Das Ueberſetzungsrecht dieſes Werkes in fremde Sprachen, ſowie das Recht der Nachbildung der Illuſtrationen behalten ſich Verfaſſer und Verleger vor!
Herrn Iwan von Tſchudi gewidmet vom Verfaſſer.
Die NaturVermag nicht unter ähnlicher GeſtaltDen Fortgenuß der Dinge zu gewähren.Sie wechſelt ihre Formen, und ſie läßtDes Einen Bild in andre übergehen,Doch mit Verſchiedenheit von Geiſt und Kraft.So wächſt der unermeßne Reichthum auf,Und ewig zeigt ſich eine andere,Und doch dieſelbe Welt.
Die Alpen ſind einer der großartigſten Beweiſe von der Majeſtät der Schöpfungsgewalt.
Staunt der denkende Menſch ſchon alle die Wunder und erhabenen Zeugniſſe der erſchaffenden, erhaltenden und auflöſenden Kraft in der Natur an, welche täglich, ſtündlich vor ſeinem ſehen¬ den Auge, nach einem großen gemeinſamen Organiſationsgeſetze Neues geſtaltet, Exiſtirendes bewegt und belebt, Verbrauchtes, Vollendetes wieder dem Urquell der Materie oder einer neuen Beſtimmung im großen Kreislaufe der Schöpfung zuführt und ihm einen Maßſtab für die nimmer raſtende, Alles ergreifende, Alles umfaſſende Thätigkeit des wollenden, ordnenden, Alles durch¬Berlepſch, die Alpen. 12Das Alpengebäude. dringenden und vollbringenden großen Geiſtes im Univerſum giebt, — dann wird er tief ergriffen, erſchüttert vor jenem impoſanten Rieſenbau der Alpen ſtehen, der von Gewalten emporgerichtet wurde, für deren materielles Entſtehen und Wirken die Naturwiſſenſchaften zwar allgemeine, aus den Erſcheinungen gewonnene Normen auf¬ ſtellen und ihr Verhältniß zu anderen Naturgeſetzen nachweiſen, deren ganze Aufgabe, Ausdehnung und Gränzen im Weltall das menſchliche Ergründen und Erkennen aber nur zu ahnen vermag.
Nur wenige Menſchen kennen die wirkliche und volle Ma¬ jeſtät des Alpengebäudes. Sie entſchleiert ſich da am Aller¬ wenigſten, wo die breiten Heerſtraßen über Joche und Bergſättel laufen, oder wo das kleinliche Treiben des alltäglichen Verkehrs¬ lebens an die Fußſchemel dieſes Schöpfungswunders ſich heran¬ gewagt hat. In die Geheimniſſe der verborgenen Gebirgswelt mußt Du hineindringen, in die Einſamkeit der ſcheinbar ver¬ ſchloſſenen Schluchten und Thaltiefen, wo der Kulturtrieb des Menſchen ohnmächtig ermattet, weil er die Schwäche ſeines Stre¬ bens gegenüber der Erhabenheit der Alpennatur erkennt, — über Urwelt-Getrümmer mußt Du klimmen, durch Gletſcherlabyrinthe und Eiswüſten in das Tempelheiligthum eingehen, welches ſich dort vor Deinem erbangenden Blicke frei und kühn in den Aether empor¬ wölbt. Da wird ſie Dir entgegentreten die unbeſchreiblich hohe Pracht der Alpenwelt in ihrer ganzen Herrlichkeit und Größe, da wirds mit Geiſterſtimmen Dich mächtig umrauſchen, und über¬ wältiget wirſt Du niederſinken vor dieſen verkörperten Gottesge¬ danken. Und haſt Du Dich dann aufgerafft von dem erſten gewaltigen Eindrucke, — haſt Du im Anſchauen der gigantiſchen Maſſen das Herz Dir ausgeweitet und empfänglich gemacht für noch größere und herrlichere Offenbarungen, dann richte kühn eine Frage an jene Mauſoleen urvordenklicher Zeiten, dann forſche, welche Hand ſie emporgehoben hat aus der Tiefe ewiger Nacht in das Reich des Lichtes, — dann ſchlage die Geſchichte ihrer3Das Alpengebäude. Schöpfungstage in den Felſenblättern dieſer verſteinerten Welt¬ chronik nach und erforſche ihren Exiſtenzzweck; — und die großen todten Maſſen werden ſich beleben, es wird ſich Dir ein Blick erſchließen in den unendlichen Kreislauf der Ewigkeit.
Gedankenvoll, verſtandvoll iſt die Schöpfung,Ein großes Herz, das Wärm 'in alle Adern,In alle Nerven Gluth der Fühlung gießtUnd ſich in Allem fühlet.
In weit geſtrecktem Halbbogen durchziehen die Alpen das ſüdliche Europa, ein Glied jenes koloſſalen Erdrippen-Baues, der den, ins mittelländiſche Meer hinausragenden Landzungen der Iberiſchen, Italieniſchen und Osmaniſch-Helleniſchen Halbinſeln als Pyrenäen, Apennin, Tſchar-Dagh und Hämus ihren inneren Halt giebt. Sie ſind Reſultate und Gebilde viel hunderttauſend¬ jähriger Kryſtalliſationen und Niederſchläge aus einſtigen Ur¬ meeren. In verſchiedenen Epochen erfolgten dann Hebungen und Senkungen, abermalige Ueberfluthungen und neue Ablagerungen, und endlich durchbrachen feuerflüſſige Produkte aus den Schmelz¬ öfen des Erdinneren dieſe vielfach übereinander lagernden Schichten,
Wer Zeuge jener Umwälzungen und Ausbrüche hätte ſein kön¬ nen, als in den Central-Alpen der eigentlichſte, innere Kern des rieſigen Berggebäudes, die Granite, Gneiſe und kryſtalliniſchen Schiefer aus den Tiefen der Erdrinde emporgedrängt, von den ſtrahlend aufſchießenden Maſſen der hornblendartigen Geſtein¬ durchbohrt und in Fächerform aufgerichtet wurden? Wie ohne mächtig möchten die Momente des wildeſten Natur-Aufruhrs die wir kennen, — wie unbedeutend Erdbeben und Meeresſturm, Vulkan-Ausbruch und Felſenſturz der Jetztzeit gegen jene Kata¬ ſtrophen erſcheinen, welche dem Alpengebäude ſeine gegenwärtige Geſtalt gaben? Wie hat unſer Verſtand ſo ganz und gar keinen1*4Das Alpengebäude. Anhaltepunkt, um einen nur einigermaßen entſprechenden Begriff für jene welterſchütternden Epochen zu bilden? Vertauſendfachten wir den furchtbarſten Aufruhr des wildeſten Gewitters, welches die geſteigerte Phantaſie auszumalen im Stande iſt, — dächten wir uns alle Feuerſchlünde der zur Kriegsführung der Völker auf Er¬ den exiſtirenden Geſchütze auf einer Stelle verſammelt, auf ein Kommandowort losgebrannt — wie nichtig würden ſie immerhin noch im Verhältniß zu jenen Momenten ſein, in welchen die noch Milliarden und abermals Milliarden von Kubikklaſtern feſter Ge¬ ſteine der Central-Alpen aus ihren Fugen geriſſen zerbarſten, und zerſprengt, himmelhoch aufgerichtet oder übereinander geworfen wurden?
Es hat die größte Wahrſcheinlichkeit für ſich, daß die meiſten der erdgeſtaltenden Vorgänge langſam, ſehr langſam ſich ent¬ wickelt haben mögen. Denn zuverläſſig iſt der Härtezuſtand der Geſteine während der großen Revolutionsperioden ein viel minder ſpröder, weniger erfeſteter geweſen, als heute, ſo daß die beiden, jedenfalls am Bedeutſamſten bei der Ergeſtaltung betheiligten Fak¬ toren: die Centrifugal - (oder mechaniſche, durch den Erdumſchwung bedingte Anziehungs-Kraft und die Expanſion (Ausdehnung) durch Gaſe, Dämpfe, Waſſerdruck aus dem Erdinnern, — leichter und ſtetiger auf die Geſtaltung einwirken konnten. Aber eben ſo ſicher iſt es auch, daß andere phyſikaliſche Geſetze, wie von Anbeginn der Materie beſtanden, — wie z. B. das Geſetz der Schwere, — aktive Augenblicke in der äußeren Bildungsgeſchichte des Alpen¬ baues herbeigeführt haben müſſen, die, energiſch in ihren Wirkungen,5Das Alpengebäude. zu dem Furchtbarſten gehören, was der menſchliche Gedanke nur zu erfaſſen vermag. Tauſend Merkmale bezeugen dies bei näherer Betrachtung des Gebirgsreliefs, namentlich die noch heute an pitoresken Formen reichen, ſcharfkantigen Linien und Brüche der Dolomit-Gebirge, die ſich weder abrunden, noch verwitternd zer¬ bröckeln, — die abenteuerlichen Zickzack-Ornamente und wunderbar phantaſtiſchen Formenſpiele in den Kalkalpen, ſoweit dieſe nicht durch Firn-Einlagerungen oder Ueberdeckung mittelſt jüngerer Fels¬ gebilde dem Auge entzogen werden, — dies bezeugen die großen Thalriſſe und Schluchten, wie die in der Via-Mala, im Tamina¬ thale, in der Trientſchlucht, die ſchlundähnlichen Mündungen der meiſten ſüdlichen Walliſer und Engadiner Seitenthäler, deren beide Thal - oder Schluchtwände heute noch die ineinander paſſenden Bruchflächen (mitunter bis in die kleinſten Details erhalten) zeigen, — das beſtätigen die kahlen, im Material-Profil ſich präſentirenden Felſenköpfe, die, ſenkrecht abſinkend, alle übereinander liegenden Schichten dem Blicke preisgeben, während der Pendent, der abge¬ brochene, einſt gegenüberſtehende, nunmehr fehlende, maſſige Gegen - Part in die Tiefen verſunken iſt, wie z. B. am Wallenſee die Wände der Churfirſtenkette, die Felſenfronten des Frohnalpſtockes und Axen am Vierwaldſtätter-See u. a. m.
Betrachten wir dann weiter jene majeſtätiſchen Strebemaſſen, die gleich gigantiſchen Obelisken frei und kühn in die Wolken emporſteigen, Zinken wie das unerklimmbare, ſchneenackte, 13850 Fuß hohe Matterhorn, die blendende Firnpyramide der faſt eben ſo hohen Dent blanche, das neunzinkige Gipfeldiadem des Monte Roſa (von 14200 Fuß Höhe), welche unmöglich in ihrer Pfeiler - Geſtalt, wie wir ſie jetzt ſehen, durch die Erdkruſte aus der Tiefe hervorgeſtoßen ſein können, ſondern nichts als vereinzelt ſtehen¬ gebliebene Ruinen-Reſte des ehemaligen alten Berggebäudes ſind, — was für gräßliche Zertrümmerungs-Akte müſſen es geweſen ſein, die jene dazwiſchen nun fehlenden Glieder loſtrennten und wahrſcheinlich6Das Alpengebäude. in die Tiefen, aus denen ſie emporgeſtiegen waren, zurückſinken ließen? denn, daß allmählige Verwitterung dieſe Felſenthürme ſo abgenagt und modellirt habe, dagegen ſprechen eine Menge von Gründen.
In keinem anderen Gebirge Europas liegen Entſtehung, Zer¬ ſtörung und Neugeſtaltung ſo unmittelbar und in ſo markigen Zügen nebeneinander, wie in den Alpen; an Großartigkeit der Formen, an Mannigfaltigkeit der Zerklüftung und Verwerfung der Schichten werden ſie von keinem anderen unſeres Continentes über¬ troffen.
Es ragt die heilige Urſchöpfungszeit,Von Felſenzacken eine Rieſenwelt,Ein wildes Urgebirge weit und breit,In ſtarrer Pracht zum blauen Himmelszelt.
Aber kein anderes Berggebäude unſeres Erdtheiles vermag auch einen ſolchen Mineralreichthum, eine ſo inſtruktive Skala des Erdbildungsprozeſſes aufzuweiſen, wie die Alpen. Freilich werfen Umbiegungen oder gänzlich abnormer Wechſel der Schichten, eingelagerte Sedimentſtreifen in den kryſtalliniſchen Geſteinen und widerſtreitende Stratificationen dem Geologen oft faſt unlösbare Räthſel in den Weg und öffnen ihm Thor und Thür zu den abenteuerlichſten Hypotheſen.
Um ſich ein annähernd richtiges Bild von der inneren Kon¬ ſtruktion, von dem Material-Bau, von der geognoſtiſchen Auf¬ einanderfolge der Geſteinsarten in den Alpen zu machen, denke man ſich, daß ein einſtiges Urmeer durch unbeſtimmbar lange Schöpfungs - und Erdgeſtaltungs-Perioden hindurch Schlammſchichten ablagerte, wie wir einen ähnlichen Prozeß im Kleinen heute noch an den Ufern der Flüſſe und nach Ueberſchwemmungen wahrnehmen können. Jede dieſer Perioden verſchlang ganz oder theilweiſe die damals auf den emporgetauchten Inſeln oder Kontinenten, oder in7Das Alpengebäude. den Gewäſſern zur lebensvollen Entwickelung gelangten Thiere und Pflanzen und begrub dieſelben in ihren Ablagerungsſchichten. Ganze Generationen von Organismen, die in unſeren Zeiten nicht mehr exiſtiren, gingen mit ihnen unter. Dieſe eingeſchloſſenen Zeugen der verſchiedenen Epochen organiſchen Lebens (jetzt als Verſteine¬ rungen oder Petrefakten und Pflanzenabdrücke in den Gebirgs¬ ſchichten gefunden) wurden die Erkennungszeichen und Merkmale, nach denen die Wiſſenſchaft der Geologie die Blätter ihrer Schöpfungsgeſchichte ordnet. Die Reihefolge derſelben iſt, wo ſie nicht gewaltſam geſtört wurde, übers ganze Erdenrund die gleiche. Es müſſen alſo die älteren und älteſten Ablagerungen oder „ Sedi¬ ment-Gebilde “zu unterſt und die je ſpäter erfolgten jederzeit dar¬ über liegen. Alſo ſtellt es ſich auch im Alpenlande und in ſeiner Umgebung dar.
Eine Wanderung bergwärts von Süddeutſchland aus führt uns durch die geologiſchen Gebiete aller Hauptepochen und iſt am Beſten geeignet, die Entwickelungselemente und deren Gliederung vorzuführen. Die große bayeriſche Ackerbau-Ebene zwiſchen Donau und Inn, die Flächen von Nürnberg, Ulm, Augsburg, München bis in die Nähe von Paſſau, gehören den jüngſten Ablagerungen oder Alluvial-Gebilden an; überall, wo man durch die fort¬ dauernden Humus-Bildungen einen Spatenſtich ins Erdreich thut, kommt man auf Kiesgruben, Schuttablagerungen oder torfähnliche Unterlagen. Unter dieſen zeigen ſich Diluvial-Gebilde, theils geſchichtete, theils ungeſchichtete Lager von Blöcken, namentlich auch ſogenannte erratiſche Schichten. Steinbrüche ſind ſo ſelten, daß man in den Dorffluren mancher Gegenden hölzerne Grenzſteine ſetzt. — Ein Schritt weiter ſüdwärts bringt uns in bergiges Terrain, ins Bayeriſche Hochland, ins Allgäu, an den Bodenſee und in das größte und breiteſte Thal Europas, in das Schwei¬ zeriſche Mittelland (zwiſchen Jura und Alpen), in welchem Zürich, Bern, Freiburg und Lauſanne liegen. Wieſe und Wald wechſelt8Das Alpengebäude. mit agrikolen Diſtrikten, die Gegend wird farbiger, formiger, Bäche und Flüſſe nehmen einen beſchleunigteren Lauf an und ſammeln ſich in tief ausgeſpülten Seebecken an der Vorberge Fuß. Noch bekränzen die rundlich weichſchwellenden Formen der Laubhölzer Anhöhe und Niederung; weithin ſind die Halden mit zerſtreuten Wohnungen überſäet; Dörfer und Städte bergen raſch pulſirendes, haſtig drängendes, nach Erwerb ringendes Leben. Es iſt das Gebiet der Molaſſe-Gebilde, die nach den eingeſchloſſenen Muſcheln ſich theils als Niederſchläge aus ſalzigen Meeresgewäſſern, theils als ſolche aus ſüßen Waſſern ausweiſen und meiſt als blaugraue Sandſteine, Mergel - und Lettenſchichten, Süßwaſſerkalk, Muſchel¬ ſandſtein und große Konglomerat-Bänke — Nagelfluh genannt — darſtellen. Die Berge dieſer Zone zeigen nur rundliche, hügelhafte Formen; in der Schweiz wachſen dieſe bei etwas entſchiedeneren Linien bis zu einer Hebung von 6000 Fuß an (Speer, Rigi, Napf).
Abermals ein Schritt weiter dem Gebirge zu und in daſſelbe ſchon eintretend, gelangen wir nach Salzburg, Sonthofen, in das öſterreichiſche Vorarlberg, in die Kantone Appenzell, St. Gallen, Glarus, Schwyz, nach Sarnen im Kanton Unterwalden, an den ſchönen Thuner-See. Der Ackerbau verläßt uns immer mehr, die Landſchaft wird entſchieden alpenhaft, der Laubwald zieht ſich zurück und Nadelholzforſte treten an deſſen Stelle; Viehzucht beginnt die vorherrſchende Beſchäftigung des Volkes zu werden. Die leuchtend grellen Farben rother Ziegeldächer und weißbetünchter Häuſer ver¬ ſchwinden allgemach; ſilbergrau auf grün, gebleichte Schindeldächer auf den Holzhäuſern in Mitte ſchwellender Matten treten als charakteriſtiſche Momente hervor. Die Molaſſe-Geſteine verſchwin¬ den; ein anderes Gebilde ſchiebt ſich unter denſelben hervor, das alſo älter iſt und ſich durch das ganze mittägige Europa, tief nach Afrika und Aſien hinein verbreitet zeigt. Es iſt das der Eocen-Bildungen, welche, in Flyſch - und Nummuliten¬9Das Alpengebäude. Geſteine*)Die Bezeichnung „ Eocen “rührt vou einigen in dieſe Geſteinsarten eingeſchloſſenen Organismen (Pflanzenabdrücke, Muſcheln, Thierüberreſte) her, deren Arten in der Gegenwart noch exiſtiren, als Verſteinerungen aber ſich zuerſt in dieſer Formation zeigen. — Nummuliten-Gebilde haben ihre Benennung von einer in denſelben in großer Menge vorkommenden verſteinerten, linſenförmigen Muſchel (Nummulites nummularia, vom Gebirgsbauer auch „ Batzenſteine “, „ Kümmiſteine “genannt, welche geſpalten einen ſpiralförmigen Kanal mit einer Unmaſſe von Kämmerchen zeigt. Abbildung in Vogt's Geologie, 2. Aufl., 1. Bd. pag. 626. unterſchieden, bald als Schiefer und Sandſtein, bald als kalkartige Geſteine in reſpektabeln Gebirgsketten und ſchroff abgeriſſenen Felſen-Façaden auftreten. Begreiflich beſteht nicht die ganze Aufgipfelung eines ſolchen Gebirgs-Individuums lediglich aus dieſem Geſtein, ſondern daſſelbe iſt entweder nur das vorherr¬ ſchende, wie in der ſtolzen Bergpyramide des Nieſen (7280 Fuß) am Thunerſee, wo die Flyſchlager eine Durchſchnitts-Dicke von 4500 Fuß erreichen, — oder, es iſt das zu oberſt aufliegende, in ſchwindelnde Höhe mit emporgehobene Geſtein wie an der Schrattenfluh im Emmenthal oder an den zackiggebrochenen, ſchein¬ bar in ſich ſelbſt zuſammengeſunkenen Ralligſtöcken und auf dem Niederhorn im Juſtithale (Thuner-See), wo Nummulitenkalk die oberſten Kämme bildet. Auch der Gipfel des ſommerlichen Tou¬ riſtenzieles, das berühmte Faulhorn, iſt rauher ſandiger Schiefer der Flyſchzeit und das „ verfaulende “Geſtein verlieh dem Berge ſeinen Namen. Noch weiter hinauf bis zu 10 und 11 Tauſend Fuß, wurde Flyſch - und Nummuliten-Sand nur auf die äußerſten Kuppen der Glariden und des Tödi gehoben; dort be¬ deckt es wie aufgeſtülpte Hauskäppchen die Silberſcheitel dieſer Berg¬ greiſe, deren gewaltige Körpermaſſe aus, kryſtalliſchen Felsarten (Gneis) beſteht.
Aber es bedarf durchaus nicht der Wanderung auf ſolche Höhen, um das Geſtein kennen zu lernen; auch das Thal birgt es. Jene ſchwarzen immer feuchten Felſenwände der Tamina¬10Das Alpengebäude. Schlucht, in welcher der heiße Sprudel der Pfäferser Heilquelle liegt, das zerbröckelnde Geſtein um Bad Fidris im Prätigau, die nächſte Umgebung des Stachelberger Bades im Glarner Thale ſind Flyſch-Geſteine. Hier ſtehen wir an der Gränze einer der großen Schöpfungsepochen unſeres Erdkörpers; denn mit den Eocen - Gebilden ſchließt ſich die große Hauptgruppe der jüngſten Ab¬ lagerungen, welche der Geologe die „ Tertiär-Formationen “nennt. Alles, was unter ihnen liegt, alle Berge, die alpenwärts vor unſerm Blicke ſich erheben, ſind älter, gehören früheren Zeiten an. Die Wiſſenſchaft rubricirt ſie als Gebilde der „ Sekundär-For¬ mation. “ Das ganze Terrain, in welchem dieſe Geſteine ſich zei¬ gen, muß damals, als die Molaſſe-Gebilde abgelagert wur¬ den, ſchon als Feſtland exiſtirt und über das ſ. g. „ Urmeer “herausgeragt haben. Es war viel größer, dieſes Kontinent, als es ſich heute zeigt; die darunter liegende große Gruppe der Kreide - Gebilde hat bei der Hebung der Alpen die Flyſch-Decke an vielen Stellen durchbrochen und zur Seite geworfen. Am Auffallendſten ſieht man es in den Vorarlberger Alpen, ganz beſonders in der Säntis - und Churfirſten-Kette, dann in den Schwyzer Alpen, wo namentlich die Mythenſtöcke bei Schwyz wie durchs Fleiſch hervor¬ geſtoßene Zähne daſtehen, in den Nidwaldner Alpen, am zerzackten Pilatus, an der Schaafmatt, am Scheibengütſch, am Brienzer Rothhorn und an anderen Bergen des Berner Oberlandes. — Unter der Bezeichnung „ Kreide-Formation “denke man ſich indeſſen keines¬ weges Felſen von weißer Schreibe-Kreide; die Geologen haben auch hier wieder alle Geſteinsarten, welche die gleichen Verſteine¬ rungen und organiſchen Ueberreſte wie die weiße Schreibe-Kreide einſchließen, alſo der gleichen großen Niederſchlagsepoche ange¬ hören, als eine Formation zuſammengefaßt und nach der Kreide benannt. Sie iſt eins der am Weiteſten auf der Erdoberfläche ver¬ breiteten Gebilde und nimmt z. B. in Nordamerika eine Fläche von 120 Meilen Breite und 300 Meilen Länge ein.
11Das Alpengebäude.Die Fluhen und Kämme dieſes Geſteines ſind ſchroffer em¬ porgerichtet, kühner, markirter in den Linien als die des Flyſch, — maleriſch-zackige Felſen-Façaden oft in überraſchend ſchöner Detailzeichnung. Alle jene großartigen Uferdekorationen am wilden Wallenſee, am Vierwaldſtätter - und Brienzer-See mit ihren Pfeilerarkaden und Winkelvorſprüngen, ihren Niſchen und Eckſäulen, deren Gruppirung und Gegenwirkung eine landſchaftlich ſo bezau¬ berndſchöne iſt, gehören der Kreide-Formation an. Da zeigen ſich ſchon ausgeprägte Alpenformen in grotesken Maſſen, gleichſam vor¬ geſchobene Poſten der impoſanten Gipfel-Armee, welche im Rücken derſelben ihr Lager aufgeſchlagen hat. Selten erreichen die Kreide¬ felſen die Höhe der Schneegränze, alſo 7000 bis 8000 Fuß. Aber auch in dieſer Formation unterſcheidet die Wiſſenſchaft in den Alpen wieder vier Geſteinsarten. Die unterſte derſelben iſt der Spa¬ tangenkalk oder Neocomien, ſo genannt von Neocomum oder Neuchâtel, in welcher Gegend er hauptſächlich entwickelt iſt; — auf ihm lagert der Rudiſten - oder Caprotinenkalk, von dem in der Schilderung der „ Karrenfelder “Weiteres zu finden iſt; — über dieſem wieder der Gault, ein an Verſteinerungen ſehr reicher Sandſtein, — und obenauf endlich als jüngſtes Gebilde der Seewerkalk.
In einer großen Strecke der Berner Alpen, namentlich zwi¬ ſchen Rhône und Aar, iſt die Kreideformation gänzlich verſchwun¬ den und ein noch älteres Geſtein, der an Petrefakten ſehr reiche Jurakalk, erſetzt deren Stelle. Hier treten wir ins Hochgebirge ein; wir ſtehen auf der unterſten Stufe der treppenförmig an¬ ſteigenden großen Alpenthäler. Durch jede Lücke der erhabenen Strebemaſſen leuchten Firnfelder und überſchneite Hochkulme her¬ nieder, — von ihnen brauſen jäh über die Felſenwände die zu Schaumflocken zerſtäubenden Waſſerfälle herab, die bald in ge¬ ſchloſſenen, vollen, breiten Garben zu Thal ſtürzen wie die Fälle des Reichenbaches und Giesbaches, oder in funkelnden Waſſerſtaub12Das[Alpengebäude]. aufgelöſt, wehenden Schleiern gleich herniederwallen wie der Oltſchi¬ bach, Staubbach und alle die anderen des Lauterbrunner-Thales. Das Volksleben entfaltet ſich nicht mehr in reichen Dörfergruppen weit zerſtreut über Halde und Höhe, — hinunter ins Thalbett, an die Ufer der Ströme, da wo Weg und Steg Kommunikation bie¬ ten und die Wohnung geſchützt iſt gegen klimatiſche Unbilden, hat es ſich geflüchtet, und nur im Sommer wandern die Bewohner mit ihrem Vieh nomadiſch auf die Hochweiden der Alpen. Die Gebirge-aufrichtenden, Alpen-geſtaltenden Kräfte haben hier gewal¬ tig und energiſch gewirkt; man ſieht es, daß man den centralen Erhebungskratern ſich nähert. Wie ein Ringgebirge mit ſchroffem, innerem Abſturz den centralen vulkaniſchen Herd umgiebt, ſo kehrt die erſte, zuweilen auch eine zweite, dritte Kalkkette dem Granit¬ gebirge ſteile, oft hoch in die Schneeregion aufſteigende Felſen¬ wände zu. Stets fallen die Schichten der Kalkalpen nach Außen zu, ein Beweis, wie dieſe Decke gewaltſam bei der Bildung der Alpen von den aus der Erdtiefe aufgeſtiegenen Granitmaſſen zer¬ ſprengt und in ſchiefe Richtung gebracht wurde.
Als dieſe Gebirge noch nicht in ihren heutigen wilden, kühnen Formen daſtanden, als die Kalkfelſen nur flache, zerſtreut aus dem vorweltlichen Meere hervorragende Eilande bildeten, da muß eine Rieſenvegetation auf denſelben gewuchert haben, und gräuliche Ungeheuer belebten die Tiefen. Im Grund begraben wird hier, — dort gefunden Vergangner Pflanzen ſteingewordne Spur; Gebein von Thierart, die vorlängſt entſchwunden, Die abgelegten Kleider der Natur. Und wollt ihr dann in ſtaunenden Gedanken Die Gliedermaſſen euch zuſammenfügen, Sinds Rieſen, überragend alle Schranken, Ihr ſchaut Urwelt in großen Schreckenszügen. ((Lenau.) )Es iſt die einſtige Heimath der Ichthyoſaurier und Pleſioſauren, jener 50 Fuß langen, zwitterhaften, Ungethüme, halb Krokodil, halb Fiſch; es iſt die Fundſtätte der rieſigen Petrefakten, die wir13Das Alpengebäude. als Ammonshörner und Nautilus kennen. — Viele Gipfel der Kalklagen gehen weit über die Schneelinie hinaus; das Oldenhorn erreicht 9617 Fuß, das Weißhorn 9272 Fuß, der Urirothstock 9027, die Altels 11,187, die Windgelle 9818 und das Scher¬ horn 10,147 Fuß.
In den öſtlichen Alpen, wo in der äußeren Konfiguration des Gebirges mehr die Plateaubildung vorherrſcht, vertreten die noch älteren Trias-Dolomite und Keuper, ſo wie die Lias-Geſteine die Stelle der Jura-Kalke.
Wir ſind an der Grenzlinie der neptuniſchen Niederſchläge angelangt; wir treten in das Gebiet der, wahrſcheinlich zu den älteſten Rindengeſteinen der Erde gehörenden Schichten, in die Schiefer-Alpen, welche die, aus dem Erd-Innern aufgeſtiegenen, granitiſchen Kernmaſſen umkleiden oder theilweiſe ganz in dieſelben übergehen. Da überraſcht den vom Norden kommenden Alpen¬ wanderer eine auffallende Erſcheinung. Bisher nahm er wahr, daß alle Felſenſchichten, deren Lagerungsprofile er in den Thal¬ wänden oft ſehr deutlich erkennen konnte, meiſt ſchräg gegen das Flachland hin, abfallen, — unverkennbar ſo: als ob ſie durch die Alpen emporgehoben und in dieſe ſchiefe Lage gebracht worden ſeien. Jetzt mit einemmal zeigt ſich die entgegengeſetzte Erſchei¬ nung. Unter den ungeheueren Kalk-Koloſſen, deren ſchräg gen Norden oder Nordweſt einſinkende Schichten ſich bis in die Wolken erheben, wachſen plötzlich Strebepfeiler empor, welche im rechten Winkel jene zu ſtützen ſcheinen. Das ſehen wir, wenn wir vom Genferſee durchs Rhône-Thal ins Wallis einwandern, an dem zackigen Kalk-Dome der Dent du Midi bei Evionaz, — oder wenn wir vom freundlichen Brienz durchs Haslithal nach dem Grimſel-Hospiz aufſteigen, dort, hinter dem Quer-Riegel des „ Kirchet “, in der maleriſchen Thal-Mulde „ Im Grund “, wo das Urbach - und Mühle-Thal münden, — oder noch auffallender auf der Gotthards-Straße, hinter Altorf bei der „ Klus “, und weiter14Das Alpengebäude. nach Amſteg zu, wo deutlich die nach Norden abfallenden Kalk¬ ſchichten auf dem ſteil gen Süden einſinkenden Gneismaſſen la¬ gern. Hier alſo begegnen wir den erſten ſichtbaren Spuren jener furchtbaren Hebel, welche das ganze große, herrliche Alpengebäude mittel - oder unmittelbar aufrichteten. Die Schieferdecke iſt auf un¬ geheuere Strecken hin zerſprengt, zerriſſen, verworfen, mit empor¬ gehoben, umgebogen oder durch die Feuereinwirkungen in ihren Grundſtoffen verwandelt. Nur in Savoyen in einem Theile des Arve-Thales, in Piemont in den Thalgebieten der obern Iſère und der Dora-Baltea, im ſüdlichen Wallis und in vielen Theilen der Graubündner Alpen, beſonders auch im Unter-Engadin, haben die als graue, grüne und Belemniten-Schiefer bekannten Ge¬ ſteinskörper noch Zuſammenhang behalten und bilden rieſige Ge¬ birgsketten. Wo aber die kryſtalliniſchen Centralmaſſen als: Alpengranit, Protogin, Gneis und Glimmerſchiefer durchgebrochen ſind und alles vorhanden Geweſene zur Seite geworfen haben, da ſtreben ſie in ſenkrechter Stellung wie Glieder koloſſaler Fächer empor.
Es ſind die weithin ſichtbaren Oberhäupter des ſtillen, erha¬ benen Alpenreiches, die in ernſter Majeſtät ganz Central-Europa beherrſchend überſchauen, — von deren Giganten-Schultern der firnſtrahlende Regenten-Mantel mit den Gletſcher-Schleppen herab¬ wallt; — es ſind die rieſigen Gipfel des wie aus der Ewigkeit ſtammenden Montblanc (14,800 Fuß), des mit neunzinkiger Krone geſchmückten Monte Roſa (14,284 F.), der noch unerſtiegenen großartigſten Gebirgspyramide des Matterhornes (13,900 F.), der wilden Miſchabelhörner (14,032 F.), des in unvergleichlicher Pracht aufragenden Weißhornes (13,900 F.), der kühn dräuenden Felſen - Lanzen eines Finſteraarhornes (13,160 F.), und der jähen Schreck¬ hörner (12,568 F.), des einſamen Adula - oder Vogelberges (10,454 F.), des Gletſcher-umpanzerten Piz Bernina (12,475 F.), der Silvretta (10,516 F.), der Ortles-Spitz (12,030 F.) und des Groß-Glockners in Tyrol (12,185 F.).
15Das Alpengebäude.O, du biſt ſchön, erhabner Rieſendom,Wenn dich der Himmel freudig überblaut,Der Sonnenaufgang einen StrahlenſtromAuf deine ſtarren Augenlider thaut.
„ Alle von der Phantaſie erſchaffene Größe muß im Vergleich mit den Alpen klein erſcheinen “ſagt Bonſtetten. Und in der That, es kann auf dem europäiſchen Kontinente wohl kaum einen gewaltigeren, erſchütternderen Anblick geben als den, von geeigne¬ tem Standpunkte in der Berner Alpenkette aus (z. B. von der Höhe der Gemmi, oder vom Torrenthorn ob Leuk, oder beim Wild¬ horn am Rawyl-Paß), auf die ſüdlich gegenüberliegenden Walliſer - Alpen. Es iſt ein Panorama von unbeſchreiblicher Erhabenheit, von faſt grauenhafter Pracht. Die großen geſpaltenen Seitenthäler des Wallis erſcheinen ſo ſchreckhaft ernſt und dräuend, ſie tauchen in ihrer, durch die ſchwarzgrünen Nadelwälder geſtimmten finſteren Färbung ſo urthümlich und ſagenhaft-düſter im Mittelgrunde auf und kontraſtiren ſo ſchaurig gegen die ſie überragenden, blendend weißen Firn-Façaden, daß mancher entſchloſſene Berggänger nach dieſem Eindruck ſich beſinnen würde dieſelben zu betreten. Und doch iſt gerade in ihren Tiefen das großartigſte Naturſchauſpiel verborgen. Der Hintergrund des Zermatter - oder Nicolaithales und des Einfiſchthales werden von keinem anderen Alpthale an Majeſtät übertroffen, ſelbſt nicht von dem berühmten Chamouny.
Die gianitiſchen Centralmaſſen ſind aber durch ſpätere Er¬ ſchütterungen und Kataſtrophen wieder ſo entſetzlich zerſpalten und umgeſtaltet, in neue Gruppen getrennt und in ihrer ganzen Kon¬ figuration verändert worden, daß nur der ordnende Scharfblick des Geologen deren einſtigen wahrſcheinlichen Zuſammenhang wieder¬ herzuſtellen vermag. Unberechenbare chemiſche Umwandelungen ein¬ zelner Partieen, namentlich in den Schiefergebirgen, haben ſtatt¬ gefunden. Hitze-Einwirkung, Dämpfe, Gas - und Säure-Durch¬ dringung, Zertrümmerung und durch Miſchung entſtandene Neu¬ bildung haben meilengroße Alpen-Parzellen in neue Geſteine16Das Alpengebäude. verwandelt, wohin namentlich die Verrucano-Gebilde gehören. Mächtige Gypsadern durchziehen, als ſpätere chemiſche Verbin¬ dungen, die kryſtalliniſchen Maſſen, — und hornblendartige Ge¬ ſteine ſteigen als Erruptiv-Garben, wie Schlote aus der Unter¬ welt, im innerſten Kern der centralen Stöcke auf, in den höchſten Spitzen derſelben zu Tage tretend. Dieſes chemiſch-zerſetzende, all¬ mählig auflöſende, neue Prozeſſe vorbereitende Laboratorium im Erd-Innern, als deren Sicherheits-Ventile Alexander v. Humboldt die Vulkane bezeichnet, arbeitet auch unter dem Alpen-Maſſiv noch immer fort. Beweiſe dafür liefern die zahlreichen kohlenſauern Gasquellen, die vielen Sauerbrunnen, die, giftige und ſtickſtoff¬ haltige Dünſte ausathmenden, gefährlichen Mofetten im Engadin und manche andere Erſcheinungen.
Nicht durch den ganzen von Südweſt gen Nordoſt laufenden Alpenwall zeigt ſich an der nördlichen Abdachung die gleiche, vom jüngeren zum älteren Gebilde regelmäßig fortſchreitende Geſteins¬ folge, wie wir ſie auf den letzten Seiten ſkizzirten; gar häufig er¬ ſcheint dieſelbe unterbrochen oder gar auf den Kopf geſtellt. Dies iſt namentlich der Fall in dem großen, wie es ſcheint nach Innen eingeſtürzten, jetzt von den Schienen der Eiſenbahn durchſchnitte¬ nen Alpenkeſſel zwiſchen dem Glärniſch, den Churfirſten und dem Kalanda; dort zeigen ſich die älteren Schichten den jüngeren auf¬ gelagert, ſo daß hier eine der größten Umwälzungen ſtattgefunden haben mag. Ringsum an den genannten Bergen beſtätigen die abgebrochenen Schichtenköpfe die Annahme eines umfangreichen Einſturzes der Gebirge; die Verrucano-Maſſen treten hier als ſchöne rothe Melſer Konglomerate und Sernf-Schiefer dicht an die Eiſenbahn heran.
Ganz anders geſtaltet ſich das Alpenbild von einem ſüdlichen Standpunkte aus. Der Abſturz der Maſſen iſt viel ſchroffer, un¬ vermittelter, als vom Norden geſehen. Die Bergfronten zeigen ſich einerſeits durch ihre gen Mittag gekehrte Lage und durch die17Das Alpengebäude. kräftigere Inſolation viel weiter hinauf ſchneefrei, blos das kahle, nackte Felſen-Skelett darbietend, — anderſeits fehlen vielfach die bunt belebten Mittelgründe, die abgeſtuften, farbenheiteren Vor¬ berge. Oben iſts eintöniger in Linie und Kolorit. Der geologiſche Schichtenwechſel und die durch dieſen indirekt herbeigeführte Man¬ nigfaltigkeit und landſchaftliche Beweglichkeit mangelt. Den Nord¬ abhang umfängt längs der ganzen Kalkalpen, vom Jura bis nach Ungarn hinein, ein Gürtel lachender, blauer Binnenſeen; am Süd¬ hang drängen ſich deren nur wenige im Gebiet der See-Alpen zu¬ ſammen. Die Grajiſchen, Cottiſchen und Meer-Alpen im Weſten und die Tyroler, Carniſchen und Noriſchen Alpen im Oſten, ent¬ behren, mit Ausnahme einiger ſehr kleiner Waſſerbecken, gänzlich dieſes belebenden Schmuckes. Der Grund dieſer auffallenden Ver¬ ſchiedenheit liegt auch hier wieder in der Geſteinsart des Bodens. An die kryſtalliniſchen und Schiefer-Gebilde der Weſtlichen Alpen gränzt unmittelbar die jüngſte Alluvial-Anſchwemmung Sardiniens und der Lombardei. Erſt in Venetien treten wieder Kalk-Berge als Mittelglieder zwiſchen den beiden genannten Formationen auf.
Die Erhebung, des Alpengebäudes und des mittelbar durch dieſes zugleich mitgehobenen Jura war ferner zugleich eine Noth¬ wendigkeit für die Kulturentwickelung Central-Europas. Ohne dieſe Gebirgsmaſſen würden die meteorologiſchen und alle davon abhängigen Zuſtände unſeres Erdtheiles weſentlich andere ſein. Ohne Alpen wären zunächſt Deutſchland und die Niederlande den austrocknenden, zerſtörenden Einflüſſen heißer, aus den afrikani¬ ſchen Wüſten herüberwehender Winde blosgelegt. Der Föhn, eine Fortſetzung des ſüdlichen Sirocco, der in den Hochalpenthälern mit furchtbarer Raſerei tobt, würde unaufgehalten, ungebrochen und ungeſchwächt in ſeiner hohen Temperatur über Deutſchland einherbrauſen und die Agrikultur ganz anderen als den jetzt herr¬ ſchenden Bedingungen unterſtellen. Umgekehrt dagegen würde die, nur unter den Einflüſſen milder Lüfte gedeihende ſüdliche VegetationBerlepſch, die Alpen. 218Das Alpengebäude. der reichgeſegneten Po-Ebene durch eindringende, jetzt von den Alpen aufgehaltene, winterliche Nordſtürme zur Unmöglichkeit wer¬ den. Es würde ſomit der klimatiſche Wechſel bezüglich der herr¬ ſchenden Temperaturverhältniſſe ſchon ein bedeutend anderer ſein.
Hiermit geſtaltete ſich aber auch die Thätigkeit der Wolken¬ bildungen und dadurch zugleich die Summe der atmoſphäriſchen Niederſchläge anders. Das Alpengebiet, in welchem relativ die jährlich größte Regen - und Schneemenge in Europa niederfällt, iſt der unverſiegbare Waſſerlieferant für die Rhein -, Donau -, Rhône - und Po-Länder; ohne die reichhaltigen Schneemagazine im Hochgebirge würden dieſe Ströme mit ihren tauſendfach ver¬ zweigten Quellenſyſtemen zu unbedeutenden Waſſeradern herab¬ ſinken. Alle jene natürlichen Verkehrsſtraßen, welche die Flüſſe Jahrtauſende lang bildeten, ehe der Schienenweg ſie überflügelte, würden nicht zu ihrer hiſtoriſchen Bedeutung für Handel und Ge¬ werbe gelangt ſein.
Das Alpengebäude ſchließt einen unerſchöpflichen Reichthum von Naturwundern ein. Kein anderes Gebirge Europas umfaßt ſo wie die Alpen die Flora dreier Zonen: die nordiſch-arktiſche und gemäßigte reichen der tropiſchen die Hand und wir finden Reprä¬ ſentanten der Vegetation von mehr als dreißig geographiſchen Breitegraden auf kleinem Raume. In keinem anderen Gebirge unſeres Erdtheils tritt das Walten der atmoſphäriſchen Thätigkeit in ſo furchtbarer Größe und unter ſo gewaltigen Kraftäußerungen auf; und in keinem zeigt ſich die Summe der Gegenſätze im Leben ſeiner Bewohner ſo auffallend als im Alpenlande. Einzelne Bil¬ der von allen dieſen Berührungspunkten zu geben, ſei Aufgabe nachſtehender Blätter.
(Rückert. )Was uranfänglich iſt, das iſt auch unanfänglichUnd Unanfängliches nothwendig unvergänglich.Was irgend wo und wann hat ſelber angefangen.Kann nicht der Anfang ſein und muß ein End 'erlangen.Der Anfang nur allein kann nie zu Ende gehn,Weil er aus Nichts entſtand, Nichts ohn' ihn kann entſtehn.
Granit iſt eine ſymboliſche Größe, — in Gemeinſchaft mit dem Marmor der hiſtoriſche Stein. Wie im Thierreich der Löwe, ein Repräſentant edler Eigenſchaften, phyſiſcher Kraft, als König in herrſchender Macht daſteht, — in der Pflanzenwelt die Eiche ein Bild der Feſtigkeit und Ausdauer, des ſtolzen Trotzes gegen Sturm und Wetter abgiebt, — ſo gilt der Granit als das Un¬ überwindliche, Unveränderliche im Reiche der todten, anorganiſchen Geſteine, — nach beſchränktem materiellen Begriff: als ein Körper der beinahe ewigen Exiſtenz. Jahrtauſende ſcheinen ſpurlos an ihm vorüberzurauſchen und die zerſtörenden Gewalten der Zeit ohnmäch¬ tig an ſeinen Maſſen abzugleiten. Wo Werke für die fernſten Menſchengeſchlechter, ſichtbare Denkſäulen für die Annalen der Ge¬ ſchichte errichtet werden ſollten, — wo ägyptiſche Dynaſten ihre koloſſalen Königsgräber in jenen Pyramiden aufthürmten, die, an2*20Granit. dem Felſenufer der Wüſte hinlaufend, noch heute als die rieſigſten Arbeiten menſchlicher Kraft angeſtaunt werden, — da griff der kühne Bauherr zum granitiſchen Geſtein und glaubte der zeitlichen Hinfälligkeit alles von Menſchenhand Geſchaffenen ein Schnippchen geſchlagen zu haben. Ja, die früheren Forſcher in den Natur¬ wiſſenſchaften konſtruirten vom Granit aus das Fundament unſeres Erdballes, ſahen in ihm den Urgroßpapa, den Ahnherrn des ge¬ ſammten Mineralreiches und nannten ihn naiverweiſe „ Urgeſtein “. Und doch iſt auch er nur ein Interpunktionszeichen in den Welt¬ ſchöpfungsperioden, ein unbedeutender Sekundenſtrich auf dem Zifferblatt der Ewigkeit, etwas „ Gewordenes “, das einſt wieder eben ſo in das All aufgelöſt wird, wie es aus demſelben hervorging.
Granit iſt im Touriſtenverkehr, im Munde begeiſterter Alpen¬ ſchwärmer ein großes, viel umfaſſendes Wort, ein unbewußt ge¬ brauchtes Nomen collectivum, unter dem der Laie Alles zuſam¬ menfaßt, was ihm ſo ſcheint, als müſſe es das berühmte Geſtein der Ehrenſäulen und Triumphbogen ſein. Es giebt viel intelli¬ gente Leute, die, wenn ſie in den Alpen ſchwarz und weiß ge¬ ſprenkelte Felſen ſehen, dieſe rundweg für Granit halten; und doch kommt in den Alpen verhältnißmäßig wenig eigentlicher maſſiger Granit vor, — wohl aber ſehr viel granitiſches Geſtein. Werden wir alſo zunächſt klar darüber, was eigentlich Granit (von granum, das Korn) ſei, und lernen wir deshalb die Natur und die Beſtandtheile deſſelben ein wenig genauer kennen.
Granit und Gneis iſt im Grunde genommen ein und daſſelbe Kompoſitum, ein aus den 3 Mineralſpecies: Feldſpath, Quarz und Glimmer zuſammengeſetztes Geſtein. Iſt daſſelbe körnig, maſſig¬ gemengt, ſo wird es „ Granit “genannt; iſts dagegen ſchieferig, geſtreift, läßt ſich eine gewiſſe Schichtung darin erkennen, ſo heißt es „ Gneis “.
Der Granit iſt kein Konglomerat, kein durch mechaniſche Bindemittel zuſammengeleimtes Produkt urſprünglich verſchieden¬21Granit. artiger Mineralſubſtanzen; er iſt ein ſelbſteigenes Gebilde, welches die einſt, im flüſſigen Zuſtande gemiſchten, verſchiedenartigen mine¬ raliſchen Species durch Kryſtalliſation nebeneinander ausſchied. Ein zwar nicht ganz treffendes, aber doch annähernd erläuterndes Beiſpiel von dem wahrſcheinlichen Kryſtalliſationsprozeß des Gra¬ nites läßt ſich aus der Chemie geben. Jedermann kann dies kleine Experiment probiren. Kochſalz und Salpeter gemeinſchaftlich in Waſſer, bis zur Sättigung, aufgelöſt, ſo daß beide Salze völlig vermiſcht erſcheinen, kryſtalliſiren, wenn die Flüſſigkeit allmälig verdunſtet, ſich ausſcheidend wieder ſelbſtſtändig: das Kochſalz in rechtwinkeligen Würfeln, der Salpeter in langen ſechsſeitigen Säul¬ chen, ſo daß jedes der beiden Salze wieder die demſelben aus¬ ſchließlichen Eigenſchaften zeigt.
Feldſpath, meiſt milchweiß oder gräulich, auch röthlich, ſtellt die Hauptmaſſe, beinahe die Hälfte des eigentlichen maſſiven Gra¬ nites dar, zwiſchen welchem weiße, ſeltener gelblich oder grünlich gefärbte kryſtalliniſche, glasartig durchſichtige Quarzkörnchen die Grundmaſſe bilden und dünne, glänzende Glimmerplättchen einge¬ lagert ſind. Dieſe normale Zuſammenſetzung weicht aber an den verſchiedenen Fundorten ſehr von einander ab. Wer eine Badekur zu St. Moriz im Ober-Engadin macht, kann bei jedem Spazier¬ gange gleich einige Varietäten am Wege ſammeln; denn der Ber¬ nina-Granit iſt grün, ſerpentinhaltig, während der vom gegenüber¬ liegenden Piz Languard rothen Feldſpath mit milchweißem Quarz enthält. Noch auffallender iſt der Farbenunterſchied des Granits am Lago maggiore; der von Baveno, gegenüber den Borromäiſchen Inſeln, iſt ſchön pfirſichblüthenroth, während der berühmte ſ. g. Miarolo bianco aus den Brüchen des ganz nahe dabei liegenden Monte Orfano weiß iſt und wie ein gänzlich anderes Geſtein aus¬ ſieht. Der Letztgenannte gab das Baumaterial zu vielen der ſchön¬ ſten Kirchen Nord-Italiens ab; namentlich ſind auch die herrlichen Säulen am Eingange des Mailänder Domes aus dieſem Geſtein22Granit. gearbeitet. Fehlt der charakteriſtiſche glitzernde Glimmer in der Maſſe und iſt derſelbe durch ſchwarze oder ſchwärzlich-grüne Horn¬ blende vertreten, dann heißt das Geſtein nicht mehr Granit, ſon¬ dern „ Syenit “. Es iſt über alle Theile der Erde weit verbreitet, erhielt ſeinen Namen von der Stadt Syene in Ober-Aegypten (wo es in Menge vorkommt) und wird ſeiner Feſtigkeit halber als vor¬ treffliches, politurfähiges Baumaterial ſehr geſchätzt. Die Pyra¬ miden und Obelisken beſteben meiſt aus Syenit. In unſeren Al¬ pen kommt er vorherrſchend auf der Südſeite vor, z. B. im Val Pellina (in welches der Col de Collon aus dem Walliſer Val d'Hérins führt), bei Migiandone an der Symplon-Straße, in der Umgebung von St. Moriz und Campfér im Ober-Engadin ꝛc.
Aber der normale Granit kommt auch mit Zuſätzen vor, die ſeinen Charakter ganz ändern; dahin gehört der vom Montblanc. Bei ihm iſt der Quarz glaſig-grau, der Feldſpath weiß, der Glim¬ mer dunkelgrün ohne Glanz in Prismen kryſtalliſirt und beige¬ miſchte perlmutter-ähnlich glänzende, lebhaft grüne Talk-Blättchen geben ihm eine charakteriſtiſche Färbung. De Sauſſure, einer der geiſtvollen Begründer der Alpen-Geologie, glaubte — als er den Montblanc zuerſt umwanderte und beſtieg, vor dem älteſten Ge¬ birge der Erde zu ſtehen und nannte deshalb das Geſtein „ Pro¬ togin “, d. h. Erſtgeborener. Seit jener Zeit iſt, obgleich un¬ eigentlich, der Name für den Talkgranit beibehalten worden.
Das Meiſte, was in den Central-Alpen für Granit gehalten wird, iſt granitiſcher Gneis, im Volksmunde „ Gaisberger “genannt, weil die höchſten Berge, auf welche die Gaiſen (Ziegen) ſteigen, aus dieſem Geſtein beſtehen. Er iſts, an dem die At¬ moſphärilien jene phantaſtiſch aufragenden Felſenthürme ausſägen und bildneriſch Ornamente improviſiren, welche, im Chamouny - Thal in ſcharfe Spitzen auslaufend, ſehr bezeichnend „ Aiguilles “genannt werden; — aus ſeinem ſ. g. „ Urmaterial “formen ſich die wunderſamen Steinſtacheln, welche die Aufgipfelung großer Berg¬23Granit. individuen garniren, oder wie ausgeſtellte Wachtpoſten hie und da aus den umfangreichen Firnwüſten hervorragen. Wir würden ſol¬ cher ſchlanker Felſennadeln noch weit mehr erblicken, wenn nicht eine große Zahl derſelben im perennirenden Schnee verſteckt wäre. Hier verräth ſich uns die verwundbare Achillesferſe der für unzer¬ ſtörbar gehaltenen „ Urgeſteine “. Der Gneis iſt, wie ſchon be¬ merkt, ſchiefriger, tafelförmiger Struktur. Bei der Alpenerhebung wurden auch die Gneisſtraten gehoben und als nächſte Umhüllung der centralen Granitmaſſen oft ſenkrecht auf die Bruchkante geſtellt. Die Maſſe muß nun an verſchiedenen Stellen von verſchiedener Härte geweſen ſein, — genug, während einzelne Theile wie un¬ angetaſtet den verwitternden Einwirkungen widerſtanden, wurden andere von den Atmoſphärilien dermaßen zerſetzt, ausgenagt und zerſtört, daß ſie gänzlich verſchwanden und nur jene iſolirten Zacken zurückblieben. Beiſpiele im Großen liefern die Aiguille verte, die ſchlanke Aig. de Dru, die Aig. du Moine, die ungemein zerſplit¬ terten Aiguilles de Charmoz, die Aig. Rouges — alle zu beiden Seiten des Chamounythales, die Schreckhörner und Grindelwalder Vieſcherhörner in den Berner Alpen, — die ganze ſüdliche Thal¬ wand des Graubündneriſchen Bergell u. A. m.
Aber noch eine andere Art der Verwitterung granitiſchen Ge¬ ſteines zieht in den Alpen unſere Aufmerkſamkeit auf ſich und zwar in höchſt ſonderbarer Weiſe und an Orten, wo man ſich die Er¬ ſcheinung nicht gleich erklären kann. Dieſe zeigt ſich in den ſ. g. „ Teufelsmühlen “oder „ Felſenmeeren “auf den äußerſten Gipfeln vieler iſolirter Berge. Ein Beiſpiel möge erläuternd für viele gelten. Zu den beſuchteſten Ausſichtspunkten des Berner Oberlandes gehört das Sidelhorn nächſt dem Grimſelpaß. Vom Hospiz aus beſteigt man es bequem in 2 bis 2½ Stunden. Je mehr man ſich dem Kulme nähert, deſto mehr häufen ſich große, unordentlich übereinander geworfene Felſentrümmer, bis endlich die äußerſte Höhe ganz mit ſolch einem Chaos von loſe geſchichteten24Granit. granitiſchen Gneisblöcken überſäet iſt. Bisweilen ſcheinen ſie eine gewiſſermaßen gegliederte Lagerung einzunehmen, etwa ſo wie in¬ einander geſtellte Teller; dann wieder an anderen Stellen zeigt ſich ein ziemlich geordneter treppenähnlicher Aufbau; meiſt aber liegen ſie ohne erkennbare Anordnung durcheinander. Dieſe auf Gipfeln jedenfalls auffallende Erſcheinung iſt gleicherweiſe ein Reſultat der Granit-Verwitterung, aber ſolcher Maſſen, in denen mehr oder minder die Schalen-Struktur einſt vorwaltete. Die Gebrüder Schlagintweit bilden im Atlas zu ihren „ Neuen Unterſuchungen über die phyſikaliſche Geographie und Geologie der Alpen “ſolche ausgewaſchene Gneisſchalen ab. — Wenn der phantaſiereiche Jean Paul ſich des ſchönen Bildes bedient: „ Die Gräber ſeien die Bergſpitzen einer fernen neuen Welt, “ſo ſind hier in Wirk¬ lichkeit die Bergſpitzen die Gräber einer fernen vergangenen. (G. Studer.)
Die großartigſten und impoſanteſten Koloſſe granitiſcher Ge¬ ſteine finden wir nur in den Centralmaſſen der Alpen. Dort über¬ gipfeln ſie oft in ſo furchtbarer Erhabenheit, als ſenkrecht aufſtei¬ gende Felſenpaläſte, die tiefen Thalkeſſel, daß man vor ihrer Größe zurückſchreckt. Wer noch nie die düſterprächtige Pyramide des Finſteraarhornes vom „ Abſchwung am Aargletſcher “aus er¬ blickte, wie ſie in kaltem Ernſt nackt aus den Firnlagern in die Wolken ſteigt, — wer den Montblanc noch nicht auf der Süd-Oſt¬ ſeite umwanderte und die volle, prächtige Kernform ſeines Maſſivs vom Gramont aus, — oder vom Zinalgletſcher (in der Tiefe des Einfiſchthales) die rieſigen Felſenſtirnen des Grand Cornier, der Dent blanche und des Weißhornes rund um ſich her mit einem Blick überſah, der wird ſchwerlich einen richtigen idealen Maßſtab für die wahrhaft koloſſalen Verhältniſſe ſich konſtruiren können. Und dennoch werden alle dieſe granitiſchen Giganten dem Ein¬ drucke nach, welchen ſie auf das ſtarr-ſtaunende Auge machen, weit übertroffen von jenem jähpralligen Abſturz, welchen der Monte25Granit. Roſa im Thalſchluß von Macugnaga zeigt. Es iſt die erſte ver¬ tikale Größe des Europäiſchen Kontinentes. Die Madatoren der Kalkzone wie die Diablerets, das Dolden - und Gspaltenhorn, Blümlisalp u. A. zeigen gewaltige Felſenfronten; aber ſie ſchwin¬ den jenen Granitkörpern gegenüber zu Maſſen zweiten Ranges zuſammen.
Wir nannten den Granit den hiſtoriſchen Stein der Erde; für die Alpen iſt er es in mehr als einer Beziehung. Seine ernſten Felſenwände wurden oft Denkſäulen großer Thaten, welche den erhabenſten Momenten des klaſſiſchen Altherthums gleichzuſtel¬ len ſind. Jener unerſchrockene Ruſſe Suworoff, ein moderner Epa¬ minondas, welcher ſich eher zwiſchen den Klüften begraben laſſen wollte, als von der Stelle weichen, ließ, als ſeine Gardekolonnen am 25. Sept. 1799 die Franzoſen unter Gaudin im engen Val Tremola zurückgeſchlagen hatten, mit lakoniſcher Kürze in die Granitwand die Worte „ Suwarow Victor “zu ewigem Gedächtniß eingraben; am nächſten Tage waren die Gneisſchroffen dort, wo die Teufelsbrücke in kühnem Bogen die Sturzwellen der Reuß überbaut, Zeugen eben ſo kühner Heldenthaten. Ueber die grani¬ tiſchen Einöden des großen Sanct Bernhard führte Bonaparte, im Mai 1800, ſeine Armee zum Siege von Marengo, und als die, auf ſein Geheiß, durchbrochene Simplon-Straße, der erſte große Alpenweg, fertig war, ließ er, ſtolz auf ſein Werk, in eine Licht¬ öffnung der Gallerie von Gondo einmeißeln: „ Aere Italo MDCCCV. Nap. Imp. “— Auf Granitboden wurde Andreas Hofer, der Sandwirth von Paſſeyr, geboren, und zwiſchen Granit¬ felſen ſchlug er ſeine glorreichen Schlachten zur Befreiung Tyrols. Aber auch weiter zurückgehend in ältere Zeiten begegnen wir Gro߬ thaten, eben ſo körnig und feſt wie das Geſtein, auf dem ſie ge¬ ſchahen. Benedikt Fontana hauchte auf den Gneiskryſtallen der Malſerhaide ſeine Heldenſeele mit den freudigen Worten aus: „ Nur wacker dran, o Bundesgenoſſen! laßt Euch durch mein26Granit. Fallen nicht irren! Iſts doch nur um Einen Mann zu thun. Heute mögt Ihr freies Vaterland und freie Bünde retten. Werdet Ihr ſieglos, bleibt den Kindern ewiges Joch! “ Das ſind Worte wie Granit und Urgeſtein; es iſt, als ob von dem Charakter der Felsart etwas ins Blut des Volkes übergegangen wäre. — Und dann die gewaltige Decemberſchlacht von 1478 im Livinenthale bei Giornico, wo ein Hirtenhäuflein die zehnfach überlegenen Mailän¬ der unter dem Grafen Borelli aufrieb, daß ihr Blut den Schnee bis Bellinzona roth färbte; dann die Heldengräber der 3000 Eid¬ genoſſen bei Arbedo, die in dem Verzweiflungskampfe von 1422 der Uebermacht von 24,000 Lombarden erlagen; — der Walliſer doppelte Bluttaufe bei Ulrichen und auf der Grimſel um 1419, und viele andere Zeugniſſe männlichen Muthes und kühner That, — ſind es nicht Erinnerungen, die ſich ihr Denkmal mit Flam¬ menlettern für Menſchengedenken auf die Felſentafeln dieſer grani¬ tiſchen Koloſſe niederſchrieben?
Iſt die Zeit auch hingeflogen,Die Erinn'rung weichet nie;Als ein lichter RegenbogenSteht auf trüben Wolken ſie.
Aber noch mehr erzählt uns der ſtumme Stein, von noch wei¬ ter zurückliegenden Zeiten, von einer Epoche, in welcher die Alpen ſchon, wie wir ſie heute ſehen, aufgerichtet daſtanden, in welcher aber das menſchliche Geſchlecht noch nicht exiſtirte. Dieſe Ge¬ dächtnißſteine ſind die „ Erratiſchen Blöcke. “
(Anaſtaſius Grün. )Da iſt ein Blühen rings, ein Duften, Klingen,Das um die Wette ſprießt und rauſcht und keimt,Als gält 'es jetzt, geſchäftig einzubringen,Was ſtarr im Schlaf Jahrtauſende verſäumt.Das iſt ein Glänzen rings, ein Funkeln, SchimmernDer Städt' im Thal, der Häuſer auf den Höh'n!Kein Ahnen, daß ihr Fundament auf Trümmern,Kein leiſer Traum des Grabs, auf dem ſie ſtehn! —
Ja! ſie ſtehen auf Trümmern, viele Städte des Alpenlandes, auf Blockwällen und Felſenfragmenten, die aus den Centralketten des Gebirges ſtammen. Freilich liegt dieſe Trümmer-Baſis nicht allenthalben offen zu Tage; der Arbeiter, der das Fundament zu einem Neubau ausſticht, oder der Bergmann, der nach einer friſchen Brunnenquelle gräbt, findet ſie erſt in einiger Tiefe der oberſten Bodenſchicht. Aber nicht blos verſteckt im Erdreich, ſondern frei und offen, auf dem Felde und im Walde des Hügellandes, ja ſo¬ gar droben auf den Vorbergen der Alpen und am Jura, bis zu einer Höhe von 5000 Fuß, findet man Felſenblöcke, die der Na¬ tur ihres Geſteines nach, 20 bis ſogar 45 Schweizerſtunden (über 28 deutſche Meilen) weiter drinnen in den Central-Alpen heimath¬28Erratiſche Blöcke. berechtigt ſind. Man nannte ſie deshalb „ Fündlinge oder Irr¬ blöcke “. Sie zeigen theils abgerundete Flächen, wie Rollſteine und Flußkies, theils friſche ſcharfkantige Bruchlinien, als ob ſie eben erſt vom Mutterfelſen abgeſprengt wären, — in allen Größen, vom Umfange einer Kegelkugel bis zu ſolchen kubiſchen Körpern, daß aus dem Material eines einzigen, bei Zürich im Felde ge¬ legenen ſ. g. „ rothen Ackerſteines “anno 1674 in Höngg ein reſpectables, zweiſtöckiges, maſſives Haus gebaut werden konnte, welches folgende Inſchrift trägt:
Früher hat es einmal dem Grafen Benzel-Sternau gehört. Der Block aber, aus deſſen Geſtein das Haus erbaut wurde, ſtammt aus der Tiefe der Glarner Gebirge, etwa vom Freiberge oder aus dem Sernf-Thale.
Das „ Woher? “hat der Wiſſenſchaft wenig Mühe gemacht; aus der Struktur, Farbe und mineraliſchen Miſchung der Granit -, Gneis -, Glimmer -, Verrucano - und Schiefer-Fündlinge, ſo wie aus der Lage des Fundortes zu den Thalſyſtemen der Alpen, konnte man bald entziffern, zu welcher Centralmaſſe ſie gehörten. Aber das „ Wie? “des Transportes machte den Naturforſchern der letz¬ ten fünfzig Jahre viel zu ſchaffen. Die Einen vermutheten, es habe einſt, bei den letzten Gebirgshebungen, ein extraordinär¬ großartiges, vulkaniſches Natur-Bomben-Werfen ſtattgefunden, bei welchem die Alpen dieſe Fragmente ausgeſpien und meilenweit über Berg und Thal geſchleudert hätten. Dieſe kühne Phantaſie wurde aber bald zerſtört durch die thatſächliche Nachweiſung einer¬ ſeits der Regelmäßigkeit, mit welcher viele dieſer Blöcke wie in einer Linie an den Bergeshalden abgelagert wurden, anderſeits29Erratiſche Blöcke. des Innehaltens beſtimmter Verbreitungsbezirke zu den Stammge¬ bieten. Andere ließen den Transport durch enorme Ueberſchwem¬ mungen beſorgen, die jene, oft hunterttauſende von Centnern wie¬ genden Laſten aus den Alpen herniedergewälzt haben ſollten; allein auch dieſe Hypotheſe wurde raſch durch phyſikaliſche Beweiſe in ihrer Unhaltbarkeit zurückgewieſen. Erſt als die Theorie über Natur und Bewegung der Gletſcher (welchen ein ſpäterer Abſchnitt dieſes Buches gewidmet iſt), angeregt durch den Walliſer Ingenieur Venetz, fortgeführt und ausgebildet durch Agaſſiz und Forbes, eine Menge der ſeltſamſten Erſcheinungen in den Alpen beleuchtete und erklärte, gelangte man auch zu dem Schluß: daß die erratiſchen Blöcke durch einſtige ungeheuer große Eisgletſcher, welche bis in das Schweizeriſche Mittelland hinaus¬ gereicht haben müſſen, an ihre dermalige Lagerſtätte befördert worden ſeien. Wie in dem ſpäteren Abſchnitte nach¬ gewieſen werden ſoll, bewegen ſich die Gletſcher von der Höhe der Gebirge langſam dem Thale zu und transportiren auf ihrem Rücken die von den zur Seite ſtehenden Felſen abgebröckelten Ge¬ ſteine bis zu der Stelle, an welcher die Gletſcher, in Folge war¬ mer Temperatur, abſchmelzen und ihre Felſenlaſten abladen. Dieſe Geſteinswälle, welche ſich an dem Ende oder der Stirn eines Gletſchers anhäufen, werden Frontmoränen genannt.
Das Vorhandenſein ſolcher hufeiſenartig aufgebauter hoher Fündlingswälle oder einſtiger Frontmoränen im Schweizeriſchen Mittellande, z. B. bei Bern, Surfee, Bremgarten, Zürich, Rapper¬ ſchwyl u. ſ. w., gab den erſten Beweismoment für den Gletſcher¬ transport der Irrblöcke ab. In Zürich ſind der Promenaden¬ hügel, die Anhöhen, auf denen der Großmünſter, die Kirche von Neumünſter, der Lindenhof u. ſ. w. ſtehen, Reſte einer ſolchen ehemaligen großen Frontmoräne. — Ein zweites Beweismittel wurde darin gefunden, daß die Fündlingsblöcke, ſelbſt wenn ſie aus dem härteſten Geſtein beſtehen, ebenſolche eingeritzte Furchen und Linien30Erratiſche Blöcke. zeigen wie das Felſenbett, über welches die Gletſcher der Jetztzeit ſich hinweg bewegen. Vermöge des Druckes der ungeheueren Eis¬ laſt ritzt dieſe nämlich bei ihrem Fortrutſchen über den Geſteins¬ boden mit kleinen, ſehr harten, ſcharfen Quarzkryſtallen Linien ein, die wie mit dem Glaſer-Diamant geſchnitten ausſehen. Geröll - Blöcke, die von den wilden Alpenſtrömen heruntergeſchwemmt wur¬ den, tragen dieſe Kennzeichen nicht. Die erratiſchen Blöcke tragen ſomit, in Folge dieſer von der Natur ihnen ſelbſt aufgedrückten Schriftzüge, gleichſam den Reiſepaß ihrer zurückgelegten Wander¬ tour bei ſich, mit der Viſa jeder Thalſchaft verſehen, durch welche ſie ihre Wege nahmen. — Das dritte und bedeutendſte Argument für die Annahme, daß die Fündlinge durch Gletſcher transportirt wurden, fand man in den ſ. g. Rundhöckern (Roches mutonnées). In den meiſten Alpenthälern, deren himmelanſtrebende Wände aus ſchwer verwitterndem Geſtein, aus granitiſchen Maſſen, beſtehen, erblickt man nämlich bis in gewiſſe Höhen (oft bis zu tauſend Fuß über der jetzigen Thalſohle) Ab¬ rundungen, regelmäßige Streifungen und geglättete Partieen, deren Schliff oft ſo fein ausgeführt iſt, daß er im Sonnenſchein ſpiegel¬ blank glänzt. Beim Niederſteigen vom Todtenſee auf der Pa߬ höhe der Grimſel nach dem Hospiz, dann weiter drunten bei der ſ. g. Hählen-Platte, — auf dem Trümmerfeld nächſt dem Gott¬ hards-Hospiz, und an hundert anderen Stellen der Schweiz kann man ſolche „ Rundhöcker “beſehen, befühlen und, — wo ſie nicht mit der ſchwefelgelben Flechte Lecidea geographica überzogen ſind, deren Politur bewundern. Dieſes gleiche Phänomen zeigt ſich uns aber auch unmittelbar neben dem Gletſcher, neben einem Gorner -, Vieſcher -, Aletſch -, Findelen - und Zinal-Gletſcher; wir können es verfolgen von dem Geſtein an, welches unter dem Eis hervorragt, bis weit hinauf an die Thalwand, — wir können es verfolgen in horizontaler Linie, ſtundenweit thalauswärts, ohne Unterbrechung, gleichviel ob die Geſteinslagerungen und Geſteins¬31Erratiſche Blöcke. arten vielmals wechſeln. Nach ſolchen Dokumenten wird die Ver¬ muthung zur unbezweifelbaren Thatſache, daß dieſe Thaltiefen, welche jetzt zum Theil mit uralten Waldungen überwachſen ſind, einſt von rieſenhaften Gletſchern ausgefüllt wurden. Es zeigt ſich aber in der Regelmäßigkeit der Ablagerung erratiſcher Geſteine end¬ lich noch ein Beweismittel, welches die anderen weſentlich unter¬ ſtützt und ergänzt. Hierunter iſt nicht nur jene, ſchon erwähnte, egale Ablagerung „ der Linie und gleichen Höhe nach “erfolgte zu verſtehen, wie ſie ſich an den Anhängen niederer gehügelter Berge der Voralpen, des Mittellandes und des Jura-Gebirges zeigt, ſondern die regelmäßige Gruppirung der Irrblöcke nach Farbe, Stoff und Qualität ihres Geſteines. Man wird z. B. an den beiden Seiten eines breiten Thales, deſſen Tiefe wieder droben im Gebirge ſich in mehre Seiten und Nebenthäler veräſtelt, nie bunt durcheinander, herüben und drüben die gleichen grünen, rothen, weißen, braunen, grob - und feinkörnigen, faſerigen oder blätterigen Granit -, Diorit -, Gneis -, Schiefer - oder Kalk-Brocken finden, ſondern ſie werden verſchieden ſein. Verdeutlichen wir uns dieſen Umſtand ein wenig näher. Denken wir uns den Gletſcher als einen Hauptſtrom, der aus dem Zuſammenfluß mehrer Gebirgs¬ flüſſe entſteht, ſo wie jeder dieſer Gebirgsflüſſe wieder aus der Einmündung von Nebenflüſſen ſein Waſſerquantum erhält, — denken wir uns ferner, daß nun jeder dieſer Nebenflüſſe von ſeinen ihn eingränzenden Felſen-Ufern Geſteinsfragmente aus dem Gebirge mit herunterbringt, ſo würden dieſe, weil das Waſſer in ſeinem Laufe ſich vermiſcht, wahrſcheinlich die mitgebrachten Steine auch unterein¬ ander mengen. Die Gletſcher aber, als feſte Eiskörper (wenn wir das Bild eines Strom-Syſtemes feſthalten) vermiſchen ſich nicht, wenn ſie im breiten Gletſcher-Hauptthale zuſammenkommen, wie das be¬ wegliche, flüſſige Waſſer, ſondern ſetzen ihren Weg nebeneinander, wenn auch ſcheinbar als vereinigte große Eismaſſe fort, und die auf denſelben liegenden, langen Trümmergeſteins-Linien (die Moränen) 32Erratiſche Blöcke. zeigen weithin an, aus wie viel Seiten - und Nebengletſchern der Hauptgletſcher zuſammengeſetzt iſt. Darum bleiben auch die, aus den verſchiedenen Thälern ſtammenden Geſteine geſchieden. Und darum wurden von den einſtigen Rieſengletſchern die, durch dieſe beförderten, erratiſchen Blöcke je nur auf derjenigen Thalſeite abgelagert, welche mit den tiefer im Gebirge liegenden Seitenthälern korreſpondirt. Der bekannte ſchweizeriſche Geologe Eſcher von der Linth hat eine, auf lang¬ jährige Unterſuchungen gegründete, Karte der Verbreitungsbezirke aller nördlich von den Alpen in der Schweiz gefundenen Irrblöcke her¬ ausgegeben. Wir finden ſolche erratiſche Geſteine aber auch an der Südſeite der Alpen. Die Lombardiſchen Binnengewäſſer des Lago mag¬ giore, des Comer - und Garda-See's ſind an ihren Ausflußenden von ganz ähnlichen Blockwällen geſchloſſen wie der Züricher-Sempacher - und Baldegger-See in der Schweiz. Außerdem zeigt ſich das er¬ ratiſche Phänomen auch in dem Gebiete anderer Gebirge; die Py¬ renäen, das ſchottiſche Hochland, die ſchwediſchen Kjölen, die Vo¬ geſen, die Cordilleren Amerikas haben eben ſo gut ihre Wander¬ blöcke wie die Alpen.
Dieſe auf beiden Hemiſphären auftretende Erſcheinung zuſam¬ mengefaßt, führt demnach zu der Annahme, daß einſt eine Periode allgemeiner Erkältung und Vereiſung exiſtirt haben muß, die wohl das jüngſte Ereigniß im Bildungsprozeſſe unſeres Erdkörpers war. Denn wo man auch ſolche Irrblöcke findet, immer zeigen ſie ſich als das letzte Ablagerungsmaterial, das erſt dann an ſeinen ge¬ genwärtigen Standort gelangte, als das Alpengebäude mit ſeinen Thälern und Schluchten, Flußbetten und Seebecken ſchon, wie wir es heute ſehen, beſtand.
(Maltitz. )Wer ergründet der Schöpfung heilige Kraft,Die in ihren ewigen, weiten KreiſenDurch Zerſtörung wieder Neues ſchafft.
Auf jene verlaſſenen, vegetations-entblößten Gegenden der tropiſchen Zone, auf die unüberſehbaren Sandfelder Afrikas und Aſiens, übertrug der Sprachgebrauch ausſchließlich die Schilderung Moſis vom Ausſehen der Erde am erſten Schöpfungstage und nannte dieſe unheimlichen gluthdurchwehten Flächen vorzugsweiſe „ Wüſten “. Auch die Alpen haben ihre Wüſten, ihre Reviere des ſcheinbar vollendeten Naturtodes, wo die Tributkraft der ewigen Gebärerin erſtirbt; aber ſie ſtellen ſich in ganz anderer Form, un¬ ter anderen Umſtänden, mit weſentlich anderem Material dar, als die Saharen. Gewöhnlich ſucht man ſie droben über der Schnee¬ linie, in den unverſiegbaren Firnmulden und auf den Gletſcher¬ hängen, wo die durchdringende Kälte jede organiſche Entwickelung im Keime zu zerſtören droht. Wie aber eine ſpätere Schilderung unſeres Buches zeigen wird, ſieht es da droben in den Eismaga¬ zinen keinesweges ſo verſtorben aus; im Gegentheil, die Lebens¬ pulſe der Erde durchzittern auch dieſe Einöden in regelmäßigenBerlepſch, die Alpen. 334Karrenfelder. Schlägen, und ein ſtill geſchäftiges Treiben arbeitet, kaum erkenn¬ bar aber ſtetig, im Dienſte des großen wunderbaren Naturhaus¬ haltes, um die dieſem Theile gewordene Aufgabe zu erfüllen und zur Erhaltung des Ganzen beizutragen. Hier alſo werden wir das Analogon nicht zu ſuchen haben. Und in der That, es giebt noch ödere, noch weit abgeſtorbenere Gegenden im Gebirge als die Schneewüſten, — große, weit ausgedehnte Strecken in unbetrete¬ nen Wildniſſen, die, von jeder Vegetation entblößt, in ewig ſtarrer Reſignation daliegen; dies ſind die Schratten - oder Karrenfelder, von den Romanen „ Lapiaz “genannt.
Droben im Gebirge, ſeitwärts der begangenen Päſſe und be¬ lebten Alpweiden, im Gebiet der Kalkzone bei einer Höhe von 4000 bis 6000 Fuß, liegen kahle, nackte Steinflächen, oft ſtunden¬ lang, faſt horizontal ausgebreitet, die ſo zerfurcht und von tief ausgewaſchenen Hohlkehlen durchkreuzt ſind, daß ſie ausſehen, als ob ein wogendes Meer mit ſeinen Wellenhügeln plötzlich hier ver¬ ſteinert wäre und ein unentwirrbares Netz aufgegipfelter Wogen zurückgelaſſen hätte. Mitunter ſind ſie ſo ſchreckhaft zerklüftet und von klaftertiefen Rinnſalen ausgefreſſen, daß es unter allen Umſtänden unmöglich iſt, über dieſelben hinweg, ſei es im Sprung, durch Klettern oder im Balancirſchritt, einen Weg ausfindig zu ma¬ chen. Denn die zwiſchen dieſen Vertiefungen ſtehen gebliebenen Geſteinsreſte laufen wie ſchmale Dämme, ſcharf, wie die Schneide eines Meſſers, nebeneinander her, brechen plötzlich ab und werden von breiten Querkanälen durchſchnitten; bald wieder ſehen ſie aus wie Kämme, deren einzelne Zinken in den verſchiedenſten Höhen abgebrochen ſind, eine wie von rieſigen Inſtrumenten nach allen Richtungen zerhackte, hohlgeſchabte, durchſägte, ausgemeißelte Fläche, ein ſteinernes Splitter - und Zacken-Meer voll der bizarrſten For¬ men, die nicht ſelten an die Gletſchernadeln erinnern. Dazwiſchen tiefen ſich Löcher ab, trichterförmig, ähnlich den Kratern der Vul¬ kane, oder ſie verſinken wie ſchief ins Innere ſich verlierende Ka¬35Karrenfelder. näle; — dann wieder öffnet ſich ein mehre Klaftern breiter, aus¬ gehöhlter Keſſel, deſſen Boden wie der eines Siebes durchlöchert iſt. An anderen Stellen ſcheint in dieſem Chaos wieder ein ge¬ wiſſes Formengeſetz bei der Eroſion gewaltet zu haben, denn die Trümmermaſſen gewinnen beinahe das Anſehen des Zellenbaues in den Honigtafeln der Bienenſtöcke, weshalb der Hirt ſie auch be¬ zeichnend „ Steinwaben “nennt. Summa, es iſt ein Urbild der ſchrecklichſten Zerſtörung im Kleinen.
Dies Alles iſt ein Reſultat der Verwitterung, des unmerklichen aber erfolgreichen Ausſchleifens durch Gletſcher -, Schnee - und Re¬ genwaſſer, der ausdörrenden, ſprödemachenden Sonnenhitze und der zerſpaltenden, auseinander treibenden, abſprengenden Kälte, der vollſten ununterbrochenen Einwirkung der Atmoſphärilien auf den Geſteinskörper. Und weil gerade an dieſem Kalk ſich mehr als an jedem anderen die Verwitterung zeigt, und weil ſelbſt die in dem¬ ſelben enthaltenen Muſcheln nur fragmentariſch, zertrümmert vor¬ kommen, ſo haben die Geologen denſelben vorzugsweiſe „ Rudiſten¬ kalk “, oder nach den organiſchen Einſchlüſſen (Caprotina am¬ monia und gryphoides d'Orb. ) auch „ Caprotinenkalk “genannt. Außerdem führt er auch noch die volksthümliche Bezeichnung „ Schrattenkalk “, weil Schratten beim Aelpler ſo viel wie „ Berg¬ riſſe und Spalten “bezeichnen, — vielleicht durch Verſetzung des „ r “aus dem ſchrift-deutſchen Worte „ Scharte “(engl. Shard, Scherbe) entſtanden. Weil endlich, an den kahlen, nackten Felſen¬ flächen, beſonders im Kanton Unterwalden, die Rudiſten auffal¬ lend hervortreten und ſonderbare, ungewöhnliche Figuren auf dem Fond des Geſteines formiren, ſo nannte man daſſelbe auch „ Hie¬ roglyphenkalk “.
Offenbar iſt die Auflöslichkeit dieſes Kalkes eine ſehr ver¬ ſchiedene, wodurch die Zerfurchung entſtanden iſt. Da nun auf dieſen morſchen Felſenknochen, die im Sommer unerträgliche Hitze rückſtrahlen, auch nicht ein Stäubchen fruchtbarer Erde haftet, —3*36Karrenfelder. da ferner das im Frühjahr, während der großen Schneeſchmelze, in der ſubalpinen Region entſtehende oder nach Regengüſſen ſich ſammelnde Waſſer durch die ausgewühlten Rinnen und Löcher ſo¬ fort ſpurlos in die Eingeweide der Berge hinabeilt, um am Fuße derſelben als Quelle hervorzuſprudeln, ſo iſt es erklärlich, daß die¬ ſen Flächen jede Bedingung fehlt, um Pflanzen, und wären es die genügſamſten, zu ernähren. So weit das Auge über die troſtloſe, bleiche, einſame Felſenfläche ſchweift, ſieht es traurig, erſtorben aus. Wo aber keine Blume blüht und ihre Honigkelche öffnet, da ſummt auch kein Inſekt, da gaukelt kein Falter, ſchwirrt kein Kä¬ fer, — wo kein Kräutchen, kein Grashalm ſich in die Felſenſpalte einzuklammern vermag, ſelbſt nicht einmal Mooſe ihr mageres Le¬ ben friſten können, da raſtet auch nicht das kleinſte Höhlenthier¬ chen, — und wo Weg und Steg ſo zerſtört ſind wie in dieſen Karrenfeldern, da verirrt ſich kein Gratthier hin. Sogar die Vö¬ gel ſcheinen dieſe Stätte der Verwilderung zu fliehen, denn nie ſieht man Schneekrähen oder Bergdohlen, Steinhühner oder Flüh¬ lerchen, Falken oder Adler auf dieſelben ſich niederlaſſen. So¬ mit dürfen die Schrattenfelder ſehr füglich die Wüſten der Alpen genannt werden. — Wo dagegen die Karrenfelder an die Weiden angränzen, wo alſo angeſchwemmte Erde in den Vertiefungen ſich abgelagert hat, da entwickelt ſich auch die üppigſte Vegetation, die man in den Alpen finden kann. Solche Stellen dienen oft den Wurzelgräbern als beſte Fundgrube ihres gefährlichen Erwerbes.
Wie überall, wo Düſteres, Unerklärliches, Außerordentliches ſich zeigt, der Volksglaube die Einwirkung übernatürlicher Kräfte vorausſetzt, ſo nimmt auch hier die Erklärung ihre Zuflucht zu bö¬ ſen Geiſtern und infernaliſchen Mächten. Zwerge und Erdgnomen, vom Volke „ Schrättli “genannt, ſinds, die die Steine ſo ausboh¬ ren und durchbrechen; ihnen iſt der feſte Erdkörper ein „ Nichts “, durch welches ſie wie die Schärmäuſe ſich durchwühlen. Eine an¬ dere Ueberlieferung erzählt: die Schrattenfluh im Entlebuch (Luzern) 37Karrenfelder. ſei ehedem eine der ſchönſten Alpenweiden im Lande geweſen und habe zwei Brüdern gehört, welche dieſelbe gemeinſchaftlich verwal¬ teten. Als darauf Einer von Beiden blind geworden ſei, da habe man Theilung des Gutes beſchloſſen und die Ausführung dem Ge¬ ſunden übertragen. Dieſer aber habe den blinden Bruder über¬ vortheilt, die Marchſteine falſch geſetzt und ſich den größten und ſchönſten Theil der Alp angeeignet. Wie ſolche Kunde dem Blin¬ den überbracht worden ſei, habe dieſer ſeinen Bruder darüber zur Rede geſtellt. Der Ungerechte aber habe ſich verheißen und ver¬ ſchworen: „ Der Teufel ſolle ihn holen und die Weide zerreißen, wenn er nicht ganz ehrlich getheilt habe. “ Da ſei denn ein furcht¬ bares Wetter entſtanden, der Berg habe gebebt, Satanas ſei er¬ ſchienen und der Schwur in Erfüllung gegangen. Der Teufel habe allen Raſen und nutzbares Erdreich vom Berge abgeſtreift und zwar ſo begierig und eifrig, daß man noch heutigen Tages die Spuren ſeiner Krallen im Geſtein als jene Rinnen erblicke. Während die Weide des Blinden unverſehrt blieb, verfiel der An¬ dere der Hölle.
Es liegt, laſſen wir das Motiv der Erzählung außer Spiel, tiefer und wahrer Sinn dieſer Sage zu Grunde. Die unverſtän¬ dige Menſchenhand, welche die Berge ihrer Wälder ſo beraubte, daß der Boden kahl, den Zerſtörungen durchs Wetter preisgegeben wurde, war die Teufelsfauſt, welche den Berg verwüſtete;
Geſtorben iſt der Fichtenwald,Verwittert ſind die Zinken;Nur grau Geſtein, ſo alt und kaltLiegt da, mir graus zu winken.
Man ſuchte die Karrenfelder als Reſultate der einſtigen großen Gletſcher-Eroſion darzuſtellen, zumal ſie oft mit anderen unver¬ kennbaren Gletſcherſpuren in Verbindung auftreten. Genauere Unterſuchungen haben jedoch die Unhaltbarkeit dieſer Hypotheſe zur Genüge nachgewieſen. Der Gletſcherſchliff, deſſen im Abſchnitt: „ Granit “ſchon Erwähnung geſchah, hat gerade die Eigenthümlich¬38Karrenfelder. keit einer gleichmäßigen Abnutzung und Abrundung der Geſteine, während ein ächtes Schrattenfeld die Unregelmäßigkeit und Un¬ gleichheit ſelbſt iſt. Die bedeutendſten, größten und ausgepräg¬ teſten Karrenfelder liegen in den Kantonen Appenzell, St. Gallen, Glarus und Schwyz; das renommirteſte und beſuchenswertheſte iſt das auf der Silberen. Von dem idylliſchen Klönthaler See (jetzt ſeit Eröffnung der Eiſenbahn nach Glarus, der Wallfahrtsort aller Touriſten) erreicht man daſſelbe, den Weg über den Pragel faſt bis auf die Paß-Höhe verfolgend und dann links abbiegend, in 2½ bis 3 Stunden. Die Kalkfläche des Karrenfeldes auf der Silberen iſt ſo weiß, daß man dieſelbe, von Weitem geſehen, für ein Schneefeld hält. Andere Schratten ſind am Nordhang der Churſirſte am Scherenberg unweit des Leiſtkammes, die ausnahms¬ weiſe an manchen Stellen faſt ganz mit Alpenroſen überwuchert ſind, — dann am Meßmer auf der Weſtſeite der Säntiskette der Silberplatte entlang, — ferner am Kerenzerberg (leicht mittelſt der Eiſenbahn am Wallenſee zu erreichen), — an den Bergen des Wäggithales, am Fluhbrig, Frohnalpſtock, am Bauen (Vierwald¬ ſtätter See), am Sätteliſtock, auf dem Brünigpaß, am Kaiſerſtock, an den Päſſen des Rawyl und Sanetſch, Tour d'Ay, Tour de Mayen und vielen anderen Orten.
Geheimnißvoll am lichten TagLäßt ſich Natur des Schleiers nicht berauben,Und was ſie deinem Geiſt nicht offenbaren mag.Das zwingſt du ihr nicht ab mit Hebeln und mit Schrauben.
Wenn Du, lieber Leſer, auf deiner ſommerlichen Schweizerreiſe, oder Du, lieber Schweizer, aus dem deutſchen Reich über den Boden¬ ſee kommend bergwärts wanderſt, durchs fröhliche Appenzeller Länd¬ chen, oder durch das induſtrielle freundliche Toggenburg, oder noch mehr weſtwärts durchs behäbige Emmenthal und Entlibuch, — oder wenn Du in dem reizend, in parkartiger Umgebung gelegenen Hôtel Bellevue bei Thun eine Körper, Herz und Geiſt ſtärkende Villegiatur machſt, und der freundliche Beſitzer, Herr Knechten¬ hofer, Dich an der engliſchen Kapelle vorüber zum Pavillon Saint Jacques hinaufführt, von wo aus man einen prächtigen Nieder¬ blick auf ein reiches Bild hat, auf das ſtolze, in alterthümlichem Geſchmacke mit einem Koſtenaufwande von 1½ Millionen Franken durch Herrn von Rougemont erbaute Schloß, auf die Karthauſe und den Thuner-See, auf den Nieſen, die Stockhornkette und im40Nagelfluh. vollen Rundblick auf die rieſigen Firndome der Jungfrau, des Mönch, Eiger und vieler anderer, — oder wenn Du auf den Rigi ſteigſt, — oder ſogar nur auf den Freudenberg ob St. Gallen, — dann fällt Dein Blick oft auf Felſenwände, die dem üblichen Be¬ griff nach nicht eigentlich Felſen ſind, weil ſie wie Frontwände großer Kiesgruben ausſehen. Betrachte dieſes konglomerirte Ge¬ ſtein doch ein wenig näher, verweile einige Augenblicke bei ihm; Dein Zeitverluſt wird, biſt Du anders dilettirender Freund der Naturwiſſenſchaften, reichlich belohnt werden.
Dieſes ſonderbare Gebilde iſt „ Nagelfluh “, ein tertiäres Anſchwemmungs-Produkt, ein aus Geſchiebe und Rollſteinen kom¬ ponirter Natur-Füllbau, in die Periode der Molaſſezeit gehörend; alſo eines der jüngſten Schuttgeſteine, die wir kennen. Die Nagel¬ fluh kommt in mächtigen Maſſen und ſtundenweit verbreiteten Flächen blos an der nördlichen Abdachung der Alpen vor und geſtaltet hier die erſten Anhöhen und Berge. Am und im Jura iſt ihr Auftreten nur ſporadiſch, wie z. B. um Pruntrut, Delsperg, an dem berühmten Felſenthor der Pierre pertuis, in der kühlen Einſiedler-Schlucht St. Verena bei Solothurn, um Aarburg und Aarau und im Teufelskeller bei Baden. Außerdem zeigt ſich die Nagelfluh nur noch in Vorder-Indien.
Dieſes den ſogenannten Puddingſteinen verwandte Konglomerat beſteht aus mächtigen, oft ſogar bis zu mehren tauſend Fuß Dicke anwachſenden Schichten abgelagerter Rollſteine, die mittelſt eines kalkhaltigen, unter Säuren aufbrauſenden Cementes miteinander verbunden ſind, — mitunter ſo außerordentlich feſt, daß beide Theile eine gleichmäßig harte Maſſe bilden und beim Sprengen in glatter Fläche ſpalten, ſo daß der Bruch ebenmäßig durch Cement und Rollſteine geht. Dieſe Feſtigkeit iſt ſo bedeutend, daß man die Nagelfluh einiger Gegenden, wie z. B. die unter dem Namen des Degersheimer und Solothurner Marmors bekannten Arten, zu Werken der Bildhauerei, zu großen Brunnenbecken und monu¬41Nagelfluh. mentalen Arbeiten, ja ſogar zu Mühlſteinen benutzt hat. Die Größe der in den Cement eingebackenen Rollſteine variirt außer¬ ordentlich; man findet deren, die wie winzige Hirſekörnchen neben¬ einander liegen und ſomit der Schicht das Anſehen eines grob¬ körnigen Sandſteinlagers geben, — und wiederum ſolche von dem Umfange großer klafterhaltiger Blöcke.
Dies Alles würde aber die Nagelfluh noch zu keinem beſonders intereſſanten Naturprodukt machen, wenn nicht ein Paar Umſtände dabei noch vorwalteten, die bisher noch keine genügende Aufklärung fanden. Die Nagelfluh beſteht nämlich, wie eine jede Kiesgrube, aus den verſchiedenartigſten, kugelig, oblong oder flach-rundlich abgeſchliffenen Geſteins-Fragmenten. Je nach ihrer Farbe und qualitativen Zuſammenſetzung hat man ſie in die beiden Haupt¬ gruppen der bunten - und der Kalk-Nagelfluh abgetheilt. Zur bunten Nagelfluh gehören jene Konglomerate, welche, wie der Name ſchon ſagt, in reicher Farben-Moſaik prangen. Da finden wir feurigrothe Porphyrkugeln neben hellleuchtenden ſaftig-apfelgrünen Granit-Rollſteinen, warm violettgefärbte Spilit-Cylinder neben ſchwarzgrün getiegerten Serpentin-Ovalen, goldokerfarbige, abgerun¬ dete Kalkſtein-Gerölle neben fleiſchfarbig geaderten Feldſpath-Sphä¬ roiden, — ein ſchönes, reiches Bild bunter Gruppirung der ver¬ ſchiedenfarbigſten Geſteine. Minder brillant ſieht die Kalk-Nagelfluh aus. Bei ihr ſind gebrochene graue, blaue und ſchwärzliche Töne vorherrſchend; doch giebt es auch ſolche, die davon abweicht, wie z. B. die Nagelfluh am Fuße des Speers bei Weſen am Wallen¬ ſee, welche faſt das Anſehen von Rothwurſt oder Gothaer Preßkopf hat. Denn in dem dunkelrothen eiſenhaltigen Cement ſind weiße Feldſpath-Geſchiebe eingebacken, die wie fette Speckwürfel ausſehen, und wieder andere kalkhaltige Geſteine, die man ohne ſonderliche Anſtrengung der Phantaſie für Schweineſchwarte und Keſſelfleiſch halten kann. Unmittelbar hinter dem Bahnhof in Weſen kann der Kurioſitätenfreund ſich Bruchſtücke dieſes Naturſpieles aufleſen.
42Nagelfluh.Der eine bis jetzt noch unerklärt gebliebene Umſtand beruht nun dann, daß man Geſchiebe von Felsarten (und zwar in Menge) darin findet, welche entweder in den Alpen gar nicht — oder doch nur in den ſüdlichen Thälern derſelben vorkommen (d. h. deren heutige Flußgebiete gegen Süden auslaufen, wie das der Rhône, des Ticino und Inn), — oder daß Geſchiebe von Geſteinsarten wieder gänzlich in der Nagelfluh fehlen, die man in großer Menge darin erwarten ſollte, weil ſie in den Alpen außerordentlich reichlich vorhanden ſind. Es bleibt ſomit nichts Anderes übrig, als anzu¬ nehmen: daß die Rollſteine der Nagelfluh von Gebirgen herrühren, die bei einer der großen Erdumwälzungen gänzlich zertrümmert, dann durch die Friktion in den Fluthungen des Urmeeres abge¬ ſchliffen und gerundet, hierauf in gewaltigen Schichten abgelagert, von Cementſchlamm umhüllt und endlich bei der Hebung der Alpen mit aus den Meerestiefen emporgehoben wurden.
Eine zweite noch intereſſantere, aber auch noch minder erklär¬ liche Erſcheinung iſt die der Impreſſionen. Sucht man nur einige Augenblicke an blosgelegten Nagelfluh-Felſen, namentlich an ſolchen, deren Bindemittel nicht zu hart iſt, ſo daß man die Roll¬ ſteine leicht aus ihnen herauslöſen kann, ſo wird man von letzteren Exemplare finden, welche tiefe, muldenförmige Eindrücke von ihren unmittelbaren Nachbarn erhalten haben, etwa ſo, als wenn man in friſches, geknetetes Brod irgend einen beliebigen harten Gegen¬ ſtand eindrücken würde. Nun ſind aber beide Steine in der Regel von gleich harter Maſſe, und der Stein Nummero Zwei, welcher die Impreſſion in dem von Nummero Eins hervorbrachte, erhält an einer anderen Stelle von einem dritten Nachbar ſelbſt wieder ganz ähnliche Quetſchungen oder Vertiefungen. Da man nun doch annehmen muß, daß die Rollſteine, ehe ſie rundlich abgeſchliffen wurden, bereits hart und ſpröde waren, ſo iſt es ſchwer erklärlich, wie ſie von gleich harten Nebenkörpern ſolche Eindrücke empfangen konnten.
43Nagelfluh.Wollte man annehmen, jene Rollſteine ſeien zur Zeit ihrer Ablagerung noch in ziemlich weichem Zuſtande, ſomit leichter em¬ pfänglich für Impreſſionen geweſen, ſo muß man einen gleichen Härtegrad auch bei denjenigen Steinen vorausſetzen, welche die Eindrücke hervorbrachten. Zwei gleich weiche Körper aber werden bei Preſſungen ſich wohl abplatten, nicht aber der eine in den anderen eindringen. Hierzu kommt noch eine andere Erſcheinung, welche unzweifelhaft darauf hinweiſt, daß alle Nagelfluhſteine vor ihrer Umhüllung mit Cement ſchon ſehr erhärtet waren; dies iſt die ſpiegelglatte, geſtreift-glänzende Politur vieler derſelben an verſchiedenen Stellen. Man findet Exemplare, die, wie vom Steinſchleifer behandelt, in der Sonne weithin blitzend ſtrahlen, gleich blanken Glasſcherben, — andere, die ſcharf geritzte, fun¬ kelnde, in Menge nebeneinander liegende Linien zeigen und den körnigen Kalkſtein an der Oberfläche faſt wie faſerigen Asbeſt erſcheinen laſſen, — und noch andere, an denen das Wunder¬ laboratorium der Natur ſo energiſche Inciſionen hervorgebracht hat, als ob die Steine mit einem diamantenen Hohl-Hobel aus¬ gekehlt worden wären. Die meiſten dieſer Politurſtreifen tragen metalliſchen Glanz. Unzweifelhaft rührt die ganze Erſcheinung von der Hebung der Maſſen oder einem von den Alpen ausge¬ übten Seitendruck her, wobei die Steine mit unberechenbarer Vehemenz über einander hinglitten und ſich gegenſeitig, durch die Friktion erhitzt, abſchliffen. Solch ein polirter Stein giebt Ge¬ legenheit zu einer reizenden mikroſkopiſchen Spielerei. Bringt man denſelben unters Inſtrument und läßt entweder helles Lampenlicht, oder, noch beſſer, die Sonne in geeignetem Strahlenbrechungswinkel darauf reflectiren, ſo entſtehen unbeſchreiblich prächtige Farben¬ effekte. Ein Kaleidoſkop, in welches die brillanteſt gefärbten Glas¬ ſtückchen eingelegt wurden, vermag nicht ſolch eine flimmernde, ſchwirrende, im eigentlichſten Sinne kämpfende Farbenpracht zu entwickeln, wie die winzig kleinen geſchliffenen Kryſtallchen des44Nagelfluh. ſchlichten grauen Kalkſteinchens. Bald gruppirt ſichs in den rein¬ ſten feurigſten Prismenfarben zu einem Roſetten-Cyklus oder zu bunten Flammen ausſtrahlenden Sternchen, dann gleicht es einer vom Feuerwerker abgebrannten tauſendgarbigen Girandole oder diamantenen Ranken-Verſchlingungen, deren Enden ins Innere des Körpers hineinzuſchliefen ſcheinen, — dann wieder gläſern durchſchimmernden, regellos ſich kreuzenden Aſtbau-Figuren oder architektoniſchen Gliederungen mit Bandkarniſen und Pilaſtern, mit Kreuzrippchen und Konſolen wie von Geiſterhänden zu Oberons Feenpalaſt zuſammengefügt, — kurzum eine Welt im Kleinen, voll abenteuerlicher Phantasmagorieen, entfaltet ſich hier dem ſtaunen¬ den Blicke. Und doch iſts nur ein unſcheinbares Bröcklein aus dem großen Trümmerhaufen einer untergegangenen Welt und er¬ innert an Byron's Manfred:
Druck von F. A. Brockhaus in Leipzig.
Das Lebenszeichen des Lebens iſt Zerſtörung.
Unſer Erdkörper iſt in einem ununterbrochenen Zertrümmerungs - und Wiedererzeugungs-Prozeß begriffen. Der Kreislauf alles Stof¬ fes, den wir am Deutlichſten im Keimen, Wachſen, Abſterben und Verweſen der Pflanze erkennen, weil er innerhalb eines kur¬ zen, unſerem Wahrnehmungsvermögen naheliegenden Zeitraumes vor ſich geht, findet eben ſo, aber in großen, Jahrhunderttauſende umfaſſenden Epochen, am Fundamental-Gebäude unſerer Erde ſtatt; nur ſtellt er hier weniger einen eigentlichen Stoffwechſel, als viel¬ mehr einen Formenwechſel dar.
Betrachten wir den Boden, auf dem wir gehen, das Garten -, Acker - und Nutzland, welches unſere Früchte, Brenn - und Bauhölzer erzeugt, den Straßenſtaub, den der Sturmwind hoch in die Lüfte wirbelt und durcheinander mengt, — wollten wir das Alles genau unter dem Mikroſkop betrachten und ſeine einzelnen Subſtanzen ausſcheiden, ſo würden uns neben unzählbaren Theilchen halb und ganz verweſter Pflanzen - und Thierorganismen, kaum erkennbarer46Der Goldauer Bergſturz. Infuſorien und vorzeitlicher Schnecken-Panzer, eben ſo viele und noch mehr unendlich kleine Fragmente ehemaliger Gebirge: eine bunte Miſchung glaſiger Quarzſplitter und farbiger Schieferblätt¬ chen, hellglänzender Glimmerkryſtalle und kantiger Porphyrkörn¬ chen, durchſichtiger Feldſpathgeſteine und dichter Kalkpartikelchen erſcheinen, die hier zu Staub zermalmt einem neuen Umgeſtaltungs¬ prozeſſe entgegenſehen.
Dieſe umgeſtaltende Thätigkeit und die durch dieſelbe herbei¬ geführte allmählige Formveränderung unſerer Erdrinde kann unſer Auge nur da erkennbar wahrnehmen, wo die im Dienſte der Natur¬ kräfte ſtehenden Bewegungsmittel am Großartigſten ſich entfalten: zunächſt am Strande und im Gebirge.
Am Ufer des Meeres, der Binnenſeen, ja ſogar der Flüſſe, ſehen wir neue Ablagerungen von angeſchwemmten Erd - und Ge¬ ſteinsſubſtanzen, ſogenannte Strandbildungen entſtehen, — aus dem Grunde der oceaniſchen Gewäſſer neue Inſeln auftauchen, alſo das Gebiet des Feſtlandes ſich vergrößern, während an anderen Orten das ununterbrochene Arbeiten der Wellen, die Brandung, allmählig feſte Felſenwände auswäſcht oder ganze Stücken Ufer¬ landes losreißt, um ſie in die Tiefe zu verſenken.
Dieſes Ausebenungsbeſtreben zeigt ſich im Gebirge bei Weitem in draſtiſcheren Erſcheinungen. Jedes raſche Schmelzen des Hoch¬ gebirgsſchnees im Frühjahr, jedes heftige, mit großen Regengüſſen verbundene Gewitter, jeder Gletſcher auf ſeinem Rücken, ſendet aus den Höhen alljährlich eine Unzahl von Geſteinstrümmern in die Schluchten und Tobel, auf die Alpweiden und in die Thal¬ gelände und die an deren Fuße liegenden See - und Meeresbecken hernieder, die, wenn wir die Wahrſcheinlichkeitsrechnung zu Hülfe nehmen wollten, innerhalb irgend einer großen Zeitfriſt unter Mit¬ hülfe der Atmoſphärilien ebenfalls zu einer völligen Ausebenung von Berg und Thal führen müßten, wenn nicht inzwiſchen neue,47Der Goldauer Bergſturz. ungeahnte Kataſtrophen eintreten, die einen Strich durch unſere Rechnung machen.
Der Alpenbewohner nennt Ereigniſſe derart und die davon verwüſteten Gegenden „ Rüfe “, „ Steinrieſeten “, „ Gante “oder „ G'ſchütten “, und in jedem größeren, von etwas ſteilen Bergwänden eingeſchloſſenen Thale der Schweiz, Tyrols und der übrigen Alpenländer kann man ſolche, verſteinerten Strömen gleichende, aller Vegetation entbehrende Trümmerwüſten erblicken. Bei heftig niederbrauſendem Hochgewitter verſanden und überdecken ſie mit ihrem Schutt binnen wenig Stunden zuvor fruchtbares, werthvolles Ackerland oder kräuterreiche Matten und zerſtören deren Ertragsfähigkeit auf viele Jahrzehnte hinaus.
Dieſe ſind nicht zu verwechſeln mit den eigentlichen Felſen¬ ſtürzen und Bergrutſchen, welche von Zeit zu Zeit die Alpen heimſuchen und zu den furchtbarſten Naturereigniſſen gehören. Faſt alle werden mittel - oder unmittelbar durch die Einwirkung des Waſſers herbeigeführt. Entweder bohrt, frißt und ſprengt das, nur tropfenweiſe, in ganz unbedeutende Felſenſpalten der härteſten Ge¬ ſteine eindringende, im Winter gefrierende und durch die aus¬ dehnende Kraft des Froſtes den Spalt gleichſam wie mit einem Keil unmerklich erweiternde Waſſer ſo konſequent und ausdauernd, daß die vom Muttergeſtein abgeſprengten Felſenmaſſen, allmählig ihrer natürlichen Baſis beraubt, im Frühjahr oder Sommer beim Schmelzen des eingedrungenen Eiſes, endlich ihr Gleichgewicht ver¬ lieren und zu Thal ſtürzen, — oder die Reihenfolge und geringe Feſtigkeit des auf einander lagernden Geſteines und deſſen Ab¬ dachung (oder deſſen „ Fallen “, wie man in der Geologie ſich aus¬ drückt), ſind Urſache der Bergſtürze. Letzteres kann nur in den¬ jenigen Alpen vorkommen, die nicht aus kryſtalliniſchen Geſteinen (Granit, Gneis, Glimmerſchiefer, Porphyr, Syenit, überhaupt Feldſpath-haltigen Geſteinen), wie die Central-Alpen, ſondern aus Sedimentbildungen (wie ſolche in der Schilderung48Der Goldauer Bergſturz. des Alpengebäudes erörtert wurden) beſtehen. Hier wirkt dann das Waſſer direkt und zwar das in großer Menge ins Erdreich und in die Steinſchichten eindringende und dieſelben auflöſende Regen - und Schneewaſſer.
Ganz beſonders iſt dies bei denjenigen Gebirgen der Fall, deren unterſte Geſteinslage aus einer kompakten, wenig poröſen Maſſe beſteht, die das in die Tiefe eindringende Waſſer nur in ſehr geringem Grade aufſaugt, wie z. B. harte Leberfelsſchichten, Thonſchiefer, derbe Kalke u. a. — Liegt nun auf dieſer ein fau¬ lendes, leicht verwitterbares, zur Auflöſung geneigtes Gebirgs¬ material, wie z. B. rother Mergel, — und über dieſem wieder eine mächtige Schicht anderen Geſteines von geringer Dichtheit, wie Sandſtein, Nagelfluh, oder überhaupt eine das Waſſer filtrirende, gern durchlaſſende Felsart, ſo iſt es eine ganz natürliche Folge, daß das Waſſer entweder ſo lange durchſickert, bis es auf die unterſte, dichteſte Geſteinslage kommt und in unterirdiſchen Kanälen und Ritzen, der Abdachung des Felſen folgend, hinabrinnt, um aus tauſend Erdarterien und Tropflöchern geſpeiſt als Quelle wieder irgendwo zu Tage zu treten, — oder, wenn es ſich nicht genügend Abzug verſchaffen kann, zerſetzt und löſt es allmählig die leicht verwitterbare Mittelſchicht auf und verwandelt dieſe in einen zähen Schlammbrei.
Jetzt hängt es vom Gange der Witterung und der örtlichen Lage ab, was aus dieſer halbflüſſigen Erdſchicht werden ſoll. Tritt nach anhaltendem Regen ſehr trockene Witterung ein, ſo verdunſten nach und nach die aufgeſchluckten Waſſer wieder, der Brei erhärtet, dörrt aus und die drohende Gefahr wird abgewendet. Treibt aber der Föhn oder der Weſtwind fortwährend neue Regenmaſſen ins Land, ſtemmt der aufgeweichten Schicht ſich kein, von der Natur ſelbſt errichteter, dauerhafter Querdamm entgegen, bricht die ab¬ wärts drängende Maſſe durch, ſo entſteht eine Schlammlauine, die, wohin ſie ihren trägen aber unaufhaltſamen Lauf richtet, wie49Der Goldauer Bergſturz. die Lava des Vulkanes alles ihr im Wege Stehende einſchließt, ausfüllt, ummauert und oft mehre Klaftern hoch überdeckt. Was ſie erreicht, wird unrettbar zerſtört. Von einem ſolchen Schlamm¬ ſtrome wurde im Juli 1795 ein großer Theil des reizend am Vierwaldſtätter-See gelegenen Dorfes Wäggis vernichtet und in die Fluthen verſenkt. Er kündete ſich in der Nacht des 15. Juli durch ein ſeltſames eintöniges Brauſen an, das nach der Meinung des Volkes aus den Kellern zu kommen ſchien. Als es Tag wurde, ſahen die Einwohner mit Entſetzen die dicke, dunkelrothe Schlamm¬ lauine mehre Klaftern hoch und wohl eine Viertelſtunde breit, einem Ungeheuer gleich, gegen das Dorf ſich heranwälzen. Ihre Bewegung war indeſſen ſo langſam, daß alle fahrende Habe von den Einwohnern geflüchtet werden konnte. Volle vierzehn Tage dauerte es, bis die wandernde Schlamm-Maſſe das Seegeſtade erreichte; aber eine Menge Häuſer und vortrefflicher Grundſtücke wurden ein Raub des Ereigniſſes.
Solche Schlammlauinen aber, die keinen Ausbruch finden, werden mittelbare Urſache der Felsſtürze. Die auf der Schlammlage ſtark geneigt ruhenden Geſteinsſchichten reißen vermöge eigener Schwere und Wucht ſich los und glitſchen auf dem ſchmierigen Erdreich der Tiefe zu.
Das empörte Weltmeer, der feuerſpeiende Berg, die Schrecken des amerikaniſchen Urwaldes, der Samum in der Wüſte, ſind Erſcheinungen, die das Blut in den Adern ſtarren machen können, — aber kein Sturm auf offenem Ocean, wenn den Seefahrer der Untergang aus tauſend Wellengräbern angähnt, kein Ausbruch eines ſeine Feuergarben himmelan ſtrahlenden Vulkans, kein Wald¬ brand des amerikaniſchen Urwaldes können Entſetzen erregender wirken, als jener ſchreckliche Moment, in welchem der Gebirgs¬ bewohner ſeinem Weibe, ſeinen Kindern und Nachbarn zuruft: „ Fliehet! der Berg kommt! “ Nur noch ein Phänomen kommt dem Bergſturz an ſeelenzerſetzender Unheimlichkeit gleich: das Erd¬Berlepſch, die Alpen. 450Der Goldauer Bergſturz. beben. — Wo ein Bergſturz losbricht, da iſt Alles, was im Be¬ reiche ſeiner zermalmenden Gewalt liegt, faſt im gleichen Augen¬ blicke eine Beute des Todes, wo die Gefahr ſich ankündet. — Man denke ſich jene ſtabilen Gebirgsmaſſen, welche ſeit Menſchen¬ gedenken in todter, indifferenter Ruhe wie ein Naturbau für urewige Zeiten zu Häupten der Menſchen thronten, plötzlich, wie von unſichtbarer Hand ihrer ſtützenden Unterlage beraubt, in Be¬ wegung — ſchwankend — ſich lostrennend und mit Blitzesſchnellig¬ keit auf das friedlich daliegende Thal niederſtürmend.
Solch ein furchtbares Ereigniß zerſtörte im Kanton Schwyz die Dörfer Goldau, Rötten, Buſingen und Lowerz binnen wenig Minuten durch den Einſturz des nördlich über dieſen Ortſchaften liegenden Roßberges.
Die Jahre 1804 und 1805 waren ſehr regneriſch geweſen und ihr Nachfolger 1806 fuhr unverdroſſen fort, wäſſerige Niederſchläge im Ueberfluß und in ungewöhnlicher Fülle auf das Alpenland nieder¬ zuſenden. Ganz beſonders zeichnete ſich in dieſer Beziehung der Hochſommer durch anhaltende Landregen aus, welche am Ende des Auguſtmonates und namentlich am erſten September in eigentliche Wolkenbrüche auszuarten drohten.
Es iſt ſchon ein unliebſames Bild, welches nach vielwöchent¬ lichen Regengüſſen die Landſchaft einer ebenen Gegend in ihrem durchweichten, überſättigten Habitus darbietet. Aber es iſt nicht zu vergleichen mit dem Ausſehen einer Gebirgslandſchaft am Ende einer ſolchen Witterungsperiode; aus jeder Schlucht, aus jedem Waldwinkel blickt Zerſtörung hervor, überall rüttelts und nagts am Beſtehenden. In eigenwillig ausgegrabenen Rinnen und Runſen ſchäumen und poltern die hoch angeſchwellten, von allen Halden und Berghängen zuſammenfließenden Wildwaſſer ſchmutzig und erdfahl hernieder. Alle Hohlwege ſind tief ausgeſpült und die vom umgebenden Erdkitt entblößten, bunt geſprenkelten, hiero¬ glyphiſch-marmorirten Rollſteine, welche ſonſt unbeachtet einfarbig im51Der Goldauer Bergſturz. Boden ſtecken, leuchten ſo durchſichtig blank, wie von des Schleifers Hand polirt, daß ſie im Glanze ihres erhöhten Kolorits, eine natürliche Diluvial-Moſaik darſtellen. — Zottig hängt das blos¬ gelegte Wurzelgeflecht der Rothtanne und Lärche, des Bergahorn (Acer pseudoplatanus) und der Alpenerle (Alnus viridis), des ſtruppigen Wachholderbuſches (Juniperus sabina) und anderen Ge¬ ſträuches, das an den abſchüſſigen Wegrändern ſteht, über dieſelben herunter, und wo das ſuchende Wühlen des Waſſers die Nahrungs¬ ſchichten des lockeren Waldbodens ausgewaſchen und zu Thal ge¬ ſchwemmt hat, da ſinken die ihrer eigenen Schwere nicht mehr mächtigen ſtolzen Stämme, dieſe Ariſtokraten der Pflanzenwelt, kraftlos um, vom Wetter gefällte Schlagbäume, die Paſſage des freien Waldverkehrs hemmend. Das riſſig-ſchuppige Rindenkleid der Bäume, ſchwammig-vollgetränkt von der überreichen Regen¬ ſpende, hat ſeine warmen, wohlthuenden, braunrothen Okertöne verloren und Stamm und Aſtwerk ſtarren finſter in die ſchwarze Säulenhalle der Forſte hinein. Jenes mährchenhaft geheimnißvolle Waldesdunkel fehlt, das alle Gegenſtände der Perſpektive ver¬ duftend ins Unbeſtimmte auflöſt. Alles hat die dunſtende Regen¬ durchſichtigkeit grell ins linienhaft ſcharf Begränzte überſetzt und präciſirt.
Noch zerzauſter, ermatteter, zerknickter, genuſſesmüder erſcheint die Bourgeoiſie der Bergvegetation, die individuenreiche Klaſſe der Hochkräuter, alle jene geſellſchaftlichen Tafelrunden der Waldfarren, die brennendroth blühenden Epilobium-Kerzen, die neugierig über ihren Stand hinausſchauenden Hieracien und Alles, was, „ wie aus Duft und Glanz gewebt “, ein ſommerlanges Blumenleben hier oben verjauchzt; es iſt als ob muthwillige Buben eine Pflanzen¬ ſchlacht geliefert hätten. Nur die ſpargelſchüſſigen Saftſtengel der Orchideen mäſten ſich bei dem Ueberfluß und jene Knappenſchaft der Kräuterwelt, die auf Hieb und Stich mit Pfeil und Lanze gewappnete Reiſigen-Schaar der zäh-ſtengelichen Diſtelgewächſe hat4*52Der Goldauer Bergſturz. trotzig der niederſchlagenden Waſſergüſſe die ſcharfen Kanten und Spitzen entgegengeſtreckt und heldenmüthig widerſtanden. Es ſind die gleichen alten Kämpen, die in den Stürmen des Winters, wenn das quatte, weiche Zellengefüge faſt aller anderen niederen Phanerogamen gährend ſich zerſetzt, — obgleich marklos, dennoch aufrecht, wie auf dem Poſten erfrorene Schildwachen daſtehen, und mit ihren gebleichten nackten Blüthenſchädeln in den allgemeinen Naturſchlaf hineingrinſen, bis Boreas oder die Wucht des auf ihr Geripp ſich lagernden Schnees auch ſie umknickt und der übrigen verweſenden Maſſe beifügt. Ihre Deviſe ſollte ſein: „ Treu bis in den Tod! “—
Und nun vollends das Proletariat der Vegetation, das ge¬ meine, niedrig am Boden kriechende Volk der Gräſer, dieſes Grund¬ aggregat alles deſſen, was unmittelbar „ Nahrung “liefert, die breiten ſchilfblätterigen Schwingelarten, die luftigen, kupferroth¬ ſpiegelnden Windhalme, die federbuſchigen Calamagroſten und die fettlaubigen Hirſegräſer mit ihren geſpreizten krakehligen Aehren¬ dolden, die zarten ſchüchternen Schmielen und die derben behäbigen Poaceen, wie ſo gänzlich erſchlafft liegen ſie da. Die elaſtiſche, langausgiebige Widerſtandsfähigkeit, die Muskelkraft der ſchlanken Rispen iſt gebrochen, — wie von den darüber hinfluthenden Regen¬ bächen glatt gekämmt, ſchmiegen ſie ſich den Bodenformen ſklaviſch an. Item! Ein allgemeines Betrunkenſein herrſcht in der Pflanzen¬ welt und der Regen hats ihr gezeigt, wie es ausſieht, wenn er Meiſter iſt. Denn die Regenmenge in den Alpen iſt eine ganz andere als in den flachen Gegenden. Während die ſüddeutſche Hochebene jährlich im Durchſchnitt nur 24 bis 25 Zoll Regen hat und die norddeutſche Tiefebene gar nur 22 Zoll, ſteigt dieſelbe in den inneren Alpenthälern auf 54 Zoll und auf dem großen St. Bernhard nach ſiebenjährigem Durchſchnitt gar auf 73 Zoll.
Aber dies Alles charakteriſirt die Eigenthümlichkeiten lang¬ andauernden naſſen Wetters im Gebirge noch nicht allein; verwandte53Der Goldauer Bergſturz. Momente zeigen ſich auch drunten in der Ebene nach einem ſoliden Landregen.
Was der ganzen Erſcheinung ein viel unheimlicheres Gepräge giebt, iſt die tiefe Schwermuth, in welche die ganze Landſchaft verſunken iſt. Die hohen Berge ſind nicht ſichtbar; Wolken haben ſich wie graue Trauermäntel um ihre Schultern gehangen. Wäh¬ rend ſchon bei hellem, lachendem Himmel nur ein geringeres Quantum Horizont in das Bergthal hereinleuchten kann als in das unbegrenzte Flachland, — ſo wird dem bischen Tageshelle bei trübem Wetter vollends der freie Eintritt durch die Bergkoloſſe verkümmert. Die Regenwolken mögen ſich vielleicht nicht tiefer gegen den Erdboden niederſenken als wo anders auch; aber da¬ durch, daß man mittelſt der naheſtehenden Felſenmaſſen einen Maßſtab für den Hochgang der Wolken erhält, wähnt man, die ganze Atmoſphäre laſte wie ein böſer Traum auf der Gegend. Nicht ſelten iſts der Fall, daß Fremde bei ſolchem Wetter von einer Angſt und Bangigkeit befallen werden, als ob ihnen das entſetzlichſte Unglück bevorſtände.
In dieſer landſchaftlichen Verfaſſung befand ſich denn auch das Goldauer Thal, als unerwarteter Weiſe am Vormittage des 2. September das Regenwetter plötzlich innehielt, während der Horizont einfarbig melancholiſch umwölkt blieb. Am frühen Mor¬ gen dieſes Tages bemerkten Landleute, die auf der Höhe des Gnypenberges (der öſtliche Theil des Roßberges) und am ſ. g. „ Spitzenbühl “Ställe beſaßen, ganz friſche, weit auseinander klaffende Riſſe im Erdreich und an den Felſenwänden. Der Raſen war an manchen Stellen übereinander geſchoben und in den be¬ nachbarten Waldungen hörte man von Zeit zu Zeit ein dumpfes, dem Rottenfeuer ähnliches Knallen, gleichſam als ob Wurzelwerk gewaltſam zerſprengt würde. Daneben ſtürzte von einer Felſenfluh am „ Gemeinde-Märcht “fortwährend Nagelfluh-Geſtein hernieder; da aber ſolche Ablöſungen ſtets im Frühjahr nach der Schnee¬54Der Goldauer Bergſturz. ſchmelze und jederzeit nach heftigen Regengüſſen zu erfolgen pfleg¬ ten und die Bewohner des Röthner Berges ſchon längſt an ſolches Krachen und Fallen gewöhnt waren, ſo legten ſie auch diesmal den Kundgebungen wenig Werth bei und vermutheten höchſtens, daß in einer tieferliegenden, ohnedies ziemlich wüſten Gegend ſich eine „ Bräche “oder Erdſchlipf ablöſen möchte. Dieſes Nieder¬ ſtürzen von Felſentrümmern unter fortwährend aufſteigenden Staub¬ nebeln vermehrte ſich indeſſen von Stunde zu Stunde, die Luft zitterte in fortwährender Oscillation und die Anwohner des Ro߬ berges in weitem Umkreiſe empfanden jederzeit die Erſchütterungen des Bodens. Leute, die mit Kartoffelhacken, Holzfällen oder Vieh¬ gaumen auf dem Felde oder den umliegenden Berghöhen beſchäf¬ tigt waren, richteten, ſtets von Neuem aufgeſchreckt, immer wieder den Blick nach dem Roßberge.
Am Spätnachmittage, es hatte auf dem Kirchthurme zu Arth 4¾ Uhr geſchlagen, öffnete ſich plötzlich auf halber Höhe des ſanft geneigten Berges an der Rüthi-Weide eine große Erdſpalte, welche zuſehends weiter, tiefer, breiter und länger wurde. Der umliegende Raſenboden wendete ſich ſelbſt, ſo daß er, wie umgeackert, die braunſchwarze Bodenkrume zu Tage kehrte. Zugleich begann der, in gleicher Höhe liegende Zanswald unheimlich lebendig zu werden, Zuerſt ſchwankten die hohen, ſchlanken, ausgewachſenen Tannen, wie von unſichtbarer Hand bewegt, leicht hin und her, etwa ſo, als wenn im Sommer der Wind über das halbreife Korn hin¬ ſtreicht, daß es zu wogen ſcheint. Dieſe wellenförmige Bewegung wuchs, aber in widerſtreitenden Rhythmen, ſo daß in dem unregel¬ mäßigen und heftigen Schwanken die Stämme und ihre Baum¬ kronen durch - und gegeneinander ſchlugen. Mit krächzendem Ge¬ ſchrei flogen Raben, Krähen, Häher und andere dort niſtende Waldvögel auf und eilten in flüchtenden Schwärmen gen Südweſt den Forſten an den Abhängen des Rigi zu. Jetzt trug ſich das ſchiebende Stoßen und Schwanken, das wellenhafte Steigen und55Der Goldauer Bergſturz. Fallen auch auf den Raſenboden über; es ſah aus, als ob rieſige Schärmäuſe denſelben unterwühlten. Zugleich begann ein leiſe anhebendes Gleiten und Hinabrutſchen der ganzen oberen Gegend, das immer erkennbarer und eilender wurde. Die Tannenwälder ſträubten ſich der raſchen Bewegung zu folgen und erſchienen, — nach Ausſage der Leute, welche das ganze furchtbare Phänomen vom Anfang bis zu Ende in bangſter Aufmerkſamkeit mit anſahen, — etwa ſo, als wenn man Haare wider ihre natürliche Wuchs - und Wurzellage kämmt.
In immer geſteigerteren Progreſſionen nahm die angſterfüllende Erſcheinung zu; in immer weiteren Kreiſen, in immer ausgedehn¬ terem Umfange wurden angränzende Matten und Wiesgelände, Obſtbaumgärten und Hofſtatten ſammt Stallungen, Menſchen und Vieh mit in die ungeheuerliche Bewegung hineingezogen. Das Volk, welches den Grund und Boden, auf dem es geboren und groß geworden war, unter ſeinen Füßen weichen fühlte, ſchreckte entſetzt auf und flüchtete, ſeine Heimath zu verlaſſen. Da — Donner und Knall! als ob die Urfundamente der Erdrinde zer¬ borſten wären, ein raſſelnd-ſchmetterndes Krachen, ein knatterndes Gepraſſel, als ob ein tauſendzackiges Blitzbündel aus den ver¬ derbendrohenden Wolken auf einen Schlag zernichtend in die Grundpfeiler der Berge hineingefahren wäre und das Innerſte der Gebirge zerſprengt und zertrümmert hätte. Die Steinbergerfluh, eine Felſenmaſſe von mehren Millionen Kubikklaftern, ſammt allem darauf ſtehenden Hochwald und die darunter terraſſirt ſich nieder¬ ſenkende, mehr als hundert Fuß hohe Nagelfluh-Wand des „ Ge¬ meinde-Märcht “waren eingeſtürzt. Dies war das Signal zu einem allgemeinen Zerſtörungsakt; denn nun begann ein Schau¬ ſpiel, welchem an furchtbarer Großartigkeit kaum eine andere Er¬ ſcheinung zu vergleichen iſt. In wildeſter Auflöſung jagten Felſen¬ blöcke und Steinſplitter, Erdſchlamm und Raſenfetzen, Geſträuch¬ knäuel und Baumſchäfte, Alles in bald hoch aufwirbelnde, bald56Der Goldauer Bergſturz. fallende Staubwolken gehüllt, über die Berghalde dem Goldauer Thale zu. Ein Trümmerfragment ſchien das andere an Geſchwin¬ digkeit überholen zu wollen; es war ein Wettrennen der rohen Materie. Die chaotiſch ſich häufenden Sturzmaſſen, die hetzende Schnelligkeit, die allgemeine Verwirrung wuchſen von Augenblick zu Augenblick. Hausgroße Gebirgsbrocken mit aufrecht darauf ſtehenden Tannen ſauſten, wie von dämoniſchen Fäuſten geſchleu¬ dert, frei ſchwebend, gleich fliegenden Vögeln, hoch durch die Lüfte; andere Felſenſcherben ricorchettirten wie Geſchoſſe einer Rieſen¬ kanonade, von Zeit zu Zeit aufſetzend, immer wieder in hohen Bogen emporgeſchnellt; noch andere prallten auf der Sturzbahn mit ihren Sturmesgenoſſen zuſammen und zerſpritzten wie die Funken weißglühender Eiſenſtangen unter der Wucht des Eiſen¬ hammers. Es war eine Scene aus dem Titanenkampfe der grie¬ chiſchen Mythe.
Hinunter praſſelt und donnert und dröhnt,Was eben noch den Berg gekrönt,Der Berg, zerſchmettert zu Schutt und Kies,Der See, gefüllt mit Geröll und Gries —Das rollt und wälzt ſich endlos fortUnd ſchwillt und wächſt von Ort zu Ort;Zerknickt die Tannen mit grauſer KraftUnd ſchießt als Wurfſpeer weiter den Schaft.Der Boden zittert und wankt und wiegt,Bis rings die Stätte begraben liegt.Weithin begraben Hügel und GrundDes Berges Flanken ſchrundig und wund,Mit Splittern und Grand das Thal gefülltUnd leichenfahl Alles ringsum verhüllt.
Binnen wenig Minuten waren über hundert Wohnhäuſer und eben ſo viele Ställe und Scheunen zerſtört; denn die ganze Halde des Roßberges, bis faſt hinauf zum Gnypenſpitz, deſſen äußerſten Gipfel ein großes hölzernes Kreuz ſchmückt, war damals mit be¬ wohnten Häuſern überſäet, und drunten im Thal zwiſchen dem Zuger - und Lowerzer-See lagen die begüterten Ortſchaften Goldau,57Der Goldauer BergſturzBuſingen und Lowerz. Vierhundert und ſieben und fünfzig Men¬ ſchen fanden ein großes gemeinſames Grab unter dem Trümmer¬ felde.
Und bei dieſem ſchrecklichen Ereigniß, welch wunderbare Ret¬ tungsgeſchichten. Faſt zu alleroberſt unterm Spitzenbühl wohnte damals Bläſi Mettler mit ſeinem blutjungen 19jährigen Weibe Agathe. Als drüben am Gemeinde-Märcht der hölliſche Spektakel losging, wähnte der an Hexen und Geſpenſter glaubende Berg¬ bauer, böſe Geiſter trieben dort ihr Spiel. Das heulende Ge¬ ſchrei der Waldeulen hielt er für Jubelgeſang teufeliſcher Dämo¬ nen, das Pfeifen und Brauſen in dem Felsgeklüfte für Jammer¬ rufe verfluchter Seelen, welche ihn warnen wollten, und die donnernden Einſtürze des Berges für Werke des Satans oder für Vorboten des jüngſten Gerichtes. Von Jugend auf im Aberglau¬ ben erzogen, vollgepfropft und vollgeſtopft mit Sagen von Schatz¬ gräbern, Kobolden und Unholden, einſam, abgeſchloſſen von aller menſchlichen Geſellſchaft lebend, ſchuf ihm ſeine rege Phantaſie die abenteuerlichſten Bilder. Um nun ſich, ſein Weib und Kind zu ſichern gegen die Angriffe des böſen Feindes, eilte er ſpringenden Fußes hinab ins Pfarrhaus nach Arth und bat den dortigen geiſt¬ lichen Herrn unter Thränen und Schluchzen, mit ihm hinaufzu¬ kommen und zu benediciren, d. h. die böſen Geiſter zu bannen. Noch während er jammerte und erzählte, brach die Kataſtrophe völlig los. Mettler, ganz von Sinnen, zog ſeine Schuhe aus und rannte wie wahnwitzig ſeinem mehr als eine Stunde entfernten Hauſe zu. Der Zweifel, ob ſein geliebtes Weib und ſein vier Wochen altes Kind ein Opfer des Bergſturzes geworden ſeien, brachte ihn beinahe um den Verſtand. Wie wars unterdeſſen droben gegangen? Das arme junge Weib in entſetzlichſter Bangigkeit bei dem fort¬ während zunehmenden gräßlichen Getöſe, bei der faſt ununterbro¬ chenen Erſchütterung der Hütte, verlebte während ihres Mannes Abweſenheit Stunden der unſäglichſten Angſt. Da kam die Zeit58Der Goldauer Bergſturz. heran, in welcher ſie, nach Landesſitte, für ihr Kind den Abend - Brei zu kochen gewohnt war. Schon hatte ſie Milch und Mehl eingerührt und das Feuer auf dem Heerde angezündet, um mit dem Kochen zu beginnen, als der donnerähnliche Knall und ein Wanken des Hauſes in ſeinen Grundmauern ſie tödtlich erſchreckte. Unſchlüſſig, ob ſie bleiben oder fliehen ſolle, ſprang ſie in die Stube, entſchloſſen mit dem Kinde ins Freie zu flüchten, wenn es wach ſei, — anderenfalls aber deſſen Schlaf nicht zu ſtören und im Hauſe zu bleiben. Und ſiehe, das Kind lag wachend, ohne Geſchrei in der Wiege. Eilends reißt ſie daſſelbe unter Herzen und Küſſen empor, nimmt aus dem Gänterli (Wandſchrank) ihres Mannes geringe Baarſchaft und eilt über die Schwelle, während der Boden unter ihren Füßen lebendig geworden zu ſein ſcheint. Kaum hat ſie den Gaden (Stall) ihres Heimweſens erreicht und raſtet, athemlos ſich umkehrend, einen Augenblick, als ſie ſteht, wie ihr ſo eben verlaſſenes Wohnhaus zertrümmert, in jagender Flucht der Tiefe zugeſchleudert wird, und ein tobendes Meer der Ver¬ wüſtung an ihren umnachtenden Blicken vorüberjagt. So findet ſie der ſchweißtriefend herbeieilende Bläſi. Bei dem gänzlichen Verluſte all ſeiner Habe dankte der arme Mann dennoch mit Thränen der Rührung dem Himmel für die Rettung der Seinen.
Etwa 500 Schritt tiefer wohnte ſein Bruder Baſtian, der zur Zeit des Bergſturzes mit dem Vieh ſich auf der Allmendweide am Rigi befand. Die Frau deſſelben aber mit zwei kleinen Kin¬ dern war im Hauſe, als es vom Sturz ergriffen und verſchüttet wurde. Wie das gräßliche Ereigniß ausgetobt hatte und das Volk ſich ſchüchtern dem Schauplatz des Schreckens wieder näherte, eilten auch die Eltern und Geſchwiſter der Frau Mettler hinauf, um zu ſehen, was aus ihr und ihren Kindern geworden ſei. Vom Hauſe war keine Spur zu erblicken; Alles lag im großen Trüm¬ mergrabe. Nur in einiger Entfernung von jener Gegend, wo das Haus geſtanden hatte, lag in Mitte der Schlamm-Maſſe ein mit ge¬59Der Goldauer Bergſturz. dörrtem Buchenlaub geſtopfter Bettſack und auf demſelben ſchlafend, im Hemdchen das kleinſte Kind. Mit Lebensgefahr ſtieg der Onkel deſſelben in die breiweiche, mit Steinblöcken untermengte Schutt¬ lauine und rettete den kleinen Schläfer. Nur wenig Schlamm war ihm ins Geſicht geſpritzt, ſonſt war er völlig unverſehrt. Welch wunderbare Fügung das Kind in Mitte des tauſendfach einherbrauſenden Todes erhalten hatte, wie die Trümmer des ein¬ ſtürzenden Hauſes und das ſchwere Dachgebälk gefallen ſein mö¬ gen, ohne das Kind zu berühren, wie dieſes, gleichſam von unſicht¬ baren Händen getragen mit dem gleichen Polſter, auf welchem es vor der Kataſtrophe ſchlief, auf den Trümmerhaufen mag niederge¬ legt worden ſein, iſt faſt unerklärlich. Jetzt iſts ein 58 jähriger Mann, Sebaſtian Meinrad Mettler, der in Goldau drunten wohnt.
Die wunderbarſte der vielen Rettungsgeſchichten ereignete ſich aber in der Gemeinde Buſingen, unweit des Lowerzer-Sees. Dort bewohnte Joſeph Lienhard Wiget, ein baumfeſter, kerngeſunder Mann von 32 Jahren ſammt Frau und fünf Kindern ſein ſchönes, bäuerlich-wohlhäbiges Heimweſen „ zum unteren Lindenmoos. “ Er war ein glücklicher, zufriedener Mann. Als der Bergſturz los¬ brach, war Wiget mit den Seinigen im Grasgarten beſchäftigt Obſt aufzuleſen, welches Regen und Wind herabgeſchlagen hatten. Eilends erfaßte der beſonnene Mann, als er den Berg kommen ſah, ſeine beiden älteſten Knaben und lief mit ihnen einer dem Roßberge gegenüberſtehenden Anhöhe zu, indem er ſeiner Frau dringend zurief, ihm mit den kleineren Kindern ſchleunigſt zu fol¬ gen. Die Mutter, welche ein im Hauſe ſchlafendes eilfmonatliches Kind nicht dem gräßlichen Schickſale preisgeben wollte, flog noch¬ mals in die Wohnung. Ihr folgte durch eine andere Thür die Magd Franziska mit dem fünfjährigen Marianneli. Im Moment des Eintretens in die Stube umfinſtert ſich Alles, völlige Nacht verhüllt das unter Donnerkrachen zerberſtende Haus und die Ar¬ men ſind verſchüttet. Franziska fühlt ſich hin - und hergeſchleudert,60Der Goldauer Bergſturz. niedergeworfen und hat endlich das Gefühl, als ob ſie in einen endloſen Abgrund ſtürze; die Beſinnung verläßt ſie. Als ſie wie¬ der zu ſich kommt, vermag ſie nicht ſich zu rühren noch zu regen und fühlt, daß ſie wie eingemauert, rings von kaltem, naſſem Schlamm umgeben, auf dem Kopfe ſteht. Nur das Geſicht iſt ihr frei, ſo daß ſie athmen kann. Da wähnt ſie, der Untergang der Welt ſei eingetreten, alles Lebende vernichtet und ſie allein in Mitte des Erdballes, in ihrem Grabe das einzige noch lebende Weſen. So, in tödtlicher Angſt betend, hört ſie eine weinerliche Stimme, immer lauter werdendes Wimmern; ſie ruft, fragt und erkennt an der Antwort, daß es die kleine Marianne iſt, von wel¬ cher das Stöhnen herrührt. Trotz der gräßlichen Lage, fühlt ſie ſich hoch entzückt, noch ein lebendes Weſen, und dazu ein ge¬ liebtes, in ihrer Nähe zu wiſſen. Geſpräch und Austauſch der Mittheilungen beginnen. Marianneli erzählt, daß es zwiſchen Ge¬ ſträuch und Balken auf dem Rücken liege, ſich nicht rühren könne, aber durch einen ſchmalen Streifen der Finſterniß ins Grüne blicken könne. Die fromme Franziska hält es für eine Ausſicht ins Paradies. Unter anhaltendem Gebet, Seufzen, Klagen und Weinen vergeht geraume Zeit. Da hören Beide die Töne einer Glocke. Es iſt das friedliche Abendgeläute vom Steinerberge, die um 7 Uhr ertönende f. g. „ Betglocke. “ Jetzt überzeugt ſich Fran¬ ziska, daß der Welt Untergang noch nicht hereingebrochen ſei, und leiſes Hoffen auf Rettung dämmert in ihrer Seele auf. Beide rufen um Hilfe, ſie ſchreien, — aber vergeblich! Todtenſtille wie im Grabe herrſcht rings in kalter Finſterniß. Jetzt taucht zum erſten Mal der folternde Gedanke: „ Lebendig begraben! “in Fran¬ ziskas Seele auf. Aber ſie muß ihn niederkämpfen, verbergen vor dem armen Kinde, um deſſen Angſt nicht noch zu vermehren. Sie hören das ſpätere „ zu Nachtläuten “in Steinen und beten aufs Neue, ohne Unterbrechung, ſtundenlang; — aber keine Errettung will ſich zeigen. Nun empfindet das Kind auch ſtechende Schmer¬61Der Goldauer Bergſturz. zen am Unterkörper und die Marter nagenden Hungers. Fran¬ ziska will vor Leid vergehen, ihrem Liebling nur leere Troſtesworte ſtatt reeller Speiſe und Labung reichen zu können. Sie muntert daſſelbe unter allerlei Vorſpiegelungen (an deren Erfüllung ſie ſelbſt nicht glaubt) auf, ſich zufrieden zu geben und ſucht das arme leidende Weſen zu beſänftigen. Die Klagen des Kindes werden immer ſchwächer, immer gebrochener, unartikulirter, — end¬ lich ſchweigen ſie ganz. — „ Gott ſei Dank, es hat es überſtan¬ den! “— ſeufzt das treue Mädchen und bereitet ſich ſelbſt zum Abſchiede vom Leben vor; denn die Leidensſtunden fangen jetzt an faſt unerträglich zu werden, und Todeskälte durchſchauert, fieber¬ haft ſchüttelnd, Mark und Bein. Nach entſetzlich mühevollen, lan¬ gen, langen Verſuchen gelingt es ihr endlich, die Füße aus dem umgebenden feſten Schlamm etwas zu befreien, ſo daß ſie dieſel¬ ben bewegen und dadurch wieder einige Cirkulation des Blutes hervorrufen kann. Der ganze übrige Körper bleibt nach wie vor ſtarr eingemauert. Wie entſetzlich martervoll eine ſolche Lage ſein mag, vermögen Worte nicht auszumalen.
Endlich iſt eine ganze lange Nacht in dieſem halbtodtähnli¬ chen Zuſtande durchwacht. Die Morgenglocke am Steinerberge und dann auch die zu Steinen ertönt; ſie läutet abermals Hoff¬ nung in das beinahe gebrochene Herz. Wiederum entſtrömen tief¬ innige Gebete ihren krampfhaft gepreßten Lippen, und wie ein Strahl der aufgehenden Sonne dringt gewaltſam die zuverſichtliche Ueberzeugung in ſie ein, daß ſie heute errettet werde. Da! — o Wunder! ertönt auch wieder die Stimme des geſtorben geglaubten Kindes! Ein krampfhafter Schlaf hatte ihm die Nacht abgekürzt. Es klagt aufs Neue über Hunger, heftige Schmerzen und ruft der Franziska, ihr zu helfen.
Mit Tagesanbruch war der troſtloſe Gatte und Vater mit ſeinen beiden Knaben wieder an die Schauerſtätte geeilt, wo er ſchon am vorhergehenden Abend gearbeitet, um womöglich die62Der Goldauer Bergſturz. Leichen ſeiner geliebten Angehörigen aufzufinden. Die verfloſſene Nacht war die qualvollſte ſeines Lebens geweſen. Ein Bettler, obdachlos, verwaiſt hatte er, der kurz zuvor begüterte Mann, die Barmherzigkeit anderer Menſchen für ſich und ſeine beiden Knaben anſprechen müſſen. Alſo mit Tagesanbruch begann er, unterſtützt von Freunden, aufs Neue ſeine Nachſuchungen. Nach ſtunden¬ langem Arbeiten erblickt er endlich einen Fuß, dann Kleider. Es iſt ſein Weib! Mit haſtiger Sorge arbeitet er, ſchafft, ſeine Rieſen¬ kräfte aufs Aeußerſte anſtrengend, mit Leichtigkeit gewaltige Maſſen zur Seite und hat endlich den ganzen Körper vom Schutt befreit. Da liegt die entſeelte Gattin, zerquetſcht, ein Opfer ihrer Mutter¬ liebe und Muttertreue, die beiden kleinſten Kinder ans Herz ge¬ preßt. Wilder Schmerz durchraſt die Seele des armen Mannes, laut heulend ſtürzt er nieder neben den geliebten Leichnamen und erfüllt die Luft mit ſeinen herzzerreißenden Klagen. Aber, o wun¬ derbare Fügung! Dieſe Jammerlaute dringen bis in die Gräber der beiden lebend Verſchütteten. Beide rufen und ſchreien um Hülfe und die draußen Stehenden vernehmen es. Zuerſt wird nach langem Suchen Marianneli gefunden, befreit und hervorge¬ zogen. Des Kindes Schenkelbein war zerbrochen. Dann ſpäter fand man auch die Magd. Beide wurden dem Leben zurückge¬ geben. Vierzehn volle Stunden hatten ſie mit Körperleiden, Tod und Verzweiflung lebendig begraben gekämpft.
Die Meiſten der Verſchütteten werden eines jähen, momen¬ tanen Todes geſtorben, ihr Körper zerſchmettert worden ſein. Aber wie Viele mögen auch, ähnlich der erretteten Franziska, in der Tiefe der Schutt - und Schlamm-Maſſen mit gebrochenen Gliedern oder völlig unverletzt, körperlich geſund noch Tage lang geſchmach¬ tet und der Erlöſung entgegengehofft haben, um endlich in Ver¬ zweiflung dem qualvollen Hungertode zu erliegen? —
Die Summe der damals aus den genannten Ortſchaften mittelbar durch Hilfe oder unmittelbar durch beſonnene ſchleunige63Der Goldauer Bergſturz. Flucht oder durch Abweſenheit vom Hauſe Geretteten beträgt etwa die Hälfte (220) der durch den Sturz ums Leben Gekommenen. — Erſchütternd und wahrhaft tragiſch iſt das Schickſal einer Reiſe¬ geſellſchaft, welche den Rigi (in Vorausſetzung baldiger Beſſerung des Wetters) erſteigen wollte. Sie beſtand aus Mitgliedern alter, edler Familien: dem Herrn v. Diesbach und ſeiner Gemahlin, einer geb. v. Wattenwyl, dem Frl. v. Diesbach, dem Obriſt Victor v. Steiger, den Herren Gebrüder May, Jenner von Breſtenberg, einigen Knaben und deren Informator, einem Herrn Jahn aus Gotha. Am Spätnachmittage hatte die Geſellſchaft Arth verlaſſen und wollte zu Fuß nach Schwyz wandern; die Beſteigung des Rigi hatte man aufgegeben. Herr von Diesbach, die Gebr. May und der Lehrer waren einige hundert Schritt hinter der übrigen Reiſegeſellſchaft zurückgeblieben und ſahen dieſelbe ſcherzend und plaudernd ins Dorf Goldau einwandern. Eben wollten auch die Zurückgebliebenen die verhängnißvolle Stätte betreten, als der Donnerton des Einſturzes ſie erſchreckte. Sie blicken hinauf, ſehen die Maſſe in wilder Bewegung dem Thale zujagen und flüchten eiligſt auf der Straße zurück, in der ſichern Vorausſetzung, daß ihre vorangegangenen Freunde ein Gleiches thun werden. Unweit des Punktes, wo ſie erſchöpft raſten, ſchlagen Steinhagel und Felsgetrümmer nieder. Als der entfeſſelte Aufruhr ſich gelegt, eilen ſie wieder dem nunmehr verſchütteten Dorfe zu. Soweit das ſpähende Auge blickt, — nur Zerſtörung, nur Schuttwälle, nur wüſtes Chaos, — kein Zeichen, nicht die mindeſte Andeutung von dem nur zu gewiſſen Schickſal der verunglückten Freunde und An¬ gehörigen. Der Schmerz der Zurückgebliebenen und ihr Jammer um den Verluſt ſoll herzzerreißend geweſen ſein.
Noch jetzt bildet das Trümmerfeld von Goldau ein Wanderziel aller Reiſenden, die den Rigi und den Vierwaldſtätter-See beſuchen.
Mehre Jahrzehnte hindurch ſah die ganze Gegend, in welcher einſt Goldau lag, erſtorben, unheimlich-ruinenhaft, wie eine vom64Der Goldauer Bergſturz. Fluch betroffene Stätte aus; bei Schritt und Tritt erinnerten Felſenſcherben den Wanderer an den ſchaudererregenden 2. Sep¬ tember 1806. Jetzt hat die Zeit gemildert und die ſchmückende Hand der Vegetation jene traurigen, erinnernden Eindrücke etwas verwiſcht. Jene Trümmergeſteine ſind mit Moos und ſaftigen Saxifragen überkleidet, luſtig wuchern violblaue Kampanulen und duftender weißer Steinklee aus den Rispengräſern und Diſtel¬ pflanzen zwiſchen dem Schutt hervor, — anſtrebendes Buſchwerk und zerſtreutes Tännicht überſchatten die Felſenblöcke, und wenn kommende Generationen in das neue Jahrtauſend übertreten, wer¬ den nur undeutliche Umriſſe noch auf die große Grabesſtätte hin¬ deuten.
Längſt über alten Schutt iſt unermeſſenGeworfen friſcher Triften grünes Kleid;Gleich wie ein ſtilles, freundliches VergeſſenSich ſenkt auf dunkler Tag 'uraltes Leid.
Druck von F. A. Brockhaus in Leipzig.
Die Wurzeln ſind verſunken in Nacht,Mit Runzeln iſt der Stamm bedeckt,Doch ſein Geäſt in JugendprachtSich grün und friſch in die Wolken ſtreckt.Was unten am Stamm verrunzelt wardIn Knorren und Riſſen rauh und hart,Das blüht hoch oben ſüß und holdUnd trinket freudig der Sonne Gold.
Es giebt in der Welt der Organismen keine Erſcheinung, die in ſo vollendetem Einklange mit der ſtillen Erhabenheit der Cen¬ tral-Alpen ſteht, wie der Gebirgs-Urwald. Der Grundbegriff vege¬ tativer Beſchaulichkeit und ſinnenden, träumeriſchen Pflanzenlebens erhält durch ihn ſeinen höchſten ſichtbaren Ausdruck; in ihm tritt uns noch das volle, freie Walten der Natur in großen, markigen Zügen entgegen. Der wohlbewirthſchaftete, regelrecht gezogene und gepflegte Kulturforſt des Tieflandes iſt eine abgeſchwächte Er¬ ſcheinung gegenüber der patriarchaliſchen Würde und dem hohen greiſenhaften Ernſt eines alten Bannwaldes in den Alpen. Beide verhalten ſich zu einander wie die praktiſche, nüchtern-berechnende Neuzeit zu dem romantiſchen, urkräftigen, wilden Mittelalter. Denn in der That ragt der Alpen-Urwald als ein Stück vorzeit¬ lichen Lebens in unſere Tage herüber und mancher der mehrhundert¬Berlepſch, die Alpen. 566Der Bannwald. jährigen Bäume war einſt Zeuge der Großthaten, welche heute die Sage verherrlichet.
Die Bezeichnung „ Urwald “hat durch fremde Reiſebeſchrei¬ bungen eine ſo ausgeprägte Begriffsgränze bekommen, daß unſere Phantaſie unwillkürlich einen Gedankenſprung über den Ocean macht. Es läßt ſich aber ein Vergleich mit dem amerikaniſchen Urwalde nur inſofern aufſtellen, als man damit den jungfräuli¬ chen Urnaturzuſtand des von der menſchlichen Kulturhand noch un¬ berührten Alpenwaldes bezeichnen will; dieſer iſt das einzige, bei¬ den eigenthümliche charakteriſtiſche Merkmal. In allen anderen Beziehungen beruhen ſie auf den entſchiedenſten Gegenſätzen.
Der tropiſche Urwald zeigt einen unermeßlichen Reichthum von Pflanzenformen in den feurigſten und prangendſten Farben, eine ſo unerſchöpfliche Individuenzahl, daß der Bodenraum von geringem Umfang dem Naturforſcher Ausbeute, Beſchäftigung und Studienſtoff für lange Zeiten bietet. — Der Alpenurwald da¬ gegen iſt einförmig, anſpruchslos; verhältnißmäßig nur wenige Charakterpflanzen bilden die Elemente ſeiner Zuſammenſetzung. Aber auch dieſe bieten in ihren normalen Körperformen wiederum nichts Auffallendes, Fremdartiges dar. Noch weniger prangt der Alpenwald in anziehendem Farbenſchmucke; dunkeles, ernſtes Ko¬ lorit iſt allenthalben über ihn ausgegoſſen und nur gebrochene, trübe Tinten ſchleichen ſcheu ineinander über. — Vergleicht man dann vollends das biologiſche Moment beider, ſo giebt uns der amerikaniſche Urwald ein vollendetes Bild des üppigſten, unver¬ wüſtlichſten, ſiegreichen Lebens, eine Verherrlichung der vegetabi¬ liſchen Wiedergeburt; er iſt ein ununterbrochener Jubel der Auf¬ erſtehung, das immerwährende Oſterfeſt im Pflanzenreiche; überall verbirgt ſich der Akt der Auflöſung unter der reichen, überwuchern¬ den Blätterfülle des jungen ſchimmernden Nachwuchſes, und die Seligkeit ewiger Jugend ſcheint hier zu herrſchen. Der Alpen¬ urwald iſt ein ſtiller Todtenacker, eine jener trüben, finſteren Ver¬67Der Bannwald. weſungsſtätten der Natur, wo Leben und Zerſtörung in materieller Wechſelwirkung unmittelbar in einander übergreifen. In düſterer Schwermuth umſtehen die zähen, dunkelgrünen Arven und ſchlanken Lärchenbäume die modernden Leichen ihrer Vorfahren, — paraſitiſch, ſaugt und trinkt der wuchernde Schwamm Lebenskraft und Leibes¬ nahrung aus dem Zellengerippe ſeines abgeſtorbenen Stammes. Und endlich gar das Thierleben, das kreiſchende, flatternde, ſchreiende, brüllende Thierleben des amerikaniſchen Waldes gegen die monotone, öde, ſchaurige Stille des alpinen Gebirgsforſtes! Welch grelle Gegenſätze! Dort tumultuariſcher Lärm zankender Pa¬ pageien, akkompagnirt vom ſchauerlichen, ſchrillen Geſchrei raufen¬ der, bösartiger Affen, widerliche Figurationen in der ergreifenden Harmonie der Cicaden, die das großartigſte Conzert in den bra¬ ſilianiſchen Urwäldern aufführen; dazwiſchen das wimmelnde Leben unzähliger Libellen und metallblanker Fliegen, die wie blitzende Juwelen die Luft durchſummen, das unheimliche Huſchen fliehender großer Echſen, das Raſcheln ringelnder Vipern und Schlangen und die ſchauerweckenden heulenden Klagetöne einer Menge unge¬ ſehener Thiere aus dem Innern des ungeheuerlichen Pflanzenlaby¬ rinths, — während der Alpen-Hochwald höchſtens vom hohlen, hämmernden Takte der Spechte widertönt, oder aus hoher Luft der pfeifende, gezogene Ruf der Adler und Geier die lautloſe Stille unterbricht. Nur bisweilen rafft die todte Natur ſich auf und ſtimmt Donnerakkorde an, wenn die Elemente im Streit liegen, die Waldbäche ſchäumend austreten und über Felſentrüm¬ mer ihre Sturzwellen peitſchen, oder die Lauinen in die Tiefe her¬ niederwettern und der Sturm brauſend durch die Wipfel fegt.
So arm und finſter, ſo verſchloſſen und rauh der Alpenurwald ſeinem Milchbruder jenſeit des Weltmeeres nachzuſtehen ſcheint, — ſo wunderbar geheimnißvolle Eigenthümlichkeiten und ſeltſame, wilde Reize birgt ſeine ſchauerliche Tiefe.
Nicht jeder Bannwald iſt ein Urwald. Der letzteren giebt es5*68Der Bannwald. eigentlich wenige mehr. Nur in den ſchwach bevölkerten und ſtark bewaldeten großen Hochalpenkantonen Graubünden und Wallis trifft man ſie noch an, und auch hier nur in den Territorien der¬ jenigen Gemeinden, welche Holzüberfluß haben, oder deren Wälder zum Theil ſo tief, verſteckt und unzugänglich im Gebirge liegen, daß die Transportkoſten des Herausſchaffens beim Abholzen den üblichen Marktwerth des Holzes aufzehren würden. Dies iſt na¬ mentlich der Fall in den umfangreichen uralten Waldungen Unter¬ engadins: im Val Sampuoir (der Gemeinde Schleins), im Scher¬ genthal unterm Piz Mondin, im Liſchana-Tobel am Piz St. Jon, in mehren Seitenpartieen des Scarlthales, im Val Zeznina, in der Waldung Surſa ſalm des Uinna-Thales, und ganz beſonders in dem großen Dubenwalde des Turtman-Thales im Wallis.
Bannwälder dagegen hat jedes Hochgebirgsdorf, das von jäh anſteigenden Thalwänden eingeſchloſſen und deshalb von Lauinen, Steinſchlägen oder Erdrutſchen bedroht iſt. Der Bannwald iſt eine durch die Umſtände gebotene Vorſichtsmaßregel, nicht eine durch Holzüberfluß herbeigeführte Vernachläſſigung des Forſtbetrie¬ bes. Es giebt Gemeinden, die, in Folge ſchlechter Forſtwirthſchaft, entſchiedenen Mangel an Brennmaterial haben, daſſelbe kaufen, ſtundenweit aus anderen Gemeindewaldungen herbeifahren müſſen, und dennoch nahe über ihren Häupten große Bannwaldungen ſtehen haben, die ſie nicht abholzen dürfen. Ein Beiſpiel dieſer Art giebt das Dorf Andermatt im Urſerenthale mit dem darüber¬ liegenden St. Anna-Walde.
Der Bannwald hat die Aufgabe, durch die Summe ſeiner hochaufſtehenden ſtarken Baumſtämme, das Losbrechen und Herab¬ rutſchen der während des Winters ſich anhäufenden Schneemaſſen, alſo die Bildung von Grundlauinen zu verhindern, nicht, wie man gewöhnlich glaubt, Lauinen, die bereits in Gang gekommen ſind, wie ein Damm aufzuhalten. Gegen letztere würde ein ſol¬ cher Wald nur wenig Jahre Widerſtand leiſten; in jedem Frühjahr69Der Bannwald. würden die oberen Waldesränder durch den jähen Anprall der Lauinen (die, wie erzählt, ihre regelmäßigen Abzugskanäle oder „ Lauinen-Züge “haben) ſtark beſchädigt und die jeweilig vorderſten Baumreihen wie Strohhalme umgeknickt werden; nach wenigen Jahrzehnten möchte ein wüſter Holz - und Steintrümmerhaufen ſtatt des ſchützenden Bannwaldes zu erblicken ſein. Dieſe Vorkehrungs¬ nothwendigkeit ſahen die Alpenbewohner ſchon vor Jahrhunderten ein und ſchonten deshalb die geeigneten Waldungen, legten ſie „ in Bann “, d. h. erklärten ſie durch Gemeindebeſchluß als unantaſt¬ bar. Und wie in früheren Zeiten gar oft die Strafe für die Ueberſchreitung eines Geſetzes in ungeheuerliche, myſtiſche, mit dem Volksaberglauben in engſter Beziehung ſtehende Wunderakte ge¬ kleidet wurde, welche unſichtbare Mächte über den Verbrecher verhängen, ſo galten auch die Bäume des Bannwaldes als ge¬ heiligte Gegenſtände. Schiller hat dieſen Volksglauben in ſeinen Wilhelm Tell (3. Akt, 3. Scene) eingewebt. Der Knabe Wal¬ ther fragt:
„ Vater, iſts wahr, daß auf dem Berge dort „ Die Bäume bluten, wenn man einen Streich „ Drauf führte mit der Axt —
Wer ſagt das, Knabe?
Der Meiſter Hirt erzählts — die Bäume ſeien Gebannt, ſagt er, und wer ſie ſchädige, Dem wachſe ſeine Hand heraus zum Grabe.
Die Bäume ſind gebannt, das iſt die Wahrheit. — Siehſt Du die Firnen dort, die weißen Hörner, Die hoch bis in den Himmel ſich verlieren?
Das ſind die Gletſcher, die des Nachts ſo donnern Und uns die Schlaglawinen niederſenden.
So iſts, und die Lawinen hätten längſt Den Flecken Altdorf unter ihrer Laſt Verſchüttet, wenn der Wald dort oben nicht Als eine Landwehr ſich dagegen ſtellte.
Der Glaube, daß es blutende Bäume gebe, war im Mittel¬ alter weit verbreitet. Die Blutlinde auf Burg Freienſtein bei Wiesbaden ſoll ihren Namen daher haben; die heilige Eiche zu70Der Bannwald. Romove blutete, als die preußiſchen Ordensritter ſie fällten; ebenſo der berüchtigte Holzbirnbaum im Walde bei Lupfig (Kant. Aargau), und nordiſche Mährchen berichten viele ähnliche Geſchichten (vgl. Rochholz, Schweizerſagen).
Die Forſtkultur, welche bis in die allerjüngſte Zeit gerade in den Hochalpenkantonen ſo zu ſagen gar nicht exiſtirte, konnte ſich ſomit auch nicht auf eine rationelle Behandlung der Bannwälder erſtrecken. Dieſe waren und ſind zum Theil noch Prototype des ſinnloſeſten, ſchädlichſten Konſervatismus. In der Meinung, daß durchaus kein Stamm gefällt werden dürfe, wurden die mehrhun¬ dertjährigen Bäume abſtändig, ſtürzten um und beſchädigten durch ihren Fall nicht nur die nebenſtehenden, jüngeren, kräftigen Bäume, ſondern zerſtörten auch dadurch, daß der Stock ſammt Wurzeln und Ballen aus der Erde riß, die meiſt dünn auf den Felſen liegende Bodenſchicht der Dammerde. Oder wo der Windbruch ein Stück Wald warf, da nahmen die Gemeindeangehörigen gerade eben das Holz heraus, was ihnen momentan dienlich war, und ließen das übrige liegen, wodurch begreiflich die Regeneration, der junge, kläftige Nachwuchs ſehr gehindert wurde. Darum ſehen viele Bann¬ wälder, namentlich in den Urkantonen und im Teſſin, Wallis und Graubünden entſetzlich wild und zerſtört aus. Eine Wanderung durch einen ſolchen wird uns näher vertraut mit ſeinen charakte¬ riſtiſchen Eigenthümlichkeiten machen.
Alle Bannwälder beſtehen faſt nur aus Nadelholz, beſonders aus Arven oder Zirbelkiefern (Pinus cembra) und Lärchen (Pi¬ nus larix), die vorherrſchend in den öſtlichen Alpen, namentlich in der rhätiſchen Plateaubildung als geſchloſſene Maſſen bis zu 6000 pariſ. Fuß übers Meer anſteigen, — und aus Rothtan¬ nen oder Fichten (Pinus abies L.) und Kiefern (Pinus syl¬ vestris), auch „ Dähle “genannt, die mehr in den weſtlichen Alpen die Waldbeſtände bilden und deren ſammethafte Vegetations¬ gränze meiſt ſchon bei 5500 Fuß aufhört. — Das Holz der71Der Bannwald. Alpenbäume iſt, weil es unter dem hindernden klimatiſchen Ein¬ fluſſe langdauernder Winter viel langſamer wächſt, auch viel der¬ ber, zäher, feſter, härter, engere Jahresringe abſetzend, als das des tiefliegenden, in fetter Dammerde wurzelnden, raſch wachſenden Waldes der Hügelregion oder des Flachlandes. Darum hat der Baum des Alpenwaldes nicht nur bei einem Alter, wo er drunten als ſchlagfähig und ausgewachſen angeſehen wird, ein noch viel unausgebildeteres Ausſehen, ſondern ſein Wuchs wird auch ge¬ drungener, trotziger, widerſtandsfähiger, ohne deshalb, wenn er nach Jahrhunderten ſeine möglichſte Größe erlangt hat, niedriger zu ſein als die Tanne, Lärche und Kiefer des Tieflandes. Laub¬ holz kommt in den Waldungen der Hochwälder äußerſt wenig vor; die einzigen Laubbäume, welche hin und wieder einige Verbrei¬ tung haben, ſind der Berg-Ahorn (Acer pseudoplatanus L.) und die weißſtämmige Birke (Betula alba), die bis 5000 Fuß anſteigen. Weiter hinauf, über die hier angegebenen Gränzen hin¬ aus, hört die Waldform auf, die Bäume bilden keine geſchloſſenen Beſtände mehr, ſtehen zerſtreut umher und gehen endlich in Zwerg¬ formen oder ſ. g. Knieholz über.
Am Bedeutendſten iſt das Leben der kleinſten und niedlichſten Pflanzenorganismen, der Laub - und Lebermooſe und der Flechten in dieſen Wäldern entwickelt. Ganz beſonders reiche Fundgruben erſchließen ſich dem Bryologen auf den granitiſchen Centralknoten und Waſſerſcheiden der Alpenkette. Von der wu¬ chernden Fülle der oft mehr als Fuß hoch ſchwellenden Polſter, welche die Mooſe am Boden große Strecken weit bilden, macht man ſich kaum einen wahren Begriff. Alles überkleiden, um¬ ranken, beſpinnen ſie mit ihren reizenden, unendlich mannigfaltigen Formen; ſie ſind gewiſſermaßen das mildernde, verwiſchende, aus¬ ſöhnende Element der Pflanzenwelt in dieſen finſteren Baumlaby¬ rinthen, unter deren weichen Umarmungen die Trümmer allmählig dem Blicke entzogen werden und verſinken. Was der heißdampfende,72Der Bannwald. Schlangen und gefährliches Gewürm bergende Blätterboden für die tropiſchen Urwälder iſt, das ſind die dichten Mooskiſſen für die Alpenwälder. Niſtet in ihnen nun gleich nicht jene den Natur¬ forſcher bedrohende Natternbrut, ſo ſind ſie doch für den, welcher einen alten Bannwald durchklettern will, nicht minder gefährlich, weil in dieſen unheimlich elaſtiſchen Maſſen kein ſicherer Tritt zu finden iſt und der Fuß, zwiſchen verborgene Steine tretend, leicht umknicken und durch eine Bänderluxation beſchädigt werden kann.
Das ausgedehnteſte Kontinent ſtellen die Aſtmooſe oder Hypnaceen, von denen Hypnum triquetrum und splendens als die, auch in den Wäldern Deutſchlands verbreitetſten, am Be¬ kannteſten ſind. Außer dieſen beiden Arten füllen die Alpenwälder noch Hypnum molluscum die lebhaft grün leuchtenden H. den¬ ticulatum und sylvaticum, das gelbbräunliche H. tamariscinum, das ſaftige, feuchte, lange Ranken treibende H. purum und das wunderſchöne H. striatum mit ſeinen zarten grünen Fühlfäden und den auf haardünnen Stengeln neugierig die Sammetfläche überſchauenden kümmelkornähnlichen Saamenkapſeln. Faſt ebenſo maſſig treten die Gabelmooſe auf, ganz beſonders der reiſer¬ ſtengelige Gabelzahn (Dicranum scoparium), leuchtend ſaftgrüne, atlasglänzende, mollige Polſter webend und das, weit umfang¬ reicher ſich veräſtelnde wellenförmige Gabelmoos (D. undulatum). Dazwiſchen ſchmarotzen eine Menge Flechten, unter denen Cetraria islandica, das isländiſche Moos und C. cucullata, die Tartſchenflechte ihren korallenartigen Aſtbau am Bemerkbarſten hervorſchieben.
Aus dieſer dichten Moosdecke ragen die knorrigen, riſſig¬ grauen Arven, die harzſpendenden, luftiggenadelten, ſchlanken Lär¬ chen und ockerbraunen Tannen wie aus einem großen, warmhalten¬ den Winterpelze hervor. Nur an etwas lichteren Stellen und Waldblößen haben graugrüne Heidelbeerſträuche (Vaccinium Myrtillus), das Herrgottsſüppli oder Sauerklee (Oxalis aceto¬73Der Bannwald. sella), der gemeine Kellerhals (Daphne Mezereum), die kugel¬ köpfige Klettendiſtel (Carduus personata), die wollköpfige Kratzdiſtel (Cirsium eriophorum), der kriechende, ſchlangen¬ ähnliche Bärlapp (Lycopodium annotinum), die keck aufſtreben¬ den Zirkelgruppen von Farrenkräutern, namentlich Aspidium lonchitis, lobatum, Cystopteris montana und Polypodium al¬ pestre, der weiße Germer (Veratrum album), und wo es noch luftiger und freier wird: das niedrige Geſtrüpp des Zwergwach¬ holders (Juniperus nana), das Berg-Johanniskraut (Hype¬ ricum montanum), das Weidenröschen (Epilobium alpestre und Gesneri) mit ſeinen karminglühenden Kronen, die heideartige reizende Azalea procumbens mit ihren lederartigen Blättern und viele andere Alpenpflanzen ſich emporgekämpft und dominiren über die Mooſe.
Wir verlaſſen aber den Bannwald noch lange nicht; wir dringen erſt recht in ſeine ſtillen, geheimnißvollen Verſtecke ein. Der Weg bergauf, durch das die Füße immer mehr umſtrickende Moos, in welches man bis in die Kniee einſinkt, wird immer be¬ ſchwerlicher. Bald verſperrt ein entwurzelter, bleich vermodernder Stamm das Fortkommen. Er muß überſtiegen werden. Es folgen noch ein zweiter, dritter und weiter hinauf ein ganzes Verhau, eine förmliche Naturbarrikade. Gleich zerbrochenen Schwefelhöl¬ zern liegen die entſchalten, grau-vermodernden Todtenknochen des Waldes umher; —
In dunkler Nacht, wenn Stern 'und Mond nicht glänzen,Umquillt phosphoriſch Licht den morſchen Baum.Traun ihn umwallt von ſeinen todten LenzenEin leuchtender und ſchöner Grabestraum.
Es iſt das Schlachtfeld einer Lauine, die der Frühling als donnernden Liebesgruß ſeinen Kindern herabſandte. Daneben liegt die Bahn, die ſie durchfahren; die alten, bleichen, vermorſchten Stämme, die ihre Umarmung tödtete, bezeichnen den Weg, an dem die Schleppe ihres Schneekleides hinſtreifte. — Welch ein Bild74Der Bannwald. der Zerſtörung! Welch groteske, abenteuerliche Gruppirungen von zerſplitterten Bäumen, übereinander gewälzten Geſteinstrümmern, hochaufgeworfenen Schuttwällen, durchwühlten Erdhaufen und Ge¬ ſtrüppfaſchinen! Und wie geſchäftig umklettern Flechten, Pilze und Mooſe die Gefallenen und ſaugen ihnen gierig die letzten Lebenstropfen aus. Orthotrichum speciosum, dieſes lebhaft¬ gelbgrüne Moos, das auch die alten Obſtbäume des Flachlandes nicht unverſchont läßt, überzieht in Gemeinſchaft einer Unmaſſe von grauen und fahlen Flechten das abgeſtorbene Tannengezweige gänzlich. Die Stämme umkriecht in gewundenen Ranken die Georgia mnemosynum; in den Spalten und Rißwunden haben freudiggrüne Aſtmooſe, namentlich Hypnum puichellum und serpens ſich angeſiedelt, äußerſt zarte, lebhaft-purpurrothe Frucht¬ ſtielchen treibend; an manchen Stellen breiten ſich Knotenmooſe wie Bryum longicollum und capillare als dicht gedrängte Schöpfe gelbgrün-glänzend, große Flächen in Beſchlag nehmend, aus. Dies ſind nur einige der form - und farbeſchönen Paraſiten, die durch die Zierlichkeit ihres Baues und ihren leuchtenden Glanz das Auge entzücken. Dazwiſchen aber drängen ſich Legionen unſchöner Flechten hervor, wie die graugrüne Biatora icmadophila mit den fleiſchfarbenen Apothecien, die ungemein große hellbraune Sticta pulmonacia, die ſchmutzig-zinnoberrothe Lepra cinnabarina und die ſchwefelgelbe, ſtaubige L. sulphurea u. a.
In dieſen mikrokosmiſchen Anſiedelungen der Pflanzenwelt lebt und webt nun eine Inſekten-Bevölkerung von Raubſpinnen und Ameiſen, Tauſendfüßlern und Milben, Käfern, Fliegen und Würmern in beſtändigem Kriege, gräbt ſich Höhlen in der korkig¬ ſchwammigen Textur des verfaulenden Holzes, ſpinnt ſich Neſter zwiſchen den Mooszweigen, verſchanzt ſich unter dem Thallus der Flechten, liegt im Hinterhalt auf dem Sprunge, oder beſorgt mit ängſtlicher Geſchäftigkeit die häuslichen Bedürfniſſe der kleinen Oekonomie. Welch eine unendlich reiche Welt im Kleinen erſchließt75Der Bannwald. ſich hier in Mitte der großen, ſcheinbar erſtorbenen Waldesein¬ ſamkeit? Welch ein unabſehbares Feld für die Forſchungen des Naturfreundes umfaßt ein einziger vermodernder Baumſtrunk mit ſeinen ſichtbaren und verborgenen Bewohnern? Ein ganzes Men¬ ſchenalter würde nicht ausreichen, um den Lebensprozeß und die Lebensaufgabe eines jeden dieſer unſcheinbaren, minutiöſen Thier¬ chen, ſein Entſtehen und Vergehen, den Organismus ſeines Kör¬ pers und die Funktionen der einzelnen Glieder, ſein Schlafen und Wachen, ſein Genießen und Ertragen, ſeine Neigungen, Bedürf¬ niſſe und Kämpfe, ſeine Lebensdauer und ſeine Abhängigkeit vom großen allgemeinen Schöpfungsgeſetze, und wiederum die Be¬ ziehung und das gegenſeitige Verhältniß aller untereinander er¬ gründen zu können. Die Gränzen unſerer Forſchung ſind be¬ ſchränkt. „ Der Menſch iſt nicht geboren, die Probleme der Welt zu löſen, wohl aber zu ſuchen, wo das Problem angeht, und ſich ſodann in der Gränze des Begreiflichen zu halten. “ (Goethe. ) —
Durch dieſen improviſirten Natur-Plänterſchlag weiter vorzu¬ dringen iſt faſt unmöglich; zu Hunderten liegen die entwurzelten, zerſpällten, gebrochenen Stämme umher, durch - und übereinander geworfen und wehren mit den hinausſtarrenden nackten Aſtarmen und den gen die Wolken gekehrten Wurzelknorren jeder Annähe¬ rung. Dazwiſchen aber ſproßt junges, ſtrammes Tännicht auf; ja ſogar aus den Rumpfen der abgeknickten Waldrieſen ſtrömt neues Leben und beſtrebt ſich zu grünen, zu regeneriren. — Einige hun¬ dert Schritte ſeitwärts tieft ſich ein Tobel ab, — der Gletſcher¬ bach rauſcht dumpf herauf, — dort wird etwas beſſer fortzukom¬ men ſein.
„ Tobel “heißen in den Schweizer Alpen jene unangebauten, menſchenleeren, kleinen Seitenthäler, oder zwiſchen hohe, bewaldete, felſenriſſige Berge eingeſchnittene Schluchten, deren Tiefe ein Flu߬ bett ausfüllt, ſo daß die Thalſohle für den Verkehr unpraktikabel iſt. Die Wände fallen gewöhnlich ſehr ſteil ab und das Ganze76Der Bannwald. endet in einer wilden unbetretenen Waldung oder in einer jäh gegen den Gebirgskamm anſteigenden, öden, aller Vegetation ent¬ blößten, trümmerbedeckten Rüfe oder Runſe. Es iſt ein uralt deut¬ ſches Wort, das ſchon in Notkers Pſalmen vorkommt. Im Kant. Bern nennt mans „ Krachen “, in den franzöſiſchen Bergen „ Gorge “. In dieſe wüſten, unheimlichen Tobel verlegt der Volksglaube den Aufenthalt böſer Geiſter und geſpenſtiſcher Unholde. Die Be¬ wohner der Umgegend von Bellinzona laſſen im Sementina-Tobel die Seelen der Geizhälſe, ungerechten Vormünder und Wucherer ſchmachten; der Lenker ſchreibt die Schlamm-Ergüſſe und Verhee¬ rungen, welche aus der Jllhorn-Schlucht hervorbrechen, dorthin verbannten Verfluchten zu; vom Skalära-Tobel weiß der Stadt - Churer viel ungeheuerliche Sagen von polternden Dämonen, „ Heerdmandli und Mooswybli “zu erzählen, — und das ſ. g. Enziloch unterm ausſichtreichen Napf im Entlibuch gilt ausſchlie߬ lich als die Heimath abgeſchiedener reicher Blutſauger und Arme¬ Leute-Bedrücker; gemeiniglich werden ſie nur die Thalherren ge¬ nannt, und wenn Nachts der Sturm die Schlucht durchheult, daß die Tannen krachen und Felſenblöcke praſſelnd in die Tiefe ſtürzen, ſo ſagt das Volk: „ es zieht ein neuer Thalherr ein! “— An ſol¬ chen Tobeln ſind alle großen Alpenthäler ſehr reich, ganz beſon¬ ders aber die Graubündner Thalſchaften Prätigau, Davos, Schanfigg, Unterengadin und Border-Rheinthal — das Wallis und Teſſin. Gewöhnlich läuft der dieſelben durchziehende Fußweg (wenn ein ſolcher vorhanden iſt), in großen Krümmungen, der Grund-Dispoſition des Tobels folgend, auf halber Höhe hin, buch¬ tet häufig weit zur Seite ein, ſekundäre, tobelähnliche Mündungen umgehend, und ſenkt ſich nur dann in ſteilem, holperigem, von kahlgelegten Wurzeln durchflochtenem Pfade zur Schluchtentiefe nieder, wenn er das Tobel durchſchneiden muß.
Auch hier hat die Einſamkeit, aber wieder in ganz anderer Weiſe, ihre Stätte aufgeſchlagen. Es iſt hochromantiſche Wildniß,77Der Bannwald. ſchauerig und doch anheimelnd, — auch ein Schauplatz der unab¬ läſſig am Gebirgskörper nagenden Zerſtörung, aber ganz anderer Art als alle übrigen. Bunte Gruppirungen in ungemeiner For¬ menmannigfaltigkeit von herabgewälzten Granitblöcken, glattge¬ ſchliffenen Kalkſteintafeln und kleineren Geſchiebe-Ablagerungen bauen ſich im Bachbett auf, — ornamentale Phantaſieſpiele der Natur, über welche das kryſtallene oder leuchtend hellgrüne Wald¬ waſſer in Kaskadellen herabplätſchert.
Die Pygmäen der Pflanzenwelt, die Mooſe, Flechten und Saxifragen haben auch hier, auf den Felſen, ſich wieder ange¬ ſiedelt. Mit haardünnen Wurzelfingerchen klammern ſie ſich in den Geſteinsporen feſt, bohren immer tiefer hinein, durchflechten dieſelben aufs Emſigſte und umſchlingen jede kleine Erhabenheit ſo innig, daß es oft Mühe koſtet, ſolch einen kleinen Eigenſinn von ſeiner Scholle abzulöſen. Die Flechten ſaugen ſich noch viel feſter ein, — ſie erſcheinen gleichſam wie aus dem Felſen heraus¬ gewachſene mineraliſche Blüthen. Alle aber ſind wieder andere Arten als jene auf den vermodernden Bäumen vorkommenden. Zunächſt iſt es das weitverbreitete Mohrenmoos (Andreaea rupestris) und das alpine Steinmoos (A. alpina), das mit ſeinem bronzeſchwarzen und ſchmutziggrünen Raſen die Felſen be¬ kleidet; — dann das gezackte Sternmoos (Mnium serra¬ tum) mit den purpurroth gefärbten Blatträndern und Rippen und das krummgeſpitzte Perlmoos (Weisia curvirostris) u. a. m. Die zähe Lebenskraft dieſer Felſenpflanzen iſt außerordentlich groß; in heißen Sommern, wo die prallende Sonnenhitze die Stein¬ blöcke in dieſen tiefen eingeſchloſſenen Tobeln aufs Heftigſte er¬ hitzt, bekommen dieſe Steinmooſe mitunter wochenlang keinen Tropfen Waſſer als Nahrung: lediglich an der nächtlichen Kühle müſſen ſie neue Lebenskraft ſchöpfen. Dort, wo das Bachwaſſer die Wände beſpritzt und immer feucht hält, kommen das bleiche Knotenmoos (Bryum pallens), ferner Angstroemia virens,78Der Bannwald. Blindia crispula, Bartramia ithyphylla und Oederi, ſchattige Felſen haushoch überziehend, in Maſſe vor. Und wo endlich die Wände vom herabrinnenden Waſſer eigentlich triefen, da mäſtet das kupferbraune Aſtmoos (Hypnum rufescens) ſeine dicken, derben Blätterſchweife.
Der überſchattete Pfad ſteigt längs des Tobels bergan. Wir verſuchen eine zweite Waldexcurſion und dringen wieder in die Säulenhallen ein. Diesmal iſts kein mooſiger Grund, auf dem wir emporklettern; hundertjährige Schichten von Tannen-Nadeln liegen übereinander, zu einem elaſtiſchen Boden ineinandergefilzt. Das eng veräſtelte Dach iſt ſo dicht geflochten, daß nur ſpärliche Lichtblitze von Oben in die tiefe Waldnacht eindringen können;„ Im Labyrinthe fließt in kargen Tropfen „ Durchs Laubgewölb 'das Licht, Staubregen kaum! “Lenau. darum gedeiht auch das Moos nicht. Aber eine neue, höchſt aben¬ teuerliche Erſcheinung überraſcht uns; — in langen zottigen Schöpfen hängt die graugrünliche Bartflechte (Usnea barbata) von den halbverdorrten Aeſten herab. Nicht ein Fädchen dieſer müſſigen Zottelpflanzen bewegt ſich in der windſtillen Mittags¬ wärme; aber durchzieht nur ein leiſer Lufthauch den Wald, dann ſchwankt und ſchweift es unheimlich durch die tiefe Dämmerung, alle beſtimmten Umriſſe verſchwinden, der ganze Einblick geräth in flirrende, huſchende Bewegung und die „ Alten vom Berge “ſchei¬ nen Leben zu gewinnen. In den Engadiner Arvenwäldern kommt eine Varietät vor, Usnea longissima, die mehre Ellen lange dünne Striemen ſpinnt. An den Lärchen dagegen wuchert vorzüg¬ lich die ochergelbe Bandflechte (Evernia divaricata) und gemiſcht unter dieſen der mähnenartige Moosbart (Bryopogon jubatus), auch ſchwarze Bartflechte (Alectoria jubata) genannt, weil ihre äußerſt feinen, mehr als ſpannenlangen Haare tiefbraune Färbung haben.
79Der Bannwald.Der Empormarſch wird beſchwerlich, weil immer ſteiler und glatter auf dem Genadel. Herabgerollte Felſenbrocken, Druiden - Altären gleich, zeigen ſich hie und da. Ihre Summe wächſt, der Wald lichtet ſich, je höher, deſto mehr, und bald ſtehen wir vor einem maleriſchen, mit ſchwerfaltigen Moosteppichen überhangenen Trümmer-Chaos, halb Forſt, halb Bergſturz. Wir ſtoßen auf die zweite Aufgabe des Bannwaldes: Schutzmittel gegen die ſ. g. Steinſchläge zu ſein. Auf und an den kahlen, verwitternden Gebirgsgrathen geſchichteter Formationen, ſammeln ſich die losge¬ ſprengten, abgeſchüttelten Fluhſcherben an, das gleiche Trümmer - Material, welches auf den Gletſchern die Moränen komponirt, und bedecken weit hinauf die Halden. Ein Theil derſelben rutſcht oder rollt beim Niederſturz weit hinab der Tiefe zu und dies ſind die Steinſchläge. Mancher ſehr frequente Weg im Gebirge würde nur mit Lebensgefahr paſſirbar, mancher Ort unbewohnbar ſein, wenn er gegen dieſen niederſchmetternden Steinregen nicht durch einen Bannwald geſichert wäre. So häuft ſich das Geſteins-Material in der Höhe am Waldesrande an und bildet dort einen durch die Zeit von ſelbſt ſich aufbauenden ſchützenden Damm. Ein in male¬ riſcher und botaniſcher Beziehung prachtvoll mit Felſentrümmern eines Bergſturzes dicht durchwürfelter ernſter Wald dieſer Art iſt der Waſener Wald an der Gotthardsſtraße.
Eine dritte Aufgabe der Bannwälder iſt endlich auch noch: gegen Erdrutſche zu ſchützen. Das tief eindringende Wurzel¬ werk, welches durch die meiſt dünnen Schichten der aufgelagerten Dammerde in die Felſenritzen ſich einkeilt, verhindert, daß bei heftigen und andauernden Regengüſſen die aufgeweichte Erde ab¬ rutſcht. Kahlſchläge an ſolchen Stellen und Ausſtocken des Wurzelwerkes haben ſchon zu den traurigſten Ereigniſſen geführt. Das Dorf Tſchappina am Heinzenberge im Domleſchger Thal (Graubünden) iſt gegenwärtig im Rutſchen begriffen. Alljährlich verändert ſich die Lage und Größe der Grundſtücke, ſo daß die80Der Bannwald. Beſitzungen der Gemeinde-Bürger trotz Vermeſſung und Gränzſtein nie mehr feſtzuſtellen ſind. Ob je eine draſtiſche Kataſtrophe ein¬ treten werde, iſt nicht zu berechnen; vorläufig bewohnt das Volk die alte Scholle und rutſcht allmählig dem Thale mit zu. — Aehn¬ lich ging es dem theilweiſe untergegangenen Dorfe Buſerein ober¬ halb Schiers im Prätigau. Auch dort fing das Land an, in Folge der Ausrottung eines großen Waldes, zu wandern, der Raſen ſchob ſich faltig übereinander, Bäume verſanken ſpurlos, und am 18. März 1805 endete die Erſcheinung mit dem Ein - und Abſturz des hal¬ ben Dorfes. Alle Alpenthäler haben ſchon mehr oder minder unter den Erdrutſchen zu leiden gehabt, am Meiſten die Schweizeriſchen, weil die Volksſouveränetät dieſes Freiſtaates in der ſtaatlichen Oberaufſicht im Forſtweſen eine Beeinträchtigung der perſönlichen Freiheit erblickte und darum in ſehr vielen Kantonen erſt, als es faſt zu ſpät war, die Wohlthat eines Forſtgeſetzes angenommen wurde.
So ſiehts im Alpen-Bannwalde aus. Steigen wir über ihn hinaus.
[81]Druck von F. A. Brockhaus in Leipzig.
— — ein ſchattiger Baum,Der fächernd kühle Zweige bewegt,Wenn dicht um die Sonne den RaumMit glühenden Strahlenbüſcheln durchfegt,Und deſſen gaſtlich breites DachBedrängte ladet in ſicheres Fach.
Licht! Luft! wir treten ins Freie. Der obere Waldgürtel liegt hinter uns. Er ſchließt zwiſchen 5000 und 5500 Fuß über dem Meere ab. Weiter bergwärts ſteigen nur kurzkräuterige, dichtbe¬ wachſene, friſchgrüne Alptriften an, hie und da unterbrochen von ſporadiſch ausgeſtreuten kleinen Holzbeſtänden und einzelnen Tan¬ nen, Arven und Lärchen. „ — — Vorpoſten grüner Jäger „ Ihren Heeren vor ſich wagend. “ ((A. Grün.) )Wie eine Tirailleurkette dringen ſie gegen die Schneeregion vor, gleichſam die Rechte der Pflanzenwelt gegen den alten Urfeind alles Lebenden zu ſchirmen. Zu dieſen kühnen Plänklern des Wal¬ des gehört ganz beſonders die Wettertanne.
Man ſpricht von Charakterbäumen, welche der Landſchaft einen ihr eigenthümlichen Ausdruck, ein phyſiognomiſches Gepräge geben; — die Wettertanne iſt ein ſolcher; aber auch ein Baum¬Berlepſch, die Alpen. 682Die Wettertauue. charakter, gewiſſermaßen eine perſönliche Größe, ein aus der Menge bedeutſam hervortretendes Individuum. Ebenſo wie der einzelne Bürger in ſeinem ſchlichten Wirkungskreiſe nur einen klei¬ nen Theil des großen Ganzen, des Staates ausmacht und in der Bevölkerung verſchwindet, ebenſo geht der einzelne Baum im Walde auf; er zählt nur in der Summe der Stämme mit und verſchwimmt bei geringer Entfernung in dem großen grünen Blättergewölbe, in der ſich durchflechtenden und umzweigenden Veräſtelung.
Anders die einzeln ſtehende, den Wald überragende Wetter¬ tanne; ſie gleicht jenen Auserwählten, die durch Geiſt und Kraft, durch kühnes Werk und freie That aus der Summe ihrer Zeitge¬ noſſen bedeutſam heraustreten, und was der Dichter von den wahrhaft großen Fürſten ſingt:Völker verrauſchen, — Namen verklingen, — Finſtere Vergeſſenheit Breitet die dunkel nachtenden Schwingen Ueber ganze Geſchlechter aus. — Aber der Fürſten einſame Häupter Glänzen erhellet, Und Aurora berührt ſie Mit den ewigen Strahlen, Als die ragenden Gipfel der Welt — ((Schiller.) )das darf man theilweiſe auch auf die Wettertanne anwenden.
Es giebt wenig andere Bäume, die ſo friſchen, freien Muth an der Stirn tragen, in ſo ſtolzer, ſtrammer Eigenwilligkeit, in ſo freudigem Selbſtvertrauen daſtehen, wie dieſe ſturmzerzauſten, ver¬ witterten Hochlandstannen. Erinnert die Eiche an jene eiſen¬ feſten Nordlandsrecken, von denen die Nibelungen und die Sänger des Mittelalters uns Wunderdinge erzählen, ſo mahnt die derbe trotzige Haltung der „ Schirmtanne “an die Kämpen von Morgar¬ ten und Sempach. Es iſt eben ein Gebirgsbaum von der äußerſten Wurzelfaſer bis zur letzten Kronſproſſe.
83Die Wettertanne.Schon mancher tüchtige Forſtbotaniker und Pflanzenphyſiolog, der daheim in ſeinen wellenförmig gehügelten, prächtigen Staats¬ wäldern wacker bewandert war, ſtand, wenn er ein Neuling in die Alpen kam, im erſten Augenblicke verlegen und wußte nicht, wohin er dieſen Sonderling rubriciren ſollte. Denn der eigentliche Tan¬ nentypus iſt an ihm oft ganz verwiſcht, wenn ſichs ſo kronleuchter¬ ähnlich mit aufwärts gebogenen Zweigen emporgipfelt, als wärs der Baſtard von einer Fichte und einer amerikaniſchen Agave. Und doch zirkulirt kein Tropfen ſolch heißländiſchen Gluthſaftes in ſei¬ nen Adern, ſondern reines, unverfälſchtes, harziges Tannenblut, urgeſund, „ genährt vom ewigen Schnee “; — dieſe „ Schermtaxe “(wie ſie in den öſterreichiſchen Alpen genannt wird) iſt nicht mehr und nicht weniger als eine ſchlichte, ächte Rothtanne, wie deren jährlich Millionen von den Holzknechten drunten für Bau - und Brennmaterial gefällt und zu Markte gefahren werden. Aber eine andere Schule des Lebens hat die Wettertanne durchmachen müſſen als die verzogenen Weichlinge, die ſchlanken jungfräulich¬ aufgeſchoſſenen Nadelſchafte der Tieflands-Wälder, — ſie hat ſich ihr Emporkommen erkämpfen müſſen, Zoll für Zoll, — und daher ihr oft abnormer Wuchs, davon die Narben in Holz und Borke.
Die Wettertanne, die iſolirt auf den Alpweiden bis 6000 F. und in Graubünden ſogar bis gegen 7000 par. F. emporſteigt, iſt kein ausgeſpartes Ueberbleibſel einſtiger Baumarmeen dieſer äußerſten Baum-Vegetations-Zone; — ſie iſt ein im Selbſtſtändig¬ keitstriebe erwachſener Einſiedler. Vor Jahrhunderten hat es da droben ſchon große Wälder gegeben. Mächtige Wurzelſtorren und verſunkene Stämme deuten auf verſchwundene Forſte hin. Faſt allenthalben im Hochgebirge begegnet man ſolchen Baumgeſpenſtern einer vergangenen Waldgeneration, ſolchen Ruinen des Pflanzen¬ reiches, die von ihrer Zeit berichten, in welcher es noch herrliche Hochforſte gab, bevor der ſouveräne Unverſtand und die merkantile Spekulation ihre barbariſchen Streifzüge in die ſtille Alpenwelt6*84Die Wettertanne. unternahmen. Dieſe ſturmgebrochenen ſilbergrauen Denkſäulen ſind ausſchließliches Eigenthum der Hochgebirgs-Welt, und zwar der freien Gebirgswelt, in welche die (bei der Thalwaldung nöthige) Cenſurſcheere des Forſtmannes, das Paragraphenthum und die Verordnungen des modernen Staates noch nicht hindrangen. Die rationelle Waldwirthſchaft dürfte ſolch ehrwürdige Reliquien im wohlgeordneten Forſthaushalte nicht dulden, ſie wären reglements¬ widrig. Drunten im Prinzipienlande muß die Natur produziren nach Artikel und Vorſchrift, nach Berechnung und Maß, nach Ziel und Zeit, wie es der materielle Nutzen der Menſchen verlangt. Hier oben im Gebirge waltet noch der ungehemmte volle freie Ausſtrom der unerſchöpflichen Schöpfungskraft, und dieſem ver¬ danken auch die Grenzpoſten der Wettertanne ihre Exiſtenz.
Eine Wettertanne (im Romaniſchen „ Pin oder Sapins “, im Waatlande „ Gogant “genannt) iſt alſo ein vereinzelt auf der Alpweide ſtehender Baum, der, wie ſchon aus ſeinem Namen her¬ vorgeht, ein ingründlich verwettertes Ausſehen hat. Meiſt iſts eine Tanne, deren ſchwere, weit ausreichende Aſtarme ſchon wenige Fuß über dem Boden beginnen und normal in verjüngtem Maße bis zur Krone ſich wiederholend, ein dicht verfilztes Schutzdach geſtal¬ ten; — oft aber auch iſts eine Baumfigur, die alle Geſetze des Tannenwuchſes zu verſpotten ſcheint. Unſere Abbildung zeigt das gänzlich Abnorme des Aſtbaues einer ſolchen. Während die frei¬ ſtehende Tieflandstanne an ihrem ſchlanken Säulenſchaft ringsum in pyramidaler Symmetrie die horizontal abſtehenden Aeſte archi¬ tektoniſch gegliedert aufſtuft, und ein jeder derſelben in ſeiner elaſtiſchen Haltung, in der ſo formſchön, leicht nach oben gekrümm¬ ten flachen Bogenlinie wieder ein Muſter eleganten Wuchſes zu nennen iſt, zeigt dieſe Wettertanne in Aufgipfelung und Aſtſtellung ein völlig fremdes, neues Bild. Das ſcheint nicht ein Baum, nein! das ſcheinen ſechs bis acht Bäume an einem Mutterſtamm, eine ganze Tannenfamilie zu ſein. Hier iſt der kokett-geradlinige85Die Wetterlaune. Schaft in eine derbe, knorrige Walze, von gedrungenem, breit¬ ſpurigem Wuchſe umgewandelt. Man erkennt zwar das ehrliche Beſtreben des ſenkrechten Emporwuchſes noch; aber da hat die Un¬ gunſt äußerer Verhältniſſe, da haben Stürme, Lauinen und Ge¬ witter ohne Zahl ſo an ihr herumgezwackt und verſtümmelt und amputirt, daß ſie über und über voll Riſſe und ſchwer vernarbter Wunden, voll Knoten und Mißgeſtaltungen geworden iſt. Man könnte die Wettertanne einen Märtyrer der Baumwelt nennen, wenn mehr paſſives Element in ihr läge. Aber dieſer Baum iſt ein ſo widerſpenſtiger Geſell, wie man keinen zweiten findet, — der allen und jeden Hemmniſſen und Chikanen zum Trotz doch ſeinen Kopf durchſetzt und, — wenngleich hundertmal am innerſten Le¬ bensnerv empfindlich, faſt tödtlich getroffen, dennoch mit unver¬ wüſtlicher Lebenskraft aufs Neue ſich emporarbeitet. Ein köſtlicher Burſch, ſo durch und durch voll Energie, ſo männlich unbeugſam, — wie geſagt ein Baumcharakter, an dem jeder rechte Mann ſeine Freude haben muß.
Und nun der Aſtbau! ja, das iſt ganz das gleiche aktive Weſen, das nämliche „ Durchſetzen a tout prix “wie beim Stamm. Da will jeder kleine Zweig ſein Selbſtſtändigkeits-Recht behaupten und auf eigene Fauſt ein Stück Baum werden. Es iſt eine Rand¬ zeichnung zu dem Sprüchwort: „ Wie die Alten ſungen, ſo zwit¬ ſchern die Jungen. “— Ganz entgegen dem horizontalen Aſtwuchs¬ beſtreben der Tieflandstanne, hebt hier der Aſt, nach kurzer, wage¬ rechter Lage ſich plötzlich wie ein Schwanenhals und ſteigt nun ſenkrecht, gleich einer in der Luft wurzelnden kleinen Tanne em¬ por. Aber dieſe Aeſte ſind nicht rund um den Baum gleichmäßig vertheilt, ſondern auf der einen Seite, wo der Blitz raſirt und heruntergeſchmettert oder der Sturm exartikulirt hat, fehlts, — während auf der anderen Seite nur um ſo dichtere, intenſivere Zweig - und Nadelfülle erwächſt. Hin und wieder ragen dann auch verdorrte, völlig abgeſtorbene Aſtzacken dazwiſchen hervor und hel¬86Die Wettertanne. fen, mit den daran hangenden Bartflechten, den Eindruck des Ge¬ ſammtbildes nur noch um ſo wilder ſtimmen. Die Urſache dieſer merkwürdigen Aſtbildung iſt in vielen Umſtänden zu ſuchen. Ent¬ weder tritt die ſogenannte „ Trockniß “, eine Baumkrankheit, ein, welche die eigentliche Aſtſpitze ausdörrt, ſo daß dann die Haupt¬ triebkraft in die Seitenäſte tritt und einer derſelben ſich ſo ent¬ wickelt, daß er die anderen überholt und, lokal durch ſeine Nach¬ barn behindert, kerzengerade emporſtrebt; — oder das weidende Vieh, namentlich Ziegen, in ihrer leidenſchaftlichen Naſchbegierde, nagen, ſoweit ſie an der jungen Tanne hinaufreichen können, die äußerſten Schößlinge ab, und der Aſt, in ſeiner natürlichen Ent¬ wickelungsaufgabe gehemmt, ſucht einen anderen Ausweg nach Oben; — oder Schnee und Sturm drücken die Endzacke des Zweiges ab, oder der Blitz ſchlägt ſie weg, — genug, Beraubung, Verſtümmelung ſind die Veranlaſſung, nicht nur des abnormen Aſt¬ baues, ſondern auch der buſchigen, dichtſtruppigen Nadelbelaubung. Weiter unten im geſchützten Walde trifft man keine ſo verwitter¬ ten ausgearteten Tannen.
Ein koloſſales Exemplar, dreigipfelig wie eine zum Schwur aufgehobene Hand, ſteht in den Valzeiner Alpen (am Eingang ins Prätigau, Graubünden), deſſen Stamm in Stockhöhe (4½ Fuß über der Erde) ſieben Fuß im Durchmeſſer hat.
Das Alter der meiſten iſt ſchwer zu beſtimmen, indem die eigentlichen Veteranen oft kernfaul werden und ſomit die Zahl der Jahresringe nicht zu beſtimmen iſt. Ueberdies werden höchſt ſelten Wettertannen abſichtlich gefällt, da ſie für die Alpenwirthſchaft ſehr nützlich und ein treffliches Mittel gegen Lauinenbildung ſind. Be¬ denkt man, wie auffallend langſam die Bäume in der Gebirgshöhe, ſelbſt bei geſchützter Lage wachſen, ſo kann man ſicher annehmen, daß es viele 300jährige Wettertannen giebt.
Man hat ſchon oft die Frage aufgeworfen, ob Pflänzlinge ſorgſam gepflegter Forſt-Baumſchulen, namentlich ſolcher, die aus87Die Wettertanne. dem Samen geſchloſſener, alſo geſchützter, Waldmaſſen des Flach¬ landes gezogen wurden, ſich zu ſo hartlebigen Trutztannen hier oben in der Nähe des permanenten Winters ausbilden, überhaupt in dieſen ſturmumbrauſten Höhen ſich akklimatiſiren könnten. Die Alpen-Forſtmänner bezweifeln es; ſie halten den im Flachlande ge¬ wonnenen Waldſamen für zu verweichlicht. Es geht der Pflanze wie dem Menſchen; im Fleiſch und Blut muß ſie beim Volke ſtecken, die Spartaner-Natur, durch Generationen hindurch muß ſie ſich ſelbſthelfend geſtählt haben, wenn ſie nicht zur leidigen Parodie herabſinken ſoll. — Bezüglich des Samens benutzt man dagegen ſehr gern den von den Hochlandstannen für Forſt¬ ſaaten im Tieflande, ſowie ja auch die Getreidearten, welche in hoher Lage wuchſen, ſehr gern zum Saatkorn für tiefere Gegenden benutzt werden.
So borſtig und brummig ſolch eine Wettertanne nun auch drein ſchaut, als ob ſie mit allen anderen Bäumen in Haß und Hader lebte und deshalb in dieſe Einſamkeit ſich zurückgezogen habe, — ſo ſehr ſie das leibhafte Ebenbild eines alten, zerhaue¬ nen, narbenbedeckten Kriegers iſt, der hundertmal mit dem Tode auf der Menſur, doch immer wieder ſich frei kämpfte, — ein ſo zuthunlicher, gaſtfreundſchaftlicher Baum iſt ſie. Gerade wie man unter den alten Haudegen und Eiſenfreſſern die gemüthreichſten und herzlichſten Kumpane findet, ſo auch bei dieſen unter tauſend Ge¬ fahren und Nöthen grau gewordenen Bauminvaliden. Sie iſt ein Obdach und Aſyl gewährendes, von der Natur errichtetes Hospi¬ tium, unter deſſen Schutz ſich das weidende Vieh flüchtet, wenn plötzlich ſchwarze Unwetter daherbrauſen, Regenwolken ſtrömend ſich entleeren oder Hagelladungen in dichten Maſſen herniederſchmettern. Freilich fielen dann ſchon oft die ſchönſten Häupter einer Alpen¬ heerde unter ſolch einem Baume dem Gewitter zum Opfer, wenn der Blitz einſchlug. Aber auch im ſengenden Hochſommer, wenn die Sonne beinahe im Zenith ſteht und auf der ganzen großen88Die Wettertanne. Alpweide kein ſchirmendes Plätzchen zu finden iſt, ſucht das Vieh inſtinktmäßig die Wettertannen auf und lagert behaglich im kühlen¬ den erfriſchenden Schatten derſelben. Dieſem Doppeldienſt, bei gutem und ſchlimmem Wetter, verdankt ſie wahrſcheinlich ihren Na¬ men ebenſo ſehr als ihrem Ausſehen.
Steht nun ein ſolcher Bergveteran droben auf der Paßhöhe oder auf dem Scheitel einer Alpſtaffel, oder dort, wo ſich die Pfade kreuzen, als weithin ſichtbares Wegzeichen, dann trifft ſichs ſchon, daß ſie zur zweiten Arche Noah wird; ſchnaufende Wanderer mit großen Alpenſtöcken, ſchwitzende Laſtträger, naturſchwelgende Tou¬ riſtinnen mit großen Strohhüten und aufgelöſtem Lockenhaar, be¬ packte Saumroſſe und deren Führer raſten, allen Unterſchied der Stände vergeſſend, mitten unter der hier Sieſta haltenden Kuh¬ heerde, — ein uridylliſches Genrebild. Ja, wenns rundum ſo brennend ſonnengelb auf der ausgebreiteten, herrlichen Landſchaft lagert und die Gebirgsproſpekte mit bläulich ſchimmerndem Duft¬ ſchleier überzogen ſind, wenn Mücken, Käfer, Bienen und anderes fliegende kleine Geſindel in beläſtigender Zudringlichkeit wonne¬ trunken umherſurrt und die vor Hitze zitternde Luft kein leiſer Windhauch bewegt, dann liegt ſichs paradieſiſch wohlig im Schat¬ ten der gaſtlichen Wettertanne; —
— — des dichten MooſesSanft nachgiebige Schwellung iſt ſo ruhlich.Möge hier mich holder Schlummer beſchleichen,Mir die Schlüſſel zu meinen Schätzen ſtehlenUnd die Waffen entwenden, meines Zornes,Daß die Seele, rings nach Außen vergeſſendSich in ihre Tiefen hinein erinnere.
B'hüt euch Gott ihr lieben ſchönen Wettertannen.
[89]Druck von F. A. Brockhaus in Leipzig.
Wie ſtehn auf hoher AlpenfluhSo klein die Bäume da!Sie werden niedrer immerzu,Je mehr dem Himmel nah.Sie legen ab der Krone Stolz,Des Wipfels rauſchend Laub,Den ſchlanken Stamm, das volle Holz,Und beugen ſich zum Staub.
Jede Pflanze hat ihre Vegetationsregion, ihre horizontalen und vertikalen Exiſtenzbezirke, innerhalb welcher ſie mit Erfolg leben, gedeihen und ſich fortpflanzen kann; über dieſe Gränzen hinaus fehlen ihr die bedingenden Elemente zum Beſtehen, ſie ver¬ kümmert, ſiecht, wird zur Krüppelform oder ſtirbt gänzlich ab. Dieſe Erſcheinung zeigt ſich tauſendfältig: ſie iſt die Grundlage der Pflanzen-Geographie. Die Palmen, Cacteen, Sycomoren, Drachen - und Gummibäume, die Baumwoll - und Kaffeeſtaude und andere Pflanzen tropiſcher Klimate friſten als Kabinetsſtücke ihr Leben bei uns nur durch ſorgſame Pflege in der künſtlich erzeugten Wärme der Gewächshäuſer, während dagegen unſere, an friſchere, kältere, nördlichere Temperatur gebundenen Laubwälder, unſere herr¬ lichen Eichen und Buchen, unſere früchtegeſegneten Aepfel - und90Legſöhren. Birnenbäume das heiße, trockene Klima der ſandigen Tropen nicht zu ertragen vermögen. Dieſe Bedingungen der flächenhaften Ver¬ breitung berührt uns bei dem Pflanzenbilde, welches wir auf den nächſten Seiten betrachten wollen, nicht; wir haben es mit der Verbreitungsfähigkeit der Pflanze, nach der Höhe der Bodenlage, zu thun.
Es iſt bekannt, daß die Weinrebe in Mittel-Europa über 2300 Fuß ihre Trauben, ſelbſt in ſonniger Lage, nicht mehr reifen kann, — daß der Nußbaum bis zu circa 3000 Fuß, das Kernobſt nur bis etwa 3500 Fuß zu ſteigen vermag, und daß die Garten - und Getreidefrüchte des Flachlandes in den rauhen Alpen über drei bis viertauſend Fuß nicht mehr gedeihlich fortkommen; kleine, durch lokale Umſtände begünſtigte Experimente können hier nicht in Betracht gezogen werden. Dieſes Einhalten gewiſſer Höhen¬ gränzen zeigt ſich auch beim Waldbaum, ſowohl bei den Laub - als den Nadelhölzern. Letztere ſteigen (wie ſchon S. geſagt) als wal¬ dige Geſammtmaſſe in den Alpen bis zu circa 5500 F. über dem Meere an. Aber die vertikale Erhebung nimmt gegen den Nordpol hin bedeuteud ab. So ſteigt die gemeine Kiefer (Pinus syl¬ vestris) unterm 46. und 47. Grad nördl. Breite (in den Alpen) fröhlich, in normaler Baumform, bis zu 6000 F. über dem Meere an, während ſie im ſkandinaviſchen Dovre-Gebirge unterm 62. Grad n. Br. mir bis 2800 F. und in Jemtsland (Norwegen), an den Kjölen unterm 63. Grad, ſich nur bis 1500 F. zu erbeben vermag. Ueber dieſe Höhengränze hinaus verliert ſie ihre baumförmige Hal¬ tung, ſinkt zur Zwergform, zur verkrüppelten, beinahe ſtrauchartigen Geſtalt herab und heißt dann im Rieſengebirge „ Krumm - oder Knieholz “, in den Tyroler Alpen „ Sprutföhre oder Reiſch¬ ten “, im Welſchtyrol „ Müghi “vom botaniſchen Namen: Pinus mughus (oder umgekehrt), in den Salzburger Bergen „ Lätſchen “, in Oeſterreich „ Lägken, Löcken (d. h. Gelegtes), im romaniſchen Graubünden „ Zuondra oder Zundern “und in der deutſchen91Legföhren. Schweiz am bezeichnendſten „ Legföhre. “ Schon aus der Reich¬ haltigkeit dieſer Nomenklatur läßt ſich erkennen, daß die „ Zwerg¬ kiefer “durch die ganzen Alpen verbreitet iſt. Mit der Alpenerle oder Droosle (Betula alnus viridis), ebenfalls einer Krüppel¬ form der eigentlichen Erle, beſchließt ſie den Holzwuchs im Gebirge. Ob ſie eine eigene Species oder eine blos durch Umſtände cor¬ rumpirte Abart der eigentlichen Kiefer iſt, darüber walten verſchie¬ dene Meinungen.
Der Totaleindruck der Legföhre, der ganze Habitus iſt ein überraſchender, höchſt origineller; er giebt ſo recht ein, dem Cha¬ rakter des Hochgebirges entſprechendes, vegetabiliſches Attribut ab. Betrachtet man nur Holz und Aſtwerk, wie das ſich krümmt und rankt, und abenteuerliche, phantaſtiſche Geſtalten formt. Bietet der Aſtbau mancher anderer Bäume ſchon hin und wieder wunderliche Figuren dar, ſo tritt doch bei ihnen immer mehr oder minder das Innehalten einer kennzeichnenden Architektur, das Walten beſtimm¬ ter, die Individuen und ihre Sippſchaft kennzeichnenden Geſetze, wenn auch oft in freier Anwendung, in der Stamm -, Aſt - und Zweigbildung hervor. Dies Alles verſchwindet bei der Legföhre. Allenthalben trägt ſie das Gepräge des Unſymmetriſchen, Be¬ ſchränkten, Gehemmten, Unterdrückten. Nur ſklaviſch windet ſie ſich, wurmartig, unheimlich ſchlangenhaft, am Boden hin: ſeufzend, aber dennoch mit unendlicher Zähigkeit, ſcheint ſie ihr Leben zu durchſchleichen. Sie iſt unter den Coniferen der vollendete Ge¬ genſatz zu der, allen gewaltſamen Druck überwindenden, ſiegreich triumphirenden Wettertanne. Der Widerſtand der Zwergkiefer iſt nur ein heimlicher, paſſiver, der blos an den gegen oben ſich krümmenden Wipfelenden zum Durchbruch, zur Geltendmachung ſei¬ ner Rechte kommt. Trotz dieſer leidenden Haltung haben die, meiſt glatten, braunen Stämme etwas Maſtiges, Fettes, während die Rinde der gewöhnlichen Föhre rauh, mager, zerriſſen iſt und trocken ausſieht. Sehr lange bleiben die Blattnarben ſichtbar.
92Legföhren.Je nachdem der Stamm mehr in geſtreckter Linie mit hoch und kräftig ſich emporrichtender Krone, — oder gewunden, knorrig¬ verdreht, mit nur kurzen, dicht ſtruppigen Gipfelausläufern am Bo¬ den hinkriecht, unterſcheidet man die Legföhre in die ſchlankere Pinus pumilio als die, mehr in tieferer Lage vorkommende, und in die ſehr verkrüppelte Pinus mughus, welche bis faſt gegen die Schneegränze hinanſteigt und den Kalkboden dem der granitiſchen Geſteine vorzieht. Da die urſprüngliche Aſtſtellung der Kiefer büſchelförmig iſt, ſo durchflechten, umranken und verweben ſich auch die Aeſte und Zweige der Legföhre in ihrem engen, beſchränkten Raume auf eine ſo unlösbare Weiſe, wie es in der Schling¬ pflanzenwelt nicht bunter durcheinander vorkommen kann. Solch einen Weichſelzopf von Legföhrenäſten zu entwirren, dürfte den her¬ kuliſchen Aufgaben beizuzählen ſein. Dieſer niedergedrückte, horizon¬ tale Wuchs wird zunächſt dadurch veranlaßt, daß hier oben ſieben bis acht Monate lang ein ſtrenger Winter herrſcht, der mit enormen Schneelaſten tyranniſch ſeinen Fuß auf den Nacken dieſer Pflanze ſetzt und ſie nur in der kurzen Sommerpauſe aufathmen läßt. Die außerordentliche Geſchmeidigkeit und Elaſtizität der ſchlanken, höch¬ ſtens 2 bis 3 Zoll im Durchmeſſer erreichenden Stämme, bequemt dieſe dem bedeutenden Drucke leicht an. Dazu kommt die Ab¬ ſchüſſigkeit des Terrains, auf welchem die Legföhren am liebſten wachſen. Je ſteiler daſſelbe iſt, deſto gepreßter liegt die Krumm¬ holzkiefer. Da, wo der Boden minder geneigt iſt, richten ſich die Stämme leichter auf und erreichen bisweilen eine vertikale Höhe von 15 Fuß.
Am ſeltſamſten geſtalten ſich die Stämme, wo ſie über her¬ vorragende, nach Innen ſich abwölbende Felſenſtirnen hinauswach¬ ſen. Da machen ſie dann von der erlangten Souveränetät in wahrhaft ſeltſamen Formen Gebrauch, bohren in Spiralwindungen allerhand Arabesken in die Lüfte freiragend hinaus und hängen weitarmig, als ſchwebende Bäume, über gräulichen Abgründen. 93Legföhren. Tollkühne Geißbuben, die ihre zottige Herde oberhalb ſolcher ſchrof¬ fen, viele hundert Fuß ſich abtiefenden Fluhwände weiden, wagen ſich dann wohl zum Zeitvertreib, alle Gefahr verachtend, auf dieſe ſchreckerregenden Naturſchaukeln hinaus und üben da, völlig ſchwindelfrei, herztief aufjauchzend, allerlei akrobatiſche Künſte. Ein ſolcher verwegener Hirtenbub im Muottathale, von dem Pfarrer ſeiner Gemeinde darüber ernſtlich zurechtgewieſen und mit den Worten gewarnt: „ Diesmal hat dich dein heiliger Schutzengel im Arm gehalten, ſonſt wärſt du herabgeſtürzt und todtgefallen! “er¬ widerte keck: „ Herr Pfarr, ſo wyt wi — n — i uſſä goh, goht der Schutzengel nöd! “—
Die Nadeln der Legföhre ſitzen, wie bei der Kiefer, je zu zwei oder drei in einer Scheide und gruppiren ſich büſchelförmig, wodurch der Zweig das Anſehen eines dichten, borſtigen Pinſels erhält. In ihrer Reproduktionskraft iſt die Legföhre ſehr ſchwach. Da ſie nicht ausſchlagsfähig iſt, ſo bewerkſtelligt ſie ihre Fortpflan¬ zung lediglich durch Samen.
Auch ſelbſt in den Früchten der Legföhre bethätigt ſich das Ungewöhnliche, dem Charakter der rauhen Gebirgsnatur Entſpre¬ chende. Während nämlich die gewöhnliche Kiefer ihre längli¬ chen, koniſch geſtalteten Zapfen jährlich abſtößt, behält die Legföhre dieſelben, nachdem ſie im September fruchtreif geworden ſind, den Winter über, ſammt den darin eingeſchloſſenen Samenkörpern am Zweig und läßt letzteren erſt im Spätfrühling, wenn der Boden ſchneefrei geworden iſt, ausfliegen. Der geſprungene, nun flach ſphäriſch auseinander ſpreizende, kupferbraune Kieferzapfen bleibt dann aber noch einige Jahre am Büſchel ſitzen, bis er ſilbergrau verwittert, eine ehrwürdige Antiquität, endlich abfällt. So kommts, daß man an einem und demſelben Buſche zu Anfang Juli männ¬ liche und weibliche orangengelbe, karminroth-punktirte Blüthenkätz¬ chen und die abgeſtorbenen, verwitterten Samenbehälter des dritt¬94Legföhren. letzten Jahres unweit von einander erblicken kann, eine Erſchei¬ nung, die in der Pflanzenwelt wenig vorkommt.
Die Legföhre iſt ferner eine der beſcheidenſten Pflanzen, die es giebt. Da, wo keine andere Holzkultur, höchſtens nur Mooſe oder Saxifragen exiſtiren könnten, bekleidet ſie mit ihren dichten, tiefgrünen Büſchelkolonien große, kahle, trockene Kalkwände, beſon¬ ders an den ſüdſeitigen Abhängen in der Höhe von 5000 bis 6000 Fuß, dicht verfilzte Decken bildend, oft ſo kompakt und feſt ineinander gedrängt, daß man im buchſtäblichſten Sinne auf den Zweigen und Wipfeln gehen könnte. Dies iſt aber immer wegen der außerordentlichen Elaſtizität der Maſſe ein mißliches Unter¬ nehmen und läßt ſich wohl bergabwärts, unmöglich aber bergan ausführen, obgleich die biegſamen Zweige ſo zu ſagen dem Klette¬ rer die Hand reichen. Darum vermeidet der Aelpler ſie auch und macht lieber einen Umweg über Gletſcher und auf loſem Geröll, als durch dieſe fußumſtrickenden Fanggarne. Auf Glimmerſchiefer trifft man das Krummholz auch in feuchten, ſumpfigen Mulden an, und einzelne Exemplare hat man ſogar in der Tiefe von nur 2500 Fuß über dem Meere gefunden. Waſſerfluthen, Lauinen, oder der Wind mögen Samen dahinab getragen haben. Ja, ſo¬ gar in den umfangreichen Moorbrüchen zwiſchen Augsburg und München, im ſ. g. Haspelmoor, hat man ſie bei 1600 Fuß über dem Meere getroffen und deshalb „ Sumpfföhre “(Pinus uliginosa) genannt. Selten wachſen im dichten Geſtrüpp der Gebirgs-Leg¬ föhre andere Pflanzen. Selbſt auf der glatten Rinde des Stam¬ mes zeigt ſich nicht einmal irgend eine Schmarotzerpflanze; höch¬ ſtens trifft man die goldgelbe Cetraria juniperina, eine Flechte des Hochgebirges und Verwandte des Isländiſchen Mooſes, hie und da an.
Flieht nun der Menſch dieſes ſtille undurchdringliche Dickicht, ſo dient es um ſo mehr dem Alpenwild als willkommener Schlupf¬ winkel, um ſich den Verfolgungen des Jägers zu entziehen. Vor95Legföhren. allen anderen halten ſich Bären gern darin auf, wenn man ihnen nachſetzt, und haben ſie dieſes Aſyl erreicht, ſo ſind ſie ziemlich ſicher vor jedem Angriff. Darum wird das Legföhren-Geſtrüpp im Davos (Graubünden) auch „ Bärenkrys “genannt. — Tem¬ porär halten ſich Bergfüchſe (deren eigentlicher Bau am liebſten unter Felſen) darin auf, um Beute zu erhaſchen; der Marder geht dort auf die Jagd und der weiße Haſe (Lepus variabilis) flüch¬ tet ſich hinein. Im Spätherbſt iſts der Lieblingsaufenhalt des Spiel¬ hahns (Tetrao tetrix L.) und am Rande der nahen Schnee¬ gränze niſtet das Weißhuhn oder Alpenſchneehuhn (Tetrao lagopus) unter dem Schutz der kleinen mageren Krummholz-Geſträuche. Die ſtändige Bewohnerin derſelben aber iſt die Ringamſel, welche jähr¬ lich zweimal in dieſem Verſteck brütet, — der vorübergehenden Bewohner, wie Kernbeißer, Kreuzſchnäbel u. ſ. w., nicht zu ge¬ denken.
So ſehr nun dieſer Föhrenhag den Jäger freut, weil er in der Regel Wild darin findet, — einen ſo peinlichen, düſteren, ja faſt ſchauerigen Eindruck macht er auf den Alpen-Naturfreund. Unbeſchreibliche Einförmigkeit trotz der bizarren Aſtvariationen, trübe, träumeriſche Melancholie lagert über ſolchen finſteren Ge¬ hängen, das Gefühl des Unheimlichen, des Verlaſſenſeins beſchleicht den Wanderer, wo der Pfad lange durch Legföhrenhorſte führt. Es iſt, als ob die Natur hier eingeſchlafen wäre, und unwillkür¬ lich wird man an Grimms Mährchen vom Dornenröschen erinnert. Das Knieholz iſt im Gebirge etwa das, was in der Fläche die Heide iſt. Paſcher und Schleichhändler an der Gränze wählen es gern zu Raſt - und Ablöſungsplätzen, und mancher Kampf zwiſchen dieſen und den Gränzjägern iſt ſchon in ſolchem Geſtrüpp vorge¬ fallen. Am Maſſenhafteſten iſt die Legföhre wohl am „ Wolfgang “bei Davos (Graubünden) und am Ofnerberg (Unter-Engadin) bis hinab zur Alp Stabl-dſchod entwickelt; auch an den Abhängen des Scarl-Thales kommt ſie in mächtigen Strecken vor. Kleinere96Legföhren. Beſtände trifft man allenthalben in den Kalkalpen bei einer Höhe von 5000 Fuß und darüber.
Die Legföhre iſt endlich durchaus kein ſchlechtes Strauchwerk oder forſtwirthſchaftliches Unkraut; ſie iſt eine höchſt nützliche, kon¬ ſervirende Schutzpflanze, ein kerniger Damm gegen die deſtruiren¬ den Tendenzen der Alpverwilderung. Was der Menſch durch Bannwälder und ähnliche Defenſivmittel zu erſtreben bemüht iſt, beſorgt ſie naturgemäß von ſich aus. Ohne Legföhren exiſtirte manche kräftige, ſaftreiche, kräuterüppige Alpmatte nicht mehr; los¬ gebröckeltes Steingeröll und Bergſchutt hätten ſchon manche Alp zerſtört. Ihr zähes Flechtwerk nimmt im Herbſte die erſten aus der Atmoſphäre niederfallenden Schneeladungen in ſeine Geſträuchs¬ maſchen auf und bindet dadurch allen ſpäter fallenden Schnee an die geneigte Fläche; ſo verhindert ſie poſitiv das Anbrechen von Grundlauinen und aller durch dieſe herbeigeführten Verheerungen. Ebenſo vereitelt ſie energiſch die Bildung von Rüffen und Stein¬ ſchlägen, und fängt als natürliches Faſchinenverhau alle niederrol¬ lenden Felsablöſungen auf. Sie läßt ferner den wildeſten Schlag¬ regen, die furchtbarſten Gewittergüſſe nur wie ein regulirendes Filtrum durch und trägt dadurch außerordentlich zur Vermehrung guter anhaltender Quellen und zur Erhaltung tieferliegender Raſen¬ halden bei; — und endlich begünſtigt ſie unter ſicherem Schutz die Humusbildung durch das abgefallene Genadel in hohem Grade.
Bis in die jüngſte Zeit achtete man die Legföhre lediglich um dieſes indirekten Nutzens willen; — höchſtens daß der Aelpler ſich für ſeine Sennhütte etwas Brennmaterial aus derſelben verſchaffte. Neuerdings haben aber Holzmangel und rationelle Waldwirthſchaft den Werth dieſes Waldwuchſes geſteigert, und jetzt durchforſtet man dieſelben ebenſo wie eigentliche Wälder. Die Brennkraft des Hol¬ zes kommt dem der Buche faſt gleich, und die daraus gewonnenen Kohlen werden ſehr geſchätzt.
Du biſt, o Alpenroſe,Der Blumen Kron 'und Preis,Die einz'ge DornenloſeIn Deiner Schweſtern Kreis;Du wohnſt als KöniginneSo recht auf höchſtem Thron,Und blühſt in reiner MinneDem freien Alpenſohn.
Hinter Oberhauſen am Thunerſee erhebt ſich eine jähe, ſpitze Felſenfluh, ſo unzugänglich, daß ſelbſt Gemſen ſie zu erklimmen ſcheuen. Kein Wildheuer ſteigt hinauf, um das dort wachſende Futtergras mit Lebensgefahr zu mähen, kein Wurzelgräber ſucht an dieſen Wänden ſeinen kümmerlichen Erwerb. Und doch wachſen da droben die ſchönſten und ſeltenſten Alpenpflanzen, wie man ſie weit umher nicht in ſo prangenden, tiefleuchtenden Blüthen findet, beſonders die purpurbraunen, faſt ſchwarzrothen „ Fluhblüemli “oder „ Badönickli “(Primula veris elatior), — eine Zierde der „ Schwebelhüetli “, wie ſie die Oberländerinnen an ſommerlichen Feſttagen tragen.
In altersgrauer Zeit lebte zu Oberhauſen ein ſehr reicher Bauer mit ſeinem einzigen Töchterlein. Es war das ſchönſteBerlepſch, die Alpen. 798Alpenroſe. „ Meitſchi “am ganzen See. So viel Freier ſie hatte, ſo wenig ſchien ihr einer derſelben vornehm genug, um ihm die Hand für Lebenszeit zu reichen. Unter dieſen war auch Einer mit treuem, red¬ lichem Herzen in unendlicher Liebe ihr zugethan; aber Eiſi (Eliſa¬ beth) verwarf ihn wie die anderen und ließ ihn nur am Narren¬ ſeile trotten. Einſtmals, am Aelpler Sonntage Abends, als der Burſch das Mädchen mit Wein regalirte, ſchien ſie ſeinen Be¬ theuerungen Gehör ſchenken zu wollen und ſagte: ſie ſei entſchloſſen, ſein Weib zu werden, wenn er ihr von jener berüchtigten Felſenſpitze Fluhblüemli holen wolle. Statt zurückzuſchrecken, ging Johannes freudig auf den Vorſchlag ein, denn er war ein verwegener Klette¬ rer. Schon mit dem nächſten Morgengrauen eilte er durch die Allment am Geribach zur wilden Fluh hinauf. Wie ein Eichkätz¬ chen „ chräsmete “er an den glatten Wänden umher; — die ſchmalſte Ritze, der unbedeutendſte Vorſprung mußte ihm dienen, krampfhaft mit Zehen und Fingern ſich einzuklammern. Schon war das ſchwere Werk faſt gelungen, ſchon ſieht er die Spitze nah ob ſeinem Haupte, und Triumph! ſchon hat er die erſte, — die zweite, — die dritte Preisblume gepflückt, da bröckelt ein Stein los, er verliert das Gleichgewicht und, — in der nächſten Minute liegt der arme Tropf grauſam zerfallen, zu Tode geſtürzt am Fuße der Fluhwand. Wenige Stunden ſpäter geht Eiſi fröhlich ſingend am Felſen vorüber. — Ein Blick! — ein Schrei! — und ohnmächtig zuſammengeſunken liegt ſie neben Dem, den ihr Hochmuth in jähen Tod getrieben. Die errungenen Blumen hielt der treue Burſch noch in ſeiner Hand. Gram und Irrſinn brachen Elſi's Herz.
Alſo die Volksſage von der Entſtehung der Alpenroſe. —
„ Keine Blume des Hochgebirges iſt von Dichtern ſo gefeiert worden, keine ſo poetiſch in das Leben der Bergbewohner einge¬ drungen wie die Alpenroſe; aber auch keine erweckt in der Vorſtel¬ lung des Gebirgsunkundigen ſo unklare und unrichtige Bilder, wie eben dieſe. An den Namen „ Roſe “ſich haltend, hätte er ein Recht, dieſen auf eine alpine Verwandte der vielgefeierten Blumen¬ königin zu übertragen, und das Hochgebirge würde ihn nicht ein¬ mal Lügen ſtrafen. Im Gegentheil haben die Alpen der Roſe einen neuen, poetiſchen Glanz verliehen; denn gerade ſie ſind es, wo die „ Roſe (faſt) ohne Dornen “glüht, und ſomit das Sprüch¬ wort ſeine Wahrheit verliert. Das iſt die wirkliche „ Roſe der Alpen “, die reizende Rosa alpina, die nicht ſelten in den lichten Hochwaldungen der montanen und ſubalpinen Region vorkommt und bis zur Gränze der Weinrebe hinabſteigt. Sie bildet Sträuche und blüht im Juni und Juli. — Dennoch wird nicht ſie gemeint, wenn im Gebirge von „ Alpenroſen “die Rede iſt, ebenſowenig wie man an wirkliche Veilchen denken darf, wenn das Alpenveilchen (Cyclamen Europaeum) genannt wird. Der poetiſche Sinn des Volkes hat Alpen - oder Bergroſe diejenige Pflanze genannt, die in der Botanik „ Rhododendron “, alſo zu deutſch „ Roſenbaum “heißt. Indeſſen giebt auch dieſe Bezeichnung keine richtige Vor¬ ſtellung von der Wirklichkeit. Im Gegentheil verbindet ſich damit eine neue Verwechslung; denn urſprünglich kam dieſer poetiſche Name dem Oleander zu, und Linné war es, der ihn von dieſem Prachtſtrauche des Südens willkürlich auf unſeren Alpenſtrauch übertrug. (K. Müller. ) — Im Volksmunde hört man die Bezeichnung „ Alpenroſe “eigentlich wenig; faſt jede Thalſchaft hat ihren eigenen Namen dafür. So nennt man ſie im Berner Oberlande „ Bären¬ bluſt “, im Entlibuch und Unterwaldnerlande „ Hühnerblume “(weil die Berghühner ſich darin aufhalten), in Uri „ Juupe “, im Glarner Thal „ Rafauslen “, im Aargau „ Herznägeli “, im Tyroler Ziller¬7*100Alpenroſe. thal „ Zundern “, im Teſſin „ Dros “u. ſ. w. Das Geſchlecht der Rhododendren gehört zu der natürlichen Verwandtſchaft der Haide¬ kräuter oder Ericineen oder auch zu den noch näher ſtehenden Heidelbeergeſträuchen oder Vaccineen. Es giebt keine andere Strauch¬ pflanze, mit welcher die Europäiſche Alpenroſe ſich beſſer vergleichen ließe, als mit dem Gebüſch der Rauſchbeere (Vaccinium uligino¬ sum) und der Preiſſelsbeere (V. Vitis Idaea), die in den Alpen ebenfalls bis zu 7000 Fuß Höhe vorkommen. Mit weithin ſich verzweigendem, niederem Geſtrüpp, erinnern die Alpenroſen auch einigermaßen an den Buchsbaum, namentlich durch ihr Laub; ſonſt aber haben ſie mit demſelben durchaus nichts gemein. Sie bilden eine eigene kleine Familie, welche man Rhodoraceen genannt hat, und umfaſſen die drei Gattungen: 1) der in den nördlichen Nie¬ derungen und Torfweiden wachſenden Porſte (Ledum), 2) der Azaleen, die in den Alpen blos als zierliches, immergrünes, liegen¬ des (A. procumbens), roſaroth blühendes Zwerggeſträuch häufig zwiſchen 5000 und 7500 F. vorkommen, und 3) Rhododendra. Alle drei haben den Umſtand gemeinſchaftlich, daß ihre Blatt - und Blüthenknoſpen von großen Hüllſchuppen bedeckt ſind, weshalb ſie zapfenförmig aus den Zweigen hervorbrechen. Dieſen Entwicke¬ lungsmoment können wir freilich in der Regel nicht beobachten, weil er faſt immer unterm Schnee ſich vorbereitet. So wie der Frühling in den Höhen von 4000 bis 6500 F. allmählig Schritt um Schritt emporrückt, und die deckende Schneehülle mit weichem Odem hinweghaucht, iſt auch der lichtbraune, hornartige Knospen¬ panzer ſchon geplatzt, und Blätter und Blüthenknöpfchen ſtecken neugierig ihr junges friſches Grün hervor, um ſich die Pracht ihrer Mutter, der erhabenen großen Alpenwelt, zu betrachten. Der Wanderfreund ſieht dieſe Phaſen alle nicht; er tritt erſt im Juli und Auguſt in den reichgeſchmückten Alpengarten, wenn ſchon der ganze Rhododendren-Flor in vollen feuerigen Flammen ſteht, und die rubinglühenden Glockenſträußchen ihre Sternkelche erſchloſſen101Alpenroſe. haben. „ Mit welcher Wonne begrüßt dann der müde, keuchende Wan¬ derer den erſten Alpenroſenſtrauch und eilt trotz aller Erſchöpfung im Fluge zu dem Felſen empor, von dem die Röschen ihm die lächelnden Grüße der Alpennatur zuwinken; wie oft begleiten ſie ihn mit ihrer ewigen Anmuth mitleidig durch lange Felſenlaby¬ rinthe und verkünden ihm Leben und volles Genüge in einer öden Welt von grauſenhaften Steintrümmern. Ueberall gleich reizend dekorirt die Alpenroſe tauſendfältig das tauſendfältig wechſelnde Land ihrer Heimath und glüht bald als einzelne Roſenflamme über dem ziſchenden Sturz des Eisbaches, bald überzieht ſie die ganze Fläche des Berges, der ſich mit ſeinem Purpurteppich im Spiegel des Alpſees malt, oder ſtreut ihre Blüthen geſellig in den vielfarbigen Flor der Alpen. “ (Tſchudi.)
In den Alpen giebt es nur zwei Formen einer Species. Die verbreitetſte und bis zu den Höhen von 6500 Fuß über dem Meere an¬ ſteigende iſt die roſtfarbene (Rhod. ferrugineum, — romaniſch Flur bella), deshalb ſo genannt, weil die länglich lanzettförmigen, dun¬ kelgrünglänzenden, lederartig derben Laubblätter auf der unteren Seite dicht mit einzeln kaum erkennbaren, roſtbraunen Drüſen¬ pünktchen überſäet ſind, die derſelben ein tief okerfarbenes, mit¬ unter ſogar kaffeebraunes Anſehen verleihen. Dies ſind die vor¬ jährigen, alſo überwinterten Blätter, welche an der Kehrſeite ſo ge¬ bräunt erſcheinen; die jungen heurigen, weichen Blättchen lachen leuchtend an den Zweigſpitzen im jubelndſten Maigrün und kon¬ traſtiren durch dieſe Farbenfriſche bis zur Sommerneige ungemein hebend gegen den geſetzten Ernſt der älteren. Erſt im Herbſt ſchwindet das brauſend-jugendliche Anſehen, und die Rückſeite über¬ zieht ein lichter goldiger Anflug. — Die andere Form, der ge¬ franzte Alpenbalſam (Rhododendron hirsutum), hat gewim¬ perte, d. h. am Rande mit oft langen, weißen Härchen beſetzte, mehr eirund geformte Laubblätter, die meiſt oben und unten gleich grün ſind, doch auch bisweilen an der Kehrſeite mit hellbraunen102Alpenroſe. Drüſenpünktchen luftig und dünn überſtreut ſich zeigen. Sie kommt mehr in den tieferen, beſchatteten, felſigen Bergen, beſonders der öſtlichen Alpen vor, ſteigt nie über 6000 Fuß empor und wird hin und wieder ſchon bei 2000 Fuß überm Meere gefunden. Aus dieſem Blätterfond quillt nun im Juni und Juli die brennend¬ rothe Blüthen-Dolde, je aus 6 bis 10 prangenden fünfzackigen Blüthenkelchen zuſammengeſetzt. Das zierlich geformte Glöckchen ſchimmert im Innern durchſichtig ſammetweich faſt wie ein molliges Camellien-Blatt; aber an der äußeren Fläche iſt es mit hellen, be¬ ſtimmt hervortretenden ſchwefelgelben Pünktchen geſprenkelt, die demſelben ein widerſtandsfähiges, abgehärtetes, robuſtes Anſehen geben. Nach dem Feuer ihrer Blüthen variiren die Alpenroſen ungemein, vom zarteſten, duftigſten Roſa bis hinauf ins glühendſte Karminroth. Im Allgemeinen will man wahrnehmen, daß die Tiefe und Gluth der Färbung mit dem höheren Standort der Pflanze auch zunimmt. Die gewimmpte Alpenroſe iſt gewöhnlich die blaſſere, hellere, zuweilen mit leichtem Hinüberſpielen in eine kaum ange¬ deutete violette Tendenz. Zu den abſoluten Seltenheiten gehört das weißblühende Rhododendron im Maderanerthal (bei Amſtäg an der Gotthardsſtraße), in einigen Walliſer Seitenthälern, auf der Hundwyler Höhe (Kanton Appenzell), im Tyroler Paznaun und im Pinzgau ſollen ſie zu Zeiten vorkommen.
Wo große Halden mit blühenden Alpenroſen überzogen ſind, wie z. B. auf Itrammen-Alp (wenn man von Grindelwald gegen die Wengern-Alp anſteigt), oder an der öſtlichen Abdachung des Alp¬ ſiegels (unweit vom Weißbad, Kanton Appenzell), oder an den lichten Waldungen von Zermatt gen den Riffel hinauf, oder im Ober-Engadiner Fex-Thal, — da ſtrahlt, weithin ſichtbar, eine Farbenpracht im brennendſten Rubinfeuer, die in der Ausdeh¬ nung ihres Eindruckes etwa nur dem Blüthenmeere eines Obſt¬ waldes im Mai zu vergleichen iſt. Wie bei dieſem iſts ein früh¬ lings-brünſtiges Knospen und Drängen und Koſen dicht neben103Alpenroſe. einander, ein großes kollegialiſches Blühen, das jauchzende Genießen einer gemeinſamen Jugend, man möchte faſt ſagen ein millionen¬ fältiges roſarothes Farben-Konzert. Und dabei hat die Alpenroſe noch eine weſentliche Aehnlichkeit mit der Baumblüthe; wie das Karmin-Glöckcken ſeine volle Lebensfreude genoſſen hat und die Stunde des Scheidens naht, da welkt es nicht, langſam am Sten¬ gel abſterbend, verkommend und Bedauern erregend, oder ſeine ſchöne Gluthfarbe verlierend und kläglich zuſammenſchrumpfend wie viele der ſchönſten Blumen, — nein, mit fröhlichem freien Ent¬ ſchluſſe, wirft es noch einen ſehnſüchtig vollen Blick auf alle ſeine lieben Genoſſen, auf die weißen glänzenden Firnhäupter, auf die ganze ſchöne Alpenwelt, drückt dem Nebenglöckchen noch einen brennendheißen Abſchiedskuß auf die Lippen und ſpringt dann mit einem Satze leicht in den vorüberrauſchenden Waldbach oder den zu Schaum aufgelöſten Gebirgsſtrom, und kein ſterbliches Auge be¬ kommt es wieder zu ſehen.
Unſer Alpenröschen iſt ein eigenſinniges Pflänzchen; es läßt ſich nicht willig in die Tieflandsgärten und herrſchaftlichen Parke ver¬ ſehen, um nach des blumiſtiſchen Künſtlers Gutfinden unter allerlei ſervilem Pflanzentande ſklaviſch die Rabatten zu ſchmücken, — es iſt kein „ feiles Röschen “, das zu Jedermanns Belieben und Gebot ſteht; ein freies Kind freier Berge, blüht es nur dort, wo ſeine Heimath iſt, wo es dem Himmel näher als die Menſchen, auch in vollen Zügen die reineren Aetherlüfte trinkt.
Und zugleich iſts dabei das reizendſte Symbol jungfräulicher Reinheit und Unſchuld; im großen Pflanzenreiche giebts kaum noch eine Blüthe, die, gebrochen, ſo raſch die Schönheit und das Feuer ihrer Farbe verliert und zu Tode getroffen dahinſiecht, wie die Al¬ penroſe. Wetter und Sturm, Hitze und Froſt, Regen und Schnee, —104Alpenroſe. alle Unbilden der Natur erträgt ſie heiter und muthvoll, und ſtrahlt nur um ſo lebensfröhlicher, wenn ein freundlicher Sonnenblick aufs Neue ſie beglückt. Nur vor der Menſchenhand ſchreckt ſie zurück, erzittert bebend und entfärbt ſich, — denn ſie bringt ihr den Tod. Auffallend raſch verändert ſie das lautere, tranſparente Purpurgold in bläuliche Mißfarbe, und nur derjenige hat Alpenroſen in ihrer ganzen Prachtfülle geſehen, wer ſie am Felſenhange blühend erblickte.
In die Berge hinein, in das liebe Land,In der Berge dunkelſchattige Wand!In die Berge hinein, in die ſchwarze Schlucht,Wo der Waldbach toſ't in wilder Flucht!Hinauf zu der Matten warmduftigem Grün,Wo ſie blühnDie rothen Alpenroſen.
Noch geſtern unter Schnee und kahlen Tannen!Heut bei Oliven und Orangenbäumen!Ich ſah mein Glück und mein 'es nur zu träumen,Und das Geträumte liebend zu umſpannen.
Italien iſt das Land der Sehnſucht, der Jugendträume und lieblichſten Ideale. Jeder Gymnaſiaſt, wenn er mit voller Luſt ſei¬ nen Virgil, Horaz, Ovid oder Tibull durchſchwelgt, macht einen Gedankenſprung nach Süden ins klaſſiſche Römerland und freut ſich der Stunde, wo er ſeinen Lieblingsdichtern auf Schritt und Tritt nachwandeln kann. Wird dann in ſpäteren Jahren endlich der langgenährte Wunſch befriedigt, eilt der beflügelte Schritt zum Römerzug über die Alpen hinab in die lombardiſche Ebene, hat der Verlangende den Sabiniſchen Himmel über ſich erblauen ſehen, in den Grotten und an den Kaskadellen Tivolis das ewig nach¬ klingende „ Ille terrarum mihi praeter omnes angulus ridet “— ſinnend wiederholt, dann begegnet es wohl, daß er etwas kühler geſtimmt zurückkehrt.
Woher dieſe bei italieniſchen Reiſen oft wiederkehrende Er¬ ſcheinung? — dieſe vermeintliche Enttäuſchung? —
Ein Umſtand iſts, der manche Erwartung überſpannt und zu¬ gleich die ſpäteren Effekte merklich abſchwächt; — das iſt die Intro¬ duktion zur italieniſchen Reiſe, es iſt der erſte Tag jenſeit der106Südliche Alpenthäler. Alpen. Die Steigerung der landſchaftlichen Schönheit iſt eine ſo ſtürmiſch-wachſende, Augen und Sinne ſo völlig übernehmende, wenn man vom Gotthard oder Bernhardin herabkommt, daß nach dem Wonnerauſch dieſer Ouvertüre man begreiflich immer ein noch lebhafteres Crescendo, ein Wachſen der Fülle landſchaftlicher Pracht und Herrlichkeit erwartet. Aber dies, — iſt man über das para¬ dieſiſche Gebiet der piemonteſiſchen und lombardiſchen Seen hin¬ aus, — tritt nicht nur nicht in dem erwarteten Maße ein, ſondern im Gegentheil, vorläufig ſogar ein Abfallen, eine Verminderung jener wilden Sinneſtürmer.
Unſtreitig gehört das Herabſteigen von bedeutenden Alpen¬ höhen in die oft verſchwenderiſch-reich von der Natur ausgeſtatteten ſüdlichen Thäler zu den größten Reiſegenüſſen, die ſich überhaupt darbieten können. Man würde, um die ausgeſuchteſten Eindrücke vorzubereiten, die Scenerie der meiſten großen Alpenſtraßen nicht raffinirter zuſammenſtellen können, als es im Alpenbau bereits der Fall iſt. Schon dieſſeit der Berge beginnt das Herabſtimmen, das Zurückdrängen der bangenden Seele in ihre innerſten Tiefen. Hier gähnt vorm Gotthard die wilde, lebloſe, trümmer-überſäete Schöllenen-Schlucht und endet erſt droben, wo bei der Teufels¬ brücke die Gneisſchroffen eng zuſammentreten. Nur für wenig Augenblicke geſtattet das idylliſche Urſeren-Thal ein Freiaufathmen, eine kurze Friedensraſt. — Ganz die gleichen Schreckenspforten verſchließen als Via mala und Roffla-Schlucht die beiden öſtlichen großen ita¬ lieniſchen Kommerzialſtraßen über den Bernhardin und Splügen, — oder als Deſilé de Marengo den Paß über den Großen St. Bernhard. Nun hebt bei allen dieſen Päſſen das eigentliche Stei¬ gen erſt an, zu den baumloſen, halberſtorbenen Höhen, immer im Zickzack, immer einförmiger und kahler.
Es führt uns bald längs brauſenden GeſtadenDurch Wüſten bald, durch jäher Klüfte Mitte,Es bebt das Herz, es zittern unſ're Tritte,Und wir entſagen gern, um das nur baten.
Fortwährend mahnen Gallerien und Zufluchtshäuſer auf Schritt und Tritt daran, daß in der ſchlimmen Jahreszeit der Tod auf den Wanderer lauert, um mit einem Löwenſprung als Lauine oder im wüthenden Wirbel als Schneeſturm ſeine Beute zu packen. —
Iſt nun die Freude an der farbigen, blühenden, lebensvollen Natur faſt auf den Gefrierpunkt herabgeſchraubt, hat uns die hei¬ tere Welt der Organismen faſt ganz verlaſſen, ſind wir auf der öden Paßhöbe von 6500 Fuß angelangt, dann erſchließt ſich, erſt eng und begränzt, dann immer mehr ſich erweiternd ein neuer Niederblick auf neues Leben. Die erſte Stunde bietet noch wenig; doch grüßen ſchon hie und da die reizenden Aretien-Polſter mit ih¬ ren blendendweißen Vergißmeinnicht-Aeuglein, die fröhlichen, rothen, nelkenartigen Silenen, und die beſcheidenen Androſaceen, immer geſellſchaftsweiſe verſammelt. Noch etwas weiter hinab kommen dann ſchon Anemonen und Veroniken, holzſtengelige Strauchpflänz¬ chen, und drüben an den Felſenwänden kriechen als Vorboten der Baumregion die Lazzaroni der Alpen, die Legföhren herab. Mit welchem Jubel wird die erſte Lärchen - oder Rothtanne begrüßt! wie lieben alten Bekannten ſchwingen wir ihnen den Hut entgegen.
Nun wächſt es mit jeder neuen Krümmung des Weges. Die einzelnſtehenden Bäume ſchaaren ſich ſchon gruppenweis zuſammen und gehen in kleine Waldflecken über, die an den Seitenhängen emporklimmen. Rundliche Laubholzkuppeln miſchen ſich darunter, weißſchalige Birken leuchten von Weitem vereinzelt daraus hervor. Die ganze Pflanzendecke ſchwillt wieder an und gewinnt an Kraft, Höhe und Leben. Noch um eine Straßenecke herum, — und plötzlich öffnet ſich ein tiefausgedehnter Niederblick in das zu Füßen liegende Hauptthal. Die Bergkouliſſen ſchieben von beiden Seiten korreſpondirend ſich vor, immer matter nach dem Hintergrund zu erblauend. Dörfer, Weiler, ſchlanke Kirchthürme winken herauf, und wie ein großer Faden verbindet ſie die lange ſchmale Linie der Kunſtſtraße. Da hinab alſo gehts in das erſehnte Land der108Südliche Alpenthäler. Jugendträume. — Bald iſt der erſte Ort erreicht. Die dicken Steinmauern und die kleinen Fenſteröffnungen erzählen, daß hier der Winter noch lange und ſtrenge ſein Recht geltend mache, wäh¬ rend es doch ſo fröhlich ſommerlich, ſo freundlich warm und lebens¬ durſtig gegen die öden Paßhöhen ausſieht. Die Leute unterm Splügen, auf der Südſeite, haben darum eine ſolche Thalſtrecke „ Campo dolcino “, das liebliche Feld, genannt, während es Dem¬ jenigen, der aus Italien heraufſteigt, ſchon recht unfreundlich und indolcino vorkommt. Was aber iſts gegen die nächſte Thalſtrecke? wie ſchwillt und quillt da die Vegetation, wie treibts da in jeder Pflanze, — wie wird Alles ſo maſſig, behäbig und voll! — Das iſt eben ein in unverhältnißmäßigen Progreſſionen wachſendes Na¬ turleben, das uns hellauf aus jedem Strauch, jedem Baum, jeder Gruppe anlacht. Droben waren unſere Augen arme, dürftige Hungerleider, Schmalköſtlinge geworden; nun ſie nur etwas be¬ ſcheidene Nahrung bekommen, ſchwelgen ſie ſchon luſtig und voll Freude. Gehts doch dem armen Mann im Leben eben ſo, der nur an Entbehrung und Sorgen gewöhnt, ſich plötzlich zu einem Kröſus gehoben wähnt, wenn er einmal ein Goldſtück als Eigen¬ thum in ſeiner Hand hält. — Aber nur Geduld, wir ſollen noch an den Tiſch des reichen Mannes, an die luxuriös beſetzte Tafel des Verſchwenders geführt werden.
Denn weiter ſtets mit jedem SchritteTaucht eine neue Welt hervor:Ein andres Volk und andre Sitte,Ein Gartenland mit reichem Flor.Als wärs ein Vorbot des Sirocco,Weht heiß der Mittagswind herauf,Und überm Thale von MiſoccoGeht ſchon Italiens Himmel auf.
Wie erſt die Thalſperren la Cluſe am Großen Bernhard und von Dazio Grande am Gotthard, oder der Ruinen-Riegel von Miſox unterm Bernhardin und die Thalſtufe von Stozzo am Splü¬ gen überwunden ſind, — (allenthalben natürliche Gränzen der vom109Südliche Alpenthäler. Süden her bergwärts empordringenden warmländiſchen Vegetation) da erſchließen ſich neue, ungeahnte, landſchaftliche Bilder. Es ſind ſchon noch die von hohen, felſigen Bergen begränzten Thäler, — aber die wildkühne Schönheit, die trotzig herausfordernde Haltung iſt gebändigt. Jener einheitliche, großartige Schnitt, der breite volle Wurf, die feſte beſtimmte Zeichnung, welche die nördlichen Alpenthäler ſo unverkennbar charakteriſirt, iſt verſchwunden; gleich¬ ſam tändelnd hat die Natur aus ihrem unerſchöpflich reichen Schatze die Gegend verſchwenderiſch mit allerlei Schmuck über¬ hangen und geziert. Es liegt entſchieden etwas Weibliches, Edel¬ gefallſüchtiges in ihnen gegenüber der ruhigen, männlichen Größe und dem ſtoiſchen Ernſt derer am Nordhang. Ueppige, ſinnliche Lebensfreude athmet die ganze Gegend, und tauſend kleine kokette Gruppen feſſeln hier den Blick.
Neue Pflanzenformen nehmen die Aufmerkſamkeit in Anſpruch, — oder wo es alt-bekannte, längſt befreundete ſind, geben ſie ſich in eleganterem Schwung. Zunächſt ſind es die ſtrotzend-ſaftigen, mannshohen Maisſtengel mit den breit überhängenden, leuchtend¬ grünen, ſchilfartigen Blättern, Urbilder ſchwelgender Lebensfülle, die weithin die Felder der Thalſohle bedecken. Das Türkenkorn (Zea, Melgone im Teſſiner Italieniſch) muß faſt die Hälfte der Getreidefrüchte hier erſetzen. Weizen und Roggen (Biava), wäh¬ rend er in Deutſchland erſt in das erſterbende, abbleichende Grau¬ grün übergeht, ſteht hier ſchon ſchnittreif, leuchtend gelb. Das Nadelholz iſt aus dem Thal verdrängt; hinauf an die Bergwände hat es flüchten müſſen, — drunten pflegt ſich nur rundgewipfeltes Laubholz. Der Nußbaum, die Weißeller (Betula incana) und die finſtere Ulme zeigen ſich in Menge. Letztere aber kann mit ihrer Schwermuth die heitere Sorgloſigkeit der Landſchaft nicht verſtim¬ men. Ein übermüthiger Wildfang umſpinnt ſie mit ſeinem Blätter¬ netz und rankt voll Humor an dem düſteren Murrkopf hinauf. Es iſt die fröhliche Weinrebe, die in ſorgloſem Leichtſinn empor¬110Südliche Alpenthäler. turnt, und luftige, flatternde Guirlanden von Baum zu Baum ſchwingt. Hui! iſt das ein geniales Sichgehenlaſſen, ein graziöſer Muthwille gegenüber der bevormundeten, vom Winzer ängſtlich un¬ ter Zaum und Zügel gehaltenen Pfahlrebe unſerer Kultur-Weinberge! — Hier zeigt ſie ihr wahres Naturell, da lebt und ſtrebt in ihr der Feuergeiſt, den ſie durch die Traube als ſprudelnden Lebens¬ quell zollt; und wo man den loſen Stürmer einfing, wo der praktiſche Eigennutz ſeinem brauſenden Wildwuchs Gränzen zu ſetzen ſuchte, da ließ man ihm dennoch immer Freiheit genug, in niederen Laubengängen rankend mit den Geſpielen ſeiner Jugend ſich zu umarmen.
Weiter begegnen wir dem Maulbeerbaum, deſſen Blätter-Ernte für die Seidenraupenzucht beſtimmt iſt, — der unſchönen Feige mit der dünnen Belaubung, — und noch einem Baume, der uns durch ſeinen impoſanten Wuchs, durch glänzende Blätterfülle, über¬ haupt durch markvolles Ausſehen vor allen anderen auffällt. Es iſt die Edel-Kaſtanie, der ſüdlichen Thäler größte Zierde. Jeder einzelnſtehende Baum derſelben, mit einem übermooſten Felſenblock oder einem Hüttchen darunten, dann dicht dahinten
der ungefüge, feſſellos einherjagende, durchſichtiggrüne Bergſtrom und die immer weichere violett angehauchte Färbung der Berge in des Thales Perſpektive, — jede ſolche Gruppe iſt ein Bild, eine Calame'ſche Studie.
[111]Druck von F. A. Brockhaus in Leipzig.
Du warſt mir ein gar trauter, lieberGeſelle, komm, du ſchöner Tag,Zieh noch einmal an mir vorüber,Daß ich mich deiner freuen mag.
Ein ſüdliches Vegetationsbild voll Leben, Anmuth und drängen¬ der Fülle, in feſten markigen Formen, baut ſich der Kaſtanienwald an den Böſchungen der kleinen Seitenthäler auf, welche in die ſüdlichen Abhänge der Alpen einſchneiden. Lebhaft erinnert er, als hoher, hehrer Laubwald, an die prachtvollen Buchenhaine Deutſchlands und Dänemarks; aber unter dem mächtig wirkenden Einfluſſe des wärmeren Klimas und der zauberhaften Verklärung ſüdlicher Beleuchtung übertrifft er jene an Ueppigkeit und Farben¬ glanz. Er iſt ein Epos, eine Odyſſee der Baumwelt, kühn und er¬ greifend wie ein Harmonieengang Paleſtrinas, himmelaufjauchzend wie das Halleluja in Händels Meſſias.
Drüben, jenſeit der Berge, im ſchwarzen, tiefſinnigen Bann¬ walde, der vergangenen Zeiten nachträumt, beſchleichen unheimliche Gefühle den Eintretenden; Schwermuth überſchleiert ſeine Einſam¬ keit, und der Alpengeiſt weht in kalter Größe an ihm vorüber. 112Kaſtanienwald. Hier, im Kaſtanienwalde, iſt Alles genießende Gegenwart, friſches drängendes Streben, — hier frohlockt die Seele und ſchweift in trunkener Begeiſterung den holdeſten Phantaſieen nach. Er liegt freilich auch in einer viel tieferen Vegetationszone als jener. Denn während der alpine Nadelhochwald ſich hauptſächlich in der Region von 3000 bis 5500 Fuß ausbreitet, erreicht der alpine Kaſtanien¬ wald ſchon mit 2700 Fuß ſeine mittlere Gränze und kommt aus¬ nahmsweiſe bei Soglio im Bergell noch in der Höhe von 3500 Fuß vor. — Die ſchönſten Wälder dieſer Art an den Alpen beſitzen Piemont und Welſch-Tyrol. Außerdem iſt die Kaſtanie durchs ganze ſüdliche Europa verbreitet, deckt im nördlichen Griechenland große Flächen der Ebene und ſteigt im mittleren Hellas hoch ins Gebirge hinauf. In Spanien und Portugal überzieht ſie in großen Beſtänden die höheren Berge oder bildet einen abſchließenden Gür¬ tel unterhalb kalter Spitzen und zeigt ſich als maſſenhafter Wald¬ baum in den Cevennen und im Limouſin. Deutſchland kennt ſie faſt nur vereinzelt als Zierde der Parkanlagen.
Die Edelkaſtanie oder der Maronenbaum (Fagus castanea L. oder Castanea vesca) iſt ein ächter Gebirgsbaum des Südens und nicht zu verwechſeln mit der wilden oder Roßkaſtanie (Aescu¬ lus Hippocastanum L.), welche ihrer fächerförmigen Aufſtellung der Blätter und daherigen dichten Belaubung halber oft zu An¬ lagen von Alleen benutzt wird. Wuchs und Holz, Blüthen, Laub und Früchte ſind gänzlich verſchieden von jener. — Aber je nach ihrem Standorte ändert auch die Edelkaſtanie den phyſiognomiſchen Ausdruck ihrer Stammform und Beaſtung, ſo daß man ſie als einzelnſtehenden Baum oft beinahe nicht wiedererkennt, wenn man ſie zuvor nur in Waldmaſſe ſah.
Hier (im Walde) wächſt der walzenförmige Schaft in männ¬ licher Kühnheit und Friſche den Wolken entgegen; Muskelfülle und ausgiebige Kraft ſchauen aus jeder Faſer. In vermittelnder Ver¬ wandtſchaft ſteht er zwiſchen der ſtraffen, kernigen Stammform der113Kaſtanienwald. glattrindigen Buche und dem nervigen Habitus der rauh-riſſigen Sommereiche. Um und um iſt Race und ſelbſtſtändiger Halt in der Erſcheinung. So lange er jung iſt, wird der Stamm von einem ſaftigen, drall-anſchließenden Rindenkleide umſchloſſen, deſſen olivengrünes Zellengewebe durchſchimmert; durchaus iſt daſſelbe mit weißen, linſengroßen Punkten (Lenticellen) überſäet, die ihm ein jugendfrohes, heiteres Anſehen verleihen. Hat er dann die zwölf erſten Jahre ſeiner Kindheit zurückgelegt und eine Höhe von etwa 20 Fuß erreicht, dann bekommt er einen buntgeſprenkelten Ueber¬ wurf; grünlich-grau iſt der Grundton des Rindengewandes, auf dem ſich helle Flecken ſilberfarben abheben, — täuſchend ähnlich wie bei der deutſchen Weißbuche. Bei beiden rührt dieſe Farbenver¬ änderung von Flechtenbildungen (Verrucaria epidermidis und analepta) her, welche in reicher Verbreitung den Stamm über¬ ziehen. Nach abermals einem Jahresdutzend tritt der Baum ins Mannesalter; die Rinde vertrocknet und mit dem Abſterben der unterliegenden Safthaut-Schichten ändert ſich die Farbe nochmals. Jetzt dehnt ſich die Holzfülle in die Höhe und Breite, der Stamm¬ umfang nimmt bedeutend zu, die Borke reißt und Furchen durch¬ ziehen den nun dunkelgebräunten Stammpanzer.
Die Aſt - und Zweig-Entfaltung beginnt bei der im Walde ſtehenden Kaſtanie erſt ziemlich hoch oben und greift in ſtarken, ſperrigen Linien weit umher energiſch aus, ſo daß die Nachbar¬ bäume in einander überragend, bei reicher Belaubung, ein dichtes Blätterdach wölben. Dämmerig wie in unſeren kompakten Nadel¬ forſten, gewährt der Kaſtanienwald in den drückend heißen Som¬ mermonaten eine heimlich kühle Zufluchtsſtätte. Man bedarf ſolcher in den kleinen ſüdlichen Alpthälern. Die Sohle derſelben iſt oft überraſchend ſchmal; nur der holperige, allen gegebenen Kurven ſich ſklaviſch anſchmiegende Weg und der kryſtallklare, wellen¬ hüpfende Bergbach haben Raum nebeneinander, dann gehts auf beiden Seiten ziemlich ſteil in die Höhe. In dieſe ſchluchtartigenBerlepſch, die Alpen. 8114Kaſtanienwald. Einſchnitte lagert ſich die volle Wucht der Sonnenſtrahlen und er¬ hitzt die Felſenwände oft in hohem Grade. Kein Dorf, kein Wei¬ ler, kein Hof liegt unten im Thale, alle droben an den prächtig grünen Berghängen. Dort componirt ſich, namentlich an der Ab¬ dachung der Monte-Roſa-Gruppe, jede einzelne Ortſchaft aus einer Menge kleiner zerſtreuter Gemeinden (cantoni), die aus großen reſpektabelen Steinhäuſern im italieniſchen Styl, je mit einer Ka¬ pelle, beſtehen. Aber man kann viele derſelben kaum ſehen, weil ſie in den Wipfelwald der Kaſtanien verhüllt ſind. Ein reizend¬ idylliſches Bild dieſer Art ſtellt z. B. das Dorf Roſſa im Seſia - Thale dar, wo der vielleicht prächtigſte Kaſtanienwald der ganzen ſüdlichen Alpen-Abdachung ſteht. Dieſe Hochlage der Dörfer giebt den Monte-Roſa-Thälern in Piemont ein durchaus von dem Cha¬ rakter der nördlichen Alpthäler abweichendes Anſehen. Bei dem Schmuck, den ihnen die diamantklaren, mit leicht grünlichem An¬ hauch gleichſam ſchillernden Bergbäche und die durch dieſelben ge¬ bildeten kryſtallhellen Waſſerbecken verleihen, würden dieſe Thäler die ſchönſten der ganzen Alpenwelt ſein, wenn ihre Berge nach der Höhe zu farbiger und formenreicher wären. Aber nicht ſelten gehen ſie in eine faſt troſtloſe Monotonie über, die ganz beſonders in den Grajiſchen Alpen vorherrſcht.
Nicht allenthalben ſtehen die Bäume ſo dicht. Früher z. B. bedeckte den Monte Cenere, über welchen die ſehr frequente Land¬ ſtraße von Bellinzona nach Lugano führt, ein dichter Kaſtanien¬ wald; da ſich aber viel Raubgeſindel und Wegelagerer in demſel¬ ben aufhielt, ſo lichtete man ihn bedeutend. Hierdurch gewannen die Bäume an Licht und Raum und dehnen jetzt ihre Aſtkuppeln ungemein wohlig aus.
Ganz anders präſentirt ſich der frei und einzelnſtehende Baum. Im erſten Blicke gleicht er in dem übermüthigen, trotzigen Umſich¬ zacken der Prinzipal-Aeſte, in der breitſpurigen, knotig-poſitiven Kon¬ ſtitution des kurzen, vierſchrötigen Stammklotzes, in der warzig¬115Kaſtanienwald. vernarbten Rinde, kurz im ganzen Holzaufbau, der deutſchen Winter¬ eiche wie ein Spiegelbild. Eben ſo wie bei dieſer giebt es Stämme von gewaltigem Umfang. Solche von 20 bis 30 Fuß Circumferenz ſind nicht ſelten; im Val Miſocco ſteht einer, der 3 Fuß ob dem Boden 32 Fuß mißt. Der berühmteſte Baum iſt bekanntlich jener am Aetna, „ Caſtagno di cento cavalli “genannt, deſſen Umfang 180 Fuß beträgt. Da aber ſeine Höhe in durchaus keinem Ver¬ hältniß zu ſeiner Breiten-Wölbung ſteht, ſo erſcheint er in einiger Entfernung eher wie ein rieſenhafter Buſch. In der That zeigt er auch nicht einen maſſiven Stamm, ſondern eine Gruppe von fünf Aſt-Koloſſen, die aus einem jetzt unter der Erde verborgenen Stamm-Fundamente ausgehen.
Die Edel-Kaſtanie iſt in ihrer Ausſchlagsfähigkeit und Re¬ produktionskraft außerordentlich; ſie gehört zu den zäh-lebigſten Bäumen. Stämme, hohl wie die geſpenſtiger, alter Weiden, in denen einige Männer bequem wie in, einem Pavillon Platz haben würden (improviſirte Schilderhäuſer der Landſchaft), — ja ſogar ſolche, in denen der caprajo (Ziegenhirt) ſein Feuer anzuzünden pflegt, um ein armſelig Gericht Polenta darüber zu bereiten, — Stämme, deren innere Wandflächen ſchwarz verkohlt ſind, — grü¬ nen friſch und fröhlich in den Laubkronen. Ein oft nur wenige Fuß breiter Rinde-ſtreifen mit ſeinen Splintzellen, der ſich an dem faſt völlig entrindeten Stamm emporzieht, bringt dem Gipfel hin¬ reichende Nahrung zu.
In ebenmäßiger Uebereinſtimmung mit der noblen männlichen Haltung des Stammes, ſeiner formſtolzen Kuppelbildung und dem ausgedehnten Aſtumfange ſteht auch die charakteriſtiſche Zeichnung des Laubes. Die länglich-lanzettförmigen Blätter ſtrotzen von Eigenwillen und ſelbſtherrlichem Ausdruck. Lebhaft würden ſie an das antike Attribut des Sänger-Preiſes, an das edelgeformte Lor¬ beerblatt erinnern, wenn ſie zu den harmloſen friedlichen Laubge¬ ſtalten gehörten; aber als Kinder ihres ſtolzen Hochaufſtrebenden8*116Kaſtanienwald. Vaters ſtrömt auch deſſen ritterliches Blut in ihren Adern. Rundum am Rande ſtrecken ſie, als Enden der Blattrippen, ſcharfe, leicht¬ gekrümmte Stachelſpitzen hinaus, die jedes Blatt keck waffnen und ihm ein durch und durch energiſches Anſehen verleihen. Feſt und dauerkräftig, zäh und ſolid iſt das ganze derbe Zellengewebe, glatt und glänzend die friſche tiefgrüne Oberfläche jedes Blattes. Darf ſich der Baum in ſeinem ganzen zuverſichtlichen Weſen, in ſeiner heroiſchen Architektur, dreiſt mit dem Urbilde der Kraft und Stärke, mit der deutſchen Eiche, auf gleiche Linie ſtellen, ſo darf es nicht weniger das Blatt in ſeiner freien Naturwüchſigkeit.
Eben ſo appart und eigenförmig wie Stamm und Belaubung ſind endlich auch die Früchte und ihre Hülle. Unter unſeren euro¬ päiſchen Pflanzen giebt es keine, welche ihre Samen in ſolche dicht, mit langen, ungemein ſpitzen Nadeln bewaffnete Hülſen ein¬ ſchließt. Die Frucht der wilden oder Roß-Kaſtanie hat auch eine ähnliche, mit ſcharfen Dornen beſetzte äußere Schale, aber die Dor¬ nen ſind kurz, ſtehen weit auseinander und erinnern höchſtens an die Geſtalt der mittelalterlichen Morgenſtern-Waffe. Die Hülle der Marone oder eßbaren Kaſtanie, (die im October reift), iſt ein zu Schutz und Trutz gewaffnetes Noli me tangere, eine unantaſtbare Stachelkugel, das vollendet ähnliche Miniatur-Ebenbild eines zuſam¬ mengerollten Igels oder afrikaniſchen Stachelſchweines. Würde dieſelbe beim Ausreifen nicht von ſelbſt in drei Theile zerplatzen, ähnlich wie die Becher der Buchnüßchen, ſo möchte es ſchwer hal¬ ten, die Kaſtanie aus ihrer dornumpanzerten Feſte zu gewinnen. Bekanntlich bildet ſie bei den niederen Volksklaſſen des ſüdlichen Europa während der Wintermonate ein Hauptnahrungsmittel, das die Stelle des Brodes vertreten muß; ſeit der immer mehr in Auf¬ nahme kommenden Kultur der Kartoffel ſcheint indeſſen der Werth der Kaſtanie abzunehmen. In Italien iſt „ Chatigna “, ein mit Salzwaſſer aus dem Mehl der Marone bereiteter Brei, noch in vie¬ len Gegenden tägliches Tiſchgericht; — im Teſſin ißt man die Frucht117Kaſtanienwald. ſowohl geſotten, „ Farud “als auch auf dem Roſt gebraten, „ Brasch. “ Vorſichtig gedörrt kann man ſie beinahe ein ganzes Jahr lang aufheben. Ein großer tragkräftiger Baum mag in günſtigen Jah¬ ren fünf Centner Früchte liefern. Die Ernte der Inſel Korſika allein wird jährlich auf hunderttauſend Kronen geſchätzt. — Im Bergell, wo bei Soglio und weiter draußen auf der Schuttfläche des durch den Bergſturz von 1618 begrabenen Dorfes Plurs ganze Waldungen ſtehen, hat man ein Sprüchwort: „ Quantas moscas, tantas castanies “, welches ſagen ſoll, ſo viel Fliegen ein feucht¬ heißer Sommer bringt, eben ſo viel Kaſtanien liefert die gleiche Jahresernte.
Der ſoeben erwähnte Standort bei Soglio iſt um deswillen beſonders intereſſant, weil hier die, an das kalte, ſchneeluftige Klima der eigentlichen Alpenregion gebundene Arve (Pinus cembra) ihre Zapfen mit den ſüßen eßbaren Zirbelnüßchen unmittelbar neben der Kaſtanie reift, und beide Bäume geſellſchaftliche Wald¬ komplexe, der „ Branten “genannt, bilden.
Aber auch nach ihrem Tode, nachdem ſie aufgehört hat, als ſchönſter Laub-Baum des Südens die Landſchaft feſtlich und lebens¬ voll zu ſchmücken und durch ihre Früchte zu ernähren, zeigt ſich die Kaſtanie im Werthe ihres Holzes noch als edle, hervorragende Pflanze. Denn dieſes ſteht an Feſtigkeit, Ausdauer und Solidität dem der Eiche unmittelbar zur Seite, und würde, da ſeine Jahres¬ ringe durch weitwandige Gränzröhren wie bei der Eiche auffallend von einander geſchieden ſind, ſelbſt in ſeinen phyſikaliſchen Eigen¬ ſchaften dem Eichenholze völlig gleichſtehen, wenn ihm nicht die charakteriſtiſchen, großen Markſtrahlen gänzlich fehlten. — Die Meer-gebietende Dogenſtadt Venedig, das reiche lachende Genua, die gewaltigen Werfte Englands bauten ihre rieſigen Dreimaſter, ihre gewaltigen Kauffahrtei - und Kriegsſchiffe aus Kaſtanienholz, weil es von Würmern und den zerſtörenden Bohrmuſcheln (Phola¬ den) nicht angegriffen wird. Die mächtigen Balkengelüſte der118Kaſtanienwald. prächtigen Weſtminſter-Halle in London, welche der verſchwende¬ riſche Richard II. von England gegen das Ende des 14. Jahr¬ hunderts erbauen ließ, — die Dachgebälke vieler der herrlichſten gothiſchen Kathedralen Frankreichs und Spaniens beſtehen aus dem Holze unſeres vortrefflichen Baumes, und ſind noch heute ſo trag¬ kräftig und unverſehrt als vor 500 Jahren. — Schon vom leben¬ den Baume wird behauptet, daß er weder dem Inſektenfraß noch ſonſt irgend einer Krankheit ausgeſetzt ſei, als dem Hohlwerden im Alter. Aber ein gefürchtetes Thier birgt ſich vorzugsweiſe gern unter ſeinen Wurzeln, nämlich der gemeine Skorpion (Scorpio europaeus). Die Italiener, welche mit dem ſ. g. Skorpionöl (das gegen den Stich giftiger Fliegen, Wespen und Bienen gut ſein ſoll) noch bisweilen im Lande umherziehen, fangen die zur Berei¬ tung dieſes Oeles nöthigen Skorpionen durch Ausgraben der Erde unter Kaſtanienwurzeln. Aus den jungen Zweigen werden ſehr dauerhafte, ſpannſcharfe Faßreife gefertiget, wie denn auch Fäſſer, deren Dauben aus Käſtenholz geſpalten wurden, beinahe unverwüſtlich ſein und den Wein trefflich konſerviren ſollen. Als Brennholz dagegen hat die Edel-Kaſtanie durchaus keinen Werth; die Scheite glimmen nur, ohne beſondere Hitzkraft.
So wächſt und ſchmückt, ſo nutzt und vergeht des ſüdlichen Alplandes ſchönſter Laub-Baum.
Aus dem reizendſten Winkel des Genfer-Sees bei Montreux und Chillon führen zwei Wege übers Gebirge in den Kanton Bern und ins Saane-Thal. Der eine derſelben, la Tinière, iſt ſteinig, unwegſam und minder begangen, während der Pfad über den „ Jaman “bequem, ziemlich belebt und leicht zu finden iſt. Man glaube indeſſen nicht, daß dieſe beiden Gebirgswege eigentliche „ Päſſe “ſeien, wie ſie in den Hochalpen-Kantonen Glarus, Uri, Graubünden und Wallis vorkommen, oder wie ſie im Chamouny über die bekannten „ Cols “führen; ihre Scheitelhöhe erreicht nir¬ gends 4700 Fuß über dem Meeresſpiegel, und der Weg über den Jaman bietet mindeſtens alle halbe Stunden eine menſchliche Wohnung.
Bei heiterem Wetter gewährt dieſer Bergübergang unvergleich¬ lich ſchöne Rückblicke auf den See und ſeine reiche, maleriſche Uferſcenerie; überraſchen den Wanderer jedoch Nebel und Nacht auf dieſen Höhen, dann ſind Weg und Steg ungeheuerlich wie überall im Gebirge, und wehe dem, der keinen Führer hat oder vom rechten Wege abirrt.
120Eine Nebel-Novelle.Bei drückender Mittagswärme hatte ich am 15. September 1852 Vevey verlaſſen und ſchlenderte unentſchloſſen längs dem See die Straße hinab. Schon oft hatte mich die einſamſtehende Felszacke der Dent de Jaman von Weitem freundlich winkend zu einem Beſuche eingeladen, aber ſo oft ich auf dem Dampfſchiff an ihr vorüberfuhr, lag ſie außerhalb meiner Reiſeroute. Heute kam mir die „ Dent “in meinem „ Wohin-Zweifel “ganz gelegen, und vor Clarens links vom Wege abbiegend, vor mir die hohe Naye, ſtieg ich zwiſchen Weinbergen gegen Chailly und Chernex empor. Immer freier und prachtvoller entfaltet ſich die große, umfaſſende Rundſchau, je höher man ſteigt. Es iſt ein Bild, das in ſeinem Reichthum an hoher Majeſtät und idylliſcher Einfachheit, an Far¬ benpracht und Formenfülle bei völliger Harmonie der Gegenſätze ſeines Gleichen im ganzen, weiten Alpenlande ſucht.
Der Himmel hatte allgemach eine mißliche Färbung angenom¬ men, bleigrau und eintönig dehnte er ſich über die prachtvolle Landſchaft aus und die Sonne ſchien mattgelb und ſchläfrig hin¬ ein. Ein deutſcher Profeſſor, der mit ſeinen Zöglingen über den Col de Jaman herabkam, empfahl mir das Bergwirthshaus „ En avant “bei Mr. Dufour, und ſein wie ein Laſtpferd mit Taſchen, Nachtſäcken, Torniſtern und Botaniſirbüchſen bepackter Führer meinte: „ da hätte ich die beſte Gelegenheit, den Regen abzu¬ warten. “—
Verdrießlich überraſcht ſah ich dem halb lachend, halb keuchend forttrabenden Laſtträger nach, und ein fragender Blick hinauf zur Sonne, die gläſern, faſt ſtrahlenlos hinter der, von wäſſerigen Dünſten erfüllten Atmoſphäre ſtand, ſo wie unheimliches, ſchmutzig¬ graues Gewölk an der Dent du Midi ſchienen mir leider die un¬ erwartete Wahrheit des Wetterpropheten zu beſtätigen. Umkehren war von jeher meine Paſſion nicht, ſelbſt in Fällen, wo mein Ortsſinn mir ſagte, daß ich auf falſchem Wege ſei. Darum galt es jetzt einen Schritt zuzulegen. Raſcher, als ich gehofft, kam ich121Eine Nebel-Novelle. zu der freundlichen Hüttenkolonie. Die Bauern von Montreux, denen die umliegenden fetten Bergwieſen gehören, waren hier oben, um ihr Oehmd (Grummet, zweites Heu) einzuheimſen. Da geht es denn bei Mr. Dufour lebendiger her als ſonſt, beſonders am Abend.
Kaum hatte ich bei einer Flaſche trefflichen Waadtländer Wei¬ nes eine halbe Stunde geraſtet, als einer der Bergbauern mit der tröſtlichen Nachricht eintrat: „ y pliau “(es regnet). Alſo der Profeſſoren-Führer hatte doch recht gehabt. Dieſer Pliau verdich¬ tete ſich aber zuſehends, und mit dem raſchen Eintritt der Däm¬ merung ſchienen alle Schleuſen der himmliſchen Bäche gezogen zu ſein. — Abendbrod, — Gute Nacht, — zu Bett! — war das einzige Rettungsmittel gegen den im Anmarſch begriffenen Unmuth. Morgen kanns ja beſſer ſein.
Gegen Morgen, als ich erwachte: O weh! Fortſetzung vom vorigen Abend. Das Rieſeln der Waſſerfäden über die geſättig¬ ten, glänzenden Dachziegeln in die erklingende Blechrinne, und das plätſchernde Abtröpfeln der Traufe aufs Pflaſter hat gleich jedem anderen monotonen Geräuſch eine magnetiſch einſchläfernde Kraft. — Auch ich erlag ihren Einwirkungen. Nach 9 Uhr er¬ wachte ich zum zweiten Mal. Ein Blick durchs Fenſter, — Ne¬ bel und dichter Regen! Von der Gegend waren nur die näher gelegenen Partieen ſichtbar! Drunten, nach dem See zu, der ſonſt ſo reizende Einblick, war dicht verſchleiert durch graue, tiefhängende Wolken. Die Tagesparole: Hierbleiben und in Geduld Abwarten! diktirte ſich von ſelbſt.
Ich hatte tauſend Prozent vor jedem ähnlichen Unfall, wenn er mir zum Beiſpiel in einer, von aller Welt abgeſchnittenen, ein¬ ſamen Alpenhütte begegnet wäre, voraus; denn Mr. Dufours Wohnung war ein ganz ordentliches Häuschen, das genugſam ge¬ gen die Unbilden der Witterung ſchützte, und das Bett in meinem122Eine Nebel-Novelle. weißgetünchten Kämmerlein, obwohl hart, war immerhin beſſer als ein feuchtes Alp-Heulager.
Ueberall, wo man ſich gegenſeitig durch das Mittel der Sprache verſtändigen kann, findet der nach Unterhaltung ſich ſehnende Rei¬ ſende ſelbſt beim einſeitigſten und trockenſten Geſellſchafter irgend ein Hinterpförtchen, um ihn aus der Verſchanzung des nüchternen Ja und Nein hinaus auf das Feld der Gedanken-Aeußerung zu drängen, und dort läßt ſich von einem Jeden, und wäre es der ungebildetſte Bauer, immer noch Etwas lernen. Aber auch dieſes beſcheidene Mittel hört auf, wenn man ſich nicht gegenſeitig ver¬ ſtändigen kann. So ging's auch mir. In meinen Schuljahren waren mir die Stunden des franzöſiſchen Sprachunterrichtes immer die langweiligſten, und ich wäre hier gänzlich troſtlos daran ge¬ weſen, wenn mich in ſpäteren Jahren nicht die Nothwendigkeit ge¬ zwungen hätte, das in der Jugend Verſäumte nachzuholen. Jetzt ſprach ich nun zwar grammatikaliſch Franzöſiſch, und die Wirthin, ſo wie einige der anweſenden Bauern, verſtanden mich wohl, — aber ich verſtand ihr verſchwimmend romaniſch-franzöſiſches Patois nur unzuſammenhängend, meiſt halb errathend. Dieſes Hinderniß mußte überwunden werden; mit einer wahren Sündfluth von „ comment s'appelle cela? “und „ qu'est cela “? begann ich mir ein Vokabularium anzulegen. Das führte denn zu einem höchſt komiſchen Vorfall. Zur Erluſtigung ſämmtlicher Gäſte, die eben¬ falls wie ich an der Langeweile litten, begann ich nämlich Schule zu halten, aber in umgekehrtem Verhältniß, das heißt ſo, daß ich, der ich einziger Schüler, war und acht oder zehn trinkende und rauchende Lehrer um mich ſitzen hatte, dieſen meine Fragen vor¬ legte und Alle, wie aus einem Munde, mich beantwortend unterrich¬ teten. Da gabs denn tüchtig zu lachen. Ein paar Maß des ſchon erwähnten Yvorner Weines, der hier ſpottbillig iſt, unter¬ ſtützten meine wißbegierigen Beſtrebungen, und in meinem Tage¬ buche füllte ſich Seite um Seite. Dieſer Spaß vertrieb uns123Eine Nebel-Novelle. einige Stunden Zeit, dann verlor er nach und nach ſeine Spann¬ kraft, und draußen lief, nach wie vor, das naſſe Einerlei vom Himmel hernieder. Wie begonnen, ſo endete der Tag, und auch, die zweite Nacht. Der dritte Morgen brachte abermals Nebel und Regen in Strömen. Jetzt fing die Geſchichte an ernſtlich langweilig zu werden.
Abermals war Mittag vorüber. Während ich, mit den Fin¬ gern am Fenſter trommelnd, gedankenlos in die große General¬ wäſche der Natur hinausſchaue, kommen zwei junge kräftige Män¬ ner, der eine bedeutend größer und breitſchulteriger als der andere, gegen das Wirthshaus heraufgewandert, — ſo gründlich und vollſtändig durchnäßt, daß ſie nicht naſſer werden konnten. Die Hüttenkoloniſten, meine Freunde und Lehrer von geſtern, kannte ich ſämmtlich; — dies waren neue Geſichter, — Grund genug, mein Intereſſe an ihrer Perſon, ihrem Erſcheinen zu erhöhen. Woher? Wohin? Hierbleiben oder Weiterwandern? Fremd oder Einheimiſch? fragte ich mich ſelbſt mit Neugierde, denn ein Kom¬ men unter ſolchen Umſtänden war ein Ereigniß, mußte irgend einen triftigen Grund bei dieſem triefenden Regen haben. Der Eine, Größere, ging geraden Schrittes auf den vor dem Hauſe ſtehenden Brunnentrog und ſeine immerwährend laufende Röhre zu, begann Stock und Schirm abzulegen, überhaupt zu irgend einem Geſchäft ſich anzuſchicken. Was? auch noch waſchen? bei dieſer exemplariſchen Durchnäſſung, wo der ganze Körper ſchon einem unfreiwilligen Vollbade ſeit geraumer Zeit ausgeſetzt ſein mußte? Das ſchien mir Luxus zu ſein. Jetzt zog er ſeine dicken, ſchweren, rindsledernen Schuhe aus, hielt dieſelben unter den lau¬ fenden Waſſerſtrahl und ſchwenkte ſie zwei, drei Mal aus, wie man ein unreinliches Glas ſäubert; er hatte Sand und kleine Kieſel drin gehabt. Dieſe Abhilfe war mir ein wenig allzu radikal, ſo konnte nur ein Naturmenſch handeln, der mit Wind und Wetter auf Du und Du ſteht.
124Eine Nebel - Novelle.Wie Beide eingetreten waren, hörte ich zu meinem nicht ge¬ ringen Erſtaunen, daß ſie über den Paß Plan de Jaman wollten. „ Bei dieſem Wetter? “fragte ich überraſcht. — „ Warum nicht? “war die Antwort. — „ Oho!? “ſtrammte ſich das Ehrgefühl in mir an, „ was Ihr könnt, iſt auch mir möglich. Alſo im Ernſt über Plan de Jaman? “— „ Ja, Herr! nach Montbovon! “war die deutſche Antwort des Großen, eines Berner Oberländer Burſchen aus dem Simmenthal, dem die Wirthin geſagt, daß ich ein Rei¬ ſender aus der deutſchen Schweiz ſei. „ Wollt Ihr mein Führer ſein? “— „ Gern, Herr! “entgegnete er freundlich, während ſeine großen treuen Augen mein Vertrauen in ihn beſtärkten; „ geben Sie mir nur Ihren Reiſeſack, ich will ihn ſchon tragen, hab 'ſchon oft mit fremden Herren über die Berge gehen müſſen! “— Topp! Abgemacht. Zeche bezahlt, Alles in die noch friedlich¬ trockene Seehundfell-Taſche wohl verwahrt gepackt, auch mein Porte¬ feuille mit Paß und Papiergeld; den Alpſtock zur Hand, und nun „ B'hüt di Gott, Herr Wirth, Frau Wirthin, liebe Nachbarn! “— Fort, hinaus! in Nebel und ſtrömenden Regen.
In den erſten zehn Minuten war ich hinſichtlich des Durch¬ näßtſeins meinen beiden Begleitern völlig ebenbürtig. Durch Wald gings bergauf. Durch die Runſen, in den Hohlwegen und wo ſonſt nur irgend eine Einſenkung an der Abdachung des Berges war, kam das Wildwaſſer herabgeſchoſſen mit jagender Haſt, in überſtürzender Eile. Alle paar hundert Schritte mußten wir durch dieſe improviſirten Bäche ſchreiten, einige Male auf Schußlänge in denſelben marſchiren. Es währte nicht lange, ſo hätte auch ich Mr. Dufours Brunnen brauchen können, um meine Schuhe von läſtigem Sande zu ſäubern, den das ſtrömende Waſſer mir hinein¬ geſpült hatte. Alles das, was mich im trockenen, ſchützenden Wirthsſtübchen als ſo außerordentlich überraſcht hatte, machte ich jetzt ſelbſt ganz reſignirt, — oder nicht einmal reſignirt, ſondern in freudiger Stimmung mit.
125Eine Nebel-Novelle.Nach ungefähr dreiviertelſtündigem Steigen waren wir auf der Höhe des Col; uns zur Rechten der verwitterte Felszahn des Jaman, ſchwarzgrau und geiſterhaft aus dem ſchweren Nebelmantel hervorſchauend. Hier, wo ſonſt bei hellem Wetter jene bezaubernd ſchöne Ausſicht ſich entfaltet, die als die prächtigſte am ganzen Leman gilt, ſtanden wir in kalter Zugluft, im überſtrömenden Re¬ gen, eingehüllt in ein trübes, unheimliches Dunſtmeer, das nur da und dort ſich maſſiger, ſchwerer zuſammenballte, während an ande¬ ren Stellen die Nebel vom Winde zerriſſen, in geſtreckten, phan¬ taſtiſchen Formen und Gebilden, wie Nachzügler des wilden Heeres, vorüberjagten. — Der kurze Alpenraſen war durch den Regen un¬ gemein glatt und ſchlüpfrig geworden, ſo daß auf ihm, wo der Weg ſich ſenkte, nicht wohl mit feſtem und ſicherm Tritt zu gehen war. Von eigentlichen Wegen kann indeß, wie überall auf einer Alpweide, nicht füglich die Rede ſein; da laufen Hunderte ſchein¬ barer Pfade, d. h. langer Linien, welche die Raſen - und Pflanzen¬ decke des Bodens durchſchneiden, und wo entweder das nackte Ge¬ ſtein zu Tage tritt, oder geröllähnliches Steingebröckel den Weg zu bilden ſcheint, — hunderte ſolcher Pfade laufen nebeneinander her, durchkreuzen ſich, brechen ab und geſtalten, zumal im Nebel, ein Labyrinth, das Jeden, der mit der Gegend nicht ganz wohl be¬ kannt und ſicher vertraut iſt, leicht ihre führen kann.
Mein Simmenthaler Führer ließ eine lange Reihe heller, ju¬ belnder Jauchzer ertönen, trotz Näſſe der Kleider und Ungunſt des Wetters. Das iſt ächt ſennenmäßig. Seine Jodler wurden be¬ antwortet von mehren Seiten her, — aber von wem? konnten wir nicht ſehen; aus dem Nebel kamen die Antworten.
Raſchen Schrittes gings bergab; mitunter im beflügelten Ba¬ lancirſchritt, mitunter halbgleitend, ſo daß der Alpſtock faſt dieſel¬ ben Dienſte leiſten mußte, wie wenn man über ein flachabſchüſſiges Firnfeld hinabgleitet. Es währte nicht lange, ſo kamen wir bei einer großen reinlichen Alphütte an. Wir waren auf Freiburger126Eine Nebel-Novelle. Gebiet. Hier ſchied unſer Drittmann von uns, und dies gab Ver¬ anlaſſung in die Sennerei einzukehren, um ein Wenig zu raſten. Dieſe hier verſäumte halbe Stunde am erwärmenden, helllodernden Feuer wurde Urſache eines Abenteuers, das ſelbſt in der Rück¬ erinnerung mir jedesmal neue Schrecken bereitet.
Als wir nämlich die Hütte ſelbander verließen, hatte der Ne¬ bel ſich ſo gewaltig verdichtet, daß wir buchſtäblich uns kaum er¬ kennen konnten, wenn wir nicht unmittelbar Schulter an Schulter ſtanden; auf doppelte Schrittlänge waren ſelbſt nicht einmal die Umriſſe einer menſchlichen Geſtalt zu erkennen. Dieſer Umſtand bedingte es, die geſpannteſte Aufmerkſamkeit dem zu verfolgenden Pfade zu widmen und die Sorge um den rechten Weg, ſo wie der ungewöhnliche Kraftaufwand, um nicht auszugleiten, verſetzte uns trotz der ſchneidend kalten, regenerfüllten Luft in ſolche Transſpira¬ tion, daß wir Beide nicht weniger ſchwitzten, als wie man in der Mittagsſonnengluth eines heißen ſchwülen Julitages beim Bergan¬ ſteigen zu ſchwitzen pflegt. Mehrmals zeigte es ſich, daß wir nicht ganz genau die rechte Richtung inne gehabt hatten, als es galt, Häge und trennende Einfriedigungen zu überſteigen, wie ſie allent¬ halben in den untern Staffeln, Maienſäßen oder Heubergen der Alpen vorkommen. Ein paar Dutzend Schritte rechts oder links, — und wir hatten immer den rechten Pfad wiedergefunden, der durch ein Gatterthor lief oder, wie dies noch öfter vorkommt, durch große treppenförmig gelegte Steine bezeichnet iſt, welche es ermög¬ lichen, das Knüppelflechtwerk rittlings zu überſteigen. So gings eine geraume Zeit fort. Wir hatten das Wirthshaus En allières nicht betreten, in Rückſicht der früheinbrechenden Nacht, denn ſchon begann es entſchieden zu dunkeln. Jetzt galt es, wieder über einen ziemlich hohen Hag zu ſteigen, und unſerer bisher als zweckmäßig ſich erwieſenen Praxis gemäß, gingen wir längs deſſelben, um den Durchſchnittspunkt zu entdecken; rechts ging es ſanft geneigt bergab, links ſtieg es. Wir ſuchten, aber vergebens. Es handelte ſich127Eine Rebell-Novelle. hier weniger darum, bequem über den Zaun zu kommen, als durch Auffindung des gewöhnlichen Ueberganges uns des rechten Weges zu verſichern, welcher, nach der wiederholten Ausſage meines Füh¬ rers, dann gar nicht mehr zu verfehlen ſei, wenn wir ungefähr noch zehn Minuten hinter uns hätten. Durch das wiederholte Hin - und Hergehen an dem Hag hatten wir auch den Punkt verloren, wo wir zuerſt angelangt waren, und die Nacht rückte immer ent¬ ſchiedener heran, je mehr Zeit wir mit Suchen verſäumten. Noch¬ mals eine tüchtige Strecke links bergan! aber keine Spur deſſen, was wir ſuchten; wiederum rechts bergab durch den dunkelgrauen Nebel, und zwar im beeilten Avancirſchritt, aber eben ſo vergeb¬ lich; noch weiter hinab, — es fing an ſteil und ſehr abſchüſſig zu werden, — immer nichts. Mein Führer, dem das Ding ſelbſt nicht gleichgültig war, entſandte einige Hilfsſignale in Form lang¬ angehaltener helljohlender Jauchzer; — aber keine Antwort. Er wiederholte ſeine Anſtrengungen aus einer anderen Tonart, mit einem Aufwand aller ſeiner jodelnden Liebenswürdigkeit, ſo alpin, als ob er in der übermüthigſten allerheiterſten Seelenſtimmung ſei, aber eben ſo vergeblich als vorher. Trotzdem, daß mir unſere Lage ſelbſt einige Beſorgniß zu erwecken anfing, konnte ich dennoch das Lachen nicht unterdrücken über dieſe von der Verlegenheit und Angſt erpreßte, gezwungene Heiterkeit. Was nun thun?
„ Bergab müſſen wir noch, nicht wahr? “— „ Ja wohl, Herr! nach meiner Berechnung iſts keine Viertelſtunde mehr bis zum Hongrinbach, über den eine Brücke führt, und da iſts ein breiter durch den Wald führender Weg! “— „ Gut! alſo nicht lange be¬ ſonnen! wir durchbrechen den Hag, halten uns, indem wir bergab ſteigen, weder allzu links, noch allzu rechts, und wenn wir am Hon¬ grinbache ankommen, folgen wir dem Laufe deſſelben ſo lange, bis er uns zum Brückli führt! Meinet Ihr nicht auch? “— Nach einiger Zögerung willigte mein Führer in dieſen Vorſchlag, als das unter den obwaltenden Umſtänden einzige Mittel, um zum128Eine Nebel-Novelle. Ziele zu gelangen. Geſagt, gethan. Immer abſchüſſiger wurde unſer Terrain, immer ſchwarzgrauer wurden Nebel und Nacht, im¬ mer unbehaglicher unſere Stimmung in der warmdunſtenden, am Körper enganſchließenden naſſen Kleidung, — und Regen floß, — ach! fortwährend in überreichlichem Maße.
Wir mochten wohl wieder eine Viertelſtunde oder auch nicht ſo lange gerutſcht, geklettert, überhaupt weiter gekommen ſein, als wir durch ein brauſendes Geräuſch wahrzunehmen glaubten, am Hongrinbache angelangt zu ſein. Aber da gings ſteil wie über ein Kirchendach hinunter. Mehre Verſuche zeigten, daß wir uns beſſer rechts halten mußten. Alſo wieder in dieſer Richtung vor¬ wärts. Der Nebel hatte ſich ein wenig gehoben, ſo daß wir, ſo weit es die Nacht zuließ, die Gegenſtände in unſerer näheren Um¬ gebung unterſcheiden konnten. Noch ein paar Dutzend Schritte, und hell leuchtete der weiße Schaum des jagenden Gewäſſers durch die Dunkelheit zu uns herauf. Jetzt galt es, längs des Gebirgs¬ baches ſo lange fortzuklettern, bis wir zur Hongrinbrücke gelangen würden. Unter außergewöhnlichen Anſtrengungen, durch wildes Geſtrüpp und dorniges Geſträuch, das die Haut blutig ritzte und die Kleider zerfetzte, arbeiteten wir uns mühſam durch. Oft war das Terrain ſo jäh, daß wir bei jedem Schritt fürchten mußten, in den Strom zu ſtürzen oder den Hals zu brechen. Darum ſon¬ dirte mein Führer ſtets vorher mit dem Stock, wie weit wir trauen durften, denn ſehen konnten wir kaum, wohin wir traten. Nach einer unter ſolchen Hinderniſſen zurückgelegten tüchtigen Strecke war uns plötzlich das Weiterkommen aufs Neue abgeſchnitten; denn links herab, in einer Runſe, ſchäumte ein Wildwaſſer, meiner Berechnung nach 6 bis 8 Schritt breit, welches ſich in den Hongrin¬ bach ergoß. Wollten wir nicht wieder den eben unter unſäglichen Mühen überwundenen Abhang hinaufklimmen, um droben nicht um ein Haarbreit weiter oder beſſer daran zu ſein als hier, ſo blieb uns nichts Anderes übrig, als das ſchießende Waſſer zu129Eine Nebel-Novelle. durchwaten. Deß wurden wir einig. Ich faßte meinen Führer feſt in den Arm, Beide ſtemmten wir unſere Stöcke gegen die reißenden Schaumwellen, und ſo traten wir unſere Wanderung an. Das Waſſer ging uns bis an die Kniee, und unter den Füßen rollten uns die großen Kieſel hinweg, daß es galt, den Fuß zu jedem neuen Schritt recht feſt zu ſetzen. Rechts mußte ein Waſſer¬ fall oder Aehnliches ſein, denn da tobte es mit ohrenbetäubendem Geräuſch hinab, — ſehen konnten wir die Urſache nicht.
Weiß der Himmel, welch unſeliger Einfall, oder welcher Um¬ ſtand plötzlich meinen Führer veranlaſſen mochte, ſich aus meinem Arm loszumachen (er ging mir zur Rechten) — genug, eine Be¬ wegung, ein Fehltritt, — ein Schrei, — und verſchwunden war er. Wie ich vollends hinübergekommen bin, kann ich nicht mehr ſagen. War es der Schrecken, das Entſetzen, was mir ungewöhn¬ liche Kraft und Sicherheit des Schrittes gab, — war es Glück, oder war die Stelle, welche ich noch zu durchwaten gehabt, minder gefährlich, — ich weiß es nicht. Nur das weiß ich, daß ich drü¬ ben am anderen Ufer an nacktem Wurzelwerk, an Baum-Aeſten, durch verworrenes Geſträuch mich aus dem Waſſer mit drängender Haſt herausarbeitete und in peinlicher Seelenangſt längs demſelben, ſchreiend, mit dem langen Alpenſtocke in das Waſſer hineintaſtend, fortkletterte. Wie ich vermuthet, ſo beſtätigte es ſich; ein 6 bis 8 Fuß hoher Waſſerfall war es, über welchen mein Führer hinab¬ ſtürzte. Meine Lage war in der That quälend. Ziemlich ermattet, durch und durch naß, ſehr hungernd, eine ganze, lange, raben¬ ſchwarze Nacht im ſtrömenden Regen, in völlig unbekannter Gegend vor mir und — ein Menſchenleben — entweder verloren oder in größter Gefahr umzukommen! Ueberdies hatte der verunglückte Führer meine Taſche auf dem Rücken, in welcher, nebſt Wäſche und anderem Nothbedarf, meine Papiere und Gelder ſich befanden. Ich rief, ich ſchrie aufs Neue in das donnernde Gepolter hinein, ich ſtieß mit dem Alpenſtock in die wildſchäumende Fluth, kurz ich ver¬Berlepſch, die Alpen. 9130Eine Nebel-Novelle. ſuchte Alles, was mir die augenblickliche Verzweiflung eingab, — aber vergeblich! —
Schon wollte ich, abgeſpannt und heiſer, meine Rettungsver¬ ſuche aufgeben, als ich plötzlich meinen Stock am Ende erfaßt fühle. Wie ein elektriſcher Schlag durchzuckte es mich; ich rufe aufs Neue, ziehe — und ſiehe da! vor mir taucht aus der Tiefe eine menſchliche Geſtalt auf, — mein Führer, der beſinnungslos, dem Tode des Ertrinkens nahe, wie es ſcheint, durch irgend einen im Bett dieſer Runſe liegenden Felſenblock aufgehalten, minuten¬ lang (ob ganz unter dem Waſſer oder mit dem Kopfe über dem¬ ſelben, wußte er ſelbſt nicht) dagelegen und durch mein Schreien und Stoßen zur Beſinnung geweckt worden war. Zwei leibliche Brüder, die nach Jahre langer Trennung ſich wiederfinden, kön¬ nen einander nicht herzlicher umarmen, als mein Führer mich und ich ihn. Er blutete ſtark am Hinterkopfe und vermochte nicht feſt aufzutreten, weil er ſich einen Fuß bös verſtaucht hatte. Nachdem wir ſitzend geraſtet und berathſchlagt hatten, was nun zu thun ſei, (ſpäter als Abends 7 Uhr konnte es unmöglich ſein) ſtolperten und hinkten wir mit halb zerriſſenen Kleidern, ſehr ermattet und wolfsartig hungernd weiter, mit dem feſten Vorſatz, die erſte Hütte, die wir finden würden, zu unſerem Nachtlager zu erobern — mit oder ohne Zuſtimmung des Beſitzers — gleichviel.
Und ſiehe, das Geſchick war uns günſtig. Es währte nicht lange, ſo tauchte in der Dunkelheit der Nacht der Giebel irgend eines Gebäudes vor uns auf, und um die Ecke deſſelben biegend, leuchteten uns plötzlich zwei helle Fenſter entgegen. Hurrah! Land! Licht! Menſchen!
Zu ſolchen Abenteuern kann dem Wanderer im Gebirge der Nebel verhelfen.
— — —Und unter den Füßen ein nebliges Meer,Erkennt er die Städte der Menſchen nicht mehr:Durch den Riß nur der WolkenErblickt er die Welt,Tief unter den WaſſernDas grünende Feld.
Ein ſo heimtückiſcher und boshafter Schleicher der Nebel auch im Gebirge iſt, der ſchon manchen handfeſten Aelpler auf den Todespfad führte und fröhlichen, nach Ausſicht ſchmachtenden Berg¬ wanderern die mühſam erklommenen Höhenpunkte mit hämiſcher Schadenfreude plötzlich ſo verſchleierte, daß ſie unverrichteter Dinge wieder abziehen mußten, — ſo neckiſche und joviale Komödien führt er auf, wenn er juſt guter Laune iſt, oder wenn er aus ſei¬ nen luftigen Höhen herabſteigt, um die Thalleute auch einmal in¬ gründlich zu ärgern. In letzterem Falle lagert er ſich dann breit und ungeſchlacht über Felder und Wälder, auf Märkte und Gaſſen, und nur der, welcher im Berglande wohnt, vermag ſeinen athem¬ erſchwerenden, miasmatiſch-verdorbenen Dünſten zu entfliehen. Denn droben auf freiem Bergesgipfel ſteht der Naturfreund dann im hellen goldigen Sonnenſchein und ſieht auf ein wogendes Milch¬ meer hinab, aus dem nur verwandte Höhepunkte gleich Eilanden9*132Nebelbilder. emporſteigen; oder wenn die geballten Maſſen ſich ſehr tief ſenken, begegnets auch, daß das goldene Kreuz eines im Thale liegenden hohen Kirchthurmes glänzend hervorragt, einſam, ſymboliſch, über¬ windend. — Drunten aber in der unſichtbaren verhüllten Tiefe kreiſcht und hallt und dröhnt viel lauter und ſchallender das Ge¬ triebe der Menſchen als ſonſt; denn der Nebel iſt ein trefflicher Reſonanzleiter nach Oben, während er in umgekehrtem Verhältniß dämpft. — Indeſſen dieſe Erſcheinung kann man auch in jedem Berglande finden, ſie iſt nicht ein bezeichnendes Attribut der Alpen.
Ueberraſchender, ungewöhnlicher, ein ächtes Phänomen des entſchiedener gehobenen Gebirgslandes iſt jene magiſche Lufterſchei¬ nung, welche im mitteldeutſchen Harz unter dem Namen des „ Brockengeſpenſtes “bekannt iſt und auf vielen Höhepunkten der Alpen ſich nicht ſelten zeigt. Sie beſteht in der Schattenſpiegelung von Gegenſtänden und Perſonen auf der Fläche einer aus der Tiefe aufſteigenden, freiſchwebenden Nebelwolke, bei ſonſt völlig heiterem Horizont. Am häufigſten begegnet man dieſer phyſikali¬ ſchen Phantasmagorie auf ſolchen Höhen, die entweder von Bin¬ nen-Seen oder ſumpfigen Thalſohlen umgeben ſind, welche bei ent¬ ſprechenden atmoſphäriſchen Zuſtänden leicht Dünſte entbinden, die in Nebelform aufſteigen. Als ſolche Punkte ſind bekannt der Rigi, der neueſter Zeit durch ſeine bequemen Straßenzugänge und die Erbauung eines gemüthlichen und eleganten Berggaſthofes viel erſtiegene Pilatus, das Brienzer Rothhorn u. A.
Unter außergewöhnlichen Umſtänden beobachtete der Kantons¬ forſt-Inſpektor Herr Coaz aus Chur (Bernina-Beſteiger) eine ſolche Erſcheinung auf dem Gipfel des Piz Curvêr (zwiſchen dem Scham¬ ſer und Oberhalbſteiner Thal in Graubünden). Es hatte Ende Juni 1843 plötzlich deftig geſchneit; der Winter verſuchte einen Ausfall gegen den lachenden Sommer und ſchlug für wenig Tage ſeine weißen Zelte weit und breit über die Gebirgshöhen der Rhä¬ tiſchen Alpen auf.
133Nebelbilder.Unter ſehr erſchwerenden Umſtänden, aber bei völliger Wind¬ ſtille und glockenreiner Atmoſphäre hatten Herr Coaz, der ihn be¬ gleitende Ingenieur und der Führer den 9158 par. F. über dem Meere erhabenen Gipfel erſtiegen und die beabſichtigten Beobach¬ tungen für trigonometriſche Meſſungen bald beendet. Da zog ein vom Fuße des Piz Curvêr gegen das Oberhalbſtein abfallendes wildes Gebirgsthälchen beſonders die Aufmerkſamkeit der Berggäſte auf ſich. Da drunten rauſchte und donnerte es faſt ununterbrochen; eine Lauine weckte die andere und ſtürzte von den ſchroffen, felſigen Seitenwänden in die Tiefe des Thales, wo oft mehre vereint in einem breiten, gewaltigen Silberſtrome ſich langſam zur Ruhe wälzten. „ So Schlag auf Schlag, ſo voll Leben, ſo glänzend, “ſagt Herr Coaz, „ war mir noch auf keiner meiner Gebirgsfahrten dieſes großartige Schauſpiel zu ſehen vergönnt. Noch folgte mein Auge einer der letzten Lauinen, die allmählig in immer größeren Zwiſchenzeiten ſtürzten, als ich über derſelben einen ſchwachen Ne¬ bel ſich bilden ſah. Auch den Felſen, an denen ſich die feuchtge¬ wordene Atmoſphäre abkühlte, entquollen Nebelhaufen, zogen ſchlei¬ chend einander entgegen und zerfloſſen in kurzer Zeit in einen wal¬ lenden grauen Nebelſee, der die Tiefe des Thales verhüllte. Aus unſichtbaren Quellen genährt, wogte dieſer See immer höher her¬ auf, ſchwoll bis zu meinen Füßen heran und trat endlich als dunkler Nebelſchleier empor. Und in dieſem ineinandertreibenden Gewölk bildeten ſich, anfänglich ſchwach und zerfließend, aber immer wieder und immer kräftiger erſcheinend, die Farben des Regenbogens. Sie vereinten ſich endlich zu einem brillanten, kreisrunden Bande; ein zweites umſäumte in etwas ſchwächerem Glanze erſteres und fand ſich bald ſelbſt concentriſch von einem noch lichteren dritten umfangen. Der innerſte Ring erſchien in einem Durchmeſſer von circa 3 Fuß bei einer Entfernung von ungefähr 30 bis 40 Fuß. Entzückt von dieſer Erſcheinung ſprang ich auf, ward aber eben ſo plötzlich zur Säule; denn ſiehe! mitten im Regenbogen ſprang mit134Nebelbilder. gleicher Haſt eine dunkle Geſtalt auf und blieb jetzt eben ſo erſtarrt ſtehen. Ich ſchwang meinen Hut, machte tiefe Bücklinge, und das Geſpenſt zeigte ſich eben ſo erfreut und höflich. Die Erſcheinung hielt mehre Minuten an und verſchwand alsdann mit dem Regen¬ bogen im grauen Nebel, der von einem leichten Windhauch weiter getragen bald zerſtob. Es war vier Uhr Nachmittags. “—
Zu leichterer Erklärung möge beigefügt werden, daß das Thäl¬ chen, aus welchem der Nebel aufſtieg, gegen Oſt ſich öffnete. Als daher die Sonne nach dem weſtlichen Horizont ſank, trat daſſelbe ſtreckenweis allmählig in Schatten, wodurch die Temperatur ziem¬ lich raſch fiel und die durch die häufigen Lauinenſtürze und die hohe Temperatur während des Mittages entwickelten Waſſerdämpfe zu Nebel condenſirte, die mit den, noch von der Sonne beſchienenen, wärmeren und leichteren, höheren Luftſchichten in Berührung tretend ſich wieder auflöſten.
Von einem gleichen, in den hauptſächlichſten Thatſachen gänz¬ lich übereinſtimmenden Nebelbilde berichtet, im Fremdenbuche des Appenzeller Weißbades, Herr G. Kuhn aus Dresden, welches er am 24. September 1855 auf Ebenalp nach ſtarkem Regenwetter beobachtete. Scharfkantig ſchwebte in dem Nebelbilde der Schatten ſeines Kopfes mit dem Hute, wenig über Lebensgröße, von weißem Licht umfloſſen; darum ein dunkler Ring, dann ein Kranz der hellſten Regenbogenfarben, etwa 4 Ellen im Durchmeſſer. Auch der übrige Körper ſammt dem Alpenſtocke war, aufrecht ſtehend in der Farbenſcheibe, deutlich abgeſpiegelt, jedoch nach unten etwas langgezogen. Neben dieſer Silhouette ſtand der dunkele Schatten ſeines Führers; ging letzterer etliche Schritte ſeitwärts, ſo ſah ein Jeder ſein Schattenbild allein ohne das des Nebenmannes. Wa¬ ckelten ſie mit den Köpfen, ſo wackelte der ganze Regenbogenkreis mit. Hier dauerte das ganze Schauſpiel wohl eine Viertelſtunde.
Es dröhnet zwiſchen den Bergen an ſchwülem SommertagEin wildes Schießen und Lärmen wie ferner Donnerſchlag.Der Schall dringt weit in die Lande auf Rieſenſchwingen hinein,Schreckt auf die Vögel vom Baume, das Wild im ſicheren Hain.Sie ſagen, das ſeien die alten, die düſteren Jägersleut,Verbannt in die grauſige Wildniß ſeit alter, verſchollener Zeit.
In der Tiefe des Lauterbrunner-Thales, da wo es gen Süd¬ weſt umbiegend den Namen Ammerten-Thal annimmt, liegt hoch droben, am Fuße der Jungfrau, zwiſchen dieſer und der Ebnefluh, ein gräßlich wild vergletſchertes ſtundenlanges Thal, das Rotthal. Von unten geſehen entzieht es ſich den Blicken gänzlich, und man hält es für kaum glaublich, daß da, wo man an dem Rieſenkörper der Jungfrau kaum ein Felſenband unterſcheiden kann, ſich ein umfangreiches Thal bergen ſollte. Es iſt in der That wohl einer der furchtbarſten und grauſigſten Schreckenswinkel nicht nur der Alpen, ſondern des ganzen Europäiſchen Kontinentes. Von her¬ abdrängenden Gletſchern die Granit - und Alpenkalk-Wände, welche den Schauerkeſſel einſchließen, ſo ſchrundig zerriſſen und zu einem Trümmer-erfüllten Tobel ausgefreſſen, daß die verwitterten noch hangenden Maſſen den Wanderer, der ſich hier heraufwagt, mit Furcht und Schreck erfüllen.
136Wetterſchießen.So unerreichbar dieſe Schauer-Terraſſe (von unten geſehen) ſcheint, ſo ziemlich leicht iſt ſie vom geübten Berggänger über die ſtufenförmig ſich aufbauenden Wechſelſchichten der Geſteine zu er¬ reichen. Beim Eingang in das Thal, etwa 8700 Fuß über dem Meere (oder 4500 F. über der Sohle des Ammerten-Thales) iſt der Firn, welcher die ganze Schlucht füllt, keine tauſend Schritte breit. Kahle, ſchroff aufſteigende Granitbänke engen ihn wie Schleuſen ein, über die er aus ſeinem ſtillen Bett ſich hinausdrängt und ſeine Maſſen dann wohl zweitauſend Fuß tief über ſchwindelnde Abſtürze, bald in hängenden Bogen, bald in zerriſſenen, aufgetrie¬ benen Gletſcherbrüchen auf die Stufſteinalp hinabdrängt. Man hat die Gletſcherſturzmaſſen ſchon oft mit momentan erſtarrten Waſſer¬ fällen verglichen; hier reicht dieſe ohnehin etwas hinkende Paral¬ lele nicht aus. Das Chaos der zerborſtenen, übereinandergeſtürzten und ineinandergekeilten Eisriffe, das Wirrſal der dazwiſchen klaf¬ fenden, nach allen Richtungen hinabgähnenden Schlünde und hin¬ einhangenden Fluhbrocken iſt ſo außerordentlich, daß man Stellen ſo grauſiger Wildniß nicht viel in den Alpen findet. Will man indeß das Gleichniß beibehalten, ſo erſcheint das Rotthal als ein von himmelhohen Felſenwänden eingeſchloſſenes Meer, das im wil¬ deſten Emporſchäumen plötzlich erſtarrt, ſeine Maſſen nun über die Ufer hinausſchiebt und bald in wirr-zerſcherbten Splittern hoch aufthürmt, bald dieſelben ihr Gleichgewicht verlieren und grauſe Laſten losreißen läßt, die im Schmetterſturze zerſtäubend wie Ströme zu Thal fließen. — Da kein Kräutchen, ſelbſt nicht das dürrſte Grashälmchen hier wächſt, ſo verirren ſich auch faſt nie Gemſen hierher, und weil ſolche Thiere hier nicht zu ſuchen ſind, ſo kommts, daß auch keine Gemſenjäger ſich hierher verſteigen. Nur vom Schafbuben der oberen Stufſteinalp wird jener Schauer¬ ort von Zeit zu Zeit vielleicht einmal aus Langeweile erklommen.
Nach der im Berner Oberlande allgemein kurſirenden Sage ſollen im Mittelalter und noch nach den Zeiten der Reformation137Wetterſchießen. Poltergeiſter und böſe Dämonen, welche die Wohnungen der Menſchen vermeintlich beunruhigten, von Hexenmeiſtern, fahrenden Schülern und Teufelsbeſchwörern in verſchloſſene Gefäße gebannt und in dieſes abgelegene Thal getragen worden ſein. So kam das Rot¬ thal, das außerdem keines ehrlichen Chriſten Fuß betrat, in Ver¬ ruf und galt als der Aufenthalt böſer Geiſter. Ganz beſonders ſollen auch die alten Thalherren von Lauterbrunn hierher verwünſcht worden ſein und daſelbſt noch ihr Weſen treiben.
Dieſe Sage nun ſteht in Beziehung zu einer ſeltſamen Natur¬ erſcheinung. Es iſt nämlich im ſchweizeriſchen Mittellande der Kantone Freiburg, Bern, Solothurn und Aargau eine im Hoch¬ ſommer, um die Erntezeit, nicht ſeltene Erſcheinung, daß man bei völlig wolkenloſem Firmament, am Tage oder auch Abends und Nachts in der Luft ein dumpfes, der Kanonade ähnliches Geräuſch, ein ſeltſames Toſen und Knallen hört. Nach des Volkes Meinung ſoll es von einem geiſterartigen Spuk, von einer „ wilden Jagd “herrühren, mit welcher die verfluchten Herren vom Rotthale hoch durch die Lüfte ziehen; nach dem Volksglauben der weſtlichen So¬ lothurner Bauern ſollen es jedoch die Geiſter der in der Schlacht bei Murten erſchlagenen Burgunder ſein, welche mit Heerestroß und Alarm ihren luftigen Umzug halten. In Berneriſch-Röthen¬ bach (Amtes Signau im Emmenthal) ſagt man: „ Die Rotthaler exerciren, es giebt anderes Wetter. “— Der einſichtige, vorurtheils¬ freie Bewohner ſchreibt die ſonderbare Erſcheinung jedoch natür¬ lichen Veranlaſſungen zu, und glaubt dieſe in wirklich vorgefallenen entfernten militairiſchen Uebungen, oder in bedeutenden Gletſcher - Lauinenſtürzen, oder Gewittern ſuchen zu ſollen, deren Reſonanz durch geeignete Luftſtrömung bis zu dem Ohre des Hörers getragen werde. Nun aber haben vielfache und ausgedehnte Nachforſchungen herausgeſtellt, daß nirgendwo im weiten Umkreiſe um die ange¬ gebene Zeit militairiſches Pelotonfeuer oder Kanonaden, noch Ge¬ witterentladungen ſtattgefunden haben. Das Gepolter von Gletſcher¬138Wetterſchießen. ſtürzen aber, ſo furchtbar dieſelben auch im Gebirge widerhallen, iſt in einer Entfernung von 18 Stunden nicht zu hören. Doch angenommen, man könnte bei günſtiger Windrichtung und ſehr reiner Luft der Gletſcher Donner ſo weit hören, ſo ſtürzen doch nicht ſo enorm viele Lauinen nacheinander, daß man das davon herrührende Getöſe mit wenig Unterbrechungen ſtundenlang hören könnte. Ueberdies nimmt die Erſcheinung, jemehr man ſich den Alpen nähert, ab, und findet häufig bei Nordweſtwind ſtatt. Der Meteorolog Hugi in Solothurn, welcher dem Phänomen viel Auf¬ merkſamkeit widmete und es oft beobachtete, ſagt, daß der Schall keinesweges von den Alpen herzukommen ſcheine, ſondern vielmehr von Weſten, alſo aus dem Jura, wo es aber bekanntlich keine Gletſcher und ſommerlichen Lauinen giebt.
Thatſache iſt, daß nach dieſem, vom Volke „ Wetterſchießen “genannten atmoſphäriſchen Phänomen, in der Regel ſanfter, an¬ haltender, nie ſtarker, von elektriſchen Erſcheinungen begleiteter Re¬ gen einzutreten pflegt und der Barometer in unruhigem Fallen begriffen iſt.
Die eigentliche Urſache der Erſcheinung iſt noch nicht ergrün¬ det. Sonderbarerweiſe hat ſich mit derſelben außer Prof. Hugi wie es ſcheint kein Phyſiker weiter befaßt. Dieſer nimmt an, daß das dumpfe Wetterſchießen zunächſt „ eine Wirkung des Ueber¬ ganges atmoſphäriſcher, luftiger Formen in dichtere, dunſtige, wäſſerige Formen, oder die Wirkung von Luftzerſetzung ſei; daher, wie bei allen heftigen Zerſetzungen, Getöſe. Es wäre demnach das Wetterſchießen gerade die entgegengeſetzte Procedur wie das ſogenannte „ Wetterleuchten “, bei welchem geſättigte Dünſte der Atmoſphäre durch Entladung der Elektricität wieder in reinere, dünnere Luftformen übergehen. Auffallend iſt es, daß die Er¬ ſcheinung eben nur in dem genannten Landſtriche vernommen wird, — ſonſt nirgends im Alpen-Vorlande.
Donnernd hallt des Todes WaidrufRingsum in Gebirg und Thalen,Plötzlich zündet er die Nacht anMit den hingeſchoßnen Strahlen.Immer lauter ſchreit der DonnerDurch die grauſen Finſterniſſe;Aus gebrochnen Wolken ſtürzenRauſchend ſich die Regengüſſe.
Jedes Gewitter, wo man demſelben auch begegnen mag, — ſei es auf der gedehnten Ebene des Getreidelandes und der un¬ wirthlichen Haide oder auf offenem Meere oder im zerklüfteten Ge¬ birge, — überall iſt es ein furchtbar-erhabenes Schauſpiel, allent¬ halben der gleiche Entſetzen erweckende Aufruhr der Elemente, die gleiche erſchütternde Rieſenſprache des Donners, der die Seele er¬ zittern macht. Die Natur-Scenerie aber und der landſchaftliche Aufbau der Gegend, über welcher ein Gewitter ſich entladet, ge¬ ſtalten daſſelbe in ſeiner charakteriſtiſchen Erſcheinung, in ſeinem unmittelbaren Total-Eindrucke dennoch weſentlich anders. Dies iſt namentlich beim Gewitter im Gebirge der Fall.
Während bekanntermaßen Berg und Wald die Bildung der Wolken ſehr begünſtigen, erſcheinen letztere dennoch in den Alpen140Hoch-Gewitter. ſelten als jene, meilengroße Flächen zugleich überdeckende, elektriſch - geladene Dunſt-Meere, wie ſie allſommerlich das flache Land be¬ drohen; die hochaufragenden Gebirgszüge werden zu trennenden Keilen, welche die Gewitter in viele Special-Wolkenladungen zer¬ ſchneiden und dadurch veranlaſſen, daß ſie gemeiniglich nur von kurzer Dauer ſind und auch quantitativ nicht ſo heftig ſich ent¬ laden als im Flachlande oder auf offenem Meere. Die durch raſchen Temperaturwechſel eben ſo raſch abgekühlten Luftſchichten und die Ausgleichungsbeſtrebungen derſelben mittelſt der als natürliche Luft - Ventile der Thäler anzuſehenden Windſtrömungen, tragen die Ge¬ witter-geſättigten Wolken gewöhnlich ziemlich ſchnell durch eine Gebirgsgegend hindurch, ſo daß die Summe der nur ſehr kurze Zeit dauernden elektriſchen Entladungen im Gebirge mindeſtens dreimal ſo groß iſt als die der mit Andauer und Gemächlichkeit ſich austobenden Wetter. Dies iſt das normale Verhältniß, wel¬ ches indeſſen keineswegs ausſchließt, daß es einzelne Koryphäen von Gewittern geben kann, welche über große Theile des Alpenlandes zu gleicher Zeit ihre verderbenbergende Wolkendecke ausbreiten. Der eklatanteſte Fall aus neueſter Zeit iſt das berühmte Gewitter vom 24. Juni 1859, welches bekanntlich die Schlacht von Solfe¬ rino (Lombardei) unterbrach und um die gleiche Stunde in allen Gauen der Schweizer und Savoyer Alpen mit unerhörter Wildheit toſte. Nicht minder denkwürdig iſt jenes ältere vom 27. Auguſt 1834, welches von Südweſt aufziehend, faſt den ganzen Kanton Graubünden und viele benachbarte Länder, alſo mindeſtens eine Fläche von einigen hundert Quadratmeilen verheerend heimſuchte.
Dagegen ſind die Gebirgsgewitter als individuelle meteoriſche Erſcheinungen weit großartiger, impoſanter, man möchte faſt ſagen theatraliſch-pomphafter und in ihren Schlag - und Knall-Effekten draſtiſcher als im Tieflande. Schon die Introduktion, mit welcher ein ſolches aufzieht, iſt weit dramatiſcher, die Erwartungen ſteigern¬ der als in der Ebene. Dort (in der Ebene) bereitet ſich das Ge¬141Hoch-Gewitter. witter oft ſtundenlang mit klaſſiſchem Ernſt und entſetzlicher Ruhe vor und läßt, bei dem umfaſſenden Horizont, dem aufmerkſamen Naturfreunde hinlänglich Zeit, das allmählige Formiren und Kon¬ glomeriren der, zuletzt zu einer maſſigen ſchwarzen Wand ſich vereinigenden, verſchiedenen Wolken-Kontingente zu beobachten; es iſt dort ein ſtill-majeſtätiſches Auftreten voll furchtbarer Hoheit. Hier, im Gebirge, wo die Ausſicht vom Thale oder von einer unbe¬ deutend hohen Voralp aus meiſt ſehr beſchränkt iſt, zieht der geheim¬ nißvolle Gaſt gewöhnlich ſchon ziemlich fix und fertig aus der Tiefe dunkel herauf und rückt mit Sturmſchritten vor. Jetzt beginnt auch die Gegend ſich prachtvoll-unheimlich zu dekoriren. Die Nadelwälder verſinken in ſchwarze Nacht, kein Gipfel tritt mehr ſelbſtſtändig hervor; die Felſengruppen verlieren ihre trennenden Profil-Contu¬ ren und verſchmelzen zu geſpenſtergrauen unförmlichen Maſſen, über welche der Waſſerfall in ſeltſamer Geſchäftigkeit, wie die verwirrt ſuchenden Gedankenſprünge eines Irrſinnigen herabeilt; der See liegt ſtumm, todt, ohne Glanz, einer erſtarrten indifferenten Fläche gleich. Was dort an Beleuchtung ſchwindet, das häuft ſich grell, faſt augentödtend, an anderen Stellen; die Matten und Wieſen des Vordergrundes ſchwellen brennend-grün, als wollten ſie gewaltſam ihre innerſte Lebenskraft mit Einemmale ausſtrömen; die Wege und Straßenlinien der Thalſohle treten in nie geſehener Schärfe blaßgelb hervor, und über Allem leuchten ſchreiend-weiß die Firnen herab, erſchreckende Gegenſätze in dem tiefgeheinmißvoll¬ düſteren Bilde. Alle Farbenharmonie iſt aus der Landſchaft ver¬ ſchwunden; ſie ſieht aus wie ein von krankhaft erhitzter Phantaſie geſchaffenes, alle natürliche Auffaſſung höhnendes Gemälde. — Mit dieſer entſetzlichen Scenerie kontraſtirt in angſterfüllendem Maße die fieberhafte Aufregung, welche Menſchen und Thiere über¬ fällt. Die liegenden Heu-Schwaden der Wieſe werden eilends ge¬ mandelt; ſchreiend, tobend treibt der Senn ſein Vieh zuſammen; Jodelruf und Jauchzer ſind verſtummt, — nur drängende Geſchäf¬142Hoch-Gewitter. tigkeit iſt der ſich kundgebende Lebensausdruck. In der Höhe dro¬ ben umſchwärmen Bergdohlen kreiſchend ihre Felſenneſter, Spyr und Mauerſchwalbe ſind verſchwunden, der Geſang der Waldvögel verſtummt, nur der Fink ſchreit unaufhörlich nach Regen.
Jetzt ſtößt der Vorbote des hereinbrechenden Gewitters, der Wind, ſeine erſten Athemzüge aus, wirbelt den Staub ſchrägkreiſelnd auf und ſchüttelt die Wälder mit ſtarker Fauſt. Der See erwacht; ein fröſtelnder Schauer läuft über ſein Antlitz. Die Hochſpitzen und vergletſcherten Rieſenhäupter des Gebirges umhüllen dichte Ne¬ belkappen, — immer tiefer ſinken die Wolkenballen und ziehen, wie die wilde Jagd, mit zunehmender Haſt durchs Thal. Mehr und mehr umnachtets die Gegend, — die grelle Färbung mattet ab, — Alles wird ſchwarz. Da durchzuckt der erſte blaue Blitz die Nacht. — Immer ungeſtümer wird die atmoſphäriſche Thätigkeit:
Brauſend fliegt des Todes Jagdhund„ Sturm “, bergan in wilder Eile,Seinen Herrn zu ſuchen, irrt erDurch die Felſen mit Geheule.
Die Wälder ächzen unterm drängenden Sturmdruck, abgeriſſe¬ nes Laub durchflattert die Lüfte, und allgemeines, ſchweres Rauſchen ertönt ringsum. Jetzt rollt auch der Donner tiefbrummend drein. Aber dieſes Vorſpiel währt nicht lange. Energiſch, wie die Alpen¬ welt in allen ihren Erſcheinungen und Lebensbethätigungen iſt, ſtürmt auch hier die Entwickelung in überſtürzenden Progreſſionen vor. Nach wenig Minuten iſt das Unwetter in ſeiner ganzen furchtbar-wilden Größe losgebrochen.
Zickzackblitze, weit mehr, als man im Flachlande ſieht, anſchei¬ nend raſcher, weniger als eine Tauſendſtel Sekunde beanſpruchend, fahren um der Berge Lenden, oft zuſammengefaßt, aus einem Kno¬ ten vielfach nach allen Enden herausziſchend, wie die aus Jovis143Hoch-Gewitter. Hand geſchleuderten Blitzbündel. Jedes Donners Rollen, das ſein Reſonanz-Maaß ſchon genügend in den Wolkenkammern findet, brüllt außerdem, im hundertſtimmigen Echo aus allen Felſenklüften und Thaltiefen zurückgeworfen, wieder hervor und bildet gleichſam in ſeiner nicht enden wollenden Permanenz eine Grund-Fermate, auf welcher ſich die neuen, accentuirten Solo-Schläge wie die vor¬ wärtsſchreitende Melodie der impoſanten Gewitter-Symphonie ab¬ löſen. Es iſt ein Akt der Natur-Souveränetät, deſſen Eindruck völlig zerſchmetternd auf den Zeugen derſelben wirkt. Schlägts dann vollends gar in eine Wettertanne oder eine einzeln ſtehende Alphütte ein, dann kracht die Salve, als ob ringsum das Felſen¬ gebäude ſchier in Milliarden Fetzen zerſpritzen ſollte.
Das iſt in ſchwachen Umriſſen das Bild eines hochgehen¬ den Wetters. Sie ſteigen in den Alpen bis über 14000 Fuß; denn de Sauſſure ſah ſie an der Dôme de Gouté unterm Mont¬ blanc-Gipfel, und die Bewohner von Zermatt beobachteten ſolche, die noch über der Spitze des Matterhornes ſich entluden. — Im Weſten von Mexiko ſah Alex. v. Humboldt Gewitterſpuren an der höchſten Spitze des Toluca-Hauptgipfels bei 14720 Fuß Höhe; in den peruaniſchen Cordilleren überfiel die Reiſenden Bouguer und la Condamine auf dem Pichincha ein Gewitter in der Höhe von 15500 Fuß, und viele glaubwürdige Berichte erzählen von ſolchen, die in den Pyrenäen bei 10000 Fuß und darüber tobten.
Die meiſten Gewitter ſtreichen aber im Gebirge tiefer; zwei - bis dreitauſend Fuß über der Thalſohle mag die aëriſche Region derſelben ſein. Daß ſie indeſſen noch viel tiefer ſinken können, beſtätigen tauſendfache Ausſagen der Alpenbewohner. Ja, es iſt ſogar ein Fall konſtatirt, daß bei dem Gewitter, welches am 26. Aug. 1827 zwei Geiſtliche während der Vesper im Kloſter Admont in Oeſterreich erſchlug, das Kreuz des 114 Fuß hohen Kloſter¬ thurmes noch über die Wolken herausragte und das Gewitter ſelbſt etwa nur 90 Fuß vom Erdboden entfernt war. Dieſer Tiefgang144Hoch-Gewitter. eines Gewitters giebt dann in anderer Weiſe Gelegenheit zu einem majeſtätiſchen Schauſpiel, bei deſſen Anblick man ſich über die Scheidegränze irdiſcher Hinfälligkeit und menſchlicher Ohnmacht hinausträumt; es iſt die Entladung eines Gewitters im Thale, wenn man, erhaben über demſelben, ſich in der Alpenregion be¬ findet. Wie auf des Olympos heiligen Höhen ſteht der Wanderer gleich einem Jupiter tonans; unter ihm lagert, ein ſchwarzgraues Ungeheuer, das Verderben drohende Wolkenmeer; einer Rieſen¬ ſchlange gleich, umkriecht die elektriſch geladene Maſſe das Gebirge. Keine Hütte, kein Haus erblickt man in den Tiefen; denn verſun¬ ken in ſchauerliche Nacht iſt Alles, was an die Wohnſtätten der Lebenden erinnert. Weiter hinaus kann man dann wieder große Gebirgszüge frei in ihrem ganzen Relief überſehen; das Gewitter bildet gleichſam eine Brücke hinüber zu den anderen Bergen. Da zuckts zu unſeren Füßen; matt roſafarben fahren die entfeſſelten Feuernattern der Blitze in eigenwillig gegen ſich ſelbſt revoltiren¬ den Bahnen durch den Schreckensſchleier, der über der Landſchaft ſchwebt. Jetzt kracht es von unten herauf, gewaltig aber dumpf, und mit hundertfältigem Echo hallen es die Thäler grollend nach, bis die Schreckenstöne matt erſterben. Immer wiederholt ſich das ſchrecklich ſchöne Schauſpiel, immer und immer leckt es aufs Neue mit feurigen Zungen aus den Tiefen herauf, und abermals ertönt des Donners tauſendſtimmiger Zorn. Der Wanderer aber ſteht in lichter Höhe, erhaben wie ein Gott, über der Zerſtörungswuth der Elemente. Ihn umgiebt Frieden und liebliche Ruhe, über ſeinem Haupte wölbt ſich in durchſichtiger Klarheit des Himmels unerreich¬ barer Bau, und ein Triumph des Lichtes über die Finſterniß ſtrahlt in ewiger Reinheit, Wärme und Leben ſpendend, die Sonne herab. Noch viel erhabener iſt dieſes Schauſpiel des Nachts. Die Fremden, welche vom 27. zum 28. Juni 1860 auf dem Pilatus übernachte¬ ten, finden keine Worte, um die unausſprechliche Pracht des furcht¬ baren Gewitters zu ſchildern, welches ſich Morgens zwiſchen 2 bis145Hoch-Gewitter. 3 Uhr zu ihren Füßen mit einem wahren Feuergarbenmeer entlud, während ob ihren Häupten das Sternenzelt rein und hehr am nächt¬ lichen Himmel in ſtiller Größe prangte. — Daß die Blitze nicht ſelten von Unten nach Oben aufzacken und einſchlagen, beſtätigen alle Bergbewohner. Dieſen Elektro-Meteoren ſchreibt man auch die eigenthümliche Verglaſung mancher Felſen zu, welche man am Dôme de Gouté, an der Spitze des Kaerpfſtockes (Glarus), am Ortler (Tyrol), Venediger Spitz (Salzburg), Ankogl (Kärnthen) u. ſ. w. trifft. Man hat ſolche Blitz-Glaſuren auch an der Pic du Midi und am Mont Perdu (Pyrenäen) gefunden. Daß aber emporſchlagende Blitze auch Menſchen tödten können, beweiſt ein Fall aus Steyermark. Auf dem Gipfel eines ſehr hohen Berges ſteht die Kirche St. Urſula. Am 1. Mai 1700 lag dieſes Gottes¬ haus im vollſten Sonnenglanze, während an halber Berghöhe ein dickes Gewitter tobte. Von den in der Kirche verſammelten Betern wurden ſieben an der Seite des Berichterſtatters, Dr. Werloſchnigg, erſchlagen.
Gerade da, wo die Gefahr vermeintlich am Größten ſein ſollte, in der Gewitterwolke ſelbſt, ſcheint ſie am Mindeſten, oder doch nicht mehr als anderswo zu ſein. Phyſiker, Ingenieure und Rei¬ ſende, welche von Gewitterwolken unverſehens eingehüllt wurden, bevor ſie Zeit hatten, dem ſcheinbar-entſetzlichen, blitzbewaffneten Myſterium zu entfliehen, ſind ſtets ohne Beſchädigung daraus her¬ vorgegangen. So die franzöſiſchen Kapitäne Peytier und Hoſſard, welche dreizehnmal in den Jahren 1816 und 1825 bis 1827 auf den Gebirgen Troumouſe, Pic d'Anie, Pic Leſtibète und Pic de Baletouſe, in Höhen von 5 — 10000 Fuß ſtundenlang in furchtbaren Gewittern, unmittelbar am Heerde derſelben verweilten, wurden nie im Mindeſten verletzt, während man drunten im Thale ſie für verloren hielt. Sie berichten nur, daß ihre Haare und die Quaſten ihrer Kopfbedeckung ſich emporrichteten. Abbé Richard, welcher zum Zweck des Studiums ſich abſichtlich in die MitteBerlepſch, die Alpen. 10146Hoch-Gewitter. wetternder, Blitze entſendender Wolken begab, hörte die furchtbaren Schläge des Donners nicht mehr, ſondern nur ein Geräuſch, als ob man beſtändig mit Nüſſen raſſele. Dem entgegen berichtet der Geolog Prof. Theobald in Chur, welcher ſich während des ſchon erwähnten Solferino-Gewitters (24. Juni 1859) zwiſchen der Tſchiertſcher - und Urden-Alp in den elektriſchen Wolken befand, daß die Schläge kurz, wie Kanonenſchüſſe, aber von hellerem, mehr krachendem Tone geweſen ſeien und man das Rollen des Donners erſt weiterhin gehört habe. Die Folgen der Gewitter in den Alpen wollen wir in der Beſchreibung der „ Rüfenen “zuſammen¬ faſſen.
Wie, wenn gelind anfächelt der Weſt, vom Gipfel des Maſtbaums,Vielgeſchlängelt, im wechſelnden Schwung der Wimpel herabſchweift,Bald in die Länge geſtreckt, bald eingeſchlürft im GeringelFallend und wieder gehoben, ein Spiel des ſcherzenden Zephyrs;Immer, wenn kaum er die Welle berührt mit der züngelnden Spitze,Zuckt er zurück, flammt ſchillernd empor und flattert am Himmel: —Alſo ſchwebt in der wehenden Luft der ätheriſche GießbachMannigfaltig bewegt, vom Rand der ragenden FelswandHochab wallend, gefangen im Fall, nun hierhin, nun dorthinFlatternd, ohne den Grund mit dem fluthigen Schweif zu berühren.Oben erſcheint er als Strom, ein der Luft entſtürzender Meerſchwall,Hoch in der Mitt 'ein Gewölk, und unten ein weißlicher Nebel.Denn in der Tiefe hinab des hundertklaftrigen JähfallsLöſt ſich die Woge verdünnt zur Wolk' und verdunſtet als Rauchdampf.Nur hoch oben donnert er ſtets und droht, in dem HerſturzAlles mit reißender Fluth zu verſchwemmen; allein es verwandeltSanft ſich in Milde die Wuth, und er netzt, ſtaubregnend, das Hüglein,Daß auch die zarteſten Kräuter des Frühlings unter ihm aufblühn.
Der Staubbach-Fall im Lauterbrunnen-Thale des Berner Oberlandes, ſchon hundertmal beſchrieben und gezeichnet, in Ge¬ dichten beſungen und geprieſen, in jedem gedrängten Handbuche der Geographie genannt, ſo daß jedes Schulkind ſeinen Namen kennt, iſt der vornehmſte Repräſentant jener weitverbreiteten Gat¬ tung von Waſſerfällen, die in Folge ihrer außerordentlichen Sturz¬10*148Der Waſſerfall. höhe ſich faſt ganz zu verflüchtigen ſcheinen, bis ſie die Sohle ihres neuen Strombettes erreichen. Durch dieſen Umſtand wird er aber zugleich zum Proteus wie wenig andere und bietet in den verſchiedenen Tages - und Jahreszeiten ſo wunderbare Metamor¬ phoſen dar, daß er fortwährend ein anderer zu ſein ſcheint und darum die verſchiedenartigſten und entgegengeſetzteſten Kritiken über ſich ergehen laſſen mußte.
Auch er unterliegt, wie jeder andere Waſſerfall, den bedingen¬ den Einwirkungen derjenigen Naturereigniſſe, welche ſeine Waſſer¬ menge bereichern, vergrößern und ſomit ſeinem Sturz mehr Körper verleihen, oder im Gegentheil dieſelbe vermindern, ſchwächen und das Schauſpiel des Falles bei der außerordentlichen Höhe von mehr als achthundert Fuß faſt in Nichts auflöſen. Nach lange andauerndem Regenwetter, nach heftigen Gewittern und im Früh¬ ſommer, wenn der Schnee von den Alpen geht, iſt der Staubbach und alle ſeine in den Alpen vielfach zerſtreuten Form-Genoſſen eine impoſante, mitunter ſogar ſchrecklich-ſchöne Erſcheinung, die auf je¬ den Beſucher tiefen Eindruck machen wird. Iſts jedoch im Hoch¬ ſommer nach wochenlanger Trockenheit, ſo begegnet es ſchon, daß man ſtatt des berühmten Staubbach-Falles nur die hohe naſſe Ge¬ birgswand zu ſehen bekommt, über welche ſonſt die ſchöne Waſſer¬ garbe herabzuſchießen pflegt, — vom eigentlichen Waſſerfall aber keine Spur entdeckt. — Nächſt dieſen Umſtänden, welche alſo über¬ haupt die Exiſtenz des Waſſerfalles bedingen, ſind es noch andere, welchen Rechnung getragen werden muß. Selbſt beim Vorhanden¬ ſein genügender Waſſerfülle iſt es nicht gleichgültig, um welche Tageszeit man den Staubbach beſucht. Liegt er im Schatten, iſts Nachmittags, dann wird er bei Weitem nicht ſo voll und reich erſcheinen, als am Vormittage, wenn die Sonnenſtrahlen jeden Waſſertropfen durchglänzen und die Milliarden der zu Waſſerſtaub aufgelöſten, blinkenden Körperchen in einer Brillanz und funkelnden Pracht erſcheinen laſſen, die außerordentlich in ihrer Art ſind. 149Der Waſſerfall. Wieder einen anderen und doch verwandten Zauber übt das bleiche, weiche Vollmondlicht auf den, gleich einem Schleier, von der Fluhwand herniederſchwebenden Fall aus.
Endlich kommt auch noch viel darauf an, mit welchen Erwar¬ tungen, mit welcher Receptivität der Reiſende zum Staubbach kommt. Wer kurz zuvor die donnernden Katarakte des Rheinfalles bei Schaffhauſen, des Aarfalles an der Handeck, des Buffalora im Val Miſocco und anderer, in großen geſchloſſenen Maſſen und im engbegränzten, landſchaftlichen Raume daherbrauſenden Gebirgs¬ ſtröme ſah und von ihrer Wirkung noch erſchüttert, nun ins Lauter¬ brunnen-Thal tritt und dort Aehnliches erwartet, der wird freilich ſehr enttäuſcht werden. Der Staubbach iſt mit wenig Ausnahme - Momenten eine Erſcheinung zarter, elegiſcher Natur, die weit mehr empfunden als angeſtaunt und bewundert ſein will.
In einer Höhe von faſt 900 Fuß ſpringen zwei Strom-Arme über die ſenkrecht abfallende Felſenwand hinaus, und vereinigen ſich raſch zu einer beweglichen Waſſerſäule, von der nur ein kleiner Theil an einer Klippe zerſchellt, alles Uebrige aber in freier Luft ſich in Millionen Perlen auflöſt und zuletzt in ſchimmernden Regen¬ ſtaub verdünnt, der theils auf beträchtliche Weite die Matten um¬ her mit immerwährendem Thau benetzt, theils ſich in einem tiefen Waſſerbecken wieder ſammelt, in welchem leuchtende Regenbogen durcheinander weben. Der Staubbach iſt nicht groß durch einen unaufhaltſam wilden Strom, der an maleriſch zerklüfteten Felſen¬ maſſen ſchäumend und mannigfaltig ſich bricht oder durch den Donner ſeines Falles die Lüfte erſchüttert und die Ausrufe des Erſtaunens verſchlingt; — aber er iſt erhaben durch ſeinen himmel¬ hohen Fall, durch die Waſſermaſſen, welche ſich weiß und weich wie Milch in unaufhörlicher Folge aus der Höhe hinabdrängen, — durch ſein allmähliges Hinſchwinden in Nebel und durch das Feuer ſeiner Regenbogen, — beſonders aber auch durch ſein, mit der Sanftheit des Ganzen ſo wundervoll harmonirendes, leiſes und150Der Waſſerfall. zartes Geräuſch, das nicht von einer einzelnen Stelle herkommt, ſondern den Zuſchauer allenthalben wie Geiſterſtimmen zu umgeben ſcheint. Hieraus ergiebt ſich, was Künſtler gegen dieſe Naturſchön¬ heit einwenden; der gerade Fall bietet ihnen zu wenig Anhalte¬ punkte für maleriſche Unterbrechungen, — die Weichheit in der ſucceſſiven Bewegung der Maſſen verwandelt ſich auf der Leinwand in ſteifen Stillſtand, und weder das Glanzlicht des Waſſers noch die Zauberſchimmer der Regenbogen laſſen ſich im Gemälde ſo wiedergeben, daß ſie äſthetiſch ſchön und durchſichtig erſcheinen.
Die erſte Bedingung zum Vollgenuß ſeiner Schönheit iſt Sonnenglanz; dieſer währt an den längſten Sommertagen von un¬ gefähr 7 Uhr Morgens bis Mittags, weil er von demjenigen Berge ſelbſt dem Bach entzogen wird, über deſſen unterſte Stufen er ſich hinabwirft. Nicht nur die Regenbogen im Keſſel, wo die zerſtobenen Waſſer ſich ſammeln, — auch die fliegenden Waſſer¬ flocken in der Luft bedürfen des Sonnenſcheines. Jedes Stäub¬ chen wird bemerkbar durch ſeine Vermittelung, und der Inhalt der Nebelſäule ſcheint doppelt ſo groß, wenn die Gunſt der Tages¬ königin ihr unverkümmert ſtrahlt. Zugleich ergötzt in hohem Grade der Schatten des Baches an der Felswand; er ſcheint ein zweites, ſtygiſch-geſchwärztes, mit wetteifernder Schnelle herabſchwebendes Gewäſſer zu ſein.
Man ſchreitet gewöhnlich zuerſt nach der Stelle, wo der Bach zu Boden regnet, als wollte man ihn erſt fühlen, bevor man ihn ruhig betrachtet. Es iſt ein Keſſel, wo die Schauluſtigen zu ſtehen pflegen. Man erklettert den Hügel von Felstrümmern, den ſich der Bach links von ſeinem Niederſtürze gebildet hat, und ſchaut hinab in ein weites Becken, das unabläſſig von tauſendfachem Schaumgekräuſel wimmelt. Auch jenſeits liegen Schutthaufen, die von Oben heruntergeworfen wurden, — und zwiſchen dieſen beiden Bollwerken rieſelt in freiem Durchgang der geſammelte Bach da¬ von. Unverkennbar rührt die Tiefe ſeines Beckens und dieſe Oeff¬151Der Waſſerfall. nung nach der Lütſchine von der Gewalt der Waſſermaſſe her, die nach Gewittern und bei großer Schneeſchmelze hier im Mittelpunkte des Falles Raum geſchafft, ohne doch die Hügel rechts und links zu vermindern; denn dieſe haben ſich aus allerlei Steinen empor¬ geſchichtet, um mit trotziger Kraft den Anfang des Bachbettes ein¬ zudämmen.
Auf der rechten Seite kann man leicht in den Keſſelcirkus hinabgelangen. Alsbald wird man von einem doppelten Regen¬ bogen umringt, der, einem Nimbus gleich, ſo genau mit uns ver¬ ſchmilzt, daß er Schritt um Schritt, ſo lange wir im Sonnenglanz und im Thaunebel bleiben, bald vorrückt, bald zurückweicht, wo wir gehen und ſtehen. Die Waſſertropfen hängen ſich an die Kleider und glühen einzeln wieder in unvergleichlicher Pracht. Aber die Näſſe geſtattet nicht, ſich dieſes Feengewandes lange zu freuen; ein fröſtelndes Gefühl treibt um ſo eher aus der Tiefe wieder ans Ufer, da die Gefahr am Tage liegt, von irgend einem zufällig herabgeflözten Steine plötzlich und ſelbſt tödtlich verletzt zu werden.
In einiger Entfernung lagert es ſich dann auf Wieſenhalden wonnig und ſicher; ſorglos genießt der Wanderer, was ihm bisher entgangen war. Mit unermüdetem Staunen erhebt ſich das Auge nach der hohen, im Blau des Himmels ſcharf gezeichneten, dunkel¬ grauen Kante, wo die Najade zweitheilig ihr fliegendes Gewand in die Lüfte hängt. — Eine Hälfte des Baches, nur unmerkbar von der anderen getrennt, fällt beinahe ſenkrecht herab und würde effektlos an der Felswand niedergleiten, wenn dieſe nicht von Oben bis unter die Mitte der Höhe ſich unmerklich zurückzöge und nun der Waſſerſäule freieres Fortſchweben geſtattete. Die untere Hälfte der Bergwand tritt aber wieder entſchieden hervor, und nun zerſplittert die Maſſe in jenen Giſcht und Staub, der ſo duftig und ätheriſch niederſchwebt und an den Bachſturz in den ſalzburgiſchen Alpen erinnert, welchen das Landvolk bezeichnend mit dem Namen des152Der Waſſerfall. Schleierfalles taufte. Die innere Partie des Staubbaches fällt abwärts der Mitte ihres Weges, als wollte ſie verſuchen ſich an¬ zuhalten, auf eine ſchräg vorſtehende Bank der Fluh, und rieſelt von da in tauſend blendenden Schaumſtrahlen vollends an dem dunkeln Geſtein nach dem Keſſel hinab, während die äußere durch Schnelligkeit und Schwere die Luft unter ſich preſſend in Millionen Schaumbläschen immer mehr zerſchellt und weit herum einen immer¬ währenden Thau zur Erde ſpritzt.
Es iſt unterhaltend, das Waſſer von ſeinem Ausſtrömen an der hohen Felsrinne bis zu ſeinem Zerſtieben mit dem Blicke zu verfolgen. Erſt bricht es ſo wüthend hervor, daß man vor dem furchtbaren Sturze erſchrickt, — aber kaum hundert Fuß gefallen, breitet ſichs reichlich aus; die zuſammengedrängte Säule zerfließt in einzelne ſchneeweiße Wölkchen, die man Waſſer-Raketen nennen möchte, weil ſie, forteilend gleich jenen flammenden Feuerköpfen, einen Schweif zurücklaſſen, der eine halbe Sekunde lang ihre Bahn bezeichnet, bis ſie, völlig in Waſſerfunken auseinanderſprühend, ſich zur Unſichtbarkeit verlieren.
Lieblich iſt im Staubbach das mannigfaltige Spiel des Win¬ des. Das Waſſer erregt durch ſich ſelbſt und ſeinen Fall beſtän¬ digen Luftzug; doch dieſe Bewegung trägt allein die feinen Thau¬ tropfen ins Weite und kann nicht den Bach im Ganzen ergreifen. Sobald aber ein Windſtoß den Gießen überfällt, ſo zeigen ſich überraſchende, ſeltſame Erſcheinungen. Oft geſchiehts, wenn der Föhnwind mit heftiger Gewalt gegen die Mündung des Baches ſtößt, daß dadurch das Waſſer ganz zurückgetrieben wird und zu¬ weilen zwei Minuten lang faſt kein Tropfen über den Berg her¬ abfällt. Zu anderen Zeiten führt der Luftzug ganze Schaaren durchſichtiger Wölkchen aus dem ſchwebenden Dunſtnebel davon und bietet höchſt ergötzliche Schauſpiele dar. Am Luſtigſten aber iſts, wenn ein kräftiger Sturm den geſammten Bach droben in der Höhe erfaßt und entweder thaleinwärts oder thalauswärts ſo gänz¬153Der Waſſerfall. lich aus ſeinem luftigen Gleis nach einer Seite verweht, daß un¬ ten der Runs ohne Waſſerſchwall bleibt, — der kleine Vorrath im Keſſel verſiegend nach der Lütſchine (in welche der Bach ſich er¬ gießt) entſchwindet, und die erſchrockenen zahlreichen Fiſchchen in ihren Spielen übereilt, nur kümmerlich in einzelnen Bachgrübchen das Naß ihrer Exiſtenzbedingung übrig finden. Dann eilen in ſolchen Augenblicken jubelnde Kinderſchaaren nach dem Strombette und fangen in froher Emſigkeit die wehrloſen Forellen aus den Vertiefungen, wo ſie plätſchern, in herbeigetragene Kübel und Näpfe. Aber mitten in der luſtigen Freibeuterei läßt der Wind¬ ſtoß droben nach, der Bach gewinnt unverweilt ſein altes Bett, und die geängſteten Fiſche ſchlüpfen pfeilſchnell unter den Händen der Kinder davon, während die muthwilligen Fiſcher, naß bis über die Knöchel, in Haſt an die beiderſeitigen Ufer entſpringen, eine abermalige Repetition der Ebbe abwartend.
Dies ſind die Metamorphoſen des Staubbaches im Sommer und bei guter Witterung. Ganz andere, nicht minder ſehenswür¬ dige bietet der Winter, der Frühling und die Zeit zerſtörender Anſchwellung nach einem Platzregen dar.
Im Winter, wenn Schnee ins Thal fällt, hängen ſich die Flocken an dem unteren Felſenſatz der Staubbachwand an, gefrieren bei zunehmender Kälte und durch das darüberfließende Waſſer ge¬ ſättiget zu Eis, das nun launenhaft modellirt, allerlei größere oder kleinere Zapfen bildet. Prächtiger Glanz, der im Sonnen¬ ſchein völlig blendet, erfüllt das ſtaunende Auge, und der Berg ſcheint transparent hellbläulich glaſirt zu ſein. Tritt dann gelin¬ deres Wetter ein, oder löſt warmer Föhnwind die winterlichen Eisbande, dann ſtürzen große Stücken dieſer unförmlichen Zapfen unter krachendem Getöſe in die Tiefe. Unten aber im Keſſel häuft ſich die Eistrümmer-Maſſe, thürmt ſich zu einem Splitterhügel em¬ por und geſtaltet durch die darüber ſpritzenden, während der kalten Nächte ſchnell anfrierenden Waſſertropfen einen Miniatur-Gletſcher154Der Waſſerfall. mit allen ſeinen Konfigurationen. Ja, die Waſſertropfen vereiſen oft ſchon im Sturze, wenn es recht bitter kalt iſt, fallen raſch zu Boden und experimentiren augenſcheinlich die Bildung des Hagels vor unſeren Augen. Zunächſt an der Fluh, droben beim Ausfall des getheilten Baches, erwachſen allmählig zwei ungeheuere Eis¬ ſäulen wie nach den Geſetzen der im Feenreiche geltenden Baukunſt, die in die freien Lüfte hinaus ihre Säulen und Schlöſſer kon¬ ſtruirt. Reißen dann beide, durch die Schwere des eigenen Ge¬ wichtes gedrängt, oder durch laue Südwinde in ihrer ſtützenden Baſis untergraben, urplötzlich ab, ſo krachen ſie mit ſolcher Vehe¬ menz auf den Gletſcher im Keſſel, daß Alles rundum erzittert und ein Erdbeben hereinzubrechen ſcheint. Von größter Wirkung iſts, wenn beide Säulen zugleich einſtürzen, und ergötzlich iſt die immer¬ währende Regenerirung dieſer Atlas-Pilaſter, ſobald neue Fröſte eintreten. Wie aber im Frühling, beſonders im Mai, die warmen Lüfte mächtiger werden, ſchmilzt auch der Eishügel im Keſſel mit ſichtbarer Eile zuſammen und löſt ſich — wie bei den Gletſchern — zuerſt an der Felſenwand ab, ſo daß ſich zwiſchen den Eismaſſen und dem Geſtein eine furchtbare Kluft öffnet, deren Tiefe ſchon oft gegen 70 Fuß maß. Noch bis in die Hälfte des Monats Juni hinein erhalten ſich Reſte dieſer winterlichen Erſtarrung. Oft entſteht ein wunderſchönes azurfarbenes Portal, durch welches das geſchmolzene Waſſer abfließt, ganz wie bei den Gletſchern, oder das herabſtürzende Waſſer bohrt ſich zugleich vermöge ſeines größe¬ ren Wärmegehaltes einen vertikalen Schlot, der in den Eisſchacht ausmündet. Auch hier erzeugt die hineinſcheinende Sonne wieder Farbengaukeleien, die unvergleichlich in ihrer Art ſind.
Dieſem heiteren und ungefährlichen Anblicke ſteht die Wuth des Baches am Tage hereinbrechender und über die Höhen des Pletſchberges ſich ausgießender Gewitter furchtbar gegenüber.
Brüllend, mächtig angeſchwollen und vom Schlamm der auf¬ gelöſten Erde ſchwarz gefärbt, ſchießt dann der Strom in zwei155Der Waſſerfall. dichten Armen, wie aus ungeheueren Brunnenröhren, von der Zinne der hohen, jetzt das grollende Gewölk unmittelbar berührenden Felſenwand in die Lüfte heraus. Eine Laſt von Steinen, — viele davon über einen Centner ſchwer, führt der entfeſſelt einher¬ brauſende Strom mit ſich und ſchleudert ſie wie gigantiſchen ſchwar¬ zen Hagel hinab ins Thal. Von den Vorſprüngen der Felſenwand abprallend, wiederholen ſie ihre Bogenſprünge, bis ſie zuletzt in ſchmetterndem Sturze den Schuttkeſſel erreichen. Die wechſelſeitige Friktion, der elektriſche Anprall der Steine erhitzt dieſe ſo, daß ſchwefeliger Brandgeruch ringsum ſich verbreitet. Dann kommen auch Baumſtämme, entwurzelte Tannenbäume in dem heulenden Waſſerſchwalle herab, und je nach Größe oder Gewicht fliegen einige, von Windſtößen entführt, gleich verirrten Schindeln eines abgedeckten Hauſes um ſich ſelber wirbelnd, langſam durch die Lüfte hernieder, während andere wie Rieſenpfeile von der Höhe daherſchmettern und unten tief in das Erdreich ſich einbohren. Die ſonſt ſilberhelle, ſanft ſchwebende Waſſergarbe gleicht einer uner¬ meßlichen, verkehrten dunkelbraunen Rauchſäule, deren Wallen und Wogen deſto ausgedehnter wird, je näher ſie dem Boden ſinkt. Oft von einer Windsbraut fortgerafft, fällt ſie thalauf oder thalab von der lothrechten Bahn ihres Schwerpunktes weit verſchlagen in die Tiefe, oder ſie ſtäubt über die ganze Breite des Thales nach der gegenüberſtehenden Mauer der hohen Schiltwaldfluh hinaus. Ja, es begegnet dann ſogar, daß der dicke Schlammſchwall gleich wirbelndem Rauch in die Höhe gejagt, rückwärts überſchlagend, an den Ort ſeines Urſprunges zurückgetrieben, von Neuem den ſau¬ ſenden Sturz beginnt, und in ſekundenlanger ſchauerlicher Blöße die Felſenwand und den fortwährenden Steinhagel als ſelbſtſtän¬ diges Schreckensbild ſehen läßt. Schwarze, laſtſchwer hereinhän¬ gende Wolkendecken, die den ſchmalen Streifen des, über die hohen Felſenwände des engen Thales hereinſchauenden Himmels ver¬ bergen, — das gelbe Feuer der im Grunde der Landſchaft oder156Der Wasserfall. an den Höhen der Felſenwände hinziſchenden Blitze und das fürch¬ terlich praſſelnde, Alles erſchütternde Rollen des Donners dienen dann dem wüthenden Gewäſſer als ſchreckliche, aber auch furchtbar erhabene Begleitung. Eine Scene aus dem Final-Drama des Weltgerichtes ſcheint verwirklichet zu werden, wenn ein ähnliches Wetter wie das eben beſchriebene über das Thal hereinbricht, und es bedarf jener Beſonnenheit und ſtoiſchen Ruhe, die der Gebirgs¬ bewohner aus ſeinem täglichen Kampfe mit den Elementen gewinnt, um hier nicht die Geiſtesgegenwart zu verlieren und auf jeden An¬ griff gefaßt zu ſein, der dem Thale durch Ueberſchwemmung droht.
Schließen wir dieſe ausführliche Schilderung eines alpinen Waſſerfalles, der unerſchöpflichen Stoff darbietet, mit dem beruhi¬ genden, mild anſprechenden Bilde ſeiner Erſcheinung im blaſſen Lichte des Mondenſcheines.
Verliert ſich die Sonne hinter die Berge, ſo werden durch die verſchieden gezackten Erhöhungen der Felſenwand lange Striche von dunkelen Schatten hervorgebracht, welche die Waſſerſäule in einzelne Parzellen zu zerſchneiden ſcheinen und den in der Be¬ ſchattung liegenden Theil des Falles faſt gänzlich unſichtbar machen. Wenn endlich das helle Sonnenlicht in der Luft durchaus ver¬ ſchwunden iſt, ſo breitet ſich allmählig todte Bläſſe über die ganze Fluh aus, der Reichthum des Waſſers ſcheint völlig zu verſiegen und nur noch ein kleines unbedeutendes Bächlein über die Felſen hinabzuſchleichen. Mit Einbruch der Nacht verliert ſich das Ein¬ zelne des majeſtätiſchen Sturzes und ſeiner Bewegungen je mehr und mehr. Nur eine weiße Rieſengeſtalt, ein geiſterbleiches Nebel¬ bild, das in langfaltigem, ſtarr herabhängendem Mantel unver¬ wandt an der Felſenmauer lehnt, überragt hoch die ſchweigend im Dunkel gelagerten braunen Friedenshütten der Menſchen. Aber nicht lange währt dieſe unheimliche Uebergangsperiode; bald kehrt wieder Leben in die Geſtalt. Ueber den ewigen Firnzinken der Jungfrau ſteigt der „ blaſſe Freund der Noth und der Nacht, der157Der Waſſerfall. magiſche Proſpektenmaler der künftigen Welt, für die wir brennen und weinen “— der ſtille Vollmond herauf und gießt ſein myſte¬ riöſes Licht über die Alpen aus. Nun ſchimmert nicht nur die Schaumſäule ſelbſt im reinen Silberglanze, ſondern auch die Waſſer¬ ſtrahlen am unterſten Abſatze der Staubbachfluh wandeln ſich zu einem weißfunkelnden Brillantregen um, der in halb erblaßtem Farbenſpiel den gaukelnden Zauber des Tages durch Regenbogen¬ ähnliche Verſchlingungen nachzuahmen ſich bemüht; geiſterhaft um¬ weben die Diamant-Funken den Träumer, welcher in ſo einſamer Nachtſtunde ſich hierher begiebt.
Hin durch die Fluren flüſterts heimlich ſacht,Daß liebeglühend alle Blumen beben.Aufſtöhnt der Wind! Im dunklen Schoß der NachtEntfaltet ſich ein tauſendfältig Leben!
Ganz ein anderes Bild geſtaltet der volle, waſſermächtige Bergſtrom, wenn er in ſeinem Bett durch Felſentreppen oder hohe, faſt vertikale Schichten-Abſtürze unterbrochen, plötzlich zum ver¬ zweifelten Sprung in die Tiefe genöthigt wird. Dies iſt der eigent¬ liche Waſſerfall im engeren und präciſeren Sinne. Was dort bei den ſanft herabſinkenden, halb vom Winde getragenen, leicht ver¬ wehten Staubfällen zur Idylle ſich verkörpert und als ein zartes Adagio ſeine ewigen, geiſterhaft-flüſternden Weiſen rauſcht, das wird beim großen körperreichen Stromſturze zur energiſchen Kraft¬ äußerung, zur gewaltigen tragiſchen Kataſtrophe, zum donnernden Furioſo. Jene ſind zarte weibliche Erſcheinungen, die aus ohn¬ mächtigem Hingeben an das Unvermeidliche entſtehen, — dieſe ſind thatkräftige Akte entſchloſſenen männlichen Dranges, zu vergleichen dem entbrannten Muthe eines zur äußerſten verzweifelten Gegen¬ wehr getriebenen, ſeine Selbſtſtändigkeit und Zuſammengehörigkeit vertheidigenden Volkes.
In dieſer kernigen, kräftigen Haltung ſind ſie begreiflich auch nach ihrem landſchaftlichen Effekte viel maleriſcher, lebendig-beweg¬158Der Waſſerfall. ter und an Formen mannigfaltiger, je nachdem die Felſenarchitektur, über welche die Waſſermaſſen herabſtürzen, ſich geſtaltet. Es hängt viel von der Verwitterungsfähigkeit des Geſteines und deſſen Bruch¬ figuren ab. Da, wo granitiſche oder überhaupt kryſtalliniſche Fels¬ arten die Baſis der Sturzwände bilden, wo alſo die Konſiſtenz und Dauerkräftigkeit bedeutend iſt, zeigt ſich der Waſſerfall auch als großartiges, einheitlich maſſenhaftes Schauſpiel. Dennoch variiren auch dieſe außerordentlich. Der Buffalora im Val Miſocco (Graubünden), welcher über eine faſt lothrechte Wand herabkommt, ſchießt droben in vollſter Vehemenz als geſchloſſene, kompakte Säule, wie ein kryſtallener Kanonenſchuß weit über den Felſenrand hinaus und fährt als runder konſiſtenter Körper zur Tiefe nieder, ohne direkt die Gneisfront, über die er herabſtürzt, zu berühren. Er unterliegt alſo, bezüglich ſeiner Sturzverhältniſſe, den gleichen Bedingungen wie der Staubbach im Lauterbrunnen-Thale, nur daß er, vermöge ſeines größeren Waſſervolumens und ſeines minder hohen Falles halber, ſich nicht verflüchtigend auflöſt wie jener, ſondern eben ſo en gros unten ankommt, wie er droben ſein Bett verließ. Er iſt eben der kühne männliche Pendant zum ſchmachtend-weiblichen Staubbach. —
Dieſer gleichen Kategorie gehören die ricochetirenden Fälle an. Der Piumegna bei Faido kommt über die Alpenterraſſen von Pian del Lago, welche die weſtliche Thalwand des Teſſiner Val Leven¬ tina bilden, in Cascadellen als munterer, kräftig genährter Berg¬ bach herab, und ſieht ſich plötzlich in dem Fall, kein Flußbett mehr zu haben, ſondern einen Satz auf gut Glück ins Unbeſtimmte über eine vertikale Glimmerwand wagen zu müſſen. Er thuts, ſtaucht unten aber, ſtatt in einen ſeine Schaumwellen ſammelnden Keſſel zu fallen, auf eine Felſenplatte, ſo daß er in bildlichem Aufſchrei, wie eine Fächer-Fontäne wieder emporſpritzt und einen Bogenſatz hinaus ins Freie macht, der einer ſchönen Maraboutfeder gleicht. Aehnlich verhält ſichs mit der Cascade des Pélérins, die 150 Fuß159Der Waſſerfall. hoch, als Abfluß des gleichnamigen Gletſchers im Chamouny-Thale herabſtürzt und mit Federkraft wieder emporſchnellend ſich einen Ausweg ſucht.
Weſentlich anders verhält ſich's mit jenen, die eigentlich ihr Flußbett nicht verlaſſen, ſondern innerhalb deſſelben über mehr oder minder hohe Stufen hinunterſpringen müſſen. Der impoſanteſte Repräſentant dieſer Gattung iſt der berühmte Toſa-Fall im Piemon¬ teſiſchen Val Formazza. Als der Waſſer-reichſte (der nur dem Rhein¬ fall bei Schaffhauſen nachſteht) verurſacht er in ſeinem Granit - Gehäuſe auch den ärgſten Spektakel. Mehr denn 80 Fuß breit und in einer Geſammthöhe von etwa 400 Fuß ſtürzt die Toccia, nach unten ſich erweiternd, über drei Abſätze und löſt ihre Waſſermaſſen in ſiedend brandende Schaumwolken auf, denen dicke Waſſerſtaub - Nebel fortwährend entſteigen. Ihm zur Seite, wenn auch nicht ſo waſſermächtig, aber noch wilder in der Umgebung ſteht der Aare - Fall an der Handeck im Hasli-Thale (Berner Oberland). Er ſtürzt in eine mehr als 200 Fuß tiefe Granitkluft hinab, Anfangs bis zur Hälfte des Kataraktes in gebundener, ſtrahlend-glatter Maſſe; dann aber zerſchellt dieſelbe an aufragenden Felszacken, die unzer¬ ſtörbar ſcheinen, ſo furchtbar, daß Alles in weiße ſchneeartig ausſehende, zerſtiebende Halbkugeln ſich auflöſt und in dieſem Zuſtande von Treppe zu Treppe hinabkocht. — Noch großartiger, was die Umgebung und Felſen-Dekoration anbelangt, iſt der Bérard - oder Poyaz-Fall bei Valorcine an der Tête noire (Uebergang von Martigny im Wallis zum Chamouny-Thal). Der Zugang zu dieſem bereitet ſchon auf Außerordentliches vor. Am Eingange einer Felſen¬ ſchlucht ſpannt ſich eine etwa 30 Fuß lange Holzbrücke über Tiefen, aus denen von Ferne unbeſtimmtes Brauſen hervortönt. An him¬ melhohe Felſenwände angelehnt, liegen koloſſale Granitblöcke wild durch einander geworfen und bilden, dicht an einander gedrängt, natürliche Tunnel. Auf gut angebrachten ſteinernen Treppen gehts dann bald auf - bald abwärts, in zwei aufeinander folgende Sou¬160Der Waſſerfall. terrains, dann auf etwas flachen, mit Fichten bewachſenen Boden, wo noch Alpenroſen das Auge erfreuen, darauf in einen dritten, längeren, ganz dunkelen Granit-Gang von vielleicht 50 Schritt Tiefe, und endlich über eine ſolide Holzbrücke ans Tageslicht. Und ſiehe, der Wanderer ſteht plötzlich unter dem herrlichen, grandioſen Waſſerfalle, der ſich größtentheils über eine gewaltige flache Granit¬ platte, die wohl 50 Fuß über den Zuſchauer hervorragt, in eine ſchauerliche Tiefe von etwa 250 Fuß mit furchtbarem Getöſe hin¬ unterſtürzt. Ein kleiner Waſſerarm windet zur Rechten der Granit¬ platte ſich durch und vereiniget, etwas tiefer, ſich mit der großen Waſſermaſſe, ſo daß der Anblick einige Aehnlichkeit mit dem eben¬ erwähnten Handeckfall hat, wo ſich der Aerlenbach in den Arm der brauſenden Aar wirft. Das ganz Eigenthümliche dieſes Waſſer¬ falles iſt die abſolute Abgeſchiedenheit und die grandioſe Einrahmung in dunkle, ſtygiſche Felſenmaſſen, deren Enden ſo ſcharf vom Zahne der Zeit ausgekehlt, zugeſpitzt und modellirt ſind, als ob die tüch¬ tigſten Steinmetzen hier ihre Meiſterarbeit zuſammengeſtellt hätten, um irgend ein großartiges gothiſches Bauwerk auszuſchmücken. Man möchte dieſen Fall ſeiner Einrahmung wegen einen gothiſchen Waſſerfall nennen, indem die Hunderte von anſtrebenden Säulchen und Pilaſtern ganz den Charakter und die Zeichnung herrlicher, mittelalterlicher Dome haben. Weder die Glommen - und Bram¬ men-Fälle im hohen Norwegen, noch die effektreichen Trollhäta-Fälle in Schweden, noch jene an der ſteierſchen Gränze, in Tyrol und der Schweiz haben irgend ein Seitenſtück zu dieſem in ſeiner Art einzigen Schauſpiel.
Es ließe ſich nun von hier an abwärts eine vollſtändige Formen-Skala von Alpen-Waſſerfällen aus dem Gebiete der grani¬ tiſchen Geſteine aufſtellen; wir erwähnen indeſſen deren nur noch zwei als geeignete Repräſentanten der verſchiedenen Abſtufungen. Der eine iſt der Fall des Hinterrheines in der Roffla (zwiſchen Viamala und Splügen in Graubünden) deſſen Sturzfundament161Der Waſſerfall. ſteil-treppenförmig abſinkt und daher vielleicht das entſprechendſte Beiſpiel einer „ Jäh-Kaskade “im Flußbett iſt; der andere iſt der Fall der Reuß unter der Teufelsbrücke auf der Gotthardsſtraße, der mehr die flach geneigte Kaskadenform repräſentirt. Als Muſter eines konſtanten, treppenförmig ebenmäßigen Kaskadellen - Falles kann der Freſſinone beim Ausgang der Gondo-Galerie auf dem Simplon gelten.
Zwiſchen allen dieſen mitten inne liegen die „ garnirten Waſſerfälle. “ Der vornehmſte derſelben in den Alpen iſt der Piſſevache im unteren Rhône-Thale. Die zackig-zerſprengte, ter¬ raſſenförmig ausgeſtufte Struktur des Felſenkörpers, über den die glänzende Sallenche in wollig runder Maſſe ſich herniederbeugt, und die accompagnirenden Nebenkaskaden, welche in unzähligen Strahlen plätſchernd, hüpfend oder in zerſtauchender Haſt hernieder¬ brauſend die Hauptmaſſe umgeben, ſchaffen ein ſo vielſeitig bewegtes Bild, daß — hätte der Piſſevache die reiche, buntgeſchmückte Um¬ gebung eines Gießbaches am Brienzer See, er der bunteſte Waſſer¬ fall der Alpen wäre. Zur gleichen Gruppe, der Anordnung nach gehö¬ rig, und doch wieder außerordentlich verſchieden von dem eben beſchrie¬ benen ſind die Fälle des Schmadribaches in der äußerſten Tiefe des Ammerten-Thales. In der Mitte, voll und hoch aufſchäumend, brauſt der Kern des Gletſcherbaches, ein eigentlicher Waſſerfall über eine ſchwarze zerſpaltene Felſenmaſſe herab, kahl und ſchauerlich¬ wüſt, unmittelbar darüber die gewaltigen Eispyramiden des Breit¬ hornes, Groß - und Tſchingelhornes. Dieſem Hauptſtrahl rechts und links zur Seite hüpfen und plätſchern eine Menge ſchmaler Waſſerfaden von den Granit-Treppen hernieder, bald in langer, ſchmächtiger Form, bald gebrochen und im Winkel verſtaucht, daß man von dem drängenden Getümmel, in welchem der ſtäubende brauſende Wirrwarr die milchweißen, dunſtigen Waſſerflocken aus¬ einanderſpritzt, um ſie im nächſten Augenblicke wieder zu vereinen, ganz irre wird. Nach unten zu, wie bei der Achſe eines ausge¬Berlepſch, die Alpen. 11162Der Waſſerfall. ſpreizten Fächers, ſammeln ſich die zerſtreueten Waſſerſtrahlen in einem ausgewaſchenen Trümmerbecken, und kaum vereint, jagen ſie mit überſtürzender Eile ſchräg hinab, zwiſchen Felſenthoren hindurch, um abermals in neuen kleineren Fällen dem Uebermuthe ihrer Ju¬ gendkraft die Zügel ſchießen zu laſſen. (Abbildung aller bisher genannten Waſſerfälle, mit Ausnahme des erſt vor wenig Jahren zugänglich gemachten Bérard-Falles, findet man in meinem, bei J. J. Weber in Leipzig 1854, ohne meinen Namen erſchienenen: „ Illuſtrirten Alpenführer. “— Berlepſch.)
Das Kaskaden-Syſtem wiederholt ſich in großem Zuſchnitt bei den Waſſerfällen der Jurakalk-Alpen. Dort veranlaſſen Schichten¬ wechſel, verſchiedenartig geneigte Hebung der Sedimente und Aus¬ ſtufung der Schichtenköpfe eine natürliche Treppenanlage in den Flußbetten der Voralpen, welche ſich am bedeutſamſten in den vier¬ zehn Kaskaden-Etagen des weltberühmt gewordenen Gießbaches am Brienzer See (gegenüber von Brienz) ausprägen. Er iſt dadurch, daß er ungemein bequem liegt, ein nobler, comfortabler Gaſthof dicht neben einen ſeiner Sturzfälle gebaut wurde, und während des Sommers wöchentlich mehrmals hinter ſeinen Schaumwellen bei Nacht bengaliſche Flammen angezündet werden, welche die Waſſer¬ maſſen in transparent glühende Feuerſtröme umwandeln, das Wan¬ derziel aller Touriſten geworden. In noch größeren Cäſuren treten die Reichenbach-Fälle, zwiſchen Meyringen und Roſenlaui auf; ſie vereinigen eine Muſterkarte aller bisher beſchriebenen Formen, frei¬ lich ohne allenthalben deren erſchütternde Großartigkeit zu beſitzen.
Es erübriget endlich noch, einer Gattung von Waſſerfällen zu gedenken, die in großem Maßſtabe, minder im Gebirge als viel¬ mehr am Fuße deſſelben vorkommen; dieſe ſind die Laufen oder Stromſchnellen. Schon die Bezeichnung ſagt deutlich, daß ſie weniger eigentliche Fälle, als beſchleunigte, ſchräg-abjagende Flu߬ maſſen ſind, gewiſſermaßen von der Natur gebaute, gigantiſche Wehre. Der renommirteſte Laufen iſt der weltbekannte Rheinfall163Der Waſſerfall. bei Schaffhauſen, der ſchon zu oft beſchrieben und abgebildet wurde, und ſomit eine nochmalige Schilderung überflüſſig macht. In klei¬ nerem Maßſtabe finden ſich ähnliche bei anderen Alpenflüſſen, ſo z. B. der Fall des Inn bei ſeinem Ausfluſſe aus dem St. Morizer See im Ober-Engadin. — Eigentliche Stromſchnellen im engeren Sinne, alſo Stellen, an denen der Strom in Folge ſtarker Neigung ſeines Flußbettes einen beſchleunigteren Lauf annimmt und ſchräg über flache Platten hinabſchießt, hat faſt jeder Gebirgsſtrom, ſobald er in die Zonen der ſedimentären Bildungen hinaustritt. Solche Stromſchnellen ſind Urſache, daß mancher bedeutende Fluß nicht ſchiffbar benutzt werden kann.
Bei Laufenburg an der ſchweizeriſch-badenſchen Gränze, durch¬ ſetzt feſter Alpen-Gneis in Form eines Felſendammes das Klippen - Bett des Rheines und nöthiget dieſen, zwiſchen gewaltigen Blöcken hindurch, über ſtark geneigte Schichtenlagen des kryſtalliniſchen Geſteines mit reißender Vehemenz hinabzujagen. Da der Maſſen¬ ſturz ungeachtet ſeines brüllenden Lärmens und ſtellenweiſe ſchäu¬ menden Weſens doch ganz und gar den Charakter des eigentlichen Waſſerfalles verliert, weil die Oberfläche des Stromes, ſtark wellenförmig fluthend, doch ziemlich glatt bleibt, ſo haben Wage¬ hälſe, offenbares Va-banque-Spiel mit ihrem Leben treibend, es ſchon oft verſucht mit kleinen geeigneten Nachen über dieſe wilden Stromſchnellen hinabzufahren. Einigen gelang das mehr als tollkühne Unternehmen, — andere kamen dabei um. Zu letzteren gehörte der junge Lord Montague, der wunderbarerweiſe am gleichen Tage auf dieſe Weiſe ſein Leben einbüßte, an welchem ſein Stammſchloß in England abbrannte. Der Schiffer, welcher ihn fuhr, vermochte ſich zu retten. Erfahrene Schiffer pflegen ohne Schaden ihre Fahrzeuge hinabzulaſſen. — Noch präciſer formt ſich die „ Stromſchnelle “beim ſ. g. kleinen Laufen unweit Koblenz am Rhein, einige Stunden oberhalb Laufenburg.
11*164Der Waſſerfall.Der Bergſtrom und ſeine Waſſerfälle ſind eine der ſtolzeſten Zierden des Alpenlandes, und mit begeiſterten Worten beſingt F. L. von Stollberg das erhabene Schauſpiel
— — Tollheit iſtDer Muth des Menſchen,Wenn ein Gott ihm zürnt.
Zu den ungeſtümſten und ſchreckenerregendſten Naturerſchei¬ nungen des Hochgebirges gehören die Schneeſtürme. Von ihrer Heftigkeit, Gewalt und von der quantitativen Dichtheit der Schnee¬ menge, welche durch die Lüfte getragen die Möglichkeit zuläßt, daß binnen wenig Minuten kurz vorher noch ſichtbare Wege gänzlich vergraben und fußhoch überdeckt werden, kann nur derjenige ſich einen lebhaften Begriff machen, der die wilden Kraftäußerungen der Elemente im Gebirge ſchon in anderer Weiſe kennen lernte. Der Schneeſturm in den Alpen iſt gleichſam der entgegengeſetzte Pol einer anderen, eben ſo furchtbaren, atmoſphäriſchen Erſcheinung, nämlich des Samum der Wüſte. Wie dort der raſend einherbrau¬ ſende Flügelſchlag des Wüſtenwindes unberechenbare Milliarden glühendheißer Sandkörnchen emporhebt und in jagender Flucht durch die Lüfte trägt, tiefe Mulden hier aufwühlt, um neue, vor¬ her nicht dageweſene, haushohe Hügel dort abzuladen, — ſo er¬166Der Schneeſturm. füllt der Schneeſturm die Luft auf große Entfernungen hin mit dichten, ringsumher Alles verfinſternden Wolken kleiner feiner Schneekryſtalle, die Alles durchdringen, an Alles ſich einbohren und mit der Atmoſphäre eine völlig verſchmolzene Maſſe zu ſein ſcheinen. Die Verwandtſchaft der mechaniſchen Thätigkeit dieſer beiden ſchrecklichen Lufterſcheinungen iſt frappant und bietet ſelbſt bis in die kleinſten Einzelheiten Parallelen dar, freilich eben im¬ mer unter den Bedingungen der äußerſten Temperatur-Gegenſätze.
Der Schnee des Hochgebirges iſt, ſowohl nach Geſtalt und Umfang, als nach Dichtheit und ſpecifiſcher Schwere ſeiner einzel¬ nen Körpertheilchen, in der Regel weſentlich verſchieden vom Schnee der Tiefebene und des Hügellandes. Wenn er auch unter gleichen Bedingungen entſtehen mag, ſo iſt doch höchſt wahrſcheinlich ſein Bildungsproceß ein viel einfacherer; ja, es fragt ſich, ob er nicht unmittelbar aus jenen Elementarkörperchen beſteht, aus deren, nach organiſcher Anordnung erfolgender Konglomeration ſich die Schnee¬ flocke, wie man ſie drunten im Lande allgemein kennt, erſt konſtruirt. Denn in die Geheimniſſe der Schneekryſtalliſation ſind die Natur¬ wiſſenſchaften bis jetzt wenig erſt eingedrungen; nur Vermuthungen und Wahrſcheinlichkeitsgründe konnten ſie darüber aufſtellen: in welcher Region und unter welchen meteorologiſchen Einflüſſen die erſte Schneebildung beginnt, — und es iſt noch eine ſchwebende Frage, ob der, ſtets nach dem Geſetz der drei - oder ſechskantigen oder ſechsſtrahligen Form ſich darſtellende, ſymmetriſch-ſchöne Schnee¬ ſtern durch das Anſchließen kleiner, unendlich feiner, aber ſchon vorhandener Eisnädelchen entſtehe, — oder ob er durch Anhängen (Adhäſion) der dunſtförmig im Aether ſchwebenden Waſſerbläschen und deren Gefrieren ſeine allmählige Bildung vom Centrum aus herbeiführe. — Die beiden Schneearten, nämlich der Hochſchnee und der Flockenſchnee, verhalten ſich etwa zu einander wie der chemiſche Gehalt und das ſpecifiſche Gewicht der ſchweren, mit vie¬ len Stoffatomen geſättigten Luft tiefliegender Regionen, gegenüber167Der Schneeſturm. jener feinen, dünnen, leichten, reinen Bergluft, die, je höher man in den Dunſtkreis empordringt, um ſo mehr ſich verflüchtiget.
Die große, breite, fette Flocke des Tieflandes iſt eine Ver¬ einigung vieler, mehr oder minder vollſtändig ausgebildeter, flächen¬ haft-kryſtalliſirter Eisſterne, die deshalb, weil die Schwere der darin enthaltenen gefrorenen Waſſertheilchen nach ihrem räumlichen Umfange in keinem Verhältniß zu der zu durchſchneidenden Luft ſteht, langſam wie ein von den Windwellen getragenes Fallſchirm¬ chen aus der Höhe niederſchwebt, und nur dann eine beſchleunig¬ tere Geſchwindigkeit annimmt, wenn ſie in Temperaturſchichten her¬ abſinkt, welche vermöge größerer Wärmemenge die im Froſt ge¬ bundenen Waſſeratome theilweiſe löſen und die ganze Wolke durchfeuchten.
Ganz anders verhält ſichs mit dem Hochſchnee. Der erſte Blick ſchon zeigt ein ganz anderes Gebilde. Er iſt viel feiner, mehliger oder eigentlich ſand-ähnlich, trockener und darum ſelbſtſtän¬ dig beweglicher. Theils zeigt er unterm Mikroskop blos prismen¬ förmige Nädelchen, oder unendlich kleine, aber kompakte keilförmige, ſechskantige Pyramiden, theils aber ſtellt er ſich auch in einer mehr der ſphäriſchen Geſtalt annähernden Weiſe dar, und zwar ſo, daß er einen kugelförmigen centralen Körper zeigt, an dem, ähn¬ lich der mittelalterlichen Waffe des Morgenſternes, kleine Spitzen nach allen Radien hin ausſtrahlen. Daß ſolch ein, ſeinem Um¬ fange nach kleinerer, wahrſcheinlich auch dichterer und darum ſchwe¬ rerer Körper in ganz anderem Geſchwindigkeitsmaße die Luft durch¬ ſchneiden kann und darum bewegungsfähiger iſt, wenn der Wind ihn treibt, als die netzförmig breite, viel mehr Raum einnehmende Schneeflocke, iſt begreiflich.
Vermöge ſeiner Feinheit profilirt der Hochlandsſchnee aber auch die Gegenſtände, auf die er fällt, viel feiner, zeichnet deren Konturen viel detaillirter, und ſchließt den kleinſten Formgebilden ſich ungemein ſchmiegſam, — gleichſam nur beſtaubend an, wo die168Der Schneeſturm. volle, flaumige Schneeflocke des Tieflandes in großen behäbigen Linien, oft ziemlich ſchwerfällig, die beſchneiten Gegenſtände nur deckt. Dieſe ſubtilen Kandirungen kann man indeſſen nur im Herbſte, namentlich an Kräutern, verdorrten Samen-Dolden und an den kleinen zierlichen Kryptogamen der Alpenpflanzen wahrnehmen, wenn die Atmoſphäre ihre Anfangsverſuche im Be¬ ſtauben mit gleichſam gefrorenem Nebel macht. Dieſes leichte Be¬ ſchneien iſt nicht zu verwechſeln mit der, auch im Hügel - und Flachlande vorkommenden verwandten Erſcheinung des ſ. g. „ Duft “oder „ Pick “, welcher Pflanzen, Steine und andere Dinge kryſtalli¬ ſirend überkleidet, wenn dichter Nebel bei tiefer, unterm Gefrier¬ punkte ſtehender Temperatur über einer Landſchaft lagert.
Es ſoll nun keinesweges behauptet werden, daß unter allen Umſtänden die Bildung von Flockenſchnee in den Hochalpen un¬ möglich ſei. Vielmehr verſichert der bekannte ſchweizeriſche Berg¬ ſteiger, Herr Weilenmann, daß er während ſeiner Beſteigung des Grand Combin am 10. Auguſt 1858 bei einer Höhe von circa 12,000 F. über dem Meere und bei einer Temperatur von 6 Grad Wärme in ein dichtes Schneegeſtöber des dickſten, ſchwerſten Flocken¬ ſchnees gekommen ſei.
Bei der ungemeinen Feinheit der einzelnen Körperchen des Hochſchnees iſt es aber auch vornehmlich deren große Trockenheit, welche ſie auszeichnet. Dieſe iſt Folge der in den oberen Regionen während des ganzen Jahres faſt ununterbrochen herrſchenden niede¬ ren Temperatur. Im normalen Zuſtande iſt der Hochſchnee ſo ſpröde, ſo abgeſchloſſen eigenkörperig, daß er ohne kräftige Wärme¬ einwirkung ſich eben ſo wenig zuſammenballen läßt, wie eine Hand¬ voll trockenen feinen Sandes.
Mit dieſem Material treibt nun der Wind auf den Höhen und in den Einſattelungen des Gebirges, welche 5000 Fuß über¬ ſteigen, ſein mehr als übermüthiges Spiel, packt plötzlich einige Hunderttauſend Kubikklaftern dieſes feinen Eisſtaubes, wirbelt ihn169Der Schneeſturm. ſpielend hoch, hoch in die Lüfte empor, und überläßt es der dort herrſchenden Windrichtung, ihn wieder in Form des dichteſten Schneefalles, oder zerſtreut als glitzernden Eisnadel-Regen abzuſchüt¬ teln, wo es ihm beliebt. „ Le Montblanc fume sa pipe “ſagen die Thalleute von Chamouny, wenn's von der Schneekuppel dieſes höchſten europäiſchen Berges bei hellem, tiefblauem Himmel wie Dämpfe aufſteigt und leiſe verweht wird. — Oder der Wind, in ſeinem radikalen Fegen über die alten Firnwüſten, hebt irgend eine, ihm nicht am rechten Platze liegende Ladung ſolch trockenen Hochſchnees auf und ſchleudert ihn unverſehens in tiefere Berg¬ becken oder Uebergangspunkte, während wenig Minuten Schnee¬ batterieen und Querdämme aufbauend oder mühſam ausgeſchaufelte Hohlwege nivellirend, wozu eine Arbeiter-Compagnie tagelange Zeit bedurft haben würde. Darum läßt ſich auch zwiſchen dieſen bös¬ artigen Neckereien des Windes und dem Fall der eigentlichen „ Staublauinen “oft keine beſtimmte Gränze ziehen, weil die Wir¬ kungen des Einen faſt jenen der Anderen gleichkommen.
Aber alle dieſe tollen Luftmanöver ſind nichts weniger als eigentliche Schneeſtürme; der Charakter dieſer fürchterlich tobenden Erſcheinung iſt weit wilder, zorniger, feindſeliger. Wehe dem ar¬ men Wanderer oder Roßtreiber, der in eine heftige „ Tormenta “— wie der Teſſiner den Schneeſturm bezeichnend nennt — geräth, — und doppelt Wehe über ihn, wenn er nicht ein von den Un¬ bilden des Wetters längſt abgehärteter Mann, — wenn er ein Fremdling aus milderen Klimaten iſt, der dem jähen Anprall und der nachhaltig-einbohrenden Wuth der Elemente nicht Entſchloſſen¬ heit, ſtählernen Muth, ſtramme Kraft, zähe Ausdauer entgegen zu ſetzen vermag. Er iſt, wenn nicht Wunder ihn retten, ein Kind des Todes. Schon Tauſende fielen dem Ungethüm als Opfer, wenn ſie mit den Vorboten eines Schneeſturmes unbekannt waren oder wohlgemeinten Warnungen nicht folgend, ihren Weg fortſetzten. Denn erfahrungsgemäß toben die „ Guxeten “am Bösartigſten in170Der Schneeſturm. jenen Alpeneinſchnitten, durch welche Bergſtraßen und Päſſe hin¬ durchführen, und zwar ſonderbarer Weiſe beim Nordwinde an der ſüdlichen Abdachung und beim Südwinde an der nördlichen am Heftigſten. Berüchtiget ſind in dieſer Beziehung ganz beſonders der Große St. Bernhard im Wallis, der Gotthard im Kanton Uri, der Bernhardin und der Panixer Paß in Graubünden. Auf letzterem ward ein großer Theil des ruſſiſchen Heeres unter Su¬ worow, bei der Retirade im October 1799, eine Beute der Schnee¬ ſtürme. Nach mündlichen Verſicherungen der Bernhardiner Mönche iſt in den letzten zehn Jahren nicht ein einziger Menſch am Großen St. Bernhard durch einen Schneeſturm mehr ums Leben gekommen.
Der Aelpler kennt die Zeichen genau, welche den böſen Gaſt anmelden. Die ſonſt matte, indifferent gräulich-weiße Färbung des Horizontes, von der die Schneehülle der Berge kaum merklich im Farbentone ſich ablöſt, wird beſtimmter, dicker, geſättigter, man ſieht ihr gleichſam den größeren Stoffgehalt an; entfernte Gebirgs¬ züge, deren nackte Felſenknochen deutlich erkennbar heraustraten, werden erſt leicht, dann aber immer trüber und dichter verſchleiert, bis ſie zuletzt ganz verſchwinden. Die Luft iſt ruhig, ſehr kalt, ohne jene kräftige ſäuerliche Winterfriſche zu athmen, welche an heiteren Januarmorgen im Flachlande die vom langen Stubenſitzen verdumpften Sinne völlig neu belebt; — trockene, froſtige, harte Luft füllt die Atmoſphäre. Dazu lagert ringsumher unbeſchreiblich¬ lautloſe Stille über der erſtorbenen Einöde. Das ſprungfertige Volk der Gemſen, welches im Sommer dieſe Höhen belebt, wohnt jetzt in tieferliegenden Forſten, — das pfeifende Murmelthier liegt im Winterſchlafe erſtarrt in ſeiner Höhle, und ſelbſt die, im Winter kreiſchend die zerſpaltenen, ſchwer erſteigbaren Granitzinnen um¬ kreiſende Bergdohle hat ſich in ihr Kluftenneſt geflüchtet; kein dür¬ res Laub raſchelt an den Aeſten, denn in dieſen Höhen hat der Baumwuchs aufgehört, und die melancholiſche Legföhre und das171Der Schneeſturm. Alpenroſen-Gebüſch ſchlummern tief unterm Schnee, — kein Wind¬ hauch rieſelt Schneekörner über die jähen Fluhſätze, — allenthalben herrſcht jene bange Stille, welche an ſchwülen Sommertagen dem Ausbruche eines heftigen Gewitters voranzugehen pflegt. Die ein¬ zigen Laute, welche der Wanderer vernimmt, ſind ſein eigenes tiefes Athmen, das Schnauben der Roſſe (wenn er mit dem Schlitten das Gebirge paſſirt) und das knitternde Aechzen des getretenen Schnees.
Nähert ſich nun die Kataſtrophe, dann hüllen maſſige graue Wolken auch die näherliegenden Bergſpitzen ein und laſten ſo dick und ſchwer auf ihnen, als wollten ſie für eine Ewigkeit hier Poſto faſſen. Noch immer iſts Zeit, die ſchützende Cantoniera, (Refuge, Zufluchtshaus) oder das gaſtliche Hospitium zu erreichen, wenn es nicht allzufern iſt, — aber auch immer dämmeriger wirds, — der Abend ſcheint den Mittag überſprungen zu haben. Plötzlich er¬ ſchreckt den beſorglich-eilenden, ſchon halb ermüdeten Reiſenden ein heftiger, ſcharfer Windſtoß, der ihm eine Handvoll emporgerafften Schnee entgegenwirft; dann iſts wieder ruhig, — ſtill rundum, wie vorher. Dieſe intermittirenden Vorläufer wiederholen ihre Mahnung noch einigemal, gewöhnlich nach immer kürzer aufeinander folgenden Pauſen. Es ſind die äußerſten und letzten Erinnerungs¬ zeichen zur Flucht. Denn nun beginnt ein ſeltſames unheimliches Tönen in den Felſenkammern und Steinſchluchten, erſt leiſe und ſeufzend, dem wimmernde Antwort von der entgegengeſetzten Seite folgt, dann vernehmlicher, näher, ſtärker, aber raſch weit und wei¬ ter verklingend in anderen Gebirgsrevieren; es iſt, als ob ferne ver¬ wehte Stimmen um Hilfe riefen. Dieſe durch die Luft ſtreichenden Klagen tönen jetzt aus einer dritten und vierten Ecke hervor, aber ſo getragen, ſo einförmig und hohl, ſo ganz anders als im Lande drunten, wenn um die Zeit des Aequinoktiums der Wind durch Kamin und Thürſpalten ſeine jammernden Melodieen heult. — Das Roß vorm Schlitten haut feſter mit den Hufen in den unſicheren, lockeren Pfad, und ſchnaubt öfter und unwillig, — ſein Inſtinkt172Der Schneeſturm. verräth ihm die nahende Gefahr; unaufgefordert ſtrengt es ſeine Kräfte in erhöhtem Maße an, raſcher fort zu kommen — und keu¬ chend folgt ihm ſein Treiber. Dem winſelnden Uniſono geſellt ſich jetzt ein tiefer Grundton zu; die dazwiſchen liegenden Stimmen mehren ſich, die Disharmonieen werden voller, und mit ihnen ſchwillt das Getöſe immer wilder, immer mächtiger, immer lauter an und durchheult die Lüfte. Noch wenig Augenblicke und nun entladen auch die Schneewolken ihren Inhalt und ſenden einen Hagel feiner, nadelſpitzer Eispfeile mit ſolch unbändiger Gewalt hernieder, daß alle entblößten Theile des Körpers auf das Schmerz¬ hafteſte von ihnen getroffen werden. Der faſt erſchöpfte Wanderer kehrt der Seite, von welcher die Maſſen am Tollſten herabwüthen, den Rücken zu; — aber was hilfts? Die jagenden Fluthen der Eisnadeln ſchlagen gleich den brandenden Meereswellen um ihn zuſammen, und ſo wie dieſe, zu Schaum zerſpritzt, dem Orkane ſich wieder entgegenwerfen, ſo ändern auch die, ſeine Schultern beſtrei¬ chenden Schneeſtaubwolken ihre Fluchtbahn und greifen in kreiſeln¬ dem Wirbel den Betäubten von vorn an. Er kann Nichts ſehen und deckt wechſelsweiſe mit Arm und Hand und Tuch die Augen, die Wangen, das ganze Angeſicht, welches von der ſchneidenden Kälte und den brennenden Stichen aufzuſchwellen beginnt, — er kann nicht athmen, denn die zu Eis verkörperte Luft fährt wie ätzendes Gift durch die Reſpirationsorgane in die Lunge und bohrt ſich bei jedem Athemzuge wie mit tauſend Spitzen feſt. Er iſt hereingebrochen, der furchtbare Schneeſturm des Gebirges mit all ſeinem Entſetzen, ſeiner gräßlichen Wildheit, und umwüthet Alles, was in ſeinem Bereiche liegt. Das iſt ein Hetzen und Peitſchen durch die Lüfte, das tobt und ſtöhnt und pfeift und brauſt um die ſtarren Felſenhörner, als ob die Atmoſphäre wahnwitzig geworden wäre und die Introduktion zum letzten Gericht beginnen ſollte. Und in Mitte dieſes Aufruhrs ſteht der Menſch, der Herr des Erd¬ balles, der mit Eiſen und Dampf die Materie ſich dienſtbar gemacht173Der Schneeſturm. und die Elemente ſeinem Willen unterjocht zu haben wähnt, — er ſteht da, ein armes, ohnmächtiges, verlaſſenes Geſchöpf in grauſen¬ hafter Schneewüſte, eine ſichere Beute des Todes, wenn die Sinne ihm ſchwinden, wenn die letzte Kraft ihn verläßt.
Denn, tritt auch eine kurze Pauſe in dem entſetzlichen Auf¬ ruhr ein, kann der Ueberfallene für wenige Sekunden die Augen öffnen, ſo ſieht er keine Spur des zu verfolgenden Weges mehr. So tief wie er, oft bis an die Kniee, im friſchgefallenen und ab den Bergen zuſammengewehten Schnee ſteht, eben ſo tief und ſtellen¬ weiſe noch tiefer liegt derſelbe überall. Darum hat die Vorſicht der Thalbewohner dieſſeits und jenſeits vielbegangener Päſſe ſchon ſeit alter Zeit die Einrichtung getroffen, 20 bis 30 Fuß hohe Schneeſtangen vor Wintersanfang, längs des ganzen Paßweges ins feſte Geſtein zu ſetzen, die bei verwehetem Pfade als Alligne¬ ment dienen. In ergiebigen Wintern iſts indeſſen ſchon vorge¬ kommen, daß an manchen Stellen auch dieſe Stangen unter dem von allen Seiten zuſammengewehten Schnee verſchwanden. Denn in der oberen Alpenregion, d. h. in der abſoluten Höhe zwiſchen 5500 und 7000 Fuß über dem Meereſſpiegel, und in der ſubniva¬ len oder unteren Schneeregion zwiſchen 7000 und 8500 Fuß, fällt der Schnee in ganz anderer Menge als in der Ebene, wo nicht nur das Quantum des auf Einmal gefallenen Schnees weit unbe¬ deutender als im Gebirge iſt, ſondern wo auch ſteter Temperatur¬ wechſel mehrmals in einem Winter die ganze Schneedecke wieder hinwegrollt.
Müdewerden, Schläfrigkeit, Hinſinken vor Ermattung, allmäh¬ liges Schwinden der Beſinnung und endliches Erſtarren vor Kälte ſind die Progreſſiv-Stadien des herbeiſchleichenden Todes. Jedes Jahr fordert ſeine Opfer. Die Erinnerung an traurige Ereigniſſe dieſer Art lebt traditionell im Munde des Volkes, das am Fuße ſolcher Bergübergänge wohnt, lebhaft und in Menge fort. Von den vielen Beiſpielen mögen nur zwei hier einen Platz finden.
174Der Schneeſturm.Im Jahre 1817 hatten fünf Hannoveraner einen Pferdetrans¬ port in die Lombardei gebracht und befanden ſich auf dem Heim¬ wege. Alle waren kräftige, geſunde Männer, die daheim ſchon manche Unbilden des Wetters erfahren und mit leichter Mühe über¬ wunden hatten. Im Dorfe Bernardino, 1¼ Stunde ſüdlich unter dem gleichnamigen Bergübergange im Kanton Graubünden (auf der Linie von Chur nach Bellinzona), wo ſie einkehrten, warnte man ſie dringend, ihren Weg fortzuſetzen, weil ein Schneeſturm im Anzuge und deshalb die Paſſage lebensgefährlich ſei. Allein an¬ gefeuert durch ſtarken Veltliner Wein und im Bewußtſein des Voll¬ beſitzes ihrer ungeſchwächten phyſiſchen Kräfte, gaben ſie allen Vor¬ ſtellungen kein Gehör und rüſteten zur verhängnißvollen Reiſe. Damals beſtand die gegenwärtige Kunſtſtraße noch nicht, und das jetzt, oberhalb der Victor Emanuels-Brücke, am kleinen Moëſola - See ſtehende ſturmestrotzige, feſte ſteinerne Berghaus auf der Ueber¬ gangshöhe exiſtirte eben ſo wenig. Es war ſomit vom Dorfe Ber¬ nardino bis nach Hinterrhein im Rheinwaldthal ein ununterbroche¬ ner Marſch von 3½ Stunden Entfernung, zu welchem aber bei dem, durch die gefallene Schneemenge, erſchwerten Fortkommen, mindeſtens 5 Stunden Zeit nöthig wurden. Die Unbeſonnenheit der Fremden konnte ein anweſender Landmann aus dem Dorfe Hinter¬ rhein nicht mit anſehen, und Er, der ſich ſelbſt nicht getraut hatte, den Heimweg anzutreten, ſchloß ſich nun, als alle Gegenreden fruchtlos blieben, den Tollkühnen an, um ihnen mindeſtens als Führer zu dienen. Das Unwetter brach in ſeiner ganzen Furcht¬ barkeit los, als die Wanderer ungefähr die Höhe des Paſſes er¬ reicht hatten. Anfangs unter leichtſinnigen Scherzen, dann mit ernſtlichem Aufwand aller Kräfte, endlich mit Verzweiflung, kämpf¬ ten ſie wie Männer gegen den übermächtigen Feind an, — allein vergebens. So ſehr der wackere Rheinwäldler Allem aufbot, um die Unglücklichen zu retten, ſo ſank dennoch Einer nach dem Anderen, zum Sterben ermattet und bei vollem Bewußtſein reſignirend, dem175Der Schneeſturm. Tode in die Arme. Lange beſtrebte ſich der opferfähige Gebirgs¬ bauer mindeſtens den Letzten zu retten; aber auch hier erkannte er nur zu bald, daß er ſelbſt unterliegen müſſe, wenn er ſeinen Vor¬ ſatz nicht aufgebe und den geringen Reſt der ihm übrig gebliebenen Kräfte auf ſeine eigene Rettung verwende. Er erreichte zwar lebend ſeinen Geburtsort, — aber mit gänzlich erfrorenen Händen und Füßen; Finger und Fußzehen mußten amputirt werden. Er ward zum Dank für ſeine Menſchenfreundlichkeit ein Krüppel.
Ein anderer tragiſcher Fall ereignete ſich auf der Gotthards¬ ſtraße in der Nacht vom 9. zum 10. April 1848. Die italieniſche Poſt, welche am Nachmittage den Berg in der Richtung von Ander¬ matt nach Airolo überſchreiten ſollte, hatte, durch enorme Schnee¬ maſſen aufgehalten, ſich bedeutend verſpätet. Mit Pferden und Schlitten die Straße zu paſſiren war unmöglich, und Condukteur Simen entſchloß ſich deshalb die Poſtfelleiſen mit den Briefſchaften und Paqueten durch Träger über den Gotthard zu befördern. Unter dieſen Trägern befand ſich auch Joh. Joſ. Regli, Steinhauer von Profeſſion. Als die Karavane Urſeren verließ, ſtürmte es zwar wild und warf Schneemaſſen in dichter Menge nieder; indeſſen die muthigen Berggänger glaubten dennoch dem Wetter trotzen zu dür¬ fen und drangen tapfer vorwärts. Als ſie jedoch etwas über das zweite Drittel des Weges zurückgelegt hatten, brach ein Schnee¬ ſturm über die Lucendro-Alp mit ſolch vehementer Gewalt herein und verwehte die Straße dermaßen, daß Alle die Richtung ver¬ loren. Rundum war es vollendet finſtere Nacht. Der Sturm peitſchte wie mit Skorpionen-Geißeln die ſeiner Vernichtungs-Wuth preisgegebenen pflichtgetreuen Männer. Noch immer hielten ſie Stand und ſuchten trotz alles Ungemaches ihr Ziel zu erreichen. Endlich als ſie ziemlich auf der Höhe des Paſſes in der Gegend von San Carlo beim ſ. g. „ Waſſerloch “(Valeggia) angelangt waren, vermochte Regli nicht weiter zu kommen. Die Kameraden, obgleich ſelbſt ſchwer bepackt, verſuchten es dennoch, ihren Schick¬176Der Schneeſturmſalsgenoſſen durch den mehr als 3 Fuß hohen weichen Schnee mit fortzuſchleppen; aber auch ſie verließ allmählig die Kraft und ſie erkannten das Gräßliche ihrer Lage, den ſicher drohenden Tod, wenn ſie nicht den ermatteten Freund aufgeben und zurücklaſſen würden. Man packte ihn deshalb dicht in Mäntel und wollene Decken, brachte ihn unter eine ſchützende Felſenwand und ließ ſämmtliche Felleiſen und Transportgegenſtände bei ihm zurück, um möglichſt raſch das Hospiz zu erreichen und Hilfe von dort zu requiriren. Es war nur noch zehn Minuten entfernt und doch brauchten die Männer faſt eine und eine halbe Stunde, bis ſie das rettende Aſyl erreichten. Sofort brach der Direktor dieſes Samariterhauſes, Herr Lombardi, mit Hilfsmannſchaft, Geräthen und Laternen auf, den Unglücklichen zu retten. Er kam zu ſpät. Regli, ganz überſchneit, daß man ihn kaum finden konnte, war erfroren.
Reiche Fülle der Natur!Labyrinth zu neuem Leben!Kürzend tauſend Wege tauſendfach,Ueberall belebend, allbelebt.
Auf Hochgebirgswanderungen begegnet man nicht ſelten ziem¬ lich ausgedehnten Schneeflecken, die ſchon von ferne durch ihre unverkennbar rothe oder gelbröthliche Färbung den Blick auf ſich ziehen und in der Nähe ausſehen, als ob rother Wein in unge¬ meſſener Menge über den Firn ausgeſchüttet worden ſei. Der Volksglaube, deſſen geflügelte Phantaſie in jede außergewöhnliche, dem Alltagsverſtande nicht ſofort entzifferbare Erſcheinung das Myſteriöſe, Geiſterhafte hineinträgt, ſah auch in dieſem fremdarti¬ gen Naturprodukte die körperhafte Kundgebung ſchauerlich-geheimni߬ voller Mächte; es waren Fußſtapfen der rächenden Nemeſis, ſicht¬ bare Zeichen der Vergeltung, der göttlichen Strafe, für einſt be¬ gangene ungerechte Thaten, und der Aelpler regiſtrirte den rothen Schnee in das Archiv ſeiner Sagenwelt. Ungetreue Säumer, die mit ihren Saumroſſen feuerige italieniſche Weine, namentlich den dunkelrothen Pulsſtürmer aus dem Veltlin, über die Alpen trans¬ portiren, hätten hier (ſo glaubte man) von Trunkſucht übermannt,Berlepſch, die Alpen. 12178Rother Schnee. die Legel (Fäßchen) geöffnet und von dem ihnen auf Treu und Glauben anvertrauten Gute ſündlich gezecht; dafür ſeien nun ihre durſtigen Diebesſeelen verdammt, an den Firn gebunden, und müßten, der Nachwelt zur Warnung, ſo lange hier in Eis und Kälte ſchmachten, bis irgend eine mitleidige lebende Seele ſie er¬ löſe. Die Erlöſungsform iſt aber eine höchſt gemüthliche, an die antike Ovation erinnernde. Jeder Tropfen des neubelebenden, muskelſpannenden, mutherhöhenden Veltliners iſt in der Einöde der Hochgebirgswelt, wenn die Kräfte ſchwinden wollen, ein Arkanum von unbezahlbarem Werth; der beſonnene Berggänger geizt mit der kleinen Neige ſeiner Feldflaſche wie ein Harpagon und ſpart die¬ ſelbe für den letzten und äußerſten Nothfall vorſichtig auf. An dieſes Kleinod appellirt nun der Volksglaube; wer aus freiem An¬ trieb ſeinen letzten koſtbaren Schluck mit den armen Seelen theilt und einige Tropfen auf den rothen Schnee ausgießt, der ſühnt die ſtrafende Gerechtigkeit und erlöſt die Verdammten aus dem „ kalten Fegefeuer. “
Dieſes, unter Umſtänden, ſchweren Opfers iſt der Alpenwan¬ derer unſerer Tage, — Dank den Forſchungen der Naturwiſſen¬ ſchaften! — überhoben; die gebannten Geiſter ſind durch den „ Höllen¬ zwang “des Mikroſkops ſammt und ſonders erlöſt, und der Feuer¬ tropfen muß nicht mehr zur „ rettenden That “die Mesalliance mit dem ertödtend kalten Schnee eingehen.
Ein ganz anderes, ungeahntes Leben, als das ſtumme Seufzen und die Marterqual geſpenſtiger Trunkenbolde, ſtrömt durch dieſe Schichten der ſcheinbar anorganiſchen Erſtarrung; eine Welt des undenkbar Kleinen wächſt und ſchafft und regenerirt hier. — Der geiſtvolle Horaz Benedict de Sauſſure war der Erſte, der, auf ſei¬ nen Chamouny-Reiſen 1760, den rothen Schnee unterſuchte und in dem geſchmolzenen Waſſer rothe Kügelchen fand, die das fär¬ bende Prinzip abgaben. Da ſie leblos dalagen, ſo hielt er, und nach ihm viele andere Naturforſcher, dieſe Subſtanzen für Pflanzen¬179Rother Schnee. bläschen, Blüthenſtaub, Gallert-Algen, ſchleimige Haut - oder Ader¬ mooſe, und man nannte ſie Protococcus nivalis oder Schnee-Schleipe. Der Kanonikus Lamon vom großen St. Bernhardskloſter forſchte der Erſcheinung weiter nach und äußerte in der Verſammlung ſchwei¬ zeriſcher Naturforſcher zu Lauſanne 1828 zuerſt die Vermuthung, daß die rothen Kügelchen Thiere, Infuſorien ſein möchten. Der gute ſpekulative Bernhardinermönch mußte gehäſſige Anfeindungen und ſpottende Erwiederungen genug ertragen; denn ſeine Hypotheſen fanden wenig Glauben, und Hugi, in ſeiner Alpenreiſe, wies „ mit dem höchſten Unwillen “dieſe neueſten Entdeckungen zurück, indem er nochmals den ganzen vegetabiliſchen Aufbau dieſer im Eis wur¬ zelnden vermeintlichen Pflänzchen ſammt Aeſten, Zweigen und ar¬ terienartig verlaufenden Zäſerchen genau beſchrieb. Aber der Mönch hatte dennoch recht. Es lebt eine vielgeſtaltige, wunderbar orga¬ niſirte Fauna von Infuſorien in den Kryſtallpaläſten des Firn¬ ſchnees von 7000 bis 9000 Fuß überm Meere, die dort ſich her¬ umtummelt und ganz beſonders geſchäftige Thätigkeit entwickelt, wenn durch Einwirkung der Sonnenwärme ein Theil der zu Eis gebundenen Waſſertheilchen ſchmilzt und den Firn heftig durch¬ feuchtet. Nie erſcheinen ſie im Gletſcher und nie im friſch gefalle¬ nen ſandig-trockenen Schnee, ſondern ſtets im Firn und am liebſten an jenen ſonnigen Abhängen, wo friſcher Schnee ſich raſch in Firn (körniger, griſſelicher Eisſchnee) verwandelt. Eine Generation mag vielleicht einige Monate in voller Aktivität leben, während welcher ſie in brennendem Hochroth, einem Mittelton zwiſchen Karmin und Zinnober, den Firn bis gegen zwei Zoll tief durchdringt, aber durch die vorherrſchend weiße Farbe des Firnſchnees in ihrem Farben-Effekt geſchwächt, nur roſaroth erſcheint. Nach Vollendung ihrer Lebens¬ friſt und unbekannten Lebensaufgabe geht ſie in bräunlichen und zuletzt ſchwarzen Moder über, der nach und nach verſinkt oder den Firn ſtrichweiſe durchfurcht.
Der Engländer Shuttleworth, mit hinlänglichen für wiſſen¬12*180Rother Schnee. ſchaftliche Unterſuchungen konſtruirten Apparaten ausgerüſtet, unter¬ nahm nun eine Entdeckungsreiſe ins Reich dieſer kleinſten Eis¬ thierchen und förderte auffallende Reſultate zu Tage. Die ſchwei¬ zeriſchen Naturforſcher Deſor und Karl Vogt ſetzten die Forſchungen, mit vergleichenden Unterſuchungen über verwandte Infuſorien am Neuenburger See, fort und ſo iſt heute durch die Erkenntniſſe der exakten Wiſſenſchaften jener Zauber der Alpengeiſter und verbann¬ ten Säumer-Seelen endgültig für alle Zeiten gelöſt.
Die Hauptmaſſe des rothen Schnees wird von einem Infuſo¬ rien-Geſchlechte (Disceraea nivalis) gebildet, welches ſich durch einen rundlichen oder eiförmigen Kieſelpanzer auszeichnet, der nur wenig vom Thiere abſteht, aber hell und durchſichtig iſt; mitunter ſchließt er jedoch auch ſo enge an, daß ſeine Gegenwart durchaus nicht zu erkennen iſt, beſonders wenn das Thier ſich bewegt. An dem ſpitzeren Ende des minutiöſen Thierchens unterſcheidet man bei hinreichender Vergrößerung zwei orangegelbe Lippen, von denen zwei lange fadenähnliche Rüſſel ausgehen, die wohl die doppelte Körperlänge haben mögen. Während das Thierchen ſich bewegt, ſind ſie in fortwährender Vibration und ſcheinen alſo ſeine rudern¬ den Arme zu ſein, da es keine Wimperorgane um den Mund hat, wie die meiſten anderen Infuſorien. Hält es in ſeiner Ruder - Promenade inne, ſo zieht es die beiden Rüſſel mit einer ruckenden Bewegung ein, und bei völlig ruhenden Thieren ſind ſie gar nicht wahrzunehmen. Die erwachſenen Thiere ſind meiſt gänzlich un¬ durchſichtig.
Eben ſo merkwürdig wie die körperliche Organiſation und Lebensweiſe dieſes, nur in einer Kältetemperatur von mindeſtens Null-Grad exiſtenzfähigen, unendlich kleinen Geſchöpfchens iſt, eben ſo wunderbar iſt die Art ſeiner Vermehrung. Dieſelbe erfolgt nach noch unbekannten Geſetzen und Bedingungen bald durch Thei¬ lung, ſo daß das Thier ſich in 2, 3, 4, 6 oder 8 Stückchen ſpal¬ tet, von denen jedes nun ein eigenes ſelbſtſtändiges Individuum181Rother Schnee. wird, wächſt, und endlich, wenn es ihm und ſeinen Geſchwiſtern zu eng im umgebenden Elternhauſe wird, den gemeinſamen Kieſel¬ panzer ſprengen, um nun auf eigene Fauſt zu leben und zu rudern in dem kleinen Weltall, das unſerem Auge faſt wie ein Nichts er¬ ſcheint, — oder ſie pflanzen ſich durch Abſenker fort, die als waſſer¬ helle Bläschen wie minutiöſe Schweißtropfen am Originalpanzer heraustreten, wachſen, ſich ablöſen, ſtrohgelb, dann roth werden, bis ſie dem Mutterthiere gleich ſind.
Die Beobachter nehmen endlich noch eine dritte Fortpflanzungs - Art, nämlich durch Eier, an, erklären jedoch ihre dahin bezüg¬ lichen Wahrnehmungen für ſehr ungenügend, um mit einiger Zuverläſſigkeit eine Behauptung aufſtellen zu können. Thatſache iſt es, daß man in allem rothen Schnee kleine Kügelchen von ro¬ ther Farbe findet, die oft unter den ſtärkſten Vergrößerungen nur wie Punkte erſcheinen, und neben denen ſich alle Stufen der wach¬ ſenden Größe bis zu derjenigen der vollkommenen Disceräen erkennen laſſen, — eben ſo wie die Uebergänge von der runden Kugelform zu der Eiform.
Außer dieſen Infuſorien zeigt ſich in allen Arten des rothen Schnees noch ein zweites Produkt, das aus einer dunkelrothen, ins Blaue oder Braune ſpielenden Kugel beſteht, um welche eine Menge heller, durchſichtiger, koniſcher oder pyramidal zugeſpitzter Körper angeſetzt ſich zeigen, die der Erſcheinung das Anſehen eines roſettirt geſchliffenen Steines, oder eines mit kleinen Dia¬ manten beſetzten Rubins geben. Das Verhältniß der inneren, rothen Kugel zu den aufgeſetzten, wie Kryſtalle glänzenden Stück¬ chen iſt ſehr verſchieden, und da dieſe räthſelhaften Organismen ſich nicht bewegen, ſo wiſſen die Beobachter nicht, ob ſie dieſelben ins Pflanzenreich zu den Protococcus-Arten, oder zu den Infuſions - Thierchen zählen ſollen.
Ein drittes, noch weniger beobachtetes Individuum, welches nach allen Unterſuchungen nie im rothen Schnee fehlt, aber gleich¬182Rother Schnee. falls leblos zu ſein ſcheint, iſt ein bräunlich, gelblich oder grün¬ liches Weſen, das niemals roth, wie längliche Bläschen ſich zeigt. Auch von dieſem können die Naturforſcher noch, nicht mit Beſtimmt¬ heit ſagen, ob es eine Alge (alſo Pflanze), oder ob es ein Thierchen ſei.
So ſchafft und wirkt der unendlich große Gottesgeiſt der Natur in einem Elemente, deſſen Sein und Weſen uns gemeinig¬ lich gleichbedeutend mit dem Tode iſt, und eröffnet uns die Per¬ ſpective in eine neue, ungeahnte Welt voll lebender Weſen, von deren Exiſtenz und Entſtehung wir uns kaum einen Begriff machen können.
Stolzen Haupts im SonnenſtrahleStehn die Rieſen unbeſiegt,Während etwas Staub im ThaleIhnen von den Sohlen fliegt.
Alle großen Alpenthäler, die in den Formationen der Schiefer -, Kalk - und Flyſch-Gebilde liegen und von ſtarren Seitenwänden eingeſchloſſen werden, zeigen ſtreckenweiſe zwei landſchaftliche Erſchei¬ nungen, die ſelbſt dem oberflächlichſten Beobachter auffallen müſſen. Ganz beſonders laſſen ſich dieſelben im romantiſchen Rheinthale wahr¬ nehmen. Auf der, wegen ihrer prächtigen Alpendekorationen mit Recht hochgeprieſenen Eiſenbahnlinie (vielleicht der ſchönſten des Kon¬ tinentes), welche von den Ufern des Bodenſees nach Graubündens Hauptſtadt Chur führt, erblickt man von den Stationen Haag, Werdenberg und Sevelen aus, am jenſeitigen Rheinufer im Für¬ ſtenthume Lichtenſtein unter den fünftauſend Fuß hohen Felſenfron¬ ten der „ Drei Schweſtern “, gleichmäßig in einer Böſchung von etwa zwanzig Grad, vom Rhein gegen die Berge anſteigende, theils mit Wald und Wieſe, theils mit Weingärten überwachſene Halden, die ſtellenweiſe von breiten, grauen, vegetationsloſen Steinſchutt - Linien, ähnlich dem trockenliegenden Bett bedeutender Flüſſe, unter¬184Die Rüfe. brochen werden. Auffallender und ausgedehnter zeigen ſich dieſe ſchiefen Ebenen tiefer im Thale, hinter Ragaz, zwiſchen den Sta¬ tionen Meyenfeld und Landquart, am Fuße des maleriſchen, keck¬ ausgezackten, 8000 Fuß hohen Falknis, — und am bedeutendſten, wenn man die Landquart paſſirt hat, bis Chur, immer auf der gleichen öſtlichen Seite, unter den originellen pyramidal-zuge¬ ſpitzten Hörnern der Hochwang - und Montaline-Kette. Alle ſind Reſultate der allmähligen Gebirgsverwitterung, der immerwähren¬ den Herabſchwemmung losbröckelnden Geſteines, alſo der fortdauern¬ den Alluvion, wie ſie ſchon Seite 47 erwähnt wurde; freilich wohl das Reſultat von Jahrtauſenden. Denn viele Ortſchaften Grau¬ bündens, die ſchon im frühen Mittelalter genannt werden, liegen auf ſolchen Anſchwemmungs - und Schutt-Hügeln. Dieſe breitge¬ dehnte, ſtetig-anſteigende, ſchiefe Ebene, durch nahe liegende hohe Felſen-Proſpekte geſchloſſen, wird, wie geſagt, von breiten Schutt¬ rinnen durchſchnitten, die wie durch einen Trichter geſchüttet, oben am Bergabhange ſchmal, nach unten, gegen den Rhein zu, im Thale breit ſich ausdehnen. Das ſind die ſchrecklichen, von den Anwoh¬ nern gefürchteten Rüfen, die Abzugskanäle der im Gebirge ſich entladenden Donner - und Hagel-Wetter, der plötzlich in Strömen herniederbrauſenden Platzregen und der Schneeſchmelze, — die während des größten Theiles vom Jahre trocken und trotzig-indif¬ ferent daliegen, aber, — wenn ſie zu thun bekommen und raſch in Aktivität gerathen, dann um ſo Schrecken-erregender arbeiten. Ein Spaziergang in eine dieſer unheimlichen Werkſtätten wird uns näher mit deren Detail-Anordnung, deren durchaus eigenthümlichen Eindrücken bekannt machen. Wählen wir dazu die Rüfe, welche aus dem verrufenen, wenig beſuchten, von keinem Geſpenſter-Gläu¬ bigen betretenen Skalära-Tobel zwiſchen Chur und Trimmis herab¬ kommt, par excellence „ die große Rüfe “genannt, und ſteigen wir aus dem breiten verſandeten Rheinthale bergwärts auf.
Drunten decken magere, mit kurz-rispigen Gräſern dicht be¬185Die Rüfe. wachſene Almend-Weiden, im heißen Sommer dürr, kränkelnd und verbrannt, die emporſteigende Ebene. Sie haben etwas Sammet¬ artiges, Anheimelndes im Frühjahr und nach lebenverjüngenden Regenperioden; denn gerade die niedrigen Seggen-Arten, dieſe freundlichen, beſcheidenen Gräſer-Zwerge, welche den pflanzlichen Grundton dieſer Wildwieſen angeben, beſonders Carex alba mit den feinen ſchlanken Stengelchen und den darum gruppirten hellgrünen Frucht-Knötchen, dann Carex pulicaris, deren niedliche, kaum finger¬ lange Samen-Lanzen mit den ſchwärzlich verkohlten Körnerhülſen ſo neugierig in die Welt hinausſchauen, und die dichtraſigen Koelerien mit den pfriem-ähnlichen, dünnen, kurzen Grashälmchen, geben dem wellenförmigen Boden ein ſo einladend-weiches Anſehen, wie die kurzen gedrängten Kräuter der höheren Regionen den Alpweiden. Wirklich erinnert manch anderes Pflänzchen an die ſchwellenden Polſter unſerer natürlichen Alpen-Divans, wo es ſich ſo diogeneiſch - genügſam und ſeelenheiter ruhen und ins erblauende, tief drunten liegende Menſchenland hinabſinnen läßt. Dennoch iſt ſo eine Bündner Almend-Wieſe vor und zwiſchen den Rüfen etwas ganz Anderes als eine gewöhnliche Almend - oder Alp-Weide. Kurzes, ſtrammes Tannengeſträuch, dicht gedrungen ineinander genadelt, mitunter etwas legföhrenartig, ſchon recht alpin-gnomenhaft, und zerſtreute Fichten mit darunter gebetteten Steinblöcken, treten ſpora¬ diſch darin auf. Nach und nach geht die Weide in aſchgraue, von Geſchieben und Schwemmland bedeckte, ſandige Wüſten über. Hier iſt mit Einemmal der botaniſche Charakter ein total veränderter. Mannshohes Buſchwerk friſtet, bei abwechſelndem Ueberfluß an Feuchtigkeit und intermittirender brennender Trockenheit, ſeine Exi¬ ſtenz; es ſind lauter zählebige Sträucher: der gemeine Sanddorn (Hippophaë rhamnoides), der Eſſigdorn oder Weinſchöttling (Ber¬ beris vulgaris) mit den violett bethauten, rothleuchtenden Beeren - Trauben und den ſcharf genadelten lederartigen Blättern, — die dem Sevenbaum ähnelnde, roſigblühende, deutſche Tamariske (Tamarix186Die Rüfe. germanica), viele Weidenarten, namentlich auch die Rosmarin - Weide und eine kleinblätterige Gattung der Salix purpurea von ungemeiner Schönheit und Eleganz der feinen nobelen Blätterform. Am Boden ſteht hin und wieder der ſtark nach bitteren Mandeln riechende, weiße Steinklee (Trifolium officinale) und überraſchen¬ der Weiſe Fremdlinge, die wir hier im Thale zu ſehen nicht ge¬ wohnt ſind, weil ihre Heimath einige Tauſend Fuß höher liegt; es ſind vom Wetter herabgeſchwemmte Alpenpflanzen, Auswanderer, die ſich hier unten angeſiedelt haben und wirklich ſich zu akklimati¬ ſiren ſcheinen. Dort wirkt freundlich die kleine, blaßblaue Alpenglocke (Campanula pusilla), und neben ihr die traganth-artige Berglinſe (Phaca astragalina) ziemlich behaart mit den weißen, blauzuge¬ ſpitzten Blümchen; dann der Berg-Spitzkeil (Oxitropis montana), — und im Sande kriecht, etwas unbehaglich und desorientirt, die ſonſt in der Höhe ſo freundlich grüßende, wolfsmilchblätterige Saxifraga aizoides mit den ſafrangelben, fünfblätterigen Blümchen und korpulenten Fruchtknoten. Es drängt uns, dies unliebſame Strand-Boskett zu verlaſſen, welches durch breitgewipfelte, einiger¬ maßen an die Pinie des Südens erinnernde Fichten noch melan¬ choliſcher geſtimmt wird.
Die hellgrau, mitunter ſilberſchimmernd glänzenden Schiefer¬ ſcherben mit den reichlich dazwiſchen geſtreuten weißen Feldſpath - Brocken nehmen zu, die Partie wird verwüſteter, zerriſſener, der Boden brennt von der rückſtrahlenden Sonnengluth, er iſt ganz vegeta¬ tionsentblößt; wir ſtehen am Rand der Rüfe, wo ſie in ungehemm¬ ter Bequemlichkeit Jahrhunderte lang ſich ausdehnte und alles Nutz¬ land ringsum mit ihrem ſpröden, zu ſandartigem Staub verwittern¬ den Gebirgsunrathe verwüſtete. Die Eiſenbahn mußte gegen ſolche alt eingewurzelte Ungezogenheiten vorkommenden Falles ſich verwah¬ ren; ſie bannte den unbändigen Raufbold, legte ihm eine techniſche Zwangsjacke in Form eines, aus ſeinem eigenen Geſteinsmaterial gepflaſterten, tief ausgehöhlten Kanales an, und dieſen Weg muß187Die Rüfejetzt bei jeder Rüfe das ſchmutzige ſchwarzgraue, hetzende Wildwaſſer hinab in den Rhein nehmen, wenn anders der wilde Alpengeiſt nicht über kurz oder lang auf den neckenden Einfall kommt, den Leuten zu zeigen, daß all ihre Weisheit und Vorſicht ohnmächtig und nutzlos iſt, ſo bald er von der Gewalt des Stärkeren Gebrauch machen will. Denn wenn das Wetter losgeht, weiß man nie mit Sicherheit, wo eine Rüfe anbricht. Darum, wenn im Frühjahr der Föhn andauernd heftig in der Höhe weht und der Hochſchnee eilends ſchmilzt, oder wenn ein Gewitter losbricht, müſſen die Anwohner dieſer zur Landesplage gewordenen Kanäle Tag und Nacht auf der Wache ſtehen und ſchon am Fuße der Gebirge, dort wo die Schlamm - geſättigten Ströme aus den Schluchten hervorbrechen, Acht haben, daß ſich das normale Bett nicht verſtopfe; wird dies verfehlt, ſo bohrt das mit raſendem Ungeſtüm einherbrauſende Wildwaſſer ſich neue Bahnen, bricht in die Güter ein und zerſtört Alles, was ihm im Wege liegt. Daher kommts, daß Weinberge, die ſonſt ſehr bedroht waren, jetzt, wo die Rüfe ein anderes Bett ſich gewühlt hat, nun völlig geſchützt im Frieden ihre köſtlichen Trauben reifen können. Manchmal fällt im Dorfe Trimmis kein Tropfen Regen und im eine Viertelſtunde entfernten Maſchänzer und Skalära - Tobel hängt ein Gewitter, das in ſündfluthlichen Strömen ſich ent¬ ladet und wie aus Malakoff-Baſtionen ſeine Blitz-Salven ununter¬ brochen herausfeuert. Bald geht beim Hochwetter die eine, bald die andere Rüfe, während eine von beiden trocken liegt; und doch ſind beide kaum viertauſend Fuß (in horizontaler Projektion) von einander durch einen Gebirgskeil getrennt. Man weiß darum nie, von welcher Seite das Unglück hereinbricht.
Verlaſſen wir für eine kurze Strecke den Rüfen-Kanal, um auf anmuthigerem Wege hinauf in die oberen, wilderen Partieen zu ſteigen. Der Pfad führt durch fette, im gaukelndſten Blumen¬ flor prangende Kultur-Wieſen, auf denen, neben den allgemein be¬ kannten Wieſenkräutern, beſonders viele hell-lilla-blühende Sca¬188Die Rüfe. bioſen (Scabiosa columbaria), der gelbe Sichel-Klee (Medicago falcata) und die prangend blauen Kerzen der Wieſen-Salbey (Salvia pratensis) im Juni und Juli als charakteriſtiſch-kolorirende Pflanzen auftreten. O, ſo ein Schlenderweg in einem dieſer paradieſiſchen Alpenwinkel bei goldig-ſonniger Beleuchtung, wo ein wogender Blumen-Ocean die Stätten wilder Zerſtörung zu überwuchern ſich beſtrebt, wo weitarmig-ausgreifende Nußbäume ihren hohen Blätter¬ frieden wölben und der ſüßduftende Hollunder, dieſes ewig an Kleiſts Käthchen erinnernde Attribut mittelalterlicher Burgen-Roman¬ tik, ſeine ſchweren Blüthendolden in zuvor kaum geſehener Menge ausſtreut, — wo der Fernblick in ein Berg - und Thal-Panorama ver¬ ſinkt, bei deſſen Anſicht die Seele hellaufjauchzend, ſich in die Natur ergießen möchte, — ſo ein Schlenderweg, nicht allenthalben zu finden, iſt für Jeden, der offenen Sinn und herzliche Freude an Gottes großer, herrlicher Alpenwelt hat, ein unſchätzbares Kleinod.
Weiter! — Wie ſichs die Bündner Bauern zu Nutz machen und das Nützliche mit dem Nützlichen verbinden, das ſieht man hier; — wo Andere an der Gränze ihrer Grundſtücke Holzhage aufführen, die ſie alljährlich korrigiren und ausbeſſern müſſen, da lieſt der Bewohner des Hochgerichts der fünf Dörfer (ſo heißt die Gegend zwiſchen Chur und der Landquart) die herabgeſchwemmten, ſein Nutzland verderbenden Steine auf und baut bruſthohe Mauern daraus. Das trifft man übrigens in anderen Thälern auch. Auf dieſen Mauern und aus den Spalten derſelben quellen in dichter Fülle der ſaftige weißblühende Mauerpfeffer (Sedum album), ſeiner dicken körnerartigen Blätter halber auch „ Steinweizen “genannt, — und daneben ſein Zunft-Kumpan, der blendend-goldgelb-blühende ſcharfe Mauerpfeffer (Sedum acre), ein fröhlich wucherndes fettes Felſenpflänzchen mit tropiſchem Habitus. Darunter in ernſterer Färbung die faſt peterſilienartig ausſehende gemeine Mauerraute (Asplenium ruta muraria) und eines der netteſten Farrenkräuter, die es giebt, das reizende, kleine, ſchmale Palmenzweiglein dar¬189Die Rüfe. ſtellende Asplenium trichomanes, die beide ihre Samen auf den Rückſeiten der Blätter tragen.
Der Weinbau iſt auf dieſen Felſenſchutt-Terraſſen, namentlich drunten bei Jenins und Malans, vortrefflich im Schwunge. Hier wird ein feuriger, dunkelrother, ſehr ſchwerer Wein gebaut, der nach agrikultur-chemiſchen Unterſuchungen ſeinen bedeutenden Gerbſtoff¬ gehalt hauptſächlich von dem Feldſpath bekommen ſoll, der dem Boden in Menge beigemiſcht iſt. Ueberall glimmerts und glitzerts, blendendweiß, lecker und appetitlich, wie Marzipan von dieſen Feld¬ ſpathſtückchen. Unſer Weg geht noch weiter hinauf, in den Wald. Ein Anflug junger Tannen, dazwiſchen dornumſtarrte Steinhalden, nimmt uns auf. Der Weg iſt ſand-wüſt, aber eine Wildniß wuchernder Waldkräuter umgiebt uns.
Hinein! in den ſonndurchflimmerten Tann!Das iſt eine Luſt im grünen Hag,Es blüht, was immer nur blühen mag.Blauglöcklein ſchwingen die vollen BecherUnd gravitätiſch entfaltet den FächerDie Duenna der Blumen, das Farrenkraut.Erdbeeren breiten die ſüßen RubineZur Schau aufs Moos, und mit KennermieneDie ernſte Aglei den Kram beſchautUnd nickt verneinend, will nicht ganz glaubenDem funkelnden Schein, doch die BlüthentraubenDer Berberis lachen ſie heimlich aus.
Durch ſolches Tändelſpiel unterhalten, ſind wir unvermerkt im dichten, immer dunkler werdenden Walde hinauf geſtiegen. Da lichtet ſich's; noch wenig Schritte und wir ſtehen an der Uferwand der wilden Rüfe. Das iſt kein Waldbachbett, nicht das Rinnſal eines verſiegten Bergſtromes; das iſt ein leibhaftiger Steintrümmer - Gletſcher, der mitten durch den ſtolzen Forſt in beträchtlicher Breite ſich Bahn gebrochen hat. Wie eine ungeheuere Schlange windet das graue, grauſenhafte Chaos ſich hinab, — wir können das Ende deſſelben nicht erblicken. Nichts als ſcharfkantige Schiefer¬190Die Rüfe. linge und Felſenſcherben im tollen Durcheinander, — Brocken in allen Kalibern, fauſtgroß bis zu ſolchen, die an Umfang einem hoch¬ geladenen Erntewagen gleichkommen. Dazwiſchen ſtarren abgeknickte, faſerig-zerſplitternde Baumrumpfe, mächtige Wurzelſtocken, die ihre knorrigen Arme in die Lüfte ſtrecken, und andere Waldrudera her¬ vor, die in das Getrümmer geklemmt, hier auf Erlöſung harren, bis die nächſte herabraſende Sturmfluth neues Material aus den Bergen bringt und das im Bette liegende weiter vor ſich herſchiebend, wieder in Bewegung ſetzt. Zu beiden Seiten hat die beſorgte Menſchenhand rieſige Seitendämme von regelloſen Bruchquadern aufgeführt, die mit den Moränen der Gletſcher einige Verwandt¬ ſchaft haben. — Es giebt viel Stätten gräulicher Zerſtörung im Gebirge; die Rüfen gehören zu den erſchreckendſten.
Je weiter hinauf, deſto ebener wird das Bett; nur kleineres Geſtein, oft nur grauer zerriebener feingeſchlemmter Sand, füllen daſſelbe; eine ſeichte Rinne lauwarmen, grau-trüben Bergwaſſers murmelt leiſe hinab. Dies Rieſeln und das einförmige Streichen der Luft durch die Wipfel des Tannenwaldes zu beiden Seiten ſind die einzigen Naturlaute in dieſer öden, ureinſamen Gegend. Geradeaus, in der aufſteigenden Perſpektive der Rüfe, liegt das eigentliche Skalära-Tobel. Es iſt keines jener ſchauerigſchönen, forft¬ umnachteten, tiefgeheimnißvollen Waldtobel mit dem phosphores¬ cirenden Moosgrün im feuchten Grunde und dem naiven, male¬ riſch-gelegenen Knüppelſteg über den plätſchernden, friſchen Berg¬ bach, — es iſt eine offene, baumloſe Schlucht, in welche die Sonne unbehindert hineinſcheint, von kahlen zerfreſſenen, abgeſchieferten, bröckeligen Felſenwänden, einige tauſend Fuß hoch, eingeſchloſſen, an denen man die bänderartig gebogene, wellenförmig geknickte Schichten-Struktur der granulirten, grau-ſandigen Schiefer ſtudiren kann. In eigentlicher Pyramidenform (nicht paraboliſch), wachſen die ſpitz im Triangel auslaufenden Felſenkouliſſen hintereinander auf, die tieferen immer die vorderen überragend, und an den Kan¬191Die Rüfe. ten verſuchen magere Tannen linienweiſe den Gänſemarſch zur Spitze hinauf; hinten ſchließt die Schlucht im Kernſtocke des Mon¬ taline mit einer Maſſe zerfurchter, in ſteilſter Abdachung einge¬ freſſener Schutt-Rinnen. Alſo an und für ſich ſiehts bei Tage gar nicht ſo grauſig hier aus. Was iſts auch, das uns ſo mit unheim¬ lichen Gefühlen im Anblick dieſer romantiſchen Wildniß erfüllt? Es iſt das Bewußtſein, an einer Zerſtörungsſtätte zu weilen, wo unſichtbare, gleichſam dämoniſch-waltende Kräfte ihren Sitz haben und vom Fundamentalbau des Gebirges fort und fort Theile ab¬ ſprengen, um damit den Fleiß und das Kulturbeſtreben der Sterb¬ lichen zu höhnen; — es iſt die unheimliche Thätigkeit, die geiſter¬ haft hier waltet und zu allerlei Phantasmen verleitet; — es iſt die Mahnung an den Geſpenſterglauben des Volkes, welcher die unreinen Seelen berüchtigter Verſtorbener (wie in Plato's Phädon) um ihre Gräber irren läßt und den Aufenthalt derſelben hierher verlegt. Hier iſt nach der Sage der Eingang ins Schattenreich, hier wandelt, an einem Lieblingsplätzchen, der hölliſche Proteus in allerlei Geſtalten und erſchreckt die Neugierigen. Fürwahr, für Macbethiſche Hexen-Sabathe oder Fauſtiſche Mephiſto-Beſchwörun¬ gen giebts wohl wenige geeignetere Lokale als das verrufene Skalära-Tobel. He! es wäre doch luſtig, wenn drüben aus dem dichten Erlengebüſch plötzlich eine Erſcheinung wie die des Kako¬ dämon im Byron'ſchen Manfred, ſo eine Samiels-Geſtalt im grü¬ nen Jägerwams mit ſpaniſchem Filzhut, hakenförmiger Adlernaſe und glühend-ſchwarzen Augen hervorträte! Ob wir wohl erſchrecken würden? — „ hihihihihi “lachts gellend, ſataniſch, dicht hinter uns aus lauſchigem Waldesdunkel hervor. Herr des Himmels! was iſt das? es kann doch Niemand unſere Gedanken belauſcht haben und neckend, auf unſere provocirenden Wünſche einen Trumpf ausſpie¬ len wollen? Wie? Oder hätte die Rockenphiloſophie recht, die von allerlei Spuk und dem „ Hereinragen einer myſtiſchen Geiſterwelt in die unſere “docirt? — „ hihihihihi! “gellts zum zweiten Mal192Die Rüfe. hell, hoch herab. Ein Steinwurf nach dem Fichtengipfel jagt einen Buntſpecht auf, der lachend davon fliegt. Hoho! wenn das Teufelaustreiben ſo raſch geht, dann iſt's eine billige Kunſt.
Für den, der im Gebirgswandern nicht ſchon etwas Takt erlangt hat, iſt's unrathſam, gegen die Tiefe des Skalära-Tobels aufwärts klimmend, ohne Führer vorzudringen. Im Sommer 1859 botaniſirte ein norddeutſcher Apotheker in dieſer Wildniß, verſtieg ſich, ſo daß er weder vorwärts noch zurück konnte, und mußte eine ganze lange Nacht auf ſchmalem Raſenband an jäher Felſenfluh zubringen, bis man ihn am andern Morgen fand und ſehr ermattet nach Chur brachte.
Und nun der Losbruch einer Rüfe ſelbſt, d. h. die plötzlich eintretende Entladung eines Gewitters, eines Wolkenbruches und, in Folge deſſen, die aus dem Hintergrunde eines ſolchen Tobels hereinbrechenden, von allen Jähhängen, aus allen Berg - und Schlucht-Runſen zuſammengeronnenen, unten im Bett der Rüfe ſich vereinigenden Wildwaſſer! Es iſt eine Thätigkeit entfeſſelter Gewalten in der Natur, die an furchtbarer Großartigkeit und Zerſtörungskraft der ſchrecklichen Lauine gleichſteht. Das iſt nicht jenes ſchäumende, in tauſend Kaskaden herabfluthende, immer wilde Schauſpiel eines angeſchwollenen Bergſtromes, — das iſt eine dicke ſchwarze Schlammſuppe, die mit ſchwerfälliger Geſchwindig¬ keit, mit roher, plumper Haſt ſich bewegt. Ihr fehlt das dem Waſſer, ſelbſt in der wildeſten Aufregung, immer eigenthümlich Graziöſe der Bewegung, die Leichtigkeit der galoppirenden über¬ müthig-jagenden, brandenden, ſich überſchlagenden oder zerberſtenden und ſchaumaufſpritzenden Wellen; hier iſt Alles beſtialiſch, brutal, dämoniſch. — Der angeſchwollene Bergſtrom iſt einem ſcheuge¬ wordenen, muthig-edlen Roſſe zu vergleichen, das ventre-a-terre durchgeht, aber dennoch bei ſeiner entfeſſelten, jagenden Wild¬ heit immer die Straßenlinie nicht aus den Augen verliert, auf der es fortſtürmt; — die brüllende Rüfe dagegen iſt ein raſend gewor¬193Die Rüfe. dener Stier, der in blinder Wuth keinen Weg ſieht, mit zu Bo¬ den geſenktem Haupt in die Erde hineinwühlt, eine Welt auf ſeine Hörner nehmen würde und dem Abgrund zutobt, in dem er ſein Grab findet.
Die Rüfe beginnt nicht mit Vorboten kleiner Waſſerſendungen, mit irgend einigen introducirenden Symptomen; man hört ſie höchſtens von Weitem tobend anrücken, oft (wenn das Wetter, welches ſie erzeugte, lange andauert) verſchwommen mit dem heil¬ loſen Aufruhr in den Lüften, ſo daß man nicht unterſcheiden kann, was zurückgeworfener Widerhall des Donners aus den Klüften iſt und was vom Stürzen der, von der Rüfe in Gang gebrachten Steine herrührt. Plötzlich bricht ſie hervor, ein ſtürmendes Unge¬ heuer, ein brüllendes, ſteinerfülltes Meer, ein Produkt der raſend¬ ſten Gewalt. Wie ſchon erwähnt, fließt oder ſtrömt ſie nicht eigent¬ lich, ſondern der wäſſerig-dünne Schlammfluß wälzt oder ſtößt Ge¬ trümmerhaufen, Etagen-hoch vor ſich her, in beſtändigem Sturzfall und doch ſofort ergänztem Wiederaufbau, eine wandernde, leben¬ dig gewordene Felſen-Ruinen-Wand. Bei einigen Rüfen gehts indeſſen gar nicht ſo ſchnell; oft lacht ſchon wieder heiterer Himmel überm Thal und die Sonne leuchtet warm drein, bis der gräßliche Unhold aus ſeinem Hinterhalte hervorbricht. Dies iſt namentlich bei der Skalära-Rüfe der Fall, die dafür aber quantitativ das Meiſte liefert. Es iſt ein unbeſchreiblich hohles, Alles übertönen¬ des Gepolter, — in der Summe des tobenden Lärmes etwa der heftigſten Kanonade beim Sturm-Geheul zu vergleichen, wo der ganze Skandal, ſich zu einem großen, runden, brauſenden, krachen¬ den Tonballen ineinander verwebt, der ſtundenweit hörbar iſt.
Nun gilt es nur, das Ungethüm im Gange zu erhalten. Baut ſie einmal einen Querdamm aus ihren zentnerſchweren Steinkoloſſen auf, häuft ſich hinter demſelben einmal die andrän¬ gende Maſſe, können die am Ufer mit großen Haken und Stangen beſchäftigten, ſchreienden Anwohner nicht irgendwo eine BreſcheBerlepſch, die Alpen. 13194Die Rüfe. öffnen, — dann blicht ſie ſonſtwo anders am Ufer durch, wühlt ſich ein neues Bett, reißt Bäume, ganze Waldlinien um, und der Zerſtörung tiefer liegender, werthvoller Gelände ſind alle Thore geöffnet.
In neueſter Zeit iſt viel Zweckmäßiges geſchehen, um dieſe Unholde in ihrer Kraft zu ſchwächen. Man hat drinnen, wo der Herd der Zerſtörung iſt, wo das Zuſammenrotten der Schutt¬ maſſen beginnt, die Rüfen mit Thalſperren verbaut. So im Summa-Prada-Bach, im Domleſchg, im Medelſer-Thal, im Rhein¬ wald und Puſchlav. Die großartigſte, nächſt der ſehenswerthen bei Mollis (im Kanton Glarus, wohl eine der erſten), iſt jene im Graubündner Münſterthale.
[195]Druck von F. A. Brockhaus in Leipzig.
Grün wird die Alpe werden,Stürzt die Lawin 'einmal;Zu Berge ziehn die Heerden,Fuhr erſt der Schnee zu Thal.Euch ſtellt, Ihr Alpenſöhne,Mit jedem neuen JahrDes Eiſes Bruch vom FöhneDen Kampf der Freiheit dar.
Jede maſſenhafte, ſtürzende Bewegung bereits zu Boden ge¬ fallenen, angehäuften Schnees wird in den Alpen, je nach den ortsüblichen Abweichungen „ Laue, Lauwe, Lauine, “im Tyrol „ Lähne “, in den rhätoromaniſchen Bergen „ Lavigna “genannt. Die in der hochdeutſchen Schriftſprache eingebürgerte Schreibweiſe „ Lawine “kommt im Munde des Gebirgsvolkes kaum vor. Wurzel¬ wortjäger haben auch der Entſtehung und Grundbedeutung dieſes Wortes ſchon weidlich nachgeſetzt und wunderbares Wild aus dem düſtern Walde ihrer Vermuthungen aufgetrieben; die Einen holen das Latein herbei und weiſen unfehlbar nach, daß es nur vom Verbum labor, lapsus sum, labi herkommen könne, während Andere ſich in Metaphern verſteigen und meinen, die „ Löwin “habe bei dem Worte zu Gevatter geſtanden, weil der Schneeſturz mit13*196Die Lauine. der gleichen Wuth und Kraft jenes wilden Thieres über die Felſen¬ wände ins Thal hinabſetze. Hält man den einfachen Volksausdruck feſt, ſo hat man wohl auch das Wurzelwort „ lau “raſch gefunden; mit der Bezeichnung „ Laue “oder „ Lauine “wollte der ſprach¬ ökonomiſche Bergbewohner kurz die ganze Erſcheinung zuſammen¬ faſſen und benennen, die ſich ihm bei der Wiederkehr der „ lauen “Lüfte in jedem Frühjahre zeigt.
Die Lauine iſt die Milchſchweſter der Rüfe, gleichſam das winterliche Ebenbild dieſes im Sommer ſo ungeberdig tobend aus den Höhen hereinbrechenden Unholdes. Wie bei jener iſt es ein Abſchüttelungs-Proceß des Uebermaßes deſſen, was die Höhen nicht zu bergen vermögen, — wie jene, tritt auch die Lauine ſchrecken¬ erregend in dräuender Wildheit, donnernd und weithin durch die Thäler widerhallend einher, — wie jene, hat ſie ihre trümmer¬ bedeckten Sturzbahnen, über welche ſie furchtbar herniederrauſcht, — wie jene, richtet ſie im bewohnten Kulturlande alljährlich viel Unheil an und iſt der gefürchtetſte Gaſt jedes Alpthales.
Aber ſie iſt ungleich mannigfaltiger als die Rüfe, weil ſie viel öfter und faſt allenthalben im Hochgebirge wiederkehrt. Kaum mag es einen bedeutenden Gebirgszug geben, der nicht ſeine all¬ jährlich regelmäßigen Lauinenſtürze hat. Hier hängts dann begreif¬ lich von der Figuration der Berge und Felſenwände, von ihrer mehr oder minder dem Schneefall, der Schneeanhäufung aus¬ geſetzten Lage ab, wie groß, ſtark und heftig die Lauine wird — und je nach ihrem früheren oder ſpäteren Auftreten, der Dichtheit ihres Materials, der Urſache ihrer Entſtehung und dem Effekt ihrer Wirkung unterſcheidet der Aelpler verſchiedene Arten.
Es iſt eine, im Nicht-Alpenlande beinahe ſtereotyp gewordene Meinung, daß irgend eine unbedeutende, äußere Veranlaſſung, z. B. das Schneekörnchen, welches der Fittigſchlag eines Vogels in rollende Bewegung ſetzt, die Lufterſchütterung, welche durch Geräuſch, durch das Knallen einer Peitſche, das Klingeln einer Saumroß -197Die Lauine. Glocke, ja ſelbſt durch Huſten und Sprechen entſtehe, — hinreichend oder vielmehr nöthig ſei, um den Sturz einer Lauine herbeizuführen. So wenig es ſich in Abrede ſtellen läßt, daß ſolche Veranlaſſungen unter Umſtänden allerdings Urſache von Schneeſtürzen werden kön¬ nen, ebenſowenig ſind ſie jedoch Bedingung derſelben: im Gegen¬ theil die maſſenhafteſten, furchtbarſten, gefährlichſten und regelmä¬ ßigſten Lauinen werden durch ganz andere Faktoren hervorgerufen.
Man kann ſie zunächſt füglich in Winter - und Sommer - Lauinen eintheilen. Den erſteren gehören die ſchrecklichen, gefürch¬ teten, unregelmäßig hereinbrechenden Staub-Lauinen an. Sie ſind gewiſſermaßen die ſtärkſte Form der Schneeſtürme. Entweder packt ein um die Gipfel brauſender Hochſturm unberechenbare Laſten jenes feinen, ſandähnlichen, kurz vorher gefallenen Schnees, hebt denſelben auf und läßt ihn als undurchdringliche Staubwolke da fallen, wo plötzlich die tragende Kraft des Windes gebrochen wird, — oder es iſt neuer Schnee, der auf ſehr glatter Unterlage alten, obenher vereiſten Firnes liegt, durch einen Windſtoß ins Gleiten geräth, durch wachſende Maſſe auch an Gewicht, Druck und Schnel¬ ligkeit der Bewegung wächſt, und ſo über irgend eine Wand herab¬ fährt. Die hierdurch herbeigeführte Wirkung iſt eine doppelte. Einerſeits hüllt der niederſtürzende Schnee-Ocean in ſekundenkurzer Zeit Gegenden, Häuſer, Perſonen, Vieh ſo vollſtändig ein, daß in vielen Fällen dieſelben tief, tief vergraben liegen und nur eiligſte Hilfe Rettung ermöglicht, — andererſeits aber iſt die, durch den raſchen Sturz veranlaßte Compreſſion der Luft ſo gewaltig, daß, wie bei Exploſionen von Pulverthürmen, lediglich durch den Luft¬ druck, große Felſenblöcke, Häuſer, Viehſtälle, kurzum Gegenſtände jeder Art, welche die Lauine mit ihrem Schneekitt nicht einmal erreichte, zur Seite geſchoben, emporgeſchnellt, über Abgründe durch die Luft getragen, kurz und gut in kapriciöſeſter Weiſe dislocirt werden. Weil der Wind zunächſt Urſache des Entſtehens derſelben iſt, ſo werden ſie auch Wind-Lauinen genannt; indeſſen können198Die Lauine. gerade bei dieſen fliegenden Schnee-Schmetterwolken auch andere Hebel Bewegung-hervorrufend wirken. Bei dieſem auf geneigter glatter Fläche ruhenden Staubſchnee genügt irgend ein gegebener Anſtoß, um viele Juchart große Schneefelder ins Rutſchen zu bringen, und hier iſt die Entſtehung der vulgären, in den Sprach¬ gebrauch übergegangenen paraboliſchen Redensart von dem: „ Lawi¬ nen-ähnlichen Anwachſen “zu ſuchen.
Die denkwürdigſten Unglücksfälle in den Alpen ſind durch den Ausbruch ſolcher Staub-Lauinen entſtanden. Im Jahre 1719 am 14. Januar zerſtörte eine ſolche das Dorf Leukerbad im Wallis bis auf wenig Hütten, und ſchüttete eine ſolche unerhörte Schnee¬ laſt auf die Häuſer, daß nur ein geringer Theil der in ihren Wohnungen lebendig Begrabenen ſich wieder ans Tageslicht arbei¬ ten konnte. Ein Knabe, Stephan Roth, war volle acht Tage lang ohne Speiſe und Trank in einem Winkel des Kellers einge¬ bannt und vermochte mit ſeinen geringen Kräften nicht den eiſigen Kerker zu zerſtören. Laut ſang er zum Lobe Gottes Pſalmen und Kirchenlieder, und wurde dadurch bei den energiſchen Nachgrabungen gehört, befreit und aus ſeiner Nacht hervorgezogen. Ungeachtet aller Pflege ſtarb er in der nächſten Woche; 55 Menſchen-Opfer hatte das Ungeheuer verſchlungen. — Im darauf folgenden Jahre begaben ſich, bei außergewöhnlich ſtarkem Schneefall, auch enorm viele Lauinen-Unfälle; im Dorfe Obergeſtelen (Wallis) wurden im Februar 120 Häuſer und Ställe mit 84 Menſchen und über 400 Stück Vieh von einer Lauine erſchlagen, und eine andere ver¬ ſchüttete zu Fettan im Unterengadin im gleichen Jahre 61 Men¬ ſchen. In der Gegend von Brieg im Wallis kamen 40 Menſchen ums Leben, ungerechnet der vielen einzelnen Fälle am großen St. Bernhard, im Vieſcher-Thale u. a. O. Anno 1749 wurde beinahe das ganze Dorf Ruäras im Tavetſch (Graubünden) von einer ſolchen Lauine, die an dem 2 Stunden entfernten Criſpalt herniederbrauſte, mit fortgeriſſen und über 100 Menſchen in der¬199Die Lauine. ſelben begraben. Da die Lauine in der Nacht niederging, während einer Zeit, wo alle Bewohner des Unglücksdorfes feſt ſchliefen, ſo erfuhren viele, deren Häuſer entweder nicht zertrümmert, oder nur mit Stumpf und Stiel ſanft zur Seite geſchoben wurden, Anfangs gar nichts von dem entſetzlichen Vorfall und wunderten ſich beim Erwachen nur darüber, daß die Nacht ſo lange dauere, bis ſie endlich ſich überzeugten, daß ſie in einer Schnee-Baſtille eingemauert ſeien. Durch eigene und fremde Hilfe wurden etwa 60 Menſchen gerettet. — Das bedeutendſte Staub-Lauinen-Unglück aus neuerer Zeit iſt jenes, welches 1827 das Walliſer Dorf Biel ereilte und 40 Menſchen als Opfer verſchlang. Indeſſen ſind außerordentlich viele Beiſpiele von wunderbaren, ja ſogar komiſchen Rettungen bekannt. So z. B. wurde im December 1836 im Averſer-Thale (in Graubünden) ein Haus, in welchem 12 ſpielende Kinder verſammelt waren, von einer Lauine ergriffen, horizontal fortgeſchoben und total mit feinem Schnee zugedeckt, ſo daß ſelbſt der Firſt nicht hervorſchaute. Die Eltern der Kleinen, gelähmt vom Schrecken, eilten mit Schaufeln und Spaten jener Gegend zu, in welcher ſie das Haus verſchüttet glaubten; aber noch ehe ſie beginnen konnten ernſtlich zu arbeiten, kamen die Kinder, eins nach dem andern, wohlbehalten aus dem Schnee hervorgekrochen. Noch drolliger iſt jener Vorfall, welchen Bilibaldus Pirckheimerus in ſeinem Bellum Helveticum Maximiliani I. aus der Zeit des Schwabenkrieges von 1498 erzählt; damals waren im Engadin 400 kaiſerliche Landsknechte von einer Staub-Lauine verſchlungen und über eine Anhöhe hinabgeworfen worden; — aber o Wunder! bald lebte die ganze Schneemaſſe wie ein Ameiſen-Haufen, und unter dem ſchallendſten Gelächter ihrer unberührt gebliebenen Kriegs¬ kameraden, krochen Alle ohne Ausnahme wieder hervor, Einige wohl beſchädigt, aber Keiner tödtlich verletzt.
Von der Schnellkraft des erzeugten Luftdruckes kann man, ohne Beiſpiele, ſich kaum eine richtige Vorſtellung machen. Im200Die Lauine. Graubündner St. Antönien-Thal, (durch welches ein Paßweg aus dem Prätigau über die Rhätikon-Kette ins Gargellen - und Monta¬ funer-Thal führt) ſah ein Knecht weit droben an der Bergwand, vielleicht 1½ Stunde von ſeinem Standpunkte, eine Lauine an¬ brechen und eilte, einen Stall zu erreichen, der ziemlich geſichert ſtand. Obgleich dieſer etwa nur 14 Schritte entfernt war, ſo ver¬ mochte er denſelben doch nicht zu erreichen, ſondern wurde vom vorausjagenden Windſtoß ergriffen, über das Dalfazzer Tobel hinübergeſchleudert und dort von der mit Blitzesſchnelle nachfol¬ genden Lauine begraben. — Anno 1754 wetterte von Piz Muraun eine Staub-Laui über St. Placis-Thal herab, füllte das ganze Thal von der Landſtraße bis Caprau, ſchleuderte einen aus Granit gehauenen Tränktrog von Falcaridas bis Brulf eine Viertelſtunde weit hinüber, und lediglich der Seitenwind dieſer Laui warf noch die Kuppel des öſtlichen Kloſterthurmes von Diſſentis herunter, obgleich derſelbe eine halbe Stunde vom eigentlichen Strich ent¬ fernt war. Daß die Lauine Wälder-Parcellen von einigen Tauſend Stämmen radikal durch den Luftdruck entwurzelt, oder im Schafte wie Schwefelhölzchen abknickt und weitumher ausſtreut, gehört gar nicht zu den Seltenheiten; jedes Hochalpthal liefert jährlich Bei¬ ſpiele mehr als wünſchenswerth.
In der Regel iſt es der Fall, daß eine angebrochene Lauine durch die energiſche Luftſtrömung und das donnernde, Luftſchwin¬ gungen erzeugende Geräuſch den Fall von anderen ſekundären Lauinen veranlaßt, und hieraus läßt ſich jene Mittheilung wohl erklären, welche aus dem Lauterbrunnen-Thale berichtet, daß im vorigen Jahrhundert die Stuffen-Laui 24 Stunden lang geſtürzt ſei. Ein Fall aus allerjüngſter Zeit beſtätiget Aehnliches. Im Frühjahr 1854 fand ein ſo anhaltender Lauinen-Sturz an der Schattenſeite des Realper Thales ſtatt, daß in der Ausdehnung von mehr als Stunden-Länge eine Schneemaſſe nach der anderen durch Luftdruck und Erſchütterung in Bewegung geſetzt wurde. 201Die Lauine. Wege und Straße waren mit feſtem, kompaktem Schnee 25 bis 30 Fuß hoch bedeckt, ſo daß man, um die Kommunikation zu öffnen, Tunnel durch die improviſirten Schneefelſen treiben mußte. Lauinen waren an Stellen herniedergekommen, wo ſeit Menſchen¬ gedenken keine ſolchen gefallen waren.
Dieſer Spruch in Schillers Wilhelm Tell iſt eine der Lebens¬ praxis des Gebirgsvolkes abgelauſchte große Wahrheit. Sie be¬ währt ſich in ſo hohem Grade kaum irgendwo mehr als in den Alpen. Während Läſſigkeit oder vielmehr ein gewiſſes gemächliches „ Anſichkommen-Laſſen “einen der unvertilgbaren Grundzüge im Charakter aller Hirtenvölker bildet, und ihr von Hauſe aus kontem¬ platives Weſen, ihre im langſamſten Takte vorſchreitende Bedäch¬ tigkeit jeden raſchen Entſchluß, jede wenig überlegte Handlung zurückhält, ſo iſt die Hilfsfreudigkeit, der aufopfernde Muth und die ans Herkuliſche gränzende Ausdauer bei Unglücksfällen, die durch Naturereigniſſe herbeigeführt wurden, wahrhaft großartig und läßt das Rein-Menſchliche im herrlichſten Lichte erſcheinen. „ Der brave Mann denkt an ſich ſelbſt zuletzt. “— Es ſind Stunden fieberhaft-emſigen Schaffens in bangſter Erwartung, um das Leben lieber Angehörigen, Freunde, Gemeinde-Genoſſen oder völlig fremder unbekannter Menſchen zu retten. Wo ſind die rechten Stellen, an denen Vergrabene, dem Erſtickungs - oder Erſtarrungs-Tode nahe, mit dem gnadenloſen Feinde alles Lebenden kämpfen? Häuft nicht vielleicht jeder Spatenſtich, jede Schaufel voll zur Seite ge¬ worfenen Schnees den Grabhügel nur um ſo höher über dem Geſuchten? Denn wunderbarerweiſe hören die droben Arbeitenden in der Regel kaum etwas von dem Hilferuf und dem Angſtgeſchrei der Verſchütteten, während umgekehrt Errettete vielfach und über¬ einſtimmend erzählten, jedes Wort der über ihnen Suchenden ver¬ ſtanden, ja die Stimmen von Bekannten genau unterſchieden zu202Die Lauine. haben. Nun verſetze man ſich in die peinigende, ſchon durch die umgebende Kälte gräßliche Lage armer Lauinen-Opfer, und addire das gräßliche Bewußtwerden hinzu, daß Hilfe von Freundeshand wenige Schritte weiter auf falſcher Fährte ſich bis zur Erſchöpfung abmüht. — Da, wo dann Menſchen-Weisheit am Ende iſt, beginnt der feine Inſtinkt des Thieres, und wie der Prairie-Hund ſtunden¬ weit die Fährte ſeines Herrn oder des verirrten Kindes verfolgt und endlich die Geſuchten findet, ſo iſt's auch hier der treue Haus - Genoſſe des Aelplers, deſſen feiner Geruch die Lagerſtelle Vergra¬ bener entdeckt und zur rechten Spur leitet. Der Werth der Hospiz - Hunde vom großen St. Bernhard, Simplon und Gotthard iſt zu ſprüchwörtlich geworden, und in Tſchudi's herrlichem „ Thierleben der Alpenwelt “ſo umfaſſend und treu geſchildert, als daß hier ausführlicher von ihnen die Rede ſein könnte.
Außerordentlich verſchieden in Urſache der Entſtehung, in Charakter und Wirkung, von jenen, aus lockerzuſammenhängendem Schnee beſtehenden, meiſt im Winter fallenden Staub-Lauinen, ſind die Schloß -, Schlag - oder Grund-Lauinen. Dieſe ſind ein Phänomen des Frühjahrs, wenn die Natur ihr Auferſtehungs¬ feſt feiert, und das Hochgebirge die winterlichen Träume aus den Erinnerungsfalten ſchüttelt. Hier iſts ſchon ganz anderes Material, — nicht jener ſandähnlich trockene, feine Schnee, der, ein Spiel der Lüfte, von den Winden umhergeſchleudert wird, bahn - und ziellos, — hier iſts alter „ ferniger “Schnee, welcher den Winter über an und auf den Abhängen lag, ſich verdichtete, „ Firn “wurde, alſo eine viel kompaktere, körperfeſtere Geſtalt annahm.
Nicht der Wind, der den Schnee wolkendick emporwirbelt, nicht die kleinen Urſachen, welche unbedeutende Parcellen in Gang ſetzen, nicht bloße Luft-Erſchütterung allein, vermögen die Grund - Lauine zum Fall zu bringen; ihren furchtbaren Sturz bereiten die „ lauen “Lüfte, die einziehende Wärme vor. Dieſe durchdringen die kleinen hohlen Räumchen in den unabſehbar-großen Schnee¬203Die Lauine. hängen, löſen leckend Kryſtällchen, die dem Raſen, dem Felſen, zunächſt aufliegen, in flüſſiges Waſſer auf, das den Boden ſchlüpfrig macht und den unmittelbaren Zuſammenhang beider vernichtet. Alſo langſam vorbereitet, der natürlichen Stütze oder Unterlage theilweiſe beraubt, vermag die Kohäſion der einzelnen Schnee¬ partikelchen das ganze, große, untenher gehöhlte Schneefeld nicht mehr zu halten; das Geſetz der nach Unten ſtrebenden Schwere macht ſeine Rechte geltend, die Maſſe löſt ſich ab und rutſcht, je nach der mehr oder minder ſtarken Neigung des Berges, von Sekunde zu Sekunde an Beſchleunigung gewinnend, der Tiefe zu. Alles, was ihr im Wege liegt oder ſteht, wird in die Verderben drohende Sturzmaſſe hineingewickelt und zu Thal geführt. Die Berner Oberländer nennen ſie „ Schmelz-Lauinen. “ Gegen den Anbruch dieſer Grund-Lauinen zu wirken, ſind zunächſt die Bann¬ wälder (vgl. S. 68) beſtimmt. Aber noch kleinere Pflanzenkörper vermögen viel, um den Schnee beſſer an den Boden zu feſſeln, gleichſam mit ihm zu verflechten und das Abſtürzen zu verhindern, namentlich die auf den Planggen und ſteil abſchüſſigen Hochhalden wachſenden Wildgräſer und Kräuter, — das Material, aus dem der arme Wildheuer ſeine Kuh oder ſeine Ziegen mit Winterfutter verſorgt. Dort, wo es im Sommer abgemäht wird, zeigen ſich im folgenden Frühjahr faſt überall Rutſch - und Schlag-Lauinen, wäh¬ rend die ſtehengebliebenen, im Herbſt abgeſtorbenen Grashalme ein natürliches, zähes Bindemittel zwiſchen dem Boden und dem Schnee bilden.
Die meiſten Grund-Lauinen haben ihre regelmäßigen Paſſagen, ihre ausgefegten, von Weitem kenntlichen Schurfrinnen, „ Lauinen¬ züge “genannt, durch welche ſie allfrühjährlich herniederraſen. Sie ſtehen in einiger Verwandtſchaft mit den Betten der Rüfen, nur ſind ſie minder trümmererfüllt, ſondern zeigen mehr glatt aus¬ gehobelte breite Felſenrinnen (bis 100 Fuß Durchmeſſer), in denen allerdings immer etwas Gebirgsſchutt zurückbleibt. Die Bewohner204Die Lauiue. des Tavetſch ſchneiden im Spätſommer droben in den Regionen, wo der ſtammförmige Baumwuchs bereits aufgehört hat, das Buſch¬ werk der Alpen-Erle an minder geneigten Halden ab, binden Faſchinen daraus und legen dieſe in die Lauinenzüge, um die Fallkraft der zum Sturz geneigten Schneemaſſen in ihrem zer¬ ſtörenden Effekt zu ſchwächen. Die auf ſolche Weiſe von der Lauine mit zu Thal hinabgeriſſenen Bündel braucht der Aelpler nicht herabzutragen oder zu ſchlitten; er nimmt ſie, wenn der Sturzſchnee im Hochſommer vollends drunten zergangen iſt, als Brennreiſig aus dem wüſten Schutthaufen,
heraus, und weiß dergeſtalt ſogar die ihm feindliche Kraft-Aeußerung ſich dienſtbar zu machen. Eine Sturzbahn der Lauine durch Menſchen¬ hand vorzeichnen zu wollen, würde ein ohnmächtiges Beſtreben ſein.
Da man alſo die Verwüſtungs-Züge kennt, (welche meiſt recht¬ winkelig zur Thalſohle einmünden), — da der Aelpler an der Form und Richtung der Wolken, an der Durchſichtigkeit der Atmo¬ ſphäre, aus dem Abbröckeln der kleinen Schneegarnituren von den oberen vertikal-ausgekehlten Felsgeſimſen die Lufttemperatur in der Höhe und deren ungefähren Wärmegehalt vom Thale aus beurtheilen kann, ſo fällt es ihm, geſtützt auf Erfahrungs-Normen, auch nicht ſchwer, die Zeit zu berechnen, binnen welcher die Grund-Lauinen anbrechen müſſen; hiernach kann er ſeine Vorſichtsmaßregeln ein¬ richten. Denn gar viele Lauinenzüge durchkreuzen ſtark began¬ gene Thalwege und machen die Paſſage in den Frühjahrsmonaten höchſt gefährlich; ſo z. B. in den bewohnten Walliſer und Urner Seitenthälern, alle jene Stellen auf den Kunſtſtraßen der Alpen, wo Galerien angebracht ſind, — auch einzelne Stellen in frequenten Thälern, durch welche Poſtſtraßen führen, wie z. B. im Grau¬ bündner Oberhalbſtein, im Engadin, in vielen Thälern Savoyens u. ſ. w. Außerordentlich übelberüchtiget in dieſer Beziehung iſt205Die Lauine. eine Thalſtrecke in Davos (Graubünden) zwiſchen Glaris und Wieſen, vorzugsweiſe und die Eigenſchaft zum Eigennamen erhe¬ bend „ in der Züga “genannt. — Wo Häuſer und Ställe in ſol¬ chen ungeheuerlichen Gegenden erbaut werden mußten, ſtellte die Vorſicht der Thalbewohner dieſelben immer auf Vorſprünge der Berg-Gehänge, über welche Schneeſtürze vorausſichtlich nicht herein¬ brechen können. Alle permanenten Lauinenzüge haben ſelbſtſtändige Namen erhalten; ſo z. B. im Haslithal die Golper -, Schütz -, Mäder - und Loch-Laui, — am Mettenberg ob Grindelwald die Breit - und Schmal -, die Steg -, Doldis -, Brunnhorn - und Hochthurm-Lauine. Mitunter aber ſcheint ein Berg wie auseinanderfallend ſich in lau¬ ter kleine Lauinen auflöſen zu wollen, und dann reichen keine Namen mehr hin, die Zahl der Schneeſtürze vollſtändig anzuzeigen.
Eben ſo irrthümlich wie vielſeitig das Entſtehen der Lauinen aufgefaßt wird, eben ſo unrichtig iſt oft das Bild, welches die Phantaſie ſich von der äußeren Erſcheinung des Phänomens wäh¬ rend des Sturzes entwirft. Es iſt kein kugelnder Ballen, wie man wohl glaubt, der oben in der Bildungsheimath klein wie ein Kohlkopf, nun durchs Herabrollen und durch das maſſenhafte An¬ hängen der Schneetheilchen immer größer wird, und endlich einem Globus von koloſſalem Durchmeſſer gleicht, der unten erſt, wie eine Bombe zerplatzend, ſeine Schneeladungen ausſtreut; ein ſolch progreſſives, ſphäriſches Formen, — wie man es vor Eintritt des Thauwetters im Tieflandswinter wohl ſpielweiſe von Knaben ausführen ſieht, wenn ſie einen Schneemann bauen wollen, — würde mindeſtens eine gleichmäßig geneigte, von keinen Felſentreppen und Fluhwänden unterbrochene, alſo der Hügelformation ähnliche Abdachung eines Berges vorausſetzen. Der Sturz einer Lauine, jeder Gattung, gleicht faſt immer dem Bilde eines in völligſten Schaum aufgelöſten Waſſerfalles. Gewöhnlich hört man den Sturz früher, als man ihn ſieht. Durch den donnernden Schall plötz¬ lich aufgeſchreckt, richtet der Blick des mit der außerordentlichen206Die Lauine. Erſcheinung nicht vertrauten Fremdlings ſich gewöhnlich in die Höhe und ſucht am Firmamente die Gewitterwolken, welche die gewaltig tönenden Schwingungen hervorrufen; aber droben im tiefen blauen Aether lagert lichte Ruhe, — kein Wölkchen ſchwimmt im Luft-Oceane. Schon rollt das Getöſe nachhallend durch die Thäler und erneuert jetzt abermals, ſtärker anſchwellend, die erſchüt¬ ternden Tonwellen, als das Auge niederſinkend drüben am Silber - Mantel des Berges rauchendes, von den Lüften verwehtes, ſtäuben¬ des Gewölk und unmittelbar darunter eine gleitende, niederwallende Bewegung an den kaum zuvor noch in ſtarrer Todesruhe dalie¬ genden Firnhängen wahrnimmt. Scheinbar langſam, im ſtolzen getragenen Zeitmaß, ſchwebt die Schnee-Kaskade wie breite Atlas¬ bänder über die Felſenwände herab, ſtaucht tiefer an hervortretenden Fluhſätzen auf, zerſtiebt in wollig-runde Schaumbogen und zer¬ flatternde Wolken-Wimpel, wie die Intervallen eines Strom - Kataraktes, oder verliert ſich ſekundenlang in verborgene Schluchten und ſinkt, das Schauſpiel von Stufe zu Stufe wiederholend, hin¬ unter, bis ſie auf flach auslaufenden Alpmatten oder im tiefen Trümmer-Becken zur Ruhe kommt. Mit dem Verſchwinden des vermeintlichen Stromes, verhallen auch die, den Fall begleitenden, grollenden Donner, und der Wanderer überzeugt ſich ſtaunend, daß beide Thätigkeiten in unmittelbarer Wechſelbeziehung zu einander ſtanden. Dort aber, wo der ſcheinbare Staubbach herniederwallte, zeigt eine ſchmutzige, fahlfarbene Linie in Mitte des blendenden Firnes, daß hier mehr als blos Schnee, daß Erde und Geſtein¬ ſchutt mit herabgekommen ſein muß, von denen Spuren zurückblieben. —
Dies iſt das Bild einer ſommerlichen Grund-Lauine von ent¬ ferntem, geſichertem Standpunkte ruhig und gemächlich betrachtet. Könnte man mit bedeutend vergrößerndem, ſcharf-ſpecialiſirendem Tubus die ſtürzende Lauine dem Auge näher rücken, wie ganz an¬ ders würde dieſe ſich geſtalten, wie würde ſie, gleich den ungeahnten Zellgeweben der Organismen unterm Mikroſkop, ſich plötzlich zu207Die Lauine. unermeßlichen Schneewolken ausweiten, in deren Umhüllung cy¬ klopiſche Felſenquadern, wuchtige Eismarren und zerriſſene Raſen¬ fetzen ihren Schmetterflug pfeifend und heulend zurücklegen. Was dem freien Auge wie harmlos herabſchwebende Schaummaſſe er¬ ſchien, wird in der Nähe zur tobend-jagenden Furie; denn es fehlt uns, wie überall in den Alpen, ſo auch hier für die Entfernung, jeglicher Maßſtab, nach welchem die Höhen zu beurtheilen ſind, an deren unterbrochen-vertikaler Fläche die Lauine herabſtürzt. Würde man die ungefähre Höhe jener Stelle, wo die Lauine ſich begrub, in Zahlen von der Höhe des Punktes, an dem ſie ſich ablöſte, ſubtrahiren und die gewonnene Differenz mit der Summe der Sekunden (ſo lange das Naturſpiel währte) dividiren, ſo würde man einen Geſchwindigkeits-Quotienten für die enorme Fall-Eile er¬ halten, der zugleich den donnernden Gang aufklärte.
Eine Frühjahrs-Grund-Lauine in möglichſter Nähe geſehen iſt Entſetzen-erregend, faſt unbeſchreiblich. Alle Worte und Bezeich¬ nungen ſind unzureichend, um dieſes Chaos, dieſe völlige Auf¬ löſung, dieſe gemeinſchaftliche, augenblicklich zugleich ſich entwickelnde Orkan -, Erdbeben -, Bergſturz - und Gewitter-Erſcheinung zu ſchildern. Aufruhr, Flucht, Zerſtörung, Vernichtung, begleitet von raſendem in einander verwobenem Knirſchen des ſich ſelbſt zerpreſſenden Schnees, dem ſtöhnenden Krachen zerſplitternder Bäume, dem ziſchenden Fliegen geſchleuderter Felsgeſteine und deren krachendem Anprall an die Gebirgswände, ſchrillem Gepraſſel, — genug unde¬ finirbarem, ohrenbetäubendem Getümmel, deſſen Echo aus allen Thal-Ecken hundertfältig zurückgeſchleudert aufs Neue ſich in dieſes Wüthen vermengt, das iſt der Total-Eindruck einer Grund-Lauine in der Nähe. — Ihr Material iſt fetter, dichter, ſchwerer als das luftiger Staub-Lauinen; darum keilt es ſich auch mit eiſerner Zähig¬ keit, dort wo es hineinfällt, feſt. Perſonen und Thiere von einer Schlag-Lauine verſchüttet, ſind meiſt unrettbar verloren; ſie bricht ihnen das Genick und Rückgrath, oder legt ſich hermetiſch dicht um den208Die Lauine. Körper an, ſo daß der Erſtickungstod unvermeidlich erfolgt. Der Schnee dieſer Lauinen wird ſo feſt in einander geſchlagen, daß Menſchen oder Thiere, nur bis an den Hals darin ſteckend, ſich unmöglich ohne Hilfe Anderer herausarbeiten können. Daher kommts auch, daß man in Thälern, durch welche ein ſcharfſtrömender Gebirgsbach fließt, noch im Hochſommer darüber gewölbte Schnee¬ brücken findet, welche von einem Lauinenſturze herrühren. Dieſe ſind oft ſo kompakt und dauerfeſt, daß man mit Roß und Wagen darüber fahren könnte. Sie entſtehen dadurch, daß der Bergbach von einem Lauinenſturz in ſeinem Bett behindert, ſich vermöge ſeines größeren Wärmegehaltes durchfrißt und den Bogen allmählig erweitert. Gelingt dies dem Fluſſe nicht, iſt der Schneedamm zu dicht, zu mächtig, zu hoch, ſtaut er das Waſſer zurück, ſo kann großes Unglück die tieferliegenden Orte des Thales bedrohen. Denn es ereignet ſich nicht ſelten, daß eine Lauinen-Ladung nicht nur die enge Thalſohle bis zu irgend einer Höhe ausfüllt, ſon¬ dern ſelbſt an der gegenüberliegenden Böſchung noch wieder aufwärts geſchoben wird. Wenn dann die in den Thalengen com¬ primirte Sonnenwärme den Schneedamm mürbe macht und zerfrißt, ſo bricht das zum See angewachſene Bachwaſſer mit ſeiner dynamiſchen furchtbaren Gewalt durch, reißt ringsum Uferge¬ lände ab, entwurzelt Bäume und Sträucher, zertrümmert Stege, Brücken, Mühlen, Häuſer und Ställe, ſchwemmt Nutzhölzer, Säge¬ blöcke, große Steine, Menſchen und Vieh mit fort, und verwüſtet tiefergelegene Gegenden weit hinaus.
Zwiſchen den beiden beſchriebenen Lauinenformen, liegt mitten inne eine dritte, die theils ſelbſtſtändig als Lauiſturz auf¬ tritt, noch mehr aber Veranlaſſung einer jener beiden Sturzformen werden kann; dieſe wird herbeigeführt durch die ſ. g. Wind¬ ſchirme, Schneeſchilde oder Schneebritte. Das Bildungs¬ princip dieſer im Gebirge gefährlichen Accumulationen und die Geſtalt derſelben im Kleinen kennt jeder Bewohner des Flach¬209Die Lauine. landes aus Erfahrung. Es ſind jene Schneekappen und ſpannen¬ hoch, ſenkrecht-aufgebauten Schneeleiſten, welche entſtehen, wenn bei verhältnißmäßig milder Temperatur und ſtarkem Schneefall der Wind von einer Seite große fette Flocken an Gebäude, Brunnen, Stackete und andere Gegenſtände wirft. Hat das Schneien dann nachgelaſſen, ſo verdichtet ſich die lockere Maſſe immer mehr, beugt ſich nach vorn über, und zuletzt nehmen dieſe durch Einwirkung der Sonnenſtrahlen und des Wiedergefrierens oft ſeltſam modellirten Schneeverzierungen eine völlig hängende Geſtalt an. Nun, — was hier im Kleinen ſich zeigt, formt der dichte Schneefall in den felſigen Alpen, deren Wände beinahe ſenkrecht von allerlei Spalten, Bändern, Ueberwölbungen und Façade-Geſimſen unterbrochen wer¬ den, im Großen, und zwar ſo koloſſal, daß überhangende, vom Felsgemäuer völlig abgelöſte Schneedächer, auf nur ſchmaler Baſis ruhend, entſtehen, die zentnerſchwer, jeden Augenblick niederzu¬ ſchmettern drohen. Dieſe Damoklesſchwerte hangen feſt, bis ſie unter der Laſt ihrer eigenen Schwere zuſammenbrechen, oder durch laue Luft, Thauwetter, Föhn, oder veränderte Richtung des Windes losreißen. Dieſe ſinds, nach denen der Säumer, der Rutner, über¬ haupt jeder im Winter das Gebirge durchwandernde Aelpler ängſt¬ lich meſſende Blicke emporſendet, — dieſe ſinds, die durch den geringfügigſten Umſtand, durch einen Schall, eine Lufterſchütterung ihres kaum vorhandenen Gleichgewichtes, ihres Zuſammenhanges mit der ſchmalen Felſenbaſis beraubt werden können, — ſie ſinds, wegen derer der Poſtillon mit der Peitſche nicht klatſcht, der Säu¬ mer früherer Zeiten, als es noch keine Schutzgallerien gab, die Schellen am Halſe der Thiere umwickelte, wenn er die engen Defile's der Schöllenen am Gotthard, der Cardinell am Splügen und ähnliche Schluchten paſſirte, — und dieſe ſinds, auf welche Schiller in ſeinem Bergliede hindeutet:
Schon viele Unfälle ſind durch den Losbruch von Windſchilden vorgekommen. Im März 1824 wurde auf dem Bernardino der Poſtſchlitten mit 13 Perſonen (Reiſende, Wegbahner, Conducteur und Poſtillon) von ſolch einem Sturze ergriffen und in einen voll¬ geſchneiten Abgrund geſchleudert, aus dem eilf Menſchen wieder gerettet wurden; ein Wegbahner jedoch und der Landammann von Rovredo im Val Miſocco waren durch den bloßen Druck an das Straßengeländer getödtet worden. Auf dem Skaletta-Paß zwiſchen dem Engadin und Davos (Graubünden) wurde in den zwan¬ ziger Jahren eine ganze Karavane von 52 Schlitten durch ein los¬ geriſſenes Windſchild ſammt Menſchen und Vieh verſchüttet; einige derſelben hatte der vorausjagende Windſtoß weit durch die Lüfte geſchleudert. Indeſſen kam Niemand dabei um, weil es lockerer, ſandiger Schnee war. — In der Cardinell, ehedem einem wegen ſeiner Windſchilde heillos verrufenen Paſſe, ſchleuderte der Luftdruck eines ſtürzenden Windſchildes im Winter 1800 beim Durchzug der franzöſiſchen Armee unter General Macdonald einen Tambour in den Abgrund, wo er unverſehrt angekommen ſein mochte, denn man hörte ihn in der Tiefe mehrere Stunden lang trommeln. Da es aber unmöglich war, dem Unglücklichen Hülfe zu ſenden, ſo wurde er ein Opfer der Kälte und des Hungers. — Martin Meuli von Rufenen betrat 1807 ſpät Abends mit ſeinem Kameraden Chriſtian Menn und einigen Saumroſſen die Cardinell. Plötzlich rauſchte eine Lauine herab und ſtürzte letzteren ſammt ſeinem Pferde in den Abgrund. Meuli blieb unverſehrt auf beiden Seiten von hohen Wällen Lauinenſchnees eingeſchloſſen und brachte die kalte Winter¬ nacht unter einem vorragenden Felſen zu, indem er ſich in eine Welle Tuch, die er auf ſeinem Saumroß hatte, einwickelte und dadurch ſein Leben friſtete.
Solche ſtürzende Windſchirme verdecken, gleich den Grund¬ lauinen, oft die Bergſtraßen mit haushohen Schneeſchanzen, ſo daß die Rutner mit dem bloßen Ausſchaufeln nicht würden Bahn ſchaffen211Die Lauine. können, ſondern Gallerieen durch dieſelben brechen müſſen. Dies war ganz beſonders auf den Graubündner Hochpäſſen in dem ſchnee¬ reichen Winter 1859 auf 1860 der Fall. —
Die Anwohner ſolcher Paſſagen erzählen wunderbare Geſchichten von dem inſtinktiven Vorgefühl mancher Thiere, die den Sturz von Lauinen gleichſam ahnen oder man möchte faſt ſagen prophe¬ zeihen. So iſt es notoriſch, daß an jenen Abhängen, die in irgend einer Weiſe von regelmäßigen Lauinenzügen berührt werden, ſelten oder faſt nie Spuren von Gemſen im Schnee zu finden ſind. — Die Bewohner der Bergwirthshäuſer und Hospitien verſichern, daß kurz vor dem Eintritt von Staublauinen und vor dem Sturz von Windſchilden die Bergdohlen aus der Höhe herabkommen, ſich gleichſam zu den menſchlichen Wohnungen flüchtend und dieſe krei¬ ſchend umflattern. — Abgerichtete, zum Aufſuchen Verunglückter be¬ ſtimmte Berghunde ſollen ebenfalls kurz vor dem Anbrechen von Lauinen und Guxeten eine ſichtbare Unruhe verrathen, und auf dem Simplon hats deren gegeben, die laut heulten und hinaus ver¬ langten, um ihrer Beſtimmung gemäß zu ſuchen. — Die auffal¬ lendſte Witterung jedoch zeigen die Pferde. Wir haben ſchon bei Darſtellung des Schneeſturmes geſehen, daß das Pferd vor dem Losbruch des Unwetters unaufgefordert ſeine äußerſten Kräfte an¬ ſtrengt, um raſcher vorwärts zu kommen und wenn möglich das ſchützende Haus noch zu erreichen. Ueber den Scaletta-Paß ſoll früher ein Roß lange Jahre den Säumerdienſt mitgemacht haben, welches regelmäßig durch Sträuben und Stetigwerden den bevor¬ ſtehenden Sturz von Lauinen anzeigte, während es ſonſt das ge¬ duldigſte und leitſamſte Thier von der Welt war. Die Säumer, welche es deshalb hoch achteten, verließen ſich bei zweifelhaftem Wetter faſt ganz auf dieſes Pferd. Einſt hatte es auch im Winter Paſſagiere mittelſt Schlitten zu befördern und an einer Stelle un¬ weit der Paßhöhe angelangt, wollte es durchaus nicht von der Stelle. Die Reiſenden, unverſtändig genug und der Führer zu14*212Die Lauine. nachgiebig, trieben mit den äußerſten Mitteln das Roß zum Wei¬ tergehen an. Endlich, nachdem es durch lautes Wiehern ſeinen Unwillen über die Unvernunft der Menſchen zu erkennen gegeben, zog es aufs Neue mit äußerſtem Aufwande aller Kräfte an und ſuchte durch ein faſt verzweifeltes Vorwärtseilen der drohenden Gefahr zu entfliehen. Wenige Sekunden weiter, plötzlich Krach und Wurf! — Die Lauine hatte die Reiſenden ſammt dem treuen, klugen Roß begraben.
Die Gebirgsbewohner können durch befühlende Handprobe und durch Beſichtigung des Schnees denſelben ziemlich richtig taxiren, wie weit er für Lauinen reif ſei, und danach richten ſie ihre Ueber¬ berg-Reiſen ein. Gewöhnlich werden dieſe, wenn ſie über lange und wilde Päſſe gehen, geſellſchaftlich unternommen, dann aber doch immer ſektionsweiſe, ſo daß die einzelnen Schlitten ſtets in einiger Entfernung von einander laufen; ſollte ſich dann irgendwo ein Schneefall ereignen, ſo werden doch nicht Alle zugleich davon ergriffen, und die verſchont Gebliebenen können ihren verſchütteten Gefährten zu Hülfe kommen.
Die Lauinen ſind nur eine Erſcheinung der tieferen Regionen, beſonders jener um und unter der Gränze der Holzvegetation; über 10,000 Fuß abſolute Erhebung kommen ſie kaum mehr vor. Es giebt ſchon, ſelbſt in den bedeutendſten Höhen, Schneerutſche, die ſich abwärts bewegen, und bei warmer Südluft fallen die an¬ gewehten Garnirungen von den jähen Grathen mitunter herab; aber ſolche ſehr unbedeutende Partial-Ablöſungen tragen zu wenig den Charakter der Lauinen, als daß ſie dieſe Bezeichnung ver¬ dienten. Für jene tiefer liegenden Regionen ſind ſie im Ganzen genommen, trotz ihrer verheerenden Wildheit, eine wohlthätige Erſcheinung; denn ſie befreien große Strecken Alpenweidelandes durch einen einzigen Akt von unberechenbaren Schneelaſten, zu deren Entfernung die Sonnen - und Luft-Wärme bis weit in den Hoch¬ ſommer hinein zu ſchmelzen haben würde.
[213]Druck von F. A. Brockhaus in Leipzig.
Reiche mir, Führer, den Stab, und waffne die Sohlen mit Zacken,Denn erklimmen muß ich dort jenen prächtigen Eisberg!Leite mich weiter hinauf und halte mich, daß ich nicht ſinke.Jetzt, jetzt bin ich ihm nahe, dem Gipfel! Hier ſteh 'ich und athmeReinere Luft, und ſtarre hinab in die offenen Klüfte,Blicke ſtaunend umher auf die Reihen der Eispyramiden,Sehe dort fern am Felſen hinauf die einſamen HüttenGlücklicher Sennen, und Ziegen, die fetten Weiden verfolgend.Wie es unter mir donnert! Mir iſt, als bebte der Eisberg,Drohte zu berſten und mich zu begraben unter die Trümmer!Ha! wie dort der gewaltige Strom aus der Pforte des Eisthurms,Gleich als würd' er geſchleudert, in ſchwärzlichen Wogen hervorſchäumtUnd ſich, befruchtend, ergießt in den Schooß des blühenden Thales!
Was die Lauine im wilden Sturme entfeſſelter Leidenſchaft während wenigen Augenblicken vollbringt, das führt der Gletſcher im langſam bedächtigen Vorſchritt aus. Beide haben die gleiche Aufgabe: das Hochgebirge von der drohenden Schnee-Ueberlaſtung zu befreien und einer allgemach entſtehenden Total-Erkältung des Alpengebäudes und ſeines Anlandes vorzubeugen; beide ſind aus¬ gleichende Faktoren, vermittelnde Ableitungskanäle, beide ſtreben einem Ziele zu, aber auf verſchiedenen Wegen. Die Lauine iſt eine jugendliche, unbeſonnene Erſcheinung, die allen Boden unter den Füßen verlierend, mit einem kühnen Satze dem Opfertode ſich in214Der Gletſcher. die Arme wirft und ihren, erſt in der Bildung begriffenen, noch zuſammenhangloſen Schnee-Körper in irgend einem abgelegenen Gebirgswinkel des Thales wie ein Selbſtmörder verborgen der Auflöſung anheimgiebt, — der Gletſcher iſt ein alter beſonnener Oekonom im Gebirgshaushalte, der anſcheinend faul und ſtillſtehend, dennoch in ununterbrochener Thätigkeit, mit ruhigem praktiſchen Takt, das Uebermaß des lockeren Hochgebirgsſchnees ſammelt und zu feſtem, körperhaftem Eis verdichtet, langſam ins Thal hinabbe¬ fördert. Er iſt einer der vielen tauſend wunderbaren Beweiſe von der Alles regelnden göttlichen Anordnung im großen Organismus des Naturlebens, die jedem Ding ſein Maß und Ziel giebt und durch den großen Kreislauf der Materie vor dem abſoluten Tode bewahrt.
Alles, was im Sommer von den Höhen der Schneeregion und eingeſchaltet in die Gebirgsrinnen weiß ins Thal, ins Alpendorf herableuchtet, nennt der deutſche Schweizerbauer ſummariſch „ Glet¬ ſcher “, der Tyroler „ Ferner “, der Romane „ Vadret “, der Unter-Walliſer und Savoyarde „ Glacier “. Er macht keinen phyſikaliſchen Unterſchied zwiſchen Schnee und Eis, ihm iſt Beides ziemlich identiſch. Anders die Wiſſenſchaft; ſie unterſcheidet dem Material und ſeiner Dichtheit, ſeiner Höhenlage nach, den lockeren Hochgebirgsſchnee über 10,000 Fuß Höhe, von dem tiefer vorkommenden, grieſelich-körnigen, älteren „ Firn-Schnee “, (der eben ſeinen Namen von der Bezeichnung „ Fern “, welches im Idiom „ vorjährig “bedeutet, erhielt) — und dieſen wieder vom eigentlichen durchſichtigen, kompakten Gletſcher-Eis. Letzteres entſteht aus Erſterem durch eine Menge unvermerkt vor ſich gehender Umwande¬ lungen dieſer kryſtalliniſchen Waſſerformen. Es repräſentirt ſomit der feine Hochſchnee in den höchſten Regionen gleichſam die Periode der Kindheit. Durch eigene Schwere und Druck der hinterliegenden Maſſen gleitet er langſam tiefer und wird nach und nach durch Wärme-Einwirkung inniger zu körnigen Konglomeraten verbunden,215Der Gletſcher. er tritt ins Jünglings-Alter des Firnes über. Abermals zwiſchen den Felſengaſſen tiefer geſchoben und ſomit in immer wärmere Regionen hinabwandernd, geht er weiteren neuen Umgeſtaltungs - Phaſen entgegen, ſchluckt niederfallenden Regen auf, bindet dieſen durch die innewohnende Kälte ebenfalls zu Kryſtallen und verdichtet ſich endlich zum poröſen Eis; er tritt ins Mannesalter über und wird das Material des Gletſchers. — Jetzt hat er, wie der Mann im Leben, die größten Drangſale zu beſtehen. Eingeklemmt in tiefe Gebirgsſchluchten muß der Gletſcher den Windungen und dem Fall ſeines Flußbettes folgen, gegebene Verhältniſſe zwingen ihn. Wir ſagen abſichtlich Flußbett; denn nicht nur, daß ſein Körper einem zwiſchen Berg - und Felſenketten herabkommenden, zu Eis erſtarrten Strome gleicht, ſondern der Gletſcher fließt auch, er be¬ wegt ſich, dem Fluſſe gleich, nach der Tiefe fort, freilich nur mit jener geringen Geſchwindigkeit, mittelſt welcher der Datum-Zeiger auf großen Wanduhren ſeine Wanderung fortſetzt. Er muß Laſten herabgeſtürzter Steine auf ſeinem Rücken tragen, — Furchen zer¬ reißen ſeine Oberfläche, und zerbrechend in Scherben ſtürzt er der Tiefe zu, bis er im Thal das Ende ſeiner Lebensbahn erreicht und aufgelöſt zu Waſſer dem Strome, dem Meere zueilt.
Es iſt ſchwer, ſich einen annähernd richtigen Begriff vom wirklichen Weſen und realen Ausſehen eines Gletſchers zu machen. Die beſten Abbildungen, ſelbſt getreue Photographieen, geben ſtets nur trockene, oberflächliche, man möchte ſagen „ hölzerne “Bilder. Immer iſt der Raum, ſelbſt der größten gemalten oder gezeichneten Hochgebirgs-Landſchaft zu klein, um auch nur annäherungsweiſe die gigantiſche Größe eines Gletſchers in ſeinen erſchreckenden Maſſen anzudeuten; die Verhältniſſe werden immer kleinlich, nichtsſagend. Höchſtens vermag das Stereoſkop, wenn recht vorzügliche Partial - Aufnahmen in daſſelbe eingeſchoben werden, theilweiſe eine Idee von der Großartigkeit dieſes Phänomens zu geben. Selbſt in einiger Entfernung, von einem benachbarten, gegenüberliegenden216Der Gletſcher. Berge geſehen, ſchwinden die mächtigſten Gletſcher unter dem Druck der imponirenden Felſen-Umgebung zu untergeordneten, ſchmutzig - weißen Streifen zuſammen. Dieſe, die Gebirgsrieſen der Granit - und Kalk-Dome mit ihren Zinken, Riffen und Kämmen, ſteigen frei und kühn in die Lüfte, zeigen die Größe ihrer Körperfülle in kräftigen, derben Linien und geben durch dieſe mehrſeitigen Profile Anhaltepunkte für die Höhen-Dimenſionen; — der Gletſcher birgt die Summe ſeines unberechenbaren Inhaltes in den Gebirgs-Einſchnit¬ ten, welche er ausfüllt, er iſt ein begrabener Körper, der nur die einſeitige Oberfläche bloslegt. Darum kann auch hier nur wieder eine Wanderung über den Rücken dieſer Eisſchlange, der Einblick in ſeine Spalten, Abgründe und geheimnißvollen Tiefen, das Be¬ treten eines Gletſcher-Thores uns einläßlich inſtruiren.
Ausgebildete, alle charakteriſtiſchen Merkmale an ſich tragende Gletſcher giebt es nur in den Central-Stöcken der Alpen, dort wo die Gebirgshebung unmittelbar und energiſch ſtattfand. Die größten und umfangreichſten Gletſcher-Reviere ſind die Central-Maſſen des Montblanc, der Walliſer und Berner Alpen, der Bernina in Grau¬ bünden und der Oezthaler-Gruppe im Tyrol, alſo jene, welche in ihre Hochmulden die ausgebreitetſten Firn-Magazine einſchließen. Bedeutende Gletſcher erſten Ranges enthalten außerdem die graji¬ ſchen Alpen Savoyens, die Tödi-Gruppe auf der Gränze von Uri, Glarus und Graubünden, die Centralmaſſe des Adula oder Rhein¬ waldhornes, die Silvretta-Gruppe im Unter-Engadin, die Ortler - Gruppe und die Tauern der Salzburger und Kärnthniſchen Alpen. Unausgebildete Gletſcher und ſolche von ſekundärem Range finden ſich in allen Alpentheilen, welche die abſolute Höhe von 8000 Fuß erreichen und in dieſer Höhe nur einigermaßen nennenswerthe Hoch¬ flächen einſchließen, die Schneevorräthe anzuſammeln geeignet ſind. Gletſcher in Bergzügen ſuchen zu wollen, die in ihrer mittleren Erhebung die Schneegränze (7000 — 8000 Fuß) nicht überſchreiten, würde ein vergebliches Beginnen ſein.
217Der Gletſcher.Wir ſteigen durch Wieſen und Arvenwald leicht bergan. Dichte Baumgruppen verdecken noch alle Ausſicht. Jetzt hellt es ſich auf und wir betreten, das Schattendunkel verlaſſend, nackten felſigen Boden, der ſeltſamerweiſe in allerlei Hohlbuchtungen und wellen¬ förmigen Segmenten wie vom Bildhauer ausgemeißelt und abge¬ ſchliffen erſcheint. Auf Trümmerhalden und koloſſalen Steinblöcken oder aus den Felſenritzen, deren Oeffnung ſich mit Erde ausgefüllt hat, wuchern, ein belebender Schmuck der öden Gehänge, leuchtend blühende Alpenroſen in reichlicher Menge. Noch einen Bergriegel umwandernd, — und die Ausſicht öffnet ſich, — wir ſtehen vor der Stirn des Gletſchers. Kirchthurmhohe Wände ſteigen auf und verſperren das weitere Vordringen. Iſt das ein weiß überſchneiter, urſprünglich ſchmutzig-grauer Felſen, der hier in phantaſtiſcher Bild¬ nerei überhangend hervorragt? Dem widerſprechen ſofort transparent¬ ſchimmernde, glasartig-erſcheinende Einſchnitte in der Wand, die wie tiefgelegte Falten ſich längs derſelben einſchmiegen. Wir klettern über merkwürdig aufgehäufte Blockwälle ſcharfkantiger Fel¬ ſenfragmente, roh aufgerichtete Barrikaden von bedeutender Höhe und dringen von Neugierde getrieben näher gegen die räthſelhafte Wand vor. Jetzt entdecken wir am Fuße derſelben einen weitge¬ wölbten Kanal, der in den feenhafteſten Farben ſchimmernd, nach ſeiner Tiefe hinein ſich in unbeſtimmte Nacht verliert. Jetzt ahnen wir, daß wir vor einer gigantiſchen Eiswand ſtehen. Jenes graue Geſtein, welches wir im erſten Anblick für den ſelbſteigenen Körper einer Felſenfronte hielten, ſind nur eingebackene Geſteinsreſte, mit denen der Gletſcher-Abſturz überſtreut iſt. Nun erſchließt ſich uns die erſte Ahnung von der erſchreckenden Maſſenhaftigkeit eines Glet¬ ſchers, — nun erſt drängt ſich uns die Vermuthung auf, daß die rieſige Trümmerſchanze, welche wir ſo eben überſtiegen, aus Geſteins¬ ſcherben beſteht, welche vom Gletſcher herunterſtürzten. Ein ober¬ flächlicher Blick, ſelbſt wenn wir zuvor nie uns mit Mineralogie beſchäftigten, ſagt uns, indem wir nach Stoff, Korn und Farbe218Der Gletſcher. die vorliegenden Brocken mit dem abgeſchliffenen Geſtein, über wel¬ ches wir wanderten, vergleichen, daß es ganz anderer Abſtammung iſt. Dieſe aufgebauten Haufen werden Front-Moränen, Stirn - Gandecken, Firnſtöße genannt. Sie ſind Reſultate der allmähligen Gebirgszertrümmerung und Muſterkarten der Felſenarten, welche die Gletſcher umſtehen. Der Gletſcher hat ſie aus zwei oder noch mehr Stunden entfernten Hochgebirgs-Revieren auf ſeinem Rücken lang¬ ſam hierher transportirt, und wir erhalten durch ſie den erſten Be¬ weis von der wandernden Thätigkeit des ſcheinbar ſtillſtehenden Eisgebäudes. Die Oeffnung aber, welche unten an der Eiswand ſich zeigt, iſt das ſ. g. Gletſcherthor, aus dem ein breiter, kräftiger Bach abgeſchmolzenen Eiswaſſers hervorſtrömt:
Das Waſſer iſt milchweiß oder hellgräulich-trübe, ſelten durch¬ ſichtig klar. Woher die Färbung? — Der Gletſcher mit ſeiner millionenfach-zentnerſchweren Laſt langſam über den Granit - oder Kalkfelſen ſeiner Stromſohle hinabgleitend, ſchleift unerkennbar feine Theilchen des Geſteins ab und färbt mit dieſen das Gletſcherwaſſer. Die ausgekehlten Flächen, die wir kurz vorher durchwanderten, ſind gleichfalls Reſultate dieſer polirenden Thätigkeit. Man trifft am Riffel, längs des Gorner-Gletſchers unterm Monte Roſa und nahe bei Zermatt, — am Vieſcher-Gletſcher im Oberwallis und an den Borden vieler anderer, ſolche wunderbar polirte Gneis - und Granit - Hügel, welche Kunde geben, daß einſt der Gletſcher, als er größer, höher, breiter war, über dieſe Stelle hinwegging und ſie alſo ab¬ rundete.
Manche Gletſcher haben gar kein Gletſcherthor, ſondern laufen, flach wie eine Muſchel ſich ausbreitend, ſchwach geneigt über die Thalſohle aus; — ſo der prachtvolle Rhône-Gletſcher in der Tiefe des Wallis, der Roſegg-Gletſcher an der Bernina-Gruppe u. A. — Wieder Andere haben hohe impoſante Gletſcherthore, ähnlich den219Der Gletſcher. Portalen gothiſcher Dome. Die größten und ſchönſten derſelben findet man am Glacier des Bois im Chamonny-Thal, aus dem der Arveiron hervorſtrömt, in manchen Jahren mehr als hundert Fuß hoch, — am Mortiratſch-Gletſcher unter der Bernina-Gruppe, der den Flaty-Bach zum Inn entſendet, und am Marcell-Gletſcher. So verlockend es iſt, in dieſe laſurblau oder glasgrün ſchillernden Eishallen einzudringen, ſo gefährlich iſts, weil fortwährend Steine, die droben auf dem Rücken des Gletſchers an deſſen Abſturz liegen, herabſtürzen, oder ſelbſt Eiswürfel ſich ablöſen und herniederfallen.
Blau iſt die eigentliche Farbe des Gletſcher-Eiſes, wie über¬ haupt die alles reinen Waſſers; indeſſen müſſen dennoch verſchie¬ dene Umſtände auf die mehr oder minder intenſive Färbung ein¬ wirken, weil einige ſich beſonders durch die prachtvolle Tiefe ihres Blau auszeichnen. Dahin gehören namentlich der Arolla-Gletſcher im Val d'Herins, der Roßboden-Gletſcher an der Simplonſtraße, der vielbeſuchte Roſenlaui-Gletſcher unweit Meyringen im Berner Oberlande, und der obere Grindelwald-Gletſcher. Perſonen, die in die Spalten eines ſolchen mährchenhaft beleuchteten Eisgebäudes eintreten, werden magiſch von einem blauen Lichte übergoſſen, das alle anderen Farben tödtet oder doch abſchwächt und das blühend¬ rothe, geſunde Antlitz erſtirbt in einem fahlen, blaſſen Leichenton. Es iſt ein wirklich geiſterhaftes Blau, eine, man möchte faſt ſagen ſpukhafte Farben-Erſcheinung; denn das gleiche Stück Eis, welches in der Gletſcher-Grotte von ſich aus tief Indigofeurig ſtrahlt, verliert, an das Licht des Tages gebracht, ſein ganzes herrliches Colorit und erſcheint farblos durchſichtig wie jedes andere Stück Fluß - oder See-Eis.
Wir müſſen, um auf die Höhe unſeres Gletſchers zu gelangen, an den Seitenwänden durch wildes Geſtrüpp und über zerklüftete, verwaſchene Gebirgsrudimente emporklettern.
Der erſte Eindruck, den die vordere Gletſcher-Oberfläche auf den Beſchauer macht, iſt in der Regel kein anmuthig überraſchender. 220Der Gletſcher. Die Meiſten ſehen ſchmutzig, wie mit Sand und zerſtoßenem Berg¬ ſchutt beſtreut aus, etwa einen verwandten Anblick bereitend als wie im Frühjahr, wenn nach bedeutendem Schneefall in den Städten Thauwetter eintritt. Es giebt Gletſcher, die dermaßen mit Geröll und Gebirgsunrath überlagert ſind, daß man auf eine lange Strecke hin gar kein Eis erblickt. Dieſer ſchmutzige Bewurf rührt von den Mittel-Moränen oder Guffern her, die wir gleich näher werden kennen lernen.
Je weiter wir empordringen, deſto zerklüfteter wird die Fläche, aber auch deſto reiner tritt der Eiskörper wieder hervor. Da feſſeln denn unſere Aufmerkſamkeit zunächſt auffallend-geſtaltete, riſſig-zer¬ klüftete, pyramidal-emporgezackte, rieſige Eisſplitter, die auf die Bruchkante geſtellt, bald überhangend-geneigt, bald ſtarr und trotzig auf breiter Baſis, in poſitiver Haltung verharrend, das abenteuer¬ lichſte Durcheinander plaſtiſcher Modelle vorführen. — Noch einige Schritte hinaufklimmend am Gletſcherrande, erreichen wir einen freien Ausſichtspunkt. Himmel! welche Zerſtörung, welches Klippen - und Zacken-Meer, welches wüſte Formen-Gewirr? Was iſt das Trümmerfeld eines Bergſturzes gegen dieſes, ganz außer dem Gebiete unſerer herkömmlichen Anſchauungsweiſe liegende, mehr als phantaſtiſche Chaos? Hier iſt nicht das Rohe, Steinbrüchige, Abſolut-Anorganiſche der Felſen-Stürzlinge, wie wir es allent¬ halben ſchon ſahen, — hier leuchtet unverkennbar bildneriſches Element aus Allem hervor, ein ausgeartetes, uns völlig fremdes Formengeſetz, zu dem wir jedoch den leitenden Gedanken nicht raſch genug herausfinden können, tritt uns entgegen. Unſere Augen ſchweifen beängſtiget und neugierig-ſuchend umher, und immer mehr entdecken ſie eine Grunddispoſition, ohne jedoch den erwünſchten Ruhe - und Anhaltspunkt finden zu können. Hat ein titaniſcher Architekt hier den Verſuch gewagt, dem geiſterhaften Alpenkönige aus Eisquadern ein Luſtſchloß errichten zu wollen, und hat er ſeinen ornamentalen Phantaſieen in bizarrſter Form Körper verliehen,221Der Gletſcher. das Bauwerk aber unaufgeführt liegen laſſen? — So drängt ſichs in uns, wenn wir zum Erſtenmal denjenigen Theil eines großen Gletſchers überſchauen, der mit ſ. g. „ Gletſcher-Nadeln “bedeckt iſt. Woher in ganzer Breite dieſe ſeltſame Scherben-Anhäufung? Wollen wir zur Verſtändigung uns eines Vergleiches bedienen, ſo ſagen wir: es iſt der Waſſerfall des Gletſcher-Fluſſes. Wie der Strom da, wo ihm plötzlich ſein Bett fehlt und abbricht, weil auch das Thal eine Stufe macht, — in Giſcht und Schaum zerſtäubt hinunter tobt, um dann drunten in einem tieferliegenden Bett ſeinen Weg fortzuſetzen, ſo hat auch hier der langſam-fortrückende Glet¬ ſcher plötzlich den Boden unter ſich verloren, die ſpröden Eismaſſen konnten ſich nicht halten, ſpalteten, riſſen von ihrer Schwere ge¬ drängt ab und ſtürzten hinunter. Aber Brocken auf Brocken häuften ſich dieſelben ſo an, daß die Tiefen-Differenz dem Auge entſchwand und wir nun blos die, in ſtarker Neigung abwärts ſtrebende Ober¬ fläche der Eistrümmer-Summe erblicken. Es würden auch Scherben ſein ähnlich denen, wie wir ſie im Kleinen während des Win¬ ters in den Städten erblicken, wenn der Conditor ſeine Eiskeller neu mit Vorräthen verſorgen läßt; hier aber modelliren unſichtbare Hände an den geſtürzten Gletſcher-Brüchlingen herum, höhlen die¬ ſelben aus, ſchleifen ſie ab, und die verborgenen Künſtler, welche ihnen ſtets neue Formen geben, ſind die Sonne, erwärmte Lüfte, Regenſchlag und rückkehrender Froſt. Dieſe Modelleure und Pla¬ ſtiker lecken und waſchen bald an dieſer, bald an jener Stelle längs der kryſtalliſchen Bruchkanten herum und formen ſo wunderſam, daß aus dieſer nimmerraſtenden Thätigkeit jene ungeordnete und doch einheitliche Geſammt-Wirkung entſteht, welche ſo frappirt. Weil aber alle behülflichen Faktoren von Oben wirken, ſo wird auch die Kuppe der Eistrümmer am Eheſten angegriffen und daher die Obelisken - oder Thurm-ähnliche Form, die man bezeichnend „ Gletſcher-Nadeln “nannte, weil ihre Spitzen oft ungemein ſcharf gegen das Zenith auslaufen. Exemplare von dreißig bis fünfzig222Der Gletſcher. Fuß Höhe ſind am Gorner-Gletſcher ob Zermatt (im Wallis), am Glacier des Bois unterm Chapeau und am Montanvert, ſo wie tiefer drin am Glacier du Talèfre (beide im Chamouny-Thal) und am Paſterzen-Gletſcher beim Groß-Glockner durchaus keine Seltenheiten. Auch der Rhône - und die beiden Grindelwald-Glet¬ ſcher ſind reich an ſolchen. Sie überdecken bei Manchem viertel¬ ſtundengroße Flächen.
Aber, ſo wie die Schaumwolken des Waſſerfalles drunten raſch die gefangenen Luftbläschen wieder entlaſſen und ſich zu der glatten, homogenen Fluß-Fläche wieder vereinen, eben ſo verwachſen die Eis¬ trümmer, nicht weit unter ihrer Katarakt-Linie, mittelſt Kompreſſion, Durchfeuchtung und Wiedergefrieren der eingeſickerten, tropfbar¬ flüſſig gewordenen Abſchmelzwaſſer, bald wieder zu einem Körper - Ganzen, das am Ende die kompakte Gletſcher-Front bildet.
Weiter hinauf! Wir können nun den Gletſcher endlich betreten. Es iſt gegen Mittag und die Sonne ſcheint warm. Wie ganz anders, als wir ſie uns dachten, geſtaltet ſich nun die ziemlich ebene Oberfläche. Sie iſt von tauſend und abermals tauſend Rinnen und Rinnchen durchfurcht, die kreuzend und mäanderiſch ihre Bahnen gebildet haben. Emſig eilen die kleinen Waſſeradern des kaum einen Grad Wärme haltenden, diamantklaren Eiswaſſers größeren bach-ähnlichen Furchen zu, deren Bett ebenfalls aus durchſichtig¬ hellem Gletſcher-Eis beſteht. Dieſe Bäche aber ſtürzen nach kurzem Laufe, laut rauſchend in tiefe, trichterförmige Löcher, „ Mühlen oder Moulins “genannt, in denen ſie ſpurlos verſchwinden. Es ſind geheime Kanäle, die in allerlei Windungen und Verzweigungen bis auf den Felſengrund des Gletſchers hinabreichen und dem aus dem Gletſcherthor hervorquellenden Gletſcherbach Nahrung zuführen. Die ganze ſanft gewölbte Oberfläche des Gletſchers glitzert und leuchtet vom Reflex der Sonnenſtrahlen auf dem blanken, waſſerüberron¬ nenen Eiſe; eine unendlich fieberhaft-zitternde Beweglichkeit iſt über die ganze Eishalde ausgegoſſen, ſo daß ein wie von Monaden223Der Gletſcher. belebtes Flimmern entſteht. Feſten Fußes und ſicheren Trittes läßt ſichs ganz gut über den ſchwitzenden, glanz-erfüllten Gletſcher wan¬ dern; wer aber nicht derb zutritt und etwas Anlage zum Ausgleiten hat, kann verſichert ſein, alle zwei bis drei Minuten im Naſſen zu ſitzen. Dieſe unheimliche Lebendigkeit, dieſes glurrende, ſingende Rieſeln in den netzförmig die Spiegelfläche überſpinnenden Rinnen währt, ſo lange die Sonne ihre auflöſenden, froſt-zerſetzenden Strahlen niederſendet; ſobald dieſe hinter die umſtehenden Berge tritt, ver¬ ſtummt allgemach das kleine Leben, der erſtarrende Todeshauch ſtreift über die Eiswüſte und bindet die rieſelnden Tropfen wieder zu Kryſtallen, und noch ehe es Nacht geworden, lagert lautloſe Grabesſtille auch über dieſem Alpenwinkel.
Das Weiterwandern würde nun gar keine Schwierigkeiten haben, wenn nicht eine neue Zerklüftung des Gletſchers, diesmal aber nicht in aufrecht ſtehenden Trümmern, ſondern nach unten, ſich zeigte. Es ſind die berühmten und berüchtigten „ Querſpal¬ ten oder Crevasses “welche bis zu bedeutender Höhe hinauf den Gletſcher durchziehen. Manche der alpinen Eismeere ſind von dieſen Tiefriſſen ſo durchſetzt und zerborſten, daß ein Wandern über dieſelben faſt zur Unmöglichkeit wird, oder doch in ein Labyrinth führt, aus welchem ſich herauszufinden eine ſchwierige Aufgabe iſt. Es giebt der Beiſpiele genug, daß Reiſende mit Führern bei nebel¬ freiem Wetter, am hellen Tage, auf Gletſchern, die kaum eine halbe Stunde breit waren, deren beiderſeitige Felſenufer man alſo in allernächſter Nähe ſehen konnte, ſich ſo zwiſchen den Spalten ver¬ irrten, daß ſie viele Stunden brauchten, um einen Ausweg zu finden. Beiſpiele von Unglücksfällen ſollen in dem ſpäter folgenden Ab¬ ſchnitte „ Alpenſpitzen “erzählt werden. Die Gletſcherſpalten haben an der Oberfläche gewöhnlich eine ſehr in die Länge gezo¬ gene elliptiſche Form, deren beide Enden ſpitz auslaufen. Breite und Länge derſelben variirt je nach der Abdachung und Mächtig¬ keit der Gletſcher außerordentlich; es giebt ſolche, die, wenn ſie224Der Gletſcher. unlängſt erſt entſtanden, leicht überſprungen werden können, und wiederum ſolche, die zwölf Fuß und mehr breit ſind. Meiſt ſteht dann die Breite im Verhältniß zur Länge-Ausdehnung derſelben, und man hat deren ſchon geſehen, die quer über den ganzen Glet¬ ſcher, von einem Ufer deſſelben, bis zum andern liefen, alſo faktiſch den Gletſcher in zwei Hälften theilten. Nach der Tiefe zu ver¬ engen ſich die meiſten. Der Einblick in dieſelben gewährt in der Regel das gleiche ſchöne Farbenſpiel, wie bei den ſo eben er¬ wähnten Nadeln; beſonders läßt ſich die geaderte Struktur des Gletſcher-Eiſes gut an den Spalten-Wänden beobachten. Die Spalten entſtehen aus ähnlichen Urſachen, wie die Gletſcher-Katarakte; zu ſtarke Spannung der Eismaſſen führen dieſelben herbei. Die Naturforſcher Hugi und Agaſſiz, welche behufs ſpecieller Studien ſich Hütten auf den Gletſchern erbauen ließen und Wochen lang dort verweilten, haben das Spaltenwerfen genau beobachtet. Es kündete ſich durch ein krachendes Getöſe im Innern des Eiskörpers an, welch letzterer, ähnlich wie bei einem Erdbeben, erzitterte. Bald darauf zeigten ſich Riſſe wie die einer geſprungenen Fenſterſcheibe an der Oberfläche, deren Fortrücken und Längerwerden mit den Augen verfolgt werden konnte. Oft war es jedoch auch der Fall, daß die Spalte unmittelbar nach ihrer Entſtehung ſofort mehrere Cen¬ timeter weit auseinander klaffte. Die Erweiterung bildet ſich dann nach und nach immer mehr aus. Es iſt indeß entgegengeſetzt auch beobachtet worden, daß bereits ausgebildete, breite und tiefe Glet¬ ſcherſpalten, in Folge der Konfiguration des Gletſcher-Bodens, ſich wieder ſchloſſen und gleichſam vernarbten. Gewöhnlich ſieht man nur wenige mit Waſſer gefüllt, weil einerſeits viele derſelben mit unterirdiſchen Tunnels und Kanälen in Verbindung ſtehen mögen, mittelſt welcher das aufgenommene Gletſcherwaſſer ſogleich weiter¬ befördert und dem Hauptbache zugeſandt wird, — andererſeits weil die, vom gewöhnlichen Fluß - oder See-Eis weſentlich verſchiedene Struktur des Gletſcher-Eiſes eine ununterbrochene Infiltration des225Der Gletſcher. Waſſers zuläßt. Letzteres iſt viel poröſer als das durch ſtarken Froſt aus flüſſigem Waſſer entſtandene Eis. Das Gletſcher-Eis, welches, wie ſchon oben bemerkt, mittelſt einer Menge von Me¬ tamorphoſen aus dem kryſtalliſirten Schnee der Hochgebirge ſich ausbildet, enthält allenthalben ſehr kleine, linſenförmige, plattge¬ drückte Luftbläschen und iſt durch und durch von unendlich fei¬ nen Haarſpalten nach allen Seiten und Richtungen hin durch¬ woben, welche ſofort Flüſſigkeiten, die über dem Eis ausgeleert werden, aufnehmen und einſaugen. Profeſſor Agaſſiz ſtellte Verſuche mit aufgelöſtem Farbſtoff an und ſah denſelben, mittelſt der unend¬ lich feinen Aederchen, das ganze Stück Eis ſchleunigſt durchdringen, als ob es ein aufſaugender Schwamm wäre; binnen kurzer Zeit war es bis auf 15 Fuß Tiefe von dem Fernambuc-Waſſer roth gefärbt.
Vermöge dieſer, dem Gletſcher-Eiſe eigenen hohlen Räume entwickelt ſich auch in demſelben die allſeitigſte, größte Thätigkeit. Der jetzige Forſt-Inſpektor des Kantons Graubünden, Herr Coaz (erſter Erſteiger der Bernina-Spitze, deſſen Mittheilungen wir noch einigemal erwähnen werden) hatte behufs topographiſcher Ver¬ meſſungen des Val Morteratſch, ſein Zelt unweit des Gletſcher - Randes aufgeſchlagen und unternahm von dort aus ſeine Excur¬ ſionen. Die Seiten-Rande der Gletſcher ſind ſehr mannigfaltig gebildet; bald liegen ſie ruhig und geſchloſſen unmittelbar an der Thalſeite an, — bald erheben ſie ſich in ſenkrechten, zerborſtenen Eiswänden, bald überbauen letztere die Ufer, ſo daß man ein gutes Stück unter den Gletſcher hineingehen kann. An manchen Stellen finden ſich Moränen zu Seiten-Wällen angehäuft, — an anderen gränzt die ſaftige Alpenweide unmittelbar an das Eis. Einſt beſuchte er auch gegen Mittag an einem trüben, nebeligen Tage, eine Gletſcherhöhle, die vom Rande des Morteratſch-Gletſchers (Bernina-Gruppe) ſich gegen die Thalſohle ſenkte. Er ſtieg unter die 5 bis 6 Fuß hohe Wölbung hinein und beobachtete die über ihm hangenden Eismaſſen mit ihren rundlichen oder ovalenBerlepſch, die Alpen. 15226Der Gletſcher. Blaſenräumen; durch einige derſelben tröpfelte Waſſer in regel¬ mäßigen Pulsſchlägen. Zugleich bemerkte er aber im Eis an den gleichen Stellen kleine Waſſerwirbel von etwa ½ Zoll Durchmeſſer, die mit großer Schnelligkeit ſich bewegten. Da er ſie früher nicht geſehen hatte, ſo mußten ſie erſt während der Beobachtung, wahr¬ ſcheinlich durch die ausgeſtrömte Körperwärme entſtanden ſein. Daß die Vertiefung, in welcher der Wirbel ſich drehte, ein zu Tage geſchmolzener Blaſenraum ſei, durfte mit Gewißheit angenommen werden. Um nun eine Rinne zu entdecken, welche durch das Eis zu Häupten der Beobachter dem Wirbel das Waſſer zuführe, nahm Herr Coaz die Loupe zur Hand, konnte jedoch nichts entdecken. End¬ lich half ihm ein kleines ſchwarzes Stäubchen, das an der Ober¬ fläche des hangenden Eisgewölbes hinſchoß, aus ſeinen Zweifeln und beſtätigte die Annahme der vermutheten feinen Rinne. Sie lief in ſchiefer Richtung nach der kleinen Vertiefung zu und führte den Wirbel herbei. Bald darauf beobachtete er zwei ſolcher Wir¬ bel nahe bei einander, die entgegengeſetzte Strömung zeigten. Als ſie weiter in die Höhle eindrangen, wurde das Eis immer blaſenfreier, reiner und dunkler in der Färbung. Die Eiswände waren ganz naß; an verſchiedenen Stellen tröpfelte Waſſer vom Gewölbe, der Gletſcher befand ſich in ſeiner größten Lebensthätig¬ keit. Hier nahm eine wunderbare Erſcheinung die Aufmerkſam¬ keit des Beobachters ganz beſonders in Anſpruch; es war ein kleiner, faſt einen Fuß Breite meſſender Bach, der über dem Kopfe des Beſuchers an der etwas geneigten, äußerſt poröſen Eisdecke feſtgehalten, raſch dahinfloß. Ein ſolches Phänomen frappirt un¬ gemein, indem hier das Waſſer nur theilweiſe dem gewaltigen Geſetze der Schwere folgend, demſelben faſt Hohn zu ſprechen ſcheint. Bezeichnend nannte er dieſe Erſcheinung „ Hangende Bäche. “— Noch tiefer drinnen öffnete ſich eine Spalte, durch welche von oben ein voller Lichtſtrom ſich ergoß und in dem kryſtallhellen Eiſe das reinſte, mildeſte, lichteſte Blau erzeugte, wie es nur die Tiefe der227Der Gletſcher. geheimnißvollen Gletſcherwelt bewahrt. Dieſe bietet überhaupt für den forſchenden Geiſt wie für das empfängliche Gemüth weit mehr, als der erſte flüchtige Beſuch eines Gletſchers vermuthen läßt.
Das Empordringen an den Ufern eines Gletſchers iſt mitun¬ ter nicht minder ſchwierig und gefahrvoll als wie der Aufmarſch über die, mittelſt Schneebrücken verdeckten, tiefen Gletſcherſpalten. Ein von Prof. Forbes (aus Edinburgh) erzählter Vorfall möge bei¬ ſpielsweiſe das Geſagte beſtätigen und zugleich zeigen, wie ſehr gefährlich das Allein-Reiſen auf Gletſchern iſt; über die „ Schneebrücken “fin¬ den ſich weitere Mittheilungen in dem Abſchnitte „ Alpenſpitzen. “—
Mitte September 1842 beſuchte Herr Forbes von Chamouny aus das einſame, im ſ. g. Mer de Glace gelegene Vorgebirge Tré¬ laporte, einen Felsrücken öſtlich unter der Aiguille de Charmoz. Da daſſelbe nirgends hin führt, ſo pflegt es höchſtens von den Schäfern beſucht zu werden, welche von Zeit zu Zeit heraufkommen, um ihren auſſichtslos in der Einöde während des Sommers wei¬ denden Schaafen Salz zu bringen. Herr Forbes, mit dem Skizziren der kühnen Umriſſe der Aiguille du Dru und du Moine beſchäfti¬ get, ſandte ſeinen Führer Auguſt Balmat nach Trinkwaſſer aus, welches, da das Vorgebirge Trélaporte nur aus öden Granitmaſſen beſteht, ſchwer zu finden iſt. Als der Führer nach ½ Stunde noch nicht zurückgekehrt war und zu befürchten ſtand, daß er ſich unter den wilden Felſen verirrt habe, ſo brach der Naturforſcher ſelbſt auf, ihn zu ſuchen. Nach einiger Zeit ſah er ihn mit zwei Bur¬ ſchen aus Chamouny, die nach der berühmten Gletſcher-Inſel „ Jardin “gehen wollten, daher kommen. Sie führten einen Mann, der völlig erſchöpft und geiſtesabweſend zu ſein ſchien und deſſen Anzug in Fetzen herabhing. Auch der Führer Auguſt zeigte ſich ſehr ermattet, denn er hatte, um den fremden Mann zu retten, ſich den größten Gefahren ausgeſetzt. Der Fremdling, ein Ameri¬ kaner, der am Morgen des vorhergehenden Tages allein aufgebro¬ chen war, das Mer de Glace zu durchwandern, hatte, an den ein¬15*228Der Gletſcher. ſamen Abhängen von Trélaporte emporkletternd, ſich verſtiegen und die ganze Nacht auf einer faſt unnahbaren Klippe zugebracht. Nach ſeiner Erzählung war er am vorhergehenden Nachmittage ausgeglitten, an einem Felſen herabgeſtürzt, und wäre wahrſcheinlich zerſchmettert in der Tiefe angekommen, wenn nicht ſeine Kleider an wil¬ dem Geſträuch hangen geblieben wären und ſo ſeinen völligen Todes¬ ſturz gehemmt hätten. Darauf hatte er eine Felsplatte erreicht, die, rings von ſchauerlichen Abgründen umgeben, für ihn zum hoffnungsloſen Gefängniß ward. Die Nacht war nicht allzu kalt, ſo daß er ſein Leben unter zerſetzender Angſt zu friſten vermochte, und als es Tag geworden war, hatte er die beiden jungen Männer in großer Ferne erblickt und ſie durch Rufen herbeigezogen. Die kühnen Berg¬ gänger kletterten nun zwar auf weiten Umwegen ſo nahe herzu, daß ſie über ihm ſich poſtiren konnten; aber ihre gemeinſchaftlichen Anſtrengungen würden nicht ausgereicht haben, ihn zu erlöſen, wenn nicht, wie durch eine Fügung der Vorſehung, Herr Forbes am gleichen Morgen dieſe ſelten beſuchte Gegend betreten und ſeinen Führer nach Waſſer ausgeſandt haben würde. Während dieſer nun nach Waſſer ausſpähte, erblickte er die mit Rettungsverſuchen ſich abmühenden Burſchen und ſchloß unaufgefordert ſich ihnen an. Seinem ſeltenen Muthe, ſeiner Ausdauer und Verwegenheit, ſo wie ſeinen enormen phyſiſchen Kräften gelang es endlich, den Aermſten aus einer Lage zu befreien, in welcher ſelbſt die verwegene Gemſe umgekommen wäre. Balmat erzählte, daß er, an einer faſt glatten Felſenwand, gleichſam klebend, ſeinen Fuß habe ausgleiten fühlen, als er das ganze Gewicht des fremden Mannes auf ſich trug, und ſchon ſich und den Anderen verloren gegeben habe, als er ſich noch anklam¬ mern und halten konnte. Nachdem Herr Forbes Alle mit Wein ein wenig geſtärkt hatte, ſandte er den Fremden, deſſen Gehirnnerven be¬ denklich afficirt zu ſein ſchienen, in Begleitung der beiden Burſche nach Chamouny hinab, während er mit Balmat ſelbſt den Schreckensort aufſuchte. Seine ausführliche Schilderung deſſelben beſtätigt, daß es229Der Gletſcher. eine mit Gras und Wachholder-Gebüſch bewachſene, nur einen Fuß breite und wenig Fuß lange Felſenplatte war, die im Rücken von einer beinahe überhangenden Granitwand geſchloſſen wurde und vorn mehrere Hundert Fuß ſenkrecht abſtürzte. Es mußte faſt wie ein Wunder erſchei¬ nen, daß der Unglückliche überhaupt rutſchend oder fallend dieſen Punkt erreichen konnte; ohne das aufhaltende, ſeinen Sturz hemmende Geſträuch, in welchem noch Fetzen der zerriſſenen Blouſe hingen, wäre er über die Felſenplatte hinaus, ohne dieſelbe zu berühren, der Tiefe zugeſtürzt. Auf dieſer Plattform, die kaum genügenden Raum für einen Menſchen bot, mußte der Fremde die ganze lange finſtere Nacht über, ohne einen Fuß zu regen, aufrecht ſtehend zubringen, immer den gräßlichen Tod des Verhungerns oder des zerſchellenden Sturzes vor Augen, ohne Ausſicht und Hoffnung auf Errettung.
Die Zerklüftung der Ufer iſt die Erzeugerin der Moränen. Werfen wir einen Blick auf die unſerem Buche beigeheftete Ab¬ bildung eines Gletſchers (zu welchem die mittlere Parthie des Gornergletſchers mit dem Riffelhorn und dem Monte Roſa im Hintergrunde, die Motive abgaben, während das Gletſcherthor — um ein inſtruktiv-überſichtliches Bild zu geben — verkürzt einge¬ zeichnet wurde), ſo erblicken wir hinter der Region der Gletſcher - Nadeln, langgezogene Steinlinien, welche ſich weit bis in die Per¬ ſpective fortſetzen. Dies ſind die Moränen oder Gandecken, auch Gufferlinien genannt. Was Hitze und Froſt, Regen und Unwetter an den Gebirgsmauern zerſetzen, losſpalten, ab¬ bröckeln, das fällt hinunter auf die Firnfelder (wenns in den Hochregionen iſt) oder auf die Gletſcherränder und rückt mit dieſen Maſſen fort. Der Firn wie der Gletſcher haben ſozuſagen eine ausſtoßende Kraft, ſie leiden keine fremden Stoſſe in ihrem Körper; was Jahre lang in Firnſchründen begraben lag, wird durch die Abſchmelzung der Oberfläche und den gleichſam hebenden Druck im Fortrücken, nach und nach auf den Rücken des Eiskör¬ pers gebracht. So auch die Felſenbrocken. Triffts nun, daß,230Der Gletſcher. ähnlich der Ineinander-Mündung zweier Flüſſe, zwei Gletſcher¬ thäler zu einem Strombett ſich vereinigen, alſo das aus zwei verſchiedenen Heimath-Kammern ſtammende Eis gemeinſchaftlich ſeinen Weg nach der Tiefe zu fortſetzt, ſo vereinigen ſich auch die beiden inneren Rand - oder Seiten-Moränen zu einer Mittel - Moräne und zeigen nun eine Gufferlinie längs der ganzen Mitte des Gletſchers. So viel Seiten - oder Sekundär-Gletſcher in den Haupt-Gletſcher münden, ſo viele Gufferlinien entſtehen. Unſer Bild zeigt drei Central-Moränen, in Wahrheit aber hat der Gornergletſcher acht Gufferlinien, die ſich durch Schärfe und Pa¬ rallelismus auszeichnen. Die Maſſenhaftigkeit des hier angehäuf¬ ten Bergſchuttes iſt oft ſo bedeutend, daß man auf einer unmit¬ telbar vom Gebirge gebildeten Trümmerhalde zu ſtehen wähnt. Die Central-Moräne beim „ Abſchwung “, welche aus der Mündung des Finſter - und Lauter - Aargletſchers entſteht, auf der die Na¬ turforſcher Hugi und Agaſſiz ihre Hütten behufs mehrwöchentlicher Beobachtungen und Meſſungen errichten ließen, iſt ein Schuttwall von beinahe 400 Fuß Breite und ſtellenweiſe 30 Fuß Höhe über dem Gletſcher-Niveau. Oft ſind jedoch dieſe Moränen auch nur ſchmale Reihen, gleichſam perlenſchnur-ähnlich mit kleinen Unter¬ brechungen fortlaufender, einzelner Steine, die über die ganze Länge des Gletſchers hinabſteigen. Mit auffallender Beharrlich¬ keit halten dieſe Steinlinien die eingeſchlagene Richtung feſt und verlieren ſie oft ſelbſt dann nicht ganz, wenn ein großer Gletſcher¬ bruch mit ſeinen Nadeln und Scherbenkoloſſen ihre Direktion unterbricht.
Außer den eigentlichen Moränen begegnen wir auf dem ſanft¬ gewölbten Rücken des Gletſchers noch ſeparirten Steinblöcken, gleichſam ſich abſchließenden Sonderlingen oder Einſiedlern, die, weil ſie rundum vom verwandten Geſteins-Material entblößt ſind, den Atmoſphärilien Gelegenheit zu höchſt auffallenden, mit dem Entſtehen und der Geſtalt der Gletſcher-Nadeln verwandten Eis¬ bildungen geben; es ſind die ſogenannten „ Gletſchertiſche. “231Der Gletſcher. Bei dem während der warmen Jahreszeit ununterbrochen andauern¬ den Abſchmelzen der Gletſcher-Oberfläche, wird diejenige Stelle des Eiſes, auf welcher ein derber Steinblock, eine dicke Gneis¬ oder Schiefer-Platte liegt, vor den auflöſenden, unmittelbaren Ein¬ wirkungen der Sonnenſtrahlen und warmen Winde geſchützt; es iſt alſo natürlich, daß rundum die Eisfläche allmählig abſchmilzt, während derjenige Theil des Eiskörpers, der von dem Steine be¬ deckt iſt, konſervirt wird, gleichſam ausgeſpart ſtehen bleibt. So wächſt der Eisträger oder Pfoſten, wie der Fuß eines runden Tiſches, allgemach aus dem Gletſcherboden, wird an den Seiten von der ihn umſtreichenden, einige Grad Wärme haltigen Luft ſtets beleckt und abſchmelzend gemindert, ſchlanker geformt, während die aus dieſer Eisſäule ruhende Steinplatte gegen die energiſchen Sonnen¬ ſtrahlen und deren raſch wirkende Schmelzkraft ſchirmt. Solche Gletſchertiſche, faſt wie rieſige Pilze ausſehend, finden ſich nicht auf allen Gletſchern, doch aber auf den meiſten großen. Die ſchönſten trifft man auf dem Unteraar-Gletſcher, wo Agaſſiz Fußgeſtelle bis zu acht Fuß Höhe maß, — auf dem Theodul-Gletſcher (Unterm Matterhorn) mit Platten von 20 Fuß Länge und 6 Fuß Breite, während der Eisfuß oft ſo dünn iſt, daß man ihn umſtürzen zu können glaubt, — häufig auf dem Liapey - oder Durand-Gletſcher im Val Hérémence (Wallis) mit Platten von 30 Grad Neigung, — auf dem Paſterzen-Gletſcher in Tyrol. Auf dem Glacier de Léchaud (Montblanc-Maſſe) traf Prof. Forbes ſogar einen Gletſcher¬ tiſch, der aus einer prächtigen flachen Granitplatte von 23 Fuß Länge, 17 Fuß Breite und etwa 3 Fuß Dicke beſtand und deſſen ſchöngeadertes, zierliches Eis-Piedeſtal bis Ende Auguſt eine Höhe von dreizehn Fuß erreichte. Wird dann das Untergeſtell zu ſchwach, ſo daß die Steinplatte ihr Gleichgewicht verliert, ſo ſtürzt dieſe herab, und ſofort beginnt der Abſchmelzungsproceß rund um die Platte aufs Neue, während der Eisrumpf des zerſtörten Tiſches von den Atmoſphärilien vollends aufgelöſt wird.
232Der Gletſcher.In auffallendem Gegenſatze zu dieſen, über das Gletſcher - Niveau emporgehobenen, großen Felstrümmern und der früher er¬ wähnten, gleichſam ausſtoßenden Kraft der Gletſcher, ſteht das Einſinken kleinerer Gegenſtände in das Eis. Wir finden dürre, vom Winde heraufgewehte Laubblätter, todte Schmetterlinge und Käfer oder kleine Steine auf dem Gletſcher, die 1 bis 1½ Zoll tief in das Eis eingeſunken ſind. Daß dieſelben nicht eingebacken in den Firn aus den Höhen heruntergebracht und hier erſt wieder an die Oberfläche befördert wurden, beweiſen die ſcharfen Konturen des nach oben offenen Loches, welche ganz genau den Umriſſen des fraglichen Gegenſtandes entſprechen. So ſehr nun dieſe Thatſache den anderen Erſcheinungen widerſpricht, ſo erklärlich iſt dieſelbe. Be¬ kanntlich nehmen Körper je nach ihrer mehr oder minder dunklen Färbung ein größeres oder kleineres Wärme-Quantum auf; ſchwarze Körper am Meiſten. Es iſt alſo begreiflich, daß die Inſolation oder Sonnenſtrahlung auf ſolche dunkle Gegenſtände draſtiſcher ein¬ wirkt als auf das weiße, die Sonnenſtrahlen zurückſtoßende Eis und dieſe Körper in Folge größerer Menge aufgenommener Wärme, dieſe gegen das unter - und um-liegende Eis ausſtrahlen, alſo dadurch Abſchmelzung verurſachen. Ebendeshalb, weil die Gegen¬ ſtände klein ſind, werden ſie ganz von der Sonnenwärme durch¬ drungen; große Felſenplatten wie bei Moränen und Gletſchertiſchen werden nur an der Oberfläche erhitzt, ohne die aufgenommene Wärme ſo weit in ihrem Innern nach unten fortpflanzen zu können, daß dadurch eine Schmelzung des unterliegenden Eiſes herbeige¬ führt würde.
Zu den Moränen und Gletſchertiſchen geſellt ſich endlich noch eine dritte verwandte Erſcheinung, welche uns beim Beſuche eines ſolchen Eismeeres auffällt: die Schuttkegel und Sandhügel. Sie entſtehen einfach dadurch, daß bei lebhafter Schmelzung der Gletſcher - Oberfläche, Steinchen, Grien und Geröllſchlamm von den Schmelz¬ bächen zuſammengeſchwemmt werden, ſo daß ſie kleine Alluvial -233Der Gletſcher. Ablagerungen bilden. Dieſe ſchützen vermöge ihrer Dicke das darunterliegende Eis gegen die Wirkungen der Sonnenſtrahlen, während der rundum frei zu Tage tretende Gletſcher abſchmilzt; ſo bilden ſich jene den Maulwurfshaufen ähnlichen Hügel, die bis 12 Fuß hoch werden und meiſt den dreifachen Umfang ihrer Höhe einnehmen.
Alle dieſe fremden, dem Gletſcherrücken aufgebürdeten Felſen - Rudera werden durch den Gletſcher zu Thale transportirt und geben ſelbſt eins der weſentlichſten Beweismittel von der Bewe¬ gung dieſer Eisſtröme ab. Die Menge der auf ſolche Art aus den Hochregionen in die Tiefen getragenen Trümmer iſt außerordentlich verſchieden und läßt ſich nur nach den Stirnwällen oder Front¬ moränen ſchätzen, welche im Laufe der Jahrtauſende ſich am Ende des Gletſchers abgelagert haben. Die rieſigſten Stirnwälle finden ſich am Fuße des Bois-Gletſchers im Chamouny-Thal, von denen der aus dem Jahre 1820 ſtammende die jüngſte der großen Ab¬ lagerungen iſt. Eine gräuliche Wildniß von Steinen jeder Größe und Geſtalt hat alle frühere Wieſen-Kultur verdrängt, und ein jetzt bewaldeter Moränenberg von ſechstauſend Fuß Länge, „ les Tignes “genannt, zeigt, was ein einziger Gletſcher zu Thal ſchafft. Jetzt liegt das Dorf Lavanchi am öſtlichen Abhange des koloſſalen älteſten Steinwalles. Einer der herniedergeſchafften Fel¬ ſen iſt ſo groß, daß man ihm, als ſelbſtſtändigem Individuum, einen Eigennamen: „ Pierre de Lisboli “gab.
Die Thatſache, daß jeder Gletſcher wandert und ſich jährlich eine beſtimmte Strecke vor - oder abwärts bewegt, iſt eine erſt neuere Entdeckung der Wiſſenſchaft, während das Gebirgsvolk die¬ ſelbe ſchon ſeit Jahrhunderten kannte. So ſehr dem Tiefländer die Erſcheinung konſtant ſich fortbewegender, auf hartem Grund und Boden der Tiefe zuwandernder, ſpröder Eismaſſen befremdend ſein mag, ſo wenig erklärlich würden dem Gebirgsbewohner ſtill ruhende, lokal an die Scholle gebannte Eisflächen ſein. — Die234Der Gletſcher. Bewegung der Gletſcher iſt eine durch die Abdachungsverhältniſſe der Gletſcherbette bedingte und darum ſehr verſchiedene. Im All¬ gemeinen bewegt ſich der Gletſcher in der Mitte ſeines Körpers raſcher als an den beiden Uferſeiten, in der Höhe ſtärker als in der Tiefe. Nach Agaſſiz und ſeiner Gefährten Meſſungen auf dem Aargletſcher, während der Monate Juli bis September in verſchie¬ denen Jahren, betrug das Fortrücken täglich etwa 8 Zoll. Pro¬ feſſor Forbes fand an einigen Gletſchern des Montblanc noch eine raſchere Bewegung. Doch läßt auch hier ſich durchaus keine nor¬ male Durchſchnittszahl aufſtellen, indem der Einfluß der mittleren Jahrestemperatur erfahrungsgemäß außerordentlich einwirkt. Nach den von Ziegler am Grindelwaldgletſcher angeſtellten Beobachtun¬ gen über die Bewegung im Winter, zeigte ſich dieſelbe im Januar am Schwächſten, etwas entſchiedener im December, bedeutend leb¬ hafter im Februar, und noch mehr zunehmend im März und April. Ueberhaupt ſcheint jeder Gletſcher während des Winters ziemlich zu ruhen und im Frühjahre mit dem Erwachen der Natur auch ſeine Thätigkeit aufs Neue aufzunehmen. Aber nicht blos im All¬ gemeinen an der Oberfläche iſt die Bewegungsfähigkeit der Glet¬ ſcher eine verſchiedene, ſondern auch nach ihrer vertikalen Tiefe zu, ſo daß die größte Bewegung an der Oberfläche ſich zeigt, eine verminderte in der Mitte, und die geringſte in der dem Felsboden aufliegenden Tiefe.
Die Gletſcher-Theorie ſtellte ſchon ſehr verſchiedene Behaup¬ tungen und Folgerungen über die Natur der Gletſcher-Bewegung auf. Die älteſten Unterſucher, namentlich der geiſtreiche, um die Naturgeſchichte und Phyſik der Alpen ſo hochverdiente de Sauſſure nahm ein beſtändiges Gleiten der Eismaſſen über den geneigten Boden an; Andere und unter ihnen der noch ältere Scheuchzer, ſchrieben der durch den Froſt herbeigeführten Ausdehnung der kry¬ ſtalliſirten wäſſerigen Subſtanzen die Hauptſchiebekraft zu und ſchufen die Expanſions - oder Dilatations-Theorie. Prof. Hugi, der die235Der Gletſcher. oben beſchriebenen Haarſpalten kennen gelernt hatte, nahm einen all¬ gemeinen Durchfeuchtungs-Proceß an, gleichſam als ob der Glet¬ ſcher wie ein Schwamm flüſſig-wäſſerige Beſtandtheile in Menge aufnähme, dieſe dann gefrören und dadurch ein Treiben nach der Tiefe zu herbeigeführt würde. Noch Andere wollten ein eigent¬ liches Rollen oder Wälzen der Eismaſſen beweiſen. Nach allen bisherigen Unterſuchungen ſcheint ganz beſonders die von oben herab drängende, drückende Schwere der, hinter dem Gletſcher la¬ gernden, ungeheueren Schneemaſſen die vornehmſte, unaufhörlich wirkende Haupttriebkraft zu ſein, welche den ſtarren Eisſtrom in Bewegung hält (Gravitations-Theorie). Demnächſt mag das Weichen der Maſſen an den Sturzſchwellen und an der Front weitere Ur¬ ſache zum leichteren Nachrücken geben. Endlich mag aber auch die durch die Haarſpalten begründete größere Nachgiebigkeit des Eiſes zu dem ganzen auffallenden Phänomen das Ihrige beitragen.
Wo dieſe Eisſtröme der Alpen durchgehends, bis an ihr Ende, in geneigten Gebirgsrinnen ſich fortbewegen, da hat der Bergbe¬ wohner, welcher ſie nicht betritt, auch nichts von denſelben zu fürch¬ ten. Anders iſts mit denjenigen Gletſchern, welche in der Höhe ſich bilden, eine Zeit lang normal ihren Weg fortſetzen, plötzlich aber das Bett verlieren, weil das Felſen-Individuum, auf welchem ſie ruhen, jähwandig abſinkt. Solche, die man „ hangende Glet¬ ſcher “nennt, brechen begreiflich, wo ſie an der Sturzwand ankom¬ men, trümmernweiſe los und ſtürzen als „ Gletſcher-Lauinen “zu Thal. Begreiflich hat ſich die Kultur und der menſchliche Fleiß am Fuße ſolch unermüdlicher Eisſchleuderer nicht angeſiedelt und ſie entladen ihr Bruchmaterial ohne Schaden in wüſte Gründe. Doch aber giebt es Beiſpiele genug, daß ſolche Gletſcher-Stürze dennoch im bebauten Lande und in den bewohnten Gegenden mittelbar un¬ berechenbaren Schaden anrichteten. Das markanteſte Beiſpiel die¬ ſer Art iſt das Unglück, welches der Gietroz-Gletſcher oder viel¬ mehr deſſen angehäufte Sturzmaſſen am 16. Juni 1818 im Bagne¬236Der Gletſcher. thal und Unterwallis anrichteten. Erſteres ſtellt fünf Stunden oberhalb Sembranchier einen ſehr engen Schlund dar, im Sü¬ den von dem ſteilen Bollwerk des Mauvoisin, gen Norden von dem 11400 Fuß hohen Mont Pleureur beherrſcht, deſſen Fuß eine etwa 500 Fuß hohe Felſenwand bildet. Ueber dieſe hängt, von den hohen Firn-Regionen herniederkommend, der Gietroz-Gletſcher. Zu allen Jahreszeiten und faſt täglich ſtürzen von demſelben un¬ förmliche Eislaſten ins Thal hernieder, häufen ſich unten an der Felſenwand zu rieſigen Gletſchertrümmerhügeln, unter denen das wilde Thalwaſſer, die Dranſe hervorbricht. Während der Jahre 1815 bis 1818 hatten ſich die Eisbrüchlinge in zuvor nie geſehener Weiſe vermehrt, und im Winter des zuletzt gedachten Jahres ver¬ ſtopfte ſich der immer enger gewordene, gewölbe-ähnliche Abfluß dermaßen, daß er zuletzt gänzlich zufror und der Dranſe nicht den mindeſten Abfluß geſtattete. Der Eisdamm zog ſich quer durchs ganze Thal, lehnte ſich zu beiden Seiten an die Bergwände an und hatte eine Höhe von mehr als zweihundert Fuß erreicht. Be¬ greiflich ſtaute ſich das Flußwaſſer immer mehr und mehr an und bildete endlich einen See, der eine halbe Stunde lang und gegen 700 Fuß breit war. Mit Entſetzen ſahen die Bewohner von Lourtier, Champsec, Chables bis hinaus nach Martigny das fortwährende Wachſen der Waſſermaſſe. Der Druck derſelben wurde immer mächtiger, heftiger und es ließ ſich vorausberechnen, daß beim Eintreten der warmen Jahreszeit der Damm nicht genügende Widerſtandsſtärke beſitzen werde, um einen radikalen Durchbruch zu verhüten. Viele Ortſchaften wanderten förmlich aus, indem ſie beim Beginn der einigermaßen milden Jahreszeit mit Habe und Gut in die höher gelegenen Alphütten flüchteten. Ingenieure, nament¬ lich der geniale Venetz, unterſuchten den Stand und riethen an: eine große Rinne in den Eisdamm zu hauen, ſo weit er noch nicht vom Waſſer beſpült ſei, ſo daß, wenn der See noch ſteigen würde, er durch dieſe Rinne ſeinen allmähligen Abfluß finde; zugleich237Der Gletſcher. glaubte man, daß das abfließende Waſſer die Oeffnung tiefer ſchmelzen, alſo erweitern werde und dadurch nach und nach der ganze See, ohne Schaden anzurichten, geleert werden könne. Aber leider währten die Berathungen und gutachtlichen Berichte zu lange. Man hatte zwar unter Venetz's Leitung einen 700 Fuß langen Stollen ins Eis getrieben, der anfänglich ganz die erwarteten und gewünſchten Dienſte leiſtete und einen weſentlichen Theil des Sees ſchadlos ableitete. Aber die heiße Juniſonne und die Waſſerwärme bohrten und fraßen ſo eindringlich an dem Eisdamme, daß derſelbe am Nachmittage des 16. Juni 1818 nicht mehr widerſtehen konnte, einbrach und nun eine Waſſermaſſe von 530 Millionen Kubikfuß mit Einemmal, bei einer ſchier raſenden Geſchwindigkeit, durch das ganze Thal herabfluthete. Was den unbändig einherjagenden, völ¬ lig entfeſſelten Wogen im Wege lag, wurde eine Beute derſelben; ganze Dörfer ſchwemmte die reißende Fluth hinweg, zuſammen mehr als fünfhundert Gebäude; Tannen, ſchlank und ſchaftmächtig wie die Cedern des Libanon, kämpften in den Wellen mit hausgroßen Eis¬ blöcken, und im Grunde der tobenden Furie kanonirten mit dumpfem Donner-Gebrüll die hinweggeriſſenen Felſen-Brocken. Schutt, Ge¬ röll und Unrath überdeckten das ganze Bagne - und Rhône-Thal bis hinab an den Genfer-See. Trotzdem, daß durch Signale alle Thalbewohner von dem gräßlichen Ereigniß eilends in Kenntniß geſetzt und verwarnt wurden, büßten dennoch 34 Menſchen ihr Le¬ ben dabei ein. Den verurſachten Schaden ſchätzte man auf eine Million alter Schweizerfranken. Mit dieſem entſetzlichen Vorfall war aber das Uebel durchaus nicht gehoben; ſchon im nächſten Jahre war der Gletſcher-Damm aufs Neue zu faſt gleicher Höhe an¬ gewachſen und drohte mit Wiederholung der Schreckens-Kataſtrophe. Da leitete der Ingenieur Venetz Quellwaſſer mittelſt langer Holz¬ rinnen auf den Eisdamm und entfernte durch dieſes erwärmte Waſſer, welches wie eine Säge einſchnitt, eine Parthie Eis nach der an¬ deren, ſo daß ohne allen Schaden die Gefahr abgewandt wurde. 238Der Gletſcher. Seitdem muß faſt regelmäßig jährlich die Operation wiederholt werden.
Ein Seitenſtück zum Gietroz iſt der Biesgletſcher im vielbe¬ ſuchten Nicolaus-Thal (Kanton Wallis). Er hängt mit einer Nei¬ gung von etwa 45 Grad an der öſtlichen Abdachung des koloſſalen Weißhornes und würde in ſeiner ganzen Mächtigkeit herabſtürzen, wenn ihn nicht der Froſt an den Boden heftete. Daß die Laſt aber zeitweiſe das Uebergewicht über dieſes Bindemittel gewinnt, haben die entſetzlichen Gletſcher-Stürze der Jahre 1636, 1736, 1786 und ganz beſonders der vom 27. December 1819 bewieſen. Letz¬ terer zerſtörte lediglich durch den Luftdruck das jenſeit des Thales, an den Abhängen des Grabenhornes, gelegene Aelpler-Dorf Ran¬ dah. Häuſer und Ställe wurden kopfüber weitweg zur Seite ge¬ ſchleudert, Mühlſteine fand man auf Kanonenſchuß-Weite von ihrem ehemaligen Beſtimmungsorte, Dachbalken waren eine Viertelſtunde höher hinauf in einen Wald geworfen worden, die Spitze des Kirchthurmes ſtak verkehrt wie ein in den Boden getriebener Keil in einer Wieſe, Vieh lag zerquetſcht mehrere Hundert Klaftern durch die Luft getragen, weitumher und nahe an hundert Häuſer wurden beſchädigt. Wunderbarer Weiſe verloren nur wenig Menſchen bei dieſer Kataſtrophe das Leben. — Der Gletſcher hat ſeit dieſem Radikal-Sturze wieder ſo an Maſſe gewonnen, daß ein ähnliches Ereigniß in vielleicht nicht zu langer Zeit zu befürchten ſteht.
Ein Feuermeer liegt an des Himmels Rande,In das die Sonn 'ihr breites Antlitz taucht:Schon ſchweben Wölkchen auf aus jenem Brande,Und glänzen hell, in gleiche Gluth getaucht;Ihr letzter Blick hängt zitternd auf dem Lande,Nach welchem ſie ein kühles Lüftchen haucht,Und nur die Wölkchen ſind, als ſie verſunkenDort ruht, von ihrer Roſengluth noch trunken.
Es iſt erreicht, unſer faſt 8300 Fuß hohes Wanderziel, wir ſtehen auf dem Gipfel des Faulhornes. Ein goldgelber, ſonnen¬ geſättigter Juli-Abend lagert rings auf dem Gebirge und die ganze Natur ſcheint in wonniger Erholung tief aufzuathmen von dem laſtenden Druck der Sonnenſchwüle. Ha! wie prächtig und kühn ſie emporſtreben die rieſigen Firnzinken des Berner Oberlandes, wie ſie hinaufragen in unbeſchreiblicher Klarheit zum „ lichtdurch¬ drungenen Himmelsblau, das alle Welt mit lindem Arm umſchlingt, “— drüben, die breite felſenzerfurchte Wetterhorn-Pyramide mit der blanken Schneebruſt, die tieferliegenden, jähen Schreckhörner und ihr ſtolzer, dominirender Nachbar, das einſame Finſteraarhorn, an welches ſich die ganze Kette der Vieſcherhörner anlehnt; dann geradeaus die gewaltige Felſenfront des Eiger und ihm über die240Alpenglühen. Schultern ſehend die Schnee-Kapuze des Mönches; und nun im leuch¬ tenden Silbergewande die majeſtätiſche Jungfrau mit ihrem Tra¬ banten-Heer, weit hinein rechts, das ganze endloſe Zacken - und Klippen-Gewirr der Gränz-Alpen gen Wallis! Alle Gruppen tre¬ ten beſtimmt, durch ſcharf gezeichnete Linien getrennt, aus dem Gan¬ zen hervor; mit einem großen, vollen Blick halten wir Heerſchau über die Veteranen der Berner Alpen. Noch ſtrömt warmes Leben durch das majeſtätiſche Rundbild. Nur drunten, wo die Hütten von Grindelwald heimelig in den Keſſel gebettet liegen, iſt der Abend eingezogen und hat ſeinen blauen Friedensſchleier über das Lütſchinen-Thal geworfen.
Jetzt ein Blick mehr weſtlich. Der Beleuchtungs-Effekt wird ſchwankend; der rein-blaue Aether verliert die Intenſität ſeiner beſtimmten Färbung, welche die Konturen der Schneegipfel ſo ſcharf und lineal-begränzt ablöſt, — er geht allmählig in ein indifferen¬ tes, zwiſchen bläulichen (alſo rein durchſichtigen) und gelblich-ange¬ hauchten Strahlenbrechungen ſchwankendes Luftfluidum über. Die¬ ſes aber reflektirt mittelbar wieder auf die unter ſolchem Horizont liegenden Alpen der Wild - und Oldenhorn-Gruppe und auf die Berge des Engſtligen - und Kien-Thales, ſo daß das Intereſſe für dieſe Parthie ſehr geſchwächt wird. — Noch weiter rechts ſinkt das Auge hinab auf die glitzernde Fläche des Thuner Sees, hinter dem die Frutiger - und Simmenthaler Alpen mit dem geradlinigen, ſchö¬ nen Eckpfeiler des Nieſen aufſteigen. Immer mehr gehen die Maſſen leicht verſchwimmend in einander über; warmer, leuchtender Abend¬ nebelrauch, hellokerfarbene Sonnendämpfe hüllen die Höhenzüge ein, ſo daß die Umriſſe der einander vorliegenden Bergkouliſſen kaum mehr zu unterſcheiden ſind. Je mehr und mehr der Blick weiter ſchweift, deſto undeutlicher zerfließen alle landſchaftlichen Ge¬ bilde; ein glänzender, goldener Dunſt-Ocean hat Alles verſchlungen, und ſonnentrunken badet das wellenförmige Mittelland und der ferne Jura in ſeinen weichen Wellen.
241Alpenglühen.Welcher Abſtand in der Farbenpracht, die ſo verſchwenderiſch über Berg und Thal ausgegoſſen iſt! und doch haben wir erſt den Halbkreis des großen, majeſtätiſchen Rundbildes durchwandert. Denn in ähnlichem Maaße wie die Lichtanhäufung gegen die Stelle hin wächſt, an welcher die Sonne binnen Kurzem niederſinken wird, — in verwandter Weiſe ſtuft auch dieſelbe nach dem nördlichen Horizonte hin ſich ab. Da liegt drunten in ſtiller Tiefe das ge¬ müthliche Brienz mit ſeinen kaffebraunen Holzhäuſern; flächenhafte Schatten haben ſich breit in die See-Mulde hineingelagert und beginnen leiſe und ſacht die Bergeshalden gegen uns heranzuklim¬ men. Den Thalbewohnern iſt das ſtrahlende Tagesgeſtirn ſchon länger als eine Stunde entſchwunden. Feierliche Abendruhe wal¬ tet über ihren Hütten; nebelgraue Dünſte ſchleichen aus dem Tän¬ nicht hervor und umfangen wie ſanfte Schlummerlieder die däm¬ merigen Bergeshalden.
Da klingen wohlbekannte Töne aus der Tiefe zu uns herauf, aber ſo fern und verſchmolzen, ſo geiſterhaft zart verhallend, wie Harmonie der Sphären; es iſt der Alphornbläſer drunten an den Giesbachfällen, der ſpät angelangten Gäſten ſein einſames Abendlied ſchalmeit. Das Echo vom Brienzer Rothhorn trägts zu uns her¬ über. Lange lauſchen wir den melancholiſchen Tönen, die ſehnſucht¬ erweckend uns durch die Seele ziehen:
Des Führers Mahnung unterbricht das ſinnende Schweigen, das Alle gebannt hielt. Wir wenden uns und ſind überraſcht von der Wandlung, welche am Rieſengebäude des Hochgebirges während der kurzen Friſt unſerer Rundſchau vor ſich gegangen iſt. Die ſanft anſteigende Halde der Wergiſthaler Alp, auf der wir geſtern beiBerlepeſch, die Alpen. 16242Alpenglühen. unſerem Herabkommen von der Wengern-Scheidegg ein Blumen¬ meer feurigblühender Alpenroſen durchwanderten, und Itrammen - Alp, die noch vor wenig Minuten in ſonnenheiterer Beleuchtung dalagen, — ſie ruhen nun im blauen Schatten; der Eiger aber und die Jungfrau und die ganze Bergkette erſcheinen roſig-ange¬ haucht in ihren Firn-Lagern und Gletſcher-Hängen, indeſſen das Ge¬ ſtein von Sekunde zu Sekunde immer dunkelrother ſich färbt. Es iſt das Alpenglühen, das herrlich-erhabene Schauſpiel, welches be¬ ginnt. Ein ſtrahlenloſer, ſcharlach-feueriger Gluthball, ruht die Sonne auf dem langgeſtreckten Rücken des Chaſſeral und färbt alle Gegen¬ ſtände, die noch im Bereich ihrer Beleuchtung liegen, mit tiefpur¬ purnen Tinten. Unſere Kleider, Wäſche, ja ſelbſt unſer Antlitz er¬ ſcheinen im brennenden Orange und die graue Leinwandblouſe un¬ ſeres Führers ſieht carminviolett aus. Mit Rieſenſchritten klimmen jetzt die dunkelen Bergſchatten an den Alpen hinauf und paralyſi¬ ren alle Farben und Formen, die noch vor wenigen Augenblicken die einzelnen Felsgebilde ſo draſtiſch-markirt hervortreten ließen; aber im gleichen Maaße wächſt auch die Intenſität des Alpenglü¬ hens. Von Augenblick zu Augenblick ſteigert ſich das Feuer. Uns entſchwindet jetzt im Weſten der, ſcheinbar zu rieſiger, bisher noch nie geſehener Größe ausgedehnte, einer dunkelglimmenden Kohle gleichende Sonnenball. Jetzt iſt es nur noch eine Halbkugel, die mit breiter Baſis auf dem Jura ruht; nun nur noch ein flacher Cirkelſchnitt, eine rundlich-gehobene Längenfläche, die hinter dem zwanzig Stunden entfernten Bergwall hervorſchaut, — jetzt noch eine ſchmale Linie, — ein Stern, — ein blitzender Punkt, — — fahr wohl! Segensgeſtirn, große Freudenbotin der Welt! — Uns iſt ſie entſchwunden! — Drüben aber an den Eiszinnen der höchſten Alpen hat ſie noch ihre Fanale angezündet, die wie rothflüſſiges Metall emporlohen. Es iſt ein Flammen-Dithyrambus, welchen die Natur im Abſchiede von ihrer Lebensfreundin noch jubelnd durch die anbrechende Nacht hinausjauchzt.
243Alpenglühen.Ha! ſieh 'der Alpen Haupt umſchlungen,Vom Flammenkranz und gluthumrollt,Als ob zu ſparen ihr gelungenEin Theil von ihrem Tagesgold!Als ob tagüber ſie gefangenZum Kranz die Roſen all' im Thal;Als ob bei Tag Dir von den Wangen,Du Volk des Thals, das Roth ſie ſtahl!
Es iſt kein alltägliches Phänomen, das wir hier anſtaunen; es giebt Jahre, in denen das volle, wirkliche Alpenglühen zu den Seltenheiten gehört. Woher der tiefe brennende Gluthton, der die¬ ſem prachtvollen Naturſchauſpiele den bezeichnenden Namen gegeben hat? Andere Gegenſtände im Scheine der dunkelroth untergehen¬ den Sonne reflektiren auch, je nach der Receptionsfähigkeit ihres urſprünglichen Farbentones, im bedeutend erhöhten, erwärmten Lichte, — aber ſie erreichen nicht jenes intenſive, tranſparent-heiße Incarnat wie die beſchneiten Gipfel der Hochalpen an einem, durch das Zuſammenwirken verſchiedener Umſtände günſtig disponir¬ ten Abende. Es mögen folgende drei weſentliche Faktoren ſein, welche das Alpenglühen herbeiführen: die Natur und Dichtigkeit der Körper, welche die Strahlen der Sonne einſaugen und wieder¬ geben; — die Höhe und Lage der beſchienenen Gipfel, und der auffallende, bedeutende Abſtand der Färbung zwiſchen der Dämme¬ rung in den Tiefen und der grellen Beleuchtung jener Kulmen.
Der Firn iſt eine, an der Oberfläche halbdurchſichtige Maſſe zahlloſer Legionen kleiner, ſelbſtſtändiger Kryſtallkörperchen, deren minutiöſe, dem unbewaffneten Auge kaum erkennbare, glatte Spie¬ gelflächen die Feuerſtrahlen der Sonne aufnehmen und in allen Brechungslinien untereinander zurückwerfen. Dieſer Reflexions - Reichthum iſt ſo groß, daß manche der kleinen Spiegelkryſtalle, welche durch ein hervorſtehendes, winziges Schneekörnchen beſchat¬ tet werden, alſo nicht unmittelbar den Einwirkungen der Sonnen¬ ſtrahlen blosgegeben ſind, ihren Glanz erſt aus zweiter Hand, durch die Ausſtrahlung eines anderen, nachbarlichen kleinen Eisſpiegels16*244Alpenglühen. empfangen. So durchdringt die abendliche Sonnengluth die halbdurch¬ ſichtige Oberfläche der Firnmaſſe und ſammelt dadurch eine Strahlen - Anhäufung, eine entwickelte Lichtmenge, wie ſie in keinem anderen Gegenſtande, das durchſichtige Waſſer und die zu Wolken verdich¬ teten Dünſte ausgenommen, ſich konzentriren kann. Wie außeror¬ dentlich die Reflexionsfähigkeit der Eisnädelchen iſt, aus denen der Schnee beſteht, können wir an kalten Sonnenſcheintagen im Win¬ ter wahrnehmen, wenn der Wind lockeren Schneeſtaub aufjagt und dieſer wie Diamanten funkelnd in der Luft umherirrt.
Der zweite, mächtigere, das Alpenglühen ganz beſonders be¬ fördernde Umſtand iſt in der hohen Lage der Schneegipfel zu der tiefen Sonnenſtellung zu ſuchen. Jener meteorologiſche Proceß, wel¬ cher die Abendröthe in der Atmoſphäre veranlaßt, giebt auch den Firnen ihre Gluth. Wenn wir auf hohem Berge ſtehen, ſo ſehen wir die Sonne als ſtrahlenloſe, hochrothe Kugel hinabſinken, wäh¬ rend ſie den Bewohnern der Ebene nur tiefgelb, aber in voller ſtrahlenſchießender Glorie entſchwindet. Die Urſache dieſer ſchein¬ baren Farbenveränderung rührt von den, in den unterſten Schichten der Atmoſphäre, bei der raſchen, abendlichen Abkühlung in verdich¬ teten Zuſtand übergehenden Dünſten her, welche, wie alle Waſſer¬ dämpfe, nach den Erfahrungen der Optik vorzugsweiſe die rothe Seite des Spektrums durchlaſſen. Je länger nun die Linie iſt, welche der Sonnenſtrahl durch die, mit kondenſirten Waſſergaſen gefüllte Atmoſphäre zu machen hat, deſto intenſiver erſcheint auch die rothe Färbung, — alſo, je höher der Punkt liegt, welcher von der untergehenden Sonne beleuchtet wird, deſto kräftiger und feuriger wird auch ſeine Abendbeleuchtung bei wolkenfreiem Him¬ mel ſein. Aber dieſe beiden Momente würden dennoch den maje¬ ſtätiſchen Lichteffekt des Alpenglühens nicht in dem erhöhten Maaße erreichen, wenn nicht noch eine dritte, okulartäuſchende Helfershel¬ ferin dabei mitwirkte, nämlich die auffallende Farbendifferenz zwi¬ ſchen der im Blaudunkel des Erdſchattens bereits verſenkten Tiefe245Alpenglühen. der Thalgelände und jener gluthdurchdrungenen Färbung der Firn¬ felder. Gerade eben aus dem Gegenſatze von greller Beleuchtung und Licht-Armuth reſultiren die brillanteſten Farbenſpiele. Ein Feuerwerk bei Tage abgebrannt, iſt todt, glanzlos, weil Licht auf Licht ſich ebenſowenig abhebt wie Weiß von Weiß oder Schwarz von Schwarz; erſt der dunkele Hintergrund der Nacht giebt den Raketen ihre funkelnde Pracht.
Die Gluth, welche die Alpenſpitzen umwogte, iſt verſchwunden; kalte, fahle Leichenbläſſe überzieht das ganze weite Schneegebirge;
Es iſt ein fröſtelnder, unheimlicher Anblick. Der Uebergang ans dem vollen, reichprangenden Schmucke feuriger Beleuchtung und ſcharfer Zeichnung in dieſe eiſige, öde, bläulich-graue Unge¬ wißheit iſt allzujäh und zu unvermittelt; ein leibhaftiges Bild des Todes. Aber es währt nicht lange, ſo kehrt nochmals einiges Le¬ ben wieder in die Färbung zurück. Denn blicken wir nach der Stelle des Sonnen-Unterganges:
O Zauber über Zauber! am Himmel aufgethanVom Abend bis zum Morgen ein brennend rother Plan.Jetzt auf - und nieder - wogend, jetzt fließend ſpiegelglattUnd durch und durch von goldnen und Purpurfarben ſatt
Das endloſe Feld der feurigſten Abendröthe ſtammt empor und ſtrahlt einen leichten, warmen Ton über die Gletſcher und Schneewüſten aus. Noch einmal überzieht ſie ein leichter roſen¬ farbener Anflug; aber er iſt matt, matt wie das letzte, allerletzte Lächeln eines geliebten Sterbenden.
In tiefen Frieden verſenkt, beginnt nun das große majeſtä¬ tiſche Alpenreich den einlullenden Träumen von des Tages Won¬ nenrauſch ſich zu überlaſſen. All das ſummende, ſurrende kleine Leben in den Lüften iſt erſtorben; die trotzigen, plump-anrennen¬ den Käfer und das leicht-beſchwingte, gaukelnde Völklein der Fal¬ ter, die Legionen der unverſchämt-zudringlichen, paraſitiſch-läſtigen246Alpenglühen. Fliegen und Alles, was ſommerfroh im Aether des Tages ſich wiegt, — Alle haben ihre ſtille, heimliche Schlafſtätte geſucht un¬ ter den Blumenglocken und Blattdächern oder in den Riſſen der Baumborke und des zerſpaltenen Felſengeſteines, Die Nachtfalter erwachen nun aus ihren lichtſcheuen Tagträumen und zählen takti¬ rend mit den befiederten Fühlfäden die Sekunden ab, bis ſie ihren ſchwerfällig-flatternden Flug beginnen; Eulen und Fledermäuſe machen ihre luftigen Runden, und wo das Thierleben in der Nacht untergegangen zu ſein ſcheint, da tritt das Leben der Pflanze üppi¬ ger und duftiger hervor.
Auf unſerem Berggipfel aber weht ein ſchneidend-kalter Wind. Wir flüchten in Peter Bohrens gaſtliches Faulhornhaus zum warmen Ofen, zur dampfenden Suppe, denn draußen iſt es völlig Nacht geworden und das majeſtätiſche Sternenzelt prangt im unendlichen Univerſum, ein ewiger Hymnus dem allgewaltigen Schöpfer.
[247]Druck von F. A. Brockhaus in Leipzig.
Hart iſt die Schule der Höhen, wie jene ſpartaniſche Mutter:„ Kehrt nicht als Sieger der Sohn, kehr 'er mir nimmer zurück! “Doch nur feſter ihr an, nur inniger ſchmiegt ſich der Zögling,Und mit unendlichem Weh' engt ihm die Ebne die Bruſt.
Ganz anderer Natur als jene harmloſen, eine edle Neugierde befriedigenden Rigi-Promenaden und Faulhorn-Viſiten ſind die Erſteigungen hoher, firnumlagerter, ſchwer-erklimmbarer und darum ſelten betretener Alpenſpitzen. Dieſe gehören den Auserkohrenen der emporſteigenden Wanderwelt. Nur Wiſſens-Durſt und ritter¬ licher Forſcherdrang, der „ heilige Trieb, im Dienſte der ewigen Wiſſenſchaft dem Bau und Leben der Erde, dem geheimnißvollen Zuſammenhange alles Geſchaffenen nachzuſpüren, “wie er einen Forſter, Alexander von Humboldt und Bonpland, einen Clapper¬ ton, Barth, Vogel und Livingſtone, einen Franklin, Roſſ, Johann von Tſchudi, Burne, Gebrüder Schlagintweit und andere Helden der Polar - und Aequatorial-Expeditionen begeiſterte — oder wie er die kühnen de Sauſſure, Hegetſchwyler, Eſcher, Hugi, Forbes, Agaſſiz, Deſor u. A. auf jene von Eis ſtarrenden, faſt alles248Alpenſpitzen. organiſchen Lebens baaren Gebirgszinnen trieb, — oder endlich die männliche, freie, helle Luſt an dem überwältigenden Reize, den das Außerordentliche, Wild-Erhabene bietet, — können zu ſolchen ge¬ fahrvollen Unternehmungen anregen. Es ſind Thaten, zu denen muthiger Entſchluß und feſter Wille, große körperliche Kraft und nachhaltige Ausdauer gehören, — die ohne Abhärtung und fröhliche Entſagung liebgewordener Gewohnheiten nicht auszuführen ſind. Es ſind aber auch Thaten, die ſowohl intellektuell wie materiell mit Sorgfalt vorbereitet ſein wollen. Ohne ſelbſtbewußten Zweck, ohne leitenden Gedanken, ohne entſprechende Vorſtudien und wiſſen¬ ſchaftliche Unterlage verflachen ſolche Expeditionen zu müßigen, werth - und reſultatloſen Waghalſereien, die lediglich auf den mageren Ruhm Anſpruch machen dürfen: „ da droben geweſen zu ſein. “ Was K. Müller im Vorwort zu ſeinen „ Anſichten aus den deut¬ ſchen Alpen “über das Reiſen im Allgemeinen ſo treffend ſagt: daß erſt die Kenntniß der Natur und ihrer ſich uns offenbarenden Geheimniſſe den ächten, vollen Genuß beim Reiſen gewähre, daß jährlich Tauſende aus den Alpen zurückkehren, ohne die Alpen ken¬ nen gelernt zu haben, weil ihnen die Einſicht zu den Ausſichten mangele, — das gilt in erhöhtem Maaße ganz beſonders auch von Solchen, die Mittel und Zeit, Mühe und Leben daran ſetzen, um von ihrer Montblanc-Erſteigung prahlend erzählen zu können.
Und endlich will eine Bergbeſteigung dieſer Art, die ihr Wan¬ derziel in den Regionen über zehntauſend Fuß ſucht, mit großer Sorgfalt und gründlicher Sachkenntniß ausgerüſtet ſein. In jene vegetations-entblößten, todten, ſtarren Eiſesfelder, wo meilenweit keine menſchliche Hilfe, kein ſchützendes Obdach zu erblicken iſt, wo kein gaſtfreundlicher „ Willkommen “dem erſchöpften Wanderer ent¬ gegentönt, in jene ſchauerlich-erhabenen Einöden muß Alles, was zu des Lebens dringendſtem Bedarf gehört, an Speiſe und Trank, Holz und Decken, mit emporgetragen werden. Um Abgründe über¬ ſchreiten, Jähwände erklimmen, in glatte Eisdächer Stufen hauen249Alpenſpitzen. und ſchlüpfrige Firnfelder möglichſt ungefährdet durchwandern zu können, bedarf es Leitern und Stricke, Beile und Fußeiſen, deren Transport neben Kompas und Fernrohr, Thermometer und Ba¬ rometer, Karten -, Zeichen - und Koch-Apparat den Aufmarſch we¬ ſentlich behindern. — Beſteigt ein einzelner Reiſender den Mont¬ blanc, wozu drei Tage Zeit gehören, ſo bedarf er nach dem obrig¬ keitlichen Reglement vier Führer, deren jeder 120 Francs Lohn und nach beendeter Tour noch einen Napoleon Trinkgeld bekommt, und um für die Bedürfniſſe dieſer fünf Perſonen zu ſorgen, ſind wie¬ derum fünf Träger nöthig, deren jeder 50 bis 60 Francs für den ganzen Weg bekommt, ſo daß die Koſten zwiſchen 900 und 1000 Francs zu ſtehen kommen.
Führer giebts in den Alpen wie Sand am Meer, aber nur ſehr wenige, die für centrale Expeditionen das erforderliche Zeug haben. Hier genügen Körperkräfte und genaue Lokalkenntniß nicht allein; hier müſſen Muth, Umblick, entſchiedene Beſonnenheit und vor allen Dingen Geiſtesgegenwart den übrigen obligatoriſchen Führer-Eigenſchaften beigeſellt ſein. Wehe dem, der, des Gebirges unkundig, an Schwindler geräth, die in der Höhe keinen Beſcheid wiſſen; er iſt ſo gut wie verlaſſen. Aber es giebt auch Führer, ihres Gewerbes Gemsjäger und Wildheuer, die durch lange Praxis ihren Ortsſinn ſo wunderbar ausgebildet haben, daß ſie an Alpen¬ ſtöcken fremder Gegenden, die nie zuvor ihr Fuß betrat, dennoch mit ſpähendem Scharfblick den Weg durch Felſenlabyrinthe und Eiswüſten herauszufinden wiſſen, der zum Ziele führt. Solch ein mit ſeltenem Orientirungstalent begabter Führer war Maduz von Matt im Glarner Kleinthal (eigentlich ein Schwabe), der bei offenem warmen Sinn für Naturſchönheiten, außerordentlich beſorgt um ſeine Klienten war und allenthalben Rath wußte. Als die Herren G. Studer von Bern und M. Ulrich von Zürich zum Erſtenmal den Monte Leone im Wallis, und Herr Prof. Oswald Heer von Zürich (bekannter Botaniker und Entomolog) zum Erſtenmal den Piz Linard250Alpenſpitzen. im Unter-Engadin beſtiegen, nahmen ſie den Maduz, der nie zuvor dort geweſen war, mit, — und er führte ſie ſicher und wohlbe¬ halten hinauf. Ein anderer Führer, der als vieljähriger Begleiter Hugi's und Agaſſiz's mit dieſen die Wagfahrten aufs Finſteraar¬ horn, auf die Jungfrau, Schreckhörner und andere Alpenſpitzen erſten Ranges machte und die ganze Expedition ſtets leitete, war der muthige Jacob Leuthold von Im-Boden (Haslithal). Von Bei¬ den wird auf folgenden Blättern mehr die Rede ſein.
Am Früheſten unter allen wurde der höchſte Gipfel Europas, der Montblanc (14800 Fuß), im Jahre 1786 von Dr. Paccard aus Genf unter Leitung des Jacob Balmat von Chamouny er¬ ſtiegen; ihm folgte am 1. u. 2. Auguſt des nächſten Jahres de Sauſſure in Begleitung von 18 Führern und Trägern. Seit jener Zeit wurde er öfter mit und ohne Erfolg das Ziel kühner Männer, und gegenwärtig vergeht faſt kein Sommer, in welchem nicht Fremde, namentlich Engländer, ihn in Angriff nehmen. — Viel ſpäter wurden die erſten Verſuche zur Erklimmung der bedeutendſten Höhenpunkte in den deutſchen Alpen gewagt; zuerſt die des Ortles - Spitz auf Veranlaſſung des Erzherzogs Johann von Oeſterreich durch den Bergofficier Gebhard und den Paſſeyer Jäger Joſeph Pichler im September 1804 u. 1805. Dann die der Jungfrau (12827 Fuß) durch die Gebrüder Meier von Aarau am 3. Aug. 1811 und am 3. Sept. 1812, denen eine dritte Ascenſion am 10. Sept. 1828 von 6 Grindelwaldnern, eine vierte am 28. Auguſt 1841 von den Profeſſoren Agaſſiz, Forbes, Deſor und Duchâtelier, und endlich eine fünfte am 14. Auguſt 1842 von Herrn Gottlieb Studer von Bern folgten. Seitdem iſt ſie zu wiſſenſchaftlichen Zwecken nie mehr be¬ ſucht worden. — In die gleiche Zeit der erſten Jungfrau-Expedition fällt auch der erſte, durch die Herren Meier unternommene, aber mi߬ glückte Verſuch der Erſteigung des Finſteraarhornes (des höchſten Gipfels in den Berner Alpen, 13160 Fuß), welcher ſpäter der Natur¬ forſcher Hugi von Solothurn in den Jahren 1828 u. 1829 wie¬251Alpenſpitzen. derum große Opfer brachte; nur zwei ſeiner Führer erreichten die eigentliche äußerſte Spitze bei der dritten Erſteigung. Erſt im Auguſt und am 6. Septbr. 1842 gelang es Herrn Sulger aus Baſel, zweimal die Kuppe zu erklimmen und droben eine Fahne aufzu¬ pflanzen. Seitdem iſt dieſer Punkt nie mehr überwunden worden. Die Schreckhörner (12568 Fuß) ſind ſo unzugänglich, daß die höchſte Zacke derſelben bis jetzt wohl noch nie betreten wurde; am 8. Aug. 1842 verſuchten die Naturforſcher Eſcher von der Linth, Girard und Deſor ihr Glück, erreichten aber nur die Spitze des großen Lauteraarhornes. Die angeblich dem Engländer Euſtace An¬ derſon am 6. Aug. 1857 gelungene Ascenſion wird allgemein be¬ zweifelt, weil durchaus keine Beweismittel für dieſelbe erſtellt werden konnten. — Das Wetterhorn oder die Hasli-Jungfrau (11412 Fuß) galt lange für unerſteigbar; am 28. Aug. 1844 betraten die Naturforſcher Deſor, Dollfuß u. A. zuerſt den ſüdlichſten Gipfel, das Roſenhorn genannt, und zwei Tage ſpäter ſollen die beiden Führer Bannholzer und Jaun auch die höchſte Spitze erklommen haben. Seit 1845, wo die Herren Fankhauſer und Dr. Roth von Bern am 9. Juli das Mittelhorn dieſes Stockes erreichten, iſt derſelbe nie mehr beſucht worden. Alle anderen Erſteigungen bedeutender Centralknoten-Spitzen des Alpengebäudes fallen in die jüngſte Zeit.
Dem Monte Roſa wurde ſchon ziemlich frühzeitig von den Herren Vincent 1819, Zumſtein 1820 u. 1822, Freiherrn Ludwig von Welden 1822, Aufmerkſamkeit geſchenkt; aber keiner derſelben erreichte das Gornerhorn oder die höchſte Spitze, ſondern nur die, jetzt allgemein nach ihnen benannten, niedrigeren Höhepunkte dieſes neun-gipfeligen Koloſſes: Vincentpyramide, Zumſteinſpitz (14064 Fuß) und Ludwigshöhe (13350 Fuß). Erſt nachdem die Profeſſoren Ordinaire u. Puiſeux 1847, die Herren Prof. Melch. Ulrich v. Zürich u. Gottl. Studer von Bern 1848 u. 1849 und die Gebrüder Schlagintweit 1851 u. 1852 vergebliche Anſtrengungen gemacht hatten, das Gornerhorn zu erklettern, gelang es 1855 den252Alpenſpitzen. Herren Smith aus Great-Yarmouth, die höchſte Spitze zu ge¬ winnen. Wir kommen im Verlaufe unſerer weiteren Erzählung nochmals darauf zurück, Aehnlich gings mit dem Tödi im Glarner Lande und vielen Anderen. Treten wir auf die Beſchreibung des Verlaufes und der Schwierigkeiten einer ſolchen Expedition etwas näher ein.
Zu den putzigſten, von der Nothwendigkeit diktirten Inter¬ mezzos bei großen Gletſcher-Expeditionen gehören die zum Zweck des Uebernachtens improviſirten Lagerhütten. Natürlich werden ſolche blos dann nöthig, wenn die Erſteigung eines Berges mehr als den Zeitraum eines Tages beanſprucht, wie dies z. B. beim Montblanc, Finſteraarhorn und bei der Jungfrau der Fall iſt, — oder wenn längerer Aufenthalt in den hohen Firn - und Gletſcher - Revieren, behufs wiſſenſchaftlicher Forſchungen, Temperatur-Be¬ obachtungen und Gletſcher-Studien nöthig wird. Dann iſts entweder nur ein niſchenähnlich-gewölbter, überhängender Felſen am Rande der Schnee - und Eis-Anhäufungen, oder eine Höhle, die, gegen die Wetterſeite ſchützend, als Bivouac-Local dienen müſſen — wie ſolche z. B. der Ruſſe du Hamel im Auguſt 1820 auf dem Grand Mulet 9000 Fuß üb. d. M. bei der Montblanc-Beſteigung, — oder der engliſche Naturforſcher Forbes 1842 in der Tiefe des Mer de Glace unter dem Tacul (Montblanc-Gruppe) beinahe 7000 Fuß üb. d. M. und im gleichen Jahre der famoſe Gebirgs-Gänger und begeiſterte Alpenfreund, Herr Gottlieb Studer (von Bern) am Fuße des Wannehornes nächſt dem Aletſch-Gletſcher (ca. 8000 Fuß üb. d. M.) bei ſeiner Jungfrau-Beſteigung bezogen; — oder es findet der Aufbau einer wirklichen Hütte aus Trümmer-Geſtein auf dem wandernden Fundament einer Moräne, wenn nicht gar auf dem feſtgefrorenen Firn ſelbſt, ſtatt. Solche Baracken, die in ihrer naiven Architektur an die urthümlichſten Bauverſuche unciviliſirter Völker erinnern, und gegen welche die armſeligſten Sennhütten in der Regel noch komfortable Wohnungen ſind, ließen z. B. 253Alpenſpitzen. de Sauſſure auf dem Col de Geant in einer Höhe von ca. 10000 Fuß, — Hugi beim Verſuche der Jungfrau-Erſteigung im Roth¬ thal, ferner auf dem Unteraargletſcher, auf dem Loetſchen-Gletſcher und am Fuße des Finſteraarhornes (1829) errichten. Die Form u. Konſtruktion derſelben iſt vorſündfluthlich-einfach. Gewöhnlich werden auf den, am Boden gezeichneten Linien eines länglichen Quadrates aus übereinander gelegten Glimmer - und Gneis-Scher¬ ben vier Seitenwände, einige Fuß hoch errichtet und die Fugen mit Raſenſchollen (wenn und wo es deren nämlich noch giebt) oder vom Geſtein abgelöſten Mooslappen ausgeſtopft. Ein an der Frontſeite ausgeſpartes Loch dient als Portal des Gebäudes. Ueber dieſen naiven Pferch werden dann in angemeſſenen Inter¬ vallen die 5 bis 6 Fuß langen Alpenſtöcke horizontal als Dach¬ gebälk gelegt, und eine lange, darüber ausgebreitete, durch be¬ ſchwerende Steine feſtgehaltene, wollene Decke vollendet den Bau.
Europäiſche Berühmtheit erlangte die, für die Profeſſoren Agaſſiz, Carl Vogt, E. Deſſor, Nicolet, H. Coulon und F. Pour¬ talès, beim Abſchwung auf dem Aargletſcher (5 Stunden vom Grimſelhospiz) 1840 erbaute, ſpäter reſtaurirte Cabane, welche dieſe Naturforſcher in ihrem köſtlichen Humor „ Hôtel des Neuchâtelois “tauften, mehrere Sommer hindurch wochenlang bewohnten und vielfache Beſuche von Reiſenden daſelbſt empfingen. Auch die Pro¬ feſſoren Forbes von Edinburg und Heath von Cambridge verweil¬ ten 1841 etwa 3 Wochen in derſelben. Deſor entwirft launige Bilder von dieſem Aufenthalte. Zu unterſt war der Eisboden des Gletſchers mit Schieferplatten ausgelegt, über denen eine dicke Lage von dürrem Wildheu und eine gegen Feuchtigkeit ſchützende große Wachsleinwand-Plane ſich ausbreiteten. Das war die gemeinſchaft¬ liche Matratze des Schlafkabinets für die 6 Naturforſcher. Sau¬ bere Betttücher und wollene Decken ergänzten das Arrangement, wodurch daſſelbe ein bäuriſch-wohlbäbiges Anſehen bekam. Vor dem Schlafzimmer waren Küche und Speiſezimmer etablirt, eben¬254Alpenſpitzen. falls unter dem Dache des großen ſchwärzlichen Glimmerſchiefer - Felſenblockes, welcher das ganze Gebäude ſchützte. Ein Tuch, quer¬ über an einen befeſtigten Stab gehängt, diente ſtatt Vorhang und Thür. Unter einem anderen benachbarten Blocke war das Maga¬ zin für Lebensmittel und der Keller angelegt. Nahte nun die Mit¬ tagszeit heran, ſo verſammelten ſich die hungernden Gelehrten, und obgleich die Normal-Speiſen, Reis und Schaaffleiſch, nur wenig ab¬ wechſelten, welche einer der Führer kochte, ſo geſtanden doch Alle, daß ein Mittagseſſen in freier Luft an der großen Gneistafel vor dem eben beſchriebenen Gletſcher-Hôtel eine Delikateſſe zu nennen ſei. Die Taſſe Kaffee und Cigarre nach dem Eſſen in unmittel¬ barem vis-a-vis der Schreckhörner und des Finſteraarhornes erhöh¬ ten den Genuß der lebhaften Diskuſſionen. Eine Stunde ſpäter ging Jeder wieder ſeinen Forſchungen nach. — Die Abende waren kurz; — man ging, wie die Hühner, mit der Sonne ſchlafen, un¬ mittelbar nach dem Nachteſſen, weil die Temperatur meiſt raſch un¬ ter den Gefrierpunkt fiel. Alle die zahlreichen, am Tage über die Gletſcher laufenden Bächlein verſchwanden, eins nach dem anderen, das Geräuſch der durch dieſe gebildeten Waſſerfälle verſtummte all¬ mählig, und völlig lautloſes, tiefes Schweigen ſenkte mit der Nacht ſich auf die weite, todte Eisfläche. Demungeachtet litten die küh¬ nen Gletſcher-Männer durchaus nicht an Froſt; die in den Grau¬ bündner und beſonders in den Walliſer Alpen als Deckbetten ge¬ bräuchlichen Schaafpelz-Decken veranlaſſen eine ſolche Wärme-An¬ häufung, daß das Verbleiben unter denſelben, trotz der draußen herrſchenden Kälte, mitunter faſt unerträglich wird. Dieſe wahrhaft „ goldenen Vließe “für jeden Hochgebirgswanderer bilden darum auch eines der vornehmſten Requiſiten in der ambulanten Bagage einer Gletſcher-Expedition.
Das Beſteigen außerordentlicher Gipfelpunkte der Alpen würde für den ſchwindelfreien, muskelkräftigen Mann keine ſo beſonders rühmens - und redenswerthe Aufgabe ſein, wenn einigermaßen Kon¬255Alpenſpitzen. tinuität in den zu überwindenden Parthieen herrſchte, d. h. wenn die Gletſcher und ihre Spalten, der Firn und ſeine Schründe, der Hochſchnee in ſeiner Mächtigkeit und Konſiſtenz jahrein, jahraus ſich gleich blieben und tüchtige, lokalkundige Führer daher mit Zu¬ verſicht voraus wüßten, welche Hilfs - und Transport-Mittel man gebrauche, welcher Weg der beſte, wann die größte Kraftanſtren¬ gung von Nöthen und wo die drohendſte Gefahr zu beſtehen ſei. Aber erfahrungsgemäß iſt die Metamorphoſe des Terrains nirgends einer ſo ewigen Wandelung und Transfiguration unterworfen als in den hohen und höchſten Alpenregionen. Wo heuer Mulden und tiefe Schneebecken ſich zeigen, thürmen vielleicht im nächſten Jahre Schnee-Hügel und Weheten ſich auf; wo in dieſem Sommer Wege über Firnhalden gemächlich und leicht zu überwinden ſtetig anſteigen, ragen im kommenden, wenn er ſchneearm und andauernd heiß iſt, Felſenriffe und Geſteins-Grathe hervor, die geeignet ſind, den tüch¬ tigſten Führer völlig zu desorientiren. Solcher Ungewißheiten hal¬ ber, muß eine Expedition (abgeſehen von den Eventualitäten plötz¬ lich umſchlagender Witterung) immer auf das Schlimmſte gefaßt und vorbereitet ſein.
Umſichtige Berggänger haben den Fundamental-Grundſatz: ſo lange als irgend möglich auf dem „ Aberen “, d. h. auf dem von Schnee und Eis befreiten Raſen oder Felſen zu bleiben, weil hier in der Regel der Tritt ſicherer, das Klettern minder mühſam, über¬ haupt das Fortkommen raſcher möglich, ausgiebiger iſt als auf dem trügeriſchen, dem Menſchen fremden und feindlichen Element des Firnes und Gletſchers. Es iſt ungefähr der gleiche Gegenſatz wie zwiſchen der Fahrt auf feſtem Lande und jener auf dem Waſſer. Einzig, bei faulem, bröckelichem Geſtein und jähen Schutthalden und beim Hinabſteigen, wo man gewöhnlich die direkteſten Linien wählt, zieht man den Marſch auf dem Schnee vor.
Die erſten bedeutenden Hinderniſſe im raſchen und direkten Aufſteigen veranlaſſen gewöhnlich die Gletſcherſpalten. Es256Alpenſpitzen. gieb wohl kaum eine namhafte bedeutende Alpenſpitze, deren Ba¬ ſis nicht von einem Eisſtrom umſchlungen iſt oder an deren Flan¬ ken nicht ein ſolcher mehr oder minder ausgebildet herabgleitet. — Das Umgehen der Spalten iſt, wo man den Gletſcher überſehen kann, eine zwar langweilige, aber in der Regel gefahrloſe Aufgabe. Indeſſen giebt es auch ungleiche, gewiſſermaßen gehügelte Gletſcher, wie z. B. ob dem Glacier de la Vanoise (zwiſchen Mont Cenis und dem Iſèrethal), auf denen man durchaus keine beſtimmten Di¬ rektionslinien einhalten kann. Die Verirrung auf einem ſolchen querſpaltenreichen Gletſcherfelde kann unter Umſtänden in die ge¬ fährlichſten Situationen führen, weil bei der faſt abſoluten Aehn¬ lichkeit der Spalten untereinander das Erkennen einer zweckdien¬ lichen Avancir-Linie ebenſo ſchwer iſt als das Wiederherausfinden des Rückweges. Ueberfällt Unkundige in ſolch einem Labyrinth der Nebel, dann dürfen ſie von großem Glück ſagen, wenn ſie ſich her¬ ausfinden.
Höchſt wahrſcheinlich ſind die Ende Auguſt 1849 myſteriös auf dem Griesgletſcher (Paß aus Ober-Wallis nach dem Val Formazza) verſchwundenen Reiſenden (Gebrüder Leonard aus Paris und Dr. Wolfrath aus Frankfurt), — von denen man eine Zeit¬ lang fabelte, der ehemalige Grimſelwirth Peter Zybach habe ſie berau¬ ben und ermorden laſſen, — einem ſolchen Umſtande erlegen. Je ſpäter im Sommer man die Gletſcher-Region betritt, um ſo zer¬ klüfteter wird man dieſelbe antreffen.
Nicht minder gefährlich als die Gletſcherſpalten ſind die un¬ kennbar dieſelben überwölbenden ſ. g. Schneebrücken. Sie ent¬ ſtehen bei andauerndem Schneefall durch die gleiche wunderbare Aggregation einzelner Flocken und Eiskryſtällchen, welche auch im Tieflande den Gartengeländern oder einzeln ſtehenden Pfählen und Pfoſten ſchiefe überhängende Schneehauben aufſetzt oder im Ge¬ birge die lauinen-veranlaſſenden Schneeſchilder formt. Wenn der ganze Gletſcher von neugefallenem Schnee bedeckt iſt, ſo ſind ſolche257Alpenſpitzen. Schneebrücken platterdings nicht zu erkennen. Hat es auf die Schneebrücken inzwiſchen wieder geregnet oder hat die Sonne die obere Schicht erweicht, daß dieſe einſinkend ſich verdichtet und dann wieder friert, ſo kann man ohne alle Gefahr darüber hinweg¬ gehen; eine Fuß dicke Schneebrücke, wenn ſie keine allzubreite Span¬ nung hat, trägt ihren Mann. Um jedoch dem bei Gletſchertouren ſehr oft vorkommenden Einbrechen zu begegnen, knüpfen ſich Führer und Geführte in Entfernung von etwa 4 Schritten an ein langes, um den Leib geſchlungenes Seil, damit, wenn Einer derſelben einſinken ſollte, die Uebrigen ihn leicht hervorziehen können. Das Unter¬ laſſen dieſer Vorſichtsmaßregel hat ſchon viel traurige Fälle zur Folge gehabt. Im Jahre 1821 ſtürzte auf der Höhe des Grindel¬ waldgletſchers der junge, waatländiſche Pfarrer Meuron in eine 121 Fuß tiefe Spalte und wurde erſt ſpät, nach Ableitung des unterm Gletſcher fließenden Baches, todt heraufgezogen und auf dem Grindel¬ walder Friedhofe zur Ruhe beſtattet. Sein jüngſtes Opfer ver¬ ſchlang der gleiche Gletſcher am 10. Juni 1860. — Ebenſo kamen Dr. Bürſtenbinder aus Berlin auf dem Oezthal-Gletſcher in Tyrol 1846 und ein vornehmer Ruſſe auf dem Findelen-Gletſcher im Sommer 1859 durch ähnliche Stürze ums Leben. — Im Juli 1836 fiel der Führer Michael Devouaſſon auf dem Glacier du Talêfre, unweit des Jardin, in eine ſolche Spalte, arbeitete ſich aber unter Hilfe ſeines Taſchenmeſſers, mit dem er Tritte in die Eis¬ wände grub, wieder mühſam hervor. Sein Torniſter, den er dabei verloren, wurde zehn Jahre ſpäter ſtückweiſe, 4300 Fuß weiter un¬ ten, am Fuß des Couvercle, vom Gletſcher wieder ausgeworfen. — In ähnlicher Weiſe rettete ſich auf dem Roſegg-Gletſcher (am Ber¬ nina) ein in eine Gletſcherſpalte geſtürzter Gemſenjäger, der, weil die Wände der über 60 Fuß tiefen Spalte unten zu weit ausein¬ ander lagen, ſich den Alpenſtock an das eine Bein band und ſo, die Kluft überſpreizend, ſich langſam hinaufarbeiten konnte. — Auf dem Trift-Gletſcher (Kant. Bern) ſtürzte 1803 der Gemſen¬Berlepſch, die Alpen. 17258Alpenſpitzen. jäger Peter Moor von Gadmen in einen Gletſcher-Schlund, aber dennoch ſo glücklich, daß er auf einen Eisvorſprung zu ſtehen kam und dort ſich halten konnte. Unten in grauſiger Tiefe rauſchten ſtrudelnde Gewäſſer, und kalte eiſige Luft wehte aus dem Abgrunde herauf. Sonderbarerweiſe hörte er die Zurufe ſeiner Kameraden ſcharf und deutlich, ohne daß dagegen dieſe ſeine laut geſchrienen Antworten verſtehen konnten. Um nun den verunglückten Freund zu retten, eilten die Anderen vier Stunden weit, bis zu den erſten Häuſern, hinab und kehrten erſt gegen Abend mit dem Rettungs¬ material zurück. Nachdem der halberſtarrte Mann in der Eisgruft den ihm zugeworfenen Strick feſt um ſeinen Körper geſchlungen hatte und frei-ſchwebend einige Fuß hoch, gezogen worden war, riß derſelbe und der Unglückliche ſtürzte abermals auf den Abſatz zurück. Jetzt war das Seil zu kurz, weil deſſen eine Hälfte ſich drunten befand; es blieb darum nichts Anderes übrig als nochmals den vierſtündigen Weg bei Nacht hin und zurück zu machen, um endlich am anderen Morgen den lebendig Begrabenen mit einem kräftigeren Seil nach 16ſtündiger Angſt zu erlöſen. — Noch wunderbarer iſt folgender Fall: Chriſtian Bohren kam am 7. Juli 1787 in Begleitung des Taglöhners In-Aebnit über den zwiſchen dem Wetterhorn und dem Mettenberg liegenden Oberen Grindelwald-Gletſcher, im Begriff, Schaafe und Geißen an den Mettenberg zu führen, als plötzlich eine Schneebrücke unter ihm einbrach und er in einen 64 Fuß tiefen Gletſcher-Riß hinabſtürzte. Er brach den Arm und fiel die Hand aus dem Gelenk; dennoch verlor er die Geiſtesgegenwart nicht. Glücklicherweiſe fand er unterm Gletſcher eine Oeffnung, welche der vom Wetterhorn herabfließende Weißbach ausgegraben hatte. Durch dieſen 130 Fuß langen Stollen kroch er mühſam dem Laufe des Waſſers unterm Eiſe entgegen und entging auf dieſe Weiſe dem Schickſal, lebendig begraben, verhungern zu müſſen.
De Sauſſure, als er im Juli 1778 von der Aiguille du Midi herabſtieg, brach plötzlich durch den Schnee mit beiden Füßen259Alpenſpitzen. ein, doch ſo, daß er auf einem Eisſattel ſitzen blieb, während die Füße frei in einen tiefen Abgrund hinabhingen. Sein Führer Peter Balmat, unmittelbar hinter ihm, hatte das gleiche Schickſal. Raſch beſonnen rief dieſer: „ Halten Sie ſich ruhig, mein Herr, machen Sie nicht die kleinſte Bewegung, ſonſt ſind Sie verloren! “ Dem anderen Führer, der nicht eingeſunken war, rief Peter, ohne auch nur ein Glied zu rühren, zu, er möge raſch unterſuchen, nach welcher Richtung die Spalte verlaufe und welches ihre Breite ſei. Dabei beſchwor er Herrn von Sauſſure aufs Dringendſte, ſo ruhig als nur möglich ſich zu verhalten, weil die kleinſte Bewegung un¬ fehlbar ihren Sturz in die Tiefe herbeiführen würde. Als der zweite Führer mit der größten Behutſamkeit das Terrain rekog¬ noscirt und die Figur der Spalte erkannt hatte, legte er kreuz¬ weiſe zwei lange Alpenſtöcke vor Herrn v. Sauſſure, mit deren Hilfe ſich dieſer vorſichtig aus ſeinem ſchwebenden Sitz emporhob, rettete, und dann mit Hand anlegte, in gleicher Weiſe den Peter aus ſeiner gefahrvollen Lage zu befreien. — Der Scharfſinn iſt nie erfin¬ deriſcher, als wenn die Noth zum Aeußerſten drängt. Das be¬ währte ſich, um mit dem Kapitel der Schneebrücken endlich zu ſchließen, auch am 4. Auguſt 1829, bei Hugi's Rückkehr vom Fin¬ ſteraarhorn. Durch die warme Temperatur war der Schnee am Nachmittage ſo ſehr aufgeweicht, daß jeden Augenblick einer der am Seil befeſtigten Reiſegefährten bis an die Bruſt einſank. Da die Schründe oft in einer Breite von 10 bis 20 Fuß den Weg verſperrten und meiſt mit einer, nur ganz dünnen, erweichten Firn¬ kruſte überwölbt waren, ſo ordnete der vortreffliche Führer Jakob Leuthold an: ſich platt auf den Bauch zu legen und alſo rutſchend oder ſchiebend die gräßlichen Abgründe zu paſſiren, um der Gefahr einzubrechen, durch die Vertheilung der Körperlaſt auf eine größere Fläche, leichter zu entgehen. Das gleiche Vorſichtsmittel prakticirte Herr Weilenmann bei ſeinem Herabſteigen vom Piz Corvatſch und Piz Lat. (Bernina-Gruppe.)
17*260Alpenſpitzen.Hat der Bergſteiger nun den Gletſcher ſeiner Länge oder Breite nach überſchritten, ſo iſts nicht ſelten der Fall, daß ihm der Uebergang auf das wieder zu betretende, feſte Geſtein noch uner¬ wartete Schwierigkeiten bereitet. Der Felſen ſchmilzt in Folge ſeiner größeren Wärme-Kapazität die zunächſt auf ihm lagernden Gletſcher-Ränder derart ab, daß dieſe in einer Höhe von 4, 6, 10, ja bis 20 Fuß von ihm abſtehen. Läßt ſich nun kein Punkt fin¬ den, an welchem der Wanderer den vom Schmelzwaſſer ſchlüpfrigen Boden durch einen vorausſichtlich gelingenden Sprung erreichen kann, ſo bleibt ihm nichts als das Herabturnen am Seile übrig.
In ſehr vielen Fällen iſts jedoch gar nicht nöthig oder auch nicht möglich, das feſte Geſtein zu betreten, ſondern man geht direkt allmählig vom Gletſcher auf den Firn über. Dieſer iſt wegen ſei¬ ner körnigen, minder zuſammenhängenden Struktur und wegen der größeren Bewegungs - und Anſchmiegungs-Fähigkeit gewöhnlich auch weniger zerriſſen. Es giebt Firnfelder, über die man ſtundenweit, ohne auf das mindeſte Hinderniß zu ſtoßen, gehen und ſteigen kann, — die alſo das raſche Fortkommen außerordentlich begünſti¬ gen. Aber es giebt auch ſolche, die in Folge des ungleichen, zer¬ ſpaltenen Felſenbettes, auf dem ſie ruhen, von Riſſen und Zerklüf¬ tungen durchkreuzt werden, die unter dem Namen der „ Firn¬ ſchründe “(Rimayes) bekannt ſind. Schauerlich-ſchöne Ein¬ blicke eröffnen ſich in ſolche große Firnhöhlen. Oft ſind ſie von unſchätzbarer Tiefe, im Innern durchſichtig-azurblau beleuchtet, ſo magiſch und ſanft, daß man an Kühleborns Zauberpalaſt in de la Motte-Fouqué's Undine erinnert wird. Die von den Geſimſen und Plafonds herabhangenden granulirten Eiszapfen, ähnlich den Stalaktiten-Gebilden in den Kalkſinter - und Tropfſtein-Grotten, er¬ höhen das Mährchenhafte, und erreichen dieſe gar wieder den Bo¬ den der ſchräg-abſinkenden Schneehöhlen, ſo erſcheinen ſie dann wie die Tragpfeiler hochgewölbter Dome und ſind wohlgeeignet, der Phantaſie zu allerlei fabelhaften Arabesken Anhaltepunkte zu geben. 261Die eigentlichen und für die Bergſteigung inkonvenabelſten Firnſchründe ſind jedoch jene, welche am Fuße hoher Felſenkämme vorkommen, von denen die Firnhalden ſteil abfallen. Indeß umgeben ſie auch die meiſten Berggipfel und ahmen deren Figuration in entſprechenden Konturen nach. Hat ein Berg mehrere Schneeterraſſen, ſo zeigt er auch meiſt in der Nähe jeder Terraſſe einen Bergſchrund, und ein Gipfel kann deren zwei bis drei haben. Zuweilen, wenn ſehr reich¬ lich Schnee fällt, wird der Bergſchrund von Lauinen ausgefüllt, und aus dieſem Grunde ſind ſchneereiche Jahre den Erſteigungen der Hochgipfel ſehr günſtig. —
Die größte zu überwindende Schwierigkeit beſteht gewöhnlich darin, daß die gegenüberſtehende Schnee - oder Eis-Wand bedeu¬ tend höher als der diesſeitige Standpunkt iſt. Haben die Führer ſich nun auf ſolche Fälle vorbereitet, und eine Leiter mitgenommen, dann iſt die Kluft in der Regel leicht zu paſſiren; eine ſolche Lei¬ ter beſteht aus einer etwa 20 Fuß langen, armsdicken, zähen Stange, durch welche Quer-Sproſſen oder Pflöcke getrieben ſind, die als Tritte dienen. Aber nicht ſelten tritt der Fall ein, daß eine Berg - Expedition auf andere Weiſe ſich zu helfen ſuchen muß, und da fördert dann die alle Gefahr verachtende Keckheit mitunter recht waghalſige Verſuche zu Tage. Einige der intereſſanteſten erzählt Herr G. Studer. Als er bei ſeiner, mit Herrn Weilenmann, Ende Auguſt 1856 unternommenen Erſteigung des Mont Velan (11588 Fuß, Walliſer Alpen) den Glacier de Proz überſchritten hatte, war am Fuße eines mächtigen Felſenpfeilers, der direkt gegen die höchſte Kuppe des Berges aus dem Firn aufſteigt, ein klaffender Berg¬ ſchrund zu paſſiren. Die Führer Andreas Dorſat und Pierre Morey überſchritten die Eiskluft an der ſchmalſten Stelle mit ver¬ wegener Gewandtheit und kletterten an der gegenüberſtehenden Eis¬ wand bis zu einem, durch vorragende gewaltige Blöcke geſicher¬ ten Standpunkte hinauf. Von hier warfen ſie das eine Seil-Ende herab. Herr Weilenmann war der Erſte, der die ſchwindelige As¬262Alpenſpitzen. cenſion vornahm, indem er das Seil um den rechten Arm ſchlang und unter Nachhilfe des mit der linken Hand regierten Bergſtockes (deſſen ſcharfe eiſerne Spitze er kräftig ins Eis einſchlug) ſich über den Abgrund emporziehen ließ. Herr Studer folgte in gleicher Weiſe. — Noch komplicirter war die Transſcenſion eines Firnſchrundes bei der Erſteigung des Grand Combin (13261 Fuß, Walliſer Alpen) am 10. Auguſt 1858 durch die beiden gleichen Gebirgsforſcher. Dort war die enorm tiefe Kluft oben nur etwa zwei Fuß breit, aber die gegenüberliegende Eiswand ragte ſieben Fuß höher, ſenkrecht auf. Die Führer, Gebrüder Felley (von Lourtier) wußten auch hier raſch Rath. „ Zwei lange Bergſtöcke wurden in einer Höhe von etwa fünf Fuß über der Oeffnung der Spalte horizontal in die jenſeitige Firnwand feſt genug eingebohrt, damit ſie als treppenartige Stützpunkte für den Fuß dienen konnten. Darauf ließ Benjamin Felley dem Rande des Schrundes ſo nahe als möglich ſich auf Hände und Kniee nieder. Sein Bruder Moritz trat auf deſſen Rücken und Schulter, benutzte dieſe ſanft ſich em¬ porhebende, lebendige Treppe, ſo wie die eingebohrten Stöcke als Fuß-Stützpunkte, und ſchwang, mit den Händen tief eingreifend, ſich dann flink und kräftig nach dem oberen, weniger ſteil abge¬ ſchnittenen und in ſeiner Maſſe auch mehr gelockerten Firngehänge empor, bis er eine ſichere Stellung gewonnen hatte. Als er dieſe erreicht, wurde ihm das Seil zugeworfen; ein zweiter Führer band deſſen unteres Ende ſich um den Leib und konnte mit Hilfe deſſel¬ ben nunmehr leichter hinaufklettern. Auf gleiche Weiſe wurden die Uebrigen und das Gepäck hinaufgezogen. Nur der letzte Führer (Benjamin) mußte das Manöver mit etwas mehr Unbequemlich¬ keit ausführen, weil er die Stütze der beiden Alpenſtöcke entbehrte, die man ebenfalls ſchon hinaufgezogen hatte. “ Auf dem Rück¬ wege mußte die, ſieben Fuß tiefer liegende Firnfläche, am Seil durch herzhaften Hinabſprung erreicht werden; einer der Führer war vor¬ angeſprungen und fing die Nachkommenden mit offenen Armen auf.
263Alpenſpitzen.Freilich iſts auch ſchon der Fall geweſen, daß ſolche Firnſchründe ſich als unüberwindbar zeigten und die völlige Erſteigung einer Hochgebirgs-Kuppe nahe am Ziele darum ſcheiterte. Dieſe Fatali¬ tät begegnete dem verſtorbenen rüſtigen Berggänger Hoffmann aus Baſel 1846 am Tödi; ein ſechzig Fuß breiter Schneeſchlund auf dem oberſten Firnwalle, zwiſchen der Tödi-Kuppe und dem Piz Ruſein, nöthigte ihn und ſeine renommirten Führer in einer Höhe von 10800 Fuß (alſo 344 Fuß unter der Spitze) zur Umkehr.
Bevor das Beſteigen hoher Alpenſpitzen ſo populär wurde, wie es heut zu Tage wirklich iſt, kurſirten, ſelbſt in guten Schrif¬ ten, wunderbare Faſeleien über allerlei körperliche Zufälle, denen die Bergwanderer ausgeſetzt ſein ſollten. Bald wurde die Luft als ſo exorbitant verdünnt dargeſtellt, daß das Athemholen faſt zur Un¬ möglichkeit werde; bald ſollte den Gipfelſtürmern Blut aus Mund, Naſe und Ohren quellen; daneben ſollten Kongeſtionen, Brechreiz, Druck auf Bruſt und Magen und allerlei Mißbehaglichkeiten als unvermeidliche Uebel ſich bei Jedermann zeigen, der in eine Höhe von 10000 Fuß und darüber empordringe. Ja, man konſtruirte ſogar eine der Seekrankheit entſprechende „ Bergkrankheit “mit ihren Symptomen, Exacerbationen, Remiſſionen, Kriſen ꝛc. und ſtellte eine förmliche Arzneimittellehre dagegen auf. Die Berggän¬ ger unſerer Tage wiſſen nichts von dieſer Krankheit. Es mag ſchon hier und da einmal Naſenbluten eintreten, aber ſicherlich nur in Folge der durch das Bergſteigen veranlaßten bedeutenden Blut¬ wallung; Uebelkeiten mögen ſolche Leute befallen, die überhaupt an Magenſchwäche leiden, und Mattigkeit iſt eine ſehr natürliche Kon¬ ſequenz der Abſpannung des Körpers, wenn man bei großer Kräfte - Konſumtion 6 und 8 Stunden lang in verdünnter Luft und unter mancherlei Gefahren bergauf marſchirt. — Die einzigen, wirklich exiſtirenden, etwas ſtörend auf den Körper und ſeine normalen Funktionen einwirkenden Erſcheinungen ſind der kaum zu löſchende, wahrhaft brennende Durſt bei Abweſenheit entſchiedenen Appetites,264Alpenſpitzen. den die Bergbewohner ſehr bezeichnend „ Durſthunger “nennen, — und die den Augen drohende Entzündung, die in das ſ. g. „ Schnee¬ blindwerden “ausarten kann, wenn man die Sehorgane nicht durch eine blaue oder graue Brille gegen die andauernd blenden¬ den, heftigen Einwirkungen der grellen Schnee-Reflexe auf ſtunden¬ langen Firnwanderungen ſchützt. Aber nicht nur die Augen greift dieſe Licht-Rückſtrahlung des Schnees an, ſondern ſogar auch die entblößten Theile des Körpers, vor allen das Antlitz, wenn man daſſelbe nicht durch einen farbigen Schleier ſchützt. Dieſe Einwir¬ kung äußert ſich in ſo hohem Grade, daß ein völliges Verbrennen der Haut, wie jenes in der ſchärfſten Sonnenhitze, eintritt, dem dann Blaſen und Wundwerden mit ſpäteren Schorfen folgen. Schleier ſind freilich für die unbeſchränkte Ausſicht ſehr hinderlich und vermehren die ohnedies herrſchende Hitze in hohem Grade, da ſie allen Luftzutritt abſperren. Um ſich zu erfriſchen, ballen die Führer Schnee zuſammen und legen denſelben in den Nacken, — ein Kühlungsmittel, das kräftigen Naturen in jenen Hochregionen nicht ſchadet, wo ohnedies, Geiſt wie Körper, entfeſſelter und unab¬ hängiger von äußeren Einflüſſen ſind. —
Wir kehren zum Bergmarſche zurück. Die Firnſchründe ſind nicht die letzten der zu überwindenden Schwierigkeiten; es häufen ſich deren neue, die unter Umſtänden gefahrbringend ſein können. Zu dieſen gehören zunächſt die Eishänge. In bedeutenden Hö¬ hen ſchmilzt Sonnenwärme oder Föhnwind an jähen Abhängen die Oberfläche des Firnes, mitunter bis auf mehrere Fuß Tiefe. Das der Kryſtalliſation durch Wärmeaufnahme entbundene Waſſer durch¬ dringt den Schnee, friert jedoch während der Nacht wieder. Hier¬ aus entſteht eine Eisfläche, die, um einen hinkenden Vergleich an¬ zuwenden, dem, im Tieflande bekannten, ſ. g. „ Glatteis “verwandt iſt, nur, daß ſie eben viel dicker, kompakter, maſſiger wird. Solche Eisrücken zu erklimmen, erfordert immer viel Arbeit, Mühe und Geduld; hier muß das Beil helfen, um mittelſt deſſelben Tritte in265Alpenſpitzen. das ſpröde Material zu hauen. Es muß ein gutes, erprobtes In¬ ſtrument ſein, welches ein gewandter Arm regiert; einmal der Hand, der leicht erſtarrenden, entfallen, macht der Verluſt deſſelben einen quittirenden Strich durch die Rechnung und aus dem zu erwarten¬ den großen Loos plötzlich eine Niete. Das Empordringen einer Geſellſchaft unter ſolchen Umſtänden, wo Schritt für Schritt erſt geſchaffen, geebnet, geſichert werden muß, iſt dann höchſt langſam, langweilig und erkältend. Bei Studers erſter Erſteigung des Großen Rinderhornes (10670 Fuß, Wallis-Berner Gränze) mu߬ ten gegen 400 ſolcher Stufen in den übereisten Jähhang gehauen werden, ein Zeitverluſt von mehreren Stunden. Bergſteiger-Regel iſts, eine ſolche Kunſttreppe, ſo viel immer möglich, geradeanſteigend zu beſchreiten, ſo daß das Geſicht dem Eis zugekehrt bleibt; der Fuß tritt mit der Spitze weit ſicherer als mit der Seitenkante auf.
Höchſt gefährlich ſind ſolche vereiste, ſteile Hänge, wenn friſch gefallener Schnee die glatten Eisſpiegel maskirt. Es fehlt nicht an haarſträubenden Schreckensgeſchichten zur Illuſtrirung des Ka¬ pitels von den Schneerutſchen, die urplötzlich mit der, auf der obe¬ ren, neugefallenen Schicht wandernden Geſellſchaft über der darun¬ ter verborgenen Eisbahn ſich in Bewegung ſetzten. Hugi hätte bei ſeinem zweiten Verſuch der Finſteraarhorn-Erſteigung beinahe durch ſolch einen Schneeſchlipf das Leben eingebüßt, wenn der entſchloſſene Leuthold ihn nicht noch im letzten Augenblicke mit nervigem Arm ergriffen und gerettet hätte. Das furchtbarſte Er¬ eigniß dieſer Art iſt jenes, welches die völlige Beſteigung des Mont¬ blanc durch den ruſſiſchen Naturforſcher, Hofrath Hamel vereitelte. Derſelbe war mit den beiden engliſchen Gelehrten der Oxforder Univerſität, Herren Dornford und Henderſon, unter Begleitung der kundigſten Chamounyführer (J. M. Coutet, Math. Balmat, Favret, Jules Devouaſſon u. A.) und vielen Trägern für Komfortabilitäten, Lebensmittel, mathematiſche und phyſikaliſche Inſtrumente, am 16. Auguſt 1820 von Prieuré ausgezogen, hatte am Grand Mou¬266Alpenſpitzen. let übernachtet und befand ſich am folgenden Tage bei ausgezeich¬ net günſtigem Wetter 9 Uhr Morgens bereits in der Nähe des Petit Plateau unterm Dôme de Gouté, von wo aus der Gipfel des Montblanc in 2 bis 3 Stunden zu erreichen iſt. Die Führer brachen ſchon in Glückwünſche aus, ſagten, daß nun alle Hinder¬ niſſe überwunden, weder Gefahren noch Eisſpalten mehr zu befürch¬ ten wären, überhaupt, daß noch nie eine Beſteigung ſo glücklich, geſchwind und ohne jeden Unfall ausgeführt worden ſei als eben dieſe. Die ganze Expedition war voll der beſten Hoffnung und ſah im Voraus ſich ſchon auf dem Kulminationspunkte der Wan¬ derung. Hofrath Hamel hatte Zettel geſchrieben, welche er einem aus Sallenches mitgenommenen kräftigen und brünſtigen Tauber um den Hals binden und dieſen dann fliegen laſſen wollte, um den Verſuch zu machen, ob dieſer ſein, in gerader Linie etwa fünf Stunden entferntes Weibchen im Taubenſchlage wieder auffinden werde; die Gelehrten freuten ſich ſchon auf den Ehrenplatz, wel¬ chen das von ihnen eigenhändig vom Gipfel des höchſten europäi¬ ſchen Berges abgeſchlagene Protogin-Stück in den Kabineten der mineralogiſchen Sammlungen zu Petersburg, London ꝛc. einnehmen würde, kurzum Jeder hing eigenen Lieblingsgedanken und Plänen nach. Alle marſchirten Einer hinter dem Anderen, weil man gern in die Fußſtapfen des wegbahnenden, erſten Führers tritt, welcher dann von Zeit zu Zeit, der Erholung halber, von einem Anderen abgelöſt wird. Niemand gab einen Laut von ſich, denn die An¬ ſtrengung hatte Alle ein Wenig ermattet. „ Noch war ich der Letzte “, erzählt Herr Hamel (in der Bibliothèque universelle), — „ gewöhn¬ lich ging ich zwölf Schritte weit fort und hielt dann an, um auf meinen Stock mich ſtützend fünfzehn Athemzüge zu thun; denn ich fühlte, daß ich in dieſer Weiſe vorankommen würde, ohne mich zu erſchöpfen. Durch eine grüne Brille und den Flor, welcher mein Geſicht verhüllte, richtete ich zählend die Blicke auf die Fußſtapfen, als ich plötzlich wahrnahm, daß der Schnee unter mir weiche. Da267Alpenſpitzen. ich glaubte nur auszugleiten, ſo verſuchte ich auf der linken Seite mich mit meinem Stocke feſtzuhalten, — aber vergeblich. Der zu meiner Rechten ſich anhäufende, aufbäumende Schnee wirft mich um, überdeckt mich und ich fühle von unwiderſtehlicher Gewalt mich abwärts fortgeriſſen. Anfangs wähnte ich, dieſer Umſtand begegne mir allein; als ſich aber der Schnee dergeſtalt über mir an¬ häufte, daß er mir den Athem entzog, ſo glaubte ich, eine große Lauine komme vom Montblanc herab, welche ihn vor ſich herjage. Ich rief, aber wie es ſchien umſonſt! Meine Gefährten ſah ich nicht mehr. Jeden Augenblick erwartete ich, von der Maſſe erdrückt zu werden; jedoch ſuchte ich im Hinabrollen beſtändig mich umzu¬ drehen und wandte alle Kräfte an, den Schnee, in welchen einge¬ hüllt ich gleichſam ſchwamm, zu zertheilen. Endlich gelang es mir den Kopf daraus zu befreien und ich erblickte einen großen Theil des Abhanges in Bewegung; da ich jedoch mich dem Rande des rutſchenden Theiles ziemlich nahe ſah, ſo ſtrengte ich meine Kräfte aufs Aeußerſte an, den feſtliegenden Schnee zu erreichen, auf wel¬ chem es mir endlich möglich war, ſicheren Fuß zu faſſen. Jetzt erſt erkannte ich die wirkliche Gefahr; ich ſah, daß ich mich faſt am Rande einer Spalte befand, welche den Abhang begränzte. Zugleich ſah ich Herr Henderſons Kopf noch näher dem Abgrunde aus dem ſtockenden Schnee hervorragen, und etwas weiter Herrn Dorn¬ ford nebſt drei Führern, Alle mit verzweifelt kämpfender Anſtren¬ gung bemüht, gleich mir ſicheren Boden zu gewinnen. Sie erreich¬ ten glücklich ihr Ziel, aber die fehlenden fünf Uebrigen konnte ich nicht entdecken. Immer noch hoffte ich, ſie aus dem nun ſich ſtauenden Schnee hervorkriechen zu ſehen, als Balmat uns zurief, daß ſich Leute von uns in dem Abgrunde befänden. Dieſe Kunde durchzuckte mich wie ein Wetterſchlag! fünf Menſchen lebendig be¬ graben und dies durch meine und meiner Freunde Veranlaſſung. Dornford warf ſich unter den wildeſten Geberden des Schmerzes auf den Schnee, und Henderſons Zuſtand erſchien momentan ſo268Alpenſpitzen. zerrüttet, daß er böſe Folgen befürchten ließ. Welch unendliche Gefühle der Freude uns elektriſch durchſtrömten, als wir bei unſerem Spähen an einer Stelle den Schnee erſt wenig, dann immer entſchiedener ſich bewegen ſahen, als nach einigen Augenblicken einer der verloren Geglaubten ſich daraus hervorwand, iſt nicht zu beſchreiben. Ein jubelndes Hurrah! begrüßte ihn und es verdoppelte ſich, als nach kurzer Friſt wir noch einen Zweiten ſich emporkämpfen ſahen. Schon loderte unſere Hoffnung in hellen Flammen auf, auch die noch fehlenden drei Anderen erſcheinen zu ſehen; — es war ver¬ geblich. “— Nach langen, mühevollen, aber erfolgloſen Nachforſchun¬ gen, ſo weit ſolche bei dem gänzlichen Mangel an Schaufeln und ähnlichen Werkzeugen möglich waren, trat die ganze Geſellſchaft, ſo nahe dem Ziele, in trübſter Stimmung den Rückweg an, weil die Führer erklärten, daß unabweisbar neue Schneerutſche auf die¬ ſen folgen würden, namentlich in jenen Gegenden, die noch zu durchwandern ſeien. Abends 9 Uhr langte die Karavane mit der Schreckensbotſchaft im Thale an. Jene drei Opfer aber ſchlafen den Todesſchlaf in den Eiskellern des Montblanc.
Es ſind jedoch nicht dieſe den Grundlauinen verwandten Schnee¬ rutſche allein, die den Wanderer in bedeutenden Höhen bedrohen, ſondern auch zu Häupten deſſelben losbrechende, eigentliche Lauinen und Eisbrüche können ihn begraben oder erſchlagen. Eine allen Berggängern bekannte, ſehr berüchtigte Stelle dieſer Art iſt die ſ. g. Schneeroſe oder Schneerunſe am Tödi. Es iſt ein kleines, etwa ½ Stunde langes Felſenthal unter der „ Gelben Wand “, welches von einer, in beträchtlicher Höhe ſenkrecht abgeriſſenen, gewaltigen Eismauer geſchloſſen wird. Von letzterer ſtürzen zeitweiſe große Eisblöcke herab, die in furchtbaren Sprüngen bis an das untere Ende des Thales rollen. Da eine Wanderung durch die Schnee¬ roſe ſtets mit einiger Gefahr verbunden iſt, ſo eilen die Tödiſtei¬ ger ſtets auf das Drängendſte, dieſe heilloſe Stätte in möglichſt kürzeſter Friſt zu paſſiren. Dr. Hegetſchwyler von Zürich, den be¬269Alpenſpitzen. rühmten Botaniker und Monographen dieſes koloſſalen Bergſtockes, hätte beinahe eine ſolche Schmetter-Kanonade zermalmt. Er wagte, von ſechs Reiſegefährten und Führern begleitet, am 12. Auguſt 1822 den dritten Verſuch zur Erſteigung des Tödi. In jener Schreckens¬ runſe angekommen, ſtanden bereits drei Perſonen der Expedition völlig geſichert unter dem Schutze überhangender Felſen, und die Führer waren eben beſchäftigt, den Letzten am Seil durch die ge¬ fährlichſte Stelle dieſer Todesſchlucht zu geleiten, da dröhnte es donnernd durch die Einöde. Toſend und dröhnend jagte ein Glet¬ ſcherſturz aus jener Höhe des eisbeladenen Grates herab. Angſt¬ ruf der Führer erfüllte die Luft; Schneegerieſel von allen Seiten, dann ſchreckliche Todesſtille für ein paar Augenblicke! Nun rauſchte es wieder ſtärker; in Schneegeſtöber, wie in Rauch gehüllt, fuhren kleine Eisſtücke in den Abgrund und durch die Schlucht ge¬ rade auf die darin Weilenden zu. Da dieſe ſich dicht an die Felſenwand ſchmiegten und anklammerten, ſo ging der Strom über ſie ohne bedeutende Beſchädigung hinweg. In ſtummer, gräßlich peinlicher Angſt verharrten die geſichert Stehenden noch ein paar bange Augenblicke; da hörte der Strom auf und einander fröhlich zurufend, erkannten ſich die Geretteten. Die Gletſcherſtücke waren durch den tiefen Sturz völlig zerſplittert und zermalmt und dadurch faſt unſchädlich geworden.
Das Schreckens-Arſenal der Hochgebirgs-Phänomene iſt aber noch lange nicht erſchöpft. Je mehr wir uns den erſehnten Gipfelpunkten nähern, deſto mehr häuft ſich die Summe der Fährlichkeiten und Hinderniſſe. Zunächſt hat man die weit überhangenden „ Schnee - Weheten “zu fürchten, welche über oft ſchauerlich tiefen Abgründen an den mehrere taufend Fuß ſenkrecht abſinkenden Felſenfronten der Alpen auffallend breite, hohl gewölbte, trügeriſche Vorſprünge hinaus¬ bauen, die jeder mechaniſchen Stütze entbehren; nur durch den Froſt - Verband der ineinander verflochtenen Eisnädelchen, durch die Kohä¬ renz der Schneeflocken werden ſie gehalten und getragen. Ein gering¬270Alpenſpitzen. fügiger Umſtand kann ſolche, in die Luft hinausragende, gleich Dächern die Felſen übertraufende Firngerüſte löſen und zum Tief¬ ſturz bringen. Herr Weilenmann hat deren am Gufferhorn (Adula - Gruppe) beobachtet, die mehr als 30 Fuß frei hinausſtehend, Muſter kühner Schneearchitektur genannt zu werden verdienen. Man hat ſich alſo wohl zu hüten, auf ſolche überhangende Weheten zu weit hinaus zu gehen. — Ferner bereitet das ſ. g. „ faule Geſtein, “d. h. die durch Eroſion und durch die Thätigkeit der Atmoſphärilien ab¬ gelöſten, bröckeligen Felſenfragmente, dem Berggänger große Ver¬ legenheiten, ſei es, daß der Fuß keinen ſicheren Stand auf dem¬ ſelben hat und fortwährend ſich in der Gefahr befindet abzugleiten, ſei es durch Ablöſung oberhalb, alſo durch entſtehenden Stein¬ hagel. Auch dünne Felſen-Nadeln, die wie Spitzthürmchen gothi¬ ſcher Kathedralen ſich präſentiren und Angeſichts von Abgründen umklettert werden müſſen, gehören nicht ſelten zu den kleinen Mali¬ cen der letzten Marſch-Stunden.
Der letzte eigentlichſte Kernpunkt, die äußerſte Kulmination iſt bei ſehr vielen Alpenſpitzen auch noch die härteſte der zu knacken¬ den Nüſſe. Manche mit der ſorgfältigſten Vorbereitung ausge¬ rüſtete Expedition ſcheiterte ganz oder theilweiſe noch dicht unter der dominirenden Scheitelzinke, weil man zu ſpät erkannte, den Streifzug gegen das Bollwerk von der unrechten, unzugänglichen Seite unternommen zu haben (wie ſolches bei allen Monte Roſa - Beſteigungen vor dem Jahre 1855 der Fall war) — oder weil den Gipfelſtürmern jene wahrhaft unheimliche Kaltblütigkeit und grauenhafte Reſignation neben den muskelfriſchen Kräften fehlten, welche nöthig ſind, ſolche Wagſtücke auf Leben und Tod zu be¬ ſtehen. Einige Beiſpiele werden genügende Erläuterung geben.
Die letzte Paſſage zum Gipfel der Bernina-Spitze (12475 par. Fuß, Ober-Engadin) beſteht aus einem ſcharfen Gletſcher - Grat, der ſteiler als der Firſt des ſteilſten Kirchendaches, ja bei¬ nahe ſenkrecht, wohl zweitauſend Fuß, einerſeits gegen das Val271Alpenſpitzen. Rosegg, andererſeits gegen einen Gletſcher-Cirkus abfällt. Bei der am 13. Septbr. 1850 erfolgten erſten Beſteigung dieſer giganti¬ ſchen Central-Maſſe überwand den Sattel Herr Coaz (Forſtinſpektor in Chur) mit ſeinen beiden Führern rittlings rutſchend. — Am Groß - Glockner (12158 par. Fuß, Tyrol) führt der Weg über einen 36 Fuß langen, nur 4 bis 6 Zoll breiten Felſenſattel, vom Schnee leicht geebnet, zum eigentlichen Gipfel; der öſterr. Major Sonklar Edler von Innſtädten paſſirte ihn mit 3 Gefährten und 5 Führern halb kriechend, halb reitend am 4. Septbr. 1855. Aehnlich, aber noch komplicirter iſt der Zugang zum Monte Roſa (14284 par. Fuß). Johannes Zumtaugwald überſchritt bei der am 14. Auguſt 1855 erfolgten zweiten Beſteigung, den kaum einen Fuß breiten Kamm aufrecht, die Schneekante ſchwindelfrei durch Niedertreten verebnend, als obs im flachen Felde wäre; Herr Weilenmann, der verwegene Berggänger, folgte ihm (nach eigenem Geſtändniß) „ mit angehaltenem Athem und nicht ohne Schauern, ebenfalls aufrecht gehend. “ Hiermit war aber der Kulm der äußerſten Spitze noch nicht erreicht; jetzt galt es eine zwar nur wenig Schritte breite, aber glänzend-glatt mit Eis überzogene Felſenplatte zu traverſiren, welche abſchüſſig auf die jäh gen den Gorner-Gletſcher niederſin¬ kende Schneewand ausläuft. Wie auch dieſe überwunden war, ſo mußte endlich noch eine faſt vertikale, kaminähnliche Runſe erklet¬ tert werden, welche direkt auf den äußerſten Kulm führt. Im Er¬ ſteigen derſelben ſchiebt ſich zu guter Letzt noch eine überragende Felſenplatte vor, welche ohne Beihilfe gewandter, feſter und muthiger Kameraden unmöglich zu überturnen iſt. Peter Zumtaug¬ wald ſpreizte ſich wie ein Kaminfeger feſt in die Wände der Schlucht ein, ließ ſeinen Vetter Johannes dann auf ſeine Schultern treten, und ſo ward es Letzterem möglich, den Vorſprung mit kräftigem Armſchwung zu überwinden. Eine Sekunde lang ſchwebte er da¬ bei über Untiefen. Wie er erſt droben war, gings mit den Ande¬ ren raſch, mittelſt des Seiles. Ein hilfloser Archivrath, deſſen272Alpenſpitzen. bei dieſer Expedition oft gedacht wird, mußte, wie ein Gü¬ terballen am Krahnen, den Strick um den Leib gebunden, hinauf¬ gehißt werden. Der Unglückliche hatte kurz vorher, ehe man den ſchwindeligen Grat paſſirte, den Arm aus der Schulter gerenkt, und nach langem, vergeblichem Ziehen und Stoßen war es den Füh¬ rern, die keine ſonderlichen chirurgiſchen Kenntniſſe beſaßen, gelun¬ gen, das Glied wieder einzurichten. — Eine ähnliche Paſſage iſt die über den Roththal-Sattel, etwa 12000 Fuß ü. d. M., bei Erſtei¬ gung der Jungfrau (12827 Fuß); ſie erfordert feſten Tritt und an Abgründe gewöhnte Augen, um nicht vom Schwindel er¬ griffen zu werden. Dennoch ſpart auch dieſer Berg ſeine ſchreck¬ hafteſten Schauermomente bis zu dem äußerſten Gipfelpunkt. Zu dieſem führt nur ein ſcharf-zugeſchnittener Kamm, deſſen Breite zwiſchen 6 bis 10 Zoll wechſelt, während die Gehänge der beiden Seiten 60 bis 70 Grad Neigung haben. Als die Profeſſoren Agaſſiz, Forbes, Duchatelier und Deſor denſelben am 28. Auguſt 1841 erreicht hatten, glaubten ſie nicht weiter kommen zu können. Der unerſchrockene Jakob Leuthold behauptete indeſſen das Gegen¬ theil, und um ſofort den Beweis zu führen, legte er ſein Gepäck ab und ſtieg in der Art vorwärts, daß er an der linken Seite des Schneekammes ging, während er die Schärfe des Grates im buch¬ ſtäblichſten Sinne unterm rechten Arm hatte und auch auf der rech¬ ten Seite den Stock einſetzte. So ging er langſam und beſonnen an dem entſetzlichen Abgrunde hin, indem er ſo viel als möglich den Schnee zu einem Pfade zuſammentrat und den Uebrigen die Er¬ ſteigung möglich machte. — Bei der am 8. Auguſt 1842 von den Profeſſoren Eſcher von der Linth, Girard und Deſor verſuchten Erſteigung der Schreckhörner (12568 Fuß, Berner Alpen), bei welcher ſie indeſſen nur bis auf die Spitze des großen Lauteraar¬ hornes kamen, wurde die Geſellſchaft, als ſie auf der Schneide eines felſigen Kammes ging, unvermuthet am Weiterkommen ge¬ hindert; der Weg war durch einen etwa 10 Fuß tiefen ſenkrechten Ein¬273Alpenſpitzen. ſchnitt vom Hauptſtocke des Berges getrennt, auf welchem einige hundert Schritte weiter der Gipfel winkte. Der Einſchnitt ſelbſt ſtellte einen ſcharfen Schneerücken dar, wie er auf den letzten Sei¬ ten mehrfach beſchrieben wurde. Während man noch konſultirte, ob man ſich am Strick hinablaſſen, oder das Hinderniß zu umge¬ hen ſuchen ſollte, ſprang der Führer Bannholzer, ohne ſich anbin¬ den zu laſſen, mit einem Satze auf den Schneeſattel hinab. All¬ gemeiner Schrei des Entſetzens! denn man hielt den Wagehals für verloren; allein er kam, ohne ſich wehe zu thun, rittlings auf den Schneeſattel zu ſitzen, und ohne ſich an das Rufen, Bitten, Fluchen der anderen Führer zu kehren, ſtieg er die gegenüberſte¬ hende Zacke hinan, erreichte die Höhe und winkte, ihm zu folgen. Einer nach dem Andern wurde am Seil hinabgelaſſen, und ohne Unfall kletterte die ganze Karavane dem Muthigen nach. Da er¬ wartete ſie in unmittelbarſter Nähe des Gipfels wiederum eine letzte Schwierigkeit. Auf etwa 50 Fuß Länge wird der Kamm ſo ſchmal, daß er kaum 18 Zoll Breite hat, während auf beiden Seiten Abgründe von etwa 4000 Fuß beinahe vertikalen Abſturzes gähnen. Hier hatten ſelbſt die verwegenſten Führer nicht den Muth, aufrecht zu gehen, ſondern überkrochen die Stelle, mit ſtarr vor ſich blicken¬ den Augen, wie Quadrupeden, bis das erſehnte Ziel erreicht war. — Schließlich noch die Erſteigung des Finſteraarhorns (13160 Fuß). Hugi war bei ſeinem dritten Verſuche der Erſteigung dieſes höchſten Gipfels der Berner Alpen am 10. August 1829 bis auf den hangenden Hochfirn gekommen, den man von allen guten Standpunkten der nördlichen Schweiz, beſonders vom Faulhorn aus, ſo deutlich ſehen kann. Um nun zu den Mittelfelſen in der oberſten Ausſpitzung des Firnes und des Hornes ſelbſt zu gelan¬ gen, war eine im eigentlichſten Sinne hängende Eisfläche zu paſ¬ ſiren. Es konnte nur mittelſt eingehauener Tritte geſchehen. Die Führer Leuthold und Währen gingen ſofort ans Werk, ſchlugen den Fuß feſt in die eingehauene Stufe, ließen ihn etwas anfrieren,Berlepſch, die Alpen. 18274Alpenſpitzen. um feſter zu ſtehen, und meißelten dann weiter. Es war ein hals¬ brechender Moment, ſie an dieſer Wand gleichſam hangend zu er¬ blicken. Endlich war die gefährliche Arbeit beendet und die Ueber¬ ſchreitung ſollte vor ſich gehen. Leuthold kam, um Profeſſor Hugi zuerſt herüberzuholen, erklärte ihm aber zugleich auf das Beſtimm¬ teſte, daß, wenn er ausglitſche, Rettung unmöglich ſei und er, ſei¬ ner eigenen Sicherheit halber, nicht einmal den Verſuch eines ret¬ tenden Handgriffes wagen werde. Das Ende vielfacher Verſuche war, daß kein einziger Mann der ganzen Expedition (unter denen tüchtig bewährte Berggänger ſich befanden) die Eishänge zu über¬ ſchreiten wagte. Leuthold und Währen erklommen einzig das ſchwindelhohe Ziel.
Wenn du den Muth verlierſt, verliereſt du die KraftZu wirken, und dein Werk verkümmert krüppelhaft.
Der Augenblick, in welchem man einen berühmten Gipfel nach unſäglichen Mühen und lebenbedrohenden Gefahren betritt, hat im¬ mer etwas Erſchütterndes, faſt möchte man ſagen Feierliches; es iſt ein Moment höherer Weihe, wenn rundum im faſt endloſen Ketten-Reigen ein weitgedehnter Horizont von Berggeſtalten und Thaltiefen auftaucht. Da liegt ſie ausgebreitet uns zu Füßen, die herrliche, gewaltige, große Alpenwelt, Firſt an Firſt, Grat an Grat, Kulm über Kulm, und wie der Blick eines Mächtigen der Erde bei ſeinem Regierungs-Antritt alle die Nationen, Völker und Stämme überfliegt, die fortan ſeiner Leitung ſich fügen wollen, ſo findet auch hier eine geiſtige Beſitz-Ergreifung, eine Heerſchau im Dienſte der Intelligenz ſtatt. — Dem wohl bewanderten Berg¬ gänger ſchlägt die ausgebreitete Gipfelwelt ſein eigenes Tagebuch, das Souvenir ſeiner ſommerlichen Freuden, Leiden, Genüſſe und Entbehrungen auf; von allen Seiten winken ihm Freunde aus früheren Tagen, die er ſofort wiedererkennt, grüßend entgegen und das Auge überſchwebt im Spazierfluge alle bekannten Höhen, Joche und Fluh-Toſſen. Da begegnet es unterwegs Geſtalten, ehrwürdi¬275Alpenſpitzen. gen, hochaufgerichtet ſtolzen, aus der großen Menge bedeutſam her¬ vortretenden, ſilbergeſcheitelten Greiſen, auf denen es ſinnend haf¬ tet: es kennt ſie, ohne ſofort ſie zu erkennen, Karte, Fernrohr und Führer kommen dem ſuchenden Gedächtniß zu Hilfe! — „ Ah! Grüß Gott, lieber Alter! Du auch da! Wie ganz anders ſiehst Du von hier aus? Ich habe Dir immer von anderer Seite in Dein ernſtes Antlitz geſchaut, wie Du Deinen verſteinerten Träumen nach¬ ſinnst, und heute ſchauſt Du mich nur verſtohlen über die Schul¬ tern an! “— So ſchweift der Blick in flüchtiger Rundreiſe immer weiter über die Zacken und Zinken des Rieſenreliefs, gleitet hinab zu heimelig eingebetteten Thalſpalten, und überſpringt glitzernde Flußadern, bis er beim Ausgangspunkte wieder anlangt, um nach dieſem orientirenden Fluge in die Special-Muſterung einzutreten. — Und vollends jenes erbebende Gefühl, wenn es ein Gipfel iſt, den nur höchſt ſelten oder zuvor noch nie eines Menſchen Fuß betrat; dies iſt dann eine Inauguration, erhabener, großarti¬ ger, als jede andere, durch Menſchen-Sinn und Hand bereitete. Warum läuft durch alle Zeitungen die Nachricht, wenn endlich eine, der ganzen gebildeten Welt längſt bekannte, ſchon unendlich oft auf Karten und Panoramen gezeichnete, in Büchern genannte Al¬ penſpitze von Bedeutung zum Erſtenmal erſtiegen wurde? Weil es eine kleine Kolumbus-That iſt, weil die kühnen Männer einen Bau¬ ſtein zum großen Tempelheiligthume der Naturwiſſenſchaften hinzu¬ fügten. — Alle Schrecken und Bedrängniſſe ſind vergeſſen, die Gletſcherſpalten und Firnſchründe mit ihren trügeriſchen Brücken, der ſchwindelſtarre Abgrund und die weichenden Trümmerhalden liegen als überwundene Feinde hinter uns, und jauchzend hebt ſich das Herz und klopft mächtiger in ſeines Gottes größerer Nähe.
Wie aber mag dieſer Gefühlsſturm ſich erſt ſteigern, wenn, wie es bei der erſten Erſteigung des Tödi am 10. Auguſt 1837 der Fall war, die unerſchrockenen Bergkämpen, längere Zeit im Nebel berganklimmend, an der Um - und Ausſchau gehindert, plötzlich, wie18*276Alpenſpitzen. die grauen verhüllenden Schleier reißen, in freudigem Schrecken erkennen, daß rundum alle Gipfel tiefer liegen als der, auf wel¬ chem ſie ſtehen, und unbewußt der langerſehnte Zielpunkt erreicht iſt. So ergings den ſtählernen, mit eiſerner Konſequenz vordringen¬ den Gebirgsmännern: Bernhard Voegeli, einem 60jährigen verwegenen Gemsjäger und Wildheuer in Begleitung ſeines Sohnes Gabriel und des kühnen Thomas Thut, alle Drei in den Obbordbergen hin¬ ter dem Dorfe Linththal (Kanton Glarus) daheim. Alle bis dahin mit dem größten Aufwande veranſtalteten Expeditionen waren ſämmtlich nicht ans Ziel gelangt, und im ganzen Glarner Gro߬ thale galt es für unbeſtreitbare Thatſache, daß der Tödi unerſteigbar ſei, wie heute noch das Matterhorn, die Dente blanche, das Wei߬ horn und Mont Cervin der Walliſer Alpen für unerklimmbar gelten.
Mit der Erſteigung eines ſolchen äußerſten Höhepunktes iſt indeſſen, nach Ueberwindung aller aufgezählten Hinderniſſe und Fährlichkeiten, oft noch wenig erreicht, wenn nicht auch der Himmel dem Unternehmen ganz außerordentlich günſtig und die Atmoſphäre ſehr rein iſt. Jene Tage ſind ſelten, an denen auf Höhen von mehr als eilftauſend Fuß die Temperatur einigermaßen mild, der Aufenthalt behaglich oder auch nur erträglich iſt; gewöhnlich variirt die Wärme in den Regionen über 12000 Fuß an ganz ſonnenkla¬ ren Sommertagen Mittags im Schatten nur um wenig Grad über oder unter dem Gefrierpunkte. De Sauſſure fand auf dem Mont¬ blanc im Schatten — 2°, ₃ und in der Sonne — 1°, ₃; Hugi am Finſteraarhorn im Auguſt 1 Uhr Mittags im Schatten — 2°, ₄ R., in der Sonne 0, ₀; Agaſſiz auf der Jungfrau Ende Auguſt 3 Uhr Nachmittags im Schatten — 3°; Coaz auf dem Piz Bernina 13. Septbr. Abends 6 Uhr in der Sonne + 3° R. Freilich ſind auch einzelne Fälle von außerordentlicher Temperatur-Höhe bekannt; ſo z. B. fand Herr v. Dürler auf dem Tödi Mitte Auguſt 1 Uhr Nach¬ mittags im Schatten + 7°, ₇ C. und in der Sonne + 9°, ₃ C.; Zum¬ ſtein bei ſeinem Monte Roſa-Erſteigungs-Verſuch in 13920 Fuß Höhe277Alpenſpitzen. + 8°, ₅ R. (ob Sonne oder Schatten, iſt unbekannt) und Weilen¬ mann auf dem Piz Linard (bei 10516 Fuß) Anfang Juli, Mittags 11 Uhr, ſogar + 17° R. an der Südſeite in der Sonne. In¬ deſſen beeinträchtigt der geringe Wärme-Gehalt der Luft die Gipfel-Erklimmer in den meiſten Fällen wenig; die Begleiter Agaſ¬ ſiz's tanzten bei ihrem Strahlegg-Uebergange (10380 Fuß ü. d. M.) und wälzten ſich, den Buben gleich, im Schnee, die Führer ver¬ ſuchten einen Hoſenlupf (Schwingen oder Ringen) und der alte ſechzigjährige Bernhard Voegeli ſtreckte ſich nach errungener Tödi - Erſteigung gemächlich auf den Schnee und ſchnarchte bald ganz behaglich. Allgemein rühmen die „ Birgmannen “eine eigene Elaſti¬ cität der Luft, die bei aller Friſche dennoch die größte Müdigkeit paralyſirt; aber ebenſo einmüthig klagen ſie andererſeits über die große Trockenheit der Atmoſphäre, welche ein eigenthümliches Spröde¬ werden der Haut und anderer Gegenſtände veranlaßt, ſo daß letz¬ tere ungemein leicht der Hand entgleiten.
Ein zweiter, den Genuß oft weſentlich beeinträchtigender Fak¬ tor iſt die meiſt ſehr geringe Durchſichtigkeit der Luft nach der Tiefe zu. Während dieſelbe nach oben ſo außerordentlich tranſpa¬ rent iſt, daß der leere Himmelsraum im Zenith faſt ſchwarz¬ blau oder wie dunkel angelaufener Stahl ausſieht, erſcheinen die fernen Berge, vom Montblanc oder Monte Roſa aus geſehen, in beinahe dunkelgelber Färbung, und ſelbſt die Firnfelder nehmen einen gelben Schein an. Dagegen verſchwimmen die Thaltiefen, von Höhepunkten, wie die eben genannten, durch die über den Tiefen lagernden Dünſte ins beinahe Unerkennbare; nur bei ganz hellem Himmel kann man vom Montblanc, deſſen Ausſichtskreis im Halbmeſſer auf 70 Stunden geſchätzt wird, die zunächſt gelegenen Alpenketten ſcharf und deutlich erkennen, — weiterhin verſchleiert ſich Alles immer mehr und mehr, bis es ins abſolut Unbeſtimmte übergeht. Indeſſen variiren, je nach örtlicher Lage und nächſter Umgebung der Gipfel, auch hier die Niederblicke und Ausſichten278Alpenſpitzen. ungemein. Vortrefflich ſchildert dies Studer in ſeinen Gletſcher¬ fahrten: „ Die Ausſicht von der Jungfrau iſt mehr erhaben als ſchön. Ja, auf das Gemüth desjenigen, der zum Erſtenmal ihre Zinne betritt und dem ſie die koloſſalen, in ihrer ernſten Pracht faſt unheimlich ausſehenden Bilder des Umkreiſes enthüllt, wirkt ſie wahrhaft erſchütternd. Das Bunte, Reizende fehlt; kein blauer See erfreut dort das Auge, — denn auf den Spiegel des Thuner¬ ſees blickt es ſo tief hinunter, daß er an Farbe und Charakter einem düſteren Alpenſee ähnlich, zwiſchen öden, baumloſen Berg¬ höhen zu liegen ſcheint. Die lieblichen Landflächen ſind zu ent¬ fernt, um ihren Reiz zu entfalten. Das trübe Grau, das ſie wie eine Dämmerung bedeckt, verſchwimmt in dem finſteren Dunſt, der den weiten Horizont geſtaltlos umzieht und keine Formen, keine Farbe mehr erkennen läßt. Im weiten Kreiſe begränzt von den farbloſen Niederungen oder dem düſteren Horizonte breitet ſich eine Welt von zerriſſenen Gletſchern, ſchneeigen Hochthälern, mannigfach verſchlungenen Firn - u. Felſenkämmen aus, über welcher man in ſchauerlicher Einſamkeit thront und welche unter dem ſchwarzblauen Firmamente von dem gebrochenen Lichtſchimmer einer mattſtrahlenden Sonne beleuchtet iſt. Der Tödi, der die ganze öſtliche Schweiz dominirt, bietet einen unermeßlichen Geſichtskreis dar; man kann ſagen, man ſieht nur zu viel. Das Einzelne ver¬ ſchwindet unter dem Ganzen, und auch dort verſchwimmen die ent¬ fernten Niederungen in nebeligen Dunſt, und das ungeheuere Alpen¬ gebiet, das man überſieht, zeigt wenige einzelne, großartige Gruppen oder Gebilde, die das Auge vorzugsweiſe feſſeln. Die Berner Hochalpen und Bernina ſind ſchon zu entfernt, um einen ſehr impoſanten Eindruck hervorzubringen. — Dagegen erhält die Ausſicht vom Mont Velan (11588 Fuß üb. d. M.) ihren hohen Reiz gerade durch das großartige, maleriſche Bild und den ſo verſchieden¬ artig ausgeprägten Charakter der einzelnen ſichtbaren Gebirgsgruppen. Das Specielle tritt lohnend hervor. Das Auge muß nicht ermü¬279Alpenſpitzen. den, ein unabſehbares Gewirr gleichförmiger Bergketten zu ent¬ ziffern; jede hat ihr beſonderes Gepräge, und man kann ſich kaum ſatt ſehen an den ſcharf gezeichneten ſchönen Formen der überall deutlich hervortretenden Gipfelgeſtalten. Man ſchaut noch an die Rieſenhäupter des Montblanc und Grand Combin empor, und em¬ pfindet in dem überwältigenden Eindrucke die Macht ihrer Größe. Und dennoch giebt der weite Geſichtskreis Zeugniß von der Erha¬ benheit des Standortes, und mit Stolz beherrſcht der Blick tauſend mächtige Gipfel, die ſich vor ihm beugen müſſen. — In älteren Reiſebeſchreibungen wird Mancherlei davon gefabelt, daß man am hellen Mittage auf ſolch außerordentlichen Höhepunkten die Sterne funkeln ſehen könne; alle die neueren Bergſteiger wiſſen auch hiervon nichts zu berichten. “
Zu den originellſten Momenten gehört die Art und Weiſe, wie die Bergſteiger der verſchiedenen Zeiten und Nationen unter¬ einander korreſpondiren und mit der Bewohnerſchaft angränzender Thäler telegraphiſch ſignaliſiren. Ueberall nämlich, wo ein Gipfel zum Erſtenmal erſtiegen wird, laſſen die Sieger irgend ein Zeichen ihrer Anweſenheit zurück, wie die alten Römer das „ hoc iter Caesaris. “ Beſteht eine ſolche Expedition nur aus Hirten und rüſti¬ gen Thalleuten oder Wanderfreunden der Alpenwelt, die das Ueber¬ maß ihrer phyſiſchen Kräfte an irgend ſolch einem Koloß erproben wollen, weil er ihnen jahraus, jahrein ins Fenſter ſchaut, dann bauen ſie als Promemoria für künftige Geſchlechter aus zuſammen¬ geleſenen Felſentrümmern eine kleine Pyramide, und das erſte Ge¬ ſchäft eines paſſionirten Bergſteigers, ſo wie er auf der Höhe an¬ kommt, iſt: dieſes ſ. g. „ Steinmandli “zu unterſuchen, ob daſ¬ ſelbe nicht irgend einen Zettel, eine Nachricht von den vorhergehen¬ den Erſteigern enthält. Um ſolche für vielleicht ferne Zeiten be¬ ſtimmte Korreſpondenzen gut zu konſerviren, werden die hier oben geleerten Weinflaſchen benutzt. Sie, die für die Tiefe ſchwarzer Keller-Nächte beſtimmt, manchen Mondenwechſel einſam in der Erde280Alpenſpitzen. Tiefen vertrauerten, ſind nun auserwählt, auf den äußerſten Gipfeln des Erdballes eine praktiſche Interpretation des hoffnungs-heiteren post nubila Phoebus (durch Nacht zum Licht) zu bethätigen, — ſie, die bisher Träger und Hülle geiſtiger Getränke waren, dienen nun dem geiſtigen Fluidum des menſchlichen Gedankens und werden mittel¬ bare Vermittler und Begrüßungs-Poſtillone zwiſchen gänzlich un¬ bekannten Perſonen. Der aus dem Notizbuche geriſſene Zettel mit den Namen der Beſteiger, Datum und allfälligen Aufzeichnungen über Wärme, Ausſicht, beſtandene Abenteuer u. ſ. w. (dem es mit¬ unter nicht an witzigen, konfidentiellen Scherzen fehlt, je nachdem der Weingeiſt den Gehirn-Barometer hinaufgetrieben hatte) wird in die Flaſche verſenkt und dieſe feſt gepfropft, in die Mitte des umge¬ benden Steinmandli verwahrt, ſo daß Sturm, Regen und Schnee ihr nichts anhaben können. Weilenmann fand auf dem Monte Roſa-Gipfel in einer ſolchen Flaſche nächſt einem Couvert mit Grüßen und Notizen auch noch breite, rothe und ſchwarze, ſeidene Bänder, welche die Gebrüder Smith von Great-Yarmouth, die erſten Beſucher der höchſten Spitze (Gebrüder Schlagintweit waren blos bis zu einem 22 Fuß unter dem höchſten Kulm liegenden Punkte vorgedrungen), dort zurückgelaſſen hatten; er ſchnitt kleine Streifen ab, von denen er ſpäter, nach ſeiner Heimkehr, Abſchnitte den Herren Smith brieflich zuſandte, als Zeichen der Nachfolgerſchaft. Solche Depoſitionen erinnern lebhaft an die mittelalterliche Sitte: in Thurmknöpfe und Grundſtein-Gemäuer, Dokumente und Mün¬ zen für ferne unbekannte Generationen niederzulegen.
Wo ſich die Bergſteiger aber auf eine Celebrirung ihrer Er¬ rungenſchaft vorbereitet haben, da wehen, als Zeichen der Beſitz¬ nahme eines Punktes, Fahnen ins Thal herab, die unten mit dem Fernrohr (oder dem „ italiſchen Feldſpiegel “, wie die Gebirgs¬ bauern ſagen) erkannt werden können. Gemeiniglich ſind es im¬ proviſirte Standarten, rothe Foulards mit Bindfaden an einen im Steinmandli befeſtigten Stock gebunden, oder wie bei Coaz's Bernina¬281Alpenſpitzen. Beſteigung das weiße eidgenöſſiſche Kreuz im rothen Felde, das triumphirend über Gletſcher und Firnfelder flaggte. Da aber ſolche Trophäen gar ſehr den Hochſtürmen ausgeſetzt ſind und in der Regel bald umfallen, oder (wie auf dem Piz Linard, welche Weilenmann fand) vom Blitze zerſplittert und verſengt werden, ſo ließ Hugi auf dem Finſteraarhorn eine aus Eiſendraht gefertigte, mit Harztuch überzogene Fahne aufpflanzen, welche man vom Grim¬ ſelhoſpiz, von Bern, ja ſelbſt von Solothurn aus (einer Entfernung von 19 Schweizerſtunden oder 12 geographiſchen Meilen), durch den Tubus beobachtete. Die originellſte, vom momentanen Sich¬ zuhelfenwiſſen zeugende Fahne etablirten die Gebrüder Schlagintweit am Monte Roſa, wo ſie in Ermangelung entſprechenden Flaggen¬ ſtoffes ein Hemd an die Stange banden, — die in Betreff des Humors faſt noch von jener übertroffen wird, die Studer auf dem Rinderhorn aufhißte; auch dort mangelte, als man den Aufmarſch antrat, ein Fahnentuch, und der Wirth des einſam gelegenen Berg¬ wirthshauſes Schwarenbach wußte ſich nicht anders zu helfen, als daß er eine alte Weſte zu dieſem Zweck dem Spiel der Lüfte preisgab.
Wie ſchon erwähnt, werden die Beſteiger durch gute Perſpektive mit den Augen vom Thale aus auf ihrer Tour verfolgt, und es war ſchon der Fall, daß man, als endlich die langerſehnte Fahne luſtig auf dem Gipfel flatterte, in der Tiefe mit Kanonen - und Böllerſchüſſen weithin den Thalbewohnern das Gelingen der Expe¬ dition verkündete. Es entſpricht den allgemeinen akuſtiſchen Be¬ dingungen und Geſetzen, daß die auf der Bergſpitze Weilenden dieſe Freuden-Signale hörten, weil die Schallſchwingungen, vielfach von den Bergwänden zurückgeworfen, heraufdringen mußten, während Piſtolenſchüſſe auf ſolchen alle anderen überragenden Höhen, aus Mangel katakuſtiſcher Faktoren, beinahe ſpurlos, ohne allen Effekt verſchwinden und darum im Thale durchaus nicht gehört werden. Ueberhaupt iſt abſolute, lautloſe, feierliche Stille, die durch keine282Alpenſpitzen. Lebens-Aeußerung unterbrochen wird, ein beinahe ſchauerlich-charak¬ teriſtiſches Merkmal ſolcher äußerſter Höhepunkte, die in ewiger Sabbathruhe daliegen; nur wenn der Sturm die Gipfel umbrauſt, dann erbebt die Luft ſeufzend unter den Windſtößen, und langge¬ zogene heulende Disharmonieen umtanzen im wilden Reigen die grauſe Einſamkeit.
In dieſen Höhen hat das organiſche Leben als normale Er¬ ſcheinung aufgehört. Selten iſts, im Schnee Spuren von Gemſen¬ tritten zu finden, und ebenſo ungewöhnlich, einen, der noch in der unteren Schneeregion niſtenden Vögel zu erblicken; nur bisweilen kreiſt ein Steinadler oder Lämmergeier um eine der benachbarten Spitzen und unterbricht die hehre Stille mit ſeinem gedehnten, ſchrillen „ Pfii “und „ Hiä “. Wohl aber begegnet man nicht ſelten den Leichen kleinerer Thiere, namentlich ſolchen von Inſekten, die urſprünglich dem Tieflande angehörend, durch irgend eine empor¬ wirbelnde Windſäule hier heraufgetragen wurden und auf dem Schnee raſch ihren Tod fanden. Herr v. Dürler ſah auf dem vereisten Kulm des Tödi während ſeines Mittagsmahles einen Schmetterling (Papilio brassicae, Kohlweißling) in mattem Fluge vorüberflattern, den ebenfalls der Sturm in dieſe Todesfelder ver¬ ſchlagen hatte. Auch dürre Laubblätter von Buchen und Ahornen wurden ſchon wiederholt auf den Firnen von 11 und 12 Tauſend Fuß angetroffen, — immer aber, vermöge ihrer größeren Wärme - Kapazität, einige Linien tief in ſcharfen Umriſſen in den Schnee eingeſunken. Nur das Pflanzenreich hat hie und da noch einige verlorene Gränzpoſten; ſo zeigen ſich an felſigen Stellen bei 10,000 Fuß noch die Aretia helvetica und glacialis, letztere mit ihren feu¬ rigrothen Vergißmeinnicht-Sternlein auf graugrünem Laubkiſſen, die erſtorbene Einöde ein wenig belebend; — ferner Poa alpina var. frigida, und am Schreckhorn ſogar bei 11,000 Fuß noch der behaarte Gletſcher-Hahnenfuß (Ranunculus glacialis L.). Noch einige Moosarten wagen ſich hierherauf, indeſſen äußerſt ſpärlich, und als283Alpenſpitzen. allerletzte Repräſentanten des Pflanzenreiches, zeigen ſich auf den äußerſten Spitzen noch ein Paar Flechten, z. B. Parmelia elegans und muralis, Cetraria nivalis Ach., und auf dem Gipfel der Jungfrau die nach dieſer getaufte Umbilicaria virginis.
Wie es da droben, auf dieſen äußerſten Kulminationspunkten unſeres Erdtheiles ausſieht, iſt zum Theil ſchon geſagt worden. Die Gipfel des Montblanc, Tödi, Mont Velan, Cima de Jazzi u. a. ſtellen ſich als ſanft rundlich anſteigende, gewölbte, große Schneekiſſen auf breiter Baſis dar, auf denen ganz ungefährlich zu weilen iſt. Der Galenſtock (Berner-Urner Gränze 11,073 Fuß) zeigt ſich gen Weſten ebenfalls als ſanft abgerundete Schneekuppel, die aber gen Oſten faſt ſenkrecht, mehrere tauſend Fuß plötzlich ab¬ fällt. Der Kulm des Groß-Glockner in Tyrol iſt ein unebener, felſiger Platz von grünem Chloritſchiefer, der höchſtens für 12 Per¬ ſonen Raum bietet. Die ſüdliche Zacke der Schreckhörner (85 Fuß niedriger als die nördliche, höchſte, noch unerſtiegene) bietet etwa 10 Quadratfuß Oberfläche, in Form eines Bogens oder Halbmondes, dar, deſſen Konvexität nach Norden gerichtet iſt. Dagegen bildet der Gipfel des Finſteraarhorns einen wellenförmigen Grat von etwa 20 Fuß Länge und nur 1 bis 1½ Fuß Breite, der jäh nach beiden Seiten abfällt. Gleiche oder ähnliche Formen zeigt die Jungfrauſpitze; ſie fällt wie das Dach eines Zeltes mit 60 bis 70 Grad Neigung, bei einer Breite von nur 6 bis 10 Zoll, als harter Schneefirſt ab, — und das Eisdach des Großen Rinderhornes iſt vollends ſo entſetzlich zugeſchärft, daß es dem kühnſten Wagehalſe, bei dem ſteilen Anſteigen der Schneide, unmöglich wird, hinauf zu reiten oder kletternd zu rutſchen. Der Bernina-Gipfel bietet gar nur ſo viel Platz, daß kaum 3 Perſonen neben einander ſtehen können und der Grand Combin läuft in eine abſolute Firnſpitze, aus, auf welche man ſich nicht wagen darf. Wir finden ſomit eine reichhaltige Muſterkarte von Formen, ſowohl ſolchen, die Schnee und Eis improviſiren und alljährlich, je nach den Abſchmelzungen284Alpenſpitzen. oder Akkumulirungen neu modelliren, als auch ſolchen, die in aller¬ hand Geſtalt als Fels auslaufen. So mühevoll und gefährlich die Erklimmung einer Alpen-Hochſpitze iſt, ebenſo ſchwer fällt dann das Scheiden von derſelben. Es iſt ein Abſchied, vielleicht für immer von einer, weit über dem kleinlichen Treiben der Menſchen erhabenen, ſchönen Welt. Der Rückzug iſt oft mit noch mehr Schwie¬ rigkeiten verknüpft als das Emporſteigen; denn, ſind Führer und Reiſende jetzt zwar mit dem Wege und ſeinen Hinderniſſen ver¬ trauter als vorher, ſo iſt die Summe der Kräfte nicht mehr ſo groß, die Oberfläche des Schnees durch die Einwirkung der Tages¬ wärme weicher, naſſer, einſturzfähiger und das Hinabklettern an Felſenwänden viel umſtändlicher und unzuverläſſiger als das Hinaufklettern, weil man den ſicheren Tritt immer erſt unter ſich ſuchen muß, der im andern Falle von ſelbſt dem Auge ſich darbietet. Es kommt indeſſen auch vor, daß die Sonne die Spuren der Fu߬ tritte hinwegleckt und man dann beim Rückmarſch dieſen Leitfaden verliert. Dann durchfurchen am Nachmittage Gletſcherbäche die Oberfläche der Eisrücken und machen den Weg ungemein ſchlüpfrig. Wie verhängnißvoll ſelbſt auch dieſe kleinen, mit lautem Getöſe in die Gletſcherſpalten ſtürzenden Waſſeradern für den ſorglos oder ermattet dahinſchlendernden Berggaſt werden können, beweiſt eine Anekdote, welche Herr Weilenmann bei Gelegenheit ſeiner Monte Roſa-Tour erzählt. Einer der Engländer, welche von der Partie geweſen waren, rutſchte in ſolch einem Gletſcherbache aus und ver¬ ſchwand plötzlich. Die Führer ſtürzen mit Entſetzens-Schrei nach und ergreifen ihn, der fortgleitend, eben dem Abgrunde eines 30 bis 40 Fuß breiten, tiefen, mit Waſſer gefüllten Trichters zugeſchwemmt werden ſollte, an Arm und Kleidern, um ihn herauszuziehen. Der Menſch hatte, horribile dictu, Gummiſchuhe angezogen und deshalb keinen feſten Tritt. — Ueber Schneefelder, die nicht gar zu ſteil abſinken, rutſcht man ſtehend, den Stock nach hinten gehalten, wie ein Schlittſchuhläufer pfeilſchnell hinunter. Es will geübt285Alpenſpitzen. ſein. Anfänger geben ergötzliche Intermezzi zum Beſten. Ueber¬ haupt macht auch hier, wie in allen Dingen, Uebung den Meiſter. Der tägliche Umgang mit den Elementen des Hochgebirges macht die Führer nicht nur ſo keck und vertraut, ſondern namentlich auch außerordentlich gewandt. Es iſt faſt unglaublich, mit welcher Si¬ cherheit und Leichtigkeit der Aelpler, große Laſten auf dem Rücken, die ſchwierigſten Paſſagen überwindet. Als Hugi bei ſeiner dritten Finſteraarhorn-Expedition mit lahmem Fuße kaum mehr weiter konnte, packte ihn Leuthold nolens volens auf ſeinen Rücken und eilte mit ihm über den Gletſcher hinab, während es ſtürmte und die Nacht hereinbrach. Die anderen beiden erprobten Führer Währen und Zemt wetteiferten mit jenem, ihren Herrn zu tragen. Hugi ſagt, es ſei ihm unbegreiflich geweſen, wie dieſe Männer, ohne Stock, mit beiden Händen ihre Laſt haltend, Schründe in tiefer Dämmerung überſprungen hätten, wo Alles trügeriſch und unſicher geweſen ſei.
Schon weiter oben ſind Beiſpiele von der Verwegenheit der Führer gegeben worden, mit welcher ſie halsbrechende Sprünge wagen; hier noch eins, das nach anderer Seite hin die Tollkühn¬ heit derſelben beleuchtet. Gottl. Studer hatte, bei der Rückkehr von der Jungfrau, ſeine Kopfbedeckung in einen tiefen Firnſchrund fallen laſſen, der ſtufenlos und jäh, wie das ſteilſte Thurmdach mit ſchiefer Eisfläche abſank; gegen die Tiefe verengten ſich die Gründe des Schrundes, während die entgegengeſetzte Wand wie eine hohe lothrechte Mauer mit vielen Eisnadeln aus dem nächt¬ lichen Dunkel aufſtieg. Der Führer Bannholzer, den der Verluſt der Mütze ärgerte, rief raſch entſchloſſen, daß er nachſehen müſſe, wo das Stück liege, und ließ, ungeachtet alles Abmahnens, das Seil um den Leib befeſtiget, ſich in den grauſigen Schlund hinab¬ gleiten. In bedeutender Tiefe angekommen, wo er auf einem ab¬ gebrochenen, jeden Augenblick mit Einſturz bedrohten Eispfeiler Stützpunkte für den Fuß fand, ſieht er die verlorene Kappe, —286Alpenſpitzen. aber noch tiefer unter ſeinem Standorte, liegend. Der oben von zwei Männern gehaltene Strick reicht nicht mehr aus. Der toll¬ kühne Bannholzer bindet ſich los und ſteigt vollends in die eiſige Grabesnacht hinab. Nach banger Pauſe ertönt ſein jauchzender Ruf aus der Tiefe. Er hatte ſeine Beute erreicht und kam glücklich wieder ans Tageslicht. Trotzdem er in einer Tiefe von mindeſtens hundert Fuß war, ſetzte, nach ſeiner Verſicherung, der Bergſchrund noch in unergründliche Tiefen fort.
Es iſt ein beneidenswerthes Tagewerk, welches der Naturfreund vollbracht hat, wenn er am Abend körperlich unverletzt, geiſtig gehoben, reich an Erfahrungen und bereichert im Schatze ſeines Wiſſens, drunten in den Hütten der Menſchen, ein Gefeierter des Tages, wieder anlangt; — es iſt ein Genuß und ein Bewußtſein, deſſen nur Wenige von der großen Menge der Alpenwanderer ſich erfreuen können. Noch nie iſt dies Streben ſchöner und edler gewürdiget worden als durch Friedr. von Tſchudi's Antwort auf die Frage: Was ſoll der Menſch da oben? „ Es iſt das Gefühl geiſtiger Kraft, das ihn durchglüht und die todten Schrecken der Materie zu überwinden treibt; es iſt der Reiz, das eigene Menſchenvermögen, das unendliche Vermögen des intelligenten Willens an dem rohen Widerſtande des Staubes zu meſſen; es iſt der heilige Trieb, im Dienſte der ewigen Wiſſenſchaft dem Bau und Leben der Erde, dem geheimnißvollen Zuſammenhange alles Geſchaffenen nachzu¬ ſpüren; es iſt vielleicht die Sehnſucht des Herrn der Erde, auf der letzten, überwundenen Höhe im Ueberblick der ihm zu Füßen liegenden Welt das Bewußtſein ſeiner Verwandtſchaft mit dem Unendlichen durch eine einzige, freie That zu beſiegeln. “—
Druck von F. A. Brockhaus in Leipzig.
Ueber die höchſten Grate der alpinen Centralketten läuft die Gränzſcheide germaniſchen und romaniſchen Elementes; beide würden ſchroff und ſtarr getrennt an den entgegengeſetzten Abhängen, ein¬ ander fremd, und unherührt von den nachbarlichen Eigenthümlich¬ keiten, durch Jahrtauſende fortexiſtirt haben, wenn nicht die Völker und ihr Lebens-Verkehr in den tiefſten Einſenkungen der Gebirgs¬ züge ſich begegnet wären. Es war ein natürliches Bedürfniß der erſten Bewohner, welche in den Alpenthälern ſich anſiedelten, noch andere Wege aus ihrer abgeſchloſſenen Einſamkeit zu finden, als blos dem Fall der Bäche und Ströme hinab in die Ebene zu folgen; ſie drangen dieſſeits und jenſeits, dem Laufe der Gewäſſer entgegen¬ ſchreitend, zu den Quellen derſelben empor, und hier begegneten beide Elemente einander. Daß dieſe Beſtrebungen jenen früheſten Zeiten angehören, in denen das Alpenland zuerſt aus dem Dunkel der Geſchichte auftaucht, beweiſt die noch heute gebräuchliche Be¬288Gebirgs - Päſſe und Alpen-Straßen. zeichnung „ Paß “; es war der passus (Schritt), welchen die Römer auf ihren Eroberungszügen über die Alpen thaten. Als die Welt¬ herrſchaft derſelben gen Norden ſich auszudehnen begann, da über¬ ſchritten der römiſche Conſul Julius Caſſius im Kampfe wider die Cimbern und Teutonen, — und nach ſeiner Niederlage, Marius mit den römiſchen Legionen den Mont Cenis oder Mont Genèvre (der Cottiſchen Alpen); Julius Cäſar drang über den Mons Penninus (Großer St. Bernhard) gegen die Salaſſier vor, und nach der Grün¬ dung der Colonia Praetoria Augusta kurz vor Chriſti Geburt, wurde zu Kaiſer Auguſtus Zeiten dieſer Paß ein viel begangener Weg. — Ueppigkeit, Zwietracht und Laſter der entnervten Römer führte den Sturz ihres Weltreiches herbei, und jetzt drangen die früher von ihnen bekriegten nordiſchen Schaaren, namentlich Sueven und Vandalen, Burgundionen und Alemannen, über dieſe Päſſe nach Italien ein. Nur Werken des Streites, der Eroberung, Zerſtörung und feindſeliger Abſichten dienten bis dahin die wüſten, beſchwerlich zu paſſirenden Bergpfade. Mit dem Verrinnen der, alle damaligen Zuſtände erſchütternden, Alles umgeſtaltenden Völkerwanderungen fanden die ſittlich-hebenden und veredelnden Segnungen des Chriſten¬ thums auch in den Alpen Eingang, und hier begegnen wir auf den einſamen Höhen des Lukmanier-Paſſes dem Friedensboten und Glaubensapoſtel Columban und ſeinen Schülern. Dieſer Berg - Uebergang wurde nun die gebräuchlichſte Straße der fränkiſchen und carolingiſchen Fürſten; Pipins Heer zog über dieſelbe dem Papſt Stephan III. zu Hilfe, Karl der Große holte ſich auf dieſem Alpen¬ wege die Kaiſerkrone, und die Lehrer, welche dieſer erhabene Herr¬ ſcher aus dem Süden kommen ließ, um Bildung, Künſte und Wiſſenſchaften bei ſeinen Völkern einzuführen, mögen über die Felſenrücken des Lukmanier gewandert ſein. Neben ihm beſtand der Splügen, die alte Lombarden-Straße, als einer der bedeutendſten Heereswege des Mittelalters; ſchon zu Kaiſer Antonins Zeiten war er eine bekannte Römer-Paſſage.
289Gebirgs-Päſſe und Alpen-Straßen.Mit dem Zunehmen des Verkehrs zwiſchen dem Süden und Norden Europas, mit dem Beginn des transalpinen Landhandels, mit dem Aufkommen der pomphaften Römerzüge, welche die Deutſchen Könige unternahmen, um ſich vom Papſt mit dem Deutſchen Reiche belehnen und zum Kaiſer krönen zu laſſen, mit den Kämpfen derſelben in Italien, kamen dann auch die Alpenpäſſe des Brenner, Bernhardin, Septimer und Julier in Aufnahme. Letzterer war vom 13ten bis 15ten Jahrhundert die Haupthandelsſtraße zwiſchen Venedig und Deutſchland oder Frankreich.
Der Werth und die Bedeutung der Alpenpäſſe ſtieg von Jahrhundert zu Jahrhundert. Es giebt wenig große Heerſtraßen Europas, die geſchichtlich ſo denkwürdig und furchtbar-erhaben daſtehen wie dieſe wilden Gebirgswege; die größten Feldherren faſt aller Jahrhunderte haben um ihren Beſitz geſtritten, und auf den einſamſten Höhen, ja oft in Mitte des ewigen Schnees finden wir Trümmer alter Landwehren und Befeſtigungswerke, wie auf dem Gargellen-Joch im Rhätikon und auf dem zehntauſend Fuß hohen Matterjoch die Theodul-Schanze. Wir brauchen nicht an Baldirons Schaaren im dreißigjährigen Kriege, an Suwaroffs ſchreckliche Kämpfe auf dem Gotthard und ſeinen Rückzug über den Pragel und Panixer-Paß, an Buonapartes Uebergang über den großen St. Bernhard zur Schlacht von Marengo und an Andreas Hofers Vertheidigung Tyrols zu erinnern, um die poli¬ tiſche und ſtrategiſche Wichtigkeit der Alpenpäſſe darzulegen. Nicht die aufbauenden, ſegensvollen und länderbeglückenden Entwickelungs - Phaſen des Friedens, nicht die mächtigen Pulſationen des völker¬ verbindenden, kulturfördernden Handels gaben die Veranlaſſung zu dem erſten Kunſtſtraßenbau über den Simplon. — „ Le canon, quand pourra-t-il passer les Alpes? “war die wiederholt drängende Frage Napoleons I. an den rapportirenden Ingenieur-Offizier. Kanonen, Heeresſäulen und Kriegestroß raſch und leicht übers Gebirge ſchaffen zu können, war der Zweck des großen Eroberers. Aber das kühneBerlepſch, die Alpen. 19290Gebirgs-Päſſe und Alpen-Straßen. Werk, deſſen Ausführung kurze Zeit vorher für eine tolle Phanta¬ ſterei gegolten haben mag, gab den Impuls zu anderen, ebenſo großartigen Straßenbauten, deren jetzt mehr als ein Dutzend die Hoch-Alpen überſpannen.
Der Begriff „ Alpen-Paß “iſt ein ſehr relativer. Es giebt deren, die der gewöhnlichſte Fußgänger ſehr leicht und völlig ge¬ fahrlos paſſiren kann, die kaum einige Anſtrengung verurſachen, und es giebt andererſeits wieder ſolche, die, über Gletſcher und Eisfelder führend, nicht weniger Ausdauer, Sicherheit und ſchwindelfreien Kopf bedingen, als die Erſteigung bedeutender Alpengipfel. Man kann ſie daher zunächſt eintheilen in ſolche, welche zu Kunſt - und Fahrſtraßen gebaut ſind, auf denen Winter und Sommer ein reges Leben herrſcht und über die tägliche Eil - und Poſtwagen fahren; ferner in Saumpfade, die während der guten Jahreszeit lebhaft benutzt werden und ſelbſt auch im Winter für Schlitten - Paſſage dienen, und endlich in ſolche, die nur Fußpfade oder Gletſcherpäſſe ſind.
Die künſtlich angelegten Alpenſtraßen ſind Meiſterwerke der Baukunſt, — Triumphe des menſchlichen Verſtandes und der eiſernſten Ausdauer. Ihre Erbauer: Napoleon I., Kaiſer Franz I. von Oeſterreich, König Victor Emanuel von Sicilien und die Schweizeriſchen Gebirgskantone Graubünden, Teſſin und Uri haben ſich Denkmale durch dieſelben errichtet, welche die Pyramiden und Tempelbauten der alten Völker übertreffen. Es gab zwar ſchon vor dem Beginn unſeres Jahrhunderts gepflaſterte Alpenſtraßen, wie z. B. die über den Septimer; aber ihre Anlage war ſo ſchwer¬ fällig und ohne alle Berückſichtigung für nur einigermaßen erleich¬ tertes Fortkommen, daß es für ein ziemlich gewagtes Unternehmen galt, dieſelben mit Wagen zu paſſiren. Conſul Buonaparte war, wie erwähnt, der erſte kühne Unternehmer, der in den Jahren 1801 bis 1806 den fahrbaren Weg über den Simplon bauen ließ. Wichtig für den Handel waren von jeher die Päſſe über den Gott¬291Gebirgs-Päſſe und Alpen-Straßen. hard, Splügen und Bernhardin. Seit vielen Jahrhunderten wur¬ den alle Waaren aus und nach Italien über dieſe drei Päſſe auf dem Rücken der Maulthiere und Saumroſſe getragen, die in oft langen Zügen die engen Gebirgswege ganz einnahmen. Graubün¬ den erkannte den unberechenbaren Werth fahrbarer Alpenſtraßen und unternahm zuerſt allein auf eigene Koſten den Bau der Bern¬ hardin-Straße während der Jahre 1823. bis Hierdurch wurde Oeſterreich genöthigt dem Beiſpiel zu folgen und baute den Splügen; und als die Waldſtätte, beſonders Uri erkannten, daß der Waaren - und Perſonen-Verkehr, welcher bisher über den Gott¬ hard gegangen war, ſich mehr den öſtlichen Fahrſtraßen zuwandte, da wurde endlich 1828 bis 1830 auch dieſer Paß gebaut.
Alle Bergſtraßen ſteigen dem Laufe ziemlich bedeutender Flüſſe entgegen, wie z. B. der Gottbard der Reuß und dem Ticino, der Bernhardin dem Hinter-Rhein und der Möeſa, das Stilfſerjoch der Adda und Etſch, der Brenner längs des Eisacktales u. ſ. w. An¬ fangs iſt die Steigung meiſt eine ſehr geringe, die Richtung eine ziemlich direkte. Je tiefer die Kunſtſtraßen ins Gebirge eindringen, je lebendiger der Lauf der ihnen entgegenkommenden Bergwaſſer wird, deſto mehr weichen Richtung und Steigung ab. Bald nöthi¬ gen enge Felſenſchluchten zu komplicirteren Bauten. Hochgeſprengte Brücken, durchbrochene Felſenthore, lavirende Zickzackwege beginnen, und die Steigung wächſt auf 6 bis 7 Procent. Da die ganze Konfiguration des Alpengebäudes gen Norden eine flacher gedehnte, minder ſteile Abdachung zeigt als gen Süden, ſo häufen ſich die Schwierigkeiten meiſt auch auf letztgedachter Seite.
In zahlreichen Schlangenwindungen (Tourniquets, Giravolte) ſtuft ſich hier die bald in den Fels eingeſprengte, bald durch Mauerwerk gehobene Straße in der Schlucht hinauf. Die „ Kehren “oder „ Ränk “, wie der Fuhrmann die Curven nennt, mittelſt deren die Straße in eine höhere oder tiefere Etage tritt und die meiſt aufgemauert ſind, ſehen von der Tiefe wie übereinander errichtete19*292Gebirgs-Päſſe und Alpen-Straßen. Baſtionen eines Feſtungswerkes aus. Am Auffallendſten zeigt ſich dieſe Anordnung in dem jäh abfallenden Val Tremola, auf der ſüdlichen Abdachung der Gotthardsſtraße. Von Airolo hinaufſtei¬ gend denkt man das Ende dieſer Windungen nicht erreichen zu können; denn wenn man die Höchſte erklommen zu haben glaubt, ſo wachſen immer und immer wieder neue, mit Schutzſteinen ge¬ ſpickte Mauer-Vorſprünge aus der öden, baumloſen, mit ſchwar¬ zen Glimmerſchiefer-Trümmern bedeckten, ſteil aufſteigenden Halde heraus, und erſt nachdem man 46 ſolcher Windungen überwunden hat, erreicht man das Hoſpiz. Reich an ſolchen Straßen-Zickzacken iſt auch der Splügen, ſowohl auf der Nordſeite, als gen Süden nach Iſola hinab, — der Bernhardin gegen das Dorf Hinterrhein zu, — und das Stilffer Joch vom Dorfe Trafoi aufwärts im An¬ geſicht des Madatſch-Gletſchers und des gewaltigen Ortler-Maſſivs.
Mitunter bedingt aber auch ein die Hauptrichtung der Straße durchſchneidendes, tiefes Querthal die Umgehung deſſelben und verlängert dadurch die Linie außerordentlich. Dies zeigt ſich ganz beſonders bei der Ganther-Schlucht am Simplon. Dort muß, vom zweiten Stundenſtein von Brieg im Wallis aus, die Straße eine volle Wegſtunde öſtlich einbiegen, um den Uebergangspunkt der Ganther-Brücke zu gewinnen. Man ſieht das in gerader Linie kaum ¾ Stunden entfernte, ſechſte Schutzhaus drüben über der tiefen Schlucht hoch oben liegen und braucht drei und eine halbe Stunde auf breiter ebener Chauſſee, ehe man es erreicht.
Um in den ungeheuerlichſten Gegenden, da wo die Schnee¬ ſtürme am Raſendſten wüthen, dem Wanderer im Winter eine Zu¬ fluchtsſtätte zu bieten, ſind in gemeſſenen Entfernungen feſte, ſtei¬ nerne Zufluchtshäuſer oder Refuges errichtet, die zum Theil von den für die Straßenarbeit und zum Wegbahnen angeſtellten „ Rut¬ nern “oder „ Cantonniers “bewohnt werden, — eine Art ſibiriſcher Verbannung. Während der wildeſten Wintermonate findet der Hilfeſuchende in den unbewohnten Zufluchtshäuſern ſo viel geſpalte¬293Gebirgs-Päſſe und Alpen-Straßen. nes Holz, um ſich ein Feuer im Kamin anzünden zu können, und wohl auch ein Brod und ein Bündel Heu für den Fall, daß er und ſein Roß durch Lauinenſturz oder hoch verwehte Schneewege genöthigt würde, länger als einen Tag ſich hier aufhalten zu müſ¬ ſen. Auf der Simplon-Straße ſind außer dem großen Hoſpiz, dem alten Hoſpiz, den Dörfern Beriſal, Simpelen und Gſteig dennoch innerhalb neun Wegſtunden neun Zufluchtshäuſer, von de¬ nen das 5te und 6te, ſo wie das 8te und 9te, je nur etwa eine gute Viertelſtunde von einander entfernt liegen.
Von noch größerer Wichtigkeit für die Sicherheit der Straßen im Winter und Frühjahr ſind die Gallerien. Es ſind entweder durch den Felſen getriebene Tunnel, wie z. B. auf dem Stilfſer Joch die dritte Gallerie im Vallone della neve, — die Gallerien bei Gondo und Algaby am Südabfall des Simplon u. a. — oder künſtlich aufgemauerte und gewölbte Gänge mit Schießſcharten-ähn¬ lichen Oeffnungen, wie die in der Schöllinen-Schlucht beim Brüg¬ wald am Gotthard und auf vielen anderen Bergſtraßen, welche die Beſtimmung haben, Mann, Roß und Geſchirr an notoriſch unſiche¬ ren, den regelmäßig wiederkehrenden Grundlauinen ausgeſetzten Stellen gegen das Begrabenwerden im Schnee zu ſichern. Sie ſind ſo feſt konſtruirt, daß die Lauinen mit ihren furchtbaren Sturz¬ ſchlägen den in den Gallerien Weilenden nichts anhaben können und donnernd über dieſelben hinweg der Tiefe zu wettern. Frei¬ lich iſts auch ſchon begegnet, daß Schneeflächen in ungewöhnlicher Breite losriſſen und die Gallerien an beiden Ausgängen verſchütte¬ ten. Indeſſen kommt dann gewöhnlich raſch Hilfe der Rutner, welche die Schnee-Barrikaden durchbrechen und die Eingeſchloſſenen befreien.
Es giebt aber auch Gallerien, welche zum Schutz gegen das Waſſer errichtet werden mußten, weil Bergſtröme in breiten, vollen Kaskaden direkt auf die Straße herniederſchießen und die Paſſage unmöglich machen würden; eine ſolche iſt die „ Kaltwaſſer-Gallerie “auf dem Simplon. Hier hängt der Kaltwaſſer-Gletſcher in nächſter294Gebirgs-Päſſe und Alpen-Straßen. Höhe dräuend über der Straße und entſendet während der wär¬ meren Jahreszeiten einen kräftigen Bach milchig-trüben Abſchmelz - Waſſers, das in luſtigem Bogen über das mittelſte der eilf Gallerien - Fenſter herabbrauſt. Der Wanderer ſteht hinter dem Waſſerfall in der mit Kalkſinter überzogenen Gallerie und ſieht durch die jagenden Strahlen-Garben hindurch. Aber auch außerdem ſchützen die Gal¬ lerien im Frühjahr noch gegen die während des Winters durch herabträufelndes, wiedergefrierendes Schneewaſſer gebildeten, koloſ¬ ſalen Eiszapfen, welche im Frühjahr ſich von den zu Häupten hangenden Felſenmaſſen ablöſen und mit Blitzgeſchwindigkeit in furchtbarer Vehemenz herniederſchmettern.
Die längſte aller Schutzgallerien iſt die all' aque rosse ge¬ nannte 1530 Fuß lange auf der Splügenſtraße, die ihren Namen vom herabſickernden, eiſenhaltigen Waſſer, welches die Felſen roth färbt, erhalten hat. Sie will