchwirren¬ des Durcheinander! Da iſt das Feſt im vollſten Gange ſchon. Wer gerne tanzt, dem iſt leicht gepfiffen! Erhöht auf einem Felſenblock hat ein Orcheſter ſeine Kunſtwerkſtätte aufgeſchlagen. Zwei Muſikanten ſinds, Autodidakten, die hemdärmelig dem Volke neckiſche Weiſen aufſpielen. Der eine hat das Hackbrett auf den Knieen, den Urgroßvater aller pianiſtiſchen Inſtrumente, deſſen Saiten er mit dem Stahlſtäbchen hellſchwirrende Metalltöne in kecken, zuckenden Rhythmen entlockt. Sein Sekundant iſt ein Geiger, ebenſo ein origineller Kauz; voll Witz und ſprudelndem Humor ſchmückt er die ohnehin ſchon herausfordernd muthwillige Melodie389Alpſtubete oder Aelplerfeſt. noch mit Schnicken und Schnacken aus, lebt und zappelt am gan¬ zen Körper, und ſtampft mit den Füßen metriſch den Takt zu ſeinen muſikaliſchen Arabesken. Der arme Narr ſchwitzt über und über, und um bei ſeiner ſchweren Arbeit wenigſtens einigen Schutz zu haben, ſo hat er den Baldachin eines großen, rothbaumwollenen Familien-Regenſchirmes, an einen langen Stock gebunden, hinter ſich aufgerichtet, in deſſen leuchtendem Schatten er ſein Tagewerk vollbringt.

Juſt ſo iſts dem Volke recht; das iſt die Muſik, die es ſucht und haben will. Stellt ihm die Virtuoſen einer fürſtlichen Kapelle hin; mit aller ihrer Präciſion und Glockenreinheit im Spiel vermögen ſie es nicht, das ſinnenberauſchte Alpenvölklein ſo auf dieſer zitternden Höhe der Glückſeligkeit zu erhalten und zu balan¬ ciren, als der verſchmitzte, diaboliſch-anſpannende Dorfgeiger. Und nun der Reigentanz ſelbſt, der uralte, den heute noch die Indianer und wilden Völker bei ihren Feſten tanzen, der große, runde Ring von Menſchen-Armen, die zu einer Kette verſchlungen, den braunbemooſten Felſenklotz umjauchzen. Was iſt das noch ein primitives Springen und Bewegen im Vergleich mit dem äſthetiſch¬ feenhaften Schweben der Kunſttänze auf unſeren Soireen und Bällen! Und dennoch iſt Grazie und Anmuth darin, weil Natür¬ lichkeit aus jeder Körperwendung ſchaut. Die Buben haben ſich bei den Händen gefaßt, und in jeder ſolcher männlichen Armfeſſel lehnt, ſich ſicher wiegend, die Sennerin, indem ſie ihre Arme leicht und nachläſſig auf die Schultern ihrer beiden Tanznachbarn legt. Es liegt eine ſchelmiſche Koketterie in dieſem Geflecht, die unge¬ meinen Reiz hat und wellenhaft ſchöne Formen darbietet. Da¬ neben werden Extratouren gegeben. Ein Burſch, dems in den Füßen zittert und zuckt, als ob ein galvaniſcher Strom ihn durch¬ brauſe, hat ſeine Tänzerin mit beiden Händen beim Mieder gefaßt, rundwirbelt kreiſelartig auf einem Plätzchen, das eben groß genug iſt, um vier menſchlichen Füßen Raum zu gewähren, durchbohrt390Alpſtubete oder Aelplerfeſt. die Lüfte mit ſeinen maifriſchen Jauchzern und ſchwingt das lachende Alpenkind hoch über ſich wie ein Spielzeug ſeiner roſigſten Laune. Jetzt, als wollt es mit Macht durchreißen die Kette des Tanzes, Schwingt ſich ein muthiges Paar dort in den dichteſten Reihn. Schnell vor ihm her entſteht ihm die Bahn, die hinter ihm ſchwindet, Wie durch magiſche Hand öffnet und ſchließt ſich der Weg. Schiller. So gaukelt und brauſt es durcheinander, ein im Entſtehen ſich ſchon wieder verzehrendes Bild.

Das iſt der innere Kern, das Centrum der Freude und Luſt. Mit reichen, lebensvollen Gruppen, je wenig Menſchen ein draſti¬ ſches Genrebild aufſtellend, iſt dieſe große Scene eingefaßt. Auch die Kühe ſind herzugekommen und ſtarren mit verwunderten Augen hinein in das Gedränge, das ihrem ſtillen Tempe ſonſt ſo fremd iſt. Durch lautes Blöken geben ſie ihre Theilnahme zu erkennen; ſolls ein Proteſt ſein, daß man ihren kräuterreichen Futterboden ſo über¬ müthig zerſtampft, oder ſinds Beifallsbezeigungen in der Kuhſprache! Der Gaumer, der ſich an einem Glaſe Wein ergötzt hatte, geſtattet aber ſolche familiäre Einmiſchung der Hausthiere nicht und jagt die mit geſtrecktem Schweif zurückgaloppirenden Thiere wieder auf das ihnen zur Weide angewieſene Terrain.

Endlich lechzt und ſchnauft und fieberglüht der ganze Kreis unter dem Druck der ſengenden Strahlen, der Regenſchirm - Geiger und der Hackbrettli-Ma , die Buben und Mädchen müſſen raſten vom Uebermaß der Luft.

Da zieht ein neuer Kreis, den wir bisher nicht beachtet hatten, unſere volle Aufmerkſamkeit auf ſich. Ein großer, ſchwerer Centner¬ ſtein fliegt durch die Luft und fällt dumpf dröhnend auf den Boden; gellendes Gelächter folgt. Das ſind die Kraftproben im Stein¬ ſtoßen, dieſes wiederum uralte Aelplerſpiel, eine Mahnung an die rollenden Felſenblöcke in den Schlachten am Morgarten und am Stoß, die wie der böſe Feind in die kampfgerüſteten Züge der391Alpſtubete oder Aelplerfeſt. Ritter und Reiſigen ſchmetterten und ſie zu Boden warfen. Hier iſts nur Scherz, faſt nur ein Kinderſpiel im Großen, und doch bekundet es den ſtreitbaren, männlich ſich rüſtenden Geiſt, der in dieſem Bergvolke lebt und webt. Mit feſten Händen umſpannt der Senn den Laſtſtein, hebt ihn ſcheinbar leicht ſich auf die Schul¬ ter, während die innere Fläche der rechten Hand ihn eigentlich trägt. Das Ziel, das er im Wurfe erreichen will, iſt etwa ein Dutzend Schritte vor ihm abgeſteckt. Im wiegenden Schwanken des Oberkörpers ſucht er den rechten Augenblick abzupaſſen, und plötzlich den Arm ausſtoßend wirft er den Stein dem Ziele zu. Es gilt gewöhnlich eine Wette, die durch ein Halbes Wein aus¬ geglichen wird.

Turnübungen wurden von den Aelplern naturaliſtiſch ſchon Jahrhunderte lang exerzirt, bevor der Demagogen-Jahn und Vater Maßmann auf der Haſenhaide die erſten Lektionen gaben. Das Klettertalent der Geißbuben iſt ebenſo alt als ihr Stand, und von der Sicherheit des Schuſſes legte Wilhelm Tell ſchon vor mehr als 500 Jahren eine hiſtoriſch gewordene Probe ab. Die unterhaltendſte aber von allen Turnerfähigkeiten können wir auf unſerem heutigen Aelplerfeſte ſehen; es iſt das Schwingen oder der Hoſenlupf . Im Lande Appenzell ſind ſie unmittelbar im Gefolge einer Alpſtubete; im Entlibuch und Emmenthal, im Berner Oberlande und im Kanton Unterwalden beſtehen ſie als ſelbſteigene Volksfeſte, die aber ebenſo wie dort die Stubeten ihre unabän¬ derlich feſten Tage haben. So finden deren auf der Wengenalp und auf der Großen Scheideck am Fuße des Wetterhornes ſtatt, jenes von den Grindelwaldnern und Lauterbrunnern, dieſes von den Grindelwaldnern und Bewohnern des Haslithales beſucht. Ge¬ wöhnlich iſts auf einer Gränzalp, zu der von beiden Thalſeiten die kampfesluſtigen Jünglinge hinaufſteigen. Denn es kommt darauf an, daß zwiſchen den Parteien zweier Thalſchaften die eine den Sieg über die andere erringe. Begreiflich iſts, daß die,392Alpſtubete oder Aelplerfeſt. welche das letzte Mal mit Ruhm gekrönt vom Platze ging, dieſen Ruhm nun nicht einbüßen mag und alle ihre beſten Kräfte aufbietet, das Aeußerſte zu leiſten, was immerhin nur möglich iſt. Die jüngſthin überwundene Partei jedoch ſtrebt diesmal die ihr ange¬ thane Schmach zu rächen und heute als Sieger den Platz zu verlaſſen.

So wie ein ſolches Schwingen um die Wege iſt, ziehen ſich die Burſchen, welche mit zu kämpfen gedenken, von den ſtrengſten Arbeiten zurück, pflegen den Körper und genießen kräftigende Speiſen und Ge¬ tränke. Iſt nun der Schwingtag erſchienen, ſo finden ſich die Kämpen beider Seiten in einem Wirthshauſe ein. Jeder ſucht ſich von der Ge¬ genpartei ſeinen Mann aus, mit dem er einen Gang zu unternehmen wünſcht, und in herzlichſter Freundſchaft und Eintracht zechen ſie gemein¬ ſchaftlich, einander wacker zutrinkend. Die Stunde ruft. Arm in Arm, vorauf Muſik, ziehen die Gegner paarweiſe zum Zug geſchaart zum Schwingplatz, wo ihrer ſchon ein großer Haufen Volkes wartet. Das Kampfgericht, von alten kundigen Vertrauensmännern gebildet, iſt ſchon gewählt. All das übrige Volk formirt nun einen großen Ring, in deſſen Mitte die Kämpfer ſtehen. Sie haben ſichs be¬ quem gemacht; das Hemd und die Schwinghoſe ſind die einzigen Kleidungsſtücke, welche ſie auf dem Leibe tragen. Die Schwinghoſe beſteht aus feſtem, derbem Drill, der dauerhaft genäht ſein muß. Sie wird über die nackten Füße und Kniee bis auf die halben Schenkel feſt heraufgerollt, und hat am Gurt um die Taille einen Wulſt zum Anfaſſen. So ausgerüſtet treten die Ringer paarweiſe an. Der ſelbſtgewählte Obmann ordnet die Reihenfolge an, in welcher die Paare mit einander zu kämpfen haben; zuvörderſt die Schwächeren und dann gradatim ſteigend, die Stärkeren, Ro¬ buſteren. Allgemeine Schwingregeln beſtehen bei allen Alpenbe¬ wohnern. Zuerſt bieten beide Parteien treuherzig ſich die Hand, um öffentlich zu bekunden, daß Keiner Haß und Groll gegen den Anderen im Herzen trage, und daß das Schwingen ein freies, freundliches ſein ſolle. Der Hemdenkragen iſt geöffnet, damit dem393Alpstubete oder Aelplerfeſt. Athmen kein Hinderniß beſchwerlich falle; die Hemdärmel ſind bis über den Ellenbogen hinaufgerollt, ſo daß die Arme entblößt ſich um ſo leichter bewegen können. An der ganzen Kleidung ſoll, altem Herkommen gemäß, nichts Geſchnürtes bleiben, überhaupt der Eine wie der Andere im Anzuge ſein, weil bei längerem, hartnäcki¬ gem Kampfe irgend eine Kleinigkeit durch früheres Ermüden den Ausſchlag geben könnte. So vorbereitet tritt das erſte Paar in den Kreis; Freude, Heiterkeit, Zuverſicht, Kampfesluſt leuchten aus den Augen. In aller Ruhe erfolgt das Zuſammengreifen, d. h. ein Jeder ſchlägt ſeine rechte Hand feſt in den Taillen-Gurt des Gegners, die linke in den aufgerollten Hoſenwulſt am rechten Schenkel des Anderen, oder wies im Entlibuch heißt ins Geſtöß . Alle falſchen und betrügeriſchen Praktiken ſind ſtreng unterſagt, wohin namentlich auch gehört, den Gurt mit Talg einzureiben, weil dann der Gegner keinen feſten Halt hat. Das Zuſammengreifen ge¬ ſchieht je nach Belieben ſtehend oder knieend, die Köpfe Beider je auf des Gegners rechter Schulter liegend. Sinds nun zwei recht geübte Ringer, ſo treiben ſie, im taktmäßigen Hin - und Her¬ wogen, ſich mehrere Minuten lang im Kreiſe umher; Keiner von Beiden verſucht den erſten Kunſtgriff oder Schwung, bevor er nicht den rechten Moment gekommen glaubt. Weil ein Jeder ſich auf der Defenſive hält, ſo erwartet er von Augenblick zu Augenblick des Gegners unvermutheten Angriff und hat vorläufig ſeine ganze Aufmerkſamkeit darauf gerichtet, feſt zu ſtehen. Die kleinſte Blöße, die geringſte Schwäche vom Gegner wahrgenommen, benutzt dieſer ſofort zu einem energiſchen Schwung oder Zug. Es begegnet aber auch, daß Beide ſo lange auf einander duſen , (wie es im Entlibuch heißt), daß ſie ermattet voneinander ablaſſen, ſich auf den kühlen Raſen werfen, um zu verſchnaufen, brüderlich ein Glas Wein ſelbander trinken zur neuen Stärkung, die Hände mit Erde reiben, um die Haut rauher zu machen. Während des Duſens herrſcht lautloſe Stille im Kreiſe; Alle lauſchen geſpannt auf den394Alpſtubete oder Aelplerfeſt. erſten Schwung, und ſo wie dieſer erfolgt und nun das verzweifelte Ringen, das Beinſtellen und Anziehen, das Heben und Drängen beginnt, da folgen mit fieberhafter Haſt, mit jagenden Blicken, mit klopfendem Herzen die Zuſchauer beider Parteien allen Bewegungen. Halblaute Rufe, unterdrückte Interjektionen, Anfeuerungen begleiten den Kampf, bis plötzlich durch eine einzige Wendung, durch einen unvermutheten Griff und Zug der Eine des Anderen Herr und Meiſter wird und ihn zu Boden wirft. Dieſe einmalige Ueber¬ windung entſcheidet indeſſen den Sieg noch nicht. Eines Mannes Red iſt keine Red, man muß ſie hören alle beed! Nach dieſem Grundſatz wird dem Ueberwundenen nochmals Gelegenheit gegeben, ſeine Ringer-Ehre zu retten, und nicht ſelten iſts der Fall, daß diesmal das Glück auf ſeiner Seite iſt. Nur wer zweimal ſeinen Gegner auf den Rücken wirft, iſt wirklich Sieger.

Kämpfen nun die Schwinger zweier Thalſchaften mit einander für die Ehre ihrer Partei, z. B. die Unterwaldner und Haslithaler auf der Alp Breitenfeld ob Meyringen, oder die Entlibucher und Emmenthaler am Schüpferberg oder auf Ennetegg, ſo tritt aus der Partei des zuletzt Gefallenen der Erſatzmann heraus und ver¬ ſucht ſeine friſchen Kräfte an dem, der im vorhergehenden Gange Sieger blieb, deſſen Kräfte jedoch ſchon ziemlich angegriffen ſind. Dieſe Reihenfolge wird beſonders feſt innegehalten, wenn um einen ausgeſetzten Preis gekämpft wird. Iſts indeſſen nur ein Schwinget gewöhnlicher Art, ſo treten überhaupt eine beliebige Anzahl Ringer aus zwei verſchiedenen Pfarrgemeinden auf, die ihre Kräfte mit einander meſſen.

Iſts jedoch der Fall, daß bei einem ſolennen Schwinget die ſtärkſten und gewandteſten Kämpfer beider Parteien die letzten ſind und jede Thalſchaft ihre endliche und entſcheidende Sieges¬ hoffnung auf ihren Mann ſetzt, es alſo gilt, die Ehre des Tages für eine ganze große Gemeinde zu retten, ſo entfaltet ſich mitunter ein Schauſpiel eigener Art. Beide Ringer einander fürchtend,395Alpſtubete oder Aelplerfeſt. ſuchen ſich nur defenſiv zu verhalten, jeder nur ſeinen Fall zu verhüten und dadurch den Sieg des Gegners unmöglich zu ma¬ chen. Dann weichen beide in der Regel von der gewöhnlichen Schwingart ab. So wie die beiden, Gymnaſten ſich ordnungs¬ mäßig gefaßt haben, laſſen ſie ſich, der eine genau die Stellung des anderen abmeſſend, aufs rechte Knie nieder und entfernen ſich mit dem ganzen Unterkörper, ſo weit es Griff und Muskel¬ anſpannung erlauben, von einander. Fürchtet der Eine auf dieſe Art von ſeinem Gegner mit übermächtiger Gewalt dennoch gelüpft zu werden, ſo legt er ſich platt auf den Bauch, worin ihm dann auch der Mitkämpfer folgen muß. In ſolch unnatürlicher Stel¬ lung martern Beide einander oft eine halbe Stunde lang, winden ſich am Boden wie kriechende Schlangen, und ſpannen Sehnen und Muskeln ſo übermäßig an, daß von dem furchtbaren Kraftauf¬ wande das Antlitz braunroth erſcheint. Vermag nun Keiner durch Ausdauer, Kraftübermaß oder Liſt den Gegner zu bewältigen, ſo ſtehen ſie endlich freiwillig, aber zum Tode erſchöpft, vom Kampf¬ platz auf, bekennen einander mit traulichem Handſchlag gegen¬ ſeitig ihre Männerſtärke, und keine Partei kann ſich des Tages¬ ſieges rühmen. Sie iſt wild, ja faſt barbariſch, dieſe Kund¬ gebung der phyſiſchen Kraft; aber ſie legt Zeugniß ab für ein männliches, kampfbereites Volk, für ein Geſchlecht, das nicht ver¬ weichlicht iſt und noch Muth und Ausdauer genug beſitzt, für ſeine Ehre, ſeine Freiheit und ſein Vaterland mit äußerſter Ent¬ ſchloſſenheit zu kämpfen.

Der originellſte Lupf, ſo weit überhaupt dieſe Kraftprobe volksthümlich exerzirt wird, findet im Refektorium des Kapuziner¬ kloſters zu Appenzell im Beiſein der Mönche ſtatt. Im Herbſt nämlich bringen an einem beſtimmten Tage junge kräftige Burſche von nah und fern Natural-Lieferungen an Wein, Früchten, Holz u. ſ. w. dem Kloſter freiwillig dar. Für dieſe Geſchenke nun laſſen die Mönche den Lieferanten eine feſte Mahlzeit verabfolgen,396Alpſtubete oder Aelplerfeſt. und als Deſſert, wenn die Tiſche hinausgeräumt ſind, wird zur Ergötzung der Konventualen im Refektorium von den Burſchen ein Schwingen zum Beſten gegeben. Die Mönche ſtehen auf Tiſchen und Stühlen, nehmen den lebhafteſten Antheil an dem Verlaufe des Zweikampfes und lachen oft ſo draſtiſch, daß die Schwinger über das Gelächter der Mönche ſelbſt ins Lachen gerathen und kampfesunfähig werden. Dieſe Kloſter-Arena iſt ſo landesbe¬ kannt, daß ſich die Burſche das Jahr über nicht nur wegen Strei¬ tigkeiten auf den Kloſter-Lupf laden, ſondern recht herkuliſch-ſtarke junge Männer Jedem im ganzen Lande ausbieten , d. h., einen Jeden, der ſich mit ihnen meſſen will, einladen, im Kloſter zu Appenzell am genannten Tage zu erſcheinen.

Der Reſt des Tages verläuft auf einer Alpſtubeten, wie er begonnen, nur daß die Freude, ſtatt zu ſinken, ſich noch ſteigert.

Bald verſinkt die Sonne; des Waldes Rieſen
Heben höher ſich in die Lüfte, um noch
Mit des Abends flüchtigen Roſen ſich ihr
Haupt zu bekränzen.

In ungetrübter Glückſeligkeit hüpft jedes Mädchen, an ihres Buben Hand, über Stock und Stein hinab ins Thal.

Holzflößer.

Druck von F. A. Brockhaus in Leipzig.

[397]

Holzſchläger und Flößer.

Welch ein Gebraus im grünen Alpſtrom-Schlunde!
Wie donnert Wog 'an Woge mit Schaum-Gebrüll!
Wie tobt es wirbelnd, ſich ſelbſt verſchlingend!
Bin ich entrückt in des Orkus Nachtgrau'n?

Cinque! sette! tre! Cinque! quatter! due! Hahahaha! ſchallt brüllendes, heiſeres Geſchrei aus der Oſteria von Cremaglia. Die ſouveränen Bauern dieſes, auf hoher Berg-Terraſſe liegenden, teſſiniſchen Dörfchens ſitzen beim vollen Boccale des feurigen Weines von Cugnasco und ſpielen, die Finger auf dem Tiſche beinahe ſich wund ſchlagend und Tollhäuslern gleich einander gegenſeitig anſchreiend, mit leidenſchaftlicher Lebhaftigkeit das be¬ liebte Mora-Spiel. In Deutſchland und dieſſeit der Alpen würde man die Geſellſchaft für Wahnſinnige halten, ſo geberden ſie ſich in aller Liebe und Freundſchaft; das iſt eben italieniſches Blut. Der leventiner Aelpler, oder der aus der Tiefe des Val Maggia iſt ein ganz gelaſſener Mann, ſo lange die Leidenſchaften ihn nicht aufregen; Streit, Geſellſchaft, ein fröhlicher Trunk geſtalten ihn völlig um, und machen aus dem ſonſt ſo beſonnenen, ruhigen398Holzſchläger und Flößer. Menſchen einen hitzigen, tobenden Poltron. Was aber regt heute, an einem Werktage dieſe Handvoll Leute ſo auf?

Die ganze Gemeinde von Cremaglia iſt officiell beiſammen. Gianella, der Holzſpekulant von Comprovasco im Blenio-Thale, hat wieder einen großen Wald der Gemeinde abgekauft und giebt einen Trunk obendrein. Die Ratification des Kaufes wird ſoeben von der Municipalità ausgefertigt und die baare, klingende Kauf¬ ſumme für dieſes veräußerte Gemeinde-Gut kommt nicht etwa in die Kaſſe des Patriciato, um daraus Straßen zu bauen, Schulen und Almoſen-Bedürftige zu unterſtützen, ſondern die Vicini oder Gemeinde-Nachbarn vertheilen den Betrag unter ſich, ſo daß ein Jeder mehrere hundert Lire bekommt. Darum ſind heute die Con¬ federati, von Cremaglia ſo heiteren Humors.

Ein jeder ehrſame, deutſch-ſchweizeriſche Burger, der mit Stolz auf den Gemeinde-Säckel und das Stockamt blickt, der etwas auf den ökonomiſchen Stand ſeines Orts-Haushaltes giebt, oder ein jeder andere civiliſirte Menſch, der überhaupt cultivirte Be¬ griffe von den geordneten Verhältniſſen ſorgſam-verwalteter Kom¬ munal-Güter hat, wird vor ſolch einer urgemüthlichen Handhabung der Verwendung von Genoſſame-Gütern zurückſchrecken, der teſſi¬ niſche Bauer nicht. Er hat keinen Begriff von der Nothwendigkeit eines geregelten, ſtaatlich-beaufſichtigten Forſthaushaltes. Seine Berge ſind noch reich an Hochwäldern, wenigſtens ſeiner Meinung nach, die ihn und ſeine Kindeskinder überdauern, und bis da¬ hin, wo Holznoth eintreten könnte, wachſen neue Waldungen an Stelle der abgeholzten. So räſonnirt der Bauer. Früher gabs allerdings meilengroße Forſte, die ſeit Jahrhunderten unbenutzt geblieben waren. Als dann in der benachbarten Lombardei die Holzpreiſe ſtiegen, kamen italieniſche Spekulanten in die Schweiz, unterhandelten, kauften um Spottpreiſe, und ganze Gebirge wurden ihres koſtbaren Schmuckes beraubt.

Jetzt ſoll auch wieder ein großer, ſchöner Hochwald, tief in399Holzſchläger und Flößer. den hinterſten, geſchluchteten Thälern, am Fuße des Rheinwald¬ hornes, unter dem Beile der Borratori fallen. Die Waldung liegt weit von der Straße ab und wohl einige Tagereiſen entfernt von dem lombardiſchen Orte, wo das Holz an den Sägemüller ver¬ kauft wird. Durch den Transport auf der Achſe würde das Holz zu einem enormen Preiſe hinaufgetrieben werden, den Nie¬ mand zahlte; deshalb müſſen andere Transportmittel erſonnen werden, namentlich auch ſchon, um nur das Holz aus den tief¬ verſteckten, einſamen Gebirgswinkeln erſt in die Nähe menſchlicher Communikation zu bringen.

Ueberall, wo große Bergſtröme von den Alpen herabkommen, ſind auch die Thalwände ſehr von Waldungen entblößt. Das Holz, welches nach Gewicht und Volumen in keinem Verhältniß zu ſeinem Werthe ſteht, iſt, bei nur einiger Entfernung, ein un¬ dankbar zu transportirendes Naturprodukt. Darum nahm man die Flüſſe für den Transport des Holzes in Anſpruch, und deshalb griff die Axt zunächſt diejenigen Forſte an, welche in der Nähe kräftiger Waſſeradern lagen. Auffallend entwaldeter iſt die Süd¬ ſeite der Alpen als die nördliche. Das ſtark bevölkerte Italien erzeugte von jeher nicht ſeinen Bedarf an Hölzern; deshalb griff es in die Alpenwälder und rückte, Schritt für Schritt, immer wei¬ ter gegen den Kern der Forſtſchätze emporſteigend, mit ſeiner Plün¬ derungsſpekulation vor, bis jene auffallende Entblößung an den Südhängen entſtand, welche uns bei jedem Berg-Uebergange ſo ſehr auffällt. Die leicht und frei gelegenen Forſte fielen zuerſt, und als dieſe gelichtet waren, drang der Wälderhandel immer tiefer in die Seitenthäler und die holzreichen, verwinkelten Gebirgsſchluchten ein, die früher ſelten eines Menſchen Fuß betrat. Hier wächſt, mit dem Näher-Eindringen an den Gebirgskern, auch die Böſchung, die Zerklüftung des Bodens. An ſtoßigen Bergwänden, die gar oft der Abdachung eines Kirchthurmhelmes wenig nachſtehen, klettern die Lärchen und Rothtannen wie rechte Sturmbäume muthig hinan,400Holzſchläger und Flößer. daß einer dem andern immer weit über die Wipfelkrone hinweg¬ ſchaut. Dann aber giebts da drin in den Winkelmyſterien der großen Gebirgsfalten iſolirte Kegel, rings von Abgründen um¬ geben, die prächtige Wälderkapuzen auf ihren Felſenſchädeln tragen. Wie eine Gruppe von Baumſchildwachen oder wie die kleine, muthige Beſatzung einer Feſtung ſtehen ſie da droben unantaſtbar, weil Niemand, ſo lange es noch bequemer zu fällendes Holz gab, auf den übermüthigen Gedanken kam, die Excluſiven da droben anzugreifen. Freilich modert, wie im Bannwalde, manch blitzzer¬ ſpälter Urſtamm auf dieſem Scheitel, mancher äſteloſer Schaft leuch¬ tet wie ein Ruinen-Splitter ſilberfarben aus dem Dunkel hervor, indeſſen die Nachkommenſchaft friſch und ſtark, eine neue Generation, die Alten überholt. Jetzt, wo in den Vorbergen Alles ſchon unter dem Beil der Holzknechte gefallen iſt, wird dieſes bisher wenig geachtete Reſerve-Kapital auch angegriffen. Die Wälder¬ ſpekulanten bieten, und mit dem Handſchlag, mit der Namens - Unterſchrift des Podestat, mit der Aufzählung der blanken baaren Kaufſumme, ſind alle die verwegenen Trutzbäume zu Todeskandida¬ ten geſtempelt, und übers Jahr grinſt eine kahle Felſenglatze in die Einſamkeit hernieder.

Solch einen verſteckten Wäldertompler haben die Bauern von Cremaglia ſoeben verkauft und freuen ſich des Geſchäftes. Denn ſie ſelbſt als Korporation hätten all ihr Lebtag das Holz aus den verborgenen Winkeln nicht hervorgeholt; dazu gehört ein feſter ſpekulativer Wille, dazu ſind koſtſpielige Vorkehrungen, Ausbeu¬ tungsbauten und disponible Kapitalien nöthig; und an alle dem fehlts dem Sign. Gianella nicht. Heute kreiſt noch der Boccale in lärmender Geſellſchaft, heute freut ſich noch Jeder des Lebens. Morgen beginnt die Gefahr-drohende Arbeit; wer weiß, ob er den letzten Stamm fallen ſieht, ob er nicht früher ſelbſt mit zerſchellten Gebeinen am Fuße der Felſenwand ruht.

Der Ticineſe (Bewohner des Kanton Teſſin) iſt ganz ein401Holzſchläger und Flößer. anderer Menſch, als der deutſchredende Aelpler. In ihm vereint ſich die kalte Entſchloſſenheit, das an harte Strapazen und Ent¬ behrungen gewöhnte Leben des Gebirgsbewohners mit der drängenden Unruhe, dem heißblutigen, raſchhandelnden Element des Italieners. Er iſt ein vortrefflicher Arbeiter, umſichtig, ſcharfblickend, erfinde¬ riſch und nicht verlegen, wo es gilt, geſchickte Handgriffe, kleine Hilfsmittel raſch zu erſinnen, die ihm ſein Vorhaben praktiſch er¬ leichtern: dabei ausdauernd, fleißig und ſparſam. Darum be¬ ſchäftiget man ihn dieſſeit der Berge gern bei Straßenbauten. Einige Zoll Ingenieur-Fähigkeit bringt jeder als Natur-Geſchenk mit auf die Welt, und dieſe wendet er mit wunderbarer Ge¬ wandtheit ganz beſonders bei der Ausbeutung der Wälder an.

Während alljährlich Tauſende den Sommer über in der Fremde als Gypſer, Glaſer, Steinbrecher und Erdarbeiter ihr Brod ſuchen, und von dem zurückgelegten Gelde den Winter hindurch mit Frau und Kindern ſpärlich in dem verſteckten Alpendorfe leben, be¬ ſchäftigen abermals Tauſende ſich daheim als Tagliatori di selva und Borratori . Erſtere ſind die eigentlichen Holzfäller, die Männer mit Säge und Art, die dem Baum den Todesſtreich verſetzen: letztere (oft Bergamasken) ſind diejenigen, welche durch erfinderiſche Vorkehrungen die Stämme aus dem Labyrinth der Bergwildniß hinab zum Fluß befördern, der dann auf ſeinem Rücken die Blöcke ſpielend weiter trägt.

Haben wir die Klettertalente der Geißbuben bewundert, ſo finden wir hier würdige Genoſſen, Naturturner, die ihres Gleichen ſuchen. Wie Spechte laufen ſie mit ihren Klettereiſen-Krallen an den Stämmen empor, hängen ſchwindelfrei über tiefen Abgründen und hauen mit wuchtiger Fauſt die Aeſte ab, ſo daß der ſchlanke Schaft wie eine Kerze, nur noch mit der Krone geſchmückt, daſteht. Jetzt bekommt das Mordbeil Arbeit. Dort, wo das Moos am Ueppigſten den Stamm umſpinnt, da iſt der ſaftigſte Zellenbau im Holzgewebe, da dringt der Aexte Schnitt am Ausgiebigſten hinein. Berlepſch, die Alpen. 26402Holzſchläger und Flößer. Wie dem Verbrecher, ehe der Henker ſeinen Schwertſtreich führt, das Haar aus dem Nacken geſchoren wird, ſo entblößt auch hier des Holzers Hand den Stamm von den Epheu-Feſſeln oder dicken Moospolſtern, die an dem ſtarken Baum ihr kleines, ärmliches Schmarotzerleben friſteten. Jetzt blitzt es hell im Sonnenſcheine! Hieb um Hieb durchhallt den weiten, ſtillen Wald, und immer tiefer dringt die Mordaxt ein. Ziſchend fliegen die Spähne durch die Luft, immer größer wird die Wunde, immer näher kommt ſie dem innerſten geſunden Kern des Stammes. Nun reicht das Beil nicht mehr. Nach kurzer Raſt greifen die Holzknechte zur Säge. Es iſt ein gefährlicher Stand, den ſie einnehmen, denn vor ihren Blicken gehts jäh hinab. Am Wurzelgeflecht des Baumes, den ſie tödten, wühlt ſich ihr Abſatz in die Erde. Nun Riß um Riß und Schnitt um Schnitt gehts immer tiefer von der anderen, geſunden Seite her, der Hiebwunde entgegen, bis auch hier die ſchwache Menſchenkraft erlahmt und das Mordinſtrument den Dienſt ver¬ ſagt. Da kommt das letzte Martermittel für den ſchönen, reſignirt ſeinem Ende entgegenſehenden Baum: der breite Keil muß die klaffende Spalte erweitern, und leichter arbeitet nun der freſſende Zahn der Säge fort. Jetzt ſtöhnts wie Todesſchauern aus dem Baum; der Wipfel zittert, leiſe ſchwankend wogt er hin und her; noch wehrt er ſich, noch will die urgeſunde, feſte, ſtramme Kraft, die in ihm wohnt, ihn halten, da reißt der letzte Lebensfaden, ein knatterndes Zerberſten, und gebrochen ſinkt die Säule des Waldes im ſauſenden Sturze jach hinab, bis irgend ein anderer Stamm, ein hervorragender Felſenzahn ſeine wilde Flucht aufhält. Schon mancher Holzer wurde von den Aeſten des gegen den Berg ſtürzenden Baumes, wenn ſie nicht genügend abgeſchlagen waren, von ſeinem Poſten hinweggefegt und in die Tiefe geſchleudert.

So geht das Schlachten fort. So oft eine Partie am Boden liegt, beginnt das Zertheilen des Stammes in Blöcke oder borre von gewiſſer Länge und das Abſchälen der Rinde oder strapinà . 403Holzſchläger und Flößer. Bis hierher hat das Fällen des Baumes, die Gefährlichkeit des Standortes abgerechnet, wenig Eigenthümliches; ſo ähnlich kommts auch in anderen Wäldern vor. Nun aber kommt die Arbeit der Borratori. Die ſchweren, feſten Walzen würden nur mit außergewöhnlichem Kraft-Aufwande ſtundenweit bis an den Fluß geſchafft werden können, wenn nicht der Scharfſinn ein anderes, viel leichteres Transportmittel erfunden hätte. Dies ſind die Sovenden oder Seguenden d. h. Holzleitungen, die in Kühnheit ihrer Bauart den antiken Waſſerleitungen nicht nur oft gleichkommen, ſondern dieſelben noch übertreffen. Mit vortrefflich ausgebildetem Orientirungs-Sinn, mit richtig taxirendem Augen¬ maß, und mit einem Scharfblick, der manchem Ingenieur zu wün¬ ſchen wäre, erſpähen ſie, ohne Hilfe von Kompaß oder Situations¬ plänen, ohne Vermeſſungstafeln und hypſometriſche Angaben, ſtundenweite, ideale Linien über Abgründe, durch Wälder, an Felſenwänden hin, bald in gerader Flucht, bald in einer Menge von Wendungen, die immer das richtige Fall-Verhältniß einhal¬ tend, endlich im Hauptthale auslaufen. Dabei benutzen ſie jeden kleinen ſich darbietenden Vortheil; ein einzelner, weit hervorragender Baum, eine überhängende Steinwand, ja ſogar die Dächer von Sennhütten müſſen ihren Conſtruktionen als Stützpunkte dienen. Dieſe Strüsone oder Holzrinnen werden ungemein präcis aus je 6 bis 7 glatten Baum-Stämmen gebaut; ſie ſind 3 bis 5 Fuß breit, muldenförmig, alſo an den beiden Seiten mit aufſtehenden Rändern verſehen und müſſen immer ein Abdachungsverhältniß von mindeſtens zehn Procent einhalten. So lange es möglich iſt, laufen ſie auf feſtem Boden, über den Rücken der Berge; wo dann die Richtung dem Borratore nicht mehr konvenirt, verläßt er die ſichere Unterlage und hängt ſeine Bahn an die nackten Gneis - oder Granitwände, gleich wie die Regenrinne unter der Traufe eines Daches ſchwebt, und wo auch dies nicht mehr thunlich iſt, da ſpannt er in verwegenem Wurfe ſein Geleiſe, thurmhoch durch die26*404Holzſchläger und Flößer. Lüfte, von einer Schluchtſeite zur anderen, Seitenſtücke zu den kühnſten Brückenbauten. Ueberall aber reſervirt er ſich dabei mög¬ lichſt bequeme Zugänge, die freilich mitunter zu Standpunkten führen, auf denen nur der an ſchwindelnde Tiefen gewöhnte Ge¬ birgsbauer zu arbeiten vermag.

Iſt nun dieſes ingenieuſe, gefährliche und koſtſpielige Bauwerk hergeſtellt, das in den öſtlichen Alpen, in Tyrol und Steyermark Las oder Laaß genannt wird, ſo warten die Borratori und ihre Knechte den Winter ab. So wie der erſte feſte Froſt eintritt, eilen ſie hinauf zu ihren Holzrinnen, begießen ſie fleißig mit Waſſer, daß die Klunſen und Spalten ſich mit Eis ausfüllen, und die ganze innere Fläche des Leitungskanales mit einer glatten Eis¬ rinde überzogen wird. Oft, wenn der Föhn unvermuthet eintritt, ſchmilzt über Nacht die ganze, ſorgſam-erzeugte Spiegelfläche wieder hinweg, und die Arbeit muß von Neuem wiederholt werden. Iſt nun Alles in dieſer Weiſe vorbereitet, ſo beginnt endlich der Transport. Abgehärtet, den eiſigen Winden, den wildeſten Wettern trotzend, klimmt er an den ſteilen Schneehalden empor bis zur Lagerſtätte der Blöcke. Der Winter hat ſein weißes Flockenkleid darüber geworfen, und nur undeutliche Umriſſe verrathen die Tief¬ vergrabenen. Das erſte Geſchäft iſt nun der portarùnt , d. h. das Herbeiſchaffen des Holzes zur Gleite. Dies geſchieht auf ver¬ ſchiedene Weiſe. Entweder, wenn der Schnee eine glatte, gefrorene Oberfläche hat, genügt es, die Blöcke in Bewegung zu ſetzen, die dann über die winterliche Rutſchbahn hinabgleiten bis zur Stelle, wo ſie auf die Strüsone gebracht werden, oder ein Knecht kuppelt deren einige in Form eines Triangels aneinander, ſetzt ſich auf die Spitze, und mit den Füßen ſteuernd fährt er herab, oder es weiden, wie in den übrigen Alpen beim winterlichen Hernieder¬ ſchlitten des Heues oder Holzes, kleine Schlitten benutzt. Es muß dieſe Arbeit des Herbeiſchaffens an die Bahnlinie meiſt für den Winter aufgeſpart werden, weil die Blöcke als ſchwere, rauhe405Holzſchläger und Flößer. Körper bei nicht mit Schnee bedecktem Boden viel mühſamer zu transportiren ſind.

Soll dann die eigentliche Thalfahrt beginnen, ſo vertheilen ſich die Borratori in gemeſſenen Entfernungen, wie die Wärter einer Eiſenbahn, längs der ganzen Sovenda als Wacht-Poſten in ſicheren Hinterhalt, mit langen, ſtarken Speeren bewaffnet; be¬ ſonders an ſolchen Orten ſtellen ſie ſich auf, wo in Folge der Rinnen-Wendungen die hinabgleitenden Blöcke leicht ins Stocken gerathen könnten. An ſolchen Stellen haben überdies die Eis¬ rieſen (ſo werden die Rinnen in Nieder-Oeſterreich genannt) an der äußeren Seite eine Erhöhung, um das Ausſpringen der Balken bei ihrer raſchen Bewegung zu verhindern. Jetzt werden die Holzſtämme, einer nach dem anderen, eingeworfen und, in hetzender Haſt, die Geſchwindigkeit einer Lokomotive weit überholend, ſauſt Stück für Stück hernieder, binnen wenig Minuten einen mehrere Stunden langen Weg über Abgründe zurücklegend. Es wird in der Regel ſorgfältig vermieden, krumme Stämme einzuwerfen, weil ſolche leicht Sperrungen verurſachen oder über die Rinne hinaus¬ ſpringen. Entſteht eine ſolche Störung, ſo zeigt der Borratore mit gellendem Pfiff dem nächſten Poſten die Hemmung an, und das Signal geht von Mann zu Mann, bis hinauf zur Einwurf¬ ſtelle, wo ſo lange pauſirt wird, bis die Hemmung beſeitiget iſt. Ein neues Signal giebt Ordre zur Fortſetzung. Wenn mehrere, recht trocken-froſtige, klingend-kalte Tage mit mondhellen Nächten auf einander folgen, ſo begegnets, daß ohne Unterbrechung fortge¬ arbeitet wird, um die Vortheile dieſer vortrefflich geeigneten Witte¬ rung ökonomiſch zu benutzen. Nur unter den freiwillig-auferlegten, härteſten Entbehrungen, und durch Anſtrengungen, die faſt zur Er¬ ſchöpfung führen, wird es möglich, die Arbeit ununterbrochen fort¬ zuſetzen. Ihre Lebensweiſe während des Dienſtes iſt auffallend einfach und nüchtern; Polenta (Brei von Maismehl) und etwas Käſe bildet die ganze Nahrung. Geiſtige Getränke, um durch die¬406Holzſchläger und Flößer. ſelben ſich anzuregen, muß er gänzlich ausſchließen; denn bei dem oft ſtundenlangen Stillſtehen in bedeutender Kälte möchte ihn leicht Schlaf anwandeln, wenn er Branntwein genöſſe, und der Tod des Erfrierens wäre ſein trauriges Loos. Aber auch die Ge¬ fahr, durch Sturz oder plötzliches Ausgleiten ſein Leben zu ver¬ lieren, umgiebt ihn ununterbrochen. Trotz der ſtachelbewaffneten Fußeiſen an den Schuhen iſt der Stand des Borratore auf über¬ eister Felſenklippe oft ein höchſt unſicherer. Haben ſich Blöcke feſtgeklemmt in der Rinne, dann bedarf es nicht ſelten recht ener¬ giſcher Kraftanſtrengung, um ſie wieder flott zu machen; der erſte, zweite, dritte Stoß wollen nicht helfen, die Blöcke ſind in einander verkeilt, daß es größerer Gewalt bedarf, um ſie zu löſen. Der Borratore tritt auf den glatten Rand der Rinne und ſucht mit ſeiner Axt nachzuhelfen, aber die Klemmung wird nicht gehoben. Da wagt ſich der Unbeſonnene auf einen der Blöcke, um einen tieferliegenden ein wenig aufzulockern und ſiehe, an¬ ders als er es vermuthet, geräth die ganze Ladung wieder ins Gleiten. Gelingt es ihm, ſo rettet ein augenblicklicher Rück-Sprung ſein Leben; aber ach! wie Viele verloren es ſchon, indem der Sprung mißglückte, oder indem ſie von den hinabjagenden Hölzern fortgeriſſen, beſinnungslos in die Tiefe geſchleudert, elend umkamen. Es giebt wenig Holzer , die im Alter nicht mit erfrorenen Füßen oder ſonſt verſtümmeltem Körper umherhinken. Und nichts deſto weniger fehlts nie an jungem Nachwuchs, die ihr Loos im Alter kennend, dennoch dem lebensgefährlichen Berufe ſich widmen.

Dort, wo der Waldhang unmittelbar ſich zu den großen Waſſerrinnen der Alpen, zu den lebendig ſtrömenden Flüſſen und kräftigen Bergbächen abſenkt, bedarf es freilich keiner Bauten, um Bau - und Brenn-Holz weiter zu befördern; dort muß das Waſſer ſeine alten Transportdienſte verrichten. Das kommt nun zwar in allen Berg-Gegenden vor; aber die Alpen haben auch hier wieder ihre romantiſche und großartige Eigenthümlichkeit. Unbekümmert407Holzſchläger und Flößer. um den Waſſerſtand, wird Holz gefällt und in die oft halb trocken liegenden Flußbetten geworfen. Kommt Zeit, kommt Rath. Steigt nun durch Regen oder Schneeſchmelze der Bach, dann räumt er ſelbſt das ihm zur Spedition anvertraute Gut auf, und dies iſt der Moment, der neue, unbekannte Bilder komponirt. Bei Be¬ ſchreibung der Rüfe wurde gezeigt, zu welchen furchtbaren Ver¬ heerungen das Wildwaſſer führen kann, wenn ſichs verſtopft und plötzlich mit Uebermacht ſich neue Wege bahnt. Wie dort der An¬ wohner, ſo muß jetzt der Holzflößer den Augenblick wahrnehmen und helfen, wo eine Stockung einzutreten droht.

Da donnert das Waſſer, da ſchäumt es vor Wuth,
Sich freien Lauf zu erkämpfen!
Da ſtrudelt und wirbelt die ſtürzende Fluth
In ziſchenden, ſiedenden Dämpfen.

Und mitten hinein in das aufgeregte Element, wo die Wellen mit zorniger Schleuderluſt ihn umjagen, wagt ſich der Flößer mit ſeinem Haken und öffnet hier, und lenket dort, daß die viele Zent¬ ner ſchweren Blöcke gaukelnd an ihm vorübertanzen. In dichten Strömen gießt der Regen herab, ihn kümmerts nicht! Es iſt ja ſein Beruf, er kennts nicht anders. Und zwängt der Strom ſich durch ein ſchwarzes Felſenthor, in welchem große Geſteinſtrüm¬ mer den freien Ausgang verſperren, da läßt der unerſchrockene Bergbewohner an dickem Tau ſich in die grauſige Tiefe hinab, und halb ſchwebend über den wildhetzenden Wogen, vielleicht mit einem Fuße nur ſich an die Felswand ſtemmend, arbeitet er mit raſtloſem Eifer, um ein armſelig Tagelohn zu verdienen.

Beim Flößen in den durch ſtarken Fall wild einherſtrömenden Gebirgswaſſern kommen beim Hochgang des Fluſſes auch häufig Felſenquadern mit aus den Alpen herunter, die ein Dutzend Pferde nicht würden vom Platze ſchaffen können. Dieſe verſperren be¬ greiflich das freie Flußbett und hindern den ungeſtörten Fortgang des Holzes. In ſolchen Fällen müſſen die Flößer mit Schlägel408Holzſchläger und Flößer. und Meißel mitten in die Brandung des Stromes hinein und in die herabgeſchwemmten Gebirgs-Rudera Bohrlöcher eintreiben, um mit Pulver die unwillkommenen Gäſte zu ſprengen. Hierbei be¬ geben ſich oft Unglücksfälle, die den Arbeitern das Leben koſten. Aber auch bei dem Flottmachen des verſchlagenen, ſich aufdämmen¬ den Holzes, wenn die Flößer ſich an Seilen (wie erwähnt) in tiefe Schluchten hinablaſſen müſſen, werden ſie gar oft eine Beute ihres Berufes. So wars am 2. October 1860 der Fall. Im Schanfigg, einige Stunden von Chur (Graubünden), waren vier Flößer in der Pleſſur-Schlucht beſchäftigt, verſtecktes Holz in Gang zu bringen. Ein ſehr gewandter Flößer Namens Chriſtian Jäger hing wie eine webende Spinne am Seil und begann mit der Art zu arbeiten, während die Anderen ihn hielten, als ein warnender Signal-Ruf der aufgeſtellten Wache ertönte. Aber im gleichen Augenblicke praſſelte auch eine Maſſe abgebröckelten Geſteines von der Wand hernieder und begrub alle Vier in des Fluſſes Tiefe unter ſeinem Schutt.

Ungleich vertheilt ſind des Lebens Güter
Unter der Menſchen flücht'gem Geſchlecht;
Aber die Natur, ſie iſt ewig gerecht.
Schiller.
Auf der Gemsjagd.

Druck von F. A. Brockhaus in Leipzig.

[409]

Auf der Jagd.

Ihr Klippen ihr, an deren jähem Rand
Ich ſteh ', wo vor dem Blick an Stromes Ufer
Zu niedrigem Geſtrüpp die ſchlanke Tanne
Im Schwindel der Entfernung ſchrumpft: ein Sprung,
Ein Schritt, ein Ruck, ein Odemzug, er könnt'
Auf ewig an der Felſen rauher Bruſt
Zu Bett mich bringen.
Byrons Manfred.

Der Aelpler iſt eine feſte, kernige, einfache Erſcheinung in allen ſeinen Lebensbeziehungen, in allen ſeinen Lebensäußerungen. Ebenſo genügſam, wie er in ſeinen Bedürfniſſen, ebenſo unge¬ künſtelt wie er in ſeinen Sitten, ebenſo muthig, wie er in Ge¬ fahren, und ebenſo ausdauernd wie er bei den Beſchwerden ſeines Erwerbes iſt, ebenſo kühn und beharrlich, friſch und entbeh¬ rend iſt er auch auf der Jagd. Sie ſteht im vollen Einklange mit ſeinem ganzen Weſen und mit der gewaltigen, großartigen Natur, die ihn umgiebt.

Der Bürſchgang auf Alpenthiere iſt nach Terrain, Suche und Jagdart eine völlig anderen Bedingungen unterſtellte, gänzlich410Auf der Jagd. anderen Umſtänden unterliegende Thätigkeit, als die zur Wiſſenſchaft und noblen Paſſion ausgebildete hohe Jagd im Hügel - und Flach¬ lande. Der größte Theil jener Praktiken, welche dort zuläſſig oder ſogar geboten ſind, und deren genaue Kenntniß und fertige Handhabung den flotten Jäger kennzeichnen, können in den Alpen nicht in Anwendung kommen; es iſt keine paragraphiſch-ſyſtemati¬ ſirte Waidmannskunſt, die ſich theoretiſch aus Büchern einſchulen läßt, um ritterlich-elegante Komödie damit zu treiben, ſondern ſo urnatürlich derb und wild, wie die Alpen ſelbſt, iſt auch die Jagd. Wer nicht das Zeug dazu in Knochen und Blut, in Muskeln und Faſern hat, wer nicht Gefahren und Strapazen lachend die Stirn bieten kann, weſſen Auge nicht ſcharf und ſchwindelfrei in Ab¬ gründe zu blicken vermag, der laſſe den Stutzen daheim, oder ver¬ ſuche ſein Glück drunten im blaſſen, dürren Stoppelfelde und zwiſchen den Krautäckern, wo ihm der Hund den Haſen fangen hilft oder die Kitte Hühner vor den Schuß bringt. In den Alpen gilts wilden Beſtien: Bären, Wölfen, Adlern und Geiern, oder der flüchtigen, weit witternden Gemſe, oder den ſchlauen, ſcheuen, Stein - und Schneehühnern. Es kann Einer ein perfekter Nimrod auf Rothwild ſein und in der Sauhatz ſchon mancher Bache den Garaus gemacht haben, ohne auch nur eins der bezeichneten Alpen¬ thiere erlegen zu können.

Zuvörderſt gehört Mark in den Knochen dazu, ein leichter, ſicherer Tritt, der, wenn auch Geröll und faulendes Geſtein an jäher Bergwand ihm unter den harten, ſtachelbewaffneten Sohlen weicht, dennoch mit Sicherheit und kalter Ruhe darüber hinweg¬ eilt, der ſich zu helfen weiß im Labyrinth der Gletſcher-Spalten und an der glatten, trügeriſchen Firnhalde, wie ſie im früheren Abſchnitt Alpenſpitzen geſchildert wurden, der nicht vorm Wageſprung zurückſchreckt in den kahlen Kalkklippen, und der auf den Raſenbändern an den Felſenwänden ſo unbefangen geht wie der Dachdecker am Kirchthurm-Geſimſe; mit einem Wort, der411Auf der Jagd. Alpenjäger ſoll ein guter, ausdauernder Berggänger ſein. Denn auf flinkem Jagdroß kann man nicht in die Flühenen reiten, wo das Wild hauſt; der eigene, feſte Fuß muß den Alpenſchützen hinauf in die zackige Gebirgs-Wildniß zum Waidwerk tragen. Dann ferner ſoll er vertraut mit den Revieren ſein, in denen er ſein Glück verſuchen will. Er muß die Gebirgs-Stöcke und ihre Sippſchaft, die Grate, Joche, Zinken und Kämme, den inneren Zuſammenhang der Schluchten und gewundenen Felſengaſſen kennen, um ſich nicht zu verſteigen, wie weiland Kaiſer Max an der Mar¬ tinswand im Tyrol, oder Rudolph Bläſi von Schwanden, deſſen haarſträubendes Jagdabenteuer der Dichter Reithard in ſeiner be¬ kannten poetiſchen Erzählung: Die beiden Gemsjäger aufbe¬ wahrt hat. Es iſt wohl kaum ein rechter Bergſchütz, der nicht ſchon oft in ähnliche Lagen gerieth und nur durch einen Verzweif¬ lungs-Sprung ſein Leben rettete. Wie viele ſchon dabei zu Tode ſtürzten oder einſam verhungerten, iſt nicht zu berechnen. Und endlich muß er entbehren können, entbehren Speiſe und Trank, Ruhe und Wärme. Wer bedenkt, daß die Jagd in den Bergen meiſt erſt aufgeht, wenn die Alpen von den Herden verlaſſen ſind, daß alſo in den Hütten keine labende, kuhwarme Milch, kein Imbiß Brod zu haben iſt, wer bedenkt, daß der Schütze oft vier bis fünf Tage in der Einöde umherſchweift, ohne inzwiſchen zu ſeiner tief unten im Thale liegenden Wohnung hinabzuſteigen, daß er alſo ſeine Mahlzeiten knapp eintheilen muß, um mit dem wenigen trock¬ nen Brod und Käſe und ſeinem Fläſchchen Chrieſiwaſſer (Kirſch¬ geiſt) auszureichen, wer endlich erwägt, daß nicht einmal der rauhe Wildheuſack in dürftiger Alphütte ihm eine gegen Kälte und Wetter ſchützende Lagerſtätte bietet, ſondern daß der Mann auf hartem Stein, in irgend einer Felſenſpalte gar oft zu übernachten gezwungen wird, wenn ihn die Nebel in den Höhen überfallen, und er ohne äußerſte Gefahr nicht von der Stelle gehen darf, der wird zugeſtehen, daß ein ungemein an Entbehrungen gewöhnter412Auf der Jagd. Körper außer den oben angeführten Eigenſchaften zur Ausübung der Jagd in den Alpen gehört. Alle dieſe körperlichen Requiſiten bedingt die edle Hochjagd in Deutſchlands Auen und Wäldern nicht.

Das Kapitel von den Gemſen und deren Jagd iſt von dem gründlichen Kenner der Alpen, Fr. von Tſchudi, in ſeinem Thier¬ leben erſchöpft. Indem wir auf daſſelbe verweiſen, tragen wir zur Ausfüllung des Rahmens, der unſere Bilder umſchließt, blos einige charakteriſtiſche Jagdabenteuer nach.

Jäger-Spürſinn und Wild-Inſtinkt ſind neben den ſoeben aufgezählten körperlichen Erforderniſſen die erſten bedingenden Eigen¬ ſchaften des Gemſen-Jägers. Er muß die Standquartiere, die Weidegänge und Nachtlager erforſchen, um mit einiger Sicherheit berechnen zu können, in welcher Gegend er um irgend eine be¬ ſtimmte Zeit Gemſen zu treffen hoffen dürfe. Der Spittler Jan aus dem Graubündner Münſterthale, ſeines Gewerkes eigentlich ein Muſikant, zugleich aber einer der verwegenſten Gemſenſchützen, ſoll mehrmals Wetten gewonnen haben, weil er genau Stunde und Platz angab, an denen man ſo und ſo viel Stück antreffen müſſe. Kennt er nun überhaupt den Jagdplatz, auf dem er ſeine Beute holen will, ſo bricht er, je nach der Entfernung ſeines Wohnortes (wenn er, wie dies die beſten Gemsjäger immer thun, allein jagt), um Mitternacht oder bald nachher auf und ſteigt in ſchwei¬ gender Nacht ſo weit empor, als er unbeſchadet ſeines Jäger-Vor¬ theils kommen kann. Hierbei achtet er ſorgfältig auf die Richtung des Windes, damit derſelbe nicht den Gemſen Witterung und Schall des Kommenden zutrage. Iſt er nun den Thieren im Rücken, die noch ruhend im Graſe liegen und nur die Vorgaiß als Poſten auf erhöhtem Felſenblock aufgeſtellt haben, ſo ſchleicht er, noch unter dem Schutze der Dämmerung, ſo nahe als immerhin möglich, ſich heran und ſucht ſeinen Körper durch irgend einen Felſenblock, Baumſtrunk oder wie ſonſt zu decken. Hier wartet er, ſchußfertig, den Anbruch des Tages ab. Welche unendliche Be¬413Auf der Jagd. hutſamkeit und Vorſicht gehört zu dieſem katzenartigen Vorgehen, welch äußerſt ſpannendes Lauern bei größter Ruhe und Kälte! Erſt nachdem ſich die Thiere erhoben haben, wählt er ſein Opfer aus und ſchießt. Oft begegnets, daß der reſolute Jäger, bevor das erſchrockene Gemſenvolk die Gegend ausfindet, von welcher Gefahr droht, noch ein zweites Thier mit ſeiner Doppelbüchſe er¬ legt. Hat er gut getroffen, ſo ſchnellt die Gemſe hoch auf und ſtürzt raſch zuſammen; es trifft aber auch, daß angeſchoſſene Thiere, die nicht tödtlich verwundet wurden, mit dem ganzen Rudel auf und davon jagen. Mitunter giebt es auffallend große Geſellſchaf¬ ten dieſes Wildes, die bis zur Paarung bei einander bleiben; der bekannte Berggänger Statthalter Gottl. Studer in Bern ſah deren einſt im Wallis 60 zuſammen weiden. Solojäger pflegen in der Regel keine Hunde mitzunehmen.

Der gewaltigſte Gemſenjäger der Jetztzeit möchte vielleicht Ignaz Troger von Ober-Ems in Eiſchol (Wallis) ſein; wenig¬ ſtens erzählen die Hirten auf den Alpen des Turtmann - und Nicolai-Thales völlige Wunderdinge von ihm. Er ſcheint ein moderner Colani der dortigen Gegend zu ſein, der ein mehrere Quadratmeilen großes Gebiet ſtillſchweigend als ausſchließlich nur ihm zuſtändiges Jagdrevier uſurpirt hat und in welches kein ande¬ rer Schütze ſich getraut. Außerdem umgiebt ihn der Volksglaube mit einem unheimlichen, ſagenhaften Nimbus und macht ihn zu einem Freiſchützen, der auf jeden Schuß ſich holen könne, was er verlange. Jedenfalls ſteht es feſt, daß er im ganzen Kanton Wallis der beſte Alpenjäger iſt, und wahrſcheinlich mag der Um¬ ſtand, daß er unter ſchlauer Benutzung gemachter Erfahrungen vielleicht an einem Tage 3 und 4 Gemſen ſchoß, dieſe geſchickt ver¬ barg und dann eine nach der anderen in ſeine Wohnung hinab¬ trug, Veranlaſſung zu allerlei Fabeleien gegeben haben. Zugleich iſt er der verwegenſte und unternehmendſte Berggänger; wenn die Erſteigung des Weißhornes je möglich ſei, ſo erreiche Troger zu¬414Auf der Jagd. erſt die Spitze. So behaupten es die Walliſer. Ein anderer vortrefflicher Schütze, der jährlich ſeine 20 bis 30 Gemſen ſchießt und auch ſchon zwei Bären erlegte, iſt Battiſta Margnia im Val Calanca, der einen Theil des Jahres als Glaſer die deutſche Schweiz, namentlich den Kanton Glarus durchzieht. In Grau¬ bünden gilt gegenwärtig Benedeto Cathomen von Briegels im Vorder-Rheinthale als der größte Gemſenjäger, aus den dann der berühmte Bären-Nimrod, Fili, Poſtmeiſter in Zernetz, Jakob Spinas von Tinzen, Zinsli von Scharans und A. folgen.

Minder gefährlich iſt das von den weniger hervorragenden Jägern geſellſchaftlich unternommene Treibjagen auf Gemſen. Es findet meiſt in den ziemlich wildarmen Voralpen ſtatt und nähert ſich in manchen Beziehungen der organiſirten hohen Jagd des Flachlandes, weil eine Aufſtellung der Jäger, wie beim Anſtand, ſtattfindet und oft auch Hunde zum Zutreiben benutzt werden.

Dieſe Jagdweiſe hat indeſſen auch wieder ihre eigenthümlichen Fährlichkeiten, die nach der Urſache und Veranlaſſung bei der Solojagd verhältnißmäßig weniger vorkommen können. Wie bei jedem Treibjagen, ſo muß auch hier ein Plan, eine gewiſſe Ver¬ ſtändigung unter den Jägern und Treibern ſtattfinden; wird die getroffene Abrede durch einen der im Gebirge leicht möglichen, unvorhergeſehenen Zwiſchenfälle nicht genau inne gehalten, ſo iſt leicht ein gänzliches Fehlſchlagen des Jagdtages das Reſultat vieler Anſtrengungen. Einen ſolchen Moment repräſentirt unſer Bild. Drei wohlgeübte Schützen des Appenzellerlandes jagten an der Gloggeren, jener hohen Wand ſüdöſtlich von der Seealp, an dem Wege gelegen, wenn man vom Weißbad über Meglisalp zum Sentis aufſteigt. Einer derſelben ging dieſen unteren Weg, ein zweiter droben über Marwies, und der dritte Jäger über ein ſchma¬ les Raſenband an der Felſenwand, zwiſchen den beiden zuerſt Ge¬ nannten. Auf dieſes Raſenband waren die Gemſen getrieben. Der zu unterſt und zu oberſt Gehende hatten leichteren Marſch und415Auf der Jagd. kamen früher an der Stelle an, wo das gemeinſchaftliche Schießen beginnen ſollte. Erſterer ſieht die Thiere auf ſich zukommen, ihm direkt in den Schuß gehen, wartet und wartet und erblickt immer noch nicht den auf dem Raſenband treibenden Jäger. Die Gemſen kommen immer näher; er befürchtet um den Schuß zu kommen, legt fieberhaft aufgeregt an, drückt los und aufgeſchreckt durch den Knall, kehren die Thiere ſofort um und fliehen in jagendſter Haſt auf dem Raſenbande den Weg zurück, den ſie gekommen waren. Juſt an einer ſehr ſchmalen, abſchüſſigen Stelle von kaum etwas mehr Breite, als für einen Menſchen zum Gehen nöthig iſt, da, wo es um eine Felſen-Ecke biegt, ſtoßen ſie in wildeſter Flucht auf den mühſam emporkletternden Jäger. Ein Begegnen Beider in aufrechter Stellung, auf dieſem ſchwindelnden Felſenbande, hätte unfehlbar zum Sturze des Jägers in eine mehr als hundert Fuß abſinkende Klippentiefe führen müſſen, da die Gemſen inſtinkt¬ mäßig, in der Angſt der Verzweiflung den Durchpaß zwiſchen der Felſenwand und dem Jäger geſucht haben würden. Dies erkennt der beſonnene Mann, und um ſein Leben zu retten, wirft er ſich nieder, und läßt das ganze Rudel in flüchtigem Sprunge über ſich hinwegbrauſen. Ein anderer Jäger, im Glarnerlande, in ähn¬ licher Lage an kritiſcher Stelle, glaubte dennoch durch raſchen Ent¬ ſchluß ſeine Beute erlegen zu können und kauerte ſich ſitzend, feſt an die Felſenwand geſtemmt, nieder und ſchoß. Die Ladung ging fehl, die Gemſe ſetzte über ihn hinweg, berührte ihn aber im ſchnellenden, elaſtiſchen Sprung mit einem der Hinterläufe an ſeiner Jacke und riß ihm das oberſte Knopfloch aus; ein Hängen¬ bleiben hätte unfehlbar zum zerſchmetternden Sturze Beider geführt.

Von einem teſſiner Gemſenjäger aus dem Val Blegno wird folgende verbürgte Force-Tour erzählt. Ihrer Zwei waren aufs Treiben ausgegangen. Da kommt der Eine von ihnen zum Schuß, trifft den Gemsbock gut ins Vorderblatt, der verwundet und blu¬ tend, dennoch fortrennt und dem anderen Jäger in einem Defilé416Auf der Jagd. zwiſchen zwei koloſſalen Felſenblöcken entgegenſpringt. Dieſer, durch den Block gedeckt, ſo daß das geängſtete Thier ihn nicht ſehen kann, ſchlägt an, drückt los, aber das Gewehr verſagt. Raſch entſchloſſen, wirft der Teſſiner ſeine Waffe fort, ſpringt dem großen Gemsbock in dem Augenblick entgegen, als dieſer in der Felſengaſſe weder rechts noch links fortkann, packt ihn glücklich erſt mit einer, dann auch mit der anderen bei den Hörnern und läßt ſich von dem wahre Löwenkräfte entwickelnden Thiere 30 bis 40 Schritte weit über Raſen und Geſtein bis dicht an einen Ab¬ grund ſchleifen, wo daſſelbe erſchöpft zuſammenbricht. Noch zwei oder drei Sprünge und der Abgrund hätte Beide aufgenommen. Hier am Rande der Tiefe entſteht nach einer Sekunde, in einer Blutlache, nochmals ein Ringen Beider. Mit der einen Hand hält der Jäger krampfhaft den zähen Zweig einer Föhre feſt, während er mit der anderen die Hörner des Thieres umſpannt, auf deſſen Halſe er kniet. So verweilt er einige Minuten, bis ſein Gefährte herbeieilt und durch einige Stiche mit dem Brod¬ meſſer dem Leben des bis zum Tode ſich wehrenden Thieres ein Ende macht.

Bei Streifzügen durch die Alpen begegnets höchſt ſelten, daß Touriſten, wenn auch nur in großer Entfernung, Gemſen zu ſehen bekommen. Eine Stelle giebts, wo man im Frühſommer faſt täg¬ lich ſehr nahe Gemſen ſehen kann: dies iſt in den Churfirſten - Alpen oberhalb Wallenſtad im Kanton St. Gallen. Dieſe Berge zwiſchen dem Speer und dem Gonzen ſind Freibergen von der Regierung erklärt, dort darf, bei hoher Strafe, keinerlei Wild geſchoſſen werden. Wer in Wallenſtad übernachtet und frühzeitig nach den Alpen Löfis und Büls aufſteigt, wird außer einem gro߬ artigen Gebirgs-Panorama leicht Gemſen zu ſehen bekommen. Der Weg iſt ganz bequem, ſelbſt für Damen praktikabel.

Die Bärenjagd iſt nicht, wie die Gemſenjagd, ein zur Leiden¬ ſchaft gewordener Akt waidmänniſchen Vergnügens oder des Geld¬417Auf der Jagd. verdienſtes; ſie iſt entweder (und zwar in den ſeltenſten Fällen) eine unfreiwillige, durch den Zufall herbeigeführte Muthprobe für den Aelpler, oder ein abſichtlich aufgeſuchter, höchſt gefahrvoller Vernichtungskampf gegen den gefürchteten Herden-Räuber. In beiden Fällen iſt dieſe Jagd nicht minder beſchwerlich und drohend als jene, nur daß die Gefahr weniger in dem zu paſſirenden un¬ zugänglichen Terrain, als vielmehr in der Natur des zu erlegenden Wildes beruht.

Die eigentliche Bärenheimath in den Alpen ſind die Kantone Wallis und Graubünden. Als das am Schwächſten bevölkerte Alpenland, welches zugleich noch die ausgedehnteſten, dichteſten Waldungen und umfangreiche, wenig betretene Gebirgsreviere be¬ ſitzt, bietet es dem großen Raubwild die beſte Gelegenheit zu un¬ geſtörtem Aufenthalt. Es vergeht kein Jahr in den rhätiſchen und walliſer Alpen, daß nicht bald hier, bald dort die Schreckensbot¬ ſchaft ins Thal hinabkommt: der Bär habe wiederum Schaafe, Kälber oder überhaupt Jungvieh auf der Alp zerriſſen. Aber zur Genugthuung der allgemeinen Sicherheit verbreitet ſich dann auch oft die freudig wiederhallende Kunde durch die Berge, daß unter den, oft abenteuerlichſten, Umſtänden wieder ein Bär erlegt worden ſei. Die Summe der in den Alpen geſchoſſenen Bären darf in neuerer Zeit immerhin jährlich auf 12 bis 20 Stück angenommen werden. Es giebt, möchte man ſagen, Bärenjahre, in denen ſich dieſe Beſtien außerordentlich zahlreich zeigen, und deren viele in engen Gränzen geſchoſſen werden, und wieder andere Jahre, in denen wenig von dieſem Raubthiere verlautet. Die Menge der erlegten Bären würde bei Weitem größer ſein, wenn es mehr Jäger in den Bergen gäbe und die geſetzte Schußprämie größer wäre. (Graubünden z. B. zahlt von Regierungswegen nur 28 Francs für jeden erlegten Bären, ob alt oder jung, wobei dem Schützen dann das Thier ſammt Fell zum Verkauf noch bleibt.) Taxationen von Forſt - und Jagd-Männern ſchätzen den Bären-Reichthum vonBerlepſch, die Alpen. 27418Auf der Jagd. den Grajiſchen Alpen bis hinaus nach Steyermark und Krain auf etwa 500 Stück; doch iſt dieſe Annahme um ſo unſicherer, als er¬ wieſen iſt, daß der Bär in fortwährendem Wandern zwiſchen dem Oſten und Weſten Europas begriffen iſt und nur für unbeſtimmte Zeit feſte Standquartiere bezieht.

Münchhauſen iſt nicht blos ein Kollege der Jäger des Hügel - und Flachlandes, er hat auch Niederlaſſung bei den Alpenjägern geſucht und gefunden; daher kommts, daß eine Menge der über¬ triebenſten Anekdoten von Bärenjagden exiſtiren. Dies ſchließt indeſſen nicht aus, daß es Jagdabenteuer giebt, die zu den wirk¬ lich draſtiſchen gehören.

Eine höchſt tragi-komiſche Bären-Attake trug ſich im Sommer 1857 in der Tiefe des Engadiner Val d'Uina zu. Schon mehr¬ fach hatte ein hungeriger Mutz Herden angefallen, die unterm Griankopfe und an den Abhängen des Piz Cornet weideten, ſo daß man Jagd auf ihn machte. Ein Mann von Sins begegnet in wilder Einöde dem zottigen Geſellen, legt auf ihn an und brennt ihm eine Kugel auf den Pelz. Der Bär, zu gering ver¬ wundet, um durch den Schuß kampfesunfähig zu werden, wendet ſich zornig gegen den Jäger, der das Gefahrvolle ſeiner Lage ſofort erkennend, ſich hinter einen großen, ringsum freien Felsblock flüch¬ tet. Während der laut brummende Bär hinkend ihn verfolgt, ladet der Jäger aufs Neue, indem er den Felſen fortwährend um¬ läuft. Da, als die Büchſe wieder ſchußfertig iſt, ſtellt er ſich zum zweiten Mal, und trifft das Thier, abermals jedoch, ohne es tödtlich verwundet niederzuſtrecken. Die Wuth des Bären wird dadurch nur geſteigert, und bald rechts, bald links den Block umgehend, entſteht nun ein Haſchens - und Verſteckens - Spiel zwiſchen dem fortwährend blutenden Thiere und ſeinem flüchtenden Verfolger, das von Augenblick zu Augenblick ſchrecklicher zu werden beginnt. Denn weit und breit nur felſige, todte Einöde, kein rettender Freund, kein kampfunterſtützender Jagd-Genoſſe. Der Sinſer Bauer ver¬419Auf der Jagd. liert immer noch nicht ſeine Geiſtes-Gegenwart und die gewiß ſeltene Kaltblütigkeit; im Springen gelingt es ihm, die Büchſe zum dritten Mal zu laden und den dritten Schuß auf ſeinen Gegner abzufeuern. Ob dieſer traf, iſt unbeſtimmt. Zu ſeinem Entſetzen entdeckt aber der Jäger nun, daß ſeine Munition zu Ende iſt; wahrſcheinlich hatte er einen Theil derſelben während des ſpringen¬ den Ladens verloren. Das Verfolgungsſpiel beginnt gräßlich zu werden. Zwar zeigen ſich die Blutverluſte des Bären immer mächtiger, aber auch die Wuth deſſelben ſteigert ſich immer mehr. Noch eine Zeitlang ſetzt der nun faſt die Beſinnung verlierende Aelpler das Fluchtſpiel um den Felſenkloß fort und glaubt das Thier ſo zu ermatten, daß ihm zuletzt die Kraft zur weiteren Verfolgung fehle; aber vergeblich. Stets fort und fort ſieht er ſich von dem lautbrüllenden Ungeheuer auf Schritt und Tritt verfolgt, bald un¬ mittelbar dicht hinter ſich, bald durch Umkehr ihm entgegenkommend. Die Kniee zittern ihm, der Fuß wird unſicher und ſtrauchelt ein übers andere Mal, der Athem geht ihm aus, und in Schweiß gebadet wähnt er jede Sekunde ohnmächtig niederſtürzen zu müſſen. Da endlich ermattet auch das Raubthier, ſein Gebrüll ertönt nur noch ſtoßweiſe, und Unterbrechungen im Laufe treten ein. Dieſen Umſtand benützt der auf den Tod geängſtete Jäger und ſtürmt, mit letztem Aufwand aller ſeiner Kräfte, dem Thale zu, lange Zeit ohne umzuſchauen, ob er verfolgt werde oder nicht. Er war gerettet, vermochte aber kaum ſeine Wohnung zu erreichen. Eine ſchwere Krankheit warf ihn aufs Siechbett. Nachbarn, die am andern Morgen gut bewaffnet an die bezeichnete Stelle gingen, fanden, den Blutſpuren folgend, das Thier in ziemlicher Entfer¬ nung vom Schauplatze des entſetzlichen Jagdſpieles verendet.

Nicht mindere Geiſtesgegenwart und rettende Entſchloſſenheit entwickelte einſt der als Gemſenjäger hoch berühmte Colani von Pontreſina im Ober-Engadin. Auf ſeinen Streifzügen entdeckte er eines Tages die unverkennbaren Fährten eines Bären, und ver¬27*420Auf der Jagd. folgte dieſelben über ein nur wenige Fuß breites Felſenband (ähn¬ lich dem, wie es unſere Abbildung des Gemſenjagd-Abenteuers zeigt) bis zu einer Höhle, vor welcher der Pfad auslief. Da es ſchon ſpät am Tage war, und er nur eine leichte Büchſe bei ſich trug, ſo beſchloß er den Angriff auf das Thier zu verſchieben, und nahm ſeinen Rückweg mit der größten Vorſicht.

Am andern Morgen, zu rechter Jägerzeit, noch ehe es tagte, ging er, von ſeinem, damals zwölfjährigen Sohne begleitet, mit der beſten Doppelbüchſe bewaffnet, vor die Bärenhöhle; auch der Knabe trug eine gleiche Waffe. Nicht lange liegen Beide auf der Lauer, der Alte kniet zuvörderſt, der Knabe dicht hinter ihm, als es da drinnen lebendig zu werden beginnt. Bald funkeln zwei Augen, den Kohlen gleich, aus dem Dunkel der Höhle hervor, und der alterfahrene Schütze ſendet ihnen die erſte, wohlgezielte Kugel entgegen. Sie hat getroffen, denn laut ſtöhnendes Geheul erſchallt aus der Tiefe; zugleich aber auch entwickeln ſich die dunkelen Um¬ riſſe immer mehr, und im nächſten Augenblick kriecht eine gewaltig große Bärenmutter aus der Höhle hervor. So wie Colani des Schuſſes ſicher zu ſein glaubt, giebt er die zweite Salve. Sie zerſchmettert dem Ungethüm die rechte Vorderpfote, das mit don¬ nerndem Gebrüll zwar niederſtürzt, jedoch ſofort ſich wieder erhebt, vollends hervorkriecht und ſich zum Kampfe auf den beiden Hinter¬ beinen emporrichtet, da ihm die vorderen den Dienſt verſagen. Vater! ſoll ich ſchießen? ruft der über ſeines Vaters Rücken im Anſchlag liegende Knabe, vor Begierde zitternd. Aber der alte Colani verliert nicht einen Augenblick ſeine entſetzliche Jäger-Ruhe und kalte Beſonnenheit. Der nächſte Schuß mußte unbedingt dem Thier ein Ende machen, ſonſt wars um ihn und ſein Kind ge¬ ſchehen. Gieb mir die Büchſe! herrſcht er, ohne den Blick von ſeiner Beute zu verwenden, dem Knaben zu und wechſelt, während der Bär nur wenig Schritte von ihm entfernt iſt, mit feſter Hand die Waffe. So läßt er das hochaufgerichtete Thier in421Auf der Jagd. fürchterlicher Ruhe ſo dicht herankommen, daß faſt die Mündung der Rohre in den weit aufgeriſſenen Rachen der Beſtie reicht. Ein Druck, der erſte Schuß verſagt, der zweite knallt, und die Kugel jagt durch das Gehirn, daß das Raubthier mit ſchwerem Fall zuſammenſtürzt. Da leidets den Bub nicht mehr; im Nu hat er am jähen Abhang den Vater umklettert und hämmert mit verkehrter Büchſe auf den Schädel des röchelnden Feindes ein, daß dieſem der letzte Lebensfunken entflieht. Colani iſt ſchon lange geſtorben, aber der 12jährige Bub iſt jetzt ein muthiger Gemsjäger und im Sommer Führer zu dem Gipfel des Piz Languard.

Das neueſte und putzigſte Bären-Abenteuer ereignete ſich am 18. Auguſt 1860 Mittags auf dem Buffalora-Paß. Ein Bergamas¬ ker Schaafhirt, dem einige Schaafe todt gefallen waren, hatte den¬ ſelben das Fell abgezogen, das noch brauchbare Fleiſch ausgeſchnit¬ ten und Alles auf ſein Pferd geladen, um es in ſeine Hütte zu bringen. Nicht an die mindeſte Gefahr denkend, reitet er, nach Bergamasker Art ſeitwärts ſitzend, die Straße, als er plötzlich zwei jungen Bärchen begegnet, deren eines, von dem ungewohnten An¬ blick erſchreckt, laut zu blöken anfängt. Die Bärenmutter im Wahn, es begegne ihren Kindern etwas Böſes, ſtürzt aus dem Walde hervor und greift Roß und Reiter wüthend an. Der Hirt ſpringt ab und überläßt, um ſich zu retten, ſeinen Gaul dem Zufall. Dieſer, muthiger als ſein Herr, ſchlägt mit den Hinterhufen ſo kräftig aus, daß die Bärin, von den gepfefferten Ohrfeigen be¬ täubt, einigemal zurücktaumelt, immer aber ſich wieder erholt und aufs Neue ihre Angriffe fortſetzt. Durch die exceſſiven Bewegun¬ gen des Pferdes iſt der braune grobe Wollentuchmantel des Hirten, mit dem die Fleiſch - und Fell-Ladung überdeckt war, locker ge¬ worden und fällt bei einem neuen Sturm der vor Raſerei blind tobenden Bärin über den Kopf. Dieſe im Wahn, ein Feind um¬ nachte ſie alſo, läßt nun das Pferd in Ruhe und begiebt ſich mit ihren Jungen daran, den Mantel in Millionen Fetzen zu zerreißen,422Auf der Jagd. während der Hirt mit ſeinem Gaul eiligſt die Flucht ergreift und glücklich das Ofen-Wirthshaus erreicht, wo ihn eine Krankheit überfiel.

Der Sommer 1860 war überhaupt außerordentlich bärenreich; im Unterengadin kamen ſie oft bis in die unmittelbarſte Nähe der Dörfer, und bei Süß wars der Fall, daß ein großer, ausgewachſe¬ ner Meiſter Petz etwa eine halbe Büchſenſchuß-Weite von der Landſtraße unbeſorgt weidete, während ein Fuhrmann aus Leibes¬ kräften mit der Peitſche knallte, um ihn zu vertreiben, und jenſeit des Inn mehr denn ein halb Dutzend Leute mit Heuen beſchäftigt waren. Bei Zernetz hatte kurz vorher ein Bär in der Zeit von zehn Tagen 17 der fetteſten Schaafe geraubt.

So zufällig trifft ſichs denn doch nicht jederzeit. Auf die Kunde von dem übermäßigen Bärenreichthum des Jahres 1860, machten ein Paar hohe Herrſchaften: der auf ſeinem Sommerſitz Weinburg (Kanton St. Gallen) verweilende Preußiſche Premier - Miniſter, Fürſt von Siegmaringen, und der Großherzog von Heſſen, in Begleitung einiger tüchtiger Alpenjäger, gegen Ende September im Engadin den Verſuch einer Bärenjagd, konnten aber keine Beſtie auftreiben, und mußten ſich begnügen, einige Gemſen ge¬ ſchoſſen zu haben.

Der Bär iſt urſprünglich ſcheu, ja faſt möchte man ſagen feige; er flieht mit ſeiner Beute, wenn er eine Herde beraubt hat, als ob das böſe Gewiſſen ihm jage, die Nähe der Menſchen. Lediglich wenn er gereizt, angegriffen wird, oder wenn er ſeine Jungen bedroht wähnt, geht er zur Offenſive über. Frecher als Meiſter Braun iſt unter den Alpenraubthieren der Geyer und Adler. Er wartet nicht den Angriff ab, ſondern er greift ſelbſt an, jedoch nur nach ungemein kluger Berechnung, wenn er glaubt ſeines Er¬ folges gewiß zu ſein. Gemſenjäger, Wurzelgräber, Wildheuer wiſſen genug Fälle zu erzählen, wo ſie an jäher Felſenwand von einem großen Raubvogel überraſcht wurden und derſelbe verſuchte, durch423Auf der Jagd. Flügelſchlag die Kletternden in den Abgrund zu ſtürzen. Chriſtian Danuſer von Felsberg, Forſtaufſeher im Val Meſocco (Graubün¬ den), ſtand eines Morgens um die Mitte des Octobers 1856 dicht am Rande einer hohen Felſenwand und ſpähte nach Gemſen in die Tiefe hinab. Durch ein ſtarkes, raſch wachſendes Rauſchen in der Luft aufgeſchreckt, erblickt er in einer Höhe von etwa 60 Fuß über ſich einen großen Steinadler, eben im Begriff, mit eingezogenen Schwingen ſich auf ihn herabzuſtürzen. Danuſer, der die meuch¬ leriſche Augriffsweiſe dieſes Thieres wohl kannte, ſpringt eilends einige Schritte zurück, wirft ſich zu Boden und liegt kaum auf dem Rücken, als der Adler herabſchießt und ſo nahe an ihm ſich vor¬ überſchwingt, daß er ihn noch mit den äußerſten Spitzen des einen Flügels ſtreift. Kaum iſt das in ſeinem Schuß mit vollſter Ge¬ walt herabſauſende Thier an dem Bedrohten vorüber in die Tiefe, als dieſer ſchleunigſt emporſpringt und ſeine Kugelbüchſe auf den langſam ſich wieder hebenden Adler anſchlägt und ihn in dem Moment herniederſchießt, als er zum zweiten Male ſich anſchickt, einen Angriff zu unternehmen. Die Kugel des entſchloſſenen Schützen hatte die Bruſt des Vogels durchbohrt, und mit einem mächtigen Klapf (wie Danuſer ſich ausdrückte) fiel er vor ihm nieder. Jetzt ziert das ſchöne Exemplar ausgeſtopft eine Samm¬ lung zu Frankfurt am Main.

[424]
Begräbniß.

Druck von F. A. Brockhaus in Leipzig.

[425]

Dorfleben im Gebirge.

Im Dorfe wohnt ein friedlich-ſtill Geſchlecht,
Das, weil es nie des Glückes Gunſt erfährt,
Auch nicht des Glückes Launen fürchten darf,
Das tauſend Dinge, die die Stadtbewohner
Zu ihrer Qual beſitzen, gar nicht kennt,
Und deſſen Schickſal, meiſtens an den Gang
Der ſtets ausgleichenden Natur gebunden,
Wenn's leicht verwundet, ſchnell auch wieder heilt.

Mit dem Dorfleben im Gebirge gehts faſt ebenſo wie mit der geträumten Poeſie des Sennen-Lebens auf den Alpen; man denkt ſich daſſelbe in gewiſſen Beziehungen viel ideal-romantiſcher, als es in Wirklichkeit iſt. Der ſchwärmende Beſucher aus dem Flachlande, dem alle Reiſe-Annehmlichkeiten zu Gebote ſtehen, nimmt nur den wonnigen, berauſchenden Eindruck der ſommerlichen, duft¬ blauen Morgenlandſchaft in ihrer Totalität, oder den beſeligenden Abendfrieden mit ſeinen wunderheimlichen Staffagen aus dem Alpenthale hinweg, und überträgt dieſe Sättigung ſeiner Gefühls - Bedürfniſſe nun auf das Dorf, in welchem er weilte, auf ſeine Bewohner und deren erwerbliche und geſellige Zuſtände, ohne die¬426Dorfleben im Gebirge. ſelben in ihren inneren Verhältniſſen und Beziehungen eigentlich kennen gelernt zu haben; er konſtruirt ſich unter Zuhilfenahme des Vorhandenen ein ideales Alpendorf aus den Phantaſien, welche in glücklichen Stunden ihn umranken, und ſchafft dadurch ein Ding, welches in Wirklichkeit nicht exiſtirt.

Der Alpenbauer, wie wir ihn bereits in einzelnen Umriſſen kennen lernten, iſt allenthalben, dieſſeit und jenſeit des Gebirges, ein ungemein derber, höchſt proſaiſcher Menſch, der ſich beim erſten Anblick (vielleicht Tracht und Haltung ausgenommen) wenig vom Bauer des Flachlandes unterſcheiden würde, wenn hinter ſeiner Nüchternheit und in ſeiner Proſa nicht ein weit kernigeres Naturell, eine gewiſſe urwüchſige Originalität, man möchte faſt ſagen ein klaſſiſcher Ernſt ſteckte. Er iſt bei Weitem nicht ſo dreſſirt und gehobelt wie ein großer Theil der agrikolen Bauern, die durch ihre fortwährende Beziehung zum Stadtleben viel von dieſem ge¬ lernt und aufgenommen haben; aber eben darum iſt er auch wahrer, urſprünglicher und trägt weniger fremdes Weſen in ſich als jener. Es iſt die Eigenthümlichkeit, die bei jedem Gebirgsvolke, gegen¬ über dem Flachlandsbewohner, heraustritt; das patriarchaliſche Moment, getragen und gehoben durch die kräftigere, präciſere Aus¬ drucksweiſe, die wiederum ein Reſultat der Einwirkungen jener impoſanten, oft furchtbar-erhabenen Natur ſind. Sie ſtählt und kräftigt nicht nur den Körper, ſondern auch den Charakter des Volkes, das unbekannt mit den, im Sturme ſich häufenden, täglich neuen Bedürfniſſen der großen Welt, genügſam in ſeinen Lebens - Anſprüchen iſt, und in einer Altherkömmlichkeit der Sitten und Gebräuche verharrt, die, eben ihrer uns fremd gewordenen Alter¬ thümlichkeit halber, uns auffallen und anheimeln.

Dieſen ungekünſtelten, naturgemäßen Lebensformen begegnen wir zunächſt und am Unmittelbarſten an dem uns fremden Habitus der Häuſer. Sie ſind ein integrirender Theil der uns entzückenden Landſchaft und beleben dieſelbe durch ihre, weit über die Matten427Dorfleben im Gebirge. zerſtreute Lage ungemein. Dennoch aber würden ſie den maleri¬ ſchen, poetiſchen Effekt nicht erreichen, wenn wir an ihnen nur eben wieder den uns bekannten, geraden Linien, den äußerlichen Merk¬ malen der modernen Tieflands-Architektur, und den nüchternen, weißen Anſtrichfarben begegneten. Die Wohnungen in den Alpen¬ dörfern ſehen nicht aus wie Kunſtgebilde von Menſchenhand, ſie ſcheinen mit den Bergen und Bäumen aus der Erde gewachſen zu ſein. Da iſt noch die ſaftige, weiche, braune Holzfarbe, wie ſie die Natur den Stämmen ſelbſt verlieh, da ſind die ſilberglänzen¬ den Schindeldächer, auf denen ſchwere bemooſte Steine laſten, die trotzenden Hüter gegen den wilden Föhn. Breit und niedrig ſteht es da das Berghaus, als obs vom jahrelangen Druck der Steine und des Schnees halb in den Boden verſenkt wäre; aber gerade dieſe behäbige, lagernde Breite giebt ihm eine unendlich wohl¬ thätige Ruhe, die der erhabenen Einfalt und Stille der Alpenwelt entſpricht. So vortheilhaft nun dieſe Häuſer in der landſchaft¬ lichen Kompoſition wirken, ſo wenig würde deren innere Verfaſſung und Einrichtung den Beſucher befriedigen. Die mehr oder minder allen Hirten-Völkern eigene geringe Sorgfalt für die Reinlichkeit ihrer Wohnungen zerſtört jede idylliſche Illuſion. Ueber alle Begriffe einfach iſt der Hausrath; ein großer Theil deſſelben iſt Produkt eigener Handfertigkeit, und es giebt noch manches Dorf der inneren Alpen, in denen das eiſerne Thürſchloß noch keine Aufnahme und Anwendung gefunden hat, und der brennende Kien¬ ſpahn die Stelle des Talglichtes oder der Oellampe vertreten muß. Dem Rauch vom Herd und Ofen iſt kein Kaminweg angewieſen, durch den er ſeinen Ausgang ſuchen muß; in vielen Berghäuſern geht die Schornſteinleitung bis in den Bodenraum, und dort dampft es dann durch alle Luken und Spalten des Daches hinaus. Menſchen und Vieh leben und gedeihen gemeinſam im gleichen Hauſe; die Stallun¬ gen nehmen meiſt einen weſentlichen Theil deſſelben ein und ſchützen durch ihre natürliche Wärme im ſtrengen Winter gegen die ſcharfe Kälte.

428Dorfleben im Gebirge.

Betritt man dann des Alpendorfes Kirchlein, ſo iſts auch hier wieder, als ob man einen Rieſenſchritt zurück ins graue Mittel¬ alter machte. Die meiſten ſind im Bau Urtypen der Einfachheit und verrathen kaum, aus welcher Zeit ſie ſtammen, welchem Styl ſie angehören. Das Innere hat einſt die fromme Einfalt mit allerlei Zierathen oder die Hand eines wandernden Maler-Dilet¬ tanten mit Bildwerk aus dem Leben des Orts-Patrons oder ande¬ ren Heiligen-Legenden geſchmückt, in denen gewöhnlich der Teufel mit Hörnern und Pferdefuß eine hauptſächliche Rolle ſpielt; da iſts denn nicht ſelten der Fall, daß die liebe Dorfjugend an dieſen hölliſchen Mißgeſtalten ihren Zorn ausgelaſſen und den Herrn Satan im heiligen Glaubenseifer ganz zerkratzt hat. Oder man findet plötzlich, zu ſeiner größten Ueberraſchung, ein neues, von tüchtigem Künſtler gemaltes Altarblatt und hört bei weiterer Nach¬ frage, daß ein Münchener oder Düſſeldorfer Maler, der einen ganzen Sommer lang im Wirthshäusle des Dorfes logirt, dies Bild ge¬ malt und dem Kirchlein geſchenkt habe. Indeſſen giebts auch Alpendörfer, ganz verſteckt, zu hinterſt im Thal, die Gotteshäuſer haben, groß, edel im Styl, ſogar prunkvoll in der Ausführung, mit Marmorſäulen und trefflichen Bildſchnitzereien, Kirchen, die jene mancher ehemaligen Reichsſtadt weit übertreffen. Entweder ſteht oder ſtand ein Kloſter dort, welches aus ſeinem wohlgeſpick¬ ten Säckel und unter Beihilfe der dienſteigenen Thallente den überraſchend-ſchönen Bau herſtellte, oder es lebte einſt in dieſem von der Welt abgeſchiedenen Alpenwinkel ein Mann, der ſeine Nachbarn zu ſolch großem Werk zu entflammen wußte, daß Alle Hand anlegten, bis das Gebäude vollendet daſtand. Die Herr¬ ſchaft der äußerſten Gegenſätze, die in den Alpen allenthalben zu Tage tritt, zeigt ſich auch hier.

Und nun das Leben ſelbſt in dieſen Dörfern, in dieſen großen Einſiedeleien Central-Europas, wie tritt auch hier uns wieder ſo viel Uranfänglich-Einfaches entgegen! Ohne Beiſtand der429Dorfleben im Gebirge. Wehmutter, ohne ärztliche Hilfe, treten die meiſten Alpenbewohner in den Kreis ihrer Familie ein. Die erſte Pflege, welche ihnen wird, ſteht nicht ſelten weit unter jener, mit der die wilde Bären¬ mutter ihre Jungen inſtinktiv verſorgt und hegt und ſchützt. Nicht wenig Gegenden im Alpenlande ſinds, deren Bewohner den Kinder¬ ſegen als eine große materielle Laſt betrachten; denn iſts die Ar¬ muth allein, welche die wandernde Savoyarden-Jugend in die ferne, fremde Welt, ohne Schutz, ohne Anhalt, ohne Mittel hin¬ ausjagt und ihrem Schickſal preisgiebt, oder iſts nicht viel¬ mehr das beinahe vertrocknete Gemüth, das ſelbſt zu Fels und Stein gewordene Elternherz, das dieſen zur Volksgewohnheit ge¬ wordenen Akt immer wieder erneuert? Aus dieſem Grunde iſt auch der Akt der Taufe in vielen Gegenden der Alpen durchaus kein Familienfeſt. Und wiederum liegt der äußerſte Gegenſatz dicht daneben. Dort, wo das Volk, ſei es aus Glaubenseifer und Ueberzeugung, oder gedrängt von der Nothwendigkeit, Werth auf das Sakrament der Taufe legt, finden oft weite Wanderungen bis zur Kirche der Gemeinde mit dem erſt wenig Tage alten Kindlein ſtatt; denn Haustaufen ſind in den Alpen unbekannt, und nicht jedes Dorf, nicht jeder weit in einem Seitenthal gelegene Weiler oder Hof hat ſeine eigene Kirche. Die evangeliſchen Walliſer gingen, als vor einigen Jahrhunderten nach der Reformation ringsum das katholiſche Glaubensbekenntniß wieder angenommen wurde, mit ihren Täuflingen über Schnee und Eis, wohl 6 bis 7 Stun¬ den weit, nach dem proteſtantiſchen Grindelwald, um dort vom Pfarrer ihres Glaubens die kirchliche Weihe über die Aufnahme ihrer Kinder in den Bund der Chriſtenheit ſprechen zu laſſen, einen Weg, den heutzutage der kühnſte Berggänger kaum zurückzu¬ legen ſich getraut, weil Alles furchtbar vergletſchert und von Firn¬ ſchründen zerriſſen iſt. Da zeigt ſich eben wieder die Kraft und Konſequenz des Aelplers, der Ernſt und die Ausdauer, der feſte Wille und der Muth, nicht nur in Dingen des alltäglichen430Dorfleben im Gebirge. Müſſens und Sollens, ſondern auch in Sachen eigenen Entſchluſſes, eigener freier Meinung: ſo zäh wie er in ſeinen phyſiſchen An¬ ſtrengungen iſt, ebenſo nachhaltig iſt er auch in den Reſultaten ſeines Nachdenkens, ſeiner Willensfreiheit.

Faſt lediglich der natürlichen Körperentwickelung überlaſſen, wächſt nun das Kind, halb nackend unter und mit den Thieren des Hauſes auf. Während der beſſeren Jahreszeit iſt ſein Tum¬ melplatz auf der ſchwellenden Matte, welche die Heimet umgiebt, im Walde und ob jäher Felſenfluh, immer umgeben von tauſend Gefahren, hier des Sturzes in den Wildbach und des Zer¬ ſchmettertwerdens durch Steinſchläge, dort des Ertrinkens im See, oder der Vergiftung durch Beeren und Pflanzen; aber wie nicht der Frieden, ſondern der Krieg ſeine Helden groß zieht, ſo dienen auch alle dieſe, der zarten Jugend drohenden Schreckniſſe nur da¬ zu, das Alpenkind für ſein ihm beſtimmtes Loos im Leben vorzu¬ bereiten und zu kräftigen. Es müßte allenthalben ein ſpartaniſch¬ männlicher, eiſern-feſter Volksſchlag erwachſen, wenn nicht vielſeitig die gänzlich vernachläſſigte Hautkultur und das Leben in engen, oft mit peſtartig-verdorbener Luft gefüllten, während des Winters überheizten Stuben einer geſunden, normalen Körperausbildung weſentlich hindernd entgegenträten. Darum in einzelnen Gebirgs¬ gegenden, wo noch andere beeinträchtigende Faktoren mitwirken, die auffallende Menge von Cretins, blödſinnigen und nur halb entwickelten Menſchen. Die Schule quält den jungen Weltbürger der Alpen mit Wiſſensbeläſtigungen herzlich wenig; drei bis vier Elementar-Fächer, innerhalb der engſten Gränzen, genügen, um die Baſis für den geiſtigen Horizont des ganzen Lebens zu legen, alles Uebrige muß die Praxis ſpäterer Jahre lehren. Und dieſe Schulzeit, o nachahmungswürdiges Beiſpiel, Seligkeitsgedanke der unterrichtsfeindlichen, ſtundenſchwänzenden Jugend, dauert jährlich nur ſechs Wintermonate; den ganzen ſchönen, langen Sommer über, von Oſtern bis Michaeli, ſind Ferien, Ferien für431Dorfleben im Gebirge. Lehrer und Schüler. Was von den Gehirn-Nerven während des Winters dürftig aufgeſogen und von den zugeſpitzten Fingern tech¬ niſch erlernt wurde, hilft das freie, ungebundene Sommerleben innerhalb der Berge und an den Kräuter-duftenden Halden glücklich wieder verſchwitzen: nur einige Zahlenreſte für die Haus - und Markt-Arithmetik, etwas Leſefertigkeit und die oft ſchwer entziffer¬ baren Hieroglyphen der Namens-Unterſchrift, ſind in ſehr vielen Fällen die ganzen für die Zukunft eroberten Schätze der Schul¬ weisheit. Und unter welchen erſchwerenden Umſtänden werden dieſe geringen Fertigkeiten gewonnen? Der Lehrer, armer Mann! er ſteht, was ſein Honorar betrifft, gewöhnlich mit dem Hirten auf gleicher Höhe des Einkommens, nicht ſelten im Ge¬ halt noch unter dieſem; er iſt ein wandernder Scholarch, der ſehen mag, wo ihm die Vorſehung zur Sommerszeit ein anderes Brod beſcheert, der, wenn er ſelbſt ein kleines Häuschen und etwas Land nebſt einigen Stücken Vieh beſitzt, die unterrichtsfreie Zeit mit Land - und Hand-Arbeit ausfüllt. In mehr als hundert Dörfern giebts gar kein Schulhaus; ein kleines Zimmer in des Pfarrers Wohnung oder beim Kaplan, wo kaum die Hälfte der Kinder Raum zum Sitzen findet, muß deſſen Stelle vertreten. Der Schulmeiſter hat dann ein Schlafkämmerlein im gleichen Hauſe oder wo es ſonſt Platz für ihn giebt, und hoſpitirt heute hier, morgen dort am Mittagstiſch der Bauern. Die Kinder aber kommen oft eine Stunde weit in Schnee und wildem Wetter zur Schule.

Tritt nun der Knabe ins Leben ein, ſo hängt, wie überall, ſeine Zukunft von der Eltern Beſitz, von der Zahl ſeiner Ge¬ ſchwiſter und hundert anderen Umſtänden ab. Gar mancher arme Bube, der einſt die Ziegen hütete und wenig mehr als ſeine Klei¬ dung ſein Eigenthum nannte, gelangte dennoch zu Reichthum und Gütern. Da ſind vor allen die Graubündner ein wunderbar ſpe¬ kulatives Volk. Das große, ſchwach bevölkerte Land ſendet alljähr¬432Dorfleben im Gebirge. lich eine namhafte Zahl ſeiner Angehörigen ins Ausland, damit ſie dort ihr Brod erwerben. Was ihnen daheim am Mindeſten geboten wird, Zucker und Leckereien, das legt den Grund bei Vielen zu nicht geringem Wohlſtand. Als arme Knaben wandern ſie, mit dürftigem Zehrpfennig und einer Reiſe-Empfehlung ausge¬ rüſtet, weit fort nach Italien, Rußland, Deutſchland oder Frank¬ reich, um bei einem dort etablirten Konditor als Helfershelfer und junger Dienſtknecht einzutreten. Hier müſſen ſie Kakao reiben, Zucker mörſern, Kaffee ſieden lernen, und bilden ſo ſich nach und nach zum Schweizerbäcker aus. Die wenigen Pfennige Lohn und Trinkgeld erſparen ſie mit Harpagons-Geiz. Inzwiſchen findet ſich Gelegenheit, mit einem anderen Landsmann ein kleines Stübchen zu miethen, ſelbſt einen Kaſtanien-Handel, eine kleine Chokoladen - Fabrik oder Kaffee-Siederei zu etabliren. Aus den verdienten Groſchen werden Thaler, die Kompagnons trennen ſich, um Jeder nun auf eigene Fauſt dem Gelderwerbe weiter obzuliegen, ſie richten größere Geſchäfte ein, und das hohe Mannesalter findet ſie als reiche Leute. Da treibt ſie denn die Sehnſucht wieder heim ins alte liebe Vaterland, wo ſie nach und nach Güter, Wieſen, Häuſer erwerben, und dort verleben ſie, in ſtiller Einſamkeit, den Abend ihres Lebens. Ein anderer Theil der jungen Burſchen, beſon¬ ders aus den katholiſchen Schweizerkantonen Wallis, Uri, Unter¬ walden, Schwyz und auch aus Graubünden, verlaſſen heimlich Haus und Hof, um in fremden Dienſten als Lohnſoldaten ihr Glück zu verſuchen. Die Schweizertruppen in Neapel und Rom erlangten in jüngſter Zeit traurige Berühmtheit. Oder der Tyroler iſt als Kaiſerjäger in den Garniſonen Oeſterreichs zum feſten Mann herangereift, hat kapitulirt und dient dem Vaterlande, bis der Tod auf dem Schlachtfelde ihn heimruft oder eine armſelige Civil-Verſorgung ihn dürftig im Alter erhält. Die meiſten Alpen¬ knaben aber, die nur einige Mittel beſitzen, bleiben in ihren Bergen, und weichen in ihrer Lebensart nicht eine Linie breit von dem433Dorfleben im Gebirge. althergebrachten Wirthſchafts-Betriebe der Urältern ab. Je nach ihren Fähigkeiten und den ortsüblichen Beſchäftigungen widmen ſie ſich entweder der Viehzucht, lernen die Märkte und den Handel kennen, und verſuchen ſelbſt ihr Glück, oder ſie werden Flößer, Holzhacker, Wurzelgräber und im Sommer vielleicht Fremdenführer. Nur wenige Gegenden giebts, in denen, wie im Berner Oberlande, ein eigentlicher Fabrik-Erwerb und induſtrielle Thätigkeit Raum gewonnen haben.

Der Aelpler hängt in ſeinen Lebensbedürfniſſen weit weniger von fremder Hilfe und fremden Erzeugniſſen ab, als der Bauer des Flachlandes. Fleiſch, Milch, Käſe und Butter liefert ihm der Stall, rauhes ſchwarzes Brod geben ihm die ſelbſt gebauten Kör¬ nerfrüchte, und ſeine Körperbekleidung webt er ſelbſt. Es giebt Familien in den Bergdörfern, die Monate lang nicht das kleinſte Geldſtück für ihren Lebensunterhalt zur Hand zu nehmen brauchen. Wirthshäuſer giebts in gar vielen Alpenthälern nicht, und wo den¬ noch ſolche exiſtiren, da ſind es mehr Sprech - als Zech-Häuſer. Da ſitzen z. B. die Bauern des vom Spoel durchfloſſenen Livinen - Thales oft Stunden lang im Wirthshauſe beiſammen, qualmen ihren (zu öſterreichiſcher Zeit ausſchließlich gebräuchlichen) Regie-Tabak, ohne einen Tropfen Wein oder Branntwein zu verzehren; dabei aber ſchreien ſie ſo entſetzlich und disputiren beim Mora-Spiel ſo fieberhaft aufgeregt, als ob ſie über und über berauſcht wären. Solche freundnachbarliche Beſuche im Wirthshauſe, bei denen durchaus nicht die Abſicht zu Grunde liegt, irgend etwas verzehren zu wollen, kommen auch in den Alpendörfern deutſchredender Be¬ völkerung, mehr jedoch in denen der italieniſchen Alpen, vor. Es iſt ein Akt der altgerühmten Gaſtfreundſchaft aller Gebirgsvölker; die Einſamkeit und das Bedürfniß menſchlicher Geſellſchaft führt ſie zuſammen, ohne daß Gaumen und Magen gewohnheitsgemäß dabei ihren Tribut fordern. In jenen Thälern, in denen keine Wirthshäuſer exiſtiren, iſt oft der Mann der Seelen-Pflege: derBerlepſch, die Alpen. 28434Dorfleben im Gebirge. Pfarrer oder Kaplan zugleich auch Pfleger der Hunger - und Durſt - Bedürfniſſe fremder Wanderer; im Wallis, im Kanton Unterwalden und noch in anderen Gegenden, iſt der Weinzapfen und der Käſe¬ laib ein Accidenz-Erwerb der Geiſtlichen.

Es giebt eine große Menge von Alpendörfern, in denen die äußerſte Einſamkeit und das abſoluteſte Stillleben ſich niederge¬ laſſen haben; wohl aber wenige werden vom Rofnerhof am Oetz¬ thaler Ferner in Tyrol übertroffen, wo einſt der vom Konzil zu Konſtanz geächtete Herzog von Oeſterreich, Friedrich mit der leeren Taſche, ein verborgenes Aſyl fand. Vier Brüder wirthſchaften dort miteinander und üben alle Handwerke gemeinſam aus, die ſie für ihren Lebensbedarf beanſpruchen müſſen; wie eine robinſonſche Kolonie, ſind ſie von allem Verkehr ziemlich abgeſchloſſen, und der Winter in dieſer Höhenlage von mehr als 6000 Fuß über dem Meeresſpiegel trennt ſie für faſt halbjährige Friſt von den nächſten Nachbarn.

Bei aller dieſer Abgeſchiedenheit von der lärmenden, in Ge¬ nüſſen ſich überſtürzenden Außenwelt gehts dennoch in manchen Alpengegenden, je nach des Volkes Temperament und Sitten, zu Zeiten ganz fröhlich und vergnüglich her. Der ſommerlichen länd¬ lichen Feſte, der Alpen-Auffahrt, des Goh-Meſſe Tages, der Schwingeten und Alpſtubeten wurde ſchon ausführlicher gedacht; aber damit begnügt ſich das Bergvölklein noch nicht. Auch wenn die Herden wohlbehalten und gemäſtet von den hohen Triften heimgekehrt ſind, feiert Alt und Jung die Wiederkunft der Haus¬ genoſſen; das iſt die Aelpler-Kilbi, die mit dem Kirchweihfeſt an manchen Orten zuſammenfällt. Da gehts denn ländlich, ſittlich her. In manchen Thälern des Wallis bringen ſie den Decem dem Pfarrer ins Haus, beſtehend aus großen, fetten Käſen; Wohlehr¬ würden regalirt dagegen die Spender mit einem feſten, wohlberei¬ teten Mittagsmahl, bei dem es dann am Weine nicht fehlen darf. Im Kanton Unterwalden zieht die ganze Sennenſchaar mit Blumen¬435Dorfleben im Gebirge. ſträußen überſchwänglich ausſtaffirt an einem Herbſtſonntage in die Kirche und nimmt daſelbſt die Ehrenplätze des Tages auf den vorderſten Bänken ein. Nachdem das Standbild ihres Schutzpa¬ trons, des heiligen Wendelinus, auf dem Altare ausgeſtellt iſt, hält der Ortsgeiſtliche eine Predigt zum Lobe des Hirtenſtandes, und der übrige Theil des Gottesdienſtes verläuft nach dem Ritual. Nun aber, wenn die Kirche zu Ende iſt, beginnt draußen vor den Thüren ein jubelvolles Leben. Die Muſiker ſchmettern ihre Fan¬ faren luſtig hinaus, hoch weht die Aelpler-Fahne, und der heilige Wendelinus wird in jauchzender Prozeſſion, begleitet vom Pfarrer, durchs Dorf getragen. Als Wildmann und Wildweib verkleidete Burſchen, ganz in grünes Tannenreis gehüllt, mit Bärten von der langen Rag-Flechte (Usnea barbata) treiben Tollheit über Tollheit, indeſſen kunſtgeübte Fahnenſchwenker ſich produziren. So geht der Zug zum Wirthshauſe, wo die Begeiſterung aufs Höchſte ſteigt und mit einem ſchönen Akt der Humanität in der Weiſe geſchloſſen wird, daß der Bratenmeiſter den Aermſten der Gemeinde den mit Blumen geſchmückten Kirchweihbraten und eine große Kanne Wein zum Beſten giebt. Am andern Morgen dann, wenn Alle ausge¬ ſchlafen haben, beginnt, nach abermaligem Gottesdienſt, der Tanz, der lärmend und tobend ſo lange fortgeſetzt wird, als ſich nur noch ein Bein regen kann. Noch toller treibens die Appenzeller auf ihrer Kilbene zu Urnäſch; dort geht es Tag und Nacht in Saus und Braus. Und was gilt dann als die größte Ehre für ein Mädchen, das vom Kirchweihfeſte kommt? Was glaubt man wohl? Blitzblaue und blutig geſtoßene Ellenbogen! das iſt ein Zeichen, daß ſie brav Tänzer hatte, und keine Allemande auszu¬ laſſen brauchte. Der Saal, in welchem getanzt wird, iſt für die Menſchenmenge nämlich ſo klein, daß bei dem ungeſtümen Drehen die entblößten Ellenbogen allenthalben anſtoßen, und daher die blutigen Siegesmaale. Im Graubündner Vorderrheinthal findet ein ſolches Tanzfeſt zur Faſtnachtszeit ſtatt, welches drei Tage und28*436Dorfleben im Gebirge. drei Nächte dauert; zu dieſem bringen die Tanzgäſte ſelbſt ihre Speiſen mit und entnehmen bei dem Wirthe blos den Wein. Die Luſt am Tanzen (das meiſt nur an wenigen Tagen im Jahre ge¬ ſtattet wird) iſt ſo groß beim Alpenvolke, daß die wunderbarſten Erſcheinungen dabei vorkommen. So iſts im Appenzeller Lande der Brauch, daß nach der ſ. g. Trägete , d. h. nachdem das Heu von den Vorbergen herunter in die tiefer liegenden Gaden getragen iſt, von dem Beſitzer den ledigen Burſchen, die ſich bei der Trägete betheiligten, in einer Scheunen-Tenne ein Tanz mit einem ſehr frugalen Eſſen als Entſchädigung gegeben wird. Da drängt ſich denn Alles herzu, an dieſer Hilfeleiſtung ſich zu betheiligen, nur um einige Stunden ausgelaſſen tanzen zu können.

Auch die Winter-Abende ſind lange nicht ſo ſtill, als man bei der zerſtreuten Lage der Häuſer wohl glauben ſollte. Die Weiber halten ihre Spinneten , bei denen allerlei abenteuerliche Geſchichten und abergläubiſcher Hokuspokus erzählt werden; und haben ſie dann ihre Phantaſie aufs Aeußerſte erhitzt, dann begeg¬ nets in katholiſchen Thälern wohl, daß Alle ein gemeinſames Ge¬ bet, mitunter eine halbe Stunde lang, herzuſagen beginnen, um ſich gegen die Einwirkungen böſer Mächte zu ſchirmen und zu pan¬ zern. Im Urner Mayenthale an der Gotthardsſtraße, das durch Lauinenſtürze ſehr bedroht iſt, verſammeln ſich die Nachbarn bei ſtürmiſchem Winterwetter in einer der größten Wohnungen, um dort zu wachen und gemeinſchaftlich ans Werk gehen zu können, wenn ein Alles begrabender Schneefall herniederwettern ſollte. Damit aber den guten Leuten die Zeit nicht zu lang werde, durchtanzen ſie die Schickſalsnacht beim Klange einer Geige oder Harmonika. So ſtumpft Gewohnheit ſelbſt ein Schreckniß ab, an das der Fremde nur mit Entſetzen denkt.

Die winterlichen Abendzuſammenkünfte, die Spinneten und Stubeten oder das z 'Liecht goh , an denen junge Leute beiderlei Geſchlechtes Theil nehmen, leiten gemeiniglich auch die Dorflieb¬437Dorfleben im Gebirge. ſchaften ein, deren unmittelbare Folge der Kiltgang iſt. Er herrſcht nicht überall, und ſelbſt da, wo er beſteht, iſt er nach ſeinen Einwirkungen auf die ſittlichen Zuſtände ſehr verſchieden. Kiltgang bezeichnet die Erlaubniß, welche ein lediges Mädchen (mit Wiſſen ihrer Eltern) ihrem Liebhaber giebt, ſie Abends beſuchen zu dürfen. Bald findet dieſes tête-a-tête blos am Fenſter ſtatt, ſo daß der Burſch an einer vor dem Hauſe aufgebauten Beige Scheit¬ holzes hinaufklettert und ſo bis tief in die Nacht hinein mit dem Mädchen ſeiner Wahl ſich traulich unterhält, weshalb es der Be¬ wohner in den Bayeriſchen und Salzburger Alpen s' Fenſterln nennt, oder die Zuſammenkunft erfolgt im Kämmerlein der Geliebten und währt oft bis gegen Tages Grauen. In beiden Fallen regalirt das Mädchen den Burſchen mit Naſchwerk und Wein oder anderen geiſtigen Getränken. Es iſt eine uralte Sitte, die ſchon unendlich viel Unheil geſtiftet hat, aber ſich ſchwer¬ lich bannen läßt. Da die Knabenſchaft eines Ortes, d. h. die Summe der jungen heirathsfähigen Burſchen, es nicht duldet, daß Einer aus einem anderen Orte ihnen ins Gehege komme, beſon¬ ders bei den Töchtern reicher Bauern, ſo hat der Kiltgang ſchon Mord und Todtſchlag herbeigeführt, und leider haben die Kriminal - Gerichte faſt alljährlich Prozeſſe abzuwandeln, die aus dieſer alten Volksſitte reſultiren. Mit Liſt und Muth, mit Unerſchrockenheit und tapferer Gegenwehr muß der Begünſtigte, wenn er nicht zur Knabenſchaft oder zu den Nachtbuben eines Ortes gehört, ſich die Braut erkämpfen. Der Aelpler iſt eben derb und kühn in Allem, was er thut und unternimmt.

Der Feſttag der Hochzeit hat nur in wenigen Alpenthälern volksthümlichen, poetiſchen Duft und Reiz behalten, in den meiſten Gegenden iſt dieſer minnigſte Lebensmoment zu einem ziemlich nüchternen, von der Nothwendigkeit und vom Geſetz be¬ dingten ſocialen Akt abgeblaßt, der nur materiell mit Eſſen, Trin¬ ken und Tanzen, ohne alles ſymboliſche Ceremoniell vollzogen438Dorfleben im Gebirge. wird. Die ſinnigſten Gebräuche, jedoch auch mit großen ört¬ lichen Abweichungen, herrſchen in dieſer Beziehung noch im Bayeriſchen Oberlande, im Salzkammergut, ſo wie in einem Theile von Tyrol, wo die kleidſame, flotte Volkstracht weſentlich das Ihrige zum Schmuck der Feier mit beiträgt. Dort wird in man¬ chen Dorfſchaften die Braut am Hochzeits-Vorabend ſchlau verſteckt, und der Bräutigam muß wie ein feindlicher Feldherr mit Hilfe ſeiner Freunde alle Bewegungen der bräutlichen Partei beobachten und fortwährend die Umgebung des Hauſes recognosciren, um dann mit Uebermacht in das ausgekundſchaftete Verſteck eindringen und ſich die Liebſte erobern zu können. Iſt er ein heller, pfiffiger Kopf, ſo greift er nicht eher an, als bis er ſich ſeines Sieges ver¬ ſichert hält; ſchallendes Gelächter und gutmüthiger Spott verfolgen ihn indeſſen noch lange, wenn er ein - oder mehrmals fehlputſcht. Wer es aufs erſte Mal trifft, von dem nimmt man an, daß er einſt ein beſonnener, praktiſcher Hauswirth werde, der Alles recht angreife und mit offenen Augen auf's Ziel losgehe.

Aehnliche Präliminarien kommen auch im Teſſiner Livinen¬ thale vor. Dort rückt der Bräutigam von ſeinen Freunden und Verwandten begleitet vor das Haus ſeiner Braut und begehrt deren Herausgabe. Langes Parlamentiren erfolgt, bei dem die poſſigſten und oft ſehr witzige Bemerkungen mit unterlaufen. Endlich entſchließt ſich der Brautvater, die Hausthür zu öffnen und dem Bräutigam die geſuchte Herzensdame zuzuführen; aber gewöhnlich wird dann das älteſte Mütterchen der Umgebung, wo¬ möglich mit Kropf oder Höcker am Rücken, oder eine angekleidete Strohpuppe oder ſonſt irgend welche Fopperei dem Bräutigam ent¬ gegengeſchoben, worüber das verſammelte Volk in ſtürmiſch-jubeln¬ des Gelächter ausbricht. Der Suchende, endlich der Faſeleien müde, dringt nun mit Ungeſtüm ins Haus ein und findet die feſtlich geſchmückte Braut, die er triumphirend entführt.

Nur in verhältnißmäßig wenigen Gebirgsthälern herrſcht noch439Dorfleben im Gebirge. die ſchöne Sitte, mit großem feſtlichen Zuge unter Begleitung be¬ kränzter Brautjungfern, die ſpielenden Muſikanten vorauf, zur Kirche zu gehen. Die Art, wie einſt der Kloſtermeir von Mörli¬ ſchachen den Brautlauf hielt, als er die Braut von Immenſee (Schillers Tell, IV. Akt, 3. Scene), abholte, iſt längſt außer Brauch gekommen. Auch in die Berge iſt die Verflachung gedrungen und hat mit der Beſeitigung der alten, nationalen Tracht auch manche ſchöne Sitte entfernt. Nur noch das Schießen auf dem Kirchwege aus alten, halb verroſteten Böllern, Piſtolen oder Mus¬ keten, oder gar aus hohlgebohrten, in die Erde gegrabenen Holz¬ röhren wird noch ziemlich allgemein praktizirt und ruft im taumeln¬ den Freudenrauſch durch Unvorſichtigkeit manche Schreckensſtunde hervor.

Der Sonntag in Gebirgsdörfern hat etwas ungemein Er¬ hebendes, Feierliches. Es iſt, als ob die ganze Natur den Feſttag mit begehe. Die gleichen wunderbar-akuſtiſchen Schallwände, welche den Ton des Alpenhornes ſo zauberhaft-modulirt wiedergeben, reflektiren auch das Glockengeläute in den Alpenthälern auf nicht zu beſchreibende Weiſe. Der Klang ſcheint den Metallton zu ver¬ lieren und nimmt dagegen eine intenſiver-gefüllte, innigere, wär¬ mere Tonfülle an, wie ſie den kryſtallenen Glasglocken eigen iſt. Auf etwas erhöhtem Punkt ob einem Alpſee-Geſtade an hellem Sommer-Morgen zur Kirche lauten zu hören, wie die rufenden und antwortenden Glocken von hüben und drüben ihre Klänge weit hinein in die Schluchten und Thaltiefen ſenden, und die ganze Landſchaft rundumher in wonniger Ruhe den Tönen lauſcht, gehört zu den ſinnigſten Genüſſen, welche die Bergwelt dem empfänglichen Gemüthe zu geben vermag. Da ſtrömt es denn herbei aus allen Winkeln und hervor aus den dunkelen Tobeln und herab von den braunen Holzhütten über die maigrünen Matten, das Volk in ſeinem ländlichen Sonntagsſtaat. Die Weiber und Mädchen, je nach der Thalſchaft Gebrauch, ernſt und ſchwarz, im dicht gefältelten Loden¬440Dorfleben im Gebirge. rock, oder in hellen, fröhlichen Farben, mit keck-geneſteltem, maleriſch geformtem Mieder und ſilbernem Kettlein gehen direkt ins Gottes¬ haus hinein, während die Buab'n und Männer noch draußen ſtehen bleiben und Revue halten, bis das ganze Geläute zu¬ ſammen, als letztes Mahnzeichen, ertönt und nun der Orgel mäch¬ tige Stimmen anheben und in den Gaſſen Alles ſtill und lauſchig wird. Da iſts Sonntag; da iſt wirkliche Feier, mehr und er¬ greifender, als in den Städten. Und iſt die Kirche dann zu Ende, ſo wandeln die, welche noch jüngſt ein liebes Angehöriges der Familie verloren, auf die Gräber und ſchmücken ſie mit friſch gepflückten Alpenroſen, oder zieren die einfachen, ſchwarzen Kreuze mit einem Immortellen-Kranz und Rosmarin und Nägelein. Die Burſchen aber ziehen ins Wirthshaus, um ſich zum weiten Heim¬ wege zu ſtärken, oder es findet Gemeindeverſammlung vor der Kirche ſtatt, wo Proklamen der Regierungen, Aufgebote zum Mi¬ litair-Dienſt verleſen oder Orts-Beamtete gewählt werden. Der Nachmittag aber vereint die männliche Jugend auf dem Schützen¬ ſtand; denn die Büchſe iſt des Aelplers liebſte Waffe, mit der er die Freiheit ſeiner Berge und ſeines Vaterlandes vertheidigt, wenn es irgend einem fremden Eindringlinge gelüſten ſollte, Eroberungs¬ züge dorthin unternehmen zu wollen.

Und iſt das kleine, ſtille und beſcheidene Leben der Alpen¬ einſamkeit durchgelebt, wird der Körper der Erde wieder anvertraut, von der er kam, dann tritt uns auch in dieſer letzten Feierlichkeit wieder ein ganz eigenthümlicher Moment entgegen. Drunten im Lande, wo alle Nachbarn beiſammen wohnen und ihre Häuſer um des Dorfes Kirchlein gruppirt haben, da iſt (das landesübliche Zeremoniell abgerechnet) das Begräbniß eine Handlung, die ſich faſt allenthalben gleicht. Anders in den Alpen, wenn droben, ſtundenweit von der gemeinſamen Ruheſtätte, der Erdenbürger zur Ewigkeit eingebt. Den Weg. den er allſonntäglich als Lebender zum Kirchlein machte, muß jetzt ſein Leichnam im engen Bretter¬441Dorfleben im Gebirge. haus zum letzten Mal zurücklegen. So weit hinab iſt's ſchwer ihn zu tragen. Da ladet denn der Sohn des Vaters oder der Mutter Sarg, wenns Sommer iſt, auf einen kleinen, ſchmalen Karren, ſpannt aus dem Stall, was er juſt hat: ein Roß oder ein Stück Hornvieh davor, und geleitet ſo die irdiſchen Reſte hinab ins Thal. Ueberall, wo dieſes Trauer-Gefährt vorüberkommt, tritt das Volk hinaus, betet laut ein Vater unſer , oder ſchließt ſich dem Zuge an. Und hat der Winter ſeine Schneedecke über Berg und Thal geworfen, dann muß der Schlitten dem Verſtorbenen den letzten Dienſt erweiſen. Der Sarg wird feſt aufgebunden, ein ſtarker, kräftiger Mann, mit zwei Bergſtöcken unter den Armen, ſetzt ſich zu vorderſt auf, lenkt mit den Füßen, und im jagenden Fluge gleitet der Leichen-Kondukt hinab.

Druck von Ferber & Seydel in Leipzig.

About this transcription

TextDie Alpen in Natur- und Lebensbildern
Author Hermann Alexander von Berlepsch
Extent497 images; 116039 tokens; 26058 types; 872593 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

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Bibliographic informationDie Alpen in Natur- und Lebensbildern Hermann Alexander von Berlepsch. . VIII, 441 S. : 16 Ill. CostenobleLeipzig1861.

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