Der Verfasser behält sich das Recht einer Uebersetzung in fremde Sprachen, besonders in's Englische und Französische vor.
Die Vorlesungen, welche ich hiermit dem weiteren ärztlichen Publicum vorlege, wurden im Anfange dieses Jahres vor einem grösseren Kreise von Col - legen, zumeist praktischen Aerzten Berlin’s, in dem neuen pathologischen Institute der Universität ge - halten. Sie verfolgten hauptsächlich den Zweck, im Anschlusse an eine möglichst ausgedehnte Reihe von mikroskopischen Demonstrationen eine zusammenhän - gende Erläuterung derjenigen Erfahrungen zu geben, auf welchen gegenwärtig nach meiner Auffassung die biologische Doctrin zu begründen und aus welchen auch die pathologische Theorie zu gestalten ist. Sie sollten insbesondere in einer mehr geordneten Weise, als dies bisher geschehen war, eine Anschauung von der cellularen Natur aller Lebenserscheinungen, der physiologischen und pathologischen, der thierischen und pflanzlichen zu liefern versuchen, um gegenüber den einseitigen humoralen und neuristischen (solidaren) Neigungen, welche sich aus den Mythen des Alter - thums bis in unsere Zeit fortgeflanzt haben, die Ein - heit des Lebens in allem Organischen wieder dem Be - wusstsein näher zu bringen, und zugleich den ebenso einseitigen Deutungen einer grob-mechanischen und chemischen Richtung die feinere Mechanik und Chemie der Zelle entgegen zu halten.
VIVorrede.Bei den grossen Fortschritten des Einzelwissens ist es der Mehrzahl der praktischen Aerzte immer schwieriger geworden, sich dasjenige Maass der eige - nen Anschauung zu gewinnen, welches allein eine ge - wisse Sicherheit des Urtheils verbürgt. Täglich ent - schwindet die Möglichkeit nicht bloss einer Prüfung, sondern selbst eines Verständnisses der neueren Schrif - ten denjenigen mehr und mehr, welche in den oft so mühseligen und erschöpfenden Wegen der Praxis ihre beste Kraft verbrauchen müssen. Denn selbst die Sprache der Medicin nimmt allmählig ein anderes Aussehen an: bekannte Vorgänge, welche das herr - schende System seinem Gedankenkreise an einem be - stimmten Orte eingereiht hatte, wechseln mit der Auf - lösung des Systems die Stellung und die Bezeichnung. Indem eine gewisse Thätigkeit von dem Nerven, dem Blute oder dem Gefässe auf das Gewebe verlegt, ein passiver Vorgang als ein activer, ein Exsudat als eine Wucherung erkannt wird, ist auch die Sprache genöthigt, andere Ausdrücke für diese Thätigkeiten, Vorgänge und Erzeugnisse zu wählen, und je voll - kommener die Kenntniss des feineren Geschehens der Lebensvorgänge wird, um so mehr müssen sich auch die neueren Bezeichnungen an diese feineren Grund - lagen der Erkenntniss anschliessen.
Nicht leicht kann Jemand mit mehr Schonung des Ueberlieferten die nothwendige Reform der An - schauungen durchzuführen versuchen, als ich es mir zur Aufgabe gestellt habe. Allein die eigene Erfah - rung hat mich gelehrt, dass es hier eine gewisse Grenze gibt. Zu grosse Schonung ist ein wirk - licher Fehler, denn sie begünstigt die Verwirrung: ein zweckmässig gewählter Ausdruck macht dem allge -VIIVorrede.meinen Verständnisse etwas sofort zugänglich, was ohne ihn jahrelange Bemühungen höchstens für Einzelne aufzuklären vermochten. Ich erinnere an die paren - chymatöse Entzündung, an Thrombose und Embolie, an Leukämie und Ichorrhämie, an osteoides und Schleimgewebe, an käsige und amyloide Metamorphose, an die Substitution der Gewebe. Neue Namen sind nicht zu vermeiden, wo es sich um thatsächliche Be - reicherungen des erfahrungsmässigen Wissens handelt.
Auf der anderen Seite hat man es mir schon öfters zum Vorwurfe gemacht, dass ich die moderne An - schauung auf veraltete Standpunkte zurückzuschrauben bemüht sei. Hier kann ich wohl mit gutem Gewissen sagen, dass ich eben so wenig die Tendenz habe, den Galen oder den Paracelsus zu rehabilitiren, als ich mich davor scheue, das, was in ihren Anschauungen und Erfahrungen wahr ist, offen anzuerkennen. In der That finde ich nicht bloss, dass im Alterthum und im Mittelalter die Sinne der Aerzte nicht überall durch überlieferte Vorurtheile gefesselt wurden, sondern noch mehr, dass der gesunde Menschenverstand im Volke an gewissen Wahrheiten festgehalten hat, trotzdem dass die gelehrte Kritik sie für überwunden erklärt. Was sollte mich abhalten, zu gestehen, dass die gelehrte Kritik nicht immer wahr, das System nicht immer Natur gewesen ist, dass die falsche Deutung nicht die Richtigkeit der Beobachtung beeinträchtigt? warum sollte ich nicht gute Ausdrücke erhalten oder wieder - herstellen, trotzdem dass man falsche Vorstellungen daran geknüpft hat? Meine Erfahrungen nöthigen mich, die Bezeichnung der Wallung (Fluxion) für besser zu halten, als die der Congestion; ich kann nicht umhin, die Entzündung als eine bestimmte ErscheinungsformVIIIVorrede.pathologischer Vorgänge zuzulassen, obwohl ich sie als ontologischen Begriff auflöse; ich muss trotz des entschiedenen Widerspruchs vieler Forscher den Tu - berkel als miliares Korn, das Epitheliom als hetero - plastische, maligne Neubildung (Cancroid) festhalten.
Vielleicht ist es in heutiger Zeit ein Verdienst, das historische Recht anzuerkennen, denn es ist in der That erstaunlich, mit welchem Leichtsinn gerade diejenigen, welche jede Kleinigkeit, die sie gefunden haben, als eine Entdeckung preisen, über die Vorfahren aburtheilen. Ich halte auf mein Recht und darum er - kenne ich auch das Recht der Anderen an. Das ist mein Standpunkt im Leben, in der Politik, in der Wissenschaft. Wir sind es uns schuldig, unser Recht zu vertheidigen, denn es ist die einzige Bürgschaft unserer individuellen Entwickelung und unseres Ein - flusses auf das Allgemeine. Eine solche Vertheidi - gung ist keine That eitlen Ehrgeizes, kein Aufgeben des rein wissenschaftlichen Strebens. Denn wenn wir der Wissenschaft dienen wollen, so müssen wir sie auch ausbreiten, nicht bloss in unserem eigenen Wis - sen, sondern auch in der Schätzung der Anderen. Diese Schätzung aber beruht zum grossen Theile auf der Anerkennung, die unser Recht, auf dem Vertrauen, das unsere Forschung bei den Anderen findet, und das ist der Grund, warum ich auf mein Recht halte.
In einer so unmittelbar praktischen Wissenschaft, wie die Medicin, in einer Zeit so schnellen Wachsens der Erfahrungen, wie die unsrige, haben wir doppelt die Verpflichtung, unsere Kenntniss der Gesammtheit der Fachgenossen zugänglich zu machen. Wir wollen die Reform, und nicht die Revolution. Wir wollen das Alte conserviren und das Neue hinzufügen. Aber den Zeitge -IXVorrede.nossen trübt sich das Bild dieser Thätigkeit. Denn nur zu leicht gewinnt es den Anschein, als würde eben nur ein buntes Durcheinander von Altem und Neuem ge - wonnen, und die Nothwendigkeit, die falschen oder ausschliessenden Lehren der Neueren mehr, als die der Alten zu bekämpfen, erzeugt den Eindruck einer mehr revolutionären, als reformatorischen Einwirkung. Es ist freilich bequemer, sich auf die Forschung und die Wiedergabe des Gefundenen zu beschränken und An - deren die „ Verwerthung “zu überlassen, aber die Er - fahrung lehrt, dass dies überaus gefährlich ist und zu - letzt nur denjenigen zum Vortheil ausschlägt, deren Gewissen am wenigsten zartfühlend ist. Uebernehmen wir daher jeder selbst die Vermittelung zwischen der Erfahrung und der Lehre.
Die Vorlesungen, welche ich hier mit der Absicht einer solchen Vermittelung veröffentliche, haben so ausdauernde Zuhörer gefunden, dass sie vielleicht auch nachsichtige Leser erwarten dürfen. Wie sehr sie der Nachsicht bedürfen, fühle ich selbst sehr lebhaft. Jede Art von freiem Vortrage kann nur dem wirklichen Zu - hörer genügen. Zumal dann, wenn der Vortrag wesent - lich darauf berechnet ist, als Erläuterung für Tafel - Zeichnungen und Demonstrationen zu dienen, muss er nothwendig dem Leser ungleichmässig und lückenhaft erscheinen. Die Absicht, eine gedrängte Uebersicht zu liefern, schliesst an sich eine speciellere, durch aus - reichende Citate unterstützte Beweisführung mehr oder weniger aus und die Person des Vortragenden wird mehr in den Vordergrund treten, da er die Aufgabe hat, gerade seinen Standpunkt deutlich zu machen.
Möge man daher das Gegebene für nicht mehr nehmen, als es sein soll. Diejenigen, welche MusseXVorrede.genug gefunden haben, sich in der laufenden Kenntniss der neueren Arbeiten zu erhalten, werden wenig Neues darin finden. Die Anderen werden durch das Lesen nicht der Mühe überhoben sein, in den histologischen, physiologischen und pathologischen Specialwerken die hier nur ganz kurz behandelten Gegenstände genauer studiren zu müssen. Aber sie werden wenigstens eine Uebersicht der für die cellulare Theorie wichtigsten Entdeckungen gewinnen und mit Leichtigkeit das ge - nauere Studium des Einzelnen an die hier im Zusam - menhange gegebene Darstellung anknüpfen können. Vielleicht wird gerade diese Darstellung einen unmit - telbaren Anreiz für ein solches genaueres Studium ab - geben, und schon dann wird sie genug geleistet haben.
Meine Zeit reicht nicht aus, um mir die schrift - liche Ausarbeitung eines solchen Werkes möglich zu machen. Ich habe mich deshalb genöthigt gesehen, die Vorlesungen, wie sie gehalten wurden, stenogra - phiren zu lassen und mit leichten Aenderungen zu redigiren. Herr Cand. med. Langenhaun hat mit grosser Sorgfalt die stenographische Arbeit besorgt. Soweit es sich in der Kürze der Zeit thun liess, und soweit der Text ohne dieselben für Ungeübte nicht verständlich sein würde, habe ich nach den Tafel - Zeichnungen und besonders nach den vorgelegten Prä - paraten Holzschnitte anfertigen lassen; Vollständigkeit liess sich in dieser Beziehung nicht erreichen, da schon so die Veröffentlichung durch die Anfertigung der Holz - schnitte um Monate verzögert worden ist.
Misdroy, am 20. August 1858.
Rud. Virchow.
Einleitung und Aufgabe. Bedeutung der[anatomischen] Entdeckungen in der Geschichte der Medicin. Geringer Einfluss der Zellentheorie auf die Pathologie. Die Zelle als letztes wirkendes Element des lebenden Körpers. Genauere Bestimmung der Zelle. Die Pflanzen - zelle: Membran, Inhalt, Kern. Die thierische Zelle: die eingekapselte (Knorpel) und die einfache. Der Zellenkern (Nucleus). Das Kernkörperchen (Nucleolus). Die Theorie der Zel - lenbildung aus freiem Cytoblastem. Constanz des Kerns und Bedeutung desselben für die Erhaltung der lebenden Elemente. Verschiedenartigkeit des Zelleninhalts und Bedeutung desselben für die Function der Theile. Die Zellen als vitale Einheiten. Der Körper als sociale Einrichtung. Die Cellularpathologie im Gegensatze zur Humoral - und Solidar - pathologie. Erläuterung einiger Präparate. Junge Pflanzentriebe. Pflanzenwachsthum. Knorpelwachs - thum. Junge Eierstockseier. Junge Zellen im Auswurf.
Meine Herren, indem ich Sie herzlich willkommen heisse auf Bänken, die Ihnen seit Langem ungewohnt sein werden, so muss ich im Voraus bemerken, dass es nicht meine Unbe - scheidenheit ist, welche Sie hierher berufen hat, sondern dass ich nur dem wiederholt ausgesprochenen Wunsche vieler unter Ihnen nachgegeben habe. Auch würde ich es nicht gewagt haben, Ihnen Vorträge in der Weise anzubieten, wie ich sie in meinen regelmässigen Cursen zu halten pflege, vielmehr will ich den Versuch machen, in etwas mehr zusammenfassen - der Art Ihnen die Entwicklung vorzuführen, welche ich selbst, und, wie ich denke, welche auch die medicinische Wissenschaft im Verlaufe der letzten Decennien gemacht hat. Schon in der Ankündigung habe ich die Vorlesungen so bezeichnet, dass ich neben die Pathologie die Histologie gestellt habe, aus dem Grunde, weil ich voraussetzen zu müssen glaube, dass12Erste Vorlesung.vielen unter Ihnen, welchen vielleicht die neuesten histologi - schen Wechsel nicht ganz geläufig sind, eigene Anschauungen mikroskopischer Dinge nicht hinreichend zu Gebote stehen. Da jedoch gerade auf solche Anschauungen die wichtigen Schlüsse sich stützen, die wir gegenwärtig ziehen, so werden Sie es verzeihen, wenn ich, ohne Rücksicht auf diejenigen unter Ihnen, welche vollständig orientirt sind, mich so anstelle, als ob Sie alle nicht ganz in den nöthigen Vor - kenntnissen zu Hause wären.
Die gegenwärtige Reform der Medicin, die Sie alle mit erlebt haben, ging wesentlich aus von neuen anatomischen Erfahrungen, und auch das, was ich Ihnen vorzutragen habe, soll sich vorzüg - lich auf anatomische Demonstrationen stützen. Aber es würde für mich nicht ausreichen, wie es in dem letzten Jahrzehnt gebräuchlich war, nur die pathologische Anatomie als Grund - lage der Anschauung zu nehmen; wir müssen auch die allge - mein-anatomischen Thatsachen hinzufügen, aus welchen die augenblickliche Gestaltung der Wissenschaft gewonnen worden ist. Die Geschichte der Medicin lehrt uns ja, wenn wir nur einen einigermassen grösseren Ueberblick nehmen, dass zu allen Zeiten die eigentlichen Fortschritte bezeichnet worden sind durch anatomische Neuerungen, und dass jede grössere Phase der Entwicklung zunächst eingeleitet worden ist durch eine Reihe von bedeutenden Entdeckungen über den Bau des Körpers. So ist es in der alten Zeit gewesen, als die Erfahrungen der Alexandriner, zum ersten Male von der Anatomie des Menschen ausgehend, das galenische System vorbereiteten, so im Mittel - alter, als Vesal wiederum die Anatomie neu begründete und damit die eigentliche Reform der Medicin begann, so endlich, als Bichat die Grundsätze der allgemeinen Anatomie entwickelte. Dasjenige, was Schwann gethan hat für die Gewebelehre, das ist für die Pathologie bis jetzt sehr wenig ausgebaut und entwickelt worden, und man kann sagen, dass nichts we - niger in das allgemeine Bewusstsein eingedrungen ist, als die Zellentheorie in ihrer nahen Beziehung zur Pathologie.
Wenn man den ausserordentlichen Einfluss erwägt, wel - chen seiner Zeit Bichat auf die Gestaltung der ärztlichen Anschauungen ausgeübt hat, so ist es in der That erstaunlich,3Bedeutung der Zellentheorie.dass eine so verhältnissmässig lange Zeit vergangen ist, seit - dem Schwann seine grossen Entdeckungen machte, ohne dass man die eigentliche Breite der neuen Thatsachen würdigte. Es hat dies allerdings sehr wesentlich an der immer noch un - vollständigen Kenntniss der feineren Einrichtung unserer Gewebe gelegen, welche bis in die neueste Zeit bestanden hat, und welche, wie wir leider zugestehen müssen, in manchen Theilen der Histologie selbst jetzt noch in solchem Maasse herrscht, dass man kaum weiss, für welche Ansicht man sich ent - scheiden soll.
Besondere Schwierigkeiten hat die Beantwortung der Frage gemacht, von welchen Theilen des Körpers eigentlich die Action ausgeht, welcher Theil thätig, welcher leidend ist; doch ist ein Abschluss darüber schon jetzt in der That voll - ständig möglich, selbst bei solchen Theilen, über deren Struk - tur noch gestritten wird. Es handelt sich bei dieser Anwen - dung der Histologie auf Physiologie und Pathologie zunächst um die Anerkennung, dass die Zelle wirklich das letzte eigent - liche Form-Element aller lebendigen Erscheinung sei, und dass wir die eigentliche Action nicht über die Zelle hinaus - verlegen dürfen. Ihnen gegenüber werde ich mich nicht beson - ders zu rechtfertigen haben, wenn ich in dieser Beziehung etwas ganz Besonderes dem Leben vorbehalte. In der Folge dieser Vorträge werden Sie sich überzeugen, dass man für das Einzelne kaum mechanischer denken kann, als ich es zu thun pflege, wo es sich darum handelt, Vorgänge, deren Er - klärung wir suchen, zu deuten. Aber ich glaube, dass man das festhalten muss, dass, wie viel auch von dem feineren Stoff - Verkehr, der innerhalb der Zelle geschieht, jenseits des mate - riellen Gebildes als Ganzen liegen mag, doch die eigentliche Action von diesem Gebilde als solchem ausgehe, und dass das lebende Element nur so lange wirksam ist, als es uns wirklich als Ganzes, für sich bestehend, entgegentritt.
In dieser Frage kommt es zunächst darauf an, und Sie werden mir verzeihen, wenn ich dabei etwas verweile, weil dies ein Punkt ist, welcher noch jetzt streitig ist, dass wir feststel - len, was man eigentlich unter einer Zelle zu verstehen habe. Gleich im Anfang, als die neueste Phase der histologischen Ent -1*4Erste Vorlesung.wicklung begonnen wurde, häuften sich grosse Schwierigkei - ten, indem, wie Ihnen bekannt sein wird, Schwann, zunächst auf den Schultern von Schleiden stehend, seine Beobachtun - gen nach botanischen Mustern deutete, so dass alle Lehrsätze der Pflanzen-Physiologie in einem nicht unerheblichen Maasse entscheidend wurden für die Physiologie der thierischen Kör - per. Die Pflanzenzelle in dem Sinne, wie man sie zu jener Zeit ganz allgemein fasste, und wie sie auch gegenwärtig häufig noch gefasst wird, ist aber ein Gebilde, dessen Identi - tät mit dem, was wir thierische Zelle nennen, nicht ohne Wei - teres zugestanden werden kann.
Wenn man von gewöhnlichem Pflanzenzellgewebe spricht, so meint man im Allgemeinen damit ein Gewebe, das in sei - ner einfachsten und regelmässigsten Form auf einem Querschnitt (Fig. 1. a.) aus lauter vier - oder sechseckigen, wenn es etwas loser ist, aus rundlichen oder polygonalen Körpern besteht, an
denen man stets eine ziemlich dicke, derbe Wand (Membran) unter - scheidet. Isolirt man einen einzel - nen solchen Körper, so findet man einen Hohlraum, umgeben von die - ser derben, eckigen oder runden Wand, in dessen Innerem je nach Umständen sehr verschiedene Stoffe abgelagert sein können, z. B. Fett, Stärke, Pigment, Eiweiss (Zellen - inhalt). Es hat sich frühzeitig herausgestellt, dass, ganz abgesehen von diesen örtlichen Verschiedenheiten des Inhaltes,5Die Pflanzenzelle.die chemische Untersuchung an den zelligen Elementen meh - rere verschiedene Stoffe nachzuweisen im Stande ist.
Die Substanz, welche die äussere Membran bildet, und welche unter dem Namen der Cellulose bekannt ist, zeigt sich im All - gemeinen als stickstofflos, und gibt die eigenthümliche, sehr charakteristische, schön blaue Färbung bei Zusatz von Jod und Schwefelsäure. (Jod allein gibt keine Färbung, die Schwefelsäure für sich verkohlt.) Der Inhalt der Zellen dage - gen wird nicht blau; wenn die Zelle recht einfach ist, so tritt vielmehr durch die Einwirkung von Jod und Schwefelsäure eine bräunliche oder gelbliche Masse hervor, die sich als be - sonderer Körper im Inneren des Zellenraumes isolirt (Proto - plasma) und an der sich eine zweite, faltige, häufig geschrumpfte Haut (Primordialschlauch) erkennen lässt (Fig. 1. c.). Auch die gröbere chemische Analyse zeigt an den einfachsten Zellen gewöhnlich neben der stickstofflosen (äusseren) Sub - stanz eine stickstoffhaltige (Inhalts -) Masse, und die Pflanzen - Physiologie hatte somit ein Recht zu schliessen, dass das eigentliche Wesen einer Zelle darin beruhe, dass innerhalb einer stickstofflosen Membran ein von ihr differenter stickstoffhalti - ger Inhalt vorhanden sei.
Man wusste freilich schon seit längerer Zeit, dass noch andere Dinge sich im Innern der Zellen befinden, und es war eine der folgenreichsten Entdeckungen, als Rob. Brown den Kern (Nucleus) innerhalb der Zelle entdeckte. Aber man legte die - sem Gebilde eine grössere Bedeutung für die Bildung als für die Erhaltung der Zellen bei, weil in sehr vielen Pflanzen - zellen der Kern äusserst undeutlich wird, in vielen ganz ver - schwindet, während die Form der Zelle erhalten bleibt.
Mit solchen Erfahrungen kam man an die thierischen Ge - webe, deren Uebereinstimmung mit den pflanzlichen Schwann nachzuweisen suchte. Die eben besprochene Deutung der gewöhnlichen pflanzlichen Zellenform diente als Ausgangspunkt. Dies ist aber, wie die spätere Erfahrung gezeigt hat, in ge - wissem Sinne irrig gewesen. Man kann die pflanzliche Zelle in ihrer Totalität nicht mit jeder beliebigen thierischen zusam - menstellen. Wir kennen an thierischen Zellen keine solche Differenzen zwischen stickstoffhaltigen und stickstofflosen6Erste Vorlesung.Schichten; in allen wesentlich die Zelle constituirenden Theilen kommen stickstoffhaltige Materien vor. Aber es gibt allerdings gewisse Formen im thierischen Leibe, welche an diese Formen der pflanzlichen Zellen unmittelbar erinnern, und unter diesen ist keine so charakterisch als die Zellen - formation im Knorpel, der seiner ganzen Erscheinung nach von den übrigen Geweben des thierischen Leibes äusserst verschie - den ist, und der namentlich durch seine Gefässlosigkeit eine besondere Stellung einnimmt. Der Knorpel schliesst sich un - mittelbar durch die Eigenthümlichkeit seiner Elemente an die Pflanze an. An einer recht entwickelten Knorpelzelle erkennen
Fig. 2. Knorpelzellen, wie sie am Ossificationsrande wachsender Knorpel vorkommen, ganz den Pflanzenzellen analog (vgl. die Erklärung zu Fig. 1.). a — c. entwickeltere, d. jüngere Form.
wir eine verhältnissmässig dicke äussere Schicht, innerhalb welcher, wenn wir recht genau zusehen, wie - derum eine zarte Haut, ein Inhalt, und ein Kern zu finden sind. Hier haben wir allerdings ein Ge - bilde, das der Pflanzenzelle durch - aus entspricht.
Man hat aber gewöhnlich, wenn man den Knorpel schilderte, das ganze eben beschriebene Ding (Fig. 2. a — d) ein Knorpelkörper - chen genannt, und indem man dasselbe als analog den Zellen anderer thierischer Theile auffasste, so ist man in Schwierig - keiten gerathen, welche die Kenntniss des wahren Sachver - hältnisses ungemein störten. Das Knorpelkörperchen ist nehm - lich nicht als Ganzes eine Zelle, sondern die äussere Schicht, die Capsel, ist das Produkt einer späteren Entwicklung (Ab - sonderung, Ausscheidung). Im jungen Knorpel ist sie sehr dünn, während auch die Zelle kleiner zu sein pflegt. Gehen wir noch weiter in der Entwickelung zurück, so treffen wir auch im Knorpel nichts als die einfache Zelle, dasselbe Ge - bilde, welches auch sonst in thierischen Gebilden vorkommt, und das jene äussere Absonderungsschicht nicht besitzt.
Sie sehen daraus, meine Herren, dass die Vergleichung7Die Thierzelle.zwischen thierischen und pflanzlichen Zellen, die wir allerdings machen müssen, insofern unzulässig ist, als in den meisten thierischen Geweben keine Formelemente gefunden werden, die als Aequivalente der Pflanzenzelle in der alten Bedeutung die - ses Wortes betrachtet werden können, dass insbesondere die Cellulose-Membran der Pflanzenzelle nicht der thierischen Zell - haut entspricht, und dass die letztere als stickstoffhaltig nicht eine typische Verschiedenheit von der ersteren als stickstoff - losen darbietet. Vielmehr treffen wir in beiden Fällen eine Bildung, die wesentlich stickstoffhaltiger Natur und im Grossen von übereinstimmender Zusammensetzung ist. Die sogenannte Membran der Pflanzenzelle findet sich nur in einigen thieri - schen Gebilden, z. B. im Knorpel wieder; die gewöhnliche Membran der Thierzelle entspricht dem Primordialschlauch der Pflanzenzelle. Erst wenn man diesen Standpunkt festhält, wenn man von der Zelle Alles ablöst, was durch eine spätere Entwicklung hinzugekommen ist, so gewinnt man ein einfaches, gleichartiges, äusserst monotones Gebilde, welches sich mit ausserordentlicher Constanz in den lebendigen Organismen wie - derholt. Aber gerade diese Constanz ist das beste Kriterium dafür, dass wir in ihm das eigentlich Elementare haben, wel - ches alles Lebendige charakterisirt, ohne dessen Präexistenz keine lebendigen Formen entstehen, und an welches der eigent - liche Fortgang, die Erhaltung des Lebens gebunden ist. Erst seitdem der Begriff der Zelle diese strenge Form angenommen hat, und ich bilde mir etwas darauf ein, trotz des Vorwurfes der Pedanterie stets daran festgehalten zu haben, erst seit die - ser Zeit kann man sagen, dass eine einfache Form gewonnen ist, die wir überall wieder aufsuchen können, und die, wenn auch in Grösse und äusserer Gestaltung verschieden, doch in ihren wesentlichen Bestandtheilen immer gleichartig ist.
An einer solchen einfachen Zelle unterscheiden wir ziem - lich verschiedenartige Bestandtheile, und es ist wichtig, dass wir auch diese genau auseinanderlegen.
Zuerst erwarten wir, dass innerhalb der Zelle ein Kern sei. Von diesem Kerne, der in der Regel eine ovale oder runde Form hat, wissen wir, dass er, zumal in jungen Ele - menten eine grössere Resistenz gegen chemische[Einwirkun -]8Erste Vorlesung.
Fig. 3. a. Leberzelle. b. Spindelzelle des Bindegewebes. c. Capillar - gefäss. d. Grössere Sternzelle aus einer Lymphdrüse. e. Ganglienzelle aus dem Kleinhirn. Die Kerne überall gleichartig.
gen besitze, als die äusseren Theile der Zelle, und dass er trotz der grössten Variabilität der äusseren Gestalt der Zelle seine Gestalt im Allgemeinen behaupte. Der Kern ist demnach der - jenige Theil der Zelle, der mit grosser Constanz in allen For - men unverändert wiederkehrt. Freilich gibt es einzelne Fälle, welche durch die ganze Reihe der vergleichend-anatomischen und pathologischen Thatsachen zerstreut liegen, in denen auch der Kern zackig oder eckig erscheint, aber dies sind ganz sel - tene Ausnahmen, gebunden an besondere Veränderungen, wel - che das Element eingegangen ist. Im Allgemeinen kann man sagen, dass so lange als es noch zu keinem Abschluss des Zellenlebens gekommen ist, so lange als die Zellen sich als lebenskräftige Elemente verhalten, die Kerne eine nahezu constante Form besitzen.
Der Kern seinerseits enthält bei entwickelten Elementen wiederum mit grosser Beständigkeit ein Gebilde in sich, das sogenannte Kernkörperchen (Nucleolus). In Beziehung auf die Frage von der vitalen Form kann man von dem Nucleo - lus nicht sagen, dass er als ein nothwendiges Desiderat er - scheine; in einer erheblichen Zahl von jungen Elementen ist es noch nicht gelungen, ihn zu sehen. Dagegen treffen wir ihn bei ganz entwickelten älteren Formen regelmässig, und er scheint daher eine höhere Ausbildung des Elementes anzu - zeigen. Nach der Aufstellung, welche ursprünglich von Schlei - den gemacht, von Schwann acceptirt wurde, dachte man sich lange Zeit das Verhältniss der drei coëxistenten Zellentheile so, dass der Nucleolus bei der Entwickelung der Gewebe als9Die Theorie der freien Zellenbildung.das Erste aufträte, indem er sich aus einer Bildungsflüssig - keit (Blastem, Cytoblastem) ausscheide, dass er schnell eine gewisse Grösse erreiche, dass sich dann um ihn kleine Körn -
Fig. 4. Nach Schleiden, Grundzüge der wiss. Botanik I. Fig. 1. „ Inhalt des Embryosackes von Vicia faba bald nach der Befruchtung. In der hellen, aus Gummi und Zucker bestehenden Flüssigkeit schwimmen Körnchen von Proteinverbindungen (a), unter denen sich einzelne grös - sere auffallend auszeichnen. Um diese letzteren sieht man dann die er - steren zu einer kleinen Scheibe zusammengeballt (b. c.). Um andere Schei - ben erkennt man einen hellen, scharf begrenzten Saum, der sich allmäh - lich weiter von der Scheibe (dem Cytoblasten) entfernt und endlich deutlich als junge Zelle (d. e.) erkannt wird. “
chen aus dem Blastem niederschlü - gen, um die sich eine Membran verdichte; damit wäre ein Nucleus fertig, um den sich nun allmählich neue Masse ansammle und seiner Zeit eine kleine Membran erzeuge (die berühmte Uhrglasform.) Diese Darstellung der ersten Entwicklung von Zellen aus freiem Blas - tem, wonach der Kern der Zellenbildung voraufgehen und als eigentlicher Zellenbildner (Cytoblast) auftreten sollte, ist es, welche man gewöhnlich unter dem Namen der Zellentheorie (genauer Theorie der freien Zellenbildung) zusammenzufassen pflegt, — eine Theorie der Entwicklung, welche fast vollständig verlassen ist, und für deren Richtigkeit keine einzige Thatsache mit Sicherheit beigebracht werden kann. In Beziehung auf das Kernkörperchen ist vorläufig nur das festzuhalten, dass, wenn wir entwickelte, grosse Zellen haben, wir fast constant auch einen Nucleolus in ihnen sehen, dass dagegen bei vielen jungen Elementen derselbe vermisst wird.
Sie werden späterhin eine Reihe von Thatsachen der pathologischen und physiologischen Entwicklungsgeschichte kennen lernen, welche es in hohem Grade wahrscheinlich machen, dass der Kern eine ausserordentlich wichtige Rolle innerhalb der Zelle spielt, eine Rolle, die, wie ich gleich her - vorheben will, weniger auf die Function, die specifische Leis - tung der Elemente sich bezieht, als vielmehr auf die Erhal - tung und Vermehrung des Elementes als eines lebendigen10Erste Vorlesung.Theiles. Die specifische (im engern Sinne animalische) Function zeigt sich am deutlichsten am Muskel, am Nerven, an der Drüsenzelle; ihre besonderen Thätigkeiten der Contraction, der Sensation, der Secretion, scheinen in keiner unmittelbaren Weise mit den Kernen etwas zu thun zu haben. Aber dass inmitten aller Function das Element ein Element bleibt, dass es nicht vernichtet wird und zu Grunde geht unter der fort - dauernden Thätigkeit, dies scheint wesentlich an die Thätig - keit des Kerns gebunden zu sein. Alle diejenigen zelligen Bildungen, welche ihren Kern verlieren, sehen wir mehr tran - sitorisch zu Grunde gehen, sie verschwinden, sterben ab, lösen sich auf. Ein menschliches Blutkörperchen z. B. ist eine Zelle ohne Kern; es besitzt eine äussere Membran und einen rothen Inhalt, aber damit ist seine Zusammensetzung, so weit man sie erkennen kann, erschöpft, und was man vom Blutkörper - chen-Kern beim Menschen erzählt hat, bezieht sich auf Täu - schungen, welche allerdings sehr leicht und häufig hervorge - bracht werden dadurch, dass kleine Unebenheiten der Ober - fläche sich bilden. Man könnte daher nicht sagen, dass Blut - körperchen Zellen seien, wenn wir nicht wüssten, dass eine gewisse Zeit existirt, wo auch die menschlichen Blutkörper - chen Kerne haben, nehmlich die Zeit innerhalb der ersten Monate des intrauterinen Lebens. Hier cursiren auch beim Menschen kernhaltige Blutkörperchen, wie man sie bei Frö - schen, Vögeln, Fischen das ganze Leben hindurch sieht. Das ist bei Säugethieren auf eine gewisse Zeit der Entwick - lung beschränkt, so dass in der späteren Zeit die rothen Blutkörperchen nicht mehr die volle Zellennatur an sich tra - gen, sondern einen wichtigen Bestandtheil ihrer Zusammen - setzung eingebüsst haben. Aber wir alle sind auch darüber einig, dass gerade das Blut eines von den wechselnden Bestand - theilen des Körpers ist, die keine Dauerhaftigkeit der Ele - mente besitzen, von denen Jeder annimmt, dass ihre Theile zu Grunde gehen und ersetzt werden durch neue, die wie - derum der Vernichtung bestimmt sind, und die überall (wie die obersten Epidermiszellen, in welchen wir auch keine Kerne finden, so bald sie sich abschilfern) schon ein Stadium ihrer Entwicklung erreicht haben, wo sie nicht mehr jener Dauer -11Bedeutung des Zellenkerns und des Zelleninhalts.haftigkeit der innereren Zusammensetzung bedürfen, als deren Bürgen wir den Kern betrachten müssen.
Dagegen kennen wir, so vielfach auch gegenwärtig die Gewebe untersucht sind, keinen Theil, der wächst, der sich vermehrt, sei es physiologisch oder pathologisch, wo nicht mit Nothwendigkeit kernhaltige Elemente als die Ausgangspunkte der Veränderung nachweisbar wären, und wo nicht die ersten entschiedenen Veränderungen, welche auftreten, den Kern selbst betreffen, so dass wir aus seinem Verhalten oft bestimmen können, was möglicher Weise aus den Elementen geworden sein würde.
Sie sehen nach dieser Darstellung, dass wenigstens zweier - lei für die Zusammensetzung eines zelligen Elementes als nothwendiges Desiderat verlangt werden muss, nämlich die Membran, mag sie nun rund oder zackig oder sternförmig sein, und der Kern, welcher von vorn herein eine andere chemische Beschaffenheit besitzt als die Membran. Es ist in - dess damit lange nicht alles Wesentliche erschöpft, denn die Zelle ist ausser dem Kern gefüllt mit einer verhältnissmässig grösseren oder kleineren Menge von Inhaltsmasse, und ebenso in der Regel, wie es scheint, der Kern seinerseits, in der Art,
Fig. 5. a. Pigmentzelle aus der Choroides oculi. b. Glatte Mus - kelzelle aus dem Darm. c. Stück einer doppeltcontouirten Nervenfaser mit Axencylinder, Markscheide und wandständigem, nucleolirtem Kern.
dass der Inhalt des Kerns wieder verschieden zu sein pflegt von dem Inhalte der Zelle. In - nerhalb der Zelle z. B. sehen wir Pigment, ohne dass der Kern etwas davon enthielte. Innerhalb einer glatten Muskelzelle wird die contractile Substanz abgelagert, welche als Trägerin der contractilen Kraft der Muskeln erscheint; der Kern aber bleibt Kern. Das zellige Element kann sich zu einer Nervenfa - ser entwickeln, aber der Kern bleibt ausser - halb des Markes als constantes Gebilde liegen. Daraus geht hervor, dass die besonderen Eigen - thümlichkeiten, welche die einzelnen Zellen an be - sonderen Orten unter besonderen Bedingungen er - reichen, im Allgemeinen gebunden sind an wech -12Erste Vorlesung.selnde Eigenschaften des Zelleninhalts, dass es nicht die bis jetzt be - trachteten Bestandtheile (Membran und Kern), sondern der Inhalt oder auch ausserhalb der Zelle abgelagerte Massen sind, wel - che die functionelle (physiologische) Verschiedenheit der Ge - webe bedingen. Für uns ist es wesentlich zu wissen, dass innerhalb der verschiedensten Gewebe jene Bestandtheile, wel - che die Zelle[gewissermassen] in ihrer abstracten Form dar - stellen, Kern und Membran, mit grosser Beständigkeit wieder - kehren, und dass durch ihre Zusammenfügung ein einfaches Element gewonnen wird, welches durch die ganze Reihe der lebendigen pflanzlichen und thierischen Gestaltungen, so äus - serlich verschieden sie auch sein mögen, so sehr die innere Zusammensetzung dem Wechsel unterworfen sein mag, eine ganz besondere Formbildung als bestimmte Grundlage aller Lebenserscheinungen erkennen lässt.
Meiner Auffassung nach ist dies der einzig mögliche Aus - gangspunkt aller biologischen Doctrinen. Wenn eine bestimmte Uebereinstimmung der elementaren Form durch die ganze Reihe alles Lebendigen hindurchgeht, und wenn man vergeb - lich in dieser Reihe nach irgend etwas Anderem sucht, was an die Stelle der Zelle gesetzt werden könnte, so muss man nothwendig auch jede höhere Ausbildung, sei es einer Pflanze oder eines Thieres, zunächst betrachten als eine progressive Summirung einer grösseren oder kleineren Zahl gleichartiger oder ungleichartiger Zellen. Wie ein Baum eine in einer be - stimmten Weise zusammengeordnete Masse darstellt, in wel - cher als letzte Elemente an jedem einzelnen Theile, am Blatt wie an der Wurzel, am Stamm wie an der Blüthe, zellige Ele - mente erscheinen, so ist es auch mit den thierischen Gestalten. Jedes Thier erscheint als eine Summe vitaler Einhei - ten, von denen jede den vollen Charakter des Lebens an sich trägt. Der Charakter und die Einheit des Lebens kann nicht an einem bestimmten Punkte einer höheren Organisation gefunden werden, z. B. im Gehirn des Menschen, sondern nur in der bestimmten, constant wiederkehrenden Einrichtung, welche jedes einzelne Element an sich trägt. Daraus geht hervor, dass die Zusammensetzung eines grösseren Körpers immer auf eine13Zellenterritorien und Intercellularsubstanz.Art von gesellschaftlicher Einrichtung herauskommt, eine Ein - richtung socialer Art, wo eine Masse von einzelnen Existen - zen auf einander angewiesen ist, aber so, dass jedes Element für sich eine besondere Thätigkeit hat, und dass jedes, wenn es auch die Anregung zu seiner Thätigkeit von anderen Theilen her empfängt, doch die eigentliche Leistung von sich ausge - hen lässt.
Ich habe es deshalb für nothwendig erachtet, und ich glaube, dass Sie Nutzen davon haben werden, den Körper zu zerlegen in Zellenterritorien. Ich habe gesagt Territorien, weil wir in der thierischen Organisation eine Eigenthümlichkeit finden, welche in der Pflanze fast gar nicht zur Anschauung kommt, nämlich die Entwicklung grosser Massen sogenannten inter - cellularen Gewebes. Während die Pflanzenzellen in der Regel mit ihren äusseren Absonderungsschichten unmittelbar aneinander stossen, so jedoch, dass man immer noch die alten Grenzen unterscheiden kann, so finden wir bei den thieri - schen Geweben, dass diese Art der Anordnung die seltnere ist. Hier treffen wir eine oft sehr reichliche Masse zwischen den Zellen (Zwischensubstanz, Intercellularsubstanz), aber wir können selten von vornherein übersehen, inwieweit
Fig. 6. Epiphysenknorpel vom Oberarme eines Kindes, an der Ellen - beuge. Das Object war zuerst mit chromsaurem Kali und dann mit Essig - säure behandelt. In der homogenen Grundsubstanz (Intercellularge - webe) sieht man bei a.Knorpelhöhlen mit noch dünner Wand (Capsel), in welchen die Knorpelzellen, mit Kern und Kernkörperchen versehen, sich deutlich abgrenzen. b. Capseln (Höhlen) mit zwei, durch Thei - lung der früher einfachen, entstandenen Zellen. c. Theilung der Cap - seln nach Theilung der Zellen. d. Auseinanderrücken der getheilten Capseln durch Zwischenlagerung von Intercellularsubstanz. — Knorpel - wachsthum.
14Erste Vorlesung.ein bestimmter Theil davon der einen, ein anderer der an - deren Zelle angehöre.
Nach Schwann war die Intercellularsubstanz eine Art von Cytoblastem, für die Entwicklung neuer Zellen bestimmt. Dies halte ich nicht für richtig, vielmehr bin ich durch eine Reihe von pathologischen Erfahrungen dahin gekommen, ein - zusehen, dass die Intercellularsubstanz in einer bestimmten Ab - hängigkeit von den Zellen sich befindet und dass es nothwen - dig ist, auch in ihr Grenzen zu ziehen und zuzugestehen, dass auch von der Intercellularsubstanz gewisse Bezirke der einen und gewisse der andern Zelle angehören. Sie werden sehen, wie pathologische Vorgänge diese Grenzen scharf markiren, wie sich direkt zeigen lässt, dass ein bestimmtes Territorium von Zwischensubstanz beherrscht wird von einem Zellen-Ele - mente, welches in dessen Mitte gelegt ist und von welchem Wirkungen auf die Nachbarschaft ausgehen
Es wird jetzt deutlich sein, wie ich mir die Zellen-Terri - torien denke: Es gibt Gewebe, welche ganz aus Zellen be - stehen, Zelle an Zelle gelagert. Hier kann über die Grenze der einzelnen Zelle keine Schwierigkeit bestehen, aber es ist nö - thig, hervorzuheben, dass auch in diesem Falle jede einzelne Zelle ihre besonderen Wege gehen, ihre besonderen Veränderungen er - fahren kann, ohne dass mit Nothwendigkeit das Geschick der zu - nächstliegenden Zelle daran geknüpft ist. In andern Gewe - ben dagegen, wo wir Zwischenmassen haben, versorgt die Zelle ausser ihrem eignen Inhalt noch eine gewisse Menge von äusserer Substanz, die mit an ihren Veränderungen Theil nimmt, ja sogar häufig frühzeitiger afficirt wird, als das Innere der Zelle, welches mehr gesichert ist durch seine Lagerung als die äussere Zwischenmasse. Endlich gibt es eine dritte Reihe von Geweben, deren Elemente untereinander in engeren Ver - bindungen stehn. Es kann z. B. eine sternförmige Zelle mit einer ähnlichen zusammenhängen, und dadurch eine netzför - mige Anordnung entstehen, ähnlich der bei den Capillaren und ande - ren analogen Gebilden. In diesem Falle könnte man glauben, dass die ganze Reihe beherrscht werde von irgend Etwas, was wer weiss wie weit entfernt liegt, indessen bei genauerem Studium ergibt sich, dass selbst in diesen kettenartigen Ele -15Die Cellularpathologie.menten eine gewisse Unabhängigkeit der einzelnen Glieder besteht, und dass diese Unabhängigkeit sich äussert, indem unter gewissen äusseren oder inneren Einwirkungen das Ele - ment nur innerhalb seiner Grenzen gewisse Veränderungen er - fährt, ohne dass die nächsten Elemente dabei betheiligt zu sein brauchen.
Das Angeführte wird zunächst genügen, um Ihnen zu zei - gen, in welcher Weise ich es für nothwendig erachte, die pa - thologischen Erfahrungen auf bekannte histologische Elemente zurückzuführen, warum es mir nicht genügt z. B. von einer Thätigkeit der Gefässe zu sprechen oder von einer Thätig - keit der Nerven, sondern warum ich es für nothwendig er - achte, neben Gefässen und Nerven die grosse Zahl von kleinen Theilen ins Auge zu fassen, welche eigentlich die Hauptmasse der Körpersubstanz ausmachen. Es genügt nicht, dass man, wie es seit langer Zeit geschieht, die Muskeln als thätige Elemente daraus ablöst; innerhalb des grossen Restes, der ge - wöhnlich als eine träge Masse betrachtet wird, findet sich noch eine ungeheure Zahl wirksamer Theile.
In der Entwicklung, welche die Medicin bis in die letzte Zeit genommen hat, finden wir den Streit zwischen den humo - ralen und solidaren Schulen der alten Zeit immer noch erhal - ten. Die humoralen Schulen haben im Allgemeinen das meiste Glück gehabt, weil sie die bequemste Erklärung und in der That die plausibelste Deutung der Krankheitsvorgänge gebracht haben. Man kann sagen, dass fast alle glücklichen Praktiker und bedeutenden Kliniker mehr oder weniger humo - ralpathologische Tendenzen gehabt haben; ja diese sind so populär geworden, dass es jedem Einzelnen äusserst schwer wird, sich aus ihnen zu befreien. Die solidarpathologischen Ansichten sind mehr eine Liebhaberei speculativer Forscher gewesen und nicht sowohl aus dem unmittelbaren pathologi - schen Bedürfnisse, als vielmehr aus physiologischen und philo - sophischen, selbst aus religiösen Speculationen hervorgegangen. Sie haben den Thatsachen Gewalt anthun müssen, sowohl in der Anatomie als in der Physiologie, und haben daher nie - mals eine ausgedehnte Verbreitung gefunden. Meiner Auffas - sung nach ist der Standpunkt beider Lehren ein unvollständi -16Erste Vorlesung.ger; ich sage nicht ein falscher, weil er eben nur falsch ist in seiner Exclusion; er muss zurückgeführt werden auf gewisse Grenzen, und man muss sich erinnern, dass neben Gefässen und Blut, neben Nerven und Centralapparaten noch andere Dinge existiren, die nicht ein blosses Substrat der Einwirkung von Nerven und Blut sind, auf welchem diese ihr Wesen treiben.
Wenn man nun fordert, dass die medicinischen An - schauungen auch auf dieses Gebiet sich übertragen sollen, wenn man andererseits verlangt, dass auch innerhalb der humoral - und neuropathologischen Vorstellungen man sich schliesslich erinnern soll, dass das Blut aus vielen einzelnen für sich bestehenden Theilen besteht, dass das Nervensystem aus vielen Sonderbestandtheilen zusammenge - setzt ist, so ist dies eine Forderung, die freilich auf den ersten Blick manche Schwierigkeiten bietet. Aber wenn Sie sich erinnern, dass man Jahre lang nicht bloss in den Vor - lesungen, sondern auch am Krankenbette von der Thätig - keit der Capillaren gesprochen hat, einer Thätigkeit, die Niemand gesehen hat, die eben nur auf bestimmte Doctri - nen hin angenommen worden ist, so werden Sie es nicht unbillig finden, dass Dinge, die wirklich zu sehen sind, ja die, wenn man sich übt, selbst dem unbewaffneten Auge nicht selten zugängig sind, gleichfalls in den Kreis des ärztlichen Wissens und Denkens aufgenommen werden. Von Nerven hat man nicht nur gesprochen, wo sie nicht dar - gestellt waren; man hat sie einfach supponirt, selbst in Theilen, wo bei den sorgfältigsten Untersuchungen sich nichts von ihnen hat nachweisen lassen; man hat sie wirk - sam sein lassen an Punkten, wohin sie überhaupt gar nicht vordringen. So ist es denn gewiss eine billige Forderung, dass dem grösseren Theile des Körpers eine gewisse An - erkennung werde, und wenn diese Anerkennung zugestanden wird, dass man sich nicht mehr mit der blossen Ansicht der Nerven als ganzer Theile, als eines zusammenhängen - den einfachen Apparates, oder des Blutes als eines blos flüs - sigen Stoffes begnüge, sondern dass man auch innerhalb des Blu -17Pflanzenwachsthum.tes und des Nervenapparates eine Masse wirksamer kleiner Centren zulasse.
Zum Schlusse habe ich noch einige Präparate zu er - läutern: Ich fange mit einem sehr gewöhnlichen Objecte an. Es ist von einem Kartoffelknollen hergenommen, an einer Stelle, wo Sie die vollkommene Structur einer Pflanzenzelle übersehen können: da, wo der Knollen anfängt, einen neuen Schoss zu treiben, wo also die Wahrscheinlichkeit besteht, dass man junge Zellen finden wird, vorausgesetzt, dass das Wachsthum überhaupt in der Entwicklung neuer Zellen be - steht. Im Innern des Knollens sind bekanntlich alle Zellen mit Amylonkörnern vollgestopft; an dem jungen Schoss da - gegen wird in dem Maasse, als er wächst, das Amylon verbraucht, und die Zelle zeigt sich wieder in ihrer reine - ren Gestalt. Auf einem Querschnitte durch einen jungen Schössling nahe an seinem Austritte aus dem Knollen un - terscheidet man etwa vier verschiedene Lagen: die Rinden - schicht, dann eine Schicht grösserer Zellen, dann eine Schicht kleinerer Zellen, und zuinnerst wieder eine Lage von grösseren. Hier sieht man lauter regelmässige Gebilde; dicke Kapseln von sechseckiger Gestalt, und im Innern derselben einen oder ein Paar Kerne (Fig. 1) Gegen die Rinde (Korkschicht) hin sind die Zellen viereckig und je weiter nach aussen, um so
Fig. 7. Aus der Rindenschicht eines Knollens von Solanum tubero - sum nach Behandlung mit Jod und Schwefelsäure. a. Platte Rinden - zellen, umgeben von der Kapsel (Zellhaut, Membran). b. Grössere, vier - eckige Zellen derselben Art; die geschrumpfte und gerunzelte eigentliche Zelle (Primordialschlauch) innerhalb der Kapsel. c. Zelle mit Amy - lonkörnern, welche innerhalb des Primordialschlauches liegen.
platter, aber auch in ihnen erkennt man bestimmt Kerne. Ueberall, wo die sogenannten Zellen zusammenstos - sen, ist zwischen ihnen eine Scheide - grenze zu erkennen; dann kommt die dicke Celluloseschicht, in welcher feine Streifen zu erkennen sind, und im Innern der Höhle sehen Sie eine zusammengesetzte Masse, in welcher218Erste Vorlesung.leicht ein Kern mit Kernkörperchen zu unterscheiden ist, und in der nach Anwendung von Reagentien auch der Primordialschlauch (Utriculus) als eine gefaltete, runzlige Haut zum Vorschein kommt. Es ist dies die vollendete Form der Pflanzenzelle. In den benachbarten Zellen liegen einzelne grössere, matt glänzende, geschichtete Körper: die Reste von Stärkemehl. — Das folgende Object ist mir des - halb von Bedeutung, weil ich später darauf Bezug zu neh - men habe beim Vergleich mit thierischen Neubildungen. Es ist ein Längsschnitt aus der jungen Knospe eines Ligustrum - Strauches, wie ihn die warmen Tage des Februar entwickelt haben. In der Knospe sind schon eine Menge von jungen Trieben angelegt, jeder aus zahlreichen jungen Zellen zu -
Fig. 8. Längsschnitt durch einen jungen Februar-Trieb vom Aste eines Ligustrum. A. die äussere Schicht: unter einer sehr platten Zel - lenlage sieht man grössere, viereckige, kernhaltige Zellen, aus denen durch fortgehende Quertheilung kleine Zapfen (a) hervorwachsen, die
sammengesetzt. In diesen jüng - sten Theilen bestehen die äussern Schichten aus ziemlich regelmässi - gen Zellenlagen, die mehr platt viereckig erscheinen, während in den inneren Lagen die Zellen mehr gestreckt sind, und in einzelnen Abschnitten die Spiralfasern auf - treten. Namentlich mache ich Sie aufmerksam auf die kleinen Aus - wüchse, welche überall am Rande hervortreten, ganz ähnlich gewis - sen thierischen Excrescenzen, z. B. an den Zotten des Chorions, wo sie die Orte bezeichnen, an wel - chen die jungen Aeste hervortre - ten werden. An einzelnen Stellen unseres Ligustrum-Objectes finden sich nämlich kleine, kolbige Zapfen, die sich in gewissen Abständen wiederholen, nach Innen mit den19Knorpelwachsthum.Zellenreihen des Parenchyms zusammenhängend. Dies sind Bildungen, an denen man am besten die feineren Formen der Zelle unterscheiden und zugleich die eigenthümliche Art des Wachsthums entdecken kann. Das Wachsthum geht so vor sich, dass an einzelnen zelligen Elementen eine Theilung ein - tritt und sich eine quere Scheidewand bildet; die Theile wach - sen als selbständige Elemente fort und vergrössern sich nach und nach. Nicht selten treten auch Längstheilungen ein, so dass die Theile dicker werden. Jeder Zapfen ist also ursprünglich eine Zelle, die, indem sie sich quertheilt und immer wieder quertheilt, ihre Glieder vorwärts schiebt und dann bei Gele - genheit auch seitlich sich ausbreitet. In dieser Weise wach - sen die Zapfen hervor, und dies ist im Allgemeinen der Mo - dus des Wachsthums nicht nur in der Pflanze, sondern auch in den physiologischen und pathologischen Bildungen des thie - rischen Leibes.
Beim folgenden Präparate, einem Stück Rippenknorpel im Stadium des pathologischen Wachsthums, erscheinen schon
Veränderungen für das blosse Auge: kleine Buckel auf der Fläche des Knorpels. Dem ent - sprechend zeigt das Mikroskop Wucherungen der Knorpelzellen. Hier finden sich dieselben For - men wie bei den Pflanzenzellen, grössere Gruppen von zelligen Elementen, welche in mehrfachen Reihen angeordnet sind; mit dem einzigen Unterschiede von den wuchernden Pflanzenzellen, dass
immer länger werden (b) und durch Längstheilung sich verdicken (c). B. die Gefässschicht mit Spiralfasern. C. einfache, viereckige, längliche Zellen. — Pflanzenwachsthum.
Knorpelwucherung aus dem Rippenknorpel eines Erwach - senen. Grössere Gruppen von Knorpelzellen innerhalb einer gemeinschaft - lichen Umgrenzung (falschlich sogenannte Mutterzelle), durch successive Theilungen aus einzelnen Zellen hervorgegangen. Am Rande davon ist eine solche Gruppe durchschnitten, in der man eine Knorpelzelle mit mehrfacher Umlagerung von Kapselschichten (äusserer Absonderungs - masse) sieht. Vergröss. 300.
2*20Erste Vorlesung.zwischen den einzelnen Gruppen Intercellularsubstanz vorhan - den ist. An den Zellen unterscheidet man wieder die äussere Kapsel, die sogar an einzelnen Zellen mehrfach geschichtet ist, in 2 -, 3 - und mehrfacher Lage, und darin erst kommt die eigentliche Zelle mit Membran, Inhalt, Kern und Kernkörperchen.
In dem folgenden Objecte sehen Sie junge Eierstockseier des Frosches, bevor die Abscheidung der Dotterkörner begon -
nen hat. Die sehr grosse Eizelle enthält einen gleichfalls sehr grossen Kern, in dem eine Menge von kleinen Bläschen ver - theilt sind, und einen ziemlich dicken, trüben Inhalt, der an einer bestimmten Stelle körnig und braun zu werden anfängt. Um sie herum bemerkt man das verhältnissmässig schwache Bindegewebe des Graff’schen Follikels, mit einem schwer zu erkennenden Epithelial-Stratum. Daneben liegen mehrere kleinere Eier, welche das allmählige Wachsthum erkennen lassen.
Junge Eierstockseier vom Frosch. A. eine ganz junge Eizelle. B. eine grössere. C. eine noch grössere mit beginnender Ab - scheidung brauner Körnchen an dem einen Pol (e) und mit äusserer Einfal - tung der Zellmembran durch Eindringen von Wasser. a. Membran des Follikels. b. Zellmembran. c. Kernmembran. d. Kernkörperchen. S. Eierstock. Vergröss. 150.
Im Gegensatze zu diesen colossalen Zellen lege ich Ihnen noch ein klinisches Object vor: Zellen von einem frischen ka - tarrhalischen Sputum. Sie sehen im Verhältniss sehr kleine Elemente, die sich bei stärkerer Vergrösserung als vollkom -
men runde Formen darstellen, und an denen man, nach Einwirkung von Wasser und Reagentien, deutlich eine Membran, Kerne und einen im fri - schen Zustande trüben Inhalt unterscheidet. Die meisten von den kleinen Elementen gehören nach der gewöhnlichen Terminologie in die Reihe der Eiterkörperchen; die grösseren, als Schleimkörperchen oder katarrhalische Zellen zu bezeichnen, enthalten zum Theil Fett oder grauschwarzes Pigment in Form von Körnern.
Diese Formen haben, so klein sie sind, doch die ganze typische Eigenthümlichkeit der grossen; alle Zellencharaktere der grossen finden sich an ihnen wieder. Das ist aber mei - nes Erachtens das Wesentliche, dass, wir mögen nun die gros - sen oder die kleinen, die pathologischen oder physiologischen Zellen zusammenhalten, wir dies Uebereinstimmende immer wiederfinden.
Zellen aus frischem katarrhalischen Sputum. A. Eiter - körperchen. a. ganz frisch. b. nach Behandlung mit Essigsäure: in der Membran ist der Inhalt aufgeklärt und man sieht drei kleine Kerne. B. Schleimkörperchen. a. einfaches. b. mit Pigmentkörnchen. Vergr. 300.
Falsche Ansicht von der Zusammensetzung der Gewebe und Fasern aus Kügelchen (Elementar - körnchen). Die Umhüllungstheorie. Generatio aequivoca der Zellen. Das Gesetz von der continuirlichen Entwicklung. Allgemeine Classifikation der Gewebe. Die drei allgemein-histologischen Kategorien. Die speziellen Gewebe. Die Organe und Systeme oder Apparate. Die Epithelialgewebe. Platten -, Cylinder - und Uebergangsepithel. Epidermis und Rete Mal - pighii. Nagel - und Nagelkrankheiten. Linse. Pigment. Drüsenzellen. Die Gewebe der Bindesubstanz. Die Theorien von Schwann, Henle und Reichert Meine Theorie. Das Bindegewebe als Intercellularsubstanz. Der Knorpel (hyaliner, Faser - und Netzknorpel). Das Schleimgewebe. Das Fettgewebe. Anastomose der Elemente: saft - führendes Röhren - oder Kanalsystem.
Ich hatte Ihnen, meine Herren, in der ersten Vorlesung die all - gemeinen Gesichtspunkte über die Natur und Entstehung der zelligen Elemente vorgeführt. Gestatten Sie mir jetzt, unsere weiteren Betrachtungen mit einer Uebersicht der thierischen Ge - webe überhaupt zu beginnen, und zwar sowohl in physiologischer, als pathologischer Beziehung.
Die wesentlichen Hindernisse, welche bis in die letzte Zeit in dieser Richtung bestanden, waren nicht so sehr patho - logische. Ich bin überzeugt, man würde mit den pathologischen Verhältnissen ungleich leichter fertig geworden sein, wenn es nicht bis vor Kurzem unter die Unmöglichkeiten gehört hätte, eine einfache Uebersicht der physiologischen Gewebe zu liefern. Die alten Anschauungen, welche zum Theil noch aus dem vori - gen Jahrhundert überkommen waren, haben gerade in dem - jenigen Gebiete, welches pathologisch das wichtigste ist, so sehr vorgewaltet, dass noch jetzt eine allgemeine Einigung nicht23Die Elementarfaser und das Elementarkügelchen.gewonnen ist, und dass Sie genöthigt sein werden, sich durch die Anschauung der Objecte selbst ein Urtheil darüber zu bilden, in wie weit das zuverlässig ist, was ich Ihnen mitzutheilen habe.
Wenn Sie die Elementa physiologiae von Haller lesen, so treffen Sie an die Spitze des ganzen Werkes, wo von den Ele - menten des Körpers gehandelt wird, die Faser gestellt. Haller gebraucht dabei den sehr charakteristischen Ausdruck, dass die Faser, fibra, für den Physiologen sei, was die Linie für den Geometer.
Diese Auffassung ist bald weiter ausgedehnt worden, und die Lehre, dass für fast alle Theile des Körpers die Faser als Grundlage diene, dass die Zusammensetzung der mannig - fachsten Gewebe in letzter Instanz auf die Faser zurückführe, ist namentlich bei dem Gewebe, wo, wie sich ergeben hat, die pathologische Schwierigkeit am meisten concentrirt lag, bei dem sogenannten Zellgewebe, am längsten festgehalten worden.
Im Laufe des letzten Jahrzehnts des vorigen Jahrhunderts begann indess schon eine gewisse Reaction gegen diese Faser - lehre, und in der Schule der Naturphilosophen kam frühzeitig ein anderes Element zu Ehren, das aber in einer vielmehr spe - culativen Weise begründet wurde, nämlich das Kügelchen. Während die Einen immer noch an der Faser fest hielten, so glaubten Andere, z. B. Milne Edwards, so weit gehen zu dürfen, auch die Faser wieder aus linear aufgereihten Kügelchen zusam - mengesetzt zu denken. Diese Auffassung ist zum Theil hervor gegangen aus unzweifelhaften optischen Täuschungen bei der mikroskopischen Beobachtung. Die schlechte Methode, welche während des ganzen vorigen Jahrhunderts und eines Theiles des gegenwärtigen bestand, dass man im vollen Sonnen-Licht beob - achtete, brachte fast in alle mikroskopischen Objecte eine gewisse Dispersion des Lichtes, und der Beobachter bekam den Ein - druck, als sähe er weiter nichts, als Kügelchen. Andererseits entsprach aber auch diese Anschauung den naturphilosophischen Vorstellungen von der ersten Entstehung alles Geformten.
Diese Kügelchen (Körnchen, Moleküle) haben sich son - derbarer Weise auch in der modernen Histologie immer noch erhalten, und es giebt wenige histologische Werke, welche24Zweite Vorlesung.nicht mit den Elementarkörnchen anfingen. Hier und da sind noch vor nicht langer Zeit diese Ansichten von der Kugel - natur der Elementartheile so überwiegend gewesen, dass auf sie die Zusammensetzung, sowohl der ersten Gewebe im Embryo, als auch der späteren begründet wurde. Man dachte sich, dass
eine Zelle in der Weise entstände, dass die Kü - gelchen sich sphärisch zur Membran ordneten, in - nerhalb deren sich andere Kügelchen als Inhalt er - hielten. Noch von Baumgärtner und Arnold ist in diesem Sinne gegen die Zellentheorie gekämpft worden.
In einer gewissen Weise hat diese Auffassung sogar in der Entwicklungsgeschichte eine Stütze gefunden: in der sogenannten Umhüllungstheorie, — einer Auf - assung, die eine Zeit lang stark in den Vordergrund getreten war. Danach dachte man sich, dass während ursprünglich eine Menge von Elementar-Kügelchen zer - streut vorhanden wäre, diese sich unter bestimmten Ver - hältnissen zusammenlagerten, nicht in Form blasiger Mem -
branen, sondern zu einem compacten Haufen, einer Kugel, und dass diese Kugel der Ausgangspunkt der weiteren Bildung werde, indem sich durch Diffe - renzirung der Masse, durch Apposition oder Intussusception aussen eine Membran, innen ein Kern bilde.
Gegenwärtig kann man weder die Faser noch das Kü - gelchen oder das Elementarkörnchen als einen histologischen Ausgangspunkt betrachten. So lange als man sich die Ent - stehung von lebendigen Elementen aus vorher nicht geform - ten Theilen, also aus Bildungsflüssigkeiten oder Bildungstoffen (plastischer Materie, Blastem, Cytoblastem) hervor - gehend dachte, so lange konnte irgend eine dieser Auffassungen allerdings Platz finden, aber gerade hier ist der Umschwung, den
Schema der Globulartheorie. a. Faser aus linear aufge - gereihten Elementarkörnchen (Molecularkörnchen). b. Zelle mit Kern und sphärisch geordneten Körnchen.
Schema der Umhüllungs (Klümpchen -) Theorie. a. getrennte Elementarkörnchen. b. Körnchenhaufen (Klümpchen). c. Körnchenzelle mit Membran und Kern.
25Das Gesetz der continuirlichen Entwicklung.die allerletzten Jahre gebracht haben, am ausgesprochensten gewesen. Auch in der Pathologie können wir gegenwärtig so weit gehen, dass wir es als allgmeines Princip hinstellen, dass überhaupt keine Entwicklung de novo beginnt, dass wir also auch in der Entwicklungsgeschichte der einzelnen Theile, gerade wie in der Entwicklung ganzer Organismen, die Generatio aequivoca zurück - weisen. So wenig wir noch annehmen, dass aus saburralem Schleim ein Spulwurm entsteht, dass aus den Resten einer thierischen oder pflanzlichen Zersetzung ein Infusorium oder ein Pilz oder eine Alge sich bilde, so wenig lassen wir in der physiologischen oder pathologischen Gewebelehre es zu, dass sich aus irgend einer unzelligen Substanz eine neue Zelle auf - bauen könne. Wo eine Zelle entsteht, da muss eine Zelle vorausgegangen sein, ebenso wie das Thier nur aus dem Thiere, die Pflanze nur aus der Pflanze entstehen kann. Auf diese Weise ist, wenngleich es einzelne Punkte im Kör - per gibt, wo der strenge Nachweis noch nicht geliefert ist, doch das Princip gesichert, dass in der ganzen Reihe alles Lebendigen, dies mögen[nun] ganze Pflanzen oder thierische Or - ganismen oder integrirende Theile derselben sein, ein ewiges Gesetz der continuirlichen Entwicklung besteht. Es gibt keine Discontinuität der Entwicklung in der Art, dass eine neue Generation von sich aus eine neue Reihe von Entwicklungen begründete. Alle entwickelten Gewebe kön - nen weder auf ein kleines, noch auf ein grosses einfaches Element zurückgeführt werden, es sei denn auf die Zelle selbst. In welcher Weise diese continuirliche Zellenwuche - rung, denn so kann man den Vorgang bezeichnen, vor sich gehe, das werden wir später betrachten; für heute lag mir nur daran, zunächst das zurückzuweisen, dass man als Grund - lage für irgend eine Auffassung über die Zusammensetzung der Gewebe jene Theorien von einfachen Fasern oder einfachen Kü gelchen (Elementarfibern oder Elementarkörnchen) annehmen dürfe. —
Will man die normalen Gewebe classificiren, so ergibt sich im Grossen ein sehr einfacher Gesichtspunkt, auf Grund dessen man die Gewebe in drei Kategorien eintheilt.
26Zweite Vorlesung.Entweder hat man Gewebe, welche einzig und allein aus Zellen bestehen, wo Zelle an Zelle liegt, also in dem modernen Sinne Zellgewebe. Oder wir finden Gewebe, wo regelmässig eine Zelle von der andern getrennt ist durch eine gewisse Zwischenmasse (Intercellularsubstanz), wo also eine Art von Bindemittel existirt, welches die einzelnen Elemente in sicht - barer Weise aneinander, aber auch auseinander hält. Hierher gehören die Gewebe, welche man heut zu Tage gewöhnlich unter dem Namen der Gewebe der Bindesubstanz zusammen - fasst, und in welche als Hauptmasse dasjenige eintritt, was man früherhin allgemein Zellgewebe nannte. Endlich gibt es eine dritte Gruppe von Geweben, in welchen specifische Ausbildungen der Zellen Statt gefunden haben, vermöge deren sie eine ganz eigenthümliche Einrichtung erlangt haben, zum Theil so eigenthümlich, wie sie eben der thierischen Oekonomie einzig und allein zukommt. Diese Gewebe sind es, welche eigentlich den Charakter des Thieres ausmachen, wenn - gleich einzelne unter ihnen Uebergänge zu Pflanzenformen darbie - ten. Hierher gehören die Nerven - und Muskelapparate, die Gefässe und das Blut. Damit ist die Reihe der Gewebe abgeschlossen.
Sie müssen nun weiter ins Auge fassen, worin bei die - ser Zusammenfassung der histologischen Erfahrungen der Gegensatz gegen dasjenige liegt, was man früher, nament - lich nach dem Vorgange von Bichat, als Gewebe betrach - tet hat. Die Gewebe von Bichat würden zu einem grossen Theile nicht so sehr dasjenige darstellen, was wir heute als die Ge - genstände der allgemeinen Histologie betrachten, sondern vielmehr das, was wir als den Inhalt der speziellen Histologie bezeichnen müssen. Denn wenn man die Gewebe im älteren Sinne nimmt, wenn man z. B. die Sehnen, die Knochen, die Fascien von einander trennt, so gibt dies eine ausserordentliche Mannigfal - tigkeit von Kategorien, (Bichat hatte deren 21,) aber es ent - sprechen ihnen nicht eben so viele einfache Gewebsformen.
In dem modernen Sinne würde das ganze[anatomische] Ge - biet sich zunächst zerlegen lassen nach allgemein-histologi - schen Kategorien (eigentliche Gewebe). Die specielle Histologie beschäftigt sich sodann mit dem Falle, wo eine Zusammenfügung von zum Theil sehr verschiedenartigen Geweben zu einem ein -27Histologische Classification.zigen Ganzen (Organ) Statt findet. Wir sprechen also z. B. von Knochengewebe, allein dieses Gewebe, die Tela ossea im allgemein histologischen Sinne, bildet für sich keinen Knochen, denn kein Knochen besteht durch und durch aus Tela ossea, sondern es gehören dazu mit einer gewissen Nothwendigkeit mindestens Periost und Gefässe. Ja, von dieser einfachen Vorstellung eines Knochens differirt die jedes grösseren z. B. eines Röhrenknochens; dies ist ein wirkliches Organ, in dem wir wenigsten vier verschiedene Gewebe unterscheiden. Wir haben da die eigentliche Tela ossea, die Knorpellage, die Bindegewebschicht des Periosts, das eigenthümliche Markge - webe. Innerhalb dieser einzelnen Theile findet sich wieder eine innere Verschiedenartigkeit der Theile, indem z. B. Ge - fässe und Nerven mit in die Zusammensetzung des Markes, der Beinhaut u. s. f. eingehen. Alles dies zusammenge - nommen, gibt erst den vollen Organismus eines Knochens. Bevor man also zu den eigentlichen Systemen oder Appa - raten, dem speziellen Vorwurf der descriptiven Anatomie kommt, hat man eine ganze Reihe von Gradationen zu durchlaufen, und man muss sich bei Diskussionen immer erst klar werden, was in Frage ist. Wenn man Knochen und Knochengewebe zusammenwirft, so gibt dies die allergrösste Verwirrung, ebenso, wenn man Nerven - und Gehirn-Masse identificiren will. Das Gehirn enthält viele Dinge, die nicht nervös sind, und seine physiologischen und pathologischen Zustände lassen sich nicht begreifen, wenn man sie auf eine Zusammenordnung rein nervöser Theile bezieht, und wenn man nicht auf die Häute, die Zwischenmasse, die Gefässe neben den Nerven Rücksicht nimmt.
Betrachten wir nun die erste Reihe von allgemein-histologi - schen Theilen etwas genauer, die einfachen Zellen-Gewebe, so ist unzweifelhaft das Uebersichtlichste die Epithelialfor - mation, wie wir sie in der Epidermis und dem Rete Mal - pighii an der äussern Oberfläche, im Cylinder - und Platten - epithelium auf den Schleim - und serösen Häuten antreffen. Das allgemeine Schema ist hier, dass Zelle an Zelle liegt, so dass in dem günstigsten Falle auch hier, wie bei der Pflanze, vier - oder sechseckige Zellen unmittelbar sich an einander schlies -28Zweite Vorlesung.sen und zwischen ihnen nichts Anderes weiter gefunden wird. So ist es an manchen Orten mit dem Platten - oder Pflasterepithel. Diese Formen sind offenbar grossentheils Druckwirkungen. Wenn alle Elemente eines zelligen Ge - webes eine vollkommene Regelmässigkeit haben sollen, so setzt dies voraus, dass sich alle Elemente völlig gleich - mässig und gleichzeitig vergrössern. Geschieht ihre Ent - wicklung unter Verhältnissen, wo nach einer Seite hin ein geringerer Widerstand besteht, so kann es sein, dass die Elemente, wie bei den Säulen - oder Cylinder - epithelien, in einer Richtung auswachsen und sehr lang werden, während sie in den anderen Richtungen sehr schmal
bleiben. Aber auch ein solches Element, auf einem Querschnitt betrachtet, wird sich wieder als ein sechseckiges darstellen: wenn wir Cylinder-Epithel von der freien Fläche her betrachten, so sehen wir auch bei ihm wieder regelmässig polygonale Formen.
Im Gegensatze dazu finden sich ausserordentlich unregel - mässige Formen an solchen Or - ten, wo die Zellen in unregel - mässiger Weise hervorwachsen, so besonders constant an der Oberfläche der Harnwege, in der ganzen Ausdehnung von den Nierenkelchen bis zur Urethra. An allen diesen Stellen
Säulen - oder Cylinderepithel der Gallenblase, a.Vier zusammenhängende Zellen, von der Seite gesehen, mit Kern und Kern - körperchen, der Inhalt leicht längs gestreift, am freien Rande (oben) ein dickerer, fein radiär gestreifter Saum. b. Aehnliche Zellen, halb von der freien Fläche (oben, aussen) gesehen, um die sechseckige Gestalt des Querschnittes und den dicken Randsaum zu zeigen. c. durch Imbibition veränderte, etwas autgequollene und am oberen Saum aufgefaserte Zellen.
Uebergangsepithel der Harnblase. a. eine grössere, am Rande ausgebuchtete Zelle mit ansitzenden keulen - und spindelförmigen, feineren Zellen. b. dasselbe; die grössere Zelle mit zwei Kernen. c. eine
29Epithelialgewebe.ist es sehr gewöhnlich, dass man Anordnungen findet, wo z. B. die Zelle an dem einen Ende rund erscheint, wäh - rend sie an dem anderen in eine Spitze ausläuft, oder wo das Element als eine ziemlich grobe Spindel sich darstellt, oder wo es an einer Seite platt abgerundet, an der anderen ausge - buchtet ist, oder wo eine Zelle sich so zwischen andere einschiebt, dass sie eine kolbige oder zackige Form annimmt. Aber auch hier entspricht immer die eine Zelle in der Form der anderen, und es ist nicht die Eigenthümlichkeit der Zelle, welche die Form bedingt, sondern die Art ihrer Lagerung, das Nachbarverhältniss, die Rücksicht auf die Anordnung der näch - sten Theile. In der Richtung des geringeren Widerstandes bekommen die Zellen Spitzen, Zacken und Hervorragungen der mannigfaltigsten Art. Man nannte sie, da sie sich nicht recht classificiren liessen, mit Henle Uebergangs-Epithel, weil sie in deutliches Platten - und Cylinderepithel übergehen. Zu - weilen ist dies aber nicht der Fall und man könnte ebenso gut einen anderen Namen dafür einführen.
Um der Wichtigkeit des Gegenstandes willen, will ich nur noch Einiges hinzufügen in Beziehung auf die Ober-Haut (Epidermis). An dieser haben wir den günstigen Fall, dass viele Zellenlagen über einander liegen, was an vielen Schleim - häuten nicht der Fall ist, und dass die jungen Lagen (das Rete Malpighii) von den älteren (der eigentlichen Epi - dermis) sich leicht und bequem trennen lassen.
Wenn man einen senkrechten Durchschnitt der Hautober - fläche betrachtet, so bekommt man zumeist nach aussen ein sehr dichtes, verschieden dickes Stratum zu sehen, welches auf den ersten Blick aus lauter platten Elementen besteht, die von der Seite her wie Linien aussehen. Man könnte sie für Fasern halten, welche übereinander geschichtet sind und mit leichten Niveau - Verschiedenheiten das ganze äussere Stratum zusammensetzen. Unterhalb dieser Lagen finden wir in einer verschiedenen
grössere, unregelmässig eckige Zelle mit vier Kernen. d. eine ähnliche mit zwei Kernen und 9 von der Fläche aus gesehenen Gruben, den Randausbuchtungen entsprechend (vgl. Archiv f. path. Anat. u. Phys. Bd. III. Taf. I. Fig. 8.).
30Zweite Vorlesung.
Dicke und Mächtigkeit das sogenannte Rete Malpighii und auf dies folgend nach unten die Papillen der Haut. Unter - suchen wir nun die Grenze zwischen Epidermis und Rete, so ergibt sich fast bei allen Arten der Betrachtung, dass mit einer grossen Bestimmtheit und Plötzlichkeit an die innerste Lage der Epidermis sich Elemente anschliessen, die zunächst auch noch immer platt sind, aber doch schon eine grössere Dicke haben, und innerhalb deren man sehr deutlich Kerne erkennt. Diese ziemlich grossen Elemente stellen den Uebergang dar
Senkrechter Schnitt durch die Oberfläche der Haut von der Zehe, mit Essigsäure behandelt. P, P Spitzen durchschnittener Pa - pillen, in denen man je eine Gefässschlinge und daneben kleine spindel - förmige und an der Basis netzförmige Bindegewebselemente bemerkt; links eine Ausbiegung der Papille, entsprechend einem nicht mehr dar - gestellten, tiefer gelegenen Tastkörperchen. R, R das Rete Malpighii, zunächst an der Papille eine sehr dichte Lage kleiner cylinderförmiger Zellen (r, r), nach aussen immer grösser werdende polygonale Zellen. E Epidermis, aus platten, dichteren Zellenlagen bestehend. S, S ein durchtretender Schweisskanal. — Vergrösserung 300.
31Epidermis und Nagel.von den ältesten Schichten des Rete Malpighii zu den jüng - sten der Epidermis. Hier ist der Punkt, von wo aus sich die Epidermis regenerirt, welche ihrerseits eine träge Masse dar - stellt, die an der Oberfläche allmählig entfernt wird. Und hier ist im Allgemeinen auch die Grenze, wo die pathologi - schen Prozesse gewöhnlich einsetzen. Je weiter wir nach In - nen kommen, um so kleiner werden die Elemente; die letzten stehen gewöhnlich als kleine Cylinder auf der Ober - fläche der Papillen.
Im Allgemeinen ist das Verhältniss der einzelnen Theile an der ganzen Hautoberfläche überall dasselbe, so mannigfaltig auch im Detail die Besonderheiten sein können, welche die einzelnen Schichten in Beziehung auf Dicke, Lagerung, Festig - keit und Zusammenfügung darbieten. Ein Durchschnitt z. B. des Nagels, der seiner äusseren Erscheinung nach gewiss weit von der gewöhnlichen Oberhaut abweicht, zeigt doch im Gros - sen dasselbe Bild, und unterscheidet sich nur in einem Punkte wesentlich, nämlich dadurch, dass sich an ihm zwei verschie - dene epidermoidale Gebilde übereinanderschieben und eine Complication entsteht, die, wenn man sie nicht berücksichtigt, gewisse specifische Verschiedenheiten von andern Theilen der Epidermis darzustellen scheint, die aber doch auf ein eigen - thümliches Dislocationsverhältniss gewisser Partien sich zurück - führen lässt. Die äusserst dichten und festen Elemente, welche den oberen Theil, das sogenannte Nagelblatt, zusammen - setzen, lassen sich durch verschiedene Methoden ebenfalls wie - der in Formen zurückführen, in denen sie die gewöhnlichen Erscheinungen einer Zelle darbieten; am meisten sehen wir bei Behandlung mit einem Alkali, dass ein jedes Blättchen zu einer grossen, rundlich ovalen Zelle anschwillt.
In den obersten Schichten der Oberhaut werden die Zel - len überall platter, und später findet man gar keine Kerne mehr. Es besteht also kein ursprünglicher Unterschied zwi - schen der Epidermis und dem Rete Malpighii, sondern das letztere erscheint eben nur als die Bildungsstätte der Epidermis oder als die jüngste Epidermislage selbst, insofern nämlich von hier aus immer neue Theile sich ansetzen, sich abplatten, und in die Höhe rücken, in dem Maasse als aussen durch32Zweite Vorlesung.Friction der Oberfläche, durch Waschen, Reiben einzelne Theile verloren gehen. Zwischen der untersten Schicht des Rete und der Oberfläche der Cutis aber gibt es keine Zwischenlage mehr; es findet sich hier keine amorphe Flüssigkeit, kein Blastem, das in sich die Zellen bilden könnte, sondern die Zellen sitzen direct auf der Bindegewebspapille der Cutis auf. Es ist also hier nirgends ein Raum, wie man noch vor Kur - zem dachte, in welchem aus den Papillen und den in ihnen enthaltenen Gefässen Flüssigkeit transsudirte, aus der neue Elemente entständen und hervorwüchsen. Davon ist absolut nichts wahrnehmbar, sondern durch die ganze Reihe der Zel - lenlagen des Rete und der Epidermis besteht dasselbe Verhält - niss, wie man es an der Rinde eines Baumes kennt. Die Rindenschicht einer Kartoffel (Fig. 7) zeigt in gleicher Weise aussen korkhaltige epidermoidale Elemente und darunter eine Lage wie das Rete Malpighii, mit kernhaltigen Zellen, welche die Matrix des Nachwuchses für die Rinde darstellen.
Sehr ähnlich verhält es sich am Nagel. Betrachtet man den Durchschnitt von einem Nagel, quer auf die Längsrichtung des Fingers, so sieht man an sich dieselbe Bildung, wie an der gewöhnlichen Haut, nur entspricht die einzelne Ausbuchtung der unteren Fläche nicht einer zapfenförmigen Verlängerung der Cutis, einer Papille, sondern einer Leiste, welche über die ganze Länge des Nagelbettes hinläuft. Auf dieser sitzt das mehr cylindrisch gestaltete jüngste Lager des Rete Malpighii auf; dann schlies - sen sich immer grössere Elemente an, und endlich folgt die eigentlich feste Substanz, welche der Epidermis entspricht
Es ist nun, um dies gleich vorweg zu nehmen, da wir auf den Nagel nicht wieder zu sprechen kommen werden, seine Zu - sammensetzung in der Art schwierig zu ermitteln gewesen, als man ihn sich als einfaches Gebilde gedacht hat. Daher ha - ben sich die Discussionen hauptsächlich um die Frage gedreht, wo die Matrix des Nagels sei, ob er von der ganzen Fläche wachse oder von dem kleinen Falz, auf welchem er hinten aufsitzt. Wenn man den Nagel in seiner eigentlichen festen Masse betrachtet, das compacte Nagelblatt, so wächst dies nur von hinten her und schiebt sich über die Fläche des so - genannten Nagelbettes hinweg, aber das Nagelbett producirt33Der Nagel.auch seinerseits eine bestimmte Masse von Gewebs-Partikeln, die als Aequivalente einer Epidermis-Lage zu betrachten ist, Macht man einen Durchschnitt durch die Mitte eines Nagels, so kommt man zu äusserst auf die von hinten gewachsene Nagelschicht, dann auf die Substanz, welche von dem Nagel - bett abgesondert ist, dann auf das Rete Malpighii, und end - lich auf die Leisten, auf welchen der Nagel ruht.
Demnach liegt der Nagel bis zu einem gewissen Maasse locker, und er kann sich daher leicht vorwärts bewegen, in - dem er auf einer beweglichen Unterlage liegt; gehalten wird er durch die Leisten, womit das Nagelbett besetzt ist. Wenn man quer durch den Nagel einen Durchschnitt macht, so zeigt sich, dass. wie schon erwähnt, im Grunde dasselbe Bild her - auskommt, welches die Haut darbietet, nur dass jedesmal einer einzelnen Papille eine lange Leiste entspricht; der untere Theil
des Nagels hat entsprechend diesen Leisten leichte Ausbuchtungen, so dass er, indem er über die Leisten fortglei - tet, seitliche Bewegungen nur inner - halb gewisser Grenzen machen kann. Auf diese Weise bewegt sich das von hinten wachsende Nagelblatt über ein Polster von lockerer Epidermis-Masse, (Fig. 17a. ) in Rinnen, welche durch Leisten und Falten des Nagelbettes gegeben sind. Der obere Theil des Nagels, frisch untersucht, besteht aus einer so dichten Masse von Substanz, dass man einzelne Zellen daran kaum zu unterscheiden im Stande ist, und dass man an gewissen Punkten ein
Schematische Darstellung des Längsdurchschnittes vom Nagel. a das normale Verhältniss: leicht gekrümmtes, horizontales Na - gelblatt, in seinem Falze steckend und durch ein schwaches Polster von dem Nagelbette getrennt. b stärker gekrümmtes und etwas dickeres Nagelblatt mit stark verdicktem Polster und stärker gewölbtem Nagel - bette, der Falz kürzer und weiter. c Onychogryphosis: das kurze und dicke Nagelblatt steil aufgerichtet, der Falz kurz und weit, das Nagel - bett auf der Fläche eingebogen, das Polster sehr dick und aus über ein - ander geschichteten Lagen von lockeren Zellen bestehend.
334Zweite Vorlesung.Bild bekommt, wie an manchen Stellen im Knorpel. Aber durch die Behandlung mit Kali kann man sich überzeugen, dass die Masse aus lauter Epidermis-Zellen besteht. Aus dieser Art der Entwicklung werden Sie sehen, wie sich die Krank - heiten des Nagels in leicht fasslicher Weise scheiden lassen.
Wir haben Krankheiten des Nagelbettes, welche das Wachsthum des Nagelblattes nicht alteriren, aber Dislocationen desselben bedingen können. Wenn auf dem Nagelbette eine sehr reichliche Entwicklung statt findet, so kann das Nagel - blatt in die Höhe gehoben werden (Fig. 17 b.), ja es kommt zuweilen vor, dass das Nagelblatt, statt horizontal, senkrecht in die Höhe wächst, und der Raum unter ihm von dicken Anhäufungen der lockeren Polstermasse erfüllt wird (Fig 17 c.). So können Eiterungen auf dem Nagelbette statt finden, ohne dass die Entwicklung des Nagelblattes dadurch gehindert wird. Die sonderbarsten Veränderungen zeigen sich bei den Pocken. Wenn eine Blatter auf dem Nagelblatt sich bildet, so bekommt der Nagel nur eine gelbliche, etwas unebene Stelle; entwickelt sich dagegen die Pocke auf dem Nagelfalze, so sieht man auf dem Nagel das Bild der Pocke in einer kreis - förmig vertieften, wie ausgeschnittenen Stelle, in einen Beweis des Ausfalls von Elementen, grade wie auf der Epidermis. —
Ich will heute, meine Herren, in die besondere Ge - schichte der Epidermis - und Epithel-Bildung, obwohl sie eine grosse Wichtigkeit für die Auffassung vieler pathologischer Prozesse hat, nicht weiter eingehen, und nur hervorheben, dass unter besonderen Verhältnissen die epithelialen Ele - mente eine Reihe von Umwandlungen erfahren können, wo - durch sie ihrem ursprünglichen Habitus ausserordentlich un - ähnlich werden und allmählig Erscheinungsformen annehmen, die ohne die Kenntniss der Entwicklungsgeschichte es un - möglich machen, ihre ursprüngliche Epidermis-Natur zu ver - anschaulichen. Die am meisten abweichende Art findet sich an der Krystalllinse des Auges, welche ursprünglich eine reine Epidermis-Anhäufung ist. Sie entsteht bekanntlich dadurch, dass sich ein Theil der Haut von aussen sackförmig einstülpt. Anfangs bleibt durch eine leichte Membran die Verbindung mit den äusseren Theilen erhalten, durch die Mem -35Linse. Pigment. Drüsenzellen.brana capsulo-pupillaris, später atrophirt diese und lässt die abgeschlossene Linse im Innern des Auges liegen. Die Lin - senfasern sind also weiter nichts, wie schon C. Vogt zeigte, als epidermoidale Elemente mit eigenthümlicher Entwicklung, und die Regeneration derselben z B. nach Extraction der Cataract ist nur so lange möglich, als noch Epithel an der Capsel vorhanden ist, welches den Neubau übernimmt und gleichsam ein dünnes Lager von Rete Malpighii darstellt. Dies reproducirt in derselben Weise die Linse, wie das ge - wöhnliche Rete Malpighii der Oberfläche die Epidermis. — Unter den sonstigen Veränderungen epithelialer Gebilde wer - den wir noch gelegentlich auf die eigenthümlichen Pigment - Zellen zurückkommen, die an den verschiedensten Punkten aus der directen Umwandlung von Epidermis-Elementen her - vorgehen, indem sich der Inhalt entweder durch Imbibition färbt oder in sich durch eine (metabolische) Umsetzung des Inhalts Pigment erzeugt. —
An die Geschichte der eigentlichen Epithelial-Elemente schliesst sich unmittelbar an eine besondere Art von Bildun - gen, die bei dem Zustandekommen der Functionen des Thiers eine sehr bedeutende Rolle spielen, nämlich die Drüsen. Die eigentlich aktiven Elemente der Drüsen sind wesent - liche epitheliale. Es ist eins der grössesten Verdienste von Remak, gezeigt zu haben, dass in der normalen Entwicklung des Embryo von den bekannten drei Keimblättern das äussere und innere wesentlich epitheliale Gebilde hervorbringen, von denen durch allmählige Wucherung die Drüsen-Gestaltung aus - geht. Schon andere Forscher hatten ähnliche Beobachtungen gemacht, z. B. Kölliker, aber die allgemeine Doctrin wurde erst von Remak begründet, dass, wo sich Drüsen bilden, dies als ein directer Wucherungsprozess der Epithelial-Gebilde zu betrachten ist. Früher dachte man sich Cytoblastem-Haufen, in denen unabhängig Drüsenmasse entstände; allein mit Aus - nahme der Lymph - und Sexualdrüsen entstehen sämmtliche Drüsen in der Weise, dass an einem gewissen Punkt in ähn - licher Art, wie ich es Ihnen in der vorigen Vorlesung für den Auswuchs der Pflanzen gezeigt habe, eine epitheliale Zelle an - fängt sich zu theilen, sich wieder und wieder theilt, bis all -3*36Zweite Vorlesung.mählig ein kleiner Zapfen von zelligen Elementen nach innen wächst und, sich seitlich ausbreitend, die Entwicklung der Drüse hervorbringt, welche demnach sofort ein Continuum mit ursprünglich äusseren Lagen darstellt. So entstehen die Drü - sen der Oberfläche (die Schweiss - und Talgdrüsen der Haut, die Milchdrüse), so entstehen aber auch die inneren Drüsen des Digestionstractus (Magendrüsen, Leber). Die einfachsten Formen, welche an sich die Drüse darbieten kann, kommen überhaupt beim Menschen nicht vor. Man lernte in neuerer Zeit einzellige Drüsen bei niederen Thieren kennen. Die menschlichen Drüsen sind stets Summen von vielen Elementen, die man aber zuletzt eben auch auf ein ziemlich Einfaches re -
duciren kann. Dazu kommt, dass in unsern Drüsen bei der Grösse und Zusammensetzung derselben gewöhnlich noch an - dere nothwendige Bestandtheile in die Zusammensetzung ein - gehen, und dass die Drüse, als Organ betrachtet, allerdings nicht blos aus Drüsenzellen besteht. Aber darüber ist man ge - genwärtig ziemlich einig, dass das wesentliche Element die Drüsenzellen sind, ebenso wie bei den Muskeln das Muskel - primitivbündel, und dass die specifische Action der Drüse in
A. Entwicklung der Schweissdrüsen durch Wucherung der Zellen des Rete Malpighii nach innen. e Epidermis, r Rete Malpighii, g g solider Zapfen, der ersten Drüsenanlage entsprechend. Nach Köl - liker. B. Stück eines Schweissdrüsenkanals im entwickelten Zustande. t t Tunica pro pria. e e Epithellagen.
37Drüsen. Bindegewebe.der Natur und eigenthümlichen Einrichtung dieser Elemente begründet ist.
Im Allgemeinen bestehen also Drüsen aus Anhäufun - gen von Zellen, welche in der Regel offene Kanäle bilden. Wenn man von den Drüsen mit zweifelhafter Function (Schild - drüse, Nebennieren) absieht, so gibt es beim Menschen nur die Eierstöcke, welche eine Ausnahme machen, indem ihre Follikel nur zu Zeiten offen sind, aber auch sie müssen offen sein, wenn die specifische Secretion der Eier stattfinden soll. Bei den meisten Drüsen kommt freilich noch eine gewisse Menge transsudirter Flüssigkeit hinzu, doch diese Flüssigkeit stellt nur das Vehikel dar, welches die Elemente selbst oder ihre specifischen Produkte wegschwemmt. Gesetzt also, es löst sich z. B. in den Hodenkanälen eine Zelle ab, in welcher Samenfäden entstehen, so transsudirt zugleich eine gewisse Menge von Flüssigkeit, welche dieselben fortschiebt, aber das, was den Samen zum Samen macht und was das Specifische der Thätigkeit gibt, ist die Zellenfunction; die blosse Trans - sudation von Gefässen aus ist wohl ein Mittel zur Fortbewe - gung, gibt aber nicht die specifische Thätigkeit der Drüse, die eigentliche Secretion. Analog geht im Wesentlichen an allen Drüsen, an denen wir mit Bestimmtheit das Einzelne ihrer Thätigkeit übersehen können, die wesentliche Eigenthüm - lichkeit der Energie von der Entwicklung und Umgestaltung der epithelialen Elemente aus. —
Die zweite histologische Gruppe bilden die Gewebe der Bindesubstanz. Es ist dies der Punkt, der gerade für mich das meiste Interesse hat, weil von hier aus meine eige - nen Anschauungen zu dem Resultate gekommen sind, das ich im Eingange hervorhob. Die Aenderungen, welche es mir ge - lungen ist, in der histologischen Auffassung der ganzen Gruppe herbeizuführen, haben mir zugleich die Möglichkeit gegeben, die Cellulardoctrin zu einer gewissen Abrundung zu bringen.
Früher betrachtete man das Bindegewebe als wesentlich aus Fasern zusammengesetzt. Wenn man lockeres Bindege - webe an verschiedenen Regionen, z. B. der Unterhaut, der Pia mater, dem subserösen und submucösen Zellgewebe unter -38Zweite Vorlesung.
sucht, so findet man lockige Faserbündel, sogenanntes lockiges Bindegewebe. Diese lockige Beschaffenheit, die sich in ge - wissen Abständen wiederholt, so dass dadurch eine Art von Fascikeln entsteht, glaubte man um so bestimmter auf einzelne Fasern zurückführen zu können, als in der That an dem Ende eines jeden Bündels isolirte Fäden herausstehen. Trotzdem ist gerade auf diesen Punkt vor etwas länger als zehn Jahren ein Angriff gemacht worden, der in einer anderen, als der beabsichtigten Beziehung eine sehr grosse Bedeutung gehabt hat. Reichert suchte zu zeigen, dass diese Fasern nur der optische Ausdruck von Falten seien, und dass das Bindegewebe an allen Orten eine homogene Masse bilde, mit grosser Nei - gung zur Faltenbildung versehen.
Schwann hatte für die Bildung des Bindegewebes an - genommen, dass ursprünglich zellige Elemente von spindelför - miger Gestalt vorhanden wären, die nachher so berühmt ge - wordenen geschwänzten Körperchen (fibroplastischen Kör - per Lebert’s) und dass aus solchen Zellen unmittelbar Fascikel von Bindegewebe in der Weise hervorgingen, dass der Körper
A. Bündel von gewöhnlichem lockigem Bindegewebe (In - tercellularsubstanz), am Ende in feine Fibrillen zersplitternd. B. Schema der Bindegewebs-Entwicklung nach Schwann. a Spin - delzelle (geschwänztes Körperchen, fibroplastisches Körperchen Lebert) mit Kern und Kernkörperchen. b Zerklüftung des Zellkörpers in Fibrillen. C. Schema der Bindegewebs-Entwicklung nach Henle. a Hyaline Grundsubstanz (Blastem) mit regelmässig eingestreuten, nucleolirten Ker - nen. b Zerfaserung des Blastems (directe Fibrillenbildung) und Umwand - tung der Kerne in Kernfasern.
39Theorie des Bindegewebes.der Zelle in einzelne Fibrillen sich zerspalte, während der Kern als solcher liegen bliebe (Fig. 19 B.). Henle dagegen glaubte aus der Entwicklung schliessen zu müssen, dass ur - sprünglich gar keine Zellen vorhanden seien, sondern in dem Blastem nur Kerne in gewissen Abständen vertheilt seien; die späteren Fasern sollten durch eine directe Zerklüftung des Cytoblastems entstehen. Während so die Zwischenmasse sich differenzire in Fasern, sollten die Kerne sich allmählig ver - längern und endlich aneinanderstossen, so dass daraus eigen - thümliche Längsfasern entständen, Kernfasern (Fig. 19 C.). Reichert hat gegenüber diesen Ansichten einen ausserordent - lich wichtigen Schritt gethan. Er bewies nämlich, dass aller - dings ursprünglich Zellen in grosser Masse vorhanden sind, zwischen welchen Intercellularmasse abgelagert werde. Zu einer gewissen Zeit verschmölze aber die Membran der Zelle mit dem Intercellular-Gewebe, und es komme nun ein Stadium, dem von Henle beschriebenen analog, wo keine Grenze zwi - schen der alten Zelle und der Zwischenmasse mehr existire. Endlich sollten auch die Kerne in einigen Formen gänzlich verschwinden, in andern sich erhalten. Dagegen läugnete Reichert entschieden, dass die spindelförmigen Elemente von Schwann vorkommen. Alle spindelförmigen, geschwänzten oder gezackten Elemente wären eben so sehr Kunstprodukte, wie die Fasern, welche man in der Zwischenmasse sähe, eine falsche Deutung des optischen Bildes.
Meine Untersuchungen haben nun gelehrt, dass sowohl die Schwannsche, als die Reichertsche Beobachtung bis zu einem gewissen Grade auf richtigen Anschauungen beruht. Erstlich gegen Reichert, dass in der That spindelförmige und sternförmige Elemente mit vollkommener Sicherheit existi - ren (Fig. 20), dann aber gegen Schwann und mit Reichert, dass eine direkte Zerklüftung der Zellen zu Fasern nicht ge - schieht, dass vielmehr dasjenige, was wir nachher als Binde - gewebe vor uns sehen, in der That der alten, mehr oder weniger gleichmässigen Intercellularsubstanz entspricht. Ich fand fer - ner, dass Reichert sowohl als Henle und Schwann darin Unrecht hatten, wenn sie zuletzt im besten Falle Kerne oder Kernfasern übrig liessen; dass vielmehr in den meisten Fällen40Zweite Vorlesung.
auch die Zellen selbst sich erhalten. Das Bindegewebe der späteren Zeit unterscheidet sich also der allgemeinen Structur und Anlage nach in gar nichts von dem Bindegewebe der früheren Zeit. Es gibt nicht ein embryonales Bindegewebe mit Spindeln und ein ausgebildetes ohne diese, sondern die Elemente bleiben dieselben, wenngleich sie oft nicht leicht zu sehen sind.
Bindegewebe vom Schweinsembryo nach längerem Kochen. Grosse, zum Theil isolirte, zum Theil noch in der Grundsubstanz einge - schlossene und anastomosirende Spindelzellen (Bindegewebskörperchen). Grosse Kerne mit abgelöster Membran; zum Theil geschrumpfter Zellen - inhalt. Vergr. 350.
Schema der Bindegewebs-Entwicklung nach meinen Unter -
Im Wesentlichen reducirt sich diese ganze Reihe niederer Gewebe daher auf ein einfaches Schema. In der Regel besteht der grösste Theil des Gewebes aus Intercellularsubstanz, in welche in gewissen Abständen Zellen eingebettet sind, welche ihrerseits die mannigfachsten Formen haben. Aber die Ge - webe lassen sich nicht darnach unterscheiden, dass das eine nur runde, das andere dagegen geschwänzte oder sternförmige Zellen enthält, sondern in allen Geweben der Bindesubstanz kön - nen runde, lange, eckige Elemente vorkommen. Der einfachste Fall ist der, dass runde Zellen in gewissen Abständen liegen und dazwischen Intercellularsubstanz eintritt. Das ist dieje - nige Form, welche wir am schönsten in den hyalinen Knor - peln finden, z. B. in den Gelenküberzügen, wo die Zwischen - masse vollkommen homogen ist und wir nichts sehen, als eine hier und da vielleicht gekörnte, im Ganzen jedoch völlig wasserklare Substanz, so dass, wenn man nicht die Grenze
des Objectes sieht, man in Zweifel sein kann, ob über - haupt etwas zwischen den Zel - len vorhanden ist.
Diese Substanz charakteri - sirt den hyalinen Knorpel. Nun sehen wir, dass unter ge - wissen Verhältnissen die run - den Elemente sich auch schon im Knorpel in längliche, spin - delförmige umwandeln, z. B.
suchungen. A. Jüngstes Stadium. Hyaline Grundsubstanz (Intercellular - substanz) mit grösseren Zellen (Bindegewebskörperchen); letztere in re - gelmässigen Abständen, reihenweise gestellt, Anfangs getrennt, spindel - förmig und einfach, späterhin anastomosirend und verästelt. B. Ael - teres Stadium: bei a streifig gewordene (fibrilläre) Grundsubstanz, durch die reihenweise Einlagerung von Zellen fasciculär erscheinend; die Zel - len schmaler und feiner werdend; bei b nach Einwirkung von Essigsäure ist die streifige Beschaffenheit der Grundsubstanz wieder verschwunden und man sieht die noch kernhaltigen, feinen und langen anastomosirenden Faserzellen (Bindegewebskörperchen).
Senkrechter Durchschnitt durch den wachsenden Knorpel der Patella. a die Gelenkfläche mit parallel gelagerten Spindelzellen (Knorpelkörperchen). b Beginnende Wucherung der Zellen. c Vorge - schrittene Wucherung: grosse, rundliche Gruppen, innerhalb der ausge - dehnten Capseln immer zahlreichere runde Zellen. — Vergrösserung 50.
42Zweite Vorlesung.ganz regelmässig um die Gelenkflächen her. Je näher man bei der Durchforschung des Gelenkknorpels der freien Oberfläche kommt, (Fig. 22 a) um so kleiner werden die Zellen, und zuletzt sieht man nichts weiter, als kleine, flach, linsenförmige Körper, zwischen denen zuweilen ein leicht streifiges Aussehen der Zwischensubstanz erscheint. Hier tritt also, ohne dass das Gewebe aufhört, Knorpel zu sein, ein Typus auf, den wir viel regelmässiger in Bindegewebsformationen antreffen, und es kann leicht daraus die Vorstellung erwachsen, als sei der Gelenk - knorpel noch mit einer besonderen Membran überzogen. Dies ist jedoch nicht der Fall, es legt sich keine Synovialhaut über den Knorpel; die Grenze gegen das Gelenk hin ist überall vom Knorpel selbst gebildet. Die Synovialhaut fängt erst da an, wo der Knorpel aufhört, am Knochenrande. Andererseits sehen wir, dass an gewissen Stellen der Knorpel direct übergeht in Formen, wo die Zellen sternförmig werden, und wo die end - liche Anastomose der Elemente sich vorbereitet; endlich trifft man Stellen, wo man nicht mehr sagen kann, wo das eine Element aufhört und das andere anfängt: die Elemente hän - gen direct mit einander zusammen, ohne dass eine Scheidungs - linie der Membranen zu erkennen wäre. Wenn ein solcher Fall eintritt, so wird der bis dahin gleichmässige hyaline Knor - pel ungleichmässig, streifig, und man hat ihn schon seit lan - ger Zeit Faserknorpel genannt.
Von diesen Formen unterscheidet man eine dritte Form, den sogenannten Netzknorpel, so an Ohr und Nase, wo die Elemente rund sind, aber eine eigenthümliche Art von dicken, steifen Fasern um sie herum liegt, deren Entstehung noch nicht ganz erforscht ist, die aber vielleicht durch Metamorphose der Intercellularsubstanz entstehen.
Mit diesen verschiedenen Typen, welche der Knorpel in seinen verschiedenen Localitäten darbietet, sind alle die Ver - schiedenheiten gegeben, welche die übrigen Gewebe der Binde - substanz darbieten. Es gibt auch wahres Bindegewebe mit runden, mit langen und sternförmigen Zellen. Ebenso haben wir z. B. innerhalb des eigenthümlichen Gewebes, welches ich Schleimgewebe genannt habe, runde Zellen in einer hyali - nen, oder spindelförmige in einer streifigen, oder netzförmige43Schleim - und Fettgewebe. Saftkanäle.in einer maschigen Grundsubstanz. Das einzige Kriterium für die Scheidung beruht auf der Bestimmung der chemischen Qualität der Intercellularsubstanz. Bindegewebe wird ein Ge - webe genannt, dessen Grundsubstanz beim Kochen Leim gibt; Knorpel gibt aus seiner Zwischenmasse Chondrin, Schleimge - webe beim Ausdrücken einen durch Essigsäure fällbaren und im Ueberschuss sich nicht lösenden, dagegen in Salzsäure lös - lichen Stoff, das Mucin.
Ausserdem können sich einzelne Verschiedenheiten später - hin einstellen in Beziehung auf besondere Gestaltung und In - haltsmasse, welche die einzelnen Zellen annehmen. Was wir kurz Fett nennen, ist ein Gewebe, welches sich hier unmittel - bar anschliesst und welches sich von den übrigen dadurch unterscheidet, dass einzelne Zellen sich vergrössern und mit Fett vollstopfen, wobei der Kern zur Seite gedrängt wird. An sich ist die Structur des Fettgewebes aber dieselbe wie die des Bindegewebes, und unter Umständen kann das Fett so vollständig schwinden, dass das Fettgewebe wieder auf ein - faches gallertiges Bindegewebe reducirt wird.
Unter diesen Geweben der Bindesubstanz sind nun im Allgemeinen diejenigen für unsere gegenwärtige pathologische Anschauung die wichtigsten, in welchen eine netzförmige An - ordnung der Elemente besteht, oder anders ausgedrückt, in welchen die Elemente untereinander anastomosiren. Ueberall nämlich, wo solche Anastomosen Statt finden, wo ein Ele - ment mit dem andern zusammenhängt, da lässt sich mit einer gewissen Sicherheit darthun, dass diese Anastomosen eine Art von Röhrensystem darstellen, ein Kanalsystem, welches den grossen Kanalsystemen des Körpers angereiht werden muss, welches namentlich neben den Blut - und Lymphkanälen als eine neue Erwerbung unserer Anschauungen betrachtet wer - den muss, als eine Art von Ergänzung für die alten Vasa se - rosa, die nicht existiren. Diese Form ist möglich im Knorpel, Bindegewebe, Knochen, Schleimgewebe an den verschie - densten Theilen, aber jedesmal unterscheiden sich die Gewebe, welche solche Anastomosen besitzen, von denen mit isolirten Elementen durch ihre grössere Fähigkeit, Prozesse zu leiten.
Die höheren Thiergewebe: Muskeln, Nerven, Gefässe, Blut. Muskeln. Quergestreifte und glatte. Muskelatrophie. Die contractile Substanz und die Contractilität überhaupt. Cutis auserina und Arrectores pili. Gefässe. Capillaren. Contractile Gefässe. Nerven. — Die pathologischen Gewebe (Neoplasmen) und ihre Classification. Bedeutung der Vasen - larisation. Die Doctrin von den specifischen Elementen. Die physiogischen Vorbilder (Reproduction). Heterologie (Heterotople, Heterochronie, Heterometrie) und Malignität. Hypertrophie und Hyperplasie. Degeneration. Prognostische Gesichtspunkte. Das Continuitätsgesetz. Die histologische Substitution und die histologischen Aequivalente. Physiologische und pathologische Substitution.
Ich hatte Ihnen in der letzten Stunde die beiden ersten Grup - pen von Geweben geschildert, die des Epithels oder der Epi - dermis und die der Bindesubstanz. Das, was nun noch übrig bleibt, bildet eine in sich ziemlich verschiedenartige Gruppe, deren einzelne Glieder freilich nicht in der Weise, wie dies beim Epithel und dem Bindegewebe der Fall ist, eine wirkliche Verwandtschaft unter einander haben, jedoch im Grossen eine gewisse Uebereinstimmung zeigen, indem sie die höheren ani - malischen Gebilde darstellen und durch die specifische Art ihrer Entwicklung von dem mehr indifferenten Epithelial - und Bindegewebe sich unterscheiden. Ueberdiess erscheinen die meisten von ihnen in der Form von zusammenhängenden, mehr oder weniger röhrenartigen Gebilden. Wenn man die Muskeln, die Nerven und die Gefässe mit einander vergleicht, so kann man sehr leicht zu der Vorstellung kommen, als handele es sich bei allen drei Gebilden um wirkliche Röhren, welche mit einem45Die höheren thierischen Gewebe.bald mehr, bald weniger beweglichen Inhalt gefüllt seien; allein diese Vorstellung, so bequem sie für eine oberflächliche An - schauung ist, genügt deshalb nicht, weil wir den Inhalt der Röhren nicht einfach gleich setzen können.
Das Blut, welches in den Gefässen enthalten ist, lässt sich vor der Hand wenigstens nicht als ein Analogon des Axen - cylinders oder des Markes einer Nervenröhre oder der con - tractilen Substanz eines Muskelprimitivbündels betrachten. Freilich muss ich hier bemerken, dass gerade die Entwicklung aller Gebilde, welche in dieser Gruppe zusammengefasst wer - den können, immer noch ein Gegenstand grosser Differenzen ist, und dass die Ansicht über den elementaren Ausgangspunkt der meisten dieser Elemente keinesweges gesichert ist. So viel scheint indess sicher zu sein, dass wenn wir die fötalen Theile ins Auge fassen, die Blutkörperchen ebenso gut Zellen sind, wie die einzelnen Theile der Gefässwand, innerhalb deren das Blut strömt, und dass man das Gefäss nicht als eine Röhre bezeichnen kann, welche die Blutkörperchen umfasst, wie die Zellenmembran ihren Inhalt. Deshalb ist es nothwen - dig, dass man bei den Gefässen den Inhalt von der eigent - lichen Wand scheidet und die Aehnlichkeit der Gefässe mit den Nerven und Muskelfasern zurückweist. Wollte man nun die Ausgangspunkte der einzelnen Gewebe als Maassstab der Classification annehmen, so würde man nach den gegenwär - tigen Anschauungen zum Blute auch die Lymphdrüsen hinzu - zunehmen haben, und man könnte eher an ein Verhältniss erinnert werden, wie wir es bei den Epithelialformationen ange - troffen haben. Allein ich muss hier nochmals hervorheben, dass die Lymphdrüsen sich von den eigentlichen Drüsen nicht allein dadurch unterscheiden, dass sie keinen Ausführungsgang im gewöhnlichen Sinne des Wortes besitzen, sondern dass sie auch ihrer Entwicklung nach keineswegs auf einer Höhe mit den gewöhnlichen Drüsen stehen, vielmehr in ihrer ganzen Ge - schichte sich anschliessen an die Gewebe der Bindesubstanz, und dass man daher eher versucht sein kann, sie mit zu den Geweben zu rechnen, welche als Producte der Umwandlung der Bindesubstanz erscheinen. Doch würde dies im gegen -46Dritte Vorlesung.wärtigen Augenblicke noch ein etwas gewagtes Unternehmen sein.
Unter allen Formen, um die es sich hier handelt, hat man gewöhnlich die muskulösen Elemente als die einfachsten betrachtet. Untersucht man einen gewöhnlichen rothen Muskel (ich sage nicht, einen willkürlichen, da auch das Herz dieselbe Structur hat), so findet man ihn wesentlich zusammengesetzt aus einer Menge von meistentheils gleich dicken Cylindern (den Primitivbündeln), die auf einem Querschnitt sich als runde Bildungen darstellen und an denen man zunächst die bekann - ten Querstreifen wahrnimmt, das heisst breite Linien, welche sich gewöhnlich etwas zackig über die Oberfläche des Bün - dels erstrecken, und welche nahezu so breit sind, wie die Zwischenräume, welche sie trennen.
Neben dieser Querstreifung sieht man, namentlich nach ge - wissen Präparations-Methoden, eine der Länge nach verlaufende Streifung, die sogar in manchen Präparaten überwiegend wird, so dass das Muskel-Bündel fast nur längsgestreift erscheint. Wendet man nun Essigsäure an, so zei - gen sich alsbald an der Wand, hier und da auch mehr gegen die Mitte hin Kerne, die ziemlich gross sind, meistens grosse Kern - körperchen enthalten, bald in grösserer bald in kleinerer Zahl. Auf diese Weise gewinnen wir also, nachdem wir durch die Einwirkung der Essigsäure die innere Substanz geklärt haben, wieder ein Bild, welches an die alten Zellenformen erinnert;
Eine Gruppe von Muskelprimitivbündeln. a.Die natürliche Erscheinung eines frischen Primitivbündels mit seinen Querstreifen (Bän - dern oder Scheiben). b. Ein Bündel nach leichter Einwirkung von Essig - säure; die Kerne treten deutlich hervor und man sieht in dem einen zwei Kernkörperchen, den anderen völlig getheilt. c. Stärkere Einwir - kung der Essigsäure; der Inhalt quillt am Ende aus der Scheide (Sar - colem) hervor. d. Fettige Atrophie. Vergrösser. 300.
47Quergestreifte Muskeln.und man ist um so mehr geneigt gewesen, das ganze Primi - tivbündel als aus einer einzigen Zelle hervorgegangen anzu - sehen, als nach der Ansicht, welche man früher hatte, innerhalb eines jeden Muskels die einzelnen Primitivbündel von der einen Insertionsstelle bis zur anderen reichen sollten, diese also so lang gedacht wurden, als der Muskel selbst. Letztere An - nahme ist aber durch Untersuchungen, welche unter Brücke’s Leitung in Wien durch Rollet angestellt wurden, erschüttert worden, indem dieser nachwies, dass im Verlaufe der Mus - keln sich Enden der Primitivbündel mit zulaufenden Spitzen finden, so dass das Muskelprimitivbündel sich verhalten würde, wie eine grosse Faserzelle. Diese Enden würden sich in ein - ander schieben, und es würde demnach keineswegs die Länge eines Primitiv-Bündels der ganzen Ausdehnung des Muskels entsprechen.
Auf der anderen Seite muss ich hervorheben, dass gerade in der letzten Zeit von verschiedenen Seiten Beobachtungen ge - macht worden sind, welche eher geeignet sind, die einzellige Natur dieser Elemente in Zweifel zu ziehen. Leydig betrach - tet sie als vielmehr zusammengesetzt aus einer Reihe von zel -
ligen Elementen kleinerer Art, indem jeder Kern in einer be - sonderen langgestreckten Lücke eingeschlossen sei, zwischen denen sich die contractile Sub - stanz des Bündels befinden würde. Es handelt sich, so bald diese letzte Zusammen -
Muskelelemente aus dem Herzfleische einer Puerpera. A. Eigenthümliche, den Faserzellen der Milzpulpe ganz ähnliche Spindel - zellen, wahrscheinlich dem Sarcolemma angehörig, bei dem Zerzupfen des Präparates frei geworden. a. halbmondförmig gekrümmte, an einem Ende etwas platte Zelle, von der Fläche gesehen. b. eine ähnliche, von der Seite gesehen, der Kern platt. c. d. Zellen, deren Kerne in einer herniö - sen Ausbuchtung der Membran liegen; e. eine ähnliche Zelle, von der Fläche gesehen, der Kern wie aufgelagert. B. Ein Primitivbündel ohne Hülle (Sarcolemma) mit deutlichen Längsfibrillen und grossen rundlichen Kernen, von denen einer zwei Kernkörperchen enthält (beginnende Theilung). C. Ein Primitivbündel, zerzupft und leicht durch Essigsäure gelichtet; ausser einem getheilten Kerne sieht man zwischen den Längsfibrillen feine pfriemenförmige, kernartige Körper eingelagert. — Vergrösserung 300.
48Dritte Vorlesung.setzung discutirt wird, um äusserst schwierige Verhält - nisse, und ich für meine Person muss bekennen, dass, so sehr ich geneigt bin, die eigentlich einzellige Natur dieser Elemente zuzugeben, ich doch die sonderbaren Erscheinun - gen im Innern der Primitivbündel zu gut kenne, als dass ich nicht zugestehen müsste, dass eine andere Ansicht statuirt werden könne. Vor der Hand wird man aber das festhalten müssen, dass wir es mit einem Gebilde zu thun haben, an welchem eine membranöse äussere Hülle und ein Inhalt zu unterscheiden ist. An letzterem lässt Essigsäure Kerne hervortreten, und an ihm kann man im natürlichen Zustande die eigenthümliche Quer - und Längs - streifung erkennen. In Beziehung auf letztere Erscheinun - gen ist noch zu bemerken, dass die Querstreifung durch - aus eine innere und nicht eine äussere ist. Die Mem - bran ist an sich vollkommen glatt und eben; die Querstrei - fung dem Inhalt angehört, welcher im Grossen als rothe Masse hervortritt.
Diese innere Masse ist es nun, an der unzweifelhaft die Eigenschaft der Contractilität haftet, und die je nach dem Zustande der Contractilität selbst in ihren Erscheinungen variirt, indem sie während der Contraction breiter wird, wäh - rend die Zwischenräume zwischen den einzelnen Querbändern etwas schmäler werden, so dass also eine Umordnung der kleinsten Bestandtheile Statt findet, und zwar, wie es nach den Untersuchungen von Brücke wahrscheinlich ist, nicht der physikalischen Molecüle, sondern der noch sichtbaren anato - mischen Bestandtheile. Brücke hat nämlich, indem er den Muskel im polarisirten Lichte untersuchte, verschiedene optische Ei - genschaften der einzelnen Substanzlagen gefunden, derer, welche die Querstreifen und derer, welche die Zwischen - masse darstellen. Bei gewissen Methoden der Präparation er - scheint jedes Muskel-Primitivbündel aus Platten oder Scheiben von verschiedener Natur (Bowman’s sarcous elements) zusam - mengeschichtet, diese ihrerseits aber wieder aus lauter kleinen Körnchen zusammengesetzt In Wirklichkeit besteht jedoch der Inhalt des Primitivbündels aus einer gewissen Menge feiner Längsfibrillen, von denen jede, entsprechend der Lage49Glatte Muskelfasern.der Querstreifen oder scheinbaren Scheiben des Primitivbün - dels, kleine Körner enthält, welche durch eine blasse Zwi - schenmasse zusammengehalten werden. Indem nun viele Primitivfibrillen zusammenliegen, so entsteht durch die sym - metrische Lage der kleinen Körnchen eben der Anschein von Scheiben, die eigentlich nicht vorhanden sind. Je nach der Thätigkeit des Muskels nehmen diese Theile eine ver - änderte Stellung zu einander ein: bei der Contraction nä - hern sich die Körner einander, während die Zwischensub - stanz kürzer und zugleich breiter wird.
Verhältnissmässig sehr viel einfacher erscheint die Zu - sammensetzung der glatten, organischen oder, obgleich weniger bezeichnend, unwillkürlichen Muskelfasern. Wenn man einen Theil derjenigen Organe, worin glatte Mus - kelfasern enthalten sind, untersucht, so findet man in der Mehrzahl der Fälle zunächst in ähnlicher Weise, wie bei den quergestreiften Muskeln, kleine Fascikel z. B. in der Muskelhaut der Harnblase. Innerhalb dieser Fascikel unterscheidet man bei
weiterer Untersuchung eine Reihe von einzelnen Ele - menten, von denen eine gewisse Zahl, 6, 10, 20 und mehr durch eine gemein schaftliche Binde-Masse zu - sammengehalten wird. Nach der Vorstellung, welche bis in die letzten Tage allgemein gültig war, würde jedes ein - zelne dieser Elemente ein Analogon des Primitivbün - dels der quergestreiften
Glatte Muskeln aus der Wand der Harnblase. A. Zusam - menhängendes Bündel, aus dem bei a, a einzelne, isolirte Faserzellen hervortreten, während bei b die einfachen Durchschnitte derselben erschei - nen. B. ein solches Bündel nach Behandlung mit Essigsäure, wo die langen und schmalen Kerne deutlich werden; a und b, wie oben. — Vergrösserung 300.
450Dritte Vorlesung.Muskeln darstellen. Denn sobald es gelingt, diese Fascikel in ihre feineren Bestandtheile zu zerlegen, so bekommt man als letzte Elemente lange spindelförmige Zellen, die in der Regel in der Mitte einen Kern besitzen (Fig. 5. b). Nach derjenigen Anschauung dagegen, die in den letzten Tagen von verschiedenen Seiten anfängt bewegt zu werden, namentlich angeregt durch Leydig’s Untersuchungen, würde man vielmehr ein Fascikel, worin eine ganze Reihe von Faserzellen ent - halten ist, als Analogon eines quergestreiften Primitivbündels betrachten müssen. Bevor in diesem Punkte eine Erledi - gung gefunden ist, halte ich es jedoch für zweckmässig und den bekannten Thatsachen am meisten entsprechend, die einzelne Faser-Zelle als Aequivalent des Primitivbündels zu betrachten. Sollten sich jedoch in kurzer Zeit die An - schauungen ändern, so werden Sie darauf vorbereitet sein.
An einer solchen spindelförmigen oder Faser-Zelle ist es schwer, etwas Besonderes zu unterscheiden. Bei recht grossen Zellen dieser Art und bei starker Vergrösserung unter - scheidet man allerdings häufig eine feine Längsstreifung (Fig. 5. b.), so dass es aussieht, als ob auch hier im Innern eine Art von Fibrillen der Länge nach angeordnet wäre, wäh - rend von einer Querstreifung für gewöhnlich nichts wahrzuneh - men ist. Es haben aber die blassen, glatten Muskeln chemisch eine ziemlich grosse Uebereinstimmung mit den querge - streiften, indem man eine ähnliche Substanz (das sogenannte Syntonin Lehmann’s) aus beiden ausziehen kann durch verdünnte Salzsäure, und indem gerade einer der am meisten charakteristischen Bestandtheile, das Kreatin, welches in dem Muskelfleisch der rothen Theile gefunden wird, nach der Un - tersuchung von G. Siegmund auch in den glatten Muskeln des Uterus vorkommt.
Eines der Ihnen vorgelegten Objecte vom rothen Muskel zeigt eine auch pathologisch interessante Stelle; es findet sich unter den Bündeln nämlich eines, welches den Zustand der sogenannten progressiven (fettigen) Atrophie darbietet. Das degenerirte Bündel ist kleiner und schmäler, und zu - gleich zeigen sich zwischen den Längsfibrillen kleine Fett - körnchen aufgereiht. (Fig. 23. d) Was an den Muskeln die51Die Contractilität.Atrophie überhaupt macht, ist die Verkleinerung des Durch - messers der Primitivbündel; bei der fettigen Atrophie kommt dazu die gröbere Veränderung, dass im Innern des Primitiv - bündels kleine Reihen von Fettkörnchen auftreten, unter deren Entwicklung die eigentliche contractile Substanz an Masse abnimmt. Je mehr Fett, desto weniger contractile Substanz, oder mit anderen Worten: der Muskel wird weniger leistungs - fähig, je geringer der normale Inhalt seiner Primitivbündel wird. Auch die pathologische Erfahrung bezeichnet daher als die Trägerin der Contractilität eine bestimmte Substanz, deren Vorkommen, wie namentlich die wichtigen Untersuchungen von Kölliker gelehrt haben, an bestimmte Gewebselemente gebun - den ist. Während man früher neben der Muskelsubstanz noch manche andere Dinge, z. B. Bindegewebe als contractil annahm, so hat sich neuerlich die ganze Lehre von der Contractilität eigent - lich auf jene Substanz zurückgezogen, und es ist gelungen, fast alle die sonderbaren Phänomene der Bewegung auf die Existenz von minutiösen Theilen wirklich muskulöser Natur zurückzufüh - ren. So liegen in der Haut des Menschen kleine Muskeln, unge - fähr so gross wie die kleinsten Fascikel von der Harnblasen - wand, aus ganz kleinen Faserzellen bestehende Bündel, welche vom Grunde der Haarfollikel gegen die Haut verlaufen, und welche, wenn sie sich zusammenziehen, die Oberfläche der Haut gegen die Wurzel des Haarbalges nähern. Das Resultat davon ist natürlich, dass die Haut uneben wird und man, wie man sagt, eine Gänsehaut bekommt. Dies sonderbare Phä - nomen, welches nach den früheren Anschauungen unerklär - lich war, ist einfach erklärt durch den Nachweis dieser rein mikroskopischen Muskeln, der Arrectores pili.
So wissen wir gegenwärtig, dass der grösste Theil der Gefässmuskeln aus Elementen dieser Art besteht, und dass die Contractionsphänomene der Gefässe einzig und allein auf die Wirkung von Muskeln zurückbezogen werden müssen, welche in ihnen in Form von Ring - oder Längsmuskeln enthal - ten sind. Eine kleine Vene oder eine kleine Arterie kann sich nur soweit zusammenziehen, als sie mit Muskeln versehen ist, und sie unterscheiden sich nur durch den4*52Dritte Vorlesung.Umstand, dass entweder mehr die Längs - oder mehr die Quer - muskulatur entwickelt ist.
Ich habe Sie deshalb hierauf aufmerksam gemacht, weil Sie daraus ersehen können, wie eine einfache anatomische Ent - deckung die wichtigsten Aufschlüsse zum Theil ganz weit aus - einanderliegender physiologischer Erfahrungen gibt, und wie an den Nachweis bestimmter morphologischer Elemente sofort die wichtigsten Verdeutlichungen von Functionen geknüpft werden können, die ohne solche Voraussetzung ganz unbe - greiflich sein würden. —
Ich übergehe es hier, über die feineren Einrichtungen des Nervenapparates zu sprechen, weil ich später im Zusammen - hange darauf zurückkommen werde; dies würde sonst der Gegenstand sein, welcher hier zunächst anzuschliessen wäre, weil zwischen Muskel - und Nervenfasern in der Einrichtung vielfache Aehnlichkeiten bestehen. Allein bei den Nerven treten die Ganglienzellen hinzu, welche die einzelnen Fasern untereinander verbinden, und welche als die wichtigsten Sammel - punkte des ganzen Nervenlebens betrachtet werden müssen.
Auch über die Einrichtung des Gefässapparates will ich hier nicht im Zusammenhange handeln und nur so viel sagen, als nöthig, um eine vorläufige Anschauung zu geben.
Das Capillar-Gefäss ist eine einfache Röhre (Fig. 3 c.) an der wir mit unseren Hülfsmitteln bis jetzt nur eine ein - fache Haut wahrnehmen, welche von Strecke zu Strecke mit platten Kernen besetzt ist, welche, wenn sie auf der Fläche des Gefässes gesehen werden, dieselbe Erscheinung darbieten, wie bei den Muskelelementen, welche aber gewöhnlich mehr am Rande liegen und daher häufig pfriemenförmig erscheinen, indem man nur ihre scharfe Kante wahrnimmt. Diese ein - fachste Form der Gefässe ist es, welche wir heut zu Tage einzig und allein Capillaren nennen, und von denen wir nicht sagen können, dass sie sich durch eigene Thätigkeit erweitern oder verengern, höchstens dass ihre Elasticität eine gewisse Verengung möglich macht. Nirgends handelt es sich bei ihnen um eigentliche Vorgänge der Contraction oder des Nachlasses derselben. Die früheren Discussionen über die Contractilität der Capillaren sind wesentlich auf kleine Arterien und Venen53Gefässe.
zu beziehen, deren Lumen sich durch Contraction ihrer Muskelwand verengt oder sich bei Nachlass der Con - traction unter dem Blutdrucke erweitert. Es ist dies eine erste und wichtige That - sache, welche aus der ge - naueren histologischen Kennt - niss der feineren und grösse - ren Gefässe hervorgeht, und welche lehrt, dass man nicht von allgemeinen Eigenschat - ten der Gefässe sprechen kann, insofern der capillare Theil wesentlich anders ge - baut ist, als die kleinen Ar - terien und Venen. Diese sind schon zusammengesetzte, organartige Gebilde, während das Capillargefäss ein mehr einfaches histologisches Element dar - stellt. —
Nachdem wir, meine Herren, die allgemeinste Uebersicht der physiologischen Gewebe ins Auge gefasst haben, so würde nun die Frage entstehen, wie sich die pathologischen dagegen verhalten. Wenn man von pathologischen Geweben spricht, so kann man natürlich damit zunächst nur die pathologisch neu entstandenen meinen, nicht die durch irgend eine Abweichung der Ernährungsprocesse einfach veränderten physiologischen Theile.
Kleine Arterie aus der Basis des Grosshirnes nach Behand - lung mit Essigsäure. A kleiner Stamm, B u. C. gröbere Aeste, D u. E feinste Aeste (capillare Arterie). a, a Adventitia mit Kernen, welche der Längenausdehnung entsprechend, anfangs in doppelter, später in einfacher Lage sich finden, mit streifiger Grundsubstanz, bei D u. E einfache Lage mit Längskernen, hier und da durch Fettkörnchenhaufen ersetzt (fettige Degeneration). b, b Media (Ringfaser - oder Muskelhaut) mit langen, walzenförmigen Kernen, welche quer um das Gefäss verlaufen und am Rande (auf dem scheinbaren Querschnitt) als runde Körper erscheinen; bei D u. E immer seltener werdende Querkerne der Media. c, c Intima, bei D u. E. mit Längskernen. — Vergrösserung 300.
54Dritte Vorlesung.Es handelt sich dabei um eigentliche Neoplasmen, um das, was im Laufe pathologischer Processe an neuen Geweben zu - wächst, und es fragt sich: lässt sich das, was wir physiolo - gisch als allgemeine Typen der Gewebe hingestellt haben, auch pathologisch festhalten? Darauf antworte ich ohne Rückhalt: ja, und so sehr ich auch darin abweiche von vielen der leben - den Zeitgenossen, so bestimmt man auch in den letzten Jahren die besondere (specifische) Natur vieler pathologischen Ge - webe hervorgehoben hat, so will ich doch versuchen, im Laufe dieser Vorlesungen den Beweis zu liefern, dass jedes patholo - gische Gebilde ein physiologisches Vorbild hat, und dass keine pathologische Form entsteht, die in ihren Elementen nicht zurückgeführt werden könnte auf einen in der Oekonomie an und für sich prästabilirten Vorgang.
Die Classification der pathologischen Neubildungen, der eigentlichen Neoplasmen, ist früherhin meistentheils versucht worden vom Standpunkte der Vascularisation aus. Wenn Sie die verschiedenen Studien betrachten, welche in dieser Richtung bis zur Zeit der Zellentheorie gemacht sind, so wer - den Sie finden, dass man die Frage von der Organisation immer entschieden hat durch die Frage von der Vascularisation. Man nahm jeden Theil als organisirt, der Gefässe enthielt, jeden als nicht organisirt, der keine Gefässe führte. Dies ist für den heutigen Standpunkt an sich schon eine Unrichtigkeit, insofern wir auch physiologische Gewebe ohne Gefässe, z. B. die Knorpel haben.
Aber zu der Zeit, wo man die feineren Elemente höch - stens als Kügelchen kannte und diesen Kügelchen sehr ver - schiedene Bedeutung beilegte, war es zu verzeihen, dass man sich an die Gefässe hielt, insbesondere seit John Hunter die Vergleichung der pathologischen Neubildung mit der Entwicklung des Hühnchens im Ei gemacht und zu zeigen versucht hatte, dass ähnlich, wie das Punctum saliens im Hühnerei die erste Lebenserscheinung darstelle, so auch in pathologischen Bildungen das Gefäss das Erste sei. Sie werden sich noch erinnern, wie von Rust und Kluge manche „ parasitischen “Neubildungen als versehen mit einem unabhängigen Gefässsystem beschrieben wurden, welches, ohne Wurzel in den alten Gefässen, sich wie im Hühn -55Classification der Neoplasmen.chen ganz selbständig bilden sollte. Freilich hatte man schon vor dieser Zeit vielfach versucht, die scheinbar so ab - weichenden Formen der Neubildungen auf physiologische Pa - radigmen zurückzuführen, und es ist dies ein wesentliches Verdienst der Naturphilosophen gewesen. In der Zeit, wo die Theromorphie eine grosse Rolle spielte und man in den pathologischen Processen vielfache Analogien mit den Zuständen niederer Thiere fand, hat man auch angefangen, Vergleichungen zwischen den Neubildungen und bekannten Theilen des Körpers zu machen. So sprach der alte J. F. Meckel von dem brustdrüsenartigen, dem pancreas-ar - tigen Sarkom. Was in neuester Zeit in Paris als Heterade - nie beschrieben ist, als eine heterologe Bildung von Drüsen - substanz, das war in der naturphilosophischen Schule eine ziemlich angenommene Thatsache.
Seitdem man die histologische Seite der Entwicklung zu verfolgen begonnen hat, hat man sich mehr und mehr überzeugt, dass die meisten Neubildungen Theile enthalten, welche irgend einem physiologischen Gewebe entsprechen, und in den mikrographischen Schulen des Westens ist man theilweise dabei stehen geblieben, dass es in der gan - zen Reihe von Neubildungen nur ein besonderes Gebilde gäbe, welches specifisch abweichend sei von den natürlichen Bildungen, nämlich den Krebs. Bei dem Krebs hat man wesentlich urgirt, dass er ganz und gar von den übrigen Geweben abweiche, Elemente sui generis enthalte, während man eigenthümlicher Weise das zweite Gebilde, das die Aelteren dem Krebsgewebe anzunähern pflegten, nämlich den Tuberkel, obwohl man für ihn kein Analogon fand, vielfach bei Seite liess, indem man ihn als ein unvollstän - diges, mehr rohes Product, als ein nicht recht zur Orga - nisation gekommenes Gebilde deutete. Wenn man jedoch den Krebs oder den Tuberkel sorgfältiger betrachtet, so kommt es auch hier nur darauf an, dass man dasjenige Entwicklungsstadium aufsucht, welches das Gebilde auf der Höhe seiner Gestaltung erblicken lässt. Man darf weder zu früh untersuchen, wo die Entwicklung unvollendet, noch zu spät, wo sie über ihr Höhen-Stadium hinausgerückt ist. Hält56Dritte Vorlesung.man sich an die Zeit der eigentlichen Entwicklungshöhe, so lässt sich für alles Pathologische auch ein physiologisches Vor - bild finden, und es ist eben so gut möglich für die Elemente des Krebses solche Vorbilder zu entdecken, wie es möglich ist, dieselben z. B. für den Eiter zu finden, der, wenn man einmal specifische Gesichtspunkte festhalten will, ebenso im Rechte ist, als etwas Besonderes betrachtet zu werden, wie der Krebs. Beide stehen sich darin vollkommen parallel, und wenn die Alten von Krebseiter gesprochen haben, so haben sie in gewissem Sinne Recht gehabt, da der Eiter vom Krebssafte sich nur durch die Entwicklungshöhe der einzelnen Elemente unterscheidet.
Eine Classification auch der pathologischen Gebilde lässt sich ganz in der Weise aufstellen, die wir vorher für die physiologischen Gewebe versucht haben. Zunächst gibt es auch hier Gebilde, welche wie die epithelialen wesentlich aus zelligen Theilen zusammengesetzt sind, ohne dass zu diesen etwas Erhebliches hinzukommt. In zweiter Linie treffen wir Gewebe, welche sich denen der Bindesubstanz anschliessen, in - dem regelmässig neben zelligen Theilen eine gewisse Menge von Zwischensubstanz vorhanden ist. Endlich in dritter Linie kommen diejenigen Bildungen, welche sich den höher organisirten Producten, Blut, Muskeln, Nerven u. s. w. an - schliessen.
Es ist nun von vorn herein hervorzuheben, dass in den pa - thologischen Bildungen diejenigen Elemente um so häufiger vor - handen sind, um so entschiedener praevaliren, welche den höheren Charakter der eigentlich thierischen Entwicklung nicht reprä - sentiren, dass also im Ganzen diejenigen Elemente am selten - sten nachgebildet werden, welche den höher organisirten, namentlich den Muskel - und Nervenapparaten angehören. Allein ausgeschlossen sind auch diese Bildungen keineswegs; wir kennen jede Art von pathologischer Neubildung, sie mag auf ein Gewebe bezüglich sein, auf welches sie will, wenn es nur überhaupt einen erkennbaren Habitus hat. Es besteht nur in Beziehung auf die Häufigkeit und die Wichtigkeit eine Ver - schiedenheit in der Art, dass die grösste Mehrzahl der patho - logischen Producte überwiegend epitheliale oder Elemente der57Heterologie und Malignität.Bindesubstanz führen, und dass von denjenigen Gebilden. welche wir in der letzten Klasse der normalen Gewebe zu - sammenfassen, am häufigsten Gefässe und Theile, welche mit der Lymphe und den Lymphdrüsen verglichen werden können, neu entstehen, am seltensten aber wirkliches Blut, Muskeln und Nerven.
Wenn man auf einen so einfachen Gesichtspunkt zurück - kommt, so entsteht natürlich die Frage, was aus der Lehre von der Heterologie der krankhaften Producte wird, an deren Aufrechthaltung man sich seit alter Zeit gewöhnt hat, und auf welche die einfachste Anschauung mit einer gewissen Noth - wendigkeit hinführt. Hierauf kann ich nicht anders antwor - ten, als dass es keine andere Art von Heterologie in den krankhaften Gebilden gibt, als die ungehörige Art der Ent - stehung, und dass diese Ungehörigkeit sich entweder darauf bezieht, dass ein Gebilde erzeugt wird an einem Punkte, wo es nicht hingehört, oder zu einer Zeit, wo es nicht erzeugt werden soll, oder in einem Grade, welcher von der typischen Bildung des Körpers abweicht. Also genauer bezeichnet, ent - weder eine Heterotopie, eine Aberratio loci, oder eine Aber - ratio temporis, eine Heterochronie, oder endlich eine bloss quantitative Abweichung, Heterometrie. Man muss sich aber wohl in Acht nehmen, diese Art von Heterologie nicht im weiteren Sinne des Wortes zu verbinden mit dem Begriffe der Malignität. Die Heterologie im histologischen Sinne bezieht sich auf einen grossen Theil von pathologischen Neu - bildungen, die von dem Standpunkte der Prognose durchaus gutartig genannt werden können; nicht selten geschieht eine Neubildung an einem Punkte, wo sie freilich durchaus nicht hin - gehört, wo sie aber auch keinen erheblichen Schaden anrichtet. Es kann ein Fettklumpen sich sehr wohl an einem Orte er - zeugen, wo wir kein Fett erwarten, z. B. in der Submucosa des Dünndarms, aber im besten Falle entsteht dadurch ein Polyp, der auf der innern Fläche des Darms hervorhängt und der ziemlich gross werden kann, ohne Krankheitserscheinungen mit sich zu bringen.
Betrachtet man die im engeren Sinne heterolog genann - ten Gebilde in Beziehung zu den Orten, wo sie entstehen, so58Dritte Vorlesung.kann man sie leicht von den homologen (Lobsteins homöo - plastischen) dadurch trennen, dass sie von dem Typus des - jenigen Theils, in welchem sie entstehen, abweichen. Wenn im Fettgewebe eine Fettgeschwulst oder im Bindegewebe eine Bindegewebs-Geschwulst sich bildet, so ist der Typus der Bildung des Neuen homolog dem Typus der Bildung des Alten. Alle solche Bildungen fallen der gewöhnlichen Bezeichnung nach in den Begriff der Hypertrophien oder, wie ich zur genaueren Unterscheidung vorgeschlagen habe, der Hyperplasien. Hypertrophie in mei - nem Sinne wäre der Fall, wo einzelne Elemente eine beträcht - liche Masse von Stoff in sich aufnehmen und dadurch grösser werden, und wo durch die gleichzeitige Vergrösserung vieler Elemente endlich ein ganzes Organ anschwellen kann. Bei einem dicker werdenden Muskel werden alle Primitivbündel dicker. Eine Leber kann einfach dadurch hypertrophisch wer - den, dass die einzelnen Leberzellen sich bedeutend vergrös - sern. In diesem Falle gibt es eine wirkliche Hypertrophie ohne eigentliche Neubildung. Von diesem Vorgange ist we - sentlich unterschieden der Fall, wo eine Vergrösserung erfolgt
Schematische Darstellungen von Leberzellen. A Einfache physiologische Anordnung derselben. B Hypertrophie, a einfache, b mit Fettaufnahme (fettige Degeneration, Fettleber) C Hyperplasie (numerische oder adjunctive Hypertrophie) a Zelle mit Kern und getheiltem Kernkör - perchen. b getheilte Kerne. c, c getheilte Zellen.
59Hypertrophie und Hyperplasie.durch eine Vermehrung der Zahl der Elemente. Eine Leber kann nämlich auch grösser werden dadurch, dass an der Stelle der gewöhnlichen Zellen sich eine Reihe von klei - nen sehr reichlich entwickelt. So sehen wir in der einfachen Hypertrophie das Fett-Polster der Haut anschwellen, indem jede einzelne Fettzelle eine grössere Masse von Fett auf - nimmt; wenn dies an Tausenden und aber Tausenden, ja man kann sagen, an Hunderttausenden und Millionen von Zellen geschieht, so ist das Resultat ein sehr grobes und augenfäl - liges (Polysarcie). Allein es kann eben so gut sein, dass sich neben den alten Zellen neue hinzubilden und eine Ver - grösserung erfolgt, ohne dass die Elemente für sich eine Ver - grösserung erfahren. Dies sind wesentlich differente Processe: die einfache und die numerische Hypertrophie.
Hyperplastische Prozesse (numerische Hypertrophie) brin - gen in allen Fällen ein Gewebe hervor, welches dem Gewebe des alten Theiles gleichartig ist; eine Hyperplasie der Leber bringt wieder Leberzellen, die des Nerven wieder Nerven, die der Haut wieder die Elemente der Haut hervor. Ein hetero - plastischer Process dagegen erzeugt Gewebselemente, welche freilich natürlichen Formen entsprechen, z. B. Elemente von drüsenartigem Bau, von Nervenmasse, von Bindegewebs - oder epithelialer Structur, aber diese Elemente entstehen nicht durch einfache Zunahme der vorher vorhanden gewesenen, sondern durch eine Umwandlung des ursprünglichen Typus. Wenn sich Gehirnmasse im Eierstock bildet, so entsteht die - selbe nicht aus präexistirender Gehirnmasse, nicht durch irgend einen Akt einfacher Wucherung; wenn sich Epidermis z. B. im Muskelfleische des Herzens bildet, so mag sie noch so sehr übereinstimmen mit der auf der äusseren Haut, sie ist doch ein heteroplastisches Gebilde. Wenn sich Haare von ganz natürlichem Bau in der Hirnsubstanz finden, so mag man die grösste Uebereinstimmung finden zwischen ihnen und ei - nem äusseren Haar der Oberfläche; es wird dies immer ein heteroplastisches Haar sein. So sehen wir Knorpelsubstanz entstehen, ohne dass ein wesentlicher Unterschied zwischen ihr und der gewöhnlichen, bekannten Knorpelsubstanz besteht, z. B. in Enchondromen. Dennoch ist das Enchondrom eine60Dritte Vorlesung.heteroplastische Geschwulst, selbst am Knochen, denn der fer - tige Knochen hat an den Theilen, wo das Enchondrom sich bildet, keinen Knorpel mehr und die Phrase von dem Knochenknorpel ist eben nur eine Phrase. Es ist entweder Tela ossea oder Tela medullaris, von wo das Enchondrom ausgeht, und gerade da, wo eigentlicher Knorpel liegt, z. B. am Gelenkende, entstehen keine Knorpelgeschwülste in dem gewöhnlichen Sinne des Wortes. Es handelt sich also hier nicht um eine Hypertrophie, die ein präexistirender Knorpel eingeht, sondern es ist eine vollständige Neubildung, welche mit Veränderung des localen Gewebstypus beginnt. Diese Art der Auffassung, welche wesentlich differirt von der früher gang - baren, nimmt also in Beziehung auf die Frage von der Hetero - logie und Homologie keine Rücksicht auf die Zusammensetzung des Neugebildes als solchen, sondern nur auf das Verhältniss desselben zu dem Mutterboden, aus dem es hervorgeht. He - terologie in diesem Sinne bezeichnet die Verschiedenartigkeit der Entwicklung des Neuen gegenüber dem Alten, oder, wie man gewöhnlich zu sagen pflegt, die Degeneration, die Ab - weichung in der typischen Gestaltung.
Das ist, wie Sie sehen werden, in der That auch der wesentliche prognostische Anhaltspunkt. Wir kennen Ge - schwülste, welche den allergrössten Einklang darbieten mit den bekanntesten physiologischen Geweben. Eine Epidermis - Geschwulst z. B. kann, wie ich schon hervorgehoben habe, in ihren Elementen vollständig übereinstimmen mit gewöhnlicher Oberhaut, aber sie ist trotzdem keine gutartige Geschwulst von bloss localer Bedeutung, welche abgeleitet werden könnte von einer einfach hyperplastischen Vermehrung präexistiren - der Gewebe, denn sie entsteht zuweilen mitten in Theilen, welche fern davon sind, Epidermis oder Epithel zu besitzen, z. B. im Innern von Lymphdrüsen, von dicken Bindegewebs - lagen, welche von aller Oberfläche entfernt liegen, ja sogar im Knochen. In diesen Fällen ist gewiss die Bildung von Epidermis so heterolog, als sich überhaupt etwas denken lässt. Nun hat aber die praktische Erfahrung gelehrt, dass es durch - aus unrichtig war, aus der blossen Uebereinstimmung des pa -61Das Continuitätsgesetz.thologischen Gewebes mit einem physiologischen auf den gut - artigen Verlauf des Falles zu schliessen.
Es ist, wie ich mit besonderer Accentuirung bemerken muss, einer der grössten und am meisten begründeten Vor - würfe gewesen, welcher den mikrographischen Schilderungen der jüngst verflossenen Zeit gemacht wurde, dass sie, von dem allerdings verzeihlichen Gesichtspunkte der histologischen Uebereinstimmung mancher normalen und abnormen Bildungen ausgehend, jedes pathologische Neugebilde für unschädlich ausgaben, das eine Reproduction von präexistirenden und be - kannten Körpergeweben darstellte. Wenn es richtig ist, was ich Ihnen als meine Ansicht mittheilte, dass überhaupt inner - halb der pathologischen Entwicklungen keine absolut neuen Formen gefunden werden, dass es überall nur Bildungen gibt, die in der einen oder andern Weise als Reproduction phy - siologischer Gewebe betrachtet werden können, so fällt jener Gesichtspunkt in sich selbst zusammen. Für meine An - sicht kann ich wenigstens die Thatsache beibringen, dass ich bis jetzt in den Streitigkeiten über die Gut - oder Bösartigkeit bestimmter Geschwulstformen immer noch Recht behalten habe. —
Bevor wir die allgemein-histologische Betrachtung verlas - sen, muss ich noch ein Paar Augenblicke Ihre Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen für einige wichtige principielle Punkte, welche uns fast bei jeder Gelegenheit wieder entgegentreten. Indem man nämlich die thierischen Gewebe in ihrer Verwandt - schaft untereinander studirte, so ist man zu verschiedenen Zei - ten auf Fragen dieser Art gestossen, welche zu allgemeinen, mehr physiologischen Formulirungen Veranlasung gaben.
Als Reichert es unternahm, die Gewebe der Bindesub - stanz zu einer grösseren Gruppe zusammenzufassen, so ging er hauptsächlich von dem Satze aus, dass der Nachweis der Continuität der Gewebe über ihre innere Verwandtschaft entscheiden müsse. Sobald man erkennen könne, dass irgend ein Theil mit einem andern continuirlich (durch Zusammen - hang, nicht durch blosses Zusammenstossen) verbunden sei, so müsse man auch beide als Theile eines gemeinschaftlichen Ganzen betrachten. Auf diese Weise suchte er zu beweisen, dass Knorpel, Beinhaut, Knochen, Sehnen, Fascien u. s. f. 62Dritte Vorlesung.wirklich ein Continuum, eine Art von Grundgewebe des Kör - pers bildeten, die Bindesubstanz, welche nur an den verschie - denen Orten gewisse Differenzirungen erfahren habe, die jedoch den Charakter des Gewebes als solchen nicht aufhöben. Die - ses sogenannte Continuitäts-Gesetz hat bald die grössten Erschütterungen erfahren, und gerade in der letzten Zeit ist ein so gefährlicher Einbruch in dasselbe geschehen, dass es kaum noch möglich sein dürfte, daraus ein allgemeines Kriterium für die Bestimmung der Art eines Gewebes herzunehmen. Man hat nämlich einerseits immer neue Thatsachen für die Conti - nuität solcher Gewebselemente beigebracht, welche nach Rei - chert toto coelo auseinander liegen würden, z. B. von Epi - thelial - und Bindegewebe, und immer mehr haben sich die Angaben gehäuft, dass cylindrisches Epithel sich in Fasern verlängern könne, welche fadenförmig in Zusammenhang tre - ten mit Bindegewebselementen. Ja man hat sogar in der neuesten Zeit eine Reihe von Angaben gemacht, nach denen solche Zellen der Oberfläche nach Innen fortgehen und dort mit Nervenfasern in unmittelbarem Zusammenhang stehen sollten. Was das Letztere betrifft, so muss ich bekennen, dass ich noch nicht von der Richtigkeit der Darstellung überzeugt bin, allein was den ersteren Fall anbelangt, so ist das eine Angelegenheit, die wahrscheinlich auf ein wirkliches Continuitäts-Verhältniss der Elemente hinausläuft. Man würde also schon hier nicht mehr im Stande sein, scharfe Grenzen zwischen jeder Art von Epithel und jeder Art von Bindegewebe zu ziehen, sondern nur da, wo Plattenepithel sich findet, während die Grenzen zweifelhaft sein können überall, wo Cylinder-Epithel existirt.
Ebenso verwischen sich die Grenzen auch anderswo. Während man sich früher die vollkommenste Abgrenzung dachte zwischen Muskel - und Sehnen-Elementen, hat sich auch hier zuerst durch Hyde Salter und Huxley mit der gröss - ten Bestimmtheit ergeben, dass von Elementen des Bindegewe - bes Fasern ausgehen, welche, indem sie sich nach Innen fortsetzen, direct den Charakter quergestreifter Muskeln anneh - men. So würden also in dem Bindegewebe zwischen den Ele - menten der Oberfläche und den edleren Elementen der Tiefe continuirliche Verbindungen existiren. Hat sich nun anderer -63Histologische Aequivalente und Substitutionen.seits mit grosser Wahrscheinlichkeit ergeben, dass die Ele - mente des Bindegewebes bestimmte Beziehungen zu dem Ge - fässapparat haben, so liegt es sehr nahe, wie Sie sehen, in demselben eine Art von indifferentem Sammelpunkt, eine eigenthümliche Einrichtung für die innere Verbindung der Theile zu sehen, eine Einrichtung, die allerdings nicht für die höheren Functionen des Thieres, aber wohl für die Ernährung von grosser Bedeutung ist.
An die Stelle des Continuitätsgesetzes muss man daher noth - wendig etwas Anderes setzen. Hier ist nun, wie ich glaube, der wesentlichste Gesichtspunkt der der histologischen Sub - stitution. Bei allen Geweben gleicher Art besteht die Mög - lichkeit, dass schon im physiologischen Vorkommen, z. B. in verschiedenen Thierklassen, das eine Gewebe an einem be - stimmten Orte des Körpers ersetzt wird durch ein analoges Gewebe derselben Gruppe, mit andern Worten, durch ein hi - stologisches Aequivalent.
Eine Stelle, welche Cylinderepithel trägt, kann Plat - tenepithel bekommen; eine Fläche, die anfänglich flimmerte, kann später gewöhnliches Epithel haben. So treffen wir an der Oberfläche der Hirnventrikel zuerst Flimmer -, späterhin ein - faches Plattenepithel. So sehen wir, dass die Schleimhaut des Uterus für gewöhnlich flimmert, dass aber in der Gravidität sich die Schicht der Flimmercylinder ersetzt durch eine Lage von Plattenepithel. So erzeugt sich an Stellen, wo weiches Epithel vorkommt, unter Umständen Epidermis, z. B. an der vorgefallenen Scheide. So findet sich in der Sclerotica gewis - ser Thiere Knorpel, während sie beim Menschen aus dichtem Bindegewebe besteht; bei manchen Thieren kommen an Stellen der Haut Knochen vor, wo beim Menschen nur Bindegewebe liegt, aber auch beim Menschen wird an vielen Stellen, wo frü - her Knorpel lag, späterhin Knochengewebe gefunden. Am auf - fälligsten sind diese Substitutionen im Gebiete der Muskeln. Ein Thier hat quergestreifte Muskelfasern an derselben Stelle, wo ein anderes glatte führt.
In krankhaften Zuständen gibt es pathologische Sub - stitutionen, wo ein bestimmtes Gewebe ersetzt wird durch ein anderes Gewebe, allein selbst dann, wenn der Ersatz der64Dritte Vorlesung.neuen Gewebsmasse von dem alten Gewebe ausgeht, kann die Neubildung mehr oder weniger abweichen von dem ursprüng - lichen Typus. Es ist daher eine grosse Kluft zwischen physio - logischer und pathologischer Substitution, wenigstens zwischen der physiologischen und gewissen Formen der pathologischen.
Physiologisch geschieht die Substitution stets durch Er - setzung vermittelst eines Gewebes derselben Gruppe (Homo - logie), pathologisch sehr häufig durch das Gewebe einer an - deren (Heterologie). Dahin muss man die ganze Doctrin von den specifischen Elementen der Pathologie zurückführen, welche in den letzten Decennien eine so grosse Rolle gespielt haben.
Thätigkeit der Gefässe. Verhältniss von Gefäss und Gewebe. Leber. Gehirn. Muskelhaut des Magens. Knorpel. Knochen. Abhängigkeit der Gewebe von den Gefässen. Metastasen. Gefässterritorien (vasculäre Ein - heiten). Die Ernährungsleitung in den Saftkanälen der Gewebe. Knochen. Zahn. Faserknorpel. Hornhaut. Bandscheiben.
Nach der bekannten Vorstellung, unter der man sich die Er - nährung gewöhnlich gedacht hat, waren die Gefässe diejeni - gen Kanäle, welche wesentlich den Stoffverkehr vermitteln, und auf die in einer bald activen, bald passiven Weise man rechnete, wenn es sich darum handelte, den einzelnen Theil in seinem Stoffverkehr zu controliren. In der Regel hat man das Bestimmende bei dem Ernährungsvorgange mit einem Aus - druck, der sich auch in die heutige Sprache hinübergeschlichen hat, bezeichnet, indem man von einer Thätigkeit der Gefässe sprach, wie wenn dieselben eine besondere Fähigkeit hätten, auf die Zustände der nächsten Gewebs-Theile activ einzuwirken.
Wie ich schon das letzte Mal bei Gelegenheit der Mus - kelfasern hervorhob (S. 51), so können wir heut zu Tage von einer Action in den Gefässen nur in so weit sprechen, als Muskelfasern an denselben vorhanden sind, und als sich demnach die Gefässe durch Zusammenziehung ihrer Muskeln verengern oder verkürzen können. Diese Verengerung könnte das Resultat haben, dass der Durchtritt der Flüssigkeit da -566Vierte Vorlesung.durch gehemmt würde, während umgekehrt bei Erschlaffung oder Lähmung der Muskeln das erweiterte Gefäss den Durch - tritt der Flüssigkeiten begünstigen könnte. Gestehen wir dies vorläufig zu, aber erlauben Sie mir, dass ich vorher die Ge - websmasse, welche neben den Gefässen liegt und welche man sich gewöhnlich als eine sehr einfache Masse vorstellt, etwas auflöse.
Wenn man solche Theile wählt, wo die Gefässe recht dicht liegen, und wo fast so viel Gefässe vorhanden sind, als Gewebe, z. B. eine Leber, bei der in der That dieses Verhältniss zutrifft, (denn eine Leber im gefüllten Zustande der Gefässe hat nahezu so viel Volumen Gefässmasse als eigentliche Lebersubstanz), so sehen wir, dass allerdings die
Spatien, welche zwischen den Gefässen übrig bleiben, sich auf eine ganz kleine Zahl von Elementen reduciren.
Betrachten wir einen ein - einzelnen Acinus der Leber für sich, so finden wir in dem glücklichsten Falle des Quer - schnittes in seiner Mitte die Vena centralis oder intralobu - laris, die zur Lebervene geht, und im Umfange Aeste der Pfort - aber, welche in das Innere capillare Zweige senden. Diese Gefässauflösung erfolgt so, dass die Capillaren sehr schnell ein Anfangs langmaschiges, später regelmässigeres Netz bil - den, welches sich in der Richtung gegen die Vena centralis hepatica fortsetzt und zuletzt in dieselbe einmündet. Das Blut strömt also, indem es von der V. interlobularis portalis ein - tritt, durch das Capillarnetz hindurch zur Vena intralobularis, von wo es durch die Venae hepaticae wieder zum Herzen zu - rückgeführt wird. Hat man nun eine injicirte Leber vor sich, so sieht man dieses Netz so dicht, dass, was von Zwischen - räumen übrig geblieben ist, fast geringer erscheint als das,
Stück von der Peripherie der Leber eines Kaninchens Gefässe vollkommen injicirt. Vergr. 11.
67Capillargefässe der Leber.was von Gefässen eingenommen wird. So kann man sich leicht vorstellen, wie die älteren Anatomen, z. B. Ruysch, durch ihre Injektionen auf die Vermuthung kommen konnten, dass fast Alles im Körper aus Gefässen bestände und die verschiedenen Organe nur durch Differenzen der Anordnung der Gefässe sich unterschieden. Grade umgekehrt, wie an einem Injectionspräparat, erscheint jedoch das Verhältniss an einem gewöhnlichen Präparat aus einer Leber. Hier nimmt man die Gefässe fast gar nicht wahr. Man sieht wohl ein ähnliches Netz, aber dies ist das Netz der Leberzellen (Fig. 27), welche dicht an einander gedrängt alle Zwischenräume der Gefässe erfüllen. Es ergibt sich also, dass Gefäss - und Le - bernetz sich auf das Innigste durchflechten, so dass überall fast unmittelbar an der Gefässwand auch Zellen des Leber - parenchyms liegen; höchstens dass zwischen der Zelle und der Gefässwand noch eine feine Lage ist, von der es unter den Histologen immer noch streitig ist, ob sie einer besonde - ren Wand zuzuschreiben ist, welche die feinsten Gallengänge zusammensetzt, oder ob nur eine minimale Quantität von Binde - gewebe die Gefässe begleitet.
In diesem einfachsten Fall kann man allerdings ein ziem - lich einfaches Verhalten sich denken zwischen den Gefässen und den Zellen; man kann sich vorstellen, dass die Menge des Blutes, welches in den Gefässen strömt, je nach den Erweiterungszuständen der letzteren unmittelbar einwirkt auf die anstossenden Elemente. Freilich könnte man in Beziehung auf die Ernährungsverhältnisse entgegenhalten, dass es sich hier um eine ganz eigenthümliche Einrichtung handelt, die wesentlich venöser Natur ist, zusammengesetzt aus Pfortader - und Lebervenenästen, allein in dasselbe Capillar - Netz geht auch die Arteria hepatica hinein, und das Blut lässt sich in demselben nicht mehr in seine einzelnen arteriellen und venösen Theile zerlegen. Die Injectionen gelangen von jedem der Gefässe zuletzt in dasselbe Capillar-Netz hinein.
So einfach, wie in der Leber, gestalten sich aber die Ver - hältnisse in den meisten Theilen nicht; gewöhnlich liegen ziemlich bedeutende Zwischenräume zwischen den einzelnen Zellen, und nicht unbeträchtliche Quantitäten von Elementen5*68Vierte Vorlesung.sind in der einzelnen Capillar-Masche enthalten. Ich zeige Ihnen ein zweites Object, das von einem frischen menschlichen Gehirne stammt, von einem Geisteskranken, der unter einer hochgradigen Hyperämie des Gehirns gestorben war, und wo der Schnitt durch das sehr rothe Corpus striatum geführt ist. Sie
können da die natürlich injicirten Gefässe übersehen, und die Weite, welche die einzelnen Capillar-Maschen besitzen, lässt sich klar vor Augen führen. Der Schnitt ist quer durch das Corpus striatum gelegt, und man erkennt von Strecke zu Strecke grössere, bei durchfallendem Lichte dunkel erscheinende Stellen, rundliche Flecke (Fig. 29. a, a, a), die bei auffallen - dem Lichte und für das blosse Auge weiss aussehen und Quer - durchschnitte von Nervenfasern darstellen, welche in langen Zügen gegen das Rückenmark hinziehen. Die Gefässe treten in sie fast gar nicht ein. Die übrige Masse dagegen besteht aus der eigentlichen grauen Substanz des Corpus striatum; innerhalb derselben verbreitet sich ein sehr feinmaschiges Ge - fässnetz, wie denn überhaupt die graue Substanz der Nerven - centren sich sowohl im Innern, als an der Rinde durch ihren grossen Gefässreichthum vor der weissen Substanz auszeich - net. Einzelne grosse Gefässe sind in dem Object bemerkbar,
Natürliche Injection des Corpus striatum eines Geistes kranken. a a Gefässlose Lücke, entsprechend den Zügen von Nerven - fasern, welche das Ganglion durchsetzen. Vergr. 80.
69Gefässe des Gehirns, des Magens, der Knorpel.von welchen Aeste ausgehen, die sich immer feiner verzwei - gen und endlich in ganz feinmaschige Capillar-Netze über - gehen. Allein so eng dieses Netz auch sein mag, so stösst doch keineswegs jedes Element der Hirnsubstanz unmittelbar an ein Capillargefäss.
Das dritte Object ist ein Injectionspräparat aus der Mus - kelhaut des Magens, wo man bei stärkerer Vergrösserung
durch feine Längsstriche die Richtung der Muskelfasern er - kennen kann; hier bilden die Gefässe ziemlich regel - mässige, untereinander durch Queranastomosen in Verbin - dung stehende Netze, von de - nen aus sich immer kleinere Ge - fässe verästeln, die innerhalb der Substanz seine Netze bilden, so dass dadurch das Ganze in eine Reihe von unregelmässig viereckigen Abtheilungen zer - legt wird. Auf einen letzten Zwischenraum fällt eine gewisse Zahl von Muskelelementen, so dass die Gefässe an einigen Stellen die Muskelfasern berühren, an andern Stellen entfern - ter davon liegen.
Verfolgt man in dieser Weise die Einrichtung der ver - schiedenen Organe und Gewebe, so kommt man von solchen, welche nach der Injection fast nur aus Gefässen zu bestehen scheinen, mit der Zeit zu denjenigen, welche fast gar keine Gefässe enthalten und endlich zu solchen, welche wirklich keine mehr führen. Dies trifft man am ausgesprochensten innerhalb der Gewebe der Bindesubstanz, und die wichtigsten darunter sind die Knochen und die Knorpel. Der ent - wickelte Knorpel hat überhaupt gar keine Gefässe mehr; der entwickelte Knochen enthält allerdings Gefässe, aber in einem sehr wechselnden Maasse. Dass der entwickelte Knorpel keine Gefässe enthält, davon dispensiren Sie mich wohl, Sie noch speciell zu überzeugen, da Sie verschiedene Knorpelprä -
Injectionspräparat von der Muskelhaut des Magens eines Kaninchens, 11mal vergrössert.
70Vierte Vorlesung.parate gesehen haben, an denen nichts davon zu bemerken war (Fig. 6, 9, 22). Ich lege Ihnen ein Stück von einem jungen Knorpel vor, weil Sie daran sehen können, wie in der frühe - ren Zeit sich die Gefässe im Knorpel verhalten. Es ist ein Schnitt aus dem Calcaneus eines neugeborenen Kindes, wo von
der schon gebildeten centralen Knochenmasse aus, die Gefässe in den noch existirenden Knorpel hineingehen. Das Präparat zeigt an seiner äussersten Oberfläche die Uebergänge zu dem Perichondrium, während der untere Theil des Schnittes von der Grenze des schon gebildeten Knochens stammt. Von hier aus sieht man grosse Gefässe aufsteigen, welche mitten im Knor - pel endigen, indem sie Schlingen und Netze bilden, so dass ihre Verbreitung aussieht, wie ein Zottenbaum, welcher in dem Knorpel liegt, sehr ähnlich einer Chorion-Zotte vom Ei. In der That wachsen von der Arteria nutritia her die Gefässe
Durchschnitt des Calcaneus-Knorpels beim Neugebornen. C der Knorpel, dessen Zellen durch feine Punkte angedeutet sind. P Perichondrium und anstossendes Fasergewebe. a die Ansatzstelle am Knochen, mit den von der Art. nutritia aufsteigenden Gefässschlingen. b b Gefässe, die durch das Perichondrium gegen den Knorpel andringen. Vergrösserung 11.
71Gefässe der Knorpel und Knochen.in den Knorpel hinein, aber nur bis zu einer gewissen Höhe. Hier bilden sie wirkliche Schlingen, und das Ende löst sich in ein feines Netzwerk von Capillaren auf, aus dem sich am Ende wieder Venen zusammensetzen, um ziemlich nahe an den Ort, wo sie herkamen, wieder zurückzugehen. Die ganze übrige Masse aber besteht aus gefässlosem Knor - pel, dessen Körperchen bei schwacher Vergrösserung als feine Punkte erscheinen. Es liegt also ein ganzes Heer von Knor - pelkörperchen zwischen den letzten Schlingen und der äusseren Oberfläche. Diese ganze Lage ist daher in ihrer Ernährung abhängig von dem Safte, der aus den Endschlingen weiter dringt, zum Theil von den Stoffen, welche die spärlichen Ge - fässe des Perichondriums zuführen. Die von der Art. nu - tritia stammenden Gefässe bezeichnen schon ziemlich früh - zeitig ungefähr die Grenze, bis zu welcher späterhin die Ossification fortschreitet, während derjenige Theil, welcher als Knorpelrest am Gelenk liegen bleibt, niemals Gefässe enthält.
Was die Knochen anbetrifft, so ist bei ihnen das Gefäss - Verhältniss an sich ein ziemlich einfaches, aber auch ein sehr charakteristisches. Wenn wir die compacte Substanz be - trachten, so sieht man gewöhnlich schon mit dem blossen Auge bei oberflächlicher Betrachtung kleine Löcher, durch welche Gefässe aus dem Perioste her eintreten. Bei einer mässigen Vergrösserung erkennt man, dass diese Gefässe als - bald unter der Oberfläche ein längliches Maschennetz bilden, im Allgemeinen eine längslaufende Reihe untereinander anasto - mosirender Röhren, die auch zuweilen mehr schräg nach Innen gehen, aber doch im Wesentlichen eine Längsrichtung einhalten. Zwischen diesen Maschen bleiben verhältnissmässig breite Zwischenräume, innerhalb deren man, gerade so wie vorher die Knorpelkörperchen, hier die Knochenkörperchen sieht, und zwar auch in der Längsrichtung, parallel der Oberfläche. Un - tersucht man denselben Theil auf einem Querschnitte, so be - kommt man natürlich an der Stelle, wo vorher die Längska - näle zu sehen waren, einfache Durchschnitte zu Gesicht, hier und da durch eine schräge Verbindung, vereinigt. Zwischen ihnen befindet sich die eigentliche Tela ossea, in lamellösen72Vierte Vorlesung.
Schichten gelagert, und zwar zum Theil parallel der Oberfläche, zum Theil concentrisch um die Gefässe. Im Innern sieht man stets parallele, das Gefäss begleitende Linien.
Knochenschliff (Längsschnitt) aus der Rinde einer sklero - tischen Tibia. a a Mark - (Gefäss -) Kanäle, zwischen ihnen die grossen - theils parallel, bei b concentrisch (Querschnitt) geordneten Knochenkör - perchen. Vergr. 80.
Knochenschliff. a querdurchschnittener Mark - (Gefäss -)
Zwischen den concentrisch abgelagerten Theilen bleibt noch eine geringe Masse von Knochensubstanz übrig, welche nicht dieser Bildung folgt, sondern sich mehr unabhängig ver - hält, und welche bei genauer Analyse sich darstellt als aus kleinen Säulen gebildet, die senkrecht auf der Längsaxe des Knochens stehen und dann in eine Art von Bogen übergehen, die der Längsaxe parallel sind. Da man meistentheils in den Durchschnitten, die man durch Schliffe des Knochens ge - winnt, das Gefäss selbst nicht mehr erkennt, so nannte man die Höhlung, in der es steckt, Markkanal, uneigentlich, inso - fern in diesen engen Kanälen meist kein Mark enthalten ist; man sollte eigentlich sagen: Gefässkanäle, doch ist jener Aus - druck in der Art recipirt, dass man ihn auch da gebraucht, wo ein Gefäss sich unmittelbar an die Oberfläche der Höhlung anschliesst. Im nächsten Umfange dieser Kanäle sehen wir zunächst eine Reihe von eigenthümlichen Gebilden: längliche,
Kanal, um welchen die concentrischen Lamellen l mit Knochenkörperchen und anastomosirenden Knochenkanälchen liegen. r längsdurchschnittene, parallele Lamellen. i unregelmässige Lagerung in den ältesten Knochen - schichten. v Gefässkanal. Vergrösserung 280.
Knochenkörperchen aus einem pathologischen Knochen von der Dura mater cerebralis. Man sieht die verästelten und anastomo - sirenden Fortsätze derselben (Knochenkanälchen) und innerhalb der Kno - chenkörperchen kleine Punkte, welche den trichterförmigen Anfang der Kanälchen bezeichnen. Vergr. 600.
74Vierte Vorlesung.gewöhnlich bei auffallendem Lichte schwarz erscheinende Kör - per, die mit Zacken versehen sind. Nach der ursprünglichen Bezeichnung nannte man sie Knochenkörperchen, und ihre Zacken oder Ausläufer Knochenkanälchen, Canaliculi ossei; da man anfänglich die Ansicht hegte, dass die Kalksubstanz eigentlich in diesen Elementen abgelagert sei und dass das dunklere Aussehen, welches die Körper bei durchfallendem Lichte darzubieten pflegen, eben von dem Kalkgehalte herrühre, so hat man die Kanäle auch als Canaliculi chalicophori bezeich - net, ein Name, der heut zu Tage ganz gestrichen ist, weil man sich überzeugt hat, dass in ihnen der Kalk gerade nicht enthalten ist, sondern derselbe überall sich findet in der homo - genen Grundsubstanz, welche zwischen ihnen liegt.
Als man diese Entdeckung machte, dass gerade umgekehrt, wie man geglaubt hatte, die Vertheilung des Kalkes in dem Knochengewebe stattfindet, so ging man alsbald in das andere Extrem über, indem man an die Stelle des Na - mens der Knochenkörperchen den der Knochen-Lücken (Lacunen) setzte und annahm, der Knochen enthalte nur eine Reihe von leeren Höhlen und Kanälen, in welche allenfalls eine Flüssigkeit eindringe, welche aber eigentlich doch nur Spalten innerhalb des Knochens darstellten. Einzelne nannten sie auch geradezu Knochenspältchen. Ich habe mich nun bemüht, auf verschiedene Weise den Nachweis zu führen, dass sie wirkliche Körperchen seien und nicht blosse Höhlen darstellen in einem dichten Grundgewebe, dass sie mit besonderen Wandungen und eigenen Grenzen versehene Gebilde vorstellen, welche sich von der Zwischensubstanz tren - nen lassen. Denn man kann durch chemische Einwirkung es dahin bringen, dass man die Körperchen aus der Grund - substanz frei macht, indem man diese auflöst. Dadurch ist wohl am sichersten der Nachweis geliefert, dass es wirklich für sich bestehende Gebilde seien. Ueberdiess findet man in - nerhalb dieser Körper einen Kern und auch ohne auf die Ent - wicklungsgeschichte überzugehen, ergibt sich, dass man es auch hier wieder mit zelligen Elementen sternförmiger Art zu thun hat. Die Zusammensetzung des Knochens zeigt uns dem - nach ein Gewebe, welches sich zusammensetzt aus einer schein -75Gefässterritorien und Zellenterritorien.bar ganz homogenen Grundmasse, in welcher in sehr regel - mässiger Weise sich die eigentlichen sternförmigen Knochen - zellen finden.
Die Zwischenräume, welche zwischen je zwei Gefässen liegen, sind oft sehr bedeutend; ganze Lamellensysteme schie - ben sich zwischen sie ein, mit zahlreichen Knochenkörperchen durchsetzt. Hier ist es gewiss schwierig, sich die Ernährung eines so complicirten Apparates als abhängig von der Thätig - keit der zum Theil so weit entfernten Gefässe zu denken, na - mentlich wie jedes einzelne Theilchen in dieser grossen Zu - sammensetzung immer noch in einem Specialverhältniss der Ernährung zu den Gefässen stehen soll.
Ich habe Ihnen diese Einzelheiten vorgeführt, um die all - mälige Gradation zu zeigen, die von den gefässhaltigen und den gefässreichen zu den gefässarmen und den gefässlosen Theilen Statt findet. Will man eine einfache Anschauung der Ernährungsverhältnisse haben, so glaube ich, dass man es als logisches Prinzip aufstellen muss, dass Alles, was man für die Ernährung der gefässreichen Theile aufstellt, auch für die ge - fässarmen und für die gefässlosen Gültigkeit haben muss, und dass, wenn man die Ernährung der einzelnen Theile in eine directe Abhängigkeit von den Gefässen oder dem Blute stellt, man wenigstens darthun muss, dass alle Elemente, wel - che in nächster Beziehung zu einem und demselben Gefässe stehen, welche auf ein einziges Gefäss angewiesen sind, we - sentlich gleichartige Lebensverhältnisse darbieten. In dem Falle vom Knochen müsste ein ganzes System von Lamellen, welches nur das eine Gefäss für seine Ernährung haben kann, immer gleichartige Zustände darbieten. Denn wenn das Ge - fäss das Thätige bei der Ernährung ist oder das Blut, wel - ches in demselben circulirt, so könnte man höchstens zulassen, dass ein Theil der Elemente ihrer Einwirkung mehr, ein an - derer weniger ausgesetzt ist; im Wesentlichen müssten sie aber doch immer eine gemeinschaftliche und gleichartige Ein - wirkung erfahren. Dass dies keine unbillige Anforderung ist, dass man eine gewisse Abhängigkeit bestimmter Gewebs-Ter - ritorien von bestimmten Gefässen allerdings zugestehen muss, davon haben wir die schönsten Beispiele in der Lehre von76Vierte Vorlesung.den Metastasen, in dem Studium der Veränderungen, welche durch die Verschliessung einzelner Capillargefässe zu Stande kommen, wie wir sie aus der Geschichte der metastatischen Embolie kennen. In solchen Fällen sehen wir in der That, dass ein ganzes Gewebsstück, so weit es in einer unmittelbaren Beziehung zu einem Gefässe steht, auch in seinen pathologi - schen Verhältnissen ein Ganzes vorstellt, eine Gefässeinheit. Allein diese Gefässeinheit erscheint vor einer feineren Auffassung immer noch als ein Vielfaches, und es genügt nicht, den Kör - per etwa in lauter Gefäss-Territorien zu zerlegen, sondern man muss noch innerhalb derselben weiter auf die Zellenterritorien zurückgehen.
In dieser Auffassung ist es, wie ich glaube, ein wesent - licher Fortschritt gewesen, dass wir innerhalb der Gewebe der Bindesubstanz, wie ich Ihnen das neulich hervorgehoben habe (S. 43.), ein besonderes System anastomosirender Elemente kennen gelernt und auf diese Weise statt der Vasa se - rosa, welche sich die Früheren für diese nächsten Zwecke der Ernährung zu den Capillaren hinzudachten, eine bestimmte Ergänzung bekommen haben, insofern dadurch die Möglichkeit von Saftströmungen an Orten gegeben ist, die an sich verhält - nissmässig arm an Gefässen sind. Wenn wir beim Knochen stehen bleiben, so wären Vasa serosa eine kaum zu rechtfer - tige de Annahme. Die harte Grundsubstanz ist durch und durch mit einer ganz gleichmässigen Infiltration von Kalksal - zen erfüllt, so gleichmässig, dass man gar keine Trennung der einzelnen Kalktheilchen wahrnimmt. Wenn Einzelne an - genommen haben, dass man kleine Körner daran unterscheiden könne, so ist dies ein Irrthum. Die einzige Differenzirung, welche man sieht, ist dadurch bedingt, dass in diese Substanz hinein die Canaliculi reichen, welche zuletzt alle zurückführen auf die Körper der Knochenzellen (Knochenkörperchen), und welche ihrerseits wieder Verästelungen eingehen. Diese Aeste, diese kleinen Fortsätze, reichen nun unmittelbar bis an die Oberfläche des Gefässkanals (Markkanals). Sie setzen also unmittelbar da ein, wo die Gefässmembran beginnt, denn man kann sie deutlich auf der Wand des Kanals als kleine Löcherchen wahrnehmen. Da nun die verschiedenen Knochenkörper -77Knochen - und Zahnkanälchen.
chen wieder unter sich in offener Verbindung stehen, so ist dadurch die Möglichkeit gegeben, dass eine gewisse Quantität von Saft, welcher von der Oberfläche des Gefässkanals aufge - nommen ist, nicht diffus durch die ganze Gewebsmasse hindurch dringt, sondern auf diesen feinen prädestinirten und continuirlichen Wegen bleibt, auf diesen, der Injection vom Gefässe aus nicht mehr zugänglichen Kanälen sich fortbewe - gen muss. Eine Zeitlang hat man geglaubt, dass die Kanäl -
Schliff aus einem neugebildeten Knochen der Arachnoides cerebralis, der übrigens ganz normale Verhältnisse des Baues zeigt. Man sieht einen verästelten Gefäss - (Mark -) Kanal mit den in ihn einmün - denden und zu den Knochenkörperchen führenden Knochenkanälchen Vergr. 350.
78Vierte Vorlesung.chen vom Gefässe aus zu injiciren seien, allein dies ist nur vom leeren (macerirten) Gefässkanal aus möglich.
Es ist dies ein ganz ähnliches Verhältniss, wie am Zahn, wo man von der Zahnhöhle aus die Zahnkanälchen injiciren kann. Spritzt man z. B. eine Carminlösung in die Zahnhöhle, so sieht man die Zahnkanälchen als zahlreich neben einander strahlig heraufgehende Röhren, welche zu der Oberfläche auf - steigen. Die Zahnsubstanz bildet eben auch eine ziemlich breite Schicht von gefässloser Substanz. Gefässe finden sich nur in der Markhöhle des Zahns; von da nach aussen haben wir weiter nichts, als die eigentliche Zahnsubstanz mit ihrem Röhrensystem, welches bis nahe an die Oberfläche reicht und an der Zahnwurzel unmittelbar übergeht in eine Lage von wirk - licher Knochensubstanz (Cement), wo die Knochenkörperchen am Ende dieser Röhren aufsitzen. Eine ähnliche Weise der Einrichtung der Saftströmung, wie vom Marke der Knochen, geht hier von der Pulpe aus; der Ernährungssaft kann durch Röhren bis zur Oberfläche geleitet werden.
Diese Art von Röhrensystemen, die im Knochen und Zahn in einer so ausgesprochenen Weise sich findet, ist in den wei - chen Gebilden mit einer ungleich geringeren Klarheit zu über - sehen, und das ist wohl hauptsächlich der Grund gewesen, dass man die Analogie, welche zwischen den weichen Gewe - ben der Bindesubstanz und den harten der Knochen besteht, nicht recht zur Anschauung gebracht hat. Am deutlichsten sieht man solche Systeme an Punkten, die eine mehr knorplige Beschaffenheit haben, z. B. wo Faserknorpel liegt. Aber es ist sehr bezeichnend, dass wir von dem Knorpel eine Reihe von Uebergängen zu den anderen Geweben der Bindesubstanz finden, welche stets dasselbe Verhältniss wiederholen. Zuerst Theile, die chemisch noch zum Knorpel gehören, z. B. die Hornhaut, welche beim Kochen Chondrin gibt, obgleich sie Niemand als wirklichen Knorpel ansieht. Viel auffälliger ist die Einrichtung bei solchen Theilen, bei denen die äussere Er - scheinung für Knorpel spricht, aber die chemischen Eigenschaf - ten nicht übereinstimmen, z. B. bei den Cartilagines semiluna - res im Kniegelenk, den Bandscheiben zwischen Femur und Ti - bia, welche die Gelenkknorpel vor zu starken Berührungen79Kanäle der Bandscheiben.schützen. Diese Theile, welche allgemein noch jetzt als Knor - pel beschrieben werden, geben beim Kochen kein Chondrin, sondern Leim; und hier, in diesem harten Bindegewebe, treffen wir, wie in der Hornhaut und dem Faserknorpel, dasselbe System von anastomosirenden Elementen mit einer ungewöhn - lichen Schärfe und Klarheit. Gefässe fehlen darin fast gänz - lich; dagegen enthalten diese Bandscheiben ein Röhrensystem von seltener Schönheit. Auf dem Durchschnitte sieht man, dass das Ganze sich zunächst zerlegt in grosse Abschnitte, ganz ähn - lich wie eine Sehne; diese sind wieder zerlegt in kleinere, und diese kleinen sind endlich durchsetzt von einem feinen,
sternförmigen System von Röh - ren, oder wenn Sie wollen, von Zellen, insofern der Begriff einer Röhre und Zelle hier ganz zu - sammenfallen. Die Zellennetze, welche hier das Röhrensystem bilden, gehen nach aussen hin in die Grenzlager der einzelnen Abschnitte über, und hier sehen wir nebeneinander beträchtliche Anhäufungen von zelligen Elemen - ten. Auch in den Bandscheiben hängt das Ganze äusserlich zu - sammen mit dem Circulationsappa - rat; Alles, was in das Innere gelangt, muss auf grossen Um - wegen ein Kanalsystem mit zahlreichen Anastomosen pas - siren, und die Ernährung ist ganz und gar abhängig von die - ser Art der Leitung. Die Bandscheiben sind Gebilde von beträchtlichem Umfange und grosser Dichtigkeit; und da hier alle Ernährung auf das letzte feine System von Zellen zurück - zuführen ist, so haben wir es noch viel mehr, als beim Knorpel,
Durchschnitt aus der halbmondförmigen Bandscheibe (Car - tilago semilunaris) des Kniegelenks vom Kinde. a Faserzüge mit spin - delförmigen, parallel liegenden und anastomosirenden Zellen (Längsschnitt) b Netzzellen mit breiten verzweigten und anastomosirenden Kanälchen (Querschnitt). Mit Essigsäure behandelt. Vergr. 350.
80Vierte Vorlesung.mit einer Art der Saftzufuhr zu thun, welche nicht mehr di - rekt von den Gefässen bestimmt werden kann.
Für die Erklärung füge ich nur hinzu, dass die letzten Elemente als sehr feine Zellenkörper erscheinen, die in lange, feine Fäden ausgehen, welche sich wieder verästeln und auf Durchschnitten sich als kleine Punkte darstellen, an welchen man ein helles Centrum erkennt. Die Fäden lassen sich mit grosser Bestimmtheit endlich an den gemeinschaftlichen Zellenkör - per verfolgen, ganz wie im Knochen. Es sind feinste Röh - ren, die in innigem Zusammenhang stehen, nur dass sie sich hier an gewissen Punkten zu grösseren Haufen sammeln, durch welche die Hauptleitung erfolgt, und dass die Zwischensubstanz in keinem Falle Kalk aufnimmt, sondern stets ihre Bindege - websnatur beibehält.
Sehnen. Hornhaut. Nabelstrang. Elastisches Gewebe. Lederhaut. Lockeres Bindegewebe. Tunica dartos. Bedeutung der Zellen für die[Specialvertheilung] der Ernährungssäfte.
Gestatten Sie mir, meine Herren, dass ich an dasjenige an - knüpfe, was wir in der vorigen Stunde gesehen und besprochen haben, und dass ich Ihnen noch einige Präparate vorführe für jene eigenthümliche Art der Ernährungs-Einrichtung, die wir schon bei verschiedenen Geweben kennen gelernt haben, und die Ihnen, wie ich hoffe, auch für pathologische Vorgänge als wesentlich erscheinen wird.
Sie erinnern sich, wir hatten zuletzt eine Bandscheibe be - trachtet, wie sie in der ausgesprochensten Form im Kniege - lenke an den sogenannten Semilunar-Knorpeln vorkommt, die eben keine Knorpel sind. Vielmehr zeigen sie die Eigenschaf - ten einer platten Sehne; die einzelnen Structurverhältnisse, die wir in ihnen gefunden haben, wiederholen sich im ganzen Querschnitt einer Sehne.
Wir haben heute eine Reihe von Objecten von der Achil - les-Sehne sowohl des Erwachsenen, als des Kindes, welche die verschiedenen Entwicklungs-Stadien zeigen; es ist dies über - dem eine Sehne, die manche Bedeutung für operative Zwecke hat, die also wohl einen kleinen Aufenthalt entschuldigt.
682Fünfte Vorlesung.An der Oberfläche einer Sehne sieht man bekanntlich mit blossem Auge eine Reihe von weisslichen Streifen ziemlich dicht der Länge nach verlaufend, wodurch das atlasglänzende Aussehen entsteht. Aufeinem microscopischen Längsschnitte liegen die Streifen mehr getrennt, die Sehne sieht ein wenig fasciculirt und nicht so gleichmässig aus, wie an der Oberfläche. Dies Aussehen tritt nun viel deutlicher auf einem Querschnitte hervor, wo man eine Reihe von kleineren und grösseren Abtheilungen (Fascikeln) zu Gesicht bekommt. Vergrössert man das Objekt, so zeigt sich eine innere Einrichtung, welche fast ganz dem entspricht, was wir bei dem Semilunar-Knorpel beobachtet haben. Am äusse - ren Umfange der Sehne liegt ringsumher eine faserige Masse, in der Gefässe enthalten sind, welche die Sehne äusserlich umspinnen. Von da aus gehen an einzelnen Stellen Gefässe in das Innere, wo sie in den grösseren Zwischenräumen der Fascikel sich finden; allein bis in die eigentlichen Fascikel selbst geht nichts mehr von Gefässen hinein, ebensowenig als in das Innere der Bandscheiben; hier finden wir vielmehr wie - der das fragliche Zellennetz, oder anders ausgedrückt, das eigenthümliche saftführende Kanalsystem, welches wir neulich in seiner Bedeutung beim Knochen betrachtet haben.
Querschnitt aus der Achilles-Sehne eines Erwachsenen. Von der Sehnenscheide aus sieht man bei a, b und c Scheidewände nach
Man kann demnach die Sehne zunächst in grössere (pri - märe) Bündel zerlegen, diese aber wieder in eine gewisse Summe kleinerer (secundärer) Fascikel theilen, welche durch breitere Züge einer faserigen, Gefässe und Faserzellen enthal - tenden Substanz getrennt sind, so dass der Querschnitt der Sehne ein maschiges Aussehen darbietet. Von dieser Zwischen - masse, die jedoch nicht als ein Gewebe besonderer Art zu be - trachten ist, gehen in das Innere der Fascikel sternförmige Elemente (Sehnenkörperchen) hinein, welche unter sich anastomosiren und die Verbindung zwischen den äusseren ge - fässhaltigen und den inneren gefässlosen Theilen der Fascikel her - stellen. Dies Verhältniss ist in einer kindlichen Sehne natür - lich sehr viel deutlicher als in einer erwachsenen. Je älter
Innen laufen, welche maschenförmig zusammenhängen und die primären und secundären Fascikel abgrenzen. Die grösseren (a und b) pflegen Ge - fässe zu führen, die kleineren (c) nicht mehr. Innerhalb der secundären Fascikel sieht man das feine Maschennetz der Sehnenkörperchen (Netz - zellen) oder das intermediäre Saftkanalsystem. — Vergr. 80.
Querschnitt aus dem Innern der Achilles-Sehne eines Neu - gebornen. a die Zwischenmasse, welche die secundären Fascikel schei - det (entsprechend Fig. 37 c), ganz und gar aus dichtgedrängten Spindel - zellen bestehend. Mit diesen in direkter Anastomose sieht man seitlich bei b, b netz - und spindelförmige Zellen in das Innere der Fascikel verlaufen. Die Zellen sind deutlich kernhaltig. Vergr. 300.
6*84Fünfte Vorlesung.nämlich die Theile werden, um so länger und feiner werden im Allgemeinen die Ausläufer der Zellen, so dass man an vielen Schnitten die eigentlichen Zellenkörper gar nicht trifft, sondern nur feine, in Fäden zu verfolgende Punkte oder Oeff - gen erblickt. Die einzelnen Zellkörper rücken also weiter aus - einander und es wird immer schwieriger, die ganzen Zellen auf einmal zu übersehen. Auch muss man sich erst über das Verhältniss von Längs - und Querschnitt ins Klare versetzen. Wo nämlich auf einem Längsschnitte spindelförmige Elemente liegen, da treffen wir auf einem Querschnitte sternförmige, und
dem Zellennetze des Querschnittes entspricht die regelmässige Abwechselung von reihenweise gestellten spindelförmigen Ele - menten des Längsschnittes ganz nach dem Schema wie wir es beim Bindegewebe aufgestellt haben. Die Elemente sind also auch hier nur scheinbar einfach spindelförmig, wenn man einen rei - nen Längsschnitt betrachtet; ist dieser etwas schräg ge -
Längsschnitt aus dem Innern der Achilles-Sehne eines Neu - gebornen. a, a, a Zwischenmassen, b, b Fascikel. In beiden sieht man spindelförmige Kernzellen, zum Theil anastomosirend, mit leicht längs - streifiger Zwischenmasse, die Zellen in der Zwischenmasse dichter, in den Fascikeln spärlicher, bei c der Durchschnitt eines interstitiellen Blut Ge - fässes. Vergr. 250.
85Die Ernährung des Sehnengewebes.fallen, so sieht man die seitlichen Ausläufer, durch welche die Zellen einer Reihe mit denen der anderen communiciren.
Bis zu diesem Augenblicke hat man das Wachsthum der Sehnen nach der Geburt noch nicht zu dem Gegenstande einer regelmässigen Untersuchung gemacht, und es lässt sich nicht sagen, ob hier noch eine weitere Vermehrung der Zellen stattfindet; so viel ist jedoch sicher, dass die Zellen später sehr verlängert und die Abstände zwischen den einzel - nen Kernstellen ausserordentlich gross werden. Das eigent - liche Structurverhältniss erleidet dadurch aber keine Verände - rung; die ursprünglichen Zellen erhalten sich auch in dem grossen Röhrensystem, welches in der ausgewachsenen Sehne das ganze Gewebe durchzieht. Daraus erklärt sich die Mög - lichkeit, dass, obwohl die Sehne in ihren eigentlichen, inneren Theilen keine Gefässe enthält und, wie man bei jeder Teno - tomie sehen kann, nur wenig Blut in den äusseren Gefässen der Sehnenscheide und den inneren Gefässen der Intersti - tien der grösseren Bündel empfängt, doch eine gleichmässige Ernährung der Theile stattfindet. Diese kann in der That nur so gedacht werden, dass auf besonderen, von den Gefäs - sen unterscheidbaren Wegen Säfte durch die ganze Substanz der Sehne in einer regelmässigen Weise vertheilt werden. Die natürlichen Abtheilungen der Sehne sind aber fast ganz regel - mässig, so dass ungefähr auf jedes einzelne zellige Element eine gleich grosse Menge von Zwischengewebe kommt, und da die Zellenmaschen des Innern sich direkt in die dichten Zellenkanäle der Interstitien und diese bis an die Gefässe verfolgen lassen (Fig. 37. 38), so darf man wohl un - zweifelhaft in ihnen die Wege jener intermediären Saftströmung sehen, welche nicht mehr durch Ostien mit der allgemeinen Blutströmung zusammenhängt.
Sie haben hier ein neues Beispiel für meine Ansicht von den Zellenterritorien. Ich würde die ganze Sehne zerlegen, nicht in primäre und secundäre Fascikel, sondern vielmehr in eine gewisse Reihe von maschenförmig verbundenen Zellen; jeder Reihe würde ich ferner ein gewisses Gewebsgebiet zu - rechnen, so dass z. B. auf einem Längsschnitte etwa die Hälfte der Zwischenmasse der einen, die Hälfte der anderen Zellen -86Fünfte Vorlesung.reihe zugehören würde. Das, was man als die eigentlichen Bündel der Sehne betrachtet, würde in diesem Sinne eigentlich zu zerspalten sein; man müsste sich die Sehne zerlegen in eine grosse Zahl von Ernährungs-Territorien.
Dies ist das Verhältniss, welches wir überall bei diesen Ge - weben wiederfinden. Aus ihm leitet sich, wie Sie sich hoffent - lich durch die directe Anschauung überzeugen werden, die Grösse der Krankheitsgebiete zugleich ab: jede Krankheit, welche wesentlich auf einer Störung der inneren Gewebs-Ein - richtung beruht, stellt immer eine Summe aus den Einzelver - änderungen solcher Territorien dar. Aber zugleich gewähren die Bilder, welche man hier gewinnt, durch die Zierlichkeit dieser Einrichtung einen wirklich ästhetischen Genuss, und ich kann nicht läugnen, dass ich, so oft ich einen Sehnenschnitt ansehe, mit einem besonderen Wohlgefallen diese netzförmigen Ein - richtungen betrachte, welche die Verbindung des Aeusseren mit dem Inneren herstellen, und welche, ausser in dem Kno - chen, in der That in keinem Gebilde mit grösserer Schärfe und Klarheit sich darlegen lassen, wie in einer Sehne. —
Ich könnte hier, meine Herren, dem Bau und den Ein - richtungen nach am leichtesten die Geschichte der Hornhaut anschliessen, indessen werde ich später darauf zurückkommen, da die Hornhaut das bequemste Object zugleich für die De - monstration der pathologischen Veränderungen darbietet. Nur das will ich hervorheben, dass in ähnlicher Weise, wie die Sehne ihr peripherisches Gefässsystem hat und ihre inneren Theile durch das feine saftführende Röhrensystem ernährt werden, so auch an der Hornhaut nur die feinsten Gefässe einige Linien über den Rand herüberreichen, so dass die cen - tralen Theile vollkommen gefässlos sind, was schon wegen der Durchsichtigkeit des Gewebes sich als nothwendig ergibt.
Ich möchte dagegen ein anderes Gewebe hier anschlies - sen, das sonst gerade nicht in der Histologie besonders bevor - zugt ist, das aber für Sie vielleicht eher ein Interesse haben wird, nämlich den Nabelstrang. Seine Substanz (die so - genannte Wharton’sche Sulze) ist auch eines von den Gewe - ben, welche allerdings Gefässe führen, aber doch eigentlich keine Gefässe besitzen. Die Gefässe, welche durch den Nabel -87Der Nabelstrang.strang hindurchgeleitet werden, sind nicht nächste Nutritoren der Nabelstrangsubstanz, wenigstens nicht in dem Sinne, wie wir von Ernährungsgefässen an anderen Theilen sprechen.
Wenn man nämlich von nutritiven Gefässen handelt, so meint man stets Gefässe, welche in den Theilen, die ernährt werden sollen, Capillaren haben. Die Aorta thoracica ist nicht das nutritive Gefäss des Thorax, eben so wenig als die Aorta abdominalis das für die Bauchorgane. Man sollte also, wenn es sich um den Nabelstrang handelt, erwarten, dass ausser den beiden Nabel-Arterien und der Nabelvene noch Nabel - Capillaren existiren. Allein die Nabel-Arterien und die Nabel - Vene verlaufen, ohne auch nur das Mindeste von kleinen Ge - fässen abzugeben, bis zur Placenta hin; erst hier beginnen die Verästelungen. Die einzigen capillaren Gefässe, die überhaupt in dem Nabelstrange eines etwas entwickelten Kindes gefun - den werden, reichen nur etwa 4 — 5 Linien, selten ein wenig mehr von der Bauchhaut aus in denjenigen Theil des Nabel - stranges hinein, welcher nach der Geburt persistirt. Je nach - dem dieser gefässhaltige Theil höher heraufreicht, um so stär - ker kann sich der Nabel entwickeln. Bei sehr niedriger Ge - fässschicht wird der Nabel sehr tief, bei sehr grosser gibt es
die prominirenden Nabel. Die Capillaren bezeichnen hier die Grenze, bis zu welcher das per - manente Gewebe reicht; die Por - tio caduca des Nabelstranges hat keine eigenen Gefässe mehr.
Dies Verhältniss, welches ich für die Theorie der Ernährung sehr wichtig halte, übersieht man sehr leicht mit blossem Auge an injicirten Früchten vom 5. Monate und an Neugebornen. Die ge - fässhaltige Schicht setzt sich meist fast geradlinig ab.
Das abdominale Ende des Nabelstranges eines fast ausge - tragenen Kindes, injicirt. A die Bauchwand. B der persistirende Theil mit dichter Gefäss-Injection am Rande. C Portio caduca mit den Win - dungen der Nabelgefässe. v die Capillargrenze.
Freilich ist ein solches Object nicht absolut beweisend, denn es könnten immerhin einzelne feine Gefässe noch weiter gehen, welche nicht vom blossen Auge gesehen werden. Aber ich habe früher gerade diesen Punkt zum Gegenstande einer speciellen Untersuchung gemacht, und obwohl ich eine Reihe von Nabelsträngen bald von den Arterien, bald von den Ve - nen aus injicirt habe, ist es mir nie gelungen, auch nur das kleinste collaterale Gefäss zu sehen, welches über die Grenze der persistenten Schicht hinausging. Der ganze hinfällige Theil vom Nabelstrang, die lange Partie, welche zwischen dem cutanen Ende und der Placentar-Auflösung liegt, ist voll - ständig capillarlos, und es ist in der That nichts weiter von Gefässen vorhanden, als die drei grossen Stämme. Diese letz - teren zeichnen sich aber sämmtlich durch sehr dicke Wandun - gen aus, welche zugleich, wie wir eigentlich erst seit Kölli - ker’s Untersuchung wissen, enorm reich an Muskelfasern sind.
Auf einem Querschnitte durch den Nabelstrang bemerkt man, wie die dicke mittlere Haut ganz und gar aus glatten Muskelfasern besteht, eine unmittelbar an der andern, so reich - lich, wie es kaum an irgend einem entwickelten Gefässe ge - funden wird. Aus dieser Eigenthümlichkeit resultirt die ausser - ordentlich grosse Contractilität der Nabelgefässe, was man bei Einwirkung mechanischer Reize, beim Abschneiden mit der Scheere, beim Kneifen oder auf electrische Reize im Gros - sen sehen kann. Zuweilen verengern sie sich schon auf äussere Reize selbst bis zum Verschluss ihres Lumens, woraus sich erklärt, dass bei der Geburt auch ohne Ligatur, z. B. nach Abreissen des Nabelstranges, die Blutung von selbst stehen kann. Die Dicke dieser Wandungen ist daher leicht begreif - lich, denn zu der an sich so dicken Muscularis kommt noch eine innere und eine, wenn auch nicht grade sehr stark ent - wickelte äussere Haut; daran schliesst sich erst das sulzige Gallert-Gewebe (Schleimgewebe) des Nabelstranges. Durch diese Lagen hindurch würde also die Ernährung geschehen müssen. Ich kann nun allerdings nicht mit Sicherheit sagen, von wo aus das Gewebe des Nabelstranges sich ernährt; viel - leicht nimmt es aus dem Liquor Amnios Ernährungsstoffe auf;89Das Schleimgewebe des Nabelstranges.
auch will ich nicht in Abrede stellen, dass durch die Wand der Gefässe einzelne Ernährungsstoffe hindurchtreten mögen, oder dass sich von den kleinen Capillaren des persistirenden Theiles aus nutritives Material fortbewegt. Aber in jedem Falle liegt eine grosse Strecke von Gewebe fern von allen Gefässen und von der Oberfläche; diese ernährt und erhält sich, ohne dass eine feinere Circulation von Blut in ihr vor - handen wäre. Man hat nun allerdings lange Zeit hindurch sich mit diesem Gewebe nicht weiter beschäftigt, weil man es unter dem Namen der Sulze bezeichnete und damit überhaupt aus der Reihe der Gewebe in die vieldeutige Gruppe der blossen Anhäufungen von organischer Masse warf. Ich habe erst gezeigt, dass es wirklich ein gut gebildetes Gewebe von typischer Form ist, und dass dasjenige, was im engeren Sinne die Sulze darstellt, einen Theil der Intercellularsubstanz ausmacht, der sich ausdrücken lässt, während ein Gewebe zu - rückbleibt, welches in derselben Weise ein feines, anastomoti - sches Netz von zelligen Elementen enthält, wie wir das eben bei der Sehne und den übrigen Theilen kennen gelernt haben. Ein Durchschnitt durch die äusseren Theile zeigt eine Bildung, welche viel Aehnlichkeit mit dem Habitus der äusseren Schich - ten der Hornhaut hat: ein Epidermoidal-Stratum, eine etwas
Querdurchschnitt vom Schleimgewebe des Nabelstranges, das Maschennetz der sternförmigen Körper nach Behandlung mit Essig - säure und Glycerin darstellend. Vergr. 300.
90Fünfte Vorlesung.dichtere cutisartige Lage, und dann die Wharton’sche Sulze, welche der Textur nach dem Unterhautgewebe entspricht und eine Art von Tela subcutanea darstellt, mit welcher sie im Anfange wesentlich übereinstimmt. Sie hat insofern für die spätere Zeit ein besonderes Interesse, als durch diese Bedeutung als eigentliches Unterhautgewebe sie auch ihre nächste Verwandt - schaft documentirt mit dem Glaskörper, welcher der einzige Gewebs-Rest ist, der, soweit ich bis jetzt ermitteln konnte, auf diesem Zustande von Gallerte oder von Sulze, wenn Sie wollen, verharrt. Es ist, wie ich schon neulich anführte, der letzte Rest des embryonalen Unterhautgewebes, welches bei der Entwickelung des Auges unter der Linse (der früheren Epidermis, S. 34 — 35) eingestülpt wird.
Die eigentliche Masse des Nabelstranges besteht aus einem maschigen Gewebe, dessen Maschenräume Schleim (Mucin) und einzelne rundliche Zellen enthalten und dessen Lücken aus einer streifig-faserigen Substanz bestehen. Inner - halb dieser letzteren liegen sternförmige Elemente; wenn
Querdurchschnitt durch einen Theil des Nabelstranges. Links sieht man den Durchschnitt einer Nabelarterie mit sehr starker Muskelhaut, daran schliesst sich nach aussen das allmälig immer weiter werdende Zellennetz des Schleimgewebes. Vergr. 80.
91Das Bindegewebe (Zellgewebe).man durch Behandlung mit Essigsäure ein gutes Präparat her - stellt, so bekommt man ein regelrechtes Netz ven Zellen zn Gesicht, welches die Masse in regelmässige Abtheilungen zer - legt, so dass durch die Anastomosen, welche diese Zellen durch den ganzen Nabelstrang haben, eben auch eine gleich - mässige Vertheilung der Säfte durch die ganze Substanz mög - lich wird. —
Ich habe Ihnen bis jetzt, meine Herren, eine Reihe von Geweben vorgeführt, die alle darin übereinkamen, dass sie entweder sehr wenig Capillargefässe oder gar keine haben. In allen diesen Fällen erscheint der Schluss sehr einfach, dass die besondere zellige Kanal-Einrichtung, welche sie besitzen, für die Saftströmung diene. Man könnte aber meinen, es sei dies eine Ausnahms-Eigenschaft, die nur den gefässlosen oder gefässarmen, im Allgemeinen harten Theilen zukäme, und ich muss daher noch ein Paar Worte über die weichen Organe hinzufügen, welche einen ähnlichen Bau haben. Alle Gewebe, welche wir bisher betrachtet haben, gehören der Classification nach, welche ich Ihnen früher gegeben habe, in die Reihe der Bindesubstanzen; der Faser-Knorpel, das fibröse oder Sehnen - gewebe, das Schleim -, Knochen - und Zahngewebe müssen sämmtlich derselben Klasse zugerechnet werden. In dieselbe Kategorie gehört aber auch die ganze Masse dessen, was man gewöhnlich unter dem Namen des Zellgewebes begriffen hat und worauf zumeist der von Joh. Müller vorgeschlagene Na - men des Bindegewebes passt; diejenige Substanz, welche die Zwischenräume der verschiedensten Organe in bald mehr, bald weniger grosser Menge erfüllt, welche die Verschiebung der Theile gegen einander möglich macht, und von der man sich früher dachte, dass sie grössere, mit einem gasförmigen Dunst oder Feuchtigkeit gefüllte Räume (Zellen im groben Sinne) enthielte.
Dieser Art ist das eigenthümliche Zwischen - oder Binde - gewebe, wie wir es im Inneren grosser Muskeln finden, zwischen den einzelnen Primitivbündeln, noch mehr zwischen den ein - zelnen Haufen oder Bündeln von Primitivbündeln. Dies ist ein an sich ziemlich gefässreiches Gewebe; es liegen darin92Fünfte Vorlesung.zahlreiche Arterien, Venen und Capillaren, und es ist die Ein - richtung für die Ernährung die allergünstigste von der Welt. Trotzdem besteht auch hier neben den Blutgefässen eine fei - nere Einrichtung der Ernährungswege genau in derselben Art, wie wir sie eben kennen gelernt haben, nur dass, je nach dem besonderen Bedürfnisse, an einzelnen Theilen eine eigenthüm - liche Veränderung der Zellen stattfindet, indem nach und nach an die Stelle der einfachen Zellennetze und Zellenfasern eine compactere Bildung tritt, welche durch eine directe Umwand - lung daraus hervorgeht, nämlich das sogenannte elastische Gewebe.
Wenige Monate, nachdem ich meine ersten Beobachtun - gen über die Röhrensysteme der Bindesubstanzen mitgetheilt hatte, veröffentlichte Donders seine Beobachtungen über die Umbildung der Bindegewebszellen in elastische Elemente, — eine Erfahrung, welche für die Ergänzung der Geschichte des Bindegewebes von grosser Bedeutung geworden ist. Wenn man nämlich an solchen Punkten, wo das Bindegewebe gros - sen Dehnungen ausgesetzt ist, wo es also eine grosse Wider - standsfähigkeit besitzen muss, untersucht, so findet man in derselben Anordnung und Verbreitung, welche sonst die Zel - len und Zellenröhren des Bindegewebes darbieten, die elasti - schen Fasern, und man kann nach und nach die Umbildung der einen in die anderen so verfolgen, dass es nicht zweifel -
Elastische Netze und Fasern aus dem Unterhautgewebe vom Bauche einer Frau. a, a grosse, elastische Körper (Zellkörper) mit
93Elastische Fasern.haft bleiben kann, dass auch die gröberen elastischen Fasern direct durch eine chemische Veränderung und Verdichtung der Wand der Zellen selbst hervorgehen. Da, wo ursprünglich eine feine, mit langen Fortsätzen versehene Spindelzelle lag, da sehen wir nach und nach die Membran an Dicke zuneh - men und das Licht stärker brechen, während der eigentliche Zelleninhalt sich immer mehr reducirt und endlich verschwin - det. Das ganze Gebilde wird demnach gleichmässiger, ge - wissermaassen sklerotisch und erlangt gegen Reagentien eine unglaubliche Widerstandsfähigkeit, so dass nur die stärksten Caustica nach längerer Einwirkung dasselbe zu zerstören im Stande sind, während es den kaustischen Alkalien und Pflan - zensäuren in der bei mikroskopischen Untersuchungen gebräuch - lichen Concentration vollkommen widersteht. Je mehr diese Veränderung fortschreitet, um so mehr nimmt die Elasticität der Theile zu, und wir finden in den Schnitten diese Fasern gewöhnlich nicht gerade oder gestreckt, sondern gewunden, aufgerollt, spiralig gedreht, oder kleine Zikzaks bildend (Fig. 43, c, e.). Dies sind Elemente, welche vermöge ihrer grossen Elasticität Retractionen derjenigen Theile bedingen, an welchen sie in grösserer Masse vorkommen, z. B. der Arterien. Man unterscheidet gewöhnlich die feinen, elastischen Fasern, welche eben die grosse Verschiebbarkeit besitzen, von den breiteren, welche allerdings in gewundenen Formen sich nicht darstellen. Der Entstehung nach scheint indess zwischen bei - den Arten kein Unterschied zu sein; beide gehen aus Binde - gewebszellen hervor, und die spätere Anordnung wiederholt die ursprüngliche Anlage. An die Stelle eines Gewebes, wel - ches aus Grundsubstanz und einem maschigen anastomosiren - den Zellengewebe besteht, tritt nachher ein Gewebe, dessen Grundsubstanz durch grosse elastische Maschennetze mit höchst compakten und derben Fasern abgetheilt wird.
Bis jetzt ist nicht mit Sicherheit ermittelt, ob die Verdich - tung (Sklerose) der Zellen bei dieser Umwandlung so weit
zahlreichen, anastomosirenden Ausläufern. b, b dichte elastische Faser - züge, an der Grenze grösserer Maschenräume. c, c mittelstarke Fasern, am Ende spiralig retrahirt. d, d feinere elastische Fasern, bei e fein - spiralig zurückgezogen. Vergr. 300.
94Fünfte Vorlesung.fortgeht, dass ihre Leitungsfähigkeit völlig aufgehoben, ihr Lumen ganz beseitigt wird, oder ob im Innern eine kleine Höhlung übrig bleibt. Auf Querschnitten feiner elastischer Fa - sern sieht es so aus, als ob das Letztere der Fall sei, und man könnte sich daher vorstellen, dass bei der Umbildung der Bindegewebskörperchen in elastische Fasern eben nur eine Verdichtung und Verdickung und zugleich eine chemische Um - wandlung der Membran stattfände, schliesslich jedoch ein Minimum des Zellenraumes übrig bliebe. Was für eine Sub - stanz es ist, welche die elastischen Theile bildet, ist nicht er - mittelt, weil an ihnen keine Art der Lösung ausführbar ist; man kennt von der chemischen Natur dieses Gewebes nichts, als einen Theil seiner Zersetzungs-Producte. Daraus lässt sich weder die Zusammensetzung, noch die chemische Stellung zu den übrigen Geweben beurtheilen.
Diese Art der Umwandlung findet sich ausserordentlich verbreitet in der Haut, namentlich in den tieferen Schichten der eigentlichen Lederhaut; sie bedingt hauptsächlich die aus - serordentliche Resistenz dieses Gewebes, die wir mit so gros - ser Anerkennung an unseren Sohlen zu erproben pflegen. Denn die Festigkeit der einzelnen Schichten der Haut beruht wesentlich auf dem grösseren oder geringeren Gehalt an elasti - schen Fasern. Den oberflächlichsten Theil der Cutis dicht unter dem Rete Malpighii bildet der Papillarkörper, worunter man nicht nur die Papillen selbst, sondern auch eine Lage von continuirlich fortlaufender Cutissubstanz zu verstehen hat; erst darunter beginnen die groben elastischen Netze, während in die Papillen selbst nur feine elastische Fasern in Bündel - form aufsteigen, welche in der Basis der Papillen feine und enge Maschennetze zu bilden anfangen (Fig. 16, P, P.). Letztere hängen nach unten mit dem elastischen, sehr dicken und gro - ben Netz zusammen, welches den mittleren, am meisten festen Theil der Haut, die eigentliche Lederhaut durchsetzt; darun - ter folgt ein noch gröberes Maschennetz innerhalb der weni - ger festen, aber immerhin noch sehr soliden, unteren Schicht der Cutis, welche nach unten in das Fett - oder Unterhautge - webe übergeht.
An den Stellen, wo eine solche Umwandlung in elastisches95Die äussere Haut.Gewebe stattgefunden hat, findet man manchmal fast gar keine deutlichen Zellen mehr. So ist es nicht bloss an der äusseren Haut, sondern auch namentlich an gewissen Stellen der mitt - leren Arterienhaut, namentlich an der Aorta. Hier wird das Netz von elastischen Fasern so überwiegend, dass nur bei grosser Sorgfalt es möglich ist, hier und da feine, zellige Ele - mente zu entdecken. In der äusseren Haut dagegen findet man neben den elastischen Fasern eine etwas grössere Menge von kleinen Elementen, die ihre zellige Natur noch erhalten ha - ben, allerdings in äusserst minutiöser Grösse, so dass man da - nach speciell suchen muss. Sie liegen gewöhnlich in den Zwischenräumen der grossmaschigen Netze, und bilden hier entweder ein vollkommen anastomotisches, kleinmaschiges Sy - stem, oder sie erscheinen auch wohl in Form mehr gesonder - ter, rundlicher Gebilde, indem die einzelnen Zellen nicht ganz deutlich mit einander in Verbindung stehen. Dies ist nament - lich in dem Papillarkörper der Haut der Fall, der sowohl in seiner continuirlichen Schicht, als in den Papillen kernhaltige Zellen führt, im geraden Gegensatze zu der zugleich mehr ge - fässarmen eigentlichen Lederhaut. Allein es bedurfte dort allerdings einer ungleich zahlreicheren Menge von Gefässen, da diese zugleich das Ernährungsmaterial für das ganze, über der Papille liegende Oberhautstratum liefern müssen; es bleibt dann doch immer nur eine kleine Menge von Saft der Papille als solcher zur Disposition. Jeder Papille entspricht daher ein gewisser (vasculärer) Bezirk der darüber liegenden Oberhaut, dagegen zerfällt die Papille als solche wieder in so viele Ele - mentar - (histologische) Bezirke, als überhaupt Elemente (Zel - len) darin vorhanden sind.
Injectionspräparat von der Haut, senkrechter Durchschnitt. E Epidermis, R Rete Malpighii, P die Hautpapillen mit den auf - und ab - steigenden Gefässen (Schlingen). C Cutis. Vergr. 11.
Am Scrotum hat das subcutane Gewebe (Tunica dar - tos) ein besonderes Interesse dadurch, dass es ausnehmend reich an Gefässen und Nerven ist, ganz entsprechend der ho - hen Bedeutung dieses Theiles, und dass es ausserdem eine enorme Masse von Muskeln und zwar von jenen kleinen Hautmuskeln be - sitzt, die ich Ihnen neulich beschrieben habe (S. 51). Letztere sind die eigentlich wirksamen Elemente der contractilen Tunica dartos. Gerade hier, wo man früher auf eine contractile Binde - substanz zurückgegangen war, ist die Menge der Hautmuskeln überaus reichlich, und die würdevollen Runzelungen des Hoden - sackes entstehen einzig und allein aus der Contraction dieser kleinen Bündel, welche man, namentlich nach Carminfärbung
Schnitt aus der Tunica dartos des Scrotums. Man sieht neben einander parallel eine Arterie (a), eine Vene (v) und einen Ner - ven (n); erstere beide mit kleinen Aesten. Rechts und links davon Muskel - bündel (m, m) und dazwischen weiches Bindegewebe (c, c) mit grossen, anastomosirenden Zellen und feinen elastischen Fasern. Vergr. 300.
97Tunica dartos und weiches Bindegewebe.sehr leicht von dem Bindegewebe unterscheiden kann. Es sind Fascikel von ziemlich gleicher Breite, meist breiter als die Bindegewebsbündel; die einzelnen Elemente sind in ihnen in Form von langen glatten Faserzellen zusammengeordnet. Jedes Muskel-Fascikel zeigt, wenn man es mit Essigsäure be - handelt, in regelmässigen Abständen jene eigenthümlichen, langen, häufig stäbchenartigen Kerne, und zwischen ihnen eine feine Abtheilung der Substanz zu einzelnen Zellen, deren In - halt ein leicht körniges Aussehen hat. Das sind die Runzler des Hodensackes (Corrugatores scroti). Daneben finden sich in der überaus weichen Haut auch noch eine gewisse Zahl von feinen elastischen Elementen, und in grösserer Menge das gewöhnliche, weiche, lockige Bindegewebe mit einer gros - sen Zahl verhältnissmässig umfangreicher, spindel - und netz - förmiger, granulirter Kernzellen.
Diese persistirenden Zellen des Bindegewebes hat man früher völlig übersehen, indem man als die eigentlichen Ele - mente des Bindegewebes die Fibrillen desselben betrachtete. Trennt man nämlich die einzelnen Theile des Bindegewebes von einander, so bekommt man kleine Bündel von welliger Form und streifigem, fibrillärem Aussehen. Freilich wird nach Reichert dieses Aussehen nur durch Faltenbildung bedingt — eine Vorstellung, die vielleicht nicht in der Ausdehnung, wie sie aufgestellt wurde, angenommen werden darf, die aber so lange nicht widerlegt ist, als eine vollkommene Isolation der Fibrillen immer nur eine künstliche ist, und auf alle Fälle neben den Fibrillen eine gleichmässige Grundmasse angenom - men werden muss, welche die Bündel zusammenhält. Indess ist dies eine Frage von untergeordneter Bedeutung. Dagegen ist es äusserst wichtig zu wissen, dass überall, wo dies lockere Gewebe liegt, im Unterhautgewebe, im Zwischenmuskelgewebe, in den serösen Häuten, dasselbe durchzogen ist von meist ana - stomosirenden Zellen (auf Längsschnitten parallelen Zellen - reihen, auf Querschnitten Zellennetzen), welche in ähnlicher Weise die Bündel des Bindegewebes von einander scheiden, wie die Knochenkörperchen die Lamellen der Knochen. Da - neben finden sich überall die mannigfachsten Gefässverbindun - gen, und zwar so viel Gefässe, dass eine besondere Leitungs -798Fünfte Vorlesung.einrichtung des Gewebes selbst geradezu unnöthig erscheinen könnte. Allein auch dies Gewebe, so günstig seine Capillar - bahnen liegen, bedarf einer Einrichtung, welche die Möglichkeit darbietet, eine Special-Vertheilung der ernährenden Säfte auf die einzelnen zelligen Bezirke möglich zu machen. Erst, wenn man die Aufnahme des Ernährungs - materials als eine Folge der Thätigkeit (Anziehung) der Ge - webs-Elemente selbst auffasst, begreift man, dass die einzelnen Bezirke nicht jeden Augenblick der Ueberschwemmung vom Blute aus preisgegeben sind, dass vielmehr das dargebotene Material nur dem jeweiligen Bedürfnisse entsprechend in die Theile aufgenommen und den einzelnen Bezirken in einem solchen Maasse zugeführt wird, dass im Allgemeinen wenig - stens, so lange irgend eine Möglichkeit der Erhaltung besteht, der eine Theil nicht durch die anderen wesentlich benachthei - ligt werden kann.
Arterien. Capillaren. Continuität der Gefässwand. Porosität derselben. Haemorrhagia per diapedesin. Venen. Gefässe in der Schwangerschaft. Eigenschaften der Gefässwand: 1. Contractillität. Rhythmische Bewegung. Active oder Reizungs-Hyperämie. Ischämie. Gegenreize. 2. Elasticität und Bedeutung derselben für die Schnelligkeit und Gleichmässigkeit des Blutstromes. Erweiterung der Gefässe. 3. Permeabilität. Diffusion. Specifische Affinitäten. Verhältniss von Blutzufuhr und Er - nährung. Die Drüsensecretion (Leber). Specifische Thätigkeit der Gewebselemente. Dyskrasie. Transitorischer Charakter und localer Ursprung derselben. Säuferdyskrasie. Hä - morrhagische Diathese. Syphilis.
Ich habe Ihnen, meine Herren, in den letzten Vorlesungen ein etwas weitläuftiges Bild von den feineren Einrichtungen für die Saftströmungen im Körper zu liefern gesucht, und zwar grade für diejenigen Saftströmungen, wo die Säfte selbst sich der Beobachtung mehr entziehen. Erlauben Sie, dass ich heute übergehe auf die grösseren Wege und die edleren Säfte, welche der gangbaren Anschauung nach mehr im Vorder - grund stehen.
Die Vertheilung des Blutes geschieht bekanntlich inner - halb der Gefässe so, dass die Arterien sich in immer feinere Aeste auflösen, und indem sie sich auflösen, den Habitus ihrer Wandungen allmälig ändern, so dass endlich feine Kanäle mit einer so einfachen Wand, wie sie überhaupt im Körper an - getroffen wird, sogenannte Haarröhrchen, erscheinen. Die histo - logischen Erscheinungen verhalten sich dabei folgendermassen:
7*100Sechste Vorlesung.Wenn wir eine Arterie isoliren, so finden wir, dass ihre Wände verhältnissmässig sehr dick sind, und an denjenigen Arterien, die man noch mit blossem Auge verfolgen kann, un - terscheidet man mit Hülfe des Mikroskopes nicht bloss die bekannten drei Häute, sondern noch ausser diesen eine feine Epithelial-Schicht, welche die innere Oberfläche bekleidet, und welche nicht in die gewöhnliche Bezeichnung der Häute auf - genommen zu werden pflegt. Die innere und äussere Haut sind wesentlich Bindegewebsbildungen, welche in grösseren Arterien einen zunehmenden Gehalt an elastischen Fasern er - kennen lassen; zwischen ihnen liegt die verhältnissmässig dicke, mittlere oder Ringfaserhaut, welche als Sitz der Musku - latur fast den wichtigsten Bestandtheil der Arterienwand aus - macht. Die Muskulatur findet sich am reichlichsten in den mittleren und kleineren Arterien, während in den ganz grossen. namentlich in der Aorta, elastische Lagen den überwiegenden Bestandtheil der Ringfaserhaut darstellen. An kleinen Arterien bemerkt man bei mikroskopischer Untersuchung leicht inner - halb dieser Haut (vgl. Fig. 26 b, b. Fig. 45, a.) kleine Quer - Abtheilungen, entsprechend den einzelnen Faserzellen, welche so dicht um das Gefäss herumliegen, dass wir in den kleinen Arterien Faserzelle neben Faserzelle finden ohne irgend eine Unterbrechung. Die Dicke dieser Schicht kann man durch die Begrenzung, welche sie nach innen und aussen durch Längsfaserhäute erfährt, bequem erkennen; das einzige Täu - schende sind runde Zeichnungen, welche man hie und da in der Dicke der Ringfaserhaut, aber nur am Rande des Ge - fässes (Fig 26, b, b. 46, m, m.) sieht, und welche wie eingestreute runde Zellen oder Kerne aussehen. Dies sind die in schein - baren Querschnitten gesehenen Faserzellen. Am deutlich - sten aber erkennt man die Lage der Media nach Behandlung mit Essigsäure, welche längliche Kerne in grosser Zahl her - vortreten lässt.
Diese Schicht ist es, welche im Allgemeinen der Arterie ihre Besonderheit gibt, und welche sie am Wesentlichsten unterscheidet von den Venen. Freilich gibt es zahlreiche Ve - nen am Körper, die bedeutende Muskelschichten besitzen, z. B. die oberflächlichen Hautvenen, indess gerade bei den kleineren101Kleine Arterien.
Gefässen bezieht sich dieses Vorkommen einer deutlich aus - gesprochenen Ringfaserhaut wesentlich auf arterielle Gefässe, so dass man sofort geneigt ist, wo man einen solchen Bau findet, auch ein arterielles Gefäss anzunehmen.
Diese immer noch grösseren Gefässe, die im gefüllten Zustande, vom blossen Auge betrachtet, allerdings nur als rothe Fäden erscheinen, gehen nach und nach in kleinere über, und wir sehen bei 300maliger Vergrösserung, dass sie sich in Aeste auflösen, auf welche sich, selbst wenn sie sehr klein sind, die drei Häute noch fortsetzen. Erst an den kleinsten Aesten verschwindet endlich die Muskelhaut, indem die Ab - stände zwischen den einzelnen Querfasern immer grösser wer - den und zugleich immer deutlicher die innere Haut durch sie hindurch scheint, deren längsliegende Kerne sich mit denen der mittleren unter einem rechten Winkel kreuzen (Fig. 26, D. E.). Auch die Adventitia lässt sich noch eine Strecke weit verfolgen (an manchen Stellen, wie am Gehirn, durch Ein - streuung von Pigment oder Fett deutlicher bezeichnet, Fig. 26, D. E.), bis endlich auch sie sich verliert, und nur die ein - fache Haar-Röhre übrig bleibt (Fig. 3, c.). Die Voraussetzung ist also im Allgemeinen dafür, dass die eigentlichen Capillar - Membranen am meisten übereinstimmen mit der Intima der
Kleinere Arterie aus der Sehnenscheide der Extensoren einer frisch amputirten Hand. a, a Adventitia. m, m Media mit star - ker Muskelhaut, i, i Intima, theils mit Längsfalten, theils mit Längsker - nen, an dem Seitenaste aus den durchrissenen äusseren Häuten hervor - stehend. Vergr. 300.
102Sechste Vorlesung.grösseren Gefässe, und man denkt sich gewöhnlich, dass, je vollständiger das Gefäss wird, um so mehr Häute sich an sei - nem Umfange entwickeln. Das eigentliche Entwickelungsver - hältniss dieser Theile zu einander ist jedoch keinesweges voll - ständig sicher gestellt.
Innerhalb der eigentlich capillären Auflösung haben wir weiter nichts Bemerkbares an den Gefässen, als die früher schon erwähnten Kerne, welche der Längsaxe des Gefässes entsprechen, und welche so in die Gefässwand selbst einge - setzt sind, dass man eine zellige Abtheilung um sie herum wei - ter nicht zu erkennen vermag. Die Gefässhaut erscheint hier ganz gleichmässig, absolut homogen und absolut continuirlich (Fig. 3, c.). Während man noch vor 20 Jahren darüber dis - cutirte, ob es nicht Gefässe gäbe, welche keine eigentlichen Wandungen hätten, und welche nur Aushöhlungen, Ausgrabungen des Parenchyms der Organe seien, so wie darüber, ob Gefässe dadurch entstehen könnten, dass von den alten Höhlungen aus sich neue Bahnen durch Auseinanderdrängen des benachbarten Parenchyms eröffneten, so kann es heut zu Tage kein Zwei - fel mehr sein, dass das Gefässsystem überall continuirlich durch Membranen geschlossen ist. An diesen ist es nicht mehr möglich eine Porosität zu erkennen. Selbst die feinen Poren, welche man in der letzten Zeit an verschiedenen Thei - len wahrgenommen, haben bis jetzt an der Gefässhaut kein Analogon gefunden, und wenn man von der Porosität der Ge - fässwand spricht, so kann dies nur in physikalischem Sinne von unsichtbaren, eigentlich molekulären Interstitien geschehen. Eine Collodiumhaut ist nicht homogener, nicht continuirlicher, als die Capillarhaut. Eine Reihe von Möglichkeiten, die man früher zuliess, z. B. dass an gewissen Punkten die Continuität der Capillarmembran nicht bestände, fallen einfach weg. Von einer „ Transsudation “oder Diapedese des Blutes durch die Gefässhaut, ohne Ruptur derselben, kann gar nicht die Rede sein; und obwohl wir den Nachweis der Rupturstelle nicht in jedem einzelnen Falle liefern können, so ist es doch ganz un - denkbar, dass das Blut mit seinen Körperchen anders, als durch ein Loch in der Gefässwand austreten könne. Dies103Capillaren und kleine Venen.versteht sich nach histologischen Erfahrungen so sehr von selbst, dass darüber keine Discussion möglich ist.
Nachdem die Capillaren eine Zeit lang fortgegangen sind, setzen sich nach und nach aus ihnen kleine Venen zusam - men, welche gewöhnlich in der Nähe der Arterien zurücklau - fen (Fig. 45, v.). An ihnen fehlt im Allgemeinen die charakte - ristische Ringfaserhaut der Arterien, oder sie ist wenigstens sehr viel weniger ausgebildet. Dafür trifft man in der Media der stärkeren Venen derbere Lagen, die sich nicht so sehr durch die Abwesenheit von Muskel-Elementen, als durch das reichlichere Vorkommen longitudinell verlaufender elastischer Elemente charakterisiren, und die je nach den verschiedenen Localitäten eine verschiedene Mächtigkeit zeigen. Nach innen folgen dann die weicheren und feineren Bindegewebs-Lagen der Intima, und auf dieser findet sich wieder zuletzt ein
plattes, ausserordentlich durchscheinendes Epitheliallager, das am Schnitt-Ende sehr leicht aus dem Gefässe hervortritt
A. Epithel von der Cruralarterie (Archiv f. path. Anat. Bd. III. Fig. 9 und 12. S. 596.) a Kerntheilung. B. Epithel von grösseren Venen. a, a Grössere, granulirte, runde, einkernige Zellen (farblose Blutkörperchen?). b, b längliche und spindel - förmige Zellen mit getheiltem Kern und Kernkörperchen. c Grosse, platte Zellen mit zwei Kernen, von denen jeder drei Kernkörperchen besitzt und in Theilung begriffen ist. d Zusammenhängendes Epithel, die Kerne in progressiver Theilung, eine Zelle mit sechs Kernen. Vergr. 320.
104Sechste Vorlesung.
und den Eindruck von Spin - delzellen macht, so dass es leicht verwechselt werden kann mit spindelförmigen Muskelzel - len. Die kleinsten Venen besitzen gleichfalls dieses Epithel, be - stehen aber ausserdem eigent - lich ganz aus einem mit Längs - kernen versehenen Bindege - webe (Fig. 45, v.).
Diese Verhältnisse erleiden keine wesentliche Aenderung, wenn auch die einzelnen Theile des Gefässapparates die äus - serste Vergrösserung erfahren. Am besten sieht man diess bei der Schwangerschaft, wo nicht bloss am Uterus, sondern auch an der Scheide, den Tuben und Eierstöcken, den Mutter - bändern sowohl die grossen und kleinen Arterien und Venen, als die Capillaren die beträchtlichste Erweiterung zeigen, so dass das übrige Gewebe, trotzdem dass es sich gleichfalls nicht unerheblich vergrössert, dadurch wesentlich in den Hintergrund gedrängt wird. Indess eignen sich doch gerade Theile des puerperalen Geschlechtsapparates auch vortrefflich dazu, das Verhältniss der Gewebs-Elemente zu den Gefässbezirken zu übersehen. An den Fimbrien der Tuben sieht man z. B. in - nerhalb der Schlingennetze, welche die sehr weiten Capillaren gegen den Rand hin bilden, doch immer noch eine gewisse Zahl von grossen Bindegewebszellen zerstreut, von denen nur einzelne den Gefässen unmittelbar anliegen. An den Alae vespertilionum findet man ausserdem sehr schön ein Verhält - niss, welches sich an den Anhängen des Generations-Apparates öfter wiederholt, wie wir es neulich beim Scrotum betrachtet haben; die Gefässe werden nämlich von ziemlich beträcht - lichen glatten Muskellagen begleitet, welche nicht ihnen ange - hören, sondern nur dem Gefässverlaufe folgen, und zum Theil die Gefässe in sich aufnehmen. Es ist dies ein äusserst wich -
Epithel der Nierengefässe. A. Flache, längs gefaltete Spindelzellen mit grossen Kernen vom Neugebornen. B. Bandartige, fast homogene Epithelplatte mit Längskernen vom Erwachsenen. Vergr. 350.
105Gefässmusculatur.tiges Element, insofern die Contractionsverhältnisse dieser Li - gamente, welche man gewöhnlich nicht selbst als muskulös betrachtet, keinesweges bloss den Blutgefässen zuzuschreiben sind, wie erst neulich James Traer nachzuweisen gesucht hat; vielmehr finden sich mächtige Schichten von Muskeln, welche mitten durch die Ligamente fortgehen, und welche bei der menstrualen Erregung in gleicher Weise die Möglichkeit zu Zusammenziehungen darbieten, wie wir sie an äusseren Thei - len mit so grosser Deutlichkeit verfolgen können. —
Wenn man nun die Frage aufwirft, in wie weit die ein - zelnen Elemente der Gefässe in dem Körper von Bedeutung sind, so versteht es sich von selbst, dass für die gröberen Vorgänge der Circulation die contractilen Elemente die wesent - lichste Bedeutung haben, nächstdem die elastischen Theile, und endlich die einfach permeablen homogenen Häute. Be - trachten wir zunächst die Bedeutung der muskulösen Ele - mente und zwar an denjenigen Gefässen, welche hauptsäch - lich damit versehen sind, an den Arterien.
Wenn eine Arterie irgend eine Einwirkung erfährt, wel - che eine Zusammenziehung ihrer Muskeln bedingt, so wird natürlich das Gefäss sich verengern müssen, da die contracti - len Zellen ringförmig um das Gefäss herumliegen; es wird die Verengerung unter Umständen bis fast zum Verschwinden des Lumens gehen können, und die natürliche Folge wird dann sein, dass in den Theil weniger Blut gelangt. Wenn also eine Arterie auf irgend eine Weise einem pathologischen Irritans zugänglich oder wenn sie auf physiologischem Wege excitirt wird, so muss ihre eigentliche Thätigkeit darin be - stehen, dass sie enger wird. Man könnte nun freilich, nachdem man die Muskel-Elemente der Gefässwandungen kennt, den alten Satz wieder aufnehmen, dass die Gefässe, wie das Herz, eine Art von rhythmischer, pulsirender Bewe - gung erzeugten, welche im Stande wäre, die Fortbewegung des Blutes direct zu fördern, so dass eine arterielle Hyperämie durch eine vermehrte Pulsation der Gefässe hervorgebracht würde.
106Sechste Vorlesung.Es ist allerdings eine einzige Thatsache bekannt, welche eine wirkliche rhythmische Bewegung der Arterienwandungen beweist; Schiff hat dieselbe zuerst an dem Ohre der Ka - ninchen beobachtet. Allein sie entspricht keineswegs dem Rhythmus der bekannten Arterien-Pulsation; ihr einziges Ana - logon findet sich in den Bewegungen, welche früher von Wharton Jones an den Venen der Flughäute von Fleder - mäusen beobachtet worden sind, und welche in einer äusserst langsamen und ruhigen Weise vor sich gehen.
Ungleichmässige Zusammenziehung kleiner Gefässe aus der Schwimmhaut des Frosches nach Reizung. Copie nach Wharton Jones.
Ich habe an Fledermäusen diese Erscheinungen studirt und mich überzeugt, dass der Rhythmus weder mit der Herz - bewegung, noch mit der respiratorischen Bewegung zusam - menfällt; es ist ein ganz eigenthümlicher, verhältnissmässig nicht sehr ausgiebiger Bewegungsakt, welcher in ziemlich lan - gen Pausen, in einer längern Pause als die Circulation, und in einer kürzeren als die Respiration, erfolgt. Auch am Ka - ninchenohr sind die Zusammenziehungen der Arterien ungleich langsamer als die Herz - und Respirationsbewegungen.
Wenn man diese Erscheinungen abrechnet, welche offen - bar nicht in der Weise verwerthet werden dürfen, dass die frühere Ansicht dadurch gestützt werden könnte, so bleibt als wesentliche Thatsache stehen, dass die Muskulatur eines Ge - fässes auf jeden Reiz, der sie in Action setzt, sich zusammen - zieht, dass aber diese Zusammenziehung sich nicht in einer peristaltischen Weise fortpflanzt, sondern sich auf die gereizte Stelle beschränkt, höchstens sich ein wenig darüber hinaus - erstreckt, und an dieser Stelle eine gewisse Zeit lang anhält. Je muskulöser das Gefäss ist, um so dauerhafter und ergie - biger wird die Contraction, um so stärker die Hemmung, welche die Strömung des Blutes dadurch erfährt. Je kleiner die Gefässe sind, um so schneller sieht man dagegen auf die Contraction eine Erweiterung folgen, welche aber nicht wie - derum von einer Contraction gefolgt ist, wie es für das Zu - standekommen einer Pulsation nothwendig wäre, sondern welche mehr oder weniger lange fortbesteht. Diese Erweiterung ist nicht eine active, sondern eine passive, hervorgebracht durch den Druck des Blutes auf die ermüdete, weniger Widerstand leistende Gefässwand.
Untersucht man nun die Erscheinungen, welche man ge - wöhnlich in der Gruppe der activen Hyperämien zusammen - fasst, so kann kein Zweifel darüber sein, dass in der Regel die Muskulatur der Arterien wesentlich dabei betheiligt ist. Sehr gewöhnlich handelt es sich um solche Vorgänge, wo die Ge - fässmuskeln in der That gereizt werden, und wo der Con - traction ein Zustand der Relaxation folgt, wie er in gleich aus - gesprochener Weise sich an den übrigen Muskeln fast gar nicht vorfindet, ein Zustand, der offenbar eine Art von Er -108Sechste Vorlesung.müdung und Erschöpfung ausdrückt, und der um so anhal - tender ist, je energischer der Reiz war, welcher einwirkte. An kleinen Gefässen mit wenig Muskelfasern sieht es daher öf - ters so aus, als ob die Reize keine eigentliche Verengerung hervorriefen, da man überaus schnell eine Erschlaffung eintreten sieht, welche längere Zeit andauert und ein vermehrtes Ein - strömen des Blutes möglich macht.
Diese selben Vorgänge der Relaxation können wir expe - rimentell am leichtesten herstellen dadurch, dass wir die Ge - fässnerven eines Theiles durchschneiden; während wir die Verengerung experimentell in sehr grosser Ausdehnung erzeu - gen können, indem wir die Gefässnerven einem sehr energi - schen Reiz unterwerfen. Dass man diese Art von Verenge - rung so spät kennen gelernt hat, erklärt sich daraus, dass die Nervenreize sehr gross sein müssen, und dass, wie Claude Bernard gezeigt hat, nur starke electrische Ströme dazu aus - reichen. Andererseits sind die Verhältnisse nach Durchschnei - dung der Nerven an den meisten Theilen so complicirt, dass die Erweiterung der Beobachtung sich entzogen hat, bis gleich - falls durch Bernard der glückliche Punkt entdeckt und in der Durchschneidung der sympathischen Nerven am Halse der Experimentation ein zuverlässiger Beobachtungsort er - schlossen wurde.
Wir gewinnen also die wichtige Thatsache, dass, sei die Erweiterung des Gefässes oder, mit anderen Worten, die Re - laxation der Gefässmuskeln unmittelbar durch eine Lähmung der Nerven oder eine Unterbrechung des Nerveneinflusses her - vorgebracht, oder sei sie die mittelbare Folge einer voraus - gegangenen Reizung, welche eine Ermüdung setzte, dass, sage ich, in jedem Falle es sich um eine Art von Paralyse der Gefässwand handelt, und dass active Hyperämie insofern eine falsche Bezeichnung ist, als der Zustand der Gefässe dabei ein vollständig passiver ist. Alles, was man auf diese behauptete Activität der Gefässe gebaut hat, ist, wenn nicht grade auf Sand gebaut, doch äusserst zweideutig; und alle weiteren Schlüsse, die man gezogen hat in Beziehung auf die Bedeu - tung, welche die Thätigkeit der Gefässe für die Ernährungs -109Ischämie. Elasticität der Gefässhäute.verhältnisse der Theile selbst haben sollte, fallen damit zu - sammen.
Wenn eine Arterie wirklich in Action ist, so macht sie keine Hyperämie; je kräftiger sie agirt, um so mehr bedingt sie Anämie, oder, wie ich es bezeichnet habe, Ischämie, und die geringere oder grössere Thätigkeit der Arterie bestimmt das Mehr oder Weniger von Blut, welches in der Zeiteinheit in einen gegebenen Theil einströmen kann. Je thätiger das Gefäss, um so geringer die Zufuhr. Haben wir aber eine Reizungshyperämie, so kommt es therapeutisch grade dar - auf an, die Gefässe in denjenigen Zustand der Thätigkeit zu versetzen, in welchem sie im Stande sind, dem andrängenden Blutstrom Widerstand zu leisten. Das leistet uns der soge - nannte Gegenreiz, ein höherer Reiz an einem schon gereizten Theile, welcher die erschlaffte Gefässmuskulatur zu dauernder Verengerung anregt, dadurch die Blutzufuhr verkleinert und die Regulation der Störung vorbereitet. Grade da, wo am meisten die Reaction d. h. die regulatorische Thätigkeit in Anspruch genommen wird, da handelt es sich darum, jene Passi - vität zu überwinden, welche die (sog. active) Hyperämie un - terhält.
Gehen wir nun von den muskulösen Theilen über auf die elastischen, so treffen wir da eine Eigenschaft, welche eine sehr grosse Bedeutung hat, einerseits für die Venen, deren Thätigkeit an vielen Stellen nur auf elastische Elemente be - schränkt ist, andererseits für die Arterien, insbesondere die Aorta und ihre grösseren Aeste. Hier hat die Elasticität der Wandungen den Effect, die Verluste, welche der Blutdruck durch die systolische Erweiterung der Gefässe erfährt, auszugleichen und den ungleichmässigen Strom, welchen die stossweisen Bewe - gungen des Herzens erzeugen, in einen gleichmässigen umzu - wandeln. Wäre die Gefässhaut nicht elastisch, so würde un - zweifelhaft der Blutstrom sehr verlangsamt werden und zugleich durch die ganze Ausdehnung des Gefässapparates bis in die Capillaren Pulsation bestehen; es würde dieselbe stossweise Bewegung, welche im Anfange des Aortensystems dem Blute mitgetheilt wird, sich bis in die kleinsten Verästelungen gel -110Sechste Vorlesung.tend machen. Allein jede Beobachtung, welche wir am leben - den Thiere machen, lehrt uns, dass innerhalb der Capillaren der Strom ein continuirlicher ist Diese gleichmässige Fortbe - wegung wird dadurch hervorgebracht, dass die Arterien in Folge der Elasticität ihrer Wandungen den Stoss, welchen sie durch das eindringende Blut empfangen, mit derselben Gewalt dem Blute zurückgeben, sonach während der Zeit der fol - genden Herz-Diastole einen regelmässigen Fortschritt des Blutes unterhalten.
Lässt die Elasticität des Gefässes erheblich nach, ohne dass in demselben Maasse das Gefäss starr und unbeweglich wird (Verkalkung), so wird die Erweiterung, welche das Ge - fäss unter dem Drange des Blutes empfängt, nicht wieder ausgeglichen; das Gefäss bleibt im Zustande der Erweite - rung, und wir bekommen allmälig die bekannten Formen der Ectasie, wie wir sie an den Arterien als Aneurysmen, an den Venen als Varicen kennen. Es handelt sich bei diesen Processen nicht so sehr, wie man in neuerer Zeit geschildert hat, um primäre Erkrankungen der innern Haut, sondern um Veränderungen, welche in der elastischen und muskulösen mittleren Haut liegen.
Wenn demnach die muskulösen Elemente der Arterien den gewichtigsten Einfluss auf das Maass und die Art der Blutvertheilung in den einzelnen Organen, die elastischen Ele - mente die grösste Bedeutung für die Herstellung eines schnel - len und gleichmässigen Stromes haben, so üben sie doch nur eine mittelbare Wirkung auf die Ernährung der ausserhalb der Gefässe selbst liegenden Theile aus, und wir werden für diese Frage in letzter Instanz hingewiesen auf die einfache homogene Capillarmembran, ohne welche ja nicht einmal die Wandbestandtheile der grösseren, mit Vasa vasorum ver - sehenen Gefässe sich auf die Dauer zu erhalten vermöchten. Hier hat man sich, wie Sie wissen, in dem letzten Decennium am meisten damit geholfen, dass man zwischen dem Inhalt des Gefässes und der Flüssigkeit der Gewebe Diffusions - strömungen annahm, die Endosmose und Exosmose, und dass man die Gefässhaut als eine mehr oder weniger indifferente111Diffusion und Affinitäten der Stoffe.Membran betrachtete, welche eben nur eine Scheidewand zwi - schen zwei Flüssigkeiten bilde, die mit einander in ein Wech - selverhältniss treten; in diesem Verhältniss würden sie we - sentlich bestimmt durch den Concentrationszustand und die chemische Mischung, so dass, je nachdem die innere oder äussere Flüssigkeit concentrirter wäre, der Strom der Diffusion bald nach aussen, bald nach innen ginge, und dass, je nach den chemischen Eigenthümlichkeiten der einzelnen Säfte ge - wisse Modifikationen in diesen Strömen entständen. Im Allge - meinen ist jedoch grade die chemische Seite dieser Frage wenig berücksichtigt worden.
Es lässt sich nicht in Abrede stellen, dass es gewisse Thatsachen gibt, welche auf eine andere Weise nicht wohl erklärt werden können, namentlich wo es sich um wesentliche Abänderungen in den Concentrationszuständen der Säfte han - delt, z. B. bei der Form von Cataract, welche Kunde bei Fröschen künstlich durch Einbringung von Salz in den Darm - kanal oder das Unterhautgewebe hervorgebracht hat. Allein in dem Maasse, als man sich beim physikalischen Studium der Diffusions-Phänomene überzeugt hat, dass die Membran, welche die Flüssigkeiten trennt, kein gleichgültiges Ding ist, sondern dass die Natur derselben unmittelbar bestimmend wirkt auf die Fähigkeit des Durchtrittes der Flüssigkeiten, so wird man auch bei der Gefässhaut einen solchen Einfluss nicht läugnen können. Indess darf man auch nicht so weit gehen, dass man etwa der Gefässhaut die ganze Eigenthüm - lichkeit des Stoffwechsels zuschriebe, und dass man daraus z. B. erklärte, warum gewisse Stoffe, welche in der Blut - mischung vertheilt sind, nicht allen Theilen gleichmässig zu - kommen, sondern an einzelnen Stellen in grösserer, an ande - ren in kleinerer Masse, an anderen gar nicht austreten. Diese Eigenthümlichkeiten hängen offenbar ab einerseits von den Verschiedenheiten des Druckes, welcher auf der Blutsäule ein - zelner Theile lastet, andererseits von den Besonderheiten der Gewebe, und man wird sowohl durch das Studium der einfach pathologischen, als namentlich durch das Studium der pharma - kodynamischen Erscheinungen mit Nothwendigkeit dazu ge - trieben, gewisse Affinitäten zuzulassen, welche zwischen be -112Sechste Vorlesung.stimmten Geweben und bestimmten Stoffen existiren, Bezie - hungen, welche auf chemische Eigenthümlichkeiten zurückgeführt werden müssen, in Folge deren gewisse Theile mehr befähigt sind, aus dem benachbarten Blute gewisse Substanzen anzu - ziehen, als andere.
Betrachten wir die Möglichkeit solcher Anziehungen etwas sorgfältiger, so ist es von einem besonderen Interesse zu sehen, wie sich Theile verhalten, die sich in einer gewissen Entfernung vom Gefässe befinden. Gesetzt, wir wären im Stande, auf einen Theil direct einen bestimmten Reiz einwirken zu lassen, z. B. eine chemische Substanz, ich will annehmen, eine kleine Quantität eines Alkali, so sehen wir, dass in ganz kurzer Zeit der Theil mehr Material aufnimmt, dass er schon in einigen Stunden um ein Beträchtliches grösser wird, und dass, während wir vorher im Innern desselben kaum etwas wahrnehmen konnten, wir nun eine reichliche, verhältniss - mässig trübe Substanz in ihm finden, die nicht etwa aus ein - gedrungenem Alkali besteht, sondern ihrem wesentlichen Theil nach Substanzen enthält, welche den Eiweisskörpern analog sind. Die Beobachtung ergibt, dass der Prozess in allen ge - fässhaltigen Theilen mit einer Hyperämie beginnt, so dass die Vorstellung nahe liegt, die Hyperämie sei das Wesentliche und Bestimmende. Wenn wir aber die feineren Verhältnisse stu - diren, so ist es schwer zu verstehen, wie das Blut, welches in den hyperämischen Gefässen ist, es machen soll, um grade auf den gereizten Theil einzuwirken, während andere Theile, welche in der nächsten Nähe liegen, nicht in derselben Weise getroffen werden. In allen Fällen, wo die Gefässe der nächste Ausgangspunkt von Störungen sind, welche im Gewebe statt - finden, finden sich auch die Störungen am ausgesprochensten in der nächsten Umgebung der Gefässe und in dem Gebiete, welches sie versorgen (Gefässterritorium). Wenn wir z. B. einen reizenden Körper in ein Blutgefäss stecken, wie dies von mir durch die Geschichte der Embolie in grösserer Ausdehnung festgestellt ist, so sehen wir nicht etwa, dass die vom Ge - fässe entfernten Theile der Hauptsitz der activen Veränderung werden, sondern diese zeigt sich zunächst an der Wand des Gefässes selbst und dann an den anstossenden Gewebs -113Einfluss der Hyperämie auf die Ernährung.Gewebs-Elemente. Wenden wir aber den Reiz direct auf das Gewebe an, so bleibt der Mittelpunkt der Störung auch immer da, wo der Angriffspunkt des Reizes liegt, gleichviel ob Ge - fässe in der Nähe sind oder nicht.
Wir werden darauf später noch zurückkommen müssen; hier war es mir nur darum zu thun, Ihnen diese Thatsache in ihrer Allgemeinheit vorzuführen, um den eben so bequemen als trügerischen Schluss zurückzuweisen, dass die (an sich passive) Hyperämie direct bestimmend sei für die Ernährung des Gewebes.
Bedürfte es noch einer besonderen Thatsache, um diese, vom anatomischen Standpunkte vollständig unhaltbare Annahme weiter zu widerlegen, so haben wir in dem vorher erwähnten Experiment mit der Durchschneidung des Sympathicus die allerbequemste Handhabe. Man kann bei einem Thiere den Sympathicus am Halse durchschneiden; es bildet sich darauf eine Hyperämie in der ganzen Kopfhälfte aus, die Ohren wer - den dunkelroth, die Gefässe sind stark erweitert, die Con - junctiva und Nasenschleimhaut strotzend injicirt. Dies kann Tage, Wochen, Monate lang bestehen, und es folgt auch nicht die mindeste erkennbare nutritive Störung mit Nothwendigkeit daraus; die Theile sind, obwohl mit Blut überfüllt, soweit wir dies wenigstens bis jetzt übersehen können, in demselben Ernährungs-Zustande wie vorher. Wenn wir Entzündungsreize auf diese Theile appliciren, so ist das Einzige, was wir sehen, dass die Entzündung schneller verläuft, ohne dass sie an sich oder in der Art ihrer Producte wesentlich anders wäre.
Die grössere oder geringere Masse von Blut also, welche einen Theil durchströmt, ist nicht als die einfache Ursache der Veränderung seiner Ernährung zu betrachten. Es ist wohl kein Zweifel, dass, wenn ein Theil, der sich in Reizung be - findet, gleichzeitig mehr Blut empfängt als sonst, er auch mit grösserer Leichtigkeit mehr Material aus dem Blute anziehen kann, als er sonst gekonnt haben würde, oder als er können würde, wenn sich die Gefässe in einem Zustande von Veren - gerung und verminderter Blutfülle befänden. Wollte man also gegen meine Auffassung einwenden, dass wir bei solchen Zu - ständen durch locale Blutentziehungen oft die günstigsten Ef -8114Sechste Vorlesung.fecte hervorbringen, so ist das kein Gegenbeweis. Wenn wir das Ernährungsmaterial abschneiden oder verringern, so wer - den wir natürlich den Theil hindern, mehr aufzunehmen, aber nicht umgekehrt können wir ihn dadurch, dass wir ihm mehr Ernährungsmaterial darbieten, sofort veranlassen, mehr in sich aufzunehmen; das sind zwei ganz auseinander liegende Reihen. So nahe es auch liegt, und so gern ich auch zugestehe, dass es auf den ersten Blick etwas sehr Ueberzeugendes hat, aus der günstigen Wirkung, welche die Abschneidung der Blutzu - fuhr auf die Hemmung eines Vorganges hat, der unter einer Steigerung derselben entsteht, auf die Abhängigkeit jenes Vor - ganges von dieser Steigerung der Zufuhr zu schliessen, so meine ich doch, dass die praktische Beobachtung nicht in die - ser Weise gedeutet werden darf. Es kommt nicht so sehr darauf an, dass, sei es in dem Blute als Ganzem, sei es in dem Blutgehalte des einzelnen Theiles, eine quantitative Zunahme er - folgt, um ohne Weiteres in der Ernährung der Theile eine gleiche Zunahme zu setzen, sondern es kommt meines Erach - tens darauf an, dass entweder besondere Zustände der Ge - webe (Reizung) bestehen, welche ihre Anziehungsverhältnisse zu Blutbestandtheilen ändern, oder dass besondere Stoffe im Blute vorhanden sind, ganz specifische Substanzen, auf welche bestimmte Theile der Gewebe eine besondere Anziehung aus - üben können.
Wenden Sie diesen Satz auf die humoralpathologische Auffassung der Prozesse an, so werden Sie daraus abnehmen, dass ich weit entfernt bin, die Richtigkeit der humoralen Deu - tungen im Allgemeinen zu bestreiten, dass ich vielmehr die Ueberzeugung hege, dass besondere Stoffe, welche in das Blut gelangen, in einzelnen Theilen des Körpers besondere Verän - derungen induciren können, indem sie in dieselben aufgenom - men werden vermöge der specifischen Anziehung der einzel - nen Theile zu einzelnen Stoffen. Wir wissen z. B., dass eine Reihe von Substanzen in den Körper gebracht werden, welche ganz besondere Anziehungen darbieten zum Nervenapparate, und dass es innerhalb dieser Reihe wieder Substanzen gibt, welche zu ganz bestimmten Theilen des Nervenapparates nähere Beziehungen haben, so zum Gehirn, zum Rückenmark, zu den sympathischen Ganglien, einzelne wieder zu besonderen Thei -115Specifische Affinitäten.len des Gehirns, Rückenmarks u. s. w. Andererseits sehen wir, dass gewisse Stoffe nähere Beziehung haben zu bestimm - ten Secretionsorganen, dass sie diese Secretionsorgane mit einer gewissen Wahlverwandtschaft durchdringen, dass sie in ihnen abgeschieden werden, und dass bei einer reichlicheren Zufuhr solcher Stoffe ein Zustand der Reizung in diesen Or - ganen stattfindet. Allein wesentlich setzt diese Annahme vor - aus, dass die Theile, welche eine besondere Wahlverwandt - schaft zu besonderen Stoffen haben sollen, überhaupt existiren, denn eine Niere, die ihr Epithel verliert, büsst damit auch ihre Secretionsfähigkeit ein; sie setzt ferner voraus, dass die Theile sich in einem Affinitätsverhältniss befinden, denn weder die kranke, noch die todte Niere hat mehr die Affinität zu be - sonderen Stoffen, welche die lebende und gesunde Drüse be - sass. Die Fähigkeit, bestimmte Stoffe anzuziehen und umzu - setzen, kann höchstens für eine kurze Zeit in einem Organe sich erhalten, welches nicht mehr in einer eigentlich lebendi - gen Verfassung bleibt. Wir werden daher am Ende immer genöthigt, die einzelnen Elemente als die wirksamen Factoren bei diesen Anziehungen zu betrachten. Eine Leberzelle kann aus dem Blute, welches durch das nächste Capillargefäss strömt, bestimmte Substanzen anziehen, aber sie muss eben zunächst vorhanden und sodann ihrer ganz besonderen Eigenthümlich - keit mächtig sein, um diese Anziehung ausüben zu können. Wird ein solches Element verändert, tritt eine Krankheit ein, welche in der molekularen, physikalischen oder chemischen Eigenthümlichkeit desselben Veränderungen setzt, so wird da - mit auch seine Fähigkeit geändert werden, diese besonderen Anziehungen auszuüben.
Lassen Sie uns dies Beispiel noch genauer betrachten. Die Leberzellen stossen fast unmittelbar an die Wand der Ca - pillaren, nur geschieden durch eine dünne Schicht einer feinen Bindegewebslage. Wollten wir uns nun denken, dass die Eigenthümlichkeit der Leber Galle abzusondern, bloss darin beruhte, dass hier eine besondere Art der Gefäss-Einrichtung wäre, so würde dies in der That nicht zu rechtfertigen sein. Aehnliche Netze von Gefässen, welche zu einem grossen Theile venöser Natur sind, finden sich an manchen anderen Orten,8*116Sechste Vorlesung.z. B. den Lungen. Die Eigenthümlichkeit der Gallenabson - derung hängt aber offenbar ab von den Leberzellen, und nur so lange als das Blut in nächster Nähe an Leberzellen vorüber - strömt, besteht die besondere Stoffanziehung, welche die Thä - tigkeit der Leber charakterisirt.
Enthält das Blut freies Fett, so sehen wir, dass nach eini - ger Zeit die Leberzellen Fett in kleinen Partikelchen aufneh - men, und dass, wenn der Zufluss fortgeht, das Fett reichlicher wird, und sich nach und nach in grösseren Tropfen innerhalb der Leberzellen abscheidet (Fig. 27, B, b.). Das, was wir beim Fett in gröberen Formen sehen, müssen wir bei vielen anderen Substanzen in mehr gelöster Form uns denken. Danach wird es immer für die Aufnahme wesentlich sein, dass Zellen in einem ganz bestimmten Zustande vorhanden sind; werden sie[k]rank, entwickelt sich in ihnen ein Zustand, welcher mit einer wesentlichen chemischen Veränderung ihres Inhaltes verbunden ist, z. B. eine Atrophie, welche endlich das Zugrundegehen der Theile bedingt, dann wird damit auch die Fähigkeit des Organs, Galle zu bilden, immer mehr beschränkt werden. Wir können uns keine Leber denken ohne Leberzellen; diese sind, soviel wir wissen, das eigentlich Wirksame, da selbst in Fäl - len, wo der Blutzufluss durch Verstopfung der Pfortader inhi - birt ist, die Leberzellen, wenn auch vielleicht nicht in derselben Menge, Galle produciren können.
Diese Eigenthümlichkeit ist gerade an der Leber in einer besonders ausgezeichneten Weise zu bemerken, weil die Stoffe, welche die Galle constituiren, bekanntlich nicht im Blute prä - formirt sind, und wir also nicht einen Vorgang der einfachen Abscheidung, sondern einen Vorgang der wirklichen Bildung für die Bestandtheile der Galle in der Leber voraussetzen müssen.
Dies hat bekanntlich in der letzten Zeit an Interesse ge - wonnen durch die Beobachtung von Bernard, dass an die - selben Elemente auch die Eigenschaft der Zuckerproduction gebunden ist, welche in so colossalem Maassstabe dem Blute einen Stoff zuführt, welcher auf die inneren Umsetzungs-Pro - zesse und auf die Wärmebildung den entschiedensten Einfluss hat. Sprechen wir also von Leberthätigkeit, so kann man in117Stoffanziehung als Action der Elemente.Beziehung sowohl auf die Zucker -, als auf die Gallenbildung darunter nichts anderes meinen, als die Thätigkeit der einzel - nen Theile (Zellen); und zwar eine Thätigkeit, die darin be - steht, dass sie aus dem vorüberströmenden Blute Stoffe an - ziehen, diese Stoffe in sich umsetzen und in dieser umgesetzten Form entweder an das Blut wieder zurückgeben, oder in Form von Galle den Gallengängen überliefern.
Ich verlange nun für die Cellularpathologie nichts weiter, als dass diese Auffassung, welche für die grossen Secretions - Organe nicht vermieden werden kann, auch auf die kleineren Organe und kleineren Elemente angewendet werde, dass z. B. einer Epidermiszelle, einer Linsenfaser, einer Knorpelzelle auch bis zu einem gewissen Maasse die Möglichkeit zugestanden werde, aus den nächsten Gefässen, wenn auch nicht direct, sondern oft durch eine weite Transmission, je nach ihrem be - sonderen Bedürfnisse gewisse Quantitäten von Material zu be - ziehen, und nachdem sie dasselbe in sich aufgenommen haben, es in sich weiter umzusetzen, so zwar, dass entweder die Zelle für ihre eigene Entwickelung daraus neues Material schöpft, oder dass die Substanzen im Innern sich aufhäufen, ohne dass die Zelle davon unmittelbar profitirt, oder endlich, dass nach der Aufnahme selbst ein Zerfallen der Zelleneinrich - tung geschehen und ein Untergang der Zelle eintreten kann. Immerhin aber scheint es mir nothwendig zu sein, dieser specifischen Action der Elemente, gegenüber der speci - fischen Action der Gefässe, eine überwiegende Bedeutung bei - zulegen, und das Studium der localen Prozesse ihrem wesent - lichen Theile nach auf die Erforschung dieser Art von Vor - gängen zu richten.
Es wird nun, wie ich glaube, am zweckmässigsten sein, dass wir zunächst etwas genauer eingehen auf die eigentliche Grundlage der humoralpathologischen Systeme, auf das Studium der sogenannten edleren Säfte. Wenn Sie das Blut in sei - ner normalen Wirkung ins Auge fassen, so handelt es sich nicht so wesentlich um seine Bewegung, um das Mehr oder Weniger von Zuströmen, sondern um seine innere Zusammen - setzung. Bei einer grossen Masse von Blut kann die Ernäh -118Sechste Vorlesung.rung leiden, wenn die Zusammensetzung desselben nicht dem natürlichen Bedürfnisse der Theile entspricht; bei einer kleinen Masse von Blut kann die Ernährung verhältnissmässig sehr günstig vor sich gehen, wenn jedes einzelne Partikelchen des Blutes das günstigste Verhältniss der Mischung besitzt.
Betrachtet man das Blut als Ganzes gegenüber den übri - gen Theilen, so ist es das Gefährlichste, was man thun kann, dasjenige, was zu allen Zeiten die meiste Verwirrung geschaf - fen hat, anzunehmen, dass man es hier mit einem in sich un - abhängigen Gebilde zu thun habe, von dem die grosse Masse der Gewebe mehr oder weniger abhängig sei. Die meisten von den humoralpathologischen Sätzen, namentlich die Lehre von den Dyscrasien stützte sich darauf, dass man gewisse Ver - änderungen, welche im Blute eingetreten sind, als mehr oder weniger dauerhaft betrachtete, denn gerade da, wo diese Leh - ren practisch am Einflussreichsten gewesen sind, bei dem Studium der chronischen Dyscrasien, hat man sich vorgestellt, dass die Veränderung des Blutes eine continuirliche sei, dass durch Erblichkeit von Generation zu Generation eigenthümliche Veränderungen in dem Blute anhalten könnten.
Das ist, wie ich glaube, der Grundfehler, der eigentliche Angelpunkt der Irrthümer. Nicht etwa, dass ich bezweifelte, dass eine veränderte Mischung des Blutes anhaltend bestehen, oder dass sie sich von Generation zu Generation fortpflanzen könnte, aber ich glaube nicht, dass sie sich im Blute selbst fortpflanzen und dort anhalten kann, dass das Blut der eigent - liche Träger der Dyscrasie ist.
Meine cellularpathologischen Anschauungen unterscheiden sich darin von den humoralpathologischen wesentlich, dass ich das Blut nicht als ein in sich unabhängiges, aus sich selbst sich regenerirendes und sich fortpflanzendes Gebilde betrachte, sondern als in einer constanten Abhängigkeit von anderen Theilen befindlich. Man braucht nur dieselben Schlüsse, die man für die Abhängigkeit des Blutes von der Aufnahme neuer Ernährungsstoffe vom Magen her allgemein zulässt, auch auf die Gewebe des Körpers selbst anzuwenden. Wenn man von einer Säuferdyscrasie spricht, so wird Niemand die Vorstellung haben, dass Jeder, der einmal betrunken gewesen ist, eine per -119Dyscrasien und localer Ursprung derselben.manente Alkoholdyscrasie besitzt, sondern man denkt sich, dass, wenn immer neue Mengen von Alkohol eingeführt wer - den, auch immer neue Veränderungen des Blutes eintreten, so dass die Veränderung am Blute so lange bestehen muss, als die Zufuhr von neuen schädlichen Stoffen geschieht, oder als in Folge früherer Zufuhr einzelne Organe in einem krank - haften Zustande sich befinden. Wird kein Alkohol mehr zu - geführt, werden die Organe, welche durch den früheren Alko - holgenuss beschädigt waren, zu einem normalen Verhalten zu - rückgeführt, so bezweifelt Niemand, dass damit die Säufer - dyscrasie zu Ende sein wird. Dies einfache Beispiel, ange - wendet auf die Geschichte der übrigen Dyscrasien, ergibt ganz einfach den Schluss, dass jede Dyscrasie abhängig ist von einer dauerhaften Zufuhr schädlicher Bestand - theile von gewissen Punkten her. Wie eine fortwährende Zufuhr von schädlichen Nahrungsstoffen eine dauerhafte Ent - mischung des Blutes setzen kann, eben so vermag die dauer - hafte Erkrankung eines bestimmten Organes dem Blute fort und fort kranke Stoffe zuzuführen.
Es handelt sich dann also wesentlich darum, für die ein - zelnen Dyscrasien Lokalisationen zu suchen, die be - stimmten Gewebe zu finden, von denen aus das Blut diese Störung erfährt. Ich will nun gern gestehen, dass es in vie - len Fällen bis jetzt nicht möglich gewesen ist, diese Organe aufzufinden. In vielen Fällen ist es aber gelungen, wenn man auch nicht in jedem sagen kann, in welcher Weise das Blut dabei verändert wird. So sehen wir jenen merkwürdigen Zu - stand eintreten, welchen man sehr wohl auf eine Dyscrasie beziehen kann, den scorbutischen Zustand, die Purpura, die Petechial-Dyscrasie. Vergeblich werden Sie sich nach ent - scheidenden Erfahrungen darüber umsehen, welcher Art diese Dyscrasie, wie das Blut verändert sei, wenn Scorbut oder Pur - pura sich zeigt. Das, was der Eine gefunden hat, hat der Andere widerlegt, und es hat sich ergeben, dass zuweilen in der Mischung der gröberen Bestandtheile des Blutes keine Veränderung eingetreten ist; es bleibt hier ein Quid ignotum, und Sie werden es verzeihlich finden, wenn wir nicht sagen können, woher eine Dyscrasie kommt, deren Wesen wir über -120Sechste Vorlesung.haupt nicht kennen. Indess schliesst die Erkenntniss von der Art der Blutveränderung nicht die Einsicht in die Bedingun - gen der Dyskrasie in sich, und eben so wenig findet das Um - gekehrte Statt. Auch in unserem Falle von der hämorrhagi - schen Diathese werden Sie es immerhin als einen wesentlichen Fortschritt betrachten müssen, dass wir in einer Reihe von Fällen auf einen Ausgangspunkt in einem bestimmten Organe hinweisen können, z. B. auf die Milz oder die Leber. Es han - delt sich jetzt zunächst darum, zu ermitteln, welchen Einfluss die Milz, die Leber auf die besondere Mischung des Blutes ausüben. Wüssten wir, wie das Blut durch die Einwirkung dieser Organe verändert wird, so wäre es vielleicht nicht schwer, aus der Kenntniss des kranken Organs auch sofort abzuleiten, in welcher Art das Blut verändert sein wird. Aber es ist doch schon wesent - lich, dass wir über das Studium der Blutveränderungen hinaus - gekommen und auf bestimmte Organe geführt worden sind, in welchen die Dyscrasie wurzelt. So muss man consequent schliessen, dass wenn es eine syphilitische Dyscrasie gibt, in welcher das Blut eine virulente Substanz führt, diese nicht dauerhaft in dem Blute enthalten sein kann, sondern dass ihre Existenz im Blute gebunden sein muss an das Bestehen loka - ler Heerde, von wo aus immer wieder neue Massen von schäd - licher Substanz eingeführt werden in das Blut. Folgt man dieser Bahn, so gelangt man zu dem schon erwähnten und gerade für die praktische Medicin äusserst wichtigen Gesichts - punkt, dass jede dauerhafte Veränderung, die in dem Zustande der circulirenden Säfte besteht, von bestimmten Punkten des Körpers, von einzelnen Organen oder Geweben abgeleitet wer - den muss, und es ergibt sich weiter die Thatsache, dass ge - wisse Gewebe und Organe eine grössere Bedeutung für die Blutmischung haben, als andere; einzelne eine nothwendige Beziehung zu dem Blute besitzen, andere nur eine zufällige.
Faserstoff. Fibrillen desselben. Vergleich mit Schleim - und Bindegewebe. Homogener Zustand. Rothe Blutkörperchen. Kern und Inhalt derselben. Veränderungen der Gestalt. Blutkrystalle. (Hämatoidin, Hämin, Hämatokrystallin.) Farblose Blutkörperchen. Numerisches Verhältniss. Struktur. Vergleich mit Eiterkörperchen. Klebrigkeit und Agglutination derselben. Specifisches Gewicht. Crusta granulosa. Dia - gnose von Eiter und farblosen Blutkörperchen.
Ich gedenke Ihnen heute, meine Herren, ein Weiteres von der Geschichte des Blutes vorzuführen.
Wir waren zuletzt dabei stehen geblieben, dass wir die Dyscrasien lokalisirten; nicht in dem gewöhnlichen Sinne, wie man sonst die Dyscrasien sich lokalisiren lässt, sondern mehr in dem genetischen Sinne, wonach wir die Dyscrasien immer auf eine präexistirende Lokalaffection zurückdatirten, und ir - gend ein Gewebe als den Quell der dauerhaften Veränderun - gen des Blutes betrachteten.
Wenn man nun die verschiedenen Dyscrasien in Beziehung auf Werth und Quelle ansieht, so lassen sich von vornherein zwei grosse Kategorien von dyscratischen Zuständen unter - scheiden, je nachdem nämlich die morphologischen Elemente des Blutes eine Abweichung darbieten, oder diese Abweichung eine mehr chemische ist und an den flüssigen Bestandtheilen sich findet.
Unter diesen letzteren treffen wir vor allen das Fibrin,122Siebente Vorlesung.welches vermöge seiner Gerinnbarkeit sehr bald, nachdem das Blut aus dem lebenden Körper entfernt ist, eine sichtbare Form annimmt, und welches insofern häufig als ein morphologischer Bestandtheil des Blutes gegolten hat. Diese Art der Auffas - sung ist gerade in der neueren Zeit vielfach fest gehalten worden, und hat eigentlich auch traditionell in der Medicin immer bestan - den, insofern man neben den rothen Theilen des Blutes das Fibrin seit alten Zeiten als ein besonderes Element aufgeführt hat, und man die Qualität des Blutes nicht bloss nach den Blutkörperchen, sondern häufig noch viel bestimmter nach dem Fibringehalt zu taxiren pflegte.
Diese Scheidung hat insofern einen wirklichen Werth, als das Fibrin eben so wie die Blutkörperchen eine ganz eigen - thümliche Erscheinung ist, so einzig und allein in dem Blute und den ihm zunächst stehenden Säften sich findet, dass man es in der That mehr mit den Blutkörperchen in Zusammen - hang bringen kann, als mit den blossen Flüssigkeiten, welche als Serum circuliren. Betrachtet man das Blut in seinen eigentlich specifischen Theilen, durch welche es Blut wird, durch welche es sich von anderen Flüssigkeiten unterscheidet, so kann man es nicht läugnen, dass auf der einen Seite die Körperchen durch ihren Hämatingehalt, auf der anderen Seite das Fibrin der Flüssigkeit es sind, durch welche die specifischen Unter - schiede bedingt werden. Wenn wir nun zunächst diese Be - standtheile etwas näher betrachten, so ist die morphologische Schilderung des Faserstoffes verhältnissmässig schnell gemacht. Wenn wir ihn untersuchen, wie er im Blutgerinnsel vorkommt, so finden wir ihn fast immer in der Form, wie ihn Malpighi beschrieben hat, der fibrillären. Seine Fasern bilden in der
Regel äusserst feine Geflechte, zarte Maschennetze, in denen sich die Fasern gewöhnlich in einer etwas zackigen Gestalt durchsetzen und vereinigen.
Geronnenes Fibrin aus menschlichem Blute. a Feine, b gröbere und breitere Fibrillen; c in das Gerinnsel eingeschlossene rothe und farblose Blutkörperchen. Vergr. 280.
Die grösste Verschiedenheit, welche in der Erscheinung dieser Bildung sich im Blute zeigt, ist die in Beziehung auf die Grösse und Breite der Fasern; es sind dies Eigenthüm - lichkeiten, über welche bis jetzt kein sicheres Urtheil gewon - nen werden kann. Ich finde diese Verschiedenheiten ziemlich häufig, aber ohne dass ich im Stande wäre, die Bedingungen dafür anzugeben. Während nämlich die ausserordentlich fei - nen, zarten Fasern gewöhnlich vorkommen, so kommt es zu - weilen vor, dass ungleich breitere, fast bandartige Fasern sich finden, welche viel glatter sind, sich ziemlich ähnlich durch - setzen und verschlingen. Im Wesentlichen ist also immer ein aus Fasern zusammengesetztes Netzwerk vorhanden, in dessen Maschenräume die Blutkörperchen eingeschlossen sind. Lässt man einen Blutstropfen gerinnen, so sieht man überall, wie sich zwischen den Blutkörperchen feine Fäden hinziehen.
In Beziehung auf die Natur dieser Fasern können wir histologisch hervorheben, dass wir nur zweierlei Arten von Fasern haben, welche mit ihnen eine nähere Aehnlichkeit dar - bieten. Die eine Art kommt in einer Substanz vor, welche sonderbarer Weise die ältesten, vollkommen antiken, kraseolo - gischen Vorstellungen mit den modernen etwas vereinigt, näm - lich im Schleim. In der alten hippokratischen Medicin geht bekanntlich die ganze Fibrin-Masse noch unter dem Begriff des Phlegma, Mucus, und wenn wir den Schleim mit dem Faserstoff vergleichen, so müssen wir zugestehen, dass in der That eine grosse formelle Uebereinstimmung in der Ausschei - dung besteht. In ähnlicher Weise, wie das Fibrin, bildet auch der Schleim Fasern, welche manchmal sich isoliren und unter - einander zu gewissen Figuren zusammentreten. — Die andere Substanz, welche hierhergehört, ist das Bindegewebe mit sei - ner Intercellularsubstanz, oder, wenn Sie wollen, die leim - gebende Substanz, das Collagen (Glutén der Früheren). Die Fibrillen des Bindegewebes verhalten sich nur insofern anders, als sie in der Regel nicht netzförmig sind, sondern parallel verlaufen, während sie sonst den Fibrin-Fasern in hohem Maasse ähnlich sind. Die Intercellularsubstanz des Binde - gewebes stimmt auch darin mit dem Faserstoff überein, dass ihr Verhalten gegen Reagentien sehr analog ist. Wenn wir124Siebente Vorlesung.z. B. diluirte Säuren, die gewöhnlichen Pflanzensäuren oder auch schwache Mineralsäuren einwirken lassen, so quellen sie auf, und unter den Augen verschwinden die Fasern, so dass wir nicht mehr sagen können, wo sie bleiben. Die Masse schwillt auf, es verschwindet jeder Zwischenraum, und es sieht aus, als ob die ganze Masse aus einer vollkommen homoge - nen Substanz bestände. Waschen wir dieselbe langsam aus, entfernen wir die Säure wieder, so lässt sich, wenn die Ein - wirkung keine zu concentrirte war, wieder ein faseriges Ge - bilde erlangen; es lässt sich der frühere Zustand von Neuem erzeugen, und je nach Belieben wieder verändern. Es ist dies Verhalten bis jetzt noch unerklärt geblieben, und gerade des - halb hat die Ansicht Reichert’s, welche ich früher erwähnte, etwas Bestechendes, dass die Substanz des Bindegewebes eigentlich homogen und die Fasern nur eine künstliche Bil - dung oder eine optische Täuschung seien. Indessen kann man beim Faserstoff viel deutlicher als beim Bindegewebe die einzelnen Fibrillen so vollständig isoliren, dass ich nicht um - hin kann, zu sagen, dass ich die Trennung in einzelne Fibern für wirklich bestehend und nicht bloss für künstlich und eben so wenig für eine Täuschung des Beobachters halte.
Aber es ist sehr interessant, zu sehen, dass jedesmal vor diesem Stadium des Fibrillären ein Stadium des Homogenen liegt, eben so wie die Bindesubstanz ursprünglich als homo - gene Intercellularsubstanz (Schleim) erscheint, aus der sich erst nach und nach Fibrillen, wenn ich mich so ausdrücken darf, ausscheiden, oder wie man gewöhnlich sagt, differenziren. Auch der erst gelatinöse Faserstoff differenzirt sich zu einer fibrillären Masse. Freilich gibt es auch unter den anorgani - schen Stoffen gewisse Analogien. Aus Niederschlägen von Kalksalzen oder Kieselsäure, welche ursprünglich vollkommen gelatinös und amorph sind, scheiden sich nach und nach so - lide Körner und Krystalle aus.
Man kann also immerhin den Namen der Fibrillen für die gewöhnliche Erscheinungsform des Faserstoffs beibehalten, aber man muss sich dabei erinnern, dass diese Substanz ur - sprünglich in einem homogenen, amorphen, gallertartigen Zu - stande existirte, und wieder in denselben übergeführt werden125Rothe Blutkörperchen.kann. Diese Ueberführung geschieht nicht nur künstlich, sondern macht sich auf natürlichem Wege auch im Körper selbst, so dass, wo wir vorher Fibrillen fanden, wir später den Faserstoff auch homogen antreffen, z. B. in den Gefässen, wo die Coagula eines Aneurysma’s und andere Thromben allmählig in eine homogene, knorpelartig dichte Masse verwan - delt werden.
Was nun den zweiten Antheil des Blutes betrifft, die Blutkörperchen, so kann ich mich darüber kurz fassen, da es bekannte Elemente sind. Ich habe schon hervorgehoben, dass gegenwärtig ziemlich alle Histologen darüber einig sind, dass die farbigen Blutkörperchen des Menschen und der höhe - ren Säugethiere keine Kerne besitzen, sondern dass sie ein - fache Blasen darstellen, die in Beziehung auf ihre zellige Natur Zweifel zulassen könnten, wenn wir eben nicht wüssten, dass
sie zu gewissen Zeiten der em - bryonalen Entwickelung einen Kern besässen. Die Zusam - mensetzung des gewöhnlichen rothen Blutkörperchens ist demnach so zu denken, dass innerhalb einer geschlossenen Membran eine ziemlich zähe Masse enthalten ist, an welcher die rothe Farbe haftet. Nun sind bekanntlich die Blutkörperchen des Menschen platte,
Kernhaltige Blutkörperchen von einem menschlichen, sechs Wochen alten Fötus. a Verschieden grosse, homogene Zellen mit ein - fachen, relativ grossen Kernen, von denen einzelne leicht granulirt, die meisten mehr gleichmässig sind, bei * ein farbloses Körperchen. b Zellen mit äusserst kleinen, aber scharfen Kernen und deutlich rothem Inhalte. c Nach Behandlung mit Essigsäure sieht man die Kerne zum Theil ge - schrumpft und zackig, bei mehreren doppelt; bei * ein granulirtes Kör - perchen. Vergr. 280.
Menschliche Blutkörperchen vom Erwachsenen. a das ge - wöhnliche, scheibenförmige rothe, b das farblose Blutkörperchen, c rothe Körperchen, von der Seite und auf dem Rande stehend gesehen. d rothe Körperchen in Geldrollenform zusammengeordnet. e zackige, durch Was - serverlust (Exosmose) geschrumpfte rothe Körper. f geschrumpfte rothe Körper mit hügeligem Rand und einer kernartigen Erhebung auf der Fläche der Scheibe. g noch dichtere Schrumpfung. h höchster Grad der Schrumpfung (melanöse Körperchen). Vergr. 280.
126Siebente Vorlesung.scheiben - oder tellerförmige Bildungen mit zweiseitiger centra - ler Depression, die in ihrer regelmässigen Form einen Ring darstellen, welcher in der dünneren Mitte eine schwächere Fär - bung zeigt. Gewöhnlich denkt man sich in der Kürze den In - halt als Hämatin, Blutfarbestoff. Allein unzweifelhaft ist der In - halt sehr zusammengesetzt, und das, was man Hämatin nennt, bildet eben nur einen Theil davon; einen wie grossen Theil, lässt sich bis jetzt noch gar nicht ermitteln. Was sonst noch innerhalb des Blutkörperchens enthalten ist, das gehört ganz der chemischen Frage an. Zu sehen sind davon höchstens gewisse Veränderungen durch die Einwirkung äusserer Me - dien. Wir bemerken, dass die Blutkörperchen, je nachdem sie Sauerstoff aufnehmen oder Kohlensäure enthalten, bald hell, bald dunkel erscheinen, während sie ihre Form ein we - nig ändern. Wir wissen ferner, dass unter der Einwirkung von chemischen Flüssigkeiten den Blutkörperchen gewisse Mengen von Wasser entzogen werden, dass sie schrumpfen und Gestaltsveränderungen erfahren, und dass sie eigenthüm - liche Veränderungen erleiden, die sehr leicht Irrthümer herbei - führen können. Dies sind Verhältnisse, auf die ich noch mit ein paar Worten eingehen will.
Die erste Erscheinung, wenn das Blutkörperchen einem Wasserverlust ausgesetzt ist, dadurch dass eine stärker con - centrirte Flüssigkeit auf dasselbe einwirkt, besteht darin, dass in dem Maasse, als Flüssigkeit austritt, an der Oberfläche des Körperchens kleine Hervorragungen entstehen, welche anfangs sehr zerstreut liegen, bald an dem Rande, bald auf der Fläche, und welche im letztern Falle zuweilen täuschend einem Kerne ähnlich sehen (Fig. 52, e, f.). Dies ist die Quelle für die An - nahme von Kernen, welche man so viel beschrieben hat. Be - obachtet man ein Blutkörperchen unter Einwirkung concen - trirter Medien längere Zeit, so treten immer mehr Höcker hervor und das Körperchen wird in seinem Durchmesser klei - ner. Dabei bilden sich immer deutlicher kleine Falten und Höcker an der Oberfläche, es wird zackig, sternförmig, eckig (Fig. 52, g.). Solche zackigen Körper sieht man jeden Augenblick, wenn man Blut untersucht, welches eine Zeit lang an der Luft gewesen ist. Schon die blosse Verdunstung er -127Diffusionserscheinungen der rothen Blutkörperchen.zeugt diese Veränderung. Sehr schnell können wir sie machen, wenn wir die Mischung des Serums ändern durch Zusatz von Salz oder Zucker. Dauert die Wasser-Entziehung fort, so verkleinert sich das Körperchen noch mehr, und endlich wird es wieder rund und glatt (Fig. 52, h.), vollkommen sphärisch, und zugleich erscheint die Farbe viel saturirter, die innere Masse sieht ganz dunkel aus. Sie können daraus zugleich eine nicht uninteressante Thatsache erschliessen, nämlich die, dass die Exosmose wesentlich eine Wasser-Entziehung ist, wo - bei vielleicht dieser oder jener andere Stoff z. B. Salz mit austritt, wobei aber die wesentlichen Bestandtheile zurückblei - ben. Das Hämatin folgt dem Wasser nicht; die Blutkörperchen - membran hält dasselbe zurück, so dass in dem Maasse, als viel Flüssigkeit verloren geht, natürlich das Hämatin im In - nern dichter werden muss.
Umgekehrt verhält es sich, wenn wir diluirte Flüssigkei - ten anwenden. Je mehr verdünnt die Flüssigkeit wird, um so mehr vergrössert sich, quillt das Blutkörperchen auf und wird blasser. Behandeln wir die unter der Einwirkung concentrirter Flüssigkeiten reducirten Blutkörperchen mit Wasser, so sehen wir, wie die kuglige Form wieder in die eckige und von da in die der Scheibe übergeht, wie das Blutkörperchen sich immer mehr wölbt, oft ganz sonderbar sich gestaltet, und wieder blasser wird. Diese Einwirkung kann man, wenn man die[Verdünnung] des Blutes recht vorsichtig eintreten lässt, so weit treiben, dass die Blutkörperchen kaum noch gefärbt erschei - nen, während sie doch noch sichtbar bleiben. In den ge - wöhnlichen Fällen, wo man viel Flüssigkeit auf einmal zusetzt, wird in der Einrichtung des Blutkörperchens eine so grosse Revolution hervorgebracht, dass alsbald ein Entweichen des Hämatins aus dem Körperchen stattfindet. Wir bekommen dann eine rothe Lösung, bei der die Farbe frei an der Flüssigkeit haftet. Ich hebe diese Eigenthümlichkeit deshalb hervor, weil sie bei Untersuchungen immerfort vorkommt, und weil sie eine der wesentlichen Erscheinungen bei der Bildung der patholo - gischen Pigmentirungen erklärt, wo wir ein ganz ähnliches Entweichen des Hämatins aus den Blutkörperchen antreffen (Fig. 54, a.). Gewöhnlich drückt man sich so aus, das Blut -128Siebente Vorlesung.körperchen werde aufgelöst, allein es ist eine schon längst be - kannte Thatsache, wie zuerst von Carl Heinrich Schultz gezeigt wurde, dass wenn auch scheinbar gar keine Blutkör - perchen mehr vorhanden sind, man durch Zufügen von Jod - wasser die Membranen wieder deutlich machen kann, woraus hervorgeht, dass nur der Grad der Aufblähung und der ausser - ordentlich dünne Zustand der Häute das Sichtbarwerden der Blut - körperchen gehindert hat. Es bedarf schon sehr stürmischer Ein - wirkungen durch chemisch differente Stoffe, um ein wirkliches Zugrundegehen der Blutkörperchen zu Stande zu bringen. Setzt man unmittelbar, nachdem man die Blutkörperchen mit ganz concentrirter Salzlösung behandelt hat, Wasser in gros - ser Menge hinzu, so kann man es dahin bringen, dass man den Blutkörperchen, ohne dass sie aufquellen, den Inhalt ent - zieht, und dass die Membran sichtbar zurückbleibt. Dies ist der Grund gewesen, weshalb Denis und Lecanu davon ge - sprochen haben, dass die Blutkörper Fibrin enthielten. Sie haben geglaubt, dadurch, dass man die Körper erst mit Salz und dann mit Wasser behandele, das Fibrin aus ihnen dar - stellen zu können. Dies sogenannte Fibrin ist aber, wie ich gezeigt habe, nichts Anderes, als die Membran der Blutkörper - chen; wirkliches Fibrin ist nicht in ihnen enthalten, aber aller - dings ist die Membran eine Substanz, die den eiweissartigen Stoffen mehr oder weniger verwandt ist, und die, wenn sie in grossen Haufen gewonnen wird, Erscheinungen darbieten kann, die an Fibrin erinnern.
Was nun die Inhaltssubstanzen der Blutkörperchen anbe - trifft, so haben sie gerade in der neueren Zeit ein grosses Interesse gewonnen durch die mehr morphologischen Erschei - nungen, welche man an ihnen beobachtet hat, und welche in die ganze Lehre von der Natur der organischen Stoffe eine Art von Umwälzung gebracht haben. Es handelt sich hier um die eigen - thümlichen Formen von gefärbten Krystallen, die unter ge - wissen Verhältnissen aus dem Blutfarbstoffe gewonnen werden können, und die nicht bloss an sich ein grosses chemisches, sondern auch ein sehr erhebliches praktisches Interesse gewon - nen haben. Wir kennen bis jetzt schon drei verschiedene Ar -129Hämatoidin.ten von Krystallen, welche das Hämatin als gemeinschaft - liche Quelle zu besitzen scheinen.
Der ersten Form, mit welcher ich mich selbst früher sehr viel beschäftigte, habe ich den Namen Hämatoidin ge -
geben. Es ist dies eines der häufigsten Umwand - lungsprodukte, welches in dem Körper selbst aus dem Hämatin entsteht, und zwar oft so massen - haft, dass man seine Abscheidung mit blossem Auge wahrnehmen kann. Diese Substanz er - scheint in ihrer ausgebildeten Form als schiefe rhombische Säule mit einem schön gelbrothen, manchmal bei dickeren Stücken intensiv rubinrothen Aussehen, und stellt eine der schönsten Krystallformen dar, die wir über - haupt kennen. Auch in kleinen Tafeln findet sie sich nicht selten, manchmal ziemlich ähnlich den Formen der Harnsäure. In der Mehrzahl der Fälle sind die Krystalle sehr klein, nicht bloss mikroskopisch, sondern selbst für die mikroskopische Betrach - tung etwas difficil. Man muss entweder ein sehr scharfer Beobachter oder speciell darauf vorbereitet sein, sonst findet man häufig nichts weiter an den Stellen, wo das Hämatoidin liegt, als kleine Striche oder ein scheinbar gestaltloses Klümpchen. Allein, wenn man genauer zusieht, so lösen sich die Striche in kleine rhombische Säulen, das Klümpchen in ein Aggregat von Krystallen auf. Diese Form kann als die regelmässige, typische Endform der Umbildungen des Hämatins an Stellen des Körpers betrachtet werden, wo grosse Massen von Blut liegen bleiben. Ein apoplectischer Heerd des Gehirns z. B., wenn er heilt, kann nicht anders heilen, als so, dass ein grosser Theil des Blutes in diese Krystallisation übergeht, und wenn wir nachher eine gefärbte Narbe an dieser Stelle finden, so können wir mit Gewissheit darauf rechnen, dass die Farbe von Hämatoidin abhängt. Wenn eine junge Dame menstruirt, und die Höhle des Graaf - schen Follikels, wo das Ei ausgetreten ist, sich mit coagulir - tem Blute füllt, so geht das Hämatin allmälig in Hämatoidin
Hämatoidin-Krystalle in verschiedenen Formen (vgl. Ar - chiv f. path. Anat. Bd. I. S. 391. Taf. III. Fig. 11). Vergr. 300.
9130Siebente Vorlesung.
über, und wir finden an der Stelle, wo das Ei gelegen war, die schön hochrothe Farbe der Hämatoidin-Krystalle, welche als die letzten Gedenksteine dieser Episode übrig geblieben sind. Auf diese Weise können wir die Zahl der apoplectischen Anfälle zählen, und berechnen, wie oft ein junges Mädchen menstruirt hatte. Jede Extravasation lässt ihr kleines Con - tingent von Hämatoidin-Krystallen zurück, und diese, wenn sie einmal gebildet sind, bleiben als vollständig widerstandsfähige, compacte Körper im Innern der Organe liegen.
Was nun die Eigenthümlichkeiten des Hämatoidins betrifft, so hat es theoretisch noch ein besonderes Interesse dadurch, dass es in seinen ausgebildeten Krystallisationszuständen eine Reihe von Eigenschaften darbietet, welche es als den einzigen, im Körper wenigstens bis jetzt bekannten, mit dem Gallenfarb - stoffe (Cholepyrrhin) verwandten Stoff erscheinen lassen. Durch directe Behandlung mit Mineralsäuren oder nach vorherigem Behandeln und Aufschliessen vermittelst Alkalien bekommt man dieselben oder ganz ähnliche Farben-Reactionen, wie man sie durch Behandlung mit Mineralsäuren an dem Gallenfarbstoff erlangt, und es scheint auch nach anderen Thatsachen, dass hier ein Körper vorliegt, welcher mit dem Gallenfarbstoff sehr nahe verwandt ist. Dies ist darum so interessant, weil man vermu -
Pigment aus einer apoplectischen Narbe des Gehirns (Ar - chiv Bd. I. S. 401. 454. Taf. III. Fig. 7). a in der Entfärbung begrif - fene, körnig gewordene Blutkörperchen. b Zellen der Neuroglia, zum Theil mit körnigem und krystallinischem Pigment versehen. c Pigment - körner. d Hämatoidin-Krystalle. f verödetes Gefäss, sein altes Lumen mit körnigem und krystallinischem rothem Pigment erfüllt. Vergr. 300.
131Hämin.thet, dass die gefärbten Theile der Galle Umsetzungsprodukte des Blutrothes seien. Im Innern von Extravasaten entsteht wirklich eine gelblich-rothe Substanz, welche man als eine neugebildete Art von Gallenfarbstoff bezeichnen kann.
Die zweite Art von Krystallen, welche später entdeckt wurden, sind diesen sehr ähnlich, unterscheiden sich aber da - durch, dass sie nicht als ein spontanes Product im Körper vorkommen, sondern aus Hämatin künstlich dargestellt werden können. Sie haben mehr eine dunkel bräunliche Farbe, und
stellen gewöhnlich platte rhombische Tafeln mit spitzeren Win - keln dar, welche gegen Reagentien ausserordentlich widerstands - fähig sind und auch bei der Einwirkung der Mineralsäuren die eigenthümlichen Farbenbilder nicht zeigen, welche das Hä - matoidin darbietet. Diese zweite. Art von Krystallen hat von ihrem Entdecker, Teichmann, den Namen des Hämin’s bekommen. In der neusten Zeit ist Teichmann selbst darü - ber zweifelhaft geworden, ob es nicht eine Art von Hämatin selbst sei. Diese Formen haben bis jetzt pathologisch gar kein Interesse, dagegen haben sie eine sehr grosse Bedeutung ge - wonnen für die forensische Medicin dadurch, dass sie in der letzten Zeit als eines der sichersten Reagentien für die Prü - fung von Blutflecken gebraucht worden sind. Ich selbst bin in forensischen Fällen in der Lage gewesen, solche Proben zu machen. Zu diesem Zwecke muss man getrocknetes Blut in mög - lichst dichtem Zustande mit trockenem, krystallisirtem Kochsalz - pulver mengen, dann auf diese trockene Mischung Eisessig (Acetum glaciale) bringen und bei Kochhitze abdampfen. Ist dies geschehen, so hat man da, wo vorher die Blutkörperchen oder die zweifel -
Häminkrystalle, künstlich aus menschlichem Blute darge - stellt. Vergr. 300.
9*132Siebente Vorlesung.hafte hämatinhaltige Substanz waren, die Häminkrystalle. Es ist dies eine Reaction, die mit zu den sichersten und zuver - lässigsten gehört, die wir überhaupt kennen. Es gibt keine andere Substanz, von welcher wir eine solche Umbildung ken - nen, als das Hämatin; weder die Einwirkung der Säure für sich, noch die des Salzes für sich genügt, um irgend etwas Ana - loges herzustellen. Sollte also irgend wo ein Zweifel über die Natur der gewonnenen Krystalle rege werden, so hat man die fragliche Substanz nur einmal mit Salz für sich, einmal mit Acetum glaciale für sich zu erhitzen, um zu sehen, ob man eine analoge Krystallisation bekommt — Diese Probe ist des - halb ausserordentlich wichtig, als sie auch auf ganz minimale Mengen anwendbar ist; nur darf die Menge nicht über eine zu grosse Fläche verbreitet sein. Die Probe würde also nicht leicht anwendbar sein, wenn es sich um ein Tuch handelte, welches in eine dünne, wässerige, mit Blut gefärbte Flüssig - keit getaucht war. Aber ich habe an dem Rocke eines Ermordeten, an dessen Aermel Blut gespritzt war, und wo einzelne Bluts - tropfen nur eine Linie im Durchmesser hatten, aus solchen Flecken Häminkrystalle darstellen können, natürlich mikroskopische. In Fällen, wo die gewöhnliche chemische Probe wegen der geringen Menge absolut fehlschlagen müsste, sind wir doch noch im Stande, das Hämin zu gewinnen. Bei so wenig Masse ist die Grösse der Krystalle freilich auch nur sehr geringfügig; wir finden dann, wie beim Hämatoidin, kleine, mit spitzen Winkeln ver - sehene, intensiv braun gefärbte Körper.
Die dritte Substanz, die noch in diese Reihe hineingehört, ist das sogenannte Hämatokrystallin, eine Substanz, über deren Entdeckung die Gelehrten sich streiten, weil sie eben stückweis gefunden worden ist. Die erste Beobachtung darü - ber ist von Reichert am Uterus des Meerschweinchens ge - macht, wo Extravasation erfolgt war, in einem Präparate, das, wie ich denke, schon in Spiritus gelegen hatte. Seine Beob - achtung wurde besonders dadurch bedeutungsvoll, dass er an diesen Krystallen nachwies, dass sie sich in gewisser Bezie - hung wie organische Substanzen verhielten, indem sie unter der Wirkung gewisser Agentien grösser, unter der Wirkung ande - rer kleiner würden, ohne Veränderung der Form, eine Erschei -133Hämato Krystallin.nung, welche man bis dahin an Krystallen noch nicht kannte. Später sind diese Krystalle wieder entdeckt worden von Köl - liker; Funke, Kunde und namentlich Lehmann haben sie genauer untersucht. Es hat sich herausgestellt, dass bei ver - schiedenen Thier-Klassen dieselben sehr verschieden sind, in - dessen hat sich bis jetzt ein bestimmter Grund dafür und eine An - sicht über die Natur der Substanz selbst in diesen verschie - denen Fällen nicht gewinnen lassen. Beim Menschen sind es ziemlich grosse Krystalle. Man hat anfangs geglaubt, sie kä - men nur an dem Blute gewisser Organe vor, allein es hat sich ergeben, dass sie überall vorkommen und nur in gewis - sen Krankheitsprozessen leichter gewonnen werden können. In einzelnen sehr seltenen Fällen kommt es vor, dass man sie im Blut von Leichen schon gebildet findet. Diese Krystalle sind sehr leicht zerstörbar; sowohl wenn sie eintrocknen, als wenn sie feucht oder durch irgend ein flüssiges Medium be - rührt werden, gehen sie zu Grunde, und man beobach - tet sie daher nur in gewissen Uebergangsstadien, welche ge - rade getroffen werden müssen, bei der Zerstörung der Blut - körperchen. Die gut ausgebildeten Formen beim Menschen bilden vollkommen rechtwinklige Körper; aber sehr oft sind sie äusserst klein und man sieht nur einfache Spiesse, welche in grossen Massen an gewissen Stellen in das Object hinein - schiessen. Dabei haben sie die Eigenthümlichkeit, dass sie sich immer noch verhalten, wie das Hämatin selbst, dass sie durch Sauerstoff hellroth, durch Kohlensäure dunkelroth werden. Darüber besteht noch mannigfache Discussion, in wie weit die ganze Masse der Krystalle aus Farbstoff besteht oder der Farbestoff auch hier nur eine Tränkung der an sich farblosen Krystalle bildet, indess kann man soviel festhalten, dass die Farbe als etwas sehr Charakteristisches gelten muss, und dass die nahen Beziehungen derselben zu dem gewöhn - lichen Blutfarbestoff sich nicht bezweifeln lassen. —
Die dritte Art der natürlichen morphologischen Elemente des Blutes sind die farblosen Körperchen. Sie kommen im Blute des gesunden Menschen in verhältnissmässig kleinen Quantitäten vor. Man rechnet ungefähr auf dreihundert rothe Körperchen ein farbloses. In der gewöhnlichen Erscheinung,134Siebente Vorlesung.wie sie sich im Blute finden, stellen sie sphärische Körperchen dar, welche zuweilen etwas grösser, zuweilen etwas kleiner oder gleich gross, wie die gewöhnlichen rothen Blutkörperchen sind, von denen sie sich aber auffallend durch den Mangel einer Fär -
bung und durch ihre vollkommen sphärische Gestalt unterscheiden. In einem Blutstropfen, der zur Ruhe gekommen ist, findet man gewöhnlich die rothen Körperchen in gewisse Reihen und in die bekannten Formen von Geldrollen, mit ihren flachen Scheiben an einander, zusammengelegt (Fig. 52, d.); dazwischen sieht man in den gewöhnlichen Zwischenräumen hier und da ein solches blasses sphärisches Gebilde, an dem man zunächst, wenn das Blut ganz frisch ist, nichts weiter erkennen kann, als eine zuweilen leicht höckerig aussehende Fläche. Lässt man nun Wasser hinzutreten, so sieht man, dass das farblose Körperchen aufquillt; in dem Maasse, als es Wasser auf - nimmt, erscheint zuerst deutlich eine Membran, dann sieht man einen allmälig klarer hervortretenden körnigen Inhalt und zuletzt etwas von einem oder mehreren Kernen. Die scheinbar homogene Kugel verwandelt sich nach und nach in ein zartwandiges, oft so brüchiges Gebilde, dass bei unvorsich - tiger Einwirkung des Wassers die äusseren Theile anfangen zu zerfallen und im Innern ein etwas körniger Inhalt hervortritt, welcher sich mehr und mehr lockert und innerhalb dessen ein gewöhnlich in der Theilung begriffener oder mehrere Kerne erscheinen. Das Hervortreten der letzteren ist viel schnel - ler zu erlangen, wenn man das Object mit Essigsäure behan - delt, welche die Membran durchscheinend macht, den trüben Inhalt löst und den Kern gerinnen und schrumpfen lässt. Die Kerne erscheinen dann als dunkle, scharf contourirte Körper,
Farblose Blutkörperchen aus der Vena arachnoidealis eines Geisteskranken. A. frisch, a in ihrer natürlichen Flüssigkeit, b in Was - ser untersucht. B. Nach Behandlung mit Essigsäure: a — c einkernige, mit immer grösserem, granulirtem und schliesslich nucleolirtem Kern. d einfache Kerntheilung. e weitere Kerntheilung. f — h Dreitheilung des Kerns in allmäligem Fortschreiten. i — k vier und mehr Kerne. Vergr. 280.
135Farblose Blutkörperchen.einfach oder mehrfach, je nach den Umständen. Kurz, wir be - kommen in der Mehrzahl der Fälle auf diese Weise ein Ob - ject zu sehen, wie es einer unserer anwesenden Collegen, Herr Dr. Güterbock zuerst als die besondere Eigenthümlichkeit der Eiterkörper kennen gelehrt hat. Die Frage von der Aehnlich - keit oder Unähnlichkeit der farblosen Blutkörperchen mit den Eiterkörperchen beschäftigt noch immerfort die Beobachter, und die Ansichten über die Beziehung der farblosen Blutkörper - chen zu der Pyämie werden wahrscheinlich noch eine Reihe von Jahren gebrauchen, ehe sie so weit geklärt sind, dass nicht immer wieder einseitige Rückfälle eintreten. Es ist nämlich allerdings das trügerisch, dass wenn man eine Reihe von Personen untersucht, man in manchem Blut Körperchen findet, welche nur einen einzigen Kern haben, und zwar einen grossen, nicht selten mit einem Kernkörperchen versehenen Kern, während man in anderem Blut nur mehrkernige Körper - chen findet. Da nun diese eine grosse Aehnlichkeit mit Eiter - körperchen haben, so ist es allerdings solchen Beobachtern, welche durch Zufall gerade Blut mit einkernigen Körperchen getroffen hatten, nicht zu verdenken, wenn sie in einem ande - ren Falle, wo sie mehrkernige sehen, glauben, sie hätten etwas wesentlich Anderes, nämlich Eiterkörperchen im Blute, und es handle sich um Pyämie. Allein sonderbarer Weise bilden die einkernigen die Ausnahme und Sie können lange suchen, ohne ein Blut zu finden, wo die Körper nur einen Kern haben. Gerade heute habe ich zufällig, wo ich mich beschäftigte, die Objecte vorzubereiten, ein Blut unter die Hand bekommen, in welchem fast lauter einkernige Elemente und zwar in überaus gros -
ser Menge existiren; es fand sich bei einem Manne, welcher an den Blattern gestorben ist, und bei welchem eine höchst auffällige acute Hyperplasie der Bronchialdrüsen bestand.
Nun könnte man glauben, dass dies ver - schiedene Qualitäten von Blut seien. Dagegen muss bemerkt
Farblose Blutkörperchen bei variolöser Leukocytose. a freie oder nackte Kerne. b, b farblose Zellen mit kleinen, einfachen Kernen. c Grössere, farblose Zellen mit grossen Kernen und Kernkör - perchen. Vergr. 300.
136Siebente Vorlesung.werden, dass allerdings in den Fällen, wo die eine oder andere Form von Elementen massenhaft existirt, man eine pathologische Erscheinung vor sich hat, während da, wo wir nicht so grosse Mengen finden, nur ein früheres oder späteres Entwickelungsstadium der Elemente vorliegt. Denn ein und dasselbe Blutkörperchen kann im Verlaufe seiner Lebensge - schichte einen oder mehrere Kerne haben, indem der einfache in ein früheres, die mehrfachen in ein späteres Lebensstadium fallen. Sie müssen immer festhalten, dass man an demselben Individuum in kurzer Zeit, ja oft in Stunden schon den Wech - sel eintreten sieht, so dass in einem Blute, welches vorher nur die eine Sorte hatte, sich später eine ganz andere findet, — ein Beweis von dem raschen Wechsel, welchen diese Kör - per besitzen. —
Erlauben Sie, meine Herren, dass ich noch ein paar Worte hinzufüge in Beziehung auf die gröberen Verhältnisse, welche die einzelnen Bestandtheile des Blutes darbieten. Gewöhnlich nimmt man bekanntlich an, dass von den morphotischen Be - standtheilen nur zwei der groben Beobachtung mit blossem Auge zugänglich werden, nämlich die rothen Blutkörperchen im Cruor und die Fibrin-Massen, welche bei Gelegenheit eine Speckhaut bilden können, dass dagegen die farblosen Elemente nicht durch die einfache Betrachtung wahrzunehmen seien. Dies ist ein Punkt, der wesentlich corrigirt werden muss. Die farblosen Körper machen sich, wo sie in grösserer Menge vorhanden sind, für das geübtere Auge bei der Trennung der Blutbestandtheile, namentlich wenn Bewegung vorhanden ist, sehr deutlich geltend; sie zeigen eine Eigenthümlichkeit, die man sehr wohl kennen muss, wenn es sich um die Kritik des Leichen - befundes handelt, und deren Nichtkenntniss zu grossen Irrthü - mern geführt hat. Die farblosen Körperchen besitzen nämlich, wie dies schon in den älteren Discussionen zu Tage getreten ist, welche unser hier anwesender College Ascherson mit E. H. Weber gehabt hat, die besondere Eigenschaft, dass sie klebrig sind, dass sie also mit Leichtigkeit an einander haften, dass sie unter Umständen sich auch an anderen Theilen festsetzen, wo die rothen Körperchen diese Erscheinung nicht darbieten. Die Neigung, an anderen Thei -137Klebrigkeit der farblosen Blutkörperchen.
len anzukleben, ist besonders dann sehr deutlich, wenn zugleich ihrer mehrere untereinander in die Lage kommen, gegenseitig mit einander zu verkleben. So geschieht es ausserordentlich leicht, dass in einem Blute, in welchem an sich eine Vermeh - rung von farblosen Körpern be - steht, Agglutinationen derselben vor sich gehen, sobald der Druck, unter welchem das Blut fliesst, nachlässt; in jedem Gefässe, wo sich die Strömung ver - langsamt, wo eine Abschwächung des Druckes stattfindet, kann eine solche Agglutination der Körperchen geschehen.
Die Klebrigkeit (Viscosität) der farblosen Blutkörper - chen hat überdies den Effect, dass, wie Herr Ascherson darge - than hat, bei der gewöhnlichen Strömung des Blutes durch
die Capillargefässe die farblosen Körperchen ge - wöhnlich etwas langsamer schwimmen als die ro - then, und dass, während die rothen mehr im Cen - trum des Capillargefässes in einem continuirlichen Strome sich bewegen, am Umfange eine verhältniss - mässig grosse Lücke bleibt, innerhalb deren sich die farblosen Körperchen bewegen, und zwar oft so constant bewegen, das Weber zu dem Schlusse kam, es stecke jedes Capillargefäss in einem Lymphge - fässe, innerhalb dessen die farblosen Blut - oder Lymphkörperchen schwömmen. Allein es kann darüber gar kein Zweifel sein, dass es sich hier um einen einfachen Kanal handelt, innerhalb dessen die farblosen Kör - perchen den Wandungen näher liegen, als die rothen. Hier
A. Fibringerinnsel aus der Lungenarterie, den Endästen derselben entsprechend, bei a, a mit grösseren Platten von leukocyto - tischen Haufen besetzt, bei b, b, b mit analogen Körnern. Natürliche Grösse. B. Ein Stück eines solchen Korns oder Haufens, aus dichtgedräng - ten farblosen Blutkörperchen bestehend. Vergr. 280.
Capillargefäss aus der Frosch-Schwimmhaut, r der centrale Strom der rothen Körperchen, l, l, l die träge, peripherische Schicht des Blutstromes mit den farblosen Blutkörperchen. Vergr. 280.
138Siebente Vorlesung.ist es, wo man, während die Körperchen sich fortbewegen, einzelne für einen Augenblick festsitzen, dann sich losreissen und wieder langsam fortgehen sieht, so dass der Name der trägen Schicht für diesen Theil des Blutstromes ein voll - kommen recipirter geworden ist.
Diese beiden Eigenthümlichkeiten, dass bei einer Ab - schwächung des Stromes die Körperchen an den Wandungen des Gefässes stellenweise haften bleiben, gewissermaassen an ihnen ankleben, und dass sie untereinander zu grösseren Klum - pen sich zusammenballen, haben zusammen die Wirkung, dass, wenn im Blute viele farblose Körper vorhanden sind und der Tod, wie in den gewöhnlichen Fällen, unter einer allmäligen Abschwächung der Triebkraft erfolgt, in den verschiedensten Gefässen die farblosen Körper sich zu kleinen Haufen zusam - menballen und in der Regel am Umfange des späteren Blut - gerinnsels liegen bleiben.
Ziehen wir z. B. aus der Cava inferior den Blutpfropf heraus, so kann es sein, dass an seiner Oberfläche kleine Kör - ner (Fig. 58, A.) sitzen, Knöpfchen von weisser Farbe, welche aussehen, wie kleine Eiterpunkte, oder welche gar zu mehre - ren perlschnurartig zusammenhängen. Dies Vorkommen ist am constantesten an denjenigen Punkten, wo die Zahl der Körper jedesmal am häufigsten ist, in der Strecke zwischen der Einmündung des Ductus thoracicus und der Lungenbahn. Ziemlich leicht vermag das blosse Auge an dem Abscheiden dieser Massen das mehr oder weniger reichliche Vorkommen der farblosen Körperchen zu erkennen. Unter Umständen, wo die Zahl derselben sehr gross wird, sieht man auch wohl ganze Häufchen, die wie eine Scheide einzelne Abschnitte des Gerinnsels umlagern. Bringt man ein solches Häufchen un - ter das Mikroskop, so sieht man viele Tausende von farblo - sen Körpern zusammen.
Erfolgt die Gerinnung des Blutes, wenn dasselbe mehr in Ruhe ist, so tritt eine andere Erscheinung sehr deutlich her - vor, wie man sie in Aderlass-Gefässen sehen kann. Gerinnt der Faserstoff nicht sehr schnell, wie bei entzündlichem Blute, so fangen innerhalb der Flüssigkeit die Blutkörperchen an, sich vermöge ihrer Schwere zu senken. Diese Sedimentirung139Granulöse Speckhaut.geht bekanntlich so weit, dass nach dem Ausquirlen des Fa - serstoffes das Serum vollkommen klar wird, indem die Kör - perchen sich zu Boden senken. Wenn wir ein an farblosen Blutkörperchen reiches Blut defibriniren und stehen lassen, so bildet sich ein doppeltes Sediment, ein rothes und ein weisses. Das rothe bildet das tiefste, das weisse das oberflächliche Stratum, und letzteres sieht vollständig so aus, wie wenn eine Lage von Eiter über dem Blute läge. Wird das Blut nicht defibrinirt, gerinnt es aber langsam, dann kommt die Senkung nicht vollständig zu Stande, sondern es wird nur der höchste Theil der Blutflüssigkeit von Körperchen frei; wenn dann spä - terhin der Faserstoff gerinnt, so bekommen wir die bekannte Crusta phlogistica, die Speckhaut, und wenn wir nach den farblosen Blutkörperchen suchen, so finden wir sie als eine be - sondere Schicht an der unteren Grenze der Speckhaut. Diese Sonderbarkeit erklärt sich einfach aus dem verschiedenen spe - cifischen Gewichte, welches die beiden Arten von Blutkörper - chen haben. Die farblosen sind immer leichte, an festen Sub - stanzen arme, sehr zarte Gebilde, während die rothen ein re - lativ bleiernes Gewicht haben durch ihren grossen Gehalt an Hämatin. Sie erreichen daher verhältnissmässig sehr schnell den Boden, während die farblosen noch im Fallen begriffen
sind. Wenn man zwei verschie - den schwere Substanzen frei her - unterfallen lässt bei genügender Höhe, so kommen ja auch wegen des Widerstandes der Luft die leichteren Körper später am Bo - den an.
In der Regel bildet bei der Gerinnung im Aderlassblut die - ser weisse Cruor nicht eine con - tinuirliche, sondern eine unter -
Schema eines Aderlassgefässes mit geronnenem hyperino - tischem Blute. a das Niveau der Blutflüssigkeit; c die becherförmige Speckhaut, l die Lymphschicht (Cruor lymphaticus, Crusta granulosa) mit den körnigen und maulbeerartigen Anhäufungen der farblosen Körperchen, r der rothe Cruor.
140Siebente Vorlesung.brochene Lage, in der Weise, dass an der unteren Seite der Speckhaut kleine Häufchen oder Knötchen haften. Daher hat Piorry, welcher zuerst diese Beobachtung machte, aber sie ganz falsch deutete, indem er sie auf eine Entzündung des Blutes selbst (Haemitis) bezog und darauf die Doctrin der Pyämie begründete, diese Form von Speckhaut als Crusta granulosa bezeichnet. Es ist dies nichts weiter, als eine massenhafte Anhäufung der farblosen Blutkörperchen.
Unter allen Verhältnissen gleicht diese Schicht dem Aus - sehen nach dem Eiter, und da nun, wie wir vorher gesehen haben, auch die einzelnen farblosen Blutkörperchen dem Ei - ter gleichen, so sehen Sie, dass man nicht bloss bei einem ge - sunden Menschen in die Lage kommen kann, ein farbloses Blutkörper-chen für ein Eiterkörperchen zu halten, sondern noch mehr bei pathologischen Zuständen, wo das Blut oder andere Theile voll von diesen Elementen sind. Sie begreifen, dass man auf die Frage kommen kann, wie sie hier und da ernsthaft aufgeworfen ist, ob die Eiterkörperchen nicht bloss einfach extravasirte farblose Blutkörperchen seien, oder umge - kehrt, ob die innerhalb der Gefässe gefundenen farblosen Blut - körperchen nicht von aussen her in sie aufgenommene Eiter - körperchen seien. Hier stossen wir zum ersten Male auf die praktische Anwendung der Gesichtspunkte, welche ich in Be - ziehung auf die Specificität und Heterologie der Elemente aufgestellt habe (S. 57). Ein Eiterkörperchen kann sich durch nichts, als durch die Art seiner Entstehung von einem farblosen Blutkör - perchen unterscheiden. Wenn Sie nicht wissen, woher es ge - kommen, so können Sie auch nicht sagen, was es ist; Sie können in die grössten Zweifel gerathen, ob Sie ein Gebilde der Art für ein Eiter - oder ein farbloses Blutkörperchen hal - ten sollen. In jedem Falle ist die Frage zu discutiren, wohin gehört das Ding? wo ist seine Heimath? Liegt diese ausser - halb des Blutes, so können Sie mit Sicherheit daraus schlies - sen, dass es Eiter sei; ist dies nicht der Fall, so handelt es sich um Elemente des Blutes.
Wechsel und Ersatz der Blutbestandtheile. Das Fibrin. Die Lymphe und ihre Gerinnung. Das lymphatische Exsudat. Fibrinogene Substanz. Speckhautbildung. Lymphatisches Blut, Hyperinose, phlogistische Krase. Locale Fibrinbildung. Fibrintranssudation. Fi - brinbildung im Blute. Die farblosen Blutkörperchen (Lymphkörperchen). Ihre Vermehrung bei Hyperinose und Hypinose (Erysipel, Pseudoerysipel, Typhus). Leukocythose und Lenkämie. Die li - enale und lymphatische Leukämie. Milz - und Lymphdrüsen als hämatopoëtische Organe. Struktur der Lymphdrüsen.
Ich habe Ihnen, meine Herren, das letzte Mal die einzelnen morphologischen Elemente des Blutes vorgeführt und die be - sonderen Eigenthümlichkeiten der einzelnen zu schildern ge - sucht. Erlauben Sie, dass ich Ihnen heute zunächst ein Wort über die Entstehung dieser Dinge sage.
Aus den Erfahrungen über die erste Entwicklung der Blut - Elemente lassen sich wesentliche Rückschlüsse machen auf die Natur der Veränderungen, welche unter krankhaften Verhält - nissen in der Blutmasse stattfinden. Früher betrachtete man das Blut mehr als einen in sich abgeschlossenen Saft, welcher allerdings gewisse Beziehungen nach aussen hatte, aber doch in sich selbst eine wirkliche Dauer besitze, und man nahm an, dass sich auch besondere Eigenschaften dauerhaft daran erhalten, ja viele Jahre hindurch fortbestehen könnten. Natür - lich durfte man dabei den Gedanken nicht zulassen, dass die Be - standtheile des Blutes vergänglicher Natur seien, und dass neue Elemente hinzukämen, welche die alten ersetzten. Denn die142Achte Vorlesung.Dauerhaftigkeit eines Theiles als solchen setzt entweder vor - aus, dass er in seinen einzelnen Theilchen dauerhaft ist, oder dass die einzelnen Theilchen innerhalb des Theiles immerfort neue erzeugen, welche alle Eigenthümlichkeiten der alten mit - bringen. Für das Blut müsste man also annehmen, seine Bestand - theile wären wirklich durch Jahre fortbestehend, und sie könn - ten Jahre lang dieselben Veränderungen darbieten, oder man müsste sich denken, dass das Blut von einem Theile auf den andern etwas übertrüge, dass von einem mütterlichen Theile auf einen töchterlichen etwas Hereditäres fortgepflanzt würde. Von diesen Möglichkeiten ist die erstere gegenwärtig wohl ziemlich all - gemein zurükgewiesen. Es denkt im Augenblick wohl Niemand daran, dass die einzelnen Bestandtheile des Blutes eine Jahre lange Dauer haben. Dagegen lässt sich allerdings die Möglichkeit nicht von vorn herein zurückweisen, dass innerhalb des Blutes die Ele - mente eine Fortpflanzung erfahren, und dass sich von Element zu Element gewisse Eigenthümlichkeiten übertragen, welche zu einer gewissen Zeit im Blute eingeleitet sind. Allein mit einer gewissen Zuverlässigkeit kennen wir solche Erscheinun - gen der Fortpflanzung des Blutes nur aus einer früheren Zeit des embryonalen Lebens. Hier scheint es nach Beobachtungen, die erst in der neuesten Zeit von Remak wiederum bestätigt sind, dass die vorhandenen Blutkörperchen sich direct theilen, in der Art nämlich, dass in einem Körperchen, welches in der ersten Zeit der Entwicklung sich als kernhaltige Zelle darstellt, zuerst eine Theilung des Kernes eintritt (Fig. 51, c.), dass dann die ganze Zelle sich einkerbt und nach und nach wirkliche Ueber - gänge zu einer vollständigen Theilung erkennen lässt. In dieser frühen Zeit ist es also allerdings zulässig, das Blutkörperchen als den Träger von Eigenschaften zu betrachten, welche sich von der ersten Reihe von Zellen auf die zweite, von dieser auf die dritte u. s. f. fortpflanzen.
In dem Blute des entwickelten Menschen, selbst schon im Blute des Fötus der späteren Schwangerschaftsmonate sind solche Theilungserscheinungen nicht mehr bekannt, und keine einzige von den Thatsachen, welche man aus der Entwicklungs - geschichte beizubringen vermag, spricht dafür, dass in dem entwickelten Blute eine Vermehrung der zelligen Elemente durch143Faserstoff der Lymphe.directe Theilung oder irgend eine andere im Blute selbst ge - legene Anbildung stattfinde. So lange man die Möglichkeit als bewiesen betrachtete, dass aus einem einfachen Cytoblastem durch eine directe Ausscheidung differenter Materien Zellen ent - stünden, so lange konnte man auch in der Blutflüssigkeit sich neue Niederschläge bilden lassen, aus denen Zellen hervor - gingen. Allein auch davon ist man zurückgekommen. Alle morphologischen Elemente des Blutes, wie sie auch beschaffen sein mögen, leitet man gegenwärtig von Orten ab, welche ausserhalb des Blutes liegen. Ueberall geht man zurück auf Organe, welche mit dem Blute nicht direct, sondern vielmehr durch Zwischenbahnen in Verbindung stehen. Die Hauptorgane, welche in dieser Beziehung in Frage kommen, sind die Lymph - drüsen. Die Lymphe ist die Flüssigkeit, welche, während sie dem Blute gewisse Stoffe zuführt, die von den Geweben kommen, zugleich die körperlichen Elemente mit sich bringt, aus welchen die Zellen des Blutes sich fort und fort ergänzen.
In Beziehung auf zwei Bestandtheile des Blutes dürfte es kaum zweifelhaft sein, dass diese Anschauung die vollkommen berechtigte ist, nämlich in Beziehung auf den Faserstoff und die farblosen Blutkörperchen. Was den Faserstoff anbetrifft, dessen Eigenschaften ich Ihnen das letzte Mal vorführte, so ist es eine sehr wesentliche und wichtige Thatsache, dass der Faserstoff, welcher in der Lymphe circulirt, gewisse Verschie - denheiten darbietet von dem Faserstoffe der Blutmasse, welche wir zu Gesicht bekommen, wenn wir die verschiedenen Extra - vasate oder das aus der Ader gelassene Blut betrachten. Der Faserstoff der Lymphe hat die besondere Eigenthümlichkeit, dass er unter den gewöhnlichen Verhältnissen innerhalb der Lymphgefässe weder im Leben, noch nach dem Tode gerinnt, während doch das Blut in manchen Fällen schon während des Lebens, regelmässig aber nach dem Tode gerinnt, so dass die Gerinnungsfähigkeit dem Blute als eine regelmässige Eigen - schaft zugeschrieben wird. In den Lymphgefässen eines todten Thieres oder einer menschlichen Leiche findet man keine ge - ronnene Lymphe, dagegen tritt die Gerinnung alsbald ein, so - bald die Lymphe mit der äusseren Luft in Contact gebracht oder von einem erkrankten Organe her verändert wird.
144Achte Vorlesung.Die Deutung dieser Eigenthümlichkeit ist in sehr verschie - dener Weise versucht worden. Ich selbst muss noch immer an der Anschauung festhalten, dass in der Lymphe eigentlich kein fertiges Fibrin enthalten ist, sondern dass dies erst fertig wird, sei es durch den Contact mit der atmosphärischen Luft, sei es unter abnormen Verhältnissen durch die Zuführung ver - änderter Stoffe. Die normale Lymphe führt eine Substanz, welche sehr leicht in Fibrin übergeht und, wenn sie einmal geronnen ist, sich vom Fibrin kaum unterscheidet, wel - che aber, so lange sie im gewöhnlichen Laufe des Lymphstro - mes sich befindet, nicht als eigentlich fertiges Fibrin betrachtet werden kann. Es ist dies eine Substanz, welche ich lange, bevor ich auf ihr Vorkommen in der Lymphe aufmerksam ge - worden war, in verschiedenen Exsudaten constatirt hatte, na - mentlich in pleuritischen Flüssigkeiten.
In manchen Formen der Pleuritis bleibt das Exsudat lange flüssig, und da kam mir vor einer Reihe von Jahren der be - sondere Fall vor, dass durch eine Punction des Thorax eine Flüssigkeit entleert wurde, welche vollkommen klar und flüssig war, aber kurze Zeit, nachdem sie entleert war, in ihrer gan - zen Masse mit einem Coagulum sich durchsetzte, wie es oft genug in Flüssigkeiten aus der Bauchhöhle vorkommt. Nach - dem ich dies Gerinnsel durch Quirlen aus der Flüssigkeit ent - fernt hatte, um mich von der Identität desselben mit dem ge - wöhnlichen Faserstoff zu überzeugen, zeigte sich am nächsten Tage ein neues Coagulum, und so auch in den folgenden Ta - gen. Diese Gerinnungsfähigkeit dauerte 14 Tage lang, ob - wohl die Entleerung mitten im heissen Sommer stattgefunden hatte. Es war dies also eine von der gewöhnlichen Gerinnung des Blutes wesentlich abweichende Erscheinung, welche sich nicht wohl begreifen liess, wenn wirkliches Fibrin als fertige Substanz darin enthalten war, und welche darauf hinzuweisen schien, dass erst unter Einwirkung der atmosphärischen Luft Fibrin entstünde aus einer Substanz, welche dem Fibrin allerdings nahe verwandt sein musste, aber doch nicht wirkliches Fibrin sein konnte. Ich schlug darum vor, dieselbe als fibrinogene Substanz zu trennen, und nachdem ich später darauf gekom - men war, dass es dieselbe Substanz wäre, welche wir in der145Fibrinogene Substanz.Lymphe finden, so konnte ich meine Ansicht dahin erweitern, dass auch in der Lymphe der Faserstoff nicht fertig enthalten sei.
Dieselbe Substanz, welche sich von dem gewöhnlichen Fibrin dadurch unterscheidet, dass sie eines mehr oder weni - ger langen Contactes mit der atmosphärischen Luft bedarf, um erst coagulabel zu werden, findet sich unter gewissen Verhält - nissen auch im Blute der peripherischen Venen vor, so dass man auch durch eine gewöhnliche Venaesection am Arme Blut be - kommen kann, welches sich vom gewöhnlichen Blute durch die Langsamkeit seiner Gerinnung unterscheidet. Polli hat die gerinnende Substanz Bradyfibrin genannt. Solche Fälle kom - men besonders vor bei entzündlichen Erkrankungen der Respi - rationsorgane, und geben am häufigsten Veranlassung zur Bil - dung einer Speckhaut (Crusta pleuritica, Cr. phlogistica.). Sie Alle wissen, dass die gewöhnliche Crusta phlogistica bei pneumonischem oder pleuritischem Blut um so leichter eintritt, je wässriger die Blutflüssigkeit ist. je mehr die Blutmasse an festen Bestandtheilen verarmt ist, aber es ist wesentlich da - für, dass das Fibrin langsam gerinnt. Wenn man mit der Uhr in der Hand den Vorgang controlirt, so überzeugt man sich, dass eine sehr viel längere Zeit vergeht, als bei der ge - wöhnlichen Gerinnung. Von dieser häufigen Erscheinung, wie sie sich bei der gewöhnlichen Crustenbildung der entzündlichen Blutmasse findet, zeigen sich nun allmälige Uebergänge zu einer immer längeren Dauer des Flüssigbleibens.
Das Aeusserste dieser Art, was bis jetzt bekannt ist, ge - schah in einem Falle, den Polli beobachtete. Bei einem an Pneumonie leidenden, rüstigen Manne, welcher im Sommer, zu einer Zeit, welche gerade nicht die äusseren Bedingungen für die Verlangsamung der Gerinnung darbietet, in die Behandlung kam, gebrauchte das Blut, welches aus der geöffneten Ader floss, acht Tage, ehe es anfing zu gerinnen, und erst nach 14 Tagen war die Coagulation vollständig. Es fand sich dabei auch die andere von mir am pleuritischen Exsudat beobachtete Er - scheinung, dass im Verhältniss zu dieser späten Gerinnung eine ungewöhnlich späte Zersetzung (Fäulniss) des Blutes stattfand.
Da nun Erscheinungen dieser Art überwiegend häufig bei10146Achte Vorlesung.Brustaffectionen beobachtet werden, so überwiegend, dass man seit alter Zeit die Speckhaut als Crusta pleuritica bezeichnet hat, so scheint daraus mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit hervorzugehen, dass das Respirationsgeschäft einen bestimmten Einfluss hat auf das Vorkommen der fibrinogenen Substanz im Blute. Jedenfalls setzt sich die Eigenthümlichkeit, welche die Lymphe besitzt, unter Umständen auf das Blut fort, so dass entweder das ganze Blut daran Antheil nimmt und zwar um so mehr, je grössere Störungen die Respiration erleidet, oder dass neben dem gewöhnlichen, schnell gerinnenden Stoffe ein langsamer gerinnender gefunden wird. Oft bestehen nämlich zwei Arten von Gerinnung in demselben Blute neben einander, eine frühe und eine späte, namentlich in den Fällen, wo die directe Analyse eine Vermehrung des Faserstoffes, eine Hyperinose ergibt. Diese hyperinotischen Zustände scheinen also darauf hinzuführen, dass bei ihnen eine vermehrte Zufuhr von Lymphflüssigkeit zum Blute stattffndet, und dass die Stoffe, welche sich nachher im Blute finden, nicht ein Product innerer Umsetzung desselben sind, dass also in letzter Instanz die Quelle des Fibrins nicht im Blute selbst gesucht werden darf, sondern an jenen Punkten, von welchen die Lymphgefässe die vermehrte Fibrinmasse zu - führen.
Zur Erklärung dieser Erscheinungen habe ich eine etwas kühne Hypothese gewagt, welche ich jedoch für vollkommen discussionsfähig erachte, nämlich die, dass das Fibrin über - haupt, wo es im Körper ausserhalb des Blutes vor - kommt, nicht als eine Abscheidung aus dem Blute zu betrachten ist, sondern als ein Local-Erzeugniss, und ich habe versucht, eine wesentliche Veränderung in der Auf - fassung der sogenannten phlogistischen Krase in Beziehung auf die Localisation derselben einzuführen. Während man früher ge - wöhnt war, die veränderte Mischung des Blutes bei der Entzündung als ein von vorn herein bestehendes und namentlich durch eine pri - märe Vermehrung des Faserstoffes constituirtes Moment zu be - trachten, so habe ich vielmehr die Krase als ein von der localen Entzündung abhängiges Ereigniss entwickelt. Gewisse Organe und Gewebe besitzen an sich in grösserer Ausdehnung die Eigenschaft, Fibrin zu erzeugen und das Vorkommen von147Oertliche Bildung des Fibrins.grossen Massen von Fibrin im Blut zu begünstigen, während andere Organe ungleich weniger dazu geeignet sind.
Ich habe ferner darauf hingewiesen, dass diejenigen Or - gane, welche diesen eigenthümlichen Zusammenhang eines so - genannten phlogistischen Blutes mit einer localen Entzündung besonders häufig darbieten, im Allgemeinen mit Lymphgefässen reichlich versehen sind und mit grossen Massen von Lymphdrüsen in Verbindung stehen, während alle diejenigen Organe, welche entweder sehr wenig Lymphgefässe enthalten, oder in welchen wir kaum Lymphgefässe kennen, auch einen nicht nennens - werthen Einfluss auf die fibrinöse Mischung des Blutes ausüben. Es haben schon frühere Beobachter bemerkt, dass es Entzün - dungen sehr wichtiger Organe gibt, z. B. des Gehirns, bei denen man eigentlich die phlogistische Krase nicht findet. Aber gerade im Gehirn kennen wir kaum Lymphgefässe. Wo dagegen die Mischung des Blutes am frühesten verän - dert wird, bei den Erkrankungen der Respirationsorgane, da findet sich auch ein ungewöhnlich reichliches Lymphnetz. Nicht bloss die Lungen sind davon durchsetzt und überzogen, sondern auch die Pleura hat ausserordentlich reiche Verbin - dungen mit dem Lymphsystem, und die Bronchialdrüsen stel - len fast die grössten Anhäufungen von Lymphdrüsen-Masse dar, die irgend ein Organ des Körpers überhaupt besitzt.
Andererseits kennen wir keine Thatsache, welche die Mög - lichkeit zeigte, dass unter einfacher Steigerung des Blutdruckes oder unter einfacher Veränderung der Bedingungen, unter de - nen das Blut strömt, in diesen Organen ein Durchtreten fibri - nöser Flüssigkeiten vom Blute her in das Parenchym oder auf die Oberfläche derselben erfolgen könnte. Man denkt sich allerdings in der Regel, dass im Verhältniss zur Stromstärke des Blutes auch eine Modification des Exsudates stattfinde, aber dies ist nie durch ein Experiment bewiesen worden. Nie - mals ist Jemand im Stande gewesen, durch blosse Veränderung in der Strömung des Blutes das Fibrin zu einer directen Trans - sudation in Form eines entzündlichen Prozesses zu vermögen; dazu bedürfen wir immer eines Reizes. Sie können die be - trächtlichsten Hemmungen im Circulationsgeschäft herbeiführen,10*148Achte Vorlesung.die colossalsten Austretungen von serösen Flüssigkeiten expe - rimentell erzeugen, aber nie erfolgt dabei jene eigenthüm - liche fibrinöse Exsudation, welche die Reizung gewisser Ge - webe mit so grosser Leichtigkeit hervorruft.
Dass das Fibrin im Blute selbst durch eine Umsetzung des Eiweisses entstünde, ist eine chemische Theorie, die weiter keine Stütze für sich hat, als die, dass Eiweis und Fibrin grosse chemische Achnlichkeit haben, und dass man sich, wenn man die zweifelhafte Formel des Fibrins mit der ebenso zweifel - haften Formel des Eiweisses vergleicht, durch das Ausscheiden von ein paar Atomen den Uebergang von Albumin in Fibrin sehr leicht denken kann. Allein diese Möglichkeit der Formel - überführung beweist nicht das Geringste dafür, dass eine analoge Umsetzung in der Blutmasse geschehe. Sie kann möglicherweise im Körper erfolgen, aber dann wäre es jeden - falls wahrscheinlicher, dass sie in den Geweben erfolgt und dass erst von da aus eine Fortführung durch die Lymphe geschehe. Indess ist dies um so mehr zweifelhaft, als die rationelle For - mel für die chemische Zusammensetzung des Eiweisses und des Faserstoffes bis jetzt noch nicht ermittelt ist, und die un - glaublich hohen Atomzahlen der empirischen Formel auf eine sehr zusammengesetzte Gruppirung der Atome hindeuten.
Halten wir daher an der Erfahrung fest, dass das Fibrin nur dadurch zum Austritt auf irgend eine Oberfläche gebracht werden kann, dass wir ausser der Störung der Circulation auch noch einen Reiz, d. h. eine locale Veränderung setzen. Diese locale Veränderung genügt aber erfahrungsgemäss für sich, um den Austritt von Fibrin zu bedingen, wenn auch keine Hem - mung der Circulation eintritt. Es bedarf daher dieser Hem - mung gar nicht, um die Erzeugung von Fibrin an einem be - stimmten Punkte einzuleiten. Im Gegentheil sehen wir, dass in der besonderen Beschaffenheit der gereizten Theile die Ursache der grössten Verschiedenheiten gegeben ist. Wenn wir z. B. ein - fach eine reizende Substanz auf die Hautoberfläche bringen, so gibt es bei geringeren Graden der Reizung, mag sie nun che - mischer oder mechanischer Natur sein, eine Blase, ein seröses Exsudat. Ist die Reizung stärker, so tritt eine Flüssigkeit aus, welche in der Blase vollkommen flüssig erscheint, aber149Transsudation des Fibrins.nach ihrer Entleerung coagulirt. Fängt man die Flüssigkeit einer Vesicatorblase in einem Uhrschälchen auf und lässt sie an der Luft stehen, so bildet sich ein Coagulum; es ist also fibrinogene Substanz in der Flüssigkeit. Nun giebt es aber zuweilen Zustände des Körpers, wo ein äusserlicher Reiz genügt, um Blasen mit direct coagulirender Flüssigkeit hervorzurufen. Ich habe z. B. im vorigen Winter einen Kranken auf meiner Abtheilung gehabt, welcher von einer Erfrierung der Füsse eine Anästhesie zurückbehielt, wogegen ich unter Anderem locale Bäder mit Königswasser anwendete. Nach einer gewissen Zahl solcher Bäder bildeten sich jedesmal an den anästhetischen Stellen der Fusssohle Blasen bis zu einem Durchmesser von zwei Zoll, welche bei ihrer Eröffnung sich mit grossen gallertigen Mas - sen von Coagulum erfüllt zeigten. Bei anderen Menschen hät - ten sich wahrscheinlich einfache Blasen gebildet, mit einer Flüssigkeit, die erst nach dem Herauslassen erstarrt wäre. Diese Verschiedenheit liegt offenbar in der Verschiedenheit nicht der Blutmischung, sondern der örtlichen Disposition. Die Differenz zwischen der Form von Pleuritis, welche von Anfang an coa - gulable und coagulirende Substanzen liefert, und der, wo coa - gulable, aber nicht coagulirende Flüssigkeiten austreten, weist gewiss auf Besonderheiten der localen Reizung hin.
Ich glaube also nicht, dass man berechtigt ist zu schliessen, dass Jemand, der mehr Fibrin im Blute hat, damit auch eine grössere Neigung zu fibrinöser Transsudation besitze; vielmehr erwarte ich, dass bei einem Kranken, der an einem bestimmten Orte sehr viel fibrinbildende Substanz producirt, von diesem Orte aus viel davon in die Lymphe und endlich in das Blut über - gehen wird. Man kann also das Exsudat in solchen Fällen betrachten als den Ueberschuss des in loco gebildeten Fibrins, für dessen Entfernung die Lymphcirculation nicht genügte. So lange der Lymphstrom ausreicht, wird Alles, was in dem gereizten Theil an fremdartigen Stoffen gebildet wird, auch dem Blute zugeführt; sobald die örtliche Production über dies Maass hinausschreitet, häufen sich die Producte an, und neben der Hyperinose wird auch eine örtliche Ansammlung von fibri - nösem Exsudat stattfinden. Bei der Kürze der Zeit, die uns zugeme[s]sen ist, können wir diese Frage nicht in ihrer ganzen150Achte Vorlesung.Ausdehnung verfolgen, indessen hoffe ich, dass Sie wenigstens den Grundgedanken, der mich hier geleitet hat, vollständig übersehen. Auch hier finden wir wieder jene Abhängigkeit der Dyscrasie von der örtlichen Krankheit, welche ich schon neulich als den wesentlichsten Gewinn aller unserer Unter - suchungen über das Blut hingestellt habe.
Es ist nun eine sehr bemerkenswerthe Thatsache, welche gerade für diese Auffassung von Bedeutung ist, dass sehr sel - ten eine erhebliche Vermehrung des Fibrins Statt findet ohne gleichzeitige Vermehrung der farblosen Blutkörperchen, dass also die beiden wesentlichen Bestand - theile, welche wir in der Lymphflüssigkeit finden, auch im Blute wiederkehren. In jedem Falle einer Hyperinose kann man auf eine Vermehrung der farblosen Körperchen rechnen, oder, anders ausgedrückt, jede Reizung eines Theiles, welcher mit Lymphgefässen reichlich versehen ist und mit Lymphdrü - sen in einer ausgiebigen Verbindung steht, bedingt auch die Einfuhr grosser Massen farbloser Zellen (Lymphkörperchen) ins Blut.
Diese Thatsache ist besonders interessant insofern, als Sie daraus begreifen werden, dass nicht bloss Organe, welche reich versehen sind mit Lymphgefässen, diese Vermehrung be - dingen können, sondern dass auch gewisse Prozesse eine grös - sere Fähigkeit besitzen, beträchtliche Mengen von diesen Ele - menten in das Blut zuführen, nämlich alle die, welche früh mit bedeutender Erkrankung des Lymphgefäss-Systems ver - bunden sind. Wenn Sie z. B. eine erysipelatöse oder eine dif - fuse phlegmonöse (nach Rust pseudoerysipelatöse) Entzündung in ihrer Wirkung auf das Blut vergleichen mit einer einfachen oberflächlichen Hautentzündung, wie sie im Verlauf der ge - wöhnlichen acuten Exantheme, nach traumatischen oder chemi - schen Einwirkungen auftritt, so werden Sie gleich sehen, wie gross die Differenz ist. Eine erysipelatöse und eine diffuse phlegmonöse Entzündung haben immer die Eigenthümlichkeit, frühzeitig die Lymphgefässe zu afficiren und Schwellungen der lymphatischen Drüsen hervorzubringen. In einem solchen Falle kann man darauf rechnen, dass eine Zunahme in der Zahl der farblosen Blutkörperchen stattfindet. Weiterhin ergibt151Leukocytose.sich die characteristische Thatsache, dass es gewisse Prozesse gibt, welche gleichzeitig Fibrin und farblose Blutkörperchen vermehren, andere dagegen, welche nur die Zunahme der letz - teren bewirken. In diese Kategorie gehört gerade die ganze Reihe der einfachen diffusen Hautentzündungen, wo auch an den Erkrankungsorten keine erhebliche Fibrinbildung erfolgt. Ande - rerseits gehören dahin eine Menge von Zuständen, welche vom Gesichtspunkt der Faserstoff-Menge als hypinotische bezeich - net werden, alle die Prozesse, welche in die Reihe der typhö - sen zählen und die darin übereinkommen, dass sie bald diese, bald jene Art von bedeutender Anschwellung der Lymph - drüsen hervorbringen. So setzt der Typhus diese Veränderun - gen nicht nur an der Milz, sondern auch an den Mesenterial - Drüsen.
Den Zustand von Vermehrung der farblosen Körperchen im Blute, welcher abhängig erscheint von einer Affection der Lymphdrüsen, habe ich mit dem Namen der Leukocytose bezeichnet. Nun wissen Sie, dass eine andere Angelegenheit lange der Gegenstand meiner Studien gewesen ist, die von mir sogenannte Leukämie, und es handelt sich zunächst darum, fest zu stellen, wie weit sich die eigentliche Leukämie von diesen leukocytotischen Zuständen unterscheidet. Schon in den ersten Fällen der Leukämie, welche mir vorkamen, stellte sich eine sehr wesentliche Eigenschaft heraus, nämlich die, dass in dem Gehalt des Faserstoffes im Blute keine wesentliche Abweichung bestand. Späterhin hat man gefunden, dass der Faserstoff-Gehalt je nach der Besonderheit des Falles vermehrt oder vermindert oder gleich sein könne, dass aber constant eine immerfort steigende Zunahme der farblosen Blutkörperchen stattfinde, und dass diese Zunahme immer deutlicher zusam - menfällt mit einer Verminderung der Zahl der gefärbten (rothen) Blutkörperchen, so dass als endliches Resultat ein Zustand herauskommt, in welchem die Zahl der farblosen Blutkörper - chen der Zahl der rothen beinahe gleichkommt und selbst für die gröbere Betrachtung auffallendere Phänomene hervor - treten. Während wir im gewöhnlichen Blute immer nur auf etwa 300 gefärbte ein farbloses Körperchen rechnen können, so gibt es Fälle von Leukämie, wo die Vermehrung der farb -152Achte Vorlesung.losen in der Weise steigt, dass auf 3 rothe Körperchen schon ein farbloses oder gar 3 rothe auf 2 farblose kommen, ja wo die Zahlen für die farblosen Körperchen die grösseren werden.
In Leichen erscheint die Vermehrung der farblosen Kör - perchen meist beträchtlicher, als sie wirklich ist, aus Gründen, die ich schon neulich hervorhob (S. 138.); diese Körperchen sind ausserordentlich klebrig und häufen sich bei Verlangsa - mung des Blutstromes in grösseren Massen an, so dass in Leichen die grösste Menge stets im rechten Herzen gefunden wird. Es ist mir einmal, ehe ich Berlin verliess, der beson - dere Fall passirt, dass ich das rechte Atrium anstach und der Arzt, welcher den Fall behandelt hatte, überrascht ausrief: „ Ach, da ist ein Abscess! “ So eiterähnlich sah das Blut aus. Diese eiterartige Beschaffenheit des Blutes ist allerdings nicht in dem ganzen Circulationsstrom vorhanden; nie sieht man, dass das Blut im Ganzen wie Eiter aussieht, weil immer noch eine ver - hältnissmässig grosse Zahl von rothen Elementen existirt; aber es kommt auch vor, dass das Blut schon bei Lebzeiten weiss - liche Striemen zeigt, und dass, wenn man den Faserstoff durch Quirlen entfernt und das defibrinirte Blut stehen lässt, sich alsbald eine freiwillige Scheidung macht, in der Art, dass sich sämmtliche Blutkörperchen, rothe und farblose, allmählich auf den Boden des Gefässes senken und hier ein doppeltes Sedi - ment entsteht: ein unteres rothes, das von einem oberen, weissen, puriformen überlagert wird. Es erklärt sich dies aus dem un - gleichen specifischen Gewicht beider Arten von Körperchen (S. 139.); die schwereren rothen erreichen schon zu einer Zeit den Boden des Gefässes, wo die leichteren, farblosen (weis - sen) noch im Fallen begriffen sind. Zugleich gibt dies eine sehr leichte Scheidung des leukämischen Blutes von dem chylö - sen (lipämischen), wo ein milchiges Aussehen des Serums durch Fettbeimischung entsteht; defibrinirt man dieses, so bildet sich nach einiger Zeit nicht ein weisses Sediment, sondern eine rahmartige Schicht an der Oberfläche.
Es existirt bis jetzt in der Geschichte aller bekannten leukämischen Fälle eine einzige Angabe, wo der Kranke, nach - dem er eine Zeit lang Gegenstand einer ärztlichen Behandlung153Leukämie.war, als wesentlich gebessert das Hospital verliess. In allen anderen Fällen erfolgte der Tod. Ich will daraus keineswegs den Schluss ziehen, dass es sich hier um eine absolut unheil - bare Krankheit handle; ich hoffe im Gegentheil, dass man endlich auch hier Mittel finden wird, aber es ist gewiss eine sehr wichtige Thatsache, dass es sich dabei, ähnlich wie bei der progressiven Muskelatrophie, um Zustände handelt, welche, sich selbst überlassen, oder, wenn sie unter einer der bis jetzt bekannten Behandlungen stehen, sich fortwährend verschlim - mern und endlich zum Tode führen. Es haben diese Fälle noch ausserdem die besondere Merkwürdigkeit, dass sich ge - wöhnlich in der letzten Zeit des Lebens eine eigentliche hä - morrhagische Diathese ausbildet und Blutungen entstehen, die besonders häufig in der Nasenhöhle stattfinden (unter der Form von erschöpfender Epistaxis), die aber unter Umständen auch an anderen Punkten auftreten können, so in colossaler Weise als apoplectische Formen im Gehirn oder als melänaar - tige in der Darmhöhle.
Wenn man nun untersucht, von woher diese sonderbare Veränderung des Blutes stammt, so zeigt sich, dass in der grossen Mehrzahl der Fälle mit überzeugender Constanz ein bestimmtes Organ immer wieder als das wesentlich erkrankte erscheint, ein Organ, welches häufig schon im Anfange der Krankheit als Hauptgegenstand der Klagen und Beschwerden der Kranken erscheint, nämlich die Milz. Daneben leidet sehr häufig auch eine Partie von Lymphdrüsen, aber das Milzleiden steht im Vordergrund. Nur in einigen Fällen fand ich die Milz weniger, die Lymphdrüsen überwiegend verändert, und zwar in solchem Grade, dass Lymphdrüsen, die man sonst kaum bemerkt, zu wallnussgrossen Knoten sich entwickelt hatten, ja dass an einzelnen Stellen fast nichts weiter als Drüsensubstanz zu bestehen schien. Von den Drüsen z. B., welche zwischen den Inguinal - und Lumbaldrüsen gelegen sind, pflegt man nicht viel zu sprechen; sie haben nicht einmal einen bequemen Namen. Einzelne von ihnen liegen längs der Vasa iliaca, einzelne im kleinen Becken. Im Laufe solcher Leukämien traf ich sie zweimal so vergrössert, dass der ganze154Achte Vorlesung.Raum des kleinen Beckens wie ausgestopft war mit Drüsen, zwischen welche Rectum und Blase nur eben hineintauchten.
Ich habe desshalb zwei Formen der Leukämie unter - schieden, nämlich die gewöhnliche lienale und die lym - phatische Form, welche sich allerdings zuweilen combi - niren. Das Unterscheidende stützt sich nicht allein darauf, dass in dem einen Falle die Lymphdrüsen, im anderen die Milz als Ausgangspunkte der Erkrankung erscheinen, sondern auch darauf, dass die Elemente, welche im Blute vorkommen, nicht vollkommen übereinstimmen. Während nämlich bei den lienalen Formen in der Regel die Elemente im Blute verhält - nissmässig grosse entwickelte Zellen mit einfachem oder mehr - fachen Kernen sind, die in manchen Fällen überwiegend viel Aehnlichkeit mit Milzzellen haben, so sieht man bei den ex - quisit-lymphatischen Formen die Zellen klein, die Kerne im Verhältniss zu den Zellen gross und einfach, in der Regel scharf begrenzt, sehr dunkel contourirt und etwas körnig, die Membran häufig so eng anliegend, dass man kaum den Zwi - schenraum constatiren kann. In vielen Fällen sieht es aus, als ob vollkommen freie Kerne im Blute enthalten wären. Hier scheint es also, dass allein die Vergrösserung der Drüsen, die mit einer wirklichen Vermehrung ihrer Elemente (Hyperplasie) einhergeht, auch eine grössere Zahl zelliger Theile der Lymphe und durch diese der Blutflüssigkeit zuführe, und dass in dem Maasse, als diese Elemente überwiegen, die Bildung der rothen Elemente Hemmungen erfährt. Das ist in Kürze die Geschichte dieser Prozesse. Die Leukämie ist demnach eine Art von dauerhafter, progressiver Leukocytose; diese dagegen in ihren einfachen Formen stellt einen vorübergehenden, an schwankende Zustände gewisser Organe geknüpften Vorgang dar.
Sie sehen also, dass sich hier mindestens drei verschiedene Zustände berühren, die Hyperinose, die Leukocytose und die Leukämie, welche in einer näheren Beziehung zu der Lymph - flüssigkeit stehen. Die eine Reihe, nämlich die durch Vermeh - rung des Fibrins ausgezeichnete, bezieht sich mehr auf die zu - fällige Beschaffenheit der Organe, von wo die Lymphflüssig - keit herkommt, während die durch Vermehrung der zelligen Elemente bedingten Zustände mehr der Beschaffenheit der155Hämatopoëtische Organe.Drüsen entsprechen, durch welche die Lymphflüssigkeit strömte. Diese Thatsachen lassen sich nun wohl nicht anders deuten, als dass man in der That die Milz und die Lymphdrüsen in eine nähere Beziehung zur Entwicklung des Blutes bringt. Dies ist noch wahrscheinlicher geworden, seitdem es gelungen ist, auch chemische Anhaltspunkte zu gewinnen. Hr. Sche - rer hat zweimal leukämisches Blut untersucht, das ich ihm übergeben hatte, um dasselbe mit den von ihm gefundenen Milzstoffen zu vergleichen; es ergab sich, dass darin Hypoxan - thin, Leucin, Harnsäure, Milch - und Ameisensäure vorkamen. In einem Falle überzog sich eine Leber, die ich einige Tage liegen liess, ganz mit Tyrosinkörnern; in einem anderen krystal - lisirte aus dem Darminhalt Leucin und Tyrosin in grossen Mas - sen aus. Kurz Alles deutet auf eine vermehrte Thätigkeit der Milz, welche normal diese Stoffe in grösserer Menge enthält.
Es ist eine ziemlich lange Reihe von Jahren (seit 1845) vergangen, während deren ich mich mit meinen Beobachtungen ziemlich vereinsamt fand. Erst nach und nach ist man, und zwar wie ich leider gestehen muss, mehr von physiologischer als von pathologischer Seite auf diese Gedanken eingegangen, und erst allmählig hat man sich der Vorstellung zugänglich erwiesen, dass im gewöhnlichen Gange der Dinge die Lymph - drüsen und die Milz in der That eine unmittelbare Bedeutung für die Formelemente des Blutes haben, dass im Besonderen die körperlichen Bestandtheile des letzteren wirkliche Abkömm - linge sind von den zelligen Körpern der Lymphdrüsen und der Milz, welche aus ihrem Innern losgelöst und dem Blut - strom zugeführt werden. Kommen wir damit auf die Frage von der Herkunft der Blutkörperchen selbst.
Sie werden sich, meine Herren, wahrscheinlich aus der Zeit Ihrer Studien erinnern, dass man sich die Lymphdrüsen als Con - volute von Lymphgefässen dachte. Bekanntlich sieht man schon vom blossen Auge die zuführenden Lymphgefässe sich in kleinere Aeste auflösen, innerhalb der Drüse verschwinden und am Ende wieder aus derselben hervorkommen. Nach den Resul - taten der Quecksilberinjectionen, welche man schon im vorigen Jahrhundert mit so grosser Sorgfalt gemacht hat, glaubte man nun schliessen zu müssen, dass das eingetretene Lymphgefäss156Achte Vorlesung.schlingenförmige Windungen mache, welche sich vielfach durch - schlängen und endlich in das ausführende Gefäss fortgingen, so dass die Drüse nichts weiter als eine Zusammendrängung von Windungen der einführenden Gefässe darstelle. Die ganze Sorgfalt der modernen Histologie hat sich darauf gerichtet, dies Durchtreten von Lymphgefässen durch die Drüse zu con - statiren; nachdem man sich Jahre lang vergebens darum be - müht hatte, hat man es endlich aufgegeben.
Im Augenblick dürfte es kaum einen Histologen geben, welcher an eine vollkommene Continuität der Lymphgefässe innerhalb einer Lymphdrüse dächte; meist ist die Anschauung von Kölliker acceptirt, dass die Lymphdrüsen den Strom der Lymphe unterbrechen, indem das Lymphgefäss sich in das Parenchym der Drüse auflöst und aus demselben sich wieder zusammensetzt. Man kann dieses Verhältniss nicht wohl an - ders vergleichen, als mit einer Art von Filtrirapparat, etwa wie wir ihn im Kohlen - oder Sandfiltrum besitzen.
Wenn man eine Drüse durchschneidet, so bekommt man häufig eine Bildung zu Gesichte, wie von einer Niere. Man sieht, dass an denjenigen Punkten, wo die zuführenden Gefässe sich auflösen, eine derbere Substanz liegt, von wel - cher halb umschlossen eine Art von Hilus den Punkt bezeich - net, an dem die Lymphgefässe die Drüse wieder verlassen. Hier findet sich ein maschiges Gewebe von oft deutlich areo - lärem oder cavernösem Bau, in welches ausser den Vasa lym - phatica efferentia auch Blutgefässe eingehen, um von da weiter in die eigentliche Substanz einzudringen. Kölliker hat dar - nach eine Rinden - und Marksubstanz unterschieden; indess ist die sogenannte Marksubstanz kaum noch drüsiger Natur. Letztere findet sich hauptsächlich an der Rinde, welche bald mehr, bald weniger dick ist, und man thut also am besten, wenn man jenen Theil einfach den Hilus nennt, da aus - und einführende Gefässe dicht zusammenliegen, gerade so, wie im Hilus der Niere einerseits die Ureteren und Venen abführen, die Arterien zuleiten. Wesentlich also für die Drüse ist immer der peri - pherische Theil, die oft nierenartige Rindensubstanz.
An dieser unterscheidet man, falls die Drüse einigermaas - sen gut entwickelt ist, (und in einzelnen Fällen pathologischer157Lymphdrüsen.Vergrösserung ist dies ausserordentlich deutlich) schon mit blossem Auge kleine, nebeneinander gelegene, rundliche, weisse oder graue Körner. Ist eine mässige Blutfülle vorhanden, so erkennt man ziemlich regelmässig um jedes Korn einen rothen Kranz von Gefässen. Diese Körner hat man seit langer Zeit Follikel genannt, aber es war zweifelhaft, ob es besondere Bildungen seien, oder blosse Windungen des Lymphgefässes, welche an die Oberfläche treten. Bei einer feineren mikro - skopischen Untersuchung unterscheidet man leicht die eigent -
liche (drüsige) Substanz der Fol - likel von dem faserigen Maschen - werk (Stroma), welches diesel - ben umgrenzt und welches nach aussen continuirlich mit dem Binde - gewebe der Capsel zusammen - hängt. Die innere Substanz be - steht überwiegend aus kleinen zelligen Elementen, die ziemlich lose liegen, bloss eingeschlossen in ein feines Netzwerk von stern - förmigen, oft kernhaltigen Balken. Unternimmt man es, die Lymph - gefässe innerhalb der Rinde aufzusuchen, so kommt davon innerhalb des Stroma’s nur wenig zu Tage; injicirt man eine Drüse, so geht die Injectionsmasse mitten in die Follikel hinein. Untersucht man eine Gekrös - Drüse während der Chylification, also vielleicht 4 — 5 Stunden nach einer fettreichen Mahlzeit, so erscheint ihre ganze Sub - stanz weiss, vollständig milchig, und wenn man einzelne Theile mikroskopisch studirt, so erkennt man, dass das feine Chylus - fett überall zwischen den zelligen Elementen der Follikel liegt.
Durchschnitte durch die Rinde menschlicher Gekrös - Drüsen. A. Schwache Vergrösserung der ganzen Rinde: P Umgebendes Fettgewebe und Capsel, durch welche Blutgefässe v, v, v eintreten. F, F, F Follikel der Drüse, in welche sich die Blutgefässe zum Theil ein - senken, bei i, i das die Follikel trennende Zwischengewebe (Stroma). B. Stärkere Vergrösserung (280 mal). C das parallel-fibrilläre Ge - webe der Capsel. a, a das Reticulum, zum Theil leer, zum Theil mit dem kernigen Inhalt erfüllt. Das Ganze stellt den äusseren Abschnitt eines Follikels dar.
158Achte Vorlesung.Der Strom der Lymphe scheint sich also zwischen diesen Elementen durchzudrängen und eine eigentlich freie Bahn gar nicht zu existiren, indem die Elemente vielmehr wie die Theil - chen in einem Kohlenfiltrum zusammengedrängt liegen, so dass die Lymphe in einer mehr oder weniger gereinigten Weise auf der anderen Seite wieder hervorquillt. Die Follikel wären demnach als Räume zu betrachten, die mit zelligen Elementen erfüllt, aber durch ein balkiges Reticulum vielfach durchsetzt sind und die daher nicht mehr als Windungen oder Erweite - rungen der Lymphgefässe gelten können, sondern die sich zwischen den Gefässlauf einschieben, nachdem eine immer fei - nere Auflösung der Lymphgefässe erfolgt ist.
Von den feinen Elementen, welche in den Follikeln enthalten sind, den Parenchymzellen, scheint eine Ablösung einzelner Theile zu erfolgen, welche nachher als farblose Blut - oder Lymphkörperchen dem Blute sich beimischen. Je mehr die
Drüsen vergrössert sind, um so zahlreicher sind die zelligen Elemente, welche in das Blut übergehen, und um so grösser und entwickelter pflegen auch die einzelnen farblosen Zellen des Blutes selbst zu sein.
Dasselbe Verhältniss scheint bei der Milz obzuwalten. Ursprünglich haben wir uns Alle gedacht, dass diejenigen Wege, auf welchen die farblosen Körper die Milz verliessen, die Ve - nen wären; aber ich bin auch hier zu dem Schlusse gekommen, dass aller Wahrscheinlichkeit nach die Ausfuhr durch die Lymphgefässe geschieht. —
Lymphkörperchen aus dem Innern der Lymphdrüsen - Follikel. A. Die gewöhnlichen Elemente: a, nackte Kerne, mit und ohne Kernkörperchen, einfach und getheilt. b, Zellen mit kleineren und grös - seren Kernen, die Membran dem Kern sehr eng anliegend. B. Vergrös - serte Elemente aus einer hyperplastischen Bronchialdrüse bei variolöser Pneumonie (vgl. bei Fig. 57. die zugehörigen farblosen Blutkörperchen) a, grössere Zellen mit Körnern und einfachen Kernen. b, keulenförmige Zel - len. c, grössere Zellen mit grösserem Kern und Kernkörperchen. d, Kern - theilung. e, keulenförmige Zellen in dichter Aneinanderlagerung (Zel - lentheilung?). C. Zellen mit endogener Brut. Vergrösserung 300.
Vergleich der farblosen Blut - und Eiterkörperchen. Die physiologische Eiterresorption: die unvollständige (Inspissation, käsige Umwandlung) und die vollständige (Fettmetamorphose, milchige Umwandlung). Intravasation von Eiter. Eiter in Lymphgefässen. Die Hemmung der Stoffe in den Lymphdrüsen. Mechanische Tren - nung (Filtration): Tätowirungsfarben. Chemische Trennung (Attraction): Krebs, Syphilis. Die Reizung der Lymphdrüsen und ihre Bedeutung für die Leukocytose. Die (physiologische) digestive und puerperale Leukocytose. Die pathologische Leukocytose (Skrophulose, Typhus, Krebs, Erysipel). Die lymphoiden Apparate: Solitäre und Peyersche Follikel des Darms. Tonsillen und Zungen - follikel. Thymus. Milz. Völlige Zurückweisung der Pyämie als einer morphologisch nachweisbaren Dyscrasie.
Vom praktischen Gesichtspunkte aus schliesst sich an die zuletzt betrachteten Veränderungen mit eindringlicher Nothwen - digkeit die Frage von der Pyämie an, und da dies ein Ge - genstand ist, welcher noch immer zu den am meisten streitigen zu rechnen ist, so erlauben Sie wohl, dass ich specieller darauf eingehe.
Was soll man unter Pyämie verstehen? In der Regel hat man sich gedacht, dass dies ein Zustand sei, wo das Blut Eiter enthalte, und da wir den Eiter wesentlich durch seine morphologischen Bestandtheile charakterisiren, so handelt es sich natürlich darum, dass im Blute die Eiterkörperchen gezeigt würden. Nachdem wir aber erfahren haben, dass die farblo - losen Blutkörperchen in ihrer gewöhnlichen Erscheinung, wie sie sich bei Leuten im besten Gesundheitszustande wahrneh - men lassen, den Eiterkörperchen ganz ähnlich sind (S. 135),160Neunte Vorlesung.so fällt damit schon von vornherein eine wesentliche Seite der Frage weg. Um indess einigermassen Klarheit in den Gegen - stand zu bringen, ist es nothwendig, dass man auf die ver - schiedenen Gesichtspunkte, welche hierbei in Betracht kommen, etwas genauer eingeht.
Die farblosen Blutkörperchen sind zum Verwechseln den Eiterkörperchen ähnlich, so dass, wenn man in einem bestimm - ten Objekte solche Elemente antrifft, man nie ohne Weiteres mit Sicherheit angeben kann, ob man es mit farblosen Blut - körperchen oder mit Eiterkörperchen zu thun hat. Früherhin, und zum Theil noch bis in unsere Zeit hinein, hatte man viel - fach die Ansicht, dass die Bestandtheile des Eiters im Blute präexistirten, dass der Eiter nur eine Art von Secret aus dem Blute sei, wie etwa der Harn, und dass er auch, wie eine ein - fache Flüssigkeit, in das Blut zurückkehren könne. Diese An - sicht erklärt ja die Auffassung, wie sie in der Lehre von der sogenannten physiologischen Eiterresorption sich so lange erhalten hat.
Man stellte sich vor, dass der Eiter von einzelnen Punk - ten her, an welchen er abgelagert war, wieder in das Blut aufgenommen werden könne, und dass dadurch eine günstige Wendung in der Krankheit eintrete, indem der aufgenommene Eiter endlich aus dem Körper entfernt werde. Man erzählte, dass bei einem Kranken mit Eiter im Pleurasacke die Resorp - tion des Eiters sich durch eitrigen Harn oder eitrigen Stuhl - gang entscheiden könne, ohne dass ein Durchbruch des Eiters von der Pleura her in den Darm oder die Harnblase verher - gegangen sei. Man liess also die Möglichkeit zu, dass Eiter in Substanz aufgenommen und weggeführt werden könnte. Spä - terhin, als die Lehre von der Pyämie mehr und mehr aufkam, hat man diese Fälle unter dem Namen der physiologischen Eiterresorption von der pathologischen unterschieden, und es blieb nur fraglich, wie man die erstere in ihrem günstigen und die letztere in ihrem malignen Ausgange sich erklären sollte. Diese Angelegenheit erledigt sich einfach dadurch, dass Eiter als Eiter nie resorbirt wird. Es gibt keine Form, in der Eiter in Substanz auf dem Wege der Resorption verschwinden könnte; immer sind es flüssige Theile des Eiters,161Eiterresorption.welche aufgenommen werden, und daher lässt sich dasjenige, was man Eiterresorption nennt, auf folgende zwei Möglichkei - ten zurückführen.
Entweder ist der Eiter mit seinen Körperchen zur Zeit der Resorption mehr oder weniger intact vorhanden. Dann wird natürlich in dem Maasse, als die Flüssigkeit verschwin - det, der Eiter dicker werden. Es gibt dies die altbekannte Eindickung, Inspissation des Eiters, dasjenige, was die Franzosen pus concret nennen.
Dies kann in der That nichts weiter sein, als eine dicke Masse, welche die Eiterkörperchen in einem überwiegend ge - schrumpften Zustande enthält, indem nicht bloss die Flüssig - keit, welche zwischen den Eiterkörperchen vorhanden ist (das Eiterserum) verschwindet, sondern auch ein Theil der Flüssig - keit, die sich in den Eiterkörperchen befindet. Der Eiter be - steht seinem Haupttheile nach aus Zellen, welche im gewöhn -
lichen Zustande eine dicht an der anderen liegen (Fig. 63, C.), und zwischen welchen sich eine geringe Masse von Intercellu - larflüssigkeit (Eiterserum) befindet. Innerhalb der Eiter - körperchen selbst lagert eine gleichfalls mit einer grossen Menge von Wasser versehene Substanz, denn fast jeder Eiter, mag er auch im frischen Zustande sehr dick aussehen, hat doch
Eiter. A. Eiterkörperchen, a frisch, b mit etwas Wasser - zusatz, c — e nach Essigsäure-Behandlung, der Inhalt klar geworden, die in der Theilung begriffenen oder schon getheilten Kerne sichtbar, bei e mit leichter Depression der Oberfläche. B. Kerne der Eiterkörper - chen bei Gonorrhoe: a einfacher Kern mit Kernkörperchen, b beginnende Theilung, Depression des Kerns, c fortschreitende Zweitheilung, d Drei - theilung. C. Eiterkörperchen in dem natürlichen Lagerungsverhältniss zu einander. Vergr. 500.
11162Neunte Vorlesung.einen so grossen Antheil von Wasser, dass er bei der Ein - dampfung viel mehr verliert, als eine entsprechende Quan - tität von Blut. Letzteres macht nur deshalb den Eindruck der grösseren Wässrigkeit, weil es sehr viel freie, aber relativ wenig intracellulare Flüssigkeit besitzt, während umgekehrt beim Eiter mehr Wasser innerhalb der Zellen, weniger aus - serhalb derselben befindlich ist. Wenn nun eine Resorption stattfindet, so verschwindet zunächst der grösste Theil der in - tercellularen Flüssigkeit und die Eiterkörperchen rücken näher an einander; dann verschwindet aber auch ein Theil der Flüs - sigkeit aus den Zellen selbst, und in demselben Maasse wer -
den diese kleiner, unregelmässiger, ecki - ger, höckriger, bekommen die allersonder - barsten Formen, liegen dicht an einander gedrängt, brechen das Licht stärker, weil sie mehr feste Substanz enthalten und sehen gleichmässiger aus.
Diese Art der Eindickung ist keines - wegs ein so seltener Vorgang, wie man oft annimmt, sondern im Gegentheil ausserordentlich häufig, und fast noch mehr wichtig als häufig. Es ist dies nämlich einer von den Vorgängen, welche zu den viel discutirten kä - sigen Produkten führen, die man in der neueren Zeit alle unter den Begriff des Tuberkels subsumirt hat, und von denen namentlich durch Reinhardt gezeigt ist, dass sie zu einem sehr beträchtlichen Theile wirklich auf Eiter, also auf Entzün - dungsproduct zurückzuführen sind. Späterhin werden wir sehen, dass diese Erfahrungen zu falschen Schlüssen über den Tuberkel selbst verwerthet sind; aber dass durch Inspissation solche Entzündungsproducte in Dinge, die man Tuberkel nennt, umgewandelt werden können, ist unzweifelhaft. Gerade in der Geschichte der Lungentuberkulose spielt dieser Act eine sehr grosse Rolle. Sie brauchen sich solche geschrumpfte Zellen nur innerhalb der Lungenalveolen eingeschlossen zu
Eingedickter, käsiger Eiter. a die geschrumpften, ver - kleinerten, etwas verzerrten und mehr homogen und solid aussehenden Körperchen. b ähnliche mit Fettkörnchen. c natürliches Lagerungsver - hältniss zu einander. Vergr. 300.
163Eindickung (Tuberculisation) des Eiters.denken und Alveole für Alveole die Inspissation ihres Inhaltes durchgehen zu lassen, so bekommen Sie die käsigen Hepatisa - tionen, welche man gewöhnlich unter dem Namen der Tuber - kel-Infiltration schildert.
Diese unvollständige Resorption, wo nur die flüssigen Be - standtheile resorbirt werden, lässt die Masse der festen Be - standtheile als Caput mortuum, als abgestorbene, nicht mehr lebensfähige Masse in dem Theile liegen. Solche Arten von Eindickungen sind es, welche wir in grossem Maassstabe bei der unvollständigen Resorption pleuritischer Exsudate eintre -
ten sehen, wo sehr grosse Lager von bröckliger Substanz im Pleurasacke zurückbleiben; ebenso im Umfange der Wirbel - säule bei Spondylarthrocace, in kalten Abscessen u. s. w. In allen diesen Fällen ist die Resorption, sobald die Flüssig - keit verschwunden ist, zu Ende. Darin beruht die schlimme Bedeutung dieser Vorgänge. Denn die festen Theile, welche nicht resorbirt werden, bleiben entweder als solche liegen, oder sie können später erweichen, werden aber dann gewöhnlich nicht mehr Object der Resorption, sondern es geht meist aus ihnen eine Ulceration hervor. Auf alle Fälle ist das, was re - sorbirt wurde, kein Eiter, sondern eine einfache Flüssigkeit, welche überwiegend viel Wasser, etwas Salze und sehr wenig von eiweissartigen Bestandtheilen enthalten mag und es kann kein Zweifel sein, dass hier eine der unvollständigsten For - men der Resorption vorliegt.
Die zweite Form von Eiter-Resorption ist diejenige, welche den günstigsten Fall constituirt, wo der Eiter wirklich ver - schwindet und nichts Wesentliches von ihm übrig zu bleiben
Eingedickter, zum Theil in der Auflösung begriffener, hämorrhagischer Eiter aus Empyem. a die natürliche Masse, körnigen Detritus, geschrumpfte Eiter - und Blutkörperchen enthaltend. b die - selbe Masse, mit Wasser behandelt; einzelne körnige, entfärbte Blutkör - perchen sind deutlich geworden. c und d nach Zusatz von Essigsäure. Vergr. 300, bei d 520.
11*164Neunte Vorlesung.braucht. Aber auch hier wird der Eiter nicht als Eiter resor - birt, sondern er macht vorher eine fettige Metamorphose durch; jede einzelne Zelle lässt fettige Theile in sich frei werden,
zerfällt, und zuletzt bleibt nichts weiter übrig, als fettige Körner und Zwischen - flüssigkeit. Es ist also überhaupt keine Zelle und kein Eiter mehr vorhanden; an ihre Stelle ist eine emulsive Masse, eine Art von Milch getreten, welche aus Wasser, etwas eiweissar - tigen Stoffen und Fett besteht, und in welcher man sogar mehrfach Zucker nachgewiesen hat, so dass dadurch eine noch grössere Analogie mit der wirklichen Milch entsteht. Diese pathologische Milch ist es, welche nachher zur Resorption gelangt, also wieder kein Eiter, sondern Fett, Wasser oder Salze.
Das sind die Vorgänge, welche man „ physiologische Eiter - Resorption “nennen kann, eine Resorption, wo Eiter als sol - cher nicht resorbirt wird, sondern entweder nur seine flüssigen Bestandtheile, oder die durch eine innere Umwandlung bedeu - tend veränderte Substanz.
Es gibt nun allerdings einen Fall, wo Eiter in Substanz das Object nicht gerade einer Resorption, aber wenigstens einer Intravasation werden und wo dieser intravasirte Eiter in - nerhalb der Gefässe fortbewegt werden kann, der nämlich, wo ein Gefäss verletzt oder durchbrochen wird und durch die Oeffnung Eiter in sein Inneres gelangt. Es kann ein Abscess an einer Vene liegen, die Wand derselben durchbrechen, sei - nen Inhalt in ihre Lichtung entleeren. Noch leichter geschieht ein solcher Uebergang an Lymphgefässen, welche in offene Abscesse münden. Es fragt sich also nur, in wieweit man berechtigt ist, diesen Fall als einen häufigen zu setzen. Für die Venen hat man seit Decennien diesen Gedanken ziemlich beschränkt; von einer Resorption des Eiters in Substanz durch die Venen ist man mehr und mehr zurückgekommen, aber von
In der fettigen Rückbildung (Fettmetamorphose) begriffener Eiter. a beginnende Metamorphose. b Fettkörnchenzellen mit noch deut - lichen Kernen. c Körnchenkugel (Entzündungskugel). d Zerfall der Ku - gel. e Emulsion, milchiger Detritus. Vergr. 350.
165Eiter in Lymphgefässen.der Resorption durch Lymphgefässe spricht man noch ziem - lich häufig, und man hat in der That manche Veranlassung dazu.
Es ist aber ziemlich gleichgültig, ob der Eiter in Lymph - gefässe von aussen wirklich herein kommt, oder, was Andere annehmen, ob er durch Entzündung in den Lymphgefässen entsteht; schliessliche Frage ist vielmehr die, in wie weit ein mit Eiter gefülltes Lymphgefäss im Stande ist, eine Entleerung seines Inhaltes in den circulirenden Blutstrom zu Stande zu bringen und die eigentliche Pyämie zu setzen. Eine solche Möglichkeit muss in der Regel geläugnet werden, und zwar aus einem sehr einfachen Grunde. Alle Lymphgefässe, welche in der Lage sind, eine solche Aufnahme zu erfahren, sind pe - ripherische, mögen sie von äusserlichen oder innerlichen Thei - len entspringen, und gelangen erst nach einem längeren Lauf allmälig zu den Blutgefässen. Bei allen finden sich Unter - brechungen durch Lymphdrüsen; und seitdem man weiss, dass die Lymphgefässe durch die Drüsen nicht als weite, gewun - dene und verschlungene Kanäle hindurchgehen, sondern, nach - dem sie sich in feine Aeste aufgelöst haben, in Räume eintre - ten, welche mit zelligen Theilen gefüllt sind, so versteht es sich von selbst, dass kein Eiterkörperchen eine Drüse passi - ren kann.
Es ist dies ein sehr wesentlicher Gesichtspunkt, den man sonderbarer Weise gewöhnlich übersieht, obwohl er in der täglichen Erfahrung des praktischen Arztes die besten Bestä - tigungen findet. Für die Nothwendigkeit der Hemmung kör - perlicher Partikeln in den Lymphdrüsen haben wir ein sehr hübsches Experiment, welches die Sitte unserer niederen Be - völkerung mit sich bringt, die bekannte Tätowirung der Arme oder auch wohl anderer Theile. Wenn ein Handwerker oder ein Soldat auf seinen Arm eine Reihe von Einstichen machen lässt, die zu Buchstaben, Zeichen oder Figuren geordnet wer - den, so wird fast jedesmal bei der grossen Zahl der Stiche ein Theil der oberflächlichen Lymphgefässe verletzt. Es ist ja anders gar nicht möglich, als dass, wenn man durch Nadel - stiche ganze Hautbezirke umgrenzt, wenigstens einzelne Lymph - gefässe getroffen werden müssen. Darauf wird eine Substanz166Neunte Vorlesung.eingeschmiert, welche in der Körperflüssigkeit unlöslich ist, Zinnober, Schiesspulver oder dergl., und welche, indem sie in den Theilen liegen bleibt, eine dauerhafte Färbung derselben bedingt. Allein bei dem Einstreichen gelangt ein gewisser Theil der Partikelchen in Lymphgefässe, wird trotz seiner Schwere vom Lymphstrome fortbewegt und gelangt bis zu den nächsten Lymphdrüsen, wo er abfiltrirt wird. Man sieht nie, dass sich Partikeln bis über die Lymphdrüsen hinausbewegen und an entferntere Punkte gelangen, dass sie sich etwa im Parenchym innerer Organe ablagern. Immer in der nächsten Drüsenreihe bleibt die Masse stecken. Untersucht man die infiltrirten Drüsen, so überzeugt man sich leicht, dass die Grösse der abgelagerten Partikelchen geringer ist, als die Grösse auch des kleinsten Eiterkörperchens.
Das Object, welches ich Ihnen vorlege (Fig. 67), hat zufälliger
Durchschnitt durch die Rinde einer Axillardrüse bei Tä - towirung der Haut des Arms. Man sieht von der Rinde her ein grosses eintretendes Gefäss, das sich leicht schlängelt und in feine Aeste auflöst. Ringsumher Follikel, die grossentheils mit Bindegewebe gefüllt sind. Die dunkle feinkörnige Masse stellt den abgelagerten Zinnober dar. Ver - grösserung 80.
167Tätowirungsfarben in Lymphdrüsen.Weise den Punkt getroffen, wo das Lymphgefäss in die Drüse eintritt, und von wo es innerhalb der Bindegewebsbalken, welche sich von der Capsel aus zwischen die Follikel erstrecken, schrauben - förmig fortgeht, um sich in seine Aeste aufzulösen. Da, wo diese in die benachbarten, hier freilich zum grossen Theile mit Binde - gewebe erfüllten Follikel übergehen, haben sie die ganze Masse des Zinnobers ausgeschüttet, so dass dieser noch zum Theil innerhalb der Zwischenbalken liegt, zum Theil jedoch in das feine Reticulum des Follikels eingedrungen ist. Das Prä -
parat stammt von dem Arme eines Sol - daten, der sich in den Feldzügen von 1809 die Figuren hat einreiben lassen, so dass die Masse fast 50 Jahre lang liegen geblieben ist. Weiter als bis hier - her ist nichts gekommen; schon die nächste Follikelschicht enthält nichts mehr. Die Partikelchen sind aber so klein, und der Mehrzahl nach selbst im Verhältnisse zu den Zellen der Drüse so gering, dass sie mit Eiterkörper - chen gar nicht verglichen werden können. Wo aber diese Körnchen nicht durchgehen, wo so minimale Partikelchen eine Verstopfung machen, da würde es etwas kühn sein, zu denken, dass die relativ grossen Eiterkörperchen durchkommen könnten.
Diese Einrichtung, meine Herren, wodurch in den Lymphdrüsen der offene Strom der Flüssigkeit unterbrochen und die gröberen Partikelchen in einer ganz mechanischen Weise zurückgehalten werden, lässt begreiflicher Weise keine andere Form der Lymphresorption von der Peripherie herzu, als die von einfachen Flüssigkeiten. Freilich würde man falsch gehen, wenn man die Thätigkeit der Lymphdrüsen darauf be - schränken wollte, dass sie, wie Filtren, zwischen die Abschnitte des Lymphsystems eingeschoben sind. Offenbar haben sie noch eine andere Bedeutung, indem die Drüsensubstanz un -
Das mit Zinnober, nach Tätowirung des Armes, gefüllte Reticulum aus einer Axillardrüse (Fig. 67.). a ein Theil eines interfolli - culären Balkens mit einem Lymphgefässe; b ein in den Follikel treten - der, stärkerer Ast; c, c die feinsten, anastomosirenden, noch kernhaltigen Netze des Reticulums; die dunklen Körner sind Zinnoberpartikelchen. Vergr. 300.
168Neunte Vorlesung.zweifelhaft von der flüssigen Masse der Lymphe gewisse Be - standtheile in sich aufnimmt, zurückhält und dadurch auch die chemische Beschaffenheit der Flüssigkeit alterirt, so dass diese um so mehr verändert aus der Drüse hervortritt, als zugleich angenommen werden muss, dass die Drüse gewisse Bestand - theile an die Lymphe abgibt, welche vorher in derselben nicht vorhanden waren.
Ich will hier nicht auf minutiöse Verhältnisse eingehen, da die Geschichte jeder bösartigen Geschwulst die besten Beispiele für diesen Satz liefert. Wenn eine Achseldrüse kreb - sig wird, nachdem die Brustdrüse vorher krebsig erkrankt war, und wenn längere Zeit hindurch bloss die Achseldrüse krank bleibt, ohne dass die folgende Drüsenreihe oder irgend ein anderes Organ vom Krebs befallen wird, so können wir uns dies nicht anders vorstellen, als dass die Drüse die schäd - lichen, von der Brustdrüse her aufgenommenen Bestandtheile sammelt, dadurch eine Zeit lang dem Körper einen Schutz ge - währt, am Ende aber insufficient wird, ja vielleicht späterhin selbst eine neue Quelle selbständiger Infection für den Körper darstellt, indem von den kranken Theilen der Drüse aus die weitere Verbreitung des giftigen Stoffes stattfinden kann. Ebenso lehrreiche Beispiele liefert die Geschichte der Syphi - lis, wo der Bubo eine Zeit lang eine Ablagerungsstätte des Giftes werden kann, so dass die übrige Oekonomie in einer verhältnissmässig geringen Weise afficirt wird. Wie Ricord zeigte, findet sich die virulente Substanz gerade im Innern der eigentlichen Drüsensubstanz, während der Eiter im Umfange des Bubo frei davon ist; nur so weit die Theile in Contact kommen mit der zugeführten Lymphe, nehmen sie den viru - lenten Stoff in sich auf.
Wenden wir diese Erfahrungen auf die Eiterresorption an, so kann man selbst in dem Falle, dass wirklich Eiter in Lymphgefässe gelangt, durchaus nicht als nächste Folge da - von eine Inficirung des Blutes durch eitrige Bestandtheile er - schliessen; vielmehr wird wahrscheinlich innerhalb der Drüse eine Retention der Eiterkörperchen stattfinden, und auch die Flüssigkeiten, welche durch die Drüse hindurch gelangen, werden während des Durchganges einen grossen Theil ihrer169Einfluss der Drüsenreizung auf die Blutmischung.schädlichen Eigenschaften verlieren. Secundäre Drüsen-An - schwellungen treten in verschiedenen Formen nach peripheri - schen Infectionen auf. Wie will man sie anders erklären, als dass jede inficirende (miasmatische) Substanz, welche als eine wesentlich fremdartige oder, wenn ich mich so ausdrücken soll, feindselige für den Körper zu betrachten ist, indem sie in die Substanz der Drüse eindringt, daran einen Zustand von mehr oder weniger ausgesprochener Reizung hervorbringt, der sehr häufig bis zur wirklichen Entzündung der Drüse sich steigert? Wir werden noch später auf den Begriff der Reizung etwas genauer zurückkommen, und ich will hier nur so viel hervor - heben, dass nach meinen Untersuchungen die Reizung der Drüse darin besteht, dass sie in eine vermehrte Zellenbildung geräth, dass ihre Follikel sich vergrössern und nach einiger Zeit viel mehr Zellen zeigen als vorher. Im Verhältniss zu diesen Vorgängen sehen wir dann auch die farblosen Elemente im Blute sich vermehren. Jede bedeutende Drüsenreizung hat eine Zunahme der Lymphkörperchen im Blute zur Folge; je - der Prozess, welcher mit Drüsenreizung besteht, wird daher auch den Effect haben, das Blut mit grösseren Quantitäten von farblosen Blutkörperchen zu versehen, mit anderen Wor - ten, einen leukocytotischen Zustand zu setzen. Hat man nun die Ansicht, es sei Eiter resorbirt worden und der Eiter sei die Ursache der eingetretenen Störungen, so ist nichts leich - ter, als Zellen im Blute nachzuweisen, welche wie Eiterkör - perchen aussehen, und welche oft in so grosser Menge vor - handen sind, dass man ihre Zusammenhäufungen (Fig. 58.) in der Leiche wie kleine Eiterpunkte mit blossem Auge sehen kann, oder dass sie grosse, zusammenhängende oder körnige Lager an der unteren Seite der Speckhaut des Aderlassblutes bilden (Fig. 60.). Scheinbar ist der Beweis so plausibel als möglich. Man hat die Voraussetzung, dass Eiter in’s Blut ge - langt sei; man untersucht das Blut und findet wirklich Ele - mente, die vollkommen aussehen wie Eiterkörperchen, und zwar in sehr grosser Zahl. Selbst wenn man zugesteht, dass farblose Blut - körperchen wie Eiterkörperchen aussehen können, ist doch der Schluss sehr verführerisch, wie man ihn zu wiederholten Ma - len in der Geschichte der Pyämie gemacht hat, dass wegen170Neunte Vorlesung.der grossen Menge es doch keine farblosen Blutkörperchen mehr sein könnten, sondern Eiterkörperchen sein müssten. Diesen Schluss machte vor Jahren Bouchut bei Gelegenheit einer Epidemie vom Puerperal-Fieber, welches er damals für eine Pyämie hielt, neuerlichst aber auf Grund derselben Beob - achtungen für eine acute Leukämie erklärte. Das ist ferner derselbe Schluss, den Bennett in der viel discutirten Priori - tätssache mit mir gemacht hat, da er einen Fall von unzwei - felhafter Leukämie einige Monate früher beobachtete, als ich meinen ersten Fall sah, und da er aus der unerhört grossen Zahl der farblosen Körperchen den Schluss machte, es sei eine „ Suppuration des Blutes. “ Freilich war dieser Schluss nicht originell, sondern basirte sich auf die neulich (S. 140) erwähnte Hämitis von Piorry, der sich dachte, dass das Blut selbst sich entzünde und in sich Eiter erzeuge, was man nachher in der Wiener Schule spontane Pyämie genannt hat.
Alle diese Irrthümer waren nur hervorgegangen aus dem Umstande, dass man eine so ungeheuer grosse Zahl von farb - losen Blutkörperchen fand. Heutzutage ist dieser Befund eben so einfach vom Standpunkte der Hämatopoese aus zu erklä - ren, wie er früher allein erklärlich schien vom Standpunkte der Pyämie. Die Reizung der Lymphdrüsen erklärt ohne alle Schwierigkeit die Vermehrung der farblosen, eiterähnlichen Zellen im Blute, und zwar in allen Fällen, nicht bloss in denen, wo man eine Pyämie erwartete, sondern auch in denen, wo man sie nicht erwartete, wo jedoch das Blut dieselbe Masse von farblosen Körperchen zeigt, wie in der eigentlichen, dem klinischen Begriffe entsprechenden Pyämie.
So ergibt sich, dass jede Mahlzeit einen gewissen Rei - zungszustand in den Gekrösdrüsen setzt, indem die Chylus - bestandtheile, die den Drüsen zugeführt werden, einen patho - logischen Reiz für dieselben darstellen. Die Milch, welche wir trinken, die Fette unserer Suppen, die verschiedenen feiner vertheilten Fette in unseren festeren Speisen gelangen als kleinste Kügelchen in die Chylusgefässe und verbreiten sich eben so, wie der Zinnober, in den Drüsen; aber die kleinsten Fettkörnchen dringen nach einiger Zeit durch die Drüse hin -171Physiologische Leukocytose.durch. Für solche Formen besteht also noch eine wirkliche Permeabilität der Drüsengänge, aber auch sie werden eine Zeit lang retinirt; immer dauert es lange, ehe nach einer Mahl - zeit die Gekrösdrüsen das Fett wieder völlig los werden und es geschieht das Hindurchschieben der Massen offenbar unter einem verhältnissmässig grossen Drucke. Dabei beobachtet man zugleich eine Vergrösserung der Drüse, und ebenso nach jeder Mahlzeit eine Zunahme in der Zahl der farblosen Kör - perchen im Blute, — eine physiologische Leukocytose, aber keine Pyämie.
In dem Maasse, als eine Schwangerschaft vorrückt, als die Lymphgefässe am Uterus sich erweitern, als der Stoff - wechsel in der Gebärmutter mit der Entwickelung des Fötus zunimmt, vergrössern sich die Lymphdrüsen der Inguinal - und Lumbalgegend erheblich, zuweilen so beträchtlich, dass, wenn wir sie zu einer andern Zeit fänden, wir sie als entzündet betrachten würden. Diese Vergrösserung führt dem Blute auch mehr neue Partikelchen formeller Art zu, und so steigt von Monat zu Monat die Zahl der farblosen Körperchen. Zur Zeit der Geburt kann man fast bei jeder Puerpera, mag sie pyämisch sein oder nicht, in dem defibrinirten Blute die farblosen Kör - perchen ein eiterartiges Sediment bilden sehen. Auch dies ist eine physiologische Form, welche fern davon ist, eine pyämi - sche zu sein. Wenn man sich aber gerade eine Puerpera aussucht, welche Krankheits-Erscheinungen darbietet, die mit dem Bilde der Pyämie übereinstimmen, dann ist nichts leich - ter, als diese vielen farblosen, mehrkernigen Zellen zu finden, welche nach der Voraussetzung gerade die Pyämie constatiren sollen. Dies sind Trugschlüsse, welche aus unvollständiger Kenntniss des normalen Lebens und der Entwickelung resul - tiren. So lange man sich bloss an die pyämischen Erfahrun - gen hält, so lange kann dies Alles erscheinen wie ein gros - ses und neues Ereigniss, und man kann sich berechtigt halten, wenn man das Blut einer Wöchnerin untersucht, zu schliessen, sie hätte schon die Pyämie, bevor die pyämischen Symptome auftreten. Aber man mag untersuchen, wann man will, so wird man stets etwas von Leukocytose finden, gerade so, wie172Neunte Vorlesung.es schon seit langer Zeit bekannt ist, dass sich bei Schwan - geren sehr gewöhnlich eine Speckhaut bildet, weil das Blut gewöhnlich mehr von einem langsamer gerinnenden Fibrin zu - geführt bekommt (Hyperinose). Es erklärt sich dies durch den vermehrten Stoffwechsel und die, entzündlichen Vorgän - gen so nahe stehenden Veränderungen im Uterinsystem, wel - che mit einer gewissen Reizung der zunächst damit in Verbin - dung stehenden Lymphdrüsen vergesellschaftet sind.
Gehen wir einen Schritt weiter in die pathologischen Fälle hinein, so treffen wir diese leukocytotischen Zustände in der ganzen Reihe aller der Erkrankungen, welche mit Drü - senreizung complicirt sind, und bei welchen die Reizung nicht zu einer Zerstörung der Drüsensubstanz führt. Im Verlaufe einer Scrophulosis, bei deren einigermaassen ungünstigem Ver - laufe die Drüsen zu Grunde gehen, sei es durch Ulceration, sei es durch käsige Eindickung, Verkalkung u. s. f., kann eine vermehrte Aufnahme von Elementen in das Blut nur so lange stattfinden, als die gereizte Drüse überhaupt noch lei - stungsfähig ist oder existirt. In allen Fällen dagegen, wo eine mehr acute Form von Störung besteht, welche mit entzünd - licher Schwellung der Drüsen verbunden ist, findet immer eine Ver - mehrung der farblosen Körperchen im Blute Statt. So im Typhus, wo wir so ausgedehnte markige Schwellungen der Unterleibsdrüsen beobachten, so bei Krebskranken, wenn Rei - zung der Lymphdrüsen eintritt, so im Verlaufe der Prozesse, welche man als Eruptionen des malignen Erysipels bezeichnet und welche so frühzeitig schon mit Drüsenanschwellung ver - bunden zu sein pflegen. Das ist der Sinn dieser Vermehrung der farblosen Elemente, die zuletzt immer zurückführt auf die vermehrte Entwickelung lymphatischer Gebilde innerhalb der gereizten Drüsen.
Es ist nun von Wichtigkeit, darauf hinzuweisen, dass man gegenwärtig den Begriff der Lymphdrüsen ungleich weiter aus - dehnt, als dies bis vor Kurzem geschehen ist. Erst die neuesten histiologischen Untersuchungen haben gezeigt, dass ausser den gewöhnlichen bekannten Lymphdrüsen, die eine ge - wisse Grösse haben, eine grosse Menge von kleineren Einrich -173Die lymphoiden Organe.tungen im Körper vorhanden ist, welche ganz denselben Bau haben, welche aber nicht so grosse Zusammenordnungen dar - stellen, wie wir sie in einer Lymphdrüsse finden. Dahin ge - hören im Besonderen die Follikel des Darms, die solitären und Peyerschen. Ein Peyerscher Haufen ist nichts weiter als die flächenartige Ausbreitung einer Lymphdrüse; die einzelnen Follikel des Haufens entsprechen, ebenso wie die Solitärfollikel des Digestionstractus, den einzelnen Follikeln einer Lymph - drüse, nur dass jene, wenigstens beim Menschen, in einfacher, diese in mehrfacher Lage sich befinden. Die solitären und Peyerschen Drüsen haben also gar nichts gemein mit den ge - wöhnlichen Drüsen, welche nach dem Darm hin secerniren; sie haben vielmehr die Stellung und offenbar auch die Funk - tion der Lymphdrüsen.
In dieselbe Kategorie gehören aller Wahrscheinlichkeit nach auch die analogen Apparate, die wir im oberen Theil des Digestionstractus in so grossen Haufen zusammengeordnet finden, wo sie die Tonsillen und die Follikel der Zungen - wurzel bilden. Während im Darm die Follikel in einer ebenen Fläche liegen, findet sich hier die Fläche eingefaltet und die einzelnen Follikel um die Einfaltung oder Einstülpung herumliegend.
In dieselbe Kategorie gehört weiterhin die Thymus - drüse, welche im Innern keine anderen Verschiedenheiten ihres Baues zeigt, als dass die Anhäufung der Follikel einen noch höheren Grad erreicht, als in den Lymphdrüsen. Wäh - rend wir in den meisten Lymphdrüsen noch einen Hilus haben, wo keine Follikel liegen, so hört dies in der Thy - musdrüse auf; sie hat keinen Hilus mehr.
Dahin gehört endlich ein sehr wesentlicher Bestandtheil der Milz, nämlich die Malpighischen oder weissen Körper, die bei verschiedenen Leuten in ebenso verschiedener Menge durch das Milzparenchym zerstreut sind, wie die solitären und Peyer - schen Follikel im Darm. Auf einem Durchschnitte durch die Milz sehen wir vom Hilus her die Trabekeln gegen die Cap - sel ausstrahlen und gewisse Abschnitte von Drüsensubstanz umschliessen, innerhalb deren die rothe Milzpulpe liegt, hier174Sechste Vorlesung.und da unterbrochen durch bald mehr bald weniger zahlreiche weisse Körper, Follikel von grösserem oder kleinerem Um - fange, einzeln oder zusammengesetzt, zuweilen fast trauben - förmig. Der Bau dieser Follikel stimmt aufs Haar mit dem der Lymphdrüsen-Follikel.
Wir können daher diese ganze Reihe von Apparaten als verhältnissmässig gleichwerthig mit den eigentlichen Lymph - drüsen denken, und eine Anschwellung der Milz wird unter Umständen eine ebenso reichliche Zufuhr von farblosen Blut - körperchen liefern, wie dies bei einer Lymphdrüse der Fall ist. Diese Möglichkeit erklärt es, dass wir z. B. in der Cho - lera, wo die Veränderung der solitären und Peyerschen Folli - kel im Darm die Hauptsache ist, wo wir die Schwellung der übrigen Lymphdrüsen viel weniger ausgebildet finden, ausser - ordentlich frühzeitig eine bedeutende Vermehrung der farblo - sen Blutkörperchen antreffen. Dies erklärt es ferner, warum bei solchen Pneumonien, die mit grossen Schwellungen der Bronchialdrüsen verbunden sind, gleichfalls eine Vermehrung der farblosen Blutkörperchen stattfindet, welche in denjenigen Formen der Pneumonie, die nicht mit einer solchen Schwel - lung verbunden sind, gewöhnlich fehlt. Je mehr die Reizung von der Lunge auf die Lymphdrüsen übergreift, je reichlicher von der Lunge schädliche Flüssigkeiten auf die Drüse zuge - führt werden, um so deutlicher erleidet das Blut diese Ver - änderung.
Wenn man auf diese Weise die verschiedenen Prozesse durchmustert, so lässt sich in der That vom morphologischen Standpunkte aus gar nichts auffinden, was auch nur entfernt die Annahme eines Zustandes, der Pyämie zu nennen wäre, recht - fertigte. In den überaus seltenen Fällen, wo Eiter in Venen durchbricht, können unzweifelhaft dem Blute eitrige Bestand - standtheile zugeführt werden, allein hier ist die Einfuhr von Eiter meist eine einmalige. Der Abscess entleert sich, und ist er gross, so geschieht eher eine Extravasation von Blut, als dass eine anhaltende Pyämie zu Stande käme. Vielleicht wird es einmal gelingen, im Verlaufe eines solchen Vorganges Eiter - körperchen mit bestimmten Charakteren im Blute aufzufinden;175Widerlegung der morphologischen Pyämie.bis jetzt steht aber die Sache so, dass man mit grösster Be - stimmtheit behaupten kann, es sei Niemandem bis jetzt gelun - gen, mit Gründen, die auch nur einer milden Beurtheilung ge - nügen könnten, die Anwesenheit einer morphologischen Pyä - mie darzuthun. Es muss daher auch dieser Name als Bezeich - nung für eine bestimmte Blutveränderung gänzlich aufgegeben werden.
Pyämie und Phlebitis. Thrombosis. Puriforme Erweichung der Thromben. Die wahre und falsche Phlebitis. Eitercysten des Herzens. Embolie. Bedeutung der fortgesetzten Thromben. Lungenmetastasen. Zertrümmerung der Emboli. Verschiedener Character der Metastasen. Endocarditis und capilläre Embolie. Latente Pyämie Inficirende Flüssigkeiten. Erkrankung der lymphatischen Apparate und der Secretionsorgane. Chemische Substanzen im Blute: Silbersalze. Arthritis. Kalkmetastasen. Diffuse Meta - stasen. Ichorrhämie. Pyämie als Sammelname. Die chemischen Dyscrasien. Bösartige Geschwülste, besonders Krebs. Verbreitung durch con - tagiöse Parenchymsäfte.
Meine Herren, ich war das letzte Mal durch den Schluss der Vorlesung unterbrochen worden in der Geschichte der Pyämie eben an dem Punkte, wo ich die Frage zur Erörterung brin - gen wollte, wie es sich mit der Beziehung der Pyämie zu den Gefässaffectionen verhält.
Als man sich genöthigt sah, die ursprüngliche Ansicht aufzugeben, wonach die Eitermasse, welche man in der Vene zu sehen glaubte, durch eine Oeffnung der Wand oder ein Klaffen der Lichtung in dieselbe eingedrungen (absorbirt) sein sollte, so knüpfte man wieder an die Lehre von der Phlebitis an, welche auch jetzt noch die am meisten gang - bare ist. Man dachte sich, dass der Eiter, welchen man als das eigentlich Schädliche ansah, als ein Absonderungsproduct von der Wand des Gefässes geliefert würde. Diese Doctrin177Phlebitis.war aber insofern etwas schwierig, als man sich bald ziemlich allgemein dahin einigte, dass eine primär eitrige Venenentzün - dung nicht vorkomme, sondern dass, wie zuerst von Cruveil - hier mit Bestimmtheit nachgewiesen ist, im Anfang immer ein Blutgerinnsel vorhanden sei. Cruveilhier selbst war durch diese Erfahrung so sehr überrascht worden, dass er eine Theo - rie daran knüpfte, welche über alles medicinische Fassungs - vermögen hinauslag. Er schloss nämlich aus der Unmöglich - keit, zu erklären, warum die Entzündungen der Venen mit Ge - rinnung des Blutes anfangen, dass überhaupt jede Entzündung in einer Gerinnung von Blut bestände. Die Unmöglichkeit, die Phlebitis zu erklären, schien beseitigt dadurch, dass die Gerinnung zu einem allgemeinen Gesetz erhoben und jede Entzündung auf eine Phlebitis im Kleinen (Capillarphlebitis) bezogen wurde. Cruveilhier wurde dazu um so mehr be - stimmt, als er über andere Krankheitsprozesse ähnliche Vor - stellungen hegte, und glaubte, dass Cysten, Tuberkeln, Krebs, kurz alle wichtigen anatomischen Prozesse eigentlich innerhalb besonderer, von ihm supponirter, kleiner Venen verliefen. Diese Art zu denken blieb aber so vollständig fremd der grossen Mehrzahl der gelehrten und ungelehrten Aerzte, dass die ein - zelnen Schlussthesen von Cruveilhier, die man zum Theil in seiner Formulirung in die Wissenschaft recipirte, ganz und gar missverstanden wurden.
Cruveilhier hatte in dem Punkte Recht, der auch seit - dem mehr und mehr anerkannt worden ist, dass der sogenannte Eiter in den Venen nie zuerst an der Wand der Vene liegt, sondern immer zuerst in der Mitte des schon vor ihm vorhan - denen Blutgerinnsels auftritt, welches den Anfang des Prozesses überhaupt bezeichnet. Er stellte sich vor, dass die Eiterse - cretion von den Wandungen des Gefässes aus stattfinde, dass aber der Eiter nicht an der Wand liegen bleibe, sondern vermöge der „ Capillarität “bis in die Mitte des Coagulums wandere. Es war das eine sehr sonderbare Theorie, die sich auch dann nur annähernd begreift, wenn man, wie dies zu Cruveilhier’s Zeit noch geschehen ist, den Eiter für eine einfache Flüssig - keit hält. Sieht man aber von diesen höchst dunkeln Deu - tungen ab, so bleibt die Thatsache stehen, gegen die sich12178Zehnte Vorlesung.
auch heute nichts vorbringen lässt, dass, bevor etwas von Entzündung zu sehen ist, wir ein Blutgerinnsel haben, und dass etwas später inmitten dieses Ge - rinnsels sich eine Masse zeigt, welche ihrem Aussehen nach vom Gerinnsel verschieden ist, dage -[gen] mehr oder weniger Aehn - lichkeit mit Eiter zeigt.
Von dieser Erscheinung aus - gehend, habe ich mich bemüht, die Lehre von der Phlebitis ihrem grössten Theile nach überhaupt aufzulösen, indem ich für das Mystische, welches in Cruveil - hier’s Deutung lag, einfach den Ausdruck der Thatsache einsetzte. Wir wissen nicht, dass die Entzündung als solche an Gerinnungen gebunden ist; im Ge - gentheil hat sich herausgestellt, dass die Lehre von den Sta - sen auf vielfachen Missverständnissen beruht. Es kann die Entzündung unzweifelhaft bestehen bei einem vollkommen of - fenen Strome des Blutes innerhalb der Gefässe des afficirten Theiles. Lassen wir also die Entzündung bei Seite und hal - ten wir uns einfach an die Gerinnung des Blutes, an die Bil - dung des Gerinnsels (Thrombus), so scheint es am bequemsten, diesen ganzen Vorgang in dem Ausdrucke der Thrombose zu - sammen zu fassen. Ich habe vorgeschlagen, diesen Ausdruck zu substituiren für die verschiedenen Namen von Phlebitis, Arteriitis u. s. w., insofern es sich nämlich um eine wirkliche an Ort und Stelle geschehende Gerinnung des Blutes handelt.
Untersucht man die Geschichte dieser Thromben, so ergibt
Thrombose der Vena saphena. S. Vena saphena, T. Throm - bus: v, v 'klappenständige (valvuläre) Thromben, in der Erweichung be - griffen und durch frischere und dünnere Gerinnselstücke verbunden; C, der fortgesetzte, über die Mündung des Gefässes in die V. cruralis C' hineinragende Pfropf.
179Die puriforme Schmelzung der Thromben.sich, dass die eiterartige Masse, welche sich innerhalb dersel - ben vorfindet, nicht von der Wand herstammt, sondern direct durch eine Umwandlung der centralen Gerinnselschichten selbst entsteht, und zwar durch eine Umwandlung chemischer Art, wobei in ähnlicher Weise, wie man dies durch langsame Di - gestion von geronnenem Fibrin künstlich erzeugen kann, das Fibrin in eine feinkörnige Substanz zerfällt und die ganze Masse in Detritus übergeht. Es ist dies eine Art von Er - weichung und Rückbildung der organischen Substanz, wobei von Anfang an eine Menge von kleinsten Partikelchen sichtbar wird; die grossen Fäden des Fibrins zertrümmern in Stücke,
diese wieder in kleinere und so fort, bis man nach einer ge - wissen Zeit die Hauptmasse zu - sammengesetzt findet aus kleinen, feinen, blassen Körnern (Fig. 70. A.). In Fällen, wo das Fibrin verhältnissmässig sehr rein ist, sieht man manchmal fast gar nichts weiter, als diese Körnchen.
Sie sehen, meine Herren, das Mikroskop löst die Schwie - rigkeiten sehr einfach auf, indem es nachweist, dass diese Masse, welche wie Eiter aussieht, kein Eiter ist. Denn wir verstehen unter Eiter eine wesentlich mit zelligen Elementen versehene Flüssigkeit. Ebenso wenig wie wir uns Blut ohne Blutkörperchen denken können, ebenso wenig existirt ein Eiter ohne Eiterkörperchen. Wenn wir hier aber eine Flüssigkeit finden, welche nichts weiter als eine mit Körnern durchsetzte Masse darstellt, so mag diese dem äusseren Habitus nach wie Eiter aussehen; nie darf man sie aber als wirklichen Eiter deuten. Es ist eine puriforme Substanz, aber keine purulente.
Puriforme Detritus-Masse aus erweichten Thromben. A. Die verschieden grossen, blassen Körner des zerfallenden Fibrins. B. Die bei der Erweichung freiwerdenden, zum Theil in der Rückbildung be - griffenen farblosen Blutkörperchen, a, mit mehrfachen Kernen, b, mit einfachen, eckigen Kernen und einzelnen Fettkörnchen, c, kernlose (pyoide) in der Fettmetamorphose. C. In der Entfärbung begriffene und zerfal - lende Blutkörperchen. Vrgr. 350.
Nun sieht man aber häufig, dass neben diesen Körnern eine gewisse Quantität von anderen Bildungen erscheint, z. B. wirklich zellige Elemente (Fig. 70. B.), die rund sphärisch oder eckig sind, in denen man einen, zwei und mehr Kerne wahrnimmt, die manchmal ziemlich dicht liegen und die in der That eine grosse Uebereinstimmung mit Eiterkörperchen zeigen, höchstens mit dem Unterschied, dass sehr oft in ihnen Fett - körnchen vorkommen, welche darauf hindeuten, dass es sich hier um ein Zerfallen handelt. Während also in einzelnen Fällen wegen der oft ganz überwiegenden Masse des Detritus kein Zweifel sein kann über das, was vorliegt, so können in anderen erhebliche Bedenken bestehen, ob nicht doch wirklicher Eiter vorhanden ist. Diese lassen sich auf keine andere Weise lösen, als durch die Untersuchung der Entwicklungsgeschichte. Nachdem wir früher schon gesehen hatten, dass farblose Blut - körperchen und Eiterkörperchen formell völlig mit einander über - einstimmen, so dass wirkliche Scheidungen zwischen ihnen un - möglich sind, so kann natürlich an einem Punkte, wo wir in einem Blutgerinsel runde farblose Zellen finden, die Frage, ob diese Zellen farblose Blutkörperchen oder Eiterkörperchen sind, nur dadurch gelöst werden, dass ermittelt wird, ob die Körper - chen schon von Anfang an in dem Thrombus vorhanden waren, oder erst ex post darin entstanden oder sonst wie hineinge - langt sind. Es ergibt aber die directe Verfolgung der Vor - gänge mit grosser Bestimmtheit, dass die Körperchen prae - existiren, dass sie nicht entstehen, noch hineingedrängt werden. Schon bei Untersuchung ganz frischer Thromben findet man an manchen Stellen die Körperchen in grossen Massen ange - häuft, so dass, wenn der Faserstoff zerfällt, dieselben in solcher Zahl frei werden, dass der Detritus fast so zellenreich wie Eiter ist. Es verhält sich mit diesem Vorgange, wie wenn ein mit körperlichen Theilen ganz durchsetztes Wasser gefroren ist und dann einer höheren Temperatur ausgesetzt wird; beim Schmelzen des Eises müssen natürlich die eingeschlossenen Partikelchen wieder zum Vorschein kommen.
Gegen diese Darstellung kann ein Umstand eingewendet werden, nämlich der, dass man nicht in der gleichen Weise die rothen Blutkörperchen frei werden sieht. Die rothen Kör -181Thrombose und Phlebitis.perchen gehen indess sehr frühzeitig zu Grunde; man sieht sie bald blass werden; sie verlieren einen Theil ihres Farbstoffes, verkleinern sich, indem zahlreiche dunkle Körnchen an ihrem Umfange hervortreten (Fig. 54. a, 70. C.), und verschwinden in der Mehrzahl der Fälle ganz, indem zuletzt nur diese Körn - chen übrig bleiben. Allein es gibt auch Fälle, wo sich die rothen Körperchen in der Erweichungsmasse erhalten. In der Regel freilich gehen sie zu Grunde, und gerade darin beruht die Eigenthümlichkeit der Umwandlung, durch welche eine gelbweisse Flüssigkeit entsteht, die das äussere Ansehen von Eiter hat. Auch dafür kann man ohne besondere Schwie - rigkeiten eine Deutung finden, wenn man sich erinnert, wie gering an sich die Widerstandsfähigkeit der rothen Blutkör - perchen gegen die verschiedensten Agentien ist. Wenn Sie zu einem Blutstropfen einen Tropfen Wasser setzen, so sehen Sie die rothen Körperchen vor Ihren Augen verschwinden, die farblosen zurückbleiben.
Das also, was man im gewöhnlichen Sinne eine suppura - tive Phlebitis nennt, ist weder suppurativ, noch Phlebitis, son - dern es ist ein Prozess, der mit einer Gerinnung, einer Throm - busbildung aus dem Blute beginnt, und später die Thromben erweichen macht; die ganze Geschichte des Prozesses beschränkt sich zunächst auf die Geschichte des Thrombus. Ich muss aber gerade hier hervorheben, dass ich nicht, wie man mir hier und da nachgesagt hat, die Möglichkeit einer wirklichen Phle - bitis in Abrede stelle, oder dass ich irgend wie gefunden hätte, es gäbe keine Phlebitis. Allerdings gibt es eine Phle - bitis. Aber diese ist eine Entzündung, die wirklich die Wand und nicht das Innere des Gefässes trifft. An grösseren Ge - fässen können sich die verschiedensten Wandschichten ent - zünden und alle möglichen Formen der Entzündung eingehen, wobei aber das Lumen ganz intakt bleiben kann. Nach der gewöhnlichen Auffassung dachte man sich die innere Gefäss - haut wie eine seröse Haut, und wie diese leicht fibrinöse Ex - sudate oder eitrige Massen hervorbringt, so setzte man das - selbe bei der inneren Gefässhaut voraus. Ueber diesen Punkt ist seit Jahren eine Reihe von Untersuchungen an - gestellt, und ich selbst habe mich vielfach damit beschäftigt,182Zehnte Vorlesung.aber es ist bis jetzt noch keinem Experimentator, welcher vorsichtig das Blut von dem Einströmen in die Gefässe abhielt, gelungen, ein Exsudat zu erzeugen, welches in das Lumen ab - gesetzt wurde. Vielmehr geht, wenn die Wand sich entzün - det, die Exsudatmasse, welche gebildet wird, in die Wand selbst; diese verdickt sich, trübt sich, und fängt späterhin an zu eitern. Ja, es können sich Abscesse bilden, welche die Wand nach beiden Seiten hin wie eine Pockenpustel hervor - drängen, ohne dass eine Gerinnung des Blutes im Lumen er - folgt. Andere Male freilich wird die eigentliche Phlebitis (und ebenso die Arteriitis und Endocarditis) die Bedingung für Thrombose, indem sich auf der inneren Wand Unebenheiten, Höcker, Vertiefungen und selbst Ulcerationen bilden, welche für die Entstehung des Thrombus Anhaltspunkte bieten. Allein da, wo eine Phlebitis in dem gebräuchlichen Sinne des Wortes stattfindet, ist die Veränderung der Gefässwand fast immer eine secundäre, welche sogar verhältnissmässig spät zu Stande kommt.
Der Prozess verläuft in der Weise, dass die jüngsten Theile des Thrombus immer aus blossem Gerinsel bestehen. Die Erweichung, das partielle Schmelzen beginnt in der Regel central, so dass also, wenn der Thrombus eine gewisse Grösse erreicht hat, sich inmitten desselben eine Höhle findet, mehr oder weniger gross, die mit jedem Augenblicke sich erweitert und die allmählig der Gefässwand immer näher rückt. Aber in der Regel ist dieselbe nach oben und unten durch einen frischeren, derberen Theil des Gerinnsels abgeschlossen, wel - cher wie eine Kappe dafür sorgt, dass, wie Cruveilhier sagte, der Eiter sequestrirt und die Berührung des De - tritus mit dem circulirenden Blute gehindert wird. Nur seit - lich erreicht die Erweichung endlich die Wand des Gefässes selbst, diese verändert sich, es beginnt eine Verdickung und zugleich Trübung derselben, und darauf endlich selbst eine Eiterung innerhalb der Wandungen.
Dasselbe, was wir bis jetzt an den Venen betrachtet ha - ben, kommt auch am Herzen vor. Namentlich am rechten Ventri - kel sieht man nicht selten sogenannte Eitercysten zwischen den Trabekeln der Herzwand. Sie ragen gegen die Höhle wie rund -183Embolie.liche Knöpfchen hervor und stellen kleine Beutel dar, welche beim Anschneiden einen weichen Brei enthalten, der ein voll - kommen eiterartiges Ansehen hat. Mit diesen Eitercysten hat man sich unendlich viel geplagt und alle nur möglichen Theo - rien darüber gemacht, bis endlich die einfache Thatsache herauskam, dass ihr Inhalt weiter nichts als ein feinkörniger Brei von eiweissartiger Substanz ist, der auch nicht die min - deste feinere Uebereinstimmung mit dem Eiter darbietet. Dies war in sofern beruhigend, als noch keine Beobachtung vorliegt, dass ein Kranker, der solche Säcke in grösserer Zahl hatte, durch Pyämie zu Grunde gegangen wäre, aber es hätte den - jenigen auffallen sollen, welche so leicht geneigt sind, die Pyämie mit peripherischen Thrombosen, die doch ganz das - selbe sind, in Verbindung zu setzen.
Denn natürlich entsteht die Frage, in wie weit durch die Erweichung der Thromben besondere Störungen im Körper her - vorgerufen werden können, welche man mit dem Namen Pyä - mie bezeichnen könnte. Hierauf ist zunächst zu erwidern, dass allerdings sehr häufig secundäre Störungen veranlasst werden, aber nicht so sehr dadurch, dass die Erweichungsmassen un - mittelbar in das Blut kommen, als vielmehr dadurch, dass grössere oder kleinere Massen von dem Ende des erweichen - den Thrombus abgelöst, mit dem Blutstrom fortgeführt und in entfernte Gefässe eingetrieben werden. Dies gibt den sehr häufigen Vorgang der von mir sogenannten Embolie.
Es ist dies ein Ereigniss, welches wir hier nur kurz be - rühren können. An den peripherischen Venen geht die Ge - fahr hauptsächlich von den kleinen Aesten aus. Gar nicht selten werden diese mit Gerinnselmasse ganz erfüllt. So lange indess der Thrombus sich nur in dem Aste selbst befindet, so lange ist für den Körper keine besondere Gefahr vorhan - den; das Schlimmste ist, dass sich ein Abcess bildet, in Folge einer Peri - oder Mesophlebitis, der sich nach Aussen öffnet. Allein die meisten Thromben der kleinen Aeste beschränken sich nicht darauf, bis an den Stamm vorzudringen; ziemlich constant lagert sich an das Ende des Thrombus neue Gerinsel - masse Schicht um Schicht vom Blute ab, der Thrombus setzt sich über das Ostium hinaus in den Stamm in der Richtung184Zehnte Vorlesung.des Blutstromes fort, wächst in Form eines dicken Cylinders weiter und wird immer grösser und grösser. Bald steht dieser fortgesetzte Thrombus in gar keinem Verhältniss mehr zu dem ursprünglichen (autochthonen) Thrombus, von dem er aus - gegangen ist. Der fortgesetzte Thrombus kann die Dicke eines Daumens haben, der ursprüngliche die einer Stricknadel. Aus einer Vena lumbalis kann z. B. ein Pfropf so dick, wie die letzte Phalanx des Daumens sich in die Cava fortsetzen.
Diese fortgesetzten Pfröpfe bringen die eigentliche Gefahr mit sich; an ihnen erfolgt die Abbröckelung, welche zu secun - dären Verschliessungen entfernter Gefässe führt. Hier ist der Ort, wo durch das vorüberströmende Blut grössere und kleinere Partikeln abgerissen werden. Durch das ursprünglich ver - stopfte Gefäss strömt überhaupt kein Blut, da ist die Circu - lation gänzlich unterbrochen; aber in dem grösseren Stamme, durch welchen das Blut immer noch fortgeht, und in welchen nur von Strecke zu Strecke Thrombuszapfen hineinragen, kann der Blutstrom kleinere Partikelchen lostrennen, mitschleppen und in das nächste Arterien - oder Capillarsystem festkeilen.
So sehen wir, das in der Regel alle Thromben aus der Peripherie des Körpers secundäre Verstopfungen und Metasta - sen in der Lunge erzeugen. Ich habe lange Zweifel getragen, die metastatischen Entzündungen der Lunge sämmtlich als embolische zu betrachten, weil es sehr schwer ist, die Gefässe
Autochthone und fortgesetzte Thromben. c, c 'kleinere, varicöse Seitenäste (Venae circumflexae femoris), mit autochthonen Throm - ben erfüllt, welche über die Ostien hinaus in den Stamm der Cruralvene reichen. t, fortgesetzter Thrombus, durch concentrische Apposition aus dem Blute entstanden. t' Aussehen eines fortgesetzten Thrombus, nach - dem eine Ablösung von Stücken (Embolie) erfolgt ist.
185Die embolische Metastase.in den kleinen metastatischen Heerden zu untersuchen, aber ich überzeuge mich immer mehr von der Nothwendigkeit, diese Art der Entstehung als die Regel zu betrachten. Wenn man eine grössere Reihe von Fällen statistisch vergleicht, so zeigt sich, dass jedesmal, wo Metastasen vorkommen, auch Throm - bose gewisser Gefässe besteht. Wir haben z. B. eben jetzt eine ziemlich grosse Puerperalfieber-Epidemie gehabt. Dabei stellte sich heraus, dass, so mannigfaltig die Formen der Er - krankung auch waren, doch alle diejenigen Fälle, welche mit Metastasen in den Lungen verbunden waren, auch mit Throm - bose im Bereiche des Beckens oder der unteren Extremitäten verlaufen waren, während bei den Lymphgefäss-Entzündungen die Lungenmetastasen fehlten. Solche statistische Resultate haben eine gewisse zwingende Nothwendigkeit, selbst wo der strenge anatomische Nachweis fehlt.
In die Lungen-Arterie dringen die eingeführten Thrombus - stücke natürlich je nach ihrer Grösse verschieden weit ein. Gewöhnlich setzt sich ein solches Stück da fest, wo eine Thei - lung des Gefässes stattfindet, weil die abgehenden Gefässe zu klein sind, um das Stück noch einzulassen. Bei sehr grossen Stücken werden schon die Hauptstämme der Lungenarterie verstopft, und es tritt augenblickliche Asphyxie ein; andere
Stücke wieder gehen bis in die feinsten Arterien hinein und erzeugen von da aus die kleinsten, zuweilen miliaren Entzündun - gen des Parenchyms. Für die Deutung dieser kleinen, oft sehr zahlreichen Heerde muss ich eine Vermuthung erwähnen, welche mir erst bei meinen neueren Untersuchun - gen gekommen ist, von welcher ich aber kein Bedenken trage, sie für eine noth - wendige auszugeben. Ich glaube näm - lich, dass, wenn ein grösseres Thrombusstück an einem be -
Embolie der Lungenarterie. P. Mittelstarker Ast der Lungen - arterie. E. der Embolus, auf dem Sporn der sich theilenden Arterie reitend. t, t' der einkapselnde (secundäre) Thrombus: t, das Stück vor dem Embolus, bis zu dem nächst höheren Collateralgefäss c reichend; t' das Stück hinter dem Embolus, die abgehenden Aeste r, r 'grossen - theils füllend und zuletzt konisch endigend.
186Zehnte Vorlesung.stimmten Punkte einer Arterie eingekeilt ist, hier noch eine weitere Zertrümmerung stattfinden kann, so dass in die klei - nen Aeste, in welche sich das Gefäss auflöst, die Par - tikelchen geführt werden, welche durch die Zertrümmerung des grossen Pfropfes entstehen. So allein scheint sich die Thatsache zu erklären, dass man oft im Bezirk einer grösseren Arterie eine Menge von kleinen Heerden derselben Art findet.
Diese ganze Reihe von Fällen hat mit der Frage, ob im Blute Eiter ist oder nicht, gar nicht das Mindeste zu thun. Es handelt sich dabei um ganz andere Körper, um Theile von Gerinnseln in einem mehr oder weniger veränderten Zustande; je nachdem diese Veränderung den einen oder anderen Cha - racter angenommen hat, kann auch die Natur der Prozesse, welche sich in Folge der Verstopfung bilden, sehr verschieden sein. Wäre z. B. an dem ursprünglichen Orte des Gerinnsels eine faulige Erweichung eingetreten, so wird auch die Meta - stase einen fauligen Character annehmen, gerade so, wie dies bei einer Inoculation des fauligen Stoffes der Fall sein würde. Umgekehrt kommt es vor, dass die secundären Störungen, ähnlich denen am Orte der Lostrennung, sehr günstig verlaufen, indem der Embolus, wie der Thrombus, sich zurückbildet.
Diese Gruppe von Prozessen muss um so mehr losgelöst werden von der gewöhnlichen Geschichte der Pyämie, als die - selben Vorgänge sich jenseits der Lunge, auf der linken Seite des Stromgebietes wiederfinden; oft mit demselben Verlaufe,
187Endocarditis.mit demselben Resultate, nur noch weniger abhängig von einer ursprünglichen Phlebitis. So bildet z. B. die Endocarditis nicht selten den Ausgangspunkt solcher Metastasen. Auf einer Herzklappe geschieht eine Ulceration, nicht durch eine Eiter - bildung, sondern durch acute oder chronische Erweichung; zertrümmerte Partikeln der Klappenoberfläche werden vom Blut - strome fortgerissen und gelangen mit ihm an entfernte Punkte. Die Art der Verstopfung, welche diese Massen erzeugen, ist ganz ähnlich der, welche die Venenthromben machen, aber beide zeigen eine verschiedene chemische Beschaffenheit. Auch be -
Ulceröse Endocarditis mitralis. a die freie, glatte Ober - fläche der Mitralklappe, unter welcher die Bindegewebs-Elemente ver - grössert und getrübt, das Zwischengewebe dichter sind. b eine stär - kere hügelige Schwellung, bedingt durch zunehmende Vergrösserung und Trübung des Gewebes. c eine schon in Erweichung und Zertrüm - merung übergegangene Schwellungsstelle. d, d das noch wenig verän - derte Klappengewebe in der Tiefe, mit zahlreichen, gewucherten Kör - perchen. e, e der Beginn der Vergrösserung, Trübung und Wucherung der Elemente. Vergr. 80.
Fig. 74 — 75. Capillarembolie in den Penicilli der Milzarterie nach Endocarditis (Vgl. Gesammelte Abhandlungen zur wiss. Medicin 1856. S. 716.). 74. Gefässe eines Penicillus bei 10 maliger Vergrösserung, um die Lage der verstopfenden Emboli in dem Arteriengebiete zu zeigen. 75. Eine, kurz vor ihrer Theilung und in den nächst abgehenden Aesten mit Bruchstücken der feinkörnigen Embolusmasse (vgl. Fig. 73. c) ge - füllte Arterie. Vergr. 300.
188Zehnte Vorlesung.günstigt ihre Kleinheit und Mürbigkeit das Eindringen in die k’einsten Gefässe in hohem Maasse. Daher findet man nicht ganz selten in kleinen mikroskopischen Gefässen, welche mit blossem Auge gar nicht mehr zu verfolgen sind, die Verstopfungsmasse, gewöhnlich bis zu einer Theilungsstelle und noch etwas darüber hinaus. Diese Masse zeigt regelmäs - sig eine feinkörnige Beschaffenheit, nicht den groben Detritus, wie von der Vene, sondern eine ganz feine, aber zugleich dichte Masse; chemisch hat sie die für die Untersuchung so bequeme Eigenschaft, dass sie gegen die gewöhnlichen Reagentien aus - serordentlich widerstandsfähig ist und sich dadurch von ande - ren Dingen äusserst leicht unterscheidet. Dies gibt die eigent - liche Capillarembolie, eine der wichtigsten Formen der Me - tastase, welche häufig kleine Heerde in der Niere, in der Milz und im Herzfleische selbst mit sich bringt, unter Umstän - den plötzliche Verschliessungen von Gefässen im Auge oder Gehirn bedingt und je nach Umständen zu metastatischen Heer - den oder zu schnellen Functionsstörungen (Amaurose, Apo - plexie) Veranlassung gibt. Auch hier kann man sich deutlich überzeugen, dass in frischen Fällen die Gefässwand an der Stelle ganz intakt ist; ja es würde hier die Lehre von der Phlebitis nicht mehr zureichen, indem dies keine Gefässe sind, welche Vasa vasorum besitzen und von welchen man anneh - men könnte, dass von der Wand her eine Secretion nach Innen ginge. Hier bleibt nichts übrig, als die Verstopfungsmasse als eine primär innen befindliche zu betrachten, die von den Zu - ständen der Wand in keiner Weise abhängig ist.
Vielleicht hat diese Darstellung Sie überzeugt, meine Herren, dass in der Doctrin von der Pyämie zwei wesentliche Irrthümer bestanden haben; der eine, dass man Eiterkörper - chen im Blute zu finden glaubte, wo man nur die farblosen Elemente vor sich hatte; der andere, dass man Eiter in Ge - fässen zu finden glaubte, wo nichts weiter als Erweichungs - producte des Fibrins vorhanden waren. Wir haben aber ge - funden, dass allerdings diese letztere Reihe die wichtigste Quelle für eigentliche Metastasen abgibt. Nun beschränkt sich aber, wie ich glaube, die Geschichte des Prozesses, den man Pyämie genannt hat, nicht auf diese Zustände. Verläuft der Pro -189Die Infections-Metastasen.zess ganz rein, so dass sich von dem ersten Orte der Störung (Venenthrombose, Endocarditis u. s. w.) Massen ablösen und Verstopfung machen, so kommt in vielen Fällen der eigentliche Prozess nur durch die Metastase zur Beobachtung. Es gibt Fälle, welche so latent verlaufen, dass alle ursprünglichen Aus - gänge vollkommen übersehen werden und dass der erste ein - tretende Schüttelfrost schon die beginnende Entwickelung der metastatischen Prozesse anzeigt. Für gewöhnlich muss man aber noch ein anderes Moment in Betracht ziehen, welches weder für die gröbere, noch für die feinere anatomische Unter - suchung direct zugänglich ist; das sind gewisse Flüssig - keiten, welche an sich auch keine unmittelbare und nothwen - dige Beziehung zum Eiter als solchem, sondern offenbar sehr verschiedene Beschaffenheit und Ableitung haben.
Schon bei der Betrachtung der Lymphveränderungen habe ich hervorgehoben (S. 165.), dass Flüssigkeiten, welche von Lymphgefässen aufgenommen wurden, innerhalb der Lymphdrüsen-Filtren nicht nur von körperlichen Theilen be - freit, sondern auch von der Substanz der Drüse zum Theil angezogen und zurückgehalten werden, so dass sie in dersel - ben eine Wirksamkeit entfalten können. Aehnliche Einwirkun - gen scheinen auch über die Drüse hinaus stattzufinden, na - mentlich aber, wo primär von Venen die Resorption erfolgte. Es giebt nämlich eine Reihe von eigenthümlichen Erscheinun - gen, welche als constantes Element sich durch alle infectiösen Prozesse hinziehen. Das sind einerseits die Veränderungen, welche die lymphatischen und lymphoiden Drüsen, nicht so - wohl am Orte der primären Affection, sondern im Körper über - haupt erleiden können, andererseits die Veränderungen, welche die Secretionsorgane darbieten, durch welche die Stoffe aus - geschieden werden sollten.
Man hat eine Zeit lang geglaubt, dass der Milztumor für den Typhus charakteristisch sei, indem er den Drüsenan - schwellungen im Mesenterium parallel einhergehe. Allein eine genauere Beobachtung lehrt, dass eine grosse Reihe von fieber - haften Zuständen, welche einen mehr oder weniger typhoiden Verlauf machen und den Nervenapparat so afficiren, dass ein Zustand der Depression an den wichtigsten Centralorganen zu190Zehnte Vorlesung.Stande kommt, mit Milzschwellungen auftreten. Die Milz ist ein ausserordentlich empfindliches Organ, das nicht nur beim Wechselfieber und Typhus, sondern auch bei den meisten an - deren Prozessen schwillt, in denen eine reichliche Aufnahme von schädlichen, inficirenden Stoffen in das Blut erfolgte. Allerdings muss die Milz betrachtet werden in ihrer nahen Verwandschaft zum Lymphapparate, aber ihre Erkrankungen stehen ausserdem gewöhnlich in einem sehr directen Verhältnisse zu analogen Erkrankungen der wichtigen Nachbardrüsen, insbesondere der Leber und der Niere. Bei den meisten Infectionszuständen zeigen diese drei Apparate correspondirende Vergrösserungen, welche mit wirklichen Veränderungen im Innern verbunden sind, die bei der mikroskopischen Untersuchung scheinbar nichts Bemerkenswerthes darbieten, so dass das grobe Resultat für das blosse Auge, die starke Schwellung, für den Beobachter viel mehr Interesse hat. Bei umsichtiger Vergleichung findet sich indess ziemlich viel, so dass wir mit Bestimmtheit sagen kön - nen, dass die Drüsenzellen schnell verändert werden und früh - zeitig an den Elementen, durch welche die Secretion gesche - hen soll, eine Störung sich einstellt. Ich werde darauf zurück - kommen.
Erlauben Sie mir für jetzt, dass ich zur Erläuterung die - ser Verhältnisse auf ein Paar andere, gröbere Beispiele zurück - gehe, welche die Möglichkeit einer unmittelbaren Anschauung gewähren.
Wir wissen, dass, wenn Jemand Silbersalze gebraucht, ein Eindringen derselben in die Theile erfolgt; wenden wir sie nicht in eigentlich ätzender, zerstörender Weise an, so ge - langt das Silber in einer Verbindung, die bis jetzt nicht hin - reichend bekannt ist, in die Gewebstheile und erzeugt an der Applicationsstelle, wenn es lange genug angewendet wird, eine Farbenveränderung. Ein Kranker, welcher in der Klinik des Hrn. v. Gräfe am 10. November eine Lösung von Argentum nitricum zu Umschlägen bekommen hatte, gebrauchte als ge - wissenhafter Patient das Mittel bis jetzt; das Resultat davon war, dass seine Conjunctiva ein intensiv bräunliches, fast schwarzes Aussehen angenommen hatte. Die Untersuchung eines ausgeschnittenen Stückes derselben ergab, dass eine Aufnahme191Silberablagerung in die Gewebe. Gicht.des Silbers in die Elemente erfolgt war, so zwar, dass an der Oberfläche das ganze Bindegewebe eine leicht gelbbraune Farbe besass, in der Tiefe aber nur in den feinen elastischen Fasern des Bindegewebes die Ablagerung stattgefunden hatte, während die Zwischenpartien, die eigentliche Grundsubstanz, vollkom - men frei waren. Allein ganz ähnliche Ablagerungen geschehen auch in entfernteren Organen. Unsere Sammlung enthält das sehr seltene Präparat von den Nieren eines Menschen, welcher wegen Epilepsie lange Argentum nitricum innerlich genommen hatte. Da zeigt sich an den Malpighischen Knäulen der Niere, wo die eigentliche Secretion geschieht, eine schwarzblaue Fär - bung der ganzen Gefässhaut, welche sich auf diesen Punkt der Rinde beschränkt und in ähnlicher, obwohl schwäche - rer Weise nur wieder auftritt in der Zwischensubstanz der Mark - kanälchen. In der ganzen Niere sind also ausser denjenigen Theilen, welche den eigentlichen Ort der Absonderung aus - machen, nur die verändert, welche der letzten Capillarauf - lösung in der Marksubstanz entsprechen. — Von der bekann - ten Silberfärbung der äusseren Haut brauche ich hier nicht zu sprechen.
Ein anderes Beispiel bietet uns die Gicht. Untersuchen wir den Gelenktophus eines Arthritikers, so finden wir ihn zu - sammengesetzt aus sehr feinen, nadelförmigen, krystallinischen Abscheidungen von allen möglichen Grössen, aus harnsaurem Natron bestehend, zwischen denen höchstens hier und da ein Eiter - oder Blutkörperchen liegt. Hier handelt es sich also, wie bei dem Silbergebrauch, um eine körperliche Substanz, welche in der Regel durch die Nieren abgeschieden wird, und zwar nicht selten so massenhaft, dass schon innerhalb der Nieren selbst Niederschläge sich bilden und namentlich in den Harnkanälchen der Marksubstanz grosse Krystalle von harn - saurem Natron sich anhäufen, zuweilen bis zu einer Verstopfung der Harnkanälchen. Wenn jedoch diese Secretion nicht regel - mässig vor sich geht, so erfolgt zunächst eine Anhäufung der harnsauren Salze im Blute, wie dies durch eine sehr bequeme Methode von Garrod gezeigt worden ist. Dann endlich be - ginnen Ablagerungen an anderen Punkten, nicht durch den192Zehnte Vorlesung.ganzen Körper, nicht an allen Theilen gleichmässig, sondern an bestimmten Punkten und nach gewissen Regeln.
Hier handelt es sich um ganz andere Formen der Me - tastasen als die, welche wir bei der Embolie kennen gelernt haben. Dass die Veränderungen, welche in der Nierensubstanz durch die Aufnahme von Silber vom Magen her erfolgen, mit dem übereinstimmen, was man von Alters her in der Patho - logie Metastase genannt hat, ist nicht zweifelhaft. Es ist dies ein materieller Transport von einem Ort zum andern, wo an diesem zweiten Orte die Substanz liegen bleibt, welche vorher an dem anderen vorhanden war, und wo das Secretionsorgan in sein eigentliches Gewebe Partikelchen des Stoffes aufnimmt. Das ist es, was sich in der ganzen Geschichte dieser Art von Me - tastasen wiederholt, bei denen im Blute selbst nur gelöste Stoffe und nicht Partikelchen von sichtbarer, mechanischer Art sich finden. Das harnsaure Natron im Blute des Arthritikers kann man nicht direct sehen, man müsste es denn erst durch chemische Agentien sammeln; ebenso wenig die Silbersalze.
Ich habe eine neue Form von Metastasen geschildert, welche allerdings seltener ist, aber in dieselbe Kategorie ge - hört. Bei massenhafter Resorption von Kalkerde aus den Knochen wird in der Regel diese Knochenerde gleichfalls massenhaft durch die Nieren ausgeschieden, so dass sich Sedi - mente im Harne bilden, deren Kenntniss von der berühmten Frau Supiot her aus dem vorigen Jahrhundert in der Ge - schichte der Osteomalacie sich fortgeschleppt hat. Aber diese regelrechte Abscheidung der Kalkerde wird nicht selten durch Störungen der Nierenfunction in derselben Weise alterirt, wie bei Arthritis die Abscheidung des harnsauren Natrons; dann entstehen ebenso Metastasen von Knochenerde, aber an ande - ren Punkten, den Lungen und dem Magen. Die Lungen ver - kalken bisweilen in grossen Bezirken, ohne dass die Permeabi - lität der Respirationswege leidet; die erkrankten Theile sehen wie feiner Badeschwamm aus. Die Magenschleimhaut erfüllt sich in ähnlicher Weise mit Kalksalzen, so dass sie sich wie ein Reibeisen anfühlt und unter dem Messer knirscht, ohne dass die Magendrüsen unmittelbar daran betheiligt werden;193Ichorrhämie.sie stecken nur in einer starren Masse, und möglicher Weise könnte sogar noch eine Secretion aus ihnen erfolgen.
Diese Art von Metastasen, wo bestimmte Substanzen, aber nicht in einer palpablen Form, sondern in Lösung in die Blut - masse gelangen, muss jedenfalls für die Deutung des Complexes von Zuständen, welche man in den Begriff der Pyämie zusam - menfasst, wohl berücksichtigt werden. Ich sehe wenigstens keine andere Möglichkeit der Erklärung für gewisse mehr diffuse Pro - zesse, die nicht in der Form der gewöhnlichen umschriebenen Me - tastasen auftreten. Dahin gehört die Art von metastatischer Pleuritis, welche ohne metastatischen Abscess in der Lunge sich entwickelt, die scheinbar rheumatische Gelenkaffection, bei der man an den Gelenken keinen bestimmten Heerd findet, die diffuse gangränöse Entzündung des Unterhautgewebes, welche nicht wohl gedacht werden kann, ohne dass man auf eine mehr chemische Art der Infection zurückgeht. Hier handelt es sich, wie man bei der Pocken - und der Leicheninfection sieht, um eine Uebertragung von verdorbenen, ichorösen Säf - ten auf den Körper, und man muss eine Dyscrasie (icho - röse Infection) zulassen, wo in acuter Weise diese in den Körper gelangte ichoröse Substanz an den Organen, welche eine besondere Prädilection für solche Stoffe haben, ihre Wir - kung entfaltet.
Möglicherweise können nun im Laufe desselben Krank - heitsfalles die drei verschiedenen, von uns betrachteten Ver - änderungen neben einander bestehen. Es kann eine Vermeh - rung der farblosen Körperchen (Leukocytose) der Art statt - finden, dass man an die morphologische Pyämie glauben möchte. Dies wird jedenfalls stattfinden, wenn der Prozess mit ausgedehnter Reizung der Lymphdrüsen verbunden war. Man kann ferner Thrombenbildung und Embolie mit metastati - schen Heerden finden. Es kann endlich zugleich eine Auf - nahme von ichorösen oder fauligen Säften statthaben (Ichor - rhämie, Septhämie). Diese drei verschiedenen Zustände kön - nen sich compliciren, fallen aber nicht nothwendig jedesmal zusammen. Will man daher den Begriff der Pyämie festhalten, so kann man es für solche Complicationen thun, nur muss man nicht einen einheitlichen Mittelpunkt in einer13194Zehnte Vorlesung.eitrigen Infection des Blutes suchen, sondern die Be - zeichnung als einen Sammelnamen für mehrere an sich ver - schiedenartige Vorgänge betrachten.
Ich hoffe, meine Herren, dass das Mitgetheilte genügen wird, um Sie in der Sache zu orientieren. Natürlich lässt sich ohne Anhalt an bestimmte Fälle keine eigentliche Beweisfüh - rung gestalten. Sie werden indess selbst Gelegenheit genug haben, die Probe auf die Richtigkeit dieser Darstellung zu machen, und es wird mich freuen, wenn Sie finden, dass darin wesentliche Anhaltspunkte auch für eine bessere Auffassung der eigentlich praktischen und namentlich der therapeutischen Fragen gegeben sind.
Nachdem wir nicht nur körperliche Theile, sondern auch ge - wisse chemische Stoffe als Vermittler von Dyscrasien kennen ge - lernt haben, welche eine bald längere, bald kürzere Dauer haben, je nachdem die Zufuhr jener Theile und Stoffe kürzere oder längere Zeit andauert, so können wir kurz zu der Frage zu - rückkommen, ob neben diesen Formen eine Art von Dyscrasie nachweisbar ist, bei der das Blut als der dauerhafte Träger bestimmter Veränderungen erscheint. Wir werden diese Frage verneinen müssen. Je mehr ausgesprochen eine wirklich nach - weisbare Verunreinigung des Blutes mit gewissen Stoffen ist, um so deutlicher ist der relativ acute Verlauf des Prozesses. Gerade die Formen, bei denen man sich am liebsten, na - mentlich über die Mangelhaftigkeit der therapeutischen Erfolge, damit tröstet, dass es sich um eine tiefe und unheilbare, chro - nische Dyscrasie handele, dürften wohl am wenigsten in einer ursprünglichen Veränderung des Blutes beruhen; gerade hier handelt es sich in der Mehrzahl der Fälle um ausgedehnte Veränderungen gewisser Organe oder einzelner Theile. Ich kann nicht behaupten, dass irgend ein Abschluss der Unter - suchungen hier vorläge; ich kann nur sagen, dass jedes Mittel der mikroskopischen oder chemischen Analyse bis jetzt frucht - los angewendet worden ist auf die hämatologische Erforschung dieser Prozesse, dass wir dagegen bei den meisten wesentliche Veränderungen kleinerer oder grösserer Complexe von Organ - theilen nachweisen können, und dass im Allgemeinen die195Krebs-Dyscrasie.Wahrscheinlichkeit, auch hier die Dyscrasie als eine secundäre, abhängig von bestimmten organischen Punkten, zu erkennen, mit jedem Tage zunimmt. Ich werde diese Frage noch etwas genauer zu discutiren haben bei der Lehre von der Verbrei - tung der bösartigen Geschwülste, bei denen man sich ja auch so häufig damit hilft, die Bösartigkeit als im Blute wurzelnd zu denken, welches die Localaffectionen macht. Und doch ist es gerade im Verlauf dieser Prozesse verhältnissmässig am Leichtesten, den Modus der Verbreitung zu zeigen, sei es in der nächsten Nachbarschaft der Erkrankungsstelle, sei es an ent - fernten Organen. Hier zeigt sich, dass ein Umstand die Möglich - keit der Ausbreitung solcher Prozesse besonders begünstigt, näm - lich der Reichthum an parenchymatösen Säften, welche die pathologischen Gebilde führen. Je trockner eine Neubil - dung ist, um so weniger besitzt sie im Allgemeinen die Fähig - keit der Infection, sei es näherer oder entfernterer Orte. Der Modus der Verbreitung selbst entspricht in der Regel ganz dem, was wir früher betrachteten: zunächst findet eine Leitung in - nerhalb der Lymphbahnen und ein Ergreifen der Lymphdrüsen statt; erst nach und nach treten an entfernteren Stellen Pro - zesse ähnlicher Art auf. Oder der Prozess greift auch hier zunächst auf die Venenwandungen über, diese werden wirk - lich krebsig, und nach einer gewissen Zeit wächst entweder der Krebs direct durch die Wand hindurch in das Gefäss hinein und schreitet hier fort, oder es bildet sich an diesem Punkte ein Thrombus, welcher den Krebspfropf mehr oder weniger umhüllt, und in welchen die krebsige Masse hineinwächst. Wir haben also hier in zwei Richtungen die Möglichkeit für eine Verbreitung, aber nur in einer Richtung für die Verbrei - tung körperlicher Theile, nämlich nur in dem Falle, dass Ve - nen durchbrochen werden; eine Resorption von Krebszellen durch Lymphgefässe gehört an sich nicht unter die Unmög - lichkeiten, aber jedenfalls ist so viel sicher, dass nicht eher eine Verbreitung stattfinden kann, ehe die Lymphdrüsen nicht ihrerseits durch und durch krebsig umgewandelt sind und dieselben krebsigen Massen von ihnen aus in die abgehenden Gefässe hineinwuchern. Nie kann ein peripherisches Lymphgefäss einfach, wie die Flüssigkeit, so auch die Zellen des Krebses bis zum Blute13*196Zehnte Vorlesung.fortschwemmen; das ist nur denkbar und möglich an den Ve - nen. Allein auch hier verhält es sich so, dass eine Wahr - scheinlichkeit dafür, dass häufige Verbreitungen auf diesem Wege stattfinden, durchaus nicht vorliegt, aus dem einfachen Grunde, weil die Metastasen des Krebses den Metastasen, die wir bei der Embolie kennen gelernt haben, sehr häufig nicht ent - sprechen. Die gewöhnliche Form der metastatischen Verbrei - tung beim Krebs entspricht vielmehr der Richtung zu den Se - cretionsorganen. Die Lunge erkrankt bekanntlich viel seltener durch Krebs, als die Leber, nicht nur nach Magen - und Uterus - krebs, sondern auch nach Brustkrebs, welcher vielmehr Lungen - krebs erzeugen müsste, wenn es etwas Körperliches wäre, wel - ches fortgeleitet würde, stagnirte und die neue Eruption bedingte. Die Art der metastatischen Verbreitung scheint es vielmehr wahrscheinlich zu machen, dass die Leitung durch gewisse Flüssigkeiten erfolgt, und dass diese die Fähigkeit haben, eine Ansteckung zu erzeugen, welche die einzelnen Theile zur Re - production derselben Masse bestimmt, die ursprünglich vorhan - den war. Man denke sich nur einen ähnlichen Prozess, wie wir ihn bei den Pocken im Grossen haben. Der Pockeneiter, direct übertragen, leitet allerdings den Prozess ein, aber das Contagium ist auch flüchtig, und es kann Jemand eitrige Pusteln auf der Haut bekommen, nachdem er nur eine gewisse Luft geathmet hat. Aehnlich scheint es sich in Fällen zu ver - halten, wo im Laufe heteroplastischer Prozesse Dyscrasien zu Stande kommen, welche ihre neuen Eruptionen nicht an Punk - ten machen, welche nach der Richtung des Lymph - oder Blut - stromes ihnen zunächst ausgesetzt sein würden, sondern an entfernten Punkten. Wie sich das Silbersalz nicht in den Lun - gen ablagert, sondern hindurchgeht, um sich erst in den Nie - ren oder der Haut nieder zu schlagen, so kann ein ichoröser Saft von einer Krebsgeschwulst durch die Lungen gehen, ohne diese zu verändern, während er doch an einem entfernteren Punkte, z. B. in den Knochen eines weit abgelegenen Theiles bösartige Veränderungen erweckt.
Melanämie. Beziehung zu melanotischen Geschwülsten und Milzfärbungen. Die rothen Blutkörperchen. Abstammung. Die melanösen Formen. Chlorose. Lähmung der respiratorischen Substanz. Toxicämie. Der Nervenapparat. Seine prätendirte Einheit. Die Nervenfasern. Peripherische Nerven: Fascikel, Primitivfaser, Perineurium. Axencylin - der (elektrische Substanz). Markstoff (Myelin). Marklose und markhaltige Fasern. Uebergang der einen in die andere: Hypertrophie des Opticus. Verschiedene Breite der Fasern. Endigung: Pacini’sche und Tastkörperchen.
Meine Herren, ich habe Ihnen noch Einiges in Beziehung auf die Veränderungen des Blutes vorzuführen, mehr der Voll - ständigleit wegen, als weil ich Ihnen dahei entscheidende Ge - sichtspunkte bieten könnte.
Zunächst wollte ich noch einen Zustand erwähnen, wel - cher in der neueren Zeit mehrfach besprochen worden ist und der Sie bei Gelegenheit mehr interessiren möchte, die so - genannte Melanämie. Es ist dies ein Zustand, welcher sich am nächsten an die Geschichte der Leukämie anschliesst, in - sofern es sich dabei um Elemente handelt, welche, wie die farblosen Körperchen bei der Leukämie, von bestimmten Or - ganen aus in das Blut gelangen und mit dem Blute circuliren. Die Zahl der bekannten Beobachtungen darüber ist schon ziemlich gross, man möchte fast sagen, grösser als vielleicht nothwendig wäre, denn es scheint in der That, dass hier und da Verwechselungen mit untergelaufen sind, welche aus der198Eilfte Vorlesung.Geschichte der Affection wieder hinauszubringen sein dürften. Unzweifelhaft giebt es aber einen Zustand, in welchem farbige Elemente im Blute vorkommen, welche in dasselbe nicht hinein - gehören. Einzelne Beobachtungen solcher Art finden sich schon seit längerer Zeit und zwar zuerst in der Geschichte der melanotischen Geschwülste, wo man öfter angegeben hat, dass in der Nähe der Geschwülste schwarze Partikelchen in den Gefässen vorkommen, und wo man sich dachte, dass hieraus die melanotische Dyscrasie entstände. Dies ist aber gerade der Fall nicht, den man meint, wenn man heut zu Tage von Melanämie redet. In den letzten zehn Jahren ist keine ein - zige Beobachtung gemacht worden, welche in Beziehung auf den Uebergang melanotischer Geschwulsttheile in das Blut einen Fortschritt darböte.
Die erste Beobachtung derjenigen Reihe, welche im enge - ren Sinne als Melanämie bezeichnet wird, ist von Heinrich Meckel bei einer Geisteskranken gemacht worden, kurze Zeit, nachdem ich die Leukämie beschrieben hatte. Meckel fand, dass auch hier die Milz in einem sehr erheblichen Maasse ver - grössert und mit schwarzen, farbigen Elementen durchsetzt war, und er leitete daher die Veränderung im Blute von einer Aufnahme farbiger Partikelchen aus der Milz ab. Die nächste Beobachtung habe ich selbst gemacht, und zwar in einer Rich - tung, die nachher sehr fruchtbar geworden ist, bei einem In - termittenskranken, welcher lange Zeit mit einem beträchtlichen Milztumor behaftet war; ich fand in seinem Herzblute pigmen - tirte Zellen. Meckel hatte nur freie Pigmentkörner und
Schollen gesehen. Die von mir gefundenen Zellen hatten vielfache Aehnlichkeit mit farb - losen Blutkörperchen; es waren sphärische, manchmal auch mehr längliche, kernhaltige Elemente, innerhalb deren sich mehr oder weniger grosse schwarze Partikelchen fan - den. Auch in diesem Falle bestätigte sich wieder das Vor -
Melanämie. Blut aus dem rechten Herzen (vgl. Archiv f. pathol. Anatomie und Physiologie. Bd. II. Fig. 8. S. 594.). Farblose Zellen von verschiedener Gestalt, mit schwarzen, zum Theil eckigen Pigmentkörnern erfüllt. Vergr. 300.
199Melanämie.kommen einer grossen schwarzen Milz. Seit jener Zeit ist durch Meckel selbst und durch eine Reihe von anderen Beobachtern in Deutschland, zuletzt durch Frerichs, in Italien durch Tigri, die Aufmerksamkeit auf diese Zustände immer mehr gelenkt worden. Tigri hat die Krankheit geradezu nach der schwarzen Milz als Milza nera bezeichnet, während nach der Ansicht von Meckel, welche durch Frerichs an Ausdehnung gewonnen hat, es vielmehr eine Form der schwe - reren Intermittenten wäre, welche auf diese Weise zu erklä - ren sein sollte.
Die wesentliche Bedeutung dieser Zustände hat man darin gesucht, dass die Elemente, welche ins Blut gelangen, sich an gewissen Orten in den feineren Capillarbezirken anhäufen und hier Stagnation und Obstructionen erzeugen. So namentlich in den Capillaren des Gehirns, wo sie sich nach Art der Em - boli an den Theilungsstellen festsetzen und bald Capillarapo - plexien, bald die comatösen und apoplektischen Formen der schweren Wechselfieber bedingen sollten. Frerichs hat noch eine andere wesentliche Art der Verstopfung hinzugefügt, die der feinen Lebergefässe, welche endlich zur Atrophie des Le - berparenchyms Veranlassung geben soll.
Es würde demnach hier eine ausserordentlich wichtige Reihe von Zuständen existiren, die direct von der Dyscrasie abhängig wären. Leider kann ich selbst wenig darüber sagen, da ich seit meinem ersten Falle nicht wieder in der Lage war, etwas Aehnliches zu beobachten. Ich kann also auch nicht mit Sicherheit über den Werth der Beziehungen urtheilen, welche man aufgestellt hat über den Zusammenhang der se - cundären Veränderungen mit der Blutverunreinigung. Nur das möchte ich hervorheben, dass alle Thatsachen, welche man über diese Zustände kennt, darauf hinweisen, dass die Verun - reinigung des Blutes von einem bestimmten Organe ausgeht, und dass dies Organ, wie bei den farblosen Blutkörperchen, ge - wöhnlich die Milz ist.
Ich habe im Verlaufe meiner Darstellung bis jetzt kaum etwas von den Veränderungen der rothen Körperchen des Blutes erwähnt, nicht etwa, weil ich sie für unwesentliche Be -200Eilfte Vorlesung.standtheile hielte, sondern weil bis jetzt über ihre Veränderun - gen ausserordentlich wenig bekannt ist. Die ganze Geschichte der rothen Blutkörperchen ist immer noch von einem geheim - nissvollen Dunkel umgeben, da eine Sicherheit über die Ab - stammung dieser Elemente auch gegenwärtig noch nicht ge - wonnen ist. Wir wissen nur so viel mit Bestimmtheit, wie ich schon früher hervorhob, dass ein Theil der ursprünglichen Elemente in dem Blute aus den embryonalen Bildungszellen des Eies ebenso direct hervorgeht, wie alle übrigen Gewebe sich aus denselben aufbauen. Wir wissen ferner, dass in den ersten Monaten auch des menschlichen Embryo Theilungen der Körperchen stattfinden, wodurch eine Vermehrung derselben im Blute selbst hervorgebracht wird. Allein nach dieser Zeit ist Alles dunkel, und zwar fällt dieses Dunkel ziemlich genau zu - sammen mit der Periode, wo die Blutkörperchen im mensch - lichen Blute aufhören, Kerne zu zeigen. Wir können nur sagen, dass gar keine Thatsache bekannt ist, welche für eine fernere selbständige Entwickelung oder für eine Theilung im Blute spräche, sondern dass Alles mit Wahrscheinlichkeit auf eine Zufuhr deutet. Die einzige Hypothese, welche in der neueren Zeit über die selbständige Entwickelung im Blute gemacht worden ist, war die von G. Zimmermann, welcher annahm, dass zuerst kleine Körperchen im Blute entständen, die nach und nach durch Intussusception wüchsen und endlich die eigent - lichen Blutkörperchen darstellten. Freilich kommen solche kleinen Körperchen im Blute vor (Fig. 52, h.), allein wenn man sie genauer untersucht, zo ergibt sich eine Eigenthümlichkeit, welche an den jungen embryonalen Formen nicht bekannt ist, nämlich dass sie ausserordentlich resistent gegen die verschie - densten Einwirkungen sind. An sich sehen sie schön dunkel - roth aus, sie haben eine gesättigte, manchmal fast schwarze Farbe; behandelt man sie mit Wasser oder Säuren, welche mit Leichtigkeit die gewöhnlichen rothen Körper auflösen, so sieht man, dass die kleinen Körperchen eine ungleich längere Zeit gebrauchen, bevor sie in Lösung kommen. Setzt man zu einem Tropfen Blut viel Wasser zu, so sieht man sie nach dem Ver - schwinden der übrigen Blutkörperchen noch längere Zeit übrig - bleiben. Diese Eigenthümlichkeit stimmt am besten überein201Melanöse Blutkörperchen.mit Veränderungen, welche im Blute eintreten, wenn es in Extravasaten oder innerhalb der Gefässe lange Zeit in Stase sich befindet. Hier führt diese Veränderung unzweifelhaft zu einem Untergang der Körper, so dass mit grosser Wahrschein - lichkeit auch für das circulirende Blut geschlossen werden kann, dass es sich nicht um junge, in der Enwickelung be - griffene, sondern im Gegentheil um alte, im Untergang begrif - fene Formen handelt. Ich stimme daher im Wesentlichen mit der Auffassung von Karl Heinrich Schultz überein, welcher diese Körper unter dem Namen von melanösen Blutkörperchen beschrieben hat und sie für die Vorläufer der Blutmauserung ansieht, welche sich vorbereiteten zu den eigentlich excremen - tiellen Umsetzungen.
Es gibt gewisse Zustände, wo die Zahl dieser Elemente ungeheuer gross wird. Bei recht gesunden Individuen findet man sehr wenig davon, nur im Pfortaderblut glaubt Schultz immer viele dieser Körperchen gesehen zu haben. Sicher ist es, dass es krankhafte Zustände gibt, wo die Zahl dieser Elemente so gross wird, dass man fast in jedem Blutstropfen eine kleinere oder grössere Partie davon antrifft. Diese Zu - stände lassen sich jedoch bis jetzt nicht in bestimmte Katego - rien bringen, weil die Aufmerksamkeit darauf wenig rege ge - wesen ist. Man findet sie in leichten Formen von Intermittens, bei Cyanose nach Herzkrankheiten, bei Typhösen, bei den In - fectionsfiebern der Operirten und im Laufe epidemischer Er - krankungen, immer jedoch in solchen Krankheiten, welche mit einer schnellen Erschöpfung der Blutmasse einhergehen und zu kachectischen und anämischen Zuständen Veranlassung ge - ben. Es ist dies einer von den Vorgängen, wo auch vom kli - nischen Gesichtspunkte aus die Wahrscheinlichkeit eines reich - lichen zu Grunde Gehens von Blutbestandtheilen innerhalb der Blutbahn erschlossen werden kann.
Ausser diesen Veränderungen kennen wir noch mit Be - stimmtheit eine andere Reihe, wo es sich um quantitative Ver - änderungen in der Zahl der Körper handelt. Die Zustände, deren Hauptrepräsentant die Chlorose ist, zeigen eine ge - wisse Aehnlichkeit mit jenen, welche mit Vermehrung farb - loser Blutkörperchen einhergehen, der Leukämie im engeren202Eilfte Vorlesung.Sinne und den bloss leukocytotischen Zuständen. Die Chlo - rose unterscheidet sich dadurch von der Leukämie, dass die Zahl der Körperchen überhaupt geringer ist. Während in der Leukämie gewissermaassen an die Stelle der rothen Körper - chen farblose treten und eine eigentliche Verminderung der zelligen Elemente im Blute nicht zu Stande kommt, so vermin - dern sich bei der Chlorose die Elemente beider Gattungen, ohne dass das gegenseitige Verhältniss der farbigen zu den farblosen in einer bestimmten Weise gestört würde. Es setzt dies eine verminderte Bildung überhaupt voraus, und wenn man schliessen darf, wie ich allerdings glaube, dass man im Augen - blick kaum anders kann, dass auch die rothen Körperchen von den Lymphdrüsen aus dem Blute zugeführt werden, so würde dies Alles darauf hindeuten, dass in der Chlorose eine verminderte Bildung an diesen Theilen stattfinde. Die Leukä - mie erklärt sich natürlich viel einfacher, insofern wir hier Re - präsentanten der zelligen Elemente überhaupt finden und wir uns denken können, dass ein Theil der Elemente, anstatt in rothe umgewandelt zu werden, seine Entwickelung ganz als farblose fortsetzt. In der Geschichte der Chlorose dagegen waltet noch viel Dunkel, da wir ein primäres Leiden der Lymph - drüsen mit Bestimmtheit nicht nachweisen können, die anato - mischen Erfahrungen vielmehr darauf hindeuten, dass die chlorotische Störung schon sehr frühzeitig angelegt wird. Denn man findet häufig das Herz, die Arterien und die grösse - ren Gefässe, den Sexualapparat mangelhaft entwickelt, was auf eine congenitale Disposition schliessen lässt.
Eine dritte Reihe von Zuständen könnte hier noch er - wähnt werden, welche aber nicht mehr in das morphologische Gebiet fällt, diejenige nämlich, wo die innere Beschaffenheit der Blutkörperchen Veränderungen erfahren hat, ohne dass da - durch ein bestimmter morphologischer Effect hervorgebracht würde. Hier handelt es sich wesentlich um Funktionsstörun - gen, welche wahrscheinlich mit feineren Veränderungen der Mischung zusammenhängen, Veränderungen der eigentlichen respiratorischen Substanz. So gut nämlich, wie wir bei den Muskeln die eigentliche Substanz des Primitivbündels, die compacte Masse des Syntonins als contractile Substanz bezeich -203Toxicaemie.nen, so erkennen wir im Inhalte des rothen Körperchens die eigentlich functionirende, respiratorische Substanz. Diese er - fährt unter gewissen Verhältnissen Veränderungen, welche sie ausser Stand setzen, ihre Function fortzuführen, eine Art von Lähmung, wenn Sie wollen. Dass etwas der Art vorgegangen ist, ersieht man daraus, dass das Körperchen nicht mehr im Stande ist, Sauerstoff aufzunehmen, wie man dieses experimen - tell unmittelbar erhärten kann. Dass es sich dabei wirklich um molekuläre Veränderungen in der Mischung handelt, dafür haben wir bequeme Anhaltspunkte in der Wirkung giftiger Substanzen, welche schon in minimaler Menge das Hämatin so verändern, dass es in eine Art von Paralyse versetzt wird. Hierher gehört ein Theil der flüchtigen Wasserstoffverbindungen, z. B. Arsenikwasserstoff, Cyanwasserstoff; ferner nach Hop - pe’s Untersuchungen das Kohlenoxydgas, wo verhältnissmässig schon kleine Mengen ausreichend sind, um die respiratorische Fähigkeit der Körperchen zu hindern. Analoge Zustände sind schon früherhin vielfach beobachtet worden im Verlaufe der typhoïden Fieber, wo die Fähigkeit Sauerstoff aufzunehmen in dem Maasse abnimmt, als die Krankheit einen schweren acuten Verlauf gewinnt. Mikroskopisch aber sieht man gar nichts; nur das chemische Experiment und die grobe Wahr - nehmung vom blossen Auge zeigen hier verschiedene Eigen - thümlichkeiten an. Man kann daher sagen, dass in diesem Gebiete eigentlich das Wesentlichste noch zu machen ist. Wir haben mehr Anhaltspunkte als Thatsachen.
Fassen wir nun das, was ich Ihnen über das Blut vorge - führt habe, kurz zusammen, so ergibt sich, dass entweder ge - wisse Substanzen auf die zelligen Elemente des Blutes schäd - lich einwirken und eine Dyscrasie erzeugen, indem sie diesel - ben ausser Stand setzen, ihre Function zu verrichten, oder dass von einem bestimmten Punkte aus, sei es von aussen, sei es von einem bestimmten Organe aus, fort und fort Massen dem Blute zugeführt werden, welche eine veränderte Mischung des - selben unterhalten. Nirgends in dieser ganzen Reihe finden wir irgend einen Zustand, welcher darauf hindeutete, dass eine dauerhafte Fortsetzung von bestimmten, einmal einge - leiteten Veränderungen im Blute selbst bestehen könnte, dass204Eilfte Vorlesung.also eine permanente Dyscrasie möglich wäre, ohne dass neue Einwirkungen von einem einzelnen Atrium aus auf das Blut stattfinden. Das ist der Grund, weshalb ich Ihnen von vorn - herein diesen, wie ich glaube, auch für die Praxis ausseror - dentlich wichtigen Gesichtspunkt hervorhebe, dass es sich bei allen Formen der Dyscrasie darum handele, ihren örtlichen Grund aufzusuchen. —
Lassen Sie uns jetzt ein anderes Kapitel in Angriff neh - men, das der historischen Bedeutung nach sich hier zu - nächst anschliesst, nämlich die Zustände des Nerven - Apparates.
Die überwiegende Masse des Nervenapparates besteht aus faserigen Bestandtheilen. Diese sind es auch, auf welche sich fast alle die feineren, physiologischen Entdeckungen be - ziehen, welche die letzten Jahrzehnte gebracht haben, während der andere, der Masse nach viel kleinere Theil des Nerven - apparates, die graue oder gangliöse Substanz, bis jetzt selbst der histologischen Untersuchung Schwierigkeiten entgegenge - stellt hat, welche noch lange nicht überwunden sind, so dass die experimentelle Erforschung dieser Substanz kaum in An - griff genommen werden konnte. Es wird freilich oft behaup - tet, man wisse heute viel von dem Nervensystem, aber unsere Kenntniss beschränkt sich grossentheils auf die weisse Masse, den faserigen Antheil, während wir leider zugestehen müssen, dass wir über die, ihrer Bedeutung nach offenbar viel höher stehende graue Substanz immer noch sowohl anatomisch, als namentlich physiologisch in den grössten Unsicherheiten uns bewegen.
Sobald man die Frage von der Bedeutung des Ner - vensystems innerhalb der Lebensvorgänge anatomisch betrach - tet, so ergibt ein einziger Blick, dass der Gesichtspunkt, von welchem die Neuro-Pathologie auszugehen pflegte, ein sehr verfehlter ist. Denn sie dachte sich im Nervensystem ein un - gewöhnlich Einfaches, das durch seine Einheit zugleich die Einheit des Körpers überhaupt, des ganzen Organismus bedin - gen sollte. Aber selbst, wenn man auch nur ganz grobe ana - tomische Vorstellungen über die Nerven hat, so sollte man205Zusammensetzung des Nervenapparates.es sich nicht verhehlen, dass es mit dieser Einheit sehr miss - lich bestellt ist, und dass schon das Scalpell den Nervenappa - rat als ein aus ausserordentlich vielen, relativ gleichwerthigen Theilen zusammengeordnetes System ohne erkennbaren Mittel - punkt darlegt. Je genauer wir histologisch untersuchen, um so mehr vervielfältigen sich die Elemente, und die letzte Zu - sammensetzung des Nervensystems zeigt sich nach einem ganz analogen Plane angelegt, wie die aller übrigen Theile des Körpers. Eine unendliche Menge zelliger Elemente von mehr oder we - niger grosser Selbständigkeit treten neben und grossentheils unabhängig von einander in die Erscheinung.
Wenn wir zunächst die gangliöse Substanz ausschliessen und uns einfach an die faserige Masse halten, so haben wir einerseits die eigentlichen (peripherischen) Nerven im engeren Sinne des Wortes, andererseits die grossen Anhäufungen weis - ser Markmasse, wie sie den grössten Theil des kleinen und grossen Gehirns und der Stränge des Rückenmarks zusam - mensetzt. Die Fasern dieser verschiedenen Abschnitte sind im Grossen allerdings ähnlich gebaut, zeigen aber im Feineren vielfache und zum Theil so erhebliche Verschiedenheiten, dass es Punkte gibt, wo man noch in diesem Augenblick nicht mit Sicherheit sagen kann, ob die Elemente, welche man vor sich hat, wirklich Nerven sind oder einer ganz anderen Art von Fasern angehören. Am sichersten ist man über die Zusam - mensetzung der gewöhnlichen peripherischen Nerven; hier un - terscheidet man im Allgemeinen mit ziemlicher Leichtigkeit Folgendes:
Alle mit blossem Auge zu verfolgenden Nerven enthalten eine gewisse Summe von Unterabtheilungen, Fascikeln, welche sich nachher als Aeste oder Zweige auseinanderlösen. Ver - folgen wir diese einzelnen, sich weiter und weiter vertheilen - den Zweige, so behält der Nerv doch fast unter allen Verhältnis - sen bis nahe zu seinen letzten Theilungen eine fascikuläre Einrichtung, so dass jedes Bündel wieder eine kleinere oder grös - sere Zahl von sogenannten Primitivfasern umschliesst. Der Aus - druck Primitivfaser, welchen man hier gebraucht, ist ursprüng - lich gewählt worden, weil man den Nervenfascikel für ein Ana - logon der Primitivbündel des Muskels hielt. Späterhin ist diese206Eilfte Vorlesung.Vorstellung fast verloren gegangen, und erst durch Robin ist in neuerer Zeit die Aufmerksamkeit wieder auf die Substanz hingelenkt worden, welche das Bündel zusam - menhält und welche er Perineurium nannte. Es ist dies
ein sehr dichtes Bindegewebe, in welchem sich bei Zusatz von Essigsäure kleine Kerne zeigen und welches verschieden ist von dem mehr lockeren Bindegewebe, welches wieder die Fascikel zu - sammenhält und das sogenannte Neurilem darstellt.
Wenn wir kurzweg von Ner - venfasern im histologischen Sinne sprechen, so meinen wir immer die Primitivfaser, nicht das Fascikel, welches vom blossen Auge als Faser erscheint. Jene feinsten Fasern besitzen wiederum jede für sich eine äussere Membran, die, wenn man sie vollkommen frei macht vom In - halte, was allerdings sehr schwierig ist, was aber zuweilen in pathologischen Verhältnissen spontan auftritt, z. B. bei gewis - sen Zuständen der Atrophie, wandständige Kerne zeigt (Fig. 5, c). Innerhalb dieser membranösen Röhren liegt der eigentliche Nerveninhalt, welcher sich bei den gewöhnlichen Nerven nochmals in zweierlei Bestandtheile scheidet. Diese sind bei dem ganz frischen Nerven kaum zu trennen, treten aber kurze Zeit nach dem Absterben oder Herausschneiden des Nerven oder nach Einwirkung irgend eines Mediums auf den Nerven sofort ganz deutlich auseinander, indem der eine dieser Bestandtheile eine schnelle Veränderung erfährt, welche man gewöhnlich als Gerinnung bezeichnet hat und durch welche er sich von dem anderen Bestandtheil absetzt (Fig. 78.). Ist dies geschehen, so sieht man im Innern der Nervenfaser deutlich ein feines Ge - bilde, den sogenannten Axencylinder (das Primitivband von
Querschnitt durch einen Nervenstamm des Plexus bra - chialis. l, l Neurilem, von dem eine grössere Scheide l' und feinere, durch helle Linien bezeichnete Fortsätze durch den Nerven verlaufen und ihn in kleine Fascikel scheiden. Letztere zeigen die dunklen, punktförmigen Durchsclmitte der Primitivfasern und dazwischen das Perineurium. Ver - gröss. 80.
207Markhaltige und marklose Nerven.
Remak), ein sehr feines, zartes, blasses Gebilde, und um ihn herum eine ziemlich derbe, dunkle, hier und da zusammenfliessende Masse, das Nervenmark oder die Mark - scheide; letztere füllt den Raum zwischen Axencylinder und der äusseren Membran aus. Gewöhn - lich ist aber die Nervenröhre so stark gefüllt mit dem Inhalte, dass man bei der gewöhnlichen Betrach - tung von den einzelnen Bestand - theilen fast gar nichts sieht, wie denn überhaupt der Axencylinder inner - halb der Markmasse schwer sichtbar ist. Daraus erklärt es sich, dass man Jahre lang über seine Existenz gestritten und vielfach die Ansicht ausgesprochen hat, es handle sich dabei um eine Gerinnungserscheinung, wobei eine Trennung des ursprünglich gleichmässigen Inhaltes in eine innere und äussere Masse statt - finde. Dies ist aber unzweifelhaft unrichtig; alle Methoden der Untersuchung geben zuletzt dies Primitivband zu erkennen; selbst auf Querschnitten der Nerven sieht man ganz deutlich im Innern den Axencylinder und um ihn herum das Mark.
Das sogenannte Nervenmark ist es, was den Nervenfasern überhaupt das weisse Ansehen verleiht; überall, wo die Ner - ven diesen Bestandtheil enthalten, erscheinen sie weiss, überall wo er ihnen fehlt, haben sie ein durchscheinendes, graues Aussehen. Daher gibt es Nerven, welche der Farbe nach der gangliösen Substanz sich anschliessen, verhältnissmässig durch - sichtig sind, ein mehr helles, gelatinöses Aussehen besitzen; man hat sie deshalb graue oder gelatinöse Nerven ge - nannt (Fig. 78 A.). Zwischen der grauen und weissen Nerven -
Graue und weisse Nervenfasern. A. Ein graues, gelati - nöses Nervenfascikel aus der Wurzel des Mesenteriums, nach Be - handlung mit Essigsäure. B. Eine breite, weisse Primitivfaser aus dem N. cruralis: a, der freigelegte Axencylinder, v, v die variköse Faser mit der Markscheide, am Ende bei m, m der Markstoff (Myelin) in geschlän - gelten Figuren hervortretend. C. Feine, weisse Primitivfaser aus dem Gehirn, mit frei hervortretendem Axencylinder. Vergr. 300.
208Eilfte Vorlesung.masse besteht also nicht der Unterschied, dass die eine gangliös, die andere faserig ist, sondern nur die, dass die eine Mark enthält, die andere nicht. Im Allgemeinen kann man den Zu - stand der Marklosigkeit als etwas Niedereres, Unvollständigeres bezeichnen, während die Markhaltigkeit eine reichere Ernäh - rung und Entwicklung des Theiles anzeigt.
Ich habe vor nicht langer Zeit eine Beobachtung gemacht, wo eine unmittelbar praktische Bedeutung dieser beiden Zu - stände in einer sehr unerwarteten Weise hervortrat, indem die sonst durchscheinende graue Nervenmasse in undurchsichtige weisse verwandelt war, nämlich an der Retina. Ich fand näm - lich ganz zufällig eines Tages in den Augen eines Mannes, bei dem ich ganz andere Veränderungen vermuthete, im Um - fang der Papilla optici, wo man sonst die gleichmässig durch - scheinende Retina sieht, eine weissliche, radiäre Streifung, wie
man sie im Kleinen zuweilen bei Hunden und ziemlich constant bei Kaninchen in einzelnen Richtun - gen trifft. Die mikroskopische Untersuchung ergab, dass in ähn - licher Weise, wie bei diesen Thieren, in der Retina markhal - tige Fasern sich entwickelt hat - ten, und dass die Faserlage der Retina durch die Aufnahme von Markmasse dicker und undurchsichtig geworden war. Die einzelnen Fasern verhielten sich dabei so, dass, wenn man sie von den vorderen und mittleren Theilen der Retina aus nach hinten gegen die Papille verfolgte, sie allmählig an Breite zu - nahmen, und zugleich in einer zuerst fast unmerklichen, später sehr auffälligen Weise eine Abscheidung von Mark erkennen liessen. Das ist also eine Art der Umbildung, welche die
Markige Hypertrophie des Opticus innerhalb des Auges (vgl. Archiv f. pathologische Anatomie und Physiologie. Bd. X. S. 190.). A. Die hintere Hälfte des Bulbus, von vorn gesehen; von der Papilia optici gehen nach vier Seiten radiäre Ausstrahlungen von weissen Fasern aus. B. Die Opticusfasern bei 300 maliger Vergrösserung: a eine blasse, gewöhnliche, leicht variköse Faser, b eine mit allmählig zunehmender Markscheide, c eine solche mit frei hervorstehendem Axencylinder.
209Markstoff.Function der Retina wesentlich beschränkt, denn diese zarte Haut wird dadurch mehr und mehr für Licht undurchgängig, indem das Mark die Strahlen nicht hindurchlässt.
Dieselbe Veränderung geschieht am Nerven, während er sich entwickelt. Der junge Nerv ist ein feines, röhrenförmiges Gebilde, welches in gewissen Abständen mit Kernen besetzt ist und eine blassgraue Masse enthält. Erst später erscheint das Mark, der Nerv wird breiter und der Axencylinder setzt sich deutlich ab. Man kann daher sagen, dass die Mark - scheide ein nicht absolut nothwendiger Bestandtheil des Ner - ven ist, sondern dem Nerven erst auf einer gewissen Höhe seiner Entwicklung zukömmt.
Es folgt daraus, dass diese Substanz, welche man früher als das Wesentliche im Nerven betrachtete, nach der jetzigen Anschauung eine untergeordnete Rolle spielt. Nur diejenigen, welche auch jetzt noch keinen Axencylinder zulassen, sehen sie natürlich nicht bloss als den bei Weitem überwiegenden Bestandtheil, sondern auch als den eigentlich functionirenden Nerveninhalt an. Sehr merkwürdig ist es aber, dass dieselbe Substanz eine der am meisten verbreiteten ist, welche über - haupt im thierischen Körper vorkommen. Ich war sonderbarer Weise zuerst bei der Untersuchung von Lungen auf Gebilde ge - stossen, welche ganz ähnliche Eigenschaften darboten, wie man sie am Nervenmark wahrnimmt. So auffallend dies auch war, so dachte ich in der That nicht an eine Uebereinstimmung, bis nach und nach durch eine Reihe weiterer Beobachtungen, welche im Laufe mehrerer Jahre hinzukamen, ich darauf geführt wurde, viele Gewebe chemisch zu untersuchen. Dabei stellte es sich heraus, dass fast gar kein zellenreiches Gewebe vor - kommt, in dem jene Substanz sich nicht in grosser Masse vorfände; allein nur die Nervenfaser hat die Eigenthümlichkeit, dass die Substanz als solche sich abscheidet, während sie in allen an - deren zelligen Theilen in einer fein vertheilten Weise im In - nern der Elemente enthalten ist und erst bei chemischer Ver - änderung des Inhalts oder bei chemischen Einwirkungen auf denselben frei wird. Wir können aus den Blutkörperchen, aus den Eiterkörperchen, aus den epithelialen Elementen der ver - schiedensten drüsigen Theile, aus dem Innern der Milz und14210Eilfte Vorlesung.
ähnlicher Drüsen ohne Ausfüh - rungsgänge überall durch Extrac - tion diesen Stoff gewinnen. Es ist dieselbe Substanz, welche den grössten Bestandtheil der gelben Dottermasse im Hühnerei bildet, von wo ihr Geschmack und ihre Eigenthümlichkeit, namentlich ihre eigenthümliche Zähig - keit und Klebrigkeit, welche zu den höheren technischen Zwecken der Küche verwendet wird, jedermann hinlänglich be - kannt ist. Diese Substanz, für welche ich den Namen Mark - stoff oder Myelin vorgeschlagen habe, ist es, welche in über - aus grosser Masse die Zwischenräume zwischen Axencylinder und Scheide an den Nervenprimitivfasern erfüllt.
Wird die Ernährung des Nerven gestört, so nimmt sie an Masse ab, ja sie kann unter Umständen gänzlich verschwin - den, so dass der weisse Nerv wieder auf einen grauen oder gelatinösen Zustand zurückgeführt wird. Das gibt eine graue Atrophie, gelatinöse Degeneration, wobei die Nerven - faser an sich existirt und nur die besondere Anfüllung mit Markmasse gelitten hat. Daraus können Sie es sich erklären, dass man an vielen Punkten, wo man früher nach der anato - mischen Erfahrung einen vollständig functionsunfähigen Theil erwarten zu dürfen glaubte, durch die klinische Beobachtung mit Hülfe der Electricität den Nachweis liefern konnte, dass der Nerv noch functionsfähig sei, wenn auch in einem gerin - geren Maasstabe, als normal. Daraus erhellt wiederum, dass das Mark nicht derjenige Bestandtheil sein kann, an welchen die Function des Nerven als solche gebunden ist. Zu dem - selben Schluss haben auch die physikalischen Untersuchungen im Allgemeinen geführt, und man betrachtet daher gegenwär - tig ziemlich allgemein den Axencylinder als das eigentlich we - sentliche Element des Nerven, welches also auch im blassen Nerven vorhanden ist, und welches nur im weissen Nerven
Tropfen von Markstoff (Myelin, nach Gobley Lecithin). A. Verschieden gestaltete Tropfen aus der Markscheide von Hirnnerven, nach Aufquellung durch Wasser. B. Tropfen aus zerfallendem Epithel der Gallenblase in der natürlichen Flüssigkeit. Vergr. 300.
211Electrische Substanz der Nerven.durch die Ablösung von der umliegenden Markscheide sich deutlich isoliren lässt. Der Axencylinder würde also die eigent - liche electrische Substanz der Physiker sein, und man kann allerdings die Hypothese zulassen, welche man aufge - stellt hat, dass die Markscheide mehr als eine isolirende Masse vorhanden sei, welche die Electricität in dem Nerven selbst zusammenhält und deren Entladung eben nur an den marklo - sen Enden der Nerven zu Stande kommen lässt.
Die Besonderheit des Markstoffes äussert sich am häu - figsten darin, dass, wenn man einen Nerven zerreisst oder zer - schneidet, gewöhnlich das Mark aus demselben hervortritt (Fig. 78, m, m.), indem es namentlich bei Einwirkung von Wasser eine eigenthümliche Streifung zeigt (Fig. 80 A.). Es nimmt nämlich Wasser auf, was beweist, dass es keine neutrale fet - tige Substanz im gewöhnlichen Sinne ist, sondern höchstens durch sein grosses Quellungsvermögen mit gewissen seifenar - tigen Verbindungen verglichen werden kann. Je länger die Einwirkung dauert, um so längere Massen schieben sich aus dem Nerven heraus. Diese haben ein eigenthümlich bandarti - ges Aussehen, bekommen immer neue Streifen und Schichtun - gen, und führen zu den sonderbarsten Figuren. Häufig lösen sich auch einzelne Stücke los und schwimmen als besondere, geschichtete Körper herum, welche in neuerer Zeit zu Ver - wechselungen mit den Corpora amylacea Veranlassung gege - ben haben, sich aber durch ihre chemischen Reactionen auf das
Bestimmteste von ihnen unterscheiden. —
In Beziehung auf die histologische Verschie - denheit der Nerven unter sich, ergibt die Untersu - chung, dass an verschiedenen Orten die eine oder die andere Art der Ausbildung ausserordentlich vor - waltet. Einerseits nämlich unterscheiden sich die Nerven wesentlich durch die Breite der Primitivfa - sern. Wir haben sehr breite, mittlere und kleine weisse, und ebenso breite und feine graue Fasern. Eine sehr beträchtliche Grösse erreichen die grauen überhaupt selten, weil eben die Grösse abhängig
Breite und schmale Nervenfasern aus dem N. cruralis mit unregelmässiger Aufquellung des Markstoffes. Vergr. 300.
14*212Eilfte Vorlesung.ist von der Zunahme des Inhaltes, allein überall zeigt sich doch wieder eine Verschiedenheit, so dass gewisse Nerven fei - ner, andere gröber sind.
Im Allgemeinen lässt sich sagen, dass in den Endstücken die Nervenfasern in der Regel feiner werden, und dass die letzte Verästelung verhältnismässig die feinsten zu enthalten pflegt; jedoch ist dies keine absolute Regel. Beim Opticus finden wir schon vom Augenblicke seines Eintrittes in das Auge an gewöhnlich nur ganz schmale, blasse Fasern (Fig. 79, a.), während die Tastnerven der Haut bis ans Ende verhältniss - mässig breite und dunkel contourirte Fasern zeigen (Fig. 83.). Eine sichere Ansicht über die Bedeutung der verschiedenen Faserarten je nach ihrer Breite und Markhaltigkeit hat sich bis jetzt noch nicht gewinnen lassen. Eine Zeit lang hat man geglaubt, Unterschiede in der Art aufstellen zu können, dass die breiten Fasern als Abkömmlinge der eigentlichen Cerebro - Spinaltheile, die feinen als Theile des Sympathicus betrachtet werden müssten, allein dies ist nicht durchzuführen, und man kann nur soviel sagen, dass die gewöhnlichen peripherischen Nerven allerdings einen grossen Gehalt an breiten, die sym - pathischen einen verhältnissmässig grösseren Theil von feineren Fasern haben. An vielen Orten, wie z. B. im Unterleibe, über - wiegen graue, breite Fasern (Fig. 78, A.), welche von Einigen noch in ihrer Nervennatur bezweifelt werden. Es ist also vor - läufig ein sicherer Schluss über die etwaige Verschiedenheit der Functionen aus dem blossen Bau noch nicht zu ziehen, obwohl kaum bezweifelt werden kann, dass solche Differenzen vorhanden sein müssen, und dass eine breite Faser an sich andere Fähigkeiten, sei es auch nur quantitativ verschiedene, darbieten muss, als eine feine, eine markhaltige andere als eine marklose. Allein über alles das weiss man bis jetzt mit Sicherheit nichts; und seitdem durch die feinere physikalische Untersuchung nachgewiesen ist, dass die Nerven, von denen man früher annahm, dass sie nur nach der einen oder der anderen Seite hin leiteten, die Leitungsfähigkeit nach beiden Seiten hin besitzen, so scheint es nicht gerechtfertigt, Hypo - thesen über die centripetale oder centrifugale Leitung hier an - zuknüpfen.
213Pacinische Körper.Die grosse Verschiedenheit, meine Herren, welche in Be - ziehung auf die Function der einzelnen Nerven zu bemerken ist, lässt sich bis jetzt nicht so sehr auf die Verschiedenartig - keit des Baues derselben beziehen, als vielmehr auf die Besonder - heit der Einrichtungen, mit welchen der Nerv verbunden ist. Es ist einerseits die besondere Bedeutung des Centralorgans, von wel - chem der Nerv ausgeht, andererseits die besondere Beschaf - fenheit des Endes, in welches er gegen die Peripherie hin ver - läuft, welche seine specifische Leistung erklären.
In Beziehung auf die Endigungen, welche die Nerven ge - gen die Peripherie darbieten, hat die Histologie gerade in den letzten Jahren wohl ihre glänzendsten Triumphe gefeiert. Früherhin stritt man sich bekanntlich darum, ob die Nerven in Schlingen ausgingen, oder in Plexus, oder ob sie frei endig - ten, und man war gleich exclusiv nach der einen, wie nach der anderen Richtung hin. Heutzutage haben wir Beispiele für die meisten dieser Endigungen, am wenigsten aber für die Form, welche eine Zeit lang als die regelrechte betrachtet wurde, nämlich für die Schlingenbildung.
Die deutlichste Endigungsform, die aber sonderbarer Weise functionell bis jetzt die am wenigsten bekannte ist, ist die in den sogenannten Pacinischen oder Vaterschen Körpern, — Organen, über deren Bedeutung man immer noch nichts anzugeben weiss. Man findet sie beim Menschen verhältnissmässig am Ausgesprochensten im Fettgewebe der Fingerspitzen, aber auch in ziemlich grosser Anzahl an der Wurzel des Gekröses, am deutlichsten und bequemsten aber im Mesenterium der Katzen, in welches sie noch ziemlich weit hinaufreichen, während sie beim Menschen bloss an der Wurzel des Gekröses liegen, wo das Duodenum mit dem Pancreas zusammenstösst, in der Nähe des Plexus solaris. Ueber - dies zeigt sich eine sehr grosse Variabilität bei den verschie - denen Individuen. Einige haben sehr wenig, andere sehr viel davon, und es ist sehr leicht möglich, dass daraus gewisse individuelle Eigenthümlichkeiten resultiren. So habe ich z. B. mehrmals bei Geisteskranken sehr viele solche Körper gefunden, worauf ich indessen vorläufig kein grosses Gewicht legen will.
214Eilfte Vorlesung.Ein Pacinisches Körperchen stellt, mit blossem Auge ge - sehen, einen weisslichen, gewöhnlich ovalen und an dem einen Ende etwas zugespitzten, 1 — 1½‴ langen Körper dar, der an einem Nerven festhängt, und zwar so, dass eine einzelne Pri - mitivfaser in einen jeden Körper übergeht. Letzterer zeigt
eine verhältnissmässig grosse Reihe von elliptischen und con - centrischen Lagen, welche am oberen Ende ziemlich nahe an einander stossen, am andern wei - ter von einander abweichen und im Innern einen länglichen, ge - wöhnlich gegen das obere Ende spitzeren Raum umschliessen. In - nerhalb dieser Lagen erkennt man deutlich durch Essigsäure regelmässig Kerne eingelagert, und wenn man sie gegen den Nervenstiel hin verfolgt, so sieht man sie zuletzt in das hier sehr dicke Perineurium übergehen. Man kann sie daher als colossale Entfaltungen des Perineuriums betrachten, welche aber nur eine einzige Nervenfaser umschliessen. Verfolgt man nun die Nervenfa - ser selbst, so bemerkt man, dass der markhaltige Theil gewöhnlich nur bis in den Anfang des Körperchens reicht; dann verschwindet das Mark, und man sieht den Axencylinder allein fortgehen. Dieser verläuft nun in der centralen Höhle, um gewöhnlich in der Nähe des oberen Endes einfach, oft mit einer kleinen kolbigen Anschwellung,
Vater’sches oder Pacini’sches Körperchen aus dem Unter - hautfettgewebe der Fingerspitze. S. Der aus einer dunkelrandigen, markhaltigen Primitiv-Nervenfaser n und dem dicken, mit Längskernen versehenen Perineurium p, p bestehende Stiel. C. Der eigentliche Kör - per mit concentrischen Lagen des kolbig angeschwollenen Perineurium und der centralen Höhle, in welcher der blasse Axencylinder fortläuft und frei endigt. Vergr. 150.
215Tastkörperchen.im Gekröse sehr häufig in einer spiralförmigen Windung zu enden. In seltenen Fällen kommt es vor, dass der Nerv sich theilt und dass mehrere Aeste in das Körperchen übergehen. Aber jedesmal scheint hier eine Art von Endigung vorzuliegen. Was die Körper zu besagen haben, welche Verrichtung sie aus - üben, ob sie irgend etwas mit sensitiven Functionen zu thun haben, oder ob sie irgend eine Leistung des Centrums zu ent - wickeln berufen sind, darüber wissen wir bis jetzt nichts.
Eine gewisse Aehnlichkeit mit diesem Bilde zeigen die in der letzten Zeit so viel discutirten Tastkörperchen. Wenn man die Haut und namentlich den empfindenden Theil mi - kroskopisch untersucht, so unterscheidet man, wie dies von Meissner und Rud. Wagner zuerst gefunden ist, zweierlei Arten von Papillen, eine mehr schmale und eine mehr breite, zwischen denen freilich Uebergänge vorkommen (Fig. 83.). In den schmalen findet man constant eine einfache, bei breiteren eine verästelte Gefässschlinge, aber keinen Nerven. Es ist dies insofern wichtig, als wir durch diese Beobachtungen zur Kennt - niss eines neuen nervenlosen Gebildes gekommen sind. In der anderen Art von Papillen findet man sehr häufig gar keine Gefässe, dagegen Nerven und jene eigenthümlichen Bildun - gen, welche man als Tastkörperchen bezeichnet hat.
Das Tastkörperchen erscheint als ein von der übrigen Substanz der Papille ziemlich deutlich abgesetztes, länglich ovales Gebilde, das Wagner, freilich etwas kühn, mit einem Tannenzapfen verglichen hat. Es sind meistens nach oben und unten abgerundete Gebilde, an denen man nicht, wie im Pacinischen Körperchen, eine längliche Streifung sieht, sondern vielmehr querliegende Kerne. Zu jedem solchen Körper tritt nun ein Nerv und von jedem kehrt ein Nerv zurück, oder richtiger, man sieht gewöhnlich zwei Nervenfäden, meistentheils ziemlich nahe an einander, die sich bequem bis an die Seite oder die Basis des Körpers verfolgen lassen. Von da ab ist der Verlauf sehr zweifelhaft, und in einzelnen Fällen variiren die Zustände so sehr, dass es noch nicht gelungen ist, mit Be - stimmtheit das Verhalten der Nerven zu diesen Körperchen zu ermitteln. In manchen Fällen sieht man nämlich ganz evident den Nerven hinaufgehen und auch wohl sich um das216Eilfte Vorlesung.
Körperchen herumschlingen. Zuweilen scheint es, als ob hier wirklich eine Schlinge existire, so dass gewissermaassen das Körperchen in einer Nervenschlinge liegt und auf diese Weise die Möglichkeit einer concentrirteren Einwirkung äusserer Agentien auf den Umfang des Nerven stattfinden könnte. An - dere Male sieht es wieder aus, als ob der Nerv viel früher schon aufhörte und sich in das Körperchen selbst einsenkte. Einige haben angenommen, wie Meissner, dass das Körper - chen selbst dem Nerven angehöre, welcher sich in dasselbe auflöse. Dies halte ich nicht für richtig; nur das scheint mir zweifelhaft zu sein, ob der Nerv im Körperchen endigt oder im Umfang desselben eine Schlinge bildet. Abgesehen von der anatomischen und physiologischen Frage, hat dieses Bei - spiel einen grossen Werth für die Deutung pathologischer Er - scheinungen, weil wir hier in an sich ganz analogen Theilen zwei vollkommene Gegensätze finden: einerseits nervenlose und gefässreiche, andererseits gefässlose, nur mit Nerven versehene
Nerven - und Gefässpapillen von der Haut der Fingerspitze, nach Ablösung der Oberhaut und des Rete Malpighii. A. Nervenpapille mit dem Tastkörperchen, zu dem zwei Primitiv-Nervenfasern n treten; im Grunde der Papille feine elastische Netze e, von denen feine Fasern ausstrahlen, zwischen und an denen Bindegewebskörperchen zu sehen sind. B, C, D Gefässpapillen, bei C einfache, bei B und D verästelte Gefässschlingen, daneben feine elastische Fasern und Bindegewebskör - perchen; p der horizontal fortlaufende Papillarkörper, bei c feine stern - förmige Elemente der eigentlichen Cutis. Vergr. 300.
217Verschiedene Hautwärzchen.Papillen. Die besonderen Beziehungen, welche die Lagen des Rete und der Epidermis zu den beiden Arten von Papillen haben, scheinen keine wesentlichen Verschiedenheiten darzu - bieten. Sie ernähren sich über den einen, wie über den an - deren, und sie scheinen über den einen so wenig innervirt zu werden, wie über den anderen.
Dies sind Thatsachen, welche auf eine gewisse Unab - hängigkeit der einzelnen Theile hindeuten und welche be - stimmte Gesichtspunkte liefern, dass grosse, selbst nervenreiche Theile ohne Gefässe bestehen, sich erhalten und functioniren können, und dass andererseits Theile, die verhältnissmässig viele Gefässe enthalten, absolut der Nerven entbehren können, ohne in Unordnung ihrer Ernährungszustände zu gerathen.
Die peripherischen Nervenendigungen. Die Sinnesnerven: Haut und Unterscheidung von Ge - fäss -, Nerven - und Zellenterritorien an derselben. Riechschleimhaut. Retina. — Die Theilung der Nervenfasern. Das elektrische Organ. Die Muskeln. Weitere Betrachtung der Nerventerritorien. — Nervenplexus mit ganglioformen Knoten. Darm. — Irrthümer der Neuropathologen. Die nervösen Centralorgane. Graue Substanz. Pigmentirte Ganglienzellen. Verschiedenhei - ten der Ganglienzellen: sympathische Elemente im Rückenmark und Gehirn, motorische und sensitive Elemente. Multipolare (polyklone) Ganglienzellen. Verschiedene Bedeutung der Fortsätze der Ganglienzellen.
Ich komme heute, meine Herren, nochmals auf die Haut zurück. Die Verschiedenheit der einzelnen Hautpapillen unter einander scheint mir so wichtig zu sein, dass ich Ihre Aufmerksamkeit beson - ders dafür in Anspruch nehmen zu müssen glaube. In der Mehr - zahl der Papillen sieht man, wie ich schon das letzte Mal er - wähnte, eine einzelne Gefässschlinge, hin und wieder, wenn die Papille recht gross wird, auch verästelt. Die meisten dieser Papillen haben keine Nerven, andere dagegen, welche Tast - körperchen enthalten, keine Gefässe. Denkt man die Gefässe und Tastkörperchen hinweg, so bleibt nur eine geringe Masse an der Papille übrig, aber innerhalb derselben gibt es noch wieder Elemente, und man überzeugt sich, dass unmittelbar an die Zellen des Rete Malpighii Bindegewebe mit Bindege - webskörperchen stösst, die sich nach der Injection sehr deut -219Haut-Territorien.lich von den Gefässen unterscheiden (Fig. 83.). Besonders günstig ist der Fall, wenn durch irgend eine Erkrankung z. B. den Pockenprozess eine leichte Schwellung der ganzen Haut stattgefunden hat und die Elemente ein wenig grösser sind, als normal. In gewöhnlichen Papillen ist es etwas schwieriger, die Elemente wahrzunehmen, doch sieht man sie bei genauerer Betrachtung überall, auch neben den Tastkörperchen.
Demnach findet sich auch in den feinsten Ausläufern des Gewebes gegen die Oberfläche hin nicht eine amorphe Masse, welche in einem constanten Verhältnisse zu den Gefässen und Nerven steht, vielmehr erscheint als einheitliche Einrichtung, als eigentlich constituirende Grundmasse der verschiedenen (Ge - fäss - und Nerven -) Papillen immer nur die Bindegewebssub - stanz, und die einzelnen Papillen gewinnen erst eine verschie - dene Bedeutung dadurch, dass zu dieser Grundmasse in dem einen Falle Gefässe, in dem anderen Nerven hinzukommen.
Wir wissen allerdings wenig über die besonderen Bezie - hungen, welche die gefässhaltigen Papillen zu den Functionen der Haut haben, indessen lässt sich kaum bezweifeln, dass hier eine wichtige Beziehung existiren muss, und dass, wenn man mehr im Stande sein wird, die verschiedenen Hautthätig - keiten zu sondern, auch den Gefässpapillen eine grössere Wichtigkeit zugesprochen werden wird. So viel können wir aber jetzt schon sagen, dass es falsch ist, sich zu denken, dass in einem jeden anatomischen Theile der Haut eine besondere Nervenverbreitung existire; gleichwie physiologische Versuche zeigen, dass grössere Empfindungskreise in der Haut existiren, lehrt auch die feinere histologische Untersuchung, dass an der Oberfläche eine relativ spärliche Endigung der Nerven besteht. Will man also die Haut in bestimmte Territorien eintheilen, so versteht es sich von selbst, dass die Nerven-Territorien grösser sind, als die Gefäss-Territorien. Aber auch jedes durch eine einzige Capillarschlinge bezeichnete Gefäss-Terri - torium (Papille) zerfällt wieder in eine Reihe von kleineren (Zellen -) Territorien, welche freilich alle an dem Ufer dessel - ben Gefässes liegen, aber für sich bestehen, indem jedes mit einem besonderen zelligen Elemente versehen ist.
Auf diese Weise kann man es sich sehr wohl erklären,220Zwölfte Vorlesung.wie innerhalb einer Papille ein einzelnes (Zellen -) Territorium erkranken kann. Gesetzt z. B. ein solches Territorium schwillt an, vergrössert sich und wächst immer mehr und mehr hervor, so kann eine baumförmige Verästelung entstehen (spitzes Con - dylom), ohne dass die ganze Papille in gleicher Weise afficirt
wäre. Das Gefäss wächst erst späterhin nach und schiebt sich in die schon grösser gewordenen Aeste hinein. Nicht das Gefäss ist es, welches durch seine Entwickelung die Theile hinausschiebt, sondern die erste Entwickelung geht immer vom Bindegewebe des Grundstockes aus. Es hat daher das Stu - dium der Hautzustände ein besonderes Interesse für die Kri - tik der allgemein-pathologischen Doctrinen. Was zunächst den neuropathologischen Standpunkt betrifft, so ist es ganz unbe - greiflich, wie ein Nerv, der inmitten einer ganzen Gruppe von nervenlosen Theilen liegt, es machen soll, um innerhalb dieser Gruppe eine einzelne Papille, zu welcher er gar nicht hin - kommt, zu einer pathologischen Thätigkeit zu vermögen, an welcher die übrigen Papillen desselben Nerven-Territoriums keinen Theil nehmen. Eben so schwierig ist die Deutung die -
Der Grundstock eines spitzen Condyloms vom Penis mit stark knospenden und verästelten Papillen, nach völliger Ablösung der Epidermis und des Rete Malpighii. Vergr. 11.
221Nerventerritorien der Haut.ses Verhältnisses da, wo es sich um Erkrankungen von ge - fässlosen Papillen handelt, vom Standpunkte eines Humoral - pathologen. Selbst wo innerhalb einer Gefäss-Papille die ver - schiedenen Zellen-Territorien verschiedene Zustände erreichen, würden diese nicht wohl begreiflich sein, wenn man den gan - zen Ernährungsvorgang einer Papille als direct abhängig von dem Generalzustande des Gefässes ansehen wollte, welches sie versorgt.
Aehnliche Betrachtungen kann man freilich an allen Punk - ten des Körpers anstellen, indess ist dies doch ein besonders günstiges Paradigma, um daran zu erkennen, wie verkehrt es ist, wenn man alle Gefässe unter einen particularen Nerven - Einfluss stellt. Es gibt eine Menge von Gefässen, welche dem Einflusse der Nerven ganz entrückt sind, und wenn wir bei der Haut stehen bleiben, so beschränkt sich die Einwirkung, wel - che ein Nerv auszuüben im Stande ist, darauf, dass die zu - führende Arterie, welche eine ganze Reihe von Papillen zu - sammen versorgt (Fig. 44), in einen Zustand der Veränderung gesetzt wird, so dass an ihr eine Verengerung oder Erweiterung und dem entsprechend eine verminderte oder vermehrte Zufuhr zu einem grösseren Bezirke stattfindet. —
Kehren wir nun von dieser Zwischenbetrachtung zu unse - rem eigentlichen Gegenstande zurück, so erinnern Sie sich, dass ich Ihnen meine Unkenntniss schilderte von dem wirk - lichen Endigungsmodus, welchen die Nerven an diesen Stellen besitzen. Ob der Nerv zuletzt eine Schlinge bildet oder in irgend einer Weise direct ausläuft in die innere Substanz der Tastkörperchen, ist, wie ich glaube, noch nicht mit vollkomme - ner Evidenz zu entscheiden.
Betrachten wir nun andere Beispiele der Nerven-Endigun - gen, so zeigt sich nirgends eine Wahrscheinlichkeit für eigent - liche Schlingenbildung. Ueberall, wo man sicherere Kenntnisse gewonnen hat, ist vielmehr die Wahrscheinlichkeit immer grös - ser geworden, dass die Nerven entweder übergehen in einen grossen Plexus, in eine netzförmige Ausbreitung, oder dass sie endigen in besonderen Apparaten, von welchen es grossen - theils noch zweifelhaft ist, in wie weit die Nerven zuletzt in eigenthümlichen, besonders gestalteten Ausläufern sich verlie -222Zwölfte Vorlesung.ren, oder in wie weit sie sich an eigenthümliche Theile an - derer Art anlegen. Eine solche Art der Endigung ist, wie es scheint, für die meisten höheren Sinnesorgane charakte - ristisch, hat aber bei der ausserordentlichen Schwierigkeit, welche die Untersuchung dieser Theile darbietet, noch an kei - nem einzigen Punkte zu einer allgemein gültigen Auffassung geführt. So viel Untersuchungen man über Retina und Coch - lea, über Nasen - und Mundschleimhaut in den letzten Jahren gemacht hat, so muss man doch gestehen, dass die letzten Fragen über das histologische Detail noch nicht ganz erledigt sind. Fast überall bleiben zwei Möglichkeiten für die Endi - gung der Nerven. Nach einigen würden sie zuletzt auslaufen in be - sondere Bildungen, die man nach dem bisherigen Sprachgebrauche nicht mehr als nervös betrachten würde, eigenthümliche Umbildun - gen, welche allerdings nach anderen Beobachtern unmittelbar mit Nervenfasern zusammenhängen sollen, z. B. auf der Riech - schleimhaut. Diese ist nämlich regelmässig bekleidet mit einem Cylinderepithelium, welches stark flimmert und in mehrfacher Lage übereinander gelagert ist, so dass mehrere Zellenreihen einander decken. Hier kommen nach mehreren neueren Unter - suchern Zellen vor, welche in einen längeren Faden auslau - fen und nicht, wie die anderen Epithelialzellen, an der Ober - fläche endigen, sondern ins Innere hineinlaufen, um hier direct in die Enden der Nerven überzugehen. Nach anderen dage - gen würden sich, was richtiger zu sein scheint, besondere fa - denförmige Enden der Nerven zwischen dem Epithel hervor - schieben. Die Geruchsobjecte würden also nach dieser Auf - fassung wirklich direct die Endformationen der Nerven selbst berühren. Aehnliche Epithelial-Bildungen sind in der letzten Zeit auch von der Schleimhaut der Zunge beschrieben worden, aufsitzend auf besonderen Papillen, welche überwiegend nervö - ser Natur zu sein schienen.
Weiterhin würden diese Elemente eine gewisse Aehnlich - keit beanspruchen mit den letzten Endigungen, welche wir am Opticus in der Retina und am Acusticus namentlich in der Schnecke finden, Bildungen, von welchen die letzteren sich der äussern Form nach vergleichen lassen mit langgeschwänzten Epithelial-Elementen, während die in der Retina ausserordent -223Retina.lich feine Gebilde darstellen. In der Retina nämlich breitet sich der Opticus nach seinem Eintritte in das Innere des Bul - bus so aus, dass seine faserigen Elemente an der vorderen, dem Glaskörper zugewendeten Seite der Retina verlaufen (Fig. 85, f.); nach hinten schliesst sich daran ein verschieden dickes Stra - tum, welches zwar zur Retina gehört, aber in keiner Weise aus einer directen Ausstrahlung des Opticus hervorgeht. Diese Lage zeigt da, wo sie an die Pigmentzellenschicht der Aderhaut anstösst, unmittelbar anliegend ein eigenthümliches Stratum, über welchem ein sonderbares Geschick geschwebt hat, indem man dasselbe längere Zeit an die vordere Seite der Retina ver - legte, die berühmte Stäbchenschicht (Fig. 85, s.). Diese
Schicht, welche zu den verletzbarsten Theilen des Auges ge - hört und deshalb den früheren Untersuchern vielfach entgangen war, besteht, wenn man sie von der Seite her betrachtet, aus
A. Verticalschnitt durch die ganze Dicke der Retina, nach Härtung in Chromsäure. l Membrana limitans mit den aufsteigenden Stützfasern. f Faserschicht des Opticus. g Ganglienschicht. n graue, feinkörnige Schicht mit durchtretenden Radiärfasern. k Innere (vordere) Körnerschicht. i Intermediäre oder Zwischenkörnerschicht. k 'Aeussere (hintere) Körnerschicht. s Stäbchenschicht mit Zapfen. Vergr. 300. B, C Isolirte Radiärfasern nach H. Müller.
224Zwölfte Vorlesung.einer sehr grossen Menge dicht gedrängter, radiär gestellter Stäbchen, zwischen denen in gewissen Abständen breitere zapfenförmige Körper erscheinen. Betrachtet man die Retina von der hinteren Oberfläche her, d. h. von der Chorioides, so sieht man in regelmässiger Anordnung zwischen diesen Zapfen feine Punkte, die den Enden der Stäbchen entsprechen.
Was nun zwischen dieser Stäbchenschicht und der eigent - lichen Ausbreitung des Sehnerven liegt, das ist wieder ein sehr zusammengesetztes Ding, an welchem man regelmässig eine Reihe von auf einander folgenden Schichten unterscheiden kann. Zunächst nach vorne von der Stäbchenschicht folgt eine verhältnissmässig dicke Lage, welche fast ganz aus groben Körnern zusammengesetzt erscheint, die sogenannte äussere Körnerschicht (Fig. 85, k '.). Dann kommt eine dünnere Lage, die gewöhnlich ein ziemlich amorphes Aussehen hat, die Zwi - schenkörnerlage (Fig. 85, i.). Dann kommen wieder gröbere Körner (die innere Körnerschicht), welche in beiden Schichten den Habitus von Kernen haben (Fig. 85, k.). Darauf folgt nochmals eine feinkörnige Lage von mehr grauer Be - schaffenheit (Fig. 85, n.) und dann erst die ziemlich breite Lage, welche dem Opticus angehört und ihrerseits von einer Membran begrenzt wird, der Membrana limitans (Fig. 85, l.), welche dem Glaskörper dicht anliegt. Innerhalb dieser letz - ten Schicht sieht man, ausser dem Faserverlauf des Opticus, am meisten nach hinten gelegen, eine Reihe von grösseren Zellen, die als Ganglienzellen erscheinen (Fig. 85, g.).
Diese ausserordentlich zusammengesetzte Beschaffenheit einer auf den ersten Blick so einfachen, so zarten Membran, macht es leicht erklärlich, wie ausserordentlich schwierig es ist, das Verhältniss aller ihrer einzelnen Theile mit Sicherheit zu ermitteln. Es war einer der wichtigsten Schritte, der in der Erkenntniss dieses Verhältnisses durch die Entdeckung von Heinrich Müller gemacht wurde, dass man von hinten her, von der Stäbchenschicht bis in die vordersten Lagen hinein eine Reihe von feinen Faserzügen verfolgen könne, radiäre Fasern, auch Müllersche Fasern genannt, welche in sich so - wohl die Körner aufnehmen, als die Zapfen und Stäbchen tra - gen (Fig. 85, B. C.). Dies gibt einen sehr zusammengesetz -225Der lichtempfindende Apparat des Auges.ten Apparat, welcher im Wesentlichen senkrecht auf den Ver - lauf der Opticusfasern gestellt ist. Die grösste Schwierigkeit, welche in Beziehung auf den anatomischen Zusammenhang dieser Gebilde besteht, ist die, zu ermitteln, ob die radiäre Fa - ser, sei es durch directe Umbiegung oder seitliche Anastomose in die Opticusfasern übergeht, oder ob es sich nur um eine innige Aneinanderlegung handle, die Nerven also nur in einem Nachbarverhältnisse zu den Radiärfasern stehen. Auch das Tastkörperchen kann man ja als eine körperliche Anschwel - lung des Nerven selbst betrachten oder als ein besonderes Gebilde, an welches der Nerv nur heran - oder hereintritt. Diese Frage ist noch nicht definitiv erledigt worden. Bald ist die Wahrscheinlichkeit etwas grösser geworden, dass es sich um directe Verbindungen, bald dass es sich nur um Aneinan - derlagerung handle. Das kann aber schon jetzt nicht mehr bezweifelt werden, dass für die Licht-Empfindung dieser Apparat das Wesentliche ist, und dass der Opticus mit allen seinen Theilen existiren könnte, ohne irgendwie die Fä - higkeit zu haben, Lichteindrücke zu empfangen, wenn er nicht mit diesem Apparate zusammenhinge. Bekanntlich ist gerade die Stelle des Augen-Hintergrundes, wo bloss Opticusfa - sern liegen und nicht ein solcher Apparat, die einzige, welche nicht sieht (blinder Fleck). Damit das Licht also überhaupt in die Lage komme, auf den Sehnerven ein - wirken zu können, bedarf es unzweifelhaft der Sammlung durch diesen Faserapparat, und es ist daher eine vom feine - ren, physikalischen Standpunkte ausserordentlich interessante Frage, ob der Nerv in seinen letzten Enden selbst die Vibra - tionen der Lichtwellen empfängt, oder ob ein anderer Theil vorhanden ist, dessen Schwingungen auf den Sehnerven ein - wirken und in demselben eine eigenthümliche Erregung er - zeugen. Jedenfalls steigen aber von der Membrana limitans aus leicht ausgeschweifte Fasern auf (Fig. 85, l.), wahrschein - lich Bindegewebs-Elemente, die dem Ganzen eine Art von Stütze oder Halt darbieten (Stützfasern), und die nicht mit dem übrigen Apparate im Zusammenhang stehen dürften.
15226Zwölfte Vorlesung.Wir haben, meine Herren, durch Betrachtung dieser Ver - hältnisse die Thatsache gewonnen, dass die specifische Ener - gie der einzelnen Nerven nicht sowohl in der Besonderheit des inneren Baues ihrer Fasern als solcher beruht, sondern dass es wesentlich auf die besondere Art der Endeinrichtung ankommt, mit welcher der Nerv, sei es direct, sei es durch Contact in Verbindung steht, und welche die besondere Fä - higkeit der einzelnen Sinnesnerven charakterisirt. Betrachtet man z. B. einen Querschnitt des Opticus ausserhalb des Auges, so bietet er gar keine Besonderheiten dar gegenüber anderen Nerven, und es liesse sich in keiner Weise erklären, dass ge - rade dieser Nerv für Licht leitungsfähiger ist, als die anderen Nerven, während dagegen die besonderen Verhältnisse, unter welchen sich seine letzten Enden verbreiten, die ungewöhnlich grosse Empfindlichkeit der Retina genügend erklären. —
In Beziehung auf die Endigungen wäre noch ein Punkt zu erwähnen: die plexusartige Ausbreitung. Es ist dies
ein Punkt, auf welchen die neueren Unter - suchungen hauptsächlich durch Rudolf Wagner geleitet worden sind, indem die - ser Forscher Untersuchungen über die Ver - breitung der Nerven im elektrischen Organ anstellte, und bei dieser Gelegenheit den wesentlichsten Anstoss gab zu der Lehre von der Verästelung der Nervenfasern. Bis dahin hatte man die Nerven als zusam - menhängende, einfache Röhren betrachtet, welche vom Centrum bis ans Ende einfach fortliefen. Gegenwärtig weiss man, dass sich die Nerven wie Gefässe verbreiten. In - dem sich eine Nervenfaser direkt, gewöhn - lich dichotomisch, theilt, ihre Aeste sich wie - der theilen und so fort, so kann dadurch mit der Zeit eine überaus reiche Veräste - lung entstehen, deren Bedeutung höchst ver -
Theilung einer Primitiv-Nervenfaser bei t, wo sich eine Einschnürung findet; b', b' 'Aeste. a cine andere Faser, welche die vo - rige kreuzt. Vergr. 300.
227Verästelung der Nervenfasern.schieden ist, je nachdem der Nerv motorisch oder sensitiv ist und entweder von einer grösseren Fläche her die Eindrücke sammelt, oder auf eine grössere Fläche hin die motorische[Erregung] aus - strahlt. Ein wahrhaft miraculöses Beispiel haben wir in der letzten Zeit kennen gelernt in dem elektrischen Nerven des durch die interessanten Experimente Dubois’s so berühmten elektrischen Welses (Malapterurus). Hier hat Bilharz gezeigt, dass der Nerv, welcher das elektrische Organ versorgt, ursprünglich nur eine einzige mikroskopische Primitivfaser ist, welche sich im - mer wieder theilt und sich schliesslich in eine enorm grosse Masse von Verästelungen auflöst, welche sich an das elektri - sche Organ verbreiten. Hier muss also die Wirkung mit einem Male von einem Punkte aus sich über die ganze Ausbreitung der elektrischen Platten ausdehnen.
Beim Menschen fehlen uns für diese Frage noch bestimmte Anhaltspunkte, weil die kolossalen Entfernungen, über welche die einzelnen Nerven sich verbreiten, es fast unmöglich machen, einzelne bestimmte Primitivfasern vom Centrum bis in die letzte Peripherie zu verfolgen. Aber es ist gar nicht unwahrschein - lich, dass auch beim Menschen in einzelnen Organen analoge Einrichtungen existiren, wenn auch vielleicht nicht so frappante. Vergleicht man die Grösse der Nervenstämme an gewissen Punkten mit der Summe von Wirkungen, die in einem Organe, z. B. in einer Drüse stattfinden, so kann es kaum zweifelhaft erscheinen, dass wenigstens analoge Zustände auch hier vor - handen sind. Diese Art von Verbreitung hat insofern ein be - sonderes Interesse, als viele räumlich getrennte Theile dadurch mit einander verbunden werden. Das elektrische Organ be - steht aus einer Menge von Platten, aber nicht jede Platte wird auf einem besonderen Wege vom Centrum aus innervirt. Der Wels setzt nicht diese oder jene Platte in Bewegung, sondern er muss das Ganze in Bewegung setzen; ja er ist ausser Stande, die Wirkung zu zerlegen. Er kann die Wirkung stär - ker oder schwächer einrichten, aber er muss jedesmal das Ganze in Anspruch nehmen. Denken wir uns dem entsprechend ge - wisse Muskeleinrichtungen, so haben wir auch da keine An - haltspunkte für die Annahme, dass jeder Theil des Muskels besondere, unabhängige Nervenfasern empfange. Im Gegen -15*228Zwölfte Vorlesung.theil findet in der Regel eine besondere Zerlegung der Nerven - Wirkung in den Muskeln nur in sehr beschränktem Maasse statt, wie wir ja aus eigener Erfahrung an uns selbst wissen. Vom neuristischen Standpunkte aus schliesst man, dass der Wille oder die Seele oder das Gehirn im Stande sei, durch besondere Fasern auf jeden einzelnen Theil zu wirken; in der That ist dies aber gar nicht der Fall, sondern es bleibt den Centren meist nur ein einziger Weg zu einer gewissen Summe gleichartiger Elementar-Apparate.
Was nun die Nervenplexus anbetrifft, so kennen wir gegenwärtig beim Menschen die ausgedehntesten Einrichtungen der Art in der Submucosa des Darmes, wo vor Kurzem durch Meissner und dann durch Billroth die Verhältnisse genauer
Nervenplexus aus der Submucosa des Darmes vom Kinde, nach einem Präparate von Hrn. Billroth. n, n, n Nerven, welche sich zu einem Netze verbinden, an dessen Knotenpunkten kernreiche, ganglio - forme Anschwellungen liegen. v, v Gefässe, dazwischen Kerne des Bin - degewebes. Vergr. 180.
229Nervengeflechte.erörtert worden sind. Die Submucosa des Darms ist darnach, wie schon Willis sagte, eine Tunica nervea. Wenn man den eintretenden Nerven nachgeht, so sieht man, dass sie, nachdem sie sich getheilt haben, zuletzt in wirkliche Netze übergehen, welche bei Neugebornen an gewissen Stellen sehr grosse Kno - tenpunkte haben, von denen aus sie in Geflechte ausstrahlen, so dass dadurch eine gewisse Aehnlichkeit mit dem Capillar - netz entsteht.
Wie weit sich solche Einrichtungen im Körper überhaupt erstrecken, ist noch nicht ergründet, denn auch hier sind es fast ganz neue Thatsachen, welche erst in letzter Zeit die Auf - merksamkeit der Untersucher in Anspruch nahmen; wahrschein - lich wird sich die Zahl solcher Nervenhäute noch vergrössern lassen. Um jedoch etwaigen Missverständnissen vorzubeugen, muss ich sogleich hinzusetzen, dass diese plexusartigen Aus - breitungen keineswegs einfach sind, sondern dass die erwähn - ten grösseren Knotenpunkte den Habitus von Ganglien an sich tragen, so dass gewissermaassen neue Sammelpunkte des Nervenapparates mit der Möglichkeit einer Verstärkung oder Hemmung der Wirkungen eintreten. Für die Funktion ist diese Einrichtung offenbar von grosser Bedeutung, denn wir würden uns am Darm die peristaltische Bewegung nicht wohl er - klären können, wenn nicht eine Einrichtung existirte, welche von Netz zu Netz, von Theil zu Theil Reize übertrüge, die nur an einem Punkte dem Darme zugekommen sind. Die bis vor Kurzem bekannten Verhältnisse der Nervenverbreitung ge - nügten nicht, um den Modus der peristaltischen Bewegung einigermaassen zu erklären, während sich hier sofort die be - quemsten Anhaltspunkte der Deutung bieten. — So viel im Wesentlichen über die allgemeinen Formen, welche man bis jetzt für die peripherischen Endigungen der Nerven kennt.
Im Ganzen entsprechen diese Erfahrungen wenig dem, was man sich früher gedacht hat und was noch jetzt die Neuropathologen annehmen. Die Vorstellung eines Neuropa - thologen von reinem Wasser geht bekanntlich dahin, dass ein Nervencentrum im Stande sei, vermittelst der Nervenfasern auf jeden kleinsten Theil seines Territoriums eine besondere Wir -230Zwölfte Vorlesung.kung auszuüben. Soll an einem kleinen Punkte des Körpers Krebsmasse oder Eiter entstehen oder eine einfache Ernäh - rungsstörung erfolgen, so bedarf der Neuropatholog einer Ein - richtung, vermöge welcher das Centralorgan im Stande ist, der Peripherie innerhalb ihrer kleinsten Bezirke seine Einwirkun - gen zukommen zu lassen, irgend eines Weges, auf welchem die Boten gehen können, welche nun einmal die Ordre nach den entferntesten Punkten des Organismus zu bringen bestimmt sind. Die wirkliche Erfahrung lehrt nichts der Art. Gerade an den Stellen, wo wir eine so ausserordentlich vervielfältigte Einrichtung der Endapparate kennen, wie ich sie Ihnen bei den Sinnesorganen schilderte, haben die Nerven keine Bezie - hung auf die Ernährung der Theile und insbesondere keine nachweisbare Einwirkung auf elementare Theile. Fast an al - len anderen Orten werden entweder ganze Flächen oder Organ - Abschnitte in einer gleichmässigen Weise innervirt, oder es werden von diesen Flächen oder Organ-Abschnitten aus Sam - mel-Erregungen zu den Centren geführt. An vielen Theilen, von denen wir allerdings nachweisen können, dass ein Nerven - Einfluss auf sie stattfindet, z. B. an den kleinen und mittle - ren Gefässen, wissen wir bis jetzt noch nicht einmal, wie weit einzelne Abschnitte besondere Nervenfasern erhalten. So schlecht sind die anatomischen Grundlagen der neuropatholo - gischen Doctrin.
Es bleibt uns nun, meine Herren, nachdem wir die peri - pherischen Einrichtungen des Nervenapparates besprochen ha - ben, die wichtige Reihe der centralen Theile, oder im en - geren Sinne, der Ganglien-Apparate. Wie ich schon neu - lich hervorhob, so finden wir diese überwiegend da in den Centren, wo graue Substanz lagert. Allein das bloss graue Aussehen ist nicht entscheidend für die gangliöse Beschaffen - heit eines Theiles; insbesondere darf man nicht glauben, dass etwa die Ganglienzellen es seien, welche die graue Farbe we - sentlich bedingen, denn an manchen Stellen finden wir graue Masse, ohne dass Ganglienzellen vorhanden sind. So enthal - ten die äussersten Schichten der Grosshirnrinde keine deutlichen Ganglienzellen mehr, obwohl sie grau aussehen; hier findet231Pigmint der Ganglienzellen.sich eine durchscheinende Grundsubstanz, welche mit vielen feineren Gefässen durchsetzt ist und je nach der Füllung der - selben bald mehr grauroth, bald mehr weissgrau erscheint. Andererseits kommt es häufig vor, dass, wo Ganglienzellen liegen, die Substanz gerade nicht grau aussieht, sondern eine positive Farbe hat, die zwischen bräunlichgelb und schwarz - braun schwankt. So haben wir an dem Gehirne Stellen, wel - che schon seit alter Zeit unter dem Namen der Substantia nigra, fusca u. s. w. bekannt sind, an welchen die schwarze oder braune Farbe, die wir mit blossem Auge wahrnehmen, den Ganglienzellen als eigentlich gefärbten Punkten anhaftet.
Diese Färbung findet sich erst im Laufe der Jahre ein. Je älter ein Individuum wird, um so stärker treten die Farben hervor; jedoch scheinen unter Umständen auch pathologische Prozesse den Eintritt derselben zu beschleunigen. So ist es an den Ganglien des Sympathicus eine auffallende Erschei - nung, dass gewisse Krankheitsprozesse, z. B. die typhösen, einen wirksamen Einfluss auf die frühe Pigmentirung zu üben scheinen. Da aber das Pigment etwas relativ Fremdartiges in der inneren Zusammensetzung der Zelle darstellt, welches, soviel wir wissen, nicht für die eigentliche Function dienstbar ist, sondern als ein träges Accidens auftritt, so dürfte es in der That wohl möglich sein, dass man diese Zustände als eine Art von vorzeitigem Altern der Ganglien zu betrachten hat. In diesen Fällen unterscheidet man an der Ganglienzelle (Fig.
88, a) ausser dem sehr deutlichen, grossen Kerne mit seinem grossen, glänzenden Kernkörperchen den eigentlichen Inhalt, welcher aus einer feinkörnigen Grundsubstanz besteht und welcher an einer ge - wissen Stelle das gewöhnlich ex - centrisch, zuweilen rings um den
Elemente aus dem Ganglion Gasseri. a Ganglienzelle mit kernreicher Scheide, die sich um den abgehenden Nervenfortsatz er - streckt; im Innern der grosse, klare Kern mit Kernkörperchen und um ihn Pigmentanhäufung. b Isolirte Ganglienzelle mit dem an sie heran - tretenden blassen Fortsatz. c Feinere Nervenfaser mit blassem Axency - linder. Vergr. 300.
232Zwölfte Vorlesung.Kern gelagerte Pigment umschliesst. Unter Umständen nimmt das letztere an Masse so sehr zu. dass ein grosser Theil der Zelle damit ausgefüllt wird. Je reicher diese Ablagerung wird, um so dunkler erscheint die ganze Stelle.
Früher hat man sich gedacht, dass die Ganglienzellen zum grossen Theil einfach runde Gebilde seien, allein man hat sich mehr und mehr überzeugt, dass diese Form eine künstliche ist und dass vielmehr von der Zelle nach einzelnen Richtun - gen Fortsätze ausgehen, welche sich endlich mit Nerven oder mit anderen Ganglien in Verbindung setzen. Diese Fortsätze sind Anfangs blass, und auch da, wo sich ihr Uebergang in gewöhnliche dunkelconturirte Nervenfasern verfolgen lässt, sieht man gewöhnlich erst in einer gewissen Entfernung von der Ganglienzelle den Fortsatz dicker werden und sich allmälig mit einer Markscheide versehen. Dieser Umstand, welchen man früher nicht gekannt hat, erklärt es, dass man so lange Zeit über diese Verhältnisse im Unklaren geblieben ist. Die unmittelbaren Fortsätze der Ganglienzellen, namentlich im Ge - hirn und Rückenmark, sind daher nicht Nerven im gewöhn - lichen Sinne des Wortes, sondern blasse Fasern, welche häufig kaum eine Aehnlichkeit mit den früher geschilderten marklo - sen Fasern haben und eher wie blasse Axencylinder erschei - nen (Fig. 88, a, b.).
Lange hat man geglaubt, dass wesentliche Verschieden - heiten zwischen den Ganglienzellen stattfänden je nach den groben Lokalitäten, welche die einzelnen Abschnitte des Ner - ven-Apparates bezeichnen, also namentlich zwischen den Zel - len des Sympathicus und denen des Hirns und Rückenmarks. Allein auch in diesem Punkte hat sich das Gegentheil erge - ben, namentlich seitdem Jacubowitsch die neue Thatsache kennen gelehrt hat, von deren Richtigkeit ich mich vollkom - men überzeugt habe, dass Gebilde, welche den sympathischen Ganglienzellen vollkommen analog sind, auch in der Mitte des Rückenmarks und mancher Theile, welche wir schon dem Ge - hirne zurechnen, vorkommen.
Man kann geradezu sagen, dass Elemente des Sympathi - cus, von welchem man ja schon lange weiss, dass er mit einem grossen Theil seiner Fasern im Rückenmarke wurzelt,233Formen der Ganglienzellen.wirklich auch im Rückenmarke vorkommen, und dass daher das Rückenmark nicht einen einfachen und nothwendigen Gegen - satz darstellt zu dem Grenzstrang.
Betrachten wir das Rückenmark etwas genauer, das für die Zusammenordnung eines wirklichen Centralorgans im eng - sten Sinne des Wortes den klarsten Ausdruck darstellt, so fin - den wir überall in der grauen Substanz (den Hörnern) dessel - ben und zwar fast auf jedem Querschnitte verschiedenartige Ganglien. Jacubowitsch hat, und ich glaube, dass er darin Recht hat, drei verschiedene Formen unterschieden, von denen er die eine geradezu motorisch, die andere sensitiv, die dritte sympathisch nennt. Diese liegen gewöhnlich in getrennten Gruppen.
Ich werde darauf bei weiterer Besprechung des Rücken - markes zurückkommen; hier wollte ich zunächst nur die For - men der Ganglienzellen besprechen. Die sogenannten unipo - laren Formen werden, je genauer man untersucht, immer sel - tener. In den Centralapparaten besitzen die meisten Zellen mindestens zwei Fortsätze, sehr viele sind multipolar oder ge - nauer vielästig (polyklon). Eine multipolare Zelle stellt ein Gebilde dar, welches einen grossen Kern, einen körnigen In - halt, und, wenn es besonders gross ist, einen Pigmentfleck hat und welches nach verschiedenen Richtungen hin mit Ausläu - fern versehen ist. Diese Ausläufer theilen sich häufig reiser - förmig, und so beginnt schon das Verhältniss, welches ich vor - her besprach (S. 227), dass von einem Punkte aus ganze Massen von Fäden oder Fasern ausgehen, ein Verhältniss, welches darauf hindeutet, dass zwar von Anfang an je nach Umständen diese oder jene Bahn benutzt werden kann, dass aber innerhalb einer bestimmten Bahn gegen die Peripherie hin die Wirkung auf die ganze Verästelung sich gleichmässig fortsetzen muss. Diese multipolaren Formen (Fig. 89, A.) sind meist verhältnissmässig gross und liegen an denjenigen Theilen angehäuft, welche den motorischen Einrichtungen entsprechen; man kann sie deshalb kurzweg mit Jacubowitsch als moto - rische Zellen bezeichnen.
234Zwölfte Vorlesung.Diejenigen Formen, welche den sensitiven Stellen ent - sprechen (Fig. 89, B.) sind in der Regel kleiner und zeigen nicht die ausserordentliche Vielfachheit der Verästelung, wie die grossen. Ein grosser Theil von ihnen besitzt nur 3, viel - leicht 4 Aeste. Die sympathischen dagegen sind wiederum grösser, haben aber noch weniger Aeste und zeichnen sich durch mehr rundliche Form aus. Es sind dies Verschieden - heiten, welche allerdings nicht so durchgreifend sind, dass man schon jetzt im Stande wäre, einer Ganglienzelle in jedem ein - zelnen Falle sofort anzusehen, welcher Kategorie sie angehört, welche aber doch, wenn man die einzelnen Gruppen ins Auge fasst, so auffallend sind, dass man zu einer bestimmten Schluss - folgerung über die verschiedene Qualität dieser Gruppen ver - anlasst wird. Wahrscheinlich wird man im Laufe der Zeit noch weitere Verschiedenheiten, auch vielleicht in der inneren Einrichtung der Zellen, erkennen; bis jetzt lässt sich darüber nichts weiter aussagen. Es ist dies eine sehr grosse und be - klagenswerthe Lücke unserer Kenntnisse, weil gerade hier der Punkt ist, an dem wir die specifische Action der einzelnen Elemente zu besprechen haben würden. Aber man darf nicht übersehen, dass diese Verhältnisse mit zu den schwierigsten gehören, welche überhaupt der anatomischen Untersuchung un - terworfen werden, und dass die Herstellung von Objecten, wel - che auch nur das eigene Auge überzeugen, fast immer daran scheitert, dass eine wirkliche Isolirung der Elemente mit allen ihren Fortsätzen und Verbindungen kaum gelingt und dass man wegen der ausserordentlichen Gebrechlichkeit dieser Theile fast immer genöthigt ist, sie auf Durchschnitten zu ver - folgen. Wenn man Schnitte macht in Gebilden, welche zu einem grossen Theile aus Fasern bestehen und in welchen die Fasern bald longitudinal, bald transversal, bald schräg verlau - fen, wo man also überall ein Geflecht zu sehen bekommt, so
Ganglienzellen aus den Centralorganen: A, B, C aus dem Rückenmarke, nach Präparaten des Hrn. Gerlach, D aus der Gehirn - rinde. A Grosse, vielstrahlige (multipolare, polyklone) Zellen aus den Vorderhörnern (Bewegungszellen). B. Kleinere Zellen mit 3 grösseren Fortsätzen aus den Hinterhörnern (Empfindungszellen). C Zweistrahlige, (bipolare, diklone), mehr rundliche Zelle aus der Nähe der hinteren Com - missur (sympathische Zelle). Vergr. 300.
236Zwölfte Vorlesung.hängt es ja ganz und gar von einem glücklichen Zufalle ab, ob man in einem Schnitte mit einer gewissen Bestimmtheit den Verlauf einer einzelnen Faser über grössere Strecken hin - aus verfolgen kann. Diese Schwierigkeit lässt sich allerdings dadurch ergänzen, dass man die Schnitte in allen möglichen Richtungen führt und so die Wahrscheinlichkeit steigert, dass man endlich einmal auf die Richtung stossen wird, in welcher sich ein Ast auflöst, aber auch dann noch bleibt die Schwie - rigkeit so gross, dass man kaum darauf rechnen kann, jemals die ganze Verbreitung und Verbindung einer irgendwie viel - ästigen Zelle aus den Centralorganen auf einmal übersehen zu können.
Auch in dieser Beziehung ist das elektrische Organ ein besonders interessanter Punkt der Untersuchung geworden, insofern durch Bilharz die eine Faser, welche das Organ ver - sieht, in eine einzige centrale Ganglienzelle zurückverfolgt ist, welche so gross ist, dass man sie mit blossem Auge präpari - ren kann. Diese Ganglienzelle hat auch nach anderen Rich - tungen hin feinere Ausstrahlungen, allein die weiteren Bezie - hungen derselben zu ermitteln, ist bis jetzt nicht gelungen, so wenig, wie wir im Stande gewesen sind, von der feineren Anatomie des menschlichen Gehirnes ein bestimmtes Bild zu gewinnen, namentlich zu entdecken, bis zu welchem Maasse darin Verbindungen von Zellen unter einander vorkommen. Bei den Untersuchungen des Rückenmarkes hat es sich als höchst wahrscheinlich herausgestellt, dass nicht alle Fortsätze der einzelnen Ganglien in Nervenfasern übergehen, sondern dass ein Theil derselben wieder zu Ganglienzellen geht und Ver - bindungen zwischen Ganglienzellen herstellt. Ausserdem findet man an gewissen Punkten, namentlich an manchen Stellen der Oberfläche des Gehirns noch feinere Fortsätze, die von Ganglien ausgehen und mit besonderen, ganz charakteristischen Ein - richtungen in Verbindung stehen, welche die grösste Aehnlich - keit darbieten mit denen der Retina, jenen ganz feinen, vibra - torischen Einrichtungen der radiären Fasern (Stäbchenschicht des kleinen und grossen Gehirns).
Man dürfte demnach die Fortsätze der Ganglien in drei237Fortsätze der Ganglienzellen.Kategorien theilen können: eigentliche Nervenfortsätze, Ganglien - fortsätze, und solche, die in ihrer Bedeutung ganz und gar unbekannt sind und die, wie es scheint, mit eigenthümlichen, ganz specifischen Apparaten in Verbindung stehen, von denen es vorläufig dahinsteht, ob sie als Endigungen der Nerven oder als nur den Nerven apponirte Theile zu betrachten sind.
Das Rückenmark. Weisse und graue Substanz. Centralkanal. Gangliöse Gruppen. Weisse Stränge und Commissuren. Die Medulla oblongata und das Gehirn. Körner - und Stäbchenschicht desselben. Das Rückenmark des Petromyzon und die marklosen Fasern desselben. Die Zwischensubstanz (interstitielles Gewebe). Ependyma ventriculorum. Neuroglia. Corpora amylacea.
Ich hatte Ihnen schon das vorige Mal, meine Herren, das Re - sultat der jüngsten Beobachtungen über die Verbreitung der Ganglienzellen in den Centralapparaten in Beziehung auf die Natur der Zellen selbst angeführt; erlauben Sie, dass ich einen Augenblick stehen bleibe bei demjenigen Organe, welches als Typus in der Wirbelthier-Entwickelung dient, nämlich beim Rückenmark, zugleich demjenigen, dessen Struktur wir am besten übersehen können.
Das Rückenmark ist bekanntlich, wie man auf jedem Querschnitte vom blossen Auge mit Leichtigkeit sehen kann, an verschiedenen Stellen seines Verlaufes verschieden reich an weisser Substanz, so jedoch, dass fast überall die weisse Sub - stanz über die graue das Uebergewicht hat. Letztere tritt auf Querschnitten unter der Form der bekannten Hörner her - vor, die sich durch ihre bald blassgraue, bald grauröthliche Färbung von dem reinen Weiss der übrigen Masse deutlich239Graue Hörner und Centralkanal des Rückenmarkes.absetzen. So weit nun, als die Substanz vom blossen Auge weiss erscheint, besteht sie wesentlich aus wirklichen markhal - tigen Nervenfasern, in welche nur hier und da einzelne Ganglienzellen eingeschoben sind, und zwar ist ein grosser Theil dieser Fasern von beträchtlicher Breite, so dass die Masse des Markstoffes an gewissen Punkten eine ausserordentlich reich - liche ist.
Die graue Substanz der Hörner ist die eigentliche Träge - rin der Ganglienzellen, aber auch hier ist das graue Aussehen keineswegs bloss der Anhäufung von Ganglienzellen zuzu - schreiben; vielmehr bilden, wie Sie nachher sehen werden, die Ganglienzellen immer nur einen kleinen Theil dieser Substanz, und das graue Aussehen ist hauptsächlich dadurch bedingt, dass im Allgemeinen an diesen Stellen jene undurchsichtige, stark lichtbrechende Substanz (das Myelin, der Markstoff) nicht ab - geschieden ist, welche die weissen Nerven erfüllt.
Inmitten der grauen Substanz ist es, wo, wie besonders Stilling gezeigt hat, in der That der centrale Kanal vor - handen ist, den man früher so vielfach vermuthet, häufig auch als regelmässigen Befund bezeichnet hat, der aber doch nie - mals früher regelmässig demonstrirt werden konnte, der Ca - nalis spinalis. Bei den älteren Beobachtern z. B. Portal handelte es sich immer um einzelne pathologische Befunde, von welchen sie ihre Kenntnisse über diese Einrichtung her - nahmen und von welchen aus sie ziemlich willkürlich schlos - sen, dass dies die Regel sei.
Der Centralkanal ist so fein, dass besonders glückliche Durchschnitte dazu gehören, um ihn mit blossem Auge deut - lich wahrnehmen zu können. Gewöhnlich erkennt man nichts weiter als einen rundlichen grauen Fleck, der sich von der Nachbarschaft durch eine etwas grössere Dichtigkeit unterschei - det. Erst die mikroskopische Untersuchung zeigt innerhalb des Fleckes den Querschnitt des Kanals als ein feines Loch (Fig. 90, c, c.), welches, wie fast alle freien Oberflächen des Kör - pers, mit einem Epitheliallager überkleidet ist. Es ist dies ein wirklich regelmässiger, constanter und persistenter Kanal in aller Form Rechtens. Derselbe setzt sich durch die ganze Ausdehnung des Rückenmarkes fort vom Filum terminale, wo240Dreizehnte Vorlesung.er nicht zu allen Zeiten ganz deutlich herzustellen ist, bis zum vierten Ventrikel hinauf, wo seine Einmündungsstelle in den sogenannten Sinus rhomboidalis an der gelatinösen Substanz des Calamus scriptorius liegt. Hier kann man ihn als eine di - recte Fortsetzung vom Boden des vierten Ventrikels aus zu - nächst in eine feine trichterförmige Spalte oder Linie ver - folgen.
Was nun die Ganglien-Zellen anbetrifft, so finden sie sich gewöhnlich in der grössten Masse in den vorderen und seitlichen Theilen der vorderen Hörner. An dieser Stelle ist
es, wo wir hauptsächlich die grossen vielstrahligen Elemente antreffen, welche wir das letzte Mal betrachtet haben, Ele -
Die Hälfte eines Querschnittes aus dem Halstheile des Rückenmarkes. fa Fissura anterior, fp Fissura posterior. cc Centralka - nal mit dem centralen Ependymfaden. ca Commissura anterior mit sich kreuzenden Nervenfasern, cp Commissura posterior. ra Vordere Wurzeln, rp hintere. gm Anhäufung der Bewegungszellen in den Vorderhörnern, gs Empfindungszellen der Hinterhörner, gs 'sympathische Zellen. Die schwarzpunktirte Masse stellt die Querschnitte der weissen Substanz (Nervenfasern der Vorder -, Seiten - und Hinterstränge) des Rückenmarkes mit ihren lobulären Abtheilungen dar. Vergr. 12.
241Stränge des Rückenmarkes.mente, die zum Theil verfolgt worden sind in austretende Ner - ven der vorderen Wurzeln, die also motorischen Nerven ihren Ursprung geben.
Eine analoge, aber weniger deutlich gruppirte Anhäufung findet sich gegen die hinteren Hörner hin, aber es sind mehr die kleinen mehrstrahligen Zellen, wie ich sie Ihnen neulich beschrieben habe, die zusammenhängen mit den Fasern, welche den hinteren Wurzeln zukommen, die also wahrscheinlich der sensitiven Function dienen. Ausserdem zeigt sich gewöhnlich noch eine dritte, bald mehr zusammengeordnete, bald mehr zerstreute Gruppe von Zellen, welche ihrem ganzen Baue nach an die bekannten Formen der Ganglienzellen in den sympa - thischen Theilen erinnern (Fig. 89, C. 90, gs '.) Ihre beson - dere Stellung innerhalb des Rückenmark-Verlaufes ist allerdings nicht so klar bezeichnet, wie die der anderen Theile; viel - leicht sind sie als die Quelle für die sympathischen Wur - zeln zu betrachten, welche vom Rückenmarke sich zum Grenzstrang begeben.
Innerhalb der weissen Substanz der Vorder -, Seiten - und Hinterstränge finden sich die markhaltigen Nervenfasern, welche im Allgemeinen einen auf - und absteigenden Verlauf nehmen, so dass wir auf Querschnitten des Rückenmarkes auch fast nur Querschnitte der Nervenfasern zu Gesicht bekommen. Daher sieht man unter dem Mikroskope hier gewöhnlich dunkle Punkte, von denen jeder einer Nervenfaser entspricht. Die ganze Fasermasse der Rückenmarksstränge ist von innen nach aussen in eine Reihe von Gruppen oder Segmenten von meist radiärer Anordnung, gewissermaassen in keilförmige Lappen zerlegt, indem sich zwischen die einzelnen, auch hier fasciculären Abtheilungen eine bald kleinere, bald grössere Masse von Bindegewebe mit Gefässen einschiebt. Letzteres hängt mit der reichlicheren Bindegewebsmasse der grauen Substanz direct zusammen. Was nun die Nervenfasern selbst betrifft, so dürfte ein gewisser Theil von diesen der ganzen Länge des Rückenmarkes nach fortgehen, aber sicher darf man nicht annehmen, dass sie alle vom Gehirne herkommen; ein wahrscheinlich beträchtlicher Theil stammt wohl von den Ganglienzellen des Rückenmarkes selbst und biegt dann in die vorderen oder hinteren Stränge16242Dreizehnte Vorlesung.um. Ausserdem hat man sich mehr und mehr überzeugt, dass sowohl zwischen den beiden Hälften des Rückenmarkes, als zwischen den einzelnen Ganglien-Gruppen directe Verbindun - gen, Commissuren, bestehen, indem Fasern von einer Zelle zur anderen und von einer Seite zur anderen hinübertreten, theils in der Weise, dass sie mit denen der entgegengesetzten Seite sich kreuzen (vordere Commissur), theils so, dass sie ge - streckt und parallel verlaufen (hintere Commissur).
Mit diesen anatomischen Erfahrungen kann man sich ein freilich noch sehr ungenügendes Bild machen von den Wegen, auf welchen die Vorgänge innerhalb der Centraltheile passiren. Jede besondere Thätigkeit hat ihre besonderen ele - mentaren, zelligen Organe, jede Art der Leitung fin - det ihre bestimmt vorgezeichneten Bahnen. Auch im Grossen entsprechen den functionellen Verschiedenheiten ganz bestimmte Eigenthümlichkeiten in der Struktur der einzelnen Centraltheile, namentlich entwickeln sich nach oben hin die hinteren Hörner allmählig immer kräftiger, und in dem Maasse als diese Entwickelung vorschreitet, macht sich die Entfaltung der Medulla oblongata, des kleinen und grossen Gehirns, wo - bei mehr und mehr die motorischen Theile in den Hintergrund treten, um zuletzt fast ganz zu verschwinden. Der Anlage nach und im Grossen bestehen überall analoge Verhältnisse; das Einzige, was bis jetzt wenigstens als eine besonders cha - rakteristische Eigenthümlichkeit der centralen Apparate be - trachtet werden kann, ist die schon in der letzten Vorlesung hervorgehobene Erscheinung, dass am Gross - und Klein - hirn Ganglien-Fortsätze mit besonders zusammengesetz - ten Apparaten in Verbindung stehen, die am meisten Aehn - lichkeit haben mit der Ihnen vorgeführten Körner - und Stäbchenschicht der Retina. Auch hier finden sich verästelte, fast baumförmige Fäden, welche kleine Körnchen in oft mehr - facher Reihe in sich schliessen, und welche sich an die Ganglien - zellen in einer wesentlich anderen, namentlich sehr viel feine - ren Weise anfügen, als das bei den eigentlichen Nervenfort - sätzen der Fall ist. Diese Art von Ganglienzellen dürfte wohl mit der psychischen Thätigkeit in näherer Verbin - dung stehen, indess wissen wir darüber vorläufig nichts243Kleinhirn.
Genaueres, und es wird auch wohl noch lange Zeit dauern, ehe man etwas Positives darüber ermitteln kann, da selbst der Untersuchung viel mehr zugängliche Theile, wie die Retina, die allergrössten Schwierigkeiten für die Deutung der einzel - nen Abschnitte darbieten.
Die Form der Rückenmarks Bildung, wie wir sie beim Men - schen kennen gelernt haben, ist im Wesentlichen dieselbe durch die ganze Reihe der Wirbelthiere, nur dass sie beim Menschen im All - gemeinen eine grössere Complication, einen grösseren Reichthum sowohl an Nervenfasern, als an Gangliensubstanz darbietet. Ich habe Ihnen zur Vergleichung den Durchschnitt vom Rückenmarke
Schematische Darstellung des Nervenverhaltens in der Rinde des Kleinhirns nach Gerlach. (Mikroskopische Studien Taf. I. Fig. 3.) A weisse Substanz, B, C graue Substanz, B Körnerschicht, C Zellenschicht.
16*244Dreizehnte Vorlesung.eines der niedrigsten Wirbelthiere mitgebracht, nämlich von einem Neunauge (Petromyzon). Bei diesem Thier stellt das Rückenmark ein sehr kleines plattes Band dar, welches in der Fläche etwas eingebogen ist und auf den ersten Anblick wie ein wirkliches Ligament aussieht. Macht man einen Quer - schnitt davon, so enthält dieser an sich dieselben Theile, die wir beim Menschen sehen, aber Alles nur in der Anlage. Was wir bei uns graue Substanz nennen, das findet sich auch hier wieder zu beiden Seiten in der Gestalt je eines plattläng - lichen Lappens, welcher einzelne Ganglienzellen, aber nur sehr wenige enthält, so dass man auf jeder Seite des Querschnit - tes vielleicht nur 4 — 5 davon findet. In der Mitte erkennt man ebenfalls einen Centralkanal, und zwar mit derselben Epithelialschicht, wie beim Menschen. Nach unten und vorn davon liegt gewöhnlich eine Reihe von grösseren runden
Lücken, welche ganz ungewöhnlich grossen, zuerst von Joh. Müller gesehenen, marklosen Nervenfasern entsprechen. Wei - ter nach aussen liegen noch einzelne dickere, überwiegend jedoch eine grosse Menge ganz feiner Fasern, welche dem
Durchschnitt durch das Rückenmark des Petromyzon fluviatilis. F Fissura anterior, F 'Fissura posterior. c Centralkanal mit Epithel. gm grosse, vielstrahlige Ganglienzellen mit Fortsätzen in der Richtung der vorderen Wurzeln, gp kleinere, mehrstrahlige Zellen mit Fortsätzen zu den hinteren Wurzeln, gs grosse, rundliche Zellen in der Nähe der hinteren Commissur (sympathische Zellen). n, n Querdurch - schnitte der grossen, blassen Nervenfasern (Müller’schen Fasern), n' leere Lücken, aus welchen die grossen Nerven ausgefallen sind, n'' Lücke für kleinere Fasern. Ausserdem zahlreiche Querschnitte feinerer und gröbe - rer Fasern.
245Rückenmark des Petromyzon.Querschnitte ein sehr buntes, regelmässig getüpfeltes Aussehen geben. Unter den Ganglienzellen kann man auch hier drei verschiedene Arten unterscheiden. Nach aussen in der grauen Substanz liegen vielstrahlige, nach vorn grössere, nach hinten kleinere und einfachere Zellen. Mehr nach innen und hinten dagegen finden sich grössere, mehr rundliche, wie es scheint, diklone (bipolare) Zellen, den sympathischen Formen vergleich - bar. Diese Zellen communiciren über die Mitte durch wirk - liche Faser-Verbindungen, und ausserdem findet man Fortsätze, welche nach vorne und rückwärts aus dem Rückenmarke her - vortreten und die vordere und hintere Wurzel bilden. Das ist das einfachste Schema, welches wir für diese Verhältnisse besitzen, der allgemeine Typus für die anatomische Einrich - tung dieser Theile.
Besonders zu bemerken ist hier, dass beim Petromyzon in der ganzen Substanz des Rückenmarkes kein Markstoff in isolirter Ausscheidung vorhanden ist, wie wir ihn beim Men - schen haben; man findet nur einfache blasse Fasern, welche
Stannius geradezu als nackte Axencylinder angesprochen hat. Abgesehen davon, dass sie zum Theil einen kolossalen Durchmes - ser haben, so findet man bei ge - nauerer Untersuchung, wie bei den gelatinösen, grauen Fasern des Menschen, eine auf Quer - schnitten, besonders nach Fär - bung mit Carmin sehr deut - liche Membran und im Centrum eine feinkörnige Substanz, so dass sie vielmehr ganzen Nervenfasern zu entsprechen scheinen.
Blasse Fasern aus dem Rückenmark des Petromyzon flu - viatilis. A Breite, schmale und feinste Fasern. B Querschnitte von brei - ten Fasern mit deutlicher Membran und körnigem Centrum. Vergr. 300.
Ich habe bis jetzt, meine Herren, bei der Betrachtung des Nervenapparates immer nur der eigentlich nervösen Theile ge - dacht. Wenn man aber das Nervensystem in seinem wirk - lichen Verhalten im Körper studiren will, so ist es ausser - ordentlich wichtig, auch diejenige Masse zu kennen, welche zwischen den eigentlichen Nerventheilen vorhanden ist, welche sie zusammenhält und dem Ganzen mehr oder weniger seine Form gibt.
Es ist gar nicht so lange her, als man das Vorhanden - sein solcher Massen eigentlich nur bei den peripherischen Ner - ven zuliess und das Neurilem bis auf die Häute des Rücken - markes und Gehirnes zurückverfolgte, höchstens dass man innerhalb der Ganglien und in der ganzen Ausdehnung des Sympathicus ein solches Umhüllungsgewebe anerkannte. In den eigentlichen Centren und namentlich im Gehirne deutete man die Zwischensubstanz gerade als eine wesentliche Nerven - masse, und sie erschien sogar so lange als eine Art von na - türlichem Desiderat, als man eine directe Uebertragung der Er - regung von Faser zu Faser zuliess, als man also nicht die Nothwendigkeit einer wirklichen Continuität der Leitung der Nervenvorgänge innerhalb der Nerven selbst festhielt. So sprach man im Gehirne von einer feinkörnigen Zwischenmasse, welche sich zwischen die Fasern einschieben sollte und welche freilich keine vollständige Verbindung zwischen ihnen herstellte, indem sie eine gewisse Schwierigkeit in der Uebertragung der Erregungen bedingte, welche aber doch eine Art von Leitung ermöglichen sollte, so dass bei einer gewissen Höhe der Er - regung eben auch eine directe Uebertragung von Faser zu Fa - ser stattfinden könne. Diese Substanz ist jedoch unzweifelhaft nicht nervöser Natur, und wenn man ihre Beziehung zu den bekannten Gruppen der physiologischen Gewebe aufsucht, so kann man darüber nicht im Unsicheren bleiben, dass es sich um eine Art des Bindegewebes handelt, also um ein Aequiva - lent desjenigen Gewebes, welches wir im Perineurium kennen gelernt haben (S. 206). Allein der Habitus dieser Substanz ist allerdings sehr weit verschieden von dem, was wir Peri - neurium oder Neurilem nennen. Letztere sind verhältnissmäs - sig derbe, oft sogar harte und zähe Gewebe, während jene247Ependyma ventriculorum.Substanz ausserordentlich weich und gebrechlich ist, so dass man nur mit grosser Schwierigkeit überhaupt dahin kommt, ihren Bau kennen zu lernen.
Ich wurde zuerst auf ihre Eigenthümlichkeit aufmerksam bei Untersuchungen, die ich vor Jahren über die sogenannte innere Haut der Hirnventrikel (Ependyma) anstellte. Damals bestand die Ansicht, welche zuerst durch Purkinje und Valentin, später namentlich durch Henle geltend ge - worden war, dass eine eigentliche Haut in den Hirn-Ventrikeln gar nicht existire, sondern nur ein Epithelial-Ueberzug, indem die Epithelialzellen unmittelbar auf der Fläche der horizontal gelagerten Nervenfasern aufsässen. Dies war das, was Pur - kinje Ependyma ventriculorum nannte. Diese Annahme ist freilich von den Pathologen nie getheilt worden. Die Patho - logie ging ziemlich unbekümmert um die histologischen Anga - ben einher. Indess erschien es doch wünschenswerth, hier eine Verständigung zu gewinnen, da in einem solchen Epen - dyma nicht wohl eine Entzündung vorkommen konnte, wie man sie einer serösen Haut zuzuschreiben pflegt. Bei meinen Untersuchungen ergab sich nun, dass allerdings unter dem Epi - thel der Ventrikel eine Schicht vorhanden ist, welche an man - chen Stellen ganz dem Habitus des Bindegewebes entspricht, an anderen Stellen jedoch eine sehr weiche Beschaffenheit an - nimmt, so dass es überaus schwierig ist, eine Beschreibung von ihrem Aussehen zu liefern. Jede kleinste Zerrung an dem Theile ändert seine Erscheinung, und man sieht bald körnige, bald streifige, bald netzförmige oder wie sonst geartete Sub - stanz. Anfangs glaubte ich mich beruhigen zu dürfen bei dem Nachweise, dass hier überhaupt ein dem Bindegewebe analoges Gewebe existire und eine Haut zu constatiren sei. Allein, je mehr ich mich mit der Untersuchung dieser Theile beschäftigte, um so mehr überzeugte ich mich, dass eine eigent - liche Grenze zwischen dieser Haut und den tieferen Gewebs - lagen nicht existire, und dass man nur in einem uneigentlichen Sinne von einer Haut sprechen könne, da man doch bei einer Haut voraussetzt, dass sie von der Unterlage mehr oder we - niger different, als ein trennbares Ding vorhanden ist. Im Groben lässt sich freilich nicht selten eine solche Trennung248Dreizehnte Vorlesung.vornehmen, aber im Feineren ist es durchaus nicht möglich. Man sieht, wenn man die Oberfläche irgend eines Theiles der Ventrikel bei stärkerer Vergrösserung einstellt, zunächst an der Oberfläche ein bald mehr, bald weniger gut erhaltenes Epithel (Fig. 94, E.). Im günstigsten Falle sieht man ein Cylin - der-Epithel mit Cilien, welches sich durch die ganze Ausdeh - dehnung der Höhle des Rückenmarkes (Centralkanal) und des Hirnes (Ventrikel) erstreckt. Unter dieser Lage folgt eine bald mehr, bald weniger reine Schicht von bindegewebsartiger Struktur, welche auf den ersten Blick gegen die Tiefe hin al - lerdings scharf abgesetzt erscheint, denn schon mit blossem Auge, namentlich nach Behandlung mit Essigsäure, sieht man sehr deutlich eine äussere, graue und durchscheinende Lage, während die tiefere Schicht weiss aussieht. Dies weisse Aus -
Ependyma ventriculorum und Neuroglia vom Boden des vierten Hirnventrikels. E Epithel, N Nervenfasern. Dazwischen der freie Theil der Neuroglia mit zahlreichen Bindegewebszellen und Kernen, bei v ein Gefass, im Uebrigen zahlreiche Corpora amylacea, welche bei ca noch isolirt dargestellt sind. Vergr. 300.
249Histologische Stellung des Ependyms.sehen rührt daher, dass hier markhaltige Nervenfasern liegen, anfangs einzeln, dann immer mehr und dichter, in der Regel der Oberfläche parallel. So kann es allerdings erscheinen, als sei hier eine besondere Haut, die man von der Oberfläche der letzten Nervenfasern trennen könnte. Vergleicht man nun aber die Masse, welche die Oberfläche begrenzt, mit derjenigen, welche zwischen den Nervenfasern liegt, so zeigt sich keine wesentliche Verschiedenheit, und es ergibt sich vielmehr, dass die oberflächliche Schicht weiter nichts ist, als der zu Tage über die Nervenelemente hinausgehende Theil des Zwischen - gewebes, welches überall zwischen den Elementen vorhanden ist und welches nur hier in seiner Reinheit zur Erscheinung kommt. Es ist also das Verhältniss ein continuirliches.
Sie sehen aus dieser Darstellung, dass es ein ganz müs - siger Streit war, wenn man Jahre lang darüber discutirte, ob die Haut, welche die Ventrikel auskleide, eine Fortsetzung von der Arachnoides oder der Pia mater oder eine eigene Haut sei. Es ist, streng genommen, gar keine Haut vorhanden, son - dern es ist die Oberfläche des Organs, welche unmittelbar zu Tage tritt. Auch an dem Gelenkknorpel müssen wir es als einen müssigen Streit bezeichnen, welche Art von Haut den Knorpel überzieht, da der Knorpel selbst bis an die letzte Oberfläche des Gelenkes herantritt. Es geht nichts von der Arachnoides, nichts von der Pia mater auf die Oberfläche des Ventrikels, sondern die letzten Ausbreitungen, welche diese Häute nach innen aussenden, sind die Plexus chorioides und die Tela chorioides. Ueber diese hinaus findet sich kein serö - ser Ueberzug mehr, welcher die innere Fläche der Hirnhöhlen auskleidet. Aus diesem Grunde kann man die Zustände der Hirnhöhlen nicht vollkommen vergleichen mit den Zuständen der gewöhnlichen serösen Säcke. Es kann allerdings an der Tela chorioides oder den Plexus eine Reihe von Erscheinungen auftreten, welche parallel stehen den Störungen anderer serö - ser Theile, aber nie kann dies in derselben Art an der Ven - trikeloberfläche des Gehirns selbst stattfinden.
Diese Eigenthümlichkeit der Haut, dass sie continuirlich in die Zwischenmasse, den eigentlichen Kitt, welcher die Ner - venmasse zusammenhält, übergeht, dass sie in ihrer ganzen250Dreizehnte Vorlesung.Erscheinung eine von den übrigen Bindegewebsbildungen ver - schiedene Masse repräsentirt, hat mich veranlasst, ihr einen neuen Namen beizulegen, den der Neuroglia (Nervenkitt). Die Ansicht, dass es sich um eine Bindegewebsmasse handele, ist in der neueren Zeit von allen Seiten recipirt worden, allein über die Ausdehnung, innerhalb deren man die einzelnen vor - kommenden Gebilde dieser Substanz zuzurechnen hat, sind die Meinungen noch getheilt. Schon als ich meine ersten weiter - gehenden Untersuchungen über diese Theile anstellte, ergab es sich, dass gewisse sternförmige Elemente, welche in der Mitte des Rückenmarks, im Umfang des nachher genauer constatirten Centralkanals, in dem von mir sogenannten centralen Epen - dymfaden vorkommen und welche bis dahin als Nervenzellen be - trachtet worden waren, unzweifelhaft der Neuroglia angehörten. Es ist dann späterhin, namentlich durch die Dorpater Schule unter Bidder, eine Reihe von Untersuchungen publicirt wor - den, in denen man eine grosse Zahl von Zellen des Rücken - marks diesem Bindegewebe zugerechnet hat. Bidder selbst fasste zuletzt alle Zellen, welche in der hinteren Hälfte des Rückenmarks vorkommen, also auch die von Ihnen eben ge - sehenen sympathischen und sensitiven Zellen als Bindegewebs - körper auf. Auf der anderen Seite dagegen hat noch Jacu - bowitsch geläugnet, dass überhaupt im Hirn oder Rücken - mark irgendwo zellige Theile des Bindegewebes vorkommen; das freilich auch von ihm als Bindesubstanz aufgefasste Zwischen - gewebe sei eine ganz amorphe, fein granulirte oder netzartige Masse, welche durchaus nirgend körperliche Theile mit sich führe. Innerhalb dieser Extreme, so glaube ich, ist es in der That empirisch vollkommen gerechtfertigt, die Mitte zu halten. Es kann, meiner Ueberzeugung nach, nicht bezweifelt werden, dass die grossen Elemente, welche in dem Rückenmark die hinteren Hörner durchsetzen, Nervenzellen sind, allein auf der anderen Seite muss ebenso bestimmt behauptet werden, dass, wo Neuroglia vorkommt, sie auch eine gewisse Zahl von zel - ligen Elementen enthält. An der Oberfläche der Hirnventrikel kommen gewöhnlich der Oberfläche parallel liegende Spindel - zellen vor, ähnlich, wie man sie in anderen Bindegewebsarten findet; diese werden unter Umständen grösser, und geben sich,251Neuroglia.wenn man schräge Schnitte macht, oft als sternförmige Ele - mente zu erkennen (Fig. 94.)
Ein ganz ähnlicher Bau, wie wir ihn früher vom Binde - gewebe kennen gelernt haben, insbesondere ähnliche Elemente finden sich auch zwischen den Nervenfasern des Grosshirns vor, aber sie sind so weich und gebrechlich, dass man meist nur Kerne wahr - nimmt, die in gewissen Abständen in der Masse zerstreut sind. Wenn
man aber genau sucht, so kann man auch an frischen Objecten einzelne weiche zellige Körper erkennen, welche einen feinkörnigen Inhalt und grosse, granulirte Kerne mit Kernkörperchen besitzen und als rundliche, oder linsenförmige Gebilde in einer allerdings nicht sehr beträcht - lichen Menge zwischen den Nerven-Elementen liegen. An ge - wissen Stellen ist es freilich bis jetzt unmöglich gewesen, eine scharfe Grenze zu ziehen zwischen den beiden Geweben, so na - mentlich an der Oberfläche des kleinen und grossen Gehirnes zwischen den Körnern, welche ich vorher schilderte, die mit grossen Ganglien zusammenhängen, und den Kernen des Bindegewebes. Sobald man die Theile aus dem Zusammen - hange gerissen sieht, so kann man nicht leicht einen Unter - schied machen eine bestimmte Deutung ist nur so lange mög - lich, als man die Theile in ihrer natürlichen Lage übersieht.
Gewiss ist es von erheblicher Wichtigkeit zu wissen, dass in allen nervösen Theilen ausser den eigentlichen Nerven-Ele - menten noch ein zweites Gewebe vorhanden ist, welches sich anschliesst an die grosse Gruppe von Bildungen, welche den ganzen Körper durchziehen, und welche wir in den früheren Vorlesungen als Gewebe der Bindesubstanz kennen gelernt ha - ben. Spricht man von pathologischen oder physiologischen Zuständen des Hirns oder Rückenmarks, so handelt es sich zunächst immer darum, zu zeigen, in wie weit dasjenige Ge - webe, welches getroffen oder erregt ist, welches leidet, nervö -
Elemente der Neuroglia aus der weissen Substanz der Grosshirnhemisphäre des Menschen. a freie Kerne mit Kernkörperchen, b Kerne mit körnigen Resten des bei der Präparation zertrümmerten Zellenparenchyms, c vollständige Zellen. Vergr. 300.
252Dreizehnte Vorlesung.ser Natur oder bloss interstitielle Masse ist. Für die Deutung krankhafter Procezze gewinnen wir von vornherein die wich - tige Scheidung, dass alle die verschiedenen Hirn - und Rücken - marksaffectionen bald mehr interstitiell, bald mehr parenchymatös sein können, und die Erfahrung lehrt, dass gerade das inter - stitielle Gewebe des Hirns und Rückenmarkes einer der häu - figsten Sitze krankhafter Veränderung z. B. der fettigen De - generation ist.
Innerhalb der Neuroglia verlaufen die Gefässe, welche da - her von der Nervenmasse fast überall noch durch ein leichtes Zwischenlager getrennt sind und nicht im unmittelbaren Con - takt mit derselben sich befinden. Die Neuroglia erstreckt sich in der besonders weichen Form, welche sie an den Central - Organen, besonders am Gehirne hat, nur noch auf diejenigen Theile, welche als directe Verlängerungen der Hirnsubstanz betrachtet werden müssen, nämlich auf die höheren Sinnes - nerven. Der Olfactorius, Opticus und Acusticus tragen in sich noch dieselbe Beschaffenheit der Zwischenmasse, während in den übrigen Theilen, selbst schon im Opticus, eine zunehmende Masse eines derberen Gewebes auftritt, welches den ganzen Charakter des Perineuriums annimmt.
Perineurium und Neuroglia sind also äquivalente Theile, nur dass die eine eine weiche, markige, gebrechliche Beschaf - fenheit hat, während das andere sich den bekannten fibrösen Theilen anschliesst. Das Neurilem aber verhält sich zum Pe - rineurium, wie die Hirn - und Rückenmarkshäute zu der Neu - roglia.
Ueberall, wo Neuroglia vorhanden ist, zeigt sich eine ganz besondere Eigenthümlichkeit, welche sich weder chemisch noch physikalisch bis jetzt deuten lässt; überall da besteht die Mög - lichkeit, dass jene eigenthümlichen Körper vorkommen, welche schon durch ihren Bau an die Pflanzenstärke-Körner erinnern, durch ihre chemische Reaction sich aber denselben vollständig an die Seite stellen, die viel discutirten Corpora amylacea (Fig. 95, ca.). Am ausgedehntesten und mächtigsten liegen sie im Ependyma der Ventrikel, desgleichen in dem grossen Hirne und zwar um so reichlicher, je reichlicher die Dicke der Ependymaschicht ist. Man findet sie gewöhn -253Corpora amalycea.lich an manchen Stellen nur vereinzelt, an anderen dagegen nimmt ihre Zahl so sehr zu, dass die ganze Dicke der feinen Schicht davon in einer solchen Weise eingenommen ist, dass es aussieht, als wenn man ein Pflaster vor sich hätte. Die Corpora amylacea treten aber merkwürdiger Weise auch unter pathologischen Verhältnissen häufig in grosser Menge auf, wenn durch eine Störung die Masse der Neuroglia im Verhält - niss zur Nervensubstanz zunimmt, also nach Prozessen der Atrophie. In der Tabes dorsualis, wie man früher sagte, der Atrophie einzelner Rückenmarksstränge, wie wir es jetzt ge - wöhnlich auflösen, findet man in dem Maasse, als die Atrophie fortschreitet, als die Nerven untergehen in gewissen Richtungen, z. B. in den hinteren Strängen, gewöhnlich zunächst an der hinteren Spalte keilförmige Züge, in welchen die bis dahin
weisse Substanz von aussen her grau und durchscheinend wird; es entsteht scheinbar graue Substanz. Das kann fortschreiten, und geht gewöhnlich in der Weise fort, dass der Keil immer höher und höher steigt und zugleich an Breite zunimmt. Hier schwindet nun allmählig die ganze Substanz der markhaltigen Fasern; man findet keine deutlichen Nerven an diesen Stellen mehr; dagegen besteht die ganze Partie gewöhnlich aus einer massenhaften Anhäufung von Neuroglia mit Corpora amylacea.
Nirgends im Körper hat man bis jetzt ein vollständiges Analogon dieser Art von Bildungen gefunden, als, wie gesagt, in denjenigen Theilen, welche als directe Ausstülpungen der Hirnsubstanz erscheinen, in den höheren Sinnesorganen, wo ursprünglich gewisse Quantitäten von Centralnervenmasse in
Durchschnitt des Rückenmarkes bei partieller (lobulärer) grauer oder gelatinöser Atrophie (Degeneration). f Fissura longitudinalis posterior, s, s hintere, m, m vordere Nervenwurzeln, in Verbindung mit der grauen Substanz der Hörner. In A geringere, in B ausgedehnte Atrophie, die sich in den Hintersträngen um die Mittelspalte f, und bei l in den Seitensträngen zeigt. Natürliche Grösse.
254Dreizehnte Vorlesung.die Sinneskapseln eintrat. Noch in der Cochlea, der Retina kommen Bildungen vor, welche sich den Corpora amylacea an - schliessen, obwohl bis jetzt die chemische Reaction nur in dem Ohre gelungen ist.
Isolirt man solche Körper, so zeigen sie in jeder Beziehung eine so vollständige Analogie mit Stärke, dass schon lange, bevor es mir gelang, die Analogie der chemischen Reaction zu finden, Purkinje wegen der morphologischen Aehnlichkeit die Bezeichnung der Corpora amylacea eingeführt hatte. Sie wer - den wissen, dass man von manchen Seiten die chemische Uebereinstimmung bezweifelt hat, namentlich hatte der verstor - bene Heinrich Meckel grosse Bedenken daran, indem er vielmehr eine Beziehung zu Cholesterin annahm. In der neueren Zeit ist selbst von Botanikern vom Fach die Sache untersucht worden, z. B. von Nägeli, und jeder, der sich da - mit genauer beschäftigte, hat bis jetzt dieselbe Ueberzeugung gewonnen. Nägeli erklärte sogar diese Körper für ganz ve - ritable Stärke. Morphologisch erscheinen sie entweder als ganz runde, regelmässig geschichtete Körper, oder das Centrum sitzt etwas seitlich, oder wir haben Zwillingskörper, oder aber die Körper sind mehr homogen, blass, mattglänzend wie fettartige Theile. Behandelt man sie mit Jod, so färben sie sich blassbläulich, graublau, wobei freilich die richtige Concen - tration des Reagens sehr viel ausmacht. Setzt man hinterher Schwefelsäure zu, so bekommt man bei regelrechter Einwir - kung ein schönes Blau, wie es am schönsten bei sehr lang - samer Einwirkung des Reagens eintritt. Wirkt Schwefelsäure stark ein, so erhält man eine violette und schnell eine braun - rothe oder schwärzliche Färbung, welche von der Beschaffen - heit der Nachbartheile sich auf das Entschiedenste unterschei - det, denn diese werden gelb oder höchstens gelbbraun.
Das Leben der einzelnen Theile. Die Einheit der Neuristen. Das Bewusstsein. Die Thätig - keit der einzelnen Theile. Die Erregbarkeit (Reizbarkeit) als allgemeines Kriterium des Lebens. Begriff der Reizung. Partieller Tod, Nekrose. Verrichtung, Ernährung und Bildung als allgemeine Formen der Lebensthätigkeit. Verschie - denheit der Reizbarkeit je nach den Thätigkeiten. Functionelle Reizbarkeit. Nerv, Muskel, Flimmerepithel, Drüsen. Ermüdung und functionelle Restitution. Reizmittel. Specifische Beziehung derselben. Muskelirritabilität. Nutritive Reizbarkeit. Erhaltung und Zerstörung der Elemente. Entzündung: die trübe Schwellung. Niere (Morbus Brightii) und Knorpel. Die neuropathologische Doctrin. Haut, Hornhaut. Die humoralpathologische Doctrin. Parenchymatöses Exsudat und parenchy - matöse Entzündung. Formative Reizung. Vermehrung der Kernkörperchen und Kerne durch Theilung. Vielkernige Elemente: Markzellen und Myeloidgeschwulst. Vergleich der formativen Muskelreizung mit dem Muskelwachsthum. Vermehrung (Neubildung) der Zellen durch Theilung. Die humoral - und neuropathologischen Doctrinen. Entzündliche R〈…〉〈…〉 zung als zusammengesetztes Phänomen. Die neuroparalytische Entzündung (Vagus, Trigeminus).
Ich habe Ihnen, meine Herren, eine etwas lange Uebersicht von der histologischen Einrichtung des Körpers gegeben, um Ihnen den Schluss nahe zu führen, der, meiner Ansicht nach, der Ausgangspunkt für alle weiteren Betrachtungen sein muss, welche über Leben und Lebensthätigkeit angestellt werden können, dass nämlich in allen Theilen des Körpers eine Zer - spaltung in viele kleine Centren stattfindet, und dass nirgend, soweit unsere anatomische Erfahrung reicht, ein einziger Mit - telpunkt existirt, von dem aus die Thätigkeiten des Körpers in256Vierzehnte Vorlesung.einer erkennbaren Weise geleitet werden. Schon nach den all - gemeinen Erfahrungen, die einem Jeden fast von selbst zu - fliessen, ist dies die einzige Deutung, welche zugleich ein Le - ben der einzelnen Theile und ein Leben der Pflanze zulässt und welche uns in den Stand setzt, eine Vergleichung anzu - stellen sowohl zwischen dem Gesammtleben des entwickelten Thieres und dem Einzelleben seiner kleinsten Theile, als auch zwischen dem Ganzen des Pflanzenlebens und dem Leben der einzelnen Pflanzentheile.
Die entgegenstehende Auffassung, welche gerade in diesem Augenblicke mit einer gewissen Energie hervortritt, diejenige, welche im Nervensystem den eigentlichen Mittelpunkt des Le - bens sieht, hat die überaus grosse Schwierigkeit vor sich, dass sie in demselben Apparate, in welchen sie die Einheit verlegt, dieselbe Zerspaltung in viele einzelne Centren wiederfindet, welche der übrige Körper darbietet, und dass sie nirgends im Nervensysteme einen wirklichen Mittelpunkt zeigen kann, von welchem, wie von einem bestimmenden, alle Theile beherrscht würden.
Man hat allerdings gut reden, dass das Nervensystem die eigentliche Einheit des Körpers darstelle, insofern allerdings kein anderes System vorhanden ist, welches einer so vollkom - menen Verbreitung durch die verschiedensten peripherischen und inneren Organe sich erfreute. Allein selbst diese weite Verbrei - tung und die vielfachen Verbindungen, die zwischen den ein - zelnen Theilen des Nervenapparates bestehen, sind keinesweges geeignet, um dieses als Centrum aller organischen Thätigkeiten erscheinen zu lassen. Wir haben im Nervenapparate bestimmte kleine zellige Organe gefunden, welche als die Mittelpunkte der Bewegung dienen, aber wir finden nicht ein Ganglion, von welchem alle Bewegung in letzter Instanz ausginge, sondern unzählige solcher Ganglien. Die verschiedensten einzelnen mo - torischen Apparate stehen auch mit den verschiedensten einzel - nen motorischen Ganglien in Beziehung. — Allerdings sammeln sich die Empfindungen an bestimmten Ganglien, allein auch hier finden wir kein Ganglion, welches etwa als Centrum aller Empfindung bezeichnet werden könnte, sondern wieder sehr viele kleinste Centren. Alle Thätigkeiten, welche vom Nerven -257Die Einheit der Neuropathologie.system ausgehen, und gewiss sind es sehr viele, lassen uns nirgend anders eine Einheit erkennen, als in unserem eigenen Bewusstsein; eine anatomische oder physiologische Einheit ist wenigstens bis jetzt nirgends nachweisbar gewesen. Wollte man wirklich das Nervensystem mit seinen einzelnen zahlrei - chen Centren als Mittelpunkt aller organischen Thätigkeiten bezeichnen, so würde man damit nicht gewonnen haben, was man eigentlich sucht, die wirkliche Einheit. Macht man sich die Schwierigkeiten klar, die einer solchen Einheit entgegen - stehen, so kann es kaum zweifelhaft sein, dass wir durch die Phänomene unseres Ichs immerfort irre geführt werden in der Deutung der organischen Vorgänge. Wir, die wir uns als etwas Einfaches und Einheitliches fühlen, wir gehen allerdings immer davon aus, dass von diesem selben Einheitlichen Alles bestimmt werden müsste. Wenn Sie aber die Entwicklung einer bestimmten Pflanze von ihrem ersten Keime bis zur höch - sten Entfaltung verfolgen, so treffen Sie eine ganz analoge Reihe von Vorgängen, ohne dass wir auch nur vermuthen könnten, es bestände eine solche Einheit, wie wir sie unserem Bewusstsein nach in uns voraussetzen. Niemand ist im Stande gewesen, ein Nervensystem bei den Pflanzen zu sehen; nir - gend hat man gefunden, dass von einem einzigen Punkte aus die ganze entwickelte Pflanze beherrscht werde. Alle heutige Pflanzenphysiologie beruhtauf der Erforschung der Zellenthätigkeit, und wenn man sich immer noch sträubt, dasselbe Prinzip auch in die thierische Oekonomie einzuführen, so ist, wie ich glaube, gar keine andere Schwierigkeit da, als die, dass man die ästhetischen und moralischen Bedenken nicht zu überwinden vermag.
Es kann natürlich hier unsere Sache nicht sein, diese Be - denken zu widerlegen oder zu zeigen, wie sie sich vermitteln liessen; ich habe nur zu zeigen, wie sehr das Pathologische, was uns zunächst interessirt, überall auf dasselbe cellulare Prinzip zurückführt, und wie es überall den einheitlichen Auf - fassungen widerstreitet, welche man vom neuropathologischen Standpunkte aus sucht. Es ist dies im Grunde kein neuer und ungewöhnlicher Gedanke. Wenn man seit Jahrhunderten von einem Leben der einzelnen Theile spricht, wenn man den17258Vierzehnte Vorlesung.Satz zulässt, dass unter krankhaften Verhältnissen ein Abster - ben einzelner Theile, eine Nekrose, ein Brand eintreten kann, während das Ganze noch fortexistirt, so geht daraus hervor, dass etwas von unserer Art zu denken in der allgemeinen Auffassung längst gegeben war. Nur ist man sich darüber nicht vollkommen klar geworden. Spricht man von einem Le - ben der einzelnen Theile, so muss man auch wissen, worin das Leben sich äussert, wodurch es wesentlich charakterisirt ist. Dieses Charakteristicum finden wir in der Thätigkeit, und zwar einer Thätigkeit, zu der jeder einzelne Theil etwas Besonderes beiträgt, je nach seiner Eigenthümlichkeit, inner - halb deren er aber auch immer etwas besitzen muss, wel - ches mit dem Leben der übrigen Theile übereinstimmt: denn sonst würden wir keine Berechtigung haben, das Leben als etwas von einem gemeinschaftlichen Ausgangspunkte Herzulei - tendes zu betrachten.
Diese Aktion, diese Thätigkeit des Lebens geht, so viel wir wenigstens beurtheilen können, nirgends, an keinem ein - zigen Theile durch eine ihm etwa von Anfang an zukommende und ganz in ihm abgeschlossene Ursache vor sich, sondern überall sehen wir, dass eine gewisse Erregung nothwendig ist. Jede Lebensthätigkeit setzt eine Erregung, wenn Sie wol - len, eine Reizung voraus. Daher erscheint uns die Erreg - barkeit der einzelnen Theile als das Kriterium, wonach wir beurtheilen, ob der Theil lebe oder nicht lebe. Ob z. B. ein Nerv lebe oder todt sei, können wir unmittelbar durch seine anatomische Betrachtung nicht erkennen, wir mögen den Ner - ven nun mikroskopisch oder makroskopisch untersuchen. In der äusseren Erscheinung, in den gröberen Einrichtungen, die wir mit unseren Hülfsmitteln entziffern können, darin ist selten die Möglichkeit gegeben, eine solche Unterscheidung zu machen. Ob ein Muskel lebt oder abgestorben ist, können wir sehr we - nig beurtheilen, da wir z. B. die Muskelstructur noch erhalten finden an Theilen, welche schon seit Jahren abgestorben sind. Ich habe in einem Kinde, welches bei einer Extrauterinschwan - gerschaft 30 Jahre im Leibe seiner Mutter gelegen hatte, die Structur der Muskeln so intakt gefunden, wie wenn das Kind eben erst ausgetragen worden wäre. Czermak hat die Theile259Erregbarkeit.von Mumien untersucht und an ihnen eine Reihe von Ge - weben gefunden, welche so vollständig erhalten waren, dass man sehr wohl hätte auf den Schluss kommen können, diese Theile wären aus einem lebenden Körper hergenommen. Der