PRIMS Full-text transcription (HTML)
[I]
Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Aerzte und Studirende
Stuttgart. Verlag von Adolph Krabbe.1845.
[II]

Maschinendruck von J. Kreuzer in Stuttgart.

[III]

Vorwort.

Ich übergebe hier dem ärztlichen Publicum die zusammengefassten Resultate meiner Beobachtungen und meines Nachdenkens über die Geistes - krankheiten. Die erfreuliche Beachtung, welche zwei frühere, nur fragmen - tarische Abhandlungen über diesen Gegenstand gefunden haben, munterten mich auf, ein ausgearbeitetes Ganzes vorzulegen, in welchem der Leser die leitenden Gedanken jener Arbeiten wieder erkennen wird, wo aber doch Alles erweitert, Vieles fester gestellt, Einzelnes auch vor Missverständniss geschützt werden konnte. Auch diejenige Auffassung der medicinischen Wissenschaft wird der Leser hier wieder finden, welche unter bekannten Umständen den Namen der physiologischen Medicin erhielt und welche bei mir fast ganz auf dem einfachen Grundsatze beruht, dass man sich über die Dinge, in welche man practisch eingreifen soll, nicht mit Namen zu beruhigen, sondern ein wirkliches, inneres Verständniss zu verschaffen hat. So sollte auch hier hingearbeitet werden auf das Verständniss des Wesens der Dinge, hinter welches man durch Nachdenken kommt, und die Ergebnisse zerstreuter Beobachtungen sollten nicht bloss gesammelt, sondern zu einem Ganzen innerlich vereinigt, vorgetragen werden. Wer den gegenwärtigen Stand der Psychiatrie kennt, wird die Schwierigkeiten dieses Geschäfts zu beurtheilen vermögen. Die Anerkennung desselben wird heutzutage dadurch erschwert, dass sich der Unverstand des Wortes Hypothesen bemächtigt hat, um Alles, was über seinen Horizont hinausgeht, weil es seiner Natur nach keines sinnlichen Nachweises mehr fähig ist, zu verdächtigen. Wenn sich diejenigen, welche die Principien für Nebensache halten und für soge - nannte Thatsachen und Practiken als den einzigen Inhalt der Wissenschaft schwärmen, mit einzelnen practischen Fragen der Psychiatrie, z. B. den forensischen beschäftigen wollten, so würden sie bald erkennen, ob Grund - sätze oder Facta die Praxis beherrschen.

IVVorwort.

Ich habe dieser Schrift die Form eines Lehrbuchs gegeben, weil ich glaube, dass der bisherige vollständige Mangel eines solchen viel an der ge - ringen Verbreitung der Psychiatrie schuldig ist, und es mir hohe Zeit scheint, dass ein so wichtiger Zweig der Medicin nicht mehr das Geheimniss einiger Eingeweihten bleibe, sondern zum Gemeingut ärztlicher Bildung werde. Die Vernachlässigung der Psychiatrie unter den Aerzten und namentlich auf den Universitäten zeigt täglich ihre traurigen Folgen. Sie kommen zu Tage in der Beurtheilung und Behandlung der frischen Erkrankungsfälle von Seiten der Praktiker, in deren Hände die Geisteskranken meistens lange, ehe sie den Irrenärzten der Anstalten übergeben werden, gelangen. Sie zeigen sich noch deutlicher bei den forensischen Geschäften der Aerzte. Der Staat, welcher Niemanden einen Verband ’anlegen lässt, ohne dass er dazu seine Fähigkeit und practische Uebung nachgewiesen hätte, gestattet es, dass die subtilsten Fragen über zweifelhafte Gemüthszustände über den Köpfen der Angeschuldigten weg von Aerzten debattirt werden, welche noch nie eines Geisteskranken ansichtig geworden sind oder einen solchen zum erstenmale in dem Augenblicke sehen, wo sie über seinen Seelenzustand und damit über seine Todeswürdigkeit oder Freisprechung, ein Urtheil abzugeben haben. Die gänzliche Unsicherheit dieser Urtheile hat dieselbe bei den Juristen, völlig mit Recht, um ihren Credit gebracht. Es ist aber dieser Entwürdigung der forensischen Medicin und den unermesslichen practischen Nachtheilen der - selben nur dadurch abzuhelfen, dass man entweder den Aerzten, so lange sie keine Gelegenheit zu seiner Erlernung haben, ein Geschäft ganz abnimmt, das der Natur der Dinge nach doch Niemand Anderes übernehmen kann und das immer zu den wichtigsten Pflichten ihres Standes gezählt wurde, oder dass man psychisch-forensische Fragen nur von den wirklichen Irrenärzten eines Landes beantworten lässt, oder dass man für einen genauen psychia - trischen Unterricht Sorge trägt, womit nichts Anderes, als die Errichtung regelmässiger psychiatrischer Cliniken gemeint sein kann.

Ueber die Einrichtung dieser Schrift habe ich nur Weniges zu bemerken. Die psychologische Analyse des Irreseins, mit deren bisheriger Behandlung ich in vielen Punkten nicht übereinstimmen konnte und deren eigene Dar - stellung desshalb eine Hauptaufgabe bildete, machte es nothwendig, Einiges über das gesunde Seelenleben vorauszuschicken. Es galt hier nicht eine Psychologie zu schreiben, sondern nur einige Hauptpunkte von unmittelbarer Anwendung auf die psychische Krankheit hervorzuheben. Ich befand mich hier an einigen Stellen in der besonderen Lage, eigene Ansichten über den Zusammenhang der psychischen Erscheinungen unterdrücken zu müssen, weil sie nicht ohne eine für die nothwendige Kürze dieser Schrift allzu weitgreifende Auseinandersetzung hätten dargestellt werden können, undVVorwort.mich dafür der Formen und Termini einer anerkannten (der Herbart’schen) Psychologie bedienen zu müssen. Ich werde mich für diese Resignation ein andermal entschädigen.

Bei Darstellung der einzelnen Formen ging mein Bestreben nicht auf zersplitternde Vervielfachung der Arten, sondern auf Einfachheit und Deut - lichkeit in der Darstellung der Hauptformen, unter welche, wie ich glaube, alle vorkommenden Fälle subsummirt werden können. Wie es die Sache mit sich brachte, habe ich hier Vieles von Anderen aufnehmen müssen; die gebräuchliche Eintheilung der Geisteskrankheiten habe ich namentlich an zwei Stellen verändert, indem ich die psychischen Exaltationszustände in zwei Formen spaltete, und indem ich die Verrücktheit den Schwächezuständen anschloss. Beides wurde an seiner Stelle gerechtfertigt. Die den einzelnen Formen beigegebenen Beispiele, meist sehr abgekürzte Krankheitsgeschichten aus der Literatur, werden dem, welcher noch keine Geisteskranke beobachten konnte, wenigstens ein, freilich dürftiges und schwaches Bild solcher Zu - stände geben.

Für die pathologische Anatomie, wie übrigens für die anderen Ab - schnitte, wurde die Literatur reichhaltig benützt; aus der Vereinigung der pathologisch-anatomischen Thatsachen gingen mir einige Schlüsse für die ganze Lehre von den Gehirnfunctionen hervor, die ich nur andeutete und deren völlige Bestätigung ich weiteren Untersuchungen überlasse. Das Studium des Gehirns der Geisteskranken fängt erst recht an; es muss zur Grundlage aller Untersuchungen werden, und der Geist der anatomischen Diagnostik wird immer der beste Schild gegen die gesalbte Pectoralpsychiatrie und gegen das laienhafte Dareinreden derer sein, welche diesen Abschnitt der Gehirnpathologie zum Schauplatz ihrer moralisirenden Excurse wählen.

Es wurde gesucht, die Therapie enger als bisher mit der Pathologie zu verbinden und die vorliegenden Thatsachen über das Gelingen der Heilung in grundsätzliche Gemeinschaft mit dem, was Aetiologie, pathologische Anatomie und psychologische Analyse ergeben, zu bringen. Das Capitel von den Irren-Anstalten sollte nur die wesentlichsten Punkte für diejenigen Leser enthalten, welche erst anfangen, von den hierhergehörigen Fragen Notiz zu nehmen. Die Anwendung der Lehre von den krankhaften Seelenzuständen auf die Bedürfnisse der Rechtspflege wurde von der Schrift ausgeschlossen; die Grundsätze, welche aus den hier vorgetragenen Lehren hervorgehen, werden sich dem denkenden Leser selbst aufdrängen; ihre vollständige Ausführung hätte aber viel zu weit geführt, und sie sollen der Gegenstand besonders zu veröffentlichender Untersuchungen sein.

Weitere Rechtfertigungen ihrer Richtung glaube ich der Schrift nicht mitgeben zu dürfen. Die Bezeichnung materialistisch, die nicht ausbleibenVIVorwort.wird, und die man von jeher der ganzen Medicin, wenn diese sich selbst treu geblieben ist, zum Vorwurf gemacht hat, kann sie wohl annehmen; denn es ist einmal so, dass unsere Wissenschaft von der Anatomie und nicht von Abstractionen ausgeht. Vor einer Verdächtigung dieser An - schauungsweise werde ich sie zu schützen wissen; den Schwachen aber sei gesagt, dass die Wunder des Geistes nichts verlieren von ihrer Schönheit und Welt-bezwingenden Kraft, indem die psychische Seite des Lebens die ihr gebührende Stelle unter den organischen Naturphänomenen einnimmt, und dass die wahren und schlimmen Materialisten immer nur die sind, welche den Geist hassen.

Dagegen möchte ich in Form und Darstellung Manches entschuldigt wissen; die Bedeutung des Gegenstandes möchte eine künstlerische Sorgfalt und Ruhe in der Gestaltung des Stoffes fordern, und solche ist schwer zu erreichen, wo die Zeit von vielfacher anderer Beschäftigung mühsam erübrigt wird. Uebrigens habe ich in der allmähligen Vollendung dieser Schrift, ungeachtet ich viele Mängel an ihr wohl erkenne, den reichhaltigsten Genuss gefunden; ihre Abfassung hat mir um so mehr Vergnügen gemacht, je mehr sie mich an meine frühere Wirksamkeit als ausübender Irrenarzt in einer der besten deutschen Anstalten erinnerte, wo meine ersten practischen Studien in der Psychiatrie den Vortheil hatten, von einem hochverehrten Freunde, Herrn Hofrath Dr. Zeller in Winnenthal, geleitet zu werden. Möge auch ihm diese Schrift Anlass zu freundlicher Erinnerung werden.

Tübingen, den 14. August 1845.

W. G.

[VII]

Inhalt.

  • Seite
  • Erstes Buch. Allgemeiner Theil. 1
  • Erster Abschnitt. Ueber den Sitz der psychischen Krank - heiten und die Methode ihres Studiums1
  • Zweiter Abschnitt. Anatomische Vorbemerkungen10
  • Dritter Abschnitt. Physiologisch-pathologische Vorbemer - kungen über das Seelenleben17
  • Vierter Abschnitt. Die Elementarstörungen der psychischen Krankheiten49
  • Erstes Capitel. Die geistigen Elementarstörungen50
  • Zweites Capitel. Die sensitiven Elementarstörungen64
  • Drittes Capitel. Die motorischen Elementarstörungen85
  • Fünfter Abschnitt. Das Irresein als Ganzes87
  • Zweites Buch. Die Aetiologie und Pathogenie der psy - chischen Krankheiten95
  • Erster Abschnitt. Allgemeines über die Ursachen95
  • Zweiter Abschnitt. Die Prädisposition zu psychischen Krank - heiten101
  • Erstes Capitel. Die allgemeine Prädisposition103
  • Zweites Capitel. Die individuelle Prädisposition112
  • Dritter Abschnitt. Die Ursachen der psychischen Krank - heiten
  • Erstes Capitel. Wirkungsweise der Ursachen121
  • Zweites Capitel. Psychische Ursachen126
  • Drittes Capitel. Gemischte Ursachen130
  • Viertes Capitel. Somatische Ursachen134
  • VIII
  • Seite
  • Drittes Buch. Die Formen der psychischen Krankheiten150
  • Erster Abschnitt. Psychische Depressionszustände152
  • Erstes Capitel. Die Hypochondrie154
  • Zweites Capitel. Die Melancholie165
  • Drittes Capitel. Die Melancholie mit Stumpfsinn186
  • Viertes Capitel. Die Melancholie mit Aeusserung von Zerstörungstrieben191
  • Fünftes Capitel. Die Melancholie mit anhaltender Wil - lensaufregung207
  • Zweiter Abschnitt. Psychische Exaltationszustände209
  • Erstes Capitel. Die Tobsucht214
  • Zweites Capitel. Der Wahnsinn238
  • Dritter Abschnitt. Psychische Schwächezustände253
  • Erstes Capitel. Die partielle Verrücktheit258
  • Zweites Capitel. Die Verwirrtheit275
  • Drittes Capitel. Der apathische Blödsinn279
  • Vierter Abschnitt. Von einigen wichtigen Complicationen des Irreseins281
  • Viertes Buch. Pathologische Anatomie290
  • Erster Abschnitt. Pathologische Anatomie des Gehirns und seiner Hüllen292
  • Zweiter Abschnitt. Pathologische Anatomie der übrigen Organe320
  • Fünftes Buch. Heilbarkeit und Heilung der psychischen Krankheiten330
  • Erster Abschnitt. Prognostik330
  • Zweiter Abschnitt. Therapie341
  • Erstes Capitel. Allgemeine Grundsätze341
  • Zweites Capitel. Somatische Behandlung352
  • Drittes Capitel. Psychische Behandlung363
  • Viertes Capitel. Einzelne Modificationen der Therapie374
  • Fünftes Capitel. Die Irren-Anstalten382
  • Zusatz397
[1]

ERSTES BUCH. Allgemeiner Theil.

Erster Abschnitt. Ueber den Sitz der psychischen Krankheiten und die Methode ihres Studiums.

§. 1.

Die vorliegende Schrift beschäftigt sich mit der Lehre von der Erkenntniss und Heilung der psychischen Krankheiten oder des Irreseins. Das Irresein selbst, ein anomales Verhalten des Vor - stellens und Wollens, ist ein Symptom; die Aufstellung der ganzen Gruppe der psychischen Krankheiten ist aus einer symptomatologischen Betrachtungsweise hervorgegangen und ihr Bestehen ist nur von einer solchen aus zu rechtfertigen. Der erste Schritt zum Verständniss der Symptome ist ihre Localisation. Welchem Organ gehört das Phäno - men des Irreseins an? Welches Organ muss also überall und immer nothwendig erkrankt sein, wo Irresein vorhanden ist? Die Antwort auf diese Frage ist die erste Voraussetzung der ganzen Psychiatrie.

Zeigen uns physiologische und pathologische Thatsachen, dass dieses Organ nur das Gehirn sein kann, so haben wir vor Allem in den psychischen Krankheiten jedesmal Erkrankungen des Gehirns zu erkennen.

§. 2.

Die Physiologie betrachtet das psychische Leben als eine besondere Lebensform des Organismus; sie sieht in den psychischen Acten Functionen bestimmter Organe und sucht jene eben aus demGriesinger, psych. Krankhtn. 12Das Gehirn ist das Organ der psychischen Acte.Bau dieser zu begreifen. Allbekannte Experimente zeigen nun, wie zwar das Vonstattengehen der im weiteren Sinne psychischen Thätig - keiten an das ganze Nervensystem gebunden, wie aber nur das Ge - hirn, und auch dieses nur in einzelnen seiner Theile, der Sitz des Vorstellens und Strebens ist. Allerdings kommen sowohl dem Rücken - marke, als dem Gangliensysteme des Sympathicus nicht bloss Lei - tungsfunctionen, sondern auch centrale Thätigkeiten der Mittheilung, Association und Erregung zu (Tonus, Reflexactionen etc.); zu jenen höheren centralen Thätigkeiten verhalten sie sich aber wieder als lediglich peripherische. Wohl bieten die Zustände des ganzen Ner - vensystems, indem sie unmittelbar dem Gehirne sich mittheilen, auch Elemente zur Erregung und Unterhaltung geistiger Thätigkeiten dar von allen peripherischen Nervenausbreitungen aus können Eindrücke entstehen, welche Anstösse zu Trieben, zu dunkleren oder bewussteren Vorstellungen und Bestrebungen abgeben können aber die Samm - lung und Aufnahme dieser Eindrücke, der von ihnen ausgeübte Ein - fluss auf grosse zusammengesetzte Bewegungsreihen (auf das Handeln), jenes Vorstellen und Streben selbst, das von ihnen influencirt wird, findet nur im Gehirne statt.

Die inneren Hergänge des Vorstellens und Wollens sind so wenig als die des Empfindens aus der Organisation des Gehirns zu begreifen. Dennoch lässen sich die gröberen Schemata der psychischen Thätig - keiten mit Leichtigkeit an den Bau der betreffenden Theile anknüpfen. Die in der Schädelhöhle liegende Abtheilung des Centralnervensystems besteht aus Nervenmassen, welche einerseits die sensitiven Rücken - marksstränge und die centralen Ausbreitungen der höheren Sinnes - nerven in sich aufnehmen, von denen andererseits die motorischen Markstränge ausgehen. Dem entsprechend sehen wir, wie alle aus dem Körper und durch die Sinne centripetal einfallenden Eindrücke im Gehirne sich sammeln, percipirt, assimilirt werden, die Geistes - thätigkeit erregen und unterhalten, und wie von hier aus wieder An - lässe zu neuen, centrifugalen Acten, Beziehungen der Empfindung und der Geistesthätigkeiten auf die Action der Bewegungsorgane Strebungen und motorische Entladungen in die Muskelapparate ent - stehen. Mit Recht vergleicht man diese Vorgänge mit dem Kreis - laufe des Bluts und dem Ganzen der leiblichen Assimilationsprocesse.

Wir sehen, wie in der Thierreihe die psychischen Thätigkeiten um so mannigfaltiger, reicher und einer um so feineren Ausbildung fähig werden, je mehr das Gehirn an Volum zunimmt und je ver - wickelter und gestaltenreicher seine Organisation wird. Wir sehen,3Physio-pathologische Gründe.wie beim Menschen eine mangelhafte Entwicklung des Gehirns con - stant mit Schwäche der höheren psychischen Acte, des Vorstellens und Wollens, verbunden ist (Idiotismus), und die Erfahrung an allen Menschen zeigt uns, wie diese psychischen Thätigkeiten sich wesent - lich ändern mit der Entwicklung und Umänderung des Gehirns in den verschiedenen Lebensaltern. Eben in diesen zeitlichen Metamor - phosen, diesem Weiterschreiten von allmähligem Wachsthum zur ge - reiften Höhe und zur Wiederabnahme, geht die psychische Thätigkeit des Gehirns parallel mit allen übrigen organischen Functionen und erweist sich damit dem Entwicklungsgesetze des Organismus ebenso wie diese unterworfen.

Man hat bekanntlich schon versucht, einzelne Seiten der psychischen Thä - tigkeit in andere Parthieen des Nervensystems, als das Gehirn, zu verlegen, z. B. das Gemüth in den N. sympathicus. Diese Hypothese gieng von psychologischer Seite aus der genugsam widerlegten Annahme getrennter Seelenvermögen hervor. Von physio-pathologischer Seite steht sie mit sicheren Lehrsätzen der Empirie (über die specifischen Energieen der Gewebe) im Widerspruch. Dasselbe in noch höherem Grade gilt von der Lehre, welche ein unmittelbares Mitwirken aller Theile des Organismus, (also auch der Knochen, Drüsen etc.) bei den psychischen Thätigkeiten annimmt, und demgemäss auch das Irresein unmittelbar aus Stö - rungen solcher peripherischer Organe erklären will.

§. 3.

Die pathologischen Thatsachen zeigen uns so gut wie die physiologischen, dass nur das Gehirn der Sitz normaler und krank - hafter geistiger Thätigkeiten sein kann. Die constanten und wesent - lichen Symptome der Gehirnkrankheiten, mögen sie aus inneren Ur - sachen oder aus äusseren Verletzungen entstanden sein, bestehen ja ausser den Anomalieen der Empfindung und Bewegung, bei jeder schweren Erkrankung eben aus geistigen Störungen (Exaltation oder Trägheit des Vorstellens, Verlust des Bewusstseins, Delirien etc.), und die selteneren Wahrnehmungen, wo bei schweren Desorganisationen des Gehirns und bei Verlust an Gehirnsubstanz keine oder nur unbedeu - tende Störungen der Geistesthätigkeit sich gezeigt haben sollen, ver - mögen jene Ergebnisse der alltäglichen Beobachtung nicht zu schwächen.

Eine Anzahl solcher Fälle findet man z. B. bei Longet (Anat. et Physiol. d. syst. nerv. Par. 1842. I. p. 670.) zusammengestellt. Gegen die meisten dieser und der anderweitig bekannt gewordenen ähnlichen Beobachtungen erheben sich wesentliche Bedenken. In fast allen Fällen ist nur die Intelligenz im engeren Sinne beachtet, die Gemüthsbeschaffenheit und der Willenszustand ganz unberück - sichtigt geblieben, und auch an die Intelligenz wurden gewöhnlich nur die gering - sten Anforderungen gemacht z. B. die Beantwortung einfacher ärztlicher Fra - gen, um sie für unverletzt zu erklären. In keiner dieser Beobachtungen ist die1*4Die Geisteskranken sind Gehirnkranke.Intelligenz nach ihrem ganzen Umfange geprüft worden, und in vielen derselben, nämlich in allen Hospitalbeobachtungen, war eine Vergleichung des Geistes - zustandes nach der Erkrankung oder dem Substanzverluste mit dem früheren schlechterdings unmöglich; alle feineren Abweichungen mussten hier nothwendig der Beobachtung entgehen. Nimmt man aber auch die Thatsachen als richtig an, so beweisen sie nichts gegen unseren Satz. Einmal kommt sehr viel auf den Sitz der Läsion an; nicht alle Theile des Gehirns stehen in gleich nahem Verhältnisse zu den Geistesthätigkeiten; einzelne stehen vielmehr in viel näherer Beziehung zur Muskelbewegung (Pons, Thalami etc.). Ferner ist beim Gehirn, wie bei allen paarigen Organen, die Möglichkeit eines Ersatzes der Function durch die gesund gebliebene Hälfte in hohem Grade wahrscheinlich. Endlich findet man auch in andern wichtigen Organen nicht selten beschränktere anatomische Läsionen ohne auffallende Störung der Function (chron. Magengeschwür, pleurit. Adhäsionen, Tuberkel etc.), und man hat gleichfalls Substanzverluste (durch gangränose Losstossung) z. B. in der Lunge oder im Darme beobachtet, wo nach erfolgter Heilung die Processe der Respiration, der Verdauung wieder ohne auf - fallende Störung vor sich giengen. Man wird aber schwerlich solcher Thatsachen wegen den Satz fallen lassen, dass die Lunge das Respirationsorgan sei und dass die Verdauung im Darme geschehe.

Noch näheren und directeren Beweis für unsern Satz, dass das Gehirn das beim Irresein erkrankte Organ sei, liefern die Ergebnisse der Leichenöffnungen der Irren selbst. Es ist ausser Zweifel,*)Wir verweisen auf das betreffende Capitel über die patholog. [Anatomie]. dass man in der Mehrzahl dieser Leichenöffnungen wirklich anatomische Veränderungen im Gehirne selbst oder seinen Hüllen findet, und dass diese, da wo überhaupt anatom. Läsionen vorkommen, die einzigen constanten sind. Der Umstand, dass man nicht immer solche Läsio - nen findet, vermag diesen Grund nicht zu schwächen. Es verhält sich hier nicht anders als bei so vielen andern Nerven - und Gehirnkrank - heiten, der Epilepsie, dem Tetanus etc., deren Sitz im Gehirn oder Rückenmark, wenn auch in manchen Fällen durch die pathologische Anatomie nicht ad oculos demonstrirt, doch von Niemanden in Zwei - fel gezogen wird.

Die Mehrzahl der Geisteskranken bietet aber auch, ausser den Störungen des Vorstellens und Wollens, noch bedeutende Anomalieen anderer, dem Gehirne gleichfalls unzweifelhaft angehöriger Functionen dar. Vor Allem die Hallucinationen, Anomalieen der centralen Sin - nesthätigkeit, welche zwar nach den Sinnesorganen projicirt und als peripherisch entstandene empfunden werden, deren Entstehung aber nothwendig in das Gehirn verlegt werden muss, wie diess z. B. die Fälle von andauernden Gesichtshallucinationen bei völliger Blindheit mit Atrophie des N. opticus (Esquirol) unwiderleglich beweisen. Ebenso5Verhältniss des Gehirns zu den psych. Acten.sehen wir die Bewegung der willkührlichen Muskeln, eine unzweifel - hafte Gehirnfunction, bei sehr vielen Geisteskranken verändert, theils als erhöhte Activität und Energie, theils als cataleptische Starrheit, theils als jene Paralyse, welche gleichen Schritt mit dem Verlauf einer gewissen Form des Irreseins (des Blödsinns) hält, und noch viele andere Anomalieen der Gehirnfunctionen (verringerte Empfind - lichkeit für Schmerz und Temperatur, Schlaflosigkeit, Convulsionen, Kopfcongestion etc.) werden bei Geisteskranken als mehr accessorische Phänomene beobachtet, welche zu weiterer Bestätigung einer vorhande - nen Gehirnaffection dienen mögen.

§. 4.

Indem man durch die Thatsachen genöthigt das Vorstellen und Wollen in das Gehirn verlegt, sind immer noch verschiedene Vor - stellungen über das Verhältniss dieser psychischen Acte zum Gehirn, über das Verhältniss der Seele zur Materie überhaupt möglich. Vom empirischen Standpunkte aus haben wir vor allem die Thatsache der Einheit von Leib und Seele festzuhalten und müssen es dem Aprioris - mus überlassen, die Seele ohne Beziehung auf den Leib, eine leib - lose Seele, zu untersuchen und sich mit abstracten Betrachtungen über ihre Immaterialität und Einheit im Gegensatz zur Vielheit der Materie etc. zu begnügen. Die Hypothesen, die man schon ersonnen hat, um jene unerklärliche Einheit für die Reflexion fasslicher zu ma - chen, von jenen feinen Fluidis an, die zwischen Leib und Seele ver - mitteln sollen, jenen Materien, dünn genug um gelegentlich für Geist passiren zu können bis zu dem System prästabilirter Harmonie, ver - möge dessen Leib und Seele niemals auf einander, sondern immer nur mit einander wirken sollen, diese Hypothesen sind für die em - pirische Betrachtung gleich unwiderleglich und gleich unannehmbar. Diese wird vielmehr auch auf die Gefahr, etwas fast allzu Plattes zu behaupten die Seelenthätigkeiten in derjenigen Einheit mit dem Leibe und namentlich mit dem Gehirne auffassen müssen, welche zwischen Function und Organ besteht, sie wird das Vorstellen und Streben in gleicher Weise als die Thätigkeit, die specifische Energie des Gehirns betrachten müssen, wie sie die Leitung in den Nerven, die Reflexaction im Rückenmarke etc. als die Functionen dieser Theile betrachtet, und so wird dieser Betrachtungsweise die Seele die Summe aller Gehirnzustände sein.

Nicht genug aber ist bei Annahme solcher Betrachtungsweise vor dem ab - stracten und seichten Materialismus zu warnen, der die allgemeinsten Thatsachen des menschlichen Bewusstseins über Bord werfen möchte, weil sie sich nicht im6Einheit, Erkrankung der Seele.Gehirne mit Händen greifen lassen. Indem die wahre empirische Auffassung die Phänomene des Empfindens, Vorstellens und Wollens dem Gehirne als seine Thä - tigkeiten zuschreibt, lässt sie nicht nur den thatsächlichen Inhalt des menschlichen Seelenlebens in seinem ganzen Reichthum unberührt, und hält namentlich die Thatsache der freien Selbstbestimmung nachdrüklich fest; sie lässt natürlich auch die metaphysischen Fragen offen, was es etwa sei, was als Seelen substanz in diese Relationen des Empfindens, Vorstellens und Wollens eingehe, die Form der psychischen Existenz annehme etc. Sie muss ruhig die Zeit erwarten, wo die Fragen über den Zusammenhang des Inhalts des menschlichen Seelenlebens mit seiner Form statt zu metaphysischen zu physiologischen Problemen werden.

Indem für die empirische Betrachtung die Seele zunächst in eine Mannigfaltigkeit und Vielheit psychischer Vorgänge sich auseinander - breitet, geht ihr darüber die Einheit im Seelenleben nicht verloren. Sie erscheint zunächst als diejenige Einheit, die auch der Thierseele zukommt, die dem Accorde oder der Harmonie zu vergleichen ist, welche auch ein Eines aus mehren und vielen Tönen sind. Sie er - scheint aber auch als eine höhere und bewusste Einheit, indem aus dem Wechsel der Seelenzustände ein Eines, scheinbar Bleibendes sich sammelt, das Ich. Freilich ist diese selbst erworbene Einheit keine ruhende und starre, sondern mit dem Ich setzt sich die Seele sich selbst einem Du in ihr entgegen, und der Fortschritt von dieser Entzweiung zu immer weiteren und höheren Vereinigungen ist eben das treibende Moment des menschlichen Seelenlebens.

Ein etwaiger Streit über Materialität oder Immaterialität der psychischen Processe liesse sich mit unsern gegenwärtigen Begriffen nicht entscheiden, und fiele zusammen mit der Frage nach den inneren Veränderungen bei der Thätigkeit des Nervensystems. Alle Vergleichungen mit den Imponderabilien, welche in einem ähnlichen Verhältnisse zur Materie stehen auch sie erscheinen als etwas Immaterielles, werden aber durch materielle Veränderungen hervorgerufen und in ihren Wirkungen modificirt, und bewirken selbst wieder Veränderungen in der Materie sind nur wenig förderlich. Das psychische oder nervöse Agens hat in der ganzen übrigen Welt nichts wirklich Analoges; die Theorie findet, wie schon Locke aussprach, dieselben Schwierigkeiten, ob sie die Materie denken las - sen, oder ob sie die Einwirkung eines Immateriellen auf die Materie begreifen will.

Nach diesen Prämissen wird nun die von der deutschen Psy - chiatrie ungebührlich oft und weitläufig behandelte Frage, ob beim Irresein, bei den Anomalieen im Vorstellen und Wollen, die Erkran - kung auch wirklich die Seele betreffe, ihre einfache, bejahende Lösung finden. Nur wird man allerdings nicht von Krankheiten der Seele selbst zu sprechen haben so wenig überhaupt eine richtige Pathologie von Krankheiten der Lebens-Processe, der Functionen spricht sondern nur von Krankheiten des Gehirns, durch welche jene Acte des Vorstellens und Wollens gestört werden.

7Welche Gehirnkrankheiten sind psych. Krankheiten?

§. 5.

Wenn aber alles Irresein auf Gehirnaffection beruht, so gehören desshalb nicht alle Gehirnkrankheiten zu den Geisteskrankheiten. Welche Art von Gehirnerkrankung ist es nun, mit der man es bei dem Irresein zu thun hat? Vom anatomischen Standpunkte sind es die allerverschiedensten Erkrankungen, deren Symptomengruppe man Irresein nennt. Blosse Irritationen ohne merkliche Gewebever - änderung, Encephalitis der Gehirnrinde, Atrophie des Gehirns, Apo - plexia intermeningea, einfache Gehirnhyperamieen u. s. w., alle diese unter sich so ausserordentlich verschiedenen Zustände können Sym - ptomencomplexe geben, wegen deren man die Kranken in die Irren - häuser schickt und welche in den psychiatrischen Schriften als Geisteskrankheiten beschrieben werden. Jeder Versuch, das Irresein von den acuten oder chronischen Gehirnkrankheiten, wie sie vom anatomischen Standpunkte aus gebildet sind, z. B. der Meningitis, Encephalitis etc., zu unterscheiden, wäre das vergeblichste Unter - nehmen, da ja eben nicht wenige Fälle von Geisteskrankheit selbst Meningitis, Encephalitis etc. sind. Der Begriff der Geisteskrankheiten als ein rein symptomatologischer, liegt vielfach ganz innerhalb jener anatomischen Begriffe und die Objecte beider lassen sich gar nicht mit einander vergleichen.

Die Gehirnpathologie steht heute noch auf dem Standpunkt, den die Pathologie der Brustorgane vor Laënnec einnahm. Statt überall von den Structurveränderungen des Organs ausgehen und das Zu - standekommen der Symptome in exacter Weise von den Verände - rungen der Gewebe ableiten zu können, hat sie es häufig genug mit Symptomencomplexen zu thun, von denen sie den Sitz kaum annähe - rungsweise und den Mechanismus der Entstehung gar nicht kennt. Sie muss sich an das Aeussere der Phänomene halten und muss noch Krankheitsgruppen nach etwas Gemeinsamem und charakteristischem in den Symptomen, zunächst abgesehen von deren anatomischer Grundlage, bilden. So die Epilepsie, die Chorea etc.; so auch die psychischen oder Geisteskrankheiten, unter welchen wir also alle die - jenigen Gehirnaffectionen zu begreifen haben, bei denen Anomalieen, Störungen im Vorstellen und Wollen die für die Beobachtung hervorstechendste Symptomengruppe bilden.

Was das Irresein ist, erfährt nur der, der es im Einzelnen studirt; Defi - nitionen von den Geisteskrankheiten, vom Irresein wären so unmöglich und zwecklos, wie Definitionen von der Wassersucht und Phtisis, oder wie eine Definition des russischen Feldzugs. Nur das braucht bemerkt zu werden, dass8Selbständigkeit dieses Theils der Gehirnpathologie.man unter Geisteskrankheiten, wie unter Krankheiten überhaupt, gewöhnlich Ab - weichungen vom individuell normalen Zustande versteht. Wir handeln also nur von den Geisteskrankheiten früher geistig-gesund Gewesener, schlies - sen demnach die angebornen oder noch vor Entwicklung einer geistigen Indivi - dualität entstandenen psychischen Hemmungen, den angebornen Blödsinn und Cre - tinismus, von dieser Schrift aus.

§. 6.

Da das Irresein nur ein Symptomencomplex verschiedener Ge - hirnkrankheiten ist, so könnte die Frage entstehen, ob seine von den übrigen Gehirnkrankheiten getrennte und abgesonderte Behandlung überhaupt zu rechtfertigen sei, ob nicht vielmehr die Psychiatrie auch äusserlich ganz in der cerebralen Pathologie aufzugehen habe? Allein, wenn auch von einer ferneren Zukunft Solches vielleicht zu erwarten steht, so wäre doch heutzutage jeder Versuch einer der - artigen völligen Verschmelzung voreilig und völlig unausführbar. Wenn nur der innere Grundzusammenhang mit der sonstigen Gehirnpatho - logie stets im Auge behalten, wenn nur hier wie dort eine und die - selbe richtige, möglichst anatomisch-physiologische Methode befolgt wird, so wird die Cerebralpathologie von der äusserlich abgesonder - ten, monographischen Bearbeitung solcher symptomatisch gebildeter Krankheiten in ihrer inneren Gliederung nicht gestört, sondern nur gefördert. Um so weniger aber wäre ein solcher Verschmelzungs - versuch derzeit zulässig, als der Psychiatrie ihre Stellung als Theil der Gehirnpathologie überhaupt fast noch erobert werden muss, und als manche praktische Seiten der Psychiatrie (das Irrenanstaltswesen, das Verhältniss zur gerichtlichen Medicin etc.) ihr einen Umfang und eine Eigenthümlichkeit geben, die auch inmitten der Cerebralpatho - logie ihr unter allen Umständen eine grosse Selbstständigkeit erhal - ten müssen.

§. 7.

Da das Irresein eine Krankheit, und zwar eine Erkrankung des Gehirns ist, so kann es für dasselbe kein anderes richtiges Studium geben, als das ärztliche. Die Anatomie, Physiologie und Pathologie des Nervensystems, und die gesamte specielle Pathologie und Therapie bilden für den Irrenarzt die allernothwendigsten Vorkenntnisse. Alle nicht-ärztlichen, namentlich alle poetischen und moralistischen Auf - fassungen des Irreseins sind für dessen Erkenntniss nur vom aller - geringsten Werthe. Einzelne poetische Darstellungen Wahnsinniger sind in manchen, der Natur abgelauschten Zügen vortrefflich (Ophelia, Lear, vor allem Don-Quixote); aber indem der Dichter fast durchaus9Falschheit der poet. und moralist. Auffassungen.diese Zustände mit Umgehung ihrer organischen Grundlagen, nur von der geistigen Seite, als Resultate vorausgegangener sittlicher Conflicte auffassen, und nur das, was diesem Zwecke dient, hervorheben muss, wird seine Schilderung zum mindesten einseitig. Ein gleicher, und wegen des Ernsts, mit dem einzelne solche Versuche auftraten, noch schwererer Vorwurf trifft die moralistischen Betrachtungsweisen. Nichts ist falscher, nichts wird mehr von der täglichen Beobachtung ver - worfen, als jeder Versuch, das Wesen der Geisteskrankheiten in das sittliche Gebiet zu verlegen. Laut genug sprechen freilich die That - sachen für eine sehr häufige psychische Entstehungsweise dieser Krankheiten; wie könnte es anders sein, da die psychischen Ursachen auch für die übrigen Gehirn - und Nervenkrankheiten zu den wichtig - sten und häufigsten gehören? Der jeweilige Zustand des Vorstel - lens und Wollens ist wesentlich abhängig, ja zum Theil das noth - wendige Ergebniss der Summe alles früheren Vorstellens und Wollens, und damit freilich ist im psychischen Leben selbst eine reichliche Quelle ursächlicher Momente geöffnet. Aber, während die Sphäre der Sittlichkeit ganz innerhalb des bewussten, freien Denkens ent - halten ist, liegen die Ausgangspunkte der anomalen geistigen Pro - cesse, zu denen diese Gehirnkrankheiten Anlass geben, auf einem ganz andern Gebiete. Aus dunkeln Verstimmungen des psychischen Gemeingefühls, der Selbstempfindung gehen beim Irresein ursprüng - lich affectartige Seelenzustände hervor, und wenn sich aus diesen ein, den Kranken überwältigendes falsches Vorstellen und Streben herausgebildet hat, so ist dieser schon in einem Zustande, dem die ersten Voraussetzungen aller Sittlichkeit, die Besonnenheit, die Mög - lichkeit einer Ueberlegung und Wahl, fehlen, und all sein Thun kann gar nicht mehr unter den sittlichen Gesichtspunkt fallen.

Eine wirkliche Polemik gegen die moralistischen Auffassungen der Geistes - krankheiten ist heutzutage nicht mehr nöthig. Zum Ueberfluss mag gegen die - selben an die vielen Fälle rein körperlicher Entstehung der Geisteskrankheiten durch Kopfverletzungen, Narcotica etc. an ihre Erblichkeit eine Familien - anlage, die sich oft bei andern Anverwandten als Disposition zu andern schwe - ren Neurosen, Epilepsie, Hysterie etc. ausspricht an das Typische, das nicht selten ihr Verlauf, wie der der übrigen Nervenkrankheiten zeigt, an den oft beobachteten Wechsel mit andern Krankheiten mit Intermittens, mit chron. Spinalirritation an die Möglichkeit schneller Heilungen, an die Analogie mit den Traumzuständen etc. erinnert werden. Die beste Widerlegung aber wird die Einsicht in die thatsächlichen Hergänge selbst abgeben.

10

Zweiter Abschnitt. Anatomische Vorbemerkungen.

§. 8.

An einem andern Orte*)Neue Beiträge zur Physiol. und Pathol. des Gehirns. Vom Vf. Archiv f. physiolog. Heilkunde. III. 1. p. 69. haben wir auf die durchgängig nach - weisbare pathologische Analogie der Gehirnkrankheiten, auch insofern sie vorzugsweise psychisch-anomale Symptome geben, mit den Irrita - tionen und mit den tieferen Substanzerkrankungen des Rückenmarks aufmerksam gemacht. Diese Vergleichung wird nicht nur durch den dort gegebenen Nachweis gerechtfertigt, dass dem einen wie dem andern Abschnitte des Central-Nervensystems dieselben Schemata krankhafter Thätigkeit zukommen, welche nur nach der ursprünglich gegebenen Verschiedenheit der Energieen sich sehr verschieden äussern; die Vergleichung hat zunächst ihre Basis in der normalen und pathologischen Anatomie, welche uns im Gehirn und Rückenmark ein einziges, nur künstlich trennbares Ganzes kennen lehrt und uns in beiden dieselben gröberen Dispositionen, dieselben Elementarge - webe und auch die nemlichen pathologischen Veränderungen aufzeigt.

Indem wir nun die gröbere Anatomie, die Eintheilung des Gehirns und Rückenmarks, die Structur und Lagerung seiner Hüllen als be - kannt voraussetzen, schicken wir nur wenige Bemerkungen über den Bau und den Zusammenhang des Central-Nervensystems, an welche sich später physio-pathologische Ergebnisse anknüpfen lassen, und über die Beurtheilung der gesunden oder kranken Beschaffenheit des Gehirns voraus.

Gehirn und Rückenmark bilden ein Ganzes, dessen verschiedene Abschnitte im Wesentlichen denselben elementaren Bau, und einen gemeinsamen, wenn gleich zu immer höherer Entwicklung fortschrei - tenden Typus der Organisation**)Vgl. Arnold, Bemerkungen über den Bau des Gehirns und Rückenmarks. Zürich. 1838. Valentin, Hirn - und Nervenlehre. Leipzig. 1841. Foville, anatomie du système nerveux cerebro-spinal. Par. 1844. Longet, anat. et physiol. d. syst. nerv. 1842. zeigen.

Wie sich die Wirbelstructur der knöchernen Rückenmarkshüllen am Schädel in ausgebildeterer Weise, in einer complicirten Mehr - heit von Knochengebilden wiederholt, so geht auch der Schädel-Ab - schnitt des centralen Nervensystems in eine verwickelte Vielheit11Die graue Gehirnsubstanz.von Nerven-Massen auseinander, welche auf den ersten Anblick nach einem anderen Schema als das Rückenmark gebildet scheinen, in denen sich aber bei vielen wichtigen Verschiedenheiten doch im Ganzen die Analogie mit dem Rückenmarke und seinen nächsten Anhängen durchführen lässt.

Der ursprünglich beim Embryo vorhandene, zuweilen noch beim Erwachsenen sich findende Canal des Rückenmarks, der ganz von grauer Substanz eingeschlossen ist, öffnet sich in der Rautengrube, schliesst sich wieder in der 4ten Hirnhöhle und bildet im Innern des grossen Gehirns den 3ten und die Seiten-Ventrikel, indem er im Infundibulum seinen Schlusspunkt findet.

Die graue Substanz des Rückenmarks, welche in der Medulla oblongata theils an die Oberfläche trat, theils sich in das Corpus fimbriatum der Oliven und in die Corpora restiformia fortsetzt, communicirt auch mit dem Corpus rhomboideum des kleinen Gehirns, dann auf ihrem weiteren Zuge nach vorn mit der grauen Substanz der Crura cerebri, der Corpora quadrigemina, des Thalamus und Corpus striatum, und erreicht endlich am Infundibulum oder in der vorderen perforirten Substanz ihre Endpunkte. So bildet die Fortsetzung der grauen Rückenmarksubstanz im Innern und an der Basis des Gehirns ein zusammenhängendes System grauer Züge und Massen. Ein an - deres System grauer Substanz kommt aber im Gehirne hinzu, nemlich die Rindensubstanz der Hemisphären, welche aussen die Windungen überall, mit Ausnahme einer Stelle am Gyrus fornicatus überzieht. Diese Massen grauer Substanz communiciren direct mit dem ersten Systeme nur an einer Stelle, an der Substantia perforata, und die Hauptverbindung ist eine durch die weissen Faserzüge vermittelte; an der Substanz des Rückenmarks selbst haben sie auch nichts Analoges; sie bilden die gemeinschaftlichen Endigungsstätten für das System der fortgesetzten Rückenmarksstränge und für die im Schädel ent - springenden und nicht aus ihm heraustretenden Fasersysteme.

Einzelne Gehirne zeigen in Bezug auf Menge und Vertheilung der grauen Substanz feinere Verschiedenheiten (Valentin l. c. p. 244), welche natürlich jeder Deutung entgehen. Wichtig aber erscheint die derartige Disposition der grauen Anhäufungen, dass sie fast überall, mit Ausnahme einzelner Theile, welche wie z. B. das Infundibulum, rein aus Belegungskugeln zu bestehen scheinen, von stärkeren oder feineren Primitivfaserzügen durchsetzt und umsponnen werden. Ob sich in der grauen Substanz des Gehirns auch eigene, von den weissen Primitivfasern verschiedene (dünne, graue) Fasern finden,12Die weisse Gehirnsubstanz.wie solche Stilling im Rückenmarke gesehen zu haben behauptet, bleibt dahingestellt; in der Brücke und der Mittellinie zwischen den Cruribus cerebri wird ihr Vorkommen von Foville behauptet. Die Belegungskugeln der grauen Gehirnsubstanz sind zwar denen des Rückenmarks und der Ganglien höchst ähnlich; sie zeigen aber eine noch grössere Zartheit, vielleicht auch mannigfaltigere (runde, geschwänzte, sternförmige) Gestalten, und in verschiedenen Gegenden des Gehirns constantere Verschiedenheiten ihrer feineren Anordnung und Lagerung. An einzelnen Stellen (Crura cerebri, Ammonshorn) sind sie mit Pigment gemischt; an anderen, namentlich in der Sub - stantia perforata treten neue Formen auf, welche mehr Verschieden - heiten als Aehnlichkeiten mit den übrigen Belegungskugeln darzubieten scheinen. Die kugelförmigen Gebilde vollends, aus denen die Hypo - physen (Zirbel und Hirnanhang) bestehen, entfernen sich sehr be - trächtlich von den sonst im Nervensysteme vorkommenden Elementar - Formen.

§. 9.

Die weisse Substanz des Gehirns besteht aus den bekannten, hellen Primitivfasern, welche meist schmäler als im Rückenmark und den Nerven sind und deren zusammengesetzte Bündel und Stämme kein Neurilem mehr haben. Ihre vielfachen, gröberen und feineren Faserzüge bilden häufig Geflechte, welche zum Theil von den Nerven - körpern der grauen Substanz ausgefüllt werden. Freie Endigungen oder Bifurcationen finden sich nicht; die centralen Enden der Fasern sind unbekannt; die, welche in die graue Rindenschicht eintreten, zeigen zuweilen schlingenförmige Umbiegungen, aber sie verlieren sich allmählig in den successiven Schichtungen der Rinde auf eine bisher nicht näher zu erforschende Art.

Dass ein grosser Theil der weissen Gehirnsubstanz aus unmittel - baren Fortsetzungen der drei Rückenmarkstränge jeder Seite, welche aber eine mehrfache Kreuzung eingehen, besteht, ist gewiss: Theile der Hinter - und Seitenstränge lassen sich z. B. in das kleine Gehirn, Theile der Vorderstränge in die Corpora quadrigemina, die Haube etc. mit grösster Leichtigkeit verfolgen, und genauere Untersuchungen haben sogar gezeigt, dass in jede der grossen ganglienartigen An - schwellungen aus denen das Gehirn besteht, Fortsetzungen aller drei Rückenmarkstränge eingehen. Diese Fortsätze bilden aber offenbar nicht die ganze Masse der weissen Substanz; es kommen neue Faser - systeme hinzu, und zwar nicht nur die centralen Ausbreitungen der13Ihr Verhältniss zu den Rückenmarksträngen.Sinnesnerven, welche sich bei ihrem Eintritt in’s Gehirn theilen, in verschiedene Richtungen hin zerstreuen und mitunter grössere, mem - branöse Ausbreitungen im Innern zu bilden scheinen, sondern auch die neuen Fasersysteme der Commissuren, und die Belegungssubstanz. Es wäre von grosser Wichtigkeit, die Mischungs - und Anlagerungs - verhältnisse dieser einzelnen Systeme zu den entsprechenden Fort - setzungen der drei Rückenmarkstränge zu kennen. Nach Foville, des - sen Untersuchungen übrigens weiterer Bestätigung bedürfen, lassen sich namentlich im grossen Gehirne zwei grosse, durch die Art ihrer Lagerung unterschiedene, aber vielfach in einandergeschobene Faser - gruppirungen nachweisen, deren eine sich an die Vorder-Seitenstränge, die andere an die Hinterstränge anlegt. Der letzteren, weit überwie - genden Gruppe würden nicht nur die successiven Anschwellungen auf der Gehirnaxe, die Corpora quadrigemina, die Thalami und Corpp. striata mit ihren grauen Kernen, sondern auch das ganze Corpus cal - losum, das Septum und der Fornix mit seinen Anhängen angehören, welche alle als ringförmige Bildungen den Faserkegel umfassen, der, den Vorder - und Seitensträngen angehörig, als abgeplatteter Stamm durch die grauen Massen des Thalamus und Corpus striatum durch - tritt und sich in das Innere der grossen Hemisphären verzweigt. Namentlich aber sollen nach Foville die nervöse Membran der Ventrikel - oberfläche und indem diese im Ammonshorn sich in die weisse, äusserste Lamelle der Rindenschicht fortsetzt, die ganze Gehirnober - fläche mit den Fortsetzungen der Hinterstränge in nächster Verbin - dung stehen, so dass die Fortsätze und Anhänge der Seiten-Vorderstränge von ihrem Eintritt in den Thalamus an durchaus im Innern von Hin - terstrangparthien steckten und nirgends auf die Oberfläche selbst herausträten. Es wäre diess ein ähnliches Verhalten, wie in der pe - ripherischen Nervenausbreitung, wo die Oberflächen, die Haut und die Schleimhäute, gleichfalls überwiegend von Nerven der Hinterstränge versorgt werden, während die Nerven aus den Vorder-Seitensträngen sich hauptsächlich zu den unter jenen gelegenen Muskelschichten ausbreiten.

Nach dieser Ansicht wären das grosse und das kleine Gehirn im Ganzen als grosse gangliöse Anschwellungen zu betrachten, welche, wie die Spinalganglien, zunächst den Fortsetzungen der Hinterstränge angehörten, wobei aber die Fortsetzungen der Vorder-Seitenstränge nicht nur auf’s innigste in die Bildung dieser Ganglien eingehen, son - dern in ihnen selbst (der grauen Rinde) entspringen würden. Es würde nach dieser Betrachtungsweise das grosse Gehirn ein enormes14Kleines und grosses Gehirn.verschmolzenes Ganglion des N. opticus und olfactorius, das kleine Gehirn ein ebensolches für den N. acusticus (und quintus) darstellen. Man kann diese Bezeichnung Ganglion gelten lassen; eine nähere Bestimmung desselben wird eben dahin führen, dass beide Gehirne die innere Ausbreitung eines centralen, zum Theil eigenen Nervensystems bilden, in welchen die unmittelbare Fortsetzung der Rückenmarkstränge mit neuen Massen grauer Substanz, mit neuen,[weissen] Fasersystemen, worunter namentlich die centralen Ausbreitun - gen der Sinnesnerven, aufs innigste combinirt sind, welch letzteres Verhältniss seine physiologische Bedeutung in dem grossen und wich - tigen Antheile findet, den die centrale Sinnesthätigkeit an fast allen unsern psychischen Thätigkeiten nimmt.

§. 10.

So sind im kleinen Gehirn Fortsätze aller drei Stränge in dem innigen, kaum trennbaren Convolut von Markplatten enthalten, welche den Kern des Cerebellum und dessen nächste Hüllen bilden, und dieser Kern selbst ist (nach Foville) umgeben mit einer mem - branösen Ausbreitung von Nervensubstanz, welche die Innenfläche der grauen Rinde austapezirt und von Fortsätzen des N. acusticus und quintus gebildet wird. Beide Nerven sollen auch noch Fortsätze in die Faserlagen des Kerns selbst schicken, welche im Innern von der grauen, gefranzten Membran des corpus rhomboideum aus - gefüttert werden.

Im grossen Gehirn sind gleichfalls Fortsetzungen aller drei Stränge so zusammengruppirt, dass die Vorder-Seitenparthieen, nach aussen strahlend, von den erwähnten successiven ringartigen Bildun - gen umfasst werden und am Ende auf der Höhe, in der Mitte der Windungen in die graue Gehirnrinde eindringen (dort entspringen?). Diese graue Rinde zeigt einen geschichteten Bau*)Vgl. Baillarger, recherches sur la couche corticale. Mém. de l’Acad. de Méd. VIII. 1840. p. 172 seqq. Remak, in Müller’s Archiv, 1841.; vier bis sechs Lamellen grauer und weisser Substanz wechseln mit einander ab und zahlreiche, theils verticale, theils horizontal gelagerte, weisse Pri - mitivfasern, vielfach unter sich gekreuzt, helfen sie constituiren, deren äusserste Lage mit der Oberfläche der Ventrikel continuirt. Die pathologische Anatomie wird uns zeigen, dass die oberflächlichste Schichte der grauen Rinde der grossen Hemisphären bei Irren sehr häufig krankhaft verändert ist, dass eine bedeutende Decomposition15Einiges über Untersuchung des Gehirns.ihrer tieferen Schichten ein gewöhnlicher Befund bei solchen Kran - ken ist, bei denen der Willenseinfluss auf die Muskeln gleichmässig geschwächt war, und dass die Ventrikeloberfläche, namentlich im untern und hintern Horn der Seitenhöhle, an diesen Erkrankungen nicht selten Theil nimmt.

Die beiden Nerven des grossen Gehirns, des Opticus und Olfac - torius communiciren mit den Oberflächen der Ventrikel und sind durch ihre Wurzelausbreitungen mit fast allen Fundamentaltheilen des gros - sen Gehirns verbunden. Diese Sinnesnerven setzen sich auch mehr - fach sowohl mit grauer, als weisser Substanz ins Innere fort, wie die sensitiven Rückenmarksnerven sich bei ihrem Eintritte sowohl zur grauen als weissen Substanz begeben.

Wie die blinde Endigung der Ventrikel, das Infundibulum, nach unten zu einen besonderen, nicht näher zu deutenden Anhang, die Hypophysis hat, so findet sich an der schwachen, blinden Ausbuch - tung der Ventricularhöhle, welche die Unterfläche der Corpora quadri - gemina bildet, nach oben zu ein ähnlicher Anhang, die Zirbel. Ihre gegenseitige Analogie wird erhöht durch die beachtenswerthe Aehn - lichkeit, welche die Configuration der beiderseitigen Umgebung, dort in der Corpp. mamillar, hier in den Corpp. quadrigemin zeigt; wäh - rend aber jene, die Hypophysis, nur mit der grauen Substanz in Ver - bindung steht, communicirt diese, die Zirbel, nur mit der weissen Substanz.

§. 11.

Bei der Untersuchung des Gehirns an der Leiche Geisteskran - ker muss man zuerst den Zustand der Hüllen genau beachten. Am Schädel muss man nicht nur einzelne Form-Abweichungen, welche sich leicht abschätzen lassen (auffallende Schiefheit, scoliotische Krümmung, locale Vorwölbungen oder Einsenkungen etc.), sondern auch Messungen der einzelnen Durchmesser angeben; man muss die Dicke und Textur der Kopfknochen, und den Grad der Verwach - sung der Suturen, welche bei jungen Individuen etwas Krankhaftes ist, berücksichtigen. An der innern Schädelfläche verdienen beson - ders etwaige Osteophyte und scharfe Knochenvorsprünge Beachtung, und es müssen die zum Durchtritt der grossen Gefässe bestimmten Löcher, so wie die grösseren Venen und die Arterien selbst in Be - zug auf Enge, Erweiterung oder Entartung speciell untersucht wer - den. Der Grad der Füllung der Sinus und die Beschaffenheit des in ihnen enthaltenen Bluts ist anzugeben. Bei Beurtheilung des16Ueber Untersuchung des Gehirns.Blutgehalts sämtlicher Gehirnhäute (und des Gehirns selbst) ist immer der Blutgehalt des ganzen übrigen Körpers mit in Rechnung zu nehmen, indem auch eine beträchtliche Blutmenge im Schädel bei grösserem allgemeinem Blutreichthum weit geringer anzuschla - gen ist, als bei entgegengesetztem, anämischem Zustande. Im gesunden Gehirne sind die zarten Häute dünn und durchsichtig; längs des Sinus longitudinalis und der grossen Gefässe ist zwar eine Trübung bei Erwachsenen und alten Individuen von keiner Bedeu - tung, in der Jugend dagegen sehr wichtig, indem sie auf vorausge - gangene längere Hyperämieen schliessen lässt. Dasselbe gilt von den Pacchionischen Granulationen, dasselbe in vieler Hinsicht auch von dem Serum-Gehalt der Schädelhöhle, indem auch dieser bei Greisen durchschnittlich beträchtlicher ist. Die Gehirnhäute lassen sich beim gesunden, frisch aus dem Schädel genommenen Gehirne leicht ab - lösen, ohne, ausser ganz dünnen, vereinzelten Flocken, etwas von der Gehirn-Oberfläche mitzunehmen. Das entgegengesetzte Verhalten ist pathologisch. Die Windungen müssen dicht aneinander anliegen und ihre Oberfläche muss eben, egal sein; das Gegentheil, eine unebene, höckrige, grubige Oberfläche deutet auf Atrophie einzelner Windungen, welche bei Greisen gleichfalls weniger zu bedeuten hat, als in der Jugend. Die ganze graue Substanz muss, wenn das Gehirn gesund sein soll, lebhaft von der weissen abstechen; übrigens darf die innere Schicht der grauen Substanz wohl etwas heller sein, als die mehr äusseren Schichten. Die weisse Substanz muss fester sein als die graue; einzelne Theile, wie Pons und Medulla oblongata, übertreffen schon im Normalzustande die übrige weisse Masse an Festigkeit. Ausserdem aber muss die Consistenz überall eine gleichförmige sein, und partielle Härten und Erweichungen sind von grösserer Bedeutung, als der Consistenzgrad, die Härte oder Weichheit des Gehirns im Ganzen. Immer muss das Gehirn auch genau gewogen werden, und zwar nicht nur im Ganzen, sondern man erwartet auch eine besondere Wägung des kleinen Gehirns (mit anhängender Pons und Medulla oblongata), um es mit dem Gewichte des grossen Gehirns vergleichen zu können. Es hat ausserdem Vortheile, auch Messungen der Dicke einzelner Hauptwindungen und namentlich Messungen der grauen Substanz an verschiedenen Stellen der Windungen anzugeben. Was sonst zu berücksichtigen wäre, ist entweder allgemein bekannt oder wird es im 4ten Buche besprochen.

17

Dritter Abschnitt. Physio-pathologische Vorbemerkungen über das Seelenleben.

§. 12.

Das centrale Nervensystem, das sich in den Hemisphären aus - breitet, ist ein doppeltseitiges, wie das peripherische; wir denken indessen nicht doppelt mit unsern beiden Hemisphären, so wenig wir doppelt sehen mit beiden Augen. Für den einen, wie für den andern Vorgang wird man die mittleren, einfachen Theile des Ge - hirns in der Erklärung zu Hülfe nehmen müssen. So viel indessen ist sicher, dass Verletzungen und Desorganisationen beider Gehirn - hälften, auch wenn sie verhältnissmässig unbedeutender sind, als ein - seitige Erkrankungen, viel bedeutendere und allgemeinere Symptome, namentlich psychischer Art, erregen. Da, wo man bei Geisteskranken anatomische Veränderungen des Gehirns findet, sind solche, wenn gleich oft an sich unbedeutend, doch beinahe immer doppeltseitig und meist ziemlich ausgebreitet (z. B. die Hyperämieen).

In einem einzigen Falle ganz frischer Erkrankung (Schwermuth; Ideen von Verfolgung; Selbstmordversuch; ein Bruder blödsinnig) haben wir von dem Kran - ken, der noch gut über seinen Zustand Rechenschaft gab, die Aeusserung gehört, er fühle sehr wohl, dass er nur auf Einer Seite des Kopfs, der rechten, ver - wirrt sei. Aehnliche Fälle aus der Literatur finden sich bei Friedreich, Allg. Pathologie der psychischen Krankheiten. Erlangen 1839. p. 61. Wir sind nicht geneigt, ihnen eine grosse Bedeutung beizulegen.

§. 13.

Im Rückenmarke ist es sicher, dass die graue Substanz die - jenigen Thätigkeiten vermittelt, welche zwischen der centripetalen (sensitiven) Zuleitung und der centrifugalen (motorischen) Ableitung in der Mitte stehen, nämlich die eigentliche Aufnahme der Eindrücke und die Vermittlung ihrer gegenseitigen Wirkungen auf einander (z. B. Reflexaction). Die Analogie könnte darauf führen, der grauen Ge - hirnsubstanz ähnliche Functionen zuzutheilen, nämlich die Umarbeitung der durch die weissen Fasern zugeleiteten Zustände, die Verbindung und das Ineinanderwirken der Eindrücke, und daraus hervorgehend die Entstehung motorischer Impulse. Namentlich die graue Rinde der Hemisphären, deren sehr bedeutende Oberfläche einen Haupt - vorzug des menschlichen Gehirns ausmacht und die man bei Geistes - krankheiten nicht selten verändert findet, ist von einzelnen Forschern für den Sitz der Intelligenz und des Willens erklärt worden. Griesinger, psych. Krankhtn. 218Die psychischen Thätigkeiten.Allein die Intelligenz ist ein Resultat mehrfaher und sehr complicirter Acte, bei denen Leitungsprocesse, wie man sie der Analogie nach den weissen Fasern zuschreibt, kaum entbehrt werden mögen, und wenn wir auch in dem Wollen einen, der Reflexaction ganz ähnlichen Process erkennen, so ist die Leitung der Willensimpulse zu den mo - torischen Rückenmarkssträngen immer auch noch ein psychischer Pro - cess. Dazu kommt, dass die Ventrikelwandungen offenbar gleichfalls von der grössten Bedeutung für die Geistesthätigkeiten sind, wie diess die Beobachtungen bei zu starker Ansammlung und veränderter Beschaffenheit des Cerebrospinalfluidums, bei oberflächlicher Mace - ration jener Wandungen immer ist hier tiefer Blödsinn, ein so - poröser Zustand etc. vorhanden und mehrfache pathalog. ana - tomische Beobachtungen bei Irren*)S. das Capitel von der patholog. Anatomie. zeigen. Wenn wir desshalb die geistigen Processe nicht ausschliesslich auf die graue Gehirnsubstanz beschränken dürfen, so erscheint es dagegen sehr wahrscheinlich, dass sämtliche freie Oberflächen des grossen Gehirns, die der Rindensubstanz sowohl als die Ventrikelwandungen, in einer ganz besonders nahen Beziehung zu den geistigen Processen stehen, dass deren normales Vonstattengehen an die Integrität dieser Oberflächen geknüpft ist und dass es durchschnittlich Erkrankungen dieser Ober - flächen sind, welche den Symptomencomplex des Irreseins geben. Wo dagegen, etwas tiefer im Innern der Gehirnsubstanz, Desorgani - sationen sich finden, da pflegen motorische Störungen selten zu fehlen, und solche gesellen sich ganz gewöhnlich zu den Geistes - krankheiten, wenn sich die Läsion von der Oberfläche der Ventrikel oder der Rinde etwas mehr in die Tiefe ausdehnt. Wir haben aber (§. 11.) gesehen, dass die freien Oberflächen des grossen Gehirns einen nahen Connex mit den Hintersträngen und deren Anlagerungen zeigen, dass dagegen die Fortsetzungen der Vorderseitenstränge die Oberflächen nirgends zu erreichen scheinen, wenn sie gleich sich überall von unten her denselben nähern.

§. 14.

Das psychische Leben des Menschen, wie der Thiere, fängt in den Sinnorganen an, und der stete Fluss, als den wir es wahrneh - men, tritt in den Bewegungsorganen wieder nach aussen. Dem Uebergange der sensitiven Erregung auf die motorische liegt das Schema der Reflexaction, mit oder ohne sensitive Perception, zu19Das Vorstellen.Grunde. Einfache Formen dieser psychischen Einnahme und Ausgabe sind in verschiedenen Höhen der Ausbildung bei den Thieren und beim Kinde zu beobachten. Hier sehen wir das wenig vermittelte, durch stärkere und klarere Vorstellungen wenig beherrschte Umschla - gen der sensitiven Eindrücke in motorische Erregungen in dem Triebe zu lebhafter Beweglichkeit, in dem unmittelbaren Heraussagen und Heraushandeln nach den momentanen, sinnlichen Empfindungsmotiven. Zwischen diese beiden Grundacte des psychischen Lebens aber schiebt sich, von der Empfindung angeregt, immer mehr etwas Anderes, Drittes ein, das zwar Aehnlichkeit mit der Empfindung und die näch - sten Beziehungen zu ihr hat, aber nicht mehr sie selbst ist. Es bildet sich gleichsam ein Seitengebiet, das zwischen Empfinden und motorischem Impuls in die Mitte tritt, und indem es wächst, an Reichthum und Ausdehnung zunimmt, wird es allmählich zu einem starken, in sich selbst vielfach gegliederten Centrum, welches das Empfinden und Bewegen in vielen Beziehungen beherrscht und inner - halb dessen das ganze geistige Leben des Menschen spielt. Dieses Gebiet ist das des Vorstellens.

Alles geistige Geschehen geschieht innerhalb des Vorstellens; dieses ist die eigentliche Energie des Seelenorgans, und alle die verschiedenen geistigen Thatsachen, die man früher zum Theil als ver - schiedene Vermögen bezeichnet hat (Phantasiren, Wollen, Gemüths - bewegungen etc.), sind nur verschiedene Beziehungen des Vorstellens auf die Empfindung und Bewegung oder Resultate von Conflicten der Vorstellungen unter sich selbst.

Was das Vorstellen eigentlich sei, weiss Niemand; aber die For - men seines Vonstattengehens sind der Beobachtung zugänglich, und der Ort, wo vorgestellt wird, ist nicht unbekannt. Alles scheint dafür zu sprechen, dass es, wenigstens das recht klare, deutliche Vorstellen, Sache des grossen Gehirns ist.

Wir haben das ganze Gehirn kennen gelernt als zwei Ganglien über den Sinnesnerven, in denen sich die centralen Ausbreitungen dieser mit neuer Nervensubstanz verbinden. Wir finden nun, dem entsprechend, bei der Analyse des Vorstellens als ein vor allem wichtiges Verhältniss das stete Zusammen - und Ineinanderwirken der geistigen Thätigkeit mit der centralen Sinnesthätigkeit. Nicht nur wird das Vorstellen durch die Sinneseindrücke beständig geweckt, erregt und unterhalten, nicht nur wird sehr häufig umgekehrt die Sinnesthätigkeit vom Vorstellen synergisch in Anspruch genommen und erregt (Hallucinationen, Illusionen, Phantasie), sondern alles unser2*20Das Vorstellen und die Empfindung.Vorstellen, wenn es nur etwas deutlich sein soll, muss beständig begleitet sein von etwas der Sinnesthätigkeit Angehörendem, von ab - geblassten und leisen Sinnesbildern. Das deutlichste und klarste Vorstellen ist dasjenige, welches mit Beihülfe des Gesichtssinns ge - schieht, in welches Gesichtsbilder wesentlich mit eingehen, von dem auch die Vermuthung am nächsten liegt, dass es dem Ganglion des N. opticus, dem grossen Gehirn, angehöre (beim Vorstellen der Thiere, wo sich der Geruchsnerv in sehr starken Ausbreitungen auf der Ven - trikularwandung verbreitet, mögen wohl Geruchsbilder eine sehr grosse Rolle spielen). Dagegen ist das Vorstellen in blossen Klangbildern (z. B. das musikalische Vorstellen) ein durchaus vages, unbestimmtes und unaussprechliches, und merkwürdigerweise haben wir auch für jenes Vorstellen, das nur in Gesammteindrücken aus vielen ähnlichen Gegenständen besteht, worin das concrete Einzelne verwischt ist und für die es daher niemals eine erschöpfend adäquate Anschauung geben kann, nämlich für das begriffliche Vorstellen, kein anderes Mittel des Ausdrucks, als wieder Klangbilder, die Worte.

Die Sprache ist ein viel zu complicirter Process, um sich an einzelnen Orten des Gehirns localisiren zu lassen. Einzelne Theile am untern Anfang des Ge - hirns, die Oberfläche des vierten Ventrikels, die beim Menschen vollkommener als bei allen Thieren entwickelten Oliven mögen wohl in naher Beziehung zum Ausdruck der Vorstellungen und zur Articulation stehen; jedenfalls aber sind noch andere Theile, und namentlich die vordere Parthie der Hemisphären, für die Sprache sehr wichtig.

Was das kleine Gehirn betrifft, so spricht vieles für eine nähere Beziehung desselben zu den Affecten, namentlich zu den schmerzlichen, deprimirenden. Das Weinen und die Schamröthe scheinen direct von Zuständen des N. Quintus ab - zuhängen; die Erregung des N. Acusticus durch Musik setzt kein klares Vor - stellen, sondern nur lebhaftere oder leisere affectartige Zustände. Die Genitalien - krankheiten, schon die Menstruation, erregen ganz gewöhnlich psychische Ver - stimmung, und andrerseits werden durch Angst, Schrecken, Mitleid in den Geni - talien, der Blase, dem Mastdarm, lauter Organen, die in einem experimental nachweisbaren Verhältnisse zum Cerebellum stehen, Empfindungen und Bewegungen hervorgerufen. *)S. hierüber die mehrfachen Arbeiten von Budge.

§. 15.

Eine Vergleichung des geistigen Geschehens innerhalb des Vor - stellens mit dem Geschehen innerhalb der sinnlichen Empfindung zeigt uns viele wichtige Aehnlichkeiten und wieder einzelne Differenzen in beiden Prozessen, die der Beachtung werth und von ergiebigen Consequenzen für das Verständniss des Irreseins sind.

21Die Phantasie.

1) Zuvörderst mag an die Gleichheit der allgemeinen Verhältnisse von Reizung und Reizbarkeit im Vorstellen wie im sinnlichen Empfinden erinnert werden. Vollkommene Ruhe findet sich bei bei - den nur im tiefsten Schlafe; die gewöhnliche Ruhe, die z. B. im Gesichtssinn als Dunkelheit, im Vorstellen als Leerheit erscheint, ist selbst noch Thätigkeit, ein Innewerden jenes dunkeln Gesichtsfelds, dieses leeren Vorstellungsraums. Die eigentliche Affection des Vor - stellenden aber, das, was in der Sinnesempfindung die Farbe, der Ton, der Geruch etc. ist, ist das jedesmal wirkliche, d. h. das be - wusste Vorstellen. Wie es nun im Sehen, Hören etc. unendlich viele gradweise Unterschiede der Stärke und Deutlichkeit gibt, so gibt es auch in diesem Bewusst-sein des Vorstellens ebenso mannig - faltige Grade, die als verschiedene Stärke, Deutlichkeit, Klarheit der Vorstellungen erscheinen.

2) Zur Entwicklung und zum normalen Fortgang des Vorstellens wie der Sinnesempfindung ist eine stete, mässige, adäquate Reizung von aussen nothwendig. In den Sinnesthätigkeiten geschieht diese Reizung durch wirkliche äussere Erregung und das Geschehen im sensitiven Nervensysteme wird in der sogenannten excentrischen Erscheinung auch wieder nach den Orten der gewohnten periphe - rischen Ansprache hinaus verlegt, projicirt. Das Vorstellen dagegen erhält die Reizungen, durch die es erregt wird und die zu seiner steten Thätigkeit unentbehrlich sind, niemals unmittelbar von der Aussen - welt, sondern immer durch die Sinnesempfindungen. Es zeigt sich nun im Vorstellen eine ähnliche excentrische Erscheinung, eine ähn - liche Projection, wie beim Empfinden, aber hier nicht nach der Aus - senfläche oder ausserhalb des Organismus wir sind uns vielmehr des Vorstellens immer als eines Vorgangs in unserm Kopfe bewusst , sondern auch hier eben in das Gebiet, von dem aus die Anregung gewöhnlich geschieht, in das der Sinnesempfindung. Diese excen - trische Projection der Vorstellungen scheint es eben zu sein, auf welcher die Nothwendigkeit eines steten Eingehens sinnlicher Bilder in dasselbe beruht. Durch sie wird jenes leise, schwache Mithalluciniren im centralen Sinnorgane bewerkstelligt, das alles Vor - stellen begleitet, von dem es eben jenen, für seine Klarheit und Lebendigkeit so unentbehrlichen, dem einen Menschen karger, dem andern reichlicher zugemessenen sinnlichen Schatz von Farbe, Bild und Klang mitbekommt. So gibt sie die Grundlage aller der psychi - schen Phänomene ab, die man der Phantasie zutheilt, namentlich auch jener Vorgänge, wo nicht mehr ein leises und blasses, sondern22Das Vorstellen und die Empfindung.ein höchst deutliches, der objectiven Sinneswahrnehmung in allen Be - ziehungen gleiches, und wie diese völlig nach aussen verlegtes Thä - tigsein der Sinnorgane geweckt wird nämlich der eigentlichen Hallucinationen. (S. §. 47.)

3) Ein Uebermass einwirkender Reize hat in beiden Gebieten dieselben Folgen. Ein heftiger, plötzlicher Lichteindruck, ein sehr starker Schall oder Geruch (z. B. Ammoniakgeruch) gibt eine sehr intensive, massenhafte Empfindung mit einer blitzartigen Erschütterung des Sinnes. Seine unmittelbare Lähmung kann die Folge sein, wie man diess in einzelnen Fällen beim Gesichts - und Gehörsinn, beim Hautsinn,*)Einen merkwürdigen Fall von Hautanästhesie nach starkem Temperatur - wechsel s. im 3ten Band der Med. Chirurg. Transactions. in einem seltenen, von Graves erzählten Falle auch beim Geruchsinn**)Archives générales. 1834. II. 6. beobachtet hat. Kommt es aber auch nicht zur Lähmung, so bleibt jedenfalls die Empfänglichkeit der Sinnesnerven für alle andern schwächern Eindrücke auf einige Zeit vermindert und auch noch nach erloschener Ursache dauert die angeregte Sinnes - empfindung eine Zeit lang fort (Fortdauer des Sonnenbilds im Auge, während man vom Sehen in die Sonne geblendet ist, Fortbrummen des Kanonenschusses im Ohr etc.). So auch im Vorstellen. Im Menschen werde durch einen starken Eindruck eine gewaltige Vor - stellungsmasse gewisser Art plötzlich erregt, so kann auch hier die Erschütterung in ihrer ersten Stärke schon Lähmung zur Folge haben (die Fälle von schnellem Tod vom Gehirne aus durch heftige psy - chische Einwirkungen); wenn aber auch nicht, so wird jedenfalls noch lange, nachdem der Eindruck vorüber ist, der betreffende Vorstel - lungscomplex fast die Alleinherrschaft im Bewusstsein haben und für alles übrige Vorstellen bleibt auf geraume Zeit die Empfänglichkeit bedeutend verringert. Schon auf diese Weise können erschütternde Lebensereignisse die Seele veröden und verarmen.

§. 16.

4) Vorstellungen und Sinnesthätigkeiten auch hier sind die Verhältnisse wieder am deutlichsten im Gesichtssinn können indes - sen nicht unbestimmte Zeit lang ganz in derselben Weise andauern; es ist vielmehr, als ob das Vorstellende oder Empfindende von dem - selben Acte bald ermüdet würde, immer ein gewisser Wechsel nothwendig. Wo zu solchem von aussen kein Anlass geboten ist,23Ideenassociation und Gedächtniss.da wird, rein subjectiv, ein neues Empfinden oder Vorstellen, von dem ersten hervorgerufen. Das einfachste derartige Phänomen auf sensitivem Gebiete ist das der sog. complementären Farben und sub - jectiven Contrastfarben (das Auftreten von Blau durch gesehenes Orange, von Violett durch Grün etc.). Im Vorstellen geht dieser Process nach denselben, in ihrem tieferem Grunde sehr dunkeln Be - ziehungen des Contrastes und der Aehnlichkeit vor sich. Sobald eine Vorstellung eine gewisse Zeit gedauert hat, ruft sie eine andere, ihr ähnliche oder mit ihr contrastirende herauf, womit dann entweder ganz neue Vorstellungsreihen beginnen oder zu der ersten Vorstel - lung, welche die herrschende bleibt, zurückgekehrt werden kann.

Sehr auffallend ist diess z. B. an den Erfahrungen, wo mitten unter äusser - lich motivirten traurigen Vorstellungen andere ganz entgegengesetzte, sehr lächer - liche, plötzlich auftreten. Die Thatsache der subjectiven Entstehung der Vor - stellungen ist übrigens eine der allerallgemeinsten im geistigen Leben; aus den Beobachtungen hierüber sind die sog. Gesetze der Ideenassiociation zu ab - strahiren. Die Vorstellungen rufen einander sowohl nach ihrem begrifflichen In - halt, als nach der Aehnlichkeit der in sie eingegangenen Sinnesbilder (Gesichts - bilder, Klangbilder, Worte) hervor; das letztere sieht man zuweilen bei Geistes - kranken, namentlich Maniacis, in auffallendster Weise, indem lange Reihen ähn - lich klingender Worte, ohne Sinn oder nur durch den lockersten Sinn verknüpft, mit grosser Raschheit gefunden und hergesagt werden.

Auch in andern Sinnen, als im Gesichtssinn, namentlich im Hautsinn, machen wir, doch mehr in pathologischen Zuständen, die Erfahrung, dass durch eine Em - pfindung, z. B. einen Schmerz an einer gewissen Stelle, ähnliche Empfindungen, Kitzel, Schmerz etc. anderer Stellen geweckt werden, und dass solche Mitempfin - dungen die Neigung annehmen, jene ersten Empfindungen stets zu begleiten.

Insoferne durch die sogenannte Ideenassociation nicht neue Vor - stellungen entstehen, sondern nur aus dem Schatze des früher da - gewesenen Vorstellens Einzelnes geweckt und reproducirt wird, nennt man diesen Process das Gedächtniss. Der nähere Hergang dieser Reproductionsprocesse ist häufig ganz unfassbar und dunkel; alte Vor - stellungen tauchen plötzlich auf, ohne dass sich irgend ein Ursprung aus dem eben vorhergegangenen Vorstellen finden lässt, wie jene Reproductionen von Sinnesbildern, die Henle unter der Rubrik des Gedächtnisses in den Sinnen beschrieb, plötzlich, unmotivirt im Ge - sichtsfelde wieder auftreten.

Da auf dieser centralen Reproduction des Vorstellens alle feineren geistigen Combinationsprocesse beruhen, so leidet der Verstand bei jeder, etwas bedeuten - deren Schwächung des Gedächtnisses, grosse Noth. Bei vielen Geisteskranken, namentlich Blödsinnigen, hat die Unmöglichkeit des richtigen Urtheilens und Schliessens seinen Grund in dem Erlöschen des Gedächtnisses. Die Vorstellungen werden um so leichter behalten und reproducirt, je stärker und lebhafter sie24Das Vorstellen und die Empfindung.anfangs auftraten, je gesunder und activer das Gehirn ist. Alle möglichen Gehirn - krankheiten können das Gedächtniss stören oder aufheben, und die Beschaffenheit des letzteren gibt daher bei vielen Irren den Massstab für die Schwere ihrer Gehirnerkrankung.

§. 17.

5) Zunächst hieran schliesst sich das Verhältniss, dass im Organ des Vorstellens wie im Sinnorgan die eigenthümliche Energie nicht nur durch die normalen äusseren Reize, sondern auch durch innere Reize, anderer Art als das Vorstellen und Empfinden selbst, na - mentlich durch krankhafte Reize geweckt werden kann. Die Ent - zündung der Chorioidea hat eine Irritation der Retina zur Folge, welche sich im Auftreten subjectiver Lichtempfindungen, farbiger Sonnen, Blitze etc. kund gibt; ebenso können subjective Ton -, Ge - ruchs -, Geschmacksempfindungen, im Hautsinn Kälte, Brennen, For - mication etc. durch alle inadäquaten Reize auf den sensitiven Nerv oder sein Centrum hervorgerufen werden. In derselben Weise äus - sert sich die Irritation des Gehirns durch innere, organische Reize in neuen, krankhaften Vorstellungsphänomenen. Wie die Entzündung der Gefässhaut des Auges anomale Lichterscheinungen, so erzeugen die Krankheiten der Gefässhaut des Gehirns, der Pia, welche die freien Oberflächen so innig überzieht und noch in sie eindringt, ihre Hyperä - mieen und Exsudationsprocesse, auch ein anomales (delirirendes) Vor - stellen, neue, von innen heraus entstandene Seelenzustände (Gemüths - bewegungen, Urtheile etc.), was natürlich in noch viel höherem Masse bei Erkrankungen jener Gehirnsubstanz selbst stattfindet. Aber nicht nur diese gröberen, offen zu Tage liegenden Erkrankungen erzeu - gen ein solches anomales Vorstellen; die Gehirnirritation kann offen - bar auch durch Mittheilung der Nervenzustände aus inneren, ent - fernteren Organen, z. B. dem Herzen, dem Darm, den Genitalien entstehen. Eine nahe Beziehung der Nerven der Eingeweide zum grossen und kleinen Gehirn ist experimentell nachgewiesen (Valentin, Budge), und wie noch innerhalb der physiologischen Gesundheits - breite die Zustände der Eingeweide von wesentlichem Einfluss auf die Stimmung im Ganzen und auf das Auftreten bestimmter Arten von Vorstellungen sind (am auffallendsten an den Genitalien bemerk - bar), so werden durch krankhafte Nervenerregungen, die in jenen Organen ihren Ursprung haben, häufig genug krankhafte Seelenzustände gesetzt, die oft mit der Hebung des peripherischen Reizes wieder verschwinden, anderemale aber, einmal entstanden, selbständig fort - dauern.

25Psychischer Schmerz und Lust.

Es kann hier schon erwähnt werden, dass im gesunden, wie im kranken Leben durch solche organische Erregungen anfangs gewöhnlich nicht gleich neue, klare und deutliche Vorstellungen veranlasst werden, sondern zuerst jene dunkeln, unbestimmteren Modificationen im Vorstellen, die man Gemüthsbewegungen nennt. Namentlich die Schnelligkeit im Ablaufe der Vorstellungen und der Modus ihres Ineinandergreifens wird abgeändert durch diese Eindrücke aus dem Organismus, der sich in den Wechsel der Gefühle und Gedanken bald wie das Schwungrad einmischt, das die empfangene Bewegung verlängert, bald wie eine träge Last, die sie verzögert oder gar unmöglich macht. Lotze hat diese Art organischer Psychagogie sehr richtig bezeichnet. Die Weiterentwicklung des Organismus, sagt er, wirkt auf die Seele weit weniger mittelst der Ausbildung bestimmter Vorstellungen, als vielmehr durch die Hervorbringung gewisser stehender Ge - müthsstimmungen oder gewisser Eigenthümlichkeiten der Gedankenbewegung, die dann als unaussprechbare Obersätze den Lebensansichten und Entschlüssen zu Grunde liegen. Die im Einzelnen geringen und dunkeln, in ihrer Summation aber bedeutenden und einflussreichen Sensationen aus den Organen des Körpers machen sich in der Seele geltend und diese an sich gestaltlose Gemüthsrichtung kann doch der Grund sein, welcher die übrigen Kräfte des Geistes auf einen Kreis ihr adäquater, bestimmter Vorstellungen lenkt. *)Art. Instinkt in Wagners physiolog. Wörterbuch. II. p. 206.Aus diesen Stimmungen heraus entwickeln sich eben, von den Umständen unterstützt, einzelne bestimmte Vorstellungen.

Wir werden dasselbe beim Irresein finden; wir werden sehen, wie fast seine ganze Pathogenie darin besteht, dass aus inneren organischen Ursachen psychi - sche Verstimmungen entstehen, und wie erst später aus diesen einzelne, der neuen Stimmung angemessene, irre Vorstellungen, auf deren speciellen Inhalt dann die mannigfaltigsten Umstände Einfluss haben, hervortreten.

§. 18.

6) Das Vorstellen, wie das Empfinden, kann von Schmerz oder Lust begleitet sein; diese Vorgänge zeigen auf beiden Gebieten die grösste Analogie, die um so beachtenswerther ist, da der psychische Schmerz unter die wichtigsten Fundamentalzustände des Irreseins gehört.

In der Empfindung sowohl als im Vorstellen ist das Wesen des Schmerzes und der Lust eine Art dunkeln Urtheils, einerseits über die Förderung, andererseits über die[Beschränkung] und Beeinträchtigung des Ich.**)Ein Urtheil, in dem nur das Vorgestellte sich noch nicht von dem Prä - dicate, das Beifall oder Tadel ausdrückt, sondern lässt. Herbart. Es kann sich dieses Urtheil an ein gerade gegebenes einzelnes Empfinden oder Vorstellen, das dann eben als ein schmerz - haftes empfunden wird, knüpfen; es gibt aber auch in der Empfin - dung, wie im Vorstellen, viel allgemeinere, vagere Zustände von Unbehaglichkeit, wo jenes dunkle Urtheil nicht ein gewisses einzelnes26Das Vorstellen und die Empfindung.Empfinden oder Vorstellen, sondern nur den Stand der Dinge im Empfinden und Vorstellen im Allgemeinen trifft. So die körperlichen Zustände von allgemeiner Unbehaglichkeit, körperlicher Schwere etc. ohne localisirten Schmerz, so im Vorstellen die objectlosen Gefühle der Beklemmung, der Angst etc., aus denen sich übrigens bei län - gerer Dauer auch wieder einzelne adäquate, schmerzliche Vorstellun - gen heraus entwickeln.

Psychischer Schmerz kann durch Alles erregt werden, was den normalen Ablauf und das normale Ineinandergreifen der Vorstellungen, die das Ich repräsentiren (s. §. 25.), stört und damit die Freiheit des Ich beschränkt. Ein Uebermass psychischer Reize, das ein un - geordnetes Gedränge neuer auftretender Vorstellungen weckt, wie eine allzu grosse Entbehrung derselben (Langeweile, geistige Unem - pfänglichkeit) kann unangenehme Gefühle erwecken, wie im sensitiven Nervensystem der Schmerz sowohl durch starke Reize und tumultuari - sche Eingriffe, als durch Entziehung der gewohnten Reize (Kälte, Hunger) entstehen kann.

Ob die Störung des normalen Vorstellungsverlaufs insoweit percipirt wird, dass aus ihr psychischer Schmerz entsteht, ist schon nach der Individualität sehr verschieden; eine feinere, beweglichere, geistige Organisation kann da schon grosse Un - lust empfinden, wo der stumpfere Kopf durchaus unberührt bleibt, z. B. wenn es nicht gelingen will, die Gründe einer Thatsache zu begreifen, ein vorliegendes Problem zu lösen. Namentlich viel aber kommt auf den momentanen Reizzustand des Vorstellungsorgans an, ob das Vorstellen von Schmerz begleitet wird, oder nicht. Die glei - chen Dinge machen zu verschiedenen Zeiten sehr verschiedene Ein - drücke, andere, wenn wir ein Glas Wein getrunken haben, wenn wir aus der Oper nach Hause gekommen sind, wenn uns kurz zuvor etwas Unangenehmes begegnet ist etc. Wie der im neuralgischen Irritationszustande befindliche Nerv auf die äussere Berührung ganz anders reagirt, als sonst, und schon durch den gelindesten Eindruck der Schmerz in ihm geweckt wird, so gibt es Gehirnzustände, wo jeder psychische Reiz auch einen psychischen Schmerz erweckt und wo alles Vorstellen schmerzhaft geworden ist. Der jeweilige Reiz - zustand des Organs ist aber ein Product aus allen früheren Reiz - zuständen in Verbindung mit den eben jetzt einwirkenden Reizen. Wo viele und tiefere psychische Schmerzzustände vorausgegangen sind sei es nun aus originärer Disposition zu solchen oder aus widrigen psychischen Eindrücken da bildet sich allmählig eine27Der psychische Schmerz.allgemeine, anhaltendere oder vorübergehendere schmerzliche Ver - stimmung: dem Unglücklichen erscheint alles düster und, wer viel Widerwärtiges erlebt, verfällt leicht in bleibende traurige, misanthro - pische Laune. Wir werden sehen, dass das Irresein sehr gewöhnlich mit einem solchen Zustande anfängt, wo der Mensch von Allem schmerzliche Eindrücke bekommt und dass diese Gemüthsbeschaffen - heit nicht selten durch unangenehme Erlebnisse vorbereitet und er - worben wird. Und es wird uns hiermit schon die Einsicht in eine wichtige psychische Prädisposition zum Irresein eröffnet, in jene Impressionabilität, jene Geneigtheit zu leichter und schneller psychi - scher Schwankung nämlich, bei welcher durch jeden psychischen Eindruck jene dunkeln Urtheile über das eigene psychische Geschehen geweckt werden, wo allmählig fast jede Vorstellung zu einer Gemüths - bewegung wird, wo eben damit das objective Auffassen bedeutend erschwert und so leicht ein hypochondrischer Subjectivismus und Egoismus gross gezogen wird.

Denn der psychische Schmerz hat, wie der körperliche, das Eigenthümliche, dass er sich immer mächtig in den Vordergrund des Bewusstseins drängt und wenig Anderes neben sich aufkommen lässt; ja seine höchsten Grade sind, wie die höchsten Grade des Sinnen - schmerzes von äusserer Anästhesie, so von völliger psychischer Un - empfänglichkeit für die normalen Reize begleitet. Die Pupille des geistigen Auges verengert sich und als sein einziges Object kommt der scharf fixirte geistige Schmerz zum Bewusstsein; wie in der Hy - perästhesie der Sinne, z. B. des Auges, dieses sich dem sonst auf - gesuchten Lichtreize entzieht und das Dunkle sucht, so entzieht sich der von psychischem Schmerz Gequälte dem geistigen Verkehr mit der Aussenwelt, weil ihm jede psychische Berührung unangenehm ist und wird in theilnahmlosem Versunkensein noch mehr in sich concentrirt. Dann ergeben sich noch andere wichtige Folgen aus dem psychischen Schmerze. Eben wegen dieser Concentration wird das übrige Vor - stellen langsamer und träger; erfinderisch in der eigenen Qual und mit ihr stets nach allen Seiten hin beschäftigt, tritt dem Menschen aus den Kreisen seiner sonstigen Interessen wenig mehr ins Bewusst - sein, sie sind momentan vergessen, und wenn er daran erinnert wird, so kann ihm die Unmöglichkeit, jetzt noch den gewohnten Antheil an ihnen zu nehmen, zum Objecte neuen Schmerzes werden. Es entwickelt sich, weil jeder psychische Eindruck unangenehm wird, eine allgemeine Stimmung der Negation und des Verabscheuens, und an die Stelle von Wohlwollen und Liebe treten die finstern Re -28Der psychische Schmerz.gungen des Misstrauens und des Hasses. Nun fordert noch das der menschlichen Seele eingeborene Causalitätsgesetz zum Aufsuchen von Ursachen für den von innen heraus entstandenen geistigen Schmerz auf; diese werden in der Aussenwelt gesucht, weil der Mensch gewohnt ist, von dort her die Anstösse zu seinen psychischen Zuständen zu bekommen; da sie aber nicht wirklich in der Aussen - welt liegen, so sind die hier sich ergebenden Vorstellungen, Urtheile und Schlüsse falsch, es sind Delirien. Dieses Aufsuchen von Gründen für die psychische Verstimmung, diese Erklärungsversuche werden wir überall als eine vorzügliche Quelle des Deliriums der Geistes - kranken kennen lernen, und wir werden sehen, dass sich diesem Forschen nach den Causalmomenten nicht nur Vorstellungen im engern Sinne, sondern durch Hereintreten der Phantasie, der centralen Er - regung der Sinnesthätigkeit durch das Vorstellen, auch die vielfachsten Hallucinationen und Illusionen zu seinen Erklärungsversuchen anbieten.

Der sensitive Schmerz beeinträchtigt immer den Tonus und die Bewegungen der Muskeln. Wir beobachten bald Scheu vor jeder Bewegung, instinktive Ruhe des leidenden Theils, bald wirklich er - schwerte Beweglichkeit, Subparalyse, bald krankhafte Bewegungen, Contracturen (tetanus) und convulsivische Erschütterungen. Auch das psychische Leben hat seine motorische Seite (S. den nächsten §. ) und diese wird vom psychischen Schmerze in derselben Weise affi - cirt. Bald ist das Streben überhaupt vermindert und gehemmt, wir finden die Kranken willen - und thatenlos, wie der sensitive Schmerz so oft von central entstandener tiefer Ermüdung begleitet ist; bald ist es in einer einzigen Richtung krampfhaft festgehalten, bald wird dieser Zustand durch rapide, aber wenig energische psychische Be - wegung unterbrochen, bald werden durch den Schmerz solche Aus - brüche eines heftigen, unzweckmässigen (convulsivischen) Strebens für die Dauer angeregt. Wie aber in der sog. Muskelempfindung das Centralorgan von dem Zustand des motorischen Nervensystems wieder Notiz nimmt, so werden auch diese Zustände der motor. Seite des psychischen Lebens wieder bewusst; die krankhafte psychische Mat - tigkeit, die Willenlosigkeit, das einseitige Festgehaltensein und die convulsivischen Erschütterungen des Strebens werden rückwärts als eine Art motorischen Schmerzes percipirt, der die Summe des vorhandenen peinlichen Zustandes noch vermehrt.

Die psychischen Schmerzzustände, Angst, Schrecken, Traurigkeit, Gram etc., mögen sie innerlich oder äusserlich motivirt sein, haben auch für den übrigen Organismus ganz dieselben Folgen, wie der sensitive Schmerz. Der Schlaf bleibt29Das Vorstellen und die Bewegung.aus, die Ernährung leidet, Abmagerung und allgemeine Erschöpfung stellen sich ein. Der psych. Schmerz wechselt zuweilen mit sensitiven Neuralgieen, mit sog. Spinalirritation; anderemale hat er solche zur Folge namentlich sehr häufig beobachtet man gleichzeitig den bei der sog. Spinalirritation so gewöhnlichen epi - gastrischen Schmerz (Vagus-affection?); anderemale ist er mit sensitiver Anästhe - sie verschiedenen Grads (geringe Empfindlichkeit für Temperatur und äusserlich erregten körperlichen Schmerz) complicirt.

Die Zustände der psychischen Lust geben durchweg die umgekehrten Resul - tate; es mag dem denkenden Leser überlassen bleiben, sich ihre Analogieen mit dem Wesen und den Folgen der angenehmen körperlichen Empfindungen selbst auszuführen. (S. auch in der Formenlehre das Capitel vom Wahnsinn und die Aufsätze des Verf. in Roser und Wunderlich, med. Vierteljahrschrift. 1843 u. 1844.)

§. 19.

Wie die eigenthümliche Thätigkeit der grossen Gehirnganglien, das Vorstellen, in der innigsten Beziehung zur Sinnesthätigkeit steht, so findet sich auch zwischen den Actionen des motorischen Nerven - systems, das seine Ursprünge auch in jenen Ganglien hat, und dem Vorstellen eine sehr enge Verknüpfung. Und diese Relation ist der - jenigen sehr ähnlich, in welcher die Sinnesempfindung zum Vor - stellen steht.

Wie nämlich aus unsere Sinnesanschauung schwache, abgeblasste Reste übrig bleiben und in unsere Vorstellungen constituirend ein - gehen (§. 14.), so lassen auch die motorische Impulse in die Muskel - thätigkeit abgeblasste Schemata zurück, welche als Bewegungs - anschauungen sich mit unserm Vorstellen mischen. Es gibt ein mittleres Gebiet zwischen dem reinen Vorstellen und zwischen dem motorischen Nervenreiz, der die Muskeln unmittelbar zur Contraction veranlasst, ein Gebiet, für das es kein gehörig bezeichnendes Wort gibt, welches aber die Impulse zu den Reihen der einzelnen Muskel - bewegungen schon in grösseren Gruppen zusammengeordnet und prä - formirt enthält. Hier sind die zweckmässigen Bewegungsimpulse in viele Muskeln, die sich zu den einzelnen Muskelbewegungen wie um - fassende Ganze, zu unsern eigentlichen Handlungen aber wieder nur wie einzelne Bruchstücke verhalten, theils nach einer im Voraus prästabilirten Harmonie, theils nach der durch Uebung und Gewohn - heit gegebenen Ordnung combinirt. Dieser complicirtere Mechanis - mus, dessen Sitz nach Experimenten und den pathologisch-anatomi - schen Thatsachen an den verschiedenen Durchgangspunkten der Fort - setzungen der Vorderstränge und der Pyramidenstränge durch graue Substanz schon in der Brücke, dann im kleinen und grossen Gehirn zu suchen ist, wird einerseits von der Masse der Empfindungsreize,30Das Vorstellen und die Bewegung.welche ihn an allen jenen Orten treffen, in Bewegung gesetzt und präsidirt dann jenen instinktiven Bewegungen und Handlungen, die dem geistigen Gebiete zum Theil ganz entzogen sind, zum Theil in verschiedenen Höhen dasselbe erreichen und damit seinen fördernden oder hemmenden Einfluss erleiden. Andrerseits aber mischen sich die Schemata dieser grösseren Bewegungsimpulse, ideale Reproduc - tionen derselben, auch in unsere geistigen Prozesse in der Weise ein, dass sie als wesentliche Bestandtheile in das einzelne Vorstellen eingehen. Damit aber nimmt das Vorstellen selbst eine motorische, auf die Muskelbewegung tendirende Richtung an, und es wird da - durch zum Streben.

Unser Vorstellen erregt unsre willkührlichen Bewegungen niemals in der Art, dass es einzelne Muskeln zur Contraction auffordert; es weiss vielmehr von diesen Muskeln gar nichts, sondern kennt nur die inneren, von früheren Be - wegungsreihen zurückgebliebenen Bilder, die, einmal zu freien Bewegungsimpulsen geworden, dann ohne weiteres Zuthun des Vorstellens die Muskeln in grösseren zweckmässig coordinirten Gruppen in Thätigkeit setzen (Gehen, Schreiben etc.). In den beschränkter localisirten Gehirnkrankheiten, den Krankheiten der Brücke, des kleinen Gehirns, der thalami, der corpp. striata etc. sehen wir gewöhnlich Störungen dieses Mechanismus, Aufhebung seines Zusammenhangs mit dem Vor - stellen, wo dann bald durch den Krankheitsreiz erregte complicirte Bewegungen (Vorwärtslaufen, Drehbewegungen etc.) unwillkührlich ausgeführt werden, bald, wegen mechanischer Trennung der Gehirnsubstanz, der Einfluss des Vorstellens diesen Mechanismus nicht mehr erreichen kann (z. B. Lähmungen einer Körper - hälfte bei Extravasaten in den corpp. striat. ); auch verschiedene Mischungen von beidem Verhalten kommen zuweilen und zwar auf ganz beschränkten Bewegungs - gebieten, z. B. dem der Sprachorgane, vor; so z. B. dass die vorgestellten Worte nicht ausgesprochen werden können, dagegen nicht vorgestellte hergesagt werden müssen.

§. 20.

Die Einmischung der Bewegungsanschauungen in unser Vorstellen ist der vermittelnde Process, durch den jede Aeusserung unsers gei - stigen Lebens hindurch muss. Dass aber dem psychischen Geschehen in uns überhaupt die Tendenz innewohnt, sich zu äussern, sich in Bewegung und Handlung darzustellen, diess beruht auf jener allge - meinsten Grundthatsache, der wir überall im Nervensystem begegnen, dass nämlich die centripetalen Erregungszustände in den Centralorga - nen in motorische Impulse umschlagen. In verschiedenen Höhen des psychischen Lebens sehen wir verschiedene Erfolge aus dieser Ein - richtung sich ergeben. Im Rückenmarke erregen die noch gar nicht percipirten centripetalen Eindrücke unzweckmässige oder halb zweck - mässige Bewegungen einzelner Muskel und Muskelgruppen (einfachste31Die Triebe.Reflexbewegungen). Alle Sinnorgane sind mit Muskelapparaten ver - sehen, deren durch den Zustand des Sinnesnerven erregte ganz un - willkührliche, aber zweckmässige Reflexbewegungen die sinnliche Per - ception begleiten und wesentlich unterstützen. Auch jener grössere Mechanismus, der die Bewegungsimpulse zu ganzen Reihen zweck - mässig combinirter Muskelcontractionen in sich enthält, dem zunächst die Bewegungen unsers ganzen Körpers im Grossen anvertraut sind, wird durch sinnliche Empfindungen nach dem einfachen Modus der Reflexaction in Bewegung gesetzt, und zwar theils unzweckmässig (z. B. Zusammenfahren nach einem heftigen Sinneseindruck), theils in zweckmässiger Weise. Bewegungen letzterer Art werden durch sinnliche Empfindungen theils von aussen her erregt, wie wir in den grösseren Tactbewegungen nach musikalischen Eindrücken, in den rasch erfolgenden sog. instinctiven Handlungen nach starken Sinnes - eindrücken (Abwenden u. dergl. ) beobachten. Theils aber auch liegen die Ursachen der sinnlichen Empfindungen, welche das Handeln er - regen, in unserem eigenen Körper. Die Empfindungen aus unserm ganzen Organismus, namentlich aber aus den Eingeweiden, aus dem Darme, den Genitalien etc. geben als sinnliche Bedürfnisse dem Han - deln bald leisere, bald impetuosere Anstösse; im Thiere herrschen sie frei, sie machen den Hauptinhalt seiner psychischen Existenz aus, sie treiben es auf weite Reisen und bestimmen alle seine grossen Bewegungsreihen. Im Menschen ist der unmittelbare Uebergang dieser Empfindungen in Bewegung dem Einwirken der Vorstellungen in höherem Masse offen gelassen und durch sie treten Pflicht und Sitte mahnend und regierend zwischen die sinnlichen Triebe. Aber es gibt Umstände, wo jene ihre Macht verlieren. Geisteskranke, bei welchen der Einfluss der Vorstellungen auf diese Triebe geschwächt ist, dagegen vielleicht die sensitiven Anstösse derselben verstärkt sind, sehen wir oft z. B. den Nahrungstrieb oder den Geschlechts - trieb mit offenster Rücksichtslosigkeit äussern; manche traurige Bei - spiele (von Schiffbrüchigen etc.) haben gezeigt, wie der Nahrungs - trieb, aufs Höchste gesteigert, die Mahnung, welche ethische und ästhetische Vorstellungen ihm entgegensetzen, trotzig überspringt, und auch ohne solche Verwilderung, für den Menschen des gesitteten Lebens, ist es ein wahres Wort, dass Hunger und Liebe die stärk - sten Motive seines Handelns sind.

Den Drang, das Bedürfniss zur Muskelbewegung, zum Handeln in Folge sol - cher aus dem Organismus selbst kommender sensitiver Anstösse begreift man unter dem Namen der (sinnlichen) Triebe; die einfachsten und verständlichsten32Die Triebe.sind der Nahrungstrieb und der Geschlechtstrieb, ganz dunkel und in ihren Ur - sprüngen unerforscht sind die Kunsttriebe vieler Thiere. Doch sind es immer, wenigstens beim Menschen, nicht allein die Empfindungen, als solche, sondern auch dunkle, mit ihnen zusammenhängende, schon von ihnen geweckte Bewegungen im Vorstellen selbst, die die Grundlage des Triebs geben, Bewegungen, die man zum Theil als Gefühle bezeichnet, bei denen aber deutliche Vorstellungen der be - treffenden Objecte ganz fehlen können.

Alle Triebe gehören beim Menschen wesentlich dem Gehirn und nicht dem peripherischen Nervensystem an. Mögen die Ausgangspunkte der betreffenden Empfindungen in den entferntesten Theilen des Organismus liegen, nirgends anders können diese Empfindungen den Mechanismus afficiren, mittelst dessen complicirte Bewegungen realisirt werden, nirgends anders kann sich ihnen jenes dunkle Vor - stellen beimischen, als im Gehirn; durch beides aber werden die Empfindungen erst zu Trieben.

Man spricht auch von geistigen Trieben, Wissenstrieb, Sammeltrieb, auch Familientrieb, Trieb der Kinderliebe etc.; man meint auch hier das Bedürf - niss zu gewissen Thätigkeiten, angeregt durch einzelne, stehend gewordene Vor - stellungsmassen, die aber nicht in ein bestimmtes, deutliches Einzel-Vorstellen auseinandergehen, sondern ungeschieden, mit der dunkeln Abstractheit des bloss Empfundenen,[das] Handeln bestimmen.

§. 21.

Durch die Triebe werden mit grösster Leichtigkeit stärkere oder schwächere, anhaltendere oder vorübergehendere Gemüthsbewegungen (S. §. 27.) gesetzt, und indem die Triebe und die von ihnen ge - weckten Gefühle sich dem Vorstellen beimischen, nimmt dieses schon ein bewegliches, nach aussen drängendes Element in sich auf, be - kommt zugleich etwas Warmes, Sinnliches, und es ergeben sich aus diesen Mischungen ganz neue Seelenzustände.

Die Verhältnisse des Verkehrs beider Geschlechter bieten hiefür ein gutes Beispiel. Das ästhetische Wohlgefallen an einer Individualität anderen Geschlechts oder die verständige Ueberzeugung von deren Vorzügen werden erst durch die Einmischung sexueller Empfindungen und Regungen zu dem neuen Seelenzustande, den man im Ganzen als Liebe bezeichnet, und der mit dem Erlöschen der se - xuellen Empfindungen auch aufhört.

Es hat nichts Widersinniges, einzelne Orte im Gehirne als Sitze der sinnlichen Triebe aufzusuchen; es müssten diejenigen sein, wo gewisse Empfindungsnerven und ihre centralen Ausbreitungen, z. B. die des Vagus, die der Sexualorgane mit den motor. Apparaten zu - sammentreffen. Aber es ist bis jetzt weder erwiesen, noch beson - ders wahrscheinlich, dass diese Orte gerade auf der Gehirnoberfläche liegen.

Bei Geisteskranken sieht man sehr oft nicht nur den Nahrungs - und Ge - schlechtstrieb rücksichtslos sich äussern; es kommen auch neue, namentlich dem33Das Wollen.früheren Leben des Individuums fremd gewesene, stehende Neigungen zu gewissen Handlungen vor, so z. B. das beständige Sammeln (von allen möglichen Kleinig - keiten, Federn, Lumpen, Papier etc.), das an die Sammel - und Kunsttriebe man - cher Thiere erinnert und seinem psychischen Ursprunge nach gleich sonderbar und räthselhaft, wie diese, ist. Ueberhaupt nimmt das Thun der Geisteskranken in den Zuständen von Irresein, wo viel äusserlich gehandelt wird, wie in den maniacalischen Zuständen, einen nach Jakobi’s treffendem Ausdrucke, fast durch - aus triebartigen Character an, und sehr auffallend ist oft der damit über - einstimmende Ausdruck der Physionomie, der ganzen Mimik, die häufig lebhaft an den Habitus und die Geberden einzelner Thierspecies erinnern.

§. 22.

In den Trieben sind es nicht einzelne, distinkte, klare Vorstel - lungen, sondern es sind Empfindungen und Gefühle, die Bewegungs - anschauungen erregen und damit das motorische Nervenagens nach den Muskelgruppen determiniren. Wenn aber die bewussten deut - lichen Vorstellungen selbst durch eine Einmischung von Bewegungs - anschauungen eine Beziehung auf die Muskelbewegung erhalten, so nennt man diesen Vorgang das Wollen.

Dem deutlichen sinnlichen Vorstellen gesellen sich jene Bewe - gungsanschauungen zu; aber auch in das Vorstellen, das nur in ab - stracten Gesamteindrücken, die durch Worte bezeichnet werden, be - steht (das begriffliche Vorstellen. §. 14.), können Bewegungsbilder eingehen. Diese sind dann aber gleichfalls nur dunkle Gesamt - eindrücke aus grossen Summen von Bewegungsanschauungen, die einzeln noch durchaus nicht geschieden, sondern wie zusammen - gewickelt darin enthalten sind; soll es zum Ausführen des begrifflichen Vorstellens kommen, so muss jener Gesamtinhalt in eine Menge ein - zelner, vorher noch gar nicht zu bestimmender Bewegungsbilder aus - einandergehen.

So verhält es sich überall, wo Abstractes gewollt wird tugendhaft sein - wollen, heirathen-wollen etc., d. h. den Begriff der Tugend, den Begriff der Ehe realisiren wollen; wo immer dies ein wirkliches Wollen und kein blosses Darandenken ist, da ist mit dem Begriff eine dunkle Masse noch verschmolzener Bewegungsanschauungen gemischt, die dann bei der Ausführung in ein sehr man - nigfaltiges, einzelnes Wollen sich auflösen muss.

Die Vorstellungen gehen in ein Streben und Wollen über nach einem inneren Zwange, in dem wir auch hier auf dem innerlichsten Gebiete des Seelenlebens das Fundamentalgesetz der Reflexaction erkennen. Den Geistesgesunden drängt und treibt es, seine Vor - stellungen zu äussern, sie in Handlungen zu realisiren und damit sich ihrer zu entäussern. Ist diess geschehen, so fühlt sich dieGriesinger, psych. Krankhtn. 334Das Wollen.Seele erleichtert, befreit; sie hat sich durch die That ihrer Vorstel - lungen entledigt und ihr Gleichgewicht ist nun wieder hergestellt. Eine merkwürdige Grundthatsache des psychischen Lebens, die die innere Erfahrung jedes Menschen kennen muss. Sie zeigt sich ebenso im Künstler, den seine Idee, der Drang der ungebornen Welt Jahre lang ruhelos beschäftigte, dem aber das vollendete, gelungene Werk fremd und gleichgültig wird, wie in jenem Unglücklichen, den der Gedanke einer zu begehenden schweren Unthat in die quälend - sten inneren Kämpfe versetzte, dem aber mit der Ausführung augen - blicklich die Ruhe wiederkehrt.

Es gibt auch ein Gedächtniss des Strebens und Wollens, eine Re - production der Bewegungsanschauungen, die sich unter gewissen Umständen immer wieder in die Vorstellungen einmischen. Unter den verschiedenen Menschen herrscht grosse Verschiedenheit in dem Masse der Leichtigkeit und Stärke, mit der die Bewegungsanschauungen sich geltend machen; Trägheit bis zur Willenlosigkeit.

Alles Streben zusammen, die Triebe und das Wollen, bilden die motorische Seite der Seelenthätigkeit. Diese Vorgänge haben schon sehr grosse Aehn - lichkeit mit den Vorgängen im wirklichen, musculo-motorischen Nervensysteme, während das reine Vorstellen weit mehr Gemeinsames mit dem Geschehen in den Sinnesnerven hat. Man findet daher beim Streben dieselben Categorieen wieder, die als allgemeine Ausdrücke gewisse Zustände der Muskelbewegung bezeichnen Ermüdung und motorische Lähmung (Willensschwäche und Willenlosigkeit), tonischer Krampf (einseitig festgehaltenes Streben mit sonstiger Unbeweglichkeit), convul - sivische Bewegung (krankhaft losgelassene Triebe, Begehrlichkeit, krankhafte Rastlosigkeit, Projectenmacherei und Thatensucht). Es ist aller Beachtung werth, dass häufig in Geisteskrankheiten diese motorische Seite des Seelenlebens und die musculomotorische Thätigkeit in derselben Weise krankhaft verändert sind, dass also Willenlosigkeit mit allgemeiner motorischer Sub-paralyse, ein krankhaft er - höhtes Wollen mit verstärkter und lebhafterer Muskelaction zusammen vorkommt (z. B. in maniacalischen Zuständen); ein andermal springt dieselbe Affection schnell von einem auf das andere Gebiet über, z. B. dem epileptischen Anfalle von Con - vulsionen folgt auf dem Fusse ein psychisch convulsivischer Zustand, ein heftiger Tobanfall. Ebenso wieder hat Rückenmarksschwäche sehr gewöhnlich auch Wil - lensschwäche, Verzagtheit und geistige Energielosigkeit zur Folge.

§. 23.

Wie aber die Empfindungen und Gefühle um so eher zu Trieben werden, je stärker sie sind, so entwickelt sich aus den einzelnen Vorstellungen um so eher ein Wollen, je stärker und anhaltender sie sich geltend machen; desswegen erzwingen sich die stärksten Vorstellungen am Ende ihren Uebergang in Handlungen. Glücklicher - weise aber ist im geistigen Leben dafür gesorgt, dass nicht jede Vorstellung diesen Grad von Stärke erlangt. Denn nach den Gesetzen der Ideenassociation treten auch die contrastirenden Vorstellungen35Die Freiheit.auf (§. 16.), ziehen weitere, ihnen verwandte Vorstellungen nach und es entsteht im Bewusstsein ein Widerstreit. Die ganze Vorstellungs - masse, die eben das Ich repräsentirt (S. §. 25.), wird ins Spiel ge - zogen und gibt am Ende den Ausschlag, indem sie jene erste Vor - stellung zurückdrängt oder begünstigt. Die Thatsache jenes Wider - streits im Bewusstsein, der am Ende durch das Ich entschieden wird, ist die Thatsache der menschlichen Freiheit.

Jede Annahme einer absoluten Freiheit und jedes darauf gegrün - dete Resultat ist irrig. Die menschliche Freiheit ist stets eine rela - tive und verschiedene Menschen sind in sehr verschiedenem Masse frei. Ursprünglich ist der Mensch gar nicht frei; er wird es erst, indem er eine Masse wohlgeordneter, leicht von einander hervorzu - rufender Vorstellungen bekommt und indem sich aus diesen ein star - ker Kern, das Ich, bildet. Zweierlei gehört also überhaupt dazu, damit das menschliche Handeln frei sei. Einmal eine ungehinderte Ideenassociation, damit sich um die vorhandenen Vorstellungen, die eben zum Wollen werden, andere neu entstehende sammeln und ihnen gegenüber treten können. Zweitens ein gehörig starkes Ich (§. 25.), das den Ausschlag geben kann, indem sein Vorstellungs - complex die eine Parthei der streitenden Vorstellungen verstärkt, und damit die andere zurückdrängt. Bei dem an Vorstellungen Armen und geistig Trägen geht die Freiheit in der traumartigen Monotonie der Gewohnheit zu grossem Theile unter. Der geistesschwache Mensch ist weniger frei, weil seinem vorstellen die lebendige Association fehlt und opponirende Vorstellungen gar nicht oder nur sehr langsam sich wecken lassen. Das Kind ist weniger frei, wenn auch sein Vor - stellen ein sehr thätiges ist, weil sich noch kein starkes Ich gebildet hat, das eine kräftige, fest geschlossene Vorstellungsmasse in den Streit senden könnte.

Wenn der Mensch sittliche Motive zur Richtschnur seines Handelns macht, so kann er diess nur thun, indem er die Masse der auf sein Sittengesetz be - züglichen Vorstellungen durch vielfache Reproduction und Uebung so mit allem seinem Vorstellen verknüpft, dass sie bei jeder stärkeren Gedankenbewegung auch mit ins Bewusstsein heraufgezogen werden; sie bilden alsdann einen wesentlichen constituirenden Bestandtheil der Vorstellungsmasse seines Ich, und wenn ein Con - flict im Bewusstsein entsteht, so treten sie nicht nur sogleich hervor, sondern sie haben auch überall im ganzen Inhalte des Ich etwas auf ihrer Seite. Im Verbrecher dagegen haben sich die egoistischen und gegen Andere feindseligen Vorstellungen allmählig so befestigt, dass sie immer leicht herauftreten und das Ich hat einen Inhalt bekommen, dessen Hauptmasse nach der schlimmen Seite neigt. Man glaube nicht, dass ein solcher desswegen in jedem einzelnen Falle böse handeln müsse; auch in ihm ist die[Ideenassociation] thätig und indem sie3 *36Die Besonnenheit.die Contraste zu seinen schlimmen Gedanken heraufführt, treten halb erstorbene Regungen des Gewissens, halb erloschene Bilder und Erinnerungen aus besseren Zeiten, die in der Jugend erhaltenen Mahnungen zum Guten u. s. w. ins Bewusst - sein und der Kampf kann hitzig genug werden. Am Ende freilich tritt das Ich auf die schlimme Seite; tritt es auf die gute, so ist der Mensch kein Böse - wicht, sondern ein sittlicher Held, der nach langem Kampfe seine schlimmen Ge - lüste überwunden hat. Die Stärke der opponirenden, sittlichen Motive kann aber nie im Voraus geschätzt werden; es gibt keinen absoluten Bösewicht; wohlwollende Neigungen haben der Zeit nach die Priorität in der menschlichen Natur; sie werden in keinem Menschenleben vollständig unterdrückt und die Geschichte der Ver - brechen zeigt, wie oft das kleine Gewicht einer Jugend-Erinnerung, eines alten Spruches oder Liederverses, der sich in den Gedankengang eindrängt, die unter - drückten sittlichen Vorstellungen mächtig heranzieht und damit die Schale des Guten sinken macht. Gäbe es einen Menschen, wie der alte Cenci in Shelley’s Drama, so könnte bei ihm freilich jedesmal der böse Entschluss als ein mit Noth - wendigkeit erfolgender vorher gesagt werden; allein es gibt keinen solchen und kein Geistesgesunder ist zum Verbrechen gezwungen.

§. 24.

Das normale Aufeinanderwirken des Vorstellens, wobei durch die im Flusse befindlichen Vorstellungen andere contrastirende oder über - haupt beschränkende geweckt werden und wobei Alles in einem mitt - leren Grade von Stärke und Schnelligkeit vor sich geht, so dass im Bewusstsein ein Streit entstehen kann, bezeichnet man am besten als den Zustand der Besonnenheit. Man sieht leicht, wie sie eine der wesentlichsten Bedingungen aller Freiheit ist.

Es gibt nun viele Zustände, wo diese Besonnenheit geschwächt oder ganz aufgehoben ist. Dies ist mehr oder minder der Fall, einmal in den Affecten (S. §. 29.), die man noch zum physiologi - schen Zustande rechnet, dann in fast allen pathologischen Zustän - den des Gehirns. Die Alcoholintoxication, die sympathischen Gehirn - reizungen, die meisten, tieferen organischen Erkrankungen seiner Substanz, besonders alle die Gehirnkrankheiten, mit denen wir es hier, als mit Geisteskrankheiten zu thun haben, stören das freie Spiel des Vorstellens, beschränken damit die Besonnenheit oder heben sie ganz auf. Sie thun diess auf sehr verschiedene Weise. Bald sind durch die Gehirnaffection einzelne Neigungen und Triebe direct zu massloser Heftigkeit gesteigert (Geschlechtstrieb, Zerstörungstrieb), und gehen in Wollen und Handeln über, ohne dass irgend andere Vorstellungen neben ihnen hätten aufkommen können; bald geht alles Vorstellen in rapidestem Ablauf durcheinander und in dem Vorstel - lungsschwindel ist nichts Einzelnes so kräftig und andauernd, dass auch nur der Anfang eines wirklichen Widerstreits im Bewusstsein37Die Aufhebung der Besonnenheit.entstehen könnte Beides sieht man oft in den maniacalischen Zu - ständen, wo es dann im letzeren Falle oft auf die kleinsten Anstösse von aussen ankommt, in welcher Weise gehandelt wird. Bald ist das Vorstellen so träge und das Ich so schwach, dass von dieser Seite die Voraussetzungen eines inneren Widerstreites fehlen wie im Blödsinn. Bald sind durch die Gehirnaffection einzelne falsche Ver - knüpfungen von Vorstellungen, einzelne irrige Schlüsse so stehend geworden und haben sich so in die ganze Vorstellungsmasse des Ich verwebt, dass ihre Contraste gänzlich aus der Seele verdrängt sind, dass sie sich desshalb in alle Entschlüsse eindrängen und das durch diese fixen Ideen verfälschte Ich nun immer in ihrem Sinne den Ausschlag geben muss diess ist bei den partiell Verrückten, auch in manchen melancholischen und maniacalischen Zuständen der Fall. Der Entschluss und die That erfolgen hier oft mit grosser Ruhe und mit äusserlich zweckmässiger Berechnung und Wahl der Mittel; dennoch fehlt die innere Besonnenheit, weil die falschen Voraussetzungen die Stärke zwingender Motive erhalten haben und der Kranke sich ihrer durchaus nicht entledigen kann.

Hiemit sollen nur Beispiele gegeben, nicht alle Arten aufgezählt sein, in denen bei Geisteskranken die Besonnenheit aufgehoben wird. Vieles im geistigen Mechanismus ist noch ganz unbekannt; in manchen Zuständen von Irresein, von Rausch etc. scheinen ganze grosse Reihen von Vorstellungen, Pflichtgefühl, ästhetische Ideen etc. dauernd oder momentan vollständig weggenommen, ohne dass sich andere, starke Vorstellungsmassen nachweisen liessen, durch die jene vertrieben wären.

Bei allen Geisteskrankheiten leidet die Besonnenheit vor Allem noth, und eben damit die Freiheit. Dieser Verlust der Freiheit ist natürlich nicht das Wesen der krankhaften Processe selbst, sondern nur ein für unsern Verstand abstract ausgedrücktes Resultat der verschiedensten psychischen Störungen, das niemals die Bedeutung eines diagnostischen Merkmals haben kann. Auch ist die Besonnenheit bei den Geisteskranken in sehr verschiedenem Grade auf - gehoben. Es gibt Zustände, die ohne die gröbste Zerreissung des Zusammen - gehörigen nicht von den Geisteskrankheiten zu trennen sind, z. B. ihre oft lange währenden, mässigen Anfangsstadien, viele Zustände tieferer Hypochondrie, in denen ein ziemlich starker Rest von Besonnenheit dem Kranken bleibt. Geistes - krankheit und völlige Unfreiheit ist also noch keineswegs dasselbe; das ärztliche Urtheil über solche Zustände darf aber überhaupt nicht die abstracten und gar nicht streng einzugrenzenden Begriffe des Geisteskrank - oder Geistesgesundseins, des Frei - oder Unfreiseins im Auge behalten, sondern es muss physiologisch das concrete Geschehen, die psychischen Hergänge selbst an ihre Quellen ver - folgen, ihren Zusammenhang auseinanderlegen und ihre Resultate würdigen. Hiezu ist aber freilich eine in der Regel fehlende psychiatrische Bildung nothwendig.

Die ganze Lehre von der Zurechnungsfähigkeit thut weit besser, ihren Aus - gangspunkt an den Begriff der Besonnenheit, als an den noch abstracteren und38Das Ich.schwieriger zugänglichen Begriff der Freiheit anzuknüpfen; ein näheres Eingehen auf diese Lehren liegt aber nicht in der Tendenz dieser Schrift.

§. 25.

Im Laufe unseres Lebens bilden sich, vermöge der fortschrei - tenden Verbindung der Vorstellungen, immer mehr zusammenhän - gende, grosse Vorstellungsmassen. Ihre Eigenthümlichkeit beim ein - zelnen Menschen wird nicht nur von dem speciellen Inhalt der ein - zelnen, durch Sinneswahrnehmung und äussere Erlebnisse hervor - gerufenen Vorstellungen, sondern auch von ihrem habituellen Ver - hältnisse zu den Trieben und zum Wollen, und von den stehend gewordenen, hemmenden oder fördernden Einflüssen aus dem ganzen Organismus bestimmt. Schon das Kind kommt dazu, aus seinen ver - hältnissmässig noch einfachen Vorstellungsmassen einen Gesammt - eindruck zu erhalten, den es, sobald das Material gehörig gewachsen und erstarkt ist, anfängt, mit einem abstracten Ausdrucke, dem Ich zu bezeichnen.

Das Ich ist eine Abstraction, in der das einzelne bisherige Empfinden, Denken und Wollen zusammengewickelt enthalten ist, und die sich im Fortgang der psychischen Prozesse mit einem immer neuen Inhalte füllt. Aber diese Assimilation des neuen Vorstellens zu dem vorhandenen Ich geschieht nicht auf einmal, es wächst und erstarkt sehr allmählig, und das noch Nicht-Assimilirte tritt anfangs als ein Gegensatz zu dem Ich, als ein Du im Menschen auf. Nach und nach bleibt es nicht mehr bei einem einzigen solchen Complexe von Vorstellen und Wollen, der das Ich vorstellt, sondern es bilden sich mehre solche geschlossene, gegliederte und erstarkte Vorstellungsmassen; zwei (und nicht nur zwei) Seelen wohnen dann in des Menschen Brust, und je nach dem Vorherrschen der einen oder der andern dieser Vorstellungsmassen, die nun alle das Ich repräsentiren können, wechselt dieses oder wird in sich gespalten. Hieraus kann sich Widerspruch und Widerstreit im Innern ergeben, und solcher ergibt sich auch wirklich in jedem denkenden Menschen. Die Lösung desselben bringen glückliche, harmonische Naturen von selbst mit, indem sich in allen diesen verschiedenen Vorstellungs - complexen einige allgemeine, in allen wiederkehrende, wenn auch nur dunkle und nicht deutlich sagbare Grundanschauungen gemeinsam entwickeln, wodurch auf allen Gebieten des Denkens und Wollens eine harmonirende Grundrichtung als Beispiel solcher verschiedenen Grundrichtungen mag der Glaube einerseits, der Empirismus andrer - seits dienen sich ergibt. Es ist nun die höchste Aufgabe der39Die Metamorphosen des Ich.Selbstbildung, nicht nur solche gemeinsame feste Grundrichtungen zu gewinnen, sondern sie allmählig so viel als möglich durch Denken ins Bewusstsein zu erheben und so in den festen Besitz solcher, der indi - viduellen Natur adäquater, durchdachter Obersätze alles Denkens und Wollens zu gelangen.

Unser Ich ist zu verschiedenen Zeiten ein sehr verschiedenes, je nachdem Alter, verschiedene Lebenspflichten, Erlebnisse, momentane Erregungen diese oder jene, dann eben das Ich repräsentirende Vorstellungsmasse mehr entwickelt und in den Vordergrund gedrängt haben. Wir sind ein Anderer und doch derselbe. Mein Ich als Arzt, mein Ich als Gelehrter, mein sinnliches Ich, mein moralisches Ich etc. d. h. die Complexe von Vorstellungen, Trieben und Willensrichtungen, die durch jene Worte bezeichnet werden, können mit einander in Widerspruch gerathen und der eine zu verschiedenen Zeiten die andern zurückdrängen. Nicht nur Inconsequenz und Zerfahrenheit des Vorstellens und Wollens, sondern auch wegen des beständigen hemmenden Widerspruchs aller übrigen völlige Energie - losigkeit auf jeder einzelnen dieser Seiten müsste die Folge sein, wenn nicht einige wenige, dunklere oder bewusstere Grundrichtungen auf allen diesen Ge - bieten wiederkehrten.

Eines der deutlichsten und für die Verhältnisse bei Geisteskrankheiten in - structivsten Beispiele einer Erneuerung und Umgestaltung des Ich geben die psychischen Ereignisse während der Pubertätsentwicklung. Mit dem Activwerden bisher ruhender Körpertheile und mit der gänzlichen organischen Revolution in diesem Lebensalter treten in verhältnissmässig kurzer Zeit grosse Massen neuer Empfindungen, Triebe, dunklerer oder deutlicher Vorstellungen und Willensimpulse ins Bewusstsein. Diese durchdringen allmählig die alten Vorstellungskreise und werden zu constituirenden Bestandtheilen des Ich; dieses wird ebendamit ein ganz anderes, neues, und die Selbstempfindung erleidet eine durchgreifende Meta - morphose. Aber freilich, bis es zu dieser Assimilation gekommen ist, kann diese Durchdringung und Zersetzung des alten Ich kaum ohne mancherlei Drang im Bewusstsein und ohne tumultuarische Erschütterung desselben, d. h. nicht ohne mancherlei Gemüthsbewegungen vor sich gehen. Desshalb ist jene Lebensepoche ganz vorzüglich die Zeit innerlich entspringender, äusserlich unmotivirter Ge - müthsbewegungen.

§. 26.

Nicht umsonst haben wir dieses Beispiel gewählt, das mit viel - fachen Analogieen das Irresein schön erläutert. Bei diesem nämlich entwickeln sich gewöhnlich, gleichfalls von innen heraus, mit der eintretenden Gehirnkrankheit Massen neuer, dem Individuum bisher in dieser Weise fremd gewesener Empfindungen, Triebe und Vor - stellungen (z. B. grosse Angstempfindungen, daran geknüpft die Vor - stellungen eines begangenen Verbrechens, der Verfolgung). Anfangs stehen diese dem alten Ich als ein fremdes, oft Staunen und Schrecken erregendes Du gegenüber. Oft wird ihr Eindringen in die alten Vorstellungskreise als Inbesitznahme des alten Ich von einer40Die Metamorphose des Ich durch Krankheit.dunkeln, überwältigenden Macht empfunden und die Thatsache solcher Besitznahme in phantastischen Bildern bezeichnet. Immer aber ist diese Duplicität, dieser Widerstreit (des alten Ich) gegen die neuen, nicht adäquaten Vorstellungsmassen wenigstens von peinlichen Empfindungs - kämpfen, von affectartigen Zuständen, von heftigen Gemüthsbewegungen begleitet. Diess schliesst uns den Grund der erfahrungsmäs - sigen Thatsache auf, dass die ersten Stadien der ungeheuren Mehrzahl der Geisteskrankheiten in vorwaltenden Gemüths - leiden, und zwar Gemüthsleiden trauriger Art bestehen.

Wird nun die unmittelbare Ursache des neuen, anomalen Vor - stellens, die Gehirnaffection, nicht gehoben, so wird jenes fest und stehend, und indem es allmählig mit den Vorstellungsmassen des alten Ich überall Verknüpfungen eingeht, indem oft andere Massen widerstandsfähiger Vorstellungen durch die Gehirnkrankheit ganz ausgelöscht und verloren gegangen sind, hört dann allerdings nach und nach der Widerstand des alten Ich, der Streit im Bewusst - sein auf, und die Stürme der Gemüthsbewegungen legen sich; aber nun ist durch jene Verknüpfungen, durch jene Aufnahme der anomalen Vorstellungs - und Willenselemente, eben das Ich selbst verfälscht und ein ganz anderes geworden. Dann kann der Kranke wieder ruhig und sein Denken zuweilen formal richtig sein; aber überall in dasselbe schieben sich jene anomalen, irrigen Vorstellungen, weil sie überall Verbindungen angeknüpft haben, als unbezwingliche Prämissen ein; der Kranke ist in keiner Beziehung mehr der Alte, sondern ein ganz anderer sein Ich ist ein neues, falsches geworden. Andere - male scheint es, dass sich sogar mehre unter sich wenig congruente Massen von Vorstellungen, deren jede das Ich repräsentiren will, bilden, und es kann damit die Einheit der Person ganz verloren gehen (manche Blödsinnig-Verrückte). Insoferne die Gemüthsbewegungen in solchen Zuständen aufgehört haben, kann man diese jetzt mit Recht als ein bloss falsches Denken, als Verstandeskrankheiten bezeichnen.

Hiermit ist der gewöhnliche Gang der Dinge, von der Entstehung des Irreseins an bis zu seinem Ende in unheilbarer Verrücktheit, in nuce angegeben. Das Gesagte gilt natürlich nicht für alle Fälle (z. B. nicht für den primitiven Blöd - sinn nach Schädelverletzung), und auch da, wo die krankhaften Ereignisse im Ganzen diesen Gang nehmen, kommen zahlreiche Zwischenvorfälle und Abweichungen vor. Namentlich wird durch das tiefere Weiterschreiten einer organischen Gehirn - krankheit (z. B. der chronischen Encephalitis der Gehirnrinde, die mit Atrophie endigt) der Verlauf so abgeschnitten, dass ein baldiger Blödsinn gar kein neues Ich aufkommen lässt; oder es erfolgt früher die Genesung oder der Tod. Hierüber s. die Schilderung der einzelnen Formen.

41Das Fühlen.

Indessen bemerke man hier gleich die enorme Wichtigkeit, welche die Be - schaffenheit des vorhandenen (alten) Ich in diesen Zuständen haben muss. Ein schwaches Ich wird von dem neuen, anomalen Vorstellen eher überwunden werden, als ein starkes. Eine langsame, schleichende Durchdringung der alten Vor - stellungscomplexe durch die neuen wird zwar viel geringere Gemüthsbewegungen setzen, aber, indem es das Ich auch weniger zum Widerstande auffordert, dasselbe um so sicherer zersetzen und absorbiren. Die Dauer der Krankheit wird unter allen Umständen von grösster Wichtigkeit sein. Die neuen Vorstellungsmassen werden dem Ich um so gefährlicher sein, je mehr sie ihrem Inhalte nach schon Verwandtschaft mit den alten Vorstellungscomplexen haben; dann wird die Bei - mischung leichter, aber auch das Resultat eine gegen den früheren Zustand weniger auffallende Veränderung des Ich sein. Alle diese Sätze werden von der täglichen Erfahrung aufs bündigste bestätigt.

§. 27.

Ein einfacher, jedem Bewusstsein bekannter Unterschied im Vor - stellen besteht darin, dass dasselbe bald als ein ruhiges Phantasiren oder Denken fortgeht, und dass es anderemale von einer stärkeren Schwankung, von einer allgemeinen psychischen Unruhe begleitet wird. Im ersten Falle verhalten sich die Vorstellungsmassen, die das Ich repräsentiren, zu dem eben im Bewusstsein befindlichen Vorstellen als ruhige Zuschauer; indem sie es appercipiren, werden sie nur schwach und langsam von ihm verändert, und wenn sich dabei auch dunkle Urtheile über die Förderung oder Hemmung des Ich ergeben (Lust oder Unlust), so sind diese von geringer Intensität. Im zweiten Fall erregt ein lebhafter Vorgang im Bewusstsein, z. B. eine plötzlich gegebene Vorstellungsmasse oder ein Trieb, der sich heftig geltend macht, einen tumultuarischen Auftritt. Durch jenen Vorgang nämlich werden einzelne ruhende Vorstellungshaufen schnell heraufgezogen, diese bringen andere mit sich, noch andere werden schnell aber nicht ohne Widerstand zurückgetrieben und das Ich muss dadurch nothwendig in der Weise lebhafterer Förderung oder Hemmung, leb - hafterer Lust oder Unlust afficirt werden.

Jene dunkeln Urtheile, psychische Unlust oder Lust (S. §. 18.), geben den Grundinhalt unserer Gefühle. Ihre Dunkelheit fällt vor allem als ein Unter - schied des Fühlens vom Vorstellen in die Augen und wir sehen die Gefühle als solche um so mehr abnehmen, je mehr jene undeutlichen Urtheile in klare Vor - stellungen auseinandergehen und sich in solche umsetzen. Ein Kunstwerk z. B. erregt uns anfangs nur ein angenehmes oder unangenehmes Gefühl von Gefallen oder Missfallen, dann erheben sich allmählig deutlichere und klarere Vorstellungen, die sich zu einzeln sagbaren Urtheilen verbinden; während solcher inneren Be - sprechung wird das Gefühl allmählig schwächer, und wollen wir, nach vollständiger Beendigung derselben, das Kunstwerk noch weiter rein fühlend geniessen, so kann diess nur mit momentanem Abstrahiren von unsern deutlichen Urtheilen geschehen.

42Das Gemüth.

Gefühle können das ruhige Vorstellen begleiten; es kann z. B. das wissen - schaftliche Denken, wenn die adäquaten Vorstellungen sich förderlich treffen, von grosser Lust, von dem Gefühle des Gelingens begleitet sein. Aber die Gefühle sind viel lebhafter, wenn durch eine plötzlich eintretende Veränderung im Be - wusstsein die dem Ich angehörigen Vorstellungsmassen in heftigere Schwankung gerathen und das Ich dadurch eine unruhige, rasche Förderung oder Hemmung erleidet. Dieses Afficirtwerden des Ich nennt man die Affecte; sie sind im ersten Falle freudiger, im zweiten trauriger Art. In allen Affecten finden sich Gefühle als wesentliche Bestandtheile, aber nicht alle Gefühle setzen uns in Affect; es gibt vielmehr dauernde, stabile Gefühle ohne allen Affect (Selbstgefühl, Vaterlands -, Familiengefühl). *)S. Herbart, Lehrbuch. 1816. p. 54. Drobisch, empir. Psychologie. 1842. p. 205.

Das Gemüth, dem diese Vorgänge als seine, als Gemüthsbewe - gungen, zugeschrieben werden, hat nun eine ganz wesentliche Be - ziehung zur motorischen Seite des Seelenlebens, zu den Trieben und dem Wollen. Nicht nur werden durch alle affectartigen Zu - stände Triebe und Willensimpulse geweckt, um entweder der Hem - mung entgegenzutreten oder der Förderung zu folgen; sondern die Beobachtung zeigt auch, dass schon die Entstehung der Affecte weit leichter von der motorischen Seite des Seelenlebens, als vom blossen reinen Vorstellen aus geschieht.

Gehemmtes oder gefördertes Streben afficirt das Ich noch viel mehr, als dieselben Zustände im reinen Vorstellen und die plötzlichsten und tiefsten Erschütterungen resultiren aus dem plötzlichen Zurückgeworfenwerden der eben flüssigen Strebungen. Wenn z. B. unser ruhiges, wissenschaftliches Denken durch eine unerwartete äussere Unterbrechung gehemmt wird, so mögen wir wohl ärgerlich werden; wenn aber unserm Wollen entgegengetreten wird, unsre, der Ausführung nahen Plane vernichtet werden, so erregt diess viel heftigere Gemüthsbewegungen, Zorn, Traurigkeit und dergl. Sehr häufig sieht man, dass contrariirte Plane und Willensbestimmungen, z. B. eine aufgedrungene Beschäftigung, während das Indi - viduum mit allen seinen geistigen Kräften nach ganz anderen Seiten strebt, die Ursache andauernder Gemüthsbewegungen und eines daraus entwickelten Irreseins werden. Ein uns bekannter geisteskranker Mann ward es dadurch, dass er Metzger werden musste, während er Pfarrer werden wollte. Solche Beispiele finden sich in allen Irrenanstalten.

§. 28.

Die Frage, was das Gemüth und die Gemüthsbewegungen eigent - lich seien und welche Stellung sie im psychischen Leben einneh - men, ist für das Verständniss des Irreseins, das ja (§. 26.) so oft und so lange hauptsächlich in einem Gemüthsleiden besteht, wichtig genug. Unser Vorstellen und Streben bewegt sich in stetem Wechsel immer fort; von einer Gemüthsbewegung aber ist nur da die Rede, wo die Vorstellungsmasse, die das Ich repräsentirt, stärker43Das Gemüth.erschüttert wird und in Schwanken geräth, was (§. 27.) niemals ohne Gefühle geschehen kann. Bei dieser Störung der Gemüthsruhe wird[nun] nichts anderes gestört, als die gewohnte ruhige Art, wie sich unser Ich zum eben vorhandenen Vorstellen verhält, wie sich über - haupt die mehrfachen Massen von Vorstellungen und Strebungen, die wir in uns finden, zu einander verhalten. Dieses gewohnte, ruhige Verhältniss ist aber keine absolute Ruhe oder Unthätigkeit, sondern es ist das Resultat einer mässigen, mittleren Thätigkeit, welches zugleich das erworbene mittlere Mass psychischer Kraft und die gewohnte Richtung des psychischen Lebens repräsentirt; es ist mit Einem Worte der psychische Tonus. *)Vgl. des Vfs. Aufsatz über psych. Reflexactionen. Archiv für physiolog. Heilkunde. II. 1843. p. 95.

Der Rückenmarkstonus, der sich in den Muskeln, dem Zellgewebe etc. als ein mittlerer, gewohnter Grad von Contraction, auf Seiten der Empfindung als ein mittlerer Grad von Schmerzempfänglichkeit und Reizbarkeit ausspricht, ist das Product nicht der einzelnen Empfindung und Bewegung, sondern der, in die Einheit und Allgemeinheit eines mittleren Reizzustandes untergegangenen Totalität der Empfindungen und Bewegungsimpulse; er beruht auf einem mittleren Facit von Erregung, das aus all diesen einzelnen centralen Nerventhätigkeiten zusammen herausgekommen ist. Dieser mittlere Zustand scheinbarer Ruhe wird als Ganzes nicht von jeder Empfindung und Bewegung unterbrochen und gestört, aber er wird es durch alle starken und plötzlichen Empfindungen und Bewegungen (Ermüdung, Schmerz etc.) Auf beiden Gebieten ist der Tonus natürlich das einemal schwanken - der und variabler, als zu andern Zeiten, je nach dem Zustande des Organs; zu - weilen kann jeder kleine Reiz Ermüdung, Schmerz, Convulsionen machen; zuweilen kann einen die Fliege an der Wand ärgern. Es ist nicht der gewöhnliche Aus - druck, und es wäre allzuabstract, aber es wäre nicht unrichtig, den Tetanus, die Convulsionen etc. als Abänderungen des Tonus (einseitige Steigerung, Unter - brechung etc.) aufzufassen; denn unzweifelhaft leidet der Tonus hier sogleich unter der vorhandenen Störung. Ebenso ist die auffallendste Störung bei den parallelen Geisteszuständen (dem psychischen Schmerz, der psychischen Convul - sion) die Störung des Gemüths, und in diesem Sinn ist überhaupt von den Ge - müthsleiden und ihrer Primitivität beim Irresein zu sprechen.

Gemüthlich nennen wir den Menschen, dessen Ich nicht allzu - schwer in Bewegung geräth, wo desshalb angenehme oder unangenehme Gefühle, Theilnahme, Mitleid, Wohlwollen, Abneigung etc. leicht ent - stehen. So erfreulich diese Eigenschaft ist, so bringt sie die Gefahr mit, dass es gerne bei diesen dunkeln Urtheilen, den Gefühlen, bleibt, dass diese nicht in ein klares Denken auseinandergehen, dass dieses sogar verlernt wird und der Mensch nach blossen Gefühlen, aus denen er nicht mehr herauswill, sein Handeln einrichtet und sein Leben gestaltet. Diess ist das im schlimmen Sinne Gemüthliche. 44Das Gemüth.Gemüthlos wird der genannt, dessen Ich sehr schwer in der Weise der Lust oder des Schmerzes afficirt wird, entweder wegen grosser Schwäche und Stumpfheit aller psychischen Processe (stumpfsinnige, sehr phlegmatische Menschen), oder weil sich, beim Zusammen - stosse des Ich mit dem jeweiligen Vorstellen, sogleich deutliche Urtheile in hellen Vorstellungen, statt der dunkeln Gefühle, ergeben (Verstandesmenschen). Gemüthskräftig ist der Mensch, bei dem sich ein haltbarer psychischer Tonus gebildet hat, der durch jede psychische Erregung nicht alsbald modificirt wird; angenehme und unangenehme Erlebnisse fühlt ein solcher wohl, d. h. er begleitet sie mit dunkeln Urtheilen über Förderung oder Hemmung seines Ich, aber dieses selbst wird nicht so leicht erschüttert, es kommt nicht gleich zu allgemeiner psychischer Unruhe, zu Aerger und Verstim - mung, und in Freude und Schmerz wird Mass gehalten. Gemüths - schwäche dagegen ist da vorhanden, wo ausgebreitete, aber energie - lose Reactionen des Ich leicht hervorzurufen sind; fast jede Vorstel - lung erregt hier ein Gefühl; Freude und Trauer wechseln ungemein leicht und Gemüthsbewegungen werden zum Bedürfniss; die abneh - mende Empfänglichkeit fordert dann oft neue, starke Reize (Lust am Schauerlichen, Pikant-Schrecklichen) und das Ich kommt fast nur in Perioden von Erschöpfung und Erschlaffung zur Ruhe.

Man wird sogleich die Identität dieses letzteren Verhaltens mit dem erkennen, was man auf sensitiv-motorischem Gebiete die reizbare Schwäche nennt, und als die wichtigste Disposition und als den Grundzustand bei vielen Nervenkrank - heiten (z. B. den Spinaliritationen) betrachtet. Man nennt ein solches Verhalten mit Recht Schwäche denn mit den einzelnen und einseitigen Excitabilitäts - erhöhungen ist eine absolute Erniedrigung der Kraftgrösse in den Functionen verbunden. Bei vorhandenen Convulsionen ist doch die willkürliche Muskelbewegung schwach; bei vorhandenen steten Affecten ist doch das Denken und Wollen schwach und schlaff. Diese Zustände sind nicht nur sehr häufig miteinander combinirt (Neigung zu Affecten und erhöhte Convulsibilität vieler Hysterischen), sondern sie entstehen gleichzeitig auch auf beiden Gebieten oft genug aus denselben Ur - sachen, haben in ihrem Kreise dieselben Folgen und die Grundsätze ihrer Be - handlung sind sich durchaus analog.

§. 29.

Von der Art und Weise und von der Leichtigkeit, mit der das Ich in der Form der Gefühle und Gemüthsbewegungen afficirt wird, hängt allerdings ein grosser Theil der psychischen Reactionsweisen des einzelnen Menschen und damit der individuellen Eigenthümlichkeit ab. Dennoch wäre es sehr irrig, im Gemüthe den eigentlichen festen Inhalt des Ich, den beharrlichen Kern der Individualität zu suchen. 45Die Stimmungen und Affecte.Das Gemüth bildet vielmehr eben ein wandelbares, labiles Verhält - niss, das sich bei vielen Menschen fast bei jedem psychischen Geschehen ändert, das der Bewegung und dem Wechsel durch äussere Anstösse wie durch die Einflüsse aus dem ganzen Organismus leicht und auffällig preisgegeben ist. Der feste, beharrliche Kern der Individualität ist nirgends anders, als in den starken Vorstellungs - complexen zu suchen, die sich zum Ich combinirt haben. Dieser wird wohl erschüttert, aber nicht aufgehoben in den Gemüthsbewegungen; denn was sollte afficirt werden im Affecte, als eben jene Vorstel - lungscomplexe, das Ich? Das Ich kann aufgelöst werden und gänz - lich zerfallen (nicht selten bei tieferen Desorganisationen des Gehirns, beim Blödsinn), es kann untergehen und ein neues an seine Stelle treten (Verrücktheit); aber diess ist (§. 26.) eben nur dann der Fall, wenn die Gemüthsbewegungen, welche die Affection und Auflösung des alten Ich nothwendig begleiten mussten, sich vollständig gelegt haben.

Die Art und Weise, wie die das Ich repräsentirende Vorstel - lungsmasse von dem, was im Bewusstsein vorgeht oder sich in das - selbe eindrängt, afficirt wird, gibt die Art und Weise der Selbst - empfindung. Mässige und andauerndere Veränderungen der Selbst - empfindung geben wieder die Grundlage der verschiedenen Gemüths - stimmungen, plötzlichere und heftigere die Grundlage der Gemüths - Affecte. Der Inhalt der Selbstempfindung kann nur von zweierlei Art sein, Lust oder Unlust, jene, wenn die Vorstellungscomplexe des Ich durch den Vorgang im Bewusstsein in ihrem freien Flusse, ihren adäquaten Verbindungen und namentlich in ihrem Uebergange in Strebungen begünstigt und gefördert, diese wenn sie durch ihn zurück - gedrängt, unterdrückt, gehemmt werden. Von der leisesten Aenderung der Stimmung bis zum tobendsten Affect ist also immer nur zweierlei möglich: entweder ein Zustand der Förderung und der Expansion des Ich, bei dem das Ich sich wohl befindet, sich desshalb affirmativ zu dem neuen Vorgange im Bewusstsein verhält und ihn festzuhalten sucht; oder ein Zustand von Hemmung, von Re - und Depression, wo die Vorstellungscomplexe des Ich, in ihrem Flusse und ihrem Ueber - gang in Strebung aufgehalten und zurückgeworfen, bald die Flucht ergreifen, bald beharrlich streitend hereindrängen, wo sich also das Ich immer negativ gegen jene neuen Vorstellungen verhält. Dem - nach zerfallen alle Stimmungen und Affecte in zwei grosse Classen, die expansiven (und zugleich affirmativen) und die depressiven (und zugleich negativen, mit Verabscheuen verbundenen). Zu jenen gehören Heiterkeit, Lustigkeit, Freude, Ausgelassenheit, Hoffnung,46Folgen der Affecte.Muth, Uebermuth etc.; zu diesen Aerger, üble Laune, Niedergeschla - genheit, Traurigkeit, Kummer, Schaam, Furcht, Schrecken etc.

Diess Verhältniss gibt die Grundlage der Eintheilung für diejenigen Zustände von Irresein, welche in vorwaltendem Gemüthsleiden bestehen, also für die pri - mären Formen der Geisteskrankheiten (§. 26). Wir bekommen nämlich zwei Hauptclassen; in der einen besteht die Hauptstörung in depressiven, negativen Stimmungen und Affecten alle melancholischen Zustände; in der andern besteht sie in expansiven, affirmativen Affecten der Wahnsinn. Des Zorns ist noch nicht Erwähnung gethan; er steht in der Mitte zwischen beiden Classen von Affecten; seinen Anlässen nach gehört er mehr zur ersten, indem er eine Beeinträchtigung des Ich voraussetzt, aber es folgt hier auf die Beeinträchtigung eine heftige Reaction des Ich, eine lebhafte Expansion und Explosion des Vor - stellens und Strebens, womit der negirte Eindruck meist wieder überwunden und das Gleichgewicht hergestellt wird. Dem Zorne aber stehen ihren psychologischen Grundlagen nach die Zustände sehr nahe, die man unter der Tobsucht begreift, und diese findet auch nosologisch ihre natürliche Stelle zwischen Melancholie und Wahnsinn.

§. 30.

Ein wichtiger Umstand bei den Affecten, der sie zugleich wie - der sehr vom ruhigen Vorstellen unterscheidet, ist der, dass in die - sen Zuständen immer ausser den cerebralen, noch andere organi - sche Processe ins Spiel gezogen werden. Der Herzschlag, die Respiration, die Magenverdauung, die Secretionen des Schweisses, der Galle, des Harnes werden in den Affecten verändert; dem Zor - nigen schwellen die Venen im Gesichte, es ist zuweilen, als ob der heftige Affect ihn ersticken wollte; bei dem in Furcht oder Schrecken Versetzten entstchen schnell wässrige Secretionen; beim Traurigen wird die Respiration verlangsamt und oberflächlich, und muss daher zuweilen durch tiefe Athemzüge, Seufzer, unterbrochen werden u. dergl. m. So setzen die Affecte (und affectartigen Zu - stände), ursprünglich durch Erregung des Körper-Nervensystems vom Gehirne aus, körperliche Anomalieen; bei schnell vorübergehendem Affect und bei vorher gesundem Organismus gleichen sich diese bald wieder aus; bei schon bestehender körperlicher Krankheit aber und bei lange fortdauernden Ursachen (z. B. anhaltendem Gram) bilden sich allmählig viel complicirtere Störungen der organischen Mechanik aus, denen das blosse Aufhören des Affects nicht alsbald ein Ende machen kann, und die Störungen können nun durch neue, rückwir - kende, secundäre Erregung des Gehirns von ihnen aus nicht nur die vorhandenen Affecte unterhalten und steigern, sondern auch neue derartige Zustände setzen.

47Die Vernunft und ihre Störung.

Denn es ist ein weiterer Erfahrungssatz, dass, wenn durch die organischen Processe, das Athmen, die Verdauung etc., die psychi - sche Gehirnthätigkeit influencirt wird, diess zunächst nicht auf dem Gebiete des klaren Vorstellens, nicht dadurch geschieht, dass wir neue Gedanken bekommen, sondern vielmehr so, dass zuerst dunkle Veränderungen der Selbstempfindung und Stimmung, dunkle Urtheile über das Gefördert - oder Gehemmtsein unserer psychischen Thätig - keit überhaupt in uns entstehen und damit ein wesentliches Element affectartiger Zustände uns aufgedrungen wird. (§. 17.)

Beispiele hiefür finden sich fast in allen Krankheiten. Bei Herzkranken sehen wir sehr häufig Angst, bei Genitalienaffectionen Traurigkeit, bei Krankheiten des Darms, bei icterischer Blutveränderung mürrische, ängstliche, ärgerliche Laune, Trägheit des Denkens, allgemeine Verstimmung etc. eintreten; das Gefühl körperlichen Wohlseins oder körperlicher Krankheit ist überhaupt vom grössten Einflusse darauf, ob unsre Stimmung muthig und heiter oder niedergeschlagen und traurig ist. Wirken nun äussere Ursachen Affect-erregend auf uns ein, so kommt ausserordentlich viel auf diesen schon vorhandenen, habituell oder vorüber - gehend durch die organischen Zustände erregten Gehirnzustand an, ob der Affect haftet oder nicht. Bei schon durch körperliche Krankheit Verstimmten haftet ein äusserlich erregter trauriger Affect weit eher und hat weit nachhaltigere Folgen, als wenn er in einem Menschen entsteht, der sich eben des besten kör - perlichen Wohlgefühls und heiterer Stimmung erfreut hatte.

Diese Verhältnisse geben einige der wichtigsten Grundlagen der Pathogenie des Irreseins. Es liegt in ihnen der Schlüssel zum Verständniss der Prädispo - sition zu Geisteskrankheiten durch die allerverschiedensten körperlichen Er - krankungen und der Wirkungsweise der psychischen Ursachen. Diese erzeugen nemlich (S. das zweite Buch) das Irresein seltener direct, häufiger secundär, durch Vermittlung anderer Störungen, z. B. in der Weise, dass durch lange dauernden Gram der kleine Kreislauf eine Modification erleidet, in Folge deren dann Hyperämie des Gehirns entsteht und diese nun bei dem prädisponirten Individuum zur nächsten Ursache seines Irreseins wird. Es ist eben das Ge - schäft der Pathogenie, die Mechanik dieser Vorgänge nach erfahrungsmässigen Daten auseinanderzulegen.

§. 31.

In den Affecten ist keine ruhige Ueberlegung möglich. Indem das Ich selbst in Schwankung und Erschütterung gerathen ist, behält es nicht die nöthige Ruhe, um die Vorgänge im Bewusstsein mit völliger Hingebung und Aufmerksamkeit zu vernehmen. Den Zu - stand aber, wo solches Vernehmen möglich ist und wirklich statt - findet, nennt man die Vernunft. Zu diesem Vernehmen, und eben desshalb zur Ueberlegung, ist gegenseitige Bestimmbarkeit der Vor - stellungen, Verweilen und Aufschub, Sammlung und Erwägung erforder - lich; den contrastirenden Vorstellungen (§. 23.) muss die Möglichkeit48Die Rückbildung des Irreseins.sich geltend zu machen und dem Ich die nöthige Ruhe gegeben sein. Diess Alles ist nun auch bei den Geisteskranken nicht der Fall. Durch die Gehirnaffection werden ihnen Stimmungen und Triebe aufgedrungen, die zum Ausgangspunkte von Affecten werden; wenn sich aus diesen wieder falsche Urtheile (fixe Ideen) erheben, so können sie nicht berichtigt werden und der Kranke kann seine Täuschung nicht einsehen; anfangs desswegen nicht, weil der anhal - tende Affect den contrastirenden Vorstellungen nicht die nöthige Ruhe gönnt, um sich gehörig entwickeln zu können, vielmehr mit seinem längeren Bestehen immer mehr seine Folgen, die falschen Urtheile, befestigt und consolidirt werden, später aber desswegen nicht, weil jene falschen Urtheile integrirende Bestandtheile aller Vorstellungs - complexe des Ich geworden sind (§. 23.).

Eine Unmöglichkeit, die Falschheit der krankhaften Vorstellungen einzusehen, ist also bei jeder ausgebildeten Geisteskrankheit vorhanden. Die Sache fällt zum grössten Theile zusammen mit dem in §. 23. erörterten Verluste der Besonnen - heit. Eben damit aber haben die Irren auch den Verstand verloren, und zwar nach Herbarts Ausdrucke, desswegen, weil ihre Gedanken sich in ihrem eigenen Zuge durch äussern oder innern Widerspruch gar nicht mehr stören lassen. Auch dem Gesunden gehen allerlei Grillen, falsche Urtheile, thörichte Gedanken durch den Kopf; aber er vermag sie, wenn er nicht gerade im Zustande des Affects ist, ruhig zu bestätigen oder zu verwerfen.

Die Genesung vom Irresein erfolgt nun gewöhnlich nur in den primären, aber allerdings oft eine Reihe von Jahren dauernden Pe - rioden, wo es hauptsächlich auf affectartigen Zuständen beruht. Indem durch Beseitigung der Gehirnkrankheit oder ihrer entfernteren organischen Ursachen die krankhaften Stimmungen und Affecte schwinden, müssen mit ihnen auch die falschen Urtheile, die auf sie basirt waren, fallen, und die Vorstellungscomplexe des nun nicht mehr erschütterten Ich treten unmittelbar in ihre alten Rechte ein. Werden aber erst zu einer Zeit, wo die falschen Urtheile schon mannigfache Verknüpfungen mit den Vorstellungscomplexen des Ich eingegangen haben, die orga - nischen Ursachen der Gehirnkrankheit beseitigt, so kann der Kranke zwar noch genesen; aber es ist ein langer und sehr allmähliger psy - chologischer Process, bis durch Stärkung der früheren normalen Ge - dankenrichtung sich nach und nach die begonnenen Verknüpfungen der falschen Urtheile mit dem Ich lösen und diese sich ganz zurück - drängen lassen (manche Reconvalescenten werden erst zu Hause, mit dem Wiedereintritt in ihre alten Lebensverhältnisse, Geschäfte etc. ganz gesund). Dann aber, wenn das alte Ich durch die krankhaften, falschen Vorstellungen nach allen Seiten hin verunreinigt, verdorben49Die Elementarstörungen beim Irresein.und verfälscht ist, wenn vollends die Vorstellungscomplexe des frühe - ren Ich so vollständig zurückgedrängt (vergessen) sind, dass ohne alle Spur von Affect, der Kranke seine ganze Persönlichkeit mit einer neuen vertauscht hat und von der alten kaum mehr etwas weiss, dann ist die Heilung so gut wie unmöglich, und nur in den seltensten Fällen gelingt es, durch Erregung heftiger Gemüthsbewegungen und mittelst ihrer durch eine Art mechanischer Dressur (Leuret, du traite - ment moral etc. Par. 1840) ein, immerhin schätzenswerthes Zurück - drängen der Aeusserung des Irreseins zu erhalten. Auch diess natürlich nur da, wo das Gehirn noch keine tiefere organische Läsion erlitten hat; wo solche vorhanden ist, wie in vielen dieser Zustände und namentlich im secundären Blödsinn, ist keine Hoffnung der Ge - nesung mehr vorhanden.

Vierter Abschnitt. Die Elementarstörungen der psychischen Krankheiten.

§. 32.

Vor der Betrachtung der zusammengesetzten Symptomencomplexe, welche die speciellen Formen der psychischen Krankheiten geben, sind noch einige allgemeinere Verhältnisse, namentlich aber die ein - zelnen elementaren Störungen, die in jenen Formen (der Melancholie, der Manie etc.) sich verschieden gruppirt wiederholen, kurz ins Auge zu fassen. Und da in den Gehirnkrankheiten, die für uns als psy - chische Krankheiten in Betracht kommen, es, wie in allen übrigen, nur drei Reihen wesentlicher Anomalieen gibt, nämlich sensitive, motorische und geistige (Vorstellungs -) Anomalieen, so bekom - men wir nach diesen drei Gebieten drei grosse Haufen successiv zu betrachtender Elementarstörungen, ein Irresein im Vorstellen, ein Irresein der Sinnesempfindung und ein Irresein der Bewegung.

Die geistigen Störungen sind allerdings die auffallendsten und bedeutendsten in allen diesen Zuständen (§ 5.);*)Bei der Betrachtung der geistigen Anomalieen müssen wir uns auf Vieles im vorigen Abschnitte Gesagtes beziehen, was hier nicht wiederholt werden kann. Bei einer desshalb mehr cursorischen Erwähnung einzelner Punkte möge der Leser die §§. 15 31. zu Hülfe nehmen; sehr Vieles aber kann seine eigent - liche Auseinandersetzung erst in der Schilderung der verschiedenen Formen des Irreseins finden. aber man möge die sensitiven und motorischenGriesinger, psych. Krankhtn. 450Geistesstörungen.Krankheits-Phänomene ja nicht für Nebendinge halten. Die anomale Sinnes - thätigkeit spielt eine grosse Rolle im Irresein, und die Störungen dessen, was man die Phantasie nennt (§. 15.) reichen zu grossem Theile auf ihr Gebiet herüber. Die motorischen Anomalieen aber, die auf den ersten Blick dem Irresein ganz fremd zu sein scheinen, gehören gerade, wie sich später ergeben wird, für die anatomische Diagnostik und für die Prognose zu den allerwichtigsten Punkten.

Erstes Capitel. Die geistigen Elementarstörungen. *)Für die nächstfolgenden §§. vergl. die Bemerkungen von Zeller zu Guislains Phrenopathieen. Stuttg. 1838. p. 440 591.

§. 33.

Der wesentliche Process beim Irresein, das eigentlich Krankhafte darin beruht in der Hauptsache darauf, dass gewisse Gehirnzustände, gewisse Stimmungen, Affecte, Urtheile, Willensimpulse von innen heraus, durch Krankheit des Seelenorgans entstehen, während im ge - sunden Zustande unsre Affecte, Urtheile, Willensbestimmungen nur auf genügende äussere Veranlassungen entstehen und desshalb auch mit der Aussenwelt in einem gewissen harmonischen Verhältnisse bleiben. Niemand wundert sich, wenn Jemand, der einen grossen Verlust erlitten, traurig wird, wenn ein Anderer, dem ein lebhafter Wunsch erfüllt wurde, eine laute Freude zeigt; aber man hält es mit Recht für krankhaft, wenn der Mensch ohne alle äussere Motive in Traurigkeit versinkt oder in laute Fröhlichkeit ausbricht, oder wenn zwar ein äusserer Anlass gegeben ist, das Individuum aber in ganz übermässig heftiger und lange andauernder Weise davon afficirt wird, wenn z. B. ein unbedeutender Vorfall heftigen Zorn erregt, aus dem der Mensch lange gar nicht mehr herauskommen kann.

Nach demselben Grundsatze beurtheilen wir alle Vorgänge im Nervensystem. Ermüdung nach einem starken Marsche ist das Normale, anhaltende Müdigkeit bei steter Ruhe des Körpers ist krankhaft. Frieren durch äussere Kälte ist das Normale; Frost bei warmer, äusserer Temperatur ist krankhaft. Pelzigsein des Beins nach einem Druck auf den Nerven ist schon ein leichter Krankheitszustand, aber man zählt ihn zum verhältnissmässig Normalen gegenüber dem Fall, wo das Bein durch eine innere Ursache, eine Rückenmarkskrankheit, beständig einge - schlafen ist. Ebenso ist es krankhaft, wenn zwar ein kleiner Anlass gegeben, aber die Reaction übermässig heftig ist, wenn Jemand nach wenigen Schritten schon ermüdet, oder nach einem kühlen Luftzuge in heftigen Frost verfällt etc. Da aber die Grenze zwischen Krankheit und Gesundheit nirgends feststeht, so werden manche hierhergehörige, namentlich vorübergehende, Zustände gewöhnlich51Aehnlichkeit mit physiologischen Zuständen.nicht zu den Krankheiten gerechnet. Ein Glas Wein kann uns aufheitern, ohne äussere Motive zur Heiterkeit; es wird hier durch das Spirituosum von innen heraus ein Gehirnzustand, eine expansive Stimmung gesetzt; ein schwaches Analogon des Irreseins, das aber noch nie Jemand eine Krankheit genannt hat, weil es ohne heftige Symptome bald wieder vorübergeht.

Auf die Dauer und die Heftigkeit der Phänomene kommt sehr vieles an, ob wir psychische Zustände als krankhaft beurtheilen. Je - der Mensch weiss aus eigener Erfahrung, wie zuweilen ohne äussere psychische Motive eine heitere oder trübe, weiche oder bittere Stim - mung in uns entstehen kann, Gehirnzustände, die sich gewöhnlich aus leisen, nur mittelst grosser Aufmerksamkeit erkennbaren Verän - derungen der organischen Processe ergeben. Diese Stimmungen sind nicht krankhaft, wenn sie mässig und von kurzer Dauer sind und von den herrschenden Vorstellungsmassen des Ich kräftig bezwungen wer - den können; aber sie sind es, wenn sie sich immer und allenthalben dem Individuum aufdrängen, durch äussere psychische Erregung nicht mehr gehoben werden und statt von den Vorstellungscomplexen des Ich gehörig im Schach gehalten zu werden, diese tumultuarisch affi - ciren und einen andauernden Zustand peinlichen, inneren Kampfes erregen. Wie mit solchen Stimmungen aber verhält es sich auch mit einzelnen, distinkten Vorstellungen. Ein bizarrer, närrischer Ge - danke kann dem vernünftigsten Menschen durch den Kopf gehen; wenn er nur nicht anhält, sondern durch ein starkes Ich sich bald wieder in Vergessenheit zurückdrängen lässt, so nennt diess Niemand krankhaft. Beim Irresein aber haften solche Stimmungen, solche Gedanken, denn sie werden wegen der Dauer und Stärke der Gehirn - affection, anhaltend und heftig der Seele aufgedrungen.

§. 34.

Um das Irresein recht zu verstehen, muss man sich in die Seelenzustände der Irren hineindenken. Aus den psychologischen Zuständen, welche noch innerhalb der geistigen Gesundheit, also in - nerhalb unserer Erfahrung liegen, bekommen wir annähernde Begriffe von dem, was in der kranken Seele vorgeht. Die Phänomene des Traums, die Vorgänge in den Affecten, in der geistigen Ermüdung etc., namentlich aber jene erwähnten, im gesunden Zustande mässigen Veränderungen der Gemüthslage, die sich spontan, aus leisen körper - lichen Störungen ergeben, sind hiefür ganz besonders instructiv. Denn die Beobachtung zeigt, dass wir eben diese Phänomene, einer - seits die ärgerliche, zum Zorn geneigte, unzufriedene, bittere, anderer - seits die fröhliche, heitere, ausgelassene Verstimmung sehr häufig,4*52Gemüthsanomalieen.aber eben in ganz ungewöhnlicher Steigerung und Andauer, als wich - tige Elementarphänomene des Irreseins finden, dass sich also eine Menge solcher Zustände des gesunden Lebens im Irresein wieder - holen, und desshalb durch die Vergleichung mit jenen wesentlich aufgehellt werden. Für andere psychologische Anomalieen der Gei - steskranken finden wir in unsrer eigenen gesunden Erfahrung nichts Analoges; wir sind aber eben desshalb ganz ausser Stande, sie zu verstehen. Wir können uns z. B. durchaus nichts Deutliches darunter vorstellen, wenn wir Geisteskranke klagen hören, dass ihnen bestän - dig ihre Gedanken von Andern gemacht , oder dass sie ihnen abgezogen werden, oder wenn wir sehen, wie sie mit einzelnen Worten, einzelnen Geberden einen ganz besondern Sinn verbinden, ihnen eine tiefgeheimnissvolle Wichtigkeit beilegen etc. Auch für den Zerfall des Denkens im Blödsinn möchte selbst die tiefste, gei - stige Ermüdung noch kein annäherndes Analogon gewähren, und kaum einzelne Zustände des Schlafs und Traums könnten ein entferntes Bild davon geben. Wer das Fieberdelirium aus eigener Erfahrung kennt, hat hierin manche Anhaltspuncte des innern Verständnisses der Geisteskrankheiten.

In den folgenden §§. wird bei den einzelnen krankhaften Zuständen im Ge - müthe, im Denken und Streben, jedesmal an die analogen physiologischen Zustände erinnert werden. Die Scheidung in diese drei Classen geistiger Störungen ist nur eine äusserliche, die Uebersicht erleichternde; ihr innerer Zusammenhang muss sich aus den §§. 22 31. ergeben haben.

A. Gemüthsanomalieen.

§. 35.

Die Beobachtung zeigt, dass nicht mit sinnlosen Reden, nicht mit extravaganten Handlungen, sondern mit krankhaften Gemüthslagen, mit Anomalieen der Selbstempfindung und der Stimmung und daraus sich ergebenden affectartigen Zuständen, die bedeutende Mehrzahl der Geisteskrankheiten beginnt. Und zwar bilden den ersten Anfang meist die objectlosen Gefühle der Unaufgelegtheit, des Missbehagens, der Beklemmung und Angst, weil die durch die Gehirnaffection neu gesetzten Massen von Vorstellungen und Trieben gewöhnlich anfangs noch höchst dunkel sind und desshalb die Störung im normalen Fort - gange des Denkens und Wollens und das neue, gegen das Ich herein - brechende psychische Element erst nur undeutlich gefühlt werden. Die verminderte Kraft und Energie des Ich, das Zurückgedrängt - werden seiner Vorstellungscomplexe gibt einen psychisch-schmerzhaften53Traurige Verstimmung.Zustand unbestimmter Art, eine in ihrer Undeutlichkeit höchst quä - lende Gefühlsbelästigung; die neu herauftretenden krankhaften Vor - stellungen und Triebe erzeugen eine Entzweiung der Seele, das Ge - fühl des Losseins der Persönlichkeit und einer zu erwartenden Ueber - wältigung des Ich. Der psychische Schmerz erscheint in einer der bekannten Formen der Unruhe, Angst, Traurigkeit und bringt alle die oben (§. 18.) erwähnten Folgen einer durchaus veränderten Reaction gegen die Aussenwelt und einer Störung der motorischen Seelenthä - tigkeit mit sich. Perversitäten der natürlichen Gefühle, Abneigung und Hass gegen das früher Geliebte, äussere Gefühllosigkeit, oder eine sich krankhaft an einen Gegenstand anklammernde Zärtlichkeit, doch ohne die Tiefe der ruhigen Empfindung und ohne die rechte Sorgfalt, oft auch schnell und capriciös mit Widerwillen abwechselnd, sind hier gewöhnliche Erscheinungen. Die gesteigerte Empfindlichkeit bezieht Alles auf sich, weil sie sich wirklich von Allem unangenehm berührt fühlt, und in der düstern Beschattung aller An - und Aus - sichten legt der Mensch alles Gegenwärtige übel aus und sieht in allem Zukünftigen nur Schlimmes. Misstrauen und Argwohn werden durch das Gefühl verminderter Widerstandsfähigkeit unterhalten und durch körperliche Angstempfindungen immer neu geweckt; Alles er - scheint dem Kranken anders, weil er sich selbst zu jedem psychi - schen Eindrucke anders verhält, weil er gänzlich anders empfindet, und er hat die grösste Neigung, seinen Zustand bald einem directen Einflusse der Aussenwelt zuzuschreiben, sich verfolgt, beeinträchtigt, bezaubert, von schlimmen, geheimen Einflüssen beherrscht zu glauben, bald in seinem früheren Leben die Ursachen davon zu suchen und sich allerlei schwerer Verbrechen, Verworfenheiten und Unthaten an - zuklagen, deren nothwendige Consequenz sein jetziges Verhalten sei.

Hier kommen nun die mannigfaltigsten Modificationen dieser Grundzustände vor, bald ein völliges Insichversunkensein, bald laute Verzweiflung, zuweilen Tücke, selten schmelzende Weichheit, bald anhaltende Selbstquälerei, bald stete Beziehung der Unzufriedenheit auf die Aussenwelt, bald Lebensüberdruss und ruhiger Entschluss zum Selbstmord, bald Furcht vor dem Tode, vor Höllenstrafen und dergl. Sehr häufig hat der Kranke Anfangs das Gefühl des beginnenden Irre - seins, zuweilen fleht er um Hülfe, und wir selbst haben Kranke iu den Anfangs - stadien aus weiter Entfernung freiwillig der Irrenanstalt zueilen gesehen.

Die genannten Zustände geben die Grundlage der verschiedenen Formen der Melancholie; doch kommen sie auch in andern Formen (z. B. der Verrücktheit, der Tobsucht) vor, und man kann sagen, dass sich die Mehrzahl der Irren höchst unbehaglich, ja unglücklich fühlt, woher wohl die alte Benennung Morositates (Sauvages) für alle Geisteskrankheiten rühren mochte. Jenen Zuständen entsprechen als analoge des gesunden Lebens alle deprimirten Stimmungen und Affecte, Nieder -54Heitere Verstimmung.geschlagenheit, übermässige Reizbarkeit, habituelle, bittere, unzufriedene, selbst - quälerische Stimmungen, wie man sie zuweilen bei geistig ausgezeichneten Menschen beobachtet (J. J. Rousseau), grundlose Eifersucht, Aerger, Furcht, Zorn etc.

§. 36.

Die entgegengesetzten krankhaften Gemüthszustände, mit der Stim - mung der Heiterkeit, Ausgelassenheit, des Muthwillens, mit erhöhter geistiger (und gewöhnlich auch leiblicher) Activität sind den expansiven Affecten höchst analog, und beide haben in der Hauptsache dieselben nächsten Folgen. Es gibt auch beim Gesunden ein Närrischwerden vor Freude , wo nicht nur das Gefühl der glücklichen Gegenwart alle Seelenkräfte expandirt, sondern plötzlich auch alle Träume der Zu - kunft realisirt erscheinen, wo Menschen und Dinge einem näher ge - kommen sind, wo man Jedermann sein Glück theilen lassen und der ganzen Welt um den Hals fallen möchte. Es kann dabei sogar schon zu einer ziemlichen Unordnung und Inconhärenz der Ideen kommen, und es zeigt jedenfalls keine sehr tiefe Erregung, wenn der Glück - liche sich gleich schnell besonnen in Alles zurecht zu finden weiss. Auch beim Gesunden ist mit diesen Gefühlen gewöhnlich ein Trieb zu äusserer Bewegung, Unruhe, vielem Sprechen und Geschäftigkeit verbunden. In ähnlicher Weise äussern sich diese Zustände, wenn sie von innen heraus krankhaft entstehen; sie bilden gewöhnlich die Grundzustände der Form des sog. Wahnsinns und kommen auch noch, doch sehr abgeschwächt, in der Verrücktheit und Narrheit vor. Wir müssen uns, nach unsern Beobachtungen, entschieden der An - sicht Guislains anschliessen, dass das fröhliche Irresein fast immer erst secundär, nach vorausgegangenen Depressionszuständen, sich ein - stellt. Es scheint desshalb auch auf einer tieferen psychischen Er - krankung zu beruhen, als die letzteren Zustände. Es ist oft, als ob plötzlich mit einer eingetretenen Veränderung im Zustande des Ge - hirns die bisher auf der Seele lastenden Hemmnisse vollständig weg - genommen wären und sich nun, als ein Symptom tieferer Zerrüt - tung, das Gefühl grosser psychischer Freiheit, glückliche, hoffnungs - reiche Stimmnngen von selbst erheben könnten. Eine entferntere Analogie aus dem sensitiv-motorischen Nervensysteme mag die Beobachtung (Purkinje) bieten, dass, wenn die Extremitäten eine Zeit lang mit angehängten Gewichten belastet waren, unmittelbar nach deren Wegnahme eine ungemeine Leichtigkeit der Bewegungen eintritt.

Eine Menge anderer, nicht einzeln aufzählbarer krankhafter Stimmungen und Gemüthserregungen, bizarre, launische Inclinationen und Abneigungen, sinnliche und ideal-schwärmerische Verliebtheit, Coquetterie etc. kommen noch vor.

55Formell anomales Denken.

Mit dem Auftreten all dieser verschiedenen Gemüthsanomalieen hat sich dann gewöhnlich das Verhalten des Individuums zur Aussenwelt, sein ganzer Cha - racter, es haben sich seine Neigungen und Geschmacksrichtungen total verändert. Der Sanfte kann wild, der Geizige verschwenderisch, der Sittsame obscön, der Bescheidene eitel und hochmüthig erscheinen etc. Die Umwandlung des Characters ist gewöhnlich in den Anfangsperioden des Irreseins das auffallendste Zeichen und gewöhnlich stellt sich das Irresein nur in dem Falle einer sehr langsamen, all - mähligen Entstehung als die bloss excessive Steigerung der natürlichen Character - Eigenschaften des Menschen dar. Man darf desshalb aus den Gemüths-Eigenthüm - lichkeiten des Kranken auf seinen früheren Character nur mit grösster Vorsicht schliessen; exquisite Bosheit und Tücke z. B. kann bei sonst gutgearteten, wohl - wollenden Menschen Jahre lang während der Dauer der Krankheit anhalten und mit der Genesung schnell und spurlos dem alten Character wieder weichen.

B. Anomalieen des Denkens.

§. 37.

Wir können auf dem Gebiete des deutlichen Vorstellens, des Urtheilens und Schliessens zur leichteren Uebersicht zweierlei Ab - normitäten unterscheiden, einmal ein krankhaftes Verhalten des Vor - stellens in formaler Beziehung, sodann eine Abnormität der Vor - stellungen in Bezug auf ihren (falschen) Inhalt. Beide Verhältnisse hängen aufs innigste zusammen, in der Weise, dass gewisse formale Abweichungen, z. B. ein allzurascher Ablauf, eine zu grosse Lang - samkeit im Vorstellen, schon durch die Gefühle, von denen sie noth - wendig begleitet sind, wieder einzelne Grundinhalte der Vorstellungen an die Hand geben oder begünstigen, z. B. die mässige Steigerung des Vorstellens, wo die Combinationen mit erhöhter Leichtigkeit von statten gehen, ist sehr häufig von falschen Urtheilen, die sich aus dem Gefühle geistiger Freiheit und geistigen Wohlseins ergeben, begleitet. *)Vgl. des Verf. Neue Beiträge zur Pathologie des Gehirns. Archiv für physiolog. Heilkunde. III. 1. 1844. p. 95.

a. Formale Abweichungen.

Zu grosse Langsamkeit des Denkens rührt entweder von einer Unterdrückung durch heftigen psychischen Schmerz, der das Bewusstsein ganz füllt und nichts Anderes neben sich aufkommen lässt, oder von wirklicher Schwäche, namentlich von dem Verluste des Gedächtnisses her. In beiden Fällen, so verschieden sie ihrem inneren Grunde nach sind, beobachtet man Armuth und Einförmigkeit im Vorstellen; der Zug der Gedanken scheint mitunter stille zu stehen, einzelne Worte, Redensarten, Bewegungen, die Stunden lang wieder - holt werden, zeigen das Beharren einzelner Vorstellungen; oft ist ein Stocken der Rede, eine grosse Unsicherheit in der Verknüpfung der56Die Verworrenheit.Gedanken und Schüchternheit im Urtheilen bemerklich. Dieser Zu - stand findet sich vorzüglich in der Melancholie und im Blödsinn.

Eine erhöhte Production und ein beschleunigter Ablauf der Gedanken kann in mässigeren Graden die geistige Combination erleichtern; man sieht dann zuweilen sonst eben nicht geistreiche Menschen scharfsinniger und witziger werden, namentlich stellt sich zuweilen der gelungene Ausdruck feineren Spottes gegen die Um - gebung, leichte Versification und dergl. ein. Indessen hört man nur wenig Kluges von den Irren. Denn gerade in diesen Zuständen, wo der bildenden geistigen Thätigkeit ein reichlicheres Material geboten wird, stellt sich gewöhnlich sehr bald Unordnung und Verworren - heit ein. Wenn nämlich grosse Mengen von Vorstellungen im Ge - hirn entstehen und ihr Lauf beschleunigt ist, so ziehen sie zwar lange Reihen nach und oft kommen hier längst vergessene Bilder und Ereignisse, Worte, Lieder u. dergl. mit der Frische der ersten In - tuition wieder herauf; aber indem die Vorstellungen so rasch von einander gedrängt werden, dass sie nicht in die gehörigen Verbin - dungen eingehen können, indem ferner durch diese Mannigfaltigkeit der Gedanken leicht auch ein grosser Wechsel der Gemüthszustände gesetzt wird, entsteht nur höchste Unruhe und eine haltlose Ideen - jagd. In deren Strome wird dann Alles in bunter Flucht fortgerissen, und es ist ein Zufall, wenn in ihren Wirbeln hier und da die Ele - mente zu einem baroken Gedanken zusammentreffen, der sich wenigstens noch geistreicher als seine Umgebung ausnimmt.

Diese letzteren Zustände kommen hauptsächlich in der Tobsucht vor; bei ihrem Beginne namentlich zeigt sich oft grössere geistige Leb - haftigkeit, und man hat Fälle beobachtet, wo es jedesmal ein sicheres Zeichen des nahenden Tobanfalls war, wenn der Kranke witzig wurde.

Verworrenheit der Gedanken entsteht übrigens nicht allein auf die ange - gebene Art, durch eine Ueberfüllung des Bewusstseins. Es gibt auch eine ver - wirrte Incohärenz im Denken und Reden, die den Gedankensprüngen und Ellipsen des Affects, z. B. des Zorns, entspricht, und wieder eine andere, die aus gänz - lichem Zerfall und tiefer Zerrüttung der psychischen Processe hervorgeht. Der psychologische Mechanismus dieser letzteren Zustände ist im Einzelnen noch sehr dunkel, es scheint uns, dass die Incohärenz häufig darauf beruht, dass sich die Vorstellungen nicht sowohl nach ihrem (ähnlichen oder contrastirenden) Inhalt, sondern mehr nach den äusseren Aehnlichkeiten des Wortklangs hervorrufen. Vielleicht hat eine mangelnde Zusammenwirkung beider Gehirnhälften grossen An - theil an der Verworrenheit überhaupt.

Für die in diesem §. erwähnten krankhaften Beschaffenheiten des Denkens finden sich viele physiologische Analogieen, theils in der zähen Hartnäckigkeit, mit der uns unangenehme Vorstellungen verfolgen können, in der Wortkargheit, in57Die Störungen des Gedächtnisses.der Einschüchterung des Urtheils durch ein widriges Ereigniss, auch in dem s. g. Schmollen, theils in der Confusion der Ideen durch Furcht; für die zweite Reihe in der Schwatzhaftigkeit ohne wahren Gedankeninhalt, in der innerlichen Verwirrung, die durch copiose, gleichzeitige Aufnahme vieler Ideen dann ent - stehen kann, wenn noch keine gemeinsame Punkte und leitende Richtungen in ihnen aufzufinden sind, oder wieder in der Incohärenz der Traumbilder.

§. 38.

Was noch besonders das Gedächtniss betrifft, so findet sich ein höchst verschiedenes Verhalten desselben bei den Irren. Mitunter ist es vollständig treu, sowohl für die Ereignisse des früheren Lebens, als für die während der Krankheit. Eine krankhafte Erhöhung des - selben ward im vorigen §. erwähnt. Viel häufiger aber ist eine Schwächung desselben in verschiedenen Modalitäten. Namentlich die Form des Blödsinns zeichnet sich in der Weise durch Schwäche des Gedächtnisses aus, dass das eben jetzt Geschehende schnell, oft von einem Augenblicke zum andern vergessen wird, während es oft an Erinnerungen aus dem früheren Leben nicht fehlt, die sogar den Stoff zu einem ziemlich geordneten Gespräche geben können. An - deremale ist gerade der Inhalt des vergangenen Lebens entweder (selten) völlig aus der Tafel der Erinnerung weggewischt oder (öfter) wenigstens in eine solche Ferne gerückt, so undeutlich und dem In - dividuum so fremd geworden, dass es denselben kaum mehr als sein Erlebniss anerkennen kann; hier wird dann oft die eigene, wirkliche Existenz erst von den Tagen der Erkrankung an datirt und das Frühere entweder einer fremden Persönlichkeit oder wenigstens einem früheren ganz anderen Zustande (einem Scheinleben) zugeschrieben. Dieser völlige Abfall vom früheren Ich beruht freilich nicht allein auf Ge - dächtnissmangel, sondern wird gewöhnlich durch besondere sensitive Anomalieen (§. 43.) mit hervorgebracht und beharrlich gemacht; aber das Verschwinden ganzer Massen früherer Vorstellungen begünstigt ausser - ordentlich die consequente, innere Durchführung eines solchen Wahns. *)Beispiele finden sich unten im §. 43. und bei der Verrücktheit.

Der vom Irresein Genesene erinnert sich in der Regel der Er - eignisse während seiner Krankheit und kann oft mit wunderbarer Treue und Schärfe die kleinsten Vorkommnisse in der Aussenwelt und das feinere Detail seiner Motive und seiner Stimmung während der Krank - heit angeben. Er weiss oft noch jeden Blick, jedes Wort, jede Mienenveränderung seiner Besucher zu schildern eine beiläufige Aufforderung an die Umgebung der Irren zu einer steten, strengen Achtsamkeit auf sich selbst, zur Gerechtigkeit und Milde, wenn es58Falsche Vorstellungen. Wahnideen.solcher Mahnung noch bedürfte! Ein solches Verhalten kommt namentlich bei Genesenen nach schwermüthigen und mässigeren tob - süchtigen Zuständen vor, weniger nach der Form des Wahnsinns, aus dem der Kranke gewöhnlich viel verworrenere Erinnerungen behält. Die Angabe eines Genesenen, von allen Vorgängen während des Irre - seins gar nichts mehr zu wissen, ist mit Vorsicht aufzunehmen, da auch genaue Erinnerungen oft aus Scham verschwiegen werden.

b. Falscher Inhalt der Gedanken. Wahnideen.
§. 39.

Mit dem Auftreten falscher Urtheile, die nicht mehr berichtigt werden können, wirklicher Delirien, wird die Geisteskrankheit, wenn sie anfangs nur ein Irresein in Gefühlen und Affecten war, zum Irre - sein der Intelligenz. Der falsche, d. h. mit der Aussenwelt und den früheren Erlebnissen des Individuums nicht mehr congruente Inhalt der Gedanken ergibt sich Anfangs ganz gewöhnlich auf die Weise, dass der Kranke, nach dem Causalitätsgesetze, seine Stimmungen und krankhaften Affecte sich zu erklären sucht (§. 18. 35.). Die allerverschiedensten äusseren Anlässe und Ereignisse und alle möglichen Erinnerungen seines eigenen Lebens können das mannig - faltigste Material dieser Erklärungsversuche abgeben, und der Zufall, die Bildungsstufe und die Lebensansichten des Individuums haben hier den grössten Einfluss. Dieselbe Stimmung, z. B. die in dem Abergläubischen den Wahn der Verhexung erregt, kann einem Andern die Ideen einer Verfolgung durch Freimaurer, einer Beeinträchtigung durch geheime magnetische Manipulationen u. dergl. suppeditiren. Von ganz besonderem Einflusse sowohl auf die Bildung solcher Wahnideen überhaupt, als auf ihren speciellen Inhalt sind alle Hallucinationen; sie sind so häufig, bieten ein so lebhaft aufgedrungenes und oft so constantes Material für Erklärungen dar, dass wir erfahrungsgemäss in ihnen den gewöhnlichen Ursprung der Wahnideen finden müssen (z. B. ein Gesichtshallucinant, der feurige Erscheinungen hat, glaubt sich in der Hölle; ein Geruchshallucinant glaubt sich überall von Leichen, deren Ausdünstung er zu riechen glaubt, umgeben, baut darauf weitere Schlüsse etc.).

Auch in den Wahnideen sind besonders zwei grosse Unterschiede ihres Inhalts bemerklich, glückliche, erhabene, glänzende Einbildungen und wieder düstere, traurige und schmerzliche falsche Conceptionen. Die ersteren gehen aus den expansiven Affecten und aus heiteren, Glück verkündenden Hallucinationen, die letzteren aus den deprimirten59Ihre Entstehung.Gemüthszuständen und finstern, Unheil bringenden Hallucinationen, z. B. Schimpf - und Spottreden, die der Kranke immer hört, Teufels - fratzen, die er sieht, u. dergl. hervor.

Die falschen Vorstellungen und Schlüsse, die zu Erklärungs - versuchen werden, entwickeln sich ganz von selbst nach dem Cau - salitätsgesetze in der kranken Seele; es braucht von Seiten des In - dividuums kein Besinnen auf eine Erklärung, noch weniger werden solche Schlüsse nach der langweiligen Form des Syllogismus gebildet. Anfangs sind sie noch schwebend, das Ich appercipirt sie, es kann vor ihnen erschrecken und mit ihnen kämpfen; allmählig aber, bei steter Wiederholung, drängen sie die entgegenstehenden Vorstellungen zurück und knüpfen Verbindungen mit den verwandten Vorstellungs - massen des Ich an; dann sind sie zu dessen Bestandtheile geworden und der Kranke kann sich ihrer nicht, oder nur etwa durch einen Wechsel mit andern ähnlichen, falschen Vorstellungen entschlagen. Die förderlichen, heitern und glücklichen Wahnideen werden natür - lich viel leichter und vollständiger in das Ich aufgenommen, es gibt ihnen früher, nach kürzerem Widerstande nach und es entsteht dann zuweilen ein halbbewusstes Hineinphantasiren in eine Welt glück - licher Träume.

Nicht alle falschen Ideen haben indessen die Bedeutung der Erklärungsversuche; viele entstehen mit der zufälligen Abruptheit der Hallucinationen oder jener sonderbaren, bizarren Gedanken, die sich selbst dem Gesunden mitten in den Kreis seiner ernstesten Beschäf - tigungen eindrängen können; ob sie haften, hängt von der jeweiligen Stimmung des Kranken und davon ab, ob sie in den vorhandenen Vorstellungen mehr oder weniger Material zu Verbindungen finden. Man wird bei gehöriger Aufmerksamkeit, sehr häufig finden, dass auch solche Wahnideen bei den Geisteskranken gewöhnlich mit Hallucina - tionen im Zusammenhange stehen.

Von fixen Ideen sollte nur da gesprochen werden, wo sich die falschen Urtheile vollständig und bleibend fixirt haben, nemlich bei den partiell Verrükten. In der Melancholie, der Tobsucht, dem Wahnsinn, wechseln sie sehr häufig. Alle falschen Urtheile der Geisteskranken zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich auf das Subject selbst beziehen oder wenigstens aus falschen, auf das Subject bezüglichen, Ideen sich herausgebildet haben; sie unterscheiden sich dadurch, wenn auch nicht vollständig, doch zu grossem Theile, von den Irrthümern des Gesunden über objective Verhältnisse. Ein Geisteskranker kann z. B. alle Juden für verdammt halten, aber nur, weil er sich von ihnen beeinträchtigt glaubt oder weil er ihnen diese Strafe dictirt hat; er kann an die Existenz einer Brücke von der Erde zum Monde glauben, aber nur weil er darauf wandeln will, oder weil er mit deren Construction einen Beweis seiner Schöpferkraft gegeben hat etc. 60Allgemeinheit und Partialität des Wahns.Fast alle fixen Ideen sind in ihren letzten Anfängen Ausdrücke einer Beeinträch - tigung oder einer Befriedigung der eigenen Gemüthsinteressen; desshalb führt ihre isolirte Betrachtung, als ob sie die Hauptsache beim Irresein wären, immer zu einer einseitigen und beschränkten Auffassung und ihr Verständniss wie ihre ärztliche Bekämpfung kann sich im einzelnen Falle nur auf die Einsicht in die ihrer Entstehung zu Grunde liegenden psychischen Zustände stützen.

§. 40.

Ob der Kranke nur einzelne wenige oder ob er sehr viele falsche Urtheile preisgibt, ob sein Delirium nur ein partiales oder ein all - gemeines ist, diess ist bei der Auffassung seines Zustandes zu be - achten und kann wenigstens einigen diagnostischen Werth haben, da der erstere Fall häufiger bei Schwermüthigen und Verrückten, der letztere bei Maniacis vorkommt. Allein eine Scheidung der Formen nach der Partialität oder Allgemeinheit des Deliriums vornehmen zu wollen, ist irrig. Vor Allem wäre es grundfalsch, an die Existenz irrer Zustände zu glauben, bei denen der Kranke nur eine einzige beschränkte fixe Idee haben, in allen übrigen Beziehungen aber völlig geistesgesund sein soll. Wir werden unten sehen, dass auch in der Form des Irreseins, wo noch am ehesten dieser Anschein entstehen könnte, nämlich der partiellen Verrücktheit, immer eine tiefe innere Zerrüttung der psychischen Individualität vorhanden ist. Sodann be - steht die Partialität des Wahns ganz gewöhnlich durchaus nicht darin, dass der Kranke nur eine einzige fixe Idee hat, sondern vielmehr darin, dass er eine solche vorzugsweise immer wiederholt äussert. Endlich sind diese Verhältnisse sehr unbeständig. Derselbe Kranke, in derselben Form des Irreseins, kann nicht nur von einem Tage zum andern seine Wahnideen wechseln, er kann auch heute in sehr vie - len Beziehungen falsche Urtheile abgeben, während er vielleicht gestern noch nur in Einer gewohnten Lieblingsvorstellung delirirte.

Die Aufstellung einer Classe der Monomanie*)Vgl. hierüber auch einige richtige Bemerkungen von Monti, Oestreich. Jahrb. 1843. Octbr. p. 64. (gegenüber der Manie), die sich übrigens weniger auf das Vorhandensein einer einzelnen fixen Idee, als auf das einseitige Herrschen eines gewissen Triebes (Mordmonomanie, Stehlmono - manie etc.) bezog, hat mit Beiseitsetzung des wichtigsten Verhältnisses, nemlich des psychischen Grundzustandes, nach äusseren Merkmalen Getrenntes vereinigt und innerlich Zusammenhängendes getrennt und ist desshalb nicht zu billigen.

Das partielle Delirium, das Beherrschtsein von Einem Wahne, der zum Mittel - punkte alles Denkens geworden ist, hat viele Analogie mit dem einseitigen Herrschen eines Gedankenkreises beim Gesunden, bald mehr mit dem zähen Eingenommen - sein für eine gewisse Theorie, die dem Menschen zur Sache der eigenen Persön -61Willensstörungen.lichkeit geworden ist, bald eher mit dem Herrschen gewisser Leidenschaften, z. B. der Liebe, der Eifersucht, dem Stolz, der Genussucht, dem Geiz etc., die in ihren höheren Graden, wenn sie Alles Andere aus der Seele verdrängen, ebenso das geistige Leben veröden, von denen mehrere auch in ihrem Ausdrucke z. B. äusserliche Zerstreutheit bei innerlicher Concentration, Ziererei und Lust an äusserem Prunk, mannigfache Aehnlichkeit mit den entsprechenden Formen des Irreseins haben.

C. Anomalieen des Wollens.

§. 41.

Auch die motorische Seite des Seelenlebens zeigt bei den Gei - steskranken schwere und mannigfaltige Abweichungen vom mittleren Zustande der Gesundheit, sowohl auf demjenigen innerlichen Gebiete, wo deutliches Vorstellen zum bewussten Wollen wird, als auf dem, wo ein undeutlicheres, aber deshalb nicht unkräftigeres Streben (Trieb) durch sensitive Eindrücke und dunkle Gemüthsbewegungen erregt wird.

In ersterer Beziehung stehen sich als Extreme die Willenlosig - keit und das erhöhte, bis zum Schrankenlosen gesteigerte Wollen entgegen. Die Willensschwäche kann aus der Unmöglichkeit, sich zu entschliessen, hervorgehen und diese in Trägheit des Vorstellens oder dem Mangel eines gehörig kräftigen Ich, das mit seinen Vor - stellungsmassen eine schwebende Vorstellung zum Streben determi - nirte, ihren Grund haben. Diese Zustände äussern sich als höchste Bedenklichkeit, Unentschlossenheit, Unfähigkeit, die gewohnten Willens - impulse, z. B. zu den habituellen Geschäften, aufzubringen und sind in den ersten, melancholischen Stadien des Irreseins sehr häufig. Andrerseits entsteht Willenlosigkeit (im Blödsinn) aus der Abwesen - heit klarer Vorstellungen überhaupt; mit dem Denken nimmt auch das Wollen ein Ende.

Die Willenssteigerung äussert sich als grosse Begehrlichkeit, als Thatenlust, als Sucht, Plane zu machen, alle Vorstellungen in Be - strebungen zu realisiren, auch als herrischer Eigensinn und gewalt - thätiges, heftiges Begehren in bestimmten Richtungen, ähnlich den consequenten, starken Willensrichtungen der Leidenschaft. Sie er - scheint in ersterer Beziehung entweder als häufige Aeusserung schwächlicher Velléitäten, oder sie ist wirklich begründet auf ein Gefühl erhöhter körperlicher und psychischer Kraft, grösserer Rüstig - keit und auf ein krankhaft erhöhtes Selbstgefühl. Das letztere ist ganz besonders in der Form des sog. Wahnsinns der Fall.

Ueberhaupt aber bringen jedesmal die krankhaften Gemüths - bewegungen den ihnen entsprechenden Zustand des Strebens mit sich, und dieses ist um so klarer und bestimmter, um so mehr62Krankhafte Triebe.eigentlicher krankhafter Wille, je deutlichere Wahnvorstellungen sich aus den Affecten oder Hallucinationen ergeben haben.

Unter den krankhaften Trieben ist zuerst der heftige Trieb zum Muskelgebrauche, zu körperlicher Bewegung überhaupt zu erwähnen, wie er sich, namentlich in tobsüchtigen Zuständen, als anhaltendes Bedürfniss des unruhigen Hin - und Hertreibens, des Um - sichschlagens, des Schreiens etc. äussert ein Verhalten, das oft genug zu Beeinträchtigung und Zerstörung der Umgebung des Kranken führt, ohne dass es diesem gerade um diesen bestimmten Zweck zu thun wäre. Der Kranke sucht und findet Erleichterung seines inner - lichen Drucks und seiner Gefühlsbelästigung, indem er sie nach aussen wirft (§. 22.); und es reihen sich hieran die Zustände, wo heftige Angstgefühle oder einzelne schreckliche Vorstellungen den Kranken zu einzelnen bestimmten Unthaten treiben. So heftig kann dieser Drang nach irgend einem Ende, irgend einer Entscheidung seines qualvollen Zustandes sein, dass hier gar nicht selten Hand - lungen, die der Kranke im höchsten Grade verabscheut, aus dem Gefühle, dass nur in ihnen noch Rettung und Beruhigung für ihn zu finden sei, begangen werden. Untersucht man indessen, wie man es muss, die einzelnen bekannt gewordenen Fälle, wo Geisteskranke in gefährlichen und verbrecherischen Thaten (Mord, Selbstmord, Brand - stiftung, Diebstahl) ihr Irresein äusserten, näher nach ihren Motiven, so fällt die grosse Verschiedenheit ihrer psychologischen Grundlagen in die Augen; man fühlt alsbald das Ungenügende, solche Fälle, je nach der Art der begangenen Handlungen, einem besondern Mord -, Brand -, Selbstmordtriebe etc. zuzutheilen und das Bedürfniss, sie nach den psychisch-krankhaften Grundzuständen, aus denen sie her - vorgehen, getrennt zu beurtheilen. So fallen dann die einzelnen der - artigen Willensrichtungen bald melancholischen, bald maniacalischen, bald verrückten Motiven zu und wir haben sie bei der Einzelbetrach - tung dieser Formen wiederzufinden.

In solchen Neigungen, Unheil zu stiften, die Kleider zu zerreissen, die Möbel zu zerbrechen, werthvolle Dinge zu verstecken, Anderes zu stehlen etc., wie auch in vielen anderen bizarren Handlungen harmloser Art, (z. B. dem beständigen Aus - ziehen der Kleider) werden die Kranken gewöhnlich von bewussten Motiven geleitet und man darf diese Handlungen nur in den seltensten Fällen für rein automatiseh halten. Entweder sind es Hallucinationen, die ihnen solches anbefehlen, oder das Bestreben, sich durch eine auffallende, kecke That Ruhe vor innerer Beängstigung zu verschaffen, oder eigentliche Wahnideen. Zeller (Bemerkungen zu Guislain p. 490) berichtet eine Anzahl solcher Fälle mit den von den Kranken angegebenen Motiven. Ein Kranker schlug bei uns alle Fenster hinaus, welche er erreichen63Krankhafte Triebe.konnte, und zwar in der grössten Ruhe und Unbefangenheit, um doch Glas zur Verstopfung von Mauslöchern zu bekommen; ein Anderer, um die Gelegenheit zu benützen, einmal nach Herzenslust Kronenthaler schlagen zu dürfen. Ein Anderer zerriss in Ruhe alle seine Hemden, um Charpie für Feldhospitäler zu sammeln; ein Anderer hob den Ofen ab, um seine Pfeife anzuzünden, und setzte ihn dann in aller Gemächlichkeit wieder auf etc. Einer hatte eine Menge Stühle zusammen - geschlagen, und auf meine Frage, wie er denn zu solch unsinnigem Zeug käme, erwiederte er, indem er ruhig an der Fortsetzung dieses Geschäfts fortfahren wollte, ohne aufzusehen, die Philosophie muss den Sieg über die Aesthetik er - langen. In solchen Fällen muss man indessen den Kranken, die mit der An - gabe ihrer wirklichen Motive oft äusserst zurückhaltend sind, nicht zu sehr vertrauen, und manches solche Beispiel erinnert an die Scene in Shakespeare, wo der durch Fragen in Verlegenheit gesetzte Fallstaff immer bei der Antwort bleibt in Steifleinen.

Bei den verbrecherischen Handlungen der Irren ist es der genauesten Be - achtung werth, ob der Kranke auch schon im gesunden Leben einen ähnlichen Hang (z. B. zum Stehlen) gezeigt hat, der nur jetzt, bei aufgehobener Besonnen - heit, unverhüllt ans Licht tritt, oder ob die Lust dazu, erst während des Irreseins entstanden und mit der Genesung dann auch wieder verschwindend, wirklich aus krankhaften Gemüthsbewegungen und Wahnideen hervorging. (S. Jakobi über Stehlsucht in Jakobi und Nasses Zeitschrift. 1837. 1. Heft. p. 179.)

Aus der Aeusserung solcher Neigungen, aus dem freien Hervortreten von Lüsten, die sonst verhüllt werden, aus einzelnen krankhaften Trieben ist sehr Vieles von der Bizarrerie herzuleiten, die das Benehmen der meisten Geisteskranken zeigt. Jene haben ihre Analogieen im gesunden Leben theils in jenen sonderbaren Gewohnheiten und grillenhaften Handlungen, die zuweilen sogar als curiose An - hängsel an grosse, innerlich stets lebhaft beschäftigte Intelligenzen vorkommen, (z. B. den Stoff zu manchen Gelehrten-Anecdoten abgeben) theils aber in den Willensrichtungen und Handlungsweisen der Leidenschaft und des Affects. Hier ist im Einzelnen Stoff zu unzähligen Vergleichungen und man findet bei den Dichtern, welche die affectvollen Zustände des Subjects zum Gegenstande haben, eine Menge beispielsweiser Analogieen. Wenn der Schwermüthige z. B. den Trieb hat, hinaus, fort zu wollen, im Freien herumzuschweifen, weil es ihm daheim zu enge ist und er von äusserer Unruhe und Unstetheit Linderung seines inneren Schmerzzustandes erwartet, so kommt dasselbe beim reellen psychischen Schmerze vor, wo es das Individuum hinaus ins Freie oder gar in ferne Länder, in die Welt, ins Leben hinaustreibt, um in äusserer Unruhe und Umherschweifen die innere Ruhe wieder herzustellen. Eichendorff hat diese Stimmung in einem be - kannten Liede gut ausgedrückt (in dem Verse: Ich möcht als Spielmann reisen etc. Ich möcht als Reiter fliegen etc.); andere Beispiele könnte man in dem Wander - triebe moderner schmerzzerissener Touristen finden.

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Zweites Capitel. Die sensitiven Elementarstörungen.

§. 42.

Unter den für das Irresein so bedeutungsvollen Empfindungs - Anomalieen ist zuerst der verschiedenen Art zu gedenken, wie sich das allgemeine Krankheitsgefühl verhält. In der grossen Mehr - zahl der Fälle fehlt es bei den Geisteskranken vollständig, die mei - sten derselben wollen desshalb auch nicht krank sein und protestiren oft gegen eine ärztliche Behandlung. Ja, in nicht wenigen Fällen schwerer psychischer Erkrankung ist statt eines Krankheitsgefühls viel - mehr ein Gefühl erhöhten Wohlseins, erhöhter Körperkraft und Rüstigkeit vorhanden; solche Kranke (Maniaci) werden häufig bei jedem Zweifel an ihrer vollständigen Gesundheit ärgerlich und aufgebracht, und berufen sich gerne auf ihren vortrefflichen krankhaft erhöhten Appetit, um ihr vollständiges Wohlsein zu beweisen. Diesen Mangel an Krankheitsgefühl beobachten wir bei einer Menge von Gehirnaffectionen, zuweilen nach Kopfverletzungen, ganz gewöhnlich in der acuten Me - ningitis und dem typhösen Gehirnleiden. Auf der Höhe der Krank - heit erhält man hier auf die betreffenden Fragen meist die Antwort, dass es ganz gut gehe, zuweilen sogar die Versicherung, dass man sich sehr täusche, das Individuum für krank zu halten, während dann mit dem Nachlass der Gefahr und allgemeiner Milderung der Sym - ptome ein starkes Krankheitsgefühl, die tiefste Abgeschlagenheit und Ermüdung sich einstellen. Solche pflegen denn auch in der Recon - valescenz aus jenen Formen des Irreseins nicht zu fehlen.

Es gibt dagegen andere Zustände von Irresein, wo es an dem Krankheitsgefühle nicht nur nicht fehlt, sondern dasselbe, im Ver - hältnisse zu den objectiven Symptomen, vielmehr ganz ungewöhn - lich intensiv erscheint. Der Kranke wird dadurch über den ob - jectiven Thatbestand seines körperlichen Befindens getäuscht und er delirirt in falschen Vorstellungen schwerer eigener Erkrankung. So bildet ein unverhältnissmässig starkes oder anhaltendes Krankheits - gefühl eine der Grundlagen der hypochondrischen Zustände, und es ist für dieselben charakteristisch, dass es gewöhnlich nicht bei dem allgemeinen Eindrucke körperlichen Missbehagens bleibt, sondern mit der abwechselnden Richtung der Aufmerksamkeit auf die einzelnen Organe in jedem derselben unangenehme Empfindungen geweckt wer - den. Ganz denselben Zustand der nervösen Centralorgane finden wir in acuter Weise, in den Anfangsstadien der meisten schweren Fieber,65Alterationen des Gemeingefühls.nur mit dem Unterschiede, dass es hier an Zeit für das Fixiren der Aufmerksamkeit fehlt und dass bald durch schwere, objective Sym - ptome das Krankheitsgefühl gerechtfertigt wird.

§. 43.

Zahlreiche weitere Anomalieen des Gemeingefühls schliessen sich an die eben bemerkten an. Einmal jene umfassen - den, ausgebreiteten Umänderungen der körperlichen Selbstempfindung, welche gewöhnlich zugleich mit tiefgreifenden psychischen Leiden (§. 38.) den Wahn einer verwandelten Persönlichkeit begründen: die Kranken halten sich, mit Aufgeben ihrer früheren Person, bald für Thiere (Wölfe, Ochsen etc.), bald für historische Individuen (Napoleon), bald wird der ganze Körper für todt oder wenigstens für einen frem - den, dem Kranken nicht wirklich angehörigen Leib gehalten, bald soll er gar aus unbelebten Substanzen, aus Holz, Glas, Wachs, But - ter etc. bestehen. Anderemale wird nur ausserordentliche Schwere des ganzen Körpers gefühlt, oder es ist dem Kranken, als ob sein leiblicher Umfang ungemein vergrössert wäre, u. dergl. m.

Sodann kommen diese Anomalieen des Gemeingefühls local, auf einzelne Theile des Organismus beschränkt, vor; es ist dem Kranken, als ob ihm einzelne Glieder fehlten oder diese wenigstens dem Or - ganismus nicht mehr in der alten Weise angehörten, als ob er keinen Kopf mehr hätte, als ob ein Arm oder ein Bein versteinert, von Glas wäre u. dergl. Oder ein einzelner Theil wird als ganz ungewöhnlich gross empfunden, und namentlich die Nase soll in manchen Fällen der Gegenstand dieser Täuschung gewesen sein.

Als mehr vorübergehende Zustände werden bei Geisteskranken jene, auch den meisten Gesunden aus Träumen bekannten Empfin - dungen von flugartiger Erhebung in die Luft, von Herabgestürztwerden aus einer Höhe, oder allgemeine Schwindelzustände beobachtet.

Der Sitz und die näheren Ursachen dieser Anomalieen des Ge - meingefühls sind schwierig zu verstehen. In einigen Fällen freilich hängen sie, z. B. das Gefühl von Fehlen eines Körpertheils, mit nachweisbarer Anästhesie des Organs offenbar zusammen; anderemale aber ist die peripherische Empfindlichkeit der Hautoberfläche voll - ständig erhalten, und es mögen dunkle Veränderungen der Muskel - empfindung, die auch im gewöhnlichen Traume eine grosse Rolle zu spielen scheinen, die ursprüngliche Störung sein, deren sich nun die erklärende Reflexion zur Bildung von Wahnvorstellungen bemäch - tigt. Die Verwandlung in Thiere scheint weit mehr psychischen Ur -Griesinger, psych. Krankhtn. 566Beispiele von Alterationen des Gemeingefühls.sprungs zu sein, und die Grundlage dieses Wahns mag auf dem ge - bieterischen Auftreten gewisser Triebe und Eigenthümlichkeiten ein - zelner Thiergattungen, z. B. der Grausamkeit und Wildheit des Wolfs, beruhen; immer aber wird auch hier eine tiefe Abweichung von dem normalen leiblichen Gemeingefühle zur völligen Ausbildung der Wahn - Metamorphose erforderlich sein.

Leuret (Fragm. psychol. sur la folie. Par. 1834. p. 101) hat einige ältere Beispiele dieser sogenannten Lycanthropie zusammengestellt und mit Fällen aus der neuesten Zeit, wo Geisteskranke in den Wäldern herumirrten und in wildem Mordtriebe Kinder zerrissen und verzehrten, auf interessante Weise zusammen - gestellt. Wier erzählt noch aus dem J. 1541 das Beispiel eines Mannes aus Padua, der sich in einen Wolf verwandelt glaubte und auf dem Felde die Vor - übergehenden anfiel und tödtete. Ich bin wirklich ein Wolf, sagte er, und dass meine Haut nicht der eines Wolfs gleicht, kommt nur daher, dass sie um - gekehrt ist und die Haare nach innen stehen. Um sich hievon zu überzeugen machte man allenthalben Incisionen und schnitt ihm Beine und Arme ab, so dass er an seinen Wunden starb.

Die Beispiele, wo sich Geisteskranke für todt hielten und ihren Leib nicht als den eigenen anerkannten, sind zahlreich. Esquirol erzählt von einer Frau, welche glaubte, ihren Körper habe der Teufel geholt: die Hautfläche war voll - kommen unempfindlich. Ebenso in folgendem Falle von Foville: Ein Soldat hält sich für todt seit der Schlacht bei Austerlitz, in der er schwer verwundet wurde. Fragt man nach seinem Befinden, so antwortet er: Sie fragen, wie es dem Vater Lambert gehe; aber es gibt keinen Vater Lambert mehr, eine Kanonenkugel bei Austerlitz hat ihn mitgenommen. Was Sie hier sehen, ist nicht er, das ist bloss eine nachgemachte, schlechte Maschine; machen Sie doch eine andere. Wenn er von sich selbst spricht, sagt er niemals ich, sondern immer das. Die Haut ist unempfindlich und es kamen mehrmals Anfälle mehrtägiger Unbeweg - lichkeit und Empfindungslosigkeit vor.

Ein junger Epileptischer, der auch zahlreiche Hallucinationen des Geruchs und Geschmacks hat, fühlt manchmal eine so ausserordentliche Schwere des ganzen Körpers, das er sich kaum aufrichten kann, anderemale eine solche Leichtigkeit, als ob er sich vom Boden entfernte und aufflöge; mitunter scheinen ihm sein Leib und seine Glieder so enorm vergrössert, dass es ihm unmöglich dünkt, durch eine Thüre durchzukommen. *)Bottex, éssai sur les hallucinations. Lyon 1836. p. 58, 61.

Auch für solche Zustände gibt es Analoga in den acuten Krankheiten. Ein befreundeter Arzt hat uns mehrmals erzählt, wie er, schon bei ganz leichten fieberhaften Affectionen, jedesmal die Empfindung einer bedeutenden Vergrösserung aller Glieder habe.

Ein Reconvalescent von einem Fieber glaubte aus zwei Individuen zu be - stehen, deren eines im Bette liege, während das andere herumgehe; ungeachtet er keinen Appetit hatte, ass er doch viel, weil er zwei Leiber ernähren müsse. (Leuret l. c. p. 95.)

Bei Kranken mit sensitiver Lähmung einer Körperhälfte wird zuweilen der Wahn beobachtet, es liege eine andere Person oder gar eine Leiche neben ihnen67Die Anästhesieen.im Bette (Bouillaud, traité de l’encéphalite. Paris 1825. p. 64). Solche falsche Urtheile gehören bereits zu den alsbald zu betrachtenden sog. Illusionen; weitere Beispiele finden sich im §. 55.

§. 44.

Von den Anästhesieen der Geisteskranken ist noch näher zu sprechen. Die verringerte oder ganz aufgehobene Empfindlichkeit der Haut für Temperatur - und Schmerzeindrücke ist zwar nicht sehr häufig, noch viel weniger allgemein bei den Irren man wird im Gegen - theil bei Einzelnen eine übermässige Schmerzempfänglichkeit finden (Esquirol erzählt einen solchen Fall) und man wird in den Irren - anstalten Winters bemerken, wie, mit ganz wenigen Ausnahmen, die Kranken stets die Wärme suchen. Doch kommen Fälle vorübergehen - der und anhaltenderer Hautanästhesie (wie schon im vorigen §. an einzelnen Beispielen gezeigt) vor, am meisten in melancholischen und blödsinnigen Zuständen, und eine genaue Durchprüfung der Haut - empfindlichkeit an den verschiedenen Körpertheilen sollte nie unter - lassen werden.

Rochoux berichtete neuerlich (Sitzung der Académie de médecine vom 22. Decbr. 1840) einen Unglücksfall, der durch Anästhesie des Kranken entstand. Ein Geisteskranker in Bicêtre brachte, während Niemand im Zimmer war, seinen Kopf an das rothglühende Eisen des Ofens und seine Arme mitten in die innere Gluth. Erst der heftige Gestank zog Leute herbei; der Kranke war ganz gleich - gültig und gab durchaus kein Zeichen von Schmerz, ungeachtet die Arme bis auf die Knochen verbrannt waren.

Ueber eine ganz andere Art von Anästhesie, die weit mehr den geistigen, innerlichsten Act beim Empfinden betrifft, hören wir zu - weilen Geisteskranke, namentlich Melancholische klagen. Ich sehe, ich höre, ich fühle, sagen solche Kranke, aber die Gegenstände gelangen nicht bis zu mir, ich kann die Empfindung nicht aufnehmen, es ist mir, als wäre eine Wand zwischen mir und der Aussenwelt etc. Man findet bei solchen Kranken zuweilen eine Verminderung der pe - ripherischen Hautsensibilität, so dass ihnen die Gegenstände etwas undeutlicher, auch rauh, wollig erscheinen; aber, wenn diess auch immer dabei wäre, würde es zur Deutung jenes Phänomens nicht ausreichen. Jene Abweichungen in der Perception der Empfindungen erinnern vielmehr an die Umänderung, die überhaupt unser geistiges Verhältniss zur Sinnenwelt theils in den verschiedenen Lebensaltern, theils in den Affecten und leidenschaftlichen Zuständen erleidet. Im kindlichen Alter fühlen wir uns der Welt der sinnlichen Erscheinung näher, wir leben unmittelbar mit und in ihr, ein nahes Band eines5*68Hallucinationen und Illusionen.lebendigen Zusammenhangs verknüpft uns mit ihr. Mit der Reife der Reflexion lockert sich dieses Band, die Wärme des Interesses erkaltet, die Dinge sehen uns anders an und wir verhalten uns frem - der zur Aussenwelt, wenn wir gleich sie besser kennen gelernt haben. Die Freude, überhaupt die expansiven Affecte, nähern uns der Sin - nenwelt wieder, Alles macht wieder einen lebhafteren Eindruck, und mit der schnellen, unmittelbaren Rückkehr der wärmsten Receptivität für alles Sinnliche*) Warum doch glänzt um uns das All? Jeglichem Staub sein Herz erschlossen! übt so die Freude eine unmittelbar verjüngende Wirkung aus. In den schmerzlichen Affecten verhält es sich um - gekehrt; die Aussenwelt, lebendig oder unbelebt, erscheint uns plötz - lich kalt und fremd geworden, es ist uns, als ob auch unsre Lieb - lingsgegenstände gar nicht mehr zu uns gehörten, und indem wir von nichts mehr einen lebendigen Eindruck erhalten, finden wir uns noch mehr zur Entfremdung von den Aussendingen und zur inneren Vereinsamung bestimmt. Diesen letzteren Zuständen möchten wir, als ihnen nahe stehend, jene Klagen der Melancholischen analog fin - den, bei denen ihre Intensität, ihre psychische Unmotivirtheit und ihre Andauer den Kranken zu lauter Klage über solche Veränderung seiner Receptivität drängt.

Mehre Beispiele dieser Zustände sind im Capitel von der Melancholie zu ver - gleichen. Sie haben in anderer Beziehung auch wieder ihre Analogie in der Mattigkeit der Sinneseindrücke beim Einschlafen.

§. 45.

Die allgemeinsten und wichtigsten sensitiven Anomalieen in gei - steskranken Zuständen sind aber die Hallucinationen und Illu - sionen, oder die Sinnesdelirien. Unter Hallucinationen versteht man subjective Sinnesbilder, welche aber nach aussen projicirt werden und dadurch scheinbare Objectivität und Realität bekommen; Illusionen nennt man falsche Deutungen äusserer Objecte. Es ist eine Hallu - cination, wenn ich menschliche Gestalten sehe, während in der That kein Mensch in der Nähe ist, oder eine Stimme höre, wo nicht ge - sprochen wurde; es ist eine Illusion, wenn ich eine glänzende Wolke, die eben am Himmel ist, für einen feurigen Wagen halte, oder wenn ich in einem Unbekannten, der in mein Zimmer tritt, einen alten Freund zu erblicken glaube. Den Hallucinationen entspricht gar nichts Aeusseres, sie sind falsche Empfindungen; die Illusionen sind falsche Urtheile, falsche Auslegungen eines peripherisch Empfundenen.

69Realität dieser Empfindungen.

Der Anlass zu dieser Empfindung braucht auch nicht nothwendig in der Aussenwelt, er kann auch im eigenen Organismus liegen. So werden die falschen Deutungen, welchen peripherische (neural - gische, rheumatische) Schmerzen unterworfen werden, zu den Illu - sionen gerechnet, z. B. der Wahn, schwanger zu sein, der aus un - gewohnten Abdominal-Empfindungen hervorgeht, oder jener Fall von Esquirol*)Die Geisteskrankheiten etc. von Bernhard. I. p. 112., wo ein Kranker Schmerzen im Knie hat und nun mit der Faust darauf schlägt, indem er immer ausruft: Warte, Bösewicht, du sollst mir nicht entgehen.

Die genauere Unterscheidung der Hallucinationen und Illusionen rührt von Esquirol her; sie verdient beibehalten zu werden, wenn sie gleich nicht ganz scharf durchzuführen ist. Namentlich im Geschmacksinn und im Hautsinn ist die Unterscheidung oft nicht möglich. Die Literatur über die Sinnesdelirien ist sehr reichhaltig. Esquirol, mehre Aufsätze im Dictionnaire des sciences médicales, in besonderen Abdrücken und in seinen Geisteskrankheiten . Müller, über phantast. Gesichtserscheinungen. Coblenz 1826. Lélut, über folie sensoriale. Gazette méd. 1833. Bird, thatsächliche Bemerkungen über Sinnestäuschungen. Friedreichs Magazin. Heft 17. 1831. Dietz, über die Quelle der Sinnes - täuschungen. ibidem. Heft 3. 1832. Leuret, fragmens psychologiques. Par. 1834. Bottex, sur les hallucinations. Lyon 1836. Marc, Geisteskrankheiten, übersetzt von Ideler. I. 1843. Hagen, die Sinnestäuschungen. Leipzig 1837. Baillarger, in Archiv. génér. 1842. 3. Patterson, annal. med. psycholog. Mars. 1844. Ausserdem die Schriften von Arnold, Reil, Haslam, Hoffbauer, Neu - mann, Friedreich, Jessen, Archambault in Ellis traité p. 180 seqq. etc. ; Sino - gowitz, die Geistesstörungen. Berlin 1843.

§. 46.

Hallucinationen kommen in allen Sinnen, dem Gesicht, Gehör, dem Geruch, Geschmack und der Hautempfindung vor. Bei den einzelnen Kranken sind bald diese, bald jene, häufig mehre, zuweilen alle diese verschiedenen Sinnesthätigkeiten zugleich befallen. Die Hallucinationen sind wirkliche Empfindungen, keine Einbildungen; der Kranke sieht, hört, riecht dabei wirklich, er glaubt nicht bloss zu sehen oder zu hören, und will man das Sinnendelirium mit Vernunftgründen bekämpfen, so erhält man gewöhnlich Antworten, wie sie Leuret von einem seiner Kranken bekam (Fragmens. p. 203): Ich höre Stimmen, weil ich sie höre; wie sie entstehen, weiss ich nicht, aber sie sind für mich eben so deutlich, wie Ihre eigene Stimme; soll ich an die Wirklich - keit Ihrer Reden glauben, so müssen Sie mich auch an die Wirklich - keit jener Reden glauben lassen, denn beide sind für mich in glei - cher Weise fühlbar. So haben für das Urtheil des Hallucinanten70Entstehung und Sitzseine subjectiven Sinnesanschauungen gewöhnlich dieselbe Realität, wie die objectiv von der Aussenwelt dargebotenen, und eben in die - sem Umstande liegt zu grossem Theil die Wichtigkeit und Gefährlich - keit dieser Phänomene. Wir sind gewohnt unsern Sinnen zu trauen und Das für das Wahrste zu halten, was wir selbst sehen oder tasten; Derjenige, dem falsche Sinnesperceptionen untergeschoben werden, dem dadurch das Material seines Vorstellens und Combi - nirens verfälscht wird, tritt eben damit in eine neue Welt des Scheins und der Lüge ein; ihre Unterscheidung von der objectiven Wirklich - keit, nach der sich sein Denken und Handeln richten soll, steht fast niemals (vgl. §. 48.) bei ihm und kann ihm gewöhnlich auch von fremdem Verstande nicht aufgenöthigt werden; er muss der Täu - schung folgen, weil sie für ihn sinnliche Ueberzeugungskraft hat, und nicht nur die aberwitzigsten, tollsten Ideen werden in ihm durch jene geweckt und unterhalten, sondern häufig genug sind auch die gefähr - lichsten Unthaten Folgen der Hallucinationen.

Die Hallucinanten können in jedem Augenblick durch Stimmen oder Visionen zu Gewaltthaten an sich oder Anderen angetrieben werden, z. B. zu Mord in Folge eines gehörten göttlichen Befehls, zu Rachehandlungen für gehörte Schimpf - worte etc. Die Mehrzahl der von Geisteskranken begangenen Verbrechen beruht auch auf Hallucinationen, was bei der ausserordentlichen Häufigkeit dieses Phä - nomens nach Esquirol kommt es bei 80 unter 100 Kranken vor, wir möchten das Verhältniss fast noch höher taxiren nicht zu verwundern ist.

§. 47.

Das Zustandekommen subjectiver Sinnesthätigkeiten ist an sich nichts Ungewöhnliches. Wir wissen aus der Physiologie, dass die Sinnesnerven auf alle Reize in der ihnen einwohnenden Energie reagiren, dass die gedrückte oder congestionirte Retina Licht -, der gereizte Hörnerv Schallempfindungen gibt etc. Werden wir dem - gemäss die Hallucinationen als einfache Producte der Reizung der betreffenden peripherischen Nervenausbreitungen zu betrachten haben? Diess ist unmöglich, einmal und hauptsächlich, weil Hallucinationen bei Aufhebung der peripherischen Sinnesthätigkeit vorkommen,*)Die schon oben erwähnten Beobachtungen Esquirols hierüber sind einer vollständigen Mittheilung werth. Ich behandelte einen alten Kaufmann, der nach einem sehr thätigen Leben im 44sten Jahre vom schwarzen Staar befallen wurde. Einige Jahre nachher verfiel er in Manie; er war sehr bewegt, sprach laut mit Personen, die er zu sehen und zu hören glaubte. Er sah die wunderlichsten Dinge und wurde oft durch seine Visionen sehr entzückt. Im J. 1816 war in der Salpetrière eine 38jährige Jüdin, die von Manie befallen und blind war. so -71der Hallucinationen.dann, weil nach bisher bekannten Thatsachen durch alle jene unmit - telbaren Reize auf den Nerven in der Retina zwar Lichtflecke, feu - rige Kugeln, Farbenbilder u. dergl., aber keine bestimmten, compli - cirten Gestalten (Menschen, Häuser, Bäume etc.), im Ohr zwar Sau - sen, höhere oder tiefere Töne, aber keine geformten Worte oder Melodieen erzeugt werden können. Zu letzterem gehört etwas Wei - teres, nämlich das Mitwirken des Vorstellens, dem allein solche For - men, aus früheren Eindrücken behalten oder neu erzeugt, zukommen können. Jene Projection des Vorstellens, durch welche die entspre - chenden sinnlichen Bilder in dasselbe eingehen, haben wir (§. 15.) als Thätigkeit der Phantasie kennen gelernt; während aber in der Regel diese Acte darin bestehen, dass nur vorgestellte Abgrenzungen und Formen im Seh - oder Gehörfeld entstehen und wir ebendamit nur sehr schwache und abgeblasste Bilder erhalten, so werden hier, durch mannigfaltige Uebergänge der Stärke und Lebendigkeit vermittelt, vom Vorstellen so starke Sinnesthätigkeiten geweckt, dass nun das Eingebildete wirklich leuchtend und farbig, klingend und melodisch wird. Der Sitz aller dieser Vorgänge, der Sitz der Phantasie ist nicht die Retina oder die Gehörnervenausbreitung, sondern das Gehirn selbst und in demselben ohne Zweifel die centralen Ausbreitungen der Sinnesnerven. So müssen wir, im Einklange mit den wichtigen Beobachtungen von Esquirol, die Hallucinationen als cerebale Vor - gänge betrachten.

Indessen ist damit die Sache keineswegs erschöpft. Es gibt nämlich eine Anzahl anderer Thatsachen, welche ganz besonders deutlich bei den Gesichtshallucinationen darauf hindeuten, dass die peripherischen Ausbreitungen der betreffenden Nerven, wo solche unverletzt sind, sich beim Sinnendelirium durchaus nicht unthätig verhalten. Einmal scheinen krankhafte Vorgänge im Auge, welche die Retina mitafficiren, ursprüngliche Anlässe zur Erzeugung von Hal - lucinationen (oder vielmehr Illusionen, die sich dann aber nicht deut - lich von jenen trennen lassen) zu geben. So namentlich in den*)Nichtsdestoweniger sah sie die fremdartigsten Dinge. Sie starb plötzlich; ich fand bei der Section die nervi optici in ihrem ganzen Verlaufe atrophisch. In diesem Fall konnten gewiss keine äusseren Eindrücke stattfinden. Ebenso geht es mit den Tauben; sie glauben sprechen zu hören. Wir haben in diesem Augenblick in der Salpetrière zwei gänzlich taube Frauen, deren einziges Delirium darin besteht, dass sie Tag und Nacht verschiedene Personen hören, mit denen sie sich zanken; oft werden sie selbst dadurch wüthend. Die Geisteskrankheiten von Bernhard. I. p. 116 17.72Entstehung und SitzFällen, wo bei Trübung der durchsichtigen Medien des Auges Ge - sichtshallucinationen beobachtet wurden,*)Vgl. den bekannten, von Bonnet (Essai analytique sur l’âme. Chap. 23.) erzählten Fall eines Greisen, der auf beiden Seiten an Cataract operirt worden war und nur mit dem rechten Auge noch Gegenstände unterscheiden konnte. Er hatte die lebhaftesten Gesichtshallucinationen, ohne an deren Realität zu glauben. Bei einer Kranken, die ich hier beobachten konnte, ist Cataract beider Augen vorhanden und ihr Irresein bewegt sich fast ganz in den vielfältigsten Gesichts - hallucinationen. wo es scheint, als ob jener undeutlichen, verschwommenen, streifigen, wolkigen Bilder, welche die Retina aufnimmt, sich die Phantasie als ihres Materials bemächtigte, um erst an ihnen ihre bildnerische Combination zu äussern. Sodann aber weisen jene nicht seltenen Fälle, wo Gesichts - hallucinationen durch äussere Bedeckung des Auges zum Verschwin - den gebracht werden konnten, weiter auf einen gewissen Antheil hin, den die unverletzte Retina an diesen Phänomenen nehmen kann. Und das Merkwürdigste endlich sind jene, unsers Wissens sehr sel - tenen Fälle, wo bei einer passenden Stellung des Auges die Hallu - cination doppelt gesehen wurde.

Ein Nicht-Irrer, der an häufigen Gesichtshallucinationen litt, erhob sich eines Abends, da er in einem Garten sass, schnell von seinem Sitze und empfand einen leichten Schwindel, der gewöhnlich eintrat, wenn er schnell aufstand. Als der Schwindel vorüber war, sah er die Gestalt eines Mannes, der mit einem langen, blauen Mantel drapirt war, in geringer Entfernung unter einem Baume: nach 1 2 Minuten wurde die Gestalt schwächer und verschwand. Eine halbe Stunde später sah er dieselbe Gestalt unter demselben Baume und in der nämlichen Stel - lung. Er drückte, zum Versuche, den Augapfel einer Seite, ohne andern Erfolg, als dass die Gestalt undeutlicher wurde; aber, als er seine Augen schief stellte, sah er die Gestalt doppelt und in natürlicher Grösse. Er trat nun darauf los, die Gestalt entfernte sich Schritt vor Schritt und verschwand im Schatten eines Baumes. Patterson, l. c. p. 171. Müller bestreitet die Ansicht, dass die Hallucinationen in der Retina ihren Sitz haben. l. c. §. 64 73.

Fälle, wo durch Bedecken des Auges Gesichtshallucinationen aufhörten, sind in ziemlicher Anzahl bekannt. Ein junger Mensch sieht um sich alle Personen des Hofes; er wirft sich zu den Füssen Desjenigen, den er für den Monarchen hält etc.; ich lasse ihm zwei Tage die Augen verbinden, und sein Delirium hört auf. Nachdem die Binde abgenommen, beginnt es von Neuem (Esquirol). Reil (Rhapsodieen) erzählt, dass eine Dame, die Gespenster und Ungeheuer sah, in ein Delirium mit Convulsionen verfiel und dass ihre Kammerfrau, um sie aufrecht zu erhalten, ihre Hand auf die Augen der Kranken legte, und diese sogleich aus - rief: Ich bin geheilt! Dieses erneuerte sich mit demselben Erfolg bei dem Arzte (Esquirol, übers. von Bernhard. I. p. 12). D., 75 Jahre alt, geistig gesund, kommt eines Tages nach Hause, erschrocken über tausend Visionen, die ihn verfolgen. Wohin er blickt, verwandeln sich die Gegenstände in Schreck -73der Hallucinationen.bilder, bald monstruose Spinnen, die nach ihm greifen, um sein Blut zu saugen, bald Soldaten mit Hellebarden etc. Es wird ein Aderlass am Fuss gemacht; die Hallucinationen mit hartnäckiger Schlaflosigkeit dauern fort. Man legt eine Binde über die Augen, sogleich hören sie auf und kehren zurück, sobald die Binde weggenommen wird, bis sie der Kranke eine Nacht und einen Theil des Tages ununterbrochen beibehält. Nun sah er die Phantome nur noch in langen Zwi - schenräumen und nach einigen Tagen verschwanden sie gänzlich; seither blieb der Mann gesund. (Bulletin de thérapeutique. 1842.) Auch Nicoiai’s Visionen verschwanden zuweilen durch Verschliessen der Augen. *)Vgl. auch Leuret l. c. p. 147.

Man könnte diese Fälle, welche den Hallucinationen bei Blinden widerspre - chen, als Illusionen auffassen, womit freilich das physiologische Verständniss derselben nicht viel gefördert ist. Man kann sie als ein central provocirtes Mit - halluciniren der Retinafläche nach einem von der Phantasie gegebenen Schema ansehen, was zwar seine Schwierigkeiten hat, aber auch dadurch unterstützt wird, dass durch die Gesichtsphantasmen hindurch die umgebenden Gegenstände oft wie durch einen Schleier durchgesehen werden. Dass es Vorstellungen sind, welche der Sinnesthätigkeit Form und Gestalt geben, zeigt besonders der Um - stand, dass einzelne Beobachter Hallucinationen willkührlich hervorrufen konnten, d. h. dass vorher als bewusst vorhandene und lebhaft festgehaltene Vorstellungen erkennbar erst die Sinnesthätigkeit erregten. (Vgl. Mayer, Physiologie der Ner - venfaser. Tübing. 1843. p. 237. seqq.). Einzelne Forscher haben die Ansicht bestritten, dass die Phantasie die Hallucinationen erzeuge, indem sie auf den Unterschied aufmerksam machten, der zwischen ihnen und den blossen Einbil - dungen bestehe (Leuret, Hagen); dieser Einwand fällt, indem wir (§. 15.) die phantastischen Vorgänge als eine, nur verschieden starke Mitthätigkeit der inneren Sinnesnervenausbreitungen betrachten. Vgl. Müller. l. c. I. 5. Auch Lélut (l. c.) nennt die Hallucinationen ganz mit Recht vollkommene Umgestaltungen eines Gedankens in meistens äussere Sinneseindrücke, und sehr bezeichnend ist die Antwort, die ein Melancholischer Esquirol’n gab, der ihm über den Irrthum bei seinen Gehörshallucinationen Bemerkungen machte: Mitten in dieser Unter - redung sagte er zu mir: Denken Sie manchmal? Ohne Zweifel. Nun gut, Sie denken ganz leise, und ich, ich denke laut. **)l. c. I. p. 6.

Einen interessanten Uebergang jenes dunkeln, blassen Mithallucinirens der inneren Sinne, welches das Vorstellen im gewöhnlichen Zustande begleitet, zu den Hallucinationen mit objectiver Deutlickheit haben wir bei einem Kranken beobachtet, der, ausserordentlich reich an Visionen und sie mit Liebe pflegend, oft davon sprach, wie manche seiner Erscheinungen nur in Umrissen ohne alle Farbe, andere in dunklen Schattenbildern, noch andere in lebhaften, den äusser - lich gegebenen vollständig gleichenden farbigen Bildern bestehen.

§. 48.

Auf solchen leichteren Unterschieden in der Stärke und Deut - lichkeit der falschen Perceptionen, verglichen mit den objectiven Sinneswahrnehmungen, mag zum Theil das verschiedene Ver -74Hallucinationen Geistesgesunder.halten des Individuums zu seinen Hallucinationen beruhen. Noch mehr Einfluss hierauf aber hat einestheils die Beschaffenheit der Gehirnfunctionen im Ganzen, insoferne sie einen grösseren oder niedereren Grad von Besonnenheit zulassen, anderntheils namentlich die Bildungsstufe und die Lebensansichten, die das Subject früher hatte.

Hallucinationen kommen durchaus nicht bloss in geistes - kranken Zuständen vor. Dass der Traum, auf den wir unten noch einmal zurückkommen , der Rausch, der Schwindel und ana - loge Zustände Sinnesphantasmen vorführen, ist bekannt. Aber auch abgesehen hievon sind Hallucinationen bei Nicht-Irren durchaus nichts Seltenes. Der allbekannte Fall von Nicolai, die schon er - wähnte, von Bonnet erzählte Thatsache, mehre der Fälle von Patter - son, alle religiösen Visionen u. dergl. sind Beispiele hiefür. Nichts wäre irriger, als einen Menschen desswegen, weil er Hallucinationen hat, für geisteskrank halten zu wollen. Die vielfältigsten Erfahrungen zeigen vielmehr, dass gerade im Leben geistig hochstehender und ausgezeichneter Menschen von verschiedenster Geistesrichtung und Gemüthsart, namentlich aber von sinnlich warmer und kräftiger Phan - tasie, Ereignisse der erwähnten Art sich finden. Tasso, der in Manso’s Gegenwart jenes lange Zwiegespräch mit seinem Schutzgeist führte, Göthe’s bekannte (hechtgraue) Selbstvision und seine phan - tastisch sprossenden idealen Blumen, Walter-Scotts Erscheinung, die ihm seinen verstorbenen Freund Byron in den Falten eines Vor - hangs vorführte, Jean-Pauls zum Fenster herabsehender kindlicher Mädchenkopf,*)Jean Paul, Museum. Blicke in die Traumwelt. Anmerkung zu §. 3. Benvenuto-Cellini’s Sonnenvision mögen als Bei - spiele aus dem Leben von Künstlern gelten. Spinoza**)Spinoza, Epistola XXX. an Peter Balling., Pascal***)Seit einem gefährlichen Sturze auf der Brücke von Neuilly sah Paseal stets einen Abgrund vor sich. hatten Hallucinationen, Van-Helmont sah seine eigene Seele als ein Licht mit menschlichem Gesicht, Andral†)Die specielle Pathologie, übers. von Unger. III. 1837. p. 140. erzählt von sich selbst ein Gesichts -, Leuret aus eigener Erfahrung ein Gehörsphan - tasma;††)Fragmens psycholog. p. 135. und nach unsern individuellen Beobachtungen sind wir geneigt, sie auch bei geistig wenig hervorragenden Menschen als nicht ganz seltene, aber häufig übersehene Phänomene zu betrachten. †††)Der Verf. dieser Schrift erinnert sich etwa aus seinem 7ten Lebensjahre einer Gesichtshallucination; seither erfuhr er nichts mehr dergleichen, bis

75Verschiedenes Verhalten zu den Hallucinationen.

Zu solchen Hallucinationen nun verhält sich der Gesunde ent - weder ruhig betrachtend, indem er sie als subjectiv entstanden an - erkennt (Nicolai, etc.); oder er glaubt an ihre Realität, indem ent - weder seiner Reflexion die Prämissen fehlen, nach denen diese Phä - nomene beurtheilt sein wollen, indem Aberglaube, Trägheit des Denkens, Lust am Wunderbaren die richtige Auffassung trüben und hemmen, oder gewisse Stimmungen, Leidenschaften und Affecte, Furcht, Zorn, Freude u. dergl. die Besonnenheit und die ruhige Betrachtung überhaupt aufheben, oder auch, indem Hallucinationen mehrer Sinne, des Gesichts, Gehörs, des Hautsinns, sich unterstützen und so die Mittel zur Berichtigung des einen Irrthums selbst ver - fälscht werden.

Hallucinationen allein, auch wenn sie für wahr gehalten wer - den, genügen noch durchaus nicht, um geisteskrank zu sein; hiezu ist weiter eine allgemeine, tiefe psychische Verstimmung, oder es sind ausgebildete Wahnvorstellungen erforderlich. Aber für wahrgehaltene Hallucinationen sind allerdings ein sehr naher Schritt zum Irresein, und besonders da, wo schon eine krankhafte Verstimmung besteht, in den noch mässigen Anfangsstadien des Irreseins, haften und zün - den die Hallucinationen so leicht, dass sie dann sehr häufig für Ur - sachen der ganzen Krankheit gehalten werden. Nach unserer Be - trachtungsweise möchten wir ihnen nur in seltenen Fällen diese Stel - lung anweisen, wir glauben vielmehr die Hallucinationen schon als Symptome der, wenn gleich oft noch mässigen Gehirnreizung, an - sehen zu müssen. Jedenfalls aber ist die Thatsache richtig, dass sie sehr häufig gerade in der ersten Periode des Irreseins auftreten und dass mit ihnen, mit der Verfälschung der Aussenwelt, der Kranke häufig erst anfängt, wirklich zu deliriren.

Von den Geisteskranken werden die Hallucinationen fast immer für Realitäten gehalten; doch geben sie in einzelnen Fällen, nament - lich im Anfang, deren krankhafte Natur zu. Man hört wohl auch zu - weilen den Ausdruck; der Kranke wisse wohl, dass das kein gewöhn - liches Hören oder Sehen sei, es sei ein geistiges Hören*)Auch Shakespeare lässt Hamlet dem Horatio auf seine Frage, wo er das Gespenst sehe, erwiedern: Im Auge meines Geistes. u. dergl.,†††)während der Abfassung dieses Capitels, wo zum ersten und bis jetzt einzigen Male eine Gehörshallucination, nur aus einem einzigen Worte bestehend, aber mit höchster Deutlichkeit, auftrat. Der Eindruck war kaum verschieden von dem, den die Worte bei einer Unterredung machen nur dem Ohre näher schien die Stimme zu sein.76Beispiele von Hallucinationen.oder der Kranke beklagt sich bitter, dass ihm durch fremde Bosheit, durch eingenommene Medicamente u. dergl. solche schlimme Erschei - nungen gemacht werden, womit er auf seine Weise die Ueberwäl - tigung durch ein psychisches Ereigniss, das seinem Ich noch als fremdes gegenüber steht, ausdrückt. Die merkwürdigsten Fälle aber sind die, wo der Kranke sogar die subjective Entstehung der Hallu - cinationen anzugeben weiss, aber sie doch für reell hält. Einzelne geben an, die Stimmen gehen in ihrem Kopfe vor sich;*) C’est un travail qui se fait dans ma tête. Leuret. l. c. p. 162. Auch wir haben erst neuerlich einen solchen Fall gesehen. Der Kranke hörte mehre Menschen in seinem Kopfe mit einander sprechen; er glaubte auch mehrmals in der Gegend seiner Herzgrube sitze ein ganzer Tisch voll Personen am Essen. anderemale und nicht ganz selten ist es dem Kranken, als entstehen die Stimmen im Epigastrium, und als werde von dort aus, freilich nicht auf ge - wöhnliche, sondern eine ganz neue Weise zu ihm gesprochen. **)Leuret. l. c. p. 177. In einem anderen Fall (Lafargue, Gaz. med. 1841. p. 713) kamen dio Gehörshallucinationen aus der Herzgegend.Bei allen diesen Angaben kommt sehr viel auf die grössere oder geringere Fähigkeit des Individuums, sich zu beobachten und sich Rechenschaft von seinen Seelenzuständen zu geben, an.

Wir wollen noch einige Beispiele von Hallucinationen bei Nicht-Irren anführen. (Patterson l. c.)

Herr H. las eines Tages in Commines Geschichte von Burgund. Nach dem Fenster aufblickend gewahrte er auf einem Stuhle am Fenster einen Schädel; er wollte läuten und sich erkundigen, wer denselben hergebracht habe, gieng aber vorher darauf zu, um ihn zu untersuchen. Als er mit der Hand darnach griff, war er verschwunden. H. erschrack dann fast bis zur Ohnmacht. Vierzehn Tage darauf sah H. in einem Hörsaale der Universität Edinburg wieder den Schädel auf einem Pulte liegen, so dass er zu seinem Nachbar sagte: Zu was mag wohl der Professor heute einen Schädel brauchen? Ein andermal hatte H. der Section eines Jugendfreundes beigewohnt. Drei Monate nachher wollte er eben zu Bette gehen, als er auf seinem Tisch eine Einladung zum Leichen - begängniss der Mutter jenes Freundes fand. Kaum hatte er das Licht gelöscht, so fühlte er sich am Arm unterhalb der Schulter gepackt und diesen stark an die Seite gedrückt. Er suchte sich loszumachen und rief: Lasst meinen Arm. Nun hörte er eine deutliche Stimme: Fürchtet Euch nicht. Er erwiederte sogleich: Erlaubt, dass ich ein Licht anzünde. Dann ward der Arm losgelassen, H. stand auf, empfand aber heftigen Schwindel und grosse Schwäche. Als er Licht ge - macht hatte, sah er an der Thüre das Gesicht jenes Jugendfreundes, doch nicht vollständig deutlich, als ob ein Schleier darüber läge. Die Gestalt wich zurück, je mehr H. sich ihr näherte, dieser verfolgte sie die Treppe hinab, bis an die Hausthüre, wo er aus Schwindel niedersank. Später trat ein heftiger Schmerz über den Augenbraunen, Fieber und Schlaflosigkeit ein.

77Beispiele von Hallucinationen.

Ein Südländer, im kräftigsten Alter und vollkommen gesund, besuchte eines Tages einen Nachbar. Als er zur Eingangsthüre hereingetreten war, schlüpfte die Gestalt einer weissgekleideten Frau an ihm vorüber; sogleich darauf eine zweite und dieser folgte eine dritte. Als er mit der Hand nach dieser griff, ver - schwand sie. Kurz darauf gieng der Mann durch einen Park; er sah hier mehre Esel weiden; er wollte einem davon auf den Rücken klopfen, und war sehr bestürzt, nichts zu erfassen. Sie zeigten sich noch vor seinen Augen und er wiederholte mehrmals vergeblich den Versuch, sie zu berühren.

Folgender Fall bietet ein vortreffliches Beispiel zahlreicher Hallucinationen und Illusionen einer Geisteskranken und zeigt sehr schön die Entstehungs - weise der falschen Vorstellungen aus ihnen (Bergmann, Bemerkungen einer irre gewesenen Person über ihren geisteskranken Zustand. Friedreichs Archiv für Psychologie. 1834. Heft I. p. 15 seqq.). Die Kranke erzählt selbst:

Einmal war ein Gewitter. Wie war das Unwetter aber so verschieden von allen, die ich vor - und nachher gesehen habe! Die heraufsteigenden Wolken schienen mir Meereswogen zu sein, die von Schevelingen aus dem Meere herauf bis an die Wolken sich erhoben und oben in den Lüften mit einander kriegten, während eine feindliche Flotte am Ufer mit den Einwohnern einen Kampf auf Tod und Leben begann, denn diess war der entscheidende Moment für Hollands Wohlfahrt, die mir schon ganz zerstört schien. Ich hörte keine Donner, sah keine Blitze, sondern förmliche Feuerschlünde sich öffnen und laute Canonaden auf einander folgen etc. Als ich später meine Wäsche und Kleider aus dem Koffer leerte, sah ich deren eine ausserordentliche Menge und auch ein Tisch - gedeck, das doch in C. zurückgeblieben war. Als nun am andern Tage viele Sachen fehlten, die ich mir einbildete, in den Händen gehabt zu haben, glaubte ich bestohlen zu sein etc. Eines Abends lag ich im Bett und schaute wachend immer nach meiner Aufwärterin, dem vermeintlichen Gespenste; da fieng das Talglicht sehr stark zu laufen an, ich sah den Talg jedoch nicht von dem Lichte, sondern aus einem Loche in der Wand laufen, und zwar in solcher Menge, wie ein durchbrechender Strom, wesshalb ich denn mit Geschrei behauptete, man wolle mich ersticken. Hierauf fiel ich in den Wahn, dass man die Luft ver - giften wolle, und von dem Augenblicke an hatte ich in der Nase einen süsslich - widrigen Geruch, allen Speisen schmeckte ichs an und bildete mir ein, das Fleisch, welches man brachte, sei Menschenfleisch etc. Die Gebäude, welche ich aus meinem Zimmer sehen konnte, zeigten mir eine kleine irdene Rauch - pfeife, welche oben aus dem Schornsteine ganz sichtbar hervorragte, und daher in mir die schreckliche Ide erzeugte, es sei diese Pfeifenröhre das einzige Luft - loch, wesshalb alle Menschen, welche hineingiengen, von mir so angesehen wur - den, als wolle man sie darin ersticken, u. dergl. m.

§. 49.

Was die näheren Umstände betrifft, unter denen die Hallu - cinationen vorkommen, so sind hier besonders folgende Momente zu berücksichtigen.

1) Oertliche Krankheiten des betreffenden Sinnorgans können zur Quelle von Sinnesdelirien werden; es ist daher in dieser Beziehung stets eine genaue Untersuchung des Kranken nothwendig.

78Ursachen der Hallucinationen.

2) Alle tiefen Erschöpfungszustände auf geistiger oder leiblicher Seite scheinen das Auftreten der Hallucinationen zu begünstigen. Wie die strenge Ascese aus religiösen Motiven in früheren Jahrhunderten zahlreiche Hallucinationen hervorbrachte, so sehen wir heute noch ganz besonders häufig nach Exaninitionen, langem Fasten, sexueller Erschöpfung, tiefer, geistiger Ermüdung etc., Sinnendelirien auftreten. Ganz besonders werden diese durch gleichzeitige psychische Concen - tration, durch inbrünstig festgehaltene abergläubische Vorstellungen befördert (Benvenuto-Cellini. Viele Teufels - und religiöse Visionen).

3) Die krankhaften affectartigen Zustände, aus denen das Irresein so häufig besteht, rufen Hallucinationen und Illusionen in der - selben Weise hervor, wie die analogen Zustände, Furcht, Schrecken etc. beim Gesunden die Sinneswahrnehmung trüben und neue falsche Sinnesbilder wecken.

4) Ein besonders wichtiges Verhältniss ist das Entstehen der Hallucinationen zwischen Schlaf und Wachen. Ihr Vorkommen unter diesen Umständen bei Gesunden ist bekannt und besonders J. Müllers Beschreibung dieser Vorgänge aus eigener Erfahrung häufig physio - logisch besprochen. *)S. Müller, phantastische Gesichtserscheinungen. Blumröder, über Ein - schlafen, Traum, Schlaf etc. in Friedreichs Magazin. 1830. III. p. 87.Die Beobachtung zeigt, dass sie auch bei Geisteskranken sehr häufig während des Einschlafens entstehen, und dass namentlich ihr erster Anfang sich oft in diese Zeit datiren lässt. **)Baillarger, Archives géner. 1842. III. p. 354.Wenn sie unter diesen Umständen, in der Anfangsperiode des Irre - seins, längere Zeit gedauert haben, werden sie häufig anhaltend, kommen nun auch bei völligem Wachen und erregen Delirien; in einzelnen seltenen Fällen sah man aber einen Manieanfall schon am ersten Tage den zwischen Schlaf und Wachen aufgetretenen Hallu - cinationen folgen. Wie aber bei den zu Hallucinationen Disponirten zuweilen schon das blosse Schliessen der Augen genügt, um solche hervorzurufen (Göthe und J. Müller erzählen dieses von sich selbst***)Müller, l. c. p. 21, 27., so fand man zuweilen auch bei Geisteskranken, dass das einfache Niederschlagen der Augendeckel die Hallucinationen erscheinen liess (Baillarger l. c.) Fälle, die den im §. 47. mitgetheilten, wo die Gesichtsphantasmen durch Schliessen der Augen verschwanden, gegen - überstehen und von Neuem an die grosse Mannigfaltigkeit in den verwickelten Phänomenen der Hallucinationen erinnern.

79Inhalt der Hallucinationen.

§. 50.

Der Inhalt der einzelnen Hallucinationen richtet sich in der Regel nach der eben vorhandenen Stimmung und Gedankenrichtung;*)Shakespeare lässt auch den Macbeth, der den Dolch packen will, sagen: Es ist nichts da, Es is der blutge Vorsatz, der mein Auge So täuscht. auch in ihnen ist der Unterschied der heitern und traurigen Erregung ziemlich durchgeführt, und nicht viele Sinnendelirien sind von ganz indifferenter Beschaffenheit. Der Melancholische hört häufig Schimpf - worte, Drohungen oder Stimmen, die ihn zu einer grässlichen That auffordern, dem Maniacus kommen durch die Hallucinationen Bestä - tigungen seiner gehobenen Stimmung zu, knrz der herrschende Affect (Furcht, Sehnsucht, Freude) bestimmt hier die Modalität der Phan - tasmen. In prognostischer Beziehung ist dieser Umstand wichtig: die Beobachtung lehrt, dass die Hallucinationen, welche auf diese Weise auf einem gegebenen krankhaft affectartigen Zustande beruhen, auch mit diesem wieder zu schwinden fähig sind, während die selb - ständigen, nicht mit Gemüthsbewegungen zusammenhängenden Hallu - cinationen nur sehr selten eine wirkliche Heilung zulassen, und meist als wesentliche Elemente in den Zustand anhaltender Verrücktheit eingehen.

In Zuständen grosser Abspannung, nach langen Schmerzen, vor dem Tode u. dergl., beobachtet man häufig heitere, glänzende Hallu - cinationen; verschiedene andere organische Zustände, Genitalienrei - zung, Speisebedürfniss u. dergl., bestimmen in anderer Weise den Inhalt der Sinnendelirien, die nun die adäquaten Bilder, Töne etc. vorführen.

Bekannt ist die merkwürdige Specifität gewisser Hallucinationen nach bestimmten vorausgegangenen Ursachen. So sind dem Säufer - wahnsinn die Visionen von Thieren, Mäusen, Ratten, Vögeln etc., sehr gewöhnlich; man könnte geneigt sein, dieselben für phantastische Umbildungen schwarzer Scotome zu halten, wenn nicht, auch nach unsern Beobachtungen, häufig auch grosse Thiere, gleichfalls in gan - zen Heerden, Pferde, Hunde, eine Million Ochsen u. dergl. gesehen würden. Auch die Phantasmen nach Einnehmen der Datura, der Belladonna, ganz besonders aber des Hachich, haben eine gewisse Specifität.

Sehr gewöhnlich ist ein religiöser Inhalt der Hallucinationen. Dem Phantasten offenbart sich sein Göttliches in Gebilden der Phan -80Gesichtshallucinationen.tasie und der höchste Inhalt des menschlichen Gemüths findet am liebsten in selbsterzeugten Bildern seine Bestätigung. Bei Geistes - kranken sind Stimmen vom Himmel, bald Menschenopfer heischend, bald messianische Sendungen dem armen Wahnsinnigen verkündend, ausserordentlich häufig; ihr näherer Inhalt wechselt nach der Bildungs - stufe, und es kommt hier viel darauf an, ob sich der Mensch früher mehr an die Apocalypse oder an Tiedges Urania, an Byrons Engel oder an Eschenmaiers Teufel hielt. Im Allgemeinen ist unser Jahr - hundert der Anerkennung einer Realität der geisteskranken Visionen von Seiten Anderer nicht günstig; doch kam noch in unsern Zeiten (1816) der Fall vor, dass ein Hallucinant nicht nur bei der Volks - masse für einen Inspirirten galt, sondern sogar von einem Erzbischoff und einem Polizeiminister für einen göttlichen Gesandten gehalten wurde, und als solcher mit einem König (Louis XVIII. ) über Staats - angelegenheiten conferirte.

S. die Geschichte des Bauern Martin, bei Leuret. l. c. p. 171. Während er sein Feld düngte, erschien ihm eine Gestalt, die ihn aufforderte, den König von Gefahren für seine Person, von Staatscomplotten u. dergl. zu unterrichten. Pinel erklärte, nachdem die Sache in Paris das grösste Aufsehen gemacht, Martin leide an intermittirender Manie mit Hallucinationen; er ward nach Charenton ge - bracht; aber auch dort fand er Gläubige, und sogar unter den Aerzten!

Wir geben im Folgenden weitere Beispiele von Hallucinationen und Illusionen der Irren nach den einzelnen Sinnen. *)Vgl. hierzu besonders die Schriften von Esquirol, Hagen, Leuret Sinogowitz.

§. 51.

Gesichtssinn. Die einfachsten Fälle sind die, wo die Kran - ken Feuer - oder Lichtmassen sehen. Je nach Umständen, nach der schon gegebenen Richtung der Vorstellungen wird diese Erscheinung verschieden ausgelegt; Einige glauben sich im Himmel und sehen die Herrlichkeit Gottes leuchtend geoffenbart, Andere wähnen sich von den Flammen der Hölle umgeben. Ein Mädchen sah während ihrer Menstruation ihr elterliches Haus (wirklich) abbrennen; sie wird als - bald rasend, will sich in das Feuer stürzen, erkennt Niemanden mehr und glaubt selbst zu brennen. Ins Krankenhaus gebracht, erfüllt sie dieses mit entsetzlichem Feuergeschrei, indem sie selbst Flammen - qualen zu erleiden und ihre Eltern diesen preisgegeben glaubt. Sie raste und tobte fort, und schrie beständig: Seht, wie Alles brennt; alle Stadtspritzen können das Feuer nicht löschen, das uns Alle81Gesichts-Gehörshallucinationen.verzehren muss! Sie starb nach vier Wochen, und Feuer! Feuer! waren noch ihre letzten Worte. *)Sinogowitz. l. c. p. 258.

Ein gewisser P. hat tausenderlei Visionen. Gottes Sohn erscheint ihm manchmal, er sieht ihn auf Wolken getragen, von Engeln um - geben, ein Kreuz in der Hand. Er vertraut ihm seine Befehle, aber nicht durch Worte, sondern durch Zeichen, die in der Luft er - scheinen. Er zeichnet die Gestalten, die er in der Luft sieht; es sind bald geometrische Figuren, bald Thiere, bald Wirthschaftssachen, Blumen und musicalische Instrumente, bald sind es bizarre Figuren, denen nichts ähnlich sieht, etc. (Esquirol.)

Ein Anderer schreibt: Ich sah mehrmals Gott den Vater, der die Güte hatte, mit mir zu sprechen er gieng in verschiedene Höhlen, wo er mehre ungeheure Thiere tödtete und Löcher zugraben liess, aus denen man, wie ich glaube, falsche Orakel gab. Ich sah mehremal im Himmel Johannes den Täufer in einem Wagen mit sieben Pferden, etc. **)Esquirol, l. c. p. 100, 102. Vgl. auch die von Hirsch mitgetheilte Selbst - beschreibung eines Visionärs von seinen Erscheinungen. Nasses Zeitschr. für Anthropol. 1832. Heft 1.

Ein Herr, der von hypochondrischer Melancholie befallen war, schlug unaufhörlich mit seinem Stock auf die Möbel seines Zimmers. Je schneller er gieng, desto mehr schlug er. Ich erfuhr später, dass er den Schatten, der von den Möbeln auf den Fussboden fiel und den er selbst warf, für Ratten hielt. Je mehr er gieng, desto mehr glaubte er, dass die Ratten sich vermehrt hätten. ***)Ibidem p. 129.

Der Sitz der Gesichtshallucinationen muss die innere Ausbreitung der Seh - nerven sein. Die anatomischen Thatsachen sind dürftig; bei Scctionen muss die Oberfläche der thalami, der corpp. quadrigemina und ihrer Umgebung besonders berücksichtigt werden. In einem Falle von Bright (Guys hosp. rep. 1837)†)Bei Sinogowitz, l. c. p. 257 citirt. fand sich bei einem Kranken, der nach zwei apoplectischen Anfällen an Gesichtshalluci - nationen gelitten hatte, ein ½″ grosser, bis an die Oberfläche dringender Heerd im corpus genicul. infer.

§. 52.

Gehörsinn. Die Gehörsphantasmen sind nicht ganz so häufig, wie die des Gesichts; am meisten beobachtet man sie bei Schwer - müthigen und Verrückten; bei jenen sind sie zuweilen Anlässe zu tobsüchtigem Ausbruch. Sie weisen meist auf eine schwerere, weni - ger heilbare Gehirnaffection hin, und werden zudem oft sehr langeGriesinger, psych. Krankhtn. 682Gehörs-Geruchs-Hallucinationen.verborgen gehalten, bis sich einzelne Wahnvorstellungen vollkommen fixirt haben. Man will sie besonders häufig in Verbindung mit Unter - leibs - und Genitalienkrankheiten beobachtet haben; die anatomische Deutung würde dieser Thatsache, wenn sie genau erwiesen würde, entgegenkommen (Zusammenhang im Cerebellum). Man findet bei den Gehörshallucinanten auch meistens noch viel abentheuerlichere Gespinste von Unsinn, als die übrigen Phantasmen erzeugen, und solche Kranke zeigen oft das sonderbarste, grillenhafteste Benehmen. Sie antworten ihren Stimmen mit freundlichen oder drohenden Ge - berden oder Worten, oft werden sie plötzlich ruhig und aufmerksam gespannt, um zu horchen, und man sieht sie die bizarrsten und gefährlichsten Handlungen begehen, die ihnen jene Stimmen anbefehlen.

Ein junger Mann hatte seit sechs Monaten, nach einem Anfall hitziger Manie, kein Wort gesprochen, keine willkührliche Bewegung ausgeführt, als er eine volle Flasche ergriff und sie dem Wärter an den Kopf warf. Er blieb unbeweglich und schweigsam und genas nach einigen Monaten. Ich fragte ihn, wess - halb er mit der Flasche geworfen hätte? Weil ich, erwiederte er, eine Stimme hörte, die mir sagte: Wenn du Einen tödtest, wirst du gerettet werden. Ich hatte den Mann, den ich treffen wollte, nicht getödtet, also konnte sich mein Schicksal nicht ändern, ich blieb schweigend und unbeweglich; übrigens wieder - holte dieselbe Stimme ohne Unterlass: Rührst du dich, so bist du des Todes. Diese Drohung war die Ursache meiner Unbeweglichkeit. (Esquirol.) Vgl. auch bei diesem Beobachter den bekannten Fall des französischen Präfecten. l. c. I. p. 96.

Anderemale hören die Kranken himmlische Harmonieen, Sphären - klang, Conzerte; häufig sind es Schimpfworte, Anklagen, lose Reden und Unanständigkeiten, über die sich weibliche Kranke oft aufs Bitterste beklagen. Bei den Gehörsillusionen werden vorhandene Geräusche im Sinne der herrschenden Stimmung oder Wahnvorstellung travestirt, z. B. ein Geräusch auf der Treppe wird den Gerichtsdienern zu - geschrieben, welche den Kranken verhaften sollen u. dergl. m. *)In der Erwartung von Schiller sind die einfachen Gehörsillusionen des Gesunden auf eine Art, die als Beispiel dienen kann, geschildert.

Die Ursprungsstelle dieser krankhaften Gehörsphänomene wird man am wahr - scheinlichsten in den 4ten Ventrikel und seine Umgebung zu verlegen haben, unge - achtet an anatomischen Gründen für eine solche Hypothese nicht viel vorliegt**)Foville behauptet, Verwachsungen der Oberfläche des cerebellum mit den Häuten gefunden zu haben. Vgl. die Arbeiten von Bergmann.. In einigen Fällen konnten Gehörsphantasmen durch Verstopfen des äusseren Gehörs - gangs sistirt werden; anderemale fand man sie bei Tauben. (S. oben.)

§. 53.

Geruchsinn. In diesem Sinne sind die Hallucinationen sel - tener, als in den vorhin betrachteten, sie scheinen auch mehr den83Geruchs-Geschmackshallucinationen.Anfangsstadien des Irreseins anzugehören. Fast immer sind es wid - rige Gerüche, die die Kranken percipiren, Schwefelgeruch, Kohlen - dampf, aashafter Gestank u. dergl. Der Wahn, in einer vergifteten Atmosphäre zu leben, von Leichen umgeben zu sein u. dergl., ist die häufige Folge dieser Hallucinationen. Leuret (l. c. p. 198) er - zählt den Fall einer Frau, welche die entsetzlichen Gerüche, die sie empfand, der Fäulniss gemordeter Leichen in den Souterrains der Salpetrière zuschrieb; äusserlich dargebotene Gerüche unterschied sie wohl und ward von ihnen wie früher afficirt. Wir haben einen ganz ähnlichen Fall bei einem jungen Manne gesehen.

Sinogowitz*)l. c. p. 297. erzählt folgendes interessante Beispiel eines Irre - seins, das zum grössten Theile auf Geruchsphantasmen beruhte:

K., ein früher lebenslustiger und geselliger Mann, war seit einem Jahre all - mählig nachdenklich, schweigsam, reizbar, menschenscheu geworden, gebrauchte oft heimlich Arzneien und zeigte immer deutlicheren Argwohn gegen seine Um - gebung. Endlich erklärte er öffentlich: Ich fühle mich in hohem Grade krank, durch eine, mein Innerstes zerstörende Fäulniss körperlich ganz zerrüttet. Meine Umgebung behandelt mich desshalb mit Hohn und Verachtung und meidet meine Nähe, weil ich einen verpestenden Geruch verbreite. Er führte ein einsames, trauriges Leben, sein Wahn befestigte sich immer mehr, und er erklärte sich seine Krankheit durch Ansteckung mit Rotzgift. Er reiste in eine fremde Stadt und begab sich auf einen Spaziergang, um die Begegnenden zu prüfen, ob sie sich auch mit Abscheu wegen seines übeln Geruchs von ihm abwenden würden. Als zufällig ein Vorübergehender sein Taschentuch gebrauchte und ihn dabei ansah, fuhr K. ihn heftig an, nannte ihn einen hartherzigen Spötter, einen lieblosen Menschenverächter und gab ihm eine Ohrfeige. Er ward nun als geisteskrank erkannt; man fand, dass er für äussere Gerüche unempfindlich war; er gab an, nur seinen eigenen, dem Pferdeurin ähnlichen Gestank zu riechen und klagte auch über dergleichen Geschmacksempfindungen. Der Kranke trieb dabei rück - haltslos Onanie, fing bald an, über anhaltenden dumpfen Kopfschmerz zu klagen und abzumagern, und ward endlich blödsinnig.

Geschmacksinn. In diesem Sinne sind wirkliche Halluci - nationen von den Illusionen, der falschen Beurtheilung wirklicher objectiver (durch Zungenbeleg, Anomalieen der Mundsäfte entstan - dener) Geschmackseindrücke nicht zu unterscheiden. Auch hier sind es gewöhnlich sehr unangenehme Geschmacksempfindungen, über welche die Kranken klagen. Sie behaupten, Alles schmecke wider - lich, metallisch, scharf, faulig, sandig, erdig u. dergl., und gründen hierauf den Wahn einer Vergiftung, Hass gegen ihre Umgebung und häufig den, wegen der baldigen übeln Folgen für den Organismus immer so bedenklichen Entschluss der Nahrungsverweigerung. 6*84Illusionen des Hautsinne.Sehr selten sind die Fälle, wo Geisteskranke in angenehmen Ge - schmacksempfindungen, dem vermeintlichen Genusse von Delicatessen, deliriren.

Esquirol spricht von solchen Fällen; der einzige, von Leuret angeführte Fall (p. 197) dürfte kaum als Beispiel hiefür gelten können.

§. 54.

In der Haut und den Eingeweiden lassen sich Hallucinationen und Illusionen nicht mehr unterscheiden, oder vielmehr die hier - her gehörigen Erscheinungen, sofern sie nicht (§. 44.) auf Anästhesie beruhen, sind durchweg als Illusionen zu betrachten, indem die spe - cifische Anomalie eben in der falschen Auslegung von Empfin - dungen, wie sie auch beim Gesunden oder in den verschiedensten Krankheitszuständen vorkommen, besteht. Der Anfang dieser Illusionen besteht darin, dass gewisse schmerzhafte Empfindungen von dem Kranken auf phantastische Weise mit analogen Vorgängen nur ver - glichen werden. So sagen die Hypochondristen anfangs nur, es sei ihnen, als ob Schlangen in der Haut liefen, Frösche im Unter - leibe wären, als ob in der Brusthöhle ein Vogel pfiffe, oder eine Aeusserung, die wir neuerlichst vernahmen ein junger Hund im Kopfe Wasser schlürfte. Aber die anfangs bildliche Vergleichung wird bei starkem und anhaltendem Fortbestehen jener Empfindungen, unter dem Einfluss äusserlich begünstigender Umstände und innerlich zunehmender Verstimmung, nach deren Grund sich das Individuum bald ernstlicher umsieht, zum ausgebildeten Wahn; es entstehen dann aus anomalen Hautsensationen oder einem krankhaften Muskelspiel fixe Ideen, in denen jene Sensationen entweder einer innerlichen phantastischen Ursache (Spinnen, Grillen und andere Thiere im Kör - per, Besessensein einzelner Organe von einem bösen Geiste u. dgl. ) oder äusseren Einwirkungen beeinträchtigender Art (fremden Magne - tiseurs, boshaften physicalischen Versuchen etc.) im Ernste zugeschrie - ben werden. So sieht man dann aus einzelnen Schmerzen in der Haut den Wahn, gestochen oder geprügelt zu werden, am Arme ge - fasst oder angebunden zu sein, aus anomalen Abdominalsensationen die Idee, dass der Teufel, das jüngste Gericht, die Kreuzigung Christi*)Eine Kranke Esquirols hatte diesen Wahn. Ich kann es kaum aus - halten, sagte sie zuweilen, wann wird endlich Friede in der Kirche sein! Ein Kranker in Winnenthal schrie Monate lang fort: Hör auf und lass mich gehen! Er glaubte bald von einem Wesen, das ihm im Bauche sitze, gequält, bald von imaginären Ochsen mit den Hörnern gestossen zu werden.85Motorische Störungen.u. dergl. im Unterleibe des Kranken vorgehe, entstehen. Alle Theile des Körpers können zum Ausgangspunkt solcher Wahnideen werden. Ein junger Mann gab uns an, er habe gefühlt, wie der Teufel, rauh und borstig, ihm in den Hals gefahren sei (globus hy - stericus?); ein Anderer (bei Sinogowitz) verstopfte sich Nachts die Nasenlöcher, weil ihm bösartige Würmer in die Nase kröchen; eine Frauensperson, von der Bergmann erzählt, sah in ihrer Brust ein feu - riges, rundes Wesen sich stets im Kreise herumdrehen u. dergl. m.

Eine besondere Beachtung verdienen die sexuellen Illusionen, indem aus geschlechtlichen normalen oder anomalen Sensationen bei männlichen Kranken häufig der Wahn, von Andern zur Onanie an - getrieben zu werden, bei weiblichen der Wahn der Schwangerschaft, der geschlechtlichen Vereinigung mit einem imaginären Geliebten, des Umgangs mit dem Teufel etc. sich herausbilden, indem jene Sensationen überhaupt zur häufigen Quelle des sexualen Wahnsinns, mag er sich in der Form weinerlicher Sentimentalität oder heraus - fordernder Nymphomanie äussern, werden.

Sehr gewöhnlich sind nun Hallucinationen und Illusionen der einzelnen Sinne miteinander verbunden und die angeführten Schriften (Hagen, Esquirol, Leuret, Bottex) sind reich an Beispielen, in denen gleichzeitige falsche Perceptionen aller Sinne die wichtigsten und auffallendsten Phänomene des Irreseins darstellten. In practischer Beziehung kann nicht genug darauf gedrungen werden, dass diese Wahnideen der Sinne gehörig ausgeforscht werden, dass ihren etwa erreichbaren organischen Bedingungen nachgegangen und diesen bei Construction des Heilplans eine vorzügliche Berücksichtigung ein - geräumt werde. In dieser Beziehung möchten wir ein bisher ganz übersehener Punkt bei den Hallucinationen der drei oberen Sinne namentlich auch Aufmerksamkeit auf die Zustände ihres Hülfs - nerven, der N. quintus, empfehlen; in mehren Fällen schienen uns Gehörs - und Gesichtsphantasmen von neuralgischen Leiden dieses Nerven geweckt zu werden.

Drittes Capitel. Die motorischen Elementarstörungen.

§. 55.

Leichte, unbedeutendere Störungen der Muskelbewegung sind bei der Mehrzahl der Geisteskranken nachweisbar, veränderte Intonation86Motorische Störungen.der Stimme, Trägheit oder excessive Raschheit der Muskelbewegung u. dergl. Auch höhere Grade von allgemeiner Straffheit und Rigi - dität der Muskeln sieht man nicht selten, und Schwerbeweglichkeit des ganzen Körpers, mit Einschluss der Sprachorgane, bis zur bild - säulenartigen, cataleptischen Erstarrung ist namentlich den sog. ex - tatischen Zuständen eigen, bei denen zugleich die äussere Sinnes - thätigkeit mehr weniger aufgehoben ist (meist mit gleichzeitigen Hal - lucinationen) und der Kranke innerlich entweder in unaussprechliche mystische Freuden, in Entzücken versunken ist, oder sich im Zu - stande eines heftigen, schmerzlichen Affectes befindet. Solche all - gemeine, mässige und kurzdauernde Muskelstarrheit kann in den leichtesten, heilbarsten Formen des Irreseins vorkommen und ver - schlimmert die Prognose nicht; doch sah man in einzelnen Fällen Stummheit zurückbleiben (Guislain). Von weit üblerer Bedeutung sind einestheils die localen, zeitweise von Lähmung unterbrochenen Contracturen, andererseits die partiellen oder ausgebreiteten convul - sivischen Zustände. Das anhaltende, automatische Grimaçiren, der während der Krankheit entstandene Strabismus, übermässige Con - tractur, Erweiterung, Ungleichheit der Pupillen, schmerzhafte Krämpfe der Halsmuskeln, jene unordentlichen krampfhaften Bewegungen der Extremitäten, welche den Kranken oft zu sonderbarer Ungleichheit des Gangs oder zu Bocksprüngen veranlassen, alle diese Phänomene sind von übler Bedeutung und ihre Permanenz zeigt in der Regel den Uebergang in Unheilbarkeit an. Ebenso sind ein anhaltenderes Zittern, Zähneknirschen, die choreaartigen Erscheinungen bei erwach - senen Geisteskranken, die automatischen Bewegungen im Kreise, das gezwungene Rückwärtsgehen u. dergl. wenigstens in der Mehrzahl der Fälle die Zeichen der Ausbildung einer schwereren organischen Ge - hirnkrankheit, wenn wir gleich, auf einzelne Beobachtungen von er - folgter Heilung nach solchen Zuständen gestützt, die Möglichkeit der Entstehung dieser Phänomene aus blosser nervöser Irritation zugeben müssen. Die schlimmsten, leider nur allzuhäufigen, motorischen Ano - malieen bei Geisteskranken sind aber die epileptischen und allgemein - paralytischen Zustände, denen wir indessen, wegen ihrer besonderen Wichtigkeit, unten (s. d. Complicationen des Irreseins) eine eigene Erörterung widmen.

87

Fünfter Abschnitt. Ueber das Irresein als Ganzes.

§. 57.

Was über das Irresein als Ganzes, seinen Verlauf, seine En - digungsweisen etc. zu sagen wäre, das kann sich bei der ausser - ordentlichen Verschiedenheit der hier obwaltenden Verhältnisse nur aus dem Studium der Einzelformen ergeben. Dagegen scheint uns das allgemeine Verständniss der psychischen Krankheitsprocesse wesentlich gefördert zu werden durch Betrachtung ihrer Analogieen mit einigen verwandten Zuständen, namentlich mit dem Traum und dem febrilen Delirium. *)Die Analogie des Irreseins mit den affectartigen Zuständen des gesunden Lebens ist bereits zur Sprache gekommen; die Aehnlichkeit vieler geisteskranker Zustände mit dem Rausch wird an mehren Stellen unten (bei der Manie und der allgemeinen Paralyse) besprochen.

Auf die grosse Aehnlichkeit des Irreseins mit Traumzu - ständen könnte uns schon die einfache und so sehr häufige Versicherung der Genesenen hinleiten, dass ihnen die ganze Zeit ihrer Krankheit jetzt eben wie ein Traum, bald wie ein glücklicher, viel häufiger wie ein schwerer und düsterer, vorkomme, dass Einzelnen auch während des Irreseins ihr früheres, gesundes Leben nur den Eindruck vergangener Träume gemacht habe. **)Erst neuerlich äusserte sich ein von Manie Genesener in dieser Weise gegen uns.

Freilich fehlen bei den Geisteskranken die Hauptmerkmale des Schlafs, das Verschlossensein der äussern Sinne, die Aufhebung des Bewusstseins der Aussenwelt und des Willenseinflusses auf die Mus - keln, welche wir gewohnt sind, als Bedingungen unserer Träume anzusehen. Allein einerseits ist es bekannt, dass man um so eher träumt, je unvollständiger eben der Schlaf ist, und dass es Schlaf - zustände gibt, wo ein ziemlicher, ja ein dem wachen Verhalten fast gleich kommender Einfluss auf die Muskeln möglich ist (Sprechen im Schlaf, Kutschiren der schlafenden Postillons, Nachtwandler). An - dererseits finden sich bei Geisteskranken sensitive und motorische Zustände eben jene Mattigkeit der Sinneseindrücke, die nicht mehr in der alten Weise zum Individuum gelangen (§. 44.), jene Verminderung des Willenseinflusses auf die Muskeln, die sich in grosser Trägheit der Bewegung, sogar in cataleptischem Beibehalten88Analogie des Irreseinsgezwungener Stellungen ausspricht (§. 56.) welche, in Verbindung mit der zugleich vorhandenen Umdämmerung des Bewusstseins, leb - haft an das Verhalten des beginnenden Schlafs erinnern.

In der That muss sich die Analogie des Irreseins mit dem Traum namentlich an die Träume im halbwachen Zustande halten. Bei Kindern sieht man zuweilen, namentlich in leichteren Krankheiten, dass sie zwar schlafen, aber doch spre - chen, z. B. die Mutter verstehen, ihr antworten, sogar die Augen öffnen und jene erkennen, dennoch aber fortträumen und sich namentlich ängstlichen Traum - vorstellungen nicht zu entziehen vermögen. Eben die Mittelzustände zwischen Schlaf und Wachen sind es, welche das Auftreten von Illusionen und Phantasmen ausserordentlich begünstigen (§. 49.), welche sich durch ein regelloses Treiben der Phantasie und durch Verworrenheit der Intelligenz auszeichnen. Ihnen geht der Zustand der Schläfrigkeit voraus, in dem sich das Individuum schwerfällig, torpid und schweigsam zeigt, die Sinne stumpf werden, die Gesichtseindrücke verschwimmen, die Töne wie aus grösserer Entfernung zu kommen scheinen, das Bewusstsein sich umnebelt, die Antworten verspätet werden, wo man sich halb vergisst, wohl auch etwas Verkehrtes spricht, wie wir so ganz in derselben Weise oft beim Beginn des Irreseins sehen, dass zuerst die sensitive und mo - torische Reaction gegen die Aussenwelt ermattet und nun erst eine Welt von Phantasmen und verwirrt durcheinander laufenden Vorstellungen auftaucht, in der sich der Kranke nicht mehr zurecht zu finden weiss. Zu der allmähligen Be - schwichtigung des Vorstellens und Strebens, in der das gesunde wirkliche Ein - schlafen besteht, lässt es die dauernde (schmerzliche) Gemüthsbewegung des Irre - werdenden nicht kommen, und man beobachtet auch in diesen Anfangsperioden der Krankheit, trotz der äusserlichen, schläfrigen Ermattung, sehr gewöhnlich Schlaf - losigkeit.

§. 57.

Der Traum wie das Irresein erhält seine wesentliche Färbung, seinen bestimmten Grundton von der herrschenden Stimmung, welche ebensowohl aus den psychischen Ereignissen des wachen Lebens herübergenommen als durch Aenderung der organischen Zustände erst während des Schlafs gegeben sein kann. Die herrschenden Ge - fühle der Lust oder Unlust ziehen die ihnen adäquaten Bilder und Anschauungen herauf, und was von Aussen durch die Sinne eintritt, das trifft dann beim wirklich Träumenden, wie beim Irren auf ein präoccupirtes, von der gegebenen Stimmung erfülltes Centrum und wird im Sinne der herrschenden Gefühle und Vorstellungen verwendet und ausgelegt. Andererseits aber entsteht auch derselbe Zwiespalt der Persönlichkeit und derselbe Sturm des Affects, wenn sich gesonderte Haufen von Vorstellungen und Gefühlen von ungewohntem, feindlichem Inhalt dem Ich gegenüberstellen, und der Traum wie der Wahnsinn sind geschäftig, in Bildern (Hallucinationen) aller Sinne das Subjec - tivste nach Aussen zu verlegen und zu dramatisiren.

89mit Traumzuständen.

Im Traum geschieht diess ganz besonders mit körperlichen Empfindungen. Eine verschränkte Lage im Bette, ein Druck auf den Arm oder die Brust werden Anlass zu Geschichten von Gefesseltsein, von Gefahr, von Abgründen, bevor - stehender Hinrichtung etc.; ein Luftzug, der uns anweht, erregt die Bilder einer Seefahrt und lange Geschichten, die sich weiter daraus spinnen; heftige körper - liche Angstempfindungen aus Respirationsdruck erregen bald das Phantasma eines aufsitzenden Ungeheuers, bald dramatisirte Geschichten eines von uns begangenen schweren Verbrechens, gegen die doch unser wirkliches Ich, dem keine solchen Gedanken angehören, lebhaft protestirt, und dergl. All dieses steht dem wachen Traume des Schwermüthigen sehr nahe und bei beiden Zuständen kann das auf - geführte Puppenspiel als solches nicht erkannt werden, wegen mangelnder Beson - nenheit, wegen Zurückdrängung, ja theilweiser Auflösung des Ich und weil die Berichtigung durch die Sinne, hier durch ihr Verschlossensein, dort durch ihre falschen Bilder (Hallucinationen) unmöglich ist. Heermann erzählt, wie er mit Colikschmerzen eingeschlafen und es ihm nun geträumt, sein Unterleib sei geöff - net und es werde an ihm der N. sympathicus präparirt; wir haben (§. 55.) Bei - spiele ähnlicher Auslegungen abnormer Sensationen von wachenden Geistes - kranken angeführt.

Der Träumende, wie der Irre, nehmen Alles, das Abentheuerlichste und Bi - zarrste, als Möglichkeiten ohne besonderes Staunen hin, und der platteste Unsinn wird zur unzweifelhaften Wahrheit, wenn die Vorstellungsmassen, die ihn berich - tigen könnten, ruhend bleiben. Man kann von der Lösung eines wissenschaft - lichen Problems träumen endlich hat man es gefunden, man ist von Freude und dem Gefühl des glücklichsten Gelingens erfüllt; man erwacht und findet einen ganz ordinären, falschen Gedanken. So gibt es Geisteskranke, die plötzlich das perpetuum mobile, oder eine mechanische Idee, die die ganze Oberfläche der Erde ändern muss, und anderes dergleichen erfunden haben; sie sind von Ent - zücken über solche Entdeckungen erfüllt; was sie uns aber demonstriren, ist Unsinn, und sie können, nach ihrer Genesung, gar nicht begreifen, wie sie so plumpe Irrthümer nicht alsbald durchschauen konnten.

§. 58.

Die sehr angenehmen, entzückten, lichtvollen Träume kommen sehr selten bei Gesunden, am häufigsten bei tieferer körperlicher oder geistiger Erschöpfung vor, und wir sehen hier oft, wie eben die während des Wachens unterdrückten Vorstellungen sich in herr - schenden Traumbildern heraufdrängen. Dem von körperlichen und geistigen Leiden Gequälten bringt der Traum ein imaginäres Wohl - sein und Glück; der hungrige Trenk träumte in seinem Gefängnisse oft von splendiden Gastmählern; der Bettler träumt sich reich; wer eben durch den Tod eine theure Person verloren hat, träumt gerne von der innigsten, bleibenden Vereinigung mit ihr u. dergl. m. So heben sich denn nun auch bei den Geisteskranken von dem dunkeln Grunde der krankhaft schmerzlichen Affecte, beim Versinken in einen noch tieferen Traumzustand, die zurückgedrängten, entgegengesetzten90Analogie des Irreseins mit Traum.Vorstellungen und Gefühle, die lichten Bilder von Glück, Grösse, Erhabenheit, Reichthum u. dergl. hervor, und sobald, ohne Genesung, durch Umänderung des Gehirnzustands der Druck der schmerzlichen Empfindungen weggenommen ist, springt das frühere psychische Elend gerne in den Jubel der maniacalischen Selbstüberhebung um. So sieht man denn namentlich auch, wie der vermeintliche Besitz und die imaginäre Erfüllung von Gütern und Wünschen, deren Verwei - gerung oder Vernichtung eben den psychischen Grund des Irreseins abgab, so häufig den Hauptinhalt des Deliriums der Geisteskranken ausmachen, wie die Frau, die ein theures Kind verloren, in Mutter - freuden delirirt, der, welcher Vermögensverluste erlitten hat, sich für ausserordentlich reich hält, das betrogene Mädchen sich zärtlich geliebt von einem treuen Liebhaber wähnt, u. dergl.

Eine Menge weiterer Phänomene des Traums und des Irreseins gehen sich parallel. So fehlt zuweilen den Geisteskranken wie den Träumenden jedes Zeit - mass; Minuten werden zu Stunden, wie wir im Traume Jahre in einer Viertel - stunde durchleben, und Ereignisse, zu deren wirklichem Geschehen Monate er - fordert würden, scheinen dem Kranken in kürzesten Fristen vorgegangen zu sein. In beiderlei Zuständen spielen Muskelempfindungen ausgelegt als Wahn zu fliegen, zu stürzen etc. und Sinneshallucinationen die Hauptrolle, und die letz - teren dienen namentlich dazu, gewisse Situationen auszudrücken, die von einer herrschenden Grundstimmung als die entsprechenden gefordert werden, während die Vorstellungsmassen des Ich, die Ordnung in diese chaotischen Vorgänge bringen könnten, theils ausgewischt oder zerstoben sind, theils in schmerzlichem Kampfe mit dem neuen Inhalte des Seelenlebens liegen, oder von diesem nach be - stimmten Richtungen gewaltsam fortgerissen werden.

Von grossem Interesse sind die selteneren Fälle, wo ein intermittirendes Irresein an die Stelle des normalen Schlafes trat und dabei einen zwischen wah - rem Traum und Nachtwandeln stehenden Character zeigte. Guislain (die Phreno - pathieen, übers. von Wunderlich, p. 80) erzählt einen solchen Fall und hat überhaupt die Verwandtschaft der Geisteskrankheit mit Traumzuständen gebührend gewürdigt. Auch gehören hierher die Fälle, wo ein plötzlich eintretender wacher Traum - zustand das gewöhnliche Tageswachen unterbricht, das nach seinem Aufhören wieder an derselben Stelle aufgenommen wird. Eine Dame war solchen Paroxis - men unterworfen: plötzlich in der Mitte einer Unterhaltung brach sie ab und fieng an von etwas ganz Anderem zu sprechen; nach einiger Zeit nahm sie die erste Unterhaltung an der Phrase, ja, an dem Worte, wo sie stehen geblieben, wieder auf, und wusste nicht das Geringste von dem Zwischenfalle. Eine Dame aus dem Staate New-York wurde von einem plötzlichen Delirium befallen, während sie an einer kostbaren Stickerei arbeitete; sie blieb sieben Jahre krank, und genas nun ebenso schnell wieder. Sie nahm ihre Stickerei wieder auf und ar - beitete mit derselben Ruhe weiter, wie wenn sie nur eine Stunde von der Arbeit sich entfernt hätte. (?) Prichard, Annal. medicopsychol. I. 1843. p. 336.

91und somnambülen Zuständen.

§. 59.

Eine besondere Aehnlichkeit haben manche Zustände von Irresein mit den bei chronischen Nervenkrankheiten, meist in Zuständen tieferer Zerrüttung, vorkommenden sog. magnetischen Schlafzuständen. Das ausserordentliche Wohlgetühl in ihren höheren Graden, jene unbe - schreiblichen Empfindungen, die nicht mehr von dieser Welt zu sein scheinen, finden sich wieder in der grossen Leichtigkeit und Behaglich - keit mancher maniacalischer Zustände und in dem seligen Versunken - sein mancher Irren in Wohlgefühle, die sie nicht mehr zu beschrei - ben vermögen und für die sie gleichfalls das Bild einer Vereinigung mit dem Göttlichen wählen. Jene neue Wortsprache, die sich einzelne Somnambüle als eine vermeintliche Sprache des Geisterreichs bilden, jene Neigung, sich mit der Construction des Weltalls und überhaupt mit den letzten Problemen des menschlichen Denkens mystisch zu be - schäftigen, bis auf das affectirte Hochdeutschreden bei Ungebildeten hinaus all dieses findet sich bei manchen Verrückten in denselben Combinationen wieder.

Es scheint auch, dass die magnetische Exaltation, wie die wachende mania - calische, sich fast immer aus vorausgegangenen Schmerzzuständen entwickelt, und eine antagonistische Ueberhebung theils über das körperliche und geistige Leiden im Wachen, theils nach unserer Beobachtung über dunkle Traum - zustände mit alpartigen Visionen, welche die erste Periode des magnetischen Zustandes bilden, darstellt. Die weitere Bestätigung des letzteren Verhältnisses wäre für die Analogie im Verlaufe beider Reihen krankhafter Zustände sehr wichtig. Auch den Somnambülen wird ihre nach allen Erfahrungen so ausser - ordentlich dürftige Weisheit meistens durch Vermittlung von (Gehörs - und Gesichts -) Hallucinationen mitgetheilt; es gelten für diese magnetischen Zustände die meisten aus den vorigen §§. bekannten Analogieen mit den übrigen Traum - zuständen; namentlich auch Rückerinnerung des magnetischen Traums wird nicht so selten, als von Einigen angegeben wird, gefunden.

Wenn nun auch nicht alle irren Zustände den Character des Traumartigen in gleichem Masse an sich haben, wenn einige, namentlich mehr secundäre Formen, wie die partielle Verrücktheit, alle Zeichen eines vollen Wachens, eines äusser - lich besonnenen Verkehrs mit der Welt darbieten, so könnte immer noch gefragt werden, ob solches Wachen, in dem zuweilen der Kranke von seinem ganzen früheren Leben sich losgesagt, oder dasselbe ganz vergessen hat, in dem er äusserlich in der Scheinwelt seiner Hallucinationen, innerlich in ein Traumnetz von Wahnvorstellungen eingesponnen lebt ob solches Wachen in der That nicht mehr Aehnlichkeit mit manchen, das Tagesleben unvollständig deckenden magnetischen Zuständen habe, als mit dem Wachen, das wir aus unserer Erfah - rung als das gesunde kennen.

§. 60.

Wie aber das Irresein bald oberflächlicheren, bald tieferen, bald92Das Erwachen vom Irresein.qualitativ unter sich verschiedenen Traumzuständen ähnlich ist, so zeigt auch der psychische Prozess, mittelst dessen das Individuum, wenn die Gehirnkrankheit geheilt wird, zum gesunden Leben zurück - kehrt, die mannigfaltigsten Modificationen. Bald gleicht die Genesung dem einfachen Erwachen: während das Individuum sich staunend zu - rechtzufinden sucht, versinken die der Krankheit angehörigen Vor - stellungsmassen in kurzer Zeit und das alte Ich tritt unversehrt und unbeeinträchtigt wieder an ihre Stelle. Anderemale lösen sich die schon geknüpften Verbindungen schwerer, und indem das alte Ich nur langsam erstarkt, besteht die Genesung noch einmal aus einem peinlichen Kampfe, in welchem der Erwachte jetzt oft des Zuspruchs, der Belehrung, der Leitung durch fremden Willen zur eigenen Kräf - tigung bedarf. Es ist nicht selten, dass dann doch nicht jeder Faden des Wahngespinstes sich herausziehen lässt, und auch der Genesene behält mitunter für lange Zeit oder für immer als kleine Ueberreste gewisse Tics und Bizarrerieen, gewisse Verschrobenheiten und Ver - stimmungen an sich, ja er erleidet zuweilen von hier aus eine durch - greifende Aenderung seines Charakters.

Es ist unzulässig, diese Processe auf das moralische Gebiet zu verlegen, wohin sie so wenig als der Process im Anfang der Erkrankung gehören; aber es ist richtig, dass dem schon früher haltlosen Reconvalescenten eine richtige sittliche Führung noth thut und dass nicht selten hier erst für den Irrenarzt eine neue Wirksamkeit an dem Genesenen beginnt, welche freilich meistens die Sache seiner ersten Jugenderziehung hätte sein sollen.

Von grossem Interesse sind die Fälle, wo erst kurz vor dem Tode die geistige Gesundheit oder doch eine entschiedene Besserung des Geisteszustandes eintritt. Es kommt diess am häufigsten bei Maniacis vor,*)In dem Irrenhause der Quäker bei York unter 33 Todesfällen von Ma - niacis 8mal, unter 45 Melancholischen 8mal (Julius, Beiträge zur brittischen Irrenheilkunde p. 255). Die drei von Parchappe (Traité de la folie. Docum. necrosc. Par. 1841. p. 1 4) angeführten Beispiele betreffen gleichfalls Fälle von Manie. etwas seltener bei Melancholischen, beinahe nie in den secundären Zuständen der Verrücktheit und des Blödsinns; wo schwerere, anatomische Läsionen des Gehirns vorhanden sind, wo die kranken Vorstellungen das Ich vollständig durchdrungen und zersetzt haben, scheinen die Grundbedingungen einer Rückkehr zum normalen Vorstellen zu fehlen. Wie lange Zeit hiezu nöthig ist, ist freilich unmessbar.

Brierre de Boismont**)Gazette des hopitaux. 1844. No. 54. erzählt den Fall eines Gärtners, der in seinem 22sten Jahre nach einem heftigen Schreck, den ihm eine Bärenmaske auf einem Maskenballe einjagte, geisteskrank wurde, von dort an zwei und fünfzig Jahre93Verhältniss des Irreseins zum Fieber-Delirium.lang so gut als Nichts sprach und mit Brummen und Hin - und Herschwanken des Körpers jene Thierspecies nachzuahmen schien. Einige Wochen vor sei - nem Tode, als sich Diarrhoe und Oedeme einstellten, fieng er an zu antworten, und sein Verstand zeigte sich zwar sehr beschränkt, aber die Beziehungen seiner Vorstellungen zu einander waren richtig und geordnet.

In Fällen, wo die Gehirnaffection secundär durch Krankheiten anderer, innerer Organe entstand und unterhalten wurde, und noch in bloss nervöser Irritation oder leichteren Hyperämieen besteht, ist eine solche psychische Besserung vor dem Tode noch am ehesten zu erwarten und einer Erklärung am zugänglichsten. Die Besserung muss nicht immer mit einer gleichzeitig merklichen körperlichen Verschlimmerung zusammenfallen; es kommen Fälle vor, wo man den Kranken für genesend hält und er dann schnell durch plötzlichen Tod weggerafft wird. Es ist seltener, dass das Irresein kurz vor dem Tode eine viel schlimmere Ge - stalt annimmt; doch sieht man bei Maniacis Todesfälle in einer bis ans Ende gesteigerten Raserei.

§. 61.

Auch das acute, fieberhafte Delirium, von welchem das Irre - sein in keiner Weise specifisch verschieden ist, besteht in lebhaften Träumen während des Wachens oder Halb-Wachens. Auch in diesen Träumen beobachtet man oft, wie die mannigfaltigen Hallucinationen und falschen Vorstellungen nur Ausdrücke einer herrschenden, bald mehr stationären, bald mehr wechselnden Grundstimmung sind und so durch die Einheit der herrschenden Gefühle zusammengehalten werden; auch hier wird dann der besondere Inhalt der einzelnen Phantasiebilder und falschen Vorstellungen gewöhnlich durch zufällige Umstände (körperliche Bedürfnisse, die Tapete an der Wand, auf - tauchende Erinnerungen etc.) bestimmt. Nach unsern Wahrnehmun - gen lassen sich in den Delirien Fieberkranker dieselben psychischen Grundverschiedenheiten nachweisen, nach denen auch die Geistes - krankheiten in einzelne Hauptformen zerfallen es gibt ein melan - cholisches und ein maniacalisches, ein verrücktes (in einzelnen Wahn - ideen ohne lebhafte Gemüthsbewegung sich bewegendes) und ein blödsinniges Fieberdelirium.

Wenn gleich sich gewöhnlich das acute Delirium vom Irresein durch seine kürzere Dauer, durch seinen symptomatischen Charakter, durch die Anwesenheit eines höheren Grades von Fieber äusserlich unterscheidet, so sind beide Processe doch sowohl ihrem Wesen nach nervöse Reizung des Gehirns, wahrscheinlich besonders sei - ner Oberflächen, Hyperämie oder Gehirnentzündung an diesen Stellen und in Bezug auf ihre Ursachen sympathische Reizung von andern Organen aus, Gemüthsaffecte, anämische Zustände, Alcohol - missbrauch u. dergl. dasselbe; es gibt sehr kurz dauernde, tran -94Irresein und Fieberdelirium.sitorische Manieen, es gibt ein Irresein, das von Fieber begleitet ist, und nicht selten hat die Gehirnaffection auch bei Geisteskranken eine symptomatische Bedeutung. So kann man mit Recht die psychische Störung bei den Irren ein (in der Regel chronisches) Delirium nennen, und man hat keinen Grund, den Ansichten von Georget und Burrows über die specifische Verschiedenheit des fieberhaften Irreredens und der Geisteskrankheiten beizustimmen.

Vgl. Georget, über die Verrücktheit, übersetzt von Heinroth. Leipz. 1821. p. 127 seqq. Burrows, commentaries on insanity. Lond. 1828. Jakobi, Beob - achtungen über die mit Irresein verbundenen Krankheiten. I. Elberfeld. 1830. p. 146 seqq.

[95]

ZWEITES BUCH. Die Aetiologie und Pathogenie der psychischen Krankheiten.

Erster Abschnitt. Allgemeines über die Ursachen des Irreseins.

§. 62.

Unter Ursachen versteht man in der Psychiatrie wie in der übrigen Pathologie die mannigfaltigsten Classen von Momenten, denen man einen Einfluss auf die Entstehung der Krankheit zu - schreibt, die aber zu dieser selbst in höchst verschiedenen Ver - hältnissen stehen. Einestheils begreift man unter den Ursachen alle jene äusseren Umstände (Nationalität, Klima, Jahreszeiten etc.), unter denen man Irresein überhaupt bald häufiger, bald seltener vorkommen sieht; anderntheils meint man damit gewisse äussere Schädlichkeiten (Sonnenhitze, Kopfverletzungen etc.), nach deren Einwirkung die Krankheit häufiger entsteht; endlich umfasst das Ge - biet der Ursachen jene inneren, dem Organismus selbst an - gehörigen Momente (erbliche Disposition, vorausgegangene Krank - heiten oder überhaupt anderweitige Störungen des organischen Me - chanismus, z. B. Krankheiten der Lunge, Genitalien etc.), denen er - fahrungsmässig ein Einfluss auf das Irrewerden zukommt. Bei sehr vielen dieser Momente ist der nähere Zusammenhang zwischen ihnen und der ihnen zugeschriebenen Wirkung, der Weg, auf dem sich aus ihnen eben Geisteskrankheit entwickelt, kaum oder gar nicht ein - zusehen der Schluss post hoc ergo propter hoc beruht dann auf einer bloss empirischen (statistischen) Kenntniss davon, dass gerade96Allgemeines über die Aetiologiediese bestimmten Umstände (z. B. die erbliche Disposition) ganz un - gewöhnlich häufig mit dem Irrewerden zusammentreffen oder ihm vorangehen. Bei andern dieser sog. Ursachen ist ihre Wirkungsweise, die Art, wie in Folge ihrer die Krankheit zu Stande kommt, fasslicher, und es ist eben gegenüber der Aetiologie im engern Sinne, welche nur empirisch die bekannten ursächlichen Momente aufzuzählen weiss, das Geschäft der Pathogenie, den physiologischen Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung deutlich zu machen, das einzelne mechanische Geschehen darzulegen, mittelst dessen durch ein ge - gebenes Moment, z. B. ein Uebermass deprimirender Affecte, eine Herzkrankeit etc., am Ende das Irresein zu Wege kommt.

§. 63.

Für die practisch-ärztliche Aufgabe der Psychiatrie ist die Aetio - logie und namentlich die Pathogenie von ungemeiner Wichtigkeit. Denn wenn auch der alte Satz: sublata causa tollitur effectus, hier wie in der übrigen Medicin, bei vollständig ausgebildeter und ein - gewurzelter Krankheit keine Bestätigung mehr findet, und wenn gleich die Beseitigung mancher entfernteren Ursachen nicht in der Macht des Arztes steht, so sieht man doch, wie namentlich das beginnende Irresein schon durch Entfernung einzelner unter den gewöhnlich vielfältigen, zusammenwirkenden Ursachen mit Erfolg bekämpft werden kann, und es bieten namentlich alle die mannig - faltigen Durchgangspunkte der Erkrankung, alle die organischen Stö - rungen, welche die Pathogenie als Mittelglieder zwischen äusseren Ursachen und zwischen der ausgebildeten Gehirnkrankheit als deren letztem Resultate nachweist, die erfolgreichsten Angriffspunkte für die Therapie dar. Ebenso aber kann das Irresein auch theoretisch ohne Kenntniss seiner Ursachen und seines Zustandekommens in den ein - zelnen Fällen gar nicht begriffen werden, und so sind die ätiologi - schen Fragen in den Vordergrund der ganzen Psychiatrie gestellt.

Im concreten Falle entnehmen wir die ätiologischen Momente aus der Anamnese, und diese ist überall mit grösster Sorgfalt und genauestem Eingehen ins Einzelne zu eruiren. Sie hat sich hier zuerst vor den groben Fehlern zu hüten, die Hypothesen der bis - herigen Umgebung der Kranken, seiner Angehörigen etc. über die Entstehung der Krankheit ohne genaue Prüfung anzunehmen, oder was so häufig geschieht theils schon entschiedene Symptome des beginnenden Irreseins, theils nur die letzten zufälligen Impulse seines deutlichen Ausbruchs für die wahren Ursachen zu halten. Sie darf97und über die Anamnese.sich aber überhaupt nicht bloss mit den auffallenden körperlichen oder geistigen Ereignissen, die dem Irresein näher vorangiengen, begnügen, sondern sie muss sich auf den Standpunkt stellen, wo der jetzige krankhafte Zustand als das endliche Ergebniss aller früher vorhandenen Lebenszustände erscheint. Es muss sich die anamnesti - sche Untersuchung auf die Gesamtheit der leiblichen und geistigen Antecedentien einer Persönlichkeit erstrecken; sie muss ab ovo, ja schon bei früheren Generationen Familienanlage anfangen, die körperliche Entwicklung, den habituellen Gesundheitszustand, die Krankheitsdispositionen und vorgefallenen Erkrankungen genau ver - folgen und in gleicher Weise auf psychischem Gebiete das Verhält - niss der Anlagen und angebornen Gemüthseigenthümlichkeiten, ihre Ausbildung durch Erziehung, die herrschenden Neigungen des Indivi - duums, seine Lebensrichtung und Weltansichten, seine äussern Schick - sale und die Art seines psychischen Verhaltens zu ihnen treu und einsichtig auffassen und so ein allseitiges Bild der Geschichte einer Individualität zu gewinnen suchen. Nur auf diesem Wege ist eine Einsicht in die wirkliche Bildungsgeschichte dieser Krankheiten mög - lich, nur so gelingt es, an ihren Ursprüngen die feineren Fäden zu fassen, die sich am Ende zu Wahngespinnsten verschlungen haben, nur so kann man in manchen Fällen, wo Irresein plötzlich und scheinbar ganz unmotivirt zum Ausbruche kommt, die längst gegebene Vor - bereitung der Erkrankung und die fast mathematische Nothwendigkeit ihres Eintritts erkennen. Und all dieses ist eben von höchster Be - deutung für die Therapie, welche der Anamnese die Indicationen bald zur Tilgung inveterirter chronischer Krankheitsprocesse, bald zur Entfernung gewisser psychischer Ursachen entnimmt, und welche einen tieferen Blick in den Charakter des Individuums braucht, um alle in demselben liegenden Ressourçen zur Unterstützung einer activen Therapie benützen zu können.

Die Ansichten der Umgebungen eines Kranken über die Aetiologie sind häufiger irrig als richtig, fast immer wenigstens einseitig. Von Laien und Aerzten werden auch Symptome des beginnenden, sogar zuweilen des schon weit gediehenen Irre - seins für Ursachen gehalten. Im Beginn der psychischen Erkrankung kann z. B. symptomatisch ein lebhafter Hang zu spirituösen Getränken oder ein stärkerer Geschlechtsreiz, der zu Excessen oder Onanie führt, auftreten; es kann die schon vorhandene Gemüthsaufregung zu übereilten Verbindungen, zu gewagten Geschäfts - Unternehmungen, zu religiösen Anfechtungen und Betrachtungen Anlass geben, und man begeht dann oft den Fehler, die Krankheit der Trunksucht, der unglück - lichen Liebe, den missglückten Speculationen, der Religion etc. zuzuschreiben. So kommt es auch sehr oft vor, dass von den Umgebungen oder unkundigen Aerzten ein Irresein als frisch entstanden betrachtet und gewissen neuerlichenGriesinger, psych. Krankhtn. 798Zusammengesetztheit der Ursachen.Vorfällen zugeschrieben wird, das sich bei näherer Untersuchung als ein schon viele Jahre bestandenes und ganz eingewurzeltes zeigt. Schon Pinel erzählt den Fall einer Kranken, die angeblich 9 Monate an Irresein leiden sollte, in der That aber schon 15 Jahre lang geisteskrank war.

Die deutsche Psychiatrie hat das Verdienst, immer die Aetiologie und Patho - genie des Irreseins tiefer und richtiger aufgefasst und glücklicher bearbeitet zu haben, als die französischen Schulen. Während diese noch bis in die neueste Zeit (Moreau de Jonnès, Brierre, Parchappe) bei ihren ganz abstract gehaltenen Tabellen psychischer und moralischer Ursachen stehen bleiben, in denen Trunk - sucht, Epilepsie, Ehrgeiz, Prostitútion, Politik, Vermögensverlust und dergl. als gleichwerthige Categorieen von Ursachen neben einander stehen, haben die deutschen Irrenärzte (Heinroth und Ideler von psychischer Seite, Bergmann, Flemming, Jakobi, Jessen, Nasse, Zeller und A. theils mit vorzüglicher Berücksichtigung der somatischen Ursachen, theils allseitig) schon seit langer Zeit auf genaues Individualisiren in Bezug auf die Ursachen des einzelnen Falls gedrungen, und es hat sich bei uns immer mehr eine Betrachtungsweise festgestellt, welche die sorgfältige Berücksichtigung aller Momente in ihrem Zusammenhange und Zu - sammenwirken auf die Entwickelung des Krankheitszustandes fordert.

§. 64.

Ein näheres Eingehen in die Aetiologie des Irreseins zeigt näm - lich alsbald, wie es in der ausserordentlichen Mehrzahl der Fälle nicht eine einzige specifische Ursache, sondern ein Complex mehrer, zum Theil sehr vieler und verwickelter schädlicher Momente war, unter deren Einflusse die Krankheit endlich zu Stande kam. Nicht selten wird der Keim des Erkrankens schon in jenen frühen Lebensperioden gelegt, wo sich die Anfänge des Charakters bilden; wächst er durch Erziehung und äussere Erlebnisse, oder trotz ihnen, so ist es nur selten, dass der excedirende Stand der psychischen Irritabilität ganz von selbst allmählig und durch kaum merkliche Zwi - schenstufen den Grad auffallender psychischer Functionsstörung er - reicht; viel häufiger sind es mehre, mannigfaltige psychische Eindrücke und körperliche Störungen, unter deren successiver Einwirkung oder ungünstigem Zusammentreffen sich die Krankheit ausbildet, und sie ist dann nicht einem einzelnen dieser Momente, sondern nur ihrer Totalität zuzuschreiben. So sieht man in den concreten Fällen z. B. langwierige Trunksucht und einen sehr heftigen Affect, anderemale erbliche Disposition, häuslichen Unfrieden und eine Herzkrankheit, dann wieder Wochenbett und einen heftigen Aerger oder Schrecken, oder unglückliche Liebe und beginnende Tuberculose, kurz gewöhnlich mehre verschiedene üble Einwirkungen auf den Organismus oder schon begründete Krankheitszustände oft noch weit vielfacher und compli - cirter als in diesen Beispielen als Ursachen des Irreseins auftreten.

99Cautelen bei Schätzung der Ursachen.

Hier liegt nun eben die Schwierigkeit in der richtigen Werthschätzung des Einflusses, den jedes einzelne dieser Momente auf die Krankheitsentstehung hatte, hier gilt es, sich den Blick ungetrübt von systematischer Prävention für diese oder jene Theorie, und von einseitiger Bevorzugung einer oder gewisser Reihen von Ursachen, z. B. der somatischen oder wieder der psychischen, rein zu er - halten. Das Urtheil darf sich nur durch die vorliegenden, genau untersuchten Thatsachen leiten lassen; wo empirische Data über die Ursachen in einem be - stimmten Falle fehlen, dürfen sie nicht durch Hypothesen ersetzt werden, und die Wichtigkeit der einzelnen vorliegenden Momente ist nach den sonstigen Grundsätzen einer rationellen Pathologie zu schätzen.

Ein ursächlicher Einfluss ist bei denjenigen Momenten natürlich am sichersten anzunehmen, deren Wirkungsweise sich im Einzelnen verfolgen und deren Effect sich daher als ein physiologisch nothwendiger begreifen lässt, oder, wo diess auch nicht der Fall ist, bei denen, welche wenigstens durch eine umfassende Statistik fest - gestellt sind. Ein vorausgegangenes unbedeutendes Magenleiden, eine leichte Hämorr - hoidal-Anschwellung oder gar eine rechtmässiger Weise schnell geheilte Krätze werden z. B. nicht unter den Ursachen aufzuführen sein, da keinerlei Statistik für sie spricht, keinerlei Zusammenhang zwischen ihnen und dem Irresein nach Schwere und Art der Erkrankung ersichtlich ist. Dagegen erscheinen z. B. die vorhandenen Herzaffectionen als wichtige ursächliche Momente, da sie den Kreis - lauf im Gehirne beeinträchtigen; deprimirende Affecte würden als solche erscheinen, wenn man auch nichts von ihrer Wirkungsweise wüsste, weil sie statistisch erwiesener Massen so ausserordentlich häufig dem Irrewerden vorangehen; die Möglichkeit der Entstehung einer Geisteskrankheit durch Wurmreiz im Darm (Taenia) kann nicht abgewiesen werden, weil man auch andere schwere Gehirn - krankheiten (Epilepsie) durch sie entstehen sieht etc. Man darf nie vergessen, dass etwas, um Ursache zu sein, auch wirklich der vermeintlichen Wirkung vorangegangen sein muss; man darf z. B. nicht, wenn sich erst gleichzeitig mit dem beginnenden Irresein schwerere Verdauungsstörungen zeigen, auf ein chronisches Unterleibsleiden als Ursache des Irreseins schliessen. In einzelnen Fällen fehlt es vollends an allen ätiologischen Anhaltspunkten, und das Irresein entsteht allmählig, wie viele andere chronische Krankheiten, aus ganz unbekannten Einflüssen; nichts wäre falscher, als hier imaginäre somatische Ursachen zu supponiren und solchen Vermuthungen einen Einfluss auf den Heilplan zu gestatten.

§. 65.

Es ergibt sich aus einer grösseren Vergleichung, dass die Aetio - logie der Geisteskrankheiten im Allgemeinen keine andere ist, als die Aetiologie aller übrigen Gehirn - und Nervenkrankheiten. Nament - lich die Aetiologie der Epilepsie (auch der Apoplexie) und der chro - nischen Spinalirritationen bietet sehr instructive Analogieen sowohl was Prädisposition, als nächste erregende Ursachen betrifft, dar. Abgesehen von den prädisponirenden Momenten (Lebensalter, Er - blichkeit, gewisse Erziehungsfehler etc.) lassen sich bei allen diesen Krankheiten namentlich zwei Wege der Erkrankung erkennen. Ein - mal ihre (protopathische) Entstehung aus direct auf das Gehirn7 *100Idiopathische und sympathische Entstehung.wirkenden Einflüssen Erschütterung, Verwundung, Ueberan - strengung des Gehirns und des ganzen Nervensystems, Narcotica, psychische Ueberreizung durch Affecte und dergleichen; sodann eine (deuteropathische) Entstehung der Gehirnkrankheit in Folge ander - weitiger, im Organismus vorgegangener krankhafter Veränderungen, durch welche die Gehirnfunctionen beeinträchtigt werden. Diese Krankheitszustände nun scheinen auf das Gehirn hauptsächlich wieder in zweierlei Weise zu wirken, einmal indem sie habituelle Gehirn - hyperämieen erzeugen oder begünstigen (z. B. die Herzkrankheiten), zweitens durch nervöse Reizung des Gehirns, welche man sich kaum anders als durch Mittheilung und Uebertragung eines peripherischen Irritationszustandes einzelner Nervenparthieen auf das Centralorgan geschehend vorstellen kann (peripherische Nervenverletzung, Einfluss der Sexualorgane etc.). Als eine dritte Categorie möchte sich hieran die mangelhafte Ernährung und Erregung des Gehirns durch eine dyscrasische Blutmischung anschliessen (anämische Zustände).

Dennoch lässt sich der Unterschied einer protopathischen und deuteropathischen Entstehung des Irreseins für die concreten Fälle nicht durchführen. Sowohl dess - wegen nicht, weil gewöhnlich mehrere schädliche Einflüsse, die auf verschiedene Weise einwirken, zusammentreffen, als darum nicht, weil einzelne ätiologische Momente, namentlich die so wichtigen depressiven Affecte, nicht nur in ver - schiedenen Fällen, sondern auch gleichzeitig in demselben Individuum theils primitiv theils aber auch durch Setzung weiterer chronischer Veränderungen in anderen Organen, und allgemeine Zerrüttung der Constitution, wieder secundär auf einem Umwege das Gehirn beeinträchtigen können. Hiemit ist auch schon ausgesprochen, dass alles, was nervöse Reizung des Gehirns und alles, was Hyperämie in der Schädelhöhle zu erzeugen im Stande ist, auch ein Moment zur Entstehung des Irreseins werden kann. Ausserdem aber sind noch alle die Um - stände, unter denen Nutritionsanomalieen des Gehirns (auch ohne zu Grunde liegende Hyperämie) sich bilden (z. B. Atrophie, Tuberculose), als wichtige Ursachen an - zusehen. Bei Betrachtung der einzelnen Classen ätiologischer Momente ist die Wirkungsweise derselben näher anzugeben; wir behalten bei ihrer Aufzählung die gebräuchliche Eintheilung in prädisponirende Momente und in eigentliche Ursachen (nicht ganz richtig erregende oder Gelegenheitsursachen) bei, ungeachtet einzelne der zu erwähnenden Einflüsse (z. B. Menstruationsstörungen, psychische Einflüsse) bald disponirend, bald erregend wirken können. Was dieser ganzen Eintheilung, die indessen die bequemste Uebersicht gewährt, an wissenschaftlicher Schärfe abgeht, kann durch Sorgfalt in der Einzel-Analyse ersetzt werden.

101

Zweiter Abschnitt. Die Prädisposition zu psychischen Krankheiten.

§. 66.

Erwägt man die ausserordentliche Häufigkeit aller der schädlichen Einflüsse, welche als Ursachen der Geisteskrankheiten angegeben wer - den und ihre doch verhältnissmässig seltene Entstehung aus densel - ben, so wird man mit Nothwendigkeit zur Annahme geführt, dass es gewisser vorbereitender Umstände bedürfe, damit in den einzelnen Fällen überhaupt Erkrankung und gerade diese Erkrankung eintrete, dass eine gewisse Empfänglichkeit und Disposition zu solchen Krank - heiten den zuweilen wenig intensiven erregenden Ursachen entgegenkommen müsse. In der That ist man beim jetzigen Zustande der Wissenschaft bei den meisten Krankheiten des Nervensystems zu einer solchen Annahme genöthigt. Unzählig sind die Fälle von Ver - letzung, und nur selten folgt auf sie Tetanus; eine Menge Kinder leiden an Würmern, und nur wenige verfallen in convulsivische Zu - stände; viele Menschen leben unter Umständen, denen eine kräftige Wirkung auf die Ausbildung psychischer Krankheiten zuerkannt werden muss, und nur wenige unter ihnen werden wirklich geisteskrank. Will man nun bei jenen Neurosen zur Erklärung eben eine nicht näher zu bestimmende besondere Disposition des Nervensystems annehmen, so hat man freilich nur ein leeres Wort für eine ganz unbekannte Sache. Genauere Untersuchungen gestatten hier aber doch zuweilen eine Einsicht in die näheren Verhältnisse dieser Dis - position. Man weiss z. B. dass Tetanus in heissen Ländern leichter auf Verletzungen folgt, als in unserm Klima, dass sein Zustande - kommen durch gleichzeitige Erkältungen oder psychische Reize be - günstigt wird und dergl., und so sind auch für das Irresein eine Reihe von Momenten bekannt, denen erfahrungsmässig ein vorbereiten - der und begünstigender Einfluss auf seine Entstehung zugeschrieben werden muss. Es hat nun die Lehre von der Prädisposition zu den Geisteskrankheiten einestheils jene entfernteren, im Grossen wir - kenden, nur statistisch erweisbaren, und in ihren einzelnen Wir - kungsarten ganz unerforschlichen Verhältnisse der Nationalität, des Klimas, der Jahreszeiten, des Geschlechts, Lebensalters, der allgemeinen Standesunterschiede zu betrachten und deren Bedeutung für die Entstehung dieser Krankheiten zu würdigen. Andrerseits ist, neben dieser allgemeinen, auch die individuelle Prädisposition, und zwar102Zahl der Irrendie angeborne und die erworbene, zu analysiren, wie sich solche in Bezug auf Erblichkeit, Erziehung, auf Constitution, Charaktereigen - thümlichkeit, schädliche Gewohnheiten etc. nachweisen lässt.

Erstes Capitel. Die allgemeine Prädisposition.

§. 67.

1) Nationalität. Der Begriff der Nationalität enthält in sich eingeschlossen eine Menge der mannigfaltigsten Verhältnisse. Das Klima, die Fruchtbarkeit des Landes, die vorzugsweise Beschäftigung seiner Bewohner, das vorherrschende religiöse Bekenntniss, der Grad der Civilisation, des Wohlstands und der öffentlichen Sittlichkeit, die früheren Schicksale des Volkes und die Regierungsformen, diess Alles wirkt zusammen auf die Bildung gewisser Nationaleigenthümlichkeiten, die sich dann als stehender Typus von Geschlecht zu Geschlecht fortpflanzen. Eben weil alle diese Momente nur in ihrem Zusammen - sein und ihrer allseitigen Verkettung wirksam sind, ist es auch nicht möglich, von den einzelnen derselben ihren Einfluss auf die Ent - stehung des Irreseins zu bestimmen; es können vielmehr nur stati - stisch die Angaben über die Häufigkeit oder Seltenheit des Irreseins unter den einzelnen Nationen verglichen werden. Und auch dieses Geschäft führt zu nur wenig befriedigenden Resultaten. Denn bei - nahe von keinem Lande der Welt besitzen wir ganz zuverlässige Zählungen; wo genauere Angaben vorhanden sind, werden sie oft durch die verschiedenen Methoden der Erhebung und namentlich durch die Vermischung zweier, ihrer Natur nach zu trennender Zu - stände, des eigentlichen Irreseins und des angebornen Blödsinns (Cre - tinismus), ganz unsicher gemacht, und man ist für viele Gegenden auf eine durchschnittliche Schätzung der Irrenzahl nach den für die einzelnen Länder so sehr wechselnden Zahlen der in den Anstal - ten verpflegten Irren beschränkt.

Unter den deutschen Ländern existiren genauere Zählungen von mehren preussischen Provinzen, von Würtemberg und Baden. In der preussischen Rheinprovinz war das Verhältniss der Irren zur Be - völkerung (a. 1828) = 1: 1027; in Westphalen (a. 1836) = 1: 1590, mit Einschluss der von Geburt an Blödsinnigen = 1: 846; in Schlesien (a. 1830) = 1: 1200; in der Provinz Sachsen103in verschiedenen Ländern.(a. 1836) = 1: 968. In Würtemberg*)Köstlin, Beiträge zur Statistik der Geisteskrankheiten in Würtemberg. Dissert. Tüb. 1840. kam (a. 1832) 1 Geistes - kranker (mit Ausschluss der Blödsinnigen) auf 1500 Einwohner; in Baden**)Nach einer gütigen Mittheilung des Herrn Director Roller in Illenau. (a. 1838) mit Inbegriff der Blödsinnigen 1: 1278, ohne sie 1: 2810, nach einer Zahl von a. 1842 aber im Ganzen 1: 1123 Einwohner.

Ueber die Zahl der Irren in Frankreich***)Moreau de Jonnès. Comptesrendus de l’Acad. d. Sciences. 1843. XVII. p. 65. Brierre de Boismont. ibid. p. 134. lauten die Angaben sehr verschieden. Aus einem Durchschnitt von acht jährlichen offi - ciellen Zählungen der Kranken in und ausser den Anstalten ergab sich die Zahl von 18,350 Irren, also 1: 1900. Die Documente hier - über scheinen aber sehr unvollständig zu sein und Piérquin und Brierre nehmen 30 32,000 Irre an, wo sich dann ein Verhältniss von 1: 1000 ergeben würde. Jedenfalls ist die Vertheilung sehr ungleich; in Paris und den umliegenden Departements kommt bei Annahme der officiellen Zahl 1 Irrer auf 673, in den armen Südwestdepartements 1 auf 6366 Einwohner. †)Dufau, traité de Statistique. Par. 1840. p. 308. In Belgien††)Heuschling, Statistique générale de la Belgique. Suppl. 1844. p. 8. ergab die Zählung von a. 1835 das Verhältniss von 1,22: 1000; Guislain hält aber die gefundene Zahl nur für der wirklich vorhandenen Irren. In England und Wales†††)Vgl. Quetelet, über den Menschen, übersetzt v. Riecke. 1838. p. 430. Julius, Beitræge z. britt. Irrenheilkunde. Berlin 1844. Battelle, rapport etc. Annal. med. psych. nov. 1844. p. 393. ist das Verhältniss der in den Anstalten verpflegten Irren zur Bevölkerung nach den neuesten Berichten = 1: 980; das Ver - hältniss aller Irren zur Population wird von Piérquin = 1: 783, von Hitch für Wales allein = 1: 500 geschätzt; ja in einer Grafschaft von Wales (Merioneth) kommt sogar 1 Kranker auf 388 Einwohner. 1)Hitch, Annal. med. psychol. I. 1843. p. 161.In Schottland ergibt sich nach früheren Angaben das Verhältniss 1: 573, nach Julius (6000 Irre bei einer Bevölkerung von drittehalb Millionen) = 1: 417; in Irland nach Piérquin = 1: 911. In Norwegen soll 1 Kranker auf 550 Einw. kommen;2)Fuchs, in Friedreichs Magazin. 1833. III. p. 87. Bei Quetelet und Es - quirol ist das Verhältniss durch ein Rechnungsversehen viel zu nieder (1: 5,057) angegeben. unter den Ge - zählten ist übrigens ein Drittheil Idioten.

104Zahl der Irren.

Ueber Italien existiren keine umfassenderen, zuverlässigen Be - richte. Brierre’s Schätzungen ergeben 1: 4879 Einwohner. Esquirol nahm a. 1834 ein Verhältniss von 1: 3785 an. Auch diess ist ge - wiss noch viel zu niedrig. In der Provinz Padua kommt nach Lip - pich*)Oesterreich. Jahrb. Juli 1842. p. 36. Vgl. Guislain, lettres médicales sur l’Italie. Gand. 1840. p. 90. Mittermaier, italien. Zustände. 1844. p. 184. schon 1 (in den Anstalten verpflegter) Kranker auf 1900 Einw.

Von Spanien fehlen alle genaueren Angaben. Dass in Por - tugal die Zahl der[Irren] nicht unbeträchtlich sein muss, zeigt der Bericht von Marchant;**)Annal. med. psychol. Mai 1844. 371. derselbe fand auf der Insel Madeira in der Stadt Funchal 1: 2667 Einwohner.

Dieselbe Unmöglichkeit einer auch nur annähernd richtigen Schät - zung herrscht im Durchschnitt für die orientalischen Länder. In Malta***)Moreau, Annal. med. psychol. I. 1843. p. 107, 109. kam (a. 1836) 1 Fall auf 7 800 Einwohner, in Smyrna unter den dort lebenden Griechen 1 auf 1000. Dieses Verhältniss ist nicht ohne Interesse, insoferne es, ungeachtet der grossen Ver - schiedenheit des Climas, doch an den Orten, wo europäische Civili - sation herrscht, eine den sonstigen europäischen Ländern gleiche Pro - portion zeigt. In Nubien, in Sennaar, in Abyssinien sollen sich (ibid. p. 126) nur hier und da einzelne Blödsinnige finden.

Unter den Vereinigten Staaten betrug a. 1825 die Zahl der Irren im Staate New-York = 1: 7 800; eine neuere Zählung (a. 1841) gab so colossale Zahlen, dass z. B. im Staate Maine 1 Geisteskranker auf 14 Einwohner käme, was gewiss unrichtig ist. †)Moreau de Jonnès. l. c.

§. 68.

Aus den Widersprüchen und der Dürftigkeit dieser Statistiken erhellt von selbst, wie es zur Lösung der neuerlich vielfach bespro - chenen und vieldeutigen Frage, ob der Fortschritt der Civili - sation die Zahl solcher Erkrankungen vermehre, fast an den ersten Elementen fehle. Manches kann hier wohl a priori zugegeben wer - den. Die Steigerung der Industrie, der Künste und Wissenschaften setzt auch eine allgemeine Steigerung der cerebralen Thätigkeiten vor - aus; die immer weitere Entfernung von einfachen Sitten, die Ver - breitung der feineren, geistigen und leiblichen Genüsse bringt früher unbekannte Neigungen und Leidenschaften mit sich; die allgemeine liberale Erziehung weckt unter der Masse einen höher strebenden105Einfluss der Civilisation.Ehrgeiz, den nur die Wenigsten befriedigen können; mercantilische, politische und sociale Schwindeleien wirken erschütternd auf die Einzelnen, wie auf das Ganze, und was von Allem das Wichtigste ist, das Proletariat, die Zunahme des Hungers, des Elends und der Verbrechen in den untersten Klassen der modernen Gesellschaft, kann nicht ohne Einfluss auf eine Krankheit sein, unter deren wich - tigsten näheren Ursachen wir Entbehrungen und anhaltende Gemüths - aufregungen kennen lernen werden. Die Anhäufung der Menschen in den grossen Städten mit all ihren demoralisirenden Einflüssen man rechnet in Paris 63,000 Menschen, welche sich auf unehrliche Weise auf Kosten der Gesellschaft fortbringen, und in London gibt es Tausende von Kindern, die sich schon dem Verbrechen und der Prostitution ergeben , die häufigere Ehelosigkeit, das vielfach ver - änderte Verhalten zur Religion mögen als mitwirkende Momente an - erkannt werden. Immer aber sind die Thatsachen, welche zu oberst den Vergleichungen zu Grunde gelegt werden müssten, nämlich die Seltenheit der Geisteskrankheiten in wenig civilisirten Ländern und ihre geringere Häufigkeit in unsern Gegenden zu früheren Zeiten, nicht genügend durch Zahlen constatirt, und der Antheil, den die Zunahme der Bevölkerung und die vermehrte, aus einer besseren Kenntniss hervorgehende Aufmerksamkeit auf das Irresein an der wahren oder scheinbaren Vermehrung der Geisteskranken hat, lässt sich nicht von dem jener complicirten Einflüsse, die man unter Civilisation versteht, scheiden. Mag aber auch bei einem Ueberschlage im Grossen der höheren Cultur unserer Tage hier ein schlimmer Einfluss zuzuerkennen sein, so hat die moderne Gesellschaft in den civilisirten Ländern da - für auch Mittel und Wege zur Wiedergenesung vom Irresein eröffnet, welche den früheren Jahrhunderten und den ungesitteten Ländern fremd sind die Irrenanstalten, und die neueste Zeit zeigt einzelne grosse Massregeln moralischer Selbsthülfe von Seiten des Volks, wie namentlich die Mässigkeitsvereine, welche roheren Ländern und Zei - ten fehlen und mit denen ganz unzweifelhaft eine der allerhäufigsten Ursachen der Geisteskrankheiten Esquirol und Prichard nehmen für die Hälfte der brittischen Irren Trunksucht als Ursache an wesentlich vermindert wird.

Man schätzt, dass sich die Zahl der Irren in England in den letzten 20 Jahren mehr als verdreifacht habe*)Annal. med. psychol. Juillet. 1844. p. 156.. In diesem Verhältnisse hat natürlich weder die Bevölkerung, noch viel weniger die Civilisation zugenommen, und da zudem die Zeiten verhältnissmässig ruhig waren, so lässt sich ein so auffallendes Resultat106Einfluss des Geschlechtswohl hauptsächlich aus der vermehrten Aufmerksamkeit auf diese Classe von Krankheiten erklären. Mit der Zunahme der Irrenanstalten und ihrer besseren Einrichtung wächst der Zudrang zu ihnen, indem alle Welt für Fälle, die sonst für incurabel galten, nun Hülfe sucht, und es entsteht eine scheinbare Vermehrung der Krankheiten, wie solche die neuere Medicin auch bei den Herzkrankheiten und bei der Tuberculose erlebte.

Ob Manufactur - oder Ackerbaubeschäftigung, Stadt - oder Landleben erheb - lichen Einfluss auf die Häufigkeit des Irreseins habe, ob den handeltreibenden Nationen als solchen hier ein trauriger Vorzug zukomme, ob Katholicismus oder Protestantismus das Irresein mehr begünstige und manche dergl. Fragen müssen zur Zeit aus Mangel an Material und wegen der untrennbaren Complication der ein - wirkenden Umstände unbeantwortet bleiben; es führt zu nichts, mit Gründen für oder wider der Statistik vorauseilen und unentwirrbare Fragen einseitig lösen zu wollen.

§. 69.

2) Geschlecht. Die Untersuchung, ob eines der beiden Ge - schlechter vor dem andern zu Irresein disponirt sei, stösst gleichfalls auf statistische Mängel, welche eine genügende Lösung unmöglich machen. Auch hier ist die Literatur reich an Notizen und Zahlen, denen nur die Bürgschaften für ihre Richtigkeit abgehen, und auch hier sind alle Berechnungen, die auf der blossen Statistik der Irren - anstalten basiren, unzureichend und trügerisch. Es liegt in der Natur der Sache, dass weibliche Kranke, namentlich vor der neueren Vervollkommnung des Anstaltswesens, die Minderzahl der Bewohner der Irrenhäuser ausmachten, weil die Familien mehr Bedenken tragen, sie aus ihrem Kreise wegzugeben, und weil sie leichter zu bändigen und in Privatverhältnissen zu verpflegen sind. In der That haben die Zusammenstellungen von Fuchs*)Im Jahr 1833 angestellt. l. c. p. 96. nach den Zählungen in sehr vielen Anstalten ein Verhältniss der Männer zu den Weibern = 100: 75 ergeben; und nur Frankreich und die Niederlande machten mit einer grösseren Anzahl weiblicher als männlicher Kranken eine Ausnahme. Auch in den neuesten Zeiten scheinen die deutschen Anstalten um ein Ziemliches mehr Männer als Weiber aufzunehmen; es haben z. B. die Anstalten zur Siegburg**)Jakobi, die Hauptformen der Scelenstörungen. I. 1844. p. 573. und Winnenthal,***)Zeller, Bericht über d. Wirksamkeit der Heilanstalt Winnenthal. Journal für Psychiatrie von Damerow und Roller. 1844. I. t. p. 73. erstere in 18 Jahren 900 Männer, 566 Weiber, letztere in 10 Jahren 396 Männer, 251 Weiber verpflegt, während z. B. das französische Etablissement St. Yon innerhalb der 8 Jahre von 1835 43, genau die gleiche Zahl von beiden Geschlechtern aufnahm. †)Parchappe, annal. med. psych. 1843. II. p. 367.

107auf das Irresein.

Aus allen solchen Zahlen folgt aber nichts für die wirkliche grössere Häufigkeit des Irreseins bei einem oder dem andern Ge - schlecht. Die Schätzung Esquirols, die sich auf 70,000 Kranke aller Länder erstreckte, freilich ohne desshalb an Festigkeit der Basis zu gewinnen, wies eine ganz unbedeutende Mehrzahl auf Seiten des weiblichen Geschlechtes aus. Für England, Norwegen, Dänemark, Russland und Nordamerika, ebenso für die preussischen Provinzen Westphalen und Sachsen, für die südlichen Departements von Frank - reich ergeben die bisherigen Zählungen im Ganzen mehr Männer als Weiber, während dagegen in den nördlichen französischen Provinzen und in den Niederlanden die Zahl der Weiber vorherrschen soll und auch die Zählung in Würtemberg ein Vorherrschen des weiblichen Geschlechts (505 Männer, 582 Weiber) nachwies. *)Köstlin. l. c. p. 7.Alle diese An - gaben**)Fuchs, l. c. p. 95. Quetelet. p. 436. bedürfen weiterer Bestätigungen und lassen keine Schlüsse zu.

Gleich unzulässig wäre ein Versuch, aus der Häufigkeit und Bedeutsamkeit einiger, dem weiblichen Geschlechte speciell zukommender Ursachen apriorische Folgerungen zu ziehen; denn die Menstruationsstörungen, die Schwangerschaft, das Wochenbett gehören zwar unzweifelhaft unter die Verhältnisse, welche häufig zu Ursachen des Irreseins werden, aber es stehen ihnen auf Seiten des männ - lichen Geschlechts eine Reihe anderer diesen besonders eigenthümlicher Momente, vor allem die hier weit häufigere Trunksucht, die geistigen Anstrengungen, die Kämpfe des Ehrgeizes, die Gemüthsbewegungen und Erschöpfungen, welche das Geschäftsleben mit sich bringt, entgegen ursächliche Verhältnisse, durch welche gewiss jener eigenthümliche Einfluss der sexuellen Processe auf die Ent - stehung des Irreseins im Grossen und Ganzen genugsam aufgewogen wird. Mit den banalen Floskeln von grösserer Zartheit, Reizbarkeit, Gefühligkeit des Weibes aber wird Niemand eine derartige Frage im Ernste lösen wollen.

Was den Einfluss der Ehe oder des ehelosen Lebens betrifft, so stimmen die verschiedenen Angaben***)Fuchs. l. c. p. 103. Köstlin. l. c. p. 9. darin überein, dass unter den unverheiratheten Männern die Erkrankungen häufiger seien, dass dagegen unter den Weibern mehr verehlichte Personen erkranken, eine Thatsache, welche sich wohl allein aus dem Heirathen des weiblichen Geschlechts in einem früheren Lebensalter erklären lässt. Auch unter den verwittweten Kranken prädominirt das weibliche Ge - schlecht, vielleicht wegen seiner hülf - und schutzloseren Lage unter diesen Umständen. Mit Recht aber macht Zeller†)l. c. p. 18. darauf aufmerk - sam, dass, wenn zwar der ehelose Stand mehr Veranlassung zu108Einfluss des LebensaltersSeelenstörung darzubieten scheine, doch in nicht wenigen Fällen gerade in der ehelichen Verbindung und den daraus erwachsenden Missständen die Hauptquelle der Erkrankung gesucht werden muss.

§. 70.

3) Lebensalter. Keine Lebensepoche gewährt eine absolute Immunität gegen Geisteskrankheiten, aber sämtliche Statistiken stimmen darin überein, dass gewisse Altersstufen besonders und sehr über - wiegend disponiren.

Im Kindesalter (unter 16 Jahren) ist das Irresein zwar selten, an der Realität seines Vorkommens und zwar nicht nur des Blöd - sinns, sondern aller Formen der Geisteskrankheiten ist aber nicht im Geringsten zu zweifeln. Haslam, Perfect, Esquirol, Spurzheim, Guislain,*)Friedreieh, allg. Pathol. d. psych. Kr. 1839. p. 213. ff. Zeller,**)Bericht etc. Journ. f. Psych. I. 1. p. 17. wir selbst haben Fälle von Kindern, die an ausgesprochener Manie in einem Alter von 6, 7, 9, 10, 12, 13 Jahren litten, beobachtet; Foville***)Art. Aliénation. Dict. de med. I. p. 516. erzählt zwei derartige Fälle, Jördens†)Hufeland, Journ: Bd. IV. p. 224. berichtet über den merkwürdigen Fall eines Knaben, der durch kleine Glassplitter, die in seine Fusssohlen eingedrungen waren, tobsüchtig ward und es bis zur Entfernung der Splitter blieb. Stolz††)Med. Jahrb. d. östreich. Staats. Merz 1844. p. 257. S. ferner Schmidts Jahrbücher. 1842. p. 73. erzählt einen sehr interessanten Fall von Manie eines 7jährigen Kindes mit Sprachlosigkeit (und schwerer Degeneration der vordern Gehirnlappen).

Auch melancholische Zustände kommen vor (Zeller l. c.), und vor Allem die Selbstmorde im kindlichen Alter haben nach Caspers Angaben†††)Beiträge z. med. Statistik. 1825. auf eine traurige Weise in neueren Zeiten zugenommen. Im Sommer 1843 kamen kurz nach einander bei und in der Stadt Brandeis 4 Selbstmordfälle 11 - und 12jähriger Kinder vor,1)Müller, östreich. med. Jahrbücher. 1844. Juli. p. 44. in Nort - hampton stürzte sich vor Kurzem ein 13jähriges Mädchen ins Wasser, nachdem sie von ihrem Vater gezankt worden war,2)Annal. med. psych. Jan. 1844. p. 99. und es liessen sich derartige Fälle noch in ziemlicher Menge aufführen. 3)Vgl. Falret, do l’hypocondrie et du suicide. Par. 1822. p. 14.

Die Fälle wirklicher Geisteskrankheit bei Kindern scheinen theils auf einer excessiven originären, oder durch zweckwidrige Behandlung109auf psychische Erkrankung.geweckten und unterhaltenen Reizbarkeit des Gehirns, theils auch auf tieferen organischen Erkrankungen, theils auf consensueller Gehirn - reizung von den Genitalien aus (Onanie, Annäherung und Eintritt der Pubertät) zu beruhen. Nicht selten sind gleichzeitige choreaartige Erscheinungen; auch somnambüle Zustände bilden zuweilen Wechsel - und Uebergangsformen zu diesem Irresein der Kinder.

Schon weit häufiger als im Kindesalter werden die Geisteskrank - heiten vom 16ten bis 25ten Lebensjahr. Aber die ausserordentliche Mehrzahl aller Fälle fällt in die Periode der höchsten Reife, in die Zeit der leiblichen Fortpflanzung und der geistigen Productivität, der Ehe und des eigentlichen bürgerlichen Lebens, zwischen 25 und 50 Jahre. Auch hier sind die vorliegenden Angaben nicht ganz genügend zu einer präciseren Entscheidung der Frage, indem die grösseren Berechnungen*)S. Fuchs. l. c. p. 97. Quetelet. p. 443. ff. nach dem Lebensalter der in die Irrenanstalten aufgenommenen Kranken angestellt wurden, mit dem das Alter der wirklichen Erkrankung natürlich gar nicht übereinzustimmen braucht, oder indem man nur zählte, wie viele Geisteskranke einzelner Altersclassen überhaupt in einem Lande vorhanden sind. **)Z. B. Köstlin. l. c. p. 8. Ruer p. 9. und viele andere Statistiker.Wäre es erlaubt, eine verhältnissmässig sehr kleine aber sehr sorgfältig behan - delte Statistik zu Grunde zu legen***)Zeller, 2ter Bericht über die Wirksamkeit der Heilanstalt Winnenthal. Medic. Correspondenzblatt. 1840. p. 143. so würde das häufigste Alter der Erkrankung zwischen 20 bis 30 Jahre, dann zunächst zwischen 30 bis 40, und schon in sehr verminderter Proportion zwischen 40 bis 50 fallen. Namentlich für das männliche Geschlecht gibt Zeller†)Journ. f. Psychiatrie. I. 1. p. 18. den Zeitraum von 20 bis 30, für das weibliche den von 30 bis 40 als die Epochen der häufigsten Erkrankung an, und erklärt die Differenz daraus, dass in der letzteren Periode für das weibliche Geschlecht die welkende Blüthe und die mit ihr schwindenden Hoffnungen auf Lebensglück an der grösseren Zahl der Erkrankungen Schuld sei. Die weiter beobachtete Mehrheit der Erkrankung unter den Weibern vom 40 bis 50ten Lebensjahre möchte mit den Vorgängen der In - volution zusammenhängen; auch nach dem 50ten Jahre fällt noch die Mehrzahl der Erkrankung auf Seite der Weiber. Im Allgemeinen nimmt wohl die Disposition vom 50ten Jahre an ab; aber bis an die letzten Grenzen der menschlichen Lebensdauer währt eine, gegen das mittlere Alter nicht eben ausserordentlich verminderte Geneigtheit110Einfluss des Standes.zu psychischer Erkrankung fort, ja der senile Blödsinn möchte bei einer genaueren Statistik ein wieder stark vermehrtes Verhältniss für die letzten möglichen Lebensjahre hervorbringen.

Doch ist der senile Blödsinn keineswegs die einzige Form des Irreseins in diesen Jahren. Esquirol sah 2 Weiber, eine 80, die andere 84 Jahre alt, von Tobsucht genesen; Burrows erzählt einen Fall von Schwermuth und Selbstmord bei einem Vierundachtziger, wir selbst haben einen frischen Fall von Schwer - muth im 80ten Jahre behandelt und könnten noch mehrere andere dergleichen Fälle anführen.

4) Ob die Standesunterschiede einen wesentlichen Einfluss auf die Entstehung von Geisteskrankheiten haben, lässt sich, wie Fuchs (l. c. p. 102) mit Recht bemerkt, wieder nicht durch Berechnungen nach den Aufnahmen in den öffentlichen Anstalten bestimmen, da in diese natürlich weit mehr Kranke aus niederen Ständen eintreten. Als einzige, hier etwa brauchbare Notiz ist uns die Angabe von Julius*)Beiträge zur britt. Irrenheilkunde. p. 8. bekannt, dass sich in England und Wales 8500 arme und nur 12 bis 1300 bemittelte Geisteskranke in den öffentlichen und Privatanstalten befinden. Bedenkt man, dass es weit mehr arme als wohlhabende Menschen gibt, so könnte man hiernach die beiderseitige Erkrankungs - fähigkeit etwa gleich schätzen; doch ist es die gewöhnliche An - nahme, dass in den besseren Classen der Gesellschaft oder vielmehr in den reicheren, Geisteskrankheiten seltener vor - kommen, als in den ärmeren. Es scheint eben, dass das Moment, das auf der einen Seite durch grössere directe Excitation der cere - bralen Thätigkeiten vergrössernd wirkt, auf der andern überwogen wird durch Elend, Hunger und Trunksucht, während die mächtigen Leidenschaften, Liebe, Ehrgeiz, Eifersucht etc., in allen Schichten der Gesellschaft gleich häufig und ursprünglich gleich mächtig, auch bei geringerer Bildung der Intelligenz unaufgehaltener und zerstören - der wirken.

Ueber eine besondere Disposition, die durch einzelne Berufs - und Be - schäftigungsarten gegeben wäre, ist lediglich nichts zu sagen, als was die obigen Bemerkungen schon enthalten, dass wahrscheinlich die Menschenclassen, die in harter manueller Arbeit ein mühsames und bedrängtes Leben hinbringen, von dieser, wie wohl von jeder andern Krankheit, öfter befallen werden, als diejenigen, welche die weniger erschöpfenden geistigen oder gar keine Arbeiten verrichten. Sollten sich dann in einzelnen Berufsarten hier oder dort, unter Matrosen, Taglöhnern, Bauern etc. oder unter Kaufleuten, Beamten, Offizieren etc. noch weitere merkliche Uebergewichte zeigen,**)Fuchs l. c. p. 106. so wären diese erst mit den Ver -111Einfluss der Jahreszeiten.hältnisszahlen dieser Gewerbe und Berufsarten zur Masse der Population über - haupt zu vergleichen und auch von da wäre noch weit zu dem Schlusse, dass es gerade das Gewerbe selbst sei, was die Disposition begründe. Denn einzelne Berufsarten bringen gewisse Classen von Schädlichkeiten nicht mit Nothwendig - keit und als solche, sondern mehr gelegenheitlich und für das Individuum will - kürlich mit sich; z. B. die Küfer und Matrosen sind durch Neigung zum Trunk dem Delirium tremens ungewöhnlich häufig unterworfen. Freilich gibt es wieder gewisse andere Lebenslagen, in denen eine Masse verderblicher, gesundheit - zerstörender Einzeleinflüsse mit Nothwendigkeit gegeben ist, z. B. in der Gefangen - schaft*)Ob und wie weit die einzelnen der neueren Gefängnisssysteme die geistige Gesundheit der Sträflinge mehr oder weniger gefährden, diess zu entscheiden fühlen wir uns derzeit nicht berechtigt. Jedenfalls aber hat sich diese Besorgniss in Bezug auf das pensylvanische System der Einzelnhaft als höchst übertrieben erwiesen. Vgl. Würth, die neuesten Fortschritte des Gefängniss - Wesens. Wien 1844. Moreau-Christophe in Annal. med. psych. 1843. Tom. II. Gewissensbisse, Sehnsucht, Concentration auf wenige Gedankenkreise, schlechte Nahrung und Luft, Mangel an Bewegung etc., in der weiblichen Prosti - tution Elend, Verlassenheit, Trunk, empörte Leidenschaften, siphilitische Contagion etc.

5) Den auch vielfach besprochenen Einfluss der Jahreszeiten auf die Entstehung des Irreseins erwähnen wir nur, um wieder auf die Trüglichkeit mancher statistischer Angaben aufmerksam zu machen. Daraus, dass nach Esquirols Tabellen in den Sommermonaten (Mai bis Juli) am meisten, im Frühling und Herbst weniger und im Winter die wenigsten Aufnahmen in einige Irrenanstalten stattfanden, hat man auf die häufigere Entstehung des Irreseins im Sommer geschlossen. Mit grösstem Unrecht; denn welche Irrenanstalt der Welt wäre so glücklich, eine Mehrzahl von Fällen, die erst 2, höchstens 3 Monate alt sind, zu bekommen**)Winnenthal, eine reine Heilanstalt, nahm in 6 Jahren 133 Fälle von 6monatlichen Bestehen, und 150 schon länger dauernde auf. Zeller, medic. Correspbl. Juli 1840. p. 143.? Zwischen Erkrankung und Zeit der Auf - nahme gibt es auch nicht das geringste beständigere Verhältniss und es bleibt der subjectivsten Vermuthung freigestellt, wann diese in den Sommermonaten mehraufgenommenen Fälle entstanden sein mögen, ob nicht das unbequemere Reisen im Winter die Aufnahmen verringere und dergl. m. Auch von einem Einfluss der Jahreszeiten auf die einzelnen Formen des Irreseins sprechen die Statistiker; Esquirol behauptet und Jakobi***)l. c. p. 568. erweist an 181 Fällen, dass in den Wintermonaten der Ausbruch der Tobsucht am seltensten geschieht, und dass der Sommer und besonders der Frühling eine Mehrzahl von Erkrankungen in dieser Form darbieten.

112Individuelle Prädisposition.

Was endlich der Einfluss des Mondes, wenn auch nicht auf Erzeugung, doch auf Steigerung und Abänderung des Irreseins in seinem Verlaufe hetrifft, so wird derselbe von der grossen Mehrzahl der Irrenärzte geläugnet, und es hiesse jeder pathologischen Untersuchung Hohn sprechen, wenn z. B. die periodische Wiederkehr von Tobsucht - anfällen, desswegen weil sie mit gewissen regelmässigen Veränder - ungen am Himmel zusammentrifft, dem Einfluss der Gestirne zuge - schrieben würde. Desshalb soll aber eine Einwirkung des Mond - lichts auf die Geisteskranken nicht geläugnet werden. Schon die Ge - dankenbewegung des Gesunden kann durch dasselbe eigenthümlich afficirt werden, z. B. in der Form jener sehnsüchtigen, elegischen Stimmungen, welche den geläufigen Vorwurf einer mondsüchtigen Poesie bilden; bei Geisteskranken, die von so manchen sinnlichen Eindrücken stärker und anders erregt werden, als Gesunde, mag bei mangelndem Schlaf der Anblick des vollen, glänzenden Mondes, der unbestimmten Be - leuchtung, der vorüberhuschenden Wolkenschatten, verbunden mit der Stille der Nacht oder den confusen Tönen, welche Nachts durch die Irrenanstalten ziehen, wohl noch grössere Eindrücke, lebhaftere Ge - müthsbewegungen, Anlässe zu mancherlei Hallucinationen und dergl. setzen. In der That hat der kluge Esquirol die Unruhe, die man bei mehreren Kranken regelmässig zur Zeit des Vollmonds bemerkte, durch herabgelassene Gardinen beseitigt.

Zweites Capitel. Die individuelle Prädisposition.

§. 71.

1) Erblichkeit. Die statistischen Untersuchungen bekräftigen aufs entschiedenste die allgemeine Ansicht der Laien und Aerzte, dass dem Irrewerden in einer grossen Zahl von Fällen eine angeborne Anlage zu Grunde liege. Im Einzelnen differiren aber die Angaben nach den individuellen Erfahrungen, zum Theil auch nach den Men - schenklassen und den Orten, auf die sich die Untersuchung bezog, sehr bedeutend. Das enorme Verhältniss, das Burrows angibt (Erb - lichkeit in 6 / 7 der Fälle), wird durch keine Statistik erwiesen; Esqui - rol*)Die Geisteskrankheiten übers. v. Bernhard. I. p. 38. Tabelle. fand sie bei den Armen in mehr als ¼, bei den Reichen in113Erblichkeit des Irreseins.etwa der Fälle; Jessen*)Art. Jnsania. Berl. Wörterb. XVIII. p. 561. nimmt sie zu an; Bergmann**)Jahresbericht, Holschers Annalen. III. l. 1838. p. 487. fand nach der kleineren Statistik eines Jahres directe Erblichkeit in , directe und indirecte zusammen in der Fälle. Dagegen wurde von Jakobi***)Hauptformen etc. p. 600. unter 220 Fällen (von Tobsucht) nur in etwa 1 / 9, dann unter den Kranken von Bicêtre und der Salpetrière (8272 Fälle) nur in 1 / 11, und von Lautard im Marseiller Irrenhaus nur in etwa 1 / 15 der Erkrankungen Erblichkeit constatirt. †)Oppenheim, Zeitschrift. Bd. XXI. 1842. p. 16.

Diese bedeutenden Differenzen mögen von dem Vorherrschen einzelner Um - stände herrühren, die als überhaupt wichtige Punkte näher zu beachten sind.

1) Die angeborne Anlage ist da häufiger, wo die Heirathen immer unter einem kleineren Kreise von Familien oder gar in den Familien selbst geschehen; dagegen erlischt die Transmission eher bei fortgesetzter Kreuzung mit fremdem Blut. Der erstere Umstand zeigt sich deutlich unter den höheren Ständen ein - zelner Länder, auch unter der israelitischen Bevölkerung, besonders auffallend unter den englischen Quäkern. In dem Irrenhause bei York, das für diese reli - giöse Secte bestimmt ist, liess sich directe Erblichkeit bei der Kranken, indirecte (Geisteskrankheit von Seitenverwandten) bei einem weiteren Sechstheil, also beides zusammen in der Hälfte der Fälle nachweisen. ††)Julius, Beitr. z. britt. Irrenhlk. p. 281. ff.

2) Es entstehen weitere bedeutende Differenzen der Angaben dadurch, dass das einemal nur die Fälle gezählt wurden, wo die Eltern oder Grosseltern geistes - krank waren, anderemal die Annahme einer Familienanlage auch auf das Irresein der näheren Seitenverwandten (Oheime, blutsverwandten Vettern) sich gründete. Das letztere erscheint als das Richtigere, wenn man bedenkt, wie es fast immer, ausser der erblichen Disposition, noch weiterer Ursachen zum Ausbruch des Irre - seins bedarf, wie daher die vorhandene Anlage, aus Mangel solcher weiterer Momente, gerade bei den nächsten Anverwandten ruhend bleiben, ihr Vorhanden - sein aber sich an nahen Seitenverwandten deutlich erweisen kann.

3) Man thut Recht, die Familienanlage zu Geisteskrankheiten nicht abgesondert für sich allein, sondern als Anlage zu schweren Gehirn - und Nervenkrankheiten überhaupt aufzufassen. Man sieht nicht ganz selten, dass in einer Familie ein - zelne Mitglieder an Irresein, andere an Epilepsie, an schwerer Spinalirritation, Hysterie, Neuralgieen und dergl. leiden. Rush z. B.†††)Medic. Unters. über d. Seelenkrankh., übers. v. König. Leipz. 1825. p. 36. erzählt den Fall eines Mechanikers, der 2mal Anfälle von Irresein hatte, wovon der letzte sein Leben endigte. Alle seine 6 Kinder litten an Kopfweh, allein keines zeigte je eine Spur von Verrücktheit.

4) Auch in denjenigen Fällen ist eine ursprüngliche anomale Disposition nicht zu läugnen, wo die Eltern oder eines derselben zwar auch nicht an Irresein litten, aber eine auffallende Ueberspanntheit oder Bizarrerie des Characters und derGriesinger, psych. Krankhin. 8114Nähere Verhältnisse derNeigungen zeigten, die sich dem Irresein stark näherte; ebenso da, wo in einer Familie mehre Selbstmorde unter den nächsten Blutsverwandten vorfielen. Denn der Selbstmord, in so vielen Fällen eine Erscheinung der ausgebrochenen, tieferen Geisteskrankheit, ist in vielen anderen wenigstens das Ergebniss eines organisch bedingten Lebensüberdrusses, der den primitiven Formen des Irreseins, der Schwer - muth, beizuzählen ist, und die Erfahrungen sind nicht selten, dass die Geneigt - heit zur Autochirie, oft bei allen Familiengliedern in denselben Lebensjahren ausbrechend, sich forterbt. Auch das wird man leicht begreiflich finden, dass Characterschwäche und eine excessive Leidenschaftlichkeit, durch welche so häufig diese Forterbung vermittelt wird, bei einzelnen damit Behafteten unter einem Zusammenwirken unglücklicher Umstände verbrecherische Handlungen erzeugen kann, und so sehen wir zuweilen in solchen Familien Irresein, Selbstmord, Ver - brechen, durch den innern Zusammenhang gewisser Characteranlagen mit ein - ander verbunden, auf eine tief beklagenswerthe Weise wechseln.

Lautard (Oppenheim Ztschrft. Bd. XXI. p. 16) erzählt folgenden Fall. Mann und Frau, ersterer 42, letztere 36 Jahre alt, werden geisteskrank und endigen durch Selbstmord, jener durch den Strang, diese im Wasser. Sie hinterlassen 3 Kinder. Die älteste Tochter vergiftet sich im 24. Jahr, nachdem sie längere Zeit in Prostitution gelebt; der Sohn erwürgt sich, im 21. Jahre, eines Meuchel - mords angeklagt; die jüngste Tochter stürzt sich, im 6. Monat schwanger, von einem Dache herab; sie hinterliess einen Sohn, der schon sehr jung öfters ins Gefängniss gesteckt wurde und dann als Abentheurer nach Aegypten ging.

Fräulein M. von Orotava, 30 Jahre alt, aus einer alt-spanischen, adeligen, nie durch eine Mésalliance verunreinigten Familie, ist geisteskrank in der Form eines periodischen Wechsels von Melancholie und Manie mit Neigung zum Selbstmord. Ihr Grossvater starb durch Selbstmord im 50ten Lebensjahr. Von seinen 3 Söhnen endigten 2 schon in jugendlichem Alter, aus Liebeskummer, selbst ihr Leben. Der dritte, der Vater des Fräuleins M., zeigt solche Bizarrerieen und Launen, dass man ihn für nahezu geisteskrank halten muss. Sein Sohn, der einzige Bruder der M., stürzte sich im 20ten Jahre ins Meer, aus Verzweiflung über die Untreue einer Geliebten; ihre Schwester zeigt, in den glücklichsten Lebensverhältnissen, einen so düstern Character, dass man ihr dasselbe Schicksal prophezeiht. *)Annal. med. psychol. Mai. 1844. p. 389.

Zuweilen aber begegnet man auch in solchen Familien, wo einzelne Mitglieder an Irresein leiden, anderen von ausgezeichneter, hervorragender Intelligenz. Wir könnten 2 solche Beispiele grosser wissenschaftlicher Celebritäten aus unsern Tagen anführen; es ist nicht unwahrscheinlich, dass eine grössere Erregbarkeit der cerebralen Processe und eben jene geistigen Eigenthümlichkeiten, welche dort zu Ueberspanntheit und Bizarrerie werden, hier, bei günstigen äusseren Umständen und ungetrübter körperlicher Gesundheit, sich als erhöhte Activität und Energie der Intelligenz und als Originalität des Denkens aussprechen.

Esquirol nahm an, und Baillarger**)Rech. statist. sur l’hérédité de la Folie. Annal. med. psych. Mai 1844. p. 330. seqq. hat durch eine 453 Fälle umfassende Statistik gezeigt, dass sich das Irresein öfter und zwar115Fortpflanzung des Irreseins.um häufiger von der Mutter, als vom Vater, auf die Kinder forterbt; er fand zugleich, dass bei geisteskranker Mutter eher mehre Kinder befallen werden, dass die Forterbung der Disposition auf die Söhne von der Mutter und vom Vater fast gleich oft geschieht, dass dagegen die Töchter ihre Anlage noch einmal so oft von der Mutter als vom Vater erben. Hieraus geht hervor, dass durch Irresein der Mutter die Kinder überhaupt mehr gefährdet sind, als durch Irresein des Vaters, und dass es die Kinder weiblichen Geschiechts sind, welche jener ungünstige Einfluss vorzugsweise trifft.

Viele Erfahrungen zeigen weiter, dass Kinder, welche geboren wurden, ehe bei ihren Eltern die Geisteskrankheit zum Ausbruch kam, seltener erkranken, als solche, welche erst nach dem Ausbruche des Irreseins gezeugt wurden. Zuweilen indessen kommen auch Fälle vor, wo die Kinder zuerst, vor den Eltern erkranken, indem eben eine Menge den Ausbruch begünstigender Ursachen bei jenen zusammentrifft, während diese durch ein glücklicheres Geschick bis in ein höheres Alter solchen weiteren ursächlichen Einflüssen entgingen.

Wiewohl man sich die erbliche Anlage allerdings zunächst und hauptsächlich als eine das Gesamt-Nervensystem und namentlich das Gehirn betreffende vorstellen muss, so hat doch die deutsche soma - tische Schule*)Vgl. Jakobi, die Hauptformen etc. p. 605. Zeller, Journ. für Psychia - trie. I. 1. p. 44. Der letztere Beobachter erwähnt dabei auch den Habitus apo - plecticus; mit welchem Rechte, s. bei Rokitansky, Handb. d. path. Anatomie. II. p. 801. mit Recht darauf aufmerksam gemacht, dass es auch angeerbte Dispositionen zu anderartigen, primär das Nervensystem nicht befallenden Erkrankungen gibt, welche zu deuteropathischer Affection des Gehirns in Form von Seelenstörung Anlass geben mögen. Wir möchten hierher namentlich die Tuberculose der Lungen, über - haupt die chronischen Brustkrankheiten, andrerseits vielleicht einzelne Genitalien-Affectionen rechnen.

Vergleicht man übrigens die vorliegenden Thatsachen über die Heredität des Irreseins mit der Erblichkeit anderer Krankheiten, z. B. der Phtisis, so findet man hier dieselben bedeutenden Differenzen der Angaben**)Briquet fand unter 99 Fällen von Phtisis in etwa 4 / 10, Louis unter seinen Kranken nur in 1 / 10 der Fälle phtisische Eltern. Louis, recherches sur la phtisie. 2me édit. Par. 1843. p. 582., welche vielleicht gerade auf nahezu gleiche Ver - hältnisszahlen der Heredität beider Anlagen hindeuten.

8 *116Einfluss der Erziehung.

§. 72.

2) Erziehung. Die Richtungen, die im zarten Alter das Vor - stellen und Wollen des Individuums annimmt, sind entscheidend für sein ganzes Leben, und hier ist als ein erstes, wichtiges, an die Heredität zunächst sich anschliessendes Moment der Einfluss des Beispiels der Eltern auf das Kind zu erwähnen. Mit Ideler sind auch wir der Ansicht, dass es Fälle s. g. erblichen Irreseins gibt, die es weniger durch Uebertragung einer organischen Disposition, als durch eine spätere psychische Fortpflanzung von Charactereigen - thümlichkeiten geworden sind, indem der Nachahmung des Kindes das Beispiel gewisser Excentricitäten, gewisser bizarrer und ver - kehrter Lebensansichten und Richtungen geboten wird, welche von Anbeginn der Entwickelung eines gesunden, mit der Aussenwelt har - monirenden Seelenlebens hinderlich werden. Wie es auf diesem Wege eine Uebertragung der Hysterie von der Mutter auf die Tochter gibt, so gehen auch von närrischen oder halbnärrischen Eltern psy - chische Verzerrtheiten auf die Kinder über und Leidenschaftlichkeit und üble Neigungen prägen sich der jungen Seele ein. Dazu kommt noch, dass durch einen solchen Zustand der Eltern so häufig das Familienleben zerrüttet und dadurch das Zusammenwirken jener günstigen Umstände zerstört wird, welche für eine harmonische Ent - wickelung des kindlichen Characters wesentliche Erfordernisse sind.

Die eigentlichen Erziehungsfehler betreffen einmal eine allzu - frühe intellectuelle Anstrengung, bei welcher, mit unzeitiger Präcocität aller geistigen Processe, die gesunde körperliche Entwickelung ge - hemmt und der Keim späterer Kränklichkeit und Schwächlichkeit gelegt wird. Noch wichtiger aber sind ungünstige und verkehrte Einflüsse auf die Empfindungsweise und die Willensrichtungen des Kindes. So gibt es Fälle, wo durch übermässige Härte, durch ein kaltes, abstossendes Verhalten der Eltern zu den Kindern, durch an - haltende Kränkung, Demüthigung und Gemüthsmisshandlung die Ent - wickelung der natürlichen wohlwollenden Neigungen gehemmt und die zartere Empfindung erdrückt wird. Damit wird schon frühe ein schmerzlicher Widerspruch mit der Aussenwelt in dem Individuum gesetzt; und namentlich scheint bei einzelnen Naturen, indem sie mit ihren nicht sobald bezwingbaren, wohlwollenden Neigungen, mit ihrem Liebebedürfniss zur Flucht in eine imaginäre Welt genöthigt werden, ein verderblicher Hang zu Phantasterei geweckt und genährt zu werden. Fast noch verderblicher auf das Kind wirkt jene allzugrosse Nach -117Einfluss der Constitution.giebigkeit von Seiten der Eltern, welche die eigensinnige und zügel - lose Entwickelung aller Neigungen und Lüste zulässt; früher oder später ist dann ein schroffer Zusammenstoss mit dem Leben unver - meidlich, und heftige Leidenschaften und Affecte mit ihren gesund - heitsstörenden Einwirkungen können nicht ausbleiben.

Vgl. den im folgenden Buche erwähnten, von Pinel erzählten Fall. (Traité de l’aliénation mentale. p. 159.)

§. 73.

3) Psychische und somatische Constitution. Das Urtheil über die leibliche Constitution gründet sich gewöhnlich auf einige auffallender wahrnehmbare, anatomische Verschiedenheiten unter den Individuen, namentlich in Bezug auf Entwickelung des Muskelsystems. Wir müssen darauf verzichten, in Verschiedenheiten dieser Verhält - nisse etwas zu Geisteskrankheiten Disponirendes aufzufinden, denn die tägliche Beobachtung zeigt, dass muskelstarke und schwächliche, ebenso wieder trockene und feuchte Constitutionen so ziemlich in gleicher Anzahl von Irresein befallen werden.

Dagegen gibt es eine andere, anatomisch durchaus nicht, sondern nur physiologisch erkennbare, primitive oder erworbene Constitution, welche wesentlich zu Geisteskrankheiten disponirt. Es ist diess die sogenannte nervöse Constitution, jenes Verhalten der Central - Organe, welches man im Allgemeinen als ein Missverhältniss der Reaction zu den einwirkenden Reizen bezeichnen kann. Dieses Ver - halten kann sich nun in einzelnen Abtheilungen des Central-Nerven - systems, entweder mehr im Rückenmark oder mehr im Gehirn äussern, sehr häufig thut es sich in allen nervösen Acten zugleich kund. Im sensitiven Nervensystem bemerkt man Hyperästhesieen verschiedener Art, grosse Empfindlichkeit für Temperatureindrücke, spontanen Wechsel der Kälte - und Hitzesensation, besonders aber das Auftreten zahl - reicher Mitempfindungen und ein sehr leichtes Entstehen von Schmerz. Die motorisch-nervösen Acte zeichnen sich aus durch Abnehmen der ganzen Kraftgrösse, leichte Erschöpfbarkeit, durch Neigung zu rascheren, ausgebreiteteren, aber weniger energischen Bewegungen, durch erhöhte Convulsibilität. Auf geistigem Gebiete bemerken wir entsprechend den beiden analogen Zuständen der Empfindung und Bewegung, einer - seits die grössere psychische Empfindlichkeit, die leichtere Neigung zum psychischen Schmerz, den Zustand, wo jeder Gedanke auch zu einer Gemüthsbewegung wird, daher den raschen und leichten Wechsel der Selbstempfindung und der Stimmungen, andrerseits Schwäche und118Die nervöse Constitution.Inconsequenz des Wollens, Energielosigkeit des ganzen Strebens mit hastigen und wechselnden Begehrungen. Die Intelligenz selbst zeigt dann oft die gleiche Beschaffenheit; es sind diess jene zuweilen leb - haften, schillernden Köpfe, denen es aber an Tiefe und Ausdauer fehlt, die nichts geistig durchführen, weil sie sich zu allem als Dilet - lanten verhalten, bei lebhafter Phantasie jene mittelmässigen, aber baroken Musiker und Poeten oder jene missrathenen Universalgenies, die bei einer gewissen Raschheit und Vielfältigkeit des Denkens nie Sammlung und Ruhe zu etwas Tüchtigem finden konnten. Erkranken solche Menschen am Ende an Irresein, so findet man darin eine Bestätigung des Satzes, dass, nur wer einen rechten Verstand gehabt habe, ihn verlieren könne, während in der That eine wirklich kräftige Entwickelung und Durchbildung der Intelligenz das Irrewerden keines - wegs begünstigt, sondern ihm entschieden hinderlich ist.

Auf psychischem Gebiete nun sind die nächsten Folgen, die äusseren Erschei - nungsweisen der zu hohen Reizbarkeit, der reizbaren Schwäche, (Vgl. p. 44.) sehr verschieden; viele dieser Erscheinungen lassen sich aber zunächst auf eine grössere Geneigtheit zu psychischem Schmerz zurückführen; bei der grösseren Aus - breitung der Erschütterungskreise wird das psychische Gleichgewicht eher gestört, das Ich leichter afficirt, daher überhaupt die leichtere Angegriffenheit und grössere Kränkbarkeit solcher Individuen, welche sich nun bald ungeduldig aufbrausend, unduldsam gegen Widerspruch, aggressiv gegen Andere verhalten, bald, den psychischen Eindrücken ausweichend, sich spröde in sich selbst zurückziehen, und unfähig, ihre Gemüthsinteressen durch die That zu befriedigen, die Wolke der Phantasie umarmen, in deren Besitz ihnen dann die Welt gemein erscheint und sie sich zu gut und edel für dieselbe dünken. So kommen verschiedene Aeusserungsweisen derselben Grundzustände heraus, die indessen im Allgemeinen darin übereinstimmen, dass das Missverhältniss der Reaction zu den Einwirkungen bei höherem Grade als Ueberspanntheit und Uebertriebenheit erscheint, durch die das Individuum mit seinen Launen und oft unerwartet wechselnden Reactionsweisen aus der Linie tritt und in der Welt für ein Original, einen Sonderling gilt. Solche Menschen zeigen zuweilen ängstliche Scrupulositäten und kleinliche Pe - danterie (nicht ganz selten mit mechanischem Talent verbunden); anderemale Leichtsinn, Unordnungen, Unbestimmtheiten des Denkens und Handelns, bald Kälte und Apathie, bald excentrische Heiterkeit, bald Unentschlossenheit, bald Verwe - genheit, höchsten Eigensinn oder stete Veränderlichkeit, Niedergeschlagenheit oder Enthusiasmus, immer aber bei aller Mannigfaltigkeit der Charaktere und der Bildungsstufen allzuheftige, andersartige und wegen des Widerspruchs mit dem Verhalten des Durchschnitts-Menschen, grillenhaft erscheinende Reactionsweisen.

§. 74.

Solche psychische Dispositionen kommen unzweifelhaft angeboren, und namentlich angeerbt, sozusagen häufig eben als Träger der Here - dität des Irreseins, vor, und geben sich dann schon frühe, im Kreise119Ihre Entstehungsweise.des kindlichen Seelenlebens, durch sonderbare Geschmacksrichtungen, heftige Empfindlickheit, durch Flüchtigkeit der Neigungen und des Lernens kund, so dass solche Individuen nicht selten von Anbeginn an zu Gegenständen der Verlegenheit und Betrübniss ihrer Eltern und Lehrer, zuweilen freilich auch zu Gegenständen einer unver - ständigen Bewunderung werden. Manche unsrer, auf Selbstgeständ - nissen Kranker und Genesener beruhenden Beobachtungen stimmen mit der Angabe von Fodéré*)Essai médico-légal sur les diverses éspéces de folie etc. Strasb. 1832. überein, dass mit solchen Dispositionen häufig eine zu frühzeitige Entwickelung des Geschlechtstriebs und daraus spontan entwickelte Onanie, auch frühe Hämorrhoidalkrankheit zusammentreffen.

So zweifelhaft es sein mag, ob diese Momente sich gerade als ursäch - liche zu jenen psychischen Eigenthümlichkeiten verhalten, so ist es immerhin der grössten Beachtung werth, dass man auch, wo solche angeborene Disposi - tionen fehlen, im späteren Alter im Gefolge örtlicher Genitalienkrankheiten ausser - ordentlich häufig sich dieselben psychischen Anomalieen entwickeln sieht,**)Man vergleiche die 115 Kranken-Geschichten Lallemands (des pertes séminales.) Man erstaunt, wie fast ohne Ausnahme die Kranken eine Aenderung ihres psychischen Verhaltens in der erwähnten Richtung angeben. und es braucht kaum daran erinnert zu werden, wie die sogenannte Hysterie, welche jenes Verhalten der nervösen Processe zunächst im Spinal -, ausserordentlich häufig aber auch im Cerebral-System zeigt, so häufig auf Unordnungen der sexuellen Processe beruht.

Auch andere Erkrankungen, namentlich alle bedeutenden Säfte - verluste, und die daraus folgenden anämischen und Erschöpfungs - zustände sind oft als Ursachen der erworbenen nervösen Constitution erkennbar; anderemale scheint es, dass aus localen Hyperästhesieen, indem hier dieser, dort jener Nerv lange Reizungen auszuhalten hatte***)Lotze, allgem. Pathologie., sich solche chronische Reizungszustände der Centralorgane wie im Tetanus acute entwickeln. Es mögen dann locale Heerde und Ausgangspunkte des Leidens in den Centralorganen bestehen, die freilich niemals anatomisch nachweisbar sein werden, vielleicht aber durch die Spinalempfindlichkeit einzelner Stellen, durch Kopfschmerzen (Affectionen des Quintus) und dergl. annäherungsweise ihren Sitz verrathen.

In ähnlicher Weise mögen die widrigen psychischen Eindrücke, Schrecken, Kummer etc., denen wir so häufig als Ursachen der ner - vösen Constitution begegnen, durch aufgedrungene, plötzliche oder120Die nervöse Constitution.anhaltende Reizung grösserer oder kleinerer Abschnitte des Gehirns wirken, sofern sie nicht (s. unten §. 78) erst durch Umwege deutero - pathische Gehirnaffectionen veranlassen.

Die Fälle sind verhältnissmässig selten, aber nicht zu läugnen, wo in ganz langsamer, allmähliger Entwickelung solche psychische Anomalieen ohne weiter nachweisbare schädliche Einflüsse in ent - schiedenes Irresein übergehen; weit gewöhnlicher bildet die nervöse Constitution nur eine Disposition, zu der noch etwas anderes, eine wirkliche Ursache, sei es eine weitere körperliche Erkrankung oder ein psychisches Moment hinzutreten muss, damit die leichte Störbarkeit zur wirklichen Störung, die mässigeren psychischen Abweichungen zu tieferem Irresein, zu einer wirklichen Gehirnkrankheit werden.

Nach dem in diesen beiden §§. Gesagten können wir von einer weiteren Besprechung der sogenannten Temperamente, insofern sie etwa zu Geistes - krankheiten disponiren sollen, abstehen. Wir so wenig als manche andere geschätzte Forscher (Gall, Georget, Lotze u. A.) vermögen diesen 4 Categorieen, ursprünglich aus der dunkelsten Humoralpathologie hervorgegangen und niemals zu empirischem Nachweis oder nur der mindesten practischen Brauchbarkeit ge - bracht, irgend einen Werth beizulegen.

Ausser den angeführten Umständen muss man nun eine Menge schwererer, chronischer Krankheiten als somatisch prädisponirende Momente betrachten. Wie bemerkt entstehen die Geisteskrankheiten gewöhnlich unter dem Einflusse mehr - facher, zusammenwirkender ungünstiger Verhältnisse; dass im einzelnen Falle gerade hier, unter gewissen gegebenen Umständen eine solche Gehirnkrankheit ausbricht, darauf kann eine früher vorhandene Beeinträchtigung des allgemeinen Gesundheitszustandes durch eine chronische anderweitige Krankheit nicht ohne Einfluss sein. Nur davor muss gewarnt werden, nicht ohne den nöthigen patho - logischen Erweis auf einzelne leichte oder missdeutete Symptome hin, schwere, chronische Allgemeinkrankheiten zu hypostasiren, weil solche Annahmen so häufig zu überflüssigen und gewaltthätigen Arzneikuren führen. Es wäre eine Wieder - holung der ganzen speciellen Pathologie, wenn hier alle diese Erkrankungen aufgezählt werden sollten; die hauptsächlichsten werden unter den somatischen Ursachen mit näherer Besprechung ihrer Wirkungsweise bei Erzeugung des Irre - seins erwähnt werden; hier soll nur nochmals an die innere Untrennbarkeit der disponirenden und der im engeren Sinne ursächlichen Momente erinnert werden.

Dass ein früher schon einmal bestandenes, aber geheiltes Irresein zu einem neuen Erkranken disponire, wird keiner weiteren Erörterung bedürfen. Ueber Rückfälle S. das Capitel von der Prognose.

121

Dritter Abschnitt. Die Ursachen der psychischen Krankheiten.

Erstes Kapitel. Wirkungsweisen der Ursachen.

§. 75.

Obwohl die Geisteskrankheiten in der Mehrzahl der Fälle aus einem Zusammenwirken mehrerer, zum Theil vieler ungünstiger Um - stände entstehen, so erscheinen doch gewöhnlich einige unter diesen Momenten so besonders wichtig und wirksam, dass man sie näher als die besondere Ursache bezeichnen muss, oder es kommen Fälle von Erkrankung vor, die man nur der Einwirkung eines einzigen un - günstigen Verhältnisses zuschreiben kann. Bei der Besprechung dieser näheren Ursachen haben wir theils gewisse äussere Schädlichkeiten, theils die widrigen Einflüsse gesundheitszerstörender Gewohnheiten, theils gewisse abnorme organische Zustände selbst zu würdigen, welche zunächst solche Erkrankungen des Gehirns einleiten können. Der Weg, auf dem sie wirken, ist ein doppelter: einmal durch eine, (statio - när werdende) nervöse Irritation des Gehirns, sodann durch Entwickelung von Hyperämieen in der Schädelhöhle. Nament - lich die letztere Entstehungsweise erscheint uns als eine ungemein wichtige, insoferne die pathologische Anatomie zeigt, dass Hyperämieen des Gehirns, namentlich der Gehirnrinde und der Pia, den allerge - wöhnlichsten Leichenbefund in den frischeren Fällen von Geistes - krankheit ausmachen, und als wir desshalb ohne allen Zweifel in diesen Hyperæmieen ausserordentlich oft den nächsten organischen Grund der psychischen Anomalieen zu erkennen haben.

Nicht so freilich, als ob jede Gehirnhyperämie bei jedem Menschen auch unmittelbar und nothwendig ein Irresein zur Folge haben müsste die clinische Beobachtung zeigt uns oft genug habituelle Kopfcongestionen ohne diesen Sym - ptomencomplex; sondern diess ist unsere, aus den Thatsachen sich ergebende Ansicht, dass die Ausbildung einer Gehirnhyperämie da diese Symptome hervor - bringt, wo sie in einem schon disponirten, sei es durch Heredität, durch vor - ausgegangene langwierige und schlimme psychische Eindrücke, durch eine weniger adäquate Ernährung, kurz auf irgend welche Weise zu dieser Art krankhafter Reaction geneigt gewordenen Gehirne auftritt. Insofern bilden die Kopfcongestionen die wichtigsten näheren Ursachen des Ausbruchs; sie setzen anderseits, wenn sie lange in mässigeren Graden anhalten, langsam ausgebildete Dispositionen, die erst mit dem Hinzutreten eines neuen schädlichen Moments, z. B. eines stärkeren psychischen Eindrucks, zu wahrem Irresein werden. Namentlich der Missbrauch der spirituösen Getränke scheint oft in letzterer Weise zu wirken.

122Die Gehirnhyperämie und

Die Möglichkeit wahrer Gehirnhyperämie überhaupt, welche bekanntlich von einzelnen Pathologen (Abercrombie)*)Malad. de l’encéphale, p. Gendrin. Par. 1835. p. 432. seqq. Vgl. Kellie, über den Tod durch Kälte und über Gehirncongestionen; in Nasses Sammlung für Ge - hirnkrankheiten. I. 1837. p. 21. Burrows, in Lond. Med. Gaz. 1843. Merz. April. in Zweifel gezogen worden ist, halten wir für genügend durch directe anatomische Beobachtung erwiesen; bei jeder wirklichen Vermehrung des Blutgehalts wird dann allerdings entweder eine mässige Com - pression der Gehirnsubstanz oder einiges Zurückweichen der Cerebrospinalflüssig - keit aus dem Schädel in den Wirbelcanal eintreten müssen. Dagegen stimmen wir Abercombie darin ganz bei, dass es Blut stagnationen, auch ohne wirkliche Vermehrung der ganzen im Schädel circulirenden Blutmasse, gebe, welche aus vermindertem arteriellem Impetus hervorgehen. Bei einer bedeutenden Schwäche der Herzcentractionen, bei Verknöcherung der Gehirnarterien, wo deren Elasticität das Fortrücken der Blutwelle nicht mehr unterstützt, fliesst das Blut langsamer, als sonst, durch das Gehirn, es nimmt desshalb eine venösere Beschaffenheit an, und es kann diese nicht ohne Einfluss auf die Functionen bleiben. Es ist keine unwahrscheinliche Hypothese, dass auf solchen Verhältnissen, daneben auf Ab - weichungen in der Statik (und der chemischen Constitution) des Cerebrospinalflui - dums, manche Anomalieen der Gehirnthätigkeit beruhen mögen, welche man aus Mangel an handgreiflichen anatomischen Veränderungen derzeit noch als nervöse Irritationen betrachten muss.

§. 76.

Was die nähere Entstehungsweise dieser Gehirnhyperämieen betrifft, so sind sie

1) sogenannte active. Leider ist hier im Gehirn, so wenig als in andern Organen, der Mechanismus der activen Hyperämieen gehörig verständlich und die mehr oder weniger hypothetischen Annahmen einer vermehrten Attraction des Bluts durch das Gewebe, einer (wahrscheinlicheren) Erschlaffung der Haargefässwandungen etc. können die Sache nicht ganz erschöpfen. Eine wahrhaft active, d. h. wirklich durch einen vermehrten Zustrom a tergo gesetzte Gehirnhyper - ämie sehen wir eigentlich nur bei der Hypertrophie des linken Herzventrikels, besonders bei gleichzeitiger Verengerung der abstei - genden Aorta.

2) Weit fasslicher in ihrer Entstehungsweise und ohne Zweifel auch weit häufiger, als die active Hyperämie des Gehirns, ist bei den Geisteskranken die s. g. passive, venöse Hyperämie. Zahlreiche Beobachter, als deren Repräsentanten wir vor Allem Guislain**)Die Phrenopathieen, übers. von Wunderlich p. 96. seqq. p. 117. seqq. nennen, haben längst darauf aufmerksam gemacht, wie die Kopfcongestion der Irren in der Mehrzahl der Fälle keine entzündliche sei, sondern123und deren nächsten Ursachen.in der Anfüllung auch der grösseren Gefässe mit einem dunkeln Blut, in einer Verstopfung langsameren Verlaufs bestehe, welche am Ende in chronische, passive Entzündung übergehe. Guislain hat auch einige, damit zusammenhängende, äusserlich am Lebenden wahrnehmbare Erscheinungen naturgetreu geschildert, das Vorspringen der Temporal - und Halsvenen, die bläuliche, bleiartige, oft dunkel - bräunliche Färbung des Gesichts, namentlich in der Umgebung der Augen und der Nasenspitze, welche sich in so vielen Fällen zeigt und in der Reconvalescenz, ja schon in den Intermissionen wieder verschwindet, die zuweilen vorhandene Röthung und Ecchymosirung der Conjunctiva, kurz die äusseren Zeichen einer allgemeinen ven - ösen Hyperämie des Kopfes.

Wie entstehen nun diese venösen Hyperämieen? Wir halten sie im Durchschnitt für mechanische, d. h. durch ein gehindertes Rückfliessen des venösen Blutes bedingte. Schon am Schädel selbst können sich mechanische Hindernisse für die Entleerung der Sinus bilden. *)Die nähere Angabe S. bei der patholog. Anatomie, worauf wir uns ein für allemal berufen.In der Mehrzahl der Fälle aber mag das Hinderniss tiefer unten, in den Respirations - oder Circulationsorganen liegen. Wir erinnern vor Allem an das unzweifelhaft häufige Vorkommen der or - ganischen Herzkrankheiten bei den Irren, und an den mit Recht (Nasse, Jakobi) für die Pathogenie des Irreseins hoch angeschlagenen Einfluss der nervösen Herzirritation, welche gleichfalls Unregelmässigkeit im Kreislauf zufolge hat. Wir erinnern an den häufigen Zusammenhang des Irreseins mit Krankheiten der Respirationsorgane, namentlich mit Tuberculose (Esquirol, Bergmann etc.). Wir gehen aber noch weiter und sind der Ansicht, dass in sehr vielen Fällen das Irresein aus mechanischen Hyperämieen entsteht, die ohne tiefere Erkrankung der Brustorgane auf verlangsamter, unvollständiger, behinderter Respiration, Ueberfüllung des rechten Herzens und unvollständiger Entleerung der Jugularvenen beruhen.

Es ist bekannt, dass bei der Inspiration das Venenblut in die ausgedehnte Brusthöhle gezogen wird und in grösserer Quantität in das rechte Herz einströmt, dass umgekehrt bei gehemmter Inspiration die Jugularvenen anschwellen. Wenn es Umstände giebt, welche längere Zeit, anhaltend fort, eine geschwächte Respiration setzen, so dass das Ein - und Ausathmen sowohl seltener, als namentlich die Ausdeh - nung der Brust bei der Inspiration unvollständiger geschieht, so muss124Die venöse Hyperämie,zunächst durch die mangelhafte Ausdehnung des Brustraums sich allmäh - lig ein Ueberschuss von Blut in den Venen, namentlich auch in den Jugularvenen und rückwärts von ihnen, bilden - Trotz des verminderten Zuflusses von Venenblut in die Brusthöhle kann sich, wenn die Re - spiration sehr schwach oder die Herzcontraction weniger energisch und vollständig (die Blutwelle, der Puls klein) ist, dabei Ueberfüllung des rechten Herzens ergeben und diese den Abfluss des venösen Blutes aus den Jugularen noch weiter verlangsamen: dann muss sich mit Nothwendigkeit auch eine venöse Stase in der Schädelhöhle ausbilden.

Giebt es nun wirklich Umstände, unter denen die Respiration eine solche anhaltende Verlangsamung und Schwächung erleidet? Es gibt nicht nur solche, sondern sie sind sehr häufig und sie sind, wenn gleich bisher nicht nach ihrer angegebenen Wirkung gedeutet, doch von allen Irrenärzten als ausserordentlich wichtige Ursachen der Geistes - krankheiten anerkannt. Es sind diess nämlich die Zustände der an - haltenden, depressiven Verstimmung, des dauernden Seelen - schmerzes. Man beobachte die Wirkungen des Kummers, des Grams, auf die genannten Processe, man sehe, wie die Respiration langsam, oberflächlich, selten wird, wie sich bald Oppression auf der Brust einstellt, der durch nothwendig gewordene, einzelne tiefe Inspirationen (Seufzer) nicht vollständig abgeholfen wird, man bemerke dabei die Kleinheit und oft die Verlangsamung, sogar Irregularität des Pulses, das dunklere, ältere Aussehen des Individuums, die blauen Ringe um die Augen, den dumpfen Druck im Kopf, über den oft geklagt wird und man hat einen Complex von Phänomenen, welche die un - mittelbare Modification des Athmens und des Kreislaufs vom Gehirne aus und die schnelle Rückwirkung auf dieses Organ offen zeigen. Es bedarf kaum der Erinnerung, wie aus der Respirationsbehinderung jene Angstgefühle, die wir so häufig im Beginn des Irreseins auf - treten sehen, sich bald und nothwendig erheben müssen.

Die Schwächung der Respiration selbst durch den depressiven Affect wird man sich als eine Affection des Vagus oder vielmehr seiner Centralenden zu denken haben. Nach Durchschneidung der Vagi verlangsamt sich nemlich sogleich (nicht erst bei Annäherung des Todes) die Zahl der Respirationen,*)Vgl. Longet, Anat. et physiol. des syst. nerv. II. p. 292. Sowohl diese Verlangsamung, als die Angst der Thiere ist häufig von uns selbst beobachtet worden. und die Thiere zeigen dabei eine Angst und Unruhe, die mit der Grösse der Verletzung in keinem Verhältnisse steht.

Der angegebene Zusammenhang erläutert aufs beste den längst empirisch bekannten häufigen Nutzen der Aderlässe in dem ersten Anfangsstadium des125von der Lunge aus entstanden.Irreseins. Später kann die Berücksichtigung dieses Verhältnisses allein den Aderlass nicht mehr indiciren, denn einmal ist es bekannt, wie überhaupt schon habituell gewordene Stasen durch Blutentziehung sehr selten geheilt werden können, dann aber haben diese mechanischen Hyperämieen oft bei längerer Dauer weitere Folgen derselben Art, wie die entzündlichen , nemlich Macerations -, Er - weichungs-Processe, seröse (Oedeme) serösplastische (zu Verklebungen der Hirnhäute führende) Exsudationen, welche vollends dem Aderlass nicht mehr weichen können.

Nicht nur die langsamer und anhaltender wirkenden, sondern auch die acu〈…〉〈…〉 verlaufenden Zustände von Seelenschmerz machen Kopfcongestion, so namentlich der Zorn und der acute Zustand von Betrübniss, in dem wir das Individuum gerne den schweren Kopf mit den Händen stützen sehen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass auch diese Hyperämieen mechanische, in Folge einer Respirations - und Circulationsstörung sind. Wir haben vor kurzem wieder ein auffallendes Beispiel solcher Wirkungen des depressiven Affects beobachtet. Ein vollblütiger, junger Mann hatte mit den besten Hoffnungen eine Dienstprüfung angetreten, die indessen nicht den gewünschten Erfolg hatte. Er erfuhr diess am Abend; bis dahin ganz wohl und heiter, verfiel er sogleich in grosse Depression, die Nacht war gänzlich schlaflos, er konnte nicht im Bette bleiben, sondern brachte den grössten Theil der Nacht am offenen Fenster zu, wobei ihm leichte Delirien, eine Bilderjagd vor - kamen; bald stellte sich heftiger Kopfschmerz und Uebelsein ein. Am andern Morgen war der Kopf ganz dunkelroth und sehr heiss, die Augen injicirt, der Puls klein, schnell und sehr ungleich; dabei starkes Kopfweh, Agitation, Zungenbeleg und Brechneigung. Aderlass von 1 . Auf denselben schnelle Besserung aller Symptome, der Kranke gab gleich als ihm selbst auffallend an, wie ihm jetzt nach dem Aderlasse plötzlich Alles durchaus nicht mehr so schwer und traurig erscheine, wie vorher, und war jetzt erst für Zuspruch empfänglich. Nachmittags spontanes Nasenbluten, darauf völlige Herstellung.

Wiewohl wir nun geneigt sind, diese Wirkungsweise der depressiven Ge - müthszustände, nemlich die Setzung einer mechanischen Gehirnhyperämie, für die wichtigste zu halten, so ist es doch nicht unsere Ansicht, dass jene Zustände immer und nur auf diese Weise wirken. Es ist vielmehr kein Zweifel, dass sie eine ganz directe irritirende Folge für das Gehirn haben und dass auf diesem primären Wege ein Irresein, so gut wie eine Epilepsie, entstehen kann. In andern Fällen mag die chronische Verdauungsstörung, die oft jene Gemüths - Zustände begleitet, einen anämischen Zustand bedingen, und dieser ein Causal - Moment der Gehirnirritation abgeben. Die Auffindung des pathogenetischen Mechanismus im Einzelfalle ist eben die Aufgabe des kundigen und rationellen Arztes, und es ist gewiss, dass hier noch Vieles, ja vielleicht das Meiste, zu entdecken ist.

126

Zweites Kapitel. Psychische Ursachen.

§. 77.

Wir haben nun die hauptsächlichsten nähern Ursachen der Geistes - krankheiten einzeln zu besprechen. Bei ihrer grossen Mannigfaltig - keit, bei der Verschiedenheit ihrer, dazu oft wenig bekannten, Wirkungs - weisen entziehen sie sich einer logisch scharfen Anordnung, und wir wollen sie gruppenweise, nach ihrer Wichtigkeit und Bedeutung ge - ordnet, neben einanderstellen.

Die psychischen Ursachen halten wir für die häufigsten und ergiebigsten Quellen des Irreseins, sowohl was die Vorbereitung als namentlich und hauptsächlich die unmittelbare Erregung der Krankheit betrifft; bekennen indessen, dass sich diese Ansicht nicht sowohl auf Zählungen,*)Wir könnten sehr viele Zahlen für obigen Satz anführen, namentlich aus neuester Zeit die von Parchappe und Brierre de Boismont den Berechnungen Mor - eaus entgegengestellten Angaben (Comptes rendus. XVII. 1843. p. 134. p. 279.) Wir halten aber eine rein statistische Lösung der Frage für ganz unmöglich aus den §. 63. 64. angegebenen Gründen. sondern auf den Gesamteindruck vieler Beobachtungen stützt. Unter diesen psychischen Ursachen sind vor allem die voraus - gegangenen leidenschaftlichen und affectartigen Zustände zu verstehen, denn es ist eine entschiedene Thatsache, dass die rein intellectuelle Ueberanstrengung, ohne begleitende Gemüthsaffection und ohne ander - weitige starke Ursachen, (z. B. sinnliche Excesse, durch Excitantia künstlich erregte Schlaflosigkeit) nur in den seltensten Fällen zum Irrewerden führt.

Solches ist dagegen von den anhaltenderen oder heftigeren Ge - müthsbewegungen unzweifelhaft, und es kommen unter ihnen ganz besonders die unangenehmen, widrigen und depressiven Gemüths - zustände in Betracht, während die übermässige Freude allein den Irrenhäusern noch ausserordentlich wenige, vielleicht gar keine Kranke übergeben hat. Pinel, das Muster eines Irrenarztes für alle Zeiten, war so sehr von dieser Wahrheit überzeugt, dass er immer an einen neuen Kranken zuerst die Frage richtete: haben Sie Verdruss, Kummer, Widerwärtigkeiten erlitten?**)Georget, de la Folie. Par. 1820, p. 160. und heute noch, so selten als damals bekommt man auf diese Frage eine negative Antwort. Im Einzelnen können diese schmerzhaften Gemüthszustände nach ihrer Art127Die Affecte als Ursachen.und nach ihren äusserlich gegebenen Motiven die allerverschiedensten sein; bald ist es ein plötzlich erregter Zorn, Schrecken*)S. zwei Beispiele von Irresein durch heftigen Schrecken entstanden, bei Ellis, traité etc. trad. p. Archambault. Par. 1840. p. 108. 109. Ellis schreibt hier auch die Wirkung der veränderten Herzthäthigkeit zu. oder Kummer über eine Beleidigung, einen Vermögensverlust, eine rohe Beeinträchtigung der Schamhaftigkeit, einen schnellen Todesfall u. dergl., bald sind es die langsam an der Seele nagenden Folgen des zurückgewiesenen Ehr - geizes, der Reue über eigene unrechtmässige Handlungen, des Haus - kreuzes, der unglücklichen Liebe, der Eifersucht, der Verkennung, des gezwungenen Verweilens in inadäquaten Verhältnissen oder jedes anderen verletzten Gemüthsinteresses; immer sind es Einwirkungen, welche durch eine intensive Störung der Vorstellungscomplexe des Ich einen traurigen Zwiespalt im Bewusstsein setzen, und immer sehen wir da die stärksten Wirkungen, wo eine lange Concentration der Wünsche und Hoffnungen auf einen Gegenstand stattgefunden, wo sich der Mensch in gewisse Zustände ganz hineingelebt hatte und wo nun mit gewaltsamer Hemmung dieser Interessen, den Vor - stellungen ihr Uebergang in Strebungen abgeschnitten wird, und damit ein Riss in das Ich und ein heftiger innerer Kampf entsteht.

Der Effect solcher Gemüthsbewegungen für Erzeugung des Irreseins ist nach der Stärke des ersten Stosses, der längeren oder kürzeren Dauer, ganz besonders aber nach der vorhandenen individuellen Disposition zu beurtheilen; denn auch die grössere oder mindere Heftigkeit des ersten Eindrucks, das schnellere Wieder - aufhören oder der längere Nachhall des Affects hängt zum grossen Theile von jener Disposition ab. In manchen Fällen ist es aber schon ein Zeichen dieser (im §. 73 näher geschilderten) psychischen Eigenthümlichkeit, dass überhaupt solche lange und heftige Zustände von Leidenschaft oder Verstimmung auf - kommen konnten und die eigene originäre Reizbarkeit und Leidenschaftlichkeit des Individuums, die schon vorhandene Disposition zu Affecten und zu einer baldigen Trübung der Besonnenheit war es denn selbst, die sich in seiner Vergangenheit oft als Quelle eines bis in die zarte Kindheit zurückreichenden psychischen Siechthums, oft als der Grund der späteren Handlungsweisen und Erlebnisse des Kranken nachweisen lässt, die sich ebenso gut in unordentlichem Lebens - wandel, in Müssiggang, Lust an Modethorheiten und Genusssucht, in politischer Ueberspannung, wie in religiöser Schwärmerei und ascetischer Selbstquälerei oder in misslichen Lösungen von Freundschafts - oder Liebes-Verhältnissen, und endlich in dem moralischen Banquerott eines in Thorheiten vergeudeten Lebens kund thun konnte. Denn auf den näheren Inhalt, den die Gemüthsbewegung durch ihre äusseren Ursachen erhält, kommt am Ende wenig an; jedes Geschlecht, jeder Stand, jedes Individuum holt sich seine geistigen Wunden auf dem Kampf - platze, den ihm die Natur und die äussern Umstände angewiesen haben, und128Wirkungsweise derJeder hat wieder einen andern Punkt, auf dem er am verletzlichsten ist, eine andere Sphäre, von der am leichtesten heftige Erschütterungen ausgehen, der eine sein Geld, der andere seine äussere Werthschätzung, der dritte seine Gefühle, seinen Glauben, sein Wissen, seine Familie und dergl. m. Nicht nur aber Gemüthsaffecte und Leidenschaften, sondern namentlich auch die ihnen folgenden Erschöpfungszustände des Gefühls sehen wir häufig dem Irresein vorangehen. Wo nicht eine starke Intelligenz die Blasirtheit, die erworbene geistige Kälte und Interesselosigkeit zu beherrschen vermag, da endigen jene Seelenzustände, wo Alles kalt und schaal, das Herz erstorben, die Welt leer geworden ist, ganz gewöhnlich in Melancholie, Selbstmord oder tieferem Irresein.

§. 78.

Die Wirkungsweise dieser psychischen Ursachen ist nun ent - weder eine directe oder indirecte.

Im ersten Falle werden die Gemüthsbewegungen, überhaupt die vorausgegangenen psychischen Ereignisse unmittelbar zum Ausgangs - punkte der Geisteskrankheit, indem sie einen intensiven Irritations - zustand des Gehirns setzen, der nun andauert. So kann z. B. der Schrecken, der namentlich der weiblichen Organisation gefährlich ist, unmittelbar zu einem Irresein Anlass geben, das denn auch die Hauptcharacktere der physiologischen Effecte des Schreckens, jenen halb krampfhaften, halb paralytischen Zustand von Erstarrung des Denkens und Wollens, Jahre lang beibehalten kann. *)Man erinnere sich der ähnlichen plötzlichen Wirkungen des Schreckens auf Erzeugung epileptischer Anfälle. Ebenso plötzlich kann der Zorn wirken.Anderemale werden lange fortdauernde mässigere psychische Verstimmungen, fort - gesetzter Aerger, Gram, Kummer durch directe Ueberreizung des Gehirns stationär und gehen, allmählig gesteigert, unmittelbar in das erste Stadium des Irreseins über, wobei dieses auch häufig den Einzelcharacter dieser Arten des psychischen Schmerzes beibehält. Da nun auch, (nach dem vorigen §. ) eben die frühere geistige Prä - disposition im concreten Falle sich häufig nicht von den näheren psychischen Ursachen scheiden lässt, so sind auch die Fälle hieher - zuzählen, wo längst vorhandene geistige Bizarrerieen, die dem Indi - viduum schon lange das Prädicat eines halbnärrischen, eines grillen - haften Candidaten des Irrenhauses zugezogen, nach und nach ohne erkennbare weitere Ursache in ein wirkliches Irresein übergehen.

Häufiger entsteht das Irresein indirect, mittelbar, auf einem pa - thologischen Umwege aus den psychischen Ursachen, so nemlich, dass diese zuerst anderweitige Abweichungen von den normalen organischen129psychischen Ursachen.Processen zu Wege bringen, aus denen dann erst die Gehirnkrank - heit als ein secundäres Resultat hervorgeht. Man bedenke den schon §. 30. festgestellten Punkt, dass es eben im Wesen der Gemüths - bewegungen liegt, die Thätigkeiten der Circulations -, der Respirations -, der Verdauungsorgane in Mitleidenschaft zu ziehen und man wird alsbald erkennen, wie sich bei Fortdauer, bei grosser Heftigkeit der Verstimmungen und Affecte leicht bedeutendere Störungen dieser Functionen ergeben müssen, denen eben diejenigen Individuen am ehesten ausgesetzt sind, welche (vermöge angeborner oder er - worbener Disposition) zu Gemüthsbewegungen auf verhältnissmässig geringe Anlässe am geneigtesten sind. Sehr häufig nun entsteht die Gehirnkrankheit erst dann, wenn sich nach längeren Schwankungen eine anderweitige tiefere pathologische Veränderung allmählig aus - gebildet und consolidirt hat; wir sehen gar nicht selten, wie z. B. nach einem widrigen Ereigniss, das zunächst allerdings die cerebralen Processe in Unordnung brachte, der Mensch geistig wieder beruhigter wird, aber nun zu kränkeln, an verschiedenen andern Organen zu leiden anfängt, und nun erst nach Jahren, mit der immer zunehmenden Verschlechterung der ganzen Constitution, mit vollendeter Ausbildung anderweitiger chronischer Krankheiten, sich Seelenstörung einstellt. Besonders deutlich sind diese Wirkungen bei fortdauernden, aber innerlich verschlossenen psychischen Schmerzzuständen; jene ver - schluckten Thränen, jene inneren Wunden, die äusserlich lange mit Lächeln, mit Hochmuth und Lüge bedeckt geblieben sind, geben sich fast unfehlbar und meistens bald in der Ausbildung schwererer chroni - scher Krankheiten kund, denen dann erst secundär die Gehirnaffection folgt. Wir sehen, wie unter solchen Umständen der Mensch anfängt, abzumagern, wie die Verdauung schlecht, die Darmfunction geschwächt wird, wie sich Schlaflosigkeit, Palpitation, Hüsteln, allerlei Sensibili - tätsanomalieen, mässige Kopfcongestionen, ein mürrisches, hypochondri - sches Wesen einstellen; wir sehen namentlich beim weiblichen Ge - schlecht Menostasie oder Unregelmässigkeit der Periode, Neuralgieen und den Symptomencomplex der Hysterie auftreten; wir sehen, wie Krankheits - anlagen, die bisher geschlummert hatten, Tuberculose, chronische Herz - krankheiten und dergl. nun geweckt oder rasch gesteigert werden, und wie erst aus diesen pathologischen Mittelgliedern zwischen erster Ursache und letztem Resultat sich als solches endlich Geisteskrankheiten ergeben.

Es erklären sich alle diese Verhältnisse aus dem Einflusse der Nerven-Centra auf die ganze Oeconomie, und es ist begreiflich, dass derartige Folgen der Ge - müthsbewegungen in den Lebens-Perioden am häufigsten und gefährlichsten sind,Griesinger, psych. Krankhtn. 9130Der Missbrauch der geistigen Getränkewo gerade der Organismus den meisten Aufwand zu seiner normalen Entwicklung und Weiterbildung zu machen hat und wo er überhaupt am erkrankungsfähigsten ist, in der Pubertätszeit, in der Schwangerschaft, dem Wochenbett, der clim - acterischen Periode etc.

Drittes Capitel. Gemischte Ursachen.

§. 79.

1) Die Trunksucht steht zwischen den psychischen und soma - tischen Ursachen in der Mitte; ihre Wirkungen gehören, wie zu den mächtigsten, (Halloran fand unter 747 Fällen bei mehr als einem Fünftheil diese Ursache, Prichard und Esquirol schreiben sogar die Hälfte der Erkrankungen in England der Trunksucht zu, Jakobi und viele andere Beobachter fanden auch in Deutsch - land und andern Ländern die Zahl sehr bedeutend, Rush gibt sie als bei einem Drittheil der Kranken des Pensylvania-Hospitals an, Bergmann in Hannover etwa zu einem Sechstel,) so auch zu den complicirtesten. Einestheils nemlich wirkt das Uebermass der Spirituosa rein somatisch theils direct, durch Ueberreizung und Ernährungs-Veränderung (Schrumpfen der albuminösen Gebilde durch den Alcohol?) des Gehirns, durch Entwicklung chronischer Stasen in der Schädelhöhle, theils indirect, durch Ausbildung des Säufer - scorbuts, der fettigen Entartung der Leber, der schwereren Magen - krankheiten, damit durch völlige Zerrüttung der Constitution. Andern - theils aber führt die Trunksucht auch wichtige psychische Ursachen herbei, theils in jenen Aufregungen, tollen Streichen, Händeln, Raufereien, denen der Trunkenbold sich leicht aussetzt, theils in den traurigen psychischen Eindrücken, die ihm die gewöhnlichen Folgen der Trunksucht, häuslicher Unfriede, Ruin der Geschäfte, Untergang des Familienlebens, äussere Geringschätzung allmählig aufdringen müssen. Als ein drittes Moment endlich ist der Umstand wohl zu beachten, dass in vielen Fällen die Trunksucht selbst schon die Folge solcher Eindrücke, des häuslichen Kummers, des Grams, des Aergers und Verdrusses ist, für die eben in der Flasche Ersatz und Erleichterung gesucht wird, wo es denn, beim gemeinsamen Fortwirken zweier so wichtigen Ursachen, gewöhnlich am schnellsten zur Ausbildung des Irreseins kommt.

131als Ursache des Irreseins.

Diese letzteren Fälle scheinen namentlich die Entstehung der gewöhnlichen, mehr chronischen Geisteskrankheiten zu begünstigen, während es zur Entstehung des s. g. Delirium tremens weit weniger der Mitwirkung solcher widriger psychischer Einflüsse wo sie vorhanden sind, ist desshalb ihre Wirkung nicht gering anzuschlagen zu bedürfen scheint. Die leztere Form entsteht auch sehr häufig unter Umständen, welche bei Säufern eine plötzliche gezwungene Ent - haltsamkeit und schwächende Behandlung nothwendig machten; sie bildet namentlich eine unangenehme Complication der acuten Krankheiten (Pmeumonie) der Säufer, während unsers Wissens eine Ausbildung eines mehr chronischen Irreseins niemals dadurch beobachtet wird, dass, sei es freiwillig oder gezwungen, die Gewohnheit des Trinkens plötzlich unterbrochen wird.

Dass jeder höhere Grad von Berauschung, als ein traumartiger Zustand mit zahlreichen Illusionen und Hallucinationen, schon an und für sich ein wirkliches Irresein darstellt, versteht sich von selbst; zuweilen sieht man, wie einzelne Indi - viduen, schon nach verhältnissmässig geringem Genuss des Spirituosa, jedesmal nicht gerade in tiefe Berauschung, sondern bei wohl erhaltenem Bewusstsein, in grosse Neigung zu ganz extravaganten, tollen und närrischen Streichen gerathen: ein Umstand, der wohl als ein Zeichen von Prädisposition zu Geisteskrankheit zu betrachten ist. Mitunter brechen bei Betrunkenen plötzliche convulsivische Zu - stände, ähnlich epileptischen Anfällen aus, denen bald ein Zustand von Gedanken - losigkeit und ruhigem Delirium, bald Ausbrüche heftiger Raserei folgen, was man die convulsivische Form des Rausches genannt hat. *)S. Marc, die Geisteskrankhtn. II. p. 431. Drake in Nasses Zeitschr. f. Anthropologie. 1824. p. 224. seqq.

Der Gewohnheitssäufer, bei dem es schon weit gekommen ist, zeigt übrigens auch, wenn er gerade nicht betrunken ist, viele Merkmale, die auf ein fort - dauerndes chronisches Gehirnleiden hinweisen und die ihn den Geisteskranken sehr nähern, wie denn auch sein Zustand ganz allmählig in Irresein, namentlich Blödsinn übergehen kann und im Gehirne des habituellen Säufers sich, wie bei vielen Irren die Resultate passiver Stasen, die chronisch entstandenen Trübungen und Verdickungen der zarten Hirnhäute, constant vorfinden. Der durch Gewohnheit unterhaltene Trieb ist im Säufer so mächtig, die Vorstellungen, die ihm entge - gentreten könnten, sind so schwach und damit der Wille so lahm geworden, dass er, obwohl er weiss, wie er sich entehrt und verächtlich macht, wie er seine Gesundheit untergräbt, seinen häuslichen Frieden zerstört, sein Geschäft zerrüttet, doch jeden Tag wieder den vielleicht gefassten guten Vorsatz hintansetzt. Die Eingenommenheit, der Schwindel, die Stumpfheit der Sinne, die Muskelschwäche, die Magenbeschwerden, an denen er leidet, werden durch den jedesmaligen Ge - nuss momentan beschwichtigt, und gerade dadurch, dass jeden Tag wieder solchen Leiden abzuhelfen ist, scheint sich die Trunksucht häufig zu befestigen. Wie aber tiefere psychische Erregungen sehr häufig noch im Stande sind, den er - schlafften Willen wieder aufzurichten, wie einerseits Beschämung, Reue, das erweckte Bewusstsein des Ekels und Abscheus, den der Trunkenbold erregt, andrerseits die Aussicht auf sittliche und bürgerliche Rehabilitation zu geistigen Triebfedern einer völligen Rückkehr werden können, das zeigt das grosse Bei - spiel der Mässigkeitsvereine, wo der geschwächte Wille des Einzelnen in der9 *132Elend und Entbehrungen.Ermunterung durch dss Beispiel Vieler, in der Macht der öffentlichen Sittlichkeit und des erwachten öffentlichen Gewissens Kraft und Stütze findet. *)Vgl. Marc, die Geisteskrankheiten. II. p. 471 und die Bemerkungen von Ide - ler, der dieses Thema auf eine dieser ernsten Sache würdige Weise besprochen hat.

Die Trunksucht ist natürlich beim männlichen Geschlechte eine viel wichtigere und häufigere Ursache des Irreseins, als bei den Weibern; doch kommen auch hier, nicht nur unter dem Pöbel oder in der Classe der Prostituirten wo ohne - diess der Säufer-Wahnsinn nicht eben selten ist, sondern auch in den höheren Ständen bei hysterischen Weibern, namentlich in den climacterischen Jahren, Beispiele von Trunksucht und daraus entstandenem Irresein vor. Sutton erzählt einen Fall, wo bei einer Frau nach einem übermässigem Gebrauch von Lavendel - tinctur gegen Schlaflosigkeit das Delirium tremeus ausbrach.

Die eigentliche sogenannte Dipsomanie oder periodische, intermittirende Trunksucht, gehört nicht zu den Ursachen, sondern ist vielmehr selbst Symptom eines periodischen Irreseins. Man hat nemlich einzelne Fälle beobachtet und auch wir kennen einen solchen wo von Zeit zu Zeit anfangs unter allerlei nervösen Symp - tomen, Kopfschmerz, grosser Abgeschlagenheit, Schlaflosigkeit, Ekel, nagenden Empfindungen in der Magengegend sich grosse, geistige Verstimmung, allgemeines Missbehagen, ein Zustand mässiger Schwermuth einstellen, wo dann nach kurzer Zeit der Kranke unruhig wird, anfängt in Wirthshäusern herumzulaufen, und sich, meist mehrere Tage anhaltend fort, stark betrinkt. Der Rausch steigert sich nun gewöhnlich zu einem maniacalischen Anfall, aus dem dann der Kranke bald schnell bald erst später in tiefer Apathie erwacht und nun oft lange einen wahren Abscheu gegen Spirituosa zeigt. Gewöhnlich wiederholen sich solche Anfälle. Bei ihrer Beurtheilung ist namentlich auf die An - oder Abwesenheit eines vor - ausgegangenen Stadium melancholicum und auf den Umstand zu achten, ob der Kranke sonst durchaus mässig lebt oder auch Neigung zum Trunke zeigt. Im letztern Falle ist die Entstehung des Sauf-Raptus aus Krankheit immer im höchsten Grade problematisch. **)Vgl. Brühl-Cramer, über die Trunksucht etc. 1819. Hohnbaum über die psych. Behandlung der Trunksüchtigen. Nasses Zeitschr. f. psych. Aerzte. 1820. Marc-Ideler II. l. c.

§. 80.

2) Eine in ähnlicher Weise complicirte, zugleich direct psychische und somatische Wirkung, wie die Trunksucht, übt überhaupt das in äusserer Unruhe und Sturm, in Unordnung und Liederlichkeit hingebrachte Leben aus, und Elend und Entbehrungen schliessen sich hieran als höchst wichtige und häufig allein nachweisbare Ur - sachen an. Wie häufig ergibt sich bei Betrachtung der Antecedentien der Irren, ein regelloses, in wechselnden Abentheuern, unstetem Treiben und sonderbaren Verwicklungen hingegangenes Leben, voll Glücks - wechsel, Strapazen, Elend und Ausschweifungen, voll von Verhältnissen, die eine reiche Quelle von Conflicten mit der Welt, von Gemüths - aufregungen und inneren Bedrängnissen werden mussten. Wie häufig133Sexuelle Excesse und Onanie.sind es die Entbehrungen, die die Armuth mit sich bringt, die zu Seelenschmerz und Verzweiflung führen, in denen der Mensch das Elend der Verhältnisse kaum mehr zu überschauen, dem Jammer nicht mehr Stand zu halten vermag, und nun in Melancholie, Selbstmord, oder tieferes Irresein versinkt. Wie aber alsdann nicht nur diese psychischen Einflüsse, sondern auch die gleichzeitige schlechte Er - nährung, der Hunger, die Kälte, die körperliche Ueberanstrengung als direct somatische Krankheitsursachen hoch anzuschlagen sind, so treffen auch gewöhnlich bei dem unordentlichen und regellosen Leben, sei es ein selbstverschuldetes, oder (wie z. B. bei den Anstrengungen der Feldzüge, den Kriegsstrapazen) ein gezwungenes, diese beiderlei schädlichen Einflüsse zusammen.

3) Eine ähnliche, doppelt verderbliche Wirkung haben die sexuel - len Excesse durch die häufig damit verbundene psychische Aufregung und durch die körperliche Erschöpfung, und ebenso verhält es sich mit der Onanie, die gleichfalls eine wichtige und frequente Ursache des Irreseins, wie jeder andern physischen und psychischen Degra - dation abgiebt. *)Ellis (traité de l’aliénation. trad. p. Archambault. Par. 1840. p. 133) schreibt dieser Ursache die Mehrzahl aller in den öffentlichen Anstalten behandelten Fälle zu. Andere, wie Guislain und Parchappe, führen sie nur mit geringen Zahlen in ihren ätiologischen Tabellen auf. Vgl. den Aufsatz von Flemming über das Causalverhältniss der Selbstbefleckung zur Geistesverwirrung, in Jakobi und Nasse, Zeitschrift I. 1835. p. 205.Ohne die Säfteentziehung und die directe Ein - wirkung dieser häufig fast permanenten Genitalienreizung auf das Rücken - mark und Gehirn nieder zu taxiren, muss man doch gewiss den traurigen, psychischen Folgen der Onanie einen noch weit schäd - licheren und auf das Irrewerden directeren Einfluss zuerkennen. Jenes Kämpfen gegen einen Trieb, der schon übermächtig geworden, jenes stete Unterliegen, jener verborgen gehaltene Zwiespalt zwischen Scham, Reue, gutem Vorsatz und zwischen dem gebieterischen Reize halten wir, nach nicht wenigen Geständnissen von Onanisten, für unbedingt wichtiger, als das erste, direct somatische Moment. Der Antheil, den beide Wirkungsweisen haben, lässt sich im einzelnen Falle nicht ausscheiden; der Effect der Onanie scheint aber überhaupt um so grösser, in je früherem Lebensalter durch sie die Constitution verschlechtert wird, je mehr sie von jenen schmerzlichen Gemüths - bewegungen begleitet ist und je mehr sie zur Ursache localer Er - krankung der Genitalien (§. 86.) wird. Wo diese 3 Momente fehlen, hat die Masturbation meist keine schwereren Folgen.

134Die somatischen Ursachen.

Auch hier ist vor einer Verwechslung zu warnen. Es ist nicht ganz selten, dass im Beginn des Irreseins (oder vielmehr beim Uebergang eines mässigen Sta - dium melancholicum in das Stadium maniacum) der Kranke einen gesteigerten Geschlechtstrieb äussert, der zu schamlos getriebener Onanie oder zum Herum - treiben in Bordellen Anlass werden kann. Man muss hierin schon ein Symptom, nicht eine Ursache des Irreseins sehen. In manchen Fällen wird man auch da, wo die sexuellen Excesse wirklich der Zeit nach als Ursache des Irreseins er - scheinen, jene selbst nur als nächste Folgen eines krankhaften Reizes, einer schon länger bestehenden Irritation der betreffenden Parthieen des Nervensystems anzusehen haben; namentlich aber lässt die im frühen Lebensalter, schon lange vor der Pubertät, von selbst, ohne Unterweisung entstandene Onanie fast mit Sicherheit auf eine krankhafte Reizbarkeit der Genitalien schliessen, die (p. 119) mit der ganzen nervösen Constitution und mit einer primitiven Anlage zu Geistes - krankheiten zusammentrifft.

Viertes Kapitel. Somatische Ursachen.

§. 81.

Da wir (nach §. 64. und §. 77.) eine rein statistische Lösung der Frage, ob das Irresein häufiger aus psychischen oder somatischen Ursachen ent - stehe, nicht für zulässig halten, so kann die Besprechung der hierherge - hörigen Zählungen (von Pinel bis heute) unterbleiben, indem der Leser in Betreff der neuesten Untersuchungen hierüber auf den zwischen Moreau de Jonnès einerseits und Parchappe und Brierre andrerseits*)Comptes-rendus de l’académie des sciences. XVII. 1843. ge - führten Streit mit der Erinnerung verwiesen wird, dass alle solche Tabellen um so unzuverlässigere und nichtigere Resultate geben, je unbestimmter und abstracter gehalten die einzelnen Rubriken sind**)Moreau hat z. B. eine ganz unverständliche und nichtssagende Categorie Irritation excessive mit einer grossen Zahl. und je unsorgfältiger der Idiotismus von den übrigen Geisteskrank - heiten getrennt wird***)Derselbe Autor führt den Idiotismus mit einer enormen Zahl, als eine der körperlichen Ursachen (!) der Geisteskrankheiten auf.. Es ist keine Frage, dass das Irresein in vielen Fällen durch rein körperliche Ursachen entstehen kann, dass andrerseits unter ihrer Mitwirkung die psychischen Causalmomente weit eher und ganz vorzüglich zur Entstehung der Geisteskrankheiten führen. Eine erbliche oder erworbene Disposition lässt sich dann135Nervenkrankheiten.häufig, doch nicht gerade immer, nachweisen; sie kündigt sich oft, ausser den oben aufgeführten Erscheinungen, durch leichtes Entstehen von Delirien, schon bei mässigen acuten Erkrankungen an. Bei dergleichen Individuen kann denn nun auch, entschiedenermassen, jede bedeutendere körperliche Erkrankung durch secundäre Gehirn - affection Anlass zum Irresein werden; umgekehrt aber wirken die somatischen Ursachen nicht nur in dieser Weise Krankheits-erregend bei schon anderweitig Disponirten, sondern durch sie selbst werden auch wieder Dispositionen erzeugt, die dann oft erst durch psychische Ursachen in die Krankheit selbst übergehen.

Diese somatischen Ursachen bestehen theils in noch physiologi - schen Zuständen, welche überhaupt eine leichtere Erkrankbarkeit setzen (z. B. Wochenbett), theils schon ausgebildeten, acuten, oder mehr noch chronischen Krankheitszuständen (z. B. Tuberculose), theils in gewissen äusseren Beeinträchtigungen und Schädlichkeiten (z. B. Kopf - verletzung). Wir beginnen ihre Aufzählung mit denen, welche direct vom Nervensystem aus wirken.

§. 82.

1) Entstehung des Irreseins durch andere Nervenkrank - heiten. Alle Erkrankungen des Gehirns, auch wenn sie anfangs durchaus nicht den Character der Geisteskrankheiten haben, können im weiteren Verlaufe zu solchen werden. Die acute Meningitis darf sich nur als chronische, d. h. in dem Liegenbleiben, den Meta - morphosen und weiteren Folgen ihrer Exsudate, festsetzen, um un - mittelbar als Geisteskrankheit zu erscheinen. Die verschiedenen Er - krankungen des Gehirns, welche der Epilepsie zu Grunde liegen, sind theils von Anbeginn an mit entschiedenster Geistesstörung ver - bunden intermittirende Anfälle der letzteren können sogar den inter - mittirenden Convulsionen vorangehen theils kann das Fortschreiten jener Krankheitsprocesse (entweder so, dass sich die ursprünglich im Innern gelegene Affection, z. B. die chronische Entzündung, nach den Oberflächen ausdehnt, oder durch consecutive Atrophie des Ge - hirns etc.) ein, erst nach langem Bestehen der Epilepsie beginnendes Irresein erzeugen*)Vgl. unten die besondere Erörterung der Epilepsie als Complication. Aehnlich verhält es sich mit den apoplecti - schen Heerden: sie können neben den Lähmungen etc. ein Irresein (fast immer in der Form des Blödsinns, doch auch der Manie) theils primär, von Anbeginn an, theils erst durch jene secundären Degenera -136Kopfverletzungen.tionen, die das Gehirn durch ihre Anwesenheit erleidet, zur Folge haben; mitunter ist die geistige Störung eine sehr begrenzte, betrifft z. B. nur die Reproduction einzelner Vorstellungsreihen, kann sich aber von hier aus zu allgemeiner tieferer Geistesschwäche ausbreiten.

Von grosser Wichtigkeit sind anerkanntermassen alle schweren Kopfverletzungen, mögen sie nun in Knochenbrüchen, Blutextra - vasaten, Verlust an Gehirnsubstanz etc., oder in blosser Erschütterung bestehen. Während die schwersten unter ihnen meistens schon im Beginn und mit der Erholung des Kranken ihre geisteszerrüttenden Folgen (Blödsinn, Blödsinn mit Manie und dergl. ) erkennen lassen, stellen sich diese in andern Fällen oft erst viel später, 1, 2, 6, sogar 10 Jahre nach der Verletzung ein. Gewöhnlich mögen es hier kleine, liegengebliebene, in eingedicktem Zustand lange unschädlich ge - tragene Eiterheerde, oder kleine apoplectische Cysten, sein, um welche sich später, aus irgend einer Ursache, eine nun allmählig um sich greifende Entzündung der Häute oder der Gehirnsubstanz einstellt; an - dere male ist es die langsame Bildung einer Exostose, einer Geschwulst, oder eine schleichende Caries des Schädels, von der aus sich Hyperä - mieen und exsudative Processe weiter verbreiten. Zuweilen aber lässt sich auch nichts Solches wahrnehmen; ohne anatomische Ent - artungen scheinen einzelne Fälle von Erschütterung im Gehirne solche Folgen zurücklassen zu können, dass es noch nach Jahren eine leichte Erkrankungsfähigkeit behält, aus welcher dann nach den mässigsten weiteren (z. B. psychischen) Ursachen sich das Irresein ergibt.

Es ist wenigstens durchaus nicht selten, dass man von den Angehörigen der Kranken bei näheren Nachfragen frühere, oft wieder in Vergessenheit gerathene, derartige Ereignisse erfährt, einen schweren Sturz vom Pferde, einen Fall oder Stoss an den Kopf, dem längere Betäubung folgte und dergl. ;*)In gleicher Weise sieht man auch schwere Spinalneurosen zuweilen erst längere Zeit nach der Beeinträchtigung auftreten. Jakubowsky (Choreae St. Viti traumaticae exemplum. Krak. 1838. Gratulationsschrift. ) erzählt einen solchen Fall von Veitstanz, der mehre Monate nach einem Stoss auf die Rückengegend auf - trat, übrigens geheilt wurde. zuweilen fällt es nun erst der Umgebung auf, dass sich von dort an sogleich leise Veränderungen des Charakters an dem Kranken zeigten, leichte Aergerlichkeit, Neigung zum Zorn etc., die aber wenig beachtet wurden und in ihrer wahren Bedeutung, als Vorläufer eines Irreseins, kaum mit dessen Ausbruche anerkannt werden.

An jene durch langsame Knochenkrankheit in Folge von Verletzung entstan - denen Fälle schliesst sich das Irresein durch Caries des Schädels aus inneren Ursachen, namentlich durch Caries des Felsenbeins, innere Ohrentzün - dung etc. an, welche sich eben am Ende auf die Meningen verbreitet. Jacobi**)Die Hauptformen etc. p. 662.137Nervenverletzungenhat 7 Fälle der letzteren Art beobachtet; sie lassen natürlich niemals Heilung oder Besserung zu.

Neben den Kopfverletzungen mag als eine, indessen seltene Ursache die Insolation erwähnt werden, die ohne Zweifel durch Entstehung starker Gehirn - hyperämie (und Oedem?), vielleicht mit Beihülfe der nervösen Ueberreizung des Gehirns durch lange ausgehaltenes, grelles Sonnenlicht wirkt. Ellis*)Traité de l’aliénation etc. p. Archambault. 1840. p. 81. erzählt 2 Fälle von Geisteskrankheit durch Insolation, deren einer mit Genesung, der andere mit Blödsinn endigte.

Von ausgezeichnetem pathologischen Interesse sind die Fälle, wo das Irresein nach (und ohne Zweifel in Folge) einer, verhältniss - mässig unbedeutenden peripherischen Nervenverletzung (über - haupt Verletzung der Weichtheile) oder peripherisch entstandener Erkrankung der (Sinnes -) Nerven, z. B. peripherischer Taubheit, ent - stand. So haben wir bei einer hysterischen Frau nach einer, ganz ungefährlichen Verletzung des Augs durch einen hingeflogenen Holz - splitter, tiefe Melancholie entstehen sehen; so hat man (Herzog) einen Fall von Irresein nach der Operation des Strabismus**)Oppenheims Zeitschr. XXI. 1842. p. 101. Aus den Petersburger Abhand - lungen, wo ich leider den Fall nicht im Originale vergleichen konnte. beobachtet; so berichtet Foville***)Note an die Académie. L’Institut. 16. Janv. 1843. von zahlreichen Fällen oberflächlicher Er - krankung des cerebellum bei Irren, entstanden nach peripherischen Störungen im Quintus und Acusticus; es gehört ferner hierher der (schon p. 108) angeführte Fall von Jördens†)Hufelands Journal Bd. IV. p. 224., wo ein Knabe durch kleine, in die Fusssohle eingedrungene Glassplitter tobsüchtig ward, und es bis zu ihrer Entfernung blieb, und es sind unzweifelhaft die von Zeller††)Damerow und Roller, Journal I. 1. p. 49. erwähnten Erkrankungen nach bloss äusserlichen Kopf - wunden zu dieser pathogenetischen Categorie zu rechnen†††)Vergl. weiter die von Hirsch (Spinalneurosen. p. 131 seqq.) angeführ - ten Fälle.. Indem diese Fälle allerdings an das Delirium nervosum nach und während der Operationen lebhaft erinnern, schliessen sie sich als identisch entstandenes Gehirnleiden, dem traumatisch-tetanischen Rückenmarks - leiden an, ihrerseits die Gleichheit der Wege der Erkrankung für die verschiedenen, eben in ihrer eigenthümlichen Energie reagirenden, Abschnitte des Central-Nervensystems beurkundend.

Zunächst hierher gehören weiter jene heftigen oder anhaltend fortdauernden Nervenreizungen von der Peripherie des Organismus;138Spinalneurosen.in ersterer Beziehung z. B. jener merkwürdige Fall von Esquirol (die Geisteskrankheiten, v. Bernhard. I. p. 153.), wo nach einem starken Geruchseindrucke die Manie ausbrach; in zweiter Reihe z. B. die Irritation von den Gedärmen aus durch Tänia und andere Entozoen, vielleicht der Pruritus chronicus.

§. 83.

Früher bestandene Spinalneurosen können zu wichtigen Ur - sachen des Irreseins werden, mögen sie in Zuständen ausgebildeter Hysterie oder nur in beschränkteren Krampf - oder neuralgischen Leiden bestehen. Geisteskrankheiten scheinen hier ebenso durch all - mählige Ausbreitung über grössere Parthieen der Nervencentra, ein Fall, in dem sich manche Hysterische befinden als durch rasches Umspringen von einer Stelle zur andern entstehen zu können; im letztern Falle können Irresein und andere nervöse Beschwerden oft, sogar periodisch, miteinander wechseln. So erzählt Brodie*)Lectures on certain local nervous affections. Lond. 1837. p. 8. von einer Dame, die ein Jahr lang an anhaltendem Krampf des M. sternocleido - mastoideus litt; plötzlich hörte er auf und sie verfiel in Schwermuth; dieser Zustand dauerte wieder ein Jahr lang; worauf sie sich psychisch erholte und der Krampf des Muskels zurückkehrte, der nun mehrere Jahre anhielt; in einem andern Falle von Brodie wechselte ein neural - gischer Zustand der Wirbelsäule mit wahrem Irresein.

Auch unter denjenigen Fällen, wo die Erkrankung von den Schrift - stellern der Gicht zugeschrieben wird, mögen nicht wenige sein, die auf einer Verwechslung der vagen, wandernden Spinalneuralgieen mit jenem dyscrasischen Leiden beruhten. Die wichtigsten, hierher - gehörigen Zustände aber, die zu Ursachen von Geisteskrankheit werden können, sind die Wechselfieber .**)Vgl. Sebastian, Bemerkungen über die Melancholie und Manie als Nach - krankheiten der Wechselfieber. Hufel. Journal 1823. LVI. p. 3 seqq. Mongellaz, Monographie des irritations intermittentes. Par. 1839. I. p. 638 seqq. Lippich, Beiträge zur Psychiatrie. Oestr. Jahrbücher. Juni 1842. p. 282. seqq. Baillarger, sur la Folie à la suite des fièvres intermittentes. Annal. med. psychol. 1843. II. p. 372.. Von Sydenham bis heute wurden nicht wenige solche Fälle, welche mit dem Processe der Intermittens zusammenhängen, beobachtet, unter denen jedoch ein verschiedenes Verhalten zu jenem Processe unterschieden werden kann - In der einen kleinsten Reihe von Fällen verhält sich die Sache so, dass an Orten, wo Wechselfieber endemisch sind, einzelne Individuen139Wechselfieber als Ursachen.statt von der gewöhnlichen intermittirenden Neurose, gleich von vorn herein von einem intermittirenden Gehirnleiden befallen werden, das sich in regelmässigen (tertianen, quartanen) Anfällen von Irresein aus - spricht, (sogen. Intermittens larvata). Hier ist also nicht ein be - standenes Wechselfieber, sondern die endemische Wechselfieber - Ursache, auch die Ursache des Irreseins. Anderemale treten nach längerem oder kürzerem Verlauf eines gewöhnlichen Wechselfiebers, statt der bisherigen Frost - und Hitzeparoxismen, nun gleichsam durch einen Umsprung der Affection intermittirende Paroxismen von Irresein auf (heftige Anfälle von Tobsucht mit Wuth, auch rasche Selbstmorde im Anfall), Zustände, welche mit Rücktreten der ent - schiedenen Periodicität, nicht selten den remittirenden und anhalten - den Typus annehmen und in chronische Geisteskrankheiten übergehen. Endlich drittens, und zwar am häufigsten, tritt das Irresein als Nachkrankheit eines beseitigten Wechselfiebers, entweder früher in der Reconvalescenzperiode, oder erst Monate, sogar Jahre lang nach dem Aufhören der Intermittens, auf. Namentlich sind es sehr lange dauernde, und schwere (besonders Quartan -) Fieber, von denen Störungen zurückbleiben, welche Irresein erzeugen können. Offenbar sind diese Störungen nicht immer dieselben. Schon die heftige Er - schütterung des Gesamtnervensystems während der Anfälle kann eine bedeutungsvolle Disposition zu leichten späteren Erkrankungen setzen, die nur unbedeutender, neuer Ursachen zur wirklichen Krankheits - entstehung bedarf. Es kann sich ferner, in Folge der Gehirnhyperä - mie während der Anfälle, eine Neigung zu chronischem Bestehen oder leichtem Eintreten solcher Hyperämieen ausbilden; endlich und diess Verhältniss möchten wir für das gewöhnlichere halten die von dem Wechselfieber her rückgebliebenen Anschwellungen der Milz und der Leber erzeugen Störungen in der venösen Circulation, wo - durch nicht nur mechanische Hyperämieen, sondern auch Oedeme verschiedener Theile gegeben werden. Diese können ebensowohl in der Schädelhöhle, wie (häufiger) in den untern Extremitäten sich ein - stellen und es spricht für die Ausbildung des Irreseins eben auf diesem Wege der Umstand, dass gewöhnlich diejenige Form desselben ent - steht, welche häufig auf Gehirnödem (mag dasselbe auch aus andern Ursachen enstanden sein) beruht (Melancholie mit Stupor).

Ein viertes, hier zu erwähnendes, wenn gleich nicht zu den Ursachen gehö - riges Verhältniss besteht darin, dass statt eines bestehenden (chronischen) Irre - seins Anfälle von Intermittens kommen, und mit diesen die Krankheit aufhört (sogen. critische Bedeutung der Wechselfieber). Jakobi hat 3 solche Fälle mit -140Blutveränderungengetheilt. Wie als sogen. Wechselfieberlarven Paroxismen von Irresein vorkommen, so auch andere schwere, intermittirende Neurosen, Paralysen, Epi - lepsieähnliche, tetanische Zustände (Vgl. Mongellaz, l. c.). Ebenso sind Fälle bekannt, wo als Nachkrankheiten der Intermittens anderartige, bedenkliche Nervenleiden auftreten (Gliederzittern, subparalytische und paralytische Zustände)*)Vgl. Maillot, traité des fièvres intermittentes. Par. 1836. p. 250..

Weiter schliessen sich an diese Nachkrankheiten der intermittirenden Fieber auch die üblen Folgen der schweren anhaltenden Fieber, namentlich eines über - standenen Typhus an. Alle Beobachter stimmen in Bezug auf die Wichtigkeit dieses Verhältnisses überein (Jakobi z. B. schreibt bei seiner Tobsüchtigen die Erkrankung den Folgezuständen typhoser Fieber zu), und wenn sich gleich in manchen Fällen durchaus nicht bestimmen lässt, ob jene Erkrankungen in wah - rem Typhus bestanden, so finden sich allerdings unverhältnissmässig oft unter den Antecedentien der Irren schwere fieberhafte Erkrankungen mit Delirien, Stupor etc. vor. Solche Fieber mögen durch directe Beeinträchtigung des Central - Nervensystems ebenso, als durch den ihnen oft lange folgenden anämischen, cachectischen Zustand zu Krankheitsursachen werden.

§. 84.

2) Auch Blutalterationen im weiteren Sinn dyscrasische Zu - stände können unzweifelhaft zu Ursachen des Irreseins werden. Vor Allem gehören hierher alle Zustände von Exaninition und allge - meiner Anämie, wie sich solche nach langem Hunger und Elend, nach selbsterzwungenem Fasten (religiöser Ascese in früheren Zeiten) nach grossen Blutverlusten (z. B. bei der Geburt), nach zu lange fort - gesetzter Lactation und dergl. bilden und ebenso sehr häufig zu Ur - sachen anderer hartnäckiger Neurosen, namentlich Spinalirritationen, werden.

Für so bedeutsam wir diese Zustände halten, und so sehr wir demgemäss die asthenische Natur sehr vieler Geisteskrankheiten anerkennen, so ist es uns doch auffallend, dass kaum Fälle von Entstehung wirklichen Irreseins bei eigentlich Chlorotischen, wo Anämie, Menostasie, allerlei psychische Ursachen so oft zusammentreffen, bekannt sind. Dass mit jenen allgemein anämischen Zu - ständen hartnäckige locale Hyperämieen, namentlich in der Schädelhöhle, sehr wohl gleichzeitig bestehen können, braucht nur für diejenigen bemerkt zu werden, in deren medicinischem Denken die Vorstellungen Hyperämie und Blutentziehung einen unlöslichen Bund geschlossen haben.

Weiter ist hier die constitutionelle Siphilis, gemeinhin als Blut - alteration aufgefasst, zu erwähnen. Sie kann niemals in anderer Weise, als durch schwerere Vegetationskrankheiten, durch Caries des Schädels oder des innern Ohrs, durch Exostose am Cranium und dergl. zu einer entfernteren Ursache von Geisteskrankheiten werden, ist aber eben in dieser Beziehung aufs ernstlichste zu berücksichtigen. Eine eben141als Ursachen.so häufige als wichtige Ursache bildet jene, in neuerer Zeit als Atherosis bezeichnete dyscrasische Disposition zu dem eigenthüm - lichen Erkranken der Arterien, das mit Verkalkung der Gefässwan - dungen endigt. Einestheils setzt diese Erkrankung, wenn sie die Arterien in der Schädelhöhle befällt, bedeutende unmittelbare Circu - lationsstörungen im Gehirn, namentlich eine Verlangsamung des Kreislaufs in ihm; andrerseits kommen eben hier gleichzeitig die schwersten organischen Herzkrankheiten vor, deren übler Einfluss bekannt ist.

Auch mit diesem Verhältnisse fällt die von den Schriftstellern als Ursache der Geisteskrankheiten aufgeführte Gicht zum Theil zusammen. Die Cholämie ist zwar von sehr bedeutendem Einflusse auf die psychischen Thätigkeiten, namentlich sieht man Angst, Neigung zum Zorn und Zank, Gleichgültigkeit, bösartige Launen, später auch Delirien, beim acuten Icterus auftreten; indessen wüssten wir nicht, dass wirkliches Irresein hieraus zurückgeblieben oder sich entschieden als Folge chronischer Gelbsucht gebildet hätte. Die Tuberculose wird im folgenden §. besprochen. Was das Pellagra betrifft, welchem in Oberitalien etwa die Hälfte der Geisteskranken angehören soll, so wird man, bei den grossen Meinungsverschiedenheiten, die über diese Krankheit unter den Aerzten jener Gegenden selbst herrschen, einen Arzt, der dasselbe nicht selbst beobachtet hat,*)Dieser Umstand hindert den Vf. auch, einen in Würtemberg beobachteten Fall, der sehr grosse Aehnlichkeit mit der Beschreibung der leichteren Grade des Pellagra hatte (tiefe Melancholie mit hartnäckigem, sehr schmerzhaftem Erythem der Extremitäten; Entstehung in grossem Elend und höchster physischer Vernach - lässigung unter Mitwirkung psychischer Ursachen) entschieden als Pellagra zu betrachten. Bekanntlich hat man in neuerer Zeit auch ausserhalb Oberitaliens, namentlich in Paris, zuverlässige, sporadische Fälle von Pellagra beobachtet. von einer näheren Besprechung desselben dispensiren.

§. 85.

3) Unter den Erkrankungen der Eingeweide, welche eine secundäre Gehirnaffection mit dem Symptomencomplex des Irreseins setzen können, stehen oben an die Brustkrankheiten und unter ihnen wieder alle Erkrankungen des Herzens. **)Vgl. §. 76. und das 2te Capitel der patholog. Anatomie. Nasse (von der psych. Beziehung des Herzens; in seiner Zeitschrift für psych. Aerzte. 1811 I. p. 49) hat zuerst diesen Punkt gehörig berücksichtigt. Von dort an finden sich allenthalben Angaben, die neueste von Lippich (Oestr. Jahrb. 1842. Juli. p. 32), namentlich in Bezug auf Italien, wo die Herzkrankheiten besonders häufig sein sollen. Vgl. auch die interessante Arbeit von Burrows über Gehirn - und Rücken - marks-Erkrankung während acuter Herzleiden. Gazette médic. 1843. Nro. 50.Ungleiche Blut - vertheilung und ungleiche Schnelligkeit der Strömung in verschiedenen Organen sind ihre directen Folgen, aus denen sich rasch verlaufende142Brustkrankheiten.oder dauernde Hyperämieen, Oedeme etc. im Gehirn, wie in den übrigen Organen ergeben. Eine eben so grosse Bedeutung schreiben wir den Lungenkrankheiten, besonders der häufigsten unter ihnen, der Tuberculose, in Uebereinstimmung mit Esquirol*)Die Geisteskrankheiten, von Bernhard. I. p. 62., Bergmann**)Holschers Annalen. III. 1838. p. 501. Die Lungenkrankheiten gehören in unserem Clima zu den ursächlichen Momenten, aus denen sich am häufigsten organische Störungen im Gehirn und darans psychsische Störungen herleiten lassen. Riedel (Oester. Jahrb. Mai 1842. p. 173) fand unter 14 Melancholischen, die im J. 1841 starben, 10mal Tuberculose, und nimmt gleichfalls ein Causalverhältniss zum Irresein an. und vielen andern Beobachtern, zu. Vielfache Erfahrungen zeigen hier ein doppeltes Verhältniss.

In der einen und nach unsern Erfahrungen grösseren Reihe von Fällen bilden sich Geisteskrankheiten aus mit dem Beginn oder doch in den ersten Stadien der Lungentuberculose, welche dann meist noch nicht erkannt wird, und sich für den weniger aufmerk - samen Beobachter auch später, von den Symptomen der Geistes - Krankheit überdeckt, kaum durch den zunehmenden Marasmus und das hectische Fieber kund gibt. In andern Fällen bricht das Irre - sein erst in der späteren Periode der Phtisis confirmata, als Schwer - muth, häufiger in der Form von maniacalischen Paroxismen aus. Die Folgen für den Gehirnkreislauf, die sich aus der Behinderung der Respiration ergeben, und eine veränderte Statik des Cerebrospinal - fluidums erscheinen, nach dem oben Gesagten, als wichtige pathogenetische Momente; in andern Fällen mag eine gleichzeitige Gehirnreizung durch schleichende tuberculose Meningitis das Irre - sein hervorrufen.

Beispiele von Manie bei Phtisischen s. bei Castel (Nasses Zeitschrift 1819. p. 421.), Wallach (Caspers Wochenschr. 1844. Nro. 3.) Meding (ibidem. 1845. Nro. 1.) etc.

Von grossem Interesse sind jene Fälle von Irresein (meist acute Manieen), welche während des Verlaufs der Pneumonie ausbrechen, zuweilen im Anfang derselben, häufiger in der Zeit der abnehmenden Krankheit, gegen die Reconvalescenz hin; sie sind meist von kurzer Dauer, giengen aber auch schon in chronisches Irresein über, so dass solche Kranke der Irrenanstalt übergeben werden mussten. ***)Vgl. Jakobi, Hauptformen. Fall XXIX. Thore, des maladies incidentes des aliénés. Ann. med. psych. Mai. 1844. p. 359 seqq. Auch in hiesiger Clinik wurde ein solcher Fall beobachtet.Wie weit in solchen Fällen das ursprüngliche Hinderniss der Respiration,143Unterleibskrankheiten.wie weit etwa ein deplaçirtes Oedem, wie weit namentlich die durch ein energisches Heilverfahren gegen die Pneumonie gesetzte Anämie zum näheren Anlasse der Krankheit wird, lässt sich nach den vor - liegenden Daten nicht weiter verfolgen.

Was die Krankheiten des Unterleibs betrifft, so soll in keiner Weise bestritten werden, dass in Folge ihrer Irresein entstehen könne; nur ist hier mit jenen, meist in erster Reihe aufgeführten un - reinlich gebildeten und trüben Categorieen von Verstimmung der Unterleibsnerven, Stockungen im Portadersystem, Infarctus, gestörtem Hämorrhoidalprocesse etc. nichts geholfen. Es muss vielmehr davor gewarnt werden, dass nicht wie es schon häufig genug geschah aus mässigen Störungen der Verdauung und des Stuhls, aus den Empfindungen, die das längere Verweilen des Darminhalts im Colon verursacht, aus der dunkleren Farbe der Fäces etc. leichtfertig patho - logische Zustände combinirt werden, von denen eine richtige (ana - tomische) Pathologie gar nichts weiss. Man läugnet nicht, dass Leber - und Milzkrankheiten die Circulation behindern können, eben so wenig, dass auch jene leichteren Störungen der Verdauung mitunter Durch - gangsmedien der Erkrankung bilden, mittelst deren namentlich die schädlichen Folgen der psychischen Ursachen wieder secundär auf das Gehirn rückwirken, und man kann Broussais so gut als den deutschen Vertheidigern der Infarctuslehre zugeben, dass Darmcanal - störungen*)Willis erzählt den merkwürdigen Fall einer jungen Dame, deren Gesund - heit durch langen, schweren Kummer tief gelitten hatte: nachdem sie ein schwer - verdauliches Backwerk genossen, ward sie plötzlich von einem Gefühle brennen - der Hitze in der Herzgrube ergriffen, glaubte, der obere Theil ihres Körpers stehe in Flammen, lief auf die Strasse hinaus, hatte die Vorstellung, sie sei höchst gottlos und werde in die Flammen der Hölle geschleppt, Vorstellungen, die immer wiederkehrten, so oft sich das Gefühl von Brennen erneuerte, etc. Jakobi l. c. p. 667. in einzelnen Fällen sogar zum Ausgangspunkt der Gehirn - Erkrankung, und demgemäss auch zum Angriffspunkt der Therapie werden können. Nur ist hier einerseits auf eine genaue Trennung derjenigen Intesinalstörungen, welche sich als Folgen der schon vor - handenen Gehirnreizung präsentiren, von den wirklich causalen, andrerseits und hauptsächlich auf eine schärfere, anatomische Auf - fassung und Diagnostik jener chronischen Krankheiten zu dringen. Die verschiedensten Textur-Erkrankungen der Leber, der Milz, des Pancreas, der dünnen und dicken Gedärme dürfen nicht promiscue unter Galenische Categorieen gebracht werden und man muss sich144Haut-Nieren-Genitalienkrankheiten.erinnern, dass, so lange die genauere anatomische Diagnose im ein - zelnen Falle nicht gemacht ist, sowohl dem ätiologischen Urtheile, als einer rationellen Therapie jeder sichere Anhaltspunkt entgeht. In Bezug auf die Casuistik von Fällen nun, wo bei Irren nach dem Tode Alterationen der Unterleibs-Eingeweide gefunden wurden, müssen wir auf die reichhaltige Literatur über diesen Gegenstand (z. B. die Schrift von Buzorini und die Reihe Bonner, unter Nasses Präsidium ausge - arbeiteter Dissertationen) verweisen, noch einmal daran erinnernd, dass ein bloss gleichzeitiges Vorkommen ohne alle Einsicht in den Mechanismus der reciproquen Wirkung nicht genügt, jene Alterationen als Ursachen des Irreseins zu betrachten.

Das Pellagra bietet ein auffallendes Beispiel des Zusammenvorkommens von Irresein mit einer Hautkrankheit. Aber jene stets wiederholten Angaben von Entstehung des Irreseins aus unterdrückten Ausschlägen, in Folge schnell ge - heilter und vertrokneter Hautulcerationen etc. sind mit grosser Vorsicht und Critik zu betrachten. Oft sind es die psychischen Ursachen, noch öfter schon der Beginn des Irreseins selbst, unter deren Einfluss solche äussere Krankheiten eine Aenderung des Verlaufs erleiden, und am wenigsten darf als von einer Ursache des Irreseins von der Unterdrückung solcher Exantheme die Rede sein, die, wie die Krätze, aus rein äusseren Ursachen entstehen.

Der Nierenkrankheiten und der Anomalieen im Chemismus der Urin - secretion sei hier nur gedacht, um vielleicht genauere Untersuchungen bei den Irren in dieser Beziehung anzuregen. Es ist bekannt, dass acute und chronische Nierenkrankheiten, namentlich der Morbus Brightii, nicht selten unter bedeuten - den Gehirnsymptomen verlaufen;*)Addison, Guys hosp. reports. Apr. 1839. Oestr. Jahrb. 1840. Rayer, malad. de reins. III. 1841. p. 153 seqq. einzelne Fälle (Rayer, mal. de reins I. 1839. p. 523. Friedreich, allg. Pathologie etc. p. 402) von Irresein sind auch bekannt ge - worden, wo solches offenbar in einem gewissen Zusammenhange mit einem Nieren - leiden stand; und es fordern die Bemerkungen von Golding-Bird,**)London Medical Gazette. August 1841. welcher bei dem Auftreten der Oxalate im Urin constant tiefe geistige Depression beobachtet hat, zu grösserer Beachtung dieser Secretion auf, als ihr bisher in den Irren - anstalten geschenkt wurde.

§. 86.

4) Von grosser Bedeutung bei beiden Geschlechtern sind die krankmachenden Einflüsse, welche vom Genitaliensystem ausgehen. Nur ausnahmsweise kommen Fälle vor, wo sexuelle Nichtbefrie - digung und Abstinenz als Hauptursache betrachtet werden muss; eine Mitwirkung dieses Verhältnisses ist aber, namentlich beim weib - lichen Geschlecht, nicht selten und namentlich vermag dasselbe dem aus irgend welchem Grunde ausgebrochenen Irresein einen gewissen besonderen Anstrich zu geben, indem der lange, zurückgedrängte145Genitalienkrankheiten.Trieb sich nun gerne in der Form des verliebten und sexuellen Wahnsinns, bald im idealen Gewande, bald in nackter Lüsternheit, äussert.

Beim männlichen Geschlechte sind alle jene sexuellen Derangements, welche man unter dem Namen der unwillkürlichen Samenverluste, der Pollutio diurna etc. begreift, von grosser Wichtigkeit. Diese Anomalieen bei denen offenbar in den wenigsten Fällen der Verlust der spermatischen Flüssigkeit die Hauptsache ist, beruhen, wie von Lallemand gezeigt wurde, häufig auf localen Er - krankungen der Urethralschleimhaut, der Samenbläschen etc., in andern Fällen geht die Störung offenbar vom Nervensystem aus; gewöhnlich geht ihnen längere Zeit gesteigerter Sexualreiz (übermässige Pollu - tionen), weniger als ihre Ursache, denn als Zeichen der schon be - stehenden Irritation voraus; einmal ausgebildet äussern sie sich in bedeutender Herabsetzung der sexuellen Empfindungen, Abnahme der Erection, Impotenz, verbunden mit allen möglichen sensitiven und psychischen Dysästhesieen, deren Gruppe theils eine wahre männliche Hysterie, theils einen tief hypochondrischen Zustand darstellt.

Durch die Schrift von Lallemand*)Vgl. seine Krankheitsgeschichten und sein Resumé. III. p. 127 200. veranlasst, haben wir, bei einer Anzahl männlicher Geisteskranken unsere Aufmerksamkeit auf diesen Punkt ge - richtet eine kitzliche Untersuchung, da die Kranken in dieser Beziehung ge - wöhnlich misstrauisch und ihre Angaben unzuverlässig sind und es grosser Vor - sicht bedarf, um ihre Aufmerksamkeit nicht zu sehr auf diese Verhältnisse zu determiniren. Nur bei Einem Kranken gelang es uns, entschiedene Pollutio diurna (bei der Stuhlentleerung) microscopisch festzustellen; aber so viel hat sich uns mit völliger Sicherheit ergeben, dass bei einer unerwartet grossen Anzahl eine, dem Kranken meist sehr fühlbare, Abnahme der sexuellen Empfindungen und des Geschlechtstriebs, zuweilen auch wirkliche Impotenz, der Ausbildung des Irre - seins längere Zeit vorausging, wobei es sich freilich fast niemals näher entschei - den liess, ob solche die Folgen oft vorausgegangener sexueller Excesse und Missbräuche, oder derjenigen widrigen Gemüthsaffecte, die eben auch zu Ur - sachen des Irreseins wurden, ob sie die ersten Symptome des melancholischen Stadiums selbst waren oder von localen Erkrankungen der Genitalien herrührten. In 2 Fällen, wo das letztere entschieden schien, haben wir die von Lallemand empfohlene Cauterisation der pars prostatica urethrae vorgenommen, in dem einen Falle ohne irgend bemerkbaren Einfluss auf die Krankheit, in dem andern besei - tigte die Operation verschiedene unangenehme Empfindungen in den Genitalien, worüber der Kranke sehr geklagt hatte**)Cooper erzählt in seinen Vorlesungen einen Fall, wo durch die Operation eine ungeheure Menge von Prostatasteinen entleert wurde. Diese Steine hatten nicht nur Schmerz, sondern auch eine anhaltende, an Wahnsinn grenzende Auf - regung des Gemüths zur Folge gehabt. (Gefühle von beständigem Aus - undGriesinger, psych. Krankhtn. 10146Krankheitsursachen ausEinströmen, von Hitze etc.), ohne auf das Irresein einen schnellen günstigen Erfolg zu äussern.

Beim weiblichen Geschlechte übt die Menstruation und jede Art ihrer Störung grossen Einfluss auf die Ausbildung und den Verlauf der Geisteskrankheiten aus. Die einfachsten, aber auch sel - tensten Fälle sind die, wo bei zuvor gesunden Personen nach einer schnellen Cessation oder Unterdrückung der Periode acute leb - hafte Gehirnhyperämie entsteht und unmittelbar damit Geistesver - wirrung ausbricht. Viel häufiger geht zwar allerdings eine Stockung der Menses dem Irresein voraus, steht aber mit diesem in keinem so directen Verhältnisse, sondern ist selbst als Folge der anhalten - den Gemüthsdepression, als Theilerscheinung eines bestehenden anä - mischen Zustands, einer andern chronischen Krankheit oder überhaupt einer Verschlechterung der Constitution zu betrachten, und diese Ver - hältnisse stellen an sich schon wichtigere Ursachen dar, als die Meno - stasie. Ebenso kann der zu profuse Monatsfluss durch Anämie und allgemeine Herabsetzung der Ernährung zur Ursache des Irreseins, wie jeder andern Neurose werden. Häufig aber zeigen sich Un - regelmässigkeiten der Menstruation erst mit dem Beginn des Irreseins so gut als sie in jeder andern chronischen Krankheit eintreten können, wie man denn auch bei der Genesung vom Irresein so oft beobachten kann, dass dieselbe nicht auf den Wiedereintritt der Periode, sondern dass umgekehrt die Rückkehr der Menstruation auf die bereits zu - standegekommene Beseitigung des Gehirnleidens folgt. Dauert die Menstruation während der Geisteskrankheit fort, was oft ohne die geringste Störung der Fall ist, so wird nicht selten bei ihrem jedes - maligen Eintritt vermehrte Exaltation, überhaupt allseitige Steigerung der Geistesstörung beobachtet. In seltenen Fällen hat man nur perio - disches Irresein während der Menstruation jedesmal mit mehrwöchent - lichen vollständigem lucidum intervallum beobachtet.

Die Localkrankheiten des uterus, der ovarien, der vagina (Cysten und andern Desorganisationen, chronische Entzündungen etc.) haben gewöhnlich erst in Folge ausgebildeter Hysterie ein aus dieser allmählig entwickeltes Irresein zur Folge, das oft in seinem allge - meinen Character (Ueberspanntheit zärtlicher Gefühle, Sentimentalität, Lascivität) oder in einzelnen falschen Gedankenbildungen (z. B. dem Wahn, schwanger zu sein) deutlich auf seinen Ursprung hinweist.

147dem weiblichen Geschlechtsleben.

§. 87.

Die Schwangerschaft, noch mehr der Puerperalzustand und die Lactation geben aber unter allen Einflüssen aus dem weib - lichen Geschlechtssysteme die wichtigsten Ursachen des Irreseins ab. Unter ihnen hat die Schwangerschaft am seltensten ausgebildetes Irresein in der Form tiefer Schwermuth oder Manie, häufiger einen nur milden und mässigen psychischen Depressionszustand, der sich aber oft genug sichtlich als erstes Stadium zu der späteren Puerperal - Manie verhällt, zur Folge. Die directen psychischen Einflüsse, nament - lich die gemischten Gemüthsbewegungen, die eine erstmalige Schwanger - schaft begleiten, können hier von Bedeutung bei vorher Disponirten sein; aber von viel wichtigerem pathogenetischem Moment scheint uns die allmählig zunehmende Beeinträchtigung der Respiration durch das Hinaufgeschobenwerden des Zwerchfells zu sein, welche leicht Störungen im kleinen Kreislauf und eben damit Störungen der Blutcircu - lation im Kopfe zur Folge haben kann. Dass eine (subinflammatorische) Hyperämie der dura mater und der Innenfläche des Schädels in der Schwangerschaft ganz gewöhnlich, und schon in ihren früheren Perio - den, zu Wege kommt, diess zeigt die sogen. puerperale Osteophyt - bildung*)Vgl. Rokitansky, pathol. Anatomie. II. p. 237 sqq. und wir wagen, die definitive Aufklärung dieses Punktes der pathologischen Anatomie überlassend, die Vermuthung, dass jene Hyperämieen mechanische, von Circulationsstörung im Thorax her - rührende seien, wofür wir die Thatsache anführen können, dass die den puerperalen am meisten gleichenden Schädelosteophyte bei Männern vorzugsweise mit gleichzeitigen chronischen Brustkrankheiten (Phtisis) vorkommen.

Schon während der Geburt und von da an im ganzen Verlauf des Puerperiums können schwere psychische Störungen auftreten, deren Zusammenfassung als Puerperal-Wahnsinn indessen unzweckmässig erscheint, da sie in Bezug auf Entstehungsweise und Form weder etwas vom sonstigen Irresein auf characteristische Weise Distinktes, noch unter sich gemeinschaftlich Eigenthümliches haben. Vielmehr ist in practischer Beziehung gerade eine genauere Scheidung dieser Fälle erforderlich.

Jene Zustände von grosser Aufregung und Tobsucht, die in der letzten Periode des Geburtsacts selbst vorkommen, und sich meist in grosser Feindseligkeit gegen das Kind, (Tödtung desselben) äussern,10*148Wochenbett und Lactation als Ursachen.dauern niemals länger als einige Stunden oder einen Tag, und man hat sich nur in gerichtlicher Beziehung ihr wirkliches Vorkommen zu merken.

Unter den später, aber immer noch am liebsten in den ersten 14 Tagen nach der Geburt, ausbrechenden Seelenstörungen sind nun die einen als das symptomatische Delirium anderer, schwerer Puerperalkrankheiten, namentlich der Endometritis, der Phlebitis und Pyämie, der consecutiven Endocarditis (Kiwisch) etc. zu betrachten Fälle, bei denen die Gehirnaffection theils dem übeln Einflusse des eitriginficirten Blutes, theils deutlicher Kopfcongestion zugeschrieben werden muss, wo die Seelenstörung zwar zunächst die (bedenkliche) Prognose der Hauptkrankheit theilt, im Ganzen mit dieser steht oder fällt, aber doch in einzelnen Fällen, bei erfolgender Genesung von dem Kindbettfieber, längere Zeit fortdauern kann.

In einer weiteren Reihe von Fällen dagegen entwickelt sich ein Irresein ohne anderweitige, schwere Puerperalkrankheit, ein von Anfang an selbständiges Gehirnleiden, entweder in Form der Schwermuth, namentlich des Raptus melancholicus, oder, besonders wenn schon in der Schwangerschaft ein psychischer Depressionszustand vorausgegangen, sogleich in der Form der heitern Aufregung und häufig der nympho - manischen Ausgelassenheit. Diess hauptsächlich sind die Fälle, die später zu einem dauernden Irresein von übrigens im Ganzen nicht ungünstiger Prognose werden. Sie kommen vorzugsweise bei schon prädisponirten Individuen vor, unter dem Einflusse aller möglichen determinirender Ursachen, von denen die widrigen Gemüthsaffecte*)Vgl. Esquirol, I. p. 141 142. einerseits, die Anämie durch starke Säfteverluste bei der Geburt, durch Operationen etc. andrerseits offenbar die wichtigsten sind.

Vgl. Esquirol, die Geisteskrankheiten. I. cap. 5. Schneider, über Mania lactea, in Nasses Zeitschr. für Anthrop. 1823. p. 163. Neumann, Krankheiten des Vorstellungsvermögens. 1822. cap. 14. Kiwisch v. Rotterau, die Krankheiten der Wöchnerinnen. II. 1841. p. 228. Helm, Monographie der Puerperalkrankheiten. 1840. §. 28. 46. 53. 75. Sinogowitz, die Geistesstörungen. 1843. §. 25.

Was endlich die Lactation betrifft, so ist die Schwächung der Constitution durch ein zu langes Säugen als Ursache der ver - schiedensten schweren Neurosen (Spinalirritationen) in allen mög - lichen Formen anerkannt, und es sind nun namentlich tiefere oder anhaltende Gemüthsbewegungen, psychische Prädisposition etc, unter149Schluss der Aetiologie.deren Zutritt gerade diese Form von Gehirnaffection, das Irresein unter solchen Umständen entsteht.

Und so mögen sich im Einzelnen dieser Aufzählungen die allgemeinen Sätze erwiesen haben, dass alle Herabsetzungen der Ernährung, alle wahren Schwächezustände, dass ferner alle Um - stände, durch welche das Nervensystem überreizt wird, alle, welche Congestionen nach den Centralorganen begünstigen, alle überhaupt, welche die Ausbildung und Fixirung der nervösen Constitution zur Folge haben, zu Ursachen des Irreseins werden können. Wir werden diese Sätze bei der Therapie der Geisteskrankheiten wie - derfinden.

[150]

DRITTES BUCH. Die Formen der psychischen Krankheiten.

§. 88.

Eine Eintheilung der psychischen Krankheiten nach ihrem Wesen, d. h. nach den ihnen zu Grunde liegenden anatomischen Veränder - ungen des Gehirns ist derzeit nicht möglich (§. 5.); sondern, wie die ganze Classe der Geisteskrankheiten nur eine symptomatologisch gebildete ist, so lassen sich als ihre verschiedenen Arten zunächst nur verschiedene Symptomencomplexe, verschiedene Formen des Irreseins angeben. Statt des anatomischen Eintheilungsprincips müssen wir das functionelle, physiologische festhalten, und dieses wird hier, da die Störungen des Vorstellens und Strebens die hauptsächlichsten und auffallendsten sind, zum psychologischen. Nach der Art und Weise der psychischen Anomalie ist also das Irresein einzutheilen; während es nun aber die Aufgabe des clinischen Unterrichts ist, die Mannigfaltigkeit der psychischen Störungen in den concreten Er - krankungsfällen hervorzuheben und zu analysiren, muss sich die Nosologie mit der Aufstellung weniger Hauptgruppen psychischer Störungen, weniger psychisch-anomaler Grundzustände begnügen, die sich aus der Uebereinstimmung sehr vieler Fälle in gewissen characteristischen Merkmalen ergeben und auf die sich daher alle Mannigfaltigkeit des einzelnen Erkrankens zurückführen lässt. Diese Grundzustände und ihre äussere Erscheinung haben wir hauptsächlich hier zu schildern, und wenn dabei die Varietäten und die Uebergänge der einzelnen Formen in einander freilich wohl beachtet werden müssen, so kann diess doch niemals in erschöpfendem Detail geschehen; eben151Eintheilung der Geisteskrankheiten.jenes Flüssige der (normalen und anomalen) psychischen Erscheinungen, auf welchem die Varietäten, Mittelzustände und Uebergänge beruhen, bildet den interessantesten Vorwurf clinischer Erörterung, lässt sich aber in den kurzen Expositionen eines Lehrbuchs nicht fixiren.

Zwei grosse Gruppen psychisch-anomaler Grundzustände ergeben sich aus der Analyse der Beobachtungen als die beiden wesentlichsten Verschiedenheiten des Irreseins. Einmal nemlich beruht dasselbe auf dem krankhaften Entstehen, Herrschen, Fixirtbleiben von Affecten und affectartigen Zuständen, unter deren Einflusse nun das ganze psychische Leben die der Art und Weise des Affects adäquaten Modifi - cationen erleidet. Das anderemal besteht das Irresein in Störungen des Vorstellens und Wollens, die nicht (nicht mehr) von dem Herrschen eines affectartigen Zustandes herrühren, sondern ein, ohne tiefere Gemüthserregtheit selbständiges, beruhigtes falsches Denken und Wollen (meist mit dem herrschenden Character psychi - scher Schwäche) darstellen. Die Beobachtung ergibt nun weiter, dass die Zustände, die in der ersten Hauptgruppe enthalten sind, in der ausserordentlichen Mehrzahl der Fälle den Zuständen zweiter Reihe vorangehen, dass die letzteren gewöhnlich nur als Folgen und Aus - gänge der ersteren, bei nicht geheilter Gehirnkrankheit auftreten. Es zeigt sich ferner innerhalb der ersten Gruppe, bei einer grösseren Durchschnittsbetrachtung, wieder eine gewisse bestimmte Aufeinan - derfolge der einzelnen Arten affectartiger Zustände, und so ergibt sich eine Betrachtungsweise des Irreseins, welche in dessen ver - schiedenen Formen verschiedene Stadien eines Krankheitsprozesses erkennt, welcher zwar durch die mannigfachsten intercurrirenden patholo - gischen Ereignisse modificirt, unterbrochen, umgeändert werden kann, im Ganzen aber einen stetig sucessiven Verlauf einhält, der bis zum gänzlichen Zerfall des psychischen Lebens gehen kann. Mittelst dieser von Zeller*)2ter Bericht etc. Med. Corresp. Blatt. Juli 1840. am deutlichsten ausgesprochenen Erkenntniss ist es uns denn möglich, von dem Wege der Symptomatologie her auch den, immer in den Vordergrund zu stellenden, Aufgaben der anatomisch - pathologischen Auffassung und Diagnostik der Geisteskrankheiten näher als bisher zu rücken. Denn auch die pathologische Anatomie weist für eine Mehrzahl von Fällen einen gewissen Krankheitsprocess (auf den Gehirnoberflächen) nach, der sich allmählig an und für sich und in seinen Producten fixirt und der am Ende zu den schwersten, anatomischen Alterationen der Gehirnsubstanz fortschreiten kann. So152Allgemeines übertreffen endlich der einfach symptomatologische, der psychologisch - analytische, und der anatomische Weg der Untersuchung auch in dem practisch-bedeutsamen Resultate zusammen, dass das Irresein fast nur innerhalb jener ersten Gruppe primitiver (affectartiger) geistiger Anomalieen eine heilbare, mit der Ausbildung der der zweiten Reihe angehörigen, secundären Störungen aber eine unheilbare Krank - heit ist. Jene erste Reihe enthält die Formen der Schwermuth, der Tobsucht und des Wahnsinns; die zweite Reihe die Formen der Verrücktheit und des Blödsinns.

Erster Abschnitt. Die psychischen Depressionszustände. Die Schwermuth oder Melancholie.

§. 89.

Das Grundleiden bei allen diesen Krankheitsformen besteht in dem krankhaften (§. 33.) Herrschen eines peinlichen, depressiven, negativen Affects, in einem psychisch-schmerzhaften Zustande. Dieser kann Anfangs, in der reinsten, primitivsten Form der Schwermuth, in der Art der objectlosen Gefühle von Beklemmung, Angst, Nieder - geschlagenheit, Traurigkeit andauern, meistens aber geht solche dunkle, abstracte Gefühlsbelästigung bald in ein einzelnes, concretes, schmerz - liches Vorstellen aus einander, es erheben sich der Stimmung entspre - chende, äusserlich unmotivirte (falsche) Vorstellungen und Urtheile, wahre Delirien von peinlichem, schmerzlichem Inhalt, während gleich - zeitig das Vorstellen auch formal-abnorm, in seinem freien Flusse gehemmt, verlangsamt, träge, das Denken monotoner und leerer wird. Die psychische Reaction gegen die Aussenwelt ist entweder geschwächt und abgestumpft (psychische Anästhesie, Gleichgültigkeit bis zum Stumpfsinn), oder in der Weise gesteigert, dass alle psychi - schen Impressionen schmerzhaft werden (psychische Hyperästhesie), und sehr häufig kommen Mischungen und Wechsel dieser beiden Reactionsweisen vor. Vielfache Störungen auf der motorischen Seite des Seelenlebens schliessen sich weiter hieran; ihre Verschiedenheiten begründen namentlich die Unterscheidung mehrer Hauptformen me - lancholischer Zustände: bald ist das Streben direct herabgesetzt und geschwächt, bald krampfhaft gehemmt (Energielosigkeit, Willenlosig -153die Schwermuth.keit), bald treten einzelne Triebe und Willensimpulse, denen Stoff und Inhalt durch die negative Stimmung gegeben ist, auf, bald end - lich erregt ein höheres Mass des psychischen Schmerzes ausgebreitete, motorische Impulse von unzweckmässigem, convulsivischem Character, die sich als höchste Unruhe äussern, mit deren Andauern und wei - terer Steigerung indessen die melancholischen Zustände einen ganz andern Character annehmen und in eine andere Form die Tob - sucht übergehen.

Die Beobachtung zeigt, dass die ungemeine Mehrzahl aller psy - chischen Erkrankungen mit solchen Zuständen tiefer Gemüthsverstimmung in der Weise eines depressiven, traurigen Affects anfängt. Guislain hat diese Thatsachen am sorgfältigsten erhoben und am stärksten premirt; auch wir konnten, mit Ausnahme einiger nach Kopfver - letzung oder acuter Meningitis entstandener Fälle, immer einen Zu - stand von Schwermuth als den primären, als den Ausgangspunkt des weitern Irreseins eruiren, und wir nehmen desshalb keinen Anstand, von einen Stadium melancholicum als der ersten Periode der Geisteskrankheiten zu sprechen. Allerdings dauert dasselbe oft nur kurz, es gibt z. B. Fälle von Manie, denen nur einige Tage lang grosse Angst, Unruhe, ein Zustand von Verzweiflung vorausgehen; anderemal wird ein Jahre lang dauerndes melancholisches Stadium wegen seiner milden Form und zeitweiser Remissionen verkannt; endlich kommen Fälle vor, wo einem ersten Erkranken in der Form der Schwermuth eine mehrjährige Periode freien Intervalls folgt, und nun bei einem zweiten Krankheitsanfall das Stadium der Melancholie fehlt (Zeller). Die Melancholie, die das Irresein einleitet, stellt sich zuweilen als die unmittelbare Fortsetzung objectiv begründeter schmerzlicher Affecte (psychischer Ursachen des Irreseins) dar, z. B. der Eifersucht, wo sie sich denn vom Seelenschmerze des Gesunden eben durch ihr Uebermass und ihr ungewöhnlich langes, von äusseren Einwirkungen immer unabhängiger und selbstständiger gewordenes Bestehen unterscheidet. In andern Fällen entsteht die Melancholie ohne alle psychische Anlässe, am häufigsten aber zwar aus solchen, aber nicht als ihre directe Fortsetzung, sondern erst nachdem die - selben mannichfache Störungen der Circulation und Ernährung ver - anlasst oder die ganze Constitution untergraben haben.

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Erstes Capitel. Die Hypochondrie.

§. 90.

Die hypochondrischen Zustände stellen die mildeste, mässigste Form des Irreseins dar, und haben manche Eigenthümlichkeiten, die sie von den andern Formen der Schwermuth wesentlich unterschei - den. Denn während sie allerdings mit diesen den Classencharacter der niedergeschlagenen, traurigen, depressiven Gemüthsverstimmung, der verminderten Energie des Willens und eines jener Stimmung entsprechenden Deliriums theilen, so differiren sie auf characteri - stische Weise dadurch, dass hier die Gemüthsdepression aus einem starken, körperlichen Krankheitsgefühle hervorgeht, das die Aufmerksamkeit beständig lebhaft in Anspruch nimmt, dass sich dess - halb die falschen Urtheile fast ausschliesslich auf den Gesundheits - zustand des Subjects beziehen, und dasselbe nun in Besorgnissen eigener schwerer Erkrankung, in ungegründeten und bizarren An - sichten über die Art und Weise und die Gefährlichkeit dieser seiner Krankheit delirirt. Jenes körperliche Gefühl des Krankseins ist bald ein dunkles und allgemeines, bald ist es in einzelne, anomale Sen - sationen auseinandergegangen; es beruht häufig auf Irritation der Nervencentra von peripherischen, oft sehr versteckten und dunkeln Erkrankungen der Eingeweide aus, aber es wird auch central, durch direct psychische Ursachen hervorgerufen (Lesen medicinischer Schriften, ansteckender Umgang mit Hypochondristen). Immer wer - den diese krankhaften Empfindungen durch die Richtung der Auf - merksamkeit auf sie gesteigert, und bei einigermassen ausgebildetem Zustande können solche durch die Richtung des Vorstellens auf dieses oder jenes Organ geweckt, deplaçirt und in jedem Theile des Or - ganismus neu hervorgerufen werden. Was den geistigen Antheil an der Krankheit betrifft, so ist, ungeachtet der Gemüthsverstimmung und der falschen Vorstellungen, doch die äussere Besonnenheit ge - wöhnlich lange erhalten, die anomalen Empfindungen und Vorstel - lungen werden logisch zusammenhängend und consequent verarbeitet, und mit Gründen, welche doch innerhalb des Bereichs der Möglich - keit liegen, gerechtfertigt. Eben durch diesen Mangel eigentlicher Verstandesverwirrung erscheint die Hypochondrie wesentlich als schwermüthige Folie raisonnante*)Es gibt kein erschöpfend-entsprechendes deutsches Wort., deren entsprechenden155Symptomatologie der Hypochondrie.Gegensatz die gewöhnlich sogenannte (wahnsinnige) Folie raison - nante wir bei den psychischen Exaltationszuständen finden werden.

Dem denkenden und kundigen Leser wird die eigene Einzeldurchführung dieser Analogie, welche eine das Verständniss fördernde Parallele zwischen beiden Grundformen krankhafter Gemüthszustände, an die Hand gibt, empfohlen. Dass übrigens der Hypochondrie ihre Stelle wirklich nirgends anders als unter den psychischen Krankheiten, zu denen sie schon von Sauvages und Cullen, wie von Pinel, Georget und Falret gezählt wurden, gebührt, wird sich aus der folgenden Symptomotologie von selbst ergeben.

§. 91.

Symptome. Die Stimmung der Kranken fängt an, sich ohne äussere Motive zu verändern; sie werden niedergeschlagen, verdrossen, besorgt, mürrisch, zeigen grössere Empfindlichkeit, die Neigung, Alles auf sich zu beziehen, und fühlen sich leicht von Allem be - lästigt und ermüdet. Anfangs wechselt dieser Zustand mit Remis - sionen und die Paroxismen erscheinen als ärgerliche, unruhige, miss - trauische Laune oder als psychische Kälte, die sich bis zum Lebens - überdrusse, als Angst, die sich zur Verzweiflung mit Unmöglichkeit, sich äusserlich zu beherrschen, steigern kann. Von einem un - bestimmten, aber lebhaften Krankheitsgefühle wird der Kranke auf dunkle Weise belästigt und beunruhigt; alle Provinzen des sensi - tiven Nervensystems können zum Sitze krankhafter, oft sehr schmerz - licher Empfindungen (Formication, Kälte und Hitze, Fortkriechen eines fremden Körpers, Leerheit, Abgestorbensein, Stechen, Zerreissen etc.) werden, und auch die höheren Sinne zeigen oft vermehrte Empfind - lichkeit oder grössere Stumpfheit und wirkliche Hallucinationen. Alle diese anomalen Empfindungen drängen sich stets lebhaft ins Bewusst - sein, wecken und unterhalten beständig ein Vorstellen, das sich auf die Erkrankung, auf ihre verschiedenen möglichen Arten und auf die Heilung bezieht; alle Sensationen werden belauscht und im Sinne der herrschenden trüben und ängstlichen Stimmung ernsthaft commentirt und analysirt; es wird aus ihnen auf das Vorhandensein schwerer, gefährlicher Krankheiten geschlossen, und häufig werden solche Ver - muthungen in einer Uebertriebenheit, deren sich der Kranke halb bewusst ist, und in möglichst drastischen und pittoresken Worten geäussert. Der Kranke, der dabei ganz unbedeutende objective Symptome darbieten kann, spricht von Apoplexie, von Halbtod, von Vertrocknung oder Versteinerung des Herzens; seine Nerven sind glühende Kohlen, sein Blut ist siedendes Oel etc., und gerne wer - den die schwersten, oder ganz neue, noch nie dagewesene Krank -156Symptomatologieheiten angenommen, indem eben die Schwere und Gefährlichkeit der Krankheit im Verhältniss zur Grösse der Gefühlsbelästigung stehen soll. Mit der Orts - und Qualitätsveränderung der krankhaften Sensa - tionen wechseln denn auch die Vorstellungen über den Sitz und die Art der Krankheit und der Kranke glaubt successiv mit allen Leiden, die seine Pathologie kennt, behaftet zu sein. So sehr diese Vor - stellungen wahre Delirien, so falsch und bloss eingebildet sie sind, so wenig sind diess die Empfindungen, die die Basis jener Urtheile bilden und zu denen sich diese selbst wesentlich nur als Erklä - rungsversuche verhalten.

Wir finden also hier gleich denselben Ursprung, dieselbe objective Grund - losigkeit und subjective Begründung der irrigen Vorstellungen, wie bei den an - deren Formen der Schwermuth und eines noch tieferen Irreseins. Man nehme dem Hypochonder sein Krankheitsgefühl, so wird er keine imaginäre Krankheiten mehr haben wollen; man nehme aber auch dem in anderer Weise Schwermüthigen seine Angstgefühle, so wird er sich z. B. nicht mehr von Feinden verfolgt glauben. Auch hier sind die abnormen Gefühle, aus denen erst das Delirium hervorgeht, ebenso reell,[und] auch hier findet sich, wenigstens Anfangs, dieselbe geringe Haltbarkeit und derselbe schnelle Wechsel der irrigen Vorstellungen, wie bei der Hypochondrie.

§. 92.

Diesen seinen Leiden, mit denen sich der Hypochonder immer lebhaft beschäftigt, sucht er auf jede mögliche Weise beizukommen. Er untersucht häufig seinen Puls, seine Zunge, seine Excretionen, und findet oft bei diesen Untersuchungen Motive der Furcht oder der Hoffnung, von denen er, auch wenn es das Unsauberste betrifft, mit einer Art Wollust Jedermann unterhält. Der heftige Wunsch, zu genesen, lässt ihn häufig mit den Aerzten und den eigenen Heil - planen wechseln, er erholt sich Rath in medicinischen Schriften, und ändert nun oft die bisherigen Ansichten über seine Krankheit, indem er Alles, was er liest oder hört, auf sich anwendet; die Er - wähnung einer Krankheit genügt, um ihm die Vorstellung, dass er selbst daran leide, hervorzurufen und er erhält nun, durch diese Vorstellungen angeregt, neue secundär entstehende anomale Empfin - dungen aus den betreffenden Organen*)Man bemerke die Identität dieses Processes mit der Entstehung der Hallu - cinationen überhaupt. Vgl. p. 69, 73..

Nicht immer aber sind es bloss gewöhnliche, körperliche Krankheiten, mit denen, als Gegenständen seiner Besorgniss, der Hypochonder sich beschäftigt; häufig entgeht ihm selbst der grosse psychische An -157der Hypochondrie.theil an seinem Leiden nicht, und die Veränderung seiner ganzen Persönlichkeit, das Befangensein in den kranken Empfindungen und Vorstellungen, namentlich aber eine gewisse (§. 44. schon erwähnte) Anomalie, besonders im geistigen Antheil an der Sinnesempfindung, wobei diese, obwohl wie sonst percipirt, doch nicht mehr dieselben Eindrücke erregt machen oft den Hauptgegenstand seiner Klage aus.

Dieses letztere, sehr merkwürdige Verhalten, das die Kranken selbst Mühe haben zu beschreiben, das auch wir in mehren Fällen als das hervorstechendste und lästigste Symptom beobachtet haben, ist in folgendem Brief einer Kranken Esquirols, so gut es sein kann, ausgedrückt:

Noch immer leide ich beständig, und habe keine Minute von Wohlbefinden und keine menschliche Empfindung; umgeben von Allem, was das Leben glücklich und angenehm macht, fehlt mir jede Fähigkeit des Genusses und der Empfin - dung; beide sind physich unmöglich für mich geworden In allem, in den zärt - lichsten Liebkosungen meiner Kinder, finde ich nur Bitterkeit, ich bedecke sie mit Küssen, aber es ist etwas zwischen ihnen und meinen Lippen und dieses grässliche Etwas ist zwischen mir und allen Genüssen des Lebens. Meine Exi - stenz ist unvollständig, die Thätigkeiten, die Handlungen des gewöhnlichen Lebens sind mir geblieben, aber bei jeder fehlt etwas, nemlich die Empfindung, welche ihnen angehörte und die Freude, die ihnen folgt jeder meiner Sinne, jeder Theil meiner selbst ist wie von mir selbst getrennt und kann mir keine Empfindung mehr verschaffen; die Unmöglichkeit scheint von einer Leerheit abzuhängen, welche ich vorn im Kopfe fühle, und von der Verminderung der Empfindung auf der ganzen Körperoberfläche; denn es scheint mir, als erreiche ich niemals eigentlich die Gegen - stände, die ich berühre .... ich fühle wohl die Veränderung der Temperatur auf der Haut, aber die innere Empfindung der Luft beim Ath - men habe ich nicht mehr .... Meine Augen sehen, mein Geist nimmt es auf, aber die Empfindung von dem, was ich sehe, ist nicht vor - handen etc.

Auch die psychische Veränderung nach der Seite des Willens ist in den meisten Fällen auffallend genug; die Kranken werden muth - los, bedenklich, unentschlossen, in den höheren Graden völlig willenlos. Ich möchte mich wohl entschliessen, ich möchte wohl ausdauern, aber es hängt nicht mehr von mir ab, es zu wollen; ich fühle, wenn ich wollen könnte, so könnte ich mich dieser verzweifelten Lage entziehen, aber ich muss mich meinen Wehgefühlen überlassen, ich fühle mich unfähig zu Allem, der kleinste Widerstand scheint mir unüberwindlich etc. Diess sind Aeusserungen, die man in den höheren Graden der Hypochondrie, wie in allen übrigen Formen der Schwermuth häufig genug hören kann. *)Vgl. ein ausgezeichnetes Beispiel bypochondrischer Willenlosigkeit, bei Leuret, Fragmens. p. 382 seqq.Auch die Intelligenz158Symptomatologieleidet bei weiter vorgeschrittener Krankheit nicht nur in der Weise jenes irrigen Vorstellens, sondern die anhaltende Gedankenrichtung auf den eigenen Zustand und die möglichen Mittel, ihm abzuhelfen, gibt auch dem Vorstellen eine gewisse Monotonie, und bei der herrschenden Präoccupation des Bewusstseins wird Alles, was nicht zu jenem Kreise von Vorstellungen gehört, interesselos, gleichgültig und erlischt bald aus der Erinnerung, daher sich solche Kranke oft höchst zerstreut und vergesslich zeigen. Bei grosser Redseligkeit über das Thema der eigenen Krankheit vermindert sich in anderer Beziehung die Neigung zur Mittheilung, und das sind niemals schwere Fälle von Hypochondrie, wo die Kranken noch liebenswürdige und unterhaltende Gesellschafter sein können. Wohl aber kann Verstand und Scharfsinn, der sich wirklich oft schon in feinen Combinationen über das Lieblingsthema der Erkrankung zeigt, auch in Bezug auf objective Verhältnisse bestehen bleiben, und erst in den äussersten Graden der Hypochondrie zeigt sich eine wirkliche Abnahme der Intelligenz, eine Art finsteren und grämlichen Blödsinns, wobei die Kranken fast zu jeder geistigen Thätigkeit unfähig geworden sind.

Mit der Summe dieser psychischen Störungen, die sämmtlich den Character der Depression haben, weist sich die Hypochondrie eben als eine Form der Schwermuth aus. Und wenn auch die hypochondrischen Zustände durchschnittlich in dem eigenthümlichen Stoffe des irrigen Vorstellens und in der bei weitem grösseren Möglichkeit der Selbstbeherrschung eine gewisse Specifität an sich haben, so ist doch schon jene herrschende Neigung, Alles in Beziehung, in Ver - gleichung mit sich zu bringen, die Beschränkung des Vorstellens auf das eigene Ich, jener krankhafte Egoismus ein wesentlicher, das Insichgekehrtsein der melancholischen Zustände überhaupt bezeichnender Zug. Die höheren Grade der Hypochondrie gehen auch ganz allmählig, theils durch Steigerung der Angst - gefühle, theils durch das Fixiren einzelner Erklärungsversuche, nicht nur in wahre Melancholie, sondern sogar in melancholische Verrücktheit (Wahn, unter geheimen Einflüssen zu stehen, durch feindliche Machinationen beeinträchtigt, magnetisirt zu werden etc.) über. Auch jenes grössere Mass von Selbstbeherr - schung innerhalb der Hypochondrie schwindet oft schon während jeder Exacer - bation; könnten die Aerzte diese Paroxismen so frei beobachten, wie man diess bei den schweren Fällen in den Irrenanstalten zu jeder Zeit thun kann, so würde ihnen jeder Zweifel über die psychisch-krankhafte Natur der Hypochondrie schwinden.

§. 93.

Ausser diesen psychischen Störungen und den angegebenen Em - pfindungs-Anomalieen können bei den Hypochondern die mannigfal - tigsten Krankheitssymptome in allen Organen vorkommen, und es ist jene alte Vergleichung der Hypochondrie, als einer chronischen, das159der Hypochondrie.ganze Nervensystem betreffenden Störung mit dem Fieber als dem allgemeinsten acuten Krankheitszustand (Hoffmann) nicht unpassend. Namentlich häufig leidet die Verdauung, die Zunge wird belegt, der Appetit übermässig oder vermindert, der Stuhl angehalten und die Verdauung ist oft von stärkerer Gasentwickelung begleitet, wodurch Spannung in den Hypochondrien, und mit dem Heraufdrängen des Zwerchfells Beengung entsteht. Hämorrhoiden sind häufig, ebenso Abdominalpulsation, Herzklopfen, Kopfcongestionen, Kopfschmerz, un - ruhiger Schlaf, zuweilen Steigerung, öfter bedeutende Verminderung des Geschlechtstriebs; sehr häufig ist eine schleimige Expectoration aus dem Larynx und Schlund. In vielen Fällen lässt es sich nicht entscheiden, ob und in wie weit die höchst verschiedenen Symptome solchen primären Störungen der Eingeweide angehören, unter deren Einfluss sich die Hypochondrie gebildet hat, in wie weit sie dagegen centralen Ursprungs im Nervensysteme sind. Immer hat der Arzt eine genaue Untersuchung aller zugänglichen Organe vorzunehmen; nicht selten stellen sich erst im Verlauf der Krankheit allmählig er - kennbare Erkrankungen eines Eingeweides heraus, die sich schon in ihren dunkeln Anfängen als Ursachen zu der Hypochondrie verhalten haben mögen.

Die Hypochondrie entsteht nemlich offenbar auf zweierlei Wegen. Einmal als secundäre Cerebrospinalirritation, in Folge von inneren, aber allerdings oft leichten Erkrankungen (des Darms, der Leber, der Genitalien; vielleicht der Nieren), die mehr ein intensives Krank - heitsgefühl, als localisirte Schmerzen setzen; namentlich ist hier genaue Aufmerksamkeit auf die Zustände des Uro-Genitalsystems zu empfehlen, um so mehr, je häufiger hier vorhandene Störungen über - sehen werden und je schädlicher solchen Kranken, die freilich oft dabei an angehaltenem Stuhle leiden, die gebräuchliche Behandlungs - weise mit reichlichen Abführmitteln ist.

Andrerseits kann die Hypochondrie unzweifelhaft auf direct psy - chischem Wege entstehen, indem durch äussere Veranlassung das Vorstellen anhaltend auf den eigenen Gesundheitszustand im Allge - meinen oder speciell auf einzelne Organe determinirt wird und dadurch erst krankhafte Empfindungen geweckt werden. Solches beobachtet man beim Lesen medicinischer Bücher, beim steten Um - gang mit Hypochondristen, in Zeiten grosser Epidemieen, wie der Cholera etc. Diese Fälle sind indessen die leichteren, und auch selten gegen die, sehr frequente Entstehung der Hypochondrie aus indirecten psychischen Anlässen, so nemlich, dass depresive Affecte,160Verlauf und Ausgänge der Hypochondrie.übertriebene geistige Anstrengung etc. erst Störungen der Verdauung, der Circulation, der Secretionen hervorrufen, welche zur Quelle der Krankheitsgefühle werden.

Hypochondrische Zustände kommen fast niemals in der Kindheit, zuweilen aber schon in der Pubertäts-Periode vor. Sie sind bei Männern häufiger als bei Weibern; doch kann man auch bei letzterem Geschlecht nicht selten characteristische und weit gediehene Fälle beobachten. Der Verlauf ist im Allgemeinen sehr langwierig; doch kommen Remissionen vor. Wir haben die Hypochondrie, wie die intermittirende Manie, in fast regelmässigen Zeitepochen mit mehr - jährigen freien Zwischenräumen auftreten sehen. Ein andermal haben wir in einem schweren Fall (weiblichen Geschlechts) eine fast voll - ständige Remission mit dem Eintritt einer spontanen heftigen, mit Reissen in der ganzen Wirbelsäule verbundenen Diarrhoe beobachtet.

Während des sehr chronischen Verlaufs der Hypochondrie kann die Ernährung und das Aussehen des Kranken oft lange gut bleiben; mit der Ausbildung einer organischen Erkrankung der Eingeweide tritt der Kranke in eine Periode eines meist längeren, körperlichen Siech - thums (mit Abmagerung, Verfärbung der Haut, grösserer Schwäche etc.), und erliegt am Ende der Degeneration eines innern Organs. Zuweilen stellen sich auch apoplectische, paralytische Zustände ein, oder es bildet sich allmählig eine andere Form von Irresein, namentlich Ver - rücktheit mit dem Character der Depression, aus.

Die Genesung kommt nicht ganz selten auf psychischem Wege zu Stande, aber auch durch Beseitigung körperlicher Ursachen; auch mit dem Auftreten von Gichtanfällen und Wechselfieber hat man ein Aufhören der hypochondrischen Verstimmung beobachtet.

Beispiele einfacherer nnd complicirter Fälle von Hypochondrie von verschiedener Entstehung, Aeusserungsweise und Ausgängen.

I) Einfachster Fall von Hypochondrie mit (psychischer) Heilung. Mlle. H., 21 Jahre alt, von sehr starker Constitution, regelmässig, aber sparsam menstruirt, an habitueller Obstipation leidend, verliert auf einmal ihre gewöhnliche Heiterkeit, und zieht sich in völlige Einsamkeit zurück. Umsonst wird sie um die Ursachen gefragt ein ganzes Jahr lang. Endlich gesteht die Kranke von selbst unter Erröthen ihrem Arzte den Grund ihrer Traurigkeit; sie hat in der rechten Hüfte beständig eine lästige Empfindung, auf welche ihre Gedanken anhaltend gerichtet sind. In dieser Gegend findet sich bei der Untersuchung Nichts; die Kranke äussert, unter vielen Thränen, bald werde sie sterben, sie fühle mit Bestimmtheit wie ihre Eingeweide durch die halboffene Bauchdecke heraustreten wollen. Der Arzt bekämpft diese Idee nicht direct, er erklärt, die Muskulatur sei hier allerdings etwas gewichen, diess sei nichts seltenes, und es genüge161Beispiele von Hypochondrie.völlig, die Schwäche der Bauchdecken durch einen passenden Gürtel zu unter - stützen. Mit dem Tragen dieses Gürtels verschwanden alle diese Beängstigungen, und merkwürdigerweise zugleich die Verstopfung, die lange hartnäckig bestan - den hatte.

(Bulletin de Thérapeutique. 1842. p. 201 seqq.)

II. Nervöses Temperament. Hepatitis. Hypochondrie. Tod. Hr. M. war von erregbarem, nervösem Temperament. Gutmüthig, lebhaft, von reg - samer Phantasie, betrieb er eifrig seine Handelsgeschäfte. Er heirathete im 31ten Jahre: Alles war ihm bisher förderlich und glücklich gegangen; Schmerz - liches hatte er bald mit Kraft und Muth ertragen, bald aber hatten ihn auch Kleinigkeiten lebhaft afficirt und er konnte dann des Geringsten nicht los werden.

Ein Jahr nach seiner Heirath ward er von einer heftigen acuten Leberent - zündung befallen. Die Leber ragte 4 Querfinger unter den falschen Rippen vor (18 Blutegel ad anum). Die Entzündung zertheilte sich, aber mit Abnehmen der Lebergeschwulst wuchs die Empfindlichkeit des Kranken, ein Nichts brachte ihn in Ungeduld und Alles war ihm nur ein Gegenstand der Unruhe und des Leidens. Finstere Besorgnisse über seine Krankheit, Vorstellungen von Obstructionen und Krebs und einer Zukunft voll Leiden nahmen ihn ein. Dennoch war die Gene - sung vollständig, nur eine grosse nervöse Empfindlichkeit, ein Hang zur Ueber - treibung und zu Veränderlichkeit der Stimmung blieb zurück; Heiterkeit wech - selte mit Zorn und Aerger ohne Motive. Der Einfluss der Temperatur schien bedeutend; in den düstern Stimmungen hatte er Schmerzen in fast allen Theilen des Körpers, je nachdem er seine Aufmerksamkeit dahinrichtete, im rechten Hypochondrium war ein fast permanenter Schmerz, die Verdauung wurde oft gestört und es zeigte sich Pulsation im Epigastrium; dann glaubte er sich von einer tödtlichen Gastritis befallen. Ein Kitzel im Schlund mit trockenem Hüsteln oder dem Aufräuspern von etwas Schleim erweckte ihm den Gedanken an Lungen - schwindsucht, und veranlasste ihn,[medicinische] Schriften zu lesen, und er fühlte sich nun von jeder Krankheit befallen, über welche er las. Dennoch liess er sich nicht selten von der Ungegründetheit seiner Ansichten überzeugen und hatte oft Monate lang Zeiten grösserer Ruhe.

Im J. 1831 überstand der Kranke ein schweres Schleimfieber mit grosser nervöser Aufregung und heftigen Schmerzen in der rechten Schulter; schon genesen gab er stärkere und häufigere Schmerzen an. Darauf Badecuren und Reisen. Einige Besserung, von neuen Leiden und Befürchtungen stets unter - brochen; die Abmagerung nahm zu.

Schmerzen in der Lendengegend, Brennen in der Urethra und Blase erweckte ihm die Idee eines Blasencatarrhs oder Blasensteins; in der That wurden griesige Concremente entleert. Von jetzt an beruhigte sich seine Phantasie nicht mehr. Stets beschäftigt mit seinen Leiden, steigerte er sie durch Aufmerksamkeit und Analyse; seine Stimmung wurde immer reizbarer, er war fast keinen Augenblick ruhig, bald überliess er sich einer Art von Wuth und Verzweiflung, bald gab er sich finsterer Niedergeschlagenheit hin, und malte sich sein nahes Ende durch eine der 5 Krankheiten, die er abwechselnd zu haben meinte, aus. Sein Cha - racter wurde bizarr und phantastisch, Nichts behagte ihm, Alles empörte ihn, die eifrigste Pflege nahm er übel auf und konnte dann wieder sein Unglück be - weinen, also zu sein; er bat dann seine Frau um Verzeihung für sein Unrecht,Griesinger, psych. Krankhtn. 11162Beispiele vonschloss, dass sie ihn nicht mehr lieben könne und zog neuen Kummer aus diesem Gedanken.

Nun zog er sich von seinen Geschäften zurück. In steter Beobachtung seiner Leiden steigerte er die nervöse Reizbarkeit, durch die sie entstanden, immer höher. Er consultirte alle Aerzte, deren er habhaft werden konnte, der Wunsch, zu genesen machte, dass er begierig nach jeder Verordnung griff, die bald er - kannte Wirkungslosigheit der Mittel erregte ihm neuen Schmerz, mit dem Schwin - den solcher Hoffnungen, mit diesen Täuschungen seiner Einbildungskraft stei - gerte sich die nervöse Exaltation, und Kräfte und Ernährung nahmen ab. Von einem neuen Schleimfieber, dass ihn A. 1834 befiel und während dessen seine Stimmung unerträglich war, erholte er sich ohne Besscrung des nervösen Lei - dens. Von allen seinen Ideen grausam gequält, setzte er sich ernsthaft in den Kopf, einen Blasenstein zu haben, und vergeblich waren die Demonstrationen des Gegentheils. Er blieb dabei und liess einen berühmten Lithotriteur aus Paris kommen; mehre Untersuchungen brachten die heftigste Reizung der Urethra, mit starker Entzündung hervor, und Hr. M. starb nach wenigen Tagen. Die Section wurde nicht gemacht.

(Brachet, de l’hypochondrie, Par. 1844. p. 29 seqq.)

III. Zerrüttung der Constitution und Hypochondrie aus psychi - schen Ursachen. Heilung durch Befriedigung einer Leidenschaft. Frau ***, 26 Jahre alt, physisch und psychisch von gleich lebhafter Empfindung, war Mutter von 3 Kindern. Ihre Gesundheit war gut, als die Bemühungen und Aufmerksamkeiten eines Hausfreundes Zugang zu ihrem Herzen fanden. Von dem Gedanken an ihre Pflichten erfüllt, leistete sie der Verführung Widerstand und hielt das Geheimniss einer heftigen Neigung tief in sich verborgen. Dieser Zwang störte allmählig ihre Gesundheit; sie fieng an, an Herzklopfen, einer Empfindung von Völle der Brust und unbestimmten krankhaften Erschei - nungen zu leiden. Der Appetit verlor sich, die Magengegend ward empfindlich und es zeigten sich Stiche auf der Brust. Zu diesen wirklichen Empfin - dungen gesellten sich die sonderbarsten und traurigsten Vorstellungen über ihre Gesundheit. Sie glaubte bald an einem Aneurisma, bald einem Magen - krebse, bald, und am häufigsten, an Lungenschwindsucht zu leiden. In der That stellten sieh Beengung, Husten mit reichlichem Auswurf, beständigen Fieber - bewegungen, nächtlichem Schweisse ein; die Aerzte glaubten an Tuberculose und schickten die Kranke nach dem Süden. Auf dieser Reise consultirte sie mich; ich fand ihren physischen Zustand ebenso tief heruntergekommen, als ihre Ein - bildungskraft ernstlich erkrankt. Ihre Leidon waren, nach ihrer Angabe, fürch - terlich; spitzige, rothglühende Eisen drangen ihr ins Fleisch, eine Faser um die andere wurde wie mit Zangen zerrissen, während die Kranke auf der andern Seite über die Brustorgane selbst nur wenig klagte. Nach einem sechsmonat - lichen Aufenthalte im südlichen Frankreich war sie weder körperlich noch geistig gebessert. Die Lungenaffection schien nicht vorgeschritten zu sein, aber ihre Stimmung und Phantasie war noch weit mehr verdüstert; sie zeigte noch weit grössere Neigung, Alles in schlimmem Sinne auszulegen, und bei ihrer Rückkehr nach Paris verschimmerte sich ihr Zustand noch mehr. Dort sieht sie den Gegenstand ihrer Neigung wieder sie unterliegt, verlässt ihre Familie und entflieht mit ihrem Verführer.

163Hypochondrie.

Sechs Monate darauf sah ich sie wieder. Sie war nicht mehr zu erkennen. Schönheit, Jugendfrische und Fülle waren an die Stelle eines dem Marasmus nahen Zustandes getreten, weder Husten, noch Auswurf, noch Herzklopfen, noch Magenleiden, noch Schmerzen, noch eingebildete Krankheiten waren mehr vor - handen. Die Befriedigung der Leidenschaft hatte die Gesundheit hergestellt und die schwarzen Gedanken der Hypochondrie zerstreut.

(Brachet, traité de l’hypochondrie. Par. 1844. p. 69 seqq.)

IV. Hypochondrisches Irresein auf psychischem Wege entstan - den, und durch Aberglauben genährt. Heilung auf psychischem Wege. A. M. Kraft, eine fleissige und thätige, aber sehr einfältige Frau, beschädigte sich durch einen Fall den Arm; ein consultirter Hirte erklärte: die Adern des Arms seien zu sehr in Unordnung gerathen, als dass er sie gänzlich heilen könne; als nun auch die Hülfe eines Arztes fruchtlos blieb, kam die Kranke auf die Idee, es möchte ihr im Arm eine Ader gebrochen sein und sie würde wegen der ihr nun fehlenden Ader nie wieder etwas verrichten können.

Dieser traurige Gedanke verfolgte sie beständig; in der unglücklichsten Stimmung klagte sie ihren Freunden ihr Schicksal, man gab ihr den Rath, auf die Stelle, wo die Ader gelitten habe, einen Froschschenkel zu legen und diesen später in den Strom zu werfen. Als sie aber diess gethan, spürte sie von der Stunde an das Rauschen des Stroms im Kopfe. Ihre traurige und missmuthige Stimmung erreichte jetzt den höchsten Grad; sie glaubte, alle ihre Leiden seien eine Strafe Gottes, weil sie in ihrer Kindheit nicht genug gebetet habe, und verfluchte ihren Vater, dass er sie nicht genug und strenger dazu angehalten habe; um aber ihren Fehler gut zu machen, betete sie Tag und Nacht.

Ihr 23jähriger Sohn, ein Leser ascetischer Schriften und von musterhaftem Lebenswandel, unterstützte und pflegte seine Mutter so eifrig, dass seine Freunde, um seine eigene Gesundheit besorgt, ihn zur Erholung in heitere Gesellschaft zu bringen suchten. Aeusserst schüchtern, wurde er daselbst von einem mun - tern Mädchen mit Gewalt am Arme gefasst, um ihn zum Sitzen zu nöthigen. Der Arm schmerzte ihn, als er nach Hause kam, und die Mutter brachte ihm unter Wehklagen den Gedanken bei, es werde ihm gegangen sein wie ihr, auch er werde eine Ader zerbrochen haben. Wirklich war am andern Morgen der Schmerz viel stärker, der jnnge Mann glaubte den Arm weniger gebrauchen zu können; diess ward von Tag zu Tag schlimmer, er hörte auf zu arbeiten und versicherte, es müsse ihm eine Ader im Arme fehlen; denn es sei ihm unmög - lich, das Geringste damit zu verrichten. Das ganze Geschäft von Mutter und Sohn bestand nun in Beten.

Bei fortdauerndem Grübeln über seinen Zustand fiel letzterem ein, wegen des Zusammenhangs der Adern beider Arme, werde wohl auch der andere Arm mit - leiden augenblicklich konnte er nun auch diesen Arm nicht mehr bewegen, und innerhalb eines Jahrs verfiel er nun in solche Apathie, dass man ihn an - und auskleiden und füttern musste. Auch bei der Mutter steigerte sich der Zustand von Melancholie mit religiösen Ideen, sie glaubte, so oft sie Feuer anzünde, zünde sie sich selbst die Hölle an etc., und ihr Missmuth nahm so überhand, dass sie sich das Leben nehmen wollte. Der Sohn liess sich von dem Vorsatze, zu verhungern, nur durch Zuspruch eines Geistlichen abbringen.

Ich fand beide Leute bei ihrem einzigen Geschäfte, dem Beten; der junge11 *164Beispiele hypochondrischenMensch hielt beide Arme mit steif gestreckten Händen und Fingern gerade herab und von einander. Er klagte, dass er mir seine Hand nicht geben könne, weil ihm eine Ader am Arme fehle. Er gab nun die Stelle näher an, und nach ge - nauer Untersuchung sagte ich ihm, dass allerdings daselbst eine Ader fehle, gab ihm aber das zuversichtliche Versprechen, ihm zu helfen.

Ich lief nun mit den Fingern mehremale in der angegebenen Richtung schnell auf und ab, hielt an dem langen Nagel des Daumens plötzlich stille und schnitt in Eile den Nagel mit einer Portion Fleisch ab, so dass es blutete, und fieng nun an mit beiden Händen den Arm heftig zu streichen, indem ich laut rief: Mit Gottes Hülfe, es ist gelungen, die Ader ist wieder da! Zu seiner Ueber - zeugung, dass die Ader schon in Thätigkeit sei, wurde ihm das fliessende Blut gezeigt. Er musste sogleich einige Bewegungen machen.

Da aber seine Mutter einwendete, die Heilung ihres Sohnes sei noch nicht möglich, da er noch das Zeichen der Verdammniss trage (nämlich schwarzen Schmutz auf der Brust), so wurde dieser alsbald abgerieben und die Haut ge - reinigt. Der Sohn gab jetzt, nach weiterem religiösen Zuspruch, den Umste - henden die Hände, kleidete sich selbst aus und an und fieng am folgenden Tage mit Korndreschen seine Arbeit wieder an. Auch die Mutter, als sie sich von dem wirklichen Bestand der Heilung überzeugte, fieng wieder an in alter Weise fleissig zu sein, und beide sind körperlich und geistig genesen.

(Berlyn, in Nasse, Zeitschrift für psych. Aerzte. II. 1819. p. 363 seqq.)

V. Herzkrankheit. Hypochondrisches Irresein. Mehre fingirte Operationen ohne entscheidenden Erfolg. Fieberhafter Zustand. Hei - lung. Rückfall. Lucie M., 50 Jahre alt, ohne erbliche Disposition zum Irresein, im 14ten Jahre chlorotisch, im 22ten Jahr verheirathet (2 Abortus und 8 regelmässige Geburten); während der zweiten Schwangerschaft heftige Kopfschmerzen mit Schwindel und Delirien, die erst mit der Geburt ganz aufhören; seit 20 Mo - naten nicht mehr menstruirt. Im Decbr. 1839 wird sie von allgemeinem Uebel - befinden befallen, mit Stichen in der Magengegend, Klopfen im ganzen Körper und Nervenzufällen. Während ihres Aufenthalts im Hospital erinnerte sich die Kranke plötzlich, aus einem Brunnen getrunken zu haben, in dem 3 Spinnen waren. Von dort an ist sie überzeugt, diese verschluckt zu haben, und sie ver - fällt in die heftigste Agitation, wesshalb sie am 11. Febr. 1840 in die Irren - anstalt von Tours gebracht wird.

Sie gibt Formication und Beissen in allen Theilen an, Stiche und Klopfen in der Brust, dem Magen und Unterleib, den Gliedern; Ohrensausen, Schlaf - losigkeit, Schwindel, sonderbare Träume. Ihr Gedankengang ist geordnet, ihre Antworten richtig; sobald sie sich aber dem Gegenstand ihres Delirium über - lässt, wird sie aufgeregt, und spricht dann nicht nur von Spinnen, welche sie innerlich verzehren, sondern vom Teufel, von Schlangen und Thieren aller Art, welche an ihr nagen. Leichte Hypertrophie des Herzens mit Blasen beim ersten Ton; harter Puls (calmirende Mittel, Digitalis). Beständige Unruhe und Ver - zweiflung an der Möglichkeit der Heilung (Gummigutt). In die dadurch erregten Stühle werden heimlich 3 Spinnen gebracht, welche die Kranke selbst entdeckt, aber sogleich einwendet, diess seien die Alten, sie haben aber Junge zurück - gelassen, welche sie im Bauche fühle. Derselbe Kunstgriff wurde zweimal wieder - holt, aber die Kranke versicherte, die Spinnen vermehren sich unaufhörlich, sie165Irreseins.seien jetzt vom Kopf bis zu den Füssen in ihr. Jeder Versuch, sie von dem Ungrund des Wahns zu überzeugen, wird mit Schelten und Drohungen erwiedert.

Nun wird ihr der Vorschlag einer Operation gemacht, durch welche alle Spinnen unfehlbar entfernt werden müssen. Sie nimmt ihn mit Freuden an, seufzt nach der Stunde der Operation und spricht von ihrer Heilung mit Hoffnung und Ver - trauen. Die Operation wird mit einiger Feierlichkeit, um auf die Phantasie der Kranken einen Eindruck zu machen, in Gegenwart vieler Aerzte vorgenommen, und besteht in einer leichten Incision in die Haut des Rückens; man lässt einige in Bereitschaft gehaltene Spinnen über das Bett laufen und gibt an, solche aus - gezogen zu haben; sie sagt, sie fühle das Ausziehen wohl und freut sich sehr über dieses Resultat. Diese kleinen Einschnitte werden nun sehr häufig in allen Gegenden des Körpers wiederholt; während dieses Zeitraums bekommt die Kranke ein intermittirendes Fieber (Chinin, Antispasmodica), ist immer sehr aufgeregt, fühlt unerträgliche Schmerzen im ganzen Körper, verfolgt den Arzt mit steten Bitten neuer Operationen; einmal stürzt sie sich, ohne Schaden zu nehmen, zum Fenster hinaus, ein anderesmal machte sie Strangulationsversuche. Endlich wird ihr erklärt, dass jetzt keine Spinnen mehr vorhanden seien, und um sie davon zu überzeugen, werden zwei neue Incisionen, die Schlundsonde und Laxanzen angewandt. Am 9. September noch wollte sie aus der Anwesenheit der Spinnen mehre physiologische Phänomene, das Heben und Sinken des Larynx, den Arte - rienschlag etc. erklären, liess sich aber alsbald überzeugen, dass diese Erschei - nungen bei allen Menschen vorkommen. Nun trat ein fieberhafter Zustand ein mit Kopfschmerzen und Ohrensausen, und am 18. September waren alle Symptome verschwunden. Die Kranke ist völlig ruhig, heiter, dankbar, und wird in der Küche beschäftigt. Die unvorsichtig gegebene Nachricht vom Tode ihres Mannes betrübt sie sehr, stört aber ihre geistige Gesundheit in keiner Weise. Allein in dem nächsten, sehr harten Winter, in den dürftigsten Umständen lebend, mit Kälte und Nahrungssorgen kämpfend, erlitt sie einen Rückfall, mit heftigen Palpitationen, Agitation, Tobsucht und Selbstmordversuchen. Die Kranke wurde nun nicht mehr nach ihren Wahnideen behandelt, sondern genas allmählig unter einsamer Pflege, Begiessungen, Douchen, narcotischen und auf den Darm ablei - tenden Mitteln.

(Charcellay, annales médieo-psychologiques. II. 1843. p. 485 seqq.)

Zweites Capitel. Die Melancholie im engern Sinne.

§. 94.

Anomalieen der Selbst-Empfindung, der Triebe und des Wollens. Nachdem in manchen Fällen längere oder kürzere Zeit ein Zustand geistigen und körperlichen unbestimmten Uebel - befindens, oft mit hypochondrischer Verstimmung, mit Niedergeschla - genheit und Unruhe, manchmal mit Empfindung der Gefahr, irre zu werden, vorausgegangen ist, wird immer mehr ein psychisch-schmerz -166Symptomatologie der Schwermuth.hafter Zustand herrschend, welcher an sich andauert, aber noch durch jeden psychischen Eindruck von aussen verstärkt wird. Diess ist die wesentliche Seelenstörung in der Melancholie, und dieses psychische Wehethun besteht für die Kranken selbst in einem Gefühl von tiefem geistigem Unwohlsein, von Unfähigkeit zum Handeln, von Unter - drückung aller Kraft, von Niedergeschlagenheit und Traurigkeit, in einer totalen Herabstimmung des Selbstgefühls. Sobald dieser Zu - stand des Sensoriums einen gewissen Grad erreicht hat, ergeben sich aus ihm die wichtigsten und ausgedehntesten Folgen für das ganze Verhalten des Kranken.

Die Stimmung nimmt einen durchaus negativen Character (des Verabscheuens) an. Indem jeder, auch der leichteste und früher adäquateste Eindruck Schmerz erregt, können sich die Kranken über Nichts, auch das Angenehmste nicht mehr freuen, sondern werden von Allem unangenehm afficirt, und finden in allem Aeusseren stets neue Motive des Schmerzes. Alles ist ihnen widerwärtig geworden, sie zeigen sich reizbar, ärgerlich, verstimmt durch jede Kleinigkeit, und reagiren dagegen entweder mit steten Aeusserungen der Un - zufriedenheit, oder, und diess ist der häufigere Fall, sie suchen jedem psychischen Eindrucke von Aussen zu entgehen, indem sie sich scheu aus der Gesellschaft der Menschen zurückziehen, und völlig geschäftlos und müssig die Einsamkeit aufsuchen. Die Stim - mung des allgemeinen Widerwillens und Negirens spricht sich meistens zunächst aus als Abneigung gegen die Umgebung, gegen Familie, Freunde, Angehörige, welche oft zu wahrem Hasse sich steigert, als eine totale, unangenehme Veränderung des Charakters.

Ein solcher, aber ganz chronischer Zustand habitueller Gemüths - verstimmung und übler Laune mit Hang zu allgemeiner Negation, Arg - wohn etc. findet sich nicht ganz selten unter den scheinbar Gesunden (namentlich weiblichen Geschlechts) und wird sehr selten als ein krank - hafter erkannt, obwohl er sich von anderweitig entstandenen üblen Cha - ractereigenschaften des Gesunden durch die nicht seltene Entstehung aus nachzuweisenden Krankheiten, durch mannigfache psychisch nicht begründete Remissionen und durch ein dem Kranken selbst zuweilen sich aufdrängendes Gefühl, wider besseres Wissen und Wollen feind - lich, negativ sich verhalten zu müssen und zu der bleibenden Miss - stimmung eigentlich nicht berechtigt zu sein, unterscheidet.

Nicht selten findet sich in der einfachen Melancholie ein Zu - stand des Sensoriums, durchaus analog dem bei der Hypochondrie geschilderten (p. 157), wobei die Gegenstände der Aussenwelt,167Gemüths-Störungen.sofern sie durch die Sinneseindrücke zum Bewusstsein kommen, zwar richtig aufgefasst und unterschieden werden, aber einen von dem sonst gewohnten wesentlich anderen Eindruck hervorbringen, von dem nur verständigere und gebildetere Kranke Rechenschaft geben. Es scheint freilich, sagen solche Melancholische, dass Alles um mich noch ebenso ist, wie früher, aber es muss doch auch anders geworden sein; es hat noch die alten Formen, es sieht wohl Alles noch eben so aus, aber es ist doch wieder mit Allem eine grosse Veränderung vor sich gegangen etc. Diese Verwechslung des subjectiv verän - derten Verhältnisses des Kranken zur Welt mit deren objectivem Anderssein ist der Anfang eines Traumzustandes, in dessen höchsten Graden es dem Kranken zu Muthe ist, als sei die reale Welt ganz versunken, untergegangen oder ausgestorben und nur eine Schein - und Schattenwelt übrig geblieben, in der er zur eigenen Qual fort - zuexistiren habe.

Im Anfange fühlt der Kranke sehr wohl die Veränderung seines psychischen Seins, aller seiner Neigungen und Affecte; er sucht sie zuweilen noch zu verbergen und die Fragen über den Grund seines sonderbaren Verhaltens ermüden und ärgern ihn dann. Er fühlt, wie sein früherer Antheil an dem sonst Werthen und Hochgehaltenen in Gleichgültigkeit und tiefer Abneigung allmählig untergeht, er klagt selbst über die Unnatürlichkeit und Verkehrtheit seiner Empfindungen und wenn sein Pessimismus sich an den Aussendingen im Aufsuchen schlimmer Seiten erschöpft hat, wird ihm das eben zum Gegenstand neuer Schmerzen und Klagen, dass er sich über Nichts mehr freuen kann, sondern Alles negiren muss. Die ungewohnten Eindrücke von der Anssenwelt erregen ihm Staunen, Kummer, Entsetzen; er fühlt sich herausgetreten aus der früheren Gemeinschaft mit den Menschen, und diess Gefühl der Isolirtheit und der exceptionellen Stellung, in der er sich befindet, begünstigt einerseits noch die Beschränkung aller Ideen auf die Verhältnisse der eigenen Person und die Be - ziehung von Allem auf sich, andererseits geht aus diesem Gefühle der Isolation Misstrauen gegen Alles, Argwohn, Angst und Besorgniss vor allen möglichen Unfällen, zuweilen eine feindliche, angreifende Stimmung gegen die Welt, häufiger ein wehrloses, ohnmächtiges Zu - rückziehen und Versinken in sich selbst hervor.

Die Empfindung der veränderten eigenen Persönlichkeit, das Dunkle und Unklare der unbestimmten Gefühlsbelästigung ist Anfangs für den Kranken das Drückendste. Wohl steht er zuweilen im Be - ginn durch das Geständniss, dass seine Furcht absurd, dass einzelne168Symptomatologie der Schwermuth.ängstliche Vorstellungen, die sich aufdringen, falsch seien, eben mit dem Bewusstsein seines Zustandes innerlich über demselben; aber da er fühlt, wie es ihm unmöglich ist, anders zu fühlen, zu denken, zu handeln, wie er des Widerstandes unfähig und dieser unnütz ist, so erhält er von dieser Ueberwältigung des Ich (§. 26.) die Em - pfindung des Beherrschtwerdens, des widerstandlosen Hingegebenseins an fremdartige Einflüsse, dem später die Vorstellungen des Heimfalls an finstre Mächte, einer geheimen Leitung der Gedanken, des Be - sessenseins etc. entsprechen.

Die Hemmung der Strebung, welche mit zur Grundstörung der Melancholie gehört, äussert sich als Unthätigkeit, Verlassen jeden Geschäfts, stetem Zweifel und Schwanken, Unentschlossenheit, Willen - losigkeit. In den höheren Graden spricht sich diess als eine wahre Erstarrung und Stumpfheit, indem kein Eindruck mehr Willensreaction hervorruft, in den mässigeren Graden als Langsamkeit, Einförmigkeit, Zaudern in Bewegung und Handlung, Gefühl von Unfähigkeit zur kleinsten geistigen Arbeit, sobald sie wirklich nach aussen treten soll, Liegenbleiben im Bette etc. aus.

Häufig sind Gefühle von Beängstigung, welche oft vom Epigastrium, und der Herzgegend auszugehen und nach oben zu steigen scheinen. Hier , so sagen viele dieser Kranken und deuten dabei auf die Magen - grube, hier sitzt es wie ein Stein, wäre es doch hier weg! etc. Diese Angstgefühle steigern sich mitunter zu einem unerträglichen Zu - stand, einer Verzweiflung, welche dann meistens in Tobsucht-Aus - brüche übergeht. Ausserdem erscheinen diese Zustände äusserlich in mannigfacher Gestalt je nach dem früheren Character des Kranken, nach den psychischen Ursachen, nach begleitenden körperlichen Ano - malieen etc., bald unter der Mimik des Grams und Kummers, als stummer Trübsinn, in sich gekehrtes, finstres, passives, verschlossenes Wesen, bald als laute Selbstanklage, mit Weinen, Händeringen und höchster Unruhe, bald als krankhafter Eigensinn und hartnäckige Wider - spenstigkeit, bald als gegen sich selbst gerichteter Zerstörungstrieb.

Einmal äussert sich der Melancholische mit Allem unzufrieden, findet Alles schlecht und mangelhaft, dann ist ihm wieder alles Aeussere gleichgültig, da er von seinem Gefühle des eigenen Unglücks und Leidens ganz in Anspruch genommen ist, oder er äussert wohl auch, dass für ihn Alles zu gut sei und dass einem so schlechten Ge - schöpfe, wie er es sei, nicht verächtlich und geringschätzend genug begegnet werden könne.

Alle diese Veränderungen in der Stimmung der Melancholischen169Verstandes-Störungen.sind im ersten Anfang meist objectlos und beruhen nicht auf einzelnen bestimmten irrigen Vorstellungen, daher ist der Kranke im Beginn auch nicht fähig, Rechenschaft üher den Grund seines Affects zu geben. Ich fürchte mich. Warum? Ich weiss es nicht, aber ich fürchte mich. (Esquirol), so sprechen solche Kranke, und es lässt sich damit gleich erwaretn, was die Beobachtung vollkommen bestätigt, wie Zuspruch, Zärtlichkeit, Raisonnement keinen Einfluss auf den durch die Gehirnkrankheit gesetzten depressiven Affect haben können und wie die Vorstellungen, welche aus diesen Affecten heraus entstehen, eine innere subjective Begründung und damit einen Character von Unwiderleglichkeit haben müssen, der sie für Vernunft - gründe unzugänglich macht und höchstens den Wechsel einer trau - rigen Vorstellung mit einer andern gestattet.

§. 95.

Anomalieen des Vorstellens. Die schmerzliche Concentration unterdrückt die Lebhaftigkeit und den gesunden Wechsel des Vor - stellens. Wenige Gedanken beschäftigen den Kranken anhaltend, und er äussert fast nur monotone Klagen über sich selbst, die mit ihm vorgegangene Veränderung, über einzelne Ereignisse aus der Zeit der beginnenden Erkrankung etc. Die Neigung zu geistiger Mittheilung ist meist sehr vermindert; der Kranke verstummt oft vollständig oder seine Rede wird schüchtern, stockend, leise, abgebrochen. Ein von uns beobachteter Melancholischer brachte mehre Jahre in absolutem Stillschweigen zu und äusserte die herrschende Stimmung nur in seiner Angst und Trauer ausdrückenden Physionomie und in zeitweisem heftigen Weinen und Händeringen. In andern Fällen geht Wehklagen, Stöhnen, Bitten, Flehen in lautem, ununterbrochenem Strome, aber stets desselben Inhalts fort.

Neben dieser formalen Störung treten nun der Stimmung ent - sprechende falsche Gedankeninhalte und Urtheile auf. Der Kranke fühlt sich z. B. in einem Zustande von Seelenangst, wie ihn der Verbrecher nach einer schweren That empfinden muss, es ist ihm zu Muthe, wie wenn er selbst ein Verbrechen begangen hätte und er kann dieses Gedankens nicht mehr Herr werden. Da er aber in seiner Erinnerung kein wirkliches Verbrechen findet, so hält er sich an irgend ein unbedeutendes Ereigniss, wo er einen kleinen Fehler, eine kleine Unvorsichtigkeit begangen oder auch nicht einmal be - gangen hat, und macht so irgend welchen Vorfall zum Mittelpunkt des Deliriums, indem er in ihm allen Grund seines jetzigen Zustandes170Symptomatologie der Schwermuth.und fernerer Befürchtungen findet. Oder er fühlt sich ruhelos, von unbestimmter Qual herumgetrieben, es ist ihm, wie einem von Feinden Verfolgten; bald hält er sich wirklich für verfolgt, von Feinden, ge - heimen Complotten, Spionen umgeben, und da er Alles auf sich bezieht, findet diess Delirium in jedem geringfügigen Umstande Nahrung.

Oder der Kranke, der früher religiöse Vorstellungen nährte, fühlt, wie auch zu diesem Kreise von Anschauungen sein ganzes Verhalten sich geändert hat, wie ihm der Zustand von Angst und Unruhe jede Gemüthssammlung unmöglich macht, wie er daher nicht mehr beten kann oder wenn er es versucht, auch hier von finstern, negativen Vorstellungen belästigt wird, wie er von der Kirche so gut als von allem Uebrigen nur widrige Eindrücke erhält; so erscheint er sich in seiner Ausnahmsstellung als ein Verworfener, unmittelbar von Gott Verstossener, dem Teufel und der ewigen Verdammniss Uebergebener und bald erheben sich die Vorstellungen eigener Verschuldung, viel - facher Sünden, vernachlässigter Pflichten etc., wo es dann vom Zufalle abhängt, auf welchem Gedanken gerade der Kranke ruhen bleibt, um ihn als halb oder ganz fixirten stets zu wiederholen.

Einen wesentlichen Character haben eben alle diese melancho - lischen Delirien, den der Passivität, des Leidens, des Beherrscht - und Ueberwältigtwerdens. Aber man sieht leicht ein, wie mannigfaltig ihr specieller Inhalt nach der Bildungsstufe und dem Character, nach früheren Erlebnissen und nach zufälligen Eindrücken bei den einzelnen Kranken sein muss. Dasselbe Gefühl des Sich-selbst-verlorenhabens, des Hin - gegebenseins an fremdartige, bizarre Empfindungen und Vorstellungen das dem abergläubischen Bauer die Vorstellung des Behextseins er - weckt, kann beim Gebildeteren z. B. die Idee hervorrufen, unter geheimen Einflüssen anderer Menschen, unter Beeinträchtigungen durch Electricität, Magnetismus, Chemie etc. zu leiden. Dem Einen ist es, als seien seine liebsten Güter, Kinder, Verwandte, oder sein Vermögen für ihn zu Grunde gegangen, er glaubt es und fürchtet nun mit seiner ganzen Familie aus vollständigem Mangel verhungern zu müssen. Ein Anderer hält sich für ruinirt in seinen Geschäften, für abgesetzt von seinem Amte, für verwickelt in die schwersten Criminal-Untersuchungen, klagt sich an, seine Familie an den Bettelstab gebracht, dem Elend preisgegeben zu haben etc. Ein Andermal ist es dem Kranken, wenn er so die Umwandlung seiner ganzen Empfindungsweise und die Unmöglichkeit fühlt, das gewohnte Mass humanen Antheils an der Welt und menschlicher Beschäftigung festzuhalten, als könne er selbst gar kein Mensch mehr sein, als müsse er zum Thier geworden, ja in ein171Verstandes-Sinnes-Störungen.Thier verwandelt sein. Wie der Wechsel der Lebens-Anschauungen und der Sitten überhaupt dem Irresein verschiedene Ausdrücke und Färbungen gibt, während die Empfindungsweisen an sich natürlich immer dieselben sind und die allgemeinen Beziehungen der Liebe, der Familien-Anhänglichkeit, der Freundschaft etc. für alle Zeitalter als gleich bedeutende Stoffe der Gemüthsinteressen bestehen bleiben, so hat auch das Delirium der Melancholischen zu verschiedenen Zei - ten verschiedene Ausdrücke gehabt. Es sind aber immer dieselben Grundstörungen der Selbstempfindung, ob der Schwermüthige im Alter - thume die Furcht äusserte, Atlas möchte, seiner Last müde, das Himmelsgewölbe herunter fallen lassen, ob er im Mittelalter mit Hexen, Gespenstern und Wehrwölfen zu thun hatte, ob er in der Gegenwart sich vor der Polizei fürchtet, oder sich mit dem Wahne grosser verunglückter Speculationen und beeinträchtigter Geldinteressen beschäftigen mag.

Die Entstehungsweise dieser Delirien ist also die bereits mehr - fach erwähnte. Der Kranke fühlt seine traurige Verstimmung; er ist gewohnt, dass Traurigkeit nur auf widrige Anlässe in ihm entsteht; das Causalitätsgesetz heischt auch hier Grund und Ursache, und ehe er sich nach solchen ausdrücklich gefragt hat, tauchen schon als Antwort allerlei finstre Gedanken, trübe Ahnungen und Befürchtungen auf, über denen er so lange brütet und grübelt, bis einzelne Vor - stellungen stark und bleibend genug geworden sind, um sich, wenigstens zeitenweise zu fixiren. So haben diese Delirien wieder den wesent - lichen Character von Erklärungsversuchen für den eigenen Zustand.

§. 96.

Anomalieen der Sinnesempfindung und Bewegung be - gleiten häufig diese geistigen Störungen, theils die §. 43 erwähnten Empfindungen von Leerheit, Abgestorbensein des Kopfs, der Glieder, ja des ganzen Körpers, theils widrige Empfindungen auf der ganzen Hautoberfläche, die den Wahn des Electrisirtwerdens erregen, theils Hyperästhesie des Gesichts und Gehörs (Zittern, Zusammenfahren beim kleinsten Geräusche, vielleicht eine Grundlage der sog. Panphobie).

Das eigentliche Irresein der Sinne, die Hallucinationen und Illusionen haben ganz den Character und das Gepräge der schmerz - lichen Gemüthsverstimmung. Der Kranke sieht die Zurüstungen zu seiner Hinrichtung, er hört die Gerichtsdiener, die ihn abholen wollen; er sieht sich von den Flammen der Hölle umgeben; Abgründe schei - nen sich vor seinen Füssen zu öffnen; Gespenster kommen, ihm das172Symptomatologie der Schwermuth.Gericht anzukündigen; Stimmen verfolgen ihn, die ihn verspotten und beschimpfen etc. etc. Eine junge Melancholische, die wir beobach - teten, sah sich aus dem Spiegel einen Schweinskopf entgegenstarren, und glaubte sich von da an eine Zeit lang in ein solches Thier ver - wandelt. Am häufigsten und mannigfaltigsten sind die Hallucinationen in derjenigen schwereren Form der Melancholie, welche mit völliger Insich-versunkenheit und theilweisen Schwinden des Bewusstseins der Aussenwelt verbunden ist (s. unten Melancholie mit Stupor). Auch im Geruchs - und Geschmackssinn kommen Hallucinationen ziemlich häufig vor; die letzteren, namentlich als widrige, metallische Ge - schmäcke liegen oft dem Wahn, vergiftet, oder durch eine gewisse Speise verhext worden zu sein, zu Grunde. Die subjectiven widrigen Gerüche erwecken die Vorstellung, von Leichnamen umgeben zu sein, selbst in Verwesung überzugehen etc.

Mit dem Auftreten und Zunehmen der Hallucinationen reagirt der Kranke erst vollends auf imaginäre Verhältnisse und wird dadurch der realen Welt immer mehr entfremdet. Oft werden die Hallucina - tionen zum Gegenstand neuer Erklärungen, und die trübsten und abgeschmacktesten Ideen von einer Gespensterwelt, von unter der Erde angebrachten Maschinen, die auf den Kranken einwirken etc., haben ihren Ursprung in diesen, oft lange oder während der ganzen Krank - heit gar nicht geäusserten Sinnesanomalieen.

Die Bewegungen der Melancholischen tragen durchaus das Gepräge des herrschenden schmerzlichen Affects. Meistens sind sie träge, langsam, unterdrückt, der Kranke bleibt gerne im Bette liegen, steht oder sitzt Tage lang in einem Winkel, ohne von seiner Umgebung Notiz zu nehmen. Oft ist die ganze Stellung und Haltung des Kranken starr, unbeweglich, bis zur statuenartigen Fixität. Die Glieder sind dabei entweder steif und leisten den Versuchen ihnen eine andere Lage zu geben, ziemlichen Widerstand, oder sie sind biegsam, beweglich und behalten oft die ihnen gegebene Stellung bei (cataleptische Zustände). Die Gesichtsmuskeln sind oft in an - haltender einseitiger Contractur, die Züge unveränderlich, gespannt, die Stirne gerunzelt, die Mundwinkel herabgezogen; diess, noch verbunden mit der meist graueren, livideren Hautfärbung, gibt den Melancholischen fast immer ein älteres Aussehen. Der Blick ist oft zur Erde gesenkt, anderemale das Auge starr geöffnet, mit dem Ausdruck des Schmerzes, der peinigenden Spannung oder des Staunens.

Ein wesentlich anderes Verhalten zeigen die Bewegungen in der173Körperliche Störungen.Form der Melancholie, wo sich die innere Angst auch in körperlicher Unruhe äussert. Die Kranken treiben sich dann unstet umher, oft weinend und händeringend; oft zeigen sie Neigung im Freien herum - zuirren, an entfernte Orte, zu Verwandten, Freunden zu laufen (Me - lancholia errabunda). Dabei werden oft die Hände gerungen, auch wohl die Arme in drehenden und zappelnden Bewegungen hin und hergeworfen. Mit Recht findet man in diesen beiden Aeusserungs - weisen des krankhaften psychischen Schmerzes die Analoga zu den Erscheinungen des peinlichen Affects bei Gesunden, einerseits zu dem Starrwerden vor Schrecken und Bestürzung, andrerseits zu der körperlichen Unruhe und Aufregung (Herumlaufen, Gänge ins Freie etc.), welche man in solchen Gemüthslagen beobachtet.

Die ausserdem vorhandenen Störungen des körperlichen Befindens sind begreiflich ohne allen Werth für die Diagnose des Irreseins überhaupt oder einer bestimmten Form desselben, von um so grösserem dagegen für die Aetio - logie und Therapie. Sie sind nicht constant, und stehen zu dem Irresein in einem verschiedenen Verhältnisse. Bald sind sie Symptome schon früher be - standener Krankheiten, welche das Ihrige zur Entstehung der Gehirnkrankheit beitrugen (z. B. die Herzaffectionen), bald zufällige Complicationen, bald Fol - gen (Nebensymptome) der Gehirnkrankheit selbst. Zu den letzteren gehört na - mentlich:

1) Der Mangel oder die Verminderung des Schlafes, so dass die Kranken entweder ganz schlaflos bleiben, oder sich von ihrem Schlummer so wenig erquickt fühlen, dass sie behaupten, wach geblieben zu sein (eine Art inneres Fortwachen bei eingeschlafener Sinnesthätigkeit). Schwere, widrige Träume sind häufig und die Hallucinationen entstehen nicht selten in den Zeiten des Uebergangs von Schlaf zum Wachen.

2) Schmerzhafte Empfindungen im Kopfe, Hitze, Druck, Schwere, Ein - genommenheit, Gefühl von Leere, von Wasser etc. im Schädel, wandernde Schmerzen in verschiedenen Theilen, der Brust, der Wirbelsäule, der Magen - grube etc., Unempfindlichkeit einzelner Hautstellen, Gefühle als ob ihnen ein - zelne Glieder nicht mehr angehörten, eine wesentliche Herabsetzung der sexuellen Empfindungen und daher fast constante Verminderung des Geschlechtstriebs sind die Hauptsymptome einer veränderten Action der sensitiven Nerven.

3) Sehr häufig leidet die Verdauung und wie bei fast allen Gehirnkrank - heiten, tritt gerne Verstopfung ein. Hieraus können sich einige Missgriffe in der Aetiologie, die Annahme hypothetischer Stockungen und Infarkten ergeben, während schon die so ganz gewöhnliche Beobachtung, wie bei den traurigen Affecten des Gesunden so leicht secundäre Störungen in der Function des Darm - canals auftreten, auf das richtige Verhältniss hinweisen. Oft findet man die Zunge belegt und den Appetit abnorm, entweder mangelnd, oder, und zwar häu - figer vermehrt, indem das Gefühl der Sättigung zu fehlen scheint. Eine auf - fallende Gefrässigkeit und Naschhaftigkeit der Kranken bildet oft einen sonder - baren, beinahe lächerlichen Contrast mit ihrer traurigen Verstimmung; man sieht sie z. B. grosse Stücke Kuchen mit Hast hinunterschlingen, dabei aber stets174Körperliche Störungen bei Schwermüthigen.über ihre vielen Sünden, den Verlust ihrer Seligkeit oder alles zeitliche Unglück fortjammern.

Die Verweigerung der Nahrung, welche bei den Melancholischen zuweilen vorkommt, und bei der längeren Dauer und Hartnäckigkeit wegen der anzuwen - denden Zwangsmittel und der dennoch höchst mangelhaften Ernährung eine un - angenehme Complication bildet, geht häufig aus der Furcht vor Vergiftung her - vor; anderemal ist es ein Versuch des Selbstmords durch Verhungern oder es liegen dieser Enthaltsamkeit die Vorstellungen einer Art von Sühne durch Hun - gern, von Versündigung durch den Genuss von Nahrung, Hallucinationen, Stim - men, welche den Kranken geboten haben zu fasten etc. zu Grunde. Schwerere Erkrankungen der Darmschleimhaut, namentlich die acuten ausgebreiteten Catarrhe, scheinen zuweilen jene Vorstellungen zu wecken und zu unterhalten.

4) Die Ernährung des Körpers leidet häufig Noth. Die Kranken magern ab, die Haut verliert ihren Turgor und ihre Frische, wird welk und häufig trocken. Ein ähnliches Verhalten zeigt sich in Folge trauriger Affecte bei Gesunden; doch hat man mit Recht darauf aufmerksam gemacht, wie die Gemüthsverstimmung der Schwermüthigen durchaus nicht eine so tiefe Zerrüttung des ganzen Orga - nismus zur Folge hat, wie sie durch gleich schwere und langwierige Affecte bei Gesunden sicher eintreten würde. Es wird diess besonders dem Umstande zuzu - schreiben sein, dass diese Kranken doch in der Mehrzahl der Fälle weit mehr Nahrung zu sich nehmen und besser verdauen, als diess bei tiefen Gemüths - affecten des gesunden Lebens der Fall ist; sobald sie dagegen, z. B. bei Ver - weigerung freiwilliger Speise-Aufnahme nur nothdürftig genährt werden, so tritt schnell ein acuter Marasmus, oft mit schweren, tödtlichen Localleiden (Brand der Lungen) auf.

5) Die Respiration ist häufig verlangsamt, unvollständig und schwer; der Brustbeklemmung sucht der Kranke durch Seufzen Luft zu machen. Palpitationen sind sehr häufig und die Angstempfindungen des Kranken gehen oft vom Herzen aus. Schon oben ist dieser Circulationsstörungen und ihrer für die Entwicklung und Unterhaltung der Gehirnkrankheit sehr wichtigen Bedeutung gedacht worden. Der Puls kann von der verschiedensten Beschaffenheit sein; oft ist er klein und selten; Hände und Füsse sind oft anhaltend kalt, namentlich bei den ganz un - beweglichen Kranken.

6) Störungen der Menstruation, Fehlen, Unregelmässigkeit derselben sind häufig genug; in manchen Fällen sieht man mit ihrem Wiedereintritt die Krank - heit aufhören, in anderen bleibt sie ungestört, oder der Zustand verschlimmert sich sogar.

7) Anomalieen der Harnabsonderung mögen häufiger sein, als man gewöhnlich vermuthet. In zwei sonst ganz verschiedenen Fällen von Melancholie haben wir reichliche, lange andauernde Abscheidungen von Phosphaten beobachtet, was an dasselbe Vorkommen bei manchen Spinalneurosen erinnert. Ausserdem wäre der Harn besonders auf Kleesäure und auf Spermatozoen zu untersuchen.

Chronische Krankheiten der Eingeweide, Lungentuberculose, Hautkrank - heiten, chronische Darmcatarrhe etc. bilden sich oft während der Schwermuth aus oder machen schleichend ihren Verlauf weiter. Wenn der Tod erfolgt, so ist es gewöhnlich durch eine dieser Krankheiten; nur in der Form der Melan - cholie, welche auf Oedem des Gehirns beruht (s. unten), ist die Gehirnkrankheit selbst schwer genug, um (durch Compression) zum Tode zu führen.

175Verlauf der Schwermuth.

§. 97.

Der Verlauf der einfacheren Formen der Melancholie ist oft sehr acut, da z. B. wo ein ganz kurzes Stadium schmerzlicher Ge - müthsverstimmung mit tiefer Angst der Entwicklung der Manie, nament - lich auch der intermittirenden, vorausgeht. In der Regel aber ist der Verlauf der Schwermuth chronisch, mit Remissionen, seltener mit voll - ständigen Intermissionen von verschiedener Dauer. Einmal haben wir bei einer tief Melancholischen (Vorstellungen gänzlichen Vermögensver - lustes, verhungern zu müssen etc.) ein vollständiges lucidum intervallum, kaum eine Viertelstunde andauernd, ohne alle bemerkbare äussere Veranlassung entstehen, und ebenso plötzlich wieder verschwinden sehen. Die Remissionen sind natürlich im Beginn der Schwermuth und wieder bei Annäherung an die Reconvalescenz am häufigsten.

Uebergänge in Manie und Wechsel dieser Form mit der Schwer - muth sind sehr gewöhnlich; nicht selten besteht die ganze Krankheit aus einem Cyclus beider Formen, welche oft ganz regelmässig ab - wechseln. Andere Beobachter und wir selbst haben Fälle gesehen, wo zu einer gewissen Jahreszeit, z. B. im Winter, tiefe Schwermuth sich einstellt, und diese im Frühling in Manie übergeht, welche im Herbst allmählig wieder zur Melancholie herabsinkt. Ein sehr mässiger Grad von Melancholie mit bedeutenden Remissionen kann viele Jahre lang bestehen; solche Kranke kommen selten und nur bei Exacerbationen oder intercurrirenden Anfällen von Tobsucht, in die Irren-Anstalten; sie können sich meist in ihren gewohnten Ver - hältnissen erhalten, und sind die Qual ihrer Umgebung und der Gegenstand vielseitiger schiefer Beurtheilung von Seiten der Aerzte und Laien.

Die anhaltende Form der Schwermuth von noch mässiger Inten - sität dauert gewöhnlich bei einer, nur nicht positiv unzweckmässigen Behandlung, ein halbes Jahr bis zu einem Jahr. Es ist durch eine grosse Anzahl von Beobachtungen als unzweifelhaft zu betrachten, dass intercurrirende acute, wie auch neu sich entwicklende chronische Krankheiten oft von günstigem Einflusse auf die Melancholie sind, so dass diese mit dem Auftreten jener aufhört. Zu jenen gehört z. B. die Salivation, die Entwicklung von Exanthemen, von intermittirenden Fiebern, zu diesen die Tuberculose. Um so weniger aber wollen sich diese Thatsachen den Begriffen der alten Crisenlehre fügen, als es eben nicht selten Neurosen ohne palpable Ausscheidungen sind (Spi -176Ausgänge der Schwermuth.nalirritation, heftige Zahnschmerzen etc.) mit deren Eintritt die Gehirn - krankheit sich mässigt oder aufhört. *)Vgl. p. 138 die Fälle von Brodie.

Gewiss ebenso häufig aber, als das Verschwinden der Melan - cholie beim Eintritt anderer Krankheiten, beobachtet man dabei ihr Fortbestehen und sogar ihre Steigerung; oder das Irresein nimmt mit dem Zurücktreten der Schwermuth nur eine andere Form an. So sahen wir bei einem jungen Manne, der mehre Jahre in tiefer Schwer - muth mit nur schwachen Remissionen zugebracht hatte, wie mit dem Eintritt eines heftigen Catarrhs mit Lungenblutungen, den ersten Zeichen einer dann rasch verlaufenden Lungentuberculose, mit gleich - zeitiger bedeutender Schmerzhaftigkeit der Wirbelsäule, die Schwermuth nachliess und sich dafür eine ebenso krankhafte Begehrlichkeit und unruhige Heiterkeit einstellte.

Die Genesung erfolgt meist allmählig, unter successiver Abnahme der Verstimmung, Rückkehr früherer Neigungen und Eigenthümlich - keiten, oft unter gleichzeitiger oder vorausgehender Zunahme des Körpervolums.

Ausser dem häufigen Uebergange in eine der maniacalischen Formen kann bei längerer Dauer sowohl die einfache, als namentlich die mit Stupor verbundene Melancholie auch in einen psychischen Schwächezustand, einen mässigeren oder höheren Grad von wahrem Blödsinn übergehen, wohl immer unter Entwicklung organischer Alterationen in der Schädelhöhle. Während alsdann die Körper-Ernährung wieder zunimmt, in der Phy - sionomie aber meist ein Ausdruck plumper Verzerrung stehend wird, er - löschen allmählig die traurigen Affecte, während sämtliche psychische Thätigkeiten ihre Energie bleibend verloren kaben. Nicht selten ent - wickeln sich auch Zustände annähernder oder ausgebildeter Verrückt - heit, wobei einzelne fixirte, traurige Wahnvorstellungen, namentlich jene Hallucinationen, durch welche bei dem Kranken der Wahn der Vergiftung, der Complotte, des Electrisirtwerdens etc. entstanden und unterhalten worden ist, in fürderhin unheilbarer Weise fortdauern. Solche Kranke, an Verrücktheit, psychischen Schwächezuständen mit Residuen der Melancholie (und Manie) leidend, meist mit mannig - fachen Exacerbationen in Form eines oder des andern primären Zu - standes (Apathie wechselnd mit Turbulenz, oberflächliche Traurigkeit wechselnd mit gleich wenig tiefer Freude etc.) bilden die Mehrzahl der chronischen Formen in den Irrenhäusern; wir werden sie bei der Verrücktheit und dem Blödsinn näher betrachten. Anfangs bleibt177Beispiele von Schwermuth.oft der Zustand lange stationär in der Form der Schwermuth und zeigt leichte Schwankungen der Besserung und Verschlimmerung; in diesem Zeitraum ist das Urtheil über die Heilbarkeit ausserordent - lich schwierig; hat aber ein solcher Zustand von Apathie mit dem Ausdrucke der Schwermuth einmal 3 bis 4 Jahre ohne Intermission gedauert, so sind Genesungen nur noch höchst selten.

Beispiele der einfacheren Formen der Schwermuth mit Ausgang in Genesung.

VI. Hypochondrie. Tiefe Schwermuth. Febris intermittens. Genesung. N. N., Pfarrer, 43 Jahre alt, von kräftiger Constitution, wird im August 1825 in Siegburg aufgenommen, nachdem er im März d. J. erkrankt war. Die Hauptsymptome hatten bisher in einem Ausdrucke grosser Angst und Unruhe, stierem misstrauischem Blick, blasser Gesichtsfarbe, kurzer Respiration, kleinem und sehnellem Pulse bestanden. Er hatte sich einer scheusslichen Lebensweise und grober Vergehungen angeklagt, in einzelnen lichten Augenblicken übrigens seinen Zustand richtiger beurtheilt (Aderlässe, Vesicatore, Nitrum, Brechmittel, Gebrauch eines Stahlbrunnens.).

Bei der Aufnahme scheuer unstäter Blick, Ausdruck von Angst und Ver - zweiflung, voller Bauch, träger Stuhl, erdfahle Gesichtsfarbe, Aeusserungen, dass er sogleich zerrissen, zermalmt, in Stücken gehauen werden würde. (Wein - steinsalze mit Schwefel, leichte geistige Beschäftigung.)

Im September war der Kranke allmählig ruhiger geworden und zeigte sich weniger geneigt seine traurigen Gefühle zu äussern. Bald klagte er über Mattig - keit, Kopfschmerzen und es traten nun Anfälle von intermittirendem Fieber in tertianem Typus auf. An den Fiebertagen glaubte er jedesmal bis zum Eintritt des Schweisses, er werde nun sterben und wiederholte diess jeden Augenblick mit dem schrecklichsten Ausdruck von Angst in Blick und Gebärden. Jede Vor - stellung, dass er an den vorhergehenden Fiebertagen dasselbe gesagt und ge - glaubt, wies es mit den Worten zurück: Heute ist es ganz anders, ich muss heute sterben. (Brechweinstein mit Salmiak.) Später kamen die Fieberanfälle täglich und die Todesfurcht wurde geringer. Endlich hörten jene von selbst ganz auf und damit verloren sich auch die zwar früher schon etwas geminderten, aber bis dahin immer noch häufig wiederholten Aeusserungen, die sich auf be - gangene unversöhnbare Missethaten und die zeitlichen und ewigen Strafgerichte, die ihm desshalb bevorstünden, bezogen, und nur eine hypochondrische Selbst - quälerei und übermässige Aengstlichkeit in Bezug auf den körperlichen Gesund - heitszustand blieb einige Zeit noch zurück; der Puls wurde regelmässig, ein mit den letzten Anfällen des Wechselfiebers entstandenes Oedem der Beine und das fahle Ansehen der Haut verloren sich; er beschäftigte sich freiwillig und em - pfänglich mit geistigen Arbeiten, wurde heiter und froh und verliess in Januar 1826 völlig genesen die Anstalt.

Folgende Aeusserungen über die Entstehung seiner Krankheit schrieb der Wiedergenesene nieder: Von früher Jugend an war bei mir ein hypochondrischer Zustand vorhanden; schon ehe ich die Universität bezog, glaubte ich, ich hätte die Auszehrung und Versicherungen der Aerzte vom Gegentheil waren fruchtlos. Manche widrige Vorfälle flössten mir Misstrauen gegen die Menschen ein undGriesinger, psych. Krankhtn. 12178Beispiele vonals ich im Jahr 1820 durch ein Augenleiden zu äusserer Unthätigkeit verurtheilt war, so bestand meine meiste Unterhaltung in Gedanken, die oft sehr trauriger Art waren, und nothwendig bei mir einen üblen Eindruck zurücklassen mussten. Anno 1822 machte ein Brand und eine dabei stattfindende Durchnässung, während ich eben Reconvalescent von einer mehrwöchentlichen Unpässlichkeit war, den schlimmsten Eindrnck. Von jener Zeit an wurde der Stuhl seltener und trat Schwer - hörigkeit ein; zu Ueberladung mit Arbeit und sehr gebeugter Stimmung, bei man - gelnder Körperbewegung kamen im Jahr 1824 häusliche Sorgen und der Tod eines neugeborenen Kinds. Von dort an verlor sich die Lust zur Arbeit und die Heiterkeit. Nach der Predigt war ich sehr ermüdet und abgespannt, Beängsti - gung und traurige Ahnungen wandelten mich an, der Schlaf war kurz und von schrecklichen Träumen gequält und nach demselben zog mir ein starker Frost durch alle Glieder. Ich hielt mich indessen für gesünder als je, denn Schwer - hörigkeit, Gliederschmerzen, Blähungen, an denen ich bisher gelitten, hörten auf und ich fühlte keine Unannehmlichkeit nach dem Essen mehr. So kam es mir gar nicht in den Sinn, den Grund meines traurigen Zustandes in meinem Körper zu suchen, sondern vielmehr in meinem ganzen Leben, das sich mir denn zu einem ungeheuren Verbrechen bildete. Dieser Gedanke entstand bei mir nicht nach und nach, sondern kam, so viel ich mich erinnere, auf einmal in meine Seele wie ein Traum. So erklärte ich meinen ganzen Zustand. Nun war es um alle Klarheit der Gedanken, um alles Zutrauen zu Andern und zu mir selbst geschehen, die ganze Menschheit musste gegen mich aufstehen, mich durch die schrecklichsten Qualen aus ihrer Mitte verstossen und ich selbst war mein grösster Feind. Ich machte meiner Frau die Entdeckung, ich hätte das grösste Verbrechen begangen, das je verübt worden sei und würde von meiner Gemeinde in Stücke zerrissen werden, sobald sie davon Kenntniss erhielte. Die Amtsgeschäfte wurden unmöglich, die Angst immer grösser. Als mir der Kirchenvorstand die besten Versicherungen und Anerbietungen machte, hielt ich doch Alles für verloren und als ich in einer Versammlung zusammen - sank, kam es mir selbst vor, als ob ich diess aus Verstellung thäte. Ein Geräusch im Ofen hielt ich für Trommeln und glaubte Soldaten im Anzuge, um mich abzuholen; später glaubte ich ein Schaffot vor mir zu sehen, wo ich in kleine Stückchen zerfleischt werden sollte und die Furcht vor der Hinrichtung dauerte beständig fort. Die Dinge um mich erschienen mir schöner und glänzender als sonst, die Menschen weiser und klüger, mich selbst erblickte ich in der tiefsten Tiefe und glaubte zu gar nichts mehr fähig zu sein. Nur für Augenblicke glaubte ich, dass ich doch wohl noch gerettet werden könnte und dann folgte gewöhnlich nur grössere Traurigkeit Meinen Zustand gegen Ende der Krankheit kann ich nicht besser beschreiben, als den eines aus einem schweren Traume Erwachenden, der sich nicht sogleich überzeugen kann, dass es ein Traum gewesen ist.

(Sehr abgekürzt aus Jakobi, Beobachtungen über die Pathologie und Therapie der mit Irresein verbundenen Krankheiten. I. Elberfeld. 1830. p. 441 seqq.)

VII. Schwermuth. Heilung mit der Rückkehr der Menstrua - tion. Ein 19jähriges Mädchen, deren Mutter in einem Anfalle tiefer Schwer - muth durch Selbstmord starb, gesund und fröhlichen Gemüths, vom 15ten Jahre an regelmässig menstruirt, vom 16ten an fluor albus leidend, später durch ein von den Umständen nicht begünstigtes Liebesverhältniss und andere Ereignisse179Schwermuth.gemüthlich afficirt, erkrankte plötzlich im August 1825. Man nahm eine gewisse Albernheit an ihr wahr; sie lachte öfter ohne Anlass, machte allerlei kurzweilige Streiche und zeigte Verwirrtheit in Reden und Handlungen. Blick, Gesichtszüge und Bewegungen waren lebhaft und hastig, der Unterleib aufgetrieben, der Stuhl - gang träge, die Menstruation sparsam. Nach einigen Monaten trat in Bezug auf die Seelenstörung eine vollkommene Intermission ein, aber nach 6 Wochen zeigte sich das Irresein von Neuem unter einer andern Gestalt.

Die Kranke schien schwermüthig beängstigt, sass entweder in Gedanken verloren, stumm und bewegungslos da, oder weinte und seufzte, indem sie oft dazwischen ausrief: welch ein Unglück, was habe ich denn gethan! Sie ver - weigerte die Nahrung, ihre Gestalt verfiel, die früher blühende Farbe wurde erdfahl, die Gesichtszüge verzerrt und die Kräfte schwanden. Der Unterleib war hart und aufgetrieben, der Stuhl sparsam und trocken, die Menstruation hörte ganz auf und der fluor albus war anhaltend. Nach einiger Zeit kehrte einige Esslust wieder, die Kranke ging an die Hühnertröge, oder suchte sich sonst rohe und unreine Nahrung zusammen, die sie heimlich verzehrte, sie nahm dabei etwas an Kräften und Masse zu, hatte aber ein gedunsenes livides Aussehen. Nachdem seit dem Wiedereintritt der Seelenstörung ohne ärzliche Hülfe 8 Monate ver - flossen waren, ward das Mädchen im August 1826 in Siegburg aufgenommen. Ausser etwas scrophulösem Habitus und dem längst bestandenen fluor albus war kein Symptom körperlicher Krankheit zu bemerken. Ihre Bewegungen sind ohne Energie, ihre Haltung hängend, dabei weint sie den ganzen Tag über unablässig und zwar mit so heftigem Schluchzen und eigentlichem Heulen, dass man jeden Augenblick glauben sollte, es wäre ihr etwas Ungeheures begegnet. Während der Nächte schläft sie meistens ruhig; zur Annahme der Nahrungsmittel lässt sie sich etwas nöthigen. Die Seelenstörung bei der Kranken gibt sich jetzt hauptsächlich durch die sie ausschliessend beherrschende Gemüthsstimmung kund, welche alle ihre Vorstellungen beherrscht und ihre Willensthätigkeit lähmt, ohne dass sich hievon abgesehen Verstandesverwirrung oder eine bestimmte krankhafte Richtung des Begehrungsvermögens offenbart. Die gestörte Verdauung, die Auf - treibung und Festigkeit des Unterleibs nebst der Amenorrhöe und dem fluor albus schienen die wichtigsten therapeutischen Indicationen zu geben. (Milde, regel - mässige Kost, Bäder, Beschäftigung.) Eine Reconvalescentin nimmt sich der Kranken mit mütterlicher Sorgfalt an und diese gewinnt Zutrauen zu ihr und wird folgsam.

Zu Ende September tritt die Menstruation sparsam ein, der Unterleib bleibt aber aufgetrieben und fest. (tart. borax. c. flor. sulph. Fontanelle an beide Ober - arme.) Die Kranke wird allmälig ruhiger, weint weniger, isst ungenöthigt. Nach drei Wochen kehrt die Menstruation zurück, der Unterleib verliert seine Auf - getriebenheit und Härte, der Stuhl wird regelmässig, die Verzerrtheit der Züge schwindet, der Gesichtsausdruck wird heiterer und nach nochmals wiedergekehrter Menstruation am 10. Nov. war alle Traurigkeit und alles Weinen wie wegge - zaubert. Beschäftigung war ihr eine Lust; der fluor albus war allmälig ganz verschwunden, ihre Gesundheit befestigte sich immer mehr und sie ward im April 1827 glücklich wieder genesen entlassen.

(Jakobi, Beobachtungen über die mit Irresein verbundenen Krankheiten. 1830. p. 198 seqq.)

VIII. Melancholie mit Neigung zum Selbstmord und Halluci - nationen. Wahrscheinlich pollutio diurna. Heilung durch Caute -12 *180Beispiele von Schwermuth.risation der Urethra. Emil G., 23 Jahre alt, zeigte früher schöne Geistes - anlagen und war im 21. Jahre Advocat geworden. Seine Haltung ist gebeugt, der Körper mager, die Muskeln schlaff, die Haut ohne Colorit, das Gesicht ausdrucks - los, der Blick matt, zur Erde gesenkt, die Stimme schwach, das Benehmen sehr schüchtern, die untern Extremitäten in beständiger Bewegung. Während seine mündliche Unterredung höchst dürftig und linkisch ist, gibt der Kranke schrift - lich folgende klare Bemerkungen über seinen Zustand:

Nachdem der Kranke vom 12ten Jahre an Onanie getrieben, trat im 19ten die Veränderung seines Characters ein: zuerst allmählig ein psychischer Ekel vor Allem, eine tiefe, allgemeine Langeweile; während er bis dahin nur die lichte Seite des Lebens bemerkt hatte, sah er von jetzt an alles von der trüben Seite an. Bald trat der Gedanke des Selbstmords auf. Nach einem Jahre trat dieser zurück, dafür hielt sich jetzt der Kranke für den Gegenstand des Spottes bei Andern. Er glaubte, man mache sich überall über seine Phy - sionomie und seine Manieren lustig, und mehrmals hörte er, sowohl auf der Strasse, als im Zimmer bei Verwandten und Freunden, an ihn gerichtete Schimpfworte. Endlich glaubte er, dass Jedermann ihn beleidige; wenn Je - mand hustet, räuspert, lacht, die Hand zum Munde oder ein Sacktuch vor das Gesicht bringt, so macht ihm diess die peinlichsten Empfindungen, bald zor - nigen Affect, bald eine tiefe Niedergeschlagenheit mit unwillkührlichem Thränen - erguss. Er ist für Alles gleichgültig und immer auf diese seine Ideen con - centrirt; er sucht die Einsamkeit und die Gesellschaft thut ihm wehe. Er gibt zu, dass er vielleicht Hallucinationen hatte, aber er ist doch überzeugt, dass diese Ideen nicht ohne Grund sind, dass sein Gesichtsausdruck etwas Befrem - dendes habe, dass man in ihm seine Furcht, die Gedanken, die ihn beun - ruhigen, lesen könne.

Er fühlt Schwere des Kopfes, eine Art Druck auf das Gehirn; er ist schwach, muthlos, beständig schläfrig und stumpf; jede Bewegung ermüdet ihn und er hat doch beständig Bedürfniss seine Stelle zu verändern. Er fühlt sich gealtert; seit einigen Monaten nimmt die Niedergeschlagenheit zu: seit fünf Jahren macht ihm nichts mehr Freude, Alles drückt und belästigt ihn, er ist ängstlich, schüchtern, verlegen, unfähig zu handeln und zu sprechen. Der Geist des Lebens hat sich aus mir zu - rückgezogen.

Seit 9 Monaten hat der Kranke völlig der Onanie entsagt und dennoch ver - schlimmerte sich sein Zustand von Tag zu Tag.

Dabei hartnäckige Verstopfung, völliger Mangel aller Erectionen und alles Geschlechtstriebs; etwa 1 2 Pollutionen in einem Monat. Im Urin beständig ein reichlicher, flockiger, einer dicken Gerstenabkochung ähnlicher Bodensatz; schnelle Zersetzung des Urins. Nach jedem Stuhl an der Mündung der Harnröhre eine klebrige Flüssigkeit, wie dickes Gummiwasser. Häufige Urinentleerung, Empfind - lichkeit der Samenstränge, der Hoden und besonders der Urethralschleimhaut, Röthe der Urethramündung. Cauterisation des Blasenhalses und der pars prostatica Urethrae; allmählige Besserung nach 4 Wochen, durch laue und langdauernde Bäder sehr unterstützt. Kurz darauf völlige Heilung mit der Herstellung der Potenz.

(Lallemand, des pertes séminales. I. p. 357.)

181Varietätcn der Schwermuth.

§. 98.

Die Aeusserungsweisen des psychischen Schmerzes in der Schwer - muth sind so verschiedenartig und mannigfaltig, dass man von jeher aus den Hauptunterschieden hierin einzelne Arten und Varie - täten der Melancholie bildete.

Insoferne sich die Differenz nur auf die Art und den Gegen - stand des Deliriums, welcher häufig mit den hervorstechendsten psychischen Krankheitsursachen zusammenfällt, bezieht, ist die Auf - stellung solcher Varietäten von nur mässigem Werth; in dieser Hin - sicht sind hauptsächlich folgende Unterformen zu erwähnen.

1) Melancholia religiosa wurde die Aeusserungsweise der Schwermuth genannt, wo sich das Delirium vorzugsweise um reli - giöse Vorstellungen, den Wahn schwerer Versündigung, die Furcht vor Höllenstrafen, das Verworfensein vor Gott etc. drehte. Es ist häufig ganz in äusseren zufälligen Einwirkungen begründet, dass die innere Angstempfindung gerade als Sündenangst sich äussert, oder dass der Kranke in seiner traurigen Verstimmung den Trost der Religion sucht, der hier freilich nicht die erwartete Wirkung, sondern häufig nur die Steigerung der Angst zur Folge hat, und es ist hier die Wirkung nicht mit der Ursache zu verwechseln. Denn so wenig geläugnet wird, dass das stete Hervorrufen von Zerknirschung und Furcht vor Höllenstrafen, überhaupt eine stete Bearbeitung im Sinne einer trübsinnigen und ascetisch-eifernden Weltanschauung die geistige Energie lähmen, das Vorherrschen trauriger Vorstellungen begünstigen, und schwache Köpfe in inneren Zwiespalt und traurige Affecte versetzen, damit aber auch zur Entstehung der Schwermuth wesentlich beitragen kann, so sind doch in der grossen Mehrzahl der Fälle die von den Melancholischen geäusserten religiösen Anfechtungen als Symptome der schon bestehenden Krankheit, nicht als deren Ursachen zu betrachten.

Ebenso verhält es sich natürlich auch bei der interessanten Form der Schwermuth, wo sich das Gefühl des Beherrscht - und Ueber - wältigtseins (p. 170), in der Vorstellung des Besessenseins von Dämonen ausspricht, die sogenannte Dämono-Melancholie, welche in allen Ländern (namentlich auch in Frankreich nicht selten*)M. Macario, Etudes cliniques sur la démonomanie. Annal. med. psy - chol. I. 1843. p. 440 seqq. Esquirol, übers. v. Bernhard. I. p. 280 seqq. vor - kommt, deren sich aber in neuerer Zeit in unserm Vaterlande theils ein baroker Humor, theils der krasseste Aberglaube zu vielfachem Missbrauche bemächtigt haben.

182Dämono-Melancholie. Besessensein.

Bei dieser Form nimmt die von dem Kranken hypostasirte fremde, feindliche Macht, durch welche er sich beherrscht glaubt, nach dem in Ort und Zeit liegenden Aberglauben verschiedene dämonische Gestalten an (Teufel, Gespenster etc.) denen wohl auch bei gleichzeitigen aus einzelnen Körpertheilen entstehenden anomalen Sensationen, von dem Kranken zuweilen ein beschränkter Sitz, bald in einer ganzen Körper - hälfte, bald im Kopf, der Brust, dem Rücken etc. angewiesen wird. Nicht selten sind dabei Convulsionen der willkührlichen Muskeln, Krämpfe des Larynx, wodurch die Stimme auffallend verändert wird, Anästhesieen einzelner Hautparthieen und Hallucinationen des Gesichts und Gehörs vorhanden. Zuweilen begleitet dieses Delirium intermittirende Paroxis - men heftiger Krämpfe (offenbare Analoga epileptischer oder hysterischer Anfälle), die durch vollständig freie lucida intervalla geschieden werden.

Diese Formen der religiösen Schwermuth sind sorgfältig zu unterscheiden von jenem, auch in religiösen Vorstellungen sich bewegenden, aber freudigen, kühnen, mit Exaltation verbundenen Irresein, wobei die Kranken entweder Gott selbst zu sein oder in inniger Verbindung mit Gott, den Engeln, dem Himmel zu stehen behaupten. Wir werden diese, dem psychologischen Hergange nach von der Schwermuth total verschiedenen Zustände unter den Exaltationsformen des Näheren besprechen.

Beispiele von Besessensein.

IX. Tuberculose. Psychische Ursachen. Wahn vom Teufel besessen zu sein. Tod. A. D., 46 Jahre alt, Dienstmädchen, sehr nervös, hatte in frühern Jahren mehrfachen Kummer in Liebesverhältnissen erlitten und war schon einmal melancholisch geworden; die Menses cessirten, sie hatte mehre Keuschheitsgelübde gethan, diese wieder gebrochen, sich dann für verdammt ge - halten; zuletzt glaubt sie sich in der Gewalt von Dämonen und empfindet alle Qualen der Hölle und der Verzweiflung. Sie wird im März 1813 in die Salpe - trière geschickt. Sie ist ausserordentlich mager, ihre Haut erdfarben, ihr Ge - sicht convulsivisch verzerrt; sie verweigert die Nahrung, ist schlaflos; der Kopf ist schwer, im Innern sehr brennend, äusserlich wie mit einem Stricke zusam - mengezogen. Sie leidet an sehr schmerzhaften Zusammenziehungen der Kehle, rollt die Haut des Halses unaufhörlich mit ihren Fingern, drängt sie nach dem Brustbein hin, und versichert, dass der Teufel sie ziehe, zusammenschnüre und am Schlingen hindere. Die Bauchmuskeln sind sehr gespannt, der Stuhl ver - stopft, an Hand und Fuss eine scrophulose Anschwellung. Der Teufel hat ihr eine Schnur vom Brustbein bis zu den Genitalien gezogen, wodurch sie verhindert wird, aufrecht zu stehen. Der Dämon ist in ihrem Körper, brennt, kneift sie, beisst ihr ins Herz und zerreisst ihr die Eingeweide. Sie ist von Flammen umgeben und mitten im Feuer der Hölle, ihre Qualen sind unerhört, schreklich, ewig, sie ist verdammt und der Himmel kann kein Erbarmen mit ihr haben.

Im April nahmen die Kräfte ab; sie sieht Niemanden, der sich ihr nähert, der Tag kommt ihr nur als ein Schein vor, in dem Gespenster und Dämonen183Beispiele.herumirren, die ihr Betragen tadeln, ihr drohen, sie misshandeln. Sie verwei - gert alle Tröstungen, sie bedarf einer übernatürlichen Macht; sie verflucht den Teufel, der sie brennt und martert und verflucht Gott, der sie in die Hölle ge - stürzt hat. Im Mai Marasmus; Respirationsbeschwerden, Oedem der Beine, un - regelmässige Fröste; im Juni Durchfälle, schwarzer Zungenbeleg; die Kranke seufzt viel, hat noch dasselbe Delirium und die feste Ueberzeugung nicht zu sterben. Tod am 22. Juni. Section. Der Schädel dick, injicirt, der sichel - förmige Fortsatz der dura gerippt (reticulé) und nach vorn zerrissen; das Gehirn weich, die graue Substanz blass; viel Serum in den Ventikeln. Allgemeine Tu - berculose. Verwachsung des Herzens mit dem Pericardium.

(Esquirol, die Geisteskrankheiten v. B. I. p. 285.)

X. Krampfanfälle mit Wahn der Besitznahme und Verviel - fachung der Persönlickeit, bei einem Kinde, von kurzer Dauer. *)Wir geben diese Krankheitsgeschichte wörtlich, zugleich als Probe von der Naivetät dieser Erzählungen. Vgl. dazu das unten über den psychischen Zu - stand in epileptischen Anfällen[bemerkte].Margarethe B., 11 Jahre alt, von etwas heftiger Gemüthsart, aber ein christ - liches, frommes Kind, wurde den 19. Januar 1829 ohne vorher unwohl gewesen zu sein, von krampfhaften Zufällen ergriffen, die sich mit wenigen und kurzen Unterbrechungen zwei Tage lang wiederholten. So lange die Krampfanfälle dauerten, war das Kind nicht beim Bewusstsein, sie verdrehte die Augen, machte Gri - massen und allerlei sonderbare Bewegungen mit den Armen, und von Montag, den 21. Jan. an liess sich auch wiederholt eine tiefe Bassstimme vernehmen, mit den Worten: für dich betet man recht! Sobald das Mädchen wieder zu sich kam, war sie müde und erschöpft, wusste aber von allem Vorgefallenen Nichts und sagte nur, sie habe geträumt. Am 22. Januar Abends fing eine andere, von der obigen Bassstimme sich deutlich unterscheidende Stimme an, sich hören zu lassen. Diese Stimme redete fast unaufhörlich so lange die Crisis dauerte, d. h. halbe, ganze und auch mehre Stunden und wurde nur zuweilen von jener Bass - stimme, die ihr voriges Recitativ standhaft wiederholte, unterbrochen. Augen - scheinlich wollte diese Stimme eine von der Persönlichkeit des Mädchens ver - schiedene Persönlichkeit darstellen, und unterschied sich auch von demselben aufs genaueste, sich dasselbe objectivirend und in der dritten Person von ihr redend. In den Aeusserungen dieser Stimme war durchaus nicht die mindeste Verwirrtheit und Verrücktheit zu bemerken, sondern ganz strenge Consequenz, die alle Fragen folgerecht beantwortete, oder mit Schalkheit von sich wies. Was aber diesen Aeusserungen ihr Unterscheidendes gab, war der moralische, oder vielmehr unmoralische Character derselben; Stolz, Arroganz, Spott, Hass gegen die Wahrheit, gegen Gott und Christus, thaten sich in derselben kund. Ich bin der Sohn Gottes, der Welt Heiland, mich müsst ihr anbeten, hörte man jene Stimme zuerst sagen, und nachher oft wiederholen. Spott über alles Heilige, Lästerung gegen Gott und Christus und gegen die Bibel, heftiger Un - wille gegen alle, die das Gute lieben, die abscheulichsten Flüche, tausendfach wiederholtes, grimmiges Wüthen und Toben beim Anblick eines Betenden, oder auch nur bei gefalteten Händen das Alles konnte man als Symptome einer fremden Einwirkung betrachten, wenn auch jene Stimme nicht selbst, wie es wirklich geschah, den Namen des Redenden verrathen hätte, sich einen Teufel184Melancholia metamorphosis.nennend. Sobald dieser Dämon sich hören liess, veränderten sich auch die Ge - sichtszüge des Mädchens sogleich höchst auffallend und es trat jedesmal ein wahrhaft dämonischer Blick ein, von dem man in der Messiade, auf dem Bilde, wo der Teufel Jesu einen Stein bietet, eine Idee bekommt.

Am 26. Januar, Mittags 11 Uhr, zu derselben Stunde, welche das Mädchen im wachen Zustand, nach ihrer Behauptung von einem Engel belehrt, schon vor einigen Tagen als ihre Erlösungsstunde angekündigt hatte, erfolgte das Aufhören dieser Zufälle. Das Letzte, was gehört wurde, war eine Stimme aus dem Munde des Mädchens: Fahre aus, du unsauberer Geist, aus diesem Kinde! Weisst du nicht, dass dieses Kind mein Liebstes ist? dann erwachte sie zum Bewusstsein. Am 31. Januar stellte sich derselbe Zustand mit denselben Symptomen wieder ein. Doch kamen nach und nach mehre neue Stimmen hinzu, bis die Zahl dieser, von einander theils im Ton, theils in der Sprache, theils nach dem Inhalt augenscheinlich verschiedenen Stimmen auf sechs gestiegen war, von denen sich jede als die Stimme eines besondern Individuums geltend machte, und auch als solche von jener vorher so oft gehörten Stimme angekündigt wurde. Die Heftigkeit des Tobens, Fluchens, Lästerns, Scheltens u. s. w. erreichte in dieser Periode der Krankheit den höchsten Grad, und die Zwischenzeiten des Bewusstseins, in welchen übrigens das Mädchen durchaus keine Erinnerung an die Vorfälle im Paroxismus hatte, sondern still und fromm betete und las, wurden seltener und kürzer. Der 9. Februar, der ebenfalls schon am 31. Januar als Befreiungstag bezeichnet wurde, machte auch diesem Jammer ein Ende, und ähnlich dem ersten Male, liessen sich den 9. Februar Mittags 11 Uhr, nachdem jene Stimme wiederholt ihren Abschied angekündigt hatte, aus dem Munde des Mädchens die Worte hören: Fahre aus, du unsauberer Geist! das ist ein Zeichen der letzten Zeit! Das Mädchen erwachte und ist seither gesund geblieben. (Kerner, Geschichten Besessener. Stuttg. 1834. p. 104.)

§. 99.

2) Nicht eben selten kommt bei den Schwermüthigen der Wahn vor, der eigenen Persönlichkeit verlustig geworden und verwandelt zu sein Melancholia metamorphosis. Schon oben ist der auf allge - meinen und partialen Dys - oder Anästhesieen beruhenden Vorstellungen, gestorben zu sein, Glieder aus Holz etc. zu haben, und ebenso des aus Hallucinationen hervorgehenden Wahns einer Verwandlung in ein hässliches Thier etc. Erwähnung geschehen. Von fast noch grösserem psychologischem und pathologischem Interesse sind die Fälle, wo die Kranken ihr Geschlecht verwandelt glauben, Männer sich für Weiber, Weiber für Männer halten. Es gehört dieser Wahn allerdings nicht specifisch der Schwermuth an, kann sich aber während ihres Be - stehens ausbilden, und scheint in manchen Fällen durch Erkrankung der Genitalien selbst, mit der die sexuellen Empfindungen untergehen, hervorgerufen zu werden.

So erzählt Lallemand von einem Kranken, der sich für ein Weib hielt und Briefe an einen imaginären Liebhaber schrieb; die Section wies Vergrösserung185Nostalgie.und Verhärtung der Prostata, Abscesse in derselben, Obliteration der ductus ejaculatorii mit Erweiterung des Samenbläschen und des vas deferens nach (des pertes séminales. I. p. 64).

Einige Fälle von Wahn der Geschlechtsumänderung erzählt Leuret (Frag - ments, p. 114 seqq.). Diese Fälle sind im Ganzen nicht häufig; um so häufiger findet man in den französischen Anstalten, z. B. in der Salpetrière den Wahn, dass die umgebenden weiblichen Kranken Männer seien.

3) Eine weitere Unterart ist die Melancholie, welche sich durch Sehnsucht nach der Heimath und durch das Vorherrschen der auf die Rückkehr nach Hause bezüglichen Vorstellungen characterisirt, das Heimweh. Eine ähnliche Affection bildet sich auch in den Gefängnissen bei mangelnder Beschäftigung, oft unter Mit - wirkung von schlechter Nahrung, Feuchtigkeit und Onanie aus. Die nostalgische Melancholie kommt zuweilen mit auffallender Kopfcon - gestion, ja wirklicher Gehirn-Entzündung vor (Larrey); auch in dieser Form treten entsprechende Hallucinationen (Gesichte der Heimath - gegenden etc.) auf. Nicht selten werden von Menschen, welche an mässigeren oder höheren Graden von Heimweh leiden, gewaltthätige Handlungen begangen, (namentlich Tödtung kleiner Kinder und Brand - stiftung durch Dienstboten), die noch öfter aus evident selbstsüchtigen Motiven, namentlich dem Bestreben, aus einer aufgedrungenen unange - nehmen Lage wegzukommen, als aus dem, auch sonst unwillkühr - lich auftretenden Drange der Melancholischen, sich durch die Verübung einer auffallenden Unthat eine Art von Erleichterung zu verschaffen, hervorgehen.

Von grösserer Wichtigkeit ist die Aufstellung von verschiedenen Arten der Melancholie, nach dem verschiedenen Verhalten der motorischen Seite des Seelenlebens, des Wollens und Han - delns. Die bisher betrachteten Zustände können nemlich nach zwei verschiedenen, zum Theil entgegengesetzten Seiten hin wichtige Modifi - cationen erleiden; einerseits können sie sich zu einem Zustande noch tieferen Insichversunkenseins mit völliger Willenlosigkeit oder viel - mehr krampfhaft, tetanisch festgehaltener Strebung fortentwickeln; andrerseits treten in ihnen neue, der negativen Allgemeinstimmung ent - sprechende Triebe und Willenserregungen auf, die entweder nur in einzelnen, sporadischen Gewaltthaten, oder in einer anhaltenden äusseren Unruhe und Aufregung explodiren, wo dann wieder mit dem letzteren Verhalten die Schwermuth in die Form der Tobsucht übergeht.

Wir können demgemäss als Hauptarten der Schwermuth folgende Formen aufstellen:

186Hauptformen der Melancholie.
  • 1) Die in sich versunkene Schwermuth, die Melancholie mit Stumpfsinn (von den französischen Schriftstellern, Georget, Etoc-Demazy, Baillarger etc. meist mit dem wenig passenden Namen der Stupidité bezeichnet, von letzterem aber ihrem Wesen nach richtig erkannt
    *)Baillarger, de l’état, désigné chez les aliénés sous le nom de Stupi - dité. Annales med. psychol. I. 1843. p. 76 seqq. p. 256 seqq.
    *).
  • 2) Die Schwermuth mit Aeusserung negativer zerstören - der Triebe, namentlich mit einzelnen Gewaltthaten, theils gegen sich selbst (die s. g. Selbstmordmonomanie), theils gegen andere Personen und leblose Objecte (Mordtrieb, Zerstörungs - trieb, soweit eben diese Fälle der Melancholie angehören).
  • 3) Die Schwermuth mit anhaltender Willens-Aufregung, im Uebergange zur Tobsucht.

Drittes Capitel. Die Schwermuth mit Stumpfsinn.

§. 100.

Die Form der Schwermuth, wo sich der höchste Grad des In - sichversunkenseins unter der äusseren Form des Stumpfsinns dar - stellt, hat nicht nur wegen der ausgezeichneten psychischen Sym - ptome und der in manchen Fällen vorhandenen characteristischen anatomischen Störungen des Gehirns ein hohes theoretisches, sondern auch wegen der häufigen und leichten Verwechslung mit dem Blöd - sinn, welche zu bedeutenden prognostischen und therapeutischen Irrthümern führen kann, eben so viel practisches Interesse.

Wirklich stellen in den höheren Graden dieser Zustände die Kranken äusserlich ein Bild des Blödsinns dar. Sie sind gänzlich verstummt, vollkommen unthätig, ohne stärkere äussere Anlässe fast unbeweglich, ihr Aussehen ist stupid, ihr Gesichtsausdruck der einer allgemeinen tiefen psychischen Oppression, einer wahren Vernichtung; nur der Blick solcher Kranken zeigt nicht die dem Blödsinn ange - hörige Nullität, sondern den Ausdruck eines schmerzlichen Affects, der Traurigkeit, Angst, oder ein insichgekehrtes Staunen. In den höchsten Graden ist meist eine bald partielle (Sc. Pinel, traité de pathol. cérébrale. Par. 1844 p. 250. Abh. VIII. ), bald allgemeine Anästhesie187Schwermuth mit Stumpfsinn.der Hautoberfläche und ebenso ein Zustand der höheren Sinnorgane vorhanden, wobei die Gesichts - und Gehör-Eindrücke ganz undeutlich, confus, oft nur wie aus der Ferne percipirt werden; vielleicht eine Steigerung jener oben (§. 44. §. 92.) mehrfach erwähnten cerebralen Parese der Empfindung.

Dabei haben die Kranken meistens ebenso das Bewusstsein von Zeit und Ort als das Gefühl ihrer körperlichen Bedürfnisse verloren; sie sind höchst unreinlich, man muss sie füttern, ankleiden, zu Bette bringen etc. Gewöhnlich magern sie dabei sehr ab, es bildet sich schnell Marasmus aus und der Tod ist in dieser Form der Schwermuth nicht eben selten.

Wie verhält sich nun aber das innere psychische Leben bei solchen Kranken? Die Genesenen geben in den exquisiten Fällen hierüber die merkwürdigsten Aufschlüsse. Weit entfernt von der psychischen Leerheit des Blödsinns hört in der Mehrzahl der Fälle das Vorstellen nicht auf, lebhaft thätig zu sein. Aber der durch die erwähnte Anomalie der Sinnesperception seiner realen Umgebung entrückte Kranke lebt in einer imaginären Welt. Die Wirklichkeit ist ihm untergegangen, wie vor ihm versunken, Alles um ihn her ist ver - wandelt. Eine schreckliche innere Angst ist der Grundzustand, der ihn zum Ersticken quält, und aus ihm gehen die Vorstellungen alles in jedem Augenblicke drohenden Unglücks, des Einstürzens der Häuser, des Untergangs der Welt, einer allgemeinen Vernichtung eben so wohl, als einzelne Wahnideen schwerster, eigener Verschuldung, Verworfen - heit etc. hervor.

Der Kranke kann nicht wollen, und fühlt desshalb die Unmög - lichkeit, sich dem Schrecklichen, was von allen Seiten auf ihn ein - dringt, zu entziehen. Er kann später meistens nicht sagen, warum er zu dem geringsten Willensacte unfähig war, warum er nicht ant - wortete, nicht einmal schreien konnte; Esquirol (Geisteskrankheiten von Bernhard. II. p. 125) hat uns jedoch den merkwürdigen Ausspruch eines solchen Genesenen aufbewahrt: Dieser Mangel an Activität kommt daher, weil meine Empfindungen zu schwach sind, um auf meinen Willen einen Einfluss auszuüben. Es zeigt sich aber die Willen - losigkeit am deutlichsten in der vollständigen Passivität, Unthätigkeit und Unbeweglichkeit der Kranken, wiewohl auch hier intercurrirende Zustände grösserer Activität zuweilen vorkommen, in derselben Weise wie manche Kranke auch zwischendurch ein kurzes Bewusstsein, einen Schimmer der wirklichen Welt bekommen können.

Meistens verbinden sich mit dieser äusseren Unempfindlichkeit,188Die Schwermuthder Aufhebung des Strebens und dem exclusiven traurigen Delirium Hallucinationen und Illusionen von demselben Character. Der Kranke hört Stimmen, die ihm Vorwürfe machen, ihn beschimpfen, ihn mit dem Tode bedrohen, oder einen confusen Lärm von Glocken, Trommeln, Kanonen etc.; er sieht Gespenster, Leichenzüge, unterirdische Ge - wölbe, Vulcancrater, die sich vor seinen Füssen öffnen, er sieht zu, wie man seine liebsten Angehörigen martert etc. Er glaubt sich in einer Wüste, in der Hölle, auf den Galeeren zu befinden etc.; kurz der völlig veränderte subjective Antheil an der Sinnesperception und die daraus hervorgehende Umgestaltung aller Eindrücke lässt ihm alles Aeussere, was er noch percipirt, nur in Formen und Bildern erscheinen, die dem herrschenden Affecte adäquat sind (vgl. die Beispiele).

In vielen Beziehungen hat dieser Zustand die grösste Aehnlich - keit mit einem Halbschlaf - und Traumzustande. Die Entstehung der schmerzlichen, widrigen Affecte, Vorstellungen und Bilder im Gehirn findet dabei ihre vollkommene Analogie in dem Auftreten sonderbarer, neuer, widerwärtiger Empfindungen (Formication, Stechen, Kälte etc.) in dem abgestumpften (eingeschlafenen) sensitiven Nerven, und wir werden diese Vergleichung um so passender finden, da in einer ziemlichen Anzahl hierher gehöriger Fälle ein offenbarer Gehirndruck sich nachweisen lässt. Die Kranken selbst, wenn sie wieder anfangen, lebhafter zu werden, selbst zu essen, sich zu beschäftigen, kurz sich zu erholen, sind erstaunt wie Erwachende, fragen oft, wo sie denn seien, finden sich erst allmählig zurecht und vergleichen ihren Zu - stand einem schweren Traum, ihre Genesung einem Erwachen.

§. 101.

Doch ist nicht immer während der Dauer dieser Form der Schwer - muth eine solche Mannigfaltigkeit widriger Empfindungen, Vorstellungen und Bilder, wie kaum erwähnt wurde, vorhanden; manchmal ist es mehr ein Halbschlaf ohne deutliche Träume, ohne jene lebhaften Hallucinationen etc., ein der Aussenwelt entfremdetes Insichversinken, dem wenig geblieben ist, als das Gefühl tiefer innerer Verstörtheit und Willenlosigkeit, wo die psychischen Processe allerdings eine Art von Suspension erleiden, der Kranke aber doch ein Bewusstsein dieses seines Zustandes hat. Vielleicht scheint es zuweilen auch nur so, wenn die Kranken später ungenügende Rechenschaft von ihrem Zu - stande zu geben, oder sich desselben nur so schwach zu erinnern vermögen, dass keine so auffallende psychische Anomalieen zu Tage kommen.

189mit Stumpfsinn.

Daher konnte es auch ausgezeichneten Beobachtern (Esquirol, Georget, Ellis*)Ellis, traité etc. par Archambault. Par. 1840. p. 199. begegnen, diese Zustände als Blödsinn aufzufassen, und die von Etoc-Demazy (1833) aufgefundene, von Sc. Pinel (1840. 1844. ) aber allzusehr verallgemeinerte Thatsache, dass bei nicht Wenigen dieser Kranken ein Gehirn-Oedem, also Gehirndruck, sich findet, war dieser Betrachtungsweise nicht ungünstig. Doch ist einerseits das Gehirn-Oedem nicht constant, andrerseits werden die obigen, den Berichten der Genesenen selbst entnommenen Angaben hinreichen, den innern Unterschied dieser Form von Melancholie von dem Blödsinn ins Licht zu setzen. Jene verhält sich zu diesem wie in den sensitiven Nerven vorübergehend verminderte Empfindung der äussern Eindrücke mit Schmerz und neuen anomalen Empfindungen zur dauernden völligen Anästhesie. Wie aber jener Zustand theils auf derselben Ursache (Druck) beruhen kann, wie dieser, theils nicht selten nur diesem voran und bald in ihn übergeht, so kann auch diese Form der Schwermuth als melancholischer Stumpfsinn bei längerer Dauer in wirkliche dauernde Schwäche des psychischen Lebens mit Aufhören des schmerzlichen Affects, in Blödsinn übergehen.

Zur äusseren Unterscheidung beider Zustände dient, ausser der schon erwähnten Rücksicht auf den Gesichtsausdruck und namentlich den Blick der Kranken, theils eine in manchen Fällen primitive und sehr rasche Entstehung, theils das nicht selten vorkommende Ver - weigern der Nahrung und die zuweilen gemachten Selbstmordver - suche, welche beide bei Blödsinnigen nicht leicht vorkommen.

Wenn diese Zustände nicht in Blödsinn übergehen, so währen sie in der angegebenen Weise selten länger als einige Monate; viele Kranke genesen, und zwar meistens schnell, in der Form eines Er - wachens aus Träumen; Drastica und Vesicatore zeigen oft einen evidenten Nutzen. Der Tod erfolgt manchmal unter Zunahme der Erscheinungen des Gehirndrucks, (sehr langsamen Puls etc.) manch - mal als Ausgang eines allmählig gesteigerten, auf intensem Darm - catarrh oder Lungenphtise beruhenden Marasmus; einmal sahen wir ihn durch Selbstmord erfolgen. Ueber das Gehirn-Oedem und seine wahrscheinliche Entstehungsweise s. die pathologische Anatomie.

Beispiele.

XI. Schwermuth mit Stumpfsinn nach F. intermittens. Gene - sung. B., 25 Jahre, Beamter, kommt nach Charenton am 12. August 1833. Früher ein Anfall von Wahnsinn im 15ten, ein anderer im 22ten Jahre, der190Beispiele vonerste von sechs Wochen, letzterer von 14 Tagen. B. litt sechs Wochen an einem intermittirenden Fieber, in dessen Reconvalescenz plötzlich, ohne bekannte Ursache, nach mehrtägigem heftigem Kopfweh, dieser Anfall ausbrach. Symptome einer Gehirnentzündung, mehrmals im Verlauf von drei Wochen Convulsionen; mehre Selbstmordversuche. Blasse Gesichtsfarbe, starre, weit offene, meist zur Erde gerichtete Augen, ausdruckslose, stumpfe Physionomie; B. bleibt den ganzen Tag auf demselben Fleck sitzen und scheint aller seiner Umgebung ganz fremd. Auf mehrmalige laute Fragen antwortet er langsam und leise einzelne Sylben. Beim Gehen hält er sich an der Wand, an den Menschen und geht sehr langsam; er widerstrebt, wenn er ins Bad geführt werden soll. Das Ge - dächtniss scheint ganz erloschen; man muss den Kranken füttern; er ist höchst unreinlich. Die Empfindung ist stumpf, der Schlaf lang, der Appetit sehr stark. Esquirol lässt ein Vesicator in Nacken setzen. B. klagt über den Schmerz desselben und fängt jetzt an sich zu bessern. Seine Antworten sind länger und lauter, er gibt an, er könne seine Ideen nicht entwickeln, es hindere ihn etwas daran. Physionomie und Unreinlickheit bleiben wie zuvor. Manchmal bricht er in lautes Lachen aus beim Anblick eines mit einer leinenen Blouse be - kleideten Kranken. Am 15. Oct. wird die Besserung deutlicher. B. ist reinlich, und fängt nun an zu musiciren. Im Decbr. völlige Herstellung, lebhafte Physio - nomie, er zeigt eine schön entwickelte Intelligenz. B. vergleicht den Zustand, in dem er drei Monate lang war, mit einem langen Traum. Alles um ihn hatte sich verändert; er glaubte an eine Art allgemeiner Vernichtung; die Erde zitterte und that sich unter seinen Schritten auf, er war jeden Augenblick in Gefahr in einen Abgrund zu stürzen. Er hielt sich an den umgebenden Personen, um diese vor dem Sturz in Abgründe zu bewahren, welche ihm wie Vulcancrater er - schienen. Das Badezimmer hielt er für die Hölle und die Badewannen für Bar - ken. Das Vesicator hielt er für das Brandmal der Galeerensclaven, und sich da - durch für auf immer entehrt. Die umgebenden Personen hielt er für wiedererstan - dene Todte. Er sah seinen Bruder mitten in Qualen, er hörte der Hülferuf seiner Verwandten, die man erwürgte, und jeder Schrei war wie ein Dolchstich für ihn. Von allen Seiten ging Gewehrfeuer los, Kugeln durchbohrten seinen Leib, ohne ihn zu verwunden. Alles in seinem Kopf war Chaos, Confusion, Verwirrung. Er unterschied nicht mehr Tag und Nacht, die Monate schienen ihm Jahre etc. All dieses Unheils klagte er sich selbst an und desshalb suchte er sich zu tödten. Je mehr er litt, um so zufriedener war er, denn er hielt sein Leiden für die gerechte Strafe seiner Verbrechen. Im Beginn seiner Besserung trug ein Brief seines Bruders viel dazu bei, ihm richtige Ansichten über seine Lage zu verschaffen. (Baillarger, l. c.)

XII. Intermittirende Schwermuth während der Periode. An - haltende Schwermuth mit Stumpfsinn. Genesung. Frau M., 44 Jahre, tritt am 24. October 1842 in die Salpetrière. Selbstmordversuch während der Menstruation; schnelle Rückkehr der Besinnung und völliges Wohlbefinden zu Anfang des Novembers; die Kranke tritt aus, kurz darauf neues Delirium, am 25. November Rückkehr in die Salpetrière. Neuer Selbstmordversuch während der Men - struation. Die Kranke ist ruhig, unbeschäftigt; traurige, etwas stumpfe Phy - sionomie, unstäter Blick. Langsame, kurze Antworten, sie kann sich nicht zu - recht finden, weder Tage noch Monate mehr zählen, nichts klar denken; schwerer, müder Kopf. Traurigkeit, ohne dass sie angeben kann, warum; sie glaubt, viel191Melancholie mit Stumpfsinn.Unheil angerichtet zu haben, weiss aber nicht, welches. Alles um sie her ist verändert. Ohrensausen, Gehörshallucinationen, beim Einschlafen sieht sie Schatten, Gesichter etc.; plötzliches Aufschrecken; Verstopfung, ziemlich Ap - petit. Puls 100, Haut nicht heiss. Laxanzen, Ermunterung zur Arbeit, Zwang zum Spaziergang und Gesellschaft, Bäder, Besserung. Am 27. Decbr. Wieder - kehr der Regeln ohne Selbstmordversuch und ohne Verschlimmerung. Nach ihrem Aufhören schnelle Besserung, freiwilliger Antheil an häuslichen Geschäften, Ge - sprächigkeit. Am 6. Jan. wird sie ganz verständig gefunden, und gibt Fol - gendes an: Während der Delirien sah sie Feuer um sich und brannte selbst, ohne Schmerz zu empfinden, sie roch hässliche Gerüche, die Speisen hatten keinen Geschmack für sie. Die Nächte schienen ihr doppelt so lang als gewöhnlich. Sie hörte Stimmen um sich her, ohne die Worte unterscheiden zu können. Zuerst glaubte sie sich in einem Gefängniss, und hielt die Kranken (Weiber) für ver - kleidete Männer. Des Morgens sah sie die Gegenstände klarer, als Abends. Ganz im Anfang glaubte sie, man werde sie in Kessel voll siedenden Wassers werfen, sie hörte es sieden und glaubte zu hören, wie man Kohlen nachlegte. Ursache des Selbstmords war die völlige Umkehrung aller Dinge um sie, für deren Ursache sie sich hielt; sie hielt sich für Schuld an allen Beschwerden und Klagen der Kranken um sie herum, und hielt es desshalb für das Beste, zu sterben. (Baillarger, l. c.)

Viertes Capitel. Die Schwermuth mit Aeusserung von Zerstörungstrieben.

§. 102.

In diesen Zuständen erheben sich aus dem affectartigen Grund - zustande der Verstimmung, der Angst, überhaupt des psychischen Schmerzes, gewisse Triebe und Willensrichtungen, welche in äusseren Handlungen realisirt werden, sämmtlich von negativem, finsterm, feind - lichem, zerstörendem Character. Die negirenden Vorstellungen und Gefühle, die hier zu Bestrebungen werden, die Thaten, die aus ihnen hervorgehen, können theils gegen die eigene Person, theils gegen andere Menschen, theils gegen leblose Gegenstände gerichtet sein; je nach der Verschiedenheit der äusseren Handlung hat man diese Fälle als verschiedene Monomanieen (Mord -, Selbstmord -, Brand - stiftungs-Monomanie etc.) beschrieben. (Vgl. p. 62.)

A. Der Selbstmord.

Nicht die ganze psychologische und ätiologische Geschichte des Selbstmords gehört der Psychiatrie an; denn was auch einzelne192Der Selbstmord.Autoritäten sagen mögen*)Esquirol (l. c. p. 383): Ich glaube bewiesen zu haben, dass der Mensch nur dann sein Leben verkürzen will, wenn er delirirt, und dass die Selbstmör - der geisteskrank sind. Falret, de l’hypoch. et du suicide. 1822. p. 137. Esquirol drückt sich übrigens an andern Stellen seiner Schrift minder absolut aus. er ist nicht immer das Symptom oder Ergebniss einer psychischen Krankheit. Da ist er es nicht, wo die Stimmung des Lebensüberdrusses in einem gewissen richtigen Ver - hältnisse zu den gegebenen Umständen, zu den äusserlich nachweis - baren psychischen Ursachen steht (§. 33.). Wenn ein feinfühlender Mensch sich tödtet, um den Verlust seiner Ehre oder eines anderen, mit seinem geistigen Sein aufs innigste verwachsenen, hohen Gutes nicht zu überleben, wenn Jemand den Tod einem in tiefem Elend, in Schande, in stets sich erneuerndem geistigem und körperlichem Leiden hinzubringenden Leben vorzieht, so ist vielleicht seine Be - rechtigung hiezu von Seiten der Moral anzufechten, aber es liegt kein Grund vor, einen solchen für geisteskrank zu halten der Widerwille gegen das Leben und der Vorsatz der Selbstvernich - tung entspricht der Stärke der widrigen Eindrücke, und die That wird mit Besonnenheit beschlossen und vollführt.

Die Fälle dieser Categorie sind indessen entschieden die weit selteneren; meistens beruht der Trieb zum Selbstmorde entweder auf ausgebildeter Melancholie mit allen Zeichen derselben oder (noch häufiger) auf einem der Schwermuth wenigstens nahe stehenden Zu - stande mässiger, aber allgemeiner schmerzlicher Verstimmung, der auf der Grenze zwischen geistiger Gesundheit und Krankheit liegt. Die Disposition zum leichten Eintritt solcher psychischen Schmerz - zustände, die meist mit Erschöpfung, Kälte und Abstumpfung der Gemüths-Reaction zusammenfallen, ist ganz dieselbe, wie die Dispo - sition zu Geisteskrankheiten. Sind jene einmal eingetreten, so haften und herrschen sie freilich am ehesten da, wo ein schwaches Ich der Stimmung nur geringen Widerstand leistet (p. 41), erscheinen also oft wesentlich als Ergebnisse bestehender Characterschwäche; aber sie unterscheiden sich durch ihre Entstehung von innen heraus (§. 33.), durch den Mangel genügender psychischer Anlässe zu der That, oft durch deutliches Auftreten im Gefolge körperlicher Krank - heit, durch periodische, psychisch unmotivirte Exacerbationen, zu - weilen durch nachweisbare Erblichkeit, ganz wesentlich von dem Lebensüberdrusse, der das directe Ergebniss genügender psychischer Ursachen ist. Wo solche Verstimmungen das ganze psychische Leben beherrschen, da treten dem von selbst entstandenen oder äusserlich193Modificationen desselben.dargebotenen*)Nachahmung des Selbstmords. Gedanken des Selbstmords entweder gar keine hem - mende oder beschränkende Vorstellungen und Triebe entgegen, oder solche werden doch bald an jenem abgenützt und erschöpft, der in steter Wiederholung und mit der Hartnäckigkeit aller andern derartigen melancholischen Stimmungen sich immer wieder dem Ich aufdringt. Je unbedeutender also die äusseren Motive der That sind, je mehr sich im früheren Leben Ursachen oder schon einzelne Symptome beginnender Seelenstörung nachweisen lassen, je ungewöhnlicher ferner und je grausamer die angewandten Mittel der Ausführung sind**)Vgl. den schrecklichen Fall von Verhungern in Hufeland Journal 1819, den Fall des Matthieu Lovat, der sich selbst kreuzigte etc., um so eher hat man Grund, die That als Ergebniss einer krank - haften Verstimmung zu betrachten.

Zuweilen sieht man ganz plötzlich bei bisher Gesunden den Trieb zum Selbstmord, als eine Form des Raptus melancholicus, mit Um - neblung des Bewusstseins und allen Zeichen grosser Exaltation auf - treten (Fall XIII.). Weit häufiger kommen schnelle Entschlüsse zum freiwilligen Tod, denen unmittelbar die Ausführung folgt, ohne eine Spur von Delirium vor; bei näherer Untersuchung findet man alsdann sehr häufig, dass schon längere Zeit ein Zustand von Hypochondrie, von steter Reflexion auf den eigenen Gesundheitszustand vorausging, dass sich die Kranken über eine Unmöglichkeit, wie früher zu denken und zu wollen, über allgemeine Ermattung mit vagen Symptomen körper - lichen Uebelbefindens, namentlich einiger Verdauungsstörung beklagten. Mehr chronisch ist gewöhnlich der Lebensüberdruss, der als Spleen aus Blasirtheit auftritt, jene allgemeine Erschöpfung und Verödung des psychischen Lebens, die sich mehr als durch irgend eine andere Ursache, in Folge sexueller Erschöpfung einstellt, und der ganz ent - schieden durchaus nicht selten locale, organische Erkrankungen der Genitalien zu Grunde liegen***)Vgl. die schon mehrmals erwähnten Krankheitsgeschichten Lallemands.; auch ohne solche kommen ähnliche Verstimmungen bei Onanisten vor, und es scheint fast, als ob schon leichtere Störungen in der Geschlechts-Entwicklung nicht nur jene sehnsüchtig-hypochondrischen Seelenzustände, die nicht selten in der Pubertätsepoche auftreten, sondern bei einzelnen Individuen alsbald den Trieb zur Selbstentleibung wecken könnten.

Der Selbstmord kommt in allen Lebensaltern, vom 7. Jahre an, vor. Seine Erblichkeit und sein Alterniren mit anderen Formen des Irreseins in verschiedenen Generationen ist bereits (§. 71.) erwähnt. Griesinger, psych. Krankhtn. 13194Statistisches über den Selbstmord.Er ist unter Männern weit häufiger, als beim weiblichen Geschlecht. Die genaueren Statistiken der neuesten Zeit zeigen seine auffallende, stetig progressive Vermehrung. Für Berlin hat diess Casper nach - gewiesen; für Frankreich ergibt die officielle Statistik des Justiz - ministeriums in den 10 Jahren von 1827 bis 1837 die ausserordent - liche Zunahme um ein ganzes Viertheil. Bekannt ist die nicht seltene Verbreitung des Selbstmords durch Nachahmung, für welche von den milesischen Jungfrauen an, von denen Plutarch erzählt, bis zu dem bekannten Vorfalle im Pariser Invalidenhause und bis zu den p. 108 erwähnten Kinderselbstmorden zahlreiche Beispiele vorliegen. In allen Zeiten kamen auch die Doppelselbstmorde von Personen zweierlei Geschlechts und die mit vorausgegangenen Gewaltthaten an Anderen complicirten Fälle vor.

In dem Jahrzehend von 1827 37 betrug die Zahl der Selbstmorde in Frankreich 21,345; während es aber A. 1827 erst 1,542 (1: 20,660 Einw. ) waren, war die Zahl bis 1837 allmählig auf 2,443 (1: 14,338 Einwohner) gestiegen. *)Dufau, traité de statistique. Par. 1840. p. 298 seqq.Archambault**)Annal. med. psych. 1843. I. p. 174. versichert übrigens, dass diese Zunahme eine scheinbare sei und nur von der zunehmenden Sorgfalt und Genauigkeit der Sta - tistik herrühre. Unter den Selbstmördern des Jahres 1836 war bei einem Drit - theil (offenbares) Irresein vorhanden (Dufau, p. 306); die Gegenden Frank - reichs, welche die meisten Selbstmörder liefern, ergeben auch die grösste Zahl von Geisteskranken; diejenigen 10 Departements, welche in der Menge der Selbst - entleibungen oben anstehen, gehören übrigens zu den aufgeklärtesten und indu - striösesten und es sind durchaus nicht dieselben, in denen am meisten Verbrechen gegen Personen vorfallen. ***)A. Legoyt, La France statistique. Par. 1843. Tabl. E.Dass übrigens der Selbstmord auch unter den Landleuten in einem Verhältnisse, das dem der grossen Städte nahe kommt, häufig sein kann, hat Cazauvielh wenigstens für eine Gegend Frankreichs nachgewiesen. In der Mehrzahl der Fälle, welche die obige Statistik begreift, geschah die Entleibung durch Ertränken, darauf folgend durch Erhängen, und schon viel seltener durch Feuerwaffen; in England und Deutschland dagegen bil - deten die Erhängungen die grosse Mehrzahl. †)Quetelet, l. c. p. 479.Die Ausführung der meisten Selbst - morde fällt in die Morgenstunden;††)ibidem p. 491. vielleicht deutet diess darauf hin, dass die letzte Determination dieser Unglücklichen meistens in der Stille der Nacht erfolgt.

§. 103.

Die meisten Geisteskranken, bei denen der Trieb zum Selbst - mord vorkommt, leiden an einer ausgesprochenen Form von Schwer - muth. Die nähere psychologische Begründung des Triebs ist dann aber nicht immer dieselbe. Häufig ist es der unerträgliche Excess195Nähere Motive des Selbstmords bei Irren.einer allgemeinen, unbestimmten Angstempfindung, dem der Kranke durch jedes Mittel zu entgehen strebt; ein anderesmal verfällt er, indem er die Veränderung aller seiner Gefühle ins Widrige und Schreckliche, seine Ueberwältigung von traurigen und argen Vor - stellungen fühlt, in Verzweiflung über eine solche Unterjochung und hält sich eines vermeintlich ganz schlecht, verworfen und ruchlos gewordenen Lebens für fernerhin unwerth. Oder es kommt zu jenen dunkeln Vorstellungen allgemeiner Nichtexistenz, Vernichtung der Welt und damit auch der Nothwendigkeit der Selhstvernichtung. Viel - leicht am häufigsten aber sind es Hallucinationen, in denen sich die tiefe Verstimmung und die noch dunkeln Vorstellungen der Selbst - zerstörung sinnlich projiciren und nun dem Kranken, scheinbar von aussen, mit der Stärke und Wahrheit objectiver Anschauungen zu - kommen (Stimmen tödte dich! tödte dich! unmittelbare Befehle Gottes durch Gesichtshallucinationen etc.). Solche Antriebe kommen bei Melancholischen manchmal plötzlich und vorübergehend (einige Stunden, einige Tage dauernd) vor; mitunter tritt mit der miss - glückten Ausführung eine wesentliche Erleichterung und Remission ein, wie man in andern Fällen nach krankhaft motivirten Verletzungen und Unthaten an anderen Personen, die intensive Gefühlsbelästigung, die vorausging, aufhören und den Thäter sich vollständig beruhigen sieht. Einzelne Melancholische ergreifen listig den passenden Moment, um ihren längst feststehenden, aber wohl verborgenen Entschluss auszuführen; andere äussern offen, man möchte fast sagen, scham - los, ihren Hang, sich zu ermorden, und suchen ihn Wochen, Monate lang, durch jedes Mittel, mit Gewalt, oft vor den Augen der An - wesenden zu befriedigen.

Auch in anderen Formen des Irreseins, ausser der Melancholie, kommen Antriebe zu freiwilligem Tode vor; sie beruhen dann seltener auf Lebensüberdruss, als vielmehr auf allerlei, im engern Sinn wahn - sinnigen Ideen, den Märtyrertod für die Menschheit zu sterben, das Paradies, das in glänzenden Visionen vor ihnen offen liegt, zu be - treten etc.; doch treten zuweilen auch bei Verrückten noch inter - currente Anfälle von Neigung zur Selbstzerstörung aus intensivstem Lebensüberdruss als eine Form des Raptus melancholicus oder maniacus auf. Die Anstalt Winnenthal enthielt lange einen schwachsinnig - verrückten Kranken (Ideen, Kaiser von China zu sein und dergl. ), der von Zeit zu Zeit plötzlich, unter bedeutender Kopfcongestion, vom tiefsten Lebensüberdrusse befallen ward und nur durch anhaltende äus - sere Beschränkung von dem beständig intendirten Vorhaben des Selbst -13 *196Beispiele vonmords gerettet werden konnte; ein solcher Anfall dauerte 5 bis 6 Tage, verlor sich dann vollständig und Blutentziehungen am Kopfe schienen jedesmal wesentlich zu seiner Abkürzung und Milderung beizutragen. Vom Selbstmorde auszuschliessen sind die Fälle, wo Geisteskranke sich unabsichtlich, ohne sterben zu wollen, den Tod geben, wenn z. B. ein Maniacus im Delirium das Fenster für die Thüre hält und hinausgehen will, wenn ein Anderer aus dem Fenster springt, weil ihm Gott gesagt hatte, geh zum Fenster, du wirst wie ein Vogel fliegen *)Leuret, Fragments p. 290., oder wenn ein Wahnsinniger die Mission der allgemeinen Menschenbekehrung haben will, und sich zum Beweise für die Wirk - lichkeit seiner Sendung und für seine Unverwundbarkeit von einer Brücke herabstürzt und ertrinkt**)Falret, hypoc. et suic. p. 139.. Diess sind keine Selbstmorde; diese Kranken wollten sich nicht tödten.

XIII. Plötzlich auftretender Raptus zum Selbtmord mit Umneblung des Bewusstseins und ohne Rückerinnerung. Eine noch lebende Frau, jetzt (1821) drei und vierzig Jahre alt, hatte bis - her in glücklichen Verhältnissen und ausser einigem hysterischen Kopfschmerz und Dysmennorrhoe gesund gelebt. Bis zum Jahre 1804 wurde sie von keinem Unfalle betroffen. Ihr Mann liebte sie zärtlich, ihre Kinder, die sie zum Theil selber genährt hatte, wuchsen kräftig auf und ihre Vermögensumstände waren sehr gut. Am 24. Juli dieses Jahres aber, nachdem sie einige Tage zuvor an ihrem gewöhnlichen Kopfschmerz gelitten hatte, der jetzt aber schon ganz ver - schwunden war, sitzt sie Nachmittags Uhr anscheinend heiter auf dem Flur ihres Hauses und beschäftigt sich mit Nähen. Plötzlich und ohne die geringste Veranlassung springt sie auf und ruft: Ich muss mich ersäufen, ich muss mich ersäufen rennt darauf fort und gerade zu dem nicht weit von ihrer Wohnung entfernten Wallgraben der Stadt, in den sie sich auch ohne Zögerung hineinstürzt. Sie wurde sogleich wieder aus dem Wasser gezo - gen und, dem Scheine nach schon todt, in ihr Haus getragen. Ein schnell herbeigeeilter Arzt rief sie zwar bald wieder in das Leben zurück, doch blieb sie stumm und starrte mit offenen, fest auf einen Punkt gerichteten Augen vor sich hin, ohne auf das, was um sie vorgieng, weiter zu achten. Ich sah sie erst am 27. Juli Abends. Sie hatte während dieser seit dem Anfalle verflossenen Tage zwar Alles ruhig mit sich vornehmen lassen. auch Arzneien niedergeschluckt, dennoch aber kein Wort gesprochen, weder gegessen noch getrunken, nicht ge - schlafen und keine Theilnahme an irgend etwas bewiesen. Als ich spät Abends zu ihr kam, lag sie im Bette und seufzte beständig. Auf meine Anrede fuhr sie zusammen und rief meinen Namen aus. Es wurde Licht gebracht und da sie mich erblickte, fragte sie: Mein Gott, wo bin ich, und was ist mit mir vorgefallen? worauf sie heftig zu weinen anfieng. Ich beruhigte sie; nachdem sie ihren Mann noch wieder erkannt und mit ihm gesprochen und nach ihren Kindern gefragt hatte, schlief sie ein und ruhte ungestört bis zum Morgen.

197Selbstmordtrieb.

Nach dem Erwachen hatte sie sogleich heiter nach allem gefragt und mit Erstaunen von ihrem Versuch sich zu ertränken und von der Gefahr, in die sie dadurch gekommen war, gehört. Bei meinem Eintritte Morgens fragte sie mich lachend, was ich wohl von ihr gedacht und gesagt habe und begehrte zu wissen, wie sie zu dem thörichten Einfalle sich ertränken zu wollen habe kommen können, ohne selbst weiter etwas davon zu wissen, oder irgend einen Grund dafür angeben zu können. Sie ist seither ungeachtet mehrerer Wochenbetten, manchen Unruhen und Schrecken niemals wieder von einem ähnlichen Gedanken befallen worden, und abgerechnet ihre hysterischen Beschwerden und den be - schwerlichen Monatsfluss, immer gesund, heiter und lebenslustig geblieben.

(Mende in Henke Zeitschrift für die Staatsarzneikunde. 1821.)

XIV. Trieb zum Selbstmord aus verborgen gehaltenen Halluci - nationen. Ein junger Mann, der ein sehr grosses Vermögen besass, hatte sich der Onanie ergeben, befand sich jedoch vollkommen wohl. Er hatte keine andere Ursache zum Kummer, als die Rückerinnerung an die Revolution, deren Prin - cipien er missbilligte, und hatte schon mehrmals versucht sich das Leben zu nehmen und zwar mit Pistolen, da er sich durch nichts Anderes tödten wollte. Er befand sich zwei Jahre lang unter meiner Aufsicht, hatte während dieser Zeit nicht einen Augenblick irre gesprochen, sondern war heiter, liebenswürdig, sehr unterrichtet und sagte mir manchmal: Geben Sie mir eine Pistole! Warum wollen Sie sich denn tödten? Weil ich mich langweile. Erst nach zwei Jahren gestand er mir, dass er seit langer Zeit Hallucinationen des Gehörs und Gesichts habe. Er glaubte von Polizeiagenten verfolgt zu sein, die er immer hörte und sah, selbst mitten durch die Mauern seines Zimmers, die, wie er hinzu - fügte, aus zwei doppelten verschiebbaren Brettwänden bestanden, damit man Alles sehen und hören könne, was er thue und was er sage.

(Esquirol, übersetzt von Bernhard. I. p. 322.)

XV. Vager Trieb zum Selbstmord, entstanden durch heftige Furcht bei körperlicher Erschöpfung. N., ein Schnei - der, 31 Jahre alt, verfiel durch Onanie in tiefe Entkräftung und musste sich später wiederholten Mercurialcuren unterwerfen. Beim Ausbruch der Cholera im Jahre 1831 wurde er durch das Gerücht, dass man die Kranken mit Zangen aus ihren Wohnungen ziehe und sie auch ausserdem äusserst grausam behandle, dergestalt mit Entsetzen erfüllt, dass er in Ohnmacht fiel und mit der Cholera behaftet zu sein glaubte. Er konnte Anfangs vor Angst nicht arbeiten, des Nachts nicht schlafen und gerieth bei der Vorstellung, dass auch er einer so schrecklichen Behandlung sich werde unterwerfen müssen, ganz ausser sich; ja er brachte die Nächte bei Bekannten zu, weil er fürchtete in ein Choleralazareth abgeholt zu werden. Bei der Arbeit wurde er aus Angst von Gliederzittern be - fallen, welches er für einen Vorläufer der Cholera um so mehr hielt, da er hörte, dass die Furcht dazu disponire. Der Appetit verging ihm und er scheute sich viel zu essen, weil die Menge der Speisen und die meisten Arten derselben ihm schädlich seien, ja er schwächte durch vieles Hungern seine Verdauung sehr. Unaufhörlich von Furcht gequält schlief er wenig, träumte viel von Er - mordungen, Leichenzügen; bei Tage wagte er nicht auszugehen aus Furcht vor der Krankheit und vor der Polizei. Diese Pein versetzte ihn in eine so reizbare Gemüthstimmung, dass er durch den Anblick des Schlachtviehes sehr gerührt wurde, weil er sich vorstellte wie demselben das Messer an die Kehle gesetzt198Beispiele von Selbstmordtrieb.werde. Als er sich endlich etwas von dieser Angst erholt hatte, hörte er eines Tags einen Schuss fallen, worüber er heftig erschrak, weil er glaubte, dass sich jemand entleibt habe. An dem nämlichen Abend erfuhr er, dass in der Nachbarschaft jemand sich den Hals abgeschnitten habe. Seine Angst erreichte nun wieder einen hohen Grad, so dass er des Nachts nicht schlafen konnte, indem er stets daran dachte, wie der Selbstmörder zu seiner That gekommen sei, welche Theile des Körpers er durchschnitten habe. Vergeblich bemühte er sich diese Vorstellungen zu verbannen, welche durch die entfernteste Ver - anlassung aufs Neue hervorgerufen wurden, z. B. durch einige kopflose Bild - säulen im königlichen Museum, welche ihm das Bild von Enthaupteten vorspie - gelten. Wenn er ein Messer liegen sah, war es ihm, als müsse er sich den Hals abschneiden, trotz seines Abscheues davor und seiner Liebe zum Leben. Hatte er ein Messer in der Hand, so zitterte er, warf es weg, oder legte es unter den Teller, um es nicht zu sehen. Unaufhörlich dachte er an gewaltsame Todesarten; sah er einen Strick, so kam ihm der Gedanke des Erhängens in den Sinn; ging er über eine Brücke, so war es ihm, als müsste er ins Wasser springen, daher er sie nie am Geländer, sondern in der Mitte mit schnellem Laufe passirte, um nicht bei langsamen Gehen wider Willen fortgerissen zu werden; stand er an einem Fenster, so fühlte er einen Antrieb hinauszuspringen und wich voll Entsetzen zurück. Man rieth ihm Messer und Pistolen zu ergreifen, um sich an den Anblick zu gewöhnen, aber er konnte es vor Angst nicht über sich gewinnen. Nachdem die Angst ihn lange gefoltert hatte und zuletzt auf den höchsten Grad gestiegen war, willigte er selbst gerne ein, sich in die Charité aufnehmen zu lassen. Auch hier dauerte sein Zustand noch lange Zeit; endlich gelang aber seine vollständige Heilung durch anhaltende körperliche Arbeit und durch Sturzbäder. (Ideler. Mare, übersetzt von Ideler. I. p. 196.)

XVI. Selbstmord aus Angst und Hallucinationen. Ein früherer Militär, 38 Jahre alt, bricht beide Beine, welche ihm beide amputirt werden; er wird finster und verfällt in einen Anfall von Manie; er hört Stimmen, die ihn ohne Unterlass beleidigen, verfolgen, mit dem Tode durch Erschiessen bedrohen; darauf erfolgen Antworten, die er an die Stimmen richtet. Dieser Zustand von Hallucinationen und Angst dauert 10 Monate, ungeachtet aller möglichen Mittel; der Kranke concentrirt sich immer mehr auf seine falschen Empfindungen er verweigert hartnäckig die Nahrung, um sich diesen Qualen zu entziehen die Stimmen fordern ihn auf nicht mehr zu essen .... Man muss ihn mit Gewalt ernähren je elender er wird, um so stärker scheinen die Stimmen zu werden, endlich stirbt er an Erschöpfung.

(Sc. Pinel, pathol. cérébr. Par. 1844. p. 212.)

XVII. Ich behandle gegenwärtig ein Mädchen, die durch einen heftigen Sturz auf das os sacrum einen Vorfall der Gebärmutter erlitt und plötzlich von einer tiefen Traurigkeit, mit den sonderbarsten Verirrungen der Vorstellungen und einer Neigung zum Selbstmord befallen wurde, so oft durch irgend eine Anstrengung der Hals des uterus an der Mündung der vagina sich zeigte, oder durch sie heraustrat. Der Gebrauch eines Pessariums liess diese merkwürdigen Anomalieen verschwinden.

(Guislain, Phrenopathien, übersetzt von Wunderlich. 1838. p. 282.)

199Dritte Form der Schwermuth.

B. Melancholische Zustände mit Trieben zur Zerstörung und Verletzung Anderer.

§. 104.

Direct und unmittelbar an die schwermüthigen Antriebe zur Selbst - vernichtung schliessen sich die krankhaft entstandenen Triebe zur Zerstörung und Verletzung anderer Menschen oder lebloser Objecte an. Nicht nur kommen beide häufig zusammen vor, nicht nur haben die hierhergehörigen Gewaltthaten gegen Andere, insoferne sie häufig gerade an dem dem Kranken Liebsten und Theuersten begangen werden, alsdann ihrer inneren Begründung nach die wesentliche Be - deutung einer Selbstverletzung und Selbstverstümmlung; beide beruhen auch überhaupt auf demselben Grundzustande der krank - haften negativen Affecte, und bei beiden wiederholen sich die ein - zelnen Verschiedenheiten der näheren, krankhaften Motivirung.

Was zuerst die psychische Begründung solcher Gewaltthaten bei früher schon entschieden Schwermüthigen betrifft, so gehen solche Antriebe zum Theil aus einem wirklichen Delirium des Vor - stellens oder der Sinnesperception hervor. Hierher gehören die Fälle, wo die Kranken sich von Anderen verfolgt oder überhaupt beein - trächtigt glauben*)So z. B. die mehrfach vorgekommenen Fälle, wo Hypochondrisch-Ver - rückte Mordangriffe auf ihre Aerzte machten. Vrgl. Marc, übers. v. Ideler. II. p. 9. Ueberhaupt wollen wir auf die reichliche Sammlung von Fällen, die diese Schrift enthält, für dieses ganze Capitel verweisen., wo sie vorhandene Gehörs-Hallucinationen von angreifendem, beschimpfendem Inhalt gewissen Personen zuschreiben, und an solchen dann wirkliche Rachehandlungen begehen. Diesen stehen jene Gewaltthaten sehr nahe, die auf der entschieden melan - cholischen Vorstellung beruhen, dass Alles in der Welt durchaus schlecht, verworfen und verloren sei, dass z. B. die unschuldigen Kinder dem Elend dieser Welt am Besten durch einen frühen (ge - waltsamen) Tod entzogen würden, oder dass ungeachtet kein Grund zu solcher Besorgniss vorliegt alle Mittel zur weiteren Existenz er - schöpft seien, und Alles demnächst in Hunger und Elend zu Grunde gehen müsse etc. Derlei dunklere oder bewusstere Vorstellungen projiciren sich nicht selten in Hallucinationen, die direct zum Mord (von Kindern, Gatten etc.) auffordern, und es schliessen sich an sie jene Gehörs - hallucinationen fanatisch-religiösen Inhalts (Stimmen Gottes, vom Himmel etc.) an, welche dem Kranken eine Nachahmung des Opfers200Schwermuth mit Mord -Abrahams und dergl. befehlen. Solchen liegt der dunkle Gedanke der Nothwendigkeit eines fremden, den Kranken selbst aber wesentlich mitbetreffenden, Sühnopfers für imaginäre eigene, schwere Ver - brechen zu Grunde, während in andern Fällen eine solche Unthat von dem Kranken, der sich selbst für einen verworfenen Bösewicht hält, in der Absicht begangen wird, sich die vermeintlich wohlver - diente Todesstrafe zuzuziehen.

Für sehr viele dieser und der zum folgenden §. gehörigen Fälle ist ein, schon beim Selbstmord (p. 195) erwähnter Umstand sehr wichtig und characteristisch, nemlich die Befreiung des Individuums von seinem schmerzlichen Affect und seinen schrecklichen Vorstellungen dadurch, dass die That vollbracht, ihm objectiv geworden ist (p. 34), jene Erleichterung und Beruhigung, welche der Kranke durch die Ent - äusserung seiner Stimmung mit dem Vollbringen der That gewinnt, das, was man auch schon die critische Bedeutung solcher Thaten genannt hat. In folgenden, noch sehr einfachen Fällen sind ver - schiedene Modificationen einer derartigen Erleichterung krankhafter, schlimmer Neigungen zu erkennen; ganz Aehnliches kommt oft nach der wirklichen Ausführung von Mordthaten aus melancholischen Motiven vor.

XIX. Ein Fall von Melancholie zeigte einen Character, der nicht ungewöhn - lich ist und der in höheren Graden und bei voller Ausbildung eine Form mora - lischer Manie abgibt. Die Patientin, eine verheirathete Frau, 45 Jahre alt, war in Folge von ängstlicher Gemüthsart in einen Zustand tiefer Schwermuth mit beständiger Angst verfallen. Sie gab an, wo sie immer von einem Verbrechen höre oder lese, fühle sie eine heftige Versuchung es auch zu begehen, aber zugleich auch eine obenso heftige Furcht vor der Ausführung; unmöglich könne sie alle die grässlichen Dinge angeben, die ihr durch den Kopf gehen. Sie setzte bei, dass jede Gewaltthätigkeit, in Rede oder That, die sie an ihren Kindern oder ihrer Umgebung verübe, ihr eine bedeu - tende Erleichterung verschaffe, und dass sie nun die grösste Mühe habe, sich zu beherrschen. Die Kranke genas unter dem Gebrauch verdünnter Schwefelsäure, Opiumtinctur, Digitalis, Quassia-Jnfus und eröffnenden Mitteln.

(Guy; Kings-College annual. reports. 1841. Lond. Med. Gaz. Septbr. 1842.)

XX. Ein Kranker, der an Fissura ani und Spermatorrhoe mit vorüber - gehenden Kopfcongestionen leidet, verfällt nach[und] nach in Melancholie. Er verabscheute den Selbstmord und ein böser Genius schien ihn beständig dazu zu treiben; der Anblick von spitzigen Körpern oder Schiessgewehren machte ihn zittern und erweckte in ihm einen Trieb zu tödten, von dem er sich nur befreien konnte, indem er sich einen heftigen Schmerz erregte, z. B. einen Theil seines Körpers heftig kneipte. Die Zuvorkommenheit seiner Umgebung erwiederte er mit Grobheit. Er verab - scheute das Böse und fühlte sich wider Willen dazu getrieben:201und Zerstörungstrieben.so fand er einen Genuss darin, eine Frau, die er sehr liebte, zu quälen und dann weinen zu sehen.

(Lallemand, des pertes seminales. I. p. 251.)

§. 105.

Aehnlich einem der mitgetheilten Fälle von Selbstmordtrieb (Nro. XIII), kommen auch bei bisher wirklich oder scheinbar Gesunden plötzliche, mit Umneblung des Bewusstseins verbundene Anfälle heftigster Angst mit schrecklichen Hallucinationen vor, in denen der Kranke in jähe blinde Wuth gerathen und Alles, was ihm in den Weg kommt, niederhauen und zerstören kann. Diese Fälle, ihrer Aeusserung nach freilich zur Form der Tobsucht gehörig, in ihrer psychologischen Begründung aber heftige Ausbrüche melan - cholischer Angst, überhaupt krankhaft entstandener negativer Affecte darstellend, finden in ihrem Mangel an reeller psychischer Motivirung nächste Analogieen an den plötzlichen Anfällen der tiefsten Angst, und des heftigsten Seelenschmerzes, die man zuweilen als Vorläufer epileptischer Anfälle beobachtet hat*)S. das Capitel von der Epilepsie..

Fast ebenso dunkel in Bezug auf ihre innerliche Begründung, und doch von höchster Wichtigkeit für die Rechtspflege sind jene Fälle, wo bisher psychisch Gesunde bei vollem Bewusstsein, oft ganz schnell und ohne äussere Anlässe, von ängstlichen, schmerzlichen Affecten und einem, ihnen selbst unerklärlichen Gelüste nach Mord befallen werden. Hier sind indessen zwei Categorieen von Fällen zu unterscheiden.

Einmal diejenigen, wo solcher Trieb zum Blutvergiessen in bis - her heitern, frohen und liebenden Gemüthern plötzlich, ohne allen Anlass aufsteigt und sich zähe anhaltend immer und immer in alle Gedankenkreise eindrängt. Hier entsteht nun meist ein tiefer, trau - riger Zwiespalt des Bewusstseins, ein Kampf und Sturm der peinlichsten Affecte um die neuen, schrecklichen Vorstellungen, gegen welche der ganze bisherige Gehalt des Ich mit all der, bei verschiedenen Menschen freilich sehr verschiedenen Kraft, die ihm zu Gebote steht, sich zur Wehre setzt. Der Niederlage des Ich in diesem Kampfe kann sich dann der Mensch oft nur durch Flucht in die Einsamkeit, wo der Trieb kein Object mehr findet, entziehen; nach einiger Zeit können dann jene Vorstellungen ebenso schnell, als sie aufstiegen, wieder versinken, und der Mensch ist wieder ganz der Alte; er weiss kaum wie ihm geschehen ist, was für ein schwerer, grässlicher Traum ihn202Beispiele von Schwermuthgedrückt hat, und er athmet tief auf, dass er so glücklich vorüber - ging. Anderemale aber zum Glück hier seltener unterliegt das Ich, und der Unglückliche begeht das Verbrechen, ohne den mindesten Gewinn, mit der sichern Aussicht auf Schande und Elend, ja in der gewissen Erwartung eines schimpflichen Todes durch Hinrichtung, der ihm aber gegen die jetzige Angst und Seelenqual, welche um jeden Preis aufhören muss, als ein Leichtes und als eine Wohlthat erscheint.

XXI. M. R., ein ausgezeichneter Chemiker und liebenswürdiger Dichter, von einem an sich sanften und geselligen Character, meldete sich selbst als Gefan - gener in einem Krankenhause des Faubourg St. Antoine. Von dem Antriebe zum Morden gequält, warf er sich oft vor den Altären nieder, und flehte Gott um Befreiung von dieser scheusslichen Neigung an, über deren Ursprung er sich niemals Rechenschaft ablegen konnte. Wenn der Kranke spürte, dass sein Wille auf dem Punkte stand, jenem Antriebe nachzugeben, eilte er zu dem Vor - steher der Anstalt, und liess sich beide Daumen mit einem Bande zusammenbin - den. Dies schwache Band reichte hin, den unglücklichen R. zu beruhigon, wel - cher dennoch zuletzt einen meuchelmörderischen Angriff auf seinen Wächter machte, und hierauf in einem Anfalle der heftigsten Wuth starb. R. hinterliess eine Reihe von Briefen, in denen er sich bemühte, seine inneren Empfindungen zu schildern. Sie thun dar, dass der Antrieb zum Morden sich bei ihm auf kein Motiv, auf kein Raisonnement gründete, und daher völlig instinctartig war. Diese sehr interessanten Briefe, welche ich zu einem grossen Theil gelesen habe, kamen in die Hände des Dr. Gall, und sind unglücklicherweise verloren gegangen. (Marc. übersetzt von Ideler. I. p. 169.)

XXII. Catharine Olhaver, auf einem Dorfe, als das dritte eheliche Kind armer Eltern, im Jahr 1788 geboren, hatte frühe von der Brust genommen wer - den müssen, weil die Mutter, wie der Säugling eben erst in die sechste Woche seines Alters getreten war, von einem heftigen hitzigen Fieber befallen worden. Diese Krankheit begann, ehe noch andere Erscheinungen derselben eingetreten waren, mit dem Vorsatz, den Säugling zu ermorden. Um dies ins Werk zu setzen, trennte sie eine Seite ihres Oberbettes auf, und gedachte das Kind in dieses hinein zu stecken, damit es in den Federn ersticke und zugleich darin verborgen bleibe. Sie wurde an der Ausführung dieses Vorsatzes gehindert, worauf sich sogleich das Fieber in seiner ganzen Heftigkeit äusserte und meh - rere Wochen hindurch anhielt. Nach der Genesung wusste diese Frau sich ihrer bösen Absicht nicht mehr zu erinnern, und verpflegte das Kind mit mütterlicher Sorgfalt. Sie lebt noch und hat nie wieder ähnliche Anfälle gehabt.

Ohngeachtet einer ärmlichen Erziehung, wuchs Catharine gesund haran; sie soll zuweilen an Würmern gelitten haben. Der Monatsfluss stellte sich erst spät ein, war jedoch hernach beständig regelmässig. Ihr erster Umgang mit einem Manne hatte Schwangerschaft zur Folge. Am 21. Januar 1821 gebar sie leicht und glücklich einen gesunden Knaben, den sie anfangs selber nährte. Bald nach ihrer Entbindung traf sie nach heftigem Aerger ein Anfall von Epilepsie, der sich hernach aber nicht wieder einstellte. Als ihr Kind sechs Wochen alt war, übernahm sie einen Ammendienst, in dem sie sich sehr wohl betrug, sich203mit Mordtrieben.stets ruhigen Gemüths, heiter und verträglich zeigte; auch das Kind, das sie zärtlich liebte, gedieh sehr wohl bei ihr, nur einmal wurde sie von einem hef - tigen Aerger und Schmerz ergriffen, als sie sechs Wochen nach dem Antritte ihres Dienstes den Tod ihres Kindes erfuhr. Doch erloschen diese Eindrücke bald wieder, ihre gleichmüthige Heiterkeit kehrte zurück und sie wandte ihre ganze mütterliche Zärtlichkeit nun noch in höherem Grade auf den Säugling, den sie nährte. Am Ende der 32sten Woche nach ihrer Entbindung stellte sich der Monatsfluss wieder bei ihr ein, dem ein kurzes Uebelbefinden voranging. Beide kehrten hernach regelmässig um die vierte Woche wieder. Von jetzt an griff sie die Ernährung des Kindes sichtlich an, sie wurde bleicher und magerer, auch das Kind fieng an zu erkranken, anfangs an Intermittens, später an krampf - haftem Husten.

Freitag und Sonnabend, den 20. und 21. October, litt die Amme an heftigen Leibschmerzen, die auch am Sonntag, wiewohl schwächer fortdauerten. Dabei fühlte sie öfters ein gewisses Wühlen im Magen und eine Beängstigung, die indessen vorübergehend waren. Am Sonntag Abend, da sie mit den beiden jüngsten Kindern allein im Zimmer ist, steigt ihr mit Einemmale, indem sie ein Messer auf dem Tische liegen sieht, der Gedanke auf, sie müsse mit diesem Messer dem Säugling, den sie auf dem Schoose bat, den Hals abschneiden. Ihrer Angabe nach, fühlte sie im Magen ein besonderes Gewühl, oder wie sie sich ausdrückte, ein Kluckern; vom Magen aus steigt es ihr heiss zum Kopf; es ist, als ob ihr eine Stimme zuriefe, sie müsse das Kind ermorden. Sie entsetzt sich selbst vor diesem Gedanken, legt schnell das Kind aufs Bett, läuft mit dem Messer in die Küche, wo sie es wegwirft und die Köchin bittet mit ihr hinaus - zukommen und bei ihr zu bleiben, weil sie böse Gedanken hätte. Da aber diese ihr antwortet, dass sie ihre Arbeit nicht verlassen könne und bald darauf aus - geht, so bleibt sie wieder mit den Kindern allein. Immer noch steigt ihr der - selbe Gedanke wieder auf, und um sich von ihm los zu machen, fängt sie laut an zu singen, tanzt mit den Kindern im Zimmer umher und bringt sie endlich zu Bette. Als darauf die Köchin wieder nach Hause kommt, fordert sie diese auf bei den Kindern zu bleiben und sie, die Amme, an ihrer Stelle ausgehen zu lassen. Da aber diese nichts davon wissen will und bald darauf wirklich fort - geht, legt sie sich zu Bette, schläft ein wenig ein, erwacht aber plötzlich mit einer neuen, fast unwiderstehlichen Anwandlung das Kind, dessen Wiege vor ihrem Bette steht, zu ermorden. Zum Glück öffnet sich in diesem Augenblick die Thür und ihre Dienstherrschaft kommt nach Hause; das beruhigt sie wieder etwas, weil die Mutter des Kinds und deren Schwägerin in demselben Zimmer schlafen; aber sie schläft die ganze Nacht wenig und sehr unruhig, bis etwa um drei Uhr jener Mordgedanke so heftig wird, dass sie laut anfängt zu rufen, um die Anwesenden zu wecken. Sie klagt nun, dass sie sich sehr unwohl fühle und von bösen Gedanken geplagt werde, ohne jedoch darüber näher sich auszu - lassen. Dabei spricht sie zuweilen wie in Geistesabwesenheit zu sich selbst; bald ruft sie laut: O Gott, welche schrekliche, scheussliche Gedanken, bald Das ist ja lächerlich, abscheulich, entsetzlich, bald fragt sie ängstlich nach dem Kinde, ob es auch bei der Mutter sei und ruft ihm liebkosend und zärtlich zu, bis sie endlich, nachdem ihr Chamillenthee gegeben worden, sich etwas beruhigt und gegen sechs Uhr einschläft. Am folgenden Tag fühlt sie sich matt und an - gegriffen und immer noch wird sie von denselben Anwandlungen geplagt. Dabei204Schwermuth mit Mord -sitzt sie immer stumm, in sich gekehrt, oft mit stierem und wildem Blick und mit ungewöhnlicher Röthe im Gesichte, ohne sich, wie sie sonst immer pflegte, mit dem Kinde besonders abzugeben, es umherzutragen, es zu liebkosen und ihm zu schmeicheln. Endlich um fünf Uhr Nachmittags, nachdem sie dreimal von der unterdessen verordneten Arznei eingenommen hatte, fühlt sie[Beruhigung] und Erleichterung. Nur einmal noch, in der Nacht vom Montag auf den Dienstag wandelt sie jene Mordlust wieder an; sie springt aber schnell aus dem Bette und nimmt Arznei, wornach sie sich beruhigt fühlt. Seitdem ist sie von allen ähnlichen Anwandlungen frei geblieben. Am Dienstag gestand sie Alles unter vielen Thränen.

Der Anfall traf nicht mit der Menstruation zusammen, nicht die kleinste veranlassende Ursache konnte aufgefunden werden. Die Arzneien bestanden aus Potio Riveri, Brechmittel, Valeriana etc. Das Kind starb im November, die Amme hatte es während seiner letzten Lebenszeit mit dem stillen Ausdruck des tiefsten Schmerzes in den Armen gehalten und verfiel als es endlich gestorben war in die grösste Verzweiflung, die indessen bald vorüberging und einer ruhi - geren Trauer Platz machte.

(Mende, in Henke Zeitschrift für die Staatsarzneikunde. 1821. 2tes Vierteljahrsheft. p. 274.)

XXIII. Die Frau eines Schuhmachers besuchte mich eines Tages wegen eines Leidens über das sie verzweifeln will; sie zeigt alle Merkmale geistiger und körperlicher Gesundheit, aber sie klagt unaufhörlich durch den Gedanken belästigt zu werden, ihre vier Kinder umzubringen, welche sie doch, wie sie sagt, mehr liebt als sich selbst. Sie fürchtet einen schlimmen Streich zu machen, sie ist in Verzweiflung, sie will sich zum Fenster hinausstürzen; sie fühlt einen unwiderstehlichen Drang ohne Gründe dazu zu haben und verfällt dadurch in ein allgemeines Zittern. Gegen andere Kinder fühlt sie keine solche schlimme Gelüste, nur ihre eigenen muss sie fliehen und aus Furcht zu unterliegen, verbirgt sie sorg - fältig alle Werkzeuge, die ihr in die Hände fallen können. Sie steigt bestän - dig Treppen auf und ab, um durch Bewegung und Ermüdung jene Gedanken zu vertreiben; dieser Mordtrieb währt etwa ein Vierteljahr und hört dann von selbst wieder auf mit der Rückkehr der Menses.

(Georget, Discussion médico-légale sur la solie. 1826.)

Für die blutdürstigen Grillen dieser Art mag allerdings*)Vgl. die Zusätze Idelers zum 4ten und 9ten Abschnitt der Schrift von Marc. die Ge - danken-Entstehung nach dem Gesetze des Contrastes (§. 16.) fast den einzigen Anknüpfungspunkt an die Vorgänge des gesunden Seelen - lebens bieten, wiewohl es von der Thatsache, dass in dem Glück - lichen der Gedanke der Noth und des Elends, in dem Liebenden der Gedanke der Untreue, in dem auf steiler Höhe Steheuden der Gedanke eines tiefen Sturzes leicht entstehen kann, noch weit ist zu diesen, das Handeln provocirenden, fix und anhaltend nach Aussen drängenden Vorstellungen.

Etwas deutlicher in ihrer psychologischen Motivirung sind die205und Zerstörungstrieben.Fälle zweiter Reihe, wo solche Impulse in schon längst verdüsterten, inner - lich vereinsamten, menschenfeindlichen Seelen entstehen. Je mehr ein krankhafter Zustand von Insichgekehrtsein mit negativem Affect habituell wird und sich fixirt, um so mehr tritt der Mensch innerlich heraus aus der Gemeinschaft freundlicher und wohlwollender Regungen, die die Menschen untereinander verbindet und er kann fortschreitend zu einem Standpunkt kommen, der fast ausserhalb der Menschlichkeit und ihrer Interessen liegt. Gegen die Welt, die durchaus wider - wärtig, finster und gräulich geworden ist, mag sich hier wohl die Stimmung des bittersten Grolles entwickeln, es mögen hier wohl Antriebe zu dunkeln Thaten auftauchen, in denen der Mensch gleich - sam alle die eingebildeten Kränkungen und Leiden, die Widerwärtig - keit aller Eindrücke, deren Quelle er statt in sich, immer in der Aussenwelt sucht, dieser in Einer eclatanten Unthat heimgibt. Auch hier werden oft nahestehende Personen, die momentan einen ver - stärkten Hass des Kranken auf sich zogen, zu Opfern solcher An - triebe; häufiger aber sind es hier gleichgültige Menschen, als ob es dem feindlichen Sinne des Kranken überhaupt um einen Repräsentanten der verhassten Gattung zu thun wäre, und die unschuldigen Reize eines Kindes, die Schönheit einer Frau können hier manchmal zu Herausforderungen für jene blutgierige Stimmung werden.

Der vielbesprochene Fall der Henriette Cornier gehört in diese Categorie (S. Marc. II. p. 48. 41). Beispiele solcher Zustände, schon im frühen Kindes - alter entwickelt, s. bei Marc. I. p. 66. Esquirol, l. c. II. p. 61. Ebenso vgl. die zwei Fälle von Lallemand, l. c. III. p. 185 186. In vielen dieser Fälle lassen sich mannigfache körperliche Störungen, theils von erfahrungsmässigem Einflusse auf die Erzeugung einer Gehirnaffection, theils schon weitere Symptome einer solchen, nachweisen, anhaltende oder vorübergehende Kopfcongestion, Stö - rungen der Menstruation, Onanie und Krankheiten der Sexualorgane, Angstem - pfindungen, die von der Herzgrube aufsteigen, Umneblung der Gesichtsobjecte, allgemeines Unwohlsein, Mattigkeit, Stuhlverstopfung etc. Eine Anweisung zur forensischen Beurtheilung solcher Fälle gehört nicht hierher; es versteht sich, dass sich solche nur auf wissenschaftliche Gründe, hervorgehend aus der genauesten Ermittlung der psychologischen und organischen Genesis solcher Antriebe, stützen darf. So jämmerlich es ist, wenn häufig die Lehre von den krankhaften Antrieben zum letzten Auskunftsmittel in der Vertheidigung schlechter Sachen gemacht wird, so wenig die ärztlichen Gutachten nach Idelers Aus - drucke jenen italiänischen Kirchen gleichen dürfen, in denen jeder Bandit ein sicheres Asyl findet, so sehr muss die Medicin in diesen Dingen ihre Rechte wahren; möchte sie doch nie, im Conflict mit den gangbaren Meinungen und mit Ansichten, die nur auf vollständiger Unkenntniss des kranken Seelenlebens be - ruhen, die Waffen ihrer wissenschaftlichen Gründe strecken!

206Schwermuth mit Neigung zum Zerstören.
§. 106.

An die eben besprochenen Antriebe reihen sich die krankhaften Neigungen zur Zerstörung lebloser Objecte bei Schwermüthigen an, die sich an Allem, was den Kranken umgibt, äussern können. Die Fälle, wo die That in Brandstiftung besteht, wurden als eine eigene Monomanie, die s. g. Pyromanie beschrieben und erörtert eine äusserliche Art der Zusammenstellung (Vgl. p. 62), die wenigstens den Vortheil einer vorläufigen Fixirung des Gegenstandes hatte. *)Vgl. die reichhaltige deutsche Literatur über diesen Gegenstand, von Osian - der, Henke, Meckel, Masius, Flemming, Mayer, Hettich etc.

Wenn man unter den bekannt gewordenen Beobachtungen hier - über alle die, unstreitig die Mehrzahl bildenden Fälle ausschliesst, wo offenbar egoistische Motive**)Theils Rache, theils bübische Lust an Unfug, theils und zwar am häu - figsten, die Absicht, durch Zerstörung einer Wohnung ein widerwillig ertragenes Dienstverhältniss aufzulösen und wieder nach Hause zu kommen. die Hand des Brandstifters leiteten, so bleibt allerdings noch eine Anzahl anderer übrig, wo die That des Feueranlegens in entschieden schwermüthigem (namentlich nostal - gischem) Zustande, oft unter Begleitung auffallender und wichtiger körperlicher Störungen besonders Störungen der sexuellen Ent - wicklung begangen ward. Der krankhafte Antrieb entwickelt sich hier ebenso, wie bei den im vorigen §. betrachteten Mordimpulsen. Die innere Angst, die allgemeine Verstörung durch den krankhaft gesetzten Affect treibt dazu, nicht etwa, wie schon gesagt wurde (Masius), durch den Anblick einer grossen Flamme jene Angst zu dämpfen, sondern nur überhaupt durch irgend eine äussere That von negativem, zerstörenden Character, sich der Verstimmung zu ent - äussern und damit zur Ruhe zu gelangen. Die specielle Richtung dieses Triebs auf Brandlegung kommt eben daher, dass sich den Individuen, bei denen er bisher ausschliesslich beobachtet wurde, nemlich jungen Leuten, namentlich jungen, weiblichen Dienstboten, das Feuer, mit dem sie auch sonst viel umzugehen haben, als nächstes Mittel zur Befriedigung jenes Antriebs darbietet, als ein Mittel, das leicht anzuwenden ist und weder Thatkraft noch Entschlossenheit bedarf,

Es gibt übrigens Fälle von Brandstiftung durch Geisteskranke, der ganz andere krankhafte Motive zu Grund liegen. Jonathan Martin, der die Cathedrale von York anzündete, war kein Schwermüthiger, sondern offenbar ein chronisch Verrückter, der durch Hallucinationen veranlasst, das Haus des Herrn von unwürdigen Priestern reinigen wollte. Es ist eine nothwendige, üble Folge207Schwermuth im Uebergang zur Tobsucht.jenes äusserlichen Zusammenstellens, wenn dieser Fall eben auch (wieder von Sc. Pinel, pathol. cérébr. p. 328) unter der Pyromanie aufgeführt wird.

XXIV. Schwermuth mit ruhiger Neigung zum Zerstören. Marie Z., etwa 30 Jahre alt, von einem von Natur eigensinnigen Character, wurde in Folge von häuslichem Kummer geisteskrank. Sie glaubte sich verloren und zu Höllenstrafen verdammt. Nachdem sie Selbstmord versucht hatte, kam sie in unsere Anstalt mit bläulicher Haut am Halse und noch die Spuren des Stricks an sich tragend, mit dem sie sich hatte hängen wollen. Während ihres Aufent - haltes im Spital überliess sie sich stets der grössten Verzweiflung; sie sass von Morgen bis zum Abend an ihrem Bette, den Kopf auf ihre Hand gestützt und antwortete nur mit einzelnen Sylben. Zuweilen unterhielt sie sich ziemlich lange über eine fürchterliche Strafe, die ihrer warte. Eines Tags verschaffte sie sich eine Scheere und durchlöcherte eine Matraze und ihre Haube mit einer Menge kleiner Einschnitte, und diess ohne die geringste Spur von Verdruss oder Zorn; sie versicherte mich ganz treuherzig, diese Begierde in ihre Kleider hineinzu - schneiden, sei ein Trieb, dem sie nicht widerstehen könne. Nach zwei Jahren genas sie vollständig.

(Guislain, Phrenopathieen. Uebersetzt von Wunderlich. 1838. p. 279.)

Fünftes Capitel. Schwermuth mit anhaltender Willensaufregung.

In den beiden letzten Abtheilungen sind Zustände erörtert worden, wo der krankhafte Affect sich in einzelnen Impulsen zu Werken der Zerstörung äussert. Je allgemeiner, ausgebreiteter und je anhaltender nun die motorische Seite des Seelenlebens von dem psychischen Schmerze miterregt wird, je vager und permanenter die krankhafte Willensauf - regung wird, um so weniger rechnet man diese Zustände mehr zur Schwermuth um so mehr gehören sie der Form der Tobsucht an. Es ist unnöthig und unmöglich, alle Mittelformen zu schildern, durch die solcher Uebergang der Schwermuth in die maniacalische Auf - regung geschieht; die ausgeprägtere Form wird eben in dem nächsten Abschnitte dargestellt werden.

Wichtig aber ist es zu wissen, dass es solche Zustände von negativem Affect und anhaltender Willenserregung von mässiger In - tensität und sehr chronischem Verlaufe gibt, welche als habituelle Charactereigenthümlichkeiten fortbestehen und sich an die oben (p. 166) erörterten Zustände milder chronischer Schwermuth als deren active Form anschliessen. Einzelne dieser Fälle sind als Gemüthswahnsinn, als Mania sine delirio, als folie raisonnante, moral insanity (Prichard) von den Schriftstellern aufgeführt. Diese Zustände kommen als208Chronische Form von Schwermuth mit Willensaufregung.angeborne und erworbene vor; sie bestehen in einer anhaltenden oder auf jeden leichten Anlass eintretenden Stimmung von Unzufriedenheit und Bitterkeit, in einem beständig negativen Verhalten zur Aussen - welt, deren Eindrücke immer oder doch sehr leicht als widrige em - pfunden werden, und in anhaltender Willensreaction im Sinne der feindlichen zornigen Stimmung. Sie werden meist nicht oder doch sehr lange nicht als krankhafte Zustände erkannt, wenn der Kranke sein feindseliges und unbesonnenes Thun mit logisch richtigen Reden zu rechtfertigen und sich zu verstellen weiss, bis endlich einmal der Zustand sich zu einem heftigeren Manie-Anfalle steigert und damit über seine Natur der Umgebung die Augen aufgehen.

XXV. Habitueller negativer Affect mit Neigung zu Gewalt - thätigkeit, ohne Störung des Verstandes. Ein einziger Sohn, der unter den Augen einer schwachen und nachsichtigen Mutter erzogen ward, gewöhnte sich allen seinen Launen, allen Regungen eines unruhigen und hef - tigen Temperaments nachzugeben. Mit den Jahren nahm die Gewaltthätigkeit seiner Neigungen zu, und das Geld, das man ihm verschwenderisch zu Gebot stellte, schien ihm jedes Hinderniss seiner höchsten Willensmeinungen weg - zuräumen. Findet er wirklichen Widerstand, so wird er heftig und auf - geregt; er greift keck an, sucht mit Gewalt zu herrschen und lebt beständig in Streit und Händeln. Aergert er sich über irgend ein Thier, einen Hund, ein Schaf, ein Pferd, so bringt er es auf der Stelle um; nimmt er an einer Gesellschaft, einem Feste Antheil, so erzürnt er sich und fängt eine Schlä - gerei an. Andererseits ganz vernünftig, wenn er ruhig ist, und Besitzer eines bedeutenden Gutes, verwaltet er dieses mit richtigem Verstand, erfüllt seine son - stigen Pflichten in der Gesellschaft und erweist den Armen manche Wohlthaten. Seine unglückliche Händelsucht hatte ihm bisher nur Wunden, Processe, Geld - strafen eingetragen, bis ein öffentlich gewordener Unfall seinem gewaltthätigen Treiben ein Ende machte: er gerieth eines Tags in Zorn gegen eine Frau, welche ihn mit Worten angriff, und warf sie in einen Brunnen. Die Sache kam vor Gericht, und auf eine Menge von Zeugenaussagen, welche die Verirrungen seiner Zornsucht schilderten, ward eine Einsperrung im Irrenhause von Bicêtre über ihn verhängt. (Pinel, traité de l’alienation. p. 159.)

209

Zweiter Abschnitt. Die psychischen Exaltationszustände. Die Manie.

§. 107.

Während die reinsten und exquisitesten Formen der Melancholie sich als Zustände von Depression der Selbstempfindung und des Selbstvertrauens, von Concentration auf einen traurigen Affect, von krankhaftem Insichsein, in den höchsten Graden sogar mit Un - fähigkeit zu jeder Kraftäusserung darstellten, haben wir gesehen, wie in den zuletzt betrachteten Formen immer mehr und mehr krank - hafte Antriebe zu Willensäusserungen die affectvolle Stimmung be - gleiteten. Die Möglichkeit, den Affect durch Handlungen zu äussern und sich seiner damit zu entäussern, zeigte schon das Freierwerden der motorischen Seite des Seelenlebens, der Strebung an; je stärker und anhaltender solche Impulse werden, in je grösserem Umfange und in je selbständigerer Weise das Streben wieder frei wird, um so mehr ergeben sich Zustände anhaltender Aufgeregtheit und Exaltation des Wollens, mit der sich dann auch leicht Erhöhung der Selbstempfindung und des Selbstvertrauens verbindet.

Wir begreifen diese Zustände, welche man (Jessen) mit Recht im Gegensatze zur Melancholie als ein krankhaftes Aussersich - sein bezeichnet hat, unter dem Namen der Manie (Tollheit), und sie zerfallen für uns wieder in zwei verschiedene, übrigens enge mit einander zusammenhängende, nicht selten in einander übergehende, noch häufiger wie fragmentarisch unter sich gemischte Zustände oder Formen, die Tobsucht und den Wahnsinn (sensu strictiori).

Das Grundleiden in den maniacalischen Zuständen besteht nem - lich in einer Störung der motorischen Seite des Seelenlebens, der Strebung, und zwar von der Art, dass dieselbe frei, losgelassen, ungebunden gesteigert sich zeigt, und dass eben damit das Individuum das Bedürfniss erhöhter Kraftäusserung empfindet. Aus diesem Trieb zu vermehrter psychischer Bewegung von innen nach aussen, aus dieser vermehrten Energie und dem erweiterten Umfang der Strebungen, aus dieser Ausschweifung des Wollens, welche den Mittelpunkt der maniacalischen Störungen ausmachen, ergeben sich als von einem gemeinsamen Ursprunge diese beiden, in ihrem Wesen und in ihrer reinen Aeusserungsweise bald sehr verschiedenen Formen. Einmal nem - lich kann sich dieses Bedürfniss grosser psychischer KraftäusserungGriesinger, psych. Krankhtn. 14210Allgemeines über dieunmittelbar durch fortlaufenden Impuls in die motorischen Organe nach aussen werfen, gleichsam dahin explodiren, wodurch denn ein Zustand grosser äusserer Unruhe, anhaltender Muskelbewegung (Sprache, Mimik, Bewegung des Körpers im Ganzen) in Sprechen, Schreien, Lärmen, Tanzen, Springen, Toben etc. und damit die Form der sogenannten Tobsucht gesetzt wird.

Oder es kann, indem mit der freieren Entwicklung der Kraft des Wollens als deren unmittelbares Ergebniss eine übermüthige Stimmung, eine erhöhte Selbstempfindung und daraus eine anhaltende Selbstüberschätzung sich entwickelt, zu Erklärungsversuchen dieser Stimmung, zu Wahnideen kommen, welche nun das geistige Leben beherrschen, und die erhöhte Willensthätigkeit in ihren Dienst nehmen. Dann es ist dem Kranken nicht mehr nur überhaupt um Kraft - äusserung zu thun, sondern die Aufgeregtheit der motorischen Seite des Seelenlebens wird dann zum ausschweifenden Wollen im Sinne bestimmter Wahnvorstellungen, meist mit viel grösserer äusserer Ruhe. Sobald sich ein solcher Zustand, mit bestehenden aus übermüthiger Selbstüberschätzung hervorgegangenen Wahnideen nur irgend etwas fixirt hat, so begründet er eine unendlich viel tiefere psychische Störung, als die blosse Tobsucht. Denn während bei der letzteren der Kranke einestheils mit der Aeusserung seiner erhöhten Triebe sich derselben auch entäussert, anderntheils über - haupt, wie alsbald gezeigt werden wird, in der reinen Form der Tob - sucht der ganze krankhafte Process auf einem relativ äusseren Gebiete des Seelenlebens, ohne Beeinträchtigung des Innersten der Indivi - dualität, abgespielt wird, gehört es wesentlich zum Character dieser zweiten Form der Manie, die wir Wahnsinn nennen, dass Wahnideen, falsche Gedankenbildungen, welche aus Selbstüberschätzung ent - sprungen sind, und sich daher nur auf das eigene Selbst des Kranken beziehen, auftreten und andauern, mit deren An - und Aufnahme unmittelbar das Ich selbst, das Innerste der Individualität alienirt und verfälscht wird.

So verschieden sich aber diese beiden Zustände in ihren Extremen gegen einander ausnehmen, so ergiebt doch die Beobachtung, dass sehr häufig in der Tobsucht selbst solche Wahnvorstellungen der Selbstüberhebung vorkommen, die alsdann freilich nicht in ontolo - gischer Anschauungsweise als Bruchstücke von Wahnsinn, einer vermeintlich ganz andern Krankheit, dort einfach vorgemerkt, sondern, die in dem Processe ihres Zustandekommens aus dem psychischen Grundzustande begriffen sein wollen. Es ist nemlich an sich klar,211maniacalischen Formen.wie sich auch während des unmittelbaren Nach-Aussenwerfens der krankhaften Willensimpulse durch Muskelbewegung unendlich häufig die übermüthige Verstimmung, der Zustand der Selbstüberschätzung ergeben muss, und wie es demgemäss auch leicht zum darauf ge - gründeten Aufbau erklärender Wahnvorstellungen kommen kann, und man kann denn in der Beobachtung der Tobsüchtigen täglich sehen, wie bei ihnen solche grossartige Vorstellungen bald bloss durch - blicken bald auch mit grosser Energie geäussert werden. Allein glück - licherweise liegt in den ausgebildeten Zuständen von Tobsucht etwas, was das Fixirtwerden solcher Wahnideen hindert. Die Vorstellungen nehmen nemlich an dem Tumulte und der Präcipitation, in welche von der motorischen Seite her das Seelenleben gesetzt worden ist, Antheil, sie werden durch Hastigkeit verworren und jagen so schnell vorüber, dass keine bleiben und dauern kann. Wo dagegen kein solch hastiges Vorüberfliehen ist, wo dabei schon die gehobene Stimmung, noch mehr die Wahnvorstellungen selbst sich dem Ich in einer Weise aufdrängen, dass sie zu wesentlichen, ja zu Haupt - bestandtheilen desselben, nicht nur subjective Wahrheit für die Kranken, sondern die beherrschenden Elemente seines ganzen Seelenlebens werden, da nennt man diess Wahnsinn.

Der Unterschied der Tobsucht von dem Wahnsinn, wie er sich in reinen, exquisiten Fällen darbietet, besteht also hauptsächlich in der verschiedenen Richtung, welche die ursprüngliche Störung nimmt, in der verschiedenen Art, wie das Vorstellen überhaupt krankhaft verändert, und wie das Ich afficirt wird. Bei der Tobsucht geht der verstärkte Impuls des Wollens unmittelbar als Trieb durch Muskel - bewegung nach aussen; im Wahnsinn ist es nur ein innerlich aus - schweifendes Wollen, wobei die Selbstempfindung freierer Thatkraft durch eine Rückwirkung zu exaltirten falschen Vorstellungen wird, und wo es dann jenem Wollen, wenn es sich äussert, nicht um blosse Bewegung und Entladung durch diese Bewegung, sondern vielmehr um die Realisirung gewisser Plane zu thun ist, welche aus jenen falschen Vorstellungen hervorgehen. Dieser Irrthum in den Vorstellungen besteht eben in festen, aus Selbstüberschätzung ent - sprungenen Wahnideen in Bezug auf die eigene Persönlichkeit, während die Störung des Vorstellens in der Tobsucht hauptsächlich in delirienartiger Verwirrung in Folge der Präcipitation aller psychischen Processe besteht.

Endlich werden wir denn noch einen dritten Zustand mehr schein - barer als wirklicher psychischer Exaltation zu betrachten haben, welcher14*212Verhältniss der Manieimmer nur aus dem Wahnsinne sich herausbildet, und darin besteht, dass die Anomalie der psychischen Selbstempfindung, der übermüthige Affect, welcher zu den irrigen Gedankenbildungen als zu seinen Erklärungsversuchen ursprünglich Anlass gab, zwar zurücktritt oder völlig erlischt, dass aber die falschen Gedankenbildungen selbst, die exaltirten Ideen über den Werth der eigenen Persönlichkeit, losgelöst von dem Boden, auf dem sie entstanden, fortdauern, und nun als für immer bleibende Verstandesirrthümer, das ganze psychische Leben der Kranken beherrschen. Wir werden indessen diese Zu - stände als die der exaltirten Verrücktheit am passendsten erst im dritten Abschnitte erörtern.

§. 108.

Es ist schon mehrmals darauf aufmerksam gemacht worden, wie in der Mehrzahl der Fälle melancholische Zustände den maniacalischen voraus und diese aus jenen hervorgehen. Man kann auch häufig dem Entwicklungsgange der Krankheit in der Weise folgen, dass man bei Schwermüthigen von Tag zu Tag eine Steigerung des schmerzlichen Affects und der Angst wahrnimmt, welche zuerst nur in grosse äussere Unruhe und nun immer zulegend in die vollendetste Tob - sucht übergeht. Hier hat offenbar der vorhandene Schmerzzustand den convulsivischen Zustand hervorgerufen, und man kann diess auf die passendste Weise theils mit den wirklichen Convulsionen, die einer sehr lebhaften körperlich unangenehmen Empfindung folgen, theils mit jenen Muskelcontractionen, welche instinctiv als Reactionen gegen heftige Schmerzen aufgeboten werden (Beissen, Fäusteballen etc.) vergleichen.

Man darf nicht glauben, dass deshalb das Wesen der Tobsucht nur in der ungezügelt freigewordenen Aeusserung des negativen Affects der Schwermuth bestünde. Denn obwohl sich dieser nicht selten in einzelnen convulsivischen Tobanfällen und einzelnen Werken der Zerstörung nach aussen Bahn bricht Zustände, die wir oben als Raptus melancholicus erwähnt haben wiewohl ferner häufig genug die Schwermuth während der ganzen maniacalischen Periode wie ein dunkler Hintergrund durch die ausgelassenste Selbstüberhebung durchblickt und namentlich zeitenweise wieder vorherrschend werden kann, so gewinnt doch mit der einmal frei gewordenen motorischen Exaltation die Tobsucht bei auch nur einiger Dauer eine von der früheren Schwermuth unabhängige Selbst - ständigkeit, und das Explodiren der Strebung geht dann in Einem213zur Schwermuth.fort, ohne dass es durch schwermüthigen Affect immer neu angeregt zu werden brauchte, ja die Stimmung selbst ändert sich häufig in ihr Gegentheil um, und wird heiter, lustig und übermüthig.

Auch die Zerstörungswerke, die wilden Angriffe und lärmend vollzogenen Unthaten der Tobsüchtigen sind durchaus nicht immer in wahrem, negativem Affect, in einer auch nur momentan feind - seligen Absicht begründet; das Thun dieser Kranken ist vielmehr grösstentheils das Ergebniss eines blind sich äussernden Triebes zu handeln, eines Bedürfnisses, durch Wollen die Aussenwelt zu ver - ändern. Im Zerstören findet der Trieb die beste Gelegenheit sich zu äussern, weil es leichter ist als das Schaffen und weil zum Schaffen Besonnenheit und Sorgfalt gehören, von denen beim Tobsüchtigen nicht die Rede sein kann. Der Trieb will schnell befriedigt sein, dem langsameren Einflusse ordnender Vorstellungen eilt er convul - sivisch voraus; da seine Wirkung eine sichtbare sein soll, so greift er demolirend ein, und es kann sich dann das Ziel, welches nur das Ende der Thätigkeit bezeichnen sollte, als der Zweck des Thuns darstellen. Man sieht etwas ähnliches beim Kinde, das sein Spiel - werk zerstört, um sein Bedürfniss, es durch Wollen zu verändern, zu befriedigen, oder bei den Knaben, welche den Trieb zu Kraft - äusserung durch Angriffe auf einander und Balgereien bethätigen. Gerade so demolirt und verwüstet der Tobsüchtige oft unter lautem Lachen und in der ausgelassensten Laune. Vollends ganz entschieden und deutlich aber erhellt der Unterschied des Thuns in der Manie von dem Thun des Schwermüthigen in der Form des Wahnsinns, die ihrem innern Grunde nach mit der Tobsucht so eng zusammenhängt. Hier nemlich will der Kranke meistens wirklich schaffen und zwar Ungeheures leisten, gestalten, hervorbringen, und er kann hiezu sogar mit einer gewissen Besonnenheit Anstalt treffen, weil hier die psychi - schen Processe nicht mit der Hast, Unruhe und Verworrenheit der Tobsucht vor sich gehen, sondern es Zeit dazu gibt, dass der Trieb zu Kraftäusserung von einer festen, grossen, ordnenden, aber freilich falschen Vorstellung beherrscht werden kann, in deren Dienste er nun wirken muss.

Wenn die Manie und namentlich die Tobsucht aus der Schwermuth in an - gegebener Weise hervorgeht, so ist hierbei an eine absichtliche psychische That von Seiten des Kranken nicht zu denken, das Ganze ist, wie aus dem bisheri - gen erhellen mag, überhaupt nicht als ein psychologischer Process, der auf dem innersten Gebiete des Seelenlebens spielt, zu betrachten. Es ist vielmehr eine Aenderung der krankhaft gesetzten Stimmung, die mit dem Kranken ohne sein Zuthun vorgeht, und die man sich nur aus einer Aenderung in der214Die Tobsucht.Art und Weise der Gehirnerkrankung erklären kann. So lange es noch bei dieser blossen Aenderung der Stimmung bleibt, spielt der Process auf einem re - lativ äusseren, peripherischen Gebiete des Seelenlebens, wobei der Kranke oft das Bewusstsein der ihm, d. h. seinem noch unbetheiligten Ich aufgedrungenen, ihm zugemutheten, von ihm nicht zu hindernden, psychischen Anomalieen hat, ein Bewusstsein, mit dem er gleichsam gegen die einbrechende Tobsucht protestirt.

Ueberhaupt bedarf es zum Zustandekommen der Tobsucht gar nicht immer eines leidenschaftlichen oder affectiven (schwermüthigen) Anstosses. Abgesehen von den durch acute Meningitis hervorgerufenen maniacalischen Zuständen, sieht man auch in andern Delirien, z. B. der Typhuskranken, mit der weiterschreiten - den Gehirnstörung die äussere Unruhe, das Fort - und Hinauswollen, die moto - rischen Impulse zuweilen allerdings aus zu Grunde liegender Angst oder aus Hallucinationen, anderemale aber ohne alle affective Anlässe auftreten, als ob mit dem tieferen Zerfall des psychischen Lebens die Bewegungsantriebe anfiengen, von selbst abzulaufen.

Aehnlich scheint es sich in manchen Fällen chronischer Tobsucht zu ver - halten. Doch zeigt die Beobachtung deutlich, wie in dem vorausgegangenen Be - fallensein des Gehirns in der Weise eines psychischen Schmerzzustandes, ein zur Manie im höchsten Grade disponirendes Moment liegen muss. Das Entstehen der Manie aus der Schwermuth ist die Regel, und schon wurde der merkwürdi - gen Fälle Erwähnung gethan, wo nach längst erfolgter Genesung von Schwer - muth der zweite Anfall von Irresein sogleich in der Form der Manie ausbricht. *)S. z. B. den neunten Fall von Jakobi (Hauptformen etc.); Zeller und wir selbst haben dergleichen Fälle beobachtet.

Erstes Capitel. Die Tobsucht.

§. 109.

Wie eben bemerkt, ist es selten, dass die Tobsucht ohne alle vorhergegangene Erscheinungen andern Irreseins auftritt. Längst sind in der Mehrzahl der Fälle die Neigungen, die Affecte, die Gewohn - heiten des Kranken verändert, und zwar gewöhnlich in der bei der Schwermuth erörterten Weise. Dieses vorausgehende Stadium melan - cholicum, das übrigens zuweilen sehr kurzdauernd und mässig sein kann, ist es, welches man auch schon die Incubations-Periode der Tobsucht genannt hat. Der Schwermüthige zeigt allmählig grössere äussere Unruhe, es ist ihm nirgends wohl, er läuft herum, irrt wohl im Freien, auf dem Felde umher, oder er geht bei Freunden und Bekannten, oft an weit entfernten Orten, herum, mit der dunkeln Em - pfindung, Hülfe zu suchen. Er äussert sein trauriges Delirium, wo215Ihr Beginn.solches vorhanden, lauter und redseliger, seine Stimme wird wieder kräftiger, er wird im Ganzen lebhafter. Besonders zeigt er gewöhnlich einen noch gefrässigeren Appetit, klagt auch nicht selten über unan - genehme Empfindungen in der Magengrube, über Beklemmung, welche ihn ebenso beunruhigen und herumtreiben. Kranke, die schon einmal einen Anfall gehabt haben, sagen jetzt manchmal selbst, sie werden einen Rückfall erleiden, und bitten für sie zu sorgen und sie aus ihrer gewohnten Umgebung zu entfernen. Eine Neigung zu geistigen Getränken zeigt sich häufig, und indem sie der Kranke im Uebermasse befriedigt, hat es häufig das Ansehen, als wolle er durch die alcoholische Steigerung seinen aufgeregten Zustand festhalten und noch höher schrauben, was ihm denn auch nur allzubald gelingt. Mit der gesteiger ten Beweglichkeit und dem Triebe nach aussen stellen sich neue Vorstellungen und Empfindungen ein, welche den Kranken anfangs in Erstaunen und Schrecken setzen, aber bald völlig die Ober - herrschaft bekommen. Anfangs konnte er sie noch verbergen, bald entschlüpfen sie ihm und treten in Rede und That heraus.

Zugleich mit solchen psychischen Symptomen treten in dieser ersten Periode gewöhnlich entschiedene Zeichen von Störungen der Circulation, Verdauung und Ernährung auf. Anfangs Krankheitsgefühl, grosse Abgeschlagenheit, Kopf -, Zahn -, Bauchschmerzen; Schlaflosig - keit, aufregende Träume, Hallucinationen der Sinne, Schwindel, rothes oder ganz blasses Gesicht; Abmagerung, gelbe Hautfarbe; grosse Ge - frässigkeit, Zungenbeleg, Stuhlverstopfung; Palpitationen, vermehrte Pulsfrequenz, überhaupt ein fieberhafter Zustand; Aufhören der Men - struation, nicht selten Erhöhung des Geschlechtstriebs. Die Züge werden entstellt, oft zeigt sich leichtes Zittern des Körpers, die Empfindung für Temperaturunterschiede und körperlichen Schmerz wird stumpfer. Bei vollständig ausgebrochener Tobsucht tritt auch das Krankheitsgefühl ganz zurück und der Kranke behauptet sich ganz wohl zu befinden.

Wir wollen nun den Zustand in seiner ausgebildeten Form näher betrachten, müssen aber zuvor bemerken, dass bei der grossen Mannig - faltigkeit und der verschiedenen Aeusserungsweise der Tobsucht hier Reihen von Erscheinungen angegeben werden müssen, welche man nicht alle bei einem und demselben Individuum beisammen erwarten darf.

§. 110.

1) Anomalieen der Stimmung, der Triebe und des Wollens. Die Grundstörung der Tobsucht, die Irritation auf der216Symptomatologie der Tobsucht.motorischen Seite des Seelenlebens äussert sich zunächst in dieser Sphäre als ein hoher Grad von psychischer Aufgeregtheit mit un - ruhigem, rastlosem, ungestümem Thun und Treiben. Der Trieb zu anhaltender Bewegung und Handlung, die Nothwendigkeit, allen In - halt der psychischen Vorgänge augenblicklich und hastig nach aussen zu werfen, treibt bald bloss zu harmlosem Herumtreiben, Tanzen, Sprechen, Singen, Schreien, Lachen, Weinen etc., bald zu rastloser, unzweckmässiger Geschäftigkeit, welche nach momentanen Einfällen plötzlich und ungeduldig alles Aeussere verändern will, bald zu der Neigung, alles Lebendige und Leblose zu verletzen, welche zu Aus - brüchen des blindesten Wüthens und Rasens steigen kann. Während aber dieses dreiste und gewaltthätige Streben sich an Alles wagt, mit Heftigkeit gegen jedes Hinderniss anstürmt und ohne Erwägung der Folgen sich in zwecklosen und ausschweifenden Handlungen Luft macht, zeigt sich doch bei vielen Kranken eine gewisse Feigheit bei energischem und bestimmtem Entgegentreten, oder richtiger ein Zu - stand von Angst, der zuweilen aus der früheren Periode zurückge - blieben ist, und wie er zur Tobsucht Anlass gab, sie dann auch noch fortzuerhalten scheint. Dabei keinerlei gesunde Handlungen, kein Ver - folgen vernünftiger Lebenszwecke, keine Sorge für die Familie oder für die eigene Existenz, keine Möglichkeit, sich äusserlich für ver - ständige Zwecke bestimmen zu lassen; Gleichgültigkeit gegen Alles, was nicht gerade mit der leidenschaftlichen Erregtheit in Conflict kommt, völlige Vernachlässigung des Aeusseren, Aufhören aller Rück - sichten der Decenz, der Schamhaftigkeit und Reinlichkeit.

Der concrete psychische Inhalt, welcher sich mit solchem Unge - stüm äussert, besteht entweder nur in gewissen, nicht selten schnell wechselnden Stimmungen oder in gewissen stehender gewordenen Ge - fühlen und dunkeln Vorstellungsmassen, welche sich als einzelne geson - derte Triebe darstellen. So kann durch krankhafte Steigerung der sexuellen Empfindungen und Gefühle, die wieder auf einem Localleiden, einem Pruritus Pudendi, einer Krankheit des ovariums etc. beruhen kann, eine krankhafte Lascivität mit schamloser Nacktheit hervortreten und in brutalster Weise Befriedigung suchen. Es kann die Lust am Besitze als eine anhaltende Neigung, alles mögliche zu sammeln und auf - zuhäufen, als krankhafte Stehlsucht sich äussern. Es kann die Lust am lauten Sprechen, an der rhythmischen Gestaltung der Rede, am Lärm, an geistigen Getränken, an Befriedigung des Speisebedürfnisses, eine besondere Lust an Blutvergiessen etc. sich in jener ungestümen und gewaltthätigen Weise äussern wollen, und es ergeben sich dem -217Gemüths-Störungen.nach fixere oder wandelbarere Zustände, die man nach dem Vor - herrschen der einzelnen Triebe Nymphomanie, Stehlsucht, Sprechsucht, Versesucht, Saufsucht, Fresssucht, Mordsucht etc. genannt hat.

Ebenso verschieden sind die allgemeineren Anomalieen der Selbstempfindung, die krankhaften Stimmungen, welche sich in dem exaltirten Thun des Kranken äussern. Bald ist die Stimmung traurig, ängstlich, bitter, zornig, trotzig und wild, und der Kranke zeigt beständig Lust zu schaden, zu beleidigen, ein anspruch - volles verletzendes Benehmen oder wirkliche Bosheit und Tücke, bald wieder und diess ebenso häufig als das vorige, ist die Stimmung heiter, launig, lustig, muthwillig, ausgelassen: die krank - hafte Steigerung der Selbstempfindung äussert sich als eine über - spannte Fröhlichkeit, als Gefühl von Freiheit und Glück, als unge - wöhnliche Zufriedenheit mit Allem und aufdringliche Zuneigung zu den Menschen.

Diese Stimmungen wechseln häufig mit einander ab; unmotivirte Uebergänge von Lustigkeit zu Trauer, von Trotz zu Verzagtheit, von Gleichgültigkeit zu heftiger Reaction und grimmiger Ereiferung, von Begehrlichkeit zu Zufriedenheit, von Angst zu blinder Zuversicht und Frechheit kommen bei Tobsüchtigen unendlich häufig vor, und nur selten und niemals auf lange Zeit gelingt es durch äussere psychische Anregung in diese wechselvolle Bewegtheit einige Ruhe und Still - stand zu bringen.

Zuweilen, namentlich im Beginn, klagt der Kranke selbst über die Nöthigung zu seinem ungestümen Thun und Treiben, und kann dann wohl auch vorübergehend durch Anreden oder einen stärkeren psychischen Eindruck in demselben gehemmt und zu momentaner Be - sonnenheit gebracht werden; anderemale hat es den Anschein, als ob er mit einem dunkeln Halbbewusstsein sich der einmal eingeleiteten Exalta - tion preisgebe und den Inhalt seines Seelenlebens in ihr aufgehen lassen wolle; es ist dann, wie wenn er sich in der jetzigen Freiheit und Schrankenlosigkeit seines Wollens für dessen peinliche Hemmung während der Schwermuthsperiode schadlos halten wollte.

Mit Recht macht Jakobi auf das durchaus Triebartige aufmerksam, was dieses Verhalten der Tobsüchtigen an sich hat. Nicht ein eigentliches Wollen, d. h. ein Uebergang herrschender, voll bewusster Vorstellungen in Strebung mit Bewusstsein gewisser Zwecke und Mittel, und eben so wenig ein Zustand tieferer Leidenschaft ist es, was dieses Thun in Bewegung setzt; son - dern das geräuschvoll ablaufende Rad der losgebundenen psychischen Bewegung nimmt nur Empfindungen, die dunkeln Bewegungen im Vorstellen, die man Gefühle nennt, oberflächliche Affecte, excedirende Stimmungen und die unzäh -218Symptomatologie der Tobsucht.ligen, momentanen, zufälligen Sinneserregungen als Treibendes und nach aussen zu Werfendes mit sich. Der Kranke steht anfangs innerlich noch über dem Tumulte, und merkwürdiger Weise sagen einzelne derartige Kranke zuweilen, wenn man ihrer Ungebühr entgegentritt, nicht ohne einige Ironie: es sei ihnen Alles erlaubt, da sie ja Narren seien. Auch die Wuth des Tobsüchtigen steht zwar dem Affecte des Zornes ausserordentlich nahe, aber sie ist anders psychisch motivirt; nicht eine regelmässige Folge von Gemüthseindrücken, Vorstellungen, Urtheilen hat sie hervorgerufen; sie kann ganz spontan entstehen oder durch zufällige Eindrücke auf die Sinnorgane, durch das Mondlicht, das durch das Fenster fällt, durch Töne, Farben, den Anblick von Menschen und Dingen, die gar keine Beziehung zu dem Kranken haben, geweckt werden.

Kaum braucht bemerkt zu werden, dass man aus den Aeusserungen gewisser Triebe und Stimmungen in der Tobsucht durchaus nicht auf ähnliche Neigungen und ein ähnliches psychisches Verhalten des Individuums im gesunden Zustande schliessen darf. Denn wiewohl man zuweilen gewisse psychische Eigenheiten des gesunden Lebens auch in dem Benehmen und Handeln der Tobsucht sich wieder darstellen sieht (z. B. Starrköpfigkeit, Eigensinn etc.), so ist es doch eine ausgemachte Thatsache, dass unendlich oft in diesen Zuständen der ganze Character des Kranken in sein Gegentheil sich umändert, dass der früher Ernste ausgelassen, der Heitere ernst, der Keusche obscön, der Nüchterne ein Säufer wird etc. Doch geht aus den Aeusserungen der Tobsüchtigen zuweilen wenig - stens eine unerwartete frühere Bekanntschaft mit den Objecten einzelner Triebe hervor, z. B. wenn ein äusserlich sittsames Mädchen schmutzige Zoten aus - spricht, die nicht erst während der Tobsucht zu ihrer Kenntniss gekommen sein können.

Es gibt schwächere Grade von Tobsucht, wo das Hervortreten solcher ein - zelner Triebe und ihre rücksichtslose Befriedigung, wegen der gleichzeitigen sehr mässigen Störung der Intelligenz, noch als ein physiologischer, in freiwilliger Hingabe an unsittliche Neigungen begründeter Zustand fälschlich betrachtet wer - den kann (Stehlsucht, Nymphomanie, Saufsucht etc.). Ihre krankhafte Natur zeigt sich indessen in der Unwillkührlichkeit, worüber der Kranke oft selbst klagt und dem Triebartigen in ihrer Aeusserung, ferner in dem anfallsweisen Vorkommen, den zuweilen eintretenden lucidis intervallis, in den zugleich mit dem Anfalle eintretenden körperlichen Störungen, nebstdem in dem zuweilen voraus - gegangenen Depressionsstadium. Häufig steigern sich übrigens solche Zustände bald weiter zu vollendeter, unzweifelhafter Tobsucht.

§. 111.

2) Anomalieen des Vorstellens. Die erste und hauptsäch - lichste Veränderung im Vorstellen bei der Tobsucht besteht in einer den Anomalieen der Stimmung und des Strebens analogen Gereizt - heit und quantitativen Exaltation, einem rascheren Flusse der Gedanken. In seinen mässigsten Graden erscheint diess Verhältniss als eine Stei - gerung der gesunden Denkfähigkeit. Die vermehrte Bildung und rasche Aufeinanderfolge führt einen Strom längst eingeschlafener Erinnerungen wieder neu und lebhaft herauf, eine Erhöhung des219Verstandes-Störungen.Gedächtnisses, die man z. B. in der Weise beobachtet hat, dass Tob - süchtige während der Krankheit lange Lieder vollständig hersagen konnten, während sie vorher und nach ihrer Genesung hiezu nicht mehr fähig waren. Auch ergeben sich nun zuweilen Gedanken, Combinationen und Urtheile, die über den gesunden Horizont des Kranken hinausgehen, er äussert oft, je nach der Stimmung und nach äusseren Anlässen launige Vergleichungen,*)Wir haben z. B. eine Tobsüchtige beobachtet, welche gewisse ganz leise Thierähnlickeiten menschlicher Physionomieen treffend hervorhob. beissenden Witz, eine ungewöhnliche Beredtsamkeit und fällt mit grosser Sicherheit kecke Urtheile, welche mit scharfer Beobachtung der dazu gehörigen Mo - mente gebildet sind.

Doch geschieht solches nur in der Minderzahl der Fälle. Mei - stens ist von Anfang an oder doch sehr bald die quantitative Stei - gerung und Exaltation dieser Seite des Seelenlebens so gross, dass daraus eine rastlos sich drängende Aufeinanderfolge vereinzelter Vor - stellungen sich ergibt, welche dann in keinem inneren Zusammen - hange unter sich stehen, sondern höchstens durch äussere zufällige Veranlassungen an einander gereiht sind, und indem sie rasch und im grössten Wechsel das Bewusstsein passiren, nur zu höchst lockeren und oberflächlichen Combinationen zusammentreten oder einen ganz fragmentarischen Character behalten. Diese wegen der wilden Hast, mit welcher der Process vollzogen wird, ganz unvoll - ständig ausgebildeten Vorstellungen tragen die Färbung des Affects, von dem der Kranke eben beherrscht wird, und sind bald hei - teren, übermüthigen, ausgelassenen, bald finstern, drohenden Inhalts. Sie werden theils durch die eben percipirten Sinneseindrücke ange - regt und in ihrem besondern Stoffe bestimmt und diese Eindrücke selbst werden oft durch Hallucinationen und Illusionen verfälscht, oder, ähnlich wie in manchen Delirien, durch eine nur theilweise Auffassung und Beachtung, unvollständig und unrichtig percipirt. Anderntheils bietet sich dem Vorstellen aus dem innern im Ein - zelnen unfassbaren Triebwerke der Ideen-Association ein uner - messlicher Stoff von Bildern, Worten, Zahlen, Phrasen, welche oft isolirt, verbindungslos auftauchen, oft in ihrer Vereinzelung unab - lässig wiederholt, geschrieen, gesungen, anderemale zu Sentenzen, Phrasen und Reden zusammengeflickt werden, die der Kranke mit dem Ausdrucke des eben herrschenden Affects vorträgt. In einzelnen Fällen tritt das musicalische Element der Sprache in einer Neigung220Symptomatologie der Tobsucht.zu rhythmischem Ausdruck, zu Assonanzen und zum Reim hervor, der Kranke spricht dann anhaltend in Versen,*)Zwei Proben davon:Und es ist des Himmels Pflicht, Dass man Gott ins Herze sicht. So komm in den Garten. Ei lass mich nicht warten. Der Wein schmeckt mir bitter. Schon naht das Gewitter etc. Bergmann, Nasses Zeitschr. 1823. II. p. 419. Jacobi, Hauptformen, p. 540. bei denen es sich freilich nicht von Poesie, sondern nur von planlos zusammengeron - nenen Bildern und Klängen, von gereimten Delirien handelt.

So stellt sich als die hauptsächlichste Anomalie des Vorstellens in der ausgeprägten Tobsucht eine Verworrenheit der Vorstellun - gen heraus, welche sich als nothwendige Folge aus der Uebereilung aller geistigen Processe, aus der Unmöglichkeit einer vollständigen Ausbildung der einzelnen Vorstellungen, aus dem schnellen Wechsel der Stimmungen und aus dem Phantasiren in den Sinnorganen ergibt. Weder fixe, bleibende Wahnbildungen sind diesen Zuständen eigen, noch werden sie durch ein leidenschaftliches Vorstellen, die aus dem gesunden Leben herübergenommen wäre, beherrscht, obgleich es manchmal so scheinen mag, wenn sich dem Kranken Trümmer psychischer Eindrücke z. B. aus der ersten Zeit seines Er - krankens häufig aufdrängen, und er dann anhaltend mit gewissen psychischen Ursachen seines Irreseins leidenschaftlich beschäftigt scheint. Auch hier zeigt die Möglichkeit des schnellen Wechsels und der oberflächliche Character der ganzen Alienation, dass nicht von stetigen, dominirenden Vorstellungen, wie sie einem tief leidenschaft - lichen Zustande eigen sind, die Rede ist.

Damit aber soll nicht gesagt werden, dass nicht vorüber - gehende Wahnvorstellungen und falsche Gedankenbildungen in der Tobsucht vorkommen können. Solche sind vielmehr sehr häufig. Sie bestehen einmal in Reihen falscher Urtheile über die Aussenwelt, wie solche aus den verworrenen, halb ausgebildet sich drängenden und bei ihrem raschen Ablaufe oft gleichsam Bruchstücke zurücklas - senden Vorstellungen und falschen Sinneseindrücken sich nothwendig ergeben müssen. Dann aber und schon von viel wichtigerer Bedeu - tung kommen Wahnvorstellungen vor, welche auch hier wieder wesent - lich die Bedeutung von Erklärungsversuchen für die krankhafte Stimmung haben und sich daher nur auf das eigene Ich beziehen. 221Verstandes-Störungen.Die übermüthige, freche, lustige, ausgelassene, gesteigerte Stimmung, das Gefühl der Freiheit im Streben, der Fülle im Vorstellen ruft nach dem Denkgesetze der Causalität Vorstellungen von Grösse, Er - habenheit, von grossem Reichthum, einer grossen psychischen oder geistigen Macht etc. hervor, welcher ja unter sonstigen Umständen allein in dieser Weise das Denken und Streben frei gegeben ist. Die exaltirte Stimmung der Freiheit und Kraft muss doch einen Grund haben; es muss ihr etwas im Ich entsprechen, das Ich muss momentan ein Anderes ge - worden sein, und dieses Anderssein kann nur mit einem Bilde, zu dem jeder augenblickliche Einfall sich brauchen lässt, ausgedrückt werden. Der Kranke kann sich nun Napoleon, Messias, Gott, kurz überhaupt etwas Grosses nennen; er kann behaupten, alle Wissenschaften zu verstehen, über alle Schätze der Welt zu gebieten etc.; er kann auch ganz sinnlose Bezeichnungen wählen, er kann z. B. in einem Athem sagen: Ich bin Napoleon, ich bin dieser Stuhl, ich bin Sie u. dergl. ; ent - weder fühlt er hier eine Unvollständigkeit, auszudrücken, wie es ihm eigentlich wirklich zu Muthe ist und sucht dieser durch Häufung von Bildern abzuhelfen, oder er sucht damit dunkel eine grossartige Allgegenwart, eine Art Sein in Allem geltend zu machen, wie solches seiner exaltirten Stimmung wohl ansteht.

Aber und diess unterscheidet eben diese Wahnvorstellungen von denen der folgenden Form keine derselben bleibt fix; jede momentane Erregung bringt wieder neue Bilder und Vorstellungen, mit deren Auftreten die alten vergessen werden, die Stimmung selbst ist wechselnd, mit dem Aufhören der einen wird auch ihre Erklä - rung unnöthig, die Wahnideen haben gar keine Zeit, sich durch An - ziehen verwandter Vorstellungen auszubreiten und zu befestigen. Der Kranke äussert auch oft diese Ideen zwar laut und lärmend genug, aber doch nicht im Tone tiefer Ueberzeugung, ja er kann wohl selbst darüber lachen. Es verhält sich dabei ungefähr wie bei Kindern, die Comödie spielen, und indem sie sich in der geforderten Stimmung ganz aufgehen lassen, sich für Augenblicke wirklich für den Helden halten, dabei aber immerhin wissen, dass sie diess von den Zu - schauern doch nicht ganz im Ernste verlangen können.

Es ist einer besonderen Beachtung werth, wie sich in vielen Fällen von Tobsucht, abgesehen von den erwähnten Störungen, die Intelligenz in grossem Umfange wenig versehrt zeigt, wie sich namentlich keine wirkliche Schwäche und Abnahme derselben kund thut. Oft ist ungeachtet einer grossen Verworren - heit nicht nur das Gedächtniss für die Vergangenheit treu, sondern auch wird in manchen Fällen Alles aus der kranken Periode selbst wohl behalten. Nicht sel - ten kann der Kranke durch eine erinnernde Ansprache momentan aus der Faselei222Symptomatologie der Tobsucht.herausgezogen und zu richtigen Antworten über Dinge seines früheren Lebens, zum Erzählen von Geschichten etc. vermocht werden; er versteht oft alles Acussere so wohl, hat[auch] zuweilen noch so viel Gewalt über sich, dass er durch eine freundliche Anrede, durch eine Drohung oder einen Scherz, ja durch eine Aeusse - rung von Vertrauen in ihn veranlasst werden kann, sich momentan zu beruhigen. Die Verkehrtheiten des Urtheils rühren, wo sie nicht gerade in den erwähnten Erklärungsversuchen für die Stimmung bestehen, nur von einer Unterdrückung, gleichsam von Mangel an Zeit, die flüchtig vorübereilenden incohärenten Vor - stellungen gehörig zu verbinden, zuweilen auch von dem beharrlichen Aufsteigen gewisser einzelner Vorstellungsreihen, welche für den Kranken als bestimmte Thatsachen sich geltend machen, her. So haben wir für die Tobsucht auch auf der Seite des krankhaft veränderten Vorstellens, wie auf der Seite des Strebens, denselben allgemeinen Character eines nicht sehr tiefen, mehr oberflächlichen geistigen Leidens, und es zeigt sich diess noch ganz besonders in der Möglichkeit plötzlich eintretender lucida intervalla, ja einer ganz schnellen vollständigen Ge - nesung nach Jahrelanger Dauer, wobei der Kranke zwar noch geistig sehr er - müdet, aber doch sogleich ganz im Besitze des früheren Umfangs seiner Intelli - genz, in jeder Beziehung geistig ganz der Alte sein kann. Er kann dann oft genau Rechenschaft über sein Verhalten während der Tobsucht geben, und man kann dann manchmal Aeusserungen hören, wie die eines Kranken bei Jakobi es sei aber auch schrecklich, wenn einem die Gedanken so im Kopfe zusammenlaufen. *)l. c. p. 122.

§. 112.

3) Anomalieen der Sinnesthätigkeit und der Bewegung. Hallucinationen des Gesichts, des Gehörs, auch des Haut - und Geruchsinns kommen häufig vor und zuweilen wird durch sie eine Steigerung der Tobsucht veranlasst; doch sind sie gewöhnlich von nur untergeordneter Bedeutung, weil auch diese Phantasmen meist bald wieder in der flüchtigen Eile der psychischen Processe unter - gehen und der Kranke ihnen keine dauernde Aufmerksamkeit schenken kann. Noch viel häufiger sind Illusionen der Sinne, falsche Ausle - gungen der Ergebnisse der Sinnesperception, so dass der Kranke z. B. einen Fremden für einen alten Bekannten oder eine andere bestimmte Person fälschlich hält, dass er bei einem gleichgültigen Geräusche meint, sich rufen zu hören etc. falsche Urtheile, welche hier gewöhnlich aus dem Nichtbeachten einzelner Theile der Sinnes - eindrücke und dem Verweilen auf andern Bruchstücken derselben, auf oberflächlichen Aehnlichkeiten, wie in vielen Fieberdelirien sich ergeben.

Auch eine zu grosse Empfindlichkeit für Gehör - und Gesichts - eindrücke wird zuweilen beobachtet, und die Pupille wird hier und da erweitert oder verengert getroffen.

223Sinnes - Bewegungs-Anomalieen.

Was die Bewegungsorgane betrifft, so ist meist während der Tobsucht ein anhaltender Impuls zu Contractionen vieler Muskeln zu erkennen; die Körperbewegungen und namentlich die Sprachwerk - zeuge nehmen an der psychischen Exaltation Antheil; jene sind leb - haft, schnell, energisch, indem in Rede, Geschrei, Gesticulation und Handlung Alles sogleich nach aussen treten muss; Blick und Mienen sind oft lebhaft, gespannt, verzerrt. Viel ist von der ausser - ordentlichen Stärke, von einer wirklichen Erhöhung der Muskel - kraft bei den Tobsüchtigen gesagt worden (Esquirol, Pinel, Ideler etc.). In der grossen Mehrzahl der Fälle findet sich nichts Solches, die Kranken zeigen sich so wenig stärker als im gesunden Zustande, dass ein einziger geschickter Wärter sie wohl bändigen kann, und es entsteht der Anschein von Steigerung der Körperkraft gewöhnlich nur aus der Rücksichtslosigkeit, mit der der Kranke in den einzelnen Ausbrüchen seine Muskeln wirken lässt. Dagegen ist es richtig und allerdings auffallend, wie die Kranken oft in Einem fort einen sehr lange andauernden Aufwand von Muskelkraft machen, dessen der Gesunde nicht fähig wäre. Man sieht solche zuweilen Wochen und Monate lang bei spärlichem Schlafe anhaltend aufs Gewaltsamste forttoben, und es scheint hier die Möglichkeit einer so enormen Muskelanstrengung nur dadurch erklärt werden zu können, dass dem Kranken durch eine Anomalie der Muskelempfindung das Gefühl der Ermüdung fehlt. Man sieht nemlich, wie die Kranken auch bei sehr gesunkener Ernährung sich immer für sehr kräftig halten und erklären und ihrem Körper Alles zutrauen, während doch eben die häufige starke Abmagerung und die mit dem Ende des Anfalls eintretende grosse Ermattung hinlänglich zeigen, wie der Organismus diese Anstrengungen nicht ungestraft erträgt.

Auch wirkliche Convulsionen kommen in den Bewegungsorganen mitunter vor, Zähneknirschen, Zuckungen des Gesichts oder ver - breitete Convulsionen, letztere theils im Wachen, theils in hin und wieder beobachteten, vorübergehenden ohnmachtähnlichen und exsta - tischen Zuständen. Seltener noch sind partielle Lähmungen im Zu - sammenhange mit der Tobsucht; dagegen gibt sich nicht selten der Beginn der allgemeinen Paralyse während einer mässig und schwach verlaufenden Tobsucht schon in den unsichern Bewegungen der Zunge kund.

Von weiteren Symptomen ist bei Tobsüchtigen eine Störung des Schlafes sehr gewöhnlieh, in manchen Fällen lange andauernde vollständige Schlaflosigkeit; von einem ruhigen Schlafe darf übrigens für den Verlauf der Tobsucht nicht zu224Körperliche Störungen bei Tobsüchtigen.viel erwartet werden, da man zuweilen eben nach den ruhigsten Nächten die heftigsten Exacerbationen eintreten, andrerseits aber auch die Reconvalescenten zuweilen noch geraume Zeit an Schlaflosigkeit leiden sieht.

Empfindungsanomalieen der verschiedensten Art können bei Tobsüch - tigen vorkommen, Kopfschmerz, Schwindel, Hitze, Auraartige Empfindungen, welche von der Brust aufsteigen, anomale Hautsensationen, Schmerzen in den Gliedern, wirkliche oder scheinbare (durch Gleichgültigkeit erzeugte) Unempfind - lichkeit für Kälte und Wärme, letzteres weit seltener, als gewöhnlich angegeben wird (§. 44).

Auffallend tritt in vielen Fällen eine Steigerung des Appetits hervor und diese Gefrässigkeit richtet sich oft auf nicht essbare und unverdauliche Dinge. Es scheint dieser Gefrässigkeit ein Mangel des Gefühls der Sättigung zu Grunde zu liegen, da sie sich keineswegs nach dem Grade des körperlichen Kraftaufwandes richtet. Eine tiefere Perversität des Geschmacks und den Mangel der Ekel - empfindung scheint das zuweilen beobachtete Fressen der eigenen Excremente an - zudeuten.

Eine Steigerung des Geschlechtstriebs bildet in einzelnen Fällen den Mittelpunkt der krankhaften Vorstellungen und Bestrebungen, in andern beob - achtet man solche nur accessorisch und mässig, sehr oft fehlt sie ganz. Sie äussert sich in obscönen Reden und Schreibereien, in Angriffen, Entblössungen, Onanie etc. und scheint im Ganzen häufiger bei weiblichen Kranken vorzu - kommen. Störung und Ausbleiben der Menstruation findet sich in der grossen Mehrzahl der Fälle; ihr Wiedereintritt hat oft gar keinen, oft einen steigernden Einfluss auf die psychischen Symptome; anderemale trifft er mit der Genesung zusammen.

Veränderungen in den Circulations - und Verdauungsorganen sind nicht constant. So wichtig, wo sich solche finden, deren genaue Berück - sichtigung für die Stellung der Indicationen im einzelnen Falle ist, so wenig können sie für die Tobsucht selbst diagnostischen Werth haben. Denn man fin - det den Puls bald von normaler Frequenz und Völle, selten verlangsamt, am häufigsten etwas beschleunigt und eher klein als voll; nervöse Palpitationen und die bekannten Zeichen der chronischen organischen Herzkrankheiten kommen hier, wie überhaupt bei den Geisteskranken verhältnissmässig häufig vor. Auch auffallende, mitunter sehr starke Kopfcongestionen, mit lebhafter Röthe und Hitze des Kopfes sind nicht selten; nur ausnahmsweise ist das Gesicht blass, zuweilen bläulich gefärbt, und das Auge zeigt sich zuweilen injicirt.

Oft ist die Zunge belegt und die Speichelsecretion übermässig stark, über Durst klagt der Kranke selten, ausser wenn er bei vorwaltender Neigung zu geistigen Getränken solche fordert. Sehr häufig ist der Stuhlgang unregelmässig, angehalten und fest, wie diess bei Gehirnkrankheiten überhaupt fast gewöhnlich vorkommt.

Die meisten Tobsüchtigen erscheinen abgemagert, ungeachtet des vermehrten Appetits. Dieses Sinken der Ernährung ist sehr häufig schon vorausgegangenen krankhaften Zuständen, Anämie, fieberhaften Krankheiten, der Schwermuth selbst zuzuschreiben; unzweifelhaft aber kann solche Abmagerung auch durch den ge - steigerten Verbrauch und die Schlaflosigkeit in der Tobsucht selbst eintreten; zuweilen ist sie auch die Folge einer Tuberculose oder einer andern derartigen tieferen Erkrankung, wie denn überhaupt in allen diesen accessorischen Symptomen225Vorkommen und Verlauf der Tobsucht.unzählige Verschiedenheiten beobachtet werden nach vorausgegangenen oder gleich - zeitigen anderweitigen Erkrankungen, welche nicht immer und nothwendig in einem nahen Nexus mit der Gehirnkrankheit stehen müssen.

§. 113.

Was das Vorkommen und den Verlauf der tobsüchtigen Zustände betrifft, so beobachtet man solche theils als reine für sich bestehende Form, wie wir sie bisher betrachtet haben, theils sieht man Anfälle von Tobsucht vorübergehend bei Individuen auftreten, welche schon früher in tieferer Weise psychisch erkrankt waren, na - mentlich in allen den verschiedenen Formen des Blödsinns. Es mischen sich hier immer die Charactere dieser chronischeren Affectionen, namentlich die Schwäche der Intelligenz, mit den Symptomen der acut verlaufenden Paroxismen; solche haben die Bedeutung convul - sivischer Zustände, welche sich zuweilen während des Verlaufs von Lähmungen einstellen.

Auch bei Epileptischen sind Anfälle von Tobsucht nicht selten und zeichnen sich hier oft durch einen hohen Grad von blinder Wuth und Wildheit aus. Sie folgen mitunter unmittelbar auf den epileptischen Anfall, als ob der Reiz zu stürmischer motorischer Entladung nur auf andere Theile des Gehirns umgesprungen wäre.

Zum Ausbruch der Tobsucht scheinen mehr die anämischen als die plethorischen Zustände zu disponiren; übermässige Blutverluste, (z. B. im Wochenbette, durch profuse Menses, durch unzweckmässig gehäufte Venäsectionen), Erschöpfungszustände nach Typhus, nach einem rasch geschehenen Tuberkelabsatze, nach weit getriebenen Excessen sind in vielen Fällen als evidente, nähere oder entferntere Ursachen, zu erkennen. Die acute Meningitis der Erwachsenen ist oft von einem Delirium begleitet, das in allen Beziehungen der Tob - sucht gleich ist, und es entwickelt sich zuweilen aus dieser Krank - heit später Manie in langwierigerer Form.

Im Verlaufe der Tobsucht wird gewöhnlich ein Wechsel von Remission und Exacerbation, nicht selten werden sogar völlig freie Intermissionen beobachtet. So hat man Fälle, wo die Kranken Monate lang nur in andertägigem Rhythmus, mit völlig freien Zwischentagen, tobsüchtig waren ein den rhythmischen Spinalirritationen durchaus analoges Verhalten der Gehirnkrankheit. Sehr oft sieht man zur Zeit der Menstruation eine Exacerbation eintreten, anderemale zeigen sich heftigere Paroxismen und Remissionen ohne alle bekannte Ver - anlassung, vielleicht durch Veränderungen, welche in anderweitigen chronischen Krankheitszuständen, welche die Tobsucht begleiten,Griesinger, psych. Krankhtn. 15226Verlauf der Tobsucht.vorgehen; namentlich kommen auch völlig freie lucida intervalla bis - weilen ganz plötzlich und unerwartet zum Vorschein.

Mit den Anfällen von Tobsucht wechseln oft Zustände von Me - lancholie; zuweilen findet sich ein regelmässiger (z. B. in bestimmten Jahreszeiten eintretender) Wechsel beider Formen. Anderemale sieht man Anfälle von Tobsucht nach regelmässigen oder unregelmässigen völlig freien Zwischenräumen, alle 1, 2, 3 Jahre etc. eintreten eine üble Form wahrer psychischer Epilepsie, die mit der gewöhn - lichen habituell gewordenen Epilepsie die schlimme Prognose theilt.

Die einzelnen Paroxismen der Tobsucht dauern bald nur einige Stunden, bald Monate lang; häufig zeigt sich nach den ersten Wochen eine auffallende Remission. Es scheint manchmal, als ob der Paroxis - mus der Tobsucht eine Art Ausgleichung und Lösung für den vorher vorhandenen Schwermuthszustand bilde, in derselben Weise wie man bei Epileptischen und Hysterischen mannigfache lästige, schmerzhafte Empfindungen, die dem Anfalle vorausgehen, mit diesem verschwinden sieht. (S. Archiv für physiolog. Heilkunde. III. 1. p. 89). Die schwächeren und durch Remissionen gemässigten Grade können viele Jahre lang fortdauern.

Es ist vielfach constatirt, dass während des Verlaufs der Tob - sucht die Symptome anderartiger schwerer Erkrankungen oft auffallend zurücktreten, namentlich der Kranke nur sehr wenig oder gar nicht über Schmerz klagt, bei Lungentuberculose wenig hustet, viel sprechen und schreien kann etc. Es ist diess nicht als ein wahres Sistirt - werden solcher organischer Erkrankungen zu betrachten; diese machen vielmehr ihren Verlauf mit Zerstörung der Organe weiter, wie diess die objectiven Symptome zeigen; allein eine ähnliche Empfindungs - anomalie, wie die Abnahme des Ermüdungs - und des Sättigungs - gefühls, verbunden mit der Absorbtion der Aufmerksamkeit in den Delirien, lässt den Kranken subjectiv nur wenig afficirt werden.

Tobsüchtige können plötzlich genesen oder dieser günstige Aus - gang erfolgt unter allmähliger, langsamer Abnahme der Symptome. Auch hier sieht man zuweilen, wie das Aufhören der Tobsucht mit dem Eintritt eines anderweitigen, neuen Erkrankens zusammenfällt, z. B. mit Anfällen von intermittirendem Fieber, mit Darmblutungen, mit Durchfällen, Hautkrankheiten, Entwicklung vieler Furunkel etc. Auch wir haben in einzelnen Fällen solche sogenannte critische Er - scheinungen beobachtet; meistens aber fehlen sie und wir können den Ausspruch Esquirols, der an dem Bestande der Heilung da zweifeln will, wo dieselbe nicht von merklichen Crisen begleitet sei, durchaus227Prognose der Tobsucht.nicht begründet finden. Auch hier ist die Rückkehr der früheren Neigungen und Gewohnheiten des Kranken und seines unbefangenen Benehmens nebst der Anerkennung der überstandenen Krankheit als solcher das zuverlässigste Zeichen der Genesung. Die Bemerkung Jessens, dass da Rückfälle sehr zu besorgen seien, wo der (äusser - lich beruhigte) Kranke sich ungewöhnlich wohl fühlt und mit lauter Freude von seiner völligen Genesung spricht, haben wir auffallend bestätigt gefunden. Auch die völlig Genesenen bleiben indessen immer in hohem Grade dem Wiedereintritte von Tobsucht-Anfällen ausgesetzt.

Das Urtheil über die Heilbarkeit der einzelnen Fälle richtet sich hauptsächlich nach dem Zeichen einer mehr oder weniger zu muthmassenden organischen Erkrankung des Gehirns. Diejenigen sind als absolut unheilbar zu betrachten, wo schon die ersten, wenn auch noch so leisen, Symptome der allgemeinen Paralyse (s. diese) be - merklich sind, und ebenso sind alle Erscheinungen von anhaltendem Krampf oder Lähmung in den Extremitäten, im Bereiche des N. facialis und an der Pupille sehr verdächtig; solche Symptome, wenn sie anders nicht bloss ganz vorübergehend, z. B. bei einer transi - torischen, aber heftigen Kopfcongestion auftreten, scheinen eine per - manentere Ausbreitung der krankhaften Processe auf die an der Basis oder im Centrum des Gehirns gelegenen Theile anzuzeigen. Es ist nemlich eben durch die in der Tobsucht so ungemein häufigen Ge - hirnhyperämieen*)Vgl. das Capitel von der pathol. Anatomie. Veranlassung zu Bildung von Exsudaten und deren weiteren Metamorphosen gegeben; je länger die Krankheit währt, je weniger sie durch lucida intervalla und Remissionen unterbrochen sind, je stärker die Hyperämie ist, um so mehr hat man solches zu befürchten. Auch hier erfolgen die bei weitem meisten Genesungen innerhalb Jahresfrist vom Anfang der Krankheit; es kommen indessen Fälle vor, wo nach 6 bis 7jähriger Dauer mit durchgreifenden, con - stitutionellen Aenderungen im Organismus der Kranke noch von der Tobsucht genest. Eine grosse Heftigkeit und Wildheit in den ein - zelnen Anfällen hat an sich so wenig eine schlimme Bedeutung für die Heilung der ganzen Krankheit, als z. B. ein heftiger hysterischer Anfall eine schlimme Prognose für die Heilbarkeit des Leidens überhaupt gibt. Die periodisch intermittirende Tobsucht ist nach den übereinstimmenden bisherigen Erfahrungen als durchschnittlich unheilbar zu betrachten.

Dass übrigens die Prognose in vielen Fällen weit weniger von15*228Beispieleder Gehirnkrankheit selbst, als von gleichzeitig vorhandenen abnormen localen oder Allgemeinleiden, z. B. einer vorhandenen Tuberculose, einem hohen Grade von Anämie, einer hydropischen oder scorbu - tischen Blutbeschaffenheit etc. abhängt, bedarf keiner weiteren Aus - einandersetzung. Nicht selten verfallen die Reconvalescenten von der Tobsucht in einen Zustand tiefer körperlicher und psychischer Er - mattung, welcher sich erst im weiteren Verlaufe von dem Uebergang in Blödsinn mit Sicherheit unterscheiden lässt, oder die Krankheit geht wieder mit einem kurzen Stadium melancholicum zu Ende.

Wenn der Kranke nicht genest, so kann sich mit der grösseren äusseren Beruhigung die Form des Wahnsinns ausbilden oder er ver - fällt in einen chronischen, secundären psychischen Schwächezustand, eine der verschiedenen Formen blödsinniger Abstumpfung mit oder ohne zeitweise Agitation.

Der Tod kann in Folge des Gehirnleidens in der Tobsucht selbst, durch heftige Gehirnhyperämie, seltener durch Extravasat, apoplectisch erfolgen; viel häufiger sterben die Kranken an acuten oder chronischen Erkrankungen anderer Organe, an Pneumonie, Pleuritis, heftigen Darmcatarrhen, Phtisis etc. Unglücksfälle, das Hinausspringen des Kranken aus dem Fenster etc. werden in dieser Form des Irreseins auch nicht selten Ursachen des Todes.

XXVI. Einfache Tobsucht mit geschlechtlicher Aufregung und Stehlsucht. Genesung. Gottfried Demons, 22 Jahre alt, etwas schwäch - lich, in der Kindheit häufig mit Kopfausschlägen behaftet, von eigensinnigem Character und geringer Geistesbildung, dessen Grossmutter, mütterlicher Seite, sieben Jahre lang an Seelenstörung gelitten hatte, wurde im 19ten Jahre von melancholischer Verstimmung befallen, welche nach drei Monaten unter dem Ge - brauche ärztlicher Mittel wieder verschwand. Im 21ten Jahre hatte er kurze Zeit an hartnäckiger Stuhlverhaltung mit Erbrechen gelitten. Im Mai 1811 zeigte er sich eines Tags bei der Erzählung eines Reisenden von den Leiden, welche derselbe erduldet, auffallend wehmüthig ergriffen. Am folgenden Tage klagte er über Unwohlsein und Uebelkeit, wesshalb er ein Brechmittel erhielt und zwei Tage später verfiel er in eine Seelenstörung mit anhaltendem Rasen und sinn - losen Reden. (Grosse Gaben Brechweinstein und Abführmittel.) In den nächsten 14 Tagen traten wiederholt mehrstündige lucida intervalla ein, worauf aber immer wieder neue heftige Anfälle von Raserei folgten. Indessen milderten sich diese allmählig und gegen die Mitte Juni trat ein Zustand ein, in welchem der Kranke bei immer seltener werdenden Tobsuchtanfällen, vom Morgen bis zum Abend un - unterbrochen sinnlos schwatzte, während der Nächte aber eines mehrstündigen ruhigen Schlafes genoss. Der Puls war ruhig, das Gesicht eingefallen, die Ess - lust vermehrt und die Oeffnung träge; mitunter wurden schwache zuckende Be - wegungen an den Gliedmassen wahrgenommen.

Vier Wochen nach dem Eintritte der Seelenstörung wird der Kranke nach229von Tobsucht.Siegburg gebracht und zeigt sich dort in den ersten zehn Tagen anhaltend to - bend und durchaus verwirrt, auch zu gefährlichen Angriffen auf seine Umgebung - geneigt. Doch tobte er gewöhnlich nur bei Tage, während er die Nächte mehren - theils ruhig schlafend zubrachte. Ungeachtet der anhaltend heftigen Bewegung während der maniacalischen Aufregung stieg der Puls nie über 75 bis 80 Schläge. Die Temperatur war durchgehends von normaler Beschaffenheit, die Zunge bei häufigem Spucken rein und feucht, der Stuhlgang träge und fest. Gegen Ende Juli nahm die Heftigkeit der maniacalischen Zufälle wieder ab, ob - wohl der Kranke noch anhaltend in einem gewissen Zustande von Aufregung und ausserordentlicher Verwirrtheit beharrte, den ganzen Tag lang unaufhaltsam, ohne allen Zusammenhang der Vorstellungen und ohne Aeusserung irgend eines obherrschenden Wahnes faselte, jetzt auch höchst unreinlich war, mit thierischer Gier die ihm vorgesetzten Speisen verschlang u. s. w. Dennoch wurden die Nächte mehrentheils ruhig schlafend zugebracht, und Puls und Temperatur be - hielten die angegebene Beschaffenheit. (Aq. Amygdal. conc. Extract. Belladonn. vier Wochen lang, dann Digitalis mit Sal amarum vom Anfang October bis Ende December.) Die Frequenz des Pulses sank während dieser Mittel mitunter bis zu 50 Schlägen, er wurde an den Carotiden oft voller und gespannter als früher, während sich zugleich eine Neigung zu Nasenblutung zeigte. Daneben verrieth der Kranke eine bedeutende, früher nicht bemerkte geschlechtliche Aufregung, so dass er jedem Frauenzimmer, dessen er ansichtig wurde, nachlief und sich nicht minder auf das Schamloseste der Selbstbefleckung hingab. Uebrigens war sein Zustand in psychischer Beziehung fast unverändert, nur dass er von dem Ende des Octobers an etwas weniger Verstandesverwirrtheit, auf der andern Seite[aber] mehr Gemüthsverkehrtheit und zumal eine ihm in seinem gesunden Zustande durchaus fremde Neigung zum Stehlen zeigte. Dann trat zuweilen wieder eine lebhaftere, tobsüchtige Aufregung hervor, welche von Neuem die Anwen - dung der Zwangsjacke und ähnlicher Beschränkungsmittel, zur Verhütung ge - waltthätiger Handlungen, erheischte.

Es ward nun der Gebrauch aller jener Arzneien bei Seite gesetzt und der Kranke erhielt vom Ende Januar an andertägig Sturzbäder von 20 Eimern kal - ten Wassers auf den Kopf und von acht zu acht Tagen drei Blutegel an die Nase. Nun besserte sich sein Zustand auffallend; schon Ende Februar gab er besonnene Antworten auf einfache Fragen, die Anfälle tobsüchtiger Aufregung schwanden ganz, nicht minder die oben erwähnte Ausartung des Geschlechts - triebs und die Neigung zum Stehlen; sehr bald trat ein durchaus verständiges und gesittetes Betragen ein, mit völligem Normalwerden aller körperlichen Func - tionen. Entlassung zu Ende Juli, ein Jahr nach seiner Aufnahme.

(Jacobi, die Hauptformen der Seelenstörungen. I. 1844. p. 81.)

XXVII. Psychische Ursachen. Tobsucht mit Spottsucht und Nymphomanie (Prurigo pudendi.) Genesung. Katharine T., 39 Jahre alt, ohne erbliche Disposition zum Irresein, bisher gesund, hatte als Mädchen einen tief religiösen Sinn und ein verliebtes Temperament gezeigt. Sie hatte einen nahen Verwandten nach vorhergegangener Schwängerung durch denselben geheirathet; dieser ihr Mann starb vor Jahren. Bei einem grossen Ver - mögen hatte er viel Geld auf Güter geliehen und diese oft durch öffentlichen Zwangsverkauf an sich gebracht. Hiedurch ward er sehr verhasst und die Leute erzählten nach seinem Tode, sie hätten ihn auf den angekauften Ackern in230Beispieleglühender Gestalt herumspazieren sehen. Die C. T. erschrack heftig, als sie diess hörte, sie glaubte fest an die Erzählung, verfiel zuerst in Unruhe und Angst, beschäftigte sich mit dem ihr einmal beigebrachten Gedanken, ihre Ehe sei we - gen der nahen Verwandtschaft nur ein Concubinat gewesen, und die jetzige Geister - erscheinung sei die Strafe dafür, sowie mit Vorstellungen von unrechtlich er - worbenem Eigenthum und dem Plane dasselbe zurückzugeben; sie prüfte selbst die Papiere, und das ganze Vermögen ihres Mannes nach der Art, wie es erwor - ben war, vor dem Richterstuhle ihres Gewissens; sie fand alle Beweise des recht - lichen Erwerbes, aber dennoch keine Beruhigung; die Anschauung ihres in glü - hender Gestalt aus dem Grabe zurückgekehrten Mannes blieb ihr andauernd und lebhaft, sie wurde still, stumm und kalt gegen alle Menschen, blieb den stieren Blick auf einen Punct geheftet sitzen und hörte und sah nichts als ihr von Angst gequältes Inneres. So blieb sie ungefähr zwei Monate lang, als man plötzlich an ihr ein unruhiges Herumrennen, womit sie das Haus durchlief, bemerkte, und sie eine Reise zu ihren Freunden nach Riedelheim zu machen begehrte. Dort angekommen, ergoss sie sich in einen Strom höflicher Bewillkommnungsreden in rein deutscher ihr ungewöhnlicher Mundart; in der ersten Nacht aber fieng sie an Feuerlärm zu machen, verfiel in die fürchterlichste Wuth, zerriss ihre Kleider und schrie heftig. (Kalte Umschläge, Blutegel, Klystiere etc.)

Ich ward nun zu Rathe gezogen. Als ich mit ihrem Nachbar, einem be - schränkten Komplimentenmacher, der eine sehr grosse Nase hatte, zu ihr ins Zimmer trat, kam sie freundlich auf mich zu und fragte nach meinem Befinden, indem sie sich tief verneigte. Hierauf drehte sie sich einigemal schnell auf dem linken Fusse um und lachte aus voller Kehle. Der Nachbar machte ihr bemerk - lich, es sei unschicklich in Gegenwart des Doctors sich so zu benehmen. Flegel, erwiederte sie, bitte den Doctor, dass er dir zum Verstand helfe; dann erst wirst du mit deiner langen Nase riechen können, wo Bartel den Most holt. Sie schrie, schimpfte, kratzte und biss nach ihm; als er sich entfernt, sprang sie mit grosser Fertigkeit auf den Ofen, von dort auf das abgerundete Fussstück des Bettes und tanzte darauf, gleich einer Seiltänzerin. Sie sang, weinte und lachte abwech - selnd; ihr fast beständiges Geschwätz bestand aus unzusammenhängenden zerris - senen Gedanken, die sich nur im Feuer der Wuth zum Sinne gestalteten und als passende Satyre hervortraten. In ihrer Zimmerthüre hatte sie eine Ritze, wodurch sie auf die Strasse sehen konnte. Ueber alle, die vorbeigingen, machte sie böse, aber wahre Bemerkungen, indem sie von denselben entweder die schlimmste Seite ihres Characters oder irgend ein lächerliches Moment ihrer Lebensgeschichte mit beissendem Spotte hervorhob. Zuweilen lief sie aus einer Ecke des Zimmers in die andere, als fürchtete sie sich vor etwas; zuweilen machte sie schnelle und kräftige Bewegungen mit dem rechten Arme, als fechte sie mit Gespenstern und war überhaupt keinen Augenblick ruhig. Ihr Gesicht war blass, aber wann sie wüthete, ward es roth. Die Stirnader schwoll lang - sam in der Dicke eines Federkiels auf, Blut drang in die weisse Augenhaut, die Lippen rötheten sich, ihre Mienen wurden drohend, alle Muskeln spannten sich an, sie zerriss ihre Kleider, zerschlug die Fenster, zerkratzte die Wände und ihre Sprache eilte um den wilden Flug der Gedanken zu verkürzen. Sie zeigte grosse Essbegierde und verschlang gleichsam blind was man ihr gab; dass Be - dürfniss der Stuhl - und Urinausleerung verrichtete sie ohne einen Begriff von Schamhaftigkeit.

231von Tobsucht.

In der Nacht schlief sie nur einige Stunden, mit dem ersten Sonnenstrahl aber war sie wieder in heftiger Bewegung. Die Periode war regelmässig; vor derselben waren die Wuthanfälle heftiger.

Man bemerkte an ihr eine unruhige lauschende Neugierde und ein bewunderns - würdiges Gelingen in der Zusammenstellung des Mannigfaltigen an den Gegen - ständen zu Bildern von ästhetischer Deutlichkeit und Zweckmässigkeit. Alles was Einheit der Association der Vorstellungen hatte, war beissender Spott; ihren Auf - wärter nannte sie Monsieur Robespierre, und setzte hinzu: heisst im deutschen, Herr Henkersknecht. Von zusammenhängenden Gedanken sprang sie schnell zur chaotischen Aufeinanderhäufung von Wörtern ohne Sinn über; aus der allge - meinen Verwirrung sprühete zuweilen noch ein schwacher, schnell vergänglicher Funke der Kinderliebe empor.

So blieb sie mehrere Monate bis ich ihre Behandlung wieder übernahm. Ich fand sie jetzt in folgendem Zustande: Ausser dem Gesicht und Gehör waren die übrigen Sinnesthätigkeiten erloschen; sie litt in hohem Grade am Nymphomanie. Reibungen an den Genitalien, Fluchen über den nicht befriedigten Trieb, Suchen der Männer und ein geiler Blick bildeten eine widerliche Gruppe von Erschei - nungen, die man ohne Abscheu nicht betrachten konnte.

Ich liess sie auf einsamen Wegen Spaziergänge machen und gab ihr in einem starken Anfalle der Wuth 50 Tropfen der Aqua Amygd. amar. concentr. Das Toben liess auf der Stelle nach, sie sank auf einen hinter ihr liegenden Strohsack und wurde ganz still. Zwei Stunden nachher aber begann der Furor uterinus wieder, wobei sie in jedem Manne einen alten Liebhaber zn erblicken glaubte. (Aqu. Amygd. 3mal täglich 50 Tropfen bis auf 3mal 150 Tropfen ge - stiegen.) Der Tastsinn und der Geschmack schien zurückzukehren, sie äusserte wieder eine, obwohl unvollkommene Vorstellung von ihren Kindern, während jeder alte Liebhaber ihrer Einbildungskraft immer lebendig gegenwärtig war. Die Wuth - anfälle wurden kürzer und seltener, sie schlief mehr und verhielt sich ruhiger im Bette. Erinnerungen an interessante Punkte ihres Lebens liessen sich er - wecken. Noch immer zeigte das Suchen lächerlicher Widersprüche in Persön - lichkeiten einen bevorstehenden Wuthanfall bei ihr an, und man konnte sicher auf einen rechnen, wenn sie witzig wurde. Sie zerriss nichts mehr, sondern liebte es, sich hübsch anzuziehen, fing an auf Reinlichkeit und Anstand zu sehen und liess sich in diesen Beziehungen durch Zuspruch und leichte Drohung leiten. Wie beim Kinde, so musste hier die geistige Entwicklung von der tiefsten Stufe an in empirischen Progressionen wiedergeboren werden.

Indessen hörten die Anfälle des wüthenden Wahnsinns noch nicht ganz auf. Zwischen den Gaben des Aqu. Amygd. und gewöhnlich zwei Stunden nach jeder Gabe, erschien ein Anfall mit heftigem Drange zum Beischlaf. Nun wurden 14 Tage nach jeder monatlichen Periode Aderlässe von 10 Unzen gemacht; die Wuthanfälle wurden damit seltener und sie fing an über das Jucken und Bren - nen der Geschlechtstheile, die sie garstig nannte, zu klagen. Nun wurde die Kranke zur Arbeit allmählig angehalten. Die religiösen Empfindungen kehrten durch Beispiel geweckt wieder und die Kranke genas nach einjähriger Dauer des Wahnsinns.

(Velten in Nasse, Zeitschrift für psychische Aerzte. 1820. p. 709.)

XXVIII. Zwei Anfälle von Tobsucht, jedesmal nach starken Geruchseindrücken, während des Wochenbetts und des Stillens. 232Beispiele von Tobsucht.Ein dritter Anfall nach einer Frühgeburt. Genesung. R., 34 Jahre alt, wurde am 10. Novbr. 1813 ins Hospital aufgenommen. Sie ist von sanftem aber sehr lebhaftem Character, von hohem Wuchs, ihre Haare sind kastanien - braun, ihre Augen gross und braun, ihre Physionomie bewegt. Im 16ten Jahre stellte sich ohne Beschwerde die Menstruation ein. Im 24ten Jahre verhei - rathete sich R.

Im 26ten Jahre kommt am dritten Tage nach ihrer ersten[Entbindung] eine Frau zu ihr, die sich mit Moschus parfümirt hatte; sogleich fängt sie an zu deliriren, indessen fährt sie fort ihr Kind, das im dritten Jahre starb, zu nähren. Dieser erste Anfall characterisirte sich durch Manie mit Wuth, dauerte nur zwei Monate und hörte plötzlich nach einem lebhaften Schrecken auf. Seit diesem Anfall blieb die Frau sehr reizbar, alle Frühling wird sie ohne Delirium exaltirt und die Exaltation vergeht nur durch den Gebrauch der Antispasmodica.

Im 30ten Jahre geht R., während sie ihr einjähriges Kind stillt, in den Laden eines Mannes, wo sich Malerfarben befanden; der Geruch derselben bringt sogleich das Delirium hervor, welches sich während fünf Tagen vermehrt, und welchem Manie mit Wuth folgt. Am 4. August 1809 wurde sie in die Salpetrière auf - genommen. Die Remission ist sehr merklich. R. ist ruhig und scheint ver - ständig, ihr Mann wünscht ihren Austritt und sie wird am folgenden 12. October entlassen. Am zweiten Tage nach ihrem Austritt kehrt das Delirium, die Wuth zurück. Die Menstruation wird unterdrückt, der Leib aufgetrieben. Sie kehrt ins Hospital zurück und beruhigt sich gegen den Winter. Im December erscheint die Menstruation wieder und R. verlässt das Hospital im Juni 1811.

Im 34ten Jahre, am 1. November 1813, eine frühzeitige Entbindung; Blut - verlust aus dem Uterus, am andern Morgen grosse Gesprächigkeit. Am 3. Novbr. Manie, Wuth. Die Kranke wird nach dem Hospital geführt. Bei ihrer Ankunft sind ihre Augen umherirrend, das Gesicht ist bleich, allgemeines Delirium, Manie, Wuth. Drei Tage darauf ist sie ruhig und erkennt, dass sie im Hospitale ist.

Am 16. November. Die Menstruation fehlt, die Kranke sieht ihren Mann mit Interesse; sie ist traurig, aber ihre Antworten sind richtig. (Warme Bäder.) Am 28. Fieber, gastrische Beschwerden (Brechmittel), reichliche Ausleerung. Seit dieser Zeit sind die Ideen folgerechter; R. ist ruhig, arbeitet, kehrt allmählig zur Vernunft zurück.

Am 21. December geht R. gänzlich geheilt aus dem Hospital, obwohl die Menstruation noch nicht wiedergekehrt ist.

(Esquirol, die Geisteskrankheiten, übersetzt von Bernhard. I. 1838. p. 152.)

XXIX. Statt früherer epileptischer Anfälle Paroxismen von Wuth mit Mordversuchen. Ein Bauer in Krumbach in Schwaben geboren, von Eltern abstammend, die sich nicht der besten Gesundheit erfreuten, 27 Jahre alt, unverheirathet, litt seit seinem achten Jahre häufig an epileptischen Anfällen. Seit zwei Jahren hatte seine Krankheit ihren Character verändert, ohne dass man den Grund dieser Veränderung ermitteln konnte; statt der epileptischen An - fälle wurde dieser Mensch von dem unwiderstehlichen Hang zum Morden befallen. Er fühlt die Annäherung seines Anfalls mehrere Stunden, zuweilen schon einen Tag vor seinem Eintritt. Im Augenblick dieses Vorgefühls verlangt er heftig gebunden, in Ketten gelegt zu werden, um ihn zu verhindern ein Verbrechen zu begehen. Wenn mich diess erfasst, sagt er, so muss ich tödten, erwürgen, und wäre es auch nur ein Kind. Seine Mutter und sein Vater, die er übrigens233Modificationen der Tobsucht.zärtlich liebt, würden in diesen Anfällen die ersten Opfer seiner Mordsucht sein. Meine Mutter, ruft er mit einer schrecklichen Stimme, rette dich, oder ich bringe dich um!

Vor dem Anfalle klagt er über grosse Müdigkeit, kann jedoch nicht schlafen; er fühlt sich sehr niedergeschlagen und empfindet leichte convulsivische Bewe - gungen in den Gliedern. Während der Anfälle bewahrt er die Empfindung seiner eigenen Existenz; er weiss vollständig, dass, indem er einen Mord begeht, er sich eines Verbrechens schuldig macht. Hat man ihn ausser Stand gesetzt zu schaden, so verzerrt er sein Gesicht, singt, spricht in Versen. Der Anfall dauert einen bis zwei Tage; endet er, so ruft er aus: Bindet mich los! Ach, ich habe sehr gelitten, aber ich bin glücklich durchgekommen, da ich Niemanden getödtet habe. (Esquirol von Bernhard. II. p. 371.)

§. 114.

Die von den Schriftstellern aufgeführten verschiedenen Arten der Tobsucht näher zu beschreiben, wäre von keinem besonderen Interesse. Sie sind, wie wir zum Theil schon oben erwähnten, theils nach den verschiedenen Trieben und Neigungen, welche sich in exal - tirter Weise äussern (Nymphomanie, Mania saltans, Furor poëticus etc.), theils nach verschiedenen Anlässen und Ursachen der Krankheit (Mania puerperalis, parturientium, potatorum etc.) aufgestellt. Was nament - lich die letztere Form, das Delirium tremens, betrifft, so besteht es in allen ausgebildeten Fällen aus einem gewöhnlich mässigeren Grade von Tobsucht, dem gleichfalls fast immer ein kurzes Stadium melancholicum vorausgeht und wobei Zittern der Extremitäten, an - haltende Schlaflosigkeit, und copiose Schweisse gewöhnlich zugleich vorhanden sind. Ein Zustand von Angst dauert häufig während der ganzen tobsüchtigen Periode fort und unterhält die Aufregung; sehr gewöhnlich sind dabei Hallucinationen des Gesichtssinns der verschie - densten Art, namentlich häufig bestehen sie in Phantasmen von Thier - gestalten, Mäusen, Pferden, Vögeln etc.; doch bewegt sich das Delirium auch in vielfältigen anderen Illusionen und Phantasmen von vorherrschend traurigem, ängstlichem Inhalt.

Von grosser practischer Wichtigkeit sind die häufigen Zustände unvollständig ausgebildeter Tobsucht, welche zwar in der Mehr - zahl der Fälle nur ein dieser letzteren oder dem Wahnsinne voraus - gehendes erstes Exaltationsstadium darstellen, zuweilen aber ohne weitere Entwicklung stehen bleiben und dann mit Recht als eine besondere Form des Irreseins mit dem Character der Exaltation angesehen werden. Wir haben ihrer zum Theil schon oben er - wähnt als der verhältnissmässig milden Aeusserungsweise bestimmter Neigungen und Triebe, während der Kranke noch keine auffallende234Unvollständig entwickelte Formen derStörung der Intelligenz zeigt. Häufig zeigt sich aber auch eine allge - meine, nicht auf eine bestimmte Reihe von Objecten concentrirte Steigerung des Wollens, und solche äussert sich als eine ungewöhn - liche und unstete Thätigkeit und Geschäftigkeit, als ein grosser Eifer, immer etwas Neues anzufangen, als ein Bedürfniss, die Aussenwelt nach excentrischen Projecten zu verändern und umzugestalten. Solche Kranke haben immer etwas zu thun, Speculationen zu machen, zu kaufen oder zu verkaufen, zu verschenken, zu bauen etc. ; Alles, was sie sehen oder was ihnen einfällt, wollen sie auch haben und besitzen, und sie verschleudern damit oft in kurzer Zeit hedeutende Summen. Ihr Benehmen zeigt gewöhnlich Eitelkeit, die Sucht sich geltend zu machen und Aufsehen zu erregen, Dreistigkeit und Arro - ganz. Die Stimmung wechselt meist schnell zwischen fröhlicher, ausgelassener Laune, zwischen Depression und wieder heftigem, zornigem Aufbrausen, letzteres besonders, wenn ihrem Thun ent - gegengetreten und ihre Eitelkeit verletzt wird. Die Kranken sprechen meist viel, laut und hastig, doch ohne eigentliches Delirium. Der Inhalt der Reden zeigt eine übertriebene Meinung von der eigenen Person, keineswegs noch etwa den Wahn einer andern ausgezeich - neten Persönlichkeit, sondern nur die Neigung, sich selbst, den eigenen Fähigkeiten und Leistungen, seinem Vermögen, seinen körper - lichen Kräften, seiner Gesundheit oder Wohlgestalt möglichst viel zuzutrauen. Die hohe Meinung, die der Kranke von sich hat, über - trägt er nicht selten auf Alles, was ihm gehört, und es genügt ihm, dass etwas in seinen Besitz gekommen ist, um ihm ausserordentliche Eigenschaften zuzuschreiben.

Man erkennt in dieser, nach eigenen Beobachtungen in Ueber - einstimmung mit Jessen*)Art. Moria. Berl. Éncycl. Wörterbuch. Bd. XXIV. p. 127 seqq. gegebenen Schilderung einen Zustand mässiger Exaltation, der bei einer nach aussen gerichteten Explosion des Strebens zur Tobsucht, bei mehr innerlicher Steigerung und Bildung fixer Wahnvorstellungen zum ausgebildeten Wahnsinn wird. Je entfernter der Zustand noch von einer dieser deutlich characterisirten Formen ist, je weniger namentlich der Kranke delirirt, je eher er noch sein krank - haftes Treiben mit Gründen zu rechtfertigen vermag, welche noch im Bereiche der Möglichkeit liegen und sich noch nicht als ent - schieden wahnwitzig darstellen, um so leichter wird der Zustand als ein krankhafter verkannt und mit der Hingabe des Gesunden an Launen und thörichte Neigungen verwechselt. Er fällt alsdann unter den Begriff der Folie raisonnante und constituirt deren maniacalische Form.

235Tobsucht. Folie raisonnante. Moria.

Bleibt der Zustand auf der beschriebenen Stufe der Entwicklung stehen, so kann er entweder mit Genesung (nach kürzerer Dauer) endigen oder er kann in einen psychischen Schwächezustand über - gehen, in welchem die vorherrschende fröhliche, selbstzufriedene und selbstgefällige Laune sich fixirt hat und sich in schwächlichem, thörichtem Thun und Treiben, Lachen, Tanzen etc., in kindischen Spielen, in Aufbewahren werthloser Dinge, denen aber der Delirirende einen übertriebenen Werth beilegt und dergl. äussert. Für diese Form des Blödsinns dürfte es am zweckmässigsten sein, den Namen der Moria, Narrheit, beizubehalten.

Der folgende Fall bietet ein Beispiel eines solchen anfallsweise eintretenden, einfachen und schwachen Exaltationszustandes ohne Weiterentwicklung zu aus - gebildeter Tobsucht oder zu Wahnsinn.

XXX. Johann Reiberg, 37 Jahre alt, kräftig, ohne erbliche Disposition zum Irresein, hatte als guter Landwirth in glücklichen äusseren Umständen gelebt. Im 20ten Jahre hatte er zum ersten Mal einen Anfall von Seelenstörung erlitten, der sechs Wochen anhielt; diesem ähnliche Anfälle wiederholten sich in der Folge noch sieben Mal nach einer zwei - bis dreijährigen Zwischenzeit.

Der Hergang war dabei jedesmal im Allgemeinen folgender: Erst ward der Kranke für eine kurze Zeit trübsinnig und niedergeschlagen, worauf bald eine immer wachsende Aufregung folgte, die sich aber auch bei den höchsten Graden, die sie erreichte, nur durch eine Steigerung der Lebhaftigkeit in seinem gewöhn - lichen Treiben offenbarte. Seine Pferde - und Hundeliebhaberei und seine Lust an der Jagd trat noch weit lebhafter als sonst hervor und zugleich war seine Thä - tigkeit in der Landwirthschaft übermässig. Er war dann im höchsten Grade unter - nehmend, vielgeschäftig, rastlos in Allem, was er ergriff, vom frühsten Morgen bis zum späten Abend die schwersten Feldarbeiten selbst betreibend, legte dabei aber auch ein übermässiges Selbstvertrauen, eine Neigung zu Zornausbrüchen und zugleich eine in etwas geschwächte Urtheilskraft an den Tag, war übrigens abgeschlossen, mied die Gemeinschaft mit seinen Hausgenossen und erwies sich gegen sie ungewöhnlich abstossend und unartig. Die Nächte brachte er in diesen Zeiten meist schlaflos zu, ohne doch desshalb für seine überspannte Thätigkeit über Tage weniger rüstig zu sein. Die Esslust war ebenfalls gesteigert und während er ausser diesen Anfällen im Genusse von geistigen Getränken sehr mässig war, zeigte er jetzt eine grosse Neigung zu denselben, ohne sich indessen darin zu berauschen. Nie kam in diesen Krankheitsanfällen eigentliche Verstan - deszerrüttung vor, wenn sich auch vorübergehend einige Mal flüchtige Wahn - vorstellungen bemerklich machten. In sämmtlichen Anfällen offenbarte sich das Irresein vorzugsweise nur durch eine Gereiztheit aller Seelenverrichtungen, und vor Allem durch etwas entschieden Triebartiges in den Aeusserungen der Willens - thätigkeit und des Begehrungsvermögens. Hatte dieser Zustand im Verlaufe von vier bis fünf Wochen dann seine Höhe erreicht, so sank die Aufregung bald wieder, machte aber ihren Uebergang zu der normalen psychischen Stimmung stets nur mittelst einer mehrtägigen Periode von Niedergeschlagenheit nnd Abspan - nung, ähnlich derjenigen, womit der Krankheitsanfall einzutreten pflegte.

236Beispiel maniacalischer Folie raisonnante.

Der Befallene selbst hatte von diesen Zuständen, auch schon während ihres Verlaufs, das Gefühl, als von etwas durchaus Krankhaftem, und zeigte sich nach deren Entfernung, zumal als sie oft wiederkehrten, jedesmals niedergeschlagen und besorgt, äusserte auch mehrmals den Wunsch in der hiesigen Anstalt einer Kur desshalb unterworfen zu werden und sprach endlich, nachdem der vorletzte Anfall stärker und hartnäckiger als die früheren gewesen, gegen die Seinigen das bestimmte Begehren aus, dass man ihn beim Wiedereintritt der Krankheit, sei es auch dann wider seinen Willen, hieher bringen sollte, was denn auch im Septemper 1829 statt fand. Bei seiner Hierherkunft hatte übrigens der Anfall seinen Höhepunkt beinahe erreicht, und es währte nicht lange bis das Stadium der Abnahme und sofort auch die gewöhnliche Niedergeschlagenheit eintrat, und dann der gesunde Zustand sich wieder herstellte.

Welche ursächlichen Momente solcher stets vorhandenen, von Zeit zu Zeit aber einen ungewöhnlichen Grad erreichenden krankhaften Erhöhung und Ver - stimmung der Reizbarkeit dos Gehirns und des gesammten Nervensystems zu Grunde lagen, hierüber schien eine genügende Aufklärung kaum zu hoffen. Wider Erwarten fand es sich, dass dieser so kräftige und in der angestrengtesten Thä - tigkeit lebende Mann, von seinen Knabenjahren bis zu seinem gegenwärtigen vollen Mannesalter, der Selbstbefleckung anhaltend im höchsten Grade ergeben gewesen war. Stets dabei von Gewissensbissen gefoltert, selbst durch die Sorge geängstigt, dass die Anfälle von Geisteskrankheit, der er unterlag, in diesem Laster ihren Ursprung haben möchten, immer neue Vorsätze fassend, demselben zu entsagen, und nach kurzen Perioden einer standhaften Behauptung dieser Vorsätze immer wieder zu neuem Treubruch verleitet, immer durch seine Schwäche zur Verzweiflung getrieben und immer gleich unvermögend die Kraft zu andauern - der Entsagung in sich aufzubieten, immer im Bestreben diesem grauenvollen Abgrund zu entfliehen und immer von Neuem sich an denselben gebannt fühlend, litt seine Seele nicht minder wie sein Körper von diesen zerrüttenden Einflüssen, und der bleibende, bald mehr, bald weniger gesteigerte krankhafte Zustand seines Gehirns und das vermöge der individuellen Beschaffenheit seines Organismus da - durch bedingte periodische Auftreten der oben geschilderten tobsüchtigen Auf - regung war ohne Zweifel die Folge davon.

Die Behandlung bestand in spärlicher Kost, kühlen Bädern mit kalter Douche, in psychischen und beschränkenden Mitteln, welche der Kranke durch eigenen Willen unterstützte. So gelang es ihn wenigstens mehrere Monate von der Selbst - befleckung frei zu halten.

(Jakobi, die Hauptformen der Seelenstörungen. I. 1844. Nro. 1.)

§. 115.

Es übrigt noch hier am Schlusse der Betrachtung der Tobsucht die sogenannte Mania sine delirio kurz zu besprechen, eine patho - logische Categorie, welche von Pinel man darf sagen, zum Unglück der Wissenschaft aufgestellt wurde. Denn so wahr und ver - dienstlich die Bemerkung war, welche Pinel aus seinen Beobachtungen abstrahirte, dass die gewaltthätigen Triebe und Handlungen der Tob - süchtigen nicht immer in verkehrten Vorstellungen begründet237Mania sine delirio.seien heutzutage ist man der Ansicht, dass diess ursprünglich überhaupt nicht der Fall sei so verwirrend war es schon, dass er die von ihm geschaffene Benennung zwei verschiedenen psychisch - krankhaften Zuständen beilegte, nemlich einerseits periodischen, wahren Wuthanfällen mit wenig hervorstechendem Delirium, andrerseits und hauptsächlich jenen mässigen im vorigen §. erwähnten psychischen Exaltationszuständen, wobei die Kranken thörichte Handlungen und ein verkehrtes Benehmen zeigen, dabei aber im Stande sind, durch ein noch innerhalb der Grenzen der Möglichkeit liegendes, an sich cohärentes Raisonnement dieselben zu rechtfertigen und zu erklären, d. h. der Folie raisonnante. Von Pinels Nachfolgern wurden noch andere Zustände, z. B. die oben von uns als mässige Grade von Schwermuth mit Gewaltthaten beschriebenen, ferner sogar gewalt - thätige Ausbrüche in Folge bisher verborgener fixer Ideen, letztere auch nicht mit einem Schein von Recht, unter den einmal gegebenen Namen subsummirt.

Erwägt man näher, welchen maniacalischen Zuständen die Be - zeichnung Mania sine delirio überhaupt zukommen könne, so steht vor Allem fest, dass in keinem einzigen Falle von Manie das be - wusste Vorstellen, die Intelligenz gar keine Störung erleidet. Auch in den allerschwächsten Graden der Manie nimmt das Vorstellen, wenn auch nur in der Weise einer Steigerung in der Lebhaftigkeit und Raschheit des Vorstellens, meist aber bald in der Weise der Verworrenheit an der allgemeinen Exaltation Antheil; in allen Wuth - anfällen vollends ist von einem klaren, ruhigen Vorstellen, wie beim Gesunden, gar keine Rede. Es ist wahr, dass Tobsüchtige zuweilen durch Anreden auf kurze Zeit zur Besinnung gebracht und zu rich - tigen Antworten vermocht werden können, allein diess zeigt nur, wie Jessen*)Berl. Encycl. Wörterb. XXII. p. 420. bemerkt, die Möglichkeit momentaner Remissionen und Intermissionen, denn der Kranke tobt nicht, während er verständig spricht, und er spricht nicht verständig in demselben Augenblicke, in welchem er tobt. Von der Abwesenheit eines Deliriums kann auch bei jenen, oben geschilderten krankhaften Antrieben zu Gewalt - that nicht gesprochen werden, denn jene, mit den äusseren psychi - schen Anlässen gar nicht congruirenden, nur durch eine krankhafte Stimmung erweckten Mordgedanken sind an und für sich schon deli - rirende Vorstellungen, wie eben auch in der Mania furibunda, wie schon in jedem heftigen Affect, z. B. Zorn, neue der krankhaften Stimmung entsprechende Vorstellungen, Urtheile und Vorsätze entstehen.

238Symptomatologie des Wahnsinns.

Diejenigen Zustände, in welchen noch am wenigsten Verworren - heit und Wahnvorstellungen auftreten, in welchen noch am meisten formal logische Cohärenz im Vorstellen zu erkennen ist, sind eben die im vorigen §. geschilderten, milden, meist aber nur den Beginn heftigerer Manie einleitenden Exaltationszustände. Für diese, die Folie raisonnante, mag man denn, wie Pinel diess zum Theil that, den Namen der Mania sine delirio gebrauchen. Da es aber in den con - creten Fällen nicht darauf ankommt, vorliegende Zustände unter ge - wisse Namen zu subsummiren, sondern vielmehr eine psychologische Würdigung des psychisch-krankhaften Grundzustandes, der Momente, aus denen er sich entwickelt hat und seiner Folgen in ihrem noth - wendigen inneren Zusammenhange, dem Arzte obliegt, so möchte es am gerathensten sein, den dunkeln, die Curiosität der Rechtsgelehrten und sonstigen Laien herausfordernden Namen ganz fallen zu lassen.

Zweites Capitel. Der Wahnsinn.

§. 116.

Wir begreifen unter diesem Namen Exaltationszustände, deren Character in affirmativem, expansivem Affect mit anhaltender Selbst - überschätzung und daraus hervorgehenden, ausschweifenden und fixeren Wahnvorstellungen besteht.

Es ist die Form, welche Heinroth zum grössten Theile als Ecstasis paranoica beschrieben, Jessen als Schwärmerei (und zum Theil Aberwitz) bezeichnet hat. Mit den von Jakobi als Wahnsinn bezeichneten Zuständen stimmt unsere Form nur zum Theil überein, da derselbe auch die Melancholie mit Wahnvorstellungen darunter versteht. *)An mehren Stellen seiner Schrift über die Tobsucht, z. B. bei der 18ten und 19ten Krankheitsgeschichte.Die meisten französischen Irrenärzte nennen diese Zustände Monomanie (aigue) d’ambition, d’orgueil, de vanité, auch (nach Rush) Amenomanie.

Wir verweisen vor Allem auf das über die Exaltationszustände im Allge - meinen und das im §. 111. Gesagte, wodurch wir in Stand gesetzt sind, hier durch eine kürzere Schilderung und Erörterung der krankhaften Phänomene dem Bedürfnisse des Lesers zu genügen.

Die Anomalieen der Selbstempfindung, der Triebe und des Wollens in dieser Form des Irreseins gruppiren sich sämmtlich239Gemüths-Störungen.um ein Centrum, das gesteigerte Selbstgefühl des Kranken. Dasselbe ist psychisch begründet. Indem nemlich die Fähigkeit zu wollen, welche während des melancholischen Stadiums geschwächt oder ganz unterdrückt war, nicht nur wiedergekehrt ist, sondern das Streben noch exaltirt (äusserlich in der Weise einer übertriebenen Activität) sich geltend macht, indem zugleich mit dieser Freiheit der Impulse zum Handeln eine grössere Leichtigkeit des Denkens, eine mühelose Abundanz in der Ideenbildung dem Kranken fühlbar wird, ergibt sich ihm eine Stimmung hoher Zufriedenheit mit sich selbst. Der Kranke erfreut sich eines grossen, geistigen (und körperlichen) Wohlbefindens, er fühlt sich reicher und freier; jede Anstrengung ist ihm leicht geworden, er hält sich desshalb nicht nur für durchaus gesund und weist jeden Zweifel daran mit Entrüstung ab, sondern er gibt häufig an, sich noch nie in seinem Leben so wohl und so glücklich be - funden zu haben. Die exaltirte Selbstempfindung äussert sich als gehobene Stimmung, als heitere Laune, zuweilen mit schwärmerischem Schwelgen in sublimen Gefühlen, sie äussert sich ferner als ein grosses Selbstvertrauen in zuversichtlichem, dreistem, eitlem, übermüthigem Benehmen, wobei der Kranke bald mehr ein oberflächlich selbst - gefälliges, affectirtes Betragen, bald mehr einen tiefsitzenden Hoch - muth und Stolz und den Hang, sich auf jede Weise Geltung zu ver - schaffen zeigt. Dieser affirmative Affect ist anhaltend, wechselt nicht so, wie in der Tobsucht, mit allen möglichen andern Stimmungen, ohne äussere Motive. Durch solche aber wird er allerdings momentan leicht unterbrochen; der Kranke zeigt sich reizbar und heftig und wenn der Bestimmtheit seiner Behauptungen oder dem Ausschweifen - den seines Thuns durch Einwendungen oder äusseren Zwang entgegen - getreten wird, so sucht er, alsbald ungeduldig, unwillig und zornig geworden, sein Thun und Meinen zu vertheidigen und will nichts an sich herankommen lassen, was seine gehobene Stimmung beein - trächtigen könnte.

Die gesteigerte Action des Strebens zeigt sich in dem Bedürfniss erhöhter excentrischer Thätigkeit, namentlich aber in zahlreichen aus - schweifenden Planen und Projecten, deren Ausführung dem Kranken, welcher sich selbst Alles zutraut, möglich und leicht erscheint. Hierin liegt die grösste Aehnlichkeit, aber auch eine grosse Ver - schiedenheit mit dem Verhalten des Tobsüchtigen. Denn wie diesem, so kommt es auch dem Wahnsinnigen, zuerst und hauptsächlich auf Kraftäusserung überhaupt an; allein in der Tobsucht gibt diess Be - dürfniss einer Explosion auf der motorischen Seite des Seelenlebens240Symptomatologie des Wahnsinns.unmittelbar zu (häufig stürmischen) Muskelbewegungen Anlass, in denen es sich entladet daher eben das Triebartige, nur äusser - lich Exaltirte dieser Zustände; je mehr dagegen auf das exaltirte Wollen geordnete Reihen krankhafter Vorstellungen und Urtheile ein - wirken können, je mehr jener Fluss nach aussen nicht bloss von einem dunkeln stürmischen Bedürfnisse, sondern von bewussten Gedanken bewegt wird, je mehr Planmässiges desshalb in das kranke Wollen überhaupt kommt, um so mehr hat man den Zustand als von der Tobsucht verschiedenen, als Wahnsinn aufzufassen.

Am deutlichsten zeigt sich solcher Unterschied, wenn, wie auch hier nicht selten vorkommt, gleichfalls einzelne Gruppen von Empfindungen und dunklen Vorstellungen mit besonderer Lebhaftigkeit auftreten und als Triebe nach aussen drängen, z. B. der Geschlechtstrieb. Der sexuell exaltirte rein Tobsüchtige sucht seinen Trieb auf die nächste, beste Weise zu befriedigen, er macht auf jedes weibliche Wesen, das ihm in den Weg kommt, Angriffe, oder die Nymphoma - nische erlässt an jeden Besucher schamlose Forderungen. In diesen Zuständen dagegen wird der gesteigerte Geschlechtstrieb erst, ehe er zur Handlungen deter - minirt, durch neu dazu gekommene Vorstellungen und Urtheile (und zwar von krankhaft exaltirter Beschaffenheit) bestimmt, der Kranke will ihn dann nur im Sinne seiner Selbstüberschätzung und gewisser Wahnvorstellungen befriedigen; er macht nur Prinzessinnen und vornehmen Damen seine Anträge,*)S. weiter unten einen Fall dieser Art. die weibliche Kranke spielt imaginäre Liebesabentheuer mit Fürsten und Königen u. dergl.

Die Aufregung des Wahnsinnigen tritt also nicht so unmittelbar nach aussen, das Streben wird von klar bewussten Vorstellungen und Urtheilen geleitet, ver - liert dadurch das Triebartige und wird zum wirklichen kranken Wollen. Bei weit grösserer, zuweilen bei vollständiger, äusserer Ruhe ist eine weit tiefere, innere Unvernunft vorhanden, als in der Tobsucht, weil eben aus der allgemeinen Exaltation sich für die Intelligenz hier bald Folgen ergeben, welche die letzten Prämissen eines gesunden Seelenlebens aufheben.

Anomalieen des Vorstellens. Auch hier ist zunächst eine rein formale Steigerung in der Lebendigkeit und Schnelligkeit dieser Processe zu bemerken, welche sich in dem Reichthume an Vor - stellungen, dessen sich der Kranke innerlich erfreut, in den lebhaften Reden und in dem häufigen Wechsel der Objecte, auf welche sich das kranke Wollen richtet, zu erkennen gibt. Doch ver - hält es sich so gewöhnlich nur im Anfang, während später einzelne wenige Wahnvorstellungen ausschliesslich herrschen und ohne leben - digen Wechsel mit andern, das Streben bestimmen.

Eine weitere Anomalie des Vorstellens ist eine innerliche Stei - gerung, eine Uebertriebenheit der Vorstellungen in Bezug auf ihren Inhalt, sich kundgebend in der Neigung, in grossen hochtrabenden241Verstandes-Störungen.Worten, möglichst glänzenden Bildern, möglichst hohen Zahlen (Tau - sende, Millionen etc.) zu reden, und insofern solche übertriebene Vor - stellungen als Bestrebungen sich geltend machen, gehören eben hie - her, ihrem Inhalte nach, die so mannigfaltigen, excentrischen Plane solcher Kranken. Sie sind natürlich nach den früheren Er - lebnissen, nach Stand und Beschäftigung, nach der Bildungstufe des Kranken sehr verschieden. Der Handwerker will sein Geschäft ins Ungeheure vergrössern, der Militär will mit grossen Armeen operiren, Feldzüge anfangen, Eroberungen machen; ein Anderer macht Projecte zu unmöglichen mechanischen Erfindungen, z. B. dem Perpetuum mobile, Andere haben Plane zu Befahrung von Land und Meer auf neu erfundenen Eisenbahnen oder zu Dampfschiff-Entreprisen in petto, welche alle Meere der Welt beherrschen sollen, oder es sind grosse Reiseprojecte, grosse Bauplane (Schlösser, Städte etc.), welche den Kranken ganz erfüllen. Andere wollen auf dem Gebiete der Ideen wirken, umfassende wissenschaftliche Gedanken, grosse humanistische, religiöse und a. dergl. Zwecke realisiren, als Apostel auftreten, als Wohlthäter der ganzen Menschheit ihr allgemeines Glück und Frieden bringen etc., Alles das verschieden, theils nach zufälligen äusseren Einwirkungen, theils je nachdem der Kranke früher vorzugsweise realistische Tendenzen oder ideale Lebenszwecke verfolgte. Immer aber zeichnen sich diese Ideen einmal durch einen Character hoher Activität (gegenüber den auf der Idee des Beherrschtwerdens und Leidens beruhenden Vorstellungen der Schwermüthigen), zweitens durch ihre phantastische Uebertriebenheit aus.

Mit diesen Vorstellungen aufs engste zusammenhängend, gleich ihnen aus gesteigerter Selbstempfindung und Ueberschätzung der eigenen Kraft hervorgehend, ergeben sich nun weiter falsche Vor - stellungen und Urtheile in Bezug auf das eigene Ich und dessen Stellung zur Welt. Ganz besonders häufig ist hier der Wahn einer ausgezeichneten Persönlichkeit, einer übermenschlichen Macht, eines unerschöpflichen Besitzes, hohen Standes, vornehmer Abkunft etc. Hierher gehören diese in den Irrenhäusern so häufigen Generale, Napoleons, Millionäre, Weltreformatoren, Götter und Heroen, die zahlreichen weiblichen Kranken, die von Königen geliebt werden, die Kranken, die sich eines besonderen Verhältnisses zu und eines nahen, innigen Umgangs mit dem Göttlichen rühmen u. s. w. Aber alle diese Kranken gehören hierher nur insoferne und solange, als diese Vorstellungen auf einer noch wirklich vorhandenen erhöhtenGriesinger, psych. Krankhtn. 16242Symptomatologie des Wahnsinns.Selbstempfindung beruhen, zu der sie sich auch hier wieder als Erklärungsversuche verhalten.

Denn eine solche Bedeutung haben ursprünglich diese falschen Urtheile; der Wahn, Napoleon zu sein z. B. will ursprünglich sagen, dass sich der Kranke so thatkräftig fühlt, sich so sehr zutraut, Alles Grosse zu vollbringen, Allem mit gehobener geistiger und physischer Macht so zu genügen, wie er es in seiner eigenen früheren Persönlichkeit niemals auch nur von weitem vermocht hätte und wie solches nur den seltenen grossen historischen Persönlichkeiten möglich ist.

Später wird häufig dieser affirmative Affect selbst schwächer, oder er erlischt ganz und der Wahn bleibt doch zurück. Je mehr die gehobene Stimmung, das, was ursprünglich mit dem Wahne erklärt werden sollte, schwindet, je mehr desshalb der noch vorhandene Wahn zu einem blossen Worte wird, das für den Kranken selbst keinen tieferen Sinn mehr hat, um so mehr tritt der Kranke in einen anderen Zustand, in den der exaltirten Verrücktheit über.

So lange aber jene exaltirte Stimmung noch dauert und zu Erklärungsver - suchen herausfordert, so lange kann man oft den Fortgang dieser Steigerung in den Wahnvorstellungen sehr instructiv beobachten. Ein Kranker z. B., der früher gemeiner Soldat war, äussert zuerst nur die Idee, Offizier zu sein, nach einigen Tagen ist er General, bald der erste Feldherr des Jahrhunderts, und wenn ihm diess noch nicht genügte, wenn auch diese Worte noch nicht hin - reichen, um die Kraft, Freiheit und Wonne, die er in sich fühlt, zu bezeichnen, so wird er Herr der ganzen Welt, Messias, Schöpfer, Gott, kurz er nimmt die höchsten und letzten Ausdrücke seines Ideenkreises zur Bezeichnung seiner imaginären Grösse zu Hülfe.

Auch hier aber wäre es im höchsten Grade irrig zu glauben, als ob etwa der Kranke sich dieses Erklärens als solchen bewusst wäre, als ob er etwa ruhig darüber nachdächte, was der Grund seiner Stimmung sein möchte. Keines - wegs; plötzlich, in dämonischer Weise, steigen die Vorstellungen, durch die Stimmung hervorgerufen, in ihm auf, und während er anfangs darüber, vielleicht freudig, erschrocken oder schüchtern und zaghaft mit ihrer Aeusserung zurück - halten kann, so dringen sie sich ihm doch so fix und beharrlich auf, dass er bald an ihrer Realität keinen Zweifel mehr haben kann und ihnen zu Liebe nun oft auf seine ganze geistige Vergangenheit verzichten, sein früheres Ich aufgeben und dem Zeugniss der Sinne Trotz bieten muss.

Nicht ganz selten stellt sich, sobald diese Zustände einmal einen gewissen Höhepunkt der Ausbildung erreicht haben, schon eine gewisse Schwäche der psychischen Proeesse (zuerst meist als Abnahme des Gedächtnisses und Zer - streutheit) ein. Damit aber hört der Kranke doch nicht auf zu phantasiren, nament - lich über sein hohes Wohlgefühl; es ist aber dann oft, als ob er das hohe Ross der Prahlerei und die Stelzen der Affectirtheit nur bestiege, um damit sich selbst (und Andere) über die schon leise fühlbare, unaufhaltsam hereindrin - gende Schwäche des Blödsinns zu täuschen, um durch eine Art krankhafter Arro - ganz eine beginnende Leere und Blösse freilich auch wieder nicht mit be - wusster Absichtlichkeit zuzudecken. Während dann allmählig die erwähnte Störung des Vorstellens zu verschwommenen, faselnden Phantasieen in gross - artigen Worten oder Zahlen wird, so ist es früher, bei noch energischer Acti - vität der psychischen Processe, die Regel, dass einzelne dieser Wahnvorstel -243Sinnes-Bewegungs-Anomalieen.lungen sich vollständig fixiren. Einzelne feste, consequente, beharrliche Gedanken - bildungen drängen sich dann anhaltend in den Vordergrund des Bewusstseins, beherrschen das ganze Denken und werden vorzugsweise in Rede und That geäussert, woraus denn der Anschein eines nur partiellen Befallenseins des Seelenlebens entstehen kann, während doch die eigentlichen Grundlagen eines vernünftigen Bewusstseins, die normale Selbstempfindung und die richtige Ansicht von der eigenen Persönlichkeit und deren Stellung zur Welt, durchgreifend alienirt und zer - rüttet sind.

Von diesen fixen Ideen, welche den höchsten Grad subjectiver Gewissheit für den Kranken haben, lässt er sich natürlich weder durch äussern Augenschein, noch durch Gründe abbringen; nur Anfangs kommen zuweilen Remissionen vor, in denen der Kranke manchmal für einige Zeit das Irrige seines Wahns auf vorgelegte Gründe oder äussere Beweismittel hin zugibt, während er sich doch dabei innerlich durchaus nicht von der Falschheit desselben überzeugen kann.

§. 117.

Anomalieen der Sinnesthätigkeiten, der Bewegungen und des Benehmens. Hallucinationen und Illusionen, welche der herrschenden Stimmung entsprechen, sind hier nicht selten, und sie sind von viel schlimmerem Effect als in der Tobsucht. Dort werden sie bald wieder vergessen, hier haften sie und nähren und verstärken wesentlich die Wahnvorstellungen. Der Kranke sieht z. B. einen Engel, der ihm eine Botschaft, vom Himmel bringt, er hört Stimmen, welche ihn zu bestimmten Thaten auffordern, oder ihm ganz unver - ständlichen Unsinn als göttliche Geheimnisse mittheilen; werthlose Besitzthümer erscheinen ihm als Pretiosen und dergl. m.

Die Bewegungen der Wahnsinnigen zeigen durchaus nicht die äussere Aufregung und stürmische Heftigkeit, wie die der rein Tob - süchtigen. Es ist weit mehr äussere Ruhe vorhanden und die Auf - regung meist eine äusserlich motivirte. Eine Unsicherheit der Muskel - actionen komm tauch hier als erstes, an ein trauriges Ende mahnendes Symptom einer beginnenden allgemeinen Paralyse nicht selten vor.

Entsprechend den bisher erörterten Störungen ist nun das Aeussere und das Benehmen dieser Kranken. Einige treten auf mit der Mimik des Stolzes, der Kraft, andere kommen dem Beobachter wie wortge - schwollene Theaterhelden vor, noch andere zeigen ein in feinerer Weise affectirtes, gnädiges, herablassendes Benehmen. Einzelne schmücken sich phantastisch, Andere, namentlich Weiber, kleiden sich nur mit ungewöhnlicher Eleganz, noch andere vernachlässigen ihr Aeusseres, über ihren ausschweifenden Planen Alles vergessend. Die Kranken befehlen gerne und wollen ungeduldig ihre Befehle schnell befolgt wissen, sie sind begehrlich, freigebig und verschwenderisch; je nach16*244Vorkommen undder Verschiedenheit der herrschenden Wahnvorstellungen machen sie verschiedene Anstalten zur Realisirung derselben, es werden Schreiben, Requisitionen, Proclamationen erlassen, grosse Einkäufe gemacht, gnädige Handbillets ausgefertigt, Orden und Titel mit freigebiger Hand ausgetheilt, es wird an weitläufigen Rechnungen und Bauplanen, oder an Schriften und Broschüren zur Reform der Welt gearbeitet etc. Einzelne Kranke sind äusserlich ganz ruhig, ihre Reden und ihr Benehmen zeigen eine hohe, stille Freudigkeit, eine Art innerer, verzückter Schwelgerei in Gefühlen; es sind damit meist Vorstel - lungen einer innigen mystischen Verbindung mit dem Göttlichen, messianische Ideen und dergl. mit (verborgen gehaltenen) Hallucinationen Engelsgestalten, Stimmen vom Himmel etc. verbunden. Es ist diess die schwächlichere, sentimentale Form des Wahnsinns, wie solche namentlich bei Onanisten vorkommt. Auch hier aber kann die schwärmerische Freudigkeit, wenn man dem Kranken entgegen - tritt, durch heftige Zornausbrüche, oft mit Drohungen vor göttlichem Gericht und feierlichen Prophezeihungen demnächst eintretender schwerer Strafen, unterbrochen werden. Bei Weibern kommen ähn - liche Zustände innerlicher Verzückung vor, deren Objecte sexuelle Empfindungen und ideale Liebesverhältnisse sind, auch hier oft mit zahlreichen, aber wohl verborgenen Hallucinationen.

Je nach dem Vorherrschen einzelner fixer Ideen oder auf Wahnvorstellungen beruhender Bestrebungen hat man auch hier besondere Formen unterschieden und benannt, Theomanie, Erotomanie etc.

Die übrigen Symptome haben, wiewohl auch hier die Gehirnkrankheit von den zahlreichsten und mannigfaltigsten Störungen des Befindens begleitet sein kann, doch nichts Characteristisches und die grösste Aehnlichkeit mit dem Ver - halten bei Tobsüchtigen. Anfangs, bei acutem Auftreten, werden nicht selten fieberhafte Zustände, später häufig Schlaflosigkeit, Verstopfung, Steigerung des Geschlechtstriebs beobachtet.

§. 118.

Die Form des Wahnsinns entwickelt sich ganz, wie die Tob - sucht, vorzugsweise aus einem vorausgegangenen Stadium melan - cholicum. Anfangs ist der Exaltationszustand oft längere Zeit zwischen beiden Formen unbestimmt; mit dem Fixirtwerden einzelner Wahn - vorstellungen tritt der Kranke in einen wesentlich neuen Zustand ein und es ist dieser, der confirmirte Wahnsinn, (aus oben gegebenen Gründen) als eine weit schwerere Affection zu betrachten, denn die Tobsucht. Je ruhiger der Kranke in seinem äusseren Benehmen allmählig wieder wird, je mehr der Wechsel falscher Vorstellungen245Verlauf des Wahnsinns.zurücktritt und sich nur einzelne wenige, aber bleibende fixiren, je mehr in der früheren Individualität des Kranken schon Eigenthüm - lichkeiten lagen, welche eine baldige Durchdringung und Verfälschung des Ich von ihnen begünstigen, um so weniger ist eine Rückkehr aus dieser Traumwelt zu erwarten.

Im Verlaufe dieser Zustände treten mehr scheinbare, als wahre Remissionen ein, sie bestehen mehr in äusserer Beruhigung, als in innerem Nachlass, in einer stilleren Beschäftigung mit dem Delirium; völlige Intermissionen kommen nur da vor, wo der Zustand noch zwischen Tobsucht nnd Wahnsinn schwankt.

Der Kranke kann genesen; dann fällt es ihm oft wie Schuppen von den Augen, er erwacht wie aus einem Traum und kann dann nicht begreifen, warum ein einfaches Raisonnement in Bezug auf seinen Wahn, das ihm jetzt ganz klar ist, während der Krankheit durchaus keinen Eindruck auf ihn machen konnte. Jetzt ist er em - pfänglich für Gründe, und es ist hier wirklich oft nöthig, dem Ver - ständniss des Reconvalescenten durch Erklärungen und demonstratio ad oculos nachzuhelfen, um die Wahnvorstellungen, die noch hier und da auftauchen, aber von dem Kranken schon als Irrthümer er - kannt werden, ganz zu entkräften. Ein völlig fixer exaltirter Wahn, wenn er einmal über ein halbes Jahr gedauert hat, verschwindet nicht leicht wieder; doch kommen auch hier einzelne Fälle vor, wo nach mehrjähriger Dauer namentlich unter Entwicklung anderweitiger Krankheitsprocesse der Wahnsinn allmählig verschwindet. Alle Zeichen beginnender psychischer Schwäche, Abnahme des Gedächtnisses, neu auftretende Verworrenheit etc. zeigen Unheilbarkeit an.

Genest der Kranke nicht, so bleibt er niemals sein ganzes künftiges Lehen in dem Zustande hoher gemüthlicher Exaltation, der dem Wahn - sinn eigen ist; der affirmative Affect, die gehobene Stimmung selbst erlöschen vielmehr und es bleiben nur deren Producte, die fixen Wahnvorstellungen zurück, mit Wiederkehr änsserer Ruhe und eines besseren körperlichen Befindens. Oder der Kranke verfällt sogleich, indem sich tiefere anatomische Läsionen in der Schädelhöhle gebildet haben, in allmählig weiter schreitenden Blödsinn.

§. 119.

Von hohem Interesse ist die grosse Aehnlichkeit im Grundzustande, den Aeusserungen und Ausgängen der maniacalischen Formen mit den entsprechenden Verhältnissen der Alcoholnarcose, der Trunken - heit. Schon in den Vorläufern beginnt oft diese Aehnlichkeit. Es gibt246Analogie der Manie mit der Trunkenheit.Trinker, bei welchen der Wein zuerst die Wirkung hat, dass sie still, in sich gekehrt und verschlossen werden ein übrigens schwaches Analogon des vorausgegangenen melancholischen Stadiums.

Die wesentliche Wirkung der alcoholischen Getränke aber ist eine Gereiztheit, eine Spannung aller psychischen Processe mit be - sonders erleichtertem und freierem Streben. Anfangs ist die Gedanken - folge rascher, die Farben der Phantasie sind lebendiger, die Rede gefällt sich in schlagenden und überraschenden Wendungen, die Ideen finden sich wie von selbst zusammen, das Sprechen geht leichter und die Muskelwirkung ist energischer diesem Verhalten entspricht gewöhnlich die Stimmung der Heiterkeit, der psychischen Lust und Kraft. Später lässt sich der Angetrunkene ganz gehen; in Rede und Handlung wird der Inhalt der präcipitirt vorüberlaufenden Vor - stellungen unmittelbar und unmodificirt nach Aussen geworfen; früher verborgen gehaltene Gedanken entschlüpfen ihm unwillkührlich, oder er gefällt sich darin, Ideen von Selbstüberschätzung preiszugeben; er zeigt Furchtlosigkeit, Muth, ein erhöhtes Selbstvertrauen, das nicht selten zur Unverschämtheit wird, er renommirt gerne, er wird freigebig und verschwenderisch, indem er sich selbst reicher erscheint, als er ist, und häufig treten auch hier einzelne Neigungen und Triebe mit besonderer Stärke und Rücksichtslosigkeit auf, z. B. der Geschlechtstrieb, die Neigung zu metrischer Gestaltung der Rede, zum Sprechen in fremden Sprachen (namentlich französisch), zum Singen, Schreien, zu Raufereien etc. Er ist sehr reizbar, und wie der Wahnsinnige, nimmt er nichts übler auf, als für krank (betrunken) gehalten zu werden. Die Stimmung kann wechseln mit oder ohne äussere Motive; zuweilen drängen sich dem Betrunkenen unwillkühr - lich traurige Gedanken auf und er fängt an heftig zu weinen, bald ist er zärtlich und sentimental, bald drängt das Bedürfniss gesteigerter Kraftäusserung zu unbesonnenen, gefährlichen Thaten, zum Umsich - schlagen und einem mässigen Toben. In diesem Zustande macht oft eine stärkere psychische Erregung noch so viel Eindruck auf ihn, dass er momentan zu sich kommen, ja dass der Rausch plötzlich durch eine solche abgeschnitten werden kann.

Später tritt eine immer grössere Verworrenheit ein, es kommen Hallucinationen und Illusionen vor, der Betrunkene wiederholt mecha - nisch das früher Gesagte, das Gedächtniss nimmt ab und er ist zu neuen Gedankenbildungen nicht mehr fähig, kurz er verfällt in einen blödsinnigen Zustand. Und nun man bemerke die auffallende Aehnlichkeit mit dem Beginn der allgemeinen Paralyse wird auch247Beispiele von Wahnsinn.zuerst die Sprache lallend, die Zungenbewegung unregelmässig, dann nimmt die Energie der willkührlichen Muskeln gleichförmig ab, die Beine tragen den Körper nicht mehr und es tritt ein Zustand von Adynamie ein, ähnlich dem Verhalten des Nervensystems in einem schweren Typhus oder in der allgemeinen Paralyse mit Blödsinn.

Denselben Gang im Grossen, nur viel langsamer nehmen die Phänomene bei dem Irren, der aus einem anfänglichen Zustande von Exaltation der Empfindungen und Affecte, der Gedanken und des Willens mit dem Fortschritte der Gehirn-Erkrankung allmählig in einen Zustand psychischer Schwäche mit Verlust der Herrschaft über die Sprache und über sämmtliche willkührliche Bewegungen verfällt.

Beispiele von Wahnsinn.

XXXI. Kopfcongestionen. Schwermuth. Wahnsinn mit dem Ausgange in Blödsinn. O., Officier, war in seiner Jugend gesund gewesen und eine kräftige Constitution hatte vielen jugendlichen Ausschweifungen ohne bemerkliche üble Folgen Trotz geboten. Er war immer reizbar, heftig, leicht - sinnig, in seinen Reden unstet, so dass er, wenn er z. B. Geschichten erzählte, leicht aus einer in eine andere überging, ohne die angefangene zu vollenden. Lange Zeit lebte er sorglos dahin, allmählig stellten sich hypochondrische Beschwerden, langwierige Stuhlverhaltung, blinde Hämorrhoiden mit trüber Stimmung ein und diese änderte sich nicht durch günstige und willkommene äussere Verhältnisse. Er erlitt einen Sturz mit dem Pferde mit starker Contusion am Kopfe und Quet - schung am Schenkel und musste drei Monate lang in einer horizontalen Lage verharren. Die mit der Hämorrhoidalkrankheit verbundenen Congestionen nach dem Kopfe nahmen nun so zu, dass er häufigen Anfällen von Schwindel und Betäu - bung unterworfen war und Dienstgeschäfte nur mit Anstrengung versehen konnte. Dabei voller und langsamer Puls, gespannter Unterleib, roth aufgedunsenes Gesicht, heftige Rücken - und Kopfschmerzen, Müdigkeit, schmerzhaftes Urin - lassen und Verstopfung. Zugleich war er in steter ängstlicher Seelenspannung, rang oft verzweiflungsvoll die Hände, verweigerte längere Zeit die Annahme von Nahrungsmitteln und Getränk, fürchtete wegen Dienstvernachlässigung und grossen Schulden, beide gleich imaginär, seines Dienstes entsetzt und gerichtlich verfolgt zu werden u. dergl. Nach zwei Monaten besserte sich diess wieder, und nach zwei weiteren Monaten zeigten sich die Seelenkräfte ganz frei.

Als ihn aber sein Arzt zu Anfang Novembers wieder besuchte, fand er den sonst ängstlich genauen Mann in einer andern reich möblirten Wohnung mit grossen neuen Anschaffungen beschäftigt, und bemerkte an ihm eine ungewöhn - liche Volubilität der Zunge und Agitation des ganzen Körpers. Schon am andern Morgen folgte die höchste wahnsinnige Exaltation. Er stand eben im Begriff, die ihm beinahe unbekannte Tochter eines Offiziers vom höchsten Range zu besuchen, um ihr Heirathsanträge zu machen. Schon hatte er einen neuen Wagen und Pferde gekauft, um mit seiner Geliebten eine Reise durch ganz Europa zu unter - nehmen; er war geadelt und eine Standeserhöhung folgte der andern auf dem Fusse, er floss über von Wonnegefühl und von Begierde die ganze Welt zu beglücken. Als diess Beginnen gehemmt wurde, kam es zu Wuthausbrüchen.

248Beispiele

Zu Ende November Aufnahme in Siegburg. Einige Verengerung der Pu - pille, Unreinlichkeit, Anschwellung der Mastdarmgefässe, Schmerzen in den Gelenken, Kopfcongestionen, frequenter Puls. Grosse Reizbarkeit und Zornmü - thigkeit, Wahnvorstellungen vom Besitz ausserordentlichen Ansehens und hohen Standes, übernatürlicher Kräfte, unerschöpflicher Reichthümer. Jeden Augenblick verschenkt er die grössten Summen, tausend und zwanzig Millionen Louisd’or; später behauptet er, er sei Gott der Vater; fragt man ihn aber, wer sein Vater gewesen, so erwiedert er: Steuerrath, und es ist vergeblich, ihn auf das Abgeschmackte dieser Zusammensetzung aufmerksam zu machen. Ein andermal ist er im Himmel gewesen und hat dort eine wunderschöne Venus gesehen, und am folgenden Tage war es schon ein Kreis von vielen hundert Venus, in deren Mitte er sich daselbst befunden. Durch Gas wollte er alle Zimmer der Anstalt zu unermesslichen Räumen erweitern, die Menschen zu ungeheuren Riesen ver - grössern, die Todten auferwecken, namentlich aber mittelst tausenden von Luft - ballons Armeen von tausend Millionen Regimentern durch die Luft transportiren. Dabei schrieb er Contributionen aus, erliess Briefe, worin er über angebliche Misshandlungen klagte und seinen General bat Siegburg zu stürmen u. dergl.

Nach zehnmonatlichem Aufenthalte in der Anstalt wiederholte Schwindel - anfälle, allmählig die Symptome der allgemeinen Lähmung mit zunehmendem Blödsinn; Schlaganfälle; Tod.

(Jakobi, Beobachtungen etc. 1. 1830. p. 372.)

XXXII. Wahnsinn mit Endigung in Blödsinn. J. U., 43 Jahre alt, früher Offizier, hatte in seinem Benehmen schon längere Zeit eine gewisse Ha - stigkeit, Unruhe und Reizbarkeit gezeigt. Im Winter 1824, während er noch pünktlich seine Geschäfte verrichtete, fing er an sich mehr auf sein Zimmer zu - rückzuziehen, diesem eine etwas phantastische Einrichtung zu geben und hier kleinen Druck bei stärkerm Lampenlichte durch ein grosses Brennglas zu lesen. Im Frühling deutlichere Aufregung des Gemüths, im Juli Vorstellungen von dem Besitze ungeheurer Reichthümer und grossen Ansehens. Bald hielt er sich für den Fürsten von Neufschatel, glaubte daneben ein grosser Maler zu sein, beschäf - tigte sich den ganzen Tag mit Zeichnen und Illuminiren von Landschaften, wie man solche von fünf - bis sechsjährigen Kindern verfertigen sieht und zeigte die - selben den Anwesenden als grosse Meisterwerke vor.

Wenige Tage darauf Aufnahme in Siegburg. Enge Pupille, tiefer Eindruck an der Nasenwurzel in Folge einer vor 25 Jahren erhaltenen schweren Ver - letzung durch einen Sturz im Wagen, hastig stotternde Sprache, täglich mehrere Stühle, der Puls weich, 95 bis 100 (Bad mit kaltem Regenbad), darauf starkes Zittern; Abends ein Epilepsie-ähnlicher Anfall, darauf grosse Unruhe, heftiges Herzklopfen und Beklemmung, starke Anschwellung der Hautvenen (Aderlass).

Am andern Morgen war er ruhiger, sehr heiter, spazirte unablässig umher; seine früheren Lebensverhältnisse waren ihm ganz aus dem Gedächtniss[ent - schwunden]. Später grössere Aufregung; er fängt an den Kopf mit seinem Urin zu waschen und entschuldigt diess mit dem Beispiel der Hottentoten; er begehrt oft, dass angespannt oder seine Reitpferde vorgeführt werden sollen und schlägt den Wärter, wenn es nicht geschieht. Zuweilen schreit und brüllt er vor Wuth, wenn man ihn an allerlei Unarten hindert. Gespanntere Züge, starrer Blick, rötherer heisserer Kopf, etwas Schlaf in der Nacht (Bäder, Sal amar. c. tart. stib. Aderlass, völlige Absonderung, sparsamere Kost, Tinct. digit., später Blut -249von Wahnsinn.egel und Kalomel). Zuweilen reibt sich der Kranke den Kopf mit seinem Kothe ein, legt grossen Werth auf einen Haufen Kieselsteine, die er für Edelsteine ausgibt, hält sich für bestimmt in einem prächtigen Aufzuge als Gesandter nach Mexico zu gehen u. dergl.

Allmählig wird er indessen ruhiger, der Puls wird langsam, die Temperatur normal, es bildet sich ein Abscess am After, der wieder heilt, er frägt, wie er hiehergekommen sei und kann sich seiner Herreise und Ankunft durchaus nicht erinnern. Er behauptet, dass seine Tochter, welche achtzehn Jahre alt sei, den Sohn des ersten Bankiers an seinem Wohnorte heirathen werde und scheint nur wenig betroffen, als man ihn zum Eingeständniss brachte, dass seine Tochter erst vier und ihr angeblicher Bräutigam fünf Jahre zählte. Er schreibt nach Hause, dass seine Frau, seine Schwäger und Schwiegereltern von dem Teufel in die Hölle geworfen seien, dass Gott ihm den Stand des Londoner Curses geoffenbart habe, dass seine Uhr und Uniform nach Mexico geschickt worden sei u. dergl.

Später äusserte er wieder, er sei der Fürst von Neufschatel und werde nächstens den Heiligengeistorden erhalten. Durch meine Bemühungen, ihn auf das Ungereimte dieses Vorgebens aufmerksam zu machen, liess er sich nicht stören. Als ich ihm aber später auf seine Bitte, dass ich ihn doch nächstens zu einem gemeinschaftlichen Freunde mit nach Bonn nehmen möchte, erwiederte, dass ich nicht Zeuge davon sein möchte, wenn er sich durch Aeusserungen, wie die vorhin erwähnten, vor jenem Manne comprommitire, sagte er mit Lebhaftigkeit, er werde sich wohl hüten vor diesem dergleichen zu reden. Dann aber schrieb er am folgenden Tage heimlich an seinen Commis und bat ihn dringend, ihm doch zu sagen, ob er denn nicht der Fürst von Neufschatel sei, zugleich ihm aber das Zeitungsblatt zu senden, in welchem die Nachricht von seiner Er - nennung stehe. Daneben gab er Auftrag, ihm ein neues Haus für 75,000 Gulden zu kaufen und dergl.

Nach mannigfachem Wechsel grösserer Ruhe und Besonnenheit mit neuen Aeusserungen von Wahnsinn wurde der Kranke unter dem Gebrauch von Digita - lis, Aqu. amygd. am., Blutegeln etc. ein halbes Jahr lang anhaltend frei von auf - fallendem Irresein. Aber er verfiel in eine Herabstimmung und Erschlaffung der intellectuellen Kräfte und des Gemüths; acht Tage nach seiner Entlassung kehrte die Krankheit in ganz ähnlicher Weise wie zuerst zurück und U. musste später einer Pflegeanstalt übergeben werden.

(Jakobi, Beebachtungen etc. I. 1830. p. 295.)

XXXIII. Schwermuth. Eine Gewaltthat in Folge einer melan - cholischen Wahnvorstellung. Später Wahnsinn. A., 30 Jahre alt, von sehr lebhaftem Character, war stets sehr heiter, und hatte von der frühesten Jugend an immer seinen Willen gehabt. Er war sehr chrgeizig, und wollte im - mer gern für eine ausgezeichnete Person gelten. Er liebt sehr die heftigen Be - wegungen, wie die Jagd und Waffenübungen, und ist unglücklich, wenn er nicht grossen Luxus machen kann.

Von seiner Geburt bis zum 5ten Jahre litt er an Convulsionen, in seinem 6ten Jahre an einer acuten Gehirnentzündung, die nach 10 Tagen geheilt wurde. In seinem zwölften Jahre zeigte sich ein Leistenbruch, später litt er an Hals - bräune, wozu sich Delirium gesellte. Während seiner Kinderjahre war er häufig dem Schrecken ausgesetzt, da er damals gerade in der Vendée lebte. Seit dieser250BeispieleZeit wurde er häufig aufs fürchterlichste erschreckt, jedoch ward seine Constitu - tion zur Zeit der Pubertät kräftiger.

Nachdem A. lange Zeit eifrig und besonders auch des Nachts studirt hatte, glaubt er, dass man ihm sein Leben verkürzen wolle, und fühlt schon die trau - rigen Wirkungen des Giftes. Er fürchtet Alle, die sich ihm nähern, mit Aus - nahme seiner Eltern, die zu demselben Schicksale, wie er, verdammt sind. Er glaubt mit Dolchen und Pistolen Bewaffnete zu sehen, die ihn tödten wollen. Manchmal fängt er an, heftig zu lachen, und wenn man ihn nach der Ursache fragt, so antwortet er, dass er Stimmen höre, die ihn zum Lachen bringen. Er fürchtet, dass man ihn für einen Narren hält, denn er hört jeden Augenblick, wie die Stimmen um ihn: Narr! Narr! ausrufen, und er fragt seine Eltern oft, ob seine Augen nicht starr und verwirrt sind.

Eines Tages war er in einem Gasthofe zu D., wo er sich einen Barbier bestellt hatte, der ihn rasiren sollte. Dieser bückt sich, um etwas aufzuheben, A. hält ihn für einen Räuber, zieht die Pistole und schiesst ihn durch den Arm. In Folge dieses Wuthanfalls nimmt A. fünf Tage keine Nahrung zu sich und legt sich nicht zu Bette. Nach dieser Zeit kehrt der Schlaf wieder und der Kranke ist, obgleich er noch immer Furcht hat, dennoch ruhiger und verständiger.

Jetzt wird er meiner Behandlung anvertraut. Das Gesicht des Kranken ist sehr bewegt und belebt, sein Gang ist stolz, hochmüthig. In den ersten Tagen will er gar nichts essen, nicht haben, dass man ihn rasire; er schläft nicht und ist ungeachtet der lange fortgesetzten warmen Bäder sehr verstopft.

A. behauptet wegen seines Talents der erste Mensch der Welt zu sein, dass man desshalb Anschläge auf sein Leben mache, weil man fürchte, dass er das Weltall beherrschen wolle. Er ist Apollo und Cäsar und verlangt, dass alle Welt ihm gehorchen soll; er ist in Verzweiflung, dass man die höchste Vernunft mit der Narrheit verwechsle, und schreibt desshalb an alle Männer, die eine hohe Stellung in der Welt einnehmen und selbst an den König. Jeden Augenblick erwartet er die Befehle, die ihn in Freiheit setzen sollen, und droht mir mit allen Strafen, sobald er frei sein wird. Er antwortet mit Unwillen auf alle Fragen, die man an ihn richtet und sehr oft antwortet er gar nicht.

Es war nicht möglich, diesen Kranken zu überzeugen, dass er das Spiel - werk seiner verwirrten Einbildungskraft sei, und dass sein Zustand der Hülfe des Arztes bedürfe. Man will, sagte er, mir den Kopf mit Arzneimitteln verdrehen, aber mein Kopf ist sehr stark und es wird nicht gelingen.

Mit Güte setzt man gar nichts bei ihm durch; will man irgend etwas anwen - den, so muss man zum Zwange seine Zuflucht nehmen. Manche Augenblicke ist der Kranke ruhig, liebenswürdig, unterhält sich angenehm, und man bemerkt nicht die geringste Störung. Die Functionen des organischen Lebens sind nicht im Geringsten gestört.

(Esquirol, Geisteskrankheiten von Bernhard. II. p. 8.)

XXXIV. Selbstschilderung eines Wahnsinnigen von seinem Zustande. (Verschiedenartige exaltirte Stimmungen erregen den wechselnden Wahn ausgezeichneter Persönlichkeiten.) Ein armer Pfarrer, den die allzustrenge Beobachtung seiner Gelübde geisteskrank gemacht, erzählt Folgendes von seiner Krankheit.

Ich war in ein Haus gegangen, wohin mich meine Pflicht rief; beim Ein - tritt in den Saal fielen meine Blicke auf zwei weibliche Personen. und diese251von Wahnsinn.machten auf meine Augen und meine Phantasie einen so lebhaften Eindruck, dass sie wie erleuchtet und wie electrisirt erschienen: ich kannte den Grund eines so sonderbaren Eindrucks nicht, schrieb ihn dem bösen Geiste zu und entfernte mich.

Ich wurde etwas ruhiger; aber während des Tages, da ich noch mehreren Frauenzimmern begegnete, erfuhr ich dieselbe Verwirrung und dieselben Illusio - nen. Am andern Tag trat ich eine Reise an; mehrmals kam es mir vor, als ob der Wagen umschlagen wollte. Unterwegs erregten mir einige weibliche Per - sonen wieder dieselbe Verwirrung und Illusion. Beim Mittagessen schien mir Alles, Wein und Speisen, wie verwirrt, und wie wenn es sich herumdrehte.

Nun war ich überzeugt, dass der Geist der Verzauberung und der Illusion mir überall folge, stand plötzlich auf und machte dem Wirthe Vorwürfe, den ich auch mit im Spiele glaubte, und setzte mich schnell wieder in den Wagen.

Erinnerungen aus meiner früheren Lectüre bestärkten mich in meiner Ansicht, vom Teufel besessen zu sein, und ich beschloss, ihn durch Fasten, Beten und Exorcismen zu bekämpfen Meine Lebhaftigkeit verwandelte sich in eine krie - gerische Wuth, alle Erinnerungen an die Krieger, deren Geschichte mich in der Kindheit am lebhaftesten berührt hatte, stiegen in mir auf. Meine Phantasie trug mich in die Schlachten und Stürme, deren Geschichte ich gelesen; ich wollte diese verschiedenen Charactere darstellen, bald Alexander, bald Achilles, bald Heinrich IV. Mit dem ersteren hatte ich mich so assimilirt, dass ich sein Ge - sicht, seinen Namen zu haben, es selbst zu sein glaubte; ich stritt um Kranikus, ich siegte bei Arbela, ich belagerte Tyrus, und erstieg stürmend seine Wälle.

Das Bild der Tyrier, welche der Sieger am Meeresufer an Kreuze schlagen lässt, stieg in meiner Phantasie auf. Bei diesem Anblick befiel mich Entrüstung und Entsetzen, ich verabscheute den Character des macedonischen Helden und wollte kein solches Ungeheuer mehr sein; über die traurigen Opfer seiner Grau - samkeit befiel mich ein Mitleid und eine Wehmuth, wie wenn ich sie vor mir gehabt hätte.

In einem zweiten Anfall kriegerischer Wuth lieh mir meine Phantasie den Character des Achilles. Es schien mir, ich gürte seine Waffen um, seine Stimme, sein Muth waren mir gegeben, ich forderte die Trojaner mit Schimpfreden heraus. Dann wie es mir schien die Heere vor mir her treibend und vernichtend sah ich mich plötzlich vor Priams Palaste. Ich erschien mir nun als Pyrrhus, fasste und vereinigte die vier Säulen meines Bettes und warf sie gewaltsam gegen meine Zimmerthür, die aus ihren Angeln ging. In höchster Freude, von dem Stoss und dem Lärm begeistert, schrie ich: Troja ist gefallen! Priams Palast steht nicht mehr!

Nun ward ich gebunden und schreckliche Bilder drängten sich vor mir. Ein stinkender brenzlicher Geruch nach Eisen und Erz belästigte mich lange; ich schritt durch die Ruinen des alten Roms etc. etc.

Als ich ruhiger und nun in Freiheit gesetzt wurde, empfand ich ein unbe - schreibliches Glück; mir schien die ganze Natur, bisher gefangen, ihre Bande gebrochen zu haben und nun mit mir der reizenden Freiheit zu geniessen

Ich nahm den Character eines friedlichen Königs an; ich glaubte in meinen Staaten alle Künste und Wissenschaften gedeihen zu lassen und selbst Malerei, Sculptur, Architectur, Geometrie etc. zu verstehen. Mein Blick war so richtig, meine Hand so sicher, dass ich die Plane mit dem nächsten besten Instrument auf dem Boden oder die Wand mit merkwürdiger Genauigkeit zeichnen konnte.

252Beispiele von Wahnsinn.

Die Laune, die mich beherrschte, gab meinen Sinnen eine Lebendigkeit, meinem Geist eine Schärfe und meiner Seele eine Grösse und Erhabenheit, die etwas Ausserordentliches aus mir machten. Es war mir, als lese ich in den Herzen der Menschen, die mir nahten, ihr Character entwickelte sich mir mit überraschender Klarheit und da mich keine Rücksichten abhielten, so äusserte ich Alles scharf und richtig.

Man wird sich vielleicht wundern, dass ich mich so vieler Umstände so wohl erinnere, aber meine Phantasie war so thätig und lebhaft, dass alle Gegenstände sich mit Feuerzeichen darin malten oder vielmehr sich eingruben

(Leuret, Fragmens etc. Paris 1834. p. 282.)

XXXV. Anfälle von Wahnsinn, in der Art eines überspannten Geschlechtstriebes. Besonnene Selbstvertheidigung des Kran - ken (Folie raisonnante mit wahnsinnigem Anstrich). Ein gewisser D. wurde in Paris mehrmals verhaftet und achtmal in Irrenhäuser gebracht, jedes - mal wegen derselben Veranlassung. Er wurde nämlich jedesmal betroffen, indem er den vornehmsten Damen Briefe schmutzigen Inhalts schrieb oder sich in deren Wagen oder in ihr Haus eindrängte. Briefe und Schriften voll empörender Ob - scönität, welche den Titel Heldengedichte führen und unzusammenhängende Vor - stellungen, bizarre Ideen, Associationen, lächerliche Wortspiele enthalten, richtete er an Madame Bonaparte, an Mademoiselle Beauharnais, an viele andere Her - zoginnen, Ladys und Prinzessinnen. Seine Liebeserklärungen bestanden in den Ausdrücken der ekelhaftesten Wollust und in der garstigsten Schilderung der Lust, welche er vorgeblich in den Armen jener Personen genossen habe.

Dabei benahm er sich äusserlich so ruhig und besonnen und schweifte so wenig von der Rede ab, dass über sein Irresein mehrmals die grössten Zweifel entstanden. Marc, Esquirol, Ferrus erwiesen indessen in einem hierüber ausge - stellten Gutachten die Realität des Irreseins. Jedesmal wusste er die ihm schuld - gegebenen Vergehen mit der grössten Zuversichtlichkeit zu läugnen, sein Beneh - men zu beschönigen, und sich als einen ganz unschuldiger und widerrechtlicher Weise Verhafteten darzustellen. Einmal machte er folgende Reclamation.

Vor fünf Wochen wurde ich willkührlich verhaftet und bin noch in dem Gefängniss La Force eingesperrt, ohne alle Rücksicht auf die scandalöse Verletzung der Menschenrechte eines Ehrenmannes, welcher wegen seiner stets bewiesenen Loyalität und Vernunft und wegen seines unbescholtenen Lebenswandels in allen Verhältnissen wohl bekannt ist.

Ich lustwandelte um jene Zeit an einem Mittwoche allein in den Elysäischen Feldern zwischen 2 und 3 Uhr, als es durch ein mit meinem Loose verknüpftes Missgeschick sich fügte, dass auch Madame ** daselbst sich ergieng, welches sie, wie ich glaube, ausserdem fast niemals zu thun pflegt. Sie war blos von einem Stallmeister, einem Officier und einer Dame begleitet. Kaum hatte ich sie bemerkt, als ich mich in eine sehr ehrerbietige Entfernung nach einer Seitenallee der Hauptallee zurückzog, in welcher sie sich befand. Daher war ich stets über 50 Schritte von ihr während ihrer Promenade entfernt, welche etwa eine Viertel - stunde währte, obgleich die Vorübergehenden sie nicht zu belästigen schienen, als dieselben sie beim Spazieren umringten, und sich um sie beim Einsteigen in den Wagen am Ende der Elysäischen Felder zur Seite des Platzes Ludwigs XVI. gruppirten. Was mich betrifft, so befand ich mich zuletzt über hundert Schritte von ihr entfernt.

253Die psychischen Schwächezustände.

Wie sehr musste es mich daher befremden, dass der Stallmeister, anstatt in den Wagen zu steigen, in Begleitung des Officiers gerade auf mich zuging, auf mich, der ich ganz allein und weit entfernt mich befand! Ich konnte nicht glauben, dass er mir auf öffentlicher Strasse einen hinterlistigen Streich spielen werde, und dennoch that er es; er trat auf mich zu, in der Hand ein Papier haltend, welches einem noch versiegelten Briefe glich, und beschuldigte mich, dasselbe so eben inmitten der den Wagen umringenden Menge der Madame ** überreicht zu haben, mit dem Hinzufügen, dass der Brief beleidigenden Inhalts und von meiner Hand unterzeichnet sei. Ich erwiderte ihm, dass ich nicht verstünde, was er mir sagte, dass ich den Herrn Officier zum Zeugen nähme, mich nicht in der Gruppe befunden zu haben, und dass ich demselben weder ein Papier noch einen Brief eingehändigt habe, welches dieser auch bestätigte. Daher erklärte ich ihm, dass ich ihn nur für einen Verläumder halten könne. Dessen - ungeachtet forderte er den Officier auf, mich zu verhaften; letzterer verweigerte diess anfangs, und fügte sich erst seinem Ansinnen, nachdem zwischen ihnen ein Wortwechsel stattgefunden hatte. Ich glaubte nicht, mich gegen eine so willkührliche und scandalöse Verhaftung zur Wehre setzen zu dürfen, es für meine Pflicht haltend, mich im Vertrauen auf die Loyalität der Regierung zu unter - werfen, um so mehr, als die von jeher bekannte Loyalität meines Characters mir stets den Sieg über jedes Complott verschaffen muss, welches gegen meine Person geschmiedet werden könnte. etc.

Diese Zuversichtlichkeit, sagt Marc, kann entweder aus einem wirklichen Vergessen der Anfälle von Irresein entspringen, oder er findet das systematische Läugnen seinen Interessen dienlich.

(Marc, die Geisteskrankheiten etc. von Ideler. I. p. 23.)

Dritter Abschnitt. Die psychischen Schwächezustände.

§. 120.

Wir begreifen unter diesem Capitel eine Reihe krankhafter Seelen - zustände, welche bei grossen Verschiedenheiten im Einzelnen, doch zusammen eine natürliche Gruppe bilden. Schon dadurch stehen sie sich alle sehr nahe, dass sie (mit wenigen, bald zu bezeichnenden Ausnahmen) kein primäres, sondern ein consecutives Irresein bilden, dass sie als Reste und Residuen der bisher betrachteten Formen, wenn diese nicht geheilt werden, zurückbleiben. Ferner dadurch, dass hier das psychische Grundleiden nicht mehr, wie in der Schwer - muth und Manie, in herrschenden Affecten beruht, welche secundär das richtige Vorstellen beeinträchtigen, sondern die Störungen der Intelligenz an sich selbst, bei zurückgetretenen oder ganz abwesenden254Allgemeines über die psychischen Schwächezustände.Affecten, die Grund-Anomalie bilden (§. 26.). Diese Störung der Intelligenz trägt entweder ganz offen den entschiedenen Character der Schwäche an sich, der sich beim eigentlichen Blödsinn in der Energielosigkeit des Vorstellens, dem Mangel der normalen Ge - danken-Reproduction (Verlust des Gedächtnisses) und jeder gesunden Combination äussert und bis zum gänzlichen Auseinanderfallen des geistigen Lebens gehen kann, womit zugleich Schwäche auf der moto - rischen Seite des Seelenlebens, Energielosigkeit oder völliger Verlust des Willens und Gemüthsschwäche, ein stumpfes Beharren des psy - chischen Tonus aus Mangel an Reactionsfähigkeit oder ein Wechsel nur oberflächlicher Reactionen gegeben ist. Oder jener Character psy - chischer Schwäche ist gewissermassen verdeckt durch das Herrschen einzelner Wahn-Vorstellungen, in deren starrem Festhalten der ganze Rest psychischer Kraft aufgeht, hinter denen aber im Bewusstsein nur eine leere Oede liegt. Aus dieser Leere erheben sich keine Vorstellungen mehr, die den Wahn anfechten und umstossen könnten; ungeachtet er nicht mehr von einem herrschenden Affecte gehalten und getragen wird, bleibt der Wahn hier fix wegen Lückenhaftigkeiten des Denkens, die dann gewöhnlich nicht bloss das eng umgrenzte Gebiet der fixen Wahn-Vorstellungen betreffen, sondern nur Theil - Erscheinungen einer allgemeinen Herabsetzung und Verödung aller psychischen Processe sind. Insoferne glauben wir die partielle Ver - rücktheit zu den psychischen Schwächezuständen zählen zu müssen.

Alle diese Zustände zeigen nicht mehr die Wandelbarkeit der bisherigen Formen und jene Activität des krankhaften Processes, in der sich so sichtbar das Schema des thätigen, gesunden Seelenlebens, geistige Verarbeitung und Combination (namentlich nach dem Causa - litäts-Gesetze) erkennen liess. Die falschen Vorstellungen beruhen viel - mehr hier, sofern sie nicht eben aus einer früheren Periode herüber genommen sind, zum grössten Theile auf Zusammenhangslosigkeit und Schwäche des Denkens, oder in der partiellen Verrücktheit auf affect - losen Hallucinationen und auf einer immer weiter durchdringenden Ausbreitung der früher gebildeten Wahn-Vorstellungen über den ganzen möglichen Inhalt des Vorstellens. Alle diese krankhaften Zustände sind (wieder mit wenigen Ausnahmen), wo sie nicht durch den Tod ab - gekürzt werden, von sehr chronischem Verlauf und gemeinhin nur nach einer Seite hin noch einer Veränderung und eines Wechsels fähig, nemlich insoferne die psychische Schwäche immer tiefer wird. Doch bleiben sie oft lange Reihen von Jahren gänzlich stationär; einer vollständigen Heilung sind sie nicht mehr fähig.

255Primäres Vorkommen psychischer Schwäche.

§. 121.

Wir bekommen also hier zwei grössere Gruppen von Zuständen, die Verrücktheit und den Blödsinn. In Bezug auf die erstere verweisen wir auf die folgende nähere Schilderung derselben; in der Form des Blödsinns unterscheiden wir wieder zwei Abtheilungen, die eine mit Verworrenheit, aber noch grösserer, wenn gleich nur ober - flächlicher Thätigkeit des Vorstellens, gewöhnlich auch mit einiger äusseren Agitation, (die Verwirrtheit, Démence), die andere mit höchster Trägheit des Vorstellens bis zu völligem Aufhören desselben und mit äusserer, apathischer Ruhe (den apathischen Blödsinn.) Ueberall haben wir dabei nur den erworbenen Blödsinn im Auge, d. h. denjenigen, welcher bei Menschen vorkommt, welche früher geistes - gesund waren, und wir schliessen als nicht zu dieser Erörterung gehörig, den angeborenen oder in den ersten Lebens-Perioden ent - standenen Blödsinn, die verschiedenen Grade des Idiotismus (vom tiefsten Cretinismus bis zur einfachen Albernheit) aus.

Solcher erworbene Blödsinn nun, als eigene Form des Irreseins betrachtet, kann allerdings primär, d. h. ohne dass ihm eine andere Form psychischer Krankheit oder eine anderweitige schwere Gehirn - krankheit vorausgegangen wäre, entstehen, z. B. als Geistesschwäche des hohen Alters oder einer frühzeitigen Decrepidität, oder bei lang - samer Entwicklung von Geschwülsten in der Schädelhöhle etc. Was indessen die Fälle betrifft, welche von vielen Schriftstellern als acut entstandener, heilbarer, primärer Blödsinn beschrieben werden, so gehört gewiss deren grosse Mehrzahl zur Melancholie mit Stupor, bei deren Beschreibung schon auf die leichte Verwechslung mit wirk - licher psychischer Schwäche und auf die Unterscheidungsmerkmale beider aufmerksam gemacht wurde. (§. 101.) Doch kommen unzweifel - haft theils Mittelzustände zwischen melancholischem Stumpfsinn und wirklichem Blödsinn, theils entschiedene Fälle primären, acuten und heilbaren Blödsinns vor und wir wollen diess ausdrücklich durch An - führung eines interessanten Beispiels bekräftigen, eines Falles, wo der Blödsinn höchst wahrscheinlich durch Gehirn-Oedem in Folge eines Druckes auf die Hals-Venen entstand.

XXXVI. Mehrwöchentlicher blödsinniger Zustand ohne Rückerinnerung desselben nach einem Strangulations - versuche. Ein 25jähriger kräftiger Gefangener erhängt sich; fast unmittelbar nach Abnahme des Körpers zeigen sich Lebensäusserungen, das Bewusstsein kehrt zurück; Patient gibt, anscheinend ganz ruhig und vernünftig, die Geschichte seines Lebens und seine Motive (Lebensüberdruss) an. Am folgenden Tage ist256Secundäres Vorkommen des Blödsinns.er still und wortkarg, am dritten verstummt er. Stierer Blick, injicirte rollende Augen, Krämpfe der Schläfe, der Kaumuskeln und der Augen, Greifen nach dem Kopf, starres, lebloses Gesicht, wie eine Bildsäule. Kein sinnlicher Eindruck scheint percipirt zu werden, nur sehr starker Schall bewirkt leichte Zuckungen der Gesichtsmuskeln, er geht herum und isst, ohne Empfinden oder Begehren aus - zudrücken. Nach 3 Wochen wird Patient in eine Heilanstalt gebracht, und nach einigen weiteren Wochen erwacht er. Er erinnert sich vollkommen der Zeit und Umstände, die dem Hängen vorangegangen waren, bis zum Eintritt der Be - wusstlosigkeit, und beschreibt den lebhaften Kampf seiner Gefühle zwischen Ent - schluss und Ausführung, und die Empfindungen im Momente des Hängens, Ohren - singen und Augenfunkeln. Von diesem Augenblicke an ist alle Erinnerung seiner persönlichen Existenz bis zur Stunde seines Erwachens in der Heilanstalt ver - schwunden; auch die Wiederbelebung nach dem Hängen und der mehrstündige Besitz des Bewusstseins war ihm ganz unbewusst. Das zweite Wiedererwachen erfolgte plötzlich; eines Tages im Hofraume erwachte in ihm die Vorstellung von den ihn umgebenden Gebäuden, welche Erinnerungen anderer ähnlicher Gegen - stände in ihm weckte. Von jetzt an regelten sich schnell die Geistesthätigkeiten und die Gesundheit.

(Meding. In Siebenhaar, Magazin für die Staatsarzneikunde. I. 1842.)

Unendlich viel häufiger entsteht der erworbene Blödsinn con - secutiv, d. h. nachdem ihm die Symptome einer andern schweren Gehirn-Krankheit (Epilepsie, acute Meningitis, typhöses Gehirn - Leiden etc.), und ganz besonders, nachdem ihm andere Formen des Irreseins vorausgegangen sind. Er bildet den endlichen traurigen Ausgang aller ungeheilt gebliebenen Geisteskrankheiten, der Melan - cholie, der Manie und der Verrücktheit, und merkwürdigerweise geht auch dem senilen Blödsinn nicht selten eine Periode der Exaltation, ein kurzes Stadium maniacum voraus, das sich durch grosse psychische Reizbarkeit, durch einen neu erwachenden Hang zur Thätigkeit, durch wieder eintretenden Geschlechtstrieb (Heirathenwollen etc.) und Neigung zu spirituosen Getränken characterisirt; diesem folgt dann ent - weder ein schneller psychischer Collapsus oder solche kürzere Exal - tations-Perioden wechseln mehreremale mit der eintretenden Schwäche. Auch in der Reconvalescenz-Periode namentlich von heftiger Tobsucht stellt sich nicht selten ein Zustand tiefer psychischer Schwäche ein; er verhält sich zum wahren Blödsinn, wie eine starke, lange dauernde Ermüdung zur wirklichen Paralyse.

Nicht ganz selten, wiewohl bis jetzt wenig beachtet, ist ein Seelenzustand mit dem Character mässiger Schwäche, welcher zu - weilen, nach scheinbarer Genesung aus andern Formen, z. B. aus der Manie eintritt und dann für immer zurückbleibt. Bei den so Genesenen ist wieder völlige Gemüthsruhe eingetreten, sie können auch wieder formal richtig denken und urtheilen, das Gedächtniss257Mildeste Form der Schwächezustände.ist kaum oder gar nicht versehrt, ihre Reden sind ganz zusammen - hängend und verständig. Dennoch sind sie nicht mehr die früheren Menschen; es ist als ob von ihrer geistigen Individualität gerade das Beste und Werthvollste abgestreift wäre, das feinere sittliche und ästhetische Gefühl, das sie früher hatten, das Interesse für den höheren geistigen Gehalt des Lebens, die Schönheit und der Adel der menschlichen Natur. Ihr Denken und Streben bewegt sich von nun an in einem beschränkten Kreis, und zwar in der Sphäre der unmitelbaren Bedürfnisse und Sorgen des sinnlichen Daseins, und während sie in diesem Kreise verständig, mit ziemlicher Lebhaftig - keit, vielleicht mit mässigem Witze schalten, ist ihnen jeder geistige, ideale Gehalt des Lebens und jede darauf zielende Betrachtung und Bestrebung fremd geworden. Man könnte sie für ganz gesund halten, da es ja Menschen genug gibt, die solcher Art von Hause aus sind wenn man nicht ihr früheres Leben kennen, und wenn nicht in manchen Fällen eine auffallende Umänderung der Physionomie und des ganzen Habitus zum Stumpfen, Blöden, leise Thier-ähnlichen auf eine durchgreifende Umwandlung hindeuten würde. Sie sind nun ferner brauchbar zu einfachen, mechanischen Beschäftigungen, in denen sie Sorgfalt und Verstand zeigen können, sie selbst verlangen nichts weiter mehr, als das, was zur Befriedigung einfacher, sinn - licher Bedürfnisse genügt. Lässt man solche Genesene aus dem Irrenhause ins Leben zurückkehren, so sind sie in grosser Gefahr neuen, schwereren Irreseins oder eines allmähligen Fortschritts der geistigen Stumpfheit. In den Pflege-Anstalten führen sie oft viele Jahre lang ein relativ gesundes, ruhiges und arbeitsames Leben.

Man hat solche Zustände als die allermildeste Form des Blöd - sinns zu betrachten. In allen höheren Graden fällt natürlich jeder Schein von Reconvalescenz weg und die zunehmende Abstumpfung bleibt nicht auf die feineren und delicateren psychischen Gebiete beschränkt. Häufig nimmt nun das ganze geistige Leben den Character wieder an, den es in der Kindheit hatte, wobei am auffallendsten die Fähigkeit zu allem abstracten Denken verloren gegangen, in manchen Formen dagegen (namentlich der Verwirrtheit) eine gewisse ober - flächliche und zusammenhangslose Lebendigkeit und Beweglichkeit des Vorstellens zurückgeblieben ist. Der Mangel aller Tiefe weil eben nur relativ wenige und beschränkte Massen von Vorstellungen vorhanden sind, welche zu durchdringen wären die Freude an Tand und Spielwerk, das zum Stoffe für ein oberflächliches Phanta - siren wird, und das nackte, durch keine Reflexion gehinderte HervortretenGriesinger, psych. Krankhtn. 17258Symptomatologie der Verrücktheit.der eben vorhandenen Stimmung (Lachen, Herumhüpfen, Weinen etc.) haben viele dieser Zustände mit dem Kindes-Alter gemein. So sind auch viele dieser Kranken wie hülfsbedürftige Kinder zu behandeln und zu leiten, können noch durch Milde oder Strenge zu leichteren, mechanischen Arbeiten angehalten und durch methodische Ordnung und Zucht in den Aeusserungen ihrer Verworrenheit beschränkt und vor tieferem Versinken oft noch lange Zeit bewahrt werden.

Diese Kranken, die Verrückten und Blödsinnigen, bilden die grosse Majorität aller Irren, namentlich sind die Pflege-Anstalten für chronische Fälle fast ausschliesslich von ihnen bevölkert. Wenn nur die psychologische Kenntniss dieser Zustände in irgend annäherndem Verhältnisse stünde zu der vielfachen Gelegenheit sie zu beobachten! Aber die individuellen Verschiedenheiten sind hier noch grösser, als bei den vorigen Formen, sie sind nicht zu zählen und nicht zu beschreiben. Man muss sich mit Aufstellung und Schilderung einiger Haupttypen begnügen.

Erstes Capitel. Die partielle Verrücktheit.

§. 122.

Wir begreifen hierunter jene secundären Zustände von Irresein, wo auch mit bedeutender Abnahme und nach gänzlichem Erlöschen des ursprünglichen krankhaften Affects das Individuum nicht genesen, sondern in der Weise erkrankt geblieben ist, dass es nun am auf - fallendsten in einzelnen fixen Wahn-Vorstellungen, die mit besonderer Vorliebe gepflegt und stets wiederholt geäussert werden, delirirt, immer also eine secundäre, aus der Melancholie oder Manie heraus - gebildete Krankheit. Wir halten den von Esquirol eingeführten, von ihm aber in wesentlich anderem Sinne gebrauchten Namen der Mo - nomanie (§. 40.), wenn er überhaupt für eine besondere Form der Geisteskrankheiten beibehalten werden soll, für vorzugsweise geeignet zur Bezeichnung dieser Zustände. Das Studium der psychischen Vor - gänge bei diesen Kranken scheint uns bis jetzt auffallend vernach - lässigt und das Bild der Krankheit durch anecdotenartige Auffassung vielfach getrübt und verfälscht. Wir wollen versuchen, das zu schil - dern, was uns die Beobachtung ergab.

Anomalieen der Selbstempfindung, der Triebe und des Wollens. Der Uebergang der Melancholie und Manie mit Wahn -259Gemüths-Störungen.Vorstellungen in diese Zustände geschieht immer allmählig. Oft sehr langsam, mit Schwankungen von mehrjähriger Dauer tritt der Zustand negativen oder affirmativen Affects, in dem sich die Kranken befanden, zurück, ein ganz chronischer Zustand abgeschwächter melancholischer oder maniacalischer Gemüths-Erregung bleibt aber oft lange bestehen, und erst spät erlischt auch dieser gänzlich, mit Zurücklassung einzelner Wahn-Vorstellungen. Mit dem Schwächerwerden des Affects stellt sich die äussere Besonnenheit allmählig wieder her; an die Stelle der oft früher vorhandenen Verworrenheit des Vorstellens, der ge - hemmten Spannung oder der convulsivischen Erschütterung und Los - gelassenheit des Strebens tritt wieder ein gleichmässigerer Fluss der psychischen Thätigkeit. Allmählig stellt sich ein äusseres Gleich - gewicht ganz oder fast ganz wieder her, indem mit dem Erlöschen der Affecte das Gemüth sich vollständig beruhigt hat.

Aber diess ist nun nicht mehr das Gleichgewicht des früheren, gesunden Lebens. Es hat sich allmählig ein neuer mittlerer Stand des psychischen Tonus, ein neues Gemüth und ein neuer Character gebildet; die Kranken sind jetzt nicht etwa die vorigen Menschen plus einige Irrthümer oder eine einzige Wahn-Vorstellung; sie sind durch und durch andere geworden. Diese durchgreifende Veränderung, welche natürlich da am deutlichsten sich zeigt, wo der allgemeine melancholische Schmerzzustand, die allgemeine maniacalische Exal - tation nunmehr gänzlich erloschen ist, besteht wesentlich in Ab - stumpfung und Schwäche aller psychischen Reactionen, in Gemüths - leere, Gleichgültigkeit und verminderter Energie des Willens. Keiner dieser Kranken ist derselben Theilnahme an der Aussenwelt, der - selben Liebe und desselben Hasses mehr fähig, wie früher; Freunde und Verwandte können sterben, das Liebste, was der Kranke früher hatte, kann zu Grunde gehen, das froheste Ereigniss kann seiner Familie wiederfahren er wird höchstens in ganz oberflächliche unangenehme oder angenehme Erregung gerathen, oder er wird über die Sache, wie über eine unwillkommene Störung, schnell hinweg - gehen oder er wird gar nicht darauf reagiren. Nur von Einer Seite kann der psychische Tonus noch immer schnell bestimmt und ver - ändert, können Gemüths-Affecte und Willensreactionen noch immer schnell hervorgerufen werden: man berühre ernstlich den fixen Wahn, man trete seiner Aeusserung mit Raisonnement, seiner Geltendmachung mit Gewalt entgegen, sogleich wird der Kranke zornig, heftig werden; man schmeichle dem Wahne, und er wird sich freuen.

17 *260Symptomatologie der Verrücktheit.

Die Möglichkeit affectvoller Zustände ist also nicht aufgehoben, aber nur Eine Gruppe von Vorstellungen ist noch mächtig genug, um solche entstehen zu lassen. Die vorherrschende Stimmung ist zwar im Ganzen eine der Wahn-Vorstellung entsprechende, doch schon in abgeschwächtem Masse, und in den höheren Graden der Verrücktheit herrscht oft eine so völlige Gleichgültigkeit, dass der Kranke sich beharrlich fort, ohne alle Spur von Gemüthserhebung für den Beherrscher der Welt, den Besitzer aller irdischen und himmlischen Dinge, für Gott etc. zu erklären vermag. Die psychische Reaction auf alle andern Erregungen, als die mit dem Wahne in Connex stehenden, scheint desswegen überhaupt so schwach zu sein, weil einmal das vorstellen, so weit es sich nicht auf den Wahn be - zieht, im Ganzen seine Energie eingebüsst und eine tiefere Ab - stumpfung erlitten hat, sodann weil häufig viele Vorstellungsmassen, die dem früheren Leben des Kranken angehört hatten, nun völlig ausgelöscht, vergessen sind oder von dem Kranken gar nicht mehr als seine eigenen an - erkannt werden. Es ist derselbe Umstand, der auch auf dem Gebiete der Intelligenz selbst dem Kranken nicht erlaubt, das Irrige seines Wahns einzusehen. Denn nicht so verhält es sich hier, wie im ge - sunden Leben, wenn eine herrschende Idee, ein treibender Gedanke die übrigen Vorstellungen momentan verdunkelt und niederhält. Hier ist immer noch die Möglichkeit der entgegengesetzten Vorstellungen, des Zweifels, des Schwankens vorhanden. Dem Verrückten aber, ungeachtet er nicht mehr im Zustande des Affects sich befindet, welcher früher die Erkenntniss des Irrthums unmöglich machte, unge - achtet er in der That mit dem ihm gebliebenen Reste zuweilen formal richtig raisonnirt, ist gar keine Möglichkeit des Zweifels an seinem Wahne mehr gegeben. Dass sich die fixen Vorstellungen in ihrem Zuge gar nicht mehr stören lassen, kommt jetzt daher, dass ihnen gar kein Gegengewicht, gar kein innerer Widerspruch mehr entgegentritt, und diess scheint ebenso sehr auf einer allgemeinen Abschwächung des früher möglichen Vorstellens, als auf der Aus - löschung einzelner Reihen gesunder Vorstellungen zu beruhen. So mag der Grund der Unmöglichkeit, den Wahn als solchen einzusehen, und wieder die allgemeine Gleichgültigkeit und verminderte psychische Reaction auf denselben psychischen Mängeln begründet zu sein.

In ähnlicher Weise verhält sich die Sache auf der motorischen Seite des Seelenlebens. So lange noch leise melancholische und maniacalische Gemüths-Erregungen übrig sind, hat das Streben im Allgemeinen den Character dieser Zustände, und es werden dann261Gemüths-Verstandes-Störungen.theils ein einseitiges Festgehaltensein in Einer negativen Richtung (z. B. anhaltende Neigung zu ruhigem Zerstören lebloser Dinge, Klei - derzerzupfen, Papierzerreissen etc.), theils eine unruhige Geschäftig - keit im Sinne der Wahn-Vorstellungen, theils vorübergehende tob - süchtige Anfälle beobachtet. Später aber tritt auch auf der Seite des Strebens ein mittlerer oder höherer Grad allgemeiner Schwäche ein; Einzelne können von früher her gewohnte, mechanische Beschäfti - gungen fortsetzen, wie z. B. Prof. Titel, der sich für den römischen Kaiser hielt, ein Collegienheft noch ablesen; oder sie können leichte, manuelle Arbeiten verrichten; aber es ist keine Rede mehr von einem Bedürfnisse gesunder Thätigkeit und sogar das der Wahn-Vorstellung ent - sprechende Treiben, das Briefe-Schreiben, Proclamationen-Erlassen etc. wird immer energieloser und seichter, und in den höchsten Graden bleibt nur noch die schwächlichste Geschäftigkeit, das Handthieren mit Kieselsteinen, Lumpen, Papier etc. übrig.

Allerlei grillenhafte Neigungen, wie solche auch innerhalb der früher abgehandelten Formen vorkommen, beobachtet man ganz besonders bei den partiell Verrückten, wo sie zu fixen Gewohnheiten werden. Einige suchen sich immer mit Wasser zu thun zu machen, andere wollen immer die Schuhe ausziehen, andere zeigen eine besondere Vorliebe für ein - zelne Orte oder Winkel, wo sie sich immer aufhalten; Einige wollen gar nicht sprechen, andere schreien, singen, declamiren gern oder wollen immer die Wand bemalen; Andere lieben es sich mit Stroh, mit Fetzen und Lumpen auffallend zu putzen, Andere wollen die Nägel beständig wachsen lassen, noch Andere verüben immer boshafte Streiche, machen immer sonderbare Geberden etc. Oft hat dieses Treiben einen besonderen, geheimen Sinn für den Kranken oder es geht überhaupt aus einzelnen mit dem Wahne zusammenhängenden Stim - mungen hervor; anderemale ist es rein automatisch, der Verrückte weiss selbst keinen Grund dafür anzugeben und wird zornig, wenn man solchen wissen will, in derselben Weise, wie der Gesunde ärgerlich wird, wenn man ihn um den Grund von grillenhaften Ge - wohnheiten (Nägelkauen, allerlei unnöthigen Bewegungen mit den Händen etc.) fragt.

§. 123.

Unter den Anomalieen des Denkens bei den partiell Ver - rückten fällt zuerst eine formale Veränderung, nemlich eben ein bald mässiger, bald höherer Grad von Schwäche des Denkens auf, mit262Symptomatologie der Verrücktheit.dem, wenigstens sehr häufig gleichzeitigen Verluste (Vergessensein) grösserer Gedankenkreise, die früher dem gesunden Leben angehörten. Schon aus diesen Gründen ist den Kranken kein freies Erkennen, keine gesunde geistige Conception mehr vergönnt. Einzelne können wohl noch ziemlich geordnete Gespräche führen, doch gewöhnlich nur solche, die sich in geläufigen Phrasen abmachen lassen; sobald es an wirkliches, abstractes Denken gehen soll, so zeigt sich bald die Unmöglichkeit, den Gegenstand zu durchdringen. Wahrer Scharfsinn kommt niemals vor bei partiell Verrückten, wenn man nicht jeweilige baroke Gedankenverbindungen, die in ihrer abrupten Zufälligkeit wohl hin und wieder etwas Ueberraschendes haben können, so nennen will. Meist kann der Kranke keine Vorstellung, die nicht eng mit dem vorzugsweise herrschenden Wahne verbunden ist, auch nur einigermassen fixiren; er schweift vom Thema ab und kehrt gewöhn - lich beim Schreiben noch mehr als beim Sprechen offener oder ver - steckter zu jenem Kreise des Denkens zurück, der für ihn allein noch der wirkliche, reale ist. In den höheren Graden aber wird diese Schwäche des Vorstellens zu wirklicher Verworrenheit, einem zufälligen, sinn - und zusammenhangslosen Aufsteigen von Bildern und Gedanken, die nur locker durch die Einheit der fixen Ideen zusammengehalten werden, womit übrigens die Form der partiellen Verrücktheit in die der allgemeinen Verrücktheit übergeht.

Wie die einzelnen Wahn-Vorstellungen in der Schwermuth oder Manie entstanden sind, haben wir oben gesehen und ihr Inhalt ist der dort schon kennen gelernte. Immer beziehen sie sich auf die eigene Persönlichkeit des Kranken, auf seine Stellung zur Welt oder zum Göttlichen. Aber in Bezug auf ihren Inhalt zeigen sie eine wesentliche Verschiedenheit.

Einmal sind es exaltirte, maniacalische Vorstellungen von activer Art, von Erhebung des Subjects und Beherrschung der Objectivität: Götter, Personen der Drei-Einigkeit, Staatsreformatoren, Könige, grosse Gelehrte, Propheten, Abgesandte Gottes, Erfinder des perpetuum mobile, Beherrscher der Natur, die das Siegel aller Geheimnisse erbrochen und die Elemente aller Dinge durchdrungen haben etc.

Oder die Wahn-Vorstellungen beziehen sich auf ein Leiden, auf ein Beherrschtsein durch die Objectivität. Die Kranken glauben sich verfolgt, von Complotten umgeben, von geheimen Feinden mittelst Electricität gequält, von den Freimaurern beeinträchtigt, vom Teufel besessen, zu ewigen Qualen verdammt, ihrer liebsten Güter beraubt etc. Oder sie hegen fixe Wahn-Vorstellungen über den eigenen Körper,263Verstandes-Störungen.sie sind völlig leblos, todt, haben Beine von Glas, von Butter, beherbergen fremde Wesen in ihrem Leibe etc.

Aus dem verschiedenen Character dieser Ideen ergibt sich der Unterschied einer partiellen Verrücktheit mit activem, exaltirtem (S. p. 212) und einer solchen mit passivem, deprimirtem Wahn.

Je beschränkter der Kreis dieser Wahn-Vorstellungen ist, um so mehr erscheinen sie bei oberflächlicher Betrachtung als blosse, oft nicht einmal sehr bedeutende Verstandes-Irrthümer. Allein, wie sehr würde sich ein solcher Irrthum auch im besten Falle von dem aus mangelhafter Erkenntniss hervorgehenden Irrthume des Gesunden unterscheiden! Eine lange Reihe psychischer Störungen musste ihm vorausgehen, aus Zuständen von Affect hat er sich innerlich herausgebildet, die ganze Persönlichkeit des Kranken ist mit ihm identificirt, er kann ihn weder freiwillig ablegen noch durch Raisonne - ment desselben entledigt werden, und damit der Wahn in dieser milden Form des Irrthums fortbestehen kann, musste nicht nur jene lange Reile affectartiger Zustände ablaufen, in denen er sich bildete, es musste auch eine Lückenhaftigkeit des Denkens übrig bleiben, die sein Be[s]tehen sichert.

Ueberha[u]pt aber besteht das partielle Delirium der Verrücktheit nicht sowohl darin, dass der Kranke nur über Einen Gegenstand falsch denkt, sondern vielmehr darin, dass er eine einzige falsche Haupt - Idee immer wieder vorzugsweise äussert, weil diese sich immer auf - drängt. Sein falsches Denken ist viel ausgedehnter, der Wahn, der sich auf dem practischen Gebiete affectartig erschütterter Gemüthsinteressen gebildet hat, durchdringt nicht nur das nächste Gebiet der Subjectivität, wo er die Taxirung der eigenen Persönlichkeit und ihrer Stellung zur Welt verwirrt, sondern er wirkt sich auch in alles theoretische Vor - stellen des Kranken ein und verfälscht ihm allmählig alle Gedanken - kreise. Denn zu den Wahne bringt er unwillkührlich Alles in Be - ziehung, von ihm aus urtheilt er, und so kann es gar nicht fehlen, dass er im besten Falle (z. B. bei einem bloss hypochondrischen Wahn) wenigstens eine ihm früher ganz fremde Verschrobenheit der Gefühle und Lebens-Ansichten zeigt. Bei irgend wichtigeren Wahn-Vorstellungen über die eigene Persönlichket aber wird die ganze Welt-Auschauung des Kranken total verrückt; von einem falschen Centrum aus und mit falschen Prämissen wird Alles combinirt, und wo noch am meisten formal logische Ordnung und Methode in diesem Irresein ist, da kommt es sehr häufig zu einem umfassenden übrigens zuweilen sorgfältig verborgen gehaltenen Systeme von Unsinn, in welchem264Symptomatologie der Verrücktheit.oft alle Verhältnisse des menschlichen Verkehrs, alle sittlichen Be - ziehungen, ja die ganze innere und äussere Einrichtung des Univer - sums in geheimnissvollem Galimathias ihren Ausdruck finden sollen. Manchmal genügt dem Kranken die gewöhnliche Sprache gar nicht mehr und er bildet sich, wenigstens für die Wahn-Vorstellungen, eine ganz eigene Sprache, die er ebenso, wie die Somnambülen die ihrige, für die Ursprache, die Sprache des Himmels etc. erklärt, und je mehr dabei noch die Sinnesempfindung durch Hallucinationen verdorben und die innere Anschauung durch Verworrenheit und Schwäche un - deutlich und verschoben wird, um so mehr gehen diese Zustände in die Form der allgemeinen Verrücktheit oder der Verwirrtheit über.

Jene vorstechenden Wahn-Vorstellungen lassen sich in ihrer Entstehung immer auf ein Stadium melancholicum oder maniacum, oft auf marquirtere Ereignisse während desselben zurückführen. Besteht die fixe Idee in dem Wahre einer neuen ausgezeichneten Persönlichkeit, so ist ihr Verhalten zu einem dagegen gerichteten Raisonnement sehr merkwürdig. Meist geben die Kranken noch Rechen - schaft über ihr früheres Leben, zuweilen geben sie sogar an, sie seien geisteskrank gewesen (gewiss aber nur vom Hörensagen; und sie verstehen dann darunter nur das Stadium melancholicum), oft erzählen sie die näheren Umstände ihrer Verwand - lung (namentlich Hallucinationen), aber gewöhnlich sehr undeutlich; bemerken sie, dass im Gespräche sich eine Anfechtung der fixen Ideen zusammenziehen will, so wenden sie sich gewöhnlich still und unwillig ab, werden wirklich Argumente gegen sie geäussert, so fangen sie an zu schelten und heftig zu werden, und man hat meist wieder für lange Zeit ihr Vertrauen verloren. Einigen dieser Franken erscheint ihre wahre, frühere Persönlichkeit wie eine verstorbene (p. 6[0]); sie reden von ihr wie von einer dritten Person, und oft reichen nur noch wage Erinnerungen herüber aus dem Dunkel, in dem das alte Ich verdämmert und versunken ist.

Man sieht aus dem Bisherigen, wie mannigfach die intelectuellen Störungen bei diesen Kranken sind, oder vielmehr wie ihrem innern Wesen nach ver - schiedene Residuen und Folgezustände melancholischer und maniacalischer Zustände unter dem Begriffe der Verrücktheit überhaupt zusammeng[e]fasst sind. Nur sorg - fältige neue psychologische Krankheits-Geschichten und Analysen können hier weiteres Licht bringen.

Zahlreiche Beispiele unten werden übrigens zur Orientirung in dieser Form dienen.

§. 124.

Hallucinationen und Illusionen aller Sinnorgane sind in keiner Form des Irreseins so häufig, wie bei den Verrückten und in sehr vielen Fällen nähren und unterhalten sie vorzüglich das Delirium. Oft conversirt der Kranke oder zankt anhaltend mit den gehörten Stimmen und geräth in zornige Aufregung; oft findet er in einer heit[e]ren Gesichtsillusion sein ganzes Glück, wie jene verrückte Mutter, die in einem zerbrochenen, mit Lumpen bedeckten Kruge ihr geliebtes, verlorenes Kind sah und seiner viele Jahre lang mit der grössten Zärtlichkeit pflegte.

265Sinnes-Bewegungs-Anomalieen.

Die Bewegungen, das Aeussere und das Benehmen dieser Kranken zeigt, auch in den mildesten Formen, immer eine gewisse Verschrobenheit und Verzerrtheit. Die Physionomie erscheint meist alt und verwittert, mit stumpferem oder von dem herrschenden Wahne gefordertem Ausdruck. Die meisten zeigen besondere Bizarrerieen in ihrem Benehmen; Einige gestikuliren beständig oder bewegen Hände und Kopf in pedantischem Gleichmas, Andere stehen oft wie in Ver - zückung stille, um Hallucinationen zu lauschen, Andere gehen unab - lässig an einem bestimmten Lieblingsplatze auf und ab, wie Thiere in einem Käfig, und sprechen oder brummen dabei Worte, Reime oder Melodieen. Einige halten sich immer in den dunkelsten Räumen auf, die sie finden können, wenden den Vorübergehenden sogleich den Rücken zu und werden bei jeder Störung heftig. Andere be - schäftigen sich anhaltend mit Sammeln von Bruchstücken aller Art, Lumpen, Steinchen, Schnecken etc., denen sie einen hohen Werth zuschreiben; noch Andere schmücken sich phantastisch mit allem, was ihnen in die Hände kommt.

Gewöhnlich stellt sich mit dem Ablauf der melancholischen oder maniacalischen Periode wieder eine Vermehrung des Körpervolums und ein Zustand körperlichen Wohlbefindens ein, und jede Irren - Pflege-Anstalt enthält solche Kranke, die schon viele Jahrzehende in mittlerem Wohlsein fortleben und ein hohes Alter erreichen.

Intermissionen oder Remissionen kommen hier nicht mehr vor und es scheint nach den bisherigen Erfahrungen niemals mehr eine vollständige Heilung dieser Zustände möglich zu sein. Dagegen ist es durch neuere Beobachtungen (Leuret) unzweifelhaft, dass eine energische, methodische Behandlung Einzelne dieser Kranken so zum Zurückhalten und zur Unterdrückung ihres Wahnes und zur Ablegung bizarrer Gewohnheiten veranlassen kann, dass sie wieder in höherem Masse zur Ausübung von Geschäften brauchbar werden können. Ueberlässt man diese Kranken sich selbst, so befestigen sie sich immer mehr in ihren Wahn-Vorstellungen, diese breiten sich allmählig über immer weitere Kreise des Denkens aus, und die Kranken verfallen endlich in Verwirrtheit oder apathischen Blödsinn.

XXXVII. Ein Verrückter und ein Wahnsinniger. Im Jahre 1824 befand sich seit etwa 8 Jahren in der Charité-Irrenanstalt zu Berlin ein junger Mann, mehr Gegenstand der Aufsicht und Pflege, als ärztlicher Behand - lung, der in den Gängen und Zimmern umherschritt, an Allem Theil zu nehmen schien, aber eigentlich nichts beachtete, sondern Alles mit stolzem Hohn und scheinbarer Zerstreutheit belächelte, über Alles, wenn er gefragt wurde, mit der selbstgefälligsten Genügsamkeit und schroffer Zuversichtlichkeit absprach, weil266Beispiele voner, und das war eben das unzerstörbare Bollwerk seines Egoismus, Alles war, wusste, konnte und besass. Kein Stand überragte den seinigen, kein Wissen erlangte das seine, sein Vermögen glich seinem Wissen und war seinem wahn - sinnigen Stande angemessen. Dieses Bewusstsein der Hoheit, Weisheit, Macht und des Vermögens regte sich in allen seinen Geberden und brach sich Bahn in allen seinen Bewegungen. Es wäre einem talentvollen und geübten Schauspieler schwerlich gelungen, eine stolzere, mächtiger erscheinende Hoheit durch Geberden auszudrücken, wie sie diesem jungen Manne in seinem Zwillichkleide, in seiner gewohnten Stellung neben einem Holzkasten eigenthümlich war, und diess aus dem einfachen Grunde, weil wohl nicht leicht ein Sterblicher in dem Maase von diesen Gefühlen und diesem Bewusstsein erfasst und durchdrungen war, als eben dieser unglückliche junge Mann. Er soll vor seinem Eintritt in die Irrenanstalt, in Folge einer Prüfung, zu welcher er sich mit dem rastlosesten Eifer vorbe - reitet und in derselben nicht genügt hatte, schweigsam geworden, in Trübsinn und darauf in den gegenwärtigen Geisteszustand verfallen sein. Eine häufige Ent - stehungsweise fixer Wahnvorstellungen. Aehnliches begegnet demjenigen, der durch unglückliche Speculation in die tiefste Armuth geräth, im Geiste durch jene Anstrengungen erschöpft, diese nicht erträgt, zum Wahnsinn sich verwirrt, und plötzlich als ein Crösus vor seinen bekümmerten Verwandten auftritt.

Diesem hier mit wenigen Zügen bezeichneten, mir genau bekannten Kranken, führte ich einen andern zu, der vor einigen Tagen in die Heilanstalt aufgenom - men war, und theile zuvor das Wenige mit, was mir über ihn bekannt geworden war: S., ein Mann, etwa 30 Jahre alt, wohlhabend durch ein gewinnreiches Geschäft und angeerbtes Vermögen, leichten Sinnes von Jugend auf, von beweg - lichem Gemüth, dem regellosen Leben seit einigen Jahren ergeben, durch Ver - gnügungen zerstreut, durch Missbrauch geistiger Getränke häufig überreizt und geschwächt, war geisteskrank geworden. Rasch auf einander folgende Genüsse aller Art und rastlose Zerstreuungen schienen eine also schon vorgebildete Dis - position zum Geistesleiden zur andauernden Erscheinung gebracht zu haben. S. gab auf die einleitenden Fragen nachstehende Antworten: Ich bin Oberst, Ge - neral-Flügel-Adjutant, ein ausgezeichneter Billardspieler und ein ausserordent - lich gewandter Kunstreiter, bin neulich im Circus mitgeritten, und habe durch meine Kunstfertigkeit, Gewandtheit, Stärke und bewundernswürdigste Eleganz in der Führung der wildesten Pferde Alle verdunkelt. Ich bin sehr reich ich lade Sie zu mir ein, will mich hier etwas zerstreuen und aufheitern. Der Mensch, den Sie mir hier gegeben haben, man nennt ihn hier Wärter, gefällt mir, er hat mich auch im Circus reiten gesehen u. s. f. Auf diese Aeusserun - gen erwiderte ich: Morgen werde ich Sie einem Manne, welcher hier lebt, vorstellen, der gewiss Interesse für Sie hegen wird, dessen Bekanntschaft Ihnen vielleicht auch nützlich werden kann. S. erwiederte schnell: Das ist mir lieb, ich habe gern viele Freunde und bin allen Menschen sehr gut.

H. stand im stolzen Selbstgefühl vertieft auf dem Flur am Holzkasten, als ich ihm den Herrn S. mit den Worten zuführte: Es wird Ihnen vielleicht in - teressant sein, dieses Herrn Bekanntschaft zu machen. H. trat stolz gegen S. vor, nahm Stellung, mass ihn mit zurückgeworfenem Kopfe einige Augenblicke, und fragte: Wer sind Sie? S. Ich bin Kaiserl. Königl. Russischer Oberst und General-Flügel-Adjutant. H. Es ist mir nicht unangenehm, Sie hier kennen zu lernen; gern will ich mich nach Ihrer Qualität für Sie interessiren,267partieller Verrücktheit.versichere Sie unterdessen meiner Protection, da ich als Feldmarschall mit der Organisation der Land - und Seemacht des russischen Reichs in meinen Musse - stunden mich zu zerstreuen suche. S., niedergedrückt von dem gewaltigen Hochmuth des Sprechers, blickte mit scheuer Verlegenheit umher, während ihn H. musternd überschaute, indem er im Vollgefühl seines masslosen Uebergewichts vor ihm stand. Haben sie sonst noch eine Qualification, die ich benutzen könnte? Ja, Herr Feldmarschall, (rief S. mit wiedererwachender Zuversicht - lichkeit, sich vertraulich dem H. nähernd), ich bin bei den Kunstreitern als erster, bewundernswürdigster Forçereiter mitgeritten. Da warf sich H. in die Brust, schien um Zolle grösser, durchbohrte den harmlosen Menschen mit einem Blick concentrischer Verachtung, rief, ihm den Rücken zuwendend: Gemeiner Pos - senreisser, bezahlter Geck, verdorbenes Subject, in ein Narrenhaus gehörig , und ging mit scharfgemessenen Schritten davon, nahm wieder seine gewohnte Stellung am Holzkasten ein und beschoss unsern gemüthlichen S. mit Blicken, welche diesen bis zur tiefsten Befangenheit niederschlugen. Ich führte den S. fort mit der halbleisen Aeusserung: Aber wie konnten Sie vor diesem Manne solchen Unsinn aussprechen? S. Ich bin ja eigentlich nicht mitgeritten, ich dachte nur so viel daran, wie es gar herrlich wäre, so reiten zu können. Gerne möchte ich es dem Herrn sagen, dass ich nicht mitgeritten bin; führen Sie mich doch gleich zu ihm. Ich erwiderte: Sie haben es damit für immer bei dem Herrn verdorben, Sie haben sich, das fühlen Sie gewiss, mit solchen Aeusserungen in ein falsches Licht gestellt; unterlassen Sie dergleichen künftig, da Sie nun wohl deutlich genug bemerkt haben, welche tiefe Verachtung Ihnen eine so un - überlegte Prahlerei zugezogen hat. S. Aber ich bin doch Oberst und Flügel - Adjutant. Ich antwortete: das ist etwas Anderes und wird sich später er - mitteln, aber bei diesem Manne haben Sie für immer diejenige Achtung verloren, mit der er einen jeden anständigen, die Wahrheit liebenden Fremden zu behandeln pflegt. Hüten Sie sich, dass es Ihnen mit den Andern hier nicht eben so ergeht. Der Wärter spazierte mit dem Kranken fort und theilte mir später mit, wie S. in dem Sinne des mit mir gehaltenen Gesprächs fortfuhr, seine Idee, Kunstreiter zu sein, aufgab, aber immer noch für einen Obersten anerkannt sein wollte. Der Kranke, seit ungefähr 4 Monaten in diesem Gemüthszustande, genas in einigen Monaten ganz, nachdem die eine seiner wahnsinnigen Lieblings-Ideen bei dem erwähnten ersten Zusammentreffen mit H. sogleich tief erschüttert und in ihrer Fortbildung für immer gestört war. H. vermied ihn, stand ihm niemals Rede und begegnete ihm immer mit stummer Verachtung. S. war bei einer solchen Begegnung sichtlich befangen, als schämte er sich noch immer seiner Aeusserungen gegen ihn; nur erst mit der Wiederkehr seiner freien Persönlichkeit verlor sich diese Befangenheit. S. zeigte später allmählig mehr Gemüthsruhe in der Nähe des H. und schien zulezt ein tiefes Mitleid, bei ersichtlicher Anhäng - lichkeit, für diesen Unglücklichen zu fühlen. S. verliess genesend die Anstalt, vergeblich reichte er, wie in dankbarer Erinnerung, dem H. die Hand, die dieser verächtlich zurückwies und sich wie gewöhnlich mit gemessenen Schritten ent - fernte, um in den Regionen eines krankhaft gesteigerten Selbstgefühls fortzu - schwärmen. H. blieb ein unheilbares Mitglied der Irrengesellschaft, aber S. ver - dankte offenbar seinem Einfluss während der beschriebenen Confrontation den ersten Schritt zu seiner Herstellung.

(Sinogowitz, die Geistes-Störungen etc. 1843. p. 22.)

268Beispiele von

XXXVIII. Vieljährige Verrücktheit. Grillenhaft erscheinende, aber mit dem Hauptwahne innerlich verbundene Gewohnheiten. Die B. war zu der Zeit, als ich sie beobachtete, etwa 65 Jahre alt und, so viel man wusste, seit ihrem 16ten Lebensjahre in Irrenanstalten. In ihren Gesten zeigte diese Kranke noch immer Spuren einer besseren Erziehung. Ob sie noch lebende Angehörige hatte, blieb mir unbekannt, da sie Niemand besuchte und mir son - stige Nachrichten fehlten. Ihr früher dunkelblondes, noch immer reiches Haar, war meistens ergraut; ihre Stirn, etwas vorgewölbt, hatte viele Querfalten; ihr Auge, tief liegend, umschattet, von lichtblauer Farbe, war sehr beweglich, im Affect lebhaft glänzend; ihr Gang war gewöhnlich langsam und ohne bestimmte Richtung, da sie immer, so als suche sie etwas, sich in bald grösseren, bald kleineren Halbkreisen bewegte. Sie begrüsste Niemanden erwiederte keinen Gruss, und es geschah nur sehr selten, dass sie, von einer ihr noch nicht bekannten Person begrüsst, aufblickte, den Grüssenden genau betrachtete, dann den Blick schnell wegwandte und zuweilen einige unverständliche Worte murmelte. Sonst erwiederte sie jede an sie gerichtete Anrede mit einigen gewichtigen Schimpf - worten, die sie gewöhnlich, sich allen weiteren Mittheilungen entziehend, mit dem Todesurtheil: Er soll verbrannt werden, beschloss. Sollte sie gehorchen, so gab es jedesmal heftigere Scenen, die nur die Umgebung störten. Man überliess daher die alte unheilbare Kranke sich selbst, ohne auf ihr, sonst unschädliches Treiben zu achten, da sie ungestört Niemand beleidigte, jede Annäherung sorgsam mied, nur mit sehr dringenden Angelegenheiten beschäftigt schien und sich aus verjährter Gewohnheit in die lange bestehende Hausordnung fügte. Sie schrieb öfter Briefe, die nur aus Anfangsbuchstaben bestanden, immer auf grossem Bo - genformat, und versah sie mit der Aufschrift an die mächtigsten Monarchen der Welt und zugleich an deren Frauen. Einige Bogen recht grosses Papierformat und ein Paar Schreibfedern nahm sie immer mit der Geberde gütiger Herablassung an, obgleich sie niemals dafür dankte und den Geber gewöhnlich sogleich verliess. Aus einem ziemlich starken Convolut ihrer Briefe entnahm ich, nicht ohne Mühe, über ihre Vorstellungen Folgendes: Die alte B. hielt sich für eine Königin, Tochter der Sonne und nahe Verwandte und Freundin aller Monarchen. Sie hoffte, in einer goldenen Kutsche, mit sechs Pferden bespannt, abgeholt zu werden. An den Beherrscher der hohen Pforte und seine Gemahlin waren die meisten Briefe gerichtet. Die Briefe an die Monarchen, die sie fast regelmässig drei bis viermal jährlich schrieb (denn ausserdem schrieb sie auch an Strafbehörden der Erde und an die allgemeine Scharfrichterei der Welt), erhielten gewöhnlich Gesuche und bestimmte Befehle, diejenigen verbrennen zu lassen, die sie in ihren Beschäf - tigungen mehrmals, und vielleicht mit Absicht, gestört hatten. War ihr der Name und Stand eines also Verurtheilten unbekannt, so gab sie eine so genaue Beschreibung der erwähnten Person, nach ihrer Kleidung und ihren Gewohnheiten, dass der Bezeichnete wohl zu erkennen war, damit die hohen Monarchen nur keinen Fehlgriff begehen sollten. War Jemand in einem solchen Schreiben von ihr zum Verbrennen verurtheilt, so wiederholte sie diesem jedesmal ihr Urtheil, wenn er sie ansah oder anredete. Begnadigung war von ihr nicht mehr zu erlangen. Diese Kranke war, wie schon erwähnt, eine Sammlerin von unge - wöhnlicher Ausdauer. Nur an strengen Winter - und Regentagen unterliess sie dieses Sammeln, wenn aber die Sonne schien, war sie während der Erholungs - stunden im Irrengarten am thätigsten. In ihr Geschäft ganz vertieft, sammelte269partieller Verrücktheit.sie kleine bunte Steine, todte glänzende Käfer, Fliegen, einzelne kleine Blätter, kleine Stückchen vom Baumzweigen, bunte Federchen, bunte Läppchen, glänzende Glasstückchen u. dgl. Hatte sie eine so reiche Sammlung gemacht, dann verliess sie, wenn die Freistunde endete, strahlenden Auges den Platz, suchte rasch ihr Zimmer, um ihre Schätze zu verbergen. Mit einiger List, auch mit offenem Widerstande, wenn man sie hindern wollte, suchte sie sich den nächsten Spa - ziergängen im Freien zu entziehen, um wo möglich in ihrem Zimmer allein sein zu können. In dieser Einsamkeit fand ich Gelegenheit, sie unbemerkt zu beob - achten, und kann von dem, was ich hier sah, nicht ohne Rührung erzählen. Sie öffnete ein Fenster an der Sonnenseite und sah einige Augenblicke in die Sonne, dann holte sie aus allen Taschen ihrer Kleidung und aus den Verstecken in ihrem Lager ihre Schätze hervor, breitete sie vor sich auf dem Fenster aus und betrachtete sie eine Zeit lang, in tiefes Nachdenken verloren, dann band sie diese bunten Kleinigkeiten, an grünen, gelben, rothen und weissen Fäden befestigt, zwischen den Eisenstangen vor dem Fenster so an, dass sie in bunter Reihe sich schwebend erhielten. War dies bunte Gewebe vollendet, dann öffnete sie die dem Fenster gegenüberstehende Thür und schaffte so einen Luftzug. Wenn nun durch diesen die leicht befestigten Blättchen, Federchen, Läppchen und Fliegen in Schwingung kamen, dann blickte die greisenhafte Gestalt mit freudeglänzenden Augen bald in diese, bald in die Sonne, und bewegte sich, vor Freude weinend, aber lautlos, bald einige Schritte zurück, bald wieder vortretend, einem Kinde ähnlich, das über sein Spielzeug entzückt wird. Doch die Zeit verstrich, bald verkündete das zunehmende Lärmen die Annäherung der vom Irrengarten Wie - derkehrenden; schnell und vorsichtig, nichts störend, packte sie Alles wieder ein, und wenn ihre Stubengenossinnen wieder eintraten, war Alles spurlos verschwunden. Als ich während meiner wiederholten Beobachtungen mich ihr näherte (denn sie war so vertieft darin, dass sie meine Annäherung nicht bemerkte) und schweigend neben ihr stand, duldete sie meine Nähe, ohne zu schimpfen, und sah mich mit freudetrunkenen Augen an. Schweigend zog ich mich zurück und konnte später noch einige Male Zeuge dieser Scene sein, obgleich ich in ihren Briefen zum Verbrennen schon verurtheilt war.

Auf meine Veranlassung ward es untersagt, die Unglückliche in ihren Feier - stunden zu belästigen; denn es hat kein Mensch das Recht, seinen Nebenmenschen ohne alle erweislich nützliche Absicht in seinem Glück zu stören. Also zehrte diese alte Frau ungestört an dem dürftigen Sparpfennig ihrer Freude, bis zu ihrem nach einigen Jahren erfolgten Tode. Sie war mehr als 50 Jahre im Irren - hause, Niemand hatte ihren Wahnsinn geheilt, aber oft war sie von ihrer wech - selnden Umgebung aufgeregt worden.

(Sinogowitz, die Geistes-Störungen, Berl. 1843. p. 35.)

XXXIX. Verrücktheit mit dem Character der Depression. Ge - hörshallucinationen. Eine Verrückte, Namens Clemence, glaubt fremde Gedanken zu hören; sie glaubt auch, dass andere Menschen ihre Gedanken hören. Ich blieb in ihrer Nähe stehen; bald sah ich ihre Züge den Ausdruck der Unruhe und Angst annehmen, dann blieb sie wieder ruhig, wie wenn sie horchte und bald zeigte die Bewegung in ihren Zügen von Neuem eine innerliche Aufregung. Ich ging 100 Schritte weiter, ohne zu sprechen, scheinbar ohne sie zu beachten, sie folgte mir und setzte ihre Pantomime fort. Ich stand wieder stille und fixirte sie mit unbeweglichem Gesicht und ohne auch nur Neugierde zu verrathen. Sie fuhr270Beispiele vonin ihrer stummen Unterredung fort, denn ich sah wohl, dass sie mit mir sprach, und ungeachtet ich so ruhig als möglich blieb, so hörte sie Einwendungen und Vorwürfe, denen sie entgegnete. So sahen wir uns fast eine halbe Stunde lang gegenseitig an, als sie einige Worte murmelte, die ich nicht verstand; ich bot ihr mein Schreibheft an, auf das sie Folgendes schrieb.

Clemence, in die Salpetrière geführt und unbekannt mit allem, was hier vor - gegangen ist, denn ich habe keine solche Pein verdient dafür, dass ich nur so wenig Glück verdiente. Ich schwöre, dass ich nie Jemanden bestohlen oder beraubt habe, dass ich von Niemanden die Kostbarkeiten, das Geld, die in meinem Zimmer sind, entlehnt, dass ich nie in die Lotterie gesetzt habe, dass ich mit Vertrauen gekommen bin und überall hin mit Ehren gehen kann, dass ich sah, wie sich die Mühle drehte ....

Sie gab mir mein Heft zurück und fuhr fort wie früher. Endlich sagte sie zu mir: Aber, mein Herr, warum sprechen Sie nicht laut mit mir? Ich weiss es nicht. Gar nichts, mein Herr, wenn man nichts sagt. Ich bin nie in einem schlechten Hause gewesen. Ich weiss nicht, was Sie mir wieder sagen wollen. Wenn man mich mit Physik eingeschläfert hat, so weiss ich nicht was das ist, ich habe doppelte Nächte zugebracht. Nein, mein Herr, ach nie, nie bin ich ihm ungetreu gewesen. Wenn Sie mir doch antworten wollten.

Welchen Unterschied finden Sie in meinen Antworten, je nachdem ich die Lippe bewege oder nicht bewege?

Ich finde, dass Sie sich frei aussprechen und ich höre lieber reden. Ich höre Ihre Gedanken und ich weiss nicht warum: Nein, mein Herr, niemals habe ich meine Hände in Blut getaucht, ich habe nie einen Mord begangen. Ja, mein Herr, ich liebe ihn noch.

Wie geht es denn zu, dass Sie meine Gedanken hören?

Ich glaube, es geschieht durch die Physik, dass ich so sprechen höre. Auch wenn Niemand da ist, höre ich reden.

Sagt man Ihnen immer nur traurige Dinge?

Niemals höre ich etwas Angenehmes. Sie sollen sehen, ob mein Benehmen nicht immer dasselbe sein wird.

Seit wann sind Sie verheirathet?

Ich kann es nicht genau sagen.

Erinnern sie sich des Tags, des Monats, ob es im Sommer oder im Winter war?

Nein; ich habe es vergessen durch das Geschäft, das man mit mir macht, durch die Bäder und das Fasten. Ich glaube schwanger zu sein. Ich habe viel - leicht Schlangen, aber mein Mann ist keine Schlange. Ich fand mich entführt, der König von Frankreich ist gekommen, ich habe eine Krone gemacht, und gesagt: Wenn ich eine Dornenkrone verdient habe, so will ich sie wohl tragen. Ich weiss nicht wie ich auf die Erde zurück kam, es war mir, wie wenn unter mir alles zusammensänke. (Leuret, fragmens psychol. p. 153.)

XL. Verrücktheit. Untergang der Persönlichkeit. Halluci - nationen aller Sinne. Eine Kranke auf Parisets Abtheilung, 56 Jahre alt und von anscheinend gutem Befinden, hat seit 1827 das Bewusstsein ihrer Indi - vidualität verloren und hält sich für eine ganz andere Frau als sie früher war. Dieser Glaube scheint an eine Veränderung ihrer Empfindungsweise geknüpft und besonders an zahlreiche mannigfaltige und unaufhörliche Hallucinationen. Sie271partieller Verrücktheit.spricht von sich selbst immer in der dritten Person und mit der Phrase die Person von mir.

Wenn man ihr nicht zu nahe kommt, ihr Bett, ihren Stuhl, ihre Kleider etc. nicht berührt, so kann man leicht mit ihr conversiren. Sie beantwortet dann alles sanft und höflich.

Wie befinden Sie sich Madame?

Die Person von mir ist keine Dame, heissen Sie mich Mademoiselle, wenn’s beliebt.

Ich weiss Ihren Namen nicht, sagen Sie ihn mir.

Die Person von mir hat keinen Namen: sie wünscht, dass Sie nicht schreiben möchten.

Ich möchte doch wissen, wie Sie heissen, oder vielmehr, wie Sie früher hiessen?

Ich verstehe, was Sie fragen wollen. Ich hiess Catharina X., man muss nicht mehr von dem Vergangenen reden. Die Person von mir hat ihren Namen verloren, sie hat ihn hergegeben, als sie in das Hospital eintrat.

Welches ist Ihr Alter?

Die Person von mir hat kein Alter.

Aber diese Catharina X, von der Sie eben gesprochen haben, wie alt ist sie?

Ich weiss nicht. Sie ist geboren Anno 1779 von Marie und von Jacob wohnhaft , getauft in Paris etc.

Wenn Sie nicht die Person sind, von der Sie reden, so sind Sie vielleicht zwei Personen in einer einzigen.

Nein, die Person von mir kennt diejenige nicht, die Anno 1779 geboren ist. Vielleicht ist es diese Frau dort unten.

Leben Ihre Verwandten noch?

Die Person von mir ist allein und sehr allein, sie hat keine Verwandte und hat niemals solche gehabt.

Und die Verwandten der Person, die Sie vorhin genannt haben?

Man sagt, sie leben immer noch, sie nannten sich meinen Vater und meine Mutter und ich glaubte es bis Anno 1827; ich habe immer meine Pflichten gegen sie erfüllt bis zu jener Zeit.

Sie sind also ihr Kind? Ihre Art zu sprechen zeigt, dass Sie es glauben.

Die Person von mir ist Niemandes Kind. Der Ursprung der Person von mir ist unbekannt: sie hat keine Erinnerung der Vergangenheit. Die Frau, von der Sie reden, ist vielleicht die, für welche man dieses Kleid gemacht hat (sie deutet auf das Kleid, das sie anhat), sie war verheirathet, sie hatte mehrere Kinder. (Nun erzählt sie weitläufige und sehr genaue Details über ihr Leben, wobei sie immer am Jahr 1827 aufhört.)

Was haben Sie gethan und was ist Ihnen begegnet, seit Sie die Person von sich sind?

Die Person von mir wohnte in der Verpflegungs-Anstalt von Man machte und macht mit ihr physische und metaphysische Versuche. Diese Arbeit war ihr unbekannt vor 1827. Hier kommt eine Unsichtbare herab und vermischt ihre Stimme mit der meinigen. Die Person von mir will nichts davon und schickt sie sanft zurück.

Wie sind die Unsichtbaren, von denen Sie sprechen?

Sie sind klein, unfassbar, wenig geformt.

272Beispiele von

Wie sind sie gekleidet?

In Blousen.

Was für eine Sprache sprechen sie?

Französisch: Wenn Sie eine andere Sprache sprächen, würde Sie die Person von mir nicht verstehen.

Ist es denn gewiss, dass Sie sie sehen?

Ganz sicher, die Person von mir sieht sie, aber metaphysisch, in der Un - sichtbarkeit, niemals materiell, denn sonst wären sie nicht unsichtbar.

Haben Sie zuweilen Gerüche?

Eine weibliche Composition, eine Unsichtbare, hat mir schon üble Gerüche geschickt.

Fühlen Sie zuweilen die Unsichtbaren an Ihrem Körper?

Die Person von mir fühlt sie und ärgert sich sehr darüber; sie haben ihr alle möglichen Unanständigkniten angethan.

Haben Sie guten Appetit?

Die Person von mir isst, sie hat Brod und Wasser; das Brod ist so gut als man wünschen kann; sie verlangt nichts weiter etc.

Beten Sie zuweilen?

Die Person von mir kannte die Religion vor 1827; sie kennt sie jetzt nicht mehr.

Was halten Sie von den Frauen, welche mit Ihnen diesen Saal bewohnen?

Die Person von mir glaubt, dass sie den Verstand verloren haben, wenigstens die Mehrzahl. (Leuret, Fragmens psychol. p. 121.)

XLI. Verrücktheit mit dem Character der Exaltation. Eine Frau, die sich gegenwärtig in der Salpetrière befindet, ist zu gleicher Zeit Gott, Jesus Christus und die heilige Jungfrau. Mit Bändern geputzt, auf dem Kopfe einen Federbusch und Papierblumen, geht sie glücklich in den Höfen des Hospitals umher. Sie hat mir gesagt, wer ihre Eltern waren, und mir Dinge erzählt von denen sie während ihrer ersten Lebensjahre Zeuge war. Wir hatten folgende Unterhaltung mit einander.

Seit wann sind Sie Gott?

Drei Jahre nach meiner Hochzeit: eines Tages wollte ich zum Fenster hinausspringen, aber ich fühlte mich zurückgehalten.

Von wem?

Von Gott.

Sie sind Gott, Sie haben sich also selbst zurückgehalten.

Ja wohl und am andern Tag bin ich zur Beichte gegangen.

Sie waren also damals noch nicht Gott?

Nein, ich fühlte mich noch nicht als solcher.

Jesus Christus war ein Mann und Sie sind eine Frau, Sie sind also wohl nicht Jesus Christus?

Ah! Aha! Mein Herr, das ist ein Geheimniss, ich weiss nicht mehr davon, ich bin die Jungfrau Maria.

Es scheint mir, Sie haben keinen Grund sich für Gott zu halten.

Ich werde alle diejenigen strafen, die mich beleidigt haben.

Gott von seiner Höhe kann nicht herunter kommen, um mich zu rächen.

Erzürnen Sie sich nicht: Sie sind Gott, nicht wahr?

Ja, mein Herr.

273partieller Verrücktheit.

Sind Sie freiwillig hier?

Nein, ich war auf einer Wallfarth und man hat mich verhaftet und mich in dieses Hospital gebracht.

Warum verlassen Sie es denn nicht, da Sie doch Gott sind?

Ich kann nicht: es steht mir nicht zu gegen die Autoritäten aufzutreten. Der Herr Staatsprocurator erlaubt mir nicht zu gehen. Wir werden einen grossen Krieg bekommen, einen Bürgerkrieg; ich habe an Louis Philipp geschrieben, dass er noch zwei Jahre König sein werde. Ich habe einen Bruder, der vier Söhne hat, welche Königslehrlinge sind.

(Leuret, fragmens psychologiques. 1834. p. 323.)

XLII. Systematisch ausgearbeiteter und dramatisirter Wahn körperlicher und geistiger Beeinträchtigung. Hallucinationen aller Sinne, besonders des Hautsinns. Möglichkeit, den Wahn vollständig zu verbergen. Haslam erzählt in seiner kleinen Schrift Illu - strations of madness. Lond. 1810 die Geschichte eines gewissen Matthews, der im J. 1797 zu Folge eines richterlichen Erkenntnisses in das Bethlamhospital aufgenommen, im J. 1798 in die Abtheilung der Unheilbaren versetzt wurde. Dort blieb er mehrere Jahre, sich bald für das Automat gewisser auf ihn wirken - der Personen, bald für den Weltkaiser haltend. Im J. 1809 trugen seine Ver - wandten, welche seinem Aufenthalte in Bethlam entgegen waren, auf seine Ent - lassung an und veranlassten die DD. Clutterbuk und Birkbett seinen Seelenzustand näher zu prüfen. Diese bezeugten, nachdem sie den Kranken viermal besucht, mit einem Eide, Hr. Matthews sei bei völlig gesunden Geisteskräften. Nun ward eine neue Commission von acht Aerzten niedergesetzt, welche nach einer langen Prüfung das ebenfalls eidlich erhärtete Zeugniss abgab, der Mensch sei in hohem Grade verrückt.

Und in der That, er war es. Er hegte nemlich den festen im Einzelnen höchst ausgearbeiteten und dramatisirten Wahn, dass eine Bande böser Menschen, von einem Zimmer in der Nähe der Stadtmauer aus, durch magnetische Strömungen auf mancherlei Weise auf ihn einwirke. Er sieht und hört diese Personen, und kann sie desshalb genau beschreiben. Es sind ihrer sieben, vier männliche und drei weibliche. Das Haupt darunter ist einer Namens Bill, auch der König genannt; er ist 64 bis 65 Jahre alt; seine Gedanken sind stets auf Böses gerichtet; nie sah man ihn lächeln. Der zweite heisst Jack, der Schulmeister, der sich jedoch auch selbst den Registrator nennt, etwa 60 Jahre alt, schlank von Körperbau. Die dritte Person ist Sir Archy, 55 Jahre alt, mit einem Rock von schmutziger Farbe und mit Beinkleidern, welche die Knöpfe nach alter Weise zwischen den Beinen haben; er führt stets schlüpfrige, höhnische Reden, und zwar in einem Provincialaccent. Der vierte heisst Middle - Man, 57 Jahre alt, mit einer Habichts-Physionomie ohne Blatternarben, trägt einen blauen Rock und eine schlichte Weste; er sitzt immer grinsend da. Die erste der weiblichen Personen ist Augusta, 36 Jahre alt, von mittlerer Grösse und durch die Schärfe ihrer Gesichtszüge ausgezeichnet. Sie trägt sich schwarz, wie eine Kaufmannsfrau vom Lande, mit ungepuderten Haaren. Die zweite weib - liche Person, Charlotte, ist eine röthliche Brünette, vom Ansehen einer Französin. Die letzte weibliche Person ist sehr ungewöhnlicher Art; sie scheint keinen christ - lichen Namen zu haben; sondern die Uebrigen nennen sie bloss die Handschuhfrau,Griesinger, psych. Krankhtn. 18274Beispiele partieller Verrücktheit.weil sie stets baumwollene Klapphandschuhe trägt, und zwar diess, wie Sir Archy trocken behauptet, damit man nicht sehe, dass sie die Krätze habe etc.

Die Einwirkungen, welche diese imaginären Personen mittelst einer compli - cirten, von dem Kranken ausführlich beschriebenen und abgebildeten Maschine auf ihn ausüben, sind nun verschiedener Art. Der Kranke führt eine Menge dieser verschiedenen Qualen (Hallucinationen) unter eigenen Benennungen auf.

Flüssigkeitshemmung eine Zusammenschnürung an den Fasern der Zungenwurzel, wodurch die Sprache ins Stocken gebracht wird. Abschneiden der Seele vom Gefühl eine Ausbreitung der magnetischen und dabei ge - rinnenden Strömung von der Nasenwurzel aus unter die Grundfläche des Gehirns, gleich einem über diese ausgebreiteten Schleier, so dass die Gefühle des Herzens ausser Zusammenhang mit den Operationen des Verstandes gesetzt werden. Dra - chensteigen wie Knaben einen papiernen Drachen steigen lassen, so treiben jene Bösewichter, vermittelst ihrer Künste, irgend eine besondere Vorstellung in das Gehirn des von ihnen Angegriffenen, die sich daselbst dann Stunden lang hin und herbewegt. Wie dann auch der auf solche Weise Angegriffene von der ihm aufgedrungenen Vorstellung los zu werden und auf irgend eine andere über - zugehen wünsche, er ist es nicht im Stande; er muss seine Aufmerksamkeit, mit Ausschluss aller andern Vorstellungen, auf die ihm zugeführte richten. Dabei ist er sich jedoch, während der ganzen Zeit, bewusst, dass die Vorstellung ihm fremd, ihm von Aussen aufgedrängt sei. Niederbinden eine Fesselung des Urtheils der angegriffenen Personen in der Beurtheilung ihrer Gedanken. Bomben - bersten eine der schrecklichsten Einwirkungsarten. Die im Gehirn und in den Nerven vorhandene Lebensflüssigkeit, der in den Blutgefässen auf und nieder - steigende Dunst, das Gas im Magen und in den Gedärmen werden höchst ver - dünnt und brennbar gemacht, was dann eine sehr schmerzhafte Ausdehnung durch den ganzen Körper verursacht. Während die angegriffene Person auf diese Weise leidet, lassen die Bösewichter eine kräftige Ladung der electrischen Batterie, deren sie sich zu dieser Einwirkungsweise bedienen, auf sie los, die dann eine schreckliche Erschütterung bewirkt und den ganzen Körper zerreisst. Im Kopfe tritt ein furchtbares Krachen ein, und es ist ein Wunder, wenn die starke Er - schütterung nicht augenblicklich den Tod herbeiführt etc. etc.

Selbst während des Schlafs wird M. durch Traumbereitungen gequält. Die Bösewichter haben seltsam gestaltete Puppen von verschiedener Art; wenn sie diese eine Zeit lang anhaltend ansehen, so können sie das Bild solcher Gestalten während des Traums in seine Seele werfen etc.

Die Stoffe, deren sich die Bande zu ihren Zubereitungen bedient, sind nach M. von verschiedener Art Samenflüssigkeit von Männern und Frauen, Aus - flüsse von Kupfer, Schwefel, die Dämpfe von Vitriol und Scheidewasser, von Nachtschatten und Niesswurz; Ausflüsse von Hunden, menschliches Gas, Kröten - gift, Dämpfe von Arsenik etc.

(S. die weiteren ausführlichen Mittheilungen des Kranken und die von ihm gegebene Abbildung der Maschine in Nasse, Zeitschrift f. ps. A. 1818. I.)

275

Zweites Capitel. Die Verwirrtheit oder allgemeine Verrücktheit (Démence.)

§. 125.

Unter den psychischen Schwächezuständen ohne das auffallende Herrschen eines Einzel-Wahns begreifen wir im Gegensatz zum apathischen Blödsinn diejenigen unter der Benennung der Ver - wirrtheit, wo die Kranken noch einige äussere Lebendigkeit und Be - weglichkeit sowohl in Rede als Benehmen zeigen, welche dann eben auch auf einige noch vorhandene Mannigfaltigkeit und Activität des Vorstellens und Strebens hinweist. Auch hier gibt es unendliche Verschiedenheiten in der Aeusserungsweise der psychischen Schwäche; noch am meisten Characteristisches haben die zahlreichen Fälle, welche in ihrem äusseren Verhalten noch eine sichtbare Aehnlichkeit mit der Manie darbieten. Diese Aehnlichkeit kann freilich immer nur eine äussere und oberflächliche sein.

Denn in allen diesen Fällen besteht die Grundstörung in einer allgemeinen Schwäche der psychischen Thätigkeiten. Von Seiten des Gemüths äussert sich diese in der zunehmenden Unfähigkeit der Kranken zu jedem tieferen Affect mit unregelmässigem Wechsel ganz oberflächlicher Gemüthsbewegungen oder anhaltender völliger Gleich - gültigkeit. Hass und wirkliche Liebe sind gleich unmöglich bei diesen Kranken; Entbehrungen kennen sie kaum oder gar nicht und über angenehme Ereignisse können sie sich kaum oder gar nicht mehr freuen. Kommt auch zuweilen eine augenblickliche, turbulente Auf - wallung vor, so ist sie doch weder von starken Vorstellungen noch von einem energischen Gefühls - oder Willensacte getragen, die Gleich - gültigkeit kehrt schnell zurück, und diese Gleichgültigkeit ist es auch, welche die Gefühlsreactionen auf die Aussenwelt qualitativ abnorm erscheinen lässt (Fortlachen, Fortspielen auch bei den traurigsten Anlässen etc.). Verschiedenheiten in der herrschenden Grundstimmung kommen immerhin vor. Einige dieser Kranken äussern anhaltend eine heitere Stimmung, Lachen, Tanzen, Singen und zeigen in Geberden und Rede Eitelkeit, Selbstgefälligkeit und dreiste Zuversicht (Moria S. p. 235). Andere zeigen ein ängstliches Wesen, weinen viel und bieten die Mimik der Trauer und Besorgniss dar. Noch Andere zeigen eine Neigung zu boshaften Streichen, zu Schadenfreude etc. Aber diese Stimmungen sind weder äusserlich (wie beim Gesunden) noch inner - lich (wie beim Maniacus und Melancholischen) psychisch motivirt,18 *276Symptomatologiesind ganz oberflächlich, können ohne allen Grund mit einander wechseln und äussern sich durchaus in schwächlicher, kindischer, läppischer Weise. Bei aller Unbekümmertheit und bei der Abwesenheit jeder wirklichen Begierde kommen ebenso doch unordentliche psychische Bewegungen und ein zweckloses, zuweilen extravagantes Treiben vor, dessen Sinn der Kranke selbst nicht mehr versteht, und die Willens - reaction, wo noch solche vorhanden ist, hat durchaus den Character des Flüchtigen und Schwankenden.

§. 126.

Während schon von dieser Seite Alles auf Schwäche, Ohnmacht und Erschlaffung hinweist, zeigt sich derselbe Character, fast in noch höherem Masse, auf dem Gebiete des Vorstellens, wie denn schon oben der Zusammenhang jener Gemüthsschwäche mit der Schwäche des Vorstellens besprochen wurde. Diese äussert sich vor Allem als Verlust des Gedächtnisses, und die Reproduction der Vorstellungen ist hauptsächlich in der Art beeinträchtigt, dass das näher Liegende, das jetzt, während des Blödsinns vorgestellte immer augenblicklich wieder vergessen wird, während nicht selten frühere, an Ereignisse längst vergangener Lebens-Perioden geknüpfte Vorstellungen leichter reproducirt werden; doch haben Manche dieser Kranken auch ihr früheres Leben und ihren eigenen Namen ganz vergessen. Da alle Operationen des Vorstellens durchaus energielos vor sich gehen, so werden von dem jetzt Vorgestellten keine Eindrücke mehr festgehalten; damit aber ist die Fähigkeit, mehrere Vorstellungen mit einander zu vergleichen, ein Gemeinsames aus ihnen zu abstrahiren, zu urtheilen und zu schliessen, verloren gegangen, und alles Vorstellen zu einem zusammenhangslosen Spiele flüchtig auftauchender und wieder ver - gehender Bilder und Worte herabgesunken. Es ist eine unnütze und sterile Activität der Intelligenz, die sich in disparaten, isolirten und lückenhaften Vorstellungen ergeht, aber unfähig ist, sie zum Urtheil zu verbinden. Hieraus ergibt sich also einerseits die Unmöglichkeit jeder Abstraction, andererseits auch eine äusserliche Verworrenheit in den aus zufällig gegenwärtigen Sinneseindrücken hervorgegangenen oder nach dem ganz äusserlichen Zusammenhange zufälliger Aehn - lichkeiten (namentlich z. B. der Asonnanz) associirten Bildern und Vor - stellungen. Daher der Mangel aller Logik, der unregelmässige Wechsel unzusammenhängender Vorstellungen, das sinnlose, papageienartige Wiederholen von Worten und Phrasen aus Gewohnheit und nach zu - fälligen Aehnlichkeiten der Laute, die incohärenten und widersinnigen277der Verwirrtheit.Antworten. Oft glaubt man noch bei solchen Kranken eine Anstrengung des Gedächtnisses, des Urtheils, der Aufmerksamkeit zu gewahren, die aber machtlos und vergeblich ist; oft bemerkt man im Einzelnen ihres Gesprächs, welche Mittelglieder zwischen den disparaten Vor - stellungen fehlen und welches die Uebergänge sein sollten, über welche die Ideensprünge weghüpfen, ja man erhält zuweilen von dem mit - leidswerthen Kranken den Eindruck, als fühle noch Etwas in ihm mit leisem Schmerze die Unmöglichkeit, sich in diesen auseinander - gefallenen Trümmern des psychischen Lebens zurecht zu finden.

Eigentliche fixe Ideen, consequent ausgebildete Wahnvorstellungen treten hier nicht mehr neu auf, die von früher vorhandenen derartigen Gedankenbildungen werden mit der zunehmenden Schwäche lockerer, und der Kranke kann so wenig fest an sie glauben, als er über - haupt irgend etwas mit Energie festhalten kann. Doch hält gerade die Reproduction der in der maniacalischen Aufregung entstandenen Vorstellungen oft lange Stand, und man findet eben die Uebertrieben - heiten des Wahnsinns hier so häufig wieder in dem sinnlosen Wieder - holen grosser Zahlen, ungeheurer und abentheuerlicher Bilder der eigenen Grösse und des eigenen Besitzes (Tausende von Millionen, Diamanten, Welten etc.), was aber Alles für den Kranken zum blossen Spiel von Worten, bei denen er sich fast nichts mehr denken kann, geworden ist.

§. 127.

Die Sinnorgane können normal functioniren, so dass die Kranken zwar gut sehen, hören etc. aber die Verarbeitung und Umänderung der Sinneseindrücke zu adäquaten Vorstellungen im Gehirn nicht mehr recht von statten geht; oder und zwar gewöhnlich es sind Hallucinationen vorhanden, welche mit den Vorstellungen den Character der Verworrenheit, Zufälligkeit und Abruptheit theilen.

Die Muskelbewegungen sind in sehr vielen Fällen durch be - ginnende oder weiterschreitende allgemeine Lähmung beschränkt. Wo diess nicht der Fall ist, werden die Körperbewegungen oft unruhig und unstet, doch plump und ohne vielen Wechsel ausgeführt und die Körperstellung wird oft schwerfällig und unbehülflich. Die Kranken laufen zuweilen beständig umher, wie wenn sie etwas suchen wollten, oder sie treiben sich, tanzend, hüpfend, mit den Händen gestiku - lirend herum und machen bizarre, automatische Bewegungen. Ihre Haltung und Geberden drücken entweder vollständige Nullität oder nur die oberflächlichsten Affecte aus und auch hier kommen mannigfaltige278Die Verwirrtheit. Beispiel.kindische und grillenhafte Gewohnheiten vor, Kehrichtsammeln, be - ständiges Liegenbleiben im Bette, Freude an Spielwerk und lächer - lichem Putz etc. Zuweilen kommt eine launische Weigerung zu essen, unter andern Aeusserungen kindischer Widersetzlichkeit vor; häufiger sieht man eine behagliche Gefrässigkeit, oft ein sinnloses Hinunter - schlingen der ekelhaftesten Dinge. Sehr viele dieser, lange in den Irrenhäusern eingeschlossenen Kranken treiben noch Onanie, und man erhält zuweilen aus ihren Reden dunkle Andeutungen von bedeu - tenden Störungen der sexuellen Functionen, welche zu weiteren Un - tersuchungen über diesen Punkt auffordern.

Die Physionomie ist meist alt und plump, der Blick leer, und das Aeussere der Kranken durch Vernachlässigung und Schmutz ab - stossend geworden. Das körperliche Befinden kann gut, oder es können die verschiedensten chronischen oder acuten Erkrankungen vorhanden sein; nicht selten ist Neigung zum Fettwerden zugegen.

Von freien Intermissionen ist im Verlauf der Verwirrtheit keine Rede mehr. Remissionen kommen in der Weise vor, dass ruhigere und etwas besonnenere Zustände mit den Zeiten grösserer Turbulenz und Agitation abwechseln. Der Verlauf dieser Zustände ist ein zu immer tieferer Schwäche fortschreitender, am schnellsten bei der Complication mit Paralyse, sonst mit Jahre langen Stillständen. Hei - lung tritt niemals mehr ein.

XLIII. Uebergang der Verrücktheit in völlige Verwirrtheit. Julie hat nur noch einen Gedanken und noch dazu einen unsinnigen; sie hält sich für den Allmächtigen; sie spricht zwar auch von andern Dingen, aber ihre Reden sind ohne Folge und Zusammenhang, und sie hat fast keine Gewohnheit eines geordneten Lebens mehr behalten. Es ist noch kein vollständiger Verlust, sondern nur eine beträchtliche Schwäche aller geistigen Fähigkeiten, wie man aus dem folgenden Gespräche ersehen kann.

Wie heissen Sie, Madame?

Ich heisse Ich, mein Name. Sie sind mir ein Feld schuldig. Ich bin wahr - haftig der Allmächtige. Mein Verstand ist zugeschnitten worden um eine Schürze daraus zu machen.

Wie alt sind Sie?

Ich bin 14 Jahre alt. (Sie zählt wenigstens 30 Jahre.)

Wie viel machen 45 und 3?

Das macht 48. Nun! mir hat man auch mein Gold und meinen Schmuck gestohlen.

Wer hat sie Ihnen genommen?

Fragen Sie Ihre Gedanken: Ich mache nicht das Cürassierweib. Ich bin der Allmächtige.

Seit wann sind Sie der Allmächtige?

Immer, immer. Ich bin immer der Allmächtige gewesen.

Aber der Allmächtige hat einen Bart und Sie haben keinen?

279Höchste Grade des Blödsinns.

Doch, hier ist er ja (sie zeigt an ihre Haare.)

Diese Kranke merkt selten auf etwas und ihre Aufmerksamkeit ist nie an - haltend; sie hat kein Gedächtniss für das Alte und sehr wenig für die Gegen - wart, sie ist nur noch der einfachsten Verrichtungen fähig, ihr Bett zu machen, sich anzukleiden, ihr Essen zu holen. Sie weiss den Namen von keiner der Personen ihrer Umgebung, mit denen sie doch schon mehrere Jahre zusammen lebt. In einem Momente geht sie von Lachen zu Zänkereien über etc.

(Leuret, fragmens psychol. Par. 1834. p. 34.)

Drittes Capitel. Der apathische Blödsinn.

§. 128.

Theils als Ausgänge der zuletzt betrachteten Form, theils ohne dass die lautere und agitirtere Aeusserungsweise des Blödsinns voraus - gegangen wäre, kommen als äusserste Grade psychischer Verkommen - heit noch tiefere und ausgebreitetere Zustände von Seelen-Läh - mung vor.

Die Unfähigkeit, mehrere Vorstellungen zusammen zu fassen und zu vergleichen, nimmt hier immer mehr zu, und an die Stelle der bei den vorigen Formen noch möglichen Mannigfaltigkeit abrupter, unzusammenhängender Vorstellungen tritt allmählig eine fast gänzliche Abwesenheit von Bildern und Gedanken. Die Sinneseindrücke werden nicht mehr verarbeitet, es wird nichts weiter mehr aus ihnen gebildet; das Gedächtniss ist beinahe vollständig erloschen, so dass nicht nur von einem Augenblicke zum andern Alles vergessen wird, sondern auch aus dem früheren Leben der eigenen Person fast keine Erin - nerung geblieben ist. Auch die Sprache ist oft zum grössten Theile vergessen, so dass die Kranken im besten Falle noch einige ge - läufige, höchst beschränkte Ausdrücke halb zweckmässig anbringen können, häufiger die zurückgebliebenen Worte nur ganz automatisch wiederholen, oder, des Wortes selbst gar nicht mehr mächtig, nur noch Bruchstücke früher gewohnter Laute hervorbringen. Mit diesem höchsten Grade von Stumpfheit der Phantasie und dieser Nullität der Intelligenz geht gleichen Schritt die tiefste Schwäche des Willens. Nichts mehr kann der Kranke aus eigenem Antriebe thun, er muss sich vielmehr völlig passiv durch fremde Impulse, kaum noch durch Reste früherer Gewohnheiten bestimmen lassen; oft ist er nicht mehr fähig, für seine einfachsten Bedürfnisse zu sorgen, er muss gefüttert werden, verirrt sich jeden Augenblick in seinem eigenen Zimmer280Der apathische Blödsinn.und seine Unkenntniss jeder Gefahr legt Anderen die Pflicht auf, ihn vor Unglücksfällen zu bewahren. Sein Benehmen ist unverändert, gleichförmig, bald scheinbar in sich gekehrt, schüchtern, träge, laut - los und bewegungslos, bald werden automatische Bewegungen, Hin - und Herwiegen des Körpers, Händereiben, Murmeln, Lallen etc. ohne Sinn und Zweck ausgeführt. Diese Geberden sind leblos, die Ge - sichtszüge ganz erschlafft, oder staunend, oder ohne Motiv scheinbar aufmerksam, und das leere Hinstarren oder Lächeln zeigt, dass keine Vorstellungen mehr da sind, welche der Kranke auszudrücken hätte. Doch kommen zuweilen noch schwache Aeusserungen von Lust und Unlust und von Affecten vor, von gewohnter oder auch zuweilen von wenig motivirter, bizarrer Zuneigung zu einzelnen Per - sonen, von Schamgefühl, von kindischer Schadenfreude, von Aengst - lichkeit (Verstecken) etc.; in einzelnen besseren Stunden kehren wohl auch Anklänge aus dem früheren Leben, mehr Empfänglichkeit und Theilnahme für die Aussenwelt und ein lebhafteres Gefühl für freund - liche Behandlung zurück, und es liegt in dem Uebrigbleiben solcher Spuren von Selbstempfindung und Gefühl wohl Aufforderung genug dazu, die menschliche Natur auch in ihrer tiefsten Versunkenheit noch an diesen Unglücklichen zu achten, deren stumme, unverständ - liche Geberde so oft, ihnen selbst unbewusst, eine finstere Ver - gangenheit anklagt.

Tiefe Störungen in den motorischen und sensitiven Thätigkeiten des Gehirns begleiten ausserordentlich häufig diesen traurigen Seelen - zustand, namentlich die allgemeine Paralyse der Bewegung und oft auch der Empfindung, so z. B. dass solche Kranke oft ohne alle Perception die tiefsten und ausgebreitetsten Verbrennungen erleiden können. Die Ernährung kann dabei oft längere Zeit unbeeinträchtigt sein, so dass die Kranken fett bleiben, mit gefrässigem Appetit essen etc.; auch der Schlaf ist oft wohlerhalten, fest und lang.

Der einzige, für diese Zustände mögliche Ausgang ist der Tod. Die Kranken erliegen entweder den apoplectischen Anfällen, welche im Verlauf der allgemeinen Paralyse vorkommen, oder den wässrigen Ergüssen im Gehirn, der Atrophie desselben etc. oder anderweitigen chronischen oder acuten Krankheiten, Pneumonie, Lungenbrand, Tuberculose, Darmcatarrh. Einzelne sterben bei Mangel an genauer Aufsicht, an den Folgen einer Urinstagnation in der Blase oder der Fäcesanhäufung im Darm, oder an Unglücksfällen, Verbrennungen, Ersticken durch grosse Bissen und dergl.

281

Dritter Abschnitt. Von einigen wichtigen Complicationen des Irreseins.

§. 129.

Die bisher erörterten, namentlich die zuletzt betrachteten Formen psychischer Anomalieen sind zuweilen von schweren Störungen nament - lich gewissen schweren Nervensymptomen begleitet, die obwohl mit der Gehirnkrankheit, die auch das Irresein ergibt, zunächst und unmittelbar zusammenhängend doch solche Wichtigkeit, zum Theil auch eine solche Art von Selbständigkeit zeigen, dass sie als Compli - cationen der Geisteskrankheiten erscheinen. Wir wollen also hierunter nicht alle Erkrankungen verstehen, an denen die Irren leiden können; diese sind unzählig, da man bis jetzt kaum Ausschliessungsverhält - nisse der Gehirnkrankheiten kennt. Auch die hin und wieder ge - äusserte Meinung, dass Geisteskranke von epidemischen Krankheiten frei bleiben sollen, ward schon zu Pinels Zeit durch ein tödtliches typhöses Fieber, das in den Irren-Abtheilungen, wie in den übrigen Räumen des Hospitals herrschte, und neuerdings wieder in Paris durch die Cholera auffallend widerlegt. Sämmtliche Störungen, welche die specielle Pathologie kennt, kommen bei Irren vor; hier kann es sich nur von Aufzählung und Erörterung derjenigen Complicationen handeln, welche in ganz directem Zusammenhang mit dem Irresein stehen, jener schweren Störungen der Bewegung und Empfindung, welche, selbst Symptome einer schweren Erkrankung des Gehirns, ganz in die Geschichte des Irreseins selbst gehören und hier nur durch das Bedürfniss einer ausführlicheren Betrachtung von derselben äusserlich getrennt werden.

§. 130.

Unter diesen Störungen verdient die sogenannte allgemeine (unvollständige) Paralyse wegen ihrer Häufigkeit, der Eigenthüm - lichkeit ihres Verlaufs und ihrer höchst traurigen Prognose die meiste Aufmerksamkeit. Sie ist bis jetzt ausschliesslich von französischen Aerzten (Esquirol, Calmeil, Bayle, Delaye, Foville, Sc. Pinel etc.) genauer studirt worden, mit deren Schilderung im Wesentlichen unsere Beobachtungen übereinstimmen.

Diese Paralyse kommt niemals bei Geistesgesunden vor, d. h. sie beruht auf einer Gehirnkrankheit, welche immer schwer genug ist, um ein tieferes Irresein unter ihren Symptomen zu haben. Die282Die allgemeine Paralyse der Irren.psychische Störung tritt entweder gleichzeitig mit der Störung der Bewegung auf, oder bei weitem das häufigste jene besteht schon längere Zeit (zuweilen sehr lange, 15 bis 20 Jahre), ehe sich die ersten Spuren der Paralyse zeigen, oder sehr selten die paralytischen Erscheinungen gehen kurze Zeit dem Irresein voraus.

Dasjenige Organ, dessen Bewegungen immer zuerst eine Un - regelmässigkeit zeigen, ist die Zunge. Der Kranke fängt an, mit Anstrengung zu sprechen, etwas ungenau zu articuliren, und zu stottern. Die Zunge ist dabei nicht schief gestellt, wohl aber sieht man sie beim Ausstrecken zuweilen krampfhafte Bewegungen machen. Dieses erste Symptom, das Stottern, ist schon von ausserordentlicher Wich - tigkeit; sobald es bei einem Geisteskranken bemerkt wird, ist er fast mit Gewissheit als verloren zu betrachten. *)S. den bekannten Fall bei Esquirol, übers. von Bernhardt. II. p. 146.Denn, während solche Kranke häufig ganz wohlgenährt und blühend aussehen, keine Spur von Fieber haben, und ihr eigenes Wohlbefinden gewöhnlich nicht genug rühmen können, entwickelt sich nun allmählig eine Reihe der allerbedenklichsten Symptome. Gleichzeitig mit dem Stottern, häufiger erst bald darauf bemerkt man eine Veränderung im Gange der Kranken, sie heben die Beine nicht gehörig, gehen steif, kommen unwillkühr - lich von ihrem Wege etwas seitwärts ab, und straucheln leicht bei jeder Unebenheit des Bodens, z. B. an einer Treppe. Doch gehen sie noch gerne und viel umher; Einzelne empfinden sogar einen be - ständigen Trieb zu ruheloser Ortsveränderung; sie machen Spazier - gänge und der Ungeübte bemerkt wenig Auffallendes, so lange sie auf ebenem Terrain gehen. Die Arme sind noch längere Zeit rüstig. Allmählig aber, während die Articulation der Worte immer unbe - stimmter wird und man schon zuweilen errathen muss, was der Kranke sagen will, wird der Gang schwankend, wie der eines Betrunkenen, die Füsse werden nachgeschleppt, die Kniee scheinen einsinken zu wollen, der Kranke muss sich an der Mauer halten, stolpert jeden Augenblick und fällt manchmal zu Boden, auch die Arme und Hände werden nun etwas steif, die Gegenstände werden wie krampfhaft fest - gehalten und alle feineren, Präcision erfordernden Bewegungen (Schreiben, Nähen, Clavierspielen etc.) werden nach und nach un - möglich. Liegend kann der Kranke die Beine, wie die Arme frei bewegen, aber diese Bewegungen geschehen langsamer und starrer als sonst. Mit fortschreitender Krankheit kann er sich nicht mehr aufrecht erhalten, statt der Sprache hat er nur noch confuse und283Symptomatologie.unbestimmte Töne, selbst sitzend oder liegend kann er die Beine kaum mehr heben und strecken, während dagegen den Armen und Händen immer noch eine freiere Beweglichkeit bleibt.

Was die Sensibilität betrifft, so bleiben die höheren Sinne meist bis zur letzten Periode ohne auffallende Beeinträchtigung; erst nach längerer Dauer der Affection nehmen Geruch und Geschmack ab, der Kranke kann z. B. Wasser und Wein nicht mehr von einander unter - scheiden. Die Hautsensibilität zeigt zuweilen ein sehr merkwürdiges Verhalten. Während sie nemlich im Ganzen mit dem Beginn der Lähmung stumpfer zu werden scheint und später in einzelnen Fällen fast erloschen ist (so dass man den Kranken lebhaft kneipen kann, ohne dass er Zeichen von Schmerz gibt), so kommen mitunter vor - übergehende Zustände höchster Hyperästhesie der Hautoberfläche vor, bei welchen leise Berührungen die ausgebreitetsten Reflexbewegungen, Convulsionen aller willkührlichen Muskeln erregen, ein Zustand, der mit dem Verhalten der mit Strychnin vergifteten Thiere die grösste Aehnlichkeit zeigt. In einem besonders exquisiten Falle der Art konnten wir diese Hauthyperästhesie in den nächsten Stunden, welche einem Anfalle von Convulsionen folgten, genau beobachten.

Nicht selten nemlich kommen bei diesen Kranken unter den Erscheinungen heftiger Kopfcongestion plötzliche Anfälle von Bewusst - losigkeit, gewöhnlich mit ausgebreiteten, Epilepsieähnlichen Convul - sionen vor, welche meist, wenn einmal eingetreten, sich häufig wie - derholen, in denen der Kranke zuweilen stirbt, von denen er sich aber gewöhnlich wieder bald erholt. Wenn diess auch geschieht, so bemerkt man doch in der Regel nach jedem solchen Anfall eine Zunahme der Paralyse und der psychischen Abstumpfung; nicht selten bleiben auch nach dem Anfall Contracturen einzelner Glieder, des Vorderarms, der Finger oder der Beine zurück.

§. 131.

Die psychischen Störungen bei diesen Kranken haben im Anfang der Paralyse nicht immer denselben Character. Die Lähmung kann und diess ist das seltenste bei melancholischen Irren eintreten*)S. z. B. bei Calmeil, de la paralysie considerée chez les aliénés. Par. 1826. p. 328. und der Kranke die melancholische Grundlage des Deliriums längere Zeit festhalten. Bei weitem häufiger fällt der Beginn der Paralyse mit einem psychischen Exaltationszustande zusammen, mit dem vagen284Die allgemeine Paralyse der Irren.Delirium der Tobsucht oder mit dem Auftreten der, oben beim Wahn - sinn bezeichneten fixen Ideen von Erhebung der eigenen Persönlich - keit, mit jener, eben wegen ihres häufigen Zusammenvorkommens mit Paralyse mit Recht prognostisch so verrufenen Monomanie des gran - deurs. Immer aber, und zuweilen nach einem ganz kurzen Stadium maniacum, tritt mit dem Beginn der Paralyse in den psychischen Erscheinungen der Character einer tieferen Schwäche auf; die Kranken verlieren das Gedächtniss, die Fähigkeit zu geistiger Combination, jeden Sinn für ernstere Zwecke, vernachlässigen sich vollständig, werden im höchsten Grade unreinlich etc. Von nun an hält gemein - hin der Blödsinn ganz gleichen Schritt mit der Paralyse, wird jedoch bei einzelnen Kranken zuweilen durch tobsüchtige Anfälle, Geschrei mit Wuth und Sucht zum Zerstören, in der Erscheinung modificirt. Einzelne Kranke äussern noch sehr lange fort und ohne mehr wirk - lichen Sinn damit zu verbinden, jene Uebertriebenheiten vom Besitz von Provinzen, Reichen, Welten, Millionen etc., jene Häufungen von Zahlen, Grössen, Herrlichkeiten, verschieden modificirt nach der Bildungsstufe des Kranken. Der eine*)S. Bayle, maladies du cerveau. Paris. 1826. p. 71, 210, 502. besitzt tausend Millionen Milliarden, Alles in der Welt gehört ihm, er hat Alles erschaffen etc. Ein Anderer baut die herrlichsten Schlösser, hat Italien gekauft, Asien erobert und vernichtet, die Brücke, die in den Mond führt, zer - stört, die Chinesen nach Paris geführt, er selbst ist 800 Fuss hoch etc. Andere machen 100 Stunden in einem Tag, 100 herrliche Tragödien, 1000 Gedichte in derselben Zeit, haben einen Kopf von Gold und Diamanten, goldene Pferde und Schlösser etc.

In der letzten Periode dieser Affection aber gehen auch diese Ideen unter; der Kranke ist im letzten Grade von Abstumpfung und Verdumpfung so wenig mehr irgend einer ganzen Vorstellung, wie eines vollständigen Wortes fähig; er ist zu jeder Auffassung und Per - ception seiner Umgebung unmächtig; selbst die ursprünglichsten Instinkte, wie das Verlangen nach Nahrung, erlöschen und der Kranke muss nicht nur gefüttert, die Nahrung muss ihm oft noch im Munde vorwärts geschoben werden.

Der Appetit, die Verdauung und Ernährung sind anfangs und noch lange während des Verlaufs vollständig erhalten; die Kranken essen dann viel und gierig, ihr Aussehen ist oft gut, und es findet oft ziemlich starke Fettbildung statt, nur eine auffallende Trockenheit der Haut mit starker Abstossung der Epidermis war uns in einzelnen285Ihr Vorkommen und Verlauf.Fällen, bei geschwächter Sensibilität der Haut, auffallend. Erst in der letzten Periode werden die Kranken gewöhnlich mager; es kommen Brandschorfe auf der Haut, namentlich des Rückens, oft mit grossen Abscessen und weit greifenden Eiterungen, Infiltration der Extremitäten und die Kranken erliegen einem hectischen Fieber, das in manchen Fällen mit Eiteraufnahme, in andern mit acuten oder chronischen Darmcatarrhen, begleitet von profuser Diarrhöe und Ulceration des Darms, anderemale mit allgemeiner Tuberculose zusammenhängt. Einzelne sterben auch an Pneumonie, an Unglücksfällen etc.

§. 132.

Diese Paralyse der Geisteskranken kommt nach allen bekannt gewordenen Erfahrungen unendlich viel häufiger bei Männern als bei Weibern vor. Bei Calmeil kam auf 15 geisteskranke Männer ein Paralytischer, unter den Weibern eine auf 50;*)l. c. p. 371. nach Bayle kam Paralyse in Charenton bei den Männern 8mal häufiger als bei den Weibern vor**)l. c. p. 403. und Foville***)Dict. de méd. et de chir. prat. Art. Aliénation. p. 505. zählte unter 334 Irren 31 Para - lytische, darunter 22 Männer und 9 Weiber. Die Ursachen dieses Verhältnisses sind dunkel; es liesse sich vermuthen, dass die bei den Männern viel häufigeren Excesse in spirituosen Getränken das Gehirn zu solchen Affectionen prädisponirten (s. oben p. 246); andrer - seits glaubt Lallemand†)Pertes séminales. III. p. 194 seqq., dass bei manchen dieser Kranken die Para - lyse in Folge von Spermatorrhöe entstehe und unter deren Ein - flusse fortschreite. Dass die Kranken, welche nach vorausgegangenen Excessen in Irresein verfallen, eher zur Paralyse geneigt sind, wird allgemein angenommen; man schreibt es zu grossem Theile diesem Umstande zu, dass in Frankreich unter den Paralytischen so viele frühere Militärs gefunden werden. Auch das Clima scheint von Einfluss auf die Häufigkeit der Paralyse zu sein; sie ist in südlichen Ländern (z. B. schon in Südfrankreich) seltener als im Norden.

Die Dauer der Paralyse ist von einigen Monaten bis zu höchstens drei Jahren. In ihren Familien verpflegt, leben die Kranken länger, als in den Irrenanstalten, da ihre Verpflegung in den höheren Graden dieselbe Mühe und Sorgfalt in Anspruch nimmt, wie die eines Neu - gebornen. Der Verlauf der Affection wird nicht nur durch die er - wähnten Anfälle von Kopfcongestion zum Nachtheil des Kranken unter -286Die allgemeine Paralyse der Irren.brochen; häufig sieht man auch, ohne bemerkbare Ursache, von einem Tag zum andern die Krankheit sich bedeutend verschlimmern.

Einzelne Beispiele von Genesung oder wenigstens längerer be - deutender Besserung nie ohne dringende Gefahr der Recidive sind bekannt geworden; Esquirol hat 3, Calmeil 2, Bayle 6 Fälle der Art beobachtet; die ungeheure Mehrzahl der Kranken stirbt in der angegebenen Zeit. Dagegen kommen vorübergehende Besserungen, welche zu fast vollständigen Intermissionen werden können, aber leider gewöhnlich nicht lange dauern, weniger selten vor.

Aus den vielfachen sorgfältigen und interessanten Untersuchun - gen über den Zustand des Gehirns bei der allgemeinen Paralyse (S. das Capitel der patholog. Anatomie) müssen wir den Schluss ziehen, dass ihr durchaus nicht immer eine und dieselbe Alteration zu Grunde liegt. Auch hier, wie bei den übrigen Krankheiten des Nervensy - stems, erzeugen sehr verschiedene Texturveränderungen dieselben grösseren Symptomencomplexe. Nur die gewöhnliche Apoplexie Gehirnzerreissung durch ein Blutextravasat ist niemals die Ur - sache dieser Form von Lähmung; dagegen scheinen während der Anfälle von Kopfcongestion und Bewusstlosigkeit sehr häufig stär - kere oder mässigere Blutergüsse in den Sack der Arachnoidea zu erfolgen, welche sich später entweder encystiren oder, bei geringerer Blutmenge, ganz dünne, lockere, leicht zu übersehende Pseudomem - branen, wie Anflüge auf der Innenseite der dura mater über der Con - vexität der Hemisphären darstellen.

Ein Punkt in der Geschichte der Paralyse, wie wir sie aus eigenen Beobachtungen kennen, scheint uns bis jetzt von den Bearbeitern derselben zu wenig beachtet, nemlich die im ersten Anfang weit mehr krampfhafte als lähmungsartige Natur der Affection. In mehren Fällen haben wir uns deutlich davon überzeugt, wie die ersten Stö - rungen des Sprechens nicht auf einer verminderten Beweglichkeit, sondern einem krampfhaften Herumwerfen der Zunge beruhten und wie ebenso das erschwerte Gehen anfangs mit Steifheit der Beine, Rigidität und vorübergehendem Zittern der Muskeln verbunden war. So häufig stimmt in diesem Zeitraume der unordentliche, convulsivische Character des Strebens und Wollens mit dieser Natur der motori - schen Affection überein, während später allerdings beide, nebst der ganzen übrigen psychischen Thätigkeit, in totaler Paralyse unter - gehen.

287Die Epilepsie als Complication des Irreseins.

§. 133.

Als eine zweite wichtige Complication des Irreseins ist die Epilepsie zu erwähnen. Die vielfältigen Berührungs - und Ueber - gangs-Punkte der motorischen Krampfformen, welche man unter die - sem Namen begreift, zu den tieferen Störungen der psychischen Thätigkeit zeigen sich theils in den Erscheinungen vor, während und nach den epileptischen Anfällen, theils in dem ganzen Krankheits - verlauf der Epilepsie.

Auffallendere psychische Störungen kommen nicht selten vor dem Anfalle vor, bald eine rauschartige Verwirrung und Umneblung des Bewusstseins, bald tiefe, traurige Verstimmung, höchst peinliche, ärgerliche Laune, bald unmittelbar vor dem Anfall heftige Hallucinationen aller Sinne.

Während des Anfalls ist in den gewöhnlichen Fällen das psy - chische Leben in der Bewusstlosigkeit völlig untergegangen. We - nigstens erinnert sich der Kranke keines psychischen Actes aus dieser Zeit, wenn gleich jener Gesichts-Ausdruck von starrem, entsetztem Staunen, den der Kranke so oft zeigt, den Gedanken eines schreck - lichen Seelenleidens erwecken könnte. Es gibt aber wirklich epileptische Zustände, wo sich das Verhalten der psychischen Störung während der Anfälle constatiren lässt. Es kommen nemlich, von vielen guten Beobachtern notirt, theils als Vorläufer der intermittirenden Krämpfe, theils abwechselnd mit solchen, Anfälle vor, welche entweder ganz ohne oder doch mit sehr beschränkter Störung der Bewegung (z. B. Zuckungen einzelner Gesichtsmuskeln, Schlingbewegungen*)Diess von Falret besonders beobachtet. S. Billod, Symptomatologie de l’épilépsie. Annales medico-psychol. 1843. II. p. 407., Relaxation der Arm-Muskeln etc.) hauptsächlich in einer psychischen Anomalie bestehen. Es ist ein plötzliches Verdämmern oder Aufhören des Bewusstseins der Aussenwelt; die Augen werden starr, der Kranke murmelt, wenn er im Gespräche war, zuweilen das letztvorgebrachte Wort weiter; dann kommt er wieder zu sich, bemerkt seine Geistes - abwesenheit, versucht zuweilen sie zu verbergen, oder fährt im Ge - spräche an dem Wort, wo er stehen geblieben, fort. Solche Kranke haben nachher ihren Zustand beschrieben als einen grossen geistigen Schmerz mit tiefer Verworrenheit und Depression, wie in einem schweren Traum; sie hatten ein Gefühl von Gewissensangst oder wie288Die Epilepsie als Complication.von einem überwältigenden Unglück, ohne dass sie einen Grund dafür finden konnten*)Cyclopädia of pract. medic. Vol. II. Art. Epilepsy von Cheyne. S. auch den Fall von noch erinnerten[Phantasieen] aus dem epileptischen Anfall in Nasse Zeitschr. f. Anthropologie. 1825. I. p. 190..

Unmittelbar nach dem Anfalle zeigt die psychische Thätigkeit oft die auffallendsten Störungen. Der Kranke spricht zuweilen längere Zeit unzusammenhängend wie ein Blödsinniger, und es stellt sich mitunter die Intelligenz erst nach einigen Tagen wieder bis zu ihrem früheren Verhalten her. Noch viel wichtiger aber sind jene, dem Krampfanfalle auf dem Fusse folgenden Paroxismen von Tobsucht, die sich oft durch einen so hohen Grad von blinder Wuth und Wildheit, ein so tolles Dreinschlagen, wie es bei andern Maniacis kaum jemals vorkommt, auszeichnen.

Eine sehr grosse Anzahl Epileptischer ist aber auch während der krampffreien Zeiten geisteskrank. Um zu erkennen, in wel - chem Umfange dies der Fall ist, darf man die Epilepsie nicht nach den vereinzelten Fällen der Privatpraxis, sondern man muss sie nach den Daten studiren, welche sich der Beobachtung in den grösseren für solche Kranke bestimmten Anstalten ergeben. So waren z. B. unter 385 von Esquirol**)Die Geisteskrankheiten, übers. v. Bernhard. I. p. 169. beobachteten epileptischen Frauen 46 hy - sterische, wovon viele an Hypochondrie, an maniacalischen Anfällen litten, 30 weitere Maniacae, 12 mit Monomanie behaftete, 8 Idioten, 145 Blödsinnige (darunter 16 beständig blödsinnig, die anderen nur kürzere oder längere Zeit nach dem Anfall); 50 waren gedächtniss - schwach oder hegten exaltirte Ideen. 60 Kranke (also nur ) waren ohne Störung der Intelligenz, aber die meisten reizbar, eigen - sinnig, zum Zorne geneigt. Die letztere Characterveränderung, eine vorherrschend misstrauische, unzufriedene, neidische, zänkische, mi - santhropische Gemüthsverstimmung, zuweilen auch eine wahre Me - lancholie mit Hang zum Selbstmord tritt bei einer Menge Epileptischer ein; sie mag zum grossen Theil aus dem Gefühl ihrer exceptionellen und traurigen Lage, aus dem allmähligen Innewerden des moralischen Todes, zu dem sie durch ihre Krankheit verurtheilt werden, entspringen.

Die wichtigste andauernde psychische Störung bei Epileptischen ist der Blödsinn. Im Durchschnitt tritt er um so früher ein, je öfter die Anfälle kommen. Das Gedächtniss nimmt ab, das Vorstellen wird träge, die Phantasie verliert ihren Farbenreichthum, ihre Innigkeit289Krämpfe und Neuralgieen als Complicationen.und Wärme, und das Gemüth vertrocknet. Die Physionomie und der Habitus verändern sich, der Kranke bekommt dicke Lippen, grobe Züge und einen hässlichen Gesichtssausdruck. Mit dem Seltener - und Schwächerwerden der Anfälle kann auch wieder eine Erhebung der psychischen Fähigkeiten eintreten; aber, bei der seltenen gründ - lichen Heilung der Epilepsie, ist doch ein endlicher Verfall in Blöd - sinn das traurige Schicksal einer grossen Menge dieser Kranken.

Das Vorhandensein dieser intermittirenden Krampfformen bei Geisteskranken ist denn auch von hauptsächlicher Wichtigkeit für die Prognose. Epileptisch-blödsinnige sind als ganz unheilbar, die andern Formen des Irreseins mit Epilepsie complicirt, als nur in den seltensten Ausnahmsfällen heilbar zu betrachten. Einzelne, ausschliesslich für heilbare Fälle bestimmte Irrenanstalten schliessen desshalb auch alle mit Epilepsie behaftete Geisteskranke von der Aufnahme aus.

§. 134.

Noch manche andere krankhafte Erscheinungen im mo - torischen Nervensysteme können das Irresein compliciren. Bald vorübergehend verbreitete convulsivische Zustände, ähnlich dem hysterischen Anfall oder hervorgehend aus heftiger Kopfcongestion oder acuter Meningitis; bald chronischer verlaufende allgemeinere Krampfformen, choreaartige Bewegungen, Drehen, Rückwärts - oder im Kreise Gehen u. dgl. ; bald clonische Krämpfe, auf einzelne Mus - kelgruppen beschränkt, z. B. beständiges krampfhaftes Kopfnicken oder ein convulsivisches Lüpfen der Beine beim Gehen etc.; bald Con - tracturen mit oder ohne darauf folgende Lähmung einzelner Muskel - parthieen, namentlich der Extremitäten, Strabismus etc. Es ist von ihnen mit Erwähnung ihrer übeln prognostischen Bedeutung schon p. 86 gehandelt worden.

Eine ähnliche, schlimme Bedeutung scheinen die bisher viel zu wenig beachteten, vagen Neuralgieen zu haben, die man, als herumziehende Schmerzen in allen Theilen des Organismus, durchaus nicht selten beim Uebergang der Krankheit in einen unheilbaren Schwächezustand beobachtet. Eben ihre Häufigkeit unter diesen Um - ständen veranlasst uns, sie für centralen Ursprungs, für eng zusam - menhängend mit dem Irresein, und namentlich mit den in diesem Zeitraume gewöhnlich eintretenden, dauernden Texturerkrankungen innerhalb der Schädelhöhle zu halten. Sie stehen oft jenen leichte - ren Hautneuralgien, die zu dem Wahne des Electrisirtwerdens AnlassGriesinger, psych. Krankhtn. 19290Fieber als Complication.geben, sehr nahe, und dürfen durchaus nicht unter die öde Benen - nung rheumatischer Schmerzen subsummirt werden.

Endlich ist als eine häufige, mit der Gehirnkrankheit in nächstem Connexe stehende, Complication die Gruppe der Fiebersym - ptome zu erwähnen, die so oft den ersten Eintritt des Irreseins begleitet. Frösteln, Hitze, Müdigkeit, Gliederreissen, Durst, Zungen - beleg, Störung des Appetits, des Stuhls und der Urinsecretion, Em - pfindlichkeit des Epigastriums, Trockenheit der Haut, rasche Abma - gerung kommen sehr häufig in der Zeit vor, wo die Symptome der Gehirnerkrankung anfangen, deutlich zu werden. Gewöhnlich nehmen sie nach einigen Wochen oder Tagen wieder ab, von selbst oder auf den Gebrauch einfacher Mittel, und das Irresein verläuft von jetzt an fieberlos. Nicht selten werden diese Zustände wegen der noch gering hervortretenden Gehirnsymptome, als gastrische, rheumatische, catarrhalische Fieber aufgefasst, welche der Entwicklung der Geistes - krankheit vorausgegangen seien, aus denen sich diese erst, etwa gar wegen mangelnder Crisen entwickelt habe. Oder es werden Zungenbeleg, Appetitlosigkeit und Verstopfung als Zeichen einer schweren Unterleibskrankheit angesehen, welche nun wohl als Ursache des Irreseins angesprochen wird. Es genügt in diesen Beziehungen, an eine recht unbefangene Beurtheilung und physiologische Analyse der Erscheinungen und an die Analogie mit den übrigen Gehirn - krankheiten zu erinnern.

[291]

VIERTES BUCH. Die pathologische Anatomie der psychischen Krankheiten.

§. 135.

Wer in den Krankheiten nicht blosse Symptome sieht, sondern anomale Zustände der Organe, aus denen die Symptome sich ergeben, der wird mit uns darin übereinstimmen, dass die Würdigung der Leichenbefunde bei den Irren zu den wichtigsten Geschäften der Psychiatrie gehört. In der That, hier in der pathologischen Ana - tomie soll uns endlich Aufschluss darüber werden, welche Er - krankungen es denn eigentlich sind, deren Symptome wir bisher theils einzeln für sich, theils in ihrer Combination zu be - stimmten Krankheitsformen kennen gelernt haben; hier sollen endlich der wahren, d. h. der anatomischen Diagnose am Lebenden die richtigen Grundlagen gegeben werden. Für uns sind die Leichen - öffnungen kein Geschäft, von dem man bloss hinterher, wenn der Kranke gestorben ist, die Befriedigung einer oft abentheuerlichen Neugierde erwartet, für uns ist die pathologische Anatomie keine Sammlung von Curiositäten, auch kein blosses trockenes Register der von den Beobachtern vorgefundenen Anomalieen. Wir haben nicht nur den Werth der An - oder Abwesenheit solcher Alterationen im Ganzen und im Einzelnen zu erörtern, nicht nur ihren engen Zu - sammenhang mit der Pathogenie festzuhalten, durch den erst der todte Befund selbst sein Leben und seine Bedeutung für den leben - den Kranken bekommt, wir haben auch zu untersuchen, ob uns nicht19 *292Ueber die An - und Abwesenheitdie gewissenhafte Prüfung der pathologisch-anatomischen Thatsachen den Fortschritt zu Schlüssen umfassenderer Art gestatten wird, ob sich nicht gewisse Grundthatsachen herausstellen werden, welche ein grösseres Licht auf die innere Natur, auf das Wesen dieser Krank - heiten, wie auf die ganze Physiologie und Pathologie des Gehirns zu werfen vermöchten. Täuschen wir uns nicht, so ist dieser Theil unserer Untersuchung nicht ganz ohne Resultate geblieben.

Erster Abschnitt. Pathologische Anatomie des Gehirns und seiner Hüllen.

§. 136.

Die anatomischen Veränderungen, welche dem Irresein selbst entsprechen, d. h. welche während des Lebens die psychischen Ano - malieen geben, darf man natürlich nirgends anders als am Kopfe, im Gehirn und seinen Hüllen suchen. Nach den gegenwärtig vor - liegenden Daten ist es nun ein constatirtes Factum, dass man in manchen Leichen irregewesener Personen keine Anomalie in diesen Theilen findet. Wenn man die grosse Menge unzuverlässiger Berichte und die Fälle eliminirt, wo vor dem Tode das Irresein wieder aufhörte, so bleibt eine Anzahl von Fällen, sorgfältigen Special - Beobachtern (z. B. Parchappe) angehörig, übrig, wo die Kopfhöhle und ihr ganzer Inhalt überall die normalen Verhältnisse zeigte.

Wir sind der pathologischen Anatomie ebenso dankbar für die Constatirung dieser Thatsache, wie für die Auffindung anatomischer Störungen. Denn da wir dennoch in allen Fällen von Irresein eine Erkrankung des Gehirns anzunehmen haben,*)Vgl. Erstes Buch. Erster Abschnitt. so wird uns durch diese negativen Befunde einerseits die wichtige Analogie von Gehirn - Störungen ohne anatomische Veränderung mit den gleichfalls ohne anatomische Läsion des Gewebes einhergehenden Spinalirritationen und peripherischen Nerven-Affectionen an die Hand gegeben, andrer - seits werden damit der Prognose und Therapie tröstliche Voraus - setzungen gewonnen.

Um aber aus diesen Fällen, wo anatomische Alterationen fehlen, keine irrigen Schlüsse zu ziehen, muss man sich vor Allem erinnern,293anatomischer Veränderungen.dass dieselben nach den übereinstimmenden Beobachtungen der neueren, sorgfältigen Beobachter immerhin die entschiedene Minderzahl bilden. Man muss ihre Zahl nicht nach den Berichten derjenigen Irrenärzte schätzen, welche, vortreffliche Administratoren oder Moralisten, keine Zeit gehabt haben, sich mit dem Bau des Gehirns und seinen patho - logischen Veränderungen bekannt zu machen, welche das Gehirn nur grob, mit Messer und Gabel zu zerschneiden wissen und freilich immer Nichts finden. Man muss bedenken, wie leicht manche feinere, aber desshalb doch sehr wichtige Alterationen z. B. die feinen pseu - domembranösen Anflüge auf der Innenfläche der Dura, kleine Schädel - osteophyte, Nüançen der Färbung und Consistenz der grauen Sub - stanz etc. einer nur gewöhnlichen Aufmerksamkeit entgehen, und man darf die urtheilenden Berichte über die normale oder anomale Be - schaffenheit des Organs überhaupt nur von Seiten derer annehmen, welche durch den ganzen Geist ihrer Schriften zeigen, dass sie mit der pathologischen Anatomie vertraut sind, dass sie dieselbe über - haupt anerkennen und dass sie wissen, was man zu suchen, auf was man zu achten hat. Je mehr in neuester Zeit durch Auffindung noch unbekannter anatomischer Störungen im Gehirn und durch eine genauere anatomische und logische Zergliederung der früher bekannten (Rokitansky, Durand-Fardel, Bennet, Kasloff etc.) die pathologische Ana - tomie des Gehirns gefördert worden ist, um so sicherer ist anzu - nehmen, dass in den älteren Beobachtungen manches Wichtige über - sehen worden ist, um so mehr aber auch ist von einer noch gründlicheren und genaueren Untersuchung in Zukunft zu erwarten.

Nicht nur diese negative Befunde aber, sondern ebensosehr ihre theoretische Verwendung und die aus ihnen gezogenen Schlüsse, sind mit der achtsamsten Critik aufzunehmen. Sollte man es glauben, dass noch heute einzelne verdienstvolle Irrenärzte mit der zeitweisen Abwesenheit anatomischer Alterationen in den Leichen überhaupt deren Werth entkräften und die Folgerung machen wollen, dass die ana - tomischen Läsionen desswegen auch da, wo sie vorhanden sind, nicht die nächste Ursache der geistigen Anomalieen sein können, weil ja diese zuweilen ohne solche anatomische Veränderung vorkommen? Nicht anders, als ob man schliessen wollte: weil zuweilen Husten und Dyspnoe ohne anatomische Veränderung der Lungen vorkommt, so können bei der Pneumonie diese Symptome nicht die Ergebnisse der palpabeln Erkrankung der Lunge sein; weil es Krämpfe, Con - tracturen, Lähmungen ohne Substanzveränderung des Rückenmarks294Die negativen Leichen-Befunde.gibt, so können bei der Rückenmarksentzündung die Krämpfe, Con - tracturen etc. nicht die unmittelbar resultirende Erscheinung dieser Entzündung sein; sie müssen vielmehr eine andere, noch unbekannte Ursache haben! So auffallende Missverständnisse bedürfen keiner weiteren Widerlegung.

Die glaubwürdigen Sectionsberichte nun, in welchen eine ganz normale Beschaffenheit des Gehirns angegeben ist, gehören ihrer Mehrzahl nach Fällen von nicht complicirtem frischerem Irresein, in den Formen der Schwermuth und der Manie an, während im Durch - schnitt die anatomischen Alterationen um so häufiger werden, je länger die Geisteskrankheit gedauert hat, je mehr sie Symptome eines psychischen Schwächezustandes, namentlich eines tieferen Blödsinns darbot, je mehr sie endlich mit Paralyse complicirt war. Doch lie - gen einerseits Fälle bedeutender acut entstandener anatomischer Ver - änderungen für die frischesten Fälle primären Irreseins (z. B. die Tobsucht der acuten Meningitis) vor, andererseits wieder immerhin noch nicht wenige Sectionsberichte von Abwesenheit aller anatomi - schen Störung, welche chronischen Fällen von Verrücktheit und ziemlich weit gediehenem Blödsinn entsprechen; ja sogar von der schwersten Affection, welche die Psychiatrie kennt, dem paralytischen Blödsinn, bei dem auch durchschnittlich weit die meisten und con - stantesten Läsionen gefunden werden, sind einzelne Fälle bekannt geworden, wo nichts Anomales mit den gewöhnlichen Hülfsmitteln zu entdecken war (Lélut, annales med. -psychol. 1843. I. p. 179, und Rech, bei Lélut, Inductions sur la valeur etc. Par. 1836. p. 98). Im gegenwärtigen Zustande der Wissenschaft muss man die letzteren Fälle entweder als seltene Einzelbeobachtungen, wie in manchen andern Gebieten der Pathologie, vorläufig ganz ausserhalb des Bereichs theore - tischer Verwendung lassen, oder man muss sie für Beweise annehmen, dass auch die tiefste Schwäche der psychischen Processe und der motorischen Actionen ohne Texturveränderung des Organs eintreten könne wofür denn auch das Rückenmark zahlreiche Analogieen liefert ; diese Fälle sind es aber vor allem, für welche von einer zukünftigen noch genaueren Untersuchung sehr wahrscheinlich wei - tere Aufschlüsse zu erwarten sind.

Als Beispiele der grossen Differenzen unter den Beobachtern in Bezug auf die Zahl kranker und gesunder Gehirne bei den Irren mögen folgende Zahlen angeführt werden. Der berühmte Pinel fand unter 261 Sectionen nur 68, Es - quirol unter 277 nur 77mal Veränderungen des Gehirns (Sc. Pinel, recherches295Die Specifität der Alterationen.sur les causes physiques etc. Par. 1826. p. 9), Chiarugi unter 100 Fällen 95, Parchappe in 160 Fällen uncomplicirter Geisteskrankheit 152mal (Traité de la folie. Docum. nécrosc. Par. 1841. p. 46. 141 ), Webster in 72 Fällen (Med. Chir. Transact. Vol. XXVI. 1843. und Annal. med. psych. Mai 1844. p. 445) jedesmal Läsionen in der Schädelhöhle. Lélut fand solche unter 20 Fällen acuter Manie nur 3mal, in der Manie chronique und Démence simple in mehr als der Hälfte der Fälle (Inductions sur la valeur des altérations de l’encéphale. Par. 1836. p. 63. 76. ) Es ist von Interesse, hiemit die anatomische Statistik für einen schweren Symptomencomplex vom Rückenmarke, für den Tetanus, zu vergleichen. Wallis (de Tetano disquis, arithmeticae. Diss. Hal. 1837. p. 24) fand bei einer Zusammenstellung von 38 Sectionen an Tetanus Gestorbener 14 mal Zeichen von Entzündung der Nervenheerde (mit Erweichung, Verhärtung, Entfärbung); weitere 11 Fälle geben Entzündung ohne Degeneration (Hyperä - mie); die 13 übrigen boten in den Centralorganen nichts Abnormes dar.

§. 137.

Man kann nach den neueren Untersuchungen als festgestellte Thatsache betrachten, dass die Mehrzahl der Leichenöffnungen irrer Personen anatomische Veränderungen in der Schädelhöhle nachweist. Gibt es nun irgend eine specifische Läsion für das Irresein? Meint man darunter eine Läsion, welche überall, wo das Irresein das Product anatomischer Veränderungen ist, auch jedesmal in glei - cher Weise vorhanden sein müsse, so ist diese Frage nicht nur zu verneinen, sondern als eine a priori sinnlose zu bezeichnen. Denn schon das einfachste pathologische Raisonnement muss ergeben, dass die so ausserordentlich verschiedenen pathologischen Seelenerschei - nungen, die man unter den Formen der Schwermuth, des Blödsinns etc. begreift, unmöglich immer eine und dieselbe Veränderung des Organs zur Grundlage haben können. Noch nie hat man es auch nur für möglich gehalten, dass in den Rückenmarkskrankheiten den mannigfaltigen Symptomen gestörter Empfindung und Bewegung immer eine und dieselbe anatomische Abweichung zu Grunde liege; es muss eben so klar sein, dass die mannigfaltigen Anomalieen der Selbstem - pfindung, des Denkens und Wollens auf sehr verschiedenen Läsionen des betreffenden Organs nicht nur beruhen können, sondern beruhen müssen. Stellt man dagegen die Frage nach der Specifität der ana - tomischen Läsionen umgekehrt, fragt man, ob es nicht anatomische Veränderungen gebe, mit deren Vorhandensein auch immer nothwendig eine auffallende Störung der psychischen Thätigkeiten, eine Geistes - krankheit gegeben sei, so ist diese Frage zu bejahen. Ja, es gibt substantielle Erkrankungen des Gehirns, welche immer Irresein zum296Der Sitz der anatomischen Veränderungen.Symptom haben. Noch nie hat man eine diffuse, über sehr viele Windungen verbreitete Entzündung der grauen Rindenschichte ohne eminente Geistesstörung beobachtet; noch nie hat man eine ausge - breitete Meningitis auf der convexen Seite, noch nie ein starkes Ge - hirnödem der grossen Hemisphären, noch nie eine höher gediehene beiderseitige Atrophie der Windungen, noch nie tiefere Alterationen der Ventrikel-Oberfläche in einiger Ausdehnung ohne psychische Störung, namentlich Geistesschwäche, verlaufen sehen. Und wir glauben schon hier, am Eingange der pathologisch-anatomischen Erörterung als Re - sultat aus den im folgenden anzugebenden, in den verschiedensten Ländern, unter den verschiedensten Umständen gemachten Beobach - tungen, den Satz aussprechen zu dürfen, dem wir ein nicht geringes theoretisches Interesse vindiciren: die bei weitem wichtigsten und constantesten anatomischen Läsionen bei den Irren finden sich auf den Gehirnoberflächen; wir haben desshalb das Irresein, da wo es von Structurveränderung des Gehirns abhängt, im Durchschnitte als eine, im Einzelnen übrigens wieder verschieden - artige Erkrankung der äussersten Gehirnperipherie, wor - unter wir*)Uns hiemit wesentlich von neueren französischen Aerzten (Belhomme u. A.) unterscheidend. ebenso gut die innere Ventrikeloberfläche, als die graue Rindenschicht des grossen und kleinen Ge - hirns verstehen, zu betrachten, wobei es sich von selbst versteht, dass unter dieser[Erkrankung] der Gehirnperipherie auch alle von ihr in keiner Weise zu trennenden Alterationen der zunächst jene Oberfläche überziehenden Häute mit einbegriffen sind. Unter den einzelnen Abschnitten der grauen Rindenschicht der Win - dungen findet man die Erkrankung besonders häufig an den vordern und mittlern (obern) Theilen der grossen Hemisphären; es stimmen hiermit die besten wundärztlichen Beobachtungen**)Larrey, clinique chirurg. I. p. 142 seqq. überein, welche bei Verletzung der vorderen und oberen Theile der Hemisphären am constantesten und reinsten Aberration und Schwäche der geisti - gen Thätigkeit ergeben. In Larrey’s Fällen hatte namentlich die Verletzung einiger seitlicher und nach vorn gelegener Windungen bald ausgebreiteten, bald partiellen Gedächtnissverlust zur Folge, wie denn auch Bouillaud’s Beobachtungen***)Traité de l’encéphalite. Par. 1825. p. 284. von Verlust der Sprache297Ob sie Folgen des Irreseins seien?bei Läsion der Vorderlappen ohne Zweifel auf das erloschene Wort - gedächtniss zu beziehen sind.

§. 138.

Der Mangel an constanten, immer gleichen anatomischen Ver - änderungen und ihr nicht selten gänzliches Fehlen haben zu der unter vielen Aerzten verbreiteten Behauptung Anlass gegeben, dass die Gehirnalterationen bei Geisteskranken nicht die nächsten organi - schen Bedingungen und Ursachen eben jener Symptome von Irresein, dass sie vielmehr nur die Folgen der Seelenstörung seien. Andere geben zwar zu, dass jene tieferen Organveränderungen (z. B. die Atrophie), welche man so oft bei Blödsinnigen findet, allerdings in derselben Weise der psychischen Schwäche zu Grunde liegen, wie z. B. die Atrophie der Retina und des Opticus manchen Blindheiten; sie läugnen aber, dass die andern Formen des Irreseins, Schwermuth, Manie etc. von den vorhandenen (leichteren) anatomischen Störungen abzuleiten seien, eben wegen der Inconstanz dieser Läsionen.

Die näheren Umstände freilich, die organischen Hergänge, durch deren Vermittlung jene Folgen aus dem Symptomencomplex des Irreseins sich ergeben sollen, hat man dabei so gut wie allgemein anzugeben, ja auch nur anzudeuten vergessen, und es nimmt sich jene Behauptung fast mehr wie ein letzter Zufluchtsort vor materialistischen Anschauungsweisen, als wie ein Resultat wissenschaftlicher Untersu - chung, sie nimmt sich fast ebenso instanzlos aus, wie etwa die Be - hauptung, der Darmcatarrh, den man in den Leichen finde, sei nicht die Ursache, sondern die Folge der vorhandenen Diarrhoe gewesen. Wir indessen vermögen dem für manche Fälle Richtigen, was in jenem Satze liegt, nicht nur seinen gehörigen Platz anzuweisen, son - dern auch die erklärenden Anhaltspunkte für dasselbe zu bieten. Alles nemlich, was oben (im zweiten Buch) über den Einfluss der Affecte auf Erzeugung von Gehirnkrankheit gesagt ist, findet auch seine Anwendung auf die krankhaften Affecte der Schwermuth, der Manie etc., und es unterliegt keinem Zweifel, dass das Bestehen dieser Seelenzustände Gehirnhyperämieen mit allen ihren Folgen ver - anlassen kann. Nur müssen diese substantiellen Erkrankungen offenbar unendlich oft durch die Krankheitsursache selbst schon, nicht erst durch die Krankheit gesetzt sein; es ist ja oben in extenso gezeigt worden, wie viele dieser Ursachen das Irresein durch Gehirnhyperämie erzeugen, und es bietet die gewöhnliche, aus äusseren Ursachen298Pathologische Anatomieentstandene Meningitis der Erwachsenen das einfachste Beispiel psy - chischer Alteration aus Hyperämie und Exsudationen, die wenigstens hier gewiss nicht die Folgen des Deliriums sind, dar. Ueberhaupt, wird einmal für den Blödsinn das richtige Verhältniss, dass die psy - chischen Symptome der Ausdruck der jeweiligen Gehirnbeschaffenheit seien, angenommen, so kann es auch für die andern Formen nicht abgewiesen werden. Jene dem Blödsinn angehörigen Alterationen (Atrophie, Verhärtung etc.) sind ja fast durchaus nur die Reste und Folgen früherer, (namentlich entzündlicher) jetzt erloschener Processe, welche diese Läsionen nur als letztes Resultat gesetzt haben. Sollten die Krankheitsprocesse selbst, durch die sie entstanden, ganz symptomlos verlaufen sein? Und wenn nicht, wo anders sollen wir ihre Symptome suchen, als eben in den melancholischen, maniacalischen Erscheinun - gen, welche dem Eintritt der psychischen Schwäche vorausgingen? Wenn man einmal zugibt, dass die Atrophie der Retina Blindheit macht, wird man nicht auch zugeben, dass die Retinitis (oder viel - mehr Chorioiditis), welche ihr vorausging, auch in derselben Weise die Ursache der vorausgegangenen subjectiven Farbenphantasmen, der Symptome der Retinairritation war?

Im Folgenden sollen zuerst die bei Geisteskranken vorkommenden anatomi - schen Läsionen des Gehirns und seiner Hüllen einzeln nach anatomischer Ord - nung erörtert werden, wie sie sich aus den neueren Untersuchungen ergeben und erst später soll, resümirend, untersucht werden, welche Zustände der Organe in der Schädelhöhle den einzelnen Formen des Irreseins am häufigsten entsprechen. Die älteren pathologisch-anatomischen Untersuchungen von Bonet und Mor - gagni, und die Resultate von Hallers historischen Studien finden sich zusam - mengestellt bei Arnold (Beobachtungen etc.; übers. von Ackermann. II. 1788. p. 2 48); ebenso sind die Schriften von Meckel, Chiarugi, Burdach, Greding und Portal besonders zu vergleichen. Parchappe (Recherches sur l’Encéphale. 2ème Mém. 1838.) hat die wichtigsten der älteren und die neueren Beobachtungen namentlich seiner Landsleute gut zusammengestellt.

A. Der Schädel.

§. 139.

Die Gestalt des Schädels bietet, wenn wir, wie dies im Folgenden immer geschieht, vom angebornen Idiotismus absehen, nicht viel Characteristisches. Man findet bekanntlich bei einer Menge immer geistesgesund gewesener Individuen unregelmässige Schädel - formen, bald die schief von vorn nach hinten verschobene, bald die eigentlich scoliotische Form. Die Angabe, dass solche Unregel - mässigkeiten höheren Grades bei den Geisteskranken in verhältniss -299der Schädelknochen.mässig grösserer Menge vorkommen (Foville), steht ziemlich vereinzelt. Schon von grösserer Wichtigkeit scheint die künstliche Deformation des Schädels zu sein, auf welche derselbe Arzt mehrfach aufmerksam gemacht hat*)Foville, Anatomie de système nerveux etc. I. Par. 1844. p. 63 seqq.. In mehren französischen Provinzen, namentlich in der Normandie und in der Gascogne herrscht der Gebrauch, die Kopfbedeckungen der Neugebornen mit Rollbinden um den Kopf zu befestigen, wodurch diese Köpfe leicht eine lange, spitzige, cylindri - sche Form annehmen. In diesen Gegenden ist die Hirnentzündung bei den Kindern und das Irresein bei den Erwachsenen ungewöhn - lich häufig, wie dies Esquirol, der sich oft über die grosse Menge Geisteskranker in seiner Heimath (der Gascogne) wunderte, und die Statistiken der gegenwärtig dort ausübenden Irrenärzte bestätigen. Es versteht sich, dass diese Schädelformation weit nicht in allen Fällen zum Irresein Anlass gibt, aber sie scheint nach diesen Beob - achtungen eine Prädisposition zu Gehirnkrankheiten zu geben, wie ein schlecht geformter Thorax mit Recht das Zeichen einer Prädis - position zu Brustkrankheiten gilt. Was die Dicke und Textur der Kopfknochen betrifft, so haben fast alle Beobachter die Häu - figkeit der Schädelanomalieen in diesen Beziehungen bei den Gei - steskranken erkannt. Schon Greding fand übereinstimmend mit den Neueren unter 216 Sectionen 167 Individuen mit Verdickung, 38 mit anomaler Dünnheit dieser Knochen. Diese Massenzunahme, Hyperostose des Schädels ist entweder mit einem reichlichen Gehalt an diploëtischer Substanz, oder noch viel häufiger mit Sclerose des Knochens verbunden. Sie ist am hänfigsten das endliche Product einer von Zeit zu Zeit wiederholten, acuten, oder auch einer chroni - schen Entzündung, deren immer wieder verknöchernde Exsudate eine Reihe successiver neuer Knochenschichten ansetzen. Da die Hype - rostose auf Kosten des Schädelraums und der zum Austritt der Blut - gefässe bestimmten Löcher und Spalten geschieht, so kann es nicht fehlen, dass dadurch eine Störung der Circulation innerhalb der Schädelhöhle und partiellere oder allgemeinere Hyperämieen gesetzt werden. Dies wird ganz besonders durch die in neuester Zeit bekannt gewordene Entdeckung von Kasloff**)Oppenheims Zeitschrift. Bd. XXV. Heft. I. 1844. bestätigt. Dieser Arzt fand in 21 Fällen von Selbstmord bei Wahnsinnigen eine beträchtliche Verengerung des foramen lacerum posterius, meist nur auf Einer Seite, bis zu einer spaltenartigen Verwachsung. Die knöcherne300Pathologische AnatomieVertiefung, welche für den Bulbus der vena jugularis bestimmt ist, war beinahe bis zur völligen Ausgleichung mit der Fläche des Felsenbeins verschwunden; die Verengerung war, unabhängig vom Hinterhaupts - bein, durch stärkere Entwicklung der Knochensubstanz am hintern Rand des Felsenbeins erfolgt; die innere Schädelfläche enthielt dabei manchmal ein feines, poröses Osteophyt; der canalis caroticus war nicht verengert, wohl aber häufig das foramen condyloideum; die Emissaria waren bedeutend erweitert, oder es hatten sich auch neue Löcher gebildet. Die entsprechende Vena jugularis interna war bis auf die Hälfte oder ein Viertel ihrer Dicke zusammengeschrumpft, die Sinus, welche mit ihr zunächst communiciren, seichter und schmäler als gewöhnlich; nothwendig muss sich hieraus, wenig - stens so lange, bis der venöse Collateralkreislauf entsprechend regu - lirt ist, eine beträchtliche mechanische Hyperämie des Schädelinhalts ergeben. Mit derartiger local verstärkter Massenzunahme der Knochen dürfte mitunter die Entstehung des Irreseins, welches sich längere Zeit nach einer Kopfverletzung ausbildet, zusammenhängen; wie wir es denn auch für erlaubt halten, die hierhergehörige Erzeugung des puerperalen Osteophyts mit den während der Schwangerschaft häufigen Zuständen schwermüthiger Verstimmung und ihren weiteren psychischen Folgen in Verbindung zu bringen (Vgl. p. 147).

Da mit diesen Hyperostosen des Schädels gewöhnlich zugleich die Schädelnähte verschwinden (Rokitansky, patholog. Anat. II. p. 236), so stimmt es mit jenen Beobachtungen aufs Auffallendste überein, wenn frühere, durchaus unbefangene Forscher nach ihren Erfahrungen in einer zu frühzeitigen Verwachsung der Suturen eine wichtige Prädisposition zu Melancholie und Selbstmord erkennen konnten (Larrey, Clinique. I. p. 329).

In noch manchen andern Fällen deuten bei Irren, wie auch bei Epileptischen Osteophytbildungen auf der Innenfläche des Schädels von nadelförmigen, gegossenen, stalactitischen*)Ferrus (Gaz. medic. 1836. p. 716) sah solche z. B. bei blödsinnig-Para - lytischen. Gestalten auf einen erloschenen umschriebeneren Entzündungsprocess hin, dessen Exsu - date hier verknöchert liegen geblieben sind, und dieselbe Bedeutung haben die häufig bei Irren vorfindigen, bald inselförmigen, bald aus - gedehnten anomalen Adhäsionen der dura mater an der Innenfläche des Schädels.

Ausserdem kommen an der Dura Mater kaum erhebliche Verän -301des Schädels, der Gehirnhäute.derungen vor, als jezuweilen Verdickung und eine von dem Volum und der Consistenz ihres Inhalts abhängige straffere Spannung oder grössere Schlaffheit. Die pathologischen Veränderungen auf ihrer inneren Oberfläche gehören dem sogenannten Parietalblatt der Arach - noidea an.

Bei diesen Aussenwerken des Gehirns ist noch der Zustand der grösseren Gefässe in der Schädelhöhle zu erwähnen. Jener Zustand von atheromatöser Entartung und Ossification der grösseren Arterien, wobei die Ringfaserhaut morsch geworden ist und das Ge - hirn oft, wie von steifen Drähten durchzogen, erscheint*)Rokitansky l. c. II. p. 799., kommt in zahlreichen Sectionen Geisteskranker zur Beobachtung. Es lässt auf einen ähnlichen Zustand der der Untersuchung nicht mehr zugäng - lichen, feinsten Gefässe schliessen; seines häufigen Zusammenkommens mit Herzkrankheiten und seiner circulationstörenden Wirkung ist schon oben (p. 122, 141) Erwähnung geschehen. Larrey (l. c. p. 330) hat diese Ossificationen sowohl öfters bei Nostalgischen, als auch in andern Fällen tiefer Melancholie**)Z. B. bei seinem Waffengefährten Monge und bei dem berühmten Four - croy, die beide melancholisch starben. beobachtet.

Wir sahen in 2 Fällen solche, sehr weit gediehene Arterien - Entartung gleichfalls bei tief Schwermüthigen mit livider Gesichtsfärbung, namentlich beidemale einer dunkelblauen Färbung der Nasenspitze zu - sammentreffen, und es sind andere ähnliche Fälle, ohne eigene Beobachtung, zu unsrer Kenntniss gekommen.

B. Die Arachnoidea.

§. 140.

Einer der allerhäufigsten Befunde bei Geisteskranken ist die Trübung, Verdickung und Hypertrophie der Arachnoidea; es gibt keine Form des Irreseins, wo sie nicht nach längerem Bestehen derselben beobachtet worden wäre; besonders gewöhnlich ist sie, neben andern tieferen Läsionen, nach dem paralytischen Blödsinn. Sie ist anzusehen als Ergebniss vorausgegangener, andauernderer Hy - perämie und entzündlicher Stase, und kommt desshalb mit Vermehrung der auf denselben Hergängen beruhenden Pacchionischen Granulationen unter allen den Umständen vor, wo habituelle Kopfcongestion während des Lebens bestand, namentlich bei Schnapstrinkern, welche denn freilich auch selten genug als Geistesgesunde anzusehen sind.

302Pathologische Anatomie

Frühere, entzündliche Exsudate der Arachnoidea können ver - knöchern und man findet solche Knochenconcremente mit zackiger, rauher Oberfläche nicht ganz selten in der Arachnoidea der vordern Grosshirnlappen; andrerseits geben solche Exsudate zu anomalen Ad - häsionen an die Pia und die Gehirnrinde und an die Dura und den Schädel, öfters mit einer durchdringenden Verschmelzung aller dieser häutigen Schichten Anlass.

Als Zeichen acuter, frischer Krankheitsprocesse kommen die Hyperämie der Arachnoidea, besonders in der ecchymotischen Form häufig vor; ihre Betrachtung gehört aber zur Hyperämie der Pia Mater. Was den Inhalt des Arachnoidalsackes betrifft, so ist ein vermehrter Erguss seröser Flüssigkeit in denselben häufig, theils als Folge häufig wiederkehrender habitueller Hyperämieen und einer Varicosität der Blutgefässe, theils als secundäres Ergebniss der Gehirnatrophie, aufzufinden; immer mit gleichzeitiger Verdickung der Häute und Infiltration der Pia.

Von ganz besonderer Wichtigkeit aber sind die so frequenten spon - tanen Hämorrhagieen in den Sack der Arachnoidea, welche von allen Beobachtern, zwar vorzugsweise bei Paralytisch-Blödsinnigen, doch in seltenen Fällen auch nach acuten oder chronischen Manieen (Lélut, Parchappe) gefunden wurden. Bei den Paralytischen scheinen sie besonders in den hier so häufigen Anfällen von Kopfcongestion mit Bewusstlosigkeit zu entstehen; doch ist ihre Diagnose während des Lebens durchaus unsicher, da sie einestheils bei geringem Umfang symptomlos verlaufen, anderntheils ihre Symptome die der Com - pression sich mit den ganz ähnlichen der Atrophie und Encepha - litis vermischen, drittens endlich der Gehirndruck auch auf andern Ursachen beruhen kann.

Diese Blutergüsse kommen fast immer auf der convexen Seite der Hemi - sphären vor; da sie meist ziemlich lange getragen werden, so findet man sie gewöhnlich in Zuständen von Transformation, welche in einzelnen Fällen zur Ver - kennung ihrer wahren Natur verleiten können.

Bei einer beträchtlicheren Menge des Extravasats findet man, wie wir diess selbst in einem ausgesuchten Falle beobachten konnten, unter der dura mater eine grosse, schwappende Cyste, an die genannte Haut locker angeklebt, an der dem Visceralblatte der Arachnoidea zugewandten Seite fast frei. Von den Kanten des Sackes breitet sich oft noch eine dünne, rostbraune Membran weiter aus, die end - lich in einem dünnen Anflug ausläuft (Rokitansky). Der Sack enthält eine je nach dem Alter des Extravasates dunkelbraune, dickliche oder mehr hell-seröse Flüssigkeit. Er hat Compression und Atrophie der betreffenden Hemi - sphäre, mit Verengerung des Ventrikels, oft mit grösserer Dichtigkeit der Ge -303der Gehirnhäute.hirnsubstanz, ausserdem mechanische Hyperämie und Infiltration der Meningen zur Folge. Die Bildung der organisirten Cystenwandungen scheint ebensowohl aus der peripherischen Schichte des geronnenen Faserstoffs selbst als aus dem fibri - nosen Exsudute einer im Umkreis des Blutcoagulums erst secundär entstandenen Entzündung hervorgehen zu können.

Anders verhält sich die Sache bei einer nur unbedeutenden Quantität des ergossenen Blutes. Diese geringen Ergüsse hinterlassen nach Aufsaugung des flüssigen Antheils nur dünne, anfangs noch rostbraune und gelbe, später fast ganz entfärbte Lamellen von geronnenem Faserstoff. In frischer Bildung beob - achtet, bestehen sie aus einem Maschenwerke röthlicher Fäden, oft nur von Spinnwebendicke, und noch mit kleinen Blutheerden vermischt; später erblassen sie; eine Stratification in ihnen zeigt zuweilen ihren Ursprung aus mehren, suc - cessiven Ergüssen, und der letzte, noch frischeste Erguss die hämorrhagische Natur des Ganzen an. In geringster Menge und nach geschehener Transformation bilden diese Blutergüsse endlich nur einen Anflug auf der Innenfläche der dura mater, welcher leicht überschen oder irrig (als entzündliches Exsudat) gedeutet werden kann.

Diese Blutergüsse in den Sack der Arachnoidea constituiren die, namentlich von französischen Irrenärzten Calmeil*)Opp. citt., Bayle**)Mémoire sur les fausses membranes de l’arachnoide. Gaz. medic. 1836. p. 1 seqq., Lélut***)Des fausses membranes de l’arachnoide. Annal. med. psychol. 1843. II. p. 55, 201., Boudet, Baillar - ger, Aubanel†)Prus, Annal. med. -psychol. 1843. II. p. 131. vielfach bearbeiteten, sogenannten Pseudomembranen der Arachnoidea, womit indessen die Möglichkeit eines Vorkommens von rein entzündlichen Pseudomembranen im Sacke der Arachnoidea nicht in Abrede ge - zogen wird. Von jenen unterscheidet sich die Hämmorrhagie unter die Arach - noidea wesentlich durch eine Verbreitung des Bluts, das sich mit dem Cerebrospi - nalfluiduum mischt, in die Ventrikel und in den Rückenmarkscanal, durch das be - ständige Fehlen der Pseudomembranen und durch eine weit schnellere Tödtlichkeit.

C. Die Pia Mater und die Gehirn-Rinde.

§. 141.

Die pathologischen Zustände beider sind so intim verbunden, dass sie nothwendig eine beide zugleich zusammenfassende Abhand - lung erfordern.

Was zuerst die Hyperämie der zarten Hirnhaut und der angren - zenden Rindenschichten betrifft, so können wir nach eigener Erfah - rung mit der Mehrzahl der Beobachter in dem Satze übereinstimmen, dass dieselbe bei weitem der häufigste Befund in den Leichen Geistes - kranker sei. Sie ist meist um so weniger mit anderweitigen Altera - tionen verbunden, je frischer das Irresein war, in chronischen Fällen304Pathologische Anatomiedagegen findet man oft nur noch ihre Producte oder es sind doch andere Störungen (Atrophie etc.) überwiegend mit ihr complicirt. Sie ist um so wichtiger, als sie die Grundlage und den Ausgangspunkt für die vielfach hier vorkommenden Entzündungsprocesse und deren Resultate, ebenso für Blutaustritte u. dergl. abgiebt.

Dass diese Hyperämieen nicht, wie es von einseitigen Entzün - dungspathologen schon geschehen ist, ohne weiteres für Entzündung angesprochen werden dürfen, bedarf keiner Auseinandersetzung. Wir halten sie vielmehr, wie oben bemerkt, in vielen Fällen für eine mechanische, venöse (Guislain) Hyperämie (in Folge von Herzkrankheiten, Lungenkrankheiten, functionellen Abweichungen in der Herzthätigkeit und Respiration, Verengerung der Schädellöcher etc.). Es ist unzwei - felhaft, dass diese Hyperämieen in sehr vielen Fällen Exsudate ver - schiedener Art (seröse, serös-plastische, albuminöse, selten eitrige*)Letztere übrigens z. B. von Larrey und Haslam beobachtet.) liefern, und damit unmittelbar zu Entzündungsprocessen werden oder wenigstens durch ihr Product (z. B. andauernde seröse Infiltration) dieselben Folgen, wie verschiedene Entzündungsproducte (Druck) für das Gehirn haben.

Unter den neueren Beobachtern ist das Vorkommen der Hype - rämie der Pia und der Gehirnrinde von anatomischer Seite besonders von Parchappe**)Traité de la folie. Documens nécroscopiques. Paris 1841. Dieselben Re - sultate im 2ten Mémoire. 1838. studirt worden. Er fand sie unter 38 Fällen acuten, frischen Irreseins (Formen der Melancholie und Manie) 36mal, besonders häufig (29mal) in der Form der Ecchymose unter der Arachnoidea, d. h. partiellen, plattenweisen Hyperämieen, welche der Pia und Arachnoidea gemeinschaftlich angehören, und im Centrum gleichförmig rothe, an der Peripherie aus punktirten und baumför - migen Injectionen bestehende Flecke darstellen; unter diesen Fällen wieder 33mal mit punktirter Injection der Gehirnoberfläche selbst, 17mal mit Erweichung, 15mal mit rother Färbung dieser grauen Substanz.

Er fand dagegen die Hyperämie der Pia und der Gehirnrinde unter 122 Fällen chronischen Irreseins (im Mittel nach einer Dauer von 8 Jahren; verschleppte Formen von Manie und Melancholie und psychische Schwächezustände) nur noch 59mal, darunter 18mal unter der Form der Ecchymose, hierunter wieder 7mal mit Injection, 5mal mit rother Färbung der Corticalsubstanz, 5mal mit Erweichung derselben.

305der zarten Häute und der Gehirnoberfläche.

Die rasch entstandcne Hyperämie der Pia, wie die des Gehirns selbst, kann an sich schnell tödtlich werden (Apoplexia vascularis). Ihre Ausgänge und Folgen bei längerer Dauer bestehen in der Ver - dickung und Verdichtung beider Häute, in bleibender Infiltration, Oedem der Pia und in Varicosität ihrer Gefässe. Diese Befunde sind denn auch ausserordentlich häufig bei Geisteskranken; aber sie haben immer bei gleichzeitiger Atrophie der Windungen einen nur untergeordneten Werth, da sie hier immer die erst secundären Fol - gen dieses Gehirnzustandes (Hyperämie, seröse Ergüsse etc. ex vacuo) sein können.

In der grauen Rindensubstanz zeigt sich die Hyperämie sehr häufig als eine verschieden nüancirte rothe Färbung, mitunter in ganz acuten Fällen von der dunkeln Röthe einer Erysipelas (Foville), oder als fleckige, marmorirte, streifige Färbungen mit einzelnen dun - kelrothen, feinen Flecken (sehr kleinen Blutextravasaten), Anfangs wohl auch mit Volums-Zunahme, Schwellung und vermehrter Consistenz; sie geht leicht genug in wirkliche Entzündung über.

§. 142.

Die Entzündung der Pia selbst setzt nur eine rascher oder langsamer sich bildende Verdickung nebst Verwachsung der Häute unter sich, an der grauen Corticalsubstanz aber die gewöhnliche Folge der Entzündung im Nervengewebe, die Erweichung, und die secundä - ren Umwandlungen des erweichten Gewebes, an beiden zusammen, die wichtige Verwachsung der Pia mit der Gehirnoberfläche, und es gehören diese Ausgänge einer Meningo-cerebritis zu den gewöhnlicheren Befunden in späteren Zeiträumen des Irreseins.

Frische derartige Zustände sind theils nach Formen, die der Schwermuth angehören, theils nach der acuten Manie beobachtet worden. Larrey fand*)Clinique. I. p. 224 seqq. Diese Beobachtungen scheinen übrigens durch - gängig im russischen Feldzuge gemacht, wo die Kranken noch an der heftigen Kälte und an Entbehrungen aller Art litten. Es fand sich noch dabei Blutüber - füllung der Lungen und des Herzens. bei einer grossen Anzahl Nostalgischer Entzündung der dünnen Hirnhäute und der Oberfläche des Gehirns an seinen vordern Lappen mit zerstreuten Eiterpunkten. Sc. Pinel gibt als den häufigsten Leichenbefund bei den plötzlichen Todesfällen in der acuten Tobsucht eine starke Hyperämie der Corticalsubstanz, namentlich ihrer mittleren Schichten, mit (entzündlicher) hefenfarbigerGriesinger, psych. Krankhtn. 20306Pathologische Anatomieoder violetter Erweichung und Decomposition des Gewebes, an*)Pathologie cérébrale. Par. 1844. p. 169 194., aus der eben, wenn der Kranke am Leben bleibt, später eine noch schwerere Alteration, Verhärtung mit Schwinden des Gewebes (Blöd - sinn) hervorgeht.

Solche entzündliche Erweichungen der grauen Substanz sind zuweilen um so schwerer zu erkennen, wenn sie mit kaum bemerk - licher Röthe verlaufen (Rokitansky, II. p. 811), wo denn die blosse Lockerung zu einem gleichförmigen Brei das einzige Zeichen der Entzündung ist. Viele Beobachter haben die einzelnen Schichten der grauen Rinde abgesondert erkrankt gefunden, Sc. Pinel Röthung der Mittelschicht in der Manie, Baillarger Röthung der Innenfläche der 4 innern Schichten oder der 3 grauen Strata**)Recherches sur la couche corticale etc. Mém. de l’acad. de Médecine. VIII. 1840. p. 172 seqq.. Am häufigsten ist die Inflammation der oberflächlichsten Schichte, verbunden mit der Pia; die alsdann mit der Corticalsubstanz verwachsene Membran nimmt nun beim Abziehen die ihr anhängenden obersten Schichten mitunter bis zu einer ziemlichen Tiefe mit, so dass eine ungleiche, blutende, gerissene Oherfläche zurückbleibt. Wiewohl diese Adhäsion und superficielle Erweichung, die besonders die Windungen der obern, convexen, auch der innern, einander zugewandten Fläche der Hemi - sphären oder auch das Ammonshorn betrifft, hin und wieder bei einfa - chem chronischem Irresein vorkommt, so ist sie doch bei weitem am häufigsten im paralytischen Blödsinn und bildet eine der wichtig - sten organischen Grundlagen dieser Affection. Calmeil fand sie in dieser Form als die häufigste und constanteste Läsion, und Par - chappe***)l. c. p. 249 seqq. sah unter 86 Fällen eine tiefere und ausgebreitetere Erweichung der Gehirnrinde ganz besonders in ihrer mittleren Schicht niemals, und die Adhäsion der Pia an derselben nur 9mal fehlen. Diese entzündlichen Erweichungen gehen nun später hier wie im übrigen Nervengewebe in einen Zustand von Atrophie und Scle - rosirung über. Vor allem ist es wieder die oberflächlichste Schicht, welche zuerst atrophisirt und erhärtet, und nun als eine schwielige, verdichtete Haut mit der gleichfalls tendinös verdichteten Pia cohärirt; dabei erbleicht das atrophische Gewebe auffallend. In den mittleren Schichten dauert die Erweichung indessen noch fort, und dann kann die oberste Schichte für sich als eine cohärente ziemlich consistente307der Gehirnsubstanz.Membran mit Hinterlassung einer rauhen, breiig weichen Oberfläche abgezogen werden, etwa wie die Haut von einem gebratenen Apfel. Ist die Erweichung der Mittelschichte nur mässig, so kann in diesen Fällen irrthümlich auf ihr völliges Fehlen geschlossen werden, wenn die Induration nicht beachtet und nicht in Rechnung gezogen wird, dass auch diese ursprünglich aus Erweichung hervorging; die Atrophie der Rindensubstanz durch ein solches Schrumpfen analog der Verschrumpfung vieler andern Theile in Folge der Entzündung, (Nar - bengewebe) kann so beträchtlich werden, dass sie bis auf ein Minimum gänzlich verloren gegangen ist. (Vgl. den folgenden §.)

Alle diese Störungen gehören dem Blödsinn und zwar vorzugs - weise dem paralytischen Blödsinn an.

D. Die Gehirnsubstanz selbst.

§. 143.

Volum und Consistenz des Gehirns. In einzelnen Fällen wird bei Irren, wie bei Epileptischen, ein hypertrophisches Ge - hirn gefunden. Das Schädeldach kann alsdann, wenn es abgenommen worden, nicht mehr aufgepasst werden, die Häute sind dünn und trocken, die Ventrikel enge, die Windungen platt. Solche Fälle, wie der, welchen Larrey (Clinique. I. p. 347) erzählt, wo bei einem früher Nostalgischen, später Gelähmten, eine bedeutende Schwellung und Turgescenz des Gehirns mit entzündlichen Exsudaten der Arach - noidea und einem kleinen Abscess im Cerebellum zugleich vorhanden war, gehören übrigens nicht zur wahren Hypertrophie. Die Geschwulst des Gehirns ist hier vielmehr die Folge von Hyperämie und Oedem. Wahre Hypertrophie dagegen scheinen die vier Fälle von paralyti - schem Blödsinn zu sein, welche Sc. Pinel (Pathol. cerebr. p. 369) beschreibt. Die Vergrösserung betraf nur die Marksubstanz, diese war sehr fest, blendend weiss, sehr elastisch und hatte an Volum sehr zugenommen, während meistens die graue Rindensubstanz zu - gleich atrophisch war.

Ein bei weitem häufigeres Ergebniss der Leichenöffnungen ist die Atrophie des Gehirns, und zwar seiner Windungen. Sie scheint primitiv aufzutreten als seniler oder frühzeitiger Marasmus des Gehirns und ist dann die Grundlage eines Irreseins, das von vorn herein den Character geistiger Schwäche hat. Oder sie ist in den Windungen, namentlich ihrer Corticalsubstanz, die Folge früherer Texturerkrankung, der Entzündung, langwieriger Hyperämieen, des Druckes durch ein20*308Pathologische AnatomieBlutextravasat oder Exsudat, in gleicher Weise, wie die Lungenspitze unter einer Pseudomembran, das Herz unter einem starken pericar - ditischen Exsudate (durch Compression und Verödung des Capillar - gefässapparats) atrophisirt.

Die Windungen sind dünner, aber nicht selten ganz ungleich geschwunden, so dass sie, namentlich im Vordertheil der Hemisphären, eine hüglige Fläche bilden; namentlich ist die graue Substanz be - deutend reducirt, oft bräunlich, hefengelb, fahl entfärbt, zuweilen lockerer, häufiger zu einem resistenteren Gewebe geschrumpft. Die weisse Substanz ist dabei oft schmutzig weiss, lederartig zähe, auf Durchschnitten sich runzelnd; zuweilen zeigt sie jenen porösen, fein - löcherigen Zustand, jenes siebartige Aussehen, wie es an der sub - stantia perforata im normalen Gehirn vorkommt, welches Folge chro - nischer Congestion und Erweiterung der grösseren Gehirngefässe in dem atrophisirten Gehirn ist (état criblé Durand-Fardels). Der leere Raum in der Schädelhöhle wird theils durch Einsinken oder Hyper - trophie des Schädels, theils durch Massezunahme der innern Hirn - häute, besonders ein starkes Oedem der Pia, welche zuweilen über einer atrophischen Windung wie ein hängender, schlotternder Beutel daliegt (Rokitansky. II. p. 728), durch Wassererguss in den Sack der Arach - noidea, theils namentlich durch Erweiterung und wässrige Anfüllung der Ventrikel ersetzt. Auch zu blutigen Ergüssen gibt das Vacuum nicht selten Anlass manche Apoplexieen in der Arachnoidea mögen darauf beruhen.

Diese ausgebreiteteren oder umschriebeneren Atrophieen kommen sehr häufig als Grundlage des secundären Blödsinns, nach früheren Exaltationszuständen, nach mehrmaligem Delirium tremens etc. vor. Unter den 122 Fällen chronischen Irreseins von Parchappe*)l. c. p. 140. fand sich der Schwund der Windungen in der vollen Hälfte, unter den 38 Fällen frischen Irreseins nur ein einzigesmal**)Und dies bei einer Kranken, die zum drittenmale recidiv war. Obs. 22. p. 19, 50.. Sehr häufig ist sie begreiflicherweise auch beim paralytischen Blödsinn; einzelne Beobachter (z. B. Lélut) haben sogar hier, wie uns scheint mit Un - recht, das Hauptgewicht auf sie gelegt.

Die wichtigste, acute Anomalie der Consistenz ist die schon er - wähnte Erweichung der Corticalsubstanz, auf Entzündung, wohl auch blutiger Infiltration beruhend; häufig ihre Mittelschicht einnehmend mit Verwachsung, Verhärtung, körniger Granulation und Erbleichung309der Gehirnsubstanz.der oberflächlichsten Lamelle. Mitunter ist es ein Zustand völligen Zerflossenseins, zuweilen von ziemlich beschränktem Umfange, nicht selten in der Corticalsubstanz des Ammonshorns.

Als eine chronische Anomalie der Consistenz ist besonders er - wähnenswerth die ausgedehnte Verhärtung der weissen Substanz, gewöhnlich mit Atrophie der Hemisphäre. Die Marksubstanz hat dann die Consistenz eines hartgesottenen Eis; man findet zuweilen beim Einschneiden einen Widerstand wie beim Zerschneiden von Caoutchouc; die Färbung ist gewöhnlich schmutzig weiss, bleigrau, ohne Blutpunkte, und die Faserung ist trotz der grösseren Härte des Gehirns undeut - licher. Bei der grossen Ausdehnung, in welcher diese Induration oft (durch ein ganzes Gehirn) vorkommt, ist es nicht möglich, sie für das Ergebniss einer Entzündung zu halten. Mitunter finden sich in ihr die Spuren alter apoplectischer Heerde, mit Serum gefüllte Höh - len, welche dem Durchschnitt das Ansehen eines löcherigen Käses geben sollen. Diese Verhärtung gehört durchaus den verschiedenen Formen des Blödsinns an.

§. 144.

Blutgehal. Eine allgemeine Hyperämie des ganzen Gehirns kommt in frischen Fällen von Irresein häufig vor, und ihre höheren Grade werden als Ursache schneller Todesfälle in der acuten Manie zuweilen zu betrachten sein; sie ist aber im Ganzen seltener als die auf die Pia und die Corticalsubstanz der Gehirnconvexität beschränkte Hyperämie. Ihre Häufigkeit nimmt ab mit der längeren Dauer der Krankheit und der Blutgehalt wird namentlich innerhalb des atrophi - schen Gehirns in der Regel verringert; doch ist wahre Anämie des Gehirns und der Häute in allen Formen des Irreseins eine Seltenheit (bei Parchappe in den 285 Fällen der 2 ersten Bücher nur 4mal*)Von Fr. Arnold ist ein derartiger Sectionsbericht von einem Paralytischen (allgemeine Anämie und Collapsus des Gehirns, sehr kleine sandlose Zirbel, das Gewicht des grossen Gehirns im Verhältniss zum kleinen etwas verringert) mit - getheilt worden. Ueber den Bau des Gehirns und Rückenmarks. Zür. 1838. p. 205..

Ueber die Entstehung der Hyperämie gilt das oben Gesagte. Sie beschränkt sich oft genug auf einzelne Abschnitte, deren höhere Grade in der weissen Substanz als marmorirte Flecke von Rosa, Violett, Lila-Farbe erscheinen, und zu Exsudaten und Entzündungsheerden Anlass geben können. Weitere Folgen der Hyperämie sind das Ge - hirnödem und die blutigen Ergüsse in die Gehirnsubstanz. Ueber310Pathologische Anatomiedie Häufigkeit der letzteren bei den Geisteskranken stimmen die An - gaben nicht überein. Esquirol, Georget, Guislain, Jakobi fanden sie sehr selten; Webster dagegen fand unter 72 Sectionen 13mal Blut - erguss in das Gehirn*)Med. Chir. Transactions. Vol. XXVI. 1843. p. 413.; wir selbst haben solche in der acuten Manie erfolgen sehen. So viel ist gewiss, dass die Spuren kleiner, alter apoplectischer Heerde nicht zu den Seltenheiten gehören, und dass eine blutige Apoplexie hinreichen kann, durch den Gehirnriss, die Compression, die nachfolgende Entzündung und Sclerosirung des Umkreises unheilbaren Blödsinn herbeizuführen.

Serumgehalt. (Oedem des Gehirns). Das Gehirnödem bei Geisteskranken hat besonders seit der Schrift von Etoc-Demazy**)De la stupidité considerée chez les aliénés. Paris. 1833. (10 Fälle und 4 Sectionen). weitere Beachtung gefunden. Ohne andere wesentliche Störungen kommt das acute Gehirnödem nach den bisherigen Beobachtungen (von Etoc selbst, von Sc. Pinel, Pathol. cérébr. p. 228 seqq. u. A.) in der ausgeprägten Form der Melancholie mit Stupor und Un - beweglichkeit (§. 100. 101. ) vor, und es ist durchaus wahrschein - lich, dass alsdann die durch die seröse Infiltration gesetzte Gehirn - compression der Hauptgruppe jener Symptome zu Grunde liege. Doch muss man sich hüten, sein Vorhandensein in allen diesen Fällen anzunehmen, da auch diese Läsion in einigen, den Symptomen nach durchaus gleichen Zuständen an der Leiche vermisst wurde.

Dieses Oedem besteht in einer serösen Infiltration des Gehirns, vor allem der grossen Hemisphären; ein geringer Grad, der indessen keinerlei characteristische Symptome geben dürfte, ist nur an einer ungewöhnlichen Feuchtigkeit der Hirnsubstanz und dem serösen Glanz der Durchschnittsfläche erkennbar; in höheren Graden ist das Gewebe stark durchfeuchtet, dabei weicher, teigig und die Marksubstanz von matt weisser Farbe. Die graue Substanz namentlich erscheint oft wie angelaufen, schwammig, und lässt auf der Schnittfläche Serum - tröpfchen aussickern. Das Gehirn erscheint dabei comprimirt, die Windungen abgeplattet, fest an einander gepresst, die Ventrikel verengt und fast leer. Es ist kein Zweifel, dass ein höherer Grad dieses Oedems an sich durch allgemeine Erweichung der Substanz und na - mentlich durch Druck tödtlich werden kann, und es entsprechen dem letzteren Zustande in den übrigens nicht besonders häufigen tödtlichen Fällen die Symptome vollständig.

311der Gehirnsubstanz, der Ventrikel.

Man kann dieses acute Gehirnödem als eine accidentelle Folge der Hyperämieen ansehen. Ohne Zweifel entsteht es, wie die Oedeme anderer Theile, am häufigsten aus mechanischen Stasen, und wir vermuthen, dass die mechanischen Hyperämieen, welche in anomaler Herz - und Lungen-Action ihren Grund haben, besonders aber die Circulationshemmungen, welche durch krankhafte Processe am Schädel bedingt werden (§. 139.), seine hauptsächlichsten Ursachen sein mögen, deren Wirkung durch eine seröse Blutbeschaffenheit wesentlich unter - stützt werden muss.

Ein chronisches Gehirnödem, verbunden mit der schon er - wähnten serösen Infiltration der Pia, kann als secundäre, untergeord - nete Störung in dem atrophischen Gehirne der Blödsinnigen (ex vacuo) vorkommen

E. Die Ventrikel und die inneren Theile.

§. 145.

Die einfache Erweiterung der Ventrikel, wobei sie nur mit klarem Serum gefüllt sind, ist gewöhnlich secundär und gehört na - mentlich der Gehirnatrophie an. Von weit höherem Interesse sind auf der ausgedehnten Ventrikeloberfläche und an den zarten Theilen im Innern des Gehirns jene häufigen anatomischen Veränderungen, welche auf eine Entstehung aus denselben subinflammatorischen und exsudativen Processen hinweisen, wie solche auch auf der Peripherie der grauen Rinde vorkommen. Die partielle Verengerung und Ver - kürzung der Ventrikel, namentlich die Verschliessung des Un - terhorns durch Adhäsionen des Ependyma wird schon von Esquirol als ein nicht seltener Befund, von Ferrus*)Gazette medicale. 1836. p. 716. Vgl. die unten erwähnten Fälle von Fr. Arnold und vom Verf. als beim paralytischen Blödsinn vorkommend erwähnt; die Versperrung und Verwachsung des Hinterhorns dagegen ward von Bergmann**)Damerow und Roller, Zeitschr. f. Psychiatrie. 1844. Heft 2. Vgl. auch Bergmann in Nasse’s Zeitschr. f. Anthropologie. 1825. I. p. 173, und in Holscher’s Annalen. III. 1838. p. 516. Ebenso sind damit die Sectionsergebnisse bei Idioten zu vergleichen, welche ein völliges Fehlen der Hinterhörner erwiesen. Hasting’s, Nasse’s Zeitschr. f. psych. Aerzte. 1818. p. 600., wie er sagt in mehren hundert Fällen von chronischer Verrücktheit, also so häufig gefunden, dass er sie zu den eigentlichen pathologischen Ursachen dieser Form rechnet; vollständige Verwachsung des Fornix mit dem hintern312Pathologische Anatomieobern Theil des Sehhügels (mit Hydrops der Ventrikel und chroni - scher Infiltration der Haut) fand Engel*)Oesterreich. Med. Wochenschr. 1841. Nr. 3. bei einem an Delirium tremens Gestorbenen. Von besonderem Interesse scheinen uns die Beobachtungen von Bergmann**)In den angeführten Arbeiten. über die Alterationen, namentlich das Schwinden jener oberflächlichen Fasergebilde, welche die äusserste Schicht der Gehirnsubstanz in den. Ventrikeln (namentlich im vierten und im Aquaeduct) darbietet, wenn wir gleich die Aehnlichkeit dieser Gebilde mit vegetabilischen Formen, mit musikalischen Instrumenten etc. wie auch die von jenem trefflichen Beobachter angedeutete fun - ctionelle Bestimmung derselben höchst problematisch finden.

Durchaus nicht selten finden sich, ohne Zweifel als Producte abgelaufener Exsudativprocesse, sandförmige, papillöse, schimmelartige Excrescenzen und Granulationen der Ventrikeloberfläche (Bergmann, Holscher’s Annalen l. c. p. 551, 553 etc.) mitunter auch aufgelöthete, zuweilen mit Knochenmaterie besetzte Plättchen und Pseudomembranen in den Ventrikeln, letztere namentlich bei Paralytisch-Blödsinnigen***)Z. B. Macquet, annal. med. psych. Mai 1844. p. 464.. Die sogenannten Hydatiden des Gefässplexus sind zu häufig, um für eine wesentliche Alteration gelten zu können; eine eichelgrosse freie Hydatide im rechten Seitenventrikel (neben Ecchymosen der Gehirnoberfläche) fand Devaux†)Nasse, Zeitschr. f. Anthropologie. 1823. II. p. 501. nach nostalgischer Melancholie mit heftigem Kopfschmerz, eine Bildung ziemlich grosser Crystalle von Doppelphosphat in beiden Plexus chorioidei, Bergmann bei einer gei - stesschwachen Maniaca††)Ibid. II. p. 416..

Frische, namentlich weisse Erweichungen der Ventrikelober fläche findet man zuweilen als Todesursache in acuten Fällen; ihre chronische Verhärtung begleitet oft die Ventrikelerweiterung im atrophischen Gehirn (paralytischer Blödsinn).

Was die Hypophysen†††)S. auch Greding, vermischte Schriften. Altenburg. 1781. p. 180. betrifft, so war wiederum von Bergmann schon in dessen früheren Arbeiten††††)Nasse’s Zeitschr. f. Anthropol. 1825. I. p. 173. Holscher’s Annalen l. c. p. 510, 523, 529 etc. eine bedeutende Verdickung und luxurirende Wucherung der Gefässplexus um die Zirbel, zum Theil neben einer fast allgemeinen Hypertrophie der innern Gefässhaut, neben einem Besatze mit Granulationen, einer313der Gehirnsubstanz.Verwachsung der Zirbel mit dem Gefässplexus an der untern Seite des Balkens und dergl. als ein häufiger Befund constatirt worden; in neuester Zeit*)Zeitschr. f. Psychiatrie. 1844. l. c. hat dieser Beobachter nach seinen zahlreichen Untersuchungen die abnorme Gefässumwucherung, Versetzung und Verwachsung der Zirbel als eine der constantesten Alterationen bei chronisch Verrückten den pathologischen Ursachen dieser Form des Irreseins beigezählt.

Auch die so selten mit gehöriger Genauigkeit untersuchte Glan - dula pituitaria liefert bei Irren, wie bei Epileptischen, einzelne Beispiele pathologischer Veränderung: Amelung**)Nasse, Zeitschr. f. Anthropologie. 1824. p. 352. fand sie nach Wahnsinn mit fixen Ideen und Neigung zum Selbstmord in eine dünne, eiterartige Materie verwandelt; F. Arnold***)Bemerkungen über den Bau des Hirns und Rückenmarkes. p. 203. (in dem unten erwähn - ten Fall eines paralytischen Irren) beobachtete Vereiterung ihres hin - teren Lappens.

Das kleine Gehirn hat bis jetzt eine verhältnissmässig geringere Beachtung gefunden; doch beziehen sich Bergmann’s Beobachtungen über die Ventrikeloberfläche Granulation im vierten Ventrikel etc., einmal auch Verwachsung des Hintersegels mit den Mandeln (Holscher’s Annal. l. c. p. 510) noch zu grossem Theile auf das Cerebellum, und Foville gibt an, häufige Verwachsungen der Pia mit seiner Ober - fläche bei einer gewissen Constanz der Symptome während des Lebens gefunden zu haben†)L’inspéction post mortem chez les aliénés m’a permis de constater, un assez grand nombre de fois depuis deux ans, un état pathologique de cet organe consistant en adhérences intimes de sa couche corticale avec les parties corre - spondantes de la pie-mère et de l’arachnoide. C’est quelquefois la seule altéra - tion qu’on rencontre dans l’encéphale de ceux dont le délire avait pour base unique des hallucinations. J’ajouterai que dans bien de cas la maladie du cervelet á laquelle je fais allusion a succédé à l’altération préalable de parthies périphériques des nerfs auditif et trijumeau, comparable à la maladie d’un ganglion lymphatique déterminée par la phlegmasie de quelq’un des vaisseaux qui se rendent à ce ganglion. L’Institut. 16 Janv. 1843. S. oben p. 137.. Ausserdem finden sich auch einzelne seltenere Wahrnehmungen von Erkrankung des kleinen Gehirns bei Paralytisch - Blödsinnigen von Arnold (l. c.), Stolz††)Oestreich. Jahrbücher. März 1844. p. 268. (missfarbiges, teigig erweichtes, mit einem dünnen bräunlichen Brei überzogenes Cerebellum), Lélut†††)Annal. med. psychol. Mai 1844. p. 462. (nussgrosse Geschwulst in der linken Hemisphäre neben Hyperämie, serösem Erguss und leichten Adhäsionen an das grosse Gehirn) etc.

314Pathologische Anatomie.

Wir theilen in Folgendem den von Arnold beschriebenen und einen von uns beobachteten Fall mit, zugleich als Beispiele des mannigfaltigen Zusammen - vorkommens der einzeln angeführten Läsionen.

Bei einem nach früheren Feldzügen und Excessen aller Art zuerst in Schwer - muth, dann in Wahnsinn und Paralyse Verfallenen fand sich der Schädel blut - reich; eine ausgebreitete Pseudomembran an der Innenfläche der Dura; Injection der Pia; Vereiterung des hintern Lappens der Glandula pituitaria: Granulation der Plexus chorioidei und des Septum; Verwachsung des Pes hippocampi beider Seiten mit der Decke des Cornu descendeus. In den vordern Lappen zwischen der grauen und weissen Substanz eine rosige Zwischensubstanz; auf den Vier - hügeln fest anhängende Gefässe. Durchgängige (ödematöse?) Erweichung des ganzen kleinen Gehirns, am stärksten am hintern Theil des obern Wurms; ober - flächliche Adhäsion desselben mit der Pia, deren Gefässe von Blut strotzen; am gezahnten Körper eine rosige Zwischensubstanz; bedeutende Granulationen auf dem Boden der vierten Kammer. Verknöcherungen der Gehirn - und der Körper - arterien; Herzerweiterung.

Im Juli 1844 starb in der hiesigen Clinik an Lungenödem und Herzkrankheit ein 73jähriger Mann, früher Soldat, Branntweintrinker und Gänsehirt in einem be - nachbarten Dorfe. Er hatte an entschiedenem Irresein gelitten, doch können wir hierüber nichts Näheres mittheilen, als dass er sich für einen General hielt, die Gänseheerden als Armeen behandelte, mit denen er operirte, und eine phantastische Uniform trug. Er hatte während seines Aufenthalts in der Clinik Incohärenz der Ideen gezeigt und seine letzten Tage in Halbschlummer mit leichten Delirien zu - gebracht. Wenige, aber grosse Pachion. Granulationen. Auf der Convexität der Windungen des grossen Gehirns die Häute zart, keine Atrophie der Win - dungen; auf den Durchschnittsflächen des grossen Gehirns fast überall ein fein - löcheriges Ansehen. Die Ventrikel collabirt; im rechten nichts Abnormes; im linken Seitenventrikel einige Klümpchen eines gelatinös-albuminös aussehenden Exsudats, sein hinteres Horn ist um einige Linien kürzer, als das des rechten Ventrikels, sein unteres Horn schon oben verengert, weiter unten vollständig verklebt und verschlossen; gleichfalls auf der linken Seite waren zwei Windun - gen der Insula ziemlich atrophisch. Die Meningen des Cerebellum verdickt und an vielen Stellen, besonders um die Mandeln, ebenso in den Zwischenräumen der Blätter mit zahlreichen, in erbsengrossen Häufchen sitzenden, den frischen pac - chionischen ganz ähnlichen Granulationen bedeckt.

§. 146.

Beim Ueberblicke über die erwähnten anatomischen Läsionen des Gehirns mag es vielleicht auffallen, die schweren Degenerationen dieses Organs durch pseudoplastische Neubildungen (Krebs, Geschwülste auf der basis cranii, grosse Gehirntuberkel, Acephalocystensäcke u. dergl. ) zu vermissen. In der That finden sich solche nur selten bei den Kranken der Irrenhäuser. Nicht als ob sie nicht im Stande wären, die tiefsten psychischen Anomalieen hervorzubringen im späteren Krankheitsverlauf solcher Fälle ist vielmehr ein tiefer Blöd -315Ueber einzelne tiefere Entartungen.sinn*)In den letzten Zeiträumen der acuten Meningitis, der Encephalitis, der Gehirnabscesse etc. findet sich gewöhnlich ein so tiefer Blödsinn, wie man ihn nicht beim stumpfsten Idioten sieht. Diese Kranken verhalten sich dann wie Thiere, denen man die grossen Hemisphären weggenommen hat. Die Angabe, dass ein Schnupfen das Seelenleben tiefer zu stören vermöge, als ein Gehirnabscess, ist auf die Beobachtung am Krankenbette im späteren Zeitraum der Abscesse zu verweisen. das gewöhnliche und in den früheren Stadien fehlt es sehr selten an melancholischer Verstimmung oder maniacalischer Erregung. Aber die auffälligsten Symptome sind gewöhnlich nicht diese, sondern vielmehr von Anbeginn an schwere motorische Störungen (Epilepsie, Lähmungen etc.), um so constanter, je mehr jene Krankheitsprocesse die Gehirnsubstanz auch nur in einiger Tiefe befallen, neben denen man die vorhandene psychische Verstimmung, den Gedächtnissverlust etc. als accessorische, weniger zu beachtende Symptome ansieht und ebendesshalb (p. 7) die Krankheit nicht zu den Geisteskrankheiten zählt. In diesem Verhältniss und seinen nächsten Consequenzen liegt die einfache Auflösung des speciösen Widerspruchs, der von Einzelnen der pathologisch-anatomischen Betrachtungsweise zugeschoben wurde, dass ganz leichte anatomische Veränderungen des Gehirns einen Effect (Irresein) haben sollen, den gerade die schwersten und tiefsten Al - terationen nicht haben. Indessen liegen immerhin solche seltenere Wahrnehmungen tieferer Alteration der Gehirnsubstanz aus den Leichen der Irren vor. Beispielsweise kann an einen Fall von Romberg**)Nasse, Zeitschr. f. Anthropol. 1823. III. p. 195., wo sich nach Tobsucht mit Wahnsinn, ohne Lähmung, 4 Hydati - den auf der Gehirn-Oberfläche, sämmtlich mehrere Linien tief in die Corticalsubstanz eindringend, neben Pseudomembranen der Arach - noidea fanden, ebenso an die vorhin erwähnten Fälle von Stolz und Lélut erinnert werden. Gerade weil die anatomischen Alterationen bei Irren in der Regel feinere, nur durch genaue Untersuchung auf - findbare sind, wird so oft bei den Sectionen die Erwartung der mit der Sache wenig vertrauten Aerzte getäuscht, und eben die in der Casuistik allenthalben zum Vorschein kommende ungenaue Beobachtung macht das Einzelstudium der pathologischen Anatomie des Irreseins so ermüdend und verwirrend. Vieles dürfen wir hier von der Zu - kunft hoffen, und namentlich versprechen wir uns durch die zuge - sagte Publication der Bergmann’schen und Foville’schen ausgedehnten Untersuchungen viele neue und interessante Beiträge***)Auch die Berichte über die Sectionen auf dem Wiener Leichenhofe (in Zehetmayer’s Zeitschrift) versprechen ein reichliches Material für die pathologi -. Auch jetzt316Pathologische Anatomie des acuten,aber ist unseres Erachtens kein Grund vorhanden, jenem resignirenden Ausspruche beizupflichten, den Esquirol gegen das Ende seiner ruhm - vollen Laufbahn (a. 1835) that: dass die Sectionen ohne Nutzen ge - wesen seien für die Feststellung der materiellen Bedingungen des Irreseins; schon jetzt lassen sich ihnen für die Theorie, für Diagnose, Prognose und Therapie wichtige Folgerungen entnehmen. Indem wir in Folgendem von seltenen und vereinzelten Wahrnehmungen ganz absehen, und nur die grösseren, constatirten Ergebnisse, die negativen so gut als die positiven im Auge behalten, wollen wir versuchen, die verschiedenen Zustände psychischer Krankheit mit den ihnen am häufigsten entsprechenden anatomischen Ergebnisse resümirend zu - sammenzuhalten. Wir theilen zu diesem Behufe die Fälle von Irresein in drei Categorien, 1) acute, frische Fälle in der Form der Melancholie und Manie, 2) chronische Fälle verschleppter, abgeschwächter Melan - cholie und Manie, Verrücktheit und Blödsinn. 3) Paralytischer Blödsinn.

§. 147.

I. Acutes Irresein.

1) Da eine ziemliche Anzahl dieser Fälle dem Ansehen nach ganz gesunde Gehirne auf den Sectionstisch liefert, so muss beim gegenwärtigen Zustand der Wissenschaft angenommen werden, dass sie ziemlich oft auf einer bloss nervösen Cerebral-Irritation beruhen.

2) Da die Hyperämie des ganzen Gehirns und besonders die einfachen und ecchymosirten Hyperämieen der zarten Gehirnhäute und der grauen Rinde mit ihren nächsten Folgen die häufigste Läsion abgeben, welche sich findet, so ist dieser Zustand für sehr viele Fälle als die anatomische Grundlage der Symptome anzusehen.

3) Diese Hyperämie ist häufig von Verdickung und Trübung der zarten Hirnhäute, dem Resultat einer chronischen Stase begleitet. Dieses Ergebniss mag oft aus denselben Ursachen wie jene Hyperämie selbst hervorgehen, oft aber mag sie das Resultat lange früher vor - ausgegangener congestionirender Momente (s. g. Ursachen des Irreseins, Trunksucht, andauernde Affecte, Herzkrankheiten etc.) sein. Diese Alteration selbst hat begreiflich keine eigenen psychischen Symptome.

4) Durchgreifende, constante Unterschiede zwischen Melancholie und Manie gibt es von anatomischer Seite nicht; aber die Störungen für beide Formen sind desshalb doch nicht ganz die gleichen.

***)sche Anatomie des Irreseins; nur sind sie leider fast ohne Frwähnung der Sym - ptome während des Lebens mitgetheilt.
***)317des chronischen Irreseins.

5) Die Melancholie hat noch häufiger als die Manie gar keine anatomischen Läsionen*)Ausser sämmtlichen oben passim erwähnten Beobachtern stimmen damit auch Bertolini und Bottex überein. ; wo sie solche hat, bestehen sie noch häufiger als in der Manie in blosser Hyperämie, und wo sie nicht in blosser Hyperämie bestehen, ist es vorzugsweise das Gehirnödem, das der Melancholie mit Stupor zukommt und unseres Wissens nie in der Manie beobachtet worden ist.

6) Die Manie zeigt seltener als die Melancholie gar keine Stö - rungen, oder blosse Hyperämieen; die Hyperämieen sind oft tiefer und intensiver (erysipelatose Färbung der ganzen grauen Rinde) und viel häufiger entwickelt sich aus ihnen ein Exsudations - und Mace - rationsprocess, der die Corticalsubstanz, gewöhnlich nur in abgeson - derten Schichten, bald die mittleren, bald die äussersten, erweicht. Dem schnellen Eintritt einer solchen ausgebreiteteren Erweichung entspricht dann der blödsinnige Collapsus vor dem Tode; aber den heftigen Hyperämieen, durch welche die Erweichung zu Stande kam, entsprachen wahrscheinlich die maniacalischen Symptome.

II. Chronisches Irresein.

1) Die Fälle, wo alle anatomische Störung fehlt, sind seltener, ebenso die blossen Hyperämieen; sehr häufig aber wieder die Ver - dickung der zarten Häute.

2) Sehrviele Fälle zeigen Läsionen, welche der vorigen Categorie so gut wie ganz fehlen, nemlich die Atrophie des Gehirns, namentlich der Windungen, die Entfärbung der Corticalsubstanz, die ausgedehnte und durchdringende grössere Härte des Gehirns.

3) Hier kommt auch schon an der oberflächlichen Corticalschicht weit weniger die Erweichung, sondern vielmehr eine schwerere Störung, die oberflächliche hautförmige Verhärtung und die Verwachsung mit der Pia vor; beide allerdings meist nicht sehr ausgebreitet, denn ausgedehnte und rasch erfolgende Entzündungsprocesse hätten schon während des Stadiums der Erweichung zum Tod geführt.

4) In diesen Zuständen, vielleicht aber auch schon in den acuten Stadien, müssen auch leichte oberflächliche Entzündungen auf den Ventrikelwandungen durchaus gewöhnlich sein, da Bergmann ihre Verengerung und Verwachsung bei den chronisch Verrückten so häufig fand. Die Hyperämie scheint nach demselben Beobachter in den inneren Parthieen, namentlich um die Zirbel, stärker und dauernder zu werden.

318Pathologische Anatomie des paralytischen Blödsinns.

5) Die Läsionen, welche dem acuten Irresein vorzugsweise zukommen, finden sich in diesen chronischen Formen nur selten, und die hier häufigsten stellen sich als Folgezustände und letzte Resultate jener hyperämischen und leicht entzündlichen Processe heraus, wie sich die Symptome der chronischen Formen als abge - schwächte Reste der acuten und als wahre Schwächezustände aus - weisen. Auch hier, wie in der inneren, umschriebenen Encephalitis oder in der Myelitis entspricht dem ersten hyperämischen und in Exsudation erst übergehenden Stadium eine Irritationsperiode, dem Stadium der fix gewordenen Degeneration oder gar einer geschehenen Decomposition des Gewebes ein Stadium der Lähmung (des Blödsinns).

6) Jene erwähnte Atrophie des Gehirns, welche sich in so vielen Fällen schon vom blossen Ansehen ergibt, ist aber in Wahrheit noch viel öfter vorhanden. Die genauen Wägungen des Gehirns von Parchappe*)l. c. p. 142 seqq. ergaben eine Gewichtabnahme des Gehirns im Mittel für die entschiedene Mehrzahl der Fälle und ein sehr merkwürdiges Fortschreiten dieser Volumsverminderung in geradem Verhältniss zu der Tiefe und Intensität der psychischen Schwäche**)Die früheren Untersuchungen über das specifische Gewicht des Gehirns von Meckel (Histoire de l’acad. roy. des sciences. Berl. 1764. Vol. 20.) und Leuret und Mitivié (de la fréquence du pouls chez les aliénés. Par. 1832.) sind ohne Werth..

III. Paralytischer Blödsinn.

1) Auch hier sind noch einzelne Fälle von Abwesenheit jeder Läsion angegeben; sie sind indessen in ihrer vollständigen Isolirtheit verdächtig.

2) Die sehr grosse Mehrzahl dieser Fälle bietet nach den besten Beobachtern übereinstimmend (Calmeil, Bayle, Parchappe***)In den 86 Fällen von Parchappe fand sich tiefe und ausgebreitete Er - weichung der Rindensubstanz jedesmal. l. c. p. 249., Sc. Pinel) als die häufigsten Läsionen eine tiefe Erweichung und Decomposition der grauen Rindensubstanz mit festen Adhäsionen der Pia an der - selben dar, so häufig übrigens (nach Delaye, Foville und Parchappe) mit gleichzeitiger ausgedehnter Verhärtung der weissen Substanz, dass die Frage, welche dieser beiden Alterationen speciell die nächste Ursache der Lähmung sei, noch offen bleiben muss.

3) Neben jener Erweichung findet sich häufig genug ein weiterer319Resumé der pathologischen Anatomie des Gehirns.Folgezustand derselben, nemlich die Verhärtung auf der oberflächlichen Schichte der Rinde.

4) Die Atrophie des Gehirns, namentlich der Windungen ist dabei sehr häufig, nebst ihren weiteren Folgen, der reichlichen serösen Infiltration der Meningen ex vacuo, der Erweiterung der Ventrikel etc. Vielleicht ist gleichfalls die Verminderung des Schädelinhalts Schuld an den hier sehr häufigen Blutergüssen (Cysten und Pseudomembranen) im Sacke der Arachnoidea.

5) Auch in diesen Fällen scheint nicht selten gleichzeitig mit den pathologischen Vorgängen auf der grauen Rindenoberfläche auch die innere Ventrikeloberfläche krankhaft afficirt zu sein; dies wird bewiesen durch die nicht selten vorfindige Verhärtung der Ventrikel - wandungen und die vorhandenen Granulationen und pseudomembranösen Producte auf derselben.

Aus dem Bisherigen dürften sich folgende allgemeine Schlüsse ergeben:

a) Das Irresein kann sowohl in seinen acuten als chronischen Formen das Ergebniss einer blos nervösen Irritation sein.

b) Häufiger aber ist es dies nicht, sondern vielmehr Symptom anatomischer Läsionen, und zwar hyperämischer und exsudativer Processe, welche meistens zuerst in der Pia und der Gehirnrinde auftreten, in verschiedene Tiefen der Gehirnsubstanz eindringen, und wenn sie nicht rückgängig werden, mit incurabler Destruction des Gewebes, Atrophie und Verhärtung der Gehirnsubstanz endigen, denen die Symptomengruppe des Blödsinns entspricht.

c) Wie von der oberflächlichen Pia und der äusseren Gehirn - rinde, so scheint in vielen Fällen ein hyperämischer und leicht ent - zündlicher Process auf der Pia der Ventrikel und der innern Gehirn - oberfläche vor sich zu gehen. Es ist bis jetzt unmöglich, die Symptome dieser und der vorigen Läsionen irgendwie zu unterscheiden.

d) Die Symptomatologie ist noch nicht so weit, um im einzelnen Falle die An - oder Abwesenheit anatomischer Störungen sicher diagno - sticiren zu können; aber die gegebenen Expositionen bieten Grundlagen für einen annähernden Calcul der Wahrscheinlichkeitsdiagnose, auf den man in gleicher Weise bei vielen andern Krankheiten (z. B. des Unterleibs) beschränkt ist.

e) Für das anatomisch-diagnostische Urtheil so gut, wie für das prognostische, ist die An - oder Abwesenheit schwerer motorischen Störun - gen, namentlich der Paralyse, das zuerst zu berücksichtigende Moment.

320

Zweiter Abschnitt. Pathologische Anatomie der übrigen Organe.

§. 148.

Wir haben uns hier nur auf die in practischer Beziehung wich - tigsten oder theoretisch interessantesten pathologischen Veränderungen der übrigen Organe zu beschränken, einmal, insofern sie am häufigsten zu Todesursachen bei Irren werden und überhaupt grösseren clinischen Werth haben, andrerseits so weit sie überhaupt in einer gewissen Regelmässigkeit mit jenen Gehirnkrankheiten zusammentreffen, oder so weit sie mit diesen in einem einsichtlichen pathologischen Zu - sammenhange stehen. So wichtig alle solche Veränderungen dem Arzte sein müssen, so mannigfaltige Missverständnisse sind auch durch ihre einseitige Hervorhebung der Theorie des Irreseins erwachsen. Hatte man irgend einmal gelesen, dass bei einem Irren sich eine kranke Milz oder eine verhärtete Leber gefunden, so sollten nur derlei Erkrankungen ohne Weiteres als körperliche Bedingungen der Geistes - krankheiten angenommen werden, und es ward aus allenthalben zusammengerafften Notizen eine Lehre von der psychischen Bedeutung der Eingeweide aufgebaut, welche von der Beobachtung alle Tage widerlegt wird. Es unterliegt aber keinem Zweifel, dass Geisteskranke an allen, in jeder Hinsicht gleichen acuten oder chronischen Krank - heiten sterben können wie die übrigen Menschen, und die nachfol - genden Bemerkungen können nur zur Ergänzung der betreffenden §§. der Aetiologie benützt werden.

Eine erste und wichtige, hierher gehörige Frage wäre die, ob gewisse Blutbeschaffenheiten, wie sie sich aus dem Ansehen des (während des Lebens gelassenen oder) in der Leiche vorfindigen Blutes oder aus gewissen Erscheinungen am Lebenden mit Sicherheit erschliessen lassen, bei Geisteskranken besonders häufig vorkommen , eine an sich nicht unwahrscheinliche Vermuthung, da nach neueren Untersuchungen manche acute Affectionen des Gehirns und seiner Häute eine der beim Typhus beobachteten Crase ganz ähnliche Blut - beschaffenheit zu erzeugen vermögen*)Dickflüssiges, klebriges, schwarzrothes Blut, kleiner, lockerer Blutkuchen etc. Engel, Zeitschr. d. k. k. Gesellschaft der Aerzte zu Wien. I. 9. p. 227.. Allein auch hierüber darf man bei der Mehrzahl der Irrenärzte kaum zerstreute und dürftige Notizen erwarten, da so viele dieser Aerzte über den Discussionen321Anomalieen der Blutmasse. Ohren-Entzündung.um Fenster und Thüren, Speisekarten und Wascheinrichtungen ihrer Anstalten keine Zeit zu strengeren pathologischen Untersuchungen finden können. Dass anämische Zustände durchaus nicht selten sind, dass sie mitunter dem Irresein vorausgehend, in einem offenbar ätiologischen Verhältnisse zu ihm, wie zu andern Gehirnkrankheiten stehen können, ist schon oben erwähnt (p. 140). Es ist uns aber auch wahrscheinlich, dass es secundäre anämische Zustände in pathogene - tischem Zusammenhange mit Geisteskrankheiten gibt; ganz besonders beim paralytischen Blödsinn tritt nach unserer eigenen Beobachtung nicht ganz selten ein solcher ein, mit wachsweisser Entfärbung der allgemeinen Decken und auffallender Gedunsenheit, ähnlich wie in der Chlorose. Wir sind geneigt, diese mehr chronischen Vorgänge jener interessanten Beobachtung Rokitansky’s anzureihen, welcher in Folge von Gehirnerschütterung und traumatischer Erkrankung des Gehirns eine bei bestehender Körperfülle sehr auffallende Consumtion der Blutmasse (Anämie) beobachtete (Patholog. Anatomie. II. p. 778). Eine directe Bestätigung finden wir in der von Thore (Annales med. - psychol. Juli 1844. p. 40) gegebenen Notiz, dass das aus der Ader gelassene Blut bei den Paralytisch-Blödsinnigen sogar bei Pneu - monie im Durchschnitt eine seröse Beschaffenheit und einen consistenzlosen Blutkuchen zeigte.

Doch sind in Bezug auf solche Blutveränderungen immer dieje - nigen schädlichen Momente sorgfältig in Anschlag zu bringen, welche der Aufenthalt in einzelnen grossen Irrenanstalten mit sich bringt schlechte Ernährung, Mangel an Bewegung, Anhäufung vieler in enge Räume zusammengepackter Kranken etc. Hierdurch vor Allem scheinen jene leichteren oder schwereren scorbutischen Affectionen bedingt zu werden, die in einzelnen französischen Irrenanstalten, wie auch in Gefängnissen, auf Schiffen etc. zur beständigen Plage der Kranken und zu einer nicht seltenen Todesursache werden.

§. 149.

Unter den bei Geisteskranken häufiger vorkommenden Local - affectionen haben wir zuerst der bekannten Erkrankung des äusseren Ohrs zu erwähnen, die gewöhnlich unter dem Namen des Erysipels des äusseren Ohrs aufgeführt wird. Die Haut der Ohrmuschel schwillt an, wird glatt, gespannt und zeigt eine undeutliche Fluctuation; das ganze Ohr wird dicker, blauroth, heiss und schmerzhaft. Beim Einschnitt findet man eine mit halb gestocktem, halb wässrigem Blut gefüllte Höhle, welche sich nach der Eröffnung bald wiederGriesinger, psych. Krankhtn. 21322Pathologische Anatomiefüllt. Zuweilen entleert sich auch die Höhle durch entstandene Risse von selbst. (S. Bird, Gräfe und Walther’s Journal. 1833. 19. Bd. Hft. 4.) Meist wird nach wenigen Wochen die Geschwulst und Röthe geringer, es bleibt eine stärkere oder mässigere Verdickung der befallenen Stelle zurück Belhomme wollte den Knorpel hypertrophisch, Cossy (Archives générales etc. 1842. XV. p. 290) eine Knorpellamelle neuer Bildung gefunden haben der oft später ein Schrumpfen und eine bleibende Missstaltung der Ohrmuschel folgt. Dass diese Erkrankung, wie in neuerer Zeit angegeben wurde, immer als Folge zufälliger Verletzungen (Anstossen des Kopfs an die Bettpfosten, Zerren am Ohr als disciplinarische Massregel grausamer Wärter etc.) vor - komme, ist uns nicht wahrscheinlich, da sie wenigstens vorzugsweise häufig in einem gewissen Stadium des Irreseins, nämlich dem Uebergang der Manie in den Blödsinn, vorkommt, (Neumann, die Krankheiten des Menschen. IV. Band. 2te Ausgabe. 1838. p. 219) desshalb auch im Durchschnitt sehr ungern gesehen wird. Die näheren Bedingungen der Entstehung dieser Affection scheinen uns derzeit ganz dunkel, und wir vermögen in der allerdings merkwürdigen Formähnlichkeit des äussern Ohrs mit den Schädel-Umrissen (Foville, Anat. d. syst. nerv. Atlas. Pl. XXIII. fig. 5. Text p. 640) keinerlei Schlüssel zur Aufklärung dieses Verhältnisses zu finden.

§. 150.

Unter den übrigen organischen Alterationen, welche man in den Leichen der Irren findet, stehen wegen ihrer ausserordentlichen cli - nischen Wichtigkeit und häufigen Tödtlichkeit die Veränderungen der Brustorgane oben an.

I. Abnormitäten der Respirationsorgane. Unter diesen sind die wichtigsten die Pneumonie, der Lungenbrand und die Tu - berculose. Der Lungenhepatisation erliegen eine Menge Geistes - kranker, am meisten die heruntergekommenen, deteriorirten Constitu - tionen, namentlich viele Paralytisch-Blödsinnige. Calmeil fand sie in einem Fünftel, Aubanel und Thore in einem Siebentel der Todesfälle. Wie man es in Spitälern für Greise beobachtet, so kommen auch bei den Irren, namentlich in der kalten Jahreszeit, viele schnelle Todesfälle an dieser Krankheit vor. Wer bei solchen Kranken während des Lebens das ältere Compendienbild der Pneumonie erwarten wollte, würde sich sehr täuschen. Frost wird selten beobachtet und ebenso selten Husten, Auswurf oder Schmerzen, Dyspnoe dagegen ist meist in höherem oder geringerem Grade vorhanden; das323der Brustorgane.Einzige, was die Diagnose sichert, ist natürlich die Anwesenheit der physicalischen Zeichen. Daher ist es, sobald überhaupt ein Geistes - kranker Zeichen eines neuen Unwohlseins gibt, den Appetit verliert, Durst, Zungenbeleg und eine grössere Pulsfrequenz zeigt, immer die erste, unverbrüchliche Regel, die Brust genau durch Percussion und Auscultation zu untersuchen. Der Verlauf der Pneumonie ist, besonders bei den Paralytischen, gewöhnlich rapid und die Therapie noch unglücklicher, als bei der Pneumonie der Greise. In anato - mischer Beziehung haben diese Fälle natürlich nichts Eigenthümliches.

Die Lungengangrän, die man auch schon zuweilen in Ge - fängnissen plötzlich in grösserer Häufigkeit vorkommen sah, (S. Mosing, Lungenbrand als Epidemie. Oestreich. Jahrb. April und Mai 1844.) ist in ihrem Vorkommen bei Geisteskranken erst seit Guislains Arbeiten näher gekannt und gewürdigt. (Mémoire sur la gangrène des poumons chez les aliénés. Gaz. medic. 1836. und in den Phrenopathieen.) Guislain beobachtete die Lungengangrän fast ausschliesslich bei Kranken, welche die Nahrung verweigert hatten und an Inanition gestorben waren, bei diesen aber auch sehr häufig (9mal unter 13 solchen Todesfällen). Er hält bei diesen Kranken, deren Einige 20 bis 60 Tage, fast blos Wasser trinkend, gelebt hatten, die Blutverarmung, eine Art scorbutischen Zustands, für den primitiven Zustand und auch für die eigentliche Ursache der Gangrän; eine dunkle, ziegel - rothe, braunrothe, später cyanotische Färbung der Wangen erwies sich ihm als ein wichtiges Zeichen während des Lebens. Es waren meist Kranke, welche eine Herabsetzung der allgemeinen Sensibilität, Gleichgültigkeit gegen Kälte, Hitze und Schmerz zeigten, lange in die Sonne sehen konnten, ohne zu blinzeln u. dergl. Weder Brust - schmerz, noch Husten, noch Dyspnoe oder Fieber waren vorhanden, der Puls war meist etwas verlangsamt andere Beobachter (Thore) fanden ihn beschleunigt und die Hauttemperatur gesunken; während doch bei Nicht-Irren der Lungenbrand gewöhnlich mit sehr heftigen Symptomen verläuft. Es scheint sowohl der umschriebene als der diffuse Brand vorzukommen; 7mal in den 9 Fällen Guislains war die linke Lunge ergriffen; in keinem Falle war die, dem Symptom der Nahrungsverweigerung von Einzelnen vindicirte Gastritis vorhanden. Auch andere Beobachter haben die Lungengangrän gefunden; in 2 Fällen von Ferrus (Gazette medic. 1836. p. 715) war daraus Pneumo - thorax entstanden; Calmeil, Webster und Thore sahen sie gleichfalls. So viel geht aus diesen Beobachtungen mit Sicherheit hervor, dass die Krankheit durchaus nicht auf die Fälle von Nahrungsverweigerung21 *324Pathologische Anatomiebei Melancholischen beschränkt ist, sondern namentlich auch bei Paralytisch-Blödsinnigen, welche gierig essen, vorkommt (Thore, des maladies incidentes des aliénés. Annal. med. -psycholog. Septbr. 1844. p. 182 seqq.) und wir halten die Ansicht Foville’s, dass die Krankheit mitunter durch Absorbtion von Brandjauche aus einem Decubitus entstehe, für gegründet. Die Diagnose ist, wo nicht brandig stin - kender Athem und Auswurf vorhanden sind, ausserordentlich misslich, bei kleinen Brandheerden auch einer präcisen, physicalischen Diagnostik unerreichbar.

XLIV. Schwermuth nach psychischen Eindrücken. Speisever - weigerung Tod. Gangraena pulmonum. Während unserer letzten po - litischen Unruhen ward eine 54jährige Dame von empfindlichem Charakter, die bis daher ein ruhiges Leben geführt hatte, lebhaft betroffen von dem Anblick einiger Bewaffneter, die sich unter ihrem Fenster schlugen. Der heftigen Er - schütterung folgt schnell eine Geistesverwirrung, und mehrere Tage vergehen, bis man bemerkt, dass sie keine Speise zu sich nimmt. Drei, fünf, neun Tage verstrichen unter Zureden ihrer Familie; man richtet tausend Fragen an sie, man bietet ihr alle möglichen Gerichte an, aber nichts kann ihren Widerwillen besiegen. Ein herbeigerufener Arzt lässt 15 Blutegel an die Magengrube setzen. Der tiefe Verfall ihrer Züge, ihre Abmagerung, ihre Melancholie, die immer schwerer ge - worden, machten die Familie besorgt, und sie trat in unsere Anstalt am 4. Februar 1831. Ich erkannte eine Speiseverweigerung schon an ihrer Gesichtsfarbe: meine Nachfragen ergaben, dass Madame B. innerhalb der letzten 4 Wochen nur einige Milchsuppen und etwas leichte Fleischbrühe zu sich genommen. Das Ge - sicht hatte eine ziegelrothe Färbung, an den Wangen, der Nasenspitze, den Ohr - läppchen braun; die Pupille war erweitert und das Weisse des Auges war glän - zend mit einem Stich ins Blaue; die Haare, die nach der Aussage der Ver - wandten immer geschmeidig gewesen, waren seit einigen Tagen ausserordentlich trocken und zeigten eine Verfärbung, die man auch an der Iris wahrzunehmen glaubte.

Nur mit Mühe kann man ihr einige Löffel voll Fleischbrühe beibringen; die Kranke, welche ausserordentlich stark ist, wehrt sich kräftig gegen die Diener und die Melancholie geht in Manie über. Die Abmagerung macht entsetzliche Fortschritte; das Gesicht wird braun, die Lippen werden etwas livid, und bald zeigen Hände und Füsse, besonders an den Phalangen ein wahrhaft cyanotisches Aussehen. Die Kranke weist die Nahrung immer hartnäckiger zurück; sie wird starr, und bald tritt ein extatischer Zustand zu den Symptomen der Schwermuth. Kaum gelingt es von Zeit zu Zeit, ihr eine Tasse Milch oder Bouillon heizu - bringen, und um ihren Widerstand zu besiegen, nimmt man seine Zuflucht zum Drehstuhl, aber ohne Erfolg.

Ihr Athem wird unerträglich stinkend; der Auswurf war braun mit hellrothen Streifen; er ward nach einigen Tagen copios, aber nicht wirklich eiterig, sondern jauchig. Das Gesicht war nun so verfallen, dass die Kranke von hohem Alter zu sein schien. Ihr Leben erlosch langsam; von Zeit zu Zeit hatte sie etwas Nahrung zu sich genommen und in den letzten Tagen nahm sie alle Speisen, die man ihr anbot.

325der Brustorgane.

Bei der Leichenöffnung fand sich am Gehirn und an den Gehirnhäuten keine bemerkbare Veränderung. Die Unterleibseingeweide zeigten keine Spur von Ent - zündung, der Magen durchaus keine Injection; er war nicht einmal zusammen - gezogen. Die Gallenblase war mit einer sehr schwarzen Galle gefüllt, und die Milz und die Blutgefässe des Gekröses enthielten ein Blut, dessen ausserordent - lich dunkle Färbung mir den Ausspruch des berühmten Haller hierüber bestätigte.

Als ich nach Oeffnung der Brusthöhle die linke Lunge aufhob, drangen meine Finger in deren Substanz ein, und ein unerträglicher Gestank aus diesem Risse nöthigte mich, einen Augenblick die Untersuchung zu unterbrechen. An ihrer hintern Seite, am obern Lappen zeigte die herausgenommene Lunge eine ganz schwarze, mit grünen und braunen Flecken übersäte Oberfläche. Ein Einschnitt in diesen Theil zeigte mir eine ausserordentliche Zerreisslichkeit des Gewebes. Eine blutige, schwarze, stinkende Brühe, ähnlich der Flüssigkeit in einem bran - digen Glied, war in das Lungengewebe ergossen; hie und da mit einigen eitrigen Flocken. Beim Schaben mit dem Skalpell bedeckte sich die Klinge mit einer braunen, klebrigen und faulen Masse; lividrothe Streifen durchzogen das Gewebe nach allen Richtungen; innen setzte sich die Zersetzung buchtig in die Lunge fort. Das ganze brandige Stück hatte ungefähr die Ausdehnung einer abgeplat - teten Kugel von 5 Zoll Durchmesser. Die Bronchien waren mit einer röthlichen, schäumenden und stinkenden Flüssigkeit gefüllt; die rechte Lunge war gesund.

(Guislain, Mémoire sur la gangrène des poumons chez les aliénés. Ga - zette medicale. 1836. p. 341.)

Die Häufigkeit der Lungenphthise unter den Geisteskranken wird von Lorry bis heute von den Beobachtern bestätigt, wiewohl es allerdings an dem strengen statistischen Beweise dafür gebricht, dass ihre Frequenz wirklich ansehnlich grösser sei, als unter andern ähnlichen Verhältnissen (Zusammenleben in Anstalten etc.).

Esquirol gibt über ein Drittheil seiner Melancholischen als phthisisch an; Calmeil fand Tuberculose in , Webster in ¼, Sc. Pinel in der angestellten Sectionen; in einzelnen Anstalten, z. B. in Bicêtre, wird ihr seltenes Vorkommen ausdrücklich bemerkt. (Thore, l. c.)

Nicht nur ihrer Tödtlichkeit wegen ist die Lungentuberculose bei Geisteskranken wichtig; sie ist sicher auch von wesentlichem pa - thogenetischem Moment. Man sieht ihre Entwicklung häufig dem Irresein vorangehen; namentlich scheint die Störung der Circulation und Respiration, die sich aus stärkeren oder rascheren Tuberkelab - sätzen oder aus der Zerstörung der Lunge ergibt, wesentlich zur Entstehung der Gehirnkrankheit Anlass zu geben (Vgl. p. 142).

Der Verlauf dieser Tuberculosen zeigt zuweilen manches Abwei - chende vom Gewöhnlichen, namentlich mitunter einen auffallenden Wechsel in der Intensität der Symptome der Lungen - und der Ge - hirnstörung, so dass mit der scheinbaren Besserung auf der einen326Pathologische AnatomieSeite eine Verschlimmerung auf der andern zusammenfällt. Indessen ist dieser Wechsel nicht nur durchaus inconstant, sondern auch ge - wöhnlich bloss scheinbar; die subjectiven Symptome des Lungen - leidens treten bei tieferer psychischer Störung und dadurch ganz abgewandter Aufmerksamkeit zurück, während der Process wie die objectiven, physicalischen Zeichen beweisen seine Zerstörungen ausdehnt.

Ebenso unrichtig ist die Angabe, dass das Delirium der tuber - culosen Irren irgend welchen specifischen Charakter habe.

Alle übrigen Alterationen der Respirationsorgane kommen auch bei Geisteskranken vor. Die Pleuritis wurde von Sc. Pinel 7mal unter 135, von Thore 8mal unter 76 Sectionen beobachtet, die Lungen - apoplexie (?) von Jessen*)Jakobi und Nasse, Zeitschr. I. p. 677. 6mal etc. Lungenhypostase macht auch hier den häufigen Beschluss eines langen Krankenlagers etc. Alle diese Affectionen aber sind hauptsächlich nur bemerkenswerth in Betreff der Aufmerksamkeit, welche ihre Diagnose während des Lebens erheischt.

2) Abnormitäten des Herzens. Bedenkt man einerseits das so gewöhnliche Vorkommen heftiger und dauernder Angstempfin - dungen bei Herzkranken, andrerseits die im Verlaufe dieser Krank - heiten häufigen Gehirncongestionen (theils activ, bei Hypertrophie des linken Ventrikels, theils mechanisch, vom rechten Herzen aus), so hat es nichts Auffallendes, wenn die Beobachter über die grosse Häufigkeit der Herzkrankheiten bei Geisteskranken übereinstimmen. Nasse hat solche Fälle aus der älteren Literatur zusammengestellt**)Zeitschr. f. psych. Aerzte. 1818. I. 1.; die neueren Beobachter differiren zwar sehr in den Zahlenverhält - nissen (Esquirol fand sie nur bei 1 / 15 seiner Melancholischen, Webster bei , Bayle bei , Calmeil und Thore***)S. die mehrfach citirten Schriften von Esquirol etc. und die angeführte Arbeit von Thore. fast bei , Foville†)Dictionnaire en XV vol. Art. Alién. p. 555 sogar bei ihrer Sectionen), hegen aber keinen Zweifel an der Wichtigkeit dieser Alterationen; die Bedeutung dieser organischen Erkrankungen sowohl als der functionellen Abweichungen in der Herz - thätigkeit scheint auch uns (s. oben p. 141) sehr hoch anzu - schlagen. Unter den anatomischen Läsionen finden sich nach den obigen Beobachtern nur sehr wenige frische, als Todesursache zu betrachtende, vielmehr fast durchaus die bekannten chronischen Klap - penveränderungen mit den Resultaten der Insufficienz und Stenose der327der Unterleibs-Organe.Mündungen, ausgedehnte pericarditische Verwachsungen, die Hypertro - phieen, Erweiterungen der verschiedenen Herzabschnitte, der Aorta etc. Sie während des Lebens näher zu erkennen, ist begreiflicherweise nur nach den Regeln einer genauen physicalischen Diagnostik möglich.

§. 151.

3) Abnormitäten in den Unterleibsorganen. Unter den acuten, organischen Erkrankungen, an denen die Irren sterben, ist nächst der Pneumonie die Enteritis am häufigsten und wichtigsten. Sie besteht in einem oft rasch entstandenen und ebenso rasch ver - laufenden Catarrh eines grösseren Abschnitts des Darms, häufig mit Folliculargeschwüren, oder in einem exsudativen Processe mit Locke - rung, Maceration und ausgedehnter Erweichung der Schleimhaut, welche sich wie ein blutiger Brei abstreifen lässt (das Letztere vor - zugsweise im Ileum). Jene Catarrhe sind die Grundlage der colliquativen Diarrhöen, deren Eintritt bei heruntergekommenen, geschwächten Kran - ken mit Recht so gefürchtet, gegen welche die Therapie so vergeblich aufgeboten wird; den Erweichungsprocess des Ileum haben wir auch ohne Diarrhöe verlaufen sehen. Durch diese Krankheiten werden besonders die Paralytisch-Blödsinnigen, aber auch nicht wenige Me - lancholische und Maniaci hingerafft. Ihre Ursachen sind durchaus dunkel; in manchen Anstalten mag der Missbrauch der Purganzen zu ihrer grössern Häufigkeit beitragen. Ihre Diagnose ist schwierig; Appetitlosigkeit, schneller Verfall der Kräfte und Diarrhöe sind immer noch die constantesten Erscheinungen. Ihr häufiges Vorkommen macht eine sorgfältige Betrachtung des durch den Stuhl Entleerten unter allen etwas verdächtigen Umständen zur Pflicht.

Verengerung des Dickdarms ist besonders von Bergmann*)Nasse, Zeitschr. f. psych. Aerzte. 1821. III. p. 100 seqq. als ein häufiger und wichtiger Leichenbefund angegeben worden. Manche dieser Fälle mögen indessen nichts Krankhaftes, sondern nur jener so häufig vorfindige Zustand von Zusammengezogensein des Dickdarms gewesen sein, wie man ihn in einer überaus grossen An - zahl von Leichen findet; Andere mögen vielleicht die Ergebnisse einer Schrumpfung des Darms nach längeren catarrhalischen Processen ge - wesen sein. Verstopfung, Gefühl von Schwere und Härte im Bauch, auch Erbrechen kamen während des Lebens vor; der psychische Zustand soll sich durch vorwaltende hypochondrische und melancho - lische Ideen (Wahn, ein Thier im Bauch zu haben, Unruhe, Argwohn, Wahn eines begangenen Verbrechens) ausgezeichnet haben.

328Pathologische Anatomie

Die veränderte Lage des Colon ward besonders von Esquirol (Journal de médec. 1820. Bd. 62. 63. und im ersten Band der Geistes - krankheiten, und Bergmann l. c.) als häufig bei Geisteskranken vor - kommend gewürdigt. Die Sache besteht meist darin, dass das Quer - colon, in seiner Mitte oder mit seiner linken Hälfte bis in die Regio hypogastrica, hinter die Symphysis oder selbst ins Becken herabge - sunken ist und dann wieder steil gegen die Milz heraufsteigt. Sie soll besonders bei Melancholischen vorkommen, und als Ursache der ziehenden, spannenden Bauchschmerzen, woran diese Kranken zu - weilen leiden, gelten. Ihr nicht seltenes Vorkommen bei Nicht-Irren steht ausser Zweifel; ihre Ursache ist nicht gehörig bekannt; der Darm wird meist leer und sonst von normaler Beschaffenheit gefunden. Die Meisten sehen sie als eine ursprüngliche regelwidrige Länge des Dickdarms an; Georget*)Dictionnaire en 25 vol. Tom. XIII. Art. Folie. p. 302. will sie von Erschlaffung des Peritoneum herleiten.

Als weitere Störungen in der Bauchhöhle sind zu erwähnen: in erster Reihe die Hypertrophie der Gangliennerven, welche in einzelnen Fällen gefunden wurde, so von Rokitansky (II. p. 871) beträchtliche Volumsvermehrung der centralen Bauchganglien in einem Fall von eminenter Hypochondriasis neben allgemeiner Tabes; dann Anomalieen der Eingeweide: der Vorfall des Mastdarms, den Bergmann oft bei Blödsinnigen mit sehr träger Darmfunction entstehen sah; der Magen - krebs (Esquirol sah ihn bei einer Frau, welche glaubte, ein Thier im Magen zu haben), die alten peritonitischen Adhäsionen und Darm - Verwachsungen, wo gleichfalls die dunkeln, schmerzhaften Empfin - dungen den Stoff zu einzelnen Delirien abgeben können (eine derartige Kranke Esquirol’s gab an, den Pontius Pilatus, alle Personen der ganzen Bibel und ein Concil von Päpsten, eine Andere, mehre Teufel im Bauche zu haben) etc. Die fremden Körper im Darmcanal, z. B. Kieselsteine in einzelnen Beispielen in unglaublicher Menge verschlun - gen, verschluckte ganze Löffel und dgl. ; die organischen Erkrankun - gen der Leber, des Pancreas (das letztere von Jessen häufig erkrankt gefunden, namentlich bei Kranken, die viel salivirten)**)Jakobi und Nasse, Zeitschr. I. 1838. p. 682.; die Entozoen des Darms, zuweilen an ganz ungewohnten Orten***)Hayner (Nasse, Zeitschr. f. psych. Aerzte. 1818. Heft 4.) erzählt den Fall eines Kranken, der verhungern zu müssen glaubte, und über etwas Leben - diges in der Magengegend klagte, das von da in den Schlund heraufstiege. Man fand in den Gallengängen der Leber 7 todte Spulwürmer, einen achten; Krankheiten329der Unterleibs-Organe.der Mesenterialdrüsen (Bonet will bei einer Irren, die drei Frösche im Unterleib zu haben meinte, an derselben Stelle drei scirrhöse Drüsen gefunden haben) etc. Endlich sind als wichtige Anomalieen die Erkrankungen (Prolapsus, Hypertrophieen, krebsige, hydatitöse De - generationen etc.) der männlichen und weiblichen Genitalien, gleichfalls in einem oft sichtbaren Zusammenhange mit dem Inhalt des Deliriums zu erwähnen*)S. oben p. 146, 185 u. a. a. O.. Solcherlei Fälle, freilich nicht immer mit der nöthigen Critik und pathologischen Genauigkeit erzählt, hat sowohl die ältere als neuere psychiatrische Literatur in grosser Anzahl auf - zuweisen**)Vgl. z. B. die Schrift von Buzorini über die körperlichen Bedingungen der Geisteskrankheiten. Ulm. 1824.; ausser ihres theoretischen Interesses fordern sie vor Allem den practischen Irrenarzt zu einer möglichst genauen Durch - forschung aller der Diagnose überhaupt zugänglichen Organe auf.

***)halb im Duodenum, halb im Duct. choledochus steckend, und 30 36 Spulwürmer im Duodenum selbst. In einem andern Falle von schnell entstandener Tobsucht fand man einen Spulwurm im Ductus choledochus und einige andere im Duodenum.
***)
[330]

FÜNFTES BUCH. Die Heilbarkeit und Heilung der psychischen Krankheiten.

Erster Abschnitt. Prognostik.

§. 152.

Zweierlei Fragen kommen bei der Prognose der psychischen Krankheiten in Betracht, einmal, ob der vorhandene Krankheitszustand das Leben gefährdet, zweitens, ob und in wie weit bei Fortdauer des Lebens eine Genesung von der psychischen Störung zu hoffen sei.

Die Beantwortung der ersten Frage hängt oft mehr von der Anwesenheit anderweitiger, nach bekannten Regeln zu beurtheilender Krankheitsprocesse (Tuberculose, Darmcatarrhe etc.), als von dem Stande der Gehirnkrankheit ab. Unter diesen Gehirnkrankheiten selbst aber stehen an Gefährlichkeit oben an die tieferen Degeneratio - nen in der Schädelhöhle mit dem Symptomencomplexe des paralytischen Blödsinns (vergl. p. 285); sie gestatten höchstens eine noch ein - bis dreijährige, oft bei weitem nicht so lange Lebensdauer. Von ungünstiger Prognose sind weiter jene ausgebreiteten und intensen Gehirnhyperämieen, welche der Tobsucht zuweilen permanent zu Grunde liegen, noch öfter intercurrirend während derselben auftreten; sie können sich schnell zu acuter Erweichung der Rindensubstanz steigern oder auch seröse Ergüsse, Blutextravasate u. dgl. mit schnellem331Lethalität der psychischen Krankheiten.tödtlichem Ausgange setzen. Auch das Gehirnödem, namentlich das schnell entstandene oder sehr lange fortdauernde kann zur Todes - ursache werden; ebenso gehört in den melancholischen Zuständen eine lange andauernde Nahrungsverweigerung (§. 174) zu den lebens - gefährlichen Ereignissen. Ueberhaupt ist die Gefahr eines tödtlichen Ausgangs weit grösser in den ersten Stadien, innerhalb der Formen der frischen Manie und Melancholie, als in jenen Zuständen chronisch gewordener Irritation oder mässiger, aber unheilbarer anatomischer Veränderung des Gehirns, welche die Formen der chronisch fixir - ten, verschleppten Manie oder Schwermuth mit dem Character geistiger Schwäche oder die Form der Verrücktheit abgeben; diese abgelaufenen, nur in ihren Residuen fortwirkenden Processe gestatten an sich nicht nur eine noch lange Lebensdauer, es ist bei ihnen auch gewöhnlich eine gegen die frühere Zeit der Erkrankung auffal - lende Besserung des Allgemeinbefindens mit Zunahme der Ernährung bemerklich; jede Pflege-Anstalt enthält solche schon seit vielen Jahr - zehnten in ihr lebende Bewohner.

Eine Vergleichung der Mortalitätstatistiken in den verschiedenen Irrenan - stalten könnte nur bei ausführlicher Erörterung aller Momente ihrer Verschie - denheiten von einigem Interesse sein.

Die reinen Heilanstalten weisen immer eine grössere Sterblichkeit auf, als die Pflege-Anstalten; denn die Mehrzahl der Todesfälle unter den Irren erfolgt in den ersten 12 18 Monaten der Krankheit; das frische, acute Gehirnleiden, die anderweitigen schweren Erkrankungen, als deren spätere Complication das Irre - sein auftreten kann, die in dieser Periode häufige Tobsucht, der oft frühe Beginn der allgemeinen Paralyse begründen diese Thatsache. Häufigeres Vorkommen dieser Complication vermag die Mortalitätstatistik in verschiedenen Ländern und Anstalten am meisten zu modificiren; sie ist es auch, welche im Durchschnitt eine grössere Sterblichkeit unter den Männern als unter den Weibern verursacht. Bedlam, wo zwar kein über ein Jahr alter Fall, aber auch kein Epileptischer oder Paralytischer, ja kein Tobsüchtiger aufgenommen wird (Julius l. c.) und wo kein Kranker über ein Jahr lang verbleibt, hat eine Mortalität von 6 9 Procent, St. Yon, eine gemischte Anstalt, von über 7, Winnenthal, eine fast reine Heilanstalt von 11, Hanwell von 12, die englischen Armenanstalten von 27*)Farr, Oppenheims Zeitschrift XXI. p. 77., die Antiquaille in Lyon**)Bottex, Rapport etc. 1839. von 30 Procenten. Es wäre ermüdend und unaus - führbar, hier die einzelnen Umstände abzuschätzen, welche die bedeutenden Diffe - renzen dieser Beispiels halber angeführten Zahlen begründen.

332Prognose nach

§. 153.

Das Urtheil über die zweite prognostische Frage, die nach der Heilbarkeit des Irreseins bei vorausgesetzter Lebenser - haltung, wird durch weit mehr besondere Umstände bestimmt und erfordert weit mehr psychiatrische Specialkenntniss und Erfahrung. Die Statistik der Irrenanstalten ergibt auch hier allerdings einige wichtige Momente, in sofern sich in ihr eine Reihe von Erfahrungs - sätzen mit entscheidender Uebereinstimmung herausstellt (z. B. die Unheilbarkeit des secundären Blödsinns, der Einfluss der Krankheits - dauer auf die Prognose etc.); allein viele statistische Angaben über Heilungsverhältnisse sind von zweifelhafter Glaubwürdigkeit das Wort genesen scheint nicht überall in demselben Sinne gebraucht zu werden und keine Statistik vermag die complicirten Verhältnisse zur Anschauung zu bringen, welche in den concreten Fällen das Ur - theil über die Heilbarkeit bestimmen.

Ein erstes, und wohl das wichtigste Moment für die Genesungs fähigkeit ist die Form des Irreseins oder (pag. 151) das Stadium der Krankheit. Als ganz unheilbar sind zu betrachten alle Zustände von secundärem Blödsinn (mit welchem indessen weder die Melan - cholie mit Stumpfsinn noch eine vorübergehende tiefe geistige Ab - spannung nach der Tobsucht zu verwechseln ist). Ebenso wenig einer radicalen Heilung, wohl aber zuweilen noch einiger Besserung fähig ist die partielle Verrücktheit, mag nun das beruhigte falsche Denken, der wahre Verstandesirrthum zu einem umfassenden, vielgliedrigen Systeme von Unsinn ausgearbeitet sein oder mag er sich in nur wenigen Wahnideen, scheinbar vielleicht nur einem Seitengebiete des innern Lebens angehörend äussern. Denn auch bei den letzteren beruht ihre Fixität (p. 263) auf totaler Umänderung der ganzen psy - chischen Individualität, welche es dem Kranken unmöglich macht, mit dem Wahne innerlich entschieden zu brechen, aus der Verschobenheit seiner ganzen Anschauungsweise sein altes Ich wieder auszulösen und wieder der Nämliche wie früher zu werden. Auch eine wesent - liche Besserung, welche hier nur in Zurückdrängung der Aeusserung des Wahns, in Gewöhnung an äussere Ordnung und Haltung und an eine wenigstens mechanische Pflichterfüllung bestehen kann, vermag hier nur durch ein lange fortgesetztes consequentes, in manchen Fällen nur durch ein dem Kranken unablässig energisch zusetzendes Verfahren erreicht zu werden.

Unter den primären Formen der Melancholie und Manie ist die erstere als das eigentlich primitive Anfangsstadium nach unsern mit333der Form der Krankheit.denen Flemming’s übereinstimmenden Beobachtungen die günstigere. Wenn dagegen viele andere Irrenärzte (Jessen, Ideler, Falret, Ferrus, Haslam, Rush etc.) die Manie, namentlich die Tobsucht durchgängig für die heilbarste Form des Irreseins erklären, so kann sich dies nur auf die Ergebnisse in den Irrenanstalten beziehen, welchen selten leichte, sondern meist nur schwere und veraltete, und dann allerdings an Heilbarkeit hinter der Tobsucht zurückstehende Fälle von Schwermuth übergeben werden, während natürlich schon für die leichteren Fälle der Exaltationszustände die Hülfe der Anstalten ge - sucht wird. Viele Zustände mässiger Schwermuth werden, zur rechten Zeit behandelt, ausser den Anstalten glücklich gehoben; für die chroni - schen protrahirteren Zustände von Melancholie und Manie aber muss der Unterschied in der Prognose um so geringer ausfallen, je häufiger hier eben ein oft rascher Wechsel beider Formen, ein stetes Schwanken zwischen Depression und Exaltation vorkommt.

Innerhalb der primären Formen ist ein Zustand vager, objectloser Affecte, seien es traurige oder heitere, und vagen allgemeinen De - liriums immer günstiger als das Auftreten und Beharren festerer dem Affecte entsprungener Wahn-Ideen. Eben desshalb steht die Form des Wahnsinns an Heilbarkeit schon weit hinter der Tobsucht zurück; auch in der Schwermuth ist die Fixirung einzelner Erklärungsversuche entschieden ungünstig, namentlich diejenigen werden hier gerne festge - halten und leiten später einen Zustand von Verrücktheit ein, welche sich auf ein Beherrschtwerden durch die Aussenwelt, eine Beein - trächtigung durch Andere etc. beziehen, während der Kranke weit eher geneigt ist, die Wahnvorstellungen, mit denen er den Grund seines Zustandes in sich selbst (z. B. einem imaginären Verbrechen) suchte, wieder fallen zu lassen (Zeller).

Bei diesem aus der Krankheitsform geschöpften prognostischen Urtheile ist immer das Wichtigste die Bestimmung, ob man noch lebendige, flüssige, psychische Krankheitsprocesse, oder nur beharrende Residuen schon abgelaufener, erloschener Processe vor sich hat. Da nun die Manie offenbar die Acme aller Stadien und Formen darstellt, so ist für die grosse Mehrzahl der Fälle als practische Regel der Satz aufzustellen, dass, wenn ein Stadium maniacum mit nunmehriger völliger Beruhigung, aber ohne entschieden günstige Entscheidung abgelaufen ist, der Kranke sich in der grössten Gefahr der Unheil - barkeit befindet. Besonders schwierig ist übrigens die Prognose in den Zeiten des Uebergangs der primären Formen zur Verrücktheit und Schwäche, welcher oft unter langen Schwankungen zwischen334Prognose nach DauerBesserung und Verschlimmerung geschieht. Hier ist eines Theils das Aufhören aller Störungen des körperlichen Befindens, namentlich mit Fettwerden, andererseits sind alle permanenteren Bewegungs - und Sensibilitäts-Anomalieen (Krämpfe, Pupillenerweiterung, Verlust des Geruchs, Geschmacks, Kothfressen, fixes Sehen in die Sonne, hart - näckige vage Gliederschmerzen) als entschieden ungünstige Zeichen zu betrachten, während der Mangel an Wiederkehr gesunder Neigun - gen, eines gesunden Triebs zur Beschäftigung, die ohne Gemüths - exaltation andauernde Sucht zu phantastischer Uebertreibung u. dgl., das Beharren des Leidens von geistiger Seite anzeigen.

§. 154.

Die Krankheitsdauer ist nach übereinstimmenden Erfahrun - gen für die Prognose wichtiger als bei irgend einem andern Leiden. In dieser Beziehung kann wohl in einzelnen Zahlenangaben, im Grundsatze aber selbst keine Differenz mehr stattfinden. Es genasen z. B. in Winnenthal*)Zeller, Bericht l. c. Tab. VII. von den im ersten Halbjahr der Krankheit Aufgenommenen 68, nach zweijähriger Dauer 18, nach 4 - und mehr - jähriger Dauer nur noch 11 Procent, in der Retreat**)Julius l. c. in den ersten 3 Monaten 80, vom 3. 12. Monat 46 Procent; Jessen***)Jacobi und Nasse Zeitschrift I. p. 661. heilte von frischen, d. h. vor der Aufnahme in die Anstalt nicht länger als ein Jahr bestandenen Fällen 66, von älteren Fällen 12 Procent; Esquirol schätzt, dass nach 3jähriger Dauer nur noch 1 / 30 der Kranken geheilt werde†)Viele andere statistische Notizen worunter freilich manche höchst un - zuverlässige S. bei Damerow, Irren -, Heil - und Pflege-Anstalten 1840. pag. 151 seqq.. So müssen, wenn nicht innerhalb Jahresfrist ein sichtbarer Schritt zur Besserung geschieht, die Hoffnungen auf voll - ständige Genesung schon trübe werden, wenn es gleich nicht an Beispielen fehlt, wo Irre nach 7, 10, ja nach 20jähriger Dauer der Krankheit noch genasen, wie man dies zuweilen bei einzelnen Kranken der Pflege-Anstalten beobachtet; namentlich beim weiblichen Geschlecht darf vom Eintritt der climacterischen Periode manchmal noch ein günstiger Einfluss erwartet werden††)Jessen l. c. p. 662..

Was die prognostischen Zeichen aus dem Krankheitsverlauf und der Art der Gruppirung der Symptome betrifft, so ist eine aus -335und Verlauf der Krankheit.gesprochene Periodicität der Anfälle mit grösseren freien Zwischen - räumen entschieden ungünstig. Gewöhnlich werden bei jenen Kranken, welche anfangs alle Jahre, alle drei, sogar alle 7 Jahre in Irresein verfallen, mit der Zeit die lucida intervalla kürzer, die Recidiven immer länger und schwerer, und es wird mit jedem Anfalle die Prognose trauriger. Bei den anhaltenden Fällen lässt im Durch - schnitt doch nicht ohne Ausnahme eine allmählige langsame Entwicklung der Krankheit auch einen langsameren Verlauf und schwerere Heilbarkeit erwarten; andern Theils aber sind auch die langsam vorschreitenden Genesungen gewöhnlich haltbarer als die plötzlich erfolgenden. Ein unregelmässiger Wechsel auch stürmi - scher Erscheinungen gilt immer für günstiger, als ein langes Beharren in Einer Symptomengruppe, z. B. in steter heftiger Tobsucht, steter, wenn auch nur mässiger fröhlicher Aufregung, steter Gefrässigkeit oder anhaltendem Widerwillen gegen Speisen etc. Als günstige Zeichen bei Maniacis gelten die Rückkehr einer depressiven Stimmung, z. B. vieles Weinen, indem eine wiederkehrende Schwermuthsperiode zuweilen die Genesung einleitet, ebenso überall die Rückkehr der Decenz, der früheren Neigungen und Liebhabereien (zu Arbeit, zu Musik etc.), die unversehrte Erhaltung des Gedächtnisses, das Ver - langen, die Angehörigen wieder zu sehen u. dgl. m. Ein voll - ständiges leibliches Wohlbefinden, von welchem freilich nur nach umfassender und genauer Untersuchung aller Organe die Rede sein kann, bei fortdauernder psychischer Störung wird mit Recht als ein schlimmes Zeichen betrachtet; andererseits sieht man den Wieder - eintritt früherer, aber während der Krankheit verschwundener körperli - cher Beschwerden, theils nervöser (Zahnschmerzen, Kopfschmerzen etc.) theils secretorischer Art (Oedeme, Blutungen) zuweilen, doch im Ganzen nicht häufig mit entschiedener Besserung des geistigen Be - findens, ja mit schneller Heilung zusammentreffen. Alle Remissionen und allmählig länger dauernden Intermissionen sind natürlich günstig. Das beste prognostische Zeichen aus den Symptomen aber ist das Bewusstwerden der inneren Störung, das Gefühl krank zu sein, und das Auftreten einer Reaction des (alten) Ich gegen die psychische Störung, welche als ein krankhaft Aufgedrungenes bewusst wird; wiewohl auch dann noch wie Jacobi mit Recht bemerkt es an Kraft zur Durchführung dieser Reaction fehlen, und der zeitweise Schimmer der Selbstbesinnung wieder in neuem Dunkel erlöschen kann.

336Prognose nach

§. 155.

Auch einige der im 2. Buche erörterten ätiologischen Mo - mente sind von prognostischer Bedeutung. Es ist entschieden, dass das Irresein im jugendlichen Alter häufiger gehoben werden kann als im vorgerückten; doch sieht man zuweilen frische Erkrankungsfälle auch im 50sten bis 60sten Lebensjahre und später wieder genesen, und nur der senile Blödsinn bietet hier eine absolut traurige Prognose dar. Die im Durchschnitt angenommene*)Mit einzelnen Ausnahmen (Ideler, Bottex). grössere Heilbarkeit des Irreseins beim weiblichen Geschlecht ist wohl in erster Reihe der grösseren Seltenheit der allgemeinen Paralyse zuzuschreiben; Jessen**)l. c. 664. hat besonders für die älteren Fälle günstigere Heilungsverhältnisse bei den Weibern erhalten, wonach es scheint, dass bei den Männern im Duchschnitt ein unheilbarer Zustand früher eintrete. Gegen die Fälle erblichen Irreseins besteht beinahe überall ein höchst un - günstiges prognostisches Vorurtheil, welches bei der vorweg präsu - mirten Unheilbarkeit oft die Versäumung der nothwendigen therapeu - tischen Massregeln zur Folge hat. Es ist aber durch viele Genesun - gen in solchen Fällen constatirt, dass durch Erblichkeit an sich noch durchaus keine Unheilbarkeit begründet wird; doch sind bei solchen Genesenen Rückfälle allerdings eher zu erwarten. Die Anlage und Ausbildung der Charactereigenthümlichkeiten, das Mass psychischer Widerstandsfähigkeit, die leichtere oder schwierigere Hingabe an die Krankheit wie an die heilenden Einflüsse gehören zu den bedeutend - sten Momenten für die Prognose. Ganz schlimm sind die allmählig entwickelten Erkrankungen bei Individuen, die sich schon von Jugend an durch excessive Launenhaftigkeit, durch grillenhafte Geschmacks - und excentrische Geistesrichtung bemerklich gemacht haben; gleich - falls ungünstig sind die nach langen schmerzlichen Seelenbewegungen entstandenen Fälle, nach vieljährigem Kummer, langem Schwanken zwischen Hoffnung, erschütterndem Zweifel und endlicher Versagung, nach intensen Leidenschaften, auf deren Stürme innerliche Verödung folgte; jene tieferen Wunden heilen nicht ohne grosse geistige Sub - stanzverluste, oft folgt ihnen eine wahre Zerrüttung der psychischen Constitution und es stehen die hiehergehörigen Fälle an Heilbarkeit denen weit nach, die aus einer plötzlichen Seelenerschütterung, Schrecken u. dgl. entstanden sind.

Die nach Kopfverletzungen, nach acuter Meningitis, nach blutiger337Ursachen und äusseren Umständen.Apoplexie und länger bestandener Epilepsie auftretenden Geistes - krankheiten sind, namentlich die beiden letzteren fast ganz unheilbar; gleichfalls für schlimm gelten die nach typhösen Fiebern sich ent - wickelnden Fälle. Ganz traurig ist auch die Prognose bei dem Irresein der alten Säufer, welches frühzeitig den Character geistiger Schwäche trägt; die früher aus mässiger Trunksucht entstandenen Fälle gehören zu den heilbaren, übrigens mit ausserordentlicher Ge - neigtheit zu Rückfällen. Onanisten und durch sexuelle Excesse Erschöpfte bieten, wenn eine Reparation des Allgemeinbefindens, eine erfolgreiche Behandlung etwa bestehender Localkrankheiten und vor Allem ein entschiedenes Aufgeben jener Ursache zu erlangen ist, im Anfang eine nicht ganz ungünstige Prognose; unheilbar da - gegen sind solche zum Wahnsinn vorgeschrittene Fälle, namentlich die, wo sich der Wahn einer nahen Vereinigung mit dem Ueberir - dischen in höchst schmutziger und verrückter Weise mit dem Hange zur Selbstbefleckung combinirt hat.

Von grossem prognostischem Einflusse sind auch die äusseren Umstände und Verhältnisse des Kranken. Wo Dürftigkeit oder sonstige Ungunst des Schicksals jede wirksame Massregel hemmt, wo Eigensinn und Vorurtheil der Umgebung ein wirksames Eingreifen zur rechten Zeit unmöglich macht, wo die Entfernung aus der Lebenslage, in der die psychische Störung entstand und immer neue Nahrung findet, nicht thunlich ist, da mache man sich keine Illusionen über die Ge - nesungsfähigkeit, da hoffe man nichts von der Natur, deren Heilkraft es am Ende doch noch gut machen werde.

§. 156.

Der Ueberblick über die Heilbarkeitsverhältnisse des Irreseins ergibt im Ganzen tröstliche Resultate. Nach der Statistik der Irren - anstalten gestatten die frisch ausgebrochenen Geisteskrankheiten eine weit günstigere Prognose, als die meisten anderen Hirnaffectionen. Wenn man indessen wie man es sollte unter Genesung eben die totale Beseitigung der Gehirnkrankheit, die völlige Rückkehr zum früheren geistigen Verhalten, den Wiedereintritt des ganzen früheren Umfangs der Intelligenz, der ganzen Kraft des Characters verstehen will, so muss man ein solches Resultat allerdings nicht eben besonders häufig erwarten. Weit zahlreicher sind die Fälle, wo zwar die Haupt - symptome des Irreseins verschwinden, das Individuum aber theils eine leise geistige Schwäche, theils eine andauernde hohe psychische Reizbarkeit, theils einzelne Ties und Bizarrerieen zurückbehält, mitGriesinger, psych. Krankhtn. 22338Criterien derdenen es indessen in einfache Lebensverhältnisse zurückkehren und sehr oft seinen Geschäften wieder nachgehen kann. In dieser Be - ziehung ist eine Scheidung der mit günstigem Erfolg behandelten Fälle in genesene und gebesserte wie solche in einzelnen guten Anstalten (z. B. Winnenthal) längst geschieht der Irren - statistik nicht genug zu empfehlen.

Es versteht sich, dass auch unter solcher Besserung nicht bloss eine äusserliche Beruhigung, sondern eine wesentlich den ganzen Krankheitsverlauf hemmende Umänderung gemeint sein kann. Es wäre z. B. ganz unzulässig, einen Maniacus, der allmählig verrückt wurde, und nun allerdings äusserlich ruhig und gefahrlos wird, auch in Privatverhältnissen bewahrt werden kann, desshalb für gebessert erklären zu wollen ein solcher ist vielmehr im Ganzen wesentlich verschlimmert und kann nur als ein fürderhin Unheilbarer entlassen werden.

§. 157.

Als Criterien einer wirklichen Rückkehr der geistigen Ge - sundheit können nicht der blosse Rücktritt der auffallenden Sym - ptome, das Verschwinden der Aufregung und der Wahnäusserungen gelten: der Kranke kann sich äusserlich beruhigen, auch manche falsche Urtheile wohl verbergen lernen, welche er dennoch innerlich gleich festhält; ja es kann sich dies sogar mit einer auffallenden Besserung des Allgemeinbefindens auf eine täuschende Weise verbinden. Das wichtigste Merkmal wahrer Genesung ist vielmehr erst die entschie - dene[Anerkennung] der Krankheit als solcher von Seiten des Gene - senden, die klare Einsicht in die Abnormität des nun abgelaufenen Zustandes, der völlige Bruch mit allen demselben angehörigen Wahn - ideen und die immer unbefangenere Würdigung der eigenen Lage nach allen Seiten hin. Hiermit muss sich noch die Rückkehr der früheren Neigungen und der Gewohnheiten des gesunden Lebens, eines Bedürfnisses zu gesunder Thätigkeit, des Interesses für die früheren Lebenskreise, der während der Krankheit so oft in Hass verwandelten Zuneigung zu Familie und Freunden verbinden. Denn wie das Irresein mit Gemüthsverstimmung und affectartigen Zuständen begann, so ist auch beim endlichen Ablauf desselben diese Seite des psychischen Lebens besonders zu beachten. Wo längst die In - telligenz als unversehrt erscheint, wo aber noch krankhafte Abneigung gegen einzelne Personen, oder ein unbestimmter verbissener Grimm und Zorn oder nur eine hohe gemüthliche Reizbarkeit übrig bleibt, welche noch schnell in leicht entstandenen Affecten explodirt, wo der Kranke eine Berührung der früher erkrankten Seiten nicht ertragen339geistigen Genesung.kann, also jede Erinnerung an die Krankheit sorgfältig meidet, wo überhaupt noch etwas Fremdartiges in der Gefühlsweise, dem Be - nehmen, dem Blick des Kranken zurückbleibt, da ist von völliger Herstellung noch keine Rede. Die Grundlage dieser ist vielmehr auch eine völlige Gemüthsberuhigung; von seiner Krankheit spricht der wirklich Genesene mit den ihm näher Stehenden, namentlich mit dem Arzte, unbefangen als von etwas ihm jetzt ganz fremd Ge - wordenen; er zeigt fast immer Dankbarkeit und Vertrauen, aber keine lärmende geräuschvolle Freude über seine Genesung, und legt seine Entlassung aus der Irrenanstalt ohne drängende Forderungen in die Hand des Arztes.

Diejenigen Genesungen sind im Durchschnitt sicherer, welche allmählig, mit stetig fortschreitendem Bewusstwerden der inneren Störung zu Stande kamen, als die sehr schnellen, plötzlichen Besse - rungen, wenn sie auch noch so vollständig erscheinen. Andrerseits können von psychischer Seite die günstigsten Zeichen vollständiger Genesung vorhanden sein, während dagegen anderweitige Erkrankun - gen, denen ein wesentlicher Einfluss auf die Ausbildung der Gehirn - krankheit zukam (Tuberculose, Genitalienkrankheiten etc.) ungeheilt fortbestehen. In diesem Falle darf zwar der Ausspruch, dass der Kranke völlig vom Irresein genesen sei, nicht auf die gänzliche Wie - derherstellung der körperlichen Gesundheit warten; aber es muss wenigstens die grosse Gefahr neuer, nochmaliger Gehirnerkrankung fest im Auge behalten werden. Bei all dem braucht es auch noch eine gewisse Dauer des psychischen Wohlbefindens, um Genesung vom blossen lucidum intervallum zu unterscheiden, ganz wie wir den Epileptischen auch nach monatelangem Aufhören der Anfälle noch nicht für genesen erklären, sondern erst von einer längeren Zeit die völlige Bestätigung des günstigen Urtheils erwarten.

Einzelne Beobachter (Esquirol) sind geneigt nur diejenigen Fälle von Gene - sung für hinlänglich sicher zu halten, welche unter palpabeln Crisen erfolgen; Andere (Jessen, Neumann, wir selbst) haben solche Crisen überhaupt nur selten gefunden. Es soll nicht geläugnet werden, dass jene constitutionellen Umände - rungen, welche die Genesung von einer so schweren Krankheit häufig begleiten müssen, sich auch zuweilen durch profuse oder qualitativ veränderte Excretionen, durch Hauteruptionen etc.*)Vgl. p. 226. Vgl. Jakobi, Hauptformen. p. 736 seqq. kundgeben können, und dass insofern jenen Ereignissen, wenn sie mit geistiger Besserung zusammentreffen, eine günstige Bedeutung zu - komme. Sie erscheinen übrigens öfter als Folgen, denn als Ursachen der Ge - nesung, und durch ihr häufiges gänzliches Fehlen wird die Esquirol’sche An - sicht genügend widerlegt.

22*340Ueber Rückfälle der Genesenen.

§. 158.

Die durchschnittliche Haltbarkeit der Genesung muss nach der Zahl der Rückfälle beurtheilt werden. Jakobi zählte auf 100 Herstellungen etwa 25 Wiederaufnahmen, Parchappe auf 498 Genesene 164 Recidive; Farr berechnet aus 5846 in den englischen Grafschafts - Anstalten Genesenen 1200 (über ¼), Julius gibt für die Retreat bei York die officielle Zahl von 31 Recidiven auf 100 Herstellungen an (hält aber das Verhältniss in Wahrheit für viel höher)*)Wobei die eigenthümlichen Umstände, welche unter den Quäkern die Er - krankungen vermehren, in Betracht zu ziehen sind., und man wird durchschnittlich annehmen können, dass etwa ¼ der Genesenen später noch einmal erkranke. Im ersten und zweiten Jahr nach der Herstellung sind die Recidive bei weitem am häufigsten, was sich aus der oft lange zurückbleibenden höheren psychischen Reizbarkeit und leichteren körperlichen Erkrankbarkeit nach einer so schweren Störung, mitunter auch aus einer offenbar zu frühzeitigen Entlassung aus den Anstalten leicht erklärt. Man bedenke auch, wie selten bei den meisten chronischen Krankheiten die völligen, dauernden Genesungen sind, wie schwierig es ist, gewisse, von frühester Jugend her beste - hende constitutionelle Ursachen zu heben, deren stetes Fortwirken immer neue Erkrankungen in der einmal gewohnten pathologischen Richtung zur Folge hat. Man schreibe es nicht der Unmacht der Kunst oder einem gerade für diese Krankheitsformen prädestinirten Unheile zu, wenn die Genesenen wieder erkranken, welche sich der ganzen Einwirkung Gesundheitszerrüttender Momente von Neuem aussetzen, die schon an ihrer erstmaligen Krankheit Schuld waren. Dem Genesenen, der zur Gewohnheit der Trunksucht, zum Elend, zu überanstrengender Beschäftigung, zu den Ursachen heftiger Leiden - schaften und Affecte zurückkehrt, können Recidive fast sicher voraus - gesagt werden, und namentlich die Säufer kann man aus den Irren - Anstalten fast jedesmal nur mit der unerfreulichen Aussicht auf baldiges Wiedersehen entlassen. Im Ganzen aber zeigt der Ueberblick über die Prognose des Irreseins weit tröstlichere Resultate, als es die ge - wöhnliche Ansicht der Aerzte und Laien ist; namentlich wird man die Prognose des frisch ausgebrochenen Irreseins für bedeutend günstiger als die der meisten übrigen Gehirnkrankheiten, ganz besonders als die der epileptischen Zustände, halten dürfen.

341

Zweiter Abschnitt. Therapie.

Erstes Capitel. Allgemeine Grundsätze.

§. 159.

Auch die Therapie der psychischen Krankheiten hat in reichlichem Masse die Macht theoretischer Voraussetzungen und den wechselnden Einfluss einseitiger Systeme erfahren. Die alte Humoralpathologie ent - leerte und entleert zum Theil heute noch schwarze Galle; die Erregungstheorie suchte und sucht den Organismus im Ganzen auf - oder abzuschrauben; die zur Entzündungspathologie eingeengte Localisationslehre erklärt trotz des Widerspruchs mit der täglichen Erfahrung die gewöhnliche Antiphlogose für die Grundlage ihrer Therapie und ein ganz eigener Anhang wurde noch der Irrenbehand - lung in den moralisirenden frömmelnden Auffassungen der psychischen Therapie zu Theil. In Einem Grundsatze aber hat sich doch die ganze neuere Psychiatrie zusammengefunden, in dem Grundsatze der Humanität in der Irrenbehandlung im Gegensatze zu jener alten Rohheit, welche die Geisteskranken bald mit Hexenprocessen und Scheiterhaufen verfolgte, bald und noch im günstigeren Falle mit Verbrechern in die Kerker zusammengeworfen und dort die von der ärztlichen Kunst wie von anderer menschlicher Hülfe Verlassenen willkührlicher Grausamkeit und Brutalität preisgegeben hatte. Zwar allerdings die immer mehr durchdringende Erkenntniss des Irreseins als einer Krankheit, zunächst aber und hauptsächlich der eigent - liche Philanthropismus, der den Irren ihre Rechte vom Standpunkte der allgemeinen Menschenrechte vindicirte, war es, der es durchsetzte, dass die Gesellschaft in den Irren Menschen anerkannte, denen sie Schutz und Hülfe schuldig ist, dass sie immer mehr zum Gegenstande ernstlicher Fürsorge von Seiten des Staates und tieferer, zum Zwecke der Heilung angestellter Forschung der Wissenschaft wurden. Der Blick auf jene Zeit, und vor Allem auf die grossen Bestrebungen Pinel’s ist wohlthuend und erhebend für Jeden; wenn aber wir, wir Aerzte von dem Humanitätsprincip unsere Praxis beherrschen lassen, so thun wir diess zunächst wegen seiner empirischen Erfolge für Erreichung unseres ersten und einzigen Zweckes, der Krankenheilung, Erfolge, deren unvergleichlich günstiger Contrast mit dem früheren Verfahren keiner weiteren Nachweisung bedarf. Nicht der Glanz eines342Einheit der psychischenabstracten philanthropischen Princips, sondern die practische Nütz - lichkeit, die Successe der in seinem Sinne geführten Behandlung am Bette des Kranken, in der Zelle des Tobenden müssen uns leiten. Eben desshalb aber dürfen wir jene humanistischen Grundsätze auch nur insoweit als Regeln anerkennen, als sie unsere Zwecke fördern, und müssen uns erinnern, dass nicht dasjenige Verfahren mit Irren das humane ist, welches dem individuellen Gefühle des Arztes oder des Kranken wohlthut, sondern das, welches ihn heilt. Der Grundsatz der practischen Nützlichkeit muss uns allein leiten; eine Zeit, welche die allgemeine Anerkennung und Durchführung jener humanen Principien als feststehende Errungenschaft besitzt, soll nicht im En - thusiasmus einseitig werden, und die Psychiatrie soll nicht aus dem Ernste einer Beobachtungswissenschaft heraus in süssliche Sentimen - talität, die kaum den Laien besticht, gerathen. Solche Auswüchse aber wollen sich gegenwärtig zeigen, und es ist bei manchen jetzt lebhaft controversirten Fragen nothwendig, an die ersten richtigen Grundsätze der ärztlichen Wissenschaft und Kunst zu erinnern.

§. 160.

Zunächst auch von der Thatsache des empirisch constatirten Erfolges ist auszugehen, indem für die psychische und somati - sche Heilmethode eine absolut gleiche Berechtigung in Anspruch genommen wird. Beide Wege der Einwirkung auf die Kranken sind immer instinctiv verbunden worden; auch die einseitigste mo - ralistische Auffassung vermochte niemals den Nutzen zweckmässiger Arzneien, Bäder etc. zu bestreiten, während ebenso die tägliche Beobachtung zeigen musste, wie fast keine Genesung ohne psychische Mittel (bestehen sie auch nur in Arbeit, Ordnung etc.) consolidirt werden kann. Trotz der Unabweislichkeit dieser practischen Forderung aber ward es der Wissenschaft durch theoretische Voraussetzungen schwer gemacht, das Resultat der Erfahrung, das Bedürfniss eines unausgesetzten Zusammenwirkens psychischer und somatischer Therapie im Grunde seiner Nothwendigkeit zu erkennen. Declina - tionen des Denkvermögens, so ward ironisch gefragt*)Reil, Rhapsodieen, p. 139. Ebenso Leuret (Traitement moral. p. 153): Was thun wir mit denen, die wir im Irrthum befangen glauben? Setzen wir ihnen Blutegel, Purganzen, oder Einwürfe entgegen? Natürlich Einwürfe!! , sollen durch Verdünnung eines atrabilarischen Bluts und durch Schmelzung stocken - der Säfte im Pfortadersysteme berichtigt, Seelenschmerz mit Niesewurz,343und somatischen Behandlung.und verkehrte Gedankenspiele mit Clystierspritzen bekämpft werden? Die Somatiker dagegen machten für sich den Einfluss der körperli - chen Zustände auf das geistige Leben geltend; sie beriefen sich auf ihre Krankheitsgeschichten, in denen ja ganz deutlich durch Digitalis, Campher etc. das Irresein geheilt worden sei, und wie meistens in solchen Fallen, sollte sich die Wissenschaft, die doch vor Allem auf Einheit und Consequenz der Principien dringt, endlich mit der ecclec - tischen Concession beider Partheien begnügen, dass eben die eine oder die andere Seite der Therapie für einzelne dringlichere Zufälle zu einer den hauptsächlichen Heilplan unterstützenden Hülfsbehandlung werden müsse. So bliebe bei den Einen der psychischen, bei den Andern der somatischen Therapie neben der Consequenz des grund - sätzlichen Heilplans nur eine untergeordnete und dürftige Rolle; zum Verständniss der nothwendigen gleichen Berechtigung beider aber dient vor Allem die Erinnerung, dass alle normalen und anomalen psychischen Acte cerebrale Processe sind, und dass die Gehirnthätigkeit ebenso gut direct durch unmittelbare Einwirkung, durch Hervorrufen von Stimmungen, Gemüthsbewegungen und Gedanken, als durch Ver - minderung der Blutmenge im Schädel, durch eine veränderte Ernährung des Gehirns, durch Narcotica und Reizmittel modificirt werden kann. Dass dem Irresein, wie den übrigen Gehirnkrankheiten empirisch erprobte Arzneimittel entgegengesetzt werden, bedarf keiner Recht - fertigung; der häufige Erfolg der psychischen Behandlung auch da, wo sichtbare leibliche Störungen zur Entstehung des Irreseins con - currirten, erklärt sich aus dem Einfluss des Gehirns auf die übrigen organischen Processe, der uns in der directen Hervorrufung von Seelenzuständen auch eines der wichtigsten Mittel an die Hand gibt, indirect Störungen des leiblichen Lebens, der Circulation, der Ver - dauung etc. günstig zu modificiren. Schwere Desorganisation des Gehirns (z. B. Blödsinn mit Paralyse) macht allerdings alles psychische Einwirken unmöglich; aber wir wissen, dass das Irresein im Anfang sehr häufig in nur functionellen Abweichungen besteht, und auch leichtere anatomische Veränderungen machen die Erfolge psychischer Behandlung durchaus nicht unmöglich, denn die Organe sind fähig, sich nach den ihnen angemutheten Functionen bis zu einem gewissen Grade zu accommodiren und die neuere Zeit hat in manchen glück - lichen Heilversuchen am Idiotismus gezeigt, wie auch bei entschieden mangelhaftem Gehirn eine geschickte Benutzung der vorhandenen Ressourçen noch eine relativ schöne Entwicklung des Geistes mög - lich macht. Auf diesem Standpunkte hat es einen Sinn, von einer344Allgemeine Therapie.wahrhaft persönlichen, die leibliche und geistige Natur des Menschen zugleich fassenden Behandlung zu sprechen, und wenn im Einzelnen der folgenden Abhandlung psychische und somatische Behandlung äusserlich auseinander gehalten wird, so kann der Punkt ihrer inner - lichen Vereinigung keinen Augenblick mehr dunkel sein.

§. 161.

Wenn die Therapie dieser Krankheiten namentlich die so matische zum grössten Theile mit den Grundsätzen und den Verfahrungsweisen der sonst gebräuchlichen Therapie zusammenstimmt, so stellen sich auf unserem Gebiete auch einige besondere Forde - rungen an jedes vernünftige ärztliche Einwirken mit ganz besonderer Deutlichkeit und Dringlichkeit heraus. Nirgends ist das Bedürfniss strengen Individualisirens grösser, als in der Irrenbehandlung, nirgends ist ein stetes Bewusstsein darüber nothwendiger, dass nicht eine Krankheit, sondern ein einzelner Kranker, nicht die Tobsucht, sondern ein tobsüchtig Gewordener das Object unserer Behandlung sei. In jedem einzelnen Falle will der immer wieder andersartige Zusammenhang der Erkrankungsmomente eruirt, mit allen Mitteln anatomischer Diagnostik und pathologischer Analyse aufgehellt sein und es wird hier noch ein Eingehen in die geistige Seite der Indi - vidualität gefordert, wie solches in der sonstigen Praxis kaum ver - langt wird. Hieraus ergibt sich einerseits die practische Regel, dass kein Fall dringende Hülfe gegen schnelle Zufälle ausgenommen in thätige Behandlung genommen werden sollte, dessen Anamnese und Entstehung nicht durchschaut wird, und bei dem jene schon p. 97 als die ersten Acte ärztlicher Wirksamkeit an Geisteskranken bezeichneten Forderungen nicht erfüllt sind; es geht hieraus aber auch eine Mannigfaltigkeit der practischen Irrenbehandlung hervor, welche in den Büchern gar nicht einzeln exponirt werden kann, für welche sich hier nur die allgemeinen Grundsätze aufstellen und an - geben lassen. Auch die Nothwendigkeit, gegen solche chronische Krankheiten möglichst frühzeitig, beim ersten Beginn und noch vor vollständiger Ausbildung der Erkrankung alsbald kräftig einzu - schreiten, drängt sich in der Irrentherapie ungewöhnlich lebhaft auf; schon die über Prognose gegebenen Bemerkungen (§. 154.) müssen diesen Punkt genügend festgestellt haben. Andrerseits aber ist bei schon ausgebrochener Krankheit auch vor nichts mehr zu warnen, als vor ungeduldiger Vielgeschäftigkeit in der Therapie. Man muss sich erinnern, dass der gewöhnliche Verlauf dieser Krankheiten auch345Causal-Indication.im günstigen Falle im Durchschnitt ein sehr langsamer ist, dass man hier nach Monaten, ja nach Jahren zu rechnen hat; man muss warten können und die günstigen Zeitpunkte, die oft erst spät ein - treten, zu ergreifen wissen. Man muss sich hüten, jedem einzelnen Symptom, jeder einzelnen Aeusserung der kranken Stimmung und des irrenden Vorstellens besonders entgegentreten zu wollen, und indem man den Kranken stets genau beobachtet und strenge überwacht, kann man in vielen Fällen ohne alles stürmische Eingreifen bei ganz einfacher Behandlung einen spontanen günstigen Ausgang erwarten.

§. 162.

Denn die Beobachtung zeigt, dass sehr viele Fälle frischer Er - krankung ohne viele positive Behandlung, durch ein Verfahren, das sich auf Abhaltung aller schädlichen Einflüsse beschränkt, von selbst in Genesung übergehen. In dieser Beziehung bietet sich zu - nächst die causale Indication, die möglichste Beseitigung der Momente, durch deren Zusammenwirken die Krankheit entstanden ist, dar, und wenn hier die Aetiologie allerdings eine Anzahl wichtiger Ursachen aufweist, deren Entfernung niemals in der Hand des Arztes liegt (vgl. das zweite Buch), so genügt es doch oft, Eines der schäd - lichen Momente, seien es anderweitige Erkrankungen oder ungünstige psychische Einflüsse, zu beseitigen, um ihre gegenseitige Verkettung, aus der die Krankheit entstand, dauernd zu lösen. Man wird sich daher immer zuerst nach Mitteln und Wegen umzusehen haben, um den Kranken den Einflüssen zu entziehen, welche an seiner Erkran - kung Schuld waren. Das Verfahren zu diesem Ende ist verschieden genug. Die Beseitigung der körperlichen Ursachen (§. 81 87) hat nichts von sonstiger Behandlung dieser Zustände Abweichendes; eine vorzügliche Aufmerksamkeit dabei ist auf Alles, was Kopfcongestion setzen kann, und wieder auf alle Momente zu richten, welche, sei es durch directe Ueberreizung, sei es durch Herabsetzung der allge - meinen Ernährung und Körperkraft zu Ursachen nervöser Irritations - zustände werden können. Die Beseitigung der psychischen Ursa - chen besteht zum grössten Theile nur darin, dass ihr Weiterwirken gehindert, dass ihnen der Kranke für jetzt entzogen wird. Diess kann gewöhnlich nur geschehen durch eine radicale Umänderung seiner ganzen äusseren Lage, durch Entfernung aus den bisherigen Lebensverhältnissen; diess um so mehr, wenn der Kranke in ihnen immer noch stets neue Anlässe zu Verstimmung und widrigen Affecten findet, aber auch da, wo er selbst sich ihrer schädlichen Einwirkung346Prophylaxis. Ruhe unddurchaus nicht bewusst ist, muss er um jeden Preis der steten Wie - derholung der Eindrücke, welche die Erkrankung erzeugten, entzo - gen werden. Zu grossem Theile fällt diess mit der wichtigen Indi - cation einer sorgfältigen Regulirung der Verhältnisse von Ruhe und Thätigkeit des Gehirns (s. den folgenden §. ), einem der Schlüssel zum Verständnisse der ganzen Irrentherapie, zusammen.

Die Prophylaxis der Geisteskrankheiten ist selten der Gegenstand ärztli - cher Berathung. Eine Verhütung derselben könnte schon dadurch erreicht werden, dass Heirathen unter den Mitgliedern einer zum Irrewerden auffallend disponirten Familie vermieden würden. In Bezug auf individuelle Prophylaxis kommt es bei Personen, welche man für disponirt zum Irrewerden halten muss, vorzugsweise auf eine wohlgeordnete psychische und leibliche Diätetik an. Schon in der Er - ziehung müsste alle Ueberanstrengung des Gehirns vermieden, dagegen die Aus - bildung und Uebung der körperlichen Kräfte im Auge behalten werden; Alles, was ein Vorherrschen der Phantasie und eine zu frühe Entwicklung des Ge - schlechtstriebes veranlassen könnte, müsste entfernt gehalten, es müsste immer so viel als möglich für die einfachsten, geordnetsten äusseren Lebensverhältnisse, für Vermeidung anhaltender Leidenschaften etc. gesorgt werden. Damit sind aber, wie Flemming mit Recht bemerkt, nicht abstracte Ermahnungen zum Weisesein gemeint, welche nur geringen Stand halten, wenn sich stürmische Bewegungen aus der in der Tiefe erschütterten Seele erheben, sondern die Kraft zum Wider - stande gegen Leidensehaft und Seelenschmerz beruht vor Allem auch auf einer kräftigen, widerstandsfähigen Organisation, also auf Erhaltung der ganzen leiblichen Gesundheit, auf sorgfältiger unverdrossener Beseitigung aller zum Chronischen tendirenden Erkrankungen, und die Mittel hiezu, wenn gleich zum grössten Theile diätetischer Art, müssen in den einzelnen Fällen sehr verschieden ausfallen.

§. 163.

Wie bei allen andern Organen ein gehörig regulirtes Mass von Ruhe und Thätigkeit zu den wichtigsten Heilmitteln gehört, so auch bei diesen Krankheiten des Gehirns. Für alle frischen acuten Erkrankungsfälle ist das erste Erforderniss eine absolute Ruhe des Gehirns, die Abhaltung der meisten, auch sonst gewohnten, noch mehr natürlich aller stärkeren oder positiv schädlichen Reize. Der Erkran - kende sucht auch instinctiv diese Ruhe, er entzieht sich jedem leb - hafteren psychischen Eindruck, jedem Lärm, jedem anstrengenderen Gespräch lauter Dinge, die ihm jetzt schmerzhaft werden, und sucht die Einsamkeit. So ist hier jeder Versuch vergehlich oder schädlich, dem beginnenden Versinken in Melancholie etwa äussere, besonders rauschende, lärmende Zerstreuungen entgegenzusetzen, von denen der Kranke jetzt nur peinliche Eindrücke erhält; noch schäd - licher ist es, wenn dem Kranken mit eindringlichem Zureden, Aus - fragen, Ermahnungen zugesetzt wird; schon die früher gewöhnte, ja347Thätigkeit des Gehirns.zum Bedürfniss gewordene geistige Thätigkeit wirkt jetzt meist irritirend, und nur ein Rückzug aus dem gewohnten Lebenskreise, Einsamkeit und vollständige Ruhe des Gehirns kann solchen Kranken, die von Allem viel zu heftig psychisch berührt werden, wohl thun. Je nach der Beschaffenheit des Falles und den äusseren Umständen kann dieser Indication durch blosse Versetzung in stille, friedliche und zugleich wohlthuend ansprechende Aussenverhältnisse, anderemale muss ihr durch strengste Abschliessung von allem Verkehr, ja sogar durch Abhaltung aller Ton - und Lichteindrücke genügt werden, das letztere besonders in frischen Exaltationszuständen, zuweilen auch im Beginn und auf der Höhe der Melancholie. Wie aber nach Ab - lauf der acuten Periode bei den meisten Krankheiten ein Zeitraum eintritt, wo das erkrankte Organ allmählig wieder in Thätigkeit treten soll und wo es nur durch rückkehrende wohlgeleitete Functionirung seine frühere normale Kraft wieder gewinnen kann, so kommen auch hier Zeiten, wo weitere tiefe Ruhe schädlich wäre, und wo dem psychischen Leben, um es vor Stillstand und Versinken zu bewahren, eine neue kräftige Thätigkeit nach der normalen Richtung Noth thut. Beim schon Genesenden stellt sich ein solches Bedürfniss von selbst ein; aber in sehr vielen Fällen muss es, am Ende der acuten Periode und bei eingetretener äusserlicher Beruhigung, erst geweckt, ja ener - gisch aufgerüttelt werden. Aus Gewohnheit fährt oft der Kranke fort, sich gegen die gesunde psychische Erregung, noch mehr gegen gesunde Selbstthätigkeit zu sträuben, während er doch erst durch den Wiedergebrauch und die Uebung seiner Kräfte wieder die alte Stärke und gesunde Richtung erlangen kann, und manche Kranke genesen nicht, weil in dieser, oft kurzen und immer wohl zu be - nützenden Zeit, ein energisches Einschreiten versäumt wurde. Denn wenn bei einzelnen solchen Kranken diese Indication schon durch angenehme Sinneseindrücke, durch Besuche, Wiedereintritt in die Gesellschaft, leichte Beschäftigung etc. erfüllt werden kann, so bedarf es hier bei Andern oft des Zwanges, um sie aus ihrem psychischen Torpor herauszureissen, und der ganze Umfang der psychischen Therapie ist besonders in solchen Fällen aufzuwenden. Bei Besprechung dieser (im 3ten und 4ten Capitel) das Nähere hievon.

Es besteht hier wieder eine auffallende Uebereinstimmung der Heilgrund - sätze mit dem Verfahren, welches sich in den Spinalaffectionen als nützlich er - wiesen hat. In allen acuten, frischen Spinalirritationen (namentlich allen Fieber - zuständen) lassen wir sorgfältig die von dem Kranken selbst instinctiv gesuchte Ruhe beobachten. In vielen chronischen Rückenmarksirritationen dagegen scho -348Vortheile der Versetzungnen wir das vorhandene Schwächegefühl nicht; wir wissen vielmehr, wie nur mit Ueberwindung desselben, indem der Kranke, oft anfangs halbgezwungen die Mus - culatur in allmähliger Steigerung wieder übt und anstrengt, die normale Inner - vation wieder eingeleitet und hergestellt wird. Brodie hat mehrfach bei der Be - handlung der neuralgischen und subparalytischen Zustände der Extremitäten hier - auf aufmerksam gemacht.

§. 164.

Eine tausendfältige Erfahrung hat gezeigt, dass den genannten Indicationen (§. 163. §. 162.) meist nur durch eine radicale Umän - derung aller Aussenverhältnisse,[durch] gänzliche Entfernung des Kranken von seinen gewohnten Umgebungen, durch die Versetzung zu völlig andersartigen und neuen Eindrücken entsprochen werden kann.

Nur selten genügt hiezu ein blosser Wechsel des Wohn - orts, etwa ein Landaufenthalt in einfachen, ansprechenden Um - gebungen. Grössere Reisen, in den mässigeren Zuständen von Hy - pochondrie oft von grossem Nutzen, aber immer nur bei Wenigen anwendbar, sind bei allem ausgebrochenem tieferem Irresein durch - aus unzulässig. Sie vermehren gewöhnlich die Aufregung; es sind uns die bedenklichsten Verlegenheiten und die gefährlichsten Auftritte bekannt, welche der Ausbruch der Manie auf solchen Vergnügungsreisen zur Folge hatte, und mit Recht hat man auch an den alten Ausspruch erinnert, dass durch Flucht und Ortswechsel der Mensch doch sich selbst, den inneren Gründen seiner Gefühlsbelästigung, kaum entrinne.

Dagegen ist nun die Versetzung in Verhältnisse, die speciell für die Verpflegung solcher Kranken eingerichtet sind, in eine gute Irrenanstalt, die in der grossen Mehrzahl der Fälle am dringendsten indicirte Massregel. Sie dient vor Allem zum Schutze des Kranken. Denn nirgends in den gewöhnlichen Lebens - verhältnissen ist dieser vor Zudringlichkeit, vor einer auch beim besten Willen meistens höchst unzweckmässigen Einwirkung seiner Umgebungen geschützt, nirgends findet er jene Schonung, welche aus einer klaren Einsicht in seinen Zustand hervorgeht; der immer zunehmenden Verstimmung setzen die Angehörigen des Kranken, als ob sich ihr dieser noch freiwillig entziehen könnte, meistens allerlei Zureden, gewöhnlichen Trost oder sogenannte Vernunftgründe entgegen, wenn sein Zustand nicht gar für Verstellung gehalten und mit derber Zurechtweisung gestraft wird; Niemand unter den Gesunden versteht den Kranken, Nachgiebigkeit und Strenge werden am unrechten Platze angewandt, das Misstrauen wächst unter solcher Behandlung, und es kommt zu unangenehmen Scenen und Kämpfen, welche nicht nur den349in die Irren-Anstalt.Kranken im höchsten Grade irritiren, sondern deren Erinnerung auch dem Genesenden noch die Rückkehr des alten Verhältnisses zu seiner Umgebung erschwert. Am meisten natürlich da, wo in dem Familienleben selbst eine Quelle der Erkrankung lag, ist eine sofortige gänzliche Entfernung aus demselben erste Bedingung; aber auch wo diess nicht der Fall ist, wird oft erst durch die unzweckmässige Behandlung, die der Erkrankte von Seiten seiner nächsten Umgebung erhält, Abnei - gung und Feindschaft gegen sie in ihm geweckt, und dadurch die vollständige Isolirung gefodert. Mit dieser aber soll auch die ganze Ideenrichtung des Kranken rasch unterbrochen und umgeändert, durch neue Eindrücke, neue Gemüthsbewegungen soll der Hingabe an die immer mächtiger werdende krankhafte Verstimmung entgegengetreten werden. Wie günstig in dieser Beziehung die Versetzung in eine Anstalt wirkt, zeigt sich in manchen Fällen darin, dass der blosse Ein - druck dieser Versetzung genügt, um die Krankheit zu brechen, dass bei einzelnen bis dahin höchst schwierig zu behandelnden Kranken von der Stunde ihrer Aufnahme an nicht nur vollständige Ruhe ein - tritt, sondern sogar die entschiedenste Reconvalescenz beginnt, wäh - rend bei der grossen Mehrzahl die erste Zeit ihres Aufenthalts in der Anstalt wenigstens durch eine auffallende Remission bezeichnet wird. Hier allein, im Irrenhause, findet der Kranke, der nicht mehr in die Welt der Gesunden taugt, Alles beisammen, was sein Leiden erfordert, einen mit der Behandlung solcher Zustände genau vertrauten Arzt, geübte Wärter, eine ganze Umgebung, welche consequent und den Umständen angemessen zu handeln weiss, ein Asyl, wo sein krankes Thun und Treiben vor zudringlichen Blicken geschützt ist, wo ihm die nöthige Ueberwachung geräuschlos zu Theil wird, wo ihm aber auch gewöhnlich ein weit höheres Mass von Freiheit, als unter allen andern Umständen gegeben werden kann. Hier kann er sich im Nothfalle ausweinen oder austoben, meist aber wird seine äussere Unruhe und die laute Aeusserung seiner krankhaften Triebe hier schon durch das Beispiel der übrigen Kranken, durch den herr - schenden Geist des Friedens und der Ordnung wesentlich beschränkt; er wird in die ruhige Bewegung des ganzen Hauses von selbst hin - eingezogen, etwaigem Widerstande tritt weit weniger directer Zwang, als das eigene Gefühl der Unterwerfung unter die imponirende Ge - walt des Ganzen entgegen; er findet hier Schonung und Aufmerk - samkeit, die Sprache der Vernunft und des Wohlwollens, er fühlt, dass er seinem Zustande gemäss wirklich als ein Kranker behandelt wird, aber er bemerkt auch, dass Widersetzlichkeit hier nicht fruchten350Indicationen zur Versetzungwürde, er lernt bald sich den ärztlichen Anforderungen fügen und sieht wie die Art seiner Behandlung, das Mass von Freiheit und Ge - nuss, das ihm zu Theil werden kann, von dem Grade seiner Fassung und von seinem eigenen Verhalten abhängt. So findet er hier we - sentliche Hülfen der Selbstbeherrschung, er lernt wieder aus sich heraustreten, während gleichzeitig den Bedürfnissen der somatischen Behandlung durch eine seinem Zustand angemessene Diät, durch Bäder, Bewegung im Freien, Arzneien etc. umfassend und beharrlich genügt werden kann. So bekommt der Kranke das Bewusstsein einer verständigen, milden aber consequenten Leitung, er fasst wieder Vertrauen und Hoffnung, das Beispiel der Genesenden und Recon - valescenten erweckt ihm die eigene Zuversicht der Herstellung, und meist legt er auch dann, wann wieder die gesunde Sehnsucht einer Rückkehr nach Hause sich einstellt, den Zeitpunkt seiner Entlassung vertrauensvoll in die Hände des Arztes.

§. 165.

Die meisten Genesenen segnen ihren Eintritt in die Anstalt, und die Vortheile dieser Versetzung, von Esquirol zuerst auf’s eindring - lichste geltend gemacht, sind seither nicht nur in der Psychiatrie zu einem durch tausendfache Erfahrung bestätigten Grundsatze geworden, sie werden auch immer mehr vom Gros der Aerzte und von den Laien selbst anerkannt. Doch ist diese Versetzung, welche einerseits bei bestehender Indication nicht frühe genug geschehen kann (§. 154), andrersetis aber doch nicht ohne wichtige Folgen für die spätere bürgerliche Existenz des Kranken ist, immer ein wohl zu überlegender Schritt. Die erste und dringendste Indication gibt immer ein Zu - stand des Kranken, wo er sich selbst oder Andern gefährlich werden kann, also der Ausbruch der Tobsucht oder dringende Zeichen ihrer Annäherung, ebenso der Hang zum Selbstmord, dem in Privatver - hältnissen fast nie sicher begegnet werden kann. In die Irrenanstalt gehören ferner alle Wahnsinnigen, alle Verrückten und alle unruhigen Blödsinnigen; auch der beginnende stille Blödsinn, unter dem sich oft etwas Anderes versteckt, findet dort noch am ehesten eine richtige Beurtheilung und Behandlung; der secundäre, apathische und der pa - ralytische Blödsinn dagegen gestattet, wo eine recht sorgfältige Verpfle - gung stattfinden kann, den Aufenthalt in Privatverhältnissen. Schwierig ist die Stellung der Indication nur zuweilen bei der Schwermuth. Was wir von der Versetzung von Hypochondristen in die Anstalt ge - sehen haben, stimmt uns eher dagegen als dafür zu sprechen; erst351in die Irrenanstalt.da, wo die Selbstbeherrschung ganz unmöglich geworden wäre, dürfte hier die Massregel indicirt sein. Auch die einfache Schwermuth in - dicirt noch nicht gleich in den ersten Wochen den Eintritt in die Anstalt; so lange sie auf einem sehr milden Grade, noch mit Schwan - kungen zum Besseren, bleibt, ist hier eine sonstige Veränderung der Aussenverhältnisse, ein Landaufenthalt etc. passender; hat dagegen die Melancholie schon einige Monate gleichförmig fortgedauert, nimmt sie immer zu, entwickeln sich Wahnvorstellungen, die auch nur einige Beharrlichkeit haben, sind Hallucinationen beunruhigender Art vor - handen, wendet sich der Zustand zu stumpfsinniger Versunkenheit oder zur Aeusserung negativer Triebe, so ist nicht länger mit der Versetzung zu zögern. Indessen hängt die Indication zu der Mass - regel in vielen Fällen weniger von der Form und Art der Krankheit, als von den Aussenverhältnissen und dem Character des Kranken ab; sie ist aber immer um so nothwendiger, je weniger dem Kranken in der Familie Alles das zu Theil werden kann, was sein Zustand fordert, je mehr er in Privatverhältnissen zu Widerstand gegen die nothwendigen Massregeln sich geneigt zeigt.

Das Vorurtheil, dass die Vernunft des Kranken durch die Umgebung mit an - deren Irren nur noch tiefer leiden werde, zeugt von gänzlicher Unkenntniss der Sache. In jeder wohlgeordneten Anstalt findet eine zweckmässige Scheidung der Kranken statt, so dass der Einzelne immer nur mit Wenigen, zu seiner Gesell - schaft Passenden, der frisch Erkrankte z. B. mit den Verkommenen und Versun - kenen, deren Eindruck auf ihn allerdings ein sehr übler sein könnte, niemals zusammentrifft. Die einzelnen Kranken, die unter sich in Berührung kommen, verhalten sich auch beim besten Vernehmen doch ziemlich gleichgültig gegen einander, indem Jeder fast nur mit sich selbst beschäftigt ist; Viele bemerken das Irresein der Anderen und werden durch die gleiche Behandlung, die auch ihnen selbst zu Theil wird, auf ihren eigenen Zustand aufmerksam. Von positiv günstigstem Einflusse auf die neuen Kranken aber ist es, dass sie durch das Beispiel ihrer Umgebung in die Ordnung und Bewegung der Anstalt von selbst hineingeleitet werden, dass sie von den Anderen Unterwerfung unter das Ganze lernen und aus den in ihrer Umgebung geschehenden Genesungen und Entlassun - gen selbst Motive, sich zu beruhigen und wieder zu hoffen, schöpfen.

Alles Weitere über die Irrenanstalten s. im fünften Capitel.

352

Zweites Capitel. Somatische Behandlung.

§. 166.

Vor gröberen therapeutischen Illusionen wird die Erinnerung daran schützen, dass viele dieser Kranken bei einer nur nicht positiv schädlichen Behandlungsweise von selbst genesen; der Gedanke an etwaige Specifica gegen das Irresein im Ganzen, gegen die Tobsucht, die Melancholie etc., wird sein Gegengewicht in der Er - wägung finden, wie ausserordentlich verschieden in Bezug auf den anatomischen Gehirnzustand und auf die Pathogenie die Erkrankungen sind, welche die Symptome des Irreseins geben. Gegenstand der somati - schen Therapie sind zunächst die noch fortbestehenden Krankheitspro - cesse, welche die Entwicklung der Gehirnkrankheit einleiteten mit haupt - sächlicher Rücksicht auf Circulations - und Respirationsorgane, auf die Genitalien und auf die Darmschleimhaut. Die Behandlung der hier aufgefundenen Affectionen hat keine besonderen Eigenthümlichkeiten. Man hüte sich einerseits vor einer nicht genügend begründeten, durch theoretische Voraussetzungen suggerirten Annahme solcher Störungen, um nicht Gefahr zu laufen, nur seine eigenen Hypothesen zu be - kämpfen. Man beachte aber auch andererseits, wie bei Geisteskranken die Auffindung körperlicher Störungen oft ausserordentlich erschwert ist, in so ferne viele Kranke sich wenig oder gar nicht über ihre Empfindungen aussprechen, und eben wegen der Gehirnaffection manche sonst gewohnte, namentlich subjective Symptome (z. B. bei Phthisis, Pneumonie) ganz fehlen. Um so sorgfältiger ist natürlich eben die objective Diagnose zu üben. Wo sich in pathogenetischer Beziehung keine rationellen Indicationen ergeben, ist ausschliesslich der gegen - wärtige Krankheitszustand des Gehirns Gegenstand der somatischen Behandlung, und es wird je nach der wahrscheinlicher oder sicherer anzunehmenden Gehirnirritation, Gehirnhyperämie, Gehirnentzündung direct gegen diese Zustände in durchaus ähnlicher Weise, wie gegen die entsprechenden Zustände des Rückenmarks verfahren.

Bei dem Gebrauch von Arzneien wird nicht selten das verbreitete Vorurtheil dem Kranken schädlich, dass es bei Irren immer bedeutend grösserer Arzneidosen bedürfe, als in sonstigen Krankheiten. In vielen Fällen sieht man gar nichts dergleichen; in anderen ist die Toleranz nur[scheinbar] stärker, indem der Kranke manche widrige Wirkungen (z. B. Ekel) verschweigt, im Sturme des Deliriums nicht beachtet oder aus krankhaftem Eigensinn sie ohne Klagen erträgt, während353Blutentziehungen. Aderlass.die Wirkung auf die Organe, z. B. die Erosion der Magenschleimhaut durch grosse Gaben Tartarus emeticus keineswegs ausbleibt; nur in wenigen Fällen braucht man ungewöhnlich hohe Gaben von einzelnen Mitteln, namentlich Purganzen und Narcoticis; da hierin grosse indi - viduelle Verschiedenheiten vorkommen und sich der Erfolg nicht a priori schätzen lässt, so müssen immer zuerst mässige Gaben ver - sucht, und von diesen allerdings zuweilen rasch der Uebergang zu den stärkeren gemacht werden.

Im Allgemeinen ist eine active somatische Behandlung weit nothwendiger in den frischen, als in den alten verschleppten Zuständen von Irresein. Die letzteren Fälle, wo so häufig das leibliche Befinden gar keine Störung zeigt, geben dann weder bestimmtere Indicationen zu Arzneimitteln, noch hat sich deren empirische versuchsweise Anwendung nur im Geringsten nützlich gezeigt. Doch gibt es Fälle, wo es auch ohne alle rationelle Indicationen vortheilhaft ist, dem Kranken Arzneien, natürlich nur durchaus indifferenter Art, zu verabreichen, um ihm zu zeigen, dass er wirklich als krank betrachtet wird, um seine Hoffnung zu er - halten und ihm eine stete ärztliche Fürsorge zu beweisen. Hier dienen die Arzneien als psychische Mittel; so z. B. bei sehr misstrauischen Kranken, welche die Irrenanstalt für ein Staatsgefängniss, einen Ort für Verbrecher und dergleichen erklären, hei Hypochondristen etc. Unter den Mitteln der somatischen Therapie sollen im Folgenden nicht alle aufgeführt werden, welche überhaupt einmal in - dicirt sein können, sondern nur diejenigen, welche mit directem Bezuge auf die Gehirnkrankheit theils sich entschieden nützlich zeigen, theils der Art der Symp - tome nach als besonders indicirt erscheinen könnten.

§. 167.

Die Anwendung der Blutentziehungen, zu denen von jeher theils apriorische Entzündungstheorieen, theils pathologischanatomische Resultate, theils die oft so stürmischen Symptome an sich schon hin - geleitet haben, ist von der neueren Zeit bedeutend beschränkt worden und Jedermann ist darüber einig, dass die Indication des Aderlasses nicht aus dem Delirium an sich oder irgend einer Form desselben, sei es auch die activste, aufgeregteste, wüthendste, entnommen werden darf. Zustände von allgemeinem Sinken der Ernährung und von Anämie, nicht nur nach Blutverlusten, sexuellen Excessen etc., sondern ebenso häufig auch nach lange dauernden psychischen Schmerzzu - ständen gehören ja häufig zu den ätiologischen Momenten des Irreseins, namentlich auch in der Form der Tobsucht. Diese Fälle, und ihnen zunächst sich anschliessend die aus habitueller Trunksucht entstandenen, contraindiciren die Aderlässe. Werden solche hier dennoch angestellt, so folgt ihnen gewöhnlich alsbald eine Steigerung aller Symptome; namentlich bricht hier gerne bei bisher noch Schwermüthigen dieGriesinger, psych. Krankhtn. 23354Indicationen zur Blutentziehung.heftigste Tobsucht aus. Indicirt dagegen ist die Venäsection in dem Aufregungszustande der acuten Meningitis (um so mehr je stärker das Fieber ist), bei entschiedener allgemeiner Plethora, bei den acut entstandenen Unregelmässigkeiten des kleinen Kreislaufs, wie solche nach heftigen plötzlichen Gemüthsbewegungen unter stürmischer un - regelmässiger Herzbewegung und Kopfcongestion mit den Symptomen psychischer Alteration rasch auftreten. Dass der Aderlass in manchen Fällen, wo das Irresein bald nach einer Kopfverletzung sich zeigt, in intercurrirenden Entzündungen innerer Organe (Pneumonie), in allen schnellen und heftigen Congestionen einen Theil der hier indicirten strengen antiphlogistischen Behandlung ausmachen muss, versteht sich von selbst.

Ueber die Anwendung der VS. herrschten immer verschiedene Ansichten und vielfache Debatten*)Resümirend haben davon gehandelt Friedreich, in Friedreich und Blumröder, Blätter für Psychiatrie, I., Nasse, in Jacobi und Nasse, Zeitschrift I., p. 216 seqq.. Im alten Bedlam machte man früher allen Kranken im Sommer mehrere Aderlässe, und die höchst verfehlte, ergiebigste Anwendung dieses Mittels war in Frankreich im vorigen Jahrhundert als Traitement de l’Hotel - Dieu bekannt. Willis, Chiarugi, namentlich aber Pinel erklärten sich nachdrüklich gegen den allzuhäufigen, ohne Distinction vorgenommenen Gebrauch des Mittels, Hill, Esquirol, Burrows und die meisten deutschen Aerzte schlossen sich ihnen an. Der Hauptvertheidiger grosser Venäsectionen war Rush (Untersuchungen über die Seelenkrankeiten, übersetzt von König, Leipzig 1825, p. 149 seqq.) namentlich für die Manie; Haslam, Foville und A. wandten ihn häufig in gemässigteren Graden an. Es ist beachtenswerth, dass unter 200 Kranken, denen Haslam in Bedlam zur Ader liess, das Blut nur 6mal eine Kruste zeigte (Rush l. c. p. 150). Manche nur halbwahre Indicationen für ihn wurden von Einzelnen aufgestellt, so das jugendliche Alter, die frische Erkrankung, das starke Klopfen der Kopfarterien, welches doch (M. Hall) gerade auch beim Delirium aus Anämie vorkommt; auch die mässige Kopfcongestion (warmer Kopf, rothe Augen etc.) erheischt die VS. an sich noch nicht, da sie häufig bei allgemein gesunkener Ernährung vorkommt.

Von weit ausgedehnterer Anwendung als die Venäsection sind die örtlichen Blutentziehungen durch Schröpfköpfe und Blutegel. Schon in der acuten Meningitis bewirken sie sicherer und unmittelbarer die Entleerung des Gehirns; ihre auch in chronischen Zuständen häufig nützliche Anwendung ist derjenigen in den chronischen Rückenmarks - leiden, die auch so oft durch Blutegel, niemals durch Aderlässe gebessert werden, analog. Bei allen stärkeren Kopfcongestionen sieht man oft eine überraschend schnelle und günstige Wirkung auf das Irresein, und wenn diese auch selten eine ganz nachhaltige ist, so kann das Mittel doch häufig wiederholt, mitunter mit sehr gutem Erfolg längere Zeit fort in regelmässigen Zeitperioden applicirt werden. 355Blutentziehungen. Kälte.Immer sind es nur Hyperämieen, welche damit gehoben werden können; dass die wahren chronisch-meningitischen und encephaliti - schen Processe so wenig als andere chronische Entzündungen durch Blutentziehungen zu beseitigen sind, darüber wird man sich bei einiger Einsicht in die hier stattfindenden Vorgänge nicht verwundern. Schröpfköpfe können auf den geschorenen Kopf oder in Nacken, Blut - egel sollen wo möglich in die Nähe von Emissarien applicirt werden, hinter dem Ohr, an der Nasen-Schleimhaut, deren Venen mit dem Längenblutleiter communiciren etc. Beim weiblichen Geschlecht kön - nen Blutentziehungen an den Genitalien nöthig werden; die Blutent - ziehungen am After gegen Kopfcongestionen sind ein unsicheres, diese zuweilen steigerndes Mittel.

§. 168.

Zur Beseitigung der Gehirnhyperämie findet auch die Kälte ausgedehnte und vortheilhafte Anwendung aber nicht in der Form jener massenhaften kalten Sturzbäder, mit welchen die Practiker so gerne frisch erkrankte Tobsüchtige zu beruhigen suchen, und die doch so gewöhnlich nur die Aufregung steigern, und selbst die Kopf - congestionen erhöhen. Zeller (und in neuerer Zeit Jacobi) haben sich nachdrücklich über die Fruchtlosigkeit dieses Verfahrens geäussert; wir selbst haben solche Fälle gesehen, wo die Sturzbäder mehrfach mit jedesmal sichtlicher Verschlimmerung angewandt worden waren. Nur im melancholischen Stumpfsinn dürften sie zuweilen mit Erfolg gebraucht werden; die eigentliche Douche vollends mit anhaltendem, heftig auffallendem Strahl ist kaum je als Kur -, sondern als ein blosses Straf - und Zwangsmittel der psychischen Therapie anzuwenden. Nützlich dagegen ist die Application der Eismütze oder doch der kalten Umschläge, welche die Kranken oft selbst eifrig wiederholen, in vielen Exaltationszuständen mit heissem Kopf, klopfenden Hals - arterien etc.; und besonders passend ist die Application der Kälte auf den Kopf während allgemeiner lauer Bäder, entweder als Um - schlag, oder als mildes Regenbad, als langsame Begiessung aus sehr mässiger Höhe. Die grosse Ruhe in den nächsten Stunden nach einem solchen Bade und die dem Kranken selbst oft auffallende Erleichterung kann eine täglich mehrmalige Anwendung indiciren, mit welcher man der Agitation, sobald sie sich wieder steigern will, jedes - mal zuvorzukommen sucht. Insolation, Kopfverletzung, drohende Apo - plexie machen die Anwendung der Kälte auf den Kopf besonders dringlich.

23*356Bäder und Hautreize.

Wie in manchen acuten, besonders aber in den meisten chro - nischen Rückenmarksaffectionen Bäder mit Vortheil gebraucht werden, so auch bei vielen unserer Gehirnkrankheiten. Seltener, namentlich bei jüngeren Individuen weiblichen Geschlechts, bei Hysterischen sind die kalten Bäder indicirt; von allgemeinster und nützlichster Anwen - dung dagegen sind die lauen Bäder sowohl in den älteren, als namentlich in den frischen Fällen; ausser ihrer reinigenden und er - frischenden Wirkung kommt ihnen, wie es scheint, ebenso durch die gleichförmige mässige Erregung aller Hautnerven, als durch die Ver - langsamung und Regulirung der Respiration und des Herzschlags ein ausgezeichneter beruhigender Effect in diesen Krankheiten zu. Oft führen sie allein den lange vermissten Schlaf herbei, oft scheinen sie die Fixirung der Gehirnhyperämie zu verhindern, und da sich die Kranken meist gerne zu diesem Mittel verstehen, so dürfte sich gegen seinen Gebrauch ausser Phthisis, und namentlich ausser der be - ginnenden oder schon bestehenden allgemeinen Paralyse kaum irgend eine Contraindication ergeben. Nach Umständen sind Zusätze von Schwefel, Eisen, aromatischen Pflanzen und dergl. passend. Fuss - bäder endlich unterstützen in manchen Fällen das vom Kopfe ablei - tende Verfahren.

Von der methodischen Anwendung des kalten Wassers in der Art der soge - nannten Hydrotherapie halten wir nur das reichliche Wassertrinken, namentlich in den Exaltationszuständen für einigermassen nützlich. Auch die Hypochondrie wird bei Priessnitzischer Methode vielleicht zuweilen momentan gebessert; weit häufiger scheint sie durch so heftige, meistens unbesonnen instituirte Curen verschlimmert zu werden.

§. 169.

Auch die Hautreize und sogenannten Ableitungsmittel werden häufig am unrechten Orte gebraucht. Die Vesicatore sind in den gewöhnlichen Fällen unnütz, auf den Kopf selbst gesetzt vermehren sie häufig die Irritation; bei Melancholisch-Stumpfsinnigen dagegen können sie oft, am besten im Nacken, mit Erfolg angewandt werden (Resorption eines Gehirnödems?). Bei sexueller Reizung und bei Onanisten sind sie immer zu vermeiden. Auch die Salben und Pflaster von Tartarus emeticus, von Einzelnen in der übertriebensten Weise, bis zur Necrosirung der Schädelknochen gebraucht, findet eine vortheilhafte Anwendung gleichfalls nur in einzelnen melancho - lischen Formen. Auch sie werden im Nacken oder an noch ent - fernteren Stellen applicirt, und dürfen nur bis zu mässiger Eiterung357Narcotica.fortgesetzt werden; ihre Hauptwirkung scheint eine psychische, indem der andauernde lebhafte Schmerz, der sich immer dem Bewusstsein aufdrängt, den Zug der krankhaften Ideen unterbricht und das Ver - weilen auf ihnen hindert. Vom Haarseil könnte besonders in ein - zelnen Fällen nach Kopfverletzung passend Gebrauch gemacht werden; Moxa und Glüheisen das letztere namentlich häufig, aber ohne Erfolg, bei Paralytisch-Blödsinnigen angewandt entbehren jeder festen Indication und sind fast ganz verlassen worden. Alle diese tieferen Hautreize sind nicht nur in Zuständen hoher acuter Exaltation durchaus unpassend, sie sind es auch bei sinnlosen Kran - ken, welche die gereizte Hautfläche oft heftiger Reibung oder der Kälte aussetzen; bedeutende erisypelatöse Entzündungen können hier entstehen, bei einzelnen adynamischen Zuständen kann Gangrän eintreten Gefahren, welche hier durch den problematischen Nutzen dieser Applicationen weit nicht aufgewogen werden.

§. 170.

Von einer directen Einwirkung auf die Gehirnfunction durch Narcotica könnte man a priori Bedeutendes erwarten. Doch wird man alsbald die Indication zu diesen Mitteln beschränken müssen, wenn man erwägt, wie häufig das Irresein das lange vorbereitete, allmählig festgewurzelte Resultat zusammengesetzter Einwirkungen ist, wie häufig es auf anatomischen Veränderungen beruht und wie die meisten und eben die kräftigsten Narcotica sich nur zu vorüberge - hender Anwendung eignen. Die Beobachtung zeigt auch wie diese Mittel wohl niemals für sich allein zur Heilung, sondern mehr mo - mentan zur Hebung und Milderung einzelner Symptome dienen.

Die gebräuchlichste und empfehlenswertheste dieser Arzneien ist die Digitalis. Bekannt ist ihre entschiedene Wirksamkeit im De - lirium tremens, und ebenso günstig wirkt sie auch bei vielen andern Tobsüchtigen. Wenn sie zunächst durch Unregelmässigkeiten der Circulation, stürmischen Herzstoss, grosse Pulsfrequenz und durch Structurveränderungen des Herzens indicirt ist unter diesen Um - ständen ebenso gut bei Melancholischen als Maniacis so wird doch die empirische Anwendung des Mittels auch in den Fällen, wo keine Störung der Herzthätigkeit zu bemerken ist, oft durch günstige Erfolge gerechtfertigt. Die Digitalis hat den Vortheil, in längerer Anwendung fortgegeben werden zu können, und wird passend in einzelnen Fällen mit Tartarus emeticus, mit Elix. acid. H., mit diu retischen Mitteln verbunden; man beginnt mit mässigen Dosen; die358Narcotica.zuweilen auch von uns beobachtete Beschleunigung des Pulses in der ersten Zeit der Anwendung geht bald in Verlangsamung über, und es ist in einzelnen Fällen passend, durch empirisch zu findende Dosen den Puls längere Zeit hindurch auf einer gleichen, etwas unter dem Normal stehenden Frequenz zu erhalten; zu den grossen Gaben, welche auch leicht Erbrechen erregen, sollte nur allmählig und vor - sichtig gestiegen werden. Zustände sexueller Aufregung beschränken wesentlich den Gebrauch der Digitalis; wie andere Diuretica scheint sie dieselbe zu erhöhen, ja zuweilen erst hervorzurufen.

Die Blausäure (Aqua laurocerasi, Aqua amygdal. amar. ) ist zuweilen, namentlich frühe im Beginn der Krankheit, bei mässiger Exaltation, melancholischer Angst etc. anwendbar. Ihre beruhigende Wirkung schien uns beim weiblichen Geschlechte sicherer. Die Datura, in früheren Zeiten vielfach empfohlen, ward neuerdings wieder speciell gegen Gesichts - und besonders Gehörshallucinationen mit einigem Erfolge angewandt (Moreau, Billod). Gegen die Hallu - cinationen der Verrückten und Verwirrten leistet sie nicht das Ge - ringste, auch sonst wurden zahlreiche Erfahrungen seiner Erfolglo - sigkeit gemacht; doch scheinen uns Versuche mit diesem Mittel passend in den Fällen, wo gleich beim Ausbruch des Irreseins die wegen ihrer unmittelbaren psychischen Effecte so ungünstigen Ge - hörshallucinationen das Hauptsymptom ausmachen. Das Mittel muss dann in etwas grösseren Gaben, bis zum Eintritt von Intoxications - symptomen gegeben werden. *)Uebrigens mit grosser Vorsicht; wir haben in einem Falle, in der Sal - petrière bedeutende Abmagerung, einen Zustand von Marasmus darauf erfolgen sehen.Die Belladonna, derzeit wenig gebraucht, könnte gleichfalls bei vorwaltenden Hallucinationen der zwei oberen Sinne versucht werden; sie entbehrt noch mehr der empirisch festgestellten Indicationen, und beide letztgenannte Mittel sind bei vorhandener Gehirnhyperämie contraindicirt. Das Opium und seine Präparate können immer nur von vorübergehender An - wendung sein. In einzelnen Fällen beginnender Krankheit, nach vorausgegangener langer Schlaflosigkeit und bei trauriger Aufregung, auch bei plötzlichen Anfällen von heftiger Agitation mit Sinnestäuschun - gen, will man auf längeren festen Schlaf, durch Opium hervorgerufen, ebenso wie im Delirium tremens Genesung beobachtet haben. Seiner etwaigen Anwendung werden häufig ausleerende Mittel vorangehen müssen; man gibt dann eine volle Dose, am besten Pulv. Dower. oder Morphium. Sehr fehlerhaft wäre der Gebrauch des Opiums bei359Narcotica. Purgantia.chronischer Schlaflosigkeit der Irren; laue Bäder, namentlich aber viele Bewegung im Freien und Arbeit sind hier die Schlaf machenden Mittel. Das Chinin ist bei regelmässig intermittirenden Formen von Nutzen und kann mit Vortheil auch zur Beseitigung einzelner neuralgischer Zustände, welche oft von wesentlichem Einfluss auf Erzeugung von Wahnvorstellungen sind, gebraucht werden. Von ein - zelnen bisher ungebrauchten Mitteln (Brucin, Hachich etc.) lassen sich durch vorsichtige Versuche noch einige Bereicherungen der Therapie erwarten.

Die Spirituosa sind im Allgemeinen bei Irren, namentlich in allen frischen Fällen ganz zu vermeiden und auch in der Recon - valescenz nur mit grosser Vorsicht zu gestatten; bei sehr herunter gekommenen früheren Schnapstrinkern kommen übrigens Zustände tieferer Geistesschwäche mit serösen Infiltrationen der Extremitäten vor, wo sich der Gebrauch eines kräftigen Weins nützlich gezeigt hat.

Tabak wird von den Irren viel gebraucht freilich nur zum Schnupfen und Rauchen. Bekannt ist die grosse Vorliebe vieler, namentlich chronisch Kranker, für den Reiz des Schnupftabacks und eine mit Bonhommie gebotene Prise kann den Irren, der eben im Zuge ist, sich in heftigen Scheltworten zu vereifern, oft am besten unterbrechen und zur Aufmerksamkeit auf sich selbst und zur Ruhe bringen. Zuweilen werden wohl auch geschärfte Schnupftabacke, um eine blutige Secretion auf der Nasenschleimhaut hervorzurufen, mit Nutzen angewandt. Das Rauchen fördert den leichten Fluss der Gedanken und eine gleichmässige Stimmung; bei früherer Gewohnheit ist die wiederkehrende Lust dazu zu beachten und zu befördern; denn auch solchen an sich unbedeutenden, kleinen Gewohnheiten kann der Geist Hülfen entnehmen um sich selbst, den frü - heren Inhalt und die frühere Art der Gedankenrichtung wieder zu finden.

§. 171.

Die auf den Darmkanal wirkenden Mittel gehören zu den ältesten und auch heute noch am häufigsten gebrauchten. Ausser ihrer rationellen Indication bei trägem Stuhl, der in diesen Krankheiten so häufig ist, werden sie mit Vortheil in allen frischen mit Kopf - congestion verbundenen Fällen, und als Hauptmittel in den acut entzündlichen Zuständen des Gehirns gegeben. Hier passen die stark und schnell wirkenden Purganzen (Crotonöl u. dergl. ); für eine mässigere Anwendung werden Senna, Rheum, Salze, wohl auch Gratiola u. dergl. in ziemlich willkürlicher Auswahl benützt. Der längere Fortgebrauch der milden Laxanzen (der weinsteinsauren, schwefelsauren, kohlensauren Natron - und Kali-Verbindungen, zuweilen als Mineralwasser) zeigt sich in diesen Fällen manchmal nützlich, auch ohne Infarcten aufzulösen. Oft wird übrigens bei entschiedenem360Emetica. Kampher etc.Hämorrhoidalleiden habituelle Trägheit des Stuhls besser durch kühle Klystiere als durch Laxanzen beseitigt; gerade in den hypochon - drischen Zuständen, wo die Abführmittel am meisten gebraucht werden, erweisen sie sich oft schädlich; die Drastica sind bei vor - handener chronischer Erkrankung der Genitalien durchaus zu ver - meiden, und der längere Fortgebrauch aller stärkeren Abführmittel kann zur Ursache schwerer Darmcatarrhe werden.

Emetica werden theils bei erkennbarer Störung der Magen - verdauung, zuweilen auch, namentlich bei Melancholischen mehr wegen des damit verbundenen psychischen Eindruckes angewendet. Die sogenannte Ekelkur mittelst kleiner Gaben von Tartarus emeticus kann durch den anhaltenden widrigen Eindruck auf das Gemeingefühl die Stimmung wesentlich modificiren, und den psychischen Schmerz, indem ihm eine körperlich widrige Empfindung substituirt wird, unterbrechen; ebenso kann der Tobsüchtige durch die Ermattung, welche die Folge dieses Mittels ist, beruhigt werden; festere Indi - cationen hiezu gibt es übrigens nicht, die Eckelkur ist nur noch in Einzelfällen im Gebrauch, und es ist nachdrücklich vor den enormen Gaben Tartarus emeticus (Gr. 12 20) die von Einzelnen angewandt wurden, zu warnen. Nicht nur Pustulation des Mundes und der Speiseröhre, umschriebene Gastritis, sondern auch ein schneller paralytischer Collapsus kann die Folge so roher Eingriffe sein. Wurmmittel mögen je zuweilen Anwendung finden, hauptsächlich bei den psychischen Störungen des kindlichen Alters.

§. 172.

Aus der Classe der irritirenden Mitteln von speciellerer Einwir - kung auf das Nervensystem wurde namentlich der Campher vielfach angewandt. *)So z. B. Perfect, auserlesene Fälle etc. V. Michaelis. Leipzig 1789.Einzelne Erfahrungen können auch noch zu ferneren Versuchen mit ihm einladen; bestimmtere Indicationen dürfte er in Zuständen sexueller Aufregung, wie solche namentlich auch beim Ausbruch des Irreseins im Puerperium vorkommen, finden; er muss hier in etwas stärkeren Gaben gereicht werden. Die Versuche mit Moschus, Phosphor, Arnica etc. das Gehirn beleben zu wollen, deuten einen ungewöhnlich hohen Grad therapeutischer Illusionen an; des letztgenannten Mittels kann man sich vielleicht, in Ver - bindung mit andern Diureticis, beim Verdacht seröser Ergüsse im Schädel mit einigem Erfolge bedienen.

361Kühlende Mittel. Tonica etc. Diät.

Kühlende Mittel sind unter bekannten Umständen häufig indi - cirt, also Nitrum, Elix. acid. H., Essig zum Getränk etc. Amara und Tonica können bei lange gestörter Verdauung, bei Anämie nothwendig werden. Emenagoga werden namentlich beim Beginn des Irreseins, wo Störung der Periode unter die Ursachen der Erkrankung gehört, mit Vortheil angewandt; auch in den chronischen Fällen ist übrigens die Menstruation sorgfältig zu reguliren. Oefters dürfte eine präcise örtliche Behandlung der weiblichen Genitalienkrankheiten, des Ute - rincatarrhs, der Krankheiten der Vaginalportion, welche so häufig als Ursachen von Functionsstörungen der Nervencentra auftreten und durch innere Mittel so schwer zu beseitigen sind, passend und nothwendig, wenn gleich nicht bei allen Kranken gleich anwendbar sein. Selten kommen Fälle vor, wo antisyphilitische Kuren zur Beseitigung der Gehirnkrankheit erforderlich sind (pag. 140). Die indicationslose Anwendung der Electricität ist ganz verwerflich; locale nervöse Schmerzen können nach unserer eigenen Beobachtung wirksam damit behandelt werden.

§. 173.

Was die Diät und zunächst die Nahrungsmittel betrifft, so könnte auch hier zunächst die Thatsache, dass so häufig das Irresein auf inflammatorischen Processen im Schädel beruht, zu der Meinung von der Nothwendigkeit durchgeführter antiphlogistischer Massregeln füh - ren. Nichts wäre dem Kranken verderblicher; die Beobachtung zeigt, wie häufig das Irresein, mag es auf diesen inflammatorischen Processen oder Irritation beruhen, mit allgemeiner Anämie und Herabsetzung der Ernährung verbunden ist, wie häufig der Appetit des Kranken verstärkt ist, wie eine karge Diät solche Kranke durchaus exasperirt und verschlimmert, wie der oft bedeutende Aufwand an Muskelkraft einen anhaltenden, kräftigen Ersatz erfordert und wie das Allgemein - befinden der Kranken überhaupt meistens durch eine kräftige Diät verbessert, durch genügende Speise Beruhigung, Schlaf und Wohl - behagen herbeigeführt wird. Auch hierin natürlich Alles mit Mass und Erwägung aller Umstände; bei acuter Meningitis, bei allen fieber - haften Zuständen strengste Diät, bei geschwächter Verdauung sorg - fältig gewählte Speisen, bei früherer Schwelgerei Gewöhnung an einige Einfachheit, deren günstige Erfolge sich oft bald zeigen etc. Die Getränke müssen durchschnittlich aus Wasser und wässrigten Flüssigkeiten bestehen (p. 359), und in den frischen acuten Fällen reichlich sein. Gemeinschaftliches Essen in den Irrenanstalten, wo362Diätetisches Verhalten.es sein kann, befördert die Lust am Essen, die Geselligkeit und übt den Kranken und Genesenden wieder in jenen humanen Formen, welche der äussere Träger gesunder Gefühle sind, und die er so oft vergessen hatte.

Nächst der Ernährung ist vor Allem in frischen wie in alten Fällen, auf den nöthigen Wechsel von Ruhe und Bewegung, auf möglichsten Genuss einer frischen, reinen Luft, auf möglichste Bewe - gung im Freien, zu Fusse, in einzelnen Fällen im Wagen, zu sehen; alle Irrenanstalten sind mangelhaft, welche nicht für alle Abtheilungen ihrer Kranken die nöthigen Räume zu längerem Aufenthalt im Freien, in Gärten, Höfen etc. darbieten. Bei manchen Kranken können sich hier passend gymnastische Uebungen mässigerer Art anschliessen; erheiternde Spiele mit Bewegung, wo in der harmlosen Aufmerksam - keit auf das Spiel der Kranke momentan seiner selbst und des Drucks der Gedanken vergessen lernt. Der Schlaf muss im Durchschnitt durch Arbeit, Bewegung in der Luft, Ermüdung, auch durch Bäder, durch Ruhe und Stille, nicht aber durch Narcotica herbeigeführt werden; der Kranke muss, wo nicht besondere Ruhe nothwendig, an frühes Aufstehen gewöhnt, und ein unmotivirtes Verweilen im Bette, welches bei weiblichen Kranken so leicht zur Gewohnheit wird und zu wahrer Schwäche aller Muskelactionen führen kann, nicht gestattet werden.

In Bezug auf Temperatur ist nur daran zu erinnern (p. 67), dass Geisteskranke nicht, wie man früher glaubte, fast unempfindlich für Wärme und Kälte seien. Alle Gelasse müssen im Winter wohl geheizt sein, und namentlich die Kranken, welche gerne stille und unbeweglich stehen oder sitzen, und deren Extremitäten oft eiskalt sind, müssen in dieser Beziehung sorgfältig gepflegt werden. Dass bei lebhafter Kopfcongestion eine kühle Temperatur namentlich des Kopfs erzielt werden soll, versteht sich von selbst.

Auf strenge Reinlichkeit des Körpers und Alles, was zu ihm gehört, ist aufs sorgfältigste zu sehen. Die Mittel hiezu sind be - kannt, und ihr Zweck ist nicht nur die Haut gesund und wohlfunctio - nirend zu erhalten, bei Paralytischen den Decubitus zu verhüten etc., sondern das Wohlbehagen, das der äusseren Pflege des Körpers ent - spricht, wird auch zur Grundlage eines psychischen Wohlgefühls und die Gewöhnung an Sorgfalt auf die leibliche Individualität leitet auch milde zur Aufmerksamkeit auf innerliche Ordnung und Bereinigung hin. So werden alle diätetischen Massregeln, wenn sie mit Ordnung und Me - thode durchgeführt werden, dem Kranken ein wohlthätiges Bedürfniss, zuweilen ein wahres neues Interesse und so ein wichtiges Hülfsmittel363Psychische Therapie.psychischer Therapie, während alle äussere Unordnung und Salloperie den Geist zerstreut und ihm Hülfen entzieht, sich bei sich selbst zurechtzufinden.

Drittes Capitel. Psychische Behandlung.

§. 174.

Die psychische Erregung selbst, wiewohl mittelst ihrer indirect stets auch auf die organischen Processe gewirkt wird, wird hier zu dem Zwecke einer directen Modification der psychischen Anomalieen durch Hervorrufen von Bildern, Vorstellungen, Gefühlen und Bestre - bungen benützt. Auch diess geschieht nur zum geringeren Theile durch ein positives Einwirken des Arztes auf den Kranken, etwa mittelst Zuspruch, Belehrung, oder gar mittelst Ueberraschungen, Strafen etc.; auch hier ist schon sehr Vieles durch gewisse negative Massregeln gewonnen. Sehr oft ist ja der Gang der Krankheit ein solcher, der ihr baldiges spontanes Aufhören erwarten lässt; hier reicht die Entfernung von allen psychisch irritirenden Momenten hin, und eine richtige Ordnung aller äusseren Verhältnisse, besonders wenn sie dem Kranken zugleich das Gefühl der Unterwerfung unter eine wohlwollende, vernünftige Macht gibt und allmählige Angewöh - nung an ein äusserlich vernünftiges Verhalten herbeiführt, ist hier der mächtigste Hebel geistiger Genesung.

Das nähere psychische Einwirken zum Zwecke der Rückführung der geistigen Gesundheit kann man wieder auf zwei Indicationen bringen, welche sich ebensowohl aus einem tieferen Verständnisse des Irreseins, als aus den vorliegenden Erfahrungen einer glücklichen Therapie entneh - men lassen. Einmal nemlich sollen die krankhaften Stimmungen und Vorstellungen, welche jetzt die frühere gesunde psychische Indi - vidualität zurückdrängen und bedecken, gehohen, entfernt werden; andrerseits soll wieder möglichst hingewirkt werden auf Wiederher - stellung und Stärkung des alten Ich selbst, welches ja lange Zeit im Irresein nicht verloren gegangen, sondern nur oberflächlich zurück - gedrängt oder in einen Sturm von Affecten hineingezogen ist, hinter dem es aber, zur Reaction bereit, lange fort noch im Stande ist, sich wieder zu erheben. Wenn zwischen der psychischen Behand - lung der Irren und der Erziehungskunst in Bezug auf Zweck und Mittel allerdings manche, schon oft besprochene Aehnlichkeit besteht,364Behandlung der krankhaftenso unterscheiden sich beide doch wesentlich eben in der letzter - wähnten Indication. Denn bei der psychischen Behandlung der Irren handelt es sich nicht von einer Neubildung, sondern von einer Wie - derherstellung; es handelt sich auch keineswegs davon, dass das her - zustellende Ich gewissen Forderungen entspreche, deren Realisirung sich eben die Erziehung zur Hauptaufgabe macht (z. B. dass es ein moralisches sei), sondern der einzige Zweck ist die Wiederherstellung des früheren, alten, gesunden Ich, mag dieses an Tugenden reich, oder von mannigfachen Fehlern getrübt gewesen sein. Besserungs - versuche, wenn solche überhaupt gemacht werden wollen, können erst beim Genesenen einen Sinn haben. Wenn die Erziehungskunst bei ihren Zwecken durch einen weichen und bildsamen Stoff begün - stigt wird, so findet die psychische Irrenbehandlung den mächtigsten Beistand in dem Wiederherzustellenden selbst, in den combinirten Vorstellungsmassen des Ich, das als ein schon gebildetes, festes, jetzt nur zurückgedrängtes, lange Zeit hindurch nur auf Gelegenheit wartet, seinen alten Platz wiedereinzunehmen, ja zuweilen geraume Zeit mit aller eigenen Macht gegen die Krankheit kämpft. Daher eben kommt es, dass es oft nur einer negativen psychischen Cur, einer Beseiti - gung alles Schädlichen bedarf. Wie stünde es sonst mit so manchen Irren, die in ungeschickten, rauhen Händen doch ihre volle geistige Genesung finden?

§. 175.

Was die erste Indication, die Schwächung der krankhaften Stimmungen, Gefühle und Vorstellungen betrifft, so ist durch allseitigste Erfahrung festgestellt, dass ihr directes Bekämpfen sehr selten zu einem günstigen Ziele führt. Die kranke Gemüthsverstimmung kann eben als eine kranke nicht dem Zuspruch, der Aufmunterung, noch weniger moralisirenden Vorstellungen, überhaupt nicht dem Verfahren weichen, welches sonst der einfachen üblen Laune des Gesunden entgegengesetzt wird. Jene Verstimmung geht aus der Erkrankung des Gehirns mit Nothwendigkeit hervor, und der Kranke kann sie so wenig mit Willkühr ablegen wie etwa die subjectiven Farbenbilder bei Reizung seiner Retina. Vieles für die Beseitigung der Verstim - mung ist eben von der körperlichen Behandlung, von der Befolgung eines (vernünftig) exspectativen Verfahrens zu erwarten, womit in verschiedenen Fällen theils auf eine Entäusserung der Stimmung, in - dem dem Kranken, z. B. dem Maniacus eine Explosion gestattet wird, theils auf Zurückdrängung ihrer Aeusserungen hingewirkt werden365Stimmungen und Wahnideen.kann, während immer die bald zu besprechende psychische Ableitung die Hauptsache bleibt. Ebenso vergeblich ja noch schädlicher als gegen die krankhaften Affecte die banale Aufforderung sich zu über - winden, ist der Versuch, die Wahnvorstellungen des Kranken direct durch logisches Raisonnement zu bekämpfen. Jede directe, am mei - sten vollends jede leidenschaftliche Discussion bestärkt gewöhnlich den Wahn, indem sie den Kranken zur Rechtfertigung desselben, zum Aufsuchen von Gründen für ihn auffordert, und irritirt und erbittert um so mehr, je dringlicher und schärfer die Dialectik des Opponenten auftritt, je mehr noch durch zugemischten Spott solche Vernunft - gründe dem Kranken wehe thun. Nicht einmal durch Beweismittel mittelst Augenscheins lassen sich die kranken Vorstellungen bezwin - gen. Man breite vor dem Kranken, der sich gänzlich verarmt wähnt, seine Gelder und Staatspapiere aus, man reisse vor einem Andern die Wand nieder, in der er seine quälenden Feinde versteckt glaubt; man wird zunächst beide irritiren und erst recht auf ihre falschen Vorstellungen aufmerksam machen, man wird im günstigsten Falle ein ganz äusserliches Zu - und Nachgeben erzielen, am ge - wöhnlichsten aber bei den Kranken einen Wechsel mit einem oft noch viel sehlimmeren Wahne bewirken. Alles dieses wird aus der oben (pag. 58, 169 etc.) erörterten Art und Weise der Entstehung der Wahnvorstellungen aus fix gewordenen Stimmungen, mit deren Beseitigung allein dem Wahn die Axt an die Wurzel gelegt wird, zur Genüge erhellen.

Einzelne Ausnahmen von der allgemeinen Regel, den Wahn nicht durch directe äussere Beweismittel zu bekämpfen, finden statt theils zuweilen bei Reconvalescenten, denen nach geschwundenem Affect noch einzelne Bruchstücke irriger Vorstellungen übrig geblie - ben, theils auch im ersten Anfang des Irreseins, wo die aufsteigen - den Wahnideen dem Kranken noch als schwebende Bilder entgegen - treten und wo das Ich im Kampfe gegen sie noch in der äusseren Anschauung der wahren Sachlage Succurs finden kann. Allein auch in diesen Fällen hoffe man Nichts von vielem Zureden und Ueberzeu - genwollen; es ist hier weit besser den Kranken wie zufällig, so dass er von selbst allein darauf zu kommen glaubt, auf das reale Verhal - ten der Dinge aufmerksam zu machen; alles Polemisiren ermüdet und quält, erregt Misstrauen und Abneigung.

Eine andere Art directer Bekämpfung des Wahns, nur für seltene und verzweifelte Fälle aufzusparen, besteht in der gewaltsamen Re - pression jeder Aeusserung der irrigen Vorstellungen, in einem gegen366Behandlung der Wahnvorstellungen.jede irrsinnige Rede oder That gerichteten Schreckenssysteme, dessen Hauptmittel die Douche ist, während gleichzeitig der Kranke theils auch durch Zwang, theils namentlich durch Vortheile, Freiheit, Ge - nüsse, wohlthuende Eindrücke, welche an alle vernünftigen Handlun - gen und Aeusserungen geknüpft werden, zu diesen gedrängt wird*)Vgl. Leuret, du traitement moral de la folie. Paris 1840, und die späteren Arbeiten seiner Schüler; dagegen Blanche de l’Etat actuel etc.. Ein solches Verfahren offenen, concessionslosen Angriffs auf die Wahnvorstellungen mit dem Zwecke einer heftigen psychischen Diversion kann nur für einzelne Fälle chronischer, partialer Verrücktheit, bei vollständig hergestelltem Allgemeinbefinden und Abwesenheit aller sonstigen Störungen versucht werden; es ist ebenso anstrengend für den Arzt selbst, als für den Kranken, dem in keinem Augenblicke Ruhe zur Hingebung an seine Wahnvorstellungen gelassen werden soll; eine Beseitigung von Hallucinationen, wie auch eine vollständige Heilung der Kranken durch solche Mittel halten wir für illusorisch. Dasselbe gilt von den verschiedenen, mehr oder minder sinnreichen Kunstgriffen und Ueberraschungen, welche man schon angewandt hat, um den Kranken von der Nichtigkeit seiner Ideen zu überzeugen; sie verschlimmern ihn positiv, wenn sie misslingen und der Kranke die Absicht oder gar die Täuschung merkt; gelingen sie auch, so hat man meist nur einen Wechsel der Wahnvorstellungen herbeigeführt.

§. 176.

Fast noch verwerflicher als eine so directe Bekämpfung, erweist sich das sogenannte Eingehen auf den Wahn des Kranken, die Zu - stimmung zu demselben, geschehe sie in der Absicht momentaner Beruhigung oder etwa, um auf dem Zugegebenen neue dialectische Hebel anzusetzen. Durch solche Bestätigung wird der Kranke in seinem Wahne befestigt, er beruft sich später auf ein solches Zeug - niss und man sieht oft, namentlich in tiefer melancholischen Zu - ständen von solchem in den besten Absichten eingeschlagenem Ver - fahren die allertraurigsten Folgen, indem sich rasch und bleibend Wahnvorstellungen fixiren, denen bis daher der Kranke wenigstens innerlich noch entgegentrat.

Statt des logischen Discutirens und statt des bestätigenden Ein - gehens auf die fixen Ideen werde denselben vielmehr, wenn die Umstände eine directe Aeusserung erheischen, ein einfacher Wider - spruch ohne allen Streit, eine schonende Verweisung an die Zukunft,367Psychische Ableitung. Stärkung des Ich.wo sich der Kranke über solche Irrthümer sehr wundern werde, eine Erinnerung an die Vergangenheit, wo er doch solches niemals für möglich gehalten hätte etc. entgegengesetzt. Am besten aber und am allgemeinsten anwendbar ist das System, den Wahn möglichst unberührt zu lassen und seine Schwächung dadurch hauptsächlich herbeizuführen, dass er in keiner Weise Nahrung erhält, indem der Kranke in anderer, mit den kranken Vorstellungen durchaus nicht congruenter Weise geistig in Anspruch genommen wird. Diese psy - chische Ableitung, eine Hauptgrundlage aller psychischen Behand - lung, geschieht in verschiedenen Fällen durch sehr verschiedene Mittel, welche dem Kranken um so besser bekommen und denen er um so weniger widersteht, je weniger er dabei den Heilzweck selbst merkt. Unter ihnen steht oben an alle Arbeit gesunder Art (siehe pag. 368), dann alle Zerstreuungsmittel, alle Unterhaltungen und Ge - spräche, welche mit genauer Berücksichtigung des individuellen Ge - schmacks nur Gesundes, Vernünftiges zum Gegenstande baben sollen, wo Allem, was auf den Wahn des Kranken führen kann, ausgewichen und er möglichst anhaltend in der Richtung des gesunden Gesprächs - gegenstands erhalten wird. Es ist also nothwendig, nicht nur die Be - rührung des Wahns, der Ereignisse, welche zur Erkrankung beitrugen, sondern überhaupt vieles directes Sprechen über den Zustand des Kranken zu vermeiden. Es ist nothwendig, dass der Kranke so we - nig als möglich allein und müssig bleibe; so lange er mit Dingen beschäftigt ist, welche der Krankheit fremd sind, ist er zur Hälfte von dieser frei und durch Abziehen der Aufmerksamkeit von den Wahnvorstellungen werden diese am besten geschwächt und zum Versinken gebracht.

§. 177.

Dabei soll nun das Gesunde im Kranken, das alte Ich gestärkt und gekräftigt, vor Unterdrückung und Zerfall bewahrt werden. Diess geschieht durch Alles, was eben die, dieser bestimmten Individua - lität im gesunden Leben angehörigen Vorstellungs - und Empfindungs - kreise fördert und erhält, und es geht eben hieraus die Regel her - vor, den Kranken nur oder doch ganz vorzüglich in der Richtung seiner eigenen früheren Interessen anzuregen. Eines schickt sich nicht für Alle und jeder Kranke ist wieder an einer andern Seite zu fassen. Hier muss sich die practische Menschenkenntniss des Arztes bewäh - ren im Durchschauen einer Persönlichkeit, in dem verschiedenen An - fassen der Individualitäten nach der Differenz der Charactere, Nei -368Psychische Mittel. Arbeit.gungen, Gewohnheiten und Bildungsstufen, im Auffinden aller der Seiten, von denen aus der Kranke empfänglich ist. Beim Weibe sind andere Interessen rege zu erhalten als beim Manne; bei Ein - zelnen ist alles gesunde Denken und Streben unzertrennlich mit den äusseren Beschäftigungen ihres Lebensberufes verbunden; mancher Handwerker kann nur in seinem Geschäfte, mancher Musikfreund in den Tönen seines Instruments u. dgl. den ganzen Umfang und die ganze Einheit seiner alten Individualität wieder finden. Ebenso ver - schieden sind die Gemüthsinteressen; immer aber misslingt es, dem Kranken solche aufzwingen zu wollen, welche keine Basis, keine Stützen und Hülfen in den Vorstellungen und Bestrebungen seines gesunden Lebens haben; dem Frivolen z. B. würde jetzt während der Krankheit religiöser Zuspruch so wenig taugen, als dem Unmu - sikalischen eine zwangsweise Beschäftigung mit Musik. Nur da ist von diesem Grundsatze der sorgfältigsten Erhaltung und Stärkung der ganzen früheren Persönlichkeit abzugehen, wo eben entschiedene Characterfehler, welche längst das Ich beherrschten, wesentlich zur Entstehung der Krankheit beitrugen. In solchen hie und da vorkom - menden Fällen, wo das Irresein als endliche Consequenz eines in Schlechtigkeit missbrauchten oder in Thorheit vergeudeten Lebens sich darstellt, könnte freilich nur von einer völligen Umänderung, von dem Anfange einer ganz neuen geistigen Persönlichkeit Heil erwartet werden; allein Jeder weiss, wie knapp hiezu unsere Mittel sind, wie schwer eine solche Restitutio in integrum ist, und wie schlimm und im besten Falle, wie sehr einem frühen Rückfalle ausgesetzt solche Fälle sind. Alles, was die Anhänglichkeit an das gesunde vergan - gene Leben, seien es Familienbande, die alten Beschäftigungsweisen u. dergl. erhält, dient zur Kräftigung des Ich, und die unzähligen Modificationen in den Mitteln zur Förderung der gesunden Vorstel - lungskreise (Correspondenz, Besuche etc.) müssen eben der Einsicht und dem Tacte des Arztes überlassen werden.

§. 178.

Unter den einzelnen psychischen Mitteln scheint uns die Arbeit das erste und wichtigste zu sein. In gesunder Thätigkeit findet der einge - borene Drang nach Aeusserung und Entäusserung des Geistes in der ob - jectiven Welt seine beste Befriedigung; indem sich Denken und Streben in die Gestaltung eines Stoffes versenken, wird der Geist von leerer Sehnsucht zurückgeführt und von den Illusionen der Phantasie abge - zogen; das Gefühl des Gelingens öffnet wieder den Zugang zu369Arbeit. Unterricht.expansiven Empfindungen und mit ihm kehren Selbstachtung und Ver - trauen in die eigenen Kräfte zurück. So gilt mit Recht eine stetige Beschäftigung des Kranken, besonders aber sein eigenes Verlangen nach Arbeit für ein Zeichen entschiedener Besserung und bildet oft den Anfang der Genesung. Diejenigen Beschäftigungen sind die besten, welche mit körperlicher Bewegung, mit stetem Aufenthalte in freier Luft verbunden sind, wie alle Garten - und Feldgeschäfte, welche nicht nur bei den unteren Ständen, deren gewohntes Tagewerk sie früher ausmachten, sondern auch bei den Verfeinerten durch ihre friedlichen und beruhigenden Eindrücke und ihren unmittelbaren Na - turverkehr sich höchst wohlthuend erweisen. Wo solche nicht auszu - führen sind, müssen andere häusliche oder handwerksmässige, der künstlerischen Thätigkeit sich nähernde Beschäftigungsweisen an ihre Stelle treten und nur wenige Kranke, und auch diese nur im Wech - sel mit körperlicher Uebung und Muskelanstrengung sind vorwiegend sitzend und geistig zu beschäftigen; bei chronisch Kranken wird zuwei - len durch das Erlernen eines neuen Métiers, an dem sie Freude ha - ben, die Aufmerksamkeit auf die wohlthätigste Weise neu gefesselt. Den dürftigen Kranken erfreut ein kleiner Lohn seiner Arbeit und gibt ihm oft bei seiner Genesung den ersten Schutz gegen Mangel; die Kräfte des Reichen werden zum Besten der Anstalt und seiner ärmeren Genossen in Anspruch genommen. Die Arbeit soll, wo im - mer es der Gesundheitszustand gestattet, etwas Methodisches haben; wenn aber einerseits die Kranken von einem unsteten Durchprobiren aller möglichen Beschäftigungsarten abzuhalten sind, so ist noch mehr jeder Character eines fabrikmässigen oder gar eines blos die pe - cuniären Vortheile der Anstalt berücksichtigenden Geschäftsbetriebs ferne zu halten. Die Genesung oder Besserung der Kranken muss die einzige Rücksicht der Arbeit sein; Jedem ist nur das für ihn Passende, und auch nur im rechten Zeitpuncte zuzumuthen und nur der Müssiggang ist strenge fern zu halten.

§. 178.

An die Arbeit schliesst sich eine gesunde Uebung der Geistes - kräfte auf ihrem eigenen Gebiete an und ein Hauptmittel hiezu ist bei vielen Kranken der Unterricht. Er wird nicht gegeben, um die Wahnvorstellungen des Kranken zu bekämpfen, etwa um ihm in der Physik zu zeigen, wie unausführbar seine Projecte sind, sondern gleichfalls um die Aufmerksamkeit von dem Krankhaften ab und auf würdige, interessante und dem Kranken nützliche Dinge hinzuleiten. Griesinger, psych. Krankhtn. 24370Musik. Zerstreuungen. Besuche.Er ist ein ernsteres Zerstreuungsmittel, durch welches ganz vernach - lässigten Kranken allerdings auch die Elemente geistiger Bildung bei - gebracht werden können. Wie alles, was das Gehirn erregt, darf solche Beschäftigung nur eine verhältnissmässig kurze Zeit in An - spruch nehmen; die Lehrobjecte sind nach Alter, Geschlecht und Bildung verschieden, Elementar-Unterricht, Musik, Geschichte etc. Solcher Unterricht kann mit Auswendiglernen verbunden, er kann als ein wechselseitiger, indem sich der gebildetere Kranke des ungebil - deten annimmt, mit Vortheil betrieben, und immer muss er durch Gegenstand, Lehrer und Methode den Kranken anziehend gemacht werden.

Von den Einwirkungen der Musik hat man sich manchmal zu vieles versprochen; die durch sie erregten Stimmungen sind zu flüch tig, um auf die Dauer der krankhaften Stimmung entgegenzutreten, und die Musik hat nur dann eine die sonstigen Zerstreuungsmittel übertreffende Wirkung, wenn sie von dem Kranken selbst mit Nei - gung ausgeübt wird; gemeinsame Gesangübungen sind den Irrenan - stalten höchlich zu empfehlen.

Ausserdem dienen zur Zerstreuung und Ableitung des Kranken Gespräche, Lectüre, Spaziergänge, Spiele, Gesellschaft und heitere Zusammenkünfte, Alles in höchst verschiedenen Modificationen nach den Individualitäten.

Die Besuche bei den Kranken bedürfen abgesehen von jedem Ausschluss Neugieriger immer einer besonderen Erwägung. In den ersten Perioden und bei noch zunehmender Krankheit sind Besuche der Angehörigen gewöhnlich schädlich, theils indem sie der so häufigen Abneigung des Kranken gegen die Seinigen wieder Nahrung geben und manche ihn irritirende Erinnerungen wieder heraufziehen, theils indem sie die so höchst nothwendige Angewöh - nung und Ergebung des Kranken an den Aufenthalt in der Irrenanstalt hindern und ihm Heimweh erregen. Dagegen tragen in ruhigen Zei - ten, bei wieder erwachenden gesunden Neigungen die Besuche vie - les zur Aufklärung und Kräftigung des Kranken, noch mehr des be - ginnenden Reconvalescenten bei; oft findet ein solcher durch einen einzigen Besuch schnell die richtige Ansicht über sich selbst, seine Krankheit und seine Stellung zur Welt wieder.

§. 180.

Die Hülfe der Religion bei der Irrenbehandlung ist nicht ge - ring zu schätzen; die Handhabung dieses Mittels bedarf aber grosser371Religion.Vorsicht. Religiöse Erbauung darf keinem Kranken fehlen, der Ver - langen und Bedürfniss darnach hat; es würde aber gegen einen er - sten Grundsatz der psychischen Behandlung streiten, wenn man solche Erbauung dem Kranken aufdringen und damit Interessen bei ihm in Bewegung setzen wollte, die keine Grundlagen in seinem Herzen haben; von völliger Unkenntniss mit dem Wesen und den Hergängen dieser Krankheiten würde vollends die Idee zeugen, auf dem Wege der religiösen Bearbeitung, der Besserung und Bekehrung das Irre - sein direct heilen zu wollen. Alle solche Einwirkung kann nur den Zweck haben, dem Kranken Beruhigung, Trost und Hoffnung zu ge - ben, seine Aufmerksamkeit von den krankhaften Vorstellungen ab und auf ein ernstes und bedeutendes Thema hinzurichten, die Denk - und Empfindungsweise seines gesunden Daseins wieder zu beleben. Wie weit der Versuch gehen soll, solche Zwecke durch diese Art psy - chischer Einwirkung zu erreichen, darüber hat nur der Arzt zu ur - theilen. Dieser wird niemals die grausame und ganz vergebliche Zu - muthung dulden, dass dem Melancholischen zu seinem selbstquäle - rischen Jammer hin noch das ernste Geschäft der Busse auferlegt werde, oder dass verschüchterte und verzweifelnde Kranke auch noch durch Drohungen mit der Hölle geschreckt werden. Schwermüthige, Maniaci, wenn an ihnen nicht alle derartige Erregung gänzlich ab - gleitet, und Verrückte bemächtigen sich zur Nährung ihrer Delirien allzugerne der ihnen auf diesem Wege dargebotenen Vorstellungen. Wird indessen bei der religiösen Einwirkung mit der nöthigen Vor - sicht verfahren, werden nur diejenigen Seiten der Religion benützt, die auf passende Weise zum Gefühle sprechen, und ist der Geist - liche einsichtig genug, um den einzigen Zweck der Krankenheilung im Auge zu haben, so sind regelmässige kirchliche Erbauungen für beide Confessionen in den Anstalten höchst passend, und man sieht sehr häufig, wie deren Besuch, ganz abgesehen vom Inhalte, dem Kranken durch die Nothwendigkeit, sich eine Zeit lang äusserlich zu sammeln, höchst wohlthätig wird.

Einzelne Irrenärzte haben verlangt, dass die ganze Psychiatrie eine speci - fisch christliche sein soll. Allein es nehmen auch Juden die Hülfe des Irren - arztes und seiner Wissenschaft in Anspruch, und da es kein abstractes, nur ein confessionelles Christenthum gibt, so müsste es begreiflich eine eigene protestan - tische, catholische etc. und wieder eine jüdische, heidnische Psychiatrie geben. Es ist wohl möglich, dass auch Solches noch verlangt wird.

24 *372Zwangmittel.

§. 181.

Die äusseren Beschränkungsmittel haben den Zweck, den Kranken vor Schaden, den er sich selbst oder Andern zufügen könnte, zu bewahren, ihm das laute Rasen und Toben, überhaupt solche Aeusserungen seiner irren Triebe, in welchen diese selbst wieder neue Nahrung finden können, unmöglich zu machen und so seiner Selbstbeherrschung zu Hülfe zu kommen. Sie dienen ausserdem überhaupt dazu, ihm eine äussere Gewalt, gegen welche sein eige - nes Thun unmächtig ist, fühlbar zu machen, seinen Willen zu beu - gen und Starrsinn und Widersetzlichkeit zu brechen. Die Mittel, deren man sich hiezu bedient, dürfen nicht nur Nichts das Ehrge - fühl des Kranken Verletzendes, nichts Zuchthausartiges (wie Ketten und Schläge), sie dürfen auch Nichts die Phantasie Schreckendes ha - ben, wie jene mannigfaltigen Zwangsapparate und Maschinerieen, deren man sich früher, zum Theil bis in die letzten Jahre noch bediente*)S. eine Sammlung derselben in Schneider’s Heilmittellehre gegen psych. Krkhtn. Tüb. 1824.. Man kann in den meisten Fällen mit der Zwangsweste, einem leine - nen Camisol, das dem Kranken keinen oder nur einen sehr beschränk - ten Gebrauch der Arme und Hände gestattet, ausreichen; für einzelne Fälle mögen noch der Zwangsstuhl, ein gepolsterter Lehnsessel, auf welchem der Kranke befestigt wird, oder weiche Sprungriemen, welche ihm das schnelle Gehen und Laufen unmöglich machen, auch einige Gürtel, um ihn im Nothfalle im Bette zu befestigen, dienen.

Ohne Zweifel war es der Missbrauch, welcher bis vor Kurzem mit der Anwendung körperlichen Zwangs bei Irren getrieben wurde, wodurch in den letzten Jahren in England das entgegengesetze Ex - trem, die totale Verbannung aller mechanischen Beschränkungsmittel aus der Irrenbehandlung, hervorgerufen wurde. Dieses Verfahren, als System des No-Restraint bekannt, zuerst (1838) in der Anstalt von Lincoln, später in Northampton, in Hanwell, in Lancaster, Suf - folk, Gloucester u. a. O. ein - und durchgeführt, wird von der einen Seite eben so sehr gepriesen, als von der andern seine Vor - theile in Frage gestellt werden. An die Spitze der Gründe dafür wird die grössere Humanität dieses Verfahrens und die leichtere Beruhi - gung des Kranken, der durch mechanischen Zwang oft stärker irritirt werde, gestellt; es wird behauptet, dass der Kranke dadurch mehr an eigene Selbstbeherrschung gewöhnt und in seiner Selbstachtung ge - hoben werde, dass dabei eigenmächtige Gewaltthätigkeiten der Wärter373System des No-Restraint.unmöglich seien; die Kranken jener Anstalten sollen seit der Ein - führung des Systems ruhiger, geordneter und heiterer, die Heilungen sollen dauerhafter geworden sein, und im Nothfalle, wird gesagt, könne der Kranke ja eben so gut, als durch mechanische Mittel, durch das Einschreiten von Wärtern beschränkt werden.

Es ist klar, wie diese Gründe zwar gegen den Missbrauch der Zwangsmittel, aber noch nicht für ihre Verwerfung in allen Fällen spre - chen. Mit Recht wurde auch schon in England gegen das System gel - tend gemacht, dass die Beschränkungsmittel zwar immer für seltenere Fälle aufzusparen, dann aber oft allein im Stande seien, einzelne Kranke der Autorität des Arztes zu unterwerfen, und sie für sich selbst und andere unschädlich zu machen. Mit Recht wurde darauf hingewiesen, dass man eben bei Anwendung dieser Mittel den Kran - ken selbst weit mehr Freiheit, namentlich Bewegung in frischer Luft, gestatten kann, dass man ohne sie einer unverhältnissmässigen Wärterzahl für einzelne Kranke bedarf, dass eine persönliche Bemeisterung durch Menschenhand weit irritirender wirkt, als ein mechanisches Mittel, dass eben hier Gewaltthätigkeiten von Seiten der Wärter, als ein - gehaltene oder leicht überschrittene Nothwehr, kaum zu vermeiden sind; endlich dass die Einsperrung in eine einsame Zelle, deren sich das System des No-Restraint bedient, eben so gut ein mechanischer Zwang, nur unter einer anderen, keineswegs besseren Form sei.

Es bedarf längerer, umfassenderer Erfahrungen, um diese Frage definitiv zu entscheiden. Jedenfalls wird man es für einen Excess der Philantropie (s. p. 342) halten dürfen, wenn in der Bekleidung des Kranken mit dem Camisole etwas an sich Inhumanes gesehen wird. Zieht man noch in Betracht, wie manche Kranke im Vorge - fühl tobsüchtiger Anfälle selbst um äussere Beschränkung bitten, wie man zuweilen von Anderen hören kann, der Tobanfall wäre leichter und schneller vorübergegangen, wenn ihm mit ernsterer Beschrän - kung entgegengetreten worden wäre, wie wenig von sonstigen, wirk - lich ausführbaren Mitteln uns bei einzelnen zuchtlosen und gefähr - lichen Kranken, ganz besonders aber bei einzelnen Fällen von Selbst - mordtrieb zu Gebote stehen, so wird man die wichtigsten, practischen Bedenken gegen das System nicht unterdrücken können. Und es werden solche Zweifel wesentlich verstärkt durch den Bericht, wel - chen (a. 1843) die mit der Untersuchung der englischen Irrenanstalten beauftragte Commission dem Parlament erstattete, indem dort die un - erfreulichsten Scenen grober Ruhestörung und Gewaltthat aus den374Strafmittel.Häusern, wo das No-Restraint eingeführt war, berichtet werden*)S. Battelle, rapport etc. Annal. med. -psych. Novbr. 1844. p. 457 seqq., indem ferner (nach Julius) die Zahl der Heilungen entschieden in keiner dieser Anstalten vermehrt wurde. So können wir uns bis jetzt dem Urtheile bedeutender vaterländischer Autoritäten im Anstaltswesen anschliessen, welche sich ebensowohl im Interesse der Kranken selbst, als im Interesse der Aufrechterhaltung von Ordnung, Ruhe und Zucht in den Anstalten nachdrücklich gegen die vollständige Abschaffung der mechanischen Beschränkungsmittel erklärt haben.

Es versteht sich, dass immer nur der Arzt, niemals der Wärter auf eigene Autorität mechanische Repression über den Kranken ver - hängen darf, dass sie immer auf’s Genaueste überwacht werden muss, und dass diese Mittel nur für Nothfälle, wenn das mildere Verfahren erschöpft ist, aufzusparen sind. Ihre Anwendung darf auch nicht den Character einer Strafe, sondern immer den einer therapeutischen Mass - regel haben. Als eigentliche Strafmittel dagegen, deren man bei ein - zelnen widerspenstigen Kranken je und je bedarf, dient die Entziehung gewohnter Genüsse, die Versetzung auf eine andere Abtheilung des Hauses, und beim Bedürfniss einer noch stärkeren Einwirkung mit bestem Erfolg die kalte Douche, wenn sie in dem sonstigen Gesund - heitszustande durchaus keine Contraindication findet, als ein das Ehr - gefühl des Kranken durchaus nicht verletzendes, und doch höchst empfindliches und sehr gefürchtetes Mittel.

Viertes Capitel. Einzelne Modificationen der Therapie.

§. 182.

Die Anwendung der bisher erörterten Mittel und Methoden wird zwar durch die verschiedene Form des Irreseins, an welcher der Kranke leidet, zum Theil wesentlich modificirt; doch hat sich sowohl die psychische als die somatische Behandlung ebensosehr, als nach diesen Formen, nach der verschiedenen Individualität der Kranken, nach den aufgefundenen sonstigen leiblichen Erkrankungen, die bei allen Formen dieselben sein können, und wieder besonders nach der Verschiedenheit der Stände, Charactere und geistigen Eigenthümlich - keiten zu richten. Für letzteres lassen sich kaum allgemeine Re - geln aufstellen; was aber die Behandlung der verschiedenen Stadien375Behandlung der Anfangsstadien.des Irreseins, und namentlich zuerst der Periode der beginnen - den Erkrankung betrifft, so ist hier vor Allem noch einmal an die Nothwendigkeit eines möglichst frühen Einschreitens zu erinnern. Zuerst freilich ist durch eine genaue Beobachtung des Kranken die Diagnose sicher zu stellen. Bei noch sehr mässigen Symptomen ist im ersten Anfang begreiflich oft nur eine Wahrscheinlichkeitsdiagnose möglich, welche übrigens durch vorhandene erbliche Anlage, durch gewisse vorausgegangene Ursachen u. dgl. wesentlich unterstützt wer - den kann. Abgesehen von groben Missgriffen, z. B. der schon vor - gekommenen Verwechslung eines typhösen Fiebers mit selbstständigem Irresein, gebietet es kluge Sorgfalt für den Kranken, ihn bei dring - lichem Verdachte auch gleich als Irre-Werdenden zu behandeln, da ihm hieraus keinerlei Nachtheil, wohl aber unter allen Umständen ein wesentlicher Vortheil entspringen kann. Denn in diesem Zeit - raume besteht das Hauptverfahren in einer vollständigen Beseitigung aller Krankheitsursachen und in genau individualisirten und sorgsam durchzuführenden diätetischen Massregeln.

Hier hat die somatische Therapie ihre ausgedehnteste Anwen - dung; von psychischer Seite hüte man sich bei leidenschaftlicher Beschäftigung des Kranken mit widrigen Vorfällen und bei überhand - nehmender Verstimmung vor allem tiefer eingehenden Raisonnement darüber, vor allen dringlichen Ermahnungen, religiösen Bearbeitungen u. dergl. ; man versuche dagegen, seinen Schmerz durch Ablenkung auf Anderes, sei es noch auf gesunde Thätigkeit, auf den Kreis ge - wohnter Pflichten, oder auf milde erheiternde äussere Eindrücke zu mässigen und seine sinkende Hoffnung durch mässigen, wohlwollen - den Zuspruch zu stärken. Man muss dem Kranken weder die Zwei - fel, die man über seine geistige Gesundheit hegt, noch eine directe Beaufsichtigung zeigen, auch nicht neugierig nach den Gründen sei - ner Veränderung in ihn dringen, weil er sonst misstrauisch und ge - neigt zur Verstellung wird; er soll auch wenig allein bleiben, doch ist es zuweilen gut, ihn auch allein und unbemerkt zu beobachten, wo er sich oft in Selbstgespräch und Geberde frei gehen lässt. Wo immer das Allgemeinbefinden es erlaubt, soll er nicht ganz müssig sein, sondern einige vorsichtig gewählte Beschäftigung haben; nur ist jede geistige Anstrengung auf’s Strengste zu vermeiden und demge - mäss ist ein schleuniges Aufgeben des gewohnten Geschäfts oft die erste Bedingung der Therapie.

In vielen Fällen aber bedarf man einer durchgreifenden Umänderung aller Aussenverhältnisse; Ortsveränderung, Reisen, namentlich Fuss -376Behandlung des ersten Stadiums.und Badereisen, wenn die äussern Verhältnisse solche gestatten, sind hier oft vom besten Erfolge. Nur bedenke man, dass alle rauschenden Zerstreuungen dem Erkrankenden, der noch weniger als den gewohnten Antheil an der Welt mehr nehmen kann, nur wehe thun, und dass er vor Allem der Abhaltung aller heftigeren Eindrücke und aller Menschen, welche nicht mit der Art seines Leidens vertraut sind, und der Ruhe und Stille bedarf. Sehr vieles beim Gelingen oder Misslingen solcher Massregeln hängt hier von der Geduld und Beharrlichkeit, mit der sie ausgeführt werden, von den Aussenverhältnissen des Kranken und von seiner Umgebung ab, in welcher namentlich verständige weib - liche Hülfe oft von grossem Werthe ist. Der Arzt muss hier beson - ders den so häufigen Irrthum der Angehörigen, als ob die psychische Anomalie auf Eigensinn und Verstellung beruhe, beseitigen, er muss ihnen über die Gefahr, in welcher der Kranke schwebt, und die Noth - wendigkeit ungesäumten Einschreitens schonend, aber entschieden, die Augen öffnen.

Daneben ist nun für eine zweckmässige Diät, für Vermeidung aller Spirituosa, für reichliche Bewegung in freier Luft, für ruhigen Schlaf, für die Offenerhaltung aller Secretionen zu sorgen. Alle Symptome acuter oder chronischer anderweitiger Erkrankung (Men - struation, Herz -, Darmkrankheiten etc.) müssen sorgfältig gewürdigt und diese mit besonderer Berücksichtigung alles dessen, was Gehirn - hyperämie erzeugen und unterhalten kann, unverdrossen und beharr - lich behandelt werden. Wenn dabei zwar ein Excess schwächender Behandlung strenge zu vermeiden ist, so ist doch auch gerade dieses Anfangsstadium die Zeit, wo namentlich bei acuterem Verlaufe wohl angebrachte Blutentziehungen den besten Erfolg haben können.

§. 183.

Auch bei einem stürmischeren Beginn und schnellem heftigem Ausbruch der Krankheit lasse man sich nicht durch die blose Rück - sicht auf momentane Beschwichtigung der auffallendsten Symptome zu einem wenig überlegten Gebrauche von Mitteln verleiten, welche für das Ganze der Krankheit von schädlichem Einflusse sein können (z. B. profuse Aderlässe, Narcotica). Zu dem vorhin erwähnten Ver - fahren muss hier nur eine vollständige Isolirung des Kranken, der nun gar nicht mehr in der Welt leben kann, hinzukommen.

Die Melancholischen verschone man mit Zumuthungen, ihren Schmerz zu unterdrücken, mit Bitten und vielen Vorstellungen; man rede so wenig als möglich mit ihnen von ihrem eigenen Zustand und377Behandlung der Melancholie, der Manie.gar nichts von den Objecten ihres Deliriums, man lasse sie auch nicht viel klagen und mehr als viel tröstendes Zusprechen nützt hier ein kurzes, etwas strenges Verfahren, das zuweilen sogar den Anschein einiger Härte haben darf. Man sehe dabei auf äussere Ordnung, lasse den Kranken regelmässig aufstehen, etwas arbeiten, spazieren gehen etc.; seine harmlosen Wünsche erfüllt man mit Aufmerksamkeit, jedem gesunden Interesse, das sich zeigt, kömmt man entgegen, und nur dem Krankhaften in ihm leistet man Wider - stand. Bei Anfällen von grosser Angst und Unruhe ist eine active Repression nicht passend; man wartet solche am besten unter vieler, genau beaufsichtigter Bewegung im Freien, unter der Anwendung von Bädern etc. ab. Dabei finden aus der somatischen Therapie oft die Mittel gegen Darmcatarrhe, zuweilen Emetica, öfter die mässigen La - xanzen, mit oder ohne bittere Mittel, eine passende Anwendung, in andern Fällen sind Digitalis, Elix. acid. H., Tonica, Chinin, die Local - behandlung der schmerzhaften Wirbelsäule u. dergl., bei den stupid Melancholischen Drastica und starke äussere Hautreize, Vesicatore, Brechweinstein-Salbe indicirt.

In der Manie ist vollends eine totale Entfernung aus der frü - heren Umgebung unerlässlich. Der Tobsüchtige, welcher alle Rück - sichten des geordneten Lebens vergessen hat und die widrigsten und gefährlichsten Auftritte veranlassen kann, der Wahnsinnige, der durch den Widerstand, den seine ausschweifenden Unternehmungen und Forderungen finden, bald erbittert wird, können nur in einer Irren - anstalt ertragen und vor allem nur dort geheilt werden. Auch in den Anstalten bedürfen diese sehr aufgeregten Kranken im Durch - schnitt einer strengen Isolirung, Einzelne bedürfen vollständiger äus - serer Ruhe und Stille, sogar vollständiger Abhaltung des Lichtes, an - dere beruhigen sich eher, wenn man sie in grösseren überwachten Räumen, am besten im Freien der Explosion ihrer Stimmungen über - lässt. Uebrigens muss man der äusseren Aufregung nicht alsbald mit Zwangsmitteln, noch weniger mit Ermahnen und Predigen ent - gegen treten. Am besten ist es, das Reden und Schreien solcher Kranken unbeachtet zu lassen und die Ausbrüche der Stimmung, nur wo sie gefährlicher Art sind, oder wo sie rückwärts zu einer neuen Quelle stürmischer innerer Erregung werden, durch Zwangsmittel zu beschränken, die dann aber kurz und schnell ohne vieles Reden und Streiten applicirt werden. Man muss den Kranken das Zulässige ge - statten, aber den ausschweifenden Forderungen nicht nachgeben und sich den kranken Wünschen nicht in der Art der Laien, welche sich378Behandlung der chronischen Formen.von solcher Befriedigung oft sehr viel für die Genesung versprechen, allzugefällig zeigen. In einzelnen Fällen allerdings, namentlich, wenn man von früheren Anfällen her vermuthen darf, dass solche begehrliche Stimmungen nur kurz dauern, ist es oft besser, auch unnöthige Forderungen zu befriedigen. Sehr zänkische, widersetzliche Kranke müssen, wenn auch schonend, um jeden Preis unterworfen werden; Nachgiebigkeit erhöht ihre Ansprüche und erweckt den Glauben, dass sie dem Arzte imponiren. Bei noch grösserer äusserer Besonnenheit kann man dem Kranken sagen, dass er krank sei, und kann ihn auf das Anomale seines Thuns und Treibens aufmerksam machen; wo es der Kranke vermag, muss er zu geordnetem Verhalten und später zu einiger Beschäftigung angehalten werden. Man lässt solche Kranke viel trinken, Bäder in oben angegebener Weise gebrauchen; man ver - ordnet je nach Umständen Blutegel, Schröpfköpfe, innerlich Digitalis, kleine Gaben Tartarus emeticus, Abführmittel, selten (ausgenommen beim Delirium tremens) Narcotica. Die Hautreize thun den exaltirten Kranken selten gut, und man hat sich hier im Allgemeinen vor einem zu viel geschäftigen Eingreifen, als ob nur die äussere Beruhigung der Zweck der Behandlung wäre, wohl zu hüten.

Schwierig sind alle näheren Bestimmungen über das Verhalten bei den verschleppten chronischen Formen von Manie und Me - lancholie, welche in Verrücktheit übergehen; jeder Fall muss wieder anders behandelt und die somatische und die psychische Therapie nie zu frühe aufgegeben werden. Durchgreifende Umänderungen des ganzen körperlichen Befindens, welche das Irresein zuweilen noch günstig modificiren, sind sorgfältig zu überwachen. Die Hauptsache aber ist, die Spontaneität des Kranken wieder zu erregen; diesen Er - folg hat zuweilen noch eine neue völlige Umänderung aller Aussenver - hältnisse, z. B. die Versetzung in eine andere Anstalt, sogar eine versuchsweise Entlassung nach Hause. In andern Fällen kann solches durch jene (p. 366) zwangsweise Zurückdrängung aller kranken Aeusse - rungen mit gewaltsamer Hinleitung auf gesunde Handlungen und Neigungen erreicht werden.

Bei ausgebreiteter Verrücktheit und bei Blödsinn handelt es sich nur davon, den Kranken durch Arbeit, strenge Ordnung, Zucht und Reinlichkeit vor tieferem leiblichem und geistigem Ver - sinken zu bewahren und seine Existenz durch wohlwollende freund - liche Behandlung, durch Gestattung alles des Lebensgenusses, dessen er vermöge seiner Krankheit noch fähig ist, so günstig als möglich zu gestalten.

379Behandlung einzelner Symptome.

Für den paralytischen Blödsinn gibt es keine Therapie. Einzelne Beobachter wollen vom Glüheisen, andere von der metho - disch und lange fortgesetzten Anwendung trockener oder nur ein Minimum von Blut entleerender Schröpfköpfe im Nacken einzelne spärliche Erfolge gesehen haben. Strengste Reinlichkeit (übrigens mit Ausschluss aller Bäder), gewählte kräftige Diät, am Ende nur aus weichen und halbflüssigen Speisen bestehend, vor Allem reine Luft und möglichster Aufenthalt im Freien, im Uebrigen alle Sorgfalt, die dem zarten Kindesalter nothwendig ist, sind das Einzige, was das Leben dieser Unglücklichen noch verlängern und erträglicher ma - chen kann.

§. 184.

Bei auffallenden Hallucinationen werde das betreffende Sinnes - organ genau untersucht, unter Umständen das Ohr durch Injectionen gereinigt, und man kann hier einzelne Versuche mit Abhaltung der Sinnesreize, mit Blutegeln, Ableitungen auf die Haut, Datura etc. machen.

Auch bei Nahrungsverweigerung muss zuerst die Mundhöhle untersucht werden, da jene zuweilen durch Entzündung der Schleim - haut, durch Angina und dergl. veranlasst werden kann; ist nichts solches aufzufinden, so suche man den Kranken gleichfalls nicht durch vieles Zureden, sondern durch Vorsetzen gewählter Speisen, die man ihm einsam überlässt und stillschweigend wieder wegnimmt, manchmal auch durch Beispiel von seinem Entschluss abzubringen. Gelingt es nicht bald, so schreite man nach einer kurzen Aufforderung ganz ruhig zur Anwendung von Zwangsmassregeln, indem man ihm anfangs die Speisen, nöthigenfalls mit Zuhalten der Nase einfach aufnöthigt, bei noch grösserer Hartnäckigkeit die Schlundsonde anwendet. Bei lange dauernder Speiseverweigerung nehme man übrigens zuerst keine reizenden Flüssigkeiten, wie Wein und dergl., sondern milde Sub - stanzen, Milch, Bouillon etc.

Der Hang zur Masturbation ist höchst schwierig radical zu beseitigen, und doch gelingt kaum eine Heilung während seiner Fort - dauer. Die mechanischen Vorrichtungen erreichen ihren Zweck sel - ten vollständig; die Hauptsache ist die genaueste Aufsicht auf den Kranken, der keinen Augenblick allein sein darf, Arbeit oder Spaziergänge bis zur Ermüdung, etwas knappe Kost, kühle Bäder, ein hartes Lager, bei Einzelnen die consequenteste Strenge. Die Ursachen dieser Gewohnheiten bedürfen oft einer arzneilichen Behandlung;380Behandlung einzelner Zufälle.Ascariden sind wohl zu berücksichtigen; die Jodmittel, von denen man einzelne Erfolge gesehen hat, dürften da am Platze sein, wo der sexuelle Reiz durch chronische Irritation und Entzündung der Urethra gesteigert wird; die von Ellis empfohlenen Canthariden halten wir für gefährlich.

Die geschärfteste Aufmerksamkeit erfordert die Neigung zum Selbstmord. Höchst selten (p. 196) kann ihm eine medicinische Behandlung begegnen; gewöhnlich muss man sich auf stete Ueberwa - chung, auf Entfernung aller Werkzeuge, Stricke, Bänder etc. be - schränken, und diese Beaufsichtigung muss um so strenger sein, je listiger solche Kranke oft ihr Vorhaben in einem einzigen unbewachten Augenblick, ja sogar in Gegenwart von Wärtern, z. B. durch Stran - gulation im Bette, auszuführen wissen.

Gefährlichen, besonders bewaffneten Kranken zeige man eine ungetrübte Besonnenheit; die häufig hinter dem lauten Toben ver - steckte Aengstlichkeit und der Rest von Bewusstsein des Rechts und Unrechts kommen hier dem Muthigen zu Hülfe. Die Entwaffnung gelingt meist besser mit List als mit offener Gewalt, und man er - zählt sich manche Fälle, wo weibliche Schlauheit dem Wüthenden das Messer spielend aus der Hand rang.

Ein junger Mensch, der mehre Monate ruhig gewesen war, ward plötzlich von einem Anfall seiner Raserei befallen. Er schlich sich in die Küche und nahm das Instrument zum Hacken der Kräuter weg. Den Leuten, die ihn an - greifen wollten, widersetzte er sich, sprang auf einen Tisch und drohte jedem den Kopf einzuschlagen, der sich ihm nähern würde. Die Frau des Oberaufsehers Pussin schalt die Leute, dass sie den Kranken hindern wollten, mit ihr zu ar - beiten, redete ihm sanft zu, nur zu ihr zu kommen und zeigte ihm, wie er sein Instrument gebrauchen müsste. In diesem Augenblick griffen die Leute zu, ent - waffneten ihn und brachten ihn in Verwahrung (Reil Fieberlehre. IV. p. 588).

Einige Kranke geriethen im Garten in Streit, einer fasste ein Messer und drohte, seinen Gefährten umzubringen. Madame Ellis kam hinzu und sagte zu ihm, sie müsse sich sehr wundern, wie ein Mann von seinem Verstand und sei - ner Stärke sich so weit vergessen könne, dass er sich mit einem Kranken zanke, der doch bekanntlich schon mehre Jahre geistesverwirrt sei. Diese Worte schmeichelten der Eigenliebe des Wüthenden, er erwiederte: Sie haben Recht, ich werde diesen Menschen nicht weiter beachten, und wurde alsbald völlig ru - hig. (Ellis, traité p. Archambault. p. 311.)

Ein sehr starker und heftiger Kranker hatte Gelegenheit gefunden, sich eines 3 Fuss langen eisernen Hebels zu bemächtigen, und drohte jeden, der ihm nahe komme, zu ermorden. Wärter und Kranke zogen sich zurück, er blieb allein in der Gallerie, wo sich ihm Niemand zu nähern wagte. Nach einer Weile trat ich allein hinein; ich liess den Thürschlüssel auf dem Händerücken balanciren, trat ihm ganz langsam näher, und sah ihn aufmerksam an, was seine Aufmerk - samkeit erregte. Er kam auf mich zu und fragte, was ich mache. Ich erwie -381Behandlung in der Reconvalescenz.derte ihm, ich versuchte den Schlüssel zu balanciren, und bemerkte dabei, er würde dasselbe mit dem Hebel nicht thun können. Er versuchte es sogleich, streckte die Hand aus und stellte den Hebel darauf; ich nahm diesen nun ganz sanft herunter, ohne ihm etwas Weiteres zu bemerken. Wiewohl es ihm unan - genehm schien, sich entwaffnet zu sehen, machte er doch keinen Versuch, seine Waffe zurückzunehmen, und wenige Augenblicke nachher war jede Spur von Auf - regung verschwunden. (Ellis, traité p. 311.)

§. 185.

Die Periode der Reconvalescenz bedarf noch vieler Schonung und Aufsicht. Der Genesene bleibt oft noch lange in einer höchst weichen und reizbaren Gemüthsverfassung, die letzten Reste falscher Vorstellungen verschwinden oft erst spät und es bedarf oft noch einer längeren Behandlung vorhandener körperlicher Beschwerden. Er soll daher erst nach möglichst consolidirter, geistiger und leiblicher Ge - sundheit, meist erst einige Monate nach dem Eintritt der Reconva - lescenz, aus dem Irrenhause entlassen werden, und es sollte diese Entlassung, wie diess in einzelnen Musteranstalten auch eingeführt ist, immer zunächst eine versuchsweise sein, so dass der Kranke bei drohendem oder eingetretenem Rückfalle ohne alles Zaudern der Anstalt wieder übergeben werden kann.

Stellt sich in der Reconvalescenz grosse Abspannung und Ermü - dung ein, so darf solche nicht mit Reizmitteln bekämpft werden; man sorge für Ruhe, passende Diät, viele Bewegung im Freien, für all - mählige Selbstthätigkeit. Im Uebrigen aber gestatte man dem Gene - senen grössere Freiheit und zunehmenden Verkehr mit der Welt, in dem Masse, als Lust und Fähigkeit dazu sich wieder einstellen. Er muss an eine passende Beschäftigung gewöhnt, in heitere Umgebung gebracht werden; alle Gemüthsbewegungen müssen von ihm ferne ge - halten oder doch schonend geleitet, durch verständigen Zuspruch, der hier am Platze ist, muss ihm eine klare Erkenntniss seiner Krankheit verschafft, durch Uebung seiner Kräfte, durch das Beispiel Anderer, auch durch den Trost der Religion, Muth und Selbstvertrauen in ihm gehoben werden. Rathschläge für die Zukunft zu einfacher Lebens - weise, geeigneter Thätigkeit, zu Allem, was ihn vor Rückfällen be - wahren kann, sind hier am Platze. Für manche Fälle passen dann Zerstreuungen, Reisen oder Badekuren; andere finden nur in baldiger Rückkehr in den engeren Kreis ihres Berufs und ihrer Familie die vollständige Genesung wieder. Mancher kehrt vernünftiger, als er je gewesen, aus dem Irrenhause heim; wäre es doch möglich von dem oft so innerlich gekräftigten, so dankbaren und frohen Genesenen382Die Irren-Anstalten.immer auch den Druck misslicher Verhältnisse, die Kälte seiner Um - gebung oder gar den Spott niedrigdenkender Menschen für immer ferne zu halten!

Fünftes Capitel. Die Irren-Anstalten.

§. 186.

Den früheren Zeiten war der im Grossen durchgeführte Zweck der Irrenheilung unbekannt. In der einzigen Rücksicht, die Gefahren zu beseitigen, welche das freie Umhertreiben der Geisteskranken für die Gesunden und für die öffentliche Ordnung hatte, wurde ein Theil von ihnen theils in Hospitälern, theils in Zucht - und Arbeitshäusern, meist in den schlechtesten und verborgensten Räumen, zusammen - gesperrt. An ihre Behandlung als Kranke dachte man nicht, und den Zweck, sie unschädlich zu machen, führte man meist, veranlasst durch das Vorurtheil ihrer unmässigen Körperkraft, mit den rohesten Mitteln aus. Hinter dicken Balken und Eisenstangen, oft noch mit Ketten beladen, liess man die Unglücklichen in Jammer und Schmutz verkommen; unter Martern und Schlägen musste das Menschliche in ihnen selbst untergehen; wer einmal den Fuss über die Schwelle jener Tollhäuser gesetzt hatte, war als ein für immer Verlorener zu betrachten. Diese Schicksale trafen die Irren an manchen Orten noch bis in die neueste Zeit; noch im Jahr 1833 klagte Ferrus, dass man in einigen französischen Provinzialstädten die Irren noch in Käfige eingesperrt finde, und noch sieht man an einzelnen Orten solche massive Elephantenställe, vor denen die stupide Neugier steht, um den Narren zu reizen und seine Flüche zu verspotten.

In die Mitte des vorigen Jahrhunderts fällt die Errichtung der ersten Anstalt, welche ausdrücklich und ausschliesslich den Heilzweck verfolgen sollte, St. Lucas in London, lange das einzige Beispiel des erwachenden menschlicheren Sinnes für die Irren. Ihr folgte später die Errichtung der Anstalt für geisteskranke Quäcker bei York; auf dem Continent war erst Pinels Wirken für die Verbesserung des Looses der Irren entscheidend. Angeregt von den grossen huma - nistischen Ideen seiner Zeit, setzte er, eben während der stürmischen Tage der Revolution und Anfangs nicht ohne Gefahr für seine eigene Existenz, dicht vor den Thoren von Paris, in Bicêtre, seine grossen383Historisches.friedlichen Reformen durch, die er damit begann, den Irren die Ket - ten abzunehmen*)Pinel wandte sich mit seinen Bestrebungen für Besserung des Looses der seiner Sorgfalt übergebenen Irren zuerst an die öffentlichen Behörden: man be - handelte ihn darüber als Moderirten und Aristokraten, Namen, die damals fast einem Todesurtheil gleich kamen. Dadurch nicht geschreckt, trat er vor den Pariser Gemeinderath und forderte mit neuer Wärme die Autorisation zu seinen Reformen. Bürger, sagte da Couthon zu ihm, ich werde dich morgen in Bicètre besuchen; und wehe dir, wenn du uns getäuscht hast, wenn du unter deinen Narren Feinde des Volks verbirgst. Couthon kam wirklich; das Ge - schrei und Geheul der Irren, die er anfangs einzeln ausfragen wollte, war ihm bald zuwider und er sagte zu Pinel: Ach, Bürger, bist du selbst ein Narr, dass du solches Vieh Ioslassen willst? Mach mit ihnen, was du willst; aber ich fürchte sehr, du wirst das Opfer deiner Vorurtheile werden. Noch denselben Tag begann Pinel sein Unternehmen und nahm einer Anzahl Kranken die Ketten ab. S. d. Erzählung, welche nach Pinel’s eigenem Tagebuch sein Sohn gegeben hat. Mémoires de l’acad. roy. de médecine. Tom. V. Par. 1836.. Pinels Bestrebungen wurden zum Beispiel und Anstoss für die Umgestaltung der ganzen Irrenbehandlung. Das Ver - dienst derselben in Deutschland hat vorzüglich Langermann, und der Umschwung der Ansichten war schon ein so bedeutender, die Aner - kennung der Heilbarkeit und Heilbedürftigkeit des Irreseins war schon so weit, dass Langermann zuerst practisch und nachdrücklich auf Errichtung eigener Heilanstalten und deren gänzliche Geschiedenheit von den Anstalten für Unheilbare dringen konnte. Die erste deutsche Heilanstalt, in welcher die neuen Ideen durchgeführt und in der Aus - übung vervollkommnet wurden, war der Sonnenstein in Sachsen unter der Leitung von Pienitz, welcher als Pflegeanstalten Anfangs Wald - heim, später Colditz zur Seite standen. Diesen ersten, durchaus ge - lungenen Versuchen im Anstaltswesen folgte allmählig in Deutschland die neue Errichtung oder völlige Umgestaltung der öffentlichen An - stalten von Schleswig (1820), Siegburg (1825), Heidelberg (1826), Prag (1826), Hildesheim (1827), Leubus in Schlesien (1830), Hall in Tyrol (1830), Sachsenberg in Mecklenburg-Schwerin (1830), Winnen - thal und Zwiefalten in Würtemberg (1834), Marsberg in Westphalen (1835), Illenau in Baden (1840), denen sich noch viele andere, kleinere oder weniger bekannte und mehrere zum Theil noch nicht vollendete Anstalten (Eberbach, Halle, Erlangen) aus der neuesten Zeit anschliessen.

Mit der Einrichtung solcher zweckmässiger Anstalten ist in den letzten 30 Jahren in den meisten Ländern wirklich Ausserordentliches für die Irren - therapie geleistet worden. Namentlich in Deutschland waren, während sich die theoretische Psychiatrie fast ganz abstrusen Discussionen hingegeben hatte, (ob384Heil - und Pflege-Anstalten.das Irresein auf Sündhaftigkeit beruhe! ob bei den Irren der Körper oder die Seele erkrankt sei! etc.) die practischen Bestrebungen fast ganz und mit den besten Erfolgen auf das Anstaltswesen gerichtet. Die literarische Behandlung dieser practischen Fragen ist freilich durch die ungemeine Pedanterie, mit wel - cher alle Kleinigkeiten des Anstalts-Wesens, als ob es die ersten Principien - fragen gälte, debattirt werden, eine höchst verdriessliche geworden, und das Interesse ward durch die Richtung auf diese Bagatellen zum Theil von den wichtigsten Punkten der Psychiatrie abgelenkt; indessen wird man hier Manches mit der Neuheit der Sache entschuldigen und immer ehrend und dankbar die Be - mühungen anerkennen müssen, durch welche in so kurzer Zeit so bedeutende Resultate herbeigeführt wurden.

§. 187.

Vom Beginn der Reformen an fasste besonders in Deutschland die Ueberzeugung Wurzel, dass die erste Bedingung des Gelingens der Curzwecke die Trennung der heilbaren von den unheil - baren Irren sei. In der That erweist sich eine Durcheinander - mischung der frischen Fälle mit den unheilbaren, ganz verkommenen, vollends gar mit epileptischen Irren oder mit Cretinen nicht nur durch den höchst üblen Einfluss nachtheilig, den schon der Anblick dieser Versunkenen auf die Neuerkrankten macht; es bedürfen beide Classen von Irren auch in Manchem verschiedener Einrichtungen zu ihrer Pflege, und es wird natürlich hei solcher Vermischung der Raum der Anstalt von den Unheilbaren allmählig ganz ausgefüllt, so dass es bald gar nicht mehr zur Aufnahme frischer, eben recht heilbarer Fälle kommen kann. Während man in einzelnen ausländischen Anstalten, z. B. der Salpetrière, aus solchen Gründen verschiedene Abtheilungen einer Anstalt für die zu activer Behandlung geeigneten und für die ganz chronischen Fälle bestimmte, nahm man Anfangs in Deutsch - land, wie auch mehrfach in England, das Princip der Errichtung ganz getrennter, besonderer Anstalten für heilbare und unheilbare Fälle an (Sonnenstein, Siegburg, Leubus, Winnenthal). Man fand sich zu dieser Einrichtung besonderer Heil - und Pflege-Anstalten durch mehrfache Gründe veranlasst. Man wollte oder konnte die neuen, mit beträchtlichen Kosten verbundenen Reformversuche im Anstaltswesen zuerst vorzugsweise für einen Theil der Irren, für die Heilbaren, in Anwendung bringen; man richtete desswegen für die - selben ganz neue Anstalten ein, während man die alten, bestehenden Irrenhäuser, welche sich als ganz ungenügend zur Verfolgung von Heilzwecken auswiesen, doch noch mit passenden Veränderungen zu blossen Bewahranstalten brauchen konnte. Man gewann die Einsicht,385Relativ-verbundene Anstalten.dass die Einrichtungen für Aufnahme Unheilbarer zum Theil wesent - lich andere sein müssen, als die für die Heilung frischer Fälle, in - dem dort Alles für einen Aufenthalt auf Lebensdauer, hier nur für ein vorübergehendes Verweilen der Kranken berechnet sein muss; es war auch ein wichtiger Punct bei den allgemein verbreiteten Vorurtheilen weit eher eine Anerkennung der Heilbarkeit des Irre - seins in der öffentlichen Meinung durchzusetzen, wenn eigene Heil - Anstalten mit verhältnissmässig häufigen und schnellen Genesungen errichtet wurden.

Man hatte bisher Ursache, mit den Resultaten dieses Systems überall da zufrieden zu sein, wo zwischen der Heil - und der Pflege - Anstalt ein richtiges Verhältniss der Bewohnerzahl bestand, wo beide in der Fürsorge des Staats eine gleich hohe Stelle einnahmen, und für beide eine gewisse Einheit in der obersten Leitung bestand; unsers Wissens waren es auch nicht wirklich gemachte Erfahrungen von be - trächtlichen Mängeln dieses Systems in Bezug auf Heilung und Ver - pflegung der Irren, was in den neuesten Zeiten dazu führte, seine Zweckmässigkeit wieder in Frage zu stellen und Heilbare und Unheil - bare wieder auf demselben Boden zu vereinigen; äusserliche Gründe scheinen uns hauptsächlich zur theoretischen Vertheidigung und mehr - fachen practischen Ausführung dieser Wiedervereinigung geführt zu haben.

§. 188.

Als man nämlich in neuester Zeit anfing, für die Irrenanstalten nur noch eigene Neubauten für passend zu halten, erschrak man in vielen Ländern vor der kostspieligen Aussicht auf mehre grosse, gleichzeitige Bauwesen, mehrfache Einrichtung und ein mehrfaches irrenärztliches Personal. Da man aber doch nicht zur Vermischung aller Irren zurückkehren konnte, die Irrenärzte vielmehr auf dem Grundsatz vollständiger Trennung der Heilbaren und Unheilbaren be - standen, so kam man auf die Idee und an einigen Orten zu der Aus - führung zweier selbständiger und vollkommen in sich abgeschlossener Anstalten, welche aber auf demselben Gebiete beisammen liegen, unter derselben ärztlichen Leitung stehen und viele öconomische Ein - richtungen und Baugelasse (Kirche, Oeconomiegebäude, Küche, - der etc.) gemeinsam haben. Für dieses System der grossen soge - nannten relativ verbundenen Anstalten sollte nicht nur, wie in Berlin bewiesen wurde, Hegels Logik sprechen, sondern es wurden ihm viele, zum Theil wirkliche und sehr beachtenswerthe Vortheile vindicirt.

Griesinger, psych. Krankhtn. 25386Gründe für und gegen Trennung

Es ist, wo Neubauten errichtet werden sollen, ohne Zweifel das minder kostspielige, indem, wie bemerkt, hier manche Gebäude und Einrichtungen für beide Anstalten gemeinsam sind, also nur einmal da zu sein brauchen, indem viele Kranke unter Einer Verwaltung vereinigt sind, und weniger Personal an Aerzten und Beamten erfordert wird, indem ferner eine solche Anstalt sich eher durch ihre eigene Production und Arbeit, welche hauptsächlich von den Bewohnern der Pflegeanstalt geschieht, also mit geringerem Staatszuschuss erhalten kann. Als weitere Gründe für solche Vereinigung werden angeführt, dass die Bestimmungen über Heilbarkeit oder Unheilbarkeit höchst schwankend und unsicher seien*)Einzelne Aerzte behaupten, von den Geisteskranken wisse nur Gott, ob sie heilbar oder unheilbar seien. S. das Capitel von der Prognose. Für die grosse Mehrzahl der Fälle ist die Entscheidung über Heilbarkeit oder Unheilbarkeit für einen geübten Irrenarzt nach mehrmonatlicher Beobachtung nicht nur möglich, sondern sogar leicht, und ebenso sicher, als das prognostische Urtheil über jede andere Krankheit., dass in der relativ verbundenen Anstalt der Kranke in allen Stadien seines Irreseins von demselben Arzte beobachtet und seine Krankheit bis an ihr Ende verfolgt werden könne, dass dabei die Aufnahmen, ungestört durch Verhandlungen über die Wahl der passenden Anstalt, die sich sonst auf die Prognose stützen muss, beschleunigt werden, dass solche Anstalten einen leichten Ueberblick über die ganze Irrenanzahl eines Landes oder einer Pro - vinz gewähren, dass die für unheilbar Gehaltenen nöthigenfalls sehr leicht wieder in die Heilanstalt zurückversetzt werden können, wäh - rend dagegen die Versetzung der Kranken aus der Heil - in die Pfleg - Anstalt nicht nur umständlich und kostspielig, sondern auch für den Kranken und seine Angehörigen sehr hart und niederschlagend, und eine Rückversetzung in die Heilanstalt beim etwaigen Wiedereintritt günstigerer Aussichten kaum mehr thunlich sei.

Allein die Pflegeanstalten dürfen keine Orte sein, denen das Lasciate ogni speranza an die Stirne geschrieben ist; sie müssen, wiewohl durchaus für veraltete, chronische Fälle eingerichtet, doch in der Persönlichkeit des Arztes und in ihren äusseren Verhältnissen immer noch die Mittel bieten, welche die in einzelnen, seltenen Fällen wiederkehrende Hoffnung auf Genesung erfordert. In der That genesen auch in den Pflegeanstalten von Zeit zu Zeit noch einzelne Kranke, und zwar ohne Démenti für die Heilanstalt, welche mit der Uebergabe solcher einzelner Kranken nur sagen wollte, dass eben sie dem Kranken nichts mehr zu gewähren vermöge, wohl aber viel -387oder Vereinigung der Anstalten.leicht andere ganz neue Verhältnisse (S. p. 380) ihm noch nützlich werden hönnen. Mit Zeller halten wir den Vortheil einer solchen Versetzung der Kranken in eine ganz andere Anstalt für nicht gering, und es wird diese Ansicht durch die günstigen Erfahrungen, die man neuerlich in Frankreich bei den im Grossen vorgenommenen Kranken - Translocationen gemacht hat, durchaus bestätigt*)Vgl. den interessanten Bericht über die Versetzung einer grossen Anzahl von Irren aus den überfüllten Pariser Anstalten in zum Theil sehr entfernte Provincial-Anstalten, von Trélat, Annal. med. psychol. Tom. IV. 1844. p. 230, 366.. Derselbe Arzt führt noch als wichtige Gründe gegen diese Vereinigung an: den Mangel an einer vollkommenen Uebersicht und einer individuellen Behandlung bei einer so grossen Menge von Kranken unter Einer ärztlichen Oberaufsicht, die Ueberhäufung des ärztlichen Vorstands mit einer Masse amtlicher, aber zunächst nicht zum Krankendienst gehöriger Geschäfte, die grössere Störbarkeit einer so complicirten, vieler Hülfsorgane bedürfenden Einrichtung, die Gefahr einer Ver - nachlässigung der unheilbaren Kranken über den für das ärztliche Geschäft weit dankbareren heilbaren, endlich den üblen Einfluss, den der Anblick vieler abgestorbener und hoffnungsloser Kranken, ja schon das Bewusstsein der Nähe so vieler Unheilbaren auf die Neuerkrank - ten haben kann.

Man muss die Vorzüge des einen und des andern Systems nicht mit apriorischen Gründen ins Allgemeine beweisen; bei der Einrich - tung des Irrenwesens in einem Staate oder in einer Provinz kommt sehr viel auf die Bewohnerzahl des Landes, auf die Zahl der vor - handenen Irren, auf die Möglichkeit, schon vorhandene Gebäude zu benützen, auf die Geldmittel, über die man disponiren kann, auf be - sondere Zwecke, die man etwa mit der Anstalt verbinden will (z. B. clinischen Unterricht) an, und das meiste hängt am Ende doch von der Art der Ausführung und von dem Geiste ab, den das Ganze durch die leitenden Persönlichkeiten gewinnt. Neben den grossen, relativ verbundenen Anstalten braucht man immer noch besondere Pflegehäuser für Cretins, Epileptische u. dgl. ; bei der Trennung bei - der Anstalten muss die Pflegeanstalt wenigstens die dreifache Be - wohnerzahl der Heilanstalt fassen (3 400: 100). Ueberhaupt können und müssen die Pflegeanstalten gross sein; für die Heilan - stalten ist die Möglichkeit eines schnellen Abflusses aller als unheilbar Erkannten ein Haupterforderniss. Wo aber diesem genügt ist, wo die Heilanstalt wirklich lauter in activer Behandlung befindliche Kranke25*388Allgemeine Erfordernisseenthält, da kann deren Zahl höchstens 80 100 betragen, indem von Einem Arzte kaum noch diese Zahl genau beobachtet und streng individuell behandelt werden kann. Desshalb würden wir uns, wo der Staat freigebig die Geldmittel gewährte, für das in neuerer Zeit vorgeschlagene System grosser, centralisirter Pflegeanstalten, aber kleiner, in verschiedenen Provinzen eines Landes zerstreuter Heil - anstalten entscheiden, durch welche von verschiedenen Puncten aus das Vertrauen zur Irrentherapie verbreitet, die Aufnahme sehr er - leichtert und daher die Uebergabe namentlich der frischen Fälle, welche vom allergrössten Werthe ist, gefördert wird.

§. 189.

Denn, wenn es sich weiter von den allgemeinen Erforder - nissen für eine Irrenanstalt handelt, so möchten wir in erster Linie ihre leichte Benützbarkeit für die Kranken und die Beförderung der Aufnahme frischer Fälle nennen. Dieser Zweck wird eines Theils durch medicinal-polizeiliche Vorschriften, durch Erlassung aller un - nöthigen und zeitraubenden Formalitäten, durch mässige Verpflegungs - kosten oder völlig freie Verpflegung armer Kranken, durch das Ver - trauen, das sich die Anstalten selbst erwerben, erreicht; anderntheils wird er dadurch gefördert, dass in grösseren Ländern die Anstalten mehr in verschiedenen Landestheilen zerstreut sind. Uebrigens müssen sich die Irrenanstalten selbst durch ihre Einrichtungen und durch den in ihnen herrschenden Geist empfehlen. Diese Einrich - tungen und dieser Geist müssen nicht nur im Allgemeinen den humanen Ideen der neueren Zeit entsprechen, sie müssen auch und hierauf ist vor allem zu dringen durchaus ärztliche sein.

Jede Anstalt ist nichts Anderes, als ein Hospital für Gehirnkranke; jede, ganz besonders aber die Heilanstalten, müssen durchaus den Charakter eines Krankenhauses, und nicht etwa den eines Besserungs - Instituts, einer Fabrik, oder gar eines Gefängnisses darbieten. Hie - mit ist zugleich gesagt, dass die Anstalt durchaus unter ärztlicher Leitung stehe, dass also die Direction in den Händen des ersten Arztes sein muss, der mit einer gewissen Unumschränktheit alle son - stigen Kräfte zum Besten des Ganzen verwendet, aber auch, dass die Irrenärzte wirkliche Aerzte, und nicht etwa Moralisten, welche sich zugleich etwas mit Medicin beschäftigen, aber zu jeder Unter - suchung ihrer Kranken der Beihülfe eines weiteren Arztes bedürfen, sein sollen.

Die Eigenthümlichkeit der in der Irrenanstalt behandelten Krank -389der Irren-Anstalten.heiten bringt es nun mit sich, dass derselben eben nicht nur alle Mittel der gewöhnlichen Medicin (Pharmaceutisches, Bäder etc.) zu Gebote stehen müssen, sondern dass sie zugleich alle Einrichtungen besitzen muss, nicht nur um den Kranken vor Beschädigung seiner selbst oder Anderer abzuhalten, und ihn, nöthigenfalls durch äussere Gewalt, der ärztlichen Behandlung zu unterwerfen, sondern auch um ihm in Bezug auf Verpflegung, Bewegung in freier Luft, Arbeit, Auf - heiterung und Unterhaltung alles Nöthige darzubieten. Desshalb muss jede Anstalt nicht nur das nöthige Personal zur Beaufsichtigung und Bedienung der Kranken, die nöthigen Räumlichkeiten zur Isolirung Einzelner und die noch gebräuchlichen Beschränkungsmittel besitzen, sie muss auch mit Grundstücken zu Feldarbeit, mit Gärten und An - lagen zu Spaziergängen, mit Arbeitsmaterial und mit vielfachen Mitteln zur Unterhaltung der Kranken versehen sein.

Ein weiteres Haupterforderniss im Innern der Irrenanstalt ist eine gehörige Scheidung der Kranken von einander, zuerst nach den Ge - schlechtern (meist auf verschiedene Flügel vertheilt), dann nach der Art des Irreseins, doch nicht nach nosologischer Classification, sondern nach dem äusseren, ruhigeren oder turbulenteren, aufgeregten Zustande, endlich bei den ruhig zusammenlebenden Kranken nach Stand und Bildungsstufe (bei den Tobsüchtigen, Isolirten fällt dieser Unterschied weg). Die nosologische Form kann nicht zum Scheidungsprincip genommen werden, weil überhaupt die einzelnen Formen gemischt und in vielfachen Uebergängen vorkommen, weil es sogar für einzelne Zustände (z. B. für die Kranken mit Hang zum Selbstmord) sehr ge - fährlich wäre, sie zusammenwohnen und viel unter sich verkehren zu lassen, endlich weil die äusserlich ruhigen Schwermüthigen, Maniaci, Verrückten, laut der Ergebnisse täglicher Beobachtung, ohne gegen - seitige Störung und nachtheilige Folgen wohl zusammenwohnen können; nur die Blödsinnigen, namentlich die Paralytischen, müssen ganz ab - gesondert und in eigens für sie bestimmten Räumen verpflegt werden. Bei der Scheidung der Kranken nach ihrem äusseren Verhalten muss man sich hüten, durch zu viele Abtheilungen den Dienst zu zersplittern und die Uebersicht zu erschweren, und es dürften auf der Männer - und der Weiberseite 4 5 Abtheilungen, eine für die einzeln zu isolirenden (tobsüchtigen, lärmenden, unreinlichen, gefährlichen), eine (besonders in der Pflegeanstalt) für die paralytischen, epileptischen, tief blödsinnigen, zwei für ruhige Kranke (eine für die höheren, die andere für die niederen Stände), eine Abtheilung besonderer Wohn - orte für Reconvalescenten oder einzelne Kranke, welche man strenger390Bauliche Einrichtungenisoliren, aber nicht auf die Abtheilung der unruhigen bringen will, genügen; in manchen Anstalten bestehen noch besondere Abtheilungen für bettlägerige Kranke und ganz abgesonderte Gebäude für die Re - convalescenten, welch letztere Einrichtung sich nicht als zweckmässig bewährt hat.

§. 190.

In den verschiedenen Ländern, welche das Irrenwesen cultivirten, hat man versucht, diesen Erfordernissen durch sehr verschiedene bauliche Einrichtungen zu genügen. Während die englischen Anstalten*)Dem Verfasser nicht aus eigener Anschauung bekannt. meistens grosse, hohe, mehrstöckige, zusammenhängende Gebäude mit seitlich auslaufenden, geneigten, auch sternförmigen Flügeln darstellen, in deren Innerem bei höchster Vollkommenheit der häuslichen Einrichtungen (Heizung, Beleuchtung, Reinigung, Küchen - einrichtung u. dgl. ) eine geordnete Uniformität, ein fast gefängniss - artiges Zellensystem hergestellt ist, welchem auch der etwas mecha - nische Character der Beaufsichtigung und Behandlung zu entsprechen scheint, so ging man bei der Construction und innern Einrichtung der französischen Anstalten von ganz anderen Principien aus. Be - sonders die nach Esquirols Ideen gemachten Plane und Ausführungen bestehen in lauter getrennten, viereckigen, bloss ein Erdgeschoss enthaltenden Häusern, die eine Anzahl Einzelzellen oder Zimmer, ein gemeinschaftliches Sprechzimmer (Chauffoir), Arbeitszimmer etc. und rings herum einen Säulengang enthalten, und in der Mitte einen Rasenplatz einschliessen. Mehre parallele Reihen solcher einstöckiger Carrés werden durch Colonnaden unter einander verbunden, und es schliessen sich daran noch Oeconomiegebäude, Capelle, Werkstätte, Badehäuser etc. Diese Menge vertheilter Gebäude, welche einen ungemeinen Flächenraum einnehmen, ist nicht nur höchst kostspielig auszuführen, sondern erschwert auch sehr die Uebersicht, die Leich - tigkeit des Besuchs entfernter Theile der Anstalt und die höhere Beaufsichtigung, wie sich denn auch bis in die neueste Zeit, wo in die französischen Anstalten durch Einführung von Arbeit und Unter - richt ein anderer Geist gekommen ist, diese Anstalten durch Unge - bundenheit, freies Herumschwärmen und Zügellosigkeit der Kranken auszeichneten.

In Deutschland hat man versucht, das Gute beider Systeme an - zunehmen; im Ganzen nähern sich aber die deutschen Anstalten in391der Irren-Anstalten.ihrer Bauart weit mehr den englischen, als den Esquirol’schen. Die neueren Anstalten werden meist so eingerichtet, dass in einem oder einigen 2 3stöckigen Mittelgebäuden die gemeinschaftlichen Räume, die Kanzlei, die Capelle, die Küche, die Waschanstalten, die Vorraths - räume, die Wohnungen der Beamten beisammen sind, und dass von hier nach beiden Seiten je ein, oder bei relativ verbundenen An - stalten zwei zweistöckige Seitenflügel, gerade oder gebrochen, aus - laufen, welche die verschiedenen Abtheilungen der Reconvalescenten, Pensionäre, ruhigen Kranken der mittlern und untern Stände, nebst Gelassen für ihr Wartpersonal, für Bäder etc. enthalten; an diese schliessen sich endlich, möglichst weit vom Centrum entfernt, kleinere einstöckige Gebäude, welche die Zellen für unruhige, überhaupt zu isolirende Kranke enthalten, an. Jede Abtheilung des Hauses muss einen eigenen Garten oder Spazierplatz für ihre Kranken haben; an allen Treppen, Fenstern, Thüren ist nicht nur auf gehörige Solidität, sondern auch auf möglichst einfache Mechanismen und genügende Garantieen zum Schutze des Kranken zu sehen; die innere Einrich - tung der Wohn - und Schlafräume ist auf der Abtheilung der Unru - higen und Tobsüchtigen die einfachste und zugleich festeste; überall sonst je nach Stand und Bedürfnissen der Kranken einfacher oder reichlicher ausgestattet.

Ein Hauptgrundsatz des Baues und der ganzen inneren Einrich - tung, gegen welchen freilich am meisten gefehlt wird, sollte immer sein, dass die ganze häusliche Einrichtung sich, soweit es sich mit seiner eigenthümlichen Bestimmung verträgt, möglichst wenig von der jedes anderen grossen Privathauses unterscheide, sich möglichst wenig von der der Wohnung und Einrichtung der Geistesgesunden entferne. Desshalb sind alle Bauplane verwerflich, welche schon in bizarren, ganz aussergewöhnlichen (thurm-sternförmigen etc.) äusseren Formen gleichsam auf etwas Närrisches in der Bestimmung des Ge - bäudes hindeuten, es ist auch ebenso alles gefängnissartige Zellen - wesen, und wiederum wäre ein zu grosser Luxus mit hohen Hallen, Säulengängen etc. verwerflich. Das Ganze muss den Eindruck eines ärztlichen Zwecken, der Gesundheitspflege gewidmeten Bauwesens, den Eindruck der Wohnlichkeit, Behaglichkeit, Solidität machen und nicht genug kann auf Geschmack und Freundlichkeit in der Erschei - nung, wiewohl ohne luxuriösen Schmuck, besonders aber auf die scrupulöseste Sauberkeit, welche hier wahrhaft ängstlich betrieben werden muss, gesehen werden.

Die Anstalt muss dabei in einer gesunden, und wo möglich an392Personal der Irren-Anstalten.Naturschönheiten reichen Gegend liegen, vielleicht am besten in un - mittelbarer Nähe eines kleinen Städtchens, aus welchem sie ihre Bedürfnisse bequem beziehen, mit dessen Bewohnern sie leicht eini - gen Verkehr unterhalten kann; sehr grosse Städte brauchen indessen gleichfalls Anstalten in ihrer Nähe, und solche haben den Vortheil, viele frische Fälle zu bekommen; unter keinen Umständen aber soll eine Anstalt innerhalb der Mauern einer Stadt errichtet werden. Die Anstalt muss rings von Grundstücken, die ihr Eigenthum sind, um - geben sein; ihr näheres Gebiet wird gewöhnlich mit einer Mauer umgeben, und es ist vortheilhaft, wenn ihr Boden über deren Niveau erhaben liegt; sie sollte wo möglich fliessendes Wasser besitzen, um Bäder und Waschanstalten reichlich zu speisen, und noch Gelegenheit zu kalten Bädern zu erhalten. Die Gärten müssen geräumig und freundlich sein, gerne bringt man in ihnen einen Turnplatz, Kegel - bahn, Spielplätze u. dgl. an.

Wo besondere Pflegeanstalten bestehen, bedarf man in ihnen weiter grössere Werkstätten, in denen die Kranken besonders Win - ters mit verschiedenen Handwerken beschäftigt, und wo viele Be - dürfnisse der Anstalt selbst producirt werden. Im Uebrigen muss die Pflegeanstalt gleichfalls die genannten Abtheilungen, für Unruhige, Stille, Gesittete, für die verschiedenen Stände haben, kann aber im Ganzen einfacher gehalten sein, und es ist zweckmässig, wegen der grösseren Menge Unreinlicher, Paralytischer etc. mehr Erdgeschoss - wohnungen einzurichten.

§. 191.

An der Spitze des Personals der Irrenanstalt steht, unter der höheren Aufsichtsbehörde des Staats, der dirigirende Arzt, von dessen wissenschaftlichen und persönlichen Eigenschaften zum grössten Theil der in der Anstalt herrschende Geist abhängt. Neben dem ersten, Allem Uebrigem vorangehenden Bedürfnisse gründlicher ärztlicher Kenntnisse wird von dem Irrenarzt mit Recht noch ein Complex besonderer geistiger Eigenschaften gefordert, wohlwollender Sinn, grosse Geduld, Selbstbeherrschung, eine besondere Freiheit von allen Vorurtheilen, ein aus einer reicheren Weltkenntniss geschöpftes Ver - ständniss der Menschen, Gewandtheit der Conversation und eine besondere Neigung zu seinem Beruf, die ihn allein über dessen vielfache Mühen und Anstrengungen hinwegsetzt. Ein oder mehre Hülfsärzte unterstützen den Director in der Krankenbehandlung, in der Führung der Journale und Correspondenz, besorgen die Leichen -393Aerzte, Geistliche, Wärter etc.öffnungen, die höheren chirurgischen Geschäfte u. dergl. Die meisten Anstalten besitzen ausserdem eigene Geistliche, welche den periodischen Gottesdienst besorgen und die Kranken regelmässig besuchen, meist in der Absicht, mit religiösen Mitteln die Genesung der Kranken zu befördern. Es ist schon bemerkt (p. 371), bei wie wenigen Kranken ein solches Vorhaben statthaft sein kann. Immer und überall dürfen solche Versuche nur unter steter Beaufsichtigung und mit vorheriger Instruction von Seiten der Aerzte gemacht werden, und es wäre einer der bedeutendsten Missgriffe, auch nur einige Selbstständigkeit in der Behandlung Gehirnkranker Laien zu überlassen, deren Auf - fassung solcher Zustände ganz nothwendig eine einseitige sein muss. Mit Recht haben desshalb auch in neuester Zeit Einige der ver - dienstvollsten Irrenärzte (Nasse, Jessen u. A.) die Unterstützung der psychischen Therapie durch Theologen noch mehr als bisher be - schränkt wissen wollen. Sehr passend dagegen finden wir die An - stellung eines Lehrers, der, ohne die Prätention heilsamer psycho - logischer Einwirkungen, zum Unterrichte der Kranken, überhaupt zu ihrer geistigen Beschäftigung und Zerstreuung verwendet wird.

Ein Oberwärter und eine Oberwärterin stehen dem niederen Dienstpersonale vor. Zu Wärtern selbst können nur körperlich kräftige, verständige und gutmüthige Menschen gebraucht werden, und es ist oft schwer, die genügende Anzahl brauchbarer Leute zu bekommen. Man rechnet im Durchschnitt auf 6 10 Kranke einen Wärter; einzelne Kranke bedürfen eines eigenen, nur für ihre Person be - stimmten Wärters. In manchen Anstalten wird der Wärterdienst von den Brüdern oder Schwestern geistlicher Orden versehen, welcher Einrichtung man im Ganzen mehr Nachtheile als Vortheile zuschreibt.

Ausserdem ist in den Anstalten ein besonderes Verwaltungs - Personal für die Oeconomie nothwendig.

§. 192.

Dazu, dass sich dieser, durch so viele Menschen und Bedürf - nisse immer sehr complicirte Mechanismus einer Anstalt mit Ordnung und ohne Geräusch bewege, dienen nicht nur geschriebene Statuten für alles Personal, in denen die wohl umgränzten Pflichten jedes Einzelnen klar und bündig ausgesprochen sind, in denen das ganze äussere Thun und Lassen pünktlich regulirt und die Ordnung aller Dinge vorgeschrieben ist. Die vernünftige Regel muss auch in Sitte und Gewohnheit übergegangen sein, und das Beispiel der Oberen muss den rechten Geist bis herab zum Untersten verbreiten. Es394Geistiges Leben in der Anstalt.muss in den Irrenanstalten ein etwas straffer, angezogener Geist, nicht das Laisser-aller der falschen Gemüthlichkeit herrschen; es muss auf pünktliche Zeiteintheilung, strengste Ordnung und treue Pflicht - erfüllung genau gesehen werden. Dem Eintretenden, Gesunden oder Kranken, muss der wohlthuende Eindruck entgegen kommen, dass hier die Vernunft, nicht die Unvernunft herrsche; ein Character von Frieden und Ruhe muss durch das Ganze gehen, und die consequente Energie in allem Heilsamen muss in geräuschlosen, milden Formen auftreten, wie die einschliessende Ringmauer von Innen dem Kranken durch freundliches Gebüsch zugedeckt wird. Der Umgang unter den Kranken selbst muss nicht zu strenge abgesperrt sein; man muss vielmehr durchaus auf Erhaltung einer gewissen Socialität sehen, in welcher die Formen des gesunden Umgangs beobachtet werden, und Alles muss ergriffen werden, was den Kranken vor weiterer Ent - fremdung gegen die Welt bewahrt. Hiezu dienen gemeinsame Vergnügungen, Gesellschaften, Spaziergänge etc., und in dem Masse, als der Kranke wieder fähiger dazu wird, auch eine zunehmende Berührung mit Gesunden. Dass man sich durchaus bei dem mög - lichst humanen, liberalen Systeme der Krankenbehandlung besser be - findet, als bei einem sehr strengen, ist schon oben berührt; es darf daher die Beschränkung des Kranken nicht weiter gehen, als sein Zustand es erfordert; jeder finstere, ascetische, ebenso wieder jeder casernenmässige Geist ist zu vermeiden, und es soll der Ernst der Zwecke durch heitere, sinnige Formen nicht nur verdeckt, sondern gerade zu rechtem Eingang gebracht werden.

§. 193.

Der Aufnahme der Kranken in die öffentlichen Anstalten muss ein genauer ärztlicher Bericht über seinen Krankheitszustand und über dessen Entwicklung vorausgehen, der in vielen Fällen noch durch Mittheilungen der Angehörigen vervollständigt werden muss; in diesen muss die unumschränkteste Offenheit herrschen, da die Kenntniss aller persönlichen Verhältnisse und wichtigen Erlebnisse für den Arzt von höchster Wichtigkeit ist. Der ärztliche Bericht muss alle Fragen, welche irgend einen Bezug auf die Entstehung des Irreseins haben können, berühren, namentlich alle ätiologischen, Erblichkeit, leibliche und geistige Dispositionen, vorausgegangene Krankheiten, namentlich solche des Nervensystems, er muss die Symptome des allmähligeren oder schnelleren Ausbruchs und den gegenwärtigen Complex krank - hafter Erscheinungen genau schildern, das bisher eingeschlagene Ver -395Aufnahmen und Entlassungen.fahren angeben etc., Erfordernisse, welche bei dem Arzte eine zum Wenigstens encyclopädische Kenntniss des Irreseins ganz nothwendig voraussetzen. Soll nun der Kranke in die Anstalt gebracht werden, so werde diess ihm selbst mitgetheilt; vielfache Beobachtung hat gezeigt, dass es unendlich viel vortheilhafter ist, ihn, wenn er sich hartnäckig sträuben sollte, mit äusserem Zwang in die Anstalt zu bringen, als ihn durch List (unter dem Vorwande einer Vergnügungsreise etc.) derselben zuzuführen. Ein solcher Betrug erbittert die Kranken mei - stens ungemein, und hindert auf lange Zeit das so nothwendige Ver - trauen zu der Anstalt.

Die Aufnahme der einzelnen Kranken in die Staatsanstalten be - darf meistens, dringende Fälle ausgenommen, einer vorausgehenden Genehmigung der vorgesetzten Staatsbehörde, welche sich auf einen Bericht des Directors über die Zulässigkeit dieser Aufnahme stützt; es ist im Interesse der möglichst häufigen Aufnahme frischer Fälle nothwendig, dass die Formen dieser Geschäfte die einfachsten und expeditesten seien. Die Entlassungen aus den Anstalten geschehen meist allein auf Verfügung des Directors; sie sollten immer zunächst ver - suchsweise, provisorische sein, damit der Kranke beim ersten Zeichen eines Rückfalls ohne das mindeste Zögern wieder der Anstalt über - geben weden kann. Während dieser Zeit provisorischer Entlassung kann dann von seinem Hausarzte hie und da über den Genesenen an die Anstalt berichtet werden. Zeigt die Genesung entschiedene Dauer und Bestand, wozu eine ungetrübte geistige Gesundheit von wenigstens 1 2 Jahren gehört, so wird der frühere Pflegling erst definitiv aus dem Verbande mit der Anstalt entlassen. Freie Vereine zur Unterstützung bedürftiger Genesenen bestehen an manchen Orten mit gesegnetem Erfolge.

§. 194.

Ausser den öffentlichen Irrenhäusern möge noch der Privat - anstalten gedacht werden, welche für Länder, in denen das öffent - liche Irrenwesen noch nicht geordnet ist, wo die Staatsanstalten der Irrenzahl nicht genügen, oder wo für einen Kranken Ansprüche des Luxus und der Eleganz erhoben werden, wie sie in den Staatsanstal - ten nicht zu befriedigen sind, dem Bedürfnisse abhelfen. Der Staat sollte übrigens solche Anstalten nur wissenschaftlichen Aerzten, nie - mals Laien, Chirurgen u. dgl. concessioniren, und von dem Vorsteher vollständige Garantieen seiner Befähigung zur Irrentherapie, nament - lich eine practische Ausbildung für diese Specialität fordern und eine396Privat-Anstalten. Irren-Colonie.Controlle über ihre Wirksamkeit ausüben. Missbräuche und Schänd - lichkeiten, wie sie in einzelnen englischen Privatanstalten vorfielen, sollten, wiewohl sich nirgends in Deutschland etwas ähnliches hefürch - ten lässt, doch auf alle Fälle unmöglich gemacht werden.

Auch noch auf andere Weise, als durch Anstalten, hat man an einzelnen Orten für Bewahrung und Beschäftigung der Irren gesorgt. Eine Irrencolonie bildet das merkwürdige belgische Dorf Gheel, in welchem seit vielen Jahrhunderten Geisteskranke aller Art mit den Einwohnern und ihren Familien zusammen leben. Früher suchte man daselbst Hülfe für sie bei der heiligen Dymphne, der Patronin der Irren, zu deren Wundern man gegenwärtig nur noch selten Zu - flucht nimmt. Dagegen suchte man in neuerer Zeit Regelmässigkeit und Ordnung in diesem, mehr als 700 Kranke enthaltenden Irren - depot einzuführen; die Kranken wurden unter vier Aerzte vertheilt, der ganzen Sache wurde ein dirigirendes Comité vorgesetzt und eine bessere Polizei und Aufsicht eingeführt. Die Irren geniessen hier immer noch ein Mass von Genüssen und Freiheit, wie ihnen in keiner Anstalt zu Theil werden kann; alle dazu Fähigen nehmen An - theil an den Arbeiten der Gesunden, namentlich Hand - und Feldarbeit ist allgemein eingeführt. Die Behandlung ist im Ganzen eine sehr milde; die Anwendung von Zwangsmitteln darf nicht ohne vorherige Anfrage bei dem Arzte geschehen. Selbstmorde sind sehr selten, und der physische Gesundheitszustand ist im allgemeinen so gut, dass man im Jahr 1838 zwei hundertjährige Irren dort fand. Das Ent - weichen der Kranken wird durch die eigenthümliche Lage von Gheel, das, von Heidegründen umgeben, mehre Stunden von andern Dörfern entfernt liegt, sehr erschwert. Bei allen diesen Vortheilen haben sich immer auch die bedeutendsten Uebelstände gezeigt, und erst neulich kam es vor, dass der Bürgermeister von Gheel von einem Irren in einem Wuthanfall erschlagen wurde. (Froriep’s Notizen. 1845. Nro. 720.) Eine Nachahmung von Gheel in andern Ländern würden wir nicht für zweckmässig, besonders aber nicht für möglich halten.

[397]

Zusatz und Verbesserungen.

I.

Dem in der Schrift ausgesprochenen Desiderate, dass die Chemie der Secre - tionen bei den Geisteskranken mehr bearbeitet werden möchte, ist theilweise durch eine kürzlich erschienene denkenswerthe Arbeit von Herrn Dr. Heinrich in Bonn genügt worden, welche mir erst nach fast beendigtem Drucke zukam, und welche ich mit Vergnügen noch citire (Microscop. und Chem. Untersuchun - gen bei Geisteskranken. Häser’s Archiv. Bd. VII. Heft 2.). Der Verf. und ein anderer Arzt, Erlenmayer, fanden den Harn Geisteskranker, namentlich Tobsüch - tiger, ungemein häufig alcalisch oder doch phosphatische Sedimente in anomaler Menge liefernd; zuweilen ward auch Fett im Urin gefunden. Jene Beobach - tungen schliessen sich dem S. 147 niedergelegten Resultate einiger Harn-Unter - suchungen an, welche ich schon im Jahre 1841 angestellt habe. Eben in den letzten Tagen fand ich wieder bei einem epileptischen Kranken (mit schmerzhaf - ter Wirbelsäule), nachdem häufige Anfälle in der jüngsten Zeit schnell auf ein - ander gefolgt waren, den Urin stark alcalisch und mehre Tage fort reichlich phosphorsaures Magnesia-Ammoniak in Prismen sedimentirend. Nachdem die Anfälle eine Woche lang aufgehört, ist der Urin neutral und sedimentlos ge - worden.

II.

P. 72. ist durch Verschen beim Druck eine Bemerkung weggeblieben, welche die Richtigkeit der dort angeführten Beobachtung von Patterson über das Dop - peltsehen einer Hallucination sehr in Zweifel zog. Es möge dieser Zweifel hier noch ausgesprochen werden.

III.

Seite 281 sollte die Ueberschrift Vierter Abschnitt statt Dritter Ab - schnitt heissen.

About this transcription

TextDie Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Aerzte und Studirende
Author Wilhelm Griesinger
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Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

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