Das Uebersetzungsrecht ist vorbehalten.
Um mir alle die möglichen Bedenklichkeiten, Aufregungen und Missverständnisse ferne zu halten, zu denen die in dieser Schrift vereinigten Gedanken bei dem eigenthümlichen Charakter unserer ästhe¬ tischen Oeffentlichkeit Anlass geben werden, und um auch die Einleitungsworte zu derselben mit der glei¬ chen beschaulichen Wonne schreiben zu können, deren Zeichen sie selbst, als das Petrefact guter und er¬ hebender Stunden, auf jedem Blatte trägt, vergegen¬ wärtige ich mir den Augenblick, in dem Sie, mein hochverehrter Freund, diese Schrift empfangen wer¬ den: wie Sie, vielleicht nach einer abendlichen Wan¬ derung im Winterschnee, den entfesselten Prometheus auf dem Titelblatte betrachten, meinen Namen lesen und sofort überzeugt sind, dass, mag in dieser Schrift stehen, was da wolle, der Verfasser etwas Ernstes und Eindringliches zu sagen hat, ebenfalls dass er, bei allem, was er sich erdachte, mit Ihnen wie mit einem Gegenwärtigen verkehrte und nur etwas dieser Gegenwart Entsprechendes niederschreiben durfte. Sie werden dabei sich erinnern, dass ich zu gleicher—IV— Zeit, als Ihre herrliche Festschrift über Beethoven entstand, das heisst in den Schrecken und Erhaben¬ heiten des eben ausgebrochnen Krieges mich zu die¬ sen Gedanken sammelte. Doch würden diejenigen irren, welche etwa bei dieser Sammlung an den Ge¬ gensatz von patriotischer Erregung und ästhetischer Schwelgerei, von tapferem Ernst und heiterem Spiel denken sollten: denen möchte vielmehr, bei einem wirklichen Lesen dieser Schrift, zu ihrem Erstaunen deutlich werden, mit welchem ernsthaft deutschen Problem wir zu thun haben, das von uns recht eigentlich in die Mitte deutscher Hoffnungen, als einen » Wirbel ihres Seins «, hingestellt wird. Viel¬ leicht aber wird es für eben dieselben überhaupt an¬ stössig sein, ein ästhetisches Problem so ernst zu nehmen, falls sie nämlich in der Kunst nicht mehr als ein lustiges Nebenbei, als ein auch wohl zu missendes Schellengeklingel zum » Ernst des Daseins « zu erkennen im Stande sind: als ob Niemand wüsste, was es bei dieser Gegenüberstellung mit einem sol¬ chen » Ernste des Daseins « auf sich habe. Diesen Ernsthaften diene zur Belehrung, dass ich von der Kunst als der höchsten Aufgabe und der eigentlich metaphysischen Thätigkeit dieses Lebens im Sinne des Mannes überzeugt bin, dem ich hier, als meinem erhabenen Vorkämpfer auf dieser Bahn, diese Schrift gewidmet haben will.
Wir werden viel für die ästhetische Wissenschaft gewonnen haben, wenn wir nicht nur zur logischen Einsicht, sondern zur unmittelbaren Sicherheit der Anschauung gekommen sind, dass die Fortentwickelung der Kunst an die Duplicität des Apollinischen und des Dionysischen gebunden ist: in ähnlicher Weise, wie die Generation von der Zweiheit der Geschlechter, bei fortwährendem Kampfe und nur periodisch eintretender Versöhnung, abhängt. Diese Namen entlehnen wir von den Griechen, welche die tiefsinnigen Geheimlehren ihrer Kunst¬ anschauung zwar nicht in Begriffen, aber in den eindringlich deutlichen Gestalten ihrer Götterwelt dem Einsichtigen ver¬ nehmbar machen. An ihre beiden Kunstgottheiten, Apollo und Dionysus, knüpft sich unsere Erkenntniss, dass in der griechischen Kunst ein Stilgegensatz besteht; zwei verschiedene Triebe gehen in ihr neben einander her, zumeist im Zwiespalt mit einander und sich gegenseitig zu immer neuen kräftigeren Geburten reizend, um in ihnen den Kampf jenes Gegensatzes zu perpetuiren: bis sie endlich, im Blüthemoment des helle¬ nischen » Willens «, zu gemeinsamer Erzeugung des Kunst¬ werkes der attischen Tragödie verschmolzen erscheinen.
Um uns jene beiden Triebe näher zu bringen, denken wir sie uns zunächst als die getrennten Kunstwelten des Traumes und des Rausches; zwischen welchen physiologischen Erscheinungen ein analoger Gegensatz, wie zwischen dem Apollinischen und dem Dionysischen zu bemerken ist. ImNietzsche, Geburt der Tragödie. 1—2—Traume traten zuerst, nach der Vorstellung des Lucretius, die herrlichen Göttergestalten vor die Seelen der Menschen, im Traume sah der grosse Bildner den entzückenden Glieder¬ bau übermenschlicher Wesen, im Traume erfuhr der helle¬ nische Dichter an sich, was ein tiefes Epigramm Friedrich Hebbels mit diesen Worten ausspricht:
Der schöne Schein der Traumwelten, in deren Erzeugung jeder Mensch voller Künstler ist, ist die Voraussetzung aller bildenden Kunst, ja auch, wie wir sehen werden, einer wich¬ tigen Hälfte der Poesie. Wir geniessen im unmittelbaren Verständnisse der Gestalt, alle Formen sprechen zu uns, es giebt nichts Gleichgültiges und Unnöthiges. Bei dem höch¬ sten Leben dieser Traumwirklichkeit haben wir doch noch die durchschimmernde Empfindung ihres Scheins: wenigstens ist dies meine Erfahrung, für deren Häufigkeit, ja Normalität, ich manches Zeugniss und die Aussprüche der Dichter beizu¬ bringen hätte. Wo diese Scheinempfindung völlig aufhört, beginnen die krankhaften und pathologischen Wirkungen, in denen die heilende Naturkraft der Traumzustände nachlässt. Innerhalb jener Grenze aber sind es nicht etwa nur die an¬ genehmen und freundlichen Bilder, die wir mit jener All¬ verständigkeit an uns erfahren: auch das Ernste, Trübe, Traurige, Finstere, die plötzlichen Hemmungen, die Necke¬ reien des Zufalls, die bänglichen Erwartungen, kurz die ganze » göttliche Komödie « des Lebens, mit dem Inferno, zieht an uns vorbei, nicht nur wie ein Schattenspiel — denn wir leben und leiden mit in diesen Scenen — und doch auch nicht ohne jene flüchtige Empfindung des Scheins: ja ich—3— erinnere mich, in den Gefährlichkeiten und Schrecken des Traumes mir mitunter ermuthigend und mit Erfolg zugerufen zu haben: » Es ist ein Traum! Ich will ihn weiter träumen! « Wie man mir auch von Personen erzählt hat, die die Cau¬ salität eines und desselben Traumes über drei und mehr aufeinanderfolgende Nächte hin fortzusetzen im Stande waren: als welche Thatsachen deutlich Zeugniss dafür abgeben, dass unser innerstes Wesen, der gemeinsame Untergrund von uns allen, mit tiefer Lust und freudiger Nothwendigkeit den Traum an sich erfährt.
Diese freudige Nothwendigkeit der Traumerfahrung ist gleichfalls von den Griechen in ihrem Apollo ausgedrückt worden: Apollo als der Gott der Traumesvorstellungen ist zugleich der wahrsagende und künstlerische Gott. Er, der seiner Wurzel nach der » Scheinende «, die Lichtgottheit ist, beherrscht auch den schönen Schein der Traumwelt. Die höhere Wahrheit, die Vollkommenheit dieser Zustände im Gegensatz zu der lückenhaft verständlichen Tageswirklich¬ keit, sodann das tiefe Bewusstsein von der in Schlaf und Traum heilenden und helfenden Natur ist zugleich das sym¬ bolische Analogon der wahrsagenden Fähigkeit und über¬ haupt der Kunst, durch die das Leben lebenswerth und die Zukunft zur Gegenwart gemacht wird. Aber auch jene zarte Linie, die das Traumbild nicht überschreiten darf, um nicht pathologisch zu wirken, widrigenfalls der Schein nicht nur täuschen, sondern betrügen würde — darf nicht im Bilde des Apollo fehlen: jene maassvolle Begrenzung, jene Freiheit von den wilderen Regungen, jene weisheitsvolle Ruhe des Bildnergottes. Sein Auge muss » sonnenhaft «, gemäss seinem Ursprunge, sein; auch wenn es zürnt und unmuthig blickt, liegt die Weihe des schönen Scheines auf ihm. Und so möchte von Apollo in einem excentrischen Sinne das gelten, was unser grosser Schopenhauer von dem im Schleier der1*—4—Maja befangenen Menschen sagt. Welt als Wille und Vor¬ stellung I S. 416: » Wie auf dem tobenden Meere, das, nach allen Seiten unbegränzt, heulend Wellenberge erhebt und senkt, auf einem Kahn ein Schiffer sitzt, dem schwachen Fahrzeug vertrauend; so sitzt, mitten in einer Welt von Qualen, ruhig der einzelne Mensch, gestützt und vertrauend auf das principium individuationis «. Ja es wäre von Apollo zu sagen, dass in ihm das unwankende Vertrauen auf jenes principium und das ruhige Dasitzen des in ihm Befangenen seinen erhabensten Ausdruck bekommen habe, und man möchte selbst Apollo als das herrliche Götterbild des prin¬ cipii individuationis bezeichnen, aus dessen Gebärden und Blicken die ganze Lust und Weisheit des » Scheines «, sammt seiner Schönheit, zu uns spräche.
An derselben Stelle hat uns Schopenhauer das ungeheure Grausen geschildert, welches den Menschen ergreift, wenn er plötzlich an den Erkenntnissformen der Erscheinung irre wird, indem der Satz vom Grunde, in irgend einer seiner Gestal¬ tungen, eine Ausnahme zu erleiden scheint. Wenn wir zu diesem Grausen die wonnevolle Verzückung hinzunehmen, die bei demselben Zerbrechen des principii individuationis aus dem innersten Grunde des Menschen, ja der Natur emporsteigt, so thun wir einen Blick in das Wesen des Dionysischen, das uns am nächsten noch durch die Analogie des Rausches gebracht wird. Entweder durch den Einfluss des narkotischen Getränkes, von dem alle ursprünglichen Menschen und Völker in Hymnen sprechen, oder bei dem gewaltigen, die ganze Natur lustvoll durchdringenden Nahen des Frühlings erwachen jene dionysischen Regungen, in deren Steigerung das Subjective zu völliger Selbstvergessenheit hin¬ schwindet. Auch im deutschen Mittelalter wälzten sich unter der gleichen dionysischen Gewalt immer wachsende Schaaren, singend und tanzend, von Ort zu Ort: in diesen Sanct¬—5— Johann - und Sanct-Veittänzern erkennen wir die bacchischen Chöre der Griechen wieder, mit ihrer Vorgeschichte in Klein¬ asien, bis hin zu Babylon und den orgiastischen Sakäen. Es ist nicht rathsam, sich von solchen Erscheinungen wie von » Volkskrankheiten «, spöttisch oder bedauernd im Gefühl der eigenen Gesundheit abzuwenden: man giebt damit eben zu verstehen, dass man » gesund « ist, und dass die an einem Waldesrande sitzenden Musen, mit Dionysus in ihrer Mitte, erschreckt in das Gebüsch, ja in die Wellen des Meeres flüchten, wenn so ein gesunder » Meister Zettel « plötzlich vor ihnen erscheint.
Unter dem Zauber des Dionysischen schliesst sich nicht nur der Bund zwischen Mensch und Mensch wieder zusammen: auch die entfremdete, feindliche oder unterjochte Natur feiert wieder ihr Versöhnungsfest mit ihrem verlorenen Sohne, dem Menschen. Freiwillig beut die Erde ihre Gaben, und fried¬ fertig nahen die Raubthiere der Felsen und der Wüste. Mit Blumen und Kränzen ist der Wagen des Dionysus über¬ schüttet: unter seinem Joche schreiten Panther und Tiger. Man verwandele das Beethoven'sche Jubellied der » Freude « in ein Gemälde und bleibe mit seiner Einbildungskraft nicht zurück, wenn die Millionen schauervoll in den Staub sinken: so kann man sich dem Dionysischen nähern. Jetzt ist der Sclave freier Mann, jetzt zerbrechen alle die starren, feind¬ seligen Abgrenzungen, die Noth, Willkür oder » freche Mode « zwischen den Menschen festgesetzt haben. Jetzt, bei dem Evangelium der Weltenharmonie, fühlt sich Jeder mit seinem Nächsten nicht nur vereinigt, versöhnt, verschmolzen, son¬ dern eins, als ob der Schleier der Maja zerrissen wäre und nur noch in Fetzen vor dem geheimnissvollen Ur-Einen herumflattere. Singend und tanzend äussert sich der Mensch als Mitglied einer höheren Gemeinsamkeit: er hat das Gehen und das Sprechen verlernt und ist auf dem Wege, tanzend—6— in die Lüfte emporzufliegen. Aus seinen Gebärden spricht die Verzauberung. Wie jetzt die Thiere reden, und die Erde Milch und Honig giebt, so tönt auch aus ihm etwas Ueber¬ natürliches: als Gott fühlt er sich, er selbst wandelt jetzt so verzückt und erhoben, wie er die Götter im Traume wan¬ deln sah. Der Mensch ist nicht mehr Künstler, er ist Kunst¬ werk geworden: die Kunstgewalt der ganzen Natur, zur höchsten Wonnebefriedigung des Ur-Einen, offenbart sich hier unter den Schauern des Rausches. Der edelste Thon, der kostbarste Marmor wird hier geknetet und behauen, der Mensch, und zu den Meisselschlägen des dionysischen Welten¬ künstlers tönt der eleusinische Mysterienruf: » Ihr stürzt nie¬ der, Millionen! «
Wir haben bis jetzt das Apollinische und seinen Gegen¬ satz, das Dionysische, als künstlerische Mächte betrachtet, die aus der Natur selbst, ohne Vermittelung des menschlichen Künstlers, hervorbrechen, und in denen sich ihre Kunsttriebe zunächst und auf directem Wege befriedigen: einmal als die Bilderwelt des Traumes, deren Vollkommenheit ohne jeden Zusammenhang mit der intellectuellen Höhe oder künst¬ lerischen Bildung des Einzelnen ist, andererseits als rausch¬ volle Wirklichkeit, die wiederum des Einzelnen nicht achtet, sondern sogar das Individuum zu vernichten und durch eine mystische Einheitsempfindung zu erlösen sucht. Diesen un¬ mittelbaren Kunstzuständen der Natur gegenüber ist jeder Künstler » Nachahmer «, und zwar entweder apollinischer Traumkünstler oder dionysischer Rauschkünstler oder end¬ lich — wie beispielsweise in der griechischen Tragödie — zugleich Rausch - und Traumkünstler: als welchen wir uns etwa zu denken haben, wie er, in der dionysischen—7— Trunkenheit und mystischen Selbstentäusserung, einsam und abseits von den schwärmenden Chören niedersinkt und wie sich ihm nun, durch apollinische Traumeinwirkung, sein eigener Zustand d. h. seine Einheit mit dem innersten Grunde der Welt in einem gleichnissartigen Traumbilde offenbart.
Nach diesen allgemeinen Voraussetzungen und Gegen¬ überstellungen nahen wir uns jetzt den Griechen, um zu erkennen, in welchem Grade und bis zu welcher Höhe jene Kunsttriebe der Natur in ihnen entwickelt gewesen sind: wodurch wir in den Stand gesetzt werden, das Verhältniss des griechischen Künstlers zu seinen Urbildern, oder, nach dem aristotelischen Ausdrucke, » die Nachahmung der Natur « tiefer zu verstehn und zu würdigen. Von den Träumen der Griechen ist trotz aller Traumlitteratur derselben und zahl¬ reichen Traumanecdoten nur vermuthungsweise, aber doch mit ziemlicher Sicherheit zu sprechen: bei der unglaublich bestimmten und sicheren plastischen Befähigung ihres Auges, sammt ihrer hellen und aufrichtigen Farbenlust, wird man sich nicht entbrechen können, zur Beschämung aller Später¬ geborenen, auch für ihre Träume eine logische Causalität der Linien und Umrisse, Farben und Gruppen, eine ihren besten Reliefs ähnelnde Folge der Scenen vorauszusetzen, deren Vollkommenheit uns, wenn eine Vergleichung möglich wäre, gewiss berechtigen würde, die Griechen als träumende Homere und Homer als einen träumenden Griechen zu be¬ zeichnen: in einem tieferen Sinne als wenn der moderne Mensch sich hinsichtlich seines Traumes mit Shakespeare zu vergleichen wagt.
Dagegen brauchen wir nicht nur vermuthungsweise zu sprechen, wenn die ungeheure Kluft aufgedeckt werden soll, welche die dionysischen Griechen von den dionysischen Bar¬ baren trennt. Aus allen Enden der alten Welt — um die neuere hier bei Seite zu lassen — von Rom bis Babylon—8— können wir die Existenz dionysischer Feste nachweisen, deren Typus sich, besten Falls, zu dem Typus der griechischen verhält, wie der bärtige bocksbeinige Satyr zu Dionysus selbst. Fast überall lag das Centrum dieser Feste in einer überschwänglichen geschlechtlichen Zuchtlosigkeit, deren Wel¬ len über jedes Familienthum und dessen ehrwürdige Satzungen hinweg flutheten; gerade die wildesten Bestien der Natur wurden hier entfesselt, bis zu jener abscheulichen Mischung von Wollust und Grausamkeit, die mir immer als der eigent¬ liche » Hexentrank « erschienen ist. Gegen die fieberhaften Regungen jener Feste, deren Kenntniss auf allen Land - und Seewegen zu den Griechen drang, waren sie, scheint es, eine Zeit lang völlig gesichert und geschützt durch die hier in seinem ganzen Stolz sich aufrichtende Gestalt des Apollo, der das Medusenhaupt keiner gefährlicheren Macht entgegen¬ halten konnte als dieser fratzenhaft ungeschlachten diony¬ sischen. Es ist die dorische Kunst, in der sich jene maje¬ stätisch-ablehnende Haltung des Apollo verewigt hat. Be¬ denklicher und sogar unmöglich wurde dieser Widerstand, als endlich aus der tiefsten Wurzel des Hellenischen heraus sich ähnliche Triebe Bahn brachen: jetzt beschränkte sich das Wirken des delphischen Gottes darauf, dem gewaltigen Gegner durch eine zur rechten Zeit abgeschlossene Versöh¬ nung die vernichtenden Waffen aus der Hand zu nehmen. Diese Versöhnung ist der wichtigste Moment in der Ge¬ schichte des griechischen Cultus: wohin man blickt, sind die Umwälzungen dieses Ereignisses sichtbar. Es war die Ver¬ söhnung zweier Gegner, mit scharfer Bestimmung ihrer von jetzt ab einzuhaltenden Grenzlinien und mit periodischer Uebersendung von Ehrengeschenken; im Grunde war die Kluft nicht überbrückt. Sehen wir aber, wie sich unter dem Drucke jenes Friedensschlusses die dionysische Macht offen¬ barte, so erkennen wir jetzt, im Vergleiche mit jenen baby¬—9— Ionischen Sakäen und ihrem Rückschritte des Menschen zum Tiger und Affen, in den dionysischen Orgien der Griechen die Bedeutung von Welterlösungsfesten und Verklärungstagen. Erst bei ihnen erreicht die Natur ihren künstlerischen Jubel, erst bei ihnen wird die Zerreissung des principii individua¬ tionis ein künstlerisches Phänomen. Jener scheussliche Hexen¬ trank aus Wollust und Grausamkeit war hier ohne Kraft: nur die wundersame Mischung und Doppelheit in den Affec¬ ten der dionysischen Schwärmer erinnert an ihn — wie Heilmittel an tödtliche Gifte erinnern — ‚ jene Erscheinung, dass Schmerzen Lust erwecken, dass der Jubel der Brust qualvolle Töne entreisst. Aus der höchsten Freude tönt der Schrei des Entsetzens oder der sehnende Klagelaut über einen unersetzlichen Verlust. In jenen griechischen Festen bricht gleichsam ein sentimentalischer Zug der Natur hervor, als ob sie über ihre Zerstückelung in Individuen zu seufzen habe. Der Gesang und die Gebärdensprache solcher zwie¬ fach gestimmter Schwärmer war für die homerisch-griechische Welt etwas Neues und Unerhörtes: und insbesondere erregte ihr die dionysische Musik Schrecken und Grausen. Wenn die Musik bereits als apollinische Kunst bekannt war, so war sie dies doch nur, genau genommen, als Wellenschlag des Rhythmus, dessen bildnerische Kraft zur Darstellung apolli¬ nischer Zustände entwickelt wurde. Die Musik des Apollo war dorische Architektonik in Tönen, aber in nur angedeu¬ teten Tönen, wie sie der Kithara zu eigen sind. Behutsam ist gerade das Element, als unapollinisch, ferngehalten, das den Charakter der dionysischen Musik und damit der Musik überhaupt ausmacht, die erschütternde Gewalt des Tones und die durchaus unvergleichliche Welt der Harmonie. Im dionysischen Dithyrambus wird der Mensch zur höchsten Steigerung aller seiner symbolischen Fähigkeiten gereizt; etwas Nieempfundenes drängt sich zur Aeusserung, die Ver¬—10— nichtung des Schleiers der Maja, das Einssein als Genius der Gattung, ja der Natur. Jetzt soll sich das Wesen der Natur symbolisch ausdrücken; eine neue Welt der Symbole ist nöthig, einmal die ganze leibliche Symbolik, nicht nur die Symbolik des Mundes, des Gesichts, des Wortes, sondern die volle, alle Glieder rhythmisch bewegende Tanzgebärde. Sodann wachsen die anderen symbolischen Kräfte, die der Musik, in Rhythmik, Dynamik und Harmonie, plötzlich unge¬ stüm. Um diese Gesammtentfesselung aller symbolischen Kräfte zu fassen, muss der Mensch bereits auf jener Höhe der Selbstentäusserung angelangt sein, die in jenen Kräften sich symbolisch aussprechen will: der dithyrambische Diony¬ susdiener wird somit nur von Seinesgleichen verstanden! Mit welchem Erstaunen musste der apollinische Grieche auf ihn blicken! Mit einem Erstaunen, das um so grösser war, als sich ihm das Grausen beimischte, dass ihm jenes Alles doch eigentlich so fremd nicht sei, ja dass sein apollinisches Bewusstsein nur wie ein Schleier diese dionysische Welt vor ihm verdecke.
Um dies zu begreifen, müssen wir jenes kunstvolle Ge¬ bäude der apollinischen Cultur gleichsam Stein um Stein abtragen, bis wir die Fundamente erblicken, auf die es be¬ gründet ist. Hier gewahren wir nun zuerst die herrlichen olympischen Göttergestalten, die auf Dach und Giebel dieses Gebäudes stehen, und deren Thaten in weithin leuchtenden Reliefs dargestellt Fries und Wände desselben zieren. Wenn unter ihnen auch Apollo steht, als eine einzelne Gottheit neben anderen und ohne den Anspruch einer ersten Stellung, so dürfen wir uns dadurch nicht beirren lassen. Derselbe Trieb, der sich in Apollo versinnlichte, hat überhaupt jene—11— ganze olympische Welt geboren, und in diesem Sinne darf uns Apollo als Vater derselben gelten. Welches war das ungeheure Bedürfniss, aus dem eine so leuchtende Gesellschaft olympischer Wesen entsprang?
Wer, mit einer anderen Religion im Herzen, an diese Olympier herantritt und nun nach sittlicher Höhe, ja Heilig¬ keit, nach unleiblicher Vergeistigung, nach erbarmungsvollen Liebesblicken bei ihnen sucht, der wird unmuthig und ent¬ täuscht ihnen bald den Rücken kehren müssen. Hier erinnert nichts an Askese, Geistigkeit und Pflicht: hier redet nur ein üppiges, ja triumphirendes Dasein zu uns, in dem alles Vor¬ handene vergöttlicht ist, gleichviel ob es gut oder böse ist. Und so mag der Beschauer recht betroffen vor diesem phan¬ tastischen Ueberschwang des Lebens stehn, um sich zu fra¬ gen, mit welchem Zaubertrank im Leibe diese übermüthigen Menschen das Leben genossen haben mögen, dass, wohin sie sehen, Helena, das » in süsser Sinnlichkeit schwebende « Idealbild ihrer eignen Existenz, ihnen entgegenlacht. Diesem bereits rückwärts gewandten Beschauer müssen wir aber zurufen: » Geh 'nicht von dannen, sondern höre erst, was die griechische Volksweisheit von diesem selben Leben aus¬ sagt, das sich hier mit so unerklärlicher Heiterkeit vor dir ausbreitet. Es geht die alte Sage, dass König Midas lange Zeit nach dem weisen Silen, dem Begleiter des Dionysus, im Walde gejagt habe, ohne ihn zu fangen. Als er ihm endlich in die Hände gefallen ist, fragt der König, was für den Menschen das Allerbeste und Allervorzüglichste sei. Starr und unbeweglich schweigt der Dämon; bis er, durch den König gezwungen, endlich unter gellem Lachen in diese Worte ausbricht: » Elendes Eintagsgeschlecht, des Zufalls Kin¬ der und der Mühsal, was zwingst du mich dir zu sagen, was nicht zu hören für dich das Erspriesslichste ist? Das Aller¬ beste ist für dich gänzlich unerreichbar: nicht geboren zu—12— sein, nicht zu sein, nichts zu sein. Das Zweitbeste aber ist für dich — bald zu sterben «.
Wie verhält sich zu dieser Volksweisheit die olympische Götterwelt? Wie die entzückungsreiche Vision des gefolter¬ ten Märtyrers zu seinen Peinigungen.
Jetzt öffnet sich uns gleichsam der olympische Zauber¬ berg und zeigt uns seine Wurzeln. Der Grieche kannte und empfand die Schrecken und Entsetzlichkeiten des Daseins: um überhaupt leben zu können, musste er vor sie hin die glänzende Traumgeburt der Olympischen stellen. Jenes un¬ geheure Misstrauen gegen die titanischen Mächte der Natur, jene über allen Erkenntnissen erbarmungslos thronende Moira, jener Geier des grossen Menschenfreundes Prometheus, jenes Schreckensloos des weisen Oedipus, jener Geschlechtsfluch der Atriden, der Orest zum Muttermorde zwingt, jene Gor¬ gonen und Medusen, kurz jene ganze Philosophie des Wald¬ gottes, sammt ihren mythischen Exempeln, an der die schwermüthigen Etrurier zu Grunde gegangen sind — wurde von den Griechen durch jene künstlerische Mittelwelt der Olympier überwunden, jedenfalls verhüllt und dem Anblick entzogen. Um leben zu können, mussten die Griechen diese Götter, aus tiefster Nöthigung, schaffen: welchen Hergang wir uns wohl so vorzustellen haben, dass aus der ursprüng¬ lichen titanischen Götterordnung des Schreckens durch jenen apollinischen Schönheitstrieb in langsamen Uebergängen die olympische Götterordnung der Freude entwickelt wurde: wie Rosen aus dornigem Gebüsch hervorbrechen. Wie anders hätte jenes unendlich sensible, zum Leiden so einzig befähigte Volk das Dasein ertragen können, wenn ihm nicht dasselbe, von einer höheren Glorie umflossen, in seinen Göttern gezeigt worden wäre. Derselbe Trieb, der die Kunst in's Leben ruft, als die zum Weiterleben verführende Ergän¬ zung und Vollendung des Daseins, liess auch die olympische—13— Welt entstehn, in der sich der hellenische » Wille « einen verklärenden Spiegel vorhielt. So rechtfertigen die Götter das Menschenleben, indem sie es selbst leben — die allein genügende Theodicee! Das Dasein unter dem hellen Sonnen¬ scheine solcher Götter wird als das an sich Erstrebenswerthe empfunden, und der eigentliche Schmerz der homerischen Menschen bezieht sich auf das Abscheiden aus ihm, vor allem auf das baldige Abscheiden: so dass man jetzt von ihnen, mit Umkehrung der silenischen Weisheit, sagen könnte, » das Allerschlimmste sei für sie, bald zu sterben, das Zweit¬ schlimmste, überhaupt einmal zu sterben «. Wenn die Klage einmal ertönt, so klingt sie wieder vom kurzlebenden Achilles, von dem blättergleichen Wechsel und Wandel des Menschengeschlechts, von dem Untergang der Heroenzeit. Es ist des grössten Helden nicht unwürdig, sich nach dem Weiterleben zu sehnen, sei es selbst als Tagelöhner. So ungestüm verlangt, auf der apollinischen Stufe, der » Wille « nach diesem Dasein, so eins fühlt sich der homerische Mensch mit ihm, dass selbst die Klage zu seinem Preisliede wird.
Hier muss nun ausgesprochen werden, dass diese von den neueren Menschen so sehnsüchtig angeschaute Harmonie, ja Einheit des Menschen mit der Natur, für die Schiller das Kunstwort » naiv « in Geltung gebracht hat, keinesfalls ein so einfacher, sich von selbst ergebender, gleichsam unvermeid¬ licher Zustand ist, dem wir an der Pforte jeder Cultur, als einem Paradies der Menschheit begegnen müssten: dies konnte nur eine Zeit glauben, die den Emil Rousseau's sich auch als Künstler zu denken suchte und in Homer einen solchen am Herzen der Natur erzogenen Künstler Emil ge¬ funden zu haben wähnte. Wo uns das » Naive « in der Kunst begegnet, haben wir die höchste Wirkung der apollinischen Cultur zu erkennen: als welche immer erst ein Titanenreich—14— zu stürzen und Ungethüme zu tödten hat und durch kräftige Wahnvorspiegelungen und lustvolle Illusionen über eine schreckliche Tiefe der Weltbetrachtung und reizbarste Lei¬ densfähigkeit Sieger geworden sein muss. Ach, wie selten wird das Naive, jenes völlige Verschlungensein in der Schön¬ heit des Scheines, erreicht! Wie unaussprechbar erhaben ist deshalb Homer, der sich, als Einzelner, zu jener apolli¬ nischen Volkscultur verhält, wie der einzelne Traumkünstler zur Traumbefähigung des Volks und der Natur überhaupt. Die homerische » Naivetät « ist nur als der vollkommene Sieg der apollinischen Illusion zu begreifen: es ist dies eine solche Illusion, wie sie die Natur, zur Erreichung ihrer Absichten, so häufig verwendet. Das wahre Ziel wird durch ein Wahn¬ bild verdeckt: nach diesem strecken wir die Hände aus, und jenes erreicht die Natur durch unsre Täuschung. In den Griechen wollte der » Wille « sich selbst, in der Verklärung des Genius und der Kunstwelt, anschauen; um sich zu verherr¬ lichen, mussten seine Geschöpfe sich selbst als verherrlichens¬ werth empfinden, sie mussten sich in einer höheren Sphäre wiedersehn, ohne dass diese vollendete Welt der Anschauung als Imperativ oder als Vorwurf wirkte. Dies ist die Sphäre der Schönheit, in der sie ihre Spiegelbilder, die Olympischen, sahen. Mit dieser Schönheitsspiegelung kämpfte der helle¬ nische » Wille « gegen das dem künstlerischen correlative Talent zum Leiden und zur Weisheit des Leidens: und als Denkmal seines Sieges steht Homer vor uns, der naive Künstler.
Ueber diesen naiven Künstler giebt uns die Traum¬ analogie einige Belehrung. Wenn wir uns den Träumenden vergegenwärtigen, wie er, mitten in der Illusion der Traum¬ welt und ohne sie zu stören, sich zuruft: » es ist ein Traum,—15— ich will ihn weiter träumen «, wenn wir hieraus auf eine tiefe innere Lust des Traumanschauens zu schliessen haben, wenn wir andererseits, um überhaupt mit dieser inneren Lust am Schauen träumen zu können, den Tag und seine schreckliche Zudringlichkeit völlig vergessen haben müssen: so dürfen wir uns alle diese Erscheinungen etwa in folgender Weise unter der Leitung des traumdeutenden Apollo, interpretiren. So gewiss von den beiden Hälften des Lebens, der wachen und der träumenden Hälfte, uns die erstere als die ungleich bevorzugtere, wichtigere, würdigere, lebenswerthere, ja allein gelebte dünkt: so möchte ich doch, bei allem Anscheine einer Paradoxie, für jenen geheimnissvollen Grund unsers Wesens, dessen Erscheinung wir sind, gerade die entgegen¬ gesetzte Werthschätzung des Traumes behaupten. Je mehr ich nämlich in der Natur jene allgewaltigen Kunsttriebe und in ihnen eine inbrünstige Sehnsucht zum Schein, zum Erlöst¬ werden durch den Schein gewahr werde, um so mehr fühle ich mich zu der metaphysischen Annahme gedrängt, dass das Wahrhaft-Seiende und Ur-Eine, als das ewig Leidende und Widerspruchsvolle, zugleich die entzückende Vision, den lustvollen Schein, zu seiner steten Erlösung braucht: wel¬ chen Schein wir, völlig in ihm befangen und aus ihm be¬ stehend, als das Wahrhaft-Nichtseiende d. h. als ein fort¬ währendes Werden in Zeit, Raum und Causalität, mit anderen Worten, als empirische Realität zu empfinden genöthigt sind. Sehen wir also einmal von unsrer eignen » Realität « für einen Augenblick ab, fassen wir unser empirisches Dasein, wie das der Welt überhaupt, als eine in jedem Moment erzeugte Vorstellung des Ur-Einen, so muss uns jetzt der Traum als der Schein des Scheins, somit als eine noch höhere Befrie¬ digung der Urbegierde nach dem Schein hin gelten. Aus diesem selben Grunde hat der innerste Kern der Natur jene unbeschreibliche Lust an dem naiven Künstler und dem—16— naiven Kunstwerke, das gleichfalls nur » Schein des Scheins « ist. Rafael, selbst einer jener unsterblichen » Naiven «, hat uns in einem gleichnissartigen Gemälde jenes Depotenziren des Scheins zum Schein, den Urprozess des naiven Künstlers und zugleich der apollinischen Cultur, dargestellt. In seiner Transfiguration zeigt uns die untere Hälfte, mit dem be¬ sessenen Knaben, den verzweifelnden Trägern, den rathlos geängstigten Jüngern, die Wiederspiegelung des ewigen Ur¬ schmerzes, des einzigen Grundes der Welt: der » Schein « ist hier Wiederschein des ewigen Widerspruchs, des Vaters der Dinge. Aus diesem Schein steigt nun, wie ein ambrosischer Duft, eine visionsgleiche neue Scheinwelt empor, von der jene im ersten Schein Befangenen nichts sehen — ein leuch¬ tendes Schweben in reinster Wonne und schmerzlosem, aus weiten Augen strahlenden Anschauen. Hier haben wir, in höchster Kunstsymbolik, jene apollinische Schönheitswelt und ihren Untergrund, die schreckliche Weisheit des Silen, vor unseren Blicken und begreifen, durch Intuition, ihre gegen¬ seitige Nothwendigkeit. Apollo aber tritt uns wiederum als die Vergöttlichung des principii individuationis entgegen, in dem allein das ewig erreichte Ziel des Ur-Einen, seine Er¬ lösung durch den Schein, sich vollzieht: er zeigt uns, mit erhabensten Gebärden, wie die ganze Welt der Qual nöthig ist, damit durch sie der Einzelne zur Erzeugung der er¬ lösenden Vision gedrängt werde und dann, ins Anschauen versunken, ruhig auf seinem schwankenden Kahne, inmitten des Meeres, sitze.
Diese Vergöttlichung der Individuation kennt, wenn sie überhaupt imperativisch und Vorschriften gebend gedacht wird, nur ein Gesetz, das Individuum d. h. die Einhaltung der Grenzen des Individuums, das Maass im hellenischen Sinne. Apollo, als ethische Gottheit, fordert von den Seinigen das Maass und, um es einhalten zu können,—17— Selbstkenntniss. Und so läuft neben der ästhetischen Noth¬ wendigkeit der Schönheit die Forderung des » Erkenne dich selbst « und des » Nicht zu viel! « her, während Selbstüber¬ hebung und Uebermaass als die eigentlich feindseligen Dä¬ monen der nicht-apollinischen Sphäre, daher als Eigenschaften der vor-apollinischen Zeit, des Titanenzeitalters, und der ausser-apollinischen Welt d. h. der Barbarenwelt, erachtet wurden. Seiner titanenhaften Liebe zu den Menschen wegen musste Prometheus von den Geiern zerrissen werden, seiner übermässigen Weisheit halber, die das Räthsel der Sphinx löste, musste Oedipus in einen verwirrenden Strudel von Unthaten stürzen: so interpretirte der delphische Gott die griechische Vergangenheit.
» Titanenhaft « und » barbarisch « dünkte dem apollinischen Griechen auch die Wirkung, die das Dionysische erregte: ohne dabei sich verhehlen zu können, dass er selbst doch zugleich auch innerlich mit jenen gestürzten Titanen und Heroen verwandt sei. Ja er musste noch mehr empfinden: sein ganzes Dasein mit aller Schönheit und Mässigung ruhte auf einem verhüllten Untergrunde des Leidens und der Er¬ kenntniss, der ihm wieder durch jenes Dionysische aufgedeckt wurde. Und siehe! Apollo konnte nicht ohne Dionysus leben! Das » Titanische « und das » Barbarische « war zuletzt eine eben solche Nothwendigkeit als das Apollinische! Und nun denken wir uns, wie in diese auf den Schein und die Mässigung gebaute und künstlich gedämmte Welt der eksta¬ tische Ton der Dionysusfeier in immer lockenderen Zauber¬ weisen hineinklang, wie in diesen das ganze Uebermaass der Natur in Lust, Leid und Erkenntniss, bis zum durchdrin¬ genden Schrei, laut wurde: denken wir uns, was diesem dämonischen Volksgesange gegenüber der psalmodirende Künstler des Apollo, mit dem gespensterhaften Harfenklang, bedeuten konnte! Die Musen der Künste des » Scheins «Nietzsche, Geburt der Tragödie. 2—18—verblassten vor einer Kunst, die in ihrem Rausche die Wahrheit sprach, die Weisheit des Silen rief Wehe! Wehe! aus gegen die heiteren Olympier. Das Individuum, mit all seinen Grenzen und Maassen, ging hier in der Selbstver¬ gessenheit der dionysischen Zustände unter und vergass die apollinischen Satzungen. Das Uebermaass enthüllte sich als Wahrheit, der Widerspruch, die aus Schmerzen geborene Wonne sprach von sich aus dem Herzen der Natur heraus. Und so war, überall dort, wo das Dionysische durchdrang, das Apollinische aufgehoben und vernichtet. Aber eben so gewiss ist, dass dort, wo der erste Ansturm ausgehalten wurde, das Ansehen und die Majestät des delphischen Gottes starrer und drohender als je sich äusserte. Ich vermag näm¬ lich den dorischen Staat und die dorische Kunst mir nur als ein fortgesetztes Kriegslager des Apollinischen zu erklären: nur in einem unausgesetzten Widerstreben gegen das titanisch¬ barbarische Dionysusthum konnte eine so trotzig-spröde, mit Bollwerken umschlossene Kunst, eine so kriegsgemässe und herbe Erziehung, ein so grausames und rücksichtsloses Staats¬ wesen von längerer Dauer sein.
Bis zu diesem Punkte ist des Weiteren ausgeführt worden, was ich am Eingange dieser Abhandlung bemerkte: wie das Dionysische und das Apollinische in auf einander folgenden Geburten, und sich gegenseitig steigernd das hellenische Wesen beherrscht haben: wie aus dem » erzenen « Zeitalter, mit seinen Titanenkämpfen und seiner herben Volksphilosophie, sich unter dem Walten des apollinischen Schönheitstriebes, die homerische Welt entwickelt, wie diese » naive « Herrlich¬ keit wieder von dem einbrechenden Strome des Dionysischen verschlungen wird, und wie dieser neuen Macht gegenüber sich das Apollinische zur starren Majestät der dorischen Kunst und Weltbetrachtung erhebt. Wenn auf diese Weise die ältere helle¬ nische Geschichte, im Kampf jener zwei feindseligen Principien,—19— in vier grosse Kunstperioden zerfällt: so sind wir jetzt gedrängt, weiter nach dem letzten Plane dieses Werdens und Treibens zu fragen, falls uns nicht etwa die letzterreichte Periode, die der dorischen Kunst, als die Spitze und Absicht jener Kunst¬ triebe gelten sollte: und hier bietet sich unseren Blicken das erhabene und hochgepriesene Kunstwerk der attischen Tragödie und des dramatischen Dithyrambus, als das gemeinsame Ziel beider Triebe, deren geheimnissvolles Ehebündniss, nach lan¬ gem vorhergehenden Kampfe, sich in einem solchen Kinde — das zugleich Antigone und Kassandra ist — verherrlicht hat.
Wir nahen uns jetzt dem eigentlichen Ziele unsrer Unter¬ suchung, die auf die Erkenntniss des dionysisch-apollinischen Genius und seines Kunstwerkes, wenigstens auf das ahnungs¬ volle Verständniss jenes Einheitsmysteriums gerichtet ist. Hier fragen wir nun zuerst, wo jener springende Lebenspunkt sich zuerst in der hellenischen Welt bemerkbar macht, der sich nachher bis zur Tragödie und zum dramatischen Dithyrambus steigert. Hierüber giebt uns das Alterthum selbst bildlich Aufschluss, wenn es als die Urväter und Fackelträger der griechischen Dichtung Homer und Archilochus auf Bildwerken, Gemmen u. s. w. neben einander stellt, in der sicheren Em¬ pfindung, dass nur diese Beiden gleich völlig originalen Na¬ turen, von denen aus ein Feuerstrom auf die gesammte griechische Nachwelt fortfliesse, zu erachten seien. Homer, der in sich versunkene greise Träumer, der Typus des apol¬ linischen, naiven Künstlers, sieht nun staunend den leiden¬ schaftlichen Kopf des wild durch's Dasein getriebenen krie¬ gerischen Musendieners Archilochus: und die neuere Aesthetik wusste nur deutend hinzuzufügen, dass hier dem » objectiven «2*—20—Künstler der erste » subjective « entgegengestellt sei. Uns ist mit dieser Deutung wenig gedient, weil wir den subjectiven Künstler nur als schlechten Künstler kennen und in jeder Art und Höhe der Kunst vor allem und zuerst Besiegung des Subjectiven, Erlösung vom » Ich « und Stillschweigen jedes individuellen Willens und Gelüstens fordern, ja ohne Ob¬ jectivität, ohne reines interesseloses Anschauen nie an die geringste wahrhaft künstlerische Erzeugung glauben können. Darum muss unsre Aesthetik erst jenes Problem lösen, wie der » Lyriker « als Künstler möglich ist: er, der, nach der Erfahrung aller Zeiten, immer » ich « sagt und die ganze chro¬ matische Tonleiter seiner Leidenschaften und Begehrungen vor uns absingt. Gerade dieser Archilochus erschreckt uns, neben Homer, durch den Schrei seines Hasses und Hohnes, durch die trunknen Ausbrüche seiner Begierde; ist er, der erste subjectiv genannte Künstler, nicht damit der eigentliche Nichtkünstler? Woher aber dann die Verehrung, die ihm, dem Dichter, gerade auch das delphiſche Orakel, der Herd der » objectiven « Kunst, in sehr merkwürdigen Aussprüchen erwiesen hat?
Ueber den Prozess seines Dichtens hat uns Schiller durch eine ihm selbst unerklärliche, doch nicht bedenklich scheinende psychologische Beobachtung Licht gebracht; er gesteht nämlich als den vorbereitenden Zustand vor dem Actus des Dichtens nicht etwa eine Reihe von Bildern, mit geordneter Causalität der Gedanken, vor ſich und in ſich gehabt zu haben, sondern vielmehr eine musikalische Stimmung (» Die Empfindung ist bei mir anfangs ohne bestimmten und klaren Gegenstand; dieser bildet sich erst später. Eine gewisse musikalische Gemüthsstimmung geht vorher, und auf diese folgt bei mir erst die poetische Idee «). Nehmen wir jetzt das wichtigste Phänomen der ganzen antiken Lyrik hinzu, die überall als natürlich geltende Vereinigung, ja Identität des Lyrikers mit—21— dem Musiker — der gegenüber unsre neuere Lyrik wie ein Götterbild ohne Kopf erscheint — so können wir jetzt, auf Grund unsrer früher dargestellten aesthetischen Metaphysik, uns in folgender Weise den Lyriker erklären. Er ist zuerst, als dionysischer Künstler, gänzlich mit dem Ur-Einen, seinem Schmerz und Widerspruch, eins geworden und producirt das Abbild dieses Ur-Einen als Musik, die wir eine Wiederholung der Welt und einen zweiten Abguss derselben genannt haben; jetzt aber wird diese Musik ihm wieder wie in einem gleich¬ nissartigen Traumbilde, unter der apollinischen Traumein¬ wirkung sichtbar. Jener bild - und begrifflose Wiederschein des Urschmerzes in der Musik, mit seiner Erlösung im Scheine, erzeugt jetzt eine zweite Spiegelung, als einzelnes Gleichniss oder Exempel. Seine Subjectivität hat der Künstler bereits in dem dionysischen Prozess aufgegeben: das Bild, das ihm jetzt seine Einheit mit dem Herzen der Welt zeigt, ist eine Traumscene, die jenen Urwiderspruch und Urschmerz, sammt der Urlust des Scheines, versinnlicht. Das » Ich « des Lyrikers tönt also aus dem Abgrunde des Seins: seine » Subjectivität « im Sinne der neueren Aesthetiker ist eine Einbildung. Wenn Archilochus, der erste Lyriker der Griechen, seine rasende Liebe und zugleich seine Verachtung den Töchtern des Ly¬ kambes kundgiebt, so ist es nicht seine Leidenschaft, die vor uns in orgiastischem Taumel tanzt: wir sehen Dionysus und die Mänaden, wir sehen den berauschten Schwärmer Archilochus zum Schlafe niedergesunken — wie ihn uns Euri¬ pides in den Bacchen beschreibt, den Schlaf auf hoher Alpen¬ trift, in der Mittagssonne —: und jetzt tritt Apollo an ihn heran und berührt ihn mit dem Lorbeer. Die dionysisch¬ musikalische Verzauberung des Schläfers sprüht jetzt gleich¬ sam Bilderfunken um sich, lyrische Gedichte, die in ihrer höchsten Entfaltung Tragödien und dramatische Dithyramben heissen.
—22—Der Plastiker und zugleich der ihm verwandte Epiker ist in das reine Anschauen der Bilder versunken. Der diony¬ sische Musiker ist ohne jedes Bild völlig nur selbst Urschmerz und Urwiederklang desselben. Der lyrische Genius fühlt aus dem mystischen Selbstentäusserungs - und Einheitszustande eine Bilder - und Gleichnisswelt hervorwachsen, die eine ganz andere Färbung, Causalität und Schnelligkeit hat als jene Welt des Plastikers und Epikers. Während der Letztge¬ nannte in diesen Bildern und nur in ihnen mit freudigem Be¬ hagen lebt und nicht müde wird, sie bis auf die kleinsten Züge hin liebevoll anzuschauen, während selbst das Bild des zürnenden Achilles für ihn nur ein Bild ist, dessen zürnenden Ausdruck er mit jener Traumlust am Scheine geniesst — so dass er, durch diesen Spiegel des Scheines, gegen das Eins¬ werden und Zusammenschmelzen mit seinen Gestalten ge¬ schützt ist —. so sind dagegen die Bilder des Lyrikers nichts als er selbst und gleichsam nur verschiedene Objectivationen von ihm, weshalb er als bewegender Mittelpunkt jener Welt » ich « sagen darf: nur ist diese Ichheit nicht dieselbe, wie die des wachen, empirisch-realen Menschen, sondern die ein¬ zige überhaupt wahrhaft seiende und ewige, im Grunde der Dinge ruhende Ichheit, durch deren Abbilder der lyrische Genius bis auf jenen Grund der Dinge hindurchsieht. Nun denken wir uns einmal, wie er unter diesen Abbildern auch sich selbst als Nichtgenius erblickt d. h. sein » Subject «, das ganze Gewühl subjectiver, auf ein bestimmtes, ihm real dün¬ kendes Ding gerichteter Leidenschaften und Willensregungen; wenn es jetzt scheint als ob der lyrische Genius und der mit ihm verbundene Nichtgenius eins wäre und als ob der Erstere von sich selbst jenes Wörtchen » ich « spräche, so wird uns jetzt dieser Schein nicht mehr verführen können, wie er aller¬ dings diejenigen verführt hat, die den Lyriker als den sub¬ jectiven Dichter bezeichnet haben. In Wahrheit ist Archi¬—23— lochus, der leidenschaftlich entbrannte liebende und hassende Mensch nur eine Vision des Genius, der bereits nicht mehr Archilochus, sondern Weltgenius ist und der seinen Urschmerz in jenem Gleichnisse vom Menschen Archilochus symbolisch ausspricht: während jener subjectiv wollende und begehrende Mensch Archilochus überhaupt nie und nimmer Dichter sein kann. Es ist aber gar nicht nöthig. dass der Lyriker gerade nur das Phänomen des Menschen Archilochus vor sich sieht als Wiederschein des ewigen Seins: und die Tra¬ gödie beweist, wie weit sich die Visionswelt des Lyrikers von jenem allerdings zunächst stehenden Phänomen ent¬ fernen kann.
Schopenhauer, der sich die Schwierigkeit, die der Lyriker für die philosophische Kunstbetrachtung macht, nicht verhehlt hat, glaubt einen Ausweg gefunden zu haben, den ich nicht mit ihm gehen kann, während ihm allein, in seiner tiefsinnigen Metaphysik der Musik, das Mittel in die Hand gegeben war, mit dem jene Schwierigkeit entscheidend beseitigt werden konnte: wie ich dies, in seinem Geiste und zu seiner Ehre hier gethan zu haben glaube. Dagegen bezeichnet er als das eigenthümliche Wesen des Liedes Folgendes (Welt als Wille und Vorstellung I S. 295): » Es ist das Subject des Willens, d. h. das eigene Wollen, was das Bewusstsein des Singenden füllt, oft als ein entbundenes, befriedigtes Wollen Freude), wohl noch öfter aber als ein gehemmtes (Trauer), immer als Affect, Leidenschaft, bewegter Gemüthszustand. Neben die¬ sem jedoch und zugleich damit wird durch den Anblick der umgebenden Natur der Singende sich seiner bewusst als Sub¬ jects des reinen, willenlosen Erkennens, dessen unerschütter¬ liche, selige Ruhe nunmehr in Contrast tritt mit dem Drange des immer beschränkten, immer noch dürftigen Wollens: die Empfindung dieses Contrastes, dieses Wechselspieles ist eigent¬ lich, was sich im Ganzen des Liedes ausspricht und was über¬—24— haupt den lyrischen Zustand ausmacht. In diesem tritt gleich¬ sam das reine Erkennen zu uns heran, um uns vom Wollen und seinem Drange zu erlösen: wir folgen: doch nur auf Augenblicke: immer von Neuem entreisst das Wollen, die Erinnerung an unsere persönlichen Zwecke, uns der ruhigen Beschauung: aber auch immer wieder entlockt uns dem Wollen die nächste schöne Umgebung, in welcher sich die reine willenlose Erkenntniss uns darbietet. Darum geht im Liede und der lyrischen Stimmung das Wollen (das persön¬ liche Interesse des Zwecks) und das reine Anschauen der sich darbietenden Umgebung wundersam gemischt durch einander: es werden Beziehungen zwischen beiden gesucht und imagi¬ nirt; die subjective Stimmung, die Affection des Willens, theilt der angeschauten Umgebung und diese wiederum jener ihre Farbe im Reflex mit: von diesem ganzen so gemischten und getheilten Gemüthszustande ist das ächte Lied der Abdruck «.
Wer vermöchte in dieser Schilderung zu verkennen, dass hier die Lyrik als eine unvollkommen erreichte, gleichsam im Sprunge und selten zum Ziele kommende Kunst charak¬ terisirt wird, ja als eine Halbkunst, deren Wesen darin be¬ stehen solle, dass das Wollen und das reine Anschauen d. h. der unaesthetische und der aesthetische Zustand wundersam durch einander gemischt seien? Wir behaupten vielmehr, dass der ganze Gegensatz, nach dem wie nach einem Werthmesser auch noch Schopenhauer die Künste eintheilt, der des Sub¬ jectiven und des Objectiven, überhaupt in der Aesthetik ungehörig ist, da das Subject, das wollende und seine egoi¬ stischen Zwecke fördernde Individuum nur als Gegner, nicht als Ursprung der Kunst gedacht werden kann. Insofern aber das Subject Künstler ist, ist es bereits von seinem indivi¬ duellen Willen erlöst und gleichsam Medium geworden, durch das hindurch das eine wahrhaft seiende Subject seine Er¬—25— lösung im Scheine feiert. Denn dies muss uns vor allem, zu unserer Erniedrigung und Erhöhung, deutlich sein, dass die ganze Kunstkomödie durchaus nicht für uns, etwa unsrer Besserung und Bildung wegen, aufgeführt wird, ja dass wir ebensowenig die eigentlichen Schöpfer jener Kunstwelt sind: wohl aber dürfen wir von uns selbst annehmen, dass wir für den wahren Schöpfer derselben schon Bilder und künstlerische Projectionen sind und in der Bedeutung von Kunstwerken unsre höchste Würde haben — denn nur als aesthetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt: — während freilich unser Bewusstsein über diese unsre Bedeutung kaum ein andres ist als es die auf Leinwand gemalten Krieger von der auf ihr dargestellten Schlacht haben. Somit ist unser ganzes Kunstwissen im Grunde ein völlig illusorisches, weil wir als Wissende mit jenem Wesen nicht eins und iden¬ tisch sind, das sich, als einziger Schöpfer und Zuschauer jener Kunstkomödie einen ewigen Genuss bereitet. Nur so¬ weit der Genius im Actus der künstlerischen Zeugung mit jenem Urkünstler der Welt verschmilzt, weiss er etwas über das ewige Wesen der Kunst; denn in jenem Zustande ist er, wunderbarer Weise, dem unheimlichen Bild des Mährchens gleich, das die Augen drehn und sich selber anschaun kann; jetzt ist er zugleich Subject und Object, zugleich Dichter, Acteur und Zuschauer.
Von Archilochus sagt uns die griechische Geschichte, dass er das Volkslied in die Litteratur eingeführt habe, und dass ihm, dieser That halber, jene einzige Stellung neben Homer, zukomme. Was aber ist das Volkslied im Gegen¬ satz zu dem völlig apollinischen Epos? Was anders als das perpetuum vestigium einer Vereinigung des Apollinischen und—26— des Dionysischen; seine ungeheure, über alle Völker sich erstreckende und in immer neuen Geburten sich steigernde Verbreitung ist uns ein Zeugniss dafür, wie stark jener künstlerische Doppeltrieb der Natur ist: der in analoger Weise seine Spuren im Volkslied hinterlässt, wie die orgia¬ stischen Bewegungen eines Volkes sich in seiner Musik ver¬ ewigen. Ja es müsste auch historisch nachweisbar sein, wie jede an Volksliedern reich productive Periode zugleich auf das Stärkste durch dionysische Strömungen erregt worden ist, welche wir immer als Untergrund und Voraussetzung des Volksliedes zu betrachten haben.
Das Volkslied aber gilt uns zu allernächst als musika¬ lischer Weltspiegel, als ursprüngliche Melodie, die sich jetzt eine parallele Traumerscheinung sucht und diese in der Dich¬ tung ausspricht. Die Melodie ist also das Erste und Allgemeine, das deshalb auch mehrere Objectivationen, in mehreren Texten, an sich erleiden kann. Sie ist auch das bei weitem wichtigere und nothwendigere in der naiven Schätzung des Volkes. Die Melodie gebiert die Dichtung aus sich und zwar immer wieder von Neuem: nichts Anderes will uns die Stro¬ phenform des Volksliedes sagen: welches Phänomen ich immer mit Erstaunen betrachtet habe, bis ich endlich diese Erklä¬ rung fand. Wer eine Sammlung von Volksliedern z. B. des Knaben Wunderhorn auf diese Theorie hin ansieht, der wird unzählige Beispiele finden, wie die fortwährend gebärende Melodie Bilderfunken um sich aussprüht: die in ihrer Bunt¬ heit, ihrem jähen Wechsel, ja ihrem tollen Sichüberstürzen eine dem epischen Scheine und seinem ruhigen Fortströmen wildfremde Kraft offenbaren. Vom Standpunkte des Epos ist diese ungleiche und unregelmässige Bilderwelt der Lyrik einfach zu verurtheilen: und dies haben gewiss die feierlichen epischen Rhapsoden der apollinischen Feste im Zeitalter des Terpander gethan.
—27—In der Dichtung des Volksliedes sehen wir also die Sprache auf das Stärkste angespannt, die Musik nachzuah¬ men: deshalb beginnt mit Archilochus eine neue Welt der Poesie, die der homerischen in ihrem tiefsten Grunde wider¬ spricht. Hiermit haben wir das einzig mögliche Verhältniss zwischen Poesie und Musik, Wort und Ton bezeichnet: das Wort, das Bild, der Begriff sucht einen der Musik analogen Ausdruck und erleidet jetzt die Gewalt der Musik an sich. In diesem Sinne dürfen wir in der Sprachgeschichte des griechischen Volkes zwei Hauptströmungen unterscheiden, je¬ nachdem die Sprache die Erscheinungs - und Bilderwelt oder die Musikwelt nachahmte. Man denke nur einmal tiefer über die sprachliche Differenz der Farbe, des syntaktischen Bau's, des Wortmaterial's bei Homer und Pindar nach, um die Be¬ deutung dieses Gegensatzes zu begreifen: ja es wird Einem dabei handgreiflich deutlich, dass inzwischen (zwischen Homer und Pindar) die orgiastischen Flötenweisen des Olympus er¬ klungen sein müssen, die noch im Zeitalter des Aristoteles, inmitten einer unendlich entwickelteren Musik, zu trunkner Begeisterung hinrissen und gewiss in ihrer ursprünglichen Wirkung alle dichterischen Ausdrucksmittel der gleichzeitigen Menschen zur Nachahmung aufgereizt haben. Ich erinnere hier an ein bekanntes, unserer Aesthetik nur anstössig dün¬ kendes Phänomen unserer Tage. Wir erleben es immer wieder, wie eine Beethoven'sche Symphonie die einzelnen Zuhörer zu einer Bilderrede nöthigt, sei es auch dass eine Zusammenstellung der verschiedenen, durch ein Tonstück erzeugten Bilderwelten sich recht phantastisch bunt, ja wider¬ sprechend ausnimmt: an solchen Zusammenstellungen ihren armen Witz zu üben und das doch wahrlich erklärenswerthe Phänomen zu übersehen, ist recht in der Art jener Aesthetik. Ja selbst wenn der Tondichter in Bildern über eine Compo¬ sition geredet hat, etwa wenn er eine Symphonie als pasto¬—28— rale und einen Satz als » Scene am Bach «, einen anderen als » lustiges Zusammensein der Landleute « bezeichnet, so sind das ebenfalls nur gleichnissartige, aus der Musik geborne Vorstellungen — und nicht etwa die nachgeahmten Gegen¬ stände der Musik — Vorstellungen, die über den dionysischen Inhalt der Musik uns nach keiner Seite hin belehren können, ja die keinen ausschliesslichen Werth neben anderen Bildern haben. Diesen Prozess einer Entladung der Musik in Bildern haben wir uns nun auf eine jugendfrische, sprachlich schöpfe¬ rische Volksmenge zu übertragen, um zur Ahnung zu kom¬ men, wie das strophische Volkslied entsteht, und wie das ganze Sprachvermögen durch das neue Princip der Nach¬ ahmung der Musik aufgeregt wird.
Dürfen wir also die lyrische Dichtung als die nachahmende Effulguration der Musik in Bildern und Begriffen betrachten, so können wir jetzt fragen: » als was erscheint die Musik im Spiegel der Bildlichkeit und der Begriffe? « Sie erscheint als Wille, das Wort im Schopenhauer'schen Sinne genommen, d. h. als Gegensatz der ästhetischen, rein beschaulichen willenlosen Stimmung. Hier unterscheide man nun so scharf als möglich den Begriff des Wesens von dem der Erschei¬ nung: denn die Musik kann, ihrem Wesen nach, unmöglich Wille sein, weil sie als solcher gänzlich aus dem Bereich der Kunst zu bannen wäre — denn der Wille ist das an sich Unästhetische —; aber sie erscheint als Wille. Denn um ihre Erscheinung in Bildern auszudrücken, braucht der Lyriker alle Regungen der Leidenschaft, vom Flüstern der Neigung bis zum Grollen des Wahnsinns; unter dem Triebe, in apolli¬ nischen Gleichnissen von der Musik zu reden, versteht er die ganze Natur und sich in ihr nur als das ewig Wollende, Begehrende, Sehnende. Insofern er aber die Musik in Bildern deutet, ruht er selbst in der stillen Meeresruhe der apolli¬ nischen Betrachtung, so sehr auch alles, was er durch das—29— Medium der Musik anschaut, um ihn herum in drängender und treibender Bewegung ist. Ja wenn er sich selbst durch dasselbe Medium erblickt, so zeigt sich ihm sein eignes Bild im Zustande des unbefriedigten Gefühls: sein eignes Wollen, Sehnen, Stöhnen, Jauchzen ist ihm ein Gleichniss, mit dem er die Musik sich deutet. Dies ist das Phänomen des Lyri¬ kers: als apollinischer Genius interpretirt er die Musik durch das Bild des Willens, während er selbst völlig losgelöst von der Gier des Willens, reines ungetrübtes Sonnenauge ist.
Diese ganze Erörterung hält daran fest, dass die Lyrik eben so abhängig ist vom Geiste der Musik als die Musik selbst in ihrer völligen Unumschränktheit, das Bild und den Begriff nicht braucht, sondern ihn nur neben sich erträgt. Die Dichtung des Lyrikers kann nichts aussagen, was nicht in der ungeheuersten Allgemeinheit und Allgültigkeit bereits in der Musik lag, die ihn zur Bilderrede nöthigte. Der Weltsymbolik der Musik ist eben deshalb mit der Sprache auf keine Weise erschöpfend beizukommen, weil sie sich auf den Urwiderspruch und Urschmerz im Herzen des Ur-Einen symbolisch bezieht, somit eine Sphäre symbolisirt, die über alle Erscheinung und vor aller Erscheinung ist. Ihr gegenüber ist vielmehr jede Erscheinung nur Gleichniss: daher kann die Sprache, als Organ und Symbol der Erscheinungen, nie und nirgends das tiefste Innere der Musik nach Aussen kehren, sondern bleibt immer, sobald sie sich auf Nachahmung der Musik einlässt, nur in einer äusserlichen Berührung mit der Musik, während deren tiefster Kern, durch alle lyrische Be¬ redsamkeit, uns auch keinen Schritt näher gebracht werden kann.
—30—Alle die bisher erörterten Kunstprincipien müssen wir jetzt zu Hülfe nehmen, um uns in dem Labyrinth zurecht zu finden, als welches wir den Ursprung der griechischen Tragödie bezeichnen müssen. Ich denke nichts Ungereimtes zu behaupten, wenn ich sage, dass das Problem dieses Ur¬ sprungs bis jetzt noch nicht einmal ernsthaft aufgestellt, ge¬ schweige denn gelöst ist, so oft auch die zerflatternden Fetzen der antiken Ueberlieferung schon combinatorisch an einander genäht und wieder aus einander gerissen sind. Diese Ueber¬ lieferung sagt uns mit voller Entschiedenheit, dass die Tra¬ gödie aus dem tragischen Chore entstanden ist und ursprüng¬ lich nur Chor und nichts als Chor war: woher wir die Ver¬ pflichtung nehmen, diesem tragischen Chore als dem eigent¬ lichen Urdrama in's Herz zu sehen, ohne uns an den geläu¬ figen Kunstredensarten — dass er der idealische Zuschauer sei oder das Volk gegenüber der fürstlichen Region der Scene zu bedeuten habe — irgendwie genügen zu lassen. Jener zuletzt erwähnte, für manchen Politiker erhaben klingende Erläuterungsgedanke — als ob das unwandelbare Sittenge¬ setz von den demokratischen Athenern in dem Volkschore dargestellt sei, der über die leidenschaftlichen Ausschreitungen und Ausschweifungen der Könige hinaus immer Recht be¬ halte — mag noch so sehr durch ein Wort des Aristoteles nahegelegt sein: auf die ursprüngliche Formation der Tra¬ gödie ist er ohne Einfluss, da von jenen rein religiösen Ur¬ sprüngen der ganze Gegensatz von Volk und Fürst, kurz jegliche politisch-sociale Sphäre ausgeschlossen ist; aber wir möchten es auch in Hinsicht auf die uns bekannte classische Form des Chors bei Aeschylus und Sophokles für Blasphemie erachten, hier von der Ahnung einer » constitutionellen Volks¬—31— vertretung « zu reden, vor welcher Blasphemie Andere nicht zurückgeschrocken sind. Eine constitutionelle Volksvertretung kennen die antiken Staatsverfassungen in praxi nicht und haben sie hoffentlich auch in ihrer Tragödie nicht einmal » geahnt «.
Viel berühmter als diese politische Erklärung des Chors ist der Gedanke A. W. Schlegel's, der uns den Chor ge¬ wissermaassen als den Inbegriff und Extract der Zuschauer¬ menge, als den » idealischen Zuschauer « zu betrachten an¬ empfiehlt. Diese Ansicht, zusammengehalten mit jener histo¬ rischen Ueberlieferung, dass ursprünglich die Tragödie nur Chor war, erweist sich als das was sie ist, als eine rohe unwissenschaftliche doch glänzende Behauptung, die ihren Glanz aber nur durch ihre concentrirte Form des Ausdrucks, durch die echt germanische Voreingenommenheit für Alles, was » idealisch « genannt wird und durch unser momentanes Erstauntsein erhalten hat. Wir sind nämlich erstaunt, sobald wir das uns gut bekannte Theaterpublicum mit jenem Chore vergleichen und uns fragen, ob es wohl möglich sei, aus diesem Publicum je etwas dem tragischen Chore Analoges herauszuidealisiren. Wir leugnen dies im Stillen und wundern uns jetzt eben so über die Kühnheit der Schlegel'schen Be¬ hauptung wie über die total verschiedene Natur des griechi¬ schen Publicums. Wir hatten nämlich doch immer gemeint, dass der rechte Zuschauer, er sei wer er wolle, sich immer bewusst bleiben müsse, ein Kunstwerk vor sich zu haben, nicht eine empirische Realität: während der tragische Chor der Griechen in den Gestalten der Bühne leibhafte Existenzen zu erkennen genöthigt ist. Der Okeanidenchor glaubt wirk¬ lich den Titan Prometheus vor sich zu sehen und hält sich selbst für eben so real wie den Gott der Scene. Und das sollte die höchste und reinste Art des Zuschauers sein, gleich den Okeaniden den Prometheus für leiblich vorhanden und—32— real zu halten? Und es wäre das Zeichen des idealischen Zuschauers, auf die Bühne zu laufen und den Gott von seinen Martern zu befreien? Wir hatten an ein ästhetisches Publi¬ cum geglaubt und den einzelnen Zuschauer für um so be¬ fähigter gehalten, je mehr er im Stande war, das Kunstwerk als Kunst d. h. ästhetisch zu nehmen; und jetzt deutete uns der Schlegel'sche Ausdruck an, dass der vollkommne idealische Zuschauer die Welt der Scene gar nicht ästhetisch, sondern leibhaft empirisch auf sich wirken lasse. O über diese Griechen! seufzten wir; sie werfen uns unsre Aesthetik um! Daran aber gewöhnt, wiederholten wir den Schlegel'schen Spruch, so oft der Chor zur Sprache kam.
Aber jene so ausdrückliche Ueberlieferung redet hier gegen Schlegel: der Chor an sich, ohne Bühne, also die primitive Gestalt der Tragödie und jener Chor idealischer Zuschauer vertragen sich nicht mit einander. Was wäre das für eine Kunstgattung, die aus dem Begriff des Zuschauers herausgezogen wäre, als deren eigentliche Form der » Zu¬ schauer an sich « zu gelten habe. Der Zuschauer ohne Schau¬ spiel ist ein widersinniger Begriff. Wir fürchten, dass die Geburt der Tragödie weder aus der Hochachtung vor der sittlichen Intelligenz der Masse, noch aus dem Begriff des schauspiellosen Zuschauers zu erklären sei und halten dies Problem für zu tief, um von so flachen Betrachtungsarten auch nur berührt zu werden.
Eine unendlich werthvollere Einsicht über die Bedeutung des Chors hatte bereits Schiller in der berühmten Vorrede zur Braut von Messina verrathen, der den Chor als eine lebendige Mauer betrachtete, die die Tragödie um sich herum zieht, um sich von der wirklichen Welt rein abzuschliessen und sich ihren idealen Boden und ihre poetische Freiheit zu bewahren.
Schiller kämpft mit dieser seiner Hauptwaffe gegen den ge¬ meinen Begriff des Natürlichen, gegen die bei der dramatischen—33— Poesie gemeinhin geheischte Illusion. Während der Tag selbst auf dem Theater nur ein künstlicher, die Architektur nur eine symbolische sei und die metrische Sprache einen idealen Charakter trage, herrsche immer noch der Irrthum im Gan¬ zen: es sei nicht genug, dass man das nur als eine poetische Freiheit dulde, was doch das Wesen aller Poesie sei. Die Einführung des Chores wäre der entscheidende Schritt, mit dem jedem Naturalismus in der Kunst offen und ehrlich der Krieg erklärt sei. — Eine solche Betrachtungsart ist es, scheint mir, für die unser sich überlegen wähnendes Zeitalter das wegwerfende Schlagwort » Pseudoidealismus « gebraucht. Ich fürchte, wir sind dagegen mit unserer jetzigen Verehrung des Natürlichen und Wirklichen am Gegenpol alles Idealis¬ mus angelangt, nämlich in der Region der Wachsfiguren¬ cabinette. Auch in ihnen giebt es eine Kunst, wie bei gewissen beliebten Romanen der Gegenwart: nur quäle man uns nicht mit dem Anspruch, dass mit dieser Kunst der Schiller-Goethesche » Pseudoidealismus « überwunden sei.
Freilich ist es ein » idealer « Boden, auf dem, nach der richtigen Einsicht Schillers, der griechische Satyrchor, der Chor der ursprünglichen Tragödie, zu wandeln pflegt, ein Boden hoch emporgehoben über die wirkliche Wandelbahn der Sterblichen. Der Grieche hat sich für diesen Chor die Schwebegerüste eines fingirten Naturzustandes gezimmert und auf sie hin fingirte Naturwesen gestellt. Die Tragödie ist auf diesem Fundamente emporgewachsen und freilich schon deshalb von Anbeginn an einem peinlichen Abkonterfeien der Wirklichkeit enthoben gewesen. Dabei ist es doch keine willkürlich zwischen Himmel und Erde hineinphantasirte Welt; vielmehr eine Welt von gleicher Realität und Glaubwürdig¬ keit wie sie der Olymp sammt seinen Insassen für den gläu¬ bigen Hellenen besass. Der Satyr als der dionysische Choreut lebt in einer religiös zugestandenen WirklichkeitNietzsche, Geburt der Tragödie. 3—34—unter der Sanction des Mythus und des Cultus. Dass mit ihm die Tragödie beginnt, dass aus ihm die dionysische Weisheit der Tragödie spricht, ist ein hier uns eben so be¬ fremdendes Phänomen wie überhaupt die Entstehung der Tragödie aus dem Chore. Vielleicht gewinnen wir einen Ausgangspunkt der Betrachtung, wenn ich die Behauptung hinstelle, dass sich der Satyr, das fingirte Naturwesen, zu dem Culturmenschen in gleicher Weise verhält, wie die dionysische Musik zur Civilisation. Von letzterer sagt Ri¬ chard Wagner, dass sie von der Musik aufgehoben werde wie der Lampenschein vom Tageslicht. In gleicher Weise, glaube ich, fühlte sich der griechische Culturmensch im An¬ gesicht des Satyrchors aufgehoben: und dies ist die nächste Wirkung der dionysischen Tragödie, dass der Staat und die Gesellschaft, überhaupt die Klüfte zwischen Mensch und Mensch einem übermächtigen Einheitsgefühle weichen, wel¬ ches an das Herz der Natur zurückführt. Der metaphysische Trost, — mit welchem, wie ich schon hier andeute, uns jede wahre Tragödie entlässt — dass das Leben im Grunde der Dinge, trotz allem Wechsel der Erscheinungen unzer¬ störbar mächtig und lustvoll sei, dieser Trost erscheint in leibhafter Deutlichkeit als Satyrchor, als Chor von Natur¬ wesen, die gleichsam hinter aller Civilisation unvertilgbar leben und trotz allem Wechsel der Generationen und der Völkergeschichte ewig dieselben bleiben.
Mit diesem Chore tröstet sich der tiefsinnige und zum zartesten und schwersten Leiden einzig befähigte Hellene, der mit schneidigem Blicke mitten in das furchtbare Ver¬ nichtungstreiben der sogenannten Weltgeschichte, eben so wie in die Grausamkeit der Natur geschaut hat und in Ge¬ fahr ist, sich nach einer buddhaistischen Verneinung des Willens zu sehnen. Ihn rettet die Kunst, und durch die Kunst rettet ihn sich — das Leben.
—35—Die Verzückung des dionysischen Zustandes mit seiner Vernichtung der gewöhnlichen Schranken und Grenzen des Daseins enthält nämlich während seiner Dauer ein lethargisches Element, in das sich alles persönlich in der Vergangenheit Erlebte eintaucht. So scheidet sich durch diese Kluft der Vergessenheit die Welt der alltäglichen und der dionysischen Wirklichkeit von einander ab. Sobald aber jene alltägliche Wirklichkeit wieder ins Bewusstsein tritt, wird sie mit Ekel als solche empfunden; eine asketische, willenverneinende Stimmung ist die Frucht jener Zustände. In diesem Sinne hat der dionysische Mensch Aehnlichkeit mit Hamlet: beide haben einmal einen wahren Blick in das Wesen der Dinge gethan, sie haben erkannt, und es ekelt sie zu handeln; denn ihre Handlung kann nichts am ewigen Wesen der Dinge ändern, sie empfinden es als lächerlich oder schmach¬ voll, dass ihnen zugemuthet wird, die Welt, die aus den Fugen ist, wieder einzurichten. Die Erkenntniss tödtet das Handeln, zum Handeln gehört das Umschleiertsein durch die Illusion — das ist die Hamletlehre, nicht jene wohlfeile Weisheit von Hans dem Träumer, der aus zu viel Re¬ flexion, gleichsam aus einem Ueberschuss von Möglichkeiten nicht zum Handeln kommt; nicht das Reflectiren, nein! — die wahre Erkenntniss, der Einblick in die grauenhafte Wahrheit überwiegt jedes zum Handeln antreibende Motiv, bei Hamlet sowohl als bei dem dionysischen Menschen. Jetzt verfängt kein Trost mehr, die Sehnsucht geht über eine Welt nach dem Tode, über die Götter selbst hinaus, das Dasein wird, sammt seiner gleissenden Wiederspiegelung in den Göttern oder in einem unsterblichen Jenseits, verneint. In der Bewusstheit der einmal geschauten Wahrheit sieht jetzt der Mensch überall nur das Entsetzliche oder Absurde des Seins, jetzt versteht er das Symbolische im Schicksal der Ophelia, jetzt erkennt er die Weisheit des Waldgottes Silen: es ekelt ihn.
3*—36—Hier, in dieser höchsten Gefahr des Willens, naht sich, als rettende, heilkundige Zauberin, die Kunst; sie allein ver¬ mag jene Ekelgedanken über das Entsetzliche oder Absurde des Daseins in Vorstellungen umzubiegen, mit denen sich leben lässt: diese sind das Erhabene als die künstlerische Bändigung des Entsetzlichen und das Komische als die künst¬ lerische Entladung vom Ekel des Absurden. Der Satyrchor des Dithyrambus ist die rettende That der griechischen Kunst; an der Mittelwelt dieser dionysischen Begleiter erschöpften sich jene vorhin beschriebenen Anwandlungen.
Der Satyr wie der idyllische Schäfer unserer neueren Zeit sind Beide Ausgeburten einer auf das Ursprüngliche und Natürliche gerichteten Sehnsucht; aber mit welchem festen unerschrocknen Griffe fasste der Grieche nach seinem Wald¬ menschen, wie verschämt und weichlich tändelte der moderne Mensch mit dem Schmeichelbild eines zärtlichen flötenden weichgearteten Hirten! Die Natur, an der noch keine Er¬ kenntniss gearbeitet, in der die Riegel der Cultur noch uner¬ brochen sind — das sah der Grieche in seinem Satyr, der ihm deshalb noch nicht mit dem Affen zusammenfiel. Im Gegen¬ theil: es war das Urbild des Menschen, der Ausdruck seiner höchsten und stärksten Regungen, als begeisterter Schwärmer, den die Nähe des Gottes entzückt, als mitleidender Genosse, in dem sich das Leiden des Gottes wiederholt, als Weisheits¬ verkünder aus der tiefsten Brust der Natur heraus, als Sinnbild der geschlechtlichen Allgewalt der Natur, die der Grieche gewöhnt ist mit ehrfürchtigem Staunen zu betrachten. Der Satyr war etwas Erhabenes und Göttliches: so musste er besonders dem schmerzlich gebrochnen Blick des dionysischen Menschen dünken. Ihn hätte der geputzte, erlogene Schäfer—37— beleidigt: auf den unverhüllten und unverkümmert gross¬ artigen Schriftzügen der Natur weilte sein Auge in erhabener Befriedigung: hier war die Illusion der Cultur von dem Ur¬ bilde des Menschen weggewischt, hier enthüllte sich der wahre Mensch, der bärtige Satyr, der zu seinem Gotte auf¬ jubelt. Vor ihm schrumpfte der Culturmensch zur lügen¬ haften Caricatur zusammen. Auch für diese Anfänge der tragischen Kunst hat Schiller Recht: der Chor ist eine leben¬ dige Mauer gegen die anstürmende Wirklichkeit, weil er — der Satyrchor — das Dasein wahrhaftiger, wirklicher, voll¬ ständiger abbildet als der gemeinhin sich als einzige Realität achtende Culturmensch. Die Sphäre der Poesie liegt nicht ausserhalb der Welt, als eine phantastische Unmöglichkeit eines Dichterhirns: sie will das gerade Gegentheil sein, der ungeschminkte Ausdruck der Wahrheit und muss eben des¬ halb den lügenhaften Aufputz jener vermeinten Wirklichkeit des Culturmenschen von sich werfen. Der Contrast dieser eigentlichen Naturwahrheit und der sich als einzige Realität gebärdenden Culturlüge ist ein ähnlicher wie zwischen dem ewigen Kern der Dinge, dem Ding an sich, und der gesamm¬ ten Erscheinungswelt: und wie die Tragödie mit ihrem meta¬ physischen Troste auf das ewige Leben jenes Daseinskernes, bei dem fortwährenden Untergange der Erscheinungen, hin¬ weist, so spricht bereits die Symbolik des Satyrchors in einem Gleichniss jenes Urverhältniss zwischen Ding an sich und Er¬ scheinung aus. Jener idyllische Schäfer des modernen Menschen ist nur ein Konterfei der ihm als Natur geltenden Summe von Bildungsillusionen; der dionysische Grieche will die Wahrheit und die Natur in ihrer höchsten Kraft — er sieht sich zum Satyr verzaubert.
Unter solchen Stimmungen und Erkenntnissen jubelt die schwärmende Schaar der Dionysusdiener: deren Macht sie selbst, vor ihren eignen Augen verwandelt, so dass sie sich—38— als wiederhergestellte Naturgenien, als Satyrn, zu erblicken wähnen. Die spätere Constitution des Tragödienchors ist die künstlerische Nachahmung jenes natürlichen Phänomens; bei der nun allerdings eine Scheidung von dionysischen Zu¬ schauern und dionysischen Verzauberten nöthig wurde. Nur muss man sich immer gegenwärtig halten, dass das Publicum der attischen Tragödie sich selbst in dem Chore der Orchestra wiederfand, dass es im Grunde keinen Gegensatz von Pu¬ blicum und Chor gab: denn alles ist nur ein grosser erhabe¬ ner Chor von tanzenden und singenden Satyrn oder von solchen, welche sich durch diese Satyrn repräsentiren lassen. Das Schlegel'sche Wort muss sich uns hier in einem tieferen Sinne erschliessen. Der Chor ist der » idealische Zuschauer «, insofern er der einzige Schauer ist, der Schauer der Visions¬ welt der Scene. Ein Publicum von Zuschauern, wie wir es kennen, war den Griechen unbekannt: in ihren Theatern war es Jedem, bei dem amphitheatralischen Bau des Zuschauer¬ raumes, möglich, die gesammte Culturwelt um sich herum ganz eigentlich zu übersehen und in gesättigtem Hinschauen selbst Choreut sich zu wähnen. Nach dieser Einsicht dürfen wir den Chor, auf seiner primitiven Stufe in der Urtragödie, eine Selbstspiegelung des dionysischen Menschen nennen: als welches Phänomen am deutlichsten durch den Prozess des Schauspielers zu machen ist, der, bei wahrhafter Begabung, sein von ihm darzustellendes Rollenbild zum Greifen wahr¬ nehmbar vor seinen Augen schweben sieht. Der Satyrchor ist zu allererst eine Vision der dionysischen Masse, wie wiederum die Welt der Bühne eine Vision dieses Satyrchors ist: die Kraft dieser Vision ist stark genug, um gegen den Eindruck der » Realität «, gegen die rings auf den Sitzreihen gelagerten Bildungsmenschen den Blick stumpf und unem¬ pfindlich zu machen. Die Form des griechischen Theaters erinnert an ein einsames Gebirgsthal: die Architektur der—39— Scene erscheint wie ein leuchtendes Wolkenbild, welches die im Gebirge herumschwärmenden Bacchen von der Höhe aus erblicken, als die herrliche Umrahmung, in deren Mitte ihnen das Bild des Dionysus offenbar wird.
Jene künstlerische Urerscheinung, die wir hier zur Er¬ klärung des Tragödienchors zur Sprache bringen, ist, bei unserer gelehrtenhaften Anschauung über die elementaren künstlerischen Prozesse, fast anstössig; während nichts aus¬ gemachter sein kann, als dass der Dichter nur dadurch Dichter ist, dass er von Gestalten sich umringt sieht, die vor ihm leben und handeln und in deren innerstes Wesen er hineinblickt. Durch eine eigentümliche Schwäche der mo¬ dernen Begabung sind wir geneigt, uns das ästhetische Ur¬ phänomen zu complicirt und abstract vorzustellen. Die Me¬ tapher ist für den ächten Dichter nicht eine rhetorische Figur, sondern ein stellvertretendes Bild, das ihm wirklich, an Stelle eines Begriffes, vorschwebt. Der Charakter ist für ihn nicht etwas aus zusammengesuchten Einzelzügen componirtes Ganzes, sondern eine vor seinen Augen aufdringlich lebendige Person, die von der gleichen Vision des Malers sich nur durch das fortwährende Weiterleben und Weiterhandeln unterscheidet. Wodurch schildert Homer so viel anschaulicher als alle Dich¬ ter? Weil er um so viel mehr anschaut. Wir reden über Poesie so abstract, weil wir alle schlechte Dichter zu sein pflegen. Im Grunde ist das ästhetische Phänomen einfach: man habe nur die Fähigkeit, fortwährend ein lebendiges Spiel zu sehen und immerfort von Geisterschaaren umringt zu leben, so ist man Dichter; man fühle nur den Trieb, sich selbst zu verwandeln und aus anderen Leibern und Seelen herauszureden, so ist man Dramatiker.
Die dionysische Erregung ist im Stande, einer ganzen Masse diese künstlerische Begabung mitzutheilen, sich von einer solchen Geisterschaar umringt zu sehen, mit der sie—40— sich innerlich eins weiss. Dieser Prozess des Tragödienchors ist das dramatische Urphänomen: sich selbst vor sich ver¬ wandelt zu sehen und jetzt zu handeln, als ob man wirklich in einen andern Leib, in einen andern Charakter eingegangen wäre. Dieser Prozess steht an dem Anfang der Entwickelung des Dramas. Hier ist etwas Anderes als der Rhapsode, der mit seinen Bildern nicht verschmilzt, sondern sie, dem Maler ähnlich, mit betrachtendem Auge ausser sich sieht; hier ist bereits ein Aufgeben des Individuums durch Einkehr in eine fremde Natur. Und zwar tritt dieses Phänomen endemisch auf: eine ganze Schaar fühlt sich in dieser Weise verzaubert. Der Dithyramb ist deshalb wesentlich von jedem anderen Chorgesange unterschieden. Die Jungfrauen, die, mit Lor¬ beerzweigen in der Hand, feierlich zum Tempel des Apollo ziehn und dabei ein Prozessionslied singen, bleiben, wer sie sind, und behalten ihren bürgerlichen Namen: der dithyram¬ bische Chor ist ein Chor von Verwandelten, bei denen ihre bürgerliche Vergangenheit, ihre sociale Stellung völlig ver¬ gessen ist: sie sind die zeitlosen, ausserhalb aller Gesell¬ schaftssphären lebenden Diener ihres Gottes geworden. Alle andere Chorlyrik der Hellenen ist nur eine ungeheure Steige¬ rung des apollinischen Einzelsängers: während im Dithyramb eine Gemeinde von unbewussten Schauspielern vor uns steht, die sich selbst unter einander als verwandelt ansehen.
Die Verzauberung ist die Voraussetzung aller drama¬ tischen Kunst. In dieser Verzauberung sieht sich der diony¬ sische Schwärmer als Satyr, und als Satyr wiederum schaut er den Gott d. h. er sieht in seiner Verwandlung eine neue Vision ausser sich, als apollinische Vollendung seines Zustan¬ des. Mit dieser neuen Vision ist das Drama vollständig.
Nach dieser Erkenntniss haben wir die griechische Tra¬ gödie als den dionysischen Chor zu verstehen, der sich immer von neuem wieder in einer apollinischen Bilderwelt entladet. —41—Jene Chorpartieen, mit denen die Tragödie durchflochten ist, sind also gewissermaassen der Mutterschooss des ganzen soge¬ nannten Dialogs d. h. der gesammten Bühnenwelt, des eigentlichen Dramas. In mehreren auf einander folgenden Entladungen strahlt dieser Urgrund der Tragödie jene Vision des Dramas aus: die durchaus Traumerscheinung und inso¬ fern epischer Natur ist, andrerseits aber, als Objectivation eines dionysischen Zustandes, nicht die apollinische Erlösung im Scheine, sondern im Gegentheil das Zerbrechen des In¬ dividuums und sein Einswerden mit dem Ursein darstellt. Somit ist das Drama die apollinische Versinnlichung diony¬ sischer Erkenntnisse und Wirkungen und dadurch wie durch eine ungeheure Kluft vom Epos abgeschieden.
Der Chor der griechischen Tragödie, das Symbol der gesammten dionysisch erregten Masse, findet an dieser unserer Auffassung seine volle Erklärung. Während wir, mit der Gewöhnung an die Stellung eines Chors auf der modernen Bühne, zumal eines Opernchors, gar nicht begreifen konnten, wie jener tragische Chor der Griechen älter, ursprünglicher, ja wichtiger sein sollte, als die eigentliche » Action «, — wie dies doch so deutlich überliefert war — während wir wiederum mit jener überlieferten hohen Wichtigkeit und Ursprünglich¬ keit nicht reimen konnten, warum er doch nur aus niedrigen dienenden Wesen, ja zuerst nur aus bocksbeinigen Satyrn zusammengesetzt worden sei, während uns die Orchestra vor der Scene immer ein Räthsel blieb, sind wir jetzt zu der Einsicht gekommen, dass die Scene sammt der Action im Grunde und ursprünglich nur als Vision gedacht wurde, dass die einzige » Realität « eben der Chor ist, der die Vision aus sich erzeugt und von ihr mit der ganzen Symbolik des Tanzes, des Tones und des Wortes redet. Dieser Chor schaut in seiner Vision seinen Herrn und Meister Dionysus und ist darum ewig der dienende Chor: er sieht, wie dieser, der Gott,—42— leidet und sich verherrlicht, und handelt deshalb selbst nicht. Bei dieser, dem Gotte gegenüber durchaus dienenden Stellung ist er doch der höchste, nämlich dionysische Ausdruck der Natur und redet darum, wie diese, in der Begeisterung Ora¬ kel - und Weisheitssprüche: als der mitleidende ist er zugleich der weise, aus dem Herzen der Welt die Wahrheit verkün¬ dende. So entsteht denn jene phantastische und so anstössig scheinende Figur des weisen und begeisterten Satyrs, der zugleich » der tumbe Mensch « im Gegensatz zum Gotte ist: Abbild der Natur und ihrer stärksten Triebe, ja Symbol der¬ selben und zugleich Verkünder ihrer Weisheit und Kunst: Musiker, Dichter, Tänzer, Geisterseher in einer Person.
Dionysus, der eigentliche Bühnenheld und Mittelpunkt der Vision, ist gemäss dieser Erkenntniss und gemäss der Ueber¬ lieferung, zuerst, in der allerältesten Periode der Tragödie, nicht wahrhaft vorhanden, sondern wird nur als vorhanden vorgestellt: d. h. ursprünglich ist die Tragödie nur » Chor « und nicht » Drama «. Später wird nun der Versuch gemacht, den Gott als einen realen zu zeigen und die Visionsgestalt sammt der verklärenden Umrahmung als jedem Auge sichtbar darzustellen: damit beginnt das » Drama « im engeren Sinne. Jetzt bekommt der dithyrambische Chor die Aufgabe, die Stimmung der Zuhörer bis zu dem Grade dionysisch anzu¬ regen, dass sie, wenn der tragische Held auf der Bühne er¬ scheint, nicht etwa den unförmlich maskirten Menschen sehen, sondern eine gleichsam aus ihrer eignen Verzückung geborene Visionsgestalt. Denken wir uns Admet mit tiefem Sinnen seiner jüngst abgeschiedenen Gattin Alcestis gedenkend und ganz im geistigen Anschauen derselben sich verzehrend — wie ihm nun plötzlich ein ähnlich gestaltetes, ähnlich schreiten¬ des Frauenbild in Verhüllung entgegengeführt wird: denken wir uns seine plötzliche zitternde Unruhe, sein stürmisches Vergleichen, seine instinctive Ueberzeugung — so haben wir—43— ein Analogon zu der Empfindung, mit der der dionysisch erregte Zuschauer den Gott auf der Bühne heranschreiten sah, mit dessen Leiden er bereits eins geworden ist. Unwill¬ kürlich übertrug er das ganze magisch vor seiner Seele zitternde Bild des Gottes auf jene maskirte Gestalt und löste ihre Re¬ alität gleichsam in eine geisterhafte Unwirklichkeit auf. Dies ist der apollinische Traumeszustand, in dem die Welt des Tages sich verschleiert und eine neue Welt, deutlicher, ver¬ ständlicher, ergreifender als jene und doch schattengleicher, in fortwährendem Wechsel sich unserem Auge neu gebiert. Demgemäss erkennen wir in der Tragödie einen durch¬ greifenden Stilgegensatz: Sprache, Farbe, Beweglichkeit, Dynamik der Rede treten in der dionysischen Lyrik des Chors und andrerseits in der apollinischen Traumwelt der Scene als völlig gesonderte Sphären des Ausdrucks aus ein¬ ander. Die apollinischen Erscheinungen, in denen sich Di¬ onysus objectivirt, sind nicht mehr » ein ewiges Meer, ein wechselnd Weben, ein glühend Leben «, wie es die Musik des Chors ist, nicht mehr jene nur empfundenen, nicht zum Bilde verdichteten Kräfte, in denen der begeisterte Dionysus¬ diener die Nähe des Gottes spürt: jetzt spricht, von der Scene aus, die Deutlichkeit und Festigkeit der epischen Ge¬ staltung zu ihm, jetzt redet Dionysus nicht mehr durch Kräfte, sondern als epischer Held, fast mit der Sprache Homers.
Alles, was im apollinischen Theile der griechischen Tra¬ gödie, im Dialoge, auf die Oberfläche kommt, sieht einfach, durchsichtig, schön aus. In diesem Sinne ist der Dialog ein Abbild des Hellenen, dessen Natur sich im Tanze offenbart, weil im Tanze die grösste Kraft nur potenziell ist, aber sich in der Geschmeidigkeit und Ueppigkeit der Bewegung verräth. —44—So überrascht uns die Sprache der sophokleischen Helden durch ihre apollinische Bestimmtheit und Helligkeit, so dass wir sofort bis in den innersten Grund ihres Wesens zu blicken wähnen, mit einigem Erstaunen, dass der Weg bis zu diesem Grunde so kurz ist. Sehen wir aber einmal von dem auf die Oberfläche kommenden und sichtbar werdenden Charakter des Helden ab — der im Grunde nichts mehr ist als das auf eine dunkle Wand geworfene Lichtbild d. h. Erscheinung durch und durch — dringen wir vielmehr in den Mythus ein, der in diesen hellen Spiegelungen sich projicirt, so erleben wir plötzlich ein Phänomen, das ein umgekehrtes Verhältniss zu einem bekannten optischen hat. Wenn wir bei einem kräftigen Versuch, die Sonne in's Auge zu fassen, uns ge¬ blendet abwenden, so haben wir dunkle farbige Flecken gleich¬ sam als Heilmittel vor den Augen: umgekehrt sind jene Lichtbilderscheinungen des sophokleischen Helden, kurz das Apollinische der Maske, nothwendige Erzeugungen eines Blickes in's Innere und Schreckliche der Natur, gleichsam leuchtende Flecken zur Heilung des von grausiger Nacht versehrten Blickes. Nur in diesem Sinne dürfen wir glauben, den ernst¬ haften und bedeutenden Begriff der » griechischen Heiterkeit « richtig zu fassen; während wir allerdings den falsch ver¬ standenen Begriff dieser Heiterkeit im Zustande ungefährdeten Behagens auf allen Wegen und Stegen der Gegenwart antreffen.
Die leidvollste Gestalt der griechischen Bühne, der un¬ glückselige Oedipus, ist von Sophokles als der edle Mensch verstanden worden, der zum Irrthum und zum Elend trotz seiner Weisheit bestimmt ist, der aber am Ende durch sein ungeheures Leiden eine magische segensreiche Kraft um sich ausübt, die noch über sein Verscheiden hinaus wirksam ist. Der edle Mensch sündigt nicht, will uns der tiefsinnige Dichter sagen: durch sein Handeln mag jedes Gesetz, jede natürliche Ordnung, ja die sittliche Welt zu Grunde gehen, eben durch—45— dieses Handeln wird ein höherer magischer Kreis von Wirk¬ ungen gezogen, die eine neue Welt auf den Ruinen der um¬ gestürzten alten gründen. Das will uns der Dichter, insofern er zugleich religiöser Denker ist, sagen: als Dichter zeigt er uns zuerst einen wunderbar geschürzten Prozessknoten, den der Richter langsam, Glied für Glied, zu seinem eigenen Ver¬ derben löst; die echt hellenische Freude an dieser dialektischen Lösung ist so gross, dass hierdurch ein Zug von überlegener Heiterkeit über das ganze Werk kommt, der den schauder¬ haften Voraussetzungen jenes Prozesses überall die Spitze abbricht. Im » Oedipus auf Kolonos « treffen wir diese selbe Heiterkeit, aber in eine unendliche Verklärung emporgehoben: dem vom Uebermaasse des Elends betroffenen Greise gegen¬ über, der allem, was ihn betrifft, rein als Leidender preisge¬ geben ist — steht die überirdische Heiterkeit, die aus gött¬ licher Sphäre herniederkommt und uns andeutet, dass der traurige Held in seinem rein passiven Verhalten seine höchste Activität erlangt, die weit über sein Leben hinausgreift, während sein bewusstes Tichten und Trachten im früheren Leben ihn nur zur Passivität geführt hat. So wird der für das sterbliche Auge unauflöslich verschlungene Prozessknoten der Oedipusfabel langsam entwirrt — und die tiefste mensch¬ liche Freude überkommt uns bei diesem göttlichen Gegenstück der Dialektik. Wenn wir mit dieser Erklärung dem Dichter gerecht geworden sind, so kann doch immer noch gefragt werden, ob damit der Inhalt des Mythus erschöpft ist: und hier zeigt sich, dass die ganze Auffassung des Dichters nichts ist als eben jenes Lichtbild, welches uns, nach einem Blick in den Abgrund, die heilende Natur vorhält. Oedipus der Mörder seines Vaters, der Gatte seiner Mutter, Oedipus der Räthsellöser der Sphinx! Was sagt uns die geheimnissvolle Dreiheit dieser Schicksalsthaten? Es giebt einen uralten, be¬ sonders persischen Volksglauben, dass ein weiser Magier nur—46— aus Incest geboren werden könne: was wir uns, im Hinblick auf den räthsellösenden und seine Mutter freienden Oedipus, sofort so zu interpretieren haben, dass dort, wo durch weis¬ sagende und magische Kräfte der Bann von Gegenwart und Zu¬ kunft, das starre Gesetz der Individuation, und überhaupt der eigentliche Zauber der Natur gebrochen ist, eine ungeheure Naturwidrigkeit — wie dort der Incest — als Ursache voraus¬ gegangen sein muss; denn wie könnte man die Natur zum Preisgeben ihrer Geheimnisse zwingen, wenn nicht dadurch, dass man ihr siegreich widerstrebt, d. h. durch das Unnatür¬ liche? Diese Erkenntniss sehe ich in jener entsetzlichen Drei¬ heit der Oedipusschicksale ausgeprägt: derselbe, der das Räthsel der Natur — jener doppeltgearteten Sphinx — löst, muss auch als Mörder des Vaters und Gatte der Mutter die heiligsten Naturordnungen zerbrechen. Ja, der Mythus scheint uns zuraunen zu wollen, dass die Weisheit und gerade die dionysische Weisheit ein naturwidriger Greuel sei, dass der, welcher durch sein Wissen die Natur in den Abgrund der Vernichtung stürzt, auch an sich selbst die Auflösung der Natur zu erfahren habe. » Die Spitze der Weisheit kehrt sich gegen den Weisen: Weisheit ist ein Verbrechen an der Natur «: solche schreckliche Sätze ruft uns der Mythus zu: der hellenische Dichter aber berührt wie ein Sonnenstrahl die erhabene und furchtbare Memnonssäule des Mythus, so dass er plötzlich zu tönen beginnt — in sophokleischen Melodieen!
Der Glorie der Passivität stelle ich jetzt die Glorie der Activität gegenüber, welche den Prometheus des Aeschylus umleuchtet. Was uns hier der Denker Aeschylus zu sagen hatte, was er aber als Dichter durch sein gleichnissartiges Bild uns nur ahnen lässt, das hat uns der jugendliche Goethe in den verwegenen Worten seines Prometheus zu enthüllen gewusst:—47—
Der Mensch, in's Titanische sich steigernd, erkämpft sich selbst seine Cultur und zwingt die Götter sich mit ihm zu verbinden, weil er in seiner selbsteignen Weisheit die Existenz und die Schranken derselben in seiner Hand hat. Das Wunderbarste an jenem Prometheusgedicht, das seinem Grundgedanken nach der eigentliche Hymnus der Unfrömmig¬ keit ist, ist aber der tiefe aeschyleische Zug nach Gerechtig¬ keit: das unermessliche Leid des kühnen » Einzelnen « auf der einen Seite, und die göttliche Noth, ja Ahnung einer Götterdämmerung auf der andern, die zur Versöhnung, zum metaphysischen Einssein zwingende Macht jener beiden Leidens¬ welten — dies alles erinnert auf das Stärkste an den Mittel¬ punkt und Hauptsatz der äschyleischen Weltbetrachtung, die über Göttern und Menschen die Moira als ewige Gerechtig¬ keit thronen sieht. Bei der erstaunlichen Kühnheit, mit der Aeschylus die olympische Welt auf seine Gerechtigkeits¬ wagschalen stellt, müssen wir uns vergegenwärtigen, dass der tiefsinnige Grieche einen unverrückbar festen Untergrund des metaphysischen Denkens in seinen Mysterien hatte, und dass sich an den Olympiern alle seine skeptischen Anwandelungen entladen konnten. Der griechische Künstler insbesondere empfand im Hinblick auf diese Gottheiten ein dunkles Gefühl wechselseitiger Abhängigkeit: und gerade im Prometheus des Aeschylus ist dieses Gefühl symbolisirt. Der titanische Künstler fand in sich den trotzigen Glauben, Menschen schaffen und olympische Götter wenigstens vernichten zu können: und dies durch seine höhere Weisheit, die er freilich durch ewiges—48— Leiden zu büssen gezwungen war. Das herrliche » Können « des grossen Genius, das selbst mit ewigem Leide zu gering bezahlt ist, der herbe Stolz des Künstlers — das ist Inhalt und Seele der äschyleischen Dichtung, während Sophokles in seinem Oedipus das Siegeslied des Heiligen präludirend anstimmt. Aber auch mit jener Deutung, die Aeschylus dem Mythus gegeben hat, ist dessen erstaunliche Schreckens¬ tiefe nicht ausgemessen: vielmehr ist die Werdelust des Künst¬ lers, die jedem Unheil trotzende Heiterkeit des künstlerischen Schaffens nur ein lichtes Wolken - und Himmelsbild, das sich auf einem schwarzen See der Traurigkeit spiegelt. Die Pro¬ metheussage ist ein ursprüngliches Eigenthum der gesammten arischen Völkergemeinde und ein Document für deren Be¬ gabung zum Tiefsinnig-Tragischen, ja es möchte nicht ohne Wahrscheinlichkeit sein, dass diesem Mythus für das arische Wesen eben dieselbe charakteristische Bedeutung innewohnt, die der Sündenfallmythus für das semitische hat, und dass zwischen beiden Mythen ein Verwandtschaftsgrad existiert, wie zwischen Bruder und Schwester. Die Voraussetzung jenes Prometheusmythus ist der überschwängliche Werth, den eine naive Menschheit dem Feuer beilegt als dem wahren Palladium jeder aufsteigenden Cultur: dass aber der Mensch frei über das Feuer waltet und es nicht nur durch ein Ge¬ schenk vom Himmel, als zündenden Blitzstrahl oder wärmen¬ den Sonnenbrand empfängt, erschien jenen beschaulichen Ur-Menschen als ein Frevel, als ein Raub an der göttlichen Natur. Und so stellt gleich das erste philosophische Problem einen peinlichen unlösbaren Widerspruch zwischen Mensch und Gott hin und rückt ihn wie einen Felsblock an die Pforte jeder Cultur. Das Beste und Höchste, dessen die Menschheit theilhaftig werden kann, erringt sie durch einen Frevel und muss nun wieder seine Folgen dahinnehmen, nämlich die ganze Fluth von Leiden und von Kümmernissen,—49— mit denen die beleidigten Himmlischen das edel emporstrebende Menschengeschlecht heimsuchen — müssen: ein herber Ge¬ danke, der durch die Würde, die er dem Frevel ertheilt, seltsam gegen den semitischen Sündenfallmythus absticht, in welchem die Neugierde, die lügnerische Vorspiegelung, die Verführbarkeit, die Lüsternheit, kurz eine Reihe vor¬ nehmlich weiblicher Affectionen als der Ursprung des Uebels angesehen wurde. Das, was die arische Vorstellung aus¬ zeichnet, ist die erhabene Ansicht von der activen Sünde als der eigentlich prometheischen Tugend: womit zugleich der ethische Untergrund der pessimistischen Tragödie gefunden ist, als die Rechtfertigung des menschlichen Uebels, und zwar sowohl der menschlichen Schuld als des dadurch ver¬ wirkten Leidens. Das Unheil im Wesen der Dinge — das der beschauliche Arier nicht geneigt ist wegzudeuteln —, der Widerspruch im Herzen der Welt offenbart sich ihm als ein Durcheinander verschiedener Welten, z. B. einer göttlichen und einer menschlichen, von denen jede als Individuum im Recht ist, aber als einzelne neben einer andern für ihre Individuation zu leiden hat. Bei dem heroischen Drange des Einzelnen ins Allgemeine, bei dem Versuche, über den Bann der Individuation hinauszuschreiten und das eine Welt¬ wesen selbst sein zu wollen, erleidet er an sich den in den Dingen verborgenen Urwiderspruch d. h. er frevelt und lei¬ det. So wird von den Ariern der Frevel als Mann, von den Semiten die Sünde als Weib verstanden, so wie auch der Urfrevel vom Manne, die Ursünde vom Weibe begangen wird. Uebrigens sagt der Hexenchor:
Wer jenen innersten Kern der Prometheussage versteht — nämlich die dem titanisch strebenden Individuum geboteneNietzsche, Geburt der Tragödie. 4—50—Nothwendigkeit des Frevels — der muss auch zugleich das Unapollinische dieser pessimistischen Vorstellung empfinden; denn Apollo will die Einzelwesen gerade dadurch zur Ruhe bringen, dass er Grenzlinien zwischen ihnen zieht und dass er immer wieder an diese als an die heiligsten Weltgesetze mit seinen Forderungen der Selbsterkenntniss und des Maasses erinnert. Damit aber bei dieser apollinischen Tendenz die Form nicht zu ägyptischer Steifigkeit und Kälte erstarre, damit nicht unter dem Bemühen, der einzelnen Welle ihre Bahn und ihr Bereich vorzuschreiben, die Bewegung des ganzen See's ersterbe, zerstörte von Zeit zu Zeit wieder die hohe Fluth des Dionysischen alle jene kleinen Zirkel, in die der einseitig apollinische » Wille « das Hellenenthum zu bannen suchte. Jene plötzlich anschwellende Fluth des Dionysischen nimmt dann die einzelnen kleinen Wellenberge der Individuen auf ihren Rücken, wie der Bruder des Prometheus, der Ti¬ tan Atlas, die Erde. Dieser titanische Drang, gleichsam der Atlas aller Einzelnen zu werden und sie mit breitem Rücken höher und höher, weiter und weiter zu tragen, ist das Ge¬ meinsame zwischen dem Prometheischen und dem Diony¬ sischen. Der äschyleische Prometheus ist in diesem Betracht eine dionysische Maske, während in jenem vorhin erwähnten tiefen Zuge nach Gerechtigkeit Aeschylus seine väterliche Abstammung von Apollo, dem Gotte der Individuation und der Gerechtigkeitsgrenzen, dem Einsichtigen verräth. Und so möchte das Doppelwesen des äschyleischen Prometheus, seine zugleich dionysische und apollinische Natur in begriff¬ licher Formel so ausgedrückt werden können: » Alles Vor¬ handene ist gerecht und ungerecht und in beidem gleich berechtigt «.
Das ist deine Welt! Das heisst eine Welt! —
—51—Es ist eine unanfechtbare Ueberlieferung, dass die grie¬ chische Tragödie in ihrer ältesten Gestalt nur die Leiden des Dionysus zum Gegenstand hatte und dass der längere Zeit hindurch einzig vorhandene Bühnenheld eben Dionysus war. Aber mit der gleichen Sicherheit darf behauptet werden, dass niemals bis auf Euripides Dionysus aufgehört hat, der tra¬ gische Held zu sein, sondern dass alle die berühmten Figuren der griechischen Bühne Prometheus Oedipus u. s. w. nur Masken jenes ursprünglichen Helden Dionysus sind. Dass hinter allen diesen Masken eine Gottheit steckt, das ist der eine wesentliche Grund für die so oft angestaunte typische » Idealität « jener berühmten Figuren. Es hat ich weiss nicht wer behauptet, dass alle Individuen als Individuen komisch und damit untragisch seien: woraus zu entnehmen wäre, dass die Griechen überhaupt Individuen auf der tragischen Bühne nicht ertragen konnten. In der That scheinen sie so empfun¬ den zu haben: wie überhaupt jene platonische Unterscheidung und Werthabschätzung der » Idee « im Gegensatze zum » Idol «, zum Abbild tief im hellenischen Wesen begründet liegt. Um uns aber der Terminologie Plato's zu bedienen, so wäre von den tragischen Gestalten der hellenischen Bühne etwa so zu reden: der eine wahrhaft reale Dionysus erscheint in einer Vielheit der Gestalten, in der Maske eines kämpfenden Hel¬ den und gleichsam in das Netz des Einzelwillens verstrickt. So wie jetzt der erscheinende Gott redet und handelt, ähnelt er einem irrenden strebenden leidenden Individuum: und dass er überhaupt mit dieser epischen Bestimmtheit und Deut¬ lichkeit erscheint, ist die Wirkung des Traumdeuters Apollo, der dem Chore seinen dionysischen Zustand durch jene gleich¬4 *—52—nissartige Erscheinung deutet. In Wahrheit aber ist jener Held der leidende Dionysus der Mysterien, jener die Leiden der Individuation an sich erfahrende Gott, von dem wunder¬ volle Myten herzählen, wie er als Knabe von den Titanen zerstückelt worden sei und nun in diesem Zustande als Zagreus verehrt werde: wobei angedeutet wird, dass diese Zerstückelung, das eigentlich dionysische Leiden, gleich einer Umwandlung in Luft, Wasser, Erde und Feuer sei, dass wir also den Zustand der Individuation als den Quell und Urgrund alles Leidens, als etwas an sich Verwerfliches, zu betrachten hätten. Aus dem Lächeln dieses Dionysus sind die olympischen Götter, aus seinen Thränen die Menschen entstanden. In jener Existenz als zerstückelter Gott hat Dionysus die Doppelnatur eines grausamen verwilderten Dä¬ mons und eines milden sanftmüthigen Herrschers. Die Hoff¬ nung der Epopten ging aber auf eine Wiedergeburt des Dionysus, die wir jetzt als das Ende der Individuation ahnungs¬ voll zu begreifen haben: diesem kommenden dritten Dionysus erscholl der brausende Jubelgesang der Epopten. Und nur in dieser Hoffnung giebt es einen Strahl von Freude auf dem Antlitze der zerrissenen, in Individuen zertrümmerten Welt: wie es der Mythus durch die in ewige Trauer versenkte De¬ meter verbildlicht, welche zum ersten Male wieder sich freut, als man ihr sagt, sie könne den Dionysus noch einmal ge¬ bären. In den angeführten Anschauungen haben wir bereits alle Bestandtheile einer tiefsinnigen und pessimistischen Welt¬ betrachtung und zugleich damit die Mysterienlehre der Tra¬ gödie zusammen: die Grunderkenntniss von der Einheit alles Vorhandenen, die Betrachtung der Individuation als des Urgrundes des Uebels, das Schöne und die Kunst als die freudige Hoffnung, dass der Bann der Individuation zu zerbrechen sei, als die Ahnung einer wiederhergestellten Einheit. —
—53—Es ist früher angedeutet worden, dass das homerische Epos die Dichtung der olympischen Cultur ist, mit der sie ihr eignes Siegeslied über die Schrecken des Titanenkampfes gesungen hat. Jetzt, unter dem übermächtigen Einflusse der tragischen Dichtung, werden die homerischen Mythen von Neuem umgeboren und zeigen in dieser Metempsychose, dass inzwischen auch die olympische Cultur von einer noch tieferen Weltbetrachtung besiegt worden ist. Der trotzige Titan Pro¬ metheus hat es seinem olympischen Peiniger angekündigt, dass einst seiner Herrschaft die höchste Gefahr drohe, falls er nicht zur rechten Zeit sich mit ihm verbinden werde. In Aeschylus erkennen wir das Bündniss des erschreckten, vor seinem Ende bangenden Zeus mit dem Titanen. So wird das frühere Titanenzeitalter nachträglich wieder aus dem Tartarus ans Licht geholt. Die Philosophie der wilden und nackten Natur schaut die vorübertanzenden Mythen der ho¬ merischen Welt mit der unverhüllten Miene der Wahrheit an: sie erbleichen, sie zittern vor dem blitzartigen Auge dieser Göttin — bis sie die mächtige Faust des dionysischen Künstlers in den Dienst der neuen Gottheit zwingt. Die dionysische Wahrheit übernimmt das gesammte Bereich des Mythus als Symbolik ihrer Erkenntnisse und spricht diese theils in dem öffentlichen Cultus der Tragödie, theils in den geheimen Begehungen dramatischer Mysterienfeste, aber immer unter der alten mythischen Hülle aus. Welche Kraft war dies, die den Prometheus von seinen Geiern befreite und den My¬ thus zum Vehikel dionysischer Weisheit umwandelte? Dies ist die heraklesmässige Kraft der Musik: als welche, in der Tragödie zu ihrer höchsten Erscheinung gekommen, den Mythus mit neuer tiefsinnigster Bedeutsamkeit zu interpre¬ tiren weiss; wie wir dies als das mächtigste Vermögen der Musik früher schon zu charakterisiren hatten. Denn es ist das Loos jedes Mythus, allmählich in die Enge einer angeb¬—54— lich historischen Wirklichkeit hineinzukriechen und von irgend einer späteren Zeit als einmaliges Factum mit historischen Ansprüchen behandelt zu werden: und die Griechen waren bereits völlig auf dem Wege, ihren ganzen mythischen Jugend¬ traum mit Scharfsinn und Willkür in eine historisch-pragma¬ tische Jugendgeschichte umzustempeln. Denn dies ist die Art, wie Religionen abzusterben pflegen: wenn nämlich die mythischen Voraussetzungen einer Religion unter den strengen, verstandesmässigen Augen eines rechtgläubigen Dogmatismus als eine fertige Summe von historischen Ereignissen syste¬ matisirt werden und man anfängt, ängstlich die Glaubwürdig¬ keit der Mythen zu vertheidigen, aber gegen jedes natürliche Weiterleben und Weiterwuchern derselben sich zu sträuben, wenn also das Gefühl für den Mythus abstirbt und an seine Stelle der Anspruch der Religion auf historische Grundlagen tritt. Diesen absterbenden Mythus ergriff jetzt der neuge¬ borne Genius der dionysischen Musik: und in seiner Hand blühte er noch einmal, mit Farben, wie er sie noch nie ge¬ zeigt, mit einem Duft, der eine sehnsüchtige Ahnung einer metaphysischen Welt erregte. Nach diesem letzten Aufglän¬ zen fällt er zusammen, seine Blätter werden welk, und bald haschen die spöttischen Luciane des Alterthums nach den von allen Winden fortgetragnen, entfärbten und verwüsteten Blumen. Durch die Tragödie kommt der Mythus zu seinem tiefsten Inhalt, seiner ausdrucksvollsten Form; noch einmal erhebt er sich, wie ein verwundeter Held, und der ganze Ueberschuss von Kraft, sammt der weisheitsvollen Ruhe des Sterbenden, brennt in seinem Auge mit letztem, mächtigen Leuchten.
Was wolltest du, frevelnder Euripides, als du diesen Sterbenden noch einmal zu deinem Frohndienste zu zwingen suchtest? Er starb unter deinen gewaltsamen Händen: und jetzt brauchtest du einen nachgemachten, maskirten Mythus,—55— der sich wie der Affe des Herakles mit dem alten Prunke nur noch aufzuputzen wusste. Und wie dir der Mythus starb, so starb dir auch der Genius der Musik: mochtest du auch mit gierigem Zugreifen alle Gärten der Musik plündern, auch so brachtest du es nur zu einer nachgemachten mas¬ kirten Musik. Und weil du Dionysus verlassen, so verliess dich auch Apollo; jage alle Leidenschaften von ihrem Lager auf und banne sie in deinen Kreis, spitze und feile dir für die Reden deiner Helden eine sophistische Dialektik zurecht — auch deine Helden haben nur nachgeahmte maskirte Leidenschaften und sprechen nur nachgeahmte maskirte Reden.
Die griechische Tragödie ist anders zu Grunde gegangen als sämmtliche ältere schwesterliche Kunstgattungen: sie starb durch Selbstmord, in Folge eines unlösbaren Conflictes, also tragisch, während jene alle in hohem Alter des schönsten und ruhigsten Todes verblichen sind. Wenn es nämlich einem glücklichen Naturzustande gemäss ist, mit schöner Nachkommenschaft und ohne Krampf vom Leben zu scheiden, so zeigt uns das Ende jener älteren Kunstgattungen einen solchen glücklichen Naturzustand: sie tauchen langsam unter, und vor ihren ersterbenden Blicken steht schon ihr schönerer Nachwuchs und reckt mit muthiger Gebärde ungeduldig das Haupt. Mit dem Tode der griechischen Tragödie dagegen entstand eine ungeheure, überall tief empfundene Leere; wie einmal griechische Schiffer zu Zeiten des Tiberius an einem einsamen Eiland den erschütternden Schrei hörten » der grosse Pan ist todt «: so klang es jetzt wie ein schmerz¬ licher Klageton durch die hellenische Welt: » die Tragödie ist todt! Die Poesie selbst ist mit ihr verloren gegangen! —56—Fort, fort mit euch verkümmerten, abgemagerten Epigonen! Fort in den Hades, damit ihr euch dort an den Brosamen der vormaligen Meister einmal satt essen könnt! «
Als aber nun doch noch eine neue Kunstgattung auf¬ blühte, die in der Tragödie ihre Vorgängerin und Meisterin verehrte, da war mit Schrecken wahrzunehmen, dass sie aller¬ dings die Züge ihrer Mutter trage, aber dieselben, die jene in ihrem langen Todeskampfe gezeigt hatte. Diesen Todes¬ kampf der Tragödie kämpfte Euripides; jene spätere Kunst¬ gattung ist als neuere attische Komödie bekannt. In ihr lebte die entartete Gestalt der Tragödie fort, zum Denkmale ihres überaus mühseligen und gewaltsamen Hinscheidens.
Bei diesem Zusammenhange ist die leidenschaftliche Zu¬ neigung begreiflich, welche die Dichter der neueren Komödie zu Euripides empfanden; so dass der Wunsch des Philemon nicht weiter befremdet, der sich sogleich aufhängen lassen mochte, nur um den Euripides in der Unterwelt aufsuchen zu können: wenn er nur überhaupt überzeugt sein dürfte, dass der Verstorbene auch jetzt noch bei Verstande sei. Will man aber in aller Kürze und ohne den Anspruch, damit etwas Erschöpfendes zu sagen, dasjenige bezeichnen, was Euripides mit Menander und Philemon gemein hat und was für jene so aufregend vorbildlich wirkte: so genügt es zu sagen, dass der Zuschauer von Euripides auf die Bühne ge¬ bracht worden ist. Wer erkannt hat, aus welchem Stoffe die prometheischen Tragiker vor Euripides ihre Helden formten und wie ferne ihnen die Absicht lag, die treue Maske der Wirklichkeit auf die Bühne zu bringen, der wird auch über die gänzlich abweichende Tendenz des Euripides im Klaren sein. Der Mensch des alltäglichen Lebens drang durch ihn aus den Zuschauerräumen auf die Scene, der Spiegel, in dem früher nur die grossen und kühnen Züge zum Ausdruck kamen, zeigte jetzt eine peinliche Treue, die auch die misslungenen—57— Linien der Natur gewissenhaft wiedergiebt. Odysseus, der typische Hellene der älteren Kunst, sank jetzt unter den Händen der neueren Dichter zur Figur des Graeculus herab, der von jetzt ab als gutmüthig-verschmitzter Haussclave im Mittelpunkte des dramatischen Interesse's steht. Was Euripides sich in den aristophanischen » Fröschen « zum Verdienst anrech¬ net, dass er die tragische Kunst durch seine Hausmittel von ihrer pomphaften Beleibtheit befreit habe, das ist vor allem an seinen tragischen Helden zu spüren. Im Wesentlichen sah und hörte jetzt der Zuschauer seinen Doppelgänger auf der euripideischen Bühne und freute sich, dass jener so gut zu reden verstehe. Bei dieser Freude blieb es aber nicht: man lernte selbst bei Euripides sprechen, und dessen rühmt er sich selbst im Wettkampfe mit Aeschylus: wie durch ihn jetzt das Volk kunstmässig und mit den schlausten Sophisti¬ cationen zu beobachten, zu verhandeln und Folgerungen zu ziehen gelernt habe. Durch diesen Umschwung der öffent¬ lichen Sprache hat er überhaupt die neuere Komödie möglich gemacht. Denn von jetzt ab war es kein Geheimniss mehr, wie und mit welchen Sentenzen die Alltäglichkeit sich auf der Bühne vertreten könne. Die bürgerliche Mittelmässigkeit, auf die Euripides alle seine politischen Hoffnungen aufbaute, kam jetzt zu Wort, nachdem bis dahin in der Tragödie der Halbgott, in der Komödie der betrunkene Satyr oder der Halbgott den Sprachcharakter bestimmt hatten. Und so hebt der aristophanische Euripides zu seinem Preise hervor, wie er das allgemeine, allbekannte, alltägliche Leben und Treiben dargestellt habe, über das ein Jeder zu urtheilen befähigt sei. Wenn jetzt die ganze Masse philosophiere und mit unerhörter Klugheit Land und Gut verwalte, Prozesse führe u. s. w., so sei dies sein Verdienst und der Erfolg der von ihm dem Volke eingeimpften Weisheit.
An eine derartig zubereitete und aufgeklärte Masse durfte—58— sich jetzt die neuere Komödie wenden, für die Euripides gewissermaassen der Chorlehrer geworden ist; nur dass diesmal der Chor der Zuschauer eingeübt werden musste. Sobald dieser in der euripideischen Tonart zu singen geübt war, erhob sich die schachspielartige Gattung des Schauspiels, die neuere Komödie mit ihrem fortwährenden Triumphe der Schlau¬ heit und Verschlagenheit. Euripides aber — der Chorlehrer — wurde unaufhörlich gepriesen: ja man würde sich getödtet haben, um noch mehr von ihm zu lernen, wenn man nicht gewusst hätte, dass die tragischen Dichter eben so todt seien wie die Tragödie. Mit ihr aber hatte der Hellene den Glauben an seine Unsterblichkeit aufgegeben, nicht nur den Glauben an eine ideale Vergangenheit, sondern auch den Glauben an eine ideale Zukunft. Das Wort aus der bekannten Grabschrift » als Greis leichtsinnig und grillig « gilt auch vom greisen Hellenenthume. Der Augenblick, der Witz, der Leichtsinn, die Laune sind seine höchsten Gottheiten; der fünfte Stand, der des Sclaven, kommt, wenigstens der Gesinnung nach, jetzt zur Herrschaft: und wenn jetzt überhaupt noch von » griechischer Heiterkeit « die Rede sein darf, so ist es die Heiterkeit des Sclaven, der nichts Schweres zu verantworten, nichts Grosses zu erstreben, nichts Vergangenes oder Zukünf¬ tiges höher zu schätzen weiss als das Gegenwärtige. Dieser Schein der » griechischen Heiterkeit « war es, der die tief¬ sinnigen und furchtbaren Naturen der vier ersten Jahrhunderte des Christenthums so empörte: ihnen erschien diese weibische Flucht vor dem Ernst und dem Schrecken, dieses feige Sich¬ genügenlassen am bequemen Genuss nicht nur verächtlich, sondern als die eigentlich antichristliche Gesinnung. Und ihrem Einfluss ist es zuzuschreiben, dass die durch Jahrhun¬ derte fortlebende Anschauung des griechischen Alterthums mit fast unüberwindlicher Zähigkeit jene blassrothe Heiterkeits¬ farbe festhielt — als ob es nie ein sechstes Jahrhundert mit—59— seiner Geburt der Tragödie, seinen Mysterien, seinen Pytha¬ goras und Heraklit gegeben habe, ja als ob die Kunstwerke der grossen Zeit gar nicht vorhanden wären, die doch — jedes für sich — aus dem Boden einer solchen greisenhaften und sclavenmässigen Daseinslust und Heiterkeit gar nicht zu erklären sind und auf eine völlig andere Weltbetrachtung als ihren Existenzgrund hinweisen.
Wenn zuletzt behauptet wurde, dass Euripides den Zu¬ schauer auf die Bühne gebracht habe, um zugleich damit den Zuschauer zum Urtheil über das Drama erst wahrhaft zu be¬ fähigen, so entsteht der Schein, als ob die ältere tragische Kunst aus einem Missverhältniss zum Zuschauer nicht heraus¬ gekommen sei: und man möchte versucht sein, die radicale Tendenz des Euripides, ein entsprechendes Verhältniss zwischen Kunstwerk und Publicum zu erzielen, als einen Fortschritt über Sophokles hinaus zu preisen. Nun aber ist » Publicum « nur ein Wort und durchaus keine gleichartige und in sich verharrende Grösse. Woher soll dem Künstler die Ver¬ pflichtung kommen, sich einer Kraft zu accommodieren, die ihre Stärke nur in der Zahl hat? Und wenn er sich, seiner Begabung und seinen Absichten nach, über jeden einzelnen dieser Zuschauer erhaben fühlt, wie dürfte er vor dem ge¬ meinsamen Ausdruck aller dieser ihm untergeordneten Capaci¬ täten mehr Achtung empfinden als vor dem relativ höchst begabten einzelnen Zuschauer? In Wahrheit hat kein griechi¬ scher Künstler mit grösserer Verwegenheit und Selbstgenug¬ samkeit sein Publicum durch ein langes Leben hindurch be¬ handelt als gerade Euripides: er, der selbst da noch, als die Masse sich ihm zu Füssen warf, in erhabenem Trotze seiner eigenen Tendenz öffentlich in's Gesicht schlug, derselben Tendenz, mit der er über die Masse gesiegt hatte. Wenn dieser Genius die geringste Ehrfurcht vor dem Pandämonium des Publicums gehabt hätte, so wäre er unter den Keulen¬—60— schlägen seiner Misserfolge längst vor der Mitte seiner Lauf¬ bahn zusammengebrochen. Wir sehen bei dieser Erwägung, dass unser Ausdruck, Euripides habe den Zuschauer auf die Bühne gebracht, um den Zuschauer wahrhaft urtheilsfähig zu machen, nur ein provisorischer war, und dass wir nach einem tieferen Verständniss seiner Tendenz zu suchen haben. Umgekehrt ist es ja allerseits bekannt, wie Aeschylus und Sophokles Zeit ihres Lebens, ja weit über dasselbe hinaus, im Vollbesitze der Volksgunst standen