PRIMS Full-text transcription (HTML)
[I]
Die Entſtehung der Volkswirtſchaft.
Sechs Vorträge
Tübingen, 1893. Verlag der H. Laupp’ſchen Buchhandlung.
[II]

Druck von H. Laupp jr. in Tübingen.

[III]

Meinem hochverehrten Freunde Herrn Dr. Albert E. Fr. Schäffle k. k. öſterr. Miniſter a. D. in alter Treue gewidmet.

[IV][V]

Vorwort.

Die ſechs Vorträge, welche dieſes Bändchen umſchließt, ſind bei verſchiedenen Gelegenheiten, wo ich vor einem nicht ausſchließlich aus Fachgenoſſen beſtehenden Kreiſe zu ſprechen hatte, entſtanden. Sie wollen deshalb nicht wie die Kapitel eines Buches geleſen ſein. Jeder iſt für ſich ſelbſtändig; ja es wiederholen ſich in ihnen bisweilen die gleichen Ge - dankengänge, wenn auch in verſchiedener Beleuchtung.

Dennoch wird man leicht herausfinden, daß die ein - zelnen Stücke innerlich nach Gegenſtand und Methode mit einander zuſammenhängen und einander ergänzen. Der Grundgedanke, welcher alle durchzieht, iſt in dem erſten Vortrage ausgeſprochen, der darum auch den Titel für das Ganze abgeben konnte. Derſelbe iſt, wie kaum geſagt zu werden braucht, hier nicht in der knappen Form abgedruckt, in der er gehalten worden iſt. Möchte er durch die Aus - arbeitung nicht an Ueberſichtlichkeit eingebüßt haben, was er an Genauigkeit und Materialfülle gewonnen hat!

Von den übrigen Vorträgen ſind zwei (II. und V.) bereits früher gedruckt erſchienen, beide in Sammelwerken, von denen das eine nicht in den Buchhandel gekommen,VI das andere wenigſtens den Fachgenoſſen nicht leicht zu - gänglich iſt. Dem Verlangen nach Sonderabzügen dieſer Arbeiten, dem ich ſchon lange nicht mehr habe entſprechen können, glaube ich am beſten durch den Wiederabdruck in einem Zuſammenhange zu genügen, in den ſich beide gut einfügen. Den Vortrag über die ſoziale Gliederung der Frankfurter Bevölkerung im Mittelalter habe ich um ſo lieber hier eingereiht, als er Mitteilungen aus dem II. Bande meines Werkes über die Bevölkerung von Frankfurt a. M. im XIV. und XV. Jahrhundert enthält, deſſen Erſcheinen in nächſter Zeit ſich noch nicht ermöglichen läßt.

Sämtliche Vorträge beherrſcht eine einheitliche Auf - faſſung vom geſetzmäßigen Verlaufe der wirtſchaftsgeſchicht - lichen Entwicklung und eine gleichartige methodiſche Be - handlung des Thatſachenmaterials. In beiden Richtungen gebe ich nichts anderes, als was ich vom Anfang meiner akademiſchen Lehrthätigkeit an vorgetragen habe und was bei fortgeſetzter wiſſenſchaftlicher Arbeit ſich immer mehr in mir befeſtigt und, wie ich hoffe, auch abgeklärt hat. Mit der gegenwärtigen Veröffentlichung komme ich einem von früheren Zuhörern mir öfter ausgeſprochenen Wunſche nach in der Form, die mir zur Zeit allein möglich iſt und deren Unzulänglichkeit ich ſelbſt am lebhafteſten empfinde.

Leipzig, den 18. April 1893.

Karl Bücher.

Inhalt.

  • I. Die Entſtehung der Volkswirtſchaft1
  • II. Die gewerblichen Betriebsſyſteme in ihrer geſchichtlichen Entwickelung79*
  • III. Arbeitsteilung und ſoziale Klaſſenbildung119
  • IV. Die Anfänge des Zeitungsweſens169
  • V. Die ſoziale Gliederung der Frankfurter Bevölkerung im Mittelalter209
  • VI. Die inneren Wanderungen und das Städteweſen in ihrer entwicklungsgeſchichtlichen Bedeutung251

Berichtigung.

  • Seite 208, Zeile 12 iſt wirtſchaftlichen, nicht wiſſen - ſchaftlichen zu leſen.
[1]

I. Die Entſtehung der Volkswirtſchaft.

Vortrag, gehalten beim Antritt des Lehramtes an der Techniſchen Hochſchule zu Karlsruhe den 13. Oktober 1890.

[2][3]

Wer das öffentliche Leben in Deutſchland während der letzten dreißig Jahre mit Aufmerkſamkeit beobachtet hat, dem tritt als eine der auffallendſten Thatſachen die tief - greifende Umwälzung entgegen, welche in den Anſichten über das Verhalten des Staates zum wirtſchaftlichen Leben ein - getreten iſt. Noch bis tief in die ſechziger Jahre hinein beherrſchte die Werke der Gelehrten wie die Zeitungspreſſe, die Denkſchriften der Staatsmänner wie die Reden der Volksvertreter gleichwie ein unantaſtbarer Grundſatz die Meinung, daß der Staat das wirtſchaftliche Leben ſich ſelbſt zu überlaſſen habe, und dieſelbe Anſchauung hatte das Denken breiter Schichten der Bevölkerung gefangen genom - men. Heute gibt es wohl keinen Gebildeten, der nicht an - erkennt, daß dem Staate ernſte und ſchwierige Aufgaben auf dieſem Gebiete obliegen. Mit ſtarker Hand und be - ſonnenem Mute hat namentlich das Deutſche Reich die Löſung dieſer Aufgaben in Angriff genommen, und unter der Ein - wirkung großer wirtſchafts - und ſozialpolitiſcher Maßnahmen, getragen von der Autorität eines gewaltigen Staatsmannes, hat ſich in kurzer Zeit eine Umſtimmung der Geiſter voll - zogen, die vielleicht in der Geſchichte beiſpiellos iſt.

1 *4

Es wäre zu viel geſagt, wenn behauptet werden wollte, daß der Anſtoß zu dieſer bedeutſamen Wandelung von der Wiſſenſchaft gegeben worden ſei. Wohl aber wird nicht im Ernſte beſtritten werden können, daß dieſelbe von der Wiſſen - ſchaft vorbereitet und gefördert worden iſt. Schon ſeit den dreißiger Jahren bemerken wir in der deutſchen National - ökonomie ein Widerſtreben gegen die Konſequenzen, welche aus den Theorien der klaſſiſchen engliſch-franzöſiſchen Volkswirtſchaftslehre für die Wirtſchaftspolitik gezogen wur - den. Was anfangs bloß dunkel gefühlt wurde, gewann all - mählich feſtere Geſtalt in einer neuen Richtung der deutſchen Nationalökonomie, der ſog. hiſtoriſchen Schule, welche gleich - zeitig die methodiſche Grundlage der älteren Wirtſchafts - wiſſenſchaft anfocht und die Allgemeingültigkeit ihrer Lehren für das praktiſche Leben beſtritt. Damit, daß ſie die volks - wirtſchaftlichen Einrichtungen und Erſcheinungen in ihren mancherlei geſchichtlichen Wandelungen zurückverfolgte, ge - langte ſie dazu, die gegenwärtige Wirtſchaftsordnung nur als eine Phaſe in der wirtſchaftlichen Geſamt-Entwickelung der Völker zu begreifen und auch für dieſe den von Smith, Ricardo und ihren Nachfolgern entwickelten Lehren nur be - dingte Geltung zuzuſprechen. Sie machte gegen den extremen Individualismus Front, der ſeit den franzöſiſchen Oekono - miſten des vorigen Jahrhunderts die politiſchen Wiſſen - ſchaften beherrſchte; ſie ſtellt den Lebenszwecken des Ein - zelnen die Zwecke der Geſellſchaft als ſolche von höherer Ordnung gegenüber. Sie ſprach den ökonomiſchen Geſetzen5 den Charakter von Naturgeſetzen ab und ließ ſie nur als ſoziale Geſetze gelten, deren Wirkſamkeit durch die Staats - geſetze modifiziert werden könne und dürfe.

Das Verhältnis der beiden wiſſenſchaftlichen Richtungen in der Nationalökonomie zu einander und das Verhalten jeder von ihnen zur praktiſchen Wirtſchaftspolitik wird in weiten Kreiſen noch immer unrichtig aufgefaßt. Man kann vielfach die Anſicht hören und leſen, die hiſtoriſche Natio - nalökonomie der Deutſchen habe die engliſch-franzöſiſche Wirtſchaftstheorie, den Smithianismus wiſſenſchaftlich vernichtet. Einzelne unvorſichtige Vertreter der hiſtoriſchen Richtung haben dieſe irrtümliche Auffaſſung beſtärkt, indem ſie ſich ſo gebärdeten, als ſeien die Lehrſätze der ſogenannten klaſſiſchen Nationalökonomie nur noch veralteter Plunder, mit dem möglichſt raſch aufgeräumt werden müſſe.

Allein ſo einfach liegen die Dinge doch nicht. Was der Hiſtorismus in der Nationalökonomie will, iſt im Grunde genommen ein ganz anderes wiſſenſchaftliches Ziel als was der Smithianismus wollte. Die hiſtoriſche Richtung will die Nationalökonomie zu einer Lehre von den ökonomiſchen Entwickelungsgeſetzen der Völker umgeſtalten ; der Smithia - nismus dagegen wollte und will die Geſetze des heutigen volkswirtſchaftlichen Lebens ergründen. Das ſind zwei durch - aus verſchiedene Ziele, die ſehr wohl neben einander ver - folgt werden können. Was aber das Verhalten beider zur Volkswirtſchaftspolitik betrifft, jenem Zweige wiſſenſchaft - licher Arbeit, welcher die Grundſätze für das praktiſche6 Handeln in Geſetzgebung und Verwaltung feſtzuſtellen hat, ſo bedingt die Verſchiedenheit der Methode und des For - ſchungsobjektes nicht auch die Verpflichtung auf beſtimmte grundſätzlich von einander abweichende Programme.

Der Smithianismus geht von der methodiſchen Voraus - ſetzung des abſoluten laisser faire aus. Er verfolgt, vor - zugsweiſe deduktiv und pſychologiſch iſolierend, die wirt - ſchaftlichen Handlungen der Menſchen, ſo wie ſie ſich ge - ſtalten würden, wenn der Staat die geſellſchaftlichen Kräfte frei walten ließe und wenn Menſchen und Dinge ohne Reibung und Widerſtand ſich in Raum und Zeit bewegten, keiner anderen Kraft gehorchend als allein dem alles durch - dringenden Prinzip der Wirtſchaftlichkeit. Den Epigonen ſind allerdings faſt unwillkürlich die methodiſchen Voraus - ſetzungen, unter welchen die Väter unſerer Wiſſenſchaft die Sätze und Geſetze der reinen Volkswirtſchaftslehre ent - wickelt hatten, zu prinzipiellen Forderungen für die Volks - wirtſchaftspolitik geworden, und dieſe letztere konnte eine Zeit lang faſt als angewandte Theorie erſcheinen. Allein dieſes Verhalten liegt nicht im Weſen des Smithianismus, ſondern war ein Ergebnis der geſamten politiſch-ſozialen Entwickelung.

Der Hiſtorismus ſteht ſeiner Natur nach der Wirt - ſchaftspolitik eigentlich paſſiv gegenüber. Das Verhalten des Staates zum wirtſchaftlichen Leben iſt für ihn bloß Gegenſtand der Beobachtung. Höchſtens daß er aus dem ſeitherigen Gange der Entwickelung Anhaltspunkte dafür7 gewinnen kann, wie ſie künftig ſich geſtalten werde, daß er in der Gegenwart die Keime und Anſätze neuer organiſa - toriſcher Geſtaltungen aufweiſt und ſie im Zuſammenhang mit der geſellſchaftlichen Geſamtentwickelung zu begreifen ſucht.

Ein beſtimmtes wirtſchaftspolitiſches Programm liegt weder in der einen noch in der anderen Richtung der Wiſſen - ſchaft. Dasſelbe ergibt ſich vielmehr für jeden individuell aus dem Kultur-Ideal, das er ſich gebildet hat. Es iſt in dieſer Beziehung höchſt bezeichnend, daß gerade die wuchtig - ſten Schläge gegen das alte Syſtem der Wirtſchaftspolitik nicht von der ſog. hiſtoriſchen Schule, ſondern von Männern wie Rodbertus, Marx, Schäffle, Wagner ge - führt worden ſind, welche unter den gleichen Vorausſetzungen der Forſchung und mit denſelben Mitteln arbeiteten wie die klaſſiſche Nationalökonomie der Engländer und daß der ganze moderne Sozialismus methodiſch auf dem gleichen wiſſenſchaftlichen Boden ſteht wie das Mancheſtertum.

Gewiß hat auch die hiſtoriſche Richtung ihren Anteil an der im Eingang erwähnten Umſtimmung der öffentlichen Meinung. Dadurch daß ſie die gegenwärtige Wirtſchafts - organiſation als eine hiſtoriſch gewordene nachwies, ſtellte ſie dieſelbe auch für die Zukunft in den Fluß des Ge - ſchehens. Sie zeigte, daß das Staatsgeſetz, welches re - gelnd in das wirtſchaftliche Leben eingreift, nicht eine Verſündigung iſt gegen vermeintliche ewige Geſetze, daß es vor der Geſchichte keine geheiligten Inſtitutionen der Geſellſchaft gibt und daß was hier Beſtand haben ſoll,8 ſeine Zweckmäßigkeit und ſeine Uebereinſtimmung mit den Kultur-Idealen der Zeit erwieſen haben muß. Sie lieferte endlich ein reiches Thatſachenmaterial zur Beurteilung der gegenwärtigen Zuſtände und namentlich ihrer Gebrechen. Dem Einſchreiten des Staates gegen die verderblichen Wir - kungen des ſeitherigen Syſtems war damit die Thüre geöffnet.

Haben wir mit dieſen Andeutungen die praktiſche Be - deutung des Streites zwiſchen der neueren und der älteren Nationalökonomie gekennzeichnet, ſo fragt es ſich nun: worin liegt denn eigentlich der wiſſenſchaftliche Gegenſatz zwiſchen beiden Richtungen? Offenbar kann es ſich nicht um einen bloßen Gegenſatz der Methode handeln, der darin beſchloſſen wäre, daß die eine Richtung pſychologiſch iſolierend und deduktiv ſchließend, die andere morphologiſch beſchreibend und induktiv ordnend zu Werke geht. Vielmehr handelt es ſich zugleich um eine Verſchiedenheit des Forſchungsobjektes, welches für die ältere Nationalökonomie durch die moderne Volkswirtſchaft gebildet wird, für die hiſtoriſche Na - tionalökonomie aber durch die Wirtſchaft des Menſchen - geſchlechts überhaupt in ihrem hiſtoriſchen Ver - laufe. Ja ich möchte ſagen: es handelt ſich ausſchließlich um dieſe Verſchiedenheit der Objekte, während die verſchie - denen Erkenntnismittel beiden Richtungen gemeinſam ſind.

Die heutigen Vertreter der älteren ſyſtematiſchen Schule haben auch immer anerkannt, daß für die wiſſenſchaftliche Erkenntnis der modernen Volkswirtſchaft eine Kombination deduktiver und induktiver Forſchung notwendig iſt. Aber9 auf Seiten der hiſtoriſchen Schule hat man ſich die gleiche Notwendigkeit noch kaum klar gemacht. Man ſcheint hier manchmal ganz zu vergeſſen, daß alle wiſſenſchaftliche Er - kenntnis mit der Feſtſtellung von Begriffen beginnt und daß bloße Formbeſchreibung eines Erſcheinungsgebietes noch nicht das Weſen der Dinge gibt.

Die erſte Frage, welche ſich der Nationalökonom zu ſtellen hat, der die Wirtſchaft eines Volkes in einer weit zurückliegenden Epoche verſtehen will, wird die ſein: Iſt dieſe Wirtſchaft Volkswirtſchaft; ſind ihre Erſcheinungen weſensgleich mit denjenigen unſerer heutigen Verkehrswirt - ſchaft, oder ſind beide weſentlich von einander verſchieden? Dieſe Frage aber kann nur beantwortet werden, wenn man es nicht verſchmäht, die ökonomiſchen Erſcheinungen der Vergangenheit mit denſelben Mitteln der begrifflichen Zer - gliederung, der pſychologiſch-iſolierenden Deduktion zu unter - ſuchen, die ſich an der Wirtſchaft der Gegenwart in den Händen der Meiſter der alten abſtrakten Nationalökonomie ſo glänzend bewährt haben.

Man wird der hiſtoriſchen Schule den Vorwurf nicht erſparen können, daß ſie, anſtatt durch derartige Unter - ſuchungen in das Weſen früherer Wirtſchaftsepochen ein - zudringen, faſt unbeſehen die gewohnten, von den Er - ſcheinungen der modernen Volkswirtſchaft abſtrahierten Kategorien auf die Vergangenheit übertragen, oder daß ſie an den verkehrswirtſchaftlichen Begriffen ſo lange herum - geknetet hat, bis ſie wohl oder übel für alle Wirtſchafts -10 epochen paſſend erſchienen. Ohne Zweifel hat ſie ſich viel - fach damit den Weg zu einer wiſſenſchaftlichen Beherrſchung jener hiſtoriſchen Erſcheinungen verſperrt. Das maſſenhaft zu Tage geförderte wirtſchaftsgeſchichtliche Material iſt darum zu einem guten Teile ein toter Schatz geblieben, der erſt ſeiner wiſſenſchaftlichen Nutzbarmachung harrt.

Nirgends iſt dies deutlicher zu erkennen als an der Art, wie man die Unterſchiede der gegenwärtigen Wirt - ſchaftsweiſe der Kulturvölker von der Wirtſchaft vergangener Epochen oder kulturarmer Völker charakteriſiert. Es ge - ſchieht das durch die Aufſtellung ſogenannter Entwick - lungsſtufen, in deren Bezeichnung man ſchlagwortartig den ganzen Gang der wirtſchaftsgeſchichtlichen Entwickelung zuſammenfaßt.

Die Aufſtellung ſolcher Wirtſchaftsſtufen gehört zu den unentbehrlichen methodiſchen Hülfsmitteln. Sie recht - fertigt ſich dadurch, daß alle wirtſchaftlichen Erſcheinungen und Einrichtungen einer langſamen, oft über Jahrhunderte ſich erſtreckenden Umbildung unterliegen und daß es für den Wirtſchaftshiſtoriker darauf ankommen muß, die Ge - ſamtentwickelung in ihren Hauptphaſen zu erfaſſen, während die ſogenannten Uebergangsperioden, in welchen alle Er - ſcheinungen ſich im Fluſſe befinden, zunächſt unberückſichtigt bleiben müſſen. Denn nur ſo iſt es möglich, die durch - gehenden Züge oder ſagen wir kühn: die Geſetze der Ent - wickelung zu finden.

Alle älteren derartigen Verſuche leiden an dem Uebel -11 ſtande, daß ſie nicht in das Weſen der Dinge hineinführen, ſondern an der Oberfläche haften bleiben.

Am bekannteſten iſt die von Friedrich Liſt zuerſt aufgeſtellte Stufenfolge, welche von der Hauptrichtung der Produktion ausgeht. Sie unterſcheidet fünf aufeinander - folgende Perioden, welche die Völker der gemäßigten Zone bis zum ökonomiſchen Normalzuſtande durchlaufen ſollen: 1. die Periode des Jägerlebens, 2. die Periode des Hir - tenlebens, 3. die Periode des Ackerbaus, 4. die Agri - kultur-Manufakturperiode und 5. die Agrikultur-Manu - faktur-Handelsperiode.

Etwas näher kommt dem Kern der Sache eine andere, von Bruno Hildebrand erſonnene Stufenreihe, welche den Zuſtand des Tauſchverkehrs zum Unterſcheidungsmerk - mal macht. Sie nimmt demgemäß drei Entwickelungsſtufen an: Naturalwirtſchaft, Geldwirtſchaft, Kreditwirtſchaft.

Beide aber ſetzen voraus, daß es zu allen Zeiten, ſo - weit die Geſchichte zurückreicht, bloß vom Urzuſtand ab - geſehen, eine auf der Grundlage des Güteraustauſches ruhende Volkswirtſchaft gegeben habe, nur daß die Formen der Produktion und des Verkehrs zu verſchiedenen Zeiten verſchiedene geweſen ſeien. Sie bezweifeln auch gar nicht, daß die Grunderſcheinungen des wirtſchaftlichen Lebens zu allen Zeiten im weſentlichen gleichartige ſind. Es iſt ihnen nur darum zu thun, nachzuweiſen, daß die verſchiedenen wirtſchaftspolitiſchen Maßregeln früherer Zeiten in der abweichenden Art der Produktion oder des Verkehrs ihre12 Rechtfertigung gefunden hätten und daß auch in der Gegen - wart verſchiedene Zuſtände verſchiedene Maßregeln er - forderten.

Noch die neueſten zuſammenhängenden Darſtellungen der Volkswirtſchaftslehre, welche aus den Kreiſen der hi - ſtoriſchen Schule hervorgegangen ſind, beruhigen ſich bei dieſer Auffaſſung, obwohl dieſelbe kaum weſentlich höher ſteht als die bei den älteren Nationalökonomen der Eng - länder beliebten hiſtoriſchen Konſtruktionen. Es ſei mir geſtattet, dies mit wenigen Sätzen zu beweiſen.

Der Zuſtand, auf welchen Adam Smith und Ri - cardo die ältere Theorie begründet haben, iſt derjenige der arbeitsteiligen Verkehrswirtſchaft, oder ſagen wir lieber gleich der Volkswirtſchaft im eigentlichen Sinne des Wortes. Es iſt das derjenige Zuſtand, bei welchem jeder Einzelne nicht die Güter erzeugt, welche er braucht, ſondern diejenigen, welche (nach ſeiner Meinung) andere brauchen, um dafür durch Tauſch alle die mannigfachen Dinge zu erwerben, deren er ſelbſt bedarf, oder kürzer geſagt: der - jenige Zuſtand, bei welchem das Zuſammenwirken Vieler oder Aller erforderlich iſt, um den Einzelnen zu verſorgen. Die engliſche Nationalökonomie iſt darum im weſentlichen Verkehrstheorie. Die Erſcheinungen und Geſetze der Arbeitsteilung, des Kapitals, des Preiſes, des Arbeitslohnes, der Grundrente, des Kapitalprofits bilden ihren Haupt - inhalt. Die ganze Lehre von der Produktion, namentlich aber von der Konſumtion wird ſtiefmütterlich behandelt. 13Alle Aufmerkſamkeit konzentriert ſich auf die Güterzirku - lation, in welche auch die Güterverteilung einbegriffen wird.

Daß es einmal einen Zuſtand ohne Verkehr gegeben haben könne, kommt ihnen nicht in den Sinn; wo ſie einen ſolchen als methodiſchen Behelf gebrauchen, greifen ſie zu der von den Neueren ſo viel verſpotteten Fiktion der Ro - binſonade. Gewöhnlich aber leiten ſie ſelbſt die kompli - zierteſten Verkehrsvorgänge direkt aus dem Urzuſtande ab1)Aehnlich freilich ſchon die Phyſiokraten. Vgl. Turgot, - flexions § 2 ff.. Adam Smith läßt dem Menſchen von Natur eine Nei - gung zum Tauſche angeboren ſein und betrachtet ſelbſt die Arbeitsteilung erſt als deren Folge2)Buch I, Kap. 2.. Ricardo be - handelt an verſchiedenen Stellen den Jäger und Fiſcher der Urzeit wie zwei kapitaliſtiſche Unternehmer. Er läßt ſie Arbeitslohn zahlen und Kapitalprofit machen; er erörtert das Steigen und Fallen ihrer Produktionskoſten und des Preiſes ihrer Produkte. Um auch einen hervorragenden Deutſchen dieſer Richtung zu nennen, ſo geht Thünen bei ſeiner Konſtruktion des iſolierten Staates ganz von den Vorausſetzungen der Verkehrswirtſchaft aus. Selbſt die entfernteſte Zone, welche noch nicht die Stufe des Ackerbaus erreicht hat, wirtſchaftet lediglich mit Rückſicht auf den Ab - ſatz ihrer Produkte in der Zentralſtadt.

Wie weit derartige rationaliſtiſche Konſtruktionen von den thatſächlichen Wirtſchaftsverhältniſſen primitiver Völker abweichen, hätte die hiſtoriſche und ethnographiſche Forſchung14 längſt ſehen müſſen, wenn ſie nicht ſelbſt in den Vorſtellungen der modernen Verkehrswirtſchaft befangen geweſen wäre und dieſe auch auf die Vergangenheit übertragen hätte. Ein eindringendes Studium, das den Lebensbedingungen der Vergangenheit wirklich gerecht wird und die Erſcheinungen nicht mit dem Maßſtabe der Gegenwart mißt, muß zu dem Reſultate gelangen, daß die Volkswirtſchaft das Produkt einer Jahrtauſende langen hiſto - riſchen Entwickelung iſt, das nicht älter iſt als der moderne Staat, daß vor ihrer Ent - ſtehung die Menſchheit große Zeiträume hin - durch ohne Tauſchverkehr oder unter For - men des Austauſches von Produkten und Leiſtungen gewirtſchaftet hat, die als volks - wirtſchaftliche nicht bezeichnet werden können.

Wollen wir dieſe ganze Entwickelung unter einem Ge - ſichtspunkte begreifen, ſo kann dies nur ein Geſichtspunkt ſein, der mitten hinein führt in die weſentlichen Erſchei - nungen der Volkswirtſchaft, der uns aber auch zugleich das organiſatoriſche Moment der früheren Wirtſchaftsſtufen auf - ſchließt. Es iſt dies kein anderer als das Verhältnis, in welchem die Produktion der Güter zur Konſumtion derſelben ſteht, oder genauer: die Länge des Weges, welchen die Güter vom Produzenten bis zum Konſumenten zurücklegen. Unter dieſem Geſichtspunkte gelangen wir dazu, die geſamte wirtſchaftliche Entwickelung, wenigſtens für die zentral - und weſteuropäiſchen Völker, wo ſie ſich mit hinreichender15 Genauigkeit hiſtoriſch verfolgen läßt, in drei Perioden zu teilen:

1. die Periode der geſchloſſenen Haus - wirtſchaft (reine Eigenproduktion, tauſchloſe Wirtſchaft), in welcher die Güter in derſelben Wirtſchaft verbraucht werden, in der ſie entſtanden ſind;

2. die Periode der Stadtwirtſchaft (Kun - denproduktion oder Periode des direkten Austauſches), in welcher die Güter aus der produzierenden Wirtſchaft un - mittelbar in die konſumierende übergehen;

3. die Periode der Volkswirtſchaft (Waren - produktion, Periode des Güterumlaufes), in welcher die Güter in der Regel eine Reihe von Wirtſchaften paſſieren müſſen, ehe ſie zum Verbrauch gelangen.

Wir wollen, ſoweit dies im engen Rahmen eines Vor - trags möglich iſt, dieſe drei Wirtſchaftsſtufen zu kennzeichnen verſuchen und zwar ſo, daß wir jede in ihrer typiſchen Reinheit zu erfaſſen ſtreben, ohne uns durch das zufällige Auftreten von Uebergangsbildungen oder von einzelnen Er - ſcheinungen beirren zu laſſen, die als Nachbleibſel früherer oder Vorläufer ſpäterer Zuſtände in eine Periode hinein - ragen und in ihr etwa hiſtoriſch nachgewieſen werden können. Nur wenn wir ſo verfahren, ſind wir im Stande, die tief - greifenden Unterſchiede der drei Stufen und die einer jeden eigentümlichen Erſcheinungen uns klar zum Bewußtſein zu bringen.

Die Periode der geſchloſſenen Hauswirtſchaft16 reicht von den Anfängen der Kultur bis in das Mittelalter hinein (etwa bis zum Beginn des zweiten Jahrtauſends unſerer Zeitrechnung). Sie kennzeichnet ſich, wie bereits angedeutet, dadurch, daß der ganze Kreislauf der Wirt - ſchaft von der Produktion bis zur Konſumtion ſich im ge - ſchloſſenen Kreiſe des Hauſes (der Familie, des Geſchlechts) vollzieht. Jedem Hauſe iſt Art und Maß ſeiner Produktion durch den Konſumtionsbedarf der Hausangehörigen vorge - ſchrieben. Jedes Produkt durchläuft ſeinen ganzen Werde - gang von der Gewinnung des Rohſtoffes bis zur Genuß - reife in der gleichen Wirtſchaft und geht ohne Zwiſchen - ſtufe in den Konſum über. Gütererzeugung und Güter - verbrauch fließen in einander über; ſie bilden einen einzigen ununterbrochenen und ununterſcheidbaren Prozeß, und ebenſo iſt es nicht möglich, Erwerbswirtſchaft und Haushalt von einander zu trennen. Der Erwerb jeder gemeinſam wirt - ſchaftenden Menſchengruppe iſt eins mit dem Produkt ihrer Arbeit, und dieſes iſt wieder eins mit ihrer Bedarfsdeckung, ihrem Konſum.

Der Tauſch iſt urſprünglich ganz unbekannt. Der primitive Menſch, weit entfernt eine angeborene Neigung zum Tauſchen zu beſitzen, hat im Gegenteile eine Ab - neigung gegen dasſelbe. Tauſchen und täuſchen iſt in der älteren Sprache eins. Es gibt keinen allgemein aner - kannten Wertmaßſtab. Man muß deshalb fürchten, im Tauſche betrogen zu werden. Außerdem iſt das Arbeitsprodukt ſo - zuſagen ein Teil des Menſchen, der es erzeugt hat. Wer17 es einem anderen überläßt, entäußert ſich eines Teiles ſeiner ſelbſt und gibt den böſen Mächten Gewalt über ſich. Bis tief in das Mittelalter hinein iſt der Tauſch unter den Schutz der Oeffentlichkeit, des Abſchluſſes vor Zeugen, der Anwendung ſymboliſcher Formeln geſtellt.

Eine ſolche autonome Wirtſchaft iſt zunächſt abhängig von dem Boden, über welchen ſie verfügt. Mag der Wirt als Jäger oder Fiſcher die freiwillig von der Natur dargebotenen Gaben okkupieren, mag er als Nomade mit ſeinen Herden wandern, mag er den Acker bauen, immer wird ſein Arbeiten und Sorgen durch das Stückchen Erde beſtimmt werden, das er ſich unterthan gemacht hat. Und je weiter er an Einſicht und techniſchem Geſchick voran - ſchreitet, je planvoller und reicher ſich ſeine Bedürfnisbe - friedigung geſtaltet, um ſo größer wird dieſe Abhängigkeit, ſodaß der Boden ſchließlich ſich den Menſchen unterwirft, der über ihn zu herrſchen geboren iſt. Man hat dies wohl als Verdinglichung bezeichnet; wir dürfen uns an dieſer Stelle damit begnügen, feſtzuſtellen, daß auf dieſer Ent - wickelungsſtufe nur der eine eigene Wirtſchaft zu führen im Stande iſt, der aus eigenem Rechte über den Boden verfügt. Wer nicht in dieſer Lage iſt, kann ſeine Exiſtenz nur friſten, wenn er zum Knechte des Grundeigentümers wird.

In der geſchloſſenen Hauswirtſchaft haben die Haus - genoſſen nicht bloß dem Boden ſeine Gaben abzugewinnen; ſie müſſen auch alle dabei nötigen Werkzeuge und Geräte mit eigener Arbeit herſtellen; ſie müſſen endlich die Roh -Bücher, Die Entſtehung der Volkswirtſchaft. 218produkte durch Veredelung und Umformung zum Gebrauche geſchickt machen. Dies alles erfordert eine ausgebreitete techniſche Arbeitsgeſchicklichkeit, eine Vielſeitig - keit des Könnens und Verſtehens, von der ſich der Kultur - menſch der Neuzeit ſchwer eine rechte Vorſtellung macht. Für die einzelnen Glieder der autonom wirtſchaftenden Haus - gemeinſchaft kann der Umfang dieſer Arbeitsgeſchicklichkeit nur vermindert werden, wenn ſie die Arbeit unter einander nach Alter und Geſchlecht, nach individueller Kraft und Anlage verteilen können.

Eine ſolche Arbeitsverteilung wird ſich in der Regel an die innere Struktur der Familie anlehnen, ſowie dieſelbe durch Natur, Sitte und Recht gegeben iſt. Immer - hin würde ſie der Erweiterung des Bedürfniskreiſes und dem Reichtum der Güterverſorgung nur geringen Spiel - raum gewähren, wenn die Familie unſerer heutigen Familie ähnlich organiſiert wäre, d. h. ſich auf ein Ehepaar mit Kindern und etwa noch Dienſtboten beſchränkte; ſie würde auch ſehr geringe Haltbarkeit und Entwickelungsfähigkeit beſitzen, wenn in der Familie das Individuum eine ähnlich ſelbſtändige Exiſtenz zu führen im Stande wäre wie in der Gegenwart.

Allein von dieſer Art ſind die Familien bei primitiven Völkern nicht. Nach den ſchönen Unterſuchungen Mor - gan’s bilden ſie gewöhnlich größere aus mehreren Gene - rationen blutsverwandter Perſonen beſtehende Gruppen (Geſchlechter, Sippen, gentes, Clans, Hausgemeinſchaften),19 die anfangs nach dem Mutterrecht, ſpäter nach dem Vater - recht organiſiert ſind, gemeinſames Eigentum haben, ge - meinſame Wirtſchaft führen und einen gemeinſamen Rechts - ſchutzverband bilden. Der Menſch außerhalb der Geſchlechts - verbindung iſt vogelfrei; er hat keine rechtliche und wirt - ſchaftliche Exiſtenz, keine Hülfe in der Not, keinen Rächer, wenn er erſchlagen wird, kein Grabgeleite, wenn er zur letzten Ruhe eingeht.

Dieſe Familienverfaſſung findet ſich regelmäßig bei Jäger - und Hirtenvölkern; aber auch wo mit dem Fort - ſchritte des Ackerbaus feſte Niederlaſſung notwendig wird, erfolgt dieſelbe gewöhnlich in der Weiſe, daß die Geſchlechts - genoſſen zuſammen große Gemeinſchaftshäuſer, Höfe, Dörfer gründen. Im geſicherten Beſitze des Bodens lockert ſich der Gemeinſinn; es ſcheiden ſich wohl aus dem großen Verbande engere patriarchale Hausgemeinſchaften mit ge - ringerer Perſonenzahl aus, wie ſie noch heute die Zadruga der Südſlaven, die Großfamilie der Ruſſen, der Kaukaſus - völker, der Hindu repräſentieren. Aber noch Jahrhunderte lang beſitzen die Hausgemeinſchaften des Dorfes den Boden im Geſamteigentum, bebauen ihn auch wohl noch eine Zeit lang in gemeinſamer Arbeit, während jedes Haus die Früchte geſondert verbraucht.

In ſolchen größeren Familienverbänden läßt ſich die Arbeitsverteilung in ziemlich weitem Umfange durchführen. Männer und Frauen, Mütter und Kinder, Väter und Groß - väter, jede Gruppe erhält ihre beſondere Rolle in Pro -2 *20duktion und Haushalt, und wo ſich individuelle Geſchick - lichkeit hervorthut, findet ſie in der Bethätigung für die eigene Sippe ihre Aufgabe, aber auch ihre Schranke. Die Gefühle der Brüderlichkeit, der kindlichen Pietät, der Ach - tung vor dem Alter, der Unterordnung und Fügſamkeit ge - langen in ſolcher Gemeinſchaft zur ſchönſten Entfaltung. Wie die Sippe für den Einzelnen das Wergeld zahlt oder eine ihm widerfahrene Unbill rächt, ſo weiht wieder der Einzelne der Sippe ſein ganzes Leben und opfert ihr jede Regung der Selbſtändigkeit.

Und ſelbſt wenn die Stärke dieſer Gefühle nachläßt, tritt nicht ſofort die moderne Einzelfamilie mit voller Son - derwirtſchaft auf. Denn ihre Entſtehung hätte eine Schwä - chung der wirtſchaftlichen Leiſtungsfähigkeit, ein Aufgeben der autonomen Hauswirtſchaft, vielleicht ein Zurückſinken in die Barbarei zur ſichern Folge gehabt. Um dies zu ver - meiden gab es zwei Mittel.

Das eine beſtand darin, daß man für ſolche Wirt - ſchaftsaufgaben, denen die kleiner gewordene Familie nicht mehr gewachſen war, die älteren großen Geſchlechts - oder Stammverbände als lokale Organiſationen fortbeſtehen ließ. Dieſe örtlichen Verbände, welche auf der Grundlage ge - meinſamen Eigentums und gemeinſamer Nutzung desſelben partielle Gemeinwirtſchaften bildeten, konnten unter Um - ſtänden auch Aufgaben übernehmen, deren Wahrnehmung in jedem einzelnen Hauſe zu unwirtſchaftlicher Kräftever - ſchwendung geführt haben würde (z. B. das Hüten des21 Viehes). Aber es gab auch Wirtſchaftsaufgaben, welche nicht alle Sonderhaushalte der lokalen Gruppe gleichmäßig berührten und doch für den Einzelnen zu ſchwer waren. Es ſollte ein Haus oder Schiff gebaut, ein Waldſtück ge - rodet, ein Bach abgeleitet werden; man wollte auf größere Entfernungen hin der Jagd oder dem Fiſchfang obliegen, oder es hatte auch nur die Jahreszeit ein außergewöhnliches Arbeitsbedürfnis für dieſes oder jenes Haus heraufgeführt. In allen ſolchen Fällen bildeten ſich freiwillig temporäre Ar - beitsgemeinſchaften, die nach Erfüllung ihrer Aufgabe wieder verſchwanden. Manches dieſer Art hat ſich ſpäter umge - bildet, anderes iſt erhalten. Ich erinnere an die Arbeits - gemeinſchaften der ſlaviſchen Stämme: das Artell bei den Ruſſen, die Tſcheta oder Družina bei den Bulgaren, die Moba bei den Serben, an die freiwillige gegenſeitige Hülfe - leiſtung unſerer Bauern beim Hausbau, bei der Schafſchur, dem Flachsreffen u. ä.

Wie weit ſolche Einrichtungen immer gehen mögen, derjenige Teil der Bedürfnisbefriedigung, welcher durch ſie beſorgt werden kann, iſt ein verhältnismäßig geringer und beeinträchtigt die wirtſchaftliche Autonomie des einzelnen Hauſes ebenſowenig, wie die bei unſeren Landwirten fort - dauernde Eigenproduktion der Herrſchaft der Tauſchwirt - ſchaft heute Eintrag thut. Auch jene Arbeitsgenoſſen - ſchaften , wie ſie Schmoller genannt hat, ſind keine Unternehmungen ſondern Veranſtaltungen zur unmittelbaren Bedarfsbefriedigung. Man hilft heute dieſem, morgen jenem22 der Teilnehmer oder verteilt das Ergebnis gemeinſamer Ar - beit zum ſonderwirtſchaftlichen Verbrauch. Ein ſpeziell ent - geltlicher Tauſch findet nirgends ſtatt. Ja ſelbſt dort nicht, wo, wie in der indiſchen Dorfgemeinſchaft, eine Anzahl ge - werblicher Arbeiter als Gemeindefunktionäre, ähnlich unſeren Dorfhirten, ſich einſtellt. Sie arbeiten für alle und werden dafür von allen ernährt.

Das andere Mittel, um die Nachteile der Auflöſung der Geſchlechtsverbindung zu vermeiden, beſtand darin, daß man künſtlich den Kreis der Familie erweiterte, bezw. weit erhielt. Es geſchah dies durch Aufnahme und Eingliederung fremder (nicht blutsverwandter) Elemente. So entſtanden die Inſtitutionen der Sklaverei und der Hörigkeit.

Wir können unentſchieden laſſen, ob die Thatſache, daß man den unterworfenen Feind unfrei machte und ihn zur Arbeit zwang, mehr die Urſache oder die Folge der Auflöſung der älteren Geſchlechtsgemeinſchaft war. Sicher iſt, daß durch ſie ein Mittel gefunden war, um die ge - ſchloſſene Hauswirtſchaft mit der gewohnten Arbeitsgliede - rung aufrecht zu erhalten und zugleich auf dem Wege der Erweiterung und Verfeinerung der Bedürfniſſe voranzu - ſchreiten. Denn nun ließ ſich die Arbeit des Hauſes um ſo mehr ſpezialiſieren, je zahlreicher die zu einem Hauſe gehörigen Sklaven oder Hörigen waren. Es konnten ein - zelne techniſche Verrichtungen, wie das Mahlen des Ge - treides, das Backen, Spinnen, Weben, die Anfertigung von Gerätſchaften, die Beſtellung des Ackers, die Beſorgung23 des Viehes, einzelnen Unfreien für ihr ganzes Leben über - tragen, ſie konnten für dieſen Dienſt beſonders ausgebildet werden. Und je angeſehener das Haus, je reicher der Herr, je größer ſeine Wirtſchaft war, um ſo mannigfaltiger und reicher konnte die Technik der Stoffgewinnung und Stoff - veredelung ſich in ſeiner Wirtſchaft entfalten.

Dieſer Art war die Wirtſchaft der Griechen, der Kar - thager, der Römer. Rodbertus, der das ſchon vor einem Menſchenalter geſehen hat, bezeichnet ſie als Oiken - wirtſchaft, weil der οἶκος, das Haus, die Einheit der wirtſchaftlichen Verfaſſung bedeutet. Der οἶκος iſt nicht bloß die Wohnſtätte, ſondern auch die gemeinſam wirt - ſchaftende Menſchengruppe; ihre Angehörigen ſind die οἰκέται ein Wort, das bezeichnender Weiſe im hiſtoriſchen Sprachgebrauch ſeine Bedeutung auf die Wirtſchaftsſklaven einſchränkt, auf welchen damals die ganze Arbeit des Hauſes laſtete. Einen ähnlichen Sinn hat das römiſche familia: die Geſamtheit der famuli, der Hausſklaven, des Geſindes. Der pater familias iſt der Sklavenherr, in deſſen Händen der ganze Ertrag der Wirtſchaft zuſammenfließt; in der patria potestas iſt die eheherrliche und väterliche Gewalt mit dem Herrenrecht des Sklavenbeſitzers begrifflich ver - ſchmolzen. Kein Hausangehöriger erwirbt für ſich ſondern für den pater familias; gegen jeden übt er die gleiche Ge - walt über Leben und Tod.

In dem Herrenrecht des römiſchen Hausvaters, das ſich gleichmäßig über blutsfremde und blutsverwandte Haus -24 genoſſen erſtreckt, findet die geſchloſſene Hauswirtſchaft eine viel ſtraffere Zuſammenfaſſung und größere Leiſtungsfähig - keit, als in der matriarchalen oder ſelbſt in der älteren pa - triarchalen Sippe, die lediglich aus Blutsverwandten beſtand, möglich war. Alles individuelle Daſein iſt verſchwunden; der Staat, das Recht kennen nur Familiengemeinſchaften, Menſchengruppen; ſie regeln die Verhältniſſe von Haus zu Haus, nicht von Menſch zu Menſch. Um das, was inner - halb des Hauſes geſchieht, kümmern ſie ſich nicht.

Aus der wirtſchaftlichen Autonomie des ſklavenbe - ſitzenden Hauſes erklärt ſich die ganze ſoziale und ein guter Teil der politiſchen Geſchichte des alten Rom. Es gibt keine produktiven Berufsſtände, keine Bauern, keine Hand - werker. Es gibt nur große und kleine Beſitzer, Reiche und Arme. Der Reiche drängt den Armen aus dem Be - ſitze des Grund und Bodens und macht ihn dadurch zum Proletarier. Der beſitzloſe Freie iſt abſolut erwerbsunfähig. Denn es gibt kein Unternehmungskapital, das Arbeit um Lohn kaufte; es gibt keine Induſtrie außerhalb des ge - ſchloſſenen Hauſes. Die artifices der Quellenſchriften ſind keine freien Gewerbetreibenden, ſondern Handwerksſklaven, welche aus den Händen der Acker - und Hirtenſklaven das Korn, die Wolle, das Holz empfangen, um ſie zu Brot, zu Kleidung, zu Geräten zu verarbeiten. Omnia domi nascun - tur, ſagt der reiche Emporkömmling bei Petron zu ſeinen Gäſten: Alles wird bei mir gemacht, es wird nichts ge - kauft. Daher jene koloſſale Latifundienbildung, jene un -25 ermeßlichen Sklavenſcharen, die ſich in den Händen einzelner Beſitzer konzentrierten und unter denen die Arbeitsgliederung eine ſo vielſeitige war, daß ihre Erzeugniſſe und Leiſtungen auch den verwöhnteſten Geſchmack zu befriedigen vermochten.

Der Holländer T. Popma, welcher im 17. Jahr - hundert ein fleißiges Büchlein über die Beſchäftigungen der Sklaven bei den Römern ſchrieb1)Titi Popmae Phrysii de operis servorum liber. Editio novissima. Amstelodami 1672., zählt 146 verſchiedene Funktionsbenennungen dieſer unfreien Arbeiter der reichen römiſchen Häuſer auf. Heute ließe ſich aus Inſchriften dieſe Zahl noch bedeutend vermehren. Man muß ſich in die Einzelheiten dieſer raffinierten Arbeitsgliederung ver - tiefen, um den Umfang und die Leiſtungsfähigkeit jener Rieſenhaushaltungen zu verſtehen, die dem Eigentümer Güter und Leiſtungen unbedingt zur Verfügung ſtellten, wie ſie heute nur die zahlreichen Geſchäfte einer Großſtadt in Ver - bindung mit den Anſtalten der Gemeinde und des Staates zu liefern vermögen. Zugleich aber bot dieſes maſſenhafte Menſcheneigentum ein Mittel zur Vermehrung der großen Vermögen, das ſich nur mit den Rieſenkapitalien der mo - dernen Millionäre vergleichen läßt. Da iſt zunächſt die familia rustica, welche produktiven Zwecken dient: auf jedem Landgut ein Verwalter und Unterverwalter mit einem Stab von Aufſehern und Werkmeiſtern, welche über eine große Schar von Feld - und Weinbergsarbeitern, Hirten und Vieh - wärtern, Küchen - und Hausgeſinde, Spinnerinnen, Webern26 und Weberinnen, Walkern, Schneidern, Zimmerleuten, Schreinern, Metallarbeitern, Arbeitern zum Betrieb der landwirtſchaftlichen Nebengewerbe gebieten. Auf den größeren Gütern iſt jede Arbeitergruppe wieder in Abteilungen von je 10 (decuriae) geteilt, die einem Führer (decurio) unter - ſtellt ſind. Die familia urbana läßt ſich in das Ver - waltungsperſonal, das Perſonal zum inneren und äußeren Dienſt des Hausherrn und der Herrin teilen. Da iſt zu - nächſt der Vermögensverwalter mit dem Kaſſier, den Buch - haltern, Miethäuſerverwaltern, Einkäufern u. dgl. Ueber - nimmt der Herr Staatspachtungen oder treibt er Rhederei - geſchäfte, ſo hält er dafür ein beſonderes unfreies Beamten - und Arbeiterperſonal. Dem inneren Dienſt des Hauſes dienen der Hausverwalter, die Thürſteher, Zimmer - und Saalwärter, Möbelbewahrer, Silberbeſchließer, Garderobiers; über der Verpflegung walten: der Haushofmeiſter, der Keller - meiſter, der Aufſeher der Vorratskammer, in der Küche drängt ſich eine große Schar von Köchen, Heizern, Brot -, Kuchen -, Paſtetenbäckern; beſondere Tafeldecker, Vorſchneider, Vorkoſter, Weinſchenken bedienen die Tafel, bei der eine Schar ſchöner Knaben, Tänzerinnen, Zwerge und Poſſen - reißer die Gäſte amuſieren. Für den perſönlichen Dienſt des Herrn ſind angeſtellt: ein Zeremonienmeiſter, der die Beſucher einführt, verſchiedene Kammerdiener, Badewärter, Salber, Abreiber, Leibchirurgen, Aerzte faſt für jedes Körper - glied, Bartſcheerer, Vorleſer, Privatſekretäre u. dgl. Man hält ſich einen Gelehrten oder Philoſophen zum Hausge -27 brauch, Architekten, Maler, Bildhauer, eine Muſikkapelle; in der Bibliothek ſind Kopiſten, Pergamentglätter, Buch - binder beſchäftigt, durch welche der Bibliothekar die Bücher in eigener Regie des Hauſes herſtellen läßt. Selbſt unfreie Zeitungsſchreiber und Stenographen dürfen in einem vor - nehmen Hauſe nicht fehlen1)Vgl. unten den vierten Vortrag.. Zeigt ſich der Herr in der Oeffentlichkeit, ſo ſchreitet ihm eine große Schar Sklaven voraus (anteambulones), eine andere folgt ihm (pedisequi); der Nomenclator nennt ihm die Namen der Begegnenden, die begrüßt ſein wollen; eigene distributores und tesserarii teilen Beſtechungen unter das Volk aus und geben die Wahlparole ab. Es ſind die Camelots des alten Rom, und was ſie am ſchätzbarſten macht, ſie ſind das Eigentum des vornehmen Strebers, der ſie benutzt. Dieſes politiſche Beeinfluſſungsſyſtem wird ergänzt durch die Veranſtaltung von Schauſpielen, Wagenrennen, Tierkämpfen und Gladia - torenſpielen, für welche beſondere Sklaventruppen abgerichtet werden. Geht der Herr als Statthalter in eine Provinz oder weilt er auf einem ſeiner Landgüter, ſo unterhalten unfreie Kuriere und Briefboten den täglichen Verkehr mit der Hauptſtadt. Und was ſollen wir erſt von dem Sklaven - Hofſtaat der Herrin ſagen, über den Böttiger ein eigenes Buch ( Sabina ) geſchrieben hat, von dem unendlich ſpezia - liſierten Wart - und Erziehungsperſonal der Kinder! Es war eine unglaubliche Menſchenverſchwendung, die hier ge - trieben wurde; ſchließlich aber wurde mittels dieſes viel -28 armigen, durch ein großartiges Züchtungs - und Erziehungs - ſyſtem erhaltenen Organismus der geſchloſſenen Hauswirt - ſchaft die perſönliche Kraft des Sklavenherrn vertauſendfacht, und dieſer Umſtand trug weſentlich dazu bei, die Herrſchaft einer Handvoll Ariſtokraten über eine halbe Welt zu er - möglichen.

Auch der Staat ſelbſt wirtſchaftet nicht anders. In Athen wie in Rom ſind alle unteren Beamten - und Diener - ſtellen mit Sklaven beſetzt. Sklaven bauen die Straßen und Waſſerleitungen, die in eigener Regie ausgeführt wurden, arbeiten in Steinbrüchen und Bergwerken, reinigen die Kloaken; Sklaven ſind die Polizeidiener, Scharfrichter und Gefängnißwärter, die Ausrufer bei Volksverſammlungen, die Austeiler bei den öffentlichen Kornſpenden, die Tempel - und Opferdiener der Prieſterkollegien, die Staatskaſſiere, die Schreiber, die Boten der Magiſtrate; ein Gefolge von Staatsſklaven begleitet jeden Provinzialbeamten oder Feld - herrn nach dem Schauplatz ſeiner Thätigkeit. Die Mittel zur Unterhaltung dieſes Perſonals floſſen in der Haupt - ſache aus den Staatsdomänen, den Tributen der Provinzen (in Athen der Bundesgenoſſen), von denen Cicero ſagt, daß ſie ſind quasi praedia populi Romani, endlich aus gebühren - artigen Abgaben.

Die gleichen Grundzüge zeigt die Wirtſchaft der ro - maniſchen und germaniſchen Völker im früheren Mittelalter. Auch hier führt das Bedürfnis des ökonomiſchen Fortſchritts zu einem weiteren Ausbau der geſchloſſenen Hauswirtſchaft,29 die in jenen großen Hofwirtſchaften ihren Ausdruck fand, welche auf dem ausgedehnten Grundbeſitze der Könige, des Adels und der Kirche mit Leibeigenen und Hörigen be - trieben wurden. Dieſe Fronhofswirtſchaft lehnt ſich in den Einzelheiten vielfach an die Ausgeſtaltung an, welche die Landwirtſchaft des römiſchen Reiches in der ſpäteren Kaiſerzeit durch den Kolonat gefunden hatte. Sie hat aber auch manche Aehnlichkeit mit dem konzentrierten Plantagenbetrieb, wie wir ihn aus der letzten Zeit der römiſchen Republik vorhin geſchildert haben. Aber in einem wichtigen Punkte unterſcheidet ſich dieſe Entwickelung der arbeitsteiligen Großwirtſchaft von der römiſchen. In Rom verſchlingt der große Grundbeſitz den kleinen und erſetzt den Arm des Bauern durch den des Sklaven, um dieſen ſpäter in den Kolonen umzuwandeln. Der wirtſchaftliche Fortſchritt, der in der großen Oikenwirtſchaft liegt, mußte erkauft werden mit der Proletariſierung des freien Bauern - ſtandes. In der Fronhofsverfaſſung des Mittelalters wird der freie Kleingrundbeſitzer zwar dinglich abhängig; aber er wird nicht aus dem Beſitze gedrängt; er bewahrt eine gewiſſe perſönliche und wirtſchaftliche Selbſtändigkeit und nimmt zugleich Teil an der reicheren Güterverſorgung, die im Syſtem der geſchloſſenen Hauswirtſchaft der Großbetrieb gewährleiſtet.

Woher kam das?

Im alten Italien ging der kleine Bauer zu Grunde, weil er gewiſſe öffentliche Laſten, namentlich die Heeres -30 pflicht, nicht tragen konnte, weil Kriegs - und Hungersnöte ihn in die Schuldknechtſchaft und ins Elend trieben. Im germaniſch-romaniſchen Mittelalter ſtellte er aus dem gleichen Grunde ſeine Landſtelle unter den großen Grundherrn und empfieng von dieſem Schutz und Unterſtützung in der Zeit der Not.

Man wird die mittelalterliche Fronhofsverfaſſung am beſten verſtehen, wenn man ſich die Wirtſchaft eines ganzen Dorfes als eine Einheit vorſtellt, deren Mittelpunkt durch den Herrenhof gebildet wird1)Wenn es auch zahlreiche Dörfer gab, deren Bauern verſchie - denen Grundherren verpflichtet waren und zahlreiche Fronhöfe, zu welchen Bauernſtellen aus verſchiedenen Dörfern geſchlagen waren, ſo muß doch der im Texte angenommene Fall als der normale ange - ſehen werden. Wir dürfen dabei nicht vergeſſen, daß das meiſte Quellen - material, das wir über dieſe Dinge beſitzen, ſich auf den Streubeſitz der Klöſter bezieht, für welchen die Fronhöfe die Kryſtalliſationspunkte abgaben, während wir für die Gutshöfe der großen und namentlich der kleinen weltlichen Grundherren aus älterer Zeit faſt kein Material haben. Bei dieſen aber iſt unſer Fall als der regelmäßige anzuſehen, ſoweit die Dörfer durch Anſetzung von Koloniſten um einen Einzelhof entſtanden waren. Für den Zweck unſerer Darſtellung dürfen wir auch die mancherlei Unterſchiede in der rechtlichen Stellung der Zins - und Dienſtpflichtigen, namentlich den Unterſchied von Hof - und Mark - hörigen bei Seite laſſen. Auch die letzteren waren durch das Ober - eigentum des Herrn an der Allmende in den Wirtſchaftsorganismus des Fronhofes hineingezogen. Endlich verkenne ich zwar nicht den Unterſchied zwiſchen der Villenverfaſſung Karls d. Gr. und der ſpäteren Verwaltungsorganiſation der großen Grundherren, meine aber, daß derſelbe die Wirtſchaft des einzelnen Gutshofes nur an der Oberfläche berührt. Für alles Weitere muß auf Maurer, Geſch. der Fron -. In demſelben waltet der31 kleine Grundherr perſönlich, der große durch einen Meier (villicus). Das unmittelbar zum Hofe gehörige Salland wird durch dauernd mit demſelben verbundene Eigenleute bewirtſchaftet, die in den Hofgebäuden Wohnung und Unter - halt empfangen und in vielſeitiger landwirtſchaftlicher und gewerblicher Arbeitsgliederung für die Produktion, den Haushalt und den perſönlichen Dienſt der Herrſchaft Ver - wendung finden. Das Salland liegt im Gemenge mit den Landſtellen einer größeren oder geringeren Zahl grund - höriger Bauern, von denen jeder ſeine Hufe ſelbſtändig bewirtſchaftet, während alle mit dem Hofe den Genuß von Weide, Wald und Waſſer gemein haben. Zugleich aber verpflichtet jede Bauernſtelle ihren Inhaber zur Leiſtung gewiſſer Dienſte und Naturalzinſen an den Hof. Die Dienſte ſind anfangs nach Bedürfnis, ſpäter nach Zeit be - meſſene Arbeiten, ſei es auf dem Felde zur Saat - und Erntezeit, auf der Wieſe, im Weinberg, im Garten, im Walde, ſei es in den Werkſtätten des Hofes oder im Frauen - hauſe deſſelben, wo auch die unfreien Mägde mit Spinnen, Weben, Nähen, Backen, Bierbrauen u. dgl. beſchäftigt wurden. An den Frontagen erhalten die hörigen Arbeiter die Koſt auf dem Hofe, wie die Eigenleute. Auch ſind ſie verpflichtet, die Umzäunung des Hofes und ſeiner Felder im Stande zu halten, für den Hof zu wachen, Botengänge1)höfe, Inama-Sternegg, Die Ausbildung der großen Grund - herrſchaften in Deutſchland und Lamprecht, Deutſches Wirtſchafts - leben im MA., beſonders I, S. 719 ff. verwieſen werden.32 und Frachtfuhren für denſelben zu übernehmen. Die an den Hof abzuliefernden Naturalzinſe beſtehen teils in Land - wirtſchaftsprodukten wie Getreide aller Art, Wolle, Flachs, Honig, Wachs, Wein, Rindvieh, Schweinen, Hühnern, Eiern, teils in zugerichteten Hölzern, die im Markwalde gefällt wurden: Brennholz, Bauholz, Weinbergspfählen, Kienſpänen, Schindeln, Faßdauben, Reifen, teils in Erzeugniſſen des gewerblichen Hausfleißes wie Wollen - und Leinentuch, Socken, Schuhen, Brot, Bier, Tonnen, Tellern, Schüſſeln, Bechern, Eiſen, Keſſeln, Meſſern. Das ſetzt unter den grundhörigen Bauern, wie unter den leibeigenen Knechten der Höfe, eine gewiſſe gewerbliche Spezialiſierung voraus, die ſich erblich mit den betreffenden Hufen verbinden mußte und die natur - gemäß nicht bloß der Wirtſchaft des Herrn, ſondern auch der Güterverſorgung der Hüfner zu Gute gekommen iſt. Zwiſchen Dienſt und Zins ſtehen gemiſchte Leiſtungen, wie das Liefern von Miſt aus des Bauern Hofe auf den herr - ſchaftlichen Acker, die Durchwinterung von Vieh, die Be - wirtung der Gäſte des Fronhofes. Und umgekehrt unter - ſtützte der letztere die Wirtſchaft der Bauern durch das Halten des Faſelviehes, durch die Herſtellung von Fähren, Mühlen und Backöfen für den gemeinen Gebrauch, durch den Schutz, den er allen gewährte gegen Gewaltthat und Rechtsbruch und durch die Beihülfen, die er bei Mißwachs und ſonſtiger Notlage aus ſeinen Vorräten den Bauern zu reichen verpflichtet war.

Wir haben hier einen kleinen Wirtſchaftsorganismus,33 der ſich vollkommen ſelbſt genügt und der eben weil er die ſtraffe Konzentration der römiſchen Sklavenwirtſchaften ver - meidet und die Verwendung unfreier Arbeiter auf das für die Eigenwirtſchaft des Grundherrn im engſten Sinne1)Nach Lamprecht I, 782 wären die Ackerfronden der Hörigen auf die Bewirtſchaftung der Beunden oder gutsherrlichen Bifänge in der Allmende verwendet worden, während die unfreien Hofknechte nur für die Bewirtſchaftung des Sallandes gebraucht wurden. notwendige Maß beſchränkt, im Stande iſt, der Maſſe der Fronarbeiter die Führung einer eigenen Landwirtſchaft für den Hausgebrauch ihrer Familien und damit eine ge - wiſſe perſönliche Unabhängigkeit zu ſichern. Es iſt dies ein ähnlicher Fall kleiner partieller Sonderwirtſchaften innerhalb der geſchloſſenen Hauswirtſchaft, wie er freilich in weit geringerem Umfange auch innerhalb der ſüdſlaviſchen Zadruga für die einzelnen zu einer Hauskommunion ver - einigten Ehepaare vorkommt2)Vgl. Laveleye, Ureigentum, S. 377.. Wo die Hofgenoſſenſchaft mit einer Markgenoſſenſchaft zuſammenfällt, iſt ſie in ge - wiſſem Sinne nach außen wirtſchaftlich abgeſchloſſen durch die Beſtimmungen, welche die Veräußerung von Grund - eigentum und Marknutzungen an Nichtmärker verbieten. Der innere Zuſammenſchluß wird hergeſtellt durch ein eigenes Maß und Gewicht, welches aber nicht für die Sicherung des Tauſchverkehrs, ſondern zur Meſſung der Naturalab - gaben an den Grundherrn dient.

Denn das wird man feſthalten müſſen: das wirt -Bücher, Die Entſtehung der Volkswirtſchaft. 334ſchaftliche Verhältnis zwiſchen Grundherren und Grund - hörigen, ſo ſehr es unter dem allgemeinen Geſichtspunkte von Leiſtung und Gegenleiſtung ſteht, entzieht ſich doch vollſtändig den ökonomiſchen Kategorien, die aus der Tauſch - wirtſchaft hervorgegangen ſind. In dieſer Wirtſchaft gibt es keinen Preis, keinen Arbeitslohn, keinen Pacht - oder Mietzins, keinen Kapitalprofit und demgemäß keine Unter - nehmer und keine Lohnarbeiter. Es ſind wirtſchaftliche Vorgänge und Erſcheinungen eigener Art, denen die hiſto - riſche Nationalökonomie nicht Gewalt anthun darf, nachdem ſie ſo oft beklagt hat, daß ſie ſeiner Zeit von der Juris - prudenz vergewaltigt worden ſind.

In den Händen des Grundherrn ſammeln ſich die Ueberſchüſſe der Fronhofswirtſchaft. Es ſind durchweg Verbrauchsgüter, welche ſich nicht lange aufſpeichern, nicht kapitaliſieren laſſen. Dieſelben werden auf den königlichen Krongütern in der Regel ſo für die Bedürfniſſe des Hof - haltes verwendet, daß der König, mit ſeinem Gefolge von Palatium zu Palatium ziehend, ſie direkt in Anſpruch nimmt; die großen Grundherrſchaften der kirchlichen Kor - porationen und des hohen Adels laſſen dieſelben durch einen organiſierten Transportdienſt der Hörigen nach ihren Zentralſitzen befördern, wo ſie in der Regel ebenfalls in den Konſum übergehen.

Wir haben alſo in dieſer Wirtſchaft doch mancherlei Verkehrserſcheinungen: Maß und Gewicht, Perſonen -, Nach - richten - und Gütertransport, Herbergsweſen, Uebertragung35 von Gütern und Leiſtungen; aber allen fehlt das Cha - rakteriſtiſche des tauſchwirtſchaftlichen Verkehrs: der ſpezielle Rapport jeder einzelnen Leiſtung mit ihrer Gegenleiſtung und die freie Selbſtbeſtimmung der mit einander verkehren - den Sonderwirtſchaften.

So weit ſich nun aber auch durch Eingliederung un - freier oder höriger Arbeit die geſchloſſene Hauswirtſchaft entwickeln mag, eine völlige, für alle Zeiten ausreichende Anpaſſung an das menſchliche Bedarfsleben wird ſie nicht erreichen, nicht einmal in ihren höchſten Ausgeſtaltungen, geſchweige denn in ihren ſchwächeren Bildungen. Hier werden Lücken der Bedarfsdeckung bleiben, dort werden Ueberſchüſſe auftreten, die in der Wirtſchaft, in welcher ſie entſtanden ſind, nicht konſumiert, qualifizierte Arbeits - kräfte, die in ihr nicht völlig ausgenutzt werden können.

Daraus entſpringen wieder neue Verkehrsvorgänge eigener Art. Der Wirt, dem die Ernte mißraten iſt, leiht von dem Nachbar Korn und Stroh bis zur nächſten Ernte, wo er den gleichen Betrag wiedergibt. Wer durch Brand oder Viehſterben heimgeſucht iſt, wird von den anderen unterſtützt mit der ſtillen Vorausſetzung, daß er ihnen im gleichen Falle die gleiche Liebe erweiſen werde. Wer einen Sklaven von beſonderer Geſchicklichkeit hat, leiht ihn dem Nachbar zur Aushülfe, wobei er von dieſem beköſtigt wird, in ähnlicher Weiſe wie man von dem andern ein Pferd, eine Kelter oder Leiter entlehnt. Es iſt ein wechſelſeitiges3 *36Aushelfen; niemand wird ſolche Vorgänge unter die Kate - gorie des Tauſches einreihen wollen.

Endlich aber treten auch eigentliche Tauſchhandlungen auf. Den Uebergang bilden Vorgänge wie die folgenden: der Sklavenherr leiht dem Nachbar ſeinen unfreien Weber oder Zimmermann und empfängt dafür ein Quantum Wein oder Holz, an dem der Nachbar Ueberfluß hat. Oder der unfreie Schuſter oder Schneider wird von der Fronhofs - verwaltung, die ſeine Arbeitskraft nicht voll ausnützen kann, auf einer Landſtelle angeſetzt unter der Bedingung, jährlich eine beſtimmte Zahl Tage auf dem Hofe zu arbeiten. In Zeiten, wo er keine Frontage zu leiſten und auch in der eigenen Wirtſchaft nicht viel zu thun hat, läßt er ſeinen hörigen Genoſſen in den Bauernhäuſern ſeine Kunſt zu Gute kommen, empfängt dort die Koſt und darüber ein Quantum Brot oder Speck für die Seinen. War er früher bloß der Knecht des Herrenhofes, ſo wird er jetzt reihum der Knecht aller, aber für jeden nur eine kurze Zeit1)Ueber die entſprechenden Verhältniſſe in Griechenland und Rom vgl. meine Ausführungen im Handwörterbuch der Staatswiſſen - ſchaften , Bd. III, S. 927. 929 f.. Endlich folgt der eigentliche Naturaltauſch zur gegenſeitigen Ausgleichung von Mangel und Ueberfluß: Korn um Wein, ein Pferd um Getreide, ein Stück Leinentuch um ein paar Schafe. Dieſer Tauſchverkehr erweitert ſich durch das be - ſchränkte Vorkommen mancher Naturgaben und die örtlich gebundene Produktion vielbegehrter Güter. Beſtimmte Ar -37 tikel dieſes Verkehres werden in oft geſchilderter Weiſe zu allgemeinen Tauſchmitteln: Pelze, Wollenzeug, Matten, Vieh, Schmuckgegenſtände, endlich Edelmetall. Es entſteht das Geld; der Hauſierhandel, die Märkte treten auf; es zeigen ſich Spuren entgeltlichen Kreditverkehrs.

Aber dies alles berührt die geſchloſſene Hauswirtſchaft nur an der Oberfläche, und ſo wenig uns auch die ſeit - herige Litteratur über die ältere Geſchichte des Handels und der Märkte an eine richtige Schätzung dieſer Dinge gewöhnt hat, ſo wird doch aufs entſchiedenſte betont werden müſſen, daß weder bei den antiken Völkern noch im früheren Mittelalter die Gegenſtände des täglichen Bedarfs einem regelmäßigen Austauſch unterlagen. Seltene Naturprodukte, gewerbliche Erzeugniſſe von hohem ſpezifiſchem Wert bilden die wenigen Handelsartikel. Gehen ſolche in den allge - meinen Konſum über, wie im Mittelalter Wein, Salz, ge - trocknete Fiſche, Wollenzeug, ſo werden auch Wirtſchaften auftreten müſſen, welche eine Ueberſchußproduktion in dieſen Dingen ſich zur Aufgabe machen, und das wird die weitere Folge haben, daß die anderen Wirtſchaften die Tauſch - aequivalente jener Artikel in einer den Eigenbedarf über - ſteigenden Menge hervorbringen, wie die Nordländer ihre Pelze und ihr Vadhmâl.

Aber die innere Struktur des Wirtſchaftslebens wird dadurch nicht berührt. Anſtoß und Richtung empfängt jede Einzelwirtſchaft nach wie vor durch den Eigenbedarf ihrer Angehörigen; was ſie zur Befriedigung deſſelben ſelbſt38 erzeugen kann, muß ſie hervorbringen. Ihr einziger Re - gulator iſt der Gebrauchswert. Der Landwirt taugt nichts , ſagt der ältere Plinius, der da kauft, was eigene Wirtſchaft ihm gewähren kann , und dieſer Grundſatz iſt noch viele Jahrhunderte nachher in Geltung geblieben.

Man darf ſich durch die Thatſache anſcheinend reichlichen Geldgebrauches in frühen hiſtoriſchen Perioden an der richtigen Auffaſſung dieſer Wirtſchaftsſtufe nicht irre machen laſſen. Geld iſt nicht bloß Tauſchmittel ſondern auch Wert - maß, Zahlmittel und Mittel der Wertaufbewahrung. Zah - lungen aber ergeben ſich maſſenhaft auch abſeiten des Tauſches (Geldbußen, Tribute u. dgl.). Dazu zirkulieren alle älteren Geldarten, lange Zeit ſelbſt das Edelmetall, in der Ge - brauchsform, in der ſie von der einzelnen Wirtſchaft eben - ſowohl zur unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung als zum tauſchmäßigen Erwerb anderer Gebrauchsgüter verwendet werden können. Wo ſie beſonders wertbeſtändig ſind, dienen ſie in hervorragendem Maße der Schatzbildung. Dies gilt namentlich vom Edelmetall, das in günſtigen Zeiten ebenſo raſch die Form roher Prunkgeräte annahm, als es ſie in ungünſtigen wieder verlor. Daß endlich der Wert - meſſerdienſt durch das Metallgeld verſehen werden kann, auch wenn thatſächlich die Umſätze in anderen Gebrauchs - gütern erfolgen, ergibt ſich aus den zahlreichen mittelalter - lichen Urkunden, in denen weit über den hier ins Auge gefaßten Zeitraum hinaus die Preiſe zum Teil in Geld, zum Teil in Pferden, Hunden, Wein, Getreide u. dgl. feſt -39 geſetzt ſind, oder wo es dem Käufer freigeſtellt wird, eine Geldſumme zu zahlen in quo potuerit.

Wenn Lamprecht über das franzöſiſche Wirtſchafts - leben des elften Jahrhunderts ſagt, daß man nur im Not - falle kaufte1)Franzöſ. Wirtſchaftsleben S. 132. Vgl. auch Lamprecht’s Deutſches Wirtſchaftsleben im Mittelalter, II, S. 374 ff., ſo gilt das in der Hauptſache auch vom Ver - kaufe. Der Tauſch iſt ein der geſchloſſenen Hauswirtſchaft fremdes Element, deſſen Eindringen ſie ſo lange und ſo zäh als möglich Widerſtand entgegengeſetzt. Der Kauf iſt regelmäßig Barkauf, an feierliche, ſchwerfällige Formen ge - bunden. Das älteſte römiſche Stadtrecht ſchreibt vor, daß der Kauf vor fünf mannbaren römiſchen Bürgern als Zeugen ſtattzufinden hat: dem Verkäufer wird das Rohkupfer, in welchem der Kaufpreis beſteht, durch einen gelernten Wag - meiſter (libripens) zugewogen; der Käufer ergreift mit ſolennen Worten von der gekauften Sache Beſitz. Man halte damit zuſammen die umſtändliche Symbolik des alten deutſchen Verkehrsrechts, und man wird ſich leicht über - zeugen, daß in der Wirtſchaftsepoche, welche dieſen ſtarren Rechtsformalismus geſchaffen hat, Kauf und Verkauf, Pacht und Miete nicht Geſchäfte des täglichen Lebens ſein konnten. In die innere Ordnung der Einzelwirtſchaft drang dem - gemäß auch der Tauſchwert nicht beſtimmend ein; dieſe kannte nur Bedarfsproduktion und wo ſolche nicht aus - reichte, das Geſchenk, die freiwillige Gabe, nötigenfalls auch den Raub. Die Ausbildung der Gaſtfreundſchaft, die Legiti -40 mierung des Bettelns, die Verbindung des Nomadenlebens und des älteſten Seehandels mit dem Raub, die außer - ordentliche Verbreitung des Feld - und Viehdiebſtahls bei rohen Ackerbauvölkern ſind darum gewöhnliche Begleiterſcheinungen der geſchloſſenen Hauswirtſchaft.

Nach dem Geſagten wird es klar geworden ſein, daß bei dieſer Art der Bedürfnisbefriedigung die weſentlichen wirtſchaftlichen Erſcheinungen ſich verſchieden geſtalten müſſen von den Erſcheinungen der modernen Volkswirtſchaft. Be - dürfnis, Arbeit, Produktion, Produktionsmittel, Produkt, Gebrauchsvorrat, Gebrauchswert, Konſumtion: das ſind die wenigen Begriffe, die im regulären Gang der Dinge den ökonomiſchen Erſcheinungskreis erſchöpfen. Es gibt keine volkswirtſchaftliche Arbeitsteilung und darum keine Berufs - ſtände, keine Unternehmungen, kein Kapital im Sinne eines zu Erwerbszwecken dienenden Gütervorrats. Die Kategorien Induſtrie - und Handelskapital, Leih - und Nutzkapital ſind ganz ausgeſchloſſen. Will man den Ausdruck Kapital nach verbreiteter Uebung auf Produktionsmittel ſchlechthin an - wenden, ſo muß man ihn jedenfalls auf Werkzeuge und Geräte (das ſog. ſtehende Kapital) beſchränken. Was man in der neueren Theorie als umlaufendes Kapital zu be - zeichnen pflegt, iſt in der geſchloſſenen Hauswirtſchaft ledig - lich Gebrauchsvermögen, das der Genußreife entgegen geht: unfertiges oder halbfertiges Produkt. Es gibt im regel - mäßigen Verlauf der Wirtſchaft auch keine Waren, keinen Preis, keinen Güterumlauf, keine Einkommensverteilung41 und demgemäß keinen Arbeitslohn, keinen Unternehmer - gewinn, keinen Zins als beſondere Einkommensarten1)Für die meiſten hier angeführten Begriffe fehlt es in der griechiſchen und lateiniſchen Sprache an Ausdrücken. Sie müſſen ent - weder umſchrieben oder mit ſehr allgemeinen Worten bezeichnet werden. Das gilt zunächſt ſchon von dem Begriff Einkommen. Das la - teiniſche reditus bezeichnet das, was vom Acker zurückkommt. Einer ähnlichen Uebertragung bedient ſich Tacitus Ann. IV, 6, 3, wenn er die Staatseinkünfte als fructus publici bezeichnet. Man vergleiche damit die zahlreichen, fein unterſcheidenden Ausdrücke für den Begriff Vermögen! Merces heißt ſowohl Lohn als Pachtzins, Miet - zins, Kapitalzins, Preis. Aehnlich das griechiſche μισϑός. Für die Ausdrücke Beruf, Geſchäft, Unternehmung, Gewerbe haben beide klaſſiſche Sprachen nichts Entſprechendes.. Nur die Grundrente beginnt bereits ſich aus dem Bodenertrage abzuſcheiden, erſcheint aber noch nirgends rein, ſondern mit anderen Einkommenselementen vermiſcht.

Vielleicht iſt es aber unangebracht, auf dieſer Stufe überhaupt von Einkommen zu ſprechen. Was wir Ein - kommen nennen, iſt in der geſchloſſenen Hauswirtſchaft die Summe der Gebrauchsgüter, welche aus derſelben hervor - gehen, der geſamte Wirtſchaftsertrag des Hausherrn. Dieſer Ertrag läßt ſich aber von ſeinem Vermögen um ſo weniger abſcheiden, je mehr die Abhängigkeit der Wirtſchaft von elementaren Zufällen das Anſammeln von Vorräten gebietet. Einkommen und Vermögen bilden eine ununterſcheidbare Maſſe, von der fortwährend ein Teil in der Aufwärts - bewegung zur Genußreife, ein anderer in der Abwärts - bewegung zum Verbrauch ſich befindet, während ein dritter42 in Kaſten und Truhe, in Keller und Speicher als eine Art Verſicherungsfonds lagert.

Zu dem letzteren gehört auch das Geld. Soweit es im Tauſche gebraucht wird, iſt es für den Empfänger in der Regel nicht vorläufiger, ſondern definitiver Gegenwert. Seine Hauptrolle ſpielt es nicht auf dem Boden der Tauſch - vermittlung, ſondern auf dem der Wertaufbewahrung, der Wertmeſſung und Wertübertragung. Darlehen von einer Wirtſchaft an die andere finden zwar ſtatt; aber ſie ſind in der Regel unverzinslich und dienen konſumtiven Zwecken. Der Produktivkredit verträgt ſich mit dieſer Wirtſchafts - weiſe nicht. Wo ſich das verzinsliche Gelddarlehen ein - drängt, erſcheint es als etwas Unnatürliches und zieht, wie man aus der griechiſchen und römiſchen Geſchichte weiß, das Verderben des Schuldners nach ſich. Das kanoniſche Zinsverbot entſprang darum nicht moraltheologiſcher Be - liebung, ſondern ökonomiſcher Notwendigkeit.

Wo ſich eine direkte Staatsſteuer ausgebildet hat, iſt es regelmäßig eine außerordentliche Vermögensſteuer, meiſt von grundſteuerartigem Charakter. So die atheniſche εἰςφορά, das römiſche tributum civium und der mitteralterliche Schoß oder die Bede. Die Idee der Einkommensbeſteuerung, ſo naturgemäß und ſelbſtverſtändlich ſie uns erſcheint, würde für unſere Vorfahren ſchlechterdings unfaßbar geweſen ſein.

Die geſchloſſene Hauswirtſchaft wird durch eine Jahr - hunderte dauernde Umbildung übergeführt in die Wirt -43 ſchaft des direkten Austauſches; an die Stelle der reinen Eigenproduktion tritt die Kundenproduktion. Wir haben dieſe Entwicklungsſtufe als Stadtwirtſchaft be - zeichnet, weil ſie durch die mittelalterlichen Städte in den deutſchen und romaniſchen Ländern in typiſcher Weiſe zum Ausdruck gebracht wird. Es darf aber dabei nicht über - ſehen werden, daß ſich auch bereits im Altertum Anſätze dieſer Entwicklung nachweiſen laſſen und daß dieſelben, freilich in vielfach abweichender Geſtalt, auch ſpäter in den vorgeſchritteneren ſlaviſchen Gebieten aufgetreten ſind.

Das Weſen dieſer Wirtſchaft liegt darin, daß die auf den Anbau des Bodens gegründete Einzelwirtſchaft einen Teil ihrer Selbſtändigkeit verliert, indem ſie nicht mehr im Stande iſt, ihren geſamten Güterbedarf mit eigenen Kräften zu erzeugen und dauernd und regelmäßig der Ergänzung aus den Produkten anderer Wirtſchaften bedarf. Es bilden ſich aber nicht ſofort vom Boden losgelöſte Wirtſchaften, deren Träger etwa die induſtrielle Veredelung von Stoffen für Andere oder die berufsmäßige Leiſtung von Dienſten oder die Beſorgung des Austauſches zur ausſchließlichen Erwerbsquelle machen. Vielmehr ſucht nach wie vor ein jeder Wirt ſoweit als möglich dem Boden ſeinen Unterhalt abzugewinnen; hat er darüber hinaus Bedürfniſſe, ſo be - nutzt er eine beſondere Geſchicklichkeit ſeiner Hand, einen beſonderen Produktionsvorteil ſeines Wohnorts, der in Feld, Wald oder Waſſer ihm entgegentritt, um ein ſpezielles Er - zeugnis im Ueberfluß hervorzubringen: der eine Getreide,44 der andere Wein, der dritte Salz, der vierte Fiſche, ein Fünfter Leinwand oder ein ſonſtiges Produkt des Haus - fleißes. Auf dieſe Weiſe entſtehen einſeitig entwickelte Sonder - wirtſchaften, welche auf den regelmäßigen gegenſeitigen Aus - tauſch ihrer Ueberſchußprodukte angewieſen ſind. Dieſer Austauſch bedarf zunächſt nicht eines organiſierten Handels. Wohl aber bedarf er leichterer Verkehrsformen, als ſie das ältere Recht bot, und dieſe finden ſich durch die Ausbildung des Marktweſens.

Markt iſt das Zuſammentreffen zahlreicher Käufer und Verkäufer an einem beſtimmten Ort zu beſtimmter Zeit. Mag derſelbe ſich an Kultfeſte und ſonſtige Volksverſamm - lungen anſchließen, mag er der günſtigen Verkehrslage eines Ortes ſeine Entſtehung verdanken, immer iſt er eine Ge - legenheit, wo Produzent und Konſument mit ihren ent - gegengeſetzten Tauſchbedürfniſſen einander gegenübertreten, und er iſt das in der Hauptſache bis auf den heutigen Tag geblieben. Der Markt und der ſtehende Handel ſchließen einander aus. Wo es einen Berufsſtand von Kaufleuten gibt, braucht man keine Märkte; wo es Märkte gibt, braucht man keine Kaufleute.

Damit gelangen wir ſofort zur mitteralterlichen Stadt und zu ihrer Stellung in der Wirtſchaftsordnung, die wir als geſchloſſene Stadtwirtſchaft bezeichnet haben.

Die mittelalterliche Stadt iſt in erſter Linie eine Burg, d. h. ein mit Mauern und Gräben befeſtigter Ort, der den Bewohnern der umliegenden offenen Landorte als Zuflucht45 und Schutz dient. Jede Stadt ſetzt alſo das Beſtehen eines Schutzverbandes voraus, der die ländlichen Anſiedelungen eines engeren oder weiteren Umkreiſes zu einer Art mili - täriſcher Gemeinſchaft mit beſtimmten Rechten und Pflichten zuſammenfügt. Alle dieſer Gemeinſchaft angehörenden Orte haben die Verpflichtung, die Befeſtigungswerke der Stadt durch gemeinſame Arbeits - und Geſpannleiſtungen zu unter - halten und im Kriegsfalle mit gewaffneter Hand zu ver - teidigen. Sie haben dafür das Recht, ſich mit Weib und Kind, mit Vieh und Fahrhabe, ſo oft es Not thut, hinter den Mauern zu bergen. Dieſes Recht heißt Burgrecht und der es genießt, iſt ein Burger (burgensis).

Anfangs ſind die dauernden Bewohner der Stadt auch hinſichtlich ihrer Beſchäftigung in keiner Weiſe von den Be - wohnern der Landorte unterſchieden. Sie treiben Land - wirtſchaft und Viehzucht wie dieſe; ſie nutzen Wald und Waſſer und Weide gemeinſam; ihre Wohnungen ſind, wie noch heute an der baulichen Anlage vieler alten Städte zu erſehen, Bauernhöfe mit Scheunen und Stallungen und weiten Hofräumen dazwiſchen. Aber ihr Gemeindeleben erſchöpft ſich nicht in der Regelung der Allmendnutzung und in den ſon - ſtigen landwirtſchaftlichen Intereſſen. Sie ſind ja ſozuſagen als eine ſtehende Beſatzung in die Burg gelegt und haben reih - um auf Türmen und Thoren den täglichen Wachdienſt zu ver - ſehen. Wer in der Stadt ſich dauernd niederlaſſen will, muß darum nicht bloß Grundeigentum (zum mindeſten ein Haus) beſitzen, er muß auch mit Wehr und Harniſch gerüſtet ſein.

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Der Wachdienſt und die durch das Burgrecht gebotene Weitläufigkeit der Stadtanlagen erforderten eine größere Menſchenzahl, und bald reichte die Stadtmarkung nicht mehr aus, ſie zu ernähren. Hier trat nun die vorhin beſchriebene einſeitige Fortbildung der Sonderwirtſchaften ins Mittel: die Stadt wurde der Sitz der Gewerbe und zugleich der Märkte, auf denen der Bauer vom Lande ſeine Ueberſchüſſe abſetzte und dafür erwarb, was er nicht mehr ſelbſt er - zeugen konnte.

Das Burgrecht erfuhr in Folge deſſen eine Erweiterung. Alle, welche es genoſſen, hatten Markt - und Zollfreiheit in der Stadt. Das Recht des freien Kaufs und Verkaufs auf dem ſtädtiſchen Markte iſt alſo urſprünglich ein Ausfluß des Burgrechtes. Damit iſt aus dem militäriſchen Schutz - verband eine territoriale Wirtſchaftsgemeinſchaft geworden, welche auf gegenſeitigem direkten Austauſche landwirtſchaft - licher und gewerblicher Produkte zwiſchen den jedesmaligen Erzeugern und Verbrauchern beruht.

Alle Beſucher eines Marktes erfreuten ſich auf dem Hin - und Rückwege eines beſonders kräftigen königlichen Schutzes, der ſich auch auf den Markt ſelbſt und den ganzen Marktort ausdehnte. Dieſer Marktfrieden hatte die Wirkung, daß die Marktleute für die Dauer ihres Aufenthaltes in der Stadt gegen gerichtliche Verfolgung wegen früher ent - ſtandener Schuldforderungen ſicher geſtellt und daß Schädi - gungen, die ihnen an Leib und Gut zugefügt wurden, als qualifizierte Friedensbrüche mit doppelter Strafe bedroht47 wurden. Die Marktleute heißen allgemein Kaufleute, mercatores, negotiatores, emptores1)Die neuere Litteratur über die Entſtehung der deutſchen Städte - verfaſſung hat die ſehr weite Bedeutung des Wortes Kaufmann überſehen und die zahlloſen Städte, welche auf dem Boden des Deutſchen Reiches gegen Ende des Mittelalters beſtanden, von Köln und Augs - burg bis Medebach und Radolfzell, mit Kaufleuten im modernen Sinne, alſo einem berufsmäßig entwickelten Stande von Händlern bevölkert, die man ſich in der Regel noch als Großhändler vorzuſtellen pflegt. Die ganze Wirtſchaftsgeſchichte empört ſich gegen dieſe Auffaſſung. Womit haben denn dieſe Leute gehandelt und womit haben ſie ihre Waren bezahlt? Und erſt der Sprachgebrauch! Das hervorſtechendſte Merkmal des Berufs-Kaufmanns in ſeinem Verhältnis zum Publikum iſt nicht ſeine Gewohnheit zu kaufen ſondern zu verkaufen. Und doch iſt der mittelalterliche Kaufmann nach dem Kaufen be - nannt! Und doch ſprechen die Urkunden Ottos III. für Dortmund von 990 und 1000 von den emptores Trotmanniae, deren Recht gleich dem von Köln und Mainz für andere Städte als Muſter gelten ſoll, in demſelben Zuſammenhang wie andere Urkunden von den merca - tores oder negotiatores. Wenn 1075 der Abt von Reichenau mit einem Federſtrich die Bauern von Allensbach und ihre Nachkommen in Kaufleute verwandeln kann (ut ipsi et eorum posteri sint mer - catores), ſo iſt keine Interpretationskunſt der Welt im Stande, das zu erklären, wenn man an den berufsmäßigen Händler denkt. Daß in der That unter dem Kaufmann jeder, der mit ſeiner Ware zu Markte ſtand, verſtanden wurde, einerlei ob er ſie ſelbſt produziert oder im Großen gekauft hatte, zeigt z. B. noch eine (ungedruckte) Klärung des Frankfurter Rats von 1420 über den Zoll, den man Marktrecht nannte (im Geſetzbuch No. 3 des Stadtarchivs, Fol. 80). Dort heißt es im Eingang, dieſen Zoll habe zu entrichten: ein iglich kauffmann, der da ſteet uff der ſtraſſen mit ſiner kauffmanſchafft, wilcherley die iſt. Dann folgen in ausführlicher Spezifikation die einzelnen Kaufleute oder die Kaufmannſchaft , die den Zoll zu.

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Da die Bewohner der Stadt ſelbſt vorzugsweiſe darauf angewieſen waren, auf dem Markte zu kaufen und zu ver - kaufen, ſo heftete ſich der Name der Markt - oder Kauf - leute in dem Maße mehr an ſie an, als die Bedeutung des Marktes für ihren Nahrungsſtand zunahm. In demſelben Maße aber dehnte ſich das Zufuhr - und Abſatzgebiet dieſes Marktes weiter in das Land hinein aus. Er fiel nun nicht mehr mit dem Burgrechtsverband zuſammen, deſſen Be - deutung für die Landbevölkerung ohnehin mit der wachſenden Sicherheit des ganzen Landes gegen äußere Einfälle ſich hatte abſchwächen müſſen. Auf der anderen Seite wurde mit der Zunahme der Gewerbe die ganze Stadt, nicht bloß1)tragen hat. Aus der langen Liſte ſeien nur folgende Fälle ausge - hoben: die Altgewänder, die Köche, die Hocken, die Seiler, die Haſel - nüſſe feil haben, die Eier - und Käſekarren, Körbe mit Hühnern, die man auf dem Rücken trägt, Fremde, die über ein Malter Käſe haben, die Flickſchuſter, die Wechſeler, die Bäcker, die unter den Hallen ſtehen, fremde Brotkarren, Gänſe, Wagen mit Wicken, Stroh, Heu, Kohlen, alle, die Leinwand, Flachs, Hanf oder Garn feil haben, die auf der Straße ſtehen. Das ſind alſo in buntem Durcheinander: ſtädtiſche Kleinhändler, Handwerker, Bauern. Daß auf dem Markte Ver - käufer und Käufer als Kaufleute bezeichnet wurden, geht u. a. aus einer Frankfurter Ordnung von c. 1425 über den Vieh-Unterkauf hervor (Stadtarchiv, Eidbuch A No. 12), wo es heißt: Wann die underkeuffere die kaufflude zuſammenbracht han und ſo die umb die kauffmanſchafft zu gebode kommen ſin ꝛc. Es handelt ſich, wie aus dem Zuſammenhang hervorgeht, um Verkäufe von Ochſen, Kühen, Schweinen, Schafen, Geißen zwiſchen Viehzucht treibenden Einwohnern oder dieſen und fremden Bauern. Es ließen ſich noch weitere Stellen anführen, nach denen man ſogar vorzugsweiſe an den Einkäufer gedacht zu haben ſcheint, wenn man vom Kaufmann ſprach.49 der urſprünglich allein dafür beſtimmte abgegrenzte Raum, zum Markte; der Marktfrieden wurde zum Stadtfrieden, und zur Aufrechterhaltung des letzteren wurde die Stadt als beſonderer Gerichtsbezirk aus dem Landrechtsverbande ausgeſchieden. Es bildete ſich der Grundſatz: Städtiſche Luft macht frei , und damit entſtand eine ſozialrechtliche Kluft zwiſchen Bürger und Bauer, die man im XIII. und XIV. Jahrhundert vergebens durch das Aus - und Pfahl - bürgertum zu überbrücken ſuchte. Der Name Bürger be - ſchränkte ſich ſchließlich auf die anſäſſigen Glieder der Stadt - gemeinde, und die Zeit gab dieſem Namen einen rechtlichen und ſittlichen Inhalt, in welchem die Staatsidee der alten Hellenen wieder lebendig geworden zu ſein ſchien.

Uns darf hier weder die Entwicklung der Stadtver - faſſung mit ihrer genoſſenſchaftlich abgeſtuften Selbſtver - waltung noch die politiſche Machtſtellung weiter beſchäftigen, zu welcher die Städte in Deutſchland, Frankreich und Italien im ſpäteren Mittelalter gelangten. Wir haben es nur mit der ausgereiften wirtſchaftlichen Organiſation zu thun, deren Kernpunkte dieſe Städte bildeten.

Wenn wir eine Karte des alten Deutſchen Reiches zur Hand nehmen und auf derſelben die Orte bezeichnen, welchen bis zu Ende des Mittelalters Stadtrecht verliehen worden iſt (es mögen ihrer etwa 3000 geweſen ſein), ſo erblicken wir das ganze Land in Abſtänden von durchſchnittlich 4 5 Wegſtunden im Süden und Weſten, von 7 8 Stunden im Norden und Oſten mit Städten überſäet. Nicht alleBücher, Die Entſtehung der Volkswirtſchaft. 450haben gleiche Bedeutung gehabt; aber die meiſten waren doch zu ihrer Zeit (oder bemühten ſich wenigſtens zu ſein) die Mittelpunkte territorialer Wirtſchaftsgebiete, welche ebenſo ein für ſich abgeſchloſſenes Leben führten wie früher der Fronhof. Um von der Größe dieſer Gebiete eine Vor - ſtellung zu gewinnen, denken wir uns das geſamte Terri - torium gleichmäßig auf die vorhandenen Stadtrechte ver - teilt. Es kommen dann im Südweſten von Deutſchland durchſchnittlich 2 Quadratmeilen auf eine Stadt, im mittleren und nordweſtlichen Deutſchland 3 4, im öſtlichen 5 8. Stellen wir uns die Stadt immer im Mittelpunkte eines ſolchen Gebietsabſchnittes vor, ſo überzeugen wir uns, daß faſt überall in Deutſchland der Bauer aus der ent - fernteſten ländlichen Niederlaſſung den ſtädtiſchen Markt in einem Tage erreichen und am Abend wieder zurück ſein konnte1)Obwohl ſeit dem Mittelalter viele Orte ihr Stadtrecht ver - loren, andere dasſelbe neu gewonnen haben, ſo gibt doch die Zahl der Orte, welche heute noch den Namen Stadt führen eine ungefähr richtige Vorſtellung. Im Durchſchnitt kommen gegenwärtig auf eine Stadt Quadratkilometer: in Baden 132, in Württemberg 134, in Elſaß-Lothringen 137, in Heſſen 118, im Königr. Sachſen 105, in Heſſen-Naſſau 145, in der Rheinprovinz 193, in Weſtfalen 196, in der Provinz Sachſen 175, in Brandenburg 291, im Königr. Bayern 328, in Hannover 341, in Schleswig-Holſtein 350, in Pommern 412, in Weſtpreußen 473 und in Oſtpreußen 552. Das Stadtgründungs - fieber, das im Mittelalter bei vielen Territorialherren beobachtet werden kann, hat lebensunfähige Städte genug ins Daſein gerufen. Bekannt - lich verbietet der Sachſenſpiegel: Man enmuz cheinen markt buwen deme andern einer mîle nah. Weiske III, 66 § 1..

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Das ganze mittelalterliche Marktrecht, wie es in älterer Zeit die Stadtherren, ſpäter die ſtädtiſchen Räte geregelt haben, läuft auf die beiden Grundſätze hinaus, daß ſoweit als irgend möglich öffentlich und aus erſter Hand ge - kauft werden müſſe und daß alles, was in der Stadt ſelbſt produziert werden könne, darin auch produziert werden ſolle. Für einheimiſche Induſtrie - produkte war der Zwiſchenhandel jedermann, auch den Hand - werkern ſelbſt, unterſagt; für die auswärtige Zufuhr war er nur dann geſtattet, wenn dieſelbe bereits zu Markte ge - ſtanden hatte und unverkauft geblieben war. Das Ziel war immer die reichliche und preiswürdige Verſorgung der einheimiſchen Konſumenten und die volle Befriedigung der fremden Kunden des ſtädtiſchen Gewerbes.

Zufuhr - und Abſatzgebiet des ſtädtiſchen Marktes fielen zuſammen. Die Bewohner der Landſchaft brachten Lebens - mittel und Rohſtoffe herein und kauften für den Erlös die Arbeit des ſtädtiſchen Handwerkers, entweder unmittelbar in Geſtalt des Lohnwerks oder mittelbar in Geſtalt fertiger Produkte, die vorher ſtückweiſe beſtellt oder auf dem offenen Markte am Stande des Preiswerkers entnommen wurden1)Vgl. unten S. 97 ff.. Bürger und Bauer ſtanden alſo in einem gegenſeitigen Kundenverhältnis: was der eine erzeugte, brauchte immer wieder der andere, und ein großer Teil dieſes Wechſel - verkehrs vollzog ſich ohne das Dazwiſchentreten des Geldes4 *52oder ſo, daß das Geld nur zur Ausgleichung der Wert - unterſchiede herangezogen wurde.

Das ſtädtiſche Handwerk hatte ein ausſchließliches Abſatzrecht auf dem Markte. Handwerksprodukte aus fremden Städten wurden nur dann zugelaſſen, wenn das betreffende Gewerbe in der Stadt keine Vertreter hatte. Sie pflegten von den auswärtigen Erzeugern an den Jahrmärkten zum Verkauf gebracht zu werden, und an dieſer einen Stelle greifen wohl die verſchiedenen ſtädtiſchen Marktgebiete in einander über. Aber, was das weſentlichſte iſt: der direkte Abſatz des Produzenten an den Konſumenten iſt auch hier gewahrt, und es ſind Ausnahmefälle. War ein Gewerbe in der Stadt nicht vertreten, das ſeinen Mann dort hätte nähren können, ſo berief der Rat einen geſchickten Meiſter von außen und bewog ihn durch Steuererlaß und andere Vorteile zur An - ſiedelung. Brauchte er größeres Anlagekapital, ſo trat die Stadt ſelbſt ins Mittel, baute Werkſtätten und Verkaufs - läden und legte Mühlen, Schleifwerke, Tuchrahmen, Bleichen, Färbehäuſer, Walkmühlen u. dgl. auf ihre Koſten an alles in der Abſicht möglichſte Vielſeitigkeit der Bedürfnis - befriedigung durch einheimiſche Produktion zu gewährleiſten.

Wenn an ſich ſchon der direkte Verkehr des Hand - werkers mit dem Verbraucher ſeiner Erzeugniſſe1)Dieſer wurde hie und da noch dadurch gewährleiſtet, daß nicht einmal die Frau des Handwerkers ihn beim Verkaufe vertreten durfte. Vgl. Gramich, Verf. u. Verw. d. St. Würzburg vom XIII. bis XV. Ih. S. 38 f. das Ge -53 fühl der perſönlichen Verantwortung in dem erſteren rege erhalten mußte, ſo ſuchte man dieſes ethiſche Moment doch noch durch beſondere Maßnahmen zu ſtärken. Das Hand - werk iſt ein Amt, das zum allgemeinen Beſten verwaltet werden muß. Der Meiſter ſoll gerechte Arbeit liefern. Soweit der Handwerker den Kunden noch mit ſeiner per - ſönlichen Arbeitskraft zur Verfügung ſtand, ſetzte man ihm wol eine Taxe für das, was er auf der Stör an Taglohn und Koſt zu beanſpruchen hatte. Wo ihm der Rohſtoff vom Beſteller ins Haus gegeben wurde (z. B. bei Kannen - gießern das Zinn, bei Goldſchmieden das Silber und Gold, bei Webern das Garn), ſorgte man, daß er nicht verfälſcht werde. Wo dagegen der Handwerksmann den Stoff lieferte, waren öffentliche Verkaufsſtellen auf dem Markte, um die Kirchen, an den Thoren, in einzelnen Straßen errichtet, die oft auch als Werkſtätten dienten (Brottiſche, Fleiſchbänke, Gewandhäuſer, Tuchgaden, Kürſchnerlauben, Schuhbänke u. ſ. w.). Es war Marktregel, daß die Verkäufer desſelben Produktes neben einander in gegenſeitigem offenen Wett - bewerb und unter der Ueberwachung der Marktmeiſter und Schaubeamten feil hielten, und dieſe Regel dehnte ſich auch inſofern auf die Handwerker aus, welche bloß in ihren Häuſern auf Beſtellung arbeiteten, als ſie meiſt in der gleichen Straße neben einander wohnten. Daß außerdem die vielfachen Vorſchriften über den zu verwendenden Roh - ſtoff, das Arbeitsverfahren, die Länge und Breite der Tücher54 und direkte Preisregulierung zum Schutze des Konſumenten dienen mußten, iſt bekannt1)Der Kürze halber verweiſe ich für das alles auf Stieda in d. Ihb. f. N. . u. Statiſtik XXVII, S. 91 ff..

Wie der ſtädtiſche Produzent in Stadt und Bannmeile ein ausſchließliches Abſatzrecht auf ſeine Handwerksarbeit, ſo hat der ſtädtiſche Konſument innerhalb dieſes Gebietes ein ausſchließliches Kaufrecht auf die fremde Zufuhr. Das letztere kann freilich nur Wirkung haben, wenn die Zufuhr auch wirklich zu Markte kommt und hier die gehörige Zeit feil ſteht. Damit dies geſchieht, iſt das Stapelrecht ein - geführt, der Vorkauf verboten, der Verkauf an Wieder - verkäufer, Handwerker und Fremde nur geſtattet, nachdem die Konſumenten befriedigt ſind und auch hier gewöhnlich mit der Einſchränkung, daß den letzteren auf Verlangen Anteil gegeben werden muß, endlich die Wiederausfuhr ein - mal eingebrachter Marktgüter unterſagt oder nur nach drei - tägigem vergeblichen Feilhalten geſtattet.

Immer aber waltet gegen den fremden Verkäufer ein tiefgewurzeltes Mißtrauen ob. Dieſem verdankt die eigentümliche Art der Tauſchvermittlung durch obrigkeitliche Unterkäufer, Meſſer und Wäger ihr Daſein. Heute kon - trolliert die Stadt durch Eiche und polizeiliche Reviſionen Maß und Gewicht und überläßt es den Tauſchluſtigen ſelbſt, ſich gegenſeitig zu finden. Im Mittelalter fehlten die techni - ſchen Mittel zur Herſtellung vollkommener Maße und zu deren Sicherung. Wurden doch gewöhnliche Feldſteine (auf55 der Frankfurter Meſſe ſogar Holzklötze noch im XV. Ih.) als Gewichte benutzt. Um dennoch eine ſichere Beſtimmung der ausgetauſchten Gütermengen zu erzielen, entzog man den Beteiligten die Handhabung der Maße und legte ſie in die Hände beſonderer Beamten, deren Heranziehung bei jedem Verkaufe eines Fremden obligatoriſch war. Das Amt der Unterkäufer war es, Käufer und Verkäufer zuſammenzu - bringen, bei der Preisbeſtimmung zu vermitteln, die Ware auf etwaige Fehler zu prüfen, dem Käufer auszuſuchen ſo - viel er gekauft hatte und für die richtige Lieferung beſorgt zu ſein. Eigene Geſchäfte waren dem Unterkäufer verboten; er durfte nicht einmal von dem fremden Verkäufer, den er zu beherbergen pflegte, unverkauft gebliebene Warenreſte bei der Abreiſe erwerben.

Dieſes Syſtem des direkten Austauſches findet ſich bis auf die feinſten Einzelheiten durchgebildet, wenn auch mit manchen lokalen Beſonderheiten, in allen mittelalterlichen Städten. Man muß daraus ſchließen, daß die thatſächlichen Verhältniſſe, denen ſeine Grundgedanken entſprungen ſind, durchaus zwingender Natur waren. Wie weit es wirklich durchführbar war, läßt ſich nur überſehen, wenn wir die Frage beantworten können, wie weit der Handel dabei Raum gefunden hatte.

Außer Zweifel ſteht, daß es in den Städten einen an - ſäſſigen Kleinhandel gab. Zu ihm gehörten alle, welche Pfennwerte verkaufen für den armen Mann . Um das zu verſtehen, muß man ſich gegenwärtig halten, daß alle56 wohlhabenden Leute in den Städten auf den Wochen - und Jahrmärkten direkt ihren Bedarf von den fremden Markt - leuten zu kaufen pflegten. Der Arme konnte ſich nicht auf längere Zeit verſorgen; er lebte, wie heute noch, aus der Hand in den Mund . Für ihn übernahm darum der Kleinhändler das Halten von Vorräten zum allmählichen Verſchleiß.

Man kann drei Gruppen ſolcher Kleinhändler unter - ſcheiden: Krämer, Hocken und Gewandſchneider oder Gaden - leute. Die letzteren waren in der erſten Hälfte der Stadt - wirtſchaftsperiode die angeſehenſten, da es in vielen Städten keine einheimiſche Wollenweberei gab. Mit dem Heran - wachſen einer ſolchen wurde ihre Thätigkeit auf den Ver - trieb der feineren niederländiſchen Tücher, der Seiden - und Baumwollſtoffe beſchränkt, oder ſie machten im Kaufhauſe den Webern Platz.

Der Großhandel war ausſchließlich Wander - und Markt - oder Meßhandel, und die meiſten Städte werden bis zum Ende des Mittelalters anſäſſige Großkaufleute nicht in ihren Mauern geſehen haben. Ihm unterlagen nur Güter, welche in dem engeren oder weiteren Zufuhr - gebiet einer Stadt nicht produziert wurden. Ich weiß deren nur fünf zu nennen: 1) Gewürze und Südfrüchte, 2) getrocknete und geſalzene Fiſche, welche damals allge - meines Volksnahrungsmittel waren, 3) Pelze, 4) feine Tücher, 5) für die norddeutſchen Städte: Wein. In einzelnen Teilen Deutſchlands dürfte auch das Salz hierher zu rechnen57 ſein. Meiſt aber pflegte das der Rat im Großen direkt von den Produktionsſtätten zu beziehen, es in eigenen Salz - häuſern niederzulegen und mit einem Monopolaufſchlag den Hocken oder Salzſtößern gegen Verſchleißgebühr in Vertrieb zu geben. Die Großhändler durften gewöhnlich ihre Waren nur in ganzen Gebinden oder nicht unter einer beſtimmten Gewichtsmenge (bei Spezereien z. B. nicht unter 12½ Pfd.) verkaufen. Den Verſchleiß beſorgten dann die anſäſſigen Krämer und Hocken. Das Gleiche gilt auch von manchen großen Produzenten, wie z. B. den Hammerſchmieden, die das Eiſen, das ſie nicht an Schmiede und Private hatten abſetzen können, an die Eiſenmenger verkaufen durften.

Läßt ſich auch das Zufuhr - und Abſatzgebiet des Marktes einer mittelalterlichen Stadt nicht topographiſch genau ab - grenzen, da es für verſchiedene Marktgüter naturgemäß ver - ſchiedene Ausdehnung hatte, ſo war dasſelbe nichts deſto weniger im wirtſchaftlichen Sinne ein geſchloſſenes Gebiet. Jede Stadt bildete mit ihrer Landſchaft eine autonome Wirtſchaftseinheit, innerhalb deren ſich der ganze Kreislauf des ökonomiſchen Lebens nach eigener Norm ſelbſtändig vollzog. Dieſe Norm iſt gegeben durch eigne Münze, eignes Maß und Gewicht für jedes ſtädtiſche Wirtſchaftsgebiet. Das Verhältnis zwiſchen Stadt und Land iſt thatſächlich ein Zwangsverhältnis wie zwiſchen Haupt und Gliedern und offenbart ſtarke Neigungen ſich auch zu einem rechtlichen Zwangsverhältnis zu geſtalten. Die Bannmeile, die bereits vorkommenden Aus - und Einfuhrverbote, die Differential -58 zölle, die Erwerbung eigner Territorien durch die größeren Städte weiſen deutlich darauf hin.

Soviel man auch gegen die Herleitung der Stadt - verfaſſung aus der Hofverfaſſung einwenden kann, die Wirtſchaftsordnung der Stadt iſt nur als Fortbildung der Fronhofsordnung recht zu verſtehen und zu erklären. Was in dieſer bloß in Keimpunkten und Anſätzen vorhanden war, hat ſich zu fertigen Organen und Organſyſtemen ausge - wachſen; was in der geſchloſſenen Hauswirtſchaft in primi - tiver Ungeſtalt beiſammen lag, iſt auf dem Wege der Tei - lung und Verſelbſtändigung aus einander getreten. Die ge - bundene Arbeitsteilung des Fronhofs hat ſich zu einer freien Produktionsteilung zwiſchen Bauern und Bürgern und bei letzteren wieder zu einer bunten Mannigfaltigkeit von Be - rufsarten entfaltet. Der Hausfleißarbeiter des Fronhofs iſt zum Lohnhandwerker geworden und erlangt mit der Zeit zum eignen Werkzeug auch eigne Betriebsmittel. Die Nabel - ſchnur iſt zwiſchen Hof - und Hübnerwirtſchaft zerſchnitten; die Sonderwirtſchaften haben eignes Leben gewonnen; der Verkehr unter ihnen regelt ſich nicht mehr nach dem Prinzip der generellen, ſondern nach dem der ſpeziellen Entgeltlich - keit von Leiſtung und Gegenleiſtung. Freilich haben ſie ſich auch in der Stadt noch nicht völlig vom Boden los - gelöſt1)In ſeinen Beyträgen zur Oekonomie, Technologie, Polizey und Cameralwiſſenſchaft I, S. 93 erzählt J. Beckmann: Bei Errichtung der Univerſität Göttingen waren hier Land - und Stadt -; die Produktion ſteckt noch tief in den Feſſeln der59 Haushaltung; aber es haben ſich die Berufe des Landwirts, des Handwerkers, des Händlers gebildet, welche die Wirt - ſchaften und das Leben ihrer Träger in eine beſondere Richtung gelenkt haben. Vom Standpunkte der modernen Volkswirtſchaft könnte man ſagen, daß der Handwerker noch ein halber Bauer und der Bauer in manchen Dingen auch noch ein halber Handwerker war.

Der ganze wirtſchaftliche Erſcheinungskreis iſt gegen - über der geſchloſſenen Hauswirtſchaft reicher und mannig - faltiger geworden; die Sonderwirtſchaften ſind an Menſchen - zahl kleiner; ſie ſind von einander abhängig; ſie übernehmen gewiſſe Funktionen für einander; der Tauſchwert dringt be - reits beſtimmend in ihr inneres Leben ein. Aber die Pro - duktionsgemeinſchaft fällt noch immer mit der Komſumtions - gemeinſchaft zuſammen: auch die fremden Gehilfen des Hand - werkers und ſelbſt des Händlers ſind Glieder ſeines Haus - haltes, ſeiner Disziplinargewalt unterworfen. Er iſt ihr Herr, ſie ſeine Knechte .

Noch immer verläßt der größte Teil der Güter die Wirtſchaft nicht, in der er entſteht. Ein kleinerer Teil tritt auf dem Wege des Tauſches in andere Wirtſchaften über;1)wirtſchaft, noch mehr als jetzt, dergeſtalt vermiſcht, daß jeder Hand - werker nicht allein Gartenland, ſondern auch meiſtens Getreideland beſaß und ſelbſt bauete. Damals waren von Schuſtern keine Schuhe, von Schneidern keine Kleider zu erhalten, wenn beide zu ackern hatten. Um ein neues Publikum zu befriedigen, mußte man zum Teil neue Handwerker anſetzen. Ueber das Mittelalter vgl. meine Bevölkerung von Frankfurt I, S. 259 293.60 aber der Weg, den er zurücklegt, iſt ein ſehr kurzer: vom Erzeuger zum Verbraucher. Es gibt keinen Güterumlauf. Ausgenommen ſind die wenigen Artikel des auswärtigen Handels und die Pfennwerte; nur ſie werden Waren; nur ſie müſſen mehrfach die Geldform durchlaufen, ehe ſie in dem Haushalt ihre Beſtimmung erfüllen. Aber es handelt ſich hier um eine Ausnahme von dem Syſtem des direkten Austauſches, nicht um ein konſtitutives Element der ganzen Wirtſchaftsordnung.

Sind auch die Anfänge volkswirtſchaftlicher Arbeits - teilung und Berufsgliederung vorhanden, ſo gibt es doch noch keine ſtehenden Unternehmungen und kein Unterneh - mungskapital. Höchſtens ließe ſich von Handelskapital ſprechen. Das Handwerk iſt Uebernehmen von Arbeit, kein Unternehmen. In der Form der Stör und des Heim - werks iſt es faſt kapitallos. Es verkörpert Arbeit gegen Lohn in fremdem Material1)Vgl. unten S. 100., und auch wo der Handwerker bereits mit eignen Betriebsmitteln arbeitet, vollzieht ſich die Werterhöhung des Produktes nicht in der Weiſe, daß das - ſelbe in der Fabrikation fortgeſetzt neue Kapitalteile einſchluckt, ſondern ſo, daß Arbeit in ihm inveſtiert wird.

Außerordentlich gering iſt auch die Menge des Leih - und Nutzkapitals. Ja man kann zweifeln, ob im mittel - alterlichen Verkehr überhaupt von Kreditgeſchäften geſprochen werden kann. Das Jugendalter der Tauſchwirtſchaft hängt am Bargeſchäft; es gibt nicht, wo nicht zugleich praeſenter61 Gegenwert genommen werden kann. Faſt das ganze Kredit - weſen kleidet ſich in die Form des Kaufes. So ſchon bei der bäuerlichen Erbleihe und der Vergabung ſtädtiſcher Bau - plätze gegen Grundzins, wo das Gut als Kaufpreis für die Zinsberechtigung erſcheint1)Vgl. zu dem ganzen Abſchnitt die lichtvollen Darlegungen von A. Heusler, Inſtitutionen des deutſchen Privatrechts II, S. 128 ff.. Ferner bei der älteren Satzung, wo das dem Geldgeber zur Nutzung überlaſſene Grundſtück als vorläufiger Gegenwert in die Gewere des Gläubigers übergeht und ihm verfällt, wenn der Schuldner das Dar - lehen nicht zurückzahlt. Wirtſchaftlich unterſcheidet ſich dieſer Verkehrsakt in keiner Weiſe von dem Verkauf auf Wieder - kauf, und es iſt anerkannt, daß auch ein juriſtiſcher Unter - ſchied zwiſchen beiden kaum mehr aufzufinden iſt. Den gleichen Charakter trägt das gebräuchlichſte ſtädtiſche Kredit - geſchäft: der Renten - oder Gültkauf, den ſchon der Name als Kaufgeſchäft erweiſt. Preisgut iſt das hingegebene Kapital, Tauſchgut iſt das Recht auf den Bezug einer jähr - lichen Rente, welche der Empfänger des Kapitals auf ein ihm gehöriges Haus mit der Wirkung einräumt, daß der jedesmalige Eigentümer desſelben die Rente abzuführen hat. Die Rente trägt Reallaſtcharakter und iſt lange unablösbar; der Verpflichtete haftet für dieſelbe mit dem Hauſe oder Grundſtück, auf dem ſie liegt, nicht auch mit ſeinem übrigen Vermögen. Sie belaſtet alſo nur das Immobil, auf dem ſie ruht, und vermindert deſſen Ertragswert um ihren Be - trag. Der Rentenberechtigte hat den gezahlten Kaufpreis62 definitiv aufgegeben; der Rentenbrief, der zum Bezug der Rente berechtigt, kann in formloſer Weiſe wie ein Inhaber - papier übertragen werden. Es iſt alſo jede perſönliche Be - ziehung aus dem ganzen Verhältnis ausgetilgt, und es fehlt das Moment des Vertrauens, das dem Kredit eigentümlich iſt. Denſelben Charakter trägt die Wiederkaufsgülte: ſie iſt Rentenkauf mit Vorbehalt des Rückkaufs.

Wie im Immobiliarverkehr, ſo iſt auch im Mobiliar - verkehr das Kreditgeſchäft nur eine Abſchwächung des Bar - geſchäfts . Die Pfandſicherung iſt, wie Heusler ſagt, eine proviſoriſche ſeitens des Schuldners noch auslösbare Erſatzleiſtung (Verfallpfand), nicht eine eventuell vom Gläu - biger in Anſpruch zu nehmende und durch Verſilberung zu realiſierende Deckung (Verkaufspfand). Das Pfandleih - geſchäft der Juden1)Vgl. meine Bevölkerung von Frankf. I, S. 573 ff. iſt thatſächlich gleichbedeutend mit dem modernen Rückkaufshandel, und der Warenkredit , den heute Handwerker und Krämer gewähren, kleidet ſich im Mittelalter in die Form des Kaufes gegen Pfand2)Vgl. die intereſſanten Beiſpiele bei Stieda, a. a. O. S. 104.. Hält man damit zuſammen, daß auch beim damaligen Perſonal - kredit faſt immer der Schuldner ſich dem Pfandrecht des Gläubigers vertragsmäßig zu unterwerfen hatte, daß er meiſt nur unter vielfacher Bürgſchaft, mit Verpflichtung zum Einlager und ähnlichen läſtigen Bedingungen Geld er - halten konnte, daß der Gläubiger ſich obendrein vorbehielt, das Geld im Verzugsfalle zu Schaden des Schuldners bei63 Juden aufzunehmen, daß die Mitbürger oder Hinterſaſſen des fremden Schuldners für die Forderung gepfändet werden konnten, ſo überzeugen wir uns leicht, daß von einem Kre - ditweſen im modernen Sinne in der mittelalterlichen Stadt - wirtſchaft nicht die Rede ſein konnte1)Eine frappante Aehnlichkeit mit dem mittelalterlichen hat das griechiſche Kreditweſen und ſeine Rechtsformen. Auch bei dieſem fließen Kauf und Darlehen in einander über, und die Sprache iſt nicht dazu gelangt, die Begriffe kaufen, verpfänden, pachten, dingen ſcharf zu ſcheiden. Das griechiſche Pfandrecht ſtimmt in allen wichtigeren Punkten mit dem älteren deutſchen überein. Vgl. K. F. Hermann, Lehrbuch der griech. Privataltertümer mit Einſchluß der Rechtsaltertümer § 67 und 68..

Zwei Dinge müſſen auf dieſem Gebiete den an den Kategorien der modernen Volkswirtſchaft geſchulten Kopf beſonders befremden: die Häufigkeit, mit der unkörperliche Sachen ( Verhältniſſe ) zu wirtſchaftlichen Gütern werden und dem Verkehr unterliegen und ihre verkehrsrechtliche Be - handlung als Immobilien. An ihnen iſt ſo recht zu ſehen, wie die beginnende Tauſchwirtſchaft den Spielraum, den ihr die damalige Produktionsordnung verſagte, dadurch zu erweitern ſuchte, daß ſie in täppiſchem Zugreifen faſt alles zum Verkehrsgut machte und ſo die Sphäre des Privatrechts ins Ungemeſſene ausdehnte. Was hat man im Mittelalter nicht verliehen, verſchenkt, verkauft und verpfändet! Die herrſchaftliche Gewalt über Länder und Städte, Grafſchafts - und Vogteirechte, Cent - und Gaugerichte, kirchliche Würden und Patronate, Bannrechte, Fähren und Wegerechte, Münze und Zoll, Jagd - und Fiſchereigerechtſame, Beholzungsrechte,64 Zehnten, Fronden, Grundzinſen und Renten, überhaupt Reallaſten jeder Art. Wirtſchaftlich betrachtet teilen alle dieſe Rechte und Verhältniſſe mit dem Grund und Boden die Eigentümlichkeit, nicht von dem Orte ihrer Ausübung entfernt und nicht beliebig vermehrt werden zu können.

Einkommen und Vermögen haben ſich auch auf dieſer Entwicklungsſtufe noch nicht klar von einander abgeſchieden. Als im Jahre 1451 in Baſel der neue Pfundzoll ein - geführt wurde, ſchrieb man vor, daß derſelbe gezahlt werden müſſe: 1) vom Kaufpreiſe der Handelswaren, 2) von den Kapitalien, die im Gült - oder Rentenkauf angelegt würden und 3) von den vereinnahmten Renten1)Vgl. Schönberg, Finanzverhältniſſe der Stadt Baſel im XIV. und XV. Ih., S. 267.. Von jedem Pfund waren 4 Pfennige zu entrichten, einerlei, ob dasſelbe als Kaufpreis oder als Kapital oder als Zins die Hand ge - wechſelt hatte. Im erſten Falle handelte es ſich nach unſerer Terminologie um Roheinkommen, im zweiten um Vermögen, im dritten um reines Einkommen, und doch werden alle drei Fälle gleich behandelt. Aehnliche Beiſpiele ließen ſich aus Frankfurter Bede-Ordnungen anführen.

Immerhin treten zwei unſerer modernen Einkommens - kategorien jetzt deutlicher hervor: die Grundrente und der Lohn. Der letztere hat freilich einen eigentümlichen Cha - rakter; er iſt Handwerkslohn: der Entgelt für die Nutzung der Arbeitskraft des Handwerkers von Seiten des Konſu - menten, nicht, wie heute, der Preis, den der Unternehmer65 dem Lohnarbeiter zahlt. Allerdings finden ſich auch ſchon Keime des letzteren in dem geringen Geldlohn, welchen der Handwerker neben der freien Verpflegung ſeinem Geſellen verabfolgt und welcher dem letzteren es ermöglicht, einen beſchränkten Teil ſeines Bedarfs frei zu geſtalten. Unter - nehmergewinn findet ſich faſt nur im Handel, iſt alſo, wie dieſer, Ausnahme. Der Zins nimmt in der Regel den Charakter der Grundrente an, und dasſelbe gilt von den mancherlei Gefällen aus den dem Tauſche unterliegenden Rechtsverhältniſſen. Da die Kreditgeſchäfte in der Regel ſich in die Form von Kaufgeſchäften kleiden, ſo bedeuten ſie für den Gläubiger faſt immer die definitive Hingabe eines Teils ſeines Vermögens, um ein jährliches Einkommen oder eine fortgeſetzte Nutzung zu empfangen (Kanon bei der Erb - leihe, Naturalertrag des geſetzten Grundſtücks bei der Satzung, Grundzins, Rente beim Gültkauf). Auf dieſer Grundlage entſteht auch der älteſte Zweig der Perſonalverſicherung und zugleich die Hauptform des öffentlichen Kredits: die Beſtellung von Leibrenten.

Der öffentliche Haushalt trägt noch immer vorwiegend privatwirtſchaftlichen Charakter: Einnahmen aus Domänen, Regalien, Zehnten, Fronden, Dienſten, Grundzinſen, Ge - bühren wiegen im Staat, Einnahmen aus dem Marktver - kehr und Konſumſteuern1)Ungelder! Sprachlich bemerkenswert iſt der Gegenſatz von Ungeld und Geld. Letzteres iſt der allgemeine Ausdruck für die Kaufrente. Geld iſt alſo eine vergoltene, Ungeld eine nicht vergoltene jährliche Einnahme. in den Städten vor. Die ein -Bücher, Die Entſtehung der Volkswirtſchaft. 566zige direkte Steuer iſt noch immer die Vermögensſteuer, hie und da mit Elementen der Einkommensbeſteuerung ver - miſcht. Sie wird zwar häufiger als in der vorigen Pe - riode, immer aber noch nicht regelmäßig erhoben.

Die wirtſchaftliche Herrſchaft der Städte über das um - liegende Land hat ſich in Deutſchland nur an einzelnen Stellen zu einer politiſchen Herrſchaft emporgeſchwungen. In Italien hat die gleiche Entwicklung zur Ausbildung einer ſtädtiſchen Tyrannis geführt; in Frankreich ſind die Anfänge zur Autonomie freier ſtädtiſcher Kommunen von den Königen mit Hilfe des Feudaladels früh niedergetreten worden. Das kam daher, daß in Deutſchland wie in Frankreich alles, was außerhalb den ſtädtiſchen Mauern lag, von lehnsrechtlichen Bildungen überdeckt war. Die großen Grundherrſchaften hatten allerdings die Selbſtbe - wirtſchaftung ihrer Fronhöfe längſt aufgegeben; ihr Grund - beſitz war für den Herrn, ähnlich wie der ſtädtiſche Grund - und Häuſerbeſitz für die Geſchlechter, zur bloßen Renten - quelle geworden. Aber ihre anfängliche wirtſchaftliche Macht war zu einer politiſchen Macht, aus den Grund - herren waren Landesfürſten geworden, und im Laufe dieſes Umwandlungsprozeſſes war eine vielverzweigte neue Klaſſe kleiner adlicher Grundherren entſtanden, deren Intereſſe an das der Fürſten geknüpft und ein rein agrariſches war. Daher in Deutſchland jener ſcharfe Kampf zwiſchen Bürger - tum und Adel, der die letzten Jahrhunderte des Mittel -67 alters erfüllt und in dem die Städte zwar für ſich ihre zum größten Teil durch Kauf und uneingelöſte Pfandſchaft von den Stadtherren erworbene politiſche Autonomie be - haupten, in dem es ihnen aber nicht gelingt, den Bauern - ſtand den Feudalgewalten zu entreißen.

Man kann darum ſagen, daß die ſtadtwirtſchaftliche Entwickelung in Deutſchland und Frankreich unvollendet blieb, daß ihr nicht gelang, was die kräftigſten Bildungen aus der Periode der geſchloſſenen Hauswirtſchaft thatſäch - lich erreicht hatten: das wirtſchaftliche Machtgebiet zum ſtaatlichen Daſein zu erheben. Und es war vielleicht ein Glück für uns. In Italien hat das ſtädtiſche Kapital weit - hin den Bauer expropriiert, um ihn als elenden Halbpächter bis auf den heutigen Tag auszuſaugen; in Deutſchland hat ihn zwar der Adel zum Leibeigenen herunterzudrücken ver - mocht; aber der hier zuerſt im Landesfürſtentum ſich durch - ſetzende Staatsgedanke hat zu verhüten verſtanden, daß er zum Proletarier geworden iſt.

Die Ausbildung der Volkswirtſchaft iſt im weſent - lichen eine Frucht der politiſchen Zentraliſation, welche an der Wende des Mittelalters mit der Entſtehung territorialer Staatsgebilde beginnt und in der Gegenwart mit der Schöpfung des nationalen Einheitsſtaates ihren Abſchluß findet. Die wirtſchaftliche Zuſammenfaſſung der Kräfte geht Hand in Hand mit der Beugung der politiſchen Sonderintereſſen unter die höheren Zwecke der Geſamtheit.

In Deutſchland ſind es die größeren Territorialfürſten,5 *68welche die moderne Staatsidee im Kampfe mit dem Land - adel und den Städten zum Ausdruck zu bringen ſuchen freilich vielfach unter großen Schwierigkeiten, namentlich wo die Territorien arg zerſplittert waren. Schon ſeit der zweiten Hälfte des XV. Jahrhunderts bemerken wir hier mancherlei Anzeichen eines engeren wirtſchaftlichen Zu - ſammenſchluſſes: die Schaffung einer Landesmünze an Stelle der vielen ſtädtiſchen, den Erlaß von Landesordnungen über Handel, Märkte, Gewerbebetrieb, Forſtweſen, Bergwerke, Jagd und Fiſcherei, die allmähliche Ausbildung des fürſt - lichen Privilegien - und Konzeſſionsweſens, den Erlaß von Landrechten, welche größere Rechtseinheit herbeiführten, die Entſtehung eines geordneten Staatshaushaltes.

Während aber in Deutſchland noch Jahrhunderte lang die landſchaftlichen Intereſſen vorwiegen und an dieſen die Anſtrengungen, welche die Reichsgewalt in der Richtung einer nationalen Wirtſchaftspolitik machte, kläglich ſcheiterten, ſehen wir die weſteuropäiſchen Staaten: Spanien, Por - tugal, England, Frankreich, die Niederlande ſeit dem XVI. Jahrhundert auch ſchon äußerlich als einheitliche Wirtſchaftsgebiete dadurch hervortreten, daß ſie eine kraft - volle Kolonialpolitik entfalten, um die reichen Hilfsquellen der neuerſchloſſenen überſeeiſchen Gebiete ſich zu Nutze zu machen.

In allen dieſen Ländern tritt, wenn auch in ver - ſchiedener Stärke, der Kampf mit den Sondergewalten des Mittelalters hervor: dem großen Adel, den Städten, Pro -69 vinzen, geiſtlichen und weltlichen Korporationen. Zunächſt handelt es ſich ja gewiß um Vernichtung der ſelbſtändigen Kreiſe, welche ſich der politiſchen Zuſammenfaſſung hemmend in den Weg ſtellten. Aber im tiefſten Grunde der Be - wegung, welche zur Ausbildung des fürſtlichen Abſolutis - mus führte, ſchlummert doch der weltgeſchichtliche Gedanke, daß die neuen größeren Kulturaufgaben der Menſchheit eine einheitliche Organiſation ganzer Völker, eine große lebendige Intereſſengemeinſchaft erforderten, und dieſe konnte erſt auf dem Boden gemeinſamer Wirtſchaft erwachſen. Jeder Teil des Landes, jede Gruppe der Bevölkerung mußte für den Dienſt des Ganzen diejenigen Aufgaben übernehmen, welche ſie ihrer Naturanlage nach am beſten zu erfüllen im Stande waren. Es bedurfte einer durchgreifenden Teilung der Funk - tionen, einer die ganze Bevölkerung umfaſſenden Berufs - gliederung, und dieſe letztere ſetzte wieder ein reich ent - wickeltes Verkehrsweſen und einen lebendigen Güteraustauſch unter der Bevölkerung voraus. Ging im Altertum alles wirtſchaftliche Streben auf in dem einen Ziele der auto - nomen Bedürfnisbefriedigung des Hauſes, im ſpäteren Mittelalter in der Verſorgung der Stadt, ſo bildet ſich jetzt ein überaus kompliziertes und kunſtvolles Syſtem natio - naler Bedürfnisbefriedigung.

Die Durchführung dieſes Syſtems iſt vom XVI. bis XVIII. Jahrhundert das Ziel der Wirtſchaftspolitik aller vorgeſchrittenen europäiſchen Staaten. Die Maßregeln, welche zur Erreichung des Zieles angewendet wurden, ſind70 faſt in allen Einzelheiten der ſtädtiſchen Wirtſchaftspolitik des Mittelalters nachgebildet1)Für die deutſchen Territorien iſt die betr. Entwickelung vor - trefflich dargeſtellt von Schmoller im Ihb. f. Geſetzgeb., Verw. u. Volksw. VIII (1884) S. 22 ff.. Sie werden gewöhnlich unter dem Namen des Merkantilſyſtems zuſammengefaßt. Man hat das letztere lange als ein theoretiſches Lehrgebäude angeſehen, das in dem Grundſatze gipfle, daß der Reich - tum eines Landes in der Summe des baren Geldes be - ſtehe, die ſich innerhalb ſeiner Grenzen befinde. Heute iſt dieſe Auffaſſung wohl allgemein aufgegeben. Der Mer - kantilismus iſt kein totes Dogma, ſondern die lebendige Praxis aller bedeutenden Staatsmänner von Karl V. bis auf Friedrich den Großen. Seine typiſche Ausprägung hat er in der ökonomiſchen Politik Colberts gefunden. Die Aufhebung oder Ermäßigung der Binnenzölle und Wegegelder, die Einführung eines einheitlichen Grenzzoll - ſyſtems, die Sicherung der Verſorgung des Landes mit notwendigen Rohſtoffen und Nahrungsmitteln durch Aus - fuhr-Erſchwerungen und durch Einführung des Forſtregals, die Beförderung der großen Induſtrie durch Anpflanzung neuer Gewerbezweige, durch Staatsunterſtützung und tech - niſche Reglementierung derſelben, durch zollpolizeiliche Fern - haltung fremder Konkurrenz, die Anlegung von Kunſtſtraßen, Kanälen, Seehäfen, die Beſtrebungen zur Vereinheitlichung des Maß - und Gewichtsweſens, die Regelung des Handels - rechtes und des kommerziellen Nachrichtendienſtes, die Pflege71 der Technik, der Kunſt und Wiſſenſchaft in eigenen Staats - anſtalten, die Ordnung des Staats - und Kommunalhaus - haltes, die Beſeitigung der Ungleichheiten in der Steuer - belaſtung alles dies diente dem einen Zwecke eine nach außen abgeſchloſſene Staatswirtſchaft zu ſchaffen, welche alle Bedürfniſſe der Staatsangehörigen durch die nationale Arbeit zu befriedigen im Stande ſei und durch einen lebhaften Verkehr im Innern alle natürlichen Hilfs - mittel des Landes und alle individuellen Kräfte des Volkes in den Dienſt des Ganzen ſtelle. Man hat über der dem Colbertismus eigenen Begünſtigung des auswärtigen Handels, der Marine, des Kolonialweſens nur zu oft über - ſehen, daß dieſe Maßnahmen auch die inneren Hilfskräfte des Landes verſtärkten und daß die Handelsbilanztheorie in einer Zeit zur Notwendigkeit wurde, wo der Uebergang von der noch immer vorwiegenden Eigenproduktion zur all - gemeinen Tauſchwirtſchaft die Vermehrung der baren Um - laufsmittel zur unerläßlichen Vorausſetzung hatte.

Freilich darf man neben den vom Staate ergriffenen Maßregeln auch die ſozialen Kräfte nicht außer Acht laſſen, welche in gleicher Richtung wirkten. Dieſelben nahmen naturgemäß ihren Ausgangspunkt von den Städten. Hier hatte ſich durch langſame Umbildung aus dem Rentkauf das verzinsliche Darlehen entwickelt, und damit war im Laufe des XVI. Jahrhunderts ein eigentliches Kreditweſen entſtanden. Wir dürfen darin den Einfluß des Groß - handels erblicken, der ſchon längſt das Geheimnis entdeckt72 hatte, mit Geld Geld zu erwerben. Das Vermögen der reichen Städter erlangte durch das Freiwerden der Renten - fonds eine bedeutend größere Beweglichkeit und Akkumula - tionskraft; zu dem bis dahin allein vorhandenen Handels - kapital trat das Leihkapital; beide ergänzten und ver - ſtärkten einander in ihrer weiteren Entfaltung.

Die nächſte Folge war ein bedeutender Aufſchwung des Handels. Einzelne Städte beginnen aus der gleich - artigen Maſſe der mittelalterlichen Markt - und Handwer - kerſtädte ſich als Mittelpunkte der Staatsverwaltung oder als Handelsplätze zu erheben. In Deutſchland, das durch den Zerfall der Hanſa und die Veränderung der Welt - verkehrsſtraßen ſeine Bedeutung für den Zwiſchenhandel nach dem Norden großenteils eingebüßt hatte, zeigt ſich der Umſchwung wenigſtens in der ſteigenden Bedeutung der großen Meſſen und in dem Zurückſinken der lokalen Märkte. Die Frankfurter Meſſe erreicht ihren Höhepunkt im XVI. Jahrhundert, die Leipziger noch bedeutend ſpäter. Aber das Handelskapital begnügt ſich bald nicht mehr mit dem Import und Umſchlag fremder Produkte; es wird zum Verlagskapital für die einheimiſche Induſtrie und für die Ueberſchüſſe des bäuerlichen Hausfleißes. Es entſteht die arbeitsteilige Maſſenproduktion in Manufakturen und Fa - briken und mit ihnen der Lohnarbeiterſtand. Es entwickelt ſich an Stelle der mittelalterlichen Wechſelbank die mo - derne Kreditbank. Das Transportweſen, welches früher nur einen integrierenden Teil des Handelsbetriebs gebildet73 hatte, verſelbſtändigt ſich. Es entſtehen die Staatspoſten, die Zeitungen, die nationale Handelsflotte; es bildet ſich das Verſicherungsweſen aus. Ueberall neue Organiſationen, welche darauf berechnet ſind, die wirtſchaftlichen Bedürfniſſe Vieler zu befriedigen: eine nationale Induſtrie, ein nationaler Markt, nationale Verkehrsanſtalten; überall das kapita - liſtiſche Unternehmerprinzip des Handels.

Es iſt bekannt, wie der abſolutiſtiſche Staat dieſe Be - wegung förderte, wie er oft genug, um die Entwickelung zu beſchleunigen, künſtlich ins Daſein rief, was nicht aus eigener Kraft emporkommen wollte. Trotzdem beſtand bis gegen Ende des vorigen Jahrhunderts die alte ſtadtwirt - ſchaftliche Organiſation mit ihren Zunft - und Bannrechten, mit der ſcharfen Trennung von Stadt und Land fort, wenn auch vielfach durch die Landesgeſetzgebung beſchränkt unbekümmert um das neue volkswirtſchaftliche Leben, das ringsum aufſproßte und um die Fülle neuer Verkehrs - erſcheinungen, die es gezeitigt hatte. Als die Phyſiokraten und Adam Smith die letzteren zuerſt der wiſſenſchaft - lichen Beobachtung unterwarfen, haben ſie merkwürdiger Weiſe vollſtändig überſehen, daß es ſich nicht um ein ſpontan gewordenes Ergebnis rein geſellſchaftlicher Be - thätigung, ſondern mit um eine Frucht erzieheriſcher Staats - thätigkeit handelte. Die Schranken, deren Beſeitigung ſie verlangten, waren entweder die verſteinerten Ueberreſte der älteren Wirtſchaftsepochen, wie die Grundlaſten, die Zünfte, die lokalen Zwangsrechte, die Beſchränkungen der Frei -74 zügigkeit, oder es waren die Erziehungsmittel des Merkanti - lismus, wie die Monopole und Privilegien, welche weg - fallen konnten, nachdem ſie ihren Zweck erfüllt hatten.

In Beziehung auf die Entwickelung der Volkswirt - ſchaft hat der Liberalismus der letzten hundert Jahre nur fortgeführt was der Abſolutismus begonnen hatte. Wenn man das ſo ausſpricht, ſo kann es leicht paradox erſcheinen. Denn äußerlich betrachtet hat der Liberalismus nur zerſtört; er hat die überlebten Organiſationsformen der Haus - und Stadtwirtſchaft zerſchlagen und nichts Neues aufgebaut. Er hat die Sonderſtellung und die Sonderrechte einzelner Landesteile und einzelner ſozialer Gruppen beſeitigt, freie Konkurrenz und Rechtsgleichheit an die Stelle geſetzt. Aber wenn er ſo das Ueberkommene in ſeine Elemente aufgelöſt hat, ſo hat er zugleich die Bahn für wirklich volks wirt - ſchaftliche Neugeſtaltungen freigemacht, und er hat es er - möglicht, daß gemäß dem jeweiligen Entwickelungsſtande der Technik jede Kraft an der Stelle in den Dienſt des Ganzen treten kann, wo ſie dieſem am meiſten nützt.

Hat der Liberalismus die ganze Fortentwicklung der Volkswirtſchaft auf den Boden der freien geſellſchaftlichen Bethätigung geſtellt und darum vielfach eine geradezu ſtaats - feindliche Richtung eingehalten, ſo hat er doch nicht zu verhindern vermocht, daß der moderne Staat als ſolcher ſich in der Richtung weiter ausgebildet hat, welche er ſeit dem XVI. Jahrhundert eingeſchlagen hatte: in der Richtung eines immer engeren Zuſammenſchluſſes aller Teile des75 Volkes und des Staatsterritoriums zur Erfüllung immer größerer Kulturaufgaben. Alle großen Staatsmänner haben ſeit drei Jahrhunderten an dieſem Ziele mitgearbeitet: von Cromwell und Colbert bis auf Cavour und Bismarck. Die franzöſiſche Revolution hat nicht minder zentraliſierend gewirkt wie die Staatsumwälzungen der letzten Jahrzehnte. In der neueſten Phaſe dieſer Entwickelung iſt das Na - tionalitätsprinzip zu einem Grundſatze von ge - waltiger zuſammenfaſſender Kraft geworden. Die kleinen Territorialſtaaten der älteren Zeit waren den großen wirt - ſchaftlichen Aufgaben der Gegenwart nicht mehr gewachſen. Sie mußten entweder untergehen in einem großen National - ſtaat, wie in Italien, oder zu Gunſten eines Bundesſtaates namhafte Teile ihrer Selbſtändigkeit, insbeſondere die Wirt - ſchaftsgeſetzgebung, aufgeben, wie im Deutſchen Reiche die Einzelſtaaten, in der Schweiz die Kantone.

Es iſt ein Irrtum, wenn man aus der im libera - liſtiſchen Zeitalter erfolgten Erleichterung des internatio - nalen Verkehrs ſchließen zu dürfen meint, die Periode der Volkswirtſchaft gehe zur Neige und mache der Periode der Weltwirtſchaft Platz. Gerade die neueſte politiſche Ent - wickelung der europäiſchen Staaten hat ein Zurückgreifen auf die Ideen des Merkantilismus und teilweiſe der alten Stadtwirtſchaft zur Folge gehabt. Das Wiederaufleben der Schutzzölle, das Feſthalten an der nationalen Währung und der nationalen Arbeitsgeſetzgebung, die ſchon vollzogene oder noch erſtrebte Verſtaatlichung der Verkehrsanſtalten,76 der Arbeiterverſicherung, des Bankweſens, die wachſende Staatsthätigkeit auf ökonomiſchem Gebiete überhaupt: alles dies deutet darauf hin, daß wir nach der abſolutiſtiſchen und liberaliſtiſchen in eine dritte Periode der Volkswirt - ſchaft eingetreten ſind. Dieſelbe trägt ein eigenartig ſoziales Geſicht; es handelt ſich nicht mehr bloß um möglichſt ſelbſtändige und reichliche Deckung der nationalen Bedürf - niſſe durch nationale Produktion, ſondern um gerechte Güter - verteilung, um eigene gemeinwirtſchaftliche Bethätigung des Staates, mit dem Ziele, alle ſeine Angehörigen nach ihren wirtſchaftlichen Leiſtungen an den Gütern der Kultur zu beteiligen. Die erforderlichen Maßregeln können nur auf großer Stufenleiter ausgeführt werden; ſie bedürfen eines innigen Zuſammenſchluſſes aller Einzelkräfte, wie ſie nur der große Nationalſtaat zu bieten vermag.

Damit könnte ich ſchließen. Denn um die Fülle neuer Erſcheinungen, welche die Volkswirtſchaft gegenüber der geſchloſſenen Haus - und Stadtwirtſchaft bietet, Ihren Augen vorzuführen, müßte ich faſt den Inhalt eines Lehrbuchs der Nationalökonomie wiedergeben. Aber es wird doch zum beſſeren Verſtändnis des Ganzen beitragen, wenn ich in vergleichender Weiſe an einigen Haupterſcheinungen noch - mals die durchgehenden Züge der geſamten dreiſtufigen Entwickelung zuſammenfaſſend vorführe.

Der hervorſtechendſte dieſer Züge iſt, daß im Laufe der Geſchichte die Menſchheit ſich immer höhere wirtſchaft - liche Ziele ſteckt und die Mittel dazu in einer fortſchreitend77 weiter greifenden Verteilung der Arbeitslaſt findet, die ſchließlich das ganze Volk ergreift und ein Eintreten Aller für Alle hervorruft. Findet bei der Hauswirtſchaft dieſes Zuſammenwirken ſeine Grundlage in der Blutsver - wandtſchaft, ſo hat es dieſelbe bei der Stadtwirtſchaft in der Nachbarſchaft, bei der[Volkswirtſchaft] in der Natio - nalität. Es iſt der Weg von der Gemeinſchaft zur Ge - ſellſchaft, den die Menſchheit durchmißt und der, ſoweit wir ſehen können, mit einer ſtets enger werdenden Ver - geſellſchaftung endet. Auf dieſem Wege geſtaltet ſich die Bedürfnisbefriedigung des Einzelnen immer reicher und mannigfaltiger, aber auch immer unſelbſtändiger und kom - plizierter. Das Daſein und die Arbeit jedes Einzelnen verflicht ſich mehr und mehr mit dem Daſein und der Ar - beit vieler Anderen.

Auf der Stufe der Hauswirtſchaft wird jedes Gut in der Wirtſchaft verbraucht wo es entſtanden iſt, auf der Stufe der Stadtwirtſchaft geht es unmittelbar aus der produzierenden in die konſumierende Wirtſchaft über; auf der Stufe der Volkswirtſchaft durchläuft es ſowohl bei ſeiner Entſtehung als auch nach ſeiner Vollendung ver - ſchiedene Wirtſchaften: es zirkuliert. Im Verlaufe der ganzen Entwickelung vergrößert ſich die Spannweite zwiſchen Produktion und Konſumtion. Auf der erſten Stufe ſind alle Produkte Gebrauchsgüter, auf der zweiten wird ſchon ein Teil zu Tauſchgütern auf der dritten werden die meiſten Waren.

Die Einzelwirtſchaft iſt auf der erſten Stufe Pro -78 duktions - und Konſumtionsgemeinſchaft zugleich; auf der Stufe der Stadtwirtſchaft iſt inſofern daran feſtgehalten, als der Handwerksgeſelle und Bauernknecht am Haushalt ihres Arbeitgebers Teil nehmen; in der Volkswirtſchaft fallen Produktionsgemeinſchaft und Konſumtionsgemeinſchaft auseinander. Die erſtere iſt Unternehmung, und in der Regel lebt von ihrem Ertrag eine Mehrzahl von ge - ſonderten Haushaltungen.

Wo fremde Arbeit nötig iſt, ſteht ſie auf der erſten Stufe zum Produzenten in dauerndem Zwangsverhältnis (Sklaven, Hörige), auf der zweiten im Dienſt -, auf der dritten im Vertragsverhältnis. Der Konſument iſt in der geſchloſſenen Hauswirtſchaft entweder ſelbſt Arbeiter, oder der Arbeiter iſt ſein Eigentum; in der Stadtwirtſchaft kauft er vom Arbeiter direkt die Arbeitsleiſtung (Lohnwerk) oder das Arbeitsprodukt (Handwerk), in der Volkswirtſchaft ſteht er zum Arbeiter in keiner Beziehung mehr; er kauft die Ware vom Unternehmer oder Händler, und dieſer lohnt den Arbeiter.

Geld iſt in der geſchloſſenen Hauswirtſchaft entweder noch gar nicht vorhanden, oder es iſt unmittelbares Ge - brauchsgut und Mittel der Schatzbildung. In der Stadt - wirtſchaft iſt es weſentlich Tauſchmittel; in der Volkswirt - ſchaft wird es daneben zum Umlaufs - und Erwerbsmittel. Die Kategorien Naturalwirtſchaft, Geldwirtſchaft, Kredit - wirtſchaft kennzeichnen paſſend dieſe wechſelnde Rolle des Geldes, wenn ſie dieſelbe auch nicht erſchöpfen.

Kapital gibt es auf der erſten Stufe faſt nicht, ſondern79 nur Gebrauchsgüter. Auf der zweiten Stufe laſſen ſich wohl die Werkzeuge unter die übliche Kategorie des Pro - duktionskapitals bringen, keineswegs jedoch allgemein auch die Rohſtoffe. Eigentliches Erwerbskapital iſt da nur das Handelskapital. Auf der dritten Stufe bildet das Er - werbskapital das Mittel, durch welches die Güter von einer Etappe der Arbeitsteilung zur andern emporgehoben und durch den ganzen Zirkulationsprozeß hindurchgetrieben werden. 1)Vgl. auch unten S. 113 f. und 153 f.Alles wird hier Kapital. Man könnte mit Bezug darauf die geſchloſſene Hauswirtſchaft als kapitalloſe, die Stadtwirtſchaft als kapitalfeindliche und die moderne Volks - wirtſchaft als kapitaliſtiſche Wirtſchaft bezeichnen.

Einkommen und Vermögen bilden in der ge - ſchloſſenen Hauswirtſchaft eine ungetrennte und untrennbare Maſſe; doch zeigen ſich bereits Anfänge der Grundrente. In der Stadtwirtſchaft nimmt auch der Zins meiſt die Form der Grundrente an; ein Unternehmergewinn ergibt ſich faſt nur im Handel; Hauptform des Arbeitslohns iſt der vom Konſumenten gezahlte Handwerkerlohn. Aber noch immer tritt der größte Teil der Güter nicht aus der Wirt - ſchaft, die ſie erzeugt, in fremde Wirtſchaften über. Reines Einkommen kann nur der erlangen, der im Rentenkauf Vermögen definitiv aufgibt. Auf der Stufe der Volks - wirtſchaft treten die vier Einkommenszweige deutlich aus - einander. Faſt der ganze Produktionsertrag wird im Ver - kehr liquidiert. Im Vermögen ſcheiden ſich die Renten -80 und Erwerbsfonds von den Gebrauchsvorräten und die letzteren werden auf das denkbar knappſte Maß beſchränkt, da der Handel den Privatwirtſchaften das Halten von Vor - räten abnimmt. Auf der andern Seite werden die unver - brauchten Einkommensüberſchüſſe, welche auf der erſten und zweiten Stufe notwendig dem Gebrauchsvermögen ver - bleiben, jetzt entweder direkt dem Geſchäftskapital zuge - ſchlagen oder durch Sparkaſſen und Banken in zinsbare Darlehen verwandelt, alſo auf alle Fälle kapitaliſiert.

Die Arbeitsteilung iſt auf der Stufe der Haus - wirtſchaft eine häusliche, auf der Stufe der Stadtwirtſchaft iſt ſie entweder ſtädtiſche Berufsbildung und Berufsteilung oder Produktionsteilung zwiſchen Stadt und Land; auf der Stufe der Volkswirtſchaft nehmen fortgeſetzte Produktions - teilung, Arbeitszerlegung in der einzelnen Unternehmung und Arbeitsverſchiebung von Unternehmung zu Unterneh - mung den Vorrang ein1)Das Nähere im III. Vortrag..

Ein Gewerbe als ſelbſtändige Berufsart gibt es auf der erſten Stufe nicht; die ganze Stoffumwandlung iſt bloßer Hausfleiß. In der Stadtwirtſchaft finden wir wohl gewerbliche Berufsarbeiter, aber keine Unternehmer: das Gewerbe iſt Lohnwerk oder Handwerk; wer es ausüben will, muß es verſtehen. In der Volkswirtſchaft herrſcht die Fabrik - und Verlagsinduſtrie vor, welche einen kauf - männiſch gebildeten Unternehmer und großes Kapital vor -73 *[73*] ausſetzt. Techniſche Beherrſchung des Produktionsprozeſſes iſt für den Unternehmer nicht unerläßlich1)Vgl. den II. Vortrag..

In ähnlicher Weiſe ändern ſich die Betriebsformen des Handels. Der geſchloſſenen Hauswirtſchaft entſpricht der Wanderhandel, der Stadtwirtſchaft der Markthandel, der Volkswirtſchaft der ſtehende Handel. Iſt der Handel auf den beiden erſten Entwicklungsſtufen bloßer Lücken - büßer einer ſonſt autonomen Produktion, ſo wird er in der Volkswirtſchaft zum notwendigen Mittelgliede zwiſchen Produktion und Konſumtion. Er trennt ſich vom Trans - port, und der letztere erlangt eine ſelbſtändige Bedeutung und Organiſation.

Freilich an Verkehrsdienſten fehlt es auch in der antiken Sklaven - und der mitteralterlichen Fronhofswirtſchaft nicht; ſie waren beſonderen Sklaven oder Hörigen über - tragen. Im Mittelalter finden wir Stadtboten, die zu - nächſt bloß im Dienſte des Rates ſtanden, dann aber auch die Briefbeförderung für Private übernahmen. An der Schwelle der Neuzeit ſteht die Poſt, anfangs bloß für die Zwecke des Staates, ſpäter auch für das Publikum. In dieſem Jahr - hundert folgen die Eiſenbahnen, Telegraphen, Fernſprecher, Dampferlinien, bei denen der Staat im Intereſſe der Wirt - ſchaftlichkeit eingreift und daneben die mannichfachſten privaten Verkehrsunternehmungen. 2)Ueber die analoge Entwicklung im Zeitungsweſen vgl. Vor - trag IV. Auf allen Stufen aber ſind5 74 *[74*]gewiſſe Verkehrsdienſte durch die oberſte Wirtſchaftsleitung, und zwar zunächſt immer nur für den eigenen Bedarf, or - ganiſiert worden.

Der Kredit iſt auf der erſten Stufe reiner Konſumtiv - kredit; er wird nur erlangt durch Verpfändung der Perſon und ihres ganzen Eigentums. Auf der zweiten Stufe ſchwächt ſich im Perſonalkredit die Schuldknechtſchaft zum Einlager ab. Neben dem Konſumtivkredit tritt eine Art von Immobiliarerwerbskredit auf, der ſich aber in die Form des Kaufes kleidet, welche überhaupt als die reguläre Kredit - form der Stadtwirtſchaft zu gelten hat. Die ſpezifiſche Kreditform der Neuzeit, der Geſchäfts - oder Produktivkredit entwickelt ſich zuerſt im Handel und dehnt ſich von da auf alle Wirtſchaftsgebiete aus. Der Staatskredit tritt in den antiken Staaten naturgemäß als Zwangsanleihe auf, in den mittel - alterlichen Städten als Leibrentenverkauf und Wiederkaufs - gülte, in den modernen Staaten als Plazierung ewiger Renten oder einlösbarer verzinslicher Schuldverſchreibungen.

Auch auf dem Gebiete der öffentlichen Leiſtungen laſſen ſich ähnliche Stufenfolgen aufweiſen. Der Rechts - ſchutz iſt zuerſt Sache der Sippe, ſpäter des Grundherrn; im Mittelalter bilden die Städte eximierte Gerichtsbezirke, in der Gegenwart ſind Rechtspflege und Sicherheitspolizei ſtaatliche Funktionen. Aehnlich das Unterrichtsweſen. Auf der erſten Stufe liegt es dem Hauſe ob, wie noch heute in Island. Der römiſche paedagogus iſt ein Sklave. Im Mittelalter organiſieren zuerſt autonome Hausge -75 *[75*] noſſenſchaften, die Klöſter, das Bildungsweſen; ſpäter kommen die Stadt - und Domſchulen auf; der Neuzeit eigen - tümlich iſt die Konzentration und Spezifikation des Unter - richtsweſens in ſtaatlichen Anſtalten. Noch deutlicher tritt dieſe Entwicklung an den Verteidigungseinrichtungen hervor. Bei vielen Völkern, die noch jetzt auf der Stufe der iſolierten Wirtſchaft ſtehen, iſt jedes einzelne Haus be - feſtigt (Pfahlbauten der Malayen, der Polyneſier), im frühern Mittelalter iſt der Fronhof mit Wall und Graben geſchützt. Auf der zweiten Wirtſchaftsſtufe iſt jede Stadt eine Feſtung. Auf der dritten ſichern wenige Grenz - feſtungen den ganzen Staat, und es iſt bezeichnend ge - nug, daß Louvois, der Schöpfer des erſten Grenzbefeſti - gungsſyſtems, ein Zeitgenoſſe Colberts war, des Begründers der neueren franzöſiſchen Volkswirtſchaft.

Dieſe Parallelen ließen ſich noch lange fortſetzen. Wie in einer neubezogenen Wohnung es ſich zunächſt darum handeln wird, eine vorläufige Ordnung herzuſtellen, ſo wird auch bei dem Gegenſtande dieſes Vortrags kein Billigdenkender erwarten, daß alles erſchöpft und jede Einzelheit an ihren gehörigen Platz geſtellt ſei. Ich fühle ſelbſt am beſten, wie ungenügend durchgearbeitet noch die Erſcheinungskreiſe der beiden älteren Entwicklungsſtufen ſind und wie ſehr ihr ökonomiſcher Begriffsinhalt noch der genaueren Feſtſtellung bedarf. Aber es mag für diesmal genügen, wenn die Ge - ſetzmäßigkeit der Entwickelung im Ganzen und Einzelnen klar zu Tage getreten iſt.

76 *[76*]

Nur eins möchte ich noch beſonders betonen. Haus - wirtſchaft Stadtwirtſchaft Volkswirtſchaft bezeichnen nicht einen Stufengang, deſſen Glieder einander völlig ausſchließen. Es hat immer eine Art des Wirtſchaftens vorgeherrſcht; ſie war in den Augen der Zeitgenoſſen das Normale. Auch in die Gegenwart ragen noch manche Elemente der Stadt - wirtſchaft und ſelbſt der geſchloſſenen Hauswirtſchaft herein. Noch heute tritt ein ſehr beträchtlicher Teil der nationalen Güterproduktion nicht in die volkswirtſchaftliche Zirkulation ein, ſondern wird in denjenigen Sonderwirtſchaften ver - braucht, welche ihn erzeugt haben; ein anderer hat ſeinen Lauf vollendet, wenn er aus einer Wirtſchaft in die andere übergegangen iſt.

Es ſcheint darnach faſt, als ob diejenigen Unrecht hätten, welche die Aufgabe der Volkswirtſchaftslehre darin erblicken, das Weſen und den Zuſammenhang der Verkehrs - vorgänge klarzulegen, und als ob diejenigen im Rechte wären, welche ſich mit der Beſchreibung der Wirtſchaftsformen und ihrer hiſtoriſchen Umbildungen begnügen.

Und doch wäre das ein verhängnisvoller Irrtum, welcher gleichbedeutend wäre mit der Preisgabe der wiſſen - ſchaftlichen Arbeit von mehr als einem Jahrhundert, gleich - bedeutend auch mit einer völligen Verkennung unſerer wirt - ſchaftlichen Gegenwart. Es wird heute auch in dem ent - legenſten Bauernhofe kein Sack Waizen mehr produziert ohne Zuſammenhang mit dem Ganzen des volkswirtſchaft - lichen Verkehrs. Wird er auch im Hauſe des Produzenten77 *[77*] konſumiert, ſo iſt doch ein guter Teil der Produktionsmittel (der Pflug, die Senſe, die Dreſchmaſchine, der künſtliche Dünger, das Zugtier ꝛc. ) verkehrsmäßig erworben, und die Selbſtkonſumtion findet nur ſtatt, wenn ſie nach den Markt - verhältniſſen wirtſchaftlich erſcheint. Auch der Sack Waizen iſt mit einem feſten Faden an das große kunſtvolle Gewebe des volkswirtſchaftlichen Verkehrs angeknüpft. Und ſo ſind wir es alle mit unſerem wirtſchaftlichen Thun und Denken.

Es iſt darum mit großer Genugthuung zu begrüßen, wenn nach einer Periode emſiger Stoffſammlung in neueſter Zeit die Probleme der modernen Verkehrswirtſchaft mit Eifer wieder aufgenommen worden ſind und wenn die Be - richtigung und der weitere Ausbau des alten Syſtems auf demſelben Wege verſucht wird, auf dem dieſes entſtanden iſt, nur mit Benutzung eines viel reicheren Thatſachenmate - rials. Denn es gibt in der That keine andere Forſchungs - methode, mit welcher man der komplizierten Verurſachung der Verkehrsvorgänge nahe kommen kann, als die iſolierende Abſtraktion und die logiſche Deduktion. Das einzige in - duktive Verfahren, welches daneben in Frage kommen kann, das ſtatiſtiſche, iſt für die meiſten hierher gehörigen Pro - bleme nicht fein und eindringend genug und kann nur als ergänzendes oder kontrollierendes Hilfsmittel herangezogen werden.

Auch für die Wirtſchaftsperioden der Vergangenheit wird die Aufgabe keine andere ſein. Zunächſt wird es ſich hier freilich noch in erhöhtem Maße darum handeln, die78 *[78*] Thatſachen zu ſammeln und morphologiſch darzuſtellen; dann aber werden die Erſcheinungen in ihrem Weſen richtig be - grifflich feſtgeſtellt, logiſch analyſiert und auf ihren Kauſal - zuſammenhang unterſucht werden müſſen. Man wird alſo mit der gleichen Methode vorzudringen haben, welche die klaſſiſche Nationalökonomie auf die Wirtſchaft der Gegen - wart angewendet hat. Für einige Seiten der antiken Oiken - wirtſchaft iſt dies in meiſterhafter Weiſe ſchon durch Rodbertus geſchehen; für die Wirtſchaft des Mittelalters war Aehnliches bis jetzt kaum verſucht. Gelingen kann das Unternehmen nur, wenn ſich Forſcher finden, welche ſich ganz in die thatſächlichen Vorausſetzungen vergangener Wirt - ſchaftsepochen und in das ökonomiſche Denken der Vor - fahren zu verſenken vermögen; niemals aber, wenn die halb erkannten, halb rationaliſtiſch rekonſtruierten Wirtſchafts - zuſtände der Vergangenheit ſich fortgeſetzt in den Kategorien der modernen Verkehrslehre beſpiegeln.

Nur auf dieſem Wege ſcheint mir die wirtſchafts - geſchichtliche Forſchung für die Theorie der heutigen Volks - wirtſchaft und dieſe für die Wirtſchaftsgeſchichte fruchtbar werden zu können; nur ſo dürfte die Geſetzmäßigkeit der wirtſchaftlichen Entwicklung und des volkswirtſchaftlichen Geſchehens zugleich der Erkenntnis näher gebracht werden.

II. Die gewerblichen Betriebslyſteme in ihrer geſchichtſichen Entwickſung.

Vortrag, gehalten auf Veranlaſſung der Gehe-Stiftung in Dresden den 4. Januar 1892.

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Die meiſten Menſchen haben in volkswirtſchaftlichen und ſozialen Dingen eine ſehr beſtimmte Meinung über das, was ſein ſoll, viel beſtimmter oft als über das, was iſt. Was nach ihrem Bedünken ſein ſollte, braucht durchaus nicht ein Idealzuſtand, ein nie Wirklichkeit ge - weſenes Phantaſiegebilde zu ſein. Sehr oft iſt es viel - mehr eine Vorſtellung, die dem Thatſachenkreiſe einer näheren oder entfernteren Vergangenheit entnommen iſt und die durch lange Gewöhnung für uns den Charakter des Nor - malen angenommen hat.

So geht es, wenn ich mich nicht täuſche, vielen unſerer Zeitgenoſſen auch mit dem, was wir Handwerk nennen und mit der ſog. Handwerkerfrage. Wir haben uns einmal daran gewöhnt, das Handwerk als die normale gewerbliche Betriebsform zu betrachten, nachdem dasſelbe in Deutſch - land über ein halbes Jahrtauſend das Leben des Bürger - ſtandes beherrſcht hat. Das Sprichwort ſagt: Handwerk hat einen goldenen Boden, und die Beobachtung lehrt, daß dieſer Boden heute nicht mehr golden iſt. Wir fragen uns, wie jener glückliche Zuſtand zurückgeführt, das Handwerk wiederbelebt werden könne.

Bücher, Die Entſtehung der Volkswirtſchaft. 682

Aber welches Recht haben wir, das Handwerk als normale Betriebsform zu betrachten und ſo gleichſam einem Ideale nachzuſtreben, deſſen Verwirklichung in der Ver - gangenheit liegt?

Die älteren Nationalökonomen ſtellen uns das Hand - werk als die Urform der gewerblichen Produktion dar. In einem Jäger - oder Hirtenſtamme , ſagt Adam Smith, findet ſich ein Menſch, der Bogen und Pfeile mit größerer Geſchicklichkeit verfertigt als alle anderen. Er tauſcht ſie gegen Vieh oder Wildpret bei ſeinen Genoſſen um und findet ſchließlich, daß er ſich dabei beſſer ſteht, als wenn er ſelbſt auf die Jagd ginge. Zuletzt macht er die An - fertigung von Schießgerät zu ſeiner Hauptbeſchäftigung und wird zu einer Art Waffenſchmied. Verfolgen wir dieſe hiſtoriſche Konſtruktion zwei Schritte weiter, ſo wird das Urbild des Handwerkers wahrſcheinlich nach einiger Zeit einen Lehrling nehmen und wenn dieſer ausgelernt hat, einen zweiten, während der erſte ſein Geſelle wird. Die ſpätere Entwickelung findet beim beſten Willen nichts mehr hinzuzuſetzen. Wenn wir heute vom Handwerker ſprechen, ſo denken wir uns einen kleinen Unternehmer, der in wohl - geordneter Stufenfolge vom Lehrling zum Geſellen, vom Geſellen zum Meiſter geworden iſt, der mit eigener Hand und eigenem Kapital für einen örtlich begrenzten Kunden - kreis produziert und dem der ganze Arbeitsertrag unge - ſchmälert zufließt. Alles, was man von einer Wirtſchafts - ordnung verlangen kann, die der Gerechtigkeit entſpricht,83 ſcheint in dem Daſein eines normalen Handwerkerſtandes verwirklicht: allmähliches ſoziales Aufſteigen, Selbſtändigkeit, ein Einkommen nach Verdienſt. Und diejenigen Betriebs - formen der Stoffumwandlung, welche von dieſem Urbilde abweichen, Hausinduſtrie und Fabrik, erſcheinen dann leicht als das Nichtnormale; die ſoziale Perſonengliederung, die Einkommensverteilung, welche ſie bedingen, ſcheinen der Idee der wirtſchaftlichen Gerechtigkeit nicht zu entſprechen.

Auch die neueren Nationalökonomen entfernen ſich ſelten weit von dieſer populären Anſchauungsweiſe. Wo ſie die drei bei ihnen anerkannten Betriebsſyſteme: Hand - werk, Hausinduſtrie, Fabrik einander gegenüberſtellen, ent - nehmen ſie faſt unwillkürlich den Grundeinrichtungen des Handwerks die Normen zur Beurteilung der übrigen. Die Hausinduſtrie war bis vor kurzem vielen von ihnen eine bloße Ausartung des Handwerks oder eine Uebergangs - bildung, die Fabrik ein notwendiges Uebel des Maſchinen - zeitalters. Unter dieſer Befangenheit des Urteils litt ſelbſt die wiſſenſchaftliche Erkenntnis der modernen Betriebs - weiſen, welche doch der Beobachtung unmittelbar ſich darbieten.

Eine hiſtoriſch aufbauende Betrachtung, wie ſie hier vorgelegt werden ſoll, muß ſich zu allererſt von der Auf - faſſung losmachen, daß irgend ein Betriebsſyſtem eines Wirtſchaftszweiges etwas für alle Zeiten und Völker Nor - males bedeuten könne. Auch das Handwerk iſt ihr nur eine in den Fluß der Geſchichte geſtellte Erſcheinung, deren Entſtehen, Beſtehen und Gedeihen an beſtimmte volkswirt -6 *84ſchaftliche Vorausſetzungen geknüpft iſt. Es iſt weder die urſprüngliche noch überhaupt eine entwickelungsgeſchichtlich notwendige Form der gewerblichen Gütererzeugung. Das heißt: es iſt ebenſo wenig notwendig, daß die Induſtrie eines Landes das Betriebsſyſtem des Handwerks durch - laufen hat, ehe ſie zur Hausinduſtrie oder Fabrik gelangt, als es notwendig iſt, daß jedes Volk vorher Jäger - und Nomadenvolk geweſen iſt, ehe es zum ſeßhaften Ackerbau übergeht. Dem Handwerk ſind bei uns andere Betriebs - ſyſteme der Stoffumwandlung vorausgegangen, ja ſie be - ſtehen zum Teil noch jetzt, ſelbſt in europäiſchen Ländern.

Dieſe primitiven induſtriellen Betriebsſyſteme ſind in ihrer großen entwickelungsgeſchichtlichen Bedeutung bis jetzt kaum beachtet worden, obwohl ſie Jahrtauſende hindurch das Wirtſchaftsleben der Völker beſtimmt und in ihrer ſozialen Organiſation tiefe Spuren eingeprägt haben. Nur ein verhältnismäßig kleiner Teil der Gewerbegeſchichte, der - jenige, welcher in dem geſchriebenen Rechte die Quellen ſeiner Erkenntnis uns hinterlaſſen hat, iſt bis jetzt einiger - maßen aufgehellt, und dieſer auch viel mehr nach ſeiner formalen Ordnung als nach ſeinem inneren Leben, ſeiner Betriebsweiſe. Selbſt das Zunfthandwerk des Mittelalters, dem in neuerer Zeit ſo viel ausdauernde und eindringende wiſſenſchaftliche Arbeit gewidmet worden iſt, iſt nach der Seite des Betriebs kaum genauer unterſucht worden. Will - kürliche rationaliſtiſche Konſtruktionen, bei denen mit den Vorausſetzungen und Kategorien der modernen Verkehrs -85 wirtſchaft argumentiert wird, beherrſchen noch weithin dieſes Gebiet.

Allerdings hat unſere hiſtoriſche Nationalökonomie ein reiches Material zur Wirtſchaftsgeſchichte der klaſſiſchen und der modernen Völker geſammelt. Aber es iſt noch kaum recht beachtet worden, daß die Bedingungen, unter denen die Wirtſchaften der Völker des Altertums und des Mittelalters ſtanden, bei der Kompliziertheit aller ſozialen Erſcheinungen für den modernen Beobachter ebenſo ſchwer rekonſtruierbar ſind, als die Konſequenzen eines ſozialiſtiſchen Zukunftsſtaates, auch bei der lebhafteſten und geſtaltungs - kräftigſten Phantaſie, erfaßt werden können. Das Ver - ſtändnis ganzer weit zurückliegender Epochen der Wirt - ſchaftsgeſchichte wird ſich uns erſt erſchließen, wenn wir primitive und kulturarme Völker der Gegenwart nach der wirtſchaftlichen Seite ihrer Exiſtenz mit der gleichen Sorg - falt beobachten werden, wie heute die Engländer und Nord - amerikaner. Statt zu den letzteren ſollten wir unſere jungen Nationalökonomen eher zu den Ruſſen, Rumänen oder Südſlaven auf Studienreiſen ſchicken; wir ſollten die Völker unſerer neugewonnenen Kolonien nach dieſer Seite erforſchen, ehe gerade die charakteriſtiſchen Seiten primitiver Wirt - ſchaftsweiſe und Rechtsanſchauung unter dem Einfluß des europäiſchen Handels bei ihnen verſchwinden.

Es iſt faſt als ein Glück zu bezeichnen, daß derartige fremde Einflüſſe ſelten ſehr tief in das eigentliche Volks - leben dringen, ſondern daß ſie ſich meiſt auf die bevor -86 zugten Klaſſen beſchränken. So kommt es, daß wir noch heute in großen Gebieten des öſtlichen und nördlichen Europas, die der achtloſe Reiſende mit der Eiſenbahn durch - fliegt, bei der Landbevölkerung uralte Formen der Be - dürfnisbefriedigung beobachten können, welche durch die Einwirkungen des modernen Verkehrs kaum hie und da eine leiſe Abänderung erlitten haben.

Wenn im Folgenden der Verſuch gemacht wird, das, was wir von der induſtriellen Produktion derartiger zu - rückgebliebener Volksſtämme wiſſen1)Der Stoff zu vorliegender Darſtellung iſt zum Teil aus der Litteratur, zum Teil durch beſondere Fragebogen geſammelt worden, welche bald direkt, bald durch Vermittlung von Freunden und früheren Schülern in die verſchiedenen Länder geſandt wurden. Zu einer um - faſſenden wiſſenſchaftlichen Darſtellung reicht das aufgekommene Ma - terial noch bei weitem nicht aus. Nachdem jedoch äußere Veran - laſſungen mich genötigt haben, mit den Ergebniſſen meiner Forſchungen hervorzutreten, mag die vorliegende kurze Darſtellung, welche nur das Wichtigſte in allgemein verſtändlicher Form zuſammenfaßt, hie und da als Leitfaden für ähnliche Studien vielleicht willkommen ſein. Von ausführlichen Litteraturangaben mußte abgeſehen werden. Das Not - wendigſte findet man in meinen Aufſätzen im Handwörterbuch der Staatswiſſenſchaften , Artikel Gewerbe, und im öſterr. Handels - muſeum Ihrg. 1890 Nr. 31 33., mit den Ergeb - niſſen der ſeitherigen gewerbegeſchichtlichen Forſchung zu einem überſichtlichen Geſamtbilde zu vereinigen, ſo kann es ſich nur darum handeln, die Hauptſtufen der Entwickelung in feſt umriſſener Zeichnung vorzuführen. Um durch die verwirrende Mannigfaltigkeit und den Formenreichtum der87 ethnographiſchen Einzelbeobachtungen einen Leitfaden zu ge - winnen, iſt es durchaus erforderlich, das Typiſche von dem Zufälligen zu ſondern, von Nebenformen und Uebergangs - bildungen abzuſehen und nur da einen neuen Abſchnitt der Entwickelung beginnen zu laſſen, wo die veränderte Be - triebsweiſe der Stoffumwandlung volkswirtſchaftliche Er - ſcheinungen hervorruft, die eine weſentliche Veränderung in der Gliederung der Geſellſchaft bedingen. Wir gelangen auf dieſe Weiſe zu fünf Hauptbetriebsſyſtemen des Ge - werbes. Es ſind in hiſtoriſcher Aufeinanderfolge:

  • 1) der Hausfleiß,
  • 2) das Lohnwerk,
  • 3) das Handwerk,
  • 4) das Verlagsſyſtem ( Hausinduſtrie ),
  • 5) die Fabrik.

Zunächſt wird es ſich darum handeln, die charakte - riſtiſchen wirtſchaftlichen Eigentümlichkeiten dieſer Betriebs - ſyſteme in knapper morphologiſcher Darſtellung hervorzu - heben, die ſozialgeſchichtliche Tragweite der ganzen Entwicke - lung aber bloß anzudeuten. Etwaige Lücken auszufüllen und die Uebergänge von einer zur anderen Betriebsweiſe klar zu legen, kann der Detailforſchung überlaſſen werden. Naturgemäß wird unſere Darſtellung am längſten bei den beiden älteren, dem Handwerk vorausgegangenen Betriebs - ſyſtemen verweilen müſſen, während für die ſpäteren eine kurze Charakteriſtik genügen dürfte. Wir beginnen mit dem Hausfleiße.

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Das Wort Hausfleiß iſt erſt in den letzten fünf - zehn Jahren in Deutſchland üblich geworden. Es iſt zu uns aus Norwegen und Dänemark verpflanzt worden, wo es für gewiſſe häusliche Beſchäftigungen der Familien - glieder, wie Spinnen, Weben, Nähen, die Anfertigung von Holzgerätſchaften u. dgl. gebraucht wird. Es iſt die in jenen Gegenden ſeit alter Zeit heimiſche, durch Klima und Beſiedelungsweiſe begünſtigte Uebung gewerblicher Technik, durch welche das Bauernhaus die Verarbeitung der in Feld und Wald erzeugten Rohſtoffe für den eigenen Bedarf ſelbſt vollzieht. Da dieſe Technik unter dem Einfluſſe der mo - dernen Verkehrswirtſchaft in Verfall zu geraten drohte, ſo hat man in Dänemark und Norwegen geglaubt, ſie durch ſchulmäßige Unterweiſung neu beleben zu ſollen, und dieſe Einrichtung hat dann bei uns als Handfertigkeitsunterricht freilich mit etwas verändertem Charakter Aufnahme gefunden.

Wohl wenige der Beförderer dieſes neuen Unterrichts - zweiges, dem ſeine pädagogiſche Bedeutung nicht abgeſprochen werden ſoll, haben ſich eine klare Vorſtellung von dem ge - bildet, was eigentlich der Hausfleiß für die nordiſchen Völker urſprünglich bedeutete und noch jetzt teilweiſe be - deutet. Hie und da hat man, namentlich im Anfang, den Handfertigkeitsunterricht für ein Mittel gehalten, neue Hausin - duſtrien anzupflanzen. Hausfleiß und Hausinduſtrie aber ſind entwickelungsgeſchichtlich zwei (wenigſtens bei uns) um Jahr - hunderte auseinanderliegende gewerbliche Betriebsſyſteme.

89

Hausfleiß iſt gewerbliche Produktion im Hauſe für das Haus aus ſelbſterzeugten Rohſtoffen. In ſeiner ur - ſprünglichen und reinſten Geſtalt ſetzt er voraus, daß kein Tauſch beſteht, ſondern daß jede Einzelwirtſchaft alle Be - dürfniſſe ihrer Angehörigen durch eigene Arbeit befriedigt. Jedes Gut durchläuft alle Stadien der Produktion in der - ſelben Wirtſchaft, in welcher es konſumiert werden ſoll. Die Produktion wird demgemäß immer nur nach Maßgabe des eigenen Bedarfs unternommen. Es gibt noch keinen Güterumlauf und kein Kapital. Das Haus hat nur Ge - brauchsvermögen auf verſchiedenen Stufen der Genußreife: Korn, Mehl und Brot, Flachs, Garn, Gewebe und Kleider; es hat auch Hülfsmittel der Produktion: die Handmühle, die Axt, die Spindel, den Webſtuhl, aber keine Güter, durch welche es auf verkehrsmäßigem Wege andere Güter gewinnen könnte. Alles verdankt es eigener Arbeit, und kaum iſt es möglich, die Verrichtungen des Haushalts von denen der Produktion zu trennen.

In der Form des Hausfleißes iſt das Gewerbe älter als die Landwirtſchaft. Ueberall, wo die Entdecker neuer Länder auf primitive Völker ſtießen, fanden ſie mancherlei gewerbliche Kunſtfertigkeit: die Anfertigung von Bogen und Pfeil, das Flechten von Matten und Gefäßen aus Binſen, Baſt und zähen Wurzeln, eine urwüchſige Töpferei, das Gerben der Felle, das Mahlen mehlhaltiger Körner auf der Handmühle, das Schmelzen des Eiſens in Erdgruben, das Bauen von Häuſern. Die Jägervölker Nordamerikas,90 wie die Nomadenhorden Sibiriens und die Negerſtämme Afrikas üben ſo noch heute mancherlei gewerbliche Technik, ohne eigene Handwerker zu beſitzen. Meiſtens ſind es die Frauen, denen überhaupt auf niederen Kulturſtufen der größte Teil der produktiven Arbeit aufgebürdet iſt, welche dieſe Techniken von Geſchlecht zu Geſchlecht fortpflanzen; oft aber teilen ſie ſich auch mit den Männern in die nötigen Arbeiten.

Beim Uebergang zum Ackerbau verliert dieſe Thätig - keit mehr und mehr den Charakter des Zufälligen; die ganze Wirtſchaft nimmt eine feſte Ordnung an; die gute Jahreszeit muß der Rohſtoffgewinnung und der Arbeit im Freien gewidmet werden; im Winter vereinigt die Stoff - verarbeitung die Glieder des Hauſes am Herd. Es bildet ſich eine feſte Regel für jede Art der Arbeit; jede wird nach den ſich von ſelbſt aufdrängenden Forderungen der Wirtſchaftlichkeit in das häusliche Leben eingefügt; die Sitte umſpinnt ſie mit ihren feinen ethiſchen Goldfäden; ſie bereichert und veredelt das Daſein der Menſchen, unter denen ſie von Geſchlecht zu Geſchlecht mit ihrer einfachen Technik und ihren urwüchſigen Formen ſich überträgt. Da man nur für den eigenen Gebrauch arbeitet, ſo überdauert das Intereſſe des Produzenten an ſeiner Hände Werk weit die Arbeitsperiode. Er verkörpert in demſelben ſein beſtes techniſches Vermögen und ſeinen ganzen Kunſtſinn. Gerade deshalb ſind auch die Erzeugniſſe des nationalen Haus -91 fleißes für unſer kunſtgewerbliches Zeitalter eine ſo reiche Fundgrube volkstümlicher Stilmuſter geworden.

Der norwegiſche Bauer iſt nicht bloß, wie der weſt - fäliſche Hofſchulze in Immermanns Münchhauſen, ſein eigener Schmied und Schreiner; er baut auch ſein Holz - haus ſelbſt, fertigt ſeine Ackergeräte, Wagen und Schlitten, gerbt das Leder, ſchnitzt mancherlei hölzernes und ſchmiedet ſelbſt metallenes Hausgerät1)Eilert Sundt, Om Husfliden i Norge, Christiania 1867. Blom, Das Königreich Norwegen, Leipzig 1843, S. 237. Th. Foreſter, Norwegen und ſein Volk, überſetzt von M. B. Lindau, S. 74. E. Sidenbladh, Schweden, Statiſtiſche Mitteilungen zur Wiener Weltausſtellung 1873.. In Island ſind ſogar die Bauern ſehr geſchickte Silberarbeiter. In Hochſchottland war noch am Ende des vorigen Jahrhunderts jeder ſein eigener Weber, Walker, Gerber und Schuſter. In Galizien, in der Bukowina, in vielen Teilen von Ungarn und Sieben - bürgen, in Rumänien, bei den ſüdſlaviſchen Völkerſchaften gab es bis auf die neuere Zeit kaum einen anderen Hand - werker, als den Schmied, und der iſt meiſt ein Zigeuner. In Griechenland und vielen anderen Teilen der Balkan - halbinſel kamen nur etwa noch wandernde Bauarbeiter hinzu2)Ueber die öſterreichiſchen Völker vergl. Die Hausinduſtrie Oeſterreichs. Ein Kommentar zur hausinduſtriellen Abteilung auf der allgemeinen land - und forſtwirtſchaftlichen Ausſtellung zu Wien 1890. Redigiert von W. Exner. Ferner Oeſterreichiſche Monatsſchrift für Geſellſchaftswiſſenſchaft IV, 90 ff. VIII, 22. IX, 98 und 331. A. Riegl, Textile Hausinduſtrie in Oeſterreich in den Mitteilungen. Zahlloſe ähnliche Beiſpiele ließen ſich von anderen92 Völkern anführen; insbeſondere wird die wunderbare An - ſtelligkeit und Handfertigkeit der ruſſiſchen und ſchwediſchen Bauern auf ihre vielſeitige techniſche Bethätigung in der eigenen Wirtſchaft zurückzuführen ſein1)Vgl. Roſcher, Syſtem, I, § 62, N. 2.. Die gewerblichen Frauenarbeiten, das Spinnen, Weben, Brotbacken ꝛc. ſind aus alter und neuer Zeit zu ſehr bekannt, als daß es darüber weiterer Worte bedürfte.

Um von dem ganzen Reichtum hauswirtſchaftlicher Geſchicklichkeit, die das Leben kulturarmer Völker auszeichnet, eine Vorſtellung zu gewinnen, bedürfte es einer eingehenden Schilderung eben dieſes Lebens ſelbſt. Dazu fehlt uns leider hier der Raum. Es wird aber genügen, wenn fol - gende Sätze aus einer Darſtellung des Hausfleißes in der Bukowina hier wiedergegeben werden2)C. A. Romstorfer bei Exner, Die Hausinduſtrie Oeſter - reichs, S. 159 ff. vgl. H. Wiglitzky, Die Bukowinaer Hausinduſtrie und die Mittel und Wege zur Hebung derſelben. Czernowitz 1888..

Im kleinen Kreiſe der Familie oder doch nur inner - halb der engen Dorfgrenzen beſorgt der Bukowinaer Land -2)des k. k. öſterreichiſchen Muſeums N. F. IV, S. 411 ff. Braun und Krejcſi, Der Hausfleiß in Ungarn, Leipzig 1886. Schwicker, Statiſtik des Königreichs Ungarn, Seite 403 ff., 411, 426 ff. J. Paget, Ungarn und Siebenbürgen, Leipzig 1842, II. S. 163. 173. 264. 269. Franz Joſeph Prinz von Battenberg, Die volkswirtſchaftliche Entwickelung Bulgariens, Leipzig 1891. Ueber die anderen Länder der Balkanhalbinſel: Reports from her Majestys diplomatic and consular agents abroad, respecting the condition of the industrial classes in foreign countries. London 1870 72.93 bewohner ſich alle ſeine Lebensbedürfniſſe ſelbſt. Beim Bau des Hauſes verſteht es der Mann in der Regel, die Arbeiten des Zimmermanns, Dachdeckers u. dgl. zu ver - ſehen, während das Weib das Bemörteln der geflochtenen und geſtockten Wände oder das Dichten der Blockwand - fugen mit Moos, das Stampfen des Fußbodens und viele andere einſchlägige Arbeiten übernehmen muß. Vom Anbau der Geſpinnſtpflanze oder der Aufzucht des Schafes an bis zur Fertigſtellung der Bett - und Kleidungsſtücke aus Leinen, Wolle oder Pelzwerk, Leder, Filz oder Strohgeflecht er - zeugt ferner das Bukowinaer Landvolk alles, ſelbſt die Farbſtoffe aus eigens gezogenen Pflanzen, ſowie die nötigen, allerdings höchſt primitiven Handwerkzeuge. Und ſo iſt es im allgemeinen auch mit der Nahrung. Mit Aufwand ziemlich bedeutender Mühe pflegt der Bauer ſein Maisfeld, ſtellt auf der Handmühle das Kukuruzmehl her, das er zum Backen ſeiner Hauptkoſt (Mamaliga, der Polenta ähnlich) verwendet. Auch ſeine einfachen Ackerwerkzeuge, die Ge - fäße und Geräte für die Wirtſchaft und die Küche weiß er ſelbſt herzuſtellen, oder es verſteht das wenigſtens ein Autodidakt im Dorfe. Nur die Bearbeitung des Eiſens, welches Material die eingeborene Bevölkerung in äußerſt geringen Mengen verbraucht, überläßt er im allgemeinen den im Lande zerſtreut lebenden Zigeunern.

So reich ſich aber auch die gewerbliche Kunſtfertigkeit des ſich ſelbſt genügenden Hauſes entwickeln mag, immer - hin müßte eine ſolche Art der Güterverſorgung ſich ſchließlich94 als unzulänglich erweiſen, wenn das Haus bloß auf die engere blutsverwandte Gemeinſchaft, die wir Familie nennen, angewieſen wäre. Allerdings iſt der ältere Familienver - band ein weiterer, als die jetzige Familie; aber bei vielen Völkern löst ſich gerade in der Zeit, wo die Bedürfniſſe ſich vermehren und verfeinern, die Sippe auf und benimmt ſo dem Hauſe die Möglichkeit einer weitergehenden Arbeits - teilung unter ſeinen Gliedern. Der Uebergang zur berufs - mäßigen Geſtaltung der Produktion und zur Tauſchwirt - ſchaft wäre hier unvermeidlich, wenn es nicht gelänge, durch die Aufnahme von Sklaven oder die Anſetzung von Hörigen künſtlich den Kreis des Hauſes zu erweitern. Je größer die Zahl dieſer unfreien Hausgenoſſen wird, um ſo leichter wird es, eine vielſeitige Arbeitsteilung unter ihnen einzu - führen und den Einzelnen für die Ausübung einer beſtimmten gewerblichen Technik auszubilden. So finden wir ſchon unter den Hausſklaven der reichen Griechen und Römer induſtrielle Arbeiter von mancherlei Art, und Karl der Große ſchreibt in der berühmten Anweiſung über die Ver - waltung ſeiner Landgüter genau vor, welcherlei Arten von unfreien Arbeitern auf jeder Villa gehalten werden ſollen. Ein jeder Vogt, heißt es da, ſoll in ſeinem Dienſte haben gute Werkleute, als da ſind Schmiede, Gold - oder Silberarbeiter, Schuhmacher, Drechsler, Zimmerleute, Schild - macher, Fiſcher, Vogelſteller, Seifenſieder, Methbrauer (sice - ratores), Bäcker und Netzſtricker. Zahlreiche ähnliche Nach - richten liegen von den Fronhöfen der anderen Großen und95 den Klöſtern vor. Die Handwerksleute, welche ſie halten, ſtehen nur in ihrem Dienſte; ſie ſind bald bloßes Hofge - ſinde, das in den Gebäuden des Fronhofes Wohnung und Koſt empfängt, bald ſind ſie auf eigenen Landſtellen ange - ſiedelt, gewinnen darauf ihren Lebensunterhalt und leiſten dafür in ihrer ſpeziellen Kunſt Fronarbeit. Zum Zeichen, daß ſie dem Hofe mit ihrer Geſchicklichkeit verpflichtet ſind, führen ſie den Namen officiales, officiati, d. h. Amtleute.

Wie man ſieht, hat hier der Hausfleiß eine umfaſſende Organiſation gefunden, welche dem Herrn des Fronhofes eine verhältnismäßig reiche und vielſeitige Konſumtion auch von Induſtrieprodukten erlaubt.

Aber der Hausfleiß bleibt nicht reine Bedarfsproduktion. Schon bei den alten Griechen ließen reiche Sklavenbeſitzer eine größere Zahl ihrer unfreien Arbeiter, die ſie nicht in der eigenen Wirtſchaft brauchten, für eine beſtimmte In - duſtrie abrichten und produzierten dann für den Markt. Noch häufiger iſt es, daß die Bauernfamilien Ueberſchüſſe ihrer Hausfleißproduktion in ähnlicher Weiſe in den Aus - tauſch bringen wie die Ueberſchüſſe ihrer Landwirtſchaft und Viehzucht. So hat in vielen Teilen Deutſchlands die ländliche Bevölkerung ſeit dem Mittelalter auf den ſtädtiſchen Märkten und Meſſen ihr Leinentuch abgeſetzt, und im vorigen Jahrhundert hat man in Schleſien und Weſtfalen ſtaatliche Einrichtungen getroffen, um die Hausleinwand exportfähig zu machen. So iſt in den Oſtſeeländern das grobe Wollenzeug, welches noch heute dort die Bauern -96 frauen weben, das Vadhmâl, im Mittelalter einer der verbreitetſten Handelsartikel geworden und hat geradezu als Geld gedient. Aehnlich ſind bei manchen Völkern Afrikas Matten und allerlei Baſtgeflechte allgemeine Tauſchmittel. In den japaniſchen Dörfern wird faſt in jedem Hauſe aus der auf den eigenen Feldern gewonnenen Baumwolle Garn geſponnen und Zeug gewoben, von dem ein Teil in den Austauſch kommt. In Schweden durchwandern die Weſt - goten und Smaländer faſt das ganze Land, um die zu Hauſe gewobenen baumwollenen oder wollenen Zeuge zum Verkaufe auszubieten. In Ungarn, Galizien, Rumänien und den ſüdſlaviſchen Ländern trifft man überall auf den ſtädtiſchen Wochenmärkten Bauern, welche ihre Thon - und Holzwaaren, Bäuerinnen welche neben Gemüſe und Eiern die ſelbſtgefertigten Schürzen, die geſtickten Bänder und Spitzen auslegen. Namentlich wenn ſich der Grundbeſitz zerſplittert und zum Unterhalte einer Familie nicht mehr ausreicht, verlegt ſich ein Teil der Bauern auf einen be - ſonderen Zweig des Hausfleißes und produziert dann in ähnlicher Weiſe für den Markt, wie unſere ſüddeutſchen Kleinbauern Wein, Hopfen oder Tabak erzeugen. Der nötige Rohſtoff wird anfangs noch auf dem eigenen Felde oder aus dem Gemeindewalde gewonnen, ſpäter auch wohl gekauft. Allerlei verwandte Produktionen ſchließen ſich an, und ſo bildet ſich, wie in vielen Teilen Rußlands, aus dem Hausfleiß ein unendlich formenreiches bäuerliches Klein - gewerbe.

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Aber die Entwickelung kann auch anders verlaufen, und dann entſteht ein ſelbſtändiger gewerbetreibender Be - rufsarbeiterſtand und damit unſer zweites gewerbliches Be - triebsſyſtem: das Lohnwerk. Während ſeither alle ge - werbliche Technik in enger Verbindung mit dem Grund - beſitz und der Urproduktion ausgeübt wurde, löst ſich nunmehr der geſchickte Hausfleißarbeiter von dieſer Ver - bindung ab und begründet gerade auf dieſe ſeine techniſche Geſchicklichkeit eine eigene, vom Grundbeſitz unabhängige Exiſtenz. Aber er hat bloß ſein einfaches Werkzeug, kein Betriebskapital. Er bethätigt deshalb ſeine Kunſt immer an fremdem Rohſtoff, den ihm der Erzeuger dieſes Roh - ſtoffes, der zugleich der Konſument der fertigen Produkte iſt, liefert.

Dabei ſind wieder zwei verſchiedene Formen dieſes Verhältniſſes möglich. Entweder wird der Lohnwerker zeitweiſe in das Haus genommen, erhält Koſt und wenn er nicht am Orte anſäßig iſt, auch Wohnung, ſowie einen Taglohn und bleibt nur ſo lange, bis die Bedürfniſſe ſeines Kunden befriedigt ſind. Wir nennen das in Süddeutſch - land auf die Stör gehen und können darnach die ganze Betriebsform Stör, den ſo arbeitenden Gewerbe - treibenden einen Störer nennen. Die Schneiderinnen und Näherinnen, welche vielerorts die Frauen in’s Haus zu nehmen pflegen, können die Sache veranſchaulichen.

Oder der Lohnwerker hat eine eigene Betriebsſtätte, und es wird ihm der Rohſtoff hinausgegeben. Für dieBücher, Die Entſtehung der Volkswirtſchaft. 798Bearbeitung deſſelben erhält er Stücklohn. Der Leinen - weber, der Müller und der Lohnbäcker auf dem Lande ſind Beiſpiele. Wir wollen dieſe Form als Heimwerk be - zeichnen. Sie findet ſich hauptſächlich bei Gewerben, welche feſtſtehender, ſchwer transportierbarer Produktionsmittel (Mühlen, Backöfen, Webſtühle, Feuereſſen u. dgl. ) bedürfen.

Beide Formen des Lohnwerkes ſind noch jetzt ſehr häufig in allen Teilen der Erde. Es ließen ſich Beiſpiele aus Indien und Japan, aus Marokko und dem Sudan und faſt aus allen Ländern Europas anführen. Das Syſtem läßt ſich von Homer ab durch das ganze Altertum und Mittelalter bis auf die neueſte Zeit in der Litteratur ver - folgen. Die ganze Auffaſſung, in welcher die griechiſchen und römiſchen Rechtsquellen das Verhältnis des Kunden zum ſelbſtändigen (perſönlich freien oder unfreien) Hand - werker ſehen, beruht auf dem Lohnwerk; zahlreiche Be - ſtimmungen des mittelalterlichen Zunftrechts finden nur aus ihm ihre Erklärung.

Noch heute iſt es in den Alpenländern die vorherr - ſchende Betriebsweiſe auf dem Lande. Der ſteiriſche Schrift - ſteller P. K. Roſegger hat in einem anziehenden Buche1)Aus meinem Handwerkerleben, Leipzig 1880. ſeine Erlebniſſe als Lehrling eines in den Bauernhöfen um - herziehenden Schneiders geſchildert. Die Bauernhand - werker, ſagt er in der Vorrede, als der Schuſter, der Schneider, der Weber, der Böttcher (anderwärts auch der Sattler, der Schreiner, überhaupt alle Bauhandwerker)99 ſind in vielen Alpengegenden eine Art Nomadenvolk. Sie haben wohl irgend eine beſtimmte Wohnung, entweder im eigenen Häuschen oder in der gemieteten Stube eines Bauern - hofes, wo ihre Familie lebt, wo ſie ihre Habſeligkeiten bergen und wo ſie ihre Sonn - und Feiertage zubringen; am Montagmorgen aber nehmen ſie ihr Werkzeug auf den Rücken oder in die Seitentaſche und gehen auf die Ster, d. h. ſie gehen auf Arbeit aus und heimſen ſich im Bauern - hauſe, wohin ſie beſtellt ſind, ſo lange ein, bis ſie die be - ſtimmte Arbeit, den Hausbedarf, verfertigt haben. Dann wenden ſie ſich wieder zu einem anderen Hof. Der Hand - werker wird in ſeinem Sterhauſe wie zur Familie gehörig betrachtet; zum Uebernachten für ihn hat jeder Bauernhof eine eigene Stube mit einem Handwerkerbett; wo er in der Woche gearbeitet hat, wird er am Sonntag zu Tiſche geladen.

Faſt mit den gleichen Ausdrücken werden uns die ge - werblichen Verhältniſſe auf dem Lande in Schweden und manchen Teilen Norwegens geſchildert. In Rußland und den ſüdſlaviſchen Ländern ſind Hunderttauſende von Lohn - werkern, namentlich den Bau - und Bekleidungsgewerben angehörig, welche ein ſtändiges Wanderleben führen und wegen der großen Entfernungen oft ein halbes Jahr und mehr von ihrer Heimat fortbleiben.

Volkswirtſchaftlich betrachtet iſt das Weſentliche an dieſem Betriebsſyſtem, daß es kein Betriebskapital gibt. Weder der Rohſtoff noch das fertige Gewerbeprodukt wird7 *100für ſeinen Erzeuger jemals ein Mittel des Gütererwerbs. Art und Umfang der Produktion beſtimmt noch immer der Grundbeſitzer, der den Rohſtoff erzeugt; er leitet auch den ganzen Produktionsprozeß. Der Bauer erzeugt den Roggen, driſcht und reinigt ihn und gibt dann das Korn dem Müller gegen Naturallohn (Molter) zum Vermahlen; das Mehl erhält der Bäcker und liefert gegen den Backlohn und Er - ſatz des Heizmaterials eine Anzahl Brotlaibe daraus. Vom Momente der Ausſaat bis zum Augenblick des Brotgenuſſes iſt das Produkt niemals Kapital geweſen, ſondern immer nur Gebrauchsgut auf dem Weg zur Genußreife. An das fertige Produkt heften ſich keine Unternehmergewinne und Zinſenzuſchläge oder Austauſchprofite, ſondern nur Arbeits - löhne.

Es iſt dies unter gewiſſen Kulturzuſtänden und bei ſehr einfachen Bedürfniſſen eine überaus wirtſchaftliche Pro - duktionsweiſe, die wie der Hausfleiß eine völlige Anpaſſung der Gütererzeugung an den Bedarf ſichert. Im Mittelalter hat ſie die Befreiung der Handwerker aus der Hörigkeit und dem Hofrecht unendlich erleichtert, da ſie für den Be - ginn eines ſelbſtändigen Gewerbebetriebs kein nennenswertes eigenes Vermögen vorausſetzt. Mit großem Unrecht wird noch immer der zünftige Handwerkerſtand des Mittelalters als ein Stand kleiner Kapitaliſten angeſehen. Er war viel - mehr im weſentlichen ein gewerblicher Arbeiterſtand, der ſich von den heutigen Arbeitern dadurch unterſchied, daß er für viele Konſumenten, nicht für einen einzelnen Unter -101 nehmer arbeitete. Die Materiallieferung durch den Be - ſteller herrſcht faſt bei allen mittelalterlichen Handwerken vor; ja ſie dauert bei vielen ſelbſt dann noch Jahrhunderte hindurch fort, als der Beſteller den Rohſtoff nicht mehr in eigener Wirtſchaft erzeugte, ſondern ihn kaufen mußte, wie das Leder für den Schuſter, das Tuch für den Schneider. Nur ſehr langſam bürgert ſich die Materialſtellung durch den Meiſter ein, anfangs bloß für die ärmeren Kunden, ſpäter auch für die vermögenden. So entſteht das Hand - werk in dem Sinne, in welchem es heute gewöhnlich ver - ſtanden wird.

Von den beiden Formen des Lohnwerks geht in den Städten zuerſt die Stör unter. Dieſer Untergang wird durch das Eingreifen der Zünfte weſentlich beſchleunigt1)Es mag bei dieſer Gelegenheit nicht unangebracht ſein, darauf hinzuweiſen, daß bei Abgrenzung der zünftigen Gewerbegerechtſame auch der alte Hausfleiß in Mitleidenſchaft gezogen worden war. In ſehr vielen Zunftordnungen findet ſich die Beſtimmung, daß der Nicht - zünftige wohl Handwerksprodukte verfertigen darf, aber nur ſoviel er in ſeinem Hauſe braucht, nicht für den Verkauf. Es war damit die oben S. 95 f. geſchilderte Ueberſchußproduktion des Hauſes für den Markt unmöglich gemacht.. Die Stör erinnerte zu ſehr an die alte Hörigkeit. Der Gewerbetreibende iſt bei ihr ſozuſagen nur eine beſondere Art von Taglöhner, der ſich einer fremden Hausordnung zeitweiſe fügen muß. Daher finden wir ſeit dem XIV. Jahr - hundert in den Zunftordnungen zahlreiche Verbote, daß die Meiſter in den Häuſern arbeiten. Aus derſelben Urſache102 ſchreibt ſich der Haß, den die ſtädtiſchen gegen die Land - handwerker bethätigen; denn dieſen ließ ſich das Arbeiten auf der Stör nicht wohl verbieten. Schließlich wird Stö - rer oder Bönhaſe zum allgemeinen Schimpfwort für diejenigen, welche ohne zünftige Gewerbeberechtigung arbeiten. In den norddeutſchen Städten nahmen die Zunftmeiſter das Recht für ſich in Anſpruch, die Störer in den Häuſern ihrer Kunden aufzuſpüren und ſie zur Verantwortung zu ziehen (die ſog. Bönhaſenjagd), und die öffentliche Gewalt war manchmal ſchwach genug, ihnen dieſen Bruch des bürger - lichen Hausfriedens nachzuſehen.

Freilich wurde die Verdrängung des einen Betriebs - ſyſtems durch das andere den Zünften nicht überall ſo leicht gemacht. Schon am Ende des XV. Jahrhunderts tritt ihnen die fürſtliche Landeshoheit energiſch entgegen. In der churſächſiſchen Landesordnung von 1482 werden Schuſter, Schneider, Kürſchner, Tiſchler, Glaſer und andere Hand - werker, welche ſich ohne hinreichenden Grund im Kunden - hauſe zu arbeiten weigern ſollten, mit der für damalige Verhältniſſe hohen Strafe von 3 Gulden bedroht. In Baſel wurde 1526 zur Aufrechterhaltung alten löblichen Brauchs eine genaue Ordnung für die Hausſchneider ge - geben. In zahlreichen deutſchen Territorien wurden für die verſchiedenen Arten von Lohnwerkern genaue Taxord - nungen aufgeſtellt. So hat ſich in manchen Gewerben, namentlich bei den Bauhandwerken, das Lohnwerk bis in dieſes Jahrhundert erhalten.

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Bei der Mehrzahl aber trat an ſeine Stelle dasjenige Betriebsſyſtem, welches man heute als Handwerk zu be - zeichnen pflegt und das ich bereits im Eingang gekennzeichnet habe. Man könnte es auch Preiswerk nennen, um den Gegenſatz gegen das Lohnwerk zu markieren. Denn der Handwerker unterſcheidet ſich von dem Lohnwerker nur dadurch, daß er im Beſitze ſämtlicher Produktionsmittel iſt und daß er das fertige Produkt, welches aus dem von ihm gelieferten Rohſtoff und der darin verkörperten Arbeit zu - ſammengeſetzt iſt, um einen beſtimmten Preis verkauft, während der Lohnwerker bloß Vergütung für ſeine Arbeit empfängt.

Alle wichtigen Eigentümlichkeiten des Handwerks laſſen ſich in das eine Wort zuſammenfaſſen: Kundenpro - duktion. Die Art des Abſatzes iſt es, die dieſes Be - triebsſyſtem vor allen ſpäteren auszeichnet. Der Hand - werker arbeitet immer für den Konſumenten ſeines Pro - dukts, ſei es, daß dieſer durch Beſtellung einzelner Stücke ihm dazu die Anregung gibt, ſei es, daß beide auf dem Wochen - oder Jahrmarkte ſich treffen. In der Regel iſt das Abſatzgebiet ein lokales: die Stadt und ihre nähere Umgebung. Der Kunde kauft aus der erſten, der Hand - werker liefert an die letzte Hand. Dies ſichert Anpaſſung an den Bedarf und gibt dem ganzen Verhältnis einen ethiſchen Zug: der Produzent fühlt ſich dem Konſumenten gegenüber verantwortlich für ſeine Arbeit.

Mit dem Aufkommen des Handwerks geht ſozuſagen104 ein breiter Riß durch den volkswirtſchaftlichen Produktions - prozeß. Hatte ſeither der Grundeigentümer dieſen ganzen Prozeß geleitet, wenn auch mit Zuhülfenahme fremder Lohn - arbeiter, ſo gibt es jetzt zwei Arten von Wirtſchaften, von denen jede nur einen Teil des Produktionsprozeſſes voll - zieht: die eine erzeugt das Rohprodukt, die andere das Fabrikat. Durch die Gewinnung eines eigenen Betriebs - kapitals wird der Handwerkerſtand aus einer bloß lohn - erwerbenden Arbeiterklaſſe zu einem beſitzenden Produzen - tenſtand, und der bewegliche Beſitz, der ſich jetzt, losgelöst vom Grundbeſitz, in ſeiner Hand ſammelt, wird die Grund - lage einer eigenen ſozialen und politiſchen Berechtigung, die in dem Bürgerſtande verkörpert iſt.

Das direkte Verhältnis des Handwerkers zu den Kon - ſumenten ſeiner Produkte bedingt die Kleinhaltung des Be - triebs. Droht ein Handwerksbetrieb zu groß zu werden, ſo ſplittern ſich neue Handwerke ab, die einen Teil ſeines Produktionsgebietes übernehmen. Das iſt die Arbeitsteilung des Mittelalters1)Näheres über dieſe in meinem Buche: Die Bevölkerung von Frankfurt a. M. im XIV. und XV. Jahrhundert I, S. 228. Vergl. auch die Vorträge I und III. , die immer neue ſelbſtändige Exiſtenzen ſchafft und die ſpäter zu jener eiferſüchtigen Abgrenzung der Arbeitsgebiete führte, welche einen guten Teil der Kraft des Zunftweſens in inneren Streitigkeiten aufzehrte.

Das Handwerk iſt eine ſpezifiſch ſtädtiſche Er - ſcheinung. Völker, die wie die Ruſſen kein eigentliches105 Städteweſen ausgebildet haben, kennen auch kein nationales Handwerk. Darin liegt aber auch, daß mit der Ausbildung größerer zentraliſierter Staatsweſen und einheitlicher Ver - kehrsgebiete das Handwerk zurückgehen mußte. Es bildete ſich im XVII. und XVIII. Jahrhundert ein neues Betriebs - ſyſtem, das nicht mehr auf den lokalen, ſondern auf den nationalen und internationalen Markt begründet war. Unſere Vorfahren haben dasſelbe mit dem Doppelnamen Manu - fakturen und Fabriken bezeichnet, ohne zwiſchen bei - den Ausdrücken einen Unterſchied zu machen. Näher be - ſehen handelt es ſich eigentlich um zwei verſchiedene Be - triebsſyſteme. Das eine hat man ſeither mit dem mißver - ſtändlichen Worte Hausinduſtrie belegt; wir wollen es Verlagsſyſtem nennen; das andere iſt unſere Fa - brik. Beide Syſteme ſtellen ſich die Aufgabe, ein weites Marktgebiet mit Induſtrieprodukten zu verſorgen; beide bedürfen dazu einer größeren Zahl von Arbeitern; ver - ſchieden nur ſind dieſelben in der Art, wie ſie jene Aufgabe löſen und die Arbeiter organiſieren.

Am einfachſten verfährt dabei das Verlagsſyſtem. Es läßt die ſeitherige Produktionsweiſe zunächſt ganz un - berührt und beſchränkt ſich darauf, den Abſatz zu or - ganiſieren. Der Verleger iſt ein kaufmänniſcher Unter - nehmer, der regelmäßig eine größere Zahl von Arbeitern außerhalb ſeiner eigenen Betriebsſtätte in ihren Wohnungen beſchäftigt. Dieſe Arbeiter ſind entweder ehemalige Hand - werker, welche fortan anſtatt für viele Konſumenten für106 den einen Händler produzieren. Oder ſie ſind ehemalige Lohnwerker, welche jetzt den Rohſtoff, den ſie verarbeiten, nicht mehr vom Konſumenten, ſondern vom Kaufmann em - pfangen. Oder es ſind Bauernfamilien, welche ehemalige Hausfleißprodukte jetzt als Marktware erzeugen, die durch den Verleger in den Welthandel gebracht wird.

Verleger kommt von Verlag = Vorlage, Vorſchuß. Der Verleger ſchießt den kleinen Produzenten, die anfangs noch eine ziemlich ſelbſtändige Stellung haben, bald bloß den Kaufpreis ihrer Produkte vor, bald liefert er ihnen auch den Rohſtoff und zahlt dann Stücklohn, bald gehört ihm ſogar das Hauptwerkzeug (der Webſtuhl, die Stick - maſchine ꝛc.). Nach und nach ſinken die kleinen Produ - zenten, da ſie nur einen Abnehmer haben, in immer tiefere Abhängigkeit herunter; der Verleger wird ihr Ar - beitgeber, und ſie ſind Arbeiter, auch wenn ſie formell den Rohſtoff ſelbſt liefern.

Es dürfte nicht nötig ſein, hier das Verlagsſyſtem und ſein Arbeitsverhältnis, die Hausinduſtrie, des näheren zu ſchildern. Wir haben Beiſpiele genug in den deutſchen Gebirgsgegenden: die Strohflechterei, die Uhren - und Bürſten - fabrikation im Schwarzwald, die oberbayeriſche Schnitzerei, die Spielwarenfabrikation im Meininger Oberland, die voigtländiſche Stickerei, die erzgebirgiſche Spitzenklöppelei u. ſ. w. Die Geſchichte und die gegenwärtige Lage dieſer Induſtrien iſt in neuerer Zeit vielfach unterſucht worden. Ich kann darauf ebenſowenig eingehen, wie auf den107 großen Formenreichtum, den gerade dieſes Betriebsſyſtem aufweiſt.

Das Weſentliche iſt und bleibt bei demſelben immer, daß das gewerbliche Produkt, ehe es in den Konſum ge - langt, Warenkapital, d. h. Erwerbsmittel für eine oder mehrere kaufmänniſche Zwiſchenperſonen wird. Mag der Verleger das Produkt auf den Weltmarkt bringen, mag er in der Stadt ein Verkaufsmagazin halten, mag er die Ware fertig zum Verſchleiß vom Hausarbeiter empfangen, mag er ſie einer letzten Appretur unterwerfen; mag der Arbeiter ſich Meiſter nennen und Geſellen halten, mag er nebenbei Landwirtſchaft treiben immer wird der Hausinduſtrielle von dem eigentlichen Markte ſeines Produkts und von der Kenntnis der Marktverhältniſſe weit entfernt ſein, und darin liegt die Haupturſache ſeiner troſtloſen Schwäche.

Hat beim Verlag das Kapital ſich bloß des Vertriebs der Produkte bemächtigt, ſo ergreift dasſelbe bei der Fab - rik den ganzen Produktionsprozeß. Der Verlag rafft, um die ihm vorliegende Produktionsaufgabe zu bewältigen, eine große Zahl gleichartiger Arbeitskräfte loſe zuſammen, beſtimmt die Richtung ihrer Produktion, die für jede an - nähernd die gleiche iſt und läßt ihr Arbeitsprodukt wie in ein großes Reſervoir zuſammenfließen, ehe er es in alle Welt verſchickt. Die Fabrik organiſiert den ganzen Pro - duktionsprozeß; ſie faßt verſchiedenartige Arbeiter in gegen - ſeitiger Ueber - und Unterordnung zu einer einheitlichen wohldisziplinierten Körperſchaft zuſammen, vereinigt ſie in108 eigener Betriebsſtätte, ſtattet ſie mit einem großen viel - gliedrigen Apparat mechaniſcher Produktionsmittel aus und ſteigert dadurch in eminentem Maße ihre Leiſtungsfähigkeit. Die Fabrik unterſcheidet ſich vom Verlagsſyſtem wie das wohlgeordnete, einheitlich bewaffnete Kriegsheer der Linie vom bunt zuſammengewürfelten Landſturm.

Wie in einem ſchlagfertigen Armeekorps Truppen ver - ſchiedener Ausbildung und Bewaffnung: Infanterie -, Ka - vallerie - und Artillerieregimenter, Pioniere, Trains, Mu - nitions - und Proviantkolonnen zu einer Einheit zuſammen - gefügt ſind, ganz ſo vereinigt die Fabrik Arbeitergruppen von verſchiedener Ausbildung und Ausrüſtung und be - wältigt damit die ſchwerſten Produktionsaufgaben.

Das Geheimnis ihrer Stärke als Produktionsanſtalt liegt alſo in der zweckmäßigen Arbeitsverwen - dung. Um dieſe zu erzielen, ſchlägt ſie einen eigentüm - lichen Weg ein, der auf den erſten Blick ein Umweg zu ſein ſcheint. Sie zerlegt die geſamte in einem Produktions - prozeß nötige Arbeit möglichſt in ihre einfachſten Elemente, trennt die ſchwere von der leichten, die mechaniſche von der geiſtigen, die qualifizierte von der rohen Arbeit. Da - durch gelangt ſie zu einem Syſtem aufeinander folgender Verrichtungen und wird in den Stand geſetzt, Menſchen - kräfte der verſchiedenſten Art: gelernte und ungelernte, Männer, Frauen und Kinder, Hand - und Kopfarbeiter, techniſch, artiſtiſch und kaufmänniſch gebildete, neben und nach einander zu beſchäftigen. Die Beſchränkung jedes109 Einzelnen auf einen kleinen Teil des Arbeitsprozeſſes be - wirkt eine gewaltige Steigerung der Geſamtleiſtung. Hun - dert Fabrikarbeiter leiſten in dem gleichen Produktions - prozeß mehr als hundert ſelbſtändige Handwerksmeiſter, obwohl von den letzteren jeder das ganze Arbeitsverfahren beherrſcht, von den erſteren jeder nur einen kleinen Teil deſſelben. Soweit der Kampf des Handwerks mit der Fabrik auf techniſchem Gebiete liegt, iſt er ein Beweis, wie der Schwache den Starken überwindet, wenn er von über - legener Geiſteskraft geführt wird.

Die Maſchine iſt nicht das Weſentliche bei der Fabrik; aber die eben geſchilderte Arbeitszerlegung hat, in - dem ſie die Arbeitsleiſtung in einfache Bewegungen auflöſte, die Maſchinenverwendung unendlich gefördert und ver - mannigfaltigt. Maſchinen hat man ſeit alter Zeit im Ge - werbe beſchäftigt, Arbeits - und Kraftmaſchinen. Für die Fabrik aber hat ihre Verwendung erſt die heutige Be - deutung erlangt, als es gelungen war, eine ununterbrochen gleichmäßig wirkende, überall anwendbare Triebkraft, den Dampf, einzuſpannen, und auch hier nur im Zuſammen - hang mit dem eigentümlichen Arbeitsſyſtem der Fabrik.

Ein Beiſpiel mag das Geſagte verdeutlichen. Im Jahre 1787 hatte der Kanton Zürich 34000 Handſpinner und Spinnerinnen, welche Baumwollgarn erzeugten; nach der Einführung der engliſchen Spinnmaſchinen produzierten wenige Fabriken das gleiche oder ein größeres Quantum Garn, und die Zahl ihrer Arbeiter (meiſt Frauen und110 Kinder) betrug kaum ein Drittel der vorigen. Wie kam das? Durch die Maſchinen!? Aber war denn das Spinn - rad keine Maſchine? Gewiß, und zwar eine ſehr kunſtreiche. Alſo war Maſchine durch Maſchine verdrängt worden. Oder vielmehr, was ſeither die Handſpinnerin mit ihrem Rade geleiſtet hatte, das wurde jetzt durch die aufeinanderfolgende Arbeit einer ganzen Reihe verſchiedenartiger Arbeiter und verſchiedener Maſchinen geleiſtet. Der ganze Spinnprozeß war in ſeine einfachſten Elemente zerlegt worden; es waren ganz neue Manipulationen entſtanden, zu deren Ausführung zum Teil auch unreife Arbeitskräfte noch brauchbar waren.

Aus der Arbeitszerlegung gehen die weiteren Eigen - tümlichkeiten der Fabrik hervor: die Notwendigkeit des Großbetriebs, das bedeutende Kapitalerfordernis, die wirt - ſchaftliche Unſelbſtändigkeit der Arbeiter.

In Beziehung auf die beiden letzten Punkte offenbart ſich uns leicht ein wichtiger Unterſchied zwiſchen Fabrik - und Verlagsſyſtem. Das große ſtehende Kapital ſichert der Fabrik einen ſtetigeren Betrieb. Der Verleger kann ſeine Hausinduſtriellen jederzeit außer Beſchäftigung ſetzen, ohne ſelbſt Kapitalverluſte zu riskieren; aber der Fabrikant muß in einem ſolchen Falle weiter produzieren, weil er den Zinsverluſt und die Wertverminderung des ſtehenden Kapitales fürchtet und ſeinen eingeſchulten Ar - beiterſtamm nicht verlieren darf. Darum wird ſich voraus - ſichtlich das Verlagsſyſtem in den Induſtriezweigen von111 raſch wechſelnder Nachfrage und großer Mannigfaltigkeit der Artikel noch lange neben der Fabrik behaupten.

Wollen wir zum Schluſſe die fünf gewerblichen Be - triebsſyſteme mit wenigen Worten charakteriſieren, ſo können wir ſagen: Hausfleiß iſt gewerbliche Eigenproduktion, Lohn - werk iſt Kundenarbeit, Handwerk iſt Kundenproduktion, Verlag iſt bezentraliſierte und Fabrik zentraliſierte Waren - produktion. Und wie keine volkswirtſchaftliche Erſcheinung iſoliert daſteht, ſo iſt auch jedes dieſer induſtriellen Be - triebsſyſteme nur ein Ausſchnitt aus einer großen Wirt - ſchafts - und Sozialordnung. Der Hausfleiß iſt die Stoff - umformung der autonomen Hauswirtſchaft, das Lohnwerk gehört in die Zeit des Uebergangs von der geſchloſſenen Haus - zur Stadtwirtſchaft, die Blüte des Handwerks fällt in die Periode der ausgebildeten Stadtwirtſchaft, das Ver - lagsſyſtem leitet von der Stadtwirtſchaft zur National - oder Volkswirtſchaft (geſchloſſenen Staatswirtſchaft) hinüber, und die Fabrik iſt das Betriebsſyſtem der ausgebildeten Volks - wirtſchaft.

Es würde zu weit führen, hier auseinanderzuſetzen, wie jedes induſtrielle Betriebsſyſtem ſich organiſch in die Produktionsordnung ſeiner Zeit einfügt und wie es ſich mit einer Reihe verwandter Erſcheinungen auf dem Gebiete der Urproduktion, der perſönlichen Dienſte, des Handels, des Transports wechſelſeitig bedingt. Das wäre die Auf - gabe einer univerſellen Wirtſchaftsgeſchichte auf ethno -112 graphiſch vergleichender Grundlage, für die heute noch nicht die Zeit gekommen iſt.

Wenden wir den Blick auf das engere Gebiet der Ge - werbegeſchichte zurück, ſo kann es hier dem aufmerkſamen Auge kaum entgehen, daß alle Keime der hier in ihren wichtigſten Etappen geſchilderten Entwickelung in der Ur - zelle der Geſellſchaft, der Familie oder, um wirtſchaftlich zu ſprechen, in der Produktionsordnung des geſchloſſenen Hauſes liegen. Von dieſer uralten lebenſtrotzenden Ge - meinſchaft, in der alles individuelle Daſein verſchwand, haben ſich auf dem Wege der Differenzierung und Inte - gration fortgeſetzt Teile abgelöst und immer mehr ver - ſelbſtändigt. Das Lohnwerk iſt nur ein Wurzelſchößling am Baume der geſchloſſenen Hauswirtſchaft; das Hand - werk bedarf noch ihres Schirmes, um zu gedeihen; der Verlag macht den Vertrieb der Produkte zu einer eigenen Unternehmung, während die Produktion faſt auf die erſte Entwickelungsſtufe zurückſinkt; die Fabrik dagegen durch - dringt den ganzen Produktionsprozeß mit dem Unternehmer - prinzip: ſie iſt eine ſelbſtändige, von allen konſumtiven Elementen befreite Wirtſchaft, ſachlich und örtlich vom Haus - halt der Beteiligten getrennt.

Und ähnlich ändert ſich die Stellung des Arbeiters. Mit dem Beginn des Lohnwerkes trennt ſich der Induſtrie - arbeiter perſönlich von der geſchloſſenen Hauswirtſchaft des Grundeigentümers; mit dem Uebergang zum Handwerk wird er durch die Herausziehung der Betriebsmittel auch ſachlich113 frei und ſelbſtändig. Durch das Verlagsſyſtem tritt er perſönlich in eine neue Abhängigkeit: in die Klientel des kapi - talbeſitzenden Händlers; im Fabrikſyſtem wird er auch ſachlich von demſelben abhängig. Auf vier Etappen der Entwick - lung gelangt er von der Hofhörigkeit zur Fabrikhörigkeit.

Es iſt ein gewiſſer Parallelismus in dieſer Entwick - lung. Die Stellung des unfreien Hausfleißarbeiters zum antiken Grundherrn hat eine gewiſſe Verwandtſchaft mit derjenigen des Fabrikarbeiters zum modernen Unternehmer, und ähnlich wie der Lohnwerker zur Wirtſchaft des Grund - eigentümers verhält ſich der Hausinduſtrielle zum Handels - betriebe des Verlegers. In der Mitte dieſer auf - und abſteigenden Reihe ſteht das Handwerk als Grund - und Eckſtein derſelben. Vom Hausfleiß bis zum Handwerk all - mähliche Emanzipation des Arbeiters vom Grund und Boden und Bildung des Kapitals; vom Handwerk bis zur Fabrik allmähliche Loslöſung des Kapitals von der Arbeit und Unterwerfung des Arbeiters unter das Kapital. Auf der Stufe des Hausfleißes gibt es noch kein Kapital, ſon - dern nur Gebrauchsgüter auf verſchiedenen Stufen der Ge - nußreife. Alles gehört dem Hauſe: Rohſtoff, Werkzeug, Fabrikat, oft ſelbſt der Arbeiter. Beim Lohnwerk iſt nur das Werkzeug Kapital in der Hand des Arbeiters; Roh - und Hülfsſtoffe ſind Vorräte des Hauſes, die noch nicht genußreif ſind; die Betriebsſtätte gehört entweder ebenfalls dem Hauſe, welches das fertige Produkt verbrauchen will (Stör), oder dem Arbeiter, der es herſtellt (Heimwerk). Bücher, Die Entſtehung der Volkswirtſchaft. 8114Im Handwerk ſind Werkzeug, Betriebsſtätte und Rohſtoff Kapital im Eigentum des Arbeiters; der letztere wird Herr des Produkts, ſetzt dieſes aber immer nur an den un - mittelbaren Konſumenten ab. Im Verlagsſyſtem wird auch das Produkt Kapital, aber nicht des Arbeiters, ſondern einer ganz neu auf dem Plane erſcheinenden Perſon, des kaufmänniſchen Unternehmers; der Arbeiter behält entweder ſämtliche Produktionsmittel, oder er verliert zunächſt das Stoff - kapital, dann auch das Werkzeugkapital. So ſammeln ſich alle Kapitalbeſtandteile ſchließlich in der Hand des Fabrikunter - nehmers, der auf ihrem Grunde die gewerbliche Produktion neu organiſiert. In ſeinen Händen wird ſelbſt der Anteil des Arbeiters am Produkt zu einem Teil des Betriebskapitals.

Dieſer Anteil des Arbeiters beſteht auf der Stufe des Hausfleißes im Mitgenuß der erzeugten Produkte, beim Lohnwerk in der Koſt nebſt Zeit - oder Stücklohn, welcher bereits eine Vergütung für die Abnutzung der Werkzeuge mit enthält, beim Handwerk in dem vollen Produktionsertrag. Beim Verlagsſyſtem nimmt der Verleger einen Teil dieſes letzteren im Gewinne ſeines Betriebskapitals vorweg; beim Fabrikſyſtem werden alle kapitaliſierbaren Produktions - elemente zu Kryſtalliſationspunkten für Kapitalprofite; dem Arbeiter bleibt nur der vertragsmäßige Arbeitslohn.

Man darf ſich die geſchichtliche Entwickelung der in - duſtriellen Betriebsſyſteme aber nicht ſo denken, als ob jede neue Betriebsart die vorhergehende ältere verdränge und vollſtändig überflüſſig mache. Es iſt das ebenſowenig der115 Fall, wie etwa durch ein neues Verkehrsmittel die älteren verdrängt werden. Die Eiſenbahnen haben weder das Fuhrwerk auf freier Straße noch den Transport auf Schiffen, Saumtieren und dem Menſchenrücken beſeitigt; ſie haben nur jeder dieſer älteren Transportweiſen diejenige Stellung angewieſen, in der ſie ihre eigentümlichen Vorzüge am meiſten entfalten kann, und wahrſcheinlich werden heute in unſeren Kulturſtaaten mehr Pferde und Menſchen mit Trans - portdienſten beſchäftigt, als im Jahre 1830.

Ganz dieſelben Urſachen, welche dieſe gewaltige Stei - gerung des Verkehrs hervorgebracht haben, wirken in der Induſtrie und nehmen für dieſelbe trotz fortwährender Ver - vollkommnung der mechaniſchen Produktionsmittel in allen Ländern eine ſtets wachſende Menſchenzahl in Anſpruch. Von zwei Seiten aber empfängt das Produktionsgebiet des Gewerbes immer neuen Zuwachs:

  • 1. von Seiten der alten Haus - und Landwirtſchaft, von denen ſich immer noch Teile ablöſen und zu ſelbſtändigen Gewerbezweigen werden und
  • 2. durch ſtete Vervollkommnung
    1)Auf eine kritiſche Bemerkung zu dieſem Ausdruck in der Revue d’Économie politique vom November 1892, (p. 1228 Anmerkung) will ich nicht unterlaſſen, denſelben hier dahin zu präziſieren, daß ich nicht die Verbeſſerung der Qualität bereits vorhandener Güterſpezies darunter verſtehe ſondern die Erſetzung vorhandener Güter durch ſolche, welche dem Bedürfnis beſſer und billiger entſprechen.
    1) und Vermehrung der Güterwelt, welche zur Befriedigung unſerer Be - dürfniſſe dient.

Wenn man das ganze Quantum von Induſtriepro -8 *116dukten, das jährlich in Deutſchland hervorgebracht wird, dergeſtalt ſtatiſtiſch zuſammenfaſſen könnte, daß man zu ſcheiden im Stande wäre, was in Fabriken, was in der Hausinduſtrie, durch das Handwerk, das Lohnwerk, den Hausfleiß erzeugt iſt, ſo würde man ohne Zweifel finden, daß der größere Teil der Fabrikwaren Güter umfaßt, welche niemals von einem anderen Betriebsſyſtem erzeugt worden ſind und daß das Handwerk abſolut heute eine größere Produktenmenge hervorbringt als jemals früher. Gewiß haben Verlags - und Fabrikſyſtem einige kleinere Handwerke vollſtändig aufgeſogen und viele andere um Teile ihres Produktionsgebietes geſchmälert. Aber alle großen Zunft - handwerke, welche am Ende des vorigen Jahrhunderts be - ſtanden haben vielleicht mit einziger Ausnahme der Weberei beſtehen auch heute noch. Es findet eine fort - geſetzte Zurückdrängung des Handwerks durch die voll - kommeneren Betriebsſyſteme ſtatt, ähnlich wie im Mittel - alter durch das Handwerk Hausfleiß und Lohnwerk zurück - gedrängt wurden, nur weniger gewaltſam, auf dem Boden des freien Wettbewerbs. Und dieſe Konkurrenz aller mit allen, unterſtützt durch ein vervollkommnetes Transport - und Verkehrsſyſtem, erzwingt vielfach den Uebergang von der Kunden - zur Warenproduktion, auch wo techniſch die erſtere vielleicht noch länger möglich wäre. Viele ſelbſt - ſtändige Meiſter treten in die Klientel des Verlags oder der Fabrik in ähnlicher Weiſe, wie ihre Vorläufer vor einem Jahrtauſend in der Klientel des Fronhofs ſtanden.

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So iſt das Handwerk wirtſchaftlich und ſozial in die zweite Stelle gerückt; aber es iſt damit noch lange nicht vernichtet, und es wird auch gewiß ebenſowenig verſchwinden, wie Lohnwerk und Hausfleiß verſchwunden ſind. Was es der Geſellſchaft in einer Zeit allgemeiner Feudaliſierung gewon - nen hat, eine widerſtandsfähige Klaſſe vom Boden unabhäng - iger Leute, deren Exiſtenz auf perſönlicher Tüchtigkeit und einem kleinen beweglichen Beſitztum beruhte, eine Heimſtätte bürgerlicher Zucht und Ehrbarkeit, das wird und muß ihr er - halten bleiben, wenn auch wahrſcheinlich die künftigen Träger dieſer Tugenden ihr Daſein auf anderer Baſis friſten werden.

Es iſt in letzter Zeit mit ſeltſamer Dringlichkeit der Ruf nach Beſeitigung der älteren induſtriellen Betriebs - ſyſteme erhoben worden1)So von H. Loſch, Nationale Produktion und nationale Be - rufsgliederung, Leipzig 1892 und bezüglich der Hausinduſtrie von W. Sombart in Braun’s Archiv f. ſoz. Geſetzg. und Statiſtik IV, S. 144 ff. und im Handwörterbuch der Staatswiſſenſchaften IV, S. 435.. Das Handwerk, die Hausin - duſtrie, überhaupt alle Kleinbetriebsformen, ſagt man, lähmten die nationale Produktivkraft; ſie ſeien rückſtändige, über - wundene, rohe, um nicht zu ſagen ſozial hemmende Pro - duktionsmethoden , die im eigenſten Intereſſe derjenigen, welche ſie ausüben, durch eine vernünftige und zweck - mäßige Gliederung und Regelung der menſchlichen Thätig - keiten im Großen erſetzt werden müßten, wenn nicht auch ferner die thatſächliche Nationalproduktion hinter der tech - niſch möglichen weit zurückbleiben ſolle.

Dieſe kurzſichtige wirtſchaftspolitiſche Studierſtuben -118 logik iſt nicht neu. Es gab eine Zeit, in der man jeden Bauernſchuſter, der ſeine Kartoffeln und ſeinen Kohl ſelber baute, als eine Art Feind des höchſtmöglichen National - reichtums anſah und ihn am liebſten von Polizei wegen gezwungen hätte, bei ſeinem Leiſten zu bleiben, ſelbſt auf die Gefahr hin, daß er dabei verhungerte. Es iſt ja immer viel leichter geweſen, die Dinge zu meiſtern als ſie zu verſtehen.

Wenn man an die Stelle derartigen Abſprechens eine unbefangene Unterſuchung der Exiſtenzbedingungen jener an - geblich überlebten älteren Produktionsſyſteme hätte treten laſſen wollen, ſo würde man ſich bald überzeugt haben, daß dieſelben in den meiſten Fällen da, wo ſie heute noch fort - dauern, wirtſchaftlich und ſozial berechtigt ſind, und man würde die Mittel zur Beſeitigung der vorhandenen Uebel - ſtände auf dem Boden ſuchen, in welchem jene Induſtrie - formen wurzeln, anſtatt an ihnen die Kurmethode des Doktor Eiſenbart zu erproben. Man würde ſo die Vorzüge, die jedes dieſer Betriebsſyſteme unzweifelhaft beſitzt, erhalten und nur ihre Nachteile zu beſeitigen ſtreben.

Denn das iſt ja ſchließlich das tröſtliche Reſultat aller ernſteren Geſchichtsbetrachtung, daß kein einmal in das Leben der Menſchen eingeführtes Kulturelement verloren geht, ſon - dern daß jedes, auch wenn die Uhr ſeiner Vorherrſchaft abgelaufen iſt, an beſcheidenerer Stelle mitzuwirken fortfährt an dem großen Ziele, an das wir alle glauben, dem Ziele, die Menſchheit immer vollkommneren Daſeinsformen ent - gegenzuführen.

[119]

III. Arbeitsteilung und ſoziale Klaſſenbildung.

Vortrag, gehalten beim Antritt des Lehramtes an der Univerſität Leipzig den 5. November 1892.

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In den meiſten Wiſſenſchaften gibt es heutzutage po - puläre Wahrheiten. In der Regel handelt es ſich dabei um Lehrſätze von allgemeinerer Bedeutung, denen gleich bei ihrer Entſtehung von ihren Urhebern eine ſolche äußere und innere Vollendung gegeben worden iſt, daß ſie als geſicherte Errungenſchaft menſchlicher Erkenntnis dem Schatze unſeres Wiſſens gleichſam unverrückbar und unverlierbar hinzugefügt werden zu dürfen ſchienen. Mit oft überraſchender Schnellig - keit gehen ſolche Sätze in den allgemeinen Gedankeninhalt der Gebildeten über. Das handliche Gepräge, das ihnen von Anfang an eigen iſt, macht ſie zu Münzen des geiſtigen Verkehrs, die weit über das Wiſſensgebiet hinaus Kurs erlangen, für das ſie urſprünglich geprägt worden ſind. Und dieſer Uebergang in den Wiſſens - und Sprachſchatz der gebildeten Welt dient auf der anderen Seite wieder dazu, ihre Geltung innerhalb des engeren Forſchungsgebietes, dem ſie entſtammen, zu befeſtigen. Iſt die Erkenntnis auf dieſem Gebiete in raſcher Entwickelung begriffen, ſo er - eignet es ſich dann wohl, daß jene populär gewordenen Sätze unangetaſtet beſtehen bleiben, während das ganze übrige Lehrgebäude dem Abbruch und Neubau unterliegt;122 ſie ſind wie unorganiſche Körper, die von einem in üppigem Wachstum begriffenen Organismus überwallt und einge - kapſelt werden.

Aehnlich verhält es ſich, wenn ich mich nicht täuſche, auch mit der nationalökonomiſchen Lehre von der Arbeits - teilung. In ihrer jetzigen Geſtalt geht dieſelbe auf Adam Smith zurück, und zu ihrer Popularität hat wohl der äußere Umſtand nicht wenig beigetragen, daß ſie im erſten Kapitel des erſten Buches ſeines klaſſiſchen Werkes vorge - tragen wird, wo ſie auch der großen Schar derjenigen nicht entgehen konnte, welche die Bücher bloß anleſen. Adam Smith iſt freilich nicht der Urheber jener Lehre. Er ent - lehnt dieſelbe in weſentlichen Punkten dem Essay on the history of civil society ſeines Landsmannes Adam Fer - guſon, welcher 1767 erſchienen war. Allein in der an - mutigen Form, in welcher Smith ſie vortrug, iſt die Lehre von allen Späteren übernommen worden; ſie iſt in dieſer Form auch in andere Wiſſenſchaften übergegangen und in ihr jedem Gebildeten geläufig geworden.

Ich darf alſo darauf rechnen, mich in einem meinen Hörern geläufigen Gedankenkreiſe zu bewegen, wenn ich heute verſuche, die nationalökonomiſche Lehre von der Arbeits - teilung einer kritiſchen Prüfung zu unterwerfen und wenn ich in dieſe Prüfung mit einbeziehe die Anwendung, welche dieſe Lehre ganz neuerdings auf ſoziologiſchem Gebiete ge - funden hat. Denn dieſe letztere Anwendung bezeichnet zu - gleich einen der wenigen Verſuche, welche die wiſſenſchaftliche123 Nationalökonomie gemacht hat, in dieſem Kapitel über Adam Smith hinauszugehen. Im übrigen hat man ſich darauf beſchränkt, die Smith’ſche Lehre in Nebenpunkten zu korri - gieren, ſie dogmengeſchichtlich in die Vergangenheit bis zu den alten Griechen zurückzuverfolgen, die Erläuterungsbei - ſpiele den techniſchen Fortſchritten der Gegenwart anzupaſſen und neben den Lichtſeiten auch die Schattenſeiten der Arbeits - teilung hervorzuheben. Im Ganzen aber gilt von der Lehre von der Arbeitsteilung, was ich vorhin allgemein von populär gewordenen wiſſenſchaftlichen Lehrſätzen geſagt habe: ſie iſt unangetaſtet ſtehen geblieben, während ringsum an dem Gebäude der ökonomiſchen Theorie eifrig um - und weiter - gebaut worden iſt, und noch vor kurzem hat ein angeſehener volkswirtſchaftlicher Schriftſteller in einem kritiſchen Ueber - blick über die Entwickelung der Nationalökonomie ſeit Adam Smith die Behauptung drucken laſſen, der Gegenſtand ſei erſchöpft; man könne von ihm nur kurz wiederholen, was andere bereits geſagt hätten1)Block, Le progrès de la science économique depuis Adam Smith, Paris 1890, I, S. 433..

Unter dieſen Umſtänden wird es genügen, wenn ich meine Erörterungen unmittelbar an die Darſtellung des be - rühmten Schotten anknüpfe. Aus Rückſicht auf die Kürze der Zeit werde ich ſie aber nicht auf das ganze Gebiet aus - dehnen, ſondern nur die beiden Fragen zu beantworten ſuchen: was iſt Arbeitsteilung? und wie wirkt die - ſelbe auf die Gliederung der Geſellſchaft ein?

124

Was die Arbeitsteilung ſei, wird von Adam Smith nirgends geſagt. Er erläutert den Vorgang, den er mit dieſem Namen bezeichnet, nur an einzelnen Beiſpielen und deduziert aus ihnen direkt den Satz, den man als das Geſetz der Arbeitsteilung bezeichnet hat, und den man kurz in die Worte zuſammenfaſſen kann, daß in jedem Ge - werbe die Produktivität der Arbeit proportional der Aus - dehnung der Arbeitsteilung wächſt1)Die Richtigkeit dieſer ſcharfen Formulierung ergibt ſich aus folgenden Worten des erſten Kapitels: The division of labor, so far as it can be introduced, occasions, in every art, a proportionable increase of the productive powers of labor. .

Jene Beiſpiele aber bezeichnen, wenn man ſie näher anſieht, durchaus nicht die gleichen ökonomiſchen Vorgänge.

Da iſt zuerſt die berühmte Darſtellung der Steck - nadelmanufaktur. Smith ſtellt hier den gewöhnlichen Ar - beiter, der auf den ſpeziellen Produktionszweig nicht be - ſonders eingeübt iſt und bei höchſtem Fleiße in einem ganzen Tag vielleicht kaum eine, ſicher aber nicht zwanzig Stecknadeln anfertigen könnte, gegenüber der Fabrik, in welcher eine größere Zahl von Arbeitern das gleiche Fa - brikat in geteilter Arbeit herſtellt. Der Eine zieht den Draht aus, der Andere ſtreckt ihn, ein Dritter ſchneidet ihn, ein Vierter ſpitzt ihn, ein Fünfter ſchleift das obere Ende für die Aufnahme des Knopfes zu; die Anfertigung des Knopfes erfordert wieder zwei beſondere Operationen u. ſ. w. So ergeben ſich bis zur Vollendung der Nadel125 achtzehn verſchiedene Manipulationen, von denen jede einem beſonderen Arbeiter übertragen werden kann. Smith findet, daß in einer derartig kooperierenden Arbeitergruppe die Leiſtung jedes Einzelnen gegenüber derjenigen des iſoliert das ganze Produkt herſtellenden Arbeiters ſich verhundert - facht, ja vertauſendfacht.

Dieſes Beiſpiel iſt bis zum Ueberdruß wiederholt worden; es iſt zum klaſſiſchen Paradigma der Arbeits - teilung überhaupt geworden, und die meiſten vermögen ſich dieſelbe nur unter dieſem einen Bilde vorzuſtellen, dem Bilde einer Fabrik, in welcher die zur Herſtellung des Fa - brikats notwendige Geſamtarbeit in möglichſt viele einfache Verrichtungen zerlegt iſt, die gleichzeitig von verſchiedenen Perſonen in derſelben Wirtſchaft vorgenommen werden1)Helmolt, De laboris divisione, 1840 (Utrechter Doktor - diſſertation), S. 38 f. definiert Arbeitsteilung: ubi plures operarii simul opus quoddam conficiunt, singuli vero continue eadem operis parte sunt occupati, ut, si aliquid perfecerint, eandem rem de novo aggrediantur. Und doch hatte ſchon Ferguſon ſein Ka - pitel über die Arbeitsteilung überſchrieben: On the separation of arts and professions. .

Aber Adam Smith hat ſich auf dieſes Beiſpiel nicht beſchränkt. Er nennt es auch Arbeitsteilung, wenn in einem Lande ein Produkt von der Gewinnung des Rohſtoffes bis zur Genußreife verſchiedene Wirtſchaften paſſieren muß, wie z. B. die Wolle die Wirtſchaften des Schafzüchters, des Spinners, des Webers, des Färbers. In einem roheren Zuſtande der Geſellſchaft ſei dies alles die Arbeit eines126 Einzigen; in einem vorgeſchritteneren Lande dagegen ſei der Landwirt gewöhnlich nichts als Landwirt, der Fabri - kant nichts als Fabrikant, und auch die Arbeit, welche zur Hervorbringung eines vollendeten Fabrikats notwendig ſei, finde ſich faſt immer unter eine große Zahl von Händen geteilt.

Smith macht zwiſchen beiden Arten der Arbeitsteilung keinen Unterſchied und ſchreibt beiden die gleichen Wirkungen zu. Aber es bedarf keines langen Nachdenkens, um zu erkennen, daß wir es mit verſchiedenartigen Vorgängen zu thun haben. Im Falle der Erzeugung von Wollentuch zerfällt ein ganzer Produktionsprozeß in verſchiedene Ab - ſchnitte; jeder Produktionsabſchnitt wird zu einem ſelbſtändigen Wirtſchaftsorganismus, und ein Gut, das zu ſeiner Vollen - dung gelangen ſoll, muß von der Entſtehung des Rohſtoffs ab auf dem Wege des entgeltlichen Beſitzwechſels eine Reihe von Wirtſchaften durchlaufen, ehe es zum Gebrauche bereit geſtellt werden kann. In dem Falle der Stecknadelmanu - faktur dagegen bildet das Objekt der Teilung nicht ein ganzer Produktionsprozeß, ſondern ein einzelner Produktions - abſchnitt. Denn ihr Rohſtoff, der Draht, iſt bereits ein ziemlich vorgeſchrittenes Halbfabrikat. Das Ergebnis der Teilung iſt nicht eine Reihe neuer Wirtſchaften, ſondern eine Kette unſelbſtändiger Arbeitsverrichtungen, die zu ihrer Wahrnehmung unter unſeren Verhältniſſen die Exiſtenz von Lohnarbeitern bedingen, welche durch einen Unternehmer zuſammengehalten werden. Das Produkt paſſiert zwar127 eine größere Zahl von Händen, als vorher, bis zu ſeiner Vollendung; aber es wechſelt nicht den Eigentümer.

Zwei ſo durchaus verſchiedene wirtſchaftliche Vorgänge erfordern auch verſchiedene Namen. Wir wollen die Teilung eines ganzen Produktionsprozeſſes in mehrere ſelbſtändige Abſchnitte als Produktionsteilung bezeichnen, wäh - rend wir die Auflöſung eines Produktionsabſchnittes in einfache, für ſich nicht ſelbſtändige Arbeitselemente Ar - beitszerlegung nennen.

Endlich führt Adam Smith noch ein drittes Beiſpiel an, das weder Produktionsteilung noch Arbeitszerlegung iſt. Er ſtellt drei Schmiede einander gegenüber: einen ge - wöhnlichen Grobſchmied, der wohl den Hammer führen kann, aber nicht gewohnt iſt Nägel zu machen, einen anderen Schmied, der wohl Nägel machen kann, dies aber nicht zu ſeiner einzigen oder hauptſächlichen Beſchäftigung macht und endlich einen Nagelſchmied, der nie etwas anderes ge - macht hat als Nägel. Er findet, daß, wenn alle drei eine beſtimmte Zeit Nägel machen, die Arbeitsleiſtung in dem Maße wächſt, als ſich der Arbeiter auf die Herſtellung dieſes einen Produkts beſchränkt, und eben dieſe Beſchränkung auf die ausſchließliche Erzeugung einer einzelnen Güter - ſpezies nennt er Arbeitsteilung.

Man wird nicht ſofort die Berechtigung dieſer Be - nennung einſehen. Was iſt denn hier geteilt worden? Und wo ſind die Teile?

Offenbar denkt ſich Smith als den Gegenſtand der128 Teilung den vollen Gewerbebetrieb eines Schmiedes, der nach alter Art ebenſowohl Hufeiſen, Pflugſcharen, Rad - reifen als auch Meſſer, Riegel und Nägel anfertigt. Aus dieſem umfänglichen Produktionsgebiete wird eine Art von Produkten ausgeſchieden und ihre Erzeugung von einem beſonderen Arbeiter übernommen, eben dem Nagelſchmied, während der Reſt der Produkte auch fernerhin der Arbeit des Schmiedes verbleibt. Die Produkte, welche ſeither ſämtlich in der einen Wirtſchaft des Schmiedes erzeugt worden ſind, werden künftig in zwei verſchiedenen Wirt - ſchaften hergeſtellt. Aus einem Gewerbe ſind zwei gewor - den, und jedes bildet für einen Menſchen eine beſondere Lebensaufgabe, einen Beruf.

Es iſt klar, daß es ſich in dieſem Falle weder um die Zerſchneidung eines größeren Produktionsprozeſſes in verſchiedene Abſchnitte handelt noch um die Zerlegung eines Produktionsabſchnittes in ſeine einfachſten Arbeitselemente. Denn, wie Smith ſelbſt hervorhebt, das Arbeitsverfahren iſt beim Nagelſchmied kein kürzeres und kein weniger um - ſtändliches als beim Schmied: jeder bewegt ſelbſt den Blaſe - balg, ſchürt das Feuer, glüht das Eiſen und ſchmiedet das Produkt aus. Nur das eine hat ſich geändert, daß jeder dieſes Verfahren auf eine geringere Zahl von Güterſpezies anwendet. Die erzeugten Güter ſelbſt aber paſſieren jedes für ſich unter dem Syſtem der geteilten Arbeit nicht mehr Hände als vorher. Wir wollen dieſe dritte Art von Ar -129 beitsteilung als Spezialiſation oder Berufstei - lung bezeichnen.

Wie ſich die Berufsteilung von der Arbeitszerlegung unterſcheidet, iſt leicht einzuſehen. Jene iſt eine Teilung der geſamten Produktionsaufgabe zwiſchen verſchiedenen Wirtſchaften; dieſe vollzieht ſich innerhalb einer einzelnen Unternehmung. Schwieriger vielleicht iſt es auf den erſten Anſchein hin, Produktionsteilung und Berufsteilung aus - einanderzuhalten. Bei der Produktionsteilung werden ſo - zuſagen Querſchnitte durch einen längeren Produktionsprozeß gezogen, bei der Berufsteilung wird ein ſolcher der Länge nach durchgeſpalten.

Um ein einfaches Beiſpiel vorzuführen, ſo erfolgt ur - ſprünglich die Erzeugung lederner Gebrauchsgegenſtände in einer einzigen Wirtſchaft. Der ſibiriſche Nomade, der ſüd - ſlaviſche Bauer gewinnen noch jetzt die Häute im eigenen Haushalt, gerben ſie und machen daraus Fußbekleidung, Pferdegeſchirr u. ſ. w. In den weſteuropäiſchen Ländern entſtanden ſchon im frühen Mittelalter die Gewerbe des Gerbers und des Lederers. Die Lederartikel paſſierten nunmehr bis zur Vollendung drei Wirtſchaften: diejenige des Häuteproduzenten, des Gerbers und des Lederers. Das war Produktionsteilung. Aus dem großen Gewerbe des Lederers ſpalten ſich mit der Zeit die Spezialhandwerke des Schuhmachers, Sattlers, Riemers, Beutlers ꝛc. ab, von denen jedes eine beſondere Art von ledernen Gebrauchs -Bücher, Die Entſtehung der Volkswirtſchaft. 9130gütern annähernd mit dem gleichen Arbeitsverfahren erzeugt. Das iſt Berufsteilung oder Spezialiſation.

Bei der Produktionsteilung wird um ein Bild zu gebrauchen der ganze Strom der Gütererzeugung von Zeit zu Zeit durch Wehrbauten aufgeſtaut, bei der Berufs - teilung wird er in zahlreiche kleine Kanäle und Bächlein auseinandergeleitet.

Weiter geht Smith in ſeinen erläuternden Beiſpielen nicht, und auch wir wollen vorläufig hier Halt machen und uns die Frage vorlegen: was veranlaßte den Vater der Nationalökonomie drei ſo verſchiedenartige Vorgänge wie die Produktionsteilung, die Arbeitszerlegung und die Berufsteilung unter dem einen Namen der Arbeitsteilung zuſammenzufaſſen? Worin ſind dieſe Vorgänge, deren tief - greifende Verſchiedenheiten wir nur kurz andeuten konnten, weſensgleich?

Die richtige Beantwortung dieſer Frage wird uns zu - gleich die einfachſte und allgemeinſte Definition der Arbeits - teilung liefern eine Definition, die von allen anerkannt werden muß, welche ſich in dieſem Punkte dem Adam Smith angeſchloſſen haben, d. h. von der ganzen wiſſenſchaftlichen Nationalökonomie1)Diejenigen Gelehrten natürlich ausgenommen, welche überhaupt nicht mehr definieren. Die meiſten neueren Definitionen überſehen das Kauſative in dem Verbum teilen und ſetzen an Stelle des Vorgangs der Teilung den Zuſtand des Geteiltſeins. Schmoller z. B. ver - ſteht unter Arbeitsteilung die dauernde individuelle das ganze Leben ergreifende und beherrſchende Anpaſſung an eine ſpezialiſierte Lebens -.

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Offenbar haben nun jene drei verſchiedenen Arten der volkswirtſchaftlichen Arbeitsteilung nur das Folgende mit einander gemein: alle drei ſind volkswirtſchaftliche Ent - wicklungsvorgänge, die durch menſchliche Willens - akte herbeigeführt werden und bei welchen eine wirtſchaftliche Leiſtung von einer Perſon, der ſie bis dahin oblag, auf mehrere Perſonen übertragen wird, dergeſtalt, daß jede der letzteren fürderhin nur einen differenten Teil der ſeitherigen Geſamt - arbeit verrichtet. Es wird ſich demnach jede Arbeits - teilung darin dokumentieren, daß die Zahl der Arbeitskräfte wächſt, welche zur Erreichung eines beſtimmten Wirtſchafts - zweckes notwendig ſind, und daß zugleich eine Differenzierung der Arbeit ſtattfindet. Die Wirtſchaftsaufgaben werden ver - einfacht; ſie werden der Beſchränktheit der menſchlichen Fähig - keiten beſſer angepaßt, gleichſam individualiſiert. Arbeits - teilung iſt darum auch immer Arbeitsgliederung, Organi -1)aufgabe (Ihb. für Geſetzg. Verw. u. Volksw. XIV, 47), ſchiebt alſo der Teilung unter, was erſt ihre Folge ſein kann. E. v. Philip - povich, Grundriß der Polit. Oek. I, 50: Arbeitsteilung iſt die That - ſache getrennter Durchführung von Arbeiten zu gemeinſamem Zweck. Sie ſetzt, wie jede Teilung, eine Einheit voraus, von deren Stand - punkt die Arbeit des Einzelnen nicht als etwas in ſich Abgeſchloſſenes, für ſich Beſtehendes, ſondern als Teil eines größeren Ganzen erſcheint. Dieſe Einheit iſt entweder durch das Ganze der Geſellſchaft oder durch irgend eine Teilorganiſation derſelben gegeben ꝛc. Aber warum dieſes Ganze erſt konſtruieren? Warum nicht von ihm ausgehen? Die Ge - ſellſchaft, die Unternehmung ſind doch nicht geteilt worden; ſie ſind erſt Ergebniſſe der Teilung der Arbeit.9 *132ſation der Arbeit nach dem Prinzip der Wirtſchaftlichkeit; ihr Ergebnis iſt immer das Zuſammenwirken verſchieden - artiger Kräfte zu einem gemeinſamen Ziele.

Halten wir dies feſt und durchmuſtern wir daraufhin den ganzen Erſcheinungskreis der volkswirtſchaftlichen Arbeits - verwendung, ſo wie dieſe ſich hiſtoriſch entwickelt hat und täglich weiter entwickelt, ſo erkennen wir bald, daß mit den typiſchen Beiſpielen des Adam Smith und den drei daraus von uns abgeleiteten Arten der Arbeitsteilung das Bereich der letzteren keineswegs erſchöpft iſt. Wir finden vielmehr noch einen vierten und einen fünften Typus der Arbeits - teilung, von denen wir den einen als Berufsbildung, den andern als Arbeitsverſchiebung bezeichnen wollen.

Was zunächſt die Berufsbildung betrifft, ſo wäre dieſelbe eigentlich vor jeder andern Art der Arbeits - teilung zu nennen geweſen. Denn ſie ſteht an der Spitze jeder volkswirtſchaftlichen Entwicklung. Zu ihrem Ver - ſtändnis iſt davon auszugehen, daß vor der Entſtehung der Volkswirtſchaft allgemein die Völker einen Zuſtand reiner Eigenwirtſchaft durchmachen, wo jedes Haus durch die Arbeit ſeiner Angehörigen alles erzeugen muß, was es bedarf. Dieſe Arbeit kann unter den Hausgenoſſen nach Alter, Geſchlecht und Körperkraft, ſowie nach ihrer Stellung zum Hausvater mannigfach verteilt ſein. Aber dieſe Arbeits - verteilung iſt keine volkswirtſchaftliche Arbeitsteilung; ihre Wirkungen bleiben auf die Einzelwirtſchaft beſchränkt und greifen nicht organbildend in andere Wirtſchaften oder133 klaſſenbildend in die Geſellſchaft über. Es gibt darum auf dieſer Stufe wohl allerlei landwirtſchaftliche und ge - werbliche Technik, aber es gibt keine Landwirtſchaft, kein Gewerbe, keinen Handel als beſondere Erwerbszweige, keine Bauern, keine Induſtriellen, keine Kaufleute als ſoziale Berufsgruppen.

Dieſer Zuſtand ändert ſich, ſobald einzelne Arbeiten aus dieſer vielſeitigen Wirtſchaft ſich ausſondern und zum Gegenſtand eines Berufes, zur Unterlage einer ſpeziellen Erwerbsthätigkeit werden. Vorbereitet wird dieſer Fort - ſchritt durch die Arbeitsverteilung der großen Sklaven - und Frönerwirtſchaften, mit der wir uns indeſſen hier nicht be - ſchäftigen können1)Vergl. oben S. 24 ff.. Das Stück, welches ſich aus dem Thätigkeitsgebiete der autonomen Hauswirtſchaft ausſcheidet und in einem beſondern Berufe verſelbſtändigt, iſt bald ein ganzer Produktionsprozeß, z. B. die Töpferei, bald ein einzelner Produktionsabſchnitt, z. B. das Walken des Tuches, das Mahlen des Getreides, bald eine Art perſönlicher Dienſt - leiſtung, z. B. das Heilen von Wunden. In der Regel aber wird durch die Berufsbildung der produktive Teil der häuslichen Wirtſchaftsaufgaben geſchmälert, und im Laufe der Jahrhunderte werden letztere immer mehr auf das konſumtive Gebiet zurückgedrängt. Auf der andern Seite entſtehen die verſchiedenen Produktionszweige und Gewerbe, die ſich dann durch Produktions - und Berufsteilung ins Unendliche vervielfältigen.

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Man würde irren, wenn man meinte, dieſer Prozeß der Berufsbildung, der bei uns bereits im frühen Mittel - alter beginnt, ſei längſt zum Abſchluß gelangt. Noch immer bröckeln Teile der alten Hauswirtſchaft ab, langſam auf dem Lande, ſchneller in den Städten, und jedes ſtädtiſche Adreßbuch kann uns eine Reihe ſelbſtändiger Gewerbe auf - weiſen, welche erſt im Laufe dieſes Jahrhunderts durch Abſplitterung früherer hauswirtſchaftlicher Thätigkeiten ent - ſtanden ſind.

Freilich wäre es ein Irrtum anzunehmen, daß alle Berufsbildung auf Teilung der Arbeit zwiſchen Haushalt und neuen Erwerbswirtſchaften zurückzuführen ſei. Eine Kautſchukfabrik, eine Galvaniſieranſtalt, ein Elektrizitäts - werk, eine Eisfabrik, ein photographiſches Atelier ſind Ge - werbebetriebe, welche nicht der Arbeitsteilung, ſondern dem Aufkommen ganz neuer Güterarten ihre Entſtehung ver - danken. Immerhin ſtehen auch ſie nicht außerhalb der Einwirkung der Arbeitsteilung, indem ſie von Anfang an den von dieſer geſchaffenen Produktionsformen ſich anbe - quemen. Und vor allem iſt ihre Zahl verhältnismäßig gering, ſodaß ſie als Ausnahmen angeſehen werden müſſen.

Aber vielleicht werden Sie mir hier den Einwurf machen, daß doch die Zahl der neuen Erfindungen in unſerem Zeit - alter eine ſo überaus große ſei und mich ſpeziell an die unendlich reiche Produktion von Maſchinen und ſonſtigen Hilfsmitteln der Arbeit erinnern. Allein gerade bei dieſen letzteren haben wir es unzweifelhaft mit einer Art der135 Arbeitsteilung zu thun, und zwar einer ſehr intereſſanten: eben jener Arbeitsverſchiebung, welche ich an fünfter Stelle genannt habe.

Wenn in einem Produktionszweige eine neuerfundene Maſchine eingeführt wird, ſo tritt eine völlige Verſchiebung der ſeitherigen Arbeitsorganiſation ein. In der Regel übernimmt der Mechanismus nur einzelne Bewegungen, die bis dahin durch Menſchenhand ausgeführt wurden, und in dem Betriebe, welcher die neue Maſchine verwendet, mag ſich zunächſt nichts weiter ändern, als daß der Arbeiter, welcher vorher jene Muskelbewegungen ausführte, zur Bedienung der Maſchine verwendet wird, die andere Muskel - bewegungen von ihm fordert. So arbeitet z. B. nach Ein - führung der Nähmaſchine der Arbeiter in der Schneider - werkſtätte mit Hand und Fuß, während er vorher bloß mit der Hand thätig war und mit dieſer auch in anderer Weiſe.

Aber um einen Rock zu produzieren ſind auch ſchon vorher weit mehr Perſonen thätig geweſen als der Schneider. Da ſind zunächſt die Produzenten der Stoffe, welche der Schneider verwendet: der Wollproduzent, der Spinner, der Weber, der Färber ꝛc., dann die Produzenten ſeiner Werk - zeuge: der Nadelfabrikant, der Scheerenſchmied und viele andere. Alle dieſe Produzenten bleiben auch noch nach Einführung der Nähmaſchine in Thätigkeit. Dazu kommt aber noch ein neuer: der Maſchinenfabrikant oder, da die Maſchine auf dem Wege der Arbeitszerlegung hergeſtellt136 wird, gleich eine ganze Anzahl: der Maſchinenſchloſſer, der Gießer, der Metalldrechsler, der Modellſchreiner, der Mon - teur, der Lackierer u. ſ. f. Es iſt, wenn wir den ganzen Produktionsprozeß ins Auge faſſen, ein Teil der Geſamt - arbeit aus einem ſpätern in ein früheres Stadium zurück - geſchoben, die Schneiderarbeit iſt teilweiſe aus der Schneider - werkſtätte in die Maſchinenfabrik verlegt worden.

Der ganze Vorgang iſt typiſch und trägt unzweifelhaft die Züge der Arbeitsteilung. Wenn wir dafür den Aus - druck Arbeitsverſchiebung anwenden, ſo muß derſelbe in örtlichem und zeitlichem Sinne verſtanden werden. Oertlich bedeutet die Arbeitsverſchiebung die teilweiſe Verlegung einer Arbeitsleiſtung aus einer Produktionsſtätte in eine andere; zeitlich iſt ſie Erſetzung unmittelbarer durch vorgethane Ar - beit, Zurückſchiebung eines Teils der Arbeit, welche ſeither auf die Herſtellung des Gebrauchsguts verwendet wurde, auf die Erzeugung des Produktionsmittels. Es iſt dabei aber durchaus nicht notwendig, daß ſich eine neue Wirtſchaft (Unternehmung) bildet, in welcher berufsmäßig das neue Arbeitsinſtrument hergeſtellt wird, wie denn im Falle der Nähmaſchine ſehr wohl eine bereits vorhandene Maſchinen - fabrik ihre Anfertigung übernehmen kann. Das Weſentliche iſt, daß das neue Verfahren der Kleiderproduktion eine größere Zahl differenter Arbeitsverrichtungen enthält und demgemäß mehr Arbeitskräfte in Anſpruch nimmt.

Wir haben nunmehr fünf verſchiedene Arten volks - wirtſchaftlicher Vorgänge kennen gelernt, die unter den Be -137 griff der Arbeitsteilung fallen und die ſich noch täglich vor unſern Augen abſpielen. Damit iſt freilich über ihre rela - tive Bedeutung in dem modernen Wirtſchaftsleben noch ſehr wenig geſagt. Denn das letztere iſt das Ergebnis eines langen Entwicklungsprozeſſes, und wer es mit dem Auge des Geſchichtsforſchers betrachtet, der findet überall Aelteſtes und Jüngſtes neben einander: das erſte mit beſcheidener, das andere mit breit hervortretender Wirkungsſphäre. Die Menſchheit hat auf ihrem langen Entwicklungsgange von der iſolierten zur ſozialen Wirtſchaft immer neue Weiſen der Arbeitsorganiſation geſucht und gefunden. Aber ſie hat darum die alten nicht fallen gelaſſen und wird ſie nicht fallen laſſen, ſo lange ſie ihre Rolle nicht vollſtändig aus - geſpielt haben. Denn auch in dieſem Punkte waltet das große Geſetz der Wirtſchaftlichkeit: es geht nichts verloren, das an irgend einer Stelle noch mit Nutzen Verwendung finden kann.

Das gilt auch von den verſchiedenen Formen der Arbeits - teilung. Mögen auch Arbeitszerlegung und Arbeitsver - ſchiebung in der Gegenwart an Bedeutung die Berufs - und Produktionsteilung weit überragen, mag die Berufsbildung als Form der Arbeitsteilung kaum mehr in Betracht kommen, erloſchen iſt darum keines dieſer volkswirtſchaftlichen Organi - ſationsprinzipien; ſondern jedes wirkt an den Stellen fort, wo es ſeine Kraft noch bewähren kann.

In der Wirtſchaftsgeſchichte hat jedes von ihnen eine Periode der Vorherrſchaft gehabt. Die Berufsbildung138 kommt bei uns im frühen Mittelalter auf; die Hauptwirk - ſamkeit der Berufsteilung fällt mit der Blüte des Städte - weſens zuſammen. Gleichzeitig beginnt die Produktions - teilung; ihre ganze Kraft entfaltet die letztere aber erſt nach dem Aufkommen der Arbeitszerlegung und der Arbeits - verſchiebung, welche beide ſich kaum über das XVII. Jahr - hundert zurückverfolgen laſſen.

Ich verzichte nur ungern darauf, Ihnen die hiſtoriſche Bedingtheit jeder einzelnen, die Urſachen und die Folgen ihres Auftretens ausführlich darzulegen, und dies um ſo mehr, als die von mir vorgenommene ſchärfere Unterſcheidung der einzelnen Vorgänge erſt in dieſen Punkten ihre volle Rechtfertigung, die ſeitherige abſtrakte Behandlung der ganzen Erſcheinung ihre Widerlegung finden kann. Ich muß jedoch mit wenigen Worten auf Urſache und Wirkung der Arbeits - teilung im allgemeinen eingehen. Denn die Unterſcheidung jener fünf Arten derſelben müßte als wiſſenſchaftlich be - deutungslos oder als müßiges Spiel des Scharfſinns er - ſcheinen, wenn alle auf - und abwärts in dem gleichen Kauſalitätsverhältnis zu den übrigen volkswirtſchaftlichen Erſcheinungen ſtünden.

Adam Smith führt alle Arbeitsteilung auf einen ge - meinſamen Urſprung zurück: die dem Menſchen ange - borene Neigung zum Tauſche, von der er unentſchieden läßt, ob ſie inſtinktiv oder auf Grund bewußt wirkender Ueberlegung auftrete. Er verzichtet alſo auf eine ſcharfe pſychologiſche Analyſe des wirtſchaftlichen Handelns und139 begnügt ſich damit, die Wurzeln der Arbeitsteilung in die dunkeln Tiefen des Trieblebens zu verſenken.

Dadurch gerät er aber mit ſeinen eignen Beiſpielen in Widerſpruch. Geht die Arbeitsteilung aus einem dem Menſchen von jeher innewohnenden Triebe hervor, ſo iſt ſie eine abſolute ökonomiſche Kategorie. Sie muß ſich überall, wo Menſchen ſind und zu allen Zeiten geltend machen. Nun aber ſtellen die Beiſpiele des Adam Smith dem Zuſtande der geteilten Arbeit regelmäßig einen Zuſtand der ungeteilten Arbeit gegenüber und laſſen den erſteren aus letzterem hervorgehen. Das erfordert ja auch der dyna - miſche Gebrauch des Wortes Teilung. Thatſächlich hat, wie wir bereits wiſſen, ein Zuſtand ohne volkswirtſchaftliche Arbeitsteilung Jahrhunderte lang beſtanden, und die einzelnen Arten der letzteren laſſen ſich nach ihrer Entſtehungszeit ziemlich genau beſtimmen. Es iſt alſo die volkswirtſchaft - liche Arbeitsteilung überhaupt eine hiſtoriſche Kategorie, keine elementare Wirtſchaftserſcheinung.

Und dasſelbe gilt vom Tauſche. Wie es Perioden ohne volkswirtſchaftliche Arbeitsteilung gegeben hat, ſo gab es auch Perioden ohne Tauſch. Die erſten Tauſchhandlungen treten nicht gleichzeitig mit der Arbeitsteilung auf, ſondern gehen derſelben lange voraus. Sie dienen dem Zwecke, zufällige Ueberſchüſſe und Ausfälle, die ſich in ſonſt auto - nomen Wirtſchaften eingeſtellt haben, gegen einander aus - zugleichen. Der Tauſch iſt hier etwas Zufälliges, nichts im Weſen der Wirtſchaft Begründetes. Und auch wenn mit140 der Berufsbildung die volkswirtſchaftliche Arbeitsteilung beginnt, ſo bewegt ſie ſich noch lange in Formen, denen man die Abſicht anmerkt, den Tauſch möglichſt auszuſchließen. Der Bauer der alten Zeit mahlt ſein Getreide auf der Handmühle und ſeine Frau backt aus dem ſo erzeugten Mehle das Brot. Nachdem ſich die Gewerbe des Müllers und des Bäckers gebildet haben, wird das Getreide dem Müller zum Vermahlen hinausgegeben und der Bäcker erhält darauf das Mehl, um Brot daraus herzuſtellen. Vom Roh - material bis zum fertigen Produkt wechſelt das neu ent - ſtehende Gebrauchsgut niemals ſeinen Eigentümer. Für ihre Mühe werden Müller und Bäcker mit einem Teile ihres Produkts abgefunden, den ſie zurückbehalten. Das iſt in dem ganzen arbeitsteiligen Produktionsprozeß der einzige tauſchähnliche Vorgang.

Man erkennt daraus leicht, daß jener angebliche Tauſch - trieb des Adam Smith nur ein Auskunftsmittel der Ver - legenheit iſt. Wir können uns näheres Eingehen auf dieſen Punkt um ſo eher erſparen, als die neueren Nationalökonomen darin ihrem engliſchen Meiſter nicht gefolgt ſind. Die letzteren ſind eher geneigt, den Tauſch als die unbeabſichtigte Folge der Arbeitsteilung anzuſehen, und wir können dies mit der Einſchränkung gelten laſſen, daß der Tauſch bei geteilter Arbeit zur Notwendigkeit wird, wenn der Produzent zu - gleich Eigentümer aller Produktionsmittel iſt. Er wird dann zum Lebenselement jeder Wirtſchaft und jeder Fort - ſchritt der Arbeitsteilung vermehrt von dieſem Punkte ab141 die Menge der notwendigen Tauſchakte. Bis aber dieſe Phaſe der Entwicklung erreicht iſt, vergehen vom erſten Entſtehen der volkswirtſchaftlichen Arbeitsteilung wieder Jahrhunderte. Auch heute iſt z. B. der Zuſtand, wo der Müller Eigentümer des Getreides, der Bäcker Eigentümer des Mehles iſt und das Brot darum nur auf Grund drei - maligen Tauſches in die Hände der Konſumenten gelangen kann, auf dem Lande noch keineswegs die Regel.

Wenn ſonach bei den volkswirtſchaftlichen Entwicklungs - vorgängen der Arbeitsteilung der Tauſch bloß eine ſekundäre Erſcheinung iſt, ſo werden wir von ſelbſt genötigt, für das auf Teilung der Arbeit gerichtete menſchliche Handeln eine andere Motivierung zu ſuchen.

Wir werden dabei unmittelbar auf die Grundthatſachen der Wirtſchaft zurückgeführt: die Unbegrenztheit der menſch - lichen Bedürfniſſe und die Beſchränktheit ihrer Befriedigungs - mittel. Die menſchlichen Bedürfniſſe ſind einer unendlichen Vermehrung und Verfeinerung fähig; ſie ruhen niemals; ſie ſteigern ſich intenſiv und extenſiv im Laufe der Kultur - entwicklung. Die für menſchliche Zwecke verfügbare Materie iſt beſchränkt und ebenſo die menſchliche Arbeitskraft, die ihr Güterqualität verleiht und ihren Vorrat vermehrt. Mit der wachſenden Zahl der Menſchen wird das Verhältnis des Geſamtbedarfs zu der Menge des wirtſchaftlich ver - wertbaren Rohſtoffs, den die Natur zu bieten vermag, ein immer ungünſtigeres. Die zur Produktion des Geſamt - bedarfs erforderliche Arbeitsmenge wächſt ſomit aus einem142 doppelten Grunde: es ſollen mehr und beſſere Güter pro - duziert werden, und ſie ſollen unter ungünſtigeren Beding - ungen hervorgebracht werden. Dies alles zwingt zu möglichſt wirtſchaftlicher Einrichtung der Arbeitsverwendung.

Nun lehrt die einfache Beobachtung, daß nicht jeder für jede Arbeit von Natur gleich geeignet iſt. Die verſchiedenen körperlichen und geiſtigen Anlagen der Individuen bedingen bedeutende Unterſchiede des Arbeitserfolges, die bei fort - ſchreitender geſellſchaftlicher Entwicklung, oder, was dasſelbe iſt, bei ſteigender Vielſeitigkeit der Arbeitsaufgaben immer wichtiger werden.

Dazu kommt ein Zweites. Jede neue Arbeitsaufgabe findet in unſerem Weſen Widerſtände, die bei fortgeſetzter Gewöhnung ſich ſtark reduzieren und endlich faſt ganz verſchwinden.

Alles dies läßt es als Gebot der Wirtſchaftlichkeit er - ſcheinen, die Arbeitsaufgaben zu verengern, ſie möglichſt individuell zu geſtalten, um jede Art der Begabung aus - nutzen zu können. Wir finden aber in den meiſten Produk - tionsprozeſſen ſehr verſchiedenartige Arbeitsaufgaben ver - einigt: Hand - und Kopfarbeit, Operationen, die große Muskelkraft erfordern, neben ſolchen, bei welchen die Ge - lenkigkeit der Finger, die Feinheit des Gefühls, die Schärfe des Auges in Frage kommen, Verrichtungen, die eine durch Lehre und Uebung erworbene Fertigkeit beanſpruchen und ſolche, die auch der Ungeübte vorzunehmen im Stande iſt. Die alte Zeit, welche dieſe verſchiedenen Arbeitsaufgaben143 in eine Hand legte, trieb eine große Verſchwendung mit ihren qualifizierten Arbeitskräften und ſchränkte den produk - tiven Teil der Bevölkerung ein auf diejenigen, welche irgend eine Technik in allen ihren Teilen beherrſchten. Dadurch, daß die Arbeitsteilung die qualitativ ungleichen Arbeits - elemente von einander ſcheidet, gelingt es ihr, die ſtärkſten wie die ſchwächſten Arbeitskräfte zu verwenden und zur Ausbildung der höchſten ſpeziellen Arbeitsgeſchicklichkeit an - zureizen.

So iſt die Arbeitsteilung ſchließlich nichts anderes als einer jener Anpaſſungsvorgänge, welche in der Entwicklungs - geſchichte der ganzen belebten Welt eine ſo große Rolle ſpielen: Anpaſſung der Arbeitsaufgaben an die Verſchieden - artigkeit der menſchlichen Kräfte, Anpaſſung der Arbeits - kräfte an die Arbeitsaufgaben, fortgeſetzte Differenzierung der einen und der andern. Und damit rückt der ganze Vor - gang aus der Dämmerung des Trieblebens in das helle Licht wohl motivierten menſchlichen Handelns.

Mehr aber läßt ſich auch über die allgemeine Entſtehungs - urſache der Arbeitsteilung nicht ſagen. Auf die beſonderen Entſtehungsbedingungen, unter welchen die einzelnen Arten oder Formen derſelben auftreten, ſoll an anderer Stelle noch kurz eingegangen werden.

Ebenſo können wir die wirtſchaftlichen Folgen der Arbeitsteilung an dieſer Stelle nur flüchtig berühren, obwohl gerade an dieſem Punkte die verſchiedenen Formen am weiteſten auseinandergehen.

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Adam Smith kennt nur eine Wirkung der Arbeits - teilung: die vermehrte Produktivität der Arbeit. Er be - ſchränkt alſo ihren Einfluß auf das Gebiet der Güter - erzeugung. So eng dieſe Auffaſſung erſcheint, ſo iſt ſie doch gewiß berechtigter als die ungemeſſene Ausdehnung, welche manche neuere Nationalökonomen den Wirkungen der Arbeitsteilung geben, wenn ſie unſere ganze heutige Wirtſchaftsorganiſation unmittelbar aus der Arbeitsteilung ableiten und dieſelbe mit dem Schlagwort der arbeitsteiligen Wirtſchaft genügend zu kennzeichnen vermeinen.

Die Wahrheit iſt, daß die wichtigſten volkswirtſchaftlichen Erſcheinungen in ihrer heutigen Geſtalt und Wirkungsweiſe durch die Arbeitsteilung beſtimmt werden, daß ſie ſozuſagen das Knochengerüſt liefert, das den volkswirtſchaftlichen Or - ganismus trägt. Und zwar verhalten ſich die einzelnen Formen der Arbeitsteilung dazu ſehr verſchieden. Auf der Berufsbildung beruht die Entſtehung ſpezieller wirtſchaftlicher Lebensaufgaben. Sie löſt das Daſein eines Teiles der Menſchen vom Boden los, auf deſſen Beſitz es ſich bis dahin allein gegründet hatte. Sie ſchafft neben der bäuer - lichen die bürgerliche Nahrung. Die Berufsteilung vermehrt die Zahl der Erwerbsgelegenheiten; ſie gibt den Rahmen, innerhalb deſſen höhere mechaniſche Geſchicklichkeit zur Ent - faltung kommt. Die Produktionsteilung erzeugt den Güter - umlauf. Sie läßt die Stoffe der Gütererzeugung zu einer neuen Art von Erwerbsmitteln werden, zum flüſſigen Kapital. Die Arbeitsverſchiebung dehnt die Kapitaleigenſchaft auch145 auf die ſtehenden Produktionsmittel aus, und die Arbeits - zerlegung läßt einen dauernd abhängigen Arbeiterſtand ent - ſtehen. Sie gibt der kapitaliſtiſchen Produktionsweiſe erſt den rechten Aufſchwung, und ſie vernichtet auf allen Gebieten, denen ſie zugänglich iſt, vielfach wieder, was vorher Berufsbildung und Berufsteilung geſchaffen hatten: die Selbſtändigkeit der kleinen wirtſchaftlichen Exiſtenzen. Ihr bevorzugtes Wirkungsfeld iſt der Großbetrieb in der Fabrik und im Verlagsſyſtem.

Damit dürfte genügend angedeutet ſein, daß der Arbeits - teilung allein jene vielfache wechſelſeitige Abhängigkeit zu danken iſt, in welcher die Sonderwirtſchaften bei unſerem ökonomiſchen Syſtem zu einander ſtehen, daß ſie aber zu - gleich auch die Kooperation vieler Einzelkräfte vorausſetzt und ſich die mancherlei Verbindungsorgane ſchafft, welche die zahlloſen verſchiedenartigen Wirtſchaften und Menſchen zu einer lebensvollen Einheit von wunderbarer Feinheit des Gliederbaus zuſammenfügen.

Haben wir ſo in der Arbeitsteilung ein gewaltiges ökonomiſches Entwicklungsprinzip von großer organbildender Kraft zu erblicken, ſo treten doch für den gewöhnlichen Beobachter ihre ſozialen Wirkungen weit mehr in den Vordergrund. Denn von ihnen wird jeder Einzelne perſönlich berüht; jeder hat ſich, wenn er nicht anders ein unnützes Glied der menſchlichen Geſellſchaft ſein will, einer ſpeziellen Arbeitsaufgabe anzupaſſen, und je vollkommenerBücher, Die Entſtehung der Volkswirtſchaft. 10146ihm das gelingt, um ſo verſchiedener werden die Menſchen ſelbſt in ihrem ganzen Thun und Denken.

Die deutſche Berufsſtatiſtik von 1882 unterſchied allein in der Induſtrie 4785, im Handel, Verkehr und Beher - bergungsweſen 1674 Berufsſpezialitäten. Dies ergibt zu - ſammen 6459 eigene Berufsbezeichnungen oder, wenn wir für Doppelnamen einen entſprechenden Abzug machen, etwa 6000 ſelbſtändige Berufsarten. Dazu kommen die verſchie - denen Zweige der Urproduktion, des öffentlichen Dienſtes und der liberalen Berufsarten, ferner die zahlreichen Sonder - arbeiten, welche innerhalb der einzelnen Betriebe durch Arbeitszerlegung entſtanden und Spezialarbeitern dauernd übertragen ſind, ſo daß wir im ganzen vielleicht 10 000 Arten menſchlicher Thätigkeit zu unterſcheiden haben, von denen jede zur Lebensaufgabe werden und die ganze Per - ſönlichkeit ſich unterwerfen kann.

Und fortwährend bilden ſich neue Berufsſpezialitäten. Jedes neue Produktionsverfahren, jeder Fortſchritt der Technik und Wiſſenſchaft wird der allgemeinen Arbeitsteilung unterworfen und zwingt denkende und fühlende Menſchen in den engen Kreis kleinſter und kleinlichſter Berufsintereſſen. Die Zeit, welche Ferguſon kommen ſah, wo auch das Denken zu einem beſondern Geſchäft wird, iſt längſt erreicht. Das Bereich des Allgemein-Menſchlichen verengert ſich in dem Maße als die Sonderintereſſen der zahlloſen Lebens - ſphären auseinandergehen und als der Kampf ums Daſein ſchwieriger wird.

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Die natürliche und kulturelle Verſchiedenheit der Menſchen kommt zweifellos dieſem Auseinandergehen in die verſchie - denſten Lebensrichtungen zu Hilfe; aber ich glaube doch in viel geringerem Grade, als oft angenommen wird. Freilich wie ein Jockey von einem Laſtträger, ein Bierbrauer von einem Schneider, eine Tänzerin von einer Sängerin, ein Poet von einem Kaufmann ſich unterſcheiden muß, um ſeinem Berufe gewachſen zu ſein, weiß jedermann. Welche Naturanlage aber den einen zum Trichinenſchauer, den andern zum Buchbinder, den dritten zum Hühneraugen - operateur oder Zigarrenfabrikanten prädeſtiniert erſcheinen laſſen, das dürfte ebenſo ſchwer zu ſagen ſein, wie ſich der Erfolg in irgend einer liberalen Berufsart für das einzelne Individuum vorausbeſtimmen läßt. Wenn ſonach auch manche Berufsarten eine beſondere Naturanlage zur höchſten Entfaltung zu bringen geeignet ſind, ſo wird bei vielen andern das Vorhandenſein einer ſolchen von keiner erkenn - baren Bedeutung ſein. Alle aber werden durch fortgeſetzte Uebung und Gewöhnung eine gewiſſe Differenzierung der Menſchen hervorbringen, die ſich ihnen widmen: gewiſſe Organe werden durch Nichtgebrauch verkümmern, während andere durch ſteten Gebrauch ſich zu großer Vollkommenheit entwickeln; es wird, entſprechend der ſpeziellen Arbeitsauf - gabe, das Individuum körperlich, geiſtig und ſittlich auf einen beſtimmten Ton geſtimmt; es wird ihm durch den Beruf ein beſonderes, oft ſchon äußerlich erkennbares Ge - präge aufgedrückt. Wir alle erkennen das an, wenn wir10 *148unwillkürlich Unbekannte, mit denen wir zuſammentreffen, im Stillen nach Berufstypen klaſſifizieren.

Mit dieſer perſönlichen Differenzierung aber überträgt ſich die wirtſchaftliche Gliederung auch auf die Geſellſchaft. Gleiche Lebensaufgabe und Lebensanſchauung, gleiche wirt - ſchaftliche Stellung und ſoziale Gewohnheit führen zu einer neuen ſozialen Gruppenbildung. Sie erzeugen die Berufs - ſtände, und die Intereſſengemeinſchaft, welche ſie bis in ihre feinſten Verzweigungen hinein beherrſcht, iſt ſtark genug, um die überkommenen Unterſchiede der Geburts - ſtände zu überdecken oder ſie bis zur Bedeutungsloſigkeit herabzudrücken. Wir haben es ſelbſt erlebt, wie dieſe neuen ſozialen Maſſenzuſammenhänge über die Grenzen der politi - ſchen Nationalität hinausgreifen und wie die auf der Be - rufsgliederung beruhenden ſozialen Intereſſen und Gemein - ſchaftsgefühle die auf die Gleichheit des Blutes zurück - gehenden nationalen überwuchern.

Unter dieſen Umſtänden durfte die ſchon durch die neuere Biologie nahe gelegte Frage erhoben werden, ob und wie weit die durch die Arbeitsteilung hervorgebrachten perſön - lichen Verſchiedenheiten ſich unter den Menſchen vererben. Es handelt ſich dabei nicht bloß um beruflich verwertbare natürliche Anlagen, bei denen die Möglichkeit der Vererbung aber auch nicht mehr ohne Weiteres zuzugeben iſt. Es handelt ſich um die ganze körperliche und geiſtige Dis - poſition für einen Beruf, um die durch Anpaſſung an eine begrenzte Arbeitsaufgabe erworbene Geſchicklichkeit, um das149 durch dieſelbe bedingte geiſtige Niveau, um die durch die Be - rufsſtellung erzeugte Lebensauffaſſung und Willensrichtung.

Nach der letzten Seite iſt in der Dichtung ſeit Shake - ſpeares Wintermärchen das Problem oft behandelt worden, gewöhnlich ſo, daß man Erziehungseinflüſſe wirkſam werden läßt, die dem Charakter und den Lebensverhältniſſen der Eltern entgegengeſetzt ſind. Die Anſichten über den Aus - gang haben im Laufe des letzten Jahrhunderts vielfach gewechſelt, und es wäre gewiß eine lohnende Aufgabe für einen Litterarhiſtoriker, die Abhängigkeit der Dichtung vom Zeitgeiſte und von der Lebensſtellung der Dichter an dieſem Erziehungs - und Vererbungs-Problem näher zu unterſuchen1)Die neueſte Behandlung deſſelben findet man in Ludwig Ganghofer’s Roman Der Kloſterjäger. Stuttgart 1893. Sie iſt ſo geſund und feinſinnig wie kaum eine andere.. Während Lindau ( Gräfin Lea ) die Tochter des Wucherers, trotz der väterlichen Erziehung, zu einem Ausbund von Edelſinn werden läßt, bleibt in einem Roman von Arſène Houſſaye (Les trois Duchesses) von drei gleich nach der Geburt verwechſelten Kindern der Sohn der Bäuerin an Verſtand und Sinnesart ein Bauer, obwohl er als Prinz erzogen wird, die Tochter der leichtſinnigen Schauſpielerin wird zur Courtiſane, und die Tochter der Herzogin zeigt auch in niederer Umgebung die angeborene Hoheit der Geſinnung.

Auch in der ernſteren Litteratur iſt die Frage vielfach geſtreift worden. Noch vor kurzem hat W. H. Riehl150 in ſeinen Kulturgeſchichtlichen Charakterköpfen die be - ſchränkten Bauernjungen , welche das Gymnaſium mit beſter Note abſolvieren, den geiſtig ſehr angeregten Söhnen ge - bildeter Eltern gegenübergeſtellt, denen ſich Klaſſe für Klaſſe eine unüberſpringliche Mauer vorſchiebe. Die erſteren, meint er, würden auf der Univerſität mittelmäßige Studenten, die der gebildete Sohn gebildeter Eltern , wenn er über - haupt zur Univerſität gekommen wäre, bald überholt haben würde. Zuletzt werde der ehemalige Bauernjunge nur ein höchſt mittelmäßiger, aber immer noch bureaugerechter Be - amter . Was aus dem Sohne gebildeter Eltern wird, dem die mannigfachen Bildungsintereſſen ſchon im Elternhauſe angeflogen waren , bleibt uns leider verſchwiegen.

Mit dem Anſpruche ſtreng wiſſenſchaftlicher Behandlung, der hier wohl nicht erhoben wird, hat erſt G. Schmoller den Gegenſtand erörtert und in ſehr zuverſichtlicher Weiſe da - hin entſchieden, die Anpaſſung der Individuen an ver - ſchiedene Thätigkeiten, in erblicher Weiſe durch Jahrhunderte und Jahrtauſende geſteigert, habe immer individuellere, verſchiedenere Menſchen erzeugt. Alle höhere Geſellſchafts - organiſation beruhe auf fortgeſetzter durch die Arbeitsteilung hervorgebrachter Differenzierung. Die Kaſten, die Ariſto - kratien der Prieſter, der Krieger, der Händler, das Zunft - weſen, die ganze heutige Arbeitsverfaſſung ſeien nur die zeitlich verſchiedenen Formen, welche die Arbeitsteilung und Differenzierung der Geſellſchaft aufgeprägt habe, und jeder einzelne ſei zu der ihm eigentümlichen Funktion nicht bloß151 durch individuelles Geſchick und Schickſal gekommen, ſondern mit durch ſeine körperliche und geiſtige Verfaſſung, ſeine Nerven, ſeine Muskeln, welche auf erblicher Veranlagung beruhen, durch eine Kauſalkette von vielen Generationen beſtimmt ſind. Nur eine ſekundäre Folge der ſozialen Differenzierung ſei die Verſchie - denheit des ſozialen Ranges und Beſitzes der Ehre und des Einkommens 1)Vergl. die Aufſätze Schmollers über die Arbeitsteilung in ſeinem Jahrbuch XIII, S. 1003 1074. XIV, S. 45 105 und eine kurze Zuſammenfaſſung des Ergebniſſes in den Preußiſchen Jahrbüchern, Bd. LXIX, S. 464..

Sie werden vielleicht erwarten, daß der Beweis für dieſe überraſchenden Sätze auf biologiſchem Wege zu führen verſucht worden ſei. Allein abgeſehen von einer flüchtigen Berührung biologiſcher Analogien wird dieſe Bahn ver - mieden. Und doch wäre es gewiß ratſam geweſen, ſie weiter zu verfolgen, weil ſie unausbleiblich zu einem Punkte hätte führen müſſen, wo der Begriff der Vererbung defi - niert und ſein Gebiet gegen das der Nachahmung und Erziehung abgegrenzt werden mußte2)Man findet einen derartigen Verſuch, der freilich ſchwächlich genug ausgefallen iſt, bei Felix, Entwickelungsgeſchichte des Eigen - tums I, S. 130 ff..

Auch wir werden darum dieſen Weg zu vermeiden haben und uns auf eine Prüfung des großen hiſtoriſchen und ethnographiſchen Materials einlaſſen müſſen, das Schmoller für ſeine Behauptungen anführt.

152

Es iſt eine eigene Sache um ſolche hiſtoriſche Beweiſe. Dem Auge des Rückwärtsſchauenden verſchieben ſich die Dinge. Urſache und Wirkung erſcheinen ihm zeitlich gleich nahe. Er befindet ſich in ähnlicher Lage wie der Mann, der in die räumliche Ferne blickt und einen Kirchturm, welcher weit hinter einer Häuſergruppe ſich erhebt, unmit - telbar über dem vorderſten Gebäude emporſteigen ſieht.

So fürchte ich, daß auch Schmoller in den ausſchlag - gebenden Fällen ſeiner weitausgreifenden Unterſuchungen das Kauſalitätsverhältnis der hiſtoriſchen Vorgänge in einer gegen die Wirklichkeit umgekehrten Folge erblickt hat. Soweit jene Vorgänge nicht in Zeiten zurückreichen, die ſich der geſchicht - lichen Forſchung entziehen, wie die Entſtehung des Prieſter - tums und des älteſten Adels, möchte ich glauben, daß man den auffallenden Schlußſatz Schmollers unbedenklich umkehren und ſagen kann: die Verſchiedenheit des Beſitzes und Einkommens iſt nicht die Folge der Arbeitsteilung ſondern ihre Haupturſache.

Für die Vergangenheit, ſoweit ſie unſerem Auge offen liegt, läßt ſich das mit vollkommener Sicherheit darthun. Die ungleiche Größe und Beſitzweiſe des Grundeigentums bildet bei den alten Griechen und Römern und auch bei unſerem Volke vom frühen Mittelalter ab die Grundlage der Ständegliederung. Der Adel, der Bauernſtand, der Stand der Hörigen und Unfreien ſind zunächſt bloße Be - ſitzſtände und werden erſt mit der Zeit zu einer Art von Berufsſtänden1)Der Dienſtadel iſt kein Beweis gegen ſondern für dieſe Auf -. Als im Mittelalter mit dem Aufkommen153 des Handwerkerſtandes die eigentliche Berufsbildung einſetzt, geht ſie wieder von der Beſitzverteilung aus. Die Knechte des Fronhofs, die Hörigen ohne Grundbeſitz, welche eine gewerbliche Kunſt gelernt haben, beginnen auf eigene Hand ihre Arbeitsgeſchicklichkeit zu verwerten. Die Betriebsweiſe des Gewerbes muß ſich ihrer Armut anpaſſen; ſie iſt reines Lohnwerk, bei dem der Gewerbetreibende den Rohſtoff vom Beſteller erhält. Erſt ſpäter kommt es zur eigentlichen Produktionsteilung zwiſchen Landwirt und Handwerker. Der letztere erlangt ein eigenes Betriebskapital. Wie gering dieſes aber noch iſt, geht daraus am beſten hervor, daß in der Regel der Handwerker nur auf Stückbeſtellung arbeitet und daß der ganze induſtrielle Umwandlungsprozeß, den ein Rohprodukt durchmachte, in einer Hand lag1)Je länger der Produktionsprozeß dauert, um ſo geringer das Betriebskapital, deſſen der einzelne Produzent bedarf, um ſo größer aber auch die Arbeitsmenge, die das vollendete Produkt enthält. Im Mittelalter war, um ein ſehr bekanntes Beiſpiel anzuführen, der Schuſter vielfach auch Gerber. Der ganze induſtrielle Umwandlungsprozeß von der rohen Haut bis zur fertigen Fußbekleidung lag alſo in einer Hand. Nehmen wir nun an, das Gerben der Haut erforderte die Hälfte der Arbeitszeit, welche zu ihrer Umwandlung in Schuhwerk not - wendig war, ſo würde ein Schuſter, der bloß hätte gerben wollen dreimal ſo viel Betriebskapital gebraucht haben, als der Gerber, der zugleich Schuhe machte. Hätte er aber bloß bereits gegerbtes Leder zu Schuhen verarbeiten wollen, ſo hätte ſein Betriebskapital das anderthalbfache des früheren zuzüglich des Arbeitslohns und Ge - ſchäftsgewinns des Gerbers betragen müſſen.. Die Ge -1)faſſung. Er wäre undenkbar, wenn nicht der Grundadel ihm voraus - gegangen wäre.154 werbebetriebe waren ausſchließlich Kleinbetriebe. Wo ein Handwerk infolge des großen Umfangs ſeines Produktions - gebietes größeres Kapital erforderlich machte, da griff man nicht zum Großbetrieb mit Arbeitszerlegung, ſondern zur Berufsteilung, durch welche das Kapitalerfordernis be - ſchränkt, der Betrieb klein erhalten wurde.

Wie man ſieht iſt jeder Schritt, den die mittelalterliche Arbeitsteilung im Gewerbe machte, vom Vermögensbeſitz abhängig. Und nicht anders iſt es mit dem Handel. Der mittelalterliche Handelsſtand entſteht aus dem Stande der ſtädtiſchen Grundeigentümer, die durch Einführung der Häuſerleihe und des Rentkaufs zu Beſitzern mobilen Kapitals geworden waren. Aus dieſem Stande von ſtädti - ſchen Rentnern und Handelsherren geht ſeit dem XVII. Jahr - hundert der heutige Fabrikantenſtand hervor. Dadurch, daß dieſelben den Gewerbebetrieb mit ihren Kapitalien befruchten, entſtehen die beiden neuen Formen der Arbeitsteilung: Arbeitszerlegung und Arbeitsverſchiebung und die Produk - tionsteilung gelangt erſt jetzt zu ihrer vollen Wirkſamkeit. Jetzt erſt wandern halbfertige Produkte in Maſſen von Werkſtatt zu Werkſtatt; in jedem Betriebe werden ſie Kapital, in jedem wird an ihnen verdient; von Produktionsabſchnitt zu Produktionsabſchnitt werden neue Zinſen und Speſen hinzugeſchlagen, werden Kapitalprofite an ihnen gemacht1)Den Zuſammenhang des Kapitals mit der Arbeitsteilung hat Rodbertus ( Aus dem litter. Nachlaß II, S. 255 ff. ) in meiſter - hafter Weiſe dargelegt; aber er hat dabei die verſchiedenen Arten der Arbeitsteilung nicht genügend unterſchieden.. 155Die Arbeitszerlegung ſetzt einen Stand von beſitzloſen Lohn - arbeitern voraus. Er geht hervor aus dem durch die kapi - taliſtiſche Geſtaltung der Arbeitsteilung konkurrenzunfähig gewordenen Teile des Handwerkerſtandes und aus der land - loſen bäuerlichen Bevölkerung.

Gerade beim Gewerbe wird die Abhängigkeit der Ar - beitsteilung vom Beſitze beſonders ſichtbar. Im Mittel - alter vermehrte jeder Fortſchritt der induſtriellen Arbeits - teilung die Zahl der ſtädtiſchen Nahrungen , weil er das Betriebskapital verringerte; in der Gegenwart vermindert der Fortſchritt der Arbeitsteilung die Zahl der Selbſtändigen, weil er das Anlage - oder das Betriebskapital oder beides vermehrt. Im Mittelalter ſuchte man jedes gewerbliche Produkt möglichſt lange in einem Betriebe feſtzuhalten, um möglichſt viel Arbeit darin zu verkörpern; in der Gegen - wart wird das Betriebskapital vermöge der Arbeitszerlegung möglichſt raſch durch den einzelnen Produktionsabſchnitt hindurchgetrieben, um das Verhältnis zwiſchen ausgelegtem Zins und erzieltem Kapitalprofit möglichſt günſtig zu ge - ſtalten. Im Mittelalter zwang die Kapitalarmut zur Be - rufsteilung, in der Gegenwart treibt der Kapitalreichtum zur Arbeitszerlegung und Arbeitsverſchiebung.

So haben die großen Züge unſerer ſozialen Berufs - gliederung ſich hiſtoriſch aus der verſchiedenen Verteilung des Eigentums entwickelt, und ſie ruhen fortgeſetzt auf dieſer Grundlage, die durch unſere heutige Wirtſchafts - organiſation immer mehr befeſtigt wird. Das letztere er -156 klärt ſich ſehr einfach aus folgenden zwei Umſtänden: 1. jeder Beruf wirft unter unſerer Wirtſchaftsorganiſation ein Ein - kommen ab, und nur der Beſitzende iſt im Stande, ſich die bevorzugten Stellen des Einkommenserwerbs innerhalb der allgemeinen Arbeitsgliederung auszuſuchen, während der Beſitzloſe mit den ſchlechteren Stellen vorlieb nehmen muß; 2. der Beſitz ſelbſt liefert vermöge ſeiner kapitaliſtiſchen Natur ein Einkommen und überträgt ſich erblich mit dieſer Fähigkeit. Soweit unſere Beſitzklaſſen auch ſoziale Berufs - ſtände ſind, ſind ſie es nicht deshalb, weil der Beruf Beſitz ſchafft, ſondern vielmehr deshalb, weil der Beſitz die Be - rufswahl bedingt und weil in der Regel das Einkommen, das der Beruf abwirft, ſich in ähnlicher Weiſe abſtuft, wie der Beſitz, auf welchen der Beruf ſich gründet.

Was ich damit ausſpreche, iſt durchaus nichts Neues. Ein jeder von uns handelt nach dieſer Auffaſſung, die ihm die tägliche Erfahrung an die Hand gibt, und auch die wiſſenſchaftliche Nationalökonomie hat ſie immer anerkannt. Geht doch die ganze Theorie des Arbeitslohns von der Vorausſetzung aus, daß der Sohn des Arbeiters nichts anders werden kann als wieder ein Arbeiter, und daß dies eine Folge ſei ſeiner Armut, nicht der ererbten beruflichen Anpaſſung. Und muß man denn wirklich erſt noch beweiſen, daß Berufsarten, zu deren Beginn und Betrieb Kapital nötig iſt oder deren Erlernung große Auslagen erfordert, dem Beſitzloſen ſo gut als verſchloſſen ſind? Die vielge - rühmte Freiheit der Berufswahl beſteht alſo nur zwiſchen157 ſehr engen Grenzen. In ſeltenen Ausnahmefällen werden die letzteren wohl einmal überſchritten; in der Regel aber wird jedem nicht der ſpezielle Beruf, wohl aber die ſoziale Berufsklaſſe1)Ueber dieſen Begriff, in welchem ich das gegenſeitige Bedingt - ſein von Beſitz und Beruf zum Ausdruck zu bringen verſuchte, lange ehe ich die Schmoller’ſche Arbeit kannte, vergl. meine Bevölkerung des Kantons Baſel-Stadt , S. 70., der er anzugehören hat, durch die Vermögensausſtattung des elterlichen Hauſes zugewieſen. Der ſoziale Rang aber, welcher der einzelnen Berufsklaſſe in der Schätzung der Menſchen zu Teil wird, läßt ſich ohne die entſprechende Vermögensausſtattung ſchwer aufrecht erhalten ein Beweis, daß auch er in letzter Linie nicht eine ſekundäre Folge der ſozialen (auf Arbeitsteilung be - ruhenden) Differenzierung , ſondern ein Kind der Vernunft - ehe von Beſitz und Beruf iſt.

Wie viele ſoziale Berufsklaſſen man auch unterſcheiden mag, in jeder werden immer noch ſehr verſchiedenartige Berufszweige vertreten ſein, und zwiſchen den letzteren wird ein fortwährender Austauſch von Arbeitskräften ſtattfinden. Dieſer Austauſch reicht ſo weit, als die Berufsarten an - nähernd die gleiche Vermögensausſtattung erfordern und deshalb in dem gleichen ſozialen Rang ſtehen. Man könnte auch ſagen: als die Menſchen unter einander heiraten oder regelmäßig geſellig verkehren oder als annähernd das gleiche Bildungsniveau vorhanden iſt. Alle dieſe Dinge ſtehen mit einander in Wechſelbeziehung. Es iſt eine all -158 tägliche Erſcheinung, wenn ein hoher Staatsbeamter ſeinen Sohn zur Landwirtſchaft beſtimmt, um ihm ſpäter ein Rittergut zu kaufen, wenn der Sohn des Großgrundbeſitzers oder Fabrikanten die akademiſche Laufbahn einſchlägt, der Sohn des Pfarrers Ingenieur wird, der Sohn des In - genieurs Arzt, der Sohn des Arztes Kaufmann, der Sohn des Kaufmanns Juriſt oder Architekt. Und eben ſo leicht und häufig iſt der Uebergang vom Bauern zum Schullehrer oder Bierbrauer, vom Bäcker zum Uhrmacher, vom Schmied zum Buchbinder, vom Bergmann zum Fabrikarbeiter, vom ländlichen Taglöhner zum Bahnwärter oder Droſchken - kutſcher u. ſ. w. Wir alle finden dieſe Uebergänge, trotz der großen Verſchiedenheiten der Arbeitstechnik, ſozial durch - aus angemeſſen und wirtſchaftlich unbedenklich, obwohl es doch kaum verſchiedenartiger durch die Arbeitsteilung dif - ferenzierte Menſchen geben kann als einen Staatsminiſter und einen Landwirt, einen Fabrikanten und einen Profeſſor, einen Kaufmann und einen Architekten und was dergleichen mehr iſt. Und wenn der Sohn des Fabrikanten wieder Fabrikant wird, der Sohn des Bauern wieder Bauer, ſo wiſſen wir, daß in vielen Fällen der einmal auf dieſen Beruf zugeſchnittene Vermögensbeſtand den Beruf diktiert hat, ohne Rückſicht darauf, ob die aufgezwungene Rolle für das betreffende Individuum angemeſſen iſt oder nicht.

Dieſer Blick auf das praktiſche Leben muß uns abhalten, die Schmoller’ſche Theorie von der Vererbung der durch die Arbeitsteilung hervorgebrachten perſönlichen Differen -159 zierung in allzu engem Sinne aufzufaſſen. Daß der Sohn des Schuſters vermöge ererbter Anpaſſung beſſer im Stande ſein ſolle, Schuhe zu produzieren, als etwa Bilderrahmen, daß der Sohn des Pfarrers, auch wenn ſein Vater ihm am Tage ſeiner Geburt entriſſen worden wäre, unter allen Berufsarten wieder für den geiſtlichen Beruf die größte natürliche Anlage aufweiſen werde, kann jene Theorie un - möglich beſagen wollen, ſelbſt wenn in dem letzterwähnten Falle die Ahnen des Pfarrers von Generation zu Gene - ration ſeit zwei Jahrhunderten das geiſtliche Amt einander übertragen hätten. Denn wenn wir den biologiſchen Verer - bungsbegriff feſthalten, ſo würde von Geſchlecht zu Geſchlecht die berufliche Anpaſſung ſich ſteigern, es würden immer voll - kommenere berufliche Leiſtungen zu Tage treten müſſen. Es wird aber im Ernſte ſchwerlich jemand behaupten wollen, daß die zahlreichen Pfarrersfamilien des evangeliſchen Deutſchland, welche in der eben erwähnten Lage ſich befinden, heute relativ beſſere Kanzelredner und wirkſamere Seelſorger lieferten als im XVII. Jahrhundert.

Auf dem Gebiete des zünftigen Handwerks unſerer Städte haben ſich infolge der engherzigen Abſchließung der einzelnen Gewerbe vom XVI. bis zum XVIII. Jahrhundert die Meiſterſtellen thatſächlich mit verſchwindenden Ausnahmen vom Vater auf den Sohn vererbt. Die Technik hat ſich dabei nicht nur nicht vervollkommnet, ſondern ſie iſt kläglich zurückgegangen und verkümmert, wie Schmoller in einer160 älteren Schrift ſelbſt nachgewieſen hat1)Zur Geſchichte der deutſchen Kleingewerbe im 19. Jahrhundert S. 14. 667 ff.. Die Söhne haben, weit entfernt die techniſchen Errungenſchaften ihrer Väter zu mehren, die von jenen erreichte Höhe beruflicher An - paſſung nicht einmal feſtzuhalten vermocht.

Wir werden alſo, wenn wir der neuen Theorie nicht Unrecht thun wollen, ſie auf die Vererbung körper - licher und geiſtiger Eigenſchaften unter den Angehörigen der ſozialen Berufsklaſſen be - ziehen müſſen. Da aber dieſe Berufsklaſſen in der Regel auch Vermögens - und Einkommensklaſſen ſind, da durch das Vermögen und Einkommen die Höhe der (materiellen und geiſtigen) Lebenshaltung bedingt wird, ſo wird man von dem Urheber jener Theorie fordern müſſen, daß er ſcheide zwiſchen dem, was Folge der durch den Beſitz für jede Berufsklaſſe ermöglichten Ernährungs - und Erziehungs - weiſe und was ererbter beruflicher Anpaſſung zu verdanken ſei. Wird eine ſolche Trennung der möglichen und wahr - ſcheinlichen Urſachen nicht vorgenommen, wird unbeſehen der Arbeitsteilung zugeſchrieben, was mit größerer Wahr - ſcheinlichkeit auf die Vermögensverteilung zurückgeführt wer - den kann, ſo wird ſich die ganze Theorie bei der unleug - baren Schwäche des hiſtoriſchen Beweiſes gefallen laſſen müſſen, als eine ſchiefe Darwiniſtiſche Analogie, als eine beweislos aufgeſtellte Theſe behandelt zu werden.

Daß innerhalb einer ganzen ſozialen Berufsklaſſe eine161 Uebertragung der körperlichen und geiſtigen Verfaſſung , der Nerven und Muskeln von einer Generation auf die andere ſtattfinde, hat wohl noch niemand bezweifelt. Man mag das immerhin Vererbung nennen, darf aber dabei nicht überſehen, daß jede neue Generation durch Lehre und Erziehung auf das geiſtige und ſittliche Niveau der Eltern gehoben werden muß. Wenn ihr dabei die Bildungselemente nach dem treffenden Ausdruck von Riehl anfliegen , wenn ſie das Beiſpiel ihrer Umgebung zur Nachahmung reizt, wenn vieles mühelos angeeignet wird, was der unter andern Verhältniſſen Aufwachſende erſt mit Anſtrengung erlernen muß, ſo handelt es ſich trotzdem immer um Erworbenes, nicht um Angeborenes. Das gilt bis zu gewiſſem Grade ſogar von der körperlichen Verfaſſung, ſoweit ſie auf der Art der Ernährung und Erziehung beruht, von den Nerven und Muskeln 1)Schäffle, Bau und Leben des ſozialen Körpers II, 201 nennt das die phyſiſche Seite der Pädagogik. Er ſagt: Die phy - ſiſche Erziehung jeder neuen Generation und die Einſchulung in die leiblichen Fertigkeiten der Eltern, bezw. Voreltern kommt als eine gewaltige Arbeit zur geſchlechtlichen Fortpflanzungsthätigkeit hinzu. Die phyſiſche Ausſtattung durch Zeugung und Geburt bleibt ein toter Schatz, wenn nicht die Schule des Lebens und eine oft langwierige bewußte Arbeit der Erziehung den Schatz angeborener Leibesanlagen zu heben beſtrebt iſt. In dieſem zweiten Akte werden körperliche An - paſſungen erlangt, die den eigenen Eltern fremd waren. .

Elemente der beruflichen Anpaſſung können auf den angedeuteten Wegen des Anfliegens und der Nachahmung ſich gewiß ebenſo gut übertragen wie andere Bildungs -Bücher, Die Entſtehung der Volkswirtſchaft. 11162elemente. Aber dieſer Vorgang iſt grundverſchieden von der Vererbung im biologiſchen Sinne1)Um dieſe handelt es ſich für Schmoller, wie er in den Preuß. Ihb. 69 S. 464 deutlich ausſpricht. Der ſoziologiſche Begriff der Vererbung, welchen Schäffle a. a. O. II S. 208 ff. konſtruiert hat, kommt für ihn nicht in Frage, obwohl manche ſeiner Ausführungen an ihn erinnern.. Was in dieſem Sinne vererblich ſein ſoll, muß auch dann zur Erſcheinung kommen, wenn die Nachkommen vom Moment der Geburt ab dem Einfluſſe ihrer Erzeuger gänzlich entrückt ſind.

Ich weiß nicht, ob es Leute giebt, welche die körper - lichen und geiſtigen Eigentümlichkeiten, die das Kulturniveau unſerer ſechs oder acht ſozialen Berufsklaſſen ausmachen, in dem Sinne für vererblich halten, daß ſie bei den Nach - kommen jeder Klaſſe auch dann auftreten müßten, wenn ſie innerhalb einer andern Klaſſe aufgezogen würden. Das praktiſche Leben bietet immer nur vereinzelte Fälle dieſer Art, und noch niemand hat ſich die Mühe genommen, ſie zu ſammeln. Meiſt handelt es ſich dabei um Kinder aus niederen Ständen, welche von Angehörigen einer höhern Berufsklaſſe erzogen oder förmlich adoptiert werden. Es wird ſchwerlich jemand ſo kühn ſein, zu behaupten, daß dieſe künſtlich einer höherſtehenden ſozialen Gruppe ange - gliederten Perſonen von den durch Geburt dieſer Gruppe Zugehörenden ſich ſpäter durch geringere berufliche Tüchtig - keit oder ein tieferes Kulturniveau unterſchieden.

Eine weitere Reihe hierher gehöriger Beobachtungen bieten die Fälle, in welchen Nachkommen einer Berufsklaſſe163 ſich aus eigener Kraft in eine höhere Berufsklaſſe empor - ſchwingen. Jeder weiß, welche Schwierigkeiten im Zeit - alter der kapitaliſtiſchen Produktionsweiſe einem ſolchen Verſuche entgegenſtehen und wie oft er mißlingt. Jeder auch vergegenwärtigt ſich leicht das Bild des Emporkömm - lings , dem es bei aller beruflich-techniſchen Tüchtigkeit nicht gelingt, das geiſtig-ſittliche Niveau ſeiner neuen Be - rufsklaſſe zu erreichen. Iſt darin nicht ſchon die Thatſache eingeſchloſſen, daß die durch die Arbeitsteilung gebotene Anpaſſung an den Beruf von jedem individuell und nicht allzuſchwer vollzogen wird, während die durch das Kultur - niveau der Berufsklaſſe geforderte ſittliche und allgemein geiſtige Anpaſſung nur langſam in der geeigneten Um - gebung reift?

Ein ſtrikter Beweis gegen die Schmoller’ſche Ver - erbungstheorie läßt ſich ebenſo wenig führen, als ein ſolcher für dieſelbe geführt worden iſt. Man müßte etwa die großen Männer eines Volkes nach dem Berufe ihrer Eltern durchgehen und feſtſtellen, wie viele davon aus niederen Berufsſtänden hervorgegangen ſind; man müßte zugleich für die einzelnen Berufsklaſſen den Grad der Wahrſchein - lichkeit beſtimmen können, den ihre Angehörigen haben, zu einer bevorzugten Stellung zu gelangen, in der ſie allein hohe Befähigung zur Geltung zu bringen im Stande ſind. Und man müßte endlich vergleichen, wie die thatſächliche Quote der aus jedem Berufsſtande hervorgegangenen führenden Geiſter ſich zu der durch Wahrſcheinlichkeitsrechnung ermit -11 *164telten verhielte. Es braucht nicht ausgeführt zu werden, daß für eine derartige Unterſuchung alle Vorausſetzungen fehlen.

Wohl aber darf behauptet werden, daß die neue Theorie der auf der Beobachtung vieler Generationen beruhenden Auffaſſung der modernen Kulturvölker widerſpricht.

Wie oft iſt es beklagt worden, daß ſo manches Talent unter der Ungunſt der äußeren Verhältniſſe verkümmere! Und wenn dieſem Satze der andere entgegengeſtellt worden iſt, daß jedes wahre Talent ſich Bahn breche, ſo mag eine ſolche Formel wohl dem Selbſtgefühle glücklicher Streber ſchmeicheln, in der Wirklichkeit findet ſie nur zu oft keine Beſtätigung.

Unſere ganze ſozialrechtliche Entwicklung ſeit der fran - zöſiſchen Revolution ſteht unter der Vorausſetzung, daß der Zugang zu jedem freien Berufe und zu allen Staatsämtern, in denen wir doch immer den Höhepunkt der Berufsgliede - rung erblicken, jedermann offen ſtehen müſſe. Dieſer Grund - ſatz der freien Berufswahl , deſſen Anerkennung nach ſchweren Kämpfen errungen wurde, wäre ein großer Irrtum, jede Bemühung zu ſeiner Verwirklichung verlorene Arbeit, wenn ſeiner Durchführung außer der Ungleichheit der Ver - mögensverteilung auch noch die Vererblichkeit beruflicher Anpaſſung im Wege ſtünde.

Auch manche unſerer älteſten akademiſchen Einrichtungen würden im Lichte dieſer Theorie als Verirrungen erſcheinen müſſen. Ihnen, meine Herren Kommilitonen, die Sie ſich165 einem liberalen Berufe widmen wollen, brauche ich ja nicht zu ſagen, in wie hohem Maße die Koſtſpieligkeit der Vor - bereitung den Zugang zu den bevorzugten Poſitionen des Berufslebens verengert. Sie wiſſen aber auch, daß man von jeher darin eine große Gefahr für die Leiſtungsfähigkeit des Beamten - und Gelehrtenſtandes erblickt und dieſer Ge - fahr durch Stipendien, Freitiſche, Stundungen und ähnliche Einrichtungen, die den Unbemittelten das Studium ermög - lichen ſollen, vorzubeugen geſucht hat. Man wird über die praktiſchen Erfolge dieſer Einrichtungen ſtreiten können. Aber bei ihrer Beurteilung ſollte man doch nie überſehen, daß das Fortkommen in einer bevorzugten Berufsart nicht allein von der perſönlichen Tüchtigkeit, ſondern auch von der ſozialen Erziehung des Einzelnen, von ſeiner Befähigung, die eigene Kraft zur Geltung zu bringen, abhängt, daß in dieſer unvollkommenen Welt die beſcheidene Zurückhaltung des Tüchtigen hinter dem dreiſten Vordrängen der Mittel - mäßigkeit nur zu leicht zurückſtehen muß, daß es demjenigen, der die ſoziale Stufenleiter von unten an zu erklimmen ſucht, ſchwerer werden muß, ihre Spitze zu erreichen, als demjenigen, der ſchon aus halber Höhe emporſteigt. Die deutſche Sprache hat für die Auszeichnung in einer beruf - lichen Laufbahn einen bezeichnenden Ausdruck, mit welchem ſie den Anteil des perſönlichen Auftretens am[Erfolge] glück - lich charakteriſiert. Er heißt: ſich hervorthun. So mögen denn auch jene ſtudierten Bauernſöhne Riehl’s wohl kaum deshalb ſpäter nicht in ihrem Berufsleben be -166 ſonders hervorgetreten ſein, weil ſie nichts Hervorragendes zu leiſten im Stande waren, ſondern manche gewiß auch deshalb, weil ſie es nicht verſtanden haben, ſich am rechten Orte hervorzuthun , ihre Perſönlichkeit zur Geltung zu bringen.

Die ganze Vererbungstheorie trägt ihrem Urheber gewiß unbewußt die unerfreulichen Geſichtszüge einer Sozialphiloſophie der beati possidentes. Sie ruft dem Niedriggeborenen, der in ſich die Kraft zu verſpüren meint, eine höhere Stellung des Berufslebens auszufüllen, zu: Laß alle Hoffnung ſchwinden; deine körperliche und geiſtige Verfaſſung, deine Nerven, deine Muskeln, die Kauſalkette von vielen Generationen hält dich am Boden feſt. Deine Vorfahren ſind ſeit Jahrhunderten Leibeigene geweſen, dein Vater und Großvater waren Taglöhner, du biſt zu einem ähnlichen Berufe beſtimmt. Ich brauche nicht auszuführen, wie ſehr die Konſequenzen dieſer neuen Lehre unſerem ſitt - lichen Bewußtſein, unſerem Ideal der ſozialen Gerechtigkeit ins Geſicht ſchlagen.

In dem Stadium der unbewieſenen Theſis, in welchem ſie ſich zur Zeit befindet, wird ſie meines Erachtens ſchon durch die doch nicht allzu ſelten zu machende Beobachtung hinfällig, daß innerhalb einer einzigen Generation der ganze Weg vom Nullpunkt bis zum Höhepunkt der modernen Kultur, von der unterſten bis zur höchſten Stufe der Arbeitsteilung, vom Fuße bis zur Spitze der ſozialen Leiter zurückgelegt wird und umgekehrt. Man muß ſich eigentlich167 wundern, daß eine ſolche Lehre in einem Volke entſtehen konnte, das unter ſeinen Geiſtesheroen einen Luther zählt, den Sohn eines Bergmanns, einen Kant, den Sohn eines Sattlers, einen Fichte, den Sohn eines armen Dorfleine - webers, einen Gauß, den Sohn eines Gärtners, um von vielen andern zu geſchweigen.

Es gibt eine alte Anekdote von einem Kardinal, deſſen Vater die Schweine gehütet hatte und von einem adelsſtolzen franzöſiſchen Geſandten. In einer ſchwierigen Unterhand - lung, in welcher der Kardinal mit Geſchick und Hartnäckigkeit die Intereſſen der Kirche vertrat, ließ ſich der Geſandte hinreißen, jenem ſeinen Urſprung vorzuwerfen. Der Kardinal antwortete: Es iſt richtig, daß mein Vater die Schweine gehütet hat; aber wenn Ihr Vater ſie gehütet hätte, ſo würden Sie ſie auch hüten .

Dieſe kleine Erzählung hat vielleicht beſſer ausgeſprochen, als eine lange Auseinanderſetzung es vermöchte, was die Beobachtung vieler Generationen beſtätigt hat, daß Tugenden, welche die Väter emporbringen, ſich nicht in der Regel auf Enkel und Urenkel fortſetzen und daß, wenn der Beruf ſich auch forterbt, doch die Fähigkeit zu ſeiner Ausübung ſchwindet. Jede Ariſtokratie, mag ſie Beſitzes - oder Berufs - ariſtokratie ſein, entartet im Laufe der Zeit, wie die Pflanze entartet, die in zu üppigem Boden wächſt. Es braucht dabei noch gar nicht einmal an ein ſittliches Verkommen gedacht zu werden; es genügt, daß die körperlichen und geiſtigen Kräfte abnehmen, daß die Prokreation ſchwächer168 wird, um die Zuführung unverdorbenen Blutes, das aus den unteren Schichten des Berufslebens in die höheren auf - ſteigt, als eine Hauptbedingung geſunden ſozialen Stoff - wechſels erſcheinen zu laſſen. Gerade darin haben wir ja immer das große Problem dieſes Jahrhunderts erblickt, daß ein allmähliches ſoziales Aufſteigen ermöglicht werde, daß eine fortgeſetzte Regeneration der höheren Berufsklaſſen ſtattfinde, und in dem Kaſtenweſen, das eine notwendige Konſequenz der Vererbungstheorie ſein würde, haben wir immer den Anfang, nicht das Ende der Kulturentwicklung geſehen.

Wir wollen uns in dieſer Auffaſſung nicht irre machen laſſen. Die Löſung des eben erwähnten Problems iſt für die modernen Kulturvölker eine Exiſtenzfrage. Denn wenn die Geſchichte etwas eindringlich gelehrt hat, ſo iſt es das: Ein Volk, das aus der friſchen Quelle urſprünglicher Körper - und Geiſteskraft, die in den untern Klaſſen ſtrömt, ſich nicht mehr zu erneuern vermag, von dem gilt, was B. G. Niebuhr einſt mit Bezug auf England und Holland ſagte: das Mark iſt ihm ausgenommen, es iſt unrettbar dem Verfall geweiht.

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IV. Die Anfänge des Zeitungsweſens.

Vortrag, gehalten im Profeſſoren-Verein zu Leipzig den 3. Dezember 1892.

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Die enge Verbindung, welche in Deutſchland zwiſchen wiſſenſchaftlicher Forſchung und Univerſitäts-Unterricht be - ſteht, hat neben manchen unverkennbaren Lichtſeiten doch auch einen großen Nachteil. Dieſer beſteht darin, daß ſolche Gebiete des Wiſſens, welche nicht die Grundlage einer aka - demiſchen Laufbahn bilden können, auch von der Forſchung vernachläſſigt werden. Unter dieſem Schickſal hat auch der Gegenſtand zu leiden, auf den ich jetzt Ihre Aufmerkſamkeit lenken möchte: das Zeitungsweſen, und ich muß faſt um Entſchuldigung bitten, daß ich es wage, einen Fremdling in dieſen Kreis einzuführen, der das akademiſche Bürger - recht nicht genießt. Während in Frankreich und England die Geſchichte des Zeitungsweſens eine außerordentlich reich entwickelte Litteratur aufzuweiſen hat, beſitzen wir in Deutſchland auf dieſem Gebiete nur zwei erwähnenswerte Verſuche, von denen einer die Anfänge, der andere die neuere Entwicklung der Tagespreſſe in recht fragmentariſcher Weiſe behandelt.

Bei dieſer Lage der Dinge würde es wenig helfen, zu unterſuchen, welcher der beſtehenden wiſſenſchaftlichen Dis - ziplinen die ſeither vernachläſſigte Aufgabe eigentlich zu -172 falle. Eine ſo komplexe Erſcheinung wie das Zeitungsweſen läßt ſich von ſehr verſchiedenen Geſichtspunkten aus frucht - bar behandeln: vom politiſch-hiſtoriſchen, dem litterarhiſto - riſchen, dem bibliographiſchen, dem juriſtiſchen, ſelbſt dem philologiſchen. Am nächſten liegt der Gegenſtand zweifellos dem Nationalökonomen. Denn die Zeitung iſt in erſter Linie eine Verkehrseinrichtung, und ſie bildet eines der wichtigſten Stützorgane der heutigen Volkswirtſchaft. Aber Sie werden in den Lehrbüchern der Nationalökonomie oder ſelbſt des Verkehrsweſens im engern Sinne vergebens nach einem Abſchnitte über die Tagespreſſe ſuchen. Wenn ich unter dieſen Umſtänden es wage, über die Anfänge des Zeitungsweſens in einem knapp zuſammenfaſſenden Vortrage zu handeln, ſo bin ich mir ſelbſt am meiſten bewußt, daß ich Ihnen nur Unvollkommenes bieten kann und daß ich vielleicht auch inſofern noch Ihre Erwartungen zu täuſchen genötigt ſein werde, als die nationalökonomiſche Betrach - tungsweiſe nicht im Stande iſt, die Materie nach allen Seiten zu erſchöpfen.

Die Frage nach den Anfängen des Zeitungsweſens wird ſich verſchieden beantworten, je nach dem, was man unter einer Zeitung verſteht. Wenn man aber zehn verſchiedenen Perſonen die Frage vorlegt, was eine Zeitung ſei, ſo wird man vielleicht zehn verſchiedene Antworten erhalten. Da - gegen wird niemand ſich lange bedenken, wenn er nach den Mitteln gefragt wird, durch welche das große Gewebe der geiſtigen und materiellen Wechſelwirkungen hervorgebracht173 wird, das die moderne Menſchheit zur Einheit der Geſell - ſchaft verbindet, die Zeitung in erſter Linie neben Poſt, Eiſenbahn und Telegraphen zu nennen.

In der That bildet die Zeitung ein Glied in der Kette der modernen Verkehrsmittel, d. h. der Einrichtungen, durch welche der Austauſch geiſtiger und materieller Güter in der Geſellſchaft bewirkt wird. Aber ſie iſt kein Verkehrsmittel in dem Sinne wie die Poſt oder die Eiſenbahn, welche den Transport von Perſonen, Gütern und Nachrichten be - wirken, ſondern ein Verkehrsmittel wie der Brief und das Zirkular, welche die Nachrichten erſt transportfähig machen, indem ſie dieſelben mittels Schrift und Druck ſozuſagen von ihrem Urheber loslöſen und körperlich übertragbar machen.

So groß uns auch heute der Unterſchied zwiſchen Brief, Zirkular und Zeitung erſcheinen mag, ſo zeigt doch ein wenig Nachdenken, daß alle drei weſentlich gleichartige Pro - dukte ſind, entſprungen aus dem Bedürfnis der Nachrichten - mitteilung und aus der Verwendung der Schrift zur Befriedigung dieſes Bedürfniſſes. Nur darin liegt der Unterſchied, daß der Brief ſich an einzelne wendet, das Zirkular an mehrere beſtimmte Perſonen, die Zeitung an viele unbeſtimmte Perſonen. Oder mit anderen Worten: Brief und Zirkular ſind Mittel privater Nachrichtenmit - teilung, die Zeitung iſt ein Mittel der Nachrichtenpublikation.

Wir ſind freilich heute gewöhnt, daß die Zeitung regel - mäßig gedruckt iſt und daß ſie in kurzen Zeitfriſten174 periodiſch erſcheint. Allein beides ſind keine weſentlichen Merkmale der Zeitung als Nachrichtenpublikationsmittel; ja wir werden nachher ſehen, daß die Urzeitung, aus der jenes mächtige moderne Verkehrsmittel hervorgegangen iſt, weder gedruckt war noch periodiſch erſchien, ſondern daß ſie dem Briefe noch ſehr nahe ſtand, ja faſt gar nicht von demſelben zu unterſcheiden war. Allerdings liegt das Wieder - erſcheinen in kurzen Zeitfriſten in der Natur der Nach - richtenpublikation. Denn Nachrichten haben nur Wert, ſo - lange ſie neu ſind, und um ihnen den Reiz der Neuheit zu erhalten, muß die Veröffentlichung derſelben den Ereig - niſſen auf dem Fuße folgen. Wir werden jedoch bald ſehen, daß die Periodizität dieſer Zeitfriſten, ſoweit ſie im Kindesalter des Zeitungsweſens hervortritt, auf der Periodizität der Nachrichtentransportgelegenheiten beruhte, keineswegs aber mit der eigentlichen Natur der Zeitung zuſammenhing.

Die regelmäßige Sammlung und Verſendung von Nach - richten ſetzt ein räumlich weit verbreitetes Intereſſe an den öffentlichen Dingen oder ein größeres Verkehrsgebiet mit zahlreichen wirtſchaftlichen Beziehungen und Intereſſenver - knüpfungen voraus oder beides zugleich. Ein ſolches Intereſſe aber bildet ſich erſt, wenn die Menſchen durch ein größeres Staatsweſen zu einer gewiſſen Gemeinſamkeit der Lebens - ſchickſale verbunden ſind. Die antiken Stadtrepubliken be - durften keiner Zeitung; ihre geſamten Publikationsbedürf - niſſe konnten durch den Herold und gelegentlich durch In -175 ſchriften befriedigt werden. Erſt als die römiſche Herrſchaft ſich über ſämtliche Mittelmeerländer ausgedehnt oder doch dieſelben ihrem Einfluß unterworfen hatte, bedurfte es eines Mittels, welches die als Beamte, Steuerpächter und Kauf - leute nach den Provinzen gegangenen Mitglieder des herr - ſchenden Standes über die hauptſtädtiſchen Vorgänge auf dem Laufenden erhielt. Es iſt bezeichnend, daß Caeſar, der Schöpfer der römiſchen Militärmonarchie und der Zentrali - ſation der Verwaltung, auch als der Begründer der erſten zeitungsähnlichen Einrichtung angeſehen wird1)Leclerc, Des journaux chez les Romains, Paris 1838. Lieberkühn, De diurnis Romanorum actis, Vimar. 1840. A. Schmidt, Das Staatszeitungsweſen der Römer in ſ. Ztſchr. f. Geſchichtsw. I, S. 303 ff. Zell, Ueber die Zeitungen der alten Römer und die Dodwell’ſchen Fragmente in ſ. Ferienſchriften S. 1 ff. 109 ff. Hübner, De senatus populique Romani actis in Fleck - eiſen’s Ihb. f. Philol. Suppl. III, S. 564 ff. Heinze, De spuriis diurnorum actorum fragmentis. Greifsw. 1860..

Ich ſage zeitungsähnlichen Einrichtung; denn einen Journalismus in unſerem Sinne hat es bei den Römern nicht gegeben, und wenn Mommſen von einem römiſchen Intelligenzblatt ſpricht, ſo iſt das eine ſeiner vielen ſchiefen Moderniſierungen. Was Caeſar Neues brachte, war eher den Bulletins und Waſchzetteln zu vergleichen, welche die litterariſchen Bureaux unſerer heutigen Regierungen den Journaliſten zur Benützung liefern, als unſeren heutigen Zeitungen. Es handelte ſich alſo für ihn nicht um Be - gründung des Zeitungsweſens, ſondern um Beeinfluſſung der bereits beſtehenden Zeitungen.

176

Schon lange vor Caeſars Konſulat war nämlich die Sitte aufgekommen, daß die in den Provinzen befindlichen Römer ſich in der Hauptſtadt einen oder mehrere Korre - ſpondenten hielten, welche ihnen über den Gang der politi - ſchen Bewegung und über die ſonſtigen Vorkommniſſe des Tages brieflich Bericht erſtatteten. Dieſer Korreſpondent war gewöhnlich ein intelligenter Sklave oder Freigelaſſener, der in den Verhältniſſen der Hauptſtadt genau Beſcheid wußte und manchmal auch die Berichterſtattung für Mehrere gewerbsmäßig übernahm alſo eine Art antiker Reporter, die ſich nur darin von den heutigen unterſchieden, daß ſie nicht für ein Zeitungsunternehmen, ſondern direkt für die Leſer ſchrieben. Dieſe Berichterſtatter genoſſen auf Für - ſprache ihrer Auftraggeber zuweilen ſogar Zutritt zu den Senatsverhandlungen. Antonius hielt ſich einen ſolchen Mann, der ihm nicht bloß über die Beſchlüſſe des Senats, ſondern auch über die Reden und die Abſtimmung der Senatoren berichten mußte. Cicero empfing als Prokonſul durch ſeinen Freund M. Caelius die Berichte eines gewiſſen Chreſtus, ſcheint aber von den Aufzeichnungen desſelben über Gladiatorenſpiele, Gerichtsverhandlungen und allerlei Stadtklatſch nicht beſonders befriedigt geweſen zu ſein. Wie in dieſem Falle, ſo erſtreckten ſich wohl immer jene Korreſpondenzen nur auf Grob-Thatſächliches und bedurften der Ergänzung durch die Briefe der Parteifreunde des Abweſenden, welche, wie wir aus Ciceros Briefwechſel wiſſen, die eigentlichen politiſchen Stimmungsberichte lieferten.

177

Das Neue, was nun Caeſar dieſer Einrichtung hinzu - fügte, beſtand darin, daß er die Veröffentlichung eines kurzen Protokolls der Senatsverhandlungen und Beſchlüſſe anordnete und ebenſo die Verhandlungen der Volksver - ſammlungen, ſowie andere wichtige öffentliche Vorgänge publizieren ließ.

Das erſtere waren die Acta senatus, das letztere die Acta diurna populi Romani. Die Veröffentlichung geſchah auf einer mit Gyps überſtrichenen weißen Tafel, auf welche die Schrift aufgemalt war. Die Tafel wurde öffentlich ausgeſtellt, war alſo für die Bewohner der Hauptſtadt das, was wir heute ein Plakat nennen. Für die Auswärtigen nahmen zahlreiche Schreiber davon Abſchriften und ver - ſandten ſie an ihre Auftraggeber. Nach Verlauf einiger Zeit kam das Original in das Staatsarchiv.

Wie Sie ſehen, war dieſer römiſche Staatsanzeiger an ſich keine Zeitung; er erlangte aber die Bedeutung einer ſolchen durch die für unſere Begriffe etwas ſchwerfällige Einrichtung der privaten Provinzialkorreſpondenzen.

Die Acta senatus wurden nur kurze Zeit publiziert; ſchon Auguſtus unterdrückte ſie. Dagegen bürgerten ſich die Acta diurna populi Romani bald ſo ein, daß ihr Inhalt bedeutend erweitert werden konnte und daß ſie einen großen Teil der Kaiſerzeit hindurch fortdauerten. Allerdings wurden ſie hier mehr und mehr zu einer Art Hofbericht und näherten ſich in ihrem Inhalt demjenigen, was die offiziellen oder offiziöſen Blätter mancher europäiſchen HauptſtädteBücher, Die Entſtehung der Volkswirtſchaft. 12178heute ihren Leſern vorſetzen. Im ganzen beſchränkten ſie ſich auf die Mitteilung von Thatſachen; eine Tendenz kam nur inſofern zum Ausdruck, als man Unliebſames verſchwieg. Nach wie vor gelangte der Inhalt auf dem Wege der Korreſpondenz in die Provinzen, und, wie Tacitus berichtet, verſtand man es dort, nicht bloß auf dasjenige zu achten, was der Staatsanzeiger enthielt, ſondern auch auf das, was er verſchwieg: man las zwiſchen den Zeilen.

Wir haben heute nicht die Zeit, näher auf dieſe Dinge einzugehen; ich berühre ſie überhaupt nur, um der weit - verbreiteten Annahme entgegenzutreten, als ob wir in den Acta diurna der Römer ſchon eine Art offizieller Zeitung vor uns hätten. Wie lange die ganze Einrichtung beſtanden hat, wiſſen wir nicht. Wahrſcheinlich iſt ſie nach der Ueber - ſiedelung des Hofes nach Konſtantinopel allmählich ein - gegangen.

Die germaniſchen Völker, welche nach den Römern die Leitung der Geſchicke Europas übernahmen, waren weder nach ihrer Kulturſtufe, noch nach ihrer politiſchen Organiſation imſtande und hatten auch nicht das Bedürfnis, eine ähnliche Organiſation des Nachrichtendienſtes aufrecht zu erhalten. Im ganzen Mittelalter bewegte ſich das Leben der Menſchen politiſch und ſozial in engen geſchloſſenen Kreiſen; die Pflege der Bildung zog ſich zurück in die Klöſter; ſie berührte Jahrhunderte lang nur die Spitzen der Geſellſchaft. Ein wirtſchaftliches Intereſſe, das über die engen Mauern der Stadt oder der Herrſchaft, der man179 angehörte, die Menſchen mit einander verbunden hätte, be - ſtand nicht. In den ſpäteren Jahrhunderten des Mittel - alters treten allerdings wieder größere ſoziale Zuſammen - hänge hervor. Es iſt zunächſt die Kirche mit ihrer alle Länder des germaniſch-romaniſchen Kulturkreiſes umſpan - nenden Hierarchie, ſodann das Bürgertum mit ſeinen Städte - bünden und gemeinſamen Handelsintereſſen und endlich als Gegenwirkung dazu die weltlichen Territorialgewalten, welche allmählich zu einem Zuſammenſchluß gelangen. Im XII. und XIII. Jahrhundert bemerken wir die erſten Spuren einer Organiſation des Nachrichtendienſtes und der Brief - beförderung in den Boten der Klöſter, der Univerſitäten und der ſonſtigen geiſtlichen Würdenträger; im XIV. und XV. Jahrhundert kommt eine umfaſſende, faſt poſtähnliche Einrichtung ſtädtiſcher Botenanſtalten für den Briefverkehr des Handels und der ſtädtiſchen Obrigkeiten hinzu. Und jetzt vernehmen wir auch zum erſtenmal das Wort Zeitung.

Dasſelbe bedeutet urſprünglich: was in der Zeit ge - ſchieht, ein Ereignis der Gegenwart, ſodann eine Nachricht über ein ſolches Ereignis, eine Botſchaft, einen Bericht, eine Neuigkeit.

Namentlich finden wir dasſelbe im Gebrauch für Mit - teilungen über die politiſchen Zeitläufte, wie ſie die ſtädtiſchen Kanzleien von anderen Städten oder einzelnen befreundeten Ratsperſonen derſelben in Briefen oder Beilagen zu ſolchen empfiengen und noch jetzt vielfach in ihren Archiven ver - wahren. So beſitzt das Stadtarchiv in Frankfurt a. M. 12 *180nicht weniger als 188 Briefe, welche ſich auf die Armagnaken - züge in den erſten vierziger Jahren des XV. Jahrhunderts beziehen meiſtens Leidensſchilderungen und Hilferufe von Städten aus dem Elſaß und der Schweiz. Darunter ſind nicht weniger als drei Erzählungen der Schlacht von St. Jacob, eine von Zürich, eine von Straßburg und eine vom Rate zu Baſel1)Wülcker, Urkunden und Schreiben, betreffend den Zug der Armagnaken: im Neujahrsblatt des Vereins für Geſch. und Altertumsk. zu Frankfurt a. M. für d. I. 1873. Ueber den folgenden Abſchnitt vergleiche man: Hatin, Historie politique et littéraire de la presse en France, Paris 1859 1861, vol. I p. 28 ff. Hatin, Biblio - graphie historique et critique de la presse périodique française, précédé d’un Essai historique et statistique sur la naissance et progrès de la presse périodique dans les Deux Mondes, Paris 1866 p. XLVII sqq. Leber, De l’état réel de la presse et des pamphlets depuis François I jusqu’à Louis XIV, Paris 1834. Alex. An - drews, The history of British Journalism, London 1859, vol. I p. 12 sqq. Ottino, La stampa periodica, il commercio dei libri e la tipografia in Italia, Milano 1875, p. 7. Rob. Prutz, Geſchichte des deutſchen Journalismus, Hannover 1845, Bd. I. J. Winckler, Die periodiſche Preſſe Öſterreichs, Wien 1845, S. 19 ff. Graßhoff, Die briefliche Zeitung des XVI. Jahrhunderts. Leip - zig 1877..

Dieſe Berichterſtattung iſt eine freiwillige und beruht auf Gegenſeitigkeit. Sie entſprang dem gemeinſamen Inter - eſſe, welches die Städte gegenüber dem Adel und den Ter - ritorialgewalten verband; ſie fand in den zahlreichen ſtädti - ſchen Boten, welche in regelmäßigen Kurſen (daher Ordinari -181 Boten) die Verbindung zwiſchen Ober - und Niederdeutſch - land unterhielten, eine wirkſame Unterſtützung.

Gegen Ende des XV. Jahrhunderts finden wir einen ähnlichen brieflichen Austauſch von Nachrichten zwiſchen hochgeſtellten Perſonen, Fürſten, Staatsmännern, Pofeſſoren an Univerſitäten, der namentlich in der Reformationszeit den größten Aufſchwung nimmt. Wir bemerken bereits, wie man einander nicht mehr bloß bei zufälligen Anläſſen über die Not und Bedrängnis der Zeit unterrichtet, ſondern wie man auf planmäßiges Sammeln von Nachrichten aus - geht. Beſonders waren es die großen Verkehrsmittelpunkte und Handelsſtädte, die Knotenpunkte des Botenlaufs und die Sitze der gelehrten Bildung, an welchen Nachrichten aus aller Welt zuſammenſtrömten, um von da zuſammen - geſtellt und redigiert in Briefen und Briefbeilagen nach allen Richtungen hin auseinander zu fließen. Durchweg führen dieſe geſchriebenen Nachrichten den Namen Zeitungen oder neue Zeitungen.

Der größte Teil dieſer Korreſpondenz iſt privaten Charakters. Männer im Mittelpunkt der politiſchen und kirchlichen Ereigniſſe ſchrieben einander die bei ihnen ein - gelaufenen Nachrichten zu. Es war ein gegenſeitiges Geben und Nehmen, was nicht ausſchloß, daß Leute mit ſehr lebhafter Korreſpondenz ihre neuen Zeitungen vervielfältigen ließen, um ſie mehreren Briefen an Verſchiedene beizulegen und daß die Empfänger ſie in Abſchriften weiter beförderten oder unter ihren Bekannten zirkulieren ließen. Fürſten182 hielten ſich auch wohl ſchon an den Hauptverkehrsplätzen eigene bezahlte Korreſpondenten.

In das Volk drangen dieſe geſchriebenen Zeitungen zunächſt nicht. Die Kreiſe, auf welche dieſelben berechnet waren, ſind:

  • 1) die Fürſten und Staatsmänner, ſowie die ſtädti - ſchen Räte,
  • 2) die Univerſitätslehrer und die ihnen nahe ſtehenden Männer des öffentlichen Dienſtes in Schule und Kirche,
  • 3) die Börſenmänner der Zeit, die Großkaufleute.

Faſt alle Reformatoren und Humaniſten ſind eifrige Zeitungskorreſpondenten und regelmäßige Empfänger von Zeitungsnachrichten. So namentlich Melanchthon, deſſen zahlreiche Verbindungen in allen Teilen Deutſchlands und der Nachbarländer ihm fortwährend ein reichen Schatz neuer Nachrichten zuführten, mit denen er wieder ſeine Freunde und namentlich verſchiedene Fürſten verſorgte. Neben ihm iſt Luthers und Zwinglis Briefwechſel verhältnismäßig arm an ähnlichem Stoff. Dagegen waren die Straßburger Johann und Jakob Sturm, Bucer, Capito, die Basler Oecolampadius und Beatus Rhenanus, die Augsburger Hätzer und Urbanus Rhegius, Hier. Baum - gartner in Nürnberg, Joachim Camerarius, Bugenhagen u. A. auf dieſem Gebiete ſehr fleißig thätig.

Die Quellen für ihre Nachrichten ſind ſehr mannig - faltige. Neben mündlichen oder ſchriftlichen Mitteilungen183 von Freunden werden uns genannt: Erzählungen von zu - reiſenden Kaufleuten, insbeſondere von Buchhändlern, welche die Meſſe in Frankfurt beſucht hatten, Ausſagen von Briefboten, Berichte von Landsknechten, die aus Feldzügen heimkehrten, Mitteilungen von durchreiſenden Fremden und Gaſtfreunden, ſpeziell auch von Studenten, die aus fremden Ländern kamen, um die deutſchen Hochſchulen zu beſuchen, endlich auch was man von zufällig durchgekommenen Ge - ſandten fremder Höfe, von Kanzlern, Sekretären und Agenten hochgeſtellter Perſonen vernommen hatte.

Natürlich waren ſolche gelegentlich geſammelten münd - lichen Nachrichten von ſehr verſchiedenem Werte und mußten von dem Zeitungskorreſpondenten, der ſie weitergab, erſt einer redaktionellen Kritik unterworfen werden. Weit wich - tiger waren die brieflich bezogenen, und es dürfte von einigem Intereſſe ſein, an Handen des Briefwechſels von Melanchthon ihren Quellen etwas nachzugehen1)Nach Graßhoff a. a. O. S. 23 ff..

Da erkennen wir denn bald, daß es eine Reihe be - ſtimmter Sammelpunkte für die verſchiedenen Arten von Nachrichten gab. Im Vordergrunde des Intereſſes ſtand damals die orientaliſche Frage, d. h. die Bedrohung der mitteleuropäiſchen Länder durch die Türken. Nachrichten über die Kämpfe mit ihnen kamen entweder aus Ungarn über Wien, Krakau oder Breslau oder aus Konſtantinopel zur See über Venedig. Die Berichterſtatter ſind meiſt Geiſtliche, welche der neuen Lehre anhiengen.

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Ueber die Verhältniſſe des Südens kamen Nachrichten aus Rom, Venedig, Genua, auch wohl von gelehrten Freun - den aus Padua und Bologna.

Nachrichten aus Frankreich und Spanien kamen über Lyon, Genua und Straßburg, aus England und den Nieder - landen über Antwerpen und Köln, aus den nordiſchen Ländern über Bremen, Hamburg und Lübeck, aus dem Nord-Oſten über Königsberg und Riga.

Innerhalb Deutſchlands war Nürnberg der Haupt - ſammelpunkt für Nachrichten, einesteils wegen ſeiner zent - ralen Lage, andernteils wegen ſeiner weitreichenden Handels - verbindungen. Wer ſich ſicher und genau über die Welt - händel unterrichten wollte, ſchrieb nach Nürnberg oder ſchickte einen Geſandten dorthin. Fürſten, wie Herzog Albrecht von Preußen und Chriſtian III. von Dänemark hielten dort ihre ſtändigen Korreſpondenten, welche ihnen die einlaufenden Neuigkeiten zuſammenzuſtellen und zu be - richten hatten. Beamte der Stadt, Ratsherren und Stadt - ſchreiber, angeſehene Kaufleute übernahmen häufig ein ſolches Amt. Neben Nürnberg kamen noch in Betracht: Frankfurt, Augsburg, Regensburg, Worms und Speier.

Die Zeitungen, welche Melanchthon aus dieſen ver - ſchiedenartigen Quellen zuſammenſetzte, ſind einfache hiſto - riſche Referate, zwar nicht ohne Kritik ausgewählt, aber höchſt ſelten mit Erörterungen politiſcher Art häufiger ſchon mit allerlei Klagen und Befürchtungen, Wünſchen und Hoffnungen durchflochten. Neben den wichtigen Nachrichten185 vom Hofe des Kaiſers, von den verſchiedenen Kriegsſchau - plätzen, über den Fortgang der Reformation finden wir auch ſolche, welche die ganze Naivetät und Leichtgläubigkeit der Zeit widerſpiegeln: Mitteilungen über politiſche Weis - ſagungen, Naturwunder, Mißgeburten, Erdbeben, Blutregen, Kometen und andere Geſichte am Himmel.

In der zweiten Hälfte des XVI. Jahrhunderts nahm dieſe Art der Nachrichtenvermittlung eine regelmäßige Form und zweckmäßige Organiſation an und zwar nicht nur in Deutſchland, ſondern, wie es ſcheint, noch etwas früher in Italien, namentlich in Venedig und Rom.

Venedig hat lange Zeit für den Ort gegolten, welcher zuerſt die Zeitung im modernen Sinne des Wortes erfunden hat. Man ſtützte ſich dabei auf die bei den romaniſchen Völkern ziemlich allgemein verbreitete Benennung gazetta, gazette für Zeitung, die ſich am früheſten in Venedig findet und zwar als Name einer kleinen Münze. Ich will hier nicht auf die zum Teil ziemlich abenteuerlichen Erzäh - lungen eingehen, welche die an ſich unwahrſcheinliche Her - leitung des Namens der Zeitung von dem Namen der Münze rechtfertigen ſollen1)Vgl. Hatin, Bibliographie de la presse périodique p. XLVII. .

An und für ſich aber hat die Vermutung ſehr vieles für ſich, daß das Zeitungsweſen, ſo wie ich es vorhin ge - ſchildert habe, zuerſt in Venedig eine berufsmäßige Aus - bildung erfahren hat. Als Vermittlerin des Verkehrs zwiſchen Orient und Occident, als Sitz einer Regierung,186 welche zuerſt das Geſandtſchaftsweſen im modernen Sinne und den politiſchen Nachrichtendienſt organiſiert hat, bildete die alte Lagunenſtadt von ſelbſt einen Sammelpunkt, an welchem wichtige Nachrichten von allen Ländern der be - kannten Welt zuſammenfloſſen. Schon früh im XV. Jahr - hundert hatte der Rat von Venedig, wie die Forſchungen Valentinellis, des Konſervators der Markus-Bibliothek ge - zeigt haben, Zuſammenſtellungen von Nachrichten über Vor - gänge, die ſich entweder in der Republik ereignet hatten oder von Geſandten, Konſuln und Beamten, von Schiffs - kapitänen, Kaufleuten und dergl. berichtet worden waren, anfertigen und in Zirkulardepeſchen an ſeine auswärtigen Geſandten ſchicken laſſen, um ſie über den Gang der inter - nationalen Angelegenheiten auf dem Laufenden zu erhalten. Man nannte dieſe Nachrichtenſammlungen fogli d’avvisi. Später wurden von dieſen offiziellen Zuſammenſtellungen Abſchriften genommen, aber offenbar nicht zur Verbreitung unter das große Publikum, ſondern bloß für die angeſehenen Venetianer, welche bei ihren Handelsoperationen davon Nutzen ziehen mochten, auch wohl ſie ihren Geſchäftsfreunden in anderen Ländern brieflich mitteilten.

Dieſes Anhängen politiſcher Nachrichten an die Ge - ſchäftskorreſpondenz oder das Beilegen derſelben auf be - ſonderen Blättern finden wir bald ebenſo auch bei den großen Handelsherren von Augsburg, Nürnberg und den übrigen deutſchen Städten. Mit der Zeit verfielen einzelne Perſonen darauf, das Sammeln und briefliche Zuſenden187 von Nachrichten zur Quelle des Erwerbs zu machen. Im XVI. Jahrhundert finden wir auf dem Rialto zu Venedig zwiſchen den Buden der Wechsler und Goldſchmiede ein eignes kaufmänniſches Nachrichtenbureau, welches ein Ge - ſchäft daraus machte, politiſche und Handelsnachrichten, Nachweiſungen über ein - und ausgelaufene Schiffe, über Warenpreiſe, über die Sicherheit der Straßen, auch über politiſche Ereigniſſe einzuziehen und ſie an Intereſſenten in Abſchriften zu verkaufen1)Nach Prutz, Geſch. des Journalismus I, S. 212.. Ja es bildete ſich eine ganze Zunft von scrittori d’avvisi, und bald finden wir die gleichen Leute auch in Rom, wo ſie den Namen novellanti oder gazettanti führen. Hier ſcheint ihre Thätigkeit der Curie bald unbequem geworden zu ſein, ſei es, daß ſie unangenehme Thatſachen verbreiteten, ſei es, daß ſie die - ſelben mit eigenen Urteilen begleitet hatten. Im Jahre 1572 wurden nicht weniger als zwei päpſtliche Bullen gegen ſie erlaſſen (Pius V. und Gregor XIII. ); das Aviſenſchreiben wurde ihnen ſtreng verboten und die Fortſetzung desſelben mit Brandmarkung und Galeerenſtrafe bedroht. Trotzdem finden wir auch noch weiterhin zahlreiche Spuren eines von Rom ausgehenden Nachrichtendienſtes nach den ober - italieniſchen Städten und nach Deutſchland.

Auch in Deutſchland war inzwiſchen das Zeitungs - ſchreiben ein Gewerbe geworden, welches eine eigne für die damaligen Verkehrsverhältniſſe wunderbar zu nennende Or - ganiſation angenommen hatte. Dieſelbe hängt einerſeits188 zuſammen mit der weiteren Ausbildung der Botenkurſe, anderſeits mit der Einrichtung der Poſt von den öſter - reichiſchen Niederlanden nach der Hauptſtadt Wien durch Kaiſer Maximilian, welche den regelmäßigen Bezug von Nachrichten ungemein erleichtert hatte. So finden wir denn in der zweiten Hälfte des XVI. Jahrhunderts an verſchie - denen Orten eigene Korreſpondenzbureaux, welche Nach - richten ſammeln und ſie ihren Abonnenten brieflich mit - teilen. Es ſind mehrere Sammlungen ſolcher brieflicher Zeitungen erhalten, u. A. eine von 1582 1591 auf der großherzoglichen Bibliothek in Weimar und zwei auf der Univerſitäts-Bibliothek in Leipzig aus den 80er und 90er Jahren des XVI. Jahrhunderts1)Vgl. Jul. Opel, Die Anfänge der deutſchen Zeitungspreſſe im Archiv für die Geſch. des deutſchen Buchhandels, Bd. III (1879)..

Sie geſtatten mir, bei dem älteſten Jahrgang der Leip - ziger Sammlung etwas zu verweilen. Derſelbe trägt die Aufſchrift:

Neüetzeittüng ſoüil dero von Nornbergk von dem 26. Octobris Anno 87 bis auff den 26. Octobris Anno 88 einkommen.

Es folgen dann in ſelbſtändigen Zuſammenſtellungen Abſchriften von Nachrichten, welche regelmäßig wöchentlich von Rom, Venedig, Antwerpen und Köln auf dem Komptoir des Nürnberger Handelshauſes Reiner Volckhardt und Flo - rian von der Bruckh eingelaufen waren und von da entweder durch dieſes Haus oder durch einen beſonderen189 Herausgeber weiter verbreitet worden waren. Der Empfänger unſerer Sammlung war wahrſcheinlich der Leipziger Ober - ſchöppenſchreiber Ludwig Trüb.

Die römiſchen Korreſpondenzen ſind gewöhnlich um 6 Tage früher datiert als die Venetianiſchen, und die Antwerpener um 5 Tage früher als die Kölniſchen. Alle vier Orte lagen an den großen Poſtrouten von Italien und den Niederlanden nach Deutſchland. Zuweilen treten neben dieſen regelmäßigen auch gelegentliche Korreſpondenzen auf. So aus Prag, Breslau und beſonders oft aus Frankfurt a. M.

Sehen wir uns den Inhalt dieſer Nachrichten näher an, ſo erkennen wir bald, daß wir es nicht mit Vorkomm - niſſen zu thun haben, welche in Rom, Venedig, Antwerpen ꝛc. ſich ereignet hatten, ſondern mit Berichten, welche an dieſen Orten geſammelt worden waren. Demgemäß enthält die Antwerpener Korreſpondenz nicht bloß Nachrichten aus den Niederlanden, ſondern auch aus Frankreich, England und Dänemark; über Rom kamen nicht nur Nachrichten aus Italien, ſondern auch aus Spanien und Südfrankreich, über Venedig aus dem Orient. Der Ton der Berichte iſt ein objektiv nüchterner, geſchäftsmäßiger. Die politiſchen Nachrichten überwiegen; ſeltener treten Mitteilungen über Handel und Verkehr auf. Von den beliebten Wunder - und Spukgeſchichten iſt keine Spur zu finden.

Wie war nun der Nachrichtendienſt an jenen vier großen Sammelpunkten organiſiert? Wer waren die Sammler und190 Vermittler? Wie wurden ſie honoriert? Aus welchen Quellen ſchöpften ſie? Leider können wir nur auf einen Teil dieſer Fragen Antwort geben.

Was zunächſt die Quellen betrifft, aus welchen die Verfaſſer jener Korreſpondenzen ſchöpften, ſo berufen ſie ſich ſelbſt bisweilen auf die letzte Poſt oder auf den regel - mäßigen Botenverkehr (Ordinari). So heißt es in einer Kölner Korreſpondenz vom 28. Februar 1591: Die Brief von Holl - und Seeland, alſo auch aus dem welſchen Quar - tier ſind noch nicht erſchienen. In einer ſolchen aus Rom vom 17. Februar 1590 wird mitgeteilt, daß der dortige Poſtmeiſter ſich dem Papſt gegenüber verpflichtet habe, wöchentlich eine Poſt von und nach Lyon laufen zu laſſen und am Schluſſe heißt es: Dergeſtalt werden wir alle Wochen Aviſo aus Frankreich haben.

Mehr iſt aus der Sammlung ſelbſt nicht zu ermitteln. Wenn wir aber gleichzeitig in einer Reihe von deutſchen Städten bemerken, daß es vorzugsweiſe die ſtädtiſchen Botenmeiſter und die kaiſerlichen Poſtmeiſter ſind, welche ſich mit dem gewerbsmäßigen Verfaſſen und Verſenden von neuen Zeitungen abgeben, ſo gewinnt die Vermutung große Wahrſcheinlichkeit, daß die Nachrichtenſammlung im engſten Anſchluß an die damaligen Nachrichtentransportanſtalten bewerkſtelligt worden ſei. Wahrſcheinlich haben die Boten - und Poſtmeiſter die von ihnen geſammelten Nachrichten regelmäßig unter einander ausgetauſcht, um dann ihre191 Privatkunden damit zu verſorgen. Doch bedarf die ganze Angelegenheit noch ſehr der näheren Unterſuchung.

Etwas klarer ſehen wir in die Beziehungen des Groß - handels zum Zeitungsweſen. Wie die vorhin erwähnten Nürnberger Kaufleute, ſo hatten auch an andern Orten einzelne große Handelshäuſer den Nachrichtendienſt auf eigene Hand organiſiert. So namentlich die Welſer und Fugger, deren Nachrichten wir neben den Nürnbergern in dem berühmten Briefbuche des Nürnberger Rechtsge - lehrten Chriſtoph Scheurl finden1)Chriſtoph Scheurl’s Briefbuch, ein Beitrag zur Ge - ſchichte der Reformation und ihrer Zeit, herausg. von Sooden und Knaake. Potsdam 1867 / 72.. In der zweiten Hälfte des XVI. Jahrhunderts ließen die Fugger die aus allen Teilen der Welt bei ihnen einlaufenden Nachrichten regelmäßig zuſammenſtellen und, wie es ſcheint, auch publi - zieren. Der Titel der regelmäßig erſcheinenden Nummern war Ordinari-Zeittungen. Daneben gab es Beilagen mit dem Allerneueſten: Extraordinari-Zeittungen. Der Preis einer Nummer war 4 Kreuzer; der ganze Jahrgang koſtete in Augsburg einſchließlich der Zuſtellung 25 fl., die Ordi - nari-Zeittungen allein 14 fl. Eine Sammlung dieſes ſehr reichhaltigen Publikations-Organs von 1568 1604 befindet ſich in der Wiener Bibliothek.

Die Fuggerzeitungen enthalten regelmäßig Nachrichten aus den verſchiedenen Teilen Europas und dem Orient, aber auch darüber hinaus aus Perſien, China, Japan,192 Amerika. Neben den politiſchen Nachrichten findet man häufig Ernteberichte und Preisnotizen, hie und da ſelbſt annoncenartige Mitteilungen und ein langes Verzeichnis von Wiener Firmen (wie und wo alle Dinge jetzt in Wien zu kaufen ſind). Sogar litterariſche Nachrichten treten auf über neue und merkwürdige Bücher, ja es wird ſelbſt über die Aufführung eines neuen Schauſpiels berichtet1)Der Aufſatz von Sickel über die Fuggerzeitungen im Athe - naeum français vom 2. Sept. 1854 iſt mir leider nicht zugänglich. Ich benutze den Auszug bei Hatin a. a. O. p. L, der übrigens den Angaben jenes Aufſatzes ſehr ungläubig gegenüberſteht. Auch ich habe manche Bedenken, namentlich gegen die Annahme einer allgemeinen Zugänglichkeit der Fuggerzeitungen..

Die Fuggerzeitungen ſind zweifellos eine ſinguläre Erſcheinung, die ſich nur aus der eigenartigen Stellung dieſes Hauſes, die derjenigen der heutigen Rothſchilde ähn - lich war, erklären läßt. An allen wichtigen Plätzen hatten die Fugger ihre Agenten; ſie ſtanden mit den bedeutendſten Handelshäuſern der Welt in ſtändiger Korreſpondenz, ihre Anlehensgeſchäfte brachten ſie mit den Regierungen in Ver - bindung; mit den Jeſuiten, die ſich ſchon damals in allen Ländern ausbreiteten, lebten ſie auf ſehr vertrautem Fuße.

Neben der organiſierten Nachrichtenvermittlung der Boten - und Poſtmeiſter, ſowie der großen Handelsfirmen treffen wir bald hier bald da in Deutſchland einzelne Aviſenſchreiber (Zeitunger, Novelliſten), welche im Dienſte von Fürſten oder Städten das Zeitungsſchreiben betrieben. So ſchloß 1609 der Kurfürſt Chriſtian II. von Sachſen193 mit Joh. Rudolf Ehinger von Balzheim in Ulm einen Vertrag, nach welchem dieſer es übernahm, gegen ein jähr - liches Honorar von 100 fl. Bericht zu erſtatten über die Vorgänge in der Schweiz, in Frankreich und natürlich auch in Schwaben. Im Jahre 1613 bezog Hans Zeidler in Prag für dasſelbe Amt vom ſächſiſchen Hofe ein Jahres - gehalt von 300 fl. nebſt 3319 Thalern 6 g. Gr. für Aus - lagen, die er beim Sammeln ſeiner Nachrichten gehabt hatte1)C. D. v. Witzleben, Geſchichte der Leipziger Zeitung. Leipz. 1860, S. 5 f. Derartige Zeitungs-Agenten unterhielt der ſächſiſche Hof um 1629 in Wien, Berlin, Braunſchweig, Augsburg, Ulm, Breslau, Hamburg, Lübeck, Prag, Amſterdam, Haag und in Ungarn.. Zu gleicher Zeit ließ ſich der Fürſtbiſchof von Bamberg von einem Dr. Gugel in Nürnberg gegen ein Honorar von 20 fl. die Zeitungen einſenden. Im Jahre 1625 zahlte die Stadt Halle dem Aviſenſchreiber Hierony - mus Teuthorn in Leipzig die Summe von 2 Schock 8 Gr. als vierteljährliches Honorar, und noch 1662 war der Rat von Delitzſch auf eine Leipziger Zeitungskorreſpondenz abon - niert für vierteljährlich 2 Thaler. Etwas beſſer ſcheinen die Poſt - und Botenmeiſter für ihre auch wohl wertvolleren Dienſte bezahlt geweſen zu ſein. Wenigſtens wiſſen wir, daß im Jahre 1615 der Frankfurter Poſtmeiſter Johann von der Birghden, der eine große Zahl von deutſchen Fürſten mit Aviſen verſorgte2)Vergl. Opel a. a. O. S. 28. 66., vom kurmainziſchen HofeBücher, Die Entſtehung der Volkswirtſchaft. 13194für die wöchentliche Einſendung der Zeitungen jährlich 60 fl. empfieng1)Faulhaber, Geſchichte der Poſt in Frankfurt a. M. (Archiv f. Frankf. Geſch. und Kunſt N. F. X) S. 31. 60 ff..

In größere Kreiſe ſcheinen die geſchriebenen Zeitungen auch noch im XVII. Jahrhundert nicht gedrungen zu ſein. Dafür waren ſie doch noch zu teuer.

Wie in Deutſchland und Italien, ſo finden wir auch in Frankreich und England am Schluſſe des XVI. und XVII. Jahrhunderts die geſchriebenen Zeitungen. In Frankreich heißen ſie Nouvelles à la main, in England News letters. In beiden Ländern ſind ſie ſpezifiſch hauptſtädtiſche Er - ſcheinungen.

Am intereſſanteſten geſtaltet ſich die Entwickelung in Paris; ja man kann wohl ſagen, daß die eigentliche Ur - zeitung, diejenige, welche der geſchriebenen Zeitung noch vorausgieng, ſich dort findet. Es iſt die erzählte oder ge - ſprochene Zeitung2)Vergl. Hatin, Histoire de la presse en France, I, 32 ff. .

In den aufgeregten Zeiten des XVI. und XVII. Jahr - hunderts bildeten ſich allabendlich an den Straßenecken, auf dem Pont neuf und an den öffentlichen Plätzen ganze Gruppen von Pariſer Bürgern, welche ſich die Tagesneuig - keiten zutrugen und dieſelben gloſſierten. Wie leicht be - greiflich, waren unter dieſen Gruppen einzelne, die es im Sammeln und Wiedererzählen von Neuigkeiten zur Vir - tuoſität brachten. Allmählich kam Organiſation in die195 Sache; die ſog. Nouvellistes hielten regelmäßige Zuſammen - künfte, tauſchten ihre Nachrichten gegen einander aus, kom - mentierten dieſelben, politiſierten und machten Projekte. Die Schriftſteller der Zeit behandeln dieſe Zirkel mit un - erſchöpflicher Satire, die Luſtſpieldichter bemächtigen ſich des dankbaren Stoffs, und noch Montesquieu widmet ihnen eine der ergötzlichſten ſeiner Lettres Persanes1)Oeuvres complètes, Paris 1857 p. 87, lettre CXXX..

Was Anfangs ein bloßer Zeitvertreib für Neuigkeiten - jäger und Müßiggänger geweſen war, wurde für ſpekulative Köpfe bald ein Gewerbe. Dieſelben übernahmen es, Leuten von Rang und Anſehen regelmäßig die Neuigkeiten zuzutragen. Große Herren hielten ſich einen Nouvelliste, wie ſie ſich einen Haarkräusler oder Leibſchneider hielten. Der Herzog von Mazarin zahlte beiſpielsweiſe einem ſolchen monatlich 10 Livres.

Bald fiengen die Nouvelliſtenzirkel an, auch Kunden in den Provinzen aufzuſuchen, die natürlich nur ſchriftlich be - dient werden konnten. Jeder Zirkel hatte ſein beſonderes Redaktions - und Kopierbureau und ſeine beſonderen Quellen für Hof - und Regierungsnachrichten. Die Abonnenten zahlten eine feſte Summe, die ſich nach der Zahl der Seiten richtete, welche ſie wöchentlich verlangten. Dies iſt der Urſprung der berühmten Nouvelles à la main, die unter manchen Verfolgungen von ſeiten der Regierung bis gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts fortdauerten und zum13 *196Teil auch ins Ausland verſchickt wurden1)Eine Vorſtellung von dem Inhalt ſolcher Blätter gibt die Gazette de la Régence, Janvier 1715 Juin 1719, publiée d’après le manuscrit inédit conservé à la Bibliothèque royale de La Haye par Le Comte E. de Barthélemy. Paris 1887.. Was ihnen aber neben den gedruckten Zeitungen Beſtand gab, war einerſeits der Umſtand, daß ſie das Geheimhaltungsſyſtem der Regierung vielfach illuſoriſch machten, und daß ſie ſich hin und wieder auch eine Kritik der öffentlichen Zuſtände erlaubten2)Aehnlich in Oeſterreich: Joh. Winckler, Die periodiſche Preſſe Öſterreichs, Wien 1875, S. 28 f..

Auch in England erhalten ſich die News letters, die hier vorwiegend den Landadel mit hauptſtädtiſchen und Hof-Nachrichten verſorgen, bis tief ins vorige Jahrhundert hinein; ja die damals gedruckten Zeitungen bequemten ſich dieſer Einrichtung noch inſofern an, als ſie mit zwei ge - druckten Seiten und zwei Seiten weißen Papiers erſchienen, damit die Abonnenten ſie mit handſchriftlichen Zuſätzen weiter befördern konnten3)Näheres bei Andrews, The history of British Journalism I, S. 14 ff. Hatin a. a. O. S. 51. Joachim von Schwarz - kopf, Ueber Zeitungen, Frankf. a. M. 1795 erzählt (S. 9), daß auch in Deutſchland bei einigen, dem Inhalt und der Form nach hand - ſchriftlichen Zeitungen (zu Mainz, Regensburg) wegen der größeren Anzahl der Abonnenten der Druck bisweilen zu Hilfe genommen worden ſei. Außerdem nennt er Wien, München, Berlin, Hannover als Orte, von welchen mit geheimen inländiſchen Nachrichten angefüllte Blätter verſchickt würden..

So ſehen wir ziemlich gleichzeitig in allen Kulturländern197 Europas als freilich noch recht beſchränktes Nach - richtenpublikationsmittel die geſchriebene Zeitung entſtehen und ſich mehr als zwei Jahrhunderte hindurch erhalten. Was aber das Merkwürdigſte an der Sache iſt, beſteht darin, daß eine gewerbsmäßige Herſtellung dieſer handſchrift - lichen Nachrichtenblätter ſich nirgends über die Zeit der Er - findung der Buchdruckerkunſt zurückverfolgen läßt. Mit dieſer Beobachtung drängt ſich von ſelbſt die Frage auf, warum man nicht die Druckerpreſſe in den Dienſt der regel - mäßigen Nachrichtenpublikation nahm.

Die Frage beantwortet ſich einfach aus der Beobach - tung, daß auch in jungen Kolonialländern mit einer euro - päiſchen Bevölkerung, die in ihrer Heimat bereits an ge - druckte Zeitungen gewöhnt geweſen war, die geſchriebenen Nachrichtenblätter den gedruckten vorausgehen. So in den Vereinigten Staaten von Amerika noch im Anfang des XVIII. Jahrhunderts1)Frederic Hudson, Journalism in the United States from 1690 to 1830, New-York 1873, p. 51 ff., ſo in der Kolonie Weſt-Auſtralien noch im Jahre 18302)Andrews a. a. O., II, S. 312 f.. Dieſe Thatſache beweiſt, daß es viel weniger der Druck der Zenſur geweſen ſein kann, welcher die Verwendung der Preſſe zur Nachrichtenpubli - kation ſolange verhindert hat, als der Mangel eines ge - nügend großen Leſerkreiſes, welcher den für den Erſatz der Druckkoſten nötigen Abſatz garantiert hätte.

Allerdings ſind einzelne Nummern jener geſchriebenen198 Zeitungen, für welche nach ihrem Inhalt ein Intereſſe in weiteren Kreiſen vorausgeſetzt werden konnte, ſchon ſeit dem Ende des XV. Jahrhunderts vielfach gedruckt worden. Es ſind das jene Einblattdrucke, welche unter dem Namen Newe Zeitung von ſpekulativen Verlegern herausgegeben und auf Meſſen und Märkten verkauft wurden und von denen ſich Sammlungen in jeder älteren Bibliothek finden1)Bibliographiſch behandelt von Weller, Die erſten deutſchen Zeitungen. Nachtrag dazu in der Germania XXVI, 106.. Die älteſte derſelben iſt ein Bericht über das Leichenbegäng - nis Kaiſer Friedrichs III. aus dem Jahre 1493. Von da ab ziehen ſie ſich durch das ganze XVI. Jahrhundert hin, um im XVII. Jahrhundert mit dem Aufkommen periodiſcher gedruckter Nachrichtenblätter ſeltener zu werden und erſt im XVIII. zu verſchwinden. Die älteſten derſelben tragen entweder gar keinen Titel, oder ſie entnehmen die Ueberſchrift dem Inhalt. Der Name Zeitung tritt zum erſtenmal für ein ſolches fliegendes Blatt 1505 auf. Daneben finden wir aber noch mancherlei andere Benennungen, wie Brief, Relation, Mär, Nachricht, Beſchreibung, Bericht, Aviſo, Poſt, Poſtillon, Kurier, Fama, Depeſche, Felleiſen oft auch mit allerlei adjektiviſchen Zuſätzen, wie Umbſtändliche Nachricht, Warhaffte und eigentliche Beſchreibung, Wolbedenkliche Beſchreibung, Warhaffte Relation, Vberſchlag und Inhalt, Hiſtori - ſcher Diſcurs und ausführliche Erklärung;199 ſehr häufig Neue und warhaffte Zeitung, War - hafftige und erſchrockenliche Zeitung, Wun - derbarliche, erſchreckliche und erbärmliche Zeitung, in England: Newes, Newe Newes, Thiding Woful Newes, Wonderful and strange Newes, Lamentable News und ähnlich in Frankreich: Discours, Mémorable discours, Nouvelles, Récit, Courrier, Messager, Postillon, Mercure etc.

Wie man ſieht, ſind die Titel reklamenhaft und markt - ſchreieriſch. Der Inhalt iſt ſehr mannigfaltig. In der großen Mehrzahl der Fälle beſteht er aus politiſchen Nach - richten; durchweg tritt das Raiſonnement zurück. Die ge - ſchriebenen Neuigkeitsbriefe ſind zwar nicht die einzige Quelle dieſer flüchtigen Erzeugniſſe der Druckerpreſſe, wohl aber die Hauptquelle. Gewöhnlich ſind dieſe Einzeldruck - blätter unabhängig von einander; nur vereinzelt laſſen ſich am Ende des XVI. Jahrhunderts mehrere auf einander folgende Nummern nachweiſen, ohne daß man noch an ein periodiſches Erſcheinen denken darf. Jedenfalls aber be - reiten dieſe fliegenden Blätter formell und inhaltlich der eigentlichen periodiſch erſcheinenden gedruckten Zeitung den Weg und dies auch inſofern, als ſie im Volke den Sinn für Ereigniſſe weckten, die über die bloßen Kirchturms - intereſſen hinausgiengen.

Die erſten gedruckten periodiſchen Nachrichtenſammlungen beginnen noch im XVI. Jahrhundert. Und zwar ſind es Jahrespublikationen, die ſog. Poſtreuter, deren Inhalt200 ſich etwa mit den politiſchen Jahresüberſichten unſerer Volks - kalender vergleichen läßt1)Nach Prutz a. a. O. S. 179 wären ſie ſchon um die Mitte des XVI. Ih. aufgekommen..

Daran ſchließen ſich halbjährliche Nachrichtenzuſammen - ſtellungen, die ſog. Relationes semestrales oder Meßrelationen. Sie ſind in den 80er Jahren des XVI. Jahrhunderts von Michael von Aitzing begründet worden und bildeten mehr als zwei Jahrhunderte hindurch einen der Hauptvertriebsartikel der Frankfurter und ſpäter auch der Leipziger Frühjahrs - und Herbſtmeſſe2)F. Stieve, Ueber die älteſten halbjährigen Zeitungen oder Meßrelationen und insbeſondere über deren Begründer Frhrn. Michael von Aitzing: Abh. der k. bayer. Akad. d. Wiſſ. III. Cl. XVI, 1. München 1881. Vergl. auch Orth, Ausführl. Abhandlung von den berühmten zwoen Reichsmeſſen, ſo in der Reichsſtadt Frankfurt a. M. jährlich abgehalten werden. Fkf. 1765, S. 714 ff. Prutz a. a. O. S. 188 ff. J. von Schwarzkopf, Ueber politiſche und gelehrte Zeitungen in Frankfurt a. M. 1802.. Die erſte gedruckte Wochenzeitung, von welcher wir Kunde haben, iſt ein Straßburger Blatt, von dem ſich der Jahr - gang 1609 auf der Heidelberger Univerſitätsbibliothek be - findet, während Reſte ſpäterer Jahrgänge auf der Züricher Bürgerbibliothek ſich erhalten haben3)Opel a. a. O. S. 44 ff.. Sie entſpricht nach Inhalt und Form genau den Ordinari-Aviſen, welche die Poſt allwöchentlich aus den Hauptſammelplätzen des Nach - richtenverkehrs brachte. Das Beiſpiel fand ſehr bald Nach - ahmung; beſonders raſch vermehrte ſich nach dem Beginne201 des dreißigjährigen Krieges die Zahl der gedruckten Wochen - zeitungen. Aus den zwanziger und dreißiger Jahren des XVII. Jahrhunderts laſſen ſich deren in verſchiedenen deutſchen Städten etwa zwei Dutzend nachweiſen. Die Unternehmer waren meiſt Buchdrucker; an einigen Orten nahm jedoch die Poſt das Recht, Aviſen im Druck erſcheinen zu laſſen, als einen Ausfluß ihres Regals in Anſpruch freilich mit verſchiedenem Erfolg. Während in Frankfurt, Leipzig, München, Köln, Hamburg die alte Verbindung zwiſchen Poſt und Zeitung ſich noch längere Zeit erhielt, gieng an vielen andern Orten die Nachrichtenpublikation völlig in den Geſchäftsbetrieb der Buchdruckereien über, und dies war für ihre fernere Entwicklung von der größten Bedeutung.

Deutſchland iſt das erſte Land, welches in regelmäßigen kurzen Friſten erſcheinende gedruckte Zeitungen aufzuweiſen hat. Die Anſprüche, welche früher von den Engländern und den Niederländern auf die Ehre erhoben wurden, die erſten gedruckten Wochenzeitungen hervorgebracht zu haben, ſind jetzt wohl aufgegeben. England kann nichts dem ähn - liches vor dem Jahre 1622 namhaft machen; das erſte franzö - ſiſche Wochenblatt begann 1631 zu erſcheinen.

Es wird vielleicht auffallend erſcheinen, daß man von den Halbjahrsberichten ſofort zu Wochenpublikationen über - gieng, ohne die Zwiſchenſtufe der Monatsberichte durchgemacht zu haben. Man muß jedoch nicht vergeſſen, daß ſich ebenſo - wohl die Sammlung der Nachrichten, als auch die Ver - breitung der Nachrichtenblätter den der Zeit eigentümlichen202 Verkehrsgelegenheiten anzupaſſen hatten. Die wichtigſten derſelben aber waren die Meſſen und die Poſten. Die halbjährlichen Meſſen boten die Möglichkeit, von einem großen Zentrum des Warenhandels und Menſchenverkehrs aus die gedruckten Nachrichten nach allen Richtungen bis in die entfernteſten Gegenden zu verbreiten. Die Poſten aber giengen auf den Hauptverkehrsrouten wöchentlich einmal und kamen wöchentlich einmal an. Der Sprung von den Halb - jahrsberichten zu den Wochenberichten lag alſo in der Natur der Dinge.

Mit den Wochenzeitungen war der Anſtoß zur eigent - lichen modernen Entwicklung des Zeitungsweſens gegeben. Immerhin dauerte es noch ziemlich lange bis zum Auftreten der erſten Tagesblätter. Dasſelbe erfolgte in Deutſchland 1660 (Leipziger Zeitung), in England 1702 (Daily Courant), in Frankreich 1777 (Journal de Paris).

Es liegt mir fern, Sie auf dieſem Wege weiter führen zu wollen bis auf die dreimal täglich erſcheinenden Welt - blätter der Gegenwart. Was ſie unterſcheidet von der geſchriebenen Zeitung des XVI. Jahrhunderts iſt weniger die Großartigkeit der Organiſation der Nachrichtenvermitt - lung und die Schnelligkeit der Nachrichtenbeförderung als die Umgeſtaltung des Inhalts, ſpeziell das Annoncenweſen und der Einfluß, den ſie auf die öffentliche Meinung und dadurch auf den Gang der Geſchicke der Völker ausüben.

Großartig war zweifellos für das XVI. Jahrhundert das Netz der regelmäßigen Nachrichtenſammlung, welches203 wir vorhin kennen gelernt haben. Es geht durch ſie ſozu - ſagen ein moderner Zug, der Zug der Zuſammenfaſſung der Einzelkräfte in geteilter Arbeit, aber in vereintem Wirken. Auf dem Gebiete der Nachrichten ſammlung ſind ſeit dem XVI. Jahrhundert kaum Fortſchritte gemacht worden. Die ganze Weiterentwicklung, welche die Zeitung in dieſer Richtung erfahren hat, beruht auf der Trennung der Nach - richtenſammlung von der Nachrichtenbeförderung (Poſt) und auf der unternehmungsweiſen Geſtaltung der erſteren in den Korreſpondenzbureaux und telegraphiſchen Agenturen. An die letzteren iſt die Rolle der ehemaligen Poſtmeiſter und Aviſenſchreiber übergegangen, nur mit dem Unterſchiede, daß dieſelben nicht mehr direkt für den Zeitungsleſer arbeiten, ſondern daß ſie nur Halbfabrikate für einen Publikations - unternehmer liefern und ſich dabei der vervollkommneten Verkehrsmittel der Neuzeit bedienen.

Sodann hat ſich die Nachrichten publikation auf dem Boden, auf welchen ſie ſich ſeit der Benutzung der Druckerpreſſe geſtellt ſah, eigentümlich weiter entwickelt. Im Anfang war der Herausgeber einer gedruckten periodiſch erſcheinenden Zeitung nichts anders als der Verleger eines ſonſtigen Preßerzeugniſſes, etwa einer Flugſchrift oder eines Buches: der Vervielfältiger und Verkäufer eines litterariſchen Produkts, über deſſen Inhalt er keine Gewalt übte. Der Zeitungsverleger brachte die Ordinari-Aviſen der Poſt ge - druckt auf den Markt, wie ein anderer Verleger ein Kräuter -204 buch oder die Ausgabe eines alten Schriftſtellers dem Pub - likum darbot.

Aber das änderte ſich bald. Man entdeckte leicht, daß der Inhalt einer Zeitungsnummer doch nicht in dem Sinne ein geſchloſſenes Ganzes bildet, wie der Inhalt eines Buches oder einer Flugſchrift. Die dort vereinigten, aus verſchie - denen Quellen geſchöpften Nachrichten waren von verſchie - dener Zuverläſſigkeit. Sie mußten mit Auswahl und Kritik benutzt werden; es ließ ſich dabei leicht eine politiſche oder kirchliche Tendenz zum Ausdruck bringen. Noch in erhöhtem Maße war das der Fall, als man anfieng, politiſche Tages - fragen in den Zeitungen zu beſprechen und ſie als Mittel zur Ausbreitung von Parteimeinungen zu benutzen.

Es geſchah dies zuerſt in England während des langen Parlaments und der Revolution von 1649. Später folgten die Niederlande und ein Teil der deutſchen Reichsſtädte. In Frankreich vollzog ſich der Umſchwung erſt zur Zeit der großen Revolution, in den meiſten andern Staaten in dieſem Jahrhundert. Die Zeitungen wurden aus bloßen Nachrichtenpublikationsanſtalten auch Träger und Leiter der öffentlichen Meinung und Kampfmittel der Parteipolitik.

Dies hatte für die innere Organiſation der Zeitungs - unternehmung die Folge, daß ſich zwiſchen die Nachrichten - ſammlung und die Nachrichtenpublikation ein neues Glied einſchob: die Redaktion. Für den Zeitungsverleger aber hatte es die Bedeutung, daß er aus einem Verkäufer205 neuer Nachrichten zugleich zu einem Händler mit öffentlicher Meinung wurde.

Das hatte zunächſt kein weiteres Bedenken, als daß der Verleger in den Stand geſetzt wurde, das Riſiko ſeiner Unternehmung zum Teil auf eine Parteiorganiſation, eine Intereſſentengruppe, eine Regierung abzuwälzen. Gefiel die Tendenz des Blattes den Leſern nicht, ſo hörten ſie auf, es zu kaufen; ihr Bedürfnis blieb alſo doch in letzter Linie für den Inhalt der Zeitungen maßgebend.

Die allmählich fortſchreitende Verbreitung der gedruckten Zeitungen führte jedoch bald auch ihre Benutzung zu öffent - lichen Bekanntmachungen der Behörden herbei, und daran ſchloß ſich im erſten Viertel des vorigen Jahrhunderts die Ausbildung des privaten Annoncenweſens. Dasſelbe hat gegenwärtig durch die ſog. Annoncen-Expeditionen eine ähnliche Organiſation erlangt, wie die politiſche Nachrichten - ſammlung durch die Korreſpondenzbureaux.

Durch die Aufnahme des Inſeratenweſens geriet die Zeitung in eine eigentümliche Zwitterſtellung. Sie bringt für den Abonnementspreis nicht mehr bloß Nachrichten und Anſichten zur Veröffentlichung, an die ſich ein allgemeines Intereſſe knüpft, ſondern ſie dient auch dem Privatverkehr und dem Privatintereſſe durch Anzeigen jeder Art, welche ihr ſpeziell vergolten werden. Sie verkauft neue Nachrichten an ihre Leſer, und ſie verkauft ihren Leſerkreis an jedes zahlungsfähige Privatintereſſe. Auf demſelben Blatte, oft auf derſelben Seite, wo die höchſten Intereſſen der Menſch -206 heit Vertretung finden oder doch finden ſollten, treiben Käufer und Verkäufer in niedriger Gewinnſucht ihr Weſen, und für den Uneingeweihten iſt es oft ſchwer genug zu unterſcheiden, wo das öffentliche Intereſſe aufhört und wo das private anfängt.

Das iſt um ſo gefährlicher, als ſich im Laufe dieſes Jahrhunderts der Inhalt des redaktionellen Teiles der Zeitungen faſt über das ganze Gebiet allgemein menſchlicher Intereſſen ausgedehnt hat. Die hohe Politik, die ſtaatliche und kommunale Verwaltung, die Rechtspflege, die Kunſt in allen ihren Aeußerungen, die Technik, das wirtſchaft - liche, das ſoziale Leben in ſeinen mannigfachen Ausſtrah - lungen ſpiegeln ſich in der Tagespreſſe ab; auch ein guter Teil der ſchöngeiſtigen und ſelbſt der wiſſenſchaftlichen Produktion mündet ſeit der Ausbildung des Feuilletons in dieſen großen Strom des ſozialen Geiſteslebens der Gegen - wart aus. Die Publikationsform des Buches darüber dürfen wir uns am wenigſten täuſchen verliert von Jahr zu Jahr an Boden.

Ich kann und darf auf dieſe Dinge heute nicht weiter eingehen. Was ich mit dieſem flüchtigen Ausblick auf die moderne Geſtaltung des Zeitungsweſens allein beabſichtigt habe, war, die Anfänge des Zeitungsweſens entwicklungs - geſchichtlich in den rechten Zuſammenhang zu rücken, und Ihnen zu zeigen, wie die Organiſation der Nachrichten - vermittlung zu jeder Zeit bedingt iſt durch die geſamte Wirtſchaftsweiſe.

207

Die römiſche Zeitung iſt ein Glied in der autonomen Güterverſorgung des reichen ariſtokratiſchen Hauſes. Man hält ſich einen Zeitungsſchreiber, wie man ſich einen Leib - arzt oder Bibliothekar hält. Er iſt in den meiſten Fällen das Eigentum des Zeitungsleſers, ſein Sklave, der nach den Anweiſungen des Herrn arbeitet.

In der geſchriebenen Zeitung des XVI. Jahrhunderts waltet der handwerksmäßige Betrieb, der damals alle Zweige höherer wirtſchaftlicher Thätigkeit beherrſchte. Der Aviſen - ſchreiber liefert auf Beſtellung die von ihm geſammelten Nach - richten unmittelbar gegen beſonderen Entgelt an einen Kreis von Kunden und richtet ſich gewiß auch im Ausmaß des Stoffes nach den Bedürfniſſen derſelben. Er iſt Reporter, Redakteur und Verleger in einer Perſon.

Die moderne Zeitung iſt eine kapitaliſtiſche Unter - nehmung, ſozuſagen eine Neuigkeitenfabrik, in welcher in mannigfach geteilter Arbeit eine große Zahl von Perſonen (Korreſpondenten, Redakteure, Schriftſetzer, Korrektoren, Maſchinenperſonal, Annoncenſammler, Expeditionsgehilfen, Boten ꝛc. ) unter einheitlicher Leitung gegen Lohn beſchäftigt werden und die für einen unbekannten Leſerkreis, von dem ſie oft noch durch Zwiſchenglieder (Kolporteure, Poſtanſtalten) getrennt iſt, Ware erzeugt. Nicht mehr das einfache Be - dürfnis des Leſers oder des Kundenkreiſes iſt für die Qualität dieſer Ware maßgebend, ſondern die ſehr kompli - zierten Konkurrenzverhältniſſe des Publizitätsmarktes. Auf dieſem Markte ſpielen aber, wie auf den Großhandels -208 märkten überhaupt, die Warenkonſumenten, die Zeitungs - leſer nicht direkt mit; ausſchlaggebend für die Güte der Ware ſind die Großhändler und Spekulanten der Publizität: die Regierungen, die von ihnen abhängigen Telegraphen - bureaux, die autographierten Korreſpondenzen, die politiſchen Parteien, die künſtleriſchen und wiſſenſchaftlichen Cliquen, die Börſenmänner und zuletzt, aber nicht am wenigſten, die Annoncenagenturen und einzelne große Inſerenten.

Jede Nummer eines großen Tagesblattes, die heute erſcheint, iſt ein Wunderwerk der kapitaliſtiſch organiſierten volkswirtſchaftlichen Arbeitsteilung und der maſchinellen Technik, ein Mittel des geiſtigen und wiſſenſchaftlichen Ver - kehrs, in dem ſich die Wirkungen aller andern Verkehrs - mittel: der Eiſenbahn, der Poſt, des Telegraphen und des Fernſprechers wie in einem Brennpunkte vereinigen. Aber wie auf keiner Stelle, wo der Kapitalismus ſich mit dem Geiſtesleben berührt, unſer Auge mit Befriedigung verweilen mag, ſo können wir uns auch dieſer Errungenſchaft der modernen Kultur nur mit halbem Herzen freuen, und es wird uns ſchwer zu glauben, daß die Zeitung in ihrer heutigen Ausgeſtaltung die höchſte und letzte Form der Nachrichtenvermittlung zu bilden beſtimmt ſei.

[209]

V. Die ſoziale Gliederung der Frankfurter Bevölkerung im Mittelalter.

Vortrag, gehalten auf Veranlaſſung des Freien deutſchen Hochſtifts zu Frankfurt a. M. den 20. März 1887.

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Will man die ſoziale Gliederung einer mittelalterlichen Stadtbevölkerung begreifen, ſo muß man ſich zuvörderſt des großen Unterſchieds bewußt werden, welcher zwiſchen Staat und Geſellſchaft im Mittelalter und in der Neuzeit beſteht.

Jenes weite Gebiet menſchlicher Maſſenzuſammenhänge und Wechſelwirkungen, welches uns die moderne Geſellſchaft darſtellt, iſt im Mittelalter ebenſo wenig vorhanden, als die allumfaſſende Machtfülle und Einheit des gegenwärtigen Staates. Beide fehlten, weil es an der zuſammenfaſſenden Kraft gebrach, welche in den gemeinſamen Intereſſen eines gleichartigen Verkehrslebens liegt.

Für den Staat bedarf dies keines langen Beweiſes. Hat doch ſchon längſt der wiſſenſchaftliche Sprachgebrauch, wenn er von einer deutſchen Kaiſergeſchichte ſpricht, wo früher von einer Reichsgeſchichte die Rede war, aner - kannt, daß die zuſammenfaſſende Kraft des alten Reiches in der Perſönlichkeit des Kaiſers lag. Wiſſen wir doch Alle, daß das Reich zerfiel, wenn der Kaiſer ein ſchwacher Mann war, daß es wieder erſtarkte, wenn kraftvolle Herr - ſcher an die Spitze traten, welche überall perſönlich er -14 *212ſcheinend die Regierung Sie geſtatten einem National - ökonomen dieſen Ausdruck als Wanderberuf ausübten. Wie ganz anders gefeſtigt ſteht doch der moderne Staat da, wie unabhängig vom Kommen und Gehen auch des hervorragendſten Fürſten! Es bedarf darüber heute keiner Auseinanderſetzung, wo uns das jüngſte politiſche Gemein - weſen Europas, Bulgarien, belehrt, daß es ſeine ſtaatliche Exiſtenz auch unter den ſchwierigſten Verhältniſſen aufrecht erhalten kann.

Was ſodann die Geſellſchaft betrifft, ſo iſt ſchon die Feſtigkeit des modernen Staates nicht denkbar ohne eine engere Lebensgemeinſchaft und vielfache Wechſelwirkungen unter ſämtlichen Staatsangehörigen. Dazu kommt aber noch, daß die wunderbare Entwicklung des Verkehrs die ſozialen Maſſenzuſammenhänge weit über die einzelſtaatlichen Grenzen ausgedehnt hat. Sie hat einen Weltmarkt und Weltinduſtrien geſchaffen, eine internationale Arbeitsteilung und internationale Kundſchaften; ja die Gleichartigkeit der wirtſchaftlichen Verhältniſſe hat ſelbſt unter den Berufs - und Beſitzklaſſen der verſchiedenen Länder eine Gemeinſam - keit der Intereſſen wachgerufen, die uns vor Augen ſchwebt, wenn wir von einer roten und einer goldenen Internatio - nale ſprechen.

Im Mittelalter dagegen bewegt ſich das geſellſchaft - liche Leben in engbegrenzten Gemeinſchaften; die Kirchturms - intereſſen kleiner örtlicher Gruppen überwiegen; nur wenige ſoziale Zuſammenhänge erreichen die Grenzen des eignen213 Staatsgebietes; die einzige ſoziale Organiſation von inter - nationalem Charakter iſt die Kirche.

Und jener Staat ſelbſt wieder, wie ärmlich, wie ſchwach nimmt er ſich aus gegenüber der reichen Machtfülle des modernen Staates! Gar vieles, was heute der Zwangs - gewalt der politiſchen Gemeinſchaft unterworfen iſt, war im Mittelalter der freien Selbſtbethätigung der Geſellſchaft überlaſſen. Die wichtigſten Gemeinſchaftszwecke mußten engumgrenzten lokalen Verbänden zur Erfüllung anheim - gegeben werden. Ja dieſe kleinen organiſierten ſozialen Gruppen gewinnen oft eine Kraftfülle und Bedeutung, die Viele verleitet, ſie als politiſche Geſtaltungen, als Staaten im Staate anzuſehen, was ſie, wenigſtens urſprünglich, durchaus nicht ſind.

Dies gilt in vollem Maße von den Städten.

Urſprünglich nichts anderes als bäuerliche Nieder - laſſungen, welche ſich von den Dörfern nur durch ihre Be - feſtigung unterſcheiden, werden ſie bald der Sitz der Märkte und des freien Verkehrs und im Anſchluß an dieſen auch der bürgerlichen Freiheit. Sie werden der Zufluchtsort der tüchtigeren Elemente der hörigen Landbevölkerung, und ſie entwickeln in ihrem Schooße raſch nach einander zwei neue Berufsſtände, welche der Geſellſchaft bis dahin gefehlt hatten, den Handwerker - und den Handelsſtand. Sie bilden neben dem Grundbeſitz, wenn auch nicht unabhängig von ihm, eine neue Art von Vermögen aus, das mobile Kapital.

So ſind die Städte durch und durch ſoziale Bildungen:214 Schutz - und Zufluchtsorte der Landbevölkerung, Mittelpunkte des wirtſchaftlichen Verkehrs, Konzentrationsſtätten des Ge - werbebetriebs, Oaſen der Geldzirkulation innerhalb einer von der Naturalwirtſchaft beherrſchten Zeit.

Es iſt genugſam bekannt, zu welcher bedeutenden politiſchen Machtſtellung die deutſchen Städte auf dieſer ſozialen Grundlage ſich erhoben, wie ſie im ſpätern Mittel - alter über die Mehrzahl der vielen kleinen Territorialherr - ſchaften, in die ſich das römiſche Reich deutſcher Nation aufgelöſt hatte, hervorragten, wie ſie gegenüber den Landes - fürſten und dem Kaiſer mit der Zeit zu einer ſelbſtändigen Bedeutung gelangten, wie ſie mit kräftiger Hand den Adel niederwarfen und den Landfrieden ſicherten und wie ſie ſchließlich die Anerkennung ihrer reichsſtändiſchen Stellung erzwangen.

Was war es, das ihnen dieſe politiſche Bedeutung verlieh? War es ihre große Volkszahl? War es die demokratiſche Verfaſſung, welcher die Zünfte in langem Kampfe mit den alten grundbeſitzenden Geſchlechtern zum Durchbruch verholfen hatten? War es ihr Geldreichtum, ihre Söldnerheere?

Ich glaube, keines von allen dieſen Momenten, oder doch keines allein. Ihre Hauptſtärke ruhte vielmehr in der glücklichen ſozialen Gliederung und Organiſation ihrer Bevölkerung, welche ihnen erlaubte, im Falle der Gefahr eine einheitliche, zuſammengeſchloſſene Volkskraft in die215 Wagſchale zu werfen, wie ſie keiner der damals in Frage kommenden Mächte zu Gebote ſtand.

Nehmen wir das XIV. und XV. Jahrhundert, die Zeit des Höhepunktes der ſtädtiſchen Entwicklung, die Zeit zugleich, für welche die neuere Forſchung genügend Auf - ſchlüſſe bietet, als maßgebend für unſere Betrachtung an, ſo ſtoßen wir gleich auf ſehr beſcheidene Bevölke - rungsziffern. Selbſt ſo weit berühmte Städte wie Nürnberg und Straßburg gehen nicht über 20000 Ein - wohner hinaus, Zürich, Baſel und Frankfurt haben ſchwer - lich 10000 in dieſer Zeit erheblich überſchritten, Mainz hatte etwa 6000, Dresden und Leiden 5000 und Meißen 2000. Alle waren alſo nach heutigen Begriffen Kleinſtädte, und es mutet uns jetzt ſonderbar an, wie man nur ſo lange an Bevölkerungsziffern von 60 -, 80 - ja 120000 hat glauben können, an Volksmaſſen, zu deren Ernährung die damalige extenſive Landwirtſchaft gar nicht imſtande geweſen ſein würde.

Und auf jener geringen Höhe der Population ver - mochten ſich die meiſten dieſer Städte nicht einmal dauernd zu behaupten. Alle paar Jahre dezimierte eine Peſt, eine Hungersnot, eine Fehde, eine Belagerung die Bevölkerung, manchmal ſtarb in wenigen Sommermonaten ein Zehntel, ein Sechstel, ein Viertel der Menſchen hinweg. Von 1326 bis 1400 zählte man 32 Peſtjahre, von 1400 bis 1500 etwa 40. Jenes fortwährende Anwachſen der Städte, welches ſeit Jahrzehnten den Gegenſtand unſeres Staunens216 und unſerer Sorge bildet, kannte das Mittelalter nicht. Aller - dings fehlte es nicht an einer maſſenhaften Einwanderung. Die glücklichen Erwerbsverhältniſſe in der Stadt einerſeits, verbunden mit dem Genuß der perſönlichen Freiheit, die dauernde Rechtsunſicherheit außerhalb der ſtädtiſchen Mauern anderſeits, die Bedrückung der Hörigen auf dem Lande trieben Jahr für Jahr Scharen von Zuwanderern herbei. Und in den Städten nahm man ſie gerne auf, um die durch den Tod geriſſenen Lücken auszufüllen und die Aufrecht - erhaltung der getroffenen Schutz - und Verteidigungsein - richtungen möglich zu machen. Nach ein paar Jahren ge - deihlichen Wachstums kam ein neuer Rückſchlag, und man mußte froh ſein, wenn man die Volkszahl durch große Zeiträume im Ganzen ſtabil erhalten konnte.

Nirgends iſt dieſer Gang der Bevölkerungsbewegung deutlicher zu beobachten als an der Stadt Frankfurt am Main, auf die wir die folgenden Betrachtungen be - ſchränken wollen. Eine ſolche Beſchränkung empfiehlt ſich aus doppeltem Grunde. Ein glückliches Geſchick hat dem hieſigen Stadtarchiv einen ſo reichen Schatz von Verwal - tungsakten und Urkunden erhalten, daß ſich an der Frank - furter Bevölkerung des XIV. und XV. Jahrhunderts ſtatiſtiſche Forſchungen in einem Umfange anſtellen laſſen, wie es für keine zweite Stadt Deutſchlands möglich ſein dürfte. Und auf der andern Seite iſt die hervorragende Stellung dieſer Stadt im Mittelalter eine ſo unverkennbare und unbezweifelte, daß man den bei der Unterſuchung ihrer217 Bevölkerung gewonnenen Ergebniſſen allgemeinere Gültig - keit für die bedeutenderen deutſchen Binnenſtädte zuſchreiben darf wenigſtens inſolange, als ſie nicht durch exakte Forſchungen über die Bevölkerung eines andern hervor - ragenden Platzes widerlegt ſind.

Nun läßt ſich in Frankfurt die Bewegung der Ein - wohnerziffer an den erhaltenen Steuerliſten (Bedebüchern) von der Mitte des XIV. bis zum Ende des XV. Jahr - hunderts genau verfolgen. Denn da dieſe Liſten ſämtliche Steuerpflichtigen (die Armen und Zahlungsunfähigen mit eingeſchloſſen) enthalten, ſo geſtattet das Steigen und Fallen der aus ihnen ermittelten Zahlen einen ziemlich ſichern Rückſchluß auf die jedesmalige Größe der Bevölkerung. Da wir letztere außerdem für die Jahre 1387 und 1440 aus erhaltenen Bürgerverzeichniſſen berechnen können, ſo läßt ſich durch Kombinierung der erſten dieſer Berechnungen mit den ihr zeitlich nahe ſtehenden Steuerliſten auch das ungefähre Verhältnis der Zahl der Steuerpflichtigen zur Geſamtzahl der Einwohner feſtſtellen. Darnach betrug

im Jahre:die Zahl der Steuerpflichtigen:die ungefähre Einwohnerzahl:
135426697800
135931359200
136530729000
137027498100
137530519000
138030609000
218
im Jahre:die Zahl der Steuerpflichtigen:die ungefähre Einwohnerzahl:
1385340510000
138932569600
139426247700
139926767800
140623977000
141024617200
142023827000
142824317100
146325957600
147528178300
148425277400
149526217700
149925837600

Die Zahlen ſchwanken alſo zwiſchen 2400 und 3400 Steuerpflichtigen oder zwiſchen 7000 und 10000 Seelen1)Die Einwohnerziffern wollen natürlich nicht wie Zählungs - reſultate angeſehen ſein. Sie dienen lediglich der Veranſchaulichung. Ich habe es ſeither vermieden, auf die Einwürfe zu antworten, welche R. Höniger in Schmollers Ihb. f. Geſetzg. Verw. und Volksw. XV, S. 110 ff. gegen meine Frankfurter Bevölkerungsbe - rechnungen erhoben hat. Mich will bedünken, daß die letzteren durch die vorſtehend mitgeteilte Ziffernreihe für die Steuerpflichtigen hin - reichend beſtätigt ſind. So lange man gegen ein methodiſches ſtatiſtiſches Verfahren nichts weiter einzuwenden weiß als urkundliche Zahlenüber - lieferungen und eigene Konjekturenweisheit, halte ich eine erneute Diskuſſion für nutzlos. Ich könnte nur wiederholen, was ich ſchon einmal in der Zeitſchr. für die geſ. Staatswiſſenſchaft XLI (1881) S. 436 ff. auseinandergeſetzt babe.. 219Ihren Höhepunkt erreicht die Bevölkerurg um 1385, un - mittelbar vor der Cronberger Schlacht. In den folgenden hundert Jahren ſchwankt ſie auf und ab zwiſchen ſieben Zehntel und neun Zehntel der damals erreichten Zahl, ohne ſie wieder zu erreichen. Im Jahre 1499 beträgt ſie nur 7600 Seelen. Und doch ſind von 1385 bis 1499 über 5300 Neubürger eingewandert faſt doppelt ſo viel, als am Anfang dieſer Periode vorhanden geweſen waren. Die Bevölkerung hätte alſo am Ende derſelben allein durch den äußeren Zuwachs ſich nahezu verdreifachen müſſen, vorausgeſetzt, daß in ihrer inneren Bewegung die Geburten regelmäßig das erſetzt hätten, was durch den Tod in Abrechnung gekommen war. Statt deſſen betrug ſie nur drei Viertel der anfänglich vorhandenen Zahl. Nimmt man an, die Einwohnerſchaft hätte von 1385 bis 1499 ſich im dem Verhältniſſe der Bevölkerungszunahme des modernen Frankfurt in den letzten 50 Jahren vermehrt, ſo hätte ſie um 1500 etwa 100000 Seelen betragen müſſen.

Bei dieſem ſchwankenden Bevölkerungsſtand erinnert man ſich lebhaft der beweglichen Worte, mit welchen in zahlloſen mittelalterlichen Urkunden der Vergänglichkeit und Unſicherheit aller menſchlichen Dinge gedacht wird. Mit dem eigentümlichen Verlauf des Bevölkerungswechſels hängt es aber auch zuſammen, daß die natürliche Schich - tung der ſtädtiſchen Geſellſchaft nach Alter, Geſchlecht und Geſundheitsverhältniſſen eine äußerſt ungünſtige war.

Wir können eine Bevölkerung, welche ſich aus ſich220 ſelbſt raſch vermehrt, in der alſo die jüngeren Altersklaſſen ſtark beſetzt ſind, als eine junge Bevölkerung bezeichnen, eine ſolche mit langſamer Vermehrung nennen wir eine alte Bevölkerung. Deutſchland und die Vereinigten Staaten mit ihrem großen Kinderreichtum haben junge, Frankreich hat eine alte Bevölkerung. Das Durchſchnittsalter beträgt in Frankreich 31, in Deutſchland 27, in den Vereinigten Staaten noch nicht 24 Jahre.

In dieſem Sinne waren die mittelalterlichen Stadt - bevölkerungen alte Bevölkerungen.

Wenn wir ſtatiſtiſche Ermittlungen, die wir von Nürn - berg und Baſel aus der Mitte des XV. Jahrhunderts be - ſitzen, mit ſolchen aus Frankfurt zuſammenhalten, ſo drängt ſich uns der Schluß auf, daß allgemein in den mittelalter - lichen Städten die Zahl der Kinder, im Vergleiche zu den übrigen Altersklaſſen, eine geringere geweſen ſein müſſe als heutzutage.

Allerdings iſt nach allem, was wir darüber wiſſen, die Fruchtbarkeit der Ehen im Mittelalter eine ſehr große. Allein infolge der Unvollkommenheit der ärztlichen Kunſt giengen viele Kinder ſchon beim Eintritt ins Leben zu Grunde1)Bezeichnende Einzelheiten darüber findet man bei Stricker, Geſch. der Heilkunde in Frankfurt a. M. 1847, S. 81.; außerdem mußte die Taufe, welche bereits im Laufe des erſten Tages nach der Geburt in der Kirche ſtattfand, manchen verderblich werden, ähnlich wie noch heute in Rußland; endlich richteten Kinderkrankheiten in221 den ungeſunden Wohnungen große Verheerungen an. Mit aller Wahrſcheinlichkeit darf man ſonach die Zahl der Tot - geborenen und der in den erſten Lebensjahren Geſtorbenen als überaus groß annehmen.

Wer einmal die Geſchichte einer hervorragenden Frank - furter Familie im Mittelalter verfolgt hat, der wird die Beobachtung gemacht haben, daß die Geſchlechter trotz ſehr kinderreicher Ehen ſich faſt immer nur in 1 bis 2 Gliedern forterhalten und daß ſie ſelten das zweite Jahrhundert ihres Beſtehens überleben. So wurden in der Familie Rorbach vom Ende des XIV. bis zum Ende des XVI. Jahrhunderts etwa 65 Kinder geboren, (ohne Totgeburten); von dieſen überlebten nur 18 ihre Väter und nur 12 ge - langten zur Verheiratung1)Auch an dieſem Beiſpiel hat Höniger a. a. O. S. 113 ſeinen Scharfſinn geübt. Da er mich aber ſagen läßt, was mir nicht in den Sinn gekommen iſt zu ſagen, ſo konnte ihm der Sieg in der von ihm konſtruierten Streitfrage nicht ausbleiben. Die Schwäche der Argumente ſteht freilich in ſeltſamem Gegenſatz zur Stärke des angeſchlagenen Tones.. Wenn wir nun bei den an - geſehenſten und wohlhabendſten Familien ein ſo raſches Hinſterben beobachten, wie mag es erſt den Kindern der Handwerker und der Armen ergangen ſein!

In der That die Städte bedurften auch ohne Seuchen und Hungersnöte jener ſtarken Einwanderung vom Lande, wenn ſie nur ihre Bevölkerung ſtabil erhalten wollten.

Nicht minder ungünſtig als der Altersaufbau iſt die222 Gliederung der Bevölkerung nach dem Ge - ſchlechte.

Iſt ſchon heute der Ueberſchuß des weiblichen über das männliche Geſchlecht unter den Erwachſenen ein ſo bedenklicher, daß er zu den vielen ſozialen Fragen der Gegenwart auch eine Frauenfrage erzeugt hat, ſo kann man im Mittelalter geradezu von einem Frauennotſtand reden. Allerdings vermag ich für die Geſamtbevölkerung Frankfurts keine genauen Ziffern zu geben. Ich führe nur an, daß in dem Bedebuche der Oberſtadt für 1385 das Verhältnis der männlichen zu den weiblichen Steuerpflich - tigen ſich wie 1000: 1100, in demjenigen der Nieder - und Neuſtadt für 1475 wie 1000: 1140 ſtellt, und daß in den Zunftverzeichniſſen die große Zahl der Witwen auffällt. Dagegen wiſſen wir von Nürnberg, daß 1449 auf 1000 erwachſene Männer 1207 Frauen kamen: unter der über vierzehnjährigen Bevölkerung zweier Basler Kirchſpiele kamen 1454 auf 1000 männliche 1246 weibliche Perſonen und noch 1576 trafen in Roſtock auf 1000 erwachſene Männer 1295 Frauen.

Allerdings finden wir ähnliche abnorme Zahlenver - hältniſſe auch in den modernen Städten1)Vergl. meinen Aufſatz in Mayr’s Allgem. ſtatiſt. Archiv II, S. 385 ff.. Aber bei der Ausſchließlichkeit, mit der die Wirtſchaftsordnung des Mittel - alters die Frauen auf das Haus verwies, konnten unlieb - ſame ſoziale und ſittliche Folgen noch weniger ausbleiben223 als heutzutage, und ſie drängten bei der Enge der ſtädtiſchen Verhältniſſe zu Abhilfemaßregeln, denen man eine gewiſſe Planmäßigkeit und geſunde Ueberlegung ſchwerlich wird ab - ſprechen können. Als ſolche nenne ich die Errichtung von Frauenklöſtern, die Gründung von Verſorgungsanſtalten für alleinſtehende weibliche Perſonen und die Beſchäftigung zahlreicher Frauen in den Gewerben. Jene Verſorgungs - anſtalten ſind die Bekinen - oder Gotteshäuſer Stiftungen wohlhabender Bürger, welche ein Haus zur Wohnung für eine Anzahl Frauen, oft auch Renten und ſonſtige Ein - künfte zu ihrem Unterhalt beſtimmt hatten. In Frankfurt ſind deren 57 namentlich bekannt, welche etwa 300 Bekinen faſſen konnten, während die beiden Frauenklöſter (Katharinen und Weißfrauen) gegen 60 Nonnen aufzunehmen vermochten1)Näheres in meiner Schrift: Die Frauenfrage im Mittelalter. Tübingen 1882..

Was die Teilnahme der Frauen an der Erwerbsarbeit betrifft, ſo finden wir ſie faſt in allen Berufsarten, auch im zünftigen Handwerk, ſoweit es für Weiberhände geeignete Beſchäftigung bot, und wenn ſich auch in Frankfurt nicht, wie in andern Städten, eigene Frauenzünfte nachweiſen laſſen, ſo konnten ſie doch auch hier als Meiſterinnen zu eigenem Rechte in einzelne Zünfte Aufnahme finden. Be - ſonders häufig ſind ſie in der Textilinduſtrie und im Klein - handel. Ja wir ſehen ſie ſelbſt in Gewerben, in denen wir ſie heute nicht mehr zu erblicken gewohnt ſind, wie in Bade - und Raſierſtuben. Zwiſchen 1389 und 1497 laſſen224 ſich nicht weniger als 15 Aerztinnen nachweiſen; im Jahre 1368 ſind von den 11 konzeſſionierten Wechſelſtuben 6 in weiblichen Händen; wir finden eine Frau als Pächterin des Leinwandzolles, eine andere als Aufſeherin in der Stadtwage.

Dieſe Beiſpiele ſind ſehr lehrreich. Sie zeigen uns einerſeits, zu welchen Auskunftsmitteln die Menge unver - ſorgter Frauen trieb, anderſeits wie man bei der geringen Menſchenzahl der Städte genötigt war, alle irgend verfüg - baren Kräfte, ſelbſt die ſchwächſten, im Dienſte des Gemein - weſens einzuſpannen.

Aber noch in einer dritten Beziehung geſtaltete ſich die Gliederung der mittelalterlichen Stadtbevölkerung un - günſtig: in Hinſicht auf den Geſundheitszuſtand. Die Zahl der mit dauernden körperlichen und geiſtigen Gebrechen Behafteten war eine außerordentlich große.

In erſter Linie ſtehen die Ausſätzigen oder Son - derſiechen, die ihr entſetzliches Uebel zur Ausſtoßung aus der Geſellſchaft verurteilte. Wie verbreitet die furcht - bare Krankheit gerade im XIV. und XV. Jahrhundert ge - weſen iſt, läßt ſich nur ungefähr an der Zahl und Aus - dehnung der Leproſenhäuſer ermeſſen, die auch in der kleinſten Stadt nicht fehlen durften. In Frankfurt diente dieſem Zwecke der außerhalb der Mauer gelegene Gutleuthof. Seine Inſaſſen müſſen zahlreich geweſen ſein, da ſie ſogar eine eigene Weinſtube hielten.

Auch die Zahl der Lahmen, Blinden, Tauben und225 Geiſteskranken war verhältnismäßig eine weit größere als heutzutage.

Was die letzteren betrifft, ſo weiß ich wohl, daß unter den Statiſtikern und wohl auch in der Pſychiatrie die An - ſicht vorherrſcht, die moderne Zeit mit ihrem raſchen Ver - brauch der Lebenskraft, ihrer aufregenden Haſt und ihren ſchroffen ſozialen Gegenſätzen ſei der Zunahme der Geiſtes - kranken beſonders günſtig geweſen. Allein wenn man mit kritiſchem Sinne die dafür angeführten Zahlen prüft, ſo muß man ſich ſagen, daß der Beweis für dieſe Behaup - tung keineswegs erbracht iſt. Vielmehr ſpricht vieles da - für, daß die ſteigenden Ergebniſſe der Zählungen auf die wachſende Genauigkeit derſelben zurückzuführen ſind. Und wenn man denn einmal in der Aetiologie der Geiſteskrank - heiten phyſiſche und pſychiſche Faktoren neben einander gelten läßt, ſo überzeugt uns geringes Nachdenken, daß in beiden Beziehungen das Mittelalter größere Gefahren bot als die Gegenwart. Die ſchroffſten Wechſelfälle lagen im Leben der Menſchen hart neben einander: Ueberfluß und Mangel, Völlerei und Darben, Genuß und Entſagung. Der Anblick blutiger Greuelſzenen, Gewaltakte aller Art, Belagerungen, Hinrichtungen, Bürgerzwiſte, Peſtzeiten, Hungersnöte all das verbunden mit religiöſer Super - ſtition und einer grauſamen, oft ungerechten Juſtiz mußte die Gemüter der Menſchen aufs tiefſte erſchüttern. Das ruhige Behagen einer in feſten Linien ſich bewegenden ſtetigen Entwicklung war dem Mittelalter fremd.

Bücher, Die Entſtehung der Volkswirtſchaft. 15226

Welche Folgen dieſe Dinge für den Geiſteszuſtand der Menſchen hatten wer möchte wagen, das zu ermeſſen? Wenn wir aber bei den Chroniſten leſen, wie in den letzten Jahrhunderten des Mittelalters wahre Geiſtesepidemien ganze Schichten der Bevölkerung ergriffen, wenn wir von dem Eindruck hören, den der ſchwarze Tod auf die Gemüter machte, von den Kinderkreuzzügen, den Geißlerfahrten, den Judenſchlächtereien, der Tanzwut in den rheiniſchen Städten: ſo können wir nicht umhin, zwiſchen dieſen zwei Erſchei - nungsreihen einen Zuſammenhang zu ſuchen. Und damit ſtimmt es, daß wir in den Frankfurter Verwaltungsakten von nichts häufiger leſen, als von den Thoren , von denen die nit wol bei Sinnen geweſen; an dreißig verſchiedene Ausdrücke kommen für den Begriff geiſteskrank vor. In den Stadtrechenbüchern bilden die Koſten für die Verſorgung einheimiſcher und die Austreibung fremder Irrſinniger einen ſtehenden Poſten. Die erſteren wurden in Türmen, öffent - lichen oder privaten Gefängniſſen eingeſperrt; 1477 wurde ſogar beim Spital ein beſonderes Gebäude für ſie auf - geführt.

Zahlen vermag ich Ihnen freilich für die Verbreitung des Uebels nicht anzugeben; ebenſo wenig kann ich ſagen, ob Irrſinn oder Blödſinn damals häufiger geweſen.

Auch von den Lahmen, den Tauben, den Taub - ſtummen und Epileptiſchen kann ich nicht mehr ſagen, als daß ſie oft erwähnt werden.

Bezüglich der Blinden bin ich dagegen in der günſti -227 gen Lage, Zahlen von einiger Zuverläſſigkeit geben zu können. Da die Häufigkeit dieſes Gebrechens bei unſern Volkszäh - lungen ermittelt wird, ſo will ich zunächſt erwähnen, daß nach den neueſten Aufnahmen auf 10000 Einwohner in Deutſchland und Frankreich 7 8, in Oeſterreich und Eng - land 9, in Italien 10, in Spanien 11 und in Norwegen 13 Blinde kommen. Im mittelalterlichen Frankfurt da - gegen, wo ſich für zehn verſchiedene Jahre zwiſchen 1399 und 1499 die Zahl der Blinden annähernd ermitteln ließ, war dieſelbe ſo hoch, daß die Rechnung auf 10000 Menſchen 20 42 Blinde ergeben würde (heute nur 5). Dieſe Höhe erreicht die Blindenhäufigkeit gegenwärtig nur noch bei einem Volke in Europa, dem finniſch-eſtniſchen: in Finn - land kommen auf 10000 Einwohner 69, in Eſtland 46 Blinde.

Das Mittelalter dachte nicht daran, für dieſe verſchie - denen Arten von Gebrechlichen eigene Heilanſtalten zu er - richten, da man ihr Unglück als eine unabwendbare Schickung der Vorſehung betrachtete. So weit ſie rüſtig und unge - fährlich waren, wurden ſie mit mancherlei Arbeiten be - ſchäftigt freilich zuweilen ſehr ungeeigneten. Hatte doch 1440 der Rat eine Anzahl Blinder als Thorhüter und Nachtwächter in ſeinen Dienſten. Die meiſten waren jedoch für ihren Unterhalt auf den Bettel angewieſen, und dieſer Umſtand iſt für unſere Frage nicht ohne Wert. Denn wie noch heute die Bettler in Rußland Artele bilden, ſo ſchloſſen jene Krüppel und Gebrechlichen im Mittelalter zur gegen -15 *228ſeitigen Unterſtützung kirchliche Brüderſchaften, deren wir auch eine zu Frankfurt finden: die Brüderſchaft der Blinden und Lahmen zu den Karmelitern. Die Verbreitung dieſer Brüderſchaften iſt ein Beweis mehr für die Häufigkeit der ſchweren Gebrechen und Sinnesfehler.

Nach dieſer Darlegung wird man eingeſtehen müſſen, daß nicht leicht eine Bevölkerung von Natur ungünſtiger zuſammengeſetzt ſein konnte, als diejenige unſerer mittel - alterlichen Stadt. Die Ueberzahl der Frauen muß als eine Belaſtung der Wirtſchaft aufgefaßt werden, ſoweit dieſelben nicht bei Haus - und Erwerbsarbeit Verwendung finden konnten. Die Maſſe der erwerbsunfähigen Gebrechlichen aber bedeutete geradezu eine negative Größe für die Wirt - ſchaft; denn ſie erforderten nicht bloß Unterhalt, ſondern auch noch einen beſonderen Arbeitsaufwand für Pflege und Ueberwachung von Seiten der Geſunden. Nur die geringe Zahl der Kinder, ſo ſehr ſie in populationiſtiſcher Hinſicht ihre Bedenken hatte, geſtaltet ſich vom ökonomiſchen Geſichts - punkte aus nicht ganz ſo unvorteilhaft. Kinder ſind reine Konſumenten der Volkswirtſchaft, von der ſie Unterhalts - und Erziehungsaufwand fordern. Kinderarme Familien können unter ſonſt gleichen Verhältniſſen mehr erarbeiten, mehr erſparen, als kinderreiche. Aber dieſer Geſichtspunkt, der ſich uns in der Gegenwart gebieteriſch aufdrängt, konnte im Mittelalter, wo es nicht an Erwerbsgelegenheit, wohl aber an Händen fehlte, keine Rolle ſpielen. Für eine mittelalterliche Stadt war Kinderarmut ein großes Unglück.

229

Wenden wir uns nunmehr der ſozialen Gliede - rung der Bevölkerung im engeren Sinne zu, ſo fallen für eine oberflächliche Betrachtung allerdings die politiſchen Geburtsſtände und Standesunterſchiede am meiſten ins Auge. Allein dieſelben ſind im XIV. und XV. Jahrhundert, wie wir gleich ſehen werden, von ſehr geringer Bedeutung.

Für unſere Zwecke ſcheiden wir am beſten die ganze Bevölkerung in zwei Teile: die dauernd anſäßige und die fluktuierende Bevölkerung. Von der erſteren heben ſich wieder zwei abgeſchloſſene Gruppen ab, die wir zunächſt bei Seite laſſen: die Geiſtlichkeit und die Juden. Der Reſt der dauernd Anſäſſigen zer - fällt politiſch in Bürger und Nichtbürger oder Bei - ſaſſen. Die Zahl der letzteren iſt ſehr klein, da der Rat den Grundſatz befolgte, wiſſentlich niemanden in der Stadt zu dulden, der nicht Bürger wäre. Wir ſchenken deshalb auch dieſem Unterſchiede keine weitere Beachtung. Die Bürgerſchaft zerfällt bis zum Ende des XIV. Jahr - hunderts in zwei faſt gleich ſtarke Gruppen: die Gemeinde und die Zünfte oder die organiſierten Handwerke. An der Spitze der Gemeinde ſtehen die Geſchlechter, in ſpäteren Jahrhunderten auch wohl Patrizier genannt. Sie hatten vermutlich auch in Frankfurt früher allein das Stadt - regiment mit den königlichen Beamten geführt, hatten aber ſchon in einer uns unbekannten Zeit den Zünften ein Drittel der Ratsſtellen eingeräumt. Ihre Zahl iſt gering; gewöhn - lich umfaßt ſie nicht mehr als 20 30 Familien mit 60230 bis 100 Haushaltungen; ja ſie würde bald noch tiefer ge - ſunken ſein, wenn nicht von Zeit zu Zeit aus der übrigen Bürgerſchaft und aus der Fremde friſches Blut zugeführt wor - den wäre.

Im Uebrigen hat der Unterſchied zwiſchen Gemeinde und Zünften keine ſoziale Tragweite; namentlich iſt er nicht gleichbedeutend mit einer Scheidung der Bürger in Ge - werbetreibende und ſolche, die andern Erwerbsarten obliegen. Ebenſo hat eine im XV. Jahrhundert wohl vorkommende Dreiteilung in Geſchlechter, Zünftige und Unzünftige vor - wiegend politiſche Bedeutung.

Weit wichtiger iſt für unſeren Zweck die Gliede - rung der Bürgerſchaft nach Berufsarten. Wenn wir dieſe nunmehr ins Auge faſſen, ſo müſſen wir uns zuerſt von der oft gehegten Vorſtellung los machen, als ob die Zahl der Zünfte oder ihrer Mitglieder uns einen zutreffenden Maßſtab für die Berufsthätigkeit der ſtädtiſchen Bevölkerung geben könnte. Sie iſt nicht einmal für das gewerbliche Leben im engeren Sinne richtig. In Frankfurt finden wir Angehörige ſehr verſchiedener Handwerke in denſelben Zünften, nicht ſelten auch ſolche, die überhaupt kein Handwerk trieben. Ferner giebt es Zünfte, deren Mitglieder gar keine Gewerbetreibende waren, ſondern ſich mit dem Garten - und Weinbau, dem Handel und der Handelsvermittlung beſchäftigten oder gar im ſtädtiſchen Dienſte ſtanden. Endlich iſt die Zahl der Hand -231 werker, die ſich außerhalb der Zunftorganiſation befanden, nicht unbedeutend.

Wir müſſen deshalb einen andern Weg einſchlagen, wenn wir über die Zuſammenſetzung der Bürgerſchaft nach dem Berufe Aufſchluß gewinnen wollen: wir müſſen in der Weiſe der modernen Statiſtik die Bürger nach dem Berufe ordnen, den ein jeder wirklich getrieben hat. Allein eine ſolche Arbeit bietet für das Mittelalter außerordentliche Schwierigkeiten. Sie iſt auch bei dem reichen Material des Frankfurter Stadtarchivs nur für ein einziges Jahr, 1440, möglich geweſen.

Sie geſtatten, daß ich mich hier auf eine kurze Mit - teilung der Hauptergebniſſe dieſer mittelalterlichen Berufs - ſtatiſtik beſchränke, indem ich für das Einzelne auf die aus - führliche gedruckt vorliegende Darſtellung verweiſe1)In meiner Bevölkerung von Frankfurt a. M. I, S. 210 ff..

Im Ganzen zählen wir 1440 rund 1800 ſelbſtändig erwerbende männliche Perſonen. Dieſelben verteilen ſich auf nicht weniger als 191 Berufszweige. Dies iſt indes nicht die Geſamtzahl aller im mittelalterlichen Frankfurt vorkommenden Erwerbsarten. Vielmehr erhalten wir, wenn wir auch die ſonſt noch im XIV. und XV. Jahrhundert vereinzelt auftretenden Berufsarten hinzurechnen, eine Liſte von über 340 Zweigen ſelbſtändiger männlicher Thätigkeit. Dabei iſt zu beachten, daß es ſich überall nur um den Hauptberuf handelt, d. h. diejenige dauernd ausgeübte232 Thätigkeit, welche hauptſächlich den Lebensunterhalt der Familie lieferte.

Dieſe große Zahl von Berufsarten iſt eins der wich - tigſten Momente in der ſozialen Gliederung der ſtädtiſchen Bevölkerung. Sie gibt uns einen Maßſtab für die Ent - wicklung der mittelalterlichen Arbeitsteilung und iſt nur dann in ihrer vollen Bedeutung zu würdigen, wenn wir die eigentümliche Natur dieſer mittelalterlichen Arbeitsteilung und die damalige Betriebsweiſe der Gewerbe im Auge behalten.

Die moderne Betriebsweiſe in den Gewerben iſt eine kapitaliſtiſche; ſie beruht darauf, Geld in Ware und Ware in mehr Geld zu verwandeln. Der Unternehmer kauft Rohſtoffe, Werkzeuge, Maſchinen, Arbeitsleiſtungen und verkauft die durch das Zuſammenwirken dieſer Betriebs - Elemente entſtandenen Produkte mit Gewinn. Der letztere iſt um ſo größer, je höher die Auslage, je raſcher der Kapitalumſchlag.

Die moderne Arbeitsteilung iſt vorzugsweiſe Arbeitszerlegung. Bei ihr handelt es ſich darum, daß viele verſchieden qualifizierte Hände in derſelben Produktionsſtätte bei der Fertigſtellung einer Ware zuſammenwirken, meiſt noch unterſtützt durch mechaniſche Triebwerke und Arbeits - maſchinen. Jeder Fortſchritt der Arbeitsteilung bedingt eine Vergrößerung des Betriebs, eine Vermehrung des notwendigen Betriebs - und gewöhnlich auch des Anlage - kapitals.

233

Der mittelalterliche Gewerbebetrieb iſt in der Regel ein bloßer Arbeitsbetrieb. Der Gewerbetreibende bedarf bei der Einfachheit der Werkzeuge eine umfaſſende Arbeitsgeſchicklichkeit. Die Rohſtoffe werden ihm gewöhn - lich vom Beſteller geliefert, der das Werk ſeiner Hände in eigner Wirtſchaft verbrauchen will. Was der Handwerker dabei verdient, iſt Arbeitslohn, und dieſer fällt in dem Maße reicher aus, als das Werk kunſtvoller ſich geſtaltet.

Die mittelalterliche Arbeitsteilung iſt vorzugsweiſe Berufsteilung. Sie läuft darauf hinaus, aus einem Berufszweige mehrere zu machen. Auf demſelben Arbeitsgebiete, das früher ein Meiſter allein beherrſcht hatte, finden dann mehrere, unabhängig von einander, ihre Nahrung. Nur ſo kann die Technik fortſchreiten, daß das Arbeitsverfahren, welches ſeither auf eine verwandte Gruppe von Produkten angewendet wurde, einer Spielart der letzteren beſonders angepaßt wird, daß die Werkzeuge für dieſe eigens eingerichtet, daß ihre Erzeugung für einen neuen Hand - werker Lebensaufgabe wird. Und da der Anſtoß zur Pro - duktion immer vom Konſumenten ausgeht, der den Hand - werker zeitweilig in ſeinen Dienſt nimmt, ſo tritt der Produ - zent der einen Güterart zu ſeinen Kunden in das gleiche Verhältnis wie vorher der Produzent der ganzen Güter - gattung.

Vielleicht wird ein Beiſpiel den Vorgang am beſten erläutern. Der Schneider alten Stils ſcheert das Tuch, näht und ſtickt Kleider und Weißzeug, fertigt Kappen, Hüte234 und Pelzwaren, Männer - und Frauengewänder. Im XIV. und XV. Jahrhundert haben ſich aus dem einen Schneider - gewerbe als beſondere Berufszweige entwickelt: die Hand - werke des Tuchſcheerers, des Seidenſtickers, des Hutmachers, des Kürſchners und des Flickſchneiders; die Weißzeugnäherei und die Anfertigung der Frauenkleider wird weiblichen Händen überlaſſen.

Noch heute läßt ſich auf ſolchen Arbeitsgebieten, welche einen kapitaliſtiſchen Betrieb nicht zulaſſen, der gleiche Vor - gang beobachten, z. B. in der Wiſſenſchaft und bei den perſönlichen Dienſtleiſtungen. Es ſei nur auf den ärztlichen Beruf verwieſen und ſeine immer zahlreicher werdenden Spezialiſten. Was die letzteren für die Ausbildung der Technik leiſten, iſt nichts anderes, als was das mittelalter - liche Gewerbe auf dem gleichen Wege erſtrebte und erreichte. Höchſte individuelle Geſchicklichkeit war für den ſtädtiſchen Meiſter der alten Zeit und iſt für den Spezialarzt der Gegenwart dasſelbe, was für den modernen Fabrikanten ſeine patentierten Maſchinen und Verfahrungsweiſen, ſeine wohldisziplinierten Arbeiterſcharen ſind.

Während bei der modernen Arbeitsteilung jeder Fort - ſchritt es den Arbeitern ſchwieriger macht zur Selbſtändig - keit zu gelangen, während ſie mit Notwendigkeit das Aus - einanderfallen von Arbeit und Kapital bedingt, wurde durch die mittelalterliche Berufsteilung die Zahl der ſelbſtändigen Betriebe vermehrt und die Bedeutung der Arbeit für das perſönliche Fortkommen geſteigert.

235

Wir können hier unmöglich auf die Einzelheiten der Berufsgliederung näher eingehen. Nach großen Gruppen geſondert entfielen von unſeren 1800 ſelbſtändig Erwerben - den auf

Perſonen.Prozent.
die Gewerbe im engeren Sinne105058,3
die Urproduktion33018,3
Handel, Verkehr und Gaſtwirtſchaft23012,8
Lohnarbeit unbeſtimmter Art603,3
Oeffentlichen Dienſt603,3
Liberale Berufsarten301,7
Verſchiedene402,3

Dieſe Zahlen wollen nicht angeſehen ſein, wie die An - gaben einer modernen Berufsſtatiſtik. Sie ordnen die Bürger nur nach dem Hauptberufe ein, ohne zu be - rückſichtigen, daß die meiſten einen Teil ihres Unterhalts noch aus einem oder gar mehreren andern Berufszweigen gewannen, die ſie nebenbei ausübten. Die Folge dieſer zahlreichen kombinierten Exiſtenzen iſt, daß manche Pro - duktionsgebiete nicht in ihrer wahren Bedeutung hervortreten.

So haben wir unter den Urproduzenten nur 130 reine Landwirte eingerechnet; in Wirklichkeit trieb im XIV. und XV. Jahrhundert noch faſt jeder Bürger Landwirt - ſchaft oder doch Garten - und Weinbau in der Stadtmark oder auf den Dorffluren der Umgegend. Ebenſo nahm der ſtädtiſche Dienſt weit mehr als 60 Perſonen in Anſpruch; aber vielleicht iſt die Zahl 60 noch zu hoch für236 diejenigen, welche wirklich von den Einkünften ihrer Aemtchen leben konnten. Dazu kommt noch das bedeutende Perſonal, welches die Stadt zur Bewachung der Pforten, Türme, Erker, Warten und Schläge bedurfte meiſt ärmere Handwerker, die ihr urſprüngliches Gewerbe im Dienſte weiter trieben, ferner die zahlreichen Halbbeamten für den Markthandel und Verkehr, endlich die Gewerbetreibenden im ſtädtiſchen Dienſt, wie der Stadtbaumeiſter, der Stadt - ſchmied, der Stadtkoch, der Müller in der Stadtmühle, der Bäcker im ſtädtiſchen Backhaus, ſodaß wir insgeſamt auf gegen 200 ſtädtiſche Angeſtellte kommen ohne die Söldner. Nicht ſelten wurden auch mehrere Aemtchen in einer Hand vereinigt, und ebenſolche Berufsvereinigungen finden wir bei den bürgerlichen Gewerben.

Die auffallendſte Eigentümlichkeit der ſtädtiſchen Be - rufsgeſtaltung iſt aber das Zurücktreten des Handels. Dasſelbe erklärt ſich einfach daraus, daß im Mittelalter der Handel nur da eingreifen konnte, wo die einheimiſche Produktion verſagte, und daß auf dem ſtädtiſchen Markte, ſoweit irgend möglich, der Konſument direkt auch mit dem auswärtigen Produzenten verkehren ſollte. Nur daß das Mittelalter im Intereſſe der Verkehrsſicherheit zwiſchen beide ein Heer von beeideten Maklern (Unterkäufern), Meſſern und Wiegern als ſachkundige Vermittler einſchob. Von den 230 in Handel, Verkehr und Gaſtwirtſchaft beſchäftigten Perſonen, welche ich vorhin genannt habe, gehören nur 70 dem Kleinhandel und der Höckerei an und 15 dem237 Großhandel. Aber dieſe wenigen Großhändler ſind nicht, wie man das ſich gewöhnlich vorſtellt, reiche Handelsherren mit ſtehenden Geſchäften. Es ſind Angehörige der rats - fähigen Geſchlechter, welche, wie auch heute wohl ein reicher Mann einmal an der Börſe ſpekuliert, einen Teil ihres großenteils in Grundeigentum, Renten und Gülten be - ſtehenden Vermögens auf einige Jahre in kompagnieweiſe betriebenen Handelsgeſchäften anlegten, und man weiß wirk - lich nicht, ob man dieſe Leute lieber unter die Rentner oder unter die Landwirte oder unter die Kaufleute einreihen ſoll.

Auch wenn wir das letztere thun, ſo umfaßt doch der geſamte Handel im modernen Sinne noch nicht 5 % der ſelbſtändig erwerbenden Bevölkerung, während er heute faſt 25 % derſelben in Anſpruch nimmt.

Dagegen gehören im Mittelalter den unmittelbar pro - duktiven Berufsarten in den Gewerben und der Urproduktion 80 % und heute nur 38 % der Bevölkerung an.

Darin, daß vier Fünftel der Bevölkerung mit eigener Hand, mit eigenem Werkzeug und oft auch Material in Werkſtätten, auf den Feldern, in Gärten und Weinbergen güterſchaffend wirken, daß ihnen der Ertrag ihrer Arbeit voll und ganz zufällt, liegt ein zweites Moment der Stärke der mittelalterlichen Stadtwirtſchaft. Jenes paraſitiſche Ueberwuchern der distributiven Berufsarten, das die Gegen - wart beklagt, fand in dieſer Geſellſchaft keinen Raum.

Im Anſchluß an die Berufsgliederung wollen wir noch zweier dauernd anſäßigen Beſtandteile der Bevölkerung238 gedenken, welche in ſozialer Hinſicht eine Sonderſtellung einnehmen. Es ſind die Perſonen geiſtlichen Standes und die Juden.

Der geiſtliche Stand umfaßte im XIV. und XV. Jahrhundert 85 100 Weltgeiſtliche, 80 100 Mönche, 40 50 Kloſterfrauen und 35 55 Vertreter fremder Ritter - orden, Klöſter und Stifte, alſo im ganzen 240 300 Per - ſonen. Da die Exiſtenz dieſes zahlreichen Perſonals durch feſte Pfründeneinkünfte und Stiftungen geſichert war und nur etwa die Bettelorden zeitweiſe die Bürgerſchaft in An - ſpruch nahmen, ſo belaſteten ſie die ſtädtiſche Wirtſchaft keineswegs in dem Maße, wie es auf den erſten Blick ſcheinen könnte. Auf der anderen Seite aber trugen ſie auch nichts bei zu den ſtädtiſchen Ausgaben wegen ihrer Steuerfreiheit, wie ſie es wohl nach ihrem Vermögen ge - konnt hätten.

Die Judengemeinde hat vor 1360 1500 nie - mals 30 Familien erreicht; ſie wechſelt in dieſer ganzen Zeit, wo wir ſie Jahr für Jahr nach den Steuerliſten zählen können, ſtark in ihrem Beſtand; um 1440 zählt ſie nur 6 9 Haushaltungen. Ihr einziges Gewerbe iſt das Geld - und Pfandleihgeſchäft; Warenhandel hat im mittel - alterlichen Frankfurt nie ein Jude getrieben.

Wir kommen zur fluktuierenden Bevölkerung, der Arbeiterklaſſe, wie wir heute ſagen würden, den Knechten und Mägden, wie das Mittelalter ſich ausdrückte. Einen einheimiſchen, ſeßhaften Arbeiterſtand, wie die Gegenwart,239 kannte das Mittelalter nicht, oder doch nur in Geſtalt einer beſchränkten Zahl von Taglöhnern und Weinbergsarbeitern. Was die Zahl der fremden Handwerksgeſellen, Bauern - knechte und weiblichen Dienſtboten betrifft, ſo vermögen wir ſie aus einheimiſchen Quellen nicht zu beſtimmen. Ich habe ſie für 1440 auf 15 1600 Perſonen (nach Nürn - berger Muſter) angenommen, und vielleicht iſt das noch zu hoch. Wenn man im Durchſchnitt auf 3 Meiſter 2 fremde Geſellen und Lehrlinge rechnet und auf 2 Haushaltungen einen weiblichen Dienſtboten, ſo wird man nach allem, was wir über dieſe Dinge wiſſen, der Wahrheit ziemlich nahe kommen.

Nachdem wir nunmehr die Zuſammenſetzung der ge - ſamten Bevölkerung nach dem Berufe und damit die Grund - lage der wirtſchaftlichen Bethätigung derſelben kennen ge - lernt haben, werfen wir einen Blick auf das Reſultat der - ſelben, die Vermögensverteilung.

Allerdings vermögen wir dieſe nicht direkt zu ermitteln; aber wir ſind durch die in Frankfurt beſtehende Vermögens - ſteuer, (Bede), für welche die Liſten uns faſt ſämtlich er - halten ſind, wenigſtens in den Stand geſetzt, uns ein un - gefähres Bild derſelben zu machen. Wählen wir nun eine dem Jahre 1440 nahe liegende, vollſtändig erhaltene Steuer - liſte, diejenige von 1420, für unſere Betrachtung aus, ſo haben wir uns zuvörderſt zu merken, daß die Steuer ſich aus einem fixen Satz (Heerdſchilling) von 12 Schilling (Mk. 4,20), den jede Haushaltung zahlen mußte und aus240 einer nach den einzelnen Vermögensobjekten abgeſtuften veränderlichen Abgabe zuſammenſetzte, welche bei beweglichem Vermögen 1,3 %, bei liegendem Gute die enorme Höhe von faſt 7 % erreichte. Außerdem iſt zu beachten, daß ein reichlich bemeſſener Teil des Vermögens eine Art Exiſtenzminimum ſteuerfrei gelaſſen wurde, nämlich der dritte Teil des Wohnhauſes, ein Pferd, eine Kuh, Hausrat und Kleider, zwei ſilberne Becher für jede Familie, ſowie ein Jahresvorrat von Brotfrucht, Wein, Brennholz, Vieh - futter und Stroh.

Unter dieſen Umſtänden waren von 2382 Steuer - pflichtigen im Jahre 1420:

Steuerpflichtige.Prozent.
Steuerfrei aus Armut oder andern Gründen ........943,9
Beſteuert bis zum Betrag von 10 β (= Mk. 3,50) ......38716,3
Beſteuert mit über 10 β bis 1 (Mk. 3,50 7) ......121951,2
Beſteuert mit über 1 bis 10 (Mk. 7 70) .......53322,4
Beſteuert mit über 10 bis 50 (Mk. 70 350) ......1325,5
Beſteuert mit über 50 (Mk. 350)170,7

Ueber 100 zahlen nur 7 Perſonen. Den höchſten Steuerbetrag, nämlich 145 oder in unſerem Gelde 1015 Mk.241 entrichten 2 Perſonen (Johann von Holzhauſen und Heinrich Wiſſe zum Wiſſen).

Sie ſehen, das ſind ſehr anſtändige Steuerbeträge, ſelbſt wenn wir den höheren Geldwert des Mittelalters ganz außer Berückſichtigung laſſen. Worin ſich aber die in der Steuerverteilung von 1420 ausgeſprochene Vermögens - und Einkommensverteilung von der heutigen unterſcheidet, das läßt ſich mit wenigen Worten ausſprechen: durch das Ueberwiegen der kleinen und mittleren Vermögen, durch die geringe Zahl der Steuerunfähigen und der ganz großen Be - ſitzer. Im Jahre 1879 / 80 betrug die Zahl derjenigen, welche wegen eines Einkommens unter 420 Mk. in Frank - furt ſteuerfrei waren, 20 %, die Zahl derjenigen, welche von einem Einkommen von 12000 14400 Mk. und mehr über 1000 Mk. Einkommenſteuer zahlten, etwa 1 Prozent. Im Mittelalter fehlen die letzteren und die erſteren be - tragen noch nicht 4 %. 1879 war der höchſte Steuerbetrag (Mk. 171288) 38600mal größer als der niedrigſte, 1420 nur etwa 2000mal. Allerdings beträgt die Zahl derjenigen, welche über den Unterhaltsbedarf hinaus Vermögen beſitzen, 1420 nur 35 %; aber das iſt doch faſt dreimal mehr als heute Einkommenſteuer in Frankfurt zahlen, alſo ein Ein - kommen von über 3000 Mk. beſitzen. Dazu kommt nun noch die große Maſſe derjenigen, welche den Hausſchilling zahlten und ſich zweifellos meiſt in auskömmlicher Lage befanden. Denn wer eine Kuh im Stalle hatte und einBücher, Die Entſtehung der Volkswirtſchaft. 16242Pferd nebſt Heu, Hafer und Stroh für beide bis Martini, dazu Kleider und Hausrat nebſt Brot, Wein und Holz bis zur nächſten Ernte, der war kein armer Mann, der ſtand ſich, zumal wenn er die Arme noch zu Handwerksverdienſt frei hatte, im Mittelalter relativ beſſer, als heute die Mehr - zahl derjenigen, welche in Frankfurt zur Klaſſenſteuer ver - anlagt ſind.

Daß aber der Vermögensbeſitz im Mittelalter ſich durchaus nicht etwa auf die Grundbeſitzer beſchränkt, geht zur Genüge daraus hervor, daß die Verteilung der Hand - werker auf die verſchiedenen Steuerſtufen ganz ähnlich ſich geſtaltet wie diejenige der Geſamtbevölkerung, nur daß bei ihnen die niederſte Stufe ſchwächer beſetzt iſt und die höchſte gewöhnlich fehlt. Doch ſind Meiſter mit 30 und 40 Steuer gar nichts Seltenes, und wenn man auf das da - malige Frankfurter Gewerbe im allgemeinen den alten Satz anwenden wollte, daß Handwerk einen goldenen Boden habe, die Bedebücher würden dem nicht widerſprechen.

Allerdings hat jede Vergleichung mittelalterlicher und moderner Steuerverhältniſſe mit drei faſt unüberwindlichen Schwierigkeiten zu kämpfen: 1) der Ungleichheit der Steuerſy - ſteme, indem im Mittelalter das Vermögen, in der Gegenwart das Einkommen die Bemeſſungsgrundlage der direkten Haupt - ſteuer bildet, 2) der Verſchiedenheit des Geldwertes im Mittelalter und in der Neuzeit und 3) der Unmöglichkeit, die hinter den mittelalterlichen Steuerſätzen ſtehenden Ver - mögenswerte in Geld abzuſchätzen. Die letztere Schwierig -243 keit hebt ſich erſt am Ende der von uns ins Auge gefaßten Periode, im Jahre 1495, wo die Vermögensſteuer zu einer regelmäßig wiederkehrenden nach gleichbleibendem Fuße auf das ganze in Geld eingeſchätzte Vermögen gelegten Steuer wird. Allein offenbar iſt die Ausführung dieſer durchaus modernen Art der Vermögensbeſteuerung im Anfang eine höchſt mangelhafte, und wenn ich trotzdem Ihnen noch einige Ziffern über die Verteilung des Vermögens unter der ſtädtiſchen Bevölkerung mitteile, wie ſie ſich bei der erſten nach dieſem Syſtem erfolgten Einſchätzung im Jahre 1495 ergab, ſo bitte ich im Auge zu behalten, daß wir es jedenfalls mit Minimalziffern zu thun haben. Von je 100 Steuerpflichtigen beſaßen damals

ſteuerbares Vermögenbei derbei den
in Goldgulden:nach heutiger Währung in Goldmark.Geſamtbevölkerung.Handwerkern.
unter 20unter 14045,732,7
20 100140 70026,832,6
100 200700 14008,212,5
200 4001400 28005,910,6
400 6002800 42002,94,3
600 10004200 70003,24,3
1000 20007000 140002,22,0
2000 500014000 350002,30,8
5000 1000035000 700001,1
über 10000über 700001,70,2
16 *244

Auch hier zeichnen ſich die Handwerker durch erhöhte Verhältnisziffern in den mittleren Vermögensſtufen aus. Allein man würde wahrſcheinlich in die Irre gehen, wenn man dieſe weite Verbreitung eines beſcheidenen Wohlſtandes allein auf Rechnung eines ſchwunghaften Gewerbebetriebs ſetzen und bei den Meiſtern der damaligen Zeit im Durch - ſchnitt ein erhebliches Geſchäftskapital vermuten wollte. Bei einer Anzahl derſelben, wie den Wollwebern, den Metzgern, teilweiſe auch den Bäckern, hat ſich freilich der Uebergang vom bloßen Lohnwerk zum Preiswerk längſt vollzogen; ſie bedürfen eigner Betriebsmittel, wenn ſie vorwärts kommen wollen. Das gleiche gilt von den meiſten Metallhandwerkern, einigen Ledergewerben, den Holzſchuhmachern und ähnlichen, die weit umher in den Städten bis nach Fulda und Nörd - lingen die Märkte zu beziehen pflegten. Aber die große Maſſe der Handwerker war, wie wir aus den ſtädtiſchen Rechnungen erſehen können, darauf angewieſen, daß bei jedem größeren Stück Arbeit die Kunden ihnen das Material lieferten.

Dagegen beſtand ein erheblicher Teil der Handwerker aus Grund - und Häuſerbeſitzern. Das letztere geht aus einem uns erhaltenen Häuſerkataſter von 1438 hervor, das für eine ſtatiſtiſche Bearbeitung leider der nötigen Voll - ſtändigkeit entbehrt, und wenn auch die meiſten jener Hand - werkerhäuſer klein und mit Grundzinſen, Gülten und Renten belaſtet waren, ſo gaben ſie doch der wirtſchaftlichen Exi - ſtenz ihrer Beſitzer einen ſicheren Rückhalt. Noch mehr245 gilt das von dem Grundbeſitz, der nicht bloß in der Frank - furter Gemarkung, ſondern faſt in allen umliegenden Dörfern bis in die Wetterau hinein zerſtreut lag und durchweg im Eigenbau genutzt wurde. Die meiſten Frankfurter gewannen alſo damals ihren Lebensunterhalt zu einem großen Teile noch aus der Landwirtſchaft, und die bürgerlichen Gewerbe lieferten ihnen nur einen willkommenen Zuſchuß baren Geldes. Gerade dieſe doppelte wirtſchaftliche Grundlage gab dem Leben des Städters in jenen unruhigen Zeiten eine verhältnismäßig große Sicherheit, von der auch die - jenigen nicht ganz unberührt bleiben konnten, welche bloß von ihrer Hände Arbeit ihr Daſein friſteten.

Wir ſind am Ende unſerer Wanderung. Richten wir von dem zuletzt erreichten Punkte den Blick rückwärts, ſo erkennen wir, daß bei aller Ungunſt in der natürlichen Schichtung der Bevölkerung ihre ſoziale Zuſammenſetzung nach Berufsſtänden und Vermögensklaſſen ein durchaus geſundes Gepräge zeigt. Die ſtädtiſche Wirtſchaft verhalf einem großen Teil der Bürger zur Selbſtändigkeit; ſie be - günſtigte die produktiven Berufsſtände; ſie ließ ſchroffe Unter - ſchiede in der Vermögens - und Einkommensverteilung nicht aufkommen.

Der Wert dieſer Verhältniſſe kommt uns erſt voll zum Bewußtſein, wenn wir unſere Augen über die Ring - mauern der Stadt hinaus auf das platte Land ſchweifen laſſen.

Auf dem Lande bildet noch der Grundbeſitz die einzige246 Form des Vermögens, die Landwirtſchaft den einzigen Beruf. Aber der Grundbeſitz iſt in den Händen des Adels und der Kirche zu wenigen großen Maſſen vereinigt; die land - wirtſchaftliche Arbeit ruht auf den Schultern dinglich und oft auch perſönlich unfreier Bauern einer unbeweg - lichen, des Waffendienſts entwöhnten, jammervoll gedrückten Klaſſe.

In den Städten hat man zwar die Exiſtenz noch nicht ganz von der Bebauung des Bodens losgelöſt; aber neben dem Ackerbau, der hier ſchon die intenſiven Formen der Spatenkultur annimmt, iſt ein vielfach verzweigtes, in wunderbarer Mannigfaltigkeit entwickeltes Gebiet von ſelb - ſtändigen Berufsthätigkeiten aufgeblüht, das Gewerbe. Dieſes Gewerbe iſt ſeiner Natur nach auf den Kleinbetrieb ange - wieſen. Er ſchafft einen kräftigen Stand freier, unab - hängiger, arbeitſamer Leute, die etwas gelten, weil ſie etwas können. Der Produzent arbeitet mit eigener Hand; er arbeitet mit eigenem Werkzeug, zuweilen auch ſchon mit eigenen Betriebsmitteln; er arbeitet in der Regel nicht für einen weiten Markt, ſondern für den engen Kundenkreis ſeiner Mitbürger und der umwohnenden Landbevölkerung; kein Schwarm gewinnſüchtiger Zwiſchenhändler ſchiebt ſich zwiſchen ihn und den Konſumenten ſeiner Erzeugniſſe.

Wo das Gewerbe nicht mehr ausreicht, da greift der Handel ein, zunächſt in der charakteriſtiſchen Form des Marktumſatzes. Das mittelalterliche Marktweſen bedarf einer verhältnismäßig großen Zahl halbamtlicher Mittels -247 perſonen. Da ſind die vielen geſchworenen Unterkäufer, die Salz -, Kohlen - und Leinwandmeſſer, die Sackträger und Stangenträger, die Wagemeiſter, die Viſierer, die Schröder, Weinſticher und Weinknechte, die Kärcher und Heizeler, die Boten und Schiffleute; da hat der Wechsler ſeinen Tiſch und der Stuhlſchreiber ſeine Schreibkiſte auf - geſtellt, um für die zahlreichen Analphabeten das Abfaſſen von Schriftſtücken zu beſorgen. Und wenn auch vielleicht die meiſten dieſer Leute einen Teil des Jahres kärglich leben; alle ſechs Monate kommt einmal die Meſſe, und da - zwiſchen gibt es wohl auch ein Turnier, eine Reichsver - ſammlung, eine Kaiſerwahl, die Vielen reichlich Beſchäftigung und Brot geben. Namentlich muß das Vermieten von Wohn - und Geſchäftsräumen während der Meſſe und das Beherbergen der zahlreichen Fremden für die Frankfurter damals eine außerordentliche wirtſchaftliche Bedeutung ge - habt haben.

Wen eine Erwerbsart nicht völlig nährt, der ver - bindet mehrere, oder er ergreift eine andere. Denn noch iſt das Erwerbsleben nicht in Zunftformeln erſtarrt und verknöchert; noch entſtehen fortwährend neue Berufsarten, und wo einmal ein altes Handwerk zu egoiſtiſcher Ab - ſchließung Miene macht, da tritt der Rat dazwiſchen und zieht die gemeinſchädlichen Satzungen ein.

Und auf dieſer wirtſchaftlichen und ſozialen Grundlage hat das Mittelalter eine in ihrer Art vollendete Organi - ſation der Arbeit und der politiſchen Gemeinſchaft aufge -248 baut. Zwei Ideen beherrſchen die erſtere: die Idee des gemeinen Beſten und die Idee, daß jeder Arbeiter auf dem Gewerbe, das er mit eigener Hand betrieb, ſeine Mannes - nahrung finden ſolle. Eine Konſequenz der erſten dieſer Ideen war es, daß das Recht zum Gewerbetrieb in der Stadt als ein Amt angeſehen wurde, das die Geſamtheit dem einzelnen Meiſter wie der ganzen Zunft verlieh und das ihnen Pflichten auferlegte; eine Konſequenz der zweiten war die allgemeine Gleichheit und Brüderlichkeit, welche von den Genoſſen des gleichen Berufes gefordert wurde. Mit dieſen die Stadtwirtſchaft beherrſchenden Gedanken kreuzen ſich zwei verwandte auf politiſchem Gebiete: der Gedanke, daß die Geſamtheit jeden Bürger ſchütze und ſchirme und verantworte und der Gedanke, daß jeder Einzelne mit Gut und Blut für die Stadt einzutreten habe. Aus dem erſteren entſprang die Solidarität der Bürgertums, aus dem letzteren die allgemeine Wehr - und Steuerpflicht.

Dieſe Solidarität, jene allgemeine Brüderlichkeit, ſie machte nicht Halt bei den zahlreichen kleinen Genoſſen - ſchaften, den Zünften, Stuben, Brüderſchaften, in welchen die Geſchlechter, die Handwerker, die Geſellen ſich enger verbunden hatten. Sie umſchloß alle Bürger der Stadt als eine geſchworene Einung, in der Alle entſchloſſen waren, Liebe und Leid mit einander zu dulden bei der Stadt und wo es Not wäre.

In dieſer auf der feſten Grundlage befriedigender249 Wirtſchaftsverhältniſſe ruhenden Organiſation der Geſell - ſchaft lag die Stärke der mittelalterlichen Städte.

Sie waren dem platten Lande überlegen trotz ihrer unbedeutenden Bevölkerungsziffern, weil in ihnen der Mann etwas wert war, weil er mehr wert war als auf dem Lande und weil das Individuum ſich freiwillig in den Dienſt der Geſamtheit ſtellte nach dem Grundſatze: Alle für Einen, Einer für Alle.

Aber nichts deſto weniger iſt es eine einſeitig voraus - eilende, in gewiſſem Sinne egoiſtiſche Entwicklung, mit der wir es hier zu thun haben. Sie war nur möglich durch immer ſchroffere Ausbildung des ſozialen Unterſchieds zwiſchen Stadt und Land und dadurch, daß die erſtere das letztere wirtſchaftlich in weitem Umkreiſe von ſich abhängig machte. Den Schlußſtein dieſer Entwicklung hätte die politiſche Ab - hängigkeit der Landſchaft von der Stadt bilden müſſen, die Begründung von Stadtſtaaten wie in Italien und teilweiſe auch in der ſchweizeriſchen Eidgenoſſenſchaft.

Frankfurt gehört zu den wenigen deutſchen Städten, welche in der Erwerbung von Landgemeinden bewußt dieſem Ziele zuſteuerten freilich ohne es ganz zu erreichen.

Darin aber, daß in Deutſchland die ſtädtiſche Entwick - lung einſeitig und unvollendet blieb, lag m. E. die Haupt - urſache, weshalb dieſelbe für das Reich nicht, wie es an - fangs den Anſchein hatte, ein bindendes, ſondern ein auf - löſendes Element mehr wurde, weshalb ſie im XVII. und250 XVIII. Jahrhundert raſcher wieder von ihrer Höhe herunter - ſank, als ſie dieſelbe erklommen hatte.

Heute iſt die Stadt nicht mehr ein für ſich abge - ſchloſſenes Ganzes; ſie iſt ein dienendes Glied eines großen Organismus, der ſtaatlich geordneten Geſellſchaft. Und wenn ſie als ſolches die glanzvollſten Reſultate der geſell - ſchaftlichen Arbeit in ſich vereinigt, ſo wollen wir doch nicht vergeſſen, daß ſie auch die ſozialen Gegenſätze dieſer Geſellſchaft, ihre Unruhe und Unbefriedigung am ſchroffſten ausgeprägt hat, und wir wollen wünſchen, daß es dieſer modernen Geſellſchaft gelingen möge, eine Organiſation der Arbeit auszubilden, welche dem Einzelnen und der Geſamt - heit in gleichem Maße gerecht wird, wie für ihre Zeit die ſoziale Organiſation der mittelalterlichen Stadt.

[251]

VI. Die inneren Wanderungen und das Städteweſen in ihrer entwickſungsgeſchichtſichen Bedeutung.

Neubearbeitet mit Benutzung eines Vortrags, gehalten bei der Jahresverſammlung der Schweizeriſchen ſtatiſtiſchen Geſellſchaft zu Baſel den 22. September 1886.

[252][253]

Alle prähiſtoriſche Forſchung, ſoweit ſie ſich auf die Erſcheinungen der belebten Welt bezieht, verliert ſich in der Hypotheſe der Wanderung. Die Verbreitung der Pflanzen, der Tiere, der Menſchen über die Räume der Erdoberfläche, die verwandtſchaftlichen Beziehungen der Sprachen, der religiöſen Vorſtellungen, der Märchen und Sagen, der Sitten und ſozialen Einrichtungen ſcheinen in dieſer einen Annahme ihre gemeinſame Erklärung zu finden.

In der Menſchheitsgeſchichte iſt man freilich heute von der Anſicht zurückgekommen, welche die nomadiſierende Lebensweiſe als eine allgemeine Kulturphaſe angeſehen wiſſen wollte, die jedes Volk vor der feſten Niederlaſſung einmal durchgemacht haben müſſe und die mit der Zähmung der Haustiere den Menſchen naturgemäß vom Jägerleben zum Ackerbau hinüberleite. Die ethnographiſche Forſchung hat uns genügend darüber aufgeklärt, daß alle Natur - völker leicht und aus oft ſehr geringfügigen Urſachen ihre Sitze wechſeln, und daß es bei ihnen außerordentlich viele Zwiſchenſtufen zwiſchen ſchweifendem und ſeßhaftem Leben gibt, welches auch immer die wirtſchaftlichen Grundlagen254 ihrer Exiſtenz ſein mögen1)Vgl. Z. Dimitroff, Die Geringſchätzung des menſchlichen Lebens und ihre Urſachen bei den Naturvölkern, Leipzig 1891, S. 33 ff.. Die Nord - und Südränder der bewohnten Erde ſind noch heute ganz von Menſchen ohne feſten Wohnſitz bevölkert und auch im Innern der - ſelben finden ſich weite Länderräume, in denen ein Zuſtand permanenter Völkerwanderung herrſcht. Die meiſten Kul - turvölker haben Sagen oder geſchichtliche Ueberlieferungen eines ſolchen Zuſtandes.

Auch in unſerer Sprache hat dieſe längſt verfloſſene Periode allgemeiner Beweglichkeit tiefe Spuren hinterlaſſen. Geſund heißt urſprünglich wegfertig (von ſenden-gehen, reiſen); Geſinde, was heute die dienenden Hausgenoſſen bedeutet, iſt in der älteren Sprache das Reiſegefolge; der Gefährte und die Gefährtin bezeichnen im ſtrengen Wortſinne die Fahrtgenoſſen. Erfahrung iſt, was man auf der Fahrt erlangt hat und bewandert iſt derjenige, welcher viel auf der Wanderſchaft war. Die Liſte ſolcher Ausdrücke iſt noch lange nicht erſchöpft; in der allgemeinen Bedeutung, deren ſie ſich heute erfreuen, drückt ſich die Allgemeinheit des konkreten Anſchauungs - und Beobachtungs - kreiſes aus, dem ſie zuerſt entſprungen ſind.

Es iſt ein nahe liegender Schluß, daß jener Zuſtand der allgemeinen Wanderbewegung mit ſeinen eingewurzelten Wanderſitten nicht plötzlich zur Ruhe gekommen ſein könne, daß vielmehr der ganze Gang der Weiterentwicklung bis auf den heutigen Tag ein Prozeß allmähligen Seßhaft -255 werdens und eines immer engeren Anſchluſſes an das Fleckchen Erde geweſen ſei, an dem der Menſch ins Leben tritt.

Mancherlei Anzeichen ſprechen für dieſe Auffaſſung. Das Haus wird bei unſern Vorfahren zur Fahrhabe ge - rechnet, und nachweisbar haben viele Ortſchaften in hiſto - riſcher Zeit ihre Stellen gewechſelt. Trotz des Mangels an Kunſtſtraßen und bequemen Verkehrsmitteln erſcheint noch im Mittelalter der Einzelne viel beweglicher als in der ſpäteren Zeit. Dafür ſprechen die zahlreichen Wall - fahrten, die ſich bis St. Jago in Spanien erſtreckten, die Kreuzzüge, die großen Scharen der fahrenden Leute, das Wanderleben des Königs und ſeines Hofes, das Gäſterecht der Markweistümer, das ausgebildete Geleitsweſen.

Jeder neue Fortſchritt in der Kultur hebt ſozuſagen wieder mit einer neuen Wanderperiode an. Der älteſte Ackerbau iſt ein nomadiſcher mit jährlichem Wechſel der Feldflur; der älteſte Handel iſt Wanderhandel; die erſten Gewerbe, welche ſich als berufsmäßige Thätigkeit Einzelner von der Hauswirtſchaft ablöſen, werden im Umherziehen betrieben. Die großen Religionsſtifter, die älteſten Dichter und Philoſophen, die Muſiker und darſtellenden Künſtler der früheren Perioden ſind überall große Wanderer. Und zieht nicht noch heute der Erfinder, der Prediger einer neuen Lehre, der Virtuoſe von Ort zu Ort, um Anhänger und Bewunderer zu ſuchen trotz der gewaltigen Entwicklung des modernen Nachrichtenverkehrs?

Aeltere Geſittung iſt ſeßhaft. Der Grieche war ſeß -256 hafter als der Phönizier, der Römer ſeßhafter als der Grieche, weil Einer immer der Kulturerbe des Andern war. Noch heute bemerken wir Aehnliches. Der Germane iſt beweglicher als der Romane, der Slave beweglicher als der Germane. Der Franzoſe klebt an der heimatlichen Scholle, der Ruſſe verläßt ſie leichten Gemüts, um an an - deren Stellen ſeines weiten Vaterlandes beſſere Erwerbs - gelegenheiten zu ſuchen. Selbſt der Fabrikarbeiter iſt dort nur ein periodiſch wandernder Bauer.

Zu allem was ſich empiriſch für den Satz anführen läßt, daß die Menſchheit im Laufe ihrer Geſchichte immer ſeßhafter geworden ſei, kommt noch eine aprioriſtiſche Er - wägung doppelter Art. Fürs Erſte wächſt mit fortſchrei - tender Kultur der Umfang der Kapitalfixierungen: der Produzent wird immobil mit ſeinen Produktionsmitteln. Der wandernde Schmied der ſüdſlaviſchen Länder und das weſtfäliſche Eiſenwerk, die Saumpferde des mittelalterlichen Kaufmannes und das Großmagazin unſerer Städte, der Thespiskarren und das ſtehende Theater bezeichnen An - fangs - und Endpunkte dieſer Entwicklung. Und fürs Zweite hat die Ausbildung der modernen Verkehrsmittel den Güter - transport in weit höherem Grade erleichtert als den Per - ſonentransport. Die örtlich gegebene Verteilung der Ar - beitskräfte erlangt dadurch höhere Wichtigkeit als die na - türliche Verbreitung der Produktionsmittel; die letzteren ziehen vielfach den erſteren nach, wo früher der umgekehrte Fall ſtattfand.

257

Dem Geſagten widerſtreiten freilich einige andere Er - wägungen und Thatſachen. Zunächſt die Gebundenheit des Menſchen an die Scholle in der älteren agrariſchen Periode, die Verdinglichung aller wirtſchaftsrechtlichen Beziehungen im Gegenſatze zu der modernen Freiheit der Perſon und des Eigentums. Sodann und damit zuſammenhängend die Entſtehung zahlreicher Berufszweige in der neueren Zeit, welche bloß auf das bewegliche Kapital oder die perſönliche Arbeitsgeſchicklichkeit ſich gründen. Ferner die zunehmende Mobiliſierung des Grundbeſitzes, welche heute dem Bauern erlaubt, in kurzer Zeit Haus und Hof zu Geld zu machen, um jenſeits des Ozeans ſich eine neue Exiſtenz zu gründen, während der mittelalterliche Landwirt höchſtens als Pfahl - bürger ſich einer benachbarten Stadt anſchließen konnte, von der aus er ſeine Wirtſchaft auf dem Dorfe entweder ſelbſt weiter betrieb oder ſie in irgend einer Form gegen eine jährliche Naturalrente einem andern überließ. Weiter die große Erleichterung des Perſonenverkehrs, welche durch die Erfindung neuer Verkehrsmittel hervorgebracht worden iſt. Endlich die Beobachtung eines wachſenden Zuſtroms der Landbevölkerung nach den Städten, die ſich ſeit einigen Jahrzehnten in einer außerordentlich raſchen Bevölkerungs - zunahme der letzteren und in einer ſtellenweiſen Stagnation oder gar Abnahme der Landbevölkerung kund gibt. Mit Rückſicht auf alle dieſe Umſtände halten ſich manche für berechtigt, von einer ſtets ſteigenden Mobiliſierung der Ge - ſellſchaft zu reden.

Bücher, Die Entſtehung der Volkswirtſchaft. 17258

Wie ſind dieſe beiden Erſcheinungsreihen mit einander zu vereinbaren? Handelt es ſich um zwei einander ent - gegengeſetzte Entwicklungsprinzipien? Oder ſind vielleicht die modernen Wanderungen von ganz anderer Art als diejenigen früherer Jahrhunderte?

Faſt möchte man das letztere glauben. Die Wande - rungen, welche vor Anfang der Geſchichte der europäiſchen Menſchheit ſtehen, ſind Völkerwanderungen: ein Jahrhun - derte langes Schieben und Drängen kollektiver Geſamtheiten von Oſten nach Weſten. Die Wanderungen des Mittel - alters ergreifen immer nur einzelne Stände: die Ritter in den Kreuzzügen, die Kaufleute, die Lohnhandwerker, die Handwerksgeſellen, die Gaukler und Spielleute, die Hörigen, welche Schutz hinter den ſtädtiſchen Mauern ſuchen. Die modernen Wanderungen ſind dagegen in der Regel eine Sache der Individuen, die ſich dabei von den verſchieden - artigſten Beweggründen leiten laſſen. Sie ſind faſt immer unorganiſiert, und der täglich tauſendfach ſich wiederholende Vorgang wird nur durch das eine Merkmal zuſammenge - halten, daß es ſich überall um eine Ortsveränderung von Perſonen handelt, welche günſtigere Lebensbedingungen aufſuchen.

Und doch würde eine ſolche Unterſcheidung dem Weſen der modernen und auch der mittelalterlichen Wanderungen nicht ganz gerecht werden. Wollen wir ihre wahre ent - wicklungsgeſchichtliche Bedeutung erfaſſen, ſo müſſen wir erſt Lichtung bringen in das wirre Dickicht trüber Tages -259 meinungen, welches den ganzen Gegenſtand noch immer umgibt, trotz aller Bemühungen der Statiſtik und der Na - tionalökonomie.

Unter allen Maſſenerſcheinungen des ſozialen Lebens, welche der Statiſtik zugänglich ſind, gibt es freilich kaum eine, welche von vornherein ſo ſehr unter das allgemeine Geſetz der Kauſalität zu fallen ſcheint als die Wanderungen, kaum eine aber auch, über deren nächſte Verurſachung ſo unklare Vorſtellungen herrſchen als dieſe.

Spricht man doch nicht bloß in den Kreiſen des großen Publikums und in der Preſſe ſondern ſogar in wiſſen - ſchaftlichen Werken vom Wandertriebe und ſtellt damit jene Bewegungen der Menſchen von Ort zu Ort außerhalb des Bereiches bewußten Handelns. Ja ein Statiſtiker hat einen in der Zeitſchrift des preußiſchen ſtatiſtiſchen Bureaus von 1873 erſchienenen Aufſatz überſchrieben: Heimatſinn und Wandertrieb der preußiſchen Bevölkerung gleich als ob das Verharren in der Heimat auf bloßer Natur - anlage, das Verlaſſen derſelben auf einem unwiderſtehlichen inſtinktiven Drange beruhte, der dem einen Volke mehr, dem andern weniger zukomme.

Damit ſteht es denn freilich in ſeltſamem Widerſpruche, daß, während die große Maſſe der amtlichen ſtatiſtiſchen Arbeiten in weiteren Kreiſen unbeachtet bleibt, die öffent - liche Meinung auf die Publikation der Auswanderungs - ziffern meiſt ſehr lebhaft ſich äußert. An ihr Steigen und Fallen knüpfen ſich Furcht und Hoffnung, Beifall und17 *260Mißfallen, Leitartikel und Parlamentsreden. Da iſt dann natürlich von Wandertrieb und Heimatſinn weniger zu ver - nehmen1)Immerhin habe ich aus zwei bei ſolcher Gelegenheit erſchienenen Artikeln angeſehener Zeitungen die hübſchen Schlagwörter: Aus - wanderungsſucht, Wanderfieber, Heimatmüdig - keit, Heimatüberdruß, Europamüdigkeit, Hang zur Auswanderung zuſammengeleſen.; man hat ein dunkles Gefühl, daß hinter jenen Schwankungserſcheinungen ſehr konkrete Urſachen ſtehen. Wie wenig man aber über die Natur der letzteren im Klaren iſt, mag beiſpielsweiſe daraus erſehen werden, daß vor einigen Jahren im deutſchen Reichstage allen Ernſtes dar - über geſtritten wurde, ob die Leute auswanderten, weil es ihnen gut gehe oder weil es ihnen ſchlecht gehe.

Man wird nicht ſagen können, daß die Statiſtik bis jetzt dahin gelangt ſei, aus den trüben Wogen verwirrter Tagesmeinungen ſich zu den ſicheren Ergebniſſen exakter Beobachtungen emporzuſchwingen. Für ſie iſt ja allerdings von vorn herein das Wandern eine wirtſchaftlich und ſozial bedingte Maſſenerſcheinung; aber ſie hat es m. E. zu früh aufgegeben, ihre Urſachen mit den ihr eigentümlichen Mitteln aufzudecken und zur Enquête gegriffen, ehe ſie die Mittel der numeriſchen Methode erſchöpft hatte.

Wenn man die nichts weniger als tiefſinnigen Be - merkungen lieſt, mit welchen Quetelet2)Du Système social et des lois qui le régissent, p. 186 190. das Phänomen der Auswanderung begleitet, ſo überzeugt man ſich leicht, daß ſeine Erklärung desſelben ſich kaum über die ver -261 breitetſten Gemeinplätze erhebt. Muſtert man dann aber die amtlichen Publikationen der neueſten Zeit, ſo begegnet man zwar nicht ſelten ausführlichen Frageſchematen über die Urſachen oder Gründe der Auswanderung, bei denen auch die Armen am Geiſte unter den zur Beant - wortung aufgerufenen Gemeindebeamten nicht in Verlegen - heit geraten können; aber man ſagt ſich ſofort, daß mit derartigen Suggeſtivfragen eine Reihe ſubjektiver Voraus - ſetzungen die Stelle objektiver Forſchungsreſultate okkupiert.

Bevor man aber zu einem ſolchen Auskunftsmittel greift, das nur in die Zahlen hineininterpretiert, was nicht von ſelbſt aus ihnen hervorgeht, wäre doch wohl die Auf - gabe geweſen, die Wanderungserſcheinungen ſelbſt in ihren verſchiedenen Arten nach ihrer numeriſchen Geſetzmäßigkeit feſtzuſtellen, ſie mit andern der Statiſtik zugänglichen ört - lichen und zeitlichen Maſſenerſcheinungen (z. B. der Dichtig - keit der Bevölkerung, ihrer Berufsgliederung, der Vertei - lung des Grundeigentums, der Höhe des Arbeitslohnes, der Preisbewegung der Lebensmittel) in Beziehung zu ſetzen alſo das ſtatiſtiſche Experiment der Paralleliſierung iſolierter Zahlenreihen vorzunehmen.

Von dieſen erſten Schritten auf dem Wege eines exakten Verfahrens ſind wir aber noch weit entfernt. Das geſamte Gebiet der Wanderungen iſt noch nirgends plan - mäßig der ſtatiſtiſchen Beobachtungsarbeit unterworfen wor - den; immer waren es nur auffallende einzelne Erſcheinungen derſelben, denen ausſchließliche Aufmerkſamkeit zugewendet262 wurde. Selbſt an einer ſozialwiſſenſchaftlich rationellen Klaſſifikation der Wanderungen fehlt es zur Stunde noch.

Dieſelbe hätte auszugehen von dem populatio - niſtiſchen Reſultat der Wanderungen. Darnach würden letztere in drei Gruppen zerfallen:

  • 1. Wanderungen mit ſteter Ortsveränderung.
  • 2. Wanderungen mit temporärer Umſiedelung,
  • 3. Wanderungen mit dauernder Umſiedelung.

Zur erſten Gruppe gehört das Zigeunerleben, der Betrieb von Wanderhandel und Wandergewerben, das Va - gantentum.

Zur zweiten: das Wandern der Handwerksgeſellen, der Dienſtboten, der Gewerbetreibenden, welche die günſtigſte Stelle zu temporären Unternehmungen aufſuchen; der Be - amten, welchen eine beſtimmte Stellung auf Zeit übertragen wird; der Schüler, die fremde Lehranſtalten aufſuchen u. ä.

Zur dritten: die Umzüge von Ort zu Ort innerhalb deſſelben Landes (Staates) und nach dem Auslande, nament - lich über See.

Eine Zwiſchenſtufe zwiſchen der erſten und zweiten Gruppe nehmen die periodiſchen Wanderungen ein. Dahin gehören die Wanderungen der ländlichen Arbeiter zur Zeit der Ernte, der Zuckerarbeiter zur Zeit der Cam - pagne, der oberitalieniſchen und ticineſiſchen Maurer, Erd - arbeiter, Kaminfeger, Kaſtanienbrater ꝛc., welche ſich in be - ſtimmten Jahreszeiten wiederholen.

Bei dieſer Einteilung iſt allerdings von dem Einfluſſe263 der natürlichen und politiſchen Abgrenzung der Länderge - biete abgeſehen. Es ſoll damit nicht verkannt werden, daß die ſtaatliche Zugehörigkeit für das Ziel der Wanderungen in dem Zeitalter des Nationalitätsprinzips und des Schutzes der nationalen Arbeit eine gewiſſe Bedeutung hat. Wir wollen ihr vielmehr gerecht werden durch eine zweite Ein - teilung, bei welcher wir das politiſch-geographiſche Er - ſtreckungsgebiet der Wanderungen zur Grundlage nehmen. Darnach zerfallen dieſelben in innere und äußere Wanderungen.

Innere Wanderungen ſind ſolche, deren An - fangs - und Endpunkte innerhalb deſſelben Staatsgebietes liegen; äußere ſolche, die ſich darüber hinaus erſtrecken. Die letzteren ſind wieder entweder international-euro - päiſche oder außereuropäiſche (gewöhnlich als überſeeiſche bezeichnet). Man kann aber auch ſämtliche Wanderungen, welche den Boden des Erdteils nicht ver - laſſen, im weiteren Sinne als innere Wanderungen be - zeichnen und ihnen die Auswanderung κατ ἐξοχήν, d. h. die Ueberſiedelung nach fremden Erdteilen gegenüberſtellen.

Von allen dieſen mannigfach verſchiedenen Arten des Wanderns iſt bisher nur die überſeeiſche Auswanderung regelmäßig Gegenſtand der amtlichen Statiſtik geweſen, und auch dieſe iſt von ihr, was keinem Kundigen fremd ſein dürfte, bisher nur unvollkommen erfaßt worden. Ab und zu hat man gelegentlich einmal die periodiſchen Arbeiter - wanderungen und das Hauſierweſen zum Gegenſtande der264 Erhebung gemacht meiſt mit dem Nebenzwecke einer be - ſchränkenden Geſetzgebung. Nur die italieniſche Regierung beſtrebt ſich ſeit längerer Zeit, die periodiſchen Wanderungen eines Teiles der Bevölkerung nach dem europäiſchen Aus - lande durch Lokalerhebungen, Zählkartentauſch und Kon - ſularberichte aufzuhellen.

Die Wanderungen mit dauernder und temporärer Um - ſiedelung zwiſchen den verſchiedenen Staaten Europas werden nur ſehr unvollkommen durch die Gebürtigkeits - und Staatsangehörigkeitsangaben der Volkszählungs-Publi - kationen berückſichtigt; die inneren Wanderungen ſind nur ganz vereinzelt einmal ernſtlich beachtet worden.

Und doch ſind dieſe Wanderungen von Ort zu Ort innerhalb deſſelben Staatsgebietes ungleich zahlreicher und in ihren Erfolgen ungleich bedeutſamer als alle anderen Arten der Wanderung zuſammengenommen.

Von der geſamten Bevölkerung des Königreichs Bel - gien waren nach den Ergebniſſen der Volkszählung vom 31. Dezember 1880 nicht weniger als 32,8 Prozent außer - halb der Gemeinde geboren, in welcher ſie ihren zeitigen Wohnſitz hatten1)Annuaire statistique de la Belgique XVI (1885) p. 76.. Von der ortsanweſenden Bevölkerung Preußens waren am 1. Dezember 1880

geborenPerſonenProzent
1. in der Zählungsgemeinde1572158857,6
2. ſonſt im Zählungskreiſe459966416,9
3. in der Zählungsprovinz455612416,7
265
geborenPerſonenProzent
4. ſonſt im preußiſchen Staate16581876,1
5. im Deutſchen Reiche5260371,9
6. im Reichsauslande2120210,8

Von 27279111 Perſonen waren 11552033 oder 42,4 Prozent außerhalb der Gemeinde geboren, in der ſie ihren Wohnſitz hatten1)Zeitſchrift des k. preuß. ſtatiſt. Bureaus XXI (1881), Bei - lage I, S. 46 f.. Ueber zwei Fünftel der Be - völkerung hatten wenigſtens einmal während ihres Lebens die Wohngemeinde gewechſelt! Von der Bevölkerung der Schweiz waren am 1. Dezember 1888 geboren: in der Wohngemeinde 56,4, in einer anderen Gemeinde des Wohn - kantons 25,7, in anderen Kantonen 11,5, im Auslande 6,4 Prozent2)Statiſt. Jahrbuch d. Schweiz II, (1892) S. 57.. Und dabei bezeichnet die Gemeinde ſchon eine adminiſtrative Einheit, welche in manchen Teilen des Staates mehrere Wohnplätze umfaßt. Die mitgeteilten Ziffern ſchließen alſo eine zahlreiche Art von Wanderungen, diejenigen von Ort zu Ort innerhalb der Zählungsgemeinde, vollſtändig aus.

Dieſe letztere Art von inneren Wanderungen ſind m. W. nur einmal Gegenſtand der Ermittlung geweſen: in der bayeriſchen Gebürtigkeitsſtatiſtik von 18713)Die bayeriſche Bevölkerung nach der Gebürtigkeit. Bearbeitet von Dr. G. Mayr (XXXII. Heft der Beiträge zur Statiſtik des Königr. Bayern), S. 10.. Darnach waren von der geſamten ortsanweſen - den Bevölkerung Bayerns

266
geborenPerſonenProzent
1. am Zählungsorte297514661,2
2. ſonſt in der Zählungsgemeinde1431863,0
3. im Zählungsamte67775213,9
4. ſonſt in Bayern94410119,4
5. im Deutſchen Reiche782411,6
6. im Auslande441500,9

Die bayeriſche Bevölkerung von 1871 erſcheint danach etwas ſeßhafter als die preußiſche von 1880 und die ſchweizeriſche von 1888, was vielleicht von dem früheren Jahre der Zählung herrührt. Aber auch hier waren faſt der Einwohner (1888000 von 4863000) nicht an dem Orte geboren, an dem ſie wohnten, alſo zu irgend einer Zeit dahin eingewandert. In den unmittelbaren Städten betrug die Zahl der Fremdbürtigen gar 54,5 Prozent, in den kleinen Landſtädten 43,2 Prozent; ſelbſt in den Ge - meinden des platten Landes ſank ſie bloß auf 35,6 Prozent.

Wir haben es alſo hier mit koloſſalen Maſſenbe - wegungen zu thun, und wenn es erlaubt iſt, eine Schätzung zu wagen, deren thatſächliche Anhaltspunkte aus Rückſicht auf den beſchränkten Raum nicht im Einzelnen mitgeteilt werden können, ſo glaube ich behaupten zu dürfen, daß die Zahl der Bewohner Europas, welche ihren zeitigen Wohnort nicht der Geburt ſondern der Wanderung ver - danken, weit über hundert Millionen beträgt. Wie267 winzig erſcheinen neben einer ſolchen Zahl die vielberufenen Ziffern der überſeeiſchen Auswanderung. 1)In den beiden Menſchenaltern von 1821 1880 haben die Vereinigten Staaten von Amerika aus ſämtlichen europäiſchen Staaten 10385443 Einwanderer empfangen. Gothaer Hofkalender von 1884, S. 530.

Daß ſo gewaltige Bewegungen der Bevölkerung tief - greifende Folgen nach ſich ziehen müſſen, liegt auf der Hand.

Dieſe Folgen ſind hauptſächlich wirtſchaftliche und ſoziale.

Der wirtſchaftliche Erfolg aller Arten von Wanderungen iſt die Herbeiführung eines lokalen Aus - tauſches von Arbeitskräften und vielfach auch, da die Men - ſchen von ihrer ökonomiſchen Ausſtattung nicht zu trennen ſind, die Uebertragung von Kapitalien, oder, da wir auch in dieſen Dingen Zweckmäßigkeit vorausſetzen müſſen: die Bewirkung einer zweckmäßigeren Arbeits - und Kapital-Ver - teilung und - Vereinigung auf der ganzen bewohnten Erde, ſei es nun daß die Arbeit dem Kapital oder den Natur - gaben nachzieht, ſei es daß das Kapital beſchäftigungsloſe Hände aufſucht.

Ihr ſozialer Erfolg ſind große Verſchiebungen der Bevölkerung, die ſich mit nie ruhender Wellenbewegung ins Gleichgewicht zu ſetzen ſucht mit den vorhandenen Er - werbsvorteilen. Sie bewirken demgemäß Aufhalten des Anwachſens der Menſchenzahl an den einen, Beſchleunigung268 ihrer Vermehrung an anderen Punkten: Lichtung und An - häufung zugleich. Sie durchbrechen in dieſer Hinſicht die örtliche Verteilung der Bevölkerung, wie ſie durch das na - türliche organiſche Wachstum derſelben in Folge des Ge - burtenüberſchuſſes gegeben erſcheint.

Allein gerade in dieſer Hinſicht iſt für den einzelnen Staat ein bedeutender Unterſchied zwiſchen den inneren Wanderungen und der Auswanderung.

Die unmittelbaren Wirkungen der Auswanderung auf das Mutterland ſind einſeitige: ſie lichten die Bevölkerung; ſie ſchaffen für die Zurückbleibenden Ellenbogenraum. Daß ſie zugleich die Bevölkerung und Exploitierung menſchen - armer Kolonialländer beſchleunigen, wird für die Heimat nur indirekt ſpürbar, wenn ſie dazu dienen, durch den Be - trieb der Landwirtſchaft auf jungfräulichem Boden der heimiſchen Agrarproduktion eine gefährliche Konkurrenz zu bereiten oder durch Uebertragung induſtrieller Geſchicklich - keit und Produktionsmittel ins Ausland der vaterländiſchen Induſtrie den Abſatz abzuſchneiden.

Die Wirkungen der inneren Wanderungen dagegen ſind immer zweiſeitige: ſolche, die ſich an den Ausgangs - punkten geltend machen und ſolche, welche an ihren End - punkten fühlbar werden. Dort lockern ſie die Bevölkerung auf, hier verdichten ſie dieſelbe. Sie erzeugen ſo gleichſam eine Scheidung der Wohnplätze und Landesteile in men - ſchenproduzierende und menſchenkonſumierende. Die men - ſchenproduzierenden Wohnplätze ſind bei uns gewöhnlich269 die Landorte und kleinen Städte, die menſchenkonſumieren - den die großen Städte und Induſtriebezirke. Die letzteren nehmen an Bevölkerung über das natürliche Maß des Geburtenüberſchuſſes zu; die erſteren bleiben dahinter er - heblich zurück. Im Jahresdurchſchnitt des achtzehnjährigen Zeitraums von 1867 1885 hat die Geſamtbevölkerung des Deutſchen Reiches um 0,86 % der mittleren Bevölkerung zugenommen1)Nach Schumann in Mayr’s Allg. ſtatiſt. Archiv, I (1890), S. 518.. Aber es betrug die durchſchnittliche jähr - liche Zunahme ſpeziell in den

  • Großſtädten (über 100000 Einw.) 2,6 %
  • Mittelſtädten (20000 100000 Einw.) 2,4
  • Kleinſtädten (5000 20000 Einw.) 1,8
  • Landſtädten (2000 5000 Einw.) 1,0
  • Dörfern (unter 2000 Einw.) 0,2

Freilich ſo einfach und durchſichtig, wie dieſe Ziffernreihe die Erſcheinung der inneren Wanderungen darſtellt, iſt ſie in Wirklichkeit nicht. Sie illuſtriert gewiß in ſehr dra - ſtiſcher Weiſe das Schlagwort vom Zug nach den Städten ; aber dieſes Schlagwort gibt nur die halbe Wahrheit. Es überſieht die große Zahl innerer Wande - rungen, welche ſich gegenſeitig kompenſieren, alſo in einer Veränderung der Einwohnerzahl der Wohnplätze keinen Ausdruck finden können.

Faſſen wir ſämtliche inneren Wanderungen eines größeren Landes, ohne Rückſicht auf die durch ſie270 bewirkte Verteilung der Einwohner über die Bodenfläche ins Auge, ſo erſcheinen uns die Zugsrichtungen derſelben wie ein dichtes buntgemuſtertes Gewebe, in welchem die Fäden in vielfältigem Wechſel hinüber - und herüberſchießen. Durch den ziemlich einfachen Zettel, der von den Land - orten und kleinen Städten nach den großen Städten und Induſtriebezirken geſpannt iſt, legt ſich ein vielfarbiger Ein - ſchlag, deſſen Fäden zwiſchen den kleineren Wohnplätzen hin und her laufen. Oder, um ein anderes Bild zu ge - brauchen, es iſt nicht bloß die breite mächtig wogende Ober - ſtrömung vorhanden, welche wir allein bemerken: unter derſelben treiben zahlreiche kleine Wellen ihr eigenes Spiel.

Dieſe letzteren ſind bis jetzt kaum beachtet, jedenfalls nicht nach Gebühr gewürdigt worden, auch wo ſie aus - nahmsweiſe einmal ſtatiſtiſch feſtgeſtellt waren. Von der bayeriſchen Bevölkerung von 1871 waren

in denam Zählungsorte geborenzugewandertzuſammen
unmittelbaren Städten301494361899663393
übrigen Städten mit über 2000 Einw.205887157000362887
Zuſammen5073815188991026280
in den Landgemeinden246776513579813825746
Ueberhaupt297514618768804852026

Woraus ſich deutlich ergibt, daß die Zahl der wäh - rend des letzten Menſchenalters in den Landgemeinden Ein - gewanderten abſolut weit mehr als doppelt ſo groß war als diejenige der ſtädtiſchen Zuzügler. Und das gleiche271 Verhältnis wird ſich in allen größeren Staaten wiederholen.

Allein nicht darin liegt das Bedeutſame, daß die länd - lichen Wohnplätze ſich in Bezug auf den Bevölkerungsaus - tauſch ebenſowohl nehmend als gebend verhalten, ſondern in zwei anderen Momenten. Das Eine drückt ſich darin aus, daß dieſelben mehr Bevölkerung abgeben, als ſie em - pfangen, das Andere darin, daß ihr Zuzug ſich vorzugs - weiſe aus den nächſten ländlichen Gemeinden rekrutiert, während ihr Abzug ſich zum Teil nach den entfernteren Städten wendet. Der Ueberſchuß des Abzugs über den Zuzug kommt alſo örtlichen Gemeinſchaften höherer Ord - nung zu Gute; er rückt in eine andere wirtſchaftlich-ſoziale Lebensſphäre ein.

Nennen wir die geſamte Bevölkerung, welche an einem Orte geboren iſt und ſich innerhalb des Landes irgendwo aufhält, ſeine Geburtsbevölkerung, ſo wird nach den eben angegebenen Austauſchverhältniſſen der Bevölke - rung die Geburtsbevölkerung der Landorte größer ſein als ihre Zählbevölkerung (ortsanweſende Bev. ), in den Städten kleiner. So betrug nach der Zählung von 1871 in den bayeriſchen Bezirksämtern (Landdiſtrikten) die Geburtsbe - völkerung 103,5 Prozent der Zählbevölkerung, in den un - mittelbaren Städten nur 61 Prozent1)Mayr, a. a. O. S. 53 f. der Einleitung.. Im Großherzogtum Oldenburg2)Vgl. Statiſtiſche Nachrichten über das Großh. Oldenburg, Heft XIX, S. 64. erreichte nach der Zählung vom 1. Dez. 1880

272
in den Städten Perſonen:auf dem Lande Perſonen:
der Zuzug aus anderen Orten2537057366
der Abzug nach anderen Orten1020872528

Die Bilanz der inneren Wanderungen ergibt ſomit für die Städte einen Ueberſchuß, für die Landgemeinden einen Fehlbetrag von 15162 Perſonen. Beide ergänzen einander in ihrem Bevölkerungshaushalte wie die Wirt - ſchaften zweier ungleichen Brüder, von denen der Eine regelmäßig aufbraucht, was der Andere ſparſam erübrigt hat. Inſoweit iſt es alſo völlig begründet, wenn wir die Städte als menſchenkonſumierende, die Landgemeinden als menſchenproduzierende Sozialgebilde bezeichneten.

Allein die geſamte übrige Menſchen-Ausgabe der Land - gemeinden überragt den an die Städte abgelieferten Ueber - ſchuß ſelbſt in dem eben angeführten Beiſpiele eines kleinen Staates faſt um das Vierfache. Und ebenſo hoch beläuft ſich die Einnahme, welche ſie von einander empfangen. So groß dieſer gegenſeitige Bevölkerungsaustauſch auch er - ſcheinen mag, ſo knüpft ſich an ihn doch ein verhältnis - mäßig nur beſchränktes geſellſchaftswiſſenſchaftliches Inter - eſſe. Denn wir haben es hier mit einer Art von Wande - rungen zu thun, welche der lokalen Beſchränktheit der länd - lichen Wohnplätze entſpringt und die darum um ſo mehr Bedeutung gewinnt, je kleiner die Gemeinden ſind. Im ganzen Großherzogtum Oldenburg1)A. a. O. S. 61. betrug die Zahl273 der nicht in der Aufenthaltsgemeinde Geborenen (Zuge - wanderten):

  • in den Gemeinden unter 500 Einw. 55,0 %
  • mit 500 1000 37,4
  • 1000 1500 41,7
  • 1500 2000 40,4
  • 2000 3000 28,7
  • 3000 4000 22,2
  • 4000 5000 20,6
  • über 5000 29,4

Es ergibt ſich daraus, daß in den kleineren Gemein - den (bis 4000 Einw. ) mit der wachſenden Größe der Ge - meinden der auswärtige Zuzug gegenüber den Eingeborenen relativ abnimmt, während er in den größeren wächſt.

Dasſelbe hat Mayr für Bayern nachgewieſen. Dort betrug 1871 in den größeren ländlichen Gemeinden (mit 2000 und mehr Einwohnern) die Zahl der Ortsgebürtigen 66,9 Prozent, in den kleineren Gemeinden aber nur 64,4 Pro - zent1)Die bayer. Bevölkerung nach der Gebürtigkeit, Einleitung, S. 15., während ſich in den Städten genau der umgekehrte Fall ergab. In den unmittelbaren Städten wurden näm - lich 45,5 Prozent als am Zählungsorte geboren ermittelt, in den übrigen (kleineren) Städten 56,8 Prozent. Mayr ſtellt darnach den Satz auf, daß in den Städten die Ortsgebürtigkeit der Bevölkerung mit deren Größe abnimmt, in den ländlichen Gemein - den dagegen zunimmt.

Bücher, Die Entſtehung der Volkswirtſchaft. 18274

Die Erklärung dieſer Erſcheinung für das Land liegt ſehr nahe. Wo wegen der geringen Einwohnerzahl ſeines Wohnorts der Bauer in der Auswahl ſeiner Dienſtboten am Orte allzu beſchränkt iſt, müſſen einander die benach - barten Gemeinden ergänzen. Und ebenſo werden die An - gehörigen der kleinen Orte häufiger unter einander heiraten als an größeren Orten, wo ſich unter den Einheimiſchen reichere Auswahl findet. Damit iſt der Anlaß zu ſehr zahlreichen Wanderungen auf geringe Entfernungen hin gegeben. Dieſe Wanderungen bewirken aber bloß einen lokalen Austauſch ſozial verwandter Elemente.

Dies wird wieder ſehr deutlich durch die mehrfach erwähnte ausgezeichnete Arbeit über die Gebürtigkeit der oldenburgiſchen Bevölkerung erwieſen. In derſelben wird die Herkunft der fremdbürtigen Bevölkerung dreier beliebig herausgegriffenen Gemeinden, Waddewarden, Holle und Cappeln nach Entfernungszonen ihrer Geburtsorte darge - ſtellt1)A. a. O. S. 65.. Es betrug in

WaddewardenHolleCappeln
die Geſamtzahl der Einw.86112981423
davon waren Zugezogene270445388
  • von letzteren waren aus Gemeinden bis zu 2 Meilen Ent - fernung
abſolut Prozent
258267324
95,660,183,5
  • aus größerer Ent - fernung
abſolut Prozent
1217864
4,439,916,5
275
WoddewardenHolleCappeln
die Zahl der Fortgezogenen400544387
  • davon in eine Ent - fernung bis zu 2 Meilen
abſolut Prozent
332490332
83,090,085,9
  • in weitere Ent - fernung
abſolut Prozent
685455
17,010,014,1

Wie ganz anders geſtalten ſich in dieſer Hinſicht die Verhältniſſe der Hauptſtadt Oldenburg, die mit ihren 20575 Einwohnern doch auch nur als kleine Stadt be - zeichnet werden kann! Von der geſamten fremdbürtigen Bevölkerung derſelben (13364 Perſonen oder 64,9 %) ſtammten

PerſonenProzent
aus einer Entfernung von unter 2 Meilen291621,8
von 2 10 Meilen562542,1
von über 10 Meilen482336,1

Hier iſt der größte Teil der Zuwanderung Fern - wanderung; hier bedeutet der Eintritt des Fremdbürtigen in ein neues Gemeinweſen zugleich den Eintritt in neue ſoziale Verhältniſſe und eine veränderte Wirtſchaftsweiſe. Und jenes Gemeinweſen gibt nicht etwa ebenſo viel von ſeiner Geburtsbevölkerung an andere Gegenden ab, als es von ihnen empfängt1)Die Stadt Oldenburg hatte 1880 aus anderen Gemeinden des Landes 8725 Bewohner empfangen und nur 1925 an dieſelben abge - geben: a. a. O., S. 212.. Es ſaugt vielmehr aus einem18 *276weiten Umkreiſe den Ueberfluß der Auswanderung über die Einwanderung auf, um ihn nur zu einem ſehr kleinen Teile wieder zurückzugeben.

Das iſt die Signatur der modernen Städte, und wenn wir zunächſt die Verhältniſſe dieſer ſowie der in Bezug auf die Einwirkung der inneren Wanderungen ihnen un - gefähr gleichſtehenden Fabrikbezirke in den Vordergrund der Betrachtung ſtellen, ſo darf dies wohl genügend durch den Umſtand gerechtfertigt erſcheinen, daß an dieſer Gruppe von Niederlaſſungen das Ergebnis der inneren Bevölke - rungsverſchiebungen am klarſten zum Ausdrucke gelangt. Hier, wo die eingewanderten Elemente am zahlreichſten ſind, entwickelt ſich zwiſchen ihnen und den Eingeborenen ein ſozialer Kampf ein Kampf um die beſten Erwerbs - bedingungen oder, wenn man will, ums Daſein, der mit der Anpaſſung des einen an den anderen Teil, vielleicht auch mit der ſchließlichen Ueberwindung des einen durch den anderen endet. So hatte nach Schliemann1)Reiſe in der Troas im Mai 1881, S. 29 ff. die Stadt Smyrna im Jahre 1846 80000 türkiſche und 8000 griechiſche Einwohner; im Jahre 1881 dagegen gab es nur noch 23000 Türken, aber 76000 Griechen. Die türkiſche Bevölkerung hatte alſo in 35 Jahren um 71 Pro - zent abgenommen, während zugleich die griechiſche ſich ver - neunfacht hatte.

Nicht überall werden freilich dieſe Kämpfe ſich zu einem derartigen allgemeinen Verdrängungsprozeß geſtalten,277 aber im Einzelnen wird ſich unzählige Mal innerhalb eines Landes der Fall wiederholen, daß das ſtärkere, beſſer aus - gerüſtete Element das ſchwächere, ſchlecht ausgerüſtete zum Weichen bringt.

So lebten 1871 in München rund 86000 Bayern, welche nicht daſelbſt geboren waren, während gleichzeitig etwa 18000 geborene Münchener an anderen Orten Bayerns gefunden wurden. Noch auffallender iſt die aus dem eng - liſchen Cenſus von 1881 ſich ergebende Thatſache, daß in England und Wales ungefähr halb ſo viele Perſonen lebten, die in London geboren waren, als England und Wales ſelbſt an London abgegeben hatten1)London hatte 1881 3816483 Einwohner. Von dieſen waren geborenPerſonenProzent der Be - völkerungin London240195562,9in der nächſten Umgebung38487110,1in andern Teilen von Eng - land und Wales78769920,6in Schottland495541,3in Irland807782,1in andern Ländern1116262,9Andernteils wurden 584700 in London geborene Perſonen in an - deren Teilen von England und Wales gezählt. Für je 100 Perſonen, welche ſich aus dieſem Gebiete in London anſäßig gemacht, hatten alſo 51 in London Geborene der Rieſenſtadt den Rücken gekehrt. Nach der Ztſchr. des preuß. ſtatiſt. Bureaus XXVI (1886), Statiſtiſche Korreſpondenz S. XVIII..

Wir haben hier alſo einen Vorgang, wie er ſich in278 der Natur ſo häufig vollzieht: auf demſelben Boden, wo eine höher organiſierte Pflanze oder ein Tier nicht mehr Nahrungsſpielraum genug findet, ſiedeln ſich andere, ge - nügſamere an und finden fröhliches Gedeihen. Ja die An - ſiedlung dieſer iſt nicht ſelten gerade die Urſache, weshalb jene verſchwinden und ſich auf günſtigere Standorte zu - rückziehen.

Dieſer Vorgang muß aber in der Sozialwelt nicht gerade ein Verdrängungsprozeß ſein, nicht eine Folge von ſchwächerer Ausrüſtung der heimiſchen und Ueberlegenheit der fremden Elemente.

Der umgekehrte Fall wird vielleicht ebenſo häufig vor - kommen und iſt wahrſcheinlich in den angeführten Beiſpielen der gewöhnliche. Bei der unendlichen Differenzierung der Arbeitskräfte in der modernen Volkswirtſchaft finden manch - mal gerade die qualifizierten Arbeiter da am ſchwerſten eine entſprechende Verwendung und Vergütung ihrer Lei - ſtungen, wo ſie entſtanden und ausgebildet worden ſind, weil auch hier die Konkurrenz am größten iſt. Sie wandern aus und ſuchen günſtigere Erwerbsbedingungen, beſſere Konkurrenzverhältniſſe, während gleichzeitig an ihrem Aus - gangspunkte die minder qualifizierte Arbeitskraft geſucht ſein kann und durch äußeren Zuzug beſchafft werden muß. Dieſe letztere kann aber in ihrer eigenen Heimat ſelbſt wieder das ſtärkere, beſſer ausgerüſtete Element ausmachen; ſie kann hier ebenfalls des Spielraumes zur nutzbringenden Verwertung ihrer Kräfte entbehren; ſie kann aber auch279 eine Lücke laſſen, welche durch nichts ausgefüllt zu werden vermag.

So iſt vielleicht niemals die Auswanderung höher ge - bildeter techniſcher Kräfte aus den Städten bedeutender geweſen als in der Zeit des ſogenannten wirtſchaftlichen Aufſchwungs in den erſten 70er Jahren. Zu gleicher Zeit aber nahmen dieſelben Städte eine maſſenhafte Arbeiter - bevölkerung vom Lande auf, und der Abzug der letzteren wieder bewirkte in den bäuerlichen Diſtrikten einen em - pfindlichen Mangel an landwirtſchaftlichen Arbeitern, ein Steigen der Arbeitslöhne und ſtellenweiſe eine wirkliche Notlage der Landwirtſchaft.

Ueberall waren hier die relativ Stärkeren gewandert, die relativ Schwächeren zurückgeblieben; von einer gegen - ſeitigen Verdrängung konnte nicht die Rede ſein.

Noch viel weniger wird eine ſolche Betrachtungsweiſe Platz greifen dürfen bei denjenigen inneren Wanderungen, welche nicht dem Streben nach einem beſſeren Erwerbsort ſondern dem Aufſuchen günſtiger Konſumtionsbedingungen ihre Entſtehung verdanken. Der penſionierte Beamte und Militär, welcher die teure Großſtadt verläßt, um das Land oder eine billige Kleinſtadt aufzuſuchen, der mühelos reich gewordene Spekulant, welcher die flüchtigen Börſenwerte mit einem ſoliden Landgut vertauſcht hat, der Pariſer Klein - händler, welcher ſein etwas mühſamer erworbenes Ver - mögen in der Ruhe ſeines beſcheidenen Landhäuschens ver - zehrt, wie auch umgekehrt der wolhabend gewordene jüdiſche280 Viehhändler, welcher die Stadt aufſucht, um an der Börſe zu ſpekulieren, der von Fritz Reuter ſo trefflich geſchilderte mecklenburgiſche Fetthammel , d. h. der reiche Bauer, welcher nach der Gutsübergabe die Stadtfreuden genießen will, die arme Pfarrerswitwe, welche in die Stadt zieht, um ihren Kindern einen beſſeren Unterricht und ihrer kärg - lichen Penſion durch Halten von Penſionären eine Auf - beſſerung zu Teil werden zu laſſen: ſie alle treten an ihren neuen Wohnorten nicht als gefährliche Mitbewerber der eingeborenen Arbeiterbevölkerung auf.

Und doch ſpielen ſich an den Zielpunkten der Wande - rung auch in ſolchen Fällen, wo keine Verdrängungsgefahr in Frage kommen kann, zahlloſe Kämpfe und Reibungen ab, welche alle auf den ſozialen Amalgamierungsprozeß zu - rückzuführen ſind, der hier immer zwiſchen eingeborener und eingewanderter Bevölkerung ſtattfindet. Der Fremde hat ſich den vorhandenen Lebensbedingungen, der eigentüm - lichen örtlichen Wirtſchaftsweiſe, der Sitte, der Mundart, den politiſchen, kirchlichen, ſozialen Einrichtungen ſeines neuen Wohnortes anzupaſſen. Und die Bevölkerung des letzteren ſelbſt wieder, ſo gefeſtigt und eigenartig ſie in ſich daſtehen mag, kann ſich den zahlreichen fremden Einflüſſen, welche auf ſie einſtürmen, nicht vollſtändig entziehen. Be - deutet für ſie dieſe Einwirkung manchmal eine Steigerung der Arbeitsenergie, eine Erweiterung des Geſichtskreiſes, einen friſchen Luftzug in verrottete örtliche Zuſtände, ſo wird vielleicht noch viel häufiger ein Verluſt an guter alter281 Sitte, an ſolider Wirtſchaftlichkeit, an bürgerlichem Ge - meinſinn, vor allem und immer aber an ſozialer Eigenart die Folge ſein.

Es kann nun keinem Zweifel unterliegen, daß dieſe wechſelſeitigen Anpaſſungskämpfe in ihrer Geſtaltung und ihrem Verlaufe ſehr verſchieden ausfallen werden, je nach - dem ſie unter einander ähnlichen oder von einander ver - ſchiedenen Elementen ſich vollziehen.

Gerade aus dieſem Grunde reicht der von der Städte - ſtatiſtik zur Kennzeichnung dieſer Verhältniſſe benutzte Un - terſchied zwiſchen ortsgebürtiger und ortsanweſender Be - völkerung für feinere ſozialſtatiſtiſche Unterſuchungen nicht aus.

Denn wenn man z. B. von der Stadt München er - mittelt hat, daß die Zahl der Ortsgebürtigen 37,5 Prozent beträgt und von Hamburg, daß dieſelbe 50,9 Prozent ausmacht1)Statiſtiſches Jahrbuch deutſcher Städte I (1890), S. 23., ſo iſt mit der bloßen Thatſache, daß dort 13,4 Prozent Fremdbürtige mehr in der Bevölkerung ent - halten ſind, noch nicht bewieſen, daß die Münchener Be - völkerung um ſo viel ungleichartiger iſt als die Hamburger und daß dort der Prozeß der gegenſeitigen ſozialen An - paſſung mit heftigeren Reibungen und Kämpfen verbunden ſein muß als hier. Und ebenſo iſt damit, daß zwei Städte (z. B. Altona und Dresden) das gleiche Verhältnis der Fremdbürtigen zu den Ortsgebürtigen aufweiſen, noch nicht geſagt, daß in beiden dieſer Prozeß den gleichen Verlauf nehmen wird. Es iſt recht wohl denkbar, daß die Fremden282 in der einen Stadt unter ſich und mit der eingeborenen Bevölkerung eine größere Gleichartigkeit der Sitte und Mundart, der wirtſchaftlichen Energie und der ſozialen Gewohnheit zeigen, weil ſie aus einer näheren ſtammver - wandten Umgebung kommen, während in der anderen Stadt heterogene Elemente aus entfernteren Gegenden ſich miſchen. Im erſten Falle wird das ſchließliche Reſultat der wechſelſeitigen Anpaſſung fremd - und heimbürtiger Be - völkerung ein ganz anderes ſein als in dem letzten. Während dort Einzelne und Gruppen von annähernd gleicher ökonomiſcher Ausrüſtung und ähnlichem ſozialem Charakter ſich friedlich in die vorhandenen Erwerbsbedingungen teilen, überwindet hier vielleicht der lebenskräftigere, energiſchere, genügſamere Stamm den abgelebten, ſchwächeren, anſpruchs - volleren in ſeinen ererbten Sitzen oder verdrängt ihn doch aus den zur Zeit günſtigſten Gebieten des Erwerbs. Na - mentlich kann eine niedrigere Stufe der Lebenshaltung dem eingewanderten Arbeiter über den eingeborenen eine Ueber - legenheit im Konkurrenzkampfe ſichern, welche für den letzteren die beklagenswerteſten Folgen hat. Die Einwan - derung der polniſchen Arbeiter in den altpreußiſchen Provin - zen, der Italiener in der Schweiz und Süddeutſchland, der Chineſen in den Städten der nordamerikaniſchen Union ſind dafür bekannte Beiſpiele.

Aber auch wo die wirtſchaftliche und ſoziale Aſſimi - lation ſich ohne ernſtere Kämpfe vollzieht, können zwiſchen Eingewanderten und Eingeborenen Unterſchiede beſtehen283 bleiben, welche ſchlechterdings unausgleichbar ſind und welche die frühere Geſchloſſenheit der Bevölkerung eines Gemein - weſens in ſtörender Weiſe durchbrechen. Ich denke hier namentlich an Unterſchiede der Konfeſſion, der Mutterſprache und der politiſchen Zugehörigkeit. Die beiden größten ſchweizeriſchen Städte, Genf und Baſel, die man beide als Hochburgen des Proteſtantismus zu betrachten gewohnt iſt, haben heute in Folge der Zuwanderung in ihrer Be - völkerung über ein Drittel Ausländer. In Genf haben dazu etwa 20 % der Bevölkerung eine andere Mutterſprache als das Franzöſiſche. Endlich ſind in Baſel ſeit 1837 die Katholiken von 15 auf 30 Prozent der Bevölkerung ge - ſtiegen, und in Genf haben ſie 42 Prozent erreicht. Auch wer die innere Geſchichte dieſer kleinen Gemeinweſen nicht genauer kennt, wird ſich ſagen müſſen, daß ſolche Gegen - ſätze zwiſchen Eingeborenen und Eingewanderten nicht un - gefährlich ſind.

Haben uns dieſe Darlegungen gezeigt, daß keines - wegs die Mehrzahl der inneren Wanderungen in den Städten ihren Ruhepunkt findet, ſo hat ſich aus ihnen doch auch ergeben, daß der Zug nach den großen Bevölkerungsmittel - punkten allein eine größere ſoziale und wirtſchaftliche Be - deutung in Anſpruch nehmen kann. Er bringt eine ver - änderte Verteilung der Bevölkerung auf dem Staatsterri - torium hervor und erzeugt an ſeinen Ausgangs - und Ziel - punkten Schwierigkeiten, um deren Ueberwindung Geſetz - gebung und Verwaltung bis jetzt mit meiſt ſehr mäßigem284 Erfolge ſich bemüht haben. Er verſetzt zahlreiche Menſchen faſt plötzlich aus einer vorzugsweiſe naturalwirtſchaftlichen in die geld - und kreditwirtſchaftliche Lebensſphäre und führt dadurch Folgen für die Lebenshaltung und die ſozialen Ge - wohnheiten der handarbeitenden Klaſſen herbei, welche den Menſchenfreund mit ſchweren Sorgen erfüllen müſſen.

Viele halten dieſen maſſenhaften Zuſtrom der Land - bevölkerung nach den Städten und das allgemeine raſche Wachstum der letzteren für eine durchaus neue Erſcheinung. Und ſie haben in gewiſſem Sinne Recht. Das vorige Jahr - hundert kennt ihn noch nicht, wenigſtens in Deutſchland. Dem großen Begründer der Bevölkerungsſtatiſtik, J. P. Süß - milch iſt es nicht gelungen, eine durchgehende Geſetzmäßig - keit der Bevölkerungsbewegung in den Städten zu finden. Er meint, daß ſie nach dem Willen des Herrn in ihrer Menſchenzahl bald ſteigen und bald wieder fallen. So leiht der große Regierer der Welt den Ländern und Städten Macht, Reichtum und Herrlichkeit. Er nimmt ſie auch wieder und gibt ſie andern nach ſeinem Rat. Er ſtürzet die Gewaltigen vom Thron und erhebet die Niedrigen1)Göttliche Ordnung, II § 546 (2. Aufl. S. 477 f.). . Auch J. H. G. v. Juſti hält es kaum für möglich, eine Stadt zu vergrößern, wenn nicht den neuen Anſiedlern beſondere Vorteile zugeſtanden würden2)Grundſätze der Polizeywiſſenſchaft, § 54. Vgl. auch Geſam - melte politiſche und Finanzſchriften III, S. 449 ff.. Damit ſtimmt285 was wir an Bevölkerungszahlen1)Manches dahin gehörige iſt zuſammengeſtellt von Inama - Sternegg im Handwörterbuch d. Staatsw. II, S. 433 ff. von der zweiten Hälfte des XVII. Jahrhunderts bis etwa 1820 für einzelne Städte auftreiben können: ſie zeigen bald Rückgang, bald Wachs - tum in regelloſem Wechſel. In Frankreich dagegen ſcheint die moderne Bewegung ſchon um etwa 150 Jahre früher eingeſetzt zu haben; dort ſpricht man ſchon im vorigen Jahrhundert in ſchlagwortartiger Weiſe von der Ent - völkerung des platten Landes 2)Zeugniſſe geſammelt bei Legoyt, Du Progrès des Agglo - mérations urbaines et l’Émigration rurale, Marseille 1870, S. 8 ff. .

Gehen wir dagegen weiter in der Geſchichte der euro - päiſchen Menſchheit zurück, ſo finden wir zwei Perioden, welche in großer Ausdehnung die gleiche Erſcheinung auf - weiſen: das Altertum, insbeſondere die römiſche Kaiſerzeit und das ſpätere Mittelalter, namentlich das XIV. und XV. Jahrhundert. Dazwiſchen liegen große Zeiträume des Rückgangs und Verfalls oder doch des Stillſtandes.

Wie ſind nun jene früheren Perioden der ſtädtiſchen Zuwanderung entwicklungsgeſchichtlich aufzufaſſen? Sind ſie verfrühte Anläufe, ein Ziel zu erreichen, das die Ge - ſchichte erſt unſerer Zeit mit ihren vervollkommneten Ver - kehrsmitteln vorbehalten hat? Oder folgten ſie anderen An - trieben als die entſprechende Bewegung in der Gegenwart und lieferten darum auch andere Ergebniſſe? Vor allem war ihr populationiſtiſches Reſultat und ihr wirtſchaftlicher Charakter der gleiche?

286

Für das Altertum ſcheint trotz der Unſicherheit der überlieferten Bevölkerungsziffern als Ergebnis des Zuſtroms der Landbevölkerung zu den Städten ein unverhältnis - mäßiges Anwachſen der letzteren angenommen werden zu müſſen1)Ueber das Folgende vgl. beſonders R. Pöhlmann, Die Ueberbevölkerung der antiken Großſtädte im Zuſammenhange mit der Geſamtentwicklung ſtädtiſcher Civiliſation. Leipzig 1884. Außerdem Roſcher, Syſtem der Volksw. III zu Anfang.. Allein es darf nicht überſehen werden, daß nur ein Teil jener Zuwanderung freier Entſchließung folgte: nämlich die freien Leute. Der andere, weit größere Teil derſelben, die Sklaven, wurde von ihren Herren in den Städten zuſammengezogen oder durch den Menſchenhandel dahin geliefert.

Wo die Freien das Land verließen, thaten ſie es ge - wöhnlich nicht deshalb, weil ihnen in den Städten ein beſſeres wirtſchaftliches Fortkommen in Ausſicht ſtand, ſon - dern weil ſie durch das Vordringen der großen Sklaven - wirtſchaft ihres Grundbeſitzes enteignet waren. In den Städten fanden ſie zwar auch alle lohnenden Erwerbsge - biete in den Händen von Sklaven und Freigelaſſenen; aber ſie brauchten hier weniger das Verhungern zu fürchten, weil die ſtädtiſchen Proletariermaſſen, in die ſie einrückten, durch öffentliche und private Largitionen erhalten wurden.

Die großen Städte des Altertums ſind weſentlich Kon - ſumtionsgemeinſchaften. Sie verdanken ihre Größe der politiſchen Centraliſation, welche die Ueberſchüſſe der Pri -287 vatwirtſchaften weiter Ländergebiete auf dem einen Punkte zuſammenzog, wo die herrſchende Klaſſe ihren Wohnſitz hatte. Sie ſind Reichs - oder wenigſtens Provinzialhaupt - ſtädte. Sie entſtehen darum zuerſt in der Diadochenzeit und erreichen den Höhepunkt in der römiſchen Kaiſerzeit. Die Hauptſtadt Rom ſelbſt begründet ihre Verproviantie - rung auf die Naturalſteuern der Provinzen und ebenſo ſpäter Konſtantinopel1)Vgl. Krakauer, Das Verpflegungsweſen der Stadt Rom in der ſpäteren Kaiſerzeit. Leipzig 1874 und E. Gebhardt, Stu - dien über das Verpflegungsweſen von Rom und Konſtantinopel in der ſpäteren Kaiſerzeit. Dorpat 1881. Dazu Rodbertus, Zur Geſch. der röm. Tributſteuern in den Ihb. f. R. . u. Stat. VIII, beſ. S. 400 ff.. Es iſt ein kommuniſtiſch-imperia - liſtiſches Verſorgungsſyſtem, wie es die Welt nicht zum zweiten Male geſehen hat: die Erpreſſungen der Beamten, die Steuerpachtungen, die Wuchergeſchäfte, der große durch Sklaven bewirtſchaftete Grundbeſitz der reichen Privaten, die ſtaatlich anerkannte Verpflichtung zu Brot -, Fleiſch - und Weinſpenden an die große Maſſe ſtellten die produktive Arbeit einer halben Welt in den Dienſt der Hauptſtadt und ließen dort höchſtens das Gebiet der perſönlichen Dienſtleiſtungen dem privaten Erwerb offen. Was wir von den größeren Provinzialſtädten wiſſen, läßt dort auf ähnliche Verhältniſſe ſchließen2)E. Kuhn, Die ſtädtiſche und bürgerliche Verfaſſung des - miſchen Reichs I, S. 46 ff. läßt auf eine ähnliche Organiſation der cura annonae wie in der Hauptſtadt ſchließen..

288

Ein günſtiger Markt für freie Arbeit, eine Stätte qualifizierter Produktion zum verkehrsmäßigen Vertrieb über entfernte Konſumtionsgebiete war die antike Großſtadt nicht. Was von fabrikähnlicher Induſtrie vorkommt, be - ruht, wie der landwirtſchaftliche Großbetrieb auf Sklaven - arbeit. Unter den Motiven, welche die alten Schriftſteller für den Drang der freien ländlichen Bevölkerung nach den Städten anführen, ſpielt darum gerade das keine Rolle, welches jetzt das gewöhnliche iſt: die Ausſicht auf beſſere Arbeitslöhne. Betrachte doch dieſe Menſchenmenge , ſchreibt Seneca1)Cons. ad. Helviam, 6. an ſeine Mutter; kaum reichen die Häuſer der unermeßlichen Stadt für ſie aus. Aus Municipien und Kolonien, ja aus dem ganzen Erdkreiſe ſind ſie zuſammen - geſtrömt. Einige hat der Ehrgeiz hergeführt, andere der Zwang eines öffentlichen Amtes, andere eine ihnen aufer - legte Geſandtſchaft, andere die Schwelgerei, die einen glän - zenden, für die Laſter bequemen Tummelplatz ſucht, andere das Studium der Wiſſenſchaften, andere die Schauſpiele; einige hat die Freundſchaft herbeigezogen, andere die Be - triebſamkeit, welche hier ausgedehnte Gelegenheit findet, perſönliche Vorzüge zur Geltung zu bringen2)Quosdam industria latam ostendendae virtuti nacta ma - teriam. Es iſt das Strebertum gemeint, nicht die Induſtrie , wie Pöhlmann a. a. O. S. 17 unbegreiflicher Weiſe überſetzt.; einige bieten ihre Schönheit feil, andere ihre Beredſamkeit. Da iſt keine Art von Menſchen, die nicht in der Stadt zuſammen -289 ſtrömte, wo Tugenden und Laſtern hohe Preiſe ausge - ſetzt ſind.

Ganz anders die ſtädtiſche Zuwanderung des Mittel - alters. Sie iſt, im Ganzen genommen, vielleicht nicht weniger maſſenhaft als diejenige der römiſchen Kaiſerzeit; aber ihr Ergebnis waren nicht wenige Zentralpunkte der Konſumtion, ſondern eine große Zahl ziemlich gleichmäßig über das Land verteilter feſter Orte, welche alle nicht an den Boden gebundene Berufsthätigkeit hinter ihren Mauern vereinigten. Die mittelalterlichen Städte ſind urſprünglich nichts weiter als Burgen, d. h. Zufluchtsorte für die umwohnende Landbevölkerung; ihre ſtändigen Inſaſſen ſind die Bürger oder Burgleute. In dieſem Punkte liegt das, was ſie anfangs allein von den übrigen Wohnplätzen der Menſchen unterſchied und ſie zugleich mit denſelben zu größeren Verbänden vereinigte. Die Dörfer der Umgebung waren verpflichtet, die Befeſtigungswerke der Stadt im Stand halten zu helfen, und dieſer Pflicht entſprach das Recht, in Kriegszeiten mit Hab und Gut hinter den Mauern ſich zu bergen. Alles andere: der Markt, der Gewerbe - betrieb, der Geldverkehr, die perſönliche Freiheit der Stadt - bewohner, ihr ausgeſonderter Gerichtsſtand ſind erſt die ſpäteren Folgen jener vorörtlich-militäriſchen Stellung der Städte. Aus dem urſprünglichen landſchaftlichen Schutz - verband wurde im Laufe der Zeit ein territorial begrenzter Wirtſchaftsverband, für welchen die Stadt das Verkehrs -Bücher, Die Entſtehung der Volkswirtſchaft. 19290zentrum und der Sitz aller berufsmäßig entwickelten Ar - beit war.

Dem entſprechend weiſen die mittelalterlichen Städte1)Das heißt: ſoweit ſie dieſen Namen wirklich verdienen. Es iſt eine eigentümliche methodiſche Verirrung, wenn man heute das Weſen der mittelalterlichen Stadt vorzugsweiſe an ſolchen Orten zu demon - ſtrieren ſucht, die es nie zu einer wahren ſtädtiſchen Exiſtenz gebracht haben und die keinen andern Anſpruch auf den Namen Stadt gel - tend zu machen vermögen als die Verleihung des Stadtrechtes. unter einander eine große Gleichartigkeit in der ſozialen und wirtſchaftlichen Gliederung ihrer Bevölkerung und, ſoweit wir ſehen können, nur geringe Unterſchiede in der Ein - wohnerzahl auf. Die Zuwanderung der Landbevölkerung ſcheint bei der erſten Gründung vielfach keine freiwillige geweſen zu ſein; ſie zog ſpäterhin ihre Hauptnahrung aus der größeren Sicherheit für Perſon und Eigentum und aus der reicheren Erwerbsgelegenheit, welche die Städte für landloſe Freie und Hörige boten. Die ganze Ent - wicklung aber war wirtſchaftlich und populationiſtiſch in dem Momente abgeſchloſſen, wo in den Städten alle Hand - werke, die das beſchränkte Abſatzgebiet zu ernähren ver - mochte, vertreten und mit der genügenden Meiſterzahl be - ſetzt waren. Bis dahin herrſchte auf Seiten der Städte volle Freizügigkeit und faſt ungehinderter Zugang zum Zunft - und Bürgerrecht, wogegen die Grundherren auf dem Lande ſich durch Abzugsbeſchränkungen gegen den Verluſt ihrer Hörigen zu ſichern ſuchten. Als die Städte aus dem inneren Zuwachs ihrer Bevölkerung alle Erwerbsgebiete zu291 füllen im Stande waren, entſtand auch bei ihnen das Be - ſtreben nach Hemmung des Zuzugs von außen und jene zahlreichen Erſchwerungen der Niederlaſſung und des Zu - gangs zum Gewerbebetrieb, welche bis auf die neuere Zeit fortgedauert haben. Es bildete ſich eine ſcharfe Trennung von Stadt und Land. Ab - und Zuwanderung fand wohl auch ferner noch ſtatt; aber ſie beſchränkte ſich in der Hauptſache auf den Austauſch von Arbeitskräften unter den Städten ſelbſt. Die ſtädtiſche Entwickelung war in eine Art von Erſtarrung verfallen, aus der ſie erſt durch den Uebergang zu einer neuen Wirtſchaftsordnung erlöſt werden konnte.

Wir ſind in der Lage, das Geſagte an einigen Punkten ſtatiſtiſch zu beweiſen. Es ſind eingehende Unterſuchungen über die Herkunft der Bevölkerung von Frankfurt a. M.1)In meiner Bevölkerung von Fr. S. 163 ff. 304 ff. 422 ff. 521 ff. 591 ff. 627 ff. und neuerdings auch ſolche über einzelne Teile der Kölner Bevölkerung2)A. Doren, Unterſuchungen zur Geſch. der Kaufmannsgilden des Mittelalters (in Schmollers Forſchungen XII, 2), Anhang I. im Mittelalter angeſtellt worden. Aus dieſen hat ſich ergeben, daß die Mehrzahl der in beiden Städten während des XIV. und XV. Jahrhunderts zu Bürgern aufgenommenen Perſonen vom Lande zugewandert war. Von je 100 Neubürgern ſtammten nämlich

19 *292
in den Städten:Periode:aus Städten:aus Dörfern u. Flecken:
Köln1356 147937,462,6
Frankfurt1311 140028,271,8
1401 150043,956,1

Es ergibt ſich daraus, daß in den beiden letzten Jahr - hunderten des Mittelalters die Bewegung der Bevölkerung vom Lande nach den Städten zwar noch fortdauerte, daß ſie aber in der Abnahme begriffen war, während die Bei - miſchung ſtädtiſcher Elemente unter den Neubürgern ſich verſtärkte. Im XV. Jahrhundert ergänzten ſich einzelne Schichten der Bevölkerung Frankfurts ſchon vorzugsweiſe aus ſtädtiſchen Zuwanderern. Von den zugezogenen Juden ſtammten 90 Prozent und von den Mitgliedern einer Ge - ſellenbrüderſchaft der Metallhandwerker 79,3 Prozent aus Städten. Das Material, aus welchem die letzte Verhält - nisziffer gewonnen iſt, umfaßt freilich noch das erſte Viertel des XVI. Jahrhunderts.

Leider liegen weitere Zahlen aus dem XVI. und XVII. Jahrhundert nicht vor. Dagegen kann ich für die Zeit vom Anfang des XVIII. bis über die Mitte dieſes Jahrhunderts einige Ziffern mitteilen, aus denen hervor - geht, daß es eine Periode gab, wo das ſtädtiſche Hand - werk ſeine Arbeiter faſt nur noch aus anderen Städten empfieng. Das Frankfurter Stadtarchiv beſitzt nämlich eine Anzahl von Herbergsbüchern der Buchbinder, in welche alle Geſellen dieſes Handwerks, die von 1712 1867 in293 Frankfurt zugereiſt waren (zuſammen 14342), ihre Namen und ihre Herkunftsorte eingetragen haben. Ich habe vor Jahren dieſes außerordentlich wertvolle Material ſtatiſtiſch bearbeitet und gefunden, daß von je 100 zugereiſten Buch - bindergeſellen ſtammten

Perioden:aus Städten:aus Dörfern u. Flecken
1712 175097,52,5
1751 180094,35,7
1801 183589,210,8
1836 185086,014,0
1851 186781,218,8

Wir ſehen hier, wie ſich in einem ſpezifiſch ſtädtiſchen Gewerbe innerhalb eines Zeitraums von reichlich anderthalb Jahrhunderten die Beimiſchung ländlicher Arbeitskräfte fortgeſetzt vermehrt hat. Hätte die Unterſuchung bis auf die Gegenwart fortgeführt werden können, ſo würde ſich für die Zeit nach 1867 ohne Zweifel ein noch ſtärkeres Hervortreten der aus Dörfern ſtammenden Geſellen er - geben haben.

In der ſtädtiſchen Zuwanderung der Gegenwart ſcheint wieder eine ähnliche Miſchung von Stadt und Land Platz gegriffen zu haben, wie wir ſie für das XV. Jahrhundert feſtgeſtellt haben1)Es können hier nur die einfachſten Reſultate dieſer Unter - ſuchungen gegeben werden. Das Nähere wolle man in meiner Be - völkerung des Kantons Baſel-Stadt am 1. Dez. 1888 , S. 62 ff.. Von je 100 Perſonen der auswärts geborenen Bevölkerung hatten

294
Städte:Zählungsjahrſtädtiſche Geburtsorte:ländliche Geburtsorte:
Leipzig188550,649,4
Baſel188823,576,5

Und ähnlich wie im Mittelalter nimmt das ſtädtiſche Element mit der Entfernung der Geburtsorte von dem Ziel der Wanderung relativ zu und das ländliche in gleichem Maße ab. Die verſchiedenen Bevölkerungsklaſſen weiſen in dieſer Hinſicht nur geringe Unterſchiede auf. Im all - gemeinen haben die Berufsarten, welche eine beſondere Ausbildung erfordern, eine ſtärkere Beimiſchung ſtädtiſcher Elemente als die Gebiete der gemeinen Handarbeit.

Es iſt ſehr zu bedauern, daß ähnliche ſtatiſtiſche Un - terſuchungen nicht für eine größere Zahl moderner Städte durchgeführt worden ſind. Aus dem, was bis jetzt vor - liegt, ſcheint der Schluß gezogen werden zu müſſen, daß die Zahl der Zuwanderer ſtädtiſcher Herkunft in den Groß - ſtädten relativ größer iſt als in den Mittel - und Klein - ſtädten1)Außer der vorhin erwähnten Arbeit für Leipzig liefert eine ſoeben erſchienene eingehende Darſtellung der Zu - und Abwan - derung von Frankfurt a. M. i. J. 1891, welche Dr. Bleicher in den Beitr. zur Statiſtik der St. Frkf. II, S. 29 ff. veröffentlicht hat, für dieſe Thatſache intereſſante Aufſchlüſſe.. Die Erklärung dieſer Erſcheinung liegt nahe. 1)nachleſen. Außerdem ſei auf Haſſe’s Ergebniſſe der Volkszählung vom 1. Dez. 1885 in d. Stadt Leipzig, II. Teil, S. 7 ff. verwieſen. Die höhere Ziffer der ländlichen Zuwanderung für Baſel erklärt ſich daraus, daß bei der betr. Aufſtellung die Grenze zwiſchen Stadt und Land erſt bei 3000 Einwohnern gezogen worden iſt.295Eine Großſtadt übt auf die Bevölkerung der kleineren Städte dieſelbe Anziehungskraft aus wie die letzteren auf die Bevölkerung des platten Landes. Die Uebergänge aus einem Sozial - und Wirtſchaftskreiſe in den andern geſtalten ſich auf dieſe Weiſe weniger ſchroff, und es findet ſo eine allmähliche Hebung der wandernden Maſſen und eine von Generation zu Generation fortſchreitende Vorbereitung für die Anforderungen des großſtädtiſchen Lebens ſtatt, welche im Bereiche des letzteren die unvermeidlichen Anpaſſungs - kämpfe mildern muß.

Wenn die Städte nach dem Geſagten heute einen ähn - lichen Neuverteilungsprozeß der Bevölkerung zum Ausdruck bringen, wie er ſich bereits einmal im Mittelalter vollzogen hat, ſo iſt die Aehnlichkeit zwiſchen beiden Vorgängen doch nur eine äußerliche. Handelte es ſich im XIV. und XV. Jahrhundert um die letzten Stadien einer Entwickelung, deren Endziel die Ausbildung zahlreicher kleiner autonomer Wirtſchaftsgebiete war, von denen eines dem andern in harmoniſcher Ausgeſtaltung der Produktion durchaus ähnlich war, ſo handelt es ſich im XIX. Jahrhundert um eine ſteigende Differenzierung der einzelnen Wohnplätze, ent - ſprechend den Zwecken eines größeren Ganzen: der ſtaatlich geordneten Volkswirtſchaft.

Dieſer Prozeß beginnt mit der Ausbildung des mo - dernen Staates und der modernen Staatsverwaltung. Während bis dahin jede Stadt alle Zweige des ſtädtiſchen Lebens in ſich ausgebildet hatte, ſoweit dieſelben nicht von296 der natürlichen Lage abhängig waren, wird jetzt die eine Stadt zur ſtehenden Reſidenz des Fürſten, andere werden zu Sitzen von Bezirks - und Provinzialverwaltungen, von Gefängniſſen, höheren Unterrichtsanſtalten und allerlei Spe - zialverwaltungen, andere zu Garniſonſtädten, Grenzfeſtungen, Meßplätzen, Badeorten, Knotenpunkten des Verkehrs u. ſ. w. Sie übernehmen beſtimmte Funktionen für das ganze Land und für alle anderen Städte; aber dieſe Funktionen ſind nicht immer ſpezifiſch ſtädtiſcher Natur. Sie können auch an ländliche Wohnplätze ſich anknüpfen. Namentlich tritt dies hervor ſeit der Ausbildung der modernen Großin - duſtrie und ſeit der außerordentlichen Vermehrung und Vervollkommnung der Verkehrsmittel. Von da ab ſucht die geſamte nationale Produktion ſich über das Wirtſchafts - gebiet ſo zu verteilen, daß jeder Zweig derſelben den für ihn günſtigſten Standort gewinnt. Es entſtehen Fabrik - und Hausinduſtriebezirke, indem einzelne Thäler und ganze Gegenden ein halb ſtädtiſches Weſen annehmen. Einzelne Städte bringen ſpezielle Induſtrie - und Handelszweige zu einer das örtliche, ja oft das nationale Bedürfnis weit überragenden Entfaltung. In anderen wieder verkümmert alle Induſtrie und Handelsthätigkeit; ſie ſinken auf das Niveau von Dörfern herunter, und das hiſtoriſche Stadt - recht, das ſich an ihre Namen knüpft, tritt in ſchneidenden Widerſpruch zu ihrem Nahrungsſtand, ihrer Bevölkerungs - zahl. Die Unterſchiede zwiſchen Stadt und Land verwiſchen ſich: in der Nähe der aufblühenden Induſtrie-Städte durch297 die Hinausſchiebung der Gewerbeanlagen und Arbeiter - wohnungen in die Vor - und Außenorte, in der Nähe der ſinkenden Ackerſtädte durch Annäherung der letzteren an die umliegenden Landorte und durch das Aufkommen volk - reicher Induſtriedörfer. Im Ganzen aber iſt heute die Zahl der Bevölkerungszentren und der Zielpunkte für die inneren Wanderungen relativ eine weit geringere als in der zweiten Hälfte des Mittelalters1)Das Deutſche Reich hatte 1890 im Ganzen 2285 Städte. Darunter waren 26 mit mehr als 100000 E., 22 mit 50 100000 E., 104 mit 20 50000 E. und 169 mit 10 20000 E. Außerdem gab es aber 56 Dörfer und vorörtliche Gemeinden mit 10 50000 E., darunter 11 mit mehr als 20000 E. Wie tief die alten Städte zum Teil heruntergekommen ſind, zeigen folgende Notizen über das Großherzogtum Baden. Dort zählte man 1885: 114 Städte , darunter nur 63 mit mehr als 2000 und 9 mit mehr als 10000 Einw. Von den übrigen 51 Städten hatten 42: 1 2000 E., 4: 500 bis 1000 und 5: unter 500 E. (darunter Kleinlaufenburg 441, Neufrei - ſtett 427, Blumenfeld 349, Fürſtenberg 341, Hauenſtein 157). Auf eine Stadt entfielen im Durchſchnitt 14 Dörfer. Dagegen hatten im Ganzen 129 Gemeinden mehr als 2000 Einwohner, und es waren darunter 66 Dörfer. Von den alten Städten entſprechen ſomit nur noch 55 % dem modernen Stadtbegriff, und von den Dörfern ſind 4 % ſtatiſtiſch zu den Städten zu rechnen..

Aber noch in einem anderen Punkte unterſcheidet ſich die Neuverteilung der Bevölkerung, welche durch die inneren Wanderungen der Gegenwart hervorgebracht wird, von derjenigen welche unſere Vorfahren vom X. bis zum XV. Jahrhundert erlebten. In Folge der größeren Sicherheit des Lebensunterhaltes und einer umfaſſenden Fürſorge für298 die Geſundheit des Volkes iſt die Volksvermehrung heute eine raſchere und ſtetigere als im Mittelalter. Sie bleibt bewahrt von jenen ſchweren Rückſchlägen, welche Mißernten, Seuchen, Hungersnöte damals ſo häufig hervorbrachten. Die Wanderungen nach den großen Städten und Induſtrie - bezirken ſaugen darum vielfach nur einen Bevölkerungs - überſchuß auf, der an den Orten wo er entſtanden iſt, nicht Nahrungsſpielraum genug finden würde. Sie ver - langſamen an dieſen Stellen die Verdichtung der Be - völkerung oder hindern ſie vollſtändig, während auf der anderen Seite in den Agglomerationspunkten ſich ihrer fortgeſetzten raſchen Vermehrung wirtſchaftliche Hinderniſſe nicht entgegenſetzen. Im Mittelalter dagegen verteilte ſich die Zuwanderung auf eine außerordentlich große Zahl über das ganze Land in gewiſſen Abſtänden zerſtreuter um - mauerter Wohnplätze. Sie dauerte überall nur ſo lange, bis eine Stadt voll war. Hatte ſie ſo viel Einwohner, als ſie zur Beſetzung ihrer Mauern und Türme und zur Füllung aller Nahrungszweige brauchte, ſo konnten andere nicht mehr Platz finden. Stadterweiterungen ſind aller - dings auch im Mittelalter vielfach vorgekommen; ſie hängen mit der zunehmenden Berufsbildung und Berufsteilung zu - ſammen; aber Großſtädte hat das Mittelalter nicht aus - gebildet und bei ſeiner Wirtſchafts - und Verkehrsordnung nicht ausbilden können. Es hat dem Lande oftmals die Bevölkerung entzogen, die es zur Bebauung des Bodens bedurfte, um dann doch bei den häufigen großen Be -299 völkerungsverluſten die Einwohnerzahl der Städte nur ſtabil zu erhalten.

Nach dem Geſagten muß es ungewiß bleiben, ob die inneren Wanderungen, welche die Ausbildung der mittel - alterlichen Stadtwirtſchaft begleiteten, verhältnismäßig zahl - reicher geweſen ſind als die entſprechenden räumlichen Be - wegungen und Verſchiebungen der Bevölkerung, welche heute die volkswirtſchaftliche Geſtaltung des Niederlaſſungs - weſens hervorruft. Dagegen ſteht außer Zweifel, daß die Anziehungskraft, welche die modernen Großſtädte auf die Bevölkerung der kleinen Städte und des Landes ausüben, räumlich in weiteren Kreiſen zu verſpüren iſt, als die An - ziehungskraft der mittelalterlichen Städte auf ihre Um - gebung. Man wird jedoch nicht behaupten dürfen, daß das Rekrutierungsgebiet der Bevölkerung einer Stadt ſeit dem Beginn der neuen Zeit ſich in geradem Verhältnis zu ihrer Einwohnerzahl weiter ausgedehnt hat. Im Gegen - teile muß es unſer Staunen erregen, wie wenig die Ver - vollkommnung unſerer Verkehrsmittel und die Einführung der Freizügigkeit auf das Erſtreckungsgebiet der regelmäßigen inneren Wanderungen Einfluß geübt hat.

Einige Zahlen werden das veranſchaulichen. Von je 100 der zugewanderten Bevölkerung waren gekommen aus einer Entfernung von (Tab. ſ. folgende Seite!)

300
Städte:Bevölkerungs - gruppe:Zeit:0 2 Meilen:2 10 Meilen:über 10 Meilen:
FrankfurtNeubürgerXIV. Ihrh.46,739,314,0
XV. 23,152,724,2
Metallarb.XV. u. XVI. Jahrh.2,745,052,3
Oldenburg
  • auswärts ge - borene Einw.
188021,842,136,1
Baſel188816,750,233,1
Handwksgeſ.13,940,046,1
Fabrikarb.17,159,623,3.

Von den hier unterſchiedenen drei Zonen der Zu - wanderung hat bei der Geſamtbevölkerung die äußerſte in der Gegenwart ein größeres, die innerſte ein geringeres Gewicht als im Mittelalter. Es beruht dies jedoch vermutlich allein auf dem Umſtande, daß gegen - wärtig die Bevölkerung der näheren Umgebung einer Stadt von den Vorteilen des ſtädtiſchen Arbeitsmarktes Nutzen zieht, ohne in der Stadt Wohnſitz zu nehmen, ſei es daß ſie mit Arbeiterzügen oder andern bequemen Verkehrsge - legenheiten ſich täglich nach den ſtädtiſchen Arbeitsſtellen begibt, ſei es daß die ſtädtiſche Großinduſtrie in den Nach - barorten ihre Betriebsſtätten aufſchlägt. Das Zuwande - rungsgebiet der Handwerksgeſellen hat ſich gegen das Mittelalter eher verengert als erweitert, was damit zuſammenhängt, daß dieſe Arbeiterklaſſe ſich jetzt zu drei Vierteln vom Lande rekrutiert, während am Ende des Mittelalters noch nicht ein Viertel derſelben aus Dörfern301 und Flecken ſtammte. Von den Geſellen der Frankfurter Metallhandwerker im XV. und XVI. Jahrhundert hatten nur 20,7 % ihre Heimat auf dem Lande; von den Basler Bäckern und Metzgern dagegen hatten 1888: 78,7 %, von den übrigen Handwerksgeſellen 75,2 % ländliche Geburts - orte. Immerhin wandern die Handwerksgeſellen auch jetzt noch in weit größerer Zahl und auf größere Entfernungen als die typiſche Arbeiterkategorie der Gegenwart, die Fa - brikarbeiter. Von den Basler Fabrikarbeitern waren 1888: 25,8 %, von den Handwerksgeſellen nur 16,3 % in der Stadt ſelbſt geboren. Wie viele von ihnen in der nächſten Umgebung geboren und anſäßig waren, iſt leider nicht ermittelt worden. Aber die ganze neuere Induſtrie - entwickelung läuft darauf hinaus, einen feſten Arbeiterſtand heranzuziehen, der ſchon jetzt wegen der frühzeitigen Ver - heiratung viel weniger beweglich iſt als die Geſellen des alten Handwerks und der in Zukunft zweifellos ebenſo feſt an der Fabrik haften wird, wie der hörige Arbeiterſtand des mittelalterlichen Großgrundbeſitzes an der Scholle haf - tete1)Der Bau von Arbeiterwohnungen durch die großen Unter - nehmungen, mögen ſie in das Eigentum der Arbeiter übergehen oder an dieſelben vermietet werden, erzeugt ſchon jetzt eine Art Fabrik - hörigkeit, welche mit der alten Grundhörigkeit eine verzweifelte Aehnlichkeit hat. Vgl. meinen Aufſatz über die belgiſche Sozialge - ſetzgebung in Brauns Archiv f. ſoz. Geſetzg. u. Stat. IV, S. 484 f.. Wenn wir gegenwärtig dies weniger bemerken, ſo rührt dies daher, daß bis jetzt die meiſten Großinduſtrien das Ziel ihres Wachstums noch nicht erreicht haben und302 daß ſie, ſo lange ſie ihre Anlagen noch ausdehnen, den Mehrbedarf an Arbeitern durch weitere Heranziehung des Bevölkerungsüberſchuſſes aus den Landbezirken decken müſſen.

Aus dem Geſagten ergibt ſich, daß von einer ſteigen - den Mobiliſierung der Geſellſchaft als Folge der Schaffung eines dichten Verkehrsnetzes und der Erfindung vollkom - mener Verkehrsmittel nicht die Rede ſein kann. Wir be - finden uns vielmehr in einer Uebergangsperiode, in welcher die noch nicht vollendete Umwandlung der ſtädtiſchen und territorialen Wirtſchaftsordnung in eine nationale fortge - ſetzte Verſchiebungen der Grenzen der Arbeitsteilung und der Standorte der einzelnen Produktionszweige nach ſich zieht und damit auch Verſchiebungen der arbeitenden Bevölkerung.

Nach einer jahrhundertelangen Periode wirtſchaftlicher und ſozialer Verknöcherung, in welcher Umzugs - und Nieder - laſſungsbeſchränkungen jeder Art die Bevölkerung an den von den Vorfahren eingenommenen Sitzen feſthielten, haben die territorialen Maſſenbewegungen der Gegenwart für Viele etwas Beängſtigendes. Sie erſcheinen leicht als Rück - fall in die Urzeit der allgemeinen Wanderung. Aber man überſieht dabei, daß nur ein Teil der Bevölkerung mobiler geworden iſt: die Landbewohner, von denen eine große Zahl bis in den Beginn dieſes Jahrhunderts an die Scholle gefeſſelt war. Der Kaufmann, der Handwerker, der Ge - lehrte iſt heute weit weniger beweglich als etwa in der Reformationszeit, und die Induſtriearbeiter wandern heute verhältnismäßig ſeltener und auf kürzere Entfernungen als303 noch im vorigen Jahrhundert. Nur ihre Zahl iſt viel größer geworden; ſie iſt fortwährend noch in der Ver - mehrung begriffen, und dieſes Wachstum der Induſtrie rückt die Landarbeiter zum Teil von ihrer gewohnten Stelle, an der ſie nichts feſthält als das Intereſſe derjenigen, welche von ihrer Hilfloſigkeit Nutzen ziehen. Aus dem ferneren Verlauf dieſer Bewegung dürfte ſich vielleicht ſchon nach wenigen Jahrzehnten ergeben, daß die Menſchheit im Ganzen doch im Laufe ihrer Entwicklung ſeßhafter geworden iſt.

Wir dürfen darum abſchließend ſagen: In dem maſſen - haften Zudrang zu den Städten und ihren Vororten er - leben wir heute wieder, was unſere Vorfahren in der zweiten Hälfte des Mittelalters ſchon einmal erlebt haben: den Uebergang zu einer neuen Wirtſchafts -, Sozial - und Nie - derlaſſungsordnung. Leitete damals jene Bewegung die Periode der Stadtwirtſchaft und der ſcharfen Trennung von Stadt und Land ein, ſo iſt auch diejenige Bewegung, in der wir uns jetzt befinden, das äußere Zeichen, daß wir in eine neue Entwickelungsperiode eingetreten ſind: die Periode organiſcher Geſtaltung des Niederlaſſungs - weſens, die Periode der nationalen Arbeitsteilung und volkswirtſchaftlichen Güterverſorgung, in welcher die Un - terſchiede zwiſchen ſtädtiſchen und ländlichen Wohnplätzen durch zahlreiche Uebergangsbildungen ausgeglichen werden. Die Statiſtik hat dies längſt anerkannt, indem ſie den hi - ſtoriſch-rechtlichen Stadtbegriff fallen gelaſſen und einen304 ſtatiſtiſchen an die Stelle geſetzt hat, der die Wohnplätze nur noch nach der Einwohnerzahl unterſcheidet.

Jedes Uebergangszeitalter führt ſeine Unbequemlich - keiten und Schmerzen mit ſich. Aber auch die moderne Bewegung der Bevölkerung, ſoweit ſie ſich in dem Zu - drang zu den Städten ausprägt, wird, wie die mittelalterliche, ihr Ziel erreichen und dann zur Ruhe kommen. Dieſes Ziel aber kann kein anderes ſein als das: jeder einzelnen Kraft und jeder örtlichen Gruppe von Menſchen diejenige Stelle und diejenige Rolle in dem Ganzen des nationalen Lebens und der nationalen Wirtſchaft anzuweiſen, wo ſie nach ihrer Veranlagung und unter den veränderten techniſchen Bedingungen der Wirtſchaft am meiſten beitragen kann zum allgemeinen Beſten.

So dürfen wir auch aus der Betrachtung der inneren Wanderungen, trotz ihrer vielfach unerfreulichen Begleit - erſcheinungen, die Gewißheit ſchöpfen, daß auch ſie im großen Ganzen einen Fortſchritt bedeuten zu höheren, beſſeren Formen des ſozialen Daſeins, und zwar ebenſowohl für den Einzelnen als auch für die Geſamtheit.

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TextDie Entstehung der Volkswirtschaft
Author Karl Bücher
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Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

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Bibliographic informationDie Entstehung der Volkswirtschaft Sechs Vorträge Karl Bücher. . VI, 304 S. LauppTübingen1893.

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ClassificationFachtext; Ökonomie; Wissenschaft; Ökonomie; core; ready; china

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