PRIMS Full-text transcription (HTML)
[I]
Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Aerzte und Studirende
Stuttgart. Verlag von Adolph Krabbe.1845.
[II]

Maschinendruck von J. Kreuzer in Stuttgart.

[III]

Vorwort.

Ich übergebe hier dem ärztlichen Publicum die zusammengefassten Resultate meiner Beobachtungen und meines Nachdenkens über die Geistes - krankheiten. Die erfreuliche Beachtung, welche zwei frühere, nur fragmen - tarische Abhandlungen über diesen Gegenstand gefunden haben, munterten mich auf, ein ausgearbeitetes Ganzes vorzulegen, in welchem der Leser die leitenden Gedanken jener Arbeiten wieder erkennen wird, wo aber doch Alles erweitert, Vieles fester gestellt, Einzelnes auch vor Missverständniss geschützt werden konnte. Auch diejenige Auffassung der medicinischen Wissenschaft wird der Leser hier wieder finden, welche unter bekannten Umständen den Namen der physiologischen Medicin erhielt und welche bei mir fast ganz auf dem einfachen Grundsatze beruht, dass man sich über die Dinge, in welche man practisch eingreifen soll, nicht mit Namen zu beruhigen, sondern ein wirkliches, inneres Verständniss zu verschaffen hat. So sollte auch hier hingearbeitet werden auf das Verständniss des Wesens der Dinge, hinter welches man durch Nachdenken kommt, und die Ergebnisse zerstreuter Beobachtungen sollten nicht bloss gesammelt, sondern zu einem Ganzen innerlich vereinigt, vorgetragen werden. Wer den gegenwärtigen Stand der Psychiatrie kennt, wird die Schwierigkeiten dieses Geschäfts zu beurtheilen vermögen. Die Anerkennung desselben wird heutzutage dadurch erschwert, dass sich der Unverstand des Wortes Hypothesen bemächtigt hat, um Alles, was über seinen Horizont hinausgeht, weil es seiner Natur nach keines sinnlichen Nachweises mehr fähig ist, zu verdächtigen. Wenn sich diejenigen, welche die Principien für Nebensache halten und für soge - nannte Thatsachen und Practiken als den einzigen Inhalt der Wissenschaft schwärmen, mit einzelnen practischen Fragen der Psychiatrie, z. B. den forensischen beschäftigen wollten, so würden sie bald erkennen, ob Grund - sätze oder Facta die Praxis beherrschen.

IVVorwort.

Ich habe dieser Schrift die Form eines Lehrbuchs gegeben, weil ich glaube, dass der bisherige vollständige Mangel eines solchen viel an der ge - ringen Verbreitung der Psychiatrie schuldig ist, und es mir hohe Zeit scheint, dass ein so wichtiger Zweig der Medicin nicht mehr das Geheimniss einiger Eingeweihten bleibe, sondern zum Gemeingut ärztlicher Bildung werde. Die Vernachlässigung der Psychiatrie unter den Aerzten und namentlich auf den Universitäten zeigt täglich ihre traurigen Folgen. Sie kommen zu Tage in der Beurtheilung und Behandlung der frischen Erkrankungsfälle von Seiten der Praktiker, in deren Hände die Geisteskranken meistens lange, ehe sie den Irrenärzten der Anstalten übergeben werden, gelangen. Sie zeigen sich noch deutlicher bei den forensischen Geschäften der Aerzte. Der Staat, welcher Niemanden einen Verband ’anlegen lässt, ohne dass er dazu seine Fähigkeit und practische Uebung nachgewiesen hätte, gestattet es, dass die subtilsten Fragen über zweifelhafte Gemüthszustände über den Köpfen der Angeschuldigten weg von Aerzten debattirt werden, welche noch nie eines Geisteskranken ansichtig geworden sind oder einen solchen zum erstenmale in dem Augenblicke sehen, wo sie über seinen Seelenzustand und damit über seine Todeswürdigkeit oder Freisprechung, ein Urtheil abzugeben haben. Die gänzliche Unsicherheit dieser Urtheile hat dieselbe bei den Juristen, völlig mit Recht, um ihren Credit gebracht. Es ist aber dieser Entwürdigung der forensischen Medicin und den unermesslichen practischen Nachtheilen der - selben nur dadurch abzuhelfen, dass man entweder den Aerzten, so lange sie keine Gelegenheit zu seiner Erlernung haben, ein Geschäft ganz abnimmt, das der Natur der Dinge nach doch Niemand Anderes übernehmen kann und das immer zu den wichtigsten Pflichten ihres Standes gezählt wurde, oder dass man psychisch-forensische Fragen nur von den wirklichen Irrenärzten eines Landes beantworten lässt, oder dass man für einen genauen psychia - trischen Unterricht Sorge trägt, womit nichts Anderes, als die Errichtung regelmässiger psychiatrischer Cliniken gemeint sein kann.

Ueber die Einrichtung dieser Schrift habe ich nur Weniges zu bemerken. Die psychologische Analyse des Irreseins, mit deren bisheriger Behandlung ich in vielen Punkten nicht übereinstimmen konnte und deren eigene Dar - stellung desshalb eine Hauptaufgabe bildete, machte es nothwendig, Einiges über das gesunde Seelenleben vorauszuschicken. Es galt hier nicht eine Psychologie zu schreiben, sondern nur einige Hauptpunkte von unmittelbarer Anwendung auf die psychische Krankheit hervorzuheben. Ich befand mich hier an einigen Stellen in der besonderen Lage, eigene Ansichten über den Zusammenhang der psychischen Erscheinungen unterdrücken zu müssen, weil sie nicht ohne eine für die nothwendige Kürze dieser Schrift allzu weitgreifende Auseinandersetzung hätten dargestellt werden können, undVVorwort.mich dafür der Formen und Termini einer anerkannten (der Herbart’schen) Psychologie bedienen zu müssen. Ich werde mich für diese Resignation ein andermal entschädigen.

Bei Darstellung der einzelnen Formen ging mein Bestreben nicht auf zersplitternde Vervielfachung der Arten, sondern auf Einfachheit und Deut - lichkeit in der Darstellung der Hauptformen, unter welche, wie ich glaube, alle vorkommenden Fälle subsummirt werden können. Wie es die Sache mit sich brachte, habe ich hier Vieles von Anderen aufnehmen müssen; die gebräuchliche Eintheilung der Geisteskrankheiten habe ich namentlich an zwei Stellen verändert, indem ich die psychischen Exaltationszustände in zwei Formen spaltete, und indem ich die Verrücktheit den Schwächezuständen anschloss. Beides wurde an seiner Stelle gerechtfertigt. Die den einzelnen Formen beigegebenen Beispiele, meist sehr abgekürzte Krankheitsgeschichten aus der Literatur, werden dem, welcher noch keine Geisteskranke beobachten konnte, wenigstens ein, freilich dürftiges und schwaches Bild solcher Zu - stände geben.

Für die pathologische Anatomie, wie übrigens für die anderen Ab - schnitte, wurde die Literatur reichhaltig benützt; aus der Vereinigung der pathologisch-anatomischen Thatsachen gingen mir einige Schlüsse für die ganze Lehre von den Gehirnfunctionen hervor, die ich nur andeutete und deren völlige Bestätigung ich weiteren Untersuchungen überlasse. Das Studium des Gehirns der Geisteskranken fängt erst recht an; es muss zur Grundlage aller Untersuchungen werden, und der Geist der anatomischen Diagnostik wird immer der beste Schild gegen die gesalbte Pectoralpsychiatrie und gegen das laienhafte Dareinreden derer sein, welche diesen Abschnitt der Gehirnpathologie zum Schauplatz ihrer moralisirenden Excurse wählen.

Es wurde gesucht, die Therapie enger als bisher mit der Pathologie zu verbinden und die vorliegenden Thatsachen über das Gelingen der Heilung in grundsätzliche Gemeinschaft mit dem, was Aetiologie, pathologische Anatomie und psychologische Analyse ergeben, zu bringen. Das Capitel von den Irren-Anstalten sollte nur die wesentlichsten Punkte für diejenigen Leser enthalten, welche erst anfangen, von den hierhergehörigen Fragen Notiz zu nehmen. Die Anwendung der Lehre von den krankhaften Seelenzuständen auf die Bedürfnisse der Rechtspflege wurde von der Schrift ausgeschlossen; die Grundsätze, welche aus den hier vorgetragenen Lehren hervorgehen, werden sich dem denkenden Leser selbst aufdrängen; ihre vollständige Ausführung hätte aber viel zu weit geführt, und sie sollen der Gegenstand besonders zu veröffentlichender Untersuchungen sein.

Weitere Rechtfertigungen ihrer Richtung glaube ich der Schrift nicht mitgeben zu dürfen. Die Bezeichnung materialistisch, die nicht ausbleibenVIVorwort.wird, und die man von jeher der ganzen Medicin, wenn diese sich selbst treu geblieben ist, zum Vorwurf gemacht hat, kann sie wohl annehmen; denn es ist einmal so, dass unsere Wissenschaft von der Anatomie und nicht von Abstractionen ausgeht. Vor einer Verdächtigung dieser An - schauungsweise werde ich sie zu schützen wissen; den Schwachen aber sei gesagt, dass die Wunder des Geistes nichts verlieren von ihrer Schönheit und Welt-bezwingenden Kraft, indem die psychische Seite des Lebens die ihr gebührende Stelle unter den organischen Naturphänomenen einnimmt, und dass die wahren und schlimmen Materialisten immer nur die sind, welche den Geist hassen.

Dagegen möchte ich in Form und Darstellung Manches entschuldigt wissen; die Bedeutung des Gegenstandes möchte eine künstlerische Sorgfalt und Ruhe in der Gestaltung des Stoffes fordern, und solche ist schwer zu erreichen, wo die Zeit von vielfacher anderer Beschäftigung mühsam erübrigt wird. Uebrigens habe ich in der allmähligen Vollendung dieser Schrift, ungeachtet ich viele Mängel an ihr wohl erkenne, den reichhaltigsten Genuss gefunden; ihre Abfassung hat mir um so mehr Vergnügen gemacht, je mehr sie mich an meine frühere Wirksamkeit als ausübender Irrenarzt in einer der besten deutschen Anstalten erinnerte, wo meine ersten practischen Studien in der Psychiatrie den Vortheil hatten, von einem hochverehrten Freunde, Herrn Hofrath Dr. Zeller in Winnenthal, geleitet zu werden. Möge auch ihm diese Schrift Anlass zu freundlicher Erinnerung werden.

Tübingen, den 14. August 1845.

W. G.

[VII]

Inhalt.

  • Seite
  • Erstes Buch. Allgemeiner Theil. 1
  • Erster Abschnitt. Ueber den Sitz der psychischen Krank - heiten und die Methode ihres Studiums1
  • Zweiter Abschnitt. Anatomische Vorbemerkungen10
  • Dritter Abschnitt. Physiologisch-pathologische Vorbemer - kungen über das Seelenleben17
  • Vierter Abschnitt. Die Elementarstörungen der psychischen Krankheiten49
  • Erstes Capitel. Die geistigen Elementarstörungen50
  • Zweites Capitel. Die sensitiven Elementarstörungen64
  • Drittes Capitel. Die motorischen Elementarstörungen85
  • Fünfter Abschnitt. Das Irresein als Ganzes87
  • Zweites Buch. Die Aetiologie und Pathogenie der psy - chischen Krankheiten95
  • Erster Abschnitt. Allgemeines über die Ursachen95
  • Zweiter Abschnitt. Die Prädisposition zu psychischen Krank - heiten101
  • Erstes Capitel. Die allgemeine Prädisposition103
  • Zweites Capitel. Die individuelle Prädisposition112
  • Dritter Abschnitt. Die Ursachen der psychischen Krank - heiten
  • Erstes Capitel. Wirkungsweise der Ursachen121
  • Zweites Capitel. Psychische Ursachen126
  • Drittes Capitel. Gemischte Ursachen130
  • Viertes Capitel. Somatische Ursachen134
  • VIII
  • Seite
  • Drittes Buch. Die Formen der psychischen Krankheiten150
  • Erster Abschnitt. Psychische Depressionszustände152
  • Erstes Capitel. Die Hypochondrie154
  • Zweites Capitel. Die Melancholie165
  • Drittes Capitel. Die Melancholie mit Stumpfsinn186
  • Viertes Capitel. Die Melancholie mit Aeusserung von Zerstörungstrieben191
  • Fünftes Capitel. Die Melancholie mit anhaltender Wil - lensaufregung207
  • Zweiter Abschnitt. Psychische Exaltationszustände209
  • Erstes Capitel. Die Tobsucht214
  • Zweites Capitel. Der Wahnsinn238
  • Dritter Abschnitt. Psychische Schwächezustände253
  • Erstes Capitel. Die partielle Verrücktheit258
  • Zweites Capitel. Die Verwirrtheit275
  • Drittes Capitel. Der apathische Blödsinn279
  • Vierter Abschnitt. Von einigen wichtigen Complicationen des Irreseins281
  • Viertes Buch. Pathologische Anatomie290
  • Erster Abschnitt. Pathologische Anatomie des Gehirns und seiner Hüllen292
  • Zweiter Abschnitt. Pathologische Anatomie der übrigen Organe320
  • Fünftes Buch. Heilbarkeit und Heilung der psychischen Krankheiten330
  • Erster Abschnitt. Prognostik330
  • Zweiter Abschnitt. Therapie341
  • Erstes Capitel. Allgemeine Grundsätze341
  • Zweites Capitel. Somatische Behandlung352
  • Drittes Capitel. Psychische Behandlung363
  • Viertes Capitel. Einzelne Modificationen der Therapie374
  • Fünftes Capitel. Die Irren-Anstalten382
  • Zusatz397
[1]

ERSTES BUCH. Allgemeiner Theil.

Erster Abschnitt. Ueber den Sitz der psychischen Krankheiten und die Methode ihres Studiums.

§. 1.

Die vorliegende Schrift beschäftigt sich mit der Lehre von der Erkenntniss und Heilung der psychischen Krankheiten oder des Irreseins. Das Irresein selbst, ein anomales Verhalten des Vor - stellens und Wollens, ist ein Symptom; die Aufstellung der ganzen Gruppe der psychischen Krankheiten ist aus einer symptomatologischen Betrachtungsweise hervorgegangen und ihr Bestehen ist nur von einer solchen aus zu rechtfertigen. Der erste Schritt zum Verständniss der Symptome ist ihre Localisation. Welchem Organ gehört das Phäno - men des Irreseins an? Welches Organ muss also überall und immer nothwendig erkrankt sein, wo Irresein vorhanden ist? Die Antwort auf diese Frage ist die erste Voraussetzung der ganzen Psychiatrie.

Zeigen uns physiologische und pathologische Thatsachen, dass dieses Organ nur das Gehirn sein kann, so haben wir vor Allem in den psychischen Krankheiten jedesmal Erkrankungen des Gehirns zu erkennen.

§. 2.

Die Physiologie betrachtet das psychische Leben als eine besondere Lebensform des Organismus; sie sieht in den psychischen Acten Functionen bestimmter Organe und sucht jene eben aus demGriesinger, psych. Krankhtn. 12Das Gehirn ist das Organ der psychischen Acte.Bau dieser zu begreifen. Allbekannte Experimente zeigen nun, wie zwar das Vonstattengehen der im weiteren Sinne psychischen Thätig - keiten an das ganze Nervensystem gebunden, wie aber nur das Ge - hirn, und auch dieses nur in einzelnen seiner Theile, der Sitz des Vorstellens und Strebens ist. Allerdings kommen sowohl dem Rücken - marke, als dem Gangliensysteme des Sympathicus nicht bloss Lei - tungsfunctionen, sondern auch centrale Thätigkeiten der Mittheilung, Association und Erregung zu (Tonus, Reflexactionen etc.); zu jenen höheren centralen Thätigkeiten verhalten sie sich aber wieder als lediglich peripherische. Wohl bieten die Zustände des ganzen Ner - vensystems, indem sie unmittelbar dem Gehirne sich mittheilen, auch Elemente zur Erregung und Unterhaltung geistiger Thätigkeiten dar von allen peripherischen Nervenausbreitungen aus können Eindrücke entstehen, welche Anstösse zu Trieben, zu dunkleren oder bewussteren Vorstellungen und Bestrebungen abgeben können aber die Samm - lung und Aufnahme dieser Eindrücke, der von ihnen ausgeübte Ein - fluss auf grosse zusammengesetzte Bewegungsreihen (auf das Handeln), jenes Vorstellen und Streben selbst, das von ihnen influencirt wird, findet nur im Gehirne statt.

Die inneren Hergänge des Vorstellens und Wollens sind so wenig als die des Empfindens aus der Organisation des Gehirns zu begreifen. Dennoch lässen sich die gröberen Schemata der psychischen Thätig - keiten mit Leichtigkeit an den Bau der betreffenden Theile anknüpfen. Die in der Schädelhöhle liegende Abtheilung des Centralnervensystems besteht aus Nervenmassen, welche einerseits die sensitiven Rücken - marksstränge und die centralen Ausbreitungen der höheren Sinnes - nerven in sich aufnehmen, von denen andererseits die motorischen Markstränge ausgehen. Dem entsprechend sehen wir, wie alle aus dem Körper und durch die Sinne centripetal einfallenden Eindrücke im Gehirne sich sammeln, percipirt, assimilirt werden, die Geistes - thätigkeit erregen und unterhalten, und wie von hier aus wieder An - lässe zu neuen, centrifugalen Acten, Beziehungen der Empfindung und der Geistesthätigkeiten auf die Action der Bewegungsorgane Strebungen und motorische Entladungen in die Muskelapparate ent - stehen. Mit Recht vergleicht man diese Vorgänge mit dem Kreis - laufe des Bluts und dem Ganzen der leiblichen Assimilationsprocesse.

Wir sehen, wie in der Thierreihe die psychischen Thätigkeiten um so mannigfaltiger, reicher und einer um so feineren Ausbildung fähig werden, je mehr das Gehirn an Volum zunimmt und je ver - wickelter und gestaltenreicher seine Organisation wird. Wir sehen,3Physio-pathologische Gründe.wie beim Menschen eine mangelhafte Entwicklung des Gehirns con - stant mit Schwäche der höheren psychischen Acte, des Vorstellens und Wollens, verbunden ist (Idiotismus), und die Erfahrung an allen Menschen zeigt uns, wie diese psychischen Thätigkeiten sich wesent - lich ändern mit der Entwicklung und Umänderung des Gehirns in den verschiedenen Lebensaltern. Eben in diesen zeitlichen Metamor - phosen, diesem Weiterschreiten von allmähligem Wachsthum zur ge - reiften Höhe und zur Wiederabnahme, geht die psychische Thätigkeit des Gehirns parallel mit allen übrigen organischen Functionen und erweist sich damit dem Entwicklungsgesetze des Organismus ebenso wie diese unterworfen.

Man hat bekanntlich schon versucht, einzelne Seiten der psychischen Thä - tigkeit in andere Parthieen des Nervensystems, als das Gehirn, zu verlegen, z. B. das Gemüth in den N. sympathicus. Diese Hypothese gieng von psychologischer Seite aus der genugsam widerlegten Annahme getrennter Seelenvermögen hervor. Von physio-pathologischer Seite steht sie mit sicheren Lehrsätzen der Empirie (über die specifischen Energieen der Gewebe) im Widerspruch. Dasselbe in noch höherem Grade gilt von der Lehre, welche ein unmittelbares Mitwirken aller Theile des Organismus, (also auch der Knochen, Drüsen etc.) bei den psychischen Thätigkeiten annimmt, und demgemäss auch das Irresein unmittelbar aus Stö - rungen solcher peripherischer Organe erklären will.

§. 3.

Die pathologischen Thatsachen zeigen uns so gut wie die physiologischen, dass nur das Gehirn der Sitz normaler und krank - hafter geistiger Thätigkeiten sein kann. Die constanten und wesent - lichen Symptome der Gehirnkrankheiten, mögen sie aus inneren Ur - sachen oder aus äusseren Verletzungen entstanden sein, bestehen ja ausser den Anomalieen der Empfindung und Bewegung, bei jeder schweren Erkrankung eben aus geistigen Störungen (Exaltation oder Trägheit des Vorstellens, Verlust des Bewusstseins, Delirien etc.), und die selteneren Wahrnehmungen, wo bei schweren Desorganisationen des Gehirns und bei Verlust an Gehirnsubstanz keine oder nur unbedeu - tende Störungen der Geistesthätigkeit sich gezeigt haben sollen, ver - mögen jene Ergebnisse der alltäglichen Beobachtung nicht zu schwächen.

Eine Anzahl solcher Fälle findet man z. B. bei Longet (Anat. et Physiol. d. syst. nerv. Par. 1842. I. p. 670.) zusammengestellt. Gegen die meisten dieser und der anderweitig bekannt gewordenen ähnlichen Beobachtungen erheben sich wesentliche Bedenken. In fast allen Fällen ist nur die Intelligenz im engeren Sinne beachtet, die Gemüthsbeschaffenheit und der Willenszustand ganz unberück - sichtigt geblieben, und auch an die Intelligenz wurden gewöhnlich nur die gering - sten Anforderungen gemacht z. B. die Beantwortung einfacher ärztlicher Fra - gen, um sie für unverletzt zu erklären. In keiner dieser Beobachtungen ist die1*4Die Geisteskranken sind Gehirnkranke.Intelligenz nach ihrem ganzen Umfange geprüft worden, und in vielen derselben, nämlich in allen Hospitalbeobachtungen, war eine Vergleichung des Geistes - zustandes nach der Erkrankung oder dem Substanzverluste mit dem früheren schlechterdings unmöglich; alle feineren Abweichungen mussten hier nothwendig der Beobachtung entgehen. Nimmt man aber auch die Thatsachen als richtig an, so beweisen sie nichts gegen unseren Satz. Einmal kommt sehr viel auf den Sitz der Läsion an; nicht alle Theile des Gehirns stehen in gleich nahem Verhältnisse zu den Geistesthätigkeiten; einzelne stehen vielmehr in viel näherer Beziehung zur Muskelbewegung (Pons, Thalami etc.). Ferner ist beim Gehirn, wie bei allen paarigen Organen, die Möglichkeit eines Ersatzes der Function durch die gesund gebliebene Hälfte in hohem Grade wahrscheinlich. Endlich findet man auch in andern wichtigen Organen nicht selten beschränktere anatomische Läsionen ohne auffallende Störung der Function (chron. Magengeschwür, pleurit. Adhäsionen, Tuberkel etc.), und man hat gleichfalls Substanzverluste (durch gangränose Losstossung) z. B. in der Lunge oder im Darme beobachtet, wo nach erfolgter Heilung die Processe der Respiration, der Verdauung wieder ohne auf - fallende Störung vor sich giengen. Man wird aber schwerlich solcher Thatsachen wegen den Satz fallen lassen, dass die Lunge das Respirationsorgan sei und dass die Verdauung im Darme geschehe.

Noch näheren und directeren Beweis für unsern Satz, dass das Gehirn das beim Irresein erkrankte Organ sei, liefern die Ergebnisse der Leichenöffnungen der Irren selbst. Es ist ausser Zweifel,*)Wir verweisen auf das betreffende Capitel über die patholog. [Anatomie]. dass man in der Mehrzahl dieser Leichenöffnungen wirklich anatomische Veränderungen im Gehirne selbst oder seinen Hüllen findet, und dass diese, da wo überhaupt anatom. Läsionen vorkommen, die einzigen constanten sind. Der Umstand, dass man nicht immer solche Läsio - nen findet, vermag diesen Grund nicht zu schwächen. Es verhält sich hier nicht anders als bei so vielen andern Nerven - und Gehirnkrank - heiten, der Epilepsie, dem Tetanus etc., deren Sitz im Gehirn oder Rückenmark, wenn auch in manchen Fällen durch die pathologische Anatomie nicht ad oculos demonstrirt, doch von Niemanden in Zwei - fel gezogen wird.

Die Mehrzahl der Geisteskranken bietet aber auch, ausser den Störungen des Vorstellens und Wollens, noch bedeutende Anomalieen anderer, dem Gehirne gleichfalls unzweifelhaft angehöriger Functionen dar. Vor Allem die Hallucinationen, Anomalieen der centralen Sin - nesthätigkeit, welche zwar nach den Sinnesorganen projicirt und als peripherisch entstandene empfunden werden, deren Entstehung aber nothwendig in das Gehirn verlegt werden muss, wie diess z. B. die Fälle von andauernden Gesichtshallucinationen bei völliger Blindheit mit Atrophie des N. opticus (Esquirol) unwiderleglich beweisen. Ebenso5Verhältniss des Gehirns zu den psych. Acten.sehen wir die Bewegung der willkührlichen Muskeln, eine unzweifel - hafte Gehirnfunction, bei sehr vielen Geisteskranken verändert, theils als erhöhte Activität und Energie, theils als cataleptische Starrheit, theils als jene Paralyse, welche gleichen Schritt mit dem Verlauf einer gewissen Form des Irreseins (des Blödsinns) hält, und noch viele andere Anomalieen der Gehirnfunctionen (verringerte Empfind - lichkeit für Schmerz und Temperatur, Schlaflosigkeit, Convulsionen, Kopfcongestion etc.) werden bei Geisteskranken als mehr accessorische Phänomene beobachtet, welche zu weiterer Bestätigung einer vorhande - nen Gehirnaffection dienen mögen.

§. 4.

Indem man durch die Thatsachen genöthigt das Vorstellen und Wollen in das Gehirn verlegt, sind immer noch verschiedene Vor - stellungen über das Verhältniss dieser psychischen Acte zum Gehirn, über das Verhältniss der Seele zur Materie überhaupt möglich. Vom empirischen Standpunkte aus haben wir vor allem die Thatsache der Einheit von Leib und Seele festzuhalten und müssen es dem Aprioris - mus überlassen, die Seele ohne Beziehung auf den Leib, eine leib - lose Seele, zu untersuchen und sich mit abstracten Betrachtungen über ihre Immaterialität und Einheit im Gegensatz zur Vielheit der Materie etc. zu begnügen. Die Hypothesen, die man schon ersonnen hat, um jene unerklärliche Einheit für die Reflexion fasslicher zu ma - chen, von jenen feinen Fluidis an, die zwischen Leib und Seele ver - mitteln sollen, jenen Materien, dünn genug um gelegentlich für Geist passiren zu können bis zu dem System prästabilirter Harmonie, ver - möge dessen Leib und Seele niemals auf einander, sondern immer nur mit einander wirken sollen, diese Hypothesen sind für die em - pirische Betrachtung gleich unwiderleglich und gleich unannehmbar. Diese wird vielmehr auch auf die Gefahr, etwas fast allzu Plattes zu behaupten die Seelenthätigkeiten in derjenigen Einheit mit dem Leibe und namentlich mit dem Gehirne auffassen müssen, welche zwischen Function und Organ besteht, sie wird das Vorstellen und Streben in gleicher Weise als die Thätigkeit, die specifische Energie des Gehirns betrachten müssen, wie sie die Leitung in den Nerven, die Reflexaction im Rückenmarke etc. als die Functionen dieser Theile betrachtet, und so wird dieser Betrachtungsweise die Seele die Summe aller Gehirnzustände sein.

Nicht genug aber ist bei Annahme solcher Betrachtungsweise vor dem ab - stracten und seichten Materialismus zu warnen, der die allgemeinsten Thatsachen des menschlichen Bewusstseins über Bord werfen möchte, weil sie sich nicht im6Einheit, Erkrankung der Seele.Gehirne mit Händen greifen lassen. Indem die wahre empirische Auffassung die Phänomene des Empfindens, Vorstellens und Wollens dem Gehirne als seine Thä - tigkeiten zuschreibt, lässt sie nicht nur den thatsächlichen Inhalt des menschlichen Seelenlebens in seinem ganzen Reichthum unberührt, und hält namentlich die Thatsache der freien Selbstbestimmung nachdrüklich fest; sie lässt natürlich auch die metaphysischen Fragen offen, was es etwa sei, was als Seelen substanz in diese Relationen des Empfindens, Vorstellens und Wollens eingehe, die Form der psychischen Existenz annehme etc. Sie muss ruhig die Zeit erwarten, wo die Fragen über den Zusammenhang des Inhalts des menschlichen Seelenlebens mit seiner Form statt zu metaphysischen zu physiologischen Problemen werden.

Indem für die empirische Betrachtung die Seele zunächst in eine Mannigfaltigkeit und Vielheit psychischer Vorgänge sich auseinander - breitet, geht ihr darüber die Einheit im Seelenleben nicht verloren. Sie erscheint zunächst als diejenige Einheit, die auch der Thierseele zukommt, die dem Accorde oder der Harmonie zu vergleichen ist, welche auch ein Eines aus mehren und vielen Tönen sind. Sie er - scheint aber auch als eine höhere und bewusste Einheit, indem aus dem Wechsel der Seelenzustände ein Eines, scheinbar Bleibendes sich sammelt, das Ich. Freilich ist diese selbst erworbene Einheit keine ruhende und starre, sondern mit dem Ich setzt sich die Seele sich selbst einem Du in ihr entgegen, und der Fortschritt von dieser Entzweiung zu immer weiteren und höheren Vereinigungen ist eben das treibende Moment des menschlichen Seelenlebens.

Ein etwaiger Streit über Materialität oder Immaterialität der psychischen Processe liesse sich mit unsern gegenwärtigen Begriffen nicht entscheiden, und fiele zusammen mit der Frage nach den inneren Veränderungen bei der Thätigkeit des Nervensystems. Alle Vergleichungen mit den Imponderabilien, welche in einem ähnlichen Verhältnisse zur Materie stehen auch sie erscheinen als etwas Immaterielles, werden aber durch materielle Veränderungen hervorgerufen und in ihren Wirkungen modificirt, und bewirken selbst wieder Veränderungen in der Materie sind nur wenig förderlich. Das psychische oder nervöse Agens hat in der ganzen übrigen Welt nichts wirklich Analoges; die Theorie findet, wie schon Locke aussprach, dieselben Schwierigkeiten, ob sie die Materie denken las - sen, oder ob sie die Einwirkung eines Immateriellen auf die Materie begreifen will.

Nach diesen Prämissen wird nun die von der deutschen Psy - chiatrie ungebührlich oft und weitläufig behandelte Frage, ob beim Irresein, bei den Anomalieen im Vorstellen und Wollen, die Erkran - kung auch wirklich die Seele betreffe, ihre einfache, bejahende Lösung finden. Nur wird man allerdings nicht von Krankheiten der Seele selbst zu sprechen haben so wenig überhaupt eine richtige Pathologie von Krankheiten der Lebens-Processe, der Functionen spricht sondern nur von Krankheiten des Gehirns, durch welche jene Acte des Vorstellens und Wollens gestört werden.

7Welche Gehirnkrankheiten sind psych. Krankheiten?

§. 5.

Wenn aber alles Irresein auf Gehirnaffection beruht, so gehören desshalb nicht alle Gehirnkrankheiten zu den Geisteskrankheiten. Welche Art von Gehirnerkrankung ist es nun, mit der man es bei dem Irresein zu thun hat? Vom anatomischen Standpunkte sind es die allerverschiedensten Erkrankungen, deren Symptomengruppe man Irresein nennt. Blosse Irritationen ohne merkliche Gewebever - änderung, Encephalitis der Gehirnrinde, Atrophie des Gehirns, Apo - plexia intermeningea, einfache Gehirnhyperamieen u. s. w., alle diese unter sich so ausserordentlich verschiedenen Zustände können Sym - ptomencomplexe geben, wegen deren man die Kranken in die Irren - häuser schickt und welche in den psychiatrischen Schriften als Geisteskrankheiten beschrieben werden. Jeder Versuch, das Irresein von den acuten oder chronischen Gehirnkrankheiten, wie sie vom anatomischen Standpunkte aus gebildet sind, z. B. der Meningitis, Encephalitis etc., zu unterscheiden, wäre das vergeblichste Unter - nehmen, da ja eben nicht wenige Fälle von Geisteskrankheit selbst Meningitis, Encephalitis etc. sind. Der Begriff der Geisteskrankheiten als ein rein symptomatologischer, liegt vielfach ganz innerhalb jener anatomischen Begriffe und die Objecte beider lassen sich gar nicht mit einander vergleichen.

Die Gehirnpathologie steht heute noch auf dem Standpunkt, den die Pathologie der Brustorgane vor Laënnec einnahm. Statt überall von den Structurveränderungen des Organs ausgehen und das Zu - standekommen der Symptome in exacter Weise von den Verände - rungen der Gewebe ableiten zu können, hat sie es häufig genug mit Symptomencomplexen zu thun, von denen sie den Sitz kaum annähe - rungsweise und den Mechanismus der Entstehung gar nicht kennt. Sie muss sich an das Aeussere der Phänomene halten und muss noch Krankheitsgruppen nach etwas Gemeinsamem und charakteristischem in den Symptomen, zunächst abgesehen von deren anatomischer Grundlage, bilden. So die Epilepsie, die Chorea etc.; so auch die psychischen oder Geisteskrankheiten, unter welchen wir also alle die - jenigen Gehirnaffectionen zu begreifen haben, bei denen Anomalieen, Störungen im Vorstellen und Wollen die für die Beobachtung hervorstechendste Symptomengruppe bilden.

Was das Irresein ist, erfährt nur der, der es im Einzelnen studirt; Defi - nitionen von den Geisteskrankheiten, vom Irresein wären so unmöglich und zwecklos, wie Definitionen von der Wassersucht und Phtisis, oder wie eine Definition des russischen Feldzugs. Nur das braucht bemerkt zu werden, dass8Selbständigkeit dieses Theils der Gehirnpathologie.man unter Geisteskrankheiten, wie unter Krankheiten überhaupt, gewöhnlich Ab - weichungen vom individuell normalen Zustande versteht. Wir handeln also nur von den Geisteskrankheiten früher geistig-gesund Gewesener, schlies - sen demnach die angebornen oder noch vor Entwicklung einer geistigen Indivi - dualität entstandenen psychischen Hemmungen, den angebornen Blödsinn und Cre - tinismus, von dieser Schrift aus.

§. 6.

Da das Irresein nur ein Symptomencomplex verschiedener Ge - hirnkrankheiten ist, so könnte die Frage entstehen, ob seine von den übrigen Gehirnkrankheiten getrennte und abgesonderte Behandlung überhaupt zu rechtfertigen sei, ob nicht vielmehr die Psychiatrie auch äusserlich ganz in der cerebralen Pathologie aufzugehen habe? Allein, wenn auch von einer ferneren Zukunft Solches vielleicht zu erwarten steht, so wäre doch heutzutage jeder Versuch einer der - artigen völligen Verschmelzung voreilig und völlig unausführbar. Wenn nur der innere Grundzusammenhang mit der sonstigen Gehirnpatho - logie stets im Auge behalten, wenn nur hier wie dort eine und die - selbe richtige, möglichst anatomisch-physiologische Methode befolgt wird, so wird die Cerebralpathologie von der äusserlich abgesonder - ten, monographischen Bearbeitung solcher symptomatisch gebildeter Krankheiten in ihrer inneren Gliederung nicht gestört, sondern nur gefördert. Um so weniger aber wäre ein solcher Verschmelzungs - versuch derzeit zulässig, als der Psychiatrie ihre Stellung als Theil der Gehirnpathologie überhaupt fast noch erobert werden muss, und als manche praktische Seiten der Psychiatrie (das Irrenanstaltswesen, das Verhältniss zur gerichtlichen Medicin etc.) ihr einen Umfang und eine Eigenthümlichkeit geben, die auch inmitten der Cerebralpatho - logie ihr unter allen Umständen eine grosse Selbstständigkeit erhal - ten müssen.

§. 7.

Da das Irresein eine Krankheit, und zwar eine Erkrankung des Gehirns ist, so kann es für dasselbe kein anderes richtiges Studium geben, als das ärztliche. Die Anatomie, Physiologie und Pathologie des Nervensystems, und die gesamte specielle Pathologie und Therapie bilden für den Irrenarzt die allernothwendigsten Vorkenntnisse. Alle nicht-ärztlichen, namentlich alle poetischen und moralistischen Auf - fassungen des Irreseins sind für dessen Erkenntniss nur vom aller - geringsten Werthe. Einzelne poetische Darstellungen Wahnsinniger sind in manchen, der Natur abgelauschten Zügen vortrefflich (Ophelia, Lear, vor allem Don-Quixote); aber indem der Dichter fast durchaus9Falschheit der poet. und moralist. Auffassungen.diese Zustände mit Umgehung ihrer organischen Grundlagen, nur von der geistigen Seite, als Resultate vorausgegangener sittlicher Conflicte auffassen, und nur das, was diesem Zwecke dient, hervorheben muss, wird seine Schilderung zum mindesten einseitig. Ein gleicher, und wegen des Ernsts, mit dem einzelne solche Versuche auftraten, noch schwererer Vorwurf trifft die moralistischen Betrachtungsweisen. Nichts ist falscher, nichts wird mehr von der täglichen Beobachtung ver - worfen, als jeder Versuch, das Wesen der Geisteskrankheiten in das sittliche Gebiet zu verlegen. Laut genug sprechen freilich die That - sachen für eine sehr häufige psychische Entstehungsweise dieser Krankheiten; wie könnte es anders sein, da die psychischen Ursachen auch für die übrigen Gehirn - und Nervenkrankheiten zu den wichtig - sten und häufigsten gehören? Der jeweilige Zustand des Vorstel - lens und Wollens ist wesentlich abhängig, ja zum Theil das noth - wendige Ergebniss der Summe alles früheren Vorstellens und Wollens, und damit freilich ist im psychischen Leben selbst eine reichliche Quelle ursächlicher Momente geöffnet. Aber, während die Sphäre der Sittlichkeit ganz innerhalb des bewussten, freien Denkens ent - halten ist, liegen die Ausgangspunkte der anomalen geistigen Pro - cesse, zu denen diese Gehirnkrankheiten Anlass geben, auf einem ganz andern Gebiete. Aus dunkeln Verstimmungen des psychischen Gemeingefühls, der Selbstempfindung gehen beim Irresein ursprüng - lich affectartige Seelenzustände hervor, und wenn sich aus diesen ein, den Kranken überwältigendes falsches Vorstellen und Streben herausgebildet hat, so ist dieser schon in einem Zustande, dem die ersten Voraussetzungen aller Sittlichkeit, die Besonnenheit, die Mög - lichkeit einer Ueberlegung und Wahl, fehlen, und all sein Thun kann gar nicht mehr unter den sittlichen Gesichtspunkt fallen.

Eine wirkliche Polemik gegen die moralistischen Auffassungen der Geistes - krankheiten ist heutzutage nicht mehr nöthig. Zum Ueberfluss mag gegen die - selben an die vielen Fälle rein körperlicher Entstehung der Geisteskrankheiten durch Kopfverletzungen, Narcotica etc. an ihre Erblichkeit eine Familien - anlage, die sich oft bei andern Anverwandten als Disposition zu andern schwe - ren Neurosen, Epilepsie, Hysterie etc. ausspricht an das Typische, das nicht selten ihr Verlauf, wie der der übrigen Nervenkrankheiten zeigt, an den oft beobachteten Wechsel mit andern Krankheiten mit Intermittens, mit chron. Spinalirritation an die Möglichkeit schneller Heilungen, an die Analogie mit den Traumzuständen etc. erinnert werden. Die beste Widerlegung aber wird die Einsicht in die thatsächlichen Hergänge selbst abgeben.

10

Zweiter Abschnitt. Anatomische Vorbemerkungen.

§. 8.

An einem andern Orte*)Neue Beiträge zur Physiol. und Pathol. des Gehirns. Vom Vf. Archiv f. physiolog. Heilkunde. III. 1. p. 69. haben wir auf die durchgängig nach - weisbare pathologische Analogie der Gehirnkrankheiten, auch insofern sie vorzugsweise psychisch-anomale Symptome geben, mit den Irrita - tionen und mit den tieferen Substanzerkrankungen des Rückenmarks aufmerksam gemacht. Diese Vergleichung wird nicht nur durch den dort gegebenen Nachweis gerechtfertigt, dass dem einen wie dem andern Abschnitte des Central-Nervensystems dieselben Schemata krankhafter Thätigkeit zukommen, welche nur nach der ursprünglich gegebenen Verschiedenheit der Energieen sich sehr verschieden äussern; die Vergleichung hat zunächst ihre Basis in der normalen und pathologischen Anatomie, welche uns im Gehirn und Rückenmark ein einziges, nur künstlich trennbares Ganzes kennen lehrt und uns in beiden dieselben gröberen Dispositionen, dieselben Elementarge - webe und auch die nemlichen pathologischen Veränderungen aufzeigt.

Indem wir nun die gröbere Anatomie, die Eintheilung des Gehirns und Rückenmarks, die Structur und Lagerung seiner Hüllen als be - kannt voraussetzen, schicken wir nur wenige Bemerkungen über den Bau und den Zusammenhang des Central-Nervensystems, an welche sich später physio-pathologische Ergebnisse anknüpfen lassen, und über die Beurtheilung der gesunden oder kranken Beschaffenheit des Gehirns voraus.

Gehirn und Rückenmark bilden ein Ganzes, dessen verschiedene Abschnitte im Wesentlichen denselben elementaren Bau, und einen gemeinsamen, wenn gleich zu immer höherer Entwicklung fortschrei - tenden Typus der Organisation**)Vgl. Arnold, Bemerkungen über den Bau des Gehirns und Rückenmarks. Zürich. 1838. Valentin, Hirn - und Nervenlehre. Leipzig. 1841. Foville, anatomie du système nerveux cerebro-spinal. Par. 1844. Longet, anat. et physiol. d. syst. nerv. 1842. zeigen.

Wie sich die Wirbelstructur der knöchernen Rückenmarkshüllen am Schädel in ausgebildeterer Weise, in einer complicirten Mehr - heit von Knochengebilden wiederholt, so geht auch der Schädel-Ab - schnitt des centralen Nervensystems in eine verwickelte Vielheit11Die graue Gehirnsubstanz.von Nerven-Massen auseinander, welche auf den ersten Anblick nach einem anderen Schema als das Rückenmark gebildet scheinen, in denen sich aber bei vielen wichtigen Verschiedenheiten doch im Ganzen die Analogie mit dem Rückenmarke und seinen nächsten Anhängen durchführen lässt.

Der ursprünglich beim Embryo vorhandene, zuweilen noch beim Erwachsenen sich findende Canal des Rückenmarks, der ganz von grauer Substanz eingeschlossen ist, öffnet sich in der Rautengrube, schliesst sich wieder in der 4ten Hirnhöhle und bildet im Innern des grossen Gehirns den 3ten und die Seiten-Ventrikel, indem er im Infundibulum seinen Schlusspunkt findet.

Die graue Substanz des Rückenmarks, welche in der Medulla oblongata theils an die Oberfläche trat, theils sich in das Corpus fimbriatum der Oliven und in die Corpora restiformia fortsetzt, communicirt auch mit dem Corpus rhomboideum des kleinen Gehirns, dann auf ihrem weiteren Zuge nach vorn mit der grauen Substanz der Crura cerebri, der Corpora quadrigemina, des Thalamus und Corpus striatum, und erreicht endlich am Infundibulum oder in der vorderen perforirten Substanz ihre Endpunkte. So bildet die Fortsetzung der grauen Rückenmarksubstanz im Innern und an der Basis des Gehirns ein zusammenhängendes System grauer Züge und Massen. Ein an - deres System grauer Substanz kommt aber im Gehirne hinzu, nemlich die Rindensubstanz der Hemisphären, welche aussen die Windungen überall, mit Ausnahme einer Stelle am Gyrus fornicatus überzieht. Diese Massen grauer Substanz communiciren direct mit dem ersten Systeme nur an einer Stelle, an der Substantia perforata, und die Hauptverbindung ist eine durch die weissen Faserzüge vermittelte; an der Substanz des Rückenmarks selbst haben sie auch nichts Analoges; sie bilden die gemeinschaftlichen Endigungsstätten für das System der fortgesetzten Rückenmarksstränge und für die im Schädel ent - springenden und nicht aus ihm heraustretenden Fasersysteme.

Einzelne Gehirne zeigen in Bezug auf Menge und Vertheilung der grauen Substanz feinere Verschiedenheiten (Valentin l. c. p. 244), welche natürlich jeder Deutung entgehen. Wichtig aber erscheint die derartige Disposition der grauen Anhäufungen, dass sie fast überall, mit Ausnahme einzelner Theile, welche wie z. B. das Infundibulum, rein aus Belegungskugeln zu bestehen scheinen, von stärkeren oder feineren Primitivfaserzügen durchsetzt und umsponnen werden. Ob sich in der grauen Substanz des Gehirns auch eigene, von den weissen Primitivfasern verschiedene (dünne, graue) Fasern finden,12Die weisse Gehirnsubstanz.wie solche Stilling im Rückenmarke gesehen zu haben behauptet, bleibt dahingestellt; in der Brücke und der Mittellinie zwischen den Cruribus cerebri wird ihr Vorkommen von Foville behauptet. Die Belegungskugeln der grauen Gehirnsubstanz sind zwar denen des Rückenmarks und der Ganglien höchst ähnlich; sie zeigen aber eine noch grössere Zartheit, vielleicht auch mannigfaltigere (runde, geschwänzte, sternförmige) Gestalten, und in verschiedenen Gegenden des Gehirns constantere Verschiedenheiten ihrer feineren Anordnung und Lagerung. An einzelnen Stellen (Crura cerebri, Ammonshorn) sind sie mit Pigment gemischt; an anderen, namentlich in der Sub - stantia perforata treten neue Formen auf, welche mehr Verschieden - heiten als Aehnlichkeiten mit den übrigen Belegungskugeln darzubieten scheinen. Die kugelförmigen Gebilde vollends, aus denen die Hypo - physen (Zirbel und Hirnanhang) bestehen, entfernen sich sehr be - trächtlich von den sonst im Nervensysteme vorkommenden Elementar - Formen.

§. 9.

Die weisse Substanz des Gehirns besteht aus den bekannten, hellen Primitivfasern, welche meist schmäler als im Rückenmark und den Nerven sind und deren zusammengesetzte Bündel und Stämme kein Neurilem mehr haben. Ihre vielfachen, gröberen und feineren Faserzüge bilden häufig Geflechte, welche zum Theil von den Nerven - körpern der grauen Substanz ausgefüllt werden. Freie Endigungen oder Bifurcationen finden sich nicht; die centralen Enden der Fasern sind unbekannt; die, welche in die graue Rindenschicht eintreten, zeigen zuweilen schlingenförmige Umbiegungen, aber sie verlieren sich allmählig in den successiven Schichtungen der Rinde auf eine bisher nicht näher zu erforschende Art.

Dass ein grosser Theil der weissen Gehirnsubstanz aus unmittel - baren Fortsetzungen der drei Rückenmarkstränge jeder Seite, welche aber eine mehrfache Kreuzung eingehen, besteht, ist gewiss: Theile der Hinter - und Seitenstränge lassen sich z. B. in das kleine Gehirn, Theile der Vorderstränge in die Corpora quadrigemina, die Haube etc. mit grösster Leichtigkeit verfolgen, und genauere Untersuchungen haben sogar gezeigt, dass in jede der grossen ganglienartigen An - schwellungen aus denen das Gehirn besteht, Fortsetzungen aller drei Rückenmarkstränge eingehen. Diese Fortsätze bilden aber offenbar nicht die ganze Masse der weissen Substanz; es kommen neue Faser - systeme hinzu, und zwar nicht nur die centralen Ausbreitungen der13Ihr Verhältniss zu den Rückenmarksträngen.Sinnesnerven, welche sich bei ihrem Eintritt in’s Gehirn theilen, in verschiedene Richtungen hin zerstreuen und mitunter grössere, mem - branöse Ausbreitungen im Innern zu bilden scheinen, sondern auch die neuen Fasersysteme der Commissuren, und die Belegungssubstanz. Es wäre von grosser Wichtigkeit, die Mischungs - und Anlagerungs - verhältnisse dieser einzelnen Systeme zu den entsprechenden Fort - setzungen der drei Rückenmarkstränge zu kennen. Nach Foville, des - sen Untersuchungen übrigens weiterer Bestätigung bedürfen, lassen sich namentlich im grossen Gehirne zwei grosse, durch die Art ihrer Lagerung unterschiedene, aber vielfach in einandergeschobene Faser - gruppirungen nachweisen, deren eine sich an die Vorder-Seitenstränge, die andere an die Hinterstränge anlegt. Der letzteren, weit überwie - genden Gruppe würden nicht nur die successiven Anschwellungen auf der Gehirnaxe, die Corpora quadrigemina, die Thalami und Corpp. striata mit ihren grauen Kernen, sondern auch das ganze Corpus cal - losum, das Septum und der Fornix mit seinen Anhängen angehören, welche alle als ringförmige Bildungen den Faserkegel umfassen, der, den Vorder - und Seitensträngen angehörig, als abgeplatteter Stamm durch die grauen Massen des Thalamus und Corpus striatum durch - tritt und sich in das Innere der grossen Hemisphären verzweigt. Namentlich aber sollen nach Foville die nervöse Membran der Ventrikel - oberfläche und indem diese im Ammonshorn sich in die weisse, äusserste Lamelle der Rindenschicht fortsetzt, die ganze Gehirnober - fläche mit den Fortsetzungen der Hinterstränge in nächster Verbin - dung stehen, so dass die Fortsätze und Anhänge der Seiten-Vorderstränge von ihrem Eintritt in den Thalamus an durchaus im Innern von Hin - terstrangparthien steckten und nirgends auf die Oberfläche selbst herausträten. Es wäre diess ein ähnliches Verhalten, wie in der pe - ripherischen Nervenausbreitung, wo die Oberflächen, die Haut und die Schleimhäute, gleichfalls überwiegend von Nerven der Hinterstränge versorgt werden, während die Nerven aus den Vorder-Seitensträngen sich hauptsächlich zu den unter jenen gelegenen Muskelschichten ausbreiten.

Nach dieser Ansicht wären das grosse und das kleine Gehirn im Ganzen als grosse gangliöse Anschwellungen zu betrachten, welche, wie die Spinalganglien, zunächst den Fortsetzungen der Hinterstränge angehörten, wobei aber die Fortsetzungen der Vorder-Seitenstränge nicht nur auf’s innigste in die Bildung dieser Ganglien eingehen, son - dern in ihnen selbst (der grauen Rinde) entspringen würden. Es würde nach dieser Betrachtungsweise das grosse Gehirn ein enormes14Kleines und grosses Gehirn.verschmolzenes Ganglion des N. opticus und olfactorius, das kleine Gehirn ein ebensolches für den N. acusticus (und quintus) darstellen. Man kann diese Bezeichnung Ganglion gelten lassen; eine nähere Bestimmung desselben wird eben dahin führen, dass beide Gehirne die innere Ausbreitung eines centralen, zum Theil eigenen Nervensystems bilden, in welchen die unmittelbare Fortsetzung der Rückenmarkstränge mit neuen Massen grauer Substanz, mit neuen,[weissen] Fasersystemen, worunter namentlich die centralen Ausbreitun - gen der Sinnesnerven, aufs innigste combinirt sind, welch letzteres Verhältniss seine physiologische Bedeutung in dem grossen und wich - tigen Antheile findet, den die centrale Sinnesthätigkeit an fast allen unsern psychischen Thätigkeiten nimmt.

§. 10.

So sind im kleinen Gehirn Fortsätze aller drei Stränge in dem innigen, kaum trennbaren Convolut von Markplatten enthalten, welche den Kern des Cerebellum und dessen nächste Hüllen bilden, und dieser Kern selbst ist (nach Foville) umgeben mit einer mem - branösen Ausbreitung von Nervensubstanz, welche die Innenfläche der grauen Rinde austapezirt und von Fortsätzen des N. acusticus und quintus gebildet wird. Beide Nerven sollen auch noch Fortsätze in die Faserlagen des Kerns selbst schicken, welche im Innern von der grauen, gefranzten Membran des corpus rhomboideum aus - gefüttert werden.

Im grossen Gehirn sind gleichfalls Fortsetzungen aller drei Stränge so zusammengruppirt, dass die Vorder-Seitenparthieen, nach aussen strahlend, von den erwähnten successiven ringartigen Bildun - gen umfasst werden und am Ende auf der Höhe, in der Mitte der Windungen in die graue Gehirnrinde eindringen (dort entspringen?). Diese graue Rinde zeigt einen geschichteten Bau*)Vgl. Baillarger, recherches sur la couche corticale. Mém. de l’Acad. de Méd. VIII. 1840. p. 172 seqq. Remak, in Müller’s Archiv, 1841.; vier bis sechs Lamellen grauer und weisser Substanz wechseln mit einander ab und zahlreiche, theils verticale, theils horizontal gelagerte, weisse Pri - mitivfasern, vielfach unter sich gekreuzt, helfen sie constituiren, deren äusserste Lage mit der Oberfläche der Ventrikel continuirt. Die pathologische Anatomie wird uns zeigen, dass die oberflächlichste Schichte der grauen Rinde der grossen Hemisphären bei Irren sehr häufig krankhaft verändert ist, dass eine bedeutende Decomposition15Einiges über Untersuchung des Gehirns.ihrer tieferen Schichten ein gewöhnlicher Befund bei solchen Kran - ken ist, bei denen der Willenseinfluss auf die Muskeln gleichmässig geschwächt war, und dass die Ventrikeloberfläche, namentlich im untern und hintern Horn der Seitenhöhle, an diesen Erkrankungen nicht selten Theil nimmt.

Die beiden Nerven des grossen Gehirns, des Opticus und Olfac - torius communiciren mit den Oberflächen der Ventrikel und sind durch ihre Wurzelausbreitungen mit fast allen Fundamentaltheilen des gros - sen Gehirns verbunden. Diese Sinnesnerven setzen sich auch mehr - fach sowohl mit grauer, als weisser Substanz ins Innere fort, wie die sensitiven Rückenmarksnerven sich bei ihrem Eintritte sowohl zur grauen als weissen Substanz begeben.

Wie die blinde Endigung der Ventrikel, das Infundibulum, nach unten zu einen besonderen, nicht näher zu deutenden Anhang, die Hypophysis hat, so findet sich an der schwachen, blinden Ausbuch - tung der Ventricularhöhle, welche die Unterfläche der Corpora quadri - gemina bildet, nach oben zu ein ähnlicher Anhang, die Zirbel. Ihre gegenseitige Analogie wird erhöht durch die beachtenswerthe Aehn - lichkeit, welche die Configuration der beiderseitigen Umgebung, dort in der Corpp. mamillar, hier in den Corpp. quadrigemin zeigt; wäh - rend aber jene, die Hypophysis, nur mit der grauen Substanz in Ver - bindung steht, communicirt diese, die Zirbel, nur mit der weissen Substanz.

§. 11.

Bei der Untersuchung des Gehirns an der Leiche Geisteskran - ker muss man zuerst den Zustand der Hüllen genau beachten. Am Schädel muss man nicht nur einzelne Form-Abweichungen, welche sich leicht abschätzen lassen (auffallende Schiefheit, scoliotische Krümmung, locale Vorwölbungen oder Einsenkungen etc.), sondern auch Messungen der einzelnen Durchmesser angeben; man muss die Dicke und Textur der Kopfknochen, und den Grad der Verwach - sung der Suturen, welche bei jungen Individuen etwas Krankhaftes ist, berücksichtigen. An der innern Schädelfläche verdienen beson - ders etwaige Osteophyte und scharfe Knochenvorsprünge Beachtung, und es müssen die zum Durchtritt der grossen Gefässe bestimmten Löcher, so wie die grösseren Venen und die Arterien selbst in Be - zug auf Enge, Erweiterung oder Entartung speciell untersucht wer - den. Der Grad der Füllung der Sinus und die Beschaffenheit des in ihnen enthaltenen Bluts ist anzugeben. Bei Beurtheilung des16Ueber Untersuchung des Gehirns.Blutgehalts sämtlicher Gehirnhäute (und des Gehirns selbst) ist immer der Blutgehalt des ganzen übrigen Körpers mit in Rechnung zu nehmen, indem auch eine beträchtliche Blutmenge im Schädel bei grösserem allgemeinem Blutreichthum weit geringer anzuschla - gen ist, als bei entgegengesetztem, anämischem Zustande. Im gesunden Gehirne sind die zarten Häute dünn und durchsichtig; längs des Sinus longitudinalis und der grossen Gefässe ist zwar eine Trübung bei Erwachsenen und alten Individuen von keiner Bedeu - tung, in der Jugend dagegen sehr wichtig, indem sie auf vorausge - gangene längere Hyperämieen schliessen lässt. Dasselbe gilt von den Pacchionischen Granulationen, dasselbe in vieler Hinsicht auch von dem Serum-Gehalt der Schädelhöhle, indem auch dieser bei Greisen durchschnittlich beträchtlicher ist. Die Gehirnhäute lassen sich beim gesunden, frisch aus dem Schädel genommenen Gehirne leicht ab - lösen, ohne, ausser ganz dünnen, vereinzelten Flocken, etwas von der Gehirn-Oberfläche mitzunehmen. Das entgegengesetzte Verhalten ist pathologisch. Die Windungen müssen dicht aneinander anliegen und ihre Oberfläche muss eben, egal sein; das Gegentheil, eine unebene, höckrige, grubige Oberfläche deutet auf Atrophie einzelner Windungen, welche bei Greisen gleichfalls weniger zu bedeuten hat, als in der Jugend. Die ganze graue Substanz muss, wenn das Gehirn gesund sein soll, lebhaft von der weissen abstechen; übrigens darf die innere Schicht der grauen Substanz wohl etwas heller sein, als die mehr äusseren Schichten. Die weisse Substanz muss fester sein als die graue; einzelne Theile, wie Pons und Medulla oblongata, übertreffen schon im Normalzustande die übrige weisse Masse an Festigkeit. Ausserdem aber muss die Consistenz überall eine gleichförmige sein, und partielle Härten und Erweichungen sind von grösserer Bedeutung, als der Consistenzgrad, die Härte oder Weichheit des Gehirns im Ganzen. Immer muss das Gehirn auch genau gewogen werden, und zwar nicht nur im Ganzen, sondern man erwartet auch eine besondere Wägung des kleinen Gehirns (mit anhängender Pons und Medulla oblongata), um es mit dem Gewichte des grossen Gehirns vergleichen zu können. Es hat ausserdem Vortheile, auch Messungen der Dicke einzelner Hauptwindungen und namentlich Messungen der grauen Substanz an verschiedenen Stellen der Windungen anzugeben. Was sonst zu berücksichtigen wäre, ist entweder allgemein bekannt oder wird es im 4ten Buche besprochen.

17

Dritter Abschnitt. Physio-pathologische Vorbemerkungen über das Seelenleben.

§. 12.

Das centrale Nervensystem, das sich in den Hemisphären aus - breitet, ist ein doppeltseitiges, wie das peripherische; wir denken indessen nicht doppelt mit unsern beiden Hemisphären, so wenig wir doppelt sehen mit beiden Augen. Für den einen, wie für den andern Vorgang wird man die mittleren, einfachen Theile des Ge - hirns in der Erklärung zu Hülfe nehmen müssen. So viel indessen ist sicher, dass Verletzungen und Desorganisationen beider Gehirn - hälften, auch wenn sie verhältnissmässig unbedeutender sind, als ein - seitige Erkrankungen, viel bedeutendere und allgemeinere Symptome, namentlich psychischer Art, erregen. Da, wo man bei Geisteskranken anatomische Veränderungen des Gehirns findet, sind solche, wenn gleich oft an sich unbedeutend, doch beinahe immer doppeltseitig und meist ziemlich ausgebreitet (z. B. die Hyperämieen).

In einem einzigen Falle ganz frischer Erkrankung (Schwermuth; Ideen von Verfolgung; Selbstmordversuch; ein Bruder blödsinnig) haben wir von dem Kran - ken, der noch gut über seinen Zustand Rechenschaft gab, die Aeusserung gehört, er fühle sehr wohl, dass er nur auf Einer Seite des Kopfs, der rechten, ver - wirrt sei. Aehnliche Fälle aus der Literatur finden sich bei Friedreich, Allg. Pathologie der psychischen Krankheiten. Erlangen 1839. p. 61. Wir sind nicht geneigt, ihnen eine grosse Bedeutung beizulegen.

§. 13.

Im Rückenmarke ist es sicher, dass die graue Substanz die - jenigen Thätigkeiten vermittelt, welche zwischen der centripetalen (sensitiven) Zuleitung und der centrifugalen (motorischen) Ableitung in der Mitte stehen, nämlich die eigentliche Aufnahme der Eindrücke und die Vermittlung ihrer gegenseitigen Wirkungen auf einander (z. B. Reflexaction). Die Analogie könnte darauf führen, der grauen Ge - hirnsubstanz ähnliche Functionen zuzutheilen, nämlich die Umarbeitung der durch die weissen Fasern zugeleiteten Zustände, die Verbindung und das Ineinanderwirken der Eindrücke, und daraus hervorgehend die Entstehung motorischer Impulse. Namentlich die graue Rinde der Hemisphären, deren sehr bedeutende Oberfläche einen Haupt - vorzug des menschlichen Gehirns ausmacht und die man bei Geistes - krankheiten nicht selten verändert findet, ist von einzelnen Forschern für den Sitz der Intelligenz und des Willens erklärt worden. Griesinger, psych. Krankhtn. 218Die psychischen Thätigkeiten.Allein die Intelligenz ist ein Resultat mehrfaher und sehr complicirter Acte, bei denen Leitungsprocesse, wie man sie der Analogie nach den weissen Fasern zuschreibt, kaum entbehrt werden mögen, und wenn wir auch in dem Wollen einen, der Reflexaction ganz ähnlichen Process erkennen, so ist die Leitung der Willensimpulse zu den mo - torischen Rückenmarkssträngen immer auch noch ein psychischer Pro - cess. Dazu kommt, dass die Ventrikelwandungen offenbar gleichfalls von der grössten Bedeutung für die Geistesthätigkeiten sind, wie diess die Beobachtungen bei zu starker Ansammlung und veränderter Beschaffenheit des Cerebrospinalfluidums, bei oberflächlicher Mace - ration jener Wandungen immer ist hier tiefer Blödsinn, ein so - poröser Zustand etc. vorhanden und mehrfache pathalog. ana - tomische Beobachtungen bei Irren*)S. das Capitel von der patholog. Anatomie. zeigen. Wenn wir desshalb die geistigen Processe nicht ausschliesslich auf die graue Gehirnsubstanz beschränken dürfen, so erscheint es dagegen sehr wahrscheinlich, dass sämtliche freie Oberflächen des grossen Gehirns, die der Rindensubstanz sowohl als die Ventrikelwandungen, in einer ganz besonders nahen Beziehung zu den geistigen Processen stehen, dass deren normales Vonstattengehen an die Integrität dieser Oberflächen geknüpft ist und dass es durchschnittlich Erkrankungen dieser Ober - flächen sind, welche den Symptomencomplex des Irreseins geben. Wo dagegen, etwas tiefer im Innern der Gehirnsubstanz, Desorgani - sationen sich finden, da pflegen motorische Störungen selten zu fehlen, und solche gesellen sich ganz gewöhnlich zu den Geistes - krankheiten, wenn sich die Läsion von der Oberfläche der Ventrikel oder der Rinde etwas mehr in die Tiefe ausdehnt. Wir haben aber (§. 11.) gesehen, dass die freien Oberflächen des grossen Gehirns einen nahen Connex mit den Hintersträngen und deren Anlagerungen zeigen, dass dagegen die Fortsetzungen der Vorderseitenstränge die Oberflächen nirgends zu erreichen scheinen, wenn sie gleich sich überall von unten her denselben nähern.

§. 14.

Das psychische Leben des Menschen, wie der Thiere, fängt in den Sinnorganen an, und der stete Fluss, als den wir es wahrneh - men, tritt in den Bewegungsorganen wieder nach aussen. Dem Uebergange der sensitiven Erregung auf die motorische liegt das Schema der Reflexaction, mit oder ohne sensitive Perception, zu19Das Vorstellen.Grunde. Einfache Formen dieser psychischen Einnahme und Ausgabe sind in verschiedenen Höhen der Ausbildung bei den Thieren und beim Kinde zu beobachten. Hier sehen wir das wenig vermittelte, durch stärkere und klarere Vorstellungen wenig beherrschte Umschla - gen der sensitiven Eindrücke in motorische Erregungen in dem Triebe zu lebhafter Beweglichkeit, in dem unmittelbaren Heraussagen und Heraushandeln nach den momentanen, sinnlichen Empfindungsmotiven. Zwischen diese beiden Grundacte des psychischen Lebens aber schiebt sich, von der Empfindung angeregt, immer mehr etwas Anderes, Drittes ein, das zwar Aehnlichkeit mit der Empfindung und die näch - sten Beziehungen zu ihr hat, aber nicht mehr sie selbst ist. Es bildet sich gleichsam ein Seitengebiet, das zwischen Empfinden und motorischem Impuls in die Mitte tritt, und indem es wächst, an Reichthum und Ausdehnung zunimmt, wird es allmählich zu einem starken, in sich selbst vielfach gegliederten Centrum, welches das Empfinden und Bewegen in vielen Beziehungen beherrscht und inner - halb dessen das ganze geistige Leben des Menschen spielt. Dieses Gebiet ist das des Vorstellens.

Alles geistige Geschehen geschieht innerhalb des Vorstellens; dieses ist die eigentliche Energie des Seelenorgans, und alle die verschiedenen geistigen Thatsachen, die man früher zum Theil als ver - schiedene Vermögen bezeichnet hat (Phantasiren, Wollen, Gemüths - bewegungen etc.), sind nur verschiedene Beziehungen des Vorstellens auf die Empfindung und Bewegung oder Resultate von Conflicten der Vorstellungen unter sich selbst.

Was das Vorstellen eigentlich sei, weiss Niemand; aber die For - men seines Vonstattengehens sind der Beobachtung zugänglich, und der Ort, wo vorgestellt wird, ist nicht unbekannt. Alles scheint dafür zu sprechen, dass es, wenigstens das recht klare, deutliche Vorstellen, Sache des grossen Gehirns ist.

Wir haben das ganze Gehirn kennen gelernt als zwei Ganglien über den Sinnesnerven, in denen sich die centralen Ausbreitungen dieser mit neuer Nervensubstanz verbinden. Wir finden nun, dem entsprechend, bei der Analyse des Vorstellens als ein vor allem wichtiges Verhältniss das stete Zusammen - und Ineinanderwirken der geistigen Thätigkeit mit der centralen Sinnesthätigkeit. Nicht nur wird das Vorstellen durch die Sinneseindrücke beständig geweckt, erregt und unterhalten, nicht nur wird sehr häufig umgekehrt die Sinnesthätigkeit vom Vorstellen synergisch in Anspruch genommen und erregt (Hallucinationen, Illusionen, Phantasie), sondern alles unser2*20Das Vorstellen und die Empfindung.Vorstellen, wenn es nur etwas deutlich sein soll, muss beständig begleitet sein von etwas der Sinnesthätigkeit Angehörendem, von ab - geblassten und leisen Sinnesbildern. Das deutlichste und klarste Vorstellen ist dasjenige, welches mit Beihülfe des Gesichtssinns ge - schieht, in welches Gesichtsbilder wesentlich mit eingehen, von dem auch die Vermuthung am nächsten liegt, dass es dem Ganglion des N. opticus, dem grossen Gehirn, angehöre (beim Vorstellen der Thiere, wo sich der Geruchsnerv in sehr starken Ausbreitungen auf der Ven - trikularwandung verbreitet, mögen wohl Geruchsbilder eine sehr grosse Rolle spielen). Dagegen ist das Vorstellen in blossen Klangbildern (z. B. das musikalische Vorstellen) ein durchaus vages, unbestimmtes und unaussprechliches, und merkwürdigerweise haben wir auch für jenes Vorstellen, das nur in Gesammteindrücken aus vielen ähnlichen Gegenständen besteht, worin das concrete Einzelne verwischt ist und für die es daher niemals eine erschöpfend adäquate Anschauung geben kann, nämlich für das begriffliche Vorstellen, kein anderes Mittel des Ausdrucks, als wieder Klangbilder, die Worte.

Die Sprache ist ein viel zu complicirter Process, um sich an einzelnen Orten des Gehirns localisiren zu lassen. Einzelne Theile am untern Anfang des Ge - hirns, die Oberfläche des vierten Ventrikels, die beim Menschen vollkommener als bei allen Thieren entwickelten Oliven mögen wohl in naher Beziehung zum Ausdruck der Vorstellungen und zur Articulation stehen; jedenfalls aber sind noch andere Theile, und namentlich die vordere Parthie der Hemisphären, für die Sprache sehr wichtig.

Was das kleine Gehirn betrifft, so spricht vieles für eine nähere Beziehung desselben zu den Affecten, namentlich zu den schmerzlichen, deprimirenden. Das Weinen und die Schamröthe scheinen direct von Zuständen des N. Quintus ab - zuhängen; die Erregung des N. Acusticus durch Musik setzt kein klares Vor - stellen, sondern nur lebhaftere oder leisere affectartige Zustände. Die Genitalien - krankheiten, schon die Menstruation, erregen ganz gewöhnlich psychische Ver - stimmung, und andrerseits werden durch Angst, Schrecken, Mitleid in den Geni - talien, der Blase, dem Mastdarm, lauter Organen, die in einem experimental nachweisbaren Verhältnisse zum Cerebellum stehen, Empfindungen und Bewegungen hervorgerufen. *)S. hierüber die mehrfachen Arbeiten von Budge.

§. 15.

Eine Vergleichung des geistigen Geschehens innerhalb des Vor - stellens mit dem Geschehen innerhalb der sinnlichen Empfindung zeigt uns viele wichtige Aehnlichkeiten und wieder einzelne Differenzen in beiden Prozessen, die der Beachtung werth und von ergiebigen Consequenzen für das Verständniss des Irreseins sind.

21Die Phantasie.

1) Zuvörderst mag an die Gleichheit der allgemeinen Verhältnisse von Reizung und Reizbarkeit im Vorstellen wie im sinnlichen Empfinden erinnert werden. Vollkommene Ruhe findet sich bei bei - den nur im tiefsten Schlafe; die gewöhnliche Ruhe, die z. B. im Gesichtssinn als Dunkelheit, im Vorstellen als Leerheit erscheint, ist selbst noch Thätigkeit, ein Innewerden jenes dunkeln Gesichtsfelds, dieses leeren Vorstellungsraums. Die eigentliche Affection des Vor - stellenden aber, das, was in der Sinnesempfindung die Farbe, der Ton, der Geruch etc. ist, ist das jedesmal wirkliche, d. h. das be - wusste Vorstellen. Wie es nun im Sehen, Hören etc. unendlich viele gradweise Unterschiede der Stärke und Deutlichkeit gibt, so gibt es auch in diesem Bewusst-sein des Vorstellens ebenso mannig - faltige Grade, die als verschiedene Stärke, Deutlichkeit, Klarheit der Vorstellungen erscheinen.

2) Zur Entwicklung und zum normalen Fortgang des Vorstellens wie der Sinnesempfindung ist eine stete, mässige, adäquate Reizung von aussen nothwendig. In den Sinnesthätigkeiten geschieht diese Reizung durch wirkliche äussere Erregung und das Geschehen im sensitiven Nervensysteme wird in der sogenannten excentrischen Erscheinung auch wieder nach den Orten der gewohnten periphe - rischen Ansprache hinaus verlegt, projicirt. Das Vorstellen dagegen erhält die Reizungen, durch die es erregt wird und die zu seiner steten Thätigkeit unentbehrlich sind, niemals unmittelbar von der Aussen - welt, sondern immer durch die Sinnesempfindungen. Es zeigt sich nun im Vorstellen eine ähnliche excentrische Erscheinung, eine ähn - liche Projection, wie beim Empfinden, aber hier nicht nach der Aus - senfläche oder ausserhalb des Organismus wir sind uns vielmehr des Vorstellens immer als eines Vorgangs in unserm Kopfe bewusst , sondern auch hier eben in das Gebiet, von dem aus die Anregung gewöhnlich geschieht, in das der Sinnesempfindung. Diese excen - trische Projection der Vorstellungen scheint es eben zu sein, auf welcher die Nothwendigkeit eines steten Eingehens sinnlicher Bilder in dasselbe beruht. Durch sie wird jenes leise, schwache Mithalluciniren im centralen Sinnorgane bewerkstelligt, das alles Vor - stellen begleitet, von dem es eben jenen, für seine Klarheit und Lebendigkeit so unentbehrlichen, dem einen Menschen karger, dem andern reichlicher zugemessenen sinnlichen Schatz von Farbe, Bild und Klang mitbekommt. So gibt sie die Grundlage aller der psychi - schen Phänomene ab, die man der Phantasie zutheilt, namentlich auch jener Vorgänge, wo nicht mehr ein leises und blasses, sondern22Das Vorstellen und die Empfindung.ein höchst deutliches, der objectiven Sinneswahrnehmung in allen Be - ziehungen gleiches, und wie diese völlig nach aussen verlegtes Thä - tigsein der Sinnorgane geweckt wird nämlich der eigentlichen Hallucinationen. (S. §. 47.)

3) Ein Uebermass einwirkender Reize hat in beiden Gebieten dieselben Folgen. Ein heftiger, plötzlicher Lichteindruck, ein sehr starker Schall oder Geruch (z. B. Ammoniakgeruch) gibt eine sehr intensive, massenhafte Empfindung mit einer blitzartigen Erschütterung des Sinnes. Seine unmittelbare Lähmung kann die Folge sein, wie man diess in einzelnen Fällen beim Gesichts - und Gehörsinn, beim Hautsinn,*)Einen merkwürdigen Fall von Hautanästhesie nach starkem Temperatur - wechsel s. im 3ten Band der Med. Chirurg. Transactions. in einem seltenen, von Graves erzählten Falle auch beim Geruchsinn**)Archives générales. 1834. II. 6. beobachtet hat. Kommt es aber auch nicht zur Lähmung, so bleibt jedenfalls die Empfänglichkeit der Sinnesnerven für alle andern schwächern Eindrücke auf einige Zeit vermindert und auch noch nach erloschener Ursache dauert die angeregte Sinnes - empfindung eine Zeit lang fort (Fortdauer des Sonnenbilds im Auge, während man vom Sehen in die Sonne geblendet ist, Fortbrummen des Kanonenschusses im Ohr etc.). So auch im Vorstellen. Im Menschen werde durch einen starken Eindruck eine gewaltige Vor - stellungsmasse gewisser Art plötzlich erregt, so kann auch hier die Erschütterung in ihrer ersten Stärke schon Lähmung zur Folge haben (die Fälle von schnellem Tod vom Gehirne aus durch heftige psy - chische Einwirkungen); wenn aber auch nicht, so wird jedenfalls noch lange, nachdem der Eindruck vorüber ist, der betreffende Vorstel - lungscomplex fast die Alleinherrschaft im Bewusstsein haben und für alles übrige Vorstellen bleibt auf geraume Zeit die Empfänglichkeit bedeutend verringert. Schon auf diese Weise können erschütternde Lebensereignisse die Seele veröden und verarmen.

§. 16.

4) Vorstellungen und Sinnesthätigkeiten auch hier sind die Verhältnisse wieder am deutlichsten im Gesichtssinn können indes - sen nicht unbestimmte Zeit lang ganz in derselben Weise andauern; es ist vielmehr, als ob das Vorstellende oder Empfindende von dem - selben Acte bald ermüdet würde, immer ein gewisser Wechsel nothwendig. Wo zu solchem von aussen kein Anlass geboten ist,23Ideenassociation und Gedächtniss.da wird, rein subjectiv, ein neues Empfinden oder Vorstellen, von dem ersten hervorgerufen. Das einfachste derartige Phänomen auf sensitivem Gebiete ist das der sog. complementären Farben und sub - jectiven Contrastfarben (das Auftreten von Blau durch gesehenes Orange, von Violett durch Grün etc.). Im Vorstellen geht dieser Process nach denselben, in ihrem tieferem Grunde sehr dunkeln Be - ziehungen des Contrastes und der Aehnlichkeit vor sich. Sobald eine Vorstellung eine gewisse Zeit gedauert hat, ruft sie eine andere, ihr ähnliche oder mit ihr contrastirende herauf, womit dann entweder ganz neue Vorstellungsreihen beginnen oder zu der ersten Vorstel - lung, welche die herrschende bleibt, zurückgekehrt werden kann.

Sehr auffallend ist diess z. B. an den Erfahrungen, wo mitten unter äusser - lich motivirten traurigen Vorstellungen andere ganz entgegengesetzte, sehr lächer - liche, plötzlich auftreten. Die Thatsache der subjectiven Entstehung der Vor - stellungen ist übrigens eine der allerallgemeinsten im geistigen Leben; aus den Beobachtungen hierüber sind die sog. Gesetze der Ideenassiociation zu ab - strahiren. Die Vorstellungen rufen einander sowohl nach ihrem begrifflichen In - halt, als nach der Aehnlichkeit der in sie eingegangenen Sinnesbilder (Gesichts - bilder, Klangbilder, Worte) hervor; das letztere sieht man zuweilen bei Geistes - kranken, namentlich Maniacis, in auffallendster Weise, indem lange Reihen ähn - lich klingender Worte, ohne Sinn oder nur durch den lockersten Sinn verknüpft, mit grosser Raschheit gefunden und hergesagt werden.

Auch in andern Sinnen, als im Gesichtssinn, namentlich im Hautsinn, machen wir, doch mehr in pathologischen Zuständen, die Erfahrung, dass durch eine Em - pfindung, z. B. einen Schmerz an einer gewissen Stelle, ähnliche Empfindungen, Kitzel, Schmerz etc. anderer Stellen geweckt werden, und dass solche Mitempfin - dungen die Neigung annehmen, jene ersten Empfindungen stets zu begleiten.

Insoferne durch die sogenannte Ideenassociation nicht neue Vor - stellungen entstehen, sondern nur aus dem Schatze des früher da - gewesenen Vorstellens Einzelnes geweckt und reproducirt wird, nennt man diesen Process das Gedächtniss. Der nähere Hergang dieser Reproductionsprocesse ist häufig ganz unfassbar und dunkel; alte Vor - stellungen tauchen plötzlich auf, ohne dass sich irgend ein Ursprung aus dem eben vorhergegangenen Vorstellen finden lässt, wie jene Reproductionen von Sinnesbildern, die Henle unter der Rubrik des Gedächtnisses in den Sinnen beschrieb, plötzlich, unmotivirt im Ge - sichtsfelde wieder auftreten.

Da auf dieser centralen Reproduction des Vorstellens alle feineren geistigen Combinationsprocesse beruhen, so leidet der Verstand bei jeder, etwas bedeuten - deren Schwächung des Gedächtnisses, grosse Noth. Bei vielen Geisteskranken, namentlich Blödsinnigen, hat die Unmöglichkeit des richtigen Urtheilens und Schliessens seinen Grund in dem Erlöschen des Gedächtnisses. Die Vorstellungen werden um so leichter behalten und reproducirt, je stärker und lebhafter sie24Das Vorstellen und die Empfindung.anfangs auftraten, je gesunder und activer das Gehirn ist. Alle möglichen Gehirn - krankheiten können das Gedächtniss stören oder aufheben, und die Beschaffenheit des letzteren gibt daher bei vielen Irren den Massstab für die Schwere ihrer Gehirnerkrankung.

§. 17.

5) Zunächst hieran schliesst sich das Verhältniss, dass im Organ des Vorstellens wie im Sinnorgan die eigenthümliche Energie nicht nur durch die normalen äusseren Reize, sondern auch durch innere Reize, anderer Art als das Vorstellen und Empfinden selbst, na - mentlich durch krankhafte Reize geweckt werden kann. Die Ent - zündung der Chorioidea hat eine Irritation der Retina zur Folge, welche sich im Auftreten subjectiver Lichtempfindungen, farbiger Sonnen, Blitze etc. kund gibt; ebenso können subjective Ton -, Ge - ruchs -, Geschmacksempfindungen, im Hautsinn Kälte, Brennen, For - mication etc. durch alle inadäquaten Reize auf den sensitiven Nerv oder sein Centrum hervorgerufen werden. In derselben Weise äus - sert sich die Irritation des Gehirns durch innere, organische Reize in neuen, krankhaften Vorstellungsphänomenen. Wie die Entzündung der Gefässhaut des Auges anomale Lichterscheinungen, so erzeugen die Krankheiten der Gefässhaut des Gehirns, der Pia, welche die freien Oberflächen so innig überzieht und noch in sie eindringt, ihre Hyperä - mieen und Exsudationsprocesse, auch ein anomales (delirirendes) Vor - stellen, neue, von innen heraus entstandene Seelenzustände (Gemüths - bewegungen, Urtheile etc.), was natürlich in noch viel höherem Masse bei Erkrankungen jener Gehirnsubstanz selbst stattfindet. Aber nicht nur diese gröberen, offen zu Tage liegenden Erkrankungen erzeu - gen ein solches anomales Vorstellen; die Gehirnirritation kann offen - bar auch durch Mittheilung der Nervenzustände aus inneren, ent - fernteren Organen, z. B. dem Herzen, dem Darm, den Genitalien entstehen. Eine nahe Beziehung der Nerven der Eingeweide zum grossen und kleinen Gehirn ist experimentell nachgewiesen (Valentin, Budge), und wie noch innerhalb der physiologischen Gesundheits - breite die Zustände der Eingeweide von wesentlichem Einfluss auf die Stimmung im Ganzen und auf das Auftreten bestimmter Arten von Vorstellungen sind (am auffallendsten an den Genitalien bemerk - bar), so werden durch krankhafte Nervenerregungen, die in jenen Organen ihren Ursprung haben, häufig genug krankhafte Seelenzustände gesetzt, die oft mit der Hebung des peripherischen Reizes wieder verschwinden, anderemale aber, einmal entstanden, selbständig fort - dauern.

25Psychischer Schmerz und Lust.

Es kann hier schon erwähnt werden, dass im gesunden, wie im kranken Leben durch solche organische Erregungen anfangs gewöhnlich nicht gleich neue, klare und deutliche Vorstellungen veranlasst werden, sondern zuerst jene dunkeln, unbestimmteren Modificationen im Vorstellen, die man Gemüthsbewegungen nennt. Namentlich die Schnelligkeit im Ablaufe der Vorstellungen und der Modus ihres Ineinandergreifens wird abgeändert durch diese Eindrücke aus dem Organismus, der sich in den Wechsel der Gefühle und Gedanken bald wie das Schwungrad einmischt, das die empfangene Bewegung verlängert, bald wie eine träge Last, die sie verzögert oder gar unmöglich macht. Lotze hat diese Art organischer Psychagogie sehr richtig bezeichnet. Die Weiterentwicklung des Organismus, sagt er, wirkt auf die Seele weit weniger mittelst der Ausbildung bestimmter Vorstellungen, als vielmehr durch die Hervorbringung gewisser stehender Ge - müthsstimmungen oder gewisser Eigenthümlichkeiten der Gedankenbewegung, die dann als unaussprechbare Obersätze den Lebensansichten und Entschlüssen zu Grunde liegen. Die im Einzelnen geringen und dunkeln, in ihrer Summation aber bedeutenden und einflussreichen Sensationen aus den Organen des Körpers machen sich in der Seele geltend und diese an sich gestaltlose Gemüthsrichtung kann doch der Grund sein, welcher die übrigen Kräfte des Geistes auf einen Kreis ihr adäquater, bestimmter Vorstellungen lenkt. *)Art. Instinkt in Wagners physiolog. Wörterbuch. II. p. 206.Aus diesen Stimmungen heraus entwickeln sich eben, von den Umständen unterstützt, einzelne bestimmte Vorstellungen.

Wir werden dasselbe beim Irresein finden; wir werden sehen, wie fast seine ganze Pathogenie darin besteht, dass aus inneren organischen Ursachen psychi - sche Verstimmungen entstehen, und wie erst später aus diesen einzelne, der neuen Stimmung angemessene, irre Vorstellungen, auf deren speciellen Inhalt dann die mannigfaltigsten Umstände Einfluss haben, hervortreten.

§. 18.

6) Das Vorstellen, wie das Empfinden, kann von Schmerz oder Lust begleitet sein; diese Vorgänge zeigen auf beiden Gebieten die grösste Analogie, die um so beachtenswerther ist, da der psychische Schmerz unter die wichtigsten Fundamentalzustände des Irreseins gehört.

In der Empfindung sowohl als im Vorstellen ist das Wesen des Schmerzes und der Lust eine Art dunkeln Urtheils, einerseits über die Förderung, andererseits über die[Beschränkung] und Beeinträchtigung des Ich.**)Ein Urtheil, in dem nur das Vorgestellte sich noch nicht von dem Prä - dicate, das Beifall oder Tadel ausdrückt, sondern lässt. Herbart. Es kann sich dieses Urtheil an ein gerade gegebenes einzelnes Empfinden oder Vorstellen, das dann eben als ein schmerz - haftes empfunden wird, knüpfen; es gibt aber auch in der Empfin - dung, wie im Vorstellen, viel allgemeinere, vagere Zustände von Unbehaglichkeit, wo jenes dunkle Urtheil nicht ein gewisses einzelnes26Das Vorstellen und die Empfindung.Empfinden oder Vorstellen, sondern nur den Stand der Dinge im Empfinden und Vorstellen im Allgemeinen trifft. So die körperlichen Zustände von allgemeiner Unbehaglichkeit, körperlicher Schwere etc. ohne localisirten Schmerz, so im Vorstellen die objectlosen Gefühle der Beklemmung, der Angst etc., aus denen sich übrigens bei län - gerer Dauer auch wieder einzelne adäquate, schmerzliche Vorstellun - gen heraus entwickeln.

Psychischer Schmerz kann durch Alles erregt werden, was den normalen Ablauf und das normale Ineinandergreifen der Vorstellungen, die das Ich repräsentiren (s. §. 25.), stört und damit die Freiheit des Ich beschränkt. Ein Uebermass psychischer Reize, das ein un - geordnetes Gedränge neuer auftretender Vorstellungen weckt, wie eine allzu grosse Entbehrung derselben (Langeweile, geistige Unem - pfänglichkeit) kann unangenehme Gefühle erwecken, wie im sensitiven Nervensystem der Schmerz sowohl durch starke Reize und tumultuari - sche Eingriffe, als durch Entziehung der gewohnten Reize (Kälte, Hunger) entstehen kann.

Ob die Störung des normalen Vorstellungsverlaufs insoweit percipirt wird, dass aus ihr psychischer Schmerz entsteht, ist schon nach der Individualität sehr verschieden; eine feinere, beweglichere, geistige Organisation kann da schon grosse Un - lust empfinden, wo der stumpfere Kopf durchaus unberührt bleibt, z. B. wenn es nicht gelingen will, die Gründe einer Thatsache zu begreifen, ein vorliegendes Problem zu lösen. Namentlich viel aber kommt auf den momentanen Reizzustand des Vorstellungsorgans an, ob das Vorstellen von Schmerz begleitet wird, oder nicht. Die glei - chen Dinge machen zu verschiedenen Zeiten sehr verschiedene Ein - drücke, andere, wenn wir ein Glas Wein getrunken haben, wenn wir aus der Oper nach Hause gekommen sind, wenn uns kurz zuvor etwas Unangenehmes begegnet ist etc. Wie der im neuralgischen Irritationszustande befindliche Nerv auf die äussere Berührung ganz anders reagirt, als sonst, und schon durch den gelindesten Eindruck der Schmerz in ihm geweckt wird, so gibt es Gehirnzustände, wo jeder psychische Reiz auch einen psychischen Schmerz erweckt und wo alles Vorstellen schmerzhaft geworden ist. Der jeweilige Reiz - zustand des Organs ist aber ein Product aus allen früheren Reiz - zuständen in Verbindung mit den eben jetzt einwirkenden Reizen. Wo viele und tiefere psychische Schmerzzustände vorausgegangen sind sei es nun aus originärer Disposition zu solchen oder aus widrigen psychischen Eindrücken da bildet sich allmählig eine27Der psychische Schmerz.allgemeine, anhaltendere oder vorübergehendere schmerzliche Ver - stimmung: dem Unglücklichen erscheint alles düster und, wer viel Widerwärtiges erlebt, verfällt leicht in bleibende traurige, misanthro - pische Laune. Wir werden sehen, dass das Irresein sehr gewöhnlich mit einem solchen Zustande anfängt, wo der Mensch von Allem schmerzliche Eindrücke bekommt und dass diese Gemüthsbeschaffen - heit nicht selten durch unangenehme Erlebnisse vorbereitet und er - worben wird. Und es wird uns hiermit schon die Einsicht in eine wichtige psychische Prädisposition zum Irresein eröffnet, in jene Impressionabilität, jene Geneigtheit zu leichter und schneller psychi - scher Schwankung nämlich, bei welcher durch jeden psychischen Eindruck jene dunkeln Urtheile über das eigene psychische Geschehen geweckt werden, wo allmählig fast jede Vorstellung zu einer Gemüths - bewegung wird, wo eben damit das objective Auffassen bedeutend erschwert und so leicht ein hypochondrischer Subjectivismus und Egoismus gross gezogen wird.

Denn der psychische Schmerz hat, wie der körperliche, das Eigenthümliche, dass er sich immer mächtig in den Vordergrund des Bewusstseins drängt und wenig Anderes neben sich aufkommen lässt; ja seine höchsten Grade sind, wie die höchsten Grade des Sinnen - schmerzes von äusserer Anästhesie, so von völliger psychischer Un - empfänglichkeit für die normalen Reize begleitet. Die Pupille des geistigen Auges verengert sich und als sein einziges Object kommt der scharf fixirte geistige Schmerz zum Bewusstsein; wie in der Hy - perästhesie der Sinne, z. B. des Auges, dieses sich dem sonst auf - gesuchten Lichtreize entzieht und das Dunkle sucht, so entzieht sich der von psychischem Schmerz Gequälte dem geistigen Verkehr mit der Aussenwelt, weil ihm jede psychische Berührung unangenehm ist und wird in theilnahmlosem Versunkensein noch mehr in sich concentrirt. Dann ergeben sich noch andere wichtige Folgen aus dem psychischen Schmerze. Eben wegen dieser Concentration wird das übrige Vor - stellen langsamer und träger; erfinderisch in der eigenen Qual und mit ihr stets nach allen Seiten hin beschäftigt, tritt dem Menschen aus den Kreisen seiner sonstigen Interessen wenig mehr ins Bewusst - sein, sie sind momentan vergessen, und wenn er daran erinnert wird, so kann ihm die Unmöglichkeit, jetzt noch den gewohnten Antheil an ihnen zu nehmen, zum Objecte neuen Schmerzes werden. Es entwickelt sich, weil jeder psychische Eindruck unangenehm wird, eine allgemeine Stimmung der Negation und des Verabscheuens, und an die Stelle von Wohlwollen und Liebe treten die finstern Re -28Der psychische Schmerz.gungen des Misstrauens und des Hasses. Nun fordert noch das der menschlichen Seele eingeborene Causalitätsgesetz zum Aufsuchen von Ursachen für den von innen heraus entstandenen geistigen Schmerz auf; diese werden in der Aussenwelt gesucht, weil der Mensch gewohnt ist, von dort her die Anstösse zu seinen psychischen Zuständen zu bekommen; da sie aber nicht wirklich in der Aussen - welt liegen, so sind die hier sich ergebenden Vorstellungen, Urtheile und Schlüsse falsch, es sind Delirien. Dieses Aufsuchen von Gründen für die psychische Verstimmung, diese Erklärungsversuche werden wir überall als eine vorzügliche Quelle des Deliriums der Geistes - kranken kennen lernen, und wir werden sehen, dass sich diesem Forschen nach den Causalmomenten nicht nur Vorstellungen im engern Sinne, sondern durch Hereintreten der Phantasie, der centralen Er - regung der Sinnesthätigkeit durch das Vorstellen, auch die vielfachsten Hallucinationen und Illusionen zu seinen Erklärungsversuchen anbieten.

Der sensitive Schmerz beeinträchtigt immer den Tonus und die Bewegungen der Muskeln. Wir beobachten bald Scheu vor jeder Bewegung, instinktive Ruhe des leidenden Theils, bald wirklich er - schwerte Beweglichkeit, Subparalyse, bald krankhafte Bewegungen, Contracturen (tetanus) und convulsivische Erschütterungen. Auch das psychische Leben hat seine motorische Seite (S. den nächsten §. ) und diese wird vom psychischen Schmerze in derselben Weise affi - cirt. Bald ist das Streben überhaupt vermindert und gehemmt, wir finden die Kranken willen - und thatenlos, wie der sensitive Schmerz so oft von central entstandener tiefer Ermüdung begleitet ist; bald ist es in einer einzigen Richtung krampfhaft festgehalten, bald wird dieser Zustand durch rapide, aber wenig energische psychische Be - wegung unterbrochen, bald werden durch den Schmerz solche Aus - brüche eines heftigen, unzweckmässigen (convulsivischen) Strebens für die Dauer angeregt. Wie aber in der sog. Muskelempfindung das Centralorgan von dem Zustand des motorischen Nervensystems wieder Notiz nimmt, so werden auch diese Zustände der motor. Seite des psychischen Lebens wieder bewusst; die krankhafte psychische Mat - tigkeit, die Willenlosigkeit, das einseitige Festgehaltensein und die convulsivischen Erschütterungen des Strebens werden rückwärts als eine Art motorischen Schmerzes percipirt, der die Summe des vorhandenen peinlichen Zustandes noch vermehrt.

Die psychischen Schmerzzustände, Angst, Schrecken, Traurigkeit, Gram etc., mögen sie innerlich oder äusserlich motivirt sein, haben auch für den übrigen Organismus ganz dieselben Folgen, wie der sensitive Schmerz. Der Schlaf bleibt29Das Vorstellen und die Bewegung.aus, die Ernährung leidet, Abmagerung und allgemeine Erschöpfung stellen sich ein. Der psych. Schmerz wechselt zuweilen mit sensitiven Neuralgieen, mit sog. Spinalirritation; anderemale hat er solche zur Folge namentlich sehr häufig beobachtet man gleichzeitig den bei der sog. Spinalirritation so gewöhnlichen epi - gastrischen Schmerz (Vagus-affection?); anderemale ist er mit sensitiver Anästhe - sie verschiedenen Grads (geringe Empfindlichkeit für Temperatur und äusserlich erregten körperlichen Schmerz) complicirt.

Die Zustände der psychischen Lust geben durchweg die umgekehrten Resul - tate; es mag dem denkenden Leser überlassen bleiben, sich ihre Analogieen mit dem Wesen und den Folgen der angenehmen körperlichen Empfindungen selbst auszuführen. (S. auch in der Formenlehre das Capitel vom Wahnsinn und die Aufsätze des Verf. in Roser und Wunderlich, med. Vierteljahrschrift. 1843 u. 1844.)

§. 19.

Wie die eigenthümliche Thätigkeit der grossen Gehirnganglien, das Vorstellen, in der innigsten Beziehung zur Sinnesthätigkeit steht, so findet sich auch zwischen den Actionen des motorischen Nerven - systems, das seine Ursprünge auch in jenen Ganglien hat, und dem Vorstellen eine sehr enge Verknüpfung. Und diese Relation ist der - jenigen sehr ähnlich, in welcher die Sinnesempfindung zum Vor - stellen steht.

Wie nämlich aus unsere Sinnesanschauung schwache, abgeblasste Reste übrig bleiben und in unsere Vorstellungen constituirend ein - gehen (§. 14.), so lassen auch die motorische Impulse in die Muskel - thätigkeit abgeblasste Schemata zurück, welche als Bewegungs - anschauungen sich mit unserm Vorstellen mischen. Es gibt ein mittleres Gebiet zwischen dem reinen Vorstellen und zwischen dem motorischen Nervenreiz, der die Muskeln unmittelbar zur Contraction veranlasst, ein Gebiet, für das es kein gehörig bezeichnendes Wort gibt, welches aber die Impulse zu den Reihen der einzelnen Muskel - bewegungen schon in grösseren Gruppen zusammengeordnet und prä - formirt enthält. Hier sind die zweckmässigen Bewegungsimpulse in viele Muskeln, die sich zu den einzelnen Muskelbewegungen wie um - fassende Ganze, zu unsern eigentlichen Handlungen aber wieder nur wie einzelne Bruchstücke verhalten, theils nach einer im Voraus prästabilirten Harmonie, theils nach der durch Uebung und Gewohn - heit gegebenen Ordnung combinirt. Dieser complicirtere Mechanis - mus, dessen Sitz nach Experimenten und den pathologisch-anatomi - schen Thatsachen an den verschiedenen Durchgangspunkten der Fort - setzungen der Vorderstränge und der Pyramidenstränge durch graue Substanz schon in der Brücke, dann im kleinen und grossen Gehirn zu suchen ist, wird einerseits von der Masse der Empfindungsreize,30Das Vorstellen und die Bewegung.welche ihn an allen jenen Orten treffen, in Bewegung gesetzt und präsidirt dann jenen instinktiven Bewegungen und Handlungen, die dem geistigen Gebiete zum Theil ganz entzogen sind, zum Theil in verschiedenen Höhen dasselbe erreichen und damit seinen fördernden oder hemmenden Einfluss erleiden. Andrerseits aber mischen sich die Schemata dieser grösseren Bewegungsimpulse, ideale Reproduc - tionen derselben, auch in unsere geistigen Prozesse in der Weise ein, dass sie als wesentliche Bestandtheile in das einzelne Vorstellen eingehen. Damit aber nimmt das Vorstellen selbst eine motorische, auf die Muskelbewegung tendirende Richtung an, und es wird da - durch zum Streben.

Unser Vorstellen erregt unsre willkührlichen Bewegungen niemals in der Art, dass es einzelne Muskeln zur Contraction auffordert; es weiss vielmehr von diesen Muskeln gar nichts, sondern kennt nur die inneren, von früheren Be - wegungsreihen zurückgebliebenen Bilder, die, einmal zu freien Bewegungsimpulsen geworden, dann ohne weiteres Zuthun des Vorstellens die Muskeln in grösseren zweckmässig coordinirten Gruppen in Thätigkeit setzen (Gehen, Schreiben etc.). In den beschränkter localisirten Gehirnkrankheiten, den Krankheiten der Brücke, des kleinen Gehirns, der thalami, der corpp. striata etc. sehen wir gewöhnlich Störungen dieses Mechanismus, Aufhebung seines Zusammenhangs mit dem Vor - stellen, wo dann bald durch den Krankheitsreiz erregte complicirte Bewegungen (Vorwärtslaufen, Drehbewegungen etc.) unwillkührlich ausgeführt werden, bald, wegen mechanischer Trennung der Gehirnsubstanz, der Einfluss des Vorstellens diesen Mechanismus nicht mehr erreichen kann (z. B. Lähmungen einer Körper - hälfte bei Extravasaten in den corpp. striat. ); auch verschiedene Mischungen von beidem Verhalten kommen zuweilen und zwar auf ganz beschränkten Bewegungs - gebieten, z. B. dem der Sprachorgane, vor; so z. B. dass die vorgestellten Worte nicht ausgesprochen werden können, dagegen nicht vorgestellte hergesagt werden müssen.

§. 20.

Die Einmischung der Bewegungsanschauungen in unser Vorstellen ist der vermittelnde Process, durch den jede Aeusserung unsers gei - stigen Lebens hindurch muss. Dass aber dem psychischen Geschehen in uns überhaupt die Tendenz innewohnt, sich zu äussern, sich in Bewegung und Handlung darzustellen, diess beruht auf jener allge - meinsten Grundthatsache, der wir überall im Nervensystem begegnen, dass nämlich die centripetalen Erregungszustände in den Centralorga - nen in motorische Impulse umschlagen. In verschiedenen Höhen des psychischen Lebens sehen wir verschiedene Erfolge aus dieser Ein - richtung sich ergeben. Im Rückenmarke erregen die noch gar nicht percipirten centripetalen Eindrücke unzweckmässige oder halb zweck - mässige Bewegungen einzelner Muskel und Muskelgruppen (einfachste31Die Triebe.Reflexbewegungen). Alle Sinnorgane sind mit Muskelapparaten ver - sehen, deren durch den Zustand des Sinnesnerven erregte ganz un - willkührliche, aber zweckmässige Reflexbewegungen die sinnliche Per - ception begleiten und wesentlich unterstützen. Auch jener grössere Mechanismus, der die Bewegungsimpulse zu ganzen Reihen zweck - mässig combinirter Muskelcontractionen in sich enthält, dem zunächst die Bewegungen unsers ganzen Körpers im Grossen anvertraut sind, wird durch sinnliche Empfindungen nach dem einfachen Modus der Reflexaction in Bewegung gesetzt, und zwar theils unzweckmässig (z. B. Zusammenfahren nach einem heftigen Sinneseindruck), theils in zweckmässiger Weise. Bewegungen letzterer Art werden durch sinnliche Empfindungen theils von aussen her erregt, wie wir in den grösseren Tactbewegungen nach musikalischen Eindrücken, in den rasch erfolgenden sog. instinctiven Handlungen nach starken Sinnes - eindrücken (Abwenden u. dergl. ) beobachten. Theils aber auch liegen die Ursachen der sinnlichen Empfindungen, welche das Handeln er - regen, in unserem eigenen Körper. Die Empfindungen aus unserm ganzen Organismus, namentlich aber aus den Eingeweiden, aus dem Darme, den Genitalien etc. geben als sinnliche Bedürfnisse dem Han - deln bald leisere, bald impetuosere Anstösse; im Thiere herrschen sie frei, sie machen den Hauptinhalt seiner psychischen Existenz aus, sie treiben es auf weite Reisen und bestimmen alle seine grossen Bewegungsreihen. Im Menschen ist der unmittelbare Uebergang dieser Empfindungen in Bewegung dem Einwirken der Vorstellungen in höherem Masse offen gelassen und durch sie treten Pflicht und Sitte mahnend und regierend zwischen die sinnlichen Triebe. Aber es gibt Umstände, wo jene ihre Macht verlieren. Geisteskranke, bei welchen der Einfluss der Vorstellungen auf diese Triebe geschwächt ist, dagegen vielleicht die sensitiven Anstösse derselben verstärkt sind, sehen wir oft z. B. den Nahrungstrieb oder den Geschlechts - trieb mit offenster Rücksichtslosigkeit äussern; manche traurige Bei - spiele (von Schiffbrüchigen etc.) haben gezeigt, wie der Nahrungs - trieb, aufs Höchste gesteigert, die Mahnung, welche ethische und ästhetische Vorstellungen ihm entgegensetzen, trotzig überspringt, und auch ohne solche Verwilderung, für den Menschen des gesitteten Lebens, ist es ein wahres Wort, dass Hunger und Liebe die stärk - sten Motive seines Handelns sind.

Den Drang, das Bedürfniss zur Muskelbewegung, zum Handeln in Folge sol - cher aus dem Organismus selbst kommender sensitiver Anstösse begreift man unter dem Namen der (sinnlichen) Triebe; die einfachsten und verständlichsten32Die Triebe.sind der Nahrungstrieb und der Geschlechtstrieb, ganz dunkel und in ihren Ur - sprüngen unerforscht sind die Kunsttriebe vieler Thiere. Doch sind es immer, wenigstens beim Menschen, nicht allein die Empfindungen, als solche, sondern auch dunkle, mit ihnen zusammenhängende, schon von ihnen geweckte Bewegungen im Vorstellen selbst, die die Grundlage des Triebs geben, Bewegungen, die man zum Theil als Gefühle bezeichnet, bei denen aber deutliche Vorstellungen der be - treffenden Objecte ganz fehlen können.

Alle Triebe gehören beim Menschen wesentlich dem Gehirn und nicht dem peripherischen Nervensystem an. Mögen die Ausgangspunkte der betreffenden Empfindungen in den entferntesten Theilen des Organismus liegen, nirgends anders können diese Empfindungen den Mechanismus afficiren, mittelst dessen complicirte Bewegungen realisirt werden, nirgends anders kann sich ihnen jenes dunkle Vor - stellen beimischen, als im Gehirn; durch beides aber werden die Empfindungen erst zu Trieben.

Man spricht auch von geistigen Trieben, Wissenstrieb, Sammeltrieb, auch Familientrieb, Trieb der Kinderliebe etc.; man meint auch hier das Bedürf - niss zu gewissen Thätigkeiten, angeregt durch einzelne, stehend gewordene Vor - stellungsmassen, die aber nicht in ein bestimmtes, deutliches Einzel-Vorstellen auseinandergehen, sondern ungeschieden, mit der dunkeln Abstractheit des bloss Empfundenen,[das] Handeln bestimmen.

§. 21.

Durch die Triebe werden mit grösster Leichtigkeit stärkere oder schwächere, anhaltendere oder vorübergehendere Gemüthsbewegungen (S. §. 27.) gesetzt, und indem die Triebe und die von ihnen ge - weckten Gefühle sich dem Vorstellen beimischen, nimmt dieses schon ein bewegliches, nach aussen drängendes Element in sich auf, be - kommt zugleich etwas Warmes, Sinnliches, und es ergeben sich aus diesen Mischungen ganz neue Seelenzustände.

Die Verhältnisse des Verkehrs beider Geschlechter bieten hiefür ein gutes Beispiel. Das ästhetische Wohlgefallen an einer Individualität anderen Geschlechts oder die verständige Ueberzeugung von deren Vorzügen werden erst durch die Einmischung sexueller Empfindungen und Regungen zu dem neuen Seelenzustande, den man im Ganzen als Liebe bezeichnet, und der mit dem Erlöschen der se - xuellen Empfindungen auch aufhört.

Es hat nichts Widersinniges, einzelne Orte im Gehirne als Sitze der sinnlichen Triebe aufzusuchen; es müssten diejenigen sein, wo gewisse Empfindungsnerven und ihre centralen Ausbreitungen, z. B. die des Vagus, die der Sexualorgane mit den motor. Apparaten zu - sammentreffen. Aber es ist bis jetzt weder erwiesen, noch beson - ders wahrscheinlich, dass diese Orte gerade auf der Gehirnoberfläche liegen.

Bei Geisteskranken sieht man sehr oft nicht nur den Nahrungs - und Ge - schlechtstrieb rücksichtslos sich äussern; es kommen auch neue, namentlich dem33Das Wollen.früheren Leben des Individuums fremd gewesene, stehende Neigungen zu gewissen Handlungen vor, so z. B. das beständige Sammeln (von allen möglichen Kleinig - keiten, Federn, Lumpen, Papier etc.), das an die Sammel - und Kunsttriebe man - cher Thiere erinnert und seinem psychischen Ursprunge nach gleich sonderbar und räthselhaft, wie diese, ist. Ueberhaupt nimmt das Thun der Geisteskranken in den Zuständen von Irresein, wo viel äusserlich gehandelt wird, wie in den maniacalischen Zuständen, einen nach Jakobi’s treffendem Ausdrucke, fast durch - aus triebartigen Character an, und sehr auffallend ist oft der damit über - einstimmende Ausdruck der Physionomie, der ganzen Mimik, die häufig lebhaft an den Habitus und die Geberden einzelner Thierspecies erinnern.

§. 22.

In den Trieben sind es nicht einzelne, distinkte, klare Vorstel - lungen, sondern es sind Empfindungen und Gefühle, die Bewegungs - anschauungen erregen und damit das motorische Nervenagens nach den Muskelgruppen determiniren. Wenn aber die bewussten deut - lichen Vorstellungen selbst durch eine Einmischung von Bewegungs - anschauungen eine Beziehung auf die Muskelbewegung erhalten, so nennt man diesen Vorgang das Wollen.

Dem deutlichen sinnlichen Vorstellen gesellen sich jene Bewe - gungsanschauungen zu; aber auch in das Vorstellen, das nur in ab - stracten Gesamteindrücken, die durch Worte bezeichnet werden, be - steht (das begriffliche Vorstellen. §. 14.), können Bewegungsbilder eingehen. Diese sind dann aber gleichfalls nur dunkle Gesamt - eindrücke aus grossen Summen von Bewegungsanschauungen, die einzeln noch durchaus nicht geschieden, sondern wie zusammen - gewickelt darin enthalten sind; soll es zum Ausführen des begrifflichen Vorstellens kommen, so muss jener Gesamtinhalt in eine Menge ein - zelner, vorher noch gar nicht zu bestimmender Bewegungsbilder aus - einandergehen.

So verhält es sich überall, wo Abstractes gewollt wird tugendhaft sein - wollen, heirathen-wollen etc., d. h. den Begriff der Tugend, den Begriff der Ehe realisiren wollen; wo immer dies ein wirkliches Wollen und kein blosses Darandenken ist, da ist mit dem Begriff eine dunkle Masse noch verschmolzener Bewegungsanschauungen gemischt, die dann bei der Ausführung in ein sehr man - nigfaltiges, einzelnes Wollen sich auflösen muss.

Die Vorstellungen gehen in ein Streben und Wollen über nach einem inneren Zwange, in dem wir auch hier auf dem innerlichsten Gebiete des Seelenlebens das Fundamentalgesetz der Reflexaction erkennen. Den Geistesgesunden drängt und treibt es, seine Vor - stellungen zu äussern, sie in Handlungen zu realisiren und damit sich ihrer zu entäussern. Ist diess geschehen, so fühlt sich dieGriesinger, psych. Krankhtn. 334Das Wollen.Seele erleichtert, befreit; sie hat sich durch die That ihrer Vorstel - lungen entledigt und ihr Gleichgewicht ist nun wieder hergestellt. Eine merkwürdige Grundthatsache des psychischen Lebens, die die innere Erfahrung jedes Menschen kennen muss. Sie zeigt sich ebenso im Künstler, den seine Idee, der Drang der ungebornen Welt Jahre lang ruhelos beschäftigte, dem aber das vollendete, gelungene Werk fremd und gleichgültig wird, wie in jenem Unglücklichen, den der Gedanke einer zu begehenden schweren Unthat in die quälend - sten inneren Kämpfe versetzte, dem aber mit der Ausführung augen - blicklich die Ruhe wiederkehrt.

Es gibt auch ein Gedächtniss des Strebens und Wollens, eine Re - production der Bewegungsanschauungen, die sich unter gewissen Umständen immer wieder in die Vorstellungen einmischen. Unter den verschiedenen Menschen herrscht grosse Verschiedenheit in dem Masse der Leichtigkeit und Stärke, mit der die Bewegungsanschauungen sich geltend machen; Trägheit bis zur Willenlosigkeit.

Alles Streben zusammen, die Triebe und das Wollen, bilden die motorische Seite der Seelenthätigkeit. Diese Vorgänge haben schon sehr grosse Aehn - lichkeit mit den Vorgängen im wirklichen, musculo-motorischen Nervensysteme, während das reine Vorstellen weit mehr Gemeinsames mit dem Geschehen in den Sinnesnerven hat. Man findet daher beim Streben dieselben Categorieen wieder, die als allgemeine Ausdrücke gewisse Zustände der Muskelbewegung bezeichnen Ermüdung und motorische Lähmung (Willensschwäche und Willenlosigkeit), tonischer Krampf (einseitig festgehaltenes Streben mit sonstiger Unbeweglichkeit), convul - sivische Bewegung (krankhaft losgelassene Triebe, Begehrlichkeit, krankhafte Rastlosigkeit, Projectenmacherei und Thatensucht). Es ist aller Beachtung werth, dass häufig in Geisteskrankheiten diese motorische Seite des Seelenlebens und die musculomotorische Thätigkeit in derselben Weise krankhaft verändert sind, dass also Willenlosigkeit mit allgemeiner motorischer Sub-paralyse, ein krankhaft er - höhtes Wollen mit verstärkter und lebhafterer Muskelaction zusammen vorkommt (z. B. in maniacalischen Zuständen); ein andermal springt dieselbe Affection schnell von einem auf das andere Gebiet über, z. B. dem epileptischen Anfalle von Con - vulsionen folgt auf dem Fusse ein psychisch convulsivischer Zustand, ein heftiger Tobanfall. Ebenso wieder hat Rückenmarksschwäche sehr gewöhnlich auch Wil - lensschwäche, Verzagtheit und geistige Energielosigkeit zur Folge.

§. 23.

Wie aber die Empfindungen und Gefühle um so eher zu Trieben werden, je stärker sie sind, so entwickelt sich aus den einzelnen Vorstellungen um so eher ein Wollen, je stärker und anhaltender sie sich geltend machen; desswegen erzwingen sich die stärksten Vorstellungen am Ende ihren Uebergang in Handlungen. Glücklicher - weise aber ist im geistigen Leben dafür gesorgt, dass nicht jede Vorstellung diesen Grad von Stärke erlangt. Denn nach den Gesetzen der Ideenassociation treten auch die contrastirenden Vorstellungen35Die Freiheit.auf (§. 16.), ziehen weitere, ihnen verwandte Vorstellungen nach und es entsteht im Bewusstsein ein Widerstreit. Die ganze Vorstellungs - masse, die eben das Ich repräsentirt (S. §. 25.), wird ins Spiel ge - zogen und gibt am Ende den Ausschlag, indem sie jene erste Vor - stellung zurückdrängt oder begünstigt. Die Thatsache jenes Wider - streits im Bewusstsein, der am Ende durch das Ich entschieden wird, ist die Thatsache der menschlichen Freiheit.

Jede Annahme einer absoluten Freiheit und jedes darauf gegrün - dete Resultat ist irrig. Die menschliche Freiheit ist stets eine rela - tive und verschiedene Menschen sind in sehr verschiedenem Masse frei. Ursprünglich ist der Mensch gar nicht frei; er wird es erst, indem er eine Masse wohlgeordneter, leicht von einander hervorzu - rufender Vorstellungen bekommt und indem sich aus diesen ein star - ker Kern, das Ich, bildet. Zweierlei gehört also überhaupt dazu, damit das menschliche Handeln frei sei. Einmal eine ungehinderte Ideenassociation, damit sich um die vorhandenen Vorstellungen, die eben zum Wollen werden, andere neu entstehende sammeln und ihnen gegenüber treten können. Zweitens ein gehörig starkes Ich (§. 25.), das den Ausschlag geben kann, indem sein Vorstellungs - complex die eine Parthei der streitenden Vorstellungen verstärkt, und damit die andere zurückdrängt. Bei dem an Vorstellungen Armen und geistig Trägen geht die Freiheit in der traumartigen Monotonie der Gewohnheit zu grossem Theile unter. Der geistesschwache Mensch ist weniger frei, weil seinem vorstellen die lebendige Association fehlt und opponirende Vorstellungen gar nicht oder nur sehr langsam sich wecken lassen. Das Kind ist weniger frei, wenn auch sein Vor - stellen ein sehr thätiges ist, weil sich noch kein starkes Ich gebildet hat, das eine kräftige, fest geschlossene Vorstellungsmasse in den Streit senden könnte.

Wenn der Mensch sittliche Motive zur Richtschnur seines Handelns macht, so kann er diess nur thun, indem er die Masse der auf sein Sittengesetz be - züglichen Vorstellungen durch vielfache Reproduction und Uebung so mit allem seinem Vorstellen verknüpft, dass sie bei jeder stärkeren Gedankenbewegung auch mit ins Bewusstsein heraufgezogen werden; sie bilden alsdann einen wesentlichen constituirenden Bestandtheil der Vorstellungsmasse seines Ich, und wenn ein Con - flict im Bewusstsein entsteht, so treten sie nicht nur sogleich hervor, sondern sie haben auch überall im ganzen Inhalte des Ich etwas auf ihrer Seite. Im Verbrecher dagegen haben sich die egoistischen und gegen Andere feindseligen Vorstellungen allmählig so befestigt, dass sie immer leicht herauftreten und das Ich hat einen Inhalt bekommen, dessen Hauptmasse nach der schlimmen Seite neigt. Man glaube nicht, dass ein solcher desswegen in jedem einzelnen Falle böse handeln müsse; auch in ihm ist die[Ideenassociation] thätig und indem sie3 *36Die Besonnenheit.die Contraste zu seinen schlimmen Gedanken heraufführt, treten halb erstorbene Regungen des Gewissens, halb erloschene Bilder und Erinnerungen aus besseren Zeiten, die in der Jugend erhaltenen Mahnungen zum Guten u. s. w. ins Bewusst - sein und der Kampf kann hitzig genug werden. Am Ende freilich tritt das Ich auf die schlimme Seite; tritt es auf die gute, so ist der Mensch kein Böse - wicht, sondern ein sittlicher Held, der nach langem Kampfe seine schlimmen Ge - lüste überwunden hat. Die Stärke der opponirenden, sittlichen Motive kann aber nie im Voraus geschätzt werden; es gibt keinen absoluten Bösewicht; wohlwollende Neigungen haben der Zeit nach die Priorität in der menschlichen Natur; sie werden in keinem Menschenleben vollständig unterdrückt und die Geschichte der Ver - brechen zeigt, wie oft das kleine Gewicht einer Jugend-Erinnerung, eines alten Spruches oder Liederverses, der sich in den Gedankengang eindrängt, die unter - drückten sittlichen Vorstellungen mächtig heranzieht und damit die Schale des Guten sinken macht. Gäbe es einen Menschen, wie der alte Cenci in Shelley’s Drama, so könnte bei ihm freilich jedesmal der böse Entschluss als ein mit Noth - wendigkeit erfolgender vorher gesagt werden; allein es gibt keinen solchen und kein Geistesgesunder ist zum Verbrechen gezwungen.

§. 24.

Das normale Aufeinanderwirken des Vorstellens, wobei durch die im Flusse befindlichen Vorstellungen andere contrastirende oder über - haupt beschränkende geweckt werden und wobei Alles in einem mitt - leren Grade von Stärke und Schnelligkeit vor sich geht, so dass im Bewusstsein ein Streit entstehen kann, bezeichnet man am besten als den Zustand der Besonnenheit. Man sieht leicht, wie sie eine der wesentlichsten Bedingungen aller Freiheit ist.

Es gibt nun viele Zustände, wo diese Besonnenheit geschwächt oder ganz aufgehoben ist. Dies ist mehr oder minder der Fall, einmal in den Affecten (S. §. 29.), die man noch zum physiologi - schen Zustande rechnet, dann in fast allen pathologischen Zustän - den des Gehirns. Die Alcoholintoxication, die sympathischen Gehirn - reizungen, die meisten, tieferen organischen Erkrankungen seiner Substanz, besonders alle die Gehirnkrankheiten, mit denen wir es hier, als mit Geisteskrankheiten zu thun haben, stören das freie Spiel des Vorstellens, beschränken damit die Besonnenheit oder heben sie ganz auf. Sie thun diess auf sehr verschiedene Weise. Bald sind durch die Gehirnaffection einzelne Neigungen und Triebe direct zu massloser Heftigkeit gesteigert (Geschlechtstrieb, Zerstörungstrieb), und gehen in Wollen und Handeln über, ohne dass irgend andere Vorstellungen neben ihnen hätten aufkommen können; bald geht alles Vorstellen in rapidestem Ablauf durcheinander und in dem Vorstel - lungsschwindel ist nichts Einzelnes so kräftig und andauernd, dass auch nur der Anfang eines wirklichen Widerstreits im Bewusstsein37Die Aufhebung der Besonnenheit.entstehen könnte Beides sieht man oft in den maniacalischen Zu - ständen, wo es dann im letzeren Falle oft auf die kleinsten Anstösse von aussen ankommt, in welcher Weise gehandelt wird. Bald ist das Vorstellen so träge und das Ich so schwach, dass von dieser Seite die Voraussetzungen eines inneren Widerstreites fehlen wie im Blödsinn. Bald sind durch die Gehirnaffection einzelne falsche Ver - knüpfungen von Vorstellungen, einzelne irrige Schlüsse so stehend geworden und haben sich so in die ganze Vorstellungsmasse des Ich verwebt, dass ihre Contraste gänzlich aus der Seele verdrängt sind, dass sie sich desshalb in alle Entschlüsse eindrängen und das durch diese fixen Ideen verfälschte Ich nun immer in ihrem Sinne den Ausschlag geben muss diess ist bei den partiell Verrückten, auch in manchen melancholischen und maniacalischen Zuständen der Fall. Der Entschluss und die That erfolgen hier oft mit grosser Ruhe und mit äusserlich zweckmässiger Berechnung und Wahl der Mittel; dennoch fehlt die innere Besonnenheit, weil die falschen Voraussetzungen die Stärke zwingender Motive erhalten haben und der Kranke sich ihrer durchaus nicht entledigen kann.

Hiemit sollen nur Beispiele gegeben, nicht alle Arten aufgezählt sein, in denen bei Geisteskranken die Besonnenheit aufgehoben wird. Vieles im geistigen Mechanismus ist noch ganz unbekannt; in manchen Zuständen von Irresein, von Rausch etc. scheinen ganze grosse Reihen von Vorstellungen, Pflichtgefühl, ästhetische Ideen etc. dauernd oder momentan vollständig weggenommen, ohne dass sich andere, starke Vorstellungsmassen nachweisen liessen, durch die jene vertrieben wären.

Bei allen Geisteskrankheiten leidet die Besonnenheit vor Allem noth, und eben damit die Freiheit. Dieser Verlust der Freiheit ist natürlich nicht das Wesen der krankhaften Processe selbst, sondern nur ein für unsern Verstand abstract ausgedrücktes Resultat der verschiedensten psychischen Störungen, das niemals die Bedeutung eines diagnostischen Merkmals haben kann. Auch ist die Besonnenheit bei den Geisteskranken in sehr verschiedenem Grade auf - gehoben. Es gibt Zustände, die ohne die gröbste Zerreissung des Zusammen - gehörigen nicht von den Geisteskrankheiten zu trennen sind, z. B. ihre oft lange währenden, mässigen Anfangsstadien, viele Zustände tieferer Hypochondrie, in denen ein ziemlich starker Rest von Besonnenheit dem Kranken bleibt. Geistes - krankheit und völlige Unfreiheit ist also noch keineswegs dasselbe; das ärztliche Urtheil über solche Zustände darf aber überhaupt nicht die abstracten und gar nicht streng einzugrenzenden Begriffe des Geisteskrank - oder Geistesgesundseins, des Frei - oder Unfreiseins im Auge behalten, sondern es muss physiologisch das concrete Geschehen, die psychischen Hergänge selbst an ihre Quellen ver - folgen, ihren Zusammenhang auseinanderlegen und ihre Resultate würdigen. Hiezu ist aber freilich eine in der Regel fehlende psychiatrische Bildung nothwendig.

Die ganze Lehre von der Zurechnungsfähigkeit thut weit besser, ihren Aus - gangspunkt an den Begriff der Besonnenheit, als an den noch abstracteren und38Das Ich.schwieriger zugänglichen Begriff der Freiheit anzuknüpfen; ein näheres Eingehen auf diese Lehren liegt aber nicht in der Tendenz dieser Schrift.

§. 25.

Im Laufe unseres Lebens bilden sich, vermöge der fortschrei - tenden Verbindung der Vorstellungen, immer mehr zusammenhän - gende, grosse Vorstellungsmassen. Ihre Eigenthümlichkeit beim ein - zelnen Menschen wird nicht nur von dem speciellen Inhalt der ein - zelnen, durch Sinneswahrnehmung und äussere Erlebnisse hervor - gerufenen Vorstellungen, sondern auch von ihrem habituellen Ver - hältnisse zu den Trieben und zum Wollen, und von den stehend gewordenen, hemmenden oder fördernden Einflüssen aus dem ganzen Organismus bestimmt. Schon das Kind kommt dazu, aus seinen ver - hältnissmässig noch einfachen Vorstellungsmassen einen Gesammt - eindruck zu erhalten, den es, sobald das Material gehörig gewachsen und erstarkt ist, anfängt, mit einem abstracten Ausdrucke, dem Ich zu bezeichnen.

Das Ich ist eine Abstraction, in der das einzelne bisherige Empfinden, Denken und Wollen zusammengewickelt enthalten ist, und die sich im Fortgang der psychischen Prozesse mit einem immer neuen Inhalte füllt. Aber diese Assimilation des neuen Vorstellens zu dem vorhandenen Ich geschieht nicht auf einmal, es wächst und erstarkt sehr allmählig, und das noch Nicht-Assimilirte tritt anfangs als ein Gegensatz zu dem Ich, als ein Du im Menschen auf. Nach und nach bleibt es nicht mehr bei einem einzigen solchen Complexe von Vorstellen und Wollen, der das Ich vorstellt, sondern es bilden sich mehre solche geschlossene, gegliederte und erstarkte Vorstellungsmassen; zwei (und nicht nur zwei) Seelen wohnen dann in des Menschen Brust, und je nach dem Vorherrschen der einen oder der andern dieser Vorstellungsmassen, die nun alle das Ich repräsentiren können, wechselt dieses oder wird in sich gespalten. Hieraus kann sich Widerspruch und Widerstreit im Innern ergeben, und solcher ergibt sich auch wirklich in jedem denkenden Menschen. Die Lösung desselben bringen glückliche, harmonische Naturen von selbst mit, indem sich in allen diesen verschiedenen Vorstellungs - complexen einige allgemeine, in allen wiederkehrende, wenn auch nur dunkle und nicht deutlich sagbare Grundanschauungen gemeinsam entwickeln, wodurch auf allen Gebieten des Denkens und Wollens eine harmonirende Grundrichtung als Beispiel solcher verschiedenen Grundrichtungen mag der Glaube einerseits, der Empirismus andrer - seits dienen sich ergibt. Es ist nun die höchste Aufgabe der39Die Metamorphosen des Ich.Selbstbildung, nicht nur solche gemeinsame feste Grundrichtungen zu gewinnen, sondern sie allmählig so viel als möglich durch Denken ins Bewusstsein zu erheben und so in den festen Besitz solcher, der indi - viduellen Natur adäquater, durchdachter Obersätze alles Denkens und Wollens zu gelangen.

Unser Ich ist zu verschiedenen Zeiten ein sehr verschiedenes, je nachdem Alter, verschiedene Lebenspflichten, Erlebnisse, momentane Erregungen diese oder jene, dann eben das Ich repräsentirende Vorstellungsmasse mehr entwickelt und in den Vordergrund gedrängt haben. Wir sind ein Anderer und doch derselbe. Mein Ich als Arzt, mein Ich als Gelehrter, mein sinnliches Ich, mein moralisches Ich etc. d. h. die Complexe von Vorstellungen, Trieben und Willensrichtungen, die durch jene Worte bezeichnet werden, können mit einander in Widerspruch gerathen und der eine zu verschiedenen Zeiten die andern zurückdrängen. Nicht nur Inconsequenz und Zerfahrenheit des Vorstellens und Wollens, sondern auch wegen des beständigen hemmenden Widerspruchs aller übrigen völlige Energie - losigkeit auf jeder einzelnen dieser Seiten müsste die Folge sein, wenn nicht einige wenige, dunklere oder bewusstere Grundrichtungen auf allen diesen Ge - bieten wiederkehrten.

Eines der deutlichsten und für die Verhältnisse bei Geisteskrankheiten in - structivsten Beispiele einer Erneuerung und Umgestaltung des Ich geben die psychischen Ereignisse während der Pubertätsentwicklung. Mit dem Activwerden bisher ruhender Körpertheile und mit der gänzlichen organischen Revolution in diesem Lebensalter treten in verhältnissmässig kurzer Zeit grosse Massen neuer Empfindungen, Triebe, dunklerer oder deutlicher Vorstellungen und Willensimpulse ins Bewusstsein. Diese durchdringen allmählig die alten Vorstellungskreise und werden zu constituirenden Bestandtheilen des Ich; dieses wird ebendamit ein ganz anderes, neues, und die Selbstempfindung erleidet eine durchgreifende Meta - morphose. Aber freilich, bis es zu dieser Assimilation gekommen ist, kann diese Durchdringung und Zersetzung des alten Ich kaum ohne mancherlei Drang im Bewusstsein und ohne tumultuarische Erschütterung desselben, d. h. nicht ohne mancherlei Gemüthsbewegungen vor sich gehen. Desshalb ist jene Lebensepoche ganz vorzüglich die Zeit innerlich entspringender, äusserlich unmotivirter Ge - müthsbewegungen.

§. 26.

Nicht umsonst haben wir dieses Beispiel gewählt, das mit viel - fachen Analogieen das Irresein schön erläutert. Bei diesem nämlich entwickeln sich gewöhnlich, gleichfalls von innen heraus, mit der eintretenden Gehirnkrankheit Massen neuer, dem Individuum bisher in dieser Weise fremd gewesener Empfindungen, Triebe und Vor - stellungen (z. B. grosse Angstempfindungen, daran geknüpft die Vor - stellungen eines begangenen Verbrechens, der Verfolgung). Anfangs stehen diese dem alten Ich als ein fremdes, oft Staunen und Schrecken erregendes Du gegenüber. Oft wird ihr Eindringen in die alten Vorstellungskreise als Inbesitznahme des alten Ich von einer40Die Metamorphose des Ich durch Krankheit.dunkeln, überwältigenden Macht empfunden und die Thatsache solcher Besitznahme in phantastischen Bildern bezeichnet. Immer aber ist diese Duplicität, dieser Widerstreit (des alten Ich) gegen die neuen, nicht adäquaten Vorstellungsmassen wenigstens von peinlichen Empfindungs - kämpfen, von affectartigen Zuständen, von heftigen Gemüthsbewegungen begleitet. Diess schliesst uns den Grund der erfahrungsmäs - sigen Thatsache auf, dass die ersten Stadien der ungeheuren Mehrzahl der Geisteskrankheiten in vorwaltenden Gemüths - leiden, und zwar Gemüthsleiden trauriger Art bestehen.

Wird nun die unmittelbare Ursache des neuen, anomalen Vor - stellens, die Gehirnaffection, nicht gehoben, so wird jenes fest und stehend, und indem es allmählig mit den Vorstellungsmassen des alten Ich überall Verknüpfungen eingeht, indem oft andere Massen widerstandsfähiger Vorstellungen durch die Gehirnkrankheit ganz ausgelöscht und verloren gegangen sind, hört dann allerdings nach und nach der Widerstand des alten Ich, der Streit im Bewusst - sein auf, und die Stürme der Gemüthsbewegungen legen sich; aber nun ist durch jene Verknüpfungen, durch jene Aufnahme der anomalen Vorstellungs - und Willenselemente, eben das Ich selbst verfälscht und ein ganz anderes geworden. Dann kann der Kranke wieder ruhig und sein Denken zuweilen formal richtig sein; aber überall in dasselbe schieben sich jene anomalen, irrigen Vorstellungen, weil sie überall Verbindungen angeknüpft haben, als unbezwingliche Prämissen ein; der Kranke ist in keiner Beziehung mehr der Alte, sondern ein ganz anderer sein Ich ist ein neues, falsches geworden. Andere - male scheint es, dass sich sogar mehre unter sich wenig congruente Massen von Vorstellungen, deren jede das Ich repräsentiren will, bilden, und es kann damit die Einheit der Person ganz verloren gehen (manche Blödsinnig-Verrückte). Insoferne die Gemüthsbewegungen in solchen Zuständen aufgehört haben, kann man diese jetzt mit Recht als ein bloss falsches Denken, als Verstandeskrankheiten bezeichnen.

Hiermit ist der gewöhnliche Gang der Dinge, von der Entstehung des Irreseins an bis zu seinem Ende in unheilbarer Verrücktheit, in nuce angegeben. Das Gesagte gilt natürlich nicht für alle Fälle (z. B. nicht für den primitiven Blöd - sinn nach Schädelverletzung), und auch da, wo die krankhaften Ereignisse im Ganzen diesen Gang nehmen, kommen zahlreiche Zwischenvorfälle und Abweichungen vor. Namentlich wird durch das tiefere Weiterschreiten einer organischen Gehirn - krankheit (z. B. der chronischen Encephalitis der Gehirnrinde, die mit Atrophie endigt) der Verlauf so abgeschnitten, dass ein baldiger Blödsinn gar kein neues Ich aufkommen lässt; oder es erfolgt früher die Genesung oder der Tod. Hierüber s. die Schilderung der einzelnen Formen.

41Das Fühlen.

Indessen bemerke man hier gleich die enorme Wichtigkeit, welche die Be - schaffenheit des vorhandenen (alten) Ich in diesen Zuständen haben muss. Ein schwaches Ich wird von dem neuen, anomalen Vorstellen eher überwunden werden, als ein starkes. Eine langsame, schleichende Durchdringung der alten Vor - stellungscomplexe durch die neuen wird zwar viel geringere Gemüthsbewegungen setzen, aber, indem es das Ich auch weniger zum Widerstande auffordert, dasselbe um so sicherer zersetzen und absorbiren. Die Dauer der Krankheit wird unter allen Umständen von grösster Wichtigkeit sein. Die neuen Vorstellungsmassen werden dem Ich um so gefährlicher sein, je mehr sie ihrem Inhalte nach schon Verwandtschaft mit den alten Vorstellungscomplexen haben; dann wird die Bei - mischung leichter, aber auch das Resultat eine gegen den früheren Zustand weniger auffallende Veränderung des Ich sein. Alle diese Sätze werden von der täglichen Erfahrung aufs bündigste bestätigt.

§. 27.

Ein einfacher, jedem Bewusstsein bekannter Unterschied im Vor - stellen besteht darin, dass dasselbe bald als ein ruhiges Phantasiren oder Denken fortgeht, und dass es anderemale von einer stärkeren Schwankung, von einer allgemeinen psychischen Unruhe begleitet wird. Im ersten Falle verhalten sich die Vorstellungsmassen, die das Ich repräsentiren, zu dem eben im Bewusstsein befindlichen Vorstellen als ruhige Zuschauer; indem sie es appercipiren, werden sie nur schwach und langsam von ihm verändert, und wenn sich dabei auch dunkle Urtheile über die Förderung oder Hemmung des Ich ergeben (Lust oder Unlust), so sind diese von geringer Intensität. Im zweiten Fall erregt ein lebhafter Vorgang im Bewusstsein, z. B. eine plötzlich gegebene Vorstellungsmasse oder ein Trieb, der sich heftig geltend macht, einen tumultuarischen Auftritt. Durch jenen Vorgang nämlich werden einzelne ruhende Vorstellungshaufen schnell heraufgezogen, diese bringen andere mit sich, noch andere werden schnell aber nicht ohne Widerstand zurückgetrieben und das Ich muss dadurch nothwendig in der Weise lebhafterer Förderung oder Hemmung, leb - hafterer Lust oder Unlust afficirt werden.

Jene dunkeln Urtheile, psychische Unlust oder Lust (S. §. 18.), geben den Grundinhalt unserer Gefühle. Ihre Dunkelheit fällt vor allem als ein Unter - schied des Fühlens vom Vorstellen in die Augen und wir sehen die Gefühle als solche um so mehr abnehmen, je mehr jene undeutlichen Urtheile in klare Vor - stellungen auseinandergehen und sich in solche umsetzen. Ein Kunstwerk z. B. erregt uns anfangs nur ein angenehmes oder unangenehmes Gefühl von Gefallen oder Missfallen, dann erheben sich allmählig deutlichere und klarere Vorstellungen, die sich zu einzeln sagbaren Urtheilen verbinden; während solcher inneren Be - sprechung wird das Gefühl allmählig schwächer, und wollen wir, nach vollständiger Beendigung derselben, das Kunstwerk noch weiter rein fühlend geniessen, so kann diess nur mit momentanem Abstrahiren von unsern deutlichen Urtheilen geschehen.

42Das Gemüth.

Gefühle können das ruhige Vorstellen begleiten; es kann z. B. das wissen - schaftliche Denken, wenn die adäquaten Vorstellungen sich förderlich treffen, von grosser Lust, von dem Gefühle des Gelingens begleitet sein. Aber die Gefühle sind viel lebhafter, wenn durch eine plötzlich eintretende Veränderung im Be - wusstsein die dem Ich angehörigen Vorstellungsmassen in heftigere Schwankung gerathen und das Ich dadurch eine unruhige, rasche Förderung oder Hemmung erleidet. Dieses Afficirtwerden des Ich nennt man die Affecte; sie sind im ersten Falle freudiger, im zweiten trauriger Art. In allen Affecten finden sich Gefühle als wesentliche Bestandtheile, aber nicht alle Gefühle setzen uns in Affect; es gibt vielmehr dauernde, stabile Gefühle ohne allen Affect (Selbstgefühl, Vaterlands -, Familiengefühl). *)S. Herbart, Lehrbuch. 1816. p. 54. Drobisch, empir. Psychologie. 1842. p. 205.

Das Gemüth, dem diese Vorgänge als seine, als Gemüthsbewe - gungen, zugeschrieben werden, hat nun eine ganz wesentliche Be - ziehung zur motorischen Seite des Seelenlebens, zu den Trieben und dem Wollen. Nicht nur werden durch alle affectartigen Zu - stände Triebe und Willensimpulse geweckt, um entweder der Hem - mung entgegenzutreten oder der Förderung zu folgen; sondern die Beobachtung zeigt auch, dass schon die Entstehung der Affecte weit leichter von der motorischen Seite des Seelenlebens, als vom blossen reinen Vorstellen aus geschieht.

Gehemmtes oder gefördertes Streben afficirt das Ich noch viel mehr, als dieselben Zustände im reinen Vorstellen und die plötzlichsten und tiefsten Erschütterungen resultiren aus dem plötzlichen Zurückgeworfenwerden der eben flüssigen Strebungen. Wenn z. B. unser ruhiges, wissenschaftliches Denken durch eine unerwartete äussere Unterbrechung gehemmt wird, so mögen wir wohl ärgerlich werden; wenn aber unserm Wollen entgegengetreten wird, unsre, der Ausführung nahen Plane vernichtet werden, so erregt diess viel heftigere Gemüthsbewegungen, Zorn, Traurigkeit und dergl. Sehr häufig sieht man, dass contrariirte Plane und Willensbestimmungen, z. B. eine aufgedrungene Beschäftigung, während das Indi - viduum mit allen seinen geistigen Kräften nach ganz anderen Seiten strebt, die Ursache andauernder Gemüthsbewegungen und eines daraus entwickelten Irreseins werden. Ein uns bekannter geisteskranker Mann ward es dadurch, dass er Metzger werden musste, während er Pfarrer werden wollte. Solche Beispiele finden sich in allen Irrenanstalten.

§. 28.

Die Frage, was das Gemüth und die Gemüthsbewegungen eigent - lich seien und welche Stellung sie im psychischen Leben einneh - men, ist für das Verständniss des Irreseins, das ja (§. 26.) so oft und so lange hauptsächlich in einem Gemüthsleiden besteht, wichtig genug. Unser Vorstellen und Streben bewegt sich in stetem Wechsel immer fort; von einer Gemüthsbewegung aber ist nur da die Rede, wo die Vorstellungsmasse, die das Ich repräsentirt, stärker43Das Gemüth.erschüttert wird und in Schwanken geräth, was (§. 27.) niemals ohne Gefühle geschehen kann. Bei dieser Störung der Gemüthsruhe wird[nun] nichts anderes gestört, als die gewohnte ruhige Art, wie sich unser Ich zum eben vorhandenen Vorstellen verhält, wie sich über - haupt die mehrfachen Massen von Vorstellungen und Strebungen, die wir in uns finden, zu einander verhalten. Dieses gewohnte, ruhige Verhältniss ist aber keine absolute Ruhe oder Unthätigkeit, sondern es ist das Resultat einer mässigen, mittleren Thätigkeit, welches zugleich das erworbene mittlere Mass psychischer Kraft und die gewohnte Richtung des psychischen Lebens repräsentirt; es ist mit Einem Worte der psychische Tonus. *)Vgl. des Vfs. Aufsatz über psych. Reflexactionen. Archiv für physiolog. Heilkunde. II. 1843. p. 95.

Der Rückenmarkstonus, der sich in den Muskeln, dem Zellgewebe etc. als ein mittlerer, gewohnter Grad von Contraction, auf Seiten der Empfindung als ein mittlerer Grad von Schmerzempfänglichkeit und Reizbarkeit ausspricht, ist das Product nicht der einzelnen Empfindung und Bewegung, sondern der, in die Einheit und Allgemeinheit eines mittleren Reizzustandes untergegangenen Totalität der Empfindungen und Bewegungsimpulse; er beruht auf einem mittleren Facit von Erregung, das aus all diesen einzelnen centralen Nerventhätigkeiten zusammen herausgekommen ist. Dieser mittlere Zustand scheinbarer Ruhe wird als Ganzes nicht von jeder Empfindung und Bewegung unterbrochen und gestört, aber er wird es durch alle starken und plötzlichen Empfindungen und Bewegungen (Ermüdung, Schmerz etc.) Auf beiden Gebieten ist der Tonus natürlich das einemal schwanken - der und variabler, als zu andern Zeiten, je nach dem Zustande des Organs; zu - weilen kann jeder kleine Reiz Ermüdung, Schmerz, Convulsionen machen; zuweilen kann einen die Fliege an der Wand ärgern. Es ist nicht der gewöhnliche Aus - druck, und es wäre allzuabstract, aber es wäre nicht unrichtig, den Tetanus, die Convulsionen etc. als Abänderungen des Tonus (einseitige Steigerung, Unter - brechung etc.) aufzufassen; denn unzweifelhaft leidet der Tonus hier sogleich unter der vorhandenen Störung. Ebenso ist die auffallendste Störung bei den parallelen Geisteszuständen (dem psychischen Schmerz, der psychischen Convul - sion) die Störung des Gemüths, und in diesem Sinn ist überhaupt von den Ge - müthsleiden und ihrer Primitivität beim Irresein zu sprechen.

Gemüthlich nennen wir den Menschen, dessen Ich nicht allzu - schwer in Bewegung geräth, wo desshalb angenehme oder unangenehme Gefühle, Theilnahme, Mitleid, Wohlwollen, Abneigung etc. leicht ent - stehen. So erfreulich diese Eigenschaft ist, so bringt sie die Gefahr mit, dass es gerne bei diesen dunkeln Urtheilen, den Gefühlen, bleibt, dass diese nicht in ein klares Denken auseinandergehen, dass dieses sogar verlernt wird und der Mensch nach blossen Gefühlen, aus denen er nicht mehr herauswill, sein Handeln einrichtet und sein Leben gestaltet. Diess ist das im schlimmen Sinne Gemüthliche. 44Das Gemüth.Gemüthlos wird der genannt, dessen Ich sehr schwer in der Weise der Lust oder des Schmerzes afficirt wird, entweder wegen grosser Schwäche und Stumpfheit aller psychischen Processe (stumpfsinnige, sehr phlegmatische Menschen), oder weil sich, beim Zusammen - stosse des Ich mit dem jeweiligen Vorstellen, sogleich deutliche Urtheile in hellen Vorstellungen, statt der dunkeln Gefühle, ergeben (Verstandesmenschen). Gemüthskräftig ist der Mensch, bei dem sich ein haltbarer psychischer Tonus gebildet hat, der durch jede psychische Erregung nicht alsbald modificirt wird; angenehme und unangenehme Erlebnisse fühlt ein solcher wohl, d. h. er begleitet sie mit dunkeln Urtheilen über Förderung oder Hemmung seines Ich, aber dieses selbst wird nicht so leicht erschüttert, es kommt nicht gleich zu allgemeiner psychischer Unruhe, zu Aerger und Verstim - mung, und in Freude und Schmerz wird Mass gehalten. Gemüths - schwäche dagegen ist da vorhanden, wo ausgebreitete, aber energie - lose Reactionen des Ich leicht hervorzurufen sind; fast jede Vorstel - lung erregt hier ein Gefühl; Freude und Trauer wechseln ungemein leicht und Gemüthsbewegungen werden zum Bedürfniss; die abneh - mende Empfänglichkeit fordert dann oft neue, starke Reize (Lust am Schauerlichen, Pikant-Schrecklichen) und das Ich kommt fast nur in Perioden von Erschöpfung und Erschlaffung zur Ruhe.

Man wird sogleich die Identität dieses letzteren Verhaltens mit dem erkennen, was man auf sensitiv-motorischem Gebiete die reizbare Schwäche nennt, und als die wichtigste Disposition und als den Grundzustand bei vielen Nervenkrank - heiten (z. B. den Spinaliritationen) betrachtet. Man nennt ein solches Verhalten mit Recht Schwäche denn mit den einzelnen und einseitigen Excitabilitäts - erhöhungen ist eine absolute Erniedrigung der Kraftgrösse in den Functionen verbunden. Bei vorhandenen Convulsionen ist doch die willkürliche Muskelbewegung schwach; bei vorhandenen steten Affecten ist doch das Denken und Wollen schwach und schlaff. Diese Zustände sind nicht nur sehr häufig miteinander combinirt (Neigung zu Affecten und erhöhte Convulsibilität vieler Hysterischen), sondern sie entstehen gleichzeitig auch auf beiden Gebieten oft genug aus denselben Ur - sachen, haben in ihrem Kreise dieselben Folgen und die Grundsätze ihrer Be - handlung sind sich durchaus analog.

§. 29.

Von der Art und Weise und von der Leichtigkeit, mit der das Ich in der Form der Gefühle und Gemüthsbewegungen afficirt wird, hängt allerdings ein grosser Theil der psychischen Reactionsweisen des einzelnen Menschen und damit der individuellen Eigenthümlichkeit ab. Dennoch wäre es sehr irrig, im Gemüthe den eigentlichen festen Inhalt des Ich, den beharrlichen Kern der Individualität zu suchen. 45Die Stimmungen und Affecte.Das Gemüth bildet vielmehr eben ein wandelbares, labiles Verhält - niss, das sich bei vielen Menschen fast bei jedem psychischen Geschehen ändert, das der Bewegung und dem Wechsel durch äussere Anstösse wie durch die Einflüsse aus dem ganzen Organismus leicht und auffällig preisgegeben ist. Der feste, beharrliche Kern der Individualität ist nirgends anders, als in den starken Vorstellungs - complexen zu suchen, die sich zum Ich combinirt haben. Dieser wird wohl erschüttert, aber nicht aufgehoben in den Gemüthsbewegungen; denn was sollte afficirt werden im Affecte, als eben jene Vorstel - lungscomplexe, das Ich? Das Ich kann aufgelöst werden und gänz - lich zerfallen (nicht selten bei tieferen Desorganisationen des Gehirns, beim Blödsinn), es kann untergehen und ein neues an seine Stelle treten (Verrücktheit); aber diess ist (§. 26.) eben nur dann der Fall, wenn die Gemüthsbewegungen, welche die Affection und Auflösung des alten Ich nothwendig begleiten mussten, sich vollständig gelegt haben.

Die Art und Weise, wie die das Ich repräsentirende Vorstel - lungsmasse von dem, was im Bewusstsein vorgeht oder sich in das - selbe eindrängt, afficirt wird, gibt die Art und Weise der Selbst - empfindung. Mässige und andauerndere Veränderungen der Selbst - empfindung geben wieder die Grundlage der verschiedenen Gemüths - stimmungen, plötzlichere und heftigere die Grundlage der Gemüths - Affecte. Der Inhalt der Selbstempfindung kann nur von zweierlei Art sein, Lust oder Unlust, jene, wenn die Vorstellungscomplexe des Ich durch den Vorgang im Bewusstsein in ihrem freien Flusse, ihren adäquaten Verbindungen und namentlich in ihrem Uebergange in Strebungen begünstigt und gefördert, diese wenn sie durch ihn zurück - gedrängt, unterdrückt, gehemmt werden. Von der leisesten Aenderung der Stimmung bis zum tobendsten Affect ist also immer nur zweierlei möglich: entweder ein Zustand der Förderung und der Expansion des Ich, bei dem das Ich sich wohl befindet, sich desshalb affirmativ zu dem neuen Vorgange im Bewusstsein verhält und ihn festzuhalten sucht; oder ein Zustand von Hemmung, von Re - und Depression, wo die Vorstellungscomplexe des Ich, in ihrem Flusse und ihrem Ueber - gang in Strebung aufgehalten und zurückgeworfen, bald die Flucht ergreifen, bald beharrlich streitend hereindrängen, wo sich also das Ich immer negativ gegen jene neuen Vorstellungen verhält. Dem - nach zerfallen alle Stimmungen und Affecte in zwei grosse Classen, die expansiven (und zugleich affirmativen) und die depressiven (und zugleich negativen, mit Verabscheuen verbundenen). Zu jenen gehören Heiterkeit, Lustigkeit, Freude, Ausgelassenheit, Hoffnung,46Folgen der Affecte.Muth, Uebermuth etc.; zu diesen Aerger, üble Laune, Niedergeschla - genheit, Traurigkeit, Kummer, Schaam, Furcht, Schrecken etc.

Diess Verhältniss gibt die Grundlage der Eintheilung für diejenigen Zustände von Irresein, welche in vorwaltendem Gemüthsleiden bestehen, also für die pri - mären Formen der Geisteskrankheiten (§. 26). Wir bekommen nämlich zwei Hauptclassen; in der einen besteht die Hauptstörung in depressiven, negativen Stimmungen und Affecten alle melancholischen Zustände; in der andern besteht sie in expansiven, affirmativen Affecten der Wahnsinn. Des Zorns ist noch nicht Erwähnung gethan; er steht in der Mitte zwischen beiden Classen von Affecten; seinen Anlässen nach gehört er mehr zur ersten, indem er eine Beeinträchtigung des Ich voraussetzt, aber es folgt hier auf die Beeinträchtigung eine heftige Reaction des Ich, eine lebhafte Expansion und Explosion des Vor - stellens und Strebens, womit der negirte Eindruck meist wieder überwunden und das Gleichgewicht hergestellt wird. Dem Zorne aber stehen ihren psychologischen Grundlagen nach die Zustände sehr nahe, die man unter der Tobsucht begreift, und diese findet auch nosologisch ihre natürliche Stelle zwischen Melancholie und Wahnsinn.

§. 30.

Ein wichtiger Umstand bei den Affecten, der sie zugleich wie - der sehr vom ruhigen Vorstellen unterscheidet, ist der, dass in die - sen Zuständen immer ausser den cerebralen, noch andere organi - sche Processe ins Spiel gezogen werden. Der Herzschlag, die Respiration, die Magenverdauung, die Secretionen des Schweisses, der Galle, des Harnes werden in den Affecten verändert; dem Zor - nigen schwellen die Venen im Gesichte, es ist zuweilen, als ob der heftige Affect ihn ersticken wollte; bei dem in Furcht oder Schrecken Versetzten entstchen schnell wässrige Secretionen; beim Traurigen wird die Respiration verlangsamt und oberflächlich, und muss daher zuweilen durch tiefe Athemzüge, Seufzer, unterbrochen werden u. dergl. m. So setzen die Affecte (und affectartigen Zu - stände), ursprünglich durch Erregung des Körper-Nervensystems vom Gehirne aus, körperliche Anomalieen; bei schnell vorübergehendem Affect und bei vorher gesundem Organismus gleichen sich diese bald wieder aus; bei schon bestehender körperlicher Krankheit aber und bei lange fortdauernden Ursachen (z. B. anhaltendem Gram) bilden sich allmählig viel complicirtere Störungen der organischen Mechanik aus, denen das blosse Aufhören des Affects nicht alsbald ein Ende machen kann, und die Störungen können nun durch neue, rückwir - kende, secundäre Erregung des Gehirns von ihnen aus nicht nur die vorhandenen Affecte unterhalten und steigern, sondern auch neue derartige Zustände setzen.

47Die Vernunft und ihre Störung.

Denn es ist ein weiterer Erfahrungssatz, dass, wenn durch die organischen Processe, das Athmen, die Verdauung etc., die psychi - sche Gehirnthätigkeit influencirt wird, diess zunächst nicht auf dem Gebiete des klaren Vorstellens, nicht dadurch geschieht, dass wir neue Gedanken bekommen, sondern vielmehr so, dass zuerst dunkle Veränderungen der Selbstempfindung und Stimmung, dunkle Urtheile über das Gefördert - oder Gehemmtsein unserer psychischen Thätig - keit überhaupt in uns entstehen und damit ein wesentliches Element affectartiger Zustände uns aufgedrungen wird. (§. 17.)

Beispiele hiefür finden sich fast in allen Krankheiten. Bei Herzkranken sehen wir sehr häufig Angst, bei Genitalienaffectionen Traurigkeit, bei Krankheiten des Darms, bei icterischer Blutveränderung mürrische, ängstliche, ärgerliche Laune, Trägheit des Denkens, allgemeine Verstimmung etc. eintreten; das Gefühl körperlichen Wohlseins oder körperlicher Krankheit ist überhaupt vom grössten Einflusse darauf, ob unsre Stimmung muthig und heiter oder niedergeschlagen und traurig ist. Wirken nun äussere Ursachen Affect-erregend auf uns ein, so kommt ausserordentlich viel auf diesen schon vorhandenen, habituell oder vorüber - gehend durch die organischen Zustände erregten Gehirnzustand an, ob der Affect haftet oder nicht. Bei schon durch körperliche Krankheit Verstimmten haftet ein äusserlich erregter trauriger Affect weit eher und hat weit nachhaltigere Folgen, als wenn er in einem Menschen entsteht, der sich eben des besten kör - perlichen Wohlgefühls und heiterer Stimmung erfreut hatte.

Diese Verhältnisse geben einige der wichtigsten Grundlagen der Pathogenie des Irreseins. Es liegt in ihnen der Schlüssel zum Verständniss der Prädispo - sition zu Geisteskrankheiten durch die allerverschiedensten körperlichen Er - krankungen und der Wirkungsweise der psychischen Ursachen. Diese erzeugen nemlich (S. das zweite Buch) das Irresein seltener direct, häufiger secundär, durch Vermittlung anderer Störungen, z. B. in der Weise, dass durch lange dauernden Gram der kleine Kreislauf eine Modification erleidet, in Folge deren dann Hyperämie des Gehirns entsteht und diese nun bei dem prädisponirten Individuum zur nächsten Ursache seines Irreseins wird. Es ist eben das Ge - schäft der Pathogenie, die Mechanik dieser Vorgänge nach erfahrungsmässigen Daten auseinanderzulegen.

§. 31.

In den Affecten ist keine ruhige Ueberlegung möglich. Indem das Ich selbst in Schwankung und Erschütterung gerathen ist, behält es nicht die nöthige Ruhe, um die Vorgänge im Bewusstsein mit völliger Hingebung und Aufmerksamkeit zu vernehmen. Den Zu - stand aber, wo solches Vernehmen möglich ist und wirklich statt - findet, nennt man die Vernunft. Zu diesem Vernehmen, und eben desshalb zur Ueberlegung, ist gegenseitige Bestimmbarkeit der Vor - stellungen, Verweilen und Aufschub, Sammlung und Erwägung erforder - lich; den contrastirenden Vorstellungen (§. 23.) muss die Möglichkeit48Die Rückbildung des Irreseins.sich geltend zu machen und dem Ich die nöthige Ruhe gegeben sein. Diess Alles ist nun auch bei den Geisteskranken nicht der Fall. Durch die Gehirnaffection werden ihnen Stimmungen und Triebe aufgedrungen, die zum Ausgangspunkte von Affecten werden; wenn sich aus diesen wieder falsche Urtheile (fixe Ideen) erheben, so können sie nicht berichtigt werden und der Kranke kann seine Täuschung nicht einsehen; anfangs desswegen nicht, weil der anhal - tende Affect den contrastirenden Vorstellungen nicht die nöthige Ruhe gönnt, um sich gehörig entwickeln zu können, vielmehr mit seinem längeren Bestehen immer mehr seine Folgen, die falschen Urtheile, befestigt und consolidirt werden, später aber desswegen nicht, weil jene falschen Urtheile integrirende Bestandtheile aller Vorstellungs - complexe des Ich geworden sind (§. 23.).

Eine Unmöglichkeit, die Falschheit der krankhaften Vorstellungen einzusehen, ist also bei jeder ausgebildeten Geisteskrankheit vorhanden. Die Sache fällt zum grössten Theile zusammen mit dem in §. 23. erörterten Verluste der Besonnen - heit. Eben damit aber haben die Irren auch den Verstand verloren, und zwar nach Herbarts Ausdrucke, desswegen, weil ihre Gedanken sich in ihrem eigenen Zuge durch äussern oder innern Widerspruch gar nicht mehr stören lassen. Auch dem Gesunden gehen allerlei Grillen, falsche Urtheile, thörichte Gedanken durch den Kopf; aber er vermag sie, wenn er nicht gerade im Zustande des Affects ist, ruhig zu bestätigen oder zu verwerfen.

Die Genesung vom Irresein erfolgt nun gewöhnlich nur in den primären, aber allerdings oft eine Reihe von Jahren dauernden Pe - rioden, wo es hauptsächlich auf affectartigen Zuständen beruht. Indem durch Beseitigung der Gehirnkrankheit oder ihrer entfernteren organischen Ursachen die krankhaften Stimmungen und Affecte schwinden, müssen mit ihnen auch die falschen Urtheile, die auf sie basirt waren, fallen, und die Vorstellungscomplexe des nun nicht mehr erschütterten Ich treten unmittelbar in ihre alten Rechte ein. Werden aber erst zu einer Zeit, wo die falschen Urtheile schon mannigfache Verknüpfungen mit den Vorstellungscomplexen des Ich eingegangen haben, die orga - nischen Ursachen der Gehirnkrankheit beseitigt, so kann der Kranke zwar noch genesen; aber es ist ein langer und sehr allmähliger psy - chologischer Process, bis durch Stärkung der früheren normalen Ge - dankenrichtung sich nach und nach die begonnenen Verknüpfungen der falschen Urtheile mit dem Ich lösen und diese sich ganz zurück - drängen lassen (manche Reconvalescenten werden erst zu Hause, mit dem Wiedereintritt in ihre alten Lebensverhältnisse, Geschäfte etc. ganz gesund). Dann aber, wenn das alte Ich durch die krankhaften, falschen Vorstellungen nach allen Seiten hin verunreinigt, verdorben49Die Elementarstörungen beim Irresein.und verfälscht ist, wenn vollends die Vorstellungscomplexe des frühe - ren Ich so vollständig zurückgedrängt (vergessen) sind, dass ohne alle Spur von Affect, der Kranke seine ganze Persönlichkeit mit einer neuen vertauscht hat und von der alten kaum mehr etwas weiss, dann ist die Heilung so gut wie unmöglich, und nur in den seltensten Fällen gelingt es, durch Erregung heftiger Gemüthsbewegungen und mittelst ihrer durch eine Art mechanischer Dressur (Leuret, du traite - ment moral etc. Par. 1840) ein, immerhin schätzenswerthes Zurück - drängen der Aeusserung des Irreseins zu erhalten. Auch diess natürlich nur da, wo das Gehirn noch keine tiefere organische Läsion erlitten hat; wo solche vorhanden ist, wie in vielen dieser Zustände und namentlich im secundären Blödsinn, ist keine Hoffnung der Ge - nesung mehr vorhanden.

Vierter Abschnitt. Die Elementarstörungen der psychischen Krankheiten.

§. 32.

Vor der Betrachtung der zusammengesetzten Symptomencomplexe, welche die speciellen Formen der psychischen Krankheiten geben, sind noch einige allgemeinere Verhältnisse, namentlich aber die ein - zelnen elementaren Störungen, die in jenen Formen (der Melancholie, der Manie etc.) sich verschieden gruppirt wiederholen, kurz ins Auge zu fassen. Und da in den Gehirnkrankheiten, die für uns als psy - chische Krankheiten in Betracht kommen, es, wie in allen übrigen, nur drei Reihen wesentlicher Anomalieen gibt, nämlich sensitive, motorische und geistige (Vorstellungs -) Anomalieen, so bekom - men wir nach diesen drei Gebieten drei grosse Haufen successiv zu betrachtender Elementarstörungen, ein Irresein im Vorstellen, ein Irresein der Sinnesempfindung und ein Irresein der Bewegung.

Die geistigen Störungen sind allerdings die auffallendsten und bedeutendsten in allen diesen Zuständen (§ 5.);*)Bei der Betrachtung der geistigen Anomalieen müssen wir uns auf Vieles im vorigen Abschnitte Gesagtes beziehen, was hier nicht wiederholt werden kann. Bei einer desshalb mehr cursorischen Erwähnung einzelner Punkte möge der Leser die §§. 15 31. zu Hülfe nehmen; sehr Vieles aber kann seine eigent - liche Auseinandersetzung erst in der Schilderung der verschiedenen Formen des Irreseins finden. aber man möge die sensitiven und motorischenGriesinger, psych. Krankhtn. 450Geistesstörungen.Krankheits-Phänomene ja nicht für Nebendinge halten. Die anomale Sinnes - thätigkeit spielt eine grosse Rolle im Irresein, und die Störungen dessen, was man die Phantasie nennt (§. 15.) reichen zu grossem Theile auf ihr Gebiet herüber. Die motorischen Anomalieen aber, die auf den ersten Blick dem Irresein ganz fremd zu sein scheinen, gehören gerade, wie sich später ergeben wird, für die anatomische Diagnostik und für die Prognose zu den allerwichtigsten Punkten.

Erstes Capitel. Die geistigen Elementarstörungen. *)Für die nächstfolgenden §§. vergl. die Bemerkungen von Zeller zu Guislains Phrenopathieen. Stuttg. 1838. p. 440 591.

§. 33.

Der wesentliche Process beim Irresein, das eigentlich Krankhafte darin beruht in der Hauptsache darauf, dass gewisse Gehirnzustände, gewisse Stimmungen, Affecte, Urtheile, Willensimpulse von innen heraus, durch Krankheit des Seelenorgans entstehen, während im ge - sunden Zustande unsre Affecte, Urtheile, Willensbestimmungen nur auf genügende äussere Veranlassungen entstehen und desshalb auch mit der Aussenwelt in einem gewissen harmonischen Verhältnisse bleiben. Niemand wundert sich, wenn Jemand, der einen grossen Verlust erlitten, traurig wird, wenn ein Anderer, dem ein lebhafter Wunsch erfüllt wurde, eine laute Freude zeigt; aber man hält es mit Recht für krankhaft, wenn der Mensch ohne alle äussere Motive in Traurigkeit versinkt oder in laute Fröhlichkeit ausbricht, oder wenn zwar ein äusserer Anlass gegeben ist, das Individuum aber in ganz übermässig heftiger und lange andauernder Weise davon afficirt wird, wenn z. B. ein unbedeutender Vorfall heftigen Zorn erregt, aus dem der Mensch lange gar nicht mehr herauskommen kann.

Nach demselben Grundsatze beurtheilen wir alle Vorgänge im Nervensystem. Ermüdung nach einem starken Marsche ist das Normale, anhaltende Müdigkeit bei steter Ruhe des Körpers ist krankhaft. Frieren durch äussere Kälte ist das Normale; Frost bei warmer, äusserer Temperatur ist krankhaft. Pelzigsein des Beins nach einem Druck auf den Nerven ist schon ein leichter Krankheitszustand, aber man zählt ihn zum verhältnissmässig Normalen gegenüber dem Fall, wo das Bein durch eine innere Ursache, eine Rückenmarkskrankheit, beständig einge - schlafen ist. Ebenso ist es krankhaft, wenn zwar ein kleiner Anlass gegeben, aber die Reaction übermässig heftig ist, wenn Jemand nach wenigen Schritten schon ermüdet, oder nach einem kühlen Luftzuge in heftigen Frost verfällt etc. Da aber die Grenze zwischen Krankheit und Gesundheit nirgends feststeht, so werden manche hierhergehörige, namentlich vorübergehende, Zustände gewöhnlich51Aehnlichkeit mit physiologischen Zuständen.nicht zu den Krankheiten gerechnet. Ein Glas Wein kann uns aufheitern, ohne äussere Motive zur Heiterkeit; es wird hier durch das Spirituosum von innen heraus ein Gehirnzustand, eine expansive Stimmung gesetzt; ein schwaches Analogon des Irreseins, das aber noch nie Jemand eine Krankheit genannt hat, weil es ohne heftige Symptome bald wieder vorübergeht.

Auf die Dauer und die Heftigkeit der Phänomene kommt sehr vieles an, ob wir psychische Zustände als krankhaft beurtheilen. Je - der Mensch weiss aus eigener Erfahrung, wie zuweilen ohne äussere psychische Motive eine heitere oder trübe, weiche oder bittere Stim - mung in uns entstehen kann, Gehirnzustände, die sich gewöhnlich aus leisen, nur mittelst grosser Aufmerksamkeit erkennbaren Verän - derungen der organischen Processe ergeben. Diese Stimmungen sind nicht krankhaft, wenn sie mässig und von kurzer Dauer sind und von den herrschenden Vorstellungsmassen des Ich kräftig bezwungen wer - den können; aber sie sind es, wenn sie sich immer und allenthalben dem Individuum aufdrängen, durch äussere psychische Erregung nicht mehr gehoben werden und statt von den Vorstellungscomplexen des Ich gehörig im Schach gehalten zu werden, diese tumultuarisch affi - ciren und einen andauernden Zustand peinlichen, inneren Kampfes erregen. Wie mit solchen Stimmungen aber verhält es sich auch mit einzelnen, distinkten Vorstellungen. Ein bizarrer, närrischer Ge - danke kann dem vernünftigsten Menschen durch den Kopf gehen; wenn er nur nicht anhält, sondern durch ein starkes Ich sich bald wieder in Vergessenheit zurückdrängen lässt, so nennt diess Niemand krankhaft. Beim Irresein aber haften solche Stimmungen, solche Gedanken, denn sie werden wegen der Dauer und Stärke der Gehirn - affection, anhaltend und heftig der Seele aufgedrungen.

§. 34.

Um das Irresein recht zu verstehen, muss man sich in die Seelenzustände der Irren hineindenken. Aus den psychologischen Zuständen, welche noch innerhalb der geistigen Gesundheit, also in - nerhalb unserer Erfahrung liegen, bekommen wir annähernde Begriffe von dem, was in der kranken Seele vorgeht. Die Phänomene des Traums, die Vorgänge in den Affecten, in der geistigen Ermüdung etc., namentlich aber jene erwähnten, im gesunden Zustande mässigen Veränderungen der Gemüthslage, die sich spontan, aus leisen körper - lichen Störungen ergeben, sind hiefür ganz besonders instructiv. Denn die Beobachtung zeigt, dass wir eben diese Phänomene, einer - seits die ärgerliche, zum Zorn geneigte, unzufriedene, bittere, anderer - seits die fröhliche, heitere, ausgelassene Verstimmung sehr häufig,4*52Gemüthsanomalieen.aber eben in ganz ungewöhnlicher Steigerung und Andauer, als wich - tige Elementarphänomene des Irreseins finden, dass sich also eine Menge solcher Zustände des gesunden Lebens im Irresein wieder - holen, und desshalb durch die Vergleichung mit jenen wesentlich aufgehellt werden. Für andere psychologische Anomalieen der Gei - steskranken finden wir in unsrer eigenen gesunden Erfahrung nichts Analoges; wir sind aber eben desshalb ganz ausser Stande, sie zu verstehen. Wir können uns z. B. durchaus nichts Deutliches darunter vorstellen, wenn wir Geisteskranke klagen hören, dass ihnen bestän - dig ihre Gedanken von Andern gemacht , oder dass sie ihnen abgezogen werden, oder wenn wir sehen, wie sie mit einzelnen Worten, einzelnen Geberden einen ganz besondern Sinn verbinden, ihnen eine tiefgeheimnissvolle Wichtigkeit beilegen etc. Auch für den Zerfall des Denkens im Blödsinn möchte selbst die tiefste, gei - stige Ermüdung noch kein annäherndes Analogon gewähren, und kaum einzelne Zustände des Schlafs und Traums könnten ein entferntes Bild davon geben. Wer das Fieberdelirium aus eigener Erfahrung kennt, hat hierin manche Anhaltspuncte des innern Verständnisses der Geisteskrankheiten.

In den folgenden §§. wird bei den einzelnen krankhaften Zuständen im Ge - müthe, im Denken und Streben, jedesmal an die analogen physiologischen Zustände erinnert werden. Die Scheidung in diese drei Classen geistiger Störungen ist nur eine äusserliche, die Uebersicht erleichternde; ihr innerer Zusammenhang muss sich aus den §§. 22 31. ergeben haben.

A. Gemüthsanomalieen.

§. 35.

Die Beobachtung zeigt, dass nicht mit sinnlosen Reden, nicht mit extravaganten Handlungen, sondern mit krankhaften Gemüthslagen, mit Anomalieen der Selbstempfindung und der Stimmung und daraus sich ergebenden affectartigen Zuständen, die bedeutende Mehrzahl der Geisteskrankheiten beginnt. Und zwar bilden den ersten Anfang meist die objectlosen Gefühle der Unaufgelegtheit, des Missbehagens, der Beklemmung und Angst, weil die durch die Gehirnaffection neu gesetzten Massen von Vorstellungen und Trieben gewöhnlich anfangs noch höchst dunkel sind und desshalb die Störung im normalen Fort - gange des Denkens und Wollens und das neue, gegen das Ich herein - brechende psychische Element erst nur undeutlich gefühlt werden. Die verminderte Kraft und Energie des Ich, das Zurückgedrängt - werden seiner Vorstellungscomplexe gibt einen psychisch-schmerzhaften53Traurige Verstimmung.Zustand unbestimmter Art, eine in ihrer Undeutlichkeit höchst quä - lende Gefühlsbelästigung; die neu herauftretenden krankhaften Vor - stellungen und Triebe erzeugen eine Entzweiung der Seele, das Ge - fühl des Losseins der Persönlichkeit und einer zu erwartenden Ueber - wältigung des Ich. Der psychische Schmerz erscheint in einer der bekannten Formen der Unruhe, Angst, Traurigkeit und bringt alle die oben (§. 18.) erwähnten Folgen einer durchaus veränderten Reaction gegen die Aussenwelt und einer Störung der motorischen Seelenthä - tigkeit mit sich. Perversitäten der natürlichen Gefühle, Abneigung und Hass gegen das früher Geliebte, äussere Gefühllosigkeit, oder eine sich krankhaft an einen Gegenstand anklammernde Zärtlichkeit, doch ohne die Tiefe der ruhigen Empfindung und ohne die rechte Sorgfalt, oft auch schnell und capriciös mit Widerwillen abwechselnd, sind hier gewöhnliche Erscheinungen. Die gesteigerte Empfindlichkeit bezieht Alles auf sich, weil sie sich wirklich von Allem unangenehm berührt fühlt, und in der düstern Beschattung aller An - und Aus - sichten legt der Mensch alles Gegenwärtige übel aus und sieht in allem Zukünftigen nur Schlimmes. Misstrauen und Argwohn werden durch das Gefühl verminderter Widerstandsfähigkeit unterhalten und durch körperliche Angstempfindungen immer neu geweckt; Alles er - scheint dem Kranken anders, weil er sich selbst zu jedem psychi - schen Eindrucke anders verhält, weil er gänzlich anders empfindet, und er hat die grösste Neigung, seinen Zustand bald einem directen Einflusse der Aussenwelt zuzuschreiben, sich verfolgt, beeinträchtigt, bezaubert, von schlimmen, geheimen Einflüssen beherrscht zu glauben, bald in seinem früheren Leben die Ursachen davon zu suchen und sich allerlei schwerer Verbrechen, Verworfenheiten und Unthaten an - zuklagen, deren nothwendige Consequenz sein jetziges Verhalten sei.

Hier kommen nun die mannigfaltigsten Modificationen dieser Grundzustände vor, bald ein völliges Insichversunkensein, bald laute Verzweiflung, zuweilen Tücke, selten schmelzende Weichheit, bald anhaltende Selbstquälerei, bald stete Beziehung der Unzufriedenheit auf die Aussenwelt, bald Lebensüberdruss und ruhiger Entschluss zum Selbstmord, bald Furcht vor dem Tode, vor Höllenstrafen und dergl. Sehr häufig hat der Kranke Anfangs das Gefühl des beginnenden Irre - seins, zuweilen fleht er um Hülfe, und wir selbst haben Kranke iu den Anfangs - stadien aus weiter Entfernung freiwillig der Irrenanstalt zueilen gesehen.

Die genannten Zustände geben die Grundlage der verschiedenen Formen der Melancholie; doch kommen sie auch in andern Formen (z. B. der Verrücktheit, der Tobsucht) vor, und man kann sagen, dass sich die Mehrzahl der Irren höchst unbehaglich, ja unglücklich fühlt, woher wohl die alte Benennung Morositates (Sauvages) für alle Geisteskrankheiten rühren mochte. Jenen Zuständen entsprechen als analoge des gesunden Lebens alle deprimirten Stimmungen und Affecte, Nieder -54Heitere Verstimmung.geschlagenheit, übermässige Reizbarkeit, habituelle, bittere, unzufriedene, selbst - quälerische Stimmungen, wie man sie zuweilen bei geistig ausgezeichneten Menschen beobachtet (J. J. Rousseau), grundlose Eifersucht, Aerger, Furcht, Zorn etc.

§. 36.

Die entgegengesetzten krankhaften Gemüthszustände, mit der Stim - mung der Heiterkeit, Ausgelassenheit, des Muthwillens, mit erhöhter geistiger (und gewöhnlich auch leiblicher) Activität sind den expansiven Affecten höchst analog, und beide haben in der Hauptsache dieselben nächsten Folgen. Es gibt auch beim Gesunden ein Närrischwerden vor Freude , wo nicht nur das Gefühl der glücklichen Gegenwart alle Seelenkräfte expandirt, sondern plötzlich auch alle Träume der Zu - kunft realisirt erscheinen, wo Menschen und Dinge einem näher ge - kommen sind, wo man Jedermann sein Glück theilen lassen und der ganzen Welt um den Hals fallen möchte. Es kann dabei sogar schon zu einer ziemlichen Unordnung und Inconhärenz der Ideen kommen, und es zeigt jedenfalls keine sehr tiefe Erregung, wenn der Glück - liche sich gleich schnell besonnen in Alles zurecht zu finden weiss. Auch beim Gesunden ist mit diesen Gefühlen gewöhnlich ein Trieb zu äusserer Bewegung, Unruhe, vielem Sprechen und Geschäftigkeit verbunden. In ähnlicher Weise äussern sich diese Zustände, wenn sie von innen heraus krankhaft entstehen; sie bilden gewöhnlich die Grundzustände der Form des sog. Wahnsinns und kommen auch noch, doch sehr abgeschwächt, in der Verrücktheit und Narrheit vor. Wir müssen uns, nach unsern Beobachtungen, entschieden der An - sicht Guislains anschliessen, dass das fröhliche Irresein fast immer erst secundär, nach vorausgegangenen Depressionszuständen, sich ein - stellt. Es scheint desshalb auch auf einer tieferen psychischen Er - krankung zu beruhen, als die letzteren Zustände. Es ist oft, als ob plötzlich mit einer eingetretenen Veränderung im Zustande des Ge - hirns die bisher auf der Seele lastenden Hemmnisse vollständig weg - genommen wären und sich nun, als ein Symptom tieferer Zerrüt - tung, das Gefühl grosser psychischer Freiheit, glückliche, hoffnungs - reiche Stimmnngen von selbst erheben könnten. Eine entferntere Analogie aus dem sensitiv-motorischen Nervensysteme mag die Beobachtung (Purkinje) bieten, dass, wenn die Extremitäten eine Zeit lang mit angehängten Gewichten belastet waren, unmittelbar nach deren Wegnahme eine ungemeine Leichtigkeit der Bewegungen eintritt.

Eine Menge anderer, nicht einzeln aufzählbarer krankhafter Stimmungen und Gemüthserregungen, bizarre, launische Inclinationen und Abneigungen, sinnliche und ideal-schwärmerische Verliebtheit, Coquetterie etc. kommen noch vor.

55Formell anomales Denken.

Mit dem Auftreten all dieser verschiedenen Gemüthsanomalieen hat sich dann gewöhnlich das Verhalten des Individuums zur Aussenwelt, sein ganzer Cha - racter, es haben sich seine Neigungen und Geschmacksrichtungen total verändert. Der Sanfte kann wild, der Geizige verschwenderisch, der Sittsame obscön, der Bescheidene eitel und hochmüthig erscheinen etc. Die Umwandlung des Characters ist gewöhnlich in den Anfangsperioden des Irreseins das auffallendste Zeichen und gewöhnlich stellt sich das Irresein nur in dem Falle einer sehr langsamen, all - mähligen Entstehung als die bloss excessive Steigerung der natürlichen Character - Eigenschaften des Menschen dar. Man darf desshalb aus den Gemüths-Eigenthüm - lichkeiten des Kranken auf seinen früheren Character nur mit grösster Vorsicht schliessen; exquisite Bosheit und Tücke z. B. kann bei sonst gutgearteten, wohl - wollenden Menschen Jahre lang während der Dauer der Krankheit anhalten und mit der Genesung schnell und spurlos dem alten Character wieder weichen.

B. Anomalieen des Denkens.

§. 37.

Wir können auf dem Gebiete des deutlichen Vorstellens, des Urtheilens und Schliessens zur leichteren Uebersicht zweierlei Ab - normitäten unterscheiden, einmal ein krankhaftes Verhalten des Vor - stellens in formaler Beziehung, sodann eine Abnormität der Vor - stellungen in Bezug auf ihren (falschen) Inhalt. Beide Verhältnisse hängen aufs innigste zusammen, in der Weise, dass gewisse formale Abweichungen, z. B. ein allzurascher Ablauf, eine zu grosse Lang - samkeit im Vorstellen, schon durch die Gefühle, von denen sie noth - wendig begleitet sind, wieder einzelne Grundinhalte der Vorstellungen an die Hand geben oder begünstigen, z. B. die mässige Steigerung des Vorstellens, wo die Combinationen mit erhöhter Leichtigkeit von statten gehen, ist sehr häufig von falschen Urtheilen, die sich aus dem Gefühle geistiger Freiheit und geistigen Wohlseins ergeben, begleitet. *)Vgl. des Verf. Neue Beiträge zur Pathologie des Gehirns. Archiv für physiolog. Heilkunde. III. 1. 1844. p. 95.

a. Formale Abweichungen.

Zu grosse Langsamkeit des Denkens rührt entweder von einer Unterdrückung durch heftigen psychischen Schmerz, der das Bewusstsein ganz füllt und nichts Anderes neben sich aufkommen lässt, oder von wirklicher Schwäche, namentlich von dem Verluste des Gedächtnisses her. In beiden Fällen, so verschieden sie ihrem inneren Grunde nach sind, beobachtet man Armuth und Einförmigkeit im Vorstellen; der Zug der Gedanken scheint mitunter stille zu stehen, einzelne Worte, Redensarten, Bewegungen, die Stunden lang wieder - holt werden, zeigen das Beharren einzelner Vorstellungen; oft ist ein Stocken der Rede, eine grosse Unsicherheit in der Verknüpfung der56Die Verworrenheit.Gedanken und Schüchternheit im Urtheilen bemerklich. Dieser Zu - stand findet sich vorzüglich in der Melancholie und im Blödsinn.

Eine erhöhte Production und ein beschleunigter Ablauf der Gedanken kann in mässigeren Graden die geistige Combination erleichtern; man sieht dann zuweilen sonst eben nicht geistreiche Menschen scharfsinniger und witziger werden, namentlich stellt sich zuweilen der gelungene Ausdruck feineren Spottes gegen die Um - gebung, leichte Versification und dergl. ein. Indessen hört man nur wenig Kluges von den Irren. Denn gerade in diesen Zuständen, wo der bildenden geistigen Thätigkeit ein reichlicheres Material geboten wird, stellt sich gewöhnlich sehr bald Unordnung und Verworren - heit ein. Wenn nämlich grosse Mengen von Vorstellungen im Ge - hirn entstehen und ihr Lauf beschleunigt ist, so ziehen sie zwar lange Reihen nach und oft kommen hier längst vergessene Bilder und Ereignisse, Worte, Lieder u. dergl. mit der Frische der ersten In - tuition wieder herauf; aber indem die Vorstellungen so rasch von einander gedrängt werden, dass sie nicht in die gehörigen Verbin - dungen eingehen können, indem ferner durch diese Mannigfaltigkeit der Gedanken leicht auch ein grosser Wechsel der Gemüthszustände gesetzt wird, entsteht nur höchste Unruhe und eine haltlose Ideen - jagd. In deren Strome wird dann Alles in bunter Flucht fortgerissen, und es ist ein Zufall, wenn in ihren Wirbeln hier und da die Ele - mente zu einem baroken Gedanken zusammentreffen, der sich wenigstens noch geistreicher als seine Umgebung ausnimmt.

Diese letzteren Zustände kommen hauptsächlich in der Tobsucht vor; bei ihrem Beginne namentlich zeigt sich oft grössere geistige Leb - haftigkeit, und man hat Fälle beobachtet, wo es jedesmal ein sicheres Zeichen des nahenden Tobanfalls war, wenn der Kranke witzig wurde.

Verworrenheit der Gedanken entsteht übrigens nicht allein auf die ange - gebene Art, durch eine Ueberfüllung des Bewusstseins. Es gibt auch eine ver - wirrte Incohärenz im Denken und Reden, die den Gedankensprüngen und Ellipsen des Affects, z. B. des Zorns, entspricht, und wieder eine andere, die aus gänz - lichem Zerfall und tiefer Zerrüttung der psychischen Processe hervorgeht. Der psychologische Mechanismus dieser letzteren Zustände ist im Einzelnen noch sehr dunkel, es scheint uns, dass die Incohärenz häufig darauf beruht, dass sich die Vorstellungen nicht sowohl nach ihrem (ähnlichen oder contrastirenden) Inhalt, sondern mehr nach den äusseren Aehnlichkeiten des Wortklangs hervorrufen. Vielleicht hat eine mangelnde Zusammenwirkung beider Gehirnhälften grossen An - theil an der Verworrenheit überhaupt.

Für die in diesem §. erwähnten krankhaften Beschaffenheiten des Denkens finden sich viele physiologische Analogieen, theils in der zähen Hartnäckigkeit, mit der uns unangenehme Vorstellungen verfolgen können, in der Wortkargheit, in57Die Störungen des Gedächtnisses.der Einschüchterung des Urtheils durch ein widriges Ereigniss, auch in dem s. g. Schmollen, theils in der Confusion der Ideen durch Furcht; für die zweite Reihe in der Schwatzhaftigkeit ohne wahren Gedankeninhalt, in der innerlichen Verwirrung, die durch copiose, gleichzeitige Aufnahme vieler Ideen dann ent - stehen kann, wenn noch keine gemeinsame Punkte und leitende Richtungen in ihnen aufzufinden sind, oder wieder in der Incohärenz der Traumbilder.

§. 38.

Was noch besonders das Gedächtniss betrifft, so findet sich ein höchst verschiedenes Verhalten desselben bei den Irren. Mitunter ist es vollständig treu, sowohl für die Ereignisse des früheren Lebens, als für die während der Krankheit. Eine krankhafte Erhöhung des - selben ward im vorigen §. erwähnt. Viel häufiger aber ist eine Schwächung desselben in verschiedenen Modalitäten. Namentlich die Form des Blödsinns zeichnet sich in der Weise durch Schwäche des Gedächtnisses aus, dass das eben jetzt Geschehende schnell, oft von einem Augenblicke zum andern vergessen wird, während es oft an Erinnerungen aus dem früheren Leben nicht fehlt, die sogar den Stoff zu einem ziemlich geordneten Gespräche geben können. An - deremale ist gerade der Inhalt des vergangenen Lebens entweder (selten) völlig aus der Tafel der Erinnerung weggewischt oder (öfter) wenigstens in eine solche Ferne gerückt, so undeutlich und dem In - dividuum so fremd geworden, dass es denselben kaum mehr als sein Erlebniss anerkennen kann; hier wird dann oft die eigene, wirkliche Existenz erst von den Tagen der Erkrankung an datirt und das Frühere entweder einer fremden Persönlichkeit oder wenigstens einem früheren ganz anderen Zustande (einem Scheinleben) zugeschrieben. Dieser völlige Abfall vom früheren Ich beruht freilich nicht allein auf Ge - dächtnissmangel, sondern wird gewöhnlich durch besondere sensitive Anomalieen (§. 43.) mit hervorgebracht und beharrlich gemacht; aber das Verschwinden ganzer Massen früherer Vorstellungen begünstigt ausser - ordentlich die consequente, innere Durchführung eines solchen Wahns. *)Beispiele finden sich unten im §. 43. und bei der Verrücktheit.

Der vom Irresein Genesene erinnert sich in der Regel der Er - eignisse während seiner Krankheit und kann oft mit wunderbarer Treue und Schärfe die kleinsten Vorkommnisse in der Aussenwelt und das feinere Detail seiner Motive und seiner Stimmung während der Krank - heit angeben. Er weiss oft noch jeden Blick, jedes Wort, jede Mienenveränderung seiner Besucher zu schildern eine beiläufige Aufforderung an die Umgebung der Irren zu einer steten, strengen Achtsamkeit auf sich selbst, zur Gerechtigkeit und Milde, wenn es58Falsche Vorstellungen. Wahnideen.solcher Mahnung noch bedürfte! Ein solches Verhalten kommt namentlich bei Genesenen nach schwermüthigen und mässigeren tob - süchtigen Zuständen vor, weniger nach der Form des Wahnsinns, aus dem der Kranke gewöhnlich viel verworrenere Erinnerungen behält. Die Angabe eines Genesenen, von allen Vorgängen während des Irre - seins gar nichts mehr zu wissen, ist mit Vorsicht aufzunehmen, da auch genaue Erinnerungen oft aus Scham verschwiegen werden.

b. Falscher Inhalt der Gedanken. Wahnideen.
§. 39.

Mit dem Auftreten falscher Urtheile, die nicht mehr berichtigt werden können, wirklicher Delirien, wird die Geisteskrankheit, wenn sie anfangs nur ein Irresein in Gefühlen und Affecten war, zum Irre - sein der Intelligenz. Der falsche, d. h. mit der Aussenwelt und den früheren Erlebnissen des Individuums nicht mehr congruente Inhalt der Gedanken ergibt sich Anfangs ganz gewöhnlich auf die Weise, dass der Kranke, nach dem Causalitätsgesetze, seine Stimmungen und krankhaften Affecte sich zu erklären sucht (§. 18. 35.). Die allerverschiedensten äusseren Anlässe und Ereignisse und alle möglichen Erinnerungen seines eigenen Lebens können das mannig - faltigste Material dieser Erklärungsversuche abgeben, und der Zufall, die Bildungsstufe und die Lebensansichten des Individuums haben hier den grössten Einfluss. Dieselbe Stimmung, z. B. die in dem Abergläubischen den Wahn der Verhexung erregt, kann einem Andern die Ideen einer Verfolgung durch Freimaurer, einer Beeinträchtigung durch geheime magnetische Manipulationen u. dergl. suppeditiren. Von ganz besonderem Einflusse sowohl auf die Bildung solcher Wahnideen überhaupt, als auf ihren speciellen Inhalt sind alle Hallucinationen; sie sind so häufig, bieten ein so lebhaft aufgedrungenes und oft so constantes Material für Erklärungen dar, dass wir erfahrungsgemäss in ihnen den gewöhnlichen Ursprung der Wahnideen finden müssen (z. B. ein Gesichtshallucinant, der feurige Erscheinungen hat, glaubt sich in der Hölle; ein Geruchshallucinant glaubt sich überall von Leichen, deren Ausdünstung er zu riechen glaubt, umgeben, baut darauf weitere Schlüsse etc.).

Auch in den Wahnideen sind besonders zwei grosse Unterschiede ihres Inhalts bemerklich, glückliche, erhabene, glänzende Einbildungen und wieder düstere, traurige und schmerzliche falsche Conceptionen. Die ersteren gehen aus den expansiven Affecten und aus heiteren, Glück verkündenden Hallucinationen, die letzteren aus den deprimirten59Ihre Entstehung.Gemüthszuständen und finstern, Unheil bringenden Hallucinationen, z. B. Schimpf - und Spottreden, die der Kranke immer hört, Teufels - fratzen, die er sieht, u. dergl. hervor.

Die falschen Vorstellungen und Schlüsse, die zu Erklärungs - versuchen werden, entwickeln sich ganz von selbst nach dem Cau - salitätsgesetze in der kranken Seele; es braucht von Seiten des In - dividuums kein Besinnen auf eine Erklärung, noch weniger werden solche Schlüsse nach der langweiligen Form des Syllogismus gebildet. Anfangs sind sie noch schwebend, das Ich appercipirt sie, es kann vor ihnen erschrecken und mit ihnen kämpfen; allmählig aber, bei steter Wiederholung, drängen sie die entgegenstehenden Vorstellungen zurück und knüpfen Verbindungen mit den verwandten Vorstellungs - massen des Ich an; dann sind sie zu dessen Bestandtheile geworden und der Kranke kann sich ihrer nicht, oder nur etwa durch einen Wechsel mit andern ähnlichen, falschen Vorstellungen entschlagen. Die förderlichen, heitern und glücklichen Wahnideen werden natür - lich viel leichter und vollständiger in das Ich aufgenommen, es gibt ihnen früher, nach kürzerem Widerstande nach und es entsteht dann zuweilen ein halbbewusstes Hineinphantasiren in eine Welt glück - licher Träume.

Nicht alle falschen Ideen haben indessen die Bedeutung der Erklärungsversuche; viele entstehen mit der zufälligen Abruptheit der Hallucinationen oder jener sonderbaren, bizarren Gedanken, die sich selbst dem Gesunden mitten in den Kreis seiner ernstesten Beschäf - tigungen eindrängen können; ob sie haften, hängt von der jeweiligen Stimmung des Kranken und davon ab, ob sie in den vorhandenen Vorstellungen mehr oder weniger Material zu Verbindungen finden. Man wird bei gehöriger Aufmerksamkeit, sehr häufig finden, dass auch solche Wahnideen bei den Geisteskranken gewöhnlich mit Hallucina - tionen im Zusammenhange stehen.

Von fixen Ideen sollte nur da gesprochen werden, wo sich die falschen Urtheile vollständig und bleibend fixirt haben, nemlich bei den partiell Verrükten. In der Melancholie, der Tobsucht, dem Wahnsinn, wechseln sie sehr häufig. Alle falschen Urtheile der Geisteskranken zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich auf das Subject selbst beziehen oder wenigstens aus falschen, auf das Subject bezüglichen, Ideen sich herausgebildet haben; sie unterscheiden sich dadurch, wenn auch nicht vollständig, doch zu grossem Theile, von den Irrthümern des Gesunden über objective Verhältnisse. Ein Geisteskranker kann z. B. alle Juden für verdammt halten, aber nur, weil er sich von ihnen beeinträchtigt glaubt oder weil er ihnen diese Strafe dictirt hat; er kann an die Existenz einer Brücke von der Erde zum Monde glauben, aber nur weil er darauf wandeln will, oder weil er mit deren Construction einen Beweis seiner Schöpferkraft gegeben hat etc. 60Allgemeinheit und Partialität des Wahns.Fast alle fixen Ideen sind in ihren letzten Anfängen Ausdrücke einer Beeinträch - tigung oder einer Befriedigung der eigenen Gemüthsinteressen; desshalb führt ihre isolirte Betrachtung, als ob sie die Hauptsache beim Irresein wären, immer zu einer einseitigen und beschränkten Auffassung und ihr Verständniss wie ihre ärztliche Bekämpfung kann sich im einzelnen Falle nur auf die Einsicht in die ihrer Entstehung zu Grunde liegenden psychischen Zustände stützen.

§. 40.

Ob der Kranke nur einzelne wenige oder ob er sehr viele falsche Urtheile preisgibt, ob sein Delirium nur ein partiales oder ein all - gemeines ist, diess ist bei der Auffassung seines Zustandes zu be - achten und kann wenigstens einigen diagnostischen Werth haben, da der erstere Fall häufiger bei Schwermüthigen und Verrückten, der letztere bei Maniacis vorkommt. Allein eine Scheidung der Formen nach der Partialität oder Allgemeinheit des Deliriums vornehmen zu wollen, ist irrig. Vor Allem wäre es grundfalsch, an die Existenz irrer Zustände zu glauben, bei denen der Kranke nur eine einzige beschränkte fixe Idee haben, in allen übrigen Beziehungen aber völlig geistesgesund sein soll. Wir werden unten sehen, dass auch in der Form des Irreseins, wo noch am ehesten dieser Anschein entstehen könnte, nämlich der partiellen Verrücktheit, immer eine tiefe innere Zerrüttung der psychischen Individualität vorhanden ist. Sodann be - steht die Partialität des Wahns ganz gewöhnlich durchaus nicht darin, dass der Kranke nur eine einzige fixe Idee hat, sondern vielmehr darin, dass er eine solche vorzugsweise immer wiederholt äussert. Endlich sind diese Verhältnisse sehr unbeständig. Derselbe Kranke, in derselben Form des Irreseins, kann nicht nur von einem Tage zum andern seine Wahnideen wechseln, er kann auch heute in sehr vie - len Beziehungen falsche Urtheile abgeben, während er vielleicht gestern noch nur in Einer gewohnten Lieblingsvorstellung delirirte.

Die Aufstellung einer Classe der Monomanie*)Vgl. hierüber auch einige richtige Bemerkungen von Monti, Oestreich. Jahrb. 1843. Octbr. p. 64. (gegenüber der Manie), die sich übrigens weniger auf das Vorhandensein einer einzelnen fixen Idee, als auf das einseitige Herrschen eines gewissen Triebes (Mordmonomanie, Stehlmono - manie etc.) bezog, hat mit Beiseitsetzung des wichtigsten Verhältnisses, nemlich des psychischen Grundzustandes, nach äusseren Merkmalen Getrenntes vereinigt und innerlich Zusammenhängendes getrennt und ist desshalb nicht zu billigen.

Das partielle Delirium, das Beherrschtsein von Einem Wahne, der zum Mittel - punkte alles Denkens geworden ist, hat viele Analogie mit dem einseitigen Herrschen eines Gedankenkreises beim Gesunden, bald mehr mit dem zähen Eingenommen - sein für eine gewisse Theorie, die dem Menschen zur Sache der eigenen Persön -61Willensstörungen.lichkeit geworden ist, bald eher mit dem Herrschen gewisser Leidenschaften, z. B. der Liebe, der Eifersucht, dem Stolz, der Genussucht, dem Geiz etc., die in ihren höheren Graden, wenn sie Alles Andere aus der Seele verdrängen, ebenso das geistige Leben veröden, von denen mehrere auch in ihrem Ausdrucke z. B. äusserliche Zerstreutheit bei innerlicher Concentration, Ziererei und Lust an äusserem Prunk, mannigfache Aehnlichkeit mit den entsprechenden Formen des Irreseins haben.

C. Anomalieen des Wollens.

§. 41.

Auch die motorische Seite des Seelenlebens zeigt bei den Gei - steskranken schwere und mannigfaltige Abweichungen vom mittleren Zustande der Gesundheit, sowohl auf demjenigen innerlichen Gebiete, wo deutliches Vorstellen zum bewussten Wollen wird, als auf dem, wo ein undeutlicheres, aber deshalb nicht unkräftigeres Streben (Trieb) durch sensitive Eindrücke und dunkle Gemüthsbewegungen erregt wird.

In ersterer Beziehung stehen sich als Extreme die Willenlosig - keit und das erhöhte, bis zum Schrankenlosen gesteigerte Wollen entgegen. Die Willensschwäche kann aus der Unmöglichkeit, sich zu entschliessen, hervorgehen und diese in Trägheit des Vorstellens oder dem Mangel eines gehörig kräftigen Ich, das mit seinen Vor - stellungsmassen eine schwebende Vorstellung zum Streben determi - nirte, ihren Grund haben. Diese Zustände äussern sich als höchste Bedenklichkeit, Unentschlossenheit, Unfähigkeit, die gewohnten Willens - impulse, z. B. zu den habituellen Geschäften, aufzubringen und sind in den ersten, melancholischen Stadien des Irreseins sehr häufig. Andrerseits entsteht Willenlosigkeit (im Blödsinn) aus der Abwesen - heit klarer Vorstellungen überhaupt; mit dem Denken nimmt auch das Wollen ein Ende.

Die Willenssteigerung äussert sich als grosse Begehrlichkeit, als Thatenlust, als Sucht, Plane zu machen, alle Vorstellungen in Be - strebungen zu realisiren, auch als herrischer Eigensinn und gewalt - thätiges, heftiges Begehren in bestimmten Richtungen, ähnlich den consequenten, starken Willensrichtungen der Leidenschaft. Sie er - scheint in ersterer Beziehung entweder als häufige Aeusserung schwächlicher Velléitäten, oder sie ist wirklich begründet auf ein Gefühl erhöhter körperlicher und psychischer Kraft, grösserer Rüstig - keit und auf ein krankhaft erhöhtes Selbstgefühl. Das letztere ist ganz besonders in der Form des sog. Wahnsinns der Fall.

Ueberhaupt aber bringen jedesmal die krankhaften Gemüths - bewegungen den ihnen entsprechenden Zustand des Strebens mit sich, und dieses ist um so klarer und bestimmter, um so mehr62Krankhafte Triebe.eigentlicher krankhafter Wille, je deutlichere Wahnvorstellungen sich aus den Affecten oder Hallucinationen ergeben haben.

Unter den krankhaften Trieben ist zuerst der heftige Trieb zum Muskelgebrauche, zu körperlicher Bewegung überhaupt zu erwähnen, wie er sich, namentlich in tobsüchtigen Zuständen, als anhaltendes Bedürfniss des unruhigen Hin - und Hertreibens, des Um - sichschlagens, des Schreiens etc. äussert ein Verhalten, das oft genug zu Beeinträchtigung und Zerstörung der Umgebung des Kranken führt, ohne dass es diesem gerade um diesen bestimmten Zweck zu thun wäre. Der Kranke sucht und findet Erleichterung seines inner - lichen Drucks und seiner Gefühlsbelästigung, indem er sie nach aussen wirft (§. 22.); und es reihen sich hieran die Zustände, wo heftige Angstgefühle oder einzelne schreckliche Vorstellungen den Kranken zu einzelnen bestimmten Unthaten treiben. So heftig kann dieser Drang nach irgend einem Ende, irgend einer Entscheidung seines qualvollen Zustandes sein, dass hier gar nicht selten Hand - lungen, die der Kranke im höchsten Grade verabscheut, aus dem Gefühle, dass nur in ihnen noch Rettung und Beruhigung für ihn zu finden sei, begangen werden. Untersucht man indessen, wie man es muss, die einzelnen bekannt gewordenen Fälle, wo Geisteskranke in gefährlichen und verbrecherischen Thaten (Mord, Selbstmord, Brand - stiftung, Diebstahl) ihr Irresein äusserten, näher nach ihren Motiven, so fällt die grosse Verschiedenheit ihrer psychologischen Grundlagen in die Augen; man fühlt alsbald das Ungenügende, solche Fälle, je nach der Art der begangenen Handlungen, einem besondern Mord -, Brand -, Selbstmordtriebe etc. zuzutheilen und das Bedürfniss, sie nach den psychisch-krankhaften Grundzuständen, aus denen sie her - vorgehen, getrennt zu beurtheilen. So fallen dann die einzelnen der - artigen Willensrichtungen bald melancholischen, bald maniacalischen, bald verrückten Motiven zu und wir haben sie bei der Einzelbetrach - tung dieser Formen wiederzufinden.

In solchen Neigungen, Unheil zu stiften, die Kleider zu zerreissen, die Möbel zu zerbrechen, werthvolle Dinge zu verstecken, Anderes zu stehlen etc., wie auch in vielen anderen bizarren Handlungen harmloser Art, (z. B. dem beständigen Aus - ziehen der Kleider) werden die Kranken gewöhnlich von bewussten Motiven geleitet und man darf diese Handlungen nur in den seltensten Fällen für rein automatiseh halten. Entweder sind es Hallucinationen, die ihnen solches anbefehlen, oder das Bestreben, sich durch eine auffallende, kecke That Ruhe vor innerer Beängstigung zu verschaffen, oder eigentliche Wahnideen. Zeller (Bemerkungen zu Guislain p. 490) berichtet eine Anzahl solcher Fälle mit den von den Kranken angegebenen Motiven. Ein Kranker schlug bei uns alle Fenster hinaus, welche er erreichen63Krankhafte Triebe.konnte, und zwar in der grössten Ruhe und Unbefangenheit, um doch Glas zur Verstopfung von Mauslöchern zu bekommen; ein Anderer, um die Gelegenheit zu benützen, einmal nach Herzenslust Kronenthaler schlagen zu dürfen. Ein Anderer zerriss in Ruhe alle seine Hemden, um Charpie für Feldhospitäler zu sammeln; ein Anderer hob den Ofen ab, um seine Pfeife anzuzünden, und setzte ihn dann in aller Gemächlichkeit wieder auf etc. Einer hatte eine Menge Stühle zusammen - geschlagen, und auf meine Frage, wie er denn zu solch unsinnigem Zeug käme, erwiederte er, indem er ruhig an der Fortsetzung dieses Geschäfts fortfahren wollte, ohne aufzusehen, die Philosophie muss den Sieg über die Aesthetik er - langen. In solchen Fällen muss man indessen den Kranken, die mit der An - gabe ihrer wirklichen Motive oft äusserst zurückhaltend sind, nicht zu sehr vertrauen, und manches solche Beispiel erinnert an die Scene in Shakespeare, wo der durch Fragen in Verlegenheit gesetzte Fallstaff immer bei der Antwort bleibt in Steifleinen.

Bei den verbrecherischen Handlungen der Irren ist es der genauesten Be - achtung werth, ob der Kranke auch schon im gesunden Leben einen ähnlichen Hang (z. B. zum Stehlen) gezeigt hat, der nur jetzt, bei aufgehobener Besonnen - heit, unverhüllt ans Licht tritt, oder ob die Lust dazu, erst während des Irreseins entstanden und mit der Genesung dann auch wieder verschwindend, wirklich aus krankhaften Gemüthsbewegungen und Wahnideen hervorging. (S. Jakobi über Stehlsucht in Jakobi und Nasses Zeitschrift. 1837. 1. Heft. p. 179.)

Aus der Aeusserung solcher Neigungen, aus dem freien Hervortreten von Lüsten, die sonst verhüllt werden, aus einzelnen krankhaften Trieben ist sehr Vieles von der Bizarrerie herzuleiten, die das Benehmen der meisten Geisteskranken zeigt. Jene haben ihre Analogieen im gesunden Leben theils in jenen sonderbaren Gewohnheiten und grillenhaften Handlungen, die zuweilen sogar als curiose An - hängsel an grosse, innerlich stets lebhaft beschäftigte Intelligenzen vorkommen, (z. B. den Stoff zu manchen Gelehrten-Anecdoten abgeben) theils aber in den Willensrichtungen und Handlungsweisen der Leidenschaft und des Affects. Hier ist im Einzelnen Stoff zu unzähligen Vergleichungen und man findet bei den Dichtern, welche die affectvollen Zustände des Subjects zum Gegenstande haben, eine Menge beispielsweiser Analogieen. Wenn der Schwermüthige z. B. den Trieb hat, hinaus, fort zu wollen, im Freien herumzuschweifen, weil es ihm daheim zu enge ist und er von äusserer Unruhe und Unstetheit Linderung seines inneren Schmerzzustandes erwartet, so kommt dasselbe beim reellen psychischen Schmerze vor, wo es das Individuum hinaus ins Freie oder gar in ferne Länder, in die Welt, ins Leben hinaustreibt, um in äusserer Unruhe und Umherschweifen die innere Ruhe wieder herzustellen. Eichendorff hat diese Stimmung in einem be - kannten Liede gut ausgedrückt (in dem Verse: Ich möcht als Spielmann reisen etc. Ich möcht als Reiter fliegen etc.); andere Beispiele könnte man in dem Wander - triebe moderner schmerzzerissener Touristen finden.

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Zweites Capitel. Die sensitiven Elementarstörungen.

§. 42.

Unter den für das Irresein so bedeutungsvollen Empfindungs - Anomalieen ist zuerst der verschiedenen Art zu gedenken, wie sich das allgemeine Krankheitsgefühl verhält. In der grossen Mehr - zahl der Fälle fehlt es bei den Geisteskranken vollständig, die mei - sten derselben wollen desshalb auch nicht krank sein und protestiren oft gegen eine ärztliche Behandlung. Ja, in nicht wenigen Fällen schwerer psychischer Erkrankung ist statt eines Krankheitsgefühls viel - mehr ein Gefühl erhöhten Wohlseins, erhöhter Körperkraft und Rüstigkeit vorhanden; solche Kranke (Maniaci) werden häufig bei jedem Zweifel an ihrer vollständigen Gesundheit ärgerlich und aufgebracht, und berufen sich gerne auf ihren vortrefflichen krankhaft erhöhten Appetit, um ihr vollständiges Wohlsein zu beweisen. Diesen Mangel an Krankheitsgefühl beobachten wir bei einer Menge von Gehirnaffectionen, zuweilen nach Kopfverletzungen, ganz gewöhnlich in der acuten Me - ningitis und dem typhösen Gehirnleiden. Auf der Höhe der Krank - heit erhält man hier auf die betreffenden Fragen meist die Antwort, dass es ganz gut gehe, zuweilen sogar die Versicherung, dass man sich sehr täusche, das Individuum für krank zu halten, während dann mit dem Nachlass der Gefahr und allgemeiner Milderung der Sym - ptome ein starkes Krankheitsgefühl, die tiefste Abgeschlagenheit und Ermüdung sich einstellen. Solche pflegen denn auch in der Recon - valescenz aus jenen Formen des Irreseins nicht zu fehlen.

Es gibt dagegen andere Zustände von Irresein, wo es an dem Krankheitsgefühle nicht nur nicht fehlt, sondern dasselbe, im Ver - hältnisse zu den objectiven Symptomen, vielmehr ganz ungewöhn - lich intensiv erscheint. Der Kranke wird dadurch über den ob - jectiven Thatbestand seines körperlichen Befindens getäuscht und er delirirt in falschen Vorstellungen schwerer eigener Erkrankung. So bildet ein unverhältnissmässig starkes oder anhaltendes Krankheits - gefühl eine der Grundlagen der hypochondrischen Zustände, und es ist für dieselben charakteristisch, dass es gewöhnlich nicht bei dem allgemeinen Eindrucke körperlichen Missbehagens bleibt, sondern mit der abwechselnden Richtung der Aufmerksamkeit auf die einzelnen Organe in jedem derselben unangenehme Empfindungen geweckt wer - den. Ganz denselben Zustand der nervösen Centralorgane finden wir in acuter Weise, in den Anfangsstadien der meisten schweren Fieber,65Alterationen des Gemeingefühls.nur mit dem Unterschiede, dass es hier an Zeit für das Fixiren der Aufmerksamkeit fehlt und dass bald durch schwere, objective Sym - ptome das Krankheitsgefühl gerechtfertigt wird.

§. 43.

Zahlreiche weitere Anomalieen des Gemeingefühls schliessen sich an die eben bemerkten an. Einmal jene umfassen - den, ausgebreiteten Umänderungen der körperlichen Selbstempfindung, welche gewöhnlich zugleich mit tiefgreifenden psychischen Leiden (§. 38.) den Wahn einer verwandelten Persönlichkeit begründen: die Kranken halten sich, mit Aufgeben ihrer früheren Person, bald für Thiere (Wölfe, Ochsen etc.), bald für historische Individuen (Napoleon), bald wird der ganze Körper für todt oder wenigstens für einen frem - den, dem Kranken nicht wirklich angehörigen Leib gehalten, bald soll er gar aus unbelebten Substanzen, aus Holz, Glas, Wachs, But - ter etc. bestehen. Anderemale wird nur ausserordentliche Schwere des ganzen Körpers gefühlt, oder es ist dem Kranken, als ob sein leiblicher Umfang ungemein vergrössert wäre, u. dergl. m.

Sodann kommen diese Anomalieen des Gemeingefühls local, auf einzelne Theile des Organismus beschränkt, vor; es ist dem Kranken, als ob ihm einzelne Glieder fehlten oder diese wenigstens dem Or - ganismus nicht mehr in der alten Weise angehörten, als ob er keinen Kopf mehr hätte, als ob ein Arm oder ein Bein versteinert, von Glas wäre u. dergl. Oder ein einzelner Theil wird als ganz ungewöhnlich gross empfunden, und namentlich die Nase soll in manchen Fällen der Gegenstand dieser Täuschung gewesen sein.

Als mehr vorübergehende Zustände werden bei Geisteskranken jene, auch den meisten Gesunden aus Träumen bekannten Empfin - dungen von flugartiger Erhebung in die Luft, von Herabgestürztwerden aus einer Höhe, oder allgemeine Schwindelzustände beobachtet.

Der Sitz und die näheren Ursachen dieser Anomalieen des Ge - meingefühls sind schwierig zu verstehen. In einigen Fällen freilich hängen sie, z. B. das Gefühl von Fehlen eines Körpertheils, mit nachweisbarer Anästhesie des Organs offenbar zusammen; anderemale aber ist die peripherische Empfindlichkeit der Hautoberfläche voll - ständig erhalten, und es mögen dunkle Veränderungen der Muskel - empfindung, die auch im gewöhnlichen Traume eine grosse Rolle zu spielen scheinen, die ursprüngliche Störung sein, deren sich nun die erklärende Reflexion zur Bildung von Wahnvorstellungen bemäch - tigt. Die Verwandlung in Thiere scheint weit mehr psychischen Ur -Griesinger, psych. Krankhtn. 566Beispiele von Alterationen des Gemeingefühls.sprungs zu sein, und die Grundlage dieses Wahns mag auf dem ge - bieterischen Auftreten gewisser Triebe und Eigenthümlichkeiten ein - zelner Thiergattungen, z. B. der Grausamkeit und Wildheit des Wolfs, beruhen; immer aber wird auch hier eine tiefe Abweichung von dem normalen leiblichen Gemeingefühle zur völligen Ausbildung der Wahn - Metamorphose erforderlich sein.

Leuret (Fragm. psychol. sur la folie. Par. 1834. p. 101) hat einige ältere Beispiele dieser sogenannten Lycanthropie zusammengestellt und mit Fällen aus der neuesten Zeit, wo Geisteskranke in den Wäldern herumirrten und in wildem Mordtriebe Kinder zerrissen und verzehrten, auf interessante Weise zusammen - gestellt. Wier erzählt noch aus dem J. 1541 das Beispiel eines Mannes aus Padua, der sich in einen Wolf verwandelt glaubte und auf dem Felde die Vor - übergehenden anfiel und tödtete. Ich bin wirklich ein Wolf, sagte er, und dass meine Haut nicht der eines Wolfs gleicht, kommt nur daher, dass sie um - gekehrt ist und die Haare nach innen stehen. Um sich hievon zu überzeugen machte man allenthalben Incisionen und schnitt ihm Beine und Arme ab, so dass er an seinen Wunden starb.

Die Beispiele, wo sich Geisteskranke für todt hielten und ihren Leib nicht als den eigenen anerkannten, sind zahlreich. Esquirol erzählt von einer Frau, welche glaubte, ihren Körper habe der Teufel geholt: die Hautfläche war voll - kommen unempfindlich. Ebenso in folgendem Falle von Foville: Ein Soldat hält sich für todt seit der Schlacht bei Austerlitz, in der er schwer verwundet wurde. Fragt man nach seinem Befinden, so antwortet er: Sie fragen, wie es dem Vater Lambert gehe; aber es gibt keinen Vater Lambert mehr, eine Kanonenkugel bei Austerlitz hat ihn mitgenommen. Was Sie hier sehen, ist nicht er, das ist bloss eine nachgemachte, schlechte Maschine; machen Sie doch eine andere. Wenn er von sich selbst spricht, sagt er niemals ich, sondern immer das. Die Haut ist unempfindlich und es kamen mehrmals Anfälle mehrtägiger Unbeweg - lichkeit und Empfindungslosigkeit vor.

Ein junger Epileptischer, der auch zahlreiche Hallucinationen des Geruchs und Geschmacks hat, fühlt manchmal eine so ausserordentliche Schwere des ganzen Körpers, das er sich kaum aufrichten kann, anderemale eine solche Leichtigkeit, als ob er sich vom Boden entfernte und aufflöge; mitunter scheinen ihm sein Leib und seine Glieder so enorm vergrössert, dass es ihm unmöglich dünkt, durch eine Thüre durchzukommen. *)Bottex, éssai sur les hallucinations. Lyon 1836. p. 58, 61.

Auch für solche Zustände gibt es Analoga in den acuten Krankheiten. Ein befreundeter Arzt hat uns mehrmals erzählt, wie er, schon bei ganz leichten fieberhaften Affectionen, jedesmal die Empfindung einer bedeutenden Vergrösserung aller Glieder habe.

Ein Reconvalescent von einem Fieber glaubte aus zwei Individuen zu be - stehen, deren eines im Bette liege, während das andere herumgehe; ungeachtet er keinen Appetit hatte, ass er doch viel, weil er zwei Leiber ernähren müsse. (Leuret l. c. p. 95.)

Bei Kranken mit sensitiver Lähmung einer Körperhälfte wird zuweilen der Wahn beobachtet, es liege eine andere Person oder gar eine Leiche neben ihnen67Die Anästhesieen.im Bette (Bouillaud, traité de l’encéphalite. Paris 1825. p. 64). Solche falsche Urtheile gehören bereits zu den alsbald zu betrachtenden sog. Illusionen; weitere Beispiele finden sich im §. 55.

§. 44.

Von den Anästhesieen der Geisteskranken ist noch näher zu sprechen. Die verringerte oder ganz aufgehobene Empfindlichkeit der Haut für Temperatur - und Schmerzeindrücke ist zwar nicht sehr häufig, noch viel weniger allgemein bei den Irren man wird im Gegen - theil bei Einzelnen eine übermässige Schmerzempfänglichkeit finden (Esquirol erzählt einen solchen Fall) und man wird in den Irren - anstalten Winters bemerken, wie, mit ganz wenigen Ausnahmen, die Kranken stets die Wärme suchen. Doch kommen Fälle vorübergehen - der und anhaltenderer Hautanästhesie (wie schon im vorigen §. an einzelnen Beispielen gezeigt) vor, am meisten in melancholischen und blödsinnigen Zuständen, und eine genaue Durchprüfung der Haut - empfindlichkeit an den verschiedenen Körpertheilen sollte nie unter - lassen werden.

Rochoux berichtete neuerlich (Sitzung der Académie de médecine vom 22. Decbr. 1840) einen Unglücksfall, der durch Anästhesie des Kranken entstand. Ein Geisteskranker in Bicêtre brachte, während Niemand im Zimmer war, seinen Kopf an das rothglühende Eisen des Ofens und seine Arme mitten in die innere Gluth. Erst der heftige Gestank zog Leute herbei; der Kranke war ganz gleich - gültig und gab durchaus kein Zeichen von Schmerz, ungeachtet die Arme bis auf die Knochen verbrannt waren.

Ueber eine ganz andere Art von Anästhesie, die weit mehr den geistigen, innerlichsten Act beim Empfinden betrifft, hören wir zu - weilen Geisteskranke, namentlich Melancholische klagen. Ich sehe, ich höre, ich fühle, sagen solche Kranke, aber die Gegenstände gelangen nicht bis zu mir, ich kann die Empfindung nicht aufnehmen, es ist mir, als wäre eine Wand zwischen mir und der Aussenwelt etc. Man findet bei solchen Kranken zuweilen eine Verminderung der pe - ripherischen Hautsensibilität, so dass ihnen die Gegenstände etwas undeutlicher, auch rauh, wollig erscheinen; aber, wenn diess auch immer dabei wäre, würde es zur Deutung jenes Phänomens nicht ausreichen. Jene Abweichungen in der Perception der Empfindungen erinnern vielmehr an die Umänderung, die überhaupt unser geistiges Verhältniss zur Sinnenwelt theils in den verschiedenen Lebensaltern, theils in den Affecten und leidenschaftlichen Zuständen erleidet. Im kindlichen Alter fühlen wir uns der Welt der sinnlichen Erscheinung näher, wir leben unmittelbar mit und in ihr, ein nahes Band eines5*68Hallucinationen und Illusionen.lebendigen Zusammenhangs verknüpft uns mit ihr. Mit der Reife der Reflexion lockert sich dieses Band, die Wärme des Interesses erkaltet, die Dinge sehen uns anders an und wir verhalten uns frem - der zur Aussenwelt, wenn wir gleich sie besser kennen gelernt haben. Die Freude, überhaupt die expansiven Affecte, nähern uns der Sin - nenwelt wieder, Alles macht wieder einen lebhafteren Eindruck, und mit der schnellen, unmittelbaren Rückkehr der wärmsten Receptivität für alles Sinnliche*) Warum doch glänzt um uns das All? Jeglichem Staub sein Herz erschlossen! übt so die Freude eine unmittelbar verjüngende Wirkung aus. In den schmerzlichen Affecten verhält es sich um - gekehrt; die Aussenwelt, lebendig oder unbelebt, erscheint uns plötz - lich kalt und fremd geworden, es ist uns, als ob auch unsre Lieb - lingsgegenstände gar nicht mehr zu uns gehörten, und indem wir von nichts mehr einen lebendigen Eindruck erhalten, finden wir uns noch mehr zur Entfremdung von den Aussendingen und zur inneren Vereinsamung bestimmt. Diesen letzteren Zuständen möchten wir, als ihnen nahe stehend, jene Klagen der Melancholischen analog fin - den, bei denen ihre Intensität, ihre psychische Unmotivirtheit und ihre Andauer den Kranken zu lauter Klage über solche Veränderung seiner Receptivität drängt.

Mehre Beispiele dieser Zustände sind im Capitel von der Melancholie zu ver - gleichen. Sie haben in anderer Beziehung auch wieder ihre Analogie in der Mattigkeit der Sinneseindrücke beim Einschlafen.

§. 45.

Die allgemeinsten und wichtigsten sensitiven Anomalieen in gei - steskranken Zuständen sind aber die Hallucinationen und Illu - sionen, oder die Sinnesdelirien. Unter Hallucinationen versteht man subjective Sinnesbilder, welche aber nach aussen projicirt werden und dadurch scheinbare Objectivität und Realität bekommen; Illusionen nennt man falsche Deutungen äusserer Objecte. Es ist eine Hallu - cination, wenn ich menschliche Gestalten sehe, während in der That kein Mensch in der Nähe ist, oder eine Stimme höre, wo nicht ge - sprochen wurde; es ist eine Illusion, wenn ich eine glänzende Wolke, die eben am Himmel ist, für einen feurigen Wagen halte, oder wenn ich in einem Unbekannten, der in mein Zimmer tritt, einen alten Freund zu erblicken glaube. Den Hallucinationen entspricht gar nichts Aeusseres, sie sind falsche Empfindungen; die Illusionen sind falsche Urtheile, falsche Auslegungen eines peripherisch Empfundenen.

69Realität dieser Empfindungen.

Der Anlass zu dieser Empfindung braucht auch nicht nothwendig in der Aussenwelt, er kann auch im eigenen Organismus liegen. So werden die falschen Deutungen, welchen peripherische (neural - gische, rheumatische) Schmerzen unterworfen werden, zu den Illu - sionen gerechnet, z. B. der Wahn, schwanger zu sein, der aus un - gewohnten Abdominal-Empfindungen hervorgeht, oder jener Fall von Esquirol*)Die Geisteskrankheiten etc. von Bernhard. I. p. 112., wo ein Kranker Schmerzen im Knie hat und nun mit der Faust darauf schlägt, indem er immer ausruft: Warte, Bösewicht, du sollst mir nicht entgehen.

Die genauere Unterscheidung der Hallucinationen und Illusionen rührt von Esquirol her; sie verdient beibehalten zu werden, wenn sie gleich nicht ganz scharf durchzuführen ist. Namentlich im Geschmacksinn und im Hautsinn ist die Unterscheidung oft nicht möglich. Die Literatur über die Sinnesdelirien ist sehr reichhaltig. Esquirol, mehre Aufsätze im Dictionnaire des sciences médicales, in besonderen Abdrücken und in seinen Geisteskrankheiten . Müller, über phantast. Gesichtserscheinungen. Coblenz 1826. Lélut, über folie sensoriale. Gazette méd. 1833. Bird, thatsächliche Bemerkungen über Sinnestäuschungen. Friedreichs Magazin. Heft 17. 1831. Dietz, über die Quelle der Sinnes - täuschungen. ibidem. Heft 3. 1832. Leuret, fragmens psychologiques. Par. 1834. Bottex, sur les hallucinations. Lyon 1836. Marc, Geisteskrankheiten, übersetzt von Ideler. I. 1843. Hagen, die Sinnestäuschungen. Leipzig 1837. Baillarger, in Archiv. génér. 1842. 3. Patterson, annal. med. psycholog. Mars. 1844. Ausserdem die Schriften von Arnold, Reil, Haslam, Hoffbauer, Neu - mann, Friedreich, Jessen, Archambault in Ellis traité p. 180 seqq. etc. ; Sino - gowitz, die Geistesstörungen. Berlin 1843.

§. 46.

Hallucinationen kommen in allen Sinnen, dem Gesicht, Gehör, dem Geruch, Geschmack und der Hautempfindung vor. Bei den einzelnen Kranken sind bald diese, bald jene, häufig mehre, zuweilen alle diese verschiedenen Sinnesthätigkeiten zugleich befallen. Die Hallucinationen sind wirkliche Empfindungen, keine Einbildungen; der Kranke sieht, hört, riecht dabei wirklich, er glaubt nicht bloss zu sehen oder zu hören, und will man das Sinnendelirium mit Vernunftgründen bekämpfen, so erhält man gewöhnlich Antworten, wie sie Leuret von einem seiner Kranken bekam (Fragmens. p. 203): Ich höre Stimmen, weil ich sie höre; wie sie entstehen, weiss ich nicht, aber sie sind für mich eben so deutlich, wie Ihre eigene Stimme; soll ich an die Wirklich - keit Ihrer Reden glauben, so müssen Sie mich auch an die Wirklich - keit jener Reden glauben lassen, denn beide sind für mich in glei - cher Weise fühlbar. So haben für das Urtheil des Hallucinanten70Entstehung und Sitzseine subjectiven Sinnesanschauungen gewöhnlich dieselbe Realität, wie die objectiv von der Aussenwelt dargebotenen, und eben in die - sem Umstande liegt zu grossem Theil die Wichtigkeit und Gefährlich - keit dieser Phänomene. Wir sind gewohnt unsern Sinnen zu trauen und Das für das Wahrste zu halten, was wir selbst sehen oder tasten; Derjenige, dem falsche Sinnesperceptionen untergeschoben werden, dem dadurch das Material seines Vorstellens und Combi - nirens verfälscht wird, tritt eben damit in eine neue Welt des Scheins und der Lüge ein; ihre Unterscheidung von der objectiven Wirklich - keit, nach der sich sein Denken und Handeln richten soll, steht fast niemals (vgl. §. 48.) bei ihm und kann ihm gewöhnlich auch von fremdem Verstande nicht aufgenöthigt werden; er muss der Täu - schung folgen, weil sie für ihn sinnliche Ueberzeugungskraft hat, und nicht nur die aberwitzigsten, tollsten Ideen werden in ihm durch jene geweckt und unterhalten, sondern häufig genug sind auch die gefähr - lichsten Unthaten Folgen der Hallucinationen.

Die Hallucinanten können in jedem Augenblick durch Stimmen oder Visionen zu Gewaltthaten an sich oder Anderen angetrieben werden, z. B. zu Mord in Folge eines gehörten göttlichen Befehls, zu Rachehandlungen für gehörte Schimpf - worte etc. Die Mehrzahl der von Geisteskranken begangenen Verbrechen beruht auch auf Hallucinationen, was bei der ausserordentlichen Häufigkeit dieses Phä - nomens nach Esquirol kommt es bei 80 unter 100 Kranken vor, wir möchten das Verhältniss fast noch höher taxiren nicht zu verwundern ist.

§. 47.

Das Zustandekommen subjectiver Sinnesthätigkeiten ist an sich nichts Ungewöhnliches. Wir wissen aus der Physiologie, dass die Sinnesnerven auf alle Reize in der ihnen einwohnenden Energie reagiren, dass die gedrückte oder congestionirte Retina Licht -, der gereizte Hörnerv Schallempfindungen gibt etc. Werden wir dem - gemäss die Hallucinationen als einfache Producte der Reizung der betreffenden peripherischen Nervenausbreitungen zu betrachten haben? Diess ist unmöglich, einmal und hauptsächlich, weil Hallucinationen bei Aufhebung der peripherischen Sinnesthätigkeit vorkommen,*)Die schon oben erwähnten Beobachtungen Esquirols hierüber sind einer vollständigen Mittheilung werth. Ich behandelte einen alten Kaufmann, der nach einem sehr thätigen Leben im 44sten Jahre vom schwarzen Staar befallen wurde. Einige Jahre nachher verfiel er in Manie; er war sehr bewegt, sprach laut mit Personen, die er zu sehen und zu hören glaubte. Er sah die wunderlichsten Dinge und wurde oft durch seine Visionen sehr entzückt. Im J. 1816 war in der Salpetrière eine 38jährige Jüdin, die von Manie befallen und blind war. so -71der Hallucinationen.dann, weil nach bisher bekannten Thatsachen durch alle jene unmit - telbaren Reize auf den Nerven in der Retina zwar Lichtflecke, feu - rige Kugeln, Farbenbilder u. dergl., aber keine bestimmten, compli - cirten Gestalten (Menschen, Häuser, Bäume etc.), im Ohr zwar Sau - sen, höhere oder tiefere Töne, aber keine geformten Worte oder Melodieen erzeugt werden können. Zu letzterem gehört etwas Wei - teres, nämlich das Mitwirken des Vorstellens, dem allein solche For - men, aus früheren Eindrücken behalten oder neu erzeugt, zukommen können. Jene Projection des Vorstellens, durch welche die entspre - chenden sinnlichen Bilder in dasselbe eingehen, haben wir (§. 15.) als Thätigkeit der Phantasie kennen gelernt; während aber in der Regel diese Acte darin bestehen, dass nur vorgestellte Abgrenzungen und Formen im Seh - oder Gehörfeld entstehen und wir ebendamit nur sehr schwache und abgeblasste Bilder erhalten, so werden hier, durch mannigfaltige Uebergänge der Stärke und Lebendigkeit vermittelt, vom Vorstellen so starke Sinnesthätigkeiten geweckt, dass nun das Eingebildete wirklich leuchtend und farbig, klingend und melodisch wird. Der Sitz aller dieser Vorgänge, der Sitz der Phantasie ist nicht die Retina oder die Gehörnervenausbreitung, sondern das Gehirn selbst und in demselben ohne Zweifel die centralen Ausbreitungen der Sinnesnerven. So müssen wir, im Einklange mit den wichtigen Beobachtungen von Esquirol, die Hallucinationen als cerebale Vor - gänge betrachten.

Indessen ist damit die Sache keineswegs erschöpft. Es gibt nämlich eine Anzahl anderer Thatsachen, welche ganz besonders deutlich bei den Gesichtshallucinationen darauf hindeuten, dass die peripherischen Ausbreitungen der betreffenden Nerven, wo solche unverletzt sind, sich beim Sinnendelirium durchaus nicht unthätig verhalten. Einmal scheinen krankhafte Vorgänge im Auge, welche die Retina mitafficiren, ursprüngliche Anlässe zur Erzeugung von Hal - lucinationen (oder vielmehr Illusionen, die sich dann aber nicht deut - lich von jenen trennen lassen) zu geben. So namentlich in den*)Nichtsdestoweniger sah sie die fremdartigsten Dinge. Sie starb plötzlich; ich fand bei der Section die nervi optici in ihrem ganzen Verlaufe atrophisch. In diesem Fall konnten gewiss keine äusseren Eindrücke stattfinden. Ebenso geht es mit den Tauben; sie glauben sprechen zu hören. Wir haben in diesem Augenblick in der Salpetrière zwei gänzlich taube Frauen, deren einziges Delirium darin besteht, dass sie Tag und Nacht verschiedene Personen hören, mit denen sie sich zanken; oft werden sie selbst dadurch wüthend. Die Geisteskrankheiten von Bernhard. I. p. 116 17.72Entstehung und SitzFällen, wo bei Trübung der durchsichtigen Medien des Auges Ge - sichtshallucinationen beobachtet wurden,*)Vgl. den bekannten, von Bonnet (Essai analytique sur l’âme. Chap. 23.) erzählten Fall eines Greisen, der auf beiden Seiten an Cataract operirt worden war und nur mit dem rechten Auge noch Gegenstände unterscheiden konnte. Er hatte die lebhaftesten Gesichtshallucinationen, ohne an deren Realität zu glauben. Bei einer Kranken, die ich hier beobachten konnte, ist Cataract beider Augen vorhanden und ihr Irresein bewegt sich fast ganz in den vielfältigsten Gesichts - hallucinationen. wo es scheint, als ob jener undeutlichen, verschwommenen, streifigen, wolkigen Bilder, welche die Retina aufnimmt, sich die Phantasie als ihres Materials bemächtigte, um erst an ihnen ihre bildnerische Combination zu äussern. Sodann aber weisen jene nicht seltenen Fälle, wo Gesichts - hallucinationen durch äussere Bedeckung des Auges zum Verschwin - den gebracht werden konnten, weiter auf einen gewissen Antheil hin, den die unverletzte Retina an diesen Phänomenen nehmen kann. Und das Merkwürdigste endlich sind jene, unsers Wissens sehr sel - tenen Fälle, wo bei einer passenden Stellung des Auges die Hallu - cination doppelt gesehen wurde.

Ein Nicht-Irrer, der an häufigen Gesichtshallucinationen litt, erhob sich eines Abends, da er in einem Garten sass, schnell von seinem Sitze und empfand einen leichten Schwindel, der gewöhnlich eintrat, wenn er schnell aufstand. Als der Schwindel vorüber war, sah er die Gestalt eines Mannes, der mit einem langen, blauen Mantel drapirt war, in geringer Entfernung unter einem Baume: nach 1 2 Minuten wurde die Gestalt schwächer und verschwand. Eine halbe Stunde später sah er dieselbe Gestalt unter demselben Baume und in der nämlichen Stel - lung. Er drückte, zum Versuche, den Augapfel einer Seite, ohne andern Erfolg, als dass die Gestalt undeutlicher wurde; aber, als er seine Augen schief stellte, sah er die Gestalt doppelt und in natürlicher Grösse. Er trat nun darauf los, die Gestalt entfernte sich Schritt vor Schritt und verschwand im Schatten eines Baumes. Patterson, l. c. p. 171. Müller bestreitet die Ansicht, dass die Hallucinationen in der Retina ihren Sitz haben. l. c. §. 64 73.

Fälle, wo durch Bedecken des Auges Gesichtshallucinationen aufhörten, sind in ziemlicher Anzahl bekannt. Ein junger Mensch sieht um sich alle Personen des Hofes; er wirft sich zu den Füssen Desjenigen, den er für den Monarchen hält etc.; ich lasse ihm zwei Tage die Augen verbinden, und sein Delirium hört auf. Nachdem die Binde abgenommen, beginnt es von Neuem (Esquirol). Reil (Rhapsodieen) erzählt, dass eine Dame, die Gespenster und Ungeheuer sah, in ein Delirium mit Convulsionen verfiel und dass ihre Kammerfrau, um sie aufrecht zu erhalten, ihre Hand auf die Augen der Kranken legte, und diese sogleich aus - rief: Ich bin geheilt! Dieses erneuerte sich mit demselben Erfolg bei dem Arzte (Esquirol, übers. von Bernhard. I. p. 12). D., 75 Jahre alt, geistig gesund, kommt eines Tages nach Hause, erschrocken über tausend Visionen, die ihn verfolgen. Wohin er blickt, verwandeln sich die Gegenstände in Schreck -73der Hallucinationen.bilder, bald monstruose Spinnen, die nach ihm greifen, um sein Blut zu saugen, bald Soldaten mit Hellebarden etc. Es wird ein Aderlass am Fuss gemacht; die Hallucinationen mit hartnäckiger Schlaflosigkeit dauern fort. Man legt eine Binde über die Augen, sogleich hören sie auf und kehren zurück, sobald die Binde weggenommen wird, bis sie der Kranke eine Nacht und einen Theil des Tages ununterbrochen beibehält. Nun sah er die Phantome nur noch in langen Zwi - schenräumen und nach einigen Tagen verschwanden sie gänzlich; seither blieb der Mann gesund. (Bulletin de thérapeutique. 1842.) Auch Nicoiai’s Visionen verschwanden zuweilen durch Verschliessen der Augen. *)Vgl. auch Leuret l. c. p. 147.

Man könnte diese Fälle, welche den Hallucinationen bei Blinden widerspre - chen, als Illusionen auffassen, womit freilich das physiologische Verständniss derselben nicht viel gefördert ist. Man kann sie als ein central provocirtes Mit - halluciniren der Retinafläche nach einem von der Phantasie gegebenen Schema ansehen, was zwar seine Schwierigkeiten hat, aber auch dadurch unterstützt wird, dass durch die Gesichtsphantasmen hindurch die umgebenden Gegenstände oft wie durch einen Schleier durchgesehen werden. Dass es Vorstellungen sind, welche der Sinnesthätigkeit Form und Gestalt geben, zeigt besonders der Um - stand, dass einzelne Beobachter Hallucinationen willkührlich hervorrufen konnten, d. h. dass vorher als bewusst vorhandene und lebhaft festgehaltene Vorstellungen erkennbar erst die Sinnesthätigkeit erregten. (Vgl. Mayer, Physiologie der Ner - venfaser. Tübing. 1843. p. 237. seqq.). Einzelne Forscher haben die Ansicht bestritten, dass die Phantasie die Hallucinationen erzeuge, indem sie auf den Unterschied aufmerksam machten, der zwischen ihnen und den blossen Einbil - dungen bestehe (Leuret, Hagen); dieser Einwand fällt, indem wir (§. 15.) die phantastischen Vorgänge als eine, nur verschieden starke Mitthätigkeit der inneren Sinnesnervenausbreitungen betrachten. Vgl. Müller. l. c. I. 5. Auch Lélut (l. c.) nennt die Hallucinationen ganz mit Recht vollkommene Umgestaltungen eines Gedankens in meistens äussere Sinneseindrücke, und sehr bezeichnend ist die Antwort, die ein Melancholischer Esquirol’n gab, der ihm über den Irrthum bei seinen Gehörshallucinationen Bemerkungen machte: Mitten in dieser Unter - redung sagte er zu mir: Denken Sie manchmal? Ohne Zweifel. Nun gut, Sie denken ganz leise, und ich, ich denke laut. **)l. c. I. p. 6.

Einen interessanten Uebergang jenes dunkeln, blassen Mithallucinirens der inneren Sinne, welches das Vorstellen im gewöhnlichen Zustande begleitet, zu den Hallucinationen mit objectiver Deutlickheit haben wir bei einem Kranken beobachtet, der, ausserordentlich reich an Visionen und sie mit Liebe pflegend, oft davon sprach, wie manche seiner Erscheinungen nur in Umrissen ohne alle Farbe, andere in dunklen Schattenbildern, noch andere in lebhaften, den äusser - lich gegebenen vollständig gleichenden farbigen Bildern bestehen.

§. 48.

Auf solchen leichteren Unterschieden in der Stärke und Deut - lichkeit der falschen Perceptionen, verglichen mit den objectiven Sinneswahrnehmungen, mag zum Theil das verschiedene Ver -74Hallucinationen Geistesgesunder.halten des Individuums zu seinen Hallucinationen beruhen. Noch mehr Einfluss hierauf aber hat einestheils die Beschaffenheit der Gehirnfunctionen im Ganzen, insoferne sie einen grösseren oder niedereren Grad von Besonnenheit zulassen, anderntheils namentlich die Bildungsstufe und die Lebensansichten, die das Subject früher hatte.

Hallucinationen kommen durchaus nicht bloss in geistes - kranken Zuständen vor. Dass der Traum, auf den wir unten noch einmal zurückkommen , der Rausch, der Schwindel und ana - loge Zustände Sinnesphantasmen vorführen, ist bekannt. Aber auch abgesehen hievon sind Hallucinationen bei Nicht-Irren durchaus nichts Seltenes. Der allbekannte Fall von Nicolai, die schon er - wähnte, von Bonnet erzählte Thatsache, mehre der Fälle von Patter - son, alle religiösen Visionen u. dergl. sind Beispiele hiefür. Nichts wäre irriger, als einen Menschen desswegen, weil er Hallucinationen hat, für geisteskrank halten zu wollen. Die vielfältigsten Erfahrungen zeigen vielmehr, dass gerade im Leben geistig hochstehender und ausgezeichneter Menschen von verschiedenster Geistesrichtung und Gemüthsart, namentlich aber von sinnlich warmer und kräftiger Phan - tasie, Ereignisse der erwähnten Art sich finden. Tasso, der in Manso’s Gegenwart jenes lange Zwiegespräch mit seinem Schutzgeist führte, Göthe’s bekannte (hechtgraue) Selbstvision und seine phan - tastisch sprossenden idealen Blumen, Walter-Scotts Erscheinung, die ihm seinen verstorbenen Freund Byron in den Falten eines Vor - hangs vorführte, Jean-Pauls zum Fenster herabsehender kindlicher Mädchenkopf,*)Jean Paul, Museum. Blicke in die Traumwelt. Anmerkung zu §. 3. Benvenuto-Cellini’s Sonnenvision mögen als Bei - spiele aus dem Leben von Künstlern gelten. Spinoza**)Spinoza, Epistola XXX. an Peter Balling., Pascal***)Seit einem gefährlichen Sturze auf der Brücke von Neuilly sah Paseal stets einen Abgrund vor sich. hatten Hallucinationen, Van-Helmont sah seine eigene Seele als ein Licht mit menschlichem Gesicht, Andral†)Die specielle Pathologie, übers. von Unger. III. 1837. p. 140. erzählt von sich selbst ein Gesichts -, Leuret aus eigener Erfahrung ein Gehörsphan - tasma;††)Fragmens psycholog. p. 135. und nach unsern individuellen Beobachtungen sind wir geneigt, sie auch bei geistig wenig hervorragenden Menschen als nicht ganz seltene, aber häufig übersehene Phänomene zu betrachten. †††)Der Verf. dieser Schrift erinnert sich etwa aus seinem 7ten Lebensjahre einer Gesichtshallucination; seither erfuhr er nichts mehr dergleichen, bis

75Verschiedenes Verhalten zu den Hallucinationen.

Zu solchen Hallucinationen nun verhält sich der Gesunde ent - weder ruhig betrachtend, indem er sie als subjectiv entstanden an - erkennt (Nicolai, etc.); oder er glaubt an ihre Realität, indem ent - weder seiner Reflexion die Prämissen fehlen, nach denen diese Phä - nomene beurtheilt sein wollen, indem Aberglaube, Trägheit des Denkens, Lust am Wunderbaren die richtige Auffassung trüben und hemmen, oder gewisse Stimmungen, Leidenschaften und Affecte, Furcht, Zorn, Freude u. dergl. die Besonnenheit und die ruhige Betrachtung überhaupt aufheben, oder auch, indem Hallucinationen mehrer Sinne, des Gesichts, Gehörs, des Hautsinns, sich unterstützen und so die Mittel zur Berichtigung des einen Irrthums selbst ver - fälscht werden.

Hallucinationen allein, auch wenn sie für wahr gehalten wer - den, genügen noch durchaus nicht, um geisteskrank zu sein; hiezu ist weiter eine allgemeine, tiefe psychische Verstimmung, oder es sind ausgebildete Wahnvorstellungen erforderlich. Aber für wahrgehaltene Hallucinationen sind allerdings ein sehr naher Schritt zum Irresein, und besonders da, wo schon eine krankhafte Verstimmung besteht, in den noch mässigen Anfangsstadien des Irreseins, haften und zün - den die Hallucinationen so leicht, dass sie dann sehr häufig für Ur - sachen der ganzen Krankheit gehalten werden. Nach unserer Be - trachtungsweise möchten wir ihnen nur in seltenen Fällen diese Stel - lung anweisen, wir glauben vielmehr die Hallucinationen schon als Symptome der, wenn gleich oft noch mässigen Gehirnreizung, an - sehen zu müssen. Jedenfalls aber ist die Thatsache richtig, dass sie sehr häufig gerade in der ersten Periode des Irreseins auftreten und dass mit ihnen, mit der Verfälschung der Aussenwelt, der Kranke häufig erst anfängt, wirklich zu deliriren.

Von den Geisteskranken werden die Hallucinationen fast immer für Realitäten gehalten; doch geben sie in einzelnen Fällen, nament - lich im Anfang, deren krankhafte Natur zu. Man hört wohl auch zu - weilen den Ausdruck; der Kranke wisse wohl, dass das kein gewöhn - liches Hören oder Sehen sei, es sei ein geistiges Hören*)Auch Shakespeare lässt Hamlet dem Horatio auf seine Frage, wo er das Gespenst sehe, erwiedern: Im Auge meines Geistes. u. dergl.,†††)während der Abfassung dieses Capitels, wo zum ersten und bis jetzt einzigen Male eine Gehörshallucination, nur aus einem einzigen Worte bestehend, aber mit höchster Deutlichkeit, auftrat. Der Eindruck war kaum verschieden von dem, den die Worte bei einer Unterredung machen nur dem Ohre näher schien die Stimme zu sein.76Beispiele von Hallucinationen.oder der Kranke beklagt sich bitter, dass ihm durch fremde Bosheit, durch eingenommene Medicamente u. dergl. solche schlimme Erschei - nungen gemacht werden, womit er auf seine Weise die Ueberwäl - tigung durch ein psychisches Ereigniss, das seinem Ich noch als fremdes gegenüber steht, ausdrückt. Die merkwürdigsten Fälle aber sind die, wo der Kranke sogar die subjective Entstehung der Hallu - cinationen anzugeben weiss, aber sie doch für reell hält. Einzelne geben an, die Stimmen gehen in ihrem Kopfe vor sich;*) C’est un travail qui se fait dans ma tête. Leuret. l. c. p. 162. Auch wir haben erst neuerlich einen solchen Fall gesehen. Der Kranke hörte mehre Menschen in seinem Kopfe mit einander sprechen; er glaubte auch mehrmals in der Gegend seiner Herzgrube sitze ein ganzer Tisch voll Personen am Essen. anderemale und nicht ganz selten ist es dem Kranken, als entstehen die Stimmen im Epigastrium, und als werde von dort aus, freilich nicht auf ge - wöhnliche, sondern eine ganz neue Weise zu ihm gesprochen. **)Leuret. l. c. p. 177. In einem anderen Fall (Lafargue, Gaz. med. 1841. p. 713) kamen dio Gehörshallucinationen aus der Herzgegend.Bei allen diesen Angaben kommt sehr viel auf die grössere oder geringere Fähigkeit des Individuums, sich zu beobachten und sich Rechenschaft von seinen Seelenzuständen zu geben, an.

Wir wollen noch einige Beispiele von Hallucinationen bei Nicht-Irren anführen. (Patterson l. c.)

Herr H. las eines Tages in Commines Geschichte von Burgund. Nach dem Fenster aufblickend gewahrte er auf einem Stuhle am Fenster einen Schädel; er wollte läuten und sich erkundigen, wer denselben hergebracht habe, gieng aber vorher darauf zu, um ihn zu untersuchen. Als er mit der Hand darnach griff, war er verschwunden. H. erschrack dann fast bis zur Ohnmacht. Vierzehn Tage darauf sah H. in einem Hörsaale der Universität Edinburg wieder den Schädel auf einem Pulte liegen, so dass er zu seinem Nachbar sagte: Zu was mag wohl der Professor heute einen Schädel brauchen? Ein andermal hatte H. der Section eines Jugendfreundes beigewohnt. Drei Monate nachher wollte er eben zu Bette gehen, als er auf seinem Tisch eine Einladung zum Leichen - begängniss der Mutter jenes Freundes fand. Kaum hatte er das Licht gelöscht, so fühlte er sich am Arm unterhalb der Schulter gepackt und diesen stark an die Seite gedrückt. Er suchte sich loszumachen und rief: Lasst meinen Arm. Nun hörte er eine deutliche Stimme: Fürchtet Euch nicht. Er erwiederte sogleich: Erlaubt, dass ich ein Licht anzünde. Dann ward der Arm losgelassen, H. stand auf, empfand aber heftigen Schwindel und grosse Schwäche. Als er Licht ge - macht hatte, sah er an der Thüre das Gesicht jenes Jugendfreundes, doch nicht vollständig deutlich, als ob ein Schleier darüber läge. Die Gestalt wich zurück, je mehr H. sich ihr näherte, dieser verfolgte sie die Treppe hinab, bis an die Hausthüre, wo er aus Schwindel niedersank. Später trat ein heftiger Schmerz über den Augenbraunen, Fieber und Schlaflosigkeit ein.

77Beispiele von Hallucinationen.

Ein Südländer, im kräftigsten Alter und vollkommen gesund, besuchte eines Tages einen Nachbar. Als er zur Eingangsthüre hereingetreten war, schlüpfte die Gestalt einer weissgekleideten Frau an ihm vorüber; sogleich darauf eine zweite und dieser folgte eine dritte. Als er mit der Hand nach dieser griff, ver - schwand sie. Kurz darauf gieng der Mann durch einen Park; er sah hier mehre Esel weiden; er wollte einem davon auf den Rücken klopfen, und war sehr bestürzt, nichts zu erfassen. Sie zeigten sich noch vor seinen Augen und er wiederholte mehrmals vergeblich den Versuch, sie zu berühren.

Folgender Fall bietet ein vortreffliches Beispiel zahlreicher Hallucinationen und Illusionen einer Geisteskranken und zeigt sehr schön die Entstehungs - weise der falschen Vorstellungen aus ihnen (Bergmann, Bemerkungen einer irre gewesenen Person über ihren geisteskranken Zustand. Friedreichs Archiv für Psychologie. 1834. Heft I. p. 15 seqq.). Die Kranke erzählt selbst:

Einmal war ein Gewitter. Wie war das Unwetter aber so verschieden von allen, die ich vor - und nachher gesehen habe! Die heraufsteigenden Wolken schienen mir Meereswogen zu sein, die von Schevelingen aus dem Meere herauf bis an die Wolken sich erhoben und oben in den Lüften mit einander kriegten, während eine feindliche Flotte am Ufer mit den Einwohnern einen Kampf auf Tod und Leben begann, denn diess war der entscheidende Moment für Hollands Wohlfahrt, die mir schon ganz zerstört schien. Ich hörte keine Donner, sah keine Blitze, sondern förmliche Feuerschlünde sich öffnen und laute Canonaden auf einander folgen etc. Als ich später meine Wäsche und Kleider aus dem Koffer leerte, sah ich deren eine ausserordentliche Menge und auch ein Tisch - gedeck, das doch in C. zurückgeblieben war. Als nun am andern Tage viele Sachen fehlten, die ich mir einbildete, in den Händen gehabt zu haben, glaubte ich bestohlen zu sein etc. Eines Abends lag ich im Bett und schaute wachend immer nach meiner Aufwärterin, dem vermeintlichen Gespenste; da fieng das Talglicht sehr stark zu laufen an, ich sah den Talg jedoch nicht von dem Lichte, sondern aus einem Loche in der Wand laufen, und zwar in solcher Menge, wie ein durchbrechender Strom, wesshalb ich denn mit Geschrei behauptete, man wolle mich ersticken. Hierauf fiel ich in den Wahn, dass man die Luft ver - giften wolle, und von dem Augenblicke an hatte ich in der Nase einen süsslich - widrigen Geruch, allen Speisen schmeckte ichs an und bildete mir ein, das Fleisch, welches man brachte, sei Menschenfleisch etc. Die Gebäude, welche ich aus meinem Zimmer sehen konnte, zeigten mir eine kleine irdene Rauch - pfeife, welche oben aus dem Schornsteine ganz sichtbar hervorragte, und daher in mir die schreckliche Ide erzeugte, es sei diese Pfeifenröhre das einzige Luft - loch, wesshalb alle Menschen, welche hineingiengen, von mir so angesehen wur - den, als wolle man sie darin ersticken, u. dergl. m.

§. 49.

Was die näheren Umstände betrifft, unter denen die Hallu - cinationen vorkommen, so sind hier besonders folgende Momente zu berücksichtigen.

1) Oertliche Krankheiten des betreffenden Sinnorgans können zur Quelle von Sinnesdelirien werden; es ist daher in dieser Beziehung stets eine genaue Untersuchung des Kranken nothwendig.

78Ursachen der Hallucinationen.

2) Alle tiefen Erschöpfungszustände auf geistiger oder leiblicher Seite scheinen das Auftreten der Hallucinationen zu begünstigen. Wie die strenge Ascese aus religiösen Motiven in früheren Jahrhunderten zahlreiche Hallucinationen hervorbrachte, so sehen wir heute noch ganz besonders häufig nach Exaninitionen, langem Fasten, sexueller Erschöpfung, tiefer, geistiger Ermüdung etc., Sinnendelirien auftreten. Ganz besonders werden diese durch gleichzeitige psychische Concen - tration, durch inbrünstig festgehaltene abergläubische Vorstellungen befördert (Benvenuto-Cellini. Viele Teufels - und religiöse Visionen).

3) Die krankhaften affectartigen Zustände, aus denen das Irresein so häufig besteht, rufen Hallucinationen und Illusionen in der - selben Weise hervor, wie die analogen Zustände, Furcht, Schrecken etc. beim Gesunden die Sinneswahrnehmung trüben und neue falsche Sinnesbilder wecken.

4) Ein besonders wichtiges Verhältniss ist das Entstehen der Hallucinationen zwischen Schlaf und Wachen. Ihr Vorkommen unter diesen Umständen bei Gesunden ist bekannt und besonders J. Müllers Beschreibung dieser Vorgänge aus eigener Erfahrung häufig physio - logisch besprochen. *)S. Müller, phantastische Gesichtserscheinungen. Blumröder, über Ein - schlafen, Traum, Schlaf etc. in Friedreichs Magazin. 1830. III. p. 87.Die Beobachtung zeigt, dass sie auch bei Geisteskranken sehr häufig während des Einschlafens entstehen, und dass namentlich ihr erster Anfang sich oft in diese Zeit datiren lässt. **)Baillarger, Archives géner. 1842. III. p. 354.Wenn sie unter diesen Umständen, in der Anfangsperiode des Irre - seins, längere Zeit gedauert haben, werden sie häufig anhaltend, kommen nun auch bei völligem Wachen und erregen Delirien; in einzelnen seltenen Fällen sah man aber einen Manieanfall schon am ersten Tage den zwischen Schlaf und Wachen aufgetretenen Hallu - cinationen folgen. Wie aber bei den zu Hallucinationen Disponirten zuweilen schon das blosse Schliessen der Augen genügt, um solche hervorzurufen (Göthe und J. Müller erzählen dieses von sich selbst***)Müller, l. c. p. 21, 27., so fand man zuweilen auch bei Geisteskranken, dass das einfache Niederschlagen der Augendeckel die Hallucinationen erscheinen liess (Baillarger l. c.) Fälle, die den im §. 47. mitgetheilten, wo die Gesichtsphantasmen durch Schliessen der Augen verschwanden, gegen - überstehen und von Neuem an die grosse Mannigfaltigkeit in den verwickelten Phänomenen der Hallucinationen erinnern.

79Inhalt der Hallucinationen.

§. 50.

Der Inhalt der einzelnen Hallucinationen richtet sich in der Regel nach der eben vorhandenen Stimmung und Gedankenrichtung;*)Shakespeare lässt auch den Macbeth, der den Dolch packen will, sagen: Es ist nichts da, Es is der blutge Vorsatz, der mein Auge So täuscht. auch in ihnen ist der Unterschied der heitern und traurigen Erregung ziemlich durchgeführt, und nicht viele Sinnendelirien sind von ganz indifferenter Beschaffenheit. Der Melancholische hört häufig Schimpf - worte, Drohungen oder Stimmen, die ihn zu einer grässlichen That auffordern, dem Maniacus kommen durch die Hallucinationen Bestä - tigungen seiner gehobenen Stimmung zu, knrz der herrschende Affect (Furcht, Sehnsucht, Freude) bestimmt hier die Modalität der Phan - tasmen. In prognostischer Beziehung ist dieser Umstand wichtig: die Beobachtung lehrt, dass die Hallucinationen, welche auf diese Weise auf einem gegebenen krankhaft affectartigen Zustande beruhen, auch mit diesem wieder zu schwinden fähig sind, während die selb - ständigen, nicht mit Gemüthsbewegungen zusammenhängenden Hallu - cinationen nur sehr selten eine wirkliche Heilung zulassen, und meist als wesentliche Elemente in den Zustand anhaltender Verrücktheit eingehen.

In Zuständen grosser Abspannung, nach langen Schmerzen, vor dem Tode u. dergl., beobachtet man häufig heitere, glänzende Hallu - cinationen; verschiedene andere organische Zustände, Genitalienrei - zung, Speisebedürfniss u. dergl., bestimmen in anderer Weise den Inhalt der Sinnendelirien, die nun die adäquaten Bilder, Töne etc. vorführen.

Bekannt ist die merkwürdige Specifität gewisser Hallucinationen nach bestimmten vorausgegangenen Ursachen. So sind dem Säufer - wahnsinn die Visionen von Thieren, Mäusen, Ratten, Vögeln etc., sehr gewöhnlich; man könnte geneigt sein, dieselben für phantastische Umbildungen schwarzer Scotome zu halten, wenn nicht, auch nach unsern Beobachtungen, häufig auch grosse Thiere, gleichfalls in gan - zen Heerden, Pferde, Hunde, eine Million Ochsen u. dergl. gesehen würden. Auch die Phantasmen nach Einnehmen der Datura, der Belladonna, ganz besonders aber des Hachich, haben eine gewisse Specifität.

Sehr gewöhnlich ist ein religiöser Inhalt der Hallucinationen. Dem Phantasten offenbart sich sein Göttliches in Gebilden der Phan -80Gesichtshallucinationen.tasie und der höchste Inhalt des menschlichen Gemüths findet am liebsten in selbsterzeugten Bildern seine Bestätigung. Bei Geistes - kranken sind Stimmen vom Himmel, bald Menschenopfer heischend, bald messianische Sendungen dem armen Wahnsinnigen verkündend, ausserordentlich häufig; ihr näherer Inhalt wechselt nach der Bildungs - stufe, und es kommt hier viel darauf an, ob sich der Mensch früher mehr an die Apocalypse oder an Tiedges Urania, an Byrons Engel oder an Eschenmaiers Teufel hielt. Im Allgemeinen ist unser Jahr - hundert der Anerkennung einer Realität der geisteskranken Visionen von Seiten Anderer nicht günstig; doch kam noch in unsern Zeiten (1816) der Fall vor, dass ein Hallucinant nicht nur bei der Volks - masse für einen Inspirirten galt, sondern sogar von einem Erzbischoff und einem Polizeiminister für einen göttlichen Gesandten gehalten wurde, und als solcher mit einem König (Louis XVIII. ) über Staats - angelegenheiten conferirte.

S. die Geschichte des Bauern Martin, bei Leuret. l. c. p. 171. Während er sein Feld düngte, erschien ihm eine Gestalt, die ihn aufforderte, den König von Gefahren für seine Person, von Staatscomplotten u. dergl. zu unterrichten. Pinel erklärte, nachdem die Sache in Paris das grösste Aufsehen gemacht, Martin leide an intermittirender Manie mit Hallucinationen; er ward nach Charenton ge - bracht; aber auch dort fand er Gläubige, und sogar unter den Aerzten!

Wir geben im Folgenden weitere Beispiele von Hallucinationen und Illusionen der Irren nach den einzelnen Sinnen. *)Vgl. hierzu besonders die Schriften von Esquirol, Hagen, Leuret Sinogowitz.

§. 51.

Gesichtssinn. Die einfachsten Fälle sind die, wo die Kran - ken Feuer - oder Lichtmassen sehen. Je nach Umständen, nach der schon gegebenen Richtung der Vorstellungen wird diese Erscheinung verschieden ausgelegt; Einige glauben sich im Himmel und sehen die Herrlichkeit Gottes leuchtend geoffenbart, Andere wähnen sich von den Flammen der Hölle umgeben. Ein Mädchen sah während ihrer Menstruation ihr elterliches Haus (wirklich) abbrennen; sie wird als - bald rasend, will sich in das Feuer stürzen, erkennt Niemanden mehr und glaubt selbst zu brennen. Ins Krankenhaus gebracht, erfüllt sie dieses mit entsetzlichem Feuergeschrei, indem sie selbst Flammen - qualen zu erleiden und ihre Eltern diesen preisgegeben glaubt. Sie raste und tobte fort, und schrie beständig: Seht, wie Alles brennt; alle Stadtspritzen können das Feuer nicht löschen, das uns Alle81Gesichts-Gehörshallucinationen.verzehren muss! Sie starb nach vier Wochen, und Feuer! Feuer! waren noch ihre letzten Worte. *)Sinogowitz. l. c. p. 258.

Ein gewisser P. hat tausenderlei Visionen. Gottes Sohn erscheint ihm manchmal, er sieht ihn auf Wolken getragen, von Engeln um - geben, ein Kreuz in der Hand. Er vertraut ihm seine Befehle, aber nicht durch Worte, sondern durch Zeichen, die in der Luft er - scheinen. Er zeichnet die Gestalten, die er in der Luft sieht; es sind bald geometrische Figuren, bald Thiere, bald Wirthschaftssachen, Blumen und musicalische Instrumente, bald sind es bizarre Figuren, denen nichts ähnlich sieht, etc. (Esquirol.)

Ein Anderer schreibt: Ich sah mehrmals Gott den Vater, der die Güte hatte, mit mir zu sprechen er gieng in verschiedene Höhlen, wo er mehre ungeheure Thiere tödtete und Löcher zugraben liess, aus denen man, wie ich glaube, falsche Orakel gab. Ich sah mehremal im Himmel Johannes den Täufer in einem Wagen mit sieben Pferden, etc. **)Esquirol, l. c. p. 100, 102. Vgl. auch die von Hirsch mitgetheilte Selbst - beschreibung eines Visionärs von seinen Erscheinungen. Nasses Zeitschr. für Anthropol. 1832. Heft 1.

Ein Herr, der von hypochondrischer Melancholie befallen war, schlug unaufhörlich mit seinem Stock auf die Möbel seines Zimmers. Je schneller er gieng, desto mehr schlug er. Ich erfuhr später, dass er den Schatten, der von den Möbeln auf den Fussboden fiel und den er selbst warf, für Ratten hielt. Je mehr er gieng, desto mehr glaubte er, dass die Ratten sich vermehrt hätten. ***)Ibidem p. 129.

Der Sitz der Gesichtshallucinationen muss die innere Ausbreitung der Seh - nerven sein. Die anatomischen Thatsachen sind dürftig; bei Scctionen muss die Oberfläche der thalami, der corpp. quadrigemina und ihrer Umgebung besonders berücksichtigt werden. In einem Falle von Bright (Guys hosp. rep. 1837)†)Bei Sinogowitz, l. c. p. 257 citirt. fand sich bei einem Kranken, der nach zwei apoplectischen Anfällen an Gesichtshalluci - nationen gelitten hatte, ein ½″ grosser, bis an die Oberfläche dringender Heerd im corpus genicul. infer.

§. 52.

Gehörsinn. Die Gehörsphantasmen sind nicht ganz so häufig, wie die des Gesichts; am meisten beobachtet man sie bei Schwer - müthigen und Verrückten; bei jenen sind sie zuweilen Anlässe zu tobsüchtigem Ausbruch. Sie weisen meist auf eine schwerere, weni - ger heilbare Gehirnaffection hin, und werden zudem oft sehr langeGriesinger, psych. Krankhtn. 682Gehörs-Geruchs-Hallucinationen.verborgen gehalten, bis sich einzelne Wahnvorstellungen vollkommen fixirt haben. Man will sie besonders häufig in Verbindung mit Unter - leibs - und Genitalienkrankheiten beobachtet haben; die anatomische Deutung würde dieser Thatsache, wenn sie genau erwiesen würde, entgegenkommen (Zusammenhang im Cerebellum). Man findet bei den Gehörshallucinanten auch meistens noch viel abentheuerlichere Gespinste von Unsinn, als die übrigen Phantasmen erzeugen, und solche Kranke zeigen oft das sonderbarste, grillenhafteste Benehmen. Sie antworten ihren Stimmen mit freundlichen oder drohenden Ge - berden oder Worten, oft werden sie plötzlich ruhig und aufmerksam gespannt, um zu horchen, und man sieht sie die bizarrsten und gefährlichsten Handlungen begehen, die ihnen jene Stimmen anbefehlen.

Ein junger Mann hatte seit sechs Monaten, nach einem Anfall hitziger Manie, kein Wort gesprochen, keine willkührliche Bewegung ausgeführt, als er eine volle Flasche ergriff und sie dem Wärter an den Kopf warf. Er blieb unbeweglich und schweigsam und genas nach einigen Monaten. Ich fragte ihn, wess - halb er mit der Flasche geworfen hätte? Weil ich, erwiederte er, eine Stimme hörte, die mir sagte: Wenn du Einen tödtest, wirst du gerettet werden. Ich hatte den Mann, den ich treffen wollte, nicht getödtet, also konnte sich mein Schicksal nicht ändern, ich blieb schweigend und unbeweglich; übrigens wieder - holte dieselbe Stimme ohne Unterlass: Rührst du dich, so bist du des Todes. Diese Drohung war die Ursache meiner Unbeweglichkeit. (Esquirol.) Vgl. auch bei diesem Beobachter den bekannten Fall des französischen Präfecten. l. c. I. p. 96.

Anderemale hören die Kranken himmlische Harmonieen, Sphären - klang, Conzerte; häufig sind es Schimpfworte, Anklagen, lose Reden und Unanständigkeiten, über die sich weibliche Kranke oft aufs Bitterste beklagen. Bei den Gehörsillusionen werden vorhandene Geräusche im Sinne der herrschenden Stimmung oder Wahnvorstellung travestirt, z. B. ein Geräusch auf der Treppe wird den Gerichtsdienern zu - geschrieben, welche den Kranken verhaften sollen u. dergl. m. *)In der Erwartung von Schiller sind die einfachen Gehörsillusionen des Gesunden auf eine Art, die als Beispiel dienen kann, geschildert.

Die Ursprungsstelle dieser krankhaften Gehörsphänomene wird man am wahr - scheinlichsten in den 4ten Ventrikel und seine Umgebung zu verlegen haben, unge - achtet an anatomischen Gründen für eine solche Hypothese nicht viel vorliegt**)Foville behauptet, Verwachsungen der Oberfläche des cerebellum mit den Häuten gefunden zu haben. Vgl. die Arbeiten von Bergmann.. In einigen Fällen konnten Gehörsphantasmen durch Verstopfen des äusseren Gehörs - gangs sistirt werden; anderemale fand man sie bei Tauben. (S. oben.)

§. 53.

Geruchsinn. In diesem Sinne sind die Hallucinationen sel - tener, als in den vorhin betrachteten, sie scheinen auch mehr den83Geruchs-Geschmackshallucinationen.Anfangsstadien des Irreseins anzugehören. Fast immer sind es wid - rige Gerüche, die die Kranken percipiren, Schwefelgeruch, Kohlen - dampf, aashafter Gestank u. dergl. Der Wahn, in einer vergifteten Atmosphäre zu leben, von Leichen umgeben zu sein u. dergl., ist die häufige Folge dieser Hallucinationen. Leuret (l. c. p. 198) er - zählt den Fall einer Frau, welche die entsetzlichen Gerüche, die sie empfand, der Fäulniss gemordeter Leichen in den Souterrains der Salpetrière zuschrieb; äusserlich dargebotene Gerüche unterschied sie wohl und ward von ihnen wie früher afficirt. Wir haben einen ganz ähnlichen Fall bei einem jungen Manne gesehen.

Sinogowitz*)l. c. p. 297. erzählt folgendes interessante Beispiel eines Irre - seins, das zum grössten Theile auf Geruchsphantasmen beruhte:

K., ein früher lebenslustiger und geselliger Mann, war seit einem Jahre all - mählig nachdenklich, schweigsam, reizbar, menschenscheu geworden, gebrauchte oft heimlich Arzneien und zeigte immer deutlicheren Argwohn gegen seine Um - gebung. Endlich erklärte er öffentlich: Ich fühle mich in hohem Grade krank, durch eine, mein Innerstes zerstörende Fäulniss körperlich ganz zerrüttet. Meine Umgebung behandelt mich desshalb mit Hohn und Verachtung und meidet meine Nähe, weil ich einen verpestenden Geruch verbreite. Er führte ein einsames, trauriges Leben, sein Wahn befestigte sich immer mehr, und er erklärte sich seine Krankheit durch Ansteckung mit Rotzgift. Er reiste in eine fremde Stadt und begab sich auf einen Spaziergang, um die Begegnenden zu prüfen, ob sie sich auch mit Abscheu wegen seines übeln Geruchs von ihm abwenden würden. Als zufällig ein Vorübergehender sein Taschentuch gebrauchte und ihn dabei ansah, fuhr K. ihn heftig an, nannte ihn einen hartherzigen Spötter, einen lieblosen Menschenverächter und gab ihm eine Ohrfeige. Er ward nun als geisteskrank erkannt; man fand, dass er für äussere Gerüche unempfindlich war; er gab an, nur seinen eigenen, dem Pferdeurin ähnlichen Gestank zu riechen und klagte auch über dergleichen Geschmacksempfindungen. Der Kranke trieb dabei rück - haltslos Onanie, fing bald an, über anhaltenden dumpfen Kopfschmerz zu klagen und abzumagern, und ward endlich blödsinnig.

Geschmacksinn. In diesem Sinne sind wirkliche Halluci - nationen von den Illusionen, der falschen Beurtheilung wirklicher objectiver (durch Zungenbeleg, Anomalieen der Mundsäfte entstan - dener) Geschmackseindrücke nicht zu unterscheiden. Auch hier sind es gewöhnlich sehr unangenehme Geschmacksempfindungen, über welche die Kranken klagen. Sie behaupten, Alles schmecke wider - lich, metallisch, scharf, faulig, sandig, erdig u. dergl., und gründen hierauf den Wahn einer Vergiftung, Hass gegen ihre Umgebung und häufig den, wegen der baldigen übeln Folgen für den Organismus immer so bedenklichen Entschluss der Nahrungsverweigerung. 6*84Illusionen des Hautsinne.Sehr selten sind die Fälle, wo Geisteskranke in angenehmen Ge - schmacksempfindungen, dem vermeintlichen Genusse von Delicatessen, deliriren.

Esquirol spricht von solchen Fällen; der einzige, von Leuret angeführte Fall (p. 197) dürfte kaum als Beispiel hiefür gelten können.

§. 54.

In der Haut und den Eingeweiden lassen sich Hallucinationen und Illusionen nicht mehr unterscheiden, oder vielmehr die hier - her gehörigen Erscheinungen, sofern sie nicht (§. 44.) auf Anästhesie beruhen, sind durchweg als Illusionen zu betrachten, indem die spe - cifische Anomalie eben in der falschen Auslegung von Empfin - dungen, wie sie auch beim Gesunden oder in den verschiedensten Krankheitszuständen vorkommen, besteht. Der Anfang dieser Illusionen besteht darin, dass gewisse schmerzhafte Empfindungen von dem Kranken auf phantastische Weise mit analogen Vorgängen nur ver - glichen werden. So sagen die Hypochondristen anfangs nur, es sei ihnen, als ob Schlangen in der Haut liefen, Frösche im Unter - leibe wären, als ob in der Brusthöhle ein Vogel pfiffe, oder eine Aeusserung, die wir neuerlichst vernahmen ein junger Hund im Kopfe Wasser schlürfte. Aber die anfangs bildliche Vergleichung wird bei starkem und anhaltendem Fortbestehen jener Empfindungen, unter dem Einfluss äusserlich begünstigender Umstände und innerlich zunehmender Verstimmung, nach deren Grund sich das Individuum bald ernstlicher umsieht, zum ausgebildeten Wahn; es entstehen dann aus anomalen Hautsensationen oder einem krankhaften Muskelspiel fixe Ideen, in denen jene Sensationen entweder einer innerlichen phantastischen Ursache (Spinnen, Grillen und andere Thiere im Kör - per, Besessensein einzelner Organe von einem bösen Geiste u. dgl. ) oder äusseren Einwirkungen beeinträchtigender Art (fremden Magne - tiseurs, boshaften physicalischen Versuchen etc.) im Ernste zugeschrie - ben werden. So sieht man dann aus einzelnen Schmerzen in der Haut den Wahn, gestochen oder geprügelt zu werden, am Arme ge - fasst oder angebunden zu sein, aus anomalen Abdominalsensationen die Idee, dass der Teufel, das jüngste Gericht, die Kreuzigung Christi*)Eine Kranke Esquirols hatte diesen Wahn. Ich kann es kaum aus - halten, sagte sie zuweilen, wann wird endlich Friede in der Kirche sein! Ein Kranker in Winnenthal schrie Monate lang fort: Hör auf und lass mich gehen! Er glaubte bald von einem Wesen, das ihm im Bauche sitze, gequält, bald von imaginären Ochsen mit den Hörnern gestossen zu werden.85Motorische Störungen.u. dergl. im Unterleibe des Kranken vorgehe, entstehen. Alle Theile des Körpers können zum Ausgangspunkt solcher Wahnideen werden. Ein junger Mann gab uns an, er habe gefühlt, wie der Teufel, rauh und borstig, ihm in den Hals gefahren sei (globus hy - stericus?); ein Anderer (bei Sinogowitz) verstopfte sich Nachts die Nasenlöcher, weil ihm bösartige Würmer in die Nase kröchen; eine Frauensperson, von der Bergmann erzählt, sah in ihrer Brust ein feu - riges, rundes Wesen sich stets im Kreise herumdrehen u. dergl. m.

Eine besondere Beachtung verdienen die sexuellen Illusionen, indem aus geschlechtlichen normalen oder anomalen Sensationen bei männlichen Kranken häufig der Wahn, von Andern zur Onanie an - getrieben zu werden, bei weiblichen der Wahn der Schwangerschaft, der geschlechtlichen Vereinigung mit einem imaginären Geliebten, des Umgangs mit dem Teufel etc. sich herausbilden, indem jene Sensationen überhaupt zur häufigen Quelle des sexualen Wahnsinns, mag er sich in der Form weinerlicher Sentimentalität oder heraus - fordernder Nymphomanie äussern, werden.

Sehr gewöhnlich sind nun Hallucinationen und Illusionen der einzelnen Sinne miteinander verbunden und die angeführten Schriften (Hagen, Esquirol, Leuret, Bottex) sind reich an Beispielen, in denen gleichzeitige falsche Perceptionen aller Sinne die wichtigsten und auffallendsten Phänomene des Irreseins darstellten. In practischer Beziehung kann nicht genug darauf gedrungen werden, dass diese Wahnideen der Sinne gehörig ausgeforscht werden, dass ihren etwa erreichbaren organischen Bedingungen nachgegangen und diesen bei Construction des Heilplans eine vorzügliche Berücksichtigung ein - geräumt werde. In dieser Beziehung möchten wir ein bisher ganz übersehener Punkt bei den Hallucinationen der drei oberen Sinne namentlich auch Aufmerksamkeit auf die Zustände ihres Hülfs - nerven, der N. quintus, empfehlen; in mehren Fällen schienen uns Gehörs - und Gesichtsphantasmen von neuralgischen Leiden dieses Nerven geweckt zu werden.

Drittes Capitel. Die motorischen Elementarstörungen.

§. 55.

Leichte, unbedeutendere Störungen der Muskelbewegung sind bei der Mehrzahl der Geisteskranken nachweisbar, veränderte Intonation86Motorische Störungen.der Stimme, Trägheit oder excessive Raschheit der Muskelbewegung u. dergl. Auch höhere Grade von allgemeiner Straffheit und Rigi - dität der Muskeln sieht man nicht selten, und Schwerbeweglichkeit des ganzen Körpers, mit Einschluss der Sprachorgane, bis zur bild - säulenartigen, cataleptischen Erstarrung ist namentlich den sog. ex - tatischen Zuständen eigen, bei denen zugleich die äussere Sinnes - thätigkeit mehr weniger aufgehoben ist (meist mit gleichzeitigen Hal - lucinationen) und der Kranke innerlich entweder in unaussprechliche mystische Freuden, in Entzücken versunken ist, oder sich im Zu - stande eines heftigen, schmerzlichen Affectes befindet. Solche all - gemeine, mässige und kurzdauernde Muskelstarrheit kann in den leichtesten, heilbarsten Formen des Irreseins vorkommen und ver - schlimmert die Prognose nicht; doch sah man in einzelnen Fällen Stummheit zurückbleiben (Guislain). Von weit üblerer Bedeutung sind einestheils die localen, zeitweise von Lähmung unterbrochenen Contracturen, andererseits die partiellen oder ausgebreiteten convul - sivischen Zustände. Das anhaltende, automatische Grimaçiren, der während der Krankheit entstandene Strabismus, übermässige Con - tractur, Erweiterung, Ungleichheit der Pupillen, schmerzhafte Krämpfe der Halsmuskeln, jene unordentlichen krampfhaften Bewegungen der Extremitäten, welche den Kranken oft zu sonderbarer Ungleichheit des Gangs oder zu Bocksprüngen veranlassen, alle diese Phänomene sind von übler Bedeutung und ihre Permanenz zeigt in der Regel den Uebergang in Unheilbarkeit an. Ebenso sind ein anhaltenderes Zittern, Zähneknirschen, die choreaartigen Erscheinungen bei erwach - senen Geisteskranken, die automatischen Bewegungen im Kreise, das gezwungene Rückwärtsgehen u. dergl. wenigstens in der Mehrzahl der Fälle die Zeichen der Ausbildung einer schwereren organischen Ge - hirnkrankheit, wenn wir gleich, auf einzelne Beobachtungen von er - folgter Heilung nach solchen Zuständen gestützt, die Möglichkeit der Entstehung dieser Phänomene aus blosser nervöser Irritation zugeben müssen. Die schlimmsten, leider nur allzuhäufigen, motorischen Ano - malieen bei Geisteskranken sind aber die epileptischen und allgemein - paralytischen Zustände, denen wir indessen, wegen ihrer besonderen Wichtigkeit, unten (s. d. Complicationen des Irreseins) eine eigene Erörterung widmen.

87

Fünfter Abschnitt. Ueber das Irresein als Ganzes.

§. 57.

Was über das Irresein als Ganzes, seinen Verlauf, seine En - digungsweisen etc. zu sagen wäre, das kann sich bei der ausser - ordentlichen Verschiedenheit der hier obwaltenden Verhältnisse nur aus dem Studium der Einzelformen ergeben. Dagegen scheint uns das allgemeine Verständniss der psychischen Krankheitsprocesse wesentlich gefördert zu werden durch Betrachtung ihrer Analogieen mit einigen verwandten Zuständen, namentlich mit dem Traum und dem febrilen Delirium. *)Die Analogie des Irreseins mit den affectartigen Zuständen des gesunden Lebens ist bereits zur Sprache gekommen; die Aehnlichkeit vieler geisteskranker Zustände mit dem Rausch wird an mehren Stellen unten (bei der Manie und der allgemeinen Paralyse) besprochen.

Auf die grosse Aehnlichkeit des Irreseins mit Traumzu - ständen könnte uns schon die einfache und so sehr häufige Versicherung der Genesenen hinleiten, dass ihnen die ganze Zeit ihrer Krankheit jetzt eben wie ein Traum, bald wie ein glücklicher, viel häufiger wie ein schwerer und düsterer, vorkomme, dass Einzelnen auch während des Irreseins ihr früheres, gesundes Leben nur den Eindruck vergangener Träume gemacht habe. **)Erst neuerlich äusserte sich ein von Manie Genesener in dieser Weise gegen uns.

Freilich fehlen bei den Geisteskranken die Hauptmerkmale des Schlafs, das Verschlossensein der äussern Sinne, die Aufhebung des Bewusstseins der Aussenwelt und des Willenseinflusses auf die Mus - keln, welche wir gewohnt sind, als Bedingungen unserer Träume anzusehen. Allein einerseits ist es bekannt, dass man um so eher träumt, je unvollständiger eben der Schlaf ist, und dass es Schlaf - zustände gibt, wo ein ziemlicher, ja ein dem wachen Verhalten fast gleich kommender Einfluss auf die Muskeln möglich ist (Sprechen im Schlaf, Kutschiren der schlafenden Postillons, Nachtwandler). An - dererseits finden sich bei Geisteskranken sensitive und motorische Zustände eben jene Mattigkeit der Sinneseindrücke, die nicht mehr in der alten Weise zum Individuum gelangen (§. 44.), jene Verminderung des Willenseinflusses auf die Muskeln, die sich in grosser Trägheit der Bewegung, sogar in cataleptischem Beibehalten88Analogie des Irreseinsgezwungener Stellungen ausspricht (§. 56.) welche, in Verbindung mit der zugleich vorhandenen Umdämmerung des Bewusstseins, leb - haft an das Verhalten des beginnenden Schlafs erinnern.

In der That muss sich die Analogie des Irreseins mit dem Traum namentlich an die Träume im halbwachen Zustande halten. Bei Kindern sieht man zuweilen, namentlich in leichteren Krankheiten, dass sie zwar schlafen, aber doch spre - chen, z. B. die Mutter verstehen, ihr antworten, sogar die Augen öffnen und jene erkennen, dennoch aber fortträumen und sich namentlich ängstlichen Traum - vorstellungen nicht zu entziehen vermögen. Eben die Mittelzustände zwischen Schlaf und Wachen sind es, welche das Auftreten von Illusionen und Phantasmen ausserordentlich begünstigen (§. 49.), welche sich durch ein regelloses Treiben der Phantasie und durch Verworrenheit der Intelligenz auszeichnen. Ihnen geht der Zustand der Schläfrigkeit voraus, in dem sich das Individuum schwerfällig, torpid und schweigsam zeigt, die Sinne stumpf werden, die Gesichtseindrücke verschwimmen, die Töne wie aus grösserer Entfernung zu kommen scheinen, das Bewusstsein sich umnebelt, die Antworten verspätet werden, wo man sich halb vergisst, wohl auch etwas Verkehrtes spricht, wie wir so ganz in derselben Weise oft beim Beginn des Irreseins sehen, dass zuerst die sensitive und mo - torische Reaction gegen die Aussenwelt ermattet und nun erst eine Welt von Phantasmen und verwirrt durcheinander laufenden Vorstellungen auftaucht, in der sich der Kranke nicht mehr zurecht zu finden weiss. Zu der allmähligen Be - schwichtigung des Vorstellens und Strebens, in der das gesunde wirkliche Ein - schlafen besteht, lässt es die dauernde (schmerzliche) Gemüthsbewegung des Irre - werdenden nicht kommen, und man beobachtet auch in diesen Anfangsperioden der Krankheit, trotz der äusserlichen, schläfrigen Ermattung, sehr gewöhnlich Schlaf - losigkeit.

§. 57.

Der Traum wie das Irresein erhält seine wesentliche Färbung, seinen bestimmten Grundton von der herrschenden Stimmung, welche ebensowohl aus den psychischen Ereignissen des wachen Lebens herübergenommen als durch Aenderung der organischen Zustände erst während des Schlafs gegeben sein kann. Die herrschenden Ge - fühle der Lust oder Unlust ziehen die ihnen adäquaten Bilder und Anschauungen herauf, und was von Aussen durch die Sinne eintritt, das trifft dann beim wirklich Träumenden, wie beim Irren auf ein präoccupirtes, von der gegebenen Stimmung erfülltes Centrum und wird im Sinne der herrschenden Gefühle und Vorstellungen verwendet und ausgelegt. Andererseits aber entsteht auch derselbe Zwiespalt der Persönlichkeit und derselbe Sturm des Affects, wenn sich gesonderte Haufen von Vorstellungen und Gefühlen von ungewohntem, feindlichem Inhalt dem Ich gegenüberstellen, und der Traum wie der Wahnsinn sind geschäftig, in Bildern (Hallucinationen) aller Sinne das Subjec - tivste nach Aussen zu verlegen und zu dramatisiren.

89mit Traumzuständen.

Im Traum geschieht diess ganz besonders mit körperlichen Empfindungen. Eine verschränkte Lage im Bette, ein Druck auf den Arm oder die Brust werden Anlass zu Geschichten von Gefesseltsein, von Gefahr, von Abgründen, bevor - stehender Hinrichtung etc.; ein Luftzug, der uns anweht, erregt die Bilder einer Seefahrt und lange Geschichten, die sich weiter daraus spinnen; heftige körper - liche Angstempfindungen aus Respirationsdruck erregen bald das Phantasma eines aufsitzenden Ungeheuers, bald dramatisirte Geschichten eines von uns begangenen schweren Verbrechens, gegen die doch unser wirkliches Ich, dem keine solchen Gedanken angehören, lebhaft protestirt, und dergl. All dieses steht dem wachen Traume des Schwermüthigen sehr nahe und bei beiden Zuständen kann das auf - geführte Puppenspiel als solches nicht erkannt werden, wegen mangelnder Beson - nenheit, wegen Zurückdrängung, ja theilweiser Auflösung des Ich und weil die Berichtigung durch die Sinne, hier durch ihr Verschlossensein, dort durch ihre falschen Bilder (Hallucinationen) unmöglich ist. Heermann erzählt, wie er mit Colikschmerzen eingeschlafen und es ihm nun geträumt, sein Unterleib sei geöff - net und es werde an ihm der N. sympathicus präparirt; wir haben (§. 55.) Bei - spiele ähnlicher Auslegungen abnormer Sensationen von wachenden Geistes - kranken angeführt.

Der Träumende, wie der Irre, nehmen Alles, das Abentheuerlichste und Bi - zarrste, als Möglichkeiten ohne besonderes Staunen hin, und der platteste Unsinn wird zur unzweifelhaften Wahrheit, wenn die Vorstellungsmassen, die ihn berich - tigen könnten, ruhend bleiben. Man kann von der Lösung eines wissenschaft - lichen Problems träumen endlich hat man es gefunden, man ist von Freude und dem Gefühl des glücklichsten Gelingens erfüllt; man erwacht und findet einen ganz ordinären, falschen Gedanken. So gibt es Geisteskranke, die plötzlich das perpetuum mobile, oder eine mechanische Idee, die die ganze Oberfläche der Erde ändern muss, und anderes dergleichen erfunden haben; sie sind von Ent - zücken über solche Entdeckungen erfüllt; was sie uns aber demonstriren, ist Unsinn, und sie können, nach ihrer Genesung, gar nicht begreifen, wie sie so plumpe Irrthümer nicht alsbald durchschauen konnten.

§. 58.

Die sehr angenehmen, entzückten, lichtvollen Träume kommen sehr selten bei Gesunden, am häufigsten bei tieferer körperlicher oder geistiger Erschöpfung vor, und wir sehen hier oft, wie eben die während des Wachens unterdrückten Vorstellungen sich in herr - schenden Traumbildern heraufdrängen. Dem von körperlichen und geistigen Leiden Gequälten bringt der Traum ein imaginäres Wohl - sein und Glück; der hungrige Trenk träumte in seinem Gefängnisse oft von splendiden Gastmählern; der Bettler träumt sich reich; wer eben durch den Tod eine theure Person verloren hat, träumt gerne von der innigsten, bleibenden Vereinigung mit ihr u. dergl. m. So heben sich denn nun auch bei den Geisteskranken von dem dunkeln Grunde der krankhaft schmerzlichen Affecte, beim Versinken in einen noch tieferen Traumzustand, die zurückgedrängten, entgegengesetzten90Analogie des Irreseins mit Traum.Vorstellungen und Gefühle, die lichten Bilder von Glück, Grösse, Erhabenheit, Reichthum u. dergl. hervor, und sobald, ohne Genesung, durch Umänderung des Gehirnzustands der Druck der schmerzlichen Empfindungen weggenommen ist, springt das frühere psychische Elend gerne in den Jubel der maniacalischen Selbstüberhebung um. So sieht man denn namentlich auch, wie der vermeintliche Besitz und die imaginäre Erfüllung von Gütern und Wünschen, deren Verwei - gerung oder Vernichtung eben den psychischen Grund des Irreseins abgab, so häufig den Hauptinhalt des Deliriums der Geisteskranken ausmachen, wie die Frau, die ein theures Kind verloren, in Mutter - freuden delirirt, der, welcher Vermögensverluste erlitten hat, sich für ausserordentlich reich hält, das betrogene Mädchen sich zärtlich geliebt von einem treuen Liebhaber wähnt, u. dergl.

Eine Menge weiterer Phänomene des Traums und des Irreseins gehen sich parallel. So fehlt zuweilen den Geisteskranken wie den Träumenden jedes Zeit - mass; Minuten werden zu Stunden, wie wir im Traume Jahre in einer Viertel - stunde durchleben, und Ereignisse, zu deren wirklichem Geschehen Monate er - fordert würden, scheinen dem Kranken in kürzesten Fristen vorgegangen zu sein. In beiderlei Zuständen spielen Muskelempfindungen ausgelegt als Wahn zu fliegen, zu stürzen etc. und Sinneshallucinationen die Hauptrolle, und die letz - teren dienen namentlich dazu, gewisse Situationen auszudrücken, die von einer herrschenden Grundstimmung als die entsprechenden gefordert werden, während die Vorstellungsmassen des Ich, die Ordnung in diese chaotischen Vorgänge bringen könnten, theils ausgewischt oder zerstoben sind, theils in schmerzlichem Kampfe mit dem neuen Inhalte des Seelenlebens liegen, oder von diesem nach be - stimmten Richtungen gewaltsam fortgerissen werden.

Von grossem Interesse sind die selteneren Fälle, wo ein intermittirendes Irresein an die Stelle des normalen Schlafes trat und dabei einen zwischen wah - rem Traum und Nachtwandeln stehenden Character zeigte. Guislain (die Phreno - pathieen, übers. von Wunderlich, p. 80) erzählt einen solchen Fall und hat überhaupt die Verwandtschaft der Geisteskrankheit mit Traumzuständen gebührend gewürdigt. Auch gehören hierher die Fälle, wo ein plötzlich eintretender wacher Traum - zustand das gewöhnliche Tageswachen unterbricht, das nach seinem Aufhören wieder an derselben Stelle aufgenommen wird. Eine Dame war solchen Paroxis - men unterworfen: plötzlich in der Mitte einer Unterhaltung brach sie ab und fieng an von etwas ganz Anderem zu sprechen; nach einiger Zeit nahm sie die erste Unterhaltung an der Phrase, ja, an dem Worte, wo sie stehen geblieben, wieder auf, und wusste nicht das Geringste von dem Zwischenfalle. Eine Dame aus dem Staate New-York wurde von einem plötzlichen Delirium befallen, während sie an einer kostbaren Stickerei arbeitete; sie blieb sieben Jahre krank, und genas nun ebenso schnell wieder. Sie nahm ihre Stickerei wieder auf und ar - beitete mit derselben Ruhe weiter, wie wenn sie nur eine Stunde von der Arbeit sich entfernt hätte. (?) Prichard, Annal. medicopsychol. I. 1843. p. 336.

91und somnambülen Zuständen.

§. 59.

Eine besondere Aehnlichkeit haben manche Zustände von Irresein mit den bei chronischen Nervenkrankheiten, meist in Zuständen tieferer Zerrüttung, vorkommenden sog. magnetischen Schlafzuständen. Das ausserordentliche Wohlgetühl in ihren höheren Graden, jene unbe - schreiblichen Empfindungen, die nicht mehr von dieser Welt zu sein scheinen, finden sich wieder in der grossen Leichtigkeit und Behaglich - keit mancher maniacalischer Zustände und in dem seligen Versunken - sein mancher Irren in Wohlgefühle, die sie nicht mehr zu beschrei - ben vermögen und für die sie gleichfalls das Bild einer Vereinigung mit dem Göttlichen wählen. Jene neue Wortsprache, die sich einzelne Somnambüle als eine vermeintliche Sprache des Geisterreichs bilden, jene Neigung, sich mit der Construction des Weltalls und überhaupt mit den letzten Problemen des menschlichen Denkens mystisch zu be - schäftigen, bis auf das affectirte Hochdeutschreden bei Ungebildeten hinaus all dieses findet sich bei manchen Verrückten in denselben Combinationen wieder.

Es scheint auch, dass die magnetische Exaltation, wie die wachende mania - calische, sich fast immer aus vorausgegangenen Schmerzzuständen entwickelt, und eine antagonistische Ueberhebung theils über das körperliche und geistige Leiden im Wachen, theils nach unserer Beobachtung über dunkle Traum - zustände mit alpartigen Visionen, welche die erste Periode des magnetischen Zustandes bilden, darstellt. Die weitere Bestätigung des letzteren Verhältnisses wäre für die Analogie im Verlaufe beider Reihen krankhafter Zustände sehr wichtig. Auch den Somnambülen wird ihre nach allen Erfahrungen so ausser - ordentlich dürftige Weisheit meistens durch Vermittlung von (Gehörs - und Gesichts -) Hallucinationen mitgetheilt; es gelten für diese magnetischen Zustände die meisten aus den vorigen §§. bekannten Analogieen mit den übrigen Traum - zuständen; namentlich auch Rückerinnerung des magnetischen Traums wird nicht so selten, als von Einigen angegeben wird, gefunden.

Wenn nun auch nicht alle irren Zustände den Character des Traumartigen in gleichem Masse an sich haben, wenn einige, namentlich mehr secundäre Formen, wie die partielle Verrücktheit, alle Zeichen eines vollen Wachens, eines äusser - lich besonnenen Verkehrs mit der Welt darbieten, so könnte immer noch gefragt werden, ob solches Wachen, in dem zuweilen der Kranke von seinem ganzen früheren Leben sich losgesagt, oder dasselbe ganz vergessen hat, in dem er äusserlich in der Scheinwelt seiner Hallucinationen, innerlich in ein Traumnetz von Wahnvorstellungen eingesponnen lebt ob solches Wachen in der That nicht mehr Aehnlichkeit mit manchen, das Tagesleben unvollständig deckenden magnetischen Zuständen habe, als mit dem Wachen, das wir aus unserer Erfah - rung als das gesunde kennen.

§. 60.

Wie aber das Irresein bald oberflächlicheren, bald tieferen, bald92Das Erwachen vom Irresein.qualitativ unter sich verschiedenen Traumzuständen ähnlich ist, so zeigt auch der psychische Prozess, mittelst dessen das Individuum, wenn die Gehirnkrankheit geheilt wird, zum gesunden Leben zurück - kehrt, die mannigfaltigsten Modificationen. Bald gleicht die Genesung dem einfachen Erwachen: während das Individuum sich staunend zu - rechtzufinden sucht, versinken die der Krankheit angehörigen Vor - stellungsmassen in kurzer Zeit und das alte Ich tritt unversehrt und unbeeinträchtigt wieder an ihre Stelle. Anderemale lösen sich die schon geknüpften Verbindungen schwerer, und indem das alte Ich nur langsam erstarkt, besteht die Genesung noch einmal aus einem peinlichen Kampfe, in welchem der Erwachte jetzt oft des Zuspruchs, der Belehrung, der Leitung durch fremden Willen zur eigenen Kräf - tigung bedarf. Es ist nicht selten, dass dann doch nicht jeder Faden des Wahngespinstes sich herausziehen lässt, und auch der Genesene behält mitunter für lange Zeit oder für immer als kleine Ueberreste gewisse Tics und Bizarrerieen, gewisse Verschrobenheiten und Ver - stimmungen an sich, ja er erleidet zuweilen von hier aus eine durch - greifende Aenderung seines Charakters.

Es ist unzulässig, diese Processe auf das moralische Gebiet zu verlegen, wohin sie so wenig als der Process im Anfang der Erkrankung gehören; aber es ist richtig, dass dem schon früher haltlosen Reconvalescenten eine richtige sittliche Führung noth thut und dass nicht selten hier erst für den Irrenarzt eine neue Wirksamkeit an dem Genesenen beginnt, welche freilich meistens die Sache seiner ersten Jugenderziehung hätte sein sollen.

Von grossem Interesse sind die Fälle, wo erst kurz vor dem Tode die geistige Gesundheit oder doch eine entschiedene Besserung des Geisteszustandes eintritt. Es kommt diess am häufigsten bei Maniacis vor,*)In dem Irrenhause der Quäker bei York unter 33 Todesfällen von Ma - niacis 8mal, unter 45 Melancholischen 8mal (Julius, Beiträge zur brittischen Irrenheilkunde p. 255). Die drei von Parchappe (Traité de la folie. Docum. necrosc. Par. 1841. p. 1 4) angeführten Beispiele betreffen gleichfalls Fälle von Manie. etwas seltener bei Melancholischen, beinahe nie in den secundären Zuständen der Verrücktheit und des Blödsinns; wo schwerere, anatomische Läsionen des Gehirns vorhanden sind, wo die kranken Vorstellungen das Ich vollständig durchdrungen und zersetzt haben, scheinen die Grundbedingungen einer Rückkehr zum normalen Vorstellen zu fehlen. Wie lange Zeit hiezu nöthig ist, ist freilich unmessbar.

Brierre de Boismont**)Gazette des hopitaux. 1844. No. 54. erzählt den Fall eines Gärtners, der in seinem 22sten Jahre nach einem heftigen Schreck, den ihm eine Bärenmaske auf einem Maskenballe einjagte, geisteskrank wurde, von dort an zwei und fünfzig Jahre93Verhältniss des Irreseins zum Fieber-Delirium.lang so gut als Nichts sprach und mit Brummen und Hin - und Herschwanken des Körpers jene Thierspecies nachzuahmen schien. Einige Wochen vor sei - nem Tode, als sich Diarrhoe und Oedeme einstellten, fieng er an zu antworten, und sein Verstand zeigte sich zwar sehr beschränkt, aber die Beziehungen seiner Vorstellungen zu einander waren richtig und geordnet.

In Fällen, wo die Gehirnaffection secundär durch Krankheiten anderer, innerer Organe entstand und unterhalten wurde, und noch in bloss nervöser Irritation oder leichteren Hyperämieen besteht, ist eine solche psychische Besserung vor dem Tode noch am ehesten zu erwarten und einer Erklärung am zugänglichsten. Die Besserung muss nicht immer mit einer gleichzeitig merklichen körperlichen Verschlimmerung zusammenfallen; es kommen Fälle vor, wo man den Kranken für genesend hält und er dann schnell durch plötzlichen Tod weggerafft wird. Es ist seltener, dass das Irresein kurz vor dem Tode eine viel schlimmere Ge - stalt annimmt; doch sieht man bei Maniacis Todesfälle in einer bis ans Ende gesteigerten Raserei.

§. 61.

Auch das acute, fieberhafte Delirium, von welchem das Irre - sein in keiner Weise specifisch verschieden ist, besteht in lebhaften Träumen während des Wachens oder Halb-Wachens. Auch in diesen Träumen beobachtet man oft, wie die mannigfaltigen Hallucinationen und falschen Vorstellungen nur Ausdrücke einer herrschenden, bald mehr stationären, bald mehr wechselnden Grundstimmung sind und so durch die Einheit der herrschenden Gefühle zusammengehalten werden; auch hier wird dann der besondere Inhalt der einzelnen Phantasiebilder und falschen Vorstellungen gewöhnlich durch zufällige Umstände (körperliche Bedürfnisse, die Tapete an der Wand, auf - tauchende Erinnerungen etc.) bestimmt. Nach unsern Wahrnehmun - gen lassen sich in den Delirien Fieberkranker dieselben psychischen Grundverschiedenheiten nachweisen, nach denen auch die Geistes - krankheiten in einzelne Hauptformen zerfallen es gibt ein melan - cholisches und ein maniacalisches, ein verrücktes (in einzelnen Wahn - ideen ohne lebhafte Gemüthsbewegung sich bewegendes) und ein blödsinniges Fieberdelirium.

Wenn gleich sich gewöhnlich das acute Delirium vom Irresein durch seine kürzere Dauer, durch seinen symptomatischen Charakter, durch die Anwesenheit eines höheren Grades von Fieber äusserlich unterscheidet, so sind beide Processe doch sowohl ihrem Wesen nach nervöse Reizung des Gehirns, wahrscheinlich besonders sei - ner Oberflächen, Hyperämie oder Gehirnentzündung an diesen Stellen und in Bezug auf ihre Ursachen sympathische Reizung von andern Organen aus, Gemüthsaffecte, anämische Zustände, Alcohol - missbrauch u. dergl. dasselbe; es gibt sehr kurz dauernde, tran -94Irresein und Fieberdelirium.sitorische Manieen, es gibt ein Irresein, das von Fieber begleitet ist, und nicht selten hat die Gehirnaffection auch bei Geisteskranken eine symptomatische Bedeutung. So kann man mit Recht die psychische Störung bei den Irren ein (in der Regel chronisches) Delirium nennen, und man hat keinen Grund, den Ansichten von Georget und Burrows über die specifische Verschiedenheit des fieberhaften Irreredens und der Geisteskrankheiten beizustimmen.

Vgl. Georget, über die Verrücktheit, übersetzt von Heinroth. Leipz. 1821. p. 127 seqq. Burrows, commentaries on insanity. Lond. 1828. Jakobi, Beob - achtungen über die mit Irresein verbundenen Krankheiten. I. Elberfeld. 1830. p. 146 seqq.

[95]

ZWEITES BUCH. Die Aetiologie und Pathogenie der psychischen Krankheiten.

Erster Abschnitt. Allgemeines über die Ursachen des Irreseins.

§. 62.

Unter Ursachen versteht man in der Psychiatrie wie in der übrigen Pathologie die mannigfaltigsten Classen von Momenten, denen man einen Einfluss auf die Entstehung der Krankheit zu - schreibt, die aber zu dieser selbst in höchst verschiedenen Ver - hältnissen stehen. Einestheils begreift man unter den Ursachen alle jene äusseren Umstände (Nationalität, Klima, Jahreszeiten etc.), unter denen man Irresein überhaupt bald häufiger, bald seltener vorkommen sieht; anderntheils meint man damit gewisse äussere Schädlichkeiten (Sonnenhitze, Kopfverletzungen etc.), nach deren Einwirkung die Krankheit häufiger entsteht; endlich umfasst das Ge - biet der Ursachen jene inneren, dem Organismus selbst an - gehörigen Momente (erbliche Disposition, vorausgegangene Krank - heiten oder überhaupt anderweitige Störungen des organischen Me - chanismus, z. B. Krankheiten der Lunge, Genitalien etc.), denen er - fahrungsmässig ein Einfluss auf das Irrewerden zukommt. Bei sehr vielen dieser Momente ist der nähere Zusammenhang zwischen ihnen und der ihnen zugeschriebenen Wirkung, der Weg, auf dem sich aus ihnen eben Geisteskrankheit entwickelt, kaum oder gar nicht ein - zusehen der Schluss post hoc ergo propter hoc beruht dann auf einer bloss empirischen (statistischen) Kenntniss davon, dass gerade96Allgemeines über die Aetiologiediese bestimmten Umstände (z. B. die erbliche Disposition) ganz un - gewöhnlich häufig mit dem Irrewerden zusammentreffen oder ihm vorangehen. Bei andern dieser sog. Ursachen ist ihre Wirkungsweise, die Art, wie in Folge ihrer die Krankheit zu Stande kommt, fasslicher, und es ist eben gegenüber der Aetiologie im engern Sinne, welche nur empirisch die bekannten ursächlichen Momente aufzuzählen weiss, das Geschäft der Pathogenie, den physiologischen Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung deutlich zu machen, das einzelne mechanische Geschehen darzulegen, mittelst dessen durch ein ge - gebenes Moment, z. B. ein Uebermass deprimirender Affecte, eine Herzkrankeit etc., am Ende das Irresein zu Wege kommt.

§. 63.

Für die practisch-ärztliche Aufgabe der Psychiatrie ist die Aetio - logie und namentlich die Pathogenie von ungemeiner Wichtigkeit. Denn wenn auch der alte Satz: sublata causa tollitur effectus, hier wie in der übrigen Medicin, bei vollständig ausgebildeter und ein - gewurzelter Krankheit keine Bestätigung mehr findet, und wenn gleich die Beseitigung mancher entfernteren Ursachen nicht in der Macht des Arztes steht, so sieht man doch, wie namentlich das beginnende Irresein schon durch Entfernung einzelner unter den gewöhnlich vielfältigen, zusammenwirkenden Ursachen mit Erfolg bekämpft werden kann, und es bieten namentlich alle die mannig - faltigen Durchgangspunkte der Erkrankung, alle die organischen Stö - rungen, welche die Pathogenie als Mittelglieder zwischen äusseren Ursachen und zwischen der ausgebildeten Gehirnkrankheit als deren letztem Resultate nachweist, die erfolgreichsten Angriffspunkte für die Therapie dar. Ebenso aber kann das Irresein auch theoretisch ohne Kenntniss seiner Ursachen und seines Zustandekommens in den ein - zelnen Fällen gar nicht begriffen werden, und so sind die ätiologi - schen Fragen in den Vordergrund der ganzen Psychiatrie gestellt.

Im concreten Falle entnehmen wir die ätiologischen Momente aus der Anamnese, und diese ist überall mit grösster Sorgfalt und genauestem Eingehen ins Einzelne zu eruiren. Sie hat sich hier zuerst vor den groben Fehlern zu hüten, die Hypothesen der bis - herigen Umgebung der Kranken, seiner Angehörigen etc. über die Entstehung der Krankheit ohne genaue Prüfung anzunehmen, oder was so häufig geschieht theils schon entschiedene Symptome des beginnenden Irreseins, theils nur die letzten zufälligen Impulse seines deutlichen Ausbruchs für die wahren Ursachen zu halten. Sie darf97und über die Anamnese.sich aber überhaupt nicht bloss mit den auffallenden körperlichen oder geistigen Ereignissen, die dem Irresein näher vorangiengen, begnügen, sondern sie muss sich auf den Standpunkt stellen, wo der jetzige krankhafte Zustand als das endliche Ergebniss aller früher vorhandenen Lebenszustände erscheint. Es muss sich die anamnesti - sche Untersuchung auf die Gesamtheit der leiblichen und geistigen Antecedentien einer Persönlichkeit erstrecken; sie muss ab ovo, ja schon bei früheren Generationen Familienanlage anfangen, die körperliche Entwicklung, den habituellen Gesundheitszustand, die Krankheitsdispositionen und vorgefallenen Erkrankungen genau ver - folgen und in gleicher Weise auf psychischem Gebiete das Verhält - niss der Anlagen und angebornen Gemüthseigenthümlichkeiten, ihre Ausbildung durch Erziehung, die herrschenden Neigungen des Indivi - duums, seine Lebensrichtung und Weltansichten, seine äussern Schick - sale und die Art seines psychischen Verhaltens zu ihnen treu und einsichtig auffassen und so ein allseitiges Bild der Geschichte einer Individualität zu gewinnen suchen. Nur auf diesem Wege ist eine Einsicht in die wirkliche Bildungsgeschichte dieser Krankheiten mög - lich, nur so gelingt es, an ihren Ursprüngen die feineren Fäden zu fassen, die sich am Ende zu Wahngespinnsten verschlungen haben, nur so kann man in manchen Fällen, wo Irresein plötzlich und scheinbar ganz unmotivirt zum Ausbruche kommt, die längst gegebene Vor - bereitung der Erkrankung und die fast mathematische Nothwendigkeit ihres Eintritts erkennen. Und all dieses ist eben von höchster Be - deutung für die Therapie, welche der Anamnese die Indicationen bald zur Tilgung inveterirter chronischer Krankheitsprocesse, bald zur Entfernung gewisser psychischer Ursachen entnimmt, und welche einen tieferen Blick in den Charakter des Individuums braucht, um alle in demselben liegenden Ressourçen zur Unterstützung einer activen Therapie benützen zu können.

Die Ansichten der Umgebungen eines Kranken über die Aetiologie sind häufiger irrig als richtig, fast immer wenigstens einseitig. Von Laien und Aerzten werden auch Symptome des beginnenden, sogar zuweilen des schon weit gediehenen Irre - seins für Ursachen gehalten. Im Beginn der psychischen Erkrankung kann z. B. symptomatisch ein lebhafter Hang zu spirituösen Getränken oder ein stärkerer Geschlechtsreiz, der zu Excessen oder Onanie führt, auftreten; es kann die schon vorhandene Gemüthsaufregung zu übereilten Verbindungen, zu gewagten Geschäfts - Unternehmungen, zu religiösen Anfechtungen und Betrachtungen Anlass geben, und man begeht dann oft den Fehler, die Krankheit der Trunksucht, der unglück - lichen Liebe, den missglückten Speculationen, der Religion etc. zuzuschreiben. So kommt es auch sehr oft vor, dass von den Umgebungen oder unkundigen Aerzten ein Irresein als frisch entstanden betrachtet und gewissen neuerlichenGriesinger, psych. Krankhtn. 798Zusammengesetztheit der Ursachen.Vorfällen zugeschrieben wird, das sich bei näherer Untersuchung als ein schon viele Jahre bestandenes und ganz eingewurzeltes zeigt. Schon Pinel erzählt den Fall einer Kranken, die angeblich 9 Monate an Irresein leiden sollte, in der That aber schon 15 Jahre lang geisteskrank war.

Die deutsche Psychiatrie hat das Verdienst, immer die Aetiologie und Patho - genie des Irreseins tiefer und richtiger aufgefasst und glücklicher bearbeitet zu haben, als die französischen Schulen. Während diese noch bis in die neueste Zeit (Moreau de Jonnès, Brierre, Parchappe) bei ihren ganz abstract gehaltenen Tabellen psychischer und moralischer Ursachen stehen bleiben, in denen Trunk - sucht, Epilepsie, Ehrgeiz, Prostitútion, Politik, Vermögensverlust und dergl. als gleichwerthige Categorieen von Ursachen neben einander stehen, haben die deutschen Irrenärzte (Heinroth und Ideler von psychischer Seite, Bergmann, Flemming, Jakobi, Jessen, Nasse, Zeller und A. theils mit vorzüglicher Berücksichtigung der somatischen Ursachen, theils allseitig) schon seit langer Zeit auf genaues Individualisiren in Bezug auf die Ursachen des einzelnen Falls gedrungen, und es hat sich bei uns immer mehr eine Betrachtungsweise festgestellt, welche die sorgfältige Berücksichtigung aller Momente in ihrem Zusammenhange und Zu - sammenwirken auf die Entwickelung des Krankheitszustandes fordert.

§. 64.

Ein näheres Eingehen in die Aetiologie des Irreseins zeigt näm - lich alsbald, wie es in der ausserordentlichen Mehrzahl der Fälle nicht eine einzige specifische Ursache, sondern ein Complex mehrer, zum Theil sehr vieler und verwickelter schädlicher Momente war, unter deren Einflusse die Krankheit endlich zu Stande kam. Nicht selten wird der Keim des Erkrankens schon in jenen frühen Lebensperioden gelegt, wo sich die Anfänge des Charakters bilden; wächst er durch Erziehung und äussere Erlebnisse, oder trotz ihnen, so ist es nur selten, dass der excedirende Stand der psychischen Irritabilität ganz von selbst allmählig und durch kaum merkliche Zwi - schenstufen den Grad auffallender psychischer Functionsstörung er - reicht; viel häufiger sind es mehre, mannigfaltige psychische Eindrücke und körperliche Störungen, unter deren successiver Einwirkung oder ungünstigem Zusammentreffen sich die Krankheit ausbildet, und sie ist dann nicht einem einzelnen dieser Momente, sondern nur ihrer Totalität zuzuschreiben. So sieht man in den concreten Fällen z. B. langwierige Trunksucht und einen sehr heftigen Affect, anderemale erbliche Disposition, häuslichen Unfrieden und eine Herzkrankheit, dann wieder Wochenbett und einen heftigen Aerger oder Schrecken, oder unglückliche Liebe und beginnende Tuberculose, kurz gewöhnlich mehre verschiedene üble Einwirkungen auf den Organismus oder schon begründete Krankheitszustände oft noch weit vielfacher und compli - cirter als in diesen Beispielen als Ursachen des Irreseins auftreten.

99Cautelen bei Schätzung der Ursachen.

Hier liegt nun eben die Schwierigkeit in der richtigen Werthschätzung des Einflusses, den jedes einzelne dieser Momente auf die Krankheitsentstehung hatte, hier gilt es, sich den Blick ungetrübt von systematischer Prävention für diese oder jene Theorie, und von einseitiger Bevorzugung einer oder gewisser Reihen von Ursachen, z. B. der somatischen oder wieder der psychischen, rein zu er - halten. Das Urtheil darf sich nur durch die vorliegenden, genau untersuchten Thatsachen leiten lassen; wo empirische Data über die Ursachen in einem be - stimmten Falle fehlen, dürfen sie nicht durch Hypothesen ersetzt werden, und die Wichtigkeit der einzelnen vorliegenden Momente ist nach den sonstigen Grundsätzen einer rationellen Pathologie zu schätzen.

Ein ursächlicher Einfluss ist bei denjenigen Momenten natürlich am sichersten anzunehmen, deren Wirkungsweise sich im Einzelnen verfolgen und deren Effect sich daher als ein physiologisch nothwendiger begreifen lässt, oder, wo diess auch nicht der Fall ist, bei denen, welche wenigstens durch eine umfassende Statistik fest - gestellt sind. Ein vorausgegangenes unbedeutendes Magenleiden, eine leichte Hämorr - hoidal-Anschwellung oder gar eine rechtmässiger Weise schnell geheilte Krätze werden z. B. nicht unter den Ursachen aufzuführen sein, da keinerlei Statistik für sie spricht, keinerlei Zusammenhang zwischen ihnen und dem Irresein nach Schwere und Art der Erkrankung ersichtlich ist. Dagegen erscheinen z. B. die vorhandenen Herzaffectionen als wichtige ursächliche Momente, da sie den Kreis - lauf im Gehirne beeinträchtigen; deprimirende Affecte würden als solche erscheinen, wenn man auch nichts von ihrer Wirkungsweise wüsste, weil sie statistisch erwiesener Massen so ausserordentlich häufig dem Irrewerden vorangehen; die Möglichkeit der Entstehung einer Geisteskrankheit durch Wurmreiz im Darm (Taenia) kann nicht abgewiesen werden, weil man auch andere schwere Gehirn - krankheiten (Epilepsie) durch sie entstehen sieht etc. Man darf nie vergessen, dass etwas, um Ursache zu sein, auch wirklich der vermeintlichen Wirkung vorangegangen sein muss; man darf z. B. nicht, wenn sich erst gleichzeitig mit dem beginnenden Irresein schwerere Verdauungsstörungen zeigen, auf ein chronisches Unterleibsleiden als Ursache des Irreseins schliessen. In einzelnen Fällen fehlt es vollends an allen ätiologischen Anhaltspunkten, und das Irresein entsteht allmählig, wie viele andere chronische Krankheiten, aus ganz unbekannten Einflüssen; nichts wäre falscher, als hier imaginäre somatische Ursachen zu supponiren und solchen Vermuthungen einen Einfluss auf den Heilplan zu gestatten.

§. 65.

Es ergibt sich aus einer grösseren Vergleichung, dass die Aetio - logie der Geisteskrankheiten im Allgemeinen keine andere ist, als die Aetiologie aller übrigen Gehirn - und Nervenkrankheiten. Nament - lich die Aetiologie der Epilepsie (auch der Apoplexie) und der chro - nischen Spinalirritationen bietet sehr instructive Analogieen sowohl was Prädisposition, als nächste erregende Ursachen betrifft, dar. Abgesehen von den prädisponirenden Momenten (Lebensalter, Er - blichkeit, gewisse Erziehungsfehler etc.) lassen sich bei allen diesen Krankheiten namentlich zwei Wege der Erkrankung erkennen. Ein - mal ihre (protopathische) Entstehung aus direct auf das Gehirn7 *100Idiopathische und sympathische Entstehung.wirkenden Einflüssen Erschütterung, Verwundung, Ueberan - strengung des Gehirns und des ganzen Nervensystems, Narcotica, psychische Ueberreizung durch Affecte und dergleichen; sodann eine (deuteropathische) Entstehung der Gehirnkrankheit in Folge ander - weitiger, im Organismus vorgegangener krankhafter Veränderungen, durch welche die Gehirnfunctionen beeinträchtigt werden. Diese Krankheitszustände nun scheinen auf das Gehirn hauptsächlich wieder in zweierlei Weise zu wirken, einmal indem sie habituelle Gehirn - hyperämieen erzeugen oder begünstigen (z. B. die Herzkrankheiten), zweitens durch nervöse Reizung des Gehirns, welche man sich kaum anders als durch Mittheilung und Uebertragung eines peripherischen Irritationszustandes einzelner Nervenparthieen auf das Centralorgan geschehend vorstellen kann (peripherische Nervenverletzung, Einfluss der Sexualorgane etc.). Als eine dritte Categorie möchte sich hieran die mangelhafte Ernährung und Erregung des Gehirns durch eine dyscrasische Blutmischung anschliessen (anämische Zustände).

Dennoch lässt sich der Unterschied einer protopathischen und deuteropathischen Entstehung des Irreseins für die concreten Fälle nicht durchführen. Sowohl dess - wegen nicht, weil gewöhnlich mehrere schädliche Einflüsse, die auf verschiedene Weise einwirken, zusammentreffen, als darum nicht, weil einzelne ätiologische Momente, namentlich die so wichtigen depressiven Affecte, nicht nur in ver - schiedenen Fällen, sondern auch gleichzeitig in demselben Individuum theils primitiv theils aber auch durch Setzung weiterer chronischer Veränderungen in anderen Organen, und allgemeine Zerrüttung der Constitution, wieder secundär auf einem Umwege das Gehirn beeinträchtigen können. Hiemit ist auch schon ausgesprochen, dass alles, was nervöse Reizung des Gehirns und alles, was Hyperämie in der Schädelhöhle zu erzeugen im Stande ist, auch ein Moment zur Entstehung des Irreseins werden kann. Ausserdem aber sind noch alle die Um - stände, unter denen Nutritionsanomalieen des Gehirns (auch ohne zu Grunde liegende Hyperämie) sich bilden (z. B. Atrophie, Tuberculose), als wichtige Ursachen an - zusehen. Bei Betrachtung der einzelnen Classen ätiologischer Momente ist die Wirkungsweise derselben näher anzugeben; wir behalten bei ihrer Aufzählung die gebräuchliche Eintheilung in prädisponirende Momente und in eigentliche Ursachen (nicht ganz richtig erregende oder Gelegenheitsursachen) bei, ungeachtet einzelne der zu erwähnenden Einflüsse (z. B. Menstruationsstörungen, psychische Einflüsse) bald disponirend, bald erregend wirken können. Was dieser ganzen Eintheilung, die indessen die bequemste Uebersicht gewährt, an wissenschaftlicher Schärfe abgeht, kann durch Sorgfalt in der Einzel-Analyse ersetzt werden.

101

Zweiter Abschnitt. Die Prädisposition zu psychischen Krankheiten.

§. 66.

Erwägt man die ausserordentliche Häufigkeit aller der schädlichen Einflüsse, welche als Ursachen der Geisteskrankheiten angegeben wer - den und ihre doch verhältnissmässig seltene Entstehung aus densel - ben, so wird man mit Nothwendigkeit zur Annahme geführt, dass es gewisser vorbereitender Umstände bedürfe, damit in den einzelnen Fällen überhaupt Erkrankung und gerade diese Erkrankung eintrete, dass eine gewisse Empfänglichkeit und Disposition zu solchen Krank - heiten den zuweilen wenig intensiven erregenden Ursachen entgegenkommen müsse. In der That ist man beim jetzigen Zustande der Wissenschaft bei den meisten Krankheiten des Nervensystems zu einer solchen Annahme genöthigt. Unzählig sind die Fälle von Ver - letzung, und nur selten folgt auf sie Tetanus; eine Menge Kinder leiden an Würmern, und nur wenige verfallen in convulsivische Zu - stände; viele Menschen leben unter Umständen, denen eine kräftige Wirkung auf die Ausbildung psychischer Krankheiten zuerkannt werden muss, und nur wenige unter ihnen werden wirklich geisteskrank. Will man nun bei jenen Neurosen zur Erklärung eben eine nicht näher zu bestimmende besondere Disposition des Nervensystems annehmen, so hat man freilich nur ein leeres Wort für eine ganz unbekannte Sache. Genauere Untersuchungen gestatten hier aber doch zuweilen eine Einsicht in die näheren Verhältnisse dieser Dis - position. Man weiss z. B. dass Tetanus in heissen Ländern leichter auf Verletzungen folgt, als in unserm Klima, dass sein Zustande - kommen durch gleichzeitige Erkältungen oder psychische Reize be - günstigt wird und dergl., und so sind auch für das Irresein eine Reihe von Momenten bekannt, denen erfahrungsmässig ein vorbereiten - der und begünstigender Einfluss auf seine Entstehung zugeschrieben werden muss. Es hat nun die Lehre von der Prädisposition zu den Geisteskrankheiten einestheils jene entfernteren, im Grossen wir - kenden, nur statistisch erweisbaren, und in ihren einzelnen Wir - kungsarten ganz unerforschlichen Verhältnisse der Nationalität, des Klimas, der Jahreszeiten, des Geschlechts, Lebensalters, der allgemeinen Standesunterschiede zu betrachten und deren Bedeutung für die Entstehung dieser Krankheiten zu würdigen. Andrerseits ist, neben dieser allgemeinen, auch die individuelle Prädisposition, und zwar102Zahl der Irrendie angeborne und die erworbene, zu analysiren, wie sich solche in Bezug auf Erblichkeit, Erziehung, auf Constitution, Charaktereigen - thümlichkeit, schädliche Gewohnheiten etc. nachweisen lässt.

Erstes Capitel. Die allgemeine Prädisposition.

§. 67.

1) Nationalität. Der Begriff der Nationalität enthält in sich eingeschlossen eine Menge der mannigfaltigsten Verhältnisse. Das Klima, die Fruchtbarkeit des Landes, die vorzugsweise Beschäftigung seiner Bewohner, das vorherrschende religiöse Bekenntniss, der Grad der Civilisation, des Wohlstands und der öffentlichen Sittlichkeit, die früheren Schicksale des Volkes und die Regierungsformen, diess Alles wirkt zusammen auf die Bildung gewisser Nationaleigenthümlichkeiten, die sich dann als stehender Typus von Geschlecht zu Geschlecht fortpflanzen. Eben weil alle diese Momente nur in ihrem Zusammen - sein und ihrer allseitigen Verkettung wirksam sind, ist es auch nicht möglich, von den einzelnen derselben ihren Einfluss auf die Ent - stehung des Irreseins zu bestimmen; es können vielmehr nur stati - stisch die Angaben über die Häufigkeit oder Seltenheit des Irreseins unter den einzelnen Nationen verglichen werden. Und auch dieses Geschäft führt zu nur wenig befriedigenden Resultaten. Denn bei - nahe von keinem Lande der Welt besitzen wir ganz zuverlässige Zählungen; wo genauere Angaben vorhanden sind, werden sie oft durch die verschiedenen Methoden der Erhebung und namentlich durch die Vermischung zweier, ihrer Natur nach zu trennender Zu - stände, des eigentlichen Irreseins und des angebornen Blödsinns (Cre - tinismus), ganz unsicher gemacht, und man ist für viele Gegenden auf eine durchschnittliche Schätzung der Irrenzahl nach den für die einzelnen Länder so sehr wechselnden Zahlen der in den Anstal - ten verpflegten Irren beschränkt.

Unter den deutschen Ländern existiren genauere Zählungen von mehren preussischen Provinzen, von Würtemberg und Baden. In der preussischen Rheinprovinz war das Verhältniss der Irren zur Be - völkerung (a. 1828) = 1: 1027; in Westphalen (a. 1836) = 1: 1590, mit Einschluss der von Geburt an Blödsinnigen = 1: 846; in Schlesien (a. 1830) = 1: 1200; in der Provinz Sachsen103in verschiedenen Ländern.(a. 1836) = 1: 968. In Würtemberg*)Köstlin, Beiträge zur Statistik der Geisteskrankheiten in Würtemberg. Dissert. Tüb. 1840. kam (a. 1832) 1 Geistes - kranker (mit Ausschluss der Blödsinnigen) auf 1500 Einwohner; in Baden**)Nach einer gütigen Mittheilung des Herrn Director Roller in Illenau. (a. 1838) mit Inbegriff der Blödsinnigen 1: 1278, ohne sie 1: 2810, nach einer Zahl von a. 1842 aber im Ganzen 1: 1123 Einwohner.

Ueber die Zahl der Irren in Frankreich***)Moreau de Jonnès. Comptesrendus de l’Acad. d. Sciences. 1843. XVII. p. 65. Brierre de Boismont. ibid. p. 134. lauten die Angaben sehr verschieden. Aus einem Durchschnitt von acht jährlichen offi - ciellen Zählungen der Kranken in und ausser den Anstalten ergab sich die Zahl von 18,350 Irren, also 1: 1900. Die Documente hier - über scheinen aber sehr unvollständig zu sein und Piérquin und Brierre nehmen 30 32,000 Irre an, wo sich dann ein Verhältniss von 1: 1000 ergeben würde. Jedenfalls ist die Vertheilung sehr ungleich; in Paris und den umliegenden Departements kommt bei Annahme der officiellen Zahl 1 Irrer auf 673, in den armen Südwestdepartements 1 auf 6366 Einwohner. †)Dufau, traité de Statistique. Par. 1840. p. 308. In Belgien††)Heuschling, Statistique générale de la Belgique. Suppl. 1844. p. 8. ergab die Zählung von a. 1835 das Verhältniss von 1,22: 1000; Guislain hält aber die gefundene Zahl nur für der wirklich vorhandenen Irren. In England und Wales†††)Vgl. Quetelet, über den Menschen, übersetzt v. Riecke. 1838. p. 430. Julius, Beitræge z. britt. Irrenheilkunde. Berlin 1844. Battelle, rapport etc. Annal. med. psych. nov. 1844. p. 393. ist das Verhältniss der in den Anstalten verpflegten Irren zur Bevölkerung nach den neuesten Berichten = 1: 980; das Ver - hältniss aller Irren zur Population wird von Piérquin = 1: 783, von Hitch für Wales allein = 1: 500 geschätzt; ja in einer Grafschaft von Wales (Merioneth) kommt sogar 1 Kranker auf 388 Einwohner. 1)Hitch, Annal. med. psychol. I. 1843. p. 161.In Schottland ergibt sich nach früheren Angaben das Verhältniss 1: 573, nach Julius (6000 Irre bei einer Bevölkerung von drittehalb Millionen) = 1: 417; in Irland nach Piérquin = 1: 911. In Norwegen soll 1 Kranker auf 550 Einw. kommen;2)Fuchs, in Friedreichs Magazin. 1833. III. p. 87. Bei Quetelet und Es - quirol ist das Verhältniss durch ein Rechnungsversehen viel zu nieder (1: 5,057) angegeben. unter den Ge - zählten ist übrigens ein Drittheil Idioten.

104Zahl der Irren.

Ueber Italien existiren keine umfassenderen, zuverlässigen Be - richte. Brierre’s Schätzungen ergeben 1: 4879 Einwohner. Esquirol nahm a. 1834 ein Verhältniss von 1: 3785 an. Auch diess ist ge - wiss noch viel zu niedrig. In der Provinz Padua kommt nach Lip - pich*)Oesterreich. Jahrb. Juli 1842. p. 36. Vgl. Guislain, lettres médicales sur l’Italie. Gand. 1840. p. 90. Mittermaier, italien. Zustände. 1844. p. 184. schon 1 (in den Anstalten verpflegter) Kranker auf 1900 Einw.

Von Spanien fehlen alle genaueren Angaben. Dass in Por - tugal die Zahl der[Irren] nicht unbeträchtlich sein muss, zeigt der Bericht von Marchant;**)Annal. med. psychol. Mai 1844. 371. derselbe fand auf der Insel Madeira in der Stadt Funchal 1: 2667 Einwohner.

Dieselbe Unmöglichkeit einer auch nur annähernd richtigen Schät - zung herrscht im Durchschnitt für die orientalischen Länder. In Malta***)Moreau, Annal. med. psychol. I. 1843. p. 107, 109. kam (a. 1836) 1 Fall auf 7 800 Einwohner, in Smyrna unter den dort lebenden Griechen 1 auf 1000. Dieses Verhältniss ist nicht ohne Interesse, insoferne es, ungeachtet der grossen Ver - schiedenheit des Climas, doch an den Orten, wo europäische Civili - sation herrscht, eine den sonstigen europäischen Ländern gleiche Pro - portion zeigt. In Nubien, in Sennaar, in Abyssinien sollen sich (ibid. p. 126) nur hier und da einzelne Blödsinnige finden.

Unter den Vereinigten Staaten betrug a. 1825 die Zahl der Irren im Staate New-York = 1: 7 800; eine neuere Zählung (a. 1841) gab so colossale Zahlen, dass z. B. im Staate Maine 1 Geisteskranker auf 14 Einwohner käme, was gewiss unrichtig ist. †)Moreau de Jonnès. l. c.

§. 68.

Aus den Widersprüchen und der Dürftigkeit dieser Statistiken erhellt von selbst, wie es zur Lösung der neuerlich vielfach bespro - chenen und vieldeutigen Frage, ob der Fortschritt der Civili - sation die Zahl solcher Erkrankungen vermehre, fast an den ersten Elementen fehle. Manches kann hier wohl a priori zugegeben wer - den. Die Steigerung der Industrie, der Künste und Wissenschaften setzt auch eine allgemeine Steigerung der cerebralen Thätigkeiten vor - aus; die immer weitere Entfernung von einfachen Sitten, die Ver - breitung der feineren, geistigen und leiblichen Genüsse bringt früher unbekannte Neigungen und Leidenschaften mit sich; die allgemeine liberale Erziehung weckt unter der Masse einen höher strebenden105Einfluss der Civilisation.Ehrgeiz, den nur die Wenigsten befriedigen können; mercantilische, politische und sociale Schwindeleien wirken erschütternd auf die Einzelnen, wie auf das Ganze, und was von Allem das Wichtigste ist, das Proletariat, die Zunahme des Hungers, des Elends und der Verbrechen in den untersten Klassen der modernen Gesellschaft, kann nicht ohne Einfluss auf eine Krankheit sein, unter deren wich - tigsten näheren Ursachen wir Entbehrungen und anhaltende Gemüths - aufregungen kennen lernen werden. Die Anhäufung der Menschen in den grossen Städten mit all ihren demoralisirenden Einflüssen man rechnet in Paris 63,000 Menschen, welche sich auf unehrliche Weise auf Kosten der Gesellschaft fortbringen, und in London gibt es Tausende von Kindern, die sich schon dem Verbrechen und der Prostitution ergeben , die häufigere Ehelosigkeit, das vielfach ver - änderte Verhalten zur Religion mögen als mitwirkende Momente an - erkannt werden. Immer aber sind die Thatsachen, welche zu oberst den Vergleichungen zu Grunde gelegt werden müssten, nämlich die Seltenheit der Geisteskrankheiten in wenig civilisirten Ländern und ihre geringere Häufigkeit in unsern Gegenden zu früheren Zeiten, nicht genügend durch Zahlen constatirt, und der Antheil, den die Zunahme der Bevölkerung und die vermehrte, aus einer besseren Kenntniss hervorgehende Aufmerksamkeit auf das Irresein an der wahren oder scheinbaren Vermehrung der Geisteskranken hat, lässt sich nicht von dem jener complicirten Einflüsse, die man unter Civilisation versteht, scheiden. Mag aber auch bei einem Ueberschlage im Grossen der höheren Cultur unserer Tage hier ein schlimmer Einfluss zuzuerkennen sein, so hat die moderne Gesellschaft in den civilisirten Ländern da - für auch Mittel und Wege zur Wiedergenesung vom Irresein eröffnet, welche den früheren Jahrhunderten und den ungesitteten Ländern fremd sind die Irrenanstalten, und die neueste Zeit zeigt einzelne grosse Massregeln moralischer Selbsthülfe von Seiten des Volks, wie namentlich die Mässigkeitsvereine, welche roheren Ländern und Zei - ten fehlen und mit denen ganz unzweifelhaft eine der allerhäufigsten Ursachen der Geisteskrankheiten Esquirol und Prichard nehmen für die Hälfte der brittischen Irren Trunksucht als Ursache an wesentlich vermindert wird.

Man schätzt, dass sich die Zahl der Irren in England in den letzten 20 Jahren mehr als verdreifacht habe*)Annal. med. psychol. Juillet. 1844. p. 156.. In diesem Verhältnisse hat natürlich weder die Bevölkerung, noch viel weniger die Civilisation zugenommen, und da zudem die Zeiten verhältnissmässig ruhig waren, so lässt sich ein so auffallendes Resultat106Einfluss des Geschlechtswohl hauptsächlich aus der vermehrten Aufmerksamkeit auf diese Classe von Krankheiten erklären. Mit der Zunahme der Irrenanstalten und ihrer besseren Einrichtung wächst der Zudrang zu ihnen, indem alle Welt für Fälle, die sonst für incurabel galten, nun Hülfe sucht, und es entsteht eine scheinbare Vermehrung der Krankheiten, wie solche die neuere Medicin auch bei den Herzkrankheiten und bei der Tuberculose erlebte.

Ob Manufactur - oder Ackerbaubeschäftigung, Stadt - oder Landleben erheb - lichen Einfluss auf die Häufigkeit des Irreseins habe, ob den handeltreibenden Nationen als solchen hier ein trauriger Vorzug zukomme, ob Katholicismus oder Protestantismus das Irresein mehr begünstige und manche dergl. Fragen müssen zur Zeit aus Mangel an Material und wegen der untrennbaren Complication der ein - wirkenden Umstände unbeantwortet bleiben; es führt zu nichts, mit Gründen für oder wider der Statistik vorauseilen und unentwirrbare Fragen einseitig lösen zu wollen.

§. 69.

2) Geschlecht. Die Untersuchung, ob eines der beiden Ge - schlechter vor dem andern zu Irresein disponirt sei, stösst gleichfalls auf statistische Mängel, welche eine genügende Lösung unmöglich machen. Auch hier ist die Literatur reich an Notizen und Zahlen, denen nur die Bürgschaften für ihre Richtigkeit abgehen, und auch hier sind alle Berechnungen, die auf der blossen Statistik der Irren - anstalten basiren, unzureichend und trügerisch. Es liegt in der Natur der Sache, dass weibliche Kranke, namentlich vor der neueren Vervollkommnung des Anstaltswesens, die Minderzahl der Bewohner der Irrenhäuser ausmachten, weil die Familien mehr Bedenken tragen, sie aus ihrem Kreise wegzugeben, und weil sie leichter zu bändigen und in Privatverhältnissen zu verpflegen sind. In der That haben die Zusammenstellungen von Fuchs*)Im Jahr 1833 angestellt. l. c. p. 96. nach den Zählungen in sehr vielen Anstalten ein Verhältniss der Männer zu den Weibern = 100: 75 ergeben; und nur Frankreich und die Niederlande machten mit einer grösseren Anzahl weiblicher als männlicher Kranken eine Ausnahme. Auch in den neuesten Zeiten scheinen die deutschen Anstalten um ein Ziemliches mehr Männer als Weiber aufzunehmen; es haben z. B. die Anstalten zur Siegburg**)Jakobi, die Hauptformen der Scelenstörungen. I. 1844. p. 573. und Winnenthal,***)Zeller, Bericht über d. Wirksamkeit der Heilanstalt Winnenthal. Journal für Psychiatrie von Damerow und Roller. 1844. I. t. p. 73. erstere in 18 Jahren 900 Männer, 566 Weiber, letztere in 10 Jahren 396 Männer, 251 Weiber verpflegt, während z. B. das französische Etablissement St. Yon innerhalb der 8 Jahre von 1835 43, genau die gleiche Zahl von beiden Geschlechtern aufnahm. †)Parchappe, annal. med. psych. 1843. II. p. 367.

107auf das Irresein.

Aus allen solchen Zahlen folgt aber nichts für die wirkliche grössere Häufigkeit des Irreseins bei einem oder dem andern Ge - schlecht. Die Schätzung Esquirols, die sich auf 70,000 Kranke aller Länder erstreckte, freilich ohne desshalb an Festigkeit der Basis zu gewinnen, wies eine ganz unbedeutende Mehrzahl auf Seiten des weiblichen Geschlechtes aus. Für England, Norwegen, Dänemark, Russland und Nordamerika, ebenso für die preussischen Provinzen Westphalen und Sachsen, für die südlichen Departements von Frank - reich ergeben die bisherigen Zählungen im Ganzen mehr Männer als Weiber, während dagegen in den nördlichen französischen Provinzen und in den Niederlanden die Zahl der Weiber vorherrschen soll und auch die Zählung in Würtemberg ein Vorherrschen des weiblichen Geschlechts (505 Männer, 582 Weiber) nachwies. *)Köstlin. l. c. p. 7.Alle diese An - gaben**)Fuchs, l. c. p. 95. Quetelet. p. 436. bedürfen weiterer Bestätigungen und lassen keine Schlüsse zu.

Gleich unzulässig wäre ein Versuch, aus der Häufigkeit und Bedeutsamkeit einiger, dem weiblichen Geschlechte speciell zukommender Ursachen apriorische Folgerungen zu ziehen; denn die Menstruationsstörungen, die Schwangerschaft, das Wochenbett gehören zwar unzweifelhaft unter die Verhältnisse, welche häufig zu Ursachen des Irreseins werden, aber es stehen ihnen auf Seiten des männ - lichen Geschlechts eine Reihe anderer diesen besonders eigenthümlicher Momente, vor allem die hier weit häufigere Trunksucht, die geistigen Anstrengungen, die Kämpfe des Ehrgeizes, die Gemüthsbewegungen und Erschöpfungen, welche das Geschäftsleben mit sich bringt, entgegen ursächliche Verhältnisse, durch welche gewiss jener eigenthümliche Einfluss der sexuellen Processe auf die Ent - stehung des Irreseins im Grossen und Ganzen genugsam aufgewogen wird. Mit den banalen Floskeln von grösserer Zartheit, Reizbarkeit, Gefühligkeit des Weibes aber wird Niemand eine derartige Frage im Ernste lösen wollen.

Was den Einfluss der Ehe oder des ehelosen Lebens betrifft, so stimmen die verschiedenen Angaben***)Fuchs. l. c. p. 103. Köstlin. l. c. p. 9. darin überein, dass unter den unverheiratheten Männern die Erkrankungen häufiger seien, dass dagegen unter den Weibern mehr verehlichte Personen erkranken, eine Thatsache, welche sich wohl allein aus dem Heirathen des weiblichen Geschlechts in einem früheren Lebensalter erklären lässt. Auch unter den verwittweten Kranken prädominirt das weibliche Ge - schlecht, vielleicht wegen seiner hülf - und schutzloseren Lage unter diesen Umständen. Mit Recht aber macht Zeller†)l. c. p. 18. darauf aufmerk - sam, dass, wenn zwar der ehelose Stand mehr Veranlassung zu108Einfluss des LebensaltersSeelenstörung darzubieten scheine, doch in nicht wenigen Fällen gerade in der ehelichen Verbindung und den daraus erwachsenden Missständen die Hauptquelle der Erkrankung gesucht werden muss.

§. 70.

3) Lebensalter. Keine Lebensepoche gewährt eine absolute Immunität gegen Geisteskrankheiten, aber sämtliche Statistiken stimmen darin überein, dass gewisse Altersstufen besonders und sehr über - wiegend disponiren.

Im Kindesalter (unter 16 Jahren) ist das Irresein zwar selten, an der Realität seines Vorkommens und zwar nicht nur des Blöd - sinns, sondern aller Formen der Geisteskrankheiten ist aber nicht im Geringsten zu zweifeln. Haslam, Perfect, Esquirol, Spurzheim, Guislain,*)Friedreieh, allg. Pathol. d. psych. Kr. 1839. p. 213. ff. Zeller,**)Bericht etc. Journ. f. Psych. I. 1. p. 17. wir selbst haben Fälle von Kindern, die an ausgesprochener Manie in einem Alter von 6, 7, 9, 10, 12, 13 Jahren litten, beobachtet; Foville***)Art. Aliénation. Dict. de med. I. p. 516. erzählt zwei derartige Fälle, Jördens†)Hufeland, Journ: Bd. IV. p. 224. berichtet über den merkwürdigen Fall eines Knaben, der durch kleine Glassplitter, die in seine Fusssohlen eingedrungen waren, tobsüchtig ward und es bis zur Entfernung der Splitter blieb. Stolz††)Med. Jahrb. d. östreich. Staats. Merz 1844. p. 257. S. ferner Schmidts Jahrbücher. 1842. p. 73. erzählt einen sehr interessanten Fall von Manie eines 7jährigen Kindes mit Sprachlosigkeit (und schwerer Degeneration der vordern Gehirnlappen).

Auch melancholische Zustände kommen vor (Zeller l. c.), und vor Allem die Selbstmorde im kindlichen Alter haben nach Caspers Angaben†††)Beiträge z. med. Statistik. 1825. auf eine traurige Weise in neueren Zeiten zugenommen. Im Sommer 1843 kamen kurz nach einander bei und in der Stadt Brandeis 4 Selbstmordfälle 11 - und 12jähriger Kinder vor,1)Müller, östreich. med. Jahrbücher. 1844. Juli. p. 44. in Nort - hampton stürzte sich vor Kurzem ein 13jähriges Mädchen ins Wasser, nachdem sie von ihrem Vater gezankt worden war,2)Annal. med. psych. Jan. 1844. p. 99. und es liessen sich derartige Fälle noch in ziemlicher Menge aufführen. 3)Vgl. Falret, do l’hypocondrie et du suicide. Par. 1822. p. 14.

Die Fälle wirklicher Geisteskrankheit bei Kindern scheinen theils auf einer excessiven originären, oder durch zweckwidrige Behandlung109auf psychische Erkrankung.geweckten und unterhaltenen Reizbarkeit des Gehirns, theils auch auf tieferen organischen Erkrankungen, theils auf consensueller Gehirn - reizung von den Genitalien aus (Onanie, Annäherung und Eintritt der Pubertät) zu beruhen. Nicht selten sind gleichzeitige choreaartige Erscheinungen; auch somnambüle Zustände bilden zuweilen Wechsel - und Uebergangsformen zu diesem Irresein der Kinder.

Schon weit häufiger als im Kindesalter werden die Geisteskrank - heiten vom 16ten bis 25ten Lebensjahr. Aber die ausserordentliche Mehrzahl aller Fälle fällt in die Periode der höchsten Reife, in die Zeit der leiblichen Fortpflanzung und der geistigen Productivität, der Ehe und des eigentlichen bürgerlichen Lebens, zwischen 25 und 50 Jahre. Auch hier sind die vorliegenden Angaben nicht ganz genügend zu einer präciseren Entscheidung der Frage, indem die grösseren Berechnungen*)S. Fuchs. l. c. p. 97. Quetelet. p. 443. ff. nach dem Lebensalter der in die Irrenanstalten aufgenommenen Kranken angestellt wurden, mit dem das Alter der wirklichen Erkrankung natürlich gar nicht übereinzustimmen braucht, oder indem man nur zählte, wie viele Geisteskranke einzelner Altersclassen überhaupt in einem Lande vorhanden sind. **)Z. B. Köstlin. l. c. p. 8. Ruer p. 9. und viele andere Statistiker.Wäre es erlaubt, eine verhältnissmässig sehr kleine aber sehr sorgfältig behan - delte Statistik zu Grunde zu legen***)Zeller, 2ter Bericht über die Wirksamkeit der Heilanstalt Winnenthal. Medic. Correspondenzblatt. 1840. p. 143. so würde das häufigste Alter der Erkrankung zwischen 20 bis 30 Jahre, dann zunächst zwischen 30 bis 40, und schon in sehr verminderter Proportion zwischen 40 bis 50 fallen. Namentlich für das männliche Geschlecht gibt Zeller†)Journ. f. Psychiatrie. I. 1. p. 18. den Zeitraum von 20 bis 30, für das weibliche den von 30 bis 40 als die Epochen der häufigsten Erkrankung an, und erklärt die Differenz daraus, dass in der letzteren Periode für das weibliche Geschlecht die welkende Blüthe und die mit ihr schwindenden Hoffnungen auf Lebensglück an der grösseren Zahl der Erkrankungen Schuld sei. Die weiter beobachtete Mehrheit der Erkrankung unter den Weibern vom 40 bis 50ten Lebensjahre möchte mit den Vorgängen der In - volution zusammenhängen; auch nach dem 50ten Jahre fällt noch die Mehrzahl der Erkrankung auf Seite der Weiber. Im Allgemeinen nimmt wohl die Disposition vom 50ten Jahre an ab; aber bis an die letzten Grenzen der menschlichen Lebensdauer währt eine, gegen das mittlere Alter nicht eben ausserordentlich verminderte Geneigtheit110Einfluss des Standes.zu psychischer Erkrankung fort, ja der senile Blödsinn möchte bei einer genaueren Statistik ein wieder stark vermehrtes Verhältniss für die letzten möglichen Lebensjahre hervorbringen.

Doch ist der senile Blödsinn keineswegs die einzige Form des Irreseins in diesen Jahren. Esquirol sah 2 Weiber, eine 80, die andere 84 Jahre alt, von Tobsucht genesen; Burrows erzählt einen Fall von Schwermuth und Selbstmord bei einem Vierundachtziger, wir selbst haben einen frischen Fall von Schwer - muth im 80ten Jahre behandelt und könnten noch mehrere andere dergleichen Fälle anführen.

4) Ob die Standesunterschiede einen wesentlichen Einfluss auf die Entstehung von Geisteskrankheiten haben, lässt sich, wie Fuchs (l. c. p. 102) mit Recht bemerkt, wieder nicht durch Berechnungen nach den Aufnahmen in den öffentlichen Anstalten bestimmen, da in diese natürlich weit mehr Kranke aus niederen Ständen eintreten. Als einzige, hier etwa brauchbare Notiz ist uns die Angabe von Julius*)Beiträge zur britt. Irrenheilkunde. p. 8. bekannt, dass sich in England und Wales 8500 arme und nur 12 bis 1300 bemittelte Geisteskranke in den öffentlichen und Privatanstalten befinden. Bedenkt man, dass es weit mehr arme als wohlhabende Menschen gibt, so könnte man hiernach die beiderseitige Erkrankungs - fähigkeit etwa gleich schätzen; doch ist es die gewöhnliche An - nahme, dass in den besseren Classen der Gesellschaft oder vielmehr in den reicheren, Geisteskrankheiten seltener vor - kommen, als in den ärmeren. Es scheint eben, dass das Moment, das auf der einen Seite durch grössere directe Excitation der cere - bralen Thätigkeiten vergrössernd wirkt, auf der andern überwogen wird durch Elend, Hunger und Trunksucht, während die mächtigen Leidenschaften, Liebe, Ehrgeiz, Eifersucht etc., in allen Schichten der Gesellschaft gleich häufig und ursprünglich gleich mächtig, auch bei geringerer Bildung der Intelligenz unaufgehaltener und zerstören - der wirken.

Ueber eine besondere Disposition, die durch einzelne Berufs - und Be - schäftigungsarten gegeben wäre, ist lediglich nichts zu sagen, als was die obigen Bemerkungen schon enthalten, dass wahrscheinlich die Menschenclassen, die in harter manueller Arbeit ein mühsames und bedrängtes Leben hinbringen, von dieser, wie wohl von jeder andern Krankheit, öfter befallen werden, als diejenigen, welche die weniger erschöpfenden geistigen oder gar keine Arbeiten verrichten. Sollten sich dann in einzelnen Berufsarten hier oder dort, unter Matrosen, Taglöhnern, Bauern etc. oder unter Kaufleuten, Beamten, Offizieren etc. noch weitere merkliche Uebergewichte zeigen,**)Fuchs l. c. p. 106. so wären diese erst mit den Ver -111Einfluss der Jahreszeiten.hältnisszahlen dieser Gewerbe und Berufsarten zur Masse der Population über - haupt zu vergleichen und auch von da wäre noch weit zu dem Schlusse, dass es gerade das Gewerbe selbst sei, was die Disposition begründe. Denn einzelne Berufsarten bringen gewisse Classen von Schädlichkeiten nicht mit Nothwendig - keit und als solche, sondern mehr gelegenheitlich und für das Individuum will - kürlich mit sich; z. B. die Küfer und Matrosen sind durch Neigung zum Trunk dem Delirium tremens ungewöhnlich häufig unterworfen. Freilich gibt es wieder gewisse andere Lebenslagen, in denen eine Masse verderblicher, gesundheit - zerstörender Einzeleinflüsse mit Nothwendigkeit gegeben ist, z. B. in der Gefangen - schaft*)Ob und wie weit die einzelnen der neueren Gefängnisssysteme die geistige Gesundheit der Sträflinge mehr oder weniger gefährden, diess zu entscheiden fühlen wir uns derzeit nicht berechtigt. Jedenfalls aber hat sich diese Besorgniss in Bezug auf das pensylvanische System der Einzelnhaft als höchst übertrieben erwiesen. Vgl. Würth, die neuesten Fortschritte des Gefängniss - Wesens. Wien 1844. Moreau-Christophe in Annal. med. psych. 1843. Tom. II. Gewissensbisse, Sehnsucht, Concentration auf wenige Gedankenkreise, schlechte Nahrung und Luft, Mangel an Bewegung etc., in der weiblichen Prosti - tution Elend, Verlassenheit, Trunk, empörte Leidenschaften, siphilitische Contagion etc.

5) Den auch vielfach besprochenen Einfluss der Jahreszeiten auf die Entstehung des Irreseins erwähnen wir nur, um wieder auf die Trüglichkeit mancher statistischer Angaben aufmerksam zu machen. Daraus, dass nach Esquirols Tabellen in den Sommermonaten (Mai bis Juli) am meisten, im Frühling und Herbst weniger und im Winter die wenigsten Aufnahmen in einige Irrenanstalten stattfanden, hat man auf die häufigere Entstehung des Irreseins im Sommer geschlossen. Mit grösstem Unrecht; denn welche Irrenanstalt der Welt wäre so glücklich, eine Mehrzahl von Fällen, die erst 2, höchstens 3 Monate alt sind, zu bekommen**)Winnenthal, eine reine Heilanstalt, nahm in 6 Jahren 133 Fälle von 6monatlichen Bestehen, und 150 schon länger dauernde auf. Zeller, medic. Correspbl. Juli 1840. p. 143.? Zwischen Erkrankung und Zeit der Auf - nahme gibt es auch nicht das geringste beständigere Verhältniss und es bleibt der subjectivsten Vermuthung freigestellt, wann diese in den Sommermonaten mehraufgenommenen Fälle entstanden sein mögen, ob nicht das unbequemere Reisen im Winter die Aufnahmen verringere und dergl. m. Auch von einem Einfluss der Jahreszeiten auf die einzelnen Formen des Irreseins sprechen die Statistiker; Esquirol behauptet und Jakobi***)l. c. p. 568. erweist an 181 Fällen, dass in den Wintermonaten der Ausbruch der Tobsucht am seltensten geschieht, und dass der Sommer und besonders der Frühling eine Mehrzahl von Erkrankungen in dieser Form darbieten.

112Individuelle Prädisposition.

Was endlich der Einfluss des Mondes, wenn auch nicht auf Erzeugung, doch auf Steigerung und Abänderung des Irreseins in seinem Verlaufe hetrifft, so wird derselbe von der grossen Mehrzahl der Irrenärzte geläugnet, und es hiesse jeder pathologischen Untersuchung Hohn sprechen, wenn z. B. die periodische Wiederkehr von Tobsucht - anfällen, desswegen weil sie mit gewissen regelmässigen Veränder - ungen am Himmel zusammentrifft, dem Einfluss der Gestirne zuge - schrieben würde. Desshalb soll aber eine Einwirkung des Mond - lichts auf die Geisteskranken nicht geläugnet werden. Schon die Ge - dankenbewegung des Gesunden kann durch dasselbe eigenthümlich afficirt werden, z. B. in der Form jener sehnsüchtigen, elegischen Stimmungen, welche den geläufigen Vorwurf einer mondsüchtigen Poesie bilden; bei Geisteskranken, die von so manchen sinnlichen Eindrücken stärker und anders erregt werden, als Gesunde, mag bei mangelndem Schlaf der Anblick des vollen, glänzenden Mondes, der unbestimmten Be - leuchtung, der vorüberhuschenden Wolkenschatten, verbunden mit der Stille der Nacht oder den confusen Tönen, welche Nachts durch die Irrenanstalten ziehen, wohl noch grössere Eindrücke, lebhaftere Ge - müthsbewegungen, Anlässe zu mancherlei Hallucinationen und dergl. setzen. In der That hat der kluge Esquirol die Unruhe, die man bei mehreren Kranken regelmässig zur Zeit des Vollmonds bemerkte, durch herabgelassene Gardinen beseitigt.

Zweites Capitel. Die individuelle Prädisposition.

§. 71.

1) Erblichkeit. Die statistischen Untersuchungen bekräftigen aufs entschiedenste die allgemeine Ansicht der Laien und Aerzte, dass dem Irrewerden in einer grossen Zahl von Fällen eine angeborne Anlage zu Grunde liege. Im Einzelnen differiren aber die Angaben nach den individuellen Erfahrungen, zum Theil auch nach den Men - schenklassen und den Orten, auf die sich die Untersuchung bezog, sehr bedeutend. Das enorme Verhältniss, das Burrows angibt (Erb - lichkeit in 6 / 7 der Fälle), wird durch keine Statistik erwiesen; Esqui - rol*)Die Geisteskrankheiten übers. v. Bernhard. I. p. 38. Tabelle. fand sie bei den Armen in mehr als ¼, bei den Reichen in113Erblichkeit des Irreseins.etwa der Fälle; Jessen*)Art. Jnsania. Berl. Wörterb. XVIII. p. 561. nimmt sie zu an; Bergmann**)Jahresbericht, Holschers Annalen. III. l. 1838. p. 487. fand nach der kleineren Statistik eines Jahres directe Erblichkeit in , directe und indirecte zusammen in der Fälle. Dagegen wurde von Jakobi***)Hauptformen etc. p. 600. unter 220 Fällen (von Tobsucht) nur in etwa 1 / 9, dann unter den Kranken von Bicêtre und der Salpetrière (8272 Fälle) nur in 1 / 11, und von Lautard im Marseiller Irrenhaus nur in etwa 1 / 15 der Erkrankungen Erblichkeit constatirt. †)Oppenheim, Zeitschrift. Bd. XXI. 1842. p. 16.

Diese bedeutenden Differenzen mögen von dem Vorherrschen einzelner Um - stände herrühren, die als überhaupt wichtige Punkte näher zu beachten sind.

1) Die angeborne Anlage ist da häufiger, wo die Heirathen immer unter einem kleineren Kreise von Familien oder gar in den Familien selbst geschehen; dagegen erlischt die Transmission eher bei fortgesetzter Kreuzung mit fremdem Blut. Der erstere Umstand zeigt sich deutlich unter den höheren Ständen ein - zelner Länder, auch unter der israelitischen Bevölkerung, besonders auffallend unter den englischen Quäkern. In dem Irrenhause bei York, das für diese reli - giöse Secte bestimmt ist, liess sich directe Erblichkeit bei der Kranken, indirecte (Geisteskrankheit von Seitenverwandten) bei einem weiteren Sechstheil, also beides zusammen in der Hälfte der Fälle nachweisen. ††)Julius, Beitr. z. britt. Irrenhlk. p. 281. ff.

2) Es entstehen weitere bedeutende Differenzen der Angaben dadurch, dass das einemal nur die Fälle gezählt wurden, wo die Eltern oder Grosseltern geistes - krank waren, anderemal die Annahme einer Familienanlage auch auf das Irresein der näheren Seitenverwandten (Oheime, blutsverwandten Vettern) sich gründete. Das letztere erscheint als das Richtigere, wenn man bedenkt, wie es fast immer, ausser der erblichen Disposition, noch weiterer Ursachen zum Ausbruch des Irre - seins bedarf, wie daher die vorhandene Anlage, aus Mangel solcher weiterer Momente, gerade bei den nächsten Anverwandten ruhend bleiben, ihr Vorhanden - sein aber sich an nahen Seitenverwandten deutlich erweisen kann.

3) Man thut Recht, die Familienanlage zu Geisteskrankheiten nicht abgesondert für sich allein, sondern als Anlage zu schweren Gehirn - und Nervenkrankheiten überhaupt aufzufassen. Man sieht nicht ganz selten, dass in einer Familie ein - zelne Mitglieder an Irresein, andere an Epilepsie, an schwerer Spinalirritation, Hysterie, Neuralgieen und dergl. leiden. Rush z. B.†††)Medic. Unters. über d. Seelenkrankh., übers. v. König. Leipz. 1825. p. 36. erzählt den Fall eines Mechanikers, der 2mal Anfälle von Irresein hatte, wovon der letzte sein Leben endigte. Alle seine 6 Kinder litten an Kopfweh, allein keines zeigte je eine Spur von Verrücktheit.

4) Auch in denjenigen Fällen ist eine ursprüngliche anomale Disposition nicht zu läugnen, wo die Eltern oder eines derselben zwar auch nicht an Irresein litten, aber eine auffallende Ueberspanntheit oder Bizarrerie des Characters und derGriesinger, psych. Krankhin. 8114Nähere Verhältnisse derNeigungen zeigten, die sich dem Irresein stark näherte; ebenso da, wo in einer Familie mehre Selbstmorde unter den nächsten Blutsverwandten vorfielen. Denn der Selbstmord, in so vielen Fällen eine Erscheinung der ausgebrochenen, tieferen Geisteskrankheit, ist in vielen anderen wenigstens das Ergebniss eines organisch bedingten Lebensüberdrusses, der den primitiven Formen des Irreseins, der Schwer - muth, beizuzählen ist, und die Erfahrungen sind nicht selten, dass die Geneigt - heit zur Autochirie, oft bei allen Familiengliedern in denselben Lebensjahren ausbrechend, sich forterbt. Auch das wird man leicht begreiflich finden, dass Characterschwäche und eine excessive Leidenschaftlichkeit, durch welche so häufig diese Forterbung vermittelt wird, bei einzelnen damit Behafteten unter einem Zusammenwirken unglücklicher Umstände verbrecherische Handlungen erzeugen kann, und so sehen wir zuweilen in solchen Familien Irresein, Selbstmord, Ver - brechen, durch den innern Zusammenhang gewisser Characteranlagen mit ein - ander verbunden, auf eine tief beklagenswerthe Weise wechseln.

Lautard (Oppenheim Ztschrft. Bd. XXI. p. 16) erzählt folgenden Fall. Mann und Frau, ersterer 42, letztere 36 Jahre alt, werden geisteskrank und endigen durch Selbstmord, jener durch den Strang, diese im Wasser. Sie hinterlassen 3 Kinder. Die älteste Tochter vergiftet sich im 24. Jahr, nachdem sie längere Zeit in Prostitution gelebt; der Sohn erwürgt sich, im 21. Jahre, eines Meuchel - mords angeklagt; die jüngste Tochter stürzt sich, im 6. Monat schwanger, von einem Dache herab; sie hinterliess einen Sohn, der schon sehr jung öfters ins Gefängniss gesteckt wurde und dann als Abentheurer nach Aegypten ging.

Fräulein M. von Orotava, 30 Jahre alt, aus einer alt-spanischen, adeligen, nie durch eine Mésalliance verunreinigten Familie, ist geisteskrank in der Form eines periodischen Wechsels von Melancholie und Manie mit Neigung zum Selbstmord. Ihr Grossvater starb durch Selbstmord im 50ten Lebensjahr. Von seinen 3 Söhnen endigten 2 schon in jugendlichem Alter, aus Liebeskummer, selbst ihr Leben. Der dritte, der Vater des Fräuleins M., zeigt solche Bizarrerieen und Launen, dass man ihn für nahezu geisteskrank halten muss. Sein Sohn, der einzige Bruder der M., stürzte sich im 20ten Jahre ins Meer, aus Verzweiflung über die Untreue einer Geliebten; ihre Schwester zeigt, in den glücklichsten Lebensverhältnissen, einen so düstern Character, dass man ihr dasselbe Schicksal prophezeiht. *)Annal. med. psychol. Mai. 1844. p. 389.

Zuweilen aber begegnet man auch in solchen Familien, wo einzelne Mitglieder an Irresein leiden, anderen von ausgezeichneter, hervorragender Intelligenz. Wir könnten 2 solche Beispiele grosser wissenschaftlicher Celebritäten aus unsern Tagen anführen; es ist nicht unwahrscheinlich, dass eine grössere Erregbarkeit der cerebralen Processe und eben jene geistigen Eigenthümlichkeiten, welche dort zu Ueberspanntheit und Bizarrerie werden, hier, bei günstigen äusseren Umständen und ungetrübter körperlicher Gesundheit, sich als erhöhte Activität und Energie der Intelligenz und als Originalität des Denkens aussprechen.

Esquirol nahm an, und Baillarger**)Rech. statist. sur l’hérédité de la Folie. Annal. med. psych. Mai 1844. p. 330. seqq. hat durch eine 453 Fälle umfassende Statistik gezeigt, dass sich das Irresein öfter und zwar115Fortpflanzung des Irreseins.um häufiger von der Mutter, als vom Vater, auf die Kinder forterbt; er fand zugleich, dass bei geisteskranker Mutter eher mehre Kinder befallen werden, dass die Forterbung der Disposition auf die Söhne von der Mutter und vom Vater fast gleich oft geschieht, dass dagegen die Töchter ihre Anlage noch einmal so oft von der Mutter als vom Vater erben. Hieraus geht hervor, dass durch Irresein der Mutter die Kinder überhaupt mehr gefährdet sind, als durch Irresein des Vaters, und dass es die Kinder weiblichen Geschiechts sind, welche jener ungünstige Einfluss vorzugsweise trifft.

Viele Erfahrungen zeigen weiter, dass Kinder, welche geboren wurden, ehe bei ihren Eltern die Geisteskrankheit zum Ausbruch kam, seltener erkranken, als solche, welche erst nach dem Ausbruche des Irreseins gezeugt wurden. Zuweilen indessen kommen auch Fälle vor, wo die Kinder zuerst, vor den Eltern erkranken, indem eben eine Menge den Ausbruch begünstigender Ursachen bei jenen zusammentrifft, während diese durch ein glücklicheres Geschick bis in ein höheres Alter solchen weiteren ursächlichen Einflüssen entgingen.

Wiewohl man sich die erbliche Anlage allerdings zunächst und hauptsächlich als eine das Gesamt-Nervensystem und namentlich das Gehirn betreffende vorstellen muss, so hat doch die deutsche soma - tische Schule*)Vgl. Jakobi, die Hauptformen etc. p. 605. Zeller, Journ. für Psychia - trie. I. 1. p. 44. Der letztere Beobachter erwähnt dabei auch den Habitus apo - plecticus; mit welchem Rechte, s. bei Rokitansky, Handb. d. path. Anatomie. II. p. 801. mit Recht darauf aufmerksam gemacht, dass es auch angeerbte Dispositionen zu anderartigen, primär das Nervensystem nicht befallenden Erkrankungen gibt, welche zu deuteropathischer Affection des Gehirns in Form von Seelenstörung Anlass geben mögen. Wir möchten hierher namentlich die Tuberculose der Lungen, über - haupt die chronischen Brustkrankheiten, andrerseits vielleicht einzelne Genitalien-Affectionen rechnen.

Vergleicht man übrigens die vorliegenden Thatsachen über die Heredität des Irreseins mit der Erblichkeit anderer Krankheiten, z. B. der Phtisis, so findet man hier dieselben bedeutenden Differenzen der Angaben**)Briquet fand unter 99 Fällen von Phtisis in etwa 4 / 10, Louis unter seinen Kranken nur in 1 / 10 der Fälle phtisische Eltern. Louis, recherches sur la phtisie. 2me édit. Par. 1843. p. 582., welche vielleicht gerade auf nahezu gleiche Ver - hältnisszahlen der Heredität beider Anlagen hindeuten.

8 *116Einfluss der Erziehung.

§. 72.

2) Erziehung. Die Richtungen, die im zarten Alter das Vor - stellen und Wollen des Individuums annimmt, sind entscheidend für sein ganzes Leben, und hier ist als ein erstes, wichtiges, an die Heredität zunächst sich anschliessendes Moment der Einfluss des Beispiels der Eltern auf das Kind zu erwähnen. Mit Ideler sind auch wir der Ansicht, dass es Fälle s. g. erblichen Irreseins gibt, die es weniger durch Uebertragung einer organischen Disposition, als durch eine spätere psychische Fortpflanzung von Charactereigen - thümlichkeiten geworden sind, indem der Nachahmung des Kindes das Beispiel gewisser Excentricitäten, gewisser bizarrer und ver - kehrter Lebensansichten und Richtungen geboten wird, welche von Anbeginn der Entwickelung eines gesunden, mit der Aussenwelt har - monirenden Seelenlebens hinderlich werden. Wie es auf diesem Wege eine Uebertragung der Hysterie von der Mutter auf die Tochter gibt, so gehen auch von närrischen oder halbnärrischen Eltern psy - chische Verzerrtheiten auf die Kinder über und Leidenschaftlichkeit und üble Neigungen prägen sich der jungen Seele ein. Dazu kommt noch, dass durch einen solchen Zustand der Eltern so häufig das Familienleben zerrüttet und dadurch das Zusammenwirken jener günstigen Umstände zerstört wird, welche für eine harmonische Ent - wickelung des kindlichen Characters wesentliche Erfordernisse sind.

Die eigentlichen Erziehungsfehler betreffen einmal eine allzu - frühe intellectuelle Anstrengung, bei welcher, mit unzeitiger Präcocität aller geistigen Processe, die gesunde körperliche Entwickelung ge - hemmt und der Keim späterer Kränklichkeit und Schwächlichkeit gelegt wird. Noch wichtiger aber sind ungünstige und verkehrte Einflüsse auf die Empfindungsweise und die Willensrichtungen des Kindes. So gibt es Fälle, wo durch übermässige Härte, durch ein kaltes, abstossendes Verhalten der Eltern zu den Kindern, durch an - haltende Kränkung, Demüthigung und Gemüthsmisshandlung die Ent - wickelung der natürlichen wohlwollenden Neigungen gehemmt und die zartere Empfindung erdrückt wird. Damit wird schon frühe ein schmerzlicher Widerspruch mit der Aussenwelt in dem Individuum gesetzt; und namentlich scheint bei einzelnen Naturen, indem sie mit ihren nicht sobald bezwingbaren, wohlwollenden Neigungen, mit ihrem Liebebedürfniss zur Flucht in eine imaginäre Welt genöthigt werden, ein verderblicher Hang zu Phantasterei geweckt und genährt zu werden. Fast noch verderblicher auf das Kind wirkt jene allzugrosse Nach -117Einfluss der Constitution.giebigkeit von Seiten der Eltern, welche die eigensinnige und zügel - lose Entwickelung aller Neigungen und Lüste zulässt; früher oder später ist dann ein schroffer Zusammenstoss mit dem Leben unver - meidlich, und heftige Leidenschaften und Affecte mit ihren gesund - heitsstörenden Einwirkungen können nicht ausbleiben.

Vgl. den im folgenden Buche erwähnten, von Pinel erzählten Fall. (Traité de l’aliénation mentale. p. 159.)

§. 73.

3) Psychische und somatische Constitution. Das Urtheil über die leibliche Constitution gründet sich gewöhnlich auf einige auffallender wahrnehmbare, anatomische Verschiedenheiten unter den Individuen, namentlich in Bezug auf Entwickelung des Muskelsystems. Wir müssen darauf verzichten, in Verschiedenheiten dieser Verhält - nisse etwas zu Geisteskrankheiten Disponirendes aufzufinden, denn die tägliche Beobachtung zeigt, dass muskelstarke und schwächliche, ebenso wieder trockene und feuchte Constitutionen so ziemlich in gleicher Anzahl von Irresein befallen werden.

Dagegen gibt es eine andere, anatomisch durchaus nicht, sondern nur physiologisch erkennbare, primitive oder erworbene Constitution, welche wesentlich zu Geisteskrankheiten disponirt. Es ist diess die sogenannte nervöse Constitution, jenes Verhalten der Central - Organe, welches man im Allgemeinen als ein Missverhältniss der Reaction zu den einwirkenden Reizen bezeichnen kann. Dieses Ver - halten kann sich nun in einzelnen Abtheilungen des Central-Nerven - systems, entweder mehr im Rückenmark oder mehr im Gehirn äussern, sehr häufig thut es sich in allen nervösen Acten zugleich kund. Im sensitiven Nervensystem bemerkt man Hyperästhesieen verschiedener Art, grosse Empfindlichkeit für Temperatureindrücke, spontanen Wechsel der Kälte - und Hitzesensation, besonders aber das Auftreten zahl - reicher Mitempfindungen und ein sehr leichtes Entstehen von Schmerz. Die motorisch-nervösen Acte zeichnen sich aus durch Abnehmen der ganzen Kraftgrösse, leichte Erschöpfbarkeit, durch Neigung zu rascheren, ausgebreiteteren, aber weniger energischen Bewegungen, durch erhöhte Convulsibilität. Auf geistigem Gebiete bemerken wir entsprechend den beiden analogen Zuständen der Empfindung und Bewegung, einer - seits die grössere psychische Empfindlichkeit, die leichtere Neigung zum psychischen Schmerz, den Zustand, wo jeder Gedanke auch zu einer Gemüthsbewegung wird, daher den raschen und leichten Wechsel der Selbstempfindung und der Stimmungen, andrerseits Schwäche und118Die nervöse Constitution.Inconsequenz des Wollens, Energielosigkeit des ganzen Strebens mit hastigen und wechselnden Begehrungen. Die Intelligenz selbst zeigt dann oft die gleiche Beschaffenheit; es sind diess jene zuweilen leb - haften, schillernden Köpfe, denen es aber an Tiefe und Ausdauer fehlt, die nichts geistig durchführen, weil sie sich zu allem als Dilet - lanten verhalten, bei lebhafter Phantasie jene mittelmässigen, aber baroken Musiker und Poeten oder jene missrathenen Universalgenies, die bei einer gewissen Raschheit und Vielfältigkeit des Denkens nie Sammlung und Ruhe zu etwas Tüchtigem finden konnten. Erkranken solche Menschen am Ende an Irresein, so findet man darin eine Bestätigung des Satzes, dass, nur wer einen rechten Verstand gehabt habe, ihn verlieren könne, während in der That eine wirklich kräftige Entwickelung und Durchbildung der Intelligenz das Irrewerden keines - wegs begünstigt, sondern ihm entschieden hinderlich ist.

Auf psychischem Gebiete nun sind die nächsten Folgen, die äusseren Erschei - nungsweisen der zu hohen Reizbarkeit, der reizbaren Schwäche, (Vgl. p. 44.) sehr verschieden; viele dieser Erscheinungen lassen sich aber zunächst auf eine grössere Geneigtheit zu psychischem Schmerz zurückführen; bei der grösseren Aus - breitung der Erschütterungskreise wird das psychische Gleichgewicht eher gestört, das Ich leichter afficirt, daher überhaupt die leichtere Angegriffenheit und grössere Kränkbarkeit solcher Individuen, welche sich nun bald ungeduldig aufbrausend, unduldsam gegen Widerspruch, aggressiv gegen Andere verhalten, bald, den psychischen Eindrücken ausweichend, sich spröde in sich selbst zurückziehen, und unfähig, ihre Gemüthsinteressen durch die That zu befriedigen, die Wolke der Phantasie umarmen, in deren Besitz ihnen dann die Welt gemein erscheint und sie sich zu gut und edel für dieselbe dünken. So kommen verschiedene Aeusserungsweisen derselben Grundzustände heraus, die indessen im Allgemeinen darin übereinstimmen, dass das Missverhältniss der Reaction zu den Einwirkungen bei höherem Grade als Ueberspanntheit und Uebertriebenheit erscheint, durch die das Individuum mit seinen Launen und oft unerwartet wechselnden Reactionsweisen aus der Linie tritt und in der Welt für ein Original, einen Sonderling gilt. Solche Menschen zeigen zuweilen ängstliche Scrupulositäten und kleinliche Pe - danterie (nicht ganz selten mit mechanischem Talent verbunden); anderemale Leichtsinn, Unordnungen, Unbestimmtheiten des Denkens und Handelns, bald Kälte und Apathie, bald excentrische Heiterkeit, bald Unentschlossenheit, bald Verwe - genheit, höchsten Eigensinn oder stete Veränderlichkeit, Niedergeschlagenheit oder Enthusiasmus, immer aber bei aller Mannigfaltigkeit der Charaktere und der Bildungsstufen allzuheftige, andersartige und wegen des Widerspruchs mit dem Verhalten des Durchschnitts-Menschen, grillenhaft erscheinende Reactionsweisen.

§. 74.

Solche psychische Dispositionen kommen unzweifelhaft angeboren, und namentlich angeerbt, sozusagen häufig eben als Träger der Here - dität des Irreseins, vor, und geben sich dann schon frühe, im Kreise119Ihre Entstehungsweise.des kindlichen Seelenlebens, durch sonderbare Geschmacksrichtungen, heftige Empfindlickheit, durch Flüchtigkeit der Neigungen und des Lernens kund, so dass solche Individuen nicht selten von Anbeginn an zu Gegenständen der Verlegenheit und Betrübniss ihrer Eltern und Lehrer, zuweilen freilich auch zu Gegenständen einer unver - ständigen Bewunderung werden. Manche unsrer, auf Selbstgeständ - nissen Kranker und Genesener beruhenden Beobachtungen stimmen mit der Angabe von Fodéré*)Essai médico-légal sur les diverses éspéces de folie etc. Strasb. 1832. überein, dass mit solchen Dispositionen häufig eine zu frühzeitige Entwickelung des Geschlechtstriebs und daraus spontan entwickelte Onanie, auch frühe Hämorrhoidalkrankheit zusammentreffen.

So zweifelhaft es sein mag, ob diese Momente sich gerade als ursäch - liche zu jenen psychischen Eigenthümlichkeiten verhalten, so ist es immerhin der grössten Beachtung werth, dass man auch, wo solche angeborene Disposi - tionen fehlen, im späteren Alter im Gefolge örtlicher Genitalienkrankheiten ausser - ordentlich häufig sich dieselben psychischen Anomalieen entwickeln sieht,**)Man vergleiche die 115 Kranken-Geschichten Lallemands (des pertes séminales.) Man erstaunt, wie fast ohne Ausnahme die Kranken eine Aenderung ihres psychischen Verhaltens in der erwähnten Richtung angeben. und es braucht kaum daran erinnert zu werden, wie die sogenannte Hysterie, welche jenes Verhalten der nervösen Processe zunächst im Spinal -, ausserordentlich häufig aber auch im Cerebral-System zeigt, so häufig auf Unordnungen der sexuellen Processe beruht.

Auch andere Erkrankungen, namentlich alle bedeutenden Säfte - verluste, und die daraus folgenden anämischen und Erschöpfungs - zustände sind oft als Ursachen der erworbenen nervösen Constitution erkennbar; anderemale scheint es, dass aus localen Hyperästhesieen, indem hier dieser, dort jener Nerv lange Reizungen auszuhalten hatte***)Lotze, allgem. Pathologie., sich solche chronische Reizungszustände der Centralorgane wie im Tetanus acute entwickeln. Es mögen dann locale Heerde und Ausgangspunkte des Leidens in den Centralorganen bestehen, die freilich niemals anatomisch nachweisbar sein werden, vielleicht aber durch die Spinalempfindlichkeit einzelner Stellen, durch Kopfschmerzen (Affectionen des Quintus) und dergl. annäherungsweise ihren Sitz verrathen.

In ähnlicher Weise mögen die widrigen psychischen Eindrücke, Schrecken, Kummer etc., denen wir so häufig als Ursachen der ner - vösen Constitution begegnen, durch aufgedrungene, plötzliche oder120Die nervöse Constitution.anhaltende Reizung grösserer oder kleinerer Abschnitte des Gehirns wirken, sofern sie nicht (s. unten §. 78) erst durch Umwege deutero - pathische Gehirnaffectionen veranlassen.

Die Fälle sind verhältnissmässig selten, aber nicht zu läugnen, wo in ganz langsamer, allmähliger Entwickelung solche psychische Anomalieen ohne weiter nachweisbare schädliche Einflüsse in ent - schiedenes Irresein übergehen; weit gewöhnlicher bildet die nervöse Constitution nur eine Disposition, zu der noch etwas anderes, eine wirkliche Ursache, sei es eine weitere körperliche Erkrankung oder ein psychisches Moment hinzutreten muss, damit die leichte Störbarkeit zur wirklichen Störung, die mässigeren psychischen Abweichungen zu tieferem Irresein, zu einer wirklichen Gehirnkrankheit werden.

Nach dem in diesen beiden §§. Gesagten können wir von einer weiteren Besprechung der sogenannten Temperamente, insofern sie etwa zu Geistes - krankheiten disponiren sollen, abstehen. Wir so wenig als manche andere geschätzte Forscher (Gall, Georget, Lotze u. A.) vermögen diesen 4 Categorieen, ursprünglich aus der dunkelsten Humoralpathologie hervorgegangen und niemals zu empirischem Nachweis oder nur der mindesten practischen Brauchbarkeit ge - bracht, irgend einen Werth beizulegen.

Ausser den angeführten Umständen muss man nun eine Menge schwererer, chronischer Krankheiten als somatisch prädisponirende Momente betrachten. Wie bemerkt entstehen die Geisteskrankheiten gewöhnlich unter dem Einflusse mehr - facher, zusammenwirkender ungünstiger Verhältnisse; dass im einzelnen Falle gerade hier, unter gewissen gegebenen Umständen eine solche Gehirnkrankheit ausbricht, darauf kann eine früher vorhandene Beeinträchtigung des allgemeinen Gesundheitszustandes durch eine chronische anderweitige Krankheit nicht ohne Einfluss sein. Nur davor muss gewarnt werden, nicht ohne den nöthigen patho - logischen Erweis auf einzelne leichte oder missdeutete Symptome hin, schwere, chronische Allgemeinkrankheiten zu hypostasiren, weil solche Annahmen so häufig zu überflüssigen und gewaltthätigen Arzneikuren führen. Es wäre eine Wieder - holung der ganzen speciellen Pathologie, wenn hier alle diese Erkrankungen aufgezählt werden sollten; die hauptsächlichsten werden unter den somatischen Ursachen mit näherer Besprechung ihrer Wirkungsweise bei Erzeugung des Irre - seins erwähnt werden; hier soll nur nochmals an die innere Untrennbarkeit der disponirenden und der im engeren Sinne ursächlichen Momente erinnert werden.

Dass ein früher schon einmal bestandenes, aber geheiltes Irresein zu einem neuen Erkranken disponire, wird keiner weiteren Erörterung bedürfen. Ueber Rückfälle S. das Capitel von der Prognose.

121

Dritter Abschnitt. Die Ursachen der psychischen Krankheiten.

Erstes Kapitel. Wirkungsweisen der Ursachen.

§. 75.

Obwohl die Geisteskrankheiten in der Mehrzahl der Fälle aus einem Zusammenwirken mehrerer, zum Theil vieler ungünstiger Um - stände entstehen, so erscheinen doch gewöhnlich einige unter diesen Momenten so besonders wichtig und wirksam, dass man sie näher als die besondere Ursache bezeichnen muss, oder es kommen Fälle von Erkrankung vor, die man nur der Einwirkung eines einzigen un - günstigen Verhältnisses zuschreiben kann. Bei der Besprechung dieser näheren Ursachen haben wir theils gewisse äussere Schädlichkeiten, theils die widrigen Einflüsse gesundheitszerstörender Gewohnheiten, theils gewisse abnorme organische Zustände selbst zu würdigen, welche zunächst solche Erkrankungen des Gehirns einleiten können. Der Weg, auf dem sie wirken, ist ein doppelter: einmal durch eine, (statio - när werdende) nervöse Irritation des Gehirns, sodann durch Entwickelung von Hyperämieen in der Schädelhöhle. Nament - lich die letztere Entstehungsweise erscheint uns als eine ungemein wichtige, insoferne die pathologische Anatomie zeigt, dass Hyperämieen des Gehirns, namentlich der Gehirnrinde und der Pia, den allerge - wöhnlichsten Leichenbefund in den frischeren Fällen von Geistes - krankheit ausmachen, und als wir desshalb ohne allen Zweifel in diesen Hyperæmieen ausserordentlich oft den nächsten organischen Grund der psychischen Anomalieen zu erkennen haben.

Nicht so freilich, als ob jede Gehirnhyperämie bei jedem Menschen auch unmittelbar und nothwendig ein Irresein zur Folge haben müsste die clinische Beobachtung zeigt uns oft genug habituelle Kopfcongestionen ohne diesen Sym - ptomencomplex; sondern diess ist unsere, aus den Thatsachen sich ergebende Ansicht, dass die Ausbildung einer Gehirnhyperämie da diese Symptome hervor - bringt, wo sie in einem schon disponirten, sei es durch Heredität, durch vor - ausgegangene langwierige und schlimme psychische Eindrücke, durch eine weniger adäquate Ernährung, kurz auf irgend welche Weise zu dieser Art krankhafter Reaction geneigt gewordenen Gehirne auftritt. Insofern bilden die Kopfcongestionen die wichtigsten näheren Ursachen des Ausbruchs; sie setzen anderseits, wenn sie lange in mässigeren Graden anhalten, langsam ausgebildete Dispositionen, die erst mit dem Hinzutreten eines neuen schädlichen Moments, z. B. eines stärkeren psychischen Eindrucks, zu wahrem Irresein werden. Namentlich der Missbrauch der spirituösen Getränke scheint oft in letzterer Weise zu wirken.

122Die Gehirnhyperämie und

Die Möglichkeit wahrer Gehirnhyperämie überhaupt, welche bekanntlich von einzelnen Pathologen (Abercrombie)*)Malad. de l’encéphale, p. Gendrin. Par. 1835. p. 432. seqq. Vgl. Kellie, über den Tod durch Kälte und über Gehirncongestionen; in Nasses Sammlung für Ge - hirnkrankheiten. I. 1837. p. 21. Burrows, in Lond. Med. Gaz. 1843. Merz. April. in Zweifel gezogen worden ist, halten wir für genügend durch directe anatomische Beobachtung erwiesen; bei jeder wirklichen Vermehrung des Blutgehalts wird dann allerdings entweder eine mässige Com - pression der Gehirnsubstanz oder einiges Zurückweichen der Cerebrospinalflüssig - keit aus dem Schädel in den Wirbelcanal eintreten müssen. Dagegen stimmen wir Abercombie darin ganz bei, dass es Blut stagnationen, auch ohne wirkliche Vermehrung der ganzen im Schädel circulirenden Blutmasse, gebe, welche aus vermindertem arteriellem Impetus hervorgehen. Bei einer bedeutenden Schwäche der Herzcentractionen, bei Verknöcherung der Gehirnarterien, wo deren Elasticität das Fortrücken der Blutwelle nicht mehr unterstützt, fliesst das Blut langsamer, als sonst, durch das Gehirn, es nimmt desshalb eine venösere Beschaffenheit an, und es kann diese nicht ohne Einfluss auf die Functionen bleiben. Es ist keine unwahrscheinliche Hypothese, dass auf solchen Verhältnissen, daneben auf Ab - weichungen in der Statik (und der chemischen Constitution) des Cerebrospinalflui - dums, manche Anomalieen der Gehirnthätigkeit beruhen mögen, welche man aus Mangel an handgreiflichen anatomischen Veränderungen derzeit noch als nervöse Irritationen betrachten muss.

§. 76.

Was die nähere Entstehungsweise dieser Gehirnhyperämieen betrifft, so sind sie

1) sogenannte active. Leider ist hier im Gehirn, so wenig als in andern Organen, der Mechanismus der activen Hyperämieen gehörig verständlich und die mehr oder weniger hypothetischen Annahmen einer vermehrten Attraction des Bluts durch das Gewebe, einer (wahrscheinlicheren) Erschlaffung der Haargefässwandungen etc. können die Sache nicht ganz erschöpfen. Eine wahrhaft active, d. h. wirklich durch einen vermehrten Zustrom a tergo gesetzte Gehirnhyper - ämie sehen wir eigentlich nur bei der Hypertrophie des linken Herzventrikels, besonders bei gleichzeitiger Verengerung der abstei - genden Aorta.

2) Weit fasslicher in ihrer Entstehungsweise und ohne Zweifel auch weit häufiger, als die active Hyperämie des Gehirns, ist bei den Geisteskranken die s. g. passive, venöse Hyperämie. Zahlreiche Beobachter, als deren Repräsentanten wir vor Allem Guislain**)Die Phrenopathieen, übers. von Wunderlich p. 96. seqq. p. 117. seqq. nennen, haben längst darauf aufmerksam gemacht, wie die Kopfcongestion der Irren in der Mehrzahl der Fälle keine entzündliche sei, sondern123und deren nächsten Ursachen.in der Anfüllung auch der grösseren Gefässe mit einem dunkeln Blut, in einer Verstopfung langsameren Verlaufs bestehe, welche am Ende in chronische, passive Entzündung übergehe. Guislain hat auch einige, damit zusammenhängende, äusserlich am Lebenden wahrnehmbare Erscheinungen naturgetreu geschildert, das Vorspringen der Temporal - und Halsvenen, die bläuliche, bleiartige, oft dunkel - bräunliche Färbung des Gesichts, namentlich in der Umgebung der Augen und der Nasenspitze, welche sich in so vielen Fällen zeigt und in der Reconvalescenz, ja schon in den Intermissionen wieder verschwindet, die zuweilen vorhandene Röthung und Ecchymosirung der Conjunctiva, kurz die äusseren Zeichen einer allgemeinen ven - ösen Hyperämie des Kopfes.

Wie entstehen nun diese venösen Hyperämieen? Wir halten sie im Durchschnitt für mechanische, d. h. durch ein gehindertes Rückfliessen des venösen Blutes bedingte. Schon am Schädel selbst können sich mechanische Hindernisse für die Entleerung der Sinus bilden. *)Die nähere Angabe S. bei der patholog. Anatomie, worauf wir uns ein für allemal berufen.In der Mehrzahl der Fälle aber mag das Hinderniss tiefer unten, in den Respirations - oder Circulationsorganen liegen. Wir erinnern vor Allem an das unzweifelhaft häufige Vorkommen der or - ganischen Herzkrankheiten bei den Irren, und an den mit Recht (Nasse, Jakobi) für die Pathogenie des Irreseins hoch angeschlagenen Einfluss der nervösen Herzirritation, welche gleichfalls Unregelmässigkeit im Kreislauf zufolge hat. Wir erinnern an den häufigen Zusammenhang des Irreseins mit Krankheiten der Respirationsorgane, namentlich mit Tuberculose (Esquirol, Bergmann etc.). Wir gehen aber noch weiter und sind der Ansicht, dass in sehr vielen Fällen das Irresein aus mechanischen Hyperämieen entsteht, die ohne tiefere Erkrankung der Brustorgane auf verlangsamter, unvollständiger, behinderter Respiration, Ueberfüllung des rechten Herzens und unvollständiger Entleerung der Jugularvenen beruhen.

Es ist bekannt, dass bei der Inspiration das Venenblut in die ausgedehnte Brusthöhle gezogen wird und in grösserer Quantität in das rechte Herz einströmt, dass umgekehrt bei gehemmter Inspiration die Jugularvenen anschwellen. Wenn es Umstände giebt, welche längere Zeit, anhaltend fort, eine geschwächte Respiration setzen, so dass das Ein - und Ausathmen sowohl seltener, als namentlich die Ausdeh - nung der Brust bei der Inspiration unvollständiger geschieht, so muss124Die venöse Hyperämie,zunächst durch die mangelhafte Ausdehnung des Brustraums sich allmäh - lig ein Ueberschuss von Blut in den Venen, namentlich auch in den Jugularvenen und rückwärts von ihnen, bilden - Trotz des verminderten Zuflusses von Venenblut in die Brusthöhle kann sich, wenn die Re - spiration sehr schwach oder die Herzcontraction weniger energisch und vollständig (die Blutwelle, der Puls klein) ist, dabei Ueberfüllung des rechten Herzens ergeben und diese den Abfluss des venösen Blutes aus den Jugularen noch weiter verlangsamen: dann muss sich mit Nothwendigkeit auch eine venöse Stase in der Schädelhöhle ausbilden.

Giebt es nun wirklich Umstände, unter denen die Respiration eine solche anhaltende Verlangsamung und Schwächung erleidet? Es gibt nicht nur solche, sondern sie sind sehr häufig und sie sind, wenn gleich bisher nicht nach ihrer angegebenen Wirkung gedeutet, doch von allen Irrenärzten als ausserordentlich wichtige Ursachen der Geistes - krankheiten anerkannt. Es sind diess nämlich die Zustände der an - haltenden, depressiven Verstimmung, des dauernden Seelen - schmerzes. Man beobachte die Wirkungen des Kummers, des Grams, auf die genannten Processe, man sehe, wie die Respiration langsam, oberflächlich, selten wird, wie sich bald Oppression auf der Brust einstellt, der durch nothwendig gewordene, einzelne tiefe Inspirationen (Seufzer) nicht vollständig abgeholfen wird, man bemerke dabei die Kleinheit und oft die Verlangsamung, sogar Irregularität des Pulses, das dunklere, ältere Aussehen des Individuums, die blauen Ringe um die Augen, den dumpfen Druck im Kopf, über den oft geklagt wird und man hat einen Complex von Phänomenen, welche die un - mittelbare Modification des Athmens und des Kreislaufs vom Gehirne aus und die schnelle Rückwirkung auf dieses Organ offen zeigen. Es bedarf kaum der Erinnerung, wie aus der Respirationsbehinderung jene Angstgefühle, die wir so häufig im Beginn des Irreseins auf - treten sehen, sich bald und nothwendig erheben müssen.

Die Schwächung der Respiration selbst durch den depressiven Affect wird man sich als eine Affection des Vagus oder vielmehr seiner Centralenden zu denken haben. Nach Durchschneidung der Vagi verlangsamt sich nemlich sogleich (nicht erst bei Annäherung des Todes) die Zahl der Respirationen,*)Vgl. Longet, Anat. et physiol. des syst. nerv. II. p. 292. Sowohl diese Verlangsamung, als die Angst der Thiere ist häufig von uns selbst beobachtet worden. und die Thiere zeigen dabei eine Angst und Unruhe, die mit der Grösse der Verletzung in keinem Verhältnisse steht.

Der angegebene Zusammenhang erläutert aufs beste den längst empirisch bekannten häufigen Nutzen der Aderlässe in dem ersten Anfangsstadium des125von der Lunge aus entstanden.Irreseins. Später kann die Berücksichtigung dieses Verhältnisses allein den Aderlass nicht mehr indiciren, denn einmal ist es bekannt, wie überhaupt schon habituell gewordene Stasen durch Blutentziehung sehr selten geheilt werden können, dann aber haben diese mechanischen Hyperämieen oft bei längerer Dauer weitere Folgen derselben Art, wie die entzündlichen , nemlich Macerations -, Er - weichungs-Processe, seröse (Oedeme) serösplastische (zu Verklebungen der Hirnhäute führende) Exsudationen, welche vollends dem Aderlass nicht mehr weichen können.

Nicht nur die langsamer und anhaltender wirkenden, sondern auch die acu〈…〉〈…〉 verlaufenden Zustände von Seelenschmerz machen Kopfcongestion, so namentlich der Zorn und der acute Zustand von Betrübniss, in dem wir das Individuum gerne den schweren Kopf mit den Händen stützen sehen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass auch diese Hyperämieen mechanische, in Folge einer Respirations - und Circulationsstörung sind. Wir haben vor kurzem wieder ein auffallendes Beispiel solcher Wirkungen des depressiven Affects beobachtet. Ein vollblütiger, junger Mann hatte mit den besten Hoffnungen eine Dienstprüfung angetreten, die indessen nicht den gewünschten Erfolg hatte. Er erfuhr diess am Abend; bis dahin ganz wohl und heiter, verfiel er sogleich in grosse Depression, die Nacht war gänzlich schlaflos, er konnte nicht im Bette bleiben, sondern brachte den grössten Theil der Nacht am offenen Fenster zu, wobei ihm leichte Delirien, eine Bilderjagd vor - kamen; bald stellte sich heftiger Kopfschmerz und Uebelsein ein. Am andern Morgen war der Kopf ganz dunkelroth und sehr heiss, die Augen injicirt, der Puls klein, schnell und sehr ungleich; dabei starkes Kopfweh, Agitation, Zungenbeleg und Brechneigung. Aderlass von 1 . Auf denselben schnelle Besserung aller Symptome, der Kranke gab gleich als ihm selbst auffallend an, wie ihm jetzt nach dem Aderlasse plötzlich Alles durchaus nicht mehr so schwer und traurig erscheine, wie vorher, und war jetzt erst für Zuspruch empfänglich. Nachmittags spontanes Nasenbluten, darauf völlige Herstellung.

Wiewohl wir nun geneigt sind, diese Wirkungsweise der depressiven Ge - müthszustände, nemlich die Setzung einer mechanischen Gehirnhyperämie, für die wichtigste zu halten, so ist es doch nicht unsere Ansicht, dass jene Zustände immer und nur auf diese Weise wirken. Es ist vielmehr kein Zweifel, dass sie eine ganz directe irritirende Folge für das Gehirn haben und dass auf diesem primären Wege ein Irresein, so gut wie eine Epilepsie, entstehen kann. In andern Fällen mag die chronische Verdauungsstörung, die oft jene Gemüths - Zustände begleitet, einen anämischen Zustand bedingen, und dieser ein Causal - Moment der Gehirnirritation abgeben. Die Auffindung des pathogenetischen Mechanismus im Einzelfalle ist eben die Aufgabe des kundigen und rationellen Arztes, und es ist gewiss, dass hier noch Vieles, ja vielleicht das Meiste, zu entdecken ist.

126

Zweites Kapitel. Psychische Ursachen.

§. 77.

Wir haben nun die hauptsächlichsten nähern Ursachen der Geistes - krankheiten einzeln zu besprechen. Bei ihrer grossen Mannigfaltig - keit, bei der Verschiedenheit ihrer, dazu oft wenig bekannten, Wirkungs - weisen entziehen sie sich einer logisch scharfen Anordnung, und wir wollen sie gruppenweise, nach ihrer Wichtigkeit und Bedeutung ge - ordnet, neben einanderstellen.

Die psychischen Ursachen halten wir für die häufigsten und ergiebigsten Quellen des Irreseins, sowohl was die Vorbereitung als namentlich und hauptsächlich die unmittelbare Erregung der Krankheit betrifft; bekennen indessen, dass sich diese Ansicht nicht sowohl auf Zählungen,*)Wir könnten sehr viele Zahlen für obigen Satz anführen, namentlich aus neuester Zeit die von Parchappe und Brierre de Boismont den Berechnungen Mor - eaus entgegengestellten Angaben (Comptes rendus. XVII. 1843. p. 134. p. 279.) Wir halten aber eine rein statistische Lösung der Frage für ganz unmöglich aus den §. 63. 64. angegebenen Gründen. sondern auf den Gesamteindruck vieler Beobachtungen stützt. Unter diesen psychischen Ursachen sind vor allem die voraus - gegangenen leidenschaftlichen und affectartigen Zustände zu verstehen, denn es ist eine entschiedene Thatsache, dass die rein intellectuelle Ueberanstrengung, ohne begleitende Gemüthsaffection und ohne ander - weitige starke Ursachen, (z. B. sinnliche Excesse, durch Excitantia künstlich erregte Schlaflosigkeit) nur in den seltensten Fällen zum Irrewerden führt.

Solches ist dagegen von den anhaltenderen oder heftigeren Ge - müthsbewegungen unzweifelhaft, und es kommen unter ihnen ganz besonders die unangenehmen, widrigen und depressiven Gemüths - zustände in Betracht, während die übermässige Freude allein den Irrenhäusern noch ausserordentlich wenige, vielleicht gar keine Kranke übergeben hat. Pinel, das Muster eines Irrenarztes für alle Zeiten, war so sehr von dieser Wahrheit überzeugt, dass er immer an einen neuen Kranken zuerst die Frage richtete: haben Sie Verdruss, Kummer, Widerwärtigkeiten erlitten?**)Georget, de la Folie. Par. 1820, p. 160. und heute noch, so selten als damals bekommt man auf diese Frage eine negative Antwort. Im Einzelnen können diese schmerzhaften Gemüthszustände nach ihrer Art127Die Affecte als Ursachen.und nach ihren äusserlich gegebenen Motiven die allerverschiedensten sein; bald ist es ein plötzlich erregter Zorn, Schrecken*)S. zwei Beispiele von Irresein durch heftigen Schrecken entstanden, bei Ellis, traité etc. trad. p. Archambault. Par. 1840. p. 108. 109. Ellis schreibt hier auch die Wirkung der veränderten Herzthäthigkeit zu. oder Kummer über eine Beleidigung, einen Vermögensverlust, eine rohe Beeinträchtigung der Schamhaftigkeit, einen schnellen Todesfall u. dergl., bald sind es die langsam an der Seele nagenden Folgen des zurückgewiesenen Ehr - geizes, der Reue über eigene unrechtmässige Handlungen, des Haus - kreuzes, der unglücklichen Liebe, der Eifersucht, der Verkennung, des gezwungenen Verweilens in inadäquaten Verhältnissen oder jedes anderen verletzten Gemüthsinteresses; immer sind es Einwirkungen, welche durch eine intensive Störung der Vorstellungscomplexe des Ich einen traurigen Zwiespalt im Bewusstsein setzen, und immer sehen wir da die stärksten Wirkungen, wo eine lange Concentration der Wünsche und Hoffnungen auf einen Gegenstand stattgefunden, wo sich der Mensch in gewisse Zustände ganz hineingelebt hatte und wo nun mit gewaltsamer Hemmung dieser Interessen, den Vor - stellungen ihr Uebergang in Strebungen abgeschnitten wird, und damit ein Riss in das Ich und ein heftiger innerer Kampf entsteht.

Der Effect solcher Gemüthsbewegungen für Erzeugung des Irreseins ist nach der Stärke des ersten Stosses, der längeren oder kürzeren Dauer, ganz besonders aber nach der vorhandenen individuellen Disposition zu beurtheilen; denn auch die grössere oder mindere Heftigkeit des ersten Eindrucks, das schnellere Wieder - aufhören oder der längere Nachhall des Affects hängt zum grossen Theile von jener Disposition ab. In manchen Fällen ist es aber schon ein Zeichen dieser (im §. 73 näher geschilderten) psychischen Eigenthümlichkeit, dass überhaupt solche lange und heftige Zustände von Leidenschaft oder Verstimmung auf - kommen konnten und die eigene originäre Reizbarkeit und Leidenschaftlichkeit des Individuums, die schon vorhandene Disposition zu Affecten und zu einer baldigen Trübung der Besonnenheit war es denn selbst, die sich in seiner Vergangenheit oft als Quelle eines bis in die zarte Kindheit zurückreichenden psychischen Siechthums, oft als der Grund der späteren Handlungsweisen und Erlebnisse des Kranken nachweisen lässt, die sich ebenso gut in unordentlichem Lebens - wandel, in Müssiggang, Lust an Modethorheiten und Genusssucht, in politischer Ueberspannung, wie in religiöser Schwärmerei und ascetischer Selbstquälerei oder in misslichen Lösungen von Freundschafts - oder Liebes-Verhältnissen, und endlich in dem moralischen Banquerott eines in Thorheiten vergeudeten Lebens kund thun konnte. Denn auf den näheren Inhalt, den die Gemüthsbewegung durch ihre äusseren Ursachen erhält, kommt am Ende wenig an; jedes Geschlecht, jeder Stand, jedes Individuum holt sich seine geistigen Wunden auf dem Kampf - platze, den ihm die Natur und die äussern Umstände angewiesen haben, und128Wirkungsweise derJeder hat wieder einen andern Punkt, auf dem er am verletzlichsten ist, eine andere Sphäre, von der am leichtesten heftige Erschütterungen ausgehen, der eine sein Geld, der andere seine äussere Werthschätzung, der dritte seine Gefühle, seinen Glauben, sein Wissen, seine Familie und dergl. m. Nicht nur aber Gemüthsaffecte und Leidenschaften, sondern namentlich auch die ihnen folgenden Erschöpfungszustände des Gefühls sehen wir häufig dem Irresein vorangehen. Wo nicht eine starke Intelligenz die Blasirtheit, die erworbene geistige Kälte und Interesselosigkeit zu beherrschen vermag, da endigen jene Seelenzustände, wo Alles kalt und schaal, das Herz erstorben, die Welt leer geworden ist, ganz gewöhnlich in Melancholie, Selbstmord oder tieferem Irresein.

§. 78.

Die Wirkungsweise dieser psychischen Ursachen ist nun ent - weder eine directe oder indirecte.

Im ersten Falle werden die Gemüthsbewegungen, überhaupt die vorausgegangenen psychischen Ereignisse unmittelbar zum Ausgangs - punkte der Geisteskrankheit, indem sie einen intensiven Irritations - zustand des Gehirns setzen, der nun andauert. So kann z. B. der Schrecken, der namentlich der weiblichen Organisation gefährlich ist, unmittelbar zu einem Irresein Anlass geben, das denn auch die Hauptcharacktere der physiologischen Effecte des Schreckens, jenen halb krampfhaften, halb paralytischen Zustand von Erstarrung des Denkens und Wollens, Jahre lang beibehalten kann. *)Man erinnere sich der ähnlichen plötzlichen Wirkungen des Schreckens auf Erzeugung epileptischer Anfälle. Ebenso plötzlich kann der Zorn wirken.Anderemale werden lange fortdauernde mässigere psychische Verstimmungen, fort - gesetzter Aerger, Gram, Kummer durch directe Ueberreizung des Gehirns stationär und gehen, allmählig gesteigert, unmittelbar in das erste Stadium des Irreseins über, wobei dieses auch häufig den Einzelcharacter dieser Arten des psychischen Schmerzes beibehält. Da nun auch, (nach dem vorigen §. ) eben die frühere geistige Prä - disposition im concreten Falle sich häufig nicht von den näheren psychischen Ursachen scheiden lässt, so sind auch die Fälle hieher - zuzählen, wo längst vorhandene geistige Bizarrerieen, die dem Indi - viduum schon lange das Prädicat eines halbnärrischen, eines grillen - haften Candidaten des Irrenhauses zugezogen, nach und nach ohne erkennbare weitere Ursache in ein wirkliches Irresein übergehen.

Häufiger entsteht das Irresein indirect, mittelbar, auf einem pa - thologischen Umwege aus den psychischen Ursachen, so nemlich, dass diese zuerst anderweitige Abweichungen von den normalen organischen129psychischen Ursachen.Processen zu Wege bringen, aus denen dann erst die Gehirnkrank - heit als ein secundäres Resultat hervorgeht. Man bedenke den schon §. 30. festgestellten Punkt, dass es eben im Wesen der Gemüths - bewegungen liegt, die Thätigkeiten der Circulations -, der Respirations -, der Verdauungsorgane in Mitleidenschaft zu ziehen und man wird alsbald erkennen, wie sich bei Fortdauer, bei grosser Heftigkeit der Verstimmungen und Affecte leicht bedeutendere Störungen dieser Functionen ergeben müssen, denen eben diejenigen Individuen am ehesten ausgesetzt sind, welche (vermöge angeborner oder er - worbener Disposition) zu Gemüthsbewegungen auf verhältnissmässig geringe Anlässe am geneigtesten sind. Sehr häufig nun entsteht die Gehirnkrankheit erst dann, wenn sich nach längeren Schwankungen eine anderweitige tiefere pathologische Veränderung allmählig aus - gebildet und consolidirt hat; wir sehen gar nicht selten, wie z. B. nach einem widrigen Ereigniss, das zunächst allerdings die cerebralen Processe in Unordnung brachte, der Mensch geistig wieder beruhigter wird, aber nun zu kränkeln, an verschiedenen andern Organen zu leiden anfängt, und nun erst nach Jahren, mit der immer zunehmenden Verschlechterung der ganzen Constitution, mit vollendeter Ausbildung anderweitiger chronischer Krankheiten, sich Seelenstörung einstellt. Besonders deutlich sind diese Wirkungen bei fortdauernden, aber innerlich verschlossenen psychischen Schmerzzuständen; jene ver - schluckten Thränen, jene inneren Wunden, die äusserlich lange mit Lächeln, mit Hochmuth und Lüge bedeckt geblieben sind, geben sich fast unfehlbar und meistens bald in der Ausbildung schwererer chroni - scher Krankheiten kund, denen dann erst secundär die Gehirnaffection folgt. Wir sehen, wie unter solchen Umständen der Mensch anfängt, abzumagern, wie die Verdauung schlecht, die Darmfunction geschwächt wird, wie sich Schlaflosigkeit, Palpitation, Hüsteln, allerlei Sensibili - tätsanomalieen, mässige Kopfcongestionen, ein mürrisches, hypochondri - sches Wesen einstellen; wir sehen namentlich beim weiblichen Ge - schlecht Menostasie oder Unregelmässigkeit der Periode, Neuralgieen und den Symptomencomplex der Hysterie auftreten; wir sehen, wie Krankheits - anlagen, die bisher geschlummert hatten, Tuberculose, chronische Herz - krankheiten und dergl. nun geweckt oder rasch gesteigert werden, und wie erst aus diesen pathologischen Mittelgliedern zwischen erster Ursache und letztem Resultat sich als solches endlich Geisteskrankheiten ergeben.

Es erklären sich alle diese Verhältnisse aus dem Einflusse der Nerven-Centra auf die ganze Oeconomie, und es ist begreiflich, dass derartige Folgen der Ge - müthsbewegungen in den Lebens-Perioden am häufigsten und gefährlichsten sind,Griesinger, psych. Krankhtn. 9130Der Missbrauch der geistigen Getränkewo gerade der Organismus den meisten Aufwand zu seiner normalen Entwicklung und Weiterbildung zu machen hat und wo er überhaupt am erkrankungsfähigsten ist, in der Pubertätszeit, in der Schwangerschaft, dem Wochenbett, der clim - acterischen Periode etc.

Drittes Capitel. Gemischte Ursachen.

§. 79.

1) Die Trunksucht steht zwischen den psychischen und soma - tischen Ursachen in der Mitte; ihre Wirkungen gehören, wie zu den mächtigsten, (Halloran fand unter 747 Fällen bei mehr als einem Fünftheil diese Ursache, Prichard und Esquirol schreiben sogar die Hälfte der Erkrankungen in England der Trunksucht zu, Jakobi und viele andere Beobachter fanden auch in Deutsch - land und andern Ländern die Zahl sehr bedeutend, Rush gibt sie als bei einem Drittheil der Kranken des Pensylvania-Hospitals an, Bergmann in Hannover etwa zu einem Sechstel,) so auch zu den complicirtesten. Einestheils nemlich wirkt das Uebermass der Spirituosa rein somatisch theils direct, durch Ueberreizung und Ernährungs-Veränderung (Schrumpfen der albuminösen Gebilde durch den Alcohol?) des Gehirns, durch Entwicklung chronischer Stasen in der Schädelhöhle, theils indirect, durch Ausbildung des Säufer - scorbuts, der fettigen Entartung der Leber, der schwereren Magen - krankheiten, damit durch völlige Zerrüttung der Constitution. Andern - theils aber führt die Trunksucht auch wichtige psychische Ursachen herbei, theils in jenen Aufregungen, tollen Streichen, Händeln, Raufereien, denen der Trunkenbold sich leicht aussetzt, theils in den traurigen psychischen Eindrücken, die ihm die gewöhnlichen Folgen der Trunksucht, häuslicher Unfriede, Ruin der Geschäfte, Untergang des Familienlebens, äussere Geringschätzung allmählig aufdringen müssen. Als ein drittes Moment endlich ist der Umstand wohl zu beachten, dass in vielen Fällen die Trunksucht selbst schon die Folge solcher Eindrücke, des häuslichen Kummers, des Grams, des Aergers und Verdrusses ist, für die eben in der Flasche Ersatz und Erleichterung gesucht wird, wo es denn, beim gemeinsamen Fortwirken zweier so wichtigen Ursachen, gewöhnlich am schnellsten zur Ausbildung des Irreseins kommt.

131als Ursache des Irreseins.

Diese letzteren Fälle scheinen namentlich die Entstehung der gewöhnlichen, mehr chronischen Geisteskrankheiten zu begünstigen, während es zur Entstehung des s. g. Delirium tremens weit weniger der Mitwirkung solcher widriger psychischer Einflüsse wo sie vorhanden sind, ist desshalb ihre Wirkung nicht gering anzuschlagen zu bedürfen scheint. Die leztere Form entsteht auch sehr häufig unter Umständen, welche bei Säufern eine plötzliche gezwungene Ent - haltsamkeit und schwächende Behandlung nothwendig machten; sie bildet namentlich eine unangenehme Complication der acuten Krankheiten (Pmeumonie) der Säufer, während unsers Wissens eine Ausbildung eines mehr chronischen Irreseins niemals dadurch beobachtet wird, dass, sei es freiwillig oder gezwungen, die Gewohnheit des Trinkens plötzlich unterbrochen wird.

Dass jeder höhere Grad von Berauschung, als ein traumartiger Zustand mit zahlreichen Illusionen und Hallucinationen, schon an und für sich ein wirkliches Irresein darstellt, versteht sich von selbst; zuweilen sieht man, wie einzelne Indi - viduen, schon nach verhältnissmässig geringem Genuss des Spirituosa, jedesmal nicht gerade in tiefe Berauschung, sondern bei wohl erhaltenem Bewusstsein, in grosse Neigung zu ganz extravaganten, tollen und närrischen Streichen gerathen: ein Umstand, der wohl als ein Zeichen von Prädisposition zu Geisteskrankheit zu betrachten ist. Mitunter brechen bei Betrunkenen plötzliche convulsivische Zu - stände, ähnlich epileptischen Anfällen aus, denen bald ein Zustand von Gedanken - losigkeit und ruhigem Delirium, bald Ausbrüche heftiger Raserei folgen, was man die convulsivische Form des Rausches genannt hat. *)S. Marc, die Geisteskrankhtn. II. p. 431. Drake in Nasses Zeitschr. f. Anthropologie. 1824. p. 224. seqq.

Der Gewohnheitssäufer, bei dem es schon weit gekommen ist, zeigt übrigens auch, wenn er gerade nicht betrunken ist, viele Merkmale, die auf ein fort - dauerndes chronisches Gehirnleiden hinweisen und die ihn den Geisteskranken sehr nähern, wie denn auch sein Zustand ganz allmählig in Irresein, namentlich Blödsinn übergehen kann und im Gehirne des habituellen Säufers sich, wie bei vielen Irren die Resultate passiver Stasen, die chronisch entstandenen Trübungen und Verdickungen der zarten Hirnhäute, constant vorfinden. Der durch Gewohnheit unterhaltene Trieb ist im Säufer so mächtig, die Vorstellungen, die ihm entge - gentreten könnten, sind so schwach und damit der Wille so lahm geworden, dass er, obwohl er weiss, wie er sich entehrt und verächtlich macht, wie er seine Gesundheit untergräbt, seinen häuslichen Frieden zerstört, sein Geschäft zerrüttet, doch jeden Tag wieder den vielleicht gefassten guten Vorsatz hintansetzt. Die Eingenommenheit, der Schwindel, die Stumpfheit der Sinne, die Muskelschwäche, die Magenbeschwerden, an denen er leidet, werden durch den jedesmaligen Ge - nuss momentan beschwichtigt, und gerade dadurch, dass jeden Tag wieder solchen Leiden abzuhelfen ist, scheint sich die Trunksucht häufig zu befestigen. Wie aber tiefere psychische Erregungen sehr häufig noch im Stande sind, den er - schlafften Willen wieder aufzurichten, wie einerseits Beschämung, Reue, das erweckte Bewusstsein des Ekels und Abscheus, den der Trunkenbold erregt, andrerseits die Aussicht auf sittliche und bürgerliche Rehabilitation zu geistigen Triebfedern einer völligen Rückkehr werden können, das zeigt das grosse Bei - spiel der Mässigkeitsvereine, wo der geschwächte Wille des Einzelnen in der9 *132Elend und Entbehrungen.Ermunterung durch dss Beispiel Vieler, in der Macht der öffentlichen Sittlichkeit und des erwachten öffentlichen Gewissens Kraft und Stütze findet. *)Vgl. Marc, die Geisteskrankheiten. II. p. 471 und die Bemerkungen von Ide - ler, der dieses Thema auf eine dieser ernsten Sache würdige Weise besprochen hat.

Die Trunksucht ist natürlich beim männlichen Geschlechte eine viel wichtigere und häufigere Ursache des Irreseins, als bei den Weibern; doch kommen auch hier, nicht nur unter dem Pöbel oder in der Classe der Prostituirten wo ohne - diess der Säufer-Wahnsinn nicht eben selten ist, sondern auch in den höheren Ständen bei hysterischen Weibern, namentlich in den climacterischen Jahren, Beispiele von Trunksucht und daraus entstandenem Irresein vor. Sutton erzählt einen Fall, wo bei einer Frau nach einem übermässigem Gebrauch von Lavendel - tinctur gegen Schlaflosigkeit das Delirium tremeus ausbrach.

Die eigentliche sogenannte Dipsomanie oder periodische, intermittirende Trunksucht, gehört nicht zu den Ursachen, sondern ist vielmehr selbst Symptom eines periodischen Irreseins. Man hat nemlich einzelne Fälle beobachtet und auch wir kennen einen solchen wo von Zeit zu Zeit anfangs unter allerlei nervösen Symp - tomen, Kopfschmerz, grosser Abgeschlagenheit, Schlaflosigkeit, Ekel, nagenden Empfindungen in der Magengegend sich grosse, geistige Verstimmung, allgemeines Missbehagen, ein Zustand mässiger Schwermuth einstellen, wo dann nach kurzer Zeit der Kranke unruhig wird, anfängt in Wirthshäusern herumzulaufen, und sich, meist mehrere Tage anhaltend fort, stark betrinkt. Der Rausch steigert sich nun gewöhnlich zu einem maniacalischen Anfall, aus dem dann der Kranke bald schnell bald erst später in tiefer Apathie erwacht und nun oft lange einen wahren Abscheu gegen Spirituosa zeigt. Gewöhnlich wiederholen sich solche Anfälle. Bei ihrer Beurtheilung ist namentlich auf die An - oder Abwesenheit eines vor - ausgegangenen Stadium melancholicum und auf den Umstand zu achten, ob der Kranke sonst durchaus mässig lebt oder auch Neigung zum Trunke zeigt. Im letztern Falle ist die Entstehung des Sauf-Raptus aus Krankheit immer im höchsten Grade problematisch. **)Vgl. Brühl-Cramer, über die Trunksucht etc. 1819. Hohnbaum über die psych. Behandlung der Trunksüchtigen. Nasses Zeitschr. f. psych. Aerzte. 1820. Marc-Ideler II. l. c.

§. 80.

2) Eine in ähnlicher Weise complicirte, zugleich direct psychische und somatische Wirkung, wie die Trunksucht, übt überhaupt das in äusserer Unruhe und Sturm, in Unordnung und Liederlichkeit hingebrachte Leben aus, und Elend und Entbehrungen schliessen sich hieran als höchst wichtige und häufig allein nachweisbare Ur - sachen an. Wie häufig ergibt sich bei Betrachtung der Antecedentien der Irren, ein regelloses, in wechselnden Abentheuern, unstetem Treiben und sonderbaren Verwicklungen hingegangenes Leben, voll Glücks - wechsel, Strapazen, Elend und Ausschweifungen, voll von Verhältnissen, die eine reiche Quelle von Conflicten mit der Welt, von Gemüths - aufregungen und inneren Bedrängnissen werden mussten. Wie häufig133Sexuelle Excesse und Onanie.sind es die Entbehrungen, die die Armuth mit sich bringt, die zu Seelenschmerz und Verzweiflung führen, in denen der Mensch das Elend der Verhältnisse kaum mehr zu überschauen, dem Jammer nicht mehr Stand zu halten vermag, und nun in Melancholie, Selbstmord, oder tieferes Irresein versinkt. Wie aber alsdann nicht nur diese psychischen Einflüsse, sondern auch die gleichzeitige schlechte Er - nährung, der Hunger, die Kälte, die körperliche Ueberanstrengung als direct somatische Krankheitsursachen hoch anzuschlagen sind, so treffen auch gewöhnlich bei dem unordentlichen und regellosen Leben, sei es ein selbstverschuldetes, oder (wie z. B. bei den Anstrengungen der Feldzüge, den Kriegsstrapazen) ein gezwungenes, diese beiderlei schädlichen Einflüsse zusammen.

3) Eine ähnliche, doppelt verderbliche Wirkung haben die sexuel - len Excesse durch die häufig damit verbundene psychische Aufregung und durch die körperliche Erschöpfung, und ebenso verhält es sich mit der Onanie, die gleichfalls eine wichtige und frequente Ursache des Irreseins, wie jeder andern physischen und psychischen Degra - dation abgiebt. *)Ellis (traité de l’aliénation. trad. p. Archambault. Par. 1840. p. 133) schreibt dieser Ursache die Mehrzahl aller in den öffentlichen Anstalten behandelten Fälle zu. Andere, wie Guislain und Parchappe, führen sie nur mit geringen Zahlen in ihren ätiologischen Tabellen auf. Vgl. den Aufsatz von Flemming über das Causalverhältniss der Selbstbefleckung zur Geistesverwirrung, in Jakobi und Nasse, Zeitschrift I. 1835. p. 205.Ohne die Säfteentziehung und die directe Ein - wirkung dieser häufig fast permanenten Genitalienreizung auf das Rücken - mark und Gehirn nieder zu taxiren, muss man doch gewiss den traurigen, psychischen Folgen der Onanie einen noch weit schäd - licheren und auf das Irrewerden directeren Einfluss zuerkennen. Jenes Kämpfen gegen einen Trieb, der schon übermächtig geworden, jenes stete Unterliegen, jener verborgen gehaltene Zwiespalt zwischen Scham, Reue, gutem Vorsatz und zwischen dem gebieterischen Reize halten wir, nach nicht wenigen Geständnissen von Onanisten, für unbedingt wichtiger, als das erste, direct somatische Moment. Der Antheil, den beide Wirkungsweisen haben, lässt sich im einzelnen Falle nicht ausscheiden; der Effect der Onanie scheint aber überhaupt um so grösser, in je früherem Lebensalter durch sie die Constitution verschlechtert wird, je mehr sie von jenen schmerzlichen Gemüths - bewegungen begleitet ist und je mehr sie zur Ursache localer Er - krankung der Genitalien (§. 86.) wird. Wo diese 3 Momente fehlen, hat die Masturbation meist keine schwereren Folgen.

134Die somatischen Ursachen.

Auch hier ist vor einer Verwechslung zu warnen. Es ist nicht ganz selten, dass im Beginn des Irreseins (oder vielmehr beim Uebergang eines mässigen Sta - dium melancholicum in das Stadium maniacum) der Kranke einen gesteigerten Geschlechtstrieb äussert, der zu schamlos getriebener Onanie oder zum Herum - treiben in Bordellen Anlass werden kann. Man muss hierin schon ein Symptom, nicht eine Ursache des Irreseins sehen. In manchen Fällen wird man auch da, wo die sexuellen Excesse wirklich der Zeit nach als Ursache des Irreseins er - scheinen, jene selbst nur als nächste Folgen eines krankhaften Reizes, einer schon länger bestehenden Irritation der betreffenden Parthieen des Nervensystems anzusehen haben; namentlich aber lässt die im frühen Lebensalter, schon lange vor der Pubertät, von selbst, ohne Unterweisung entstandene Onanie fast mit Sicherheit auf eine krankhafte Reizbarkeit der Genitalien schliessen, die (p. 119) mit der ganzen nervösen Constitution und mit einer primitiven Anlage zu Geistes - krankheiten zusammentrifft.

Viertes Kapitel. Somatische Ursachen.

§. 81.

Da wir (nach §. 64. und §. 77.) eine rein statistische Lösung der Frage, ob das Irresein häufiger aus psychischen oder somatischen Ursachen ent - stehe, nicht für zulässig halten, so kann die Besprechung der hierherge - hörigen Zählungen (von Pinel bis heute) unterbleiben, indem der Leser in Betreff der neuesten Untersuchungen hierüber auf den zwischen Moreau de Jonnès einerseits und Parchappe und Brierre andrerseits*)Comptes-rendus de l’académie des sciences. XVII. 1843. ge - führten Streit mit der Erinnerung verwiesen wird, dass alle solche Tabellen um so unzuverlässigere und nichtigere Resultate geben, je unbestimmter und abstracter gehalten die einzelnen Rubriken sind**)Moreau hat z. B. eine ganz unverständliche und nichtssagende Categorie Irritation excessive mit einer grossen Zahl. und je unsorgfältiger der Idiotismus von den übrigen Geisteskrank - heiten getrennt wird***)Derselbe Autor führt den Idiotismus mit einer enormen Zahl, als eine der körperlichen Ursachen (!) der Geisteskrankheiten auf.. Es ist keine Frage, dass das Irresein in vielen Fällen durch rein körperliche Ursachen entstehen kann, dass andrerseits unter ihrer Mitwirkung die psychischen Causalmomente weit eher und ganz vorzüglich zur Entstehung der Geisteskrankheiten führen. Eine erbliche oder erworbene Disposition lässt sich dann135Nervenkrankheiten.häufig, doch nicht gerade immer, nachweisen; sie kündigt sich oft, ausser den oben aufgeführten Erscheinungen, durch leichtes Entstehen von Delirien, schon bei mässigen acuten Erkrankungen an. Bei dergleichen Individuen kann denn nun auch, entschiedenermassen, jede bedeutendere körperliche Erkrankung durch secundäre Gehirn - affection Anlass zum Irresein werden; umgekehrt aber wirken die somatischen Ursachen nicht nur in dieser Weise Krankheits-erregend bei schon anderweitig Disponirten, sondern durch sie selbst werden auch wieder Dispositionen erzeugt, die dann oft erst durch psychische Ursachen in die Krankheit selbst übergehen.

Diese somatischen Ursachen bestehen theils in noch physiologi - schen Zuständen, welche überhaupt eine leichtere Erkrankbarkeit setzen (z. B. Wochenbett), theils schon ausgebildeten, acuten, oder mehr noch chronischen Krankheitszuständen (z. B. Tuberculose), theils in gewissen äusseren Beeinträchtigungen und Schädlichkeiten (z. B. Kopf - verletzung). Wir beginnen ihre Aufzählung mit denen, welche direct vom Nervensystem aus wirken.

§. 82.

1) Entstehung des Irreseins durch andere Nervenkrank - heiten. Alle Erkrankungen des Gehirns, auch wenn sie anfangs durchaus nicht den Character der Geisteskrankheiten haben, können im weiteren Verlaufe zu solchen werden. Die acute Meningitis darf sich nur als chronische, d. h. in dem Liegenbleiben, den Meta - morphosen und weiteren Folgen ihrer Exsudate, festsetzen, um un - mittelbar als Geisteskrankheit zu erscheinen. Die verschiedenen Er - krankungen des Gehirns, welche der Epilepsie zu Grunde liegen, sind theils von Anbeginn an mit entschiedenster Geistesstörung ver - bunden intermittirende Anfälle der letzteren können sogar den inter - mittirenden Convulsionen vorangehen theils kann das Fortschreiten jener Krankheitsprocesse (entweder so, dass sich die ursprünglich im Innern gelegene Affection, z. B. die chronische Entzündung, nach den Oberflächen ausdehnt, oder durch consecutive Atrophie des Ge - hirns etc.) ein, erst nach langem Bestehen der Epilepsie beginnendes Irresein erzeugen*)Vgl. unten die besondere Erörterung der Epilepsie als Complication. Aehnlich verhält es sich mit den apoplecti - schen Heerden: sie können neben den Lähmungen etc. ein Irresein (fast immer in der Form des Blödsinns, doch auch der Manie) theils primär, von Anbeginn an, theils erst durch jene secundären Degenera -136Kopfverletzungen.tionen, die das Gehirn durch ihre Anwesenheit erleidet, zur Folge haben; mitunter ist die geistige Störung eine sehr begrenzte, betrifft z. B. nur die Reproduction einzelner Vorstellungsreihen, kann sich aber von hier aus zu allgemeiner tieferer Geistesschwäche ausbreiten.

Von grosser Wichtigkeit sind anerkanntermassen alle schweren Kopfverletzungen, mögen sie nun in Knochenbrüchen, Blutextra - vasaten, Verlust an Gehirnsubstanz etc., oder in blosser Erschütterung bestehen. Während die schwersten unter ihnen meistens schon im Beginn und mit der Erholung des Kranken ihre geisteszerrüttenden Folgen (Blödsinn, Blödsinn mit Manie und dergl. ) erkennen lassen, stellen sich diese in andern Fällen oft erst viel später, 1, 2, 6, sogar 10 Jahre nach der Verletzung ein. Gewöhnlich mögen es hier kleine, liegengebliebene, in eingedicktem Zustand lange unschädlich ge - tragene Eiterheerde, oder kleine apoplectische Cysten, sein, um welche sich später, aus irgend einer Ursache, eine nun allmählig um sich greifende Entzündung der Häute oder der Gehirnsubstanz einstellt; an - dere male ist es die langsame Bildung einer Exostose, einer Geschwulst, oder eine schleichende Caries des Schädels, von der aus sich Hyperä - mieen und exsudative Processe weiter verbreiten. Zuweilen aber lässt sich auch nichts Solches wahrnehmen; ohne anatomische Ent - artungen scheinen einzelne Fälle von Erschütterung im Gehirne solche Folgen zurücklassen zu können, dass es noch nach Jahren eine leichte Erkrankungsfähigkeit behält, aus welcher dann nach den mässigsten weiteren (z. B. psychischen) Ursachen sich das Irresein ergibt.

Es ist wenigstens durchaus nicht selten, dass man von den Angehörigen der Kranken bei näheren Nachfragen frühere, oft wieder in Vergessenheit gerathene, derartige Ereignisse erfährt, einen schweren Sturz vom Pferde, einen Fall oder Stoss an den Kopf, dem längere Betäubung folgte und dergl. ;*)In gleicher Weise sieht man auch schwere Spinalneurosen zuweilen erst längere Zeit nach der Beeinträchtigung auftreten. Jakubowsky (Choreae St. Viti traumaticae exemplum. Krak. 1838. Gratulationsschrift. ) erzählt einen solchen Fall von Veitstanz, der mehre Monate nach einem Stoss auf die Rückengegend auf - trat, übrigens geheilt wurde. zuweilen fällt es nun erst der Umgebung auf, dass sich von dort an sogleich leise Veränderungen des Charakters an dem Kranken zeigten, leichte Aergerlichkeit, Neigung zum Zorn etc., die aber wenig beachtet wurden und in ihrer wahren Bedeutung, als Vorläufer eines Irreseins, kaum mit dessen Ausbruche anerkannt werden.

An jene durch langsame Knochenkrankheit in Folge von Verletzung entstan - denen Fälle schliesst sich das Irresein durch Caries des Schädels aus inneren Ursachen, namentlich durch Caries des Felsenbeins, innere Ohrentzün - dung etc. an, welche sich eben am Ende auf die Meningen verbreitet. Jacobi**)Die Hauptformen etc. p. 662.137Nervenverletzungenhat 7 Fälle der letzteren Art beobachtet; sie lassen natürlich niemals Heilung oder Besserung zu.

Neben den Kopfverletzungen mag als eine, indessen seltene Ursache die Insolation erwähnt werden, die ohne Zweifel durch Entstehung starker Gehirn - hyperämie (und Oedem?), vielleicht mit Beihülfe der nervösen Ueberreizung des Gehirns durch lange ausgehaltenes, grelles Sonnenlicht wirkt. Ellis*)Traité de l’aliénation etc. p. Archambault. 1840. p. 81. erzählt 2 Fälle von Geisteskrankheit durch Insolation, deren einer mit Genesung, der andere mit Blödsinn endigte.

Von ausgezeichnetem pathologischen Interesse sind die Fälle, wo das Irresein nach (und ohne Zweifel in Folge) einer, verhältniss - mässig unbedeutenden peripherischen Nervenverletzung (über - haupt Verletzung der Weichtheile) oder peripherisch entstandener Erkrankung der (Sinnes -) Nerven, z. B. peripherischer Taubheit, ent - stand. So haben wir bei einer hysterischen Frau nach einer, ganz ungefährlichen Verletzung des Augs durch einen hingeflogenen Holz - splitter, tiefe Melancholie entstehen sehen; so hat man (Herzog) einen Fall von Irresein nach der Operation des Strabismus**)Oppenheims Zeitschr. XXI. 1842. p. 101. Aus den Petersburger Abhand - lungen, wo ich leider den Fall nicht im Originale vergleichen konnte. beobachtet; so berichtet Foville***)Note an die Académie. L’Institut. 16. Janv. 1843. von zahlreichen Fällen oberflächlicher Er - krankung des cerebellum bei Irren, entstanden nach peripherischen Störungen im Quintus und Acusticus; es gehört ferner hierher der (schon p. 108) angeführte Fall von Jördens†)Hufelands Journal Bd. IV. p. 224., wo ein Knabe durch kleine, in die Fusssohle eingedrungene Glassplitter tobsüchtig ward, und es bis zu ihrer Entfernung blieb, und es sind unzweifelhaft die von Zeller††)Damerow und Roller, Journal I. 1. p. 49. erwähnten Erkrankungen nach bloss äusserlichen Kopf - wunden zu dieser pathogenetischen Categorie zu rechnen†††)Vergl. weiter die von Hirsch (Spinalneurosen. p. 131 seqq.) angeführ - ten Fälle.. Indem diese Fälle allerdings an das Delirium nervosum nach und während der Operationen lebhaft erinnern, schliessen sie sich als identisch entstandenes Gehirnleiden, dem traumatisch-tetanischen Rückenmarks - leiden an, ihrerseits die Gleichheit der Wege der Erkrankung für die verschiedenen, eben in ihrer eigenthümlichen Energie reagirenden, Abschnitte des Central-Nervensystems beurkundend.

Zunächst hierher gehören weiter jene heftigen oder anhaltend fortdauernden Nervenreizungen von der Peripherie des Organismus;138Spinalneurosen.in ersterer Beziehung z. B. jener merkwürdige Fall von Esquirol (die Geisteskrankheiten, v. Bernhard. I. p. 153.), wo nach einem starken Geruchseindrucke die Manie ausbrach; in zweiter Reihe z. B. die Irritation von den Gedärmen aus durch Tänia und andere Entozoen, vielleicht der Pruritus chronicus.

§. 83.

Früher bestandene Spinalneurosen können zu wichtigen Ur - sachen des Irreseins werden, mögen sie in Zuständen ausgebildeter Hysterie oder nur in beschränkteren Krampf - oder neuralgischen Leiden bestehen. Geisteskrankheiten scheinen hier ebenso durch all - mählige Ausbreitung über grössere Parthieen der Nervencentra, ein Fall, in dem sich manche Hysterische befinden als durch rasches Umspringen von einer Stelle zur andern entstehen zu können; im letztern Falle können Irresein und andere nervöse Beschwerden oft, sogar periodisch, miteinander wechseln. So erzählt Brodie*)Lectures on certain local nervous affections. Lond. 1837. p. 8. von einer Dame, die ein Jahr lang an anhaltendem Krampf des M. sternocleido - mastoideus litt; plötzlich hörte er auf und sie verfiel in Schwermuth; dieser Zustand dauerte wieder ein Jahr lang; worauf sie sich psychisch erholte und der Krampf des Muskels zurückkehrte, der nun mehrere Jahre anhielt; in einem andern Falle von Brodie wechselte ein neural - gischer Zustand der Wirbelsäule mit wahrem Irresein.

Auch unter denjenigen Fällen, wo die Erkrankung von den Schrift - stellern der Gicht zugeschrieben wird, mögen nicht wenige sein, die auf einer Verwechslung der vagen, wandernden Spinalneuralgieen mit jenem dyscrasischen Leiden beruhten. Die wichtigsten, hierher - gehörigen Zustände aber, die zu Ursachen von Geisteskrankheit werden können, sind die Wechselfieber .**)Vgl. Sebastian, Bemerkungen über die Melancholie und Manie als Nach - krankheiten der Wechselfieber. Hufel. Journal 1823. LVI. p. 3 seqq. Mongellaz, Monographie des irritations intermittentes. Par. 1839. I. p. 638 seqq. Lippich, Beiträge zur Psychiatrie. Oestr. Jahrbücher. Juni 1842. p. 282. seqq. Baillarger, sur la Folie à la suite des fièvres intermittentes. Annal. med. psychol. 1843. II. p. 372.. Von Sydenham bis heute wurden nicht wenige solche Fälle, welche mit dem Processe der Intermittens zusammenhängen, beobachtet, unter denen jedoch ein verschiedenes Verhalten zu jenem Processe unterschieden werden kann - In der einen kleinsten Reihe von Fällen verhält sich die Sache so, dass an Orten, wo Wechselfieber endemisch sind, einzelne Individuen139Wechselfieber als Ursachen.statt von der gewöhnlichen intermittirenden Neurose, gleich von vorn herein von einem intermittirenden Gehirnleiden befallen werden, das sich in regelmässigen (tertianen, quartanen) Anfällen von Irresein aus - spricht, (sogen. Intermittens larvata). Hier ist also nicht ein be - standenes Wechselfieber, sondern die endemische Wechselfieber - Ursache, auch die Ursache des Irreseins. Anderemale treten nach längerem oder kürzerem Verlauf eines gewöhnlichen Wechselfiebers, statt der bisherigen Frost - und Hitzeparoxismen, nun gleichsam durch einen Umsprung der Affection intermittirende Paroxismen von Irresein auf (heftige Anfälle von Tobsucht mit Wuth, auch rasche Selbstmorde im Anfall), Zustände, welche mit Rücktreten der ent - schiedenen Periodicität, nicht selten den remittirenden und anhalten - den Typus annehmen und in chronische Geisteskrankheiten übergehen. Endlich drittens, und zwar am häufigsten, tritt das Irresein als Nachkrankheit eines beseitigten Wechselfiebers, entweder früher in der Reconvalescenzperiode, oder erst Monate, sogar Jahre lang nach dem Aufhören der Intermittens, auf. Namentlich sind es sehr lange dauernde, und schwere (besonders Quartan -) Fieber, von denen Störungen zurückbleiben, welche Irresein erzeugen können. Offenbar sind diese Störungen nicht immer dieselben. Schon die heftige Er - schütterung des Gesamtnervensystems während der Anfälle kann eine bedeutungsvolle Disposition zu leichten späteren Erkrankungen setzen, die nur unbedeutender, neuer Ursachen zur wirklichen Krankheits - entstehung bedarf. Es kann sich ferner, in Folge der Gehirnhyperä - mie während der Anfälle, eine Neigung zu chronischem Bestehen oder leichtem Eintreten solcher Hyperämieen ausbilden; endlich und diess Verhältniss möchten wir für das gewöhnlichere halten die von dem Wechselfieber her rückgebliebenen Anschwellungen der Milz und der Leber erzeugen Störungen in der venösen Circulation, wo - durch nicht nur mechanische Hyperämieen, sondern auch Oedeme verschiedener Theile gegeben werden. Diese können ebensowohl in der Schädelhöhle, wie (häufiger) in den untern Extremitäten sich ein - stellen und es spricht für die Ausbildung des Irreseins eben auf diesem Wege der Umstand, dass gewöhnlich diejenige Form desselben ent - steht, welche häufig auf Gehirnödem (mag dasselbe auch aus andern Ursachen enstanden sein) beruht (Melancholie mit Stupor).

Ein viertes, hier zu erwähnendes, wenn gleich nicht zu den Ursachen gehö - riges Verhältniss besteht darin, dass statt eines bestehenden (chronischen) Irre - seins Anfälle von Intermittens kommen, und mit diesen die Krankheit aufhört (sogen. critische Bedeutung der Wechselfieber). Jakobi hat 3 solche Fälle mit -140Blutveränderungengetheilt. Wie als sogen. Wechselfieberlarven Paroxismen von Irresein vorkommen, so auch andere schwere, intermittirende Neurosen, Paralysen, Epi - lepsieähnliche, tetanische Zustände (Vgl. Mongellaz, l. c.). Ebenso sind Fälle bekannt, wo als Nachkrankheiten der Intermittens anderartige, bedenkliche Nervenleiden auftreten (Gliederzittern, subparalytische und paralytische Zustände)*)Vgl. Maillot, traité des fièvres intermittentes. Par. 1836. p. 250..

Weiter schliessen sich an diese Nachkrankheiten der intermittirenden Fieber auch die üblen Folgen der schweren anhaltenden Fieber, namentlich eines über - standenen Typhus an. Alle Beobachter stimmen in Bezug auf die Wichtigkeit dieses Verhältnisses überein (Jakobi z. B. schreibt bei seiner Tobsüchtigen die Erkrankung den Folgezuständen typhoser Fieber zu), und wenn sich gleich in manchen Fällen durchaus nicht bestimmen lässt, ob jene Erkrankungen in wah - rem Typhus bestanden, so finden sich allerdings unverhältnissmässig oft unter den Antecedentien der Irren schwere fieberhafte Erkrankungen mit Delirien, Stupor etc. vor. Solche Fieber mögen durch directe Beeinträchtigung des Central - Nervensystems ebenso, als durch den ihnen oft lange folgenden anämischen, cachectischen Zustand zu Krankheitsursachen werden.

§. 84.

2) Auch Blutalterationen im weiteren Sinn dyscrasische Zu - stände können unzweifelhaft zu Ursachen des Irreseins werden. Vor Allem gehören hierher alle Zustände von Exaninition und allge - meiner Anämie, wie sich solche nach langem Hunger und Elend, nach selbsterzwungenem Fasten (religiöser Ascese in früheren Zeiten) nach grossen Blutverlusten (z. B. bei der Geburt), nach zu lange fort - gesetzter Lactation und dergl. bilden und ebenso sehr häufig zu Ur - sachen anderer hartnäckiger Neurosen, namentlich Spinalirritationen, werden.

Für so bedeutsam wir diese Zustände halten, und so sehr wir demgemäss die asthenische Natur sehr vieler Geisteskrankheiten anerkennen, so ist es uns doch auffallend, dass kaum Fälle von Entstehung wirklichen Irreseins bei eigentlich Chlorotischen, wo Anämie, Menostasie, allerlei psychische Ursachen so oft zusammentreffen, bekannt sind. Dass mit jenen allgemein anämischen Zu - ständen hartnäckige locale Hyperämieen, namentlich in der Schädelhöhle, sehr wohl gleichzeitig bestehen können, braucht nur für diejenigen bemerkt zu werden, in deren medicinischem Denken die Vorstellungen Hyperämie und Blutentziehung einen unlöslichen Bund geschlossen haben.

Weiter ist hier die constitutionelle Siphilis, gemeinhin als Blut - alteration aufgefasst, zu erwähnen. Sie kann niemals in anderer Weise, als durch schwerere Vegetationskrankheiten, durch Caries des Schädels oder des innern Ohrs, durch Exostose am Cranium und dergl. zu einer entfernteren Ursache von Geisteskrankheiten werden, ist aber eben in dieser Beziehung aufs ernstlichste zu berücksichtigen. Eine eben141als Ursachen.so häufige als wichtige Ursache bildet jene, in neuerer Zeit als Atherosis bezeichnete dyscrasische Disposition zu dem eigenthüm - lichen Erkranken der Arterien, das mit Verkalkung der Gefässwan - dungen endigt. Einestheils setzt diese Erkrankung, wenn sie die Arterien in der Schädelhöhle befällt, bedeutende unmittelbare Circu - lationsstörungen im Gehirn, namentlich eine Verlangsamung des Kreislaufs in ihm; andrerseits kommen eben hier gleichzeitig die schwersten organischen Herzkrankheiten vor, deren übler Einfluss bekannt ist.

Auch mit diesem Verhältnisse fällt die von den Schriftstellern als Ursache der Geisteskrankheiten aufgeführte Gicht zum Theil zusammen. Die Cholämie ist zwar von sehr bedeutendem Einflusse auf die psychischen Thätigkeiten, namentlich sieht man Angst, Neigung zum Zorn und Zank, Gleichgültigkeit, bösartige Launen, später auch Delirien, beim acuten Icterus auftreten; indessen wüssten wir nicht, dass wirkliches Irresein hieraus zurückgeblieben oder sich entschieden als Folge chronischer Gelbsucht gebildet hätte. Die Tuberculose wird im folgenden §. besprochen. Was das Pellagra betrifft, welchem in Oberitalien etwa die Hälfte der Geisteskranken angehören soll, so wird man, bei den grossen Meinungsverschiedenheiten, die über diese Krankheit unter den Aerzten jener Gegenden selbst herrschen, einen Arzt, der dasselbe nicht selbst beobachtet hat,*)Dieser Umstand hindert den Vf. auch, einen in Würtemberg beobachteten Fall, der sehr grosse Aehnlichkeit mit der Beschreibung der leichteren Grade des Pellagra hatte (tiefe Melancholie mit hartnäckigem, sehr schmerzhaftem Erythem der Extremitäten; Entstehung in grossem Elend und höchster physischer Vernach - lässigung unter Mitwirkung psychischer Ursachen) entschieden als Pellagra zu betrachten. Bekanntlich hat man in neuerer Zeit auch ausserhalb Oberitaliens, namentlich in Paris, zuverlässige, sporadische Fälle von Pellagra beobachtet. von einer näheren Besprechung desselben dispensiren.

§. 85.

3) Unter den Erkrankungen der Eingeweide, welche eine secundäre Gehirnaffection mit dem Symptomencomplex des Irreseins setzen können, stehen oben an die Brustkrankheiten und unter ihnen wieder alle Erkrankungen des Herzens. **)Vgl. §. 76. und das 2te Capitel der patholog. Anatomie. Nasse (von der psych. Beziehung des Herzens; in seiner Zeitschrift für psych. Aerzte. 1811 I. p. 49) hat zuerst diesen Punkt gehörig berücksichtigt. Von dort an finden sich allenthalben Angaben, die neueste von Lippich (Oestr. Jahrb. 1842. Juli. p. 32), namentlich in Bezug auf Italien, wo die Herzkrankheiten besonders häufig sein sollen. Vgl. auch die interessante Arbeit von Burrows über Gehirn - und Rücken - marks-Erkrankung während acuter Herzleiden. Gazette médic. 1843. Nro. 50.Ungleiche Blut - vertheilung und ungleiche Schnelligkeit der Strömung in verschiedenen Organen sind ihre directen Folgen, aus denen sich rasch verlaufende142Brustkrankheiten.oder dauernde Hyperämieen, Oedeme etc. im Gehirn, wie in den übrigen Organen ergeben. Eine eben so grosse Bedeutung schreiben wir den Lungenkrankheiten, besonders der häufigsten unter ihnen, der Tuberculose, in Uebereinstimmung mit Esquirol*)Die Geisteskrankheiten, von Bernhard. I. p. 62., Bergmann**)Holschers Annalen. III. 1838. p. 501. Die Lungenkrankheiten gehören in unserem Clima zu den ursächlichen Momenten, aus denen sich am häufigsten organische Störungen im Gehirn und darans psychsische Störungen herleiten lassen. Riedel (Oester. Jahrb. Mai 1842. p. 173) fand unter 14 Melancholischen, die im J. 1841 starben, 10mal Tuberculose, und nimmt gleichfalls ein Causalverhältniss zum Irresein an. und vielen andern Beobachtern, zu. Vielfache Erfahrungen zeigen hier ein doppeltes Verhältniss.

In der einen und nach unsern Erfahrungen grösseren Reihe von Fällen bilden sich Geisteskrankheiten aus mit dem Beginn oder doch in den ersten Stadien der Lungentuberculose, welche dann meist noch nicht erkannt wird, und sich für den weniger aufmerk - samen Beobachter auch später, von den Symptomen der Geistes - Krankheit überdeckt, kaum durch den zunehmenden Marasmus und das hectische Fieber kund gibt. In andern Fällen bricht das Irre - sein erst in der späteren Periode der Phtisis confirmata, als Schwer - muth, häufiger in der Form von maniacalischen Paroxismen aus. Die Folgen für den Gehirnkreislauf, die sich aus der Behinderung der Respiration ergeben, und eine veränderte Statik des Cerebrospinal - fluidums erscheinen, nach dem oben Gesagten, als wichtige pathogenetische Momente; in andern Fällen mag eine gleichzeitige Gehirnreizung durch schleichende tuberculose Meningitis das Irre - sein hervorrufen.

Beispiele von Manie bei Phtisischen s. bei Castel (Nasses Zeitschrift 1819. p. 421.), Wallach (Caspers Wochenschr. 1844. Nro. 3.) Meding (ibidem. 1845. Nro. 1.) etc.

Von grossem Interesse sind jene Fälle von Irresein (meist acute Manieen), welche während des Verlaufs der Pneumonie ausbrechen, zuweilen im Anfang derselben, häufiger in der Zeit der abnehmenden Krankheit, gegen die Reconvalescenz hin; sie sind meist von kurzer Dauer, giengen aber auch schon in chronisches Irresein über, so dass solche Kranke der Irrenanstalt übergeben werden mussten. ***)Vgl. Jakobi, Hauptformen. Fall XXIX. Thore, des maladies incidentes des aliénés. Ann. med. psych. Mai. 1844. p. 359 seqq. Auch in hiesiger Clinik wurde ein solcher Fall beobachtet.Wie weit in solchen Fällen das ursprüngliche Hinderniss der Respiration,143Unterleibskrankheiten.wie weit etwa ein deplaçirtes Oedem, wie weit namentlich die durch ein energisches Heilverfahren gegen die Pneumonie gesetzte Anämie zum näheren Anlasse der Krankheit wird, lässt sich nach den vor - liegenden Daten nicht weiter verfolgen.

Was die Krankheiten des Unterleibs betrifft, so soll in keiner Weise bestritten werden, dass in Folge ihrer Irresein entstehen könne; nur ist hier mit jenen, meist in erster Reihe aufgeführten un - reinlich gebildeten und trüben Categorieen von Verstimmung der Unterleibsnerven, Stockungen im Portadersystem, Infarctus, gestörtem Hämorrhoidalprocesse etc. nichts geholfen. Es muss vielmehr davor gewarnt werden, dass nicht wie es schon häufig genug geschah aus mässigen Störungen der Verdauung und des Stuhls, aus den Empfindungen, die das längere Verweilen des Darminhalts im Colon verursacht, aus der dunkleren Farbe der Fäces etc. leichtfertig patho - logische Zustände combinirt werden, von denen eine richtige (ana - tomische) Pathologie gar nichts weiss. Man läugnet nicht, dass Leber - und Milzkrankheiten die Circulation behindern können, eben so wenig, dass auch jene leichteren Störungen der Verdauung mitunter Durch - gangsmedien der Erkrankung bilden, mittelst deren namentlich die schädlichen Folgen der psychischen Ursachen wieder secundär auf das Gehirn rückwirken, und man kann Broussais so gut als den deutschen Vertheidigern der Infarctuslehre zugeben, dass Darmcanal - störungen*)Willis erzählt den merkwürdigen Fall einer jungen Dame, deren Gesund - heit durch langen, schweren Kummer tief gelitten hatte: nachdem sie ein schwer - verdauliches Backwerk genossen, ward sie plötzlich von einem Gefühle brennen - der Hitze in der Herzgrube ergriffen, glaubte, der obere Theil ihres Körpers stehe in Flammen, lief auf die Strasse hinaus, hatte die Vorstellung, sie sei höchst gottlos und werde in die Flammen der Hölle geschleppt, Vorstellungen, die immer wiederkehrten, so oft sich das Gefühl von Brennen erneuerte, etc. Jakobi l. c. p. 667. in einzelnen Fällen sogar zum Ausgangspunkt der Gehirn - Erkrankung, und demgemäss auch zum Angriffspunkt der Therapie werden können. Nur ist hier einerseits auf eine genaue Trennung derjenigen Intesinalstörungen, welche sich als Folgen der schon vor - handenen Gehirnreizung präsentiren, von den wirklich causalen, andrerseits und hauptsächlich auf eine schärfere, anatomische Auf - fassung und Diagnostik jener chronischen Krankheiten zu dringen. Die verschiedensten Textur-Erkrankungen der Leber, der Milz, des Pancreas, der dünnen und dicken Gedärme dürfen nicht promiscue unter Galenische Categorieen gebracht werden und man muss sich144Haut-Nieren-Genitalienkrankheiten.erinnern, dass, so lange die genauere anatomische Diagnose im ein - zelnen Falle nicht gemacht ist, sowohl dem ätiologischen Urtheile, als einer rationellen Therapie jeder sichere Anhaltspunkt entgeht. In Bezug auf die Casuistik von Fällen nun, wo bei Irren nach dem Tode Alterationen der Unterleibs-Eingeweide gefunden wurden, müssen wir auf die reichhaltige Literatur über diesen Gegenstand (z. B. die Schrift von Buzorini und die Reihe Bonner, unter Nasses Präsidium ausge - arbeiteter Dissertationen) verweisen, noch einmal daran erinnernd, dass ein bloss gleichzeitiges Vorkommen ohne alle Einsicht in den Mechanismus der reciproquen Wirkung nicht genügt, jene Alterationen als Ursachen des Irreseins zu betrachten.

Das Pellagra bietet ein auffallendes Beispiel des Zusammenvorkommens von Irresein mit einer Hautkrankheit. Aber jene stets wiederholten Angaben von Entstehung des Irreseins aus unterdrückten Ausschlägen, in Folge schnell ge - heilter und vertrokneter Hautulcerationen etc. sind mit grosser Vorsicht und Critik zu betrachten. Oft sind es die psychischen Ursachen, noch öfter schon der Beginn des Irreseins selbst, unter deren Einfluss solche äussere Krankheiten eine Aenderung des Verlaufs erleiden, und am wenigsten darf als von einer Ursache des Irreseins von der Unterdrückung solcher Exantheme die Rede sein, die, wie die Krätze, aus rein äusseren Ursachen entstehen.

Der Nierenkrankheiten und der Anomalieen im Chemismus der Urin - secretion sei hier nur gedacht, um vielleicht genauere Untersuchungen bei den Irren in dieser Beziehung anzuregen. Es ist bekannt, dass acute und chronische Nierenkrankheiten, namentlich der Morbus Brightii, nicht selten unter bedeuten - den Gehirnsymptomen verlaufen;*)Addison, Guys hosp. reports. Apr. 1839. Oestr. Jahrb. 1840. Rayer, malad. de reins. III. 1841. p. 153 seqq. einzelne Fälle (Rayer, mal. de reins I. 1839. p. 523. Friedreich, allg. Pathologie etc. p. 402) von Irresein sind auch bekannt ge - worden, wo solches offenbar in einem gewissen Zusammenhange mit einem Nieren - leiden stand; und es fordern die Bemerkungen von Golding-Bird,**)London Medical Gazette. August 1841. welcher bei dem Auftreten der Oxalate im Urin constant tiefe geistige Depression beobachtet hat, zu grösserer Beachtung dieser Secretion auf, als ihr bisher in den Irren - anstalten geschenkt wurde.

§. 86.

4) Von grosser Bedeutung bei beiden Geschlechtern sind die krankmachenden Einflüsse, welche vom Genitaliensystem ausgehen. Nur ausnahmsweise kommen Fälle vor, wo sexuelle Nichtbefrie - digung und Abstinenz als Hauptursache betrachtet werden muss; eine Mitwirkung dieses Verhältnisses ist aber, namentlich beim weib - lichen Geschlecht, nicht selten und namentlich vermag dasselbe dem aus irgend welchem Grunde ausgebrochenen Irresein einen gewissen besonderen Anstrich zu geben, indem der lange, zurückgedrängte145Genitalienkrankheiten.Trieb sich nun gerne in der Form des verliebten und sexuellen Wahnsinns, bald im idealen Gewande, bald in nackter Lüsternheit, äussert.

Beim männlichen Geschlechte sind alle jene sexuellen Derangements, welche man unter dem Namen der unwillkürlichen Samenverluste, der Pollutio diurna etc. begreift, von grosser Wichtigkeit. Diese Anomalieen bei denen offenbar in den wenigsten Fällen der Verlust der spermatischen Flüssigkeit die Hauptsache ist, beruhen, wie von Lallemand gezeigt wurde, häufig auf localen Er - krankungen der Urethralschleimhaut, der Samenbläschen etc., in andern Fällen geht die Störung offenbar vom Nervensystem aus; gewöhnlich geht ihnen längere Zeit gesteigerter Sexualreiz (übermässige Pollu - tionen), weniger als ihre Ursache, denn als Zeichen der schon be - stehenden Irritation voraus; einmal ausgebildet äussern sie sich in bedeutender Herabsetzung der sexuellen Empfindungen, Abnahme der Erection, Impotenz, verbunden mit allen möglichen sensitiven und psychischen Dysästhesieen, deren Gruppe theils eine wahre männliche Hysterie, theils einen tief hypochondrischen Zustand darstellt.

Durch die Schrift von Lallemand*)Vgl. seine Krankheitsgeschichten und sein Resumé. III. p. 127 200. veranlasst, haben wir, bei einer Anzahl männlicher Geisteskranken unsere Aufmerksamkeit auf diesen Punkt ge - richtet eine kitzliche Untersuchung, da die Kranken in dieser Beziehung ge - wöhnlich misstrauisch und ihre Angaben unzuverlässig sind und es grosser Vor - sicht bedarf, um ihre Aufmerksamkeit nicht zu sehr auf diese Verhältnisse zu determiniren. Nur bei Einem Kranken gelang es uns, entschiedene Pollutio diurna (bei der Stuhlentleerung) microscopisch festzustellen; aber so viel hat sich uns mit völliger Sicherheit ergeben, dass bei einer unerwartet grossen Anzahl eine, dem Kranken meist sehr fühlbare, Abnahme der sexuellen Empfindungen und des Geschlechtstriebs, zuweilen auch wirkliche Impotenz, der Ausbildung des Irre - seins längere Zeit vorausging, wobei es sich freilich fast niemals näher entschei - den liess, ob solche die Folgen oft vorausgegangener sexueller Excesse und Missbräuche, oder derjenigen widrigen Gemüthsaffecte, die eben auch zu Ur - sachen des Irreseins wurden, ob sie die ersten Symptome des melancholischen Stadiums selbst waren oder von localen Erkrankungen der Genitalien herrührten. In 2 Fällen, wo das letztere entschieden schien, haben wir die von Lallemand empfohlene Cauterisation der pars prostatica urethrae vorgenommen, in dem einen Falle ohne irgend bemerkbaren Einfluss auf die Krankheit, in dem andern besei - tigte die Operation verschiedene unangenehme Empfindungen in den Genitalien, worüber der Kranke sehr geklagt hatte**)Cooper erzählt in seinen Vorlesungen einen Fall, wo durch die Operation eine ungeheure Menge von Prostatasteinen entleert wurde. Diese Steine hatten nicht nur Schmerz, sondern auch eine anhaltende, an Wahnsinn grenzende Auf - regung des Gemüths zur Folge gehabt. (Gefühle von beständigem Aus - undGriesinger, psych. Krankhtn. 10146Krankheitsursachen ausEinströmen, von Hitze etc.), ohne auf das Irresein einen schnellen günstigen Erfolg zu äussern.

Beim weiblichen Geschlechte übt die Menstruation und jede Art ihrer Störung grossen Einfluss auf die Ausbildung und den Verlauf der Geisteskrankheiten aus. Die einfachsten, aber auch sel - tensten Fälle sind die, wo bei zuvor gesunden Personen nach einer schnellen Cessation oder Unterdrückung der Periode acute leb - hafte Gehirnhyperämie entsteht und unmittelbar damit Geistesver - wirrung ausbricht. Viel häufiger geht zwar allerdings eine Stockung der Menses dem Irresein voraus, steht aber mit diesem in keinem so directen Verhältnisse, sondern ist selbst als Folge der anhalten - den Gemüthsdepression, als Theilerscheinung eines bestehenden anä - mischen Zustands, einer andern chronischen Krankheit oder überhaupt einer Verschlechterung der Constitution zu betrachten, und diese Ver - hältnisse stellen an sich schon wichtigere Ursachen dar, als die Meno - stasie. Ebenso kann der zu profuse Monatsfluss durch Anämie und allgemeine Herabsetzung der Ernährung zur Ursache des Irreseins, wie jeder andern Neurose werden. Häufig aber zeigen sich Un - regelmässigkeiten der Menstruation erst mit dem Beginn des Irreseins so gut als sie in jeder andern chronischen Krankheit eintreten können, wie man denn auch bei der Genesung vom Irresein so oft beobachten kann, dass dieselbe nicht auf den Wiedereintritt der Periode, sondern dass umgekehrt die Rückkehr der Menstruation auf die bereits zu - standegekommene Beseitigung des Gehirnleidens folgt. Dauert die Menstruation während der Geisteskrankheit fort, was oft ohne die geringste Störung der Fall ist, so wird nicht selten bei ihrem jedes - maligen Eintritt vermehrte Exaltation, überhaupt allseitige Steigerung der Geistesstörung beobachtet. In seltenen Fällen hat man nur perio - disches Irresein während der Menstruation jedesmal mit mehrwöchent - lichen vollständigem lucidum intervallum beobachtet.

Die Localkrankheiten des uterus, der ovarien, der vagina (Cysten und andern Desorganisationen, chronische Entzündungen etc.) haben gewöhnlich erst in Folge ausgebildeter Hysterie ein aus dieser allmählig entwickeltes Irresein zur Folge, das oft in seinem allge - meinen Character (Ueberspanntheit zärtlicher Gefühle, Sentimentalität, Lascivität) oder in einzelnen falschen Gedankenbildungen (z. B. dem Wahn, schwanger zu sein) deutlich auf seinen Ursprung hinweist.

147dem weiblichen Geschlechtsleben.

§. 87.

Die Schwangerschaft, noch mehr der Puerperalzustand und die Lactation geben aber unter allen Einflüssen aus dem weib - lichen Geschlechtssysteme die wichtigsten Ursachen des Irreseins ab. Unter ihnen hat die Schwangerschaft am seltensten ausgebildetes Irresein in der Form tiefer Schwermuth oder Manie, häufiger einen nur milden und mässigen psychischen Depressionszustand, der sich aber oft genug sichtlich als erstes Stadium zu der späteren Puerperal - Manie verhällt, zur Folge. Die directen psychischen Einflüsse, nament - lich die gemischten Gemüthsbewegungen, die eine erstmalige Schwanger - schaft begleiten, können hier von Bedeutung bei vorher Disponirten sein; aber von viel wichtigerem pathogenetischem Moment scheint uns die allmählig zunehmende Beeinträchtigung der Respiration durch das Hinaufgeschobenwerden des Zwerchfells zu sein, welche leicht Störungen im kleinen Kreislauf und eben damit Störungen der Blutcircu - lation im Kopfe zur Folge haben kann. Dass eine (subinflammatorische) Hyperämie der dura mater und der Innenfläche des Schädels in der Schwangerschaft ganz gewöhnlich, und schon in ihren früheren Perio - den, zu Wege kommt, diess zeigt die sogen. puerperale Osteophyt - bildung*)Vgl. Rokitansky, pathol. Anatomie. II. p. 237 sqq. und wir wagen, die definitive Aufklärung dieses Punktes der pathologischen Anatomie überlassend, die Vermuthung, dass jene Hyperämieen mechanische, von Circulationsstörung im Thorax her - rührende seien, wofür wir die Thatsache anführen können, dass die den puerperalen am meisten gleichenden Schädelosteophyte bei Männern vorzugsweise mit gleichzeitigen chronischen Brustkrankheiten (Phtisis) vorkommen.

Schon während der Geburt und von da an im ganzen Verlauf des Puerperiums können schwere psychische Störungen auftreten, deren Zusammenfassung als Puerperal-Wahnsinn indessen unzweckmässig erscheint, da sie in Bezug auf Entstehungsweise und Form weder etwas vom sonstigen Irresein auf characteristische Weise Distinktes, noch unter sich gemeinschaftlich Eigenthümliches haben. Vielmehr ist in practischer Beziehung gerade eine genauere Scheidung dieser Fälle erforderlich.

Jene Zustände von grosser Aufregung und Tobsucht, die in der letzten Periode des Geburtsacts selbst vorkommen, und sich meist in grosser Feindseligkeit gegen das Kind, (Tödtung desselben) äussern,10*148Wochenbett und Lactation als Ursachen.dauern niemals länger als einige Stunden oder einen Tag, und man hat sich nur in gerichtlicher Beziehung ihr wirkliches Vorkommen zu merken.

Unter den später, aber immer noch am liebsten in den ersten 14 Tagen nach der Geburt, ausbrechenden Seelenstörungen sind nun die einen als das symptomatische Delirium anderer, schwerer Puerperalkrankheiten, namentlich der Endometritis, der Phlebitis und Pyämie, der consecutiven Endocarditis (Kiwisch) etc. zu betrachten Fälle, bei denen die Gehirnaffection theils dem übeln Einflusse des eitriginficirten Blutes, theils deutlicher Kopfcongestion zugeschrieben werden muss, wo die Seelenstörung zwar zunächst die (bedenkliche) Prognose der Hauptkrankheit theilt, im Ganzen mit dieser steht oder fällt, aber doch in einzelnen Fällen, bei erfolgender Genesung von dem Kindbettfieber, längere Zeit fortdauern kann.

In einer weiteren Reihe von Fällen dagegen entwickelt sich ein Irresein ohne anderweitige, schwere Puerperalkrankheit, ein von Anfang an selbständiges Gehirnleiden, entweder in Form der Schwermuth, namentlich des Raptus melancholicus, oder, besonders wenn schon in der Schwangerschaft ein psychischer Depressionszustand vorausgegangen, sogleich in der Form der heitern Aufregung und häufig der nympho - manischen Ausgelassenheit. Diess hauptsächlich sind die Fälle, die später zu einem dauernden Irresein von übrigens im Ganzen nicht ungünstiger Prognose werden. Sie kommen vorzugsweise bei schon prädisponirten Individuen vor, unter dem Einflusse aller möglichen determinirender Ursachen, von denen die widrigen Gemüthsaffecte*)Vgl. Esquirol, I. p. 141 142. einerseits, die Anämie durch starke Säfteverluste bei der Geburt, durch Operationen etc. andrerseits offenbar die wichtigsten sind.

Vgl. Esquirol, die Geisteskrankheiten. I. cap. 5. Schneider, über Mania lactea, in Nasses Zeitschr. für Anthrop. 1823. p. 163. Neumann, Krankheiten des Vorstellungsvermögens. 1822. cap. 14. Kiwisch v. Rotterau, die Krankheiten der Wöchnerinnen. II. 1841. p. 228. Helm, Monographie der Puerperalkrankheiten. 1840. §. 28. 46. 53. 75. Sinogowitz, die Geistesstörungen. 1843. §. 25.

Was endlich die Lactation betrifft, so ist die Schwächung der Constitution durch ein zu langes Säugen als Ursache der ver - schiedensten schweren Neurosen (Spinalirritationen) in allen mög - lichen Formen anerkannt, und es sind nun namentlich tiefere oder anhaltende Gemüthsbewegungen, psychische Prädisposition etc, unter149Schluss der Aetiologie.deren Zutritt gerade diese Form von Gehirnaffection, das Irresein unter solchen Umständen entsteht.

Und so mögen sich im Einzelnen dieser Aufzählungen die allgemeinen Sätze erwiesen haben, dass alle Herabsetzungen der Ernährung, alle wahren Schwächezustände, dass ferner alle Um - stände, durch welche das Nervensystem überreizt wird, alle, welche Congestionen nach den Centralorganen begünstigen, alle überhaupt, welche die Ausbildung und Fixirung der nervösen Constitution zur Folge haben, zu Ursachen des Irreseins werden können. Wir werden diese Sätze bei der Therapie der Geisteskrankheiten wie - derfinden.

[150]

DRITTES BUCH. Die Formen der psychischen Krankheiten.

§. 88.

Eine Eintheilung der psychischen Krankheiten nach ihrem Wesen, d. h. nach den ihnen zu Grunde liegenden anatomischen Veränder - ungen des Gehirns ist derzeit nicht möglich (§. 5.); sondern, wie die ganze Classe der Geisteskrankheiten nur eine symptomatologisch gebildete ist, so lassen sich als ihre verschiedenen Arten zunächst nur verschiedene Symptomencomplexe, verschiedene Formen des Irreseins angeben. Statt des anatomischen Eintheilungsprincips müssen wir das functionelle, physiologische festhalten, und dieses wird hier, da die Störungen des Vorstellens und Strebens die hauptsächlichsten und auffallendsten sind, zum psychologischen. Nach der Art und Weise der psychischen Anomalie ist also das Irresein einzutheilen; während es nun aber die Aufgabe des clinischen Unterrichts ist, die Mannigfaltigkeit der psychischen Störungen in den concreten Er - krankungsfällen hervorzuheben und zu analysiren, muss sich die Nosologie mit der Aufstellung weniger Hauptgruppen psychischer Störungen, weniger psychisch-anomaler Grundzustände begnügen, die sich aus der Uebereinstimmung sehr vieler Fälle in gewissen characteristischen Merkmalen ergeben und auf die sich daher alle Mannigfaltigkeit des einzelnen Erkrankens zurückführen lässt. Diese Grundzustände und ihre äussere Erscheinung haben wir hauptsächlich hier zu schildern, und wenn dabei die Varietäten und die Uebergänge der einzelnen Formen in einander freilich wohl beachtet werden müssen, so kann diess doch niemals in erschöpfendem Detail geschehen; eben151Eintheilung der Geisteskrankheiten.jenes Flüssige der (normalen und anomalen) psychischen Erscheinungen, auf welchem die Varietäten, Mittelzustände und Uebergänge beruhen, bildet den interessantesten Vorwurf clinischer Erörterung, lässt sich aber in den kurzen Expositionen eines Lehrbuchs nicht fixiren.

Zwei grosse Gruppen psychisch-anomaler Grundzustände ergeben sich aus der Analyse der Beobachtungen als die beiden wesentlichsten Verschiedenheiten des Irreseins. Einmal nemlich beruht dasselbe auf dem krankhaften Entstehen, Herrschen, Fixirtbleiben von Affecten und affectartigen Zuständen, unter deren Einflusse nun das ganze psychische Leben die der Art und Weise des Affects adäquaten Modifi - cationen erleidet. Das anderemal besteht das Irresein in Störungen des Vorstellens und Wollens, die nicht (nicht mehr) von dem Herrschen eines affectartigen Zustandes herrühren, sondern ein, ohne tiefere Gemüthserregtheit selbständiges, beruhigtes falsches Denken und Wollen (meist mit dem herrschenden Character psychi - scher Schwäche) darstellen. Die Beobachtung ergibt nun weiter, dass die Zustände, die in der ersten Hauptgruppe enthalten sind, in der ausserordentlichen Mehrzahl der Fälle den Zuständen zweiter Reihe vorangehen, dass die letzteren gewöhnlich nur als Folgen und Aus - gänge der ersteren, bei nicht geheilter Gehirnkrankheit auftreten. Es zeigt sich ferner innerhalb der ersten Gruppe, bei einer grösseren Durchschnittsbetrachtung, wieder eine gewisse bestimmte Aufeinan - derfolge der einzelnen Arten affectartiger Zustände, und so ergibt sich eine Betrachtungsweise des Irreseins, welche in dessen ver - schiedenen Formen verschiedene Stadien eines Krankheitsprozesses erkennt, welcher zwar durch die mannigfachsten intercurrirenden patholo - gischen Ereignisse modificirt, unterbrochen, umgeändert werden kann, im Ganzen aber einen stetig sucessiven Verlauf einhält, der bis zum gänzlichen Zerfall des psychischen Lebens gehen kann. Mittelst dieser von Zeller*)2ter Bericht etc. Med. Corresp. Blatt. Juli 1840. am deutlichsten ausgesprochenen Erkenntniss ist es uns denn möglich, von dem Wege der Symptomatologie her auch den, immer in den Vordergrund zu stellenden, Aufgaben der anatomisch - pathologischen Auffassung und Diagnostik der Geisteskrankheiten näher als bisher zu rücken. Denn auch die pathologische Anatomie weist für eine Mehrzahl von Fällen einen gewissen Krankheitsprocess (auf den Gehirnoberflächen) nach, der sich allmählig an und für sich und in seinen Producten fixirt und der am Ende zu den schwersten, anatomischen Alterationen der Gehirnsubstanz fortschreiten kann. So152Allgemeines übertreffen endlich der einfach symptomatologische, der psychologisch - analytische, und der anatomische Weg der Untersuchung auch in dem practisch-bedeutsamen Resultate zusammen, dass das Irresein fast nur innerhalb jener ersten Gruppe primitiver (affectartiger) geistiger Anomalieen eine heilbare, mit der Ausbildung der der zweiten Reihe angehörigen, secundären Störungen aber eine unheilbare Krank - heit ist. Jene erste Reihe enthält die Formen der Schwermuth, der Tobsucht und des Wahnsinns; die zweite Reihe die Formen der Verrücktheit und des Blödsinns.

Erster Abschnitt. Die psychischen Depressionszustände. Die Schwermuth oder Melancholie.

§. 89.

Das Grundleiden bei allen diesen Krankheitsformen besteht in dem krankhaften (§. 33.) Herrschen eines peinlichen, depressiven, negativen Affects, in einem psychisch-schmerzhaften Zustande. Dieser kann Anfangs, in der reinsten, primitivsten Form der Schwermuth, in der Art der objectlosen Gefühle von Beklemmung, Angst, Nieder - geschlagenheit, Traurigkeit andauern, meistens aber geht solche dunkle, abstracte Gefühlsbelästigung bald in ein einzelnes, concretes, schmerz - liches Vorstellen aus einander, es erheben sich der Stimmung entspre - chende, äusserlich unmotivirte (falsche) Vorstellungen und Urtheile, wahre Delirien von peinlichem, schmerzlichem Inhalt, während gleich - zeitig das Vorstellen auch formal-abnorm, in seinem freien Flusse gehemmt, verlangsamt, träge, das Denken monotoner und leerer wird. Die psychische Reaction gegen die Aussenwelt ist entweder geschwächt und abgestumpft (psychische Anästhesie, Gleichgültigkeit bis zum Stumpfsinn), oder in der Weise gesteigert, dass alle psychi - schen Impressionen schmerzhaft werden (psychische Hyperästhesie), und sehr häufig kommen Mischungen und Wechsel dieser beiden Reactionsweisen vor. Vielfache Störungen auf der motorischen Seite des Seelenlebens schliessen sich weiter hieran; ihre Verschiedenheiten begründen namentlich die Unterscheidung mehrer Hauptformen me - lancholischer Zustände: bald ist das Streben direct herabgesetzt und geschwächt, bald krampfhaft gehemmt (Energielosigkeit, Willenlosig -153die Schwermuth.keit), bald treten einzelne Triebe und Willensimpulse, denen Stoff und Inhalt durch die negative Stimmung gegeben ist, auf, bald end - lich erregt ein höheres Mass des psychischen Schmerzes ausgebreitete, motorische Impulse von unzweckmässigem, convulsivischem Character, die sich als höchste Unruhe äussern, mit deren Andauern und wei - terer Steigerung indessen die melancholischen Zustände einen ganz andern Character annehmen und in eine andere Form die Tob - sucht übergehen.

Die Beobachtung zeigt, dass die ungemeine Mehrzahl aller psy - chischen Erkrankungen mit solchen Zuständen tiefer Gemüthsverstimmung in der Weise eines depressiven, traurigen Affects anfängt. Guislain hat diese Thatsachen am sorgfältigsten erhoben und am stärksten premirt; auch wir konnten, mit Ausnahme einiger nach Kopfver - letzung oder acuter Meningitis entstandener Fälle, immer einen Zu - stand von Schwermuth als den primären, als den Ausgangspunkt des weitern Irreseins eruiren, und wir nehmen desshalb keinen Anstand, von einen Stadium melancholicum als der ersten Periode der Geisteskrankheiten zu sprechen. Allerdings dauert dasselbe oft nur kurz, es gibt z. B. Fälle von Manie, denen nur einige Tage lang grosse Angst, Unruhe, ein Zustand von Verzweiflung vorausgehen; anderemal wird ein Jahre lang dauerndes melancholisches Stadium wegen seiner milden Form und zeitweiser Remissionen verkannt; endlich kommen Fälle vor, wo einem ersten Erkranken in der Form der Schwermuth eine mehrjährige Periode freien Intervalls folgt, und nun bei einem zweiten Krankheitsanfall das Stadium der Melancholie fehlt (Zeller). Die Melancholie, die das Irresein einleitet, stellt sich zuweilen als die unmittelbare Fortsetzung objectiv begründeter schmerzlicher Affecte (psychischer Ursachen des Irreseins) dar, z. B. der Eifersucht, wo sie sich denn vom Seelenschmerze des Gesunden eben durch ihr Uebermass und ihr ungewöhnlich langes, von äusseren Einwirkungen immer unabhängiger und selbstständiger gewordenes Bestehen unterscheidet. In andern Fällen entsteht die Melancholie ohne alle psychische Anlässe, am häufigsten aber zwar aus solchen, aber nicht als ihre directe Fortsetzung, sondern erst nachdem die - selben mannichfache Störungen der Circulation und Ernährung ver - anlasst oder die ganze Constitution untergraben haben.

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Erstes Capitel. Die Hypochondrie.

§. 90.

Die hypochondrischen Zustände stellen die mildeste, mässigste Form des Irreseins dar, und haben manche Eigenthümlichkeiten, die sie von den andern Formen der Schwermuth wesentlich unterschei - den. Denn während sie allerdings mit diesen den Classencharacter der niedergeschlagenen, traurigen, depressiven Gemüthsverstimmung, der verminderten Energie des Willens und eines jener Stimmung entsprechenden Deliriums theilen, so differiren sie auf characteri - stische Weise dadurch, dass hier die Gemüthsdepression aus einem starken, körperlichen Krankheitsgefühle hervorgeht, das die Aufmerksamkeit beständig lebhaft in Anspruch nimmt, dass sich dess - halb die falschen Urtheile fast ausschliesslich auf den Gesundheits - zustand des Subjects beziehen, und dasselbe nun in Besorgnissen eigener schwerer Erkrankung, in ungegründeten und bizarren An - sichten über die Art und Weise und die Gefährlichkeit dieser seiner Krankheit delirirt. Jenes körperliche Gefühl des Krankseins ist bald ein dunkles und allgemeines, bald ist es in einzelne, anomale Sen - sationen auseinandergegangen; es beruht häufig auf Irritation der Nervencentra von peripherischen, oft sehr versteckten und dunkeln Erkrankungen der Eingeweide aus, aber es wird auch central, durch direct psychische Ursachen hervorgerufen (Lesen medicinischer Schriften, ansteckender Umgang mit Hypochondristen). Immer wer - den diese krankhaften Empfindungen durch die Richtung der Auf - merksamkeit auf sie gesteigert, und bei einigermassen ausgebildetem Zustande können solche durch die Richtung des Vorstellens auf dieses oder jenes Organ geweckt, deplaçirt und in jedem Theile des Or - ganismus neu hervorgerufen werden. Was den geistigen Antheil an der Krankheit betrifft, so ist, ungeachtet der Gemüthsverstimmung und der falschen Vorstellungen, doch die äussere Besonnenheit ge - wöhnlich lange erhalten, die anomalen Empfindungen und Vorstel - lungen werden logisch zusammenhängend und consequent verarbeitet, und mit Gründen, welche doch innerhalb des Bereichs der Möglich - keit liegen, gerechtfertigt. Eben durch diesen Mangel eigentlicher Verstandesverwirrung erscheint die Hypochondrie wesentlich als schwermüthige Folie raisonnante*)Es gibt kein erschöpfend-entsprechendes deutsches Wort., deren entsprechenden155Symptomatologie der Hypochondrie.Gegensatz die gewöhnlich sogenannte (wahnsinnige) Folie raison - nante wir bei den psychischen Exaltationszuständen finden werden.

Dem denkenden und kundigen Leser wird die eigene Einzeldurchführung dieser Analogie, welche eine das Verständniss fördernde Parallele zwischen beiden Grundformen krankhafter Gemüthszustände, an die Hand gibt, empfohlen. Dass übrigens der Hypochondrie ihre Stelle wirklich nirgends anders als unter den psychischen Krankheiten, zu denen sie schon von Sauvages und Cullen, wie von Pinel, Georget und Falret gezählt wurden, gebührt, wird sich aus der folgenden Symptomotologie von selbst ergeben.

§. 91.

Symptome. Die Stimmung der Kranken fängt an, sich ohne äussere Motive zu verändern; sie werden niedergeschlagen, verdrossen, besorgt, mürrisch, zeigen grössere Empfindlichkeit, die Neigung, Alles auf sich zu beziehen, und fühlen sich leicht von Allem be - lästigt und ermüdet. Anfangs wechselt dieser Zustand mit Remis - sionen und die Paroxismen erscheinen als ärgerliche, unruhige, miss - trauische Laune oder als psychische Kälte, die sich bis zum Lebens - überdrusse, als Angst, die sich zur Verzweiflung mit Unmöglichkeit, sich äusserlich zu beherrschen, steigern kann. Von einem un - bestimmten, aber lebhaften Krankheitsgefühle wird der Kranke auf dunkle Weise belästigt und beunruhigt; alle Provinzen des sensi - tiven Nervensystems können zum Sitze krankhafter, oft sehr schmerz - licher Empfindungen (Formication, Kälte und Hitze, Fortkriechen eines fremden Körpers, Leerheit, Abgestorbensein, Stechen, Zerreissen etc.) werden, und auch die höheren Sinne zeigen oft vermehrte Empfind - lichkeit oder grössere Stumpfheit und wirkliche Hallucinationen. Alle diese anomalen Empfindungen drängen sich stets lebhaft ins Bewusst - sein, wecken und unterhalten beständig ein Vorstellen, das sich auf die Erkrankung, auf ihre verschiedenen möglichen Arten und auf die Heilung bezieht; alle Sensationen werden belauscht und im Sinne der herrschenden trüben und ängstlichen Stimmung ernsthaft commentirt und analysirt; es wird aus ihnen auf das Vorhandensein schwerer, gefährlicher Krankheiten geschlossen, und häufig werden solche Ver - muthungen in einer Uebertriebenheit, deren sich der Kranke halb bewusst ist, und in möglichst drastischen und pittoresken Worten geäussert. Der Kranke, der dabei ganz unbedeutende objective Symptome darbieten kann, spricht von Apoplexie, von Halbtod, von Vertrocknung oder Versteinerung des Herzens; seine Nerven sind glühende Kohlen, sein Blut ist siedendes Oel etc., und gerne wer - den die schwersten, oder ganz neue, noch nie dagewesene Krank -156Symptomatologieheiten angenommen, indem eben die Schwere und Gefährlichkeit der Krankheit im Verhältniss zur Grösse der Gefühlsbelästigung stehen soll. Mit der Orts - und Qualitätsveränderung der krankhaften Sensa - tionen wechseln denn auch die Vorstellungen über den Sitz und die Art der Krankheit und der Kranke glaubt successiv mit allen Leiden, die seine Pathologie kennt, behaftet zu sein. So sehr diese Vor - stellungen wahre Delirien, so falsch und bloss eingebildet sie sind, so wenig sind diess die Empfindungen, die die Basis jener Urtheile bilden und zu denen sich diese selbst wesentlich nur als Erklä - rungsversuche verhalten.

Wir finden also hier gleich denselben Ursprung, dieselbe objective Grund - losigkeit und subjective Begründung der irrigen Vorstellungen, wie bei den an - deren Formen der Schwermuth und eines noch tieferen Irreseins. Man nehme dem Hypochonder sein Krankheitsgefühl, so wird er keine imaginäre Krankheiten mehr haben wollen; man nehme aber auch dem in anderer Weise Schwermüthigen seine Angstgefühle, so wird er sich z. B. nicht mehr von Feinden verfolgt glauben. Auch hier sind die abnormen Gefühle, aus denen erst das Delirium hervorgeht, ebenso reell,[und] auch hier findet sich, wenigstens Anfangs, dieselbe geringe Haltbarkeit und derselbe schnelle Wechsel der irrigen Vorstellungen, wie bei der Hypochondrie.

§. 92.

Diesen seinen Leiden, mit denen sich der Hypochonder immer lebhaft beschäftigt, sucht er auf jede mögliche Weise beizukommen. Er untersucht häufig seinen Puls, seine Zunge, seine Excretionen, und findet oft bei diesen Untersuchungen Motive der Furcht oder der Hoffnung, von denen er, auch wenn es das Unsauberste betrifft, mit einer Art Wollust Jedermann unterhält. Der heftige Wunsch, zu genesen, lässt ihn häufig mit den Aerzten und den eigenen Heil - planen wechseln, er erholt sich Rath in medicinischen Schriften, und ändert nun oft die bisherigen Ansichten über seine Krankheit, indem er Alles, was er liest oder hört, auf sich anwendet; die Er - wähnung einer Krankheit genügt, um ihm die Vorstellung, dass er selbst daran leide, hervorzurufen und er erhält nun, durch diese Vorstellungen angeregt, neue secundär entstehende anomale Empfin - dungen aus den betreffenden Organen*)Man bemerke die Identität dieses Processes mit der Entstehung der Hallu - cinationen überhaupt. Vgl. p. 69, 73..

Nicht immer aber sind es bloss gewöhnliche, körperliche Krankheiten, mit denen, als Gegenständen seiner Besorgniss, der Hypochonder sich beschäftigt; häufig entgeht ihm selbst der grosse psychische An -157der Hypochondrie.theil an seinem Leiden nicht, und die Veränderung seiner ganzen Persönlichkeit, das Befangensein in den kranken Empfindungen und Vorstellungen, namentlich aber eine gewisse (§. 44. schon erwähnte) Anomalie, besonders im geistigen Antheil an der Sinnesempfindung, wobei diese, obwohl wie sonst percipirt, doch nicht mehr dieselben Eindrücke erregt machen oft den Hauptgegenstand seiner Klage aus.

Dieses letztere, sehr merkwürdige Verhalten, das die Kranken selbst Mühe haben zu beschreiben, das auch wir in mehren Fällen als das hervorstechendste und lästigste Symptom beobachtet haben, ist in folgendem Brief einer Kranken Esquirols, so gut es sein kann, ausgedrückt:

Noch immer leide ich beständig, und habe keine Minute von Wohlbefinden und keine menschliche Empfindung; umgeben von Allem, was das Leben glücklich und angenehm macht, fehlt mir jede Fähigkeit des Genusses und der Empfin - dung; beide sind physich unmöglich für mich geworden In allem, in den zärt - lichsten Liebkosungen meiner Kinder, finde ich nur Bitterkeit, ich bedecke sie mit Küssen, aber es ist etwas zwischen ihnen und meinen Lippen und dieses grässliche Etwas ist zwischen mir und allen Genüssen des Lebens. Meine Exi - stenz ist unvollständig, die Thätigkeiten, die Handlungen des gewöhnlichen Lebens sind mir geblieben, aber bei jeder fehlt etwas, nemlich die Empfindung, welche ihnen angehörte und die Freude, die ihnen folgt jeder meiner Sinne, jeder Theil meiner selbst ist wie von mir selbst getrennt und kann mir keine Empfindung mehr verschaffen; die Unmöglichkeit scheint von einer Leerheit abzuhängen, welche ich vorn im Kopfe fühle, und von der Verminderung der Empfindung auf der ganzen Körperoberfläche; denn es scheint mir, als erreiche ich niemals eigentlich die Gegen - stände, die ich berühre .... ich fühle wohl die Veränderung der Temperatur auf der Haut, aber die innere Empfindung der Luft beim Ath - men habe ich nicht mehr .... Meine Augen sehen, mein Geist nimmt es auf, aber die Empfindung von dem, was ich sehe, ist nicht vor - handen etc.

Auch die psychische Veränderung nach der Seite des Willens ist in den meisten Fällen auffallend genug; die Kranken werden muth - los, bedenklich, unentschlossen, in den höheren Graden völlig willenlos. Ich möchte mich wohl entschliessen, ich möchte wohl ausdauern, aber es hängt nicht mehr von mir ab, es zu wollen; ich fühle, wenn ich wollen könnte, so könnte ich mich dieser verzweifelten Lage entziehen, aber ich muss mich meinen Wehgefühlen überlassen, ich fühle mich unfähig zu Allem, der kleinste Widerstand scheint mir unüberwindlich etc. Diess sind Aeusserungen, die man in den höheren Graden der Hypochondrie, wie in allen übrigen Formen der Schwermuth häufig genug hören kann. *)Vgl. ein ausgezeichnetes Beispiel bypochondrischer Willenlosigkeit, bei Leuret, Fragmens. p. 382 seqq.Auch die Intelligenz158Symptomatologieleidet bei weiter vorgeschrittener Krankheit nicht nur in der Weise jenes irrigen Vorstellens, sondern die anhaltende Gedankenrichtung auf den eigenen Zustand und die möglichen Mittel, ihm abzuhelfen, gibt auch dem Vorstellen eine gewisse Monotonie, und bei der herrschenden Präoccupation des Bewusstseins wird Alles, was nicht zu jenem Kreise von Vorstellungen gehört, interesselos, gleichgültig und erlischt bald aus der Erinnerung, daher sich solche Kranke oft höchst zerstreut und vergesslich zeigen. Bei grosser Redseligkeit über das Thema der eigenen Krankheit vermindert sich in anderer Beziehung die Neigung zur Mittheilung, und das sind niemals schwere Fälle von Hypochondrie, wo die Kranken noch liebenswürdige und unterhaltende Gesellschafter sein können. Wohl aber kann Verstand und Scharfsinn, der sich wirklich oft schon in feinen Combinationen über das Lieblingsthema der Erkrankung zeigt, auch in Bezug auf objective Verhältnisse bestehen bleiben, und erst in den äussersten Graden der Hypochondrie zeigt sich eine wirkliche Abnahme der Intelligenz, eine Art finsteren und grämlichen Blödsinns, wobei die Kranken fast zu jeder geistigen Thätigkeit unfähig geworden sind.

Mit der Summe dieser psychischen Störungen, die sämmtlich den Character der Depression haben, weist sich die Hypochondrie eben als eine Form der Schwermuth aus. Und wenn auch die hypochondrischen Zustände durchschnittlich in dem eigenthümlichen Stoffe des irrigen Vorstellens und in der bei weitem grösseren Möglichkeit der Selbstbeherrschung eine gewisse Specifität an sich haben, so ist doch schon jene herrschende Neigung, Alles in Beziehung, in Ver - gleichung mit sich zu bringen, die Beschränkung des Vorstellens auf das eigene Ich, jener krankhafte Egoismus ein wesentlicher, das Insichgekehrtsein der melancholischen Zustände überhaupt bezeichnender Zug. Die höheren Grade der Hypochondrie gehen auch ganz allmählig, theils durch Steigerung der Angst - gefühle, theils durch das Fixiren einzelner Erklärungsversuche, nicht nur in wahre Melancholie, sondern sogar in melancholische Verrücktheit (Wahn, unter geheimen Einflüssen zu stehen, durch feindliche Machinationen beeinträchtigt, magnetisirt zu werden etc.) über. Auch jenes grössere Mass von Selbstbeherr - schung innerhalb der Hypochondrie schwindet oft schon während jeder Exacer - bation; könnten die Aerzte diese Paroxismen so frei beobachten, wie man diess bei den schweren Fällen in den Irrenanstalten zu jeder Zeit thun kann, so würde ihnen jeder Zweifel über die psychisch-krankhafte Natur der Hypochondrie schwinden.

§. 93.

Ausser diesen psychischen Störungen und den angegebenen Em - pfindungs-Anomalieen können bei den Hypochondern die mannigfal - tigsten Krankheitssymptome in allen Organen vorkommen, und es ist jene alte Vergleichung der Hypochondrie, als einer chronischen, das159der Hypochondrie.ganze Nervensystem betreffenden Störung mit dem Fieber als dem allgemeinsten acuten Krankheitszustand (Hoffmann) nicht unpassend. Namentlich häufig leidet die Verdauung, die Zunge wird belegt, der Appetit übermässig oder vermindert, der Stuhl angehalten und die Verdauung ist oft von stärkerer Gasentwickelung begleitet, wodurch Spannung in den Hypochondrien, und mit dem Heraufdrängen des Zwerchfells Beengung entsteht. Hämorrhoiden sind häufig, ebenso Abdominalpulsation, Herzklopfen, Kopfcongestionen, Kopfschmerz, un - ruhiger Schlaf, zuweilen Steigerung, öfter bedeutende Verminderung des Geschlechtstriebs; sehr häufig ist eine schleimige Expectoration aus dem Larynx und Schlund. In vielen Fällen lässt es sich nicht entscheiden, ob und in wie weit die höchst verschiedenen Symptome solchen primären Störungen der Eingeweide angehören, unter deren Einfluss sich die Hypochondrie gebildet hat, in wie weit sie dagegen centralen Ursprungs im Nervensysteme sind. Immer hat der Arzt eine genaue Untersuchung aller zugänglichen Organe vorzunehmen; nicht selten stellen sich erst im Verlauf der Krankheit allmählig er - kennbare Erkrankungen eines Eingeweides heraus, die sich schon in ihren dunkeln Anfängen als Ursachen zu der Hypochondrie verhalten haben mögen.

Die Hypochondrie entsteht nemlich offenbar auf zweierlei Wegen. Einmal als secundäre Cerebrospinalirritation, in Folge von inneren, aber allerdings oft leichten Erkrankungen (des Darms, der Leber, der Genitalien; vielleicht der Nieren), die mehr ein intensives Krank - heitsgefühl, als localisirte Schmerzen setzen; namentlich ist hier genaue Aufmerksamkeit auf die Zustände des Uro-Genitalsystems zu empfehlen, um so mehr, je häufiger hier vorhandene Störungen über - sehen werden und je schädlicher solchen Kranken, die freilich oft dabei an angehaltenem Stuhle leiden, die gebräuchliche Behandlungs - weise mit reichlichen Abführmitteln ist.

Andrerseits kann die Hypochondrie unzweifelhaft auf direct psy - chischem Wege entstehen, indem durch äussere Veranlassung das Vorstellen anhaltend auf den eigenen Gesundheitszustand im Allge - meinen oder speciell auf einzelne Organe determinirt wird und dadurch erst krankhafte Empfindungen geweckt werden. Solches beobachtet man beim Lesen medicinischer Bücher, beim steten Um - gang mit Hypochondristen, in Zeiten grosser Epidemieen, wie der Cholera etc. Diese Fälle sind indessen die leichteren, und auch selten gegen die, sehr frequente Entstehung der Hypochondrie aus indirecten psychischen Anlässen, so nemlich, dass depresive Affecte,160Verlauf und Ausgänge der Hypochondrie.übertriebene geistige Anstrengung etc. erst Störungen der Verdauung, der Circulation, der Secretionen hervorrufen, welche zur Quelle der Krankheitsgefühle werden.

Hypochondrische Zustände kommen fast niemals in der Kindheit, zuweilen aber schon in der Pubertäts-Periode vor. Sie sind bei Männern häufiger als bei Weibern; doch kann man auch bei letzterem Geschlecht nicht selten characteristische und weit gediehene Fälle beobachten. Der Verlauf ist im Allgemeinen sehr langwierig; doch kommen Remissionen vor. Wir haben die Hypochondrie, wie die intermittirende Manie, in fast regelmässigen Zeitepochen mit mehr - jährigen freien Zwischenräumen auftreten sehen. Ein andermal haben wir in einem schweren Fall (weiblichen Geschlechts) eine fast voll - ständige Remission mit dem Eintritt einer spontanen heftigen, mit Reissen in der ganzen Wirbelsäule verbundenen Diarrhoe beobachtet.

Während des sehr chronischen Verlaufs der Hypochondrie kann die Ernährung und das Aussehen des Kranken oft lange gut bleiben; mit der Ausbildung einer organischen Erkrankung der Eingeweide tritt der Kranke in eine Periode eines meist längeren, körperlichen Siech - thums (mit Abmagerung, Verfärbung der Haut, grösserer Schwäche etc.), und erliegt am Ende der Degeneration eines innern Organs. Zuweilen stellen sich auch apoplectische, paralytische Zustände ein, oder es bildet sich allmählig eine andere Form von Irresein, namentlich Ver - rücktheit mit dem Character der Depression, aus.

Die Genesung kommt nicht ganz selten auf psychischem Wege zu Stande, aber auch durch Beseitigung körperlicher Ursachen; auch mit dem Auftreten von Gichtanfällen und Wechselfieber hat man ein Aufhören der hypochondrischen Verstimmung beobachtet.

Beispiele einfacherer nnd complicirter Fälle von Hypochondrie von verschiedener Entstehung, Aeusserungsweise und Ausgängen.

I) Einfachster Fall von Hypochondrie mit (psychischer) Heilung. Mlle. H., 21 Jahre alt, von sehr starker Constitution, regelmässig, aber sparsam menstruirt, an habitueller Obstipation leidend, verliert auf einmal ihre gewöhnliche Heiterkeit, und zieht sich in völlige Einsamkeit zurück. Umsonst wird sie um die Ursachen gefragt ein ganzes Jahr lang. Endlich gesteht die Kranke von selbst unter Erröthen ihrem Arzte den Grund ihrer Traurigkeit; sie hat in der rechten Hüfte beständig eine lästige Empfindung, auf welche ihre Gedanken anhaltend gerichtet sind. In dieser Gegend findet sich bei der Untersuchung Nichts; die Kranke äussert, unter vielen Thränen, bald werde sie sterben, sie fühle mit Bestimmtheit wie ihre Eingeweide durch die halboffene Bauchdecke heraustreten wollen. Der Arzt bekämpft diese Idee nicht direct, er erklärt, die Muskulatur sei hier allerdings etwas gewichen, diess sei nichts seltenes, und es genüge161Beispiele von Hypochondrie.völlig, die Schwäche der Bauchdecken durch einen passenden Gürtel zu unter - stützen. Mit dem Tragen dieses Gürtels verschwanden alle diese Beängstigungen, und merkwürdigerweise zugleich die Verstopfung, die lange hartnäckig bestan - den hatte.

(Bulletin de Thérapeutique. 1842. p. 201 seqq.)

II. Nervöses Temperament. Hepatitis. Hypochondrie. Tod. Hr. M. war von erregbarem, nervösem Temperament. Gutmüthig, lebhaft, von reg - samer Phantasie, betrieb er eifrig seine Handelsgeschäfte. Er heirathete im 31ten Jahre: Alles war ihm bisher förderlich und glücklich gegangen; Schmerz - liches hatte er bald mit Kraft und Muth ertragen, bald aber hatten ihn auch Kleinigkeiten lebhaft afficirt und er konnte dann des Geringsten nicht los werden.

Ein Jahr nach seiner Heirath ward er von einer heftigen acuten Leberent - zündung befallen. Die Leber ragte 4 Querfinger unter den falschen Rippen vor (18 Blutegel ad anum). Die Entzündung zertheilte sich, aber mit Abnehmen der Lebergeschwulst wuchs die Empfindlichkeit des Kranken, ein Nichts brachte ihn in Ungeduld und Alles war ihm nur ein Gegenstand der Unruhe und des Leidens. Finstere Besorgnisse über seine Krankheit, Vorstellungen von Obstructionen und Krebs und einer Zukunft voll Leiden nahmen ihn ein. Dennoch war die Gene - sung vollständig, nur eine grosse nervöse Empfindlichkeit, ein Hang zur Ueber - treibung und zu Veränderlichkeit der Stimmung blieb zurück; Heiterkeit wech - selte mit Zorn und Aerger ohne Motive. Der Einfluss der Temperatur schien bedeutend; in den düstern Stimmungen hatte er Schmerzen in fast allen Theilen des Körpers, je nachdem er seine Aufmerksamkeit dahinrichtete, im rechten Hypochondrium war ein fast permanenter Schmerz, die Verdauung wurde oft gestört und es zeigte sich Pulsation im Epigastrium; dann glaubte er sich von einer tödtlichen Gastritis befallen. Ein Kitzel im Schlund mit trockenem Hüsteln oder dem Aufräuspern von etwas Schleim erweckte ihm den Gedanken an Lungen - schwindsucht, und veranlasste ihn,[medicinische] Schriften zu lesen, und er fühlte sich nun von jeder Krankheit befallen, über welche er las. Dennoch liess er sich nicht selten von der Ungegründetheit seiner Ansichten überzeugen und hatte oft Monate lang Zeiten grösserer Ruhe.

Im J. 1831 überstand der Kranke ein schweres Schleimfieber mit grosser nervöser Aufregung und heftigen Schmerzen in der rechten Schulter; schon genesen gab er stärkere und häufigere Schmerzen an. Darauf Badecuren und Reisen. Einige Besserung, von neuen Leiden und Befürchtungen stets unter - brochen; die Abmagerung nahm zu.

Schmerzen in der Lendengegend, Brennen in der Urethra und Blase erweckte ihm die Idee eines Blasencatarrhs oder Blasensteins; in der That wurden griesige Concremente entleert. Von jetzt an beruhigte sich seine Phantasie nicht mehr. Stets beschäftigt mit seinen Leiden, steigerte er sie durch Aufmerksamkeit und Analyse; seine Stimmung wurde immer reizbarer, er war fast keinen Augenblick ruhig, bald überliess er sich einer Art von Wuth und Verzweiflung, bald gab er sich finsterer Niedergeschlagenheit hin, und malte sich sein nahes Ende durch eine der 5 Krankheiten, die er abwechselnd zu haben meinte, aus. Sein Cha - racter wurde bizarr und phantastisch, Nichts behagte ihm, Alles empörte ihn, die eifrigste Pflege nahm er übel auf und konnte dann wieder sein Unglück be - weinen, also zu sein; er bat dann seine Frau um Verzeihung für sein Unrecht,Griesinger, psych. Krankhtn. 11162Beispiele vonschloss, dass sie ihn nicht mehr lieben könne und zog neuen Kummer aus diesem Gedanken.

Nun zog er sich von seinen Geschäften zurück. In steter Beobachtung seiner Leiden steigerte er die nervöse Reizbarkeit, durch die sie entstanden, immer höher. Er consultirte alle Aerzte, deren er habhaft werden konnte, der Wunsch, zu genesen machte, dass er begierig nach jeder Verordnung griff, die bald er - kannte Wirkungslosigheit der Mittel erregte ihm neuen Schmerz, mit dem Schwin - den solcher Hoffnungen, mit diesen Täuschungen seiner Einbildungskraft stei - gerte sich die nervöse Exaltation, und Kräfte und Ernährung nahmen ab. Von einem neuen Schleimfieber, dass ihn A. 1834 befiel und während dessen seine Stimmung unerträglich war, erholte er sich ohne Besscrung des nervösen Lei - dens. Von allen seinen Ideen grausam gequält, setzte er sich ernsthaft in den Kopf, einen Blasenstein zu haben, und vergeblich waren die Demonstrationen des Gegentheils. Er blieb dabei und liess einen berühmten Lithotriteur aus Paris kommen; mehre Untersuchungen brachten die heftigste Reizung der Urethra, mit starker Entzündung hervor, und Hr. M. starb nach wenigen Tagen. Die Section wurde nicht gemacht.

(Brachet, de l’hypochondrie, Par. 1844. p. 29 seqq.)

III. Zerrüttung der Constitution und Hypochondrie aus psychi - schen Ursachen. Heilung durch Befriedigung einer Leidenschaft. Frau ***, 26 Jahre alt, physisch und psychisch von gleich lebhafter Empfindung, war Mutter von 3 Kindern. Ihre Gesundheit war gut, als die Bemühungen und Aufmerksamkeiten eines Hausfreundes Zugang zu ihrem Herzen fanden. Von dem Gedanken an ihre Pflichten erfüllt, leistete sie der Verführung Widerstand und hielt das Geheimniss einer heftigen Neigung tief in sich verborgen. Dieser Zwang störte allmählig ihre Gesundheit; sie fieng an, an Herzklopfen, einer Empfindung von Völle der Brust und unbestimmten krankhaften Erschei - nungen zu leiden. Der Appetit verlor sich, die Magengegend ward empfindlich und es zeigten sich Stiche auf der Brust. Zu diesen wirklichen Empfin - dungen gesellten sich die sonderbarsten und traurigsten Vorstellungen über ihre Gesundheit. Sie glaubte bald an einem Aneurisma, bald einem Magen - krebse, bald, und am häufigsten, an Lungenschwindsucht zu leiden. In der That stellten sieh Beengung, Husten mit reichlichem Auswurf, beständigen Fieber - bewegungen, nächtlichem Schweisse ein; die Aerzte glaubten an Tuberculose und schickten die Kranke nach dem Süden. Auf dieser Reise consultirte sie mich; ich fand ihren physischen Zustand ebenso tief heruntergekommen, als ihre Ein - bildungskraft ernstlich erkrankt. Ihre Leidon waren, nach ihrer Angabe, fürch - terlich; spitzige, rothglühende Eisen drangen ihr ins Fleisch, eine Faser um die andere wurde wie mit Zangen zerrissen, während die Kranke auf der andern Seite über die Brustorgane selbst nur wenig klagte. Nach einem sechsmonat - lichen Aufenthalte im südlichen Frankreich war sie weder körperlich noch geistig gebessert. Die Lungenaffection schien nicht vorgeschritten zu sein, aber ihre Stimmung und Phantasie war noch weit mehr verdüstert; sie zeigte noch weit grössere Neigung, Alles in schlimmem Sinne auszulegen, und bei ihrer Rückkehr nach Paris verschimmerte sich ihr Zustand noch mehr. Dort sieht sie den Gegenstand ihrer Neigung wieder sie unterliegt, verlässt ihre Familie und entflieht mit ihrem Verführer.

163Hypochondrie.

Sechs Monate darauf sah ich sie wieder. Sie war nicht mehr zu erkennen. Schönheit, Jugendfrische und Fülle waren an die Stelle eines dem Marasmus nahen Zustandes getreten, weder Husten, noch Auswurf, noch Herzklopfen, noch Magenleiden, noch Schmerzen, noch eingebildete Krankheiten waren mehr vor - handen. Die Befriedigung der Leidenschaft hatte die Gesundheit hergestellt und die schwarzen Gedanken der Hypochondrie zerstreut.

(Brachet, traité de l’hypochondrie. Par. 1844. p. 69 seqq.)

IV. Hypochondrisches Irresein auf psychischem Wege entstan - den, und durch Aberglauben genährt. Heilung auf psychischem Wege. A. M. Kraft, eine fleissige und thätige, aber sehr einfältige Frau, beschädigte sich durch einen Fall den Arm; ein consultirter Hirte erklärte: die Adern des Arms seien zu sehr in Unordnung gerathen, als dass er sie gänzlich heilen könne; als nun auch die Hülfe eines Arztes fruchtlos blieb, kam die Kranke auf die Idee, es möchte ihr im Arm eine Ader gebrochen sein und sie würde wegen der ihr nun fehlenden Ader nie wieder etwas verrichten können.

Dieser traurige Gedanke verfolgte sie beständig; in der unglücklichsten Stimmung klagte sie ihren Freunden ihr Schicksal, man gab ihr den Rath, auf die Stelle, wo die Ader gelitten habe, einen Froschschenkel zu legen und diesen später in den Strom zu werfen. Als sie aber diess gethan, spürte sie von der Stunde an das Rauschen des Stroms im Kopfe. Ihre traurige und missmuthige Stimmung erreichte jetzt den höchsten Grad; sie glaubte, alle ihre Leiden seien eine Strafe Gottes, weil sie in ihrer Kindheit nicht genug gebetet habe, und verfluchte ihren Vater, dass er sie nicht genug und strenger dazu angehalten habe; um aber ihren Fehler gut zu machen, betete sie Tag und Nacht.

Ihr 23jähriger Sohn, ein Leser ascetischer Schriften und von musterhaftem Lebenswandel, unterstützte und pflegte seine Mutter so eifrig, dass seine Freunde, um seine eigene Gesundheit besorgt, ihn zur Erholung in heitere Gesellschaft zu bringen suchten. Aeusserst schüchtern, wurde er daselbst von einem mun - tern Mädchen mit Gewalt am Arme gefasst, um ihn zum Sitzen zu nöthigen. Der Arm schmerzte ihn, als er nach Hause kam, und die Mutter brachte ihm unter Wehklagen den Gedanken bei, es werde ihm gegangen sein wie ihr, auch er werde eine Ader zerbrochen haben. Wirklich war am andern Morgen der Schmerz viel stärker, der jnnge Mann glaubte den Arm weniger gebrauchen zu können; diess ward von Tag zu Tag schlimmer, er hörte auf zu arbeiten und versicherte, es müsse ihm eine Ader im Arme fehlen; denn es sei ihm unmög - lich, das Geringste damit zu verrichten. Das ganze Geschäft von Mutter und Sohn bestand nun in Beten.

Bei fortdauerndem Grübeln über seinen Zustand fiel letzterem ein, wegen des Zusammenhangs der Adern beider Arme, werde wohl auch der andere Arm mit - leiden augenblicklich konnte er nun auch diesen Arm nicht mehr bewegen, und innerhalb eines Jahrs verfiel er nun in solche Apathie, dass man ihn an - und auskleiden und füttern musste. Auch bei der Mutter steigerte sich der Zustand von Melancholie mit religiösen Ideen, sie glaubte, so oft sie Feuer anzünde, zünde sie sich selbst die Hölle an etc., und ihr Missmuth nahm so überhand, dass sie sich das Leben nehmen wollte. Der Sohn liess sich von dem Vorsatze, zu verhungern, nur durch Zuspruch eines Geistlichen abbringen.

Ich fand beide Leute bei ihrem einzigen Geschäfte, dem Beten; der junge11 *164Beispiele hypochondrischenMensch hielt beide Arme mit steif gestreckten Händen und Fingern gerade herab und von einander. Er klagte, dass er mir seine Hand nicht geben könne, weil ihm eine Ader am Arme fehle. Er gab nun die Stelle näher an, und nach ge - nauer Untersuchung sagte ich ihm, dass allerdings daselbst eine Ader fehle, gab ihm aber das zuversichtliche Versprechen, ihm zu helfen.

Ich lief nun mit den Fingern mehremale in der angegebenen Richtung schnell auf und ab, hielt an dem langen Nagel des Daumens plötzlich stille und schnitt in Eile den Nagel mit einer Portion Fleisch ab, so dass es blutete, und fieng nun an mit beiden Händen den Arm heftig zu streichen, indem ich laut rief: Mit Gottes Hülfe, es ist gelungen, die Ader ist wieder da! Zu seiner Ueber - zeugung, dass die Ader schon in Thätigkeit sei, wurde ihm das fliessende Blut gezeigt. Er musste sogleich einige Bewegungen machen.

Da aber seine Mutter einwendete, die Heilung ihres Sohnes sei noch nicht möglich, da er noch das Zeichen der Verdammniss trage (nämlich schwarzen Schmutz auf der Brust), so wurde dieser alsbald abgerieben und die Haut ge - reinigt. Der Sohn gab jetzt, nach weiterem religiösen Zuspruch, den Umste - henden die Hände, kleidete sich selbst aus und an und fieng am folgenden Tage mit Korndreschen seine Arbeit wieder an. Auch die Mutter, als sie sich von dem wirklichen Bestand der Heilung überzeugte, fieng wieder an in alter Weise fleissig zu sein, und beide sind körperlich und geistig genesen.

(Berlyn, in Nasse, Zeitschrift für psych. Aerzte. II. 1819. p. 363 seqq.)

V. Herzkrankheit. Hypochondrisches Irresein. Mehre fingirte Operationen ohne entscheidenden Erfolg. Fieberhafter Zustand. Hei - lung. Rückfall. Lucie M., 50 Jahre alt, ohne erbliche Disposition zum Irresein, im 14ten Jahre chlorotisch, im 22ten Jahr verheirathet (2 Abortus und 8 regelmässige Geburten); während der zweiten Schwangerschaft heftige Kopfschmerzen mit Schwindel und Delirien, die erst mit der Geburt ganz aufhören; seit 20 Mo - naten nicht mehr menstruirt. Im Decbr. 1839 wird sie von allgemeinem Uebel - befinden befallen, mit Stichen in der Magengegend, Klopfen im ganzen Körper und Nervenzufällen. Während ihres Aufenthalts im Hospital erinnerte sich die Kranke plötzlich, aus einem Brunnen getrunken zu haben, in dem 3 Spinnen waren. Von dort an ist sie überzeugt, diese verschluckt zu haben, und sie ver - fällt in die heftigste Agitation, wesshalb sie am 11. Febr. 1840 in die Irren - anstalt von Tours gebracht wird.

Sie gibt Formication und Beissen in allen Theilen an, Stiche und Klopfen in der Brust, dem Magen und Unterleib, den Gliedern; Ohrensausen, Schlaf - losigkeit, Schwindel, sonderbare Träume. Ihr Gedankengang ist geordnet, ihre Antworten richtig; sobald sie sich aber dem Gegenstand ihres Delirium über - lässt, wird sie aufgeregt, und spricht dann nicht nur von Spinnen, welche sie innerlich verzehren, sondern vom Teufel, von Schlangen und Thieren aller Art, welche an ihr nagen. Leichte Hypertrophie des Herzens mit Blasen beim ersten Ton; harter Puls (calmirende Mittel, Digitalis). Beständige Unruhe und Ver - zweiflung an der Möglichkeit der Heilung (Gummigutt). In die dadurch erregten Stühle werden heimlich 3 Spinnen gebracht, welche die Kranke selbst entdeckt, aber sogleich einwendet, diess seien die Alten, sie haben aber Junge zurück - gelassen, welche sie im Bauche fühle. Derselbe Kunstgriff wurde zweimal wieder - holt, aber die Kranke versicherte, die Spinnen vermehren sich unaufhörlich, sie165Irreseins.seien jetzt vom Kopf bis zu den Füssen in ihr. Jeder Versuch, sie von dem Ungrund des Wahns zu überzeugen, wird mit Schelten und Drohungen erwiedert.

Nun wird ihr der Vorschlag einer Operation gemacht, durch welche alle Spinnen unfehlbar entfernt werden müssen. Sie nimmt ihn mit Freuden an, seufzt nach der Stunde der Operation und spricht von ihrer Heilung mit Hoffnung und Ver - trauen. Die Operation wird mit einiger Feierlichkeit, um auf die Phantasie der Kranken einen Eindruck zu machen, in Gegenwart vieler Aerzte vorgenommen, und besteht in einer leichten Incision in die Haut des Rückens; man lässt einige in Bereitschaft gehaltene Spinnen über das Bett laufen und gibt an, solche aus - gezogen zu haben; sie sagt, sie fühle das Ausziehen wohl und freut sich sehr über dieses Resultat. Diese kleinen Einschnitte werden nun sehr häufig in allen Gegenden des Körpers wiederholt; während dieses Zeitraums bekommt die Kranke ein intermittirendes Fieber (Chinin, Antispasmodica), ist immer sehr aufgeregt, fühlt unerträgliche Schmerzen im ganzen Körper, verfolgt den Arzt mit steten Bitten neuer Operationen; einmal stürzt sie sich, ohne Schaden zu nehmen, zum Fenster hinaus, ein anderesmal machte sie Strangulationsversuche. Endlich wird ihr erklärt, dass jetzt keine Spinnen mehr vorhanden seien, und um sie davon zu überzeugen, werden zwei neue Incisionen, die Schlundsonde und Laxanzen angewandt. Am 9. September noch wollte sie aus der Anwesenheit der Spinnen mehre physiologische Phänomene, das Heben und Sinken des Larynx, den Arte - rienschlag etc. erklären, liess sich aber alsbald überzeugen, dass diese Erschei - nungen bei allen Menschen vorkommen. Nun trat ein fieberhafter Zustand ein mit Kopfschmerzen und Ohrensausen, und am 18. September waren alle Symptome verschwunden. Die Kranke ist völlig ruhig, heiter, dankbar, und wird in der Küche beschäftigt. Die unvorsichtig gegebene Nachricht vom Tode ihres Mannes betrübt sie sehr, stört aber ihre geistige Gesundheit in keiner Weise. Allein in dem nächsten, sehr harten Winter, in den dürftigsten Umständen lebend, mit Kälte und Nahrungssorgen kämpfend, erlitt sie einen Rückfall, mit heftigen Palpitationen, Agitation, Tobsucht und Selbstmordversuchen. Die Kranke wurde nun nicht mehr nach ihren Wahnideen behandelt, sondern genas allmählig unter einsamer Pflege, Begiessungen, Douchen, narcotischen und auf den Darm ablei - tenden Mitteln.

(Charcellay, annales médieo-psychologiques. II. 1843. p. 485 seqq.)

Zweites Capitel. Die Melancholie im engern Sinne.

§. 94.

Anomalieen der Selbst-Empfindung, der Triebe und des Wollens. Nachdem in manchen Fällen längere oder kürzere Zeit ein Zustand geistigen und körperlichen unbestimmten Uebel - befindens, oft mit hypochondrischer Verstimmung, mit Niedergeschla - genheit und Unruhe, manchmal mit Empfindung der Gefahr, irre zu werden, vorausgegangen ist, wird immer mehr ein psychisch-schmerz -166Symptomatologie der Schwermuth.hafter Zustand herrschend, welcher an sich andauert, aber noch durch jeden psychischen Eindruck von aussen verstärkt wird. Diess ist die wesentliche Seelenstörung in der Melancholie, und dieses psychische Wehethun besteht für die Kranken selbst in einem Gefühl von tiefem geistigem Unwohlsein, von Unfähigkeit zum Handeln, von Unter - drückung aller Kraft, von Niedergeschlagenheit und Traurigkeit, in einer totalen Herabstimmung des Selbstgefühls. Sobald dieser Zu - stand des Sensoriums einen gewissen Grad erreicht hat, ergeben sich aus ihm die wichtigsten und ausgedehntesten Folgen für das ganze Verhalten des Kranken.

Die Stimmung nimmt einen durchaus negativen Character (des Verabscheuens) an. Indem jeder, auch der leichteste und früher adäquateste Eindruck Schmerz erregt, können sich die Kranken über Nichts, auch das Angenehmste nicht mehr freuen, sondern werden von Allem unangenehm afficirt, und finden in allem Aeusseren stets neue Motive des Schmerzes. Alles ist ihnen widerwärtig geworden, sie zeigen sich reizbar, ärgerlich, verstimmt durch jede Kleinigkeit, und reagiren dagegen entweder mit steten Aeusserungen der Un - zufriedenheit, oder, und diess ist der häufigere Fall, sie suchen jedem psychischen Eindrucke von Aussen zu entgehen, indem sie sich scheu aus der Gesellschaft der Menschen zurückziehen, und völlig geschäftlos und müssig die Einsamkeit aufsuchen. Die Stim - mung des allgemeinen Widerwillens und Negirens spricht sich meistens zunächst aus als Abneigung gegen die Umgebung, gegen Familie, Freunde, Angehörige, welche oft zu wahrem Hasse sich steigert, als eine totale, unangenehme Veränderung des Charakters.

Ein solcher, aber ganz chronischer Zustand habitueller Gemüths - verstimmung und übler Laune mit Hang zu allgemeiner Negation, Arg - wohn etc. findet sich nicht ganz selten unter den scheinbar Gesunden (namentlich weiblichen Geschlechts) und wird sehr selten als ein krank - hafter erkannt, obwohl er sich von anderweitig entstandenen üblen Cha - ractereigenschaften des Gesunden durch die nicht seltene Entstehung aus nachzuweisenden Krankheiten, durch mannigfache psychisch nicht begründete Remissionen und durch ein dem Kranken selbst zuweilen sich aufdrängendes Gefühl, wider besseres Wissen und Wollen feind - lich, negativ sich verhalten zu müssen und zu der bleibenden Miss - stimmung eigentlich nicht berechtigt zu sein, unterscheidet.

Nicht selten findet sich in der einfachen Melancholie ein Zu - stand des Sensoriums, durchaus analog dem bei der Hypochondrie geschilderten (p. 157), wobei die Gegenstände der Aussenwelt,167Gemüths-Störungen.sofern sie durch die Sinneseindrücke zum Bewusstsein kommen, zwar richtig aufgefasst und unterschieden werden, aber einen von dem sonst gewohnten wesentlich anderen Eindruck hervorbringen, von dem nur verständigere und gebildetere Kranke Rechenschaft geben. Es scheint freilich, sagen solche Melancholische, dass Alles um mich noch ebenso ist, wie früher, aber es muss doch auch anders geworden sein; es hat noch die alten Formen, es sieht wohl Alles noch eben so aus, aber es ist doch wieder mit Allem eine grosse Veränderung vor sich gegangen etc. Diese Verwechslung des subjectiv verän - derten Verhältnisses des Kranken zur Welt mit deren objectivem Anderssein ist der Anfang eines Traumzustandes, in dessen höchsten Graden es dem Kranken zu Muthe ist, als sei die reale Welt ganz versunken, untergegangen oder ausgestorben und nur eine Schein - und Schattenwelt übrig geblieben, in der er zur eigenen Qual fort - zuexistiren habe.

Im Anfange fühlt der Kranke sehr wohl die Veränderung seines psychischen Seins, aller seiner Neigungen und Affecte; er sucht sie zuweilen noch zu verbergen und die Fragen über den Grund seines sonderbaren Verhaltens ermüden und ärgern ihn dann. Er fühlt, wie sein früherer Antheil an dem sonst Werthen und Hochgehaltenen in Gleichgültigkeit und tiefer Abneigung allmählig untergeht, er klagt selbst über die Unnatürlichkeit und Verkehrtheit seiner Empfindungen und wenn sein Pessimismus sich an den Aussendingen im Aufsuchen schlimmer Seiten erschöpft hat, wird ihm das eben zum Gegenstand neuer Schmerzen und Klagen, dass er sich über Nichts mehr freuen kann, sondern Alles negiren muss. Die ungewohnten Eindrücke von der Anssenwelt erregen ihm Staunen, Kummer, Entsetzen; er fühlt sich herausgetreten aus der früheren Gemeinschaft mit den Menschen, und diess Gefühl der Isolirtheit und der exceptionellen Stellung, in der er sich befindet, begünstigt einerseits noch die Beschränkung aller Ideen auf die Verhältnisse der eigenen Person und die Be - ziehung von Allem auf sich, andererseits geht aus diesem Gefühle der Isolation Misstrauen gegen Alles, Argwohn, Angst und Besorgniss vor allen möglichen Unfällen, zuweilen eine feindliche, angreifende Stimmung gegen die Welt, häufiger ein wehrloses, ohnmächtiges Zu - rückziehen und Versinken in sich selbst hervor.

Die Empfindung der veränderten eigenen Persönlichkeit, das Dunkle und Unklare der unbestimmten Gefühlsbelästigung ist Anfangs für den Kranken das Drückendste. Wohl steht er zuweilen im Be - ginn durch das Geständniss, dass seine Furcht absurd, dass einzelne168Symptomatologie der Schwermuth.ängstliche Vorstellungen, die sich aufdringen, falsch seien, eben mit dem Bewusstsein seines Zustandes innerlich über demselben; aber da er fühlt, wie es ihm unmöglich ist, anders zu fühlen, zu denken, zu handeln, wie er des Widerstandes unfähig und dieser unnütz ist, so erhält er von dieser Ueberwältigung des Ich (§. 26.) die Em - pfindung des Beherrschtwerdens, des widerstandlosen Hingegebenseins an fremdartige Einflüsse, dem später die Vorstellungen des Heimfalls an finstre Mächte, einer geheimen Leitung der Gedanken, des Be - sessenseins etc. entsprechen.

Die Hemmung der Strebung, welche mit zur Grundstörung der Melancholie gehört, äussert sich als Unthätigkeit, Verlassen jeden Geschäfts, stetem Zweifel und Schwanken, Unentschlossenheit, Willen - losigkeit. In den höheren Graden spricht sich diess als eine wahre Erstarrung und Stumpfheit, indem kein Eindruck mehr Willensreaction hervorruft, in den mässigeren Graden als Langsamkeit, Einförmigkeit, Zaudern in Bewegung und Handlung, Gefühl von Unfähigkeit zur kleinsten geistigen Arbeit, sobald sie wirklich nach aussen treten soll, Liegenbleiben im Bette etc. aus.

Häufig sind Gefühle von Beängstigung, welche oft vom Epigastrium, und der Herzgegend auszugehen und nach oben zu steigen scheinen. Hier , so sagen viele dieser Kranken und deuten dabei auf die Magen - grube, hier sitzt es wie ein Stein, wäre es doch hier weg! etc. Diese Angstgefühle steigern sich mitunter zu einem unerträglichen Zu - stand, einer Verzweiflung, welche dann meistens in Tobsucht-Aus - brüche übergeht. Ausserdem erscheinen diese Zustände äusserlich in mannigfacher Gestalt je nach dem früheren Character des Kranken, nach den psychischen Ursachen, nach begleitenden körperlichen Ano - malieen etc., bald unter der Mimik des Grams und Kummers, als stummer Trübsinn, in sich gekehrtes, finstres, passives, verschlossenes Wesen, bald als laute Selbstanklage, mit Weinen, Händeringen und höchster Unruhe, bald als krankhafter Eigensinn und hartnäckige Wider - spenstigkeit, bald als gegen sich selbst gerichteter Zerstörungstrieb.

Einmal äussert sich der Melancholische mit Allem unzufrieden, findet Alles schlecht und mangelhaft, dann ist ihm wieder alles Aeussere gleichgültig, da er von seinem Gefühle des eigenen Unglücks und Leidens ganz in Anspruch genommen ist, oder er äussert wohl auch, dass für ihn Alles zu gut sei und dass einem so schlechten Ge - schöpfe, wie er es sei, nicht verächtlich und geringschätzend genug begegnet werden könne.

Alle diese Veränderungen in der Stimmung der Melancholischen169Verstandes-Störungen.sind im ersten Anfang meist objectlos und beruhen nicht auf einzelnen bestimmten irrigen Vorstellungen, daher ist der Kranke im Beginn auch nicht fähig, Rechenschaft üher den Grund seines Affects zu geben. Ich fürchte mich. Warum? Ich weiss es nicht, aber ich fürchte mich. (Esquirol), so sprechen solche Kranke, und es lässt sich damit gleich erwaretn, was die Beobachtung vollkommen bestätigt, wie Zuspruch, Zärtlichkeit, Raisonnement keinen Einfluss auf den durch die Gehirnkrankheit gesetzten depressiven Affect haben können und wie die Vorstellungen, welche aus diesen Affecten heraus entstehen, eine innere subjective Begründung und damit einen Character von Unwiderleglichkeit haben müssen, der sie für Vernunft - gründe unzugänglich macht und höchstens den Wechsel einer trau - rigen Vorstellung mit einer andern gestattet.

§. 95.

Anomalieen des Vorstellens. Die schmerzliche Concentration unterdrückt die Lebhaftigkeit und den gesunden Wechsel des Vor - stellens. Wenige Gedanken beschäftigen den Kranken anhaltend, und er äussert fast nur monotone Klagen über sich selbst, die mit ihm vorgegangene Veränderung, über einzelne Ereignisse aus der Zeit der beginnenden Erkrankung etc. Die Neigung zu geistiger Mittheilung ist meist sehr vermindert; der Kranke verstummt oft vollständig oder seine Rede wird schüchtern, stockend, leise, abgebrochen. Ein von uns beobachteter Melancholischer brachte mehre Jahre in absolutem Stillschweigen zu und äusserte die herrschende Stimmung nur in seiner Angst und Trauer ausdrückenden Physionomie und in zeitweisem heftigen Weinen und Händeringen. In andern Fällen geht Wehklagen, Stöhnen, Bitten, Flehen in lautem, ununterbrochenem Strome, aber stets desselben Inhalts fort.

Neben dieser formalen Störung treten nun der Stimmung ent - sprechende falsche Gedankeninhalte und Urtheile auf. Der Kranke fühlt sich z. B. in einem Zustande von Seelenangst, wie ihn der Verbrecher nach einer schweren That empfinden muss, es ist ihm zu Muthe, wie wenn er selbst ein Verbrechen begangen hätte und er kann dieses Gedankens nicht mehr Herr werden. Da er aber in seiner Erinnerung kein wirkliches Verbrechen findet, so hält er sich an irgend ein unbedeutendes Ereigniss, wo er einen kleinen Fehler, eine kleine Unvorsichtigkeit begangen oder auch nicht einmal be - gangen hat, und macht so irgend welchen Vorfall zum Mittelpunkt des Deliriums, indem er in ihm allen Grund seines jetzigen Zustandes170Symptomatologie der Schwermuth.und fernerer Befürchtungen findet. Oder er fühlt sich ruhelos, von unbestimmter Qual herumgetrieben, es ist ihm, wie einem von Feinden Verfolgten; bald hält er sich wirklich für verfolgt, von Feinden, ge - heimen Complotten, Spionen umgeben, und da er Alles auf sich bezieht, findet diess Delirium in jedem geringfügigen Umstande Nahrung.

Oder der Kranke, der früher religiöse Vorstellungen nährte, fühlt, wie auch zu diesem Kreise von Anschauungen sein ganzes Verhalten sich geändert hat, wie ihm der Zustand von Angst und Unruhe jede Gemüthssammlung unmöglich macht, wie er daher nicht mehr beten kann oder wenn er es versucht, auch hier von finstern, negativen Vorstellungen belästigt wird, wie er von der Kirche so gut als von allem Uebrigen nur widrige Eindrücke erhält; so erscheint er sich in seiner Ausnahmsstellung als ein Verworfener, unmittelbar von Gott Verstossener, dem Teufel und der ewigen Verdammniss Uebergebener und bald erheben sich die Vorstellungen eigener Verschuldung, viel - facher Sünden, vernachlässigter Pflichten etc., wo es dann vom Zufalle abhängt, auf welchem Gedanken gerade der Kranke ruhen bleibt, um ihn als halb oder ganz fixirten stets zu wiederholen.

Einen wesentlichen Character haben eben alle diese melancho - lischen Delirien, den der Passivität, des Leidens, des Beherrscht - und Ueberwältigtwerdens. Aber man sieht leicht ein, wie mannigfaltig ihr specieller Inhalt nach der Bildungsstufe und dem Character, nach früheren Erlebnissen und nach zufälligen Eindrücken bei den einzelnen Kranken sein muss. Dasselbe Gefühl des Sich-selbst-verlorenhabens, des Hin - gegebenseins an fremdartige, bizarre Empfindungen und Vorstellungen das dem abergläubischen Bauer die Vorstellung des Behextseins er - weckt, kann beim Gebildeteren z. B. die Idee hervorrufen, unter geheimen Einflüssen anderer Menschen, unter Beeinträchtigungen durch Electricität, Magnetismus, Chemie etc. zu leiden. Dem Einen ist es, als seien seine liebsten Güter, Kinder, Verwandte, oder sein Vermögen für ihn zu Grunde gegangen, er glaubt es und fürchtet nun mit seiner ganzen Familie aus vollständigem Mangel verhungern zu müssen. Ein Anderer hält sich für ruinirt in seinen Geschäften, für abgesetzt von seinem Amte, für verwickelt in die schwersten Criminal-Untersuchungen, klagt sich an, seine Familie an den Bettelstab gebracht, dem Elend preisgegeben zu haben etc. Ein Andermal ist es dem Kranken, wenn er so die Umwandlung seiner ganzen Empfindungsweise und die Unmöglichkeit fühlt, das gewohnte Mass humanen Antheils an der Welt und menschlicher Beschäftigung festzuhalten, als könne er selbst gar kein Mensch mehr sein, als müsse er zum Thier geworden, ja in ein171Verstandes-Sinnes-Störungen.Thier verwandelt sein. Wie der Wechsel der Lebens-Anschauungen und der Sitten überhaupt dem Irresein verschiedene Ausdrücke und Färbungen gibt, während die Empfindungsweisen an sich natürlich immer dieselben sind und die allgemeinen Beziehungen der Liebe, der Familien-Anhänglichkeit, der Freundschaft etc. für alle Zeitalter als gleich bedeutende Stoffe der Gemüthsinteressen bestehen bleiben, so hat auch das Delirium der Melancholischen zu verschiedenen Zei - ten verschiedene Ausdrücke gehabt. Es sind aber immer dieselben Grundstörungen der Selbstempfindung, ob der Schwermüthige im Alter - thume die Furcht äusserte, Atlas möchte, seiner Last müde, das Himmelsgewölbe herunter fallen lassen, ob er im Mittelalter mit Hexen, Gespenstern und Wehrwölfen zu thun hatte, ob er in der Gegenwart sich vor der Polizei fürchtet, oder sich mit dem Wahne grosser verunglückter Speculationen und beeinträchtigter Geldinteressen beschäftigen mag.

Die Entstehungsweise dieser Delirien ist also die bereits mehr - fach erwähnte. Der Kranke fühlt seine traurige Verstimmung; er ist gewohnt, dass Traurigkeit nur auf widrige Anlässe in ihm entsteht; das Causalitätsgesetz heischt auch hier Grund und Ursache, und ehe er sich nach solchen ausdrücklich gefragt hat, tauchen schon als Antwort allerlei finstre Gedanken, trübe Ahnungen und Befürchtungen auf, über denen er so lange brütet und grübelt, bis einzelne Vor - stellungen stark und bleibend genug geworden sind, um sich, wenigstens zeitenweise zu fixiren. So haben diese Delirien wieder den wesent - lichen Character von Erklärungsversuchen für den eigenen Zustand.

§. 96.

Anomalieen der Sinnesempfindung und Bewegung be - gleiten häufig diese geistigen Störungen, theils die §. 43 erwähnten Empfindungen von Leerheit, Abgestorbensein des Kopfs, der Glieder, ja des ganzen Körpers, theils widrige Empfindungen auf der ganzen Hautoberfläche, die den Wahn des Electrisirtwerdens erregen, theils Hyperästhesie des Gesichts und Gehörs (Zittern, Zusammenfahren beim kleinsten Geräusche, vielleicht eine Grundlage der sog. Panphobie).

Das eigentliche Irresein der Sinne, die Hallucinationen und Illusionen haben ganz den Character und das Gepräge der schmerz - lichen Gemüthsverstimmung. Der Kranke sieht die Zurüstungen zu seiner Hinrichtung, er hört die Gerichtsdiener, die ihn abholen wollen; er sieht sich von den Flammen der Hölle umgeben; Abgründe schei - nen sich vor seinen Füssen zu öffnen; Gespenster kommen, ihm das172Symptomatologie der Schwermuth.Gericht anzukündigen; Stimmen verfolgen ihn, die ihn verspotten und beschimpfen etc. etc. Eine junge Melancholische, die wir beobach - teten, sah sich aus dem Spiegel einen Schweinskopf entgegenstarren, und glaubte sich von da an eine Zeit lang in ein solches Thier ver - wandelt. Am häufigsten und mannigfaltigsten sind die Hallucinationen in derjenigen schwereren Form der Melancholie, welche mit völliger Insich-versunkenheit und theilweisen Schwinden des Bewusstseins der Aussenwelt verbunden ist (s. unten Melancholie mit Stupor). Auch im Geruchs - und Geschmackssinn kommen Hallucinationen ziemlich häufig vor; die letzteren, namentlich als widrige, metallische Ge - schmäcke liegen oft dem Wahn, vergiftet, oder durch eine gewisse Speise verhext worden zu sein, zu Grunde. Die subjectiven widrigen Gerüche erwecken die Vorstellung, von Leichnamen umgeben zu sein, selbst in Verwesung überzugehen etc.

Mit dem Auftreten und Zunehmen der Hallucinationen reagirt der Kranke erst vollends auf imaginäre Verhältnisse und wird dadurch der realen Welt immer mehr entfremdet. Oft werden die Hallucina - tionen zum Gegenstand neuer Erklärungen, und die trübsten und abgeschmacktesten Ideen von einer Gespensterwelt, von unter der Erde angebrachten Maschinen, die auf den Kranken einwirken etc., haben ihren Ursprung in diesen, oft lange oder während der ganzen Krank - heit gar nicht geäusserten Sinnesanomalieen.

Die Bewegungen der Melancholischen tragen durchaus das Gepräge des herrschenden schmerzlichen Affects. Meistens sind sie träge, langsam, unterdrückt, der Kranke bleibt gerne im Bette liegen, steht oder sitzt Tage lang in einem Winkel, ohne von seiner Umgebung Notiz zu nehmen. Oft ist die ganze Stellung und Haltung des Kranken starr, unbeweglich, bis zur statuenartigen Fixität. Die Glieder sind dabei entweder steif und leisten den Versuchen ihnen eine andere Lage zu geben, ziemlichen Widerstand, oder sie sind biegsam, beweglich und behalten oft die ihnen gegebene Stellung bei (cataleptische Zustände). Die Gesichtsmuskeln sind oft in an - haltender einseitiger Contractur, die Züge unveränderlich, gespannt, die Stirne gerunzelt, die Mundwinkel herabgezogen; diess, noch verbunden mit der meist graueren, livideren Hautfärbung, gibt den Melancholischen fast immer ein älteres Aussehen. Der Blick ist oft zur Erde gesenkt, anderemale das Auge starr geöffnet, mit dem Ausdruck des Schmerzes, der peinigenden Spannung oder des Staunens.

Ein wesentlich anderes Verhalten zeigen die Bewegungen in der173Körperliche Störungen.Form der Melancholie, wo sich die innere Angst auch in körperlicher Unruhe äussert. Die Kranken treiben sich dann unstet umher, oft weinend und händeringend; oft zeigen sie Neigung im Freien herum - zuirren, an entfernte Orte, zu Verwandten, Freunden zu laufen (Me - lancholia errabunda). Dabei werden oft die Hände gerungen, auch wohl die Arme in drehenden und zappelnden Bewegungen hin und hergeworfen. Mit Recht findet man in diesen beiden Aeusserungs - weisen des krankhaften psychischen Schmerzes die Analoga zu den Erscheinungen des peinlichen Affects bei Gesunden, einerseits zu dem Starrwerden vor Schrecken und Bestürzung, andrerseits zu der körperlichen Unruhe und Aufregung (Herumlaufen, Gänge ins Freie etc.), welche man in solchen Gemüthslagen beobachtet.

Die ausserdem vorhandenen Störungen des körperlichen Befindens sind begreiflich ohne allen Werth für die Diagnose des Irreseins überhaupt oder einer bestimmten Form desselben, von um so grösserem dagegen für die Aetio - logie und Therapie. Sie sind nicht constant, und stehen zu dem Irresein in einem verschiedenen Verhältnisse. Bald sind sie Symptome schon früher be - standener Krankheiten, welche das Ihrige zur Entstehung der Gehirnkrankheit beitrugen (z. B. die Herzaffectionen), bald zufällige Complicationen, bald Fol - gen (Nebensymptome) der Gehirnkrankheit selbst. Zu den letzteren gehört na - mentlich:

1) Der Mangel oder die Verminderung des Schlafes, so dass die Kranken entweder ganz schlaflos bleiben, oder sich von ihrem Schlummer so wenig erquickt fühlen, dass sie behaupten, wach geblieben zu sein (eine Art inneres Fortwachen bei eingeschlafener Sinnesthätigkeit). Schwere, widrige Träume sind häufig und die Hallucinationen entstehen nicht selten in den Zeiten des Uebergangs von Schlaf zum Wachen.

2) Schmerzhafte Empfindungen im Kopfe, Hitze, Druck, Schwere, Ein - genommenheit, Gefühl von Leere, von Wasser etc. im Schädel, wandernde Schmerzen in verschiedenen Theilen, der Brust, der Wirbelsäule, der Magen - grube etc., Unempfindlichkeit einzelner Hautstellen, Gefühle als ob ihnen ein - zelne Glieder nicht mehr angehörten, eine wesentliche Herabsetzung der sexuellen Empfindungen und daher fast constante Verminderung des Geschlechtstriebs sind die Hauptsymptome einer veränderten Action der sensitiven Nerven.

3) Sehr häufig leidet die Verdauung und wie bei fast allen Gehirnkrank - heiten, tritt gerne Verstopfung ein. Hieraus können sich einige Missgriffe in der Aetiologie, die Annahme hypothetischer Stockungen und Infarkten ergeben, während schon die so ganz gewöhnliche Beobachtung, wie bei den traurigen Affecten des Gesunden so leicht secundäre Störungen in der Function des Darm - canals auftreten, auf das richtige Verhältniss hinweisen. Oft findet man die Zunge belegt und den Appetit abnorm, entweder mangelnd, oder, und zwar häu - figer vermehrt, indem das Gefühl der Sättigung zu fehlen scheint. Eine auf - fallende Gefrässigkeit und Naschhaftigkeit der Kranken bildet oft einen sonder - baren, beinahe lächerlichen Contrast mit ihrer traurigen Verstimmung; man sieht sie z. B. grosse Stücke Kuchen mit Hast hinunterschlingen, dabei aber stets174Körperliche Störungen bei Schwermüthigen.über ihre vielen Sünden, den Verlust ihrer Seligkeit oder alles zeitliche Unglück fortjammern.

Die Verweigerung der Nahrung, welche bei den Melancholischen zuweilen vorkommt, und bei der längeren Dauer und Hartnäckigkeit wegen der anzuwen - denden Zwangsmittel und der dennoch höchst mangelhaften Ernährung eine un - angenehme Complication bildet, geht häufig aus der Furcht vor Vergiftung her - vor; anderemal ist es ein Versuch des Selbstmords durch Verhungern oder es liegen dieser Enthaltsamkeit die Vorstellungen einer Art von Sühne durch Hun - gern, von Versündigung durch den Genuss von Nahrung, Hallucinationen, Stim - men, welche den Kranken geboten haben zu fasten etc. zu Grunde. Schwerere Erkrankungen der Darmschleimhaut, namentlich die acuten ausgebreiteten Catarrhe, scheinen zuweilen jene Vorstellungen zu wecken und zu unterhalten.

4) Die Ernährung des Körpers leidet häufig Noth. Die Kranken magern ab, die Haut verliert ihren Turgor und ihre Frische, wird welk und häufig trocken. Ein ähnliches Verhalten zeigt sich in Folge trauriger Affecte bei Gesunden; doch hat man mit Recht darauf aufmerksam gemacht, wie die Gemüthsverstimmung der Schwermüthigen durchaus nicht eine so tiefe Zerrüttung des ganzen Orga - nismus zur Folge hat, wie sie durch gleich schwere und langwierige Affecte bei Gesunden sicher eintreten würde. Es wird diess besonders dem Umstande zuzu - schreiben sein, dass diese Kranken doch in der Mehrzahl der Fälle weit mehr Nahrung zu sich nehmen und besser verdauen, als diess bei tiefen Gemüths - affecten des gesunden Lebens der Fall ist; sobald sie dagegen, z. B. bei Ver - weigerung freiwilliger Speise-Aufnahme nur nothdürftig genährt werden, so tritt schnell ein acuter Marasmus, oft mit schweren, tödtlichen Localleiden (Brand der Lungen) auf.

5) Die Respiration ist häufig verlangsamt, unvollständig und schwer; der Brustbeklemmung sucht der Kranke durch Seufzen Luft zu machen. Palpitationen sind sehr häufig und die Angstempfindungen des Kranken gehen oft vom Herzen aus. Schon oben ist dieser Circulationsstörungen und ihrer für die Entwicklung und Unterhaltung der Gehirnkrankheit sehr wichtigen Bedeutung gedacht worden. Der Puls kann von der verschiedensten Beschaffenheit sein; oft ist er klein und selten; Hände und Füsse sind oft anhaltend kalt, namentlich bei den ganz un - beweglichen Kranken.

6) Störungen der Menstruation, Fehlen, Unregelmässigkeit derselben sind häufig genug; in manchen Fällen sieht man mit ihrem Wiedereintritt die Krank - heit aufhören, in anderen bleibt sie ungestört, oder der Zustand verschlimmert sich sogar.

7) Anomalieen der Harnabsonderung mögen häufiger sein, als man gewöhnlich vermuthet. In zwei sonst ganz verschiedenen Fällen von Melancholie haben wir reichliche, lange andauernde Abscheidungen von Phosphaten beobachtet, was an dasselbe Vorkommen bei manchen Spinalneurosen erinnert. Ausserdem wäre der Harn besonders auf Kleesäure und auf Spermatozoen zu untersuchen.

Chronische Krankheiten der Eingeweide, Lungentuberculose, Hautkrank - heiten, chronische Darmcatarrhe etc. bilden sich oft während der Schwermuth aus oder machen schleichend ihren Verlauf weiter. Wenn der Tod erfolgt, so ist es gewöhnlich durch eine dieser Krankheiten; nur in der Form der Melan - cholie, welche auf Oedem des Gehirns beruht (s. unten), ist die Gehirnkrankheit selbst schwer genug, um (durch Compression) zum Tode zu führen.

175Verlauf der Schwermuth.

§. 97.

Der Verlauf der einfacheren Formen der Melancholie ist oft sehr acut, da z. B. wo ein ganz kurzes Stadium schmerzlicher Ge - müthsverstimmung mit tiefer Angst der Entwicklung der Manie, nament - lich auch der intermittirenden, vorausgeht. In der Regel aber ist der Verlauf der Schwermuth chronisch, mit Remissionen, seltener mit voll - ständigen Intermissionen von verschiedener Dauer. Einmal haben wir bei einer tief Melancholischen (Vorstellungen gänzlichen Vermögensver - lustes, verhungern zu müssen etc.) ein vollständiges lucidum intervallum, kaum eine Viertelstunde andauernd, ohne alle bemerkbare äussere Veranlassung entstehen, und ebenso plötzlich wieder verschwinden sehen. Die Remissionen sind natürlich im Beginn der Schwermuth und wieder bei Annäherung an die Reconvalescenz am häufigsten.

Uebergänge in Manie und Wechsel dieser Form mit der Schwer - muth sind sehr gewöhnlich; nicht selten besteht die ganze Krankheit aus einem Cyclus beider Formen, welche oft ganz regelmässig ab - wechseln. Andere Beobachter und wir selbst haben Fälle gesehen, wo zu einer gewissen Jahreszeit, z. B. im Winter, tiefe Schwermuth sich einstellt, und diese im Frühling in Manie übergeht, welche im Herbst allmählig wieder zur Melancholie herabsinkt. Ein sehr mässiger Grad von Melancholie mit bedeutenden Remissionen kann viele Jahre lang bestehen; solche Kranke kommen selten und nur bei Exacerbationen oder intercurrirenden Anfällen von Tobsucht, in die Irren-Anstalten; sie können sich meist in ihren gewohnten Ver - hältnissen erhalten, und sind die Qual ihrer Umgebung und der Gegenstand vielseitiger schiefer Beurtheilung von Seiten der Aerzte und Laien.

Die anhaltende Form der Schwermuth von noch mässiger Inten - sität dauert gewöhnlich bei einer, nur nicht positiv unzweckmässigen Behandlung, ein halbes Jahr bis zu einem Jahr. Es ist durch eine grosse Anzahl von Beobachtungen als unzweifelhaft zu betrachten, dass intercurrirende acute, wie auch neu sich entwicklende chronische Krankheiten oft von günstigem Einflusse auf die Melancholie sind, so dass diese mit dem Auftreten jener aufhört. Zu jenen gehört z. B. die Salivation, die Entwicklung von Exanthemen, von intermittirenden Fiebern, zu diesen die Tuberculose. Um so weniger aber wollen sich diese Thatsachen den Begriffen der alten Crisenlehre fügen, als es eben nicht selten Neurosen ohne palpable Ausscheidungen sind (Spi -176Ausgänge der Schwermuth.nalirritation, heftige Zahnschmerzen etc.) mit deren Eintritt die Gehirn - krankheit sich mässigt oder aufhört. *)Vgl. p. 138 die Fälle von Brodie.

Gewiss ebenso häufig aber, als das Verschwinden der Melan - cholie beim Eintritt anderer Krankheiten, beobachtet man dabei ihr Fortbestehen und sogar ihre Steigerung; oder das Irresein nimmt mit dem Zurücktreten der Schwermuth nur eine andere Form an. So sahen wir bei einem jungen Manne, der mehre Jahre in tiefer Schwer - muth mit nur schwachen Remissionen zugebracht hatte, wie mit dem Eintritt eines heftigen Catarrhs mit Lungenblutungen, den ersten Zeichen einer dann rasch verlaufenden Lungentuberculose, mit gleich - zeitiger bedeutender Schmerzhaftigkeit der Wirbelsäule, die Schwermuth nachliess und sich dafür eine ebenso krankhafte Begehrlichkeit und unruhige Heiterkeit einstellte.

Die Genesung erfolgt meist allmählig, unter successiver Abnahme der Verstimmung, Rückkehr früherer Neigungen und Eigenthümlich - keiten, oft unter gleichzeitiger oder vorausgehender Zunahme des Körpervolums.

Ausser dem häufigen Uebergange in eine der maniacalischen Formen kann bei längerer Dauer sowohl die einfache, als namentlich die mit Stupor verbundene Melancholie auch in einen psychischen Schwächezustand, einen mässigeren oder höheren Grad von wahrem Blödsinn übergehen, wohl immer unter Entwicklung organischer Alterationen in der Schädelhöhle. Während alsdann die Körper-Ernährung wieder zunimmt, in der Phy - sionomie aber meist ein Ausdruck plumper Verzerrung stehend wird, er - löschen allmählig die traurigen Affecte, während sämtliche psychische Thätigkeiten ihre Energie bleibend verloren kaben. Nicht selten ent - wickeln sich auch Zustände annähernder oder ausgebildeter Verrückt - heit, wobei einzelne fixirte, traurige Wahnvorstellungen, namentlich jene Hallucinationen, durch welche bei dem Kranken der Wahn der Vergiftung, der Complotte, des Electrisirtwerdens etc. entstanden und unterhalten worden ist, in fürderhin unheilbarer Weise fortdauern. Solche Kranke, an Verrücktheit, psychischen Schwächezuständen mit Residuen der Melancholie (und Manie) leidend, meist mit mannig - fachen Exacerbationen in Form eines oder des andern primären Zu - standes (Apathie wechselnd mit Turbulenz, oberflächliche Traurigkeit wechselnd mit gleich wenig tiefer Freude etc.) bilden die Mehrzahl der chronischen Formen in den Irrenhäusern; wir werden sie bei der Verrücktheit und dem Blödsinn näher betrachten. Anfangs bleibt177Beispiele von Schwermuth.oft der Zustand lange stationär in der Form der Schwermuth und zeigt leichte Schwankungen der Besserung und Verschlimmerung; in diesem Zeitraum ist das Urtheil über die Heilbarkeit ausserordent - lich schwierig; hat aber ein solcher Zustand von Apathie mit dem Ausdrucke der Schwermuth einmal 3 bis 4 Jahre ohne Intermission gedauert, so sind Genesungen nur noch höchst selten.

Beispiele der einfacheren Formen der Schwermuth mit Ausgang in Genesung.

VI. Hypochondrie. Tiefe Schwermuth. Febris intermittens. Genesung. N. N., Pfarrer, 43 Jahre alt, von kräftiger Constitution, wird im August 1825 in Siegburg aufgenommen, nachdem er im März d. J. erkrankt war. Die Hauptsymptome hatten bisher in einem Ausdrucke grosser Angst und Unruhe, stierem misstrauischem Blick, blasser Gesichtsfarbe, kurzer Respiration, kleinem und sehnellem Pulse bestanden. Er hatte sich einer scheusslichen Lebensweise und grober Vergehungen angeklagt, in einzelnen lichten Augenblicken übrigens seinen Zustand richtiger beurtheilt (Aderlässe, Vesicatore, Nitrum, Brechmittel, Gebrauch eines Stahlbrunnens.).

Bei der Aufnahme scheuer unstäter Blick, Ausdruck von Angst und Ver - zweiflung, voller Bauch, träger Stuhl, erdfahle Gesichtsfarbe, Aeusserungen, dass er sogleich zerrissen, zermalmt, in Stücken gehauen werden würde. (Wein - steinsalze mit Schwefel, leichte geistige Beschäftigung.)

Im September war der Kranke allmählig ruhiger geworden und zeigte sich weniger geneigt seine traurigen Gefühle zu äussern. Bald klagte er über Mattig - keit, Kopfschmerzen und es traten nun Anfälle von intermittirendem Fieber in tertianem Typus auf. An den Fiebertagen glaubte er jedesmal bis zum Eintritt des Schweisses, er werde nun sterben und wiederholte diess jeden Augenblick mit dem schrecklichsten Ausdruck von Angst in Blick und Gebärden. Jede Vor - stellung, dass er an den vorhergehenden Fiebertagen dasselbe gesagt und ge - glaubt, wies es mit den Worten zurück: Heute ist es ganz anders, ich muss heute sterben. (Brechweinstein mit Salmiak.) Später kamen die Fieberanfälle täglich und die Todesfurcht wurde geringer. Endlich hörten jene von selbst ganz auf und damit verloren sich auch die zwar früher schon etwas geminderten, aber bis dahin immer noch häufig wiederholten Aeusserungen, die sich auf be - gangene unversöhnbare Missethaten und die zeitlichen und ewigen Strafgerichte, die ihm desshalb bevorstünden, bezogen, und nur eine hypochondrische Selbst - quälerei und übermässige Aengstlichkeit in Bezug auf den körperlichen Gesund - heitszustand blieb einige Zeit noch zurück; der Puls wurde regelmässig, ein mit den letzten Anfällen des Wechselfiebers entstandenes Oedem der Beine und das fahle Ansehen der Haut verloren sich; er beschäftigte sich freiwillig und em - pfänglich mit geistigen Arbeiten, wurde heiter und froh und verliess in Januar 1826 völlig genesen die Anstalt.

Folgende Aeusserungen über die Entstehung seiner Krankheit schrieb der Wiedergenesene nieder: Von früher Jugend an war bei mir ein hypochondrischer Zustand vorhanden; schon ehe ich die Universität bezog, glaubte ich, ich hätte die Auszehrung und Versicherungen der Aerzte vom Gegentheil waren fruchtlos. Manche widrige Vorfälle flössten mir Misstrauen gegen die Menschen ein undGriesinger, psych. Krankhtn. 12178Beispiele vonals ich im Jahr 1820 durch ein Augenleiden zu äusserer Unthätigkeit verurtheilt war, so bestand meine meiste Unterhaltung in Gedanken, die oft sehr trauriger Art waren, und nothwendig bei mir einen üblen Eindruck zurücklassen mussten. Anno 1822 machte ein Brand und eine dabei stattfindende Durchnässung, während ich eben Reconvalescent von einer mehrwöchentlichen Unpässlichkeit war, den schlimmsten Eindrnck. Von jener Zeit an wurde der Stuhl seltener und trat Schwer - hörigkeit ein; zu Ueberladung mit Arbeit und sehr gebeugter Stimmung, bei man - gelnder Körperbewegung kamen im Jahr 1824 häusliche Sorgen und der Tod eines neugeborenen Kinds. Von dort an verlor sich die Lust zur Arbeit und die Heiterkeit. Nach der Predigt war ich sehr ermüdet und abgespannt, Beängsti - gung und traurige Ahnungen wandelten mich an, der Schlaf war kurz und von schrecklichen Träumen gequält und nach demselben zog mir ein starker Frost durch alle Glieder. Ich hielt mich indessen für gesünder als je, denn Schwer - hörigkeit, Gliederschmerzen, Blähungen, an denen ich bisher gelitten, hörten auf und ich fühlte keine Unannehmlichkeit nach dem Essen mehr. So kam es mir gar nicht in den Sinn, den Grund meines traurigen Zustandes in meinem Körper zu suchen, sondern vielmehr in meinem ganzen Leben, das sich mir denn zu einem ungeheuren Verbrechen bildete. Dieser Gedanke entstand bei mir nicht nach und nach, sondern kam, so viel ich mich erinnere, auf einmal in meine Seele wie ein Traum. So erklärte ich meinen ganzen Zustand. Nun war es um alle Klarheit der Gedanken, um alles Zutrauen zu Andern und zu mir selbst geschehen, die ganze Menschheit musste gegen mich aufstehen, mich durch die schrecklichsten Qualen aus ihrer Mitte verstossen und ich selbst war mein grösster Feind. Ich machte meiner Frau die Entdeckung, ich hätte das grösste Verbrechen begangen, das je verübt worden sei und würde von meiner Gemeinde in Stücke zerrissen werden, sobald sie davon Kenntniss erhielte. Die Amtsgeschäfte wurden unmöglich, die Angst immer grösser. Als mir der Kirchenvorstand die besten Versicherungen und Anerbietungen machte, hielt ich doch Alles für verloren und als ich in einer Versammlung zusammen - sank, kam es mir selbst vor, als ob ich diess aus Verstellung thäte. Ein Geräusch im Ofen hielt ich für Trommeln und glaubte Soldaten im Anzuge, um mich abzuholen; später glaubte ich ein Schaffot vor mir zu sehen, wo ich in kleine Stückchen zerfleischt werden sollte und die Furcht vor der Hinrichtung dauerte beständig fort. Die Dinge um mich erschienen mir schöner und glänzender als sonst, die Menschen weiser und klüger, mich selbst erblickte ich in der tiefsten Tiefe und glaubte zu gar nichts mehr fähig zu sein. Nur für Augenblicke glaubte ich, dass ich doch wohl noch gerettet werden könnte und dann folgte gewöhnlich nur grössere Traurigkeit Meinen Zustand gegen Ende der Krankheit kann ich nicht besser beschreiben, als den eines aus einem schweren Traume Erwachenden, der sich nicht sogleich überzeugen kann, dass es ein Traum gewesen ist.

(Sehr abgekürzt aus Jakobi, Beobachtungen über die Pathologie und Therapie der mit Irresein verbundenen Krankheiten. I. Elberfeld. 1830. p. 441 seqq.)

VII. Schwermuth. Heilung mit der Rückkehr der Menstrua - tion. Ein 19jähriges Mädchen, deren Mutter in einem Anfalle tiefer Schwer - muth durch Selbstmord starb, gesund und fröhlichen Gemüths, vom 15ten Jahre an regelmässig menstruirt, vom 16ten an fluor albus leidend, später durch ein von den Umständen nicht begünstigtes Liebesverhältniss und andere Ereignisse179Schwermuth.gemüthlich afficirt, erkrankte plötzlich im August 1825. Man nahm eine gewisse Albernheit an ihr wahr; sie lachte öfter ohne Anlass, machte allerlei kurzweilige Streiche und zeigte Verwirrtheit in Reden und Handlungen. Blick, Gesichtszüge und Bewegungen waren lebhaft und hastig, der Unterleib aufgetrieben, der Stuhl - gang träge, die Menstruation sparsam. Nach einigen Monaten trat in Bezug auf die Seelenstörung eine vollkommene Intermission ein, aber nach 6 Wochen zeigte sich das Irresein von Neuem unter einer andern Gestalt.

Die Kranke schien schwermüthig beängstigt, sass entweder in Gedanken verloren, stumm und bewegungslos da, oder weinte und seufzte, indem sie oft dazwischen ausrief: welch ein Unglück, was habe ich denn gethan! Sie ver - weigerte die Nahrung, ihre Gestalt verfiel, die früher blühende Farbe wurde erdfahl, die Gesichtszüge verzerrt und die Kräfte schwanden. Der Unterleib war hart und aufgetrieben, der Stuhl sparsam und trocken, die Menstruation hörte ganz auf und der fluor albus war anhaltend. Nach einiger Zeit kehrte einige Esslust wieder, die Kranke ging an die Hühnertröge, oder suchte sich sonst rohe und unreine Nahrung zusammen, die sie heimlich verzehrte, sie nahm dabei etwas an Kräften und Masse zu, hatte aber ein gedunsenes livides Aussehen. Nachdem seit dem Wiedereintritt der Seelenstörung ohne ärzliche Hülfe 8 Monate ver - flossen waren, ward das Mädchen im August 1826 in Siegburg aufgenommen. Ausser etwas scrophulösem Habitus und dem längst bestandenen fluor albus war kein Symptom körperlicher Krankheit zu bemerken. Ihre Bewegungen sind ohne Energie, ihre Haltung hängend, dabei weint sie den ganzen Tag über unablässig und zwar mit so heftigem Schluchzen und eigentlichem Heulen, dass man jeden Augenblick glauben sollte, es wäre ihr etwas Ungeheures begegnet. Während der Nächte schläft sie meistens ruhig; zur Annahme der Nahrungsmittel lässt sie sich etwas nöthigen. Die Seelenstörung bei der Kranken gibt sich jetzt hauptsächlich durch die sie ausschliessend beherrschende Gemüthsstimmung kund, welche alle ihre Vorstellungen beherrscht und ihre Willensthätigkeit lähmt, ohne dass sich hievon abgesehen Verstandesverwirrung oder eine bestimmte krankhafte Richtung des Begehrungsvermögens offenbart. Die gestörte Verdauung, die Auf - treibung und Festigkeit des Unterleibs nebst der Amenorrhöe und dem fluor albus schienen die wichtigsten therapeutischen Indicationen zu geben. (Milde, regel - mässige Kost, Bäder, Beschäftigung.) Eine Reconvalescentin nimmt sich der Kranken mit mütterlicher Sorgfalt an und diese gewinnt Zutrauen zu ihr und wird folgsam.

Zu Ende September tritt die Menstruation sparsam ein, der Unterleib bleibt aber aufgetrieben und fest. (tart. borax. c. flor. sulph. Fontanelle an beide Ober - arme.) Die Kranke wird allmälig ruhiger, weint weniger, isst ungenöthigt. Nach drei Wochen kehrt die Menstruation zurück, der Unterleib verliert seine Auf - getriebenheit und Härte, der Stuhl wird regelmässig, die Verzerrtheit der Züge schwindet, der Gesichtsausdruck wird heiterer und nach nochmals wiedergekehrter Menstruation am 10. Nov. war alle Traurigkeit und alles Weinen wie wegge - zaubert. Beschäftigung war ihr eine Lust; der fluor albus war allmälig ganz verschwunden, ihre Gesundheit befestigte sich immer mehr und sie ward im April 1827 glücklich wieder genesen entlassen.

(Jakobi, Beobachtungen über die mit Irresein verbundenen Krankheiten. 1830. p. 198 seqq.)

VIII. Melancholie mit Neigung zum Selbstmord und Halluci - nationen. Wahrscheinlich pollutio diurna. Heilung durch Caute -12 *180Beispiele von Schwermuth.risation der Urethra. Emil G., 23 Jahre alt, zeigte früher schöne Geistes - anlagen und war im 21. Jahre Advocat geworden. Seine Haltung ist gebeugt, der Körper mager, die Muskeln schlaff, die Haut ohne Colorit, das Gesicht ausdrucks - los, der Blick matt, zur Erde gesenkt, die Stimme schwach, das Benehmen sehr schüchtern, die untern Extremitäten in beständiger Bewegung. Während seine mündliche Unterredung höchst dürftig und linkisch ist, gibt der Kranke schrift - lich folgende klare Bemerkungen über seinen Zustand:

Nachdem der Kranke vom 12ten Jahre an Onanie getrieben, trat im 19ten die Veränderung seines Characters ein: zuerst allmählig ein psychischer Ekel vor Allem, eine tiefe, allgemeine Langeweile; während er bis dahin nur die lichte Seite des Lebens bemerkt hatte, sah er von jetzt an alles von der trüben Seite an. Bald trat der Gedanke des Selbstmords auf. Nach einem Jahre trat dieser zurück, dafür hielt sich jetzt der Kranke für den Gegenstand des Spottes bei Andern. Er glaubte, man mache sich überall über seine Phy - sionomie und seine Manieren lustig, und mehrmals hörte er, sowohl auf der Strasse, als im Zimmer bei Verwandten und Freunden, an ihn gerichtete Schimpfworte. Endlich glaubte er, dass Jedermann ihn beleidige; wenn Je - mand hustet, räuspert, lacht, die Hand zum Munde oder ein Sacktuch vor das Gesicht bringt, so macht ihm diess die peinlichsten Empfindungen, bald zor - nigen Affect, bald eine tiefe Niedergeschlagenheit mit unwillkührlichem Thränen - erguss. Er ist für Alles gleichgültig und immer auf diese seine Ideen con - centrirt; er sucht die Einsamkeit und die Gesellschaft thut ihm wehe. Er gibt zu, dass er vielleicht Hallucinationen hatte, aber er ist doch überzeugt, dass diese Ideen nicht ohne Grund sind, dass sein Gesichtsausdruck etwas Befrem - dendes habe, dass man in ihm seine Furcht, die Gedanken, die ihn beun - ruhigen, lesen könne.

Er fühlt Schwere des Kopfes, eine Art Druck auf das Gehirn; er ist schwach, muthlos, beständig schläfrig und stumpf; jede Bewegung ermüdet ihn und er hat doch beständig Bedürfniss seine Stelle zu verändern. Er fühlt sich gealtert; seit einigen Monaten nimmt die Niedergeschlagenheit zu: seit fünf Jahren macht ihm nichts mehr Freude, Alles drückt und belästigt ihn, er ist ängstlich, schüchtern, verlegen, unfähig zu handeln und zu sprechen. Der Geist des Lebens hat sich aus mir zu - rückgezogen.

Seit 9 Monaten hat der Kranke völlig der Onanie entsagt und dennoch ver - schlimmerte sich sein Zustand von Tag zu Tag.

Dabei hartnäckige Verstopfung, völliger Mangel aller Erectionen und alles Geschlechtstriebs; etwa 1 2 Pollutionen in einem Monat. Im Urin beständig ein reichlicher, flockiger, einer dicken Gerstenabkochung ähnlicher Bodensatz; schnelle Zersetzung des Urins. Nach jedem Stuhl an der Mündung der Harnröhre eine klebrige Flüssigkeit, wie dickes Gummiwasser. Häufige Urinentleerung, Empfind - lichkeit der Samenstränge, der Hoden und besonders der Urethralschleimhaut, Röthe der Urethramündung. Cauterisation des Blasenhalses und der pars prostatica Urethrae; allmählige Besserung nach 4 Wochen, durch laue und langdauernde Bäder sehr unterstützt. Kurz darauf völlige Heilung mit der Herstellung der Potenz.

(Lallemand, des pertes séminales. I. p. 357.)

181Varietätcn der Schwermuth.

§. 98.

Die Aeusserungsweisen des psychischen Schmerzes in der Schwer - muth sind so verschiedenartig und mannigfaltig, dass man von jeher aus den Hauptunterschieden hierin einzelne Arten und Varie - täten der Melancholie bildete.

Insoferne sich die Differenz nur auf die Art und den Gegen - stand des Deliriums, welcher häufig mit den hervorstechendsten psychischen Krankheitsursachen zusammenfällt, bezieht, ist die Auf - stellung solcher Varietäten von nur mässigem Werth; in dieser Hin - sicht sind hauptsächlich folgende Unterformen zu erwähnen.

1) Melancholia religiosa wurde die Aeusserungsweise der Schwermuth genannt, wo sich das Delirium vorzugsweise um reli - giöse Vorstellungen, den Wahn schwerer Versündigung, die Furcht vor Höllenstrafen, das Verworfensein vor Gott etc. drehte. Es ist häufig ganz in äusseren zufälligen Einwirkungen begründet, dass die innere Angstempfindung gerade als Sündenangst sich äussert, oder dass der Kranke in seiner traurigen Verstimmung den Trost der Religion sucht, der hier freilich nicht die erwartete Wirkung, sondern häufig nur die Steigerung der Angst zur Folge hat, und es ist hier die Wirkung nicht mit der Ursache zu verwechseln. Denn so wenig geläugnet wird, dass das stete Hervorrufen von Zerknirschung und Furcht vor Höllenstrafen, überhaupt eine stete Bearbeitung im Sinne einer trübsinnigen und ascetisch-eifernden Weltanschauung die geistige Energie lähmen, das Vorherrschen trauriger Vorstellungen begünstigen, und schwache Köpfe in inneren Zwiespalt und traurige Affecte versetzen, damit aber auch zur Entstehung der Schwermuth wesentlich beitragen kann, so sind doch in der grossen Mehrzahl der Fälle die von den Melancholischen geäusserten religiösen Anfechtungen als Symptome der schon bestehenden Krankheit, nicht als deren Ursachen zu betrachten.

Ebenso verhält es sich natürlich auch bei der interessanten Form der Schwermuth, wo sich das Gefühl des Beherrscht - und Ueber - wältigtseins (p. 170), in der Vorstellung des Besessenseins von Dämonen ausspricht, die sogenannte Dämono-Melancholie, welche in allen Ländern (namentlich auch in Frankreich nicht selten*)M. Macario, Etudes cliniques sur la démonomanie. Annal. med. psy - chol. I. 1843. p. 440 seqq. Esquirol, übers. v. Bernhard. I. p. 280 seqq. vor - kommt, deren sich aber in neuerer Zeit in unserm Vaterlande theils ein baroker Humor, theils der krasseste Aberglaube zu vielfachem Missbrauche bemächtigt haben.

182Dämono-Melancholie. Besessensein.

Bei dieser Form nimmt die von dem Kranken hypostasirte fremde, feindliche Macht, durch welche er sich beherrscht glaubt, nach dem in Ort und Zeit liegenden Aberglauben verschiedene dämonische Gestalten an (Teufel, Gespenster etc.) denen wohl auch bei gleichzeitigen aus einzelnen Körpertheilen entstehenden anomalen Sensationen, von dem Kranken zuweilen ein beschränkter Sitz, bald in einer ganzen Körper - hälfte, bald im Kopf, der Brust, dem Rücken etc. angewiesen wird. Nicht selten sind dabei Convulsionen der willkührlichen Muskeln, Krämpfe des Larynx, wodurch die Stimme auffallend verändert wird, Anästhesieen einzelner Hautparthieen und Hallucinationen des Gesichts und Gehörs vorhanden. Zuweilen begleitet dieses Delirium intermittirende Paroxis - men heftiger Krämpfe (offenbare Analoga epileptischer oder hysterischer Anfälle), die durch vollständig freie lucida intervalla geschieden werden.

Diese Formen der religiösen Schwermuth sind sorgfältig zu unterscheiden von jenem, auch in religiösen Vorstellungen sich bewegenden, aber freudigen, kühnen, mit Exaltation verbundenen Irresein, wobei die Kranken entweder Gott selbst zu sein oder in inniger Verbindung mit Gott, den Engeln, dem Himmel zu stehen behaupten. Wir werden diese, dem psychologischen Hergange nach von der Schwermuth total verschiedenen Zustände unter den Exaltationsformen des Näheren besprechen.

Beispiele von Besessensein.

IX. Tuberculose. Psychische Ursachen. Wahn vom Teufel besessen zu sein. Tod. A. D., 46 Jahre alt, Dienstmädchen, sehr nervös, hatte in frühern Jahren mehrfachen Kummer in Liebesverhältnissen erlitten und war schon einmal melancholisch geworden; die Menses cessirten, sie hatte mehre Keuschheitsgelübde gethan, diese wieder gebrochen, sich dann für verdammt ge - halten; zuletzt glaubt sie sich in der Gewalt von Dämonen und empfindet alle Qualen der Hölle und der Verzweiflung. Sie wird im März 1813 in die Salpe - trière geschickt. Sie ist ausserordentlich mager, ihre Haut erdfarben, ihr Ge - sicht convulsivisch verzerrt; sie verweigert die Nahrung, ist schlaflos; der Kopf ist schwer, im Innern sehr brennend, äusserlich wie mit einem Stricke zusam - mengezogen. Sie leidet an sehr schmerzhaften Zusammenziehungen der Kehle, rollt die Haut des Halses unaufhörlich mit ihren Fingern, drängt sie nach dem Brustbein hin, und versichert, dass der Teufel sie ziehe, zusammenschnüre und am Schlingen hindere. Die Bauchmuskeln sind sehr gespannt, der Stuhl ver - stopft, an Hand und Fuss eine scrophulose Anschwellung. Der Teufel hat ihr eine Schnur vom Brustbein bis zu den Genitalien gezogen, wodurch sie verhindert wird, aufrecht zu stehen. Der Dämon ist in ihrem Körper, brennt, kneift sie, beisst ihr ins Herz und zerreisst ihr die Eingeweide. Sie ist von Flammen umgeben und mitten im Feuer der Hölle, ihre Qualen sind unerhört, schreklich, ewig, sie ist verdammt und der Himmel kann kein Erbarmen mit ihr haben.

Im April nahmen die Kräfte ab; sie sieht Niemanden, der sich ihr nähert, der Tag kommt ihr nur als ein Schein vor, in dem Gespenster und Dämonen183Beispiele.herumirren, die ihr Betragen tadeln, ihr drohen, sie misshandeln. Sie verwei - gert alle Tröstungen, sie bedarf einer übernatürlichen Macht; sie verflucht den Teufel, der sie brennt und martert und verflucht Gott, der sie in die Hölle ge - stürzt hat. Im Mai Marasmus; Respirationsbeschwerden, Oedem der Beine, un - regelmässige Fröste; im Juni Durchfälle, schwarzer Zungenbeleg; die Kranke seufzt viel, hat noch dasselbe Delirium und die feste Ueberzeugung nicht zu sterben. Tod am 22. Juni. Section. Der Schädel dick, injicirt, der sichel - förmige Fortsatz der dura gerippt (reticulé) und nach vorn zerrissen; das Gehirn weich, die graue Substanz blass; viel Serum in den Ventikeln. Allgemeine Tu - berculose. Verwachsung des Herzens mit dem Pericardium.

(Esquirol, die Geisteskrankheiten v. B. I. p. 285.)

X. Krampfanfälle mit Wahn der Besitznahme und Verviel - fachung der Persönlickeit, bei einem Kinde, von kurzer Dauer. *)Wir geben diese Krankheitsgeschichte wörtlich, zugleich als Probe von der Naivetät dieser Erzählungen. Vgl. dazu das unten über den psychischen Zu - stand in epileptischen Anfällen[bemerkte].Margarethe B., 11 Jahre alt, von etwas heftiger Gemüthsart, aber ein christ - liches, frommes Kind, wurde den 19. Januar 1829 ohne vorher unwohl gewesen zu sein, von krampfhaften Zufällen ergriffen, die sich mit wenigen und kurzen Unterbrechungen zwei Tage lang wiederholten. So lange die Krampfanfälle dauerten, war das Kind nicht beim Bewusstsein, sie verdrehte die Augen, machte Gri - massen und allerlei sonderbare Bewegungen mit den Armen, und von Montag, den 21. Jan. an liess sich auch wiederholt eine tiefe Bassstimme vernehmen, mit den Worten: für dich betet man recht! Sobald das Mädchen wieder zu sich kam, war sie müde und erschöpft, wusste aber von allem Vorgefallenen Nichts und sagte nur, sie habe geträumt. Am 22. Januar Abends fing eine andere, von der obigen Bassstimme sich deutlich unterscheidende Stimme an, sich hören zu lassen. Diese Stimme redete fast unaufhörlich so lange die Crisis dauerte, d. h. halbe, ganze und auch mehre Stunden und wurde nur zuweilen von jener Bass - stimme, die ihr voriges Recitativ standhaft wiederholte, unterbrochen. Augen - scheinlich wollte diese Stimme eine von der Persönlichkeit des Mädchens ver - schiedene Persönlichkeit darstellen, und unterschied sich auch von demselben aufs genaueste, sich dasselbe objectivirend und in der dritten Person von ihr redend. In den Aeusserungen dieser Stimme war durchaus nicht die mindeste Verwirrtheit und Verrücktheit zu bemerken, sondern ganz strenge Consequenz, die alle Fragen folgerecht beantwortete, oder mit Schalkheit von sich wies. Was aber diesen Aeusserungen ihr Unterscheidendes gab, war der moralische, oder vielmehr unmoralische Character derselben; Stolz, Arroganz, Spott, Hass gegen die Wahrheit, gegen Gott und Christus, thaten sich in derselben kund. Ich bin der Sohn Gottes, der Welt Heiland, mich müsst ihr anbeten, hörte man jene Stimme zuerst sagen, und nachher oft wiederholen. Spott über alles Heilige, Lästerung gegen Gott und Christus und gegen die Bibel, heftiger Un - wille gegen alle, die das Gute lieben, die abscheulichsten Flüche, tausendfach wiederholtes, grimmiges Wüthen und Toben beim Anblick eines Betenden, oder auch nur bei gefalteten Händen das Alles konnte man als Symptome einer fremden Einwirkung betrachten, wenn auch jene Stimme nicht selbst, wie es wirklich geschah, den Namen des Redenden verrathen hätte, sich einen Teufel184Melancholia metamorphosis.nennend. Sobald dieser Dämon sich hören liess, veränderten sich auch die Ge - sichtszüge des Mädchens sogleich höchst auffallend und es trat jedesmal ein wahrhaft dämonischer Blick ein, von dem man in der Messiade, auf dem Bilde, wo der Teufel Jesu einen Stein bietet, eine Idee bekommt.

Am 26. Januar, Mittags 11 Uhr, zu derselben Stunde, welche das Mädchen im wachen Zustand, nach ihrer Behauptung von einem Engel belehrt, schon vor einigen Tagen als ihre Erlösungsstunde angekündigt hatte, erfolgte das Aufhören dieser Zufälle. Das Letzte, was gehört wurde, war eine Stimme aus dem Munde des Mädchens: Fahre aus, du unsauberer Geist, aus diesem Kinde! Weisst du nicht, dass dieses Kind mein Liebstes ist? dann erwachte sie zum Bewusstsein. Am 31. Januar stellte sich derselbe Zustand mit denselben Symptomen wieder ein. Doch kamen nach und nach mehre neue Stimmen hinzu, bis die Zahl dieser, von einander theils im Ton, theils in der Sprache, theils nach dem Inhalt augenscheinlich verschiedenen Stimmen auf sechs gestiegen war, von denen sich jede als die Stimme eines besondern Individuums geltend machte, und auch als solche von jener vorher so oft gehörten Stimme angekündigt wurde. Die Heftigkeit des Tobens, Fluchens, Lästerns, Scheltens u. s. w. erreichte in dieser Periode der Krankheit den höchsten Grad, und die Zwischenzeiten des Bewusstseins, in welchen übrigens das Mädchen durchaus keine Erinnerung an die Vorfälle im Paroxismus hatte, sondern still und fromm betete und las, wurden seltener und kürzer. Der 9. Februar, der ebenfalls schon am 31. Januar als Befreiungstag bezeichnet wurde, machte auch diesem Jammer ein Ende, und ähnlich dem ersten Male, liessen sich den 9. Februar Mittags 11 Uhr, nachdem jene Stimme wiederholt ihren Abschied angekündigt hatte, aus dem Munde des Mädchens die Worte hören: Fahre aus, du unsauberer Geist! das ist ein Zeichen der letzten Zeit! Das Mädchen erwachte und ist seither gesund geblieben. (Kerner, Geschichten Besessener. Stuttg. 1834. p. 104.)

§. 99.

2) Nicht eben selten kommt bei den Schwermüthigen der Wahn vor, der eigenen Persönlichkeit verlustig geworden und verwandelt zu sein Melancholia metamorphosis. Schon oben ist der auf allge - meinen und partialen Dys - oder Anästhesieen beruhenden Vorstellungen, gestorben zu sein, Glieder aus Holz etc. zu haben, und ebenso des aus Hallucinationen hervorgehenden Wahns einer Verwandlung in ein hässliches Thier etc. Erwähnung geschehen. Von fast noch grösserem psychologischem und pathologischem Interesse sind die Fälle, wo die Kranken ihr Geschlecht verwandelt glauben, Männer sich für Weiber, Weiber für Männer halten. Es gehört dieser Wahn allerdings nicht specifisch der Schwermuth an, kann sich aber während ihres Be - stehens ausbilden, und scheint in manchen Fällen durch Erkrankung der Genitalien selbst, mit der die sexuellen Empfindungen untergehen, hervorgerufen zu werden.

So erzählt Lallemand von einem Kranken, der sich für ein Weib hielt und Briefe an einen imaginären Liebhaber schrieb; die Section wies Vergrösserung185Nostalgie.und Verhärtung der Prostata, Abscesse in derselben, Obliteration der ductus ejaculatorii mit Erweiterung des Samenbläschen und des vas deferens nach (des pertes séminales. I. p. 64).

Einige Fälle von Wahn der Geschlechtsumänderung erzählt Leuret (Frag - ments, p. 114 seqq.). Diese Fälle sind im Ganzen nicht häufig; um so häufiger findet man in den französischen Anstalten, z. B. in der Salpetrière den Wahn, dass die umgebenden weiblichen Kranken Männer seien.

3) Eine weitere Unterart ist die Melancholie, welche sich durch Sehnsucht nach der Heimath und durch das Vorherrschen der auf die Rückkehr nach Hause bezüglichen Vorstellungen characterisirt, das Heimweh. Eine ähnliche Affection bildet sich auch in den Gefängnissen bei mangelnder Beschäftigung, oft unter Mit - wirkung von schlechter Nahrung, Feuchtigkeit und Onanie aus. Die nostalgische Melancholie kommt zuweilen mit auffallender Kopfcon - gestion, ja wirklicher Gehirn-Entzündung vor (Larrey); auch in dieser Form treten entsprechende Hallucinationen (Gesichte der Heimath - gegenden etc.) auf. Nicht selten werden von Menschen, welche an mässigeren oder höheren Graden von Heimweh leiden, gewaltthätige Handlungen begangen, (namentlich Tödtung kleiner Kinder und Brand - stiftung durch Dienstboten), die noch öfter aus evident selbstsüchtigen Motiven, namentlich dem Bestreben, aus einer aufgedrungenen unange - nehmen Lage wegzukommen, als aus dem, auch sonst unwillkühr - lich auftretenden Drange der Melancholischen, sich durch die Verübung einer auffallenden Unthat eine Art von Erleichterung zu verschaffen, hervorgehen.

Von grösserer Wichtigkeit ist die Aufstellung von verschiedenen Arten der Melancholie, nach dem verschiedenen Verhalten der motorischen Seite des Seelenlebens, des Wollens und Han - delns. Die bisher betrachteten Zustände können nemlich nach zwei verschiedenen, zum Theil entgegengesetzten Seiten hin wichtige Modifi - cationen erleiden; einerseits können sie sich zu einem Zustande noch tieferen Insichversunkenseins mit völliger Willenlosigkeit oder viel - mehr krampfhaft, tetanisch festgehaltener Strebung fortentwickeln; andrerseits treten in ihnen neue, der negativen Allgemeinstimmung ent - sprechende Triebe und Willenserregungen auf, die entweder nur in einzelnen, sporadischen Gewaltthaten, oder in einer anhaltenden äusseren Unruhe und Aufregung explodiren, wo dann wieder mit dem letzteren Verhalten die Schwermuth in die Form der Tobsucht übergeht.

Wir können demgemäss als Hauptarten der Schwermuth folgende Formen aufstellen:

186Hauptformen der Melancholie.
  • 1) Die in sich versunkene Schwermuth, die Melancholie mit Stumpfsinn (von den französischen Schriftstellern, Georget, Etoc-Demazy, Baillarger etc. meist mit dem wenig passenden Namen der Stupidité bezeichnet, von letzterem aber ihrem Wesen nach richtig erkannt
    *)Baillarger, de l’état, désigné chez les aliénés sous le nom de Stupi - dité. Annales med. psychol. I. 1843. p. 76 seqq. p. 256 seqq.
    *).
  • 2) Die Schwermuth mit Aeusserung negativer zerstören - der Triebe, namentlich mit einzelnen Gewaltthaten, theils gegen sich selbst (die s. g. Selbstmordmonomanie), theils gegen andere Personen und leblose Objecte (Mordtrieb, Zerstörungs - trieb, soweit eben diese Fälle der Melancholie angehören).
  • 3) Die Schwermuth mit anhaltender Willens-Aufregung, im Uebergange zur Tobsucht.

Drittes Capitel. Die Schwermuth mit Stumpfsinn.

§. 100.

Die Form der Schwermuth, wo sich der höchste Grad des In - sichversunkenseins unter der äusseren Form des Stumpfsinns dar - stellt, hat nicht nur wegen der ausgezeichneten psychischen Sym - ptome und der in manchen Fällen vorhandenen characteristischen anatomischen Störungen des Gehirns ein hohes theoretisches, sondern auch wegen der häufigen und leichten Verwechslung mit dem Blöd - sinn, welche zu bedeutenden prognostischen und therapeutischen Irrthümern führen kann, eben so viel practisches Interesse.

Wirklich stellen in den höheren Graden dieser Zustände die Kranken äusserlich ein Bild des Blödsinns dar. Sie sind gänzlich verstummt, vollkommen unthätig, ohne stärkere äussere Anlässe fast unbeweglich, ihr Aussehen ist stupid, ihr Gesichtsausdruck der einer allgemeinen tiefen psychischen Oppression, einer wahren Vernichtung; nur der Blick solcher Kranken zeigt nicht die dem Blödsinn ange - hörige Nullität, sondern den Ausdruck eines schmerzlichen Affects, der Traurigkeit, Angst, oder ein insichgekehrtes Staunen. In den höchsten Graden ist meist eine bald partielle (Sc. Pinel, traité de pathol. cérébrale. Par. 1844 p. 250. Abh. VIII. ), bald allgemeine Anästhesie187Schwermuth mit Stumpfsinn.der Hautoberfläche und ebenso ein Zustand der höheren Sinnorgane vorhanden, wobei die Gesichts - und Gehör-Eindrücke ganz undeutlich, confus, oft nur wie aus der Ferne percipirt werden; vielleicht eine Steigerung jener oben (§. 44. §. 92.) mehrfach erwähnten cerebralen Parese der Empfindung.

Dabei haben die Kranken meistens ebenso das Bewusstsein von Zeit und Ort als das Gefühl ihrer körperlichen Bedürfnisse verloren; sie sind höchst unreinlich, man muss sie füttern, ankleiden, zu Bette bringen etc. Gewöhnlich magern sie dabei sehr ab, es bildet sich schnell Marasmus aus und der Tod ist in dieser Form der Schwermuth nicht eben selten.

Wie verhält sich nun aber das innere psychische Leben bei solchen Kranken? Die Genesenen geben in den exquisiten Fällen hierüber die merkwürdigsten Aufschlüsse. Weit entfernt von der psychischen Leerheit des Blödsinns hört in der Mehrzahl der Fälle das Vorstellen nicht auf, lebhaft thätig zu sein. Aber der durch die erwähnte Anomalie der Sinnesperception seiner realen Umgebung entrückte Kranke lebt in einer imaginären Welt. Die Wirklichkeit ist ihm untergegangen, wie vor ihm versunken, Alles um ihn her ist ver - wandelt. Eine schreckliche innere Angst ist der Grundzustand, der ihn zum Ersticken quält, und aus ihm gehen die Vorstellungen alles in jedem Augenblicke drohenden Unglücks, des Einstürzens der Häuser, des Untergangs der Welt, einer allgemeinen Vernichtung eben so wohl, als einzelne Wahnideen schwerster, eigener Verschuldung, Verworfen - heit etc. hervor.

Der Kranke kann nicht wollen, und fühlt desshalb die Unmög - lichkeit, sich dem Schrecklichen, was von allen Seiten auf ihn ein - dringt, zu entziehen. Er kann später meistens nicht sagen, warum er zu dem geringsten Willensacte unfähig war, warum er nicht ant - wortete, nicht einmal schreien konnte; Esquirol (Geisteskrankheiten von Bernhard. II. p. 125) hat uns jedoch den merkwürdigen Ausspruch eines solchen Genesenen aufbewahrt: Dieser Mangel an Activität kommt daher, weil meine Empfindungen zu schwach sind, um auf meinen Willen einen Einfluss auszuüben. Es zeigt sich aber die Willen - losigkeit am deutlichsten in der vollständigen Passivität, Unthätigkeit und Unbeweglichkeit der Kranken, wiewohl auch hier intercurrirende Zustände grösserer Activität zuweilen vorkommen, in derselben Weise wie manche Kranke auch zwischendurch ein kurzes Bewusstsein, einen Schimmer der wirklichen Welt bekommen können.

Meistens verbinden sich mit dieser äusseren Unempfindlichkeit,188Die Schwermuthder Aufhebung des Strebens und dem exclusiven traurigen Delirium Hallucinationen und Illusionen von demselben Character. Der Kranke hört Stimmen, die ihm Vorwürfe machen, ihn beschimpfen, ihn mit dem Tode bedrohen, oder einen confusen Lärm von Glocken, Trommeln, Kanonen etc.; er sieht Gespenster, Leichenzüge, unterirdische Ge - wölbe, Vulcancrater, die sich vor seinen Füssen öffnen, er sieht zu, wie man seine liebsten Angehörigen martert etc. Er glaubt sich in einer Wüste, in der Hölle, auf den Galeeren zu befinden etc.; kurz der völlig veränderte subjective Antheil an der Sinnesperception und die daraus hervorgehende Umgestaltung aller Eindrücke lässt ihm alles Aeussere, was er noch percipirt, nur in Formen und Bildern erscheinen, die dem herrschenden Affecte adäquat sind (vgl. die Beispiele).

In vielen Beziehungen hat dieser Zustand die grösste Aehnlich - keit mit einem Halbschlaf - und Traumzustande. Die Entstehung der schmerzlichen, widrigen Affecte, Vorstellungen und Bilder im Gehirn findet dabei ihre vollkommene Analogie in dem Auftreten sonderbarer, neuer, widerwärtiger Empfindungen (Formication, Stechen, Kälte etc.) in dem abgestumpften (eingeschlafenen) sensitiven Nerven, und wir werden diese Vergleichung um so passender finden, da in einer ziemlichen Anzahl hierher gehöriger Fälle ein offenbarer Gehirndruck sich nachweisen lässt. Die Kranken selbst, wenn sie wieder anfangen, lebhafter zu werden, selbst zu essen, sich zu beschäftigen, kurz sich zu erholen, sind erstaunt wie Erwachende, fragen oft, wo sie denn seien, finden sich erst allmählig zurecht und vergleichen ihren Zu - stand einem schweren Traum, ihre Genesung einem Erwachen.

§. 101.

Doch ist nicht immer während der Dauer dieser Form der Schwer - muth eine solche Mannigfaltigkeit widriger Empfindungen, Vorstellungen und Bilder, wie kaum erwähnt wurde, vorhanden; manchmal ist es mehr ein Halbschlaf ohne deutliche Träume, ohne jene lebhaften Hallucinationen etc., ein der Aussenwelt entfremdetes Insichversinken, dem wenig geblieben ist, als das Gefühl tiefer innerer Verstörtheit und Willenlosigkeit, wo die psychischen Processe allerdings eine Art von Suspension erleiden, der Kranke aber doch ein Bewusstsein dieses seines Zustandes hat. Vielleicht scheint es zuweilen auch nur so, wenn die Kranken später ungenügende Rechenschaft von ihrem Zu - stande zu geben, oder sich desselben nur so schwach zu erinnern vermögen, dass keine so auffallende psychische Anomalieen zu Tage kommen.

189mit Stumpfsinn.

Daher konnte es auch ausgezeichneten Beobachtern (Esquirol, Georget, Ellis*)Ellis, traité etc. par Archambault. Par. 1840. p. 199. begegnen, diese Zustände als Blödsinn aufzufassen, und die von Etoc-Demazy (1833) aufgefundene, von Sc. Pinel (1840. 1844. ) aber allzusehr verallgemeinerte Thatsache, dass bei nicht Wenigen dieser Kranken ein Gehirn-Oedem, also Gehirndruck, sich findet, war dieser Betrachtungsweise nicht ungünstig. Doch ist einerseits das Gehirn-Oedem nicht constant, andrerseits werden die obigen, den Berichten der Genesenen selbst entnommenen Angaben hinreichen, den innern Unterschied dieser Form von Melancholie von dem Blödsinn ins Licht zu setzen. Jene verhält sich zu diesem wie in den sensitiven Nerven vorübergehend verminderte Empfindung der äussern Eindrücke mit Schmerz und neuen anomalen Empfindungen zur dauernden völligen Anästhesie. Wie aber jener Zustand theils auf derselben Ursache (Druck) beruhen kann, wie dieser, theils nicht selten nur diesem voran und bald in ihn übergeht, so kann auch diese Form der Schwermuth als melancholischer Stumpfsinn bei längerer Dauer in wirkliche dauernde Schwäche des psychischen Lebens mit Aufhören des schmerzlichen Affects, in Blödsinn übergehen.

Zur äusseren Unterscheidung beider Zustände dient, ausser der schon erwähnten Rücksicht auf den Gesichtsausdruck und namentlich den Blick der Kranken, theils eine in manchen Fällen primitive und sehr rasche Entstehung, theils das nicht selten vorkommende Ver - weigern der Nahrung und die zuweilen gemachten Selbstmordver - suche, welche beide bei Blödsinnigen nicht leicht vorkommen.

Wenn diese Zustände nicht in Blödsinn übergehen, so währen sie in der angegebenen Weise selten länger als einige Monate; viele Kranke genesen, und zwar meistens schnell, in der Form eines Er - wachens aus Träumen; Drastica und Vesicatore zeigen oft einen evidenten Nutzen. Der Tod erfolgt manchmal unter Zunahme der Erscheinungen des Gehirndrucks, (sehr langsamen Puls etc.) manch - mal als Ausgang eines allmählig gesteigerten, auf intensem Darm - catarrh oder Lungenphtise beruhenden Marasmus; einmal sahen wir ihn durch Selbstmord erfolgen. Ueber das Gehirn-Oedem und seine wahrscheinliche Entstehungsweise s. die pathologische Anatomie.

Beispiele.

XI. Schwermuth mit Stumpfsinn nach F. intermittens. Gene - sung. B., 25 Jahre, Beamter, kommt nach Charenton am 12. August 1833. Früher ein Anfall von Wahnsinn im 15ten, ein anderer im 22ten Jahre, der190Beispiele vonerste von sechs Wochen, letzterer von 14 Tagen. B. litt sechs Wochen an einem intermittirenden Fieber, in dessen Reconvalescenz plötzlich, ohne bekannte Ursache, nach mehrtägigem heftigem Kopfweh, dieser Anfall ausbrach. Symptome einer Gehirnentzündung, mehrmals im Verlauf von drei Wochen Convulsionen; mehre Selbstmordversuche. Blasse Gesichtsfarbe, starre, weit offene, meist zur Erde gerichtete Augen, ausdruckslose, stumpfe Physionomie; B. bleibt den ganzen Tag auf demselben Fleck sitzen und scheint aller seiner Umgebung ganz fremd. Auf mehrmalige laute Fragen antwortet er langsam und leise einzelne Sylben. Beim Gehen hält er sich an der Wand, an den Menschen und geht sehr langsam; er widerstrebt, wenn er ins Bad geführt werden soll. Das Ge - dächtniss scheint ganz erloschen; man muss den Kranken füttern; er ist höchst unreinlich. Die Empfindung ist stumpf, der Schlaf lang, der Appetit sehr stark. Esquirol lässt ein Vesicator in Nacken setzen. B. klagt über den Schmerz desselben und fängt jetzt an sich zu bessern. Seine Antworten sind länger und lauter, er gibt an, er könne seine Ideen nicht entwickeln, es hindere ihn etwas daran. Physionomie und Unreinlickheit bleiben wie zuvor. Manchmal bricht er in lautes Lachen aus beim Anblick eines mit einer leinenen Blouse be - kleideten Kranken. Am 15. Oct. wird die Besserung deutlicher. B. ist reinlich, und fängt nun an zu musiciren. Im Decbr. völlige Herstellung, lebhafte Physio - nomie, er zeigt eine schön entwickelte Intelligenz. B. vergleicht den Zustand, in dem er drei Monate lang war, mit einem langen Traum. Alles um ihn hatte sich verändert; er glaubte an eine Art allgemeiner Vernichtung; die Erde zitterte und that sich unter seinen Schritten auf, er war jeden Augenblick in Gefahr in einen Abgrund zu stürzen. Er hielt sich an den umgebenden Personen, um diese vor dem Sturz in Abgründe zu bewahren, welche ihm wie Vulcancrater er - schienen. Das Badezimmer hielt er für die Hölle und die Badewannen für Bar - ken. Das Vesicator hielt er für das Brandmal der Galeerensclaven, und sich da - durch für auf immer entehrt. Die umgebenden Personen hielt er für wiedererstan - dene Todte. Er sah seinen Bruder mitten in Qualen, er hörte der Hülferuf seiner Verwandten, die man erwürgte, und jeder Schrei war wie ein Dolchstich für ihn. Von allen Seiten ging Gewehrfeuer los, Kugeln durchbohrten seinen Leib, ohne ihn zu verwunden. Alles in seinem Kopf war Chaos, Confusion, Verwirrung. Er unterschied nicht mehr Tag und Nacht, die Monate schienen ihm Jahre etc. All dieses Unheils klagte er sich selbst an und desshalb suchte er sich zu tödten. Je mehr er litt, um so zufriedener war er, denn er hielt sein Leiden für die gerechte Strafe seiner Verbrechen. Im Beginn seiner Besserung trug ein Brief seines Bruders viel dazu bei, ihm richtige Ansichten über seine Lage zu verschaffen. (Baillarger, l. c.)

XII. Intermittirende Schwermuth während der Periode. An - haltende Schwermuth mit Stumpfsinn. Genesung. Frau M., 44 Jahre, tritt am 24. October 1842 in die Salpetrière. Selbstmordversuch während der Menstruation; schnelle Rückkehr der Besinnung und völliges Wohlbefinden zu Anfang des Novembers; die Kranke tritt aus, kurz darauf neues Delirium, am 25. November Rückkehr in die Salpetrière. Neuer Selbstmordversuch während der Men - struation. Die Kranke ist ruhig, unbeschäftigt; traurige, etwas stumpfe Phy - sionomie, unstäter Blick. Langsame, kurze Antworten, sie kann sich nicht zu - recht finden, weder Tage noch Monate mehr zählen, nichts klar denken; schwerer, müder Kopf. Traurigkeit, ohne dass sie angeben kann, warum; sie glaubt, viel191Melancholie mit Stumpfsinn.Unheil angerichtet zu haben, weiss aber nicht, welches. Alles um sie her ist verändert. Ohrensausen, Gehörshallucinationen, beim Einschlafen sieht sie Schatten, Gesichter etc.; plötzliches Aufschrecken; Verstopfung, ziemlich Ap - petit. Puls 100, Haut nicht heiss. Laxanzen, Ermunterung zur Arbeit, Zwang zum Spaziergang und Gesellschaft, Bäder, Besserung. Am 27. Decbr. Wieder - kehr der Regeln ohne Selbstmordversuch und ohne Verschlimmerung. Nach ihrem Aufhören schnelle Besserung, freiwilliger Antheil an häuslichen Geschäften, Ge - sprächigkeit. Am 6. Jan. wird sie ganz verständig gefunden, und gibt Fol - gendes an: Während der Delirien sah sie Feuer um sich und brannte selbst, ohne Schmerz zu empfinden, sie roch hässliche Gerüche, die Speisen hatten keinen Geschmack für sie. Die Nächte schienen ihr doppelt so lang als gewöhnlich. Sie hörte Stimmen um sich her, ohne die Worte unterscheiden zu können. Zuerst glaubte sie sich in einem Gefängniss, und hielt die Kranken (Weiber) für ver - kleidete Männer. Des Morgens sah sie die Gegenstände klarer, als Abends. Ganz im Anfang glaubte sie, man werde sie in Kessel voll siedenden Wassers werfen, sie hörte es sieden und glaubte zu hören, wie man Kohlen nachlegte. Ursache des Selbstmords war die völlige Umkehrung aller Dinge um sie, für deren Ursache sie sich hielt; sie hielt sich für Schuld an allen Beschwerden und Klagen der Kranken um sie herum, und hielt es desshalb für das Beste, zu sterben. (Baillarger, l. c.)

Viertes Capitel. Die Schwermuth mit Aeusserung von Zerstörungstrieben.

§. 102.

In diesen Zuständen erheben sich aus dem affectartigen Grund - zustande der Verstimmung, der Angst, überhaupt des psychischen Schmerzes, gewisse Triebe und Willensrichtungen, welche in äusseren Handlungen realisirt werden, sämmtlich von negativem, finsterm, feind - lichem, zerstörendem Character. Die negirenden Vorstellungen und Gefühle, die hier zu Bestrebungen werden, die Thaten, die aus ihnen hervorgehen, können theils gegen die eigene Person, theils gegen andere Menschen, theils gegen leblose Gegenstände gerichtet sein; je nach der Verschiedenheit der äusseren Handlung hat man diese Fälle als verschiedene Monomanieen (Mord -, Selbstmord -, Brand - stiftungs-Monomanie etc.) beschrieben. (Vgl. p. 62.)

A. Der Selbstmord.

Nicht die ganze psychologische und ätiologische Geschichte des Selbstmords gehört der Psychiatrie an; denn was auch einzelne192Der Selbstmord.Autoritäten sagen mögen*)Esquirol (l. c. p. 383): Ich glaube bewiesen zu haben, dass der Mensch nur dann sein Leben verkürzen will, wenn er delirirt, und dass die Selbstmör - der geisteskrank sind. Falret, de l’hypoch. et du suicide. 1822. p. 137. Esquirol drückt sich übrigens an andern Stellen seiner Schrift minder absolut aus. er ist nicht immer das Symptom oder Ergebniss einer psychischen Krankheit. Da ist er es nicht, wo die Stimmung des Lebensüberdrusses in einem gewissen richtigen Ver - hältnisse zu den gegebenen Umständen, zu den äusserlich nachweis - baren psychischen Ursachen steht (§. 33.). Wenn ein feinfühlender Mensch sich tödtet, um den Verlust seiner Ehre oder eines anderen, mit seinem geistigen Sein aufs innigste verwachsenen, hohen Gutes nicht zu überleben, wenn Jemand den Tod einem in tiefem Elend, in Schande, in stets sich erneuerndem geistigem und körperlichem Leiden hinzubringenden Leben vorzieht, so ist vielleicht seine Be - rechtigung hiezu von Seiten der Moral anzufechten, aber es liegt kein Grund vor, einen solchen für geisteskrank zu halten der Widerwille gegen das Leben und der Vorsatz der Selbstvernich - tung entspricht der Stärke der widrigen Eindrücke, und die That wird mit Besonnenheit beschlossen und vollführt.

Die Fälle dieser Categorie sind indessen entschieden die weit selteneren; meistens beruht der Trieb zum Selbstmorde entweder auf ausgebildeter Melancholie mit allen Zeichen derselben oder (noch häufiger) auf einem der Schwermuth wenigstens nahe stehenden Zu - stande mässiger, aber allgemeiner schmerzlicher Verstimmung, der auf der Grenze zwischen geistiger Gesundheit und Krankheit liegt. Die Disposition zum leichten Eintritt solcher psychischen Schmerz - zustände, die meist mit Erschöpfung, Kälte und Abstumpfung der Gemüths-Reaction zusammenfallen, ist ganz dieselbe, wie die Dispo - sition zu Geisteskrankheiten. Sind jene einmal eingetreten, so haften und herrschen sie freilich am ehesten da, wo ein schwaches Ich der Stimmung nur geringen Widerstand leistet (p. 41), erscheinen also oft wesentlich als Ergebnisse bestehender Characterschwäche; aber sie unterscheiden sich durch ihre Entstehung von innen heraus (§. 33.), durch den Mangel genügender psychischer Anlässe zu der That, oft durch deutliches Auftreten im Gefolge körperlicher Krank - heit, durch periodische, psychisch unmotivirte Exacerbationen, zu - weilen durch nachweisbare Erblichkeit, ganz wesentlich von dem Lebensüberdrusse, der das directe Ergebniss genügender psychischer Ursachen ist. Wo solche Verstimmungen das ganze psychische Leben beherrschen, da treten dem von selbst entstandenen oder äusserlich193Modificationen desselben.dargebotenen*)Nachahmung des Selbstmords. Gedanken des Selbstmords entweder gar keine hem - mende oder beschränkende Vorstellungen und Triebe entgegen, oder solche werden doch bald an jenem abgenützt und erschöpft, der in steter Wiederholung und mit der Hartnäckigkeit aller andern derartigen melancholischen Stimmungen sich immer wieder dem Ich aufdringt. Je unbedeutender also die äusseren Motive der That sind, je mehr sich im früheren Leben Ursachen oder schon einzelne Symptome beginnender Seelenstörung nachweisen lassen, je ungewöhnlicher ferner und je grausamer die angewandten Mittel der Ausführung sind**)Vgl. den schrecklichen Fall von Verhungern in Hufeland Journal 1819, den Fall des Matthieu Lovat, der sich selbst kreuzigte etc., um so eher hat man Grund, die That als Ergebniss einer krank - haften Verstimmung zu betrachten.

Zuweilen sieht man ganz plötzlich bei bisher Gesunden den Trieb zum Selbstmord, als eine Form des Raptus melancholicus, mit Um - neblung des Bewusstseins und allen Zeichen grosser Exaltation auf - treten (Fall XIII.). Weit häufiger kommen schnelle Entschlüsse zum freiwilligen Tod, denen unmittelbar die Ausführung folgt, ohne eine Spur von Delirium vor; bei näherer Untersuchung findet man alsdann sehr häufig, dass schon längere Zeit ein Zustand von Hypochondrie, von steter Reflexion auf den eigenen Gesundheitszustand vorausging, dass sich die Kranken über eine Unmöglichkeit, wie früher zu denken und zu wollen, über allgemeine Ermattung mit vagen Symptomen körper - lichen Uebelbefindens, namentlich einiger Verdauungsstörung beklagten. Mehr chronisch ist gewöhnlich der Lebensüberdruss, der als Spleen aus Blasirtheit auftritt, jene allgemeine Erschöpfung und Verödung des psychischen Lebens, die sich mehr als durch irgend eine andere Ursache, in Folge sexueller Erschöpfung einstellt, und der ganz ent - schieden durchaus nicht selten locale, organische Erkrankungen der Genitalien zu Grunde liegen***)Vgl. die schon mehrmals erwähnten Krankheitsgeschichten Lallemands.; auch ohne solche kommen ähnliche Verstimmungen bei Onanisten vor, und es scheint fast, als ob schon leichtere Störungen in der Geschlechts-Entwicklung nicht nur jene sehnsüchtig-hypochondrischen Seelenzustände, die nicht selten in der Pubertätsepoche auftreten, sondern bei einzelnen Individuen alsbald den Trieb zur Selbstentleibung wecken könnten.

Der Selbstmord kommt in allen Lebensaltern, vom 7. Jahre an, vor. Seine Erblichkeit und sein Alterniren mit anderen Formen des Irreseins in verschiedenen Generationen ist bereits (§. 71.) erwähnt. Griesinger, psych. Krankhtn. 13194Statistisches über den Selbstmord.Er ist unter Männern weit häufiger, als beim weiblichen Geschlecht. Die genaueren Statistiken der neuesten Zeit zeigen seine auffallende, stetig progressive Vermehrung. Für Berlin hat diess Casper nach - gewiesen; für Frankreich ergibt die officielle Statistik des Justiz - ministeriums in den 10 Jahren von 1827 bis 1837 die ausserordent - liche Zunahme um ein ganzes Viertheil. Bekannt ist die nicht seltene Verbreitung des Selbstmords durch Nachahmung, für welche von den milesischen Jungfrauen an, von denen Plutarch erzählt, bis zu dem bekannten Vorfalle im Pariser Invalidenhause und bis zu den p. 108 erwähnten Kinderselbstmorden zahlreiche Beispiele vorliegen. In allen Zeiten kamen auch die Doppelselbstmorde von Personen zweierlei Geschlechts und die mit vorausgegangenen Gewaltthaten an Anderen complicirten Fälle vor.

In dem Jahrzehend von 1827 37 betrug die Zahl der Selbstmorde in Frankreich 21,345; während es aber A. 1827 erst 1,542 (1: 20,660 Einw. ) waren, war die Zahl bis 1837 allmählig auf 2,443 (1: 14,338 Einwohner) gestiegen. *)Dufau, traité de statistique. Par. 1840. p. 298 seqq.Archambault**)Annal. med. psych. 1843. I. p. 174. versichert übrigens, dass diese Zunahme eine scheinbare sei und nur von der zunehmenden Sorgfalt und Genauigkeit der Sta - tistik herrühre. Unter den Selbstmördern des Jahres 1836 war bei einem Drit - theil (offenbares) Irresein vorhanden (Dufau, p. 306); die Gegenden Frank - reichs, welche die meisten Selbstmörder liefern, ergeben auch die grösste Zahl von Geisteskranken; diejenigen 10 Departements, welche in der Menge der Selbst - entleibungen oben anstehen, gehören übrigens zu den aufgeklärtesten und indu - striösesten und es sind durchaus nicht dieselben, in denen am meisten Verbrechen gegen Personen vorfallen. ***)A. Legoyt, La France statistique. Par. 1843. Tabl. E.Dass übrigens der Selbstmord auch unter den Landleuten in einem Verhältnisse, das dem der grossen Städte nahe kommt, häufig sein kann, hat Cazauvielh wenigstens für eine Gegend Frankreichs nachgewiesen. In der Mehrzahl der Fälle, welche die obige Statistik begreift, geschah die Entleibung durch Ertränken, darauf folgend durch Erhängen, und schon viel seltener durch Feuerwaffen; in England und Deutschland dagegen bil - deten die Erhängungen die grosse Mehrzahl. †)Quetelet, l. c. p. 479.Die Ausführung der meisten Selbst - morde fällt in die Morgenstunden;††)ibidem p. 491. vielleicht deutet diess darauf hin, dass die letzte Determination dieser Unglücklichen meistens in der Stille der Nacht erfolgt.

§. 103.

Die meisten Geisteskranken, bei denen der Trieb zum Selbst - mord vorkommt, leiden an einer ausgesprochenen Form von Schwer - muth. Die nähere psychologische Begründung des Triebs ist dann aber nicht immer dieselbe. Häufig ist es der unerträgliche Excess195Nähere Motive des Selbstmords bei Irren.einer allgemeinen, unbestimmten Angstempfindung, dem der Kranke durch jedes Mittel zu entgehen strebt; ein anderesmal verfällt er, indem er die Veränderung aller seiner Gefühle ins Widrige und Schreckliche, seine Ueberwältigung von traurigen und argen Vor - stellungen fühlt, in Verzweiflung über eine solche Unterjochung und hält sich eines vermeintlich ganz schlecht, verworfen und ruchlos gewordenen Lebens für fernerhin unwerth. Oder es kommt zu jenen dunkeln Vorstellungen allgemeiner Nichtexistenz, Vernichtung der Welt und damit auch der Nothwendigkeit der Selhstvernichtung. Viel - leicht am häufigsten aber sind es Hallucinationen, in denen sich die tiefe Verstimmung und die noch dunkeln Vorstellungen der Selbst - zerstörung sinnlich projiciren und nun dem Kranken, scheinbar von aussen, mit der Stärke und Wahrheit objectiver Anschauungen zu - kommen (Stimmen tödte dich! tödte dich! unmittelbare Befehle Gottes durch Gesichtshallucinationen etc.). Solche Antriebe kommen bei Melancholischen manchmal plötzlich und vorübergehend (einige Stunden, einige Tage dauernd) vor; mitunter tritt mit der miss - glückten Ausführung eine wesentliche Erleichterung und Remission ein, wie man in andern Fällen nach krankhaft motivirten Verletzungen und Unthaten an anderen Personen, die intensive Gefühlsbelästigung, die vorausging, aufhören und den Thäter sich vollständig beruhigen sieht. Einzelne Melancholische ergreifen listig den passenden Moment, um ihren längst feststehenden, aber wohl verborgenen Entschluss auszuführen; andere äussern offen, man möchte fast sagen, scham - los, ihren Hang, sich zu ermorden, und suchen ihn Wochen, Monate lang, durch jedes Mittel, mit Gewalt, oft vor den Augen der An - wesenden zu befriedigen.

Auch in anderen Formen des Irreseins, ausser der Melancholie, kommen Antriebe zu freiwilligem Tode vor; sie beruhen dann seltener auf Lebensüberdruss, als vielmehr auf allerlei, im engern Sinn wahn - sinnigen Ideen, den Märtyrertod für die Menschheit zu sterben, das Paradies, das in glänzenden Visionen vor ihnen offen liegt, zu be - treten etc.; doch treten zuweilen auch bei Verrückten noch inter - currente Anfälle von Neigung zur Selbstzerstörung aus intensivstem Lebensüberdruss als eine Form des Raptus melancholicus oder maniacus auf. Die Anstalt Winnenthal enthielt lange einen schwachsinnig - verrückten Kranken (Ideen, Kaiser von China zu sein und dergl. ), der von Zeit zu Zeit plötzlich, unter bedeutender Kopfcongestion, vom tiefsten Lebensüberdrusse befallen ward und nur durch anhaltende äus - sere Beschränkung von dem beständig intendirten Vorhaben des Selbst -13 *196Beispiele vonmords gerettet werden konnte; ein solcher Anfall dauerte 5 bis 6 Tage, verlor sich dann vollständig und Blutentziehungen am Kopfe schienen jedesmal wesentlich zu seiner Abkürzung und Milderung beizutragen. Vom Selbstmorde auszuschliessen sind die Fälle, wo Geisteskranke sich unabsichtlich, ohne sterben zu wollen, den Tod geben, wenn z. B. ein Maniacus im Delirium das Fenster für die Thüre hält und hinausgehen will, wenn ein Anderer aus dem Fenster springt, weil ihm Gott gesagt hatte, geh zum Fenster, du wirst wie ein Vogel fliegen *)Leuret, Fragments p. 290., oder wenn ein Wahnsinniger die Mission der allgemeinen Menschenbekehrung haben will, und sich zum Beweise für die Wirk - lichkeit seiner Sendung und für seine Unverwundbarkeit von einer Brücke herabstürzt und ertrinkt**)Falret, hypoc. et suic. p. 139.. Diess sind keine Selbstmorde; diese Kranken wollten sich nicht tödten.

XIII. Plötzlich auftretender Raptus zum Selbtmord mit Umneblung des Bewusstseins und ohne Rückerinnerung. Eine noch lebende Frau, jetzt (1821) drei und vierzig Jahre alt, hatte bis - her in glücklichen Verhältnissen und ausser einigem hysterischen Kopfschmerz und Dysmennorrhoe gesund gelebt. Bis zum Jahre 1804 wurde sie von keinem Unfalle betroffen. Ihr Mann liebte sie zärtlich, ihre Kinder, die sie zum Theil selber genährt hatte, wuchsen kräftig auf und ihre Vermögensumstände waren sehr gut. Am 24. Juli dieses Jahres aber, nachdem sie einige Tage zuvor an ihrem gewöhnlichen Kopfschmerz gelitten hatte, der jetzt aber schon ganz ver - schwunden war, sitzt sie Nachmittags Uhr anscheinend heiter auf dem Flur ihres Hauses und beschäftigt sich mit Nähen. Plötzlich und ohne die geringste Veranlassung springt sie auf und ruft: Ich muss mich ersäufen, ich muss mich ersäufen rennt darauf fort und gerade zu dem nicht weit von ihrer Wohnung entfernten Wallgraben der Stadt, in den sie sich auch ohne Zögerung hineinstürzt. Sie wurde sogleich wieder aus dem Wasser gezo - gen und, dem Scheine nach schon todt, in ihr Haus getragen. Ein schnell herbeigeeilter Arzt rief sie zwar bald wieder in das Leben zurück, doch blieb sie stumm und starrte mit offenen, fest auf einen Punkt gerichteten Augen vor sich hin, ohne auf das, was um sie vorgieng, weiter zu achten. Ich sah sie erst am 27. Juli Abends. Sie hatte während dieser seit dem Anfalle verflossenen Tage zwar Alles ruhig mit sich vornehmen lassen. auch Arzneien niedergeschluckt, dennoch aber kein Wort gesprochen, weder gegessen noch getrunken, nicht ge - schlafen und keine Theilnahme an irgend etwas bewiesen. Als ich spät Abends zu ihr kam, lag sie im Bette und seufzte beständig. Auf meine Anrede fuhr sie zusammen und rief meinen Namen aus. Es wurde Licht gebracht und da sie mich erblickte, fragte sie: Mein Gott, wo bin ich, und was ist mit mir vorgefallen? worauf sie heftig zu weinen anfieng. Ich beruhigte sie; nachdem sie ihren Mann noch wieder erkannt und mit ihm gesprochen und nach ihren Kindern gefragt hatte, schlief sie ein und ruhte ungestört bis zum Morgen.

197Selbstmordtrieb.

Nach dem Erwachen hatte sie sogleich heiter nach allem gefragt und mit Erstaunen von ihrem Versuch sich zu ertränken und von der Gefahr, in die sie dadurch gekommen war, gehört. Bei meinem Eintritte Morgens fragte sie mich lachend, was ich wohl von ihr gedacht und gesagt habe und begehrte zu wissen, wie sie zu dem thörichten Einfalle sich ertränken zu wollen habe kommen können, ohne selbst weiter etwas davon zu wissen, oder irgend einen Grund dafür angeben zu können. Sie ist seither ungeachtet mehrerer Wochenbetten, manchen Unruhen und Schrecken niemals wieder von einem ähnlichen Gedanken befallen worden, und abgerechnet ihre hysterischen Beschwerden und den be - schwerlichen Monatsfluss, immer gesund, heiter und lebenslustig geblieben.

(Mende in Henke Zeitschrift für die Staatsarzneikunde. 1821.)

XIV. Trieb zum Selbstmord aus verborgen gehaltenen Halluci - nationen. Ein junger Mann, der ein sehr grosses Vermögen besass, hatte sich der Onanie ergeben, befand sich jedoch vollkommen wohl. Er hatte keine andere Ursache zum Kummer, als die Rückerinnerung an die Revolution, deren Prin - cipien er missbilligte, und hatte schon mehrmals versucht sich das Leben zu nehmen und zwar mit Pistolen, da er sich durch nichts Anderes tödten wollte. Er befand sich zwei Jahre lang unter meiner Aufsicht, hatte während dieser Zeit nicht einen Augenblick irre gesprochen, sondern war heiter, liebenswürdig, sehr unterrichtet und sagte mir manchmal: Geben Sie mir eine Pistole! Warum wollen Sie sich denn tödten? Weil ich mich langweile. Erst nach zwei Jahren gestand er mir, dass er seit langer Zeit Hallucinationen des Gehörs und Gesichts habe. Er glaubte von Polizeiagenten verfolgt zu sein, die er immer hörte und sah, selbst mitten durch die Mauern seines Zimmers, die, wie er hinzu - fügte, aus zwei doppelten verschiebbaren Brettwänden bestanden, damit man Alles sehen und hören könne, was er thue und was er sage.

(Esquirol, übersetzt von Bernhard. I. p. 322.)

XV. Vager Trieb zum Selbstmord, entstanden durch heftige Furcht bei körperlicher Erschöpfung. N., ein Schnei - der, 31 Jahre alt, verfiel durch Onanie in tiefe Entkräftung und musste sich später wiederholten Mercurialcuren unterwerfen. Beim Ausbruch der Cholera im Jahre 1831 wurde er durch das Gerücht, dass man die Kranken mit Zangen aus ihren Wohnungen ziehe und sie auch ausserdem äusserst grausam behandle, dergestalt mit Entsetzen erfüllt, dass er in Ohnmacht fiel und mit der Cholera behaftet zu sein glaubte. Er konnte Anfangs vor Angst nicht arbeiten, des Nachts nicht schlafen und gerieth bei der Vorstellung, dass auch er einer so schrecklichen Behandlung sich werde unterwerfen müssen, ganz ausser sich; ja er brachte die Nächte bei Bekannten zu, weil er fürchtete in ein Choleralazareth abgeholt zu werden. Bei der Arbeit wurde er aus Angst von Gliederzittern be - fallen, welches er für einen Vorläufer der Cholera um so mehr hielt, da er hörte, dass die Furcht dazu disponire. Der Appetit verging ihm und er scheute sich viel zu essen, weil die Menge der Speisen und die meisten Arten derselben ihm schädlich seien, ja er schwächte durch vieles Hungern seine Verdauung sehr. Unaufhörlich von Furcht gequält schlief er wenig, träumte viel von Er - mordungen, Leichenzügen; bei Tage wagte er nicht auszugehen aus Furcht vor der Krankheit und vor der Polizei. Diese Pein versetzte ihn in eine so reizbare Gemüthstimmung, dass er durch den Anblick des Schlachtviehes sehr gerührt wurde, weil er sich vorstellte wie demselben das Messer an die Kehle gesetzt198Beispiele von Selbstmordtrieb.werde. Als er sich endlich etwas von dieser Angst erholt hatte, hörte er eines Tags einen Schuss fallen, worüber er heftig erschrak, weil er glaubte, dass sich jemand entleibt habe. An dem nämlichen Abend erfuhr er, dass in der Nachbarschaft jemand sich den Hals abgeschnitten habe. Seine Angst erreichte nun wieder einen hohen Grad, so dass er des Nachts nicht schlafen konnte, indem er stets daran dachte, wie der Selbstmörder zu seiner That gekommen sei, welche Theile des Körpers er durchschnitten habe. Vergeblich bemühte er sich diese Vorstellungen zu verbannen, welche durch die entfernteste Ver - anlassung aufs Neue hervorgerufen wurden, z. B. durch einige kopflose Bild - säulen im königlichen Museum, welche ihm das Bild von Enthaupteten vorspie - gelten. Wenn er ein Messer liegen sah, war es ihm, als müsse er sich den Hals abschneiden, trotz seines Abscheues davor und seiner Liebe zum Leben. Hatte er ein Messer in der Hand, so zitterte er, warf es weg, oder legte es unter den Teller, um es nicht zu sehen. Unaufhörlich dachte er an gewaltsame Todesarten; sah er einen Strick, so kam ihm der Gedanke des Erhängens in den Sinn; ging er über eine Brücke, so war es ihm, als müsste er ins Wasser springen, daher er sie nie am Geländer, sondern in der Mitte mit schnellem Laufe passirte, um nicht bei langsamen Gehen wider Willen fortgerissen zu werden; stand er an einem Fenster, so fühlte er einen Antrieb hinauszuspringen und wich voll Entsetzen zurück. Man rieth ihm Messer und Pistolen zu ergreifen, um sich an den Anblick zu gewöhnen, aber er konnte es vor Angst nicht über sich gewinnen. Nachdem die Angst ihn lange gefoltert hatte und zuletzt auf den höchsten Grad gestiegen war, willigte er selbst gerne ein, sich in die Charité aufnehmen zu lassen. Auch hier dauerte sein Zustand noch lange Zeit; endlich gelang aber seine vollständige Heilung durch anhaltende körperliche Arbeit und durch Sturzbäder. (Ideler. Mare, übersetzt von Ideler. I. p. 196.)

XVI. Selbstmord aus Angst und Hallucinationen. Ein früherer Militär, 38 Jahre alt, bricht beide Beine, welche ihm beide amputirt werden; er wird finster und verfällt in einen Anfall von Manie; er hört Stimmen, die ihn ohne Unterlass beleidigen, verfolgen, mit dem Tode durch Erschiessen bedrohen; darauf erfolgen Antworten, die er an die Stimmen richtet. Dieser Zustand von Hallucinationen und Angst dauert 10 Monate, ungeachtet aller möglichen Mittel; der Kranke concentrirt sich immer mehr auf seine falschen Empfindungen er verweigert hartnäckig die Nahrung, um sich diesen Qualen zu entziehen die Stimmen fordern ihn auf nicht mehr zu essen .... Man muss ihn mit Gewalt ernähren je elender er wird, um so stärker scheinen die Stimmen zu werden, endlich stirbt er an Erschöpfung.

(Sc. Pinel, pathol. cérébr. Par. 1844. p. 212.)

XVII. Ich behandle gegenwärtig ein Mädchen, die durch einen heftigen Sturz auf das os sacrum einen Vorfall der Gebärmutter erlitt und plötzlich von einer tiefen Traurigkeit, mit den sonderbarsten Verirrungen der Vorstellungen und einer Neigung zum Selbstmord befallen wurde, so oft durch irgend eine Anstrengung der Hals des uterus an der Mündung der vagina sich zeigte, oder durch sie heraustrat. Der Gebrauch eines Pessariums liess diese merkwürdigen Anomalieen verschwinden.

(Guislain, Phrenopathien, übersetzt von Wunderlich. 1838. p. 282.)

199Dritte Form der Schwermuth.

B. Melancholische Zustände mit Trieben zur Zerstörung und Verletzung Anderer.

§. 104.

Direct und unmittelbar an die schwermüthigen Antriebe zur Selbst - vernichtung schliessen sich die krankhaft entstandenen Triebe zur Zerstörung und Verletzung anderer Menschen oder lebloser Objecte an. Nicht nur kommen beide häufig zusammen vor, nicht nur haben die hierhergehörigen Gewaltthaten gegen Andere, insoferne sie häufig gerade an dem dem Kranken Liebsten und Theuersten begangen werden, alsdann ihrer inneren Begründung nach die wesentliche Be - deutung einer Selbstverletzung und Selbstverstümmlung; beide beruhen auch überhaupt auf demselben Grundzustande der krank - haften negativen Affecte, und bei beiden wiederholen sich die ein - zelnen Verschiedenheiten der näheren, krankhaften Motivirung.

Was zuerst die psychische Begründung solcher Gewaltthaten bei früher schon entschieden Schwermüthigen betrifft, so gehen solche Antriebe zum Theil aus einem wirklichen Delirium des Vor - stellens oder der Sinnesperception hervor. Hierher gehören die Fälle, wo die Kranken sich von Anderen verfolgt oder überhaupt beein - trächtigt glauben*)So z. B. die mehrfach vorgekommenen Fälle, wo Hypochondrisch-Ver - rückte Mordangriffe auf ihre Aerzte machten. Vrgl. Marc, übers. v. Ideler. II. p. 9. Ueberhaupt wollen wir auf die reichliche Sammlung von Fällen, die diese Schrift enthält, für dieses ganze Capitel verweisen., wo sie vorhandene Gehörs-Hallucinationen von angreifendem, beschimpfendem Inhalt gewissen Personen zuschreiben, und an solchen dann wirkliche Rachehandlungen begehen. Diesen stehen jene Gewaltthaten sehr nahe, die auf der entschieden melan - cholischen Vorstellung beruhen, dass Alles in der Welt durchaus schlecht, verworfen und verloren sei, dass z. B. die unschuldigen Kinder dem Elend dieser Welt am Besten durch einen frühen (ge - waltsamen) Tod entzogen würden, oder dass ungeachtet kein Grund zu solcher Besorgniss vorliegt alle Mittel zur weiteren Existenz er - schöpft seien, und Alles demnächst in Hunger und Elend zu Grunde gehen müsse etc. Derlei dunklere oder bewusstere Vorstellungen projiciren sich nicht selten in Hallucinationen, die direct zum Mord (von Kindern, Gatten etc.) auffordern, und es schliessen sich an sie jene Gehörs - hallucinationen fanatisch-religiösen Inhalts (Stimmen Gottes, vom Himmel etc.) an, welche dem Kranken eine Nachahmung des Opfers200Schwermuth mit Mord -Abrahams und dergl. befehlen. Solchen liegt der dunkle Gedanke der Nothwendigkeit eines fremden, den Kranken selbst aber wesentlich mitbetreffenden, Sühnopfers für imaginäre eigene, schwere Ver - brechen zu Grunde, während in andern Fällen eine solche Unthat von dem Kranken, der sich selbst für einen verworfenen Bösewicht hält, in der Absicht begangen wird, sich die vermeintlich wohlver - diente Todesstrafe zuzuziehen.

Für sehr viele dieser und der zum folgenden §. gehörigen Fälle ist ein, schon beim Selbstmord (p. 195) erwähnter Umstand sehr wichtig und characteristisch, nemlich die Befreiung des Individuums von seinem schmerzlichen Affect und seinen schrecklichen Vorstellungen dadurch, dass die That vollbracht, ihm objectiv geworden ist (p. 34), jene Erleichterung und Beruhigung, welche der Kranke durch die Ent - äusserung seiner Stimmung mit dem Vollbringen der That gewinnt, das, was man auch schon die critische Bedeutung solcher Thaten genannt hat. In folgenden, noch sehr einfachen Fällen sind ver - schiedene Modificationen einer derartigen Erleichterung krankhafter, schlimmer Neigungen zu erkennen; ganz Aehnliches kommt oft nach der wirklichen Ausführung von Mordthaten aus melancholischen Motiven vor.

XIX. Ein Fall von Melancholie zeigte einen Character, der nicht ungewöhn - lich ist und der in höheren Graden und bei voller Ausbildung eine Form mora - lischer Manie abgibt. Die Patientin, eine verheirathete Frau, 45 Jahre alt, war in Folge von ängstlicher Gemüthsart in einen Zustand tiefer Schwermuth mit beständiger Angst verfallen. Sie gab an, wo sie immer von einem Verbrechen höre oder lese, fühle sie eine heftige Versuchung es auch zu begehen, aber zugleich auch eine obenso heftige Furcht vor der Ausführung; unmöglich könne sie alle die grässlichen Dinge angeben, die ihr durch den Kopf gehen. Sie setzte bei, dass jede Gewaltthätigkeit, in Rede oder That, die sie an ihren Kindern oder ihrer Umgebung verübe, ihr eine bedeu - tende Erleichterung verschaffe, und dass sie nun die grösste Mühe habe, sich zu beherrschen. Die Kranke genas unter dem Gebrauch verdünnter Schwefelsäure, Opiumtinctur, Digitalis, Quassia-Jnfus und eröffnenden Mitteln.

(Guy; Kings-College annual. reports. 1841. Lond. Med. Gaz. Septbr. 1842.)

XX. Ein Kranker, der an Fissura ani und Spermatorrhoe mit vorüber - gehenden Kopfcongestionen leidet, verfällt nach[und] nach in Melancholie. Er verabscheute den Selbstmord und ein böser Genius schien ihn beständig dazu zu treiben; der Anblick von spitzigen Körpern oder Schiessgewehren machte ihn zittern und erweckte in ihm einen Trieb zu tödten, von dem er sich nur befreien konnte, indem er sich einen heftigen Schmerz erregte, z. B. einen Theil seines Körpers heftig kneipte. Die Zuvorkommenheit seiner Umgebung erwiederte er mit Grobheit. Er verab - scheute das Böse und fühlte sich wider Willen dazu getrieben:201und Zerstörungstrieben.so fand er einen Genuss darin, eine Frau, die er sehr liebte, zu quälen und dann weinen zu sehen.

(Lallemand, des pertes seminales. I. p. 251.)

§. 105.

Aehnlich einem der mitgetheilten Fälle von Selbstmordtrieb (Nro. XIII), kommen auch bei bisher wirklich oder scheinbar Gesunden plötzliche, mit Umneblung des Bewusstseins verbundene Anfälle heftigster Angst mit schrecklichen Hallucinationen vor, in denen der Kranke in jähe blinde Wuth gerathen und Alles, was ihm in den Weg kommt, niederhauen und zerstören kann. Diese Fälle, ihrer Aeusserung nach freilich zur Form der Tobsucht gehörig, in ihrer psychologischen Begründung aber heftige Ausbrüche melan - cholischer Angst, überhaupt krankhaft entstandener negativer Affecte darstellend, finden in ihrem Mangel an reeller psychischer Motivirung nächste Analogieen an den plötzlichen Anfällen der tiefsten Angst, und des heftigsten Seelenschmerzes, die man zuweilen als Vorläufer epileptischer Anfälle beobachtet hat*)S. das Capitel von der Epilepsie..

Fast ebenso dunkel in Bezug auf ihre innerliche Begründung, und doch von höchster Wichtigkeit für die Rechtspflege sind jene Fälle, wo bisher psychisch Gesunde bei vollem Bewusstsein, oft ganz schnell und ohne äussere Anlässe, von ängstlichen, schmerzlichen Affecten und einem, ihnen selbst unerklärlichen Gelüste nach Mord befallen werden. Hier sind indessen zwei Categorieen von Fällen zu unterscheiden.

Einmal diejenigen, wo solcher Trieb zum Blutvergiessen in bis - her heitern, frohen und liebenden Gemüthern plötzlich, ohne allen Anlass aufsteigt und sich zähe anhaltend immer und immer in alle Gedankenkreise eindrängt. Hier entsteht nun meist ein tiefer, trau - riger Zwiespalt des Bewusstseins, ein Kampf und Sturm der peinlichsten Affecte um die neuen, schrecklichen Vorstellungen, gegen welche der ganze bisherige Gehalt des Ich mit all der, bei verschiedenen Menschen freilich sehr verschiedenen Kraft, die ihm zu Gebote steht, sich zur Wehre setzt. Der Niederlage des Ich in diesem Kampfe kann sich dann der Mensch oft nur durch Flucht in die Einsamkeit, wo der Trieb kein Object mehr findet, entziehen; nach einiger Zeit können dann jene Vorstellungen ebenso schnell, als sie aufstiegen, wieder versinken, und der Mensch ist wieder ganz der Alte; er weiss kaum wie ihm geschehen ist, was für ein schwerer, grässlicher Traum ihn202Beispiele von Schwermuthgedrückt hat, und er athmet tief auf, dass er so glücklich vorüber - ging. Anderemale aber zum Glück hier seltener unterliegt das Ich, und der Unglückliche begeht das Verbrechen, ohne den mindesten Gewinn, mit der sichern Aussicht auf Schande und Elend, ja in der gewissen Erwartung eines schimpflichen Todes durch Hinrichtung, der ihm aber gegen die jetzige Angst und Seelenqual, welche um jeden Preis aufhören muss, als ein Leichtes und als eine Wohlthat erscheint.

XXI. M. R., ein ausgezeichneter Chemiker und liebenswürdiger Dichter, von einem an sich sanften und geselligen Character, meldete sich selbst als Gefan - gener in einem Krankenhause des Faubourg St. Antoine. Von dem Antriebe zum Morden gequält, warf er sich oft vor den Altären nieder, und flehte Gott um Befreiung von dieser scheusslichen Neigung an, über deren Ursprung er sich niemals Rechenschaft ablegen konnte. Wenn der Kranke spürte, dass sein Wille auf dem Punkte stand, jenem Antriebe nachzugeben, eilte er zu dem Vor - steher der Anstalt, und liess sich beide Daumen mit einem Bande zusammenbin - den. Dies schwache Band reichte hin, den unglücklichen R. zu beruhigon, wel - cher dennoch zuletzt einen meuchelmörderischen Angriff auf seinen Wächter machte, und hierauf in einem Anfalle der heftigsten Wuth starb. R. hinterliess eine Reihe von Briefen, in denen er sich bemühte, seine inneren Empfindungen zu schildern. Sie thun dar, dass der Antrieb zum Morden sich bei ihm auf kein Motiv, auf kein Raisonnement gründete, und daher völlig instinctartig war. Diese sehr interessanten Briefe, welche ich zu einem grossen Theil gelesen habe, kamen in die Hände des Dr. Gall, und sind unglücklicherweise verloren gegangen. (Marc. übersetzt von Ideler. I. p. 169.)

XXII. Catharine Olhaver, auf einem