Die nachfolgenden „ Wanderungen “wollen dazu beitragen, ein wirkliches Verſtändnis des japaniſchen Volkes herbeizu - führen. Das Buch iſt ein Verſuch, ein Geſamtbild der japaniſchen Geiſteskultur zu zeichnen und das „ Yamato - damashii “d. i. das eigenartige Seelenleben des Japaners auch in ſeinen verborgenen Tiefen zu ergründen. Wenn nun aber hierin die große Schwierigkeit der Aufgabe ſofort ge - geben iſt, ſo beſteht doch kein Grund, vor ihrer Löſung zu - rückzuſchrecken. In Oſtaſien, wo die ganze geiſtig-ſittliche Erziehung ſeit Jahrtauſenden auf die ausgeprägte Heraus - bildung der Volksindividualität unter Vernachläſſigung der Einzelindividualität hinausging, ſind Charakter und Eigenart der Völker an ſich ſchon viel deutlicher erkennbar als bei den Völkern Europas. Kein Beruf aber dürfte beſſere Gelegen - heit bieten, dieſe Eigenart kennen zu lernen, als der Beruf eines Miſſionars. Dieſer mein Beruf hat mich veranlaßt, die Sprache des Landes nicht nur zu erlernen, ſondern zu ſtudieren. Er hat es mir zur Pflicht gemacht, mich mit der Litteratur und Geſchichte des Volkes bekannt zu machen. Er hat mich in enge Berührung mit allen Schichten und Ständen der Bevölkerung, vom Miniſter bis zum Bettelmann, gebracht und hat mir das ſchwer zugängliche Innere des japaniſchen Hauſes und der Familie geöffnet. Als Lehrer der Litteratur, Philoſophie und Theologie war ich in der Lage, die Gedanken - bildung des Japaners unmittelbar zu beobachten, und in meiner ſeelſorgerlichen Thätigkeit durfte ich Blicke in Herzens - tiefen thun, welche dem europäiſchen Kaufmann und Lehrer zumeiſt verſchloſſen ſind. Es dürfte alſo einem Buche wie dieſem zur Empfehlung gereichen, einen Miſſionar zum Ver - faſſer zu haben.
Auf das religiöſe Leben, vorab auf die chriſtliche Miſſion, iſt mit beſonderer Ausführlichkeit eingegangen; und ſo ſehr ſich das Buch auch an das allgemeine Intereſſe eines jeden Gebildeten wendet, ſo wage ich es doch, Miſſionskreiſen gegenüber für dasſelbe den Anſpruch zu erheben, daß es ein Miſſionsbuch iſt. Denn ein inneres Verſtändnis für die Miſſion läßt ſich nur dann gewinnen, wenn dieſelbe im Zu - ſammenhang mit der geſamten Geiſteskultur dargeſtellt wird.
Daß meine „ Wanderungen “immer zu unbeſtritten rich - tigen Zielen führen, maße ich mir nicht an. Der Ausführung einer ſo ſchwierigen Aufgabe kleben naturgemäß Mängel an, welche der freundlichen Nachſicht des Leſers bedürfen. Wenn aber diejenigen, welche an den „ Wanderungen “teilnehmen, dem Buche die Anerkennung zollen, daß es mit Erfolg be - müht iſt, ſich auf dem rechten Wege zu halten, ſo werde ich dafür aufrichtig dankbar ſein.
Sauſenheim, Pfalz, im September 1898.
Carl Munzinger.
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Was iſt ein Miſſionar? Unter der heißen Sonne Afrikas wandert im Wüſtenſtaube einſam ein bärtiger Mann. Aus der Ferne winken die Hütten eines Negerdorfes, im Schatten liegen die Bewohner. Dahin richtet der Mann ſeine Schritte. Man bemerkt ihn, ſein weißes Geſicht erregt die Neugier, das ganze Dorf kommt in Bewegung. Auf einem freien Platze macht der weiße Mann halt, jung und alt ſtrömt dahin zuſammen, und er fängt an zu predigen. Er bleibt die Nacht über da, vielleicht, wenn man ihm freundlich begegnet, auch noch ein paar Tage länger; dann aber ſchüttelt er den Staub von ſeinen Füßen und beginnt aufs neue ſeine Wanderung. Unterwegs überholt er eine Karawane. Er iſt froh, ſich anſchließen zu dürfen; denn zur Rechten hauſt ein räuberiſcher Volksſtamm und zur Linken iſt man nicht ſicher vor den Tieren der Wild - nis. Er benutzt die Gelegenheit, um ſeinen Begleitern von Jeſus zu erzählen, und bei ſeinem Abſchied be - ſchenkt er ſie mit chriſtlichen Traktaten.
Das iſt ſo ungefähr das Bild, welches man immer noch in weiten Kreiſen bei einem Miſſionar im Auge hat: Ein Mann, welcher, beſtändiger Lebensgefahr aus - geſetzt, gequält von Hunger und Durſt, geplagt von Wind und Wetter, bedroht von menſchlichen Feinden,12von wilden Tieren und giftigen Schlangen, von Fieber und Cholera, ruhelos wandert von einem Ort zum andern, um mühſelig hier und dort ein Samenkorn zu ſäen, von dem er doch nicht weiß, ob nicht der Wüſtenſturm es verwehen, ob es nicht an der Wüſtenſonne vergehen wird. Mit dieſem Bild, wie es vielleicht noch zu Li - vingſtones Zeiten als typiſch gelten durfte, hat der moderne Miſſionar kaum noch entfernte Ähnlichkeit. Auch für den Miſſionar ſind heute die äußeren Lebensverhält - niſſe mehr oder weniger geordnete geworden faſt auf allen Miſſionsgebieten. In Japan wohl am meiſten. Dort iſt der äußere Lebensrahmen ſehr wenig verſchie - den von dem unſrigen hier.
Vor allem iſt es ſchon nichts weniger als ein un - wirtliches Land, nach welchem der Miſſionar hier geſchickt wird. Mit dem Volk, welchem es hier zu wohnen ver - gönnt iſt, kann es Gott wahrlich nicht böſe gemeint haben. Nippon1)Das beſte Buch über „ Japan “iſt von dem deutſchen Pro - feſſor J. J. Rein. Ohne dieſes Buch iſt eine gründliche Kennt - nis Japans ſchlechterdings unmöglich. Nippon oder Nihon iſt zuſammengeſetzt aus nichi (ni) = Sonne, Tag und hon = Urſprung. Die angewandte Schreibweiſe japaniſcher Namen und Wörter iſt die allgemein übliche. Die Ausſprache der Vokale iſt die kon - tinentale bezw. deutſche (ausgenommen iſt ei = ee, z. B. Geisha = Geesha), die der Konſonanten die engliſche, d. h. ch = tsch (nichi = nitschi); j = dsch (Fuji = Fudschi); sh = sch (Heishi = Heeschi); y = i, am Anfang der Silbe = j (Tokyo = Tokio; aber yama = jama); z = ds (Zen = Dsen). Die Silben werden gleichmäßig betont; man merke aber Tṓky̆ṓ, nicht Tŏkȳ́ŏ; Ṓsăkắ, nicht Ŏsáka., d. h. Sonnenaufgang, nennt der Japaner mit Stolz ſein Land, und wer es kennt, der weiß, daß der Name trefflich gewählt iſt; der wundert ſich nicht mehr,3 warum die nationale Religion des Shintoismus die Sonne als die höchſte Gottheit bezeichnet. Es iſt ein Sonnenland in des Wortes ſchönſter Bedeutung.
Die Natur, welche im Winter nur kurze Zeit ruht, wird ſchon früh durch die Strahlen der Sonne zu neuem Leben geweckt. Schon Ende Februar blühen die Pflau - menbäume, und Ende März entfaltet der Kirſchbaum ſeinen wunderbar ſchönen Blütenſchmuck. Vom Früh - ling bis tief in den Winter ſind Wald und Feld in einen Garten verwandelt. In allen Farben ſchimmern die Blumen. Was in Deutſchland mühſam in Treib - häuſern gezüchtet wird, wächſt hier wild. Manchmal wenn ich im Walde ſpazieren ging, blieb mein Blick ſinnend haften auf der Schönheit ringsum. Erſt als ich in Japan die Lilien auf dem Felde ſah, lernte ich das Jeſuswort recht verſtehen: „ Schauet die Lilien auf dem Felde an; ich ſage euch, daß auch Salomo in aller ſeiner Herrlichkeit nicht bekleidet geweſen iſt als derſel - ben eine “. Dazwiſchen wiegen ſich die Schmetterlinge und all das bunte Leben, welches ſich in unſerer hei - miſchen Natur regt, findet ſich auch hier. In den Zweigen der Waldbäume vergnügen ſich Affen in ihren Kletterkünſten, und Haſe und Truthahn entfliehen vor dem Nahen des menſchlichen Schrittes. Keine Gefahr wilder Tiere bedroht den Wanderer; denn nur wenig an Zahl ſind die giftigen Schlangen, und der wilde Bär hat ſich zurückgezogen in die unwirtlichen Wälder des Nordens. Anmutig und friedlich iſt das Leben der Tiere. Und über all dem wölbt ſich ſchwarzgrün das ſchützende Dach des Fichtenbaumes oder die himmelan - ſtrebende, majeſtätiſche Ceder.
Doch nicht im kleinen nur, nein auch im großen iſt Japan ein ſchönes Land; nicht großartig zwar1*4wie die Schweiz, ſondern mehr romantiſch und lieb - lich wie die Ufer des Rheins. Grüne Thäler, von Flüſſen durchzogen, wechſeln ab mit romanti - ſchen Gebirgslandſchaften, und zwiſchen dunkeln Bergen eingeſchloſſen liegen herrliche Seen. Hunderte von Fuß hoch ſtürzen ſich rauſchende Waſſerfälle herab, um als friedlich murmelnde Bäche weiter zu wandern. Von allen Seiten des Landes erglänzt weit hinaus das ewige Meer. Der größte Stolz des Japaners aber iſt der Fujinoyama, der in dem Herzen des Landes mitten aus der Ebene heraus, nur wenig niedriger als der Montblanc, majeſtätiſch ſich erhebt und mit ſeiner ſchnee - bedeckten Kuppel weit hinausſchaut als ein treuer Hüter über Land und Meer.
Aber mit dem Schönen lieblich vereint iſt das Nützliche. Die japaniſche Erde iſt nicht nur ſchön, ſie iſt auch fruchtbar. Zwar ſind die Gaben, welche ſie beſchert, meiſt ganz anderer Natur als in Deutſchland1)Eine muſterhafte Darſtellung der landwirtſchaftlichen Ver - hältniſſe giebt der deutſche Gelehrte Prof. Dr. M. Fesca in einem umfangreichen, im Auftrag der japaniſchen Regierung herausge - gebenen Buche: „ Beiträge zur Kenntnis der japaniſchen Land - wirtſchaft “.. An Obſt bringt ſie verhältnismäßig wenig hervor, am meiſten noch Orangen, Kaki und Feigen. Äpfel und Birnen gedeihen nur auf der Nordinſel Yezo, und auch hier nicht zum beſten, die Kirſchen blühen zwar, tragen aber keine Früchte, und die Weintraube hat man ver - gebens verſucht anzupflanzen. Um ſo reicher aber ver - gilt die Reisernte dem Landmann ſeine Mühe. Der Reis bildet weitaus das Hauptprodukt, neben welchem andere Getreidearten wie Hafer, Gerſte und Weizen bedeutend zurückſtehen. Die Kartoffel wird nur ſehr5 ſpärlich gebaut. Dagegen gedeiht der Thee prächtig, und auch Tabak wird nicht wenig gepflanzt. In manchen Gegenden ſieht man große Maulbeerpflanzungen zur Nahrung für den Seidenwurm; denn die Seideninduſtrie bildet einen Haupterwerbszweig. Der Ertrag der Baumwolle iſt nicht unbedeutend. An Nutzholz iſt Überfluß. Sehr brauchbar iſt der Bambus. Wieſen und Kleefelder giebt es ſo gut wie nicht. Viehzucht wird faſt gar nicht getrieben. Der Grund und Boden iſt klein parzelliert, ſo daß man weder zur Bewirt - ſchaftung der Felder noch zum Nachhauſebringen der Ernte der Zugtiere bedarf. An den Ufern der See hat der Fiſcher ſein lohnendes Tagewerk, da die Gewäſſer reichlich bevölkert ſind. Die Jagd wird mehr aus Lieb - haberei denn als Erwerbszweig betrieben. Auch aus dem Innern der Erde werden Schätze gehoben; es giebt Kohlenbergwerke und Kupferminen, doch iſt das Land arm an edeln Metallen. Warme Mineral - und Schwefel - quellen finden ſich in Menge, und von den Kranken des Landes werden ſie fleißig beſucht. In der Ebene reiht ſich Dorf an Dorf und an den Ufern der See liegen blühende Städte. Fürwahr ein reich geſegnetes Land, das ſeine 40 Millionen Einwohner wohl zu ernähren weiß.
Auch das Klima iſt nicht ſchlecht. Zwar iſt der Sommer etwas zu heiß, nicht minder heiß als unter dem Äquator, ſo daß man gern die leichteſten weißen Kleider anzieht, die man auftreiben kann; und auch der Winter iſt nicht ganz nach unſerm Geſchmack, da er zwar nicht viel Eis und noch weniger Schnee bringt, wohl aber beſtändige, Mark und Bein durchdringende, ſchnei - dende Nordwinde vom nördlichen Eismeer und den Steppen Sibiriens her, ſo daß einem ein Pelzmantel6 hier ebenſo gute Dienſte thun würde wie in dem eiſigen Rußland. Aber welches andere Miſſionsfeld bietet denn überhaupt die geſundheitsfördernde Abwechslung zwiſchen Sommer und Winter und welcher Miſſionar möchte die paar Unannehmlichkeiten nicht gerne mit in Kauf nehmen! An Regen hat Japan keinen Mangel. Es regnet wohl doppelt und dreifach ſoviel als in Deutſchland, beſonders in der Regenzeit im Juni und Juli. Da iſt die Luft ſo von Feuchtigkeit geſchwängert, daß das Salz zerfließt und alles Lederzeug, Stiefel und Handſchuhe, ſich binnen weniger Stunden mit Schimmel überzieht. Die ſchönſte Zeit iſt der Herbſt, wo bei milder Luft der Himmel monatelang rein und klar iſt. Da erſcheint Japan ſo recht als das Sonnenland, von ſolch hellem Licht überflutet, wie es in unſerer Heimat faſt undenkbar iſt.
So iſt alſo Japan ein geſundes Land. Der Auf - enthalt daſelbſt bekommt dem Europäer prächtig, ſolange er maßvoll lebt und im Genuß alkoholiſcher Getränke nicht ausſchweifend iſt. Zwar ſind epidemiſche Krank - heiten nicht ſelten; aber von Jahr zu Jahr nehmen ſie an Gefährlichkeit ab, da die Regierung durch die um - ſichtigſten hygieniſchen Maßregeln erfolgreich gegen ſie ankämpft. Wenn ein Miſſionar in China, welchem die Aufreibung der Arbeit und die Unbill des Klimas die Geſundheit zerſtört haben, ſich erholen will, ſo geht er nach Japan, und unter den Tauſenden von Reiſenden, welche alljährlich nach ſeinen freundlichen Geſtaden kom - men, iſt nicht einer, der nicht entzückt wäre von ſeiner Lieblichkeit und Anmut. Aus mehr als einem begeiſter - ten Hymnus heraus hört man’s hindurchklingen: Hier iſt gut ſein, hier möcht’ ich mir Hütten bauen!
Freilich, wo ſo viel Licht iſt, da kann es auch an7 Schatten nicht ganz fehlen. Und Japan hat ſeine Schattenſeiten. Das japaniſche Meer iſt ſtürmiſch. Der Reiſende, welcher von Europa herkommt, hat in der Regel in den japaniſchen Gewäſſern ſeine ſchlechteſte Fahrt. An Fiſcherkähnen und großen Schiffen fordert das Ungetüm alljährlich große Opfer. Manchmal auch wälzt es ſich über weite Strecken des Landes und ſchwemmt Häuſer und Felder hinweg. So ergoß ſich Ende 1896 eine Flutwelle weit hinein in das Land und verſchlang ganze Dörfer und Städte in ihren Waſſern und bereitete 27 Tauſend Menſchen ein naſſes Grab. Was am Abend zuvor noch ein blühendes Paradies geweſen, lag am nächſten Morgen da als das Tohuwabohu eines wüſten Leichenfeldes. Unheim - lich nicht allein zur See, ſondern auch für die Be - wohner des Landes ſind die Taifune, jene ſchrecklichen Stürme, welche durch furchtbare Gewalt Schiffen und Häuſern gleich gefährlich werden. Ein betäubendes Heulen erfüllt die Lüfte und alle Gewalten der Hölle ſcheinen losgelaſſen. Deutſchland wird es noch lange nicht verſchmerzen, daß unſer Kanonenboot Iltis in einem ſolchen Taifun ſeinen Untergang fand. Als die traurige Kunde von dem Verluſte des mir wohlbe - kannten Schiffes kam, gedachte ich mit Wehmut der Erzählungen unſerer wackeren Seeleute, wie ſie ſich freuten, wenn ſie auf dieſer Nußſchale von einem Schiff ſich wieder einmal glücklich durch die Wellen zwiſchen China und Japan hindurch gearbeitet hatten, und wie ſie beſorgten Herzens zu neuer Fahrt ſich anſchickten. Nun hat ſich ihr trauriges Geſchick erfüllt.
Nicht minder ſchlimm ſind die Vulkane. Japan iſt das Land der Vulkane. Bei einer Statiſtik der Vulkane der Erde ſteht Japan mit obenan. Jahr -8 zehntelang ruhen ſie und wiegen die Umwohner in Sicherheit. Im Schoße der Berge aber arbeitet die unheilbringende Kraft raſtlos weiter, bis ſie endlich, wenn man es am wenigſten vermutet, zum verheerenden Ausbruch kommt. Erdbeben ſind ſehr häufig. Im Oktober 1891 fand in dem Centrum des Landes eins ſtatt, bei welchem 10 000 Menſchenleben vernichtet und über 100 000 Häuſer in Schutt und Aſche gelegt wurden. Weitaus die meiſten Erdbeben ſind gänzlich harmlos, aber ſie rufen ein läſtiges Gefühl der Unſicherheit her - vor. Der Gedanke drängt ſich gar zu leicht auf: Noch ein paar Millimeter höher und auch um mein Haus und mein Leben könnte es geſchehen ſein. Es giebt wenig Europäer, die nicht allmählich nervös gegen Erdbeben werden. Ich ſelbſt machte mir jahrelang blutwenig aus Erdbeben, bis zum Sommer des Jahres 1894. Damals ſchickte mich der Arzt, ein deutſcher Profeſſor der Medizin an der Univerſität zu Tokyo, wegen Krankheit auf das Land. Ich war allein in einem Raum der Eiſenbahn und lag lang ausgeſtreckt auf dem Sitze. Plötzlich ein Ruck — und ich lag am Boden. Der Wagen ſchwankte bedenklich hin und her, ſo daß ich nicht anders meinte, als daß es ſich um eine Entgleiſung handele. Auf der nächſten Station aber erfuhr ich, daß es ein Erdbeben geweſen ſei. An einer Stelle, die wir gerade paſſiert hatten, war der Schienenſtrang entzwei geriſſen, in Tokyo und Yokohama waren eine Anzahl Häuſer zuſammengefallen, unter anderen war auch das deutſche Geſandtſchaftsgebäude zerſtört worden. Eine Woche ſpäter mußte ich, am Typhus erkrankt, in das deutſche Marinelazarett nach Yokohama. Das Lazarett, welches vom Reich unter - halten wird, iſt urſprünglich eingerichtet für kranke9 deutſche Seeſoldaten in Oſtaſien, doch finden in ihm auch private Kranke gegen Bezahlung Aufnahme. An der Spitze ſteht ein Marineſtabsarzt; ein deutſcher Lazarettinſpektor und zwei deutſche Lazarettgehilfen ſind ihm beigegeben. An dem Gebäude waren infolge des vorerwähnten Erdbebens die Kamine eingefallen, und es war unheimlich genug zu hören, wie dieſelben nun wieder ausgebeſſert wurden. Da, in einer Nacht um elf Uhr, kam wieder ein ziemlich ſtarkes Erdbeben. Alle Kranke, ſoweit ſie nur noch kriechen konnten, machten ſich flugs aus ihren Betten und ſo raſch wie möglich hinaus in das Freie. Ich aber konnte weder gehen noch kriechen, hilflos preisgegeben der rückſichts - loſen Naturgewalt lag ich da. Zwar ging alles gnädig ab, aber von Stund an war ich nervös gegen Erd - beben.
Man ſieht, ein Erdbeben iſt gerade kein Spaß, aber wer einmal in Japan geweſen iſt, der möchte auch gern eines erlebt haben. So ging es auch einem Marinepfarrer, welcher vor einigen Jahren mit einem deutſchen Geſchwader nach Yokohama kam. Sein Sehnen nach einem Erdbeben ſollte bald geſtillt wer - den. Eines Sonntags vertrat er den deutſchen Geiſt - lichen in unſerer evangeliſchen Gemeinde zu Tokyo. Eine ſtattliche Perſönlichkeit, groß und ſtark, welcher der Lebensmut aus den Augen leuchtete, der man es anſah, daß ſchon mancher Sturm über ſie hin - weggebrauſt war! Mit kräftiger Stimme hob er an, und es paßte trefflich zu dem ganzen Mann, als er die tapferen Worte ſprach: „ Der Chriſt fürchtet ſich nicht, ob auch Berge weichen und Hügel hinfallen “. Da mit einem Mal, mitten in der Predigt drin, be - gann es unter ſeinen Füßen dumpf zu rollen, die Erde10 erbebte, die Wände wankten und die Fenſterſcheiben klirrten — und mit dem Mute des eben noch ſo tapferen Pfarrers war es vorbei, mit fliegendem Talar ſtürzte er herab von der Kanzel dem Ausgang zu. In Deutſch - land mag der Prediger ruhig die kühnſten Worte in den Mund nehmen; er darf beruhigt ſein, daß ſein Mut auf ſolche Weiſe nicht auf die Probe geſtellt wird. In Japan aber darf er nicht vergeſſen, daß er ſich auf vulkaniſchem Boden befindet.
Das ſind nun freilich Dinge, die ſich bei allem Humor doch gefährlich genug anhören. Die Erfahrung aber lehrt, daß ſie in Wirklichkeit ſo gefährlich nicht ſind. Thatſächlich habe ich von keinem einzigen Europäer gehört, der bei einem Erdbeben um das Leben ge - kommen wäre. Der Miſſionar darf alſo ohne große Angſt hinübergehen und darf feſt überzeugt ſein, daß ihm mit Bezug auf das Land ein köſtliches Los ge - fallen iſt, ſo köſtlich wie es ihm auf keinem andern Miſſionsfeld geworden wäre.
Aber noch manche andere große Annehmlichkeiten findet er hier.
Der Miſſionar in Japan hat ſeinen feſten Wohnſitz. Das iſt ja heute ſo ziemlich überall ſo, und wenn uns von Miſſionaren in China erzählt wird, daß ſie all - jährlich monatelang auf Miſſionsreiſen unterwegs ſind, ſo klingt das uns modernen Miſſionsleuten wie eine Geſchichte aus längſt entſchwundener Zeit. Der wan - dernde Miſſionar hat ſich überlebt, hat ſich im Lauf der Zeiten als eine unzweckmäßige Einrichtung heraus - geſtellt. Schon bei dem Vorbild aller chriſtlichen Send - boten, dem Apoſtel Paulus, hat man darauf hingewieſen, daß die Gemeinden, welche er gewiſſermaßen auf der Durchreiſe gründete, ſpäterhin nicht mehr erwähnt werden. 11Man hat vermutet, daß die chriſtliche Grundlage doch zu ſchwach war, um auf die Dauer ſtand zu halten; und wenn es ſchon der eindrucksvollen geiſtesmächtigen Perſönlichkeit des Paulus ſchwer war, in wenigen Tagen nachhaltige Bekehrungen zu bewerkſtelligen, ſo iſt das anderen Miſſionaren geradezu unmöglich. Die Unhalt - barkeit dieſer Methode hat ſich vollends erwieſen in der Jeſuitenmiſſion des Franziskus Xaver. Sein brennen - der Miſſionseifer, der ihn von einem Ort zum andern trieb, ſeine ſchallende Miſſionsparole „ amplius amplius “(„ weiter, weiter “) iſt an ihm ſelbſt und ſeinen Nach - folgern durch den radikalen Zuſammenbruch ſeines Werkes fürchterlich zu ſchanden geworden. Die Sauer - teigsbedeutung des Chriſtentums hatte man überhaupt nicht gekannt und ſeine Senfkornnatur war gründlich miß - verſtanden worden. Heute iſt das anders. Nicht in die Weite geht heute der Miſſionsweg, ſondern in die Tiefe, nicht vielen etwas bieten iſt das nächſte Ziel, ſondern einzelnen alles bieten. Darum ſchweift der Miſſionar heute nicht in die Weite, vielmehr bleibt er an einem und demſelben Ort, um an einzelnen intenſiv zu arbeiten.
Nicht als ob das einſeitig gehandhabt werden ſollte, als ob der Miſſionar an einen und denſelben Ort ge - bannt wäre. Vielmehr darf und ſoll er ab und zu ſeine kleinen Miſſionsreiſen unternehmen. Auch in Japan. Und hieran wurde er auch durch die bis jetzt beſtehende, aber binnen kurzem außer Kraft tretende Beſtimmung nicht gehindert, daß das Innere des Landes dem Fremden verſchloſſen ſei. Zu körperlicher Erholung und zu wiſſenſchaftlichen Unterſuchungen hat die japaniſche Regierung ſtets Päſſe an irgend einen Ort des Landes ausgeſtellt, ſie hat das aber auch dann gethan, wenn es ſich offenkundig um miſſionariſche Zwecke, um Propa -12 ganda - oder Inſpektionsreiſen handelte. Und ruhig darf der Miſſionar ſeine Reiſe antreten. Keine menſch - lichen Feinde bedrohen ihn. In der letzten verlorenen Hütte in dem abgeſchiedenſten Winkel des Gebirges legt er ſich des Abends getroſt zum Schlummer nieder, ſein Haupt iſt ebenſo ſicher wie das des Fürſten von Schwaben, des Grafen Eberhard im Bart, im Schoße ſeiner treuen Unterthanen. Daß das deutſche Reich jemals in die Lage kommen ſollte, ermordeter Miſſionare willen kriegeriſche Expeditionen nach Japan zu ſchicken, iſt nach menſchlicher Vorausſicht vollſtändig ausgeſchloſſen. Zwiſchen Japan und China iſt in dieſer, wie noch in ſo mancher andern Beziehung ein himmelweiter Unter - ſchied. Nur zwei oder dreimal iſt es mir begegnet, daß ich auf der Straße etwas unſanft angeſtoßen wurde, was ich mir gegenüber einer überlegenen Anzahl — und nur dann konnte es vorkommen — ſtets ruhig gefallen ließ. Immer waren es junge[Burſchen], die mit beiden Füßen noch in ihren Flegeljahren ſtanden; dem richtigen, ausgereiften Japaner iſt jede Roheit ein Greuel. Um der Leute willen dürfte alſo der Miſſionar ohne Sorge im Lande umherreiſen, ſelbſt in Zeiten, wo die Wogen politiſcher Erregung hoch gehen; um der Sache willen wird es aber ſtets als Grundſatz gelten müſſen: Der Miſſionar hat ſeinen feſten Wohnſitz.
Er hat ſogar in der Regel ſein europäiſch gebautes Haus. Und das iſt gut ſo. Ich ſelbſt wohnte während der erſten Zeit in einem Hauſe rein japaniſcher Bauart. Die japaniſchen Häuſer ſind aus Holz, die Böden ſind mit dicken Strohmatten belegt, die Stelle des Glaſes an den Fenſtern vertritt transparentes Papier. Sie ſind infolgedeſſen das beſte Brennmaterial, das man ſich denken mag. In der That ſind Rieſenbrände in13 Tokyo nicht ſelten, ſo daß man die Feuersbrunſt die Blume von Yeddo1)So hieß Tokyo vor 1868. Tokyo = öſtliche Hauptſtadt, im Gegenſatz zu Saikyo (Kyoto) = weſtliche Hauptſtadt. genannt hat. Früher rechnete man, daß Tokyo durchſchnittlich in ſieben Jahren einmal voll - ſtändig abbrenne. Heute iſt das durch eine muſter - giltige Feuerwehr bedeutend beſſer geworden. Immer - hin habe ich noch im Jahre 1892 am erſten Oſtertag innerhalb von zwölf Stunden mehr denn fünftauſend Häuſer abbrennen ſehen. Ich kam damals an der Brandſtätte vorbei, und in demſelben Tempo, wie ich ging, ſchlängelte ſich neben mir hin an einem Bambus - zaun entlang die Flamme. Richtige Thüren mit Schlöſſern wie bei uns giebt es am japaniſchen Hauſe nicht. Es ſind Schiebethüren, die aber nicht luftdicht ſchließen. Überall ſind Riſſe und Lücken, durch welche der Wind ſchneidend hindurchbläſt. Ich habe es in dem japaniſchen Haus auf Koſten meiner Geſundheit erfahren müſſen, daß es beſſer iſt, der Miſſionar wohnt in einem ſolid gebauten europäiſchen Wohnhauſe.
Das braucht nun freilich nicht übertrieben zu werden, wie die reichen amerikaniſchen Miſſionsgeſellſchaften das allzu leicht thun. Sind auch die Wohnungen der ameri - kaniſchen Miſſionare im Innern einfach und keineswegs übertrieben gehalten, in ihrem ſehr ſchmuck gehaltenen Äußern ſehen ſich die villenartigen Gebäude, zumal neben den einſtöckigen Hütten der Japaner, wie kleine Paläſte an und fordern die Kritik und den Vorwurf der Üppig - keit geradezu heraus. Vielleicht wäre ein etwas beſcheideneres Ausſehen mehr am Platz, und man hätte gut gethan, beizeiten des Sprichwortes zu gedenken: Wer an die Straße baut, muß ſich meiſtern laſſen. Mit dieſen Miſſionshäuſern können ſich die beiden14 Wohnungen der deutſchen Miſſionare nicht meſſen. Hat doch ihr Bau zuſammen nicht mehr als zwölftauſend Mark erfordert.
Das Innere der Häuſer weiſt europäiſche Ein - richtungen auf. Mit japaniſcher Möblierung käme man nicht weit. Zwar wird bei uns zu Lande viel von japaniſchen Zimmereinrichtungen gefabelt. Wenn man aber in ein japaniſches Zimmer hineintritt, ſo ſieht man ſich erſtaunt um. Nach unſern Vorſtellungen hatte man viel erwartet. Was man aber da vor ſich ſieht, übertrifft auch die kühnſten Erwartungen. Da iſt in einer Niſche ein lang herabhängendes, auf Seide ge - maltes Bild, Kakemono genannt, und darunter etwa noch eine Bronzevaſe, ſonſt aber im ganzen Zimmer nichts, aber auch gar nichts: Kein Tiſch, kein Stuhl, kein Bett, kein Schrank, kein Spiegel, ja ſelbſt nicht einmal ein Ofen. Der Miſſionar muß ſich alſo euro - päiſche Möbel anſchaffen. Die Einrichtung ſeines Hauſes ſieht auf den erſten Blick faſt elegant aus. Man braucht aber nicht einmal ſcharf hinzuſehen, um zu bemerken, daß es eine ſehr ſchäbige Eleganz iſt, die ganze Ein - richtung um ein paar hundert Mark auf Auktionen wegziehender Europäer zuſammengekauft; aber man weiß ſich’s damit wohnlich, heimiſch und bequem zu machen.
Man verbindet mit dem Begriff des Miſſionars gewöhnlich den des Asketen. Wenn man das Wort Miſſionar hört, ſo wacht ſelbſt in dem evangeliſchen Chriſten das alte Mönchsideal auf. Man will ihn nicht haben wie einen andern Menſchen, man mutet ihm Entbehrungen aller Art zu und erwartet von ihm wo - möglich, daß er ſich zu derſelben niedrigen Stufe der Lebensführung herabläßt, auf welcher die Eingeborenen ſtehen. Das aber iſt ein ganz falſcher Asketismus,15 wenn durch denſelben die Schaffenskraft, die man auf dem Miſſionsfeld im vollen Umfang nötig hat, ver - mindert oder gar gebrochen wird. Um ſeiner Berufs - arbeit willen müſſen dem chriſtlichen Sendboten äußere Sorgen und Entbehrungen fern gehalten werden. Er bezieht darum auch ein anſtändiges Gehalt. Der ameri - kaniſche Miſſionar erhält in der Regel 1500 Dollars in Gold jährlich, der deutſche verheiratete früher nur um ein Geringes, jetzt um ein Bedeutendes, der unver - heiratete dagegen um ein ſehr Bedeutendes weniger. Er hat dadurch ſeinen auskömmlichen Lebensunterhalt, große Erſparniſſe machen und Reichtümer anhäufen will er ja nicht.
Ja wenn er japaniſch eſſen und ſich japaniſch kleiden würde, dann würde er kaum die halben Aus - gaben haben. Das iſt aber nicht der Fall. Auch mit Bezug auf Nahrung und Kleidung braucht er ſeinen europäiſchen Gewohnheiten nicht zu entſagen. In China kleidet ſich der Miſſionar wie der Chineſe, er trägt ſogar einen Zopf wie er. Er meint, das thun zu müſſen; hat doch die Erfahrung gezeigt, daß der unbe - zopfte Miſſionar noch größere Schwierigkeiten und Vor - urteile wider ſich hat wie der bezopfte. Die europäiſchen Kaufleute ſchelten freilich nicht wenig, daß man durch ſolches Gebahren die eigene Kultur gegenüber den Chineſen herabwürdige und den ohnehin unleidlichen Nationaldünkel der Söhne des Himmels noch mehr fördere. In Japan iſt von einer ſolchen Akkommodation keine Rede. Jeder Japaner würde es peinlich empfinden, wollte ſich der Miſſionar japaniſch kleiden, und der Gebildete gewöhnt ſich ſelbſt immer mehr an unſere Kleidung. Nicht anders iſt es mit dem Eſſen. Japaniſch eſſen könnte der Miſſionar nur auf Koſten ſeiner körper -16 lichen Kraft und Geſundheit. Denn bei der japaniſchen Mahlzeit fehlt all das, was wir in erſter Linie für nötig halten; da iſt kein Fleiſch, kein Brot, keine Kartoffeln, keine Milch, keine Butter. Warum der Japaner kein Fleiſch, wenigſtens kein Rind - und Schweinefleiſch ißt, weiß er ſelbſt nicht mehr zu erklären, und wenn er bei einem europäiſchen Mahl in die Lage kommt, Fleiſch zu ſich zu nehmen, ſo thut er es anſtands - los. Urſprünglich aber iſt es zurückzuführen auf den Buddhismus, welcher verbot, Tiere zu töten, und das um ſo mehr, als nach ſeiner Lehre von der Seelen - wanderung die Seelen der Abgeſchiedenen leicht in Tiere übergegangen ſein können. Der Hauptbeſtandteil der japaniſchen Mahlzeit iſt der Reis1)Der unvermögende Bauer zieht es freilich vor, ſeinen Reis um gutes Geld zu verkaufen, um ſich mit Weizen und Gerſte (mugi) zu begnügen., und wie wir von Morgen -, Mittag - und Abendeſſen ſprechen, ſo der Japaner von Morgen -, Mittag - und Abendreis. Neben dem Reis ſind es eine ſuppenartige Fiſch - und Muſchel - brühe, roher und gebratener Fiſch, Seetiere und See - gewächſe aller Art, zuweilen auch ein wenig Huhn oder Wildbret, einige Arten von Gemüſe, Schwämme, junge Bambuswurzeln, eingemachte Rüben, eine Art ſüßer Kartoffel, als Deſſert Bohnenkuchen und andere Süßig - keiten und zum Schluß Thee, welche die gewöhnlichen Speiſen bilden. Mitunter trinkt man auch über das Eſſen ein Fläſchchen Saké, ein aus Reis gebranntes alkoholiſches Getränk von ſherryähnlichem ſcharfem Ge - ſchmack, und nach dem Eſſen raucht man ſein Pfeifchen und zwar Mann und Frau, junge Mädchen und alte Großmütterchen. Der Kuchen iſt ſehr ſchwer, die Gemüſe ſind nur halb gar gekocht, die allzu reichlich17 gebrauchte Shoyuſauce giebt den Speiſen einen eigen - artig ſtrengen Geſchmack oder ein allzu ſtarker Beiſatz von Knoblauch macht ſie widerlich ſüßlich. Ich habe noch nie einen Europäer getroffen, welchem das japaniſche Eſſen wirklich gemundet hätte, und wer zu einem japaniſchen Mahl eingeladen war, mußte ſich nachher auf europäiſche Art ſatt eſſen, wenn er nicht in weiſer Vorausſicht das ſchon zuvor beſorgt hatte. Da ich verhältnismäßig oft auf das Land kam, ſo war ich auch oft in der Lage, japaniſch eſſen zu müſſen; ich habe mir infolgedeſſen eine große Fertigkeit in der Handhabung der Eßſtäbchen angeeignet, welche dort die Stelle von Löffel, Gabel und Meſſer vertreten. Wenn man aber zu längerem Aufenthalt auf das Land geht, unterläßt man es nie, ſeinen Koch mitzunehmen und ſich von ihm europäiſch kochen zu laſſen. Denn jeder Fremde hat dort ſeinen Koch. Das ſieht zwar luxuriös aus, iſt aber eine einfache Notwendigkeit. Die Löhne ſind übrigens ſo gering, daß ein Koch keine große Ausgabe bedeutet. Ich war zuerſt bei meinem Kollegen S. in Koſt gegangen. Eines Abends ſagte ich meinem Wagenzieher, daß ich am nächſten Tag eine eigene Haushaltung beginne und daß er mein Koch werde. Das war für ihn eine bedeutende Be - förderung und mit Freuden ging er darauf ein. Auf mein Befragen erklärte er mir, daß er zwar noch nie ſelbſt gekocht habe, daß er aber ſchon manchmal am Herd geſeſſen ſei, wenn der Koch von Herrn S. das Eſſen bereitete. Und ſiehe da, vom nächſten Tag an kochte er mir. Verwöhnt wurde man dabei nicht, aber es ging.
Außer ſeinem Koch hat der Miſſionar in der Regel noch einen Wagenzieher. Auf Schuſters Rappen käme218man in einer Rieſenſtadt wie Tokyo, welche an Ein - wohnerzahl nicht ganz ſo groß wie Berlin, an Umfang aber ſo groß als London iſt, nicht weit. Man würde dabei viel zu viel Zeit verlieren. Man macht es alſo wie der Japaner auch. Man ſetzt ſich in einen kleinen Handwagen, Jinrikſha genannt, und läßt ſich von einem Mann, welcher Kutſcher und Pferd in einer Perſon iſt, ziehen. Die Japaner ſind die beſten Schnellläufer der Welt. In ſtundenlangem, ununterbrochenem Trab brin - gen ſie einen ſchneller an das Ziel, als ein Droſchken - gaul das könnte. Die Sache kommt einem anfänglich wenig menſchenwürdig vor und iſt es auch nicht. Dort aber iſt es eine ſelbſtverſtändliche Sache und niemand, der Jinrikſhamann am wenigſten, findet etwas dabei. Es iſt eine ebenſo bequeme als billige Art der Beför - derung und da durch Abſchaffung dieſer Inſtitution mit einem Schlag Hunderttauſende von Menſchen brot - los würden, ſo iſt ein Ende derſelben zumal bei dem mangelnden Erſatz durch Zugtiere nicht abzuſehen.
Die äußere Lebensführung des Miſſionars in Japan iſt dieſelbe wie die der andern dort anſäſſigen Europäer. Die Abendländer, welche vorerſt nur nach Tauſenden und noch bei weitem nicht nach Zehntauſenden zählen, haben ihren Wohnſitz vornehmlich in den Hafenſtädten. In Tokyo giebt es etwa dreißig ſelbſtändige männliche Deutſche, die faſt alle in japaniſchen Regierungsſtellungen ſind, die meiſten als Profeſſoren. Es iſt eine deutſche Gelehrtenkolonie, wie ſie wohl innerhalb des Deutſch - tums auf der ganzen Erde einzig daſteht. In ſie kommt der deutſche Miſſionar hinein und auch mitbe - zug darauf iſt ſein Los ein beneidenswertes. Es fehlt ihm nicht an geiſtiger Anregung und da die Deutſchen unter ſich geſellig verkehren, — Wirtshausleben giebt es19 nicht —, ſo verbringt er durchſchnittlich wenigſtens einen Abend in der Woche im Kreiſe deutſcher Gemütlichkeit. Unſere Landsleute haben ſich zu einem wiſſenſchaftlichen Verein für Natur - und Völkerkunde Oſtaſiens zuſammen - geſchloſſen, welcher allmonatlich eine Sitzung abhält, wo Wiſſenſchaft und Geſelligkeit gleicher Weiſe gepflegt werden. Beſondere Freude erregte es immer, wenn deutſche Kriegsſchiffe in Yokohama vor Anker gingen. Zwar waren es meiſt alte Schiffe oder kleine Kanonen - boote, auf die man nicht ſehr ſtolz ſein konnte, ſo ſchmuck und blitzblank ſie auch gehalten waren. Um ſo mehr thaten wir uns etwas zu gut auf unſere wackeren Blau - jacken. So ſtramm und ſchneidig wie ſie ſahen die der anderen Nationen denn doch nicht aus! Gern folgte man der Einladung an Bord eines Schiffes, man freute ſich wieder einmal deutſchen Boden zu betreten und an der Seite des wettergebräunten Kapitäns und im Kreiſe immer fröhlicher Lieutenants plauderte es ſich am Tiſche der Offiziersmeſſe gar behaglich. Es iſt alſo trotz der rieſenhaften Entfernung einer vierzigtägigen See - fahrt keine Verbannung, in der man ſich im fernen Oſten befindet, und manchmal klingen einem der Mutter - ſprache ſüße Laute freundlich in Ohr und Herz.
Das iſt das Leben eines deutſchen Miſſionars in Japan.
So wäre denn nach all dem Japan das begehrens - werteſte Miſſionsfeld der Welt! Ein herrliches Land, ein freundliches Volk, europäiſche Wohnung, Kleidung und Nahrung, ein auskömmliches Gehalt, die Freuden der Geſelligkeit: das iſt ja alles, was das Herz begehren mag! Da iſt ja der japaniſche Miſſionar gar kein rechter Miſſionar mehr! Da geht ja der ganze Nimbus, als ob er etwas Beſonderes ſei, von ihm weg! Nun, etwas2*20Beſonderes will der japaniſche Miſſionar nicht ſein. In England iſt man es freilich gewöhnt, den Glorien - ſchein um das Haupt der Miſſionare zu weben, ſie ſind die Heroen der Nation, rechte Übermenſchen. In Deutſchland dagegen braucht ſich der chriſtliche Sendbote nicht gerade über Vergötterung zu beklagen. Hier ſchaut man eher etwas auf ihn herab, wenn man nicht gar ihm feindſelig gegenüberſteht. Aber herabſetzen laſſe ich den japaniſchen Miſſionar doch nicht. Der Poſten eines chriſtlichen Sendboten iſt überall auf der ganzen Erde ein ungemein ſchwieriger, und daß er das iſt, liegt nicht ſowohl in äußeren Verhältniſſen als in inneren Gründen. Mögen ihm auch die Annehmlichkeiten und der Komfort des Lebens zu Genüge zur Verfügung ſtehen, ſo iſt das doch nur der äußere Lebensrahmen, der mit dem, was der Miſſionar iſt und ſchafft, im letzten Grunde wenig zu thun hat. Darauf kommt es an, was innerhalb dieſes Rahmens iſt. Der Kaufmann lebt im Auslande und macht ſeine Geſchäfte mit den Eingeborenen, und wenn es ihm gelingt, ſo iſt er ſeines Lebens froh und er fühlt ſich wohl im fremden Land und tief drinnen regt ſich, was er bewußt nicht zugeben möchte: ubi bene, ibi patria. Der deutſche Lehrer in der Fremde geht in ſeine Schule und erteilt ſeinen Sprachunterricht oder hält ſeine Vorleſungen, und wenn er damit fertig iſt, ſo hat er ſeine Schuldigkeit an den Fremden gethan und er geht nachhauſe und gehört nun ſich ſelbſt und lebt ſich ſelbſt. Dem Miſſionar aber ſchlagen wenige Stunden, da er ſich ſelbſt gehört und ſich ſelbſt leben kann; ſein ganzes Leben bedeutet ein faſt ununter - brochenes Sichhingeben. Er hat an Seelen zu arbeiten und wenn er das auch nur mit einigem Erfolg thun will, ſo muß er tief innerlich eingehen auf das Seelen -21 leben des Volkes ſowohl wie des einzelnen. Die äußere Akkommodation mag ihm erſpart bleiben, aber geiſtig und ſeeliſch heißt es für ihn, den Juden ein Jude und den Griechen ein Grieche zu werden. Für den Apoſtel Paulus, der dieſen weiſen Miſſionsgrundſatz zuerſt auf - geſtellt hat, war das nicht ſo ſchwer wie für den heutigen Miſſionar. In den Wänden ſeines Heimathauſes ſog er die jüdiſche, auf den Straßen ſeiner Heimatſtadt die griechiſche Lebensluft ein. Beide Weltanſchauungen, nicht bloß die des orthodoxen Judentums, ſondern auch die des Hellenismus, waren ihm von Kind auf nicht fremd, wenn er auch mitbezug auf letztere ſich deſſen nicht einmal bewußt war. Der Miſſionar aber, welcher ſich heute nach Japan begiebt, tritt dort auf einen ihm gänzlich unbekannten, im vollen Sinne des Wortes antipodiſchen Boden. Das geiſtige Weſen des Japaners iſt von dem unſrigen durchaus verſchieden, nach ſeinem geſchichtlichen Werden ſowohl als nach ſeinem urſprüng - lichen Weſen, nach ſeinen formalen Erſcheinungsweiſen nicht minder als nach ſeinem materialen Inhalt. Dieſes Geiſteslebens völlig Herr zu werden, ſowohl in theo - retiſcher Aneignung als in praktiſcher Anwendung, iſt für den Weißen eine Unmöglichkeit, ſintemalen er nicht aus ſeiner weißen Haut herausfahren kann. Das darf ihn aber von dem ernſten Verſuche nicht abhalten, in inniger Hingabe an den Volkscharakter denſelben wenigſtens bis an die Grenzen der Möglichkeit zu durch - dringen. Das iſt die eine ungeheure Schwierigkeit des Miſſionsberufs. Die Löſung dieſer Aufgabe nimmt Jahre in Anſpruch; und darum iſt es auch kein leeres Gerede, wenn man ſagt, daß die rechte Wirkſamkeit für einen Miſſionar erſt nach mehrjähriger Arbeit beginne, und mit Recht dringen unſere Miſſionsgeſellſchaften22 darauf, daß der Miſſionsberuf Lebensberuf ſein ſolle. Der Miſſionar, welchem es aus irgend welchen Urſachen nicht vergönnt war, dieſer Forderung zu genügen, empfindet, wenn anders er ehrlich gegen ſich ſelbſt iſt, die Berechtigung dieſer Forderung ſelbſt am ſchmerz - lichſten. 1)Das gilt auch von dem Verfaſſer ſelbſt. Von Anfang 1890 war er während 5½ Jahren in Japan thätig. Zerrüttete Geſundheitsverhältniſſe nötigten ihn zur Erholung in der Heimat und haben es ihm nicht wieder geſtattet, wie er gewollt, nach Japan zurückzukehren. Aber innerlich konnte er ſich nicht ſo raſch von dort losreißen, im Geiſte unternahm er noch manche Wan - derung in das eigenartig anziehende Leben dort drüben und ſo entſtanden in der friedlichen Stille einer kleinen pfälziſchen Dorf - pfarre dieſe Skizzen — zwiſchen Ähren und Reben. Die Schilderungen beruhen auf eigenen Anſchauungen. An wenigen Stellen ſind Bücher zurate gezogen worden, weshalb die Litteraturangaben beſchränkt ſind.
Auf dem Miſſionsfeld iſt es keine leere Phraſe, von der ſtreitenden Kirche zu ſprechen. Der Miſſionar draußen ſteht im Felde, er iſt ein Kämpfer, ein Krieger. Der Preis, um den er kämpft, ſind Menſchenſeelen. Bei dieſem Ringen um Seelen aber beſteht die Gefahr, daß auch das Seelenleben des Kämpfers nicht bloß an - geregt, ſondern aufgerieben wird. Was die Kräfte chriſtlicher Sendboten in Japan verzehrt und ihre Geſundheit vor der Zeit bricht, ſind nicht äußere Ein - flüſſe; das iſt vielmehr die Schwere der inneren Er - fahrungen. Es giebt gegenwärtig kein Schlachtfeld, wo die Geiſter heftiger aufeinander ſtoßen, kein Miſſions - feld, wo der Kampf zwiſchen Altem und Neuem, zwiſchen Aufklärung und Religion, zwiſchen Heidentum und Chriſtentum ſo heiß tobt und ſo leidenſchaftlich geführt wird wie in Japan. Es giebt kein Gebiet, wo ſo viele23 Hoffnungen verheißungsvoll winken und ſo viele Ent - täuſchungen des Kämpfers harren. Jeder Tag bringt neue Siege, jeder Tag bringt neue Niederlagen. Von einem Extrem geht es in das andere, raſch, unvermittelt. Wo man vor zehn Jahren davon redete, daß Japan in einem Vierteljahrhundert chriſtlich ſein werde, da iſt man heute geneigt, an jedem auch beſcheidenen Erfolg zu verzweifeln. Der Wind der Volksgunſt wechſelt wie der Wind draußen. Man weiß nie recht, woran man iſt. Wo man glaubte, eine Schanze im Sturm erobert zu haben, wird man plötzlich wieder zurückgeworfen; wo man völlig ſich in Sicherheit wiegte, kehrt uner - wartet der böſe Geiſt ſiebenfach zurück; und umgekehrt, wo man meinte, ſchon weichen zu müſſen, bleibt man mit einem Mal unverhofft ſiegreich. Ein beſtändig wogender Kampf, ohne Ruh, ohne Raſt, wo jede Stunde neue Freuden und neue Leiden, jede Minute neue Überraſchungen bringen kann. Eine faſt ununterbrochene Aufregung, mehr als ſonſt irgendwo, und darum trage ich kein Bedenken, den Poſten eines Miſſionars in Japan den ſchwerſten von allen zu nennen. Mehr als ſonſtwo muß der Miſſionar in Japan eine ungemeine Spann - kraft beſitzen, er muß den Gummimännchen gleichen, die man oft als Spielzeug in Schaufenſtern ausgeſtellt ſieht, welche, wenn man ſie umwirft, ſofort von ſelbſt wieder aufſtehen. Wer im Sturm erobern will, wer mit dem ungeſtümen Geiſt eines Franziskus Xaver an das Werk geht, wer nicht zufrieden iſt, Schritt für Schritt, nein Zoll für Zoll in ſtiller, beſcheidener, müh - ſeliger Arbeit voranzukommen, iſt auf dem japaniſchen Miſſionsfeld, und auf jedem andern auch, nicht an ſeinem Platz. Es ſind gewöhnlich feurige Seelen, die es hineintreibt in den Kampf der Geiſter; aber die Stillen taugen mehr als die Feurigen.
24Manch ein Miſſionar iſt hinübergezogen in das fremde Land, getragen von ſtürmender Begeiſterung und freudigem Schaffensmut, die Segel geſchwellt von ſtolzen Hoffnungen; manch einer kehrte zur Heimat zurück mit zerfetzten Segeln, ein gebrochener Mann. Was ſein Name verſprach, das Land des Sonnenaufgangs hat es ihm nicht gehalten. Es iſt allein der ſtille Helden - mut einer nie ermüdenden Geduld, der ſchließlich den Siegespreis davon trägt.
Es war ein glücklicher Gedanke, die Miſſion mit dem Menſchenſohn, d. h. dem leidenden Heiland, zu vergleichen. Der Miſſionsweg iſt heute noch, wie zu des Apoſtels Paulus Zeiten, rauh und hart; es iſt der Kreuzesweg nach Golgatha; wer aber das Kreuz trägt, den ſchmückt auch eine Dornenkrone. Was den Miſſionar allein aufrecht hält unter der Laſt ſeines Kreuzes, iſt die erbarmende Jeſusliebe zu der armen heidniſchen Menſchheit und die in Gott gegründete gläubige Hoff - nung auf den endlichen Sieg. Per crucem ad lucem!
Die japaniſche Sprache gehört zu der altaiſchen Gruppe. Sie iſt für den Europäer eine der ſchwierigſten der Erde. Zwar das Küchen - und Kuli-Pidjin-Japaniſch, welches die europäiſche Hausfrau ihrer Dienerin gegen - über ſpricht oder der europäiſche Herr dem Taglöhner gegenüber, iſt ſehr einfach. Aber um die Sprache gründlich zu erlernen, bedarf es jahrelanger Studien. Und auch dem Japaner ſelbſt koſtet es bis zu ihrer Beherrſchung, ſoweit von einer ſolchen überhaupt die Rede ſein kann, unendlich viel Aufwand an Zeit und Mühe.
Wenn das japaniſche Kind zur Schule kommt, lernt es zunächſt leſen und ſchreiben nach dem japa - niſchen Kanaſyſtem; und wie man bei uns die deutſche und die lateiniſche Schreibweiſe hat, ſo unterſcheidet man dort zwiſchen Katakana und Hirakana. Das Kana iſt eine Silbenſchrift, d. h. jedes Zeichen bedeutet eine Silbe. Einzelne Buchſtaben oder vielmehr Kon - ſonanten wie f, m, t giebt es nicht, ſondern nur Silben wie fu, mi, ta. Dabei ſind einige unſerer gebräuch - lichſten Laute wie ti, tu, ſi, we, wu, fa, fi, fe, fo ꝛc. dem Japaner gänzlich unbekannt. Am ſonderbarſten iſt, daß er l und r — oder, wie er es ausdrückt, das lange und das kurze r — nicht von einander zu unter -26 ſcheiden vermag. Dadurch kommen die unglaublichſten Dinge vor. Statt Glas ſagt er Gras, ſtatt bekümmern bekümmeln und ſtatt ankleiden ankreiden; aus einem Rudel Rehe macht er ein Luder Lehe und Leben und Reben ſind ihm völlig eins. Ich korrigierte einmal einen Aufſatz, in welchem ein junger Student einen Spaziergang beſchrieb. Da ſtand unter anderm zu leſen: „ Der flöhliche Hund (ſtatt „ der fröhliche Hund! “) lief neben mir her “. Im ganzen neigt ſich die Aus - ſprache etwas mehr zu r als zu l, genau umgekehrt wie im Chineſiſchen, wo r und l auch in einem Laut zuſammenfallen, der aber mehr nach l hin ausgeſprochen wird. Die Zeichen, beſonders die des Katakana, ſind von einer faſt ſtenographiſchen Einfachheit, ſo daß es ſich bei einiger Übung raſcher mit ihnen ſchreiben läßt als mit unſerer Schrift. Ihre Zahl beläuft ſich auf ungefähr zweihundert, und wenn man zum Leſen und Schreiben nicht mehr nötig hätte als ſie, ſo wäre die Arbeit kaum größer als für unſere deutſchen Kinder mit den großen und kleinen Buchſtaben des deutſchen und lateiniſchen Alphabets.
Aber — und hier liegt die Schwierigkeit — die japaniſchen Zeichen werden mehr oder weniger nur als Lückenbüßer gebraucht, und ob man auch die Kanaſchrift noch ſo gut beherrſcht, ſo kann man doch noch nicht eine einzige Zeitung damit leſen. Nur einzelne Bücher, vorzüglich ſolche, welche für Frauen beſtimmt ſind, ſind in reinem Kana geſchrieben, darunter auch chriſtliche Geſang - und Andachtsbücher, und auch zur Lektüre der Bibel kann man zur Not mit Kana auskommen. Im übrigen reicht aber das Kana ſelbſt für die be - ſcheidenſten Anſprüche nicht aus. Es iſt notwendig, eine gewiſſe Kenntnis der chineſiſchen Schrift ſich an -27 zueignen. Im Chineſiſchen wird jedes Wort durch ein beſonderes Zeichen ausgedrückt. Es giebt alſo etwa ſo viele verſchiedene Zeichen, als die Sprache Worte hat, d. h. viele tauſende. Auch der einfache Mann in Japan braucht ſeine tauſend bis fünfzehnhundert Zeichen, während dem Gebildeten drei bis ſechstauſend bekannt ſein dürften.
Aber nicht genug damit, zu jedem Zeichen müſſen auch wenigſtens zwei verſchiedene Worte bezw. Aus - ſprachen gelernt werden, ja mitunter ſogar noch mehr. Ein und derſelbe Begriff lautet in der Schriftſprache ganz anders als in der Umgangsſprache. So iſt für das Zeichen für „ Berg “neben dem Wort „ yama “der geſprochenen Sprache noch das Wort „ san “für die Schriftſprache zu merken; das Zeichen für „ Markt “wird „ ichiba “geſprochen und „ shijo “geleſen und der gut japaniſche Name „ Hajime “wird in der Schrift - ſprache mit „ Ryo “wiedergegeben. Es iſt alſo in ge - wiſſem Sinn eine faſt völlig neue Sprache, welche das japaniſche Kind in der Schriftſprache zu erlernen hat.
Die Schriftſprache iſt ein gekünſteltes Syſtem auf chineſiſcher Grundlage. Nur in der Umgangsſprache haben wir die eigentlich japaniſche Sprache, nur in ihr ſpiegelt ſich die ganze japaniſche Denkweiſe rein und unverfälſcht wieder. Darum iſt ethnologiſch nur die Umgangsſprache von Intereſſe.
Gewiſſe und nicht unrichtige Bemerkungen bezüg - lich des Charakters der Umgangsſprache können auch von dem ſchon gemacht werden, welcher ſelbſt gar kein Japaniſch verſteht, wenn ſich ihm eine Gelegenheit bietet, das Japaniſche mit dem ihm gegenüberſtehenden Deutſchen rein äußerlich zu vergleichen, z. B. bei einer deutſchen Rede mit ſich anſchließender japaniſcher Über -28 ſetzung. Mehr als einmal bin ich gefragt worden, woher es denn komme, daß der Überſetzer faſt die doppelte Zeit des Originalvortrags brauche; die japa - niſche Sprache ſcheine breiter zu ſein als die deutſche. Dieſe Bemerkung iſt zutreffend. Das Denken des Japaners fühlt ſich mit der Art und Weiſe, in welcher wir unſere Gedanken auszudrücken pflegen, nicht be - friedigt. Der Japaner hat das Bedürfnis möglichſt großer Anſchaulichkeit und ſieht ſich darum veranlaßt, ein etwa vorliegendes engliſches oder deutſches Original nach dieſer Seite hin zu erweitern. Bei der Lektüre von japaniſchen Vorträgen von Abendländern kam es vor, daß ich durch die Bemerkung „ Seiyō-kusai “(„ das riecht nach Europa “) unterbrochen wurde. Auf meine Frage: warum? lautete die Antwort, weil es zu kurz ſei, das Japaniſche bedürfe noch einiger Erweiterungen, um die Handlung lebendiger und den Fortſchritt an - ſchaulicher zu machen. Der Europäer iſt mit dem Ge - danken zufrieden; nicht ſo der Japaner: durch Auge und Ohr, durch Geruch und Geſchmack und Gefühl treten die Vorſtellungen als empiriſche Realitäten in ſeinen Geiſt ein. Er denkt mit ſeinen fünf Sinnen, und der Ausdruck dieſes Denkens, das iſt die Sprache, ſteht unmittelbar auf dem Grunde der Wahrnehmung. Die konkrete Wirklichkeit iſt ihre Lebensluft.
Daher iſt die japaniſche Rede, ſei ſie öffentlich, ſei ſie Unterhaltungsrede, ſehr beweglich. Phantaſie, Ausmalung, nicht was wir mit genialer Phantaſie be - zeichnen würden, ſondern im Sinne einer Fertigkeit, nämlich der Fertigkeit, im gegebenen Fall anſchaulich zu illuſtrieren, eignet dem Japaner in hohem Maße. Mit bewundernswerter Schlagfertigkeit weiß er ſtets einen konkreten Gegenſtand zu finden, um einen Ge -29 danken anſchaulich zu machen. Erzählungen, an welchen die japaniſche Nation zum Teil durch chineſiſche Erb - ſchaft ſehr reich iſt, finden oft und paſſende Verwendung als Illuſtrationen. Häufige Anſpielungen und halb ausgeführte oder auch nur angedeutete Bilder, welche der Rede manchmal gradezu den Charakter des Brillanten verleihen, tragen zur Lebendigkeit nicht wenig bei. Sprichwörter, meiſt ſcharf und ſchlagend, aus dem Volk hervorgegangen und bei allen Kulturvölkern in der Volksſprache noch mehr daheim als bei den Gebildeten, werden mit Vorliebe verwendet und ſind noch Gemein - gut des ganzen Volkes. Weitaus die meiſten Illuſtra - tionen aber ſind der nächſten Umgebung entlehnt, nahe - liegende Dinge aus dem alltäglichen Leben, darum aber, wenn recht verwertet, einleuchtend und packend, beſonders förderlich dem Witz, welcher ſich in der derben draſtiſchen Realiſtik, wo ſich die Gegenſtände ſcharf und grell abheben, am wohlſten fühlt. Neben dem äußerſt beliebten und ſtets belachten, aber für unſern Geſchmack meiſt faden Spielen mit Worten oder Wortſpiel, bei welchem die japaniſche, wie überhaupt oſtaſiatiſche Vorliebe für die Form im Gegenſatz zu dem Gedanken recht auffällig zu Tage tritt, wird gerade auf dieſem Gebiete geiſtreiche Witzigkeit und Witzelei häufig erzielt: wie denn die Japaner im amüſanten Gerede Meiſter ſind.
Aus der Poeſie der Natur und des Menſchenlebens wird in der Umgangsſprache wenig illuſtriert. In - folge deſſen bleibt der Ausdruck trotz aller Beweglich - keit proſaiſch. Als ſinnliche Malerei iſt der Ausdruck ähnlich dem aller Natur - und der Natur noch naheſtehen - den Stände der Kulturvölker, wie wir ihn vorzüglich in dem Kindheitsalter der Völker finden, ſo in den uralten30 Religionsurkunden der Semiten wie in den urgeſchicht - lichen Schöpfungen Indiens und Griechenlands. Doch ermangelt die japaniſche Realiſtik weſentlich der ſanften Sinnigkeit und glühenden Phantaſie der Semiten, wie auch der genialen Großartigkeit der Indogermanen. Sie ſchwingt ſich nicht auf zu reinen Gebilden der Phantaſie, den Boden der Wirklichkeit verliert ſie nicht unter den Füßen. Sie verliert ſich darum nicht in phantaſtiſch unſinnigen Phraſen, wird aber auch nicht voll gerecht dem Gedankenzug in des Menſchen Bruſt, welcher über dieſe Erde hinausdrängt. Der Grieche ſah Leben in jedem Strauch und jedem Halm, der Strahl der Sonne und das Wehen des Windes, welche ihm Empfinden verurſachen, beſitzen ſelbſt Empfindung; der Semite ſah überall die unmittelbare Thätigkeit göttlicher Perſönlichkeiten; und dieſes Leben, welches das Auge des Geiſtes ſah, ſpiegelte ſich wieder in der Sprache. Für den Japaner aber iſt die ganze Natur ein Me - chanismus, eine gut gehende, aber tote Maſchine und dieſe Anſchauung findet ſich als Proſa in ſeiner Sprache wieder. Die Sprache hat ſich eben mehr unter dem Einfluß der nüchternen chineſiſchen Anſchauung als unter dem des naturperſonifizierenden Shintoismus entwickelt; wo - mit aber nicht geſagt ſein ſoll, daß die mechaniſche Weltanſchauung dem Japaner rein anerzogen iſt; ohne Zweifel war in ihm von vorn herein eine ſtarke Nei - gung nach dieſer Richtung hin vorhanden. Mit Recht rühmt man dem Japaner einen ſympathiſchen Zug für die Natur und ihre Schönheiten nach, was mit der mechaniſchen Weltbetrachtung keineswegs in Widerſpruch ſteht. Aber weder die Millionen von Gedichten, welche man alljährlich an die blühenden Pflaumenbäume hängt, noch auch die Thatſache, daß die meiſten Japaner,31 ſoweit ſie einigermaßen Bildung beſitzen, auch Gedichte machen, haben es vermocht, ihrer Umgangsſprache einen poetiſchen Charakter zu verleihen.
Die japaniſche Beredſamkeit beſteht daher weſent - lich in der Fertigkeit des „ shaberu “, ein Wort mit welchem der Europäer unwillkürlich den Begriff des „ Schwätzens “verbindet, ohne daß es ſich jedoch voll mit dieſem Be - griff deckt. Etwas mehr bedeutet „ shaberu “denn doch und „ unterhaltend und fließend reden “dürfte der Be - deutung des Wortes wohl nahe kommen. Eine gute Rede muß fließen, wie der Vortrag eines „ hanashika “(Erzähler), jener ſo ausgeprägt japaniſchen Erſcheinung, die der innerſten Natur der japaniſchen Sprache ent - ſpricht. Der Vokalreichtum der Worte macht die Sprache leicht und fließend, beraubt ſie der Schwere, Wucht und Feierlichkeit, welche der deutſchen Sprache in ſo hohem Maße eignen, während das Harte, Stählerne und Ein - förmige des Klanges ihr die Tiefe und Innigkeit an - derer vokalreichen Sprachen, wie z. B. der romaniſchen, nimmt. Die Rede gleicht dem Bach mit ungehindert guter Strömung, nicht dem Strom mit ſeiner geheimnis - vollen Tiefe, noch auch dem Waldbach mit ſeiner idyl - liſchen Poeſie.
Manche japaniſche Rede hat mich lebhaft an die Predigt eines Landpfarrers erinnert, freilich nicht an die nicht ſeltene Spezies, welche mit unfehlbarer Sicher - heit dem müden Landmann die Augen zudrückt zu ſüßem, friedlichem Schlummer, ſondern vielmehr an die entgegen - geſetzte Art, wo eine dem Verſtändnis und Intereſſen - kreis des Bauern angepaßte anſchauliche und draſtiſche Darſtellung à la Abraham a Santa Clara ſich paart mit nicht allzu dick und nicht allzu tief geſäten Gedanken. Es iſt eine bekannte Thatſache, daß die Japaner bis32 zu ſechs und acht Stunden Vorträge anhören können, ohne zu ermüden oder einzuſchlafen. Nach dem, was wir hörten, kann uns dieſes nicht mehr wunderbar er - ſcheinen. Es iſt die lebendige Anſchaulichkeit der Rede, welche ihn vom Schlaf errettet, und die verhältnis - mäßig langſame und wenig Geiſtesarbeit erfordernde Art der Gedankenmitteilung, die ihn vor Ermüdung ſchützt. Ich war einmal ſo unvorſichtig, einem Japaner gegenüber zu bemerken, daß eine japaniſche Predigt für mich leichter ſei als eine deutſche, da man nicht ſo viele Gedanken brauche; eine japaniſche Predigt, welche eben dieſelben Gedanken enthalten ſolle, wie eine zuvor ent - worfene deutſche, ſei unmöglich, da ſie kein Ende nehme. Gefallen hat ihm dieſe Äußerung nicht, aber um ſo wahrer iſt ſie geweſen.
Für den Europäer, welcher[japaniſch] ſprechen ſoll, bieten ſich daher große Schwierigkeiten. Wenn er es nicht verſteht, ſich in den Geiſt der japaniſchen Sprache zu verſetzen, ſo redet er leicht abſtrakt und langweilig oder aber unverſtändlich. Andrerſeits liegt die Gefahr vor, ſich in die Breite zu verlieren; für den, der die Sprache nicht voll beherrſcht, liegt der bequeme Gebrauch von Lückenbüßern, deren es nicht wenige giebt, ver - führeriſch nahe; außerdem werden Bilder, der Alltäg - lichkeit entlehnt, leicht fade und abgeſchmackt in einem nicht ſehr geſchickten Munde. Wir geben hier ein Bei - ſpiel einer Ausdrucksweiſe, welche zwar nicht das Extrem des japaniſchen Ausdrucks giebt, und auch bei uns in derſelben Weiſe gebraucht werden kann und gebraucht worden iſt, welche aber doch ein Bild der japaniſchen Art bietet. Ein Miſſionar hielt einen Vortrag über die Allgemeinheit des Böſen und zur Illuſtration be - merkte er: „ Wie ſieht es wohl in Tokyo aus? Wenn33 wir die Dächer aller Häuſer in Tokyo abhöben, ſo daß von oben geſehen auch nicht ein Winkel verborgen bliebe, und darnach bände man uns Flügel um, und wir flögen über die Stadt, in jedes Haus hineinſchauend, was würden wir da alles Schlechte ſehen “; und nun folgt eine eingehende Beſchreibung dieſes Schlechten. Das Bild wurde aus europäiſchem Munde ſcharf getadelt. „ Wozu erſt Häuſer abdecken und ſich Flügel wachſen laſſen, wo man doch einfach per pedes durch die Haus - thür kann? Das iſt höchſt albern. Geht hinein in die Häuſer und ſehet! würde genügt haben “. Gut! Gewiß aber iſt, daß der Miſſionar ſich im Geiſt der japaniſchen Sprache ausgedrückt hat, und daß jene Worte, ſelbſt in noch breiterer Ausführung, im Munde eines Japaners für japaniſche Ohren gut geklungen haben würden.
Schon der Anfang des Geſprächs ſowohl als auch der Rede pflegt auf Koſten des Gedankens breit zu ſein. Der Japaner liebt es, weit auszuholen, ängſtlich ver - meidend, mit der Thür ins Haus zu fallen. Bei einem Beſuch ſofort mit ſeinem wirklichen Anliegen heraus - zukommen oder bei einer Rede mit dem erſten Wort in medias res zu gehen, iſt beides unjapaniſch. Die Menge von Redensarten, welche dem Japaner über das Wetter, den Weg und andere naheliegende Dinge zur Verfügung ſtehen, rufen manchmal unſere Ver - wunderung hervor. Wir fragen uns: Warum das alles? und ſind geneigt, es auf die Etiquette als den Grund zurückzuführen. Daß es auch Etiquette iſt, geben wir zu; daß es nur Etiquette iſt, weiſen wir zurück; es iſt dem Japaner Bedürfnis. Als ein euro - päiſcher Freund nach einer japaniſchen Verſammlung etwas verwundert zu mir ſagte: „ Heute fingen alle Reden mit „ konnichi “(heute), „ koko “(hier) oder334„ watakushi “(ich) an “, fand ich das nur natürlich. Der Redende hat das Bedürfnis, ſich zuerſt einen feſten Punkt in Raum oder Zeit, d. h. in der ſinnlichen Welt, zu ſchaffen, oder er vergewiſſert ſich ſeines eigenen Ich, auf daß er mit dem eigentlichen Inhalt ſeiner Rede nicht ſozuſagen in der Luft ſchwebe. Auch innerhalb der Rede ſelbſt, ſobald ein neuer Begriff auftaucht oder ein neuer Gegenſtand erörtert werden ſoll, bedient ſich der Japaner einleitender oder veranſchaulichender Phraſen.
Am unmittelbarſten zeigt ſich der Charakter des Japaniſchen als Anſchauungsſprache in dem Reichtum an onomatopoetiſchen Wörtern, oder beſſer an Natur - lauten. Denn nicht ſolche Sprachteile ſind darunter zu verſtehen, welche wie unſer „ ziſchen, krächzen “ꝛc. ſelbſtändige Wörter bilden. Dieſelben werden in der Regel ſehr raſch und in Nachahmung von Naturlauten nicht ſehr artikuliert geſprochen, ſo daß ſie etwas ſchwer zu verſtehen ſind. Der Europäer, welcher nicht jedes einzelne japaniſche Wort zu unterſcheiden vermag, läßt ſie ſich leicht entgehen und hat keine Ahnung von ihrer außerordentlichen Häufigkeit; und zwar finden ſich die - ſelben nicht nur im Geſpräch, ſondern auch im Vortrag. Man begnügt ſich nicht damit, zu konſtatieren, daß der Donner rollt; um den Eindruck auf das Gefühl recht lebhaft zu machen, fügt man das Geräuſch hinzu, wie der Donner rollt („ gorogoro “bei dem dumpfen Rollen des fernen, „ gachigachi “bei den ſcharfen Schlägen des nahen Gewitters). Man iſt nicht damit zufrieden, zu ſagen, daß die Sonnenſtrahlen auf dem Tau flimmern, man drückt das prickelnde Gefühl, das beim Anſchauen in den Nerven entſteht, ſinnlich im Wort aus („ pikapika “).
Es iſt der Verſuch einer Nachbildung der Wirklich - keit auf dem Gebiete des Hörens etwas Ähnliches, wie35 auf dem des Sehens diejenigen chineſiſchen Zeichen, welche einfach Bilder, Photographien der entſprechen - den Dinge ſind; nennen wir es Gehörsideographie. Man fühlt ſich hier noch näher dem Urſprung der Sprache, wie ſie ſich aus dem unmittelbaren Ausdruck der inneren Gemütsbewegung oder in Nachahmung von Außengeräuſchen entwickelt hat. Wir Europäer haben uns mehr und mehr daran gewöhnt, das Urteil auf Grund einer zu ergänzenden ſinnlichen Erfahrung zu ſtatuieren; Völker, welche der Natur nahe ſtehen, haben mehr das Bedürfnis, die ſinnliche Erfahrung ſelbſt that - ſächlich zum Ausdruck zu bringen. Eine Art von Über - gang finden wir in den ländlichen Dialekten unſerer deutſchen Bevölkerung, wo der Naturlaut verhältnis - mäßig noch ſtark vertreten iſt, während er aus der gebildeten Sprache faktiſch verſchwunden iſt.
Was nicht im Einklang mit der ſinnlichen Erfahrung iſt, iſt dem Sprachbewußtſein des Japaners mehr oder weniger fremd. So legen z. B. wir Europäer abſtrakten Begriffen Thätigkeiten bei, als wären dieſelben wirklich thätige Individuen, und wir haben dabei nicht das geringſte Bedenken. Anders der Japaner. Daher ſind in der japaniſchen Sprache abſtrakte Begriffe an und für ſich ſchon viel ſeltener als bei uns. Die japaniſche Sprache kennt z. B. wohl einzelne Gedichte (uta, shi); für den abſtrakten Begriff der Poeſie hat ſie kein Wort. Sie lebt im einzelnen und beſonderen, die Zuſammen - faſſung des einzelnen zum allgemeinen iſt nicht vollzogen.
Auch auf Koſten eines großen Umwegs vermeidet der Japaner abſtrakten Gedankenausdruck, wenn er dadurch denſelben konkret und anſchaulich wiedergeben kann. Der Japaner weiß z. B., daß der Lehrer lehrt, weil er das täglich ſieht; daß aber die Geſchichte uns3*36etwas lehrt, begreift er nicht, weil er die Geſchichte nicht ſinnlich wahrnimmt. Anſtatt: „ Die Geſchichte lehrt uns “ſagt er darum: „ Wenn wir die Geſchichte unter - ſuchen, ſo lernen wir “(rekishi wo shirabemasureba, … wakarimasu). Nehmen wir ein anderes Beiſpiel: „ Die Erfahrung zeigt, daß das Gute belohnt und das Böſe beſtraft wird “. Wie die Erfahrung, die doch weder Mund noch Finger hat, etwas zeigen ſoll, begreift der Japaner nicht. Noch verſteht er, wie man das Gute belohnen kann, da es doch keine Hand hat, mit welcher die Belohnung in Empfang zu nehmen, oder wie man das Böſe beſtrafen kann, da es doch nicht hand - greiflich iſt wie ein Mörder oder Dieb, den man in das Gefängnis ſteckt. Er ändert darum den Satz völlig um; den abſtrakten Begriff „ Erfahrung “macht er konkret, an Stelle von „ das Gute “und „ das Böſe “ſetzt er die guten und die böſen Menſchen, ſo daß der Satz lautet: „ Wenn wir den Zuſtand dieſer Welt betrachten, ſo wiſſen wir, daß die Guten Lohn und die Böſen Strafen erhalten “(kono yo no sama wo mimasureba, yoi hito wa yoi mukui wo uru warui hito wa batsu wo ukeru to iu koto ga wakarimasu). So betrachtet ſich der Japaner die Einzelfälle und die Einzelweſen, und macht dieſe zum unmittelbaren Untergrund ſeines Urteils. In dieſer konkreten Sinnlichkeit, und nur in ihr, beſitzt er unan - taſtbare Wahrheit.
Wir ſprechen von dem Hauch der Freiheit, dem Schwert der Gerechtigkeit und dem Zahn der Zeit. Für den Japaner ſind ſolche Allegorien der barſte Unſinn. Wir ſagen: „ Die Arznei hat mich gerettet “; „ der Schuß hat ihn getötet “; der Japaner aber kann ſich lebloſe Dinge wie „ Arznei “und „ Schuß “nicht thätig vorſtellen und ſagt darum: „ Durch die Arznei wurde ich gerettet “37und „ von der Gewehrkugel getroffen ſtarb er “. Es iſt eine ungeheure Kluft, welche durch dieſe Eigentümlichkeit zwiſchen dem europäiſchen und dem japaniſchen Gedanken - ausdruck geſchaffen wird. Kein Wunder, wenn es mit - unter die größten Schwierigkeiten macht, chriſtliche Ge - dankengänge in dieſer von Perſonifikation völlig ent - blößten Sprache wiederzugeben; kein Wunder auch, wenn bei dem japaniſchen Mangel einer lebendigen Ideen - welt mancher japaniſche Prediger zu deutſchen oder, ge - wöhnlicher, engliſchen Worten greift, die ſich im Zu - ſammenhang einer japaniſchen Predigt allerdings ſeltſam genug ausnehmen.
Eine konkrete Ausdrucksweiſe, wie die erwähnte, erſcheint dem „ common sense “, dem gemeinen Verſtand, leicht als die allein berechtigte. Für den „ common sense “iſt einzige Realität das Einzelding, der Begriff iſt nur ein „ nomen “, keine „ res “, kein „ ens “. Wie ſich die Sache aber vom Standpunkt einer tieferen Weltanſchau - ung aus verhält, iſt eine andere Frage, auf welche hier freilich nicht eingegangen werden kann. Es genüge zu bemerken, daß die japaniſche Ausdrucksweiſe die anſchau - lichere und lebhaftere, die indogermaniſche, ganz unab - hängig davon, ob ſie wahr oder falſch iſt, die tiefere und konziſere iſt, ohne doch dem Schwung der Rede Eintrag zu thun. Als ein entſchiedener Mangel erſcheint uns die japaniſche Ausdrucksweiſe bei der Perſonifizierung der Ideale und idealen Lebensgüter, welcher wir ein gut Teil der Schönheit unſerer Sprache verdanken. Für den Japaner iſt das Ideal ein nackter Begriff. Kunſt und Wiſſenſchaft, Weisheit und Schönheit, Geiſt und Gemüt, welche dank unſerer indogermaniſchen Ent - wicklung für uns lebendige Realitäten ſind, ſind für ihn tot. Daß der ſchöpferiſche Geiſt des Ariers in den Be -38 griffswörtern ſeiner Sprache gleichſam lebendige produk - tive Weſen ſchafft, die nicht mechaniſch zuſammengefügt, ſondern mit innerer Lebenskraft begabt ſind, daß er ſei - nen Hauptwörtern ein Geſchlecht beilegt und ſie dadurch bezeichnend belebt, beweiſt, daß ſeine Auffaſſung eine geiſtige iſt. Daß der Geiſt des Oſtaſiaten für lebendige ſchaffende Begriffe kein Verſtändnis zeigt, daß die Dinge, geſchlechtslos, für ihn tot ſind, beweiſt, daß ſeine Auf - faſſung eine ſinnliche iſt.
Auffallend für uns und doch im Zuſammenhang des Ganzen natürlich iſt der Charakter des Unperſönlichen in der japaniſchen Sprache. Sie zeigt nicht nur Züge des Unperſönlichen im einzelnen auf, vielmehr zieht ſich das Unperſönliche durch die ganze Sprache hindurch als eines ihrer bezeichnendſten Merkmale. Auffallend tritt das zu Tage in der möglichſten Vermeidung perſönlicher Fürwörter. Es hat ſtark den Anſchein, als exiſtiere im Japaniſchen das perſönliche Fürwort nicht um ſeiner ſelbſt willen, als ſei es nicht dazu vorhanden, die Perſon des „ ich “, „ du “oder „ er “zu beſtimmen, ſondern als exiſtiere es nur als ein Hilfsmittel zur Vermeidung von Unklarheiten des Sinnes. Überall da, wo das perſön - liche Fürwort ſich von ſelbſt ergiebt, wird es ausgelaſſen. „ Kinō Ueno ye mairimashita “heißt je nachdem: „ Ich, er oder ſie ging, wir oder ſie gingen geſtern nach Ueno “. Nur die zweite Perſon iſt durch die dabei verwendete Höflichkeitsform („ o ide ni narimashita “anſtatt „ mai - rimashita “) klar erkennbar. Eine beſtändige Wiederho - lung der Fürwörter, auch der poſſeſſiven, wie in unſeren Sprachen klingt dem japaniſchen Ohr lächerlich.
Aber nicht bloß da, wo es ſich um ein perſönliches Fürwort als Subjekt handelt, fehlt dasſelbe; ſelbſt auch in Fällen, wo ein Satzteil mit „ ga “oder „ wa “, welche39 gewöhnlich als Subjektspartikeln betrachtet werden, vor - handen iſt, geht dem Japaner das Bewußtſein eines Subjekts in unſerm Sinne ab, ſo daß im Grunde jeder Satz unperſönlich iſt. Was iſt der Grund? Man ſollte doch meinen, daß dem wahrnehmenden Geiſt · die Dinge als ſolche am nächſten liegen. Das Dingwort ſollte alſo das Weſentlichſte der Sprache ſein, womit denn auch zugleich dem Subjekt, das ja in der Regel mit einem Dingwort identiſch iſt, eine leitende Stelle ange - wieſen würde.
Eine ſolche Vorausſetzung iſt nicht unbedingt zuzu - geben. Ebenſowohl wie das Ding iſt die Handlung Gegenſtand der Wahrnehmung. Neben der Eleatiſchen Philoſophie des Seins und der Ruhe giebt es eine Heraklitiſche des Werdens und der Bewegung; beide aber liegen auf dem Gebiete der Wahrnehmung; die Bewegung geht noch keineswegs über dieſelbe hinaus. Ja, pſychologiſche Beobachtung von Kindern wird ſogar zeigen, daß die Bewegung, die Thätigkeit, die Handlung den primitiven Geiſt am meiſten feſſelt. Das wogende Meer erregt die Aufmerkſamkeit des Kindes in höherem Grade als der unbewegliche Berg; das laufende Pferd betrachtet es mit größerem Intereſſe als das ſchönſte Pferd in Ruhe. So ſteht denn im Japaniſchen das Verbum als der Ausdruck der Bewegung im Mittel - punkt der Anſchauung und im Mittelpunkt der Sprache. Wenn dieſe Bevorzugung dann auch dem Prädikat im weiteren Sinne wie z. B. hoch ſein, rot ſein ꝛc. zu teil wird, ſo liegt das nur in der Kon - ſequenz des Geſagten. Denn was an einem Berg dem primitiven Geiſt zuerſt auffällt, iſt natürlich nicht, daß da ein Berg iſt, ſondern daß da etwas Hohes iſt, alſo ſein Hochſein, ſein Attribut; Berg iſt erſt abſtrahiert40 das Hochſein iſt unmittelbar für die Wahrnehmung vor - handen. Was die Aufmerkſamkeit des Kindes auf das Licht lenkt, iſt der rote Glanz. Gegenüber der Handlung ſelbſt tritt der Handelnde, gegenüber dem Attribut das Ding in den Hintergrund. Daher die Subjektsloſigkeit und folglich Unperſönlichkeit der japaniſchen Aus - drucksweiſe.
Mit der konkreten Darſtellungsweiſe ſcheint die Subjektsloſigkeit nicht im Einklang zu ſtehen. Von unſerm europäiſchen Bewußtſein aus empfinden wir einen Satz ohne Subjekt als etwas Totes und Abſtraktes. Es wäre aber gänzlich verfehlt, dieſes Urteil auf die japaniſche Sprache anzuwenden. Für den Indogermanen iſt das Subjekt — das Subſtantiv — ſelbſt etwas Lebendiges, Thätiges und Bewegliches; denn es hat Leben im Geſchlecht und Bewegung in der Flexion. Fehlt es, ſo vermiſſen wir naturgemäß ein gut Teil Leben und Bewegung. Im Japaniſchen aber iſt das Subſtantiv etwas Totes und Ruhendes. Das Geſchlecht iſt ihm fremd, ſogar ſo ſehr, daß es auch da, wo es empiriſch vorhanden iſt, das heißt in der Tierwelt (die Menſchenwelt allein iſt ausgenommen), doch möglichſt vermieden wird. Eine Flexion hat das Subſtantiv nicht. Starr und ſteif bleibt es unverändert dasſelbe. Ganz anders dagegen das Verbum mit ſeiner außer - ordentlichen Mannigfaltigkeit der Flexion. Das Verbum iſt das Prinzip des, wenn auch ſeelenloſen, mechaniſchen, Lebens und der Bewegung im japaniſchen Satz. Mag auch das Subjekt fehlen oder mag es eine untergeordnete Stellung haben, die Beweglichkeit und Anſchaulichkeit der Sprache wird dadurch nicht berührt.
Die japaniſche Sprache als Sprache der empiriſchen Anſchauung iſt alſo zugleich auch unperſönlich. Wahrneh -41 mung und Unperſönlichkeit gehören viel mehr zuſammen, als wir oft zu denken geneigt ſind. Finden wir ſie doch in enger Gemeinſchaft zuſammen in dem Kind! Das Kind, noch nicht zu vollem Selbſtbewußtſein erwachſen, ſteht ganz innerhalb der Wahrnehmung; und gerade das Kind iſt es, welches ſich beſonders unperſönlich aus - drückt. Das Kind ſpricht von ſich in der dritten Perſon und redet einen andern in der dritten Perſon an. Für das Kind iſt alles und jeder weder ich noch du, ſondern etwas Neutrales, ein Daſeiendes, ein Ding, gleichwie der Japaner das Wort „ mono “(Ding) von Sachen und Perſonen gleicherweiſe gebraucht. Wenn alſo der Japaner unperſönlich, ſubjektslos denkt und ſpricht, ſo hat das ſeine Urſache darin, daß ſein Stand - punkt der der empiriſchen Anſchauung iſt.
Mir iſt es zweifellos, daß die Entwicklung der japaniſchen Sprache von dem Verbum bezw. von dem Prädikat ausging. Das Verbum nimmt in ihr die erſte Stelle ein. Ein Studium der Sprache, welches mit dem Verbum beginnt, iſt darum das Naturgemäße, und weil es das Naturgemäße iſt, auch das Empfehlenswerte. Jeder, der Japaniſch ſtudiert hat, weiß: Wer das Verbum beherrſcht, und nur wer das Verbum beherrſcht, meiſtert die Sprache. Die Methode, welche mit dem Subſtantiv beginnt und dann erſt noch das Adjektiv, das Zahlwort und Fürwort bringt, ehe ſie zum Verbum kommt, iſt ſehr anfechtbar. Im beſonderen wieder iſt es an - gebracht, mit reinen Anſchauungsſätzen zu beginnen und nicht mit der Eintrichterung einzelner Worte. Denn das einzelne Wort iſt abſtrakt, der Wahrnehmungsſatz ſpiegelt die konkrete Wirklichkeit wieder. Für jeden Menſchen ſteht die Wahrnehmung im Vordergrund, ſie bildet die Grundlage des Denkens und folglich auch der42 Sprache. Mehr aber noch, erkennbarer und ſichtbarer jedenfalls, als in andern Sprachen, ſpielt ſie in der japaniſchen eine große Rolle. Alſo mache man den Wahrnehmungsſatz zur Grundlage! Und zwar beginne man mit Dingen des alltäglichen Lebens, da dieſelben für den Japaner von großer Bedeutung ſind.
Aber auch der einzelne Wahrnehmungsſatz iſt noch nicht konkret genug. Er bleibt abſtrakt, ſo lange er nicht in einem ihm entſprechenden Zuſammenhang ſteht. Die Wirklichkeit des Lebens äußert ſich als eine zu - ſammenhängende, wenigſtens ſucceſſive Wahrnehmung. Eine Übung wie: „ Der Lehrer lehrt; Hannibal beſiegte die Römer; die Katze fängt Mäuſe “ſchlägt der Wirk - lichkeit des Lebens höhnend ins Geſicht. So wie die Wirklichkeit des Lebens ſich vollzieht, darnach richtet ſich die Sprache beim Kind, darnach ſollte ſie ſich auch beim Studium richten.
Die japaniſche Sprache verträgt keine gekünſtelte und abſtrakte Methode. Denn ſie ſelbſt iſt urſprünglich. Sie iſt der genaue Ausdruck des inneren Eindrucks und darum an Schärfe und Deutlichkeit unſeren durch die Grammatik abgeſchliffenen Sprachen vielfach überlegen. Im Japaniſchen hat ſich die Kunſt lediglich nur der geſchriebenen Sprache zugewendet; die geſprochene wuchs auf wild und ohne Zucht, hat ſich dadurch aber ihre Natürlichkeit bis heute noch bewahrt und damit ihre Stärke und Schwäche zugleich.
Um einen richtigen Begriff von der erwähnten Ur - ſprünglichkeit, der Übereinſtimmung von Grammatik und Logik zu bekommen, iſt es eigentlich nötig, dieſes ganze Kapitel in Betracht zu ziehen. Hier ſeien nur noch einige wenige Beiſpiele dafür angeführt. Angenommen es tritt jemand in ſein Zimmer und ſieht, daß jemand43 anderes darin war, ſo fragt er: „ Wer war in dieſem Zimmer? “ Der Japaner aber fragt: „ Kono heya ni haitta no wa dare desu? “wörtlich: „ Der in dieſes Zimmer Eingetretene iſt wer? “ In unſerem deutſchen Satz iſt „ wer “grammatiſch das Subjekt, „ war (iſt ein - getreten) “iſt das Prädikat. Dieſes ſtimmt aber mit dem Sinn des Satzes keineswegs überein, d. h. es iſt unlogiſch. Logiſch iſt weder „ wer “das Subjekt, noch „ iſt eingetreten “das Prädikat. Um das logiſche Ver - hältnis herauszubringen, brauchen wir nur zu fragen: „ Um wen oder was handelt es ſich? “ Um wen handelt es ſich alſo hier für den Fragenden? Doch um den, der das Zimmer betreten hat; ihn will er wiſſen; und um was handelt es ſich weiter? Darum, wer er iſt. Alſo iſt logiſch „ der in das Zimmer Eingetretene “das Subjekt und „ iſt wer? “iſt das Prädikat. Dieſes logiſche Verhältnis bringt der japaniſche Satz klar und ſcharf zum Ausdruck.
Ebenſo verhält es ſich z. B mit dem Satz: „ Wenige Menſchen thun das Gute “. Soll etwa von „ wenige Menſchen “etwas ausgeſagt werden? Keineswegs. Viel - mehr ſoll von Gutes thuenden Menſchen etwas konſtatiert werden, und zwar, daß ihrer wenige ſind. Alſo ſagt der Japaner ganz richtig: „ Das Gute thuen (de) Menſchen ſind wenige “(zen wo nasu hito ga sukunai).
Nehmen wir den Satz: „ Das japaniſche Parlament zählt 300 Mitglieder “. Dieſer Satz giebt den logiſchen Sinn ganz unrichtig wieder. „ Der japaniſche Reichs - tag “iſt Subjekt, „ zählt “iſt Prädikat, und „ 300 Mit - glieder “iſt Objekt. Was iſt aber die Hauptſache? Um was handelt es ſich? Um den „ japaniſchen Reichs - tag? “, um „ zählt? “, um „ 300 Mitglieder? “ Nein, es handelt ſich um „ die Zahl der japaniſchen Parlaments -44 mitglieder “; die ſoll feſtgeſtellt werden, ſo daß es ſich dann weiter darum handelt, feſtzuſtellen, wie viele es ſind. Dieſes logiſche Verhältnis drückt der Japaner auch grammatiſch im Satz aus, indem er ſagt: „ Die Zahl der japaniſchen Reichstagmitglieder iſt 300 “(Nippon no kok’kwaigin [no kazu] wa sambyakunin desu).
Wie ſcharf die japaniſchen Glieder ſich hervorheben, wo die deutſchen farblos neben einander ſtehen! Zwar iſt es ja auch unſerer Sprache noch möglich, ſich in Übereinſtimmung mit der Logik auszudrücken, oft aber nicht, ohne dem Satz bedeutenden Zwang anzuthun und das Sprachgefühl des Hörers zu verletzen.
Es iſt nicht eine beſtimmte Art von Sätzen, um die es ſich hier handelt, und für das ganze Gebiet der Sprache müſſen wir darum die Notwendigkeit betonen, unſere Sprachen erſt logiſch umzubilden, ehe man in das Japaniſche überſetzt. Eine wörtliche japaniſche Überſetzung eines mit der[ſcharfen] Logik des natürlichen Menſchenverſtandes zurecht geformten Satzes wird in der Regel richtig ſein. Man hat alſo die Sätze in Übereinſtimmung mit dem wirklichen Verhältnis ihres Inhalts zu überſetzen auf Grund des Prinzips, daß ſich der Japaner in ſtrenger Übereinſtimmung mit der inneren und äußeren Situation ausdrückt.
Dieſem Prinzip, welchem die Abweſenheit einer ausgebildeten Grammatik unmittelbar zur Seite ſteht, entſpricht die außerordentliche Mannigfaltigkeit der ja - paniſchen Ausdrucksweiſe. Das gleicht der regelloſen, bunten Verwirrung eines natürlichen Gartens, wo das einzelne noch nicht beſchnitten iſt mit dem Meſſer des Gärtners und von ſeiner Hand noch nicht in zwängende Beete eingeſchloſſen iſt. Das wächſt natürlich, gemäß innerer Notwendigkeit und äußerer Freiheit. An unſere45 Gebundenheit gewöhnt können wir es kaum begreifen, daß der Japaner, ohne irgendwie ſeiner Sprache Zwang anzuthun, ein Sätzchen von ſechs Worten einige Dutzend Mal variieren kann. Ich will mich mit einer kleinen Probe begnügen, indem ich einige Variationen des Satzes: „ Dieſes Zeichen iſt gut geſchrieben “gebe.
Die Zahl dieſer Variationen ließe ſich durch kleine Veränderungen bis auf ſechzig bringen. Das ſieht nun allerdings wie Spielerei aus und der Unkundige iſt verſucht, ungläubig zu lächeln. Und doch klingen alle dieſe Formen dem japaniſchen Ohr natürlich, darum weil ſie direkte Ausdrücke einzelner Vorſtellungen ſind. Ein jedes Ding und ein jeder Vorgang läßt ſich von verſchiedenen Seiten betrachten, und die Vorſtellungs - bilder im Geiſt ſind mehr oder weniger verſchieden je nach der Art der Betrachtung. Die Fähigkeit, dieſe verſchiedenen Nuancierungen auch möglichſt direkt und getreu wiederzugeben, hat ſich die japaniſche Sprache mehr bewahrt als die unſrigen, während man ſie andrer - ſeits wegen Mangels an feſten Formen von dem Vor - wurf einer gewiſſen Zerfahrenheit nicht freiſprechen kann.
46Wie übrigens der Japaner denſelben Vorgang je nach der Auffaſſungsweiſe verſchieden ausdrückt, ſo hat er auch für ein und dasſelbe Ding je nach ſeiner Er - ſcheinungsform verſchiedene Worte. Für uns iſt Reis gleich Reis, ob er auf dem Felde wächſt oder auf dem Speicher lagert oder in der Schüſſel dampft. Nicht ſo für den Japaner. Für ihn ſind das lauter verſchiedene Dinge, die er auch verſchieden bezeichnet. Der Reis auf dem Feld heißt „ ine “, der Reis auf dem Speicher d. h. der ungekochte „ kome “, der gekochte Reis, wenn ich ihn ſelbſt eſſe, „ meshi “, wenn ihn aber eine zweite Perſon ißt d. h. in der Höflichkeitsſprache „ gozen “, und wenn ihn ein Kind ißt, „ mama “. „ Ich eſſe „ ine ““würde dem Japaner ſo lächerlich klingen, wie wenn man von einem Menſchen ſagte, daß er Gras eſſe.
Es iſt die Beſtimmtheit der Anſchauung, welche daraus hervorleuchtet und, ſo indirekt die Art des Japaners im Verkehr iſt, ſo direkt und beſtimmt iſt er im einzelnen Ausdruck. Wir ſagen: „ Der Vater bringt den Kindern ſtets Reiſegeſchenke mit “. Dem Japaner iſt dieſes „ ſtets “zu unbeſtimmt und allgemein. Der Japaner löſt auf, wo der Deutſche zuſammenfaßt, ver - einzelt, wo der Deutſche verallgemeinert, individualiſiert, wo wir generaliſieren. Der Japaner denkt logiſch, „ ſtets “das iſt doch wohl „ jedesmal “, wenn er zurückkehrt, und überſetzt folgerichtig: „ Otottsan ga maido kodomo ni miyage wo motte mairimasu “.
Im Anfang meines japaniſchen Aufenthalts iſt es mir oft begegnet, daß ich Schüler, die mich beſuchten, fragte: „ Nani gakkō ye irasshaimasu ka? “wörtlich: „ Welche Schule beſuchen Sie? “ Nun würde der deutſche Knabe auf eine ſolche Frage ſofort ſeine Antwort geben; hier aber wurde ich auf meine Frage gewöhnlich groß47 angeſchaut und in dem weitgeöffneten Auge ſtand deut - lich zu leſen: „ Ich habe Sie nicht verſtanden? Was meinen Sie? “ Die deutſche Frage mit „ welche “oder „ was für eine “iſt zu abſtrakt und unbeſtimmt. Der Japaner fragt: „ Doko no gakkō ye irasshaimasu ka? “oder „ nan to iu gakkō ye irrasshaimasu ka? “ ; er fragt alſo ganz beſtimmt nach dem Ort oder nach dem Namen der Schule. So würde man auch nicht fragen: „ Aus welcher Gegend ſind Sie? Welches iſt Ihre Heimat? “, ſondern ganz beſtimmt: „ Wo iſt Ihr Land? “ „ Anata wa doko no kuni desu ka? “oder „ O kuni wa doko de gozaimasu ka? “
Wie mit dem Ort, ſo inbezug auf die Zeit. So würde eine wörtliche Überſetzung von: „ Welches iſt das Geburtsjahr Luthers? “japaniſch unverſtändlich ſein. Der Japaner will direkt wiſſen, um welchen Gegenſtand es ſich handelt, und da es ſich hier nicht um irgend ein unbeſtimmtes „ welches “dreht, ſondern ganz klar und deutlich um eine Zeitbeſtimmung, ſo gebraucht er nicht das unbeſtimmte Fragepronomen, ſondern das beſtimmte Zeitpronomen; er ſagt alſo: „ Luther wa itsu umaremashita ka? “oder noch logiſcher: „ Luther no umareta toshi wa itsu desu ka? “
Der Unterſchied der deutſchen und japaniſchen Aus - drucksweiſe iſt nicht auf räumliche und zeitliche Ver - hältniſſe beſchränkt. Nehmen wir ein Beiſpiel, welches auf einem ganz andern Gebiet liegt, z. B.: „ Was iſt Herr Mayeda? “ Die wörtliche Überſetzung: „ Maye - dasan wa nan desu ka? “würde nicht verſtanden werden. Der Japaner ſagt: „ Was thut (treibt) Herr Mayeda? “ „ Mayedasan wa nani wo suru hito desu ka? “ Bei dem Unterricht mit Kindern gilt bei uns in Europa der katechetiſche Grundſatz, die Fragen, dem Verſtändnis des48 Kindes angepaßt, ſo präzis als möglich zu ſtellen, und gerade auf ſolche Dinge wird der junge Lehrer oft hingewieſen. In Japan noch durch die Sprache des ganzen Volkes, in Europa durch die Sprache der Kinder - ſchule — hier wie dort genau dasſelbe!
In Japan geborene Kinder europäiſcher Eltern lernen das Japaniſche eher und leichter als ihre Mutter - ſprache; auch in Europa geborene und vor dem zehnten Lebensjahr nach Japan gekommene Kinder eignen ſich das Japaniſche fabelhaft raſch und korrekt an und bedienen ſich mit Vorliebe einer Sprache, welche ihren Eltern als der Inbegriff alles Schwierigen erſcheint. Worin hat das ſeinen Grund? Man führt es gewöhn - lich darauf zurück, daß die japaniſchen Wörter leichter und gefälliger in der Ausſprache ſind als die unſrigen; man vergleiche nur uma für Pferd, ume für Pflaume, tabi für Strumpf. Ohne Zweifel iſt dieſer Grund nicht zu unterſchätzen. Der tiefere Grund aber, welcher auch praktiſch mindeſtens ebenſo ſchwer wiegt, iſt in dem Um - ſtand zu ſuchen, daß die japaniſche Ausdrucksweiſe dem kindlichen Geiſt homogen iſt und dem Faſſungsvermögen und der Anſchauungsweiſe eines Kindes weit mehr ent - ſpricht als unſere zur Mannesreife entwickelten Sprachen.
Entſprechend dem ſonſtigen konkreten und beweg - lichen Charakter ſeiner Sprache hat der Japaner durch - weg eine Vorliebe für das Aktivum. Denn das Aktivum bedeutet Thätigkeit und Beweglichkeit und verdient darum ſtets den Vorzug vor dem Paſſivum, welches Leiden, Unthätigkeit, Ruhe ausdrückt, Qualitäten, welche für einen Geiſt, der ſich vom Beweglichen am meiſten feſſeln läßt, keinerlei Anziehung beſitzen. Wo irgend möglich wird darum das Paſſiv vermieden. „ Dieſes Haus wurde voriges Jahr gebaut “, überſetzt man aktiviſch:49 „ Dieſes Haus haben (ſie) voriges Jahr gebaut “„ kono iye wa kyonen tateta “. Im Lateiniſchen würde in Fällen wie „ im Senat wurde beſchloſſen “ſtets die paſſive Konſtruktion eintreten; im Deutſchen oder Engliſchen tritt ſie gewöhnlich, aber nicht ausſchließlich ein; und im Japaniſchen tritt ſie möglichſt überhaupt nicht ein. Der gebildete Deutſche empfindet den Unter - ſchied, ob er ſich aktiviſch oder paſſiviſch ausdrückt, kaum irgendwie; der deutſche Bauer dagegen empfindet ihn; auch er wird ſtets das Aktiv vorziehen. „ Im Reichstag wurde beſchloſſen “klingt ihm unbequem; „ im Reichstag haben ſie beſchloſſen “, „ voriges Jahr haben ſie hier ein Haus gebaut “, iſt ihm das Geläufigere. Und ſo iſt es im Japaniſchen durch die Sprache des ganzen Volkes hindurch. Daß dieſe Ausdrucksweiſe die konkretere und anſchaulichere iſt, iſt unbedingt zuzugeben.
Von hohem Intereſſe iſt das Fehlen der Futur - formen. Denn wenn einzelne Grammatiker von einem Futur I und einem Futur II reden, ſo beruht das auf einer falſchen Auffaſſung der unbeſtimmten oder dis - junktiven Präſens - und Präteritumsformen. Eine ſolche Auffaſſung liegt darum nahe, weil das Futur als Aus - druck von etwas noch nicht Realem oft auch der Aus - druck einer Unbeſtimmtheit iſt, ſo daß mitunter unſer Futur mit der japaniſchen Unbeſtimmtheitsform wieder - zugeben iſt.
Die Frage, warum der Japaner Gegenwart und Vergangenheit, aber keine Zukunft hat, iſt unſchwer zu beantworten. Gegenwart und Vergangenheit ſchließen erfahrungsgemäße Wirklichkeit in ſich. Die Gegenwart lebt unmittelbar in der Welt der Wirklichkeit; ſie iſt daher beſonders bevorzugt, indem oft ſogar deutſche Perfekta in ihr ausgedrückt werden, wenn ein Mißver -450ſtändnis nicht zu befürchten iſt; dies gilt insbeſondere von negativen Antworten auf vorhergehende Fragen. Die Vergangenheit hat es mit Erinnerungsbildern einer objektiv erfahrenen Wirklichkeit zu thun. Beide, Gegen - wart und Vergangenheit, haben realen feſten Boden unter ſich, und wenn eine der beiden fehlte, ſo würde das dem Geiſt der japaniſchen Sprache durchaus widerſprechen.
Die Zukunft dagegen hat es mit Nichtwirklichem zu thun; die Zukunft iſt ein unbekanntes dunkles Land, wo der Fuß keinen feſten Halt zum Stehen findet, wo die Hand anſtatt greifbarer Wirklichkeit verfließenden Nebel zu faſſen bekommt und das Auge nichts klar und deutlich zu erkennen vermag. Wenn es dem konkreten, realen Sinn des Japaners widerſtrebt, ſich in einem ſolchen Lande heimiſch zu machen, ſo können wir uns darüber nicht groß wundern, da es mit ſeinen übrigen Neigungen durchaus im Einklang ſteht. Etwas, was er als wirklich kennt, kann er negieren und er thut es im Negativum. Wo aber von vornherein nichts der Art vorhanden iſt wie bei der Zukunft, fehlt ihm der Ausdruck. Hier tritt nun vermöge ſeiner Auffaſſung und überhaupt nach der Auffaſſung des primitiven Geiſtes, welcher die Zukunft als etwas Unbeſtimmtes, Fließendes und Ungewiſſes erfaßt, die Form der Un - beſtimmtheit oder disjunktive Form oft da ein, wo wir in unſern Sprachen das Futurum ſetzen. Daß das Futurum dem Naturmenſchen mit ſeinem konkreten Sinn überhaupt ferne liegt, ſehen wir noch ſehr klar und deutlich in unſern Dialekten, beſonders bei der länd - lichen Bevölkerung, deren Ausdrucksweiſe mit der japa - niſchen in der Sache große Ähnlichkeit hat. Denn bei beſtimmter Zukunft gebraucht der Bauer ſtets die Form der Gegenwart, wie der Japaner ſeinerſeits thun muß;51 wendet aber der Bauer wirklich die Futurform an, ſo meint er dieſelbe nicht als Futur, ſondern als Wahr - ſcheinlichkeitsform.
Mit dem Fehlen des Futurs ſteht im engen Zu - ſammenhang, daß dem Japaner die Begriffe der Hoff - nung, der Befürchtung, des Wunſches und der Erwartung in unſerm Sinne fremd ſind. Und warum? Zum guten Teil darum, weil jene Begriffe der Zukunft angehören, die er doch nicht kennt. Freilich geht es nicht ſoweit, als kenne der Japaner z. B. die Furcht überhaupt nicht, als habe er das Gruſeln noch nicht gelernt, wie jener Mann im Märchen. Wenn von dem „ ſich fürchten “vor wirklich vorliegenden Gefahren die Rede iſt, wie daß das Kind den Hund fürchtet oder das Schaf den Wolf, ſo iſt der Ausdruck leicht möglich. Wenn es ſich aber um Befürchtungen betreffs zukünftig etwa eintretender Ereigniſſe handelt, ſo verſagt die Sprache.
Freilich ſpielt dabei noch ein anderer für den Cha - rakter der Sprache bemerkenswerter Faktor mit. Es iſt das das Hintantreten der ſogenannten ſubjektiven Sprache hinter die objektive, ein weiterer Beweis für eine noch nicht ſehr entwickelte Stufe des Selbſtbewußtſeins gegen - über dem Außenbewußtſein. Der Japaner ſagt auch nicht halb ſo oft, „ ich denke, ich vermute, ich glaube “ꝛc., wie wir zu thun pflegen. Das beliebte „ to omoimasu “, welches der Europäer für „ ich denke, daß “gebraucht, hört man im Munde des Japaners ſehr wenig. Er bedient ſich in ſolchen Fällen der unbeſtimmten oder disjunktiven Form. „ Ich denke, er kommt “iſt eher „ kuru darō “als „ kuru to omou “. Die Verba der ſub - jektiven Sprache haben im Japaniſchen keinen ſo abge - ſchwächten Charakter wie in unſern Sprachen; ſie ſind gehaltvoller und haben mehr Individualität.
4*52Eigentümlich iſt die japaniſche Wiedergabe unſeres Sollens, Müſſens und Dürfens. Sollen, Müſſen und Dürfen liegen in der Zukunft. Hätte der Japaner für ſie voll entſprechende Worte, ſo müßte er ebenſogut ein ausgebildetes Futurum haben. Wie das letztere, ſo fehlt ihm aber auch eine direkte Bezeichnung jener Formen. Er muß umſchreiben, ſo daß das deutſche „ muß thun “durch „ seneba ikenai “, wörtlich: „ Wenn man nicht thut, geht’s nicht “wiederzugeben iſt. „ Wie ſoll man’s machen “iſt „ dō shitara yokarō ka “wörtlich: „ Wenn man es wie gethan hat, iſt es gut? “ Der deutſche Satz enthält eine ethiſche Forderung, wie ſie in dem Wort „ ſoll “auch etymologiſch noch klar zum Vorſchein kommt, da „ ſoll “gemeinſamen Stammes mit „ Schuld “iſt; man vergleiche nur das engliſche „ should “gleich „ ſollte “, wo die Ver - wandtſchaft mit Schuld ſofort einleuchtet. „ Du ſollſt “iſt alſo „ du ſchuldeſt “. Der Japaner aber ſetzt einfach einen Urteilsſatz beruhend auf dem Grunde der Er - fahrung, aus welchem die ethiſche Forderung nicht er - ſichtlich iſt. Es iſt ohne Zweifel charakteriſtiſch, daß in den einzigen Formen des Verbums, wo das ethiſche Moment in den Vordergrund zu treten Gelegenheit hat, dasſelbe beim japaniſchen Ausdruck überhaupt nicht vor - handen iſt. Der japaniſche Ausdruck klingt utilitariſtiſch.
Eine der intereſſanteſten Formen des Verbums iſt das Negativum. Der Japaner hat kein entſprechendes Wort für „ nicht “. Ebenſo wenig kennt die Sprache negative Pronomina oder Adverbien. Begriffe wie „ niemand, kein, nichts, nirgends, niemals “ꝛc. haben kein japaniſches Äquivalent. In der That ſind für den wahrnehmenden Geiſt ſolche Vorſtellungen Unmöglich - keiten. Ein „ niemand “, „ nirgends “oder „ niemals “iſt ein Unding, das es nicht giebt. Eine derartige Negation53 iſt nur dem Denken möglich, welches von den Dingen ſchlechthin zu abſtrahieren weiß, alſo dem über die Wahrnehmung hinausliegenden Denken.
Der Japaner verbindet die Negation mit dem Ver - bum, das heißt mit demjenigen Sprachteil, durch den allein Veränderungen des Seins ſich ausdrücken laſſen.
Die Bildung des Negativums iſt pſychologiſch un - ſchwer nachzukonſtruieren. Nehmen wir den Satz: „ Ame ga furanai “, „ es regnet nicht “. Ehe dieſer negative Satz geſprochen wurde, war im Geiſt iſoliert ſchon das poſitive Bild des Regnens, der Gedanke an Regnen vorhanden, veranlaßt durch eine vorhergehende Frage: „ Regnet es? “oder durch die Erinnerung an das geſtrige ſchlechte Wetter oder durch die Beobachtung eines be - deckten Himmels ꝛc. Indem dann dieſes poſitive Bild des Geiſtes in Vergleichung zu der thatſächlichen Wirk - lichkeit gebracht wird, findet man, daß dasſelbe in der Wirklichkeit nicht vorhanden iſt und ſagt dann: „ Furanai “, „ regnen — nicht vorhanden “. Das Negativ iſt alſo die Angabe, daß ein poſitives Bild des Geiſtes in der Welt der Wirklichkeit keine Beſtätigung findet.
Der Umſtand, daß ein eigenes Wort für unſer „ nicht “nicht exiſtiert, impliziert ſchon, daß für den Japaner die Negation überhaupt nichts Selbſtändiges iſt. Sie verſchmilzt mit dem Zeitwort, mit welchem ſie ſich verbindet, zu einem einzigen Begriff. Dieſer Begriff aber hat im Japaniſchen in gewiſſem Sinne poſitive Bedeutung, in Übereinſtimmung damit, daß für die Geiſtesſtufe der Wahrnehmung überhaupt nur das Po - ſitive exiſtiert.
Die poſitive Natur des negativen Verbums fällt ſofort auf bei der Beantwortung negativer Fragen. Auf eine negativ geſtellte Frage antwortet der Japaner po -54 ſitiv, wo wir negativ antworten würden. Auf die Frage: „ Kaze ga fukanai ka? “ (weht nicht Wind?) giebt der Japaner zur Antwort: „ Hai, fukanai “, „ ja, er weht nicht “oder „ hai, so desu “, „ ja ſo iſt’s “, wo wir mit „ nein “antworten würden. Doch hat der Japaner von ſeinem Standpunkt aus völlig Recht, und dieſes leuchtet ſofort ein, wenn wir den Satz ſo wiedergeben, wie ihn der Japaner empfindet. Die wörtlichſte und korrekteſte Überſetzung von „ kaze ga fukanai ka? “iſt: „ (iſt) Nicht - wehen des Windes? “ Die logiſch richtige Antwort darauf zur Bezeichnung deſſen, daß kein Wind weht, iſt: „ Ja, es iſt Nichtwehen “oder einfach: „ Ja, es iſt “(nämlich Nichtwehen). Die letzten Zweifel an der Richtigkeit des japaniſchen Ausdrucks werden ſchwinden, wenn wir das Wort „ Nichtwehen “durch „ Stille “er - ſetzen. Auf die Frage: „ Iſt Windſtille? “erfolgt notwendig die Antwort: „ Ja “, wenn die Frage beſtätigt werden ſoll.
Sobald man ſich davon frei gemacht hat, in dem japaniſchen „ fukanai “unſer „ wehen “und unſer „ nicht “als zwei getrennte Begriffe zu ſehen, iſt man über dieſe Schwierigkeit hinaus.
Was den Anfänger am meiſten verwirrt, iſt der antipodiſche Charakter der japaniſchen Sprache. Eine wörtliche Überſetzung aus dem Japaniſchen dünkt uns auf den erſten Blick der reinſte Unſinn zu ſein. Über den Satz: „ Kangae no nai hanashi wo suru yori wa damatte iru hō ga ii to omou “(wörtlich: „ Gedan - ken von nicht ſein Reden machen als was betrifft ſchweigend ſein Seite die gut daß glaube) bedarf es erſt einigen Nachdenkens, bis es einem einfällt, daß man es ja mit einem Antipodenvolk zu thun habe, und daß darum vielleicht auch der Satz ſelbſt und in dem Satz ſo ziemlich alle Redeteile auf den Kopf geſtellt werden55 müſſen, ehe man die Bedeutung des Satzes in gutem Deutſch erfahren kann: „ Ich halte Schweigen für beſſer als gedankenloſes Reden “. Der Japaner denkt und ſpricht umgekehrt wie wir. „ Die Ohren der Katze “(1, 2, 3, 4) wird in ſeinem Munde gerade umgekehrt „ Katze der Ohren die “„ neko no mimi wa “(4, 3, 2, 1); „ auf dem Tiſche “(1, 2, 3) wird umgekehrt „ Tiſch dem auf “„ tsukue no ue “(3, 2, 1). Der Genitiv kommt ſtets vor dem Hauptwort, von dem er abhängig iſt, das indirekte Objekt vor dem direkten, das Adverb vor dem Prädikat. Präpoſitionen werden zu Poſtpoſitionen, Kon - junktionen treten hinter den durch ſie beſtimmten Satz, das Hilfszeitwort hinter das Zeitwort. Die Wort - ſtellung iſt genau beſtimmt. Verſehen klingen dem japaniſchen Ohr komiſch.
Das Wichtigſte kommt immer hinten nach, die letzte Stelle im Satz iſt von größter Bedeutung und gehört darum dem Verbum. Ehe das Verbum kommt, weiß man nicht, woran man iſt, der Satz nimmt die Aufmerkſamkeit in Anſpruch bis zum letzten Wort, da bis zum letzten Wort das in der Schwebe bleibt, um was es ſich eigentlich handelt.
Wer ſich einigermaßen mit der japaniſchen Wort - ſtellung vertraut gemacht hat, kann nicht umhin, ihre Vorzüglichkeit tief zu empfinden. Es iſt ein harmoniſcher Aufbau, welchen man vor ſich hat. Der letzte Teil, zumal das Verbum, erſcheint wie ein Feldherr, welcher hinter den wohlaufgeſtellten Truppen ſteht und von dort aus alles überſieht und leitet, während in andern Sprachen oft alles durcheinander zu gehen ſcheint und eine eigentliche kontrollierende Macht nicht vorhanden iſt.
Genau dasſelbe Prinzip, welches die Wortſtellung beherrſcht, macht ſich auch in der Satzſtellung geltend;56 das Nebenſächliche kommt voran, der Hauptſatz ſteht immer am Ende. „ Beſuchen Sie mich manchmal, wenn Sie nach Tokyo kommen “muß notwendig wiedergegeben werden: „ Wenn Sie nach Tokyo kommen, beſuchen Sie mich manchmal “„ Tokio ye oide nasattara, toki-doki irasshai “. „ Er ſagte, er werde kommen, wenn das Wetter gut ſei “(1, 2, 3) wird umgekehrt: „ Wenn das Wetter gut ſei, werde er kommen, ſagte er “(3, 2, 1), „ tenki ga yokereba, kuru to itta “. So muß ein deutſcher Satz mit drei oder vier Nebenſätzen im Japaniſchen oft geradezu auf den Kopf geſtellt werden, und ich kannte Japaner, bei denen es Prinzip war, bei Überſetzungen aus dem Deutſchen von hinten anzufangen.
Es iſt bewundernswert, wie ſtreng der Japaner das Verhältnis der Koordination und Subordination durchführt. Wir ſagen ruhig: „ Geſtern war ich krank und ging nicht zur Schule “. Wir koordinieren. Dem Japaner geht das wider das Gefühl. In ſtrikter Über - einſtimmung mit dem wirklichen Verhältnis ſubordiniert er den erſten Satz, nur der zweite erſcheint als ſelb - ſtändig, alſo: „ Wegen Krankſein ging ich geſtern nicht zur Schule “, „ byōki de kinō gakkō ye mairimasen deshita “. „ Es regnet und die Wege ſind ſchlecht “wird: „ Infolge Regnens ſind die Wege ſchlecht “, „ ame ga futte michi ga warui “.
Auch hier iſt die japaniſche Sprache in unbedingter Harmonie mit der Logik des natürlichen Verſtandes, welcher alles ſo ſieht, wie es wirklich erſcheint, das Nebenſächliche als Nebenſächliches ſetzt und dem Gegen - ſtand den Hauptplatz zuweiſt, dem er gebührt. Der Europäer wird nur dann richtig japaniſch konſtruieren, wenn er ſtreng logiſch d. h. in ſtrenger Übereinſtimmung mit den Verhältniſſen denkt.
57Durch die Tendenz, die Neben - und Hauptſache in der Sprache zum Ausdruck zu bringen, ſind kurze Sätze von vornherein beſchränkt. Kurze Sätze ſind überall da häufig, wo Nebeneinanderſtellung, Koordination ſtatt - findet. Dieſes iſt im Japaniſchen aber nicht der Fall. Der Japaner bildet daher Satzgefüge und zwar, ent - ſprechend dem gegenſeitigen Verhältnis der einzelnen Glieder, oft von außerordentlicher Länge. Als ich es einmal fertig gebracht hatte, eine ganze anderthalbſeitige Geſchichte in einem einzigen Satz zu erzählen, fand ich Gnade vor meinem japaniſchen Lehrer.
Ein großes Kreuz für den Europäer bildet die Höflichkeitsſprache. Zwar haben ja auch wir Deutſche unſer redlich Teil an dieſem Kreuz zu tragen, aber im Vergleich zu dem Japaniſchen ſind unſere Höflichkeits - phraſen harmloſer Natur. In unſere Sprachen über - ſetzt, klingt die japaniſche Höflichkeit höchſt lächerlich und geſchraubt. Warum man von ſo einem gewöhnlichen Ding wie von den Füßen als von „ geehrten und er - habenen Füßen “ſpricht, iſt gewiß nicht einzuſehen. Die Höflichkeitsſprache hat zum Teil ihr eigenes Vokabularium und zwingt dem Verbum andere und neue Formen auf. Für das Sprechen iſt ſie von außerordentlicher Wich - tigkeit, da ſich ohne Kenntnis derſelben nicht einmal ein einfaches Geſpräch führen läßt. Falſch aber wäre es, von ihr einen Schluß auf den inneren Charakter der Sprache zu machen. Dieſelbe iſt nichts weiter als eine bis ins kleinſte kunſtvoll ausgebildete Etiquette auf dem Gebiet des Sprechens. Sie iſt alſo nicht etwas Urſprüng - liches ſondern Kunſt; ſie gehört nicht zur Natur der Sprache ſelbſt, ſondern wurde von außen eingetragen. Sie iſt in eminentem Sinn das Element, in welchem der Japaner ſeine Sprache, die er ſonſt gar nicht bear -58 beitete, ausgebildet hat, und welches wir nicht ſowohl pſychologiſch als vielmehr geſchichtlich verſtehen müſſen. Denn der Grund der Ausbildung liegt, abgeſehen von Feinfühlichkeit, nicht in beſonderen Gemütsverhältniſſen des Japaners, ſondern in äußeren Kulturzuſtänden. Den ſtrikten Standesunterſchieden früherer Zeiten verdankt die Höflichkeitsſprache ihre heutige Blüte. Wo die Standesunterſchiede verſchwinden und das Individuali - tätsbewußtſein mehr zum Vorſchein kommt, da wird der Menſch, ſeines Ich bewußt, perſönlich, da entſchwindet der Höflichkeitsſprache der Boden. Und wie ſie ſich darum in England und Amerika, wo man „ ich “mit einem großen und „ Sie “mit einem kleinen Anfangs - buchſtaben ſchreibt, am wenigſten findet, ſo wird ſie auch in Japan bei der raſchen Entwicklung des Individua - lismus in wenigen Jahrzehnten bedeutend an Feld ver - loren haben. —
Das alſo iſt die japaniſche Umgangsſprache. Nicht durch das ganze Volk hin wird ſie in ihrer urſprünglichen Reinheit geſprochen. Vielmehr iſt die Rede des Gebil - deten für den gewöhnlichen Mann bis zur Unverſtänd - lichkeit mit chineſiſchen Wörtern und aus der Schrift - ſprache entlehnten Redeformen durchſetzt. Nur die ge - ſchriebene Sprache hat ſich bisher einer wiſſenſchaftlichen Beachtung erfreuen dürfen, während die Gebildeten auf die Sprache des Volkes mit Verachtung herabſchauten. Und doch hat die Umgangsſprache allein Ausſicht, die Sprache der Zukunft zu ſein. Freilich muß ſie dazu eine Anzahl Begriffe bezw. Wörter aus der Schrift - ſprache herübernehmen. Doch kann das ohne große Schwierigkeiten geſchehen. Schwieriger iſt die Aufgabe, die grammatiſche und logiſche Form der Sprache über die Wahrnehmungsſtufe hinaus zu entwickeln. Denn59 in ihrer jetzigen Form iſt ſie nicht imſtande, die euro päiſche Kultur zum Ausdruck zu bringen.
Von großer Tragweite iſt dabei auch die Änderung des chineſiſchen Schriftſyſtems. Die Verſuche, das jetzige Schriftſyſtem durch „ Kana “, die leichte japaniſche Silben - ſchrift, oder „ Romaji “, die lateiniſche Schrift, zu erſetzen, ſind vorläufig als geſcheitert zu betrachten. Das Intereſſe für die Kana - und Romajibewegung, welches in den achtziger Jahren ſehr rege war, iſt heute tot, und das iſt ein Beweis dafür, daß die Volksſeele ſelbſt einer Abänderung widerſtrebte.
Das Problem der Abänderung der Schrift iſt darum ſo außerordentlich ſchwierig, weil die Schrift, ſo wenig wie die Sprache, etwas rein Mechaniſches und Äußer - liches iſt, welches man leicht wechſeln könnte wie ein Kleid; vielmehr iſt es ein pſychologiſches Problem, um welches es ſich dabei handelt. Unſere Schrift iſt durchaus abſtrakt; unſere Zeichen als ſolche ſagen dem Betrachten - den nichts. Im Chineſiſchen dagegen iſt das Schrift - zeichen konkret; das Zeichen ſpricht direkt zu dem Be - trachtenden wie ein Gemälde; der Begriff iſt unmittel - bar in dem Zeichen enthalten. Im Chineſiſchen wird nach Art der Hieroglyphen dem Auge ein Bild der be - treffenden Dinge dargeboten, ſo daß der Betrachtende ſinnlich erfaßt, was wir verſtandesmäßig zu begreifen gezwungen ſind. Die Zeichen für Baum, Berg, Fluß, Thor, Flügel ꝛc. geben jetzt noch klar erkennbare Bilder dieſer Gegenſtände. In andern Fällen enthält das chineſiſche Zeichen ganze Definitionen, wo unſere ent - ſprechenden Schriftworte keinerlei Anhaltspunkte ihres Sinnes geben; ſo ſchreibt man drei Bäume für Wald, zwei Bäume für Park, Sonne und Mond für hell, Stein und klein für Sand, Mitte und Herz für Treue, grün60 und Jahre für Jüngling, Punkt über dem Strich für oben, Punkt unter dem Strich für unten, Berg, auf und ab für Paß i. e. Bergpaß. Auch kul - turhiſtoriſch ſind manche Zeichen von großer Bedeu - tung. So ſchreibt man für Himmel eins und groß, alſo das große Eine und das ſtimmt genau mit der alten chineſiſchen Naturreligion überein, die den Himmel als höchſte Gottheit verehrte. Drei Frauen unter einem Dach bedeutet Zank, Hader, Eiferſucht und das Zeichen läßt mit Beſtimmtheit darauf ſchließen, daß die alten Chineſen Polygamiſten waren; eine Frau unter einem Dach dagegen bedeutet Stille, Ruhe, Friede; alſo haben ſchon die alten Chineſen gewußt, daß, wer Ruhe im Hauſe haben wolle, nur eine Frau ſich anſchaffen dürfe.
Man wird verſtehen, daß die chineſiſche Schrift neben großer Umſtändlichkeit auch außerordentliche Bequemlich - keiten bietet, vor allem aber, daß ein Geiſt, welcher geneigt iſt, mehr als wir unmittelbar auf der Grund - lage der ſinnlichen Anſchauung zu denken, freiwillig nicht auf ein ſeiner Denkweiſe ſo entſprechendes Syſtem ver - zichtet, und daß er nicht eher davon abgehen wird, als bis eine eiſerne Notwendigkeit ihn dazu zwingt. In - wieweit aber da die völlige Unmöglichkeit, für die Un - maſſe neu eindringender Worte und Begriffe chineſiſche Charaktere zu ſchaffen, den jetzigen Stand des Schrift - ſyſtems beeinfluſſen wird, muß die Zukunft lehren. Jedenfalls wird man ſich dem Bewußtſein jener Unmög - lichkeit nicht lange mehr verſchließen können. Gerade je komplizierter man gegenwärtig noch die Schriftſprache geſtaltet durch das Bemühen, die neue Kultur in chineſiſche Zeichen zu preſſen, um ſo elementarer wird das Bewußt - ſein von der Unmöglichkeit einſt hervorbrechen. Auch dieſe Sorte neuen Weines verträgt keine Füllung in61 alte Schläuche, und die Freiheit, welche das innerſte Weſen unſerer Kultur ausmacht, wird es trotzig ver - weigern, ſich auf die Dauer die Zwangsjacke des chine - ſiſchen Zeichens, des Prinzipes der unveränderlichen Be - ſtimmtheit und Stagnierung, anlegen zu laſſen. Nur eine Zeitlang wird der griechiſche Pegaſus ſich bequemen, als chineſiſcher Ackergaul im Zwang des Geſchirres zu dienen; und je früher dem neuen Beſitzer die Augen aufgehen, deſto beſſer für ihn.
Eine glückliche Löſung ſeines Sprachproblems wäre Japan im Intereſſe ſeiner künftigen Kultur von Herzen zu gönnen.
Wenn am Abend die Sonne hinter unſern deutſchen Bergen hinabſinkt, reibt ſich in Japan mancher gähnend die Augen und wickelt ſich ſchlaftrunken aus den auf den Boden gebreiteten Decken, die ihm die Stelle eines Bettes vertreten. Schon dämmert es über den Fluten des Stillen Oceans und bald erglänzt die ſchneebedeckte Kuppel des majeſtätiſchen Fujinoyama in den goldenen Strahlen der Morgenſonne. Wenn es hier Nacht iſt, iſt es dort Tag. Die Japaner ſind unſere Antipoden, unſere Gegenfüßler.
Sie ſind aber unſere Antipoden nicht bloß räumlich, ſondern auch in vielen anderen Beziehungen. Dinge, die ſich bei uns ganz von ſelbſt verſtehen, die wir uns gar nicht anders denken können, als wie ſie nun einmal ſind, ſind dort geradezu auf den Kopf geſtellt. Mache ich mit einem Japaner einen Spaziergang, ſo läßt er mich als höflicher Mann links gehen und nicht rechts; denn die Herzſeite, die linke, iſt in Japan die Ehren - ſeite. Beobachten wir einen Japaner, wenn er ſich in Galakleidung ſteckt, ſo bemerken wir mit Erſtaunen, daß er zuerſt den langen Mantel, kimono genannt, anzieht und darnach die Hoſe oder hakama oben drüber. Schauen wir bei dem Neubau eines Hauſes zu, ſo nimmt es uns wunder, daß, ehe noch ein Grund zum Haus gelegt iſt, die Zimmerleute einſtweilen ſchon das Dach zuſammenſetzen, wenn auch nur vorläufig, ſozuſagen zum63 Anprobieren. Macht man in einem japaniſchen Hauſe Beſuch, ſo iſt das erſte nicht den Hut abzunehmen, ſondern die Schuhe auszuziehen. Weiße Kleider, nicht ſchwarze, ſind die Zeichen der Trauer, und bei einem Leichenbegängnis wird faſt mehr gelacht als geweint.
Sehen wir hinein in das Geiſtesleben des Japaners, ſo zeigt ſich uns hier dasſelbe antipodiſche Verhältnis. Schon ein oberflächlicher Blick auf die mechaniſchen Äußerungen des Geiſteslebens, z. B. auf Leſen und Schreiben, beſtätigt das. Zwar das ginge ja wohl noch an, daß man nicht vorn auf der erſten Seite beginnt, ſondern hinten auf der letzten, daß man nicht von links nach rechts lieſt und ſchreibt, ſondern von rechts nach links. Das iſt im Hebräiſchen und Arabiſchen auch nicht anders. Was uns vielmehr am meiſten auffällt, iſt der Umſtand, daß man nicht wagerecht über das Blatt hin lieſt und ſchreibt, ſondern ſenkrecht von oben nach unten. Es iſt ja freilich alles, wie man es gewohnt iſt; der Japaner findet unſere Art des Schreibens zum Lachen ſonderbar. Kanimoji, Krabbenſchrift, nennt er in ſeiner anſchaulichen Art mit witzigem Spott unſere Schreib - weiſe, weil ſie quer läuft wie die Krabbe. Ihm kommen unſere geradeliegenden Augen nicht minder merkwürdig vor wie uns ſeine Schlitzaugen, und mancher japaniſche Kuli mag bei dem Anblick der Lebensgewohnheiten des deutſchen Profeſſors, bei dem er in Dienſt ſteht, zwei - felnd den Kopf ſchütteln in dem ſtillen Gedanken: Je gelehrter, je verkehrter.
Aber auch im innern Leben des Geiſtes liegt das gegenſätzliche Verhältnis klar zu Tage. Die Denkformen ſind hier und dort verſchieden. Die Unterſuchung über die Sprache hat uns den japaniſchen Geiſt ſchon in leichten Umriſſen angedeutet: Ein noch unentwickelter, aber ge -64 ſunder Geiſt, welcher mit ſcharfen, lebhaften Sinnen noch inmitten der konkreten Anſchauung und des naiven Empfindens ſteht, in das Gebiet des abſtrakten Denkens aber nur ſchüchterne Blicke gethan hat. Es ſcheint, als ſeien die Kanäle, durch welche unſer Denken geht, dort überhaupt nicht vorhanden oder doch wenigſtens nicht ausgebaut. Während wir, pſychologiſch betrachtet, auf der Stufe des Begriffs ſtehen, iſt der Japaner über die Stufe der Wahrnehmung und Anſchauung kaum hinaus - gekommen. Dafür iſt er aber auf dieſem Gebiet voll und ganz zu Hauſe. Thatſächlich übertrifft er uns in allen Vorzügen der Wahrnehmungsſtufe. Er hat ſcharfe Sinne, geſchickte Hände, eine raſche und ſichere Auffaſſungsgabe. Er iſt Meiſter auf dem Gebiet der praktiſchen Wirklich - keit. Beſonders geſchickt iſt er in techniſchen Fertigkeiten. In Oſaka, dem Centrum der japaniſchen Induſtrie, wo mit jedem neuen Jahr neue Schlote in die Lüfte empor - ragen, fertigt man Maſchinen ſchwerſter Konſtruktion; in ſeinen Werkſtätten werden Kanonen gegoſſen und auf den Werften von Nagaſaki baut man Kriegsſchiffe. Die Münze in Oſaka gilt als eine der beſten der Welt. In vielen Zweigen der Technik und Induſtrie hat es Japan ver - ſtanden, Europa ſeinen vielhundertjährigen Vorſprung in drei Jahrzehnten abzugewinnen und mit ihm in gleicher Linie zu marſchieren. Der fähige Schüler thut es heute ſeinem Meiſter, bei dem er in die Lehre ging, in vielen Dingen gleich. Breit ergoß ſich der Strom der abend - ländiſchen Induſtrie in das Land, und nicht lange wird es dauern, ſo ſtrömt er zurück, um mit der Flut ſeiner Produkte den Weltmarkt zu überſchwemmen. Mit kin - diſcher Freude hat man zuerſt das erwachende Leben drüben betrachtet, die Freude beginnt der Beſorgnis zu weichen. Schon vertreibt die japaniſche Konkurrenz die65 engliſche Weberei vom Orient und vielleicht bald ſchon werden japaniſche Produkte dieſer Art auf dem Markte von London zum Verkauf ausgeboten. Der Traum eines Japaners, daß die Schweiz die Induſtrie der Uhrmacherei und Flandern die der Spitzenfabrikation teilweiſe an Japan abzutreten haben, mag ſeiner Erfüllung nicht zu ferne ſein. Je feiner die Arbeit und je komplizierter, deſto beſſer paßt ſie für den Japaner.
Aber auch an unſer Wiſſen hat er ſich gemacht, und auch das nicht ohne großen Erfolg. Was einfach über - nommen werden kann, was man ſozuſagen nur aus - wendig zu lernen braucht, eignet er ſich mit ſpielender Leichtigkeit an. Er beſitzt ein beſſeres mechaniſches Ge - dächtnis als wir. Ganz beſonders auffällig iſt das bei der Erlernung von Sprachen. Es giebt Europäer, und ſie ſind nicht etwa Ausnahmen ſondern Regel, die ein jahrzehnt und länger in Japan anſäſſig ſind und die ſich heute nur notdürftig verſtändlich machen können, die alſo über das Küchen - und Kulijapaniſch nie hinaus - gekommen ſind. Kommt man aber nach Yokohama oder Tokyo und redet einen gut gekleideten Japaner auf engliſch an, ſo iſt es wahrſcheinlich, daß er engliſch ant - wortet. An einen Studenten, der durch eine beſondere Tracht als ſolcher gekennzeichnet iſt, darf man ſich ruhig in deutſcher Sprache wenden; wahrſcheinlich wird er ſie verſtehen. Deutſche Profeſſoren unterrichten ihre Stu - denten mittels der deutſchen, einige auch mittels der engliſchen Sprache. In der theologiſchen Schule unſerer Miſſion geſchieht der Unterricht in deutſcher oder eng - liſcher Sprache und auch bei der Aufnahme von Zög - lingen in die theologiſchen Seminare der Amerikaner iſt die erſte Bedingung die Kenntnis des Engliſchen, ſo zwar daß ſie einem Vortrag zu folgen im ſtande ſind.
566Die fremden Profeſſoren ſind mit ihren eingeborenen Schülern ſehr zufrieden. In dem Kopfe eines japa - niſchen Studenten iſt eine Unmenge von Wiſſen auf - geſpeichert. Der japaniſche Student iſt fleißiger als der deutſche, eine Beobachtung, die ſich ſchon an den auf deutſchen Univerſitäten ſtudierenden Japanern machen läßt. Der größte Feind des Studiums iſt ihm unbe - kannt: Das Kneipen; mehr als für dieſes begeiſtert er ſich allmählich für den Sport: Rudern, Lawntennis, Fußball. Und das iſt gut ſo. Denn er bedarf der körperlichen Erholung ſehr dringend. Geiſtige Arbeit ſetzt ihm ſehr ſtark zu, und viele kommen durch Über - arbeitung ſo herunter, daß ſie nach dem Examen zu weiterer angeſtrengter Arbeit unfähig ſind. Infolgedeſſen giebt es nicht wenige europäiſche Beobachter, welche behaupten, die Japaner lernten nur bis zum Examen und nur für das Examen, nicht aber für das Leben.
Der Japaner iſt ſcharfſinnig, er iſt das, was man landläufig mit geſcheit bezeichnet. Seine Faſſungsgabe iſt raſch und ſicher. Die Geduld des Lehrers ſtellt er auf keine allzuharte Probe. Würden deutſche und ja - paniſche Kinder zuſammen unterrichtet, ſo würden in den erſten Jahren und vorausſichtlich die ganze Elementar - ſchule hindurch die deutſchen zurückſtehen. Japaniſche Kinder bewältigen dasſelbe Penſum in kürzerer Zeit. Später aber dürfte ſich das Verhältnis anders geſtalten. Der Japaner iſt zufrieden, ſich etwas angeeignet zu haben, und ohne weiteres ſpeichert er es auf bei all dem andern, was er in der großen Schatzkammer ſeines Gedächtniſſes angeſammelt hat. Daran, daß er es noch einmal durch die Mühle ſeines eigenen Denkens ſchickt, denkt er nicht. Das einmal Erfaßte auch geiſtig zu verarbeiten und innerlich zu verdauen und ſo zu ſeinem eigenſten und67 innerlichſten Eigentum zu machen, iſt nicht ſeine Sache. Er übernimmt die Reſultate, aber den weiten Weg, der zu dieſen Reſultaten führt, erſpart er ſich. Quantitativ iſt ſein Geiſtesleben dem unſrigen überlegen, qualitativ ſteht es hinter dem unſrigen zurück. Der Japaner hat Talent, er hat großes Talent; aber er hat wenig Genie. Er hat Talent, denn er verſteht es, mit dargebotenen Mitteln zu arbeiten und zwar vorzüglich zu arbeiten; aber er hat wenig Genie; denn er verſteht es nicht, in den Kern und das Weſen der Dinge zu dringen, um aus der Tiefe heraus ſich ſelbſt immer wieder auf das Neue zu gebären und neue reiche Schätze zu heben. Der Japaner iſt nicht original. Der Mangel an Originalität fällt überall auf. In deutſchen Zeitungen ſtand vor nicht langer Zeit eine Geſchichte zu leſen, deren unge - fährer Inhalt folgendermaßen war: Zwei Japaner hielten ſich etwa ein Jahr lang in einer Textilfabrik in Sachſen auf, welche große Ausfuhr nach Japan hat. Nachdem ſie die Geheimniſſe der Fabrik genau ausge - kundſchaftet und ſtudiert hatten, kehrten ſie in ihre Hei - mat zurück und hier, wo man vor der Nemeſis des unlauteren Wettbetriebs ſicher iſt, gründeten ſie ſelbſt eine Fabrik, in welcher ſie die Artikel jenes deutſchen Geſchäftes nachmachten. Nun ſind die japaniſchen Ar - beitslöhne ſehr niedrig, wohl immer noch um das Dreifache niedriger als bei uns. Infolgedeſſen konnten ſie ſehr billig arbeiten und ſchlugen die deutſche Firma bald aus dem Felde. In der Verlegenheit und um wieder neuen Abſatz zu gewinnen, traf die deutſche Fabrik neue Einrichtungen, arbeitete nach veränderten Syſtemen und ſchuf neue Fabrikate. Damit erwarb ſie ſich denn auch wieder einen neuen Markt, und jetzt kamen jene Japaner in Verlegenheit. Sie ſchrieben5*68daher einen verbindlichen Brief an den deutſchen Fabri - kanten, worin ſie ſich hübſch bedankten für all das, was er ſie gelehrt habe; jetzt aber ſeien ſie in einer großen Verlegenheit; er möge doch ſo freundlich ſein, ihnen ſeine neuen Pläne und Einrichtungen mitzuteilen. Für die volle Wahrheit dieſer Geſchichte ſtehe ich nicht ein. Aber ſo abenteuerlich ſie klingt, ſie könnte recht wohl wahr ſein. Die Sache iſt ganz japaniſch. Sie iſt nicht bloß charakteriſtiſch für ihren Spür - und Spionierſinn, ſondern auch für ihre ſcheinbar harmloſe naive Unge - niertheit; vor allem aber iſt ſie dafür bezeichnend, daß die Japaner nachahmen, und zwar geſchickt nachahmen, daß ſie aber nicht originell ſind.
Was ſie haben, haben ſie durch das Ausland. Ihre alte Kultur erhielten ſie von China, ja teilweiſe ſogar von dem heutzutage völlig verrohten Korea. Daher kam die Religion des gemeinen Volkes, der Buddhismus; daher kam die Religion der oberen Kaſten, der Kon - fuzianismus. Daher kam ihre Sittlichkeit; die japaniſche Sprache hat urſprünglich ſehr wenig Worte, um ſittliche Begriffe auszudrücken. Alles muß durch chineſiſche Worte wiedergegeben werden, ſowie bei uns viele wiſſenſchaft - liche Begriffe durch lateiniſche und griechiſche Fremd - wörter ausgedrückt werden, wogegen unſere ethiſchen Begriffsausdrücke zu den echteſten Beſtandteilen der deutſchen Sprache gehören. Von China erhielten ſie ferner ihre gebräuchliche Schrift, und ſelbſt der Urſprung der Silbenſchrift Kana ſcheint nicht rein japaniſch zu ſein. Von China kam ferner Poeſie, Muſik, Malerei und plaſtiſche Kunſt. Ebenſoviel wie damals von den Chineſen übernehmen ſie heute von den Abendländern. Sie entwickeln nicht nur Geſchick in der Nachahmung unſerer Induſtrieerzeugniſſe, ſie naſchen nicht allein an69 den Früchten unſerer Wiſſenſchaft; auch das Staats - weſen, das Gerichtsweſen, das Militärweſen, das Schul - weſen, die ganze Staatsmaſchine nehmen ſie von Europa hinüber, und — es iſt erſtaunlich — die Maſchine geht.
In all dem haben ſich die Japaner von jeher als hervorragend gelehrig erwieſen. Die meiſten Völker haben ſich ſelbſt gegen die Segnungen einer neuen Kultur hart - näckig verſchloſſen, bis ihnen dieſelben ſchließlich auf - gezwungen wurden; dafür iſt China das klaſſiſche, aber bei weitem nicht vereinzelte Beiſpiel; die Japaner aber haben ſich von jeher für das Beſſere zugänglich erwieſen. Haben ſie auch ſelbſt keine großen, originalen Gedanken gehabt, ſo hatten ſie für dieſelben doch immer ein weites Herz und ſoweit ſie nach ihrer, allerdings ſtark beſchrän - kenden, geiſtigen Veranlagung dazu imſtande waren, haben ſie verſucht, ſich dieſelben anzueignen. Sklaviſche Nachahmer und Nachbeter ſind ſie nie geweſen. Was ſie übernahmen, war auch bald japaniſch. Sie haben es immer in harmoniſchen Einklang mit der Umge - bung gebracht. Es iſt nicht ſo, als hätte man die Kinder einer fremden Welt einfach in japaniſche Kleider geſteckt; ſie haben vielmehr japaniſche Geſichtszüge be - kommen. Der Japaner iſt bei allem Mangel an Origi - nalität doch eine ſehr ausgeprägte Individualität, welche auf die Dauer das Fremde als Fremdes nicht erträgt. So hat er allerdings nicht zu japaniſieren verſtanden, wie wir das paläſtinenſiſch-griechiſch-römiſche Chriſten - tum germaniſiert haben, wo kein einziger Wahrheits - punkt verloren ging und jeder einzelne durchleuchtet ward von dem beſonderen Licht deutſchen Geiſtes. Das Japani - ſieren iſt ein radikaler Prozeß, dabei ſehr wenig gebogen, aber vieles gebrochen wird, dabei man beſtändig das Meſſer in der Hand hat, um all das hinwegzuſchneiden,70 was nicht paßt, was nicht kongenial erſcheint. Es iſt darum trotz allem und allem ein mehr oder weniger mechaniſcher Prozeß, es ſind mehr Akkommodationen als tiefinnerliche Aſſimilationen. Daß ſie in der Übernahme des Fremden nicht kritiklos ſind, iſt damit ſchon aus - geſprochen. Ein anderes Volk wäre durch all das Neue, wie es ſich den Japanern in den letzten Jahren auf - gedrängt hat, vollſtändig verwirrt worden; es hätte ſchließ - lich mit ſtumpfen Sinnen in völliger Lethargie ſich alles aufdrängen laſſen. Die Japaner aber haben ſelten die nüchterne Urteilskraft verloren, ſie haben mit ſcharfem Blick das Brauchbare von dem Unbrauchbaren unter - ſchieden, und im großen und ganzen, ſoweit es ſich um den Mechanismus unſerer Kultur handelt, muß ihnen zugeſtanden werden, daß ſie der Mahnung entſprochen haben: Prüfet alles und behaltet das Beſte. Aber frei - lich, es handelte ſich für den Japaner immer nur um die mechaniſche Kultur und darum kann auch mehr oder weniger nur von einem mechaniſchen Prozeß der Akkom - modation die Rede ſein. Aber die Kultur hat noch eine andere Seite. Dem Mechanismus der äußeren Kultur liegt der Organismus der Geiſteskultur zu Grunde. Und hier haben die Japaner die Aſſimilation zwar verſucht, aber da ſie dieſelbe nicht geiſtesverwandt fanden, vor - läufig nicht durchzuführen vermocht, ſoweit man nicht gar mit dem ernſtlichen Gedanken ihrer Durchführung gebrochen hat.
Das rein Geiſtige iſt eben nicht die Sache des auf der Anſchauungsſtufe ſtehenden Japaners. Es iſt auf - fallend, wie wenig Intereſſe für metaphyſiſche und ethiſche Fragen er hat. Weder ſeine Geſchichte noch ſeine her - vorſtechendſten Neigungen zeigen eine Tendenz zum Idea - lismus. Er liebt das Wirkliche und Greifbare. Er71 kann es nicht verſtehen, wie man ſich über pſychologiſche und dogmatiſche Fragen ereifern kann. Für die feinen Unterſchiede religiöſer Anſchauungen hat er weder theore - tiſches noch praktiſches Verſtändnis. Der Reiz, den der gebildete Geiſt des Abendländers in der Welt der Phantaſie und Romantik findet, iſt für ſeinen Geiſt ein unver - ſtändliches Rätſel. Der Zauber, den Probleme oder Spekulationen an ſich auf den Abendländer ausüben, ganz gleichgültig, ob daraus praktiſcher Nutzen ſpringt oder nicht, exiſtiert für ihn nicht. An der Univerſität in Tokyo unterrichtet neben einer Anzahl anderer deutſcher Lehrer auch ein Profeſſor der Philoſophie, ein Idealiſt durch und durch; die Regierung drängt darauf, gerade die deutſche Philoſophie in Japan heimiſch zu machen, weil die Deutſchen über die ganze Erde hin in dem Rufe eines Volkes von Philoſophen ſtehen; aber es will nicht recht gelingen. Viel lieber gehen ſie in die Schule bei den praktiſchen Engländern. Die Namen Herbert Spencer und J. Stuart Mill ſind auch dem halbwüchſigen Symnaſiaſten bekannt. Die Philoſophie des Materialis - mus iſt die in Japan gebräuchliche. Die ganze Welt - anſchauung, ſoweit von Weltanſchauung überhaupt die Rede ſein kann bei einem Volk, welches niemals die Welt als Ganzes anſchaut, ſondern immer nur die Dinge der Welt im einzelnen, iſt materialiſtiſch. Der Japaner hat ein Sprichwort: „ Ju-nin to-hara “(„ zehn Menſchen, zehn Bäuche “), im Sinne völlig unſerm: „ So viel Köpfe, ſo viel Sinne “entſprechend. Nun iſt auch uns eine gewiſſe Beziehung zwiſchen Magen - und Geiſtesthätig - keit nicht ganz fremd und das lateiniſche Wort: „ Plenus venter non studet libenter “(„ ein voller Bauch ſtudiert nicht gern “) iſt uns ſattſam bekannt. Gleichwohl muß es uns als ein wahrhaft klaſſiſches Bild einer materia -72 liſtiſchen Weltauffaſſung auffallen, wenn der Japaner den Sitz der Verſtandesthätigkeit nicht im Kopfe, ſondern im Bauche ſucht. Ich hatte mir einmal auf Wunſch von etwa zehn jungen Medizinern, zur Hälfte Chriſten, die Mühe gemacht, in einer Reihe von Vorträgen das Recht der idealiſtiſchen Weltanſchauung gegenüber der materialiſtiſchen darzuthun. Als ich zu Ende war, wollte ich mich von dem Erfolg überzeugen. Und worin beſtand derſelbe? Darin, daß einer der begabteſten mir ſagte, daß er zwar als Chriſt gern an die idealiſtiſche Welt - anſchauung glaube, daß aber für ſein Denken die materia - liſtiſche nach wie vor die wirklich vernunftgemäße ſei. Und die andern waren mit ihm einig. Was der Japaner ſieht, das iſt; alles andere iſt nicht. Er hat nicht viel von der glühenden Phantaſie der Semiten, noch von der tiefen Sinnigkeit und Innigkeit der Indogermanen, noch von der ſüßen Träumerei und unpraktiſchen Schwärmerei der Deutſchen. Es wäre verkehrt, den Japaner geiſtlos zu nennen; denn das wäre irreleitend; aber vergeiſtigt, durchgeiſtigt iſt er nicht.
Vielmehr leidet ſein Geiſtesleben an einem gewiſſen Mechanismus. Es verläuft mehr oder weniger maſchi - nenmäßig, während das unſrige in hohem Grade orga - niſch iſt. Es iſt bezeichnend, daß das Rechnen, das doch nach unſerer Meinung eine bedeutende Geiſtesthätigkeit verlangt, mittels des soroban, der Rechenmaſchine, aus - geführt wird. Soll der Japaner einmal im Kopf rechnen, ſo ſieht es ſchlecht aus. Ebenſo iſt es charakteriſtiſch, wie das Leſen erlernt wird. Der Lehrer ſagt zwei, drei Worte vor, die Schüler ſprechen ſie nach, ſo geht es weiter, und es wird dann alles ſo oft wiederholt, bis die Schüler das Leſeſtück rein mechaniſch auswendig können. Ich hatte manchmal Veranlaſſung, dem Unter -73 richt in einer Elementarſchule beizuwohnen. Da habe ich denn öfter geſehen, wie die Schüler ein Leſeſtück völlig richtig ablaſen oder vielmehr aufſagten, während ſie doch mit ihren Fingern in einer ganz andern Zeile, wenn nicht gar auf einer andern Seite herumtippten. Schließ - lich lernen ſie aber auf dieſe mechaniſche Weiſe doch leſen.
Thun wir nun einen Blick in die Geiſtesmächte des Japaners, ſo finden wir hier beſtätigt, was vorſtehend geſagt wurde. Der Konfuzianismus, der von den höheren Kreiſen begünſtigt iſt, iſt ein zwar ſittlich hochſtehendes, aber trockenes und nüchternes Mo - ralſyſtem ohne Höhen und Tiefen, ohne wirklichen Geiſtes - flug. Er iſt nicht geboren aus der Tiefe idealer Gedanken oder gar einer himmelan ſtrebenden Schwärmerei, viel - mehr iſt er die Schöpfung eines hervorragend prak - tiſchen Geiſtes, welcher ganz auf dem Boden der kon - kreten Wirklichkeit, der alltäglichen Erfahrung ſteht. Ein ſolches Syſtem paßt zu dem Japaner. Der Bud - dhismus, ſowie er urſprünglich von dem erleuchteten Buddha gelehrt wurde, gehört zu dem Tiefſinnigſten, was je gedacht worden iſt. Es iſt eine Philoſophie, und noch dazu eine myſtiſche Philoſophie, welche nur der ſich aneignen kann, der ſie innerlich durchdenkt und durchfühlt. Man ſucht aber nach dieſer Art Buddhismus dort vergebens. Der Japaner hat die Lehre Buddhas zum greifbaren, grobſinnlichen, konkreten Götzendienſt verdichtet, hat ſie ſo umgeſtaltet und beſchnitten, wie es ſeiner ſinnlichen Veranlagung entſprach. Das ein - zig Originale, was die Japaner auf dieſem Gebiet hervorbrachten, iſt der Shintoismus. Wenn man aber ſeiner Mythologie nachgeht, ſo iſt man erſtaunt über den Mangel an ſittlichen Gedanken und an poetiſcher Phan - taſie. Das gemütvolle Volkslied des Deutſchen, des Ruſſen,74 des Engländers ſucht man hier vergebens. Der Geſang iſt nicht Gemeingut des ganzen Volkes. Daß eine ge - mütliche Geſellſchaft einmal einen Chor anſtimmt, giebt es nicht. Der Geſang wird nur berufsmäßig ausge - übt. Ich will nicht ſagen, daß in dem Geſang kein Gemüt liegt; aber jedenfalls iſt es für den Abendländer ſehr ſchwer, aus dieſen Tönen Gemüt herauszuhören. Die Poeſie, ganz abgeſehen davon, daß ſie gleich der Muſik nicht original iſt, beſitzt weder beſondere Tiefe noch Innig - keit. Es giebt Überſetzungen japaniſcher Gedichte in das Deutſche und Engliſche, die ſich ſehr angenehm leſen. Man ſagt ihnen aber nicht ganz ohne Grund nach, daß die Überſetzung ſchöner ſei als das Original. Dabei macht in Japan aber jedermann Gedichte; aber auch jedes Gedicht, wenn es nur der benötigten Silbenzahl gerecht geworden iſt — denn es handelt ſich weder um Rhythmus noch um Reim —, findet ſeine Bewunderer. Das einzige Gebiet, auf wechem das Volk wirklich etwas geleiſtet hat, iſt das Märchen; und daß es einen ſehr großen Schatz äußerſt treffender Sprichwörter hat, die ſich mitunter mit den unſrigen geradezu decken, iſt nur im Einklang mit ſeinem ganzen Geiſtesleben. Denn die Heimat des Sprichworts iſt weder die Phantaſie noch die Poeſie noch die Spekulation, ſondern die nüch - terne praktiſche Wirklichkeit.
Aber ſteht denn damit nicht im Widerſpruch, daß der Japaner eine hohe Achtung vor der Wiſſenſchaft hat, und, wie ja ſchon die Zahl der japaniſchen Studierenden in Deutſchland beweiſt, auch ſelbſtthätig für die Wiſſenſchaft eintritt? Gewiß iſt das ein ſchöner und idealer Charakter - zug, daß ihm das Wiſſen höher ſteht als etwa das Geld, aber für die idealiſtiſche Natur des japaniſchen Geiſtes beweiſt er noch nichts. Es ſind in den letzten75 Jahren auf wiſſenſchaftlichem Gebiet Erfolge erzielt worden, welche das Abendland in Erſtaunen ſetzten. Aber — und darauf kommt es an — dieſe Erfolge waren die Reſultate eines ungewöhnlichen Scharfſinns, nicht aber eines tiefſinnigen Denkens. Subtile Erfin - dungen zu machen, dazu ſind die Japaner veranlagt, aber ein Volk von Philoſophen werden ſie nicht. Ihre ſeitherigen Erfolge lagen dementſprechend nicht auf dem Gebiet der reinen Geiſteswiſſenſchaften, ſondern auf dem der empiriſchen Wiſſenſchaften, und daß ſie da etwas leiſten, iſt nach ihrer Veranlagung nur zu erwarten. Wenn unſere Ärzte von den geradezu muſterhaften anatomiſchen Präparaten japaniſcher Mediziner ſprechen, wenn unſere Chemiker und Bakteriologen die feinen Analyſen ihrer japaniſchen Schüler rühmend hervorheben, ſo wundere ich mich darüber nicht im geringſten. Das Experimentieren iſt ihre Sache. Was dazu notwendig iſt, beſitzen ſie im höchſten Grade. Es iſt nicht zufällig, daß in Japan die fähigſten Gymnaſiaſten ſich der Me - dizin zuwenden, und daß die Medizin die tüchtigſten Kräfte aufzuweiſen hat; ebenſo iſt die ſichere und gedie - gene Arbeit der Militärärzte im japaniſch-chineſiſchen Krieg hinreichend bekannt. Die angewandte Medizin iſt nicht eine reine Geiſteswiſſenſchaft; ſie iſt mehr eine Kunſt als eine Wiſſenſchaft; ihr Gebiet reicht weit in das Sinnliche, in die Wahrnehmungsſtufe hinein, und dort iſt der Japaner zu Hauſe.
Das Äſthetiſche in dem weiten Kant’ſchen Sinne des Wortes iſt ſein Feld und infolgedeſſen iſt es ganz na - türlich, daß er auch für das Äſthetiſche in der engeren landläufigen Bedeutung des Wortes einen ausgeprägten Sinn beſitzt. Seine ganze Lebensführung darf als eine äſthetiſche bezeichnet werden. Eine gütige Fee hat ihm76 den Sinn für das Schöne, ja für die heiteren Seiten des Lebens überhaupt in die Wiege gelegt. Er liebt ſchöne Formen und giebt ſich mit Gefühl an dieſelben hin. Er hat ein ausgeſprochenes Verſtändnis für die Schönheiten ſeiner wunderbaren Natur. Wenn im Februar die Pflaumen und anfangs April die Kirſchen blühen, wenn Ende Oktober die Knoſpen der Aſtern ſich erſchließen und ihre ſchmalen Blätter ſonnenſtrahlenförmig entfalten; wenn im November das Laub des Ahorns vor dem Sterben ſich blutig rot färbt wie der Abendhimmel, wenn die Sonne hinabſinkt; wenn im Winter die Erde in ihr weißes Schneekleid ſich hüllt, was allerdings ſelten genug vorkommt: dann ſtrömt jung und alt hinaus, um ſich des ſchönen Anblicks zu freuen. Die beiden großen Geſellſchaften, welche der Kaiſer alljährlich zu geben pflegt, und zu denen der Adel, die hohe Beamten - ſchaft und die Elite der europäiſchen Geſellſchaft ein - geladen werden, finden bezeichnender Weiſe in den kaiſer - lichen Gärten ſtatt und zwar zur Zeit der Kirſch - und der Chryſanthemumblüte. Gern verweilen ſie eine Stunde oder zwei angeſichts eines ſprühenden Waſſerfalls und die Zweige einer Fichte, regungslos über die ſtillen Fluten eines dunkeln Sees gebeugt, erfüllen ſie mit Entzücken. In der Dämmerung des Abends gehen ſie hin nach einem lauſchigen Plätzchen, um dem Geſang der unguisu, der Nachtigall, zu lauſchen, und beim Grauen des Tages, wenn der hototogisu, der Kuckuck, ſeinen eintönig melan - choliſchen Ruf hören läßt, zieht es ſie hinaus nach dem Wald. Jeder Japaner kennt die Schönheiten ſeines Landes, und wer Zeit und Geld hat, ſcheut auch die weiteſte Reiſe nicht, ſie zu genießen. Es giebt Pſycho - logen, welche die Liebe zu der Natur als die höchſte Entwicklung des Geiſtes bezeichnen, und wenn man ſieht,77 wie bei uns zu Lande die Schönheiten der Natur in der Regel nur von dem Gebildeten gewürdigt werden, wäh - rend der Bauer gleichgültig und ſtumpf daran vorüber - geht, iſt man verſucht, dem zuzuſtimmen. In Japan aber iſt der Sinn für die Natur nicht ein Vorrecht der beſſeren Klaſſen, hier iſt er angeboren, und der Tag - löhner beſitzt ihn ebenſo wie der Profeſſor. Es verging kein Frühling und kein Herbſt, wo nicht mein Koch ſich für einen Nachmittag Urlaub erbat, um mit ſeinen Kindern zur Blütenſchau nach Ueno oder Dangoſaka zu gehen. Die großen Volksfeſte ſind Naturfeſte, und in Gottes freier Natur werden ſie gefeiert. Da ſtrömen ſie hinaus zu Tauſenden, und es iſt ein äſthetiſch ſchöner, ein maleriſcher Anblick, die ſchneeig und roſig blühenden Bäume gegen den tiefblauen Himmel ſich abheben zu ſehen und unter ihnen luſtwandelnd eine frohbewegte Menge, Männer und Frauen in feſttäglicher Stimmung, lächelnd und ſchwatzend, und von ihnen geführt die Kinder in ihren bunten Kleidern. Auf japaniſchen Volksfeſten wird ebenſo viel Natur gekneipt als auf deutſchen Bier.
Das Schöne bietet ihm Genuß, das Häßliche thut ſeinen Augen weh. Darum iſt ihm aller Schmutz ein Greuel, darum hält er darauf, daß im Haus und am Körper alles blitzblank iſt. Die meiſten Japaner, auch Bauern und Taglöhner, nehmen im Sommer täglich, im Winter in der Regel wöchentlich ein Bad. In der Neujahrsnacht badet das ganze Volk, und ſo peinlich wird darauf gehalten, als ſei es eine religiöſe Pflicht, nicht unrein in das neue Jahr hinüberzugehen. Kehrt man in einem Gaſthaus ein, ſo iſt das erſte, was einem angeboten wird, ein Bad, und die bedienende Nēſan mag wohl im ſtillen manchmal wenig ſchmeichelhafte Vergleiche ziehen, wenn der Ijinſan, der Herr Europäer,78 in ſeiner Bequemlichkeit auf das Bad verzichtet. Pein - lich ſucht man ſich Hautausſchläge fern zu halten, man hat einen natürlichen Ekel davor, und der Ausſatz, der immer noch vereinzelt vorkommt, iſt mehr im Sinne der Unreinheit verabſcheut, denn als Krankheit bemitleidet. Seine Kleider hält der Japaner peinlich ſauber. Leute in zerriſſener und verlumpter Kleidung ſieht man in Japan weit weniger als bei uns. Mag ſein, daß er im Sommer nicht viel mehr anhat als ein paar Bein - kleider, die nur die äußerſte Blöße bedecken; aber dieſe wenigſtens ſind ſauber in Ordnung gehalten. Der Schmutz der Straße iſt von dem Innern des Hauſes peinlich fern gehalten; wer in das Haus tritt, muß zuvor auf dem Flur die Schuhe ausziehen. Das würde auch der peinlichſten deutſchen Hausfrau ſchwer fallen, im japa - niſchen Zimmer ein Spinngewebe zu entdecken, und der aus Strohgeflechten beſtehende Stubenboden iſt ſo ein - ladend ſauber, daß man auch, ſelbſt wenn einem kein Unterkiſſen angeboten wird, in der feinſten Kleidung ſich unbedenklich darauf ſetzen darf.
Alles macht den Eindruck des äſthetiſch Schönen. Das japaniſche Eſſen mag für uns nicht beſonders gut ſchmecken, dafür aber ſieht es ſchön und appetitlich aus. Nirgends wird mit größerem Anſtand gegeſſen. Die Eßſtäbchen werden in den Theehäuſern nur einmal ge - braucht, und unſere Art des Eſſens hält der Japaner für unäſthetiſch, weil man ſich dabei Meſſer und Gabeln bedient, die vielleicht eine Viertelſtunde zuvor ein anderer im Munde hatte. Jede Bewegung, jede Verbeugung iſt abgerundet und frei von allem Eckigen, vollendet in ihrer Art. Haſtige Bewegungen vermeidet man. Wollten ſich bei uns die Handwerker und Arbeiter im ſchmutzigen Arbeitskittel, wenn ſie ſich auf der Straße79 begegnen, mehrmals tief vor einander verbeugen faſt bis zur Erde hin und dann mit abgezogenen Hüten zum Austauſch höflicher Redensarten bei einander ſtehen bleiben, um ſich endlich wieder mit nicht weniger tiefen und zahlreichen Verneigungen von einander zu trennen, ſo würde man das einfach lächerlich finden. Wer es in Japan ſieht, vergißt über dem äſthetiſchen Anblick die Lächerlichkeit. Es darf ein Deutſcher ſich auf dem Parketboden noch ſo ſehr zu Hauſe fühlen, ſo gewandt iſt er doch nicht, daß er nicht noch einen japaniſchen Taglöhner um ſeine Kunſt, ſich zu verbeugen, beneiden dürfte, und auf die wirklich graziöſe Art, wie die Ja - panerin, auch die niedrig geborene, ſich bewegt, dürfte jede deutſche Salondame ſtolz ſein.
Auf Etikette und Anſtand wird viel gehalten von Kind auf, und in der Schule ſind, für die Mädchen wenigſtens, beſondere Unterrichtsſtunden dafür eingeführt. Die ganze Erziehung der japaniſchen Frauenwelt iſt bis vor kurzem eine vorzugsweiſe äſthetiſche geweſen: Etwas Leſen, Schreiben und Rechnen wohl, mehr aber als das Unterricht in den ſchönen Künſten, im Blumenbinden, der Dichtkunſt, der Malerei, und vor allem der Muſik; das intellektuelle Moment kommt erſt in zweiter Linie und das Ethiſche ſoll durch das Äſthetiſche erzielt wer - den. Tauſend Jahre bevor Schiller ſeine Betrachtungen über die äſthetiſche Erziehung ſchrieb, war dieſelbe in Japan ſchon in Übung. Es iſt demnach eine ganz ver - kehrte Anſchauung, als ſeien die heidniſchen Völker im gegenſeitigen Verkehr roh und ungeſchliffen, eine An - ſchauung, die man ſich aus einer Vergleichung ländlich einfacher und ſtädtiſch formeller Höflichkeit zurecht ge - macht hat. England und Amerika, wo das Sprichwort: „ Mit dem Hute in der Hand kommt man durch das80 ganze Land “in keiner Weiſe mehr zutrifft, ſind der Be - weis dafür, daß die förmliche, aber äſthetiſche Höflich - keit zurücktritt, je mehr die Kultur voranſchreitet. Wer aber geſehen hat, wie Afrikaner und Araber, Indianer und Oſtaſiaten ſich begrüßen, weiß, daß Europens über - tünchte Höflichkeit auch nicht entfernt an das heranreicht.
Der Japaner entſtellt auch ſein Geſicht nicht durch Leidenſchaften. Zornausbrüche mit all ihren häßlichen Begleiterſcheinungen von Geſichtsverzerrungen und un - harmoniſchen Bewegungen widerſtreben ſeinem äſthe - tiſchen Sinn. Der Europäer, der ſich ſeinen Gefühlen blind überläßt, ſei es des Zornes oder des Schmerzes oder der Luſt, gilt ihm als innerlich roh und ungeſittet. Das lebhafte Minen - und Geſtenſpiel von Franzoſen und Italienern erfüllt ihn mit Staunen und Abſcheu. Ein liebenswürdiges Lächeln umſpielt im Verkehr mit dem Nächſten ſeine Lippen, aber lautes, zwergfell - erſchütterndes Lachen, ebenſo wie lautes Schreien wider - ſtrebt ſeinem feinen Gefühl und iſt das ausſchließliche Vorrecht von Kellnerinnen und Geiſha, die eben jenſeits der Grenze des Anſtandes liegen. Der Japaner liebt das Harmoniſche nicht nur in ſeiner Umgebung ſondern auch an ſich ſelbſt. Die Trunkſucht mit all ihrer ab - ſtoßenden Häßlichkeit iſt in Japan ein wenig verbreitetes Laſter. In Bezug auf geiſtige Getränke ſind ſie nüchtern und mäßig. Ein Wirtshausleben in unſerm Sinne, wo man zu beſtimmten Stunden am Stammtiſch zu einem Spielchen oder zu einer gemütlichen Plauderei ſich trifft, wo man aber auch oft nur hingeht, um dem Gott Bacchus zu opfern, giebt es in Japan nicht. Die ſo - genannten Theehäuſer ſind Gaſthäuſer zum Herbergen von Fremden oder zu kurzer Raſt für Ausflügler, und das Getränk, das man dort in der Regel zu ſich nimmt,81 iſt wirklich Thee. Sie ſind alſo nicht nur „ ſogenannte “Theehäuſer, vielmehr führen ſie ihren Namen mit Recht. Rohe Krawalle, wie ſie bei uns nur allzu häufig vor - kommen, zumal als Nachſpiele der Gemütlichkeit beim Alkoholgenuß, giebt es in Japan faſt gar nicht. Auch rohes Schimpfen iſt ſelten und Fluchen iſt ganz unbe - kannt; und dieſes nicht nur bei den beſſeren Klaſſen, ſondern bis in die unterſten Schichten des Volkes hinab. Manchmal kann man beobachten, wie zwei Kuli, welche vor ihren Handwagen in eiligem Lauf von verſchiedenen Richtungen daherkommen, durch Unachtſamkeit heftig gegen einander anrennen. Das erzeugt gewiß kein an - genehmes Gefühl, und wenn es ſich um europäiſche Arbeiter handelte, ſo würden ſie ihren Schmerzen durch Handgreiflichkeiten oder zum mindeſten durch Schimpfen und Fluchen Luft machen. Dort aber begnügen ſich die beiden Kuli, die kaum einen Arbeitskittel anhaben und ſich mit nackten Armen und Beinen gegenüberſtehen, eine elegante Salonverbeugung zu machen, und bitten einander höflichſt um Entſchuldigung. Es iſt eine Wohl - erzogenheit ſondergleichen, eine wohlthuende Harmonie, die durch das ganze Volk hindurchgeht.
So iſt das Äſthetiſche eine das ganze Leben tief durchdringende Macht, eine Macht, welche thatſächlich die Richtſchnur der geſamten äußeren und zum Teil auch der inneren Lebensführung bildet. Darf man doch un - bedenklich behaupten, daß das Äſthetiſche vielfach höher geſchätzt wird als das Ethiſche, daß Etikette und feine Form in den populären Anſchauungen weiter Kreiſe über der Sittlichkeit ſtehen. Daß eine ſo grundlegende Macht ſich auch produktiv geltend macht, iſt ſelbſtverſtändlich.
Die Kunſt beginnt hier eigentlich ſchon mit dem Handwerk. Denn auch der Handwerker iſt in gewiſſem682Sinne ein Künſtler, wie umgekehrt der Künſtler wieder ein Handwerker iſt. Es iſt ſchwer, hier die Scheidelinie zu ziehen. Was der Japaner als Handwerker, Kunſt - handwerker und Künſtler zu leiſten im ſtande iſt, das zu erkennen braucht man heute nicht mehr nach Japan zu gehen, das läßt ſich auch in unſerer Heimat an ſo manchem Stück japaniſcher Kunſt erſehen. Aber ſo hoch - entwickelt dieſe Kunſt auch iſt, ſo wunderbar fein bei aller ſcheinbaren Einfachheit die Ausführung iſt, ſo bewegt ſich der Künſtler doch immer auf dem Gebiet des Realen, nicht des Idealen. Das Höchſte in der Kunſt iſt das Objektive, die Natur. Der den Regeln der Kunſt entſprechende Garten iſt der naturgetreue Garten. Bei uns zwängt der Gärtner alles in Beete ein, ſtreng nach den Regeln der Symmetrie. In den japaniſchen Gärten iſt nichts in Beete gebracht, alles liegt bunt durcheinander und doch wieder harmoniſch neben einander wie in der Natur. Der japaniſche Garten iſt das Bild einer vollſtändigen Landſchaft mit Seen und Bächen und Waſſerfällen, mit Bergen und Thälern und Bäumen; natürlich alles, auch die künſtlich ſo gezogenen Bäume, en miniature; und das, was wir in einem Garten am eheſten ſuchen würden, nämlich die Blumen, tritt in dem japaniſchen Garten, genau wie in einer Landſchaft draußen auch, ſehr in den Hinter - grund. Die Natur iſt die große Lehrmeiſterin, bei welcher die Japaner in die Schule gehen.
Die Gegenſtände japaniſcher Malerei ſind faſt aus - ſchließlich aus der Natur, Flora und Fauna, entnommen. Ein kleiner Zweig blühender Pflaumenknoſpen oder ein Trio fliegender Kraniche iſt ein Motiv, für welches ſich auch der größte Maler begeiſtern kann. Und bewunderns - wert iſt es, mit welcher, nur durch Liebe zu ſeinem83 Gegenſtand erreichbaren, Meiſterſchaft er ſich ſeiner Auf - gabe entledigt: Der gemalte Zweig ſcheint von dem Zauber und Duft der Natur nichts eingebüßt zu haben. Auch das Trivialſte erſcheint nicht trivial; immer iſt es durchweht von dem poetiſchen Hauch der Natur. Man hat geſagt, ein japaniſches Bild ſei ein Gedicht. Ja, es iſt ein Gedicht, ſo gewiß, als über der Frühlings - landſchaft der Hauch der Poeſie liegt; es iſt ein Gedicht, weil und ſoweit es Natur iſt. Aber da, wo das wirk - lich Ideale recht zum Ausdruck kommt, hört die japa - niſche Malerei auf. Die Welt der Ideale iſt ihr un - bekannt, die perſönliche Darſtellung von Freiheit und Recht, von Wahrheit und Liebe, von Glaube und Hoff - nung iſt ihr ebenſo unmöglich wie der Poeſie. Und wie man in den Gedichten mit ihren 31 Silben in fünf Zeilen vergeblich nach großen Gedanken ſucht, ſo auch auf den Gemälden. Der japaniſche Geiſt iſt nicht auf das Große, ſondern auf das Kleine und Feine hin veranlagt.
Das geiſtigſte Weſen der Schöpfung bildet keinen Gegenſtand der Malerei. Des Dichters Ausſpruch, daß der Menſch das höchſte Studium der Menſchheit ſei, iſt der japaniſchen Kunſt, iſt dem Geiſtesleben des Japaners überhaupt fremd. Wo ſich die Malerei doch an den Menſchen heranmacht, da wird es entweder ein geiſtloſes Porträt oder eine Karikatur. Sein Karikieren aber iſt das ſtille Eingeſtändnis, daß er hier an den Grenzen ſeines Könnens angelangt iſt; ein Eingeſtändnis, das uns in humoriſtiſcher Art zum Lachen bringen und über es ſelbſt hinwegtäuſchen ſoll, das aber nichts deſto weniger in ſeinem ganzen melancholiſchen Ernſt beſtehen bleibt.
Die japaniſche Malerei, die unſere Künſtler noch manches gelehrt hat, darf vielleicht als die höchſte Voll - kommenheit des Realismus bezeichnet werden, eine Voll -6*84kommenheit, die auch den ideal angelegten Menſchen innerlich zu befriedigen im ſtande iſt. Sie darf aber auch die letzte Konſequenz des Realismus genannt werden in - ſofern, als ſie in übertriebener Neigung zur Karikatur die häßliche Schattenſeite zeigt, zu welcher die nicht ideal befruchtete Kunſt ſchließlich hinabſinkt.
Wir können unſere Betrachtungen über das japa - niſche Geiſtesleben nicht ſchließen, ohne wenigſtens in Kürze auf das Erziehungsweſen der Vergangenheit und der Gegenwart einzugehen.
Seitdem in vorgeſchichtlicher Zeit die Japaner mit der chineſiſchen Schrift bekannt geworden ſind, insbeſondere aber, ſeitdem der Koreaner Wani um das Jahr 400 n. C. ein eingehenderes Studium der chineſiſchen Klaſſiker an - geregt hatte, iſt die hohe Wertſchätzung des Wiſſens nicht wieder ausgeſtorben, und Konfuzius und Buddha waren gleicherweiſe bemüht, dieſelbe lebendig zu erhalten. Seit einem Jahrtauſend hat es der Jüngling im Unterrichte lernen müſſen: „ Scharre tauſend Stücke Goldes zu - ſammen, ſie ſind nicht ſo viel wert als ein Tag Lernens “; „ Schätze, die man im Schreine ſammelt, gehen zu Grunde; aber Schätze, die man im Kopfe ſammelt, verfallen nicht “.
Der Gang der Geiſtesbildung war in Japan der - ſelbe wie überall: von oben nach unten — verſchieden von dem Gang der Religion. Jeſus von Nazareth war ein Mann aus dem Volke, und die Religion, ebenſo wie die Gefühlslyrik der Poeſie, iſt in der Seele des Volkes, in dem Herzen der Menſchheit geboren. Und wie das Herz den Mittelpunkt des Körpers bildet, ſo iſt die Religion der Mittelpunkt des Volkslebens. Die Geiſtesbildung aber kommt von oben; ſie entſpringt aus dem Kopf, der den oberſten Teil des Körpers ausmacht, und die Geſchichte zeigt, daß ſie allmählich von oben85 nach unten hinabdringt. Das iſt der Prozeß in Europa geweſen, das war er auch in Japan. In den erſten Jahrhunderten nach dem Eindringen der chineſiſchen Kultur waren die unteren Klaſſen des japaniſchen Volkes vollſtändig von jeder Bildung ausgeſchloſſen. Dem Staat war es nicht ſowohl um allgemeine Aufklärung, als vielmehr um Schaffung eines tüchtigen Beamtenſtandes zu thun. Eine Volksſchule gab es alſo damals in Japan ſo wenig wie in Deutſchland. Vielmehr war die erſte Schule, welche um das Jahr 668 gegründet wurde, eine Hochſchule1)Vergl. J. Bolljahn, Japaniſches Schulweſen (Druck und Verlag von A. Haack, Berlin). Eine eingehende Darſtellung, die ich warm empfehle. Der Verfaſſer iſt ſeit einem Jahrzehnt als Lehrer der deutſchen und engliſchen Sprache und Litteratur in Tokyo thätig und als gründlicher Kenner des japaniſchen Unter - richtsweſens bekannt.. Die Fächer, welche auf derſelben gelehrt wurden, waren: Chineſiſche Klaſſiker und zwar, obliga - toriſch für alle Studenten, beſonders Kokyo (= Hiaoking „ Kanon der Pietät “) und Rongo (= Lüngü „ Sprüche des Konfuzius über Moral, Politik ꝛc. “), ferner Medizin, Aſtrologie und Muſik. Nach dem Muſter dieſer Hoch - ſchule wurden auch in den Diſtriktshauptſtädten des Landes Lehranſtalten errichtet, und es iſt wiederum ein treffender Beweis für die japaniſche Achtung vor dem Wiſſen, daß die Gouverneure der Provinzen ſelbſt ver - pflichtet waren, an dieſen Schulen zu unterrichten, ſo - weit ihre litterariſchen Kenntniſſe dazu ausreichten. Die Zahl der Beſucher war entſprechend dem Bedarf an Beamten, Ärzten und Lehrern eine beſchränkte. Wer bei dem Schlußexamen zum dritten Male durchfiel, wurde nicht wieder zugelaſſen. Wer nicht wenigſtens drei klaſſiſche Bücher anſtandslos leſen und erklären konnte, erhielt die Qualifikation zum Beamten nicht. 86Länger als neun Jahre war keinem der Zutritt zu der Schule erlaubt; der Fleißige und Begabte konnte den Stoff in weit kürzerer Zeit bewältigen. Bei der Auf - nahme erhielten Beamtenſöhne den Vorzug. So ent - ſtanden gewiſſermaßen erbliche Beamtenfamilien. Es iſt überhaupt eine japaniſche Eigentümlichkeit, daß nicht bloß Handwerk und Ackerbau, ſondern auch Dichtkunſt und Malerei, Lehramt, Medizin und klaſſiſche Gelehr - ſamkeit vom Vater auf den Sohn forterbten, ſo daß man es hier nicht mit einzelnen Dichtern, Malern und Gelehrten zu thun hat, ſondern mit Dichter -, Künſtler - und Gelehrtenfamilien. Daß dabei in der techniſchen Fertigkeit eine Förderung erzielt wurde, iſt zweifellos; aber ebenſo ſicher iſt, daß man der Kunſt und Wiſſen - ſchaft den Charakter des Handwerksmäßigen aufprägte, indem man die freien Töchter des Himmels in das be - engende Geſchirr des Handwerks ſpannte.
Etwas allgemeiner wurde die Bildung erſt ſeit dem zehnten Jahrhundert, nachdem der Buddhismus feſten Fuß im Lande gefaßt hatte. Der Konfuzianismus iſt ein ariſtokratiſches Syſtem, welches ſich in ſeinen philo - ſophiſchen Partien nur an die höheren Klaſſen wendet; der Buddhismus aber, wie er in den Jahrhunderten nach Buddha herausgeſtaltet wurde, iſt eine echte Volks - religion, durch und durch demokratiſch, für die breiten Maſſen des Volkes. Für dieſe hat er von jeher ge - arbeitet und unter ihnen iſt er heute noch eine Macht. Der Buddhismus muß als der Vater der japaniſchen Volksbildung betrachtet werden. Aber mit der Ver - breitung der Bildung trat zugleich eine Verflachung ein. Der Buddhismus bemächtigte ſich der ganzen Bildung und über dem Auswendiglernen buddhiſtiſcher Sutra wurde die klaſſiſche chineſiſche Gelehrſamkeit vernach -87 läſſigt. So herrſchten in der erſten Hälfte unſeres Jahr - tauſends in Europa und Japan die gleichen Verhält - niſſe, nur daß es hier buddhiſtiſche, dort aber katholiſche Mönche waren, welche die Lehrſtühle als ihr ausſchließ - liches Herrſchaftsgebiet beſetzt hielten.
Aber wie kurz vor der Reformation in Europa der Umſchwung eintrat, wie die Kuttenmänner durch die Humaniſten verdrängt wurden, ſo ſtrömte hundert Jahre ſpäter auch in Japan die Flut zurück. Durch den Ein - fluß des Schoguns Iyeyaſu wurden die Mönche aus allen ſtaatlichen Schulen verdrängt und die konfuzianiſti - ſchen Gelehrten traten wieder in ihre Rechte ein. Sie ſind die Erzieher der heutigen maßgebenden Kreiſe, die durch und durch von der religionsloſen utilitariſtiſchen Moral des Konfuzius durchdrungen ſind, auch dann wenn ſie etwa den Namen des Meiſters ſchnöde ver - leugnen. Den Buddhiſten dagegen blieb nichts weiter übrig als private Lehrthätigkeit. Sie beſchränkten die - ſelbe faſt ganz auf das gewöhnliche Volk und legten in ihren Tempelſchulen, in welchen ſie die Kinder aller Stände in den Elementarfächern unterrichteten, den Grund zu den eigentlichen Volksſchulen der Gegenwart.
Es giebt in der Geſchichte des japaniſchen Unter - richtsweſens Stellen, wo man ſich förmlich von moderner Luft angeweht fühlt, wenn z. B. ſchon aus der früheſten Zeit von der Gründung von Bibliotheken und der Schaf - fung von Stipendien berichtet wird. Die Methode des Unterrichts dagegen war recht altertümlich. Der Lehrer redete und der Schüler hielt beſcheiden den Mund. Der Unterricht beſtand im Dozieren. Die chineſiſchen Zeichen wurden in der Weiſe gelehrt, daß die Schüler zuerſt mit der Ausſprache, dann mit der Bedeutung und zum Schluſſe mit der Schreibweiſe bekannt gemacht wurden. 88Dieſe famoſe Methode geht den buddhiſtiſchen Prieſtern heute noch nach. Die Ausſprache der Zeichen haben ſie gelernt, ſo daß ſie ihre heiligen Bücher zu leſen wiſſen, aber über dieſe erſte Stufe ſind ſie nicht hinausgekommen; ein Verſtändnis des Geleſenen iſt in ſeltenen Fällen zu finden. Fibeln und Leſebücher, an deren Hand man ſtufenweiſe, Schritt für Schritt voranſchreitet, gab es in Japan bis vor ein paar Jahrzehnten ebenſowenig wie in Deutſchland vor Melanchthons Zeiten. Gleich wurden den Schülern die klaſſiſchen Schriften vorgelegt. Es iſt das nicht zum wenigſten ein Grund der Frühreife und Selbſtüberhebung auch noch der heutigen japaniſchen Jugend, wenn auch das Syſtem unterdeſſen geändert wurde. Auch zeigt ſich die Fortentwicklung der alten Gewohnheit noch darin, daß man noch heute einen Jungen, der Deutſch lernen will, nur mit Mühe davon abbringen kann, Schillers Gedichte oder Leſſings ſehr beliebte Minna von Barnhelm als erſtes Unterrichts - buch in die Hand zu nehmen.
Daß eine ſolche Methode für eine neue Zeit nicht mehr brauchbar war, verſteht ſich von ſelbſt. Und die neue Zeit kam.
Schon ſeit dem 17. Jahrhundert war die höhere Bildung von europäiſchen Einflüſſen nicht mehr frei ge - blieben. Die Holländer, welche Rolle ſie ſonſt auch geſpielt haben mögen, haben das eine große Verdienſt, daß ſie die Japaner mit den Grundſätzen der Medizin und der Naturwiſſenſchaften bekannt machten und durch Einführung einer kunſtgerechten Anatomie die mit der Medizin verbundenen mancherlei abergläubiſchen Vor - ſtellungen beſeitigten. Der Verkehr mit den Holländern zwang die Regierung auch, zum Zwecke der Verſtändi - gung mit ihnen einige ihrer Unterthanen Holländiſch89 lernen zu laſſen, und wenn auch Unbefugten das Studium der fremden Sprache bei Todesſtrafe unterſagt war, — ein Verbot, welchem mehr als einer zum Opfer fiel —, ſo fanden ſich doch immer mehr lernbegierige Jünglinge, welche in aller Heimlichkeit es wagten, ſich über dieſes Verbot hinwegzuſetzen. So groß war die Wertſchätzung des Wiſſens, daß in dem letzten Jahrzehnt des Schogunats, als ſich ſchon einige Europäer in den Hafenſtädten an - geſiedelt hatten, Jünglinge aus der ſtolzen Kaſte der Samurai den Schimpf nicht ſcheuten, bei den „ fremden Barbaren “in Dienſt zu gehen, nur um die Sprache zu erlernen. Andere, darunter die jetzigen beiden größten Staatsmänner Ito und Inouye und der ſog. „ Apoſtel Japans “Niſhima, waren auch damit noch nicht zu - frieden; während auf dem Verlaſſen des Landes die Todesſtrafe ſtand, ſchmuggelten ſie ſich an Bord fremder Schiffe nach dem Ausland. Das waren untrügliche Wetterzeichen der Zeit; das Alte lag im Sterben, der gährende Moſt ſprengte die alten Schläuche.
Wenn man die neue Periode Meiji d. h. die er - leuchtete genannt hat, ſo verdient ſie ihren Namen nicht zum wenigſten wegen ihrer Verdienſte um die Volks - aufklärung. Heute iſt die Schulbildung Gemeingut des ganzen japaniſchen Volkes. Eingeleitet wurde das neue Zeitalter der Schule durch einen kaiſerlichen Erlaß vom Jahre 1872, welcher charakteriſtiſch genug iſt, um hier einen Platz zu finden: „ Alles Wiſſen “, heißt es da, „ ſowohl das, welches man im alltäglichen Leben braucht, als auch das, was erforderlich iſt, um Offiziere, Ärzte, Landwirte, Handwerker und Kaufleute zu bilden, wird durch Lernen erworben. Obgleich nun das Lernen un - bedingt erforderlich iſt, um erfolgreich im Leben wirken zu können, ſo erachtete man es doch bisher für das90 gewöhnliche Volk als überflüſſig, und auch in den höheren Studien wurden meiſtens nur zweckloſe Diskurſionen und wertloſe Aufſatzübungen gepflegt, die wenig praktiſchen Nutzen brachten, und die Folgen davon waren Armut und Mißgeſchick im Leben. Darum muß der Unter - richt ſo erteilt werden, daß hinfort in keinem Orte eine unwiſſende Familie und in keiner Familie ein unwiſſen - des Glied gefunden werde “. (Bolljahn.)
Das ganze Volksſchulweſen ſteht unter ſtaatlicher Kontrolle. Die Schulen ſind Gemeindeanſtalten; doch giebt es noch eine große Zahl von Privatvolksſchulen. Die Lehrer ſind auf Seminarien vorgebildet; falls ſie ein Seminar nicht beſucht haben, müſſen ſie ihre Be - fähigung durch eine Prüfung nachweiſen. Der Schul - zwang, der übrigens in der Praxis nicht ſtrenge durch - geführt iſt, iſt auf vier Jahre beſchränkt; aber die meiſten Kinder beſuchen den Unterricht aus freien Stücken länger. Die Grenzen der Schulzeit bilden das ſechste und das vierzehnte Lebensjahr. Die Unterhaltungskoſten werden zu einem großen Teil durch Schulgeld gedeckt. Die Lehrer - gehälter ſind ſehr gering. Die Unterrichtsgegenſtände ſind, mit Ausnahme der Religion, die in keiner Form gelehrt wird, die aber durch Moralunterricht erſetzt wer - den ſoll, ſo ziemlich dieſelben wie bei uns. Auch der deutſche Kindergarten iſt eingeführt und mit großem Beifall aufgenommen worden. Die Zahl der beſuchenden Kinder iſt in den Städten eine ſehr große. Bemerkens - wert iſt, daß man, wie in England und andern Ländern, auch in weiten Kreiſen des japaniſchen Volkes das Wort Kindergarten beibehalten hat. Auch für den Unterricht körperlich und geiſtig zurückgebliebener Kinder iſt Für - ſorge getroffen. Bei den Jahresſchlußübungen der Blin - den - und Taubſtummenanſtalt in Tokyo habe ich mich91 davon überzeugen können, welch’ bewundernswerte Re - ſultate hier erzielt werden.
Auch das höhere Schulweſen wurde in dem neuen Zeitalter der Aufklärung einer gründlichen Reviſion unterworfen. Der alte konfuzianiſche Gelehrte, welcher eine immer größere Seltenheit wird, und der moderne japaniſche Profeſſor der Univerſität ſtehen ſich wie Men - ſchen aus zwei völlig verſchiedenen Welten gegenüber. Es giebt heute keine Fachſchulen in Europa, die man nicht auch in Japan beſäße. Von den bedeutendſten Re - gierungsſchulen ſeien hier nur einige erwähnt: Gymna - ſien niederer und höherer Ordnung, Realſchulen, Lehrer - bildungsanſtalten, techniſche Schulen, die Kunſtſchule, die Adelsſchule, die Marineakademie, die Kadettenanſtalt, die Kriegsſchule und die Muſikakademie für europäiſche und chineſiſche Muſik. Weitaus die meiſten ſind in Tokyo, dem Mittelpunkt der japaniſchen Bildung. Hier befindet ſich denn auch die Krone der Schulen, die Univerſität. Zwar iſt neuerdings noch eine zweite Hoch - ſchule in Kyoto eröffnet worden, doch iſt dieſelbe vor - erſt noch in der Entwicklung begriffen. Die Univerſität zu Tokyo hat ungefähr tauſend Schüler. In ihrer äuße - ren Einrichtung iſt ſie nach amerikaniſchem „ College “- Syſtem organiſiert. Sie zerfällt in ſechs Fakultäten: Rechtswiſſenſchaft, Litteratur (Philologie, Philoſophie, Geſchichte ꝛc. ), Naturwiſſenſchaften, Technik, Medizin und Landwirtſchaft. Eine theologiſche Fakultät giebt es nicht. Die mediziniſche Abteilung ſteht ganz, die littera - riſche, rechtswiſſenſchaftliche und landwirtſchaftliche teil - weiſe unter deutſchem Einfluß. Nicht nur, daß in den letzten Jahrzehnten beſtändig acht bis zwölf deutſche Profeſſoren hier unterrichteten; auch die japaniſchen Lehrer haben meiſtens in Deutſchland ſtudiert. Wie92 ein deutſcher Profeſſor berichtete, hat der franzöſiſche Geſandte in Tokyo, der, ſebſt ein Gelehrter, vor einiger Zeit die Univerſität beſichtigte, zum Schluß bemerkt: „ Alles ſehr ſchön, aber — zu ſehr deutſch! “
Aber trotz dieſer Bemerkung bin ich nicht ganz damit einverſtanden: „ Alles ſehr ſchön! “ Gewiß darf Japan auf die Organiſation ſeines Schulweſens im allgemeinen, und auf die Univerſität im beſonderen ſtolz ſein. Aber mit Bezug auf den inneren Geiſt iſt doch noch manches auszuſetzen. In früheren Jahren kannte man nur ein humaniſtiſches Studium; die Klaſſiker allein wurden zum Gegenſtand des Studiums gemacht. Man hatte dabei nicht nur die Verſtandesbildung, ſondern mehr als das, die Charakterbildung im Auge. Heute iſt das vielfach in ſein Gegenteil umgeſchlagen. Das Wiſſen iſt das Ziel des Unterrichtes, nicht die Erziehung. Der Geiſt der japaniſchen Schule iſt einſeitig realiſtiſch. Zwar bei der Univerſität, den Regierungsgymnaſien und den Lehrerbildungsanſtalten iſt es verhältnismäßig noch am beſten; zumal in den Gymnaſien wird viel humaniſti - ſcher Stoff verarbeitet. Aber der Geiſt, welcher die Fachſchulen und das ganze Privatſchulweſen beherrſcht, iſt ganz und gar realiſtiſch und formaliſtiſch.
Die Zahl der Privatſchulen iſt Legion. Es giebt ihrer eine große Menge von den beſteingerichteten „ Colleges “an bis zu den primitivſten Elementarſchulen. An der Spitze ſteht die „ Keiogijuku “, das nach ame - rikaniſchem Gymnaſial - bezw. College-Stil eingerichte Inſtitut Fukuzawas. Fukuzawa gilt als die Seele des modernen gebildeten Japans und zweifellos iſt er als der geiſtige Vater der Hälfte der japaniſchen Politiker anzuſehen. Fukuzawa hat es ſtets verſchmäht, ein po - litiſches Amt, auch das des Unterrichtsminiſters, zu93 bekleiden, und doch iſt die unglückſelige Verquickung von Politik und Erziehung auch bei ihm ſtark bemerkbar. Als Pädagog hat er ſich natürlich auch mit den reli - giöſen Problemen beſchäftigt, und er beſonders war es, welcher in der Mitte der achtziger Jahre das Chriſten - tum als Staatsreligion empfahl, weil Japan dadurch Gleichberechtigung mit den Weſtmächten erziele. Seine Schülerzahl beträgt zu jeder Zeit viele Hunderte und als politiſch bemerkenswert mag angeführt ſein, daß nach dem Ende des chineſiſchen Krieges auch hundert Koreaner in die Schule eintraten, mit dem Hauptzweck, die japaniſche Sprache zu erlernen.
Dicht hinter Fukuzawas Schule kommen einige Miſſionsinſtitute; als erſtes die Doſhiſha in Kyoto und auf nur wenig niedrigerer Rangſtufe die Meiji Gaku-in der Vereinigten Presbyterianer in Tokyo.
Früher war eine der bedeutendſten Privatſchulen die deutſche Vereins - oder Rechtsſchule, Doitſu Kyokwai Gakko genannt. Damals unterrichteten neben einander fünf deutſche Lehrer an derſelben, von welchen zwei humaniſtiſche und drei rechts - und ſtaatswiſſenſchaftliche Disziplinen lehrten. Leider hat ihr die Regierung vor einigen Jahren die ſtaatliche Subvention entzogen, die deutſchen Lehrer mußten entlaſſen werden, und neuer - dings iſt die einſt blühende Anſtalt nur noch als Sprach - ſchule von einiger Bedeutung.
Sprachſchulen giebt es in großer Zahl. Am ſtärkſten iſt das Engliſche vertreten als die Verkehrsſprache, während die deutſche Sprache als die wiſſenſchaftliche gleich hinterdrein kommt. Es giebt aber auch franzö - ſiſche, holländiſche, ruſſiſche, koreaniſche, italieniſche und ſpaniſche Sprachſchulen. Ich glaube nicht zu hoch zu94 greifen, wenn ich ihre Zahl in Tokyo allein auf etwa hundert ſchätze. Die meiſten ſind freilich auch darnach!
Überhaupt iſt das pädagogiſche Mancheſtertum, das ganze ausgebreitete Privatſchulweſen für Japan ein be - klagenswerter Übelſtand. Es ſind zwar in dieſen An - ſtalten auch tüchtige Schüler zu finden, aber zu einem großen Teil iſt es doch minderwertiges Material, welches, für Regierungsſchulen zu gering, hier immer noch mit offenen Armen angenommen wird. Der Beſuch einer Privatſchule berechtigt zu keinem öffentlichen Amt, und ſo entſteht ein großes halbgebildetes Proletariat und damit ein unzufriedenes, nörgelndes Element in dem Volksganzen. Das können doch unmöglich geſunde Zuſtände ſein, wenn bei einer ſtaatlichen Prüfung zur Qualifikation für das höhere Juſtizfach ein paar hundert junge Leute aus Privatrechtsſchulen das Examen mit - machen, während doch von vornherein feſtſteht, daß entſprechend dem Bedarf nur ſechsunddreißig beſtehen können!
Auch die Disziplin wird durch das Privatſchul - weſen in einer Weiſe untergraben, welche ſich allmählich als recht bedenklich herausſtellt. Hier haben ſich nicht die Schüler nach den Lehrern, ſondern die Lehrer nach den Schülern zu richten. Geſchieht das nicht, ſo treten die Schüler aus. Sie riskieren ja nichts dabei. Sie finden immer wieder ihre Unterkunft in einer Konkurrenz - ſchule, welche ſie mit Freuden und ohne jede Nachfrage nach ihrem ſittlichen Charakter aufnimmt. Die Trinität, zu welcher der junge Samurai in früheren Jahren ehr - furchtsvoll aufſchaute, waren Vater, Fürſt und Lehrer, und er konnte in die größte Verlegenheit gebracht wer - den, wenn man ihn fragte: „ Wen würdeſt du zuerſt retten, wenn die drei zuſammen in das Waſſer fielen95 und daran wären, zu ertrinken “? Damals war das Wort des Lehrers ein religiöſes Orakel. Heute iſt die Autorität und Ehrfurcht vollſtändig untergraben. Schul - ſtreike ſind an der Tagesordnung. Der Lehrer kommt eines ſchönen Morgens in die Schule, und von den fünfzig Schülern der Klaſſe iſt keiner erſchienen. Oft kann man davon hören, daß ſie ihren Willen durch - ſetzen, ſei es, daß es ſich um eine von ihnen beantragte Entfernung eines mißliebigen Lehrers handelt, ſei es, daß man ſich irgend einem ihrer Wünſche nicht will - fährig zeigte. Nicht ſelten ſchreiben die Schüler vor, was der Lehrer unterrichten ſoll, und wenn ſie es nach ein paar Wochen überdrüſſig ſind, ſo befehlen ſie wieder etwas anderes. Lehrer in Japan zu ſein, iſt keine Kleinigkeit, wenigſtens keine Leichtigkeit. Unter dem Beiſpiel der Privatſchulen lernen es auch die Lehrer der Staatsanſtalten, nach der Pfeife der Schüler zu tanzen. Dem heutigen japaniſchen Schüler kann man bei all ſeinen Vorzügen den Vorwurf der Flegelhaftig - keit nicht erſparen. Der Mangel des religiöſen und humaniſtiſchen Unterrichts macht ſich bedenklich bemerk - bar. Zu ſpät erkennen die Meiſter, was für Geiſter ſie ſich großgezogen haben. Dem japaniſchen Studenten wird genug für ſeinen Verſtand, aber zu wenig zur Bildung ſeines Charakters geboten. Das Wohl des Volkes erheiſcht mit apodiktiſcher Notwendigkeit einen folgerichtigen Ausbau des ſtaatlichen und eine ent - ſchiedene Beſchränkung des privaten Unterrichtsweſens.
Es iſt eine bekannte Erſcheinung, daß Land und Leute, Natur und Menſch im innigſten Zuſammenhang mit einander ſtehen. Wie der Menſch dem Grund und Bo - den den Stempel ſeines Geiſtes aufdrückt, ſo wird ſein Cha - rakter mannigfach beeinflußt durch die Natur, in der er lebt. Die Haide des Nordens iſt nicht ohne Anteil an dem ſinnigen, phlegmatiſchen Temperament ihrer Bewohner, und die Söhne der freien Schweiz haben vieles gemein mit dem freien, ſtarken, trotzigen Charakter ihrer ra - genden Berge. Die Erfahrung beſtätigt, daß die äuße - ren Gliedmaßen der Amerikaner, beſonders Hände und Füße, allmählich, von Geſchlecht zu Geſchlecht, lang und ſchmal werden wie die der Indianer. Es iſt der Ein - fluß des Bodens, der ſolches ſchafft.
Wenn aber irgendwo ein Volk mit ſeinem Lande innig verwachſen iſt, ſo iſt es das Volk der Japaner. Die Leute ſind das genaue geiſtige Widerſpiel des Bodens, der ſie trägt. Gleichwie das Land mit ſeinen Schön - heiten und ſeinen Schrecken ein doppeltes Anſehen hat, ſo hat auch das Volk ein Janusgeſicht. Wie die Schön - heiten des Landes offen daliegen, daß auch der ober - flächliche Blick ſie ſehen und würdigen muß, ſo iſt das erſte, was an dem Volke auffällt, ſeine Sauberkeit, Freundlichkeit und ſcheinbare kindliche Harmloſigkeit, all die anmutenden Züge einer äſthetiſchen Lebensführung,97 wie ſie im vorigen Kapitel beſchrieben wurden. Und wie die Schrecken der Natur in ihrer Vollkraft der Zerſtörung ſich nur dem langjährigen Reſidenten zeigen, ſo offenbart ſich ihm auch der Japaner im Lauf der Zeit als ein ganz anderer, als der er zu Anfang ſchien. Dieſes Doppelgeſicht an Land und Leuten erklärt die Verſchiedenheit der Urteile über die Japaner, Urteile, welche ſich oft geradezu widerſprechen. Die alten Reſi - denten haben auch in die Nachtſeiten Japans und ſeiner Bewohner hineinzuſchauen Gelegenheit gehabt, und über dem Böſen, das ſie hinter der freundlichen Außen - ſeite des Volkes ſehen, vergeſſen ſie oft das Gute, das ſie doch auch haben, und werden einſeitig in ihrem Urteil. Die Reiſenden aber, welche nach kurzem Auf - enthalt im Lande wieder in die Heimat zurückkehren, haben nur die äſthetiſch ſchöne Oberfläche von Land und Leuten geſehen und wiſſen dann zu Hauſe nicht genug zu erzählen von dieſer ſchönen Natur und ihren ſym - pathiſchen Menſchen; und da die populären Werke über Japan, die ihren Weg in unſer Volk gefunden haben, faſt durchweg von Leuten dieſer Klaſſe herrühren, ſo hat man lange Zeit in Europa an das Märchen von Japan als einem Land von ſchönen Blumen und einem Volk von harmloſen, liebenswürdigen Kindern geglaubt. Aber wahrlich, der Japaner iſt weit mehr als das, ja in ſeinem Herzen iſt er ganz etwas anderes. Darüber ſollte der japaniſch-chineſiſche Krieg endlich Klarheit geſchaffen haben. Der Japaner würde ſich ſelbſt be - dauern, wenn er nicht mehr wäre, als was er ſcheint. Ein Spielzeug, eine Puppe, ein Kind, wie er von vielen Europäern aufgefaßt wird, will er nicht ſein.
Jeder Japaner iſt ein Rätſel. Vor der Öffentlich - keit ſpielt er ſeine Rolle, und er ſpielt ſie vorzüglich;798hinter den Kuliſſen aber iſt er ein anderer. Er iſt Meiſter in der Verſtellungskunſt und beſitzt eine außer - ordentliche, durch jahrhundertelange Gewöhnung künſt - lich anerzogene Selbſtbeherrſchung. Es iſt unmöglich, ihm vom Geſicht abzuleſen, was er im tiefſten Herzen ſinnt. Auch in Worten verrät er ſich nicht. Er iſt zurückhaltend, nicht mitteilſam, er iſt verſchloſſen, nicht offen. Ein japaniſcher Gelehrter bezeichnet als eine nationale Tugend ſeiner Landsleute, daß ſie offen und geradeaus ſeien. Dieſe Behauptung iſt nur ein Beweis mehr für die alte Erfahrung, daß für einen Menſchen nichts ſchwerer iſt, als ſich ſelbſt erkennen, oder, wie der Japaner ſelbſt in einem treffenden Sprichwort es aus - drückt: todaimoto kurashii, am Fuße des Leuchtturms iſt es dunkel. Der Japaner iſt nichts weniger als das. Er iſt in ſeiner Verfahrungsweiſe indirekt. Kaum irgend - wo ſpielt die Zwiſchengängerei eine ſolche Rolle wie hier, nicht bloß in Heiratsgeſchichten, ſondern in allen möglichen Dingen. Seine Urteile ſind nicht gerade - heraus, ſondern umſchreibend, ſeine Fragen gehen nicht direkt auf die Sache los, ſondern hinten herum. Will ein Student erfahren, ob ſein deutſcher Profeſſor der Geſchichte im nächſten Jahr nach Ablauf ſeines Kontrakts nach Deutſchland zurückkehrt, ſo fragt er nicht geradezu: „ Kehren Sie nächſtes Jahr in Ihre Heimat zurück? “ſondern vielmehr: „ Kommt übers Jahr noch ein deutſcher Geſchichtsprofeſſor? “ Je nach der Antwort konſtruiert er ſich’s dann ſelbſt, ob der Profeſſor bald geht oder noch zu bleiben gedenkt. Ich war einmal in der Lage, einen Lehrer für unſere Freiſchule engagieren zu müſſen. Ich übertrug die Regelung der Sache einem meiner Studenten, nachdem ich ihn vorher inſtruiert hatte. Binnen kurzer Zeit kam er mit der Nachricht, daß die99 Sache erledigt ſei. Ich fragte ihn, wie er denn mit dem neuen Lehrer einig geworden ſei. „ Nun “, ſagte er, „ ich ging zu ihm hin und fragte ihn: Wenn Sie eine Schule hätten und müßten einen Lehrer anſtellen, was würden Sie dem wohl für ein Gehalt geben? Darauf beſann er ſich ein wenig und nannte dann eine Summe, und ich bat ihn darauf, um dieſe Summe als Lehrer bei uns einzutreten “. Der Japaner ſpricht mit dem gleichgültigſten Geſicht über die gleichgültigſten Dinge von der Welt, ſo daß man ſich faſt verwundern möchte über die inhaltsloſe Unterhaltung. Wenn er ſich aber empfiehlt, weiß er, was er hatte wiſſen wollen, und der harmloſe Europäer iſt der Gefoppte. Er iſt der geborene Diplomat, wie das vom Oſtaſiaten überhaupt gilt, und die Vertreter der europäiſchen Mächte dürfen all ihren Witz zuſammenhalten, um nicht unbewußt die Spielbälle der japaniſchen Staatsmänner zu werden. Die euro - päiſche Macht, welche ihren Geſandtſchaftspoſten in Tokyo als eine Art Sinekure betrachtet und an mittelmäßige Kräfte vergiebt, iſt übel beraten. Die neuen Verträge, welche Japan mit den europäiſchen Mächten auf der Grundlage politiſcher Gleichberechtigung abgeſchloſſen hat, ſind ein diplomatiſches Meiſterſtück, welches dem fähig - ſten europäiſchen Staatsmanne zur Ehre gereicht hätte.
Die Maske eines unſchuldigen, harmloſen Kindes iſt dem Japaner zur zweiten Natur geworden. Oft aber iſt es ein von ihm beabſichtigter Schein, und dann wird er zum Heuchler. Im Verkehr mit dem Europäer iſt er ſtets freundlich. Auch wenn er gerechten Grund zum Zorn hat, bleibt er ruhig, gleichmütig, liebenswürdig. Aber Thatſache iſt, daß er eher Abneigung als Liebe gegen den Fremden im Herzen trägt. Wenn ſie unter ſich ſind, zumal in der Preſſe, die nur von ſehr wenigen7*100Europäern geleſen werden kann, kommt die verborgene Abneigung zum Vorſchein. Hinter der Maske birgt ſich in der Regel ganz etwas anderes. Die Ähnlichkeit mit Reineke Fuchs iſt mitunter eine auffallende. Gerade wenn er am liebenswürdigſten thut, ſchmiedet er im geheimen die Waffen des Verderbens. Wenn er etwas erreichen will, giebt er Geſchenke. Nirgends wird ſoviel verſchenkt wie in Japan. Wie habe ich mich an Weih - nachten gefreut, wenn man mir in voller Blüte ſtehende Miniaturpflaumenbäumchen in das Haus brachte! Wie nett ſahen ſie aus und wie lieblich durchſtrömte ihr Duft das Zimmer: Mitten im Winter eine Verheißung des Frühlings! Es waren Gaben der Dankbarkeit und der Liebe. Einmal aber, als der Frühling in das Land gezogen kam, war meine Freude beim Anblick zweier unter ihnen keine ungetrübte mehr. Da hatte auch ich die Erfahrung gemacht, daß man durch die Annahme ſolcher Geſchenke, ohne es zu wiſſen, die Erlaubnis ge - geben hat, ſich anpumpen oder auf irgend eine andere Weiſe über den Löffel barbieren zu laſſen. Ich möchte nicht mißverſtanden ſein: Ich habe ſehr viele Geſchenke erhalten, die in der freundlichſten Abſicht ohne jede eigen - nützigen Hintergedanken gegeben worden ſind. Aber im großen Verkehr werden die Völker ſtets klug daran thun, das Wort im Sinne zu tragen: Timeo Danaos et dona ferentes; auf gut Deutſch: Wenn der Japaner dir etwas ſchenkt, ſo nimm dich in acht.
Man hat den Japanern Verlogenheit zum Vorwurf gemacht; man hat geſagt, die Lüge werde nicht einmal als ein ſittlicher Makel betrachtet und empfunden, ſelbſt der Sprache fehle ein treffendes Wort zur Bezeichnung der Lüge als eines moraliſchen Defektes. Japaniſcher - ſeits hat man dagegen erwidert, gerade der Umſtand,101 daß kein entſprechender Ausdruck für Lüge vorhanden ſei, ſei ein Beweis dafür, daß dieſes Laſter in Japan überhaupt nicht exiſtiere, daß es den Japanern fremd ſei und ferne liege. Keine von beiden Behauptungen trifft den Nagel ganz auf den Kopf. Der Japaner iſt im Lügen ebenſowenig offen und geradeaus wie im Sagen der Wahrheit. Eine dreiſte, freche Lüge geht ihm ebenſo wider den Strich, wie eine rückſichtsloſe, ehrliche Wahrheit. Wohl aber iſt zu bedenken, ob nicht das ganze Syſtem des falſchen Scheins eine einzige große Lüge und Verlogenheit iſt. Freilich der ganze ſcharfe Maßſtab unſerer Sittlichkeit darf an die japa - niſche Verlogenheit nicht angelegt werden. Das gegen - wärtige Geſchlecht iſt für dieſelbe wenig verantwortlich zu machen. Sie hat ſich zu ihrer heutigen Ausprägung herausgeſtaltet durch die Verhältniſſe der Feudalzeit, da das Volk rückſichtslos dem Druck von oben ausgeſetzt war, da einer den andern mißtrauiſch beobachtete und das Spionieren großgezogen wurde. Man ſollte daher die Verlogenheit eher eine ſchlechte Sitte als einen böſen Charakterzug nennen. Das aber giebt zugleich die Hoffnung, daß das, was durch die Geſchichte ent - wickelt wurde, auch durch die Geſchichte wieder vernichtet wird, daß der japaniſche Charakter, welcher in den Sklavenketten des Feudalismus verdorben wurde, in der freien Luft der modernen Zeit ganz anders gedeihen werde. Hier iſt eine Aufgabe, würdig des Chriſtentums, die Japaner von einem Fluch zu befreien, mit welchem die Sünde vergangener Tage ſie behaftete. Ihr Tem - perament als ſolches mag unveränderlich bleiben, weil es angeboren iſt; dieſer eine Zug aber, weil nachweis - lich geſchichtlich bedingt, kann ein anderes Anſehen ge - winnen. Wenn es doch ſichtbar zu Tage tritt, daß102 ſelbſt das Land ſich verändert, warum ſollen nicht auch die Leute entwicklungsfähig ſein? Auch Vulkane brennen aus und werden zu freundlichen, friedlichen Bergen; warum ſollte das Volk ewig verurteilt ſein, das zu bleiben, was es gegenwärtig iſt?
Aber freilich, einſtweilen zeigt ſich auch in dieſem Punkte des Syſtems des falſchen Scheins noch die Natur des Vulkans. Nach außen anmutig, ruhig, harm - los; im Innern aber ſchafft’s und gährt’s, raſtlos, un - unterbrochen, bis es zu gelegener Zeit zum Ausbruch kommt. Die Zeit aber, wann das ſein wird, weiß niemand. Denn der Japaner iſt unberechenbar, wie die Vulkane des Landes.
Er iſt durch und durch Sanguiniker. Er beſitzt alle Tugenden und alle Mängel des ſanguiniſchen Temperaments. Er iſt leicht empfänglich für alles, raſch ſich begeiſternd, mit großem Intereſſe für alles Mögliche; aber auch ebenſo oberflächlich, flatterhaft und wankelmütig. So ſchwerfällig der Chineſe iſt, ſo leicht beweglich der Japaner. Feurig wie Petrus treten ſie für etwas ein, wankelmütig wie Petrus verleugnen ſie ihre Sache. Sind die Gallier rerum novarum cu - pidi, ſo ſind die Japaner rerum novarum cupidissimi. Ein franzöſicher Gelehrter hat es verwunderlich gefunden, daß die Charakterzeichnung, welche Cäſar von den alten Galliern giebt, auf die heutigen Franzoſen noch genau zutrifft. Was aber würde der alte Cäſar ſelbſt dazu ſagen, daß ſeine damalige Zeichnung Zug für Zug auch auf die heutigen Japaner paßt. Ritterlicher Sinn, Großmut, Ehrgefühl, Liebe zu den Waffen, Neigung für das Glänzende, Leichtfertigkeit, Parlierkunſt, Phraſen - haftigkeit, und was Cäſar ſonſt anführt, gilt hier wie dort. Wenn er ſchreibt: „ Die Gallier lieben die Um -103 wälzung; ſie laſſen ſich leicht durch falſche Gerüchte zu Aktionen treiben, die ſie nachher bereuen, und zu Ent - ſcheidungen über die wichtigſten Dinge; ſie ſind immer bereit zum Krieg auch ohne Urſache .... “, ſo könnte das Subjekt dieſer Sätze ebenſowohl der Japaner ſein. Dieſelben Leute, deren Land nach ſeiner ganzen Lage als das England Aſiens bezeichnet wird, hat man nicht mit Unrecht die Franzoſen des Oſtens genannt. Sie ſind es, nur mit dem Unterſchied, daß ſie Selbſtbe - herrſchung üben und nach ihrem Sprichwort: „ Ein raſches Wort, einmal aus dem Munde, bringen vier Pferde nicht wieder zurück “, das Herz nicht auf der Zunge tragen, was bei ihrem Temperament nicht leicht iſt und nur durch rigoroſe Dreſſur erreicht werden konnte. Raſch iſt der Wechſel. Wie die Vulkane des Landes Jahrzehnte lang ruhen, um dann mit einem Mal aus - zubrechen, wie mitten aus der größten Ruhe urplötzlich ein ſchrecklicher Taifun ſich erhebt, ſo mag am politiſchen oder ſozialen Horizont am Abend zuvor noch alles ruhig ſein, am nächſten Morgen aber befindet ſich das ganze Volk in Bewegung und Aufruhr. Das iſt nicht ein ruhig dahinfließender Strom, das iſt vielmehr wie Ebbe und Flut des japaniſchen Meeres. Es fehlen die Über - gänge, es fehlt die ruhige Entwicklung.
Die Japaner ſind bekannt als Schlangen - und Kautſchukmenſchen im Sinne ausgezeichneter Akrobaten und Jongleure, ſie ſind aber auch Schlangenmenſchen im geiſtigen Sinn, biegſam und geſchmeidig, ein Volk, welchem ein feſtes gerades Rückgrat fehlt. Alles nehmen ſie leicht. Nicht als ob ſie es zuvor nicht überlegten; aber mehr als das Sprichwort: „ Erſt wäg’s, dann wag’s “gilt ihnen das andere: „ Friſch gewagt iſt halb gewon - nen “. Sie beſitzen eine leichtgeſchürzte Energie und104 einen friſchmutigen Unternehmungsgeiſt. Bei größeren Unternehmungen in Deutſchland bedarf es erſt geraumer Zeit und Erwägung. Wenn in einer Stadt hier der Gedanke an die Einführung einer elektriſchen Straßen - beleuchtung zum erſtenmal auftaucht, ſo mag noch mancher Tropfen Waſſer den Rhein hinabfließen, ehe der Plan zur ſchließlichen Ausführung kommt. In Japan geht ſo etwas über Nacht. Eines ſchönen Tages kommt man von einer dreiwöchentlichen Reiſe zurück und ſieht eine elektriſche Straßenbahn durch die Straße gezogen. Oder man ſchaut zum Fenſter hinaus und bemerkt mit Erſtaunen den Schornſtein einer Fabrik vor ſich in die Lüfte ragen. Schon hat man die So - zialdemokratie auf japaniſchen Boden verpflanzt, nicht etwa, weil irgend ein Bedürfnis dafür beſtände, ſondern damit man ſelbſt das Neueſte zu beſitzen ſich ſagen darf. Schon iſt eine japaniſche Dampferlinie nach Antwerpen eröffnet, und an das große Problem der Gold - und Silberwährung, über welchem die alte und die neue Welt ſich vergeblich die Köpfe zerbrechen, legt die neueſte Welt, die mit Japan auf dem Schauplatz der Geſchichte getreten iſt, friſchmutig die Hand an.
Japan iſt das Land der Überraſchungen. Es iſt unmöglich, hier den Propheten zu ſpielen. Wie über - raſchend kam der japaniſch-chineſiſche Krieg! Kurz zu - vor hätte niemand auch nur entfernt daran gedacht, ausgenommen die japaniſche Regierung ſelbſt; und zwar nicht bloß unter den Laien, ſondern auch unter den Diplomaten. Denn kaum ein Jahr zuvor hatte Deutſch - land das oſtaſiatiſche Geſchwader aufgelöſt, um die deutſche Vertretung unter den vierhundert Millionen Menſchen Oſtaſiens dem kleinen Kanonenboot Iltis, das mittlerweile verloren ging, und dem nicht größeren,105 unterdeſſen marode gewordenen Wolf zu überlaſſen. Ein ſolches Vorgehen, wenn auch wegen Mangel an Schiffen erklärlich, war an und für ſich ſchon gewagt; es wäre aber geradezu unverantwortlich geweſen, wenn damals irgend welche, auch nur entfernte, Anzeichen auf Krieg gedeutet hätten. Die Japaner hatten es wieder einmal verſtanden, die Welt zu überraſchen.
Wer die Japaner über die Straßen von Tokyo hinwandeln ſieht, alle Haſt vermeidend, langſam und bedächtig, als hätten ſie Zeit im Überfluß, allem Anſchein nach in harmloſer Gedankenloſigkeit, eine lebendige Illuſtration zu dem Dichterwort: „ Und nichts zu ſuchen, das war mein Sinn “; wer ſie beobachtet bei ihren Kirſchblütenfeſten, zufrieden und heiter, als gehe ſie die ganze Welt mit ihren Pflichten und Sorgen nichts an, der iſt verſucht, ihr ganzes Leben als ein Dolce far niente zu betrachten. Und es giebt gute Beobachter des japaniſchen Lebens, welche meinen, daß dieſe Betrachtungs - weiſe die richtige ſei; wenn ſich im großen Getriebe heute allerdings eine unverkennbare unruhige Geſchäftig - keit bemerkbar mache, ſo ſei das eher die Folge einer gewiſſen Nervoſität, als eines angeborenen Temperaments. Nun wäre es ja freilich kein Wunder, wenn die Ja - paner bei all dem Neuen, das in der jüngſten Ver - gangenheit auf ſie einſtürmte, nervös geworden wären. Der Japaner mit dem, was er in den letzten Jahr - zehnten erlebt hat, iſt dem unglücklichen Provinzbewohner zu vergleichen, der ſich für ein paar Wochen in der Großſtadt vergnügen will und von ſeinen dortigen Freunden erbarmungslos von einem Muſeum zum andern, von einer Gemäldegallerie zur andern geſchleppt wird. Dazu gehören eiſerne Nerven. Der Japaner hat aber in zweiundeinhalbhundertjähriger Ruhe ſeine106 Nerven derartig geſtählt, daß er trotz ſeines prickelnden Temperaments den Eindruck eines Menſchen ohne Nerven macht. Nervoſität iſt es nicht, was die heutige un - ruhige Geſchäftigkeit verurſacht. Wohl iſt in den Jahr - hunderten zuvor von dieſer Geſchäftigkeit nichts zu bemerken. Aber das iſt leicht erklärlich. Das Land war von jedem Verkehr mit der Außenwelt abgeſchloſſen, die Leute hatten keine Bedürfniſſe, jede ſelbſtändige That wurde verhindert: Was blieb da anderes übrig als ein Leben in Beſchaulichkeit? Zu thun gab es auch beim beſten Willen nicht mehr als nötig war, das Leben zu friſten; und das beſorgte bei einiger Nachhilfe der fruchtbare Boden reichlich genug. Da blieb denn immer noch das Vernünftigſte, was man thun konnte, auf ſeinen Strohmatten zu liegen und zu ſchlafen oder hinauszu - gehen und in ruhiger Heiterkeit die Natur anzuſchwärmen. Sobald aber die eiſerne Fauſt, die die Volksſeele dar - niederhielt, gewichen war, ſchnellte die Seele elaſtiſch empor, um noch ein ganz anderes Angeſicht als ein beſchauliches zu offenbaren. Der Wechſel auf allen Gebieten des Lebens, das Intereſſe für das Neue in allen Schichten der Bevölkerung iſt zu radikal, als daß hier nicht die Wahrheit des japaniſchen Temperaments liegen ſollte. Die äußere Ruhe des Japaners iſt noch eine Nachwirkung der Gewöhnung aus der alten Zeit des Schlafes, die innere Geſchäftigkeit aber im ganzen öffentlichen Leben iſt das Wahre. Die Ruhe der Feudal - zeit war künſtlich, die Bewegung der Jetztzeit iſt das Natürliche. Der Japaner wird nie aufhören, ſich der heiteren Seiten des Lebens zu freuen; nennt man doch das ſanguiniſche Temperament das genießende! Aber geſchäftig thätig wird er dabei bleiben.
Das ſehen wir beſtätigt bei einem Blick auf die107 japaniſche Geſchichte im ganzen. Wo immer ſich Gelegen - heit zu Neuem geboten hat, da hat man dieſelbe begierig benützt. Auch die japaniſche Geſchichte iſt eine Geſchichte von Überraſchungen. Auch hier trat immer das ein, was man am wenigſten erwartete. Auch hier ging es nicht in ruhiger ſtetiger Entwicklung vorwärts, ſondern vielmehr ſprunghaft. Ganz ſtetig geht ja wohl keine Entwicklung geiſtiger Kräfte. Denn der Geiſt liebt die Schablone nicht. Geradlinig aufſteigend, ohne Krüm - mungen, iſt auch unſere Geſchichte nicht verlaufen. Die Völkerwanderung, die Reformation und die Wiederauf - richtung des Deutſchen Reiches ſind Höhepunkte, wo mit einem Mal in gewaltigem Anſtoß die Linie ſteil nach oben ſtieg. Aber die Perioden, die auf dieſe Ereigniſſe folgten, haben doch weiter gearbeitet, ſtetig und ununter - brochen, haben keinen Rückſchritt noch Stillſtand geduldet, haben ſelbſt in der vielverſchrieenen Zeit des dunkeln Mittelalters aufwärts geführt, wenn auch nur in lang - ſamer, ruhiger Entwicklung. Anders die Epochen der japaniſchen Geſchichte. Das iſt kein allmähliches Auf - ſteigen, das ſind vielmehr drei vereinzelte Berge, von denen jeder folgende am Rande einer vorgelegenen großen Ebene auf der Höhe des andern ſich erhebt.
Merkwürdigerweiſe fallen die drei Epochen, welche in Übereinſtimmung mit dem japaniſchen Mangel an Originalität ſtets durch Anſtöße von außen veranlaßt wurden, nämlich durch die Berührung mit der chineſiſch - buddhiſtiſchen, mit der mittelalterlich-katholiſchen und mit der modern-proteſtantiſchen Kultur, zeitlich mit den großen Epochen der deutſchen Geſchichte zuſammen. Zur Zeit der Völkerwanderung iſt es geweſen, als die chineſiſche Kultur, als deren Bannerträger zuerſt Kon - fuzius, dann Buddha erſchien, teils direkt, teils über108 Korea in Japan eindrang und in raſchem Siegeslauf ein Volk roher, unwiſſender Barbaren in ein Kultur - volk umwandelte. Kaum aber war die Wandlung ge - ſchehen, als völliger Stillſtand eintrat. Statt weiter zu arbeiten und ſich zu einer höheren Stufe der Kultur emporzuarbeiten, war man zufrieden mit dem, was man bekommen hatte. Man paßte es dem Beſtehenden an, weiter geſchah nichts. Japan ruhte aus auf ſeinen Lorbeeren, die es billig genug erworben hatte; der Hof ſank in Weichlichkeit und das Volk in geiſtigen Schlaf. Der Mikado wurde zum Schattenbild, welt - liche Herrſcher, Schogune genannt, führten an ſeiner Statt die Zügel der Regierung. Unter beſtändigen Kämpfen verſchiedener Adelsfamilien um das Schogunat verfloſſen die Jahrhunderte; und als das 16. Jahrhundert heraufdämmerte, da war die Frucht eines halben Jahr - tauſends gleich Null. Da, mit einem Mal, ſchien ein neues Zeitalter anzubrechen, die zweite Epoche der japaniſchen Geſchichte begann.
Wie zuvor mit der chineſiſchen, ſo kam Japan jetzt in Berührung mit der europäiſchen Kultur. Um die Mitte des 16. Jahrhunderts, nachdem der Portugieſe Mendez Pinto kurz zuvor Japan „ entdeckt “hatte, er - ſchienen die Jeſuiten und Franziskaner im Land. Von mehreren Daimio (Fürſten) und dem Schogun Nobunaga begünſtigt, war ihr Erfolg beiſpiellos. Nach Verlauf von wenigen Jahrzehnten zählten ihre Anhänger nach Hunderttauſenden. In raſchem Siegeslauf ſchien die europäiſch-chriſtliche Kultur Herr zu werden über die aſiatiſch-buddhiſtiſche. Da verbündete ſich mit dieſer ein gewaltiger Mann, Iyeyaſu, trotz Saigo, dem Helden der Revolution von 1868, der größte Mann der japa - niſchen Geſchichte, der Begründer der letzten Schogun -109 dynaſtie der Tokugawa. Mit eiſerner Fauſt wurden die neuen Gedanken unterdrückt. Durch lange und ent - ſetzliche Martern gereizt erhoben ſich die Anhänger der neuen Lehre unter Iyeyaſus Enkel Iyemitſu zum Ent - ſcheidungskampf. Auf der Halbinſel Schiobara kam es im Jahre 1637 zum letzten Kampf. Die katholiſche Idee unterlag. Das Chriſtentum wurde bei Todes - ſtrafe verboten, kein Europäer durfte hinfort das Innere des Landes betreten, kein Japaner das Land verlaſſen. Nur den Holländern ward es erlaubt, jährlich einmal zum Austauſch von Waren auf der Inſel Deſhima bei Nagaſaki zu landen. Das Land war abgeſchloſſen, die geſpannten Muskeln erſchlafften, das Alte ward vergeſſen und das Volk fiel wieder in ſeinen Schlaf.
Nun ſchlief es ununterbrochen durch mehr als zwei Jahrhunderte hindurch. Endlich im Jahre 1854 erſchien der amerikaniſche Admiral Perry am Eingang der Bay von Tokyo und verlangte im Namen der Vereinigten Staaten einen Handesvertrag. Man wollte nicht auf ihn hören, man gedachte weiter zu ſchlafen. Da ließ Perry ſeine Kanonen ſpielen, und als der nie zuvor gehörte Donner der großen Geſchütze durch das Land hallte, erwachten die Schläfer vom Schlaf: Die dritte Epoche der japaniſchen Geſchichte war da.
Wenn man die Geſchichte Japans betrachtet, wird man lebhaft erinnert an das Märchen vom Dornröschen. Wie in dieſem mit einem Schlag alle Bewegung in Ruhe, alles Leben in Schlaf ſich wandelte, ſo auch dort; und wie im Märchen mit einem Schlag das Leben von neuem erwachte aus tiefem, totenſtillem Schlaf, ſo in Japans Geſchichte. Jedesmal war es wie der gewaltige Ausbruch eines Vulkans, der vorher geruht; und jedesmal war es, wie wenn die vulkaniſche Glut plötzlich in ſich ſelbſt zurückſinkt.
110Und dieſe Erfahrung läßt ſich auf allen Gebieten machen. Nirgends ruhiges Fortſchreiten, überall Sprünge, das Fallen von einem Extrem in das andere. Während vor dreißig Jahren der Abſolutismus die einzige poli - tiſche Anſchauung war, die man kannte, iſt heute das ganze Volk angeſteckt von den Gedanken der Demokratie. Während man damals noch auf die Autorität des Buddha und Konfuzius ſchwor, iſt man es heute gewöhnt, ihrer zu ſpotten. Während man damals in tiefer Ehrfurcht zu den Füßen ſeiner Lehrer ſaß und ihren Worten lauſchte als einer höheren Offenbarung, wird heute der Lehrer von dem Schüler gemeiſtert. Bekennt ſich heute einer zu der orthodoxeſten Form des Chriſtentums, wie er es von dem engherzigſten amerikaniſchen Miſſionar erhalten hat, morgen iſt er vielleicht ein Atheiſt. Es iſt ein Radikalismus des Denkens, wie man ihn bei keinem andern Volke trifft. Wohl mag ein gut Teil des radikalen und unſteten Charakters zurückzuführen ſein auf die knabenhafte Unreife, auf die Unfähigkeit des Sklaven, die ihm ſoeben geſchenkte Freiheit recht zu benützen. Aber im weſentlichen iſt ſie begründet in der Eigentümlichkeit des japaniſchen Denkens.
Seiner Form nach iſt dieſes Denken impulſiv d. h. ſtoßweiſe, vulkaniſch. Ein Sichvertiefen liebt der Ja - paner nicht; und ſo ausdauernd er in der langwierigſten techniſchen oder experimentierenden Arbeit iſt, ein ſtetiges ruhiges Durchdenken einer Sache iſt ihm zuwider. Die deutſchen Profeſſoren haben ſtets Klage zu führen, wie ſchwer es iſt, den Studenten den Begriff der Ent - wicklung und Kauſalität, dieſe Grundlage alles wiſſen - ſchaftlichen Erkennens, beizubringen. Warum aber iſt es ſo ſchwer? Weil die Form des japaniſchen Denkens nicht die der ruhigen, langſamen Entwicklung, nicht die111 des klaren, logiſchen Folgerns und der kauſalen Ge - dankenverbindung iſt, ſondern die des Impulſes, des plötzlichen Erfaſſens. Das japaniſche Wiſſen iſt mehr divinatoriſcher als logiſcher Natur. Und ſo kommen wir auch hier wieder zu demſelben Ergebnis wie bei der Betrachtung des Geiſteslebens: Der Japaner iſt mehr äſthetiſch als gedankentief veranlagt.
Das Temperament iſt die Grundlage des Charakters, und einige in der ſanguiniſchen Natur des Japaners begründete Charakterzüge ſind ſo hervorſtechend, daß ſie ſelbſt bei einem beſcheidenen Anſpruch auf an - nähernde Vollſtändigkeit hier nicht übergangen werden dürfen.
Übertragen wir die Form des Denkens in das Ethiſche und betrachten ſie auf die Wirkungen hin, wie ſie ſich im Verkehr mit dem Nebenmenſchen aus ihr ergeben, ſo wird uns die ſprunghafte, impulſive Art dieſes Denkens, das ganze ungefeſtigte Naturell zur Unzuverläſſigkeit. In der That kann der Vorwurf der Unzuverläſſigkeit dem Japaner nicht erſpart bleiben, und es iſt ein ſchwerer ſittlicher Tadel, der damit aus - geſprochen wird. Es werden in dieſer Beziehung häufig Vergleiche zwiſchen Japanern und Chineſen angeſtellt, welche in den europäiſchen Handelskreiſen Oſtaſiens immer zu Ungunſten der erſteren ausfallen. Der Chineſe iſt Phlegmatiker, und darum beſitzt er die Tugend der Treue und den Vorzug der Vertrauens - würdigkeit. Er ergreift nicht leicht etwas, was ihm fremd iſt; was er aber einmal ergriffen hat, hält er feſt, und von ſeiner einmal gemachten Zuſage geht er nicht ab. Der frühere Leiter der größten engliſchen Bank in Yokohama hat ausgeſprochen, daß er auf der ganzen Welt niemand kenne, dem er eher vertraue als112 dem chineſiſchen Kaufmann und Bankier; ſeine Bank habe in fünfundzwanzig Jahren Geſchäfte mit Chineſen in der Höhe von Hunderten von Millionen Dollars gemacht; aber niemals habe er einen betrügeriſchen Chineſen gefunden. Dagegen herrſcht über die Unzu - verläſſigkeit des japaniſchen Kaufmanns nur eine Stimme der Klage. Er beſtellt bei einer fremden Firma, und wenn die Ware kommt, ſo nimmt er ſie nicht ab, oder er ſucht trotz vorheriger Vereinbarung den Preis herab - zudrücken. Er hat beſtändige Ausflüchte, und ſelbſt durch einen ſchriftlichen Kontrakt fühlt er ſich nicht gebunden. In den großen fremden Handelshäuſern in Yokohama und Kobe ſind die gewöhnlichen Arbeiter Japaner, als Aufſeher an der Spitze aber ſtehen Chineſen. Man hat die geſchäftliche Unzuverläſſigkeit des Japaners geſchichtlich erklären wollen. In der Feudalzeit waren Handel und Geldgeſchäfte die ausſchließliche Domäne der unteren Kaſten, während der Gelehrten - und der Kriegerſtand darauf als auf gemeine Beſchäftigungen mit Verachtung herabſahen. Von früh auf war es ihnen eingeimpft worden als ein unantaſtbarer Grund - ſatz der Moral: „ Geld iſt das letzte, darnach ein Menſch trachten ſollte; Reichtum iſt der Feind der Weisheit “. Da konnte es nicht ausbleiben, daß der kaufmänniſche Stand moraliſch herabſank, und daß der Handel nur ausgeübt wurde von ſolchen, die auf Ehre nicht viel hielten. Zweifellos trägt das an dem gegenwärtigen Stand der Dinge einen Hauptteil der Schuld. Wenn im Verkehr mit den Handelsvölkern des Weſtens der Handel erſt einmal ſeine rechte Würdigung erfährt, — und man iſt jetzt ſchon auf dem beſten Wege dazu —, ſo werden ſich ihm auch ſittlich hochſtehende Kreiſe zu - wenden, und allmählich wird das Geſchäftsgebahren113 weſentlich umgeſtaltet. Auch werden die Japaner, klug wie ſie ſind, bald ſelbſt einſehen, daß man in dieſem Stande mit Ehrlichkeit und reeller Behandlung weiter kommt als mit vermeintlicher Schlauheit; einen Weg aber, der ſie vorwärts bringt, zögern ſie nie zu betreten. Immerhin tragen ſie in ihrem ſanguiniſchen Tempera - ment eine ſtete Verſuchung zur Unzuverläſſigkeit mit ſich, ſo daß es bei ihnen wohl noch gute Weile hat, bis es in vollem Sinne heißen darf: Ein Mann, ein Wort.
Um ſo mehr ſteht zu hoffen, daß ſie ſich die gleich - falls auf ihrem Naturell beruhenden Tugenden der Empfänglichkeit und Eindrucksfähigkeit in dem gegen - wärtigen vollen Maße bewahren werden. Sind ſie doch die Hauptquellen ihrer ſympathiſchen Züge einer äſthe - tiſchen Lebensführung. Sie verſtehen es, ſich liebevoll an etwas hinzugeben; aber ſie ſind gleicherweiſe bedacht, ſich nicht zu verlieren und ſich ſelbſt zu behaupten. Sie haben Stolz und Selbſtbewußtſein, ſie werfen ſich nicht weg. Wie ſie äſthetiſch äußerlich auf ſich halten, ſo auch innerlich. Servilität und kriechende Unterwürfigkeit iſt ihnen fremd und kann ihnen nur von dem angedichtet werden, der ihre Höflichkeit mißverſteht. Sklaviſcher Sinn mit all ſeinen unſchönen Begleiterſcheinungen eignet ihnen nicht. Sie wiſſen, was ſie ſind und was ſie können, ſie wiſſen es manchmal nur zu ſehr. Sie verfallen darum leicht in Eitelkeit, Selbſtüberſchätzung und Großmannsſucht.
Der Japaner möchte mehr ſcheinen, als er iſt. Kaum hat der Knabe ſeinen Einzug in die höhere Schule gehalten, ſo muß auch eine Brille her, damit er ein gelehrtes Anſehen gewinnt. Ein Kneifer würde ihm freilich noch beſſer gefallen, aber für den iſt die japaniſche Naſe leider nicht gewachſen. Ein echter8114Sanguiniker wie er iſt, frägt er bei ſeinem Thun und Handeln nicht ſo ſehr nach den ewigen Geſetzen der Moral, als nach dem Urteil der Welt. Die ganze Kulturwut der letzten Jahrzehnte erklärt ſich zum Teil aus ſeinem Ehrgeiz, vor den Augen der Welt beſtehen und den Vergleich mit Europa aushalten zu können. Humane Anwandlungen, wie die Einführung des Roten Kreuzes und die menſchliche Behandlung der Kriegs - gefangenen, ſind weniger auf einen tiefen ſittlichen Kern zurückzuführen, als vielmehr auf die Frage: Was würde Europa dazu ſagen, wenn wir es anders machten! Man muß vorſichtig ſein, ihm ſolches als moraliſches Verdienſt anzurechnen: Es iſt in vielen Fällen nichts anderes als Tünche, ſchöner Anſtrich, um die Augen der Beſchauer zu beſtechen oder — um es anders auszu - drücken — Sand, den man den Leuten in die Augen ſtreut. So lange es ſich um praktiſch Nützliches handelt, glaube ich an ſeinen Ernſt; darüber hinaus aber bin ich mißtrauiſch. Und wenn ſchon der ganzen modernen Kultur Japans etwas Maſchinenhaftes anklebt, ſo iſt dieſes vollends nichts weiter als offenbare äußerliche Anpaſſung.
Das Geld gilt ihm nichts, die Ehre alles; den Geldgeiz verachtet er, der Ehrgeiz beherrſcht ihn. Er iſt eher verſchwenderiſch als habſüchtig. In Geldſachen beſitzt er eine hervorragende Nobleſſe. Der Diebſtahl, wenn er natürlicherweiſe auch vorkommt, iſt doch ſeiner Natur fremd. Ich hatte alle meine Sachen unver - ſchloſſen, ſelbſt kleinere Geldbeträge; nie iſt mir etwas abhanden gekommen, ausgenommen Bücher. Nur vor Wegleihen ſoll man ſich hüten. Der Materialismus, mit welchem ſein Geiſtesleben behaftet iſt, äußert ſich nicht in der Gier nach materiellen Schätzen oder auch115 nur nach einem genußreichen Leben. Mammonsanbeter ſind ſie nicht, und auch den Bauch haben ſie nicht zu ihrem Gott gemacht. Und wenn ich hier noch einmal auf das Sprichwort: „ Zehn Menſchen, zehn Bäuche “zurückkommen darf, ſo ſei es dieſes Mal in dem Sinne, daß ſie zwar den Bauch als den Sitz der Verſtandes - thätigkeit, nicht aber als das Reſervoir kullinariſcher Genüſſe betrachten.
Nach Ruhm geht des Japaners Streben. Wenn auch ſeine geſunden Sinne ihm ſagen, daß ſein Vater - land hinter mancher andern Macht zurückſteht, ſein Ehrgeiz redet ihm ein, daß Japan doch die erſte Nation der Welt ſei. Ich habe einen Studenten der Theologie gekannt, der von Leſſing nichts wußte, als was er hier und dort in engliſchen Büchern über ihn geleſen hatte: Er ſchrieb ein Buch über Leſſing. Gekauft hat es niemand, er aber hatte die Genugthuung, ſich gedruckt zu ſehen. Wie überall ſo auch hier: In inniger Ver - bindung mit der Eitelkeit der Mangel an Tiefe, die Oberflächlichkeit. Ich kannte einen andern, der in der deutſchen Rechtsſchule durchgefallen war und dann vor - übergehend, durch Vermittlung eines Gönners, An - ſtellung auf dem Hauptpoſtamt gefunden hatte; eines Tages teilte er mir mit, daß er gegenwärtig in Päda - gogik mache und Leſebücher für alle Klaſſen der Volks - ſchule ſchreibe. Ein dritter Bekannter, ein junger Mann, der nicht einmal eine fremde Sprache kannte, gab eine Zeitſchrift heraus, welche den Unterricht der Chūgakkō, des Progymnaſiums, erſetzen und die Abonnenten nach einer Reihe von Jahren auf die Höhe der Bildung eines Abiturienten bringen ſollte, die er meiner Anſicht nach aber ſelbſt nicht beſaß. Was die Leute dazu treibt, iſt die Großmannsſucht. Man will ſich einen8*116Namen machen, man will glänzen. Es iſt die „ Gloire “des Franzoſen, die ſich bei den Franzoſen des Oſtens nicht minder ausgeprägt wiederfindet.
Die Eitelkeit iſt an und für ſich eine der harm - loſeſten Untugenden. Der Eitle macht ſich lächerlich, aber dem andern ſchadet er nicht. Sobald aber die Eitelkeit in ein praktiſches Verhältnis zum Nächſten tritt, wird ſie ſehr bitter. Der Selbſtvergrößerung ent - ſpricht als ihr Gegenſtück die Verkleinerung des andern. Ich habe von einem jungen Mann erzählt, daß er ein Buch über Leſſing ſchrieb. Was er ſchrieb, war alles abgeſchrieben. In ſeinem Buch aber verrät er davon nichts. Er ſelbſt will groß erſcheinen, ſeine Vorlagen aber verleugnet er. Er möchte alles ſelbſt gethan haben, das Verdienſt des andern ſucht er für ſich zu überſehen, für dritte zu verdecken. Es iſt ihm eine peinliche Empfindung, ſich jemand verpflichtet zu wiſſen. Er wird zu dem, was man im beſten Sinne undankbar nennt. Das Wort für Dank trägt er unendlich viel auf ſeinen Lippen, aber die Sache iſt ſeinem Herzen nicht ſo vertraut. Seine Dankbarkeit iſt eine formelle Ceremonie, nicht ſo ſehr eine Sache des Herzens; und der gebräuchliche Ausdruck für Dankſagen: „ Rei wo iu “bedeutet eigentlich: „ Der Etikette genügen “.
Es iſt eine durchgehende Klage, daß man die fremden Beamten und Lehrer ausnutze bis auf das letzte, um ſie dann gleich ausgepreßten Citronen acht - los beiſeite zu werfen. Man benutzt ſie, ſolange man noch etwas von ihnen lernen kann; aber die Aner - kennung verſagt man ihnen. von manchem, was Europa heute an Japan abgiebt, wird ſchon die kommende Generation behaupten, daß dasſelbe urſprünglich japa - niſch ſei. In einer großen Verſammlung von Japanern117 und Europäern hörte ich eine Rede aus dem Munde eines hervorragenden japaniſchen Chriſten, welche als ein muſtergiltiger Beleg für dieſe Charaktereigenſchaft betrachtet werden darf. Unter den Fremden in Japan iſt dieſe Eigenſchaft allgemein bekannt, aber dieſe Aus - führungen haben ſie doch noch überraſcht. Sagte doch der Redner den anweſenden Miſſionaren mit dürren Worten nichts Geringeres, als daß die großen Gedanken des Chriſtentums ſchon von alters her im japaniſchen Volk gelebt hätten; und die fremden Gelehrten, die ſich immer wieder darüber beklagen, daß ihre Studenten die wiſſenſchaftliche Methode nicht begreifen wollen, be - kamen zu hören, daß dieſe ſelbige Methode nicht ein abendländiſcher Importartikel, ſondern ein echt japa - niſches Erbſtück ſei. Das iſt eine bombaſtiſche Weiſe, die nicht weniger als eine tiefgehende Schwäche der Selbſterkenntnis beweiſt.
Es iſt ja freilich möglich, daß der fremde Be - obachter hier zu ſcharf urteilt. Es iſt nicht unwahr - ſcheinlich, daß der Japaner gerade dem Fremden gegen - über, eben weil er ſich innerlich ihm noch unterlegen fühlt und für ſeine Unabhängigkeit fürchtet, aus einem gewiſſen trotzigen Selbſtändigkeitsgefühl heraus äußerlich um ſo mehr aus ſich zu machen ſucht. Dann wäre es nicht viel mehr als eine zeitweilige Überſpannung des Beſtrebens nach Selbſtbehauptung, die ſich je mehr verlieren müßte, je mehr er ſich mit dem Abendländer auf gleiche Stufe gehoben weiß.
Mit dem eben erwähnten mangelhaften Gefühl der Dankbarkeit ſtehen wir ſchon mitten in dem Gefühls - leben des Japaners und im Grunde haben wir das ganze Weſen ſeines Gefühlslebens damit ſchon vorweg genommen. Alles was eitel iſt, iſt aufgeblaſen und118 hohl; was aber hohl iſt — und wäre es im übrigen ſelbſt aus edlem Stoff, was ich von dem Japaner immerhin behaupte — ſchwimmt auf der Oberfläche. Wie ſein Geiſtesleben, ſo leidet auch ſein Gefühlsleben an einem Mangel an Tiefe, an einer gewiſſen Ober - flächlichkeit.
Zwar laſſen ſich manche Anzeichen von ſcheinbarer Gefühlloſigkeit geſchichtlich erklären. Wenn ſie die größten körperlichen Schmerzen aushalten, ohne eine Miene zu verziehen, ſo iſt das zweifellos zurückzuführen auf eine Gewöhnung von alters her. Hat doch die Feigheit immer als eine verachtungswürdige Schwäche gegolten. Stoiſcher Gleichmut wurde von jeher von ihnen geprieſen, und während die Ruhe, mit welcher Sokrates den Giftbecher trank, als etwas Selbſtverſtänd - liches angeſehen wird, beſteht ein Hauptanſtoß, welchen man an der Perſon Jeſu nimmt, darin, daß er ſich in Gethſemane menſchlich weich und ſchwach gezeigt habe. Wenn ſie Geld und Vermögen in einem Umfang ver - lieren, daß es manchen Abendländer an den Rand der Verzweiflung bringen würde, und wenn ſie ſolche Ver - luſte mit ſtoiſchem Gleichmut hinnehmen, ſo findet das ſeine Erklärung in der vorerwähnten Nichtachtung ma - terieller Schätze. Und wenn ſie ohne Furcht und Grauen dem Tode entgegen ſehen, ſo iſt auch dafür ein Grund vorhanden in ihrem Skeptizismus, der weder an Hölle noch an Fegfeuer glaubt. Wenn ſie aber auch bei dem Tode ihrer Lieben augenſcheinlich keine Trauer zeigen, wenn mein Diener mit lachendem Geſicht, ſtrahlend in mein Zimmer tritt, um mir den Tod ſeiner Mutter anzuzeigen und um zwei Tage Urlaub zur Beerdigung zu bitten, ſo ſtehen wir hier um ſo mehr vor einem Rätſel, als die Familienangehörigen im Leben ungemein119 enge mit einander verbunden ſind. Was wunder, wenn manche Europäer, und ſelbſt gute Kenner des japaniſchen Volkes der Anſicht ſind, daß ſie faſt jedes Gefühles bar ſind. Gleichwohl geht dieſes Urteil entſchieden zu weit. Der Japaner iſt durch Frau Etikette Schau - ſpieler geworden, und wenn er wirklich nichts fühlte, ſo bin ich überzeugt, daß er dann gerade erſt recht Ge - fühl heucheln würde. Wenn er aber mit ſeinem Geſicht lacht, ſo mag er ſehr wohl mit ſeinem Herzen weinen. Thatſächlich habe ich manche geſehen, die mir mit lächelndem Mund von dem Tode ihrer Angehörigen er - zählten, und denen doch dabei die hellen Thränen über die Wangen rannen. Die ſcheinbare Gleichgiltigkeit iſt zu einem guten Teil eben nur ſcheinbar, verdeckt durch gewohnheitsmäßige Etikette. Habe ich doch an mir ſelbſt bei ſchweren Verluſten, die mich betroffen hatten, im Verkehr mit Japanern zu meinem Schrecken die Erfahrung machen müſſen, daß die japaniſche Art auch auf mich anſteckend wirkte, während es mir doch im innerſten Herzen wahrlich nicht ſo zu Mute war.
Gleichwohl ſteht es dem ſorgfältigen Beobachter aus tauſend kleinen Zügen und feinen Empfindungen, die ſich durch Beiſpiele ſchwer belegen laſſen, feſt, daß ihr Gefühl nicht ſo tief iſt wie das unſrige, daß ſie ein Gefühls - und Gemütsleben in unſerm Sinn über - haupt nicht führen. Schon die ganze äſthetiſche Er - ziehung mit ihrer Wertſchätzung des Harmoniſchen, Heiteren und Sonnigen iſt nicht darauf angelegt, ſie irgendwie für den düſteren Ernſt des Lebens empfäng - lich zu machen. Elaſtiſch, wie Naturell und Erziehung ſie geſchaffen haben, gehen ſie mit einem leichten: „ Shikata ga nai “, „ Es läßt ſich nichts machen “, über das Unabänderliche bald zur Tagesordnung über.
120An Stelle des echten Gefühls aber, welches als unverſiegbarer Quell in der Tiefe des Herzens allzeit lebendig iſt, finden ſich merkwürdigerweiſe nicht ſelten momentane Gefühlsausbrüche, die plötzlich kommen und raſch wieder gehen. Sie ſind nicht ſowohl wahres Gefühl als vielmehr Gefühlskarikaturen, ſentimentale Anwandlungen. Ihrer ganzen Natur nach ſind ſie als akute Erkrankungen zu bezeichnen. Und zwar ſind es ſehr gefährliche Erkrankungen, die häufig einen tragiſchen Ausgang nehmen und mit dem Tode enden. Im japaniſch-chineſiſchen Krieg kam es manchmal vor, daß der oder jener ſich entleibte, weil es ihm nicht vergönnt war, am Kampfe teilzunehmen. Sie betrachteten das als Schande, die ſie nicht überleben wollten. Im Jahre 1891 beging ein auf Yezo ſtationierter Offizier im Angeſichte der Gräber ſeiner Ahnen in Tokyo Harakiri (Bauchaufſchlitzen). Er hinterließ einen Brief, in welchem er die Gründe ſeiner That auseinanderſetzte, und ordnete an, daß der - ſelbe an alle Zeitungen zur Veröffentlichung geſchickt werden ſollte. Dieſem Brief zufolge hatte der Offizier mehr als ein Jahrzehnt darüber gebrütet, daß Rußland über kurz oder lang von Norden her einfallen und Japan in große Gefahr bringen werde. Da er ſich aber ſagte, daß alle Warnungen von ihm, dem Lebenden, überhört werden würden, ſo beſchloß er, ſich zu töten, da aus dem Grabe heraus ſeine Stimme ernſter und eindring - licher an die Herzen ſeiner Landsleute dringen werde. Dieſer ganze Vorgang iſt durch und durch japaniſch. Als der ruſſiſche Thronfolger durch einen Fanatiker ver - wundet worden war, kam eine Frau über dreihundert Kilometer weit nach Kioto gereiſt, ſtellte ſich vor den alten Kaiſerpalaſt und nahm ſich ſelbſt das Leben, um, wie ſie ſagte, eine Sühne zu bringen für das Verbrechen der Nation. 121Mehr als eine japaniſche Mutter, deren Sohn ſich der verhaßten Jeſuslehre zuwandte, kam auf den Gedanken des Selbſtmords, um damit den Schimpf auszuwiſchen, den der Sohn auf die Familie gebracht hat. Ich ſtand einmal mit einem chriſtlichen Japaner vor einem Bilde, welches darſtellte, wie einige zwanzig junge Samurai, d. h. Männer aus dem Kriegerſtand, die in einer Schlacht mitgekämpft hatten, in der ihre Partei ge - ſchlagen wurde, Selbſtmord durch Harakiri begingen. Ich ſagte meinem Begleiter, daß in einem ſolchen Falle bei uns zu Lande die jungen Leute am Leben geblieben wären, um das nächſte Mal um ſo feuriger zu kämpfen und ihre frühere Niederlage durch die That wieder gut zu machen oder, wenn es ſein müßte, einen ehrlichen Soldatentod in offener Feldſchlacht zu finden. Der Mann war Chriſt, aber er war auch Japaner, der ſtolz war, daß auch ſeine Ahnen der Kriegerkaſte einſt ange - hört, und als ſolcher blieb er dabei, daß die That jener nicht allein großartiger und erhabener, — denn darüber ließe ſich ja vom äſthetiſch-dramatiſchen Standpunkt aus ſtreiten — ſondern auch ſittlich beſſer und edler geweſen ſei. Die Wertſchätzung des eigenen Lebens, wie ſie dem Europäer eigen iſt und dem Chriſten zur Pflicht gemacht wird, kennt der Japaner nicht. Der Selbſtmord gilt ihm nicht als unmoraliſch, vielmehr haben Romantik und Sentimentalität eine Art von Heiligenſchein um den Selbſtmord gewoben. Der Ge - danke, welcher zu allen Zeiten in vielen Köpfen geſpukt hat, daß Schande mit dem eigenen Blut abgewiſcht werde, und daß Sünde mit dem Leben bezahlt d. h. gut gemacht werden könne, iſt dem japaniſchen Volk ein Glaubensſatz, der zu einem ſtrengen Ehrencodex führte und das Harakiri als vielgeübten Brauch zur Folge122 hatte. Bei den Japanern war das ſo ſelbſtverſtändlich, daß es keiner Gattin je eingefallen wäre, ihren Gatten von einem, nach der herrſchenden Anſicht oder nach des Gatten Einbildung notwendig gewordenen Akte des Bauchaufſchlitzens zurückzuhalten.
Das ſind Fälle einer auffallenden Sentimentalität, die faſt immer mit übertriebener Vaterlandsliebe und falſchen Vorſtellungen von Ehre zuſammenhängen. In Zeiten großer Erregung werden dieſelben epidemiſch, wie eine anſteckende Krankheit, um dann wieder wie dieſe für lange Zeit ganz zu verſchwinden. In dieſem Zeitalter der praktiſchen Wirklichkeit freilich, in welches Japan jetzt eingetreten iſt, dürfte es dieſer krankhaften Erſcheinung genau ſo gehen wie auch den epidemiſchen Krankheiten der Cholera und der Pocken: Der denkende ſchaffende Menſchengeiſt drängt ſie zurück.
Da die eben erwähnten ſentimentalen Erſcheinungen nicht normal, ſondern krankhaft, nicht dauernd, ſondern zeitlich ſind, ſo läßt ſich aus ihnen auf eine beſondere Gefühlsſtärke nicht ſchließen. Mit viel mehr Recht könnte man von einer gewiſſen Gefühlshärte ſprechen. Freilich rohen thätlichen Ausdruck erhält dieſelbe ſelten. Das Betragen iſt tadellos. Wären die Japaner Kinder, ſo dürfte man ſie in vollem Sinne Muſterkinder nennen. Die Wohlerzogenheit, die Artigkeit iſt wirklich muſtergiltig. Mancher deutſche Familienvater weiß ſie nicht einmal im eigenen Hauſe zu ſchaffen; hier umfaßt ſie ein ganzes Volk. Aber bei den ſogenannten muſter - haften Menſchen findet man es häufig, daß die Form auf Koſten des Herzens, der formelle Takt auf Koſten des Herzenstaktes geht. So zeigt ſich auch hier, daß das ſtarre Einzwängen in die Etikette manchen zarten Trieb des Herzens und Gemüts an der Entfaltung123 hinderte, ſo daß er elend verkümmern mußte. So groß die Bereitwilligkeit des Japaners iſt, in ritterlichem Sinn für die Sache des Unterdrückten einzuſtehen, ſo habe ich doch ein warmherziges Mitleid mit den Müh - ſeligen und Beladenen der Menſchheit ſelten gefun - den. Dagegen kann er recht hart ſein. Kann doch darüber kein Zweifel beſtehen, daß die Japaner wäh - rend des chineſiſchen Krieges einige Male ſehr grauſam verfuhren. Charakteriſtiſch für die in ihrem Innern zurückgebliebenen Spuren eines hartherzigen Barbaris - mus ſind auch die von Chineſenblut triefenden Kriegs - bilder, welche Kulturbilder eigentümlicher Art ſind, ferner abgeſchnittene blutige Chineſenköpfe, in Papp - deckel nachgemacht, welche Kindern zum Spielzeug dienten, und anderes mehr. Ich habe des öftern chriſtliche Ja - paner gefragt, ob ſie nicht Mitleid mit den chineſiſchen Kriegsgefangenen hätten; ich erhielt von denſelben ſtets zur Antwort, daß ſie die Gefangenen mit Neugier und Stolz betrachteten, aber nicht mit Mitleid.
Wer ſich die Mühe nimmt, ſich einmal für ein paar Stunden an den Kudanhügel im Centrum von Tokyo hinzuſtellen und die Jinrikſha zu beobachten, wird da - bei eine intereſſante Entdeckung machen. Während näm - lich die Europäer ſämtlich am Fuße des Hügels aus - ſteigen oder noch einen zweiten Mann zum Drücken enga - gieren, laſſen ſich die Japaner mit ſehr wenigen Aus - nahmen von ihrem einzigen Kuli hinaufziehen; ja häufig genug ſieht man zwei wohlgenährte Soldaten in einer Jinrikſha, von nur einem Mann gezogen, hinauffahren. Ich bin im Gebirge auf ſehr holprigen und ſteil auf - ſteigenden Wegen Jinrikſha begegnet, dabei der arme Wagenzieher kaum von der Stelle kam und in Schweiß förmlich aufgelöſt war, ſo daß ich aus Mitleid mit ihm124 manchmal ſelbſt Hand anlegte zur großen Verwunde - rung des Japaners, der in der Jinrikſha ſaß. Aber ausſteigen — daran dachte er nicht. Er hatte ja Zeit, und der Kuli wurde bezahlt; da war alles in ſchönſter Ordnung!
Man iſt geneigt zu glauben, der Buddhismus habe die Menſchen Oſtaſiens gutherzig gemacht. Denn der Buddhismus predigt nicht allein Liebe zu den Menſchen, ſondern auch zu der unvernünftigen Kreatur. Ausdrück - lich verbietet er, Tiere zu töten, und thatſächlich ſoll es heute noch buddhiſtiſche Prieſter geben, die nicht einmal einen Mosquito, dieſen ſchrecklichſten Schrecken der heißen Sommernächte, töten. So hütet ſich der Japaner wohl, zum Mörder an jungen Hunden oder Katzen zu werden, die man doch bei uns unbedenklich in das Waſſer wirft, wenn ſie etwa überzählig ſind. Aber er kann ſie doch nicht alle aufziehen! Es laufen ohnedies auf den Straßen von Tokyo ſchon ſo viele Hunde umher, daß von Zeit zu Zeit Kuli ausgeſchickt werden, um mit ihnen aufzuräumen. Wie befreit man ſich von ihnen? Man ſetzt ſie aus und überliefert ſie dadurch ruhigen Gewiſſens einem langſamen, qualvollen Tod; denn man tötet ſie ja nicht und hat damit dem Geſetz bis zum letzten Buchſtaben Genüge gethan. Ich kam einmal auf einem Spaziergang mit einer deutſchen Dame an einigen ſolcher Tierchen vorbei, welche jämmer - lich winſelten. Sie dauerten uns; die Dame nahm ihr Taſchentuch und wickelte ſie hinein und wir nahmen ſie mit nach meiner Wohnung. Hier übergab ich ſie meinem Koch mit der Weiſung, ſie ſofort zu ertränken. Nach einiger Zeit kam ich auf den Hof, da ſah ich ſie vor der Wohnung des Koches umherkollern. Als ich dieſen zur Rede ſtellte, gab er mir zur Antwort, er wolle ſie nicht125 töten; es würden gewiß auch bald die Aasgeier kommen und ſie holen. Auch die Behandlung der Pferde iſt eine ſchlechte. Wenn man im Gebirge zu Pferde reiſen will, ſo thut man gut daran, ſich zuvor den Sattel aufdecken zu laſſen. Nicht ſelten ſieht man darunter das rohe Fleiſch. Alles in allem dürften in den Ländern des Buddhismus Tierſchutzvereine zum wenigſten ebenſo gut angebracht ſein als in denen des Chriſtentums.
Es verſteht ſich von ſelbſt, daß das vorſtehende Charakterbild des Japaners nicht wie ein Leiſten iſt, über welchen ſich alle einzelnen Individuen ſchlagen laſſen. Es iſt ein Volkscharakter, und als ſolcher muß er verſtanden werden. Setzen wir nun aus den einzelnen Strichen das Geſamtbild zuſammen, ſo iſt leicht zu er - ſehen, daß der Japaner eine in ſich geſchloſſene Per - ſönlichkeit iſt. Sprache und Geiſtesleben, Temperament und Gefühlsleben — alles gehört harmoniſch zuſammen; ein Zug paßt zu dem andern und jeder Zug zu dem Ganzen. Der Japaner iſt von uns zwar ſehr ver - ſchieden, aber er iſt doch wieder ein Menſch wie andere Menſchen auch. Er iſt kein Engel, und niemand wird dem Dichter Motoori glauben, wenn er in ſeiner Be - geiſterung ſingt:
Aber ebenſowenig iſt es wahr, daß der Japaner ausſchließlich den finſteren Mächten gleicht, welche unter der Oberfläche ſeines Landes thätig ſind. Licht und Schatten verteilen ſich: Neben hellem Lichte tiefe Schatten — wie in der Natur des Landes, ſo in der Seele des Volkes.
Wer den Engländer nur von Deutſchland aus kennt, iſt verſucht, an das Märchen zu glauben, daß über dem Kanal drüben dreißig Millionen ſpleenbe - hafteter Menſchen umherlaufen. Wer ihn auf der Straße von London ſieht oder in ſeiner „ Office “in der „ City “aufſucht, gewinnt dagegen den Eindruck als von einem ſehr klugen, aber rückſichtslos ener - giſchen und vielleicht abſtoßenden Geſchäftsmann. Wem es aber vergönnt war, ihn in ſeinem Hauſe zu be - obachten, den weht mit einem Male ein warmer Hauch germaniſchen Gemüts an, und der Engländer wird ihm ſympathiſch. Ein Mann ſieht anders aus im Geſell - ſchaftsanzug in dem taghell erleuchteten Salon und anders im Hauskleid in dem trauten Kreis ſeiner Familie; und ſo lange wir einen Menſchen nicht im Negligée geſehen haben, d. h. in der Gemütlichkeit ſeines Hauſes, wo er ſich gehen läßt, und wo auch das — es ſei gut oder böſe — zum Vorſchein kommt, was er in dem konventionellen Leben draußen vor den Augen von Dritten ſorgfältig verbirgt, ſo lange kennen wir ihn nur erſt von einer Seite.
Wenn es aber irgendwo zur Beurteilung von Menſchen und Volk notwendig iſt, in die Familie ein - zukehren, ſo iſt das in Japan der Fall. Nirgends hat man der Familie größere Bedeutung beigemeſſen, nir - gends iſt ſie ſo ſehr die Grundlage aller beſtehenden128 Ordnung, nirgends ſo ſehr das Fundament der Sitt - lichkeit und Tugend. Hier hat Konfuzius ſein Meiſter - ſtück gemacht. Er hat gezeigt, daß auch eine rein moraliſche Idee, nur wenig unterſtützt durch den Ahnen - kult des Shintoismus, ſich in hohem Grade wirkſam erweiſen mag. Freilich dieſe Idee iſt keine abſtrakte, ſondern die konkreteſte, die es geben kann. Konfuzius hat erkannt, daß das Blut der beſte Gemeinſchaftskitt iſt, und daß Leute, in deren Adern dasſelbe Blut fließt, ſchon von Natur und darum auch moraliſch zuſammen - gehören. In dieſem Satz liegt das Geheimnis ſeines Erfolges. Die logiſche Folgerung aus dieſem Satz iſt ſein Familienſyſtem mit der Tugend der Kindesliebe „ kō “als Grund und Krone; und ſein nationales Syſtem mit der Tugend des Patriotismus und der Loyalität „ chū “iſt nichts weiter als der natürliche folgerichtige Ausbau des „ kō “.
Wenn nun die Familie die Grundlage der menſch - lichen Geſellſchaftsordnung iſt, ſo iſt die Erhaltung der Familie die erſte Pflicht. Im Prinzipe ſteht es feſt, daß jeder männliche Japaner heiraten muß. Jung - geſellen, wie ſie ſich bei uns allmählich zu einem förm - lichen Stand herausbilden, giebt es ſo gut wie nicht, und da die Natur in Bezug auf die Verteilung der Geſchlechter weiſe Vorſorge getroffen hat, ſo iſt auch das Altjungferntum etwas Unbekanntes. Der Japaner kennt keinen größeren Stolz, als Vater zu ſein, die Japanerin kein höheres Gebot, als Mutter zu werden. Die Fortpflanzung der Familie iſt der einzige Zweck der Heirat, und wo infolge von Kinderloſigkeit der Ehe dieſer Zweck nicht erreicht wird, da liegt es in der Natur der Sache, daß damit auch ein vollgenügender Grund zur Eheſcheidung gegeben iſt.
129Neben dem einen Zweck der Fortpflanzung ſpielen alle anderen Gründe zur Heirat eine geringe Rolle. Um Geldes willen heiratet der Japaner nicht; ebenſo wenig jedoch aus Liebe. Wohl bringt die Braut neben dem nötigen Hausrat in der Regel auch eine beſtimmte Summe Geldes mit in ihr neues Heim; aber eine be - ſondere Mitgift, etwa gar ihr entſprechendes Teil von dem elterlichen Vermögen, erhält ſie nicht, da der älteſte Sohn als „ Stammhalter “Haupterbe iſt. Liebesheiraten ſind verpönt. Daß zwei junge Leute ein Liebesver - hältnis eingehen mit dem Zweck, ſich zu verheiraten, kennt man in Japan nicht; und wenn es ja einmal vorkommt, ſo findet es ſcharfe Verurteilung. Mir ſind zwei Fälle von Verlöbniſſen aus Liebe bekannt geworden, und zwar aus mir vertrauten chriſtlichen Kreiſen; in dem einen Fall gelang es, die Eltern und Verwandten zu verſöhnen und die Heirat herbeizuführen; in dem andern aber ſcheiterte die Verehelichung an dem unbe - ſiegbaren Widerſtand der einen Familie. Die Be - ſtimmung über die Kinder liegt in der Hand der Eltern und des Familienrats. Die Hauptſache iſt nicht, daß die beiden künftigen Ehegatten, ſondern daß die Familien zu einander paſſen. Der Japaner hält ſtreng auf Familienehre. Ein Haus, das irgendwie Anſpruch auf Achtung macht, wird die Verbindung mit einer verrufenen oder gebrandmarkten Familie ablehnen. Ich habe es erlebt, daß zwei junge Leute mit Einwilligung der beiden Familien mit einander verlobt waren; da ſtellte ſich heraus, daß vor vielen Jahrzehnten ein Großonkel der Braut an der als unrein gebrandmarkten Krankheit des Ausſatzes geſtorben war. Sofort ging das Verlöbnis zurück.
Die Wahl einer paſſenden Familie iſt darum eine ſehr wichtige Aufgabe. Dieſelbe fällt, wie überhaupt9130die ganze Heirat, dem Vermittler (Nakōdo) anheim1)Vergl. Naomi Tamura, Warum heiraten wir? Überſetzt von Frau Pfarrer Auguſte Bickel geb. Diercks, früher Miſſionarin des Allg. Ev. Prot. Miſſionsvereins. Das Büchlein hat eine intereſſante Vorgeſchichte. Tamura wurde ſeiner Zeit durch die Generalſynode der Ichikyōkwai (Vereinigte Presbyterianer) aus der Kirche ausgeſtoßen, weil er durch ſein Buch Japan vor dem Ausland herabgeſetzt habe. Es iſt das ein Zeichen der ſchon erwähnten japaniſchen Empfindlichkeit. Denn nach ſeinem objektiven Inhalt giebt das höchſt anſchaulich geſchriebene und flott überſetzte Büchlein eine richtige Darſtellung. Das einzige, was etwa aus - zuſetzen wäre, iſt, daß der Verfaſſer ſich zu ſehr für die ameri - kaniſchen Sitten begeiſtert, auch da, wo ich für meine Perſon die japaniſchen entſchieden vorziehen würde.. Der Vermittler iſt nicht etwa ein gewerbsmäßiger Kuppler; vielmehr iſt ſein Amt eine freiwillige Leiſtung, und es gilt als eine große Ehre und hervorragende Vertrauens - ſtellung, von einer Familie als Nakōdo beſtellt zu werden. Prozente bezieht der Nakōdo nicht; dagegen iſt es Ehren - ſache, ihn nach Abſchluß der Ehe reichlich zu beſchenken. Wenn ein Vater ſeine Tochter verheiraten möchte, ſo bittet er einen geſellſchaftlich auf gleicher Stufe ſtehen - den Freund, das Amt des Vermittlers zu übernehmen. Derſelbe hält nun Ausſchau, und wenn er eine ent - ſpechende Partie gefunden hat, ſo macht er ſeinem Auf - traggeber Mitteilung. Iſt derſelbe einverſtanden, ſo erfolgt die Anfrage bei dem Vater des jungen Mannes. Bis jetzt wiſſen die beiden jungen Leute noch nicht, was hinter ihrem Rücken vorgeht. Eines Tages macht man ihnen Mitteilung, und da man eine Widerrede nicht erwartet, ſo zeigt man ihnen zugleich an, daß an einem beſtimmten Tage das „ Miai “(die Begegnung) ſtatthaben ſolle. Das iſt die einzige Gelegenheit vor der Hochzeit, bei welcher Bräutigam und Braut ſich ſehen. Daß man dem „ Miai “nicht gleichgültig entgegenſieht, iſt natürlich. 131Wer würde da nicht erregt ſein? An wem würde nicht zur Wahrheit werden des Dichters Wort von dem „ Hangen und Bangen in ſchwebender Pein “, wenn ihm geſagt wird: „ Übermorgen ſollſt du zum erſtenmal — und zugleich zum letztenmal vor der Hochzeit — deinen künftigen Reiſegefährten durch das Leben ſehen? “ Es giebt drei Arten der Begegnung. In dem erſten Falle macht der junge Mann einen Beſuch im Hauſe ſeiner Zukünftigen. Bei dieſer Gelegenheit ſerviert die Braut den Thee, d. h. ſie kommt durch eine Schiebe - thüre des Nebenzimmers, ſtellt ein Täßchen Thee vor ihren zukünftigen Gatten, verbeugt ſich tief vor ihm und entfernt ſich wieder durch die Schiebethüre. Das Ganze dauert höchſtens eine halbe Minute. Geſprochen wird nichts. Etwas weniger aufregend iſt die Begegnung auf der Brücke, die zweite Art des „ Miai “. Zu verab - redeter Zeit kommt man auf einer Brücke aneinander vorbei. Dabei hat man etwas mehr Gelegenheit, ſich anzuſehen; aber geſprochen wird auch hier nichts. Da iſt die dritte Art des „ Miai “, die Begegnung in dem Theater, doch noch die ausgiebigſte. Das japaniſche Theater dauert von früh morgens bis ſpät in die Nacht hinein. Dabei wird gegeſſen und geplaudert, und Braut und Bräutigam haben wenigſtens etwas Gelegenheit, ſich kennen zu lernen. Freilich, wirklich befriedigend iſt auch das nicht. Die Etikette gebietet ſtrenge Zurückhaltung und die peinliche Vermeidung jeder Äußerungen von Zärtlichkeit. Das Mädchen zu - mal hat ſich möglichſt ſchweigend zu verhalten, und dem Jüngling iſt unſere europäiſche Sitte des Kurmachens gänzlich unbekannt. Von einem Verlobungskuß kann vollends keine Rede ſein, denn der Japaner küßt über - haupt nicht, und da in Japan die Mädchen ſich ſehr9*132ſtark pudern und ihre Lippen mit goldroter Farbe be - malen, ſo können wir es ihm nicht verdenken, wenn er das Küſſen ekelhaft nennt.
Nach dem „ Miai “werden die jungen Leute befragt, ob ſie gegen die Verheiratung etwas einzuwenden haben. Das iſt aber nur in ſeltenen Fällen zu finden; denn in Japan iſt man es nicht gewohnt, gegenüber den Eltern eine eigene Meinung zu haben.
Jetzt tauſcht man gegenſeitig Geſchenke aus, und der Tag der Hochzeit wird feſtgeſetzt. Dabei iſt man vorſichtig, ja nicht einen Unglückstag zu wählen, gerade wie bei uns auch. In Bezug auf Unglückstage iſt der gewöhnliche Japaner ſehr abergläubiſch. Ich erinnere mich, daß ein mit einer Japanerin verheirateter Abend - länder, welcher mit ſeiner Frau nach ſeiner Heimat zurückkehren wollte, monatelang nicht loskommen konnte, da ſeine Frau bei jedem Abgang eines Schiffes den Einwand erhob, es ſei ein Unglückstag. An dem be - ſtimmten Tage verſammelt ſich die Hochzeitsgeſellſchaft in einem Gaſthauſe oder in der Wohnung des Bräuti - gams. Der Ehrenplatz des beſten Zimmers iſt mit glückverheißender Fichte, Bambus und Pflaumenblüte geſchmückt. Davor nimmt das Brautpaar Platz. Unter feierlicher Stille kredenzt man ihm nach einander drei Schälchen Saké (Reisbranntwein), die es gemeinſchaftlich trinkt zum Zeichen, daß ſie Freud und Leid treulich mit einander teilen wollen. Damit ſind ſie Mann und Frau ge - worden. An einem der nächſten Tage macht man von der vollzogenen Trauung Mitteilung an die Bezirksbehörde, damit in die Regiſter der neue Name der jungen Frau eingetragen werde, und alles iſt nun in ſchönſter Ordnung!
Doch nein! Nun beginnt eine böſe Zeit. Wenn es bei uns ſchon nicht immer wahr iſt, daß die Flitter -133 wochen die ſchönſten ſind, da in dem engen Neben - einander die Charaktere der Neuvermählten aufeinander - ſtoßen, ſo iſt das in Japan, wo es zuvor an jeder Gelegenheit fehlte, ſich aneinander abzuſchleifen, noch viel mehr der Fall. Zumal die Lage der jungen Frau, die ſich plötzlich in eine ganz fremde Umgebung verſetzt ſieht und ängſtlich beſtrebt ſein muß, ihrem Manne und — was noch ſchwerer iſt — ihren Schwiegereltern zu gefallen, iſt keineswegs beneidenswert. Was Wunder, wenn ſie bei ihrem erſten Beſuch in ihrer elterlichen Wohnung, welcher der Sitte gemäß am dritten oder ſiebenten Tage ſtattfindet, oft nicht wieder oder doch nur ſchwer zu bewegen iſt, in das Haus ihres Mannes zurückzukehren! Was Wunder auch, wenn bei einer ſo wenig individuellen Art der Eheſchließung ſich das Zuſammenleben häufig als unmöglich erweiſt, ſo daß es ſchließlich zur Eheſcheidung kommt!
Dazu haben Konfuzius und ſeine Nachtreter die Eheſcheidung gar zu leicht gemacht. Während ſie der Frau ein Recht, ſich ſcheiden zu laſſen, überhaupt nicht zugeſtehen, mag der Mann ganz nach Belieben eine Trennung herbeiführen. Zwar hat er nach den Geſetzen der Moral — um bürgerliches Recht handelt es ſich dabei überhaupt nicht — nur um ſieben Urſachen willen Gewalt, ſeine Frau zu entlaſſen, nämlich wegen Un - gehorſams, Kinderloſigkeit, Ehebruch, Eiferſucht, Aus - ſatzes und anderer unheilbarer Krankheit, Klatſcherei und Hanges zum Stehlen. Aber das heißt ja doch nichts anderes, als das arme Weib auf Gnade und Ungnade in die Hand des Gatten, und zwar des gewiſſen - loſen nicht minder als des wohlmeinenden, zu geben. Daß es hier Leute giebt, wie es deren in der ganzen Welt geben würde, welche von einem ſolchen bequemen134 Rechte Gebrauch machen, iſt nicht mehr als menſchliche Art. Gleichwohl — und das verdient hervorgehoben zu werden — iſt in den beſſeren Ständen des Volkes die Eheſcheidung verhältnismäßig ſelten. Trotz der loſeren moraliſchen Grundſätze hat man hier eine eben - ſo große Scheu vor dem Skandal wie im chriſtlichen Deutſchland. Um dieſes Skandals willen liegt es im Intereſſe der Familie, die allzuſehr erleichterte Scheidung durch die Familienpolizei zu erſchweren. Eine große Gewiſſenhaftigkeit iſt dabei unverkennbar. Alles wird verſucht, um die Streitpunkte in Güte beizulegen. Wenn aber alles vergebens iſt, ſo tritt als höchſte Inſtanz der Familienrat zuſammen, um den Urteilsſpruch zu fällen. Es iſt ein Familiengericht, welchem ſich jedes Glied der Familie unweigerlich zu fügen hat. Unter dem gemeinen Volk dagegen nimmt man die Trennung leichter. Hier ſpielt ja die Familienehre keine große Rolle. Kurzer Hand ſetzt man ſich hin und ſchreibt den Scheidebrief, der unvermeidlich aus dreieinhalb Zeilen beſteht. Da - her denn jeder dreieinhalbzeilige Brief als ein Unglücks - brief gilt und von abergläubiſchen Leuten peinlich ver - mieden wird. Auf dieſen Brief hin wird der Name der Frau auf dem Bezirksbureau wieder gelöſcht, und alles iſt wie zuvor.
Lange pflegt es aber nicht zu dauern, ſo hat der Mann wieder eine andere Frau, und thatſächlich giebt es Männer, von welchen ſich mit einer kleinen Text - änderung eines bibliſchen Wortes ſagen läßt: „ Fünf Frauen haſt du gehabt; und die du nun haſt, das iſt nicht deine Frau “. Daß unter dieſen Umſtänden die chriſt - lichen Kirchen auf die Eheſcheidung überhaupt, ganz ohne Rückſicht auf die Gründe, die Ausſtoßung aus der Gemeinde als Strafe geſetzt haben, kann ihnen nur zur Ehre gereichen.
135Wenn man bedenkt, wie leicht die Scheidung ge - macht iſt, ſo darf man ſich nicht wundern, daß bis zur Zeit immer noch ſtark ein Viertel aller Ehen der Trennung unterworfen iſt. An und für ſich wäre das freilich ein erſchreckender Prozentſatz; aber es iſt zweifel - los, daß ſich das Verhältnis durch das neue bürger - liche Geſetzbuch und beſonders unter der Einwirkung der Moral und Religion des Weſtens ſtetig beſſer ge - ſtalten wird. Insbeſondere ſind Eheſcheidungen ſelten, wenn einmal Kinder vorhanden ſind. Im ganzen wäre es unrecht, um dieſer Dinge willen über das Volk den Stab zu brechen. Im Gegenteil muß ihm zum Lobe nachgeſagt werden, daß es in ſeinen tüchtigen bürger - lichen Elementen den durch die konfuzianiſche Moral gebotenen Verſuchungen erfolgreich widerſtanden hat. Der ſittliche Kern des Volkes hat ſich beſſer erwieſen als ſeine ſeichte Moral.
In der Praxis der Eheſcheidung iſt die Stellung von Mann und Frau ſchon gegeben. Der Mann iſt der alleinige Herr des Hauſes. Er iſt der Patriarch, deſſen Wort allein Geltung hat, und der für ſein Thun und Laſſen niemand, ſeiner Frau erſt gar nicht, ver - antwortlich iſt. In dem gut bürgerlichen japaniſchen Hauſe giebt es nicht erſt ein Wortgezänk, wenn der Mann irgend wohin will. Auch ein Gatte, der ſeine Frau lieb hat, ſpricht zu ihr nicht in dem Ton und der Weiſe, wie der Europäer das thut, und von ſeiner Zuneigung legt er öffentlich nichts an den Tag. Er iſt kurz angebunden, wie es einer Untergebenen gegen - über die Sitte erheiſcht. Derſelbe Mann, welcher jeden Fremden mit ausgezeichneter Höflichkeit behandelt, hat für ſeine Frau kein bißchen Galanterie übrig. Auch der Gebildete ſpricht von ſeiner Gattin als von ſeiner136 „ dummen Frau “(gusai). Der Mann iſt der Himmel, die Frau die Erde; der Mann iſt die Sonne, die Frau aber ſoll ihre einzige Ehre in dem auf ihr ruhenden Abglanz der Sonne ſehen, ſie ſoll ſich beſcheiden mit dem ſtillen Schein des Mondes.
Demzufolge iſt die Stellung der japaniſchen Frau entſchieden eine niedrige. Gleichwohl darf man nicht etwa meinen, der japaniſche Ehemann ſei gemeinhin ein brutaler Wüterich, dem es Vergnügen mache, ſeine tyranniſchen Gelüſte an ſeiner armen Frau auszulaſſen. Auch hier iſt es wie überall: Es giebt rohe und wohl - meinende Männer. Die fünfundzwanzig Frauen von hundert, deren Ehen geſchieden werden, haben ja wohl von vornherein Nieten in der großen Lotterie des Glückes gezogen. Damit iſt aber zugleich mit den unglücklichen Ehen ſtark aufgeräumt, und wenn die Beſtimmungen des Konfuzius über Eheſcheidung einen Vorzug haben, ſo iſt es der, daß ſie ein vortreffliches Sieb bilden. Unter den übrigen Ehen giebt es nicht weniger als bei uns, die als normal glückliche bezeichnet werden dürfen. Wenn auch Gatte und Gattin ohne Liebe in die Ehe treten, ſo iſt doch das Weſen der Frau in der Regel derart, daß ihr Mann ſie lieb gewinnt. Und wenn ſie auch als erſte Magd des Mannes ihren Platz vorzüglich in der Küche und in der Kinderſtube hat, ſo weiß ſie doch nicht ſelten ein Plätzchen im Herzen des Gatten zu finden. Nach meiner Kenntnis des japaniſchen Familienlebens iſt es theore - tiſch richtig, aber praktiſch meiſtens falſch, von der Japanerin ſchlechthin als von einer Sklavin zu reden. Auf die niederen Klaſſen des Volkes, wo der Kampf um das Daſein die Unterſchiede aufhebt und alle gleich - macht, trifft es durchaus nicht zu. Aber auch für die137 guten Bürgerkreiſe, die den Kern des Volkes ausmachen und eine Ehre darein ſetzen, die Hüter der alten Ordnung und Sitte zu ſein, darf es nur cum grano salis geſagt und verſtanden werden. Unter den vielen Einwänden, welche gegen einzelne Worte der Heiligen Schrift er - hoben werden, iſt mir — es mag ja zufällig ſein — nie einer zu Ohren gekommen gegen den Satz: „ Hier iſt nicht Mann noch Weib “. Niemals hat man in Japan die Frau ſo tief erniedrigt wie in den Ländern des Islam, und wenn man auch zwiſchen den beiden Geſchlechtern die Schranken des Dekorums errichtet hat, ſo hat man ſie doch niemals gegen die Außenwelt ab - geſperrt. Wohl iſt es wahr: Als Mädchen hat ſie dem Vater, als Gattin dem Manne, als Mutter und Witwe dem älteſten Sohne Gehorſam zu leiſten. Aber ich habe den Eindruck gewonnen, als ob man im prak - tiſch-ethiſchen Leben dieſen Gehorſam nicht als ſklaviſche Dienſtbarkeit verſtehen dürfte, ſondern vielmehr als ſtill ſich beſcheidende Zurückhaltung. Die Japanerin hat zu gunſten ihres Vaters, ihres Mannes und ihres Sohnes darauf zu verzichten, ſich ſelbſt geltend zu machen. Das iſt es, was der Mann von ihr verlangt.
Trotz dieſer Milderung iſt die Stellung der Frau aber doch nicht die, wie ſie ſich in einem Kulturſtaat gebührt. Und wenn die Abendländerin heute ohne jeden geſchichtlichen Übergang gezwungen würde, unter ſolchen Bedingungen in die Ehe zu treten, ſo wäre der baldige Zuſammenbruch aller geſellſchaftlichen Ordnung die not - wendige Folge. Die Japanerin dagegen, wie ſie jetzt iſt, weiß ſich in bewundernswerter Selbſtverleugnung und Aufopferung darin zu finden und damit abzufinden, ſo daß der Stachel ihrer Abhängigkeit meiſt ſeine Bitterkeit verliert. Ihr Gehorſam iſt in der Regel138 ein freudiger und kein gezwungener, wobei ſie ſich ſelten unglücklich fühlt. Eine japaniſche Frau findet die Mahnung des Apoſtels Paulus für ſelbſtverſtändlich: „ Die Weiber ſeien unterthan ihren Männern, als dem Herrn; denn der Mann iſt des Weibes Haupt “. Daß ſie in der Stille ihres Herzens hinzufügen mag: „ Doch was darüber iſt, das iſt vom Übel “; daß ſie nämlich nur mit Seufzen des konfuzianiſchen Zuſatzes gedenkt: „ Die Weiber ſeien unterthan ihrem Schwiegervater und beſonders ihrer Schwiegermutter! “wird ihnen niemand verdenken. Die junge Frau folgt immer ihrem Manne in deſſen elterliches Haus, und das Zuſammenleben mit den Schwiegereltern wird in unzähligen Fällen zur Veranlaſſung der Eheſcheidung. Denn zwiſchen Mann und Frau ſoll niemand treten, und die beiden ſollen ein Fleiſch und ein Herz ſein.
Es bedarf keiner beſonderen ſittlichen Empfindungen, um einzuſehen, daß mit Bezug auf die Stellung des weiblichen Geſchlechts in Japan dem Chriſtentum eine ebenſo zarte, als dankbare Aufgabe geſtellt iſt. Bis jetzt müſſen vorzugsweiſe die Amerikaner als diejenigen bezeichnet werden, welche in das japaniſche Familien - leben reformierend einzugreifen verſuchen. Wenn aber in dieſem von den Gedanken der Frauenemanzipation tief durchdrungenen Volke Millionen das oben erwähnte Wort des Apoſtels geradezu auf den Kopf ſtellen, ſo iſt es doch noch, zumal unter den eigentümlichen Ver - hältniſſen Japans, ſehr zweifelhaft, wer mehr auf dem Holzwege iſt, ſie oder die Japaner. Eine Umfrage unter den Fremden in Japan würde überraſchende Antworten zu Tage bringen. Den meiſten erſcheint die ſich beſcheidende Zurückhaltung der Japanerin als etwas ungemein Anziehendes, und dieſes gewiß nicht lediglich139 aus dem ſelbſtſüchtigen Trieb, allein die Herren der Schöpfung zu ſein. Vielmehr meinen ſie, daß eine ge - wiſſe paſſive Zurückhaltung des Weibes das natürliche Verhältnis gegenüber dem Manne ausmache, geboren aus der Erkenntnis, daß der Mann das kraftvolle, mutige, energiſche und gebende Element iſt, die Frau aber von Natur das leidende, empfangende und ſtill ſich beſcheidende.
Es iſt etwas überaus Zartes, Sanftes und Be - ſcheidenes in dem gewinnenden Weſen der Japanerin. Alles Sichvordrängen, alle unweibliche Energie iſt ihr fremd. Männliche Emanzipationsgelüſte liegen ihr, der man von früh auf die Ehe als einzigen und ſchönſten Beruf des Weibes hingeſtellt hat, völlig fern. Alles, was den Eindruck des ſanften Frauencharakters ſtören könnte, iſt durch die Erziehung ſorgfältig ausgemerzt — freilich auf Koſten der Individualität. Ohne eine ſolche ſyſtematiſche Erziehung der Frau könnte von leid - lich guten ehelichen Verhältniſſen keine Rede ſein. Es verlohnt ſich wohl der Mühe, einen kurzen Auszug aus dem klaſſiſchen Werke für Frauenerziehung1)Vergl. „ Onna Daigaku “von dem Morallehrer Kaibara, überſetzt von B. H. Chamberlain. Siehe deſſen „ Things Ja - panese “, ein Buch, welches ſich ebenſo ſehr durch reichen Inhalt als durch geſundes Urteil ausgezeichnet und ſelbſt für den alten Reſidenten und guten Kenner Japans als Nachſchlagebuch unent - behrlich iſt. hier wieder - zugeben. Da heißt es: „ Köſtlicher als ein ſchönes Ge - ſicht iſt für ein Weib ein tugendſames Herz. Eines bösartigen Weibes Sinn iſt immer aufgeregt; es ſchaut wild, läßt ſeinen Ärger an andere aus, ihre Worte ſind keifend und ihr Ton iſt roh. Wenn es ſpricht, ſetzt es ſich über andere, hechelt ſie durch, bläht140 ſich im Hochmut auf, ſpottet über Abweſende und lacht ſie aus. All das iſt nicht in Übereinſtimmung mit dem, was ſich einer Frau geziemt. Die einzigen Eigenſchaften, welche ihr gut anſtehen, ſind Sanftmut, Gehorſam, Keuſchheit, Milde und Ruhe. In China nennt man die Heirat Rückkehr; denn eine Frau muß ihres Mannes Haus als ihre wahre Heimat betrachten, und wenn ſie heiratet, ſo iſt das eine Rückkehr dahin, wo ſie in Wahrheit zu Hauſe iſt. Wie ärmlich auch immer des Gatten Haushalt iſt, ſie ſoll ihn nie darüber zur Rede ſtellen. Ihre einzige große lebenslängliche Pflicht iſt Gehorſam. Wenn ihr Gatte ungehörig oder ſchlecht handelt, ſo ſoll ſie mit ruhigem Geſicht vor ihn hin - treten und mit ſanfter und freundlicher Stimme ihm Vorhaltungen machen. Wenn er ärgerlich wird und auf die Mahnungen nicht hören will, ſoll ſie eine Zeit - lang warten, um erſt dann wieder die Sache zur Sprache zu bringen, wenn ſich ſein Herz beruhigt hat. Niemals trete die Frau mit ſcharfen Zügen und ſchneidender Stimme gegen den Gatten auf. Eine Frau ſollte immer auf den Beinen ſein und ſtreng auf ihr eigenes Be - tragen achthaben. Morgens muß ſie früh aufſtehen und abends ſpät zu Bette gehen; unter Mittag ſoll ſie nicht ruhen. Nimmer ſoll ſie müde werden zu weben, zu ſpinnen und zu nähen. Sie ſoll nicht viel Saké trinken, und zu Tempeln und andern Orten, wo große Maſſen zuſammenkommen, ſoll ſie nur ſelten gehen, bis ſie vierzig Jahre alt geworden iſt. In ihrer Eigen - ſchaft als Gattin muß ſie ihres Mannes Haushalt in guter Ordnung halten. Unnötige Ausgaben meide ſie, und mit Bezug auf Speiſe und Kleidung halte ſie es ſo, wie es mit der geſellſchaftlichen Stellung ihres Gatten im Einklang ſteht. Luxus und protzenhaftes Weſen ſoll141 ſie ſtreng vermeiden. Stets ſoll ſie der Schranken zwiſchen den beiden Geſchlechtern eingedenk ſein, und unter keinen Umſtänden ſoll ſie mit einem jungen Manne in Korreſpondenz treten. Mit ihrem Können und Wiſſen ſowohl als in der Farbe und dem Muſter ihres Kleides ſoll ſie beſcheidene Zurückhaltung üben. Es iſt nicht recht von ihr, ſich auffällig zu machen, damit andere ſie bemerken ſollen. Nur das ſollte ſie thun, was ſich ziemt. Die fünf ſchlimmſten Krankheiten, an denen der weibliche Sinn leidet, ſind: Ungelehrigkeit, Unzufrieden - heit, Klatſchſucht, Eiferſucht und Einfältigkeit. Die ſchlimmſte von allen und die Mutter der vier anderen iſt die Einfältigkeit. Eine Frau ſollte ſie heilen durch Selbſtprüfung und ſtrafende Selbſterkenntnis “.
Es giebt Vorſchriften, welche nur dazu gegeben zu ſein ſcheinen, um übertreten zu werden. Bei dieſen aber iſt es anders. Genau nach dieſen Lehren wurde das japaniſche Mädchen erzogen. Was hier als das Ideal einer japaniſchen Frau aufgeſtellt wird, iſt in der Japanerin Wirklichkeit geworden. Eine ſolche Perſönlichkeit konnte nicht durch eine intellektuelle, ſondern nur durch eine äſthetiſche Erziehung geſchaffen werden. Dieſe äſthetiſche Erziehung hat es fertig ge - bracht, um die Perſon der Japanerin eine vollkommene Harmonie zu weben und der vollendeten Hausfrau Martha noch etwas von dem Duft der Maria zu geben.
Wer könnte blind ſein gegen die Mängel einer ſolchen Frau? Liegt es doch auf der Hand, daß unter dieſen Umſtänden ihr Geſichtskreis gar zu ſehr beſchränkt und ihre Intereſſen allzuſehr eingeengt werden. Muß es doch völlig klar ſein, daß bei einer ſolchen Abhängig - keit von dem Gatten die eigene Initiative bis zur voll - ſtändigen Paſſivität zuſammenſchrumpft, ja, daß ſchließ -142 lich die Frau ſich auch die Mühe des ſelbſtändigen Nach - denkens erſpart und das Verſtändnis für alle höheren und ſchwierigen Fragen und das Streben nach den höchſten Idealen des Lebens verlieren muß. Und auch das iſt unvermeidlich, daß bei einer ſchablonenhaften Erziehung, dabei man alle über einen Leiſten ſchlägt, der Japanerin etwas Puppen - und Automatenhaftes anklebt auf Koſten der Individualität. Es iſt infolge - deſſen dem Europäer im allgemeinen nicht anzuraten, ſich mit einer Japanerin zu verheiraten. Denn ſo glücklich er ſich vielleicht im Anfange fühlen würde, das tiefere Verſtändnis für all das, was ihn bewegt, würde er bald vermiſſen. Geradeſo wie es einer Abend - länderin nicht anzuraten iſt, ſich mit einem Japaner zu verheiraten, wenn auch unter den vielen derartigen Ehen, die mir bekannt ſind, einige als recht glücklich bezeichnet werden dürfen.
Aber trotz aller Mängel verbleiben der Japanerin ſehr ſympathiſche Züge. Der Kern iſt gut, und manche Züge ſind in ſolch anmutiger Schöne kaum irgend ſonſtwo wieder zu finden. Ich wüßte kein Volk, auf deſſen Frauen ſich mit größerem Recht die Worte Goethes anwenden ließen:
Ich habe einmal in einer chriſtlichen Ethik geleſen, daß die natürliche Tugend des Mannes der Mut, die natürliche Tugend der Frau die Sanftmut ſei. Wenn man nach Japan urteilen darf, ſo iſt das eine un - zweifelhafte Wahrheit. Wenn aber die Bibel ſagt: „ Die Sanftmütigen werden das Erdreich beſitzen “, ſo iſt auch dieſes in vielen japaniſchen Häuſern, wo die Frau gerade durch ihre bezwingende Sanftmut ſich die ihr gebührende Stellung als der gute Geiſt des Hauſes erobert hat, ſchöne Wahrheit geworden. Ja, ihre Stellung mag unter Umſtänden noch eine ganz andere werden. Ein Sprichwort ſagt:
Und ſo bezeichnend dieſes Sprichwort iſt für die ſtille Zurückhaltung, deren ſich die Frau befleißigen ſoll, ſo deutet es doch zugleich an, daß es vereinzelte Fälle geben mag, wo der Pantoffel eine Rolle ſpielt.
Wer ein wahrheitsgetreues Bild des japaniſchen Familien - und Frauenlebens malen will, ſieht ſich wohl oder übel genötigt, auch zu düſteren Farben zu greifen. Es giebt wohl wenige Europäer, welche nicht erſtaunt ſind, in einem Kulturvolk, wie die Japaner, ſo viel Nudität einzelner Körperteile und des ganzen Körpers zu finden, im Gegenſatz zu den Chineſen, welche ſtets dezent gekleidet ſind. Ich habe nicht wenig Reiſende getroffen, welche darüber in moraliſche Entrüſtung aus - brachen. Sie hätten ſich nicht ſo zu ereifern brauchen. Für den Japaner iſt das harmlos. In ſeinem Kopf ſteigen dabei keine ſündhaften Bilder auf, wie in manches Abendländers verdorbener Phantaſie. Für den ſinnlichen Reiz der Nudität ſind die Augen dieſer Naturkinder144 noch nicht aufgethan. Aber leider entſpricht der äſthe - tiſchen Lichtſeite des Naturkindes immer auch eine ethiſche Schattenſeite. Der Japaner giebt ſeinen natürlich ſinn - lichen Trieben allzuſehr nach. Thatſächlich ſind in Japan der Unſittlichkeit im engeren Sinne des Wortes Thür und Thor noch mehr geöffnet, als im chriſtlichen Europa. Das Proſtitutionsweſen iſt ungemein aus - gedehnt. In Tokyo iſt ein ganzer großer Stadtteil, und zwar bezeichnender Weiſe der ſchönſten einer, dem Dienſt der Aphrodite gewidmet. Und wie hier, ſo iſt es in allen Städten des Landes. Selbſt in einer kleinen Stadt von nur fünftauſend Einwohnern habe ich neben einander drei Häuſer der Unzucht geſehen. Ein guter Teil der Theehausmädchen iſt nichts weiter als Freuden - mädchen, und die Tugend der Sängerinnen und Tänzerinnen, der weltberühmten und weltberüchtigten Geiſha iſt keineswegs die beſte. Das alles iſt wahr.
Aber zum richtigen Verſtändnis iſt es notwendig zu wiſſen, daß die Japaner in dieſem einen Punkt ein Naturvolk geblieben ſind; und dieſer Umſtand macht das unſittliche Treiben in Japan weniger ſündhaft als in chriſtlichen Landen. Selbſt feinfühlige Naturen empfinden die Unzucht nicht in dem Sinne als ſchlecht, wie der Chriſt das thut. Es iſt eine gewiſſe Naivetät, wie ſie äſthetiſch veranlagten Menſchen manchmal eigen iſt, die ihre Beurteilung derartiger Dinge beſtimmt. Das Bewußtſein des Unerlaubten iſt äußerſt ſchwach, auch in gebildeten und gut bürgerlichen Kreiſen. Frei - lich ihre Töchter würden bürgerliche Familien niemals dazu hergeben. Das bürgerliche Mädchen wird ängſtlich gehütet, und ſeine fleckenloſe Reinheit ſteht, für die Klaſſe nicht allein, ſondern für das einzelne Individuum, über jeden Zweifel erhaben. Es ſind vielmehr die unterſten145 und ärmſten Schichten der Bevölkerung, aus welchen ſich das große Heer der Freudenmädchen zuſammenſetzt. Hier empfinden es die Eltern ſelten als Unrecht, ihre Töchter zu dieſem Gewerbe zu beſtimmen, noch ſieht man die Mädchen beſonders darum an. Schriftſteller, welche dieſen Punkt des japaniſchen Lebens beſonders aus - führlich behandelt haben, behaupten, daß die Mädchen innerlich nicht ſo verdorben ſeien wie ihre europäiſchen Genoſſinnen, daß ihr Gewerbe dort nicht ſo ſehr die Ertötung der ganzen moraliſchen Perſönlichkeit zur Folge habe wie bei uns. Und in der That, ſobald ſie in die Ehe treten, was ihnen bei der naiven Beurteilung ihres Standes nicht ſchwer fällt, kann ſich der Mann auf die Treue ſeiner Gattin verlaſſen; dann kennt ſie kein höheres Ziel, als allen Pflichten ihrer neuen Stellung als ehr - liche Frau voll und ganz zu genügen. Ehebruch von ſeiten der Frau iſt ein Eheſcheidungsgrund. Aber ſo ſelbſtverſtändlich es im Prinzip iſt, daß der Mann auch in der Ehe freie Hand behält, ſo iſt doch der Ehebruch der Frau eine äußerſt ſeltene Erſcheinung. Zu jedem japaniſchen Roman gehört ein Freudenhaus, aber die modernen franzöſiſchen Ehebruchsromane würden ſich in Japan aus Mangel an Untergrund nicht ſchreiben laſſen. Vor der Thüre des japaniſchen Hauſes macht die Un - ſittlichkeit Halt, und die Luft, in welcher die Kinder des Hauſes aufwachſen, iſt rein und lauter.
Kinder hat jedes Haus. Wem eigene Nachkommen - ſchaft verſagt blieb, adoptiert ein Kind. Die Adoption iſt überaus gebräuchlich. Iſt ſie doch das letzte Mittel, um eine Familie vor dem gefürchtetſten aller Schickſale, vor dem Ausſterben, zu bewahren. Das adoptierte Kind iſt immer männlichen Geſchlechts. Denn in jedem Hauſe muß ein Stammhalter ſein. Wo er fehlt, wo10146einer Familie nur Töchter geboren wurden, wird einer angenommen unter der Bedingung, daß er die Tochter des Hauſes oder eine der Töchter heiratet. In ſolchem Falle gelten die Kinder oft ſchon von Kindesbeinen an als verlobt. Wo der Stammhalter eine ſolche Rolle ſpielt, iſt die Freude, welche die Geburt eines Sohnes hervorruft, wohl begreiflich. Da ſtrömen die Glieder der Familie bis in die weitläufigſten Verzweigungen herbei, um ihrer Freude bei dem frohen Ereignis Aus - druck zu verleihen. Daß man ſich bei der Geburt eines Mädchens in ſeinen frohen Gefühlen zurückhaltender zeigt, liegt bei dieſem Familienſyſtem in der Natur der Sache. Wozu ſoll ſich die Familie freuen über ein Menſchenkind, welches doch einmal aus der Familie hinausheiratet und darum für dieſelbe wertlos iſt? Gleichwohl muß es den Eltern zum Lobe nachgeſagt werden, daß auch die Behandlung dieſer Menſchen zweiter Ordnung eine liebevolle und zärtliche iſt. Zwar weiſt die Etikette den Söhnen, vorab dem älteſten, eine bevorzugte Rangſtellung im Hauſe zu; aber das kleine Mädchen weiß ſich oft genug zu Vaters Liebling zu machen. Ich kenne viele Europäer, die für die Japaner wenig übrig haben; ich kenne keine Abendländer, die nicht bezaubert wären von Japans Kindern. Es iſt die ſonnige Natur des Landes, die in ihnen Leben gewinnt. Die Mädchen heißen mit Namen „ Blume, Aſter, Frühling, Fichte, Schnee, Bambus ꝛc. “, und ſie entſprechen dieſen Namen vollkommen. Heiterkeit und Frohſinn lachen einem entgegen aus den Kinderaugen, die Knaben ſind frank und frei in dem Ausdruck ihrer intelligenten Geſichtszüge, an den Mädchen aber iſt alles Anſtand, Grazie und ſanfte Anmut.
Japan iſt das Paradies der Kinder. Selten, um147 nicht zu ſagen nie, erhalten die Kinder Schläge. Und doch iſt die Ungezogenheit dort keine größere, ja mich will es bedünken, als ſei ſie geringer als bei uns. Als wirkſameres Erziehungsmittel denn die Rute betrachtet man die Einwirkung auf des Kindes Herz.
Schon mit der Muttermilch ſaugt das Kind die eine große Lehre des Konfuzius ein, welche ſich in ihrer Faſſung merkwürdig mit dem Moſesgebot berührt: „ Du ſollſt deinen Vater und deine Mutter ehren! “ Auch das „ kō “(gewöhnlicher „ kōkō “) des Konfuzius iſt nicht eine Liebe, dabei das Kind ſich auf gleiche Stufe mit ſeinen Eltern erhoben weiß, um darnach vielleicht frech den Eltern über den Kopf zu wachſen; es iſt vielmehr mit der Liebe, beſonders dem Vater gegenüber, ein gut Stück Ehrfurcht und daher auch Furcht verbunden. Die Übertragung von „ kōkō “mit „ kindlicher Pietät “(filial piety) dürfte daher der Sache vollkommen entſprechen. Der Geiſt der Liebe wird infolgedeſſen ſofort auch zu einem Geiſt der Zucht, der das Kind vom unrechten Wege abhält und es zum Guten leitet. Es iſt der in - ſtinktive Trieb, den Eltern zu gefallen und ihnen allen Schmerz zu erſparen, was die Kinder gut ſein läßt. Die in der Liebe gewurzelte Scheu vor den Eltern iſt ſowohl die theoretiſche Grundlage des ethiſchen Syſtems als auch die praktiſche Richtſchnur des ſittlichen Han - delns, in demſelben Sinne, wie es in der Ethik des Chriſtentums die in der Liebe zu Gott gewurzelte Got - tesfurcht iſt. Es ſind keine ewigen und unwandelbaren Geſetze, wie die zehn Gebote oder die Sittenlehre der Bergpredigt, vielmehr ſind es Einzelmahnungen im An - ſchluß an Einzelfälle. Und wenn in dieſem kaſualen Charakter die abſolute Unzulänglichkeit des ganzen Syſtems gegeben iſt, ſo liegt doch hier auch ſeine Stärke;10*148denn derartige Gebote ſind immer lebendig und per - ſönlich. Das Wort des Vaters iſt wie ein religiöſes Gebot und fordert unbedingten Gehorſam.
Je mehr nun die kindliche Pietät ausgebildet iſt, deſto fruchtbarer iſt der Boden, auf welchen die Mah - nungen des Vaters fallen, deſto größer die Wahrſchein - lichkeit einer guten Erziehung. Die Pietät muß darum mit allen Mitteln gefördert werden, nicht nur durch praktiſche Übung, ſondern auch durch theoretiſche Aner - ziehung. In der That wird bibliſche Geſchichte, Kate - chismus und Pſalter dem japaniſchen Kinde durch ein Buch erſetzt, welches nur die Pietät zum Gegenſtand hat. Dasſelbe iſt, wie das ganze Syſtem, chineſiſchen Urſprungs und enthält 24 Erzählungen von kindlicher Pietät, welche ſo charakteriſtiſch ſind, daß wir uns nicht verſagen können, einige derſelben im Auszug hier wieder - zugeben1)Vergl. Chamberlain „ Things Japanese “, und für die ſämtlichen 24 Geſchichten Anderſon „ Catalogue of Japanese and Chinese Paintings “. Eine japaniſche Nachahmung der 24 chine - ſiſchen Fälle erfreut ſich geringerer Popularität..
Es war einmal ein kleiner Knabe; der hatte eine böſe, grauſame Stiefmutter, von welcher er mehr Schläge als Hirſe bekam. Er aber ließ ſich durch nichts irre machen, ſtreng an dem Gebot zu halten: „ Du ſollſt deine Mutter ehren! “ Nun hatte die Frau eine be - ſondere Vorliebe für Fiſch. Eines Tages überkam ſie auch einmal wieder die Luſt, Fiſch zu eſſen. Es war aber Winter und das Waſſer des Teiches war hart gefroren. Gleichwohl nahm der Knabe die Axt auf den Rücken und ging an den Teich. Aber wie er auch mit der Axt zuhieb, er brachte das Eis nicht durch. Wie er nun verzweiflungsvoll daſtand, kam ihm plötz -149 lich ein erleuchtender Gedanke. Er zog ſeine Kleider aus und legte ſich nackt auf das Eis hin, um dieſes durch die Wärme ſeines Körpers zu erweichen. Da durchſtrömte ihn plötzlich eine ſtarke Glut, das Eis zerſchmolz, und es entſtand ein Loch. Alsbald erſchienen an dem Loch zwei prächtige Karpfen, um Atem zu ſchöpfen. Die ergriff der Knabe und brachte ſie nach Hauſe.
Eine andere Geſchichte erzählt von einem Manne, welcher in ſehr ärmlichen Verhältniſſen lebte. Er hatte einen alten Vater und einen jungen Sohn, und beide hatte er ſehr lieb. Er hätte ſich glücklich preiſen dürfen, wenn nicht trotz aller fleißigen Arbeit Schmalhans be - ſtändig Küchenmeiſter bei ihm geweſen wäre. Hungrig ſetzte man ſich zum Eſſen, und hungrig ſtand man wieder auf. Darüber grämte ſich der arme Mann gar ſehr, und um ſeines alten Vaters willen machte er ſich nicht wenig Gewiſſensſkrupel. „ Sieh “, ſo dachte er, „ wenn ich mit meinem Vater allein wäre, könnte ich meiner Kindespflicht ihm gegenüber genügen. Ich will mich daran machen und meinen lieben Sohn lebendig be - graben “. Mit großen Schmerzen ging er an die trau - rige Arbeit. Er grub ein Loch, darin das Kind be - graben werden ſollte; aber, o Wunder! plötzlich ſtieß er auf etwas hartes, und da er es herauszog, war es ein Gefäß voll von Goldſtücken. Nun war die Tugend des pietätvollen Sohnes reichlich belohnt; aus dem armen Mann war ein reicher geworden, die Not hatte ein Ende, und ſie lebten alle glücklich zuſammen weiter.
Bekanntlich gehören zu den größten Plagen der wärmeren Zone die Mosquitos, Inſekten, welche auch den Anwohnern des Rheins als ſogenannte Rhein - ſchnaken wohlbekannt ſind. Wer in einer warmen Sommernacht ohne Schutznetz zu Bette geht, muß eine150 dicke Haut haben, wenn er nicht eine völlig ſchlafloſe Nacht verbringen ſoll. Nun lebte einmal ein Elternpaar, welches einen noch ſehr jungen Sohn mit einer beſonders zarten und feinen Haut hatte, ein rechter Leckerbiſſen für die ſehr wähleriſchen und feinſchmeckenden Blutſauger. Mit großer Bekümmernis ſah der zarte Knabe, wie ſeine lieben Eltern von den Tieren gequält und ge - peinigt wurden, und in ſeinem liebenden Herzen reifte der Entſchluß, ihnen zu helfen. Hinfort beſtand er darauf, des Nachts mit völlig entblößtem Körper zu liegen, damit die Schnaken nur an ihn gehen und ſeine Eltern verſchonen ſollten.
Der drolligſte in der Geſellſchaft der vierundzwanzig Tugendhelden iſt unzweifelhaft Rōraiſchi. Rōraiſchi war ein gutes Kind von ſiebenzig Jahren. Seine hoch - betagten Eltern aber waren noch am Leben, und mehr als neunzig Lebensjahre hatten ſie geſehen. Rōraiſchi hatte nur eine Sorge: Seine Eltern möchten, ihres hohen Alters bewußt, traurig werden und ſich wegen des nahenden Todes grämen. Um ihnen dieſen Kummer zu benehmen und ſie über ihr Alter hinwegzutäuſchen, zog Rōraiſchi Kinderkleider an, und gleich einem Baby ſpielte er auf dem Fußboden. Da das ſeine Eltern ſahen, verflogen die Grillen und Sorgen des Alters; ſie lächelten ſich glückſelig an und freuten ſich in dem Gedanken, daß ſie als glückliche Beſitzer eines ſo kind - lichen Sohnes immerhin noch nicht ſo alt ſein könnten.
„ Nun, da hat man ja in Japan köſtlichen Stoff zum Lachen “, denkt wohl der europäiſche Leſer. Durchaus nicht. Die kleinen Japaner hören dieſe Geſchichten, die natürlich noch ſchön eingekleidet und aufgeputzt ſind, mit dem größten Ernſt, und das Volk lieſt ſie mit der größten Andacht, ſowie man bei uns die Geſchichten der Heiligen151 Schrift lieſt. In manchem Herzen reift dabei in heiliger Begeiſterung der feſte Entſchluß: „ Solch ein gutes Kind will ich auch werden “.
Am bezeichnendſten von allen oben erzählten Ge - ſchichten iſt wohl die zweite. Dieſelbe erinnert ſehr ſtark an die Opferung des Iſaak. Da iſt thatſächlich nur ein ethiſcher Unterſchied: Während Iſaak um Gottes willen geopfert werden ſollte, ſoll hier dasſelbe um des Vaters willen geſchehen. Was Juden und Chriſten Gott iſt, ſind dem Japaner die Eltern. Ihm gilt als unbedingtes Gebot: „ Du ſollſt keine andern Götter neben ihnen haben “. Der jüdiſch-chriſtliche Gedanke: „ Es ſoll ein Menſch Vater und Mutter verlaſſen und an ſeinem Weibe hangen “, ſtößt in Japan auf entſchiedenen Widerſpruch: Die Eltern ſtehen über der Gattin. Das Evangelium erzählt, wie „ Jeſus zu einem andern Manne ſprach: Folge mir nach. Der ſprach aber: Herr, erlaube mir, daß ich zuvor hingehe und meinen Vater begrabe. Aber Jeſus ſprach zu ihm: Laß die Toten ihre Toten be - graben; gehe du aber hin und verkündige das Reich Gottes “. Dieſe Geſchichte hat für den Japaner einen bitteren Stachel und nicht immer gelingt es, denſelben zu entfernen. Trotz aller Erklärungen kommt er immer und immer wieder darauf zurück: „ Ja, aber ſo ſteht es da! Und wie es da ſteht, iſt es eine Pietätloſigkeit im Munde Jeſu! “ Selbſt mit dem Tode hat die Pietät ihr Ende nicht erreicht; ungebrochen dauert ſie über das Grab hinaus. Die Trauerzeit wird mit großer Pünkt - lichkeit eingehalten, an vorgeſchriebenen Tagen wird das Grab des Verſtorbenen beſucht, und ſorgfältig bringt man den Geiſtern der Abgeſchiedenen die gebührenden Opfer dar. Das Sprichwort: „ Über dem Grabe wächſt bald Gras “, hat in Japan keine Stätte.
Für die Eltern muß jedes Opfer freudig gebracht152 werden. Um die Eltern in der Not zu unterſtützen, hat ſchon manches Mädchen das Haus heimlich ver - laſſen und ſich in ein Freudenhaus verkauft; und die japaniſche Art der Romantik preiſt dieſe pietätvollen Töchter als Muſter der Tugendhaftigkeit. Einer meiner Studenten erzählte mir, daß ſein älteſter Bruder in einer Schlacht gegen den großen Saigo ſchwer ver - wundet worden ſei. Seine Wunden waren zwar nicht tötlich, aber er mußte zeitlebens ein arbeitsunfähiger Krüppel bleiben. Dieſen Kummer mußte er ſeinen Eltern unter allen Umſtänden erſparen. Er beſchloß, Selbſtmord zu begehen. Auf dieſer Erde taugte er ja doch zu nichts mehr, und die chriſtliche Lehre, daß die Menſchenſeele einen unendlichen Wert in ſich ſelbſt habe, war ihm nicht bekannt. Aus dem Buddhismus wußte er eher das Gegenteil. So ſchlitzte er ſich denn kurzer Hand den Bauch auf.
Im deutſchen Volksmund heißt es: „ Eher ernährt ein Vater ſieben Kinder, als ſieben Kinder einen Vater “. Das ließe ſich den Japanern nicht nachſagen. Es kommt gar nicht darauf an, in welcher Weiſe die Eltern an den Kindern ihre Pflichten erfüllt oder verſäumt haben. Es mag ein Mann ein Trunkenbold oder lüder - licher Müßiggänger geweſen ſein, der die Seinen darben ließ: Wenn ſeine Kinder herangewachſen ſind, ſo ver - ſteht es ſich ganz von ſelbſt, daß ſie durch ihrer Hände Arbeit ihren Vater unterhalten. Der Japaner pflegt ſich früh zum Feierabend zurückzuziehen. Er mißt das Leben kürzer als wir, und während die Bibel die Grenzen des Lebens auf ſiebenzig und, wenn es hoch kommt, achtzig Jahre zieht, rechnet man in Japan die Jugend von der Geburt bis zu zwanzig, das Mannes - alter von zwanzig bis vierzig, das Greiſenalter von vierzig bis ſechzig Jahre. Wohl wird die Zukunft bei153 dem Wachſen der Anſprüche und Lebensbedürfniſſe eine radikale Änderung bringen und den Beginn der Ruhe - jahre bedeutend hinausſchieben; aber bislang pflegten ſich die Eltern mit fünfzig Jahren zurückzuziehen, den Jungen die Sorgen des Regiments zu übertragen und ſich von ihnen ernähren zu laſſen. Ob ſie Vermögen haben oder nicht oder vielleicht gar noch Schulden; ob ſie noch kräftig genug ſind, zu arbeiten und ſich ſelbſt durchzubringen, das iſt ganz gleichgültig. Das Los des „ Go-Inkyoſama “iſt aber auch gar zu verlockend. Man führt ein Leben in beſchaulicher Muße und überläßt die Sorgen den andern. Auch die Frau ſieht dann noch behagliche Tage, die ſchönſten ihres Lebens. Von den Ihrigen werden die alten Leute auf den Händen getra - gen, und bei jedermann ſind ſie geehrt und geachtet. Denn hier hat das Gebot noch unbedingte Kraft: „ Vor einem grauen Haupte ſollſt du aufſtehen und die Alten ehren! “
Es ſind aber nicht die Eltern allein, welche man zu unterſtützen gewohnt iſt. Bei dem ausgeprägten Familienſinn nimmt man warmen Anteil an dem Wohl und Wehe aller Familienglieder. Insbeſondere iſt der älteſte Sohn nicht umſonſt auch der alleinige Erbe. Im Falle ein Glied der Familie in Not gerät, hat er die Pflicht, ihm unter die Arme zu greifen. Es wäre eine Schande für die ganze Familie, falls ein Angehöriger derſelben als Bettler auf der Straße umherliefe. So lange die Familie noch etwas hat, hat auch das einzelne Glied noch etwas. Es wäre nicht ganz unrichtig, von einem Familienkommunismus zu reden. Auch das Adoptionsſyſtem iſt ein vortreffliches Mittel, der Ver - armung zu ſteuern. Viele Sproſſen verarmter Familien oder nachgeborene Söhne finden durch die Adoption Unterkunft und gute Verſorgung. Japan zeichnet ſich nicht durch Wohlhabenheit aus; weitaus den meiſten154 Häuſern des Landes wäre es unmöglich, mit ihren jähr - lichen Einkünften unter den teuren europäiſchen Ver - hältniſſen überhaupt zu beſtehen. Und doch giebt es kaum ein Land, wo es ſo wenig wirkliche Armut im Sinne des Hungerleidens und der Entbehrung giebt als hier. Und wenn es ſchon ausgeſprochen wurde, daß auf den Straßen von Japan weit weniger Betrunkenheit zu ſehen iſt als bei uns, ſo iſt das andere nicht minder wahr, daß Bettler, Vagabunden und Leute in ärmlicher, verlumpter Kleidung in Japan in geringerer Zahl zu finden ſind als ſelbſt in Deutſchland oder England, von Italien und Spanien vollends gar nicht zu reden.
Wer könnte ſeine Augen verſchließen gegen dieſe ſchönen Züge des Lebens? Und all das hat ein einziger Mann vollbracht, Konfuzius; hat es fertig gebracht aus ureigener Kraft. Niemand hat ihm geholfen; den Shintoismus hat er in etwas ins Schlepptau genommen; Buddha aber hat kein Teil daran; in Japan exiſtiert die Moral für ſich, losgelöſt von der Religion. Die Familie, welche Konfuzius geſtaltet hat, iſt in einzelnen Zügen geradezu muſtergültig; aber Charaktere für das Leben in dem ganzen großen Reichtum ſeiner Erſchei - nungen hat er nicht zu ſchaffen verſtanden. Iſt es doch eine auffallende Thatſache, daß dieſelben Japaner als Knaben jedermann ſympathiſch, als Männer aber vielen unſympathiſch ſind! Iſt es doch gar nicht zu leugnen, daß die heutige Jugend, welche das beſte verſprach, ſo lange ſie im Elternhauſe war, verroht, wenn ſie, los - gelöſt von der Familie, in das Leben hineingeſtellt wird. In der Familie ruhen die ſtarken Wurzeln ihrer Kraft. Aber der Fonds, welchen ſie im Elternhauſe geſammelt, reicht wohl aus für den friedlichen Kreis der Familie, verſagt aber in dem brauſenden Meere des Lebens. 155Die Baſis des Syſtems erweiſt ſich als viel zu eng. Die Gemeinſchaft des Blutes und die Blutsverwandt - ſchaft läßt ſich über die Nation hinaus nicht ausdehnen; ein Band, das die ganze Menſchheit umſchlingt, läßt ſich auf dieſe Weiſe nicht ſchaffen, und die Menſchlich - keit, die Humanität im höchſten Sinn des Wortes, hat in ſolcher Ethik keinen Platz, ſo human dieſe Ethik auch auf den erſten Blick erſcheinen mag. Der Konfuzianismus iſt ein Syſtem für patriarchaliſche Zu - ſtände, wie ſie in der Zeit des Feudalismus in Japan herrſchten. Mit dem Tage aber, mit welchem ſich das patriarchaliſche Syſtem überlebt hat, mit welchem Japan aus der patriarchaliſchen Enge der Familie, des Clans und der Nation in den Weltverkehr eingetreten iſt, hat ſich auch der Konfuzianismus überlebt. Wer wollte es den Beſten des Volkes übel nehmen, wenn ſie ſich nicht trennen wollen von dem Manne, welcher ſeit tauſend Jahren der treueſte Freund ihres häuslichen Herdes geweſen iſt? Wer will es ihnen verargen, wenn ſie von ganzem Herzen dem Manne, welcher ihr Lehrmeiſter in der Pietät geweſen iſt, ſelber die Pietät wahren wollen? Und doch iſt all ihr Ringen vergebens. Von allen Mächten, die Japans Kultur ſeither geſtaltet und erhalten haben, iſt der Konfuzianismus als ethiſches Syſtem die erſte, die von dem Strom der Zeit hinweg - geſchwemmt wird. Der Boden, auf welchem er ſteht, iſt jetzt ſchon durch und durch unterwühlt. Und wenn die Zeichen der Zeit nicht trügen, ſo wird das meiſte deſſen, was hier als Familienleben und Sittenlehre geſchildert wurde, in wenigen Jahrzehnten nur noch als kulturgeſchichtliche Studie von Intereſſe ſein.
Auf Yezo, der nördlichſten der vier großen ja - paniſchen Inſeln, wohnen die „ haarigen “Aino. Sie nähren ſich hauptſächlich von Jagd und Fiſcherei und kennzeichnen ſich ſchon dadurch als ein auf niedriger Kulturſtufe ſtehendes Volk. Sie ſind kleine, gedrungene, kräftig gebaute Leute von harmloſer, guter Gemütsart. Der Mann mit ſeinem dichten, wallenden Haupt - und Barthaar, welches nie mit dem Schermeſſer in Berührung gekommen iſt, macht den Eindruck eines Patriarchen. Aber der ſtrotzende Schmutz ſeiner Behauſung, ſeiner Kleidung und ſeines waſſerſcheuen Körpers, ſeine ganze tieriſche Lebensweiſe, ſeine ungezügelte Gier nach Brannt - wein und ſeine unverkennbare geiſtige Beſchränktheit, die ſich allen Bildungsverſuchen bis jetzt mit Erfolg widerſetzt hat, ſtehen mit ſeinem ehrwürdigen Ausſehen wenig im Einklang. Von den Ainofrauen darf man nicht als von dem ſchönen Geſchlechte reden. Sie ſind Muſter von Häßlichkeit, und das Tättowieren ihrer Oberlippe, welches ihnen von Ferne das Anſehen giebt, als trügen ſie flotte Schnurrbärtchen, trägt zu ihrer Verſchönerung wenig bei. Die Aino ſind eifrige Bären - jäger; und während von den Bewohnern der ſüdjapa - niſchen Liukiu-Inſeln, welche ſich von Kiuſchiu aus halb - mondförmig auf Formoſa hin erſtrecken, berichtet wird, daß ſie die jungen Schweine wie ihre eigenen Kinder157 behandeln, iſt von den Bewohnern der Nordinſel be - kannt, daß ihre Frauen eingefangene Bärenjungen an ihrer eigenen Bruſt ſäugen. Der Bär iſt ihnen eine Art Gottheit, die man anbetet. Gleichwohl töten ſie ihn, wo immer ſie können, und auch das Fleiſch der mit menſchlicher Muttermilch aufgezogenen laſſen ſie ſich ſchließlich gut ſchmecken.
Die Aino ſind, vielleicht mit einem andern, längſt ausgeſtorbenen Volksſtamm zuſammen, die urſprünglichen Bewohner der japaniſchen Inſeln, welche von den von Südweſten hereindringenden Eroberern Schritt für Schritt zurückgedrängt wurden und endlich auf Yezo ihre letzte Zuflucht fanden. Früher waren ſie ein großes Volk, heute ſind kaum noch fünfzehntauſend von ihnen übrig geblieben. Unterdrückung und Alkohol, dieſe beiden entarteten Kinder der großen Völkermutter Kultur, haben ihr Zerſtörungswerk vortrefflich verſtanden und das ihrige dazu gethan, einen ehemals zahlreichen Volks - ſtamm auf den Ausſterbeetat zu ſetzen. Heute ſchon iſt ein Aino in Tokyo eine Seltenheit, die man begafft, wie man ein ſeltenes Exemplar in einem zoologiſchen Garten betrachtet; und auch die chriſtliche Miſſion, die ſich ſeit zwei Jahrzehnten ihrer lebhaft angenommen hat, wird es ſchwerlich verhindern können, daß man in abſehbarer Zeit dem letzten Vollblutaino ſein Grab gräbt.
Die Japaner ſind alſo keine Ureinwohner. Woher ſie gekommen ſind, darüber hat die Wiſſenſchaft ihr letztes Wort noch nicht geſprochen. Ein frommer Schotte meinte ihnen einen Gefallen zu erweiſen, indem er ſie als die Nachkommen der in der aſſyriſchen Gefangen - ſchaft ſpurlos verſchwundenen zehn Stämme von Israel erklärte. Andere beſtreiten die rein mongoliſche Ab - ſtammung und ſprechen von einem Miſchvolk aus Ma -158 laien und Mongolen. Das Wahrſcheinlichſte iſt aber, daß ſie Mongolen ſind, welche in vorgeſchichtlicher Zeit in zwei Zügen zweier verſchiedener Völkerſchaften aus Centralaſien über Korea nach Japan kamen und ſich nach und nach das Land unterwarfen1)Vergl. Dr. Bälz „ Die körperlichen Eigenſchaften der Ja - paner. “.
Wie dem aber auch ſein möge, heute ſind die Japaner eine im höchſten Sinne des Wortes einheitliche Nation, einheitlicher als irgend ein anderes Volk, und mit ihrem Land ſind ſie in zwei Jahrtauſenden ſo vollſtändig verwachſen, daß ſie ein hundertfaches Recht darauf haben, es Vater - land zu nennen. Und es bedeutet etwas im japaniſchen Mund, das Wort honkoku, d. i. Vaterland; nein, es bedeutet nicht etwas, es bedeutet alles. Das Vater - land und die Vaterlandsliebe iſt die allein beherrſchende Idee, iſt das große Ideal, welches ſich das Volk durch alle Umwälzungen hindurch immer wieder als höchſtes und vielleicht einziges gerettet hat. Die Japaner ge - hören allzumal zuſammen.
Noch iſt es erſt dreißig Jahre her, ſeitdem Japan centraliſiert iſt. Zuvor herrſchten im Land die Daimio als mehr oder weniger ſelbſtändige Fürſten, ähnlich wie in Deutſchland die Fürſten der Einzelſtaaten. Ihre Unterthanen waren ihnen mit Leib und Seele ergeben, und heute noch ſchauen ſie in tiefſter Ehrfurcht zu ihnen empor. Seitdem aber im Jahre 1868 die Daimio zu gunſten des Kaiſers ſich ihrer Selbſtändigkeit freiwillig begaben, iſt ſowohl bei ihnen als auch bei ihren früheren Unterthanen auch nicht der leiſeſte Schimmer eines dem großen Ganzen feindlich entgegenſtehenden Partikularis - mus zu finden. Heute giebt es nur eines: Dai Nippon,159 d. i. Großjapan. Ganz Japan iſt wie eine einzige Familie, und manchmal wollte es mich bedünken, als ſeien ſie alle miteinander verwandt. Auf den einzelnen kommt es dabei nicht an, wenn nur das Ganze beſteht und groß und mächtig iſt. Nicht nur der Partikularis - mus, ſondern auch der Individualismus hat in Japan keine Stätte.
Das Japanertum, welches in der Perſon des Kaiſers ſichtbare Geſtalt gewinnt, ſteht in dem Mittelpunkte des Lebens. Der Patriotismus iſt Krone und Grund aller öffentlichen Tugenden. Was Wunder, wenn in einer Zeit, wo die alten Stützen der Moral in das Wanken geraten ſind, allen Ernſtes der Vorſchlag ge - macht wird, die ganze Moral auf die Idee des Japaner - tums aufzubauen. Der einzige Zweck der National - religion Shintoismus iſt die Pflege des vaterländiſchen Sinnes. Um des Vaterlandes willen muß Gut und Blut freudig geopfert werden. Japan iſt kein reiches Land, aber die Mittel zum chineſiſchen Krieg wurden ein - ſtimmig bewilligt; und wenn es dem Parlamente je ein - fallen ſollte, Gelder zur Verſtärkung des Heeres oder der Flotte zu verweigern, ſo würde das Volk einmütig dagegen aufſtehen. Um des Vaterlandes willen iſt jedes Mittel erlaubt. Was das Vaterland groß macht, iſt recht. Wäre der chineſiſche Krieg ganz und gar an den Haaren herbeigezogen geweſen, das Volk, von den Buddhiſten bis zu den Chriſten, hätte ihn doch für einen gerechten erklärt. Wo das Vaterland in das Spiel kommt, hört jedes Gerechtigkeitsgefühl und jede Selbſterkenntnis auf. Spionage und Verrat, Gift und Dolch, Raub und Mord werden in ſeinem Dienſt geheiligt. Macchiavellis Grundſätze, wie er ſie in ſeinem jeſuitenwürdigen Buche „ El Principe “entwickelt hat, ſind hier zur That ge -160 worden. Im Jahre 1889 wurde der damalige Unter - richtsminiſter Mori, der ſtarke ausländiſche Sympathien hatte und unter anderm den allerdings etwas verrückten Vorſchlag gemacht hatte, die ſchwere japaniſche Sprache durch die engliſche Weltſprache zu erſetzen, von einem fanatiſchen Patrioten ermordet. Mori hatte beim Be - treten des berühmten Shintotempels Daijingū in der Provinz Iſe die Mahnung nicht beachtet: „ Ziehe deine Schuhe aus; denn der Ort, darauf du ſteheſt, iſt heiliges Land “, und in dem Innern des Tempels hatte er mit ſeinem Spazierſtocke den Vorhang vor dem Aller - heiligſten zurückgeſchlagen. Das war in den Augen des Volkes eine Mißachtung der geheiligten vater - ländiſchen Sitte, die nach der Empfindung patriotiſcher Zeloten nur durch Blut geſühnt werden konnte. Um nicht in die Hände der Polizei zu fallen, entleibte ſich der Mörder unmittelbar nach ſeiner That. Das Grab Moris, der trotz einiger Schrullen einer der verdienſt - vollſten japaniſchen Staatsmänner war, lag vom erſten Tage an verlaſſen. Zu der Ruheſtätte des Mörders aber wallfahrteten jährlich Tauſende guter Japaner, bedeckten das Grab mit Blumen, zündeten Weihrauch - kerzen an, ſchmückten es mit Preisgedichten und fühlten ſich glücklich, ein paar Krumen geweihter Erde von demſelben mit nach Hauſe zu nehmen. Der Fanatiker des Japanertums iſt zum Märtyrer des Japanertums, zum Nationalheiligen geworden.
Der Japaner iſt geneigt nicht nur zum politiſchen Chauvinismus, ſondern zum politiſchen Fanatismus. Politiſche Attentate ſind daher keine Seltenheit. Als ſolche müſſen auch die Mordanfälle auf den chineſiſchen Friedensgeſandten Li Hung Chang im März 1895 und auf den damaligen ruſſiſchen Thronfolger und jetzigen161 Zaren Nikolaus im Frühjahr 1891 bezeichnet werden. Es iſt mir noch in lebhafter Erinnerung, wie ich eines Vormittags von der Schule nach Hauſe kam und in meinem Vorzimmer mehrere junge japaniſche Freunde fand, die bleich und aufgeregt mich erwartet hatten. Vor ihnen lag ein Extrablatt, und ehe ich ſie nur fragen konnte, was denn geſchehen ſei, teilten ſie mir in furcht - barer Erregtheit mit, der ruſſiſche Thronfolger, der Gaſt des Kaiſers, ſei bei Otſu auf einer Spazierfahrt von Kioto nach dem Biwaſee verwundet worden. „ Ein Ver - rückter hat’s gethan “, ſchrieben die Zeitungen „ ein Ver - rückter hat’s gethan “, ſagte auch ich zu einem deutſchen Freund, den ich am Nachmittag traf. Und was erhielt ich von dieſem zur Antwort? „ Ich habe heute Mittag mit meinem Koch über die Sache geredet “, ſagte er. „ Derſelbe meinte: Einen ruſſiſchen Spion zu töten, der gekommen ſei, das Land auszukundſchaften, ſei nicht mehr als recht; er hätte es gerade ſo gemacht. “ Später überzeugte ich mich davon, daß Tauſende im Lande ſo dachten, und Tauſende ſahen in dem irregeleiteten Po - liziſten, der nachher zu lebenslänglicher Zwangsarbeit verurteilt wurde, unterdeſſen aber geſtorben ſein ſoll, einen verehrungswürdigen nationalen Märtyrer. Die That hatte nichts zu thun mit Geſchichten zum Teil recht abenteuerlicher Natur, welche die geſchäftige Fama damals verbreitete; ſie war aus politiſchem Fanatismus entſprungen. Und dasſelbe gilt von dem Mordverſuch auf Li Hung Chang.
Die Hauptſchuld an derartigen Vorkommniſſen trägt die Preſſe. Das Zeitungsweſen iſt noch ſehr neuen Datums. Die erſte Zeitung wurde im Jahre 1872 von einem Engländer in Tokyo herausgegeben. Heute aber ſind es wohl gegen tauſend Zeitungen,11162Zeitſchriften und andere Publikationen dieſer Art, welche in Japan veröffentlicht und von dem leſeluſtigen und neuigkeitsſüchtigen Volk gierig verſchlungen werden. Aus den Kinderſchuhen iſt alſo die Preſſe raſch heraus - gewachſen; dagegen darf man dreiſt behaupten, daß ſie noch tief in ihren Flegeljahren ſteckt, und man kann es der Regierung nicht verdenken, wenn ſie von ihrem Recht der Cenſur jeder Zeit reichlich Gebrauch gemacht hat; manchmal allerdings erſt, wenn es zu ſpät war. Einen weſentlichen Beſtandteil ihrer Aufgabe erblickt die Preſſe darin, den patriotiſchen Fanatismus zum lodernden Feuer zu entfachen, deſſen Flammen natur - gemäß mit Vorliebe nach den Fremden züngeln. Die Parole, welche bei Gelegenheit der Verkündigung der Konſtitution im Jahre 1889 in das Volk geworfen wurde, und welche wohl für lange Zeit nicht wieder zur Ruhe kommen wird: „ Japan für die Japaner “, wobei natürlich im ſtillen zu ergänzen iſt: „ Und gegen die Fremden “, hat durch die Preſſe eifrige Förderung gefunden und eine das ganze Volk tief durchdringende Bedeutung gewonnen.
Die Preſſe hat einen ungeheuren Einfluß, und ſie trägt das ihre dazu bei, die Politik in Japan heimiſch zu machen und heimiſch zu erhalten. Dieſe ſpielt dort eine ähnliche centrale Rolle wie im alten Griechenland, und der weiſe Plato müßte an einem Volke wie die Japaner ſeine helle Freude haben. Wenn irgendwo in einem modernen Staat, ſo wäre hier das rechte Verſuchsfeld für ihn. Um der Politik willen verlaſſen Profeſſoren ihre Katheder und chriſtliche Prediger ihre Kanzeln. Am Volksganzen zu arbeiten iſt das höchſte Ideal. Zu einer Zeit, wo ich in das innere Leben der Japaner noch wenig hineingeſchaut hatte, fragte163 ich einen jungen Mann, einen Chriſten, was er werden wolle. „ Ein großer Staatsmann wie Ito “, war die verblüffende Antwort. Japans Staatsmänner von heute haben ſich faſt alle aus einfachen Samuraiverhältniſſen emporgeſchwungen; warum, ſo denken die jungen Leute, ſoll das uns nicht auch gelingen? Mein chriſtlicher Freund iſt heute Evangeliſt in einer Stadt Central - japans. Er hat einen ſchweren, aber ſchönen Wirkungs - kreis; er hat ein auskömmliches Gehalt, und Frau und Kind ſchaffen ihm eine ſchöne Häuslichkeit. Er braucht heute ſeinen ſtolzen Plänen nicht mehr nachzuweinen und darf froh ſein, daß ihm das Los ſo lieblich ge - fallen iſt. Denn nicht allen wird es ſo gut; viele fühlen ſich berufen, aber wenige nur ſind auserwählt. Weit - aus die meiſten ſinken zu ſogenannten Soſhi herab, zu politiſchen Parteigängern, welche im Dienſte einer Perſönlichkeit oder einer Partei oder der Regierung ſelbſt die Politik mit Fauſtſchlägen, Knütteln und Schwertern machen.
Die Soſhi ſind eine japaniſche Eigentümlichkeit, verkrachte Exiſtenzen, die nichts zu verlieren haben. In gewiſſem Sinne dürfen ſie die Anarchiſten Japans genannt werden. Die Fremden thun gut daran, ihnen aus dem Wege zu gehen. Ihre Ausrottung iſt bis heute noch nicht gelungen. Es giebt freilich nicht wenige Leute, welche behaupten, es ſei der Regierung nicht ernſt mit ihrer Vernichtung, da ſie ſelbſt manchmal in die Lage komme, ſich ihrer zu bedienen.
Die Soſhi ſind auch die Demagogen, welche die Politik in die Maſſen hineintragen. Die politiſche Agitation iſt bedeutender als in unſern Landen. Im Lohndienſt der Parteien ziehen die Soſhi im Lande umher zu politiſchen Verſammlungen, und auch an dem11*164abgelegenſten Örtchen gehen ſie nicht vorüber. Ich hielt mich einmal zur Zeit des Hochſommers teils zu Sprachſtudien, teils zur Erholung in einem abgelegenen Fiſcherdorf an der See auf. Neben meiner Wohnung war der Tempel des Dorfes, und mit dem buddhiſtiſchen Prieſter war ich perſönlich bekannt geworden. Eines Abends lud er mich ein, mit ihm zum nächſten Dorfe, einem verlorenen Neſte von ungefähr dreihundert Seelen, zu gehen: Dort finde eine politiſche Vortragsverſamm - lung der radikalen Partei ſtatt. Ich ging mit ihm. In dem Dorfe hatte er einen guten Freund, den Doktor des Ortes. In Japan ſitzt ein Doktor in jedem Ort; dieſer war übrigens einer, dem ich mich nicht anvertraut hätte, denn ſeine Heilmethode war noch die alte chine - ſiſche mit einem bißchen holländiſcher Anatomie. Der Doktor war gerade bei dem Abendeſſen und hatte — was eine Ausnahme iſt — dem Saké, dem Reisſchnaps, etwas reichlich zugeſprochen. Er lud uns ein mitzu - eſſen, aber der Reis mit rohem Fiſch und übelriechen - den eingemachten Rüben war mir doch zu wenig ver - lockend. Wir begnügten uns mit einem Schälchen Saké; denn ganz abſchlagen darf man nicht, da man ſonſt beleidigt. Schließlich kamen wir verſpätet zum Ver - ſammlungslokal, dem Theehaus des Ortes. Die niedrige rauchige Stube mit dem Feuerplatz in der Mitte, ſpär - lich erhellt von zwei elenden Lämpchen, war ſchon dicht beſetzt. Nur mit Mühe konnten wir noch ein Plätzchen finden, um uns gleich den andern auf den Boden nieder - zulaſſen. Die Bauern ſchauten mich verwundert an; denn daß ein Fremder eine japaniſche politiſche Ver - ſammlung beſucht, iſt ſelbſt in Tokyo unerhört, geſchweige denn im Innern des Landes. Die beiden Redner, zwei Soſhi von Yokohama, hatten ſechs Themata bekannt165 gegeben, über welche ſie im ganzen etwa zweiundeine - halbe Stunde lang ſprachen. Der jüngere, ein Burſche von zwanzig und einigen Jahren, ſah ſich durch meine Anweſenheit veranlaßt, recht ausfällig zu werden. „ Da bekurt man überall die Fremden “, meinte er. „ Da heißt es geehrter Herr Barbar hinten und geehrter Herr Barbar vorn. Da macht man die tiefſten Ver - beugungen vor den Herren aus dem Weſten. Aber wahrlich, freie Bürger von Großjapan haben das nicht nötig! Iſt nicht Großjapan die größte Nation der Welt? “ Ich geſtehe es gern, mir war nicht wohl dabei zu Mute. Die Bauern aber empfanden ſolche Reden als eine große Unhöflichkeit gegen mich, ſchüttelten miß - billigend die Köpfe und ſahen mich dann freundlich lächelnd an. Der Doktor aber, der mich als ſeinen Gaſt betrachtete, war über ſolche Roheit tief ergrimmt, und der genoſſene Saké that noch ein Übriges, ſein Blut in Wallung zu bringen. Die Verſammlung nahte ſich zum Ende, da ſprang er auf und fing mit den beiden Soſhi Händel an, da ſie des Kaiſers geheiligte Perſon angegriffen hätten. Ich hatte die Vorträge genau verfolgt und wußte, daß das nicht der Fall war. Dem Doktor aber war es nur um einen Vorwand zu thun, und was er wollte, gelang ihm: Überraſchend ſchnell ſah ich eng verſchlungen ein paar Geſtalten am Boden ſich wälzen und aufeinander losſchlagen — das erſte und einzige Mal, daß ich in Japan eine ſolche Skandalſcene ſah. Jetzt ward es mir unheimlich. Das Abenteuerliche der ganzen Situation — ein chriſtlicher Miſſionar an der Seite eines buddhiſtiſchen Prieſters unter dem Schutze eines angetrunkenen Quackſalbers in einem Bauerndorf im Innern Japans in einer von Soſhi berufenen politiſchen Verſammlung! — kam mir166 ſcharf und unbehaglich zum Bewußtſein. Raſch ſprang ich auf, dem Ausgang zu. Meine ganze Not waren jetzt meine Schuhe. Die hatte ich der Sitte gemäß beim Eintritt ausgezogen und auf dem Flur gelaſſen. Zum Glück fand ich ſie leicht und lief nun, was ich konnte, um aus dem Dorf hinauszukommen. Es war ſtockdunkel, und der Weg war ſchlecht. Da hörte ich plötzlich jemand hinter mir rufen: „ Kimi, kimi “, „ Kolleg, Kolleg “! Es war mein buddhiſtiſcher Stief - kolleg, und beruhigt trabte ich mit ihm unſerm Dorfe zu. Übrigens will ich noch, weil es nun einmal charakte - riſtiſch iſt, hinzufügen, daß der Doktor am nächſten Nachmittag mit zerknirſchter Miene zu mir kam und mich höflichſt um Entſchuldigung für ſeine „ Roheit “bat. Auch mein geiſtlicher Nachbar war mitgekommen, und da er nun einmal ein eingebildeter Prahlhans war, ſo fing er ſofort zu renommieren an, er habe mich am Abend zuvor gerettet!
Der Japaner iſt früh reif. Bei keinem Volk der Erde trifft das Wort mehr zu: „ Schnellfertig iſt die Jugend mit dem Wort “. Seine Frühreife und Schnell - fertigkeit äußert ſich auf allen Gebieten des Lebens und des Wiſſens, nirgends aber ſo ſehr wie auf dem Gebiete der Politik. Der zwölfjährige Knabe fängt allen Ernſtes zu politiſieren an. Große Staatsmänner wie Ōkuma ſind Inhaber von Schulen, in welchen ſie den politiſchen Sinn direkt und indirekt gefliſſentlich fördern, um ſich aus dem jungen Geſchlecht Anhänger groß zu ziehen. Kein Land hat ſolche Scharen politiſierender Burſchen aufzuweiſen wie Japan. Da ſind Leute, die als Zeitungsſchreiber, Politiker und Redner einen Ruf haben, man hat ihre Namen oft in der Zeitung geleſen, und man verbindet mit ihnen ehrfürchtige Vorſtellungen. 167Wenn man ſie aber zufällig einmal kennen lernt, ſo ſieht man zu ſeinem Erſtaunen junge Leute, unter deren Naſe ein noch unbeſtimmbarer Flaum dunkel auf die Möglichkeit eines zukünftigen Schnurrbarts hindeutet. Der deutſche Jüngling wagt es kaum, politiſche Anſichten zu haben; der japaniſche aber iſt kühn genug, die ſeinigen zum Gegenſtand öffentlicher Reden oder großer Leit - artikel zu machen, und mit dem größten Ernſt, wie ihn nur eine ungeheure Selbſtſchätzung erzeugen kann, weiß - haarigen Staatsmännern Vorleſungen über auswärtige Politik zu halten. Ich habe auf der Tribüne des deutſchen Reichstags geſeſſen, und was mir bei dem Blick hinab auffiel, war die große Anzahl halber oder ganzer Kahlköpfe. Ich ſaß auch auf der Tribüne des japaniſchen Parlaments; aber nach Kahlköpfen oder auch nur nach grauhaarigen Abgeordneten habe ich mich hier vergeblich umgeſehen.
So finden wir hier und da Dinge im politiſchen Leben, die wir als Mängel und Auswüchſe bezeichnen müſſen. Aber wie dem auch ſein mag, der politiſch - patriotiſche Sinn als ſolcher bleibt beſtehen, ein Gemeinſinn, wie er ſich unter den Völkern der Erde kaum noch zum zweitenmal wiederfindet. Wir be - gegnen hier wiederum dem beherrſchenden Einfluß des Konfuzius, welcher, neben dem Familienſinn „ kō “und aus ihm patriarchaliſch herauswachſend, den Gemeinſinn „ chū “als zweites, in ſeinen Wirkungen geradezu reli - giöſes Dogma aufſtellte. Im Beſitze dieſer Tugend ſind die Japaner als Volk groß, und werden es auch in Zu - kunft ſein.
Japan iſt eine konſtitutionelle Monarchie in dem - ſelben Sinne wie Preußen. Thatſächlich liegt der ja - paniſchen Verfaſſung die preußiſche zu Grunde. Es168 hat ein Abgeordnetenhaus und ein Herrenhaus. Es iſt heute keine Militärdespotie mehr wie noch vor dreißig und einigen Jahren unter der Herrſchaft der Schogune. Wobei man ſich aber die Zeit des Feudalismus nicht ſchlechthin als eine Schreckensherrſchaft vorſtellen darf. Die Schogune, von dem erſten, Yoritomo, bis zu dem letzten, Tokugawa Hitotſubaſchi, waren allzeit bemüht, das Land in Ruhe und Ordnung zu regieren, und den meiſten iſt es gelungen. Wie das deutſche Mittelalter beſondere Tugenden hervorgebracht hat, ſo hat der ja - paniſche Feudalismus die Tugenden der Vaſallentreue und Ritterlichkeit zu hoher Blüte entwickelt. Alſo auch die ſieben Jahrhunderte des Schogunats hatten ihren Idealismus. Ob die Tugenden des Feudalismus in der neuen Zeit ſtandhalten werden?
Niemand ſehnt ſich heute nach dem Feudalismus zurück, ſelbſt nicht der jetzt noch lebende letzte der Scho - gune, der in der Provinzialſtadt Shizuoka als fried - licher Privatmann einem beſchaulichen Leben obliegt. Der heutige Japaner hat ein ungemein ſtarkes Gefühl für das, was jener Zeit fehlte, was aber das Haupt - merkmal eines civiliſierten Staates ausmacht: Gleiches Recht für alle. Noch beſtand das Kaſtenweſen, und während die Angehörigen des Kriegerſtandes, die Sa - murai, in vielen Dingen über dem Geſetze ſtanden, waren die Glieder der verworfenen Kaſte der Eta, die japaniſchen Paria, thatſächlich rechtlos. Daß die ganze höhere Bildung der Feudalzeit ein ausſchließliches Vor - recht des Samuraiſtandes war, wurde ſchon erwähnt. Schon äußerlich durch das Tragen von zwei Schwertern169 ausgezeichnet, beſaß der Samurai eine Ausnahmeſtellung, wie ſie in dem Sprichwort trefflich gekennzeichnet wird: „ Wie die Kirſchblüte die Krone der Blumen, ſo iſt der Samurai die Krone der Menſchen “. In früheren Zeiten konnte es wohl vorkommen, das ein Samurai an einem verborgenen Ort ſich aufſtellte, um an harmlos dahin - wandelnden Leuten aus dem Volk ſein neues Schwert zu probieren, ob es auch ſcharf genug ſei, um mit einem Streich einen Menſchen durchzuſchneiden. Damals gehörte es auch nicht zu den Seltenheiten, daß der Herrſcher einem mißliebig gewordenen Hofmann oder Samurai ein Schwert, und zwar je nach dem Rang ſogar ein ſehr koſtbares Schwert, zuſandte, damit er mittels desſelben Harakiri begehen ſollte. Einen Aus - weg gab es dabei nicht, und der Verurteilte ſelbſt ſuchte auch keinen, ſo daß die Geſchichte von dem japaniſchen Edelmann, welcher mit einem ſolchen brillantenbeſetzten Schwert nach Paris entfloh, wo ihn der Verkauf der Waffe in die Lage verſetzte, herrlich und in Freuden leben zu können, als eine ſchöne Legende bezeichnet werden muß.
Dieſe mehr als zweifelhafte Romantik hat jetzt ein Ende. Heute giebt es keine Rechtloſen im Staate mehr. Die Kaſten ſind ſeit 1871 aufgehoben, und jeder - mann genießt den Schutz des Geſetzes. Verbrechen wider das Leben ſind kaum ſo häufig als in unſerem chriſtlichen Deutſchland, und während der ganzen Dauer meines japaniſchen Aufenthalts habe ich nie eine Waffe beſeſſen.
An der Spitze des Staats ſteht der Kaiſer. Der Name Mikado, welcher merkwürdigerweiſe mit der Be - zeichnung der höchſten Gewalt in der Türkei zuſammen - trifft — Mikado bedeutet „ Hohe Pforte “—, iſt längſt170 veraltet. Der Japaner nennt ſeinen Kaiſer tennō, „ Himm - liſcher König “oder tenchi, „ Sohn des Himmels. “ Iſt er doch nach der Mythologie ein Nachkomme der Sonnengöttin. Das Herrſcherhaus iſt nachweisbar das älteſte unter den regierenden Fürſtengeſchlechtern der Erde. Denn wenn auch ſein Urſprung von dem Götter - ſohn Jimmu Tennō, welcher um das Jahr 660 v. Chr. als erſter den Thron beſtiegen haben ſoll, eine Sage iſt, und wenn auch die Zählung des gegewärtigen Kaiſers als des 121. auf dem Thron nicht ganz ſtimmen mag, ſo hat doch die Dynaſtie nachweisbar ſchon zu der Zeit beſtanden, wo das ſagenumwobene Altertum erkennbar in das Licht der Geſchichte tritt, alſo mindeſtens ſeit dem fünften Jahrhundert nach Chriſtus. Wollte der japaniſche Kronprinz ſich ſeine Frau aus einem euro - päiſchen Fürſtenhauſe holen, — und im Volke ſprach man oft davon, wenn auch im Grunde nicht entfernt daran zu denken iſt —, ſo müßte es ſich jede Prinzeſſin zur hohen Ehre anrechnen, ihren Platz zu finden in der älteſten Ahnengallerie der Welt und unter die Zahl dieſer ſchlitzäugigen Götter und Göttinnen aufgenommen zu werden. In Wirklichkeit aber vermochte ſich die Dynaſtie nur dadurch zu erhalten, daß fortwährend mangels erbberechtigter Nachkommenſchaft Adoptionen ſtattfanden, und daß der Kaiſer ſtets eine größere An - zahl von Frauen hatte. Der jetzige Herrſcher beſitzt deren zwölf, und der Kronprinz iſt nicht ein Sohn der wirklichen Kaiſerin, ſondern einer kaiſerlichen Nebenfrau. Doch haben die Geſetzgeber dem Geiſte des Kulturfort - ſchrittes inſofern Rechnung getragen, als in Zukunft die Erbfolge an die legitime männliche Nachkommenſchaft von Kaiſer und Kaiſerin geknüpft iſt.
Die weltliche Machtſtellung des Kaiſers entſpricht171 heute ſo wenig wie in der Vergangenheit ſeiner gött - lichen Abſtammung. In der Zeit als Karl Martell den letzten Merovinger in das Kloſter ſchickte, um ſelbſt die Zügel der Regierung in ſeine kräftige Hand zu nehmen, ſetzte der japaniſche Generaliſſimus den Kaiſer gefangen hinter die Wände ſeines Palaſtes in Kyoto, um ſelbſt die Macht der Regierung an ſich zu reißen. Vorläufig blieb dieſer Zuſtand proviſoriſch, bis ihn Yoritomo zu einem geſetzlichen machte. Man redete dem Volke ein, der Kaiſer ſei zu hehr und heilig, um ſich ſelbſt mit den Geſchäften der Regierung zu befaſſen und ſein heiliges Angeſicht dem gemeinen Volke zu zeigen. Jeder neue Schogun holte von dem Kaiſer formell ſeine Beſtätigung ein; aber das war eine dem kaiſertreuen Volk gegenüber geſpielte Farce und weiter nichts. Unterdeſſen blieb der Sohn des Himmels in der Gefangenſchaft, während im Lande nacheinander die Familien der Fujiwara, der Taira, der Minamoto, und als die beiden bedeutendſten die der Hōjō und der Tokugawa herrſchten. Erſt mit der Reſtauration von 1867 / 68 öffneten ſich ihm die Thore des Schloſſes, der Schogun wurde nach einigen unglücklichen Kämpfen zur Abdankung genötigt und die glorreiche Periode Meiji begann.
Aber auch jetzt noch lebte er in ſtrenger Abgeſchieden - heit von dem Volk. Wohl fuhr er zuweilen aus, aber immer noch im geſchloſſenen Wagen1)Bei ſeinen Ausfahrten müſſen in allen Straßen, durch welche er kommt, in den höher gelegenen Stockwerken die Amato „ Holzſchiebeläden “vorgemacht werden, da es „ deſpektierlich “wäre, wenn ein Unterthan auf den Erhabenen „ herabſchaute “., und die Polizei ſorgte dafür, daß ihn möglichſt wenige profane Augen erſpähten. Aber dieſe Verfahrungsweiſe erwies ſich auf172 die Dauer als unhaltbar. Dem Kaiſer war jede Ge - legenheit genommen, auf ſein Volk einen perſönlichen Einfluß auszuüben und den Herzen ſeiner Unterthanen näher zu treten. Der durch die Berührungen mit Eng - land und Amerika wach gerufene demokratiſche Geiſt wurde immer ſtärker, das monarchiſche Bewußtſein wurde mehr und mehr geſchwächt. Über manchen japaniſchen Jünglings Angeſicht ſah ich ſchon ein recht ſkeptiſches Lächeln gleiten, wenn von dem Kaiſer die Rede war. Prozeſſe, welche in der alten Welt Jahr - hunderte brauchten, ſah man hier innerhalb eines Jahr - zehntes wie auf einer Schaubühne vor den eigenen Augen ſich abwickeln. Im Anfang der neunziger Jahre hatte es das Anſehen, als ſteure Japan mit Rieſen - geſchwindigkeit einer Republik nach dem Muſter der ſüdamerikaniſchen entgegen. Da brach gerade zur rechten Zeit der Krieg mit China aus, und dieſe Gelegenheit benutzten die japaniſchen Staatsmänner, um die Mon - archie wieder auf feſten Grund zu ſtellen. Sie veran - laßten den Kaiſer, nach dem Hauptquartier zu gehen, und nun erſchienen täglich Notizen in den Zeitungen über die anſpruchsloſe Lebensweiſe des Kaiſers, der alle Entbehrungen ſeiner Soldaten zu teilen wünſche, über ſeine hingebende Aufopferung und anderes mehr. Der Kaiſer erſchien mit einem Male als der treubeſorgte Vater ſeiner Unterthanen, und mit einem Schlag wurde er populär. Bei ſeiner Rückkehr aus dem Hauptquartier geſchah es zum erſtenmal, daß er im offenen Wagen durch die Straßen von Tokyo fuhr im Angeſichte ſeines getreuen Volkes. Wozu die Idee des Mikadotums ſich unkräftig erwieſen hatte, der Perſon des Herrſchers war es gelungen: Nun lebt er wieder in den Herzen ſeiner Unterthanen. Wohl huldigen die herrſchenden Parteien173 nach wie vor engliſch-demokratiſchen Tendenzen; aber noch viel weniger, als in England Gefahr für den Thron beſteht, denkt man in Japan daran, den Kaiſer abzuſetzen.
Man darf ſich nicht dem Glauben hingeben, daß der Kaiſer ſelbſt der Urheber der gewaltigen Reformen der letzten Jahrzehnte ſei. Bei einem Herrſcher, der gleich Dutzenden ſeiner Vorgänger nur auf einen Schatten - kaiſer hin erzogen iſt, iſt das kaum zu erwarten. Was in europäiſchen Zeitungen manchmal geſchrieben ſteht über die hohe Intelligenz und Weisheit des japaniſchen Kaiſerpaares, muß mit Vorſicht aufgenommen werden. Der Kaiſer iſt kein Wilhelm I. und die Kaiſerin, wenn ſie auch einige einunddreißigſilbige, von dem Volk ge - bührend bewunderte Gedichte gemacht hat und hier und da die adelige Mädchenſchule und die Verſammlungen des Roten Kreuzes mit ihrem Beſuche beehrt, iſt doch keine Königin Luiſe. Die Wahrheit dürfte ſein, daß die japaniſchen Staatsmänner, Ito und Inouye, Yama - gata, Matſukata und Itagaki, welche ſich wirklich durch Weisheit auszeichnen, die Perſon des Kaiſers als Schild benutzen, wenn auch durchaus nicht mißbrauchen, um unter demſelben ihre eigenen hohen und weitſichtigen Pläne durchzuführen. Dieſe haben mit Hilfe der fremden Ratgeber, deren Werk nicht unterſchätzt werden darf, das neue Japan geſchaffen und den modernen japaniſchen Staat gemacht. Dieſe beiden Faktoren zuſammen haben die europäiſche Staatsmaſchine nach Japan hinübergebracht.
Zwar ein lebendiger Organismus, der aus dem Innerſten des Volkes geboren iſt und durch ſeine innerſten Überzeugungen getragen wird, iſt die Maſchine noch nicht geworden. Sie iſt Maſchine geblieben; aber — und das iſt vorläufig die Hauptſache — ſie geht und hat nun Zeit genug, in das Innere des Volkes hinein -174 zuwachſen. Die europäiſchen Ratgeber bei der japaniſchen Regierung verſichern, daß es in der Verwaltung viel ſauberer und reinlicher zugehe als beiſpielsweiſe in den Vereinigten Staaten Amerikas und in den romaniſchen Staaten Europas, von dem kranken Mann am Goldenen Horn nicht zu reden.
Die Finanzwirtſchaft1)Vergl. Rathgens gediegene Arbeit: Japans Volkswirt - ſchaft und Staatshaushalt. braucht das Tageslicht nicht zu ſcheuen. Zwar giebt es auch hier Miniſter, welche im Amte reich geworden ſind. Aber direkte Verun - treuungen und ſyſtematiſche Ausbeutung können der Regierung nicht entfernt vorgeworfen werden. Die Finanzverwaltung iſt äußerſt ſparſam, und wenn auch die neue Zeit mit ihren großen Anforderungen beſonders von ſeiten des Militarismus große Opfer erfordert, ſo ſind die Beamten dabei die letzten, die ſich zurückſtellen. Das Beiſpiel, welches der Kaiſer auf den Rat ſeiner Miniſter vor einigen Jahren gab, indem er die von dem Parlament zum Bau von Kriegsſchiffen verweigerten Mittel dadurch beſchaffte, daß er bis zur Deckung der Koſten ein Zehntel ſämtlicher Beamtengehälter, von ſeiner eigenen Civilliſte beginnend, bis hinab zu den Polizeidienern, abziehen ließ, dürfte in der Geſchichte der Neuzeit einzig daſtehen. Am meiſten durch Steuern belaſtet iſt der Grund und Boden. Das iſt um ſo mehr zu bedauern, als der Bauernſtand in keineswegs glän - zenden Verhältniſſen lebt. Der Zinsfuß iſt außer - ordentlich hoch. Unter zehn bis fünfzehn Prozent be - kommt der Bauer kein Darlehen. Kleine Schulden wachſen daher ſehr raſch an, und die Folge iſt, daß durch eine einzige Mißernte Hunderte von bäuerlichen Exiſten - zen trotz der kärglichſten Genügſamkeit im Verlaufe175 weniger Jahre verderben. Im Bauernſtand aber ſteckt die phyſiſche Kraft des Volkes, und die Regierung wird gut thun, alle Mittel anzuwenden, um dieſen Stand vor dem Ruin zu bewahren1)Vergl. L. Lönholm „ Japans moderne Civiliſation “, ein Büchlein, welches in gedrängter Kürze eine treffliche Überſicht über Japans äußere Kulturfortſchritte giebt..
Der Richterſtand zeichnet ſich durch große Unbeſtech - lichkeit aus. Das Beamtentum iſt im allgemeinen zu - verläſſig. Es ſetzt ſich faſt ausſchließlich aus Gliedern ehemaliger Samuraifamilien zuſammen, die eben doch gemäß ihrer jahrhundertelangen Erziehung der Kern und die Seele des Volkes und ſo auch die treibende Kraft des modernen Japans ſind. Mit dem Beginn der Reſtauration aus ihren alten Dienſtverhältniſſen als Gefolgsleute der Daimyo entlaſſen und gewiſſer - maßen als Bettler auf die Straße geworfen, haben ſie ſich bewundernswert in die neuen Verhältniſſe hinein - gefunden; und wenn es früher im Sprichwort von ihnen hieß: „ Die Seele des Samurai iſt ſein Schwert “, ſo haben ſie heute das Schwert mit der Feder oder viel - mehr, da man in Japan nicht mit Federn ſchreibt, mit dem Pinſel vertauſcht und ſind ebenſo wackere Beamte und Gelehrten geworden, wie ſie früher Krieger geweſen ſind. Nur allmählich ziehen ſich auch die Söhne der andern Kaſten in Beamtenſtellungen nach.
Als ein Mangel muß es bezeichnet werden, daß der amerikaniſche Uſus der Stellenbeſetzung noch in weitem Umfange beſteht. Die Reſtauration wurde haupt - ſächlich durch die Fürſten und Soldaten der Provinzen Satſuma und Choſhu durchgeſetzt, und ſeitdem betrachten dieſe beiden hochbegabten Clans die Verwaltung des neuen Reichs als ein Gebiet, auf welches ſie die erſte176 Anwartſchaft haben. Die meiſten hervorragenden Stel - lungen befinden ſich immer noch in den Händen von Satſuma - und Choſhuleuten. Das bildet aber einen Hauptanſtoß für das Parlament, das mit der Regierung auf Kriegsfuß ſteht. Von der radikalen Fortſchritts - partei „ Kaiſchin-to “, an deren Spitze Graf Ōkuma ſteht, iſt es nicht zu viel geſagt, daß ſie Oppoſition um der Oppoſition willen macht. Dagegen ſind die beiden andern großen Parteien, die gemäßigt liberale „ Jiū-to “unter Graf Itagakis Führung und die kon - ſervative „ Kokumin-Kyokwai “unter Viscount Shina - gawa, je nach der Zuſammenſetzung des Miniſteriums für dieſes zu haben1)Gegenwärtig iſt Graf Okuma Miniſterpräſident, was wohl das Ende der Clanherrſchaft bedeutet.. Die Clanherrſchaft iſt nicht der einzige ſtrittige Punkt zwiſchen Regierung und Abge - ordnetenhaus. Der Hauptkampf geht um die Par - lamentsherrſchaft, welche das Abgeordnetenhaus an - ſtrebt. Die Miniſter ſollen nicht mehr, wie bisher, dem Kaiſer allein verantwortlich ſein, ſondern dem Parlament. Wenn es auf den Reichstag ankäme, ſo würde auch das jetzige beſchränkte Wahlrecht, bei welchem nur wenig über ein Prozent der Geſamtbe - völkerung zur Stimmabgabe berechtigt iſt, in ein allge - meines Wahlrecht umgeändert werden. Die Aufgabe der Regierung gegenüber dem Parlament kann nach deutſchen Begriffen nur die ſein, zu zügeln.
Das Parlament beſteht aus dreihundert Mitgliedern, welche jährlich je 800 Yen d. h. etwa 1800 Mark Diäten erhalten. Als es im Jahre 1890 zum erſten Male ein - berufen wurde, ſagten ihm viele Ausländer eine kurze Lebensdauer voraus. Es war in einem der erſten Monate ſeines Beſtehens, als mich mein Kollege S.,177 der ſich Eintrittskarten verſchafft hatte, einlud, mit ihm einer Sitzung beizuwohnen. Ich kannte mich damals noch nicht gut aus, und S. übernahm die Führung. Wir fuhren in unſern Jinrikſha eine halbe Stunde lang durch die Straßen von Tokyo und kamen ſchließlich an einen großen Häuſerkomplex, der in vollen Flammen ſtand. Der Anblick machte ſchon damals keinen Eindruck mehr auf mich, da ich große Brände ſchon einige Male geſehen hatte. Wir fuhren um die Brand - ſtätte herum, und allmählich merkte ich, daß wir uns wieder auf dem Heimwege befanden. Ich fragte S. nach der Urſache. „ Nun “, ſagte er, „ das Parlament brennt ja eben ab “. So war es. Die radikalen Parteien beſchuldigten die Regierung, dieſelbe habe die Gebäude anſtecken laſſen, um die ſie kompromittierenden Akten los zu werden. Die Regierung aber gab die Beſchuldigung zurück. Bei dieſem allgemeinen Durch - einander ſah es in der That aus, als ſei der Verſuch einer konſtitutionellen Regierung als geſcheitert zu be - trachten, zumal als das Parlament mehrmals nach ein - ander aufgelöſt und jedesmal unter bedeutender Nach - hilfe der Knüttel und Fäuſte der Soſhi wieder gewählt worden war. Daß aber trotzdem die Verfaſſung damals nicht auseinander fiel, iſt dem ſehr ſtarken Mechanismus der Staatsmaſchine zu verdanken, wie ihn ein groß - artiges Organiſationstalent in einander gefügt hatte.
Die Japaner ſind organiſatoriſch hervorragend veranlagt. Wenn der letzte Krieg mit China auch nach vieler Leute Anſicht die rechte Feuerprobe für Japan noch nicht geweſen iſt, ſo ſteht doch eines ſeitdem feſt: Die vortreffliche Organiſation, das In - und Miteinander - arbeiten aller großen und kleinen Räder der japaniſchen Maſchine. Auch im kleinen und kleinſten iſt das orga -12178niſatoriſche Geſchick unverkennbar. Die Siegesfeſte während des chineſiſchen Krieges waren in der Regel von ſehr kurzer Hand vorbereitet, und doch nahmen ſie ſtets einen gelungenen Verlauf. Auch auf kirchlichem Gebiet, in der Verwaltung einzelner chriſtlicher Ge - meinden und ganzer Kirchen, zeigt ſich ihr großes Geſchick.
Bei dieſem ihrem organiſatoriſchen Talent iſt es nicht zu verwundern, daß ſie auf dem Gebiete des Verkehrsweſens Ausgezeichnetes leiſten. Ihre Dampfer - linien ſtehen auf der Höhe der Zeit und werden auch von europäiſchen Paſſagieren mit Vorliebe benutzt. Ein Netz von Eiſenbahnen zieht ſich allmählich über das ganze Land, und da die Japaner ein reiſeluſtiges Volk ſind, ſo rentieren ſie trotz ſehr mäßiger Fahrpreiſe ſehr gut, wenn auch mit Bezug auf Geſchwindigkeit noch vieles zu wünſchen übrig bleibt. Wir Deutſche ſind ſtolz auf Poſt und Telegraph; in Japan war ich damit in keiner Weiſe ſchlechter bedient, und hatte es zudem wohl noch um die Hälfte billiger. In Tokyo kam der Poſtbote an manchen Tagen z. B. an Neujahr, wo alle Welt ſich zu beglückwünſchen pflegt, wohl zehnmal in mein Haus, und ſelbſt im Innern des Landes, ſieben Stunden von der nächſten Eiſenbahnſtation entfernt, erhielt ich zweimal täglich meine Poſt. Die Beför - derung iſt eine raſche, und ſelten habe ich einen Brief - träger im Schritt gehen ſehen; immer iſt er in eiligem Laufen begriffen. Ich erledigte aus dem Innern des Landes wochenlang meine Korreſpondenz, auch nach dem Ausland, und nie — während meines ganzen japa - niſchen Aufenthaltes — iſt mir ein Brief verloren ge - gangen. Ich ſchickte einmal an Neujahr eine Gratu - lationskarte an einen Japaner, aber unter ungenauer179 Adreſſe. Ende Februar erhielt ich den Brief zurück, beklebt mit zweiunddreißig Zettelchen. Die Poſtver - waltung hatte ſich die Mühe genommen, den Brief an zweiunddreißig Adreſſen zu ſchicken. Die Arbeitskräfte ſind billig, ſodaß der japaniſche Generalpoſtmeiſter nicht ſo zu ſparen braucht wie der deutſche.
In dem Staatsweſen iſt nichts vergeſſen, was bei uns zur öffentlichen Wohlfahrt gerechnet wird. Das Polizeiweſen, um welches ſich deutſche Ratgeber verdient gemacht haben, darf als muſtergiltig bezeichnet werden. Selbſt der Fremde, der nach Japan kommt, vielleicht in dem Gedanken, hier noch unciviliſierte Verhältniſſe an - zutreffen, fühlt ſich beruhigt, wenn er die Poliziſten ſieht, ſchmuck und ſauber gekleidet, freundlich und ent - gegenkommend in dem Bewußtſein, daß ſie die Diener und nicht die Herren der Geſellſchaft ſind. Die Feuer - polizei darf ſich auch großſtädtiſchen europäiſchen Ein - richtungen dieſer Art getroſt an die Seite ſtellen. Wenn die Feuerwehr in Tokyo auch nicht zu jeder Zeit auf - geſchirrte Pferde bereitſtehen hat, ſo iſt ſie mit ihren ſelbſtgezogenen Spritzen doch nicht weniger prompt zur Stelle. Auch die Geſundheitspolizei vervollkommnet ſich mehr und mehr. Um der Geſundheit der Bewohner willen ſcheut der Staat auch die größten Summen nicht. Für Krankenhäuſer iſt gut geſorgt. Ich hatte eine Schutzbefohlene, eine Ausländerin, die bald nach ihrer Ankunft in Japan, von ſchwerer Geiſteskrankheit be - fallen, in die ſtädtiſche Anſtalt für Irrſinnige in Tokyo untergebracht worden war. Ich kam infolgedeſſen oft dahin, und wenn auch in Anbetracht der japaniſchen Lebensweiſe die Anſtalt kein wünſchenswerter Aufent - halt für mein Mündel war, ſo daß ich Sorge trug, daß ſie in die Heimat verbracht wurde, ſo machte das,12*180was ich dort ſah und hörte, doch ſtets den beſten Ein - druck auf mich. Der Chefarzt hatte in Deutſchland ſtudiert und ſtand auf der Höhe der Wiſſenſchaft. Die Geſchäftsführung war, ohne umſtändlich zu ſein, äußerſt prompt.
Die muſtergiltige Organiſation von Heer und Flotte iſt durch den japaniſch-chineſiſchen Krieg genugſam be - kannt geworden. Wohl haben ſie auch ihre fremden Ratgeber gehabt, aber ebenſoviel als ſie hat der mili - täriſche Geiſt des alten Japan gethan. Darin hat die neue Zeit keine Änderung hervorgebracht: Das Kriegs - weſen iſt das Steckenpferd des modernen Japan ge - blieben, für welches ihm kein Geld zuviel iſt. Als Soldaten ſind ſie mutig und ausdauernd. Tapfer im Kampf und tollkühn in der Gefahr, gehen ſie ohne Furcht dem Tode entgegen. Wenige Völker haben ſo viele wirkliche Helden aufzuweiſen wie die Japaner. So klein ſie ſind und ſo ſchwächlich ſie ausſehen, ſo ſind ſie doch zäh im Ertragen von Beſchwerden. Europa wird gut daran thun, mit ihnen als mit ebenbürtigen Gegnern zu rechnen.
Die Japaner wollen glänzen und eine glänzende Rolle in der Politik der Völker, im Leben der Nationen zu ſpielen, iſt ihr feuriges Streben. Vor wenigen Jahren hat der Staatsmann Graf Okuma den Aus - ſpruch gethan, daß in der Mitte des zwanzigſten Jahr - hunderts Japan auf den Steppen Centralaſiens gegen Europa um die Weltherrſchaft kämpfen werde. Das war ein großes Wort gelaſſen ausgeſprochen, und wenn es ſo ernſt zu nehmen wäre, als es erſt gemeint war, dann thäten wir gut daran, das bekannte Bild unſeres Kaiſers und die Worte, die er darunter ſetzte: „ Ihr Völker Europas, wahret eure heiligſten Güter “, nicht181 bloß in dem feinen Sinne zu verſtehen, in welchem Bild und Unterſchrift ein gutes Recht haben, ſondern in einem gröberen und recht handgreiflichen Sinne. Aber freilich, niemand wird ſich durch dieſen Ausbruch einer ſchier unglaublichen Großmannsſucht im Ernſt bange machen laſſen; und doch iſt er nicht bedeutungs - los; eines zeigt er mit Beſtimmtheit: Sie haben Pläne und zwar große Pläne. Skrupulös werden ſie in der Verfolgung ihrer Pläne nicht ſein. Bei dem chineſiſchen Kriege ſtellte es ſich heraus, daß ihnen in Korea und Nordchina jeder Weg und Steg bekannt war. Wer Gelegenheit hatte, die Generalſtabskarten des Kriegs - ſchauplatzes zu ſehen, war im höchſten Grade erſtaunt. Jahre zuvor hatten ihre Späher, darunter Offiziere, in chineſiſcher Kleidung China durchſtreift, und zwar mit ſolcher Gewandtheit, daß erſt nach Ausbruch des Krie - ges einer oder zwei ertappt wurden. Im Falle eines Krieges mit Rußland werden die Steppen Oſtſibiriens den Japanern mindeſtens ebenſo gut bekannt ſein als den Ruſſen. Von Manila und den Philippinen haben ſie ſicher die genaueſten Karten. Aus idealen Gründen, etwa um geographiſche Studien zu machen, thun ſie das nicht, ſondern vielmehr aus weittragenden politiſchen Geſichtspunkten. Mit der kulturellen Führung Oſtaſiens werden ſie ſchwerlich zufrieden ſein.
Daß Japan jemals die Beute einer fremden Macht werden könnte, iſt undenkbar. Im Vergleich zu den Kämpfen, welche durch die Landung fremder Truppen in Japan hervorgerufen würden, würden die Aufſtände Polens, die Guerillakriege in Spanien und die Unab - hängigkeitskämpfe auf Cuba reines Kinderſpiel ſein. Eher würde der letzte Japaner ſein Blut verſpritzen, ehe der geheiligte Boden von Yamato einer fremden182 Macht in die Hände fiele. Japan iſt als Staat eine große Macht, gefährlich als Feind, begehrenswert als Bundesgenoſſe.
Es iſt demnach ein moderner Staat, mit dem wir es hier zu thun haben. Und darum iſt es auch recht und billig, daß man ihm durch den Abſchluß neuer Verträge auf der Grundlage der Gleichberechtigung als modernen Staat anerkannt hat. Es iſt ein großes Unrecht, Japan als Staat unter die anderen aſiatiſchen Mächte einzureihen. Insbeſondere dürfte man Japan und China als Völker und Staaten nicht zuſammen in einem Atemzug ausſprechen, ausgenommen gegenſätzlich. Als einzelner mag der Chineſe dem Japaner in manchem überlegen ſein, aber als Völker ſpotten die beiden jeden Vergleiches. Der Chineſe hat wohl eine Heimat, und er hat ein ſehr ſtarkes Gefühl für dieſelbe. Aber ein Vaterland hat er nicht. Das chineſiſche Reich iſt ein Konglomerat aus mehreren unter ſich verſchiedenen Völkern, und nicht einmal der chineſiſche Zopf, das gleiche fortſchrittfeindliche Temperament, iſt im ſtande, die verſchiedenen Elemente zuſammenzubinden. Auf dem Throne ſitzt eine Dynaſtie, mit welcher der größte Teil des Volkes keine Beziehung hat, die ſich vielmehr auf dem Wege der Gewalt aufdrängte. Da verliert der alte Spruch: „ Für König und Vaterland “vollſtändig ſeine Bedeutung, und dafür ſein Blut und Leben ein - zuſetzen, das kann Konfuzius unmöglich gewollt haben. Anders der Japaner.
Ein einziges Beiſpiel ſoll das illuſtrieren. Es war im Oktober 1894, alſo während des chineſiſchen Krieges, als mich eine Miſſionsreiſe nach Oſaka führte. Als ich eines Morgens aus meinem halb europäiſchen, halb japaniſchen Gaſthaus heraustrat, fand ich die Straßen183 dicht beſetzt mit Menſchen, ſo daß an ein Durchkommen kaum zu denken war. Ich fragte einen Poliziſten, was denn los ſei. Derſelbe gab mir in höflicher Weiſe den Beſcheid, daß ein Trupp chineſiſcher Kriegsgefangener vom Bahnhof her erwartet werde. In der Schlacht von Pingyang waren ungefähr tauſend Chineſen ge - fangen worden, welche man jetzt auf die größten Städte Japans verteilte. Nach Oſaka kamen ungefähr ein hundert und ſechzig. Selbſtverſtändlich war auch ich neugierig, die Gefangenen, die erſten in Japan, zu ſehen. Ich ſtellte mich daher gleichfalls neben der Straße auf, der einzige Europäer unter Tauſenden von Eingeborenen, in einer politiſch hoch erregten Zeit; aber nicht das geringſte kam vor, höchſtens, daß man mich neugierig betrachtete. Als ich etwa eine Stunde gewartet hatte, ſah ich aus der Ferne den Zug herankommen. Voran und zu beiden Seiten japaniſche Infanterie mit ge - fälltem Gewehr, in ihrem Äußern faſt genau wie preußiſche Soldaten; hinterher japaniſche Kavallerie, dieſe in Uniformen nach franzöſiſcher Art. Dazwiſchen die Gefangenen. Es war ein erbarmungswürdiger Anblick. Leute von fünfzehn bis zu ſechzig Jahren, halbe Kinder und Greiſe mit grauen Haaren, ſchlecht genährt, ſchlecht gekleidet. Einige verhüllten mit der Hand das Geſicht, andere ſchauten finſter zu Boden; nur wenige wagten es, ſich umzuſchauen. Es war ihnen bang um das Herz. Sie glaubten, ſie würden hierher gebracht, um zur Beluſtigung des Volkes eines grau - ſamen Todes ſterben zu müſſen, wie ja die Chineſen ihrerſeits japaniſche Gefangene kurzer Hand töteten. Daß es ihnen in der Gefangenſchaft gut gehen ſollte, den meiſten wohl beſſer als je zuvor in ihrem Leben, das ahnten ſie damals noch nicht. Den Eindruck von184 Soldaten machten ſie nicht. Ich glaube — und viele ſind derſelben Anſicht —, daß es überhaupt keine Sol - daten waren, ſondern gewöhnliche Arbeiter, denen man im letzten Augenblick noch Flinten in die Hand ge - geben hatte, und dazu noch Flinten, die nicht los - gingen. Ich habe darüber nach dem Feldzug aus dem Munde japaniſcher Offiziere die unglaublichſten Dinge gehört, ſo z. B., daß das ganze japaniſche Heer laut auflachte, wenn wieder einmal eine Kanonen - kugel aus dem chineſiſchen Lager geflogen kam; denn man wußte im voraus, daß ſie nicht platzen werde: Sie war nicht mit Pulver, ſondern mit Lehm gefüllt; das Geld für das Pulver aber war in die Taſchen der Beamten, der Mandarinen gefloſſen. Das war Kano - nenfutter für die Japaner, gefährliche Feinde waren ſie nicht. Wie ſie nun vorbeizogen, voran die Kranken und Verwundeten auf Tragbahren oder in Jinrikſha, hinterher die Geſunden zu Fuß, die meiſten ohne Zopf, weil ihnen derſelbe von den Japanern teils aus Über - mut, teils aus Reinlichkeitsgründen abgeſchnitten worden war, ſtanden die Japaner neben am Wege und be - trachteten ſie ſich mit ſichtbarem Stolz, aber ernſt und ruhig.
In dieſem Bild haben wir das Bild Oſtaſiens. Auf der einen Seite das Volk der Chineſen, ſtumpf und phlegmatiſch, als einzelne tüchtig und wohl wert, daß man an ihnen arbeite, als Ganzes und Staat verlumpt und verrottet bis in das innerſte Mark, als Soldaten und Patrioten Nullen und weiter nichts, ein Volk, welches als Volk in greiſenhaftem Niedergange begriffen iſt. Auf der andern Seite das Volk der Japaner, ernſt und ruhig im ſtolzen Bewußtſein ſeiner Kraft, als Sol - daten ſtramm, ſchneidig und wohl diszipliniert, ein185 Volk, welches als Volk in jugendkräftigem Aufſchwung begriffen, noch einer bedeutenden Zukunft entgegengeht. Wenn die Japaner berufen ſind, auf irgend einem Ge - biet eine führende Rolle zu ſpielen, ſo iſt es auf dem Gebiet der Politik. Und wenn menſchliche Vorausſicht im Plane der Vorſehung noch etwas gilt, ſo wird noch in fernen Zeiten an Nippons ſchönen Geſtaden ſtolz die japaniſche Flagge wehen, die glutrote Sonne im weißen Feld, und noch ebenſo laut und begeiſtert wie heute wird von ſeinen freien Söhnen der Ruf erſchallen: „ Dai Nippon ban-zai “, „ Lang lebe Japan! “
Es iſt von jeher unter den in Japan anſäſſigen Fremden eine viel erörterte Streitfrage geweſen, ob die Japaner religiös irgendwie bedeutend veranlagt ſeien. Die Frage wird verſchieden beantwortet. Während ihnen die Miſſionare entſchieden eine hohe religiöſe Veran - lagung zuerkennen, viele ſogar in höherem Maße, als wir ſie beſitzen, ſind die nichtgeiſtlichen Europäer — Kaufleute und Gelehrte — geneigt, ihnen faſt jeden religiöſen Sinn abzuſprechen. Den Miſſionaren macht man dabei den Vorwurf, ſie müßten natürlich ſo ſprechen, wenn anders ſie ſich nicht ſelbſt den Aſt abſägen wollten, auf welchem ſie ſitzen. Die Miſſionare aber erheben die Gegenklage, die andern verſtünden nichts von der Sache, da ſie nur mit einem ſehr kleinen und beſchränkten Bruchteil des Volkes und zwar vorzugsweiſe mit Ange - hörigen der allerdings atheiſtiſchen Samuraiklaſſe in Berührung kämen, während ihnen die Maſſe des Volkes vollſtändig fremd ſei.
Sicher iſt, daß ſich die Frage nicht dadurch ent - ſcheiden läßt, daß man auf die Zahl der Prieſter und Tempel im Lande verweiſt. In einer rein geiſtigen Sache wie die Religioſität iſt die Statiſtik, zumal wenn ſie ſich thatſächlich auf Prieſter und Tempel beſchränken müßte, von ſehr zweifelhaftem Werte. Die religiöſe Veranlagung des Japaners läßt ſich nur im Zuſammen -187 hang mit ſeinem geſamten Geiſtesleben beſtimmen. Nach dem, was dort (III. ) geſagt worden iſt, kann für uns kein Zweifel beſtehen. Der Japaner iſt gewiß religiös, ſo gewiß, als die Religion in dem Geiſtesleben eines jeden Volkes einen Beſtandteil und zwar einen Haupt - beſtandteil bildet; aber für die Geiſteshöhen und - tiefen der Religion iſt er weit weniger empfänglich als der Arier. Der Japaner iſt eine Marthanatur, geſchäftig, geſchickt, praktiſch, wohl auch etwas äußerlich; aber er iſt nicht ſehr viel von einer Marianatur, nicht bemerkens - wert tief, innerlich, finnig und innig. Die äußere Welt der greifbaren Wirklichkeit ſteht ihm über der inneren Welt der Herzensideale, das praktiſch-ſittliche Leben über der Myſtik. Das Ziel des Japaners iſt nicht, den Menſchen zu ſich ſelbſt in Harmonie zu ſetzen, ſondern das Verhältnis des Menſchen zu ſeinem Neben - menſchen, des Gatten zur Gattin, des Kindes zum Vater, des Schülers zum Lehrer, des Unterthanen zum Herrſcher, des Freundes zum Freunde genau zu be - ſtimmen. Der Japaner iſt in hohem Grade eine ethiſche, in ſchwächerem eine religiöſe Perſönlichkeit.
Es giebt kaum ein zweites Volk, wo ſich die Ethik ſo ſehr von der Religion emanzipiert hätte, und zwar nicht erſt infolge eines langen geſchichtlichen Prozeſſes, ſondern von altersher. Das Syſtem des Konfuzius, welches ſeit ſeiner Einführung in den erſten Jahr - hunderten unſerer Zeitrechnung unter Zugrundelegung der Pietät und Loyalität die geſamten ſittlichen Lebens - verhältniſſe der Japaner geſtaltet hat, ſteht der Religion gänzlich fern; nicht als ob Konfuzius die Religion be - kämpfte, aber ſie iſt ihm gleichgültig. Auf der andern Seite wurden die Religionen, welchen mit Bezug auf die Sittlichkeit wenig mehr zu thun übrig blieb, faſt188 ausſchließlich auf das Gebiet des Glaubens und Empfindens beſchränkt, und eine ethiſche Bedeutung haben ſie eigentlich nur inſoweit gewonnen, als ſie ſich zu Verbreitern der konfuzianiſchen Tugendlehre hergaben. In Japan umfaßt die Religion nicht in gleicher Weiſe die Gebiete des Denkens, Fühlens und Wollens; denn das Gebiet des Wollens nimmt faſt ausſchließlich die religionsloſe Moral für ſich in Anſpruch. Die Frage - ſtellung: Sind die Japaner Konfuzianer oder Buddhiſten? iſt darum verkehrt. Der Japaner kann ethiſch Kon - fuzianer und religiös Buddhiſt, alſo beides zu gleicher Zeit ſein. Die gewöhnliche Formel, daß die gebildeten Japaner Konfuzianer, die ungebildeten aber Buddhiſten ſeien, iſt auch nur teilweiſe richtig. Vielmehr iſt Kon - fuzius, nach ſeiner ethiſchen Seite wenigſtens, Gemein - gut des ganzen Volkes, ſo daß — ethiſch betrachtet — alle Japaner bis zum heutigen Tag als Konfuzianer bezeichnet werden müſſen. Freilich, das iſt wahr, daß der Samuraiſtand vermöge ſeiner Bildung zum Hüter der konfuzianiſchen Ethik berufen war, während im beſonderen die Tugend der Loyalität und damit die Staatsidee für ihn als eigentliche Kriegerkaſte eine ganz andere und höhere Bedeutung gewann als für das gemeine Volk. Aber man darf doch eigentlich von Konfuzius nur nach ſeiner philoſophiſch-agnoſtiſchen Seite behaupten, daß er ausſchließlich den oberen Stän - den angehöre. Für ſie iſt er nicht nur der Lehrer der Ethik, ſondern auch der der Philoſophie geworden; ſeine religiöſen Anſchauungen ſind auch die ihrigen. Wie der chineſiſche Weiſe, ſo ſind auch ſie, die Männer wenigſtens, religionslos. Nicht als ob ſie noch mit beſonderem Stolz an Konfuzius hingen, oder als ob die alten chineſiſchen Lehrer je wieder Ausſicht hätten,189 die moderniſierten Katheder zu beſetzen; man hat den Verſuch vor noch nicht vielen Jahren gemacht, und die altmodiſchen Herren nahmen ſich komiſch genug aus vor Klaſſen von friſchen Jünglingen, deren Köpfe mit den neueſten naturwiſſenſchaftlichen Problemen beſchäftigt waren. Der Verſuch ſcheiterte kläglich. Als wiſſen - ſchaftliches Syſtem iſt der Konfuzianismus überwunden, aber als Weltanſchauung wirkt er fort. Und ob man ſich heute auch mit Vorliebe auf europäiſche Autoritäten beruft und die Schlagwörter des modernen Materialis - mus im Munde führt, ſo iſt ihm doch das gebildete Japan nach wie vor unterworfen. Es iſt der Stand - punkt der Halbbildung, welche jede Religion als Aber - glauben belächelt und in der Verachtung der Religion den Erweis wahrer Bildung erblickt. Der Thatſache, daß die europäiſchen Völker religiös ſind, ſteht man ſkeptiſch gegenüber. Man erblickt darin eine Mache der Regierungen, welchen die Religion und ihre Prieſter einen bequemen und wirkſamen Polizeiſtock böten. Europäer und Chineſen mögen ſich am Gängelband herumführen laſſen, aber eine Nation von der ſittlichen Kraft wie die japaniſche braucht ſich ſolche Zuchtruten nicht aufzubinden.
Geiſtreiche moderne Theorien und plumpe bäuer - liche Abſurditäten, beides bekommt man als Urteile des gebildeten Japan über Religion zu hören. Ganz im Sinne des moderniſierten Konfuzianismus lautet eine Äußerung, welche der hochangeſehene frühere Rektor der Univerſität Kato, welcher ſich auf ſeine deutſche philoſophiſche Beleſenheit nicht wenig zu gute thut, erſt kürzlich gemacht hat. „ Die Auswahl einer Religion “, ſo ſagt er, „ welche der Zeit, in der wir leben, entſpricht, iſt eine Aufgabe, welche nur Philoſophen löſen können. 190Von dem religiös Gläubigen erwartet man, daß er gewiſſe Dogmen einfach gläubig hinnimmt. Aber ſolchen Glauben halte ich für geiſtige Sklaverei, welche gelehrte Männer heutzutage nicht mehr empfehlen können. Wie groß auch der Wunſch ſein möge, eine Religion zu wählen, die Aufgabe iſt unmöglich. Was wir aus - wählen, wird Philoſophie und nicht Religion ſein. “ Mit Recht fügt Dr. Chriſtlieb, welchem dieſe Mitteilung zu verdanken iſt (Z. M. R. XII, 20), hinzu: „ Kato ver - tritt die typiſche Halbbildung mit ihrem rückſtändigen Hochmut auf die Philoſophie, von der ſie freilich nur „ leviores gustus “genoſſen hat. Aber ſolche Anſchau - ungen ſind thatſächlich weit verbreitet “. Selbſt Ito, der weitſichtigſte Staatsmann Japans, der ſich mit Vorliebe den japaniſchen Bismarck nennen hört, hat ſich über Religion höchſt abfällig geäußert. „ Ich be - trachte “, ſagte er, „ die Religion als ganz unnötig für das Leben eines Volkes. Wiſſenſchaft ſteht hoch über dem Aberglauben, und was iſt jede Religion, ſei es Buddhismus, ſei es Chriſtentum, anderes als Aber - glaube und deshalb eine Quelle der Schwäche für ein Volk? Ich beklage die Tendenz zum Freidenkertum und Atheismus, die in Japan faſt allgemein herrſcht, durchaus nicht; denn ich erblicke darin keine Gefahr für die Nation. “ Und das iſt derſelbe Ito, welcher auf einer Geſandtſchaftsreiſe im Jahre 1883 „ aus Ge - ſprächen mit Fürſt Bismarck und Kaiſer Wilhelm I. gelernt haben ſoll, daß das Chriſtentum nicht eine rein menſchliche Erfindung zur Aufrechterhaltung von Einfluß und Macht, ſondern eine Realität in den Herzen der Menſchen ſei, welche einen Einfluß von unberechenbarem Wert auf den einzelnen und das Volk übe, und welcher dem Mikado empfohlen habe, es zu ſtudieren und ſeine191 Einführung zu begünſtigen “. Die neuerliche Auslaſſung Itos zeigt deutlich genug, wie tief ihm jene Erkenntnis gegangen ſein mag. Denn ſeine Äußerung klingt doch etwas anders als die Worte Wilhelms I.: „ Dem Volke muß die Religion erhalten bleiben “. Wenn aber das am grünen Holz geſchieht, was will am dürren werden? Was kann bei ſolchen Vorbildern Gutes herauskommen?
Die Urteile Katos und Itos werden von allen Gebildeten, ſoweit ſie nicht dem Chriſtentum anheim gefallen ſind, Wort für Wort unterſchrieben. Wer aber Itos etwas unklare Äußerung ſo verſtehen wollte, als ob das ganze Volk faſt durchweg religionslos ſei, wäre übel beraten. Vielmehr iſt die Volksſeele niemals willens geweſen und iſt es heute noch nicht, ſich mit den philoſophiſchen Brocken abſpeiſen zu laſſen, die von der Gebildeten Tiſchen fallen. Für ſie ſind das Steine und jede Speiſe, die ihr die Religionen bieten, und wäre ſie auch nichts weiter als Träber, iſt ihr lieber als das. Der Kleinbürger, der Handwerker, der Bauer und der Arbeiter und das ganze große Heer der Frauen ſind immer religiös geweſen bis zum heutigen Tag, wenn ſich auch ihre Religioſität entſprechend ihrer Ver - anlagung und dem Gehalt ihrer Religionen dürftig genug äußert.
Japan hat zwei Religionen, den Shintoismus und den Buddhismus. Der Shintoismus iſt die eigentlich nationale Religion, der Buddhismus iſt von außen hereingetragen. Gleichwohl iſt im Lauf der Zeit der Buddhismus aufs innigſte mit dem Volk verwachſen, und wenn man den Japaner fragt, zu welcher Religion er ſich rechne, ſo wird die Antwort faſt immer lauten: „ Ich bin Buddhiſt “. Shintoismus und Buddhismus haben ſich ſchon im Lauf der Geſchichte mannigfach192 innerlich beeinflußt, und im Volksbewußtſein ſtehen ſie ſich ſo nahe, daß man eben ſowohl zu dem buddhiſtiſchen Götzen „ hotoke “als zu dem ſhintoiſtiſchen Gott „ kami “betet, daß man ebenſo gut zu dem buddhiſtiſchen Tempel „ o tera “wie zu dem ſhintoiſtiſchen „ o miya “geht. Warum aber der Buddhismus beſtimmenden Einfluß vor dem Shintoismus gewonnen hat, erklärt ſich daraus, daß in ihm viel mehr religiöſer Gehalt ſteckt als im Shintoismus.
Der Shintoismus (shin = Gott, tō = Weg, Lehre) iſt mit der Mythologie und Geſchichte Japans auf das engſte verknüpft1)Zur Bezeichnung ihres Gottes haben die Chriſten nach einigem Schwanken die ſhintoiſtiſche Terminologie übernommen. Für Chriſten und Shintoiſten heißt alſo Gott für die Umgangs - ſprache „ kami “, in Zuſammenſetzungen nach der chineſiſchen Aus - ſprache „ shin “z. B. shin-gaku Theologie. Der buddhiſtiſche „ hotoke “bedeutet ein Götzenbild, ſo daß der Ausdruck für den geiſtigen Gott der Chriſten nicht zu gebrauchen war.. Die älteſten Geſchichtswerke, das im Jahre 712 verfaßte Kojiki (Erzählung alter Geſchichten) und das um 720 entſtandene Nihongi (japaniſche Geſchichte) ſind zugleich auch die religiöſen Urkunden des Shinto.
Ehe die Geſchichte der Menſchheit ihren Anfang nahm, ſpielte ſich ſchon eine vieltauſendjährige Geſchichte im Reiche der Götter ab. Wie in den Syſtemen der Gnoſtiker löſte ein Göttergeſchlecht das andere ab, bis als letzte der göttlichen Geburten das Geſchwiſterpaar Izanagi und Izanami in das Daſein trat, die ſich mit einander vermählten. Eines Tages ſaßen die beiden auf der Himmelsbrücke und ſchauten hinab in das wogende Meer. Da tauchte Izanagi von ungefähr ſeine Lanze in die Fluten. Als er ſie zurückzog, fielen193 die Tropfen von der Lanze, und wo einer hinfiel, ent - ſtand eine Inſel. So wurden die tauſend Inſeln des japaniſchen Reiches geſchaffen. Onogoro-ſhima im ja - paniſchen Binnenmeer bei Awaji, die erſte der alſo entſtandenen Inſeln erkor ſich das Götterpaar zum Wohnſitz. Söhne und Töchter wurden ihm geboren, aber bei der Geburt des Feuergottes verlor Izanami ihr Leben. In heißer Sehnſucht nach ſeiner verlorenen Gemahlin ſtieg Izanagi, dem griechiſchen Orpheus gleich, in die Unterwelt hinab. An den Thoren des Hades angelangt, beſchwor er ſie, wieder mit ihm zurück - zukehren. Gern willigte ſie ein, bat ihn aber, noch ein wenig zu warten, damit ſie ſich mit den andern Göttern berate. Da es ihm zu lang währte, über - mannte ihn die Ungeduld. Er brach einen Zahn aus ſeinem Haarkamm und zündete ihn an, um Licht zu haben in der Dunkelheit der Unterwelt. So ging er hinein und fand ſie auch bald, aber ſchon hatte die Verweſung ihr Werk begonnen, und betrübt und an - gewidert kehrte er, verfolgt von den acht Donner - göttern, an die Oberwelt zurück.
Um ſich rein zu waſchen von der Unreinheit des Todes und der Verweſung, beſchloß er, im Fluſſe zu baden. Als er ſeine Kleider am Ufer niederlegte, wurde plötzlich aus jedem Stücke eine Gottheit geboren, und aus allen ſeinen Gliedern ſprangen ihm Söhne und Töchter heraus. Aus ſeinem linken Auge kam Amateraſu, aus ſeinem rechten Tſuki no kami und aus ſeiner Naſe Suſano. Unter dieſe drei verteilte er ſein Reich. Seine Lieblingstochter Amateraſu (die Himmelerleuchtende) machte er zur Herrin der Sonne, die ebenfalls weibliche Tſuki no kami erhob er zur Göttin des Mondes, und dem wilden Suſano übergab er die Herrſchaft über das Meer.
13194Suſano aber, welcher meinte, bei der Teilung zu kurz gekommen zu ſein, grollte ſeiner bevorzugten Schweſter Amateraſu. Unter dem Vorwande, ſie beſuchen zu wollen, ſtieg er einſt auf und ſtürmte hinauf nach dem Himmel. Wütend durchbrach er das Dach der heiligen Webehalle, darinnen die Göttin die Kleider der Götter weben ließ, daß Amateraſu, empört ob ſolcher Gewaltthat, mit den ihrigen entfloh. Sie ſchloß ſich in eine Höhle ein und wälzte einen großen Stein davor. Nun aber war große Not. Das Licht war gegangen und auf Himmel und Erde lag tiefe Finſternis. Da hielten ihre Gefährtinnen einen Rat, wie ſie ſie mit Liſt wieder herausbekämen. Sie machten eine Schnur von koſtbaren Edelſteinen und fertigten einen glänzenden Spiegel. Eine Gottheit fing an zu tanzen, und die andern lachten und jauchzten. Als nun Amateraſu drinnen in der Höhle den Reigen hörte, wurde ſie neugierig und lüftete ein klein wenig den Stein. Da brachten die Götter, um ſie zu locken, die Edelſteinſchnur an die Spalte und hielten ihr den Spiegel vor ihre Augen. Da ſah ſie ein wunderſchönes Angeſicht und voll Begierde, die holde Unbekannte noch deutlicher zu ſehen, rückte ſie den Stein noch weiter weg. Da aber griffen die ihrigen zu, ſchoben den Stein ganz beiſeite und zogen ihre Herrin im Triumph aus der Höhle heraus. Suſano wurde überwältigt und aus dem Palaſt des Himmels hinausgeworfen.
Zur Erde zurückgekehrt, kam Suſano nach der Pro - vinz Izumo. Da ſah er einen alten Mann und eine Frau mit einem jungen Mädchen, die ſaßen zuſammen und weinten. Er fragte ſie, warum ſie ſo traurig ſeien? Der alte Mann aber ſprach: „ Einſt hatten wir acht Töchter. Aber in jedem Jahr kam eine achtköpfige Schlange und verſchlang eine von ihnen. So haben195 wir ſieben verloren, und jetzt iſt die Zeit da, da ſie wieder kommen wird, um auch unſere letzte Tochter zu holen “. Als Suſano das hörte, fragte er den alten Mann: „ Willſt du mir deine Tochter zum Weibe geben, wenn ich ſie von der Schlange errette? “ Als nun der Alte mit Freuden zuſagte, befahl ihm der Gott, ſtarken Sake (Reisbranntwein) zu brauen. Als der Sake fertig war, füllten ſie ihn in acht Krüge und ſtellten dieſelben hin. Kaum war das gethan, als die Schlange auch ſchon erſchien. Als ſie den Sake roch, ſteckte ſie in jeden Krug einen Kopf und trank den Sake aus. Dann legte ſie ſich, berauſcht wie ſie war, nieder zum Schlafen. Da ergriff der Gott ſein Schwert und hieb die Schlange in Stücke. Als er an den Schwanz kam, ſtieß er auf etwas Hartes und als er nachſchaute, fand er ein großes koſtbares Schwert, welches er herausnahm. Darnach baute ſich Suſano einen Palaſt, in welchem er mit ſeiner Gattin glücklich und zufrieden lebte, und Söhne und Töchter wurden ihm geboren.
Als ſich aber die Menſchen, oder vielmehr die „ Erdgötter “auf der Erde vermehrten, beſchloß Ama - teraſu, ihren Enkel Ninigi hinabzuſenden, daß er über ſie herrſche. Bei ſeinem Abſchied vom Himmel übergab ſie ihm die Edelſteinſchnur und den Spiegel, womit die Götter ſie einſt aus der Höhle gelockt hatten, und das Schwert, das Suſano im Schwanz der Schlange ge - funden hatte1)Die drei Kleinodien Spiegel, Schwert und Edelſtein, deren ſymboliſche Bedeutung bis heute noch nicht klar nachgewieſen werden konnte (der Spiegel iſt vermutlich das Abbild der Sonne und das Sinnbild der Reinheit, die ja im Shintoismus ganz beſondere Bedeutung hat, während das Schwert wohl die Herrſchergewalt darſtellt und ſo mit den Tugenden der Loyalität. Sie befahl ihm an, den Spiegel als13*196ihren eigenen Geiſt zu betrachten und ihm dieſelbe Ver - ehrung entgegenzubringen wie ihr ſelbſt. Nachdem Ninigi dieſes verſprochen, verließ er die himmliſchen Ge - filde und kam auf dem Gipfel des Takachio in Tſukuſhi auf der Inſel Kyuſhiu zur Erde herab. Dort baute er ſich einen Palaſt und vermählte ſich.
Ninigis Enkel, bekannt unter ſeinem poſthumen Namen Jimmu Tennō, war es vorbehalten, der eigent - liche Gründer des japaniſchen Reiches zu werden. An der Spitze ſeines Stammes verließ er Kyuſhiu und drang in die Hauptinſel Hondo ein. Teils durch Verträge, teils durch Gewalt unterwarf er die Bewohner und machte ſich das Land bis über Oſaka hinaus unterthan. Darauf baute er ſich einen Palaſt in Kaſhiwara (Nara) in der Provinz Yamato, von wo aus er regierte. Das geſchah im Jahre 660 vor Chriſtus, und von da an rechnen die Japaner das Beſtehen des Reiches und die Thron - beſteigung ihres Herrſcherhauſes.
Es iſt zweifellos, daß in dieſen ſagenhaften Ge - ſchichten ein hiſtoriſcher Kern ſteckt. In Suſano und Ninigi erkennen wir die Stammväter des japaniſchen Volkes, welche in uralter Zeit mit ihren Völkerſchaften vom Feſtland her in Izumo und Kyuſhiu einwander - ten. Wir haben es hier mit dunkeln hiſtoriſchen Er - innerungen zu thun, die mit den Anſichten moderner1)in Beziehung ſteht), bilden bis heute die Inſignien des Reiches und die Embleme des Shintoismus. Sie ſollen im Kaſhiko-dokoro, der ſhintoiſtiſchen Hauskapelle des Kaiſers, nach anderer Angabe in dem Daijingu in Iſe aufbewahrt ſein. Dagegen erzählt Rein, daß ihm auf dem Gipfel des Takachio ein offenbar uraltes, großes Schwert gezeigt worden ſei, welches die Legende als das Schwert Ninigis bezeichnet. Es iſt aus Bronze mit Kupferzuſatz, iſt 1,30 m lang, 0,23 m im Umfang und im Griff 0,54 m dick.197 Forſcher zu ſehr übereinſtimmen und durch den Blick auf die Karte zu wahrſcheinlich gemacht werden, als daß ſie reine Gebilde der Phantaſie ſein könnten. Auch die allmähliche Eroberung des Landes vom Südweſten iſt geſchichtlich.
Wenn man aber in jedem Punkte der mythologiſchen Erzählung geſchichtliche Wahrheiten ſuchen will, ſo ge - rät man auf Abwege. Vielmehr tragen dieſelben zu einem Teil unverkennbar einen rein religiöſen Charakter. Wie deutlich erkennbar iſt in dem Zwieſpalt Amateraſus und Suſanos die kindlich poetiſche Darſtellung des Gewitters! Aus den Wogen des Meeres tauchen die Nebel und ſteigen hinauf nach dem leuchtenden Himmel. Dort ballen ſie ſich zu ſchwarzen Wolken drohend zu - ſammen, und die Sonne verliert ihren Schein und ver - ſchwindet, und es wird dunkel auf der Erde. Wütend tobt am Himmel das Gewitter, und in bangen Sorgen ſchauen die Menſchen der entſchwundenen Sonne nach. Aber ſiehe da, auf einmal ſcheint ein Strahl durch den Wolkenſchleier und ſpiegelt ſich wieder in der reinen glatten Fläche des Meeres. Und nun zerreißen die Wolken weiter und weiter und ſtrahlender denn zuvor kommt die „ Himmelerleuchtende “aus dunkler Verborgen - heit hervor. Der Regen aber fällt zur Erde zurück, und er, der ſich zuvor wild und ungeſtüm gebahrte, wird auf der Erde ein freundlicher Wohlthäter. So ſtimmt Punkt für Punkt, und der Tanz und Reigen der niederen Götter vor der Höhle der entflohenen Sonne mit der Abſicht, ſie wieder hervorzulocken, — eine Erzählung, welche beſtimmt auf eine alte religiöſe Sitte dieſer Art zurückzuführen iſt, — deckt ſich ſo auffallend mit den religiöſen Übungen gewiſſer Völkerſchaften bei Sonnen - finſternis, Gewitter ꝛc., daß man verſucht iſt, dieſe Dinge198 auf einen gemeinſamen hiſtoriſchen Urſprung zurückzu - führen.
Der Shintoismus iſt alſo urſprünglich eine Natur - religion, bei welcher die Sonne bezw. der Himmel die oberſte Gottheit iſt. Aber die Naturreligion wird zur Ahnenverehrung, da durch die Abſtammung von der Sonne die japaniſchen Kaiſer und durch die Abſtam - mung von Suſano und anderen niederen Gottheiten auch das ganze japaniſche Volk göttlichen Geſchlechts iſt. Heute iſt der Shintoismus das zweite mehr als das erſte. Zwar finden auch die perſonifizierten Natur - gewalten, wie die Götter des Windes, des Feuers, der Fruchtbarkeit, der Peſt ꝛc., noch ihre Verehrung und in der ackerbauenden Bevölkerung, die ſich zu jeder Zeit von der Natur abhängig fühlt, finden ſie einen ſtarken Rückhalt. Der Donnergott Kaminari iſt heute noch ſo gefürchtet wie ehedem; der Reisgott Inari iſt allzeit viel begehrt, und zu der großen Wohlthäterin Amateraſu oder, wie ſie in der religiöſen Sprache heißt, Tenſho Daijin ſchaut mancher in Andacht auf. Wenn man des Morgens früh über die Straße geht, kann man wohl ſehen, wie einer oder der andere ſich der auf - gehenden Sonne gegenüber verneigt und ſie mit Hände - klatſchen freudig begrüßt, und wenn man im Hoch - ſommer auf den Gipfel des Fujiſan ſteigt, ſo erblickt man Dutzende von Pilgern, welche ſich auch die weiteſte Reiſe nicht verdrießen laſſen, um der Sonne an dieſem ihr beſonders geweihten Ort ihre Verehrung dar - zubringen.
Aber es iſt doch weſentlich nur draußen in der Natur, wo die Natur noch ihr Recht fordert. Drinnen in den Häuſern ſowohl als auch im öffentlichen Leben iſt der Shintoismus Ahnenkultus geworden. Die ſchönſte199 Zeit für den Japaner beginnt eigentlich erſt mit der Stunde ſeines Todes. Denn durch den Tod wird der Sterbliche unſterblich und der Menſch ein Gott. Vor kleinen Hausaltären, wo ihnen in naturweißen Holz - gehäuſen, Tamaſhiro genannt, Wohnung bereitet iſt, verehrt man ſie und bringt ihnen aus Reis, Fiſch, Sake ꝛc. beſtehende Speiſeopfer dar; doch verbinden ſich damit mehr Gedanken der Pietät als der Religioſität, und faſt will es ſcheinen, als wäre die Erhaltung dieſer Sitte mehr dem Konfuzianismus als dem Shintoismus zu verdanken. Natürlich ſpielen dieſe Familiengeiſter im öffentlichen religiöſen Leben keine Rolle.
Öffentliche Götter ſind neben den Naturgottheiten nur die Geiſter der kaiſerlichen Ahnen und bedeutender Perſönlichkeiten. In unſere Verhältniſſe übertragen würde nicht nur Kaiſer Wilhelm I., ſondern, falls es dem ſpäteren Kaiſer ſo gefallen hätte, auch Moltke und Bismarck unter die Götter verſetzt ſein. So iſt z. B. Ojin Tenno, der Sohn der kriegeriſchen Kaiſerin Jingo, welche die erſten Feldzüge nach Korea unternahm (um die Mitte des dritten Jahrhunderts), zu dem überaus populären Kriegsgott Hachiman geworden. Die Götter werden von dem Kaiſer, dem Nachkommen und Stell - vertreter der Sonnengöttin, ernannt. Der Kaiſer ſelbſt wird von dem gewöhnlichen Volke immer noch als Gott betrachtet, und wenn auch die aufgeklärten Klaſſen längſt nicht mehr an das Märchen von ſeiner Gottesſohnſchaft glauben, ſo ſchweigen ſie ſich doch klugerweiſe darüber aus. Erſt vor wenigen Jahren iſt es geſchehen, daß ein Profeſſor der Univerſität, welcher die wiſſenſchaftlich begründete Theſe aufſtellte, der Shintoismus ſei ur - ſprünglich eine reine Naturreligion, welchen der Ahnen -200 kultus ſpäter als ein fremdes Reis aufgepfropft worden ſei, ſeine Stelle verlor, weil mit dieſer Behauptung auch die göttliche Abſtammung des Kaiſers fallen mußte. Der Kaiſer iſt der Vermittler zwiſchen dem Volk und der Gottheit, der Hoheprieſter des japaniſchen Volkes. Tag für Tag betet er zu den Geiſtern ſeiner Ahnen für des Volkes Wohl, und an gewiſſen Tagen und bei großen Staatsaktionen hat der Hof und die hohe Beamtenſchaft die Pflicht, ſich an den ſhintoiſtiſchen Gebetsceremonien zu beteiligen. Man könnte den Shintoismus ſehr wohl die japaniſche Hofreligion nennen.
Ich hielt mich während der Juli - und Auguſt - monate der Jahre 1892 und 1893 in der Ferienzeit, zuſammen etwa zwölf Wochen, in dem weltabgeſchiedenen Prieſterdorf Mitake1)Vergl. auch Schmiedel, Kultur - und Miſſionsbilder aus Japan. 2. Aufl. A. Haack, Berlin 1897. auf. Ich wohnte ſelbſt im Hauſe des Oberprieſters, der, wie ſeine Kollegen auch, gegen den chriſtlichen Miſſionar nicht das geringſte Bedenken hatte, und hatte reichlich Gelegenheit, den populären Shintoismus kennen zu lernen. Von Tokyo fährt man mit der Eiſenbahn vier Stationen weiter nach Weſten, dann geht es in ſechsſtündigem Marſch durch die heiße Ebene an dem Tamagawa vorbei, welcher, wohl kana - liſiert, das Waſſer für die Millionenſtadt Tokyo liefert, und in weiteren zwei Stunden durch einen ſchönen Wald ſteil den Berg hinan. Schon eine halbe Stunde vor dem Orte zeigt ein mitten im Wald quer über den Weg aufgeſtelltes Torii an, daß man ſich einem Shintotempel nähert. Das Torii iſt das Eingangsthor des o miya und beſteht aus zwei ſenkrechten Holzpfeilern mit einem oder auch zwei Querbalken oben darüber. So einfach das Torii ausſieht, ſo charakteriſtiſch iſt es. Wie ich201 mich auf ſpäteren Spaziergängen überzeugte, ſind auf allen Zugängen zum Tempel in ähnlicher Entfernung ſolche Torii angebracht, die ſomit das Gebiet des Kami umgrenzen. Am Fuße des letzten kurzen Aufſtiegs, auf welchem der Tempel ſteht, kommt man wieder durch ein hochragendes Torii und nach weiteren drei Minuten ſteht man vor dem o miya. Das o miya oder yashiro liegt in einem prächtigen Parkwald von uralten Krypto - merien, deren eine ich und meine zwei Studenten mit noch einem vierten nicht zu umſpannen vermochten, und die ſtimmungsvolle Umgebung, welche nicht bloß dieſem, ſondern faſt allen Shintotempeln und auch den Heilig - tümern des Buddhismus eigen iſt, macht auf den Be - ſucher unwillkürlich Eindruck. In dieſer Beziehung könnte das Chriſtentum von dem Heidentum lernen. Während man hier die Natur zu Hilfe nimmt, zieht man im Chriſtentum mehr die Kunſt zu Rate; die Kunſt aber weiſt der Shintoismus von vornherein zurück. Der Bau des Tempels iſt von mehr als puritaniſcher Einfachheit, jeder äußere Schmuck iſt verpönt. Der echte o miya iſt aus reinem Naturholz, Stein und Erz darf zu ſeinem Bau nicht verwendet werden. Der Mitaketempel iſt freilich, wie faſt alle anderen Shinto - tempel auch, rotbraun angeſtrichen, was auf den Ein - fluß des Buddhismus zurückzuführen iſt. Auf eine ſolche Beeinfluſſung deuten auch zwei buddhiſtiſche Götzen, die in kurzer Entfernung vor dem Tempel angebracht ſind1)Schmiedel hat auf dem Friedhof zu Mitake die intereſſante Beobachtung gemacht, daß bis zum Jahre 1874 alle Toten buddhiſtiſch beerdigt wurden. Ihre Grabſteine ſind oft mit buddhiſtiſchen Heiligenbildern, Biſchöfen mit dem Krummſtab geziert. Vor allem aber iſt an Stelle ihres eigentlichen Namens ſtets ihr himmliſcher Name geſetzt. Vom Jahre 1874, mit der. 202Der Tempel iſt geteilt in das Haiden, wo die Prieſter dem Kami ihre Verehrung zollen, und in das Honden, in welchem der Gott ſeine Wohnung hat, und das ſtets verſchloſſen gehalten wird; letzteres iſt oft von erſterem getrennt als ein hinter dieſem ſtehender kleinerer Tempel - bau. Kahl und ſchmucklos wie das Äußere iſt auch das Innere. Götzenbilder giebt es nicht; denn der Shintoiſt denkt ſich ſeinen Gott als Geiſt oder vielmehr, da ihm eine unkörperliche Vorſtellung doch nicht möglich iſt, als Geſpenſt. Die Gegenſtände im Innern ſind leicht aufgezählt. Da iſt eine große Trommel, welche von Zeit zu Zeit gerührt wird, da iſt ferner auf einer Art von Altar ein Metallſpiegel, welcher zwar buddhi - ſtiſchen Urſprungs ſein ſoll, aber in dem o miya zweifel - los — die Prieſter können nämlich ſelbſt darüber keine Auskunft geben — das Symbol der Reinheit ſein ſoll, da ſind ferner in der Regel einige jener kleinen Holz - gehäuſe (Tamaſhiro) als Wohnungen für die Geiſter und, was zunächſt am meiſten auffällt, zickzackförmig geſchnittene, herabhängende weiße Papierſtreifen („ Go - hei “), über deren Bedeutung vollends keine Klarheit herrſcht.
In dem Haiden verſehen des Tags über drei Prieſter („ Kannuſhi “) den Dienſt. Die Prieſter ſind, im Gegenſatz zu den Buddhaprieſtern, verheiratet, und das ganze Dorf Mitake beſteht ausſchließlich aus Prieſter - familien. Das Amt erbt vom Vater auf den Sohn, doch iſt ein Zwang durchaus nicht vorhanden; es ſteht jedem frei, ſich einen andern Beruf zu wählen. Ihre1)von der Regierung angeordneten Neueinführung des Staats - ſhintoismus, ändert ſich das mit einem Schlage. Alle buddhiſtiſchen Abzeichen verſchwinden, die Toten führen auch im Grabe ihre Namen weiter.203 Bildung iſt nicht weit her. Der Oberprieſter, ein noch ganz junger Mann, der Amt und Rang von ſeinem Vater übernommen hat, muß den Nachweis liefern, daß er die alten Ritualgebete und das Kojiki leſen kann, von den übrigen wird keine beſondere Bildung verlangt. Gehalt beziehen ſie nicht; doch werden ihnen von den Gläubigen, die in der ganzen Gegend zerſtreut wohnen, und deren Zahl ſich auf zweihunderttauſend belaufen ſoll, kleine Gaben an Reis und andern Früchten und zuweilen auch an Geld gebracht. Dabei könnten ſie freilich verhungern, zumal ſie auch noch den Kami mit ernähren müſſen und den Tempel zu unterhalten haben. Sie haben daher ihre Zuflucht zu dem Ackerbau ge - nommen. Im gewöhnlichen Leben ſind ſie weiter nichts als Bauern, von denen ſie ſich weder ſozial, noch geiſtig, noch ſittlich im geringſten unterſcheiden. Wenn dann alle vierzehn Tage wieder einmal die Reihe zum Tempel - dienſt an ſie kommt, ziehen ſie den Bauernkittel aus und legen die Prieſtertracht, weite Hoſe (hakama), Überwurf und hohe ſchwarze Kappe, an und gehen früh morgens zum Tempel hinauf. Das wichtigſte Geſchäft, welches ſie dort zu beſorgen haben, iſt die Bereitung des Opfers für den Gott. Das Opfer beſteht aus den - ſelben Speiſen, welche gewöhnliche Sterbliche auch eſſen, und auch der Sake iſt nicht vergeſſen. Man nimmt an, daß der Gott den Geiſt aus der Speiſe heraus - genießt; damit aber auch die Materie nicht verloren geht, ſo laſſen ſich die Prieſter dieſelbe als Mahlzeit gut ſchmecken, und da man neben andern guten Dingen auch an Sake um des Gottes willen nicht ſparen darf, ſo habe ich ſie manchmal des Abends in recht heiterer Stimmung vom Tempeldienſt zurückkehren ſehen. Die Vorſtellungen, welche der Shintoismus von Göttern204 und Geiſtern hat, ſind von kindlicher Naivetät. Man denkt ſie ſich nach Art von Menſchen. Darum bringt man ihnen Opfer dar, darum ſucht man ſie durch Tänze und Prozeſſionen zu unterhalten; darum auch muß man durch ſtarkes Geräuſch, Trommelwirbel und Schellen - geklingel, — viel Spektakel iſt immer das Kennzeichen niedrig ſtehender Kulte — ihre Aufmerkſamkeit zu er - wecken ſuchen; denn es wäre ja möglich, daß ſie wie die Götter Homers gerade zufällig über Land gegangen wären oder ein Schläfchen hielten. So wurde ich während der Zeit meines Aufenthaltes regelmäßig zwiſchen fünf und ſechs Uhr morgens geweckt; dann war die Zeit des Morgengebets für den Prieſter ge - kommen, und um dem Kami die Ohren für dasſelbe zu öffnen, klopfte er erſt tüchtig auf ſeiner großen Trommel herum. Auch wenn ſich Pilger zum o miya nähern, iſt das erſte, daß die dienſtthuenden Prieſter den Kami durch lauten Trommelwirbel davon in Kenntnis ſetzen, daß ihm wieder einmal eine Ehre widerfahren ſoll. Zu gewöhnlichen Zeiten paſſiert ihm das ſelten genug. Sind doch ſelbſt Wochen darüber hingegangen, bis Beter kamen, und auch dann waren es nicht mehr als zwei oder drei. Dagegen pilgern ſie im Frühling an einigen beſtimmten Wallfahrtstagen zu Hunderten und Tauſenden hinauf, laſſen ſich als Gegenleiſtung für ihre kleinen Gaben einen Tag oder zwei in den Prieſterhäuſern bewirten und ziehen dann, nachdem ſie alle im Umgrenzungsgebiet des Kami gelegenen kleinen Schreine und heiligen Plätze beſucht haben, wieder in die Ebene hinab mit dem frohen Bewußtſein, für ein Jahr wieder einmal ihrer religiöſen Pflicht gegenüber dem Kami genügt zu haben. Für beſondere Zeiten205 aber müſſen es ſchon beſondere Gründe ſein, die ſie zum o miya hinaufführen.
Iſt der Pilger am o miya angelangt, ſo zieht er ſeine Sandalen oder Holzſchuhe (geta) aus und ſteigt die Treppen empor. Auf einer oben befindlichen Platt - form vor dem Haiden bleibt er ſtehen, denn in den Tempel hineinzugehen iſt ihm nicht erlaubt. Es iſt kein unrichtiger Vergleich, wenn man dieſe Plattform den Vorhof, das Haiden das Heilige und das Honden das Allerheiligſte nennt, wie ſich denn auch mit Bezug auf Speiſeopfer, Reinigungen, Hoheprieſteramt, Tempel - dienſt, geiſtige Gottesvorſtellung ꝛc. Berührungen mit der alten israelitiſchen Religion finden laſſen.
Bei den Tempeln, wo keine wachehabenden Prieſter ſind, die den Gott auf den Gläubigen aufmerkſam machen, iſt eine Schelle angebracht, die der Gläubige zieht, oder ein Gong, das er anſchlägt. Darnach verneigt er ſich, klatſcht in die Hände und bleibt eine Viertelminute wie in tiefer Ehrerbietung und Andacht ſtehen. Darnach ein abermaliges Händeklatſchen und der ganze Gottes - dienſt iſt zu Ende. Mit Worten betet er dabei nicht; es kommt ihm nur darauf an, durch ſeinen Be - ſuch und den Erweis ſeiner Ehrerbietung die Gunſt der Gottheit zu gewinnen. Länger als eine halbe Minute währt der Gottesdienſt nicht, und eine andere Art des Gottesdienſtes, etwa mit Predigt und Liturgie, iſt dem Shintoiſten nicht bekannt. Predigten werden nicht ge - halten, und im allgemeinen iſt der Gläubige zufrieden, daß der Kaiſer und die Prieſter für ihn beten. Das iſt ja doch unendlich viel wirkſamer als alle Verehrung eines einfachen Mannes, der vor dem Angeſichte des Kami wenig gilt.
Welches ſind nun die Anliegen, derentwegen die206 Pilger vor der Gottheit erſcheinen? Mitunter ſind es Krankheiten, zuweilen auch Heirats - und andere Schmerzen, in weitaus den meiſten Fällen aber ſind es Ernteſorgen. Die große Frühjahrswallfahrt bedeutet den Dank für die Ernte des Vorjahrs und zugleich die Bitte um neuen Ernteſegen. Auch bei den paar Pilgern im Sommer waren es Witterungsſorgen, die ihnen am Herzen lagen. Denn während wir hoch oben auf dem Berge die halbe Zeit im Nebel ſaßen und Feuchtigkeit im Überfluß hatten, brannte in der Ebene die Sonne heiß auf die Felder nieder und trocknete ſie aus. Da machte ſich denn der eine oder andere in der Angſt ſeines Herzens auf zum „ Amagoi “(Bittgang um Regen) bei dem Kami von Mitake. Und wenn er demſelben ſeine Aufwartung gemacht hatte, ſo ging er wohl noch durch eine wundervolle Allee von Kryptomerien den alten Pilgerpfad hinab nach dem heiligen Waſſerfall Nanataki, der in ſieben Gefällen zwiſchen dem undurch - dringlichen Geſtrüpp des Waldes ſich brauſend herab - ſtürzt, um nach dem letzten Sturz in einem kleinen Teich ſich zu ſammeln, ehe er als munterer Bergbach weiterfließt. Bei dieſem Teich ſind einige Miniatur - tempelchen angebracht und in den Felſen ſind Inſchriften zum Preiſe der Gottheit eingehauen. Hier läßt ſich der Pilger auf ſeine Kniee nieder, zieht ein kleines Bambusgefäß heraus und füllt dasſelbe mit dem Waſſer des Teiches. Nachdem er es gut verkapſelt, tritt er den Heimweg an; den heiligen Berg geht er hinab und durch die Ebene hin ohne Raſt bis zur Gemarkung ſeines Heimatdorfes. Hätte er ſich aber nur ein einziges Mal verweilt, ſo wäre alle Mühe umſonſt geweſen. Leider iſt ſie aber auch ſo manchmal vergebens, und wenn es nun gar zu arg mit der Trockenheit wird, ſo207 holen die Prieſter den großen Drachenkopf, die Maske der Gottheit, hervor, um in feſtlichem Umzug ein feierliches „ Amagoi “nach dem Waſſerfall zu unter - nehmen, wo man durch Untertauchen des Drachenkopfes den Gott fühlbar an das naſſe Element erinnert. Dieſer ebenſo nachdrücklichen als ehrenden Prozedur, ſo glaubt man, kann der Kami gewiß nicht widerſtehen.
Wie Schmiedel berichtet, ſind aber „ die Prieſter nicht allein Wettermacher für den einzelnen Fall, ſondern auch Propheten der im Jahr zu erwartenden Frucht - barkeit. Im Frühjahr findet nämlich folgende Ceremonie ſtatt. Ein Prieſter nimmt im Beiſein anderer den Schenkelknochen eines Hochwilds, legt ihn auf ein Stück Papier und zeichnet ihn darauf ab, teilt dann das Nachbild auf dem Papier in ſo viel gleiche Teile ein, als Getreidearten auf dem Gebiet wachſen, das zum Mitaketempel gehört, und merkt die Reihenfolge der - ſelben an. Nun wird der Knochen ins Feuer gehalten, bis er eine Anzahl Riſſe bekommt. Man legt ihn darauf wieder auf das Papier und lieſt an der Anzahl der Riſſe ab, wie vielfältig die einzelnen Getreidearten in dieſem Jahre tragen werden “.
So rufen die Prieſter Kabbalismus und Zauberei zu ihrer Hilfe, und um ihrer Stellung willen thun ſie gut daran; denn es iſt ſonſt nichts, was ihrer Stellung Halt verleiht. Gottesdienſte halten ſie nicht. Seelſorge iſt ihnen gänzlich unbekannt. Selbſt bei Beerdigungen werden ſie ſelten, die Mitakeprieſter nie, in Anſpruch genommen, da man die Toten in der Regel buddhiſtiſch beerdigen läßt. Jugendunterricht kümmert ſie nicht. In den weltlichen Fächern ſind die wenigſten unter ihnen, die Landprieſter vollends nicht genugſam be - ſchlagen, und Religionsunterricht können ſie ſchon darum208 nicht erteilen, weil der Shintoismus eine Morallehre nicht beſitzt. In dieſer Beziehung giebt es keine ödere und geiſtloſere religiöſe Urkunde als das Kojiki. Es iſt ja wohl wahr, daß der Shintoismus ſtaatserhaltend wirkt, inſofern er eine ſtarke Stütze der Monarchie iſt, auch wird durch die Ahnenverehrung die Pietät gegen die Vergangenheit geweckt; doch ſind auch dieſes nur indirekte Wirkungen des Syſtems, aber keine ausdrück - lichen Gebote. Bis vor kurzem hat man das Fehlen einer Sittenlehre damit zu erklären verſucht, daß man ſagte, die Japaner ſeien von Natur ſo gut, daß ſie ſittlicher Vorſchriften nicht bedürften; infolgedeſſen darf man die ſhintoiſtiſche Sittlichkeit als ein Sichausleben der eigenen Natur bezeichnen. Das iſt heute teilweiſe anders geworden. Der Kampf um die Exiſtenz zwingt auch den Shintoismus zu Kompromiſſen mit den An - forderungen der Gegenwart, und ſo hat er ſich bequemt, auch kurze Broſchüren moraliſchen Inhalts herauszu - geben. Dieſelben ſind aber nichts weiter als Abklatſch aus dem Konfuzianismus, mit welchem er ſich gegen - wärtig zu Schutz und Trutz verbunden hat.
Je mehr aber der Shintoismus die Moral des Herzens und Lebens vernachläſſigt hat, deſto mehr Gewicht legt er auf Äußerlichkeiten, im beſondern auf Ceremonien der Reinigung. Wie bei andern Völkern, ſo giebt es auch hier gewiſſe Dinge, welche, wie Ge - burt und Tod, verunreinigen. Dieſe Verunreinigung wird durch Abwaſchung des Körpers mit Waſſer wieder gutgemacht (vergl. das Bad des Izanagi nach ſeiner Rückkehr aus dem Totenreich). Ehe der Prieſter zum Tempel geht, hat er ſich einer Reinigung zu unter - ziehen. Während gewöhnliche Beſucher das Haiden des Tempels nicht betreten, iſt das mir und meinen beiden209 chriſtlichen Schülern einmal geſtattet worden, da wir den Wunſch ausgeſprochen hatten, die Schätze des Tem - pels — ein paar ſehr alte Schwerter nebſt Rüſtung ꝛc. — zu beſichtigen. Wir traten in das Haiden und ließen uns in japaniſcher Weiſe auf dem mit Matten belegten Boden nieder. Darnach kam der Oberprieſter in feierlicher Amtstracht an uns heran und beſtrich uns mit einem Wedel von „ Gohei “an einem Zweige des heiligen Sakakibaumes Kopf und Körper. Dieſe Reini - gung („ harai “) war ſymboliſcher Art, und es iſt wohl anzunehmen, daß ſich urſprünglich auch der Gedanke einer inneren Reinigung damit verband, vielleicht daß es eine Art Exorcismus, die Austreibung böſer Geiſter wie bei Beſeſſenen ſein ſollte. Der Prieſter weiß es ſelbſt nicht genau.
Mehr noch erinnert die große Reinigung, das ſogen. „ O harai “, daran, daß auch dem Shintoismus eine beſchränkte ſittliche Reinigung von Sündhaftigkeit nicht unbekannt iſt1)Vergl. Dr. H. Weiperts hochintereſſanten Aufſatz: „ Das Shintogebet der Großen Reinigung “in den Mitteilungen der Deutſchen Geſellſchaft ꝛc. Heft 58. Vergl. auch Dr. A. Florenz’ Überſetzung und Kommentar des Nihougi, eine rechte deutſche Gelehrtenarbeit.. Das „ O harai “iſt eine Entſühnung des ganzen Volkes, welche jährlich zweimal, am letzten Juni und am letzten Dezember, in allen öffentlichen Shintotempeln des Landes in Anweſenheit der Bezirks - beamten vorgenommen wird. Eine Gemeinde iſt dabei nicht anweſend, das Volk hat nichts damit zu thun, und von einer μετάνοια, von Buße und Beſſerung, iſt darum keine Rede dabei. Die Entſühnung findet ſtatt für alle Übertretungen wider den Reisbau, für alle Arten von Verunreinigungen einſchließlich ekelhafter Krankheit wie Ausſatz, für Körperverletzung und Leichen -14210ſchändung, für Blutſchande und Sodomiterei, für Tötung fremder Tiere und Behexung, alſo für Sünden, die mit leiblicher Befleckung enge Berührung haben. Die feineren, aber nicht minder verderblichen Sünden bleiben uner - wähnt. Als ein wahrhaft klaſſiſches Beiſpiel japa - niſcher Höflichkeit darf es bezeichnet werden, daß in dem dabei verleſenen Gebet dem Volke dieſe Sünden nicht geradehin auf den Kopf zugeſagt werden, ſondern daß von ihnen als von „ wohl nur durch Achtloſigkeit begangenen Sünden “geredet wird1)Man vergleiche dazu auch die von A. B. Mitford („ Tales of Old Japan “) mitgeteilten buddhiſtiſchen Predigten, wo der Prediger auch in vollendeter Höflichkeit, aber mit feiner Ironie ſagt: „ Ich will damit nicht geſagt haben, daß es ſolche ſchlechte Leute auch hier unter euch giebt; aber dennoch findet man viele derſelben z. B. in den Winkelgaſſen von China und Indien “.. Außer dem „ O harai “ſind es noch einige wenige Feſte, die in den Tempeln nach einer kaiſerlichen Verordnung modernen Datums zu feiern ſind2)Vergl. Spinner: „ Moderner Shintoismus “Z. M. R. V, 1 ff.. Doch handelt es ſich dabei mehr um eine bureaukratiſche Einrichtung als um popu - läre Religion.
Ich habe mich auf Mitake vergeblich bemüht her - auszubringen, wer die Gottheit iſt, die man dort ver - ehrt. Der Shintoismus hat eine Unmenge von Göttern. Das Kojiki ſpricht von achthundert Myriaden d. h. von acht Millionen, und da ſind die böſen Götter noch nicht einmal dabei; und ſeit den Zeiten des Kojiki iſt die Zahl noch größer geworden. Man denkt ſich eben den Himmel in derſelben Weiſe bevölkert wie die Erde. Die gewöhnlichen Götter, die ſelbſt nur Diener der höheren ſind, ſind für die religiöſe Verehrung belanglos. Die in Mitake verehrte Gottheit iſt als eine mit der Landwirtſchaft befaßte Naturgottheit gedacht, aber in211 unklarer Weiſe; ich habe im Rayon des Berges einen Schrein gefunden, der einem berühmten uralten Lokal - helden gewidmet iſt, und es iſt ſehr wahrſcheinlich, daß die Verehrung urſprünglich ihm gegolten hat. Später iſt der Lokalhero mit einer Naturgottheit in eins zu - ſammengeſchmolzen. Die Umriſſe der meiſten Gottheiten ſind ſchattenhaft und verſchwommen. Gleichwie im Volk der Name des Kaiſers unbekannt iſt, ſo daß man ihn nur mit ſeinem Titel „ Tennō “nennt, ſo kennt man den Gott von Mitake nur als „ Kami “. Ein Prieſter fabelte mir vor, daß er in Geſtalt eines weißen Wolfes er - ſcheine. Tierkultus und Tieraberglaube ſind im Shin - toismus nicht wenig ausgeprägt. Der Fuchs als Bote und Diener des populären Reisgottes Inari genießt eine ganz beſondere Verehrung. Mit den Zauber - künſten von Fuchs, tanuki (Viverrenhund) und Katze beſchäftigt ſich die Volksphantaſie in hohem Grade; es knüpfen ſich an ſie eine Menge von Fabeln und Mär - chen, die dort vom gewöhnlichen Volk mit demſelben Andachtsſchauer angehört werden, wie bei uns ähnliche Geſchichten von den Kindern. In Japan haben die Katzen anſtatt der Schwänze nur kleine Stummel wie etwa die Ziege. Als Grund dafür ließ ich mir erzählen, daß man den Sitz der Zauberkraft der Katze hauptſächlich im Schwanz geſehen habe. Man habe ihr darum in alten Zeiten den Schwanz immer abgehauen, bis er ſchließlich von ſelbſt ausblieb. Ob unſere Biologen ſich damit einverſtanden erklären können, weiß ich nicht. Eine unſerer gefördertſten Chriſtinnen teilte mir einſt mit, daß auf Surugadai ein Fuchs eingefangen worden ſei, welcher weisſage; eine ihrer Freundinnen ſei dort ge - weſen, ihn zu hören. Ich erklärte die Sache für Schwindel. Darauf entgegnete ſie nach einigem Be -14*212ſinnen: „ Das mit dem Weisſagen, das mag wohl Schwindel ſein; aber daß es Füchſe giebt, die ſprechen, iſt eine bekannte Thatſache “. Erſt als bald darauf hinter dem Fuchs ein bauchredender Shintoprieſter ent - deckt wurde, kam ſie von ihrem Aberglauben zurück. Beſeſſenheit und zwar ſo, daß man ſich von einem Fuchs, ſeltener von einem anderen Tier, beſeſſen wähnt, iſt eine nicht ſeltene Frucht ſolchen Aberglaubens. Dr. Bälz, deutſcher Profeſſor der Medizin an der kaiſerlichen Univerſität zu Tokyo, hat ſelbſt ſolche Fälle in Behandlung gehabt. In einem Teile von Izumo giebt es ganze Familien, die als fuchsbeſeſſen gelten, und eheliche Verbindungen und nähere Berührungen mit ihnen werden ebenſo ängſtlich vermieden wie mit Ausſatz behafteten Familien. Fuchs, tanuki und Katze haben die Macht, ſich in Menſchengeſtalt zu wandeln, um ihr Hexenwerk zu verrichten, während umgekehrt die böſen Geiſter oft die Geſtalt von Tieren annehmen. Die Furcht vor dieſen Zaubertieren iſt daher groß im Volk. Dagegen giebt es auch einige, welche eine gute ſymboliſche Bedeutung haben; ſo bedeuten Schildkröte und Kranich langes Leben.
Auch die Pflanzenwelt liefert Material genug zu anmutender Symbolik, die aber auch gar leicht zum Aberglauben wird. Zweige des heiligen Sakakibaumes dürfen bei keiner ſhintoiſtiſchen Ritualhandlung fehlen, und bei Begräbniſſen nach dem ſhintoiſtiſchen Ritus wird von jedem Leidtragenden unter tiefer Verneigung gegen den Toten ein Sakakizweig als Opfer niedergelegt. An Neujahr wird der Eingang in das Haus mit Bambus, dem lang aufſchießenden, und mit Fichte, der immer - grünen, den Symbolen langen Lebens, geſchmückt, und für ein Ehepaar, deſſen Hochzeit nicht unter Bambus,213 Fichte und Pflaumenblüte ſtattgefunden hat, iſt wenig Gutes zu erwarten. So ſtehen die japaniſchen Volks - ſitten mit ihren oft ſehr ſympathiſchen Zügen in enger Beziehung zum Shintoismus. Schade nur, daß man aus der ganzen peinlich ſkrupulöſen Art, mit der man ſie handhabt, den Aberglauben herausmerkt. Wenn man aber in unſerm Volke noch Züge eines ähnlichen Aberglaubens findet, ſo iſt in Analogie mit Japan die Quelle davon unſchwer zu entdecken: Es iſt die alte heidniſche Religion.
Als die Urahnen des Volkes vom Feſtland nach Japan einwanderten, brachten ſie den Shintoismus ſchon mit. Die Ähnlichkeit mit dem altchineſiſchen Animis - mus weiſt das zur Genüge nach. Bis zur Mitte des ſechſten Jahrhunderts, d. h. bis zum Auftreten des Buddhismus in Japan, war der Shintoismus die einzige Religion. Das Staatsweſen war damals ſo enge mit ihm verknüpft, daß man ſehr wohl von einer Theokratie ſprechen kann. Das Leben des japaniſchen Volkes war nur die Fortſetzung des Lebens ſeiner gött - lichen Ahnen, ein Gott beherrſchte das Volk als Mikado, Religion und Staat fielen in eins zuſammen. Sobald aber der Buddhismus Ernſt machte, war es mit der Herrlichkeit des Shinto vorbei; der öde Kult war dieſer Macht mit ihrer äußeren Pracht, ihrem religiöſen Ernſt und ihrer ſittlichen Tiefe nicht gewachſen. Und als der neue Glaube vollends weitherzig genug war, auch die Götter des Shintoismus in ſein Syſtem zu übernehmen, da nahm man vom Kaiſer bis zum Bettler keinen Anſtand mehr, ſich dem Neuen zuzuwenden. Nun trat für den Shintoismus eine Zeit ein, da man nur noch von einem Vegetieren desſelben ſprechen darf. Er ſpaltete ſich in eine Anzahl von Sekten, die einen zählen214 deren fünf, die andern zehn, ihre Zahl iſt ſchwankend; aber ſie beſtehen heute noch, wenn auch ihre Unter - ſcheidungslehren dem Volk und zum großen Teil wohl auch den Prieſtern unbekannt ſind. Nur am Hofe und in den berühmten Tempeln zu Iſe und Izumo wurde der urſprüngliche Shinto noch einigermaßen bewahrt. Die meiſten yashiro im Lande wurden durch buddhiſtiſche Prieſter bedient, die natürlich nichts Eiligeres zu thun hatten, als durch ornamentales Beiwerk und durch Ein - führung buddhiſtiſcher Ceremonien die Einfachheit des alten Kultes zu zerſtören; daher findet man außer dem Tempel der Sonnengöttin Tenſho Daijin in Iſe und dem des Erdbeherrſchers Okuninuſhi in Izumo bis heute kaum noch einen, der ſeine urſprüngliche reine Form bewahrt hätte. Auf dieſe Weiſe entſtand eine Miſchung des alten und des neuen Glaubens, welcher unter dem Namen Ryobu-Shinto bekannt iſt.
Um das Jahr 1700 aber ſollte ſich das Verhältnis zwiſchen den beiden Religionen anders geſtalten. Die Zeit der freiwilligen und friedlichen Unterwerfung von Shinto nahm ein Ende, die Periode des Wiederauf - lebens des reinen Shinto brach an1)„ Revival of Pure Shinto “by Ernest Satow in den „ Trans - actions of the Asiatic Society of Japan “, vol. III App. . Es wurde plötz - lich Mode, die altjapaniſchen Urkunden des Kojiki, Nihongi ꝛc. zu ſtudieren, und unter den Gebildeten brach eine förmliche Begeiſterung aus für alles, was altjapaniſch hieß. Die großen Gelehrten Motoori in der zweiten Hälfte des achtzehnten und Hirata in der erſten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, die be - rühmten Kommentatoren des Shintoismus, verhalfen der Bewegung vollends zum Sieg. Der Shintoismus215 als nationales Element konnte dabei nur gewinnen, der Buddhismus als fremde Religion nur verlieren. Die Bewegung blieb natürlich keine rein religiöſe und litterariſche; infolge der Verbindung des Shintoismus mit dem Kaiſerhaus nahm ſie bald einen politiſchen Charakter an und wendete ſich gegen das kaiſerfeind - liche Shogunat, welches den Buddhismus auf Koſten des Shinto in jeder Weiſe begünſtigt hatte. „ Der Sohn des Himmels “, der Mikado, wider den Shogun, das wurde die Loſung des Tages, die Loſung, welche in der Reſtauration von 1868 den Sieg errang. Nun wurde der Shintoismus alleinige Staatsreligion, und eine Art Miniſterium für geiſtliche Angelegenheiten (Kyōbuſhō) wurde für ihn eingerichtet. Eine Anzahl buddhiſtiſcher tera wurden in miya verwandelt, die Ryobu-Shintotempel wurden von allem buddhiſtiſchen Beiwerk „ gereinigt “, wobei wahre Prachtſtücke japaniſcher Architektur und Ornamentik zu Grunde gingen. Ein neues Ceremoniell für feierlich zu begehende Feſte (matsuri) wurde herausgegeben, und damals war es auch, wo die Beſtimmung getroffen wurde, daß das große O harai, welches zuvor unregelmäßig ſtattgefunden hatte, zweimal im Jahr unter ſtaatlicher Aufſicht vor - genommen werden müſſe. Es waren rein äußere Stützen, wie ſie in der Amtsſtube fabriziert werden, womit man dem greiſenhaften Syſtem wieder auf die Beine helfen wollte; von religiöſer und ſittlicher Reform war da - gegen wenig und nichts bemerkbar.
Unter dem Hochdruck der Staatsgunſt ſchien der Shintoismus in der That eine Zeitlang das Feld zu behalten. In Wirklichkeit aber war das nur trügeriſcher Schein. Zwar der Staatsſhintoismus beſteht noch, wenn auch nicht mehr als Staatsreligion, und wenn auch das216 geiſtliche Miniſterium in Wegfall gekommen iſt und nur noch wenige Tempel aus Staatsmitteln unterhalten werden. Aber die eigentliche Volksreligion blieb der im Volk gewurzelte Buddhismus, neben welchem man dem Shintoismus inſoweit huldigt, wie das bei der Darſtellung des volkstümlichen Shintoismus beſchrieben wurde.
Neuerdings iſt dem Shintoismus noch einmal eine Chance geworden und zwar nicht von ſtaatlicher, ſondern von ethiſcher Seite. Der Kampf wider das Chriſtentum nötigt die alten Mächte zum Zuſammengehen, und ſelbſt alte aufgeklärte Konfuzianiſten ſehen keine andere Mög - lichkeit des Sieges, als daß ſie ſich mit dem früher verachteten ſhintoiſtiſchen Aberglauben verbinden. In einem ſogen. „ Neuſhintoismus “ſoll die Verehrung der alten Götter wieder aufleben, und damit die neue Religion auch inneren Halt und Gehalt beſitzt, ſo wird ihr die altjapaniſche Tugendlehre auf dem Grunde der Pietät und Loyalität eingefügt. Die Idee hat großen Anklang gefunden. Bei einem Feſte, welches vor Jahresfriſt unter dieſer Parole bei den Iſetempeln ſtattfand, ſollen eine Viertelmillion Menſchen aus allen Teilen des Landes zugegen geweſen ſein. Gleichwohl iſt es ein Verzweif - lungsakt, und die ihn in Scene geſetzt haben, glauben ſelbſt nicht an die Shintogötter. Die altjapaniſche Bewegung mag dadurch für eine Weile geſtärkt werden, der Shintoismus wird dabei nicht wieder lebendig gemacht; er wird ſterben, ob er auch in einzelnen Äuße - rungen ſeines Aberglaubens noch die Jahrhunderte überdauern wird.
Wenige Meilen ſüdweſtlich von Yokohama liegt Kamakura. Im Mittelalter war es die blühende Reſi - denz der Shogune, deren Einwohnerzahl auf über eine Million geſchätzt wurde, heute iſt es ein elendes Fiſcher - dorf. Unter den wenigen Zeugen einer längſt ent - ſchwundenen Pracht befindet ſich eine Rieſenſtatue des Buddha1)Buddha = der Erkennende; Sakiyamuni = der Weiſe aus dem Geſchlecht der Sakiya; Gautama = der Entſagende.. Dieſelbe wurde um das Jahr 1250 aus Kupferbronze gefertigt. Mehr als einmal bin ich in ihrem Innern in die Höhe geſtiegen und habe durch das Auge des erleuchteten Weiſen hinausgeſchaut in die Weite.
Eines Tages kam ich mit einem deutſchen theologiſch - belletriſtiſchen Schriftſteller dahin, um ihm den Daibutſu (dai = groß, Butsu = Buddha) von Kamakura zu zeigen. Am Eingang des Tempelgrundes iſt eine Tafel angebracht, auf welcher in engliſcher Sprache geſchrieben ſteht: „ Fremdling, mit Ehrfurcht betrete dieſen Ort! “ Gerade als wir an dieſer Tafel vorübergingen, kam uns der Daibutſu zu Geſicht. Mein Begleiter hatte bei ſeinem Anblick nichts Eiligeres zu thun als auszurufen: „ Welch ein Scheuſal! “ Nun iſt der Daibutſu für unſern Geſchmack allerdings nicht das Ideal der Schönheit; aber die Worte wirkten doch verletzend, und als un - mittelbar darauf eine Herde von Wagenziehern auf uns losſtürmte und unter den Zeichen ausgelaſſenſter Freude218 meinen Begleiter mit einem lauten „ Daibutſu, Daibutſu “begrüßten, konnte ich mich eines kleinen Lächelns der Genugthuung nicht erwehren. Der Landsmann ſchaute mich fragend an, aber ich konnte ihm doch nicht wohl verraten, daß „ Daibutſu “nicht nur „ Großer Buddha “, ſondern auch „ großes Ding “bedeute und als eine nicht ſehr reſpektvolle Bezeichnung für „ ſtattliche “Leute ge - braucht werde. Die Kuli hatten ſich kindiſch gefreut, wieder einmal eine gute Gelegenheit zu einem ihrer ſo ſehr beliebten Wortſpiele zu haben.
Bei dieſem Beſuch wollte es mir nicht gelingen, in Stimmung zu kommen. Ich hatte ſchon manchmal dort geſtanden, aber mit anderen Gefühlen als mit denen des Abſcheus. Die unendliche Sanftmut und die wahrhaft erſchütternde Reſignation in dieſem ruhigen, leidenſchaftsloſen, frauenhaft weichen Angeſicht war nie ohne Eindruck auf mich geblieben, und immer wieder ging mir’s dabei wie die unſagbar traurige Weiſe eines melancholiſchen Klageliedes durch den Sinn:
Niemals habe ich mich dort erbaut und gehoben gefühlt wie in einer chriſtlichen Kirche, wehmütig be - wegt ging ich jedesmal davon, und doch zog es mich immer wieder hin. Befriedigt war ich nie, denn das habe ich ſtets deutlich empfunden: „ Dieſe ſtumme Reſignation iſt nur ein Scheinfriede; das kann das Ende nicht ſein! “ ; und gerade aus dieſer hoffnungsloſen219 Entſagung tönte mir lauter als aus den leidenſchaft - lichſten Ausbrüchen des Schmerzes der Verzweiflungsruf entgegen: „ Ich elender Menſch, wer wird mich erretten von dem Leibe dieſes Todes? “ Es iſt kein Heiland, der da herabſchaut; denn ſein zur Erde geſenktes Auge hat keinen Blick für den Himmel und ſein ſtreng ge - ſchloſſener Mund öffnet ſich nicht zu dem Siegesruf: „ Seid getroſt, ich habe die Welt überwunden! “ Aber es iſt ein Menſch, der den Jammer der Welt, das Elend der leidenden Menſchheit in weichem, warmen Herzen wie wenige Sterbliche mit empfunden hat. Es iſt die Majeſtät des Leidens, die in ihm verkörpert iſt, es iſt der Apoſtel der Entſagung, den wir da vor uns haben.
Dieſelben Töne, welche der Prediger Salomos in mächtig ergreifenden Akkorden anſchlägt und die im Buche Hiob und an hundert andern Stellen der Heiligen Schrift ihr Echo finden, bilden den Grundton ſeiner Verkündigung. Leben iſt Leiden, lehrt der indiſche Weiſe, und wer vom Leiden befreit ſein will, muß auf das Leben verzichten. Die Phänomena des Daſeins, das Sein und Werden der Welt ſind nicht Wahrheit, ſon - dern Schein. Alle Freuden und Genüſſe des Lebens ſind wie eine glänzende Fata Morgana, die nicht be - friedigen will noch kann, vielmehr den unglückſeligen Menſchen, der wahnumfangen ſich ihr hingiebt, in das Verderben lockt. Selig, wer ihnen zu entſagen die Kraft hat, wer den Schleier der trügeriſchen „ Maya “(Schein) zerreißt und die Wahrheit erkennt, die da heißt — das Nichts, das doch mehr iſt als das Nichts. Wer am Leben hängt, bleibt ewig unglücklich. Nicht das Hoffen, ſondern das Entſagen, nicht das Wünſchen, ſon - dern das Stillſichbeſcheiden, nicht das Thun, ſondern das Laſſen, nicht das Streben und Kämpfen, ſondern das220 ſinnende Sichverſenken, mit einem Wort: Die Ertötung der „ Begierde “im Menſchen iſt es, was ſelig macht. Wer mit der Welt innerlich gebrochen und mit dem Leben abgeſchloſſen hat, dem können Welt und Leben nichts mehr anhaben, er iſt über ſie erhaben, er hat den Frieden. Wem aber das eigene „ ich “noch etwas wert iſt, der bleibt zu ſeinem eigenen Fluch gebannt an dieſes „ ich “, und ob er auch ſtürbe, ſo kann die Seele doch nicht ſterben, weil ſie nicht ſterben will; ſie geht in einen andern Körper über, ſei es eines Menſchen, ſei es eines Tieres, ſei es gar noch eines niedrigeren Weſens. Erſt wer in einer langen Reihe von Seelen - wanderungen gelernt hat, die Eigenluſt und Selbſtſucht des „ ich “zurückzudämmen und zu vernichten, der ſoll wie der Tautropfen, der von dem Strahl der Morgenſonne aufgeſogen wird, eingehen in das Nirwana, das Reich der ewigen Ruhe.
Zwiſchen dem Kagayaſhiki, dem Gehöfte der kaiſer - lichen Univerſität, und dem Uenopark, in welchem der prächtige Tempel des Gongenſama, des vergöttlichten Iyeyaſu ſteht, liegt ein großer Teich, der Uenoteich ge - nannt. Derſelbe iſt über und über mit Lotusblättern beſät. Und wenn man früh am Morgen, wo des Tages Lärm und Geräuſch noch nicht laut geworden iſt, an dieſen Teich kommt und ſieht die breiten Blätter der heiligen Lotuspflanze regungslos auf dem unbewegten Waſſer liegen, dann überkommt die empfindende Seele wohl ſelbſt ein Zuſtand wie eines wunſchloſen Friedens, dann verſteht ſie, was Nirwana bedeuten ſoll: Es iſt weder Leben noch Tod, es iſt ein dämmerndes Träumen, das melancholiſche Vergeſſen des Grabes und das ſüße Glück des im Schlafe lächelnden Kindes. Wer es ge - ſehen hat, weiß, daß der Buddhismus kein treffenderes221 Symbol ſeines Nirwana finden konnte, als das ruhende Lotusblatt auf dem unbewegten Gewäſſer.
Buddha kennt weder Gott noch Erlöſer. Da iſt niemand, der dem armen Menſchen beiſteht, zum Nir - wana kommt er nur aus eigner Kraft. Daß er es aber vermag, das hat Buddha an ſeinem eigenen Beiſpiel gezeigt. Er, der doch auch nichts war als ein Sterb - licher, und der durch nicht weniger als fünfhundert fünfzig Transmigrationen hindurch gegangen war, ehe er in das Nirwana einging, iſt Wegweiſer für ſeine Nachfolger geworden.
Die Moral des Buddhismus iſt entſprechend der ganzen Lehre eine negative. Das moſaiſche „ du ſollſt nicht “charakteriſiert auch dieſe Sittenlehre, und das Grundgebot lautet: „ Du ſollſt deiner ‚ Begierde‘ nicht nachgeben “. Dieſes Gebot wurde ſpezialiſiert in die fünf ſogen. Hauptgebote: 1. Du ſollſt nicht ſtehlen; 2. du ſollſt nicht lügen; 3. du ſollſt nicht unmäßig ſein; 4. du ſollſt nicht töten; 5. du ſollſt nicht ehebrechen. Aber auf dieſer breiten Grundlage ſchuf der Buddhis - mus ſpäter ein dem milden Geiſte ſeines Stifters ent - ſprechendes hochſtehendes Moralſyſtem, und es muß ihm zum Ruhm nachgeſagt werden, daß er nicht nur die groben Sünden ſtrenge verbot, ſondern auch großes Gewicht auf die Bekämpfung der feineren Sünden wie Stolz, Trotz, Ungeduld, Zorn, Neid, Habſucht legte. Die Wiedergeburt ſoll die genaue Frucht der vorher - gehenden Thaten ſein. „ Was der Menſch ſäet, das wird er ernten “, das iſt das Geſetz, das mit unerbitt - licher, durch keine Gnade gemilderter Strenge durch die ſittliche Welt hindurchgeht und Sünde und Strafe wie Urſache und Wirkung in regelrechter Folge miteinander unlöslich verkettet. Aus Gutem wird Gutes geboren222 und aus Böſem Böſes; der Bettler, der gute Thaten gethan, kann als Fürſt wiederum das Licht der Welt erblicken, während der grauſame Machthaber über Mil - lionen in einem neuen Daſein als ein gehetztes Wild des Feldes die Schuld ſeiner früheren Sünden bezahlt.
Daß auch ein Chriſt für dieſe Lehren Sympathie haben kann, iſt begreiflich; denn das warme Herz und der ſittliche Ernſt in ihnen ſind unverkennbar. Daß man ſich aber auch für den modernen Buddhismus erwärmen kann, oder daß gar Chriſten zu ihm über - treten, wie es in einigen wenigen Fällen vorgekommen iſt, iſt unverſtändlich; denn es iſt ein Syſtem des Hum - bugs, dem ſie ſich geſellen.
In Japan ganz und gar ſo. In dem modernen japaniſchen Buddhismus iſt die ſoeben geſchilderte Lehre nur noch dunkel erkennbar. Der Japaner hätte auch nach ſeiner ganzen Veranlagung ſchwerlich etwas damit anzufangen gewußt. An Stelle des urſprünglichen Atheismus trat ein ganzes Heer von Göttern und Götzen; der anfängliche Peſſimismus iſt einem dem alltäglichen Leben angepaßten vulgären Optimismus gewichen; die Sittenlehre iſt zwar nicht ohne veredelnde Wirkung auf das Volk geblieben, iſt aber gegenüber der konfuzianiſchen Moral nie recht zur Geltung ge - kommen; die Lehre von der Seelenwanderung wurde zwar theoretiſch beibehalten, iſt aber praktiſch nicht von ſehr großer Bedeutung; das nebelhafte, verſchwommene Nirwana wurde durch einen greifbaren Himmel mit Amida Buddha als König erſetzt, während in der neu geſchaffenen Hölle der gefürchtete Emma-sama (der Brahmagott Yama) als ſtrenger Richter die Böſen quält. Doch ſind auch durch Himmel und Hölle die Gedanken an das eigene zukünftige Leben bei den223 Japanern nicht beſonders geweckt worden. Der Bud - dhismus, der ſeiner ganzen Lehre nach urſprünglich eine tiefſinnige Philoſophie war, iſt ſomit im höchſten Grade vulgär geworden, und ſo gerade paßte er den Japanern.
Aber es iſt doch nicht etwa ſo, als hätten ihn die Japaner allein gerade für ſich ſo zugemodelt. Zwar die letzte Politur haben ſie dieſem exoteriſchen Bud - dhismus gegeben; aber echt hatten ſie die Lehre Saki - yamunis ſchon ſeit alten Zeiten nicht beſeſſen, und nur wenige Auserwählte haben etwas darum gewußt. Als der Buddhismus etwa um dieſelbe Zeit, wo Paulus das Chriſtentum über die Grenzen Paläſtinas hinaus - trug, durch eine chineſiſche Geſandtſchaft aus Indien nach China kam, hatte er ſchon viel von ſeinem eigent - lichen Weſen eingebüßt, und in den folgenden Jahr - hunderten thaten die Chineſen das ihrige dazu, um ihn vollends zu entſtellen. So kam er ſchließlich nach Japan.
Es war im Jahre 551 n. Chr., als der König von Kudara, einer der drei Provinzen Koreas, dem Kaiſer Kimmei ein Bildnis des Shaka, wie Sakiyamuni ja - paniſch heißt, und einige buddhiſtiſche Bücher über - ſandte. Die neue Religion ſoll auf Kimmei, welcher das Geſchenk dankbar annahm, einen großen Eindruck gemacht haben, und er gab das Buddhabild ſeinem Premierminiſter Iname zur Aufbewahrung. Dieſer ſtellte es in einem ihm gehörigen Hauſe auf und machte dieſes Haus zum erſten Buddhatempel in Japan. Bald darauf aber brach eine Seuche aus, und es gelang den Feinden der neuen Religion, dem fremden Gott die Schuld daran aufzubürden. Das Bildnis wurde in das Meer geworfen und der Tempel zerſtört.
Das war das Ende des erſten Auftretens des Buddhismus, das ſo hoffnungsvoll begonnen hatte.
224Bald aber ſollte es anders kommen. In Shōtoku Taiſhi, einem der weiſeſten Fürſten, die je die Geſchicke des Landes lenkten, erſtand drei Jahrzehnte ſpäter dem Buddhismus ein mächtiger Freund und Beſchützer. Im Jahre 587 erbaute er den großen Tennōji zu Naniwa (Ōſaka), wo das nach der Legende auf wunderbare Weiſe wieder zurückgewonnene Buddhabild aufbewahrt wird bis zum heutigen Tag. Shōtoku Taiſhi wird als der Vater des japaniſchen Buddhismus verehrt. Auf ſeinen Antrieb erklärte ſich die Kaiſerin Suiko offen für den Buddhismus, und die oberen Schichten des Volkes folgten nach.
Die folgenden Kaiſer blieben der neuen Religion treu, und die mächtigen Tempel in Nara, der damaligen Reſidenz, legen heute noch beredtes Zeugnis für ihren Glaubenseifer ab. Gelehrte wurden nach China ge - ſchickt, die unter buddhiſtiſchen Prieſtern ſtudierten, und als eifrige Apoſtel Shakas kamen ſie wieder.
Aber noch war der Buddhismus nicht Herr im Lande. Wohl blieb ſeine Prachtentfaltung und die ſinnliche Natur ſeines Gottesdienſtes nicht ohne Ein - druck auf das Volk, und die Lehre von der Seelen - wanderung ſowie die Herrlichkeit des buddhiſtiſchen Himmels gaben der Einbildungskraft desſelben reiche Anregung; aber es widerſtrebte ihm doch, ſeinen alten Göttern einfach den Abſchied zu geben. In dieſem Widerſtreit fand der fromme Buddhaprieſter Kūkai, bekannter unter ſeinem poſthumen Ehrennamen Kōbō Daiſhi, der nicht lange zuvor aus China zurückgekehrt war, eine treffliche Auskunft, dieſelbe Auskunft, welche der Buddhismus ſchon gegenüber den Göttern des Brahma erfolgreich angewandt hatte. Er erklärte alle Shintokami für Bodhiſattva d. h. für Erſcheinungen225 des Buddha und reihte dieſelben der buddhiſtiſchen Götterwelt ein. In dem heiteren Himmelsgott Amida verehrte man von nun an den populären Ojin Tennō, den ſhintoiſtiſchen Kriegsgott Hachiman, während Ama - teraſu als Dainichi Riorai göttliche Verehrung fand. Nun konnte man auch als Bekenner des neuen Glaubens dem alten treu bleiben.
Kōbō Daiſhi, dem man auch die Erfindung der Silbenſchrift Kana zuſchreibt, ließ ſich auf dem Koyaſan (san = Berg) in der Provinz Kii nieder, wo er ein jetzt noch berühmtes Kloſter erbaute. Er iſt der Begründer der einflußreichen Shingonſekte, welche er aus China mit herübergebracht hatte. Die - ſelbe iſt gegenwärtig numeriſch die zweitſtärkſte in Japan.
Gleichzeitig mit ihm war ein anderer, nicht minder bedeutender Gelehrter aus China zurückgekehrt, Saijo mit Namen. Ihm wurde auf ſeinen Wunſch von dem ihm wohlgewogenen Kwammon Tennō der Hieizan, ein Berg bei Kyōto, zur Anſiedelung überlaſſen. Hier er - richtete er ein Kloſter, welches in der Folge noch ebenſo berüchtigt als berühmt werden ſollte. Er war ein Anhänger der chineſiſchen Tendaiſekte, welche durch ihn auf japaniſchen Boden verpflanzt für die nächſten Jahr - hunderte die Führung des Buddhismus im Lande übernahm.
Durch Kōbō Daiſhi und Saijō war der Sieg des Buddhismus in Japan vollendet worden, ohne daß es irgend welches beſonderen Kampfes bedurft hätte. Seit der Zeit, d. h. ſeit dem Anfang des 9. Jahrhunderts, hatten die ſog. acht Sekten des Buddhismus („ Haſſhū “), welche ſämtlich aus China herübergekommen waren,15226feſten Fuß im Lande gefaßt1)Ihre Namen ſind: Sanron, Hōſhō, Kegon, Ritſu, Jojitſu, Guſha, Shingon und Tendai. Die beiden letztgenannten ſind die einzig überlebenden.. Nun aber ſollte es ſich auch hier zeigen, daß nichts ſchwerer zu ertragen als eine Reihe von guten Tagen. Die folgenden Jahr - hunderte ſahen keine Gelehrten wie Kūkai und Saijō. Wie in der Chriſtenheit nach Konſtantin, ſo erwieſen ſich auch hier Verwilderung und Verweichlichung als die Feinde echten religiöſen Lebens. Bigotte Kaiſer und Fürſten begünſtigten den neuen Emporkömmling, bis ihnen derſelbe über die Köpfe wuchs. Die prächtigen Pagoden, Tempel und Glocken von Kyōto, welche bis zu dem heutigen Tage die ganze Stadt zu einem einzigen großartigen Monument des Buddhismus machen, ſind in jener Zeit entſtanden. Die Prieſter waren bald nicht mehr zufrieden, dem Volke den Weg zum Himmel zu weiſen, auch auf der Erde, im weltlichen Staat, wollten ſie eine Rolle ſpielen. Die Geſchichte des Chriſtentums wiederholte ſich hier. Wie die ſtreitbaren Mönche von Theben die Straßen von Alexandria unſicher machten und die Regierung des Landes nach ihrem Willen zu lenken ſuchten, ſo wimmelte es auf den Straßen von Kyōto bald von den derbfäuſtigen Bonzen des Hieizan. Das Mönchtum fing an, ein Staat im Staate zu werden, und die Sachlage wird trefflich gekennzeichnet durch den Ausſpruch eines der damaligen Kaiſer: „ Zwei Dinge ſind außer dem Bereich meiner Macht: Das Waſſer des Kamo und die Bergbonzen “.
Erſt gegen das Ende des zwölften Jahrhunderts kam wieder ein friſcher Hauch in das religiöſe Leben. Yoritomo gelang es, die weltlichen Gelüſte der Prieſter einzudämmen und ihr Intereſſe für Religion und Wiſſen227 wieder wachzurufen. Das Erſcheinen einer Reihe be - deutender Lehrer, gleich ausgezeichnet durch Gelehrſam - keit und Glaubenseifer, war die Folge. Es geſchieht mit einem gewiſſen Recht, wenn man das dreizehnte Jahrhundert das Reformationszeitalter des japaniſchen Buddhismus nennt.
Die gänzliche Veräußerlichung des Kultus veran - laßte die Nachfolger Yoritomos, die Shogune der Hōjōdynaſtie, um die Wende des zwölften und drei - zehnten Jahrhunderts die Zenſekte aus China einzu - führen. Die Zenſekte iſt die eigentlich philoſophiſche Sekte des Buddhismus, die mit ihrer ſcharfen Be - tonung der Meditation ſich der urſprünglichen Lehre des Weiſen am nächſten zu ſtellen ſucht und im ſtrikten Gegenſatz gegen das Ceremonienweſen der übrigen Sekten ſteht. Es iſt der Zenſekte gelungen, ſich bedeutenden Boden zu verſchaffen, wenngleich es mit ihrem eſote - riſchen Charakter heute nicht mehr ſo weit her iſt.
Die Zenſekte war die letzte, welche nicht auf japaniſchem Boden erwachſen war. Gleichzeitig mit ihrer Einführung begannen ſich auch in der einheimiſchen Prieſterſchaft ſelbſt originale Gedanken geltend zu machen — das erſte und das letzemal in der Ge - ſchichte des japaniſchen Buddhismus. Um das Jahr 1207 gründete der Prieſter Genku, mit ſeinem poſthumen Heiligennamen Hōnen genannt, die Sekte Jōdō („ Reines Land “). Seine Hauptlehre iſt, daß der Weg zum „ reinen Land “das Anrufen des Buddhanamens ſei. Sie wird darum auch Nen-Butſu, die Sekte der Buddha - anrufung, genannt. Die Formel „ Namu Amida Butſu “, „ ich vertraue auf Amida Butſu “, wurde von Hōnen ſeinen Gläubigen gegeben. Man war aber mit dem bloßen Ausſprechen der Formel nicht zufrieden; man ſang die -15*228ſelbe in flehenden Tönen, klingelte dazu mit Handſchellen und begleitete dieſe Gebetsceremonie oft mit Tanz.
Durch die Anrufungsformel hat die Jōdōſekte dem religiöſen Leben ein ganz neues Moment eingefügt, das ihm bis heute im höchſten Grade verblieben iſt. Die Gebetsformel geht dem modernen Buddhiſten über alles. Wo immer er anbetet, im Tempel, vor dem hotoke, gebraucht er ſeine Formel. Sie iſt ihm wie ein Zauberſpruch, der auch verſchloſſene Thüren öffnet und das Herz des hotoke in Wohlwollen ihm zuneigt. Sie iſt in Wirklichkeit das einzige Gebet der meiſten Be - kenner des Buddhismus, deren ganzes Gebetsleben in dem Herſagen des Zauberſpruches aufgeht.
Die Gebetsformel hat eine allgemeine Verbreitung erlangt durch die Shin - oder Montoſekte, eine Tochter der Jōdō, die aber ihre Mutter bald überragte und bis zum heutigen Tag an Einfluß und Zahl ihrer Bekenner unbeſtritten den erſten Platz behauptet. Ihr Begründer iſt Hōnens größerer Schüler Shinran. Die Shin-ſhū (shū-Sekte) hat man den proteſtantiſchen Zweig des japaniſchen Buddhismus genannt. Nicht ohne ein ge - wiſſes Recht. Wie Luther, ſo verwarf auch Shinran die äußeren Werke wie Faſten, Wallfahrten und Re - liquienverehrung. Er widerſprach dem Mönchtum und der Eheloſigkeit der Prieſter. Er verheiratete ſich ſelbſt und den Prieſtern ſeiner Sekte iſt es geſtattet, dasſelbe zu thun. Verwirft er auch die Meditation, ſo hat er doch ſeiner Sekte philoſophiſche Neigungen eingeimpft. Mehr aber noch hat er verſucht, aus dem Schutt eines veräußerlichten Rituals die hochſtehende Sittenlehre ſeiner Religion hervorzugraben. Aber freilich, ſchon mit Bezug auf die Grundlage dieſer Moral ſtand er, der ſelbſt den Prieſtern die Freude und Genüſſe des229 Daſeins gönnte und in mancher Beziehung doch auch wieder zur Verweltlichung des Buddhismus beitrug, im Gegenſatz zu Shaka: Die Lehre von der Weltentſagung paßte ihm nicht. Die einfache Anrufung Amidas war auch für ihn die Hauptſache. Nicht äußeres Werk, ſondern die vertrauensvolle Hingabe an Amida Butſu, deſſen Anbetung von allen Göttern allein vonnöten iſt, macht ſelig. Es klingt wie aus einer monotheiſtiſchen Erlöſungsreligion heraus, wie das ſtammelnde Be - kenntnis der Wahrheit im Munde eines unmündigen Kindes. In der That ſind heute noch gegenüber Amida die übrigen hotoke in den Tempeln der Shin-ſhū in den Hintergrund geſchoben, wenn nicht gar völlig hin - ausgedrängt. Aber ein Monotheismus iſt es doch nicht, nicht einmal ein Henotheismus, in dem Bewußtſein der modernen Shinſhūleute noch weniger als in dem des Stifters. Der gewöhnliche Shinſhūgläubige zollt gern auch anderen hotoke ſeine Verehrung, und das äußerliche Ritual, das Shinran bekämpfte, hat auch über ihn wieder volle Gewalt. Die Prieſter ſind ſich der Sekten - unterſchiede mehr oder weniger bewußt, aber von dem Volke gilt das nur in ſehr beſcheidenem Maße. Noch vorſichtiger als mit Bezug auf den angeblichen Monotheismus der Shinſhū gilt es ihrem „ evangeliſchen “Charakter gegenüber zu ſein. Die vertrauensvolle Hin - gabe an Amida fällt dem gemeinen Volk — inwieweit es wohl auch bei dem Stifter der Fall geweſen ſein mag? — zuſammen mit dem Spruch: „ Namu Amida Butſu “, „ ich vertraue auf Amida Buddha “, und als eine Art Zauberſpruch gebraucht und in der Regel in vielfacher Wiederholung hintereinander geſprochen, wird dieſe ganze „ vertrauensvolle Hingabe “ſchließlich zum äußerlichen Lippenwerk und Zauberwahn. Kluge Shin -230 prieſter ſagen, man brauche ihnen den evangeliſch-pro - teſtantiſchen Glauben nicht mehr zu bringen, ſie be - ſäßen denſelben ſchon; aber klarer als alle theoretiſchen Erörterungen beweiſt ein Blick auf das praktiſche religiöſe Treiben des Shingläubigen, daß das Gegen - teil der Fall iſt.
Immerhin bleibt die Shinſhū, in welcher der Geiſt ihres Gründers doch noch nicht ganz erſtorben iſt, die ſympathiſchſte der gegenwärtigen Sekten. Ihr genaues Gegenſtück bildet die Nichirenſekte, auch Hokke genannt. Ihr Gründer Renchō oder, wie ſein Heiligennamen lautet, Nichiren, iſt ein jüngerer Zeitgenoſſe Shinrans. Auch er erkennt die Gebetsformel als den Kern der Religioſität an. Aber die Betrachtung der laxen Sitten der damaligen Bonzen erweckte den Zweifel in ihm, ob ſie ſich auch in der Lehre auf dem rechten Wege be - fänden. Nach jahrzehntelangem Studium hatte er ge - funden, daß nicht „ Namu Amida Butſu “die rechte Formel ſei, ſondern eine andere, die er in einem bis dahin wenig beachteten Kanon gefunden hatte: „ Namu myō hōren gekyō “(„ Ich vertraue auf die Sutra vom geheimnisvollen Geſetz des weißen Lotus “). In dieſen Worten iſt das Heil beſchloſſen; nur durch ſie kommt man in Amidas Himmel. Wehe aber den Anhängern der andern Sekten; ſie müſſen ſamt ihren Meiſtern zur Hölle fahren. Es iſt der Geiſt eines fanatiſchen Glaubens - eifers und einer ſtarren Orthodoxie, der Nichiren beſeelt. Niemals und nirgends in der Geſchichte des Buddhismus iſt der Buchſtabe ſo betont worden, wie von ihm. Un - duldſam gegen alle Andersgläubigen hat er den Kampf gegen die Ketzerei aller Art von vornherein auf ſeine Fahne geſchrieben. Seine Schüler haben unter Trommel - wirbel und mit der Gebetsformel als Schlachtruf die231 Tempel anderer Sekten erſtürmt und dem Erdboden gleichgemacht; ja, ſelbſt vor Mordthaten ſchreckten ſie nicht zurück. Der Feldherr Kato Kyomaſa, der um das Jahr 1600 mit brennendem Eifer und beiſpielloſer Grauſamkeit den Vernichtungskampf gegen das Chriſten - tum führte, gehörte dieſer Sekte an. Der Geiſt, mit welcher ihr Stifter ſie erfüllte, iſt dieſer Sekte treu ge - glieben bis zum heutigen Tag, und erſt der Kampf gegen den gemeinſamen Feind, das Chriſtentum, konnte ſie bewegen, ihrer verhaßten Rivalin Shinſhu die Hand zum Bunde zu reichen.
Nichiren iſt die ausgeprägteſte religiöſe Perſönlichkeit, welche Japan hervorgebracht hat. Hundertmal war er in Lebensgefahr, einmal befand ſich ſein Kopf ſchon unter dem Beil des Henkers, und nur durch ein Wunder, ſo erzählt die Legende, wurde er gerettet. Aber nichts konnte ihn bewegen, vom Kampfe abzuſtehen.
Mit Nichiren hatte die religiöſe Bewegung ihren Höhepunkt erreicht1)Mit Nichiren war die Sektenbildung abgeſchloſſen, nach - dem ſie kaum fünfzig Jahre zuvor begonnen hatte. Was weiter entſtand, ſind nur unſelbſtändige Zweige der Hauptſtämme. Um dieſe noch einmal aufzuzählen, und zwar nicht ſowohl nach der Zahl ihrer Tempel als nach ihrem wirklichen Einfluß auf das Volk, ſo haben wir: 1. Shin, 2. Nichiren, 3. Zen, 4. Jodo, 5. Shingon, 6. Tendai. Shingon, Tendai und Zen kamen aus China, Jodo, Shin und Nichiren ſind japaniſchen Urſprungs., aber nicht um nun langſam wieder herabzuſinken, ſondern um mit einem Schlage zum Still - ſtand zu kommen. Eben noch feurige Glut und im nächſten Augenblick erſtarrte Lava. Dieſelbe impulſive Art, die ſich ſo manchmal in der japaniſchen Geſchichte offenbart und die ſich in dem einzelnen Japaner mikro - kosmiſch widerſpiegelt, finden wir auch hier. Die232 Folgezeit, welche wieder an die früheren Zuſtände an - knüpfte, war der Lehrer des dreizehnten Jahrhunderts nicht würdig. Der Buddhismus entwickelte keine be - ſondere Kraft, und als in der Mitte des ſechzehnten Jahrhunderts die Jeſuiten ihren Einzug hielten, waren die geiſtigen Waffen der Bonzen ſtumpf und wirkungslos geworden. In dieſer Ohnmacht des Buddhismus hat man einen wichtigen Grund der raſchen Ausbreitung des jeſuitiſchen Chriſtentums zu ſuchen. Aber wenn auch die Mönche geiſtige Waffen nicht beſaßen, ſo führten ſie doch das weltliche Schwert nach wie vor. Wie ehedem, ſo machten ſie auch jetzt wieder den welt - lichen Herrſchern zu ſchaffen, und als ſich die Mönche des Hieizan mit Nobunagas Feinden wider dieſen ver - bündeten, nahm Nobunaga das als eine willkommene Gelegenheit, gründlich mit ihnen aufzuräumen. Er überfiel ſie, und Tauſende ſollen in einem furchtbaren Blutbad ihr Leben verloren haben.
Seitdem war ihre politiſche Macht gebrochen, und die gewaltige Fauſt des Iyeyaſu, die ſich erdrückend auf das Chriſtentum legte, ſorgte dafür, daß auch das Mönchtum nicht wieder weltliche Gelüſte anwandelten. Auch die Sphäre der höheren Bildung entzog er dem - ſelben, doch ſetzte er es voll in ſeine religiöſen Rechte ein und erwies ſich mitſamt ſeinen Nachfolgern als treuer Sohn und Beſchützer des Buddhismus. Die Tokugawa bekannten ſich zu der Jodoſekte, welche unter ihnen ihre höchſte Blüte erreichte.
Inzwiſchen hatte mit dem Wiederaufbau des reinen Shinto die Reaktion gegen den Buddhismus eingeſetzt und gerade ſeine Beziehungen zum Shogunat ſollten ihm zum Verderben werden. Die wuchtigen Schläge, unter denen der Shogunenthron im Jahre 1868 zu -233 ſammenbrach, trafen auch deſſen getreuen Bundesgenoſſen und Schützling. Dem Buddhismus wurde der Charakter einer Staatsreligion genommen, die öffentlichen Unter - ſtützungen wurden ihm entzogen, eine große Anzahl von Tempeln geraubt, und ein beträchtlicher Teil ſeiner Güter verſtaatlicht. Die Religion des Buddhismus iſt Privatſache geworden, und kein Julianus der Zukunft könnte das je wieder verändern.
Von einer Lehrentwicklung iſt in der ganzen langen Geſchichte des japaniſchen Buddhismus, mit einziger Ausnahme des 13. Jahrhunderts, nichts zu finden. Man hat es hier zu aller Zeit mit einem Buddhismus der Praxis, nicht aber der lehrhaften Theorie zu thun. Manchmal, wenn eine Geſellſchaft von Europäern bei - ſammen ſaß — gebildete Japaner ſind überhaupt über derartige Dinge erhaben —, kam die Rede darauf, was eigentlich japaniſcher Buddhismus ſei. Niemand aber wußte eine Antwort zu geben. Man weiß, daß er als kanoniſch das Mahayâna, japaniſch Daijō, das „ Große Vehikel “des nordiſchen Buddhismus, anerkennt. Aber in Wirklichkeit giebt es, abgeſehen von den wenigen und verſchwommenen Unterſcheidungslehren der einzelnen Sekten, keine lehrhaften Formeln, in denen ſich das Weſen des praktiſchen Buddhismus ausdrücken ließe. Die Katechismen, die jetzt herausgegeben werden, ſind nichts weiter als Täuſchung; denn ſie ſind auf Grund von Shakas urſprünglicher Lehre verfaßt und entſprechen der gegenwärtigen Wirklichkeit keines - wegs. Einem Teil der Prieſter mögen dieſe Lehren nicht gerade unbekannt ſein; würde man aber einem gutgläubigen Laien einen ſolchen Katechismus zeigen, er würde ihm völlig fremd ſein. Theologie hat man trotz der religiöſen Bewegung des 13. Jahrhunderts234 ſo gut wie gar nicht gekannt. Man hat ſich nicht einmal die Mühe genommen, die Heiligen Schriften in die Landesſprache zu überſetzen. Die Prieſter be - nutzen chineſiſche oder in „ Bonji “, einem verballhorni - ſierten Sanskrit, geſchriebene Ausgaben, das Volk benutzt überhaupt keine. Ein paar nicht einmal bedeutende Interpretationen, ein paar Schriften hervorragender Reformatoren, das iſt ſo ziemlich alles, was auf theolo - giſchem Gebiet geſchehen iſt.
Ich hatte ſelbſt eine treffliche Gelegenheit, mich davon zu überzeugen. Eines Tages wurde mir Beſuch angekündigt von D. Ernſt Faber in Shanghai, gleich - falls Miſſionar des Allg. Ev. -Prot. Miſſionsvereins, der ſeit mehr als drei Jahrzehnten in China thätig iſt und als einer der bedeutendſten Sinologen (Kenner der chineſiſchen Klaſſiker) der Gegenwart ſich um die Er - forſchung der chineſiſchen Religions - und Moralſyſteme die höchſten Verdienſte erworben hat. Er ſchrieb dabei, daß er nachforſchen wolle, ob und inwieweit die Japaner den Konfuzianismus und den Buddhismus verarbeitet hätten. Ich ſelbſt traf ſo gut als möglich die Vorberei - tungen, ſetzte mich mit den beſten Kennern des Buddhismus in Verbindung, und als D. Faber kam, führte ich ihnen den - ſelben zu. Seine Ausbeute war aber äußerſt gering. Die Japaner haben eben den Buddhismus ebenſo wenig verar - beitet wie den Konfuzianismus. Wohin aber eine Religion ohne Theologie kommt, dafür haben wir in dem japa - niſchen Buddhismus noch ein beſſeres und ſchlagenderes Beiſpiel als in dem Katholizismus Spaniens. Losgelöſt von wiſſenſchaftlicher Betrachtung, lediglich der rohen Populariſierung preisgegeben, verliert ſich jede Religion notwendig in grobſinnlichen Aberglauben. Die Theologie iſt die treue und ſelbſtloſe Magd, die mit der Schaufel235 in der Hand neben den reinen Quellen der Religion ſteht und den Schutt und Unrat, der in dem achtloſen Getriebe des Alltags maſſenhaft darauf herunterfällt, ſorgſam wegſchaufelt und die Quellen in kryſtallheller Klarheit immer aufs neue wieder bloßlegt. Bei dem Buddhismus ſind dieſe Quellen gänzlich verſchüttet, und wer das buddhiſtiſche Treiben der Gegenwart in Japan mit eigenen Augen geſehen hat, der weiß, daß jene Buddhaprieſter eine glückliche Stunde der Selbſter - kenntnis hatten, als ſie erklärten, wenn Shaka heute wieder zur Erde käme, würde er in dem heutigen Zerr - bild des Buddhismus ſeine Lehre nicht wieder erkennen. Wenn es ſchon von allen Religionen gilt, daß ſie von der Höhe ihrer Stifter bedeutend herabſanken, ſo gilt das vielleicht von keiner ſo ſehr wie von dem Buddhismus.
Eine wahrheitsgetreue Schilderung des japaniſchen Buddhismus klingt geradezu lächerlich. Wenn man in einen recht populären „ tera “eintritt, wie z. B. in den Aſakuſatempel in Tokyo, ſo ſieht man vor lauter Götzen - bildern keinen Tempel mehr. Da ſtehen ſie, eines neben dem andern, eines grotesker als das andere. Im An - fang als ich hinüber kam, dachte ich idealiſtiſch hoch auch noch vom Götzendienſt. Die Heiden, ſo meinte ich, beten doch gewiß nicht zu dem Holz oder Stein oder Metall, daraus der Götze gefertigt iſt; ſie beten vielmehr den Geiſt an, den ſie dahinter ſich denken. Mir ſchwebte dabei dunkel etwas vor wie von der Anbetung des un - bekannten Gottes. Es hat mir leid genug gethan, als ich bald ſchon von dieſer Anſicht zurückkommen mußte. Es iſt ein ganz ſtumpfſinniges, gedankenloſes Anbeten der Materie, das ſie verrichten; an einen Geiſt, der da - hinter ſteht, denken ſie nicht.
Man urteilt in weiten Kreiſen der Chriſtenheit236 ziemlich harmlos über den Götzendienſt. „ Laßt ſie doch; es ſchadet ja nichts; die Götzen ſind ja tot und können ihnen nichts Böſes thun “. Ob das wirklich ſo iſt, ob ſie ihnen wirklich nichts Böſes thun? Dann könnte es ja ſchließlich keinen ſo großen Unterſchied machen, ob man zu dem einen Gott und Vater im Himmel betet oder zu den Götzen! Und doch liegt das Gegenteil klar zu Tage. Der tiefſte Grund, aus dem heraus das innerſte Weſen eines Volkes geboren wird, iſt doch wohl ſeine Religion; und die höchſten Ziele, denen ein Volk zuſtrebt, werden ihm doch wohl durch ſeine Religion gewieſen. Wohl iſt es bis zu einem gewiſſen Grade wahr, daß ein Volk ſich ſeine Religion macht; aber ebenſo wahr bleibt das andere, daß ein Volk nach ſeinem inneren Weſen erſt durch ſeine Religion gemacht wird. Ein Volk iſt ſo wie die Religion, aus der es heraus - wächſt; ein Volk wird ſchließlich ähnlich den Idealen, die ſeine Religion ihm weiſt. Iſt eine Religion eine geiſtige, ſo wird ſie allmählich das Weſen eines Menſchen und Volkes vergeiſtigen. Wir hätten uns nimmermehr zu der jetzigen hohen Stufe der Geiſtes - kultur erhoben, wenn wir nicht als Grund und Ziel einen Gott hätten, der Geiſt iſt. Und ſolange ein Volk den geiſtigen Gott nicht kennt, ſolange wird ihm jeder höhere Geiſtesflug ſchwer, wenn nicht unmöglich ſein. Es mag Fortſchritte im Materiellen machen, aber die Vertiefung des inneren Lebens wird ihm kaum gelingen, und auf eine hohe Stufe des Geiſtes wird es ſich nicht erheben. Denn ſolange es noch zu Götzen aus Holz, Stein und Erz betet, bleibt es mit ſeinem ganzen Denken, Fühlen und Wollen an die Materie, an die ſinnliche, vergängliche Welt gebannt. Und doch kann ein Menſch nicht zu dauerndem Glück gelangen, wenn237 nicht ſeine Ideale im Ewigen und Unvergänglichen gewurzelt ſind. Und darum ſage ich: Die Götzen, die ſcheinbar ſo harmlos dumm grinſend in die Welt hineinſchauen, ſie ſind die böſen Geiſter der Heiden, ſie hängen ſich mit ihrer ganzen materiellen Schwere an die Seelen der Heiden, daß ſie den Flug nach oben nicht thun können. Die Götzen ſchaffen immer auf das Neue wieder die materielle Weltanſchauung der Heiden und halten ſie feſt in geiſtiger Beſchränktheit und ſitt - licher Verkommenheit. Was kann aus einem Volke werden, deſſen höchſte Ideale in dieſen Götzen verkörpert ſind! Da erklärt ſich leicht, warum die Heilige Schrift ſo ſehr gegen den Götzendienſt eifert, warum der Apoſtel Paulus von den Götzen nicht nur als von toten und nichtſeienden (1. Kor. 8, 4), ſondern auch als von Dämonen, d. h. böſen Geiſtern und Göttern redet (1. Kor. 10, 20). Die Götzen, wenn ſie gleich ſchwach und armſelig ſind (Gal. 4, 9), ſind die Urheber des ganzen geiſtigen Elendes der Heidenwelt und die wich - tigſte Erkenntnis, die es für dieſe giebt, heißt: „ Gott iſt Geiſt, und die ihn anbeten, müſſen ihn im Geiſt und in der Wahrheit anbeten “.
Gegenüber dieſem Einen ſind alle äußeren Ge - brechen des Heidentums, wie die Witwenverbrennungen in Indien, die Kinderausſetzung in China und ſelbſt der Kannibalismus der Südſeeinſulaner, nur Neben - ſachen. Sie ſind nur die Folgen der Götzenverehrung, und wenn ſie auch zu ihrer Zeit treffliche Illuſtrationen abgeben, ſo iſt doch nicht auf ſie, ſondern auf die geiſtige Not des Götzendienſtes das Hauptgewicht zu legen. Es iſt eine Erfahrung, die durch die Urteile vieler und nicht der ſchlechteſten Laien beſtätigt wird, daß gerade die Miſſionskreiſe in dieſer Beziehung manches gefehlt238 haben. Man konnte ſich in grobſinnlicher, maſſiver, nicht ſelten auch übertriebener Ausmalung heidniſcher Greuel vielfach nicht genug thun; man kommt damit dem Sinnenkitzel und Gruſelbedürfnis der niedrigen Inſtinkte entgegen, aber den feineren Geſchmack und die beſſeren Empfindungen ſtößt man ab.
Unter den Tauſenden von buddhiſtiſchen Göttern iſt am ſchlechteſten eigentlich Buddha ſelbſt weggekommen. Zwar hat man es nicht unterlaſſen können, ihn, den Atheiſten, der von keiner Gottheit wiſſen wollte, theo - retiſch zu dem oberſten der Götter zu erheben, aber praktiſch iſt er ſo gut wie zur Ruhe geſetzt. Ihm iſt es gegangen wie unſerm Herrgott bei einem Teil ſeines chriſtlichen Volkes. Den großen Gott im Himmel droben, der ſo unendlich heilig und erhaben über der ſündigen Welt thront, konnte man nicht begreifen und erfaſſen, man fühlte ſich ihm fremd und fern, und gern iſt man etwas tiefer herabgeſtiegen zu ſolchen, die der Menſchheit näher ſtehen, zu der freundlichen Himmels - königin Maria und zu den Heiligen. So war auch der „ Erleuchtete “dem Volke zu hoch, man konnte ihn nicht verſtehen, und ſo hält man ſich denn lieber an Götter gewöhnlicheren Schlags.
In dem Vordergrund ſteht der freundliche Himmels - könig Amida, der nach chineſiſchem Vorbild auch in Japan ganz die Stelle Buddhas eingenommen hat. Keine Gebetsformel wird ſo oft geſprochen als die: „ Namu Amida Butſu “. Die eigentlichen Penaten oder Hausgötter ſind die ſieben Glücksgötter, nämlich die Götter des Ruhms, der Liebe, der Geſcheitheit, des Reichtums, der Nahrungsmittel, der Zufriedenheit und des langen Lebens. Beſonders beliebt ſind, dem Ge - ſchmack der Menge entſprechend, Daikoku, der Gott des239 Reichtums mit einem vollgefüllten Sack auf dem Rücken, und Ebiſu, der Gott der Nahrungsmittel, mit einem Fiſch auf dem Arm; das Geld und der Magen ſpielen bei der Durchſchnittsmenſchheit halt doch die erſte Rolle. Ihre grotesken Figuren ſind in den meiſten Häuſern zu finden, und in den Häuſern der Europäer ſieht man ſie vielfach unter den Nippſachen.
Bei populären Tempeln ſieht man ſchon am Ein - gangsthor zu beiden Seiten der Thüröffnung hinter einem Gitterwerk zwei große Holzfiguren, die Bildniſſe rieſenhafter Männer. Sie ſind dargeſtellt wie im Kampf mit irgend einem unſichtbaren Feind, die Muskeln ihres Körpers treten ſtraff hervor, und ihre Geſichtszüge ſind verzerrt. Sie verdienen im beſten Sinne des Wortes greulich genannt zu werden, und könnten eigentlich die Leute eher vom Eintritt in den Tempel abſchrecken als zu demſelben anlocken. Bei ſolchem Ausſehen iſt es ſchwer zu begreifen, wie ſie zu dem ſchönen Namen Niō-sama, d. h. ehrwürdige Könige, kommen, und die weniger reſpektvolle Bezeichnung „ rote und grüne Teufel “(nach der Farbe ihres Anſtrichs) erſcheint zu - treffender. Nach einer gelehrten Theorie ſind es die in den Buddhismus übernommenen Hindugötter Brahma und Narayana1)Vergl. Rein „ Japan “. Reins Darſtellung des japaniſchen Buddhismus gehört zu dem Beſten, was über dieſen Gegenſtand geſchrieben wurde., alſo mit die höchſten Götter des Brah - manismus, die gegenüber der unendlichen Erhabenheit eines Buddha gerade noch für gut genug befunden wurden, um als Tempelwächter die böſen Geiſter abzu - wehren. Bei näherem Hinſchauen bemerkt man, daß die Leiber dieſer Rieſen über und über mit kleinen runden Papierklümpchen bedeckt ſind. Wenn nämlich240 jemand ein Anliegen hat, ſo ſchreibt er dasſelbe auf ein Stück Papier, verkaut dieſes im Munde, ballt es zu einem Klümpchen zuſammen und ſpeit es dem Niō an. Bleibt es hängen, ſo wird die Bitte erhört, fällt es aber ab, ſo findet ſie keine Gewährung und der Bittgänger mag dann ein anderes Mittel verſuchen, um zu ſeinem Ziele zu kommen.
Es giebt eine Reihe von Göttern, die von nicht minder gewöhnlicher Art ſind, und gerade ſie erfreuen ſich großer Beliebtheit. Wer den großen Tempel von Aſakuſa beſucht, dem fällt vor allem ein hotoke auf, welcher ſchon durch ſein abgenutztes Äußere beweiſt, daß er in großer Gunſt bei dem Volke ſteht. Hände und Füße und andere Körperteile des Götzen ſind faſt vollſtändig durchgeſcheuert, die Naſe iſt ſo ſehr abge - rieben, daß ſie nicht mehr nach außen, ſondern nach innen ſich erſtreckt, ein Anblick, der mehr zum Lachen als zur Andacht reizt. Der merkwürdige Gott iſt der Wunderdoktor Binzuru, welcher, wie der berühmte Doktor Eiſenbart, die Leute kuriert nach ſeiner Art. Wenn nämlich jemand eine Naſenkrankheit hat oder an irgend einem anderen Glied leidet, ſo reibt er mit der Hand den entſprechenden Körperteil des hotoke, und der Wunderdoktor Binzuru ſorgt für das Weitere.
Den Ehrenplatz im Aſakuſatempel nimmt eine Gottheit edlerer Art ein, welche als die ſympathiſchſte Erſcheinung der japaniſchen Götterwelt bezeichnet werden darf. Es iſt die Göttin der Barmherzigkeit, Kwannon genannt. Von ihr wird erzählt, daß ſie, als ſie die höchſte Stufe der Vollkommenheit erreicht hatte, es verſchmähte, in das Nirwana, den Zuſtand ſeligen Ver - geſſens, einzugehen. Sie wollte lieber da verweilen, wo ſie die flehenden Bitten und Angſtrufe der armen241 Menſchen hören konnte, um ihnen beiſtehen zu können in ihrer Not. Sie wird zuweilen dargeſtellt mit meh - reren Köpfen, faſt immer aber mit einer großen Anzahl, eigentlich tauſend, Händen. Das ſieht ſich zwar ſonder - bar genug an; aber es iſt doch ein ſchöner Zug, welchen das Heidentum hier aufweiſt: Die Göttin der Barm - herzigkeit ſtreckt den auf dem flutenden Ocean des Lebens treibenden Menſchen tauſend Hände entgegen, um ſie an das rettende Ufer zu bringen.
Der praktiſche Buddhismus geht in der Götzen - anbetung nicht auf; der ganze Apparat von Aberglauben, welcher ſich an andern Orten als eine unvermeidliche Beigabe des Heidentums erweiſt, findet ſich auch hier. Mancher, der dem Gotte ſeine Verehrung bezeugt hat, geht darnach zum Prieſter hin, um ſich ein „ ō fuda “zu kaufen. Das ō fuda (fuda = Karte; ō iſt Reſpekts - partikel) iſt ein Kärtchen, auf welchem in der heiligen Bonjiſchrift geheimnisvolle Charaktere gemalt ſind, während unten zur Beglaubigung das große Siegel des Tempels angebracht iſt. Das ō fuda enthält einen Zauber, und zwar kann man einen Zauber bekommen gegen alles Mögliche und noch einiges mehr, je nach Wunſch. Das eine hilft gegen Cholera, das andere gegen die Pocken, ein drittes bringt Glück in den Haus - halt, ein anderes verhilft zu langem Leben und wieder eines bannt die gefürchteten „ oni “, die böſen Geiſter, vom Hauſe, ſolange es in demſelben aufbewahrt wird, gleichwie nach chriſtlichem Aberglauben der Teufel kehrt macht vor der Hausthür, auf welcher ein Kreuz ge - zeichnet iſt. Es giebt große und kleine, billige und teuere ō fuda.
Von den ō fuda bis zu Amuletten aller Art iſt nur ein kleiner Schritt — überall und ſo auch hier. 16242Und wie man es auch in höher ſtehenden Religionen fertig gebracht hat, heiliges Waſſer und heilige Erde zu verkaufen, welche für das gemeine Volk ſofort zu Zaubermitteln werden, ſo macht man auch hier mit heiligem Waſſer, heiligem Sand und anderem mehr gute Geſchäfte. Beſonders ſind es die alten Sekten Tendai und Shingon, welche dieſe Auswüchſe des Aber - glaubens kultivieren, und wenn es auch kaum noch einen Prieſter giebt, der ſelbſt an die Zauberkraft des ō fuda glaubt, ſo iſt doch auch hier das tröſtliche Bewußtſein „ pecunia non olet “ſtärker als alle etwaigen Gewiſſens - ſkrupel.
Immer aber ſind es kleine Anliegen und alltägliche Sorgen, welche die Gläubigen auf dem Herzen haben, ſowohl bei den ō fuda und Amuletten als bei der An - betung der Götzen. Daß der hotoke auch in den großen Nöten des Lebens, in der Angſt des Gewiſſens und in der Nacht des Todes helfen könne, dazu hält man ihn entweder für unvermögend, oder aber man läßt ſich von derartigen Gedanken überhaupt das Herz nicht viel be - ſchweren. Iſt es doch eine gemeine Erfahrung, daß Leute, die auf einer niedrigen Stufe der Geiſteskultur ſtehen, ſich von den kleinen Sorgen des Daſeins weit mehr bedrückt fühlen als von den großen geiſtigen Feinden der Menſchheit. Und doch kann auch einem Heiden das Gewiſſen ſchlagen, oder, daß ich es beſſer ſage, auch ein Heide fürchtet zuweilen, für begangenes Unrecht von der Gottheit beſtraft zu werden; und da das Fegefeuer für den Heiden eine ebenſowenig tröſtliche Ausſicht iſt wie für den Katholiken, ſo macht er es gerade wie der Katholik zu Tetzels Zeiten: Er geht zum Prieſter und kauft ſich ein ō fuda, diesmal einen richtigen Ablaßzettel, der gegen dieſe oder jene Geld -243 oder Gebetsleiſtung Ablaß der Sündenſtrafe verbürgt; oder aber, wenn er noch etwas mehr thun will, ein opus supererogativum, unternimmt er eine Wallfahrt.
Überhaupt iſt die Ähnlichkeit zwiſchen modernem Buddhismus und römiſchem Katholizismus (der ruſſiſch - griechiſche übrigens nicht ausgeſchloſſen) eine ganz auf - fallende. Und zwar nicht nur in äußeren Dingen. Denn die Lehren von der Verehrung der Heiligen, von Himmel und Hölle, von einem künftigen Gericht, vom Fegefeuer, vom Ablaß, vom verdienſtlichen Werk beziehen ſich nicht auf Außendinge, ſondern auf den Kern der religiöſen Lehrauffaſſung. Freilich viel frappanter iſt die Ähnlichkeit in Bezug auf Organiſation und Formen. Die hierarchiſche Ordnung iſt im Buddhismus eine ganz ähnliche wie im Katholizismus. Auch hier läßt ſich von Erzbiſchöfen, Biſchöfen, Äbten und Prieſtern reden, und der buddhiſtiſche Biſchof hat ſeinen Hirten - oder Krummſtab ſo gut wie der katholiſche. Auch hier nimmt der Klerus eine eſoteriſche Stellung über dem „ Volk “ein, und die beſondere höhere Sittlichkeit für die Eingeweihten bezw. Geiſtlichen, welche der Katho - lizismus erſt im Laufe der Zeit einſchmuggelte, wurde von dem Buddhismus ſchon von Anfang an gelehrt. Auch hier iſt darum der geiſtliche Stand auch äußerlich gekennzeichnet. Der Bonze (jap. „ bōzu “) hat ſein Prieſtergewand wie der katholiſche Geiſtliche, und beide Bekleidungen ſehen ſich noch dazu recht ähnlich. Die gewöhnliche Tracht iſt von ſchwarzgrauer Farbe; bei feierlichen Amtshandlungen aber vertauſcht man dieſes einfache Kleid mit einem farbenprächtigen Gewand, welches wiederum ſtark an die katholiſche Amtstracht erinnert. Dasſelbe iſt je nach der Anſehnlichkeit und dem Reichtum des Tempels mitunter ſehr koſtbar, und16*244prächtige Seiden - und Goldſtickereien ſind keine Selten - heit. Es iſt ein prunkvolles Schauſpiel, bei hervor - ragenden Beerdigungen oder ſonſt einer beſonderen Feierlichkeit Dutzende von Prieſtern bei einander zu ſehen, in Gewändern eines prächtiger als das andere, und wenn in eintönig ſingendem Ton die Litaneien und Reſponſorien ertönen und die anbetenden Ver - neigungen der knieenden Prieſter erfolgen und die Weihrauchkeſſel geſchwenkt werden, daß einem der eigen - tümliche und ſo wohlbekannte Geruch in die Naſe ſteigt, ſo gehört keine übergroße Phantaſie dazu, um ſich in einen katholiſchen Gottesdienſt oder in eine Ritualkirche Englands verſetzt zu fühlen.
Auch der Bonze hat die Tonſur, nur daß er ſich nicht mit einer kleinen kahlen Stelle auf dem Hinter - haupt begnügt, ſondern den ganzen Kopf glatt raſiert. Auch für den Bonzen gilt das Gebot der Eheloſigkeit — mit einziger Ausnahme der Shinſekte. Das Mönch - tum exiſtiert hier wie dort, und hier wie dort beſteht neben dem Cölibatsgelübde auch das der freiwilligen Armut. Hier wie dort leben die Mönche bald in Klöſtern zuſammen, bald als Einſiedler in Klauſen. Bei beiden hat das Faſten eine bedeutungsvolle Stelle, und ſtrenger Asketismus und Quietismus blüht neben Üppigkeit und Lüderlichkeit. Da ſind kaum irgend welche Auswüchſe, die ſich nicht bei den einen genau ſo fänden wie bei den andern, und wenn auch nicht der welt - freundliche japaniſche, ſo hat doch der weltflüchtige in - diſche Buddhismus genau dasſelbe Kurioſum aufzuweiſen wie das chriſtliche Mönchtum Ägyptens: Ich meine die Styliten, jene merkwürdigen Heiligen, welche, abgeſchieden von der Welt, ihr ſündiges Weſen auf Säulen (Pyra - miden ꝛc. ) verbüßen. Giebt es auch Nonnen in Japan245 nicht ſehr viele, ſo fehlen ſie doch keineswegs, und wer ſich auch nur kurze Zeit im Lande aufhält, dem kann auch die eigentümliche Erſcheinung der Bettelmönche nicht entgangen ſein. Mit großen Hüten, die ſich wie umgekehrt auf den Kopf geſtülpte rieſige Schüſſeln aus - nehmen, in mönchiſcher Tracht, gehen ſie, die nimmer ruhende Schelle in der Hand, von Haus zu Haus und nehmen, unter fortwährendem eintönigem Ableiern ihrer Bitte, die aus der kleinſten Kupfermünze beſtehenden Gaben in Empfang, und bei keinem Hauſe gehen ſie leer aus.
Der Roſenkranz, der bei den Katholiken eine ſo große Rolle ſpielt, iſt bei den Buddhiſten nicht weniger im Gebrauch. Ich habe mir in Oſaka in der Nähe eines tera einen Roſenkranz gekauft, welchen ein Pro - teſtant, der nicht ganz genau in die Geheimniſſe dieſer Art eingeweiht iſt, nimmermehr von einem katholiſchen unterſcheiden könnte. Vor kurzem erſt erhielt ich einen „ an das Pfarramt “gerichteten Brief aus Japan. Als ich ihn öffnete, fiel mir eine Photographie entgegen, zwei knieende Japaner mit Roſenkränzen in den Händen. Ich konnte mir gar nicht erklären, wie dieſe frommen Buddhagläubigen dazu kamen, mich mit ihrem Bilde zu beehren. Erſt als ich das Begleitſchreiben las, in welchem ein „ apoſtoliſcher “Miſſionar davon redete, die Jungfrau Maria habe ihm offenbart, daß einige fromme Perſonen große Geldſummen zum Bau einer großen Kirche in der Stadt Kumamoto zu ſpenden gewillt ſeien, und daß man jetzt auf der Suche nach dieſen Perſonen ſei, erkannte ich zu meiner eigenen Überraſchung, daß das ja japaniſche katholiſche Evangeliſten ſein ſollten. Der Brief war irrtümlich an das proteſtantiſche ſtatt an das katholiſche Pfarramt gekommen. Der Roſen -246 kranz iſt hier wie dort ein Beweis, welches Gewicht auf die Quantität gelegt wird. Die Shingon - und Tendai - ſekten aber ziehen von dieſer Grundlage aus die letzte Konſequenz: Um es zu einer möglichſt großen Menge von Gebeten zu bringen, gebrauchen ſie die Gebets - maſchine (rimbō), welche im übrigen von den buddhi - ſtiſchen Sekten Japans verworfen wird.
Die Reliquienverehrung iſt im Buddhismus nicht minder ausgeprägt wie im Katholizismus, und es iſt höchſt wahrſcheinlich, daß die erſten buddhiſtiſchen Tempel (Pagoden) lediglich zur Aufbewahrung von Reliquien dien - ten, bis dann allmählich das Heer der Götzen ſeinen Einzug in ihnen hielt. Wie der gläubige Katholik gern eine Wallfahrt unternimmt, um an den heiligen Stätten zu beten, wo die ſichtbaren Erinnerungen an die Heiligen aufbewahrt werden, ſo giebt es auch in Japan eine Anzahl von Heiligtümern, zu welchen alljährlich Tauſende und Abertauſende von Pilgern Wallfahrten unternehmen, zuweilen aus den entfernteſten Gegenden des Landes. Die katholiſchen Heiligenbilder ſehen den buddhiſtiſchen und auch den hotoke, ſoweit ſie nicht phantaſtiſch-grotesker Art ſind, nicht unähnlich. Beide haben in auffallendſter Weiſe den Heiligenſchein gemeinſam, und wer die Himmelskönigin Kwannon ſieht, die ſich neben dem Buddha am meiſten die indiſchen Züge bewahrt hat, kann ſich des Gedankens an das Bild der Himmels - königin Maria nicht entſchlagen. Feierliche und prunk - volle Prozeſſionen ſind dem Buddhismus nicht unbekannt, und von den Ritualgebeten der Prieſter verſteht der buddhiſtiſche Laie genau ſo viel wie der katholiſche, nämlich nichts, weil für beide Religionen die Kirchen - ſprache eine andere iſt als die Landesſprache.
Zu ſuchen braucht man nicht nach Ähnlichkeiten,247 ſie drängen ſich auf Schritt und Tritt auf. Was Wunder, wenn die erſten katholiſchen Miſſionare in China ihren Sinnen nicht trauen wollten, als ſie ſolches ſahen, was Wunder, wenn der bekannte Pater Huc keine andere Erklärung dafür wußte, als daß es eine Mache des Teufels ſei! Schade nur, daß ſich die ſkeptiſchen Gelehrten mit dieſer deus — oder vielmehr diabolus — ex machina - Erklärung nicht zufrieden geben wollen; ſie brauchten ſich dann nicht weiter die Köpfe zu zerbrechen. Noch iſt keine Erklärung gefunden, auf welche ſich die Forſcher einigen könnten. Noch ſchwebt die Frage: Iſt das Chriſtentum abhängig vom Buddhismus? oder hat der Buddhismus vom Chriſtentum entlehnt? oder haben ſich beide gegenſeitig ausgeholfen? Für das erſte ſpricht der Umſtand, daß der Buddhismus um 600 Jahre älter iſt als das Chriſtentum. Gleichwohl iſt eine Abhängig - keit vom Buddhismus durchaus nicht anzunehmen. Hätten derartige intime Berührungen zwiſchen den beiden Religionen ſtattgefunden, ſo hätte uns das bei der umfangreichen und eingehenden chriſtlichen Litteratur der erſten Jahrhunderte nicht unbekannt bleiben können. So aber iſt von dem Buddhismus oder überhaupt einer indiſchen oder chineſiſchen Religion in den chriſtlichen Schriften weder dem Namen noch der Sache nach irgend eine Spur zu finden. So hätte alſo wohl der Buddhis - mus aus dem Chriſtentum geſchöpft? Man weiſt darauf hin, daß neſtorianiſche Miſſionare im vierten und fünften Jahrhundert nach China kamen; von ihnen könnte der Buddhismus alles das übernommen haben. Berühmte Forſcher wie Eitel glauben hier die Erklärung ſuchen zu müſſen. Es iſt aber mehr als zweifelhaft, ob jene neſtorianiſchen Miſſionare ſelbſt ſchon im Beſitze dieſer Eigentümlichkeiten geweſen ſind, und ebenſo unwahr -248 ſcheinlich iſt, daß der tauſend Jahre alte Buddhismus bis dahin all dieſer Formen bar geweſen ſein ſoll. Es muß alſo eine dritte Erklärung geben. Natürlich die pſychologiſche! Es iſt gewiß zuzugeben, daß aus dem Geiſt der beiden Religionen und den vulgären Inſtinkten der religiöſen Maſſe heraus „ zufällig “und unabhängig von einander ähnliche Formen geboren werden konnten, und wenn die Ähnlichkeit allgemeiner Natur wäre, ſo brauchte man nach einer andern Erklärung nicht weiter zu ſuchen. Wo ſie ſich aber ſo auf das einzelne und einzelnſte erſtreckt wie hier, genügt die pſychologiſche Erklärung nicht. Wer mit eigenen Augen hineingeſchaut hat, glaubt an die „ Zufälligkeit “der Ähnlichkeit nicht mehr; gegenüber dieſen exakten Thatſachen iſt ihm nur mit einer exakten d. h. geſchichtlichen Erklärung gedient. Und zwar glaube ich, — ohne daß ich es freilich im einzelnen Falle beweiſen könnte —, daß Buddhismus und Chriſtentum aus den gleichen, von altersher beſtehen - den Quellen geſchöpft haben. Wie der jüdiſch-chriſt - liche Himmel mitſamt der Hölle erſt ſeit den Zeiten des babyloniſchen Exils unter perſiſchem Einfluß be - völkert wurde, ſo mögen bei der Ausgeſtaltung von Himmel und Hölle im Buddhismus die gleichen Einflüſſe nach Oſten hin wirkſam geweſen ſein. Und wenn die eſoteriſche Stellung der Prieſterſchaft mitſamt den Idealen des Mönchtums wohl kaum eine chriſtliche Neuſchöpfung iſt, ſondern ſchon in dem ägyptiſchen Heidentum vor - gebildet war, ſo kann ebendasſelbe ſchon um ſechshundert Jahre früher auf der durch Alexander den Großen ge - ſchlagenen Brücke den Weg nach Indien gefunden haben. Um alſo eine hiſtoriſche Theſe in eine mathematiſche Formel zu kleiden, ſo meine ich, daß die beiden Größen des Buddhismus und des Chriſtentums darum und in -249 ſoweit unter ſich gleich ſind, als ſie dritte Größen zur gemeinſamen Grundlage haben.
Wie die katholiſchen Kirchen ſo zeigen auch die buddhiſtiſchen Tempel das Beſtreben, den Sinnen An - regung zu bieten. Da iſt nichts von der puritaniſchen Einfachheit der miya, und wo die Mittel zu gediegener Prachtentfaltung fehlen — und das iſt ſo ziemlich bei allen Dorftempeln der Fall —, ſucht man ſich durch Schein und Flitterwerk, durch bunte Farben und Fähnchen zu helfen. Die großen Tempel dagegen, allen voran die von Nikkō, ſtrotzen oft von Gold und edlem Metall, und wer die beſten Stücke japaniſcher Kunſt kennen lernen will, muß zu ihnen gehen. Teils offen vor aller Augen, teils in Schreinen findet ſich hier nicht ſelten ein großer Reichtum an kunſtvoller Bronze und Por - zellan, ſowie die herrlichſten Seiden - und Goldſtickereien und die feinſten Gemälde. Leider hat es in den letzten Jahrzehnten gewiſſenloſe Prieſter genug gegeben, welche ſolche Perlen der Kunſt an Europäer und Amerikaner verkauften; die bittere Not, welche ſeit der Säkulari - ſierung bei den Bonzen eingezogen iſt, hat freilich die Verſuchung dazu allzu nahe gelegt. Trotz alledem ſind an dem tera die Formen des miya noch klar erkennbar, nur daß dieſe Formen ornamentaliſch ausgeſtaltet ſind. Selbſt das torii hat der Buddhismus übernommen, aber er hat aus den einfachen Balken ein ſtilvolles Eingangs - thor gemacht. Zwiſchen dieſem und dem Hauptgebäude befinden ſich bei jedem anſehnlicheren Tempel den Ver - bindungsweg entlang ſteinerne oder bronzene Laternen, die jedoch nur zum Zierrat, nicht zum praktiſchen Ge - brauch dienen. Außerdem ſtehen neben den bedeutendſten tera des Landes fünf - bis ſiebenſtöckige Pagoden bis zu 200 Fuß hoch, die auch nichts weiter als Zierſtücke250 ſind, und die zur Seite des Tempels nur wenige Fuß über der Erde aufgehängte Glocke, welche mittels eines ſchwebenden Holzbalkens angeſchlagen wird, zeichnet ſich in der Regel durch einen wunderbar reinen und ſym - pathiſchen Ton aus.
Nicht wenige tera, und gerade die ſchönſten unter ihnen, werden zu gottesdienſtlichen Zwecken ſo gut wie gar nicht gebraucht. Sie ſind Weihgeſchenke an die hotoke, keine Stätten der Andacht; und den großen Tōſhōgu in Nikkō, der dem als Gongen-ſama vergött - lichten Iyeyaſu geweiht iſt, möchte ich eher eine Ge - dächtnishalle, denn einen Götzentempel nennen. Dagegen erfreuen ſich andere tera im höchſten Grade des religiöſen Zuſpruchs des andächtigen Volks. Einen Sonntag oder auch ſonſt einen beſtimmten Tag oder beſtimmte Stunden zu gemeinſamer Andacht kennt der Buddhismus nicht. Der Gläubige geht zum Tempel, je nachdem er etwas auf dem Herzen hat, zu jeder Tageszeit, ja ſelbſt bei Nacht. Bei den kleinen Tempeln, etwa auf dem Dorf, iſt der Beſuch ſpärlich; da könnte man ſich ſtunden - lang, mitunter ſelbſt tagelang hinſtellen, ohne daß ein Beter zu ſehen wäre; aber ſind es auch durchſchnittlich recht wenige Beſucher an einem Tage, ſo kommen die Woche hindurch doch ſchließlich ſo viele zuſammen, als am Sonntag in mancher chriſtlichen Kirche in Deutſch - land zu ſehen ſind. In den populären Tempeln in den großen Städten dagegen geht es beſtändig aus und ein wie in einem Wirtshaus bei einer Kirchweihe. Und in der That wird man an eine Kirchweihe oder einen Jahrmarkt ſchon beim Näherkommen an den tera er - innert. Da ſind vor dem Tempel entlang dem Zu - gangsweg eine Reihe von Kaufbuden, wo man neben Roſenkränzen, Räuchervaſen, Kerzen (die man vor den251 Götzen als Opfer anzündet), und kultiſchen Gegenſtänden aller Art auch Kinderſpielzeug und anderes mehr haben kann. Da ſind Gaukler und Akrobaten, die die feſtliche Menge mit ihren Künſten erfreuen,[und] man hat Mühe, ſich durch das Getümmel hindurchzuarbeiten. Am Tempel angekommen ſieht man ſie eintreten, zumeiſt ältere Frauen. In dem Vorraum (haiden) vor dem Gitter, das ſie von dem Heiligen (honden) trennt, in welchem die hotoke aufgeſtellt ſind und die Prieſter im Chor ihre Gebete verrichten, an denen das Volk aber weder aktiven noch paſſiven Anteil nimmt, ſtellen oder knieen ſie ſich hin, in Ehrfurcht legen ſie die Handflächen flach aufeinander, verneigen ſich tief mit der Stirn bis zum Boden und murmeln ein paarmal ihre Gebetsformel vor ſich hin. Nachdem ſie noch eine kleine Weile an - dächtig den hotoke betrachtet haben, ſtehen ſie auf, werfen eine kleine Kupfermünze in den Opferkaſten, ſoweit ſie das nicht ſchon zu Anfang gethan haben, und gehen davon; vielleicht um dem durch kein Gitterwerk abgeſchloſſenen Binzuru-ſama oder einem andern Lieb - ling noch einen Beſuch abzuſtatten, vielleicht um in das feſtliche Getriebe draußen zurückzukehren. Auch der ge - wöhnliche buddhiſtiſche Gottesdienſt dauert nicht mehr als eine bis zwei Minuten.
Die Bonzen ſind nicht ganz ſo unbeſchäftigt wie ihre Shintokollegen. Ihre Hauptarbeit iſt freilich auf den Tempeldienſt beſchränkt. Seelſorge treiben auch ſie nicht. Auch hier giebt es keine zuſammengehörigen Gemeinden und kein Gemeindeleben. Bei der Geburt und Eheſchließung haben ſie nichts zu thun. Dagegen braucht man ſie beim Tode. Von Mitake aus kam ich einſt in ein benachbartes d. h. etwa drei Stunden ent - ferntes Dorf und kehrte mit meinen beiden Studenten252 in ein Theehaus ein. Als wir uns in einem uns an - gewieſenen Zimmer niedergelaſſen hatten, hörten wir nebenan eine eintönig leiernde Stimme, ab und zu unterbrochen von dem keuchenden Huſten eines Mannes. Dort lag der Wirt des Theehauſes totkrank und vor drei Tagen hatte man, wie uns die „ Nēſan “(bedienen - des Theemädchen, eigentlich „ ältere Schweſter “) erzählte, einen „ Yamabuſhi “(Bergmönch) gerufen, um aus den heiligen Schriften Gebete zu verleſen. Über eine Stunde hielten wir uns dort auf, und während der ganzen Zeit hörten wir ununterbrochen die eintönige Stimme des Yamabuſhi und zuweilen das Huſten des Sterbenden. Ein Jahr ſpäter kam ich wieder dahin und erkundigte mich dabei nach dem „ Teiſhu “(Wirt). „ Der iſt vor Jahresfriſt geſtorben “, hieß es. Die Beerdigung weit - aus der meiſten Toten, die übrigens in Japan bei ebenſo guten als billigen Verhältniſſen zu einem großen Teil verbrannt werden, geſchieht faſt immer nach bud - dhiſtiſchem Ritual. Selbſt derjenige, welcher in ſeinem Leben von dem Buddhismus nichts wiſſen wollte, wird im Tode noch ein Buddhiſt.
Einige Prieſter ſind ſogar ſo eifrig, daß ſie predigen. Die Predigt iſt im Buddhismus von altersher nicht unbekannt, aber eine große Rolle hat ſie nie geſpielt. Die Predigten, die heute, freilich keineswegs allgemein und regelmäßig, gehalten werden, haben nicht viele Zuhörer, trotzdem das Geſagte nach Form und Inhalt oft Treffliches bietet. Am meiſten thun in dieſer Be - ziehung die Prieſter der Nichirenſekte, welche als die eifrigſten und thätigſten, und die der Shinſekte, welche als die gebildetſten und modernſten Bonzen gelten. Unter ihnen haben in unſerer Zeit nicht wenige ver - ſucht, das Chriſtentum mit den Waffen moderner Wiſſen -253 ſchaft zu bekämpfen. Auch die Shingon -, Tendai - und Zenprieſter ſtehen bei dem Volk im Rufe der Gelehr - ſamkeit. Ihm macht es gewaltigen Eindruck, daß die Bonzen dieſer Sekten die geheimnisvollen Bonjizeichen zu entziffern verſtehen. In Wirklichkeit aber iſt es mit der Gelehrſamkeit nicht weit her. Die Bonzen leſen eben in der Regel nur dem Laut nach, ohne den Sinn oder auch nur die einzelnen Worte zu verſtehen, gerade wie wenn bei uns jemand, dem von der hebräiſchen Sprache nichts weiter bekannt iſt als die Buchſtaben, das Alte Teſtament im Urtext lieſt.
Im ganzen ſind die Prieſter als unwiſſend zu be - zeichnen. Eine papageimäßige Abrichtung, das iſt ſo ziemlich alles. Was ſie zu arbeiten haben, iſt nicht ſo viel, daß ſie nicht noch ſehr viel Zeit fänden, — nicht etwa ſich weiter zu bilden, ſondern auf ihren Stroh - matten zu liegen und zu ſchlafen. Und es iſt gut, wenn ſie das thun, damit ſie nicht auf andere, recht böſe Abwege geraten. Denn die Sittlichkeit der Bonzen erfreut ſich keines guten Rufes. Der Bonze iſt vielfach zum Geſpött geworden, und „ bōzu “iſt nicht ſelten ein Schimpfwort. Als einer unſerer theologiſchen Schüler zum Beſuch in ſeine Heimat kam, riefen ihm die Kinder auf der Straße zum Zeichen der Verachtung „ Yaſobōzu “(Jeſusbonze) nach. Die Verachtung galt dabei ebenſo ſehr dem Bonzen als dem Jeſusjünger. Es iſt keine Ehre, Buddhaprieſter zu ſein, und ſelbſt ein armer Bauer und Kuli ſieht es nicht gern, wenn ſein Sohn ein Prieſter wird.
Ich habe einmal Gelegenheit gehabt, einen ſehr genau kennen zu lernen. Ich hielt mich damals auf dem Land auf und wohnte neben dem Tempel des Dorfes. Mit dem Bonzen ſtand ich in freundnachbar -254 lichem Verkehr; denn perſönlich ſind die wenigſten Buddhaprieſter Fanatiker, wenn ſie auch jetzt gegen die chriſtliche Miſſion ſcharf Front machen. Mein Nachbar war bald ſo vertraut, daß er mich mit „ kimi “(Kollege) anredete. Er war ein unglaublich oberfläch - licher Menſch, ſprach in eitler Selbſtüberhebung über die Dummheit der Dorfbewohner, die ihn nicht ver - ſtänden, ſpottete über das religiöſe Leben der Leute als über einen Aberglauben und meinte, ſelbſt allein des Lebens Rätſel gelöſt zu haben. Er gehörte nämlich zur Zenſekte, welche durch Betonung der Meditation dem Subjektivismus Thür und Thor öffnet, und wenn er auch ſelbſt nie nach Vorſchrift meditierte, ſo war ihm doch die unvergohrene „ Philoſophie “, die er in ſeinem dreißigjährigen unreifen Kopfe ohne jegliches Studium zuſammengebraut hatte, alleinige Wahrheit. Worin dieſe beſtand, hat er mir freilich nie verraten; ſein ganzes ſehr lebhaftes Geſpräch war ein fortwährendes Räſonnieren und Kritiſieren der Beſchränktheit anderer. Er beſuchte mich tagtäglich, manchmal zwei - und drei - mal; denn an mir glaubte er einen gefunden zu haben, der ihn verſtehe und zu würdigen wiſſe. Bald ließ er alle Schranken fallen und erzählte mir unter anderm auch folgende Geſchichte, die zwar nicht äſthetiſch ſchön, aber im Munde eines Bonzen immerhin charakteriſtiſch klingt.
„ Mein Nachbar “, ſagte er, „ iſt noch ſehr beſchränkt und abergläubiſch. Vor noch nicht langer Zeit hatte er einen Schüler, den er zum Prieſteramt erzog1)Die wenigſten Bonzen werden auf Schulen ausgebildet, obgleich dieſelben keineswegs fehlen; die meiſten gehen bei dem Vorſteher eines Tempels in die Lehre.. Eines Morgens wollte der Kollege über Land. Zuvor255 bereitete er noch ſeinem hotoke das Opfer, (welches auch hier wie im Schintoismus aus der alltäglichen Speiſe des Volks beſteht), und nachdem er den Lehr - ling ermahnt hatte, gut auf alles zu achten, ging er davon. Kaum aber war er aus den Augen, da ſetzte ſich der Lehrling nieder und aß das Opfer auf. Mit einem Reſt von Reis aber beſchmierte er dem Götzen den Mund. Am Abend kam der Herr ermüdet von ſeinem Gange zurück und wollte ſich nun in Ruhe das Opfer gut ſchmecken laſſen, das er am Morgen dem hotoke vorgeſetzt hatte. Als er aber dem Lehrling befahl, dasſelbe zu bringen, erklärte dieſer, es ſei nicht mehr da, der Götze habe es aufgegeſſen. Der Prieſter lachte: „ Mein hotoke hat noch nie etwas gegeſſen, und er kann auch nichts eſſen “. Statt jeglicher Antwort führte ihn der Lehrling zu dem Götzen hin und zeigte ihm die Reisſpuren an ſeinem Mund. Der Prieſter wollte erſt ſeinen Augen nicht trauen, dann aber geriet er in Zorn, wütend faßte er den hotoke am Kopf und ſchrie: „ So! gegeben haſt du mir noch nie etwas und nun fängſt du auch noch an zu eſſen! “ Sprachs und warf ihn zu Boden.
Für wahr habe ich die Geſchichte nie gehalten. Es war eben Geflunker von ſeiten meines Nachbars wie ſein übriges Geſchwätz auch; aber es iſt doch bezeichnend im Munde eines Prieſters, und die Bezeichnung frivol iſt wohl noch gelind für dasſelbe. Wie tief ihm übrigens ſein Freidenkertum, mit dem er beſtändig prahlte, ging, davon konnte ich mich jeden Abend über - zeugen. Denn wenn er ſich gegen zehn Uhr von mir verabſchiedete, hörte ich jedesmal kurz darauf ein drei - maliges Händeklatſchen: Mein Prieſter verrichtete vor ſeinem hotoke eine letzte Andacht.
256Inwieweit eine Prieſterſchaft, die ſich trotz alles zur Schau getragenen Ernſtes beim Begegnen mit einem innerlichen Augurenlächeln begrüßt, im ſtande iſt, eine ſinkende Religion zu ſtützen, iſt leicht zu ermeſſen. Und doch, ſo ſehr das Volk ſeine Bonzen zu verſpotten gewohnt iſt, ſo hat es doch wieder eine gewiſſe Scheu vor ihnen. Es iſt dasſelbe Verhältnis wie im Katho - lizismus zu Ausgang des Mittelalters. Auch damals machte man ſich über die Prieſterſchaft luſtig, und doch beherrſchten die Prieſter den Geiſt des Volks.
Darum erſcheint es ausgeſchloſſen, daß trotz dieſer verkommenen Geſellſchaft der Buddhismus raſch ſeiner Auflöſung entgegen geht. Zwar iſt er ſeit der Be - ſchneidung ſeiner Einkünfte (1868) auch in der Zahl ſeiner Tempel und Bonzen1)Die Zahl der Bonzen beläuft ſich auf rund 200,000, wo - von ein viertel Nonnen. Vor 25 Jahren waren es 220,000. zurückgegangen. Aber es ſind doch feſte Ketten, mit denen die Zauberei (und darauf läuft ja doch der praktiſche Buddhismus hinaus) das Volk gefangen hält. In Kyōto ſah ich zwei neue Tempel, die ſogen. Hongwanjitempel2)Die Hongwanjitempel ſind die Haupttempel oder Kathe - dralen der Shinſekte. In jeder großen Stadt giebt es ihrer zwei, nämlich einen Higaſhi (öſtlich) = und einen Niſhi (weſtlich) = Hongwanji.. Die alten waren abgebrannt und waren nun neu wieder aufge - baut worden. Ihre Herſtellungskoſten beliefen ſich auf ein paar Millionen Mark. Das Geld war in über - raſchend kurzer Zeit zuſammengekommen. Von weit her waren die armen Leute aus dem niederen Volk gekommen, um perſönlich ihre Beiträge zu bringen. Ich ſah dort am Eingang der Tempelhalle Seile liegen, welche dazu dienten, die Balken zum Bau des heiligen257 Hauſes herbeizuſchleppen. Die Seile bildeten große Haufen. Dieſe ſämtlichen Seile waren aus Frauen - haaren. Wie viele tauſend Frauen mögen da wohl ihr Haar geopfert haben! Die japaniſchen Frauen be - trachten ihr Haar als ihren Hauptſchmuck, aber willig haben ſie ſich dieſes Schmuckes beraubt, um ihrer Re - ligion willen thaten ſie es gern. Wo noch ſo viel Operfreudigkeit zu finden iſt, da darf man nicht daran denken, daß der Buddhismus von heute auf morgen überwunden ſei, ſo verächtlich er auch ſcheinen mag. Religionen, die Jahrtauſende gelebt, brauchen Jahr - hunderte zum Sterben. In ferner Zeit noch, wo der Buddhismus aus den Centren der Kultur längſt ſich hat flüchten müſſen, werden draußen bei den „ pagani “(Landbewohnern) in Japans dunklen Bergen noch tera ſtehen, und dort wird das „ Namu Amida Butſu “noch nicht verklungen ſein.
Und doch, ſterben wird der Buddhismus. Wohl macht man jetzt verzweifelte Verſuche, dem greiſenhaften, geiſtloſen Organismus neues Leben einzuhauchen. Der Konkurrenzkampf mit dem Chriſtentum hat den Buddhis - mus zu praktiſcher Arbeit geſtachelt. Er verbreitet Broſchüren und Flugblätter, giebt eine große Anzahl zum Teil geſchickt redigierter Wochen - und Monats - ſchriften heraus, ſucht ſich mit Krankenpflege zu be - ſchäftigen, treibt hier und da Seelſorge in Gefängniſſen, baut Waiſenhäuſer und Rettungsanſtalten und anderes mehr. Wie der Kathliozismus durch den Proteſtantismus, ſo hat der Buddhismus durch das Chriſtentum eine Reihe neuer Impulſe erhalten. Ja, man machte ſogar den Verſuch, ihn hinſichtlich ſeiner Lehre zu reformieren und durch das Labyrinth des Aberglaubens zu der reinen Lehre des Stifters zurückzukehren. Der Verſuch ging17258aber von Leuten aus, die wie der Philoſoph Inouye Tetſuſhiro ein religiöſes Intereſſe durchaus nicht haben; er iſt ſeither geſcheitert und wird auch in der Zukunft kein beſſeres Los haben. Man wird in der chriſtlichen Welt gut thun, den Berichten aus Oſtaſien über „ kräftige und erfolgreiche Reformverſuche “des Buddhis - mus kein großes Gewicht beizulegen. Solche Berichte ſind meiſt weiter nichts als kluge Mache. Manchmal erfuhr ich von ſolchen Reformbewegungen in Japan erſt durch meine deutſchen Zeitungen. Als ich mich aber im Lande da und dort darnach erkundigte, wußte kein Menſch etwas davon, oder es ſtellte ſich als eine Auf - bauſchung einer harmloſen und unbedeutenden Sache heraus.
In ſeiner Ratloſigkeit wandte ſich der Buddhismus um Hilfe nach den Ländern des Weſtens, wo, wie man ſeinen Prieſtern erzählte, die Lehre Shakas jährlich an Sympathie und ſelbſt an Anhang gewinne. Sein Hilfe - ruf ſchien nicht vergeblich ſein zu ſollen. Im Spätjahr 1888 erſchien der amerikaniſche Theoſoph Oberſt Olkott in Japan mit der ausgeſprochenen Abſicht, dem bedrängten Buddhismus wieder aufzuhelfen. Unter ungeheurem Jubel begann er ſeine Vorträge; aber die Freude begann bald einer bitteren Enttäuſchung zu weichen; es war ein anderer Geiſt als der des japaniſchen Buddhismus, der aus der Olkottſchen Theoſophie herausſprach. Ol - kott brach ſeine Vorträge plötzlich ab und zog ſich nach Ceylon zurück. Sein Auftreten war ein Mißerfolg, der dem Buddhismus keineswegs Vorteile brachte.
Alſo alles vergebens! Wohl hat der Buddhismus nach dem Plane der Vorſehung eine Miſſion in der Vergangenheit gehabt, aber dieſe Miſſion iſt heute er - füllt. Es wäre ungerecht, ſeine Verdienſte um Japan259 nicht anzuerkennen. Er iſt der Hauptträger der chine - ſiſchen Kultur geweſen, er hat die Japaner mit Kunſt und Wiſſenſchaft bekannt gemacht und hat die vordem barbariſchen Sitten gemildert. Er war durch tauſend Jahre der Lehrer des Volks, und er iſt dieſer ſeiner Aufgabe ſelbſt in höherem Grade gerecht geworden als der Katholizismus in Europa. Es muß ihm zum Ruhme nachgeſagt werden, daß er gerade auch den niederen Klaſſen die Bildung zugänglich gemacht hat. Er hat den nüchternen Konfuzianismus und den dürftigen Shintoismus religiös ergänzt und das Bedürfnis der Volksſeele nach höheren Gütern, im beſonderen die Sehnſucht nach Erlöſung wachgehalten. Er hat die alte Zeit erfüllt, — aber in die neue paßt er nicht mehr hinein.
Das Licht, welches ehedem Aſien erleuchtete, iſt gar trübe geworden und gegenüber der leuchtenden Sonne, welche jetzt über Japan heraufzieht, verſchwindet es völlig. Jetzt erſt ſoll Japan in Wahrheit das werden, was ſein Name verheißungsvoll ſagt: Das Land des Sonnenaufgangs. Jetzt erſt ertönt auch über ſeinen Gefilden der Adventsruf: „ Die Nacht iſt vorüber, und der Tag iſt herbeigekommen! “ Der Morgenſtern ver - blaßt vor dem hellen Geſtirn des Tages, und wenn wir auch gerne anerkennen, daß Buddha ein Vorläufer Chriſti war, ſo gilt doch heute auch für ihn das Wort, welches das Evangelium Johannes, Jeſu größten Weg - bahner, ſprechen läßt: „ Er muß wachſen, ich aber muß abnehmen! “
Faſt überall, wo durch die weltliche Macht ein fremdes Land der Kultur eröffnet wurde, iſt es über Leichen gegangen. Es giebt wenige Pfadfinder, die nicht verſucht hätten, durch Entfaltung aller ihrer Macht - mittel und durch den Gebrauch einer eiſengepanzerten261 Fauſt und roher Gewalt die Eingeborenen in Furcht zu verſetzen, um ſie durch die Furcht ihrem Willen zu beugen. Aber der amerikaniſche Commodore Perry, welcher im Jahre 1853 und, als ſich das Bakufu d. i. die Shogunatsregierung ein Jahr Bedenkzeit ausbedungen hatte, zum zweitenmal im Jahre 1854 in der Bay von Tokyo erſchien, um einen Handelsvertrag mit Japan ab - zuſchließen, hat einen andern Weg eingeſchlagen. Nicht durch Feuer und Schwert und nicht durch Erregung der Furcht ſuchte er zum Ziele zu kommen und iſt zum Ziele gelangt, ſondern durch die Macht ſeiner wahrhaft chriſtlichen Perſönlichkeit und durch die Weckung von Achtung und Bewunderung. Das rechnen ihm die Japaner heute noch hoch an, und das hat der Kultur und dem Chriſtentum eine offene Thür ge - ſchaffen, daß Perry bei all ſeiner Entſchiedenheit und Beſtimmtheit „ nicht mit barſchem Kommandoruf, ſon - dern mit Doxologien die Geſtade von Japan bombar - dierte “. Und wenn wir ſeiner eigenen Erzählung lauſchen, ſo hat er ſeine ſchwierige und delikate Auf - gabe ausgeführt als ein rechter Miſſionar unter be - ſtändigem Aufblick zu dem Lenker der Völker. Gewiß, auch mit roher Gewalt hätte ſich die Eröffnung des1)binnen kurzem erſcheinen; — ein glänzendes Ehrenzeugnis für den Bienenfleiß und Forſcherſinn eines deutſchen „ liberalen “Theologen, deſſen Werk nun die Grundlage geworden iſt, auf welcher Miſſionare aller Schattierungen in gemeinſamer geiſtiger Zuſammenarbeit ihre geiſtliche Zuſammengehörigkeit bekunden. Auch die Ausführungen dieſes IX. Kapitels haben bis 1890 Ritters Werk zur weſentlichen Unterlage. Die Aufgabe, die ich mir neu geſtellt habe, iſt lediglich die Ergänzung Ritters nach der inneren und geiſtigen Seite des japaniſchen Miſſionsgetriebes, womit aber nicht geſagt ſein ſoll, daß der früh verblichene geiſtvolle Vorkämpfer des Allg. evang. -prot. Miſſions - vereins dieſe Seite unberückſichtigt gelaſſen habe.262 Landes erzwingen laſſen. Dann aber wären von vorn - herein die ohnehin ſehr zurückhaltenden Japaner noch mißtrauiſcher geworden, eine unbeſiegbare Abneigung des Volkes gegen die abendländiſche Kultur wäre ge - ſchaffen worden, und die Thür zu den Herzen wäre auf unabſehbare Zeit hinaus verſchloſſen geblieben. Darum iſt es billig, bei einer Geſchichte der chriſtlichen Miſſion in Japan unter dem Ausdruck innigen Dankes dieſen Mann an die Spitze zu ſtellen, ſozuſagen als den erſten evangeliſchen Miſſionar, der den Boden Japans be - treten hat.
Der Abſchluß des Handelsvertrags durch Perry bedeutete nicht auch die ſofortige Erſchließung des Landes. Erſt von dem Jahre 1859 an wurde den Fremden das Recht der Niederlaſſung zunächſt in Kanagawa-Yokohama, Nagaſaki, Hakodate und Yedo (Tokyo), bald darauf auch in Niigata, Hyogo-Kobe und Oſaka zugeſtanden. Sofort waren auch ſchon vier amerikaniſche Miſſions - geſellſchaften zur Stelle, deren Sendboten faſt alle in Yokohama ihren Wohnſitz nahmen. Es waren durchweg auserleſene Männer. Unter allen hervorragend der kürzlich verſtorbene Miſſionar Verbeck (Dutch Reformed Church D. R. C.). Es giebt kaum eine andere miſſionariſche Perſönlichkeit, deren Segensſpuren man in allen Teilen des Landes ſo häufig begegnet. Und nicht nur als Miſſionar, auch als Lehrer hat er Vorzügliches geleiſtet. Er war der Erzieher einer Reihe von Jünglingen, die ſpäter zu den höchſten Staatsämtern gelangten. Er gewann das Ver - trauen der Regierung in ſolchem Grade, daß er 1869 zum Lehrer an der Hochſchule in Tokyo (Kaiſei Gakko) berufen wurde und einen weſentlichen Einfluß auf die Ausgeſtaltung der heutigen Univerſität gewann. Neben ihm ſteht der als Miſſionar und Arzt gleich bedeutende263 Dr. Hepburn (American Presbyterian Church A. P. C.), welcher durch ſeine bahnbrechenden Arbeiten in der Sprachforſchung zum eigentlichen Waffenſchmied der japaniſchen Miſſion geworden iſt. Durch ſeine frühere Thätigkeit in China wurde ihm das Studium des Japaniſchen bedeutend erleichtert, und ſchon im Jahre 1867 gab er ein japaniſch-engliſches Wörterbuch heraus, welches bis heute ſeinesgleichen nicht gefunden hat. Auch die Miſſionare S. R. Brown und J. H. Ballagh (D. R. C.) und der ſpätere Biſchof Williams (American Episcopal Church A. E. C.) verdienen, von der Nach - welt in dankbarer Erinnerung behalten zu werden. Selten iſt eine große und ſchwere Sache tüchtigeren Kräften anvertraut worden.
Freilich, wer die Miſſionsſtatiſtik, die für ober - flächliche Geiſter leider nur allzu leicht zur Betrügerin wird, zur Grundlage ſeines Urteils machen wollte, könnte über dieſe Männer verächtlich die Naſe rümpfen. Haben ſie es doch (aus den urſprünglichen ſechs war bald ein Dutzend und mehr geworden) innerhalb eines ganzen Jahrzehnts nur auf ſechs Getaufte gebracht! Fünf volle Jahre waren ſie am Werk, bis es J. H. Ballagh in Yokohama vergönnt war, an ſeinem Lehrer des Japaniſchen Yano Riu, der freilich als Sterbender irdiſches Gericht nicht mehr zu fürchten hatte, die Erſt - lingstaufe zu vollziehen. Und doch verzagte das kleine Häuflein nicht; denn auch in dieſer ſchweren Zeit offen - barte ihnen der Herr ſeine Nähe, und durch wunder - bare Erweiſungen wußte er ſie geduldig in Trübſal und fröhlich in Hoffnung zu machen. Hierfür nur ein Beiſpiel.
Es war im Jahre 1854, als in dem Hafen von Nagaſaki ein engliſches Geſchwader einlief. Um eine Landung zu verhindern, wurde ein japaniſches Heer auf -264 geboten, deſſen Oberbefehlshaber Wakaſa-no-kami, der Karo (erſte Berater) des Daimyo von Hizen war. Eines Tages, als Wakaſa am Ufer entlang ging, ſah er auf dem Waſſer ein kleines Buch ſchwimmen, das er ſich aneignete. Es war, wie ihm ein holländiſcher Dolmetſcher erklärte, ein engliſches Neues Teſtament. Als Wakaſa erfuhr, daß in Shangai dasſelbe Buch in chineſiſcher Schrift zu haben ſei, ließ er ſich ein Exemplar kommen und nahm es mit in ſeine Heimat. Hier machte er ſich im Verein mit ſeinem Bruder Ayabe und drei Freunden an das Studium des ſeltſamen Buches, das dieſe ſuchenden Seelen bald mächtig anzog. Die Jahre kamen und gingen, aber das Intereſſe der fünf Männer an dem Buche ging nicht. Da geſchah es, daß im Jahre 1862 einer derſelben nach Nagaſaki kam. Dort traf er den Miſſionar Verbeck, welcher ihm chriſtlichen Unterricht erteilte. Als Waſaka das erfuhr, benutzte er die Gelegenheit, um ſich über ſo manche unverſtandene Stelle ſeines Teſtaments Klarheit zu verſchaffen. Da ihn ſein Amt an Ort und Stelle feſthielt, ließ er jede Woche einen Boten die zweitägige Reiſe zu Verbeck machen und erhielt ſo mit ſeinen Gefährten auf brief - lichem Weg „ par distance “einen regelrechten Bibel - unterricht. Endlich im Jahre 1866 machten ſich Wakaſa und ſein Bruder Ayabe auf nach Nagaſaki. Dort er - hielten ſie noch einmal mündlichen Unterricht, und am Pfingſtfeſt wurden ſie durch Verbeck getauft — die nächſten Chriſten nach Yano und für eine Zeitlang wieder die einzigen. Wakaſa ſtarb als treuer Chriſt. Aber ſein Chriſtengeiſt ſtarb nicht in ſeiner Familie. 1880 ließ ſich eine Tochter von ihm mitſamt ihrem Gatten und einer treuen Dienerin taufen. Die beiden erſten ſind Mitglieder einer Gemeinde der Nippon Kriſto Kyokwai265 (Kirche Chriſti in Japan, presbyt. ) in Tokyo, die Magd aber ward zu einer rechten Miſſionarin: Ihrem brennen - den Glaubenseifer iſt die Gründung einer Chriſten - gemeinde zu Saga zu verdanken. Eine Enkelin Wakaſas iſt ebenfalls Chriſtin, und im Jahre 1890 trat ein Enkel von ihm in die Doſhiſha, die chriſtliche Hoch - ſchule der Kongregationaliſten zu Kyoto ein.
Wer möchte da nicht die wunderbaren Wege Gottes preiſen, deſſen Fuß gehet wie auf dunkeln Waſſern, wer lernt da nicht aufs neue wieder glauben an das Wort des Herrn: „ Gleichwie der Regen und der Schnee vom Himmel fällt und nicht wieder dahin kommt, ſondern feuchtet die Erde und macht ſie fruchtbar und wachſend, alſo ſoll das Wort, das aus meinem Munde geht, auch ſein. Es ſoll nicht wieder zu mir herkommen, ſondern thun, was mir gefällt, und ſoll ihm gelingen, dazu ich es ſende “.
Aber neben ſolch ſeligen Erfahrungen ſollten den Miſſionaren die ſchwerſten Prüfungen nicht erſpart bleiben. Wenn auch das politiſch unintereſſierte Volk keineswegs den Abendländern feindlich gegenüberſtand, ſo ſah doch der Samuraiſtand in der Anweſenheit der „ fremden Barbaren “eine nationale Schmach. Ihr Zorn richtete ſich gleicherweiſe gegen die Regierung des Shogunats, welche die „ ſchimpflichen “Verträge abge - ſchloſſen hatte, wie gegen die Fremden ſelbſt. Plötzlich begann man ſich des lange vergeſſenen Kaiſers zu Kyoto zu erinnern, von ihm erhoffte man die Rettung: „ Jo-i “(fort mit den Fremden) und „ Son-ō “(Ehre dem Kaiſer) wurden die Loſungsworte des Tages. Der Premierminiſter Jikamon no kami, dem man die Haupt - ſchuld an dem Abſchluß der Verträge beimaß, wurde ermordet, und auch mancher Europäer fiel dem Fremden -266 haß der Samurai zum Opfer. Daß die Miſſionare alle dieſem Geſchick entrannen, verdankten ſie nächſt dem Schutze Gottes nur ihrem feinen Taktgefühl, das es peinlich vermied, bei den empfindlichen Japanern Anſtoß zu erregen. Aber deſſen mußten ſie ſich doch immer bewußt bleiben: „ Mitten wir im Leben ſind von dem Tod umfangen “. Die alten Geſetze gegen das Chriſten - tum beſtanden noch, und ſchärfer denn je wurden ſie jetzt dem Volke wieder eingeprägt. Wenn die Miſſionare über die Straße gingen, konnten ſie an den Ecken mit eigenen Augen den Erlaß angeſchlagen ſehen, wonach die böſe Sekte der Chriſten bei Todesſtrafe verboten war. Man fürchtete für ſein Leben, mied die Miſſionare und lehnte religiöſe Geſpräche ängſtlich ab.
Unter ſolchen Umſtänden war an eine öffentliche Wirkſamkeit nicht zu denken. Es blieb den Sendboten nichts übrig, als in Geduld abzuwarten. Aber gerade die Ruhe, zu welcher ſie wider Willen gezwungen waren, erwies ſich als eine weiſe Fügung im Plane der Vor - ſehung. Denn ſo verblieb ihnen Zeit und Muße zu der ebenſo notwendigen als ſchweren Arbeit, ſich die Werkzeuge zum Bau des Gottesreichs zu fertigen und die Waffen zu ſchmieden zum ſpäteren Kampf. Sie er - lernten die Sprache, ſie machten ſich mit Sitte und Eigenart des Volks bekannt, ſie begannen ſelbſt ſchon einige Teile der Heiligen Schrift in die Landesſprache zu überſetzen. Im übrigen mußten ſie es als eine be - ſondere Gnade betrachten, wenn ſie hier und da für ihre religiöſen Lehren Gehör bei ihrem Lehrer des Ja - paniſchen oder bei ihren Dienſtboten, zuweilen wohl auch bei ſolchen fanden, die engliſchen Sprachunter - richt bei ihnen nahmen. Und auch dieſe zogen ſich meiſt wieder zurück, wenn ſie ſahen, daß es den Behörden267 mit der Anwendung der Geſetze gegen das Chriſtentum blutiger Ernſt war.
Die katholiſche Kirche ſollte das zuerſt erfahren. Im Jahre 1867 wurde in dem Dorfe Urakami, nicht fern von Nagaſaki, eine Chriſtengemeinde von mehr als dreitauſend Seelen entdeckt, die ſich trotz aller Ver - folgungen aus der Jeſuitenmiſſion des ſechzehnten Jahr - hunderts in tiefſter Heimlichkeit erhalten hatte. Zwar war von Chriſti Geiſt kaum noch etwas übrig geblieben, der Name der Jungfrau Maria war ihnen geläufig geblieben, und das Kreuzeszeichen, welchem ſie magiſche Wirkungen zuſchrieben, beteten ſie an. Die Mitglieder der Gemeinde wurden gefangen genommen und büßten ihr Verbrechen in den Bergwerken in ſchwerer Zwangs - arbeit, wo die meiſten elend verdarben und ſtarben. Bald darauf wendete ſich das Strafgericht auch gegen die japaniſchen Lehrer proteſtantiſcher Miſſionare. Einer derſelben ſchmachtete zweiundeinhalb Jahre im Zucht - haus. Ein anderer war nicht einmal Chriſt, aber man hatte in ſeiner Wohnung eine Überſetzung aus dem Neuen Teſtament gefunden, und das genügte, ihn mit ſeiner Frau in das Gefängnis zu bringen. Aber gerade das hatte zur Folge, daß er nun zum Chriſtentum ſich bekannte. Er ſtarb im Elend des Kerkers, und doch iſt er ſelig geſtorben. Seine Frau, die ſpäter gleichfalls zum Chriſtentum übertrat, mußte noch weiter im Ge - fängnis verbleiben.
Endlich im Jahre 1873, dem Beginn einer neuen Miſſionsepoche, ſchlug für die chriſtlichen Märtyrer die Stunde der Befreiung. Schon geraume Weile zuvor machten ſich die erſten Anzeichen einer beginnenden Toleranz bemerkbar. Zwar hatte die Revolutions - bewegung von 1868 die Feindſchaft wider die Abend -268 länder auf ihrem Programm ſtehen. Aber bald ſchon erkannte man, daß die neue Periode Meiji (die er - leuchtete) nicht im Kampf wider die moderne Kultur, ſondern nur im Bunde mit ihr ihrem Namen Ehre machen könne. Dazu erwarben ſich, wie überall ſo auch hier, die Chriſten gerade durch ihr Märtyrertum viele Sympathien. Viele Gebildete nahmen ſich großmütig und ritterlich der Sache der Bedrückten an und ſahen in ihrer Maßregelung eine grauſame und unwürdige Barbarei. Die Stimmen für Duldung wurden immer allgemeiner und drangen zu den Ohren der Behörden. Man ließ allmählich den Verkauf chriſtlicher Bücher und Traktate ſtillſchweigend zu, man benutzte die Miſſionare als Lehrer, und ſelbſt gegenüber der religiöſen Propa - ganda derſelben begann man ein Auge zuzudrücken. So konnte es geſchehen, daß ſchon im Jahre 1872 zu einer Zeit, wo die Geſetze wider das Chriſtentum noch beſtanden, die erſte Chriſtengemeinde zu Yokohama ent - ſtand. Sie zählte urſprünglich nur neun Mitglieder, ihr Stifter iſt Ballagh (D. R.). Heute iſt die Kaigan Kyokwai (Strandkirche), wie man ſie nach ihrer Lage nannte, die ſtärkſte Gemeinde Japans.
Einmal in aufſteigender Linie begriffen wuchs die Stimmung für das Chriſtentum mit großer Schnellig - keit. Im Jahre 1871 hatte die Regierung unter Führung Iwakuras, des Miniſters des Auswärtigen, eine Geſandtſchaft nach Amerika und Europa geſchickt, welche eine Reviſion der Handelsverträge anſtreben und gleichzeitig die Kultur des Abendlandes ſtudieren ſollte. Dieſelbe hatte täglich Gelegenheit, das Chriſtentum, welches in Japan ſo unſcheinbar auftrat, in den Län - dern ſeiner Heimat als eine große Macht kennen zu lernen, und in ihren Berichten nach Hauſe machten ſie269 daraus kein Hehl. Nicht lange nachdem die Geſandten Berlin verlaſſen hatten, fragte man bei Prof. Gneiſt daſelbſt an, was er von einer etwaigen Annahme des Chriſtentums durch Japan halte, (wobei man ſich allerdings lediglich von politiſchen Utilitätsgründen leiten ließ). Gneiſt gab darauf die einzig richtige Antwort, daß ſich dasſelbe nicht wie eine Staats verfaſſung einfach in ein anderes Land hinüber pflanzen laſſe, und auf dieſe Antwort hin legte man den aben - teuerlichen Gedanken einſtweilen beiſeite.
Im Jahre 1873 kehrte Iwakuras Geſandtſchaft zurück, und nun begann eine gründliche Reformation des Staatsweſens nach europäiſchen Muſtern, welche naturgemäß auch dem Chriſtentum zu gute kam. Schon in demſelben Jahre, ſogar noch einige Monate vor Iwakuras Heimkehr, wurden die Strafgeſetze gegen die Chriſten von den öffentlichen Anſchlagbrettern entfernt. Im gleichen Jahre ließ man den chineſiſchen Kalender fallen und ſetzte den gregorianiſchen an ſeine Stelle, und drei Jahre ſpäter (1876) hob man die Geſetze gegen das Chriſtentum auch formell auf und führte den Sonntag als Ruhetag für die Beamtenſchaft, die Schulen und das Militär ein.
Daß ſich ſolche Umwälzungen nicht ohne Wider - ſpruch und Kampf vollzogen, verſteht ſich von ſelbſt. Der Geiſt Altjapans, vorzüglich durch den Samurai - ſtand vertreten, leiſtete heftigen, aber vergeblichen Widerſtand. Raſch nacheinander brachen Aufſtände aus, die aber blutig niedergeſchlagen wurden. Der letzte war der von Kagoſhima unter der Führung des gewaltigen Saigo, des populärſten Helden im modernen Japan, der im Jahre 1868 das neue Reich mit Blut und Eiſen zuſammengeſchmiedet hatte und jetzt den270 Hammer erhob, um dasſelbe Reich, das er auf die Ab - wege der fremden Barbaren geraten wähnte, wieder zu vernichten. Saigo, der patriotiſchſte Sohn ſeines Lan - des, fiel als Rebell (1877) — eine wahrhaft tragiſche Perſönlichleit. Damit war der Sieg der weſtlichen Kultur entſchieden, und die vorher feindſeligen Samurai wurden von nun an ihre eifrigſten Förderer.
Mit dieſem Sieg der Kulturfreunde war auch die Entſcheidung für die Zulaſſung des Chriſtentums ge - fallen. Dasſelbe Chriſtentum, welches bisher nur im Verborgenen ſich geregt, war nun in den freien Kon - kurrenzkampf eingetreten. Für die Miſſionare war Leben und Arbeit eine Luſt geworden. Ihre Reihen hatten ſich bedeutend verſtärkt, ſo daß am Schluſſe des Jahres 1882 nicht weniger als achtzehn Geſellſchaften, dreizehn amerikaniſche und fünf engliſche, mit 145 männlichen und weiblichen Arbeitern in Thätigkeit waren.
Eine dieſer Geſellſchaften verdient ganz beſondere Erwähnung. Es iſt die Miſſionsgeſellſchaft der Amerika - niſchen Kongregationaliſten (A. B. C.). Schon im Jahre 1869 hatte ſie ihren erſten Miſſionar D. C. Greene entſandt, einen Mann, welcher durch ſeine wahrhaft evangeliſche Geſinnung und feinen Herzenstakt großes Vertrauen gewann und hinſichtlich ſeiner Verdienſte, mögen dieſelben auch nicht ſo ſehr an die Öffentlichkeit getreten ſein, unmittelbar neben Verbeck und Hepburn zu nennen iſt. Von noch größerer Bedeutung aber ſollte für dieſe Geſellſchaft die Entſendung des Japaners J. H. Niſhima werden. Niſhima war ge - boren zu Anaka in der Provinz Kozuke am 14. Januar 1843. Schon früh erlernte er die holländiſche Sprache, und ſpäter eignete er ſich im Verkehr mit Fremden271 auch die engliſche an. Als Dolmetſcher in fortwähren - der Berührung mit den Abendländern gewann er bald eine große Vorliebe für die weſtliche Kultur, und es ergriff ihn die Sehnſucht, dieſelbe in ihrer Heimat kennen zu lernen. Noch aber war auf das Verlaſſen des Landes die Todesſtrafe geſetzt. Da benutzte der Jüngling die Gelegenheit, von Hakodate aus, wo er unter anderm auch dem ruſſiſchen Biſchof Nikolai ja - paniſchen Unterricht erteilt hatte, an Bord eines nach Shanghai gehenden fremden Schiffes ſein Vaterland heimlich zu verlaſſen. Nach mancherlei Irrfahrten kam er nach Boſton, wo ihn der Rheder Alpheus Hardie, ein treues Mitglied der Kongregationaliſten und ein eifriger Freund der Miſſion, in ſein Haus aufnahm. Hier fand er den Heiland, der ihm zwar ſchon nicht ganz fremd geweſen iſt. Hardie verſchaffte ihm eine gediegene Bildung, und da Niſhima wünſchte, einmal als Miſſionar nach ſeinem Vaterlande zurückzukehren, ſo ließ er ihn Theologie ſtudieren. Da kam im Jahre 1871 Iwakuras Geſandtſchaft nach Amerika, und Niſhima wurde aufgefordert, dieſelbe als Dolmetſcher zu begleiten. Nachdem er für ſeine heimliche Flucht aus ſeinem Vater - lande ausdrücklich begnadigt worden war, übernahm er das angetragene Amt. Nun knüpfte er enge Beziehungen zu den Gliedern der Geſandtſchaft, wie Ito, Inouye und Okubo, die ihm ſpäter ſehr zu ſtatten kamen. Nach der Rückkehr der Geſandtſchaft ſtellte er ſich dem Ame - rican Board A. B. C. (Kongreg. ) zur Entſendung nach Japan. Ende 1874 kam er daſelbſt an, und nachdem er ſeine bejahrten Eltern in Anaka beſucht hatte, machte er ſich ſofort an die Aufgabe, die er ſich geſtellt: Die Gründung einer theologiſchen Hochſchule. Beweggrund war der Gedanke, daß Japan durch die Japaner evan -272 geliſiert werden müſſe, und daß japaniſche Geiſtliche darum das erſte Erfordernis ſeien. Unterſtützt durch reichliche Spenden aus Amerika und Japan, wo ſelbſt auch ſeine heidniſchen Freunde, hohe Staatsbeamte und Miniſter, große Beiträge leiſteten, gelang ihm ſein Werk in überraſchend kurzer Zeit: Am 29. Oktober 1875 ſchon konnte die Doſhiſha (Vereinigung zu gleichem Zweck) in Kyoto eröffnet werden. Bald blühte ſie mächtig auf, in den folgenden 15 Jahren trat eine Abteilung zu der andern hinzu, und heute fehlt nur noch eine mediziniſche Abteilung, um die Doſhiſha zu einer vollſtändigen Hochſchule etwa im Sinne mancher amerikaniſchen (nicht aber einer deutſchen oder auch der japaniſchen Univerſität) zu erheben.
Während die Gründung der Doſhiſha noch im Gange war, hatte Gott auch ſchon für ein glänzendes Schülermaterial für dieſelbe geſorgt. Im Jahre 1871 gründete der Daimyo von Higo eine Schule für euro - päiſches Wiſſen in Kumamoto und berief als Lehrer an dieſelbe Kapitain Janes, welcher zuvor Hauptmann in der Armee der Vereinigten Staaten geweſen war. Janes und ſeine Frau waren überaus fromme und eifrige Chriſten. Gleichwohl unterrichtete er ſeine Schüler drei Jahre lang, ohne vom Chriſtentum ein Wort zu ſprechen. Nachdem aber die Schüler Vertrauen zu ihm gewonnen hatten, lud er ſie eines Tages ein, zum Bibelunterricht nach ſeinem Hauſe zu kommen. Der Neugierde halber gingen ſie hin, konnten aber der Lektüre der Heiligen Schrift durchaus keinen Geſchmack abgewinnen. Gleichwohl thaten ſie ihrem verehrten Lehrer den Gefallen, allſonntäglich wiederzukommen, und als ein Jahr vergangen war, kamen viele nicht mehr nur aus Höflichkeit, ſondern aus wirklichem Intereſſe. 273Nun begann Janes auch noch zu predigen, und bald wurden die Schüler ſo bewegt, daß vierzig von ihnen ſich zum Chriſtentum bekannten. Im Anfang 1876 loderte die Glaubensglut zu hellen Flammen auf. Die chriſtlichen Schüler zogen auf einen Hügel in der Nähe der Stadt und ſchloſſen unter Schwüren der Treue einen Bund. Aber die Nachricht davon verbreitete ſich raſch, und nun begann eine regelrechte Verfolgung. Die meiſten Väter holten ihre Söhne heim, durch Drohungen und Bitten ſuchte man ſie zum Abfall zu bewegen. Manche waren drei und vier Monate lang eingeſperrt und er - litten eine grauſame Behandlung. Eine Mutter war nur ſchwer davon abzubringen, Harakiri zu begehen, um das Verbrechen ihres Sohnes zu ſühnen. Aber nur wenige verleugneten ihren Glauben, die andern blieben treu, ob ſie gleich, von Vater und Mutter verflucht, aus ihrem Elternhaus verſtoßen wurden. Im Herbſte 1876 mußte Kapitain Janes, deſſen Leben mehr als einmal in Gefahr war, Kumamoto verlaſſen; ſeine treuen Schüler aber bezogen die kurz zuvor gegründete Doſhiſha.
Kein Wunder, daß mit ſolchen Schülern und mit einem Niſhima an der Spitze der Ruf der Doſhiſha bald über das ganze Land hin verbreitet war. Kein Wunder auch, daß die übrigen Miſſionsgeſellſchaften ſehr bald mit ähnlichen Gründungen nachfolgten. Die nächſten waren die Presbyterianer, die ſich im Jahre 1877 mit den ihnen verwandten Geſellſchaften, unter welchen be - ſonders die Dutch Reformed Church (D. R. C.) hervorragt, zu einer gemeinſamen Kirche unter dem Namen Nippon Kristo Ichi Kyokwai (Vereinigte Kirche Chriſti in Japan) zuſammengeſchloſſen hatten. Noch in demſelben Jahre eröffneten ſie die Theological Union School, welche ſich ſpäter zu der blühenden Meiji Gaku-in entwickelte. Auch18274ſie beſteht aus einem allgemeinen Kurſus für weltliches Wiſſen und aus einer theologiſchen Abteilung. Die Spezial-Colleges fehlen ihr, ſie ſteht in dem Range eines Gymnaſiums, vielleicht etwas tiefer. Dagegen ſteht ſie als theologiſches Erziehungsinſtitut hinter der Doſhiſha kaum zurück, was weſentlich den tüchtigen miſſionariſchen Kräften der D. R. C. zu verdanken iſt. Nicht ſo bedeutend, aber in ähnlichem Stil gehalten wie die Meiji Gaku-in ſind die Schulen der Methodiſten und die der vereinigten Episkopalen. Alle dieſe Schulen ſind, mit Ausnahme der Doſhiſha, in Tokyo.
Haben ſich nun auf dieſem Gebiete die alten Geſell - ſchaften von den ſpäter gekommenen Kongregationaliſten den Rang ablaufen laſſen, ſo hatten ſie dafür die Füh - rung in dem Mädchenſchulweſen und der Frauenmiſſion. Die Bedeutung der Frauenmiſſion war von den erſten Sendboten ſofort erkannt worden. Nachdem ſchon die Miſſionarsfrauen von Anfang an ſich mit Eifer dieſer Aufgabe hingegeben hatten, ſandte im Jahre 1869 die D. R. C., deren Bedeutung auf allen Gebieten nicht hoch genug angeſchlagen werden kann, die erſte Miſſionarin von Beruf, Miß Kidder. Dieſelbe nahm ihren Wohn - ſitz in Yokohama, und ſchon im folgenden Jahre gründete ſie auf Veranlaſſung des weitſichtigen und toleranten Gouverneurs Oye eine Mädchenſchule, welche ſpäter als „ lsaac Ferris Seminary “eine große Bedeutung ge - winnen ſollte. Nicht minder ſegensreich wirkte das nur zwei Jahre ſpäter ebenfalls in Yokohama eröffnete „ Mission Home “, welches die 1871 ausgeſandten Miſſio - narinnen der Woman’s Union Missionary Society ins Leben rief. Ihnen reihten ſich dann im Laufe der Zeit eine große Anzahl ähnlicher Inſtitute an, beſon - dere Kurſe zur Ausbildung von Evangeliſtinnen (Bible -275 women), welche im Miſſionsdienſt in großer Zahl Ver - wendung finden, wurden ihnen angefügt, und thatſäch - lich giebt es Geſellſchaften, wo, wie bei den Kongrega - tionaliſten und Methodiſten, die Zahl der Miſſiona - rinnen, d. h. Lehrerinnen, die der männlichen Sendboten überwiegt. Auch die japaniſchen Chriſten erkannten bald die Wichtigkeit dieſer Beſtrebungen, denen beſon - ders in dem Presbyterianer Iwamoto, dem Heraus - geber der Jogaku Zasshi (Zeitſchrift für Frauenbildung) und Inhaber einer großen Mädchenſchule zu Tokyo, ein vortrefflicher Vertreter erſtand. Daß die Gewin - nung der Frauen anfangs nur eine ſpärliche war, er - klärt ſich aus der ſozialen Stellung der Frau voll - kommen (vergl. Kap. V). Wenn aber der Zuwachs des weiblichen Elements in den Gemeinden ein derart ſtetiger war, daß im Jahre 1882 der Prozentſatz 26, fünf Jahre ſpäter 37 und heute über 40 Prozent be - trägt, ſo darf man daraus einen Schluß auf die un - gemeine Kraftentfaltung ziehen, die man der Frauen - miſſion zuwendete.
Der mündlichen Verkündigung traten ſchon von Anfang an zwei andere Arten zur Seite, nämlich die durch die That, welche hauptſächlich in der mediziniſchen Miſſion mit einer Reihe von Ärzten und chriſtlichen Hospitälern ihren Ausdruck fand, und die durch das gedruckte Wort. Schon in den ſechziger Jahren, wo eine mündliche Verkündigung faſt ganz ausgeſchloſſen war, hatte man Heilige Schriften und andere Druck - werke in Menge von China eingeführt und manche gute Erfolge damit erzielt. So habe ich noch vor wenigen Jahren in den Händen japaniſcher Chriſten den chine - ſiſchen Kommentar zum Lukasevangelium von D. Ernſt Faber, dem bekannten Miſſionar des Allgem. evang. -18*276prot. Miſſions-Vereins, gefunden. Nachdem die Miſſio - nare der japaniſchen Sprache völlig Herr geworden waren, machten ſie ſich ſelbſt daran, ſolche Schriften herauszugeben. Frühe auch ſchon ging man daran, chriſtliche Zeitungen zu veröffentlichen. Schon 1876 erſchien die „ Wochenſchau “(Shichi Ichi Zappo), welche ſpäter von der heute noch ſehr einflußreichen „ Chriſt - lichen Zeitung “(Kristokyo Shimbun) abgelöſt wurde, und 1882 wurde die als wiſſenſchaftlich-theologiſche und apologetiſche Wochenſchrift hochangeſehene Rikugozasshi ins Leben gerufen. Beide Veröffentlichungen gingen von dem American Board aus bezw. von japaniſchen Chriſten der Kumiai Kyokwai, wie ſich die Kirche der Kongregationaliſten in Japan nannte (kumiai = Kon - gregation, Gemeinde)1)Dr. L. Buſſe in ſeiner hochintereſſanten Abhandlung „ Streifzüge durch die japaniſche ethiſche Litteratur der Gegen - wart “in den Mittlg. d. deutſchen Geſellſchaft für Natur - und Völkerkunde Oſtaſiens, Heft 50, zählt bis 1892 27 chriſtliche Wochen - und Monatsſchriften auf. Dabei ſind die rein lokalen nicht mitgezählt; auch wurden ſeitdem wieder einige gegründet.. Weitaus das wichtigſte aber, was auf dem Gebiet der chriſtlichen Litteratur geſchah, war die Überſetzung des Neuen Teſtamentes. Im Jahre 1872 fand in Yokohama eine gemeinſchaftliche Miſſions - konferenz ſtatt, welche am 20. September eine Kom - miſſion zur Überſetzung des Neuen Teſtaments ein - ſetzte. Die hervorragendſten Mitglieder derſelben waren Hepburn, Brown und Greene und die Japaner Okuno, Matſuyama und Takahaſhi. Das große Werk war im Jahre 1880 vollendet. Der Verbreitung von Bibeln und chriſtlichen Schriften nahmen ſich drei Bibel - und zwei Traktatgeſellſchaften an, welche alle ſchon im Jahre 1882 zur Stelle waren.
277Als 1883 die große Miſſionskonferenz zu Oſaka zuſammentrat, da wußte man: Die Vorarbeiten ſind gethan, der Miſſionsapparat iſt fertig geſtellt, das Miſſionsnetz iſt bereit; nun konnte man an der Schwelle des dritten Abſchnittes (1883 — 1890) mit dem fertigen Netz an einen fröhlichen Fiſchzug denken.
Nicht als ob bei einer geſchichtlichen Entwicklung die Scheidelinien der einzelnen Perioden ſo haarſcharf gezogen werden könnten. Vielmehr wurde auch in dem folgenden Abſchnitt noch manche Maſche in das Miſſions - netz gewoben. Jetzt erſt wurde die Doſhiſha eigentlich zur Hochſchule ausgebaut, auch jetzt noch wurde eine Reihe von Schulen neu errichtet und die meiſten chriſt - lichen Zeitſchriften traten in dieſer Periode ins Leben. Auch die Bibelüberſetzung wurde jetzt erſt vollendet, indem im Jahre 1888 auch das Alte Teſtament in japaniſcher Sprache erſchien. Die Seele dieſer Über - ſetzung war neben Dr. Hepburn der gelehrte Verbeck, der ſelbſt die Pſalmen in klaſſiſch ſchöner Weiſe über - ſetzte. Die japaniſche Bibel iſt ein Werk, auf welches die evangeliſche Miſſion ſtolz ſein darf.
So wirkte die Miſſionsaufgabe der vorigen Periode auch jetzt noch nach, gleichwie umgekehrt die eigentliche Arbeit dieſes neuen Zeitabſchnitts ſchon in der vorigen Epoche begonnen hatte. Ich meine die eigentliche Be - kehrungsarbeit. Am Ende des Jahres 1882, wo 18 Ge - ſellſchaften mit 145 männlichen und weiblichen Arbeitern, ohne die japaniſchen Hilfskräfte, in Thätigkeit ſtanden, betrug die Zahl der Bekehrten bereits 4367 in 93 or - ganiſierten Gemeinden. Gewiß ein gewaltiger Fort - ſchritt! Und doch ſollte es bald ſchon dahin kommen, daß ſich der Zuwachs eines Jahres auf ſo viel und mehr belief als der Gewinn dieſes ganzen Jahrzehnts. 278Jetzt erſt, wo der Miſſionsapparat im ganzen fertig war, hatte man die Hände frei zu ausgedehnter Pro - pagandaarbeit.
Dazu hatte ſich die Stimmung für das Chriſtentum von Jahr zu Jahr gehoben, und Ende der achtziger Jahre erreichte dieſelbe eine Höhe, daß man von einer Chriſtianiſierung des ganzen Volkes in fünfundzwanzig Jahren zu fabeln begann. Die Gewaltthätigkeiten gegen die Chriſten verloren ſich mehr und mehr und ſelbſt Beamte durften ungehindert zum Chriſtentum über - treten. Schon 1881 hatte der Kaiſer die Einführung einer konſtitutionellen Verfaſſung in Ausſicht geſtellt, und als 1883 Ito, welcher zum Studium des euro - päiſchen Verfaſſungsweſens den Weſten bereiſt hatte, nach Japan zurückkehrte, war er von der Notwendigkeit einer durch die Verfaſſung verbürgten unbedingten Religionsfreiheit überzeugt, und die übrigen Glieder der Regierung dachten nicht anders. Als 1888 Niſhima einen Aufruf zu Geldbeiträgen erließ, um mittels der - ſelben die Doſhiſha zu dem Range einer, wie er aus - drücklich bemerkte, chriſtlichen Univerſität zu erheben, erhielt er aus heidniſchen und religionsloſen Regierungs - und Finanzkreiſen große Summen. Thatſächlich ſind die damals geſammelten 70000 Yen (1 Yen = 2 — 2,50 Mk.) nur zu einem ſehr kleinen Teile von den faſt durchweg unbemittelten Chriſten aufgebracht worden. Auch zu andern chriſtlichen Schulen und Werken chriſtlicher Liebes - thätigkeit wurden von hohen Beamten und Kaufleuten nicht ſelten große Beiträge geleiſtet. In der guten Geſellſchaft wurde es Mode, ſeine Töchter in die Miſſionsſchulen zu ſchicken, und der Profeſſor Toyama, der ſelbſt vom Chriſtentum nichts wiſſen wollte, empfahl in Aufſehen erregenden Artikeln die Mädchenerziehung279 auf chriſtlicher Grundlage. Die einflußreichſten Männer des Landes, ſo der bekannte Pädagog und Politiker Fukuzawa und der Führer der großen liberalen Partei Graf Itagaki traten offen für Annahme des Chriſten - tums ein. Sie ſelbſt ſtanden ihm freilich fern; ſie hofften, ein chriſtliches Japan werde durch neue Ver - träge Gleichberechtigung mit den weſtlichen Nationen erlangen. Politiſche Beweggründe, welche ſich auf die Dauer und für die Zukunft notwendig als verderblich für das Chriſtentum herausſtellen mußten, erwieſen ſich einſtweilen noch als mächtige Motoren einer chriſten - freundlichen Stimmung.
So wurde die Zeitſtrömung vorerſt den Miſſionaren zum mächtigen Bundesgenoſſen. Aber auch ihre eigene Heeresmacht war bedeutend gewachſen. Neue Geſell - ſchaften traten in die Arbeit ein, darunter der Allg. evang. -proteſt. Miſſionsverein1)Der Allg. evang. -proteſt. Miſſionsverein wurde, nachdem er ſchon im Jahre 1883 durch vertrauliche Verſammlungen ſeiner erſten Mitglieder vorbereitet und ins Leben gerufen war, auf der konſtituierenden Verſammlung zu Weimar am 4. Juni 1884 begründet. Se. Königl. Hoheit Karl Alexander, Großherzog von Sachſen-Weimar, übernahm das Protektorat und iſt ſeitdem allezeit in hochherziger Weiſe für die Beſtrebungen des Vereins eingetreten. Der geiſtige Vater des Vereins iſt Pfarrer D. Ernſt Buß in Glarus, der Verfaſſer der von der Haager Geſellſchaft gekrönten Preisſchrift über „ Die chriſtliche Miſſion, ihre prinzipielle Berech - tigung und praktiſche Durchführung “(1876). Buß übernahm den Vorſitz, bis ihn eine ſchwere Erkrankung 1893 zum Rücktritt nötigte. Sein Nachfolger wurde Prediger Dr. Theodor Arndt in Berlin. Der Verein ſteht in weitherziger evangeliſcher Ge - ſinnung einzig auf dem Boden des Evangeliums Jeſu Chriſti. Dieſes Bekenntnis iſt auch bei der Wirkſamkeit ſeiner Miſſionare in Japan und China, den einzigen Arbeitsgebieten des Vereins, von grundlegender Bedeutung. Als erſter Miſſionar wurde im als einziger Vertreter280 des miſſionsfreundlichen Deutſchland (1885), ferner die Unitarier (1888) und die Univerſaliſten (1890). Dazu waren die fünf großen Gruppen der Kongregationaliſten, der Presbyterianer, der Epiſkopalen, der Methodiſten und der Baptiſten durch Zuzug neuer Miſſionare und zum Teil auch ganzer Zweiggeſellſchaften bedeutend1)Sommer 1885 der Schweizer Pfarrer Wilfried Spinner von Dynhard (Kanton Zürich) ausgeſandt. Derſelbe vereinigte 1885 die evangeliſchen Deutſchen in Tokyo und Yokohama zu Ge - meinden, gründete 1887 eine heidenchriſtliche Gemeinde im Stadt - teil Hongo in Tokyo, ſchuf im Verein mit dem 1887 entſandten zweiten Miſſionar Otto Schmiedel die Theologiſche Schule (Shinkyo Shingakko) und gab ſeit Oktober 1889 gleichfalls mit dieſem die theologiſch-apologetiſche Zeitſchrift Shinri (Wahrheit) heraus. Auch die Bildung der meiſten, Seite 316 erwähnten, Inſtitute fällt in dieſe Zeit. Als der Verfaſſer dieſes Werks im Februar 1890 als der dritte Sendbote in Tokyo eintraf, war die Zeit der Neuſchaffungen zu Ende. Die Hochflut der Reaktion hatte eingeſetzt, es konnte ſich nur noch um die Erhaltung des Beſtehen - den handeln. Die erſten Sendboten, einſchließlich der 1889 ent - ſandten Miſſionarin Frl. Auguſte Diercks, ſahen ſich infolge ſchlechter Geſundheitsverhältniſſe genötigt, nach fünf bis ſechs Jahren zurückzukehren. Die Arbeitsüberbürdung war zu erdrückend, und wenn wenigſtens ſtändig drei[Miſſionare] in Arbeit geſtanden hätten, anſtatt zwei wie gewöhnlich, ſo würde der eine oder der andere heute wohl noch in Japan ſein. Die gegenwärtigen Miſſionare in Tokyo ſind Dr. Max Chriſtlieb (ſeit 1892), Emil Schiller (ſeit 1895) und Adolf Wendt (ſeit 1897); mit Ende 1898 treten noch hinzu Pfarrer Hans Haas und Frl. Agnes Heydenreich. Den Miſſionaren zur Seite ſtehen die japaniſchen Prediger Minami, Komai, Hiroi und Aoki, ſämtlich Graduierte unſerer Shinkyo Shingakko, ferner eine Evangeliſtin, ein Lehrer und eine Lehrerin der Armenſchule und einige andere Hilfskräfte. In China wirken D. Ernſt Faber, dieſer ſchon ſeit mehr als einem Menſchenalter, Paul Kranz (ſeit 1892) und Lic. Hackmann (ſeit 1893), alle in Shanghai. Die Errichtung einer Miſſions - ſtation in Kiautſchou hat der Verein gleichfalls in Angriff genommen.281 verſtärkt worden. Eine Hauptmacht der Propaganda aber wurden die eingeborenen Paſtoren und Evangeliſten, welche zum Teil ſchon mit Beginn dieſer Periode in die Arbeit eintraten, und deren Zahl Jahr für Jahr durch neue Scharen vermehrt wurde. Niſhima hatte doch recht, als er meinte, daß Japan durch Japaner evangeliſiert werden müſſe, wenn auch ſeinen Schülern, welche riefen, nur Japaner ſollten die Apoſtel ihres Volkes ſein, dieſes kleine Wörtchen „ nur “noch teuer zu ſtehen kommen wird. Mit dem größten Erfolg arbeiteten die Glieder von Janes’ Kumamotoſchar, Yokoi und Kozaki, Miyagawa und Ichihara, Kanamori und Ebina. Auch die Kirche Chriſti (presbyt. ) beſaß in Uemura, Ibuka und Tamura tüchtige Kräfte, und die Methodiſten konnten Honda und andere gediegene Männer ins Feld ſtellen. Und nicht nur die Predigt, ſondern auch die andere Miſſionsthätigkeit fand in japaniſchen Chriſten bedeutende Vertreter. Ein junger Mann Namens Iſhii, welchen eine Predigt von Niſhima beſonders erregt hatte, faßte im Jahre 1887 den Entſchluß, ſich ver - wahrloſter, zumal verwaiſter, Kinder anzunehmen. Er begann mit noch weniger als Auguſt Hermann Francke, nämlich mit nichts, aber gleich jenem hatte er ein chriſt - liches Herz voll Glauben und Liebe. Sein erſtes Kind war ein Bettelknabe, welchen ſeine Mutter nicht ernähren konnte. Ein zweiter Peſtalozzi war er den Kindern alles in allem, Vater und Mutter, Kindsmagd und Lehrer. Als das große Erdbeben vom Oktober 1891 Kinder maſſenhaft zu Waiſen machte, nahm er auf einmal 41 derſelben in ſein Haus auf. Gottes Segen ruhte ſicht - bar auf ſeiner ſelbſtloſen Arbeit, und am Anfang 1893, alſo nur fünf Jahre nach der Gründung, betrug die Zahl der Waiſenkinder 233, während ſeine Anſtalt282 ſchon wieder den Anſtoß zu drei weiteren Waiſenhäuſern gegeben hat.
Das iſt eine wackere Arbeit, und man darf wohl ſagen, daß die einheimiſchen Mitarbeiter von nun an den Miſſionaren als gleich ſtarke Macht zur Seite ſtehen. Dieſes ſo ſehr, daß faſt überall da, wo in den folgen - den Kapiteln von „ Miſſionar “die Rede iſt, auch der japaniſche Paſtor in dieſem Begriff miteingeſchloſſen iſt. Iſt ſie auch der Kürze und Einfachheit halber nicht beſonders benannt, ſo ſoll das Verdienſt der japaniſchen Geiſtlichkeit darum nicht geſchmälert erſcheinen.
Die Art und Weiſe, in welcher dieſe Miſſionskräfte der Bekehrungsarbeit oblagen, war, den veränderten Zeitverhältniſſen entſprechend, eine ganz andere als früher. Nicht mehr zu zweien oder dreien, nein zu dutzen - den waren ſie in Bibelklaſſen verſammelt. Die Gottes - häuſer waren gefüllt, und anſtatt zur Taufe zu treiben, mußte man eher zügeln. Das Chriſtentum war eine öffentliche Macht geworden. Maſſenmeetings (enzetsu - kai) teils auf öffentlichen Plätzen teils in Theatern und großen Sälen, bei denen oft Tauſende von Men - ſchen zuſammenkamen, um ſtundenlang den Reden von Miſſionaren und eingeborenen Predigern zu lauſchen, fanden allerorts ſtatt und machten großen Eindruck. Die chriſtlichen Arbeiter ſelbſt waren von einer Thaten - luſt ſondergleichen beſeelt. Von der Oſakakonferenz (1883) war ein Geiſt der Erweckung ausgegangen, welcher in Gebetsverſammlungen und Revivals fort - während ſyſtematiſch genährt, mitunter auch in forcierter Weiſe geſteigert wurde; eine tiefe Erregung, die unter der Einwirkung der Miſſionare in den Erweckungsver - ſammlungen in charakteriſtiſch japaniſcher, du lkanartiger Weiſe zum Ausbruch kam (ſ. S. 120) und nur teilweiſe283 eine Ausgießung des Heiligen Geiſtes genannt zu wer - den verdient; ein Taumel der Begeiſterung, welchem die Abkühlung und Ernüchterung ſpäter notwendig folgen mußte, hatte ſich der ganzen japaniſchen Chriſten - heit, nicht nur der Methodiſten, ſondern auch der ſonſt nüchternen Kongregationaliſten und Presbyterianer be - mächtigt.
Der thatkräftigen Propaganda der chriſtlichen Kreiſe entſprach die mutloſe Lethargie der Gegner. 1884 traf den Buddhismus und den Shintoismus der letzte ſchwere Schlag. Trotzdem der erſtere ſchon früher aus der Gunſt des Staates gefallen war, wurden doch ſeine Prieſter ebenſo wie die des Shinto immer noch von der Regierung ernannt. Dadurch haftete ihnen ge - wiſſermaßen ein amtlicher Charakter an, was ihnen in den Augen des loyalen Volkes immerhin noch ein ge - wichtiges Anſehen verlieh. Jetzt aber wurde das „ ſtaatliche Prieſtertum “aufgehoben, und die Ernennung von Prieſtern den religiöſen Oberen anheimgegeben. Auch die Friedhöfe wurden ihres ſozuſagen konfeſſionellen Charakters entkleidet, fortan durfte keinem Toten um ſeines religiöſen Bekenntniſſes willen ein Begräbnisplatz verweigert werden. Die beiden Religionen ließen alles ruhig über ſich ergehen. Noch beſaßen ſie manche Vor - rechte gegenüber dem Chriſtentum, aber eine hoffnungs - loſe Reſignation hatte ſich ihrer bemächtigt.
So iſt es denn kein Wunder, wenn die Miſſions - ſtatiſtik am Schluſſe des Jahres 1889 große Zahlen aufzuweiſen hat. Die Zahl der fremden Miſſions - arbeiter war von 1882 bis 1889 von 145 (89 männ - lichen und 56 weiblichen, unter Ausſchluß der Miſſio - narsfrauen) auf 363 (201 männlichen und 162 weib - lichen) gewachſen, die der Miſſionsſtationen von 120284 auf 533. Die fremden Arbeiter haben ſich alſo weit über das doppelte, die Stationen weit über das vier - fache vermehrt. Die Zahl der einheimiſchen ordinierten Prediger war von 49 auf 135, die der nichtordinierten Helfer von 137 auf 410, die Zahl der theologiſchen Schüler von 71 in ſieben Schulen auf 287 in 14 Schulen, die der Sonntagsſchüler und - Schülerinnen von 2540 auf 21597 geſtiegen. Die Zahl der Schüler und Schülerinnen in Tagesſchulen betrug 10297. Die Summe der Beiträge zur Selbſtunterhaltung ſtieg von 12046,48 Yen auf 53503,13 Yen. Die Zahl der er - wachſenen Chriſten aber war von 4367 auf 28977 an - geſchwollen. Die Zahl der Chriſten hat ſich alſo in 7 Jahren beinahe verſiebenfacht. Die höchſte Ziffer der Bekehrungen erreichte das Jahr 1888 mit 6959 Er - wachſenentaufen d. h. mit rund 2600 Seelen mehr, als die ganze Miſſionsernte von 1859 bis 1882 betragen hatte. Die Führung hatten die Kumiai Kyokwai (Kongreg. ) und die Nippon Chriſto Ichi Kyokwai (Presbyt.). Steht die letztere an Zahl der Mitglieder obenan, ſo wird ſie doch in faſt allem andern von der erſteren um etwas überragt. Doch ſind die Erfolge faſt gleichmäßig allen Geſellſchaften zu teil geworden, nicht zum wenigſten auch der deutſch-ſchweizeriſchen Miſſion, welche, obwohl an Zahl der Arbeitskräfte verſchwindend klein, ſich doch eine angeſehene Stellung bei den Miſſionaren wie bei den Japanern zu ſchaffen verſtanden hatte. Die Mitgliederzahl der von dem Verein begründeten Fukiu Fukuin Kyokwai (Allgemeine Evang. Kirche), zu welcher ſich außer der Hongoge - meinde noch zwei kleine Gemeinden in dem Stadtteil Shiba und dem Dorfe Hōden geſellt hatten, die zuvor285 ſeelſorgeriſch unverſorgt geweſen waren, belief ſich am Schluſſe unſeres Zeitraums auf 145.
Überaus groß iſt die Zahl der ſich ſelbſt erhaltenden Gemeinden. Am Schluſſe des Jahres 1888 erhielten ſich von 249 Gemeinden 92 (alſo über ⅓) ſelbſt, alle übrigen aber teilweiſe. Erſtens drangen die Miſſionare darauf, zweitens ſtrebten die Japaner ſelbſt nach Unab - hängigkeit. Dieſem Unabhängigkeitsſtreben aber lag ein gewiſſer Gegenſatz gegen die Fremden, geboren aus dem Raſſeninſtinkt, zu Grunde. Derſelbe war ſeither mehr oder weniger glücklich überbrückt worden, insbeſondere hatte die Oſakakonferenz die Bande der Gemeinſchaft zwiſchen beiden enger geknüpft. Gleichwohl aber löſten ſich jetzt ſchon eine Anzahl von Gemeinden von den Miſſionsverbänden, um ſich als völlig unabhängige Ge - meinden zu konſtituieren. Möglich, daß die Miſſionare ihre einheimiſchen Hilfsarbeiter nicht immer zu nehmen wußten; ſicher aber, daß die Japaner den Hauptanteil der Miſſionserfolge der achtziger Jahre für ſich in An - ſpruch nahmen und dadurch in gewiſſem Grade an - maßend wurden. Eiferſucht und Mißtrauen nahmen überhand, und ſchon am Ende der geſegneten Epoche (1882 — 89) begannen die Kumiaikirchen daran zu denken, die ſich ſelbſterhaltenden Gemeinden und die Miſſions - ſchulen von dem gemeinſamen Board loszutrennen und unter ausſchließlich japaniſche Verwaltung zu ſtellen, ein Beſtreben, welches fortan beſtändige innere Kämpfe zur Folge hatte.
Als mit dem Jahre 1889 / 90 die Volksſtimmung umſchlug, womit auch für das Chriſtentum eine neue Epoche, und zwar der Sichtung und Prüfung, eintrat, kam der Gegenſatz ſcharf zu Tage. Die fremdenfeind - liche Stimmung ergriff auch die Chriſten. Die ja -286 paniſchen Paſtoren ſelbſt ſtimmten eifrig mit ein in den Ruf „ Japan für die Japaner “, und aus dieſem Ruf zogen ſie die religiöſen und kirchenpolitiſchen Konſequenzen. Die Doſhiſha, um dies hier vorauszunehmen, ſollte zum Hauptexperimentierfeld dieſer Beſtrebungen werden. Im Januar 1890 war Niſhima geſtorben, ein ſchwerer Schlag für das junge Chriſtentum in kritiſcher Zeit. Sein Nachfolger Kozaki, bis dahin Prediger an der eine Zeitlang durch Spinner mitbedienten Bancho - gemeinde zu Tokyo, war nicht ſtark genug, vielleicht auch nicht willig, den immer mächtiger werdenden Gegenſatz gegen die Fremden zu dämmen.
Dazu kam, daß man auf Seite der Miſſionare durch ſchlimme Erfahrungen geängſtigt war, die man ſchon anderswo gemacht hatte. So hatte die Tokwa - gakko, eine Art Gymnaſium in Sendai, früher ganz unter dem Einfluß des American Board geſtanden; aber eine feindliche Strömung im Schulvorſtand brachte es 1892 fertig, daß ſie ihres chriſtlichen Charakters ent - kleidet wurde und daraufhin einging, nicht ohne die Mitſchuld chriſtlicher Lehrer. Ein Jahr darauf ent - ſtanden Mißhelligkeiten zwiſchen dem American Board und ſeiner japaniſchen Schulverwaltung in Kumamoto. Da es nach den beſtehenden Verträgen den Fremden nicht geſtattet war, immobiles Eigentum zu erwerben, ſo hatten ſich die Miſſionsgeſellſchaften genötigt geſehen, ihre Grundſtücke und Gebäude auf die Namen japa - niſcher Vertrauensmänner ſchreiben zu laſſen. Die Regierung wußte darum, und niemand ſah etwas Un - moraliſches darin. Jetzt aber erklärte eine chauviniſtiſche Volksſtimmung diejenigen Japaner, welche ſich dazu hergaben, für Verräter am Vaterland, und dieſe hatten nicht Rückgrat genug, dieſer Stimmung zu widerſtehen. 287Dazu kamen ihre eigenen Unabhängigkeitsgelüſte, kurzum die japaniſche Verwaltung der Schule des American Board zu Kumamoto hatte den traurigen Mut, die Liegenſchaften des Board, worunter einige Miſſionar - wohnungen, deren nomineller Beſitzer ſie war, für ihr rechtliches Eigentum zu erklären. Der Board, welcher rechtsgiltige Beſitztitel nicht beſaß, mußte es ſich ruhig gefallen laſſen, mußte zugleich aber auch zuſehen, wie der chriſtliche Charakter der Anſtalt auch hier preis - gegeben wurde.
Unterdeſſen ſpitzten ſich auch die Verhältniſſe an der Doſhiſha zu. Man fing an, gegen die amerikaniſchen Lehrer in einer Weiſe vorzugehen, welche mit der viel - gerühmten japaniſchen Höflichkeit wenig gemein hatte. Auch das chriſtliche Gepräge der Anſtalt begann Ein - buße zu erleiden. Die Miſſionare meinten, die Ver - antwortung nicht länger tragen zu können und wandten ſich mehrfach an die Leitung des Board in Amerika mit der Bitte um Entſendung einer Kommiſſion zur Unter - ſuchung der Verhältniſſe. Dieſelbe kam im September 1895 in Japan an und blieb bis Dezember. Die Ver - handlungen mit der japaniſchen Doſhiſhaverwaltung nahmen keinen befriedigenden Verlauf. Die Ver - waltung war entſchloſſen, ſich unabhängig zu machen. Sie geſtand zu, daß die Doſhiſha ihren chriſtlichen Charakter behalten werde; „ man ſolle ihnen vertrauen, daß ſie Wort halten werden “; ſollte die Doſhiſha je darauf verzichten, ein chriſtliches Inſtitut zu ſein, ſo ſollte das Beſitztum der Schule verkauft und der Erlös den Gebern zurückerſtattet werden. Mit dieſer Er - klärung mußte ſich die Deputation begnügen. Kaum war ſie wieder nach Amerika zurückgekehrt, da machte ſich das japaniſche Komitee an die definitive Regelung. 2881896 ſetzte es dem Amerikan Board, welcher die Anſtalt unter beiſpielloſen Opfern von Geld (ca. 3 Mil - lionen Dollar) und Kräften gegründet und ausgeſtaltet hatte, den Stuhl vor die Thüre. Es erklärte, vom 1. Januar 1897 an auf weitere Beihilfe durch Geld und Lehrer zu verzichten. Gleichzeitig erklärte es ſämt - liche Grundſtücke und Gebäude, welche auf die Namen von japaniſchen Mitgliedern der Doſhiſhaverwaltung geſchrieben worden waren, für rechtliches Eigentum der japaniſchen Verwaltung. Der einzige Lichtblick in dieſem dunkeln Gebahren iſt ein abermaliges Schreiben des Präſidenten Kozaki an den American Board, in welchem die feierliche Erklärung abgegeben wird, daß die Anſtalt auch fortan in Übereinſtimmung mit ihren chriſtlichen Prinzipien weitergeführt werden ſolle. Aber was ge - ſchah? Kozaki, welcher wohl fühlen mochte, daß er auf einer ſchiefen Ebene gleite, legte bald darauf die Prä - ſidentſchaft nieder, und ſchon zu Beginn 1898 gab der Verwaltungsrat der Doſhiſha, an deſſen Spitze nach Kozakis Rücktritt Yokoi getreten war, der japaniſchen Regierung die feierliche Erklärung, daß in Zukunft, abgeſehen vom theologiſchen Kurs, der chriſtliche wie überhaupt jeglicher Religionsunterricht ausgeſchloſſen ſein ſolle. So iſt denn die Doſhiſha, welche beſtimmt war, eine Leuchte des Chriſtentums für das ganze Land zu ſein, eine religionsloſe Schule geworden, und dieſes um einer elenden Bagatelle willen, um nämlich für die Schüler der Anſtalt dieſelbe Vergünſtigung zu erlangen, deren ſich die Regierungsſchulen erfreuen, bis zum 28. Lebensjahr vom Militärdienſt befreit zu ſein.
Unterdeſſen hatten auch die Kumiaikirchen, welche ſich nie über Bedrückung oder auch nur Bevormundung zu beklagen hatten, die faktiſche Anerkennung ihrer289 Freiheit von den Fremden erreicht. Dem Daikwai (Generalſynode) der Kumiaikirchen im Jahre 1894 wohnten die Miſſionare nur noch mit beratender Stimme bei.
Zweifellos betrachtete Yokoi die Erklärung an die Regierung nur als eine formelle, der zum Trotz der chriſt - liche Geiſt der Anſtalt gewahrt werden könne; trotzdem verdient ſie die ſchärfſte Verurteilung. Dieſe Verur - teilung iſt ihr denn auch von ſeiten des japaniſchen Chriſtentums und nicht zum wenigſten der Kumiaikirchen in ſo reichem Maße und in ſo entſchiedener Weiſe ge - worden, daß man wieder neue Sympathien für das - ſelbe gewinnt. Die chauviniſtiſche Überſpannung der Doſhiſhakreiſe hat das Gute gehabt, ſchon ſeit 1896 die andern japaniſchen Chriſten und Paſtoren zur Beſinnung zu bringen. Auch die Miſſionare der anderen Geſell - ſchaften haben ihre Lehren gezogen. Die Kirche Chriſti (presbyt. ) hat gegenüber den Selbſtändigkeitsgelüſten ohne volle Übernahme der Selbſtändigkeitspflichten ſeit 1896 die Zügel ſtraffer geſpannt. Das Verhältnis zwiſchen den Miſſionaren und der eingeborenen Geiſt - lichkeit hat heute Ausſicht auf dauernde Beſſerung, und da die Doſhiſha auf die Dauer nicht religionslos blei - ben wird, ſo ſteht zu hoffen, daß die ſeitherige Span - nung für die Zukunft ohne allzu böſe Folgen ſein werde.
Für die Vergangenheit ſind dieſe Folgen freilich nicht wegzuleugnen. Unter ſich geſpalten, waren die Chriſten dem plötzlichen und ungeſtümen Anprall des altjapaniſchen Geiſtes, welcher ſeit 1889 / 90 erfolgte und bis heute noch nicht zum Abſchluß gelangt iſt, nicht gewachſen. An Anzeichen einer beginnenden Epoche der Reaktion hatte es ſchon zuvor nicht gefehlt. Unter den gewaltigen Erfolgen war immer eine widrige Unter - ſtrömung vorhanden. Dieſelbe kam obenauf, als man19290ſich in ſeinen politiſchen Erwartungen getäuſcht ſah. Die Vertragsverhandlungen, welche die Gleichberechti - gung Japans mit den Weſtmächten zur Unterlage hatten, zerſchlugen ſich kurz vor dem Abſchluß (1889), und die Erbitterung darüber, ſich als unkultivierte Nation be - handelt zu ſehen, ſchlug zu hellen Flammen auf. Man fühlte ſich um ſo mehr beleidigt, als man meinte, durch die Proklamation der konſtitutionellen Verfaſſung am 11. Februar 1889 den Anſpruch auf den Namen eines civiliſierten Staates erworben zu haben. Die nationale Enttäuſchung machte ſich Luft in einem Attentat auf den Miniſter des Auswärtigen Okuma (Oktober 1889). 1890 wurde das erſte Parlament eröffnet. Die Politik, ohnedies das Steckenpferd der Japaner, verſchlang alle anderen, im beſonderen die religiöſen Intereſſen, und als bald darauf der Kampf um Parlamentsherrſchaft oder Clansregierung begann, in deſſen Verlauf das Parlament mehrmals aufgelöſt wurde und die Regie - rung des öftern wechſelte, kam man aus der politiſchen Aufregung nicht mehr heraus.
Dem Fremden gegenüber verſteifte man ſich mit Fleiß auf das Original-Japaniſche. Die europäiſche Kleidung, welche immer mehr in Mode gekommen war, verſchwand bei den Frauen wenigſtens vollſtändig, was zwar vom äſthetiſchen Standpunkt aus keineswegs zu beklagen iſt. Gegenüber den in den Mädchenſchulen der Miſſionen mit Unbedacht gepflegten europäiſchen emanzi - pierten Manieren beſann man ſich wieder auf das alt - japaniſche Frauenideal. Europäiſche Zimmereinrich - tungen, für welche man ſich zuvor begeiſtert hatte, waren billig wiederzuhaben, und ſelbſt der Japaner, der jahre - lang im Abendlande ſtudiert hatte, verſchmähte den europäiſchen Stuhl und ſetzte ſich nach japaniſcher Sitte auf den Boden. Der Moderniſierungsfanatismus hatte291 ſich ſogar bis auf den Rundtanz erſtreckt, trotzdem er dem äſthetiſchen Gefühl des Japaners der Inbegriff des Abſcheulichen iſt; jetzt aber hörte auch das auf.
Auch die Perſonen der Abendländer wurden un - beliebt. Man ſah ſie nicht mehr gern in Regierungs - ſtellungen und beſchnitt ihre Zahl ſo viel als möglich. Ausſchreitungen von ſeiten von Studenten und Kuli kamen wieder vor, und die Attentate auf den Czarevitſch und Li Hung Chang ſind weiter nichts als die Aus - brüche einer tiefgehenden Abneigung gegen die Fremden. Als der Krieg mit China kam (1894), glaubte man, die Stimmung werde ſich entladen und normale Zuſtände zurückkehren. Das Gegenteil war der Fall. Über den Erfolgen wuchs das Selbſtgefühl, und als am Schluſſe der oſtaſiatiſche Dreibund, Rußland, Frankreich und Deutſchland, die japaniſche Regierung zum Verzicht auf die Liaotung-Halbinſel zwangen, wurde die Abneigung gegen die Fremden ſchärfer als zuvor. Selbſt der zuerſt mit England erfolgte Abſchluß der Handelsverträge (1894), welche für Japan überaus ehrenvoll ſind, konnte die Volksſtimmung nicht freundlicher geſtalten; auch ſie bewirkten nur eine Steigerung des Selbſtgefühls. Nach dem Kriege nahmen Handel und Induſtrie einen unge - heuren Aufſchwung und traten gleichfalls beherrſchend in den Intereſſenkreis des Volks. Dazu war durch Formoſa und Korea dafür geſorgt, dem neuigkeitsſüchtigen Volke beſtändige aufregende Unterhaltung zu bieten, und die Stimmung wurde natürlich nicht beſſer, als die Weſtmächte an die Aufteilung von China gingen und Japan aus dem ſchönen Traume herausriſſen, als gehöre ihm allein der Oſten Aſiens.
In erhöhtem Maße wandte ſich die Abneigung gegen das Chriſtentum. Es iſt wie eine Ironie, daß gerade in dem Augenblick, da dem Chriſtentum durch19*292die Verfaſſung die langerſehnte Religionsfreiheit ver - bürgt wurde, die böſe Zeit für dasſelbe begann. Mit einem Male glaubte man entdeckt zu haben, daß durch den chriſtlichen Geiſt die Beſonderheit und Eigentüm - lichkeit des japaniſchen Charakters und damit die Grund - lage der nationalen Selbſtändigkeit untergraben werde. Der Patriotismus, und damit die größte japaniſche Macht, wandte ſich gegen das Chriſtentum, ſowie er zuvor für dasſelbe geweſen war. Ihm verbündeten ſich aber alle übrigen Geiſtesmächte; voraus die Bildung, welche das Chriſtentum als vernunftwidrig bekämpfte, ferner der Buddhismus, welcher ſich mit einem Male als Träger des altjapaniſchen Geiſtes aufzuſpielen wußte, und endlich auch noch der Shintoismus, welchem in der ſtarken Betonung des Patriotismus noch einmal eine Blütezeit anzubrechen ſchien. In der That erfüllte der Kampf die alten erſtarrten Religionen mit neuem Leben, ſo daß ſie in dieſer Periode eine größere Bedeutung gewannen, als ſie in den letzten Jahrzehnten beſaßen. 1890 erſchien ein kaiſerlicher Erlaß, welcher die mora - liſche Erziehung der Jugend wieder ganz auf die kon - fuzianiſche Grundlage Altjapans ſtellte. Eine Flut von chriſtenfeindlicher Litteratur überſtrömte das Land. Bud - dhiſtiſche Zeitſchriften ſchoſſen wie Pilze aus der Erde auf. Den Höhepunkt erreichte die litterariſche Polemik 1893 in einer Schrift („ Kolliſion zwiſchen Religion und Sittlichkeit “) des Profeſſors der Philoſophie Inouye Tetſujiro, der früher als Lektor am Orientaliſchen Seminar zu Berlin thätig geweſen war. Inouye behauptete, das Chriſtentum habe in Europa keinen wirklichen Einfluß außer bei Weibern und Kindern und Schuſtern und Schneidern; gebildete Leute ſeien darüber hinaus; die theologiſchen Fakultäten ſeien veraltete Anhängſel an den Univerſitäten, ihre Profeſſoren ſeien gute Gelehrte,293 aber ſchlechte Chriſten, die Studenten der Theologie ſeien arme Schlucker, die aus dieſer ſogenannten Wiſſen - ſchaft ein Brotſtudium machten; die Moral des Chriſten - tums ſtehe unter der des Buddhismus, die Sittlichkeit des chriſtlichen Europa unter der des heidniſchen Japans; die Blüte des Chriſtentums falle zuſammen mit dem Verfall des nationalen Wohlſtands (Spanien); auf - blühende Völker wenden ſich von der Lehre Jeſu ab. Der Kernpunkt des Büchleins war aber die Behauptung, daß Chriſtentum und japaniſcher Nationalcharakter ſich nicht vertragen, daß dieſer durch jenes vernichtet werde. — Die Chriſten verſäumten nicht, auf die oberflächliche Schrift ſcharf zu antworten, aber die Gegenpartei fühlte ſich weſentlich geſtärkt.
Aber auch außerhalb der Preſſe machte ſich die Rückbewegung bemerkbar. Dieſelben Staatsmänner, welche zuvor für das Chriſtentum eingetreten waren, machten nun aus ihrer Verachtung desſelben kein Hehl. Ito und Inouye, Fukuzawa und Okuma möchten heute nicht mehr daran erinnert ſein, daß ſie einſt zu chriſt - lichen Zwecken große Summen ausgegeben haben oder, wie Fukuzawa, ihre Töchter in Miſſionsſchulen erziehen ließen. Von den beiden erſten erzählt man ſich, daß ſie des öftern oſtentativ buddhiſtiſche Tempel beſuchten. Chriſtlichen Lehrern wurde mehrfach ihre Stellung ſchwierig gemacht und chriſtlichen Schülern der Verbleib verleidet, wenn ſie nicht gar ausgeſchloſſen wurden. Thätliche Beleidigungen von Miſſionaren und Störungen chriſtlicher Verſammlungen, ſowie Beſchädigungen von Kirchen, Dinge, welche ganz verſchwunden waren, machten wieder unliebſam von ſich reden. Schlimmer aber als alle dieſe Feindſeligkeiten war die Gleichgültigkeit, die allmählich bei der Maſſe des Volks gegenüber dem Chriſtentum Platz griff. Dazu hatte man durch den294 Krieg die Überzeugung gewonnen, daß man eine große Nation auch ohne das Chriſtentum werden könne, ja daß ſelbſt Inſtitutionen der Humanität, wie das Rote Kreuz, von dem Chriſtentum völlig unabhängig ſeien.
Immer ſeltener wurde es, daß Nichtchriſten die Gottesdienſte beſuchten. Aber auch für die Chriſten ſelbſt ſtand das politiſche Intereſſe zu ſehr im Mittel - punkt, als daß ſie nach wie vor im Chriſtentum auf - gegangen wären. Es war zuviel der Zerſtreuung, wo Vertiefung ſehr not gethan hätte. Das religiöſe Leben erſchlaffte. Tauſende, die nur aus politiſchen Gründen ſich hatten taufen laſſen, kehrten der Kirche den Rücken, als ſie ſich enttäuſcht ſahen, Tauſende von anderen, welche durch die Erregung der Revivals ohne genügende Durchbildung Chriſtum angenommen hatten, erkalteten jetzt. Sie alle wurden nach und nach aus den Liſten der Kirchen geſtrichen. Schwere Kriſen blieben für keine Gemeinde aus, und nicht jede hat ſie überwunden.
Demgegenüber war die Verſtärkung der chriſtlichen Macht zwar keine allzu geringe. Allerdings wurde das Chriſtentum durch zwei Geſellſchaften vermehrt, welche beſſer nicht erſchienen wären. Es ſind dies die Ply - mouthbrethren oder Darbyſten (1892), die Anarchiſten auf dem Gebiete der Kirche, welche darauf ausgehen, die Chriſten von jeder kirchlichen Gemeinſchaft loszulöſen, und die Salvation Army (1895), welche als die chriſt - lichen Radaumacher bei den feinfühligen Japanern die Sympathien für das Chriſtentum nicht zu erhöhen ver - mögen. Dagegen machten ſich bei den Kongregationaliſten unter den geſchilderten Erfahrungen ſchwere Bedenken geltend, ob man die fremden Miſſionskräfte noch weiter - hin vermehren ſolle; ja, es war zeitweilig alles Ernſtes davon die Rede, daß der American Board ſeine Arbeiter aus Japan zurückziehen werde. Auch mit dieſer Frage295 beſchäftigte ſich die 1895 entſandte Deputation, und ſie faßte den unter den obwaltenden Verhältniſſen weiſen Beſchluß, von einer Vermehrung des Miſſionsperſonals zwar vorläufig abzuſehen, dasſelbe aber doch in ſeiner gegenwärtigen Stärke zu belaſſen. Vielleicht daß man doch für Zurückziehung wenigſtens eines Teiles geſtimmt hätte, wenn nicht während ihrer Anweſenheit in Japan die Miſſionare der Kirche Chriſti (presbyt. ) unter ſtill - ſchweigender Zuſtimmung auch der anderen Geſell - ſchaften im Oktober 1895 einen überaus bemerkens - werten Proteſt erlaſſen hätten, worin ſie es für geboten erklärten, daß die fremden Arbeiter auch künftighin vermehrt werden. In der That beruht die im Abend - lande vielverbreitete Anſicht, als ſeien die japaniſchen Chriſten ſelbſtändig genug, weiter für ſich zu ſorgen, auf einer Verkennung der Verhältniſſe. Die Vorgänge in den Doſhiſhakreiſen haben im Gegenteil gezeigt, daß das junge japaniſche Chriſtentum ohne die beſonnene Leitung der Miſſionare noch für lange hinaus nicht zu beſtehen vermag. Mit den Gemeinden iſt es wie mit den einzelnen. Allzu früh auf eigene Füße geſtellt, gehen die beſten und vielverſprechendſten Kräfte wieder verloren. Darum darf das independentiſtiſche Verwaltungs - prinzip der Kongregationaliſten auf dem Miſſionsfelde nur mit pädagogiſcher Weisheit angewandt werden.
Laſſen wir nun die Zahlen reden. In den erſten Jahren zwar iſt der Rückſchlag noch nicht ſo deutlich bemerkbar. Der Strom, der in die Kirchen einmündete, war doch zu ſtark, als daß er ſich mit einem Male ein - dämmen ließ. So betrug am Ende des Jahres 1892 die Zahl der fremden Miſſionsarbeiter 420 (gegen 1889 + 57), der Stationen 656 (+ 123), der organi - ſierten Gemeinden 365 (+ 91), darunter ſelbſtunter - haltende Gemeinden 77 (— 16), der Schüler und Schüle -296 rinnen 6893 (— 3404), der Sonntagsſchüler 22777 (+ 1180), der Theologieſtudierenden 359 (+ 72) in 16 (+ 2) Schulen, der einheimiſchen Prediger 233 (+ 98), der nichtordinierten Hilfsarbeiter (männl. und weibl.) 637 (+ 50). Die Geſamtzahl der evangeliſchen japa - niſchen Chriſten war auf 35534 angewachſen gegen 28977 (alſo + 6557). Es ſind alſo im allgemeinen noch ziemliche Steigerungen zu verzeichnen, dagegen iſt die Verlangſamung des Bekehrungsprozeſſes klar erkenn - bar, wenn man bedenkt daß der Jahreszuwachs der Chriſten im Durchſchnitt nur noch 2186 (gegen 3514) betrug.
Seit 1893 trat zeitweilig ein völliger Stillſtand, in manchen Jahren (1895 — 96) ſogar ein Rückſchritt ein. Am Schluſſe 1897 beträgt die Zahl der evange - liſchen Chriſten 40578 (gegen 1892 + 5044, Jahres - durchſchnitt nur noch 1008); die fremden Miſſions - arbeiter zählen 456 (+ 36), die ordinierten Prediger 302 (+ 69), die nichtordinierten Hilfsarbeiter 879 (+ 242), die Miſſionsſtationen 885 (+ 229). In Bezug auf die Vermehrung beſonders der japaniſchen Arbeiter und auf Inangriffnahme neuer Stationen iſt alſo eine bedeutende Steigerung zu bemerken, der aber die Er - folge keineswegs entſprechen. Wiederum bedeutend zurückgegangen iſt die Zahl der ſich ſelbſt erhaltenden Gemeinden (72 gegen 77), und der Zuwachs an orga - niſierten Gemeinden iſt ſehr gering (384 gegen 365, alſo + 19 bei 229 neuen Stationen). Der Beſuch der Miſſionsſchulen hat ſich etwas gehoben (8715), der der Sonntagsſchulen hat ſich enorm gehoben (35033), da - gegen iſt die Zahl der Theologieſtudierenden von 359 auf 169 (— 190) herabgeſunken. Die Beiträge zur Selbſtunterhaltung ſind auf 81551,72 Yen geſtiegen (gegen 53503,13 im Jahre 1889). Der Zuwachs wurde297 freilich erſt durch das letzte Berichtsjahr erbracht; 1896 betrugen die Beiträge nur erſt 60504,56 Yen.
Überhaupt hat das Jahr 1897 einen bedeutenden Fortſchritt des geſamten Miſſionswerks zu verzeichnen. Möglich, daß die Reaktion ihren Höhepunkt überſchritten hat. Es iſt freilich ſchon manche Prophezeiung beſſerer Zeiten in dieſem letzten Jahrzehnt ausgeſprochen worden; aber immer iſt der Wunſch der Vater des Gedankens geweſen. Gern hoffen wir, daß ein ſo guter Beobachter wie unſer Miſſionar Schiller Recht behält, wenn er (Z. M. R. XIII, S. 154) im Frühjahr 1898 ſchreibt: „ 40578 evangeliſche Chriſten, das iſt eine Zahl, welche bisher noch nicht erreicht worden war; ſie geht über die bisherige Höchſtziffer vom 31. Dezember 1894 um 1338 Seelen hinaus, ſo daß alſo thatſächlich ein nach - weislicher Fortſchritt zu verzeichnen iſt. Man hatte ihn ſchon einigermaßen vorausſehen können; denn es war nicht zu leugnen, daß die Feindſchaft gegen das Chriſten - tum trotz aller chauviniſtiſchen Bemühungen einzelner Kreiſe abgenommen hatte, daß mehr religiöſes Leben in den japaniſchen Gemeinden ſich zeigte, auch mehr Zuverſichtlichkeit bei den treugebliebenen Predigern. Das Auge des gläubigen Hoffens ſieht ſchon einen neuen Frühling kommen, wenn erſt alle die welken Blätter abgeſtoßen ſind. Gott wolle ihn geben zum Segen des japaniſchen Volkes, damit dasſelbe anfange, neben ſeiner politiſchen auch ſeine chriſtliche Aufgabe in der Welt - geſchichte zu löſen! “
Betrachten wir die einzelnen Geſellſchaften und Gruppen, ſo ſteht auch jetzt wieder die Kirche Chriſti (verein. Presbyt., 7 Geſellſchaften) an Zahl der Mit - glieder mit 11108 obenan. Ihm folgen, wie früher auch, mit 10047 die Kumiaikirchen (kongreg. ), die aber an Zahl der organiſierten Gemeinden (73 zu 70), ferner298 an Zahl der ſich ſelbſterhaltenden Gemeinden (38 zu 14), ſowie auch an Beiträgen der einheimiſchen Chriſten (22925 zu 18158 Yen) jene überragen. Beide hatten viel unter den inneren Zwiſtigkeiten zu leiden und ſind in den acht Jahren der Reaktion wenig gewachſen. Vielmehr fällt der Löwenanteil an dem Gewinn dieſer Jahre der an dritter Stelle ſtehenden Nippon Sei Kyokwai (verein. Episkopale) zu. Autoritätskirche wie ſie iſt, ſind innere Kämpfe bei ihr am wenigſten hervor - getreten. Sie zählt jetzt 8349, hat aber nur eine einzige Gemeinde, die ſich ſelbſt erhält, und ihre Mit - glieder leiſten nur 8604 Yen an Beiträgen. Weit beſſer in dieſer Hinſicht ſtehen die fünf methodiſtiſchen Geſellſchaften da, doch ſind ſie an Zahl der Bekehrten mit gegenwärtig 7053 nicht bemerkenswert vorange - kommen, was wohl auf eine ſehr ſcharfe Sichtung der toten Glieder zurückzuführen iſt. Die vier Geſellſchaften der Baptiſten zählen 2651 Gläubige; der Reſt verteilt ſich auf eine Anzahl kleinerer Geſellſchaften.
Auch die Fukiu Fukuin Kyokwai des Allg. ev. -prot. Miſſionsvereins hat den Sturm dieſer Periode über ſich ergehen laſſen müſſen. Neue große Unternehmungen ließen ſich nicht ausführen; auch ſie mußte erfahren, daß eine Zeit der Konzentration, nicht der Expanſion gekommen ſei. Zeitweilig hat ſie ihren Beſitzſtand ſo - gar aus freien Stücken etwas vermindert. Ihre Send - boten ſahen ſich gewiſſenshalber veranlaßt, die beiden kleinen Gemeinden Shiba und Hoden, welche für den Fortſchritt des Werkes belanglos waren, für die ſchwachen Arbeitskräfte aber eine große Belaſtung bedeuteten, an die Univerſaliſtenmiſſion abzugeben. Aber auch während dieſer Periode fanden fortwährend Taufen ſtatt, welche den durch Wegzug und eine reinlich durchgeführte Aus - ſcheidung toter Glieder verurſachten Verluſt wieder299 deckten. Dabei blieben die geiſtige Rangſtellung und der moraliſche Einfluß unſerer Miſſion nach wie vor ſehr bedeutend. Wenn ſchon bemerkt wurde, daß das Jahr 1897 ein Segensjahr für die japaniſche Arbeit war, ſo gilt das im beſonderen Maße für das deutſch-ſchweizeriſche Miſſionsunternehmen. Keine Zeit zuvor brachte ihm einen ſolchen Zuwachs an Arbeitskräften. Aus Deutſchland kam ein dritter Miſſionar mit ſeiner Gattin und in der jungen Gefährtin des einzigen bisher unverheirateten Miſſionars iſt dem Werke noch eine weitere Gehilfin erſtanden. Die theologiſche Schule abſolvierten gleich - zeitig drei hoffnungsvolle und thatenfrohe junge Männer, deren einer ſchon vor Beginn ſeines theologiſchen Stu - diums in einer angeſehenen Lehrerſtellung an einer höheren Schule ſeine Tüchtigkeit erwieſen hatte. Sie traten ſofort in die praktiſche Arbeit ein. Neben der Muttergemeinde Hongo beſtehen heute noch weitere drei Stationen, zwei in den Stadtteilen Yotzuya und Shi - taya und eine in der Tokyo benachbarten Kreishaupt - ſtadt Chiba. Als ein weiterer Erfolg des Jahres 1897 darf auch die Einweihung der neuerbauten deutſch-evan - geliſchen Kirche zu Tokyo bezeichnet werden. Heute geht es auf der ganzen Linie langſam, aber mit Vertrauen erweckender Sicherheit voran. Die Berichte unſerer Miſſionare klingen zuverſichtlich, und wer ihre Ar - beit mit Aufmerkſamkeit verfolgt und neben ihrem unverdroſſenen Thun auch das betende Herz erkennt, mit welchem ſie unter der Fahne Chriſti, des einigen Heilandes, ſtehen, der kann nimmermehr zweifeln, daß auch hier das Verheißungswort Gottes mehr und mehr zur Erfüllung kommen wird: „ Ich will dich ſegnen und du ſollſt ein Segen ſein! “
Die evangeliſche Miſſion iſt die einzige nicht, ja ſie wird gegenwärtig an Zahl der Mitglieder noch über -300 ragt durch die römiſch-katholiſche. Dieſelbe hielt 1861 ihren Einzug. Wenige Jahre darauf entdeckte ſie die Reſte der aus der Jeſuitenmiſſion verbliebenen Chriſten, nach ihren wohl etwas übertriebenen Angaben nicht weniger als 7000. Schon im Jahre 1881 wird von 25633 katholiſchen Chriſten berichtet (gegen damals 4412 evangeliſche). Im Jahre 1886 waren es 32294, doch hat ſich die Zunahme ſeitdem im Vergleich zu dem Wachstum der Evangeliſchen etwas verlangſamt. Am Ende des Jahres 1897 zählte die römiſche Kirche 52796 Glieder. Im Vergleich zu dem Vorjahr be - deutet das trotz 3033 Kindertaufen — ein treffliches Charakteriſtikum der römiſchen Miſſionspraxis! — nur einen Zuwachs von 619 (gegen 2217 Evangeliſche). Unter den erwachſenen Mitgliedern bröckelt es alſo ſtark; die römiſche Lehre verträgt ſich nicht mit dem mündig gewordenen japaniſchen Geiſt. Wie überall, ſo beruht die Stärke der römiſchen Miſſion auch hier in der Organiſation. Das Land iſt in vier Bistümer ein - geteilt, ein Erzbiſchof hat in Tokyo ſeinen Sitz. Das Gros der Gläubigen befindet ſich auf Kyuſhiu. Die Arbeit liegt in den Händen der Pariſer Miſſionsge - ſellſchaft. Faſt alle Miſſionare ſind Franzoſen oder vielmehr, damit ich es beſſer ſage, Elſaß-Lothringer. In ihrer Knabenſchule auf dem Kudanhügel in Tokyo, deren Vorſteher den guten deutſchen Namen Heinrich trug, waren zur Zeit meiner Anweſenheit 17 Laien - brüder (bei 120 Schülern!) thätig, alle Elſaß-Lothringer; ſie verſtanden durchweg deutſch, gaben ſich aber als Franzoſen aus. Wer geſellig mit den weltgewandten Männern zu verkehren Gelegenheit hatte, kann es be - greifen, daß unſere Reiſenden von dieſen wirklich ge - winnenden Perſönlichkeiten entzückt ſind. Wenn ſie aber301 ihre Sympathien auch auf das Werk jener Männer übertragen, ſo iſt das ſehr kurzſichtig.
Einen ungemein tüchtigen Vertreter hat die ruſſiſch - orthodoxe Miſſion, welche in Japan ihr einziges Arbeits - feld beſitzt, in ihrem Biſchof Nikolai. Derſelbe kam im Jahre 1862 nach Hakodate, wo er 1864 vorübergehend mit Niſhima Beziehungen hatte. Später ließ er ſich in Tokyo nieder, wo er auf dem Surugadaihügel eine ſtolze Kathedrale errichtete. Er hat von jeher unter Verzicht auf ruſſiſche Hilfe faſt nur mit Japanern ge - arbeitet und dabei zahlenmäßig ſehr große Erfolge errungen. Die ruſſiſche Kirche, die freilich in den letzten Jahren ſehr wenig gewachſen iſt, zählt heute d. h. Ende 1897 23856 Mitglieder. Die politiſche Rivalität, welche ſeit kurzem zwiſchen Japan und Rußland aufgetaucht iſt, und die im Verlauf der Zeit ſich immer mehr zu feindſeliger Spannung auswachſen wird, bleibt für die Folge ein ſchweres Hindernis des ruſſiſchen Miſſions - werks.
Die Geſamtſumme japaniſcher Chriſten beträgt heute 117224. Auf 364 Bewohner kommt 1 Chriſt. Ob in hundert Jahren die heutigen Kirchen noch be - ſtehen werden, iſt zweifelhaft. Sicher aber iſt, daß das Chriſtentum der Zukunft, wenn auch ſelbſtändig japaniſch, nur eins zur Grundlage haben wird: Das Evangelium Jeſu Chriſti.
Das Gepräge des japaniſchen Miſſionsfeldes iſt eigentümlicher Natur. Wir haben es hier nicht mit rohen „ Wilden “zu thun, ſondern mit einem in ſeiner Art gebildeten Kulturvolk, welches zudem mit Rieſen - ſchritten ſich auf europäiſchen Boden ſtellt. Daß ein japaniſcher Kulturmenſch, vielleicht gar ein Schüler oder Lehrer der Hochſchule, anders zu behandeln iſt als ein menſchenfreſſender Südſeeinſulaner, verſteht ſich wohl von ſelbſt. Man behandelt ja auch einen ſechzehnjährigen Gymnaſiaſten anders als ein ſechsjähriges Kind; und wiederum, von einem Gymnaſialprofeſſor fordert man anderes als von einer Kindergärtnerin. Nicht jeder Miſſionar, der für Afrika vortrefflich paßt, iſt auch in Japan zu gebrauchen, während ich andererſeits wieder der ehrlichen Überzeugung bin, daß wenige von denen, die ich in Japan kennen lernte, in Afrika recht an ihrem Platze wären.
Man macht ſich hierzulande kaum einen Begriff, welche Anſprüche an das Wiſſen eines Miſſionars in Japan geſtellt werden. Wollten unſere Miſſionsgeſell - ſchaften nur Leute ausſenden, welche mit Bezug auf wiſſenſchaftliche Qualifikation allen Anforderungen voll und ganz entſprächen, ſie könnten lange ſuchen. Der Japaner iſt mitunter zu naiv. Er iſt im ſtande zu denken: „ Der Miſſionar iſt ja ein Europäer, oder er iſt gar ein Deutſcher; er hat eine deutſche Hochſchule303 abſolviert, alſo muß er auch alles wiſſen, muß ungefähr ſo weiſe ſein, wie der erleuchtete Buddha ſelbſt “. Von dem Miſſionar Dr. Knox wird allen Ernſtes erzählt, als er nach Kochi kam, glaubte das Volk, daß er alles wiſſe, und erbat ſeinen Rat über alles und jedes, von der Papierfabrikation bis zu den Geheimniſſen der Staatskunſt. Und wenn die Verhältniſſe ſeitdem auch mit Bezug auf die Taxierung der Fremden etwas anders geworden ſind, ſo müßte auch heute noch der richtige Miſſionar eigentlich ein wandelndes Konſervations - lexikon ſein oder, noch beſſer, ein Automat für alles, daran man nur zu tippen braucht, und das Gewünſchte iſt auch ſchon da. Nirgends kommt man ſo raſch zu der Erkenntnis, daß man nichts weiß, wie gerade in Japan. Und wenn Sokrates es in feiner Ironie ver - ſtanden hat, die wiſſensſtolzen Athener auf das Eis zu führen, ſo bringen das die Japaner in unbeab - ſichtigter Naivetät nicht minder gut fertig. Da kommt ein Gelehrter und fragt mich aus über die naturwiſſen - ſchaftliche Entwicklungslehre, und wie ſich dieſelbe mit einem theiſtiſchen Gottesbegriff vereinigen laſſe; dann klopft ein buddhiſtiſcher Prieſter von der ſpiritiſtiſch - okkultiſtiſch angehauchten Zenſekte an und möchte haar - ſcharf über die Bedeutung der Worte: „ Sie werden Gott ſchauen “aufgeklärt ſein, eine Aufgabe, dabei der Miſſionar ſchon von vornhein das keineswegs angenehme Gefühl hat, daß er ſelbſt mit der peinlichſten Exegeſe dieſen Mann nicht befriedigen wird; und ſchließlich kommt ein dritter, welchen der Wiſſensdurſt plagt, und fragt, wie viele Kirchen Berlin habe. Manchmal ſitzt man mit ihnen zuſammen, und in drei Sprachen, japaniſch, deutſch und engliſch, gehen die Fragen und Antworten hin und her.
304Der Japaner verlangt, daß man zu jeder Stunde Zeit für ihn habe, womöglich ſogar während der Unter - richtsſtunden. In der erſten Zeit meines japaniſchen Aufenthaltes war die Nachfrage nach dem Miſſionar immer noch groß. Wenn ich um zwölf Uhr aus der Schule kam, warteten oft ſchon zwei bis drei Perſonen, ſo daß an ein gemütliches Eſſen nicht mehr zu denken war. Einmal, als ich vor ſechs Uhr morgens aus meinem Schlafzimmer trat, — das Frühaufſtehen lernt ſich hier von ſelbſt, auch für den, der es früher nicht gewöhnt war, — teilte mir der Schuldiener mit, daß ſchon ſeit fünf Uhr jemand auf mich warte; und dabei durfte ich es nicht als eine Rückſichtsloſigkeit von ſeiten des Beſuchers empfinden, mich ſo früh ſchon zu ſtören, ſondern mußte es als eine Taktloſigkeit von mir betrachten, den Beſucher ſo lange warten zu laſſen, ſo daß ich den Diener wegen ſeines Verſäumniſſes, mich zu wecken, zurechtweiſen mußte. Manches Mal des Abends, wenn man ſich gerade in Ruhe auf den Unterricht am nächſten Vormittag vorbereiten wollte, kam japaniſcher Beſuch, und dann durfte man die Vorbereitung ruhig auf die goldmundigen Frühſtunden des nächſten Tages verſchieben. Denn japaniſche Beſuche dehnen ſich nach unſern Be - griffen ungebührlich lang aus. Wo der Japaner ein - mal ſitzt, ſteht er ſo bald nicht wieder auf. Das ame - rikaniſche Sprichwort: „ Time is money “, iſt der Maſſe des Volkes bis jetzt noch nicht verſtändlich. Auch kann man den Beſucher nicht fortſchicken. Es giebt ja wohl auch verſtändnisvolle Leute; aber in der Regel würde ſelbſt die feinſte derartige Andeutung von dem in Sachen des Taktes mehr als feinfühligen Japaner ſofort als ein Verſtoß wider den Anſtand empfunden werden. Der Anſtand aber, die Höflichkeit, ſteht für weite Kreiſe305 des Volks über der Sittlichkeit. Höflichkeit iſt — ſchroff geſagt und fein verſtanden — mehr als Gutſein. „ Ein unhöflicher Menſch “iſt das ſchwerſte Verdammungs - urteil, welches ſich fällen läßt. Wer ſeine Verbeugungen regelrecht macht und in ſeinen Reden höflich iſt, iſt ein guter Menſch. Wer wider den Anſtand ſündigt, hat überhaupt keine Qualität.
Der Japaner iſt geradezu peinlich in ſeiner Empfindlichkeit, und mancher Mißerfolg des Miſſionars iſt lediglich darauf zurückzuführen, daß er, vielleicht ohne es zu wiſſen und zu wollen, formellen Anſtoß erregt hat. Seine erſte Pflicht iſt darum nicht das Thun, ſondern das Laſſen; ſie beſteht nicht darin, daß er ar - beitet, ſondern daß er an ſich arbeiten läßt; nicht darin, daß er ſeine Kraft entfaltet, ſondern daß er ſeine Kraft eindämmen läßt durch die Sitte des Landes. Ich habe einen Fall mit durchlebt, wo dieſes Verſäumnis über einen Miſſionar eine unglückſelige Kataſtrophe herauf - geführt hat. Die rückſichtsloſe Entfaltung ſeiner miſſio - nariſchen Energie, welche in ungeſtümem Thatendrang ſich durch keine äußere Autorität, am wenigſten durch die Landesſitte, wollte binden laſſen, iſt ihm ſelbſt und zum Teil auch ſeiner Miſſion zum Verderben geworden. „ Kommſt du in ein fremdes Land, ſo frage zuerſt, was verboten iſt “, ſagt der japaniſche Volksmund; und wenn es auch der Japaner nicht wünſcht, daß der Miſſionar die Sitte des Landes äffiſch nachmacht, ſo kann doch keiner von einer taktvollen Handhabung derſelben ent - bunden werden. Ein alter Veteran auf dem oſtaſiatiſchen Miſſionsgebiet erzählt, wie ein amerikaniſcher Reiſender einſt eine Miſſionsſchule beſuchte. Die Schüler waren vorher davon in Kenntnis geſetzt worden, daß ſie einen durch Charakter und Kenntniſſe gleich ausgezeichneten20306Mann ſehen würden, der in ſeinem Vaterlande eine bedeutende Stellung einnehme. Als er nun in den Schulſaal eintrat, erhoben ſich alle und machten eine tiefe, ehrfurchtsvolle Verbeugung. Der Beſucher aber, der den Brauch des Landes nicht kannte, beachtete dieſe Begrüßung nicht und begann ſofort eine Anſprache über die Vorzüge der chriſtlichen Religion. Der eine Akt der „ Ungezogenheit “aber erſchien den Schülern als der reinſte Hohn auf die Vorzüge der chriſtlichen Religion, und der ganze Vortrag ging — wie einer der Hörer ſpäter verſicherte — eindruckslos über die Köpfe hinweg. Wenn mich ein friſch angekommener Europäer in meinen japaniſchen Gottesdienſt begleitete, ſo mußte es einen ſonderbaren Eindruck auf ihn machen, zu ſehen, wie meine Predigt begann und ſchloß mit einer tiefen Ver - beugung gegen meine Zuhörer, welche von dieſen auf das höflichſte erwidert wurde. Hätte ich mich aber über dieſen allgemeinen Brauch hinweggeſetzt, ſo hätte ich bald vor leeren Bänken predigen dürfen.
Einſt hatten wir Beſuch von einem theologiſchen Landsmann, welcher auf einer Reiſe um die Welt auch Japan berührte. Ich führte ihn auch in das Gymna - ſium. Wir kamen in die Prima, wo gerade ein deutſcher Profeſſor im Anſchluß an ein Schillerſches Drama Litteraturunterricht erteilte. Der gewandte Kavalier, der ſeine Salonprobe ſchon oftmals vor Fürſten glänzend beſtanden hatte, hatte wohl keine Ahnung, daß ſeine Reputation als Weltmann vor einem Haufen ſchlecht - gekämmter japaniſcher Jünglinge elend in Brüche gehen ſollte. Kaum hatte ich ihn dem Lehrer vorgeſtellt, ſo begann er denſelben zu fragen: „ Nun, verſtehen Ihre Schüler denn auch, was ſie leſen? Sind ſie denn auch fleißig? “und andere Fragen mehr, welche nach japa -307 niſchen Begriffen höchſt taktlos waren. Dieſes Mal wenigſtens war es dem vielgereiſten Manne nicht ge - lungen, ſich zurecht zu finden. Kein Wunder auch! Hatte er doch ſeinen Aufenthalt in dieſem antipodiſchen Lande auf nur ungefähr zwanzig Tage feſtgeſetzt, und wollte er doch in dieſer Zeit alles ſehen und in einiges ſich noch liebevoll vertiefen! Ich bin heute noch davon überzeugt, daß er voll von ſich befriedigt war, als er nach einige