Ich habe ſtets den alten Ausſpruch fuͤr weiſe gehal - ten, man muͤſſe die menſchlichen Dinge nicht bewei - nen, nicht belachen, man muͤſſe ſie zu verſtehen trach - ten. Vielleicht iſt er Miturſache, daß ich der kraͤf - tigen Aufforderung unſerer Gegenwart, beachtet zu werden, nie auf die Dauer widerſtanden habe. Es ſchien mir immer mehr, der Augenblick ſey groß oder gemein, je nachdem man ihn behandelt und verbin - det, und der Unterſchied der ſo genannten gluͤcklichen und ungluͤcklichen Zeitalter liege am Ende darin, daß die einen fuͤr ſich ſelber etwas zu bedeuten ſcheinen, die andern aber im Zuſammenhange mit dem Ganzen unſerer Entwickelungen wirklich etwas um ſo Groͤße - res bedeuten. Der freiere Blick auf eine lange und immer zuſammenhaͤngendere Strecke von den Bahnen der Menſchheit iſt dieſem Zeitalter zu Stab und Stuͤtze gegeben. Weil ich dieſem Gedanken folgte, und ich weiß ſelber nicht zu ſagen ihn feſthielt, oder er mich, ſo war ich, ohnehin wenig geneigt durch die Schrift zu reden, leicht entſchloſſen, allen Apparat,IV literariſchen und gelehrten, der mein Fahrzeug zu uͤber - frachten drohte, zuruͤckzudraͤngen und von Gegen - ſtaͤnden, die mir an ſich ſelber wichtig ſchienen, ein - fach ohne Zuthat zu reden, kurz, wenn ich glaubte, ein Verhaͤltniß laſſe ſich wohl muͤndlich oder anders - woher bequem ergaͤnzen, oder ſey von einem allgemei - nen Standpunkte uͤberhaupt nicht der ſchließlichen Erledigung faͤhig, in unbekuͤmmerter Ausfuͤhrlichkeit, wo es mir darauf anzukommen ſchien einer leitenden Idee ihr Recht zu thun. Auch meinen Zuhoͤrern wird, wenn ſie dieſes Buch zur Hand nehmen wollen, ge - rade dieſe Behandlung einen Dienſt erweiſen koͤnnen. Im Uebrigen wuͤnſche ich denn freilich, daß dieſer Band und der andere, der noch folgen mag, auch an ſich ſelber etwas bedeuten, nicht bloß unſerer Buͤ - cherſchaar als vermehrendes Mitglied ſich anſchließen moͤge. Ich ſchicke ihn mit der Hoffnung in die Welt, daß er allen politiſchen Secten misfallen werde.
Goͤttingen, Auguſt 1835.
Berichtigungen.
S. 60. zu 77. Ende. Den Titular-Adel hob erſt der 20. Jul. 1790. auf, die Ritter-Orden der 30. Oct. 1791.
— 63. Z. 10. f. Baronets l. Barone.
1. Dem Staate geht kein Naturzuſtand voran, der von blinden Trieben und vernunftloſen Menſchen handelt. Der Naturſtand des Menſchen iſt Vernunft zu beſitzen, ein Über und ein Unter ſich zu unterſcheiden.
2. Der Staat iſt alſo keine Erfindung, weder der Noth noch der Kunſt, keine Actiengeſellſchaft, keine Ma - ſchine, kein aus einem frei aufgegebenen Naturleben her - vorſpringendes Vertragswerk, kein nothwendiges Übel, kein mit der Zeit heilbares Gebrechen der Menſchheit, er iſt eine urſpruͤngliche Ordnung, ein nothwendiger Zuſtand, ein Vermoͤgen der Menſchheit und eines von den die Gattung zur Vollendung fuͤhrenden Vermoͤgen.
3. Der Staat iſt uranfaͤnglich. Die Urfamilie iſt Urſtaat; jede Familie, unabhaͤngig dargeſtellt, iſt Staat. „ Der Menſch iſt von Natur ein Staatsweſen. “ (Ariſtoteles).
4. Was man in der Beſchreibung ungebildeter Voͤlker Naturſtand nennt, iſt nur ein minus der Staatsthaͤtigkeit, das aus einem unentwickelten Bewußtſeyn des Staates ſtammt. Man kann mehr Volk als Staat ſeyn, aber man1*4Einleitung.kann nicht Volk ohne Staat ſeyn. Die Aufgabe iſt, den Staat im Volks-Bewußtſeyn zu vollenden.
5. Die Annahme eines Naturſtandes iſt als Behelf der Demonſtration, als ein bewußtes Abſehen vom Staate, um ihn demnaͤchſt frei aus der menſchlichen Beſchaffenheit entſtehen zu laſſen, nicht zu verwerfen. Wird aber der Naturſtand mit poſitiven Eigenſchaften ausgeruͤſtet (unge - ſellig, geſellig, gleichguͤltig), ſo wird eben dadurch der Staat aus einer uͤbermaͤchtigen, uͤbermenſchlichen Ordnung zum Geſchoͤpfe menſchlicher Willkuͤhr.
6. Denn der Staat iſt nicht bloß etwas Gemeinſames unter den Menſchen, nicht bloß etwas Unabhaͤngiges, er iſt zugleich etwas Zuſammengewachſenes, eine leiblich und geiſtig geeinigte Perſoͤnlichkeit. Die Familie, unabhaͤngig gedacht, iſt Volk und Staat in voͤlliger Durchdringung beider. Durch mehrere Familien im Staate entſteht die Moͤglichkeit mehrerer Staaten; von nun an weichen Volk und Staat freier aus einander. Es braucht weder ein ganzes Volk ſich in demſelben Staate abzuſchließen; tren - nen doch oft Welttheile die Mitglieder deſſelben Hauſes; noch duldet es die ſchon maͤchtiger ſchaltende Geſchichte, daß uͤberall der Staat aus einer blutsverwandten Volks - natur erwachſe, noch, wenn erwachſen, unvermiſcht fort - beſtehe. Volk und Bevoͤlkerung unterſcheiden ſich fortan haͤufig, und der Staat iſt etwas anderes geworden, als bloß die Form des Volkes.
7. Gleiche Volksart von Haus aus, das will ſagen, ein koͤrperlich und geiſtig gleichartiger Menſchenſchlag, gleiche Sprache als Zeugniß ſeit Jahrhunderten gleichverſtandener5Die Menſchheit und der Staat.Lebenserfahrungen, geben eine gluͤckliche Naturausſtattung auf dem Wege zur Staatsausbildung. Aber die Geſchichte hat von jeher haͤufig die ſtille Ur-Bildung der Natur unterbrochen, verſchiedenartige Staͤmme und Volksthuͤmlich - keiten uͤber einander geſchichtet und aus der Vermiſchung manchmal eine zweite gelungenere Natur und gediegene Staatsbildungen gewonnen. Aus Pelasgern, Thrakern, Achaͤern, Joniern erwuchs das lebensvolle Volk von Attika und ſeit das Chriſtenthum unſerm Welttheile Einheit der Religion gab, konnte ſelbſt Britten, Roͤmern, Sachſen, Normannen, nachdem die furchtbaren Kriſen des erſten Zuſammentreffens uͤberwunden waren, der Staat von England gelingen. Tritt ſo das Band der urſpruͤnglichſten Blutsverwandtſchaft allmaͤhlig zuruͤck, ſo verſtaͤrkt ſich da - gegen das Band des oͤrtlichen Zuſammenſeyns mit dem Wachsthum der Bildung. Das unbeſtimmte Heimathsge - fuͤhl der Natur-Voͤlker, welches hauptſaͤchlich Liebe zu den Genoſſen und zu gewiſſen Lebensarten iſt, ſteigert ſich mit dem Fortruͤcken der Bildung und namentlich durch Werke der bildenden Kunſt zur oͤrtlichſten Vaterlandsliebe. Voͤlker - wanderungen hoͤren auf.
8. Die uͤbermaͤchtige weltliche Ordnung, welche den Menſchen in ein Volk ſetzt, indem ſie ihn in einer Familie geboren werden laͤßt, nimmt aber ihre Macht nicht aus ſich ſelber und hat ihren letzten Zweck nicht in ſich. Sie dient vielmehr einer hoͤher ſtehenden Ordnung, welche jedem einzelnen Staate und allen Staaten mit einander uͤberlegen iſt. Wir glauben an ein großes gemeinſames Werk der Menſchheit, zu welchem das einzelne Staaten-Leben nur die Vorarbeiten liefert, an eine auch aͤußerliche Vollendung der menſchlichen Dinge am Ende der Geſchichte. Das6Einleitung.zwar hat die Lehre vom Staate nicht zu unterſuchen, wie es denn gekommen ſey, daß die Menſchheit von Anfang her ſo ſchief gegen das Licht ſteht, daß ſie bei jedem Schritte einen langen Schatten wirft, warum Familien-Vortheil und Staats-Wohl ſich ſo mannigfach bekaͤmpfen, und warum, was die hoͤchſten Beziehungen angeht, Eines gut ſeyn kann (dem Sittengeſetz des Individuums entſprechend), ein Anderes aber recht (dem Gebot des Staats entſpre - chend). Die Staatslehre hat den Grund der ethiſchen Ver - haͤltniſſe nicht aufzudecken, ſie ſoll dieſelben anerkennen, und diejenigen aͤußerlichen Einrichtungen ausbilden, welche die - ſen Zwieſpalt zu vermindern dienen, indem ſie den Staat der hoͤheren verſoͤhnenden Sitte empfaͤnglich machen. Der Einzelne aber muß zuvor in ſeinem eigenen Weſen die billig herrſchenden Gewalten von den billig dienenden un - terſcheiden lernen, ehe er von Staatsſachen zu urtheilen unternimmt.
9. Darum iſt die Errichtung des rechtlichen Zuſtandes, wie er denn auch beſchaffen ſey, freilich Sache des Staa - tes, aber nicht letzter Zweck des Staates. Darum aber auch tritt der Staat als ſolcher nicht an die Stelle der goͤttlichen, unbedingt zu befolgenden Ordnung, und es kann die Vorſchrift nicht vor der Wahrheit beſtehen, daß die aͤußere Pflicht vor der ſittlichen erfuͤllt werden muͤſſe; wiewohl nichts auf der Erde der goͤttlichen Ordnung ſo nahe ſteht als die Staatsordnung.
10. Der ſeiner hoͤheren Beſtimmung getreue Menſch bringt dem Staate jedes Opfer des Eigenthums und der Perſon, nur nicht das Opfer ſeiner hoͤheren Beſtimmung ſelber; alles ſein Recht mag er hingeben, nur nicht das,7Die Menſchheit und der Staat.woruͤber er kein Recht hat. Das iſt der Ruhm und die Gefahr der menſchlichen Dinge, daß der Einzelne am Ende unberechenbar gegen den Staat ſteht.
„ Ueber die Seele kann und will Gott Niemand laſſen regieren, denn ſich ſelbſt allein. “
11. Der Staat inzwiſchen darf keine Macht in ſeinem Innern geſtatten, die ſich gegen ſeine Rechtsanſtalten er - hebt. Der ſchlechte Staat bedient ſich zu dem Ende ledig - lich ſeiner Gewalt, verſchlingt die Familie mit der Macht ſeines Geſetzes, legt ſich ein Obereigenthum bei, dringt jeder Regel jede Ausnahme auf. Der gute Staat hinge - gen, weit entfernt das Privat-Recht zu zerſtoͤren, ſtallt es unter den Schutz des oͤffentlichen Rechts, und legt dem Eigenthum und den Perſonen allein diejenigen Beſchraͤn - kungen auf, welche das oͤffentliche Wohl erfordert. Durch dieſen entſcheidenden Schritt der Gewaͤhrleiſtung des Privat - Rechts ſoͤhnt er das ſelbſtſtaͤndige Weſen der Familien mit den Schuldigkeiten des Staatsrechtes aus, die Regierung ſtellt ſich hoch uͤber der Bevoͤlkerung auf; alle ferneren Zwiſtigkeiten kaͤmpfen ſich in kleineren Kreiſen durch, be - drohen die Geſammt-Ordnung nicht.
12. Da die Menſchheit kein anderes Daſeyn hat als dieſes, welches im ſteten Entwickelungskampfe raͤumlich und zeitlich begriffen, in unſerer Geſchichte vorliegt, ſo entbehrt eine Darſtellung des Staates, welche ſich der hiſtoriſchen Grundlagen entaͤußert, aller ernſten Belehrung, und gehoͤrt den Phantaſieſpielen an. Der Idealiſt, zeit - und ortlos hinſtellend was den guten Staat bedeuten ſoll, loͤſet Raͤthſel, die er ſich ſelber aufgegeben hat; er vollbringt mit Men - ſchen, die es nie gegeben hat, die Aufſtellung einer Gegen -8Einleitung.wart, welche keine Faͤhigkeit zu ſeyn beſitzt. Die Politik muß, um lehrreich zu ſeyn, ihre Aufgaben nicht waͤhlen, ſondern empfangen, wie ſie im Drange von Raum und Zeit hervorgehen aus jener tiefen Verſchlingung der geſun - den Kraͤfte der Menſchheit mit allem dem krankhaften We - ſen, welches in der phyſiſchen Welt Übel, in der morali - ſchen Boͤſes heißet. Die Politik iſt Geſundheitslehre, nicht weil ſie Geſundheit geben, ſondern weil ſie die Urſachen der Krankheit entdecken und oft vermindern kann.
13. Darum mag auch ſelbſt die Erklaͤrung, was der Staat bedeute, in den Fluß der Zeit hingeſtellt ſeyn. Der Staat kann erſcheinen lediglich unter dem Charakter eines aͤußerlich unabhaͤngigen Menſchen-Vereins, der nicht ein - mahl vollſtaͤndige Familien zu beſitzen braucht 1), geſchweige feſten, oder uͤberhaupt nur eigenen Boden, der aber doch immer, um ein Verein (nicht mehrere) zu ſeyn, eine Anzahl gemeinſamer Obliegenheiten, durch eine Regie - rung gewahrt, enthalten muß. Er kann aber auch, wenn alle Bedingungen als guͤnſtig angenommen werden, ſich geſtalten als: ein unabhaͤngiger Verein von koͤrperlich und geiſtig gleichartigen unter demſelben Geſetze lebenden Fami - lien, welcher, nachdem er fortwachſend einen fuͤr eine dichte Bevoͤlkerung ausreichenden Boden und ſtarke anerkannte Grundlagen ſeines aͤußern Lebens gewonnen hat, und nun ausgewachſen iſt, auch ſeinen innern Frieden findet, indem die wachſende Vielgeſtaltigkeit ſeines Gemeinweſens der Regierungs-Einheit nie entbehrt, und was nuͤtzlich, was wahr und ſchoͤn und heilig unter den Menſchen iſt, zu einer dieſem Volk eigenthuͤmlichen, und mit bewußtem Fortſchrei - ten jede Volks-Claſſe fortbildenden Darſtellung kommt. — Denn zur Darſtellung des weltlich Guten gehoͤrt auch das9Die Menſchheit und der Staat.gute Gelingen, und weil nichts vollkommen iſt was beſteht, ſo iſt das hoͤchſte Darſtellbare der Fortſchritt.
14. In einem Staate dieſer Art iſt die Freiheit ſeiner buͤrgerlichen Geſellſchaft ohne weiteres enthalten, und es iſt dieſelbe an keine beſtimmte aͤußere Form gebunden, ob - wohl es freiheitſtuͤtzende Einrichtungen giebt. In Hinſicht auf die Form aber nennen wir denjenigen Staat frei, deſſen Grund-Einrichtungen nur nach einer beſtimmten allgemei - nen Regel und nur unter Zuthun aller Staͤnde oder Gliedmaßen des Volks veraͤndert werden koͤnnen.
15. Weil die Menſchheit in jedem Zeitalter neue Zu - ſtaͤnde gebiert, ſo laͤßt ſich kein Staat grundfeſt darſtellen, außer mit den Mitteln und unter den Bedingungen irgend eines Zeitalters, außer gebunden an die Verhaͤltniſſe irgend einer unmittelbaren Gegenwart. Daher draͤngt alle Be - handlung von Staatsſachen im Leben und in der Lehre zur Hiſtorie hin, und durch ſie auf eine Gegenwart, und wei - ter, weil keine neue Form des Lebens ſich vernachlaͤſſigen laͤßt, auf unſere Gegenwart, unſern Welttheil, unſer Volk.
16. Der Staat iſt aber nicht allein ein In Sich, er hat auch ein Neben Sich, die andern Staaten. Die Ausbildung auch dieſes geſelligen Verhaͤltniſſes iſt unab - weisbar Aufgabe der Politik und ſteht mit der Stufe der innern Ausbildung in nothwendiger Wechſelwirkung. Wer einen Welt - oder Menſchheits-Staat begehrt und in Uni - verſal-Monarchieen vorverkuͤndigt ſieht, der verſchließt der zu Staaten verſammelten Menſchheit die Ausſicht auf ihre10Einleitung.hoͤchſte Bildungsſtufe, auf welcher ſich der Staat, wie er von der Familie ausgegangen, in der Staatenfamilie vollende.
17. Darum zerfaͤllt die Lehre vom Staate fuͤr den Darſteller in zwei Gebiete, die Lehre vom Staate, fuͤr ſich, im innern Bau und Leben betrachtet, und betrachtet als Glied der Staatengeſellſchaft. Die Lehre vom Staate fuͤr ſich ſelber theilt ſich aber wieder zwiefach; indem ihr erſter Theil von der Regierungsthaͤtigkeit, als der einheitlichen Traͤgerin der Staatsgewalt ausgehend, die Staatsver - faſſung abhandelt, der zweite Theil aber, von der Mannigfaltigkeit der Perſonen und Sachen ausgehend, die Mittel zur Ausfuͤhrung der Verfaſſung durch Unterthanen - Thaͤtigkeit, das iſt, die Verwaltung behandelt.
18. Die Verfaſſung nun beruht auf der Einheit im Staate und hat eine einfachere Darſtellung. Fuͤr die Ver - waltung bedarf es der Kenntniß der Gebiete, auf welchen ſie ſich zu bewegen hat, der laͤndlichen und ſtaͤdtiſchen Gemeinden und Gemeinde-Bezirke, imgleichen der darin verwaltenden Behoͤrden, wie ſie zur Gemeinde und zum Staate ſtehen muͤſſen, damit Regierung und Verwaltung ſich am rechten Orte begegnen. Verwaltungsgegenſtaͤnde ſind: die Verwaltung der an den Perſonen haftenden Guͤter und die der ſaͤchlichen Guͤter, und zur Berichtigung und Sicherſtellung beider Verwaltungen ſind die Rechts - anſtalten der Polizey und Juſtiz berufen.
19. Von Alters her fing gleichwie in unſeren Tagen jede Rede uͤber beſtehende Verfaſſungen gern mit der Frage an: Wer regiert im Staate? Alle? oder Einer? oder eine Anzahl? und nach dieſem Theilungsgrunde unterſchied man drei Regierungsformen, Demokratie, Monarchie und Ariſtokratie. Dann fragte man weiter, welche die vorzuͤglichere ſey von den dreien.
20. Weil die Herrſchaft begehrenswerth erſcheint, trug die Demokratie ſchon im hohen Alterthum den Preis des allgemeinſten Beifalls davon. Von vollendeter Volks - herrſchaft forderte man 1) ihre Allgemeinheit, indem ſie Allen (Maͤnnern freilich nur) im Volk gleichen Zugang zur Herrſchaft und ihren Ämtern gewaͤhren ſoll; 2) eine Unumſchraͤnktheit, welche alle Gegenſtaͤnde der Herr -14Erſtes Capitel.ſchaft umfaſſen, keinen einzigen einem Monarchen, oder etwa einem Adel abtreten ſoll; 3) die Unmittelbarkeit, vermoͤge welcher ſie theils von Allen gleichzeitig als Volks - verſammlung geuͤbt wird, inſoweit die Natur des Geſchaͤfts es geſtattet, theils zwar von Einzelnen, aber in einem raſchen Wechſel des Herrſchens und Beherrſcht-Seyns (κατὰ μέϱος ἄϱχων καὶ ἀϱχόμενος) durch verantwortliche Obrigkeiten und durch Richter, beide von beſchraͤnkter Amts - Dauer. Aber in dieſen Forderungen ſelber ſind auch ſchon die Graͤnzen ausgeſprochen, welche nicht minder die Natur der zu Beherrſchenden als die Natur der Herrſchaft der nach Vollendung ſtrebenden Demokratie geſetzt hat. Denn jene ſtellt ihr Alles entgegen, was die Menſchen nothwen - dig ungleich macht, den Geſchlechts-Unterſchied, der die Menſchheit in zwei ungleich berechtigte Haͤlften theilt, die Stufen des Alters, die jedes Individuum ſogar ſich ſelber ungleich machen, Stamm - und Familien-Verfaſſung, Talent, Bildung, Vermoͤgen, verſchiedene Lebensarten; Alles gebieteriſche Beſchaffenheiten, welche nicht als gleich - artige Mengen zuſammengezaͤhlt, nicht durch den Zufall ausgeloost werden wollen. Die Natur der Herrſchaft aber fordert nicht bloß Beſchluß und Ausfuͤhrung, ſondern zum Zwecke der Beſchlußnahme eine Berathſchlagung, welche kein verſammeltes Volk vornehmen kann, ſobald der Gegen - ſtand uͤber die einfache Willensmeinung hinausgeht. Darum lehrt die Erfahrung aller Zeiten, daß reine Volksherrſchaft nur in einem ſehr kleinen und ungebildeten Staate ſtatt hat, ſolche Volksherrſchaft nehmlich, welche die ganze Be - voͤlkerung umfaßt und nicht etwa, wie im alten Hellas und Italien, eine Menge freier Maͤnner ausſchließt und unzaͤhlige Knechte ſich unterbreitet. Denn jene alten De - mokratieen waren, nach menſchheitlichem Maaße gemeſſen,15Demokratie. Monarchie. Ariſtokratie.Ariſtokratieen, deren Mitglieder unter ſich gleich geworden ſind. Die Heimath der Demokratie iſt nur da, wo unter den einfachſten Lebensgewohnheiten hergebrachte Sitte gilt was bei Andern das Geſetz, wie in den Achaͤiſchen Staͤd - ten vor Arat, oder etwa noch heute im Canton Uri.
21. Die Monarchie hat durch Stamm - und Fa - milien-Ordnungen vielen alten Glauben fuͤr ſich, aber viele Urtheile der Menſchen gegen ſich, ſobald man die Demokratie gekoſtet. Der Monarch gehorcht allein ſich ſelber, keinem ſonſt, er herrſcht ohne Wechſel, ſein Wille iſt dem groͤßeſten Staate gewachſen; kein Wunder, wenn dieſer ungebrochene Wille ſich jeden beherrſchbaren Gegen - ſtand zu unterwerfen trachtet. Aber bis zur Unumſchraͤnkt - heit fortgefuͤhrt, erſcheint die Monarchie als ihrer Natur nach unfreiheitlich, als ein unnatuͤrlicher Zwang von Ei - nem gegen Viele geuͤbt, vielleicht ſogar von dem unkraͤftig - ſten unter Allen, der den erblichen Machtgewinn durch des Zufalls Gunſt dahinnimmt. Nun iſt freilich durchaus un - moͤglich, daß der gar nicht Gehorchende auch uͤberall regiere, allein noch viel ſchlimmer, wenn die mit Ausfuͤhrung des allein herrſchenden Willens Beauftragten ihren eigenen Wil - len an die Stelle ſetzen. Darum iſt im Welttheile der freien Familie die Klage weit verbreitet: 1) die unumſchraͤnkte Alleinherrſchaft entbehrt der ſonſt aus der Monarchie fließen - den Einheit und Gewißheit der Regierung; denn aus der einen Unumſchraͤnktheit gebiert ſich die Vielherrſchaft einer Menge kleinerer Unumſchraͤnktheiten und sacrilegii instar est dubitare, an is dignus sit, quem elegerit Imperator (l. 9. cod. t. 29, 3. de crim. sacrilegii.). 2) Wenn das Urtheil im Volk ſich ausbildet, ſo entwickelt ſich, je tiefer die Unumſchraͤnktheit eingedrungen iſt, um ſo mehr die16Erſtes Capitel.Überzeugung, daß der Zuſtand des Gemeinweſens bis auf das Maas der Faͤhigkeiten des jedesmahligen Herrſchers herabgeſunken ſey. Und wo bleibt die geſetzliche Ordnung, wenn ein Zufall die Faͤhigkeit zu Herrſchen ganz hinweg - naͤhme? 3) Der unumſchraͤnkte Herrſcher iſt auch minder maͤchtig als der beſchraͤnkte, weil er nichts uͤber ſeinen Tod hinaus verfuͤgen kann. 4) Dagegen wird er leicht Macht in denjenigen Gebieten uͤben wollen, welche nicht beherrſch - bar ſind, in Religion und Wiſſenſchaft, in Familienrechte, in die ſelbſt aufgeſtellte Regel der Geſetze eingreifen.
„ Soll derohalben auch der Koͤnig allein die hoͤchſte Macht und Gewalt haben, Geſetze und Verordnungen nach ſeinem eignen guten Willen und Wohlgefallen zu geben, wie auch fruͤhere von ihm ſelber oder ſeinen Vorvaͤtern gegebene Geſetze zu erklaͤren, veraͤndern, vermehren, vermindern, ja auch voͤllig aufzuheben (dieſes Koͤnigsgeſetz allein ausgenommen, welches als der rechte Grund und das Grundgeſetz des Koͤnigthums allerdings unver - aͤnderlich und unerſchuͤttert bleiben muß), imgleichen was und wen ihm gefaͤllt, aus der allgemeinen Vorſchrift des Geſetzes auszunehmen. “
22. Die Ariſtokratie iſt darin der Monarchie ver - wandt, daß beide Regierungsformen von einer Ungleichheit unter den Mitgliedern des Staates ausgehen, die Demo - kratie dagegen von einer Gleichheit. Darin aber iſt ſie der Demokratie verwandt, daß die in ihr regieren zugleich gehorchen, ſo jedoch, daß die große Mehrzahl der Bevoͤlke - rung bloß zu gehorchen hat. Die Ariſtokratie iſt viel - geſtaltig. Ihre mildeſte Herrſchaft uͤbt ſie in der Form der Theokratie, inſofern ſie keinen Widerſtand findet; denn ſie kann alle weltlichen Gegenſaͤtze im Staatsleben dulden, ohne einen einzigen, auf ſich bezogen, anzuerkennen. Als Organ der Gottheit handelnd, mithin, wie hoch ſie ſtehe,17Demokratie. Monarchie. Ariſtokratie.zu hoch ſich ſtellend, menſchliche Zwecke in eine goͤttliche Vorſchrift huͤllend, miſcht ſie nothwendig Taͤuſchung ein, und bewacht eben darum eiferſuͤchtig die Graͤnze der von ihr verliehenen Bildung; denn jenſeits dieſer Graͤnze iſt ihr Untergang. Die ariſtokratiſchen Gewalten von ge - miſchter Beſchaffenheit, Kriegsadel mit Prieſterthuͤmern be - kleidet, oder auch Geſchlechtsadel mit einer Prieſterſchaft zur Seite, oder auch Grund - und Amts - und Geld-Adel, bilden, ſobald ſie ſich zu einer alleinherrſchenden Koͤrper - ſchaft abſchließen, die planmaͤßigſte der Regierungen, aber auch in der Meinung der Menſchen die ſelbſtſuͤchtigſte. Denn wenn Alle Einem dienen, ſo ſcheint das um des Gemeinweſens Willen zu geſchehen, wenn aber eine Koͤr - perſchaft herrſcht, um der Koͤrperſchaft Willen. Fuͤr die Dauer ihrer Herrſchaft mit Recht beſorgt, wird ſich dieſe Ariſtokratie immer oligarchiſcher verdichten, aus immer engerem Kreiſe ſpaͤhend; denn kaum iſt die ausgeſchloſſene Menge ſo ſehr zu fuͤrchten, ſie die bald der Milde, bald dem Zwange dient, als monarchiſche Talente im Kreiſe der Mitherrſcher es ſind. Denn ſtets der Monarchie ſich naͤhernd, will die Ariſtokratie ſie nie erreichen. Der Eid: „ und ich will gegen das Volk uͤbelwollend ſeyn und ihm ſo viel Boͤſes ſinnen als ich kann “(Ariſtot. Pol. V, 9.), ward zwar nur in einigen Oligarchieen des Alterthums geſchworen; aber Heimlichkeit, Mistrauen und ein uner - bittliches Huͤten der einmahl fertig gewordenen Form bilden uͤberall den Grund-Charakter der abgeſchloſſenen Ariſtokratie.
Sparta; Venedig; Polens unvorſichtige Ariſtokratie; Bern, ein ſeltenes Muſter gerechterer Maͤßigung, doch die Regel beſtaͤtigend.(Henzi’s Verſchwoͤrung, 1749.)
23. Dergeſtalt ergiebt ſich, daß Demokratie, Monarchie und Ariſtokratie, jede fuͤr ſich allein genommen, keine gute218Erſtes Capitel.Verfaſſung verſprechen, vielmehr eine um ſo ſchlechtere, je mehr jede ganz ungemiſcht ſie ſelber ſeyn will. Dane - ben zeigt indeß jede dieſer Verfaſſungen ihre eigenthuͤm - lichen Vorzuͤge. Die erſte ſucht das Wohl des Ganzen in der Theilnahme Aller an der Regierung; die zweite ſetzt die Einheit des Willens Allem voran, ohne die kein Staat ſtark und ſicher ſeyn kann, und keine Verfaſſungsform hat als Zwiſchenzuſtand oͤfter den Staat gefoͤrdert, als die ge - ſteigerte monarchiſche Gewalt, vorausgeſetzt, daß ſie, wie im groͤßeſten Theile von Europa, uͤber Unterthanen, nicht uͤber Knechte gefuͤhrt wird; die dritte tritt in die Mitte zwiſchen beiden, indem ſie eine herrſchende Koͤrperſchaft im Volk aufſtellt, welche mehr Einheit verſpricht, als die Herrſchaft des ganzen Volks, und minder Willkuͤhr, als die unumſchraͤnkte Hand eines dazu zweifelhaft fuͤr die Herrſchaft ausgeſtatteten Einzelnen.
24. Es ſcheint daher eine Verbindung einer und der andern Form, auch etwa von allen dreien, zur guten Verfaſſung fuͤhren zu koͤnnen. Dieſe iſt nun auf mancherlei Weiſe moͤglich; nur ſteht gleich von Anfang her feſt, daß, ſobald die monarchiſche Gewalt mitaufgenommen iſt, dieſe auch in der erſten Linie der Macht zu ſtehen kommt, denn ſie kann nach keiner Seite hin ſich dienend verhalten.
25. Dunkel aber bleibt bei dem Allen die Art des Zuſammenwirkens mehrerer Gewalten, wofuͤr Maas und Zahl auch wohl nicht anders, als aus den lebendigen Be - ſchaffenheitsverhaͤltniſſen zu gewinnen ſeyn wird. Denn was von den einzelnen Menſchen gilt, daß keiner dem an - dern gleicht, und wieder jeder ſich ſelber ungleich iſt, das tritt noch gebieteriſcher in dem kraͤftigen Bau der ſelbſt -19Demokratie. Monarchie. Ariſtokratie.ſtaͤndigen Volksindividuen hervor. Dieſelbe Verfaſſung wird nicht allein fuͤr verſchiedene Voͤlker, ſie wird fuͤr ver - ſchiedene Entwickelungsperioden deſſelben Volks nicht allein unpaſſend, ſondern haͤufig, weil die Elemente dazu noch fehlen oder ſchon verſchwunden ſind, ganz unmoͤglich ſeyn.
26. Indeß iſt eben ſo gewiß, daß verwandtes Volks - thum, gemeinſam verlebte Staatsjugend, der durchſchla - gende Strahl gleicher Glaubenslehren und langes Zuſam - menleben auch uͤber einen Welttheil oder mehrere hinaus Staatsgeſellſchaften gruͤnden kann, welche ſehr aͤhnlicher Verfaſſungen faͤhig ſind.
27. Weist nun dieſes klar auf die Geſchichte hin als Lehrerin der Politik, weil allein aus der Natur der zu beherrſchenden Elemente, wie ſie ſich im Fluſſe begriffen zeigen, die Form der Herrſchaft anerkannt werden mag, in der ein Volk ſeinen Frieden finde, ſo weist ein Anderes uͤber die Geſchichte hinaus. Denn die Herrſchaft von Menſchen uͤber Menſchen darf ja nicht auf die Benutzung wie von lebloſen Dingen, allenfalls auch auf den Raub - bau geſtellt ſeyn, oder wie bei Wollheerden allenfalls auch auf die ſchaͤrfſte Schur, ſondern ſie ſoll zum leib - lichen und geiſtigen Beſten des Ganzen und der Einzelnen, die zum Staate verſammelt ſind, dienen. Und was das Hohes und Tiefes umfaſſe, muß derjenige, wiederholen wir, ſchon inne haben, welcher wohl vorbereitet zur Staats - lehre herantreten will.
„ Die Politik kann nicht fuͤglich von den erſten Grundſaͤtzen des Guten anheben, ſondern ſetzt gewiſſe ſchon von uns anerkannte voraus. Darum muß zur guten Sitte angefuͤhrt ſeyn, wer die Politik paſſend hoͤren will. “
28. Im Alterthum unſeres Welttheils ragen drei Ver - faſſungen als die durchgebildetſten und denkwuͤrdigſten her - vor, die von Sparta, Athen und Rom. Drei im Weſent - lichen verwandte Voͤlker, auch von aͤhnlichen Verfaſſungs - formen, ſtellen das verſchiedenartigſte Verhaͤltniß zwiſchen Regierung und Unterthanen dar.
29. Die Spartaner ließen, als ſie in Lakonien die Herrſchaft gruͤndeten, ihre alte Natur-Verfaſſung unter dreißig Stammhaͤuptern, eines als Erbfuͤrſt an der Spitze, bald hinter ſich. Da ſie das Land mit dem Speer ge - wannen und die Herrſchaft fuͤr ſich allein behalten woll - ten, ſo trat der Schwerpunkt ihrer Verfaſſung ganz in die Ariſtokratie, wie ſie auch unter ſich die Elemente miſchen mochten. Denn blieb auch das Koͤnigthum, war auch jeder im Volk, der das Alter und die Schule hatte, zur Gleich - heit und Mitregierung berufen; dieſes Volk machte kaum den zehnten Theil der Bevoͤlkerung aus. Neuntauſend Doriſche Gutsbeſitzer, in einem Bezirk beiſammen, herrſch - ten als ein Kaſten-Adel aus der Stadt der Sieger uͤber dreißigtaufend unberechtigte, doch freie Hufner des uͤbrigen Gebietes, und uͤber ein paarmal hunderttauſend Leibeigne, die ebenfalls Griechiſches Blut hatten.
30. Und auch im Volk der Herrſcher erhielt die Ari - ſtokratie das Übergewicht. Die Regierung lag in den Haͤnden des Raths der Alten, von dreißig, weil der21Staatsverfaſſung der Alten. Sparta.Spartaniſchen Staͤmme ſo viele waren, aus drei Haupt - Staͤmmen abgeleitet. Den Alten-Rath ergaͤnzte die Volks - verſammlung aus der Zahl mindeſtens ſechzigjaͤhriger Maͤn - ner, wie einer abſtarb. Auch die peinliche Gerichtsbarkeit ſtand nebſt der Sittenaufſicht bei dieſem, ohne alle Ver - antwortlichkeit[der Greiſe].
31. Volksverſammlung, das heißt Spartaner-Ver - ſammlung, gab es ſelten. Nur einmahl jeden Vollmond trat ſie zuſammen und entſchied uͤber Veraͤnderungen in den Geſetzen, welche die Regierung vorlegte, mit Ja und Nein. Sie waͤhlte den Rath, und als Ephoren wurden auch dieſe, und beſchloß uͤber Krieg und Frieden.
32. Der monarchiſche Theil der Verfaſſung erfuhr ein widriges Schickſal. Das uralte Koͤnigthum ward gleich nach der Eroberung durch Theilung geſchwaͤcht. Zwei meiſt uneinige Koͤnigshaͤuſer. Der Verſuch lag nahe genug fuͤr einen aͤchten Herrſcher nach dem Beiſpiel anderer Do - riſcher Staaten durch Niederreißung der Schranke, welche zwiſchen der freien Bevoͤlkerung trennend ſtand, den Thron wiederherzuſtellen. Dennoch iſt gerade das Gegentheil ge - ſchehen. Die Sproſſen des Herakles, die das Ohr der Delphiſchen Gottheit waren, hatten als erbliche Senatoren, Vorſitzer im Senat und in der Volksverſammlung, Ver - walter von zwei Prieſterthuͤmern, Richter in Familien - ſachen, in der Heimath nur geringen Antheil an der Re - gierung, bloß als Kriegsfuͤrſten, wenn es draußen galt, waren ſie Herrſcher, bis man ihnen im Fortgang der Zeit die Feldherrnwuͤrde durch Beaufſichtigung ſchmaͤlerte, manch - mal ganz entzog, und weiter vollends eine verantwortliche Obrigkeit aus ihnen machte.
22Zweites Capitel.33. Über das Schickſal des Koͤnigthums hat Lykurg entſchieden. Indem er mit der einen Hand die Schranke zwiſchen herrſchenden Freien und Gemeinfreien unwieder - ruflich feſtſtellte, mußte er mit der andern ſeine Spartaner ſo hoch heben, daß ſie die Schranke auch halten konnten. Vor Lykurg waren Ausbruͤche roher Gewalt nirgend haͤufi - ger, als unter dieſem Theile der Dorer. Er uͤberzeugte ſie, daß, um fortzuherrſchen, ſie ſich ſelber beherrſchen muͤßten, in Entbehrung, Maͤßigkeit und ſtrenger Ordnung leben, dabei den Speer nicht aus der Hand laſſen 1), damit ſie, die Wenigen, auf das eine Ziel geſtellt, der mannigfach beſchaͤftigten und erwerbenden Menge draußen uͤberlegen waͤren. Sie leiſteten das Geluͤbde der Armuth, uͤberließen ihre Landguͤter den Leibeigenen zum Anbau, die ihnen Jahr aus Jahr ein ein Gewiſſes an Lebensmitteln als feſten Kanon liefern mußten, auf deſſen Erhoͤhung ein Fluch haftete. Ihre Koͤnige mochten die reichſten Herren in Hellas ſeyn, ihre Gemeinfreien Gewinn vom Acker, aus Gewerbe und Handel ziehen, die Leibeigenen ſich be - reichern, unter ihnen durfte Beſitz und Arbeit auf den Erwerb weder Ehre noch Nutzen bringen. Reich hieß unter ihnen, wer, weil ſeine Sclaven Weitzenboden bau - ten, zum gemeinſamen Mahle Weitzenbrodte ſtatt der Gerſte beiſteuern konnte. Die auch in anderen Ariſtokratieen von Hellas hervortretende Anſicht, daß die Beſtellung des Ackers mit eigener Hand nicht ehrenhaft ſey, kam derge - ſtalt hier zur ſtrengſten Ausbildung. Ihr einzig erlaubtes Gewerbe iſt Kriegsuͤbung, die eigene und die der Staats - Jugend (πολιτικοὶ παῖδες). Die Buͤrgermahlzeiten, fuͤr deren Beſtreitung der Kanon der Leibeigenen mehrentheils aufging, geſchehen in kriegeriſcher Ordnung. Alles iſt hier aus einem Stuͤcke, demſelben Zwecke unterthan; die rein23Staatsverfaſſung der Alten. Sparta.politiſch verſtandene Ehe; die abgeſtufte Staats-Erziehung, erſt mit dem dreißigſten Jahre endigend, von jedem ruͤhm - lich zu beſtehen, der zu den ganz Gleichen gehoͤren will; die Ausſchließung der Fremden und ihres Goldes aus dem eiſentragenden Lande; die planmaͤßige Verminderung des Zuwachſes von Leibeigenen, welche außer der jaͤhrlich feier - lich angeſagten Treibjagd 2), die zugleich zur Kriegs - uͤbung fuͤr die Jugend diente, dann und wann zu tauſen - den verſchwinden mußten 3). Das iſt nun keine gute Art von Verfaſſung, die in weſentlichen Stuͤcken mit goͤttlichen und menſchlichen Ordnungen, wie wir ſie verſtehen, im Widerſpruche ſteht, aber eine vortreffliche Ausfuͤhrung der - ſelben war es, welche bei Loͤſung ihrer Aufgabe, inner - halb des einmahl gezogenen Kreiſes der Herrſcher die Sit - ten keuſcher, den Gehorſam (πειϑαϱχία) unverbruͤchlicher und die Ehre der Goͤtter allgemeiner erhielt, als ſonſt wo in Hellas. „ Es ſind viele Theile der Tugend in dieſem Kriegerleben “, ſpricht Ariſtoteles. Der Menſch iſt aber mehr als Staͤrke und geregelte Sitte.
34. Ein Verſuch des Koͤnigsthums ſich wiederherzu - ſtellen, machte vier Menſchenalter (wenn nur ſo lange Thucyd. I, 18.) nach Lykurg der faſt Alleinherrſchaft der Greiſe ein Ende und rief das Ephorat hervor. Fuͤnf Maͤnner aus den Auserzogenen des Volks, ohne weitere Beſchraͤnkung waͤhlbar, ſollten ein Jahr lang Staatsauf - ſeher ſeyn, berechtigt, jeden Beamten vom Amte zu ent -24Zweites Capitel.fernen, anzuklagen, gefangen zu ſetzen. Zu dieſen Beam - ten gehoͤrten bald genug auch die Koͤnige, welche vor ihnen, die ſich vom Seſſel nicht erhuben, ſtehen mußten, in deren Hausweſen ſie eindrangen, mit denen ihrer zwei in’s Feld zogen, um auch dort wie uͤberall, wenn ſie gleich in Kriegsſachen nichts einzureden hatten, der Re - gierung wahrzunehmen, die ſie vor Gericht ziehen und auf Strafe und Tod anklagen durften. Freilich waren ſie ſelber nach Verlauf des Amtsjahres fuͤr ihr Thun verantwortlich, zwar war in den ſchwerſten Faͤllen ihre ruͤſtige Gewalt an den bedaͤchtigen Willen der mitentſchei - denden Greiſe gebunden, die allein ihr Amt nicht zu fuͤrch - ten hatten; allein wo blieb ein Halt, wenn die Ephoren ſogar politiſche Traͤume haben, wenn ſie alle acht Jahre die Goͤtter wegen der Koͤnige fragen, und wenn dann eine Sternſchnuppe uͤber den Nachthimmel fuhr, gegen ſie verfahren durften? Die Regierung ward oligarchiſch.
35. Die Verfaſſung ſcheiterte am Ende an ihren Grund-Principen, der Kaſten-Herrſchaft und der Armuth. Wer ſich ſelbſt beherrſcht, darf nur wollen, und er be - herrſcht auch andere, und ein Wunder waͤre es, wenn man zuletzt nicht wollte. Als Sparta, im Beſitze alter Vor - ſtandſchaft in Hellas gekraͤnkt, nach langer Zoͤgerung ſich dem Eroberungstriebe hingab, ward die Regierung inne, was das Geld fuͤr die Herrſchaft bedeute, und daß grobes Eiſen fuͤr die Welt kein Geld ſey. Fruͤher ſchon hatte man zu umgehen geſucht, jenſeits der Graͤnze in Arkadien, damit das Unheil nicht in’s Land kaͤme, Gold und Silber heimlich untergebracht 1), hatte den Koͤnigen, wol nicht um ſie zu ehren, das Geldſammeln nachgeſehen, jetzt mußten die Perioͤken, allenfalls auch die Spartaner Abga -25Staatsverfaſſung der Alten. Sparta.ben geben, und der Staat kaufte Geld davon fuͤr den taͤglichen Bedarf, erpreßte Geld von Griechiſchen Staͤdten und legte nun einen Schatz an. Immer noch ſtand der Tod darauf, wenn ein Spartaner Gold und Silber haͤtte, aber denen, die in Staatsgeſchaͤften ſtanden, ward es doch verſtattet, und, als Beute erlangt, nachgeſehen. So be - maͤchtigte ſich Habſucht der Gemuͤther um ſo ploͤtzlicher und ungeſtuͤmer, da es verbotene Luſt war, zu um ſo ungeregelterem heimlichem Genuſſe, da die Wege der Bil - dung verſchloſſen blieben, durch welche Vermoͤgen zum Beduͤrfniß edlerer Sitte wird. Habſucht ward die Mutter der Neuerung. Man gab den alten erblichen Stammguͤ - tern nun Beweglichkeit, und ploͤtzlich ſtand neben weni - gen reichen Spartanern eine Schaar beſitzloſer, die den Beitrag zum Buͤrgermahle nicht beſtreiten konnte. Zwei Fuͤnftel der Landguͤter kamen an Frauen, und der alte Staat Lykurgiſcher Maͤnner war in Ariſtoteles Tagen dem Frauen-Einfluſſe ſo unterworfen, wie kein anderer ſonſt. „ Warum duͤrfen die Frauen nicht Obrigkeiten ſeyn, wenn die Obrigkeiten den Frauen unterthan ſind? “
36. Jetzt vollends war das Koͤnigthum zu reich fuͤr die voͤllige Unbedeutendheit; ſeine Haupteinkuͤnfte floſſen aus Lacedaͤmoniſchen Laͤndereien. Ein hochbegabter Fuͤrſt Kleomenes ließ die Ephoren toͤdten, zerriß die Bande der auch an Menſchenzahl verarmten Kaſte, indem er tauſende von Lacedaͤmoniern aufnahm und mit Spartaner-Recht ausſtattete, eine neue Äckervertheilung einrichtete, und ſel - ber mit der Spende der koͤniglichen Landguͤter voranging. Allein als ihn mitten in der Wiedergeburt veredelter Ly - kurgiſcher Einrichtungen das allgemeine Geſchick der Zeit26Zweites Capitel.hinwegriß, duldete die neue Volksart auch kein Heraklidi - ſches Erb-Koͤnigthum mehr. Seit die uͤberſtarre Form zerbrochen, blieb nun nichts Feſtes mehr, oft kein Ephorat, ein unordentlicher Wechſel von Gewalthabern, einer darun - ter, der fuͤr ein Talent an jeden der Ephoren bezahlt, Heraklide und Koͤnig ward; der Wuͤtherich Nabis nahm die Herrſchaft aus ſeiner auslaͤndiſchen Soͤldner Hand.
37. Auch in Attika erwuchs der Staat in jener drei - fachen Gliederung der Natur-Verfaſſung: Koͤnigthum, Rath und Volksverſammlung, aber er ging durch einen großen Wechſel der Bedeutung dieſer Formen, und zu einer Abgeſchloſſenheit des Daſeyns, die nun keine Änderungen weiter zuließe, wie in Sparta, kam es nie. Athens Natur-Anlage wies ſchon in den alten Tagen der Stamm-Ariſtokratie auf ein anderes Ziel hin.
38. Keine Bevoͤlkerung hier von Siegern und Be - ſiegten, fruͤhzeitig milde Weiſen jenes Sclaventhums, deſ - ſen Fluch einmahl an allen alten Verfaſſungen haftet, nichts von ſproͤder Ausſchließung alles Fremdenweſens, vielmehr das Staatsvolk ſelber eine Geſellſchaft verſchie - denartiger Griechiſcher Voͤlkerſchaften, die ſich unter dem Landeskoͤnige allmaͤhlig zuſammenfinden, keine zum Nach - theil der anderen berechtigt. Die Geſammt-Bevoͤlkerung zerfiel in vier Staͤmme von je dreimal dreißig Geſchlech - tern, alſo daß jedes Geſchlechter-Dreißig wieder als Stammlinie eine engere Bruͤderſchaft bildete, welcher Phratrien mithin zwoͤlfe waren. In jeder dieſer Phratrien ſtand ein regierendes Geſchlecht an der Spitze, das Koͤ - nigshaus freilich hoͤher als alle, aber die andern eilf Ge -27Staatsverfaſſung der Alten. Athen.ſchlechter, die ſich Milchbruͤder unter einander nannten, wohnten mit dem Koͤnige auf dem befeſtigten Burghuͤgel, theilten mit ihm die Prieſterthuͤmer, die Verwaltung des Rechts, thaten den Reuterdienſt. Ausſchuß des Adels war der Rath der Dreihundert. Wenn es eine Volksver - ſammlung derzeit gab außer der der Adels-Geſchlechter, ſo war doch die Entſcheidung bei dieſen. Mancher Buͤr - ger baute in ſchwerem Frohn Eupatridiſches Land; man - cher buͤste Schulden mit Knechtſchaft ab.
39. Ob die Koͤnige verſucht haben, den Gemeinfreien Rechte in der Verſammlung zu verſchaffen, weiß man nicht; aber dem Adel gelang es, das Koͤnigthum zu uͤber - waͤltigen. Er ſetzte an die Stelle deſſelben einen verant - wortlichen Regenten (Archon) aus dem Koͤnigshauſe, uͤber - nahm ſelber die Herrſchaft; er ging weiter; denn als die Lebenslaͤnglichkeit und die alte Ehrfurcht vor dem erſten Hauſe des Staats den Erb-Regenten immer noch zu hoch ſtellte, beſchraͤnkte man das Erb-Amt auf zehn Jahre; bis man endlich dahin kam, den Vorzug des koͤniglichen Hauſes ganz aufzuheben, und neun jaͤhrlich aus dem Adel zu erwaͤhlende Archonten an die Stelle ſetzte. Was das Koͤnigthum geweſen war, durfte fortan der Haupt - ſache nach als bloße Richtergewalt in Sachen polizeylicher, buͤrgerlicher und freiwilliger Gerichtsbarkeit fortbeſtehen. Die peinliche war beſonderen Adelshoͤfen (Areopag und Epheten) vorbehalten.
40. Es muß lange gedauert haben und die Gemein - den muͤſſen ſehr dringend, und die Anſpruͤche der beweg - lichen Guͤter muͤſſen unabweisbar geworden ſeyn, ehe man einem Edelmanne von Solons unpartheiiſcher Weisheit28Zweites Capitel.die Ausgleichung der Wirren anvertrauen mochte. Er gab Erleichterung im Schuldenweſen, verbeſſerte das Privat - recht durch Abſchaffung der Schuldknechtſchaft, gab allen Buͤrgern das Recht, in der Volksverſammlung und in den gewoͤhnlichen Gerichten, die von nun an aus dem Volk hervorgingen, zu ſtimmen.
41. Aber indem er neben dem Adelsrechte ein Recht der Gemeinden aufrichtete, fehlte viel, daß er jenes ver - nichtet haͤtte. Er verſtaͤrkte dem Areopag, der ſich aus den Unbeſcholtenen der jaͤhrlich abgehenden Archonten fuͤllte, ſein altes Straf - und Aufſichts-Recht, und daß die Archonten-Stellen und dadurch der Areopag in den Haͤn - den der Reichen, mithin der Hauptſache nach fuͤr jetzt in des Adels Haͤnden blieben, war eine der beabſichtigten nothwendigen Folgen ſeiner Theilung des Volks in vier Vermoͤgens-Claſſen, nicht bloß die billigere Vertheilung der Staatsleiſtungen und die Steuerfreiheit der Armen. Denn nur ein Mitglied der erſten Claſſe war zum Archon waͤhlbar, und nur wer den drei erſten Claſſen angehoͤrte, war waͤhlbar zum Mitgliede des Raths, von nun an der Vierhundert. Freilich mußte der jaͤhrliche Wechſel der Archonten und des Raths, der fruͤher dem Demos der Ariſtokraten gefallen konnte, weil er jedem von ihnen die Ausſicht, bald einzutreten, gab, jetzt vielmehr ihm Sorge erwecken. Denn er kuͤndigte von fern die nahende Demo - kratie an.
42. Die Volksverſammlung waͤhlte Archonten und Rathsperſonen aus den erlaubten Claſſen, und aus allen Claſſen ohne Unterſchied die Geſchworenen des Jah - res, die jetzt als Appellationshof richteten, wenn man von29Staatsverfaſſung der Alten. Athen.den Archonten an ſie ging; die Entſcheidung gab, wie in Sparta, die einfache Stimmenmehrheit der Verſammlung. Ihrer Gewalt aber waren ſcharf beſtimmte Graͤnzen an - gewieſen. Wie ſie uͤberhaupt ſtets unter Vorſitz einer Ab - theilung des Senats verhandelte, ſo durfte zwar jeder Buͤrger auf ein neues Geſetz antragen, aber es kam nicht zur Abſtimmung ohne die vorherige Billigung des Senats, und auch dann entſchied nicht die ganze Volksverſammlung daruͤber, ſondern ein Ausſchuß derſelben, lediglich aus denjenigen aͤlteren Buͤrgern zu erkieſen, welche zu Ge - ſchworenen des Jahres erwaͤhlt waren (Nomotheten, mindeſtens 500.). Sonach uͤbten Senat und Nomotheten die geſetzgebende Gewalt, inſofern der Areopag nicht ein - ſprach; die Volksverſammlung war auf voruͤbergehende Beſchluͤſſe auf dem Grunde der beſtehenden Geſetze beſchraͤnkt.
43. Dieſe Verfaſſung mochte ſich Dauer verſprechen, wenn ſie an der Archonten Stelle wieder ein Erbkoͤnigthum haͤtte ſetzen koͤnnen. Wie es nun ſtand, vermißte die Gemeinfreiheit, angeregt, aber nicht befriedigt, fortwaͤhrend die Staatsgewalt, welche allen Claſſen der Bevoͤlkerung gleich nahe zu ſtehen berufen iſt. Man glaubte ſich ſchon durch unregelmaͤßige Alleinherrſchaft gefoͤrdert. Das Haus des Piſiſtratus wehrte den Haͤuptlingen, beſtritt den Staatsaufwand wohlfeiler als bisher geſchehen und ver - ruͤckte keinen Stein von der Soloniſchen Verfaſſung. Ein gegneriſches Haus war nur dadurch im Stande, der Herr - ſchaft der Piſiſtratiden fuͤr immer ein Ende zu machen, daß es der perſoͤnlichen Ehrſucht das Opfer aller altariſto - kratiſchen Vorrechte brachte. Kliſthenes, der ſich koͤnig - licher Abkunft ruͤhmte, hob die alte ariſtokratiſche Stamm - und Geſchlechter-Verfaſſung vollends auf. Die 10 Staͤmme,30Zweites Capitel.die er an die Stelle ſetzte, enthielten die 174 Gemeinden von Attika, wie es oͤrtlich zutraf, ohne Ruͤckſicht auf den Zuſammenhang der Geſchlechter. Was nun noch uͤbrig blieb, um Athen zur Demokratie zu machen, das thaten die Perſerkriege, welche unſern Welttheil gerettet haben, die Seemacht, der Handelsreichthum und der Reichthum aus weitlaͤuftiger Herrſchaft.
44. Die Stufen, auf denen der Demos zum Ziele ſtieg, waren:
Der Vollendung der Demokratie wirkte die Bei - behaltung einiger alten Satzungen:
zwar entgegen, aber mit ungleichen Kraͤften, weil die Ge - walten, welche beaufſichtigen ſollten, aus voͤllig gleicharti - gen Elementen mit den zu beaufſichtigenden beſtanden.
45. Die Folge war: die Archonten ſanken von Rich - tern erſter Inſtanz zu bloßen Vorſitzern und Unterſuchungs - richtern bei den Volksgerichtshoͤfen herab. Die Richter auf Lebenslang, Epheten und Areopag, mußten, ſobald es den Herrſchern gefiel, von ihrem Gebiete peinlicher Ge - richtsbarkeit an die jaͤhrlich wechſelnden Volksgerichtshoͤfe abtreten, fuͤr deren ſtets wachſenden Bedarf, um Millionen zinsbarer Unterthanen, die man Bundesgenoſſen nannte, in letzter Inſtanz Recht zu ſprechen, jetzt die ungeheure Liſte der Geſchworenen von 6000 Buͤrgern, jaͤhrlich erloost, zu Gebote ſtand. Der Rath der Fuͤnfhundert konnte bei ſeinem jaͤhrlichen Wechſel neben dem ſteten Kreislauf auch ſeiner Vorſitzer kein großes Übergewicht uͤber eine Volks - verſammlung behaupten, von welcher er lediglich ein Aus - ſchuß war. Und was half es, daß fuͤr die Geſetzgebung Nomotheten noͤthig blieben, wenn man anfing, Alles auf dem Wege der Verordnungen durch transitoriſche Volks - ſchluͤſſe (Pſephismen) abzuthun?
32Zweites Capitel.Daher durch das Verſchwinden aller uͤberlieferten ver - ſchiedenartigen Beſtandtheile aus der Verfaſſung, und bei dem eiferſuͤchtigen Wiederausſtoßen jeder dann und wann verſuchten kuͤnſtlichen Schranke, von einem Volke hohen Sinnes und nie wiedergeſehener Bildung dieſe Menge raſcher unheilvoller Beſchluͤſſe. Der Reiche fuͤhlte es ſchwer, daß er von den Armen beherrſcht werde. Beſonnene wuͤnſchten, daß nicht alle Ariſtokratie moͤchte vernichtet ſeyn. Andere prieſen das Koͤnigthum als eine goͤttliche Einrichtung.
46. Rom iſt eben wie Athen aus verſchiedenartigen, doch verwandten Volksſtaͤmmen zuſammengekommen; beide nahmen ohne große Schwierigkeit Zuwanderer auf und reihten ſie nach dem Standesrechte, welches dieſe mitbrach - ten, ein. Wie in Athen ſtand in Rom eine alte Adels - herrſchaft, zugleich prieſterlich, uͤber den uͤbrigen Buͤrgern, um ſo maͤchtiger, weil ſie hier ohne Koͤnigshaus den Koͤnig aus eigener Mitte waͤhlte, nach Etrusker Art. Aber Sie - ger hielten hier nicht uͤber Beſiegten Wache, noch war die Kunſt, die einmahl gezogene Scheidung zwiſchen Herrſchaft und Gehorſam bis an’s Ende aufrecht zu halten, der In - halt von Roms Verfaſſungsgeſchichte, wie von Sparta’s. Der Anſpruch der Gemeinden drang zu ſeiner Zeit in Rom zur Erklaͤrung und rechtlichen Geltung durch, auch zum Siege, aber nicht wie in Athen in wenigen ſchnell auf einander folgenden Stoͤßen, vielmehr ſehr langſam und ſtufenweiſe in ganz eigenthuͤmlicher Erſcheinung, uͤberhaupt am Ende mehr durch Ausgleichung, unter Schonung der Grundformen; nur daß das Koͤnigthum verloren ging und blieb.
33Staatsverfaſſung der Alten. Rom.47. Drei Staatsgewalten waren: Koͤnig, Senat und Adelsverſammlung, aber die letztere ſtand zu - hoͤchſt. Koͤnig, Senat, alle hoͤheren Obrigkeiten gingen aus der Adels-Wahl hervor und waren Mitglieder des Adels. Der Koͤnig, auf ſtattlichem Kronland, war der Feldherr, uͤbte das Recht der Opfer fuͤr das Volk, war Oberrichter und Vollzieher des Rechts und der Geſetze, doch blieb die Berufung von ihm an den Adel offen. Der Senat war ein Ausſchuß der Adelsgeſchlechter; er uͤbte, gleich dem Koͤnige, eine bloß uͤbertragene, ausfuͤh - rende, vorbereitende Gewalt, die indeß lebenslaͤnglich war. Starb der Koͤnig, ſo traten die zehn Vorſitzer des Senats in den Genuß der hoͤchſten Wuͤrde, und beantragten, oft ſehr verſpaͤtet, eine neue Koͤnigs-Wahl. Die Adels - geſchlechter Roms gingen von drei Staͤmmen (tribus) aus, jeder zu hundert Geſchlechtern, daher auch die drei Centu - rien geheißen. Verſammelt ſchaarte ſich der Adel nach je zehn Geſchlechtern, Curien genannt; ihrer ſind dreißig; jede der dreißig Curien gab eine Stimme. Die Belie - bung der Mehrzahl der Curien, nicht der Koͤpfe, war Adelsſchluß, ja auch in der einzelnen Curie entſchieden nur die gentes; die Kopfzahl gab bloß innerhalb der gens den Ausſchlag. Waltete gleich Anfangs ein Unterſchied im Rechte zwiſchen den drei nach und nach zuſammengekom - menen Staͤmmen ob, ſo trat doch bald weſentliche Gleich - heit ein, und auch der zuletzt aufgenommene Stamm der Luceres, lange geringeren Gebluͤts geachtet, durfte ſeit Tarquinius Priscus ſein Hundert in den Adelsrath der nun Dreihundert ſenden.
48. Der Adel beſaß auch die Übermacht des Vermoͤ - gens. Sein Ackerland zwar, dicht um die Stadt herum,334Zweites Capitel.war ein kaͤrglich zugemeſſener Beſitz; zwei Joch Ackers konnten fuͤr den Hausſtand an Korn und Baumfrucht wenig leiſten, und der Viehſtand auf der Gemeinweide mußte wol das Beſte thun; aber als das Staatsgebiet ſich vergroͤßerte, nahmen die Geſchlechter als regierende Gemeinde den meiſten Zuwachs in ihre ausſchließliche Nutzung, genug wenn jedes von ſeinem Antheil den Zehn - ten an die Staatscaſſe zu entrichten verſprach. Auf die - ſem ſeinem Staatsacker ließ der Adel zahlreiche Untergehoͤ - rige wohnen, ſey’s daß ſie ein Gewerbe betrieben, oder ein Paar Joch Landes bittweiſe bauen durften. Nach ihrer Menge maaß man die Gewalt eines Geſchlechtes. Sie ſelber, die Clienten, wurden in die Geſchlechter mit - hineingezaͤhlt, aber bloß als dienende Mitglieder, die der Staat nur durch ihre gentilen Vertreter kannte. Es fehlte zwar dem Verhaͤltniſſe nicht an Wuͤrde und Gegenſeitigkeit, aber Ausartung in Helotismus lag nahe, nur daß bei der charakteriſtiſchen Staͤrke des Roͤmiſchen Familienbandes, tief ausgepraͤgt in vaͤterlicher Gewalt und Ehe, an ein Opfer der Familie, wie Lykurg’s Volk es taͤglich brachte, nicht zu denken war.
49. Sonſt iſt die Staatsanlage Spartaniſch genug. Denn eben ſo wenig als die Clienten hatten die freien buͤrgerlichen Grundbeſitzer im wachſenden Roͤmiſchen Ge - biete, Plebejer geheißen, irgend einen Antheil an der Re - gierung. Ihre Familien wohnten in 30 Bezirken (regio - nes), die Bevoͤlkerung jedes Bezirks bildete eine Gemeinde, welche tribus hieß, ohne mehr als den Namen mit den patriciſchen Geſchlechter-Tribus gemein zu haben. Koͤnig Servius Tullius gab der Plebs dieſe Eintheilung. Die Gemeinde-Angelegenheiten der Tribulen eines Bezirks durfte35Staatsverfaſſung der Alten. Rom.ein Tribun leiten; auch gab ihnen Servius Richter fuͤr buͤrgerliche Streitigkeiten, von jeder Tribus ſelber zu, waͤh - len. Verſammlungen ſaͤmmtlicher Tribus hatten, wenn uͤberhaupt geſtattet, lediglich Gemeinde-Zwecke, keine Be - deutung irgend fuͤr den Staat.
50. Gleichwohl iſt Koͤnig Servius, ſoweit die Zeit es zuließ, Roms Solon geworden. Er nahm dem Adel die Regierung nicht, nicht den alleinigen Zutritt zu Koͤnig - thum und Staatsaͤmtern, aber er ſtellte neben ihm eine von der adlichen Geburt unabhaͤngige ſelbſtaͤndige Macht des Beſitzes auf, eine Verſammlung der vermoͤgenderen Freien im Staate, deren Genehmigung fortan fuͤr Geſetze und Wahlen erforderlich ſeyn ſollte, die mithin ein Nein hatte. Das war der wichtige Sinn ſeiner fuͤnf Claſſen der vermoͤgenden Buͤrger, wenn man den Anfang plebejiſcher Rechte beachtet, indeß berichtigte ſie zugleich das bisherige Syſtem des Kriegsdienſtes und ſonſtiger Staatsleiſtungen. Fortan ſoll der Vermoͤgendere allein mit der Lanze und der koſtſpieligen ganzen oder halben Erzruͤſtung in den erſten Reihen die Gefahr beſtehen, waͤhrend die aͤrmere Zahl leichtbewaffnet und ruhmlos, aber auch faſt koſtenfrei hintennachdraͤngt; auch die Steuer ſoll den Plebejer nur nach dem Maaße ſeiner Claſſe belaſten.
51. Aber eben ſo wenig als von Alters her die Cu - rien, darf die Verſammlung der Claſſenbuͤrger nach Kopf - zahl uͤber Wahlen und Geſetze ſtimmen, die Einzelſtimme hilft bloß eine der Geſammtſtimmen bilden, und die große Mehrzahl der Geſammtſtimmen iſt dazu den erſten Ver - moͤgens-Claſſen beigelegt; ja Alles iſt ſo eingerichtet, daß wenn auch nur die 80 Centurien der erſten Claſſe zuſam -3*36Zweites Capitel.menhalten, und mit den 18 Centurien patriciſcher und plebejiſcher Ritter, die von Standeswegen außer den Claſ - ſen mitſtimmen, ebenfalls einig ſind, dieſe 98 Stimmen ganz allein den Sieg davon tragen; denn die niedrigeren Claſſen treten ihnen mit nur 97 Centurien gegenuͤber. Aber außer der Centurien-Einrichtung und der Vermoͤgens - Ariſtokratie iſt der Gewalt der Zahl noch eine dritte Be - ſchaffenheits-Schranke geſetzt: ein Vorrecht des Alters, indem die Haͤlfte der Centurien jeder Claſſe den mehr als fuͤnfundvierzigjaͤhrigen Buͤrgern eingeraͤumt wird, die doch der Kopfzahl nach nur etwa halb ſo ſtark als die juͤngeren ſeyn konnten. Und viertens: die Wirkſamkeit dieſer Ver - ſammlung haͤlt uͤberhaupt eine enggezogene Graͤnze. Jeder Antrag kam ihr vom Adels-Senat, auch der Vorſchlag zu den Wahlen, nirgend eine redneriſche Bewegung; es war eine ſtumme Volksverſammlung, die der Centurien des Marsfelds, nur zur Annahme oder Verwerfung befugt.
52. Dennoch uͤbte ſie ein großes politiſches Recht, das Nein, und es ſchien den Patriciern zu viel damit gethan. Die Veraͤnderung koſtete dem Servius Thron und Leben. Bald war das Koͤnigthum ganz geſtuͤrzt. So - lange der beiden Staͤnden furchtbare vertriebene Tyrann lebte, wurden die Serviſchen Geſetze gehalten; man ſah einen plebejiſchen Conſul, in Centuriat-Comitien erwaͤhlt. Als aber Tarquin todt war, da blieb unerfuͤllt der wahr - ſcheinliche Grundgedanke des Conſulats, den ſchon Servius hegte, daß einer aus dem populus und einer aus der plebs fortan die hoͤchſte Wuͤrde im Staate gepaart bekleiden ſollten. Nicht allein die Waͤhlbarkeit, ſondern auch das Wahlrecht behaupten die Curien fuͤr ſich allein, ſie entziehen ſich dem Zehenten vom ager publicus und37Staatsverfaſſung der Alten. Rom.werfen alle Abgabenlaſt auf die durch Kriegsdienſt in oft ungluͤcklichen Kaͤmpfen ohnehin erſchoͤpften Gemeinden, und keine Wiederherſtellung erſcheint, bis das Übermaas der Privatnoth bei geſteigertem Selbſtgefuͤhl, einige Legionen zur Verweigerung der Kriegsdienſte und zum Abzuge auf den heiligen Berg bringt. Mit der Schutzwehr von zwei Tribunen, den zwei Conſuln gegenuͤber, kehren ſie zuruͤck, laͤngſt bekannte Namen, aber in ganz neuer Bedeutung. Dieſe Volks-Tribunen, unverletzlich von Perſon, uͤben ein Fuͤrſpruchs - und Einſpruchs-Recht gegen die Über - ſchreitungen patriciſcher Staatsbeamten. Es konnte aber nicht fehlen, daß ſie als Überſchreitung ruͤgen wuͤrden Alles, was ſeither gegen das Serviſche Recht geſchehen war.
53. Das Volkstribunat hat die Verfaſſung im Sinne der Buͤrgerfreiheit umgeſchaffen. Die Zahl der Tribunen ſtieg bald bis auf 5 (die Zahl der Claſſen), dann bis auf das Doppelte. Sie brachten die freie lebendige Rede, ein bisher unbekanntes Element in die Centuriat-Verſamm - lungen, ſie den ſchuͤtzenden Antrag. Alles dieſes zwar nicht ohne mannigfachen Kampf nach innen und außen. Ihr Antrag ging aus der Entſcheidung der Mehrzahl des Tribunen-Collegiums hervor. Dieſe Mehrzahl aber war nicht ſelten im patriciſchen Intereſſe gewaͤhlt, vermoͤge des Einfluſſes, den die herrſchenden Geſchlechter dadurch in den Centuriat-Verſammlungen zu gewinnen anfingen, daß viele vermoͤgende Clienten Claſſenrang erhielten. Ja die Ge - ſchlechter uͤbten ſogar, der untergeordneten Stellung der Centuriat-Comitien gemaͤß, Anfangs ein Beſtaͤtigungsrecht der jaͤhrlichen Tribunen-Wahlen durch ihre Curien. Auch pflegten die Patricier dem Rechte der Tribunen, Antraͤge zu machen, die die ganze Staatsverfaſſung angingen, heftig38Zweites Capitel.zu widerſprechen, und uͤber dem Wortkampfe ging der Tag, an welchem bis zu Sonnenuntergang jedes Geſchaͤft abgethan ſeyn mußte, dann ohne Erfolg verloren.
54. Darum war es entſcheidend, als die Tribunen ſchon im dritten Jahrzehend ihrer Wirkſamkeit rein plebeji - ſche Tribus-Verſammlungen durchſetzten, in denen ſie ſelber gewaͤhlt wuͤrden, und die zugleich das Recht haͤtten, uͤber tribuniciſche Antraͤge, welcher Art ſie auch ſeyn moͤchten, unbegutachtet vom Senat, zu berathſchlagen und Beſchluͤſſe zu faſſen. Solchen Beſchluͤſſen fehlte frei - lich noch viel zu einem Geſetze, aber ſie bildeten eine maͤchtige oͤffentliche Meinung; „ ſie waren die Preß - freiheit jener Zeit “(Niebuhr), und von nun an ging das Tribunat von ſeinem hemmenden Charakter zu einem poſitiv geſtaltenden uͤber. Gleichheit der Rechte war das aufge - ſtellte Ziel. Je naͤher man dieſem ruͤckte, um ſo mehr mußte auch der Anſpruch der Plebs, Antheil an dem Staatsacker zu haben, durch Ackergeſetze zur Frage kom - men. In den neuen Comitien fand zwar keineswegs eine Durchſtimmung nach Kopfzahl durch die ganze Verſamm - lung ſtatt, aber indem in jeder einzelnen Tribus die bloße Kopfzahl entſchied, ſchwanden alle Beſchaffenheitsunter - ſchiede weg.
55. Nach ſolchen Vorgaͤngen geſchah, als die Stadt beinahe drei Jahrhunderte alt war, vom Tribunat der Antrag auf ein neues Staatsgrundgeſetz, das heißt, Staatsrecht, Strafrecht, Privatrecht ſollten mehr in’s Gleiche fuͤr alle Staͤnde geſtellt, und die neue Satzung ſollte geſchrieben werden. Noch einem zehnjaͤhrigen Kampfe gab der Senat nach; man war es zufrieden, das gefaͤhrliche39Staatsverfaſſung der Alten. Rom.Tribunat auf dem Wege zur neuen Ordnung zu beſeitigen. Wirklich hoͤrte unter der Herrſchaft der zehn Geſetzgeber das Tribunat ganz auf; und die Plebs hielt ſich fuͤr hinlaͤnglich entſchaͤdigt, ſeit ſie, bis dahin ausgeſchloſſen von hohen Staatsaͤmtern, und ſelbſt einen nur der Con - ſuln aus Patriciern zu waͤhlen berechtigt, im zweiten Decemvirat Maͤnner auch ihres Standes unter den Geſetz - gebern thronen ſah. Allein der Ausgang betrog die Er - wartung der Antragſteller; die alte Satzung war am Ende durch die Schrift weit mehr beſtaͤtigt als gereinigt, die Scheidewand der Staͤnde urkundlich gezogen, und was ja neues erſchien, die Aufnahme von Patriciern und Clienten in die Tribus, verſetzte den fortan noch unvermeidlicheren Kampf auf einen fuͤr die Plebs vor der Hand weit un - guͤnſtigeren Boden; und ſo mag es eine Folge der neuein - gefuͤhrten Miſchung geweſen ſeyn, daß nicht lange darauf eine neue Tribunats-Verfaſſung die Collegialitaͤt der Tri - bunen aufhob, indem ſie die Abſtimmung uͤber einen An - trag davon abhaͤngig machte, daß alle zehen fuͤr einen Mann ſtaͤnden. Nicht alſo die berufenen Geſetzgeber beider Staͤnde waren es, es war vielmehr die drohende Volks - bewegung, die den jaͤhen Umſturz der frevelhaft zur Uſur - pation misbrauchten Decemviralgewalt begleitete, welche die Buͤrgerfreiheit weiter fuͤhrte. Conſulat und Tribunat keh - ren wieder, aber die Centurien waͤhlen nun zum erſten Mahle beide Conſuln, und auf eben dieſer Conſuln An - trag wird den Beſchluͤſſen der Tribut-Comitien gleiche Geltung mit den Centuriat-Beſchluͤſſen fuͤr die Geſetzge - bung verliehen. Von daher die Macht der Tribut-Comi - tien, in welchen der kuͤhnſte Antrag Anklang findet, un - widerſtehlich, ſeit die Clienten mit den Plebejern zu denſelben Standes-Intereſſen zuſammenwachſen. Das40Zweites Capitel.Einſpruchsrecht der Curien und des Senats, einem Volke gegenuͤber, kann noch verſpaͤten, aber nichts verhindern mehr.
56. Von nun an ward raſcher, doch immer ſtufen - weiſe fortgeſchritten vom Wahlrechte bis zur Waͤhlbarkeit der Plebejer, von den kleineren Staatsaͤmtern bis zu den hohen und hoͤchſten. Ariſtoteles trat gerade ſeinen großen Bildungsweg an, und entnahm aus der Zergliederung ſo vieler um ihn her untergehender Staatsverfaſſungen Maas und Regel fuͤr den aͤchten Staatsbau, als tribuniciſche Beharrlichkeit, die ſchon durch Connubien mit dem Adel theilweiſe verſchmolzene Plebs gerade auf den Punkt zu - ruͤckbrachte, auf welchen Koͤnig Servius ſie hatte ſtellen wollen. Ein Conſul ſoll von nun an immer Plebejer ſeyn, und ein gemeſſener Theil vom oͤffentlichen Acker ſoll den Patriciern entzogen und unter Plebejer als Eigenthum vertheilt werden. Was noch von ungleichem Rechte uͤbrig war, fiel nun in den naͤchſten Menſchenaltern (339-286 v. Chr.) von ſelber; erſt nach vollſtaͤndiger Begruͤndung der politiſchen Freiheit fand die perſoͤnliche ihre Sicherheit durch Aufhebung der alten Schuldknechtſchaft.
57. Dergeſtalt kam aber die Roͤmiſche Plebs, aller Volkswuͤrden theilhaftig und privilegirt durch das Volks - tribunat, viel weiter, als bis zur beabſichtigten Gleichſtel - lung. Sie kam vielmehr gerade da zu ſtehen, wo zu An - fang die Geſchlechter ſtanden. Bei ihr war die Herrſchaft. Die Beſtaͤtigung der Volksbeſchluͤſſe durch die Curien und den Senat ward am Ende bis auf eine unbedeutende Foͤrmlichkeit hin ganz aufgehoben, eine Neuerung, die, was die Curien betrifft, unvermeidlich, was den Senat,41Staatsverfaſſung der Alten. Rom.nachtheilig war; denn den Kern des Senats bildete jetzt eine gepruͤfte Verſammlung von Maͤnnern beider Staͤnde, welche in den hoͤchſten Staatswuͤrden geſtanden hatten.
58. Fragt man nun, wie es kam, daß nach der Auf - hebung des alten Gegenſatzes von Adel und Gemeinden jetzt, bei dem laͤngſt verlorenen Koͤnigthum, nicht geradezu reine Demokratie einbrach und durch ſie Anarchie, ſondern vielmehr die Staatsordnung lange Zeit eine ernſte und hohe Haltung behielt, ſo liegt der Grund dieſer merkwuͤr - digen Erſcheinung keineswegs allein in der Religioſitaͤt und lange ſtreng bewahrten Familien-Sitte, ſondern ebenfalls in der Nachwirkung der alten Inſtitutionen auf die oͤffentliche Sitte, fruchtbar fuͤr die Maͤßigung und wohlthaͤtige Staͤ - tigkeit der neuen. Darum, daß die Roͤmiſche Volksver - ſammlung nie dahin gerieth, bloß nach Koͤpfen ſtimmen zu wollen; darum, daß Antraͤge zu Beſchluͤſſen oder Geſetzen nie aus der Volksverſammlung hervorgingen, ſondern von dem Senat ausgingen, oder den Conſuln, oder den Volks - Tribunen. Daher die Bewahrung der Lebenslaͤnglichkeit und wuͤrdigen Stellung ihres Senats, und die Ehrfurcht vor ſeinem Gutachten. In eben dieſem Sinne ließ man einen gewiſſen Gegenſatz von Demokratie und Ariſtokratie fortbeſtehen, indem man die beiden Formen der Volksver - ſammlung beibehielt. Die geſetzgebende Gewalt zwar ruhte weſentlich in den Tribut-Comitien; außer den Volks - Tribunen wurden auch die Ädilen und die niederen Magiſtrate hier gewaͤhlt, wo jeder Roͤmiſche Buͤrger ohne Unterſchied des Vermoͤgens ſtimmte. Den Centuriat-Comitien aber blieb die Wahl aller (fruͤher) altpatriciſchen Magiſtrate vorbehalten, die Entſcheidung uͤber Krieg und Frieden und das hoͤchſte Criminalgericht. In dieſen Comitien ward in42Zweites Capitel.altherkoͤmmlicher Form die patriciſche und nichtpatriciſche Ritterſchaft fortwaͤhrend durch beſondere Centurien geehrt; von den uͤbrigen Buͤrgern hatte nur derjenige Recht zu ſtimmen, der eines gewiſſen Claſſen-Vermoͤgens war. Nun trat zwar jetzt eine andere Eintheilung und Schaͤtzung an die Stelle der veralteten Claſſen des Servius, welche fuͤr die Kriegsaufſtellung ſeit Ausbildung der Legion ohne - hin keine Bedeutung mehr hatten, und die umgebildeten Centurien wurden jetzt Theile der Tribus, ſo daß jede Tribus mit 2 Centurien ſtimmte; allein den tiefwirkenden alten Unterſchied der Centurien der Älteren und der Juͤn - geren fuͤhrte man auch bei der neuen Einrichtung durch. Ebenfalls ließ man zwar zeitgemaͤße Änderungen an der Zahl der Tribus zu, deren Zahl ſich fruͤher durch Land - verluſte von 30 auf 25 vermindert hatte, und die ſich jetzt durch die allmaͤhlige Aufnahme Italiſcher Voͤlkerſchaf - ten in volles Buͤrgerrecht bis zu 35 vermehrten, allein man verhuͤtete den Andrang fremdartiger Maſſen gerade dadurch, daß man den neuen Buͤrgern wenige neue Tri - bus fuͤr ſich anwies, und ebenmaͤßig die neuaufgenommene Menge Gewerbtreibender und Freigelaſſener Roms in 4 ſtaͤdtiſche Tribus zuſammenzwaͤngte. Somit wirkte die Sorge, daß Rom Mittelpunkt der Herrſchaft bliebe, Ita - lien nur untergeordnet theilnaͤhme, kraͤftig zur Erhaltung der alten Formen mit. Rom war verloren, wenn man nach Kopfzahl ſtimmte.
Die Staatsverfaſſung, einmahl in’s Gleiche geſtellt, kam zur Ruhe, und das Gutachten des Senats behauptete fortwaͤhrenden Einfluß auf die Geſetzgebung. Der Senat fuͤhrte die Finanzverwaltung, legte die Steuern auf, welche uͤberdem bald Italien nichts mehr angingen; er hatte die Leitung der auswaͤrtigen Angelegenheiten, und Richter43Staatsverfaſſung der Alten. Rom.aus dem Senat ſprachen in peinlichen Faͤllen, Volksrichter nur in buͤrgerlichen. Aus der Vereinigung ſo vieler Thaͤ - tigkeiten ging ein factiſches Veto des Senats hervor, eine Bedeutung, die ſich auch den ſenatoriſchen Familien mit - theilte, welche nun nach Amtsahnen zaͤhlten ſtatt der Geſchlechtsahnen, und es dem Roͤmer, welcher curuliſcher Vorfahren ermangelte, ſchwer genug machten, in den ge - ſchloſſenen Kreis dieſer neuen Nobilitaͤt einzudringen, und wenn er arm war, faſt unmoͤglich. Denn die erſte Stufe zum Amts-Adel, die Ädilitaͤt, konnte ſeit dem erſten Pu - niſchen Kriege nur durch Feſiſpiele, aus eigenen Mitteln zu beſtreiten, erſtiegen werden. So war ein Herkommen wieder da, eine Ariſtokratie, von der das Staatsrecht nichts wußte, und deren Macht doch jede Stunde bezeugte.
59. Bei dem Allen war nicht zu erwarten, daß eine Verfaſſung, welche ohne anerkanntes Gegengewicht am Ende doch auf den Willen des einen Koͤrpers der Volks - verſammlung beruhte, dauerhaften Beſtand habe. Schon Polybius empfand, daß ihr die Nothwendigkeit abgehe. Jede freie Verfaſſung rechnet auf Tugend im Volk, aber auf ein tugendhaftes Volk darf keine rechnen. Am wenig - ſten ein Staat der erobert, denn wer herrſcht, lernt am Ende auch genießen.
Den Verfall der Freiheit und alten Ordnung brachte
60. Die Entſcheidung uͤber den Freiſtaat gab Sulla, als er durch die bewaffnete Macht die Staatsverfaſſung aͤnderte, wenn auch fuͤr das Mahl zu Gunſten der alten Ordnung, und dieſe Änderung durch Militaͤr-Colonieen bewachen ließ. Seit die Heere uͤber die Verfaſſung gebo - ten, durfte Pompejus eigenmaͤchtig das Morgenland bis zum Euphrat erobern, in Provinzen und abhaͤngige Fuͤrſten - thuͤmer zerfaͤllen und ſich der Verdoppelung der Staats - Einkuͤnfte ruͤhmen, Caͤſar das Galliſche Abendland bezwin - gen, einrichten, den Staat, der nie auswachſen ſollte, noch auf Britannien und Deutſchland anweiſen; die Ver - mehrung der Staats-Einkuͤnfte um ein Drittheil war ſeine Rechenſchaft. Neben Maͤnnern mit koͤniglichen Einkuͤnften, denen jeder ihrer Kriegsleute ein Vermoͤgen dankte, dazu oft Italiſchen Grundbeſitz auf Koſten der rechtmaͤßigen Innhaber, galt Buͤrgerfreiheit nichts, die hauptſtaͤdtiſche Volksverſammlung, ſchmachtend nach Brod und Luſtbar - keiten, lediglich als Werkzeug. Ein Cicero ließ es ſich gefallen, den Zweck des Roͤmiſchen Staats in der Erhal - tung der großen Familien zu erkennen.
61. Aus Julius Caͤſar’s lichtem Haupte entſprang der Gedanke, durch Wiederherſtellung eines rechtmaͤßigen46Zweites Capitel.Koͤnigthums den Staat aus der Schwankung zu reißen; ein Grundgeſetz der Monarchie, deſſen Waͤchter der Senat waͤre, war noch moͤglich; aber die Dolche von Brutus und Caſſius, rettend vielleicht was ſie nicht kuͤmmerte, die zu den groͤßeſten Dingen beſtimmte, durch Caͤſar’s letzte Entwuͤrfe ſchwer bedrohte Freiheit der Deutſchen, gaben der einzigen, auf die realen Elemente anwendbaren, freiheit - lichen Ordnung den Todesſtoß. Die Graͤuel der Triumvi - ren waren, die auf den Nutzen geſtellte Anſicht einmahl zugegeben, groͤßtentheils nothgedrungen, unerlaͤßlich, um ein paarmalhundertauſend ungeſtuͤm draͤngende Krieger mit Geld und Italiſchem Acker abzulohnen; und als einer unter den Triumviren die Alleinmacht unter erlogenen For - men der Republik davontrug, blieb es zweifelhaft, ob ſei - nen Nachfolgern der Senat das Imperium uͤbertragen werde, die Bezeichnung des Vorgaͤngers ehrend, oder ob die Garden, oder beide vereinbart, oder auch vielleicht ein Graͤnzheer. Das Eine ſtand feſt: der Traum der Wieder - herſtellung der Republik kann wol im Senat noch getraͤumt werden, aber die bewaffnete Macht huldigt nur monarchi - ſchen Formen mehr.
62. Der Ausgang war bloß zu Anfang dem Senat, bald entſchieden den Garden guͤnſtig; alſo ein Principat von einer Kriegertruppe, die denn doch gewiſſermaaßen Rom angehoͤrte, in Erwartung oder unter der Bedingung einer reichen Spende, uͤbertragen, vom Roͤmiſchen Senat hintennach gebilligt und in die Form gebracht. Die Volks - Verſammlung hatte das jauchzende Zuſehn. Als der letzte der Caͤſaren den Aufſtaͤnden der Provinzial-Heere erlegen war, zeigte ſich ungeachtet der foͤrmlichen Übertragung der alten Verfaſſungsrechte durch den Senat an Vespaſian,47Staatsverfaſſung der Alten. Rom.die Naͤhe der Gefahr, daß Rom, ja ſelbſt Italien aufhoͤrte, Mittelpunkt des Reichs zu ſeyn. Denn die Beguͤterten aus allen Enden des Roͤmiſchen Reiches kamen jetzt in den Roͤmiſchen Senat, in die Roͤmiſche Ritterſchaft, und nicht lange, ſo ſah man Spanier, welche Kaiſer wurden.
63. Alle beſſeren Kaiſer hoben den Senat als das einzig uͤbrige Bild der alten Ordnung, waͤre es auch nur durch die Zuſage, daß kein Senator hingerichtet werden duͤrfe; hoben die Ehre der Geſetze, und mochten deßhalb neben dem Rechte der Ausnahmen (princeps legibus so - lutus est) recht gerne den Satz 1) geſtellt wiſſen: quae facta laedunt pietatem, existimationem, verecundiam nostram et (ut generaliter dixerim) contra bonos mores fiunt, nec facere nos posse credendum est; beriefen deß - halb ihre großen Meiſter in der Rechtsgelehrſamkeit, die einzig bewaͤhrten Charaktere der Zeit, in ihr Hofgericht, wo der Kaiſer in Perſon ſprach, als Beiſtaͤnde, und man - cher Statthalter mußte empfinden, was es bedeute, daß er nun nicht mehr, wie zur Zeit des Freiſtaats, in letzter Inſtanz Recht ſpreche. Alles beruhte indeß auf der Perſoͤn - lichkeit des Kaiſers, und bei dem Mangel aller zwingenden Grundſaͤtze ward die ohnehin ſchwache vererbende Kraft des Guten, waͤhrend das Boͤſe ſich tief in die Faſern ganzer Geſchlechter einniſtet, vollends ohnmaͤchtig. Die ſchlimme Art brach zuletzt immer durch. Kaiſer Valens ließ ſich uͤberreden, die Wahrnehmung des oberſtrichterlichen Amts ſey tief unter ſeiner Wuͤrde 2).
64. Vornehmlich krankten die Finanzen. Schon ſeit der Dalmatier Diocletian das Reich um beſſerer Ordnung Willen in vier Kaiſertheile theilte, die doch nach ſeinem Wunſche ein Ganzes bilden ſollten, ging die Steuerfreiheit Italiens, ſo oft factiſch ſchon verletzt, auch dem Grund - ſatze nach verloren. Aber Italien war nicht mehr uner - ſchoͤpflich. Die Zahl der Privat-Vermoͤgen von koͤnig - lichem Umfange ſchmolz zuſammen, ſeit beſoldete Statt - halter waren, und nur der Kaiſer in Perſon erobern durfte. Aber fuͤr den kaiſerlichen Bedarf wurden jetzt die Provin - zen ausgeraubt, raͤuberiſche Beamte fanden Vorſchub, um hernach wie ein Schwamm ausgedruͤckt zu werden; ſchon Caracalla verlieh allen Freigeborenen im Roͤmiſchen Reiche Roͤmiſches Buͤrgerrecht, lediglich um der Steuern Willen, die mit dieſem Rechte zuſammenhingen. Die neue Ord - nung, welche Diocletian und Conſtantin in das Abgaben - weſen brachten, erleichterte ſchlechten Kaiſern die jaͤhrlichen Steuererhoͤhungen, doppelt peinigend durch ein Quoten - Syſtem. Der unertraͤgliche Steuerdruck erſchuf eine dem Reiche bisher fremde Claſſe der Bevoͤlkerung: leibeigene Bauern, und nicht bloß in Gallien endloſe Kriege dieſer Bagauden gegen ihre Draͤnger.
65. Das verzweifelnde Landvolk begruͤßte in den Soldaten ſeine Protectoren, die auch wirklich oft beſſer, gegen das Geſetz eingreifend, halfen, als den unter Ar - menlaſten und ſolidariſcher Steuerhaftung ſeufzenden, doch im Glanz der Gebaͤude ſtrahlenden Staͤdten ihre geſetzlich beſtellten Defenſoren. Denn der Soldat war weder Roͤ - miſch noch Italiſch mehr, auch gehoͤrte er nicht den Pro - vinzen ohne Unterſchied an; er ward in den Graͤnzprovin - zen zuſammengeworben, an beiden Seiten der Graͤnze,49Staatsverfaſſung der Alten. Rom.gluͤcklich noch, wenn der Kern aus ſolchen Barbaren beſtand die im Reiche geboren, oder im Knabenalter als Geißel hineingefuͤhrt waren. Der Roͤmiſche Unterthan kaufte die Dienſtpflicht fuͤr ein willkuͤhrlich beſtimmtes Taxat ab. So ſehr hielten die Barbaren-Voͤlker draußen, als ihre Stunde kam, bloß die Nachleſe des Roͤmiſchen Wohlſtandes.
66. Dahin gerieth es, daß ein Mann von altroͤmiſchen Erinnerungen ſelbſt in den verſchwundenen Praͤtorianern den Untergang einer Roͤmiſchen Volksvertretung bedauern konnte. Der Senat von Rom war zum Stadtrath geſun - ken (nothwendige Folge der Reichstheilungen!), bloß in dem Kaiſer, mochte einer auch in Nikomedien oder Mayland oder endlich in Konſtantinopel reſidiren, mochte er allein Kaiſer, oder mit mehreren, oder Ober-Kaiſer ſeyn, war der Staat, der der Roͤmiſche noch hieß, enthalten, welchen Barbaren (die tuͤchtigſten von ihnen auch in der Ruͤſtung des Auslands) von innen beſchuͤtzten, von außen beſtuͤrm - ten. Der Kaiſer war numen, sacrum numen und heilig vom Diadem bis zur Purpur-Dinte, ohne Einſpruch der neuen Staats-Religion ein Gottmenſch in Seide und Gold, von Halbmenſchen und adorirenden Unverſchnittenen umgeben, — und doch und eben deßhalb kein Koͤnig.
Zu Arkadius aber, dem jugendlichen Kaiſer des Mor - genlandes, wagte Syneſius wahr zu reden: „ Der Unter - ſchied zwiſchen Koͤnig und Tyrann “, ſprach er, „ liegt nicht in der Menge der Unterthanen, ſo wenig als der Unter - ſchied zwiſchen Hirte und Koch in der Groͤße der geweide - ten oder geſchlachteten Heerde beſteht. Dem Koͤnige wird zur Natur das Geſetz, die Natur des Tyrannen macht ſich zum Geſetze. Schimpflich fuͤr den Herrſcher, bloß durch Maler ſeinem Volke bekannt zu ſeyn. Wann ſtand450Zweites Capitel.es beſſer um das Reich, heutzutage, da ihr verpurpurt und vergoldet ſeyd, mit Steinen aus barbariſchen Bergen und Meeren vom Haupte bis zur Sohle beſetzt, geguͤrtet, geſchnallt, bepolſtert, wie Pfauen ſtrahlend in ſteinernen Roͤcken, die bei Homer eine Verwuͤnſchung ſind, und doch wie Eidechſen nie aus eurer Hoͤhle hervorgehet, — oder damahls als Sonnenverbrannte das Heer fuͤhrten? Der kriegeriſche Herrſcher allein vermag auch der wahrhaft fried - liche zu ſeyn. Ihr vermeidet den Namen Koͤnig (in Athen zur Zeit der Volksfreiheit ein kleines verantwort - liches Amt) und nennet euch nie mit dieſem Namen als einem verhaßten, weder gegen eine Stadt, noch einen Privatmann, noch einen barbariſchen Fuͤrſten, ihr nennt euch Imperatoren, aber das bedeutet einen Feldherrn. Mit Unrecht meidet ihr das Koͤnigthum, welches Platon eine Gottesgabe fuͤr die Menſchheit heißt. Das iſt es auch, wenn das Koͤnigthum nicht aus dem Verborgenen ſchreck - haft dann und wann hervorbricht, ſondern geraͤuſchlos und gleichmaͤßig, wie die Gottheit, die menſchlichen Dinge ordnet, jedem zutheilend, weſſen er empfaͤnglich iſt. Wird denn die Sonne verachtet, weil ſie ſich blicken laͤßt? Soll das laͤngſt zur Geburt draͤngende letzte Geſchick des Roͤmiſchen Reiches nicht hereinbrechen, ſo muß Gott und ein Koͤnig helfen “1).
Allein der Fortgang ſeiner Rede zeigt, daß fuͤr das Koͤnigthum auch das Volk ſchon fehlte, das will ſagen, ein mit Nothwendigkeit zuſammengehoͤriges Menſchenweſen, ein Gemeinweſen der Geſinnung. Wo weder das Zu - ſammengewachſene mehr iſt, noch das in Eins Gebildete, da bleibt bloß eine Bevoͤlkerung uͤbrig, die, jeder erſinn - lichen Form faͤhig, keiner durch ihr Weſen angehoͤrt.
67. Rom hat den Germanen ihre Staͤdte gebauet 1), ihnen die Kenntniß von mancherlei Gewerbe und lohnen - derem Ackerbau zugefuͤhrt, hat ihnen das Chriſtenthum zur Staatsreligion gegeben und eine chriſtianiſirte hoͤchſt ausge - bildete Geſetzgebung dargeboten, in derſelben einen Schatz von Reſultaten der Menſchengeſchichte, auf alle Faͤlle wei - terbildend, ſie mochte nun angenommen oder ausgeſtoßen werden. Außerdem gab Rom ihnen die Hauptbevoͤlkerung ihrer Staaten. Das Volk thaten die Germanen hinzu, und eine Staatsanlage, die von Anfang her in das Große ging, unterſtuͤtzt durch eine Kriegsverfaſſung, welche der dem Alterthum eigenen Feindſchaft zwiſchen Ariſtokratie und Monarchie fuͤr immer ein Ziel ſetzte.
68. In der Groͤße der Germaniſchen Staaten erken - nen wir den Unterbau unſerer heutigen Staatengeſellſchaft. Ariſtoteles forderte fuͤr die Tragoͤdie eine gewiſſe Groͤße als weſentlich; mit noch viel mehr Recht heiſchten die Griechen fuͤr den Staat ein gewiſſes Maas raͤumlicher Entfaltung, oft ſchwer genug zu erlangen. Wo Kleines ſich als dem Großen gleich gebehrdete, uͤberſah, was die freie Bewegung nach außen auch fuͤr das innere Seyn bedeute, da fehlte es in der Zeit lebendiger Verhaͤltniſſe nicht an mancherlei Zurechtweiſung: „ Mache nicht große Schuhe fuͤr einen kleinen Fuß “, hieß es da, oder: „ Ent - weder fuͤge zu deiner Staͤrke etwas hinzu, oder nimm von4*52Drittes Capitel.deiner Hitze etwas hinweg “, oder was der Megarenſer vom Lyſander hoͤren mußte: „ Deinen Reden fehlt weiter nichts als der Staat. “ Bei allem dem macht gerade die Kleinheit einen Theil vom Weſen der wichtigſten Staaten des Alterthums aus, wovon die Spur nie verloren geht. Sie fingen mit Stadt und Stadtgebiet an, und blieben, ſo ausgedehnt ſie auch durch Eroberung wurden, von klei - nem Zuſchnitt, Hauptſtadt-Staaten. Dagegen nahmen die Germaniſchen Landvoͤlker, ſobald ſie ihre Natur-Ver - faſſung verließen und erobernd ſich des Staates bewußt wurden, einen großen und maſſenhaften Staats-Charakter an. Die feſten Hauptſtaͤdte waren bei den Germanen, wo ſie ſich ſelbſt mehr uͤberlaſſen blieben, eine ſpaͤtere Erfindung.
69. Das Chriſtenthum ſtellte den Staat nothwendiger Weiſe tiefer, als er bei Griechen und Roͤmern ſtand. Es will die erſte Angelegenheit des Menſchen ſeyn, welchen Staat er auch bewohne. Dem Staate bleibt hoͤchſtens die zweite Stelle, er kann nicht mehr im Ariſtoteliſchen Sinne Architektonik ſeyn. Das Chriſtenthum will die Einzelnen umwandeln, die Familie reinigen, und laͤßt es mit dem Staate darauf ankommen, wie er den Weg zur Nachfolge finde. Inzwiſchen iſt es unmoͤglich, daß daſſelbe nicht, weiter durchgebildet, auch gewiſſe Staatsformen vor - ziehe als dem chriſtlichen Leben zuſagend, andere verwerfe als das Gegentheil; nur daß alles Recht bei ihm den Pflichten nachſteht, und es nur in ſoweit dem Rechte nachfragt, als ſolches fuͤr die chriſtliche Freiheit nothwen - dig iſt. Das Chriſtenthum ſtellt allerdings Menſchenrechte auf, welche zu politiſchen Rechten der Gattung fuͤhren, allein von natuͤrlichen politiſchen Rechten aller Indivi -53Neuere Staatsverfaſſung.duen im Staate iſt in ihnen nichts enthalten. Die zuerſt aͤußerlich hervortretenden Reſultate waren: Misbilligung des Sclaventhums, welches Menſchen als Sache behan - delt, und Empfehlung barmherziger Armenverſorgung, beide langſam durchdringend, aber von unermeßlichen Folgen. Daneben arbeitete es in aller Stille an einem Zuſammen - hange von Ueberzeugungen und Zuſtaͤnden, die uͤber den einzelnen Staat hinausgingen, an einer buͤrgerlichen Ge - ſellſchaft ſeiner Bekenner.
70. Der Entwickelungs-Gang der alten Verfaſſungen war: Untergang des National-Koͤnigthums durch den Adel, dann Untergang des Adels durch das Volk. Die Volksfreiheit bildete ſich durch Verwandlung der Vielartig - keit in eine Gleichartigkeit, welche den Staat aufloͤste. Wo das nicht ſo kam, da trat, wie in Sparta, ſtatt der Entwickelung Erſtarrung ein. Der Germaniſche Staat nimmt einen andern Weg. Aus dem ruhenden Germani - ſchen Volksgrunde treten Koͤnigthum und Adel nicht bloß in endlich entſchiedener Geſtalt hervor, ſeit die Deutſchen Eroberer werden, ſondern die Ariſtokratie erkennt auch die Unentbehrlichkeit des Koͤnigthums. Die Lehnsverfaſſung iſt aus einem den Staat urſpruͤnglich nicht angehenden Kriegsdienſt-Verhaͤltniſſe der Gefolgſchaften, und, wenn es gelungen war, aus einem Acker-Sold auf Ruͤckfall, zur Grundlage der Staatsverfaſſung des Mittelalters ge - worden. Sie machte Koͤnigthum und Ariſtokratie ſo noth - wendig fuͤr einander, wie Feldherr und Kriegsheer es ſind; in ihr fanden Sieger und Beſiegte zuerſt ihren Frieden; die Verſammlung der Lehns-Großen, durch den Zutritt der hohen Geiſtlichkeit doppelt gewaltig, ſetzte ſich an die Stelle der wegen der Groͤße des Staats ohnehin54Drittes Capitel.nicht mehr moͤglichen Volksverſammlung, und als die Ge - meinfreiheit endlich wieder zur Staatsgeltung durchbrach durch die ihr vom Lehne gezogenen Schranken, da begehrte ſie ſelber einer Volksverſammlung nicht mehr, ſondern trat aus Staͤdten, deren Stolz das vom Alterthum geſchmaͤhte Handwerk war, durch Abgeordnete heran; ja auch als dem Bauer der Tag der Freiheit wieder leuchtete, ihm, der die ſchwerſte Laſt der Staatsbildung getragen, war er es wohl zufrieden, ſich dem Staate durch ein erwaͤhltes Mitglied ſeiner Landgemeinde darzuſtellen.
71. Das Volk der Celten hatte ſeine große Zeit ſchon gehabt, als die Germaniſche anfing, und ſein Familienleben war von jeher zerriſſen und unedler. Das Germaniſche Volksleben ſteht nicht bloß an ſittlicher Tiefe und Vielge - ſtaltigkeit dem des Alterthums voran, es hat bei dieſer Fuͤlle der nebeneinander gepflegten Formen des Daſeyns auch der zur Einheit durchbildenden Kraft, welche dem Ganzen ſeine Friſche und Bedeutung verbuͤrgt, nicht uͤberall ermangelt. Davon giebt England das Zeugniß, deſſen ehrwuͤrdiger Verfaſſungsbau uͤberall die Hand der Jahr - hunderte an ſich traͤgt, und das, ſo oft Veraltung auch ſchon drohte, doch immer die Staats-Jugend wiederzuge - winnen weiß. Zwei Punkte ſind es, welche hier beſondere Aufmerkſamkeit verdienen: die Stellung der Engliſchen Ariſtokratie und der Organismus ſeines Parlaments.
72. England hat die ſtaͤrkſten Miſchungen ſeiner Be - voͤlkerung erlitten und uͤberwunden, nicht durch Zuwande - rungen, wie Athen und Rom, ſondern durch eine ganze Folge uͤberſtandener Eroberungen. Celtiſche Britannier,55Neuere Staatsverfaſſung. England.dann Roͤmer, heidniſche und chriſtliche; die lange Herr - ſchaft der Sachſen, heidniſcher und chriſtlicher; die kurze der Daͤnen, ebenſo; endlich die Normannen.
Sieger ſtanden uͤber Beſiegten. Das Vaſallen-Schwert mußte behaupten was es gewonnen hatte. Wilhelm der Eroberer erſchuf ſich mit anderthalbtauſend Landguͤtern eine ungeheure Krondomaͤne, und that ſie an Vaſallen aus, gab ſeinen Großen hunderte von Landguͤtern, die dieſe Kronvaſallen wieder austhaten an After-Vaſallen, Alles um Kriegsdienſt. Der Vater des Lehns iſt der Krieg. Lehndienſt fordert Mannlehen und Erſtgeburtsrecht, d. i. Untheilbarkeit zu Gunſten des Erſtgeborenen. Dieſer Lehnsgrundſatz durchdrang den ganzen Staat. Der Koͤnig nennt ſich den Lehnsherrn des ganzen Grundeigenthums im Reiche. Alles Grundeigenthum wird nach Lehnrecht beſeſſen; es giebt keine Allode in England.
Das Roͤmiſche Erbrecht kennt keinen Vorzug der Primogenitur. In anderen Staaten wandte man die Be - ſtimmungen deſſelben auf das Grundeigenthum an, theilte im Suͤden von Frankreich ſogar die Lehne nach Koͤpfen und ließ ſie allmaͤhlig aus der geſammten Hand gehen. In England verwarf man das Juſtinianeiſche Recht, weil, ſagt man, es unumſchraͤnkte Fuͤrſtenherrſchaft lehrte und dem Lehngeſetze widerſtritt.
Die Folge war faſt unbeweglicher Beſitz des Grund - eigenthums in denſelben Familien, und vornehmlich ein Zuſammenhalten deſſelben in gewaltigen Maſſen in den Haͤnden der großen Barone, der weltlichen und der geiſt - lichen; denn auch die letzteren waren mit ihrem Grund - vermoͤgen dienſtpflichtige Lehnsleute. Alle andern Lehns - leute ſtanden tief unter dieſen.
56Drittes Capitel.73. Die Praͤlaten und großen Barone ſaßen in des Koͤnigs Rath, parlement; ſie bildeten den Gerichtshof des Koͤnigs, curia regis, theils verſammelt, theils die Grafſchaften durchreiſend. Wenn Steuern noth ſind, und ſie ſind uͤberall noth, wo nicht Provinzen, in der Roͤmer Art, aushelfen, bringen die reiſenden Richter ſie in den einzelnen Grafſchaften und Staͤdten auf. Ausnahmsweiſe wurden Deputirte aus den Grafſchaften (Ritter von den Einwohnern gewaͤhlt im J. 1254.) etwa zum Koͤnige be - rufen, um in Zeiten des Dranges Beiſteuern zu geben. Die Regel war eine Reihe von Privat-Vertraͤgen. Es gab noch keine ſteuerbewilligende Verſammlung.
Im Jahre 1264 aber fuͤhrten die großen Baronen Krieg mit ihrem auf Auslaͤnder bauenden Koͤnige Hein - rich III. wegen gekraͤnkter Freiheit; der ſchwache Koͤnig fiel mit ſeinem Erben gefangen in des Grafen von Lei - ceſier, Simon von Montfort, Haͤnde. Da beruft im naͤchſten Jahre der Sieger, um die uſurpirte Macht zu ſichern, Deputirte aus Grafſchaften, Staͤdten und Flecken zur Parlaments-Verſammlung. Dieſe Anordnung ward dauernd, nachdem der aus der Gefangenſchaft befreite Koͤnigsſohn die Krone wiederhergeſtellt hatte und als Eduard I. herrſchte.
Die neue Verſammlung ward um der Steuern Willen berufen, welche die Gemeinden, deren Organ die De - putirten waren, bewilligen ſollten. Sie erſchienen nicht aus perſoͤnlichem Rechte, wie die Mitglieder alter Volks - verſammlungen, und die Verſammlung ihrer geiſtlichen und weltlichen Lords. Kein Zweifel auch, daß ſie an Auftraͤge ihrer Waͤhler gebunden, erſt im Verlaufe der Jahrhunderte zu Vertretern, nach eigner freier Einſicht handelnd, gediehen. Um ſo weniger iſt es zu verwundern, daß die57Neuere Staatsverfaſſung. England.Deputirten der Grafſchaften, mochten ſie ſich auch ritter - lichen Standes ruͤhmen, ſich von den Lords entfernt und zu den ſtaͤdtiſchen Abgeordneten hielten, mit welchen ſie in gleicher Lage waren. Ober - und Unterhaus ſind gleich unter Eduard I. geſchieden, und alle Steuern muͤſſen vom Unterhauſe bewilligt ſeyn. Aber das Unterhaus knuͤpft Bedingungen an ſeine Steuer-Bewilligungen, und erlangt dadurch auch einen Antheil an der geſetzgebenden Gewalt.
74. Mit der Bildung einer Wahlkammer im Parla - ment, welche einen nothwendigen Antheil an der allgemei - nen Geſetzgebung hat, hoͤrt das bloße Nebeneinander in der Engliſchen Staats-Verfaſſung auf; die Staatsgewal - ten treten in eine organiſche Verbindung. Dennoch wuͤrde ein Verhaͤltniß, wie zwiſchen Siegern und Beſiegten, uͤbrig geblieben ſeyn, wenn die durch das Unterhaus vertretenen Gemeinden fortwaͤhrend die Laſt der Abgaben faſt allein getragen haͤtten. Es verſchwand, ſeit 1) die Lords ſich allen Steuern, directen und indirecten, unterwarfen, und gleichwohl die Bewilligung der Steuern nach wie vor dem Unterhauſe anheimſtellten, ſich lediglich die Rechte der all - gemeinen Zuſtimmung vorbehaltend, ſeit ſie 2) alle Lehns - rechte aufgaben, ſeit 3) der Koͤnig das Recht geltend machte, Lords beliebig zu ernennen (1377.); 4) dadurch, daß die juͤngeren Soͤhne der Lords ſich dem buͤrgerlichen Leben und Gewerbe zu widmen anfingen, haͤufig auch als Deputirte im Unterhauſe erſchienen. Endlich 5) hat die Weisheit Koͤnig Wilhelms IV. mittelſt der Reform-Acte vom Jahre 1832. den großen und gefaͤhrlichen Einfluß be - ſeitigt, welchen die Lords bis dahin unmittelbar und mittel - bar auf die Wahlen der Mitglieder des Unterhauſes uͤbten.
58Drittes Capitel.Dergeſtalt blieb, nachdem das Lehnsweſen ſeine Be - deutung in der Verfaſſung verloren hatte, weil der Kriegs - dienſt vom Lehn aufhoͤrte, und nachdem Karl II. alle Lehen in freie Erbzinsguͤter verwandelt hatte, uͤber die durch Teſtament verfuͤgt werden durfte, die Paͤrie als eine rein politiſche Inſtitution uͤbrig, als ein lebendiger Zweig der Staatsgewalt, die Fortdauer ihres erblichen Vorrechts ſtuͤtzend auf einem ungeheuren unveraͤußerlichen Grundver - moͤgen, dem Ganzen zum Nutzen, keinem Stande zu Leide, auch kein Selbſtgefuͤhl des Buͤrgerlichen verletzend, weil die juͤngeren Soͤhne der Lords dem Buͤrger-Stande an - gehoͤren, und die Geburt der Mutter eines Lords rechtlich gleichguͤltig iſt.
75. Wie viel es aber fuͤr die Staatsverfaſſung und den Volksfrieden bedeute, daß die Geburtsariſtokratie ihre rechte und verſoͤhnende Stelle im Staate finde, ergiebt ſich vollends unwiderleglich, wenn man die Geſchichte an - derer Staaten, in welcher die Ausbildung des Adels einen abweichenden Weg nahm, in die Vergleichung zieht.
Der Kampf, den in England manche Koͤnige gegen die Kronvaſallen unternahmen, ſcheiterte dort an dem Zu - ſammenhange ihres Widerſtandes und dem rein bewahrten Grundcharakter des Lehnweſens. Die franzoͤſiſche Krone machte ihre Angriffe im Einzelnen, untergrub das Princip und kam zum Ziele. Schon die Kreuzzuͤge wur - den zu dieſem Zwecke benutzt; man geſtattete dem Adel Guͤter-Verkaͤufe zum heiligen Werke. Mehr that das Eindringen Roͤmiſcher Rechtsgrundſaͤtze, die Zerſplitterung des Grundeigenthums beguͤnſtigend. Im Suͤden des Rei - ches, wo das Juſtinianeiſche Recht vorwog (pays du droit écrit), theilte man fruͤh die Lehne nach Koͤpfen; im Norden,59Neuere Staatsverfaſſung. Frankreich.wo das Roͤmiſche Recht nur als Huͤlfs-Recht galt (pays de coutume), fand zwar bis in’s achtzehnte Jahrhundert eine gewiſſe Primogenitur ſtatt, indem der Haupttheil vom Lehen (préciput) dem aͤlteſten Sohne zufiel und daneben auch ein groͤßerer Theil vom ſonſtigen Vermoͤgen, aber die Sitte der Theilungen nahm immer mehr zu, die juͤngeren Soͤhne entzogen ſich der Lehnsfolge und der Antheil des Älteſten ward verringert. So zerfiel der Lehnsdienſt durch die verlaſſene Lehnsordnung, ehe er noch vor der veraͤnder - ten Kriegsordnung veraltete. Je ſtaͤrker die Zahl der Adlichen geworden war, um ſo geringer die politiſche Be - deutung des Adels, je zertheilter die Grundſtuͤcke, um ſo ſtrenger ward auf den Feudalrechten derſelben, auf ihrer Steuerfreiheit gehalten. Mit dem Adel ſtimmte, wer gegen eine Abgabe an die Krone ein adliches Grundſtuͤck erworben hatte. Seit 1270. gab es auch Briefadel.
76. Auf den Reichstagen erſchienen zwei Staͤnde, die hohe Geiſtlichkeit und als zweiter Stand die Beſitzer adlicher Grundſtuͤcke, die den Adel ausmachten. Seit Philipp dem Schoͤnen auch ein dritter, die Staͤdte (1302.). Ein Reichstag von drei Curien kommt nie leicht zum Ziele, die Staͤdte aber halfen gern die Macht des Adels vollends ſtuͤrzen, der kein Staats-Princip mehr fuͤr ſich hat, und den ſteigenden Staatsbedarf gegen ſich.
Die Krone hatte den Adel als Staatsgewalt (die ſich auch gegen die Krone wenden konnte) folgerecht von Lud - wig XI. bis auf Richelieu bekaͤmpft und endlich zerſtoͤrt; ſie wuͤnſchte ihn indeß als Vormauer gegen die Anſpruͤche des dritten Standes beizubehalten. Die Gerechtſame der Staͤdte mußten vor den Angriffen einer auf Unumſchraͤnkt - heit geſtellten Koͤnigsmacht fallen, waͤhrend dem Adel die60Drittes Capitel.Freiheit von den wichtigſten Staatsleiſtungen vergoͤnnt ward, dabei eigene Gerichtsbarkeit und Polizey und man - cherlei Lehnsherrlichkeit auf ſeinen Guͤtern; daneben unter Ludwig XV. die ausſchließliche Hoffaͤhigkeit; die Frau des Adlichen war nur dann hoffaͤhig, wenn ſie ebenfalls den Geburts-Adel nachwies. Der Vortritt des Adels zu den wichtigſten und eintraͤglichen Staats-Ämtern und Sinecu - ren hatte laͤngſt factiſch beſtanden; Ludwig XVI. ließ ſich uͤberreden zu verordnen, daß alle hoͤhere Officier-Stellen vom Capitain aufwaͤrts dem Adel, alle groͤßere Pfruͤnden den juͤngeren Soͤhnen des Adels vorbehalten ſeyn ſollen.
77. Als nun die Finanznoth einen Reichstag hervor - rief, der in die Formen von 1614. gekleidet und von dem Geiſte der Nordamerikaniſchen Freiſtaaten erfuͤllt war, ſah der Adel ſich dem dritten Stande nur als eine unter - druͤckende, uͤbervortheilende Inſtitution bekannt, und als die Haupturſache des oͤffentlichen Elends. Der dritte Stand, von den ungeſtuͤmen Wuͤnſchen der Hauptſtadt unterſtuͤtzt, erklaͤrte ſich ſelber fuͤr die Nation. Die Natio - nal-Verſammlung hob alle Steuervorzuͤge, alle Feudal - rechte ohne Entſchaͤdigung, und in der Nacht vom 4ten auf den 5ten Auguſt 1789. den Adel ſelber auf.
78. Man hat, als die heftigſten Stuͤrme der Revolu - tion ausgetobt, den Adel durch einen Rath der Alten zu erſetzen geſucht, man hat, zur Monarchie zuruͤckgekehrt, ihn wiederherſtellen wollen. Denn es iſt wider die natuͤrlichſten Wuͤnſche des Koͤnigthums, als die einzige erbliche Berechtigung dazuſtehen. Napoleon ſchuf einen Majorats - und Ehren-Adel; ohne Feudal-Druck, aber auch ohne politiſche Macht. Ludwig XVIII. wollte61Neuere Staatsverfaſſung. Deutſchland.den Wunſch der Franzoſen nach Verfaſſungsrechten befrie - digen. Um es mit Sicherheit thun zu koͤnnen, bedurfte die Krone einer ariſtokratiſchen Macht. Der Koͤnig beſchloß, nach dem Muſter Englands eine Kammer von erblichen Paͤrs neben der Wahl-Kammer aufzurichten. Aber die fuͤr eine wahre Paͤrie nothwendigen Beſtandtheile waren großen - theils verſchwunden. Die meiſten Majorate blieben unge - ſtiftet, weil kein großer unzertheilter Grundbeſitz vorhan - den; es ward zum Theil davon dispenſirt; einige Paͤrs wurden mit Staats-Renten dotirt, fielen mithin der Staats - Caſſe zur Laſt; auch bloß lebenslaͤngliche Paͤrs wurden ernannt. Dazu noch außer der Paͤrie ein zwiefacher Titu - lar-Adel, ein Alt-Bourboniſcher und ein Napoleoniſcher.
Dieſe Paͤrie war nicht auf Realitaͤten, ſondern auf Fictionen gebaut, die mit Huͤlfe der Zeit inzwiſchen zu Realitaͤten haͤtten werden koͤnnen. Die Julius-Revolution hat es unwahrſcheinlich gemacht, daß das geſchehe. Alle vom entſetzten Koͤnige ernannten Paͤrs ſind auf einen Schlag entſetzt. Die Erblichkeit der Paͤrie iſt abgeſchafft, und das Recht der Krone, lebenslaͤngliche Paͤrs zu ernen - nen, iſt auf gewiſſe Kategorieen beſchraͤnkt. Die Zukunft wird zeigen, ob ein ſolches Kunſtgebilde der Paͤrie ſtark genug iſt, einen ſelbſtaͤndigen Theil der geſetzgebenden Ge - walt in einem großen und beweglichen Lande, wie Frank - reich, auszumachen.
79. In Deutſchland hat der Adel weder den Engliſchen Weg, noch den Franzoͤſiſchen genommen, ſondern eine dritte ganz eigenthuͤmliche Richtung. Dem hohen Adel von Deutſchland iſt die Deutſche Koͤnigskrone unter - legen und er hat ſelber die Regierung an ſich genommen;62Drittes Capitel.nicht zwar als Geſammtheit; einzelne Haͤuſer deſſelben tru - gen die Herrſchaft uͤber Theile des Deutſchen Reiches davon. In dieſen ehemahls reichsfuͤrſtlichen Haͤuſern, welche gegen - waͤrtig ſouveraͤne Haͤuſer des Deutſchen Bundes ſind, findet Untheilbarkeit und Primogenitur ſtatt, im Princip der alten Lehnsverfaſſung; aber der niedere Adel Deutſchlands iſt hauptſaͤchlich deßhalb außer Stande an die leergewordene Stelle des hohen zu treten und ein kraͤftiges Oberhaus in den neugepflanzten Verfaſſungen zu bilden, weil er das Lehnsprincip meiſt verlaſſen hat, der Primogenitur wenig oder nichts einraͤumt, imgleichen den Adel auf alle Soͤhne uͤbertraͤgt. Diejenigen Staaten, welche an zahlreichen Standesherren einen hohen Adel haben, beſitzen in dem - ſelben einige reale Elemente fuͤr die Ausſtattung eines Oberhauſes, inſofern die Standesherren geneigt ſind, ſich als Glieder der Geſammtheit zu betrachten und geltend zu machen.
80. Das Oberhaus hat durch die Schottiſche und die Irlaͤndiſche Union von den Jahren 1707 und 1800 von ſeinem rein politiſchen Charakter etwas verloren. Denn die alten Paͤrieen der unirten Koͤnigreiche ſind nicht in das Engliſche Oberhaus eingetreten; ſie ſenden bloß Deputirte aus ihrer Mitte, in Schottland nur fuͤr ein Parlament, in Irland auf Lebenslang gewaͤhlt. Die Paͤrie iſt mithin inſoweit kein politiſches Erbamt mehr und der Koͤnig kann dieſelbe nicht verleihen, außer inſofern er Schotten und Irlaͤnder zu Engliſchen Paͤrs erheben kann. Eben ſo iſt es mit den Irlaͤndiſchen Biſchoͤfen bewandt, von wel - chen nur 4, fuͤr ein Parlament gewaͤhlt, im Hauſe ſitzen. Seit der Roman catholic relief act von 1829, welche63Neuere Staatsverfaſſung. Parliament.katholiſche Prieſter bloß vom Unterhauſe ausſchließt, ſind auch katholiſche Biſchoͤfe waͤhlbar.
Im Hauſe der Lords ſitzen gegenwaͤrtig:
und zaͤhlt man die 12 Oberrichter von England mit, welche eine bloß be - rathende Stimme haben, .... 429 Mitglieder.
81. Das Unterhaus wird ſeit der Regierung des Braunſchweigiſchen Hauſes auf 7 Jahre gewaͤhlt (1715.), unbeſchadet der Koͤniglichen Macht es zu jeder Zeit aufzu - loͤſen und ein anderes an die Stelle zu berufen. Seit 1829. ſind auch weltliche Katholiken waͤhlbar; die durch - greifendſte Veraͤnderung iſt aber durch die Reform-Acte vom Jahre 1832. bewirkt. Vor derſelben waren viele wichtige Staͤdte des Reiches ganz ohne Wahlrecht, moch - ten ſie es nun durch Nichtgebrauch (zu den Zeiten, da der Beſuch des Unterhauſes weniger ein Recht als eine Steuer - laſt bedeutete) verloren, oder wegen der Jugend ihrer Be - deutendheit nie beſeſſen haben, dagegen beſaßen herunter - gekommene Ortſchaften, zum Theil nur einzelne Haͤuſer64Drittes Capitel.mehr, das parlamentariſche Burg-Recht (parliamentary boroughs), gar nicht zu erwaͤhnen, daß Grafſchaften, wie Lancaſter und York, von zuſammen 1 Million 800,000 Einwohner mit 4 Mitgliedern, nicht ſtaͤrker als Bedford - ſhire von nicht 100,000 Einwohnern repraͤſentirt wurden, ja nicht einmahl ſtaͤrker als Weſtmoreland, welches nur 35,000 Einwohner zaͤhlt. Dazu kommt, daß die Verfuͤ - gung uͤber die Mehrzahl der Plaͤtze im Hauſe in den Haͤnden der Lords und der Reichen und uͤberhaupt ſehr weniger Individuen lag. Man rechnet, daß nicht allein 84 Perſonen, großentheils Paͤrs, die Waͤhler von 157 Mit - gliedern waren, ſondern auch daß 180 andere Plaͤtze durch den Einfluß von 70 Individuen, theils aus den Graf - ſchaften, theils Mitgliedern ſtaͤdtiſcher Magiſtraturen, die ſich durch Cooptation ergaͤnzen, beſetzt wurden, manchmahl durch ein foͤrmliches Feilgebot 1). Man fuͤhrt an, daß die Mehrzahl des Hauſes nur etwa 5000 Waͤhler hatte, waͤhrend allein Weſtminſter deren uͤber 12,000 zaͤhlte. Und neben dem Allen, und im aͤußerſten Widerſpruch damit, eine ſo kleine jaͤhrliche Einnahme als Bedingung des Wahl - rechtes, daß das Verhaͤltniß einem allgemeinen Stimmrechte jedes Englaͤnders von 21 Jahren, der nicht ein Weib, ein Geiſtlicher, ein Papiſt, wahnſinnig, ſtumm u. ſ. w. iſt, ziemlich nahe kam. Denn ein Freilehn von 40 Schilling reinem Einkommen genuͤgte in der Grafſchaft, und in den Staͤdten galt entweder dieſelbe Bedingung, oder der Beſitz eines Hauſes, oder auch nur eines Haushalts, oder es war hinreichend, daß man zu den Gemeinde-Laſten bei - ſteuerte. Fuͤr die Waͤhlbarkeit ward in den Grafſchaften ein Einkommen von 600 Pfund aus einem Freigut, das man ſchon ein Jahr beſeſſen haben muß, erfordert, in Staͤdten und Flecken ein Freigut von 300 Pfund reiner65Neuere Staatsverfaſſung. Parliament.Rente. Nur die aͤlteſten Soͤhne der Lords, die man auch mit dieſem Titel ſchon zu ehren pflegt, und die Deputirten der Univerſitaͤten brauchten kein Vermoͤgen nachzuweiſen.
82. Die Reform-Acte vom Jahre 1832. 1) haͤlt die allgemeine Bedingung des Einkommens aus Grund und Boden feſt und aͤndert nichts an den Erforderniſſen fuͤr die Waͤhlbarkeit; ſie trifft eine der Gegenwart ent - ſprechende Vertheilung der Wahlrechte, und indem ſie die verſchiedenen Arten des abhaͤngigen Grundbeſitzes herbeizieht, erhoͤht ſie den Waͤhler-Anſatz; ſie ſtellt endlich die Waͤh - lerliſten und die Wahlhandlung unter Aufſicht.
Zu dem Ende 1) verlieren 57 ſ. g. Burgen ihr Wahl - recht, 30 andere Burgen werden auf die Wahl eines Mitglieds beſchraͤnkt und dagegen 22 Staͤdte, darunter Birmingham, Mancheſter, Leeds, Sheffield zu (parla - mentariſchen) boroughs erhoben, mit dem Recht 2 Mit - glieder zu ſchicken, 20 andere Staͤdte zu boroughs fuͤr ein Mitglied. Viele alte Burgflecken werden mit Erwei - terungen ihrer Wahlbezirke ausgeſtattet. 25 Grafſchaften, deren jede bis dahin 2 Mitglieder ſtellte, zerfallen nun jede in 2 Abtheilungen (divisions), die im Ganzen 4 Mitglie - der ſenden ſollen, 2 aus jedem Wahlbezirk. 7 Grafſchaften erhalten 3 Mitglieder, ſtatt fruͤherer 2. u. ſ. w.
2) Das Wahlrecht fuͤr die Grafſchaften iſt nicht laͤnger auf den Beſitz eines Freilehns (freehold) beſchraͤnkt, es werden Laß - und Erb-Meierguͤter (copyholds) zuge - laſſen, fuͤr alle aber ohne Ausnahme iſt 10 Pfund reiner Einnahme und der Beſitz eines Jahres (Erbfaͤlle ausge -566Drittes Capitel.nommen) die Bedingung. Unter derſelben Bedingung werden auch Zeitpaͤchter (leaseholders) zugelaſſen, deren Pacht-Contract auf mindeſtens 60 Jahre lautet; wenn nur auf mindeſtens 20 Jahre, ſo geben 50 Pfund Einkom - men das Wahlrecht. In den Staͤdten erhaͤlt daſſelbe jeder Hausbeſitzer, der es ein Jahrlang geweſen und deſ - ſen Haus jaͤhrlich 10 Pfund traͤgt; in ſolchen Staͤdten und Orten, die zugleich Grafſchaften ſind (die Inſel Wight wird durch die Reform-Acte zu einer ſolchen county of itself, getrennt von Southamton erhoben), ſollen die Freilehnbeſitzer ebenfalls ſtimmen. Das ausſchließliche Stimmrecht der Stadtraͤthe hat uͤberall, nahmentlich auch in Schottland ein Ende, und in der beſonders fuͤr dieſes Land erlaſſenen Acte ſind auch Miethsleute von 10 Pfund zugelaſſen.
3) Niemand ſtimmt fortan, der nicht in der Waͤh - lerliſte ſteht, welche in jeder Gemeinde von den Armen - pflegern (overseers) alphabetiſch zu fertigen, mit ihren Bemerkungen verſehen jaͤhrlich auszulegen und gedruckt zum Beſten der Armen zu verkaufen iſt. Dieſe Liſten ſollen ebenfalls jaͤhrlich unter Leitung der reiſenden Ober - richter revidirt, Beſchwerden angenommen und verbeſſert werden. Die Wahlbeamten (returning officers) haben daher keine Unterſuchung anzuſtellen; bloß auf Erfordern von Seiten eines der Waͤhler nehmen ſie ihm uͤber die Identitaͤt ſeiner Perſon, oder daruͤber daß er nicht ſchon anderswo oder ſchon einmahl hier geſtimmt habe, oder daruͤber daß er die Eigenſchaften eines Waͤhlers wirklich beſitze, eine Verſicherung, allenfalls auch einen Eid ab.
83. Das Unterhaus zaͤhlte vor der Reformacte 658 Mitglieder, wovon 513 auf England (489) und Wales (24), 45 auf Schottland, 100 auf Irland kamen. In der Geſammtzahl iſt, wiewohl es Anfangs in der Abſicht lag, keine Veraͤnderung eingetreten. Im Unterhauſe ſitzen jetzt, aus
In die inneren Gruͤnde vieler Änderungen laͤßt die folgende Tabelle blicken, welche bloß England (ohne Wales) angeht 1).
84. Das heutige England krankt an ſeiner uͤbelgelun - genen Kirchenverbeſſerung, ſeinen Armenlaſten, ſeiner Staats - ſchuld, an den Veraltungen ſeiner Geſetzgebung im Privat - und Strafrecht, ſeiner Colonial-Groͤße, ſeinem Irland; allein ſeine Verfaſſungs-Organe waren nie gereinigter als jetzt und ſie haben die Friſche ihrer Kraft bereits durch erfolgreiche Angriffe auf mehrere dieſer Übel bethaͤtigt. Das Engliſche Parlament hat ſein inneres Gleichgewicht gefun - den, und einem klaren Verhaͤltniſſe deſſelben zum Koͤnigthum, welches der Lehnsſtaat des aggregirenden Mittelalters nicht recht aufkommen laͤßt, ſteht laͤnger nichts im Wege. Der Schritt des Überganges zum mehr einheitlichen Staatswe - ſen, wohin die Gegenwart draͤngt, iſt gethan und eine Reihe von tief in die Verwaltung eingreifenden Umbildun - gen kuͤndet ſich unabwendbar an, welche, wenn es uͤber - haupt damit gelingt, keineswegs, wie befuͤrchtet wird, der koͤniglichen Macht Abnahme droht, wol aber mancher Koͤrperſchaft die Aufloͤſung ihrer Selbſtſtaͤndigkeit und dem ganzen Gemeinde-Leben eine andere Stellung gegen die Regierung verkuͤndigt. Das altſtaͤndiſche Mitregieren und Mitverwalten, welches die ſtaͤndiſche Krankheit des Mittelalters iſt, findet keine Staͤtte mehr; die Übereinſtim - mung beider Kammern wird ſich der Regierung gegenuͤber zu einer der Hauptſache nach moraliſchen Macht geſtalten, die nur in dem Falle unwiderſtehlich iſt, wenn ſie von dem Beifalle des aufmerkſamen Volks unterſtuͤtzt wird. Das Parlament nannte ſich von jeher nur allmaͤchtig in - ſofern der Koͤnig einen Theil deſſelben ausmachte und alle drei Zweige der Geſetzgebung zuſammenſtimmten; aber es wird von nun an mehr als je noch einer vierten Zuſtim - mung aufhorchen. Wohl lag es in dem ganzen Bildungs - gange der neueren Voͤlker, daß der Staat lange Zeit un -70Drittes Capitel.vermoͤgend war den Reichthum des Mittelalters an Lebens - formen bis zum klaren Bewuſtſeyn der Mittel und Wege zu durchdringen, durch welche Regierungs-Macht und Volksfreiheit in eine Ehe ohne Scheidung treten. Daher in ſo vielen landſtaͤndiſchen Geſchichten das Mistrauen der auf Bedingung geſtellten Huldigungen (y si no, no), das unmittelbare Eingreifen der Staͤnde in die auswaͤrtigen An - gelegenheiten, in die Landes-Verwaltung, beſonders in das Caſſenweſen und uͤberhaupt jenes im Ganzen mehr Standes -, und Corporations - als Staats-Leben, welches an Koͤrperſchaften und Gemeinden die Unabhaͤngigkeit ſtuͤck - weiſe verleiht, an welcher der Staat darben muß, und un - veraͤußerliche Staats-Gewalten an den Privat-Beſitz ver - ſchleudert. Wenn England durch den eigenthuͤmlich orga - niſchen Grund-Bau ſeiner Verfaſſung, und ſein bedeu - tendes Leben nach Außen vielen dieſer Klippen gluͤcklicher entging, ſo konnte es doch den großen Erfindungen nicht zuvoreilen, welche erſt ſeit den letzten Menſchenaltern eine volle Öffentlichkeit der Staatsverwaltungen moͤglich ma - chen, und eine Volksverſammlung der Geiſter, die einzige gegenwaͤrtig anwendbare, deren Lebensluft die raſche Schrift-Verbreitung iſt, um die Staatsverfaſſung ver - ſammeln.
Unleugbar ſind indeß der uͤberlieferten Beſtandtheile wieder ſeit der Reformbill viel weniger geworden, und hier iſt ein Gegenſtand der Sorge, aber die uͤbrig geblie - benen ſind verſtandener, und ihre Zweckmaͤßigkeit verſpricht zu erſetzen was die Gewohnheit verloren hat. Das Ver - haͤltniß iſt zu jener ſittlichen Klarheit erhoben, in welcher die Staͤrke der heutigen Verfaſſungen beruht. Die Regie - rung wird fortan nicht mit einer uͤber dem Parlament ſtehenden, weil die Wahlen beherrſchenden Parthey transigi -71Neuere Staatsverfaſſung. Parliament.ren; ſie will ſich mit einem Parlament verſtaͤndigen, deſ - ſen beide Kammern jetzt gleichmaͤßig ihren Schwerpunkt in ſich ſelber tragen. Wo aber die geſellſchaftlichen Ele - mente jedes fuͤr ſich lebendig ausgebildet und im Ganzen mit Bewuſtſeyn vereinigt ſind, da dringen nicht tief ein die muͤſſigen Fragen, ob das Koͤnigthum nicht doch viel - leicht eine entbehrliche Einrichtung ſey, und ob eine durch Eroberung entſtandene Ariſtokratie rechtmaͤßig fort beſtehe, eben ſo wenig als es den Staͤdten ſchadet, daß ſie faſt uͤberall in die Vertretung ſich Anfangs wider die Regel eingeſchlichen oder eingedrungen haben, nicht bloß in Eng - land und in Frankreich, ſondern auch in Deutſchland waͤh - rend der kaiſerloſen Zeit, nicht minder in Daͤnnemark, wo ein Bruder - und Koͤnigs-Moͤrder ſie berief, zu geſchwei - gen jenes in ſeiner Art einzigen Herganges, welcher ihnen ſchon im Jahre 1134. die Reichsſtandſchaft in Arragonien verſchaffte. Freilich wenn fortgeſetzte graͤnzenloſe Ver - ſchwendung die Erbariſtokatie in machtloſe Armuth ſtuͤrzte, wenn dann als Heilmittel der Verſuch einer bloß lebens - laͤnglichen Paͤrie gewagt wuͤrde, von demſelben Augenblicke an wuͤrden auch die Hoffnungen der radicalen Reformer ſteigen, welche England mit einem jaͤhrlichen Parlament und allgemeinem Wahlrecht, ohne Ruͤckſicht auf Vermoͤ - gen bedrohen. Jede Staatsform aber iſt am Ende den Staats-Sitten unterthan.
85. Nicht viel uͤber tauſend Mitglieder, in zwei Haͤuſer vertheilt, wovon viele in der Regel abweſend, geſtatten bei einem lebendigen Fuͤr und Wider der Berathung, ein Eingehen in das Gewicht der Einzel-Fragen, woran bei keiner Volksverſammlung zu denken iſt. Daß aber auch die Entſcheidung weder uͤbereilt werde, noch zur rechten72Drittes Capitel.Zeit ausbleibe, dafuͤr ſorgt die Regierung und Verfaſſung jedes Hauſes, welche in ſeinem Sprecher und in der parlamentariſchen Regel ſich verkuͤndigt.
Jedes Haus hat ſeinen Vorſitzer, Sprecher. Ihn er - waͤhlt fuͤr das Oberhaus der Koͤnig, herkoͤmmlich den Groß-Kanzler; das Unterhaus erwaͤhlt ſich ſelber den ſei - nen, der Koͤnig beſtaͤtigt. Er ſitzt den Mitgliedern des Hauſes gegenuͤber, die im Unterhauſe gegen ihn gewendet reden, ihn anreden; im Oberhauſe redet man die Kammer an. Gleich bei Eroͤffnung des Parlaments bittet der Sprecher des Unterhauſes den Koͤnig um Zutritt der Ge - meinen zum Koͤnige, waͤhrend das Unterhaus ſitzt, um die Freiheit der Rede im Hauſe, um Freiheit von Verhaft fuͤr die Mitglieder, was der Koͤnig zugeſteht. Der Spre - cher beſtimmt die Folge der zu berathenden Gegenſtaͤnde und verzeichnet ſie in ein offenliegendes Protocoll, aus welchem die jedesmahlige Tages-Ordnung ausgehoben und an jedem Morgen gedruckt vertheilt wird; er be - ſtimmt die Folge der Redner, wo ſie ſtreitig iſt, hat Acht, ob die nothwendige Zahl von Mitgliedern (mindeſtens 40) anweſend iſt, regelt die Abſtimmung, verweist zur Ordnung, doch bleibt die Berufung an die Kammer frei. Überall haͤlt er auf der Parlamentsregel und nimmt wo dieſe ihn im Stiche laͤßt, die Parlamentsgewohnheit zu Huͤlfe.
86. Eine Bill, welche einmahl verworfen iſt, darf in derſelben Sitzungs-Periode nicht wieder an das Haus, von dem ſie ausgegangen und hernach verworfen iſt, ge - bracht werden 1). Jede Bill wird vorher angekuͤndigt, eine Privatbill bedarf dazu einer Bittſchrift (petition); zu den Privatbills werden aber nicht bloß Angelegenheiten einzelner Perſonen und Gemeinden, ſondern auch gemein -73Neuere Staatsverfaſſung. Parliament.ſame Privat-Anliegen mehrerer Grafſchaften gerechnet, und es werden von dieſen gewiſſe Gebuͤhren (fees) an die Beamten des Hauſes entrichtet 2). Eine public bill be - darf allein einer muͤndlichen Ankuͤndigung (motion), die mindeſtens ein Mitglied unterſtuͤtzt, um die Bahn anzu - treten, welche durch fuͤnf gluͤcklich beſtandene Stationen (v. Vincke) ſie zu einem Beſchluſſe (resolution) des Hau - ſes erhebt. Die erſte, die der Einreichung, welche ſchriftlich geſchieht, oft indeß mit offen gelaſſenen Stellen oder Blaͤt - tern (blanks), wo die naͤheren Beſtimmungen vom Par - lament erwartet werden. Sie wird hierauf, falls nicht ſchon ihr Einbringen am uͤberwiegenden Widerſpruche ge - ſcheitert iſt, zum erſten Mahle verleſen, Redner fuͤr und wider kuͤndigen ſich an, ſie reden, duͤrfen aber nur ein - mahl reden, worauf der Sprecher eine Abſtimmung vor - nimmt, nicht ob die Bill ſchon beſchloſſen ſeyn ſoll, ſon - dern ob ſie ferner durch eine zweite Leſung in Erwaͤgung zu ziehen. Er ſelber hat keine Stimme. Dann nach ge - wiſſer Zeit die zweite Verleſung (mindeſtens des Titels; denn ſie befindet ſich nun ſchon abgedruckt in jedes Mit - glieds Haͤnden) und nach einem umſtaͤndlicher als das erſte Mahl eintretenden Fuͤr und Wider die abermahlige Abſtim - mung. Beſteht ſie auch dieſe dritte Probe, ſo wird ſie einem Ausſchuſſe von mindeſtens acht Mitgliedern uͤberwie - ſen (committed). Bei Sachen von großer Bedeutung verwandelt ſich die ganze Kammer in einen Ausſchuß (committee of the whole house). In dieſem Falle ver - laͤßt der Sprecher ſeinen Stuhl, ein anderer Vorſitzer (chairman) nimmt ihn ein; ſo lange dieſe demokratiſche Form des Hauſes dauert, darf jedes Mitglied oͤfter ſprechen, auch der Sprecher ſpricht, und es erweiſen in dieſer Aus - ſchuß-Arbeit manche Mitglieder, die, weil ſie ohne Redner -74Drittes Capitel.Talent ſind, im Parlament nicht glaͤnzen, die nuͤtzlichſte Thaͤtigkeit. Denn hier unterſucht das Haus die Bill punktweiſe, macht Amendments; man fuͤllt die weißen Stellen aus, haͤngt auf einzelnen Blaͤttern Zuſaͤtze (riders) an. Hierauf nimmt das Haus wieder ſeine ſtrenge Form an, der Sprecher ſeinen Sitz ein. Der Vorſitzer berichtet aus dem Ausſchuſſe, legt das Protocoll (the coherence) des Aus - ſchuſſes vor; die ganze Bill mit den Amendments wird bera - then, uͤber die einzelnen Verbeſſerungen abgeſtimmt, und ſie dann vollſtaͤndig in dieſer neuen Geſtalt unter Aufſicht von zwei dazu eigens beſtellten Secretaͤren (clerks) von den Schreibern des Hauſes (writing clerks) in aller Form auf Pergament geſchrieben (ingrossed). Dem - naͤchſt die dritte Verleſung; Ausnahmsweiſe kommen auch nach derſelben noch Zuſaͤtze und beſchraͤnkende Clauſeln vor; dann aber ſchließlich eine einfache Abſtimmung, indem der Sprecher die Bill mit den angefuͤgten Blaͤttern in der Hand haltend, fragt, ob ſie angenommen werde. Die gebilligte wird dann, wenn die Bill vom Unterhauſe aus - ging, von einigen Mitgliedern des Hauſes in das Haus der Lords uͤberbracht. Man tritt an die Schranken, der Sprecher des Oberhauſes erhebt ſich von ſeinem Wollſacke und nimmt die Bill in Empfang. Hier beſteht ſie den - ſelben Kreislauf der Verleſungen und wiederhohlten Be - rathungen, wird, wenn verworfen, ſtill hingelegt, wenn aber genehmigt, an das Unterhaus zuruͤckgeſendet, und wenn einzelne Differenzen uͤbrig bleiben, ſo werden dieſe gewoͤhnlich durch eine Conferenz von beiderſeitigen Com - miſſarien abgethan. Iſt ſie von beiden Haͤuſern genehmigt, ſo geht ihr Weg aus dem Oberhauſe an den Koͤnig, ob er ſie billige oder verwerfe; nur Geldbills kommen ſtets vom Unterhauſe an den Koͤnig.
75Neuere Staatsverfaſſung. Parliament.87. Die Weisheit dieſer Berathungsformen, deren Bildungsſtufen aus den trockenen Quartanten John Hat - ſells recht klar erhellen, und der hohe Grad ihrer Allge - meinguͤltigkeit hat ſich auch außer ihrer Heimat und nicht bloß in den Freiſtaaten von Nord-Amerika erprobt. Aus denſel - ben verſuchte ſchon Mirabeau fuͤr ſeine National-Verſammlung zu ſchoͤpfen, und die beſten Deutſchen ſtaͤndiſchen Geſchaͤfts - Ordnungen kennen keine andere Quelle. Zwar iſt die Dis - cuſſion im Parlament trotz der alten Satzung, welche Fremden den Zugang wehrt und den Druck verbietet, laͤngſt in volle Öffentlichkeit getreten und die Staͤrke der oͤffent - lichen Theilnahme weiß einen großen parlamentariſchen Moment dergeſtalt im Fluge feſtzuhalten, daß ſeine Be - deutung uͤberall nachtoͤnt, aber das laͤngſt ausgetiefte Bette der beſonnen zum Ziele fließenden Verhandlung wird nur ſelten durch den Prunk theatraliſcher Rede uͤberſtroͤmt, wo Maͤnner, die ein großes Vaterland an ihrem Theile groß zu erhalten haben, ohne Rednerbuͤhne, ohne Coſtuͤm, ein - fach von ihren Plaͤtzen reden; keiner ſo gewaltig, daß nicht eine Groͤße ihm gegenuͤber ſtaͤnde. Das Gewicht der Fragen, die neuerdings zur Loͤſung ſich draͤngen, laͤßt den76Drittes Capitel.Glanz der Rede, ja ſelbſt ihre Eleganz mehr und mehr ihres Eindruckes verfehlen, die Aſiatiſche Fuͤlle ſelbſt eines Edmund Burke wuͤrde jetzt nicht mehr die alte Wirkung thun. Das geuͤbte Ohr, den Schein der Worte durch - dringend, laͤßt allein die Gruͤnde eindringen und ordnet ſie zur Überzeugung. Mit kuͤrzeren Reden werden dauern - dere Siege erfochten und die Reſignation der Mehrzahl, welche lieber ſchweigend mitarbeiten als den Fortgang der vaterlaͤndiſchen Geſchaͤfte durch redſeligen Vorwitz ſtoͤren will, entbehrt verdienter Anerkennung nicht.
77Viertes Capitel.88. In der Familien-Verfaſſung wohnt im Hausva - ter der Beruf dieſe Verfaſſung nach Innen und Außen geltend zu machen, das iſt die regierende Gewalt. Auch im Staate muß ſie irgendwo wohnen, damit die Staats - verfaſſung Leben habe. Kein Staat ohne Regierung.
89. Es liegt nicht in dem Begriffe der Regierung, daß ſie in den Haͤnden einer einzigen phyſiſchen Perſon liege. Da Regierung aber den Staat ununterbrochen be - ſeelen muß, ſo iſt es wichtig, und zwar um ſo wichtiger, je ausgedehnter der Staat iſt, daß ſie nur da wohne, wo ſie fuͤr die Dauer wirken kann, alſo nicht bei einer in langen Zwiſchenraͤumen thaͤtigen Volksverſammlung, und uͤberhaupt nicht bei ſehr Vielen; weil viele Willensmeinun - gen langſam und immer nur durch Mittel vereinigt wer - den, welche das Gepraͤge der Zufaͤlligkeit an ſich tragen, zumal in der fuͤr das Mahl beſiegten Minoritaͤt ſtets auch eine fuͤr das Mahl nichtregierende Fraction der Regierung erblickt wird. Waͤre man der rechten Richtung der Regie - rung nur gewiß, ihr Nie-Ausbleiben und ihre Allgemein - Verſtaͤndlichkeit wuͤrde beſſer durch ein ſterbliches Indivi - duum als durch eine unſterbliche Koͤrperſchaft erreicht.
90. Am wenigſten aber darf der Platz der Regierung wechſeln, es muß vielmehr in Bezug auf alle Regierungs - Gegenſtaͤnde die letzte Entſcheidung an einem und demſel - ben Orte ſeyn. Denn das waͤre keine Staatsverfaſſung zu nennen, die dem Koͤnige etwa das Recht Krieg zu er - klaͤren zuwieſe, dem Volk aber ganz fuͤr ſich ſelber das Recht Frieden zu ſchließen, oder welche die Steuergeſetze78Staats-Regierung.in des Koͤnigs alleinige Hand legte, die uͤbrige Geſetzge - bung allein in die der Staͤnde. Das waͤre Staatsaufloͤ - ſung, in die Form der Verfaſſung gebracht.
91. In dem Begriffe der Staats-Regierung liegt, daß nichts im Staate gegen ihren erklaͤrten Willen ſtraf - los geſchehen koͤnne; denn ſie waͤre ſonſt unterthan in Allem was ihr aufgedrungen wird. Aber es liegt nicht in dem Begriffe der Regierung, daß ihre Willens-Erklaͤrung an keine Regel gebunden ſey. Es kann vielmehr ihr Wille durch Staatsgewalten beſchraͤnkt ſeyn, welche an der Regierung keinen Theil haben.
92. Dieſe Beſchraͤnkungen nimmt die Staats-Regie - rung durch die Anerkennung einer beſtimmten Regierungs - form in ihren Willen auf. Eine Abweichung davon wuͤrde den Unterthanen einen doppelten Willen, folglich einen ſich widerſprechenden, folglich gar keinen Willen zeigen. Man wuͤrde die Regierung ſuchen muͤſſen. Sie waͤre unver - ſtaͤndlich geworden.
93. Die Regierung iſt mithin zwar nothwendig die hoͤchſte Staatsgewalt (superioritas, Souveraͤnitaͤt), ver - moͤge welcher in ihr die Unabhaͤngigkeit des Staats nach Innen und Außen erblickt wird; keineswegs aber noth - wendig die geſammte Staatsgewalt (absolutum im - perium παμβασιλεία).
94. Wo die geſammte Staatsgewalt der R egierun beiwohnt, da iſt der Wille der Regierung Geſetz, vielleicht auch der nicht erklaͤrte. Wo das nicht der Fall iſt, da unterſcheiden ſich verſchiedene Thaͤtigkeiten der Staatsge - walt, und es fragt ſich, wie beſchaffen und in weſſen Haͤnden der Theil von ihnen ſeyn wird, welcher ſich nicht79Viertes Capitel.in den Haͤnden der Regierung befindet. Denn verſchiedene Traͤger der Staatsgewalt ſind hiemit vorausgeſetzt.
95. Dieſer ſogenannten Staatsgewalten ſind zwei, die ausuͤbende und die geſetzgebende Gewalt. Denn die richterliche darf ſich ihnen nicht als dritte gleichſtellen wollen, da ſie als Anwenderin bereits vorhandener Geſetze, bloß uͤber deren concreten Inhalt entſcheidend, jenen bei - den Staatsgewalten untergeordnet iſt.
96. Fragt es ſich nun um die Ausſtattung jener hoͤch - ſten Staatsgewalt, deren Inhaberin die Regierung ſeyn muß, ſo kann einmahl Regierung gar nicht anders gedacht werden als im unmittelbaren und ungetheilten Beſitze der ausuͤbenden oder That-Gewalt. Denn jede andere Staats-Gewalt neben ihr waͤre ſonſt die beziehungsweiſe regierende oder mitregierende, alſo auch-regierende. Da aber die Regierung auch nicht regierte wenn ſie einen fremden Willen bloß auszufuͤhren haͤtte, vielmehr dann re - giert wuͤrde von einem maͤchtigeren Willen, der vielleicht mit dem ihrigen ſtreitet, ſo muß ſie, um in ununterbroche - ner Kraft zu leben, auch Inhaberin der geſetzgeben - den Gewalt in ſoweit ſeyn, daß ſie ihren Willen zu allen Geſetzen giebt.
97. Darum darf uͤberall wo der Staat, die Aggre - gate des Mittelalters uͤberwindend, ſelbſtbewust zur ein - heitlichen Vollendung ſtrebt, keiner der Unterthanen einen Antheil an der ausuͤbenden Gewalt haben, der, einerlei von wo er ausgegangen, nicht unter Oberaufſicht der Re - gierung ſtaͤnde. Aber das Recht der Unterthanen, als Mit - Inhaber der geſetzgebenden Gewalt ebenfalls ihre freie Zu - ſtimmung zu den Geſetzen zu geben, verletzt das Weſen der Regierung nicht, ſtellt vielmehr ihre praktiſchen Erfolge80Staats-Regierung.ſicherer. Dieſer Unterthanen-Antheil an der Geſetzgebung, in welcher Form denn auch geuͤbt, iſt Staatsgewalt, weil er unabhaͤngig von der hoͤchſten Staatsgewalt ge - uͤbt wird.
98. In Staaten von ſo getheilter Staatsgewalt wird nicht allein der Genuß der buͤrgerlichen Freiheit erſtrebt, welche Familien und Eigenthum unter den Schutz, wie denn auch beſchaffener Geſetze ſtellt; ſie ſoll durch den hoͤ - heren Grundſatz der ſtaatsbuͤrgerlichen Freiheit, welcher in dem Antheile am Inhalt der Geſetze beſteht, verbuͤrgt wer - den. Wie nun das ganze Reich der Sittlichkeit voll von Freiheitsfragen iſt, welche mit einer gewiſſen Nothwendig - keit ganzen Zeitaltern geſtellt ſind, ſo liegt auch dieſe Frage der freieren und doch einheitlichen Staats-Ordnung noth - wendig in der Bahn der Europaͤiſchen Menſchheit, und es iſt vergeblich davon abzulenken, wie ſehr auch Unbedacht und Frevel die wichtigſten Aufgaben entſtellen moͤgen. Denn dieſe uͤberraſchende Gleichzeitigkeit im Baueifer fuͤr veraͤnderte Verfaſſungen, welcher die Regierungen gleich den Regierten ergriffen hat, beruht im tiefen Grunde doch auf dem gleichzeitigen Nachlaſſen derjenigen Kraͤfte und Formen, welche wie Klammern den Staat des Mittelalters zuſammenhielten.
99. Der Pfeiler der Gewohnheit pflegt zu weichen, wo allzuviel und lang auf ihm allein gebaut iſt, und wo die unſtaͤtte Neuerung eine Weile gehaust hat, da ſind die alten Grundformen des Staatskoͤrpers leicht nur nu - meriſch mehr aufzuſtellen, beſchaffenheitlich verſchwunden und neue Gewohnheiten ſchwer zu ſtiften. Die Erfahrung aller Zeiten lehrt aber: Die Regierungsform eines großen Staates muß, um Dauer zu haben, nicht81Staats-Regierung.aus gleichartigen, ſondern aus verſchiedenar - tigen, ſo wenig als moͤglich aus kuͤnſtlich ge - bildeten, ſo viel als moͤglich aus real vorhan - denen Beſtandtheilen gebaut ſeyn. Den Unter - ſchied ſolcher zeigt ſchon der Gegenſatz: Praͤſident und Koͤnig, Rath der Alten und erbliche Paͤrie, allgemeine Volksverſammlung ohne Unterſchied der Perſonen und auf den thaͤtigen Zuſtaͤnden baſirte Volksvertretung.
682Fuͤnftes Capitel.100. Wir ſagen Koͤnigthum, weil unter demſelben ſeit lange die vollkommenſte Form fuͤrſtlicher Herrſchaft, uͤber einen groͤßeren Staat gefuͤhrt, verſtanden wird. Die Forderung des Koͤnigthums iſt 1) Erblichkeit der Regie - rung im koͤniglichen Hauſe; 2) ein Inbegriff von Regie - rungsrechten, welcher aus der ausuͤbenden Gewalt, ver - bunden mit einem Antheile an der geſetzgebenden Gewalt (der nicht kleiner ſeyn darf als der Antheil, welcher nicht in koͤniglichen Haͤnden liegt) hervorgeht; 3) Reichthum; 4) Unverletzlichkeit und Unverantwortlichkeit.
Die Frage iſt, ob die Erfuͤllung dieſer Forderungen mit einer guten Staatsordnung beſtehe.
101. Die Unterſuchung des Princips der Erblichkeit ſetzt voraus, daß uͤber die im neuern Europa laͤngſt prak - tiſch entſchiedene Frage: Ob die Regierung am beſten in der Hand eines Einzigen und zwar auf Lebenslang ruhe? ſchon bejahend entſchieden ſey. Man muß bereits erkannt haben, daß eine dann und wann erſcheinende Volks - oder Staͤnde-Verſammlung weder zur Selbſtherrſchaft noch zur Oberaufſicht tauge, daß ein regierendes Collegium (Vollziehungs-Rath, Directorium) niemahls eine Willens - Einheit im Auge des Volks bilde, immer nur einen Par - thei-Sieg darſtelle, der auch anders fallen koͤnnte. Dann erſt kann es ſich darum handeln, ob vielleicht die Wahl des Wuͤrdigſten zu verſuchen ſey, oder ob die Erblichkeit an und fuͤr ſich einen Werth habe, wiewohl ſie auch den83Das Koͤnigthum.Unwuͤrdigen berufen kann, oder ob ſie etwa nur fuͤr die ſchlechtere Volksnatur genuͤge, die den Staͤrkeren ſchon fuͤr einen Beſſeren nimmt, da es ja Volks-Individuen geben mag, die eben ſo nothwendig ſogar des Tyrannen beduͤrfen, wie einzelne Menſchen des Kerkermeiſters. Ariſtoteles, der das Koͤnigthum bedingungsweiſe hochhielt, gab dem Kar - thagiſchen Wahlkoͤnigthum den Vorzug vor der Spartani - ſchen Vererbung, wiewohl erſteres kaͤuflich geworden war 1).
102. Gegen die Wahl-Monarchie und ihre Ver - heißung des wuͤrdigſten Mannes auf der hoͤchſten Stelle ſpricht aber von allen Seiten die Unausfuͤhrbarkeit dieſer Verheißung; weil 1) die Wahlhandlung, von wem ſie auch ausgehe, nicht die Wuͤrdigkeit verbuͤrgt, nur die Partheymacht des Gewaͤhlten. Auch die Wahlhandfeſte iſt Partheywerk. 2) Weil die Wahl nicht einmahl ihres naͤch - ſten Zweckes, uͤberhaupt einen Herrſcher aufzuſtellen, ſicher iſt, da beſtrittene Wahlen haͤufig ſind. Geht die Ernen - nung vom Herrſcher aus, wie Peter der Große wollte, ſo iſt nicht einmahl verbuͤrgt, daß ſie uͤberhaupt geſchehe. Peter’s letzte Worte, die er zu ſchreiben verſuchte, waren, ſagt man: „ Donnez tout à ......” 3) Weil inlaͤndi - ſche Wahlen ein Reich mit Koͤnigshaͤuſern, zwietraͤchtigen und habſuͤchtigen uͤberfuͤllen, auslaͤndiſche aber liebloſe Herrſcher herbeifuͤhren und die Unabhaͤngigkeit gefaͤhrden. 4) Weil eine Verfaſſung nicht gut ſeyn kann, deren na - tuͤrlicher Feind jeder Koͤnig als Familien-Vater iſt. 5) Wegen des Zwiſchenreiches.
103. Fuͤr die Erblichkeit ſtreitet 1) ihr mit der Familien-Ordnung uͤbereinſtimmender Charakter, der das Koͤnigshaus zugleich zum Vaterhauſe macht, und ebendaher6*84Fuͤnftes Capitel.2) die aus ihr fließende Sicherheit, Sicherheit des Thron - beſitzes wegen des keinem Zufalle unterworfenen, von nie - mand angezweifelten Rechtes einer tief in das Volk verwach - ſenen, dabei hervorragenden Familie, Sicherheit auch nach Außen, weil die in unſerm Welttheile vorwaltende Monarchie die altherrſchenden Haͤuſer ſelber zu einer großen Familie verknuͤpft hat, in welcher Republiken keine Aufnahme finden koͤnnen. Sie laͤßt 3) heilſame Familiengrundſaͤtze hoffen und eine gewiſſenhaftere Beobachtung der Verfaſſung auch von Seiten des ſchlechteren Fuͤrſten; denn er wuͤrde nicht die Satzungen fremder Koͤnige, ſondern die ſeiner Ahn - herren uͤbertreten. 4) Die Erbherrſchaft iſt neidloſer, freier von Eiferſucht, weil auf einer Hoͤhe ſtehend, die auch das glaͤnzendſte Unterthanen-Verdienſt nicht erklimmen darf. 5) Sie iſt milder, weniger begehrend, weil ſie Macht und Reichthum nicht zu begruͤnden, nur fortzuſetzen hat. Alles zuſammengenommen: Die Erblichkeit hat das beſſere Staatsprincip fuͤr ſich; in Abſicht auf perſoͤnliche Wuͤrdig - keit ſteht ſie mindeſtens nicht ſchlechter als das Wahlreich. So weit zwar waͤre keinenfalls zu gehen, daß wir ſagten: „ Es iſt bei einer vollendeten Organiſation nur um die Spitze formellen Entſcheidens zu thun, und man braucht zu einem Monarchen nur einen Menſchen, der „ Ja “ſagt und den Punkt auf das J ſetzt; denn die Spitze ſoll ſo ſeyn, daß die Beſonderheit des Charakters nicht das Be - deutende iſt 1) “; auch bei der beſten Verfaſſung bleibt der gute Fuͤrſt ein Segen des Himmels, und der ſchlechte wird minder verderblich ſeyn. Im Allgemeinen aber haben die Grundſaͤtze der Freiheit weit mehr die fortreißende Gewalt großer Fuͤrſten, als die Gebrechen gewoͤhnlicher zu fuͤrchten.
104. Wo aber Erblichkeit ſtattfindet, muß ſie, um ihrer wohlthaͤtigen Wirkung nicht zu verfehlen, in vollem Maaße wurzeln. Sie muß den ſchwankenden und unvoll - kommenen Charakter ganz verlaſſen, welchen ſie im fruͤhe - ren Mittelalter in ſo vielen Staaten und in Deutſchen Fuͤrſten-Landen bis zur Einfuͤhrung der Primogenitur trug. Es darf weder eine Theilung der Staats-Suc - ceſſion, welche den Staat allen Zufaͤlligkeiten der Verer - bung nach Haͤuptern preisgiebt, durch Landestheilungen oder Option, noch eine gemeinſame oder theilweiſe gemein - ſame (in Bezug auf gewiſſe Landestheile oder Claſſen von Unterthanen) oder abwechſelnde Regierung ſtattfinden; auch kein gewaͤhltes Oberkoͤnigthum eines Bretwalda, oder ein ererbtes des aͤlteſten Bruders, wie bei den Burgundern; auch kein Vorzugsrecht des im Koͤnigshauſe geborenen juͤn - geren Sohnes, wie in Sparta, dergleichen auch Xerxes Erhebung ſtuͤtzte, und die des erſten Deutſchen Otto faſt verhindert haͤtte; geſchweige denn eine Auslooſung des Stammhalters; durchaus auch kein Gleichrecht des Frauen - Stammes. Die Erbfolge der Erſtgeburt im ungetheilten Reiche muß nach dem ſtrengen Lehnsgrundſatze zu Gunſten des Mannsſtammes eintreten, nach dem Alter der Linien fortſchreiten, unverworren durch Majorat und Seniorat.
105. Nach dieſem Grundſatze der Untheilbarkeit und Primogenitur vererbt die Krone in der Ordnung der reinen Lineal-Erbfolge, folglich mit Repraͤſentations-Recht der Enkel, im Mannsſtamme des regierenden Hauſes unter Ausſchließung jeder weiblichen Thronfolge bis zum Ab - gange aller Linien des Mannsſtammes.
106. Wenn der Mannsſtamm erloſchen iſt, ſo geht die Thronfolge auf die weibliche Linie ohne Unterſchied86Fuͤnftes Capitel.des Geſchlechtes in der Maaße uͤber, daß ohne Ruͤckſicht auf die Naͤhe der Verwandtſchaft mit dem Stifter des Hauſes, alſo mit Ausſchluß jeglicher Regredient-Erbſchaft, allein die Naͤhe der Verwandtſchaft mit dem zuletzt regie - renden Koͤnige und bei gleichem Verwandtſchaftsgrade das Alter der Linie, und in der Linie das perſoͤnliche Alter den Vorzug giebt. Es tritt aber in der Deſcendenz des neuen alsdann regierenden koͤniglichen Hauſes (femina finis fa - miliae) ſofort mit dem Rechte der Erſtgeburt und der Lineal-Erbfolge auch der Vorzug des Mannsſtammes wieder ein.
107. Der Grundſatz dieſer rein linealen Erbfolge macht beſondere Verzichtleiſtungen der Prinzeſſinnen uͤber - fluͤſſig; er erhaͤlt die Krone ſo lange als moͤglich dem regierenden Hauſe, waͤhrend jede Beguͤnſtigung weiblicher Erbfolge dieſelbe bei noch beſtehendem Mannsſtamme in eine andere Familie zu bringen droht (wie in England) und eben dadurch den Staat leicht gefaͤhrdet. Es wird aber, wenn an dem Ende der ganzen Familie eine Frau ſteht, dieſe nach Deutſchem Herkommen billig fuͤr ihre Perſon nicht ausgeſchloſſen; obwohl in Frankreich das ſo - genannte Saliſche Geſetz eine ſolche Ausſchließung verordnet.
108. Die Rechte eines Mitglieds des koͤniglichen Hauſes haͤngen zunaͤchſt von ſeiner ehelichen Geburt ab. Man hat in neuerer Zeit die Guͤltigkeit jeder von einem Mitgliede des regierenden Hauſes geſchloſſenen Ehe außer den ſonſtigen Bedingungen des Eherechts noch an die Einwilligung des Koͤnigs geknuͤpft, welcher als Vater der ganzen regierenden Familie betrachtet wird. So ſeit 1772. in England, doch mit der Clauſel, daß, ſobald ein Mit - glied des Hauſes das fuͤnfundzwanzigſte Jahr zuruͤckgelegt87Erblichkeit des Koͤnigthums.hat, ſeine Ehe auch ohne des Koͤnigs Genehmigung guͤltig iſt, wenn daſſelbe ſie zwoͤlf Calender-Monate vor dem Abſchluſſe dem koͤniglichen Geheim-Rathe angezeigt und das Parlament vor dem Ablaufe derſelben keinen Einſpruch gethan hat. Die Deutſchen Hausgrundſaͤtze gehen indeß viel weiter und erheiſchen neben der buͤrgerlichen Guͤltig - keit und der (in den neuen Hausgeſetzen) unbedingt gefor - derten landesherrlichen Genehmigung noch die Ebenbuͤrtig - keit der Ehe. Denn was fuͤr den niedern Deutſchen Adel alte Satzung wenigſtens beziehungsweiſe fordert, die Eben - buͤrtigkeit der Mutter, ſteht fuͤr den hohen regierenden (ehemals reichsſtaͤndiſchen) Adel als Bedingung des Ein - trittes feſt, von welcher die Deutſchen Kaiſer ſeit dem Jahre 1742. erklaͤrt haben einſeitig nicht abgehen zu wol - len. Demgemaͤß iſt innerhalb der Deutſchen Bundes - Staaten als ebenbuͤrtig jede Ehe zu betrachten, welche Mitglieder ſouveraͤner Haͤuſer unter einander, oder mit ebenbuͤrtigen Mitgliedern derjenigen Haͤuſer ſchließen, welche laut Artikel 14. der Deutſchen Bundes-Acte den Souve - raͤns ebenbuͤrtig ſind.
109. Die ſchwache Seite des Erb-Syſtems ſind die Regentſchaften, mag ihre Urſache die Unmuͤndigkeit des Koͤnigs oder irgend ein Misgeſchick ſeyn, welches ihn an der Selbſtherrſchaft verhindert, als Gefangenſchaft, ſchwere Krankheit, die den Koͤrper oder Geiſt trifft. Jede Regent - ſchaft iſt von mancherlei Übeln begleitet, aber auch die Regierung von Knaben iſt es, zumahl von vierzehn - jaͤhrig unumſchraͤnkten. Darum darf der Zeitpunkt der Muͤndigkeit des naͤchſten Thronfolgers nicht wider die Na - tur verfruͤhet, aber auch um des Staatszweckes Willen, nicht ohne Noth verſpaͤtet werden. Seit die goldne Bulle88Fuͤnftes Capitel.Art. VII. §. 40. den Kurfuͤrſten das zuruͤckgelegte achtzehnte Lebensjahr fuͤr ihren Regierungs-Antritt vorſchrieb, iſt dieſes in den groͤßeren Staaten von Deutſchland geſetzlich, die uͤbrigen Prinzen des Hauſes pflegt das vollendete ein - undzwanzigſte Jahr, oder (gemeinrechtlich und reichsgeſetz - lich) das fuͤnfundzwanzigſte Jahr muͤndig zu ſprechen.
Das naͤchſte Anrecht auf die Regentſchaft hat derjenige Agnat, welcher der Thronfolge am naͤchſten ſteht, inſofern der letzte Koͤnig nicht eine andre Regentſchaft auf den Fall ſeines Ablebens verordnet hat. Jede Regentſchaft, außer derjenigen, welche eine Folge der Unmuͤndigkeit iſt, bedarf der foͤrmlichen Übertragung, mag dieſe nun vom regieren - den Koͤnige ausgehen, der vielleicht fuͤr ſich ſelber waͤhrend einer Abweſenheit ſolche beſtellt, oder von einem Familien - Rathe der Agnaten, welcher vom Staats-Miniſterium be - rufen, zufoͤrderſt die Thatſache, daß der Koͤnig außer Stand die Regierung zu fuͤhren ſey, conſtatirt, und demnaͤchſt unter Zuſtimmung der Reichsſtaͤnde ſowohl fuͤr die Perſon des Koͤnigs Familien-Sorge traͤgt, als auch die Regent - ſchaft dem berechtigten Familien-Mitgliede uͤbergiebt.
110. Gewiſſe Koͤrperfehler, welche zwar den Geiſt nicht truͤben, aber den Koͤrper verhindern, das Werk des Geiſtes zu vollbringen, als Verluſt der Augen, des Ge - hoͤrs, koͤnnen eine Mit-Regentſchaft, unter nur theilweiſer Übertragung der Regierungsgewalt, herbeifuͤhren. Aber auch die Entlegenheit einzelner Gebiete kann einen koͤnig - lichen Stellvertreter fordern, welcher mit limitirten Voll - machten vom Koͤnige beſtellt wird.
111. Da vom Rechte zu beſitzen kein Schluß auf das Recht zu erwerben ſtattfindet, ſo laͤßt ſich mit der Unverlierbarkeit der koͤniglichen Wuͤrde fuͤr das Individuum,89Erblichkeit des Koͤnigthums.von welchem die Faͤhigkeit, die bereits angetretene Regie - rung zu fuͤhren, gewichen iſt, ſehr wohl die Ausſchließung eines entſchieden unfaͤhigen Prinzen vom Antritte der Krone vereinigen, gleichwie ſolche in verſchiedenen Hausgeſetzen, alten und neuen (nur nicht den neueſten) und auch in der goldnen Bulle Cap. XXV. 1) fuͤr Deutſche Cur-Lande nur zu unbeſtimmt, vorgeſchrieben iſt. Eine Ausſchließung der Art wuͤrde jedenfalls vom regierenden Koͤnige nach ge - haltenem Familien-Rathe und mit deſſen Zuſtimmung aus - gehen muͤſſen, und nur in dem Falle eintreten duͤrfen, wenn außer dem Staats-Miniſterium die Staͤndeverſamm - lung des Koͤnigreiches die Richtigkeit der Thatſache aner - kannt hat. Der ausgeſchloſſene Prinz duͤrfte ſich nur morganatiſch vermaͤhlen. Iſt derſelbe bereits vermaͤhlt, ſo hat die zur Zeit der Ausſchließung ſchon geborene Deſcen - denz deſſelben Anſpruch auf die Staats-Succeſſion.
112. Eine Veraͤnderung in der Ordnung der Thron - folge kann nur mit Einwilligung ſaͤmmtlicher betheiligten Mitglieder des koͤniglichen Hauſes, unter Vertretung der noch unmuͤndigen, ſtatt haben. Nicht minder muß die Staͤnde-Verſammlung einwilligen. Willkuͤhrliche Änderun - gen und ungewiſſe Verhaͤltniſſe ſind fuͤr eine abſolute Re - gierung doppelt gefaͤhrlich, wie die Geſchichte der Pyrenaͤi - ſchen Halbinſel zeigt, die Geſchichte der Cimbriſchen, wenn nicht vorgebeugt wird, vielleicht zeigen mag.
113. Der Koͤnig beſitzt vermoͤge der Regierung die geſammte vollziehende Gewalt, und wie er ſchon auf die Berathung der Geſetze einigen Einfluß uͤbt (Ernennung von Paͤrs; koͤnigliche Mitglieder), ſo kommt kein Geſetz ohne des Koͤnigs Zuſtimmung zu Stande.
114. Er allein iſt Verkuͤndiger der Geſetze.
115. Er hat das Recht, ohne Weiteres auf dem Grunde der beſtehenden Geſetze Verordnungen zu erlaſſen, welche zur vollſtaͤndigen Ausfuͤhrung der Geſetze dienen; auch trifft der Koͤnig vermoͤge der ihm zuſtehenden Ober - aufſicht, wo das Wohl des Staats Eile erfordert, ohne Mitwirkung der Staͤnde geſetzliche Verfuͤgungen (Ordon - nancen), und legt dieſe erſt hintennach den Staͤnden zur verfaſſungsmaͤßigen Zuſtimmung vor. Die in ſolchen Ver - fuͤgungen enthaltene Abaͤnderung in den Geſetzen darf91Die koͤniglichen Rechte.demnach keine Abaͤnderung im Grundgeſetze des Staats enthalten.
116. Der Koͤnig ordnet die auswaͤrtigen Verhaͤltniſſe ohne Mitwirkung der Staͤnde, außer inſofern eingegangene Verbindlichkeiten Finanzmittel in Anſpruch nehmen. Der Koͤnig vertritt ſeinen Staat im Staatenkreiſe, ernennt Ge - ſandte, bevollmaͤchtigt ſie; empfaͤngt die Geſandten fremder Hoͤfe, ſchließt Vertraͤge und Buͤndniſſe, erklaͤrt Krieg und beendigt ihn durch einen Frieden.
117. Darum iſt auch Land - und See-Macht von ihm abhaͤngig; jede Vertheidigungs - und Ruͤſtungs-Maas - regel geht von ihm aus; er beſtellt die Officiere. Die Militaͤr-Verfaſſung ſey an geſetzliche Beſtimmungen ge - knuͤpft, aber ein Parlament, welches die Kriegsmacht be - fehligt, iſt der Krone Sturz.
118. Der Koͤnig iſt als Haupt des Staats auch Schirmvogt der Kirche, und uͤbt uͤber die Proteſtantiſchen Glaubensgenoſſen die Kirchengewalt, inſofern er ſelber Pro - teſtant iſt. So liegt auch in ſeinen Haͤnden die Sorge fuͤr das geſammte Unterrichtsweſen.
119. Der Koͤnig beruft die Staͤnde-Verſammlung und hat das Recht ſie nach Gefallen zu vertagen, zu entlaſſen und aufzuloͤſen. Permanente Staͤnde-Verſamm - lungen ſind der Krone Sturz. Die aufloͤſende Regierung befragt, indem ſie neue Wahlen verordnet, die Meinung des Landes uͤber den Gegenſtand, welcher die Urſache der Aufloͤſung war.
120. Das Veto des Koͤnigs, der Staͤnde-Verſamm - lung gegenuͤber ausgeſprochen, iſt nicht bloß aufſchiebend92Fuͤnftes Capitel.(veto suspensif), ſondern von unbedingter Guͤltigkeit. Den Koͤnig in den Fall ſetzen, daß er ein von den Staͤnden vorgeſchriebenes Geſetz bloß zu verkuͤndigen und auszufuͤh - ren hat, heißt ein Koͤnigthum ohne Macht gruͤnden, wel - ches Koͤnig William III., von dem die Bluͤthenzeit der Engliſchen Verfaſſung datirt, die ſchlechteſte aller Regie - rungen nennt. Die Conſtitution von 1791. (Mirabeau wollte es anders), die der Cortes, die heutige Norwegi - ſche geben eine ſolche fuͤr die beſte aus.
121. Der Koͤnig hat vermoͤge des Oberaufſichtsrech - tes (suprema inspectio) uͤber die innere Sicherheit des Staates, des Eigenthums und der Perſonen, die Polizey - Gewalt. Sie wird in ſeinem Namen ausgeuͤbt, aber an geſetzliche Beſtimmungen geknuͤpft.
122. Die richterliche Gewalt geht vom Koͤnige aus und wird von Richtern in des Koͤnigs Namen mittelſt Anwendung der beſtehenden Geſetze ausgeuͤbt. Auch kehrt die peinliche Gerichtsbarkeit durch das koͤnigliche Recht der Begnadigung von der Hand der Richter in des Koͤnigs Hand zuruͤck.
123. Der Koͤnig iſt der Quell der Staats-Ämter und aller Ehren, Gnaden und Wuͤrden, die der Staat verleiht.
124. Alle Mitglieder des koͤniglichen Hauſes ſind der beſonderen Aufſicht und perſoͤnlichen Gerichtsbarkeit des Koͤnigs unterworfen, uͤberall jedoch nach Maasgabe haus - geſetzlicher Vorſchriften, welche, erwachſen aus der alten Autonomie der fuͤrſtlichen Haͤuſer, den Inhalt des Privat - fuͤrſtenrechtes bilden. Der unveraltete Inhalt ſolcher Hausvertraͤge pflegt in unſern Tagen gern (in der Art der93Der koͤnigliche Reichthum.Staatsgrundgeſetze, welche das, was ehedem fuͤr einzelne Faͤlle geſchah, ein fuͤr allemahl leiſten wollen) in ein alle Verhaͤltniſſe umfaſſendes Hausgeſetz zuſammengefaßt zu werden, welches dann unter Einwilligung der Betheiligten und, ſoweit es dieſe angeht, der Staͤndeverſammlung in Wirkſamkeit tritt. Dieſe allgemeinen Hausgeſetze raͤumen insgeſammt dem Staats-Oberhaupte einen Zuwachs von Macht uͤber die Mitglieder ſeines Hauſes ein, und entſpre - chen ſo den Forderungen des einheitlicheren Staates. In den Deutſchen Bundes-Staaten geht derſelbe ſchon daraus nothwendig hervor, daß ſeit dem Untergange des Deut - ſchen Kaiſerthums alle nichtregierende Prinzen ſtatt unmit - telbar unter Kaiſer und Reich zu ſtehen, der Staats - Hoheit und Landesgerichtsbarkeit unterworfen ſind.
125. Die urſpruͤngliche Quelle des fuͤrſtlichen Privat - Haushalts und nicht minder des fuͤrſtlichen Staats-Haus - halts waren die Domaͤnen, welche man mit gleichem Rechte landesherrliche Guͤter und Staatsguͤter nennt. Der Fuͤrſt nahm, was er fuͤr Haus - und Hofhalt gebrauchte, aus Domaͤnen und Regalien, wies ein Gewiſſes den Mitglie - dern des Hauſes an; den Reſt verzehrte der Staatshaus - halt. Steuern wurden, wo es gebrach, als Zuſchuß erbeten.
126. Der hausvaͤterliche Charakter trat zuruͤck, ſeit - dem die Steuern Hauptſache wurden, er entwich vollends in Folge der eingefuͤhrten Erſtgeburt. Ubi primogenitura, ibi apanagium. Die von glaͤnzenden Hoffnungen in eine weite Ferne der Erfuͤllung zuruͤckgewieſenen juͤngeren Soͤhne verlangten fuͤr die Opfer, welche ſie der aͤlteſten Linie brachten, fuͤr das was ſie aufgaben, beſtimmte und ver -94Fuͤnftes Capitel.buͤrgte Zuſagen uͤber das, was ihnen bleiben ſoll. Wo uͤberdieß die Domaͤne, arg verſchleudert, taͤglich mehr zu - ſammenſchwand, nicht einmahl fuͤr den Bedarf des regie - renden Hauſes ausreichte, da war es einer von Steuer - Bewilligungen abhaͤngigen Krone am Ende ſelber recht, ſichere Geldeinkuͤnfte ſtatt der Domaͤnen fuͤr beſtimmte mit den Staͤnden vereinbarte Zwecke jaͤhrlich zu beziehen, Pri - vatguͤter von Erſparniſſen zu haͤufen und eine koͤnigliche Privatverlaſſenſchaft von dem Zubehoͤr der Staatsverlaſſen - ſchaft, der dem Thronerben zufaͤllt, gruͤndlicher als bisher abzuſcheiden. Man kam damit in England, freilich ſehr unvollkommen, zu Stande, indem man eine Menge von Staatsausgaben, den Aufwand fuͤr die ganze Civil-Ver - waltung mit dem Privat-Aufwand in Verbindung bleiben ließ. Die ganze dafuͤr ausgeſetzte Summe hieß civil list. Aber dieſe Vermiſchung heterogener Zwecke ließ es zu kei - ner Pruͤfung des wahren Bedarfs kommen, und rief eine Menge außerordentlicher Zuſchuͤſſe hervor, bis endlich unter der gegenwaͤrtigen Regierung (1831.) eine voͤllige Abſchei - dung des civil government und Unterſtellung deſſelben unter die Controle des Parlaments, Abſcheidung auch der Penſionen der Bruͤder des Koͤnigs bewirkt iſt. Die der - geſtalt entlaſtete ſ. g. Civil-Liſte iſt fuͤr des Koͤnigs Re - gierung auf 520,000 Pfd Sterling feſtgeſetzt. Eine wohl - geordnete Civil-Liſte ſoll demgemaͤß lediglich fuͤr die Haus - und Hofhalts-Koſten beſtimmt ſeyn, welche aus dem Hausſtande des Koͤnigs, der Koͤnigin und der unerwachſe - nen koͤniglichen Kinder hervorgehen. Das ganze Apanagen - Weſen iſt ausgeſchloſſen. Die Schloͤſſer, Forſten, Biblio - theken, Silbergeraͤthe ꝛc., die dem Koͤnige als ſolchem ge - hoͤren, fallen mit ihren Unterhaltungskoſten der Civil-Liſte zur Laſt, ohne in die Privat-Erbſchaft uͤberzugehen. Der95Der koͤnigliche Reichthum.Betrag der Civil-Liſte mag zu Anfang jeder Regierung fuͤr deren Dauer mit den Staͤnden vereinbart werden, wie in England und Frankreich, oder auch ein fuͤr alle Mahl geordnet werden, wie in den Deutſchen Bundes-Staaten, ſo daß die Mehrbewilligung den Staͤnden offen bleibt, nicht aber die Herabſetzung; ganz verwerflich aber bleibt immer, ſie nach Vorſchrift der Norwegiſchen Verfaſſung von Jahr zu Jahr feſtzuſetzen, ein ſchimpflicher Zuſtand des erſten Hausweſens im Reiche, den kein Privatmann ertragen wuͤrde. Auf Rein-Einkuͤnfte von ausgeſchiedenen Domaͤnen geſetzt, wie im Koͤnigreiche Hannover, geſtaltet die Krondotation ſich koͤniglicher, wird aber koſtſpieliger. Freilich darf die Wohlfeilheit der Herrſchaft nicht der lei - tende Geſichtspunkt ſeyn. Die letzten Merovinger waren apanagirte Koͤnige. Es hat Deutſchland ungeheuer viel gekoſtet, daß ihm ſein Kaiſer zuletzt ſo wenig koſtete — 13,884 Gulden 32 Kreutzer an ordentlichen Einkuͤnften, wozu die Juden das Meiſte gaben 1).
127. Die nachgeborenen Kinder des koͤniglichen Hau - ſes haben ihr Recht auf einen Theil der Staats-Succeſ - ſion, vermoͤge der Primogenitur, aufgegeben und allein das Recht auf das Ganze uͤbrig behalten. Darum duͤrfen die Abfindungen das Werk der Primogenitur nicht wieder ver - nichten, duͤrfen nicht in Landestheilen mit gewiſſen Hoheits - rechten (Paragien, wie die Novemb. 1834. wieder heim - gefallene Heſſiſche Quart), noch uͤberhaupt in liegenden Gruͤnden ertheilt werden, ſondern allein in Geld, und zwar, mit Ausnahme der Mitgaben, in einer Geldrente.
128. Die Apanagen-Ordnung kann aus einem zwie - fachen Geſichtspunkte getroffen werden; ſie kann die Linien96Fuͤnftes Capitel.dotiren, und dergeſtalt die Apanagen in den Erbgang bringen, bis ſie mit dem Erloͤſchen einer Linie der Staats - Caſſe verfallen, oder ſie ſtattet die Individuen des Hauſes aus, jedes nach ſeinem Standesverhaͤltniß im Hauſe, aber die Apanage haftet an der Perſon, kommt nicht in den Erbgang. Jedes von dieſen Syſtemen hat ſeine ſchwache Seite. Die Erb-Apanagen koͤnnen durch Theilung ſo klein werden, daß ſie fuͤr den fuͤrſtlichen Bedarf nicht aus - reichen; der individuellen Apanagen koͤnnen dagegen, vor - zuͤglich wenn ſie ſich bei der Heirath verdoppeln 1), ſo viele werden, daß ſie die Staats-Caſſe zu ſchwer belaſten. Das Correctiv des einen Syſtems iſt die Feſtſetzung eines Mi - nimum, unter welches keine Apanage ſinken darf, das des andern ein Maximum aller Apanagen-Betraͤge, nach deſſen Erreichung verkleinerte Apanagen eintreten. Der Grundſatz der Vererbung entſpricht den lebendigen Verhaͤltniſſen und den alten Familien-Ordnungen, er ſcheint indeß eini - ger Modificationen zu beduͤrfen. Jedenfalls ſind 1) fuͤr die erwachſene Deſcendenz des regierenden Koͤnigs, ſo lange ſie es iſt, bloß Jahrgelder auszuſetzen. 2) Die Erb-Apa - nage (dahin lautet ſchon die beſſere alte Regel) 2) vererbt nicht weiter, als auf die maͤnnliche Deſcendenz des Prinzen, fuͤr welchen ſie urſpruͤnglich ausgeſetzt iſt. 3) Das Wittum, wo ein ſolches ſtattfindet, pflegt aus der Haͤlfte der Apanage des verſtorbenen Gemahls zu beſtehen. 4) Fuͤr die Toͤchter des Koͤnigs und des Kronprinzen allein werden Jahrgelder (Deputate) ausgeſetzt, fuͤr andere Prinzeſſinnen nur im Falle des Bedarfs. 5) Wenn eine Apanage durch den Erbgang unter ein gewiſſes Minimum ſinkt, findet ein Zuſchuß bis zu einer beſtimmten Hoͤhe ſtatt. — Allge - meine Regel iſt: Wo eine Civil-Liſte beſteht, ſind die Apanagen aus der Staats-Caſſe zahlbar. Was zu den97Unverantwortlichkeit des Koͤnigs.Zeiten der Domanial-Kraft Sache zwiſchen dem Landes - herrn und ſeinen Familien-Mitgliedern war, iſt jetzt auch Sache zwiſchen dieſen und den Staͤnden geworden. In - zwiſchen darf das Quantum der Apanage und der Zeit - punkt ihres Eintritts nicht zum Nachtheile der Berechtigten feſtgeſetzt werden.
129. Der Koͤnig wird zwar in Abſicht ſeiner Privat - verbindlichkeiten vor den Landesgerichten Recht geben und nehmen 1) und eben dazu auch die Mitglieder ſeines Hau - ſes verpflichten; allein das Strafrecht koͤnnte des Koͤnigs Perſon nicht treffen, ohne mit der koͤniglichen Wuͤrde die Regierung ſelber zu verletzen. Der Koͤnig wird in eben dieſem Betracht ſich das Strafrecht uͤber die Mitglieder ſeines Hauſes, unter Zuziehung eines Familien-Rathes, vorbehalten.
130. Auch die Unverletzlichkeit des Koͤnigs, die Unverantwortlichkeit ſeiner Regierungshandlungen iſt im Koͤnigthum und zunaͤchſt ſchon in ſeiner Lebenslaͤnglich - keit enthalten. Regieren und verantwortlich ſeyn, gleich - zeitig gedacht, ſind Widerſpruͤche; nun erſcheint fuͤr den lebenslaͤnglichen Herrſcher der Zeitpunkt ſeiner Verantwort - lichkeit vor Menſchen nimmer. Wo aber bleibt der Schutz der mit den Staͤnden verabredeten Geſetze, wenn niemand hernach fuͤr ihre Verletzung einſteht? wo der Schutz vor der rohen Gewalt, die leicht dem verletzten Geſetz zu Huͤlfe eilend, Übel auf Übel haͤufen und den Thron er - ſchuͤttern moͤchte? Politiſche Erfahrung hat hier einen Ausweg gefunden. Ein Gericht kann uͤber Regierungs - handlungen dadurch allein ergehen, daß ein Unterthan die - ſelben ſich zu eigen macht und ihre Verantwortung auf eigene Gefahr uͤbernimmt. Darum muß in jedem Staate, welcher zwiſchen dem Willen des Fuͤrſten 1) und dem Ge - ſetze unterſcheidet, der nothwendigen Forderung der fuͤrſt - lichen Macht, daß ſie einen Antheil an der Geſetzgebung habe, die ebenfalls nothwendige Forderung der geſetzlichen Freiheit gegenuͤber ſtehn, daß der Herrſcher Miniſter an - ſtelle, welche fuͤr die Geſetzmaͤßigkeit jeder Regierungs - maasregel buͤrgen. Alle koͤniglichen Befehle muͤſſen ver -99Unverantwortlichkeit des Koͤnigs.faſſungsmaͤßig, nach Maasgabe ihres Inhalts, von einem Miniſter, oder mehreren, oder allen mitunterzeichnet (con - traſignirt) ſeyn; nicht bloß um die Ächtheit zu bezeugen; die Unterzeichneten ſind fuͤr ihren Inhalt verantwortlich.
131. Als Miniſter (Miniſterial-Vorſtaͤnde) ſind daher allein diejenigen Staatsbeamten zu betrachten, zwiſchen denen und dem koͤniglichen Willen kein anderer Wille ſteht. Sie duͤrfen ihre Unterſchrift, ohne welche der koͤnigliche Wille keine Vollziehung hat, verweigern, und muͤſſen daher berechtigt ſeyn, zu jeder Zeit zu reſigniren. Der Koͤnig aber kennt keine Schranken in der Wahl und Entlaſſung ſeiner Miniſter; ein Miniſterium, das dem Koͤnige geſetzt wird, oder das er, einmahl gewaͤhlt, nicht wieder aͤndern darf, heiße es Hausmeyer oder Reichs-Rath, iſt Mit - Koͤnig.
Daß der Koͤnig auch ein Miniſterium, welches die Majoritaͤt im Parlament hat, entlaͤßt, woruͤber die November 1834. ent - laſſenen Miniſter klagen, faſt als ob es wider die Conſtitution ſey, duͤrfte ſeit der Reform-Acte wol oͤfter vorkommen.
132. Die Verantwortlichkeit der Miniſter iſt theils politiſch, theils ſtrafrechtlich. Die erſtere iſt von unbeſchraͤnktem Umfange. Die freie Preſſe ruft die Hand - lungen der Miniſter taͤglich vor den Richterſtuhl der oͤffent - lichen Meinung; ſie beſchraͤnkt ſich nicht auf die Ruͤge von Geſetzwidrigkeiten, ſie nimmt Alles auf, was, gethan oder unterlaſſen, mit der oͤffentlichen Wohlfahrt ſtreitet. Die ſtaͤndiſchen Verſammlungen aller Art noͤthigen den Miniſtern auf jedem Schritte ihrer Bahn Rechenſchaft, Verantwortungen uͤber ihr Verfahren, ihre Grundſaͤtze und Abſichten ab. Bittſchriften aus dem Volk, aus den7*100Fuͤnftes Capitel.Staͤnden koͤnnen Beſchwerdefuͤhrungen uͤber die Miniſter an den Thron bringen. Durch das Alles knuͤpft ſich an das Amt der hoͤchſten Unterthanen-Macht Muͤhſal und mannigfacher Wechſel; Mistrauen im Volk, Misfallen des Koͤnigs, innere Uneinigkeit koͤnnen ein Miniſterium ſtuͤrzen, ohne daß von einer peinlichen Anklage derſelben durch Unterthanen und ihrer Verurtheilung die Rede iſt. Sollen die Miniſter als ſolche angeklagt werden duͤrfen, ſo darf doch weder jeder aus dem Volk Anklaͤger ſeyn, noch jedes Gericht die Anklage annehmen. Dreierlei iſt noth: ein Gerichtshof, eine Vorſchrift uͤber die Procedur, und die allgemeine Verzichtleiſtung des Koͤnigs auf Begnadi - gung, und wo Abolition ſtattfindet, auch auf Abolition fuͤr dieſen Fall.
133. Die Amtsthaͤtigkeit der Miniſter geht den gan - zen Staat an; waͤhrend untergeordnete Beamte nur ein - zelne Theile ergreifen und verletzen koͤnnen, und in der Hauptrichtung Diener eines fremden Willens ſind. Kein Wunder daher, daß man die Miniſter als in hoͤherem Grade juriſtiſch verantwortlich betrachtet; verantwortlich nicht bloß fuͤr die Geſetzlichkeit, ſondern auch fuͤr die Zweckmaͤßigkeit ihrer Handlungen. Dennoch hat es lange gedauert, ehe man ſelbſt in England den rechten Weg zur Ausfuͤhrung fand. Als Koͤnig Eduard III. ſeine eigenen Miniſter durch Anklage vor dem Schatzkammergericht ver - derben wollte (1341.), brachte ihn der Widerſtand des Parlaments zu dem Zugeſtaͤndniß, daß ein Paͤr, auch wenn er Miniſter, nicht anders als im vollen Parlament und von ſeinen Standesgenoſſen, gerichtet werden duͤrfe 1). Das Haus der Gemeinen gewann mit der Zeit das Recht der Miniſter-Anklage, das Haus der Paͤrs, als hoͤchſter101Unverantwortlichkeit des Koͤnigs.Gerichtshof, that den manchmahl blutigen Spruch, aber es gehoͤrten noch eigene Erfahrungen dazu (Lord Danbys Proceß, 1678., der des Koͤnigs Begnadigung eventuell ſchon in der Taſche hatte), bevor man inne ward, daß jede Miniſter-Anklage illuſoriſch ſei, wenn nicht die Krone ein fuͤr alle Mahl auf Begnadigung in ſolchem Falle Verzicht leiſtet. Das geſchah durch dieſelbe Acte, welche das Haus Braunſchweig auf den Thron berief (act of settlement. 1701.) 2). Allein auch Erfahrungen anderer Art fanden Eingang. Man lernte einſehen, daß keine Geſetzgebung dem Drange aller Umſtaͤnde gewachſen iſt, daß die Thatſache manchmahl den Miniſter uͤber das Geſetz hinausreißen muß. Darum war man indeß weit entfernt, die alten Freiheitsbriefe, welche die Suspenſion der Geſetze verbieten, aufzuheben, weit lieber ließ man der eingeſtan - denen Überſchreitung hinten nach Strafloſigkeit angedeihen; das Parlament genehmigte die von den Miniſtern erbe - tene bill of indemnity 3). Nur hat die Oppoſition ſtets, und namentlich im J. 1807., gefordert, ſolche Ausnahmen muͤßten uͤberhaupt ſelten vorkommen, duͤrften keinen Fun - damental-Satz der Verfaſſung angehn, ihre Nothwendig - keit fuͤr die Sicherung des Gemeinwohls muͤſſe jedes Mahl nachgewieſen werden, und daß dieſe Nothwendigkeit nicht durch die Miniſter verſchuldet ſey 4). Im uͤbrigen uͤber - laͤßt man den Theoretikern die Frage, ob das Miniſterium ſolidariſch hafte, ſowie den Alterthumsforſchern die andere Frage, ob nicht eigentlich der Geheimerath haften ſolle, nicht das Cabinets-Miniſterium (Hallam). Niemand zwei - felt dort gegenwaͤrtig an der Verantwortlichkeit der Mini - ſter, und man achtet eine Beſchraͤnkung des Anklagerechtes des Unterhauſes nicht fuͤr noͤthig, weil man an muͤßiger Anklage weder Freude, noch Zeit dazu hat. Auch iſt die102Fuͤnftes Capitel.perſoͤnliche Rachſucht aus den Staatsgeſchaͤften entwichen. So wichtig es ferner iſt, daß nie im Parlament der Per - ſon des Koͤnigs nachtheilig gedacht werde, das Volk iſt nicht das Parlament; es laͤßt ſich ſein Recht der morali - ſchen Zurechnung nicht nehmen, und weiſe duldet die Krone ſelbſt einige Ungebuͤhr. Denn am Ende, wo kein Zorn, da iſt keine Liebe, und dicht neben dem Koͤnige, dem auch nicht das Geringſte zur Laſt gelegt werden darf, ſteht, und wie leicht iſt die Verwandlung! der ungeliebte Koͤnig, das dem abſtracten Denker allein verſtaͤndliche unperſoͤnliche Geſpenſt des Herrſcherthums. Die beruͤhmte politiſche Paroͤmie: The King can do no wrong, verkuͤndet zwar einen großen Wendepunkt des Staatslebens, deutlicher noch, als die Primogenitur. Ganz gewiß hat nun Blackſtone Recht, wenn er behauptet, dieſer Satz ſey nicht um des Koͤnigs, ſondern um des Staats Willen aufgeſtellt 5), aber wenn die Individualitaͤt des Herrſchers auch zuruͤck - tritt vor dem Staate, ſo wird ſie doch ſo wenig gleich - guͤltig, als durch den politiſchen Spruch der Franzoſen: Der Koͤnig ſtirbt nicht, das Leben des regierenden Koͤnigs es wird. Wir wollen nicht, wie unſere alten Vorfahren thaten, die Schuld des ſchlechten Wetters, der Miserndten, des ausbleibenden Heerings, der Peſten auf die Koͤnige des Landes ſchieben, aber wir beduͤrfen, gleich unſern Vorfahren, eines Koͤnigs, der perſoͤnliches Leben hat, der ſein Urtheil uͤber Staatsſachen in der Wahl ſei - ner Rathgeber an den Tag legt und die Fuͤlle von Macht der Gnade und des Reichthums zu gebrauchen weiß, uͤber deren Verwendung zwar die oͤffentliche Meinung, aber keine Anklage der Miniſter wacht 6).
134. In Frankreich nahm die Charte Ludwigs XVIII. das Engliſche Verfahren zum Vorbilde (Act. 33. 55. 56. ),104Fuͤnftes Capitel.nur daß die Franzoͤſiſche Paͤrskammer von Anfang her zu ſchwach fuͤr einen Staatsgerichtshof war, und ſeit der Juli-Revolution, da man nach ſchon angekuͤndigter An - klage der Miniſter des entthronten Koͤnigs die 93 Paͤrs ausſtieß, welche Karl X. ernannt hatte, und die Paͤrie durchaus lebenslaͤnglich machte, iſt vollends jeder Vergleich mit England nichtig. Die Paͤrie wird nicht freizuſprechen wagen, wo eine einige Deputirten-Kammer anklagt. Unter dieſen Umſtaͤnden waͤre vielleicht die beſte Auskunft geweſen, die Anklage auf die Übereinſtimmung beider Kammern zu beſchraͤnken, die Entſcheidung aber außer der Kammer zu verlegen, wie ſchon in der Verfaſſung von 1791. geſchehen war (Kap. V. Art. 23.), weil der geſetz - gebende Koͤrper nicht Anklaͤger und Richter zugleich ſeyn durfte. Man hat es nicht gewollt, und bemuͤht ſich ſtatt deſſen ſeit zwanzig Jahren, die Gegenſtaͤnde der Anklage juriſtiſch zu beſchraͤnken. Schon die Charte Ludwigs XVIII. verſpricht ein Geſetz fuͤr die Procedur und die Definition von trahison und concussion, auf welche die Anklage be - ſchraͤnkt wird. Aber die Miniſter Karls X. ſind gerichtet und verurtheilt vor dem Erſcheinen dieſer Definitionen (poena sine lege). Der Entwurf iſt vor der letzten Re - volution ausgearbeitet (von Pasquier), ſeitdem umgearbei - tet, und ungeachtet auch die Verfaſſung von 1830. das Geſetz verlangt, doch wieder liegen geblieben. Er begreift unter Verrath alle Handlungen, die die aͤußere und innere Sicherheit des Staats vorſaͤtzlich verletzen (die Ver - faſſung, den Koͤnig, die Thronfolgeordnung, die Rechte des Koͤnigs und der Kammern), unter Concuſſion die Erhebung nicht bewilligter Steuern, Veruntreuung oͤffent - licher Gelder, Beſtechung, Theilnahme an Lieferungen zum Privatvortheil des Miniſters; es wird aber die105Unverantwortlichkeit des Koͤnigs.Praͤvarication (Pflichtvergeſſenheit) hinzugefuͤgt, welche jede verſchuldete Gefaͤhrdung des gemeinen Wohls begrei - fen will. Neuerdings (1. Dec. 1834.) iſt ein ſolcher Ge - ſetzentwurf von dem Großſiegelbewahrer Perſil, fruͤher als Commiſſaͤr der Deputirten-Kammer Anklaͤger jener Mini - ſter, als abermahls veraͤndert angekuͤndigt 1); zu gleicher Zeit ein Geſetz uͤber die Verantwortlichkeit der Regierungs - beamten. Denn freilich, ſollen die Miniſter fortfahren, fuͤr Thun und Laſſen ihrer Beamten in jedem Sinne verant - wortlich zu ſeyn, ſo muͤſſen dieſe es wieder den Miniſtern durch unbedingte Abſetzbarkeit ſeyn; und ſollen die Mini - ſter fuͤr Alles, was in der Verwaltung geſchieht, einſtehen, ſo muß die ganze Verwaltung in den Haͤnden koͤniglicher Beamten ſeyn. Es war aus dieſem Grunde unmoͤglich fuͤr das Miniſterium Martignac, eine Gemeinde-Ordnung vorzuſchlagen, welche den Commuͤnen die freie Wahl ihrer Maires uͤbergeben haͤtte.
135. Bei ſolcher Lage der Verhaͤltniſſe iſt es ohne Zweifel wohlgethan, daß in den Deutſchen Bundes-Staa - ten die Miniſter-Anklage von beiden Kammern beſchloſſen wird (mit Ausnahme Wuͤrtembergs, §. 195.) und daß ein hohes Landesgericht insgemein zu unterſuchen und zu ent - ſcheiden hat. Freilich will man in den Koͤnigreichen Wuͤr - temberg und Sachſen den Verſuch mit einem eigenen Staatsgerichtshofe machen, zu welchem der Koͤnig die Haͤlfte aus den hoͤheren Gerichten, die andere Haͤlfte die106Fuͤnftes Capitel.Staͤnde, doch keine ſtaͤndiſche Mitglieder, erwaͤhlen ſollen. Wenn aber ein ſtehender Gerichtshof ſolcher Art beabſichtigt wird (und dahin ſprechen ſich beide angefuͤhrte Verfaſſungs - urkunden aus), ſo hieße das viele Menſchen-Kraft ver - geuden fuͤr einen vielleicht in Menſchenaltern nicht vor - kommenden Zweck, und Wenigen moͤchte eine ſolche jede ſonſtige Thaͤtigkeit gefaͤhrdende Stellung zuſagen; wenn ein fuͤr den eingetretenen Fall zu errichtender, ſo iſt der Partheiſucht bei der Wahl der Richter Thuͤr und Thor geoͤffnet. Das Begnadigungsrecht iſt in den meiſten Deut - ſchen Verfaſſungen fuͤr dieſen Fall verzichtet. Die Anklage muß nach der Beſtimmung der Bayriſchen und Hannover - ſchen Verfaſſung auf die abſichtliche Verletzung der Ver - faſſung gerichtet ſeyn, womit dem Rechte der Beſchwerde - fuͤhrung nichts entzogen iſt.
Ganz abnorm ſteht inzwiſchen die Verfaſſung des Koͤ - nigreiches Niederland da, welche die Unverantwortlichkeit des Koͤnigs nirgend ausſpricht, nirgend die Verantwort - lichkeit der Miniſter, und Act. 179. Klagen gegen den Koͤnig (auf perſoͤnliche Verantwortung?) annimmt und an den Obergerichtshof verweist. Und dieſe Verfaſ - ſung iſt das Werk des regierenden Koͤnigs. In ſtarkem Ge - genſatze will die Belgiſche Verfaſſung vom 25. Febr. 1831. Art. 134. (Dispositions transitoires) mit Miniſter-An - klagen ſchon verfahren, ehe noch das Geſetz, welches ſie regeln ſoll, erlaſſen iſt. Denn bis dahin beſitzt die Re - praͤſentanten-Kammer eine willkuͤhrliche Gewalt (pouvoir discrétionnaire) der Anklage, der Caſſationshof der Ent - ſcheidung; die ſchwerſte Strafe aber ſoll Gefaͤngniß ſeyn.
136. Die Anklage der Miniſter iſt das aͤußerſte Mittel des Widerſtandes, ich nenne es das Schwert der Staͤnde;107Unverantwortlichkeit des Koͤnigs.ſie duͤrfen es nicht leichtſinnig ziehn, nicht wie ein Rap - pier zu Fechterſtreichen brauchen. Die wirkſamſte Verant - wortlichkeit wird geraͤuſchlos taͤglich gehandhabt von einem auf ſein Gemeinweſen aufmerkſamen Volke; ſie erhebt ihre Stimme in der Preſſe, in der jaͤhrlichen Pruͤfung der Staͤnde, verſtaͤrkt ſie in der Beſchwerdefuͤhrung. Aber auch das Recht der ſtaͤndiſchen Anklage iſt ein weſentlicher Theil des neueren Staatsrechtes, und gewaͤhrt, praktiſch dargeſtellt durch den im Sinne jeder Verfaſſung gewaͤhl - ten Gerichtshof, das Geſetz fuͤr die Procedur und den koͤniglichen Verzicht, gerade fuͤr den Miniſter den unſchaͤtz - baren Vortheil, daß er ſich, auf ſeine Verantwortlichkeit geſtuͤtzt, verfaſſungswidriger Schritte weigern kann, fuͤr das Volk den Schutz der Verfaſſung ohne Erſchuͤtterung des Throns, fuͤr das unverantwortliche Haupt neben der Unverletzlichkeit eine ernſte Mahnung an die ewigen Grund - lagen des Guten und Rechten, welche die unſichtbaren Traͤger aller Herrſchaft ſind.
137. So offenbart ſich in der Probe der verſchieden - ſten Zeiten und Verhaͤltniſſe, welch eine tiefſinnige Ver - faſſung die Monarchie iſt. Sie baut nicht auf die perſoͤn - lichen Gaben des Fuͤrſten und traͤgt auch ſo den Preis davon. Wohl iſt aus dem Patrimonial-Koͤnige ein Staats - Koͤnig geworden, ſeit der Erſtgeborene nicht um ſeinet -, ſondern um des Staates Willen vor ſeinen Bruͤdern er - hoͤhet ward, und es tritt die Idee eines Gemeinweſens, in welchem der Staat ſein Selbſtbewußtſeyn ſucht, uͤber den Koͤnig hinaus; wohl ſtreiften die erſten Strahlen der kalt und blutig aufgehenden Staats-Sonne ſchauerlich an die Gewaͤnder der alten Majeſtaͤt, allein die Geſchichte hat gerichtet, und, ſichtend zwar, wiederaufgerichtet. Die108Fuͤnftes Capitel.Mehrzahl des Volks bedarf zu allen Zeiten dieſer verſtaͤnd - lichſten gemuͤthvollſten aller Regierungsweiſen, und un - zaͤhlige Mahle hat ſich an die alte Treue fuͤr ein ange - ſtammtes Haus die Erhaltung des ganzen Staats geknuͤpft. Die gebildete Minderzahl bedarf aber ihrer vielleicht noch mehr, als einer unuͤberſteiglichen Schranke fuͤr den perſoͤn - lichen Ehrgeiz, dieſer Wucherpflanze der Bildung. Wer in dieſem unter der Laſt ſo manches unabwendbaren Wech - ſels faſt erliegendem Welttheile noch die Monarchie ent - wurzeln moͤchte, der vergißt, daß zwar oftmals aus der Ordnung die Freiheit, niemahls aber aus der Freiheit die Ordnung hervorgegangen iſt. Zwar auch die Fuͤrſten ſelber haben den Glauben an die Monarchie vielfach erſchuͤttert, indem ſie Regierung als unumſchraͤnkte Regierung verſtan - den, ſich einer unermeßlichen Verantwortlichkeit bloß ſtel - lend, und andern Theils uͤberſahen, daß die Erbmonarchie gerade in dem Verhaͤltniſſe dieſes Fuͤrſtenhauſes zu die - ſem Volk ſeine natuͤrliche Wurzel hat, keineswegs ſich aber willkuͤhrlich ſofort auf eingetauſchte Seelen und ge - raubte Kronen uͤbertraͤgt. Es war ein beſchraͤnkter Glaube Kaiſer Friedrichs III., und eine haͤßliche Vergoͤtterung ſei - nes Individuums, wenn er ſeinen im Alter abgenommenen Fuß unter die avulsa imperii rechnete, „ ytzt iſt dem Kai - ſer und dem heiligen Reich der ain Fuß abgeſchniedten “(Gruͤnbeck, 41.), aber es war ein tiefes Gefuͤhl der Wahr - heit, welches dem entthronten, auf die Wunder und den Wandel ſeiner Bahn zuruͤckblickenden Napoleon die Worte eingab: „ Wenn ich nur mein Enkel geweſen waͤre! “
109Reichsſtaͤnde; landſtaͤndiſch od. repraͤſentativ.138. Hier kommt zunaͤchſt 1) das bildende Princip der reichsſtaͤndiſchen Verſammlung zur Frage; dann 2) ob ſie als ungetheilte Koͤrperſchaft tagen ſoll, und wenn die Theilung den Vorzug erhaͤlt, fragt es ſich 3) um die Bildung der erſten Kammer, 4) die der zweiten, 5) die Geſchaͤfts-Ordnung, 6) die Rechte der Reichsſtaͤnde, 7) ihr Verhaͤltniß zu den Provinzial-Staͤnden.
139. Wenn wir oben Bedenken trugen, wo es er - wartet werden mochte (71.), eine allgemeine Schilderung vom Geiſte des Mittelalters zu entwerfen und auf ſeinen Staatsbau anzuwenden; was leicht ein zu großes Werk geweſen waͤre und in dieſem Zwiſte der Meinungen inner - halb ſolcher Schranken der Darſtellung ein unfruchtbares; und daher lieber zunaͤchſt einige anerkannte hiſtoriſche Ver - haͤltniſſe hervorhoben, auf die Ariſtokratie in ihrer Engli - ſchen Geſtaltung hinzeigten und auf geſchichtlich vorliegende Wege ihrer Verſoͤhnung mit Koͤnigthum und Demokratie; ſo wollen wir auch jetzt in der Vergleichung der Jahr - hunderte nicht uͤber das unmittelbare Beduͤrfniß unſrer Aufgabe hinaus.
Den Leib des Juͤnglings haͤlt man nicht im Knaben - Gewande und noch weniger den Sinn des Juͤnglings. Auch die Voͤlker haben ihre Lebensalter, jedes mit dem Reiz einer eigenthuͤmlichen Bildung ausgeſtattet, aber kei - nes nach Willkuͤhr fuͤr alle Zeiten haltbar. Jede politiſche110Sechstes Capitel.Form neigt zur Veraͤnderung hin; ſey’s daß am Volks - koͤrper ſich ein Glied umgeſtaltet, ein neues zuwaͤchſt, oder die freiere That ſie hervorruft. Die Formen aͤndern ſich, oder auch die alten, die man beibehaͤlt, wirken veraͤndert; denn die ſich in ihnen bewegen, ſind nicht dieſelben mehr. Es heißt immerfort Ariſtokratie; allein wie ganz anders wirkt die nach Staatszwecken angeordnete als die ge - wachſene, die allein ſtehende uͤber der ſchweigenden Be - voͤlkerung als die mit andern Staͤnden zuſammenwirkende! Es heißt immer Koͤnigthum, aber das Oberhaupt des Lehnſtaates iſt von dem Primogenitur - und Eigenthums - Koͤnige eben ſo verſchieden, als dieſer es wieder von dem Staats-Koͤnige iſt, welcher an der Spitze einer uͤberſicht - lichen Staatswirthſchaft ſtehend, alle Verantwortlichkeit ſeiner Regierungs-Handlungen auf die Miniſter uͤbertraͤgt. Im Ganzen und Großen iſt das durch Entwickelungen geſchehen, vor denen die Willkuͤhr einzelner Menſchen ver - ſchwindet.
Denn wie mochte es nur viel anders kommen? Der Lehnsſtaat, als er fertig war, und die reiche Erbſchaft der Volksrechte gemacht hatte, behandelte die Regierungsrechte nicht eben anders, als die Roͤmiſchen Gentes den ager publicus. Es dauerte nicht lange, ſo hatte ſich jeder Lehnstraͤger in ſeiner Quote Regierung feſtgeſetzt und zaͤhlte ſie zu ſeinem Eigenthum; dem Koͤnige blieb zwar auch die ſeine, und wenn er gewaltig war, mochte er wol zu einzelnen großen Verrichtungen die geſammte Regie - rungskraft vereinen, aber kein Gedanke daran, daß ſie das Gemeinweſen dauernd durchdringen und darum von einem Orte ihre Strahlen ausſenden muͤſſe. Wo man Volksbeamte geſehen hatte und Koͤnigsbeamte, ſah man jetzt Beamte der Lehnsgroßen und gutsherrliche. Regent111Reichsſtaͤnde; landſtaͤndiſch od. repraͤſentativ.im fruͤheren und im ſpaͤteren Sinne war der Koͤnig allein in ſeinen Domaͤnen; daruͤber hinaus beſaß er einzelne Regierungsrechte; die uͤbrigen ſind in Unterthanen-Haͤn - den, gehen wie Privatrechte mit dem Eigenthum uͤber, werden durch Pacht, durch Kauf erworben; auf welchem Wege ſo viele Staͤdte die Vogtey-Rechte an ſich brachten und ſo das Eigenthum einer Gerichtsbarkeit, waͤhrend von der andern Seite nichts hinderte, daß auch ganze Staͤdte der Gerichtsbarkeit eines Erbherrn als Patrimo - nial-Staͤdte verfielen. Dazu die herrſchende Stellung der Geiſtlichkeit, welche außer ihrer Lehnsmacht ſich die einzige das Gemeinweſen erfuͤllende Herrſchaft gruͤndet, die nur darum nicht dem Koͤnigthum verderblich wird, weil ſie in ſo vielen Haͤnden ſich befindet und ihr ſichtbares Oberhaupt jenſeits der Alpen thront. Den Staͤdten, als ſie aufka - men, blieb nichts uͤbrig, als ſich ebenfalls ganz fuͤr ſich als geſchloſſene Gebiete aufzuſtellen; die Bauern vollends waren nur da ihrer freien Hufen ſicher, wo ſie in beſon - derer Landſchaft nach Vertreibung des Adels eine unge - miſchte Maſſe bildeten. So war die Zeit; was nicht fuͤr ſich ſtand, und nicht die ſchmalen Wege eiferſuͤchtig be - wachte, durch welche die Staatsgewalt eindringen konnte, ward untergeſteckt.
Was das Lehn zertrennte, das haben in der zweiten Haͤlfte des Mittelalters die Steuern wieder zu verknuͤpfen getrachtet; an ſie vornehmlich knuͤpfte ſich der Gedanke, daß man auch in Friedenszeiten einem groͤßeren Gemeinweſen, das Alle angeht, verbunden ſey und Opfer zu bringen habe. Fuͤrſt und Staͤdte haben das Ihre gethan, den Begriff von Landes-Steuern zu entwickeln; die Staͤdte gaben, aber empfingen auch; der geiſtliche Stand konnte ſich, wenn er ſeine Lehre vor Augen hatte, kaum entziehen,112Sechstes Capitel.wo ein wirkliches Beduͤrfniß nachgewieſen war; allein der Adel folgte nur ſeinem Rechte, wenn er darauf beſtand, der Kriegsdienſt fuͤr ſein Lehn ſey die einzige Steuer, welche ihm ſein freier Stand geſtatte. Wo er das in Deutſchen Landen durchſetzte, nicht den Reichs-Steuern, noch weniger einer Landes-Steuer ſich unterwarf, immer nur den ſchon veraltenden Lehnsdienſt bietend, da trat er mit der Zeit ganz aus dem Kreiſe der Landſtaͤnde aus, die der Steuer halb hauptſaͤchlich berufen wurden, ließ Praͤlaten und Staͤdte allein und ruͤhmte ſich der reichs - ritterſchaftlichen Freiheit. Dahin kam’s in Wuͤrtemberg zu Ende des Mittelalters. Wo die Ritterſchaft aber nachgie - biger war, Reichsſteuern mit uͤbernahm, ein Paar her - koͤmmliche Steuern (Prinzeſſinnen-Steuer, Schlachtbede) anerkannte, den Landesſteuern wenigſtens ſeine Hinterſaſſen unterwarf, nur die Ritterhufen ausnahm, bei außerordent - lichen Faͤllen auch wol Vermoͤgensſteuern ſich gefallen ließ, da rettete ſie wenigſtens das Prinzip, begehrte auf dem Landtage einen act of indemnity, Schadlosbriefe, Re - verſalen, daß ihr das Gute was ſie gethan, unſchaͤdlich ſeyn ſolle; denn ſie hatte wider die geſetzliche Ordnung gehandelt.
Aber die Gewalt, welche in den Dingen iſt, wenn ſie ihre Entwickelung einmahl begonnen haben, wirkte, wie im Reiche der Naturkraͤfte, ſchneller und ſchneller. Der Fuͤrſt allein ſchiffte auf dem Strome der neuen Verhaͤlt - niſſe. Er machte ſich zum Herrn eines Heeres, welches das Land bezahlte, eroberte ſich ſtuͤckweiſe, Ämter bildend, ſein Regierungsgebiet, erwarb Untheilbarkeit und Primo - genitur, und wenn er ein guter Haushalter war, die landſtaͤndiſche Ordnung vollends ſtarr werden ließ, Steuer - freiheiten aufhob, allgemeine Bildungsanſtalten gruͤndete,113Reichsſtaͤnde; landſtaͤndiſch od. repraͤſentativ.und dann zu rechter Zeit, Humanitaͤt und Herrſcher-Sinn gingen hier Hand in Hand, die Feſſel des Landmanns lockerte, ſo mochte ihm ſelbſt unumſchraͤnkte Herrſchaft nicht entgehen. Denn er allein trug Sorge fuͤr das Ganze, wie die Zeit es ſchon begehrte.
Aber was, in ſich veruneint, dem Zuge zum Ganzen gehorcht, will vielleicht Geſetze vorſchreiben, nachdem es ſich als Geſammtheit zuſammengefunden hat. Die unum - ſchraͤnktere Fuͤrſtenherrſchaft hat den alten ſcharfen Gegen - ſatz der Staͤnde vollends beſeitigt. Der Kriegsadel war ſchon von ſeinen Grundlagen verruͤckt, als die Reformation der Geiſtlichkeit eine ganz andere Stellung zum Volk und zur Regierung gab, auch da, wo ſie nicht durch - drang; der Drang nach allgemeinem Unterricht entwickelte ſich faſt ungeſtuͤm; auch er iſt kaſtenartigen Unterſchieden fremd, denn das Talent waͤchst auf dem Boden jedes Standes. Der Buͤrger kauft das adlige Gut, tritt wie ihn Gluͤck und Geſchick traͤgt in den Handwerksſtand, den des hoͤheren Gewerbes, wird Geiſtlicher, tritt in des Fuͤr - ſten Rath. Nicht anders der Bauer, und auch als Bauer iſt er zugleich, nach Art und Gelegenheit des Landes, Handelsmann, Fabrikant, Schiffer; die Stadt iſt aufs Land hinausgegangen. Noch immer keine voͤllige Gleich - artigkeit; Eines faͤngt da an, wo das Andere aufhoͤrt. Allein wo jetzt landſtaͤndiſche Verfaſſungen wieder erwachen, oder gar ganz neue ſich bilden ſollen, da darf die neue Bildung nicht auf gewichenen, fuͤr immer verſchwundenen Grundlagen ruhn. Nicht durch das was alt, auch nicht durch das was neu, ſondern durch das was ſtetig und lebendig, oder wieder zu beleben iſt, werden Staats-Ord - nungen geſtuͤtzt. Es giebt keinen Ausdruck eines tieferen Verhaͤltniſſes, der den Misbrauch und die Misdeutung8114Sechstes Capitel.abſchneidet; das aber iſt die Schwere der Gegenwart fuͤr die Regierungen, daß Gewohnheit fehlt oder nicht aus - reicht, daß faſt uͤberall, weil die Mittelglieder fehlen, welche Vorzeit und Gegenwart verknuͤpfen ſollen, ein Sprung zu thun iſt, um das Ziel, welches allen vor - ſchwebt, die oͤffentliche Wohlfahrt zu erreichen. Das aber iſt dahingegen die Stuͤtze der Regierungen, daß in den einzelnen Gebieten nachgewieſen werden kann, die Regie - rungskraft muͤſſe tief eindringen, und koͤnne es, ohne darum abſolut zu ſeyn.
140. Stellen wir jenes Alt und Neu, beides ſo oft geſchmaͤht und geprieſen, und ſo ſelten im Zuſammen - hange ſeiner Zeit gewuͤrdigt, in wenigen Saͤtzen zuſam - men, wiewohl in dieſem Theile der Deutſchen Staats - rechtsalterthuͤmer der Weg noch kaum gebahnt iſt.
Die landſtaͤndiſchen Verſammlungen in den Deut - ſchen Reichslanden hatten uͤber die Verwaltung und Ver - wendung der Einkuͤnfte aus dem fuͤrſtlichen Kammer-Gute nichts zu ſagen, insgemein auch uͤber den Zoll nichts, der dem Grundſatze nach von kaiſerlicher Verleihung ab - hing; aber daß ein Mehrbedarf ſtattfinde, mußte jeden - falls aufgewieſen werden, bevor man Steuern, und nicht aus Pflicht, bewilligte; auch nahmen die Staͤnde Theil an der Erhebung, beaufſichtigten ihre Verwendung, hatten gern ihr eigenes Schloß zum Landkaſten;
Der allgemeinen Geſetzgebung gab es zur altlandſtaͤndiſchen115Reichsſtaͤnde; landſtaͤndiſch od. repraͤſentativ.Zeit im Privatrecht wenig; man verhandelte auf den Landtagen etwa uͤber Gegenſtaͤnde der Landespolizey und Gerichts-Ordnung unter Beirath der Staͤnde; aber als die Geſetzgebung thaͤtiger ward, entſtand ihnen insgemein auch das Recht der foͤrmlichen Einwilligung nicht;
Die alten Landſtaͤnde uͤbten großentheils und lange Zeit hindurch das von ihren Landesfuͤrſten anerkannte Recht einer bedingten Huldigung, die ſofort nichtig ſeyn ſolle, wenn die verbrieften Freiheiten gebrochen wuͤrden, das Recht des bewaffneten Widerſtandes, ſogar der Ent - ſetzung 1); ſie waren berechtigt, bei Zwiſtigkeiten im fuͤrſt - lichen Hauſe zu vermitteln, an der vormundſchaftlichen Regierung theilzunehmen, allenfalls auch ſie allein durch aus ihrer Mitte ernannte Raͤthe zu fuͤhren, zu Krieg und Frieden ihre Stimme zu geben;
Die Berufungen der vormaligen Landſtaͤnde waren in der Regel die Folge eines Steuerbedarfs, und traten in unbeſtimmten Zwiſchenraͤumen ein;
Die zu den Landtagen berechtigten Staͤnde waren ehemahls im eigentlichen Sinne Landſtaͤnde; vermoͤge ihres An - theils am Landbeſitze berufen, nach dieſem Geſichtspunkt faſt allein beſteuert, auch die Staͤdte nach Ackerpfluͤgen (Steinpfluͤgen) zur Steuer angeſchlagen;
8*116Sechstes Capitel.Den Landtag berief die Landesherrſchaft; aber die Ritter - ſchaft erwarb ſich nicht ſelten das Recht, beliebig fuͤr ſich Convente zu halten, und beſtaͤndige Ausſchuͤſſe bildeten in vielen Reichslanden eine fortdauernde engere Landtags - verſammlung;
Wer in den Landſtaͤnden nicht aus perſoͤnlichem Rechte tagte, wer als Deputirter, ſey’s einer Provincial-Ritter - ſchaft, eines Stifts, einer Stadt, erſchien, war an die Auftraͤge ſeiner Koͤrperſchaft gebunden und holte ſich, wenn außer den vorher bekannten landesherrlichen Propo - ſitionen etwas Unerwartetes vorkam, neue Inſtructionen ein. Darum durfte auch in der Regel der Abweſende durch Vollmacht ſtimmen;
Die Landtagskoſten wurden nicht vom Lande, ſondern von jedem fuͤr ſich, oder von ſeiner Koͤrperſchaft aufgebracht;
117Reichsſtaͤnde; landſtaͤndiſch od. repraͤſentativ.Den Vorſitz bei den Staͤnden fuͤhrte nach dem Herkommen ein Biſchof, oder ein Praͤlat, oder auch ein Landmarſchall, den der Landesherr erblich damit belehnte; der Vorſitz konnte auch ein dingliches Recht, an einem Gute haftend werden;
Die Staͤnde verſammelten ſich uͤberall nach Standes - Curien als Praͤlaten, Ritter, ſtaͤdtiſche Obrigkeiten; Bauern als vierter Stand, wie in Tyrol und Schweden, waren im Mittelalter eine Ausnahme, und in den meiſten Lan - den, in welchen die Reformation durchdrang, ward die Praͤlaten-Curie ſchwach und lehnte ſich an die Ritter an. Sonſt ſtellte ſich jeder Stand zuvoͤrderſt als unabhaͤngig hin; kein Gedanke, daß ein Stand aus dem Geldbeutel ſeines Mitſtandes Steuern bewilligen koͤnne; dagegen man wenig Bedenken trug, ritterſchaftliche Guͤter, die in nicht - ritterſchaftliche Haͤnde gekommen waren, und die Amts - Diſtricte mit Landtags-Steuern zu belaſten; was ſich freilich mit ſelbſtaͤndigen Rechten ausgeſtattete Landſchaften nicht gefallen ließen. Daher kam es, daß Steuern und Standes-Sachen in jeder Standes-Curie fuͤr ſich abge - than wurden; gemeinſame Angelegenheiten aber und all - gemeine Landes-Sachen (denn der Landtag legte ſich ein Repraͤſentations-Recht fuͤr das ganze Land bei und reichte Landesbeſchwerden ein) Gegenſtand der allgemeinen Be - rathung wurden, wo denn allenfalls zwei Curien die dritte uͤberſtimmen mochten, oder auch viritim abgeſtimmt wurde; letzteres gewiß zum Vortheile der Ritterſchaft. Denn der Staͤdte waren weniger an der Zahl, manche Staͤdte verloren die Landſtandſchaft, weil ſie abgetheilten Herren118Sechstes Capitel.gehoͤrten, manche neuerbaute wurden gar nicht in den nexus aufgenommen, und wenn gleich jede Stadt eine beliebige Anzahl Bevollmaͤchtigte ſenden konnte, ſo mußten doch dieſe ſich zu einer einzigen Stimme vereinigen 2).
Vgl. Eichhorn D. St. u. R. G. III. §. 423 ‒ 427., dem man immer verdankt, auch wo man nicht beiſtimmen kann. Ungemein ver - dienſtlich iſt Falck’s Darſtellung aus dem Standpunkte einer wich - tigen Einzel-Verfaſſung im Handbuche des Schleswig. Holſt. Privatrechts Bd. II. Hauptſt. 1. Cap. 3. Von den Landſtaͤnden. Vgl. Michelſen, Über die vormalige Landesvertretung in Schles - wig-Holſtein, mit beſonderer Ruͤckſicht auf die Ämter und Land - ſchaften. Hamb. 1831., in welcher Schrift zwar manche Behaup - tung zu beſchraͤnken ſeyn wird; ſo hat es namentlich mit der S. 13. angenommenen alten Landſtandſchaft des Bauernſtandes in Wuͤrtemberg eine ganz andere Bewandniß. vgl. Eichhorn III, §. 414. Note f. Falck’s Annahme S. 225., daß auf dem Schles - wig-Holſteiniſchen Landtage bloß viritim abgeſtimmt ſey, iſt mir ſehr unwahrſcheinlich. In Bayern waren ſo viele Geſammtſtimmen als Staͤnde vorhanden; wenn ſie ſich nicht vereinten, galt keine Stimmenmehrheit; die Staͤnde trennten ſich dann, und jeder ſetzte als beſondere Foͤderation durch, was er ohne die andere thun konnte; war das nicht moͤglich, ſo unterblieb der Antrag. Wenn der Antrag bloße res singulorum betraf, z. B. Steuern, konnte jeder fuͤr ſich, aber nicht fuͤr den andern Stand, viel weniger fuͤr das ganze Land bewilligen. So Rudhart, Geſch. der Landſtaͤnde in Bayern II, 27. In der Calenbergiſchen land - ſchaftlichen Verfaſſung findet, wenn uͤber gemeine Landesangele - genheiten ein Entſchluß zu faſſen, ein Überſtimmen von zwei uͤbereinſtimmenden Curien gegen eine diſſentirende zwar ſtatt, aber der diſſentirenden wird der Weg Rechtens vorbehalten, in -119Reichsſtaͤnde; landſtaͤndiſch od. repraͤſentativ.ſofern ihre beſonderen, der Mehrheit der Stimmen nicht unter - worfenen Vorrechte und Freiheiten dabei verletzt ſind. J. C. von Hugo, Die landſchaftliche Verfaſſung des Fuͤrſtenthums Calen - berg S. 53. u. 57., vgl. S. 71 ff.
141. Ehemahls war die Meinung, die allgemeine Ver - faſſung duͤrfe nur inſoweit wirken, als die beſonderen Rechte der zu Rechten berechtigten Staͤnde keinen Eintrag dadurch litten; ſie hat ihre lieblichen und ihre herben Fruͤchte ge - tragen. Jetzt liegt in der Bahn des Lebens die Überzeu - gung, daß vor Allem die Ordnung der Geſammtheit mit Einſicht und Gerechtigkeit zu erſtreben ſey; das Einzelne ſoll, ſo zu ſagen, ſein Daſeyn rechtfertigen durch ſeine thaͤtige Stellung zum Ganzen. Durch den faſt allgemeinen120Sechstes Capitel.Fortſchritt fuͤrſtlicher Gewalt ſeit der Reformation ſind große Wegeſtrecken zu dieſem Ziele zuruͤckgelegt; aber nicht die mechaniſche nach Willkuͤhr wechſelnde Einheit iſt das Ziel, es gilt ein ſtetig einheitliches Leben fuͤr die Mannig - faltigkeit freier Volksentwickelung in dieſe Gebundenheit der Staatsordnung einzufuͤhren. Darum kann die Zukunft Europa’s keine Verherrlichung des unumſchraͤnkten Koͤnig - thums ſeyn, aber ſie iſt, wenn ſtetige Entwickelung gelin - gen ſoll, geknuͤpft, an den Beſtand nicht bloß, ſondern an die Macht der erblichen Koͤnigthuͤmer. Denn dieſes iſt das einzige Band der Gewohnheit, welches durch die Dauer immer feſter geworden iſt in der tiefer dringenden Überzeugung. Eingeſtehen, daß fuͤr alle uͤbrigen Elemente der politiſche Schwerpunkt erſt im Werden ſey, iſt keine Theorie, aber auch kein Verdienſt, aber auch kein revolu - tionaͤrer Sinn; es iſt der Blick auf die fortſchreitende Veraͤnderung der Welt-Verhaͤltniſſe und dadurch der Men - ſchen, der ſo zu reden zwingt. Wenn ein Familien-Vater ſeinen Kindern auf ihren Lebenswegen mit dem Blicke folgt, das eine ſteht in dieſem, das andere in jenem Stande, nichts iſt darin unuͤberſteiglich; die alten Stan - deskluͤfte, welche fruͤher kaum der Wunſch uͤberſprang, ſind nicht mehr; wenig von Angeborenem, uͤberall Wahl - und Berufsweſen. Darum hat die Frage: ſtaͤndiſch oder repraͤſentativ? wenig praktiſchen Werth mehr, vor Allem, wo eine Staͤnde-Verſammlung von vorne herein aufgebaut werden ſoll. Es wuͤrden zwei gleichver - ſtaͤndige und unpartheiiſche Maͤnner, der eine von dieſem, der andere von jenem Geſichtspunkte ausgehend, leicht in Hinſicht auf die Beſtandtheile der Staͤndeverſammlung zu demſelben praktiſchen Reſultat gelangen. Die Beſtand - theile aber wirken wieder entſcheidend auf die Grund -121Theilung der Staͤndeverſamml. in Kammern.Form ein. Merklich anders freilich geſtaltet ſich die Sache, wo am Beſtehenden bloß umzubilden iſt. Doch wird auch hier fuͤr die Aufnahme alles deſſen, was den Staat wirk - lich ſtuͤtzt, ihn mit ſaͤchlichen und perſoͤnlichen Guͤtern ver - ſieht, die erſte Sorge zu tragen ſeyn. Überall muͤſſen in die Luͤcken des Herkommens die frei geſchaffenen Nothwen - digkeiten der politiſchen Inſtitutionen treten, wie man Feſtungen baut, um den gelichteten Boden, fruͤher durch Wald und Moor vertheidigt, nun kuͤnſtlich zu beſchuͤtzen. Aber das Land iſt nicht um der Feſtungen Willen da, und das Klima iſt vielleicht etwas kaͤlter geworden.
142. Faſſen wir die Dinge im Ganzen und Großen. Dieſelbe Macht der Geſchichte, welche uͤberall dahin, wo fruͤher Dienſte ſtanden, das Geld geſetzt hat, vermoͤge deſſen nunmehr der Staat ſich ſelber bedient, welche an die Stelle der uͤberlieferten Sitte die Gruͤnde waͤ - gende Einſicht geſetzt hat, und eine oͤffentliche Mei - nung an die Stelle der Standes-Meinung — eben ſie iſt es, welche die alten Landſtaͤnde zuſammenruͤcken heißt zu einer Volksvertretung, die allgemeinverbindliche Geſetze und Geld-Abgaben bewilligt, alle Regierungsrechte aber, der Staͤnde und der Einzelnen, an den beſſer erkannten Staat zuruͤckſtellt.
143. Was man mit einem Mittel abthun kann, dafuͤr, ſpricht die Theorie, ſoll man zwei nicht anwenden. Ein Volk, eine Kammer; ſo gelangt ſich’s ſchnell durch Erfragung der einfachen Mehrheit zum Ziele. — Aber auch zum rechten Ziele?
122Sechstes Capitel.Ein Volk iſt es zwar, allein abgeſehn vom Fuͤrſten, den ſein Beruf vom Volk abſondert, ſtellt ſich dieſes Volk ſelber deutlich in der Form verſchiedener Berufe dar, die, wie frei ſie auch von den Einzelnen erwaͤhlt ſeyn moͤgen, doch wieder Staͤnde von entſchiedener Lebens-Richtung bilden, Ackerleute, Gewerbsleute, Friedens - und Kriegs - Beamte, Geiſtliche, Gelehrte; als gleichartige Maſſe zeigt ſich das Volk bloß im berufsloſen Poͤbel. Und ſo waͤre das volksgemaͤße Verfahren wol eher dieſes, ſo viele Kammern als Hauptberufe ſind, zu bilden, mehr Curien alſo noch als im Mittelalter zu finden, und durch Befragung jeder fuͤr ſich (vermoͤge der gezogenen Mehrheit freilich, die nun einmahl unter Gleichartigen die Geſammtheit bedeutet) 1) herauszubringen, wohin die Geſammtheit neige. Aber es ſind wieder Staͤndeverſammlungen nicht die Staͤtten wiſſen - ſchaftlicher Forſchungen, nicht eines bloßen Zeugenverhoͤres moͤglichſt vieler Kunſtverſtaͤndigen fuͤr die Benutzung drau - ßen ſtehender Gewalten; in ihnen ſelber iſt Gewalt, die ungebraucht nicht ſchlummern darf, ihr Beſchluß ſoll That ſeyn. Darum darf die Theilung der Staͤndeverſammlung nie ſoweit gehen, daß ſie die Thaͤtigkeit derſelben gewoͤhn - lich in ein bloßes Fuͤr und Wider der Verhandlung auf - loͤst. Das war mit der Deutſchen Reichsverſammlung der Fall, ſeit im Weſtphaͤliſchen Frieden auch das Collegium der Reichsſtaͤdte ein in den meiſten Faͤllen entſcheidendes Veto erhielt.
144. Wenn ja getheilt werden ſoll, ſo ſcheint auch ein anderer Grund dafuͤr zu ſtimmen, daß man nicht uͤber123Theilung der Staͤndeverſamml. in Kammern.zwei Kammern hinausgehe. Sind ihrer mehr, z. B. drei oder fuͤnf, ſo iſt entweder gar keine Hoffnung eines Re - ſultats, oder wenn Überſtimmen gilt, kann ein Beſchluß zu Stande kommen, der freilich die Mehrzahl der Curien, aber die Minderzahl der Individuen fuͤr ſich hat. Calonne wußte recht gut, daß, wenn er ſeine 144 Notabeln in 7 Buͤreaux eintheile, er durch nicht ein Drittheil der Stim - men die Majoritaͤt von vier Buͤreaux gewinnen, folglich die uͤbrigen zwei Drittheile der Stimmen beherrſchen koͤnne. Kurz, eine Kammer muß gegen die andere ein Veto haben, damit aber der Hemmungen nicht zu viele werden, auch der Majoritaͤt der Individuen ihr Recht geſchehe, muͤſſen zwei gleichberechtigte Kammern genuͤgen.
145. Zwei gleichberechtigte Kammern geben der Ver - ſchiedenartigkeit im Volk Raum, ohne die Staats-Einheit in Korporations-Stimmen aufzuloͤſen. Sie gewaͤhren eine eindringendere und reifere Berathung, inſofern die eine Kammer die Kritik der andern zu ſcheuen hat. Eine mehr - mahlige Berathung in derſelben Kammer leiſtet das nicht, was die Durchberathung von vorne her in einer anderen Verſammlung leiſtet, worin die nicht ſitzen, welche den Antrag gemacht, und mit aller Staͤrke der Gruͤnde, viel - leicht auch mit Aufbietung aller Partheymacht im Feuer der Leidenſchaften durchgefuͤhrt haben. Eine Kammer hat mehr Schnellkraft zu Änderungen, welche moͤglicher Weiſe Verbeſſerungen ſind. Zwei Kammern ſind mehr erhaltend als aͤndernd, darum langſamer zum Verbeſſern, allein was einmahl durchgedrungen, geht nicht leicht wieder ruͤckwaͤrts. In einer auf gutem Grunde gebauten Verfaſſung iſt aber die Erhaltung wichtiger, als die Leichtigkeit raſcher Ver - beſſerungen. Zwei Kammern gewaͤhren mehr Sicherheit124Sechstes Capitel.fuͤr die Krone, weil die Geſetzgebung ſich in ſich ſelber berichtigt, der Krone manches Nein erſpart. Sie ſtellen zugleich die Staͤnde auf einen hoͤheren Standpunkt; denn eine Einmuͤthigkeit beider Kammern bedeutet in der Regel auch die Volksſtimme, und ein Nein der Krone wird ſehr ſchwer geſprochen, wo der Beſchluß nicht auf einer viel - leicht zufaͤlligen Mehrheit in einer und derſelben Ver - ſammlung, ſondern auf der Übereinſtimmung von zwei Kammern beruht, in denen es an ſtreitenden Intereſſen nicht fehlen wird.
Wo ein Geiſt der Umwaͤlzung erwacht, vielleicht weil nothwendige Verbeſſerungen zu lange verſchoben ſind, da greift er ſtets zuerſt die Zweizahl der Kammern an. So in Karls I. von England Zeit, ſo in den Tagen der fran - zoͤſiſchen Revolution, der Mutter und ihrer Toͤchter. Da - gegen hat das freie Nord-Amerika, ohne alle Ariſtokratie der Geburt, ſich nach Englands Beiſpiele Senate errichtet, in ſeinen einzelnen Staaten nicht minder als in der Con - greß-Verfaſſung. Darum iſt der Ablehnungsgrund nicht triftig: „ Wo finden wir ein Oberhaus wie in England? “
Freilich wird es darauf ankommen, zwei ſtaͤndiſche Koͤrper nach genuͤgendem Theilungsgrunde, nicht bloß numeriſchem, aufzuſtellen, aber wo auch alle Nothwendig - keiten des Herkommens verſchwunden waͤren, da beſteht doch der Unterſchied eines Daſeyns, welches auf dem Landbau von demjenigen, welches auf dem Gewerbe ruht, von Majorat und theilbarem Erbe, von Alt und Jung, von Lebenslaͤnglich und fuͤr beſchraͤnkte Zeit.
146. Norwegen hat von ſeinen politiſchen Erinnerun - gen den Haß gegen Schweden aufgegeben, den Adelshaß125Bildung des Ober-Hauſes.bewahrt. Es duldet keine Ariſtokratie irgend einer Art neben ſeinem Koͤnige, und macht gleichwohl den Verſuch, zwei Kammern allein dadurch zu bilden, daß ein Viertheil der zu der Staͤndeverſammlung gewaͤhlten Mitglieder die eine kleinere Kammer ausmacht, die uͤbrigen drei Viertheile die andere, ohne irgend einen Beſchaffenheitsunterſchied. Die groͤßere Verſammlung (Odelsthing) hat das Vorſchlags - Recht, die kleinere (Lagthing) genehmigt oder lehnt ab. Auch ohne die bei dieſer Einrichtung begangenen Fehler (welche darin beſtehen, daß 1) die Ausſcheidung des Vier - theils von der noch ungetheilten, noch thatenloſen Staͤnde - verſammlung ſelber ausgeht, daß 2) auch dieſe ungetheilte Staͤndeverſammlung in den Faͤllen wiederkehrt, wenn beide Kammern beharrlich uneinig ſind und die Entſcheidung giebt, und ſomit das Syſtem der zwei Kammern nur ſcheinbar exiſtirt) bleiben das doch zwei Kammern, die ſich durch nichts anders als die Zahl von einander unterſchei - den, weder durch Geburt, noch durch Vermoͤgen, noch durch Alter, noch Amt, noch lebenslaͤngliche oder doch fuͤr laͤngere Zeit verfuͤgte Einſetzung. Welcher Grund aber iſt, daß ¼ die Gewalt habe, gegen ¾ einzuſprechen? Beab - ſichtigt man der geringeren Zahl gleiches Gewicht mit der groͤßeren zu geben, ſo muß jene durch ihre Beſchaffenheit Gewicht erhalten.
147. Eine erbliche Engliſche Paͤrſchaft laͤßt ſich zwar nicht kuͤnſtlich erſchaffen: alter Ruf der Geſchlechter, mit ungeheurem Grundvermoͤgen in den verſchiedenen Landes - theilen in herkoͤmmlichem Anſehn wurzelnd, gepaart mit dem Glanze neuer durch die Paͤrie belohnter Verdienſte und mit dem hoͤchſten geiſtlichen und weltlichen Amtsadel. Allein in keinem Staate, und auch in den Deutſchen126Sechstes Capitel.Staaten mittleren und kleineren Maaßes nicht, fehlt es ganz an den dauerhaften und erblichen Beſtandtheilen, die ſich fuͤr eine erſte Kammer eignen, als: Prinzen des regie - renden Hauſes, Standesherren, Majoraten, ſchon errichtet, oder noch zu bilden, wozu in Ermangelung einer gaͤnzlichen Umbildung der Deutſchen Adelsverfaſſung (und wie ver - moͤchte wenigſtens ein einzelner Deutſcher Mittel-Staat dieſe zu vollbringen?), wechſelnde Deputationen aus den Ritterſchaften der einzelnen Provinzen kommen. Je mehr Veraltung oder Mangel an ſelbſtaͤndiger Bedeutung ſich aber in dieſen Beſtandtheilen findet, da ſchwere Verſchul - dung der Gutsbeſitzer ſie zu bloßen Antheils-Eigenthuͤmern (der Hauptſache nach zu Verwaltern ihrer Glaͤubiger) machen kann, um ſo mehr bedarf es des Zuſatzes theils von ſol - chen, die vermoͤge ihres hohen geiſtlichen oder weltlichen Amts eintreten, theils von Mitgliedern, die der Landesherr ernennt. Dieſe letzteren verdanken ihren Verdienſten um den Staat, auf welchem Felde dieſe auch errungen ſeyn moͤgen, ihren Sitz, ſind alſo lebenslaͤnglich, und ihre Zahl darf keine gebundene ſeyn. Alle Kategorieen der Ernen - nung ſind (das heutige Frankreich zeigt es) leicht mit eini - gen Redensarten uͤberſprungen. Von der Beruͤckſichtigung bloß voruͤbergehender Zwecke bei der Ernennung, von der gefuͤrchteten Abhaͤngigkeit der Ernannten haͤlt gerade am beſten die Lebenslaͤnglichkeit ab.
Im Koͤnigreiche Hannover ging bei den Verhandlungen uͤber das neue Staatsgrundgeſetz der Entwurf der Regierung dahin, die erſte Kammer auf Majoraten von Koͤniglicher Ernennung zu gruͤnden. Er fand indeß in beiden Kammern uͤberwiegenden Widerſtand. Die erſte wollte keinen Majoratsadel uͤber dem herkoͤmmlichen Adel geſtellt wiſſen, in der zweiten ſtieß man ſich daran, daß die Majorate noch nicht exiſtirten und durch ein Proviſorium aus Rittergutsbeſitzern einſtweilen erſetzt werden127Bildung des Ober-Hauſes.ſollten, daß ferner der bisherige Adel nun in die zweite Kammer ruͤckte. Man ſah hierin eine doppelte Repraͤſentation des Adels.
148. Je aͤrmer eine erſte Kammer an politiſchem Gewichte iſt, um ſo mehr fragt die oͤffentliche Meinung nach der Einſicht und Wuͤrde der Mitglieder dieſes ſtaͤndi - ſchen Senats. Fehlt die Schwerkraft des Vermoͤgens, ſo ſtaͤnde theoretiſch nichts im Wege, das Steuergeſetz ledig - lich von der Bewilligung der zweiten Kammer abhaͤngig zu machen, und gut, wenn die Sache factiſch ſich ſo ſtellt. Nicht rathſam jedoch, eine ſolche Gefaͤhrdung des Gleich - gewichts beider Arme der Geſetzgebung anzuordnen, zu - mahl es ſich heut zu Tage gewoͤhnlich weniger um die Hoͤhe der auf der Steuerkraft baſirten Steuern, als um deren geſchickte Anordnung handelt, wobei die Einſicht einer nicht verheimlichten Berathung das Beſte thut.
149. In einem Staate von ſehr ſchwacher Bevoͤlke - rung trachte man nach zwei Kammern nicht. Hier iſt die Hauptſache die Vereinigung der geſammten geiſtigen Kraft, damit es an einer tuͤchtigen Discuſſion der Geſetze nicht mangle. „ In einem Theetopfe kann man kein Bier brauen. “ Aber eben hier, wo das Gefuͤhl der politiſchen Bedeutſamkeit verloren geht, wird der Einzel-Bildung mehr Raum vergoͤnnt werden koͤnnen. Eine Vor-Bera - thung nach Standes-Curien, der großen und der kleinen Grundbeſitzer, und der Staͤdter kann hier ſtattfinden; die Schluß-Berathung und Abſtimmung falle in die all - gemeine Verſammlung, doch muß in gewiſſen Faͤllen der Einſpruch einer Curie Geltung haben. So duͤrfte uͤber Verhaͤltniſſe zwiſchen Stadt und Land nicht gegen den Einſpruch aller Staͤdte entſchieden werden.
128Sechstes Capitel.Eine Stadt, die zugleich Staat iſt, wird immer zwei Kammern fuͤr die Geſetzgebung haben; die Mannigfaltig - keit der ſtaͤdtiſchen Betriebe fuͤhrt von ſelber dahin. Thoͤ - richt dagegen waͤre es, ein einfaches Landvolk von gleich - artigen, nirgend ſich gefaͤhrlich reibenden Intereſſen, in zwei Kammern kuͤnſtlich zerſpalten zu wollen.
Überhaupt aͤndere man nie um der Theorie Willen. Mancher Menſch lebt mit ſeinem Hoͤcker achtzig Jahre lang. Die Operation wuͤrde ihm das Leben koſten. Wo ein Volk in ungetheilter Verſammlung ſich innerlich befrie - digt und eintraͤchtig fuͤhlt, da erfreue man ſich der Leich - tigkeit des Geſchaͤftsganges und des Gefuͤhls der Gleich - heit, welches ſie gewaͤhrt. Wo aber wichtige Intereſſen ſich unterdruͤckt fuͤhlen unter einer und derſelben laſtenden Majoritaͤt, da laſſe man der Ungleichartigkeit ihr Recht widerfahren und verſoͤhne ſie, indem man ſie reſpectirt.
In den zweiten Kammern Deutſcher Staͤndeverſamm - lungen hat ſich oft genug der Wunſch ausgeſprochen, daß nur eine Kammer ſeyn moͤge. Die geiſtreichen Redner ſetzen dabei offenbar ſtillſchweigend voraus, daß dann ihre Anſichten und Wuͤnſche leichter obſiegen werden. Wie aber, wenn das Gegentheil geſchaͤhe? Wenn die Ariſto - kratie, oder wie man die ſchnellen Veraͤnderungen abge - neigte Parthey nennen moͤge, nun in der ungetheilten Staͤndeverſammlung obſiegte? Dann wuͤrden ſie empfin - den, was es bedeutet, aus der Majoritaͤt, freilich nur in einer Kammer, in eine beſtaͤndige Minoritaͤt verſetzt zu ſeyn. — Darum wird nicht behauptet, daß die erſten Kammern unſerer neueren Verfaſſungen politiſche Meiſter - werke ſind.
Das Engliſche Parlament hat innerhalb weniger Jahre zu Stande gebracht: die Aufhebung der Teſt-Acte, die129Bildung der zweiten Kammer.Emancipation der Katholiken, die Reform ſeines Unter - hauſes; es giebt den hundert Millionen Oſt-Indiens eine verbeſſerte Regierung, ſchafft die Sclaverey definitiv ab; Alles dringende, viel zu lange verſchobene Anordnungen. Allein wer moͤchte ſich nur denken, daß ſie in einer unge - theilten Staͤndeverſammlung zum Trotze einer widerſtre - benden ariſtokratiſchen Minoritaͤt durchgegangen waͤren und nicht durch Verſoͤhnung beider Haͤuſer, wie jetzt, ohne den Kunſtgriff einer Paͤrs-Ernennung bloß zu ſolchem Zwecke!
150. Die erſte Kammer nimmt die perſoͤnlich und amtlich Berechtigten auf, und ſtrebt nach Lebenslaͤnglich - keit, wo nicht Erblichkeit ihrer Mitglieder. Die zweite Kammer gehoͤrt dem Wechſel und der Wahl an.
151. In der Wahlkammer ſitzen die Gemeinden aus Stadt und Land durch ihre auf beſtimmte Zeit gewaͤhlten Abgeordneten. Es iſt alſo nicht davon die Rede, eine be - ſtimmte Maſſe Volks durch eine beſtimmte Anzahl Depu - tirte vertreten zu laſſen, auch die Steuerkraft hat nicht die Hauptentſcheidung. Die Repraͤſentation beruht auf den Ortsgemeinden, auf der einzelnen Gemeinde, oder wenn dieſe an Volkszahl und Vermoͤgen zu ſchwach iſt, auf Ge - meinde-Verbaͤnden.
152. Eine bloß numeriſche Repraͤſentation wird ſo wenig beabſichtigt, daß vielmehr die Staͤdte, welche in Deutſchland und Frankreich im Durchſchnitt den vierten Theil der Bevoͤlkerung ausmachen, billig ſtaͤrker vertreten werden als nach dieſem Maasſtabe, weil ihre Kraft durch Verdichtung ſtaͤrker wirkt und ſie die Sitze der mannigfal - tigſten Intereſſen ſind. Bei vielen kleinen Staͤdten (ſ. g. 9130Sechstes Capitel.Landſtaͤdten) iſt das freilich nicht der Fall und es koͤnnen deren mehrere zuſammengefaßt, oder beſſer einzelne zu dem naͤchſten laͤndlichen Bezirk gelegt werden.
153. Durchaus auch bedarf es keiner beſonderen Re - praͤſentation der ſogenannten Intelligenz, die, worauf be - ſonders Poͤlitz dringt, ein Drittel der Wahlkammer aus - fuͤllen ſoll, aus Beamten, Geiſtlichen, Gelehrten, Ärzten, Kuͤnſtlern zuſammengebracht. Ein compelle intrare iſt hier uͤberfluͤßig, ſie finden ſich von ſelber ein. Ehemahls war dieſes Element anweſend in der Form der Geiſtlich - keit, als an der alle wiſſenſchaftliche und kuͤnſtleriſche Bil - dung haftete. Gegenwaͤrtig findet jeder Stand, in wel - chem mehr mit den Gehirnnerven als mit den Nerven des Ruͤckenmarks gearbeitet wird, ein offenes Thor fuͤr die hoͤhere Bildung. Sie hat ihr Standesgebiet aufgege - ben. Eine Vertretung aber der Kirche und der Wiſſen - ſchaft als ſolcher gehoͤrt fuͤr die Staͤndeverſammlung nicht, welche weder liturgiſche Ketzer verurtheilen, noch philoſo - phiſche Syſteme mit Geſetzes Kraft verſehen ſoll. Ihre immer wiederkehrende Aufgabe iſt der Rechts-Schutz fuͤr Perſonen und Eigenthum und eben daher auch die Feſt - ſetzung der Leiſtungen, die dem Staate durch Perſon und Eigenthum zu bringen ſind. Dabei kommt auch eine Seite des Kirchen - und Unterricht-Weſens in Frage, und gewiß iſt es nuͤtzlich, wenn ein Paar Mitglieder der Geiſtlichkeit in der Kammer in dieſer Hinſicht Rede ſtehen, zumahl die Leitung des Volk-Schulweſens billig in geiſt - lichen Haͤnden liegt; aber ſie werden ſich als Grenzhuͤter betrachten, Eingriffen wehren, poſitiv hier nichts begruͤn - den wollen.
Die alte Landſtandſchaft der Univerſitaͤten leitet ſich131Bildung der zweiten Kammer.von ihrem urſpruͤnglichen Grundbeſitze her, deſſen Verwal - tung mit ſelbſtaͤndigem Gemeinderecht ſie zu wichtigen po - litiſchen Koͤrperſchaften machte. Aber gerade dieſer Theil ihrer Bedeutung iſt uͤberall im Verſchwinden; die neuen Univerſitaͤten ſind ohne Grundbeſitz errichtet; auch als ge - lehrte Koͤrperſchaften iſt ihre Selbſtaͤndigkeit geringe; keine Selbſtwahl der Lehrer mehr; keine unveraͤnderlichen Sta - tuten; abnehmende Geltung der akademiſchen Wuͤrden im Staate. Mithin findet an ſich hier kein groͤßerer Anſpruch auf Beſchickung des Landtags ſtatt, als etwa fuͤr ein hoͤhe - res Landes-Collegium. Dennoch kann es nuͤtzlich ſeyn einer unpartheilich zum ganzen Lande ſtehenden Geſellſchaft der Wiſ - ſenſchaftlichen ein Wahlrecht einzuraͤumen, nur daß die Wahl nicht nothwendig an ein Mitglied derſelben gebunden ſey.
154. Jeder Waͤhler muß die volle Rechtsfaͤhigkeit eines Eingeborenen beſitzen, das geſetzliche Alter und (es waͤre denn daß eine beſſere Bewaͤhrung an die Stelle traͤte) ein Gewiſſes an ſichern Einkuͤnften. Er muß auch wohn - haft (oder mindeſtens angeſeſſen) in der Ortsgemeinde, in welcher er Wahlrechte anſpricht, ſeyn, und verwandt der - ſelben, wenn auch nicht als Vollbuͤrger, ſo doch durch gewiſſe Leiſtungen fuͤr die Gemeinde. Noch ſtandesloſe, und Schuͤtzlinge eines Standes (Lehrlinge aller Art) oder die in der Gewalt ihrer Glaͤubiger ſtehend, vor der Hand keinen Stand haben, uͤben kein Wahlrecht. Das Wahl - recht der Frauen in Canada (doch ohne Waͤhlbarkeit) wird wol eine muntere Ausnahme bleiben.
Moribus civilia officia ademta sunt feminis. Fr. 1. §. 1. D. 16, 1. Auf den deutſchen Reichstagen erſcheinen die Äbtiſſinnen in den letzten 5 Jahrhunderten nur durch Geſandte. Scheidemantel Repert. I, 103. vergl. Hugo Naturrecht §. 166. n. 3.
155. Den Maasſtab der Einkuͤnfte fuͤr den Waͤhler9*132Sechstes Capitel.giebt eine gewiſſe, ein anſtaͤndiges buͤrgerliches Auskom - men bedingende Steuer-Quote; es giebt ihn auch eine gewiſſe Jahres-Einnahme vom Vermoͤgen, vom Nahrungs - ſtande, oder feſtem Gehalt. Weil aber jeder Cenſus, wie man ihn auch ſtelle, ungenuͤgende Buͤrgſchaft giebt und tauſend Wege der Umgehung offen ſtehen, ſo thut man wohl an ſeiner Statt, aber neben den uͤbrigen allgemei - nen Erforderniſſen, eine lebendige Graͤnze fuͤr den Kreis der Waͤhler zu ſuchen. Dieſe waͤre, ſcheint es, gefunden, wenn man was die Staͤdte angeht, in Anerkennung, daß der alte Kreis der Buͤrger nicht mehr das ſtaͤdtiſche We - ſen ausfuͤllt, außer den Magiſtrats-Perſonen, den frei gewaͤhlten Buͤrgervorſtehern, die es geweſen und noch ſind, die Mitglieder der Gerichtshoͤfe und ſonſtigen in der Stadt ſeßhaften Collegien und Behoͤrden, die Geiſtlichen und hoͤheren Schullehrer, die Älteſten der gewerblichen Koͤr - perſchaften, die Vorſteher von milden Stiftungen, die Verwalter des ſtaͤdtiſchen Kranken - und Armenweſens, mit einem Worte Alles was ein oͤffentliches Zeugniß ſeiner Thaͤtigkeit im Gemeinweſen fuͤr ſich hat, — mit Waͤhler - recht ausſtattete. Ungleich ſchwerer iſt die Aufgabe bei den Landgemeinden; doch auch hier wuͤrde dasſelbe Princip wenigſtens mitwirken muͤſſen, wenn im Übrigen der noch unzerſplitterte Zuſtand des baͤuerlichen Eigenthums es ge - ſtattet den Beſitz eines geſchloſſenen Hofes zur Baſis des Waͤhler-Rechts zu machen.
156. In Ermangelung ſolcher Einrichtungen wird man durch die Wahl der Waͤhler, die in beſonders zu dem Ende zu bildenden Bezirken geſchieht, d. h. durch Wahlcollegien, den Wahltumult und was ſonſt von Beſtechlichkeit und Poͤbelherrſchaft droht, vermeiden wollen. Allein man ſpielt133Bildung der zweiten Kammer.dadurch die Entſcheidung aus der Hand der Leidenſchaft in die der Gleichguͤltigkeit und ſchließlich in die der Intri - gue. Weil man die laͤrmende Unordnung vermieden hat und reinliche Wahlprotocolle zu leſen bekommt, bildet man bequem ſich ein, es gehe Alles mit rechten Dingen unter den Waͤhlern zu, aus deren engem Kreiſe mehrentheils doch auch gewaͤhlt wird. Außerdem hat Burke recht: „ Un - ter den Befugniſſen, die ſich nicht auf andere uͤbertragen laſſen, giebt es keine, die ſo ungeſchickt dazu waͤre als die Befugniß, eine perſoͤnliche Wahl anzuſtellen. Handelt der Abgeordnete den Rechten und Vortheilen ſeiner Conſtituen - ten zuwider, ſo koͤnnen ſich dieſe nie an ihn, ſondern nur an die Verſammlung der Waͤhler halten, die ſie gewaͤhlt hatten, um ihn zu waͤhlen “.
Der an ſich ungerechte Vorwurf, daß das Repraͤſentativ-Syſtem auf Mechanik, Taͤuſchung, Zufall beruhe, trifft gar ſehr die Wahlcollegien, welche man ſo unbeſehens in unſere Deutſchen Wahlgeſetze aufgenommen und ſelbſt bis zu dreifachen Wahlen ver - feinert ſieht. Frankreich hatte ſeine Commuͤnen zerriſſen, und Frei - heit und Gleichheit verſprochen; nun fuͤrchtete man Poͤbelwahlen und erfand die Wahlcollegien. Deutſchland kann durch ein tuͤch - tiges Gemeindeweſen directe Wahlen gewinnen, die nicht Poͤbel - wahlen ſind. (Eine loͤbliche Ausnahme bildet in dieſer Beziehung die Verordnung wegen naͤherer Regulirung der ſtaͤndiſchen Ver - haͤltniſſe in dem Herzogthum Holſtein vom 15. May 1834., welche directe Wahlen anordnet, aber freilich auf Beſitz von Grundeigenthum, ſelbſt in Staͤdten, Waͤhlerrecht und Waͤhlbar - keit beſchraͤnkt, und, weil das Gemeindeweſen fehlt, doch am Ende nur nach dem Cenſus.) Wer moͤchte es unbedenklich finden, daß das Engliſche Unterhaus durch die Reformacte 800,000 Waͤhler erhalten hat? und wer ſollte nicht wuͤnſchen, daß, wenn die Verbeſſerung des Brittiſchen Gemeindeweſens gelingt, es moͤg - lich ſeyn moͤge, ein aͤchteres Princip der Wahlberechtigung einzu - fuͤhren? Nur ja nicht das der Franzoͤſiſchen Reſtauration, die, als ſie134Sechstes Capitel.endlich zu directen Wahlen zuruͤckkehrte (Wahlg. v. 5 Febr. 1817), nicht bloß die Armuth ausſchließen, ſondern auf dem Reichthum ihre Kammer gruͤnden wollte. Ihre 80,000 Waͤhler bei viel - leicht 20,000 Waͤhlbaren (dieſe auf 1000 Francs, jene auf 300 directer Steuer geſetzt) ſind ſeit dem neueſten Wahlgeſetz vom 19. April 1831 freilich mehr als verdoppelt. Man zaͤhlt an 174,000 Waͤhler, ſeit hoͤchſtens 200 Francs directer Steuer die Bedin - gung dieſes Rechtes ſind, vom double vote des Hoͤchſtbeſteuer - ten iſt keine Rede mehr, allein noch immer bedingt man 500 Francs directer Steuer fuͤr die Waͤhlbarkeit. Es waͤ〈…〉〈…〉 aber ſtatt von meuteriſchem Adel ſchon ein Wort von meuteri - ſchen Reichen zu reden, und die Stunde mag ſchlagen, da man in Frankreich eine Buͤrgſchaft der Ruhe in Diaͤten ſieht. Man hat die Saite ſchon anklingen hoͤren.
157. Faͤlſchlich haͤlt man es fuͤr conſervativ, die For - derung des Grundbeſitzes, die nicht einmahl in den Landge - meinden unbedingt durchfuͤhrbar iſt, (denn Pachtungen und Capitalien und Induſtrie verlangen gleichfalls Ruͤckſicht) auch auf die Waͤhler der Staͤdte auszudehnen; wie viele Beamte haben denn jetzt in großen Staͤdten, wo der Haus - beſitz ein Gewerbe iſt, eigene Haͤuſer? Faͤlſchlich haͤlt man es aber fuͤr eine Forderung der Freiheit, die Beamten ſo viel moͤglich von den Staͤnden auszuſchließen. Schlimm freilich, wenn es wie im Koͤnigreich Niederland ſteht, wo die Stadt - und Gemeinderaͤthe allein die Provincial - Staͤnde waͤhlen und dieſe wieder die Repraͤſentation in die General-Staaten ſenden. Art. 144.
158. Wo das Waͤhlerrecht nicht bloß nach aͤußerli - chen Beſtimmungen abgegraͤnzt, ſondern nach lebendigen Verhaͤltniſſen innerlich geordnet iſt, da ſcheint die Waͤhl - barkeit vollends keiner Einkommens-Schranke zu beduͤr - fen, und die Wuͤrtembergiſche Verfaſſung (§§. 134. 135. 146. ) wird dem Grundſatze nach wohl recht haben. Frei -135Bildung der zweiten Kammer.lich wenn die Diaͤten Schuld daran wuͤrden, daß die Landſtandſchaft zu einem Nahrungszweige ausartete, oder gar zum Armengelde; welcher Fall doch abzuwarten waͤre, ehe man vorbeugt; ſo muͤßte auch hier eine kuͤnſtliche Schranke eintreten, nur ja keine, welche den Schluͤſſel zur Kammer allein in die Haͤnde des Reichthums giebt. Wo wohlgeordnete Provincial-Staͤnde ſind, da kann die Waͤhlbarkeit der baͤuerlichen Grundbeſitzer an die Bedin - gung geknuͤpft werden, vorher in den Provincial-Staͤnden geſeſſen zu haben.
159. Die Wahl der Staͤdte darf nie auf die Waͤhl - baren deſſelben Wahlbezirks beſchraͤnkt werden; und auch fuͤr die Landwahlen muß die Regel gelten, daß dem Vertrauen keine Schranke zu ſetzen iſt. Wo indeß neue Provinzen ſind, die ſich noch nicht im Ganzen fuͤhlen, wo der Provinzial-Sinn ſcharfe, nie kuͤnſtlich zu verſteckende Gegenſaͤtze bildet, wo ſich gewiſſe Lebensarten beharrlich dem Landtage entziehen moͤchten, wo fortwaͤhrende Beam - ten-Wahlen zu fuͤrchten waͤren oder vorzugsweiſe groß - ſtaͤdtiſche 1), da mag einſtweilen eine Ausnahme ſich recht - fertigen.
160. Wuͤnſchenswerth iſt, daß die Wahlhandlung als ein oͤffentlicher Act in Gegenwart der Gemeinde geſchehe, und eben darum durch muͤndlich zu Protocoll gegebene Ab - ſtimmung. Denn uͤberall verdient in oͤffentlichen Dingen das offene Verfahren den Vorzug vor dem verdeckten, an welchem ſich die liſtige Schwaͤche des Zeitalters weidet, es136Sechstes Capitel.waͤre denn, daß die Natur des Geſchaͤftes eine Schranke geboͤte. Tritt dieſer Fall hier ein? Athen iſt nicht durch ſeine oͤffentlichen Wahlen der Volksherrſchaft verfallen; es gerieth dahin, als an die Stelle derſelben mehr und mehr das blinde Loos trat. Gabinius wollte den Einfluß der Roͤmiſchen Großen auf die Wahlen ſchwaͤchen und ſeine Tafeln halfen die Herrſchaft einer beſtochenen Volksmenge gruͤnden; denn die letzte Scham entwich 1). In England, wo man muͤndlich ſtimmt, verſpricht man ſich neuerdings von vielen Seiten Heil von der ſchriftlichen Abſtimmung. Allein in einem unter den vielgetadelten Einfluͤſſen des Geldes und der Gunſt gewaͤhlten Parlament iſt gleichwohl die Reformbill durchgedrungen; eine Erfahrung, welche hoffentlich genug vermoͤgen wird, daß man die reifen Fruͤchte der Reformacte eine Weile abwartet, bevor man dem Lord Durham in unvorſichtigen Änderungen folgt. In Frankreich ſind alle Partheien fuͤr das Geheimthum. Wenn Herault Sechelle’s Verfaſſung es noch ins Belieben ſtellt, ob man geheim oder muͤndlich abſtimme, ſo ſind Ludwig XVIII und Fuͤrſt Polignac und die Maͤnner der Charte von 1830 mit dem Geheimniß aller Wahlgeſchaͤfte einverſtanden 2). Es liegt aber der Unterſchied am Tage zwiſchen Wahlen, die zum Geſchaͤftsgange der Kammer gehoͤren und Wahlen, aus denen die Kammer ſelbſt her - vorgeht. Dort iſt bereits Vertrauen gewaͤhrt, jedes Mit - glied wird als wuͤrdig betrachtet und keine Wahl in der Kammer entſcheidet uͤber einen Punkt des oͤffentlichen Wohls; hier ſoll der Grund des Vertrauens erſt gelegt werden. In Hinſicht auf die Deutſchen Wahlgeſetze 3) moͤgen Furcht vor den Umtrieben der Demagogen und Furcht vor dem Einfluſſe der Beamten ſich einander aufgewogen und die allgemeine Scheu vor perſoͤnlichen Conflicten mag fuͤr137Bildung der zweiten Kammer.die ſchweigenden Wahlen den Ausſchlag gegeben haben. Ein wirklich gegruͤndetes Bedenken gegen laute Wahlen liegt aber in der gewoͤhnlich gar geringen Zahl der Waͤh - ler, zumahl in unſern Staͤdten; ein Umſtand der, wenn vollends unter den Waͤhlern die Haupt-Bewerber ſich be - ſinden, der ganzen Handlung leicht einen ſehr gereizten und perſoͤnlichen Anſtrich giebt. Ob aber minder Feind - ſchaft folge aus der herausgerechneten als aus der erklaͤr - ten Gegnerſchaft, ſteht noch immer wohl dahin.
161. Die Kammer, einmahl durch Wahl vereinigt, bleibe in dieſer Friſt (ſechs Jahre ſind keine zu lange Zeit) fernerem Wechſel ihrer Mitglieder moͤglichſt fremd; nur die ganze wird aufgeloͤst, oder ſtirbt, nachdem ihre Zeit erfuͤllt iſt, natuͤrlichen Todes. Dem Zuſammen-Einwohnen in den Geſchaͤften, der Bildung politiſcher Charaktere, der nothwendigen Unwiderruflichkeit der einmahl erfolgten Wahl, mithin der Unabhaͤngigkeit der Kammer, treten die verſchie - denen Erfindungen, welche den Wechſel nie enden laſſen, ſtoͤrend entgegen: Erſatzmaͤnner, theilweiſe Er - neuerungen, Verzichtung bis auf Wieder - wahl.
Die Erſatzmaͤnner (suppléans), auch Stellvertreter ge - nannt, ſind eine Erfindung von 1791 1). Sie mehren die Zahl der muͤſſigen, auf dem Anſtand ſtehenden Politi - ker, ſchwaͤchen die Verpflichtung des Deputirten, der viel - leicht zur gefaͤhrlichen Zeit aus der Reihe ſpringt und dar - um ſicherlich kein Recht behalten darf, wieder einzuſprin - gen, wenn ſein Erſatzmann ſtirbt; ſie fuͤhren Wandel und Zufall in die Kammer ein, und laſſen das Urtheil von der - ſelben nicht zur Reife kommen.
Mit vollem Rechte hat man in Frankreich ſeit der Juli - Revolution die der Verfaſſung von 1795 abgelernte Af - terweisheit der jaͤhrlichen Drittel-Erneuerung (Art. 53.), von Ludwig XVIII. in eine Fuͤnftel-Erneuerung (Art. 37.) umgeſtaltet, ausgeſtoßen. Sollte ſich wirklich im Groß - herzogthum Baden die jaͤhrliche Viertels-Ausloſung und Erneuerung der auf acht Jahre gewaͤhlten Kammer ſo be - waͤhrt haben, daß ſich ein hinlaͤnglicher Grund zur Nach - bildung fuͤr das Koͤnigreich Sachſen im Jahre 1831. ergaͤbe? Soll man den Zufall ſuchen und die Wahlunruhe? Soll man manchen ſchwaͤcheren Charakter zum Jagen nach eit -139Bildung der zweiten Kammer.ler Popularitaͤt verleiten, damit im Falle der Ausloſung die Wiederwahl ja nicht fehlſchlage?
In England iſt die Verzichtung bis auf Wiederwahl, ſobald ein Mitglied des Unterhauſes ein Kronamt erhaͤlt, altes Herkommen und hat, wenn auf die Miniſter-Ernen - nungen eingeſchraͤnkt, guten Grund; auch Neu-Frankreich legt Werth darauf und die letzte Charte verſpricht ein Ge - ſetz daruͤber. Wie in einem guten Theile von Deutſch - land der Staatsbeamte ſteht, vor willkuͤhrlicher Entfernung geſichert, kann er einen unabhaͤngigen Charakter bewah - ren, und wo die Gegenwart ſeiner Geſchaͤftserfahrung in ſo hohem Grade unentbehrlich iſt wie auf unſeren Land - tagen, darf man ihm ſeine Stellung wol nicht erſchweren. Und auch dieſes Meſſer hat wieder eine doppelte Schneide. Oder waͤre der Fall etwa nicht vorgekommen, daß unbe - queme Widerſacher durch eine kleine Befoͤrderung im Staatsdienſt fuͤr den Augenblick entfernt worden ſind?
162. Jeder Deputirte iſt nach Aufloͤſung der Kammer wieder waͤhlbar. Die Verfaſſung von 1791 paßte nicht fuͤr Frankreich; ſie war unaufrichtig, trug die Republik im Schooße und wollte ſie Hehl haben. Gleichwohl haͤtte ſie ſich einige Dauer verſprechen koͤnnen; denn viele tauſend Familien datirten ihren Wohlſtand von ihr und trugen allen Enthuſiasmus des Gehorſams, welchen ſie der Krone verſagten, auf die National-Verſammlung uͤber. Aber daß die Baumeiſter das Haus verließen, ehe es wohnbar geworden war, ſich thoͤricht die Wiederwaͤhlbarkeit ab - ſchnitten, fuͤhrte ohne Verweilen die Republik herbei.
140Sechstes Capitel.163. Nachdem die Staͤndeverſammlung eroͤffnet iſt, fuͤhrt vorlaͤufig das aͤlteſte Mitglied jeder Kammer den Vorſitz, leitet die Pruͤfung der Vollmachten, beeidigt die zugelaſſenen Deputirten und fordert, wenn die erforderliche Zahl der Mitglieder (zwei Drittel) beiſammen und ver - pflichtet iſt, zur Wahl des Praͤſidenten fuͤr den ganzen Landtag und ſeines Stellvertreters auf. Dieſe Wahl, (wo nicht Praͤſentation mehrerer Mitglieder) bedarf ſchlechter - dings der koͤniglichen Beſtaͤtigung.
Ein Praͤſident auf 14 Tage verſteht ſein Amt nicht und trachtet um ſo mehr darnach, die 14 Tage zur Epoche zu erheben, waͤre es auch nur wie Praͤſident Menou (der ſpaͤtere General) durch den Empfang einer Deputation von masquirten Abgeſandten des Menſchengeſchlechts. 19. Jun. 1790. Die Daͤniſche Regierung glaubt der Beſtaͤtigung der Praͤſidenten ihrer vier ſtaͤndiſchen Verſammlungen entbehren zu koͤnnen.
164. Der Praͤſident handhabt die Policey der Ver - ſammlung in Gemaͤsheit der von dieſer genehmigten be - ſondern Vorſchriften (réglement), beachtet, ob die zur Faſſung eines Beſchluſſes nothwendige Zahl anweſend, giebt das Wort denen, welche zum Reden aufſtehen, verwandelt die foͤrmliche Sitzung in eine berathende, ſtellt die Fragen zur definitiven Abſtimmung und ſtellt ſie ſo, daß jedes Mahl die Verbeſſerungs-Antraͤge fruͤher als der Haupt - Antrag und wieder die Verbeſſerungen der Verbeſſerungs - Antraͤge (sous-amendemens) fruͤher als dieſe zur Abſtim - mung kommen. Er ſelber ſtimmt nur dann mit, wenn gleiche Stimmen gefallen ſind.
165. Waͤhrend der berathenden Sitzung verlaͤßt der Praͤſident den Stuhl und nimmt unter den Devutirten141Die Geſchaͤfts-Ordnung.Platz (86.). Den Vorſitz fuͤhrt derweile ein Mitglied der Kammer, welches fuͤr das Mahl oder auch fuͤr den ganzen Landtag zu dieſem Geſchaͤfte von der Kammer erwaͤhlt iſt. In der berathenden Sitzung darf jedes Mitglied uͤber den Gegenſtand der Berathung mehr als einmahl reden.
Berathende Sitzungen ſind (nicht bloß in Staͤndeverſammlungen) dazu in der Welt, daß auf dem Wege der freieren Discuſſion, oft durch den raſchen Wechſel von Frage und Antwort, der noch unentſchiedene Theil der Verſammlung ſich in einer Überzeugung befeſtige. Dringt man ihnen dagegen die Form auf, daß man jedem Mitglied nach der Reihe ſeine vorlaͤufige Meinung ab - fraͤgt, ſo lockt man den Ausdruck einer noch unreifen Überzeu - gung hervor, die ſich dann um ſo hartnaͤckiger feſtzuſetzen pflegt, je aͤrmlicher ſie begruͤndet iſt.
166. Der Redner redet von ſeinem Sitze aufſtehend (ohne Tribuͤne, mithin ohne Verſuchung zu der Breite aufgeſchriebener Reden) den Vorſitzenden an, nennt dabei keinen der Deputirten bei Titel und Namen; denn jeder Deputirter ſitzt unter ſeines Gleichen. Zur Ordnung vom Vorſitzenden gerufen (d. h. erinnert, daß die Ordnung von ihm uͤberſchritten ſey), darf er die Entſcheidung der Kam - mer in Anſpruch nehmen.
Als John Howe 1694 geſagt hatte:Egone, qui Tarquinium Re - gem non tulerim, Sicinium feram? beſchloß das Haus die Rede nicht zu ruͤgen, weil dazwiſchen etwas anderes ſchon geredet ſey. (Hattsell I, 181.)
167. Die Abſtimmung uͤber Antraͤge geſchieht in der Regel durch Aufſtehn und Sitzenbleiben, ausnahmsweiſe durch namentlichen Aufruf.
Bei Wahlen zu Ausſchuͤſſen entſcheidet in der Regel die relative Stimmenmehrheit. Wo die abſolute Stimmen -142Sechstes Capitel.mehrheit vorgeſchrieben iſt (und vielleicht wie bei der Praͤ - ſidenten-Wahl, ſelbſt ⅖ der Stimmen), ſich aber bei der erſten Abſtimmung nicht ergiebt, wird dieſe ſo gefun - den, daß uͤber diejenigen Mitglieder, welche Stimmen er - halten haben, ſo oft abgeſtimmt wird (jedes Mahl mit Übergehung desjenigen Mitgliedes, welches die wenigſten Stimmen erhalten hat), bis die erforderliche Zahl auf ein einziges Haupt faͤllt.
Alle Wahlen geſchehen durch verſchloſſene Stimmzettel; denn jeder Deputirte wird als wuͤrdig der Wahl betrachtet und perſoͤnliche Gereiztheit ſoll nicht ohne Noth unter Maͤn - nern eintreten, die einen langen Weg zuſammen zu machen haben.
168. Antraͤge von Mitgliedern koͤnnen durch die bloße Vorfrage (question préalable), ob die Kammer ſich jetzt damit beſchaͤftigen wolle, beſeitigt werden; duͤrfen aber in die - ſem Falle in derſelben Sitzung wieder aufgenommen werden.
Über einen Antrag, welcher an die Regierung gelangen ſoll, darf nie an demſelben Tage, an welchem ein Mitglied ihn gemacht hat, abgeſtimmt werden.
Über jedes Geſetz wird dreimahl, und immer in ver - ſchiedenen Sitzungen abgeſtimmt, uͤber jeden ſonſtigen An - trag, ſobald es ein Mitglied begehrt, zweimahl.
169. Die Beſtimmung der Ausſchuͤſſe iſt, alle An - traͤge, welche die Kammer ihnen zuweist, zu pruͤfen und zur Beſchlußnahme vorzubereiten, nicht minder abweichende Beſchluͤſſe beider Kammern auf dem Wege des Conferenz - Ausſchuſſes zu beſeitigen. Findet keine Vereinigung ſtatt, oder verwerfen die Kammern die von dem beiderſeitigen Ausſchuſſe geſchehenen Vergleichsvorſchlaͤge, ſo bleibt bei143Die Geſchaͤfts-Ordnung.landesherrlichen Propoſitionen als letztes Auskunftsmittel die Zuordnung landesherrlicher Commiſſarien zu ſolchem Ausſchuſſe beider Kammern uͤbrig. Denn ein Durchzaͤhlen durch beide Kammern (die Appellation an den Zufall, der an das Volk vergleichbar) tritt in keinem Falle ein 1).
Die Bildung der Ausſchuͤſſe kann geſchehen wie bei den Franzoͤſiſchen Deputirten, wo ſich die ganze Kam - mer von Anfang her in 9 moͤglichſt gleichzaͤhlige Buͤreaus durchs Loos theilt, von welchen dann ein jedes ſein Mitglied zum Ausſchuſſe waͤhlt. Dazu kommt ein zehntes Buͤ - reau fuͤr die Berichterſtattung uͤber Bittſchriften, wozu je - des der neun Buͤreaus ein Mitglied ſtellt. Alle Buͤreaus werden monathlich durchs Loos erneuert 2). Man kann aber auch in Engliſcher Art die Ausſchuͤſſe fuͤr jeden Fall aus der Kammer waͤhlen. In England nun hat ſich die Sache in edler Weiſe ſo geſtaltet, daß wenn nicht das ganze Haus die Ausſchuß-Form annimmt, ſondern eine select committee fuͤr genuͤgend haͤlt, der Antragſteller gewoͤhn - lich ſelber die Mitglieder vorſchlaͤgt und zwar zu gleicher Anzahl aus den Baͤnken der Miniſteriellen und der Oppo - ſition. Dieſe Einrichtung hat in ihrer Anwendung auf Deutſchland darum Nachtheile, weil hier der Partheikampf ſchon bei der Wahl der Ausſchußmitglieder ſtark hervortritt, große Anſtrengungen geſchehen, daß nur gleichgeſinnte Mit - glieder der gerade vorherrſchenden Parthey gewaͤhlt werden moͤgen, wovon die weitere Folge, daß eine kleine Zahl von Deputirten in den verſchiedenartigſten Ausſchuͤſſen ſitzt, eine Fuͤlle von Arbeiten uͤbernimmt, um ſie liegen zu laſſen, oder Dinge der reifſten Erwaͤgung in einem Zuſtande voͤlli - ger Rohheit vor die Kammer bringt. Nun moͤchte man zwar das Heilmittel keineswegs in einem dritten Syſtem, dem Bairiſch-Darmſtaͤdtiſchen ſuchen, welches nach gewiſſen144Sechstes Capitel.Kategorieen (Finanzen, Geſetzgebung ꝛc. ) unveraͤnderliche Ausſchuͤſſe feſtſetzt, allein die Franzoͤſiſche Einrichtung ſcheint wenigſtens fuͤr eine Kammer von einer maͤßigen Anzahl von Mitgliedern große Vortheile zu gewaͤhren. So beraͤth im Großherzogthum Baden jede von den fuͤnf Abtheilungen der Kammer jeden Gegenſtand fuͤr ſich durch und weiht ſo jedes Mitglied in das Verſtaͤndniß des Gegenſtandes in engerer Berathung ein; nun erſt erwaͤhlt jede Abtheilung ihr Mitglied zum Ausſchuſſe, ſo jedoch daß es der Kammer un - benommen bleibt, Mitglieder hinzuzufuͤgen, und ſo ſtatt der anfaͤnglichen 5 etwa einen Ausſchuß von deren 9 zu bilden.
171. Ohne die Einwilligung der Staͤnde - Verſammlung kommt kein Landes-Geſetz zu Stande. Ein Antrag, der durch beide in geſetzlicher Zahl und Ordnung verſammelte Haͤuſer nach der geſetzli - chen Stimmenmehrheit beſchloſſen und hierauf vom Koͤnige genehmigt und verkuͤndigt iſt, hat Geſetzes Kraft. Staͤnde, ohne deren Rath und wider deren Rath ein Geſetz erlaſſen werden kann, ſind auch nicht des Rathes maͤchtig, denn ſie ſind zu ſchwach ſich diejenige Auskunft zu verſchaffen, welche die Mutter alles guten Rathes iſt. Bloß berathende Kammern ſind rathlos; ſie verſinken im Überdruſſe ihres Unvermoͤgens, oder ſie trachten gefaͤhrlich nach Machtver - mehrung.
172. Das Steuergeſetz unterſcheidet ſich dadurch von den uͤbrigen Geſetzen, daß in der heutigen Lage des Staatshaushalts es nothwendig irgendwie durchgehen muß, nicht allenfalls fuͤr ein Paar Jahre bei Seite gelegt wer - den kann. Dennoch iſt es ganz unthunlich, die Steuern ein fuͤr alle Mahl zu bewilligen, ſo daß ſie, wie andere Geſetze, fortdauerten, bis man wegen einer Änderung uͤbereinkaͤme. Denn Steuerbedarf, Steuerkraft, Wahl der Steuern ſind in einem beſtaͤndigen Wechſel begriffen; man will nicht blindlings, nicht in Bauſch und Bogen bewil - ligen. Nun kann zwar von Steuerbewilligung im Sinne10146Sechstes Capitel.des Mittelalters gar nicht mehr die Rede ſeyn, denn der Staat kann keinen Tag ohne Steuern beſtehen; es hieße, den Staat bewilligen. Die Steuern werden heut - zutage ſo wenig der Regierung bewilligt, als die Geſetze, ſondern dem Gemeinweſen, den Bewilligenden ſelber; der Zuſtand iſt unwiderruflich vorbei, da die Steuern Zu - ſchuͤſſe waren, die allenfalls auch ausbleiben konnten. Fragt man inzwiſchen, ob denn nicht die Staͤnde auf das Recht die Steuern zu verweigern, lieber verzichten ſol - len, ſo laͤßt ſich das Ja darauf in der Theorie wohl hal - ten, niemahls aber im Leben. Jener alte Schalk, der ge - haͤngt werden ſollte, erkannte ſeine Verpflichtung zu haͤn - gen vollkommen an, aber er durfte den Baum ſich waͤhlen und nun war ihm kein Baum der rechte. Gerade ſo mit den Steuern. Wer die einzelnen verweigern darf, kann ihnen allen beikommen; nimmt man das Recht die einzel - nen zu verweigern, ſo nimmt man das Recht mit Erfolg zu pruͤfen und zu bewilligen und mag das Staͤndehaus nur zuſchließen. Man ſpricht zwar: Was fuͤr die Erhal - tung des Staats nothwendig iſt, muß einmahl da ſeyn; aber gerade darum wird es ſich ſtreiten, wieviel denn noth ſey und woher? und aus dem quale, quantum taucht wiederum das verhaßte an hervor. Will man ein ge - wiſſes Quantum als feſtſtehend, ein fuͤr alle Mahl be - bewilligt, ſetzen, wie Lafitte als Miniſter ein bewegliches Budget neben einem unbeweglichen im Sinne hatte? Allein welcher Zweig am Staatsbaum ſoll denn verdor - ren, wenn das bewegliche, doch immer nothwendige, un - bewilligt bleibt? In den Verfaſſungen der Deutſchen Bun - desſtaaten findet die Vorſichtsmaasregel Beifall, daß, wenn man uͤber das Budget nicht einig wird, die alten Steuern noch 6 Monate lang erhoben werden. Es fragt ſich in147Rechte der Staͤnde-Verſammlung.deß noch, ob hierin mehr Sicherheit als Verſuchung liege. Ruht das Recht in der ganzen Einfachheit ſeiner Bedeu - tung in den Haͤnden der Staͤndeverſammlung, und iſt da - bei feſtgeſetzt, daß die Bewilligung fuͤr die ganze Finanz - periode geſchieht und an keine den Steuern fremdartige Bedingung geknuͤpft werden darf, ſo wird eben damit eine Laſt der Verantwortlichkeit auf die verweigernden Staͤnde gewaͤlzt, welche ihre Klugheit ſcheuen wird, wenn auch der Wille ſich verſtocken ſollte. Wer will uͤberdies alle Faͤlle vorherſehen koͤnnen? Werden denn die Grafen Anshelm und Friedrich im Vaterlande getadelt, weil ſie ihrem Her - zog Ernſt von Schwaben die Steuer ihres Lehndienſtes verſagten, als er ſie wider das Vaterland verwenden wollte, dem ſie ſich hoͤher verpflichtet fuͤhlten 1)? Das ſind nun achthundert Jahre und das Reich iſt dahin, aber daß das gemeinſame Vaterland dahin waͤre, ſteht im Deutſchen Bundesrechte nicht.
173. Um den Misbrauch der Steuern gaͤnzlich abzu - ſchneiden, moͤchten die Staͤnde Mitverwalter derſelben ſeyn, einen Ausſchuß abordnen, daß der wie im Mittelalter den einen Schluͤſſel zum Landkaſten habe, die Regierung den andern. Sie duͤrfen es nicht. Eben weil ſie beurtheilen10*148Sechstes Capitel.ſollen, wie verwaltet wird, duͤrfen ſie nicht mitverwalten, nicht Parthey zugleich und Richter ſeyn. Die aͤltere land - ſtaͤndiſche Geſchichte lehrt, daß Ausſchuͤſſe der Art je maͤch - tiger, je ſtaͤndiger ſie waren, um ſo mehr dahin gewirkt haben, das lebendige Beſteuerungsrecht den Staͤnden zu entreißen und in wenige, oft feile, Haͤnde zu ſpielen. Kein Bedenken ſteht indeß der Wahl ſtaͤndiſcher Commiſſarien entgegen, welche der Pruͤfung der Finanzrechnungen ſich fuͤr einen laͤngeren Zeitraum unterziehen 1). Denn detail - lirte Finanzkunde war ſeit Ariſtides und Cato’s Zeiten die Sache weniger, iſt auch auf einen Schlag nicht zu erlan - gen. Nur moͤgen nachwachſende Talente nicht durch die Lebenslaͤnglichkeit ausgeſchloſſen werden. Maͤnner ſolcher Art ſind die Pfleger des unvergaͤnglichſten Theiles vom Steuerbewilligungs-Rechte, das heißt, der Macht Erſpa - rungen zu bewirken.
174. Die Bedingung der Guͤltigkeit jedes Steuerge - ſetzes, gleichwie jedes anderen Geſetzes iſt, daß in dem Geſetze angefuͤhrt ſey, daß es mit verfaſſungsmaͤßiger Zu - ſtimmung der Staͤnde erlaſſen iſt. Geſtattet das Grund - geſetz hievon eine Ausnahme, ſo muß auf dieſe bei Ver - kuͤndigung des Geſetzes Bezug genommen werden.
175. Jeder Kammer der Staͤndeverſammlung ſteht das Recht des Geſetz-Antrages billig zu, und auch Ge - ſetzentwuͤrfe vorzulegen bleibt ihr unbenommen 1). Selten indeß wird eine Kammer wuͤnſchen koͤnnen, ſich der voll - ſtaͤndigen Ausarbeitung zu unterziehen, weil ſie der Mittel ermangelt, welche einer Regierung zu Gebote ſtehen, die durch einen zweckmaͤſſig organiſirten Staats-Rath, die149Rechte der Staͤnde-Verſammlung.hoͤchſte berathende Behoͤrde im Staate, ihre Geſetzentwuͤrfe bearbeiten laͤßt. Die Regierung wird ſolche Geſetzentwuͤrfe durch einen Miniſter vorlegen, ſich vorbehaltend ſie zu - ruͤckzuziehen, wenn die Verbeſſerungsvorſchlaͤge der Kam - mern allzutief eindringen. Eben darum wird ſie einfache Geſetz-Antraͤge lieber durch Mitglieder der Kammer ge - ſchehen laſſen, damit das Anſehen der Krone bei dem Kampfe der Meinungen ungetruͤbt durch Partheinahme bleibe 2).
176. Jede Kammer bedarf einiger anerkannter Or - gane der Regierung in ihrer Mitte und es iſt dieſes bei weitem mehr ein Recht der Kammer ſie zu beſitzen als der Regierung ſie ſenden zu duͤrfen. Fuͤr die Miniſter aber ſelber iſt zu wuͤnſchen, daß ſie, wie in England, auf dem Wege der Wahl ins Unterhaus treten, durch das oͤffent - liche Vertrauen, welches dem ſonſt Wuͤrdigen darum nicht verſagt werden darf, weil ihn auf dem Verfaſſungsgebiete ſein Beruf zunaͤchſt an die Wahrung der Kronrechte knuͤpft. Nur eine voͤllige Unkunde konnte die Miniſter und mit ihnen eine Fuͤlle von Auskunft und augenblicklicher Vermit - telung aus den ſtaͤndiſchen Verſammlungen ausſchließen, oder ſie nur als Commiſſarien, ohne Sitz und Stimme, dulden wollen.
177. Keine Vollmachten duͤrfen den Deputirten an den Willen ſeiner Waͤhler binden; denn die Kammern ſol - len Geſetze geben und nicht das Volk, nicht die Waͤhler. Der Deputirte iſt der natuͤrliche Fuͤrſprecher ſeiner Wahl - gemeinde, allein ſein Eid verpflichtet ihn dem Staate. Als am achten Juli 1789 die Nationalverſammlung auf Tal - leyrands Antrag beſchloß, auf die Mandate (cahiers) weiter keine Ruͤckſicht zu nehmen, beſchloß ſie zwar wozu ſie rechtlich nicht befugt war, aber handelte po - litiſch richtig. Denn eine Verſammlung, die nicht uͤber einzelne Proponenda berathſchlagen, ſondern eine Verfaſ - ſung gruͤnden ſoll, konnte nicht an die Vorbeſchluͤſſe derer gebunden ſeyn, die von ihren Gruͤnden nichts vernahmen.
178. Jede Kammer hat das Recht Bittſchriften, welche von einem Mitgliede der Kammer ihr uͤber - reicht werden, anzunehmen und die darauf gefaßten Be -151Rechte der Staͤnde-Verſammlung.ſchluͤſſe der Staͤndeverſammlung den Bittſtellern mitzutheilen. Werden die in einer Bittſchrift etwa vorgetragenen Be - ſchwerden gegruͤndet befunden und gehoͤren ſie fuͤr den Wir - kungskreis der Kammern (fuͤr welchen die richterliche Ge - ſetzanwendung nicht gehoͤrt, ſondern allein diejenige Geſetz - anwendung und ſonſtige Thaͤtigkeit, welche auf dem Wege der Regierung geſchieht und misbraͤuchlich und rechtver - letzend geſchehen kann), ſo macht die Staͤndeverſammlung die hoͤchſte Stelle darauf aufmerkſam und bittet um Verbeſſerung.
179. An Vertraͤgen mit andern Maͤchten hat die Staͤndeverſammlung inſofern Theil als Geldmittel zu deren Erfuͤllung erforderlich ſind oder ſie in die Geſetzgebung des Koͤnigreiches eingreifen. Sie wird darum auf unverzoͤgerte Mittheilung der Tractaten dringen und geheimen Artikeln abhold ſeyn.
180. Die Kammern ſollen mit-Geſetzgebend, Geſetz - wahrend, aber eben darum nicht mitregierend, nicht mit - verwaltend ſeyn. Damit ſie das nicht werden, ſtehen ſie der dauernden Regierungsgewalt als eine voruͤbergehende, nur durch Zuthun der Regierung wirkſame Staatsgewalt gegenuͤber. Der Koͤnig beruft, vertagt (die Kammer ſich ſelber nur auf Tage), entlaͤßt, loͤst auf. Der Anfang der Franzoͤſiſchen Revolution war der Moment, da Mirabeau den dritten Stand beiſammen bleiben hieß gegen des Koͤ - nigs Befehl und damit durchdrang. Permanente Staͤnde - verſammlungen ſetzen ſich ſtets an die Stelle der Regie - rung; auch ſtaͤndiſche Ausſchuͤſſe, welche ſelbſt die Aufloͤ - ſung der Staͤndeverſammlung uͤberleben wollen, fuͤhren zur Mitregierung. Man mag den Beleg fuͤr ſie aus dem Mittelalter geben, ſchwere Thaten der Vergangenheit an -152Sechstes Capitel.fuͤhren; eine Verfaſſung traͤgt nicht ungeſtraft den Charak - ter despotiſcher Erinnerungen an ſich; eine ſolche ſchafft Despoten.
181. Jeder Kammer fuͤr ſich gebuͤhrt das Recht durch eine Adreſſe ihre Geſinnungen und Wuͤnſche gegen den Koͤnig oder die Regierung auszuſprechen. Sie bildet die Phyſiognomie der Verſammlung ab. Gluͤcklich wenn beide Kammern in der Adreſſe einig zu ſeyn vermoͤgen, aber ſie zur Einheit zuſammenzwingen, fuͤhrt wo nicht zur Unbe - deutendheit, ſo zur Luͤge. Alle Antraͤge dahingegen, welche geradezu eine rechtliche Folge beabſichtigen, muͤſſen von der Staͤndeverſammlung als ſolcher ausgehn.
182. Weder eine einzelne Kammer, noch die Staͤnde - verſammlung hat das Recht Erklaͤrungen oder Rechtsver - wahrungen an das Volk oder an die Landesbehoͤrden zu richten. Sie ſteht allein in unmittelbarem Verhaͤltniß zur hoͤchſten Regierungs - und Verwaltungs-Behoͤrde und alle ſtaͤndiſchen Mittheilungen gehen durch dieſe. Hiervon ſind allein die Antworten auf Bittſchriften ausgenommen.
183. Jeder Landſtand hat das Recht einer unverhoh - lenen Oppoſition; er kann ſeine Treue ſo gut im Nein als im Ja bewaͤhren. Aber eben weil Wahrheit ſein Ziel iſt, verwirft er die ſyſtematiſche Oppoſition (von der man auch in England als von einer Maasregel der noch in der Partheiung befangenen, ungelaͤuterten Verfaſſung zuruͤck - zukommen anfaͤngt), hilft keine Parthey von Ja oder Nein bilden, ſondern ſtimmt wie die Sache es jedes Mahl von ſeiner Überzeugung fordert — measures, not men, ſo lange nur irgend thunlich.
153Rechte der Staͤnde-Verſammlung.184. Die Kammer hat das Recht Landesbeſchwerden vorzutragen und durch die Anklage der Miniſter zu verfolgen (130 ff.).
185. Die Sitzungen der Kammern ſind oͤffentlich, beider, denn ſonſt uͤberwiegt die oͤffentliche Kammer. In der Öffentlichkeit iſt mitenthalten, daß der Aufzeichnung und unverſtuͤmmelten Mittheilung der ſtaͤndiſchen Verhand - lungen durch den Druck nichts in den Weg treten darf. Nur ja kein Nachtwandeln, da man keinen Namen nennen darf ohne ein Ungluͤck anzurichten. Geheime Sitzungen fin - den ausnahmsweiſe ſtatt, auf Begehren der Regierung oder auf den Antrag von ein Paar Mitgliedern der Kammer.
Bekannt genug, daß man in England ſeit der Regierung Georgs III die Parlamentsverhandlungen taͤglich hoͤren und leſen kann, in Widerſpruch mit dem beſtehenden Geſetze, bloß durch Conni - venz. Es waͤre aber kein Wunder, wenn der Brand der Parla - mentshaͤuſer am 16. Oct. 1834. den Anſtoß zu einer Veraͤnde - rung in der Geſetzgebung gaͤbe.
186. Die Zweckmaͤßigkeit der in Übereinſtimmung mit den Ordnungen der Natur jaͤhrlich feſtzuſetzenden Steuern fuͤhrt auf jaͤhrliche Staͤndeverſammlungen hin. Die jaͤhr - liche Zuſammenkunft nimmt mehr Kraͤfte aber fuͤr kuͤrzere Zeit in Anſpruch, erſchuͤttert minder und laͤßt die Geſchaͤftskennt - niß nie ausgehn. Sie hat auch ihren beſondern Nutzen fuͤr die Begruͤndung eines lebendigen Verhaͤltniſſes der allge - meinen Staͤndeverſamlung zu Provinzialſtaͤnden.
‘Item it is accorded that parliament shall be holden every year once, and more often if need be. ’ (4. Edward. II. — 1330.)Im altkoͤniglichen Frankreich wurden die Reichsſtaͤnde im funf - zehnten und ſechzehnten Jahrhundert uͤberhaupt nur zehn Mahle berufen, im ſiebzehnten nur einmahl, 1614. Dann 1789.
154Sechstes Capitel.187. Die Mitglieder der Kammern ſind auf ihrer Reiſe zur Staͤnde-Verſammlung 1) und waͤhrend der Dauer ihrer jedesmahligen Verſammlungsperiode frei von Civil-Ver - haft. Decrete der eigenen Unverletzlichkeit ſind eine An - maaßung der Souveraͤnitaͤt, an welcher weder das Mit - glied, noch die Koͤrperſchaft Theil hat.
188. Den Mitgliedern der Wahlkammer und den nicht - erblichen Mitgliedern der erſten Kammer werden Tagegel - der und Reiſegelder gezahlt. Die Einfuͤhrung der Diaͤten in die Wahlkammer mag man eher ein Landes-Recht als ein ſtaͤndiſches heißen. Sie verbuͤrgen dem Volk, daß ſeine Wahlkammer dem buͤrgerlichen Verdienſt auch ohne das Geleit des Reichthums offen ſteht. Sie werden aus der Staats - caſſe entrichtet. Moͤgen ſie dieſen und jenen Untuͤchtigen anlocken; viel ſchlimmer doch, wenn, in Ermangelung der - ſelben, am Ende der mindeſtfordernde zum Abgeordneten gewaͤhlt wuͤrde.
In England erhielt zu Koͤnig Eduards III. Zeit ein Ritter 4, ein Buͤrger 2 Schilling Diaͤten. Die Diaͤten wurden nach der Heim - kehr fuͤr die Dauer der Abweſenheit ausbezahlt und zwar von den Committenten. Die Lords und ihre Leibeigenen trugen nichts dazu bei (Lingard, Überſ. v. Salis IV., 140. vgl. 147.). Ein - zig in ſeiner Art mag wol der Vorgang in Frankreich auf dem Reichstage zu Tours 1483 ſeyn, wo die beiden erſten Staͤnde dem dritten ſaͤmmtliche Reichstagskoſten, auch den Sold fuͤr ihre eigenen Deputirten aufbuͤrden wollten, weil, wie ſie behaupteten, der dritte Stand zur Ernaͤhrung der beiden an -155Rechte der Staͤnde-Verſammlung.deren geſchaffen ſey. Jedes Mitglied der conſtituirenden Natio - nalverſammlung, 1200 an der Zahl, bezog taͤglich 18 Livres; jeder Tag koſtete alſo 21,600 Livres. Beim Ausbruche des Krie - ges 1792 widmeten die Deputirten 1 ∫ 3 ihrer traitemens dem Vaterlande (22. April). Das Wahlgeſetz vom 5. Febr. 1817 ſchaffte alle Diaͤten und Reiſegelder ab (a. 19. les députés à la chambre ne reçoivent ni traitement, ni indemnité), auch die Portofreiheit hoͤrte auf, die Wahlen wurden direct, aber ge - riethen nun vollends in die Hand eines geſchloſſenen Standes der Reichen, in dem man nicht ohne Urſache die Grundlage zu einer Roͤmiſchen Ritterſchaft geſehen hat, wie denn ſchon die Rede da - von war, die Geſchworenen allein aus ihm zu nehmen.
189. Die Staͤndeverſammlung hat bei jedem Regie - rungswechſel die Verſicherung des Koͤnigs, oder des mit koͤniglicher Gewalt bekleideten Regenten, daß die Verfaſ - ſung unverletzt aufrecht gehalten werden ſolle, zu empfan - gen und urkundlich zu bewahren. Ob bei Eid oder Koͤnig - lichem Wort mag gleich gelten; verba enim principis sunt et esse debent instar lapidis angularis, cui incon - cussa veritas superaedificanda immota stare debet 1).
190. Vor Alters reisten Koͤnige von Landſchaft zu Landſchaft, die Meinung der Staͤnde hier und dort ein - holend, um zuletzt nachzuſehen, ob ſie ſich unter einen Hut bringen laſſe. Sobald aber eine Verſammlung der Reichsſtaͤnde vorhanden iſt, laͤßt ſie den Einſpruch der Land - ſchaften nicht aufkommen. Sie thut recht daran; aber unrecht thaͤte ſie nun gar keine Provinzial-Staͤnde zuzu -156Sechstes Capitel.geben oder gar die Provinzen ſelber zu zerſtoͤren als un - noͤthige Denkmaͤler der Veraltung, wie das revolutionaͤre Frankreich that. Gerade im Gegentheil: die Geſchichte der Landſchaft iſt die Weltgeſchichte des groͤßeren Theiles ihrer Bevoͤlkerung; dieſe begreift ſich im angeſtammten Selbſt - gefuͤhle einer provinzialen Bedeutenheit, fuͤhlt ſich uͤber Familien - und Orts-Gemeinde hinaus in einem hoͤher ſtehenden Ganzen. Die Zeit wird ſchon ſorgen, daß es auch an Solchen nicht fehle, die weiter blickend den Staat uͤber die Landſchaft ſtellen, die Reichsſtaͤnde uͤber die Pro - vinzial-Staͤnde. Wie oft aber haben ſich bedraͤngte Lan - desfreiheiten in die Feſtung der Provinzialrechte gefluͤchtet?
191. Die Aufgabe iſt, das lebendige Verhaͤltniß bei - der zu einander zu finden und grundgeſetzlich feſtzuſtellen. Man ſagt nicht richtig: Provinzial-Staͤnde duͤrfen bloß rathen, die Entſcheidung kommt den Reichsſtaͤnden zu. Auch Provinzial-Staͤnde haben ihres Orts Entſcheidung z. B. uͤber die Vertheilung landſchaftlicher Steuern, uͤber die Bewilligung ſelbſt von ſolchen Steuern, welche noth - wendige, aber bloß dieſer Provinz angehoͤrige Beduͤrfniſſe z. B. Deiche beſtreiten. Das allgemeine Verhaͤltniß iſt: ihre Beſchluͤſſe duͤrfen die der allgemeinen Staͤndeverſamm - lung nicht kreuzen, muͤſſen ſich dieſen unterordnen. Alle provinziellen Ausnahmen von den allgemeinen Landesge - ſetzen beſtehen daher nur durch die Billigung der Reichs - ſtaͤnde. Darum darf auch den Provinzial-Staͤnden das Recht landſchaftliche Anlagen zu allgemeinen Zwecken zu bewilligen nur in ſehr beſchraͤnktem Maaße zuſtehen. Man muß ein Maximum feſtſetzen, fuͤr jede Provinz vermuthlich ein verſchiednes 1). Geldanlagen daruͤber hinaus beduͤrfen vor ihrer Ausſchreibung der Pruͤfung und Genehmigung157Provinzial-Staͤnde.der allgemeinen Staͤnde. Damit verſchwindet aber auch die Beſorgniß, daß vielleicht in einer allgemeinen Staͤn - den abgeneigten Zeit die Steuern mit Umgehung der Reichs - ſtaͤnde wieder Provinzenweiſe eingeholt werden moͤchten.
192. Um aber wahrhaft zu nutzen, muß die Provin - zialvertretung eine Anerkennung der gewordenen und zum Werden draͤngenden Bevoͤlkerungs-Kraͤfte enthalten, kei - nen Keim erſticken. Praͤlaten, Ritter, einige Staͤdte rei - chen nirgend mehr aus. Allenthalben muß der Bauern - ſtand Aufnahme finden und gerade ihm ſey dieſe Thaͤtig - keit die Vorſchule fuͤr den Eintritt in die allgemeinen Staͤnde. Die beſondern Verhaͤltniſſe jeder Provinz muͤſſen aber entſcheiden, ob man ſich nach Curien berathen mag und welchen und wie vielen, ferner ob es rathſamer ſey auch nach Curien abzuſtimmen oder in ungetheilter Ver - ſammlung.
Wer da behauptet, daß Provinzial-Staͤnde ohne allgemeine Staͤnde vollkommen ausreichen, in deſſen Phantaſie muß die Zeit der Provinzial-Finanzen, der Provinzial-Schulden noch der Ge - genwart angehoͤren. Wie es heute ſteht, geht jeder irgend be - deutende Gegenſtand der Berathung uͤber die Provinz hinaus und unerbittlich wird der tiefer eindringenden Unterſuchung ihre Spitze abgebrochen, wenn ſie ſich an keine reichsſtaͤndiſche Auf - klaͤrung anlehnen kann. Als auf dem zweiten Schleſiſchen Land - tage vom Jahre 1828. die Staͤnde uͤber Überſteurung klagten, relative und abſolute, ward ihnen umſtaͤndlich ſoweit Quadrat - meilen und Bevoͤlkerung da entſcheiden, nachgewieſen, daß ſie in Verhaͤltniß zu andern Provinzen nicht zu viel bezahlten, allein in Abſicht auf das uͤberhaupt zu viel wurden ſie bedeutet, daß der Antrag der Ermaͤßigung des Staatsbedarfs nicht zu ihrer Competenz gehoͤre. Ganz gewiß mit vollem Rechte; aber158Sechstes Capitel.hat nicht derjenige gleichfalls recht, welcher leugnet, daß Pro - vinzial-Staͤnde ein Äquivalent von Reichsſtaͤnden ſind?
193. Durch eine wohlgeordnete allgemeine Staͤnde - verſammlung kommen, ſoweit die Macht von Einrichtun - gen reicht, zugleich rechtmaͤßige und zweckmaͤßige Geſetze zu Stande, rechtmaͤßig in Bezug auf ihre Quelle, die freie Übereinkunft der Staatsgewalten, zweckmaͤßig in Bezug auf ihren Gegenſtand, inſofern alle Sorge aufgewandt iſt, die beſten Kraͤfte des Staates zum Werke gerechter, ver - nuͤnftiger und dauerhafter Geſetzgebung zu vereinigen. Denn wie die buͤrgerliche Freiheit nicht darin allein beſteht, daß nach Geſetzen gelebt wird und nicht nach dem Gebot der augenblicklichen Willkuͤhr, da dieſe Geſetze Familie und Eigenthum unterdruͤcken koͤnnten, ſondern hauptſaͤchlich in der Gerechtigkeit und der ſchuͤtzenden Kraft der Geſetze; ſo beſteht auch die ſtaatsbuͤrgerliche Freiheit nicht allein in dem ſtolzen Bewustſeyn vom Antheile des Volks an der Geſetzgebung, ſondern hauptſaͤchlich in dem hoͤheren menſch - lichen Werthe der Ordnungen dieſes Urſprungs.
194. So lange eine Staatsverfaſſung, in ihrem alt - herkoͤmmlichen Leben ununterbrochen, fortbeſteht, geluͤſtet es einen Schriftſteller vielleicht das ausgefuͤhrte Portrait der lebenden zu zeichnen, allein von Staatswegen wird man ſchwerlich eine authentiſche Abbildung aufſtellen, und dem Leben befehlen wollen nach dem geformten Abbilde ſich zu achten, vielmehr abweiſen jeden Verſuch der Art, wel - cher leicht in die geiſtigen Zuͤge ſtarre Haͤrte bringen, un - ausgeſprochene, in gluͤcklicher Freiheit ſchwebende Verhaͤlt -159Provinzial-Staͤnde.niſſe zu nothwendigen und eben darum ſtreitigen machen moͤchte. Bloß einzelne Urkunden haͤngen ſich an ein ſol - ches Verfaſſungsleben an, von beſtimmten Verhaͤltniſſen zeugend, wie ſie einmahl in Streit geriethen, hierauf ge - aͤndert oder verglichen wurden. So hat England das Be - duͤrfniß der Verzeichnung aller Verfaſſungsrechte in einer ſyſtematiſchen Urkunde bisher nie gekannt und ſelbſt den großen Act der Aufnahme von Schottland und Irland in ſeinen Parlaments-Verband durch Schriften beſtaͤtigt, die eben nur das enthalten, was am Herkommen jetzt zu aͤn - dern war; denn trotz aller politiſchen Stuͤrme hat das Brittiſche Staatsſchiff bis auf dieſen Tag ſeine Bahn ſtets wieder gefunden. Anders mit Deutſchland, deſſen Reichs - verfaſſung als es eben an der Zeit war, jenem Staten - Staate des Mittelalters zu entwachſen, hoffnungslos im Zwieſpalt erkrankte, deſſen Territorial-Verfaſſungen ſtarr geworden waren ſchon vor dem Untergange des Reichs, welches hierauf eine lange Fremden-Herrſchaft zu erdul - den hatte, und nach deren Entfernung kein Reich wieder werden ſollte, ſondern werden was es nie zuvor geweſen, ein Bund von ſouveraͤnen Deutſchen Staaten, in welchen zum großen Theile Fuͤrſten und Unterthanen ſich einander als Fremde gegenuͤber ſtanden. Hier mußte wie auf einer Brandſtaͤtte ein politiſcher Neubau unternommen werden. Er geſchah in der Bundesacte, in den Verfaſſungsurkun - den der einzelnen Bundesſtaaten. An dieſen iſt viel und mit Recht getadelt worden; das erſtorbene Naturleben, die noch junge Kunſt liegen nur zu klar am Tage; allein die Nothwendigkeit der Sache an ſich ſelber wird allein von denen verkannt und mit den umwaͤlzenden Neigungen der Zeit zuſammengeworfen, welche uͤberall in Deutſchland unumſchraͤnkte Regierungen pflanzen moͤchten und den160Sechstes Capitel.Staat halb als Vaterhaus, halb als Kirche uͤbertuͤnchen. Waͤre es dieſer Anſicht gelungen in dem Grade wie ſie wollte durchzudringen, ſo haͤtten ſich an keinem Deutſchen Damme die Wogen des Jahres 1830 gebrochen. Die gerechtere Nachwelt wird an unſern Staͤndeverſammlungen zwar min - der was ſie ſchufen ſchaͤtzen als was ſie verhinderten, aber dennoch dieſes, daß ſie gefaͤhrlich unbeſtimmten Wuͤnſchen endlich doch eine fruchtbare Richtung auf die wirkliche Lage des Deutſchen Lebens abgewannen, daß ſie einer kleinen Pflanzſchule tuͤchtiger Deutſcher Staatsmaͤnner ſchon das Daſeyn gaben, daß ſie, durch Erfahrung kluͤger gewor - den, ſich mit der Zeit bequemten einige Gemaͤcher der Freiheit nach Gelegenheit des Orts wohnlich auszubauen, auf die Gefahr, daß von dem hohen Fach - und Latten - Werke unſerer Staatsgrundgeſetze, in welchem die ſtaͤndi - ſchen Feuerwerker niſten, ein guter Theil ungebraucht zu - ſammenſtuͤrze.
161Von d. Ausfuͤhrbark. d. guten Verfaſſung.195. Ariſtoteles verlangt von jeder in Anwendung zu zu ſetzenden Verfaſſung, ſie ſoll zuvor ihre Ausfuͤhrbarkeit darthun. Mit Recht, und auch zur Weiſung fuͤr dieſe Darſtellung hier. Denn ſo wenig wir es auch unternah - men eine Staatsverfaſſung fuͤr jeden Boden und fuͤr jede Zeit zu bauen, was in Wahrheit fuͤr keinen Boden hieße und fuͤr keine Zeit, ſondern auf dem Europaͤiſchen Volks - grunde weilten und auf dieſem Mittelboden der Gegenwart; ſo giebt es dennoch auch innerhalb dieſer Schranke gebie - teriſche Thatſachen, welche ſich gegen die Verfaſſungsfor - men, die wir aufgeſtellt, auflehnen, ſie manchmahl ganz verbieten. Bedenken dieſer Art ſind uns zwar ſchon oͤfter aufgeſtoßen. Ob der Staat groß oder klein, dicht be - wohnt, oder von duͤnner, dabei zerſtreuter Bevoͤlkerung iſt, Ob ſeine Örtlichkeit fuͤr den ausgebildeten Staat uͤber - haupt geeignet, Ob er in ſeiner Volksentwickelung ſchon vorwaͤrts geſchritten, oder noch zuruͤck, oder aber gewalt - ſam darin gehemmt iſt, Ob er in einem Kreiſe gleicharti - ger Staaten, oder vielleicht, wie die Nordamerikaniſchen Freiſtaaten, umgeben von ſehr untergeordneten Bevoͤlkerun - gen lebt — alle dieſe Fragen gehen die Ausfuͤhrbarkeit un - mittelbar an. Indeß laͤßt ſich auf dieſelben, wenn wir an unſerm Welttheile halten, im Ganzen eine guͤnſtige Ant - wort geben. Wir haben manchen Staatsboden von genuͤ - gender Raͤumlichkeit und Bevoͤlkerung um feſtzuſtehn im Staatengedraͤnge, von hinlaͤnglicher Ergiebigkeit um viel - fache Betriebe, um den Aufwand des Koͤnigthums und11162Siebentes Capitel.eine Ariſtokratie zu tragen, die nicht unterdruͤckt; Aus - nahmen nur ſind die Trauerſtaͤtten, auf denen ein Volk der Sieger drohend uͤber dem knirſchenden Beſiegten ſteht, ohne Hoffnung auf einen Reccared; der Sclavenſtand iſt im Verſchwinden und der Krieg der Hautfarben hat uns nie den Staat erſchwert.
196. Sind hiemit ſo manche Vorfragen guͤnſtig fuͤr unſern Welttheil und gerade auch fuͤr ſeine Gegenwart ent - ſchieden, ſo bleibt doch eine Schwierigkeit noch haͤufig un - geloͤst, welche ſich durch die Frage ausdruͤckt: Ob der Staat von einfacher oder zuſammengeſetzter Bauart iſt. Die Zuſammengeſetztheit kann in der Ört - lichkeit, ſie kann auch in der Staatsbevoͤlkerung ihren Grund haben. Die oͤrtlichen Hinderniſſe zwar verlieren taͤglich an Bedeutung. Schon im fruͤhen Mittelalter hatte der Handelstrieb die Macht, indem er entfernte, reich aus - geſtattete Voͤlker zu einander zog, zugleich die dazwiſchen liegenden aͤrmer begabten, (Schweitzer, Tyroler) aus ihrer Iſolirung in die allgemeinen Bahnen fortzureißen; den Wall der Gebirge, welcher Schweden und Norwegen trennt, kann neue Kunſt uͤberwinden und dem armen Bewohner der Pyrenaͤen, der am Seile ſchwebend den Buchweitzen ſeines Felſenabhangs aͤrndten muß, ruͤckt die Kunſtſtraße, welche ſein Daſeyn aͤndern wird, ſchon nahe genug. Wich - tig fuͤr Schutz und Trutz und Wohlergehn wird es immer bleiben, wenn die Staatsglieder allgemach wohl abgerun - det beiſammenliegen, allein bei weitem weſentlicher iſt es dennoch, daß der Staat in voͤlkerſchaftlicher Beziehung der Einheit faͤhig ſey. Einfach in dieſer Betrachtung nennen wir den Staat, deſſen Bevoͤlkerung einer und derſelben Volksart und Regierungsform angehoͤrt und der auch nach163Von d. Ausfuͤhrbark. d. guten Verfaſſung.außen zu jedem andern Staate voͤllig unabhaͤngig ſteht, Herr der Buͤndniſſe und Vertraͤge, welche ſein Daſeyn be - dingen. Die Zuſammengeſetztheit kann aber ebenfalls in - nerlich und aͤußerlich an dem Staate haften: das heißt verſchiedenartige Voͤlker koͤnnen den Staat bilden, indem ſie demſelben Oberherrn gehorchen; es kann aber auch ein unvermiſchtes Staatsvolk im zuſammengeſetzten Staate le - ben, wenn es mit einem andern Staate oder mehreren derſelben Volksart in unaufloͤslichen Bundesverpflichtungen ſteht, welche das Ganze des Staats umfaſſen.
197. Auch in dieſem Betrachte weiſt zwar die Ge - ſchichte große Thaten der gelungenen Ausgleichung auf. Ein kleines Volk, mit einem großen Nachbar im Staate verbunden, nimmt wol allmaͤhlig die Sprache und Art des großen an; auch der gemiſchte Staat vereinfacht ſich mit der Zeit, denn zwei verſchiedene chriſtliche Bevoͤl - kerungen in demſelben Lande beiſammen, bilden am Ende eine dritte gemeinſame Sprache und Volksart, in der ſie ihren Frieden finden und nichts ſteht dann der Vereini - gung der Regierungsformen weiter entgegen; allein der beharrlich zuſammengeſetzte Staat ſtraͤubt ſich ent - ſchieden gegen Einrichtungen, welche ſein Daſeyn zerſtoͤren wuͤrden. Es moͤgen Laͤnder mit verſchiedenartigen Bevoͤlke - rungen, groß genug jede um ſelber ein Reich fuͤr ſich zu bil - den und jede eingedenk, daß das ehemahls der Fall war, unter demſelben Fuͤrſtenhaupte ſich vereinen, oder es mag eine große Nation, die ein Jahrtauſend hindurch ein Reich bildete, in viele Monarchieen zerfallen ſeyn, die das Recht der voͤlligen Selbſtaͤndigkeit beſitzen und an die Stelle der Reichseinheit einen unaufloͤslichen Bundesverein ſetzen, — in beiden Faͤllen, der Grund der Zuſammengeſetztheit liege11*164Siebentes Capitel.nun im Naturleben ſeines Volks oder in der Geſchichte ſei - ner Regierung, kann von der Ausfuͤhrbarkeit der aufge - ſtellten guten Verfaſſung nur ſehr bedingungsweiſe die Rede ſeyn.
198. Fragen wir die Geſchichte. Groß-Britannien war ein zuſammengeſetzter Staat und iſt es in manchem Betrachte noch. Verſchiedenartige Nationalitaͤten wider - ſtritten lange jedweder inneren Vereinigung, ſeit Eroberung und Erbfall Irland und Schottland fuͤr die Dauer an die Beherrſcher Englands brachten. Vom Hauptlande ging indeß die Einheit-bildende Kraft aus in That und Schrift; die Hauptſtadt des Hauptlandes iſt Sitz des allgemeinen Parlaments geworden, und die Emancipation des Jahres 1829, die keine einzige Wunde des Irlaͤndiſchen Wohlſtan - des heilt, iſt doch ein Balſam fuͤr die Wunden, welche der Überzeugung geſchlagen ſind. Altes Unrecht laͤßt ſich doch am Ende verſchmerzen; neues Recht, Macht, Reich - thum, Bildung, eine Fuͤlle ſchon gemeinſamer Erinnerun - gen treten auf die Seite der zu vollendenden Einheit.
Das alte Polen erhielt im Jahre 1386 denſelben Herrn mit Litthauen; aber lange Zeit ſtanden die beiden Haͤlften des zuſammengefuͤgten Staates ſtarr einander ge - genuͤber. Es dauerte faſt zweihundert Jahre, bevor man zuſammenzuwachſen beſchloß. Wieder zweihundert Jahre hatte man zuſammengehoͤrt, als das Polniſche Reich ge - theilt und fortgetheilt ward, bis nichts mehr davon uͤbrig blieb. Kaiſer Alexander von Rußland machte den Verſuch den Theil des unterjochten und zerſtuͤckelten Polens, das ihm zugefallen war, durch eine freie Verfaſſung mit ſei - nem Schickſal zu verſoͤhnen; er ſaͤete Polniſches Selbſtge - fuͤhl und hoffte Unterwuͤrfigkeit unter Rußland zu erndten. 165Von d. Ausfuͤhrbark. d. guten Verfaſſung.Dieſer Verſuch mußte ſcheitern. Das Selbſtgefuͤhl, von der Verfaſſung geſtaͤrkt, wandte ſich gegen die kuͤnſtliche Ordnung der Dinge der natuͤrlichen zu, der Wiederher - ſtellung der Nation. Die Sache hat ſo ſich graͤuelvoll ge - ſtaltet, daß die planmaͤßige Vernichtung der Polniſchen Nation als die einzig ſichere Maaßregel erſcheint, durch welche die Staͤtten, welche Polen hießen, von Ruſſen be - herrſcht werden koͤnnen. Die Entſcheidung iſt den Ereig - niſſen vertraut.
Durch ganz Skandinavien wohnte urſpruͤnglich der - ſelbe Volksſtamm verbreitet, dieſelbe Sprache, dasſelbe Heidenthum, gleichzeitig auch das Chriſtenthum; doch ließ es die Ausdehnung und die Zerſchnittenheit des aͤrmlich bevoͤlkerten Bodens zu keiner Skandinaviſchen Reichsein - heit kommen. Als endlich dennoch die drei Reiche einem fuͤrſtlichen Haupte huldigten, war das Naturleben ſchon dahin, Schweden hatte ſeine Sprache fuͤr ſich und der Staat galt hier vornehmlich mehr als der Stamm. Man wollte ſeine Beſonderheit nicht aufgeben; ihr Alles vorbe - haltend, bildete man nur fuͤr den Schutz nach Außen eine Unionsverfaſſung. Daͤnnemark war Anfangs factiſch das Hauptland, aber man ertrug es nicht. Der Koͤnig ſollte allen drei Reichen gleichmaͤßig angehoͤren und ward da - durch heimathlos; man machte einen Nomaden aus ihm. Bald fiel Schweden ganz ab. Jetzt erſt gelang es Daͤn - nemark das Norwegiſche Land gleicher Zunge zu ſeinem Nebenlande zu machen, ihm ſeine Verfaſſung zu entreißen. Seit 1813 iſt nun aber Norwegen von Daͤnnemark los - getrennt, mit Schweden unter demſelben Koͤnige unirt gegen den aͤußeren Feind, indeß unter voͤllig verſchiedener Sprache, Verfaſſung und Verwaltung. Schweden und Norwegen bilden einen zuſammengeſetzten Staat; einer iſt166Siebentes Capitel.an den andern gebunden, aber wie zwei verſchiedene Le - ben, nicht wie ein Leib und eine Seele. Aber auch Daͤn - nemark iſt in anderer Beziehung ein Staat von zuſam - mengeſetzter Verfaſſung; außer dem eigentlichen Koͤnigreiche gehoͤren die Herzogthuͤmer Schleswig und Holſtein und ſeit einigen Jahren auch Lauenburg dieſem Scepter an, der Hauptſache nach deutſchredende Lande. Lauenburg nun gemeßt ſeiner eigenen neuverbuͤrgten Verfaſſung, allein den Schleswig-Holſteinern iſt ihre altverbuͤrgte Verfaſſung genommen und ſie ſind dem Rechte abſoluter Herrſchaft, welchem ſich das Daͤniſche Volk freiwillig ehmahls unter - worfen hat, unfreiwillig unterworfen worden 1). Dieſes Verfahren indeß, weit entfernt die unumſchraͤnkte Herr - ſchaft in groͤßerer raͤumlicher Ausdehnung zu begruͤnden, hat vielmehr die Folge gehabt, die Unumſchraͤnktheit auch da zu untergraben, wo ſie grundgeſetzlich beſtand. Vier Staͤnde - Verſammlungen ſind angekuͤndigt, von welchen zwei auf Schleswig und Holſtein fallen. Dieſe beiden Lande ha - ben Jahrhunderte hindurch gemeinſam in Deutſcher Sprache gelandtagt, ihr Recht auf dieſe Gemeinſamkeit iſt unbe - ſtritten, die ausgeſprochene Trennung droht Unfrieden und Verwirrung zu ſtiften, aber gleichwohl keine ſo arge, als wenn dem Naturleben zum Trotze Deutſche und Daͤnen zu einer und derſelben Reichstags-Verſammlung zuſam - mengezwungen wuͤrden.
Das Beiſpiel des Koͤnigreichs Niederland hat neuer - dings bewieſen, daß Naturverhaͤltniſſe ſich nicht ſpotten laſſen. Der kuͤnſtliche Verſuch einen Reichstag aus re - formirten Hollaͤndern und katholiſchen Wallonen und Flam - laͤndern, denen franzoͤſiſch die Sprache des gemeinen Le -167Von d. Ausfuͤhrbark. d. guten Verfaſſung.bens geworden iſt, zu geſtalten, hat ſich ſchwer beſtraft. Eine Hollaͤndiſche und eine Belgiſche Staͤnde-Verſamm - lung neben einander wuͤrden eine ſehr ſchwer zu behan - delnde Verfaſſung gegeben haben, aber in ihrer Unbehol - fenheit wahrſcheinlich eine dauerhaftere; denn der Charak - ter der Regierung war, obgleich ſie unvorſichtig die Sprache bedruͤckte und an manchen nicht geradezu beherrſchbaren Verhaͤltniſſen ruͤttelte, auf Gerechtigkeit und Ausgleichung gerichtet.
Am tiefſten wurzelt der Charakter der Zuſammengeſetzt - heit im Öſterreichiſchen Staate. Slaven, Magyaren, Ro - maniſcher und Deutſcher Stamm ſtehen ſich ſo maſſenhaft gegenuͤber, daß Alles dafuͤr ſpricht, daß Kaiſer Joſephs II. Machtgebot, der Ungar und der Boͤhme ſolle in be - ſtimmter Friſt deutſch gelernt haben, ſich, wie die Welt ſteht, ſo bald nicht wiederholen wird. Die Hauptſtadt der Deutſchen Laͤndermaſſe, Wien, iſt von wegen des alten Deut - ſchen Kaiſerthums Hauptſtadt des ganzen Staats und Re - gierungs-Sitz geworden. Die Regierung dieſes Laͤnder - Aggregats von mehr als dreißig Millionen Einwohnern iſt deßhalb etwas weniger ſchwer zu fuͤhren, weil das Volk der Ungarn, welches dazu ungetheilt an Öſterreich gehoͤrt, allein lebendig gehandhabte Verfaſſungsrechte hat; denn Poſtulaten-Landtage bedeuten weniger noch fuͤr die Frei - heit als gemalte Gerichte fuͤr den Hunger. Wuͤrden aber Verfaſſungs-Rechte den Polen Oeſterreichs, wuͤrden ſie ſeinen Italiaͤnern, die deren mit ſo brennendem Eifer be - gehren, vergoͤnnt, ſo wuͤrde Öſterreich die einen und die andern das alte Naturband mit den uͤbrigen Polen, den uͤbrigen Italiaͤnern aufſuchen, ſein Reich aber ſich aufloͤ - ſen ſehen. Öſterreich kann daher den voͤlkerſchaftlichen Charakter zwar im Privatrecht und der Sitte ehren, aber168Siebentes Capitel.nicht im oͤffentlichen Recht hervortreten laſſen. Das for - dert ſeine Selbſterhaltung. Es muß daher ſich durch die politiſche Wendung der Zeit weſentlich belaͤſtigt fuͤhlen und koͤnnte es noch mehr werden, wenn es die Erfahrung machen ſollte, daß ſich der Kunſtfleiß mit ſeinen neuen Mitteln nicht befoͤrdern laͤßt, ohne einen gewaltigen Um - ſchwung in der Sinnesart der ſchwerarbeitenden Claſſe hervorzubringen, die aus allen erblichen Gewohnheiten geruͤckt und in die Berufswahl hineingedraͤngt wird. Der Unbedacht derer, die das uͤberſehen, wie wenig Öſter - reichs Stellung zu den politiſchen Strebungen der Gegen - wart eine Sache der freien Wahl ſey, iſt bloß der Un - weisheit derer zu vergleichen, die darum weil dem ſo iſt, alles Land auf den Öſterreichiſchen Fuß gebracht haben moͤchten. Vielmehr iſt das A. E. J. O. U. Kaiſer Fried - richs III. eben aus dieſem Grunde unanwendbarer als je zuvor geworden.
199. Der Deutſche Bund bildet drei große politiſche Maſſen: Öſterreich, welches keine allgemeine Reichsſtaͤnde mit geſetzgebender Gewalt haben kann, Preußen, welches dieſe haben kann, aber nicht hat, und das, wenn man will, conſtitutionelle Deutſchland, deſſen Einwohner Ver - faſſungsrechte beſitzen. Auf alle drei Laͤndermaſſen muß das Bundesverhaͤltniß beſtimmend einwirken, am meiſten aber auf die dritte, als aus minder maͤchtigen Staaten und mehrentheils aus ſolchen beſtehend, welche vollſtaͤndig im Bunde enthalten ſind, keinen Schwerpunkt auch außer dem Bunde haben. Jeder Bund verlangt Opfer, von denen aber die meiſten, die ihn am wenigſten entbehren koͤnnen.
Ein Staat begiebt ſich freiwillig in einen ewigen Staa - tenbund, wenn er entweder ſich nicht Macht genug zu -169Von d. Ausfuͤhrbark. d. guten Verfaſſung.traut, fuͤr ſich allein ſeine Selbſtaͤndigkeit zu behaupten, oder wenn er ſeine an ſich ſchon ſtarke Macht noch durch den Bund verſtaͤrken will. In jedem Falle iſt es ein Ver - haͤltniß gegenſeitiger Leiſtung und jeder beitretende Staat giebt einen Theil ſeines unabhaͤngigen Willens hin, um den uͤbrigen Theil und das Ganze zu retten. Vollkom - mene Souveraͤnitaͤt der einzelnen Regierungen iſt mit dem Charakter eines Staatenbundes unvereinbar.
Dem einzelnen Gliede des Staatenbundes geht inſo - fern es nicht noch ein Daſeyn außer dem Bunde hat, die freie Bewegung nach Außen ab; es hat keine ſelbſtaͤndige auswaͤrtige Politik. Es ſtellt zu den Kriegen, welche der Bund beſchließt, ſein bundesmaͤßiges Contingent, es haͤlt im Frieden die Kriegsmacht, welche der Bund vorſchreibt. Die Staͤndeverſammlungen koͤnnen ſich nicht weigern die noͤthigen Steuern zu dem Ende zu bewilligen, hoͤchſtens Erſparungen darin bewirken; mußte man ja doch ſchon im Deutſchen Reiche zwiſchen nothwendigen und freiwilligen Steuern unterſcheiden lernen! Das unvermeidliche Reſul - tat jeder Bundesverfaſſung iſt alſo Beſchraͤnkung der ſtaͤn - diſchen Steuerbewilligung in einem der wichtigſten Punkte, das will ſagen, Beſchraͤnkung der Ausfuͤhrbarkeit der gu - ten Verfaſſung.
Kommt es zu einem allgemeinen Deutſchen Zollweſen, ſo ſteht der ſtaͤndiſchen Steuerbewilligung eine neue große Beſchraͤnkung bevor. Es iſt dann unmoͤglich, daß die ein - zelne Deutſche Regierung mit Einwilligung ihrer Staͤnde - verſammlung den Zoll und ebenfalls die Verbrauchs - Steuern ferner nach einſeitigem Beſchluſſe veraͤndere, ein - zelne aufhebe, erhoͤhe, verringere; gar nicht zu gedenken der weiteren Einwirkung auf die Verfaſſung der Handwer - ker, auf das Geldweſen, vornehmlich freilich in dem Falle,170Siebentes Capitel.daß die Europaͤiſchen Großmaͤchte die Ruͤckkehr zum Sy - ſtem des Papiergeldes beſchließen ſollten. Fuͤr hochwichtige innere Intereſſen wuͤrde fortan ein Geſammt-Beſchluß er - fordert, an deſſen Bildung die Staͤndeverſammlungen gar geringen Antheil haben koͤnnten. Ihnen bliebe uͤberall hauptſaͤchlich nur die Sorge, daß die einkommende Quote ihrem Zwecke gemaͤß verwandt werde.
Außerdem liegt es bei einer dauernden Bundesverfaſſung ſehr nahe, daß die Bundesregierungen ſich das Recht vor - behalten, Mishelligkeiten, welche die Erhaltung des Staa - ten-Vereins gefaͤhrden koͤnnten, moͤgen dieſe nun zwiſchen den Regierungen unter ſich, oder zwiſchen den Regierun - gen und ihren Unterthanen vorkommen, auf geeignete Weiſe hinwegzuraͤumen. Dadurch aber ſichert ſich der Bund einen Theil des Oberaufſichtsrechtes zu, welches uͤberall ſonſt lediglich der Staatsregierung zuſteht, und in ſolchem Falle an geſetzliche Beſtimmungen geknuͤpft werden kann. Wo jedoch eine Bundesverfaſſung beſteht, da iſt keine Einwirkung der Staͤndeverſammlungen in die Bun - desgeſetzgebung moͤglich, ohne den Erfolg jeder allgemei - nen Maasregel von dem Ja oder Nein vielleicht der klein - ſten Staͤndeverſammlung des mindeſt maͤchtigen Staats abhaͤngig zu machen. Von der andern Seite indeß gaͤbe es durchaus keinen Schutz fuͤr das Verfaſſungsrecht eines deutſchen Staats, wenn vermoͤge der allgemeinen Beſtim - mung, daß der Bund fuͤr die innere Sicherheit nicht minder als fuͤr die aͤußere zu ſorgen habe, die Freiheiten der Unterthanen von den gemeinſamen Beſchluͤſſen der Bundesregierungen abhaͤngig gemacht wuͤrden. Denn die Erfahrung aller Zeiten hat hinlaͤnglich gelehrt, daß es nichts im Gemeinweſen giebt, was ſich nicht unter dem Begriffe der Sicherheitsſorge befaſſen laͤßt; kein Wunder171Von d. Ausfuͤhrbark. d. guten Verfaſſung.alſo, daß die von den Theoretikern unſeres Bundesrechts in dieſer Richtung verſuchten Graͤnzbeſtimmungen zwiſchen Bundesgewalt und Staatsgewalt ſich mit jedem Jahre haben veraͤndern muͤſſen. Die einzige lebendige Graͤnze gewaͤhrt in der That der Inhalt der Deutſchen Verfaſſungs - urkunden, welcher durch das Gewiſſen der ſie verbuͤrgen - den Fuͤrſten gewahrt wird und deſſen Verletzung das Recht der Anklage gegen jeden Miniſter, welcher ſie auf - opfern wuͤrde, begruͤndet. Da vermoͤge des Bundesrechtes organiſche d. i. bleibende Einrichtungen nicht durch Über - ſtimmung, ſondern allein durch Einſtimmigkeit, das will ſagen, auf dem Wege des Vertrages zu Stande kommen koͤnnen (Wiener Schlußacte Art. 13.) und keine einzige Deutſche Landesverfaſſung einem Proviſorium unterworfen iſt, ſo iſt auch in den Bundesordnungen nichts enthal - ten, was der Gewiſſenhaftigkeit und dem Pflichtgefuͤhle Gewalt thaͤte.
Hier aber ſteht auch der unuͤberſchreitbare Graͤnzwall zwiſchen Bundesgewalt und Bundesſtaat; die in anerkann - ter Wirkſamkeit beſtehenden landſtaͤndiſchen Verfaſſungen koͤnnen nur auf verfaſſungsmaͤßigem Wege wieder abgeaͤn - dert werden (Wiener Schlußacte Art. 56). Denn kaͤme es je dahin, (Errorem hostibus illum!) daß die Stimme de - rer obſiegte, welche von Bundeswegen verkuͤndigt wuͤn - ſchen, keine Verantwortlichkeit hindere den Miniſter ſeine Zuſtimmung zu einem Bundes-Beſchluſſe zu geben, wel - cher mit ſeiner verbuͤrgten Landesverfaſſung im Widerſpruche ſteht, wuͤrde die den Feinden des oͤffentlichen Rechts ge - faͤllige, Religion und Vernunft gleichmaͤßig verwirrende Lehre offen aufgeſtellt, das Gewiſſen des Fuͤrſten allein habe uͤber das Daſeyn der Verfaſſungsrechte zu entſcheiden und der Unterthan muͤſſe ſich auf alle Faͤlle beruhigen, ſo172Siebentes Cap. Von d. Ausfuͤhrb. d. guten Verf.waͤre damit ein Grundſatz aufgeſtellt, altem und neuem Deutſchen Rechte gleichmaͤßig widerſtreitend, die wohlthaͤtige Einheit des Staats, welche der Mitregierung der Staͤnde ein Ende gemacht und den zuſammenhaͤngenden Staats - haushalt begruͤndet hat, erſchiene dann als eine Lei - ter bloß zur Willkuͤhr-Herrſchaft, und wer die Geſchichte zu deuten weiß, ſaͤhe im Geiſte das Deutſche Volk durch das gleisneriſch angeprieſene Mittel gegen Revolutionen einer Umwaͤlzung, die den Welttheil erſchuͤttern wuͤrde, entgegengefuͤhrt.
‘“Wenn Alle ins Verderben gehen, ſcheint keiner zu gehen. Nur wer etwan anhaͤlt, macht wie ein feſter Punkt das Abirren der Andern bemerklich”. ’ (Pascal. )173Vom Rechte des Widerſtandes.200. Es giebt mannigfache Wege des Widerſtandes gegen Unterdruͤckung: Widerſtand der Sitte, der Einſicht (“Wiſſen iſt Macht”), des Privatrechtes, des politiſchen Rechtes, Widerſtand durch phyſiſche Kraft. Hier iſt von dem Rechte der Unterthanen die Rede ſich gegen Über - ſchreitungen der Regierungen durch phyſiſche Kraft ſicher zu ſtellen. David Hume raͤth, daß die Geſetze uͤber das Recht des Widerſtandes lieber zu ſchweigen fortfahren moͤgen (obwohl ſie nicht immer ſchwiegen), aber er ver - wahrt ſich ausdruͤcklich vor der Nachrede, als wolle er da - mit die ganze Unterſuchung niederſchlagen.
201. So viel iſt klar, wenn in einem Volk der Grundſatz aufgeſtellt iſt, jede Verletzung der Verfaſſung, die am Ende auch eine unfreiwillige, wieder gutzumachende ſeyn koͤnnte, ſey mit bewaffneter Hand zu raͤchen, und das ſey nicht bloß erlaubt, ſondern Pflicht jedes Einzelnen im Volke, und wenn das Volk dann nicht verſtaͤndiger iſt als ſein Geſetz, ſo ſteht keine Regierung ſicher, denn keine iſt ohne Fehl und keine vermag einmahl durchweg ſo zu handeln wie in den Paragraphen eines Staatsgrundge - ſetzes geſchrieben ſteht. Nun heißt es aber in den Men - ſchenrechten der Franzoͤſiſchen Conſtitution von 1793 §. 35. Quand le gouvernement viole les droits du peuple, l’in - surrection est, pour le peuple et pour chaque portion du peuple, le plus sacré et le plus indispensable des de - voirs; und Art. 66. der neuen Charte von 1830 ſcheint in zierlicheren Ausdruͤcken: la présente charte et tous les174Achtes Capitel.droits qu’elle consacre demeurent confiés au patriotisme et au courage des gardes nationales et de tous les ci - toyens français, doch faſt daſſelbe zu beſagen.
202. Von der andern Seite iſt klar: Wenn das Volk verpflichtet iſt, jedem Regierungsbefehle, auch dem - jenigen, welcher unzweideutigen Verfaſſungsbeſtimmungen, mithin anderen Regierungsbefehlen, geradezu widerſpricht, oder gar die Verfaſſung aufhebt, ohne Widerrede Folge zu leiſten, alles Unrecht nicht bloß ſchweigend zu dulden, ſondern ſelbſt es vollenden zu helfen, ſo iſt jede Verfaſſung Luͤge. Schon die Sittenlehre befiehlt einer Herrſchaft zu widerſtehen, welche nicht bloß Unrecht zu dulden, ſondern ſelbſt zu begehen gebietet. Auch wuͤrde der ganz blinde Gehorſam am Ende jeden Unterſchied zwiſchen factiſcher Regierung und rechtmaͤßiger verwiſchen; man hielte ſich dem unrechtmaͤßigen Eroberer gleichmaͤßig unbedingt ver - pflichtet und ließe den rechtmaͤßigen Oberherrn huͤlflos im Elend ſchmachten. Darum muß der Satz, daß Regierun - gen Unrecht thun koͤnnen, um der Sicherheit der Regierun - gen ſelber Willen fortbeſtehen; am allerwenigſten aber iſt es dieſen zu rathen, durch Aufſtellung eines goͤttlichen Rechtes auch zum Unrechtthun ohne Widerſtand, den Kno - ten zu zerhauen. Aus der Bibel erweist ſich’s nicht. Denn ſoll Paulus unbedingt gedeutet werden: „ Jedermann ſey unterthan der Obrigkeit, die Gewalt uͤber ihn hat ꝛc. “, ſo verlangt Chriſtus gewiß das gleiche Recht, der nicht einmahl, ſcheint es, eine erwieſene Ehebrecherin durch ein Gericht, das ſich nicht ſelber rein fuͤhle, wollte verurtheilt wiſſen. Luther nahm nicht den geringſten Anſtoß an der Widerſetzlichkeit gegen einen Kaiſer, der „ beſchriebenen Rechten “nicht folgen will, hielt den Kaiſer fuͤr richtig175Vom Rechte des Widerſtandes.entſetzt, welchem das Reich und die Kurfuͤrſten eintraͤchtig den Gehorſam aufkuͤndigen. Und der ſanfte Melanchthon fand den Tyrannenmord ganz in der Ordnung. Kurz, wer bei den gradhinblickenden Gottesgelehrten nachfragt, nicht bloß den uralten (von heutigen Hoftheologen iſt nicht die Rede), hat weit kuͤhnere Antworten zu befahren, als die ein Mann von politiſcher Lebenskenntniß auf ſich nehmen moͤchte.
203. Politiſche Erfahrung raͤth, gewiſſe Wege des erlaubten Widerſtandes freiwillig zu eroͤffnen, damit die zerſtoͤrenden durch Warnung bei Zeiten, um ſo ſicherer ver - ſchloſſen bleiben. Von welcher Art aber koͤnnen jene ſeyn? Soll man jeden Streit uͤber den Inhalt und die Hand - habung der Verfaſſung einem unpartheiiſchen Dritten im Staate verfaſſungsmaͤßig anvertrauen, deſſen Anrufung der geſetzliche Widerſtand waͤre? Im Deutſchen Reiche war das gewiſſermaaßen thunlich, wo uͤber der einzelnen reichs - ſtaͤndiſchen Regierung noch eine Reichsregierung ſtand, wel - che die Erkenntniſſe des Reichsgerichtes, wenigſtens der Theorie nach, auszufuͤhren im Stande war; aber die Haupttheilnehmer an dieſer Reichsregierung waren gerade die Haͤupter, gegen welche die Beſchwerden ſich richteten, und wie wenig fehlte im Jahre 1671 daran, daß den Reichsgerichten alle fernere Muͤhe abgenommen waͤre! Wo aber vollends der vollſtaͤndige Staat keine andere Regie - rung uͤber der ſeinen anerkennt, da wird mit der Macht uͤber Regierungsrechte zu entſcheiden die Regierung ſelber uͤbertragen. Die Ephoren, der Karthagiſche Rath der Hundert, der Juſticia der Arragoneſen bezeugen das in ihrer Geſchichte. Es heißt dem Staate die Revolution ein - impfen; denn die als Waͤchterin aufgeſtellte Gewalt muß ſtaͤrker ſeyn wollen als die regierende.
176Achtes Capitel.Waͤre denn aber dennoch das Recht des gewaffneten Widerſtandes verfaſſungsmaͤßig aufzuſtellen und nur auf gewiſſe nahmhaft gemachte Faͤlle zu beſchraͤnken? Wir be - haupten: Nein. In der heutigen Staatsordnung darf gewaltſamer Widerſtand nie geſetzlich gemacht werden; er liegt dem Grundgeſetze ſo fern, als der wahrhaften Ehe der Streit der Kirchen uͤber die Zulaͤſſigkeit der Scheidung liegt. Das Verfaſſungsrecht des gewaffneten Widerſtandes beruhte auf dem Rechte der ſtaͤndiſchen Mitregierung, war ein Theil von dieſem und iſt mit ihm aufgegeben. Wo vor Alters Volksverſammlungen ſchalteten, wurde in jedem einzelnen Mitgliede derſelben ein Bruchſtuͤck der Regierung verletzt; nur die Klugheit beſchraͤnkte das Recht des Auf - ſtandes; alle Fractionen der Regierung verletzte der Tyrann, es war Pflicht ihn zu toͤdten. So lange privilegirte Staͤnde mitregierten, huldigten dieſe unter Vorbehalt, ließen ſich Feſtungen einraͤumen, kuͤndigten den Gehorſam auf, waͤhlten einen wohlgefaͤlligeren Herrn. Seit aber wachſende politiſche Bildung die Wahlfuͤrſtlichkeit verworfen und ein - geſehen hat, daß die Regierung am wohlthaͤtigſten von ei - ner erbberechtigten Hand ohne Wahl und Zwiſchenreich in die andere uͤbergeht, mit Ausſchließung aller willkuͤhrlichen Verfuͤgung uͤber die Krone, und der Staat ſich in Folge dieſer Grundwahrheit feiner und tiefſinniger organiſirt hat, beſchraͤnken ſich die Wege des erlaubten Widerſtandes, welche die Verfaſſung eroͤffnen kann aber auch eroͤffnen ſoll, allein auf gewiſſe Weigerungen, ein Verneinen des Gehorſams in gewiſſen Faͤllen, ein Nicht-Thun ohne alle aggreſſive Zuthat. Es iſt das Recht der Unterthanen, ſolchen Steuerausſchreibungen und Geſetzen, welche ohne die verfaſſungsmaͤßig erforderliche ſtaͤndiſche Verwilligung und die Anfuͤhrung der wirklich geſchehenen erlaſſen ſind,177Vom Rechte des Widerſtandes.den Gehorſam zu verweigern, unterſtuͤtzt durch die Pflicht der Staͤnde, Miniſter, die dergleichen Ausſchreibungen und Geſetze unterzeichneten, in den Anklagezuſtand zu verſetzen. Im wirklichen Leben der Dinge tritt aber Bitte und Vor - ſtellung mannichfach thaͤtig ein, ehe es zu ſolch einem Äußerſten kommt. Kommt es dazu, ſo iſt die Stimme der Beſten thaͤtig, daß nicht der Widerſtand gegen einzelne Geſetze die ganze Geſetzgebung ergreife; denn ſie eben er - kennen die nah und naͤher ruͤckende Gefahr einer Gewalt das Daſeyn zu geben, welche, maͤchtiger als die Staats - regierung, wahrſcheinlich auch fuͤr die Freiheit bedrohlicher ſeyn wird: denn ihre erſte That muß, wenn ſie ſiegt, Wie - derherſtellung der Ordnung ſeyn. Hat der Zwieſpalt un - verſoͤhnt ſeinen Fortgang, ſo entſcheidet dann freilich die Gewalt uͤber die kuͤnftige Regierung und Verfaſſung. “Die Entſcheidung faͤllt dann dem Kriege anheim, nicht der Conſtitution. — Die Frage uͤber die Entſetzung eines Koͤnigs war ſtets eine außerordentliche Staatsfrage und keine Rechtsfrage, es wird dabei ſtets wie bei jeder Staatsfrage, um die Stimmung, die Mittel, die wahr - ſcheinlichen Folgen, mehr als um poſitive Rechte ſich han - deln.” (Burke.)
Herr Friedrich Murhard (Über Widerſtand, Empoͤrung und Zwangsuͤbung der Staatsbuͤrger gegen die beſtehende Staatsge - walt, in ſittlicher und rechtlicher Beziehung. Braunſchw. 1832) meint (S. 194.), das Problem ſey “Staatsordnungen zu er - ſchaffen, wodurch jeder Mißbrauch der Staatsgewalt u. eben dadurch jede Empoͤrung unmoͤglich gemacht wird.” Wir wuͤrden die Loͤſung dieſes Problems, welche laut der Vorrede einem zweiten Werke aufgeſpart iſt (das gelieferte enthaͤlt bloß eine Zuſammenſtellung der Meinungen Anderer) mit eben ſo großer Verwunderung leſen, als nur die des Johannes Major ſeyn koͤnnte, ſaͤhe er ſich hier (S. 195.) unter den Kir - chenvaͤtern aufgefuͤhrt.
12178Achtes Capitel.204. So wenig alſo beachtet ein in politiſcher Bildung vorgeruͤcktes Volk das ſtolze y si no, no der Arragoneſen, und was bei den Polen, Ungarn, und in Englands und Deutſchlands Geſchichte Verwandtes vorkommt, als einen beneidenswerthen Vorzug einer kraͤftigeren Vergangenheit, daß es vielmehr von den aus der Ferne vorbeugenden Mit - teln, die hauptſaͤchlich in der Kraft furchtlos freier Rede aus gerechtem Munde ruhen, ſtets am meiſten erwartet, den Widerſtand durch Verſagung aber ſcheut wegen der zarten Graͤnze, die ihn vom aggreſſiven Widerſtande ſchei - det. Ein ſolches Volk giebt aus tiefer Überzeugung ſelbſt ſeine Stimme zu den Strafen, welche die Geſetzgebung denen droht, welche gewaltſame Unternehmungen gegen eine einzelne That der Regierung durch Aufſtand oder ge - gen das Daſeyn derſelben durch Revolution verſuchen moͤchten. Weil indeß der Unternehmung moͤglicher Weiſe ein Nothrecht zum Grunde lag, ſo liegt es in der Na - tur der Sache, daß Staatsverbrecher des Auslands an - ders behandelt werden als Verbrecher gegen die buͤrger - liche Geſetzgebung und die Auslieferung jener in der Regel verweigert wird.
205. Denn Nothwehr hat von jeher als ſittliche Rechtfertigung der Erhebung gegen eine Staatsgewalt ge - golten, welche uͤber ihre Zwecke und Graͤnzen beharrlich hinausſchreitet. Es iſt aber fuͤr das Heil der Staaten und ihrer Regierungen hochwichtig zu erkennen, wie nicht uͤberall dieſelben Verletzungen das Herz der Nation mit der Überzeugung verwunden, die Stunde der Nothwehr ſey gekommen. Es giebt Voͤlker, die allein den Bedarf, andere, die auch die Bequemlichkeiten zu den Nothwendig - keiten des Lebens rechnen, es giebt Regionen, in denen179Vom Rechte des Widerſtandes.Genug haben, wie der Dichter ſagt, darben hieße. Eine Regierung, die ihren Unterthanen den aufrechten Gang verboͤte, welche den Kindern die Herrſchaft uͤber die Er - wachſenen gaͤbe, ſchreitet nicht viel raſcher dem Übergange entgegen, als diejenige, welche die Toͤchter des Landes der rohen Gewalt Preiß giebt, nicht viel raſcher als diejenige, welche einem froh erwerbenden Volk in ſein Recht der Selbſtbeſchatzung eingreift und an die Stelle der Steuern die allgemeine Pluͤnderung ſetzt, welche ſich auslaͤndiſcher Macht bedient, um auf die Ruine der vaterlaͤndiſchen Frei - heiten das Banner der Despotie zu pflanzen, welche dem kirchlich begeiſterten Volk die Gegenſtaͤnde ſeiner Vereh - rung, dem wiſſenſchaftlich erregten Zeitalter den freien Austauſch ſeiner Gedanken entzieht.
206. Aber was die That der Staatsumwaͤlzung recht - fertigt oder entſchuldigt, hebt darum ihre Folgen nicht auf; jede Revolution iſt nicht bloß das Zeugniß eines ungeheu - ren Misgeſchicks, welches den Staat betroffen hat, und einer keineswegs bloß einſeitigen Verſchuldung, ſondern ſelbſt ein Misgeſchick, ſelbſt ſchuldbelaſtet. Darum werden weiſe und gewiſſenhafte Maͤnner weder das Gelingen einer Revolution, darum weil es ihre Strafloſigkeit verbuͤrgt, als ihre Rechtfertigung darſtellen, noch die zoͤgernde Hand zur Widerſetzlichkeit erheben, als wenn kein Mittel ſonſt mehr uͤbrig, der allgemeinen Herabwuͤrdigung zu entgehen. Denn was allein auf den Herrſcher oder die Dynaſtie an - geſehen iſt, ſchlaͤgt gar leicht zu einem Umſturze der ganzen geſellſchaftlichen Ordnung aus, und wenn ſich auch der beſſere Wille der neuen Herrſchaft verbuͤrgen ließe, wird ſie ſich auch befeſtigen koͤnnen? Eben darum kann der einmahl entſchiedenen Umwaͤlzung ſich loͤblich auch der Va -12*180Achtes Capitel.terlandsfreund anſchließen, derſelbe der ihren Ausbruch misbilligte, weil ein Zuſtand nicht dauern darf, in wel - chem die Regierung nirgend iſt, weil ſie uͤberall iſt; aus - wandern oder ſich irgendwie entziehen in der Stunde, wo Alles was Gutes im Staate iſt enger zuſammentreten ſollte, ward von jeher fuͤr unwuͤrdig des guten Buͤrgers geachtet.
Auch die aufs Beſte ausgehende Revolution iſt eine ſchwere Kriſe, die Gewiſſen verwirrend, die innere Sicher - heit unterbrechend und nicht minder alle Staatsvertraͤge gefaͤhrdend; denn dieſe beruhen auf dem Daſeyn einer nicht ſtreitigen, darum der Anerkennung faͤhigen Regierung. Einige Faͤlle giebt es zwar, da die mit ihr unvermeidlich verbundene Zerſtoͤrung vor der Wiederherſtellung verſchwun - den iſt; wo ſie dann hereinbrach mehr als eine Begeben - heit denn als ein erſonnener Plan, wie als Guſtav Waſa Koͤnig ward; in noch ſeltnerem Falle gelingt es der Kraft des unverletzt fortbeſtehenden Theiles der Verfaſſung den verſtuͤmmelten Staatskoͤrper wieder zu ergaͤnzen und die unſtaͤte, herrſcherloſe Kreiſung auf den engſten Zeitraum zu beſchraͤnken (England. 1689). Wo dann das Beſte ge - ſchehen iſt was moͤglich war, da faͤllt die Frage weg, ob das Geſchehene rechtmaͤßig geſchehen ſey.
207. Der revolutionaͤre Sinn, der auf Revolutionen wie auf oͤffentlichen Luſtbarkeiten Rechnung macht, die nicht allzu lange ausbleiben duͤrfen, iſt von der Vaterlandsliebe viel weiter entfernt als die traͤge Verehrung alles laͤndlich ſittlich Hergebrachten es iſt, uͤber die er ſo vornehm ſich zu erheben pflegt. Die Vaterlandsliebe ſchlaͤgt ihre Wur - zel in den Örtlichkeiten, welche ſich um die Wiege des Menſchen verſammelten; ſie bleibt vielleicht daran hangen181Vom Rechte des Widerſtandes.verſchließt ſich provinzialiſtiſch gegen die Entwickelung von Volk und Staat in ihren großen Dimenſionen, allein der beſchraͤnktere Sinn bewahrt den menſchlichſten Neigungen, welche die vier und zwanzig Stunden jedes Tags zuſam - menhalten, ſeine Treue, bis vielleicht die Stunde der Noth ihn weiter hinaus zu blicken zwingt. Der revolutionaͤre Sinn hat ſeine flache Wurzel im Verſtande, iſt familien - los, heimatlos. Fuͤr ihn gelten nur die großen Verhaͤlt - niſſe. Er moͤchte das Jahrhundert umgeſtalten, unbekuͤm - mert ob die naͤchſte Heimat mit ihrem Gluͤcke und ihrer Sitte ein Opfer des Umſchwungs wird. Zwar wird die Nachwelt dem angebildeten politiſchen Quietismus die Ehre nicht zollen, die er ſich ſelbſt verſchwenderiſch zumißt. Aber wer das Reich, deſſen geborener Koͤnig jeder iſt, die Beherrſchung ſeiner eigenen Seele, wohl verwaltet, und ein Bild des guten Staates in ſeiner Familie zeigt, der verbeſſert die oͤffentliche Sitte, welche die Traͤgerin aller freiheitlichen Einrichtungen iſt und bewahrt auch unter einer Despotie ein unverletzliches Gebiet der Freiheit.
182Neuntes Capitel.208. Neben den Gebundenheiten der Staaten wie ſie waren und ſind bewegt ſich ein Syſtem der Meinungen fort, warum die Staaten gerade ſo ſeyn moͤgen und wie ſie anders doch ſeyn koͤnnten und anders kuͤnftig werden muͤſſen. Dieſe Meinungen haben von jeher eine nicht un - bedeutende Herrſchaft uͤber die Dinge ſelber geuͤbt, man war im Alterthum durchaus nicht ungeneigt, wenn der Volksgedanke ſich verwirrte, mit dem Werdenden nicht zu bleiben wußte, einem hervorragenden Manne das Schick - ſal ſeines oͤffentlichen und ſelbſt ſeines Privat-Rechts zu vertrauen. Berg und Thal ſtanden damahls geſchiedener. Heutzutage, wo ein geſteigertes Selbſtgefuͤhl die Staats - verfaſſungen ſcheinbar zur Dispoſition der Voͤlker ſtellt, die oͤffentliche Meinung allein hervorragen und entſcheiden will, iſt es doppelt noth, daß dieſe ſich durch Erfahrung zu berichtigen eile und den politiſchen Vorwitz mindeſtens an der Originalitaͤt ſeiner Irrthuͤmer verzweifeln laſſe. Überhaͤuft man nur den Stoff der Meinungen nicht bis zum widerwaͤrtigen Gemiſche gemein ſubjectiver Gegenſaͤtze, laͤßt es ſich gefallen lieber belehrt als gelehrt zu ſeyn und ruht bloß bei den bedeutenderen Erſcheinungen aus, ſo enthaͤlt es einen großen Beitrag zur Verſtaͤndigung zu be - trachten, wie der Eine um den Staat herauszubringen die Familie befeſtigt, der Andere ſie zerſtoͤrt hat, wie man den Naturſtand zur Grundlage macht und Despotie dar - aus folgert oder mit eben ſo leichter Muͤhe auch ihr Ge - gentheil, wie man aus der Bibel den Staat baut und183Blick auf d. Syſtematik d. Staatswiſſenſch.durch die ſchoͤpferiſche Salbung des Fuͤrſten Inneres hei - ligt, den Staat unter die Kirche ſchiebt und wieder die Kirche unter den Staat, der politiſchen Dreizahl huldigt oder der Volks-Souveraͤnitaͤt; wie man dieſer im Herzen unſchuldige Altaͤre baut, oder ſie in die Welt ausſtroͤmen laͤßt, damit die Freiheit des Ganzen lebe, wenn auch das Gluͤck der Einzelnen zum Opfer faͤllt. Aber auch Land - ſtaͤnde goͤlte es hier zu muſtern, die keine Lebenskraft zum Stehen haben und von einer Conceſſions - und Octroy - Syſtematik waͤre zu reden, die Andere glauben machen will was ſie ſelbſt nicht glaubt; falls nicht dieſe Eroͤrte - rung uͤber das bloße Meinen hinausgeht. Hier nun moͤge Weniges zugleich an das Viele erinnern, das unge - ſagt bleibt.
209. Von keinem fruͤher aber wuͤrde als vom Pytha - goras anzufangen und wohl lange bei ihm zu verweilen ſeyn, ſtaͤnde er nicht wie eine eben ſo verdunkelte als ein - zig hohe Geſtalt da. Die Weiſeſten des ſpaͤteren Griechen - lands deuteten gern auf ihn als den Meiſter zuruͤck, der jedem Theile des Wiſſens in die Tiefe ſah, groͤßer noch durch den Beſitz des geiſtigen Bandes, welches die Theile zum Ganzen verknuͤpft, der es zweifelhaft ließ, ob nicht, wenn ſeine Schule Beſtand gehabt, aus ſeinen Weihen ſich eine Religion der Hellenen von tiefſinnigerem Grunde her - vorgebildet haͤtte, durch eine Prieſterſchaft der Geweihten hoͤchſter Stufe zugleich mit dem Staate ſelber verwaltet. Wie es nun kam, blieb, waͤhrend im Innern jeder Wiſſen - ſchaft Denkmale dieſes ſo gewaltigen geiſtigen Vermoͤgens aufgeſtellt waren, im oͤffentlichen Gedaͤchtniß der Menſchen nur die Überlieferung einer ganz ausgezeichneten Lebens - weiſe uͤbrig, welche Pythagoras auf ſeine Bundesgenoſſen184Neuntes Capitel.uͤbertrug. Wir vernehmen, daß er in Kroton geſetzgebe - riſch gewaltet, und all ſein Abſehn war, entfernt von der Selbſtfeier der vom Staate Zuruͤckgezogenen, auf die Ein - fuͤhrung trefflicher Ordnungen in den Staat gerichtet. Durch uͤberlegene Menſchenbildung und fortgepflanzte politiſche Grundſaͤtze gedachte er die Herrſchaft nicht an die Beſtgebo - renen, ſondern an die Beſtgebildeten zu knuͤpfen und eben dadurch die in den Italiſchen Staͤdten der Griechen fruͤh - zeitig entwickelte Hinneigung zur Volksherrſchaft zu be - kaͤmpfen. Aber die Schulen der Pythagoraͤer wurden ver - brannt und das Griechenthum ging ſeinen Weg.
210. Platon und Ariſtoteles, des Pythagoras wohl eingedenk, aber in ſchon nachtheilig entſchiedenen Staatsverhaͤltniſſen von Griechenland lebend, die kein ver - fuͤhreriſches Bild mehr boten, am wenigſten aber eine Ruͤck - kehr auf den Weg des Pythagoras zuließen, wichen nach verſchiedenen Seiten ab. Platon lehnte ſeinen Staat, deſ - ſen Ausfuͤhrbarkeit er ſelber dahinſtellt, faſt laͤugnet, an die Staͤrke der menſchlichen Natur, Ariſtoteles den ſeinen an die Staͤrke und die Schwaͤche derſelben an, und Ariſtoteles beurtheilte das Maas beider aus den geſchichtlich vorliegen - den Zuſtaͤnden. Platon zielte zu hoch, dagegen Ariſtoteles Gefahr lief ſein Ziel zu niedrig zu nehmen und vorkom - mende, darum aber nicht nothwendige Zuſtaͤnde fuͤr un - vermeidlich zu halten. Platon erhielt, wenn uͤberhaupt einen durchfuͤhrbaren Staat, immer nur einen einzigen, Ariſtoteles, die Zuſtaͤnde meſſend, erkannte, daß ſehr verſchie - dene Regierungsformen beziehungsweiſe gut ſeyn koͤnnen.
211. Dem Platon iſt die Darſtellung des Staats der nothwendige Schlußſtein zu ſeinen Ausfuͤhrungen auf dem185Blick auf d. Syſtematik d. Staatswiſſenſch.Felde der Sittenlehre. Platon ſtellt den Staat dar um der Lehre von der Gerechtigkeit willen; er nimmt an, die Ge - rechtigkeit, als die jedem Theile des Ganzen die Gebuͤhr zutheilende Tugend, muͤſſe ſich im guten Staate im groͤße - ſten Maasſtabe und dadurch in deutlicheren Umriſſen dar - legen als ſie in den Seelen Einzelner erſcheinen kann. Allein ſchon dieſer Ausgangspunkt entfernt ihn vom wirk - lichen Leben, welches haͤufig in kleineren Kreiſen des Da - ſeyns die ſittlich befriedigendſten Verhaͤltniſſe entfaltet, waͤh - rend die Staatseinrichtung in Ungerechtigkeit verſun - ken iſt.
Das Werk der Gerechtigkeit aber ſoll ſo vollbracht wer - den, daß die Bevoͤlkerung ſich theilt in ſolche die zu be - fehlen und ſolche die zu gehorchen haben, die Befehlenden ſich aber wieder theilen in Befehlshaber und Ausrichter oder Gehuͤlfen. Wie demnach die in der beſten Erziehung beſtbewaͤhrten als die eigentlichen Weiſen (Philoſophen) im Staate, die Huͤter ſind, d. h. den Staat regieren, ihm ſeine Graͤnze ſetzen, Geſetze geben, Gericht und Verwal - tung einſetzen, und ſelber, doch nicht vor dem funfzigſten Jahre, an die hoͤchſte Stelle treten, ſo wirken die mit den Kraͤften der Tapferkeit begabten Juͤnglinge in tieferer Ord - nung als der Weiſen Helfer und Ausrichter ihrer Anord - nungen. Sie ſind die Wehrmaͤnner, das ſtehende Heer des Staats. So kommen in die dritte Claſſe die bloß Gehorchenden, welches die Gewerbtreibenden ſind und dar - um dahin gehoͤren, weil ſie nur den eigenen, nicht des Staates Nutzen ſuchen. Daher duͤrfen ſie weder befehlen, noch ſelbſt mit ſchuͤtzen helfen. Ihnen liegt ob jene Obe - ren zu ernaͤhren, von dem Gewinne, welchen ſie aus den Gewerben ziehen, die jedem von ihnen nach ſeiner Faͤhig - keit vom Staate angewieſen werden. Eine eigentliche Ge -186Neuntes Capitel.ſetzgebung fuͤr die Verhaͤltniſſe der Gewerbtreibenden gilt fuͤr nicht der Muͤhe werth. Sie ſind, bei weitem die Mehr - zahl freilich der Bevoͤlkerung, dennoch der eigentliche Un - terbau des Staats, nicht das Staatsgebaͤude ſelber (IV, p. 425.).
212. Wie aber dieſe Claſſen ſich bilden? Zuerſt ge - wiſſermaaßen durch ein Wunderwerk, wie es Platon ſelber darſtellt, dadurch nehmlich, daß Philoſophen die Herrſchaft irgendwie bekommen, die Unterthanen aber ſich gefallen laſſen ſo viele ihrer uͤber zehn Jahre alt, auf das Land zu wandern, womit die juͤngeren zur Erziehung den Herr - ſchern anheim fallen. Sowie ſich deren Faͤhigkeiten ent - wickeln, geſchieht die Sonderung der ſo Erzogenen, welche von nun an erbliche Gewalt hat, und vermoͤge des Prin - cips, daß von Guten Gute geboren werden, eine Verer - bung der hoͤheren Faͤhigkeiten verſpricht, inſofern nur jede Miſchung der hoͤheren Claſſen mit einer niedern vermieden wird. Ausnahmsweiſe haben die Herrſcher das Recht, Sproͤßlinge der hoͤheren Ordnung, die ſich der beſten Staats-Erziehung nicht wuͤrdig beweiſen, in die niedere Ordnung herabzuſtoßen, und umgekehrt, wo ſich unter un - edelm Metall edles zeigt, dieſes in die beiden hoͤhern Claſ - ſen zu verſetzen, deren Mitglieder Ehre es iſt kein Eigen - thum zu haben, keinen Hausſtand, nur gemeinſame Mahle, damit ihnen nicht die eigene Familie, ſondern der Staat das Naͤchſte und Alles ſey.
213. Darum beruht der Staat auf der Staatsauf - ſicht uͤber die Ehen. Und hier ſpricht Platon den Frauen gleiches Weſen und Faͤhigkeit mit den Maͤnnern, nur im geringeren Maaße zu, und ohne in der Gebundenheit ihrer187Blick auf d. Syſtematik d. Staatswiſſenſch.Koͤrper ein Hinderniß zu finden, weist er ihnen maͤnnliche Leibesuͤbungen und maͤnnliche Erziehung an und die Kriegs - und Friedens-Ämter ſind Frauen und Maͤnnern gemeinſam, nur nach Unterſchied der perſoͤnlichen Faͤhig - keit. Da ihm nun der Antrieb zur Vereinigung der Ge - ſchlechter bloß in dem ſinnlichen Reize der Koͤrper beſteht, ſo macht es keine Schwierigkeit auch dadurch die Staats - Oberen uͤber jede Beengung durch Familien-Ruͤckſichten zu erheben, daß in Hinſicht auf ſie eine Gemeinſchaft der Älterlichkeit gegruͤndet wird, vermoͤge welcher weder die Ältern ihr Kind kennen, noch das Kind ſeine Ältern.
Dieſes darf darum keine regelloſe Vermiſchung ſeyn. Die Oberen ſollen die Zahl der Heurathen beſtimmen, mit Ruͤckſicht auf Kriege und Krankheiten, nach dem Grund - ſatze, daß der Staat ſo viel moͤglich niemahls kleiner oder groͤßer an Maͤnnern werde. Die Hochzeiten werden an gewiſſen Feſten feierlich unter weihenden Geſaͤngen began - gen und zwar ſo, daß die Ehegenoſſen ſich einander erlo - ſen, obwohl nur dem Scheine nach, denn die Herrſcher lenken ſo die Looſe, daß die gleich Trefflichen ſich einander zu Theil werden, ſehr geheim indeß, damit ein jeder ſein ſchlechteres Gluͤck dem Looſe beimeſſe, nicht den Oberen. Und die Tapferſten duͤrfen ſich mit mehreren Frauen ver - binden, damit recht viele Tapfere erzeugt werden. Die Kinder dieſer Ehen aber werden gleich nach der Geburt in ein beſonderes Stadt-Viertel, in das Kinderhaus gebracht, wo alle Muͤtter ſich beiſtehen ſie aufzuſaͤugen, ſo daß we - der Vater noch Mutter ihr Kind herauszuerkennen vermoͤ - gen. Kinder ſchlechter Ältern aber, oder in vorgeruͤckten, nicht mehr fuͤr die Zeugung erlaubten Jahren erzeugte, oder gebrechliche, werden gar nicht auferzogen, ſondern aus - geſetzt. Alle Kinder, die zwiſchen dem ſiebenten und dem188Neuntes Capitel.zehnten Monat nach jener Feſthochzeit geboren ſind, werden demnach von allen damahls Verbundenen als gemeinſame Kinder betrachtet und als ſolche weiter erzogen. Mit die - ſen nun duͤrfen ſich die Geſammt-Ältern zwar nicht ver - ehlichen, allein die Geſammt-Kinder, die ſich Bruͤder und Schweſtern nennen, duͤrfen es, wenn Apollon nichts da - wider hat (V, p. 461.).
214. So bringt Platon der Gottheit des Staats die hoͤchſten nur denkbaren Opfer, das Opfer der Familie, des Hausweſens, der individuellen Bildung, und perſoͤnlichen Freiheit, indem uͤber jede menſchliche Anlage von Staats - wegen in Erziehung und Anwendung verfuͤgt wird, der Hauswirthſchaft, der im Reichthum enthaltenen Bildungs - mittel und Genuͤſſe, der freien Bewegung der Kuͤnſte, insbeſondere der Dichtkunſt, er ſcheint ſelbſt einige Natur - geſetze zu opfern, und alles Dieſes, um ein Gemeinwe - ſen zu gruͤnden, welches von irgend einem der allein - Weiſen, welcher widerwillig fuͤr kurze Zeit ſich dazu her - ablaͤſſet, unumſchraͤnkt beherrſcht wird; und außerdem alles Dieſes nicht fuͤr einen Staat der reinen, einfachen allge - meinen Menſchlichkeit, ſondern fuͤr einen Staat von Hel - lenen, denen alle Nicht-Hellenen Gefaͤße der Unehren ſind. Wuͤrde die Gottheit (Apollon), von welcher der Staat ſeine Religion erwarten ſoll, dieſe Mittel fuͤr dieſe Zwecke gutheißen? Steht denn wirklich das Gut-Seyn des Staats hoͤher noch als das Gut-Seyn ſeiner Beſten, da ſie durch Trug (in den Ehe-Looſen), alſo durch einen Abfall vom Guten dieſe hoͤchſte Ausbildung des Staats-Kunſtwerks, welches ſeinen Zweck in ſich ſelber haͤtte, erkaufen ſollen? Waͤre da nicht beſſer ein weniger guter Staat, aber mit beſſeren Bewohnern?
189Blick auf d. Syſtematik d. Staatswiſſenſch.Plato leitet den hiſtoriſchen Staat aus der Beduͤrftig - keit der Menſchen ab, die einander nicht zu entbehren ver - moͤgen (II. p. 369.); die faſt voͤllige Unausfuͤhrbarkeit ſei - nes urbildlichen Staates giebt er ſelber mehrmahls zu. Staͤnde er aber durch ein Wunder ploͤtzlich da, ſo gewaͤhrt er in ſeiner voͤlligen Fertigkeit nur ein Bild zum An - ſchaun, nichts fuͤr das Weiter-Streben, nichts fuͤr die Ver - vollkommnung. Der beſte Staat kann nicht beſſer wer - den, er kann nur vor Verſchlimmerung bewahrt werden.
215. Nichts deſto weniger enthaͤlt Platons Staat die große ethiſche Darſtellung der Wahrheit, daß die Ge - rechtigkeit auch in ihrer raͤumlichſten Erſcheinung (im Staate) nicht darin allein beſtehe, daß uͤberhaupt ein Recht angenommen ſey, ſondern daß das rechte Recht es ſey, daß eine gewiſſe Beſchaffenheit des Rechts nicht fehlen duͤrfe, und zwar eine ſolche, wodurch nicht ein einzelnes Glied des Staats befriedigt wird, ſondern jeder Theil des Volks an die ihm gebuͤhrende Stelle kommt. Die Moral fuͤr ſich betrachtet, verlangt Geſinnung, das Staatsgebot fuͤr ſich betrachtet, verlangt Leiſtung, es darf nicht unterlaſſen wer - den, aber der gute Staat ſchreibt ſolche Leiſtungen vor, welche dem Geſetze der hoͤheren Gerechtigkeit entſprechen und darum eine Gewaͤhrleiſtung ihrer dauernden Erfuͤllung in ſich tragen.
216. Im hohen Alter ſchrieb Platon die zwoͤlf Buͤcher der Geſetze, die er gleichſam fuͤr die Leute vom Schlage der dritten Claſſe beſtimmte, deren Erziehung und Geſetze er fuͤr ſeine zehn Buͤcher vom Staate zu gering achtete. Hier ſchließt er ſich, obwohl an alten Neigungen haftend, mehr den Zuſtaͤnden und der Geſchichte an, verſchmaͤht190Neuntes Capitel.keine Belege, laͤßt nicht die Philoſophen herrſchen, nicht Guͤter und Kinder gemeinſam ſeyn, laͤßt auch das maͤnn - liche Geſchlecht in ſeinem Unterſchiede vom weiblichen be - ſtehen. Die Erziehung der Knaben und die verſchiedenen Obrigkeiten ſind hier ſehr umſtaͤndlich entwickelt.
217. Ariſtoteles ſah eine Welt von Freiſtaaten rings um ſich verſinken, waͤhrend die ungeheure politiſche Kraft des Koͤnigthums ſich laut und lauter verkuͤndigte: Ihm, der in einem beſonderen Werke mehr als anderthalb hundert Staatsverfaſſungen beſchrieb, der in allem Wiſſens - wuͤrdigen zu Hauſe, in dem meiſten Meiſter war, lag es vornehmlich nahe, daß der Menſch nicht uͤberall dasſelbe Neſt baue. Er verwarf den Staat ſeines Lehrers (der faſt unmoͤglich werden und ſchwerlich ſeyn kann), weil ſeine Mittel fuͤr ſeine Zwecke nicht ausreichen, und er dabei bloß die Philoſophen - und die Krieger-Claſſe bedenkt (Pol. II. c. 1. u. 2.). Lieber beobachtet er die hiſtoriſch gegebenen Staaten, vornehmlich den der Spartaner, Kre - ter und Karthager; denn der Roͤmiſche muß ihm doch nicht nahe genug getreten ſeyn, um ſeiner Überlegenheit inne zu werden. Nicht zwar als ob die Zuſtaͤnde allein ihm das Maas der Dinge gaͤben, aber er findet daß die Natur ſelber in den gelungneren Darſtellungen der zum Staat verſammelten Menſchheit ein ſittliches Gleichmaas ſuche und bewaͤhre. Nicht jede Volksanlage aber iſt des beſſeren Staats empfaͤnglich; und kein Staat darf, weder im Begriffe, noch in der Wirklichkeit, als fehlerlos betrach - tet werden. Daß dem ſo ſey, wird ſchon dadurch bezeugt, daß es zur Sclaverei geborene Naturen giebt, wie im All - gemeinen die der Barbaren ſind. Sie ſind geborene Sa - chen und Beſitzthuͤmer und muͤſſen um ihres eigenen Beſtens191Blick auf d. Syſtematik d. Staatswiſſenſch.willen bloß beherrſcht werden. Und ſo kommt es dem Ari - ſtoteles ſo wenig als dem Platon in den Sinn die Recht - maͤſſigkeit eines Verhaͤltniſſes, das ſich eben allenthalben darſtellte, der Entſcheidung eines hoͤheren Geſetzes der Ge - rechtigkeit zu unterwerfen. Die Maͤnner ſind von den Frauen uͤberlegener Natur. Die Frauen ſind nicht Buͤr - ger, ſie bilden einen gewiſſen Mittelſtand zwiſchen Buͤr - gern und Sclaven.
218. Es giebt keinen Ariſtoteliſchen Staat, wie es einen Platoniſchen giebt, nur eine Ariſtoteliſche Staats - lehre. Der Staat war dem Ariſtoteles uranfaͤnglich, aͤlter ſogar als die Familie, darum im ſtrengſten Sinne Natur - gemaͤß. Das Nicht-Staatsweſen iſt entweder aus Unver - moͤgen ein Thier, oder aus Unbeduͤrftigkeit ein Gott. Aber wie der Werth der Naturen verſchieden, ſo auch der Staa - ten. Eine Staatsform zwar iſt abſolut verwerflich, die Tyrannis, weil ſie allein ſich ſelber zum Zwecke macht, nicht das Wohl der Gehorchenden; alle anderen koͤnnen beziehungsweiſe gut ſeyn. Sie ſind aber um ſo viel beſ - ſer, wenn ſie nicht bloß auf die Erhaltung des Staats, was die naͤchſte Sorge ſeyn muß, ſondern ſo viel als moͤglich zugleich auf des Volks Begluͤckung geſtellt ſind, die von der niedern Luſt zu unterſcheiden iſt. Zu dieſem Ende kommt es nur darauf an, daß das herrſche, was in jedem Staate das Beſte iſt, denn dann findet die wahre Ariſtokratie ſtatt, mag auch die Zahl der Herrſcher verſchieden ſeyn, ein Einzelner herrſchen als der Beſte, oder mehrere als die Beſten oder das Gute ſo gleichmaͤßig ver - theilt ſeyn, daß der groͤßere Theil des Volks, weil in ihm ſelber das Beſte enthalten, ſich ſelber Geſetze giebt. Dar - um iſt in dieſem hoͤheren Sinne ſowohl das Koͤnigthum192Neuntes Capitel.Ariſtokratie (denn nothwendig muß ja der Beſte im Staate nicht vertrieben, nicht getoͤdtet, auch nicht beherrſcht werden, ſondern herrſchen) als die gewoͤhnlich ſo geheißene Ariſtokra - tie; die trefflichſte Form der Ariſtokratie aber und darum vor - zugsweiſe Politeia zu heißen waͤre freilich die dritte, welche ein ſich ſelbſt regierendes Volk darſtellt. Sie verſpricht am meiſten Begluͤckung, und die Naturanlage der Griechen, Muth und Einſicht vereinigend, ſcheint fuͤr dieſe beſte Verfaſſung vorzugsweiſe geeignet (VII, 6.); aber ſelten wird der groͤßere Theil des Volks ſich als den Beſten an - gehoͤrig verhalten. Das Koͤnigthum entſpricht am meiſten der Erhaltung; aber freilich das unumſchraͤnkte Koͤnigthum (παμβασιλεία) ſetzt eine ſchlechte Volksnatur voraus, ſo auch iſt auf das Erbkoͤnigthum wenig zu bauen, da oft dem guten Vater ein ſchlechter Sohn folgt, und uͤberhaupt, wenn das Volk aus Gleichen und einander Ähnlichen be - ſteht, iſt das Koͤnigthum nicht raͤthlich, da es gegen die Natur, daß ein Theil uͤber das Ganze herrſche. Nur ein Geſchlecht, beſſer als alle uͤbrigen im Volk, iſt zum Koͤnig - thum berufen.
219. Nun aber neigt die menſchliche Natur fortwaͤh - rend zu Überſchreitungen hin, welche jene drei Gattungen der Ariſtokratie zwar der aͤußeren Form nach darſtellen, aber das Weſen iſt verloren. Denn das Beſte herrſcht nicht in ihnen und ſie ſorgen wol etwa fuͤr einen Theil des Volks - Wohles, aber nicht fuͤr das Ganze. Als ſolche Ausartung tritt dem Koͤnigthum die Tyrannis, der Ariſtokratie die Oligarchie, der Politeia die Demokratie entgegen. Fragt es ſich daher nach der fuͤr die meiſten Staaten im Allge - meinen geeignetſten Verfaſſung, ſo iſt das diejenige, welche dem Vermoͤgen die Macht giebt, die ariſtokratiſchen und193Blick auf d. Syſtematik d. Staatswiſſenſch.die demokratiſchen Principe auszugleichen. Ariſtoteles nennt dieſe Verfaſſung welche er den Menſchen, wie ſie einmahl ſind, empfiehlt, Timokratie von der Vermoͤgensſchaͤtzung, waͤhrend die Timokratie des Platon das Trachten nach Ehre im Kriege zum Grunde hat und durch einen Ab - fall der Krieger von ſeiner beſten Verfaſſung entſteht. Die Timokratie des Ariſtoteles, welche er ausfuͤhrlich in ſeiner Ethik (VIII, c. 10.) darlegt, iſt nichts anders als eine leich - ter ausfuͤhrbare Form ſeiner Politeia.
In allen ſonſtigen Einrichtungen wird der Naturgrund geſchuͤtzt. Keine Erſchuͤtterung der Familie, keine bloße Staatswirthſchaft (wobei gegen Platons Guͤtergemein - ſchaft erinnert wird, daß ſie zwar einige Übel hinwegnehme, aber bei weitem mehr Gutes, und uͤberhaupt nicht moͤglich ſey), ſondern eine Hauswirthſchaft, ſo daß der Mann er - wirbt, die Frau erhaͤlt.
220. Nehmen wir Alles zuſammen, Ariſtoteles bietet uns einen urbaren Boden der Politik dar, den wir wohl fortbauen moͤgen, nur daß wir an die Stelle des harten Hellenenthums die Chriſtliche Menſchen-Liebe und Men - ſchen-Achtung ſetzen, und zwar nicht bloß als humane Theorie, zur Weide des Gemuͤths, ſondern auch ihren Entwickelungen im Staate ſtets getreu bleiben, und dabei das vorwaltende Element in unſerm heutigen Staaten - Weſen, das Koͤnigthum, gruͤndlicher zu begreifen trachten als Ariſtoteles es vermochte, der dem Koͤnige ſogar Auf - ſeher beiordnet (III, 11, 15. VII, 14.).
221. Das Chriſtenthum erſchuf eine ganz neue Welt - betrachtung, indem es die Voͤlker aller Staaten zu Bruͤ - dern berief. Das konnte nur aus einer großen Innerlich -13194Neuntes Capitel.keit der Anſicht kommen, welche, von keiner Verſchieden -[artigkeit] der Erſcheinungen uͤber das Beduͤrfniß der Gattung irregefuͤhrt, jedem Glaubensgenoſſen unermuͤdet das gemeinſame Ziel fuͤr Hier und fuͤr Jenſeits entgegen - hielt. Der Einzel-Staat trat nothwendig auf eine tiefere Stufe, ſeit Millionen in der Anſchauung eines Menſch - heits-Staates lebten. Der Staat konnte nicht mehr im Ariſtoteliſchen Sinne Architektonik ſeyn.
222. Dazu die große Gemeinſamkeit des Natur-Stam - mes der nun chriſtlichen Voͤlker und in den, ſobald groͤßere Reichsbildungen ein klareres Bewußtſeyn des Staats er - zeugten, fertig daſtehenden Lehnſtaͤnden eine ſolche Gebun - denheit der großen Schichten der Bevoͤlkerung, wie ſie nur irgend da geweſen ſeyn konnte wo Eupatriden und die hohen Rhamnes herrſchten. Eine compacte Ariſtokratie der Geſchlechter mit ſtarkem Druck nach unten; dennoch fan - den die widerſtrebenden Volks-Elemente, aus denen der Franken Reich zuſammenkam, ſiegende Deutſche und be - ſiegte theils Gallier, theils ebenfalls Deutſche allein im Bau des Lehnsſyſtems ihre endliche Verbruͤderung. Vaſal - lenthum mochte den Thron erſchuͤttern, aber der Sturz des Throns haͤtte das Lehn mit ſich fortgeriſſen.
223. Die Kirche war Trotz des (Roͤmiſchen) Staates entſtanden und gewachſen; ſie lehrte leidenden Gehorſam gegen den Staat. Einfach zu leiſten war dieſer; religioͤſe Demuth, damahls in Fuͤlle vorhanden, reichte aus. Schwer und verwickelt ward erſt die Aufgabe, ſeit das Chriſten - thum uͤberall in den Staaten des Welttheils durchge - drungen war, als ſeine Geiſtlichkeit allenthalben erſter Reichsſtand war, und es ſich nun fragte, welches Gebiet195Blick auf d. Syſtematik d. Staatswiſſenſch.der Kirchengewalt im Staate gebuͤhre. Weit ſchwerer als Unrecht dulden iſt das Maas ſeiner Rechte halten.
224. So gewaltig aber der Kampf einer ihr Ziel uͤber - ſpringenden Kirchen-Herrſchaft gegen den halb trotzig, halb verzagt widerſtrebenden weltlichen Arm die Staaten des Welttheils bewegte, die Gewiſſen der Unterthanen verwir - rend, ſo war der Ausgang doch faſt gehaltlos zu nennen gegen die ſtillen Siege, die das Chriſtenthum inzwiſchen im innern Leben der Bevoͤlkerungen feierte. Es entſchied ſich mehr und mehr dem Grundſatze nach (wie zoͤgernd auch in der Vollfuͤhrung), daß keine Menſchen-Opfer laͤnger dem Staats-Goͤtzen gebracht werden duͤrfen; die Sclave - rei ward, ſo weit die Religion ihrer Herr werden kann, abgethan; das Strafrecht erhielt eine ſittlichere Begruͤn - dung; es ward in der chriſtlichen Freiheit ein lebendiges Menſchenrecht, das den Menſchen von Gottes wegen ge - buͤhrt, geheiligt; in der chriſtlichen Geſinnung lag die Si - cherheit, daß ſie, die immer mit der eigenen Pruͤfung an - faͤngt, ſich nicht uͤber die weltliche Ordnung erhebe.
225. Es lag nicht allein daran, daß bloß der geiſt - liche Stand nachdenklich lebte und Buͤcher ſchrieb, es lag unmittelbar in den Thaten dieſer umgeſtaltenden Religion, daß der Staat faſt nur von der kirchlichen Seite ergriffen, Staatsweisheit aber unter der Form der Fuͤrſten-Bildung gelehrt ward. So mit einigen Byzantinern Thomas von Aquino, Vinzenz von Beauvais; ſo auch der gelehrte Abt Engelbert von Admont. Die Staatslehrer des Alterthums handeln ſtets am ausfuͤhrlichſten von der Erziehung des Staatsvolks; allein in den Tagen der Chriſtenheit ſtand die Volksbildung in ihren leitenden Ideen durch die heili -13*196Neuntes Capitel.gen Schriften feſt und ſie lag in den Haͤnden der Geiſt - lichkeit. Was der Staat einheitlich vollbrachte, ſchien im Fuͤrſten enthalten.
226. Von aͤußeren Erfolgen ſolcher ſtillen Bemuͤhun - gen um den Staat im Sinne ſeines Standes zur Menſch - heit bemerkte ſich freilich auf der Oberflaͤche des Lebens wenig. Die Stimme des Tags, der den Staat, wie er vorliegt, thaͤtig zu behandeln und ſeine Zwecke zu foͤrdern hat, toͤnt zu laut in der Geſchichte. Seit indeß die Re - formation die feinſten Fragen praktiſch gemacht hatte, ſo entſcheidend daß ſeitdem vergeblich alles Bemuͤhn iſt ſie ins Myſterium zuruͤckzuſpinnen, ſtellte ſich neben den Schrift - ſtellern, welche den Staat der aͤußeren Erfolge, der Staͤrke der Herrſchaft, daher des Reichthums wollten, die lange Reihe derjenigen auf, die nicht muͤde wurden das in chriſtli - cher Zeit doppelt ſchwierige Verhaͤltniß des Individuums zum Staate zu eroͤrtern, welches ſich in der Frage ausſpricht: Wie ſoll Sittlichkeit mit dem Recht, das innere Geſetz der Freiheit mit dem aͤußeren des Zwangs beſtehen? wer von beiden ſoll nachgeben ohne doch ſich aufzugeben? iſt in die - ſer Gebrechlichkeit der menſchlichen Dinge eine Verſoͤhnung uͤberhaupt nur moͤglich?
227. Den unfruchtbarſten Pfad ſchlugen wohl dieje - nigen ein, welche in Form der Alten ohne den Boden der Alten ein Ideal des Staats in die Luft zu malen ſuch - ten, mochte es nun Utopia oder Oceana heißen. Die wilden Monarchomachen aber durchſchnitten mit Schwert und Dolch den Knoten, den ſie nicht zu loͤſen wußten. Beſonders unhold ſteht Mariana’s Jeſuitiſche Volks-Souveraͤnitaͤt da, die den tyranniſchen Koͤnig zu Gericht und Hinrichtung197Blick auf d. Syſtematik d. Staatswiſſenſch.verdammt, zumahl im Vergleiche mit den Juriſten und Theologen Wittenbergs, welche ſich mit der glimpflichen Entſcheidung begnuͤgten, dem Kaiſer ſey in Glaubens - Sachen nicht zu gehorchen.
228. Wie kundig und gruͤndlich man ſich auch um Machiavelli bemuͤhe, immer bleibt feſt, daß “dem Spinoſa der Politik” (Stahl) das Tuͤchtige fuͤr das Gute gegolten, das Schwache fuͤr das Boͤſe; daher er auch kei - nen Anſtand nahm, den Staat nach Weiſe der Alten, als hoͤchſtes Ziel zu ſetzen, und zugleich als die Urſache, daß uͤberhaupt von gut und recht und ihren Gegenſaͤtzen die Rede iſt. Die hoͤchſte Eigenſchaft des Staates aber iſt ſeine Macht, deren Urſache nicht in der Privatwohl - farth, ſondern in der allgemeinen Wohlfarth ruht. Außer - dem verſtimmt ihn der Anblick der ſchlaffer gewordenen Volksbande und der ſo ſchwer ins Rechte zu ſtellenden Kirchenmacht, gegen das Chriſtenthum. Die Verderbniſſe des Pabſtthums, welches er als den eigentlichen Grund der politiſchen Schwaͤche Italiens betrachtet, hofft er durch ein gewaltiges Tyrannenthum zu beſiegen, Italien wiederherzuſtellen, und alle ſeine vaterlaͤndiſchen Hoffnun - gen begleiten einen Caͤſar Borgia. Hinterher moͤgen dann auf dem durch Trug und Gewalt geglaͤtteten Boden der Ordnung auch Sitte und Froͤmmigkeit ſich anbauen und zur wahren Freiheit fuͤhren. An Machiavell mag man die Schwachherzigkeit verlernen, welche die Staats-Bahn durchweg im Geleiſe des Zuſchnitts der Privatrechte feſt - halten moͤchte, aber ſeine Lehre iſt Umwaͤlzung, gewiſſe Verſchlimmerung ſeiner ſelbſt und Anderer im rechten Kerne des Weſens um eines zweifelhaften aͤußerlichen Erfolges willen, der thoͤricht nun auf dieſelben Tugenden Rechnung198Neuntes Capitel.macht, die er im Keime zertreten hat 1). Jean Bodin ſchilt den Machiavell ohne ſeinem Genie zu huldigen; er hat von den Alten gelernt, daß nicht die Staatsform, ſon - dern die Lage der Staatsgewalten uͤber die Wirkung einer Verfaſſung entſcheidet; ſchon die Untheilbarkeit der hoͤchſten Gewalt aber beſtimmt ihn fuͤr die Monarchie. Sein Werk uͤber den Staat hat nichts von der erſchuͤtternden Gedan - kenkraft Machiavells, iſt nicht begeiſternd, aber lehrreich iſt er, ungeachtet mancher Unzuverlaͤſſigkeit in den Thatſachen, voll Sinns fuͤr die hiſtoriſche Verſchiedenartigkeit der menſchlichen Zuſtaͤnde, auch reich an volkswirthſchaftlichen Notizen, die er freilich noch reicher in einem fruͤher erſchie - nenen Werke ausgeſtreut hat 2).
229. Hobbes, ſo ſtarr ſein Weſen, erinnert doch in gewiſſer Weiſe an Machiavell, denn er iſt entſchieden das Product ſeines Lebensganges, iſt in ſich fertig wie jener und in ſeinem Syſtem politiſcher Verzweiflung gegen alle Folgerungen geſtaͤhlt. Wer ihm ſeine erſte Erfindung, ſei - nen Naturzuſtand zugiebt, in welchem jeder Recht hatte zu dem was er vermochte, und dann zweitens die naͤchſte Folge, die graͤnzenloſe Furcht zugiebt, die, um ſich aus dieſem Kriege Aller gegen Alle zu retten, einen Staats-Vertrag unter allen Einzelnen zu Stande brachte, in welchem dieſe auf allen Eigen-Willen fuͤr alle Zukunft in die Haͤnde der Regierung verzichten, der iſt auch allen ſpaͤteren Folgerungen unterthan. Boͤſe iſt dann wirklich was das poſitive Geſetz verbietet, gut was es zu - laͤßt oder gebietet. Dieſelbe Bewandniß hat es mit jeder Wahrheit in der Wiſſenſchaft und im Glauben. Darum iſt es gar nicht einmahl moͤglich, daß die Regierung irren oder Unrecht thun koͤnnte, ſie, die ſelbſt der Gottheit darin vorangeht, daß dieſer keine Gewalt uͤbertragen iſt. Es liegt in der Natur der Sache, daß des Hobbes Lehren Republikanern wie Milten, Harrington und Sidney200Neuntes Capitel.ein Graͤuel waren, aber er gewann fuͤr ſein Syſtem nicht einmahl bei dem Sohne des ungluͤcklichen Stuart Ver - trauen. Wie viel bequemer ruhten unumſchraͤnkte Neigun - gen bei einem Filmer und einem Wandalin aus! Wenn ſchon Adam als Koͤnig Adam der Erſte Jahrhun - derte lang unumſchraͤnkt uͤber das ganze Menſchengeſchlecht geherrſcht hat, wenn der Fuͤrſten Seelen an ſich beſſer begabt ſind, wie bereits Kaiſer Karl IV. behauptete, als er ſeinen ſtets unmuͤndigen Wenzel den Fuͤrſten des Reichs empfahl, und wenn nun vollends jedes gekroͤnte Haupt durch die innerlich charakteriſirende Salbung in unmittelbare Ge - meinſchaft mit der Gottheit tritt, ſo iſt die Unumſchraͤnkt - heit der Koͤnige Sache der Religion. Die Unumſchraͤnkt - heit, welche Hobbes lehrt, koͤnnte ja auch einer republika - niſchen Regierung zu Gute kommen.
230. So viel menſchlicher ausgeſtattet Locke daſteht als Hobbes und ſo ſehr man ſeinem Werke die friſche Empfindung des ſeltenſten Gluͤckes anſieht — Vermehrung der Freiheit als unmittelbare Folge einer Staatsumwaͤl - zung —, ſo iſt doch ſein Staat nicht minder auf einer Fiction gebaut, und ſtellt weder die, von ihm zuerſt im Sinne neuer Staatsordnung getheilten, Staatsgewalten in ein richtiges Verhaͤltniß zu einander, noch weiß er die wichtigſten Fragen, welche einer inneren Loͤſung vertraut ſeyn wollen, anders als rein aͤußerlich d. h. factiſch zu be - antworten. Seinen Naturſtand laͤßt er auf Naturgeſetzen, deren Quelle die Vernunft iſt, beruhen und ſtattet ihn mit ſo viel angenehmer Freiheit und Gleichheit aus, daß man nicht recht begreift, warum die Menſchheit freiwillig von ihm ſcheidet, um nach dem freien Willen der Gemeinde die Staatsgewalt zu gruͤnden. Da die Einzelnen freiwillig201Blick auf d. Syſtematik d. Staatswiſſenſch.zugetreten ſind, ſo koͤnnen ſie auch freiwillig wieder aus - treten. Inzwiſchen beſteht auch innerhalb des Staates ein Recht der Einzelnen, welches der Staat nicht antaſten oder der Antaſtung preißgeben darf; es iſt das Recht des Eigenthums, welches durch Arbeit erworben wird, alſo niemandem zu Leide, da jedermann zu arbeiten freiſteht. Nur darf es nicht gebrauchlos aufgehaͤuft werden, eine Beſchraͤnkung, die freilich dem Eigenthume wieder Gefahr droht, gar nicht davon zu reden, daß Locke ſelber, ſchlech - ter bewandert in der Staatswirthſchaft als Hobbes, die moͤglichſte Anhaͤufung von Gold und Silber anempfiehlt. Der Staat iſt gleichwohl da, um das Eigenthum zu ſchuͤtzen; er gewaͤhrt dieſen Schutz durch die vollziehende Gewalt, welche ihre Macht vom Volke hat, das durch die geſetzgebende Gewalt vertreten wird. Die voll - ziehende Gewalt darf einen Antheil an der Geſetzgebung haben, handelt aber nach den Vorſchriften der geſetzgeben - den Gewalt, welche in unveraͤnderlichen, alle Unterthanen gleichmaͤßig angehenden Geſetzen niedergelegt ſind. Vor Allem keine Steuer, ohne Einwilligung der Geſetzgeber. Gerathen Koͤnig und Geſetzgeber in Streit, ſo entſcheidet das Volk, ein Volk, welches Locke nur unter der Form von gleichberechtigten Einzelnen zu betrachten liebt, und welche freilich ſo aufgeſtellt am beſten die noͤthige Wache halten, daß nicht die Geſetzgebung in die Hand der Voll - ziehung falle, waͤre nur dieſe Maſſe eben ſo leicht gegen ſich ſelbſt geſchuͤtzt. Da man indeß von ſeinem Rechte auch nicht Gebrauch machen kann, ſo wird das oberauf - ſehende Volk auch warten koͤnnen, bis die ordentlichen Staatsgewalten ihre Pflicht erkannt haben, ſich wieder zu vertragen. Nur muß, damit zu ſolcher Maͤßigung Hoff - nung ſey, der geſunde Sinn lehren, daß es ſich im Staate202Neuntes Capitel.nicht von einem Kunſtwerke handelt, bei dem man an die Vollendung eines Theils billig das Ganze wagt, ſondern von einem organiſchen Koͤrper, der ſeine Krankheiten da - durch beſteht, daß die geſunden Theile uͤberwiegen. Der - geſtalt hat England, dem Manne gern vertrauend, der fuͤr die Sache der Freiheit auch edel zu leiden verſtanden hatte, ſich das freiheitliche Element aus Lockes Theorie bewun - dernd angeeignet, und ſich durch ſeinen Familien-Sinn, durch die ſittliche Kraft ſeines gediegenen Mittelſtandes, durch den Tact der Einſicht, der das Ganze durchdringt, vor der Anwendung der Corrective bewahrt, auf die ſeine Buͤrger ſtolz ſind, die aber ins Leben uͤbergetragen, einen alles verſchlingenden Abgrund unter ihnen oͤffnen wuͤrden.
231. Nun geſchah’s, daß, von einem durch Despotie und Anarchie unter wachſendem Sitten-Verderb der Vor - nehmen bis zur Aufloͤſung entarteten Staate aus, Mon - tesquieu den großen Geiſt, welcher in der Engliſchen Verfaſſung lebt, erkannte und es wagte den politiſchen Feind ſeines Vaterlandes als Muſter der Freiheit aufzu - ſtellen. Er ſah klar genug in Sitte und Recht, um, wenn er gewollt, nachweiſen zu koͤnnen, daß Locke zwar die frei - heitlichen Verfaſſungs-Formen, durchaus aber nicht den tie - feren Grund enthuͤllt, warum es mit ihrer Arbeit in Eng - land ſo wohl gelingt. Aber Montesquieu war durch ver - derbtes Koͤnigthum und Prieſterthum und mancherlei Mo - deſatzung gegen die tiefſinnigen und wahrhaft menſchlichen Grundlagen der neueren Staatenbildung verſtimmt, durch Verhaͤltniſſe zur Ironie eingeengt, und ohnehin, ſeiner ſel - tenen Talente froh, dem Glanze eines neuen Syſtems mehr geneigt. Die Alten und England ſind die Quellen, aus welchen Montesquieu ſchoͤpft. Er ſtellt drei Verfaſſun -203Blick auf d. Syſtematik d. Staatswiſſenſch.gen auf: Republik, Monarchie, Despotie, ver - wirft aber die letztere, weil ſie willkuͤhrlich iſt, die Furcht zum Princip hat. Das Princip der Monarchie aber iſt die Ehre. Die Republik bietet zwei Formen, Demokra - tie und Ariſtokratie, die erſtere hat die Tugend, die an - dere die Maͤßigung zum Princip. Dergeſtalt wird der alte Irrthum, daß die Zahl der Herrſcher uͤber den Geiſt der Verfaſſungen entſcheide, wieder hervorgeſucht; die Demo - kratie erhaͤlt natuͤrlich im Halb-Stillen den Preis, da doch bei der groͤßten Tugend der Bevoͤlkerung, kein wahrhaft ſelbſtaͤndiger Staat unſers Welttheils demokratiſch regiert wer - den kann. Er ſelber verkennt indeſſen nicht, daß Republiken klein ſeyn muͤſſen, daß die Voͤlker ſich ihre Rechte am beſten durch Stellvertretung ſichern. Auch nimmt er ſich wohl in Acht, ſeine drei, den Alten abgeborgten, Staats - gewalten, geſetzgebende, richterliche und vollziehende ſo zu ſondern, daß ſie abſolut geſchieden waͤren. Montesquieus Darſtellung waͤre reiner geblieben, wenn er vom Chriſten - thum gaͤnzlich abgeſehen haͤtte. Jetzt muß der Katholicis - mus monarchiſch, der Proteſtantismus republikaniſch ſeyn, worin ein vielfacher Irrthum ſteckt. Wie viel einfacher ſteht David Hume da, der ſich unverſtellt als Zweifler gegen das Chriſtenthum verhielt; darum eben naͤhert er ſich ohne Scheu den wichtigſten Wahrheiten der Chriſtlichen Zeit. Er will feſtgehalten wiſſen an der Sitte der Gattung als der Quelle des eigentlichen Rechts, und nicht mit der Sitte der Einzelnen zu ver - mengen. Darum darf ſich die Maſſe der Einzelnen am allerwenigſten als berechtigt zur Umwaͤlzung der Re - gierung darſtellen; beſſer ſelbſt die Tyranney. Am wuͤn - ſchenswertheſten, wenn es ſich machen laͤßt, zur Ver - hinderung ſolcher aͤußerſten Faͤlle, ein erblicher Fuͤrſt,204Neuntes Capitel.ein Adel ohne Lehnsrechte, ein das Volk vertretender Koͤrper.
232. Darf man ſo Humen preiſen, daß er die Ge - brechen des Lockiſchen Syſtems gluͤcklich an der Hand der Erfahrung vermied, ſo ſtellt dagegen der Buͤrger von Genf die Humiſche Sitte der Gattung als ein Recht der Gattung auf und erhebt dasſelbe zum Sitze einer unver - aͤußerlichen Souveraͤnitaͤt. Auf die Nothbruͤcke, welche Locke fuͤr den aͤußerſten Fall geſchlagen hat, baut Rouſ - ſeau den ganzen Staat. Er geht, wie man ſeit Hobbes pflegte, von einem Naturſtande aus, der ihm ungeſellig erſcheint, und aus demſelben durch einen freien Vertrag, aͤhnlich dem des Locke, in die buͤrgerliche Geſellſchaft uͤber, die aber dem Rouſſeau keineswegs als ein Zuſtand der Vervollkommnung ſich darſtellt. Dieſer ungluͤcklicherweiſe nun einmahl noͤthige Vertrag hat, wie bei Locke, den Schutz des Eigenthums zum Zwecke. Der Vertrag wird aber keineswegs geſchloſſen zwiſchen einer Regierung, die man in Vorausſetzung der definitiven Übereinkunft vorlaͤufig ſchon anerkennt, und einem Volke, welches ſich bedin - gungsweiſe regieren zu laſſen bereit iſt, ſondern lediglich unter den Mitgliedern des Volks ſelber, die demnaͤchſt eine Regierung zur Ausfuͤhrung des Vertrags anſtellen und in - ſtruiren werden. Er iſt das Reſultat einer freiwilligen Übereinkunft aller von Natur gleichen Mitglieder des Volks, die ihren Einzel-Willen (volonté de tous) fuͤr die Zu - kunft dem allgemeinen Willen (volonté générale) unter - werfen. Das Volk iſt und bleibt im Beſitze nicht bloß der hoͤchſten, ſondern aller unabhaͤngigen Staatsgewalt (souverain). Es uͤbt die Geſetzgebung unmittelbar in Volksverſammlungen, deren unvermeidliche Unfoͤrmlichkeit205Blick auf d. Syſtematik d. Staatswiſſenſch.in großen Staaten durch Foͤderationen kleinerer Volksge - meinden zu ermaͤßigen iſt. Doch misfallen große Staa - ten dem Genfer uͤberhaupt. Ich verlange, ſpricht er, kleine Staaten. Niemahls aber koͤnnen Erwaͤhlte des Volks das Volk repraͤſentiren; die Freiheit der Englaͤnder iſt daher ein bloßes Blendwerk; hoͤchſtens commiſſariſch koͤnnen ſolche Deputirte verfahren, und was ſie beſchließen, bleibt ſtets der Beſtaͤtigung der ſouveraͤnen Volksverſamm - lung unterworfen. Nun iſt zwar außer ihr eine Regie - rung noͤthig, da das Volk in doppelter Geſtalt ſich dar - ſtellt, als Ganzes und dann als ſelbſtregierender Souve - raͤn, und als eine Menge vieler Einzelnen und dann als Unterthan, mithin der Regierung beduͤrftig. Inzwiſchen tritt auch dieſe Regierung ſelbſt dem Einzelnen gegenuͤber nicht an die Stelle des Souveraͤns, der aus ſich ſelbſt die Gewalt nimmt; ſie iſt bloß commiſſariſch, mit nicht ſo - wohl uͤbertragener als bloß geliehener Gewalt, mithin durch Kuͤndigung auch ohne weiteres vom Souveraͤn wieder zu entfernen (destituer). Da nicht Alle zugleich regieren koͤn - nen, ſo iſt es gut, wenn es wenige thun, am beſten ein Einziger, nur darf er nicht erblich berechtigt ſeyn.
233. Der Gedanke an Volks-Souveraͤnitaͤt iſt wohl uralt. Es liegt ſo nahe anzunehmen, daß das Volk, um deſſen willen regiert wird, das Recht habe die Regie - rung zu aͤndern, die ihm nicht mehr zuſagt; es iſt klar, daß es die Macht dazu hat und es iſt oft geſchehen. Außer - dem glaubt der Einzelne gar leicht, daß die innere Unab - haͤngigkeit, welcher er ſich als Vernunftweſen ruͤhmt, ihm auch ein Recht auf Unabhaͤngigkeit nach Außen gebe und wenn er inne wird, dem ſey nicht ſo, glaubt er doch, wenn Recht nur goͤlte, muͤßte dem ſo ſeyn. Zur Doctrin aber206Neuntes Capitel.iſt der Gedanke zuerſt von den Jeſuiten ausgebildet, welche das geiſtliche Regiment des Pabſtes unmittelbar von Gott leiteten und eben darum alle weltliche Herrſchaft nur mit - telbar. Im Allgemeinen nehmlich ſey Regierung von Gott, denn ſie folgt aus der Natur der Menſchheit und kommt mithin von dem, der dieſe Natur gemacht hat; allein die beſondere Form der Regierung ſey darum nicht von Gott und auf dieſe der Spruch des Paulus an die Roͤmer nicht zu beziehen. “Das goͤttliche Recht hat keinem beſondern Menſchen dieſe Gewalt verliehen, mithin hat es dieſelbe der Menge verliehen, darum gehoͤrt die Gewalt der ganzen Menge an.” Auch bewahren die Jeſuiten ſich ſchlau vor der ſpaͤter von Hobbes dennoch gebrauchten Annahme, daß dieſe Gewalt der Menge, die ja doch nicht ſelber herrſchen kann, durch den Act der Herrſchafts-Übertragung verloren gegangen ſey. “Es iſt nicht denkbar, daß die Buͤrger ſich ihrer Macht ganz berauben, ſich nicht den groͤßeren Theil haben vorbehalten wollen.” 1) Eben dieſes Weges ſucht Locke ſeinen Pfad und Rouſſeau macht gar die gewoͤhnliche Landſtraße daraus, die er allem Volk zu ziehn raͤth. Will man nun das Volks-Souveraͤnitaͤt nennen, daß das Volk am Ende mit ſeinem Wohle Zweck aller Regierung bleibt, daß eine ihrem Zwecke beharrlich widerſtrebende Re - gierung dem Untergange verfallen iſt, daß das Recht zu regieren nie rein-privatrechtlich ein jus quaesitum werden kann, ſo iſt nichts gegen den Sinn der Sache ein - zuwenden, nur daß die Benennung ihn verdunkelt; allein dem Volk im Gegenſatze gegen ſeine Regierung, dem von Regierung verlaſſenen, an ſeiner Einheit verſtuͤmmelten Volk die Souveraͤnitaͤt beilegen, wie Rouſſeau thut, iſt ein verderblicher Irrthum, der die Krankheit zur Geſund - heit und jede Rotte verfaſſungsmaͤßig zum Herrn der Re -207Blick auf d. Syſtematik d. Staatswiſſenſch.gierung macht. Darum iſt auch bei Rouſſeau ſtets nur von den Einzelnen die Frage, daß von denen ja niemand fehle bei der kuͤnſtlichen Zuſammenſetzung des Geſammt - willens, und dennoch geſteht er ſelber zu, daß Einſtim - migkeit ſich nicht finden laſſe und alle Entſcheidung nach Stimmenmehrheit bloß ein Werk der Convention ſey.
234. Rouſſeau’s Princip ſchmeichelt den ſelbſtaͤndigen Neigungen der Menſchen durch ein Minimum des Staats - Zwanges. Daher der ſtuͤrmiſche Beifall. Niemand dem nicht Unabhaͤngigkeit gefiele, waͤre ſie nur ausfuͤhrbar ohne die Zerſtoͤrung noch wichtigerer Zwecke, die gerade in der Nicht-Unabhaͤngigkeit beruhen. Ohne Zweifel lag es den Nordamericaniſchen Freiſtaaten nahe, einfach zu erklaͤren, daß ſie ſich einer fuͤr Soͤhne Englands nicht mehr ertraͤg - lichen, dazu misbrauchten, Oberaufſicht von Seiten des Mutterlands entzogen haben; ſtatt deſſen huben ſie irr - thuͤmlich von der urſpruͤnglichen Gleichheit der Menſchen und den unveraͤußerlichen Rechten derſelben ihre Unabhaͤn - gigkeits-Erklaͤrung vom 4. Jul. 1776. an, zu deren Mit - unterſchrift ſie freilich ihre Neger nicht einluden. Was das ganze Ereigniß angeht, vergeſſe man nicht, daß es der alte Chatham war, der ſchon im Januar 1766 das Wort ſprach: “ich freue mich, daß America widerſtand”. Aber es iſt immer eine andere Sache eine Umwaͤlzung rechtfer - tigen, indem man ihr den Anſchein der Widerherſtellung208Neuntes Capitel.einer bloß geſtoͤrten urſpruͤnglichen Ordnung giebt, als das Princip der Umwaͤlzung zu einem ſtetig wirkenden im Staate machen, und wieder ein Anderes das in den Con - ſtitutionen von einzelnen neuen Freiſtaaten in America thun, die denn doch durch eine nicht vom einzelnen Staate ab - haͤngige Unionsverfaſſung zuſammengehalten werden, als es in den uralten Bau einer großen Europaͤiſchen Monarchie einfuͤhren. Als die Franzoͤſiſche Revolution ausbrach, wur - den zwar auch in England die Überzeugungen heftig er - ſchuͤttert, und jene große parlamentariſche Nacht vom 11 - 12. Febr. 1791, welche Maͤnner wie Burke und Fox fuͤr immer trennte, gab zum Voraus zu erkennen, welch eine endloſe Zerruͤttung folgen werde, wenn das Fuͤr und Wi - der ſo tiefſinniger Fragen an ungeuͤbte Voͤlker und in die Haͤnde von Staatsmaͤnnern des mittleren Schlages kaͤme. Denn die Wunde im Brittiſchen Gemeinweſen ſahen ſie Beide, und weder kam dem Einen ein goͤttliches Recht der Herrſcher auf ungeſtoͤrte Fortpflanzung ſchlechter Staats - einrichtungen in den Sinn, noch dem Andern ein goͤttliches Recht des Volks die Regierung zu deſtituiren. Es han - delte ſich um beſtimmte praktiſche Veraͤnderungen, ob ſie uͤberhaupt Verbeſſerungen waͤren und ob fuͤr jetzt ihre Aus - fuͤhrung nuͤtzlich. Denn es iſt ein Glaube, eben ſo alt als irrig, man duͤrfe in bedrohten Zeiten nichts veraͤndern. Man muß aber dann aͤndern, wenn mangelhafte Einrich - tungen die Urſache dieſer Bedrohung ſind.
235. Die Lafayettiſchen Menſchenrechte ſind darum hauptſaͤchlich ſo widerſinnig, weil ſie mit jeder Verfaſſung unzufrieden machen. Statt von den nothwendigen Opfern auszugehen, welche gebracht werden muͤſſen, damit aus dem Staatsvereine die ſchoͤnen Fruͤchte des Geſammtwohls209Blick auf d. Syſtematik d. Staatswiſſenſch.und der Einzelbildung erwachſen, fuͤhrt man ein langes Gefolge von Freiheits - und Gleichheits-Rechten auf, die der Menſchheit opferloſes unveraͤußerliches Eigenthum von jeher geweſen ſeyn ſollen und bleiben muͤſſen, — und von denen ſich doch am Ende in der Urkunde ſelber bloß einige Truͤmmer finden. Haͤtte die National-Verſammlung nicht bloß das Staatsrecht veraͤndern wollen, ſondern auch ins Privatrecht eingreifen, die Äcker gleich vertheilen, den Rei - chen zwingen ſich mit der Quote zu begnuͤgen, die bei der allgemeinen Auftheilung an ihn zuruͤckfallen wird, den Beſitzer mehrerer Haͤuſer ſich auf eins zu beſchraͤnken, ſo waren die Menſchenrechte ganz in der Ordnung. Wie es aber nun ſtand, der Arme arm blieb und ungeehrt, der Vermoͤgende fortzahlte, fragte ſich die Nation gleich dem Plutus des Ariſtophanes: “Wie mach’ ich s, daß ich der Macht, die ich wie du ſagſt beſitze, wirklich Herr werde?” und da ſich an den Menſchenrechten nicht zweifeln ließ, ſo mußte die Schuld an ihrer mangelhaften Einfuͤhrung in die Conſtitution liegen. Man legte Alles der Beibehaltung des Koͤnigthums zur Laſt und vergeblich vertheidigte La - fayette als ehrlicher Mann ſeine Verfaſſung. Die Krone fiel. Was war damit geholfen? An die Spitze der re - publicaniſchen Conſtitution ſetzte man noch ſtolzere Men - ſchenrechte, man war abermahls unbefriedigt und da die Menſchenrechte laͤngſt den Ausdruck gelaͤufig gemacht hat - ten: “das Geſetz kann nicht”, ſtatt daß man fruͤher ſagte: “das Geſetz ſoll nicht”, ſo uͤbte man, ſobald ein Geſetz dennoch that was es nicht konnte, das conſtitu - tionelle Recht ihm als bloß anmaaßlichem Geſetze den Ge - horſam zu verweigern, ſtatt auf dem geſetzlichen Wege die Aufhebung deſſelben zu bewirken. Die Theorie des Unge - horſams war fertig.
14210Neuntes Capitel.236. Hoffe man aber nicht dieſelbe durch Theorieen des blinden Gehorſams zu uͤberwinden. Schlimm wenn dieſe von Privatleuten, verderblich wenn ſie vvn Regierun - gen ausgehen. Was Brandes, Rehberg, was der noch nicht feile Gentz gegen den Geiſt der Franzoͤſiſchen Revolution erinnerten, athmete nichts von dieſer Art und hinterließ eben darum einen tiefen und wohlthaͤtigen Ein - druck. Dagegen haben Bonald, Le Maiſtre, Adam Muͤller, Friedrich Schlegel, Haller das Terrain, welches ſie den flachen politiſchen Freigeiſtern gluͤcklich ab - ſtritten, alsbald dadurch wieder eingebuͤßt, daß ſie die Geſchichte da abſchloſſen wo ſie ihnen unbequem ward und ihren Staat auf der Wiederherſtellung von Ver - haͤltniſſen bauten, welche bei dem beſten Willen ſchon darum unwiederherſtellbar ſind, weil auf beſſere Erkenntniß nicht willkuͤhrlich verzichtet werden kann, ſelbſt wenn ſie die Zuſtaͤnde gefaͤhrlich erſchuͤttert haben ſollte. Man mag die unſaͤgliche Weitſchweifigkeit des Hallerſchen Werkes dem Ernſte dieſer Production zu Gute halten, mag ihn billig loben, daß er die Chimaͤre des urſpruͤnglichen Staatsver - trages vernichtet und die ſeit Kant herrſchend gewordene Idee, als ſeyen die Staaten bloß um des Rechtsgeſetzes willen gegruͤndet, ebenfalls verwirft als in der bloßen Phantaſie der Juriſten entſprungen, die ihr poſitives Ge - ſetz fuͤr das groͤßeſte Weltbeduͤrfniß halten; loben, daß er das reiche Nebeneinander der Entwickelungen des Mittel - alters mit Liebe auffaßt und dieſen friſchen Wald den grad - linigten Grundriſſen der modernen Theoretiker gegenuͤber - ſtellt. Allein ſein Patrimonial-Staat giebt doch auch vom Mittelalter nur ein hoͤchſt einſeitiges Bild. In keine Zeit will die Darſtellung ganz paſſen, daß der Staat nur aus einem ungeheuren Aggregat von Privatrechten beſtehe, ver -211Blick auf d. Syſtematik d. Staatswiſſenſch.moͤge welcher jeder im Volke herrſcht, welcher maͤchtig iſt und ſchuͤtzt und auch der Fuͤrſt bloß aus Privatrecht re - giert, und lediglich ſeine eigene Sache beſorgt, wenn er es thut, nur dadurch ſich unterſcheidend, daß er zugleich unabhaͤngig iſt. Dieſer Anſicht laͤßt ſich eine gewiſſe Farbe geben, ſo lange der Fuͤrſt den Regierungsaufwand bloß aus eigenen Mitteln beſtreitet, ſowie aber die Steuerwirth - ſchaft ihren Anfang nimmt, was doch recht fruͤhe geſchieht, verbleicht ſie. Darum wird auch Englands Daſeyn, als ein politiſch unerlaubtes, gaͤnzlich in den Winkel geſtellt und der widerſprechenden Geſchichte ins Antlitz behauptet, daß die Landſtaͤnde von jeher bloß zum Rathfragen gedient haͤtten. Das waͤre nun wohl kein Fortſchritt zu nennen, wenn dem Trachten der Jakobiner, jedes Privatrecht durch ein liberales Staatsrecht zu vernichten, die Lehre gegen - uͤbertraͤte, alles vermeinte Staatsrecht ſey bloß eine Ver - ſchlingung von Privatrechten. Aber Haller vermag ein - mahl nicht zu ſehen, daß nicht Vorwitz und Unchriſten - thum, ſondern der ganz natuͤrliche Gang der Menſchen - bildung ſeit Jahrhunderten eine ſcharfe Sonderung von Staats - und Privatrechten einleitet und den verſchie - denen Claſſen der Bevoͤlkerung eine ganz veraͤnderte und gleichere Stellung gegen einander und nicht minder ihrer Geſammtheit eine veraͤnderte Stellung der Regierung ge - genuͤber gegeben hat. Waͤre denn aber das Revolution, wenn das Zeitalter dieſe uͤberlieferte, nicht willkuͤhrlich von ihr hervorgerufene Ordnung nach ihren wahren Bedin - gungen zu erforſchen und weiter durchzubilden trachtet, um nach den herben Fruͤchten auch die ſuͤßen zu ko - ſten? Darum darf auch die neuere Legitimitaͤts-Lehre (wir kommen weiter unten wohl dahin) den Stuͤtzen des Hallerſchen Syſtems nicht allzuſehr vertrauen; die aͤchte14*212Neuntes Capitel.laͤngſt ausgebildete Rechtmaͤßigkeits-Lehre bedarf ihrer ohnehin nicht.
237. Fuͤr die Staatsfragen der Gegenwart wird die Philoſophie nicht viel mehr thun koͤnnen als die Haupt - ſache, daß ſie Sittlichkeit und Recht in einem viel hoͤhe - ren Daſeyn als dem menſchlichen zu begruͤnden fortfaͤhrt. Der Politik bleibt die wuͤrdige Aufgabe, mit einem durch die Vergleichung der Zeitalter geſtaͤrkten Blicke die noth - wendigen Neubildungen von den Neuerungen zu unterſchei - den, welche unerſaͤttlich ſeys der Muthwille ſeys der Un - muth erſinnt. Die Lage der realen Volks-Elemente iſt aber dieſe. Faſt uͤberall im Welttheile bildet ein weitver - breiteter, ſtets an Gleichartigkeit wachſender Mittelſtand den Kern der Bevoͤlkerung; er hat das Wiſſen der alten Geiſtlichkeit, das Vermoͤgen des alten Adels zugleich mit ſeinen Waffen in ſich aufgenommen. Ihn hat jede Re - gierung vornehmlich zu beachten, denn in ihm ruht ge - genwaͤrtig der Schwerpunkt des Staates, der ganze Koͤr - per folgt ſeiner Bewegung. Will dieſer Mittelſtand ſich als Maſſe geltend machen, ſo hat er die Macht, die ein jeder hat, ſich ſelber umzubringen, ſich in einen Bildungs - und Vermoͤgens-loſen Poͤbel zu verwandeln. Strebt er einſichtig nach ſchuͤtzenden Einrichtungen, ſo moͤgen ſeine Mitglieder bedenken, daß nichts ſchuͤtzt als was uͤber uns ſteht, als was feſtſteht, erhaben uͤber dem wechſelnden Willen der Einzelnen, als was zugleich beſchraͤnkt. Laſſen ſeine Mitglieder der gemeſſenen Fortbildung Raum, ſo kommt es in Betracht des Endreſultats wenig darauf an, ob dieſe emſiger auf den Wegen der Verwaltung oder der Verfaſſung vorſchreitet; denn beide bilden keine Parallelen, es kommt der Punkt,213Blick auf d. Syſtematik d. Staatswiſſenſch.auf welchem ſie unfehlbar zuſammenlaufen, um nicht wieder auseinander zu weichen. Mithin wird der Zuſtand der oͤffentlichen und Privat-Sitte allein entſcheiden, ob eine Freiheitsentwickelung ſtatthaben wird. Die Fertigkeit, die aͤlteſten Suͤnden auf die neueſte Art zu thun, iſt die Kunſt nicht, die zum Ziele fuͤhrt.
238. Das Verfaſſungsgeſetz bildet die Regel ab, welche, im Staatsganzen waltend, die Gemeinſamkeit des Volks - Daſeyns immer inniger begruͤnden ſoll. Dieſe große Ge - meinſamkeit iſt indeß weder im Raume erkennbar, noch zu aller Zeit im Bewußtſeyn der Bevoͤlkerung gegenwaͤrtig Denn dieſe verbringt ein zertrenntes Leben in einer Fuͤlle kleinerer Geſammtheiten, die leicht ſichtbar neben einander im Raume hervortreten, laͤngſt befeſtigte Kreiſe des Da - ſeyns, lebendige gern ſelbſtaͤndige Ordnungen zuſammen - gewachſener Familien und Berufe, die doch nicht ganz ſelbſtaͤndig ſeyn duͤrfen, und in welchen es nun gilt, die hoͤchſte Regel, die zum Ganzen leitet, verwaltend feſtzu - ſtellen; nicht etwa, daß man aufzuloͤſen trachte was Gott, Natur und die Geſellſchaft mannigfaltig geſchaffen haben; eben ſo leicht moͤchte man die menſchlichen Individuen an den Verſuch wagen, einen einzigen Volksmenſchen aus215Von den Gemeinden.ihnen darzuſtellen; ſondern daß man die Art des Gan - zen in ſie einfuͤhre, ſo daß theils ſie ſelber dazu thun, theils von oben dazu angewieſen werden. Das Ganze iſt allein im Koͤnige bildlich ſichtbar, ſonſt Gemeinde bei Ge - meinde und Behoͤrden darin, die einen mit doppeltem Le - ben, drinnen und draußen, zugleich die Staatszwecke der Gemeinde erfuͤllend, die andern bloß der Gemeinde ge - widmet. Da ein ſelbſtaͤndiges Leben ſoweit es die hoͤhere Regel erlaubt, in jedem Kreiſe gefuͤhrt werden ſoll, ſo folgt, daß die Regierung durchweg oberaufſehend uͤber dem Gemeindeleben ſteht.
239. Es gab eine Zeit bei den Deutſchen und viel - leicht in jedem Volk, da die Gemeinde in den Staͤmmen wohnte; hier der Schutz der Familien und Geſchlechter; der Stamm, durchaus nicht immer aus blutsverwandten Haͤuſern beſtehend, machte faſt den Staat aus. Es war ſo wenig noth, daß die Stammgenoſſen immer beiſammen wohnten, als daß ein Heer ſtets beiſammen lagert; man fand ſich, wenn es darauf ankam. Niemahls zwar war, ſeit man vererbliche Äcker baute, das Zuſammenwohnen von Perſonen und Sachen gleichguͤltig, allein der poli - tiſche Gehalt fehlte noch dieſen Verhaͤltniſſen; aber eine an - dere Zeit kam, da das nachbarliche Band ſchon uͤberwog — denn der Menſch vollbringt ſein gebildeteres Leben in einem ſehr engen Raume —, die Stammgemeinde vor der Ortsgemeinde zuruͤcktrat. Indeß giebt es bis auf dieſen Tag Geſchlechter, die ſich der unbedingten Herrſchaft der Ortsgemeinde entziehen.
240. Wie die Familie in den Geſchlechts-Linien und zuletzt im Stammverbande ihre Sicherheit zu Hauſe und216Zehntes Capitel.vor Gerichte fand, ſo die Orts-Gemeinde in den Ge - meindeverbaͤnden. Manches Dorf, mancher Verband mark - genoſſiſcher Doͤrfer und Bauerſchaften gehoͤrte dazu, bis man an den Gau kam, aber in dieſem war denn auch faſt Alles enthalten, was den Staat jetzt ausmacht. Gauen fuͤhrten ſogar Krieg unter ſich und mit Gauen eines an - dern Volks. Im Gau-Staate lebte man eilf Monathe im Jahre, der Volks-Staat that ſeine großen Schlaͤge im Maͤrz oder May.
241. Als von Gauen laͤngſt nicht mehr die Rede, lebte der autonome Charakter des Gemeindeweſens in den Staͤd - ten fort; denn bis zum eigenen Ortsrecht, Zoll, Maas und Gewicht und Muͤnze fuͤr ſich brachte es denn doch der ad - liche Grundherr nicht. Der Staat drang nicht tief in die Staͤdte ein, bis daß die Staatsregierungen vielbeduͤrftig wurden und nun machtvollkommen, beſoldete Kriegsmann - ſchaft im Ruͤcken, allenthalben hineinſchauen wollten, wo es Geld und Gut gaͤbe. Der dreißigjaͤhrige Krieg und das gewaltthaͤtige Zeitalter, welches ihm folgte, hat mit den Landesverfaſſungen zugleich die meiſten Deutſchen Staͤdte - verfaſſungen zerruͤttet, die Gemeinderechte theils an den Staat uͤbertragen theils in die unrechten Haͤnde niederge - legt. Aber der Tag der Pruͤfung blieb nicht aus, da man inne ward, es ſey das Volk an Kraft und Muth verſtuͤm - melt, ſeit man es in ſeinen wichtigſten Gliedmaaßen, den Gemeinden, ſchwach gemacht, daher das allgemeine Unge - ſchick gefaͤhrlichen Zeitlaͤuften zu begegnen, denn wem man ſeine naͤchſten Geſchaͤfte, die er taͤglich vor Augen ſieht, ab - genommen hat, der muß groͤßeren Sorgen unterliegen. Vielleicht war die Lage der ſtaͤdtiſchen Commuͤnen nirgend unſicherer als in Preußen, wenn wir Preußiſchen Schrift -217Von den Gemeinden.ſtellern ſelber folgen. Die hoͤchſte Abhaͤngigkeit von der Provincialbehoͤrde, der man vergeblich verbriefte Rechte ent - gegenhielt, und die Magiſtrate, haͤufig Fremdlinge der Stadt, entſchaͤdigten ſich fuͤr den Druck den ſie erlitten, durch denjenigen, den ſie ausuͤbten. Preußen aber that einen Schritt, wie man willenskraͤftiger ihn nicht thun kann, in faſt hoffnungsloſer Lage; die Schlacht von Jena war nur die aͤußere Darſtellung der tiefen inneren Entzweiung, welche durch alle Staͤnde ſeines Volks ging; es wollte in - nerlich geneſen, um den aͤußeren Feind beſtehen zu koͤnnen. Der Freiherr vom Stein iſt, indem er hier den Grund zu Preußens Rettung legte, in tieferem Sinne als Koͤnig Heinrich, der bloß Feſtungen bauen konnte, der Staͤdteer - bauer von Deutſchland geworden.
Der Deutſche Staatenbund zaͤhlt auf ſeinen 11,800 □ Meilen 2,395 Staͤdte, das will ſagen, mehr Staͤdte als irgend ein Reich Eu - ropas. Frankreich hat auf 10,096 □ M. nur 1,600 Staͤdte, Großbritannien deren 980 auf 5,554 □ M. vgl.Reichard, Anſichten und Unterſuchungen ꝛc. ꝛc. der ſtaͤdtiſchen Verfaſſungen in Deutſchland. Leipz. 1830. S. 19. ein uͤberhaupt lehrrei - ches Buch.
242. Es kam aber nicht bloß darauf an Rechte zu - ruͤckzuſtellen, es galt ebenfalls, dem Staate was ihm ge - buͤhrte zu bewahren. Man ſage was man wolle, es kam auf einen Neubau an; die ſchwer errungene Einheit der hoͤchſten Gewalten durfte zum Beſten der wiederherzuſtel - lenden Gemeinden nicht ruͤckgaͤngig gemacht werden. Zum Weſen jeder Gemeinde gehoͤrt eine gewiſſe Summe ge - meinſamer Zwecke, fuͤr welche man die Mittel ſuchen will, zum Weſen der Ortsgemeinde, daß die Gemeindeangelegen - heiten ſich auf ein gewiſſes Gebiet beziehen, zum Weſen der politiſchen Gemeinde, daß ſie vom Staate in dem218Zehntes Capitel.was ſie iſt und hat anerkannt ſey. Hiemit gewinnt ſie zu - gleich den Charakter einer ihren Mitgliedern uͤberlegenen hoͤher geſtellten Perſoͤnlichkeit, gegen deren Fortbeſtand kein Beſchluß der Einzelnen, welche die Activa etwa auftheilen und davongehn moͤchten, entſcheiden kann; das Gemeinde - vermoͤgen gehoͤrt Gemeindezwecken an, und nur uͤber die Fruͤchte, nicht uͤber den Stamm des Baums duͤrfen die jetzt Lebenden verfuͤgen. Dergeſtalt ſchuͤtzt der Staat die unſterbliche Gemeinde, indem er die vergaͤnglich lebende be - ſchraͤnkt. Die innere Einrichtung aber geht nothwendig vom Unterſchiede der Land - und der Stadt-Gemeinden, des einfachen und des zuſammengeſetzten Daſeyns aus. Denn die Staͤdte ſind die Augen und Ohren des Staats - gebietes, ihre dichte Bevoͤlkerung, in den mannigfachſten Berufsweiſen verkoͤrpert, deren Innungen nicht bloß uͤber die Stadt, auch uͤber den Staat hinausgehen koͤnnen, giebt, zufrieden oder unzufrieden, den Ausſchlag; hier wenn irgendwo iſt oͤffentliche Meinung; ſie ſind als Reſi - denzen die Sitze der hoͤchſten Macht, ſie die Mittelpunkte des kriegeriſchen Widerſtandes, der Wiſſenſchaft, des kunſt - fleißigen Verkehrs, welcher das Vermoͤgen der laͤndlichen Betriebſamkeit zum Reichthum ſteigert. Hier kommt es auf die Stellung der Stadt zum Staate, noch mehr aber auf die Vertheilung der Gemeinderechte unter den Mit - gliedern der ſtaͤdtiſchen Gemeinde an. Staͤdte koͤnnen wie in Ungern große Reichstags-Freiheiten haben und doch die einzelnen Buͤrger fuͤr nichts geachtet ſeyn. Wenn Ma - giſtrats-Rechte Stadtrechte waͤren, ſo waͤre es mit den meiſten Staͤdten von England wohl beſtellt, allein die Buͤr - gerſchaft nimmt wenigen oder gar keinen Theil an der Verwaltung; daher die alte Klage, und jetzt die Arbeit an ihrer Beſeitigung.
219Von den Gemeinden.Eine große Ausnahme bildete gewiß der Zuſtand in Belgien:‘“Dans les villes, dans les châtellenies et dans les moindres villages des Pays-Bas, on annonce, tous les ans, soit par convocation, ou par publication aux prônes dans les paroisses, soit par des affiches, le jour et l’heure où les comptes so rendent. Ils se lisent à haute voix, à portes ouvertes, se coulent et s’apostillent en présence des magistrats, gens de loi, des représentans de la bourgeoisie dans les villes, des principaux adhérités, domiciliés et notables dans les villages. Il y a même des villes où l’on ne peut procéder à la clôtu - re des comptes, qu’après avoir interpellé les représentans d’opiner si le compte est à clôtures sur le pied proposé, ou pas. So in einem Extrait d’un rapport de la Jointe des ad - ministrations et des affaires des subsides, adressé aux gou - verneurs-généraux le 7 Décembr. 1784. ſ.’ (Précis du regimo municipal de la Belgique avant 1794. par L. P. Gachard, archiviste du royaume. Bruxelles Déc. 1834. p. 120.)
243. Zu der Zeit als das Deutſche Reich unterging, war der Zuſtand des ſtaͤdtiſchen Weſens auf Deutſchem Bo - den im Allgemeinen dieſer: Wo die Staatsregierung oder, noch ſchlimmer, wo irgend eine untergeordnete Grundherr - ſchaft (Mediat -, Vaſallen-Staͤdte) noch ſtaͤdtiſche Freihei - ten, vielleicht nur deren Truͤmmer uͤbrig gelaſſen hatte, da lagen ſie in der Regel in den Haͤnden eines ſich ſelbſt er - gaͤnzenden Stadtrathes, an welcher Cooptation man die Vererbung der Grundſaͤtze preiſen mag, aber ſchwerlich die Grundſaͤtze, zumahl wenn er, wie das in Leipzig und Dresden der Fall, von aller Rechenſchaft wegen des Haushalts durch landesherrliche Privilegien befreit war. Überall hatte der Magiſtrat den Sieg uͤber die gewerbli - chen Corporationen errungen; inſofern aber dieſen eine Mitwirkung noch zuſtand, geſchah ſolche in der Regel durch lebenslaͤngliche meiſt wohl belohnte Buͤrger-Deputirte, mit220Zehntes Capitel.Rechtsgelehrten als Conſulenten zur Seite; die Buͤrger - ſchaft war zufrieden wenn ihr Nahrungsſtand nicht ver - ſchlechtert ward, Zunft gegen Zunft in herkoͤmmlicher Tren - nung der Betriebsarten, vornehmlich aber in der Aus - ſchließlichkeit des Betriebs gegen Schutzverwandte geſchuͤtzt ward, die zur buͤrgerlichen Nahrung nicht berechtigt. Die große Umgeſtaltung, mit welcher Preußen im Jahre 1808 hervortrat, beruhte auf einem doppelten Grunde, einem erklaͤrten politiſchen: Wiederherſtellung ſelbſtaͤndiger Ge - meinden 1), und einem noch in der Vorbereitung begriffe - nen volkswirthſchaftlichen: die Theilung der Arbeit ſollte ihre Macht in Preußen entfalten; die Zuͤnfte ſollten nicht bloß als politiſche, auch als gewerbliche Corporationen, inſoweit ſie der Arbeit hinderlich ſind, auf die Seite tre - ten. Hierin lag die Anerkennung von zwei großen Wen - depunkten der Zeit, und es lag hierin nothwendig vor der Hand mehr Aufloͤſung als Wiedergeburt; allein es ſteht eben hier auch die Wiege des Zollvereins, was denen ge - ſagt ſey, die den Stein des Preußiſchen Anſtoßes (τετϱά - γωνος ἄνευ ψόγου) gern in einen Nebenweg waͤlzen moͤch - ten. Zwar laͤßt ſich das Eine ohne das Andere haben. Frankreich hat in der Revolution ſeine Innungen abge - ſchafft, Gewerbfreiheit eingefuͤhrt und behalten, als ſeine junge Gemeindefreiheit laͤngſt der Centralgewalt zum Opfer gefallen war. In Frankreich hob das Geſetz vom 18. Dec. 1789 die alten Stadtverfaſſungen, die ſo ſehr wie nur irgend in Deutſchland aus einander gingen, auf, und ſetzte uniforme gleichberechtigte Municipalitaͤten an die Stelle, deren Mitglieder von den Commuͤnen gewaͤhlt wurden. Die Aufhebung der Zuͤnfte, im Princip laͤngſt ausgeſprochen, folgte am 17. Maͤrz 1791 nach. Allein gleich die erſte Zeit der Republik war den freien Communen nicht hold;221Von den Gemeinden.man nannte ſie die Schlupfwinkel der Royaliſten, die Heerde des Widerſtandes gegen die alldurchdringende Kraft der Freiheit, und verfuͤgte derzeit ſchon mit der aͤußerſten Willkuͤhr uͤber das Gemeindevermoͤgen, und als darauf die Directorial-Verfaſſung kam, warf dieſe faſt alle Selbſtaͤn - digkeit der Gemeinden uͤber den Haufen, denn jetzt waren es die Terroriſten, die in den Gemeinden niſten ſollten. Es war das gerade um dieſelbe Zeit, da Kaiſer Paul von Rußland terroriſtiſch alle Staͤdte in ſeinem Reiche, die ihm nicht gefielen, aufhob und ſie Marktflecken zu nennen befahl. Die letzten Stoͤße hat Napoleon als Conſul und Kaiſer gegeben. Von nun an ſtand ein Praͤfect unter ſtrenger Controle ſeines Miniſters der Departemental-Verwaltung vor; ein Unterpraͤfect der Bezirksverwaltung, mit dem dop - pelten Gewichte der Verantwortlichkeit gegen Praͤfect und Miniſter belaſtet, beaufſichtigte wieder die Gemeinden, de - ren jede ihren Maire hat, der auf fuͤnf Jahre angeſtellt iſt. Keine von dieſen drei Behoͤrden durfte aus der Gemeinde ſelber hervorgehen, der Miniſter ernannte ſie, mit Aus - nahme der Maires in den kleineren Gemeinden, welche der Praͤfect zu ernennen hatte, wie nicht minder die Mitglieder des Gemeinderaths. Und wo der Praͤfect er - nannte, da durfte er auch entſetzen, eben wie er ſelber mit ſeinem Rathe, der Unterpraͤfect mit dem ſeinen der Entſetzung durch den Miniſter unterworfen war. Alle drei Verwaltungsraͤthe waren eben nichts anders als was ihr Vorſtand ſie wollte gelten laſſen, ohne alle collegialiſche Bedeutung, ſelbſt Sachen des Haushalts nicht ausgenom - men; ſie waren dem Staate fuͤr die Ausfuͤhrung der Re - gierungsbefehle unentbehrlich, aber keinen einzigen Gemein - dezweck ſicherzuſtellen im Stande. Darum auch konnte es hinreichen, wenn der Gemeinderath ſich nur einmahl im222Zehntes Capitel.Jahre unter Vorſitz des Maire auf vierzehn Tage verſam - melte. Die Folge von dem Allen war, daß den Behoͤrden ihr Verwaltungskreis wenig, Alles die Gunſt des Vorge - ſetzten bedeutete, die nicht durch Gemeindedienſte (Wirth - ſchaftlichkeit, Sorge fuͤr Schulen, Hospitaͤler, Wege), ſon - dern nur durch Staatsdienſte (Eifer fuͤr die Conſcription und, ſeit der Reſtauration, Einmiſchung in die Deputir - ten-Wahlen) zu erlangen war. Dem irgend darin Saͤu - migen, dem laͤßigen Beobachter des Windes, der aus der Hauptſtadt wehte, brachte der naͤchſte Telegraph ſeine Ent - ſetzung. Hievon zuruͤckzulenken und den rechten Platz zu finden, wo Verfaſſung und Verwaltung einander begegnen moͤgen, war zwar in den Tagen der Reſtauration ein oft auf - genommener Gedanke, aber auch die Reſtauration verfolgte zu viele kleine Zwecke, um fuͤr die großen Muße zu haben, und das wohlmeinende und einſichtige Martignacſche Miniſte - rium ſcheiterte an der Hitze der Partheiung bei dem viel zu ſpaͤt unternommenen Verſuche. Das ſeit der neuen Um - waͤlzung erreichte neue Municipalgeſetz vom 21. Maͤrz 1831 hat nun zwar eine weſentliche Verbeſſerung wenigſtens in ſofern bewirkt, als jetzt in den Staͤdten, welche allein das Geſetz angeht, die Gemeinderaͤthe nicht mehr von der Re - gierung, ſondern von den hochbeſteuerten Mitgliedern der Gemeinde und zwar mit Zuziehung der ſonſtigen Notabi - litaͤten der Stadt (Mitglieder der Gerichte, Friedensrich - ter, Verwalter der gelehrten Schulen, der Hospitaͤler ꝛc. ) ſelbſt ernannt werden und der Koͤnig oder der Praͤfect aus der Zahl der Gemeinderaͤthe den Maire ernennt; indeß iſt in dieſer Richtung von den heutigen Franzoſen ohnehin nicht viel zu lernen und die gaͤnzliche Beſeitigung der Reſte Napo - leoniſcher mit zu vieler Vorliebe aufgenommener Organi - ſationen dieſer Art (Anhalt-Koͤthen 1811. Naſſau 1816. 223Von den Gemeinden.Großherzogthum Heſſen 1821.) wird im Deutſchen Volke kein Bedauern erwecken. Preußens Ziel war einfach: die Staͤdte ſollen ſelbſtaͤndig, aber nicht wie vor Alters Staat im Staate ſeyn. Darum ſollen ſie wieder erhalten, wo man ihnen dieſen genommen hat, ihren Haushalt, ſollen abgeben was des Staates iſt, Polizey und Juſtiz; ihr Gemeinweſen ſoll nicht laͤnger von unabhaͤngigen Corpora - tionen mit lebenslaͤnglichen faſt erblichen Mitgliedern, aber auch nicht von Staatsbeamten, es ſoll von Gemeindebe - amten, von wechſelnden Behoͤrden, deren Wahl von der Buͤrgerſchaft ausgeht, verwaltet werden. Die Abſicht war, der Staͤdteordnung eine Organiſation der Landgemeinden folgen zu laſſen, wozu die nothwendigen Vorſchritte durch das Geſetz vom 9. Oct. 1807 geſchehen waren, welches die freie Wahl des Gewerbes und die Aufloͤſung der Guts - unterthaͤnigkeit verkuͤndigt 2); den Schlußſtein ſollten die Reichsſtaͤnde bilden. Indeſſen ward man wie die Jahre weiter gingen, und aͤußere Gefahr entfernt ſchien, an dem großen, und wer wollte es laͤugnen? allzeit gewagten Un - ternehmen irre, deſſen Ausfuͤhrung Preußen einen entſchie - denen, des erſten proteſtantiſchen Staates der Chriſtenheit wuͤrdigen Stand zwiſchen den aus Grundſatz unumſchraͤnk - ten Regierungen und den durch[Umwaͤlzung] erneuten Staaten gegeben haben wuͤrde. Es liegt aber in den Le - bensbahnen der Staaten eine gewiſſe Nothwendigkeit.
244. Die Staͤdte-Ordnung vom 19. November 1808 leidet an dem Gebrechen, welches man gewoͤhnlich nur den Verfaſſungsurkunden vorwirft, ihre Beſtimmungen ſind nicht ſelten zu allgemein, ſie ſchneiden dann und wann theoretiſch in das Leben ein und der Faſſung fehlt es manchmahl an Schaͤrfe (z. B. §. 178.). Sie theilt die Staͤdte des Reichs in große, mittlere (von unter 10,000 bis 3,500 Einwohnern) und kleine, beſtimmt nach dieſem Maasſtabe die Zahl der Rathsperſonen, das Verhaͤltniß der gelehrten Mitglieder zu der Mehrzahl der unſtudirten, der beſoldeten zu den unbeſoldeten. Beſoldet werden nur diejenigen, welche ihre meiſte Zeit dem Amte widmen muͤſ - ſen; es wird aber nicht lebenslaͤnglich angeſtellt, ſondern theils auf 6, theils auf 12 Jahre. Wer 12 Jahre fuͤr Beſoldung gedient hat und nicht wieder gewaͤhlt wird, er - haͤlt eine geſetzlich beſtimmte Penſion. Den Rath waͤhlen die Stadtverordneten, ſo, daß alle zwei Jahre der Abgang ergaͤnzt wird; die Provinzial-Behoͤrde beſtaͤtigt. In den großen Staͤdten, wo neben dem Buͤrgemeiſter ein Ober - buͤrgemeiſter ſteht, waͤhlt der Landesherr dieſen aus drei225Von den Gemeinden.Candidaten aus. Der Stadtverordneten ſind mindeſtens 24, hoͤchſtens 102 an der Zahl, davon ⅔ Hausbeſitzer; ſie werden von den ſtimmfaͤhigen Buͤrgern gewaͤhlt d. h. ſolchen Buͤrgern, welche ehrenhaft und je nachdem die Claſſe der Stadt iſt, gewiſſen Einkommens ſind (§. 74.), 150 Thaler reines Einkommen das Minimum; denn da die Corporationen wegfallen, ſo iſt hier ein Cenſus uner - laͤßlich. Die Wahl geſchieht, mit Ausnahme der kleinſten Staͤdte, bezirksweiſe. Waͤhlbar ſind alle ſtimmfaͤhigen Buͤrger. Die Stadtverordneten bleiben drei Jahre im Amte, das ihnen keine Einnahme gewaͤhrt, ein Drittel tritt jaͤhrlich aus. Magiſtrat und Stadtverordnete ſtehen in Summe ſo: der Magiſtrat iſt die ausfuͤhrende Behoͤrde, deſſen Befehlen die Stadtgemeinde zu folgen hat, allein fuͤr die Aufbringung der zu den oͤffentlichen Beduͤrfniſſen der Stadt noͤthigen Geldzuſchuͤſſe, Leiſtungen und Laſten bedarf es der Einwilligung der Stadtverordneten, denen auch die Vertheilung derſelben auf die Buͤrgerſchaft zuſteht. Sie ſind auch in allen Angelegenheiten des Gemeinweſens die Vertreter der Buͤrgergemeinen, und weil alle Zweige der Verwaltung, welche einer dauernden Aufſicht und Con - trole beduͤrfen, dem Magiſtrat nicht fuͤr ſich allein zuſtehen (§. 174. 175. ) ſo werden zu dem Ende Deputationen und Commiſſionen beſtellt, welche aus einer Minoritaͤt von Magiſtratsmitgliedern, der Mehrzahl nach aber aus Stadt - verordneten und Buͤrgern beſtehen. Die Wahl geſchieht von den Stadtverordneten, der Magiſtrat beſtaͤtigt. Fuͤr dieſe Ausſchuͤſſe gehoͤren Kirchen - und Schulſachen, das Armenweſen, die ſtaͤdtiſchen Sicherheitsanſtalten, Bauſa - chen ꝛc., beſonders aber die Kaͤmmereikaſſen. Nach Be - ſchaffenheit des Gegenſtandes nimmt die Polizeybehoͤrde ꝛc. Antheil. Örtliche Statuten, die der allgemeinen Geſetzge -15226Zehntes Capitel.bung nicht widerſprechen, beduͤrfen außer der Übereinſtim - mung des Magiſtrats und der Stadtverordneten in der Regel bloß der Zuſtimmung der Ortspolizeibehoͤrde. Wer - den dadurch beſtehende, hoͤheren Orts genehmigte Anord - nungen abgeaͤndert, ſo kommt die Entſcheidung an die Pro - vinzialbehoͤrde.
245. Im Fortgang der Jahre machte man in Preußen mit der Staͤdte-Ordnung die Erfahrung, die man anderswo mit mancher Verfaſſungs-Urkunde gemacht hat, ſie paſſe nicht uͤberall zu den Zuſtaͤnden. Man fuͤhlte in mancher Stadt das Beduͤrfniß, neben ihr noch ein beſonderes Sta - tut, der oͤrtlichen Eigenthuͤmlichkeit entſprechend, zu beſitzen, man empfand an der oͤfter eintretenden Schwierigkeit, die Magiſtrats-Stellen wuͤrdig zu beſetzen, daß der Stadtrath an ſeinem fruͤheren Übergewicht im erſten Eifer wohl zu ſehr verkuͤrzt und namentlich, inſofern das Amt zugleich einen Nahrungsſtand begruͤndet, wegen des Wechſels zu unſicher geſtellt ſey. Seit der Einfuͤhrung der Gewerbe - freiheit paßte ferner die Beſtimmung nicht mehr “das Buͤr - gerrecht beſtehe in der Befugniß ſtaͤdtiſche Gewerbe zu trei - ben und Grundſtuͤcke im Polizeibezirk der Stadt zu be - ſitzen” (§. 15.); denn dieſe Befugniß war jetzt allgemein, es gab ſeit 1810 keine ausſchließlich ſtaͤdtiſchen Gewerbe mehr, die Thoracciſe war 1818 verſchwunden und ſeit 1820 auch der Unterſchied zwiſchen ſtaͤdtiſchen und laͤndli - chen Steuern. Die Zahl der Stadtverordneten war offen - bar bisher zu groß. Endlich mochten auch manche Sorg - lichkeiten mitwirken, da man dieſes Weges fuͤr jetzt ein - mahl nicht weiter wollte, ob nicht ſchon viel zu viel ge - ſchehen ſey. Waren auch die Zeiten laͤngſt voruͤber, da man in allem Frieden die Staͤdte abſchaͤumte wie Sancho227Von den Gemeinden.die Toͤpfe des Camacho 1), die Orkane unſerer Zeit bre - chen ploͤtzlich ein, und jede Gemeinde, die uͤber ſich hin - ausſieht, und das thut jetzt jede, ſucht gern ihr Schirm - dach, wenn die Gewitterwolken: Wohl des Ganzen und hoͤheres Staatsintereſſe genannt, haͤufiger her - anziehen. Ließ der Widerſtand der Staͤdte ſich berechnen?
246. Zu allem Dieſem kann man in der Revidir - ten Staͤdte-Ordnung vom 17. May 1831 und den da - zu gehoͤrigen Verordnungen die Belege finden.
Jede Stadt ſoll ihr Statut haben; eine eigene Ver - ordnung (Einfuͤhrung der Staͤdte-Ordnung ꝛc. ebenfalls vom 17. May 1831) zeigt ſehr einſichtig, wie dieſes vor - zubereiten ſey. Da die revidirte Staͤdte-Ordnung nicht bloß naͤhere Beſtimmungen, ſondern §. 3. ausnahmsweiſe auch Abweichungen im Statut von der allgemeinen Vorſchrift zugiebt, ſo kaͤme es freilich auf die Kenntniß der einzelnen Statute an, um zu erſehen, ob dergleichen eingetreten ſind und wie tief ſie greifen.
Die erſte Staͤdte-Ordnung hatte dem Magiſtrat die Polizey genommen, nur ihre Koſten der Gemeine gelaſſen;15*228Zehntes Capitel.es kam darauf an, ob der Staat ſie dem Magiſtrat uͤber - tragen wollte; von nun an bleibt ſie in der Regel dem Magiſtrat (meiſt dem Buͤrgermeiſter oder einzelnen Mit - gliedern), aber ſie wird ausgeuͤbt im Namen des Staats und man unterſcheidet ſchaͤrfer zwiſchen dem Magiſtrat als Verwalter der Gemeindeangelegenheiten und dem Magi - ſtrat als Organ der Staatsgewalt (St. O. 1831. §. 34. vgl. 105. 109. 112.).
Man raͤumte dem Magiſtrat ausgedehntere Einſpruchs - rechte gegen Beſchluͤſſe der Stadtverordneten, den Haus - halt betreffend, ein, hob das Übergewicht der Stadtver - ordneten in den Deputationen und Commiſſionen auf und ordnete dieſe dem Magiſtrate unter (§. 107.), gab den Hauptmitgliedern des Magiſtrats, allen beſoldeten, 12 Jahre, lenkte ſogar auf die Lebenslaͤnglichkeit hin, doch ausnahmsweiſe, und wenn außer den beiden Stadtgewal - ten auch die Regierung zuſtimmt.
Alle Einwohner gehoͤren fortan der Stadtgemeine an, allein das Buͤrgerrecht muß von jedem Einwohner perſoͤn - lich erworben werden, und wird nur dem zu Theil, der muͤndig und unbeſcholten und im Beſitze eines gewiſſen Vermoͤgens iſt. Dieſes muß entweder in einem ſtaͤdtiſchen Grundſtuͤcke von mindeſtens 300 Thalern Werth (in groͤße - ren Staͤdten hoͤchſtens 2000) beſtehen, oder in einem ſtaͤd - tiſchen Gewerbe, das 200 (hoͤchſtens 600) Thaler rein ein - bringt, es kann aber auch aus einem ſonſtigen Einkommen von 400 bis 1200 Thaler fließen, wenn zweijaͤhriger Auf - enthalt in der Stadt hinzukommt (§§. 15. 16.). Jeder Buͤrger hat Stimmrecht bei den Gemeindewahlen, ſeine Waͤhlbarkeit indeß liegt in der Regel eine Stufe hoͤher, ſie wird durch groͤßeren Grundbeſitz (von 1000-12000 Thlr.), zum Theil auch durch groͤßeres Einkommen (200 -229Von den Gemeinden.1200 Thlr.) bedingt (§. 56.). Dieſe erhoͤhten Vermoͤgens - ſaͤtze beſchraͤnken die aͤrmere Claſſe auf die Schutzgenoſſen - ſchaft, welche die Laſten theilt, ohne an den Ehrenrechten theilzunehmen; inzwiſchen kann perſoͤnliche Wuͤrdigkeit, durch den uͤbereinſtimmenden Beſchluß des Magiſtrats und der Stadtverordneten bezeugt, in beiden Faͤllen das erſetzen, was dem Vermoͤgen abgeht (§§. 17. 59.).
Die Zahl der Stadtverordneten iſt zum Vortheil be - ſonnener Berathung vermindert; nicht unter 9, nicht uͤber 60 ſollen ſeyn. Grundbeſitz wird nur fuͤr die Haͤlfte mehr bedungen; in großen Staͤdten, in welchen Hausbeſitz ein Nahrungsſtand iſt, duͤrfte die Beſchraͤnkung beſſer ganz wegfallen. Dem Statut ſoll uͤberlaſſen bleiben, ob der Bezirkseintheilung eine andere Eintheilung nach Berufsclaſ - ſen beizuordnen oder an ihre Stelle zu ſetzen iſt (§. 52 ff. ); mit Recht, denn die alten Corporationen ſind nicht deß - halb zur Seite geſchoben, weil man die Schaͤtzung nach Vermoͤgen liebte, ſondern weil ſie nicht mehr haltbar wa - ren und man keine andere vor der Hand an die Stelle zu ſetzen hatte.
Wichtige Beſchraͤnkungen ſind dieſe. Jede bedeutende Veraͤnderung im Beſtande des Stadtvermoͤgens, Gemein - heitstheilungen, Anleihen, Beſteurung der Einwohner, Ver - wandlung von Gemeindevermoͤgen, deſſen Ertrag bisher an Einzelne vertheilt ward, in Kaͤmmereivermoͤgen, iſt von der Genehmigung der Staatsbehoͤrde abhaͤngig gemacht (§. 177 ff.). Wenn in Faͤllen des innern Haushalts die Stadtgewalten ſich nicht einigen koͤnnen, und der Magi - ſtrat das Gemeinwohl gefaͤhrdet glaubt, da tritt auf ſeinen Bericht die Regierung ein, in der Regel zuerſt durch einen Commiſſarius, der dann Magiſtrat und Stadtverordnete verſammelt, auch nach ſeinem Dafuͤrhalten andere achtbare230Zehntes Capitel.Einwohner zuziehen darf und die Einigung verſucht; ge - lingt es nicht damit, ſo kommen die Gutachten der Majo - ritaͤt und der Minoritaͤt an die Regierung, welche dann entſcheidet (§§. 114. 115.). Endlich hat der Buͤrgermeiſter oder Oberbuͤrgemeiſter die Macht erhalten, Beſchluͤſſe des Magiſtrats, welche er fuͤr geſetzwidrig oder gemeinſchaͤdlich haͤlt, zu ſuspendiren (§. 108 b). Dem Vernehmen nach gruͤndet ſich auf dieſen Beſchraͤnkungen und einiger, bei den Provinzialſtaͤnden oͤfter zur Sprache gekommenen Mis - ſtimmung uͤber Eingriffe in die Staͤdte-Ordnung von Seiten der Landraͤthe 1), die entſchiedene Abneigung derje - nigen Staͤdte des Koͤnigreichs, welche im Beſitze der Ord - nung von 1808 ſind, die ihnen dargebotene revidirte und in wichtigen Verhaͤltniſſen augenſcheinlich verbeſſerte anzuneh - men, die bei ihrem Erſcheinen fuͤr die zum provincialſtaͤn - diſchen Verbande der Mark Brandenburg und des Mark - grafthums Niederlauſitz gehoͤrenden Staͤdte beſtimmt war, in welchen die Staͤdte-Ordnung von 1808 nicht einge - fuͤhrt iſt, und ſeitdem außer einigen zu Poſen gehoͤrigen Staͤdten auch in Preußiſch-Sachſen Geſetzeskraft erhalten hat 2), von der Rheinprovinz aber abgelehnt iſt. Wie dem denn aber auch ſey, ſowohl dieſe Abneigung als dieſe Be - ſchraͤnkungen werden verſchieden beurtheilt werden muͤſſen, je nachdem man die Staͤdte-Ordnung als den Theil einer neuen Staatsorganiſation betrachtet, oder als eine Feſtung, die den Staͤdten fuͤr ſich gebaut iſt.
247. Preußens Beiſpiel griff tief ein. Baiern hatte wenig Wochen vor dem Erſcheinen der Preußiſchen Staͤdte -231Von den Gemeinden.Ordnung die Verwaltung des Gemeindevermoͤgens aller ſeiner Staͤdte von uͤber 5000 Seelen an Regierungsbeamte uͤberantwortet, die aus dem Miniſterium des Innern er - nannt wurden. (Edict uͤber das Gemeindeweſen v. 24. Sept. 1808.) Mit ſeiner Gemeinde-Ordnung vom 17. May 1818 trat es in wuͤrdigere Bahnen ein. Noch deut - licher huldigte Wuͤrtemberg (1822) dem in Preußen aufgeſtellten Vorbilde. Beide gleichwohl nicht als blinde Nachahmer. Denn gleich von Anfang her entzogen ſie bloß die Juſtiz dem Magiſtrat, mit der Policey aber be - auftragten ſie ihn als zugleich Regierungsbehoͤrde, mit Ausnahme der Reſidenz und der Univerſitaͤtsſtaͤdte, mach - ten auch von Anfang her den Magiſtrat zum Mittelpunkt des ſtaͤdtiſchen Weſens, waͤhrend es in Preußen, minde - ſtens in der erſten Staͤdte-Ordnung, die Stadtverordne - ten ſind; und von der andern Seite uͤbertrug Wuͤrtem - berg nicht den Stadtverordneten, ſondern der geſammten Buͤrgerſchaft die Wahl des Magiſtrats. Baiern und Wuͤr - temberg ſtimmen uͤbrigens darin uͤberein, daß ſie die Le - benslaͤnglichkeit der Magiſtratsmitglieder (Baiern nur der wichtigeren) beguͤnſtigen. Nach einer Probezeit von 2 oder 3 Jahren geſchieht eine neue Wahl; das zum zweiten Mahle gewaͤhlte Mitglied bleibt Lebenslang im Amte. Baiern gruͤndet den Cenſus der Waͤhlbarkeit zu Gemeinde - Bevollmaͤchtigten auf die hoͤchſte Beſteuerung (§. 76.) 1). Baden kam erſt unterm 31. Dec. 1831 mit ſeinem ſchon 1822 ernſtlich berathenen Geſetze uͤber die Verfaſſung und Verwaltung ſeiner Gemeinden zu Stande. Hier ſteht, wie in Wuͤrtemberg, der Gemeindeverſammlung ſelber die Wahl des Magiſtrats (Gemeinderaths) zu. Den Buͤrgermeiſter beſtaͤtigt die Regierung, iſt aber die Wahl zweimahl nicht beſtaͤtigt, ſo kann bei der dritten Wahl die Beſtaͤtigung232Zehntes Capitel.nicht laͤnger verſagt werden (§. 11.); wir muͤſſen aber was wir in der Staatsverfaſſung verwarfen (ſ. 120.) auch in der Gemeindeverfaſſung misbilligen, zumahl nicht einmahl die Wiederwahl der zweimahl nicht beſtaͤtigten Perſon aus - geſchloſſen iſt. Der Gemeinderath wird auf 6 Jahre (kein Übergang zur Lebenslaͤnglichkeit), der Buͤrgerausſchuß auf de - ren 4 gewaͤhlt. In groͤßeren Staͤdten iſt es geſtattet (§. 40.) einen groͤßeren Ausſchuß zu waͤhlen, der, allzeit oͤffentlich verhandelnd, die Gemeindeverſammlung in der Regel ver - tritt, nur nicht bei Wahlen zum Gemeinderath und zum engeren Ausſchuſſe.
Wie aber ſchon Baiern ſein Syſtem der Wahlcollegien auf die Wahlen der Gemeindebevollmaͤchtigten anwendet, ſo iſt dieſes auch im Koͤnigreiche Sachſen in der Staͤdte - Ordnung vom 2. Febr. 1832 geſchehen. Das Wahlcolle - gium ſoll in der Regel 1 / 20ſtel der Buͤrgerzahl enthalten. Buͤrgermeiſter und beſoldete Rathsherren werden auf Le - benszeit gewaͤhlt. Aber nur in Dresden und Leipzig haben die Stadtverordneten allein den Stadtrath zu waͤhlen, in den uͤbrigen Staͤdten tritt ein groͤßerer Buͤrgerausſchuß hinzu, welcher mindeſtens zweimahl ſo ſtark ſeyn ſoll als die Zahl der Stadtverordneten; dieſer hat auch ſeine Stimme zu Veraͤnderungen im ſtaͤdtiſchen Vermoͤgen zu geben. Iſt er mit dem Magiſtrat einig und bleibt die Subſtanz des Vermoͤgens nebſt ſeinem jaͤhrlichen Ertrage ungeſchmaͤlert, ſo bedarf es der Genehmigung der Regie - rung nicht, und auch wenn es die Abtretung oder Er - werbung von Grundſtuͤcken angeht, iſt dieſe in dem Falle nicht nothwendig, wenn außer dem Einverſtaͤndniſſe des Rathes ſaͤmmtliche Mitglieder des groͤßeren Buͤrgeraus - ſchuſſes dafuͤr ſtimmen (§. 33.). Bemerkenswerth iſt (§. 170.), daß den Stadtverordneten neben dem Drucke ihrer Verhandlungen und Beſchluͤſſe auch die Öffentlichkeit ihrer Sitzungen freigeſtellt iſt, und es werden dieſe dem Vernehmen nach in Leipzig und Dresden wirklich oͤffent - lich gehalten.
Die neue Cur-Heſſiſche Gemeinde-Ordnung (23. Oct. 1834) ſtimmt darin mit der Koͤniglich-Saͤchſi - ſchen uͤberein, daß der Gemeindeausſchuß (Verſammlung der Stadtverordneten) nicht fuͤr ſich allein das Recht hat den Stadtrath zu waͤhlen, ſondern dasſelbe mit einer dop - pelt ſo ſtarken Anzahl außerordentlicher Mitglieder theilt. Die außerordentlichen Mitglieder dienen auch zur Ergaͤn -234Zehntes Capitel.zung der ordentlichen. Die Haͤlfte des Gemeindeausſchuſ - ſes beſteht aus Hochbeſteuerten. Die Buͤrger haben das Wahlrecht, inſofern ſie durch Beruf oder Cenſus wahlfaͤhig ſind; ſie uͤben es in groͤßeren Staͤdten nach Stadttheilen, falls nicht die Statuten eine Eintheilung der Ortsbuͤrger fuͤr dieſes Wahlgeſchaͤft in Claſſen nach der Verſchiedenheit des Beſitzes, der Beſchaͤftigung oder Lebensweiſe feſtſtel - len (§. 45.). Beide, Rath und Ausſchuß, werden auf 5 Jahre gewaͤhlt, ebenſo der Buͤrgermeiſter, der jedoch mit landesherrlicher Genehmigung auch auf Lebenszeit gewaͤhlt werden kann.
Im Koͤnigreiche Hannover iſt kein allgemeines Ge - ſetz als Staͤdte-Ordnung erlaſſen, wohl aber erſchien ſeit 1819 eine Reihe von Verfaſſungsurkunden und Reglements fuͤr die einzelnen Staͤdte des Koͤnigreichs. Die unterſchei - denden Grundſaͤtze ſind: Dem Magiſtrats-Collegium ver - bleibt außer der Verwaltung der Gemeindeſachen auch die Rechtspflege und die Polizey, ſo indeß daß der Polizey - Director, auch wo die Regierung ihn beſonders einſetzt, Mitglied des Magiſtrats-Collegiums iſt, welches einige Functionen zwar ungetheilt ausuͤbt (Wahlen von Predigern und ſtaͤndiſchen Deputirten, Beſetzung ſtaͤdtiſcher Verwal - tungsſtellen und Schulaͤmter, Berathung uͤber allgemein - wichtige Einrichtungen, Abſchluß der ſtaͤdtiſchen Caſſenfuͤh - rung), die laufenden Geſchaͤfte aber in zwei Sectionen be - ſorgt. Dieſe ſind: der verwaltende Magiſtrat, in welchem auch die Polizeybehoͤrde ihren Sitz hat, und das Stadtge - richt. Die Stadt theilt ſich in Diſtricte und dieſe wieder in Bezirke; denn obwohl in den meiſten Staͤdten des Koͤnigreichs die Zuͤnfte in herkoͤmmlicher Kraft beſtehen, ſo iſt es doch nicht rathſam befunden, die Repraͤſentationen der Buͤrger auf ihnen zu gruͤnden. Jeder Diſtrict hat einen Buͤrger -235Von den Gemeinden.vorſteher, der nicht in ſeinem Diſtrict zu wohnen braucht, jeder Bezirk einen Bezirksvorſteher, der in ſeinem Bezirke wohnen muß. Alle ſtimmfaͤhigen Buͤrger des Diſtricts oder Bezirks ſind die Waͤhler. Stimmfaͤhig iſt der mit einem Hauſe angeſeſſene Buͤrger und von den Inquilinen-Buͤr - gern die erſte Claſſe, die (in Goͤttingen) wenigſtens 5 Tha - ler ſtaͤdtiſcher Abgaben zahlt. Die Bezirksvorſteher, auf drei Jahre gewaͤhlt, ſollen jeder in ſeinem Bezirk den Magi - ſtrat, die Polizeybehoͤrde und das Armen-Collegium in Verwaltungszwecken unterſtuͤtzen. Die Buͤrgervorſteher, auf vier Jahre gewaͤhlt (16 in der Stadt Hannover, 12 in Goͤttingen) ſind die Vertreter der Buͤrgerſchaft in allen Angelegenheiten des Gemeinweſens und haben namentlich die zu den oͤffentlichen Beduͤrfniſſen der Stadt erforderli - chen Geldzuſchuͤſſe, Leiſtungen und Laſten zu bewilligen und zu vertheilen. Wenn bei Antraͤgen des Senats die Mehrheit der Buͤrgervorſteher widerſpricht, ſo muß die Verhandlung an die hoͤhere Behoͤrde (Landdroſtey, Cabi - binets-Miniſterium) zur Entſcheidung gelangen; wenn der Magiſtrat bei Antraͤgen der Buͤrgervorſteher diſſentirt, ſo kommt es auf dieſe an, ob ſie ſich dabei beruhigen wol - len. Die Mitglieder des Magiſtrats-Collegiums ſind le - benslaͤnglich; zur Wahl derſelben vereinigt ſich entweder der Magiſtrat oder das Magiſtrats-Collegium mit den Buͤrger - vorſtehern, im Ganzen nach dem Grundſatze, daß der Stim - men aus der Buͤrgerſchaft nicht mehrere oder nicht viel mehrere ſind als aus dem Magiſtrat; das Wahlgeſchaͤft er - ſtreckt ſich aber nicht weiter als auf die Wahl von drei Candidaten, aus denen das Miniſterium einen auswaͤhlt. Dieſes kann auch alle drei Praͤſentirten als nicht qualifi - cirt verwerfen, imgleichen die Stelle des Magiſtratsdirec - tors ohne vorherige Praͤſentation conferiren. — Inzwiſchen236Zehntes Capitel.iſt, wie mehrere Staͤdte des Koͤnigreichs ſich von jeher im Beſitze eines freien Wahlrechts ihrer Obrigkeit befanden, ſo auch in dem Staatsgrundgeſetze vom 26. Sept. 1833 §. 53. fuͤr die Zukunft im Allgemeinen feſtgeſetzt, daß die Staͤdte das Recht haben ſollen ihre Magiſtrate und uͤbrigen Gemeindebeamten ſelbſt zu waͤhlen; das Wahlrecht ſollen die Magiſtrate und die Buͤrgervorſteher uͤben; die hoͤhere Beſtaͤtigung bleibt vorbehalten in Bezug auf die ſtimmfuͤh - renden Mitglieder des Magiſtrats und des Stadtgerichts. Die Oberaufſicht der Regierung auf den ſtaͤdtiſchen Haus - halt dehnt ſich nicht uͤber die laufende Einnahme aus, in - ſofern Magiſtrat und Buͤrgervorſteher einig ſind; jedoch muß der Haushaltungsplan zu Anfang jedes Rechnungs - jahres eingeſandt werden und zu Ende desſelben ein Aus - zug aus den Rechnungen, falls nicht die Vorlegung der ſaͤmmtlichen Rechnungen begehrl wird. Auch ſcheint aus §. 53. 2) des Staatsgrundgeſetzes gefolgert werden zu koͤn - nen, daß diejenigen Staͤdte des Koͤnigreichs, welche bis dahin unter der Jurisdiction koͤniglicher Ämter ſtehen, ein eigenes Stadtgericht erhalten ſollen.
248. Faſſen wir alle Erwaͤgung zu einer Anſicht zu - ſammen, ſo treten einige charakteriſtiſche Zuͤge beſſerer Ge - ſtaltung klar hervor:
Es iſt die Folge einer aus den Zuſtaͤnden entſprun - genen, darum gleichmaͤßigen Überzeugung, ohne alle Verbindung mit neuernden Strebungen, daß man uͤber - all angefangen hat, die Staͤdte unabhaͤngiger zu ſtellen ſowohl von der centraliſirenden Kraft der Stadtregierun - gen als von der Staatsregierung. Sie duͤrfen ihre Ge - meindezwecke ſelber ausrichten.
Der entſcheidende Schritt zu dieſem Ziele iſt, weil237Von den Gemeinden.Gemeindezwecke nur durch Gemeindegut erreicht werden, daß die Buͤrgerſchaften den Haushalt des ſtaͤdtiſchen Vermoͤgens zuruͤckerhalten, welches in keinem Falle als Staatsvermoͤgen behandelt, noch unter die unmittelbare Verwaltung von Staatsbehoͤrden gezogen werden darf. Es ſoll aber eben ſo wenig zur beliebigen Bereicherung des Magiſtrats oder zum Verbrauche einer Generation von Buͤrgern dienen. Darum Staatsaufſicht auf den zu veroͤffentlichenden Haushaltsplan, uͤberſichtlich, nach den Wirthſchaftsjahren, daß keine Verſchlechterung im Vermoͤgensſtamme ſtattfinde.
Die Stadt hat aber auch Staatszwecke zu erfuͤllen; denn uͤberall ſucht der Staat die Familien auf im Po - lizeybezirk der Gemeinde, ſtellt in demſelben Staatsan - ſtalten auf Staatskoſten auf, ordnet die Rechtspflege an, beaufſichtigt das Kirchen - und Unterrichtsweſen, fordert Beitrag fuͤr das Heerweſen, heiſcht Staatsabgaben, nimmt diejenige Sicherheits-Sorge, die zum Ganzen dient, am Orte wahr. Stellt man nun daneben die naͤchſten und wichtigſten Gemeindezwecke auf, als da ſind: die Sorge fuͤr alle Theile des ſtaͤdtiſchen Vermoͤgens, und fuͤr den Haushalt mit ſeinen Einkuͤnften, Sorge fuͤr den oͤrtli - chen Nahrungsſtand und in Folge davon auch fuͤr die nahrungsloſen Gemeindeglieder, beſonders die kranken Armen, Schutz vor Feuer und Waſſer, Sorge fuͤr die Örtlichkeit, daß dieſe außer der Sicherheit bei Tag und Nacht auch den Forderungen des gebildeten Sinnes in Bequemlichkeit und Schoͤnheit (inſofern dieſe auf der Ordnung beruht) entſpreche und leichte Verbindung im Gemeindebezirk und mit andern Gemeinden gewaͤhre, ſo zeigt ſich leicht, daß es hier, wem auch die oͤrtliche Staatspolizey vertraut ſeyn mag, einem Staatsbeamten238Zehntes Capitel.außerhalb des Magiſtrats, oder einem Mitgliede, oder dem ganzen Magiſtrat, der Abgraͤnzungen mancherlei beduͤrfe zwiſchen ihr und der Polizey der Gemeinde - zwecke, die der Gemeinde ſelber bleiben muß, daß auch ein gemiſchtes Gebiet unvermeidlich ſey, auf welchem die Ge - meinde mindeſtens gehoͤrt werden muß, — und daß doch am Ende der Eifer fuͤr das Gemeindewohl den Kno - ten zu loͤſen hat, waͤhrend wo der Staatsbefehl Alles thut, Alles nach gewieſenen Wegen regelrecht, aber frei - lich um ſo ſchlechter geht.
Von den ſtaͤdtiſchen Gewalten muß die obrigkeitliche den Charakter der Dauer, im haͤufigen Zuſammenkom - men derſelben ein Collegium bildenden Mitglieder, an ſich tragen, die buͤrgerſchaftliche den des Wechſels. Daraus folgt nicht, daß die erſte nothwendig lebenslaͤng - lich, und in allen ihren Mitgliedern es ſey, aber es folgt, daß die letztere nicht lebenslaͤnglich ſeyn duͤrfe.
Die Buͤrgerſchaft waͤhlt ihre Vertreter, die Vertreter (nicht die Buͤrgerſchaft) waͤhlen ihre aus ſtaͤdtiſchen Mit - teln, inſoweit Beſoldung ſtatt hat, zu beſoldende Obrig - keit. Der Staat uͤbt ſein Aufſichtsrecht, indem er den Vorſtand des Stadtrathes aus drei von der Gemeinde vorgeſchlagenen Perſonen ernennt 1), der legalen Beſetzung der uͤbrigen Magiſtratsſtellen ſich verſichert und dieſe (dar - um nicht alle von der Stadt zu beſtellenden Gemeinde - beamten) durch Beſtaͤtigung beglaubigt.
Wenn der Magiſtrat und die Stadtverordneten uͤber einen Antrag uneinig ſind, ſo hat, inſofern Staatszwecke in Frage ſind, die Regierung die Entſcheidung; was uͤber - haupt nothwendig iſt und vollends unbedenklich in den - jenigen Staaten geſchehen mag, in welchen das Gemein - derecht unter dem Schutze von Reichsſtaͤnden ſteht. In239Von den Gemeinden.dieſen wird auch hinlaͤnglich unterſchieden werden, was Gemeinde -, was Staats-Verbindlichkeit ſey.
Die Verſammlungen der Buͤrgerſchaften geſchehen nach oͤrtlichen Eintheilungen, ſo lange keine Berufsclaſſen an die Stelle der nicht mehr haltbaren fruͤheren Corpora - tionen getreten ſind.
Öffentlichkeit der Sitzungen der Stadtverordneten moͤchte gerade den naͤchſten Zwecken entgegenwirken. Das Beduͤrfniß dieſer Berathungen iſt Einfachheit, ohne thea - traliſchen Zuſatz; ſie ſind ſehr perſoͤnlicher Art und duͤr - fen ſich nicht ſcheuen es zu ſeyn, denn es betrifft das Intereſſe des naͤchſten Buͤrgerkreiſes, die Geſchicklichkeit und Zuverlaͤſſigkeit der Behoͤrden. Wie viel anders in einer Staͤndeverſammlung, die an einem einzelnen Orte des Landes verſammelt, uͤber die Intereſſen des ganzen Landes zu beſchließen hat 2).
249. Die Land-Gemeinde beruht auf der allge - meinen Grundlage der ſtaͤdtiſchen, und ſo haben auch nach dem Vorgange Baierns und Wuͤrtembergs andere Deutſche Staaten, als Baden, Koͤnigreich Sachſen und zuletzt Cur - Heſſen allgemeine Gemeindeordnungen geſtiftet, in welchen Land und Staͤdte ſich nur durch Modificationen unterſchei - den. Die Zweckmaͤßigkeit dieſes Verfahrens haͤngt davon ab, ob gewiſſe Vorbedingungen ſich ſchon genuͤgend auf dem Lande entwickelt haben: perſoͤnliche Freiheit des Land - manns, freiere Dispoſition uͤber den Boden und deſſen Bewirthſchaftung, Aufhebung gemeinſchaͤdlicher Exemtionen von Gemeindelaſten und Ortsgerichten bei verbeſſerter Einrichtung der letzteren, ein befreiteres Gewerbweſen un - ter Beſeitigung des ſtrengen Unterſchiedes zwiſchen laͤndlichen und ſtaͤdtiſchen Gewerben. Bei der Anordnung der laͤnd - lichen Gemeinde muß aber viel mehr von vorne angefangen werden als bei der ſtaͤdtiſchen. Denn waͤhrend dieſe ſich entſchieden oͤrtlich abſchließt, nie zu klein iſt, immer eine concentrirte Bevoͤlkerung enthaͤlt, kann die laͤndliche oft erſt dadurch politiſche Bedeutung erhalten, daß ſie dieſe im Verbande mit andern Gemeinden erſtrebt, bloß ihre indi - viduellen Sorgen als laͤndliche Corporation fuͤr ſich ab - thut. Den rechten Mittelpunkt zum lebendigen Vereine aber zu finden iſt ſchwer. Denn nicht uͤberall gelingt es wie im Großherzogthum Oldenburg neuerdings (Erlaß v. 28. Dec. 1831), die kirchliche Gemeinde auch zum politiſchen Gemein - deverbande zu geſtalten. Denn wie oft ſind es nicht ganz verſchiedene Dorfſchaften und Weiler, die die Feldmark, die241Von den Gemeinden.die Schule, die die Kirche verbindet und zu Gemeinde - zwecken verpflichtet! Wie manche Bauerſchaft iſt zur Stadt eingepfarrt, die ihr weiter eben nichts bedeutet! von dem Verbande der Waſſerzuͤge und gemeinſamer Waldungen gar nicht zu reden. Im Einzelnen laͤßt ſich da wohl allmaͤh - lig zur Einheit hinlenken, aber hier durchgreifen und ſeys einer erdkundlichen oder geometriſchen oder politiſchen Theo - rie zu Liebe ein durchlaufendes Princip erzwingen wollen, hieße den Glauben an unveraͤnderliche Verhaͤltniſſe unvor - ſichtig auch da erſchuͤttern, wo ſonſt der einfache Sinn, immerdar gebunden an die Wiederkehr der Jahrszeiten, der Pflegerinnen des Landbau’s, bei ſtetigen Ordnungen gern beruht, eingreifende Willkuͤhr meidet. Die hoͤhere Einheit, der ſich die einzelne Gemeinde oft entzieht, laͤßt ſich bei Verbindung mehrerer Gemeinden zu einer groͤßeren politi - ſchen Genoſſenſchaft auf natuͤrlichem Wege daneben errei - chen; nur daß auch hier Natur und Geſchichte die letzte Graͤnze vorgeſchrieben haben, es iſt die der Landſchaft oder Provinz.
Eindringende Bemerkungen macht Karl Reck (Goͤtt. gel. Anz. 1835 St. 58. S. 580 f. bei Gelegenheit des v. Hodenbergi - ſchen Werkes: Abhandlungen aus der Erfahrung uͤber Staats - und Gemeinde-Verwaltung). Er ſtellt der Behauptung, daß der Kreis des Kirchſpiels unabweichlich auch den Kreis aller buͤrger - lichen Gemeinden, aller Verwaltungsbezirke und gemeinſamen Laſten bilden muͤſſe, entgegen, daß dieſer Grundſatz, in der Re - gel hergebracht auf der Haide und jenſeits der Haide bis in die Spitzen von Großbritannien und Norwegen, in Mittel - und Oberdeutſchland oft gar nicht ausfuͤhrbar iſt und daß eine ge - waltſame Umaͤnderung der bisherigen Gemeindeverhaͤltniſſe nach dem obigen Grundſatze hier die ſchlimmſten Folgen auf die Stim - mung der Bauern haben wuͤrde. „ Hier haben ſehr oft die Doͤr - fer desſelben Kirchſpiels gar nichts gemein als dieſelbe Kirche und denſelben Pfarrer, oft hat jedes noch eine16242Zehntes Capitel.beſondere Capelle, kurz, um Alles in Allem zu ſagen, die Ge - meinden haben ſich ſehr oft nicht nach der Gemeinſamkeit der Kirche, ſondern der Guts - und Schutzherren gebildet, und ſind oft auch aus dieſen und anderen Gruͤnden zu verſchiedenen Äm - tern geſchlagen. Im Ganzen bildet diesſeits der Haide die Ge - markung die Einheit der Gemeinheit, nach der urſpruͤnglichen Ausrodung oder Anſiedelung, wie die Localitaͤt zwiſchen den Ber - gen unzweifelhaft ergiebt. — — Zu einer durchgreifenden legis - lativen Veraͤnderung in dieſer Hinſicht iſt jetzt die Zeit viel zu empfindlich; man wuͤrde den Bauern recht eigentlich in ſeinem Neſte angreifen und die Vortheile ſind bei weitem nicht groß genug dazu, und darauf kommt doch Alles an! Dieß moͤge man auch im Hannoͤverſchen wohl bedenken, wenn es etwa zu einer allgemeinen Gemeinde-Ordnung kommen ſollte. — Die Schulbezirke fallen dagegen bei den Doͤrfern in Mittel - und Oberdeutſchland faſt immer mit dem Gemeindeverbande zuſam - men, obgleich die Ausnahmen in manchen Diſtricten auch nicht ſelten ſind.”
250. Wenn die Landgemeinde klein iſt, bedarf es kei - ner beſonders gewaͤhlten Vertreter. Zwanzig Bauern im Dorf, alle Theilnehmer der Feldmark, machen ſelber die Vorſteher, waͤhlen den Schulzen und ein Paar Gehuͤlfen die er braucht, immerhin auf 6 Jahre, nie auf Lebens - lang, denn die Landobrigkeit muß ruͤſtig und ruͤhrig ſeyn. Die Staatsbehoͤrde beglaubigt den Schulzen, denn ſo wird er, hoffen wir, lieber als Buͤrgermeiſter heißen. Wo indeß das Dorf groͤßer iſt oder mehrere Bauerſchaften und Weiler vereinigt ſind, da bedarf es der gewaͤhlten Dorfvorſteher und da wird man denn auch die bloß mit Haͤuſern angeſeſſenen Handwerker zuziehen, ſey’s bloß zum Wahlrecht oder auch zur Waͤhlbarkeit. Das Gemeindege - ſchaͤft der Vorſteher und ihrer Obern iſt nun die Beauf - ſichtigung alles deſſen was in dem Plane der Ackerwirth -243Von den Gemeinden.ſchaft gemeinſchaftlich ſeyn muß, Erhaltung der gemein - ſamen Nutzungen und des ganzen Gemeindevermoͤgens (welches nie Staatsvermoͤgen werden darf), der Graͤben und Daͤmme, in wirthſchaftlichem und polizeylichem Ver - ſtande, nicht minder aber die Beaufſichtigung des Über - gangs von baͤuerlichem Eigenthum von einer Hand in die andere durch Auflaſſung vor der Gemeinde, falls nicht fremdartige Satzung die altbaͤuerliche Ordnung ſchon zerruͤt - tet hat, wohin auch das Recht der Schließung der Ge - meinde gegen unverbuͤrgte Ankoͤmmlinge gehoͤrt 1). Die Caſſen-Bewahrung und Fuͤhrung verſieht der Schulze mit ſeinen Schoͤffen, alles unter Oberaufſicht der Regie - rungsbehoͤrde.
Wo nun wirthſchaftliche Verhaͤltniſſe oder ſonſtige nur in einem noch ausgedehnteren Verbande als dem der poli - tiſchen Gemeinde erreichbare Zwecke eintreten, wird fuͤr die Erreichung derſelben eine beſondere Genoſſenſchaft gebildet, die denn zugleich laͤndlichen zerſchnittenen und noch abhaͤn - gigen Beſitz mit geſchloſſenen Bauerhoͤfen und Landguͤtern vereinigen mag und ſie ſelbſt vielleicht mit einigen ſtaͤdtiſchen Laͤndereien zuſammenfuͤhrt; und hier bedarf es denn aber - mahls der leitenden Vorſtaͤnde, um die gemeinſamen Nutzun - gen zu wahren, die groͤßeren Communalwege, Waſſer - und Feuerhuͤlfe, der die einzelne Gemeinde nicht gewachſen iſt, in Stand zu ſetzen und zu halten, auch Verbeſſerungen auf gemeinſame Koſten (Entwaͤſſerungen) zu unternehmen. Wahrſcheinlich wird auch die Ausfuͤhrung von Geſund - heitsmaasregeln, die nothwendige Mitwirkung der Gemein - den bei Militaͤrſachen ſchon hieher gehoͤren. Wie es nun aber weiter ſich geſtalte durch Mittelgewalten bis zu dem allen Gemeinden und ihren Genoſſenſchaften gemeinſamen Mittelpunkte der hoͤchſten Provinzialverwaltung, iſt ſchwer16*244Zehntes Capitel. Von den Gemeinden.anzugeben, ohne einen beſtimmten geſchichtlichen Staat vor Augen zu haben, und auf keinen Fall allein aus dem Geſichtspunkte der Gemeinde.
251. Dem Staate, welcher Alle ſchuͤtzt und traͤgt, darf niemand ſeinen Dienſt entziehen, aber niemand hat auch ein Recht darauf, daß gerade er und kein anderer diene. Das Recht ſich ſeine Beamten zu waͤhlen, welches die Gemeinde in Anſpruch nimmt, uͤbt unerlaͤßlich der Staat und darf es keinen Augenblick aufgeben, darf nicht zugeben, daß er es durch die einmahl getroffene Wahl verloren habe. Staatsaͤmter aber ſind von jeher oͤfter ge - ſucht als aufgedrungen worden. Man kuͤndigt, daß man dereinſt ſuchen wolle, durch Studien an, noch beſtimmter dadurch, daß man um die Staatspruͤfung bittet, unzwei - felhaft durch ſeine Bewerbung; daher kommt der Gebrauch des Zwangsrechtes nur ausnahmsweiſe etwa in kleinen Freiſtaaten vor, wo großer Reichthum ſich der Laſt von Staatsbedienungen entziehen moͤchte, welche den Ehrgeiz nicht reizen, dem Erwerbe und ſeinen Genuͤſſen im Wege ſtehen. Auch kommt es dem Gemeinweſen zu ſehr auf gutwillige Diener an, als daß man nicht lieber gewoͤnne fuͤr den Staatsdienſt als dazu zwaͤnge. Weit oͤfter tritt der Fall ein, daß man den Staat zwingen will, den Die - ner, den er nicht brauchen kann, doch zu behalten. Man ruͤhmt ſich eines Privatrechtes, dem Staate uͤble Dienſte zu erweiſen.
252. Den Steuern ſieht man es nicht an, daß ſie mit ſaurer Miene bezahlt ſind, darum nimmt man ſie den Willigen und den Unwilligen ab; allein Dienſte, ſelbſt ge - meine Dienſte, taugen nicht, widerwillig verrichtet, darum246Eilftes Capitel.wendet der Staat hier hoͤchſt ungern Noͤthigung an, ver - guͤtet mindeſtens, belohnt ſelbſt, und thut das um ſo reich - licher je hoͤher ein Amt an Wichtigkeit ſteht und je koſt - ſpieligere Voruͤbungen es fordert. Weil er aber doch das Recht zu zwingen hat, ſo wird durch den Eintritt in den Staatsdienſt kein Vertragsrecht des Beamten begruͤndet, weder auf den Dienſt laͤnger als er dem Staate gefaͤllt, noch auf die Beſoldung laͤnger als der Dienſt dauert, es muͤßte denn in Abſicht der letzteren ein Anderes verabredet ſeyn. Nicht der Auslaͤnder einmahl wuͤrde ſich die fort - waͤhrende Bekleidung des Amtes guͤltig beim Eintritte in den fremden Staatsdienſt bedingen koͤnnen, weil Staats - zwecke nicht unterbleiben duͤrfen, wenn er gleich ſeinen An - ſpruch auf den Fortgenuß der Beſoldung ſicherer ſtellen kann als ſonſt jemand.
253. Alle geſetzlichen Beſchraͤnkungen der Staatsgewalt uͤber die oͤffentlichen Ämter muͤſſen zunaͤchſt aus dem Ge - ſichtspunkte des oͤffentlichen Rechtes und Wohles fließen. Dieſer zeigt 1), daß fuͤr die gerechte und ungeſtoͤrte Anwen - dung der Geſetze Alles darauf ankommt, daß um das Richteramt den Eingriffen der Staatsgewalt zu entziehen, die Entlaſſung von demſelben allein durch Urtheil und Recht verfuͤgt werden, auch die Verſetzung, mindeſtens der hoͤhe - ren Richter nicht ganz von der Willkuͤhr abhaͤngen duͤrfe. Was aber 2) die uͤbrigen Staatsaͤmter angeht, ſo muß die Entlaſſung zwar an geſetzliche Beſtimmungen geknuͤpft, doch von Urtheil und Recht nicht abhaͤngig gemacht wer - den. Um indeß hier des rechten Zieles nicht zu verfehlen hat man zwiſchen den Staatsaͤmtern im eigentlichen un - verkuͤrzten Sinne des Worts und denjenigen oͤffentlichen Thaͤtigkeiten zu unterſcheiden, die nur in einem oder247Von den Staatsbeamtendem andern Sinne an der ſtaatsamtlichen Stellung theil - nehmen.
254. Die buͤrgerlichen Dienſtleiſtungen, unter welchen die Staatsaͤmter eine ausgezeichnete Stelle einnehmen, ge - ſchehen entweder im Auftrage des Staats oder bloß mit Einwilligung desſelben; ſie koͤnnen eine beſtimmte Sphaͤre der Staatsverwaltung, aber auch Privatzwecke betreffen; ſie ſind dauernd oder voruͤbergehend; ſie haben Bedeutung fuͤr das Ganze oder ſind untergeordnet. Nur wo der Staatsauftrag, einerlei ob unmittelbar oder mittelbar, ſich findet, wo die Zwecke ſtaatsoͤffentlich und beſtimmt bezeichnet ſind, der Auf - trag dauernd, keine bloße Miſſion iſt, wo er endlich Be - deutung fuͤr das Ganze hat (— der bloße Amtsname, si - necure, genuͤgt da nicht), findet ſich Alles beiſammen, was das Staatsamt ausmacht, deſſen Traͤger man mit Grund nicht mehr Regierungsbediente oder bloß Diener - ſchaft nennt, ſondern Staatsdiener oder Staats - beamte, weil ihr Auftrag, was auch Hallers Reſtaura - tion dagegen erinnern moͤge, nicht bloß perſoͤnliche Ge - ſchaͤfte des Fuͤrſten, ſondern das was Fuͤrſt und Volk zu - ſammenhaͤlt, den Staat begreift. Darum kann der Hof - ſtaat des Fuͤrſten wohl der Ehrenrechte des Staatsdieners, eines ausgezeichneten Rangs der eigentlichen Hofchargen, auch reicher Beſoldung genießen, allein vergeblich bemuͤht ſich Goͤnner ihn zum Staatsdiener zu ſtempeln, und jede Beſchraͤnkung, die hier in Annahme und Entlaſſung die Willkuͤhr des Fuͤrſten baͤnde, waͤre unangemeſſen. Nur daß man nicht dieſe Entfernbarkeit (ad nutum principis) als den Grund verſtehe, warum Hofamt kein Staatsamt iſt. Denn es tritt, freilich aus ganz andern Gruͤnden, der gleiche Fall der Entfernbarkeit ohne alle Aufkuͤndigung248Eilftes Capitel.(durante beneplacito in England), verbunden mit dem Rechte ſich jeden Augenblick zuruͤckzuziehen, bei dem Amte des Staatsminiſters ein, welches doch Staatsamt in der hoͤchſten Bedeutung des Wortes iſt, und der Staatsminiſter wieder muß ſich ſeine naͤchſten Raͤthe und Arbeiter noth - wendig frei waͤhlen duͤrfen, die ebenfalls Staatsbeamte ſind. Der Arzt, der Anwald verwaltet kein Staatsamt, wenn er auch der Einwilligung und Beglaubigung des Staats fuͤr ſeine Geſchaͤfte bedarf; ihn durch den Act der Beſtaͤtigung den Bedingungen der Entlaſſung unterwerfen, welchen der Staatsdiener unterliegt, ſeine freie Bewegung an Amts - urlaub ketten, waͤre unſtatthaft. Der Staatsauftrag, der ihnen abgeht, ſteht im hohen Grade dem Geiſtlichen, dem Lehrer zur Seite, allein der Staatszweck tritt hier zuruͤck, Religion und Wiſſenſchaft werden nicht um des Staates Willen begehrt und ſtehen ihrem Inhalte nach, inſofern aͤhnlich dem Richteramt, nur unter ſehr bedingter Con - trole des Staats, der hauptſaͤchlich nur die Sphaͤre des Unterrichts regelt und die Amtstreue mißt. Hier wird der Staat, wenn es auf Remotion vom Amte wegen des In - halts der Lehren ankommt, bevor das Dienſtgeſetz entſchei - det, die Gutachten der Erfahrenen einhohlen, wird indeß den Lehrern der hoͤheren Ordnungen die Rechte der Staats - beamten was Ehre und Lohn (Ruhegehalt, Penſionen der Wittwe, der Kinder) angeht zuzuſichern keinen Anſtand nehmen wollen. Der Subaltern im Staatsdienſte handelt in Staatsauftrag, iſt fuͤr Staatszwecke bemuͤht, allein er iſt nur Hand und Fuß ſeines Oberen, es ſind Verrich - tungen, (ὑπηϱεσίαι, διακονίαι, nicht ἀϱχαὶ) die er mit weniger oder gar keiner Freiheit des Urtheils nach jedesmah - liger Anweiſung auszufuͤhren hat ohne in die hoͤheren Zwecke einzuoringen; hier iſt, je tiefer die Stufe, um ſo mehr249Von den Staatsbeamten.Annahme auf Aufkuͤndigung am Platze und um ſo weniger der Staat im Stande, den Lohn uͤber die Dienſtleiſtung hinaus zu erſtrecken. Eben hier koͤnnte man auch verſucht ſeyn, das Kriegsheer einzureihen, ginge nicht der hohe und gefahrvolle Staatszweck, welchem ſich der gebundene Gehorſam des gemeinen Kriegers widmet, weit hinaus uͤber Schreiber - und Boten-Dienſt.
Goͤnner (Der Staatsdienſt aus dem Geſichtspunkt des Rechts und der National-Oeconomie betrachtet, nebſt der Hauptlandesprag - matik uͤber die Dienſtverhaͤltniſſe der Staatsdiener im Koͤnig - reiche Baiern. Landsh. 1808.) macht die Rechte des Staats ge - gen die aͤltere rein privatrechtliche (van der Becke vgl. Leiſt, Staatsr. §. 120.) und die bedingt privatrechtliche Anſicht (von Seuffert) geltend; Rehberg (Über die Staatsverwaltung deutſcher Laͤnder. Hannover 1807.) wird nicht beruͤckſichtigt. F. Saalfeld, comment. Num principi liceat ministros publicos in - cognita causa dimittere. Heidelb. 1807. 4. iſt bloß Ausfuͤhrung der Rehbergiſchen Anſicht. Wie wenig aber die aͤltere deutſche Anſicht die aͤlteſte ſey, wie wenig noch ein Ludolph Hugo an der Entſetzung nach Willkuͤhr zweifle (Nam pleraque officia non tam a legibus quam a solo nutu principis dependent), zeigt Eichhorn St. u. R. G. IV, §. 549. vgl. §. 616. und uͤber die ganze Frage Heffter, Einige Bemerkungen uͤber die Rechtsver - haͤltniſſe der Staatsdiener. In deſſen Beitraͤgen zum Deutſchen Staats - und Fuͤrſtenrecht. 1ſte Lief. Berl. 1829. S. 106 ‒ 167.
255. Die jedem Unterthan obliegende Pflicht ſich dem Staate dienſtlich zu erweiſen, wird bei dem Staatsbeam - ten durch die Einweiſung in eine beſtimmte Amtsſphaͤre und durch die beſondere Verpflichtung des Dienſteides 1) geſteigert. Die Faͤhigkeit Staatszwecke auszufuͤhren kann heutzutage weniger als je mit Gelde erkauft, oder er - erbt werden; denn die Paͤrie iſt kein Staatsamt, ſie iſt Staatsgewalt. Aber der Staat darf auch nicht geſtat -250Eilftes Capitel.ten, daß ſein Beamter feſter an ſein Amt gebunden ſey, als an den Zweck desſelben; er legt nicht bloß Ord - nungsſtrafen auf, er ſuspendirt, quiescirt, entlaͤßt, ohne die gerichtliche Entſcheidung abzuwarten, denn das Staats - intereſſe kann nicht warten, und die Geſetze haben keinen Maasſtab fuͤr die Gradationen der Tuͤchtigkeit und keine Wage fuͤr das Gewicht der Geſinnung und des oͤffentlichen Vertrauens im heutigen Staatsleben. Mag die Kaͤuflich - keit und Erblichkeit von Staatsaͤmtern eine Schutzwehr gegen Willkuͤhr im alten koͤniglichen Frankreich geweſen ſeyn, mag auch die mit Eifer behauptete und im Ganzen genommen durchgeſetzte Inamovibilitaͤt gleichen Nutzen in unſerm Vaterlande gehabt haben, welches die Beamtenge - walt in demſelben Grade ſteigen ſah als die Kraft der ſtaͤndi - ſchen Rechte ſank, — wo heute die Repraͤſentativ-Verfaſſung den Gang der Staatsregierung begleitet und, wenn auch berichtigt, doch haͤufig aufhaͤlt, darf dieſer Grundſatz nicht laͤnger gelten. “Eine Regierung, in der geſetzgebenden Ge - walt durch Staͤnde, in der Ausfuͤhrung der Geſetze durch die Selbſtaͤndigkeit ihrer eigenen Beamten beſchraͤnkt, waͤre eine baare Nullitaͤt” (Heffter). Das Staatsamt darf dem Lehn weder darin gleichen, daß es abgelehnt werden, noch daß es nur durch einen Spruch der Lehnsgleichen verloren gehen duͤrfte.
256. Auf der andern Seite darf weder vergeſſen wer - den was bei Aufloͤſung eines auf lebenslaͤngliche Dauer angelegten, den ganzen Mann vom Schulalter an in An -251Von den Staatsbeamten.ſpruch nehmenden Verhaͤltniſſes die Erſchuͤtterung des Nah - rungsſtandes zahlreicher Familien bedeutet, noch auch aus welchem erbitterten Haſſe das haͤufig kommt, was aͤußer - lich in aller Form Staatsraͤſon heißt. Darum wird loͤb - lich durch ein Geſetz beſtimmt, daß die Verſetzung ohne Herabwuͤrdigung im Amte (Gleichſtellung iſt nicht immer moͤglich) und der Amtseinnahme (volle Entſchaͤdigung iſt nicht immer moͤglich) geſchehe, daß die Disciplinarſtrafe ihr Maas habe, die Suspenſion nur auf begraͤnzte Zeit verhaͤngt werde, Entlaſſung aber unter Abſchneidung der Wiederanſtellung (nicht bloße Quiescirung fuͤr beſtimmte Zeit) nur begruͤndet ausgeſprochen und nach gegebener Zeit zur Verantwortung und in Gemaͤßheit des Gutachtens der hoͤchſten berathenden Behoͤrde im Reiche allein von der hoͤchſten entſcheidenden Behoͤrde verfuͤgt werden duͤrfe; auch muͤſſe unverſchuldete Entlaſſung, die ja lediglich die Folge neuer Organiſation ſeyn kann, ſtets von einer ge - ſetzlich anzuſprechenden Entſchaͤdigung begleitet ſeyn. Man hat zwar den Verſuch gemacht, den Grund und das Maas dieſer Entſchaͤdigung dadurch feſtzuſtellen, daß man von dem Grundſatze ausgeht, der Staat muͤſſe, indem er den Anzuſtellenden von einem Nahrungsſtande abruft, ihm auch einen Nahrungsſtand zum Erſatze geben, nicht bloß einen widerruflichen Ertrag; dieſen Nahrungsſtand habe der Staat in der Penſion zu erſetzen, er ſey deßhalb nur durch Urtheil und Recht entziehbar, waͤhrend der Erſatz fuͤr die Koſten des Dienſtes billig mit der Dienſtleiſtung wegfaͤllt. Aber es iſt der Staat gerade, der in der Regel geſucht und mit Geſuchen bedraͤngt wird, daß er einen Nahrungsſtand erſt verleihe, und die ungemein kuͤnſtliche Zerfaͤllung in Standesgehalt 1) und entziehbaren Dienſtge - halt, (Bairiſche Haupt-Landes-Pragmatik v. 1. Januar252Eilftes Capitel.1805.), kann denn doch am Ende des Regulators der Dienſtjahre nicht entbehren. Und wie waͤre der Dienſtauf - wand nach allgemeinen Regeln zu ſchaͤtzen? Alles kommt zuletzt auf ein anſtaͤndiges dauerndes Auskommen hinaus, wofuͤr die allgemeinen Grundſaͤtze durch Combinirung des Dienſteinkommens mit der Zahl der Dienſtjahre gefunden und den Kraͤften jedes Staats angepaßt werden muͤſſen. Ähnliche Erwaͤgungen treten bei den von Staatswegen dotirten Penſions-Caſſen fuͤr Beamten-Wittwen und, wenn die Kraͤfte reichen, auch deren Kinder bis zu einem gewiſſen Alter ein.
257. Aus denſelben Gruͤnden, welche dem Staatsdie - ner das Recht auf ſeinen Dienſt abſchneiden, findet kein Recht der Anciennitaͤt auf eine hoͤhere Dienſtſtufe ſtatt 1), kein Bannrecht auch gegen Staatsdiener einer anderen Carriere, auch keines gegen das Ausland. Ein Indige - natgeſetz kann als Ausdruck der Überzeugung Werth ha - ben, bindend darf es niemahls ſeyn.
258. Daß der Staatsbeamte vorzugsweiſe geſchuͤtzt, ein Angriff auf ihn in ſeiner Amtsverrichtung ſchwer ver - poͤnt ſeyn muͤſſe, keine Frage; der Staat ſchuͤtzt in ihm253Von den Staatsbeamten.ſich ſelber. Aber der Staat ſehe auch wohl zu, wie er ſich ſelber ſchuͤtze vor dem Beamten, deſſen Untreue oder Nachlaͤſſigkeit in anvertrauten Geldern, Hypotheken und wie vielen beſonderen Faͤllen entweder durch den Staat gut - gemacht werden muß, oder wenn der Staat dieſe Verbind - lichkeit von ſich abwaͤlzt und allein oder doch zunaͤchſt den Schuldigen vorſchiebt, die wohlthaͤtigſten Staatsanſtalten in einen Zuwachs von Laſten verwandelt. Darum bedarf der Staat ſelber der lebendigen Controle der Beamten durch die oͤffentliche Meinung, durch ungehinderte Beſchwer - defuͤhrung, und wenn gleich Widerſtand gegen oͤffentliche Beamte nie geſetzmaͤßig ſeyn darf, wie in England, ſo iſt es von der andern Seite mit buͤrgerlicher Freiheit un - vereinbar alle Verantwortlichkeit bloß auf die Staatsmi - niſter zu concentriren. Das ſubalterne Werkzeug ſey un - verantwortlich in politiſchen Dingen; bei buͤrgerlichen Ver - brechen, in der Amtsverrichtung begangen, werden die Ge - richte es zu finden wiſſen; allein wem ein ſelbſtaͤndiges Gebiet bleibt, der hat freilich nicht die Befehle ſeiner Oberen, (welche er allein auf eigene Gefahr unausgefuͤhrt laſſen darf,) wohl aber ſein Verfahren, inſofern er ſelb - ſtaͤndig gegen die Verfaſſung handelt, zu verantworten. Iſt dem Staate gegeben was des Staates iſt, ſo darf dann, außer der Klage auf Entſchaͤdigung, auch die cri - minelle Verfolgung ihren Weg gehen und keineswegs von einer zuvor einzuholenden Erlaubniß der hoͤchſten Behoͤrde abhaͤngig gemacht werden.
259. Die Wirkung der Rechtsanſtalten, welche der Staat aufſtellt, beruht auf ſeinen Bildungsanſtalten. Denn mit dem Sollen gelingt es ſchlecht ohne die Berichtigung des Wollens. Unſer Wille aber wird allein dadurch ver - beſſert, daß von den im Menſchen ſtreitenden Willenskraͤf - ten die beſſere an den beſſeren Ort geſtellt wird und da - durch zur Herrſchaft gelangt. Dahin kommt es, wenn ſich fruͤhzeitig die Geſinnung auf das vollkommenſte der Weſen richtet als den Quell alles Guten und den Traͤger jedes untergeordneten Daſeyns, wenn die Erkenntniß, im werdenden Menſchen geweckt, der Geſinnung die Wege zur entſprechenden That bereitet, damit dann die That end - lich ſelber ein hoͤheres Seyn im Menſchen verkuͤnden und in der Außenwelt huͤlfreich darſtellen koͤnne. Alle dieſe255Von d. Rechte d. Staates uͤb. Erzieh. u. Unterricht.Bahnen ſucht die Volksbildung zu brechen; ihr Zuſtand giebt das Zeugniß ab fuͤr den Geiſt einer Nation. Wo der Geiſt der Nation einen hohen Schwung nimmt, da allein iſt oͤffentliche Meinung und dieſe iſt dann eine Macht, ununterbrochen und mehr aus der Tiefe wirkend als alle politiſchen Inſtitutionen.
260. Auch Thiere warten ihre Jungen, bringen ih - nen die Tradition der Gattung bei und der Menſch als ein Hoͤherer vermag ſie abzurichten; der Menſch allein iſt von ſeines Gleichen erziehbar. Zu bilden iſt an dem Men - ſchen ſo lange er lebt, nur der werdende Menſch wird er - zogen, durch Zucht, durch Lehre, durch Übung. Die Er - ziehung umfaßt den ganzen, auch den koͤrperlichen Men - ſchen. “Es iſt gefaͤhrlich die Seele zu uͤben und nicht zugleich den Leib”.
261. Wie der Staat aus der Familie entſpringt, ſo alle Menſchenbildung aus der Ehe. Sie iſt die Bedin - gung von Allem was ein Volk gut und groß macht. Sie ſchafft durch Erziehung Volksbildung, durch Hauswirth - ſchaft Volkswirthſchaft, Staatswirthſchaft. Sie iſt voͤllig unterſchieden von der regelloſen Geſchlechtsverbindung, die wieder mit der Vielweiberei nicht einerlei iſt; das Wort Harem bedeutet ſchon das was abgeſchloſſen, nicht jeder - mann zugaͤnglich iſt; die wahre Ehe aber iſt ihrer Natur nach einfach, zwiſchen einem Manne und einer Frau mit freier Einwilligung beider Theile geſtiftet. Durch ſie erwaͤchſt aus dem Zuſammentritte von zwei verſchiedenen Haͤuſern eine neue Familie; denn Heurath in naher Bluts - freundſchaft hat auch das gegen ſich, daß ſie ein fruͤheres Verhaͤltniß zerruͤttet, um ein neues unvollkommen zu be -256Zwoͤlftes Capitel.gruͤnden. Die Ehe iſt ſo heilig, daß es kaum ein Volk giebt, bei dem ſich nicht um ihretwillen die buͤrgerliche Gemeinde zugleich zur kirchlichen geſtaltete, die den hoͤhe - ren Seegen fuͤr ſie herbeiruft. Wo keine Ehe iſt, da iſt keine Erziehung, ſelten Unterricht. Der unehelich Gebo - rene hat es nur der Barmherzigkeit des Chriſtlichen Le - bens zu danken, daß er nicht gleich untergeht, ein Bach, den ſeine Quelle verlaſſen hat. Wie der auf oͤffentliche Koſten ernaͤhrte Arme einer Auflage gleichgeachtet wird, ſo ſtaͤnde unverſchuldet außer dem Volk der unehelich Ge - zeugte, weil er keine Familie hat, wenn nicht jene Milde waͤre. Der kleine Staat, deſſen Grundgeſetz die Ehe iſt, legt ein Verhaͤltniß von Freien zu Freien dar und doch voller Gebundenheit; er ſpricht dem Manne die Herrſchaft und Geſetzgebung zu, der Frau die Verwaltung, auch an den Kindern wird geehrt was frei ſchon an ihnen iſt, oder mit den Jahren werden wird, ſie ſind auf keiner Le - bensſtufe bloß Sache; erwachſene Soͤhne ſind der Schutz des Hauſes und nehmen am Vermoͤgen Theil, ſie duͤrfen neue Familien ſtiften, wodurch Erbtheilungen entſtehen; denn mehrere Familien koͤnnen nicht wohl im Gemeinbe - ſitze bleiben.
262. Die Natur ſelber hat die Mutter zur Naͤhrerin des Kindes ſchon vor der Geburt und geraume Zeit nach der Geburt beſtellt, ihr bleibt dieſe Sorge ſo lange Naͤh - ren und Schuͤtzen das Geſchaͤft der Erziehung umfaßt, bis ſich auf einer hoͤheren Bildungsſtufe Erziehung und Un - terricht unterſcheiden. Bei dem erſten Aufkeimen der Selb - ſtaͤndigkeit aber ſcheidet ſich nun die Anſicht der Voͤlker; Staat und Familie beginnen einen Streit um das Kind, vor Allem wenn es ein Knabe iſt. In dieſem Zeitpunkte257Von d. Rechte d. Staates uͤb. Erzieh. u. Unterricht.nahmen die Spartaner den Muͤttern die Kinder und uͤber - gaben ſie Staatserziehern und ſo zu thun empfehlen un - verkennbar nach Doriſchem Muſter Platon und Fichte 1). Kann nur die Rede davon ſeyn, ob die Spartaner recht daran thaten? Das Kind, wenn uͤberhaupt der Auferzie - hung werth geachtet, gehoͤrte nach ihrem Glauben dem Staate zu. Nur ſechs Jahre blieben ihre Knaben in der Finſterniß des Hauſes (σκότιοι), mit dem ſiebenten be - gann die oͤffentliche Erziehung des Buͤrgers, von nun an gehoͤrte er einer Schaar der Staatsjugend an, mit dem achtzehnten Juͤngling, war er doch nicht auserzogen, man zog ihn nur um ſo ſtrenger, er trat als dienendes Glied zu den Syſſitien der Maͤnner, uͤbte zugleich die Re - gel der Zucht an den juͤngeren Knaben und ſtieg ſo, Er - zieher und erzogen, in feſten Schranken bis zum dreißig - jaͤhrigen Mannesalter. Warum ergriff hier der Staat den Knaben ſo fruͤh, den andere Dorer zehn Jahre laͤnger der Familie ließen 2)? Weil der Spartaner-Stamm ſeine ganze Kraft ununterbrochen aufbieten mußte, um ſeine Herrſchaft gegen diejenigen zu beſchuͤtzen, „ welche jeden Spartiaten gern roh verſchlungen haͤtten “3), gegen den Haß von neun Zehntheilen der Bevoͤlkerung. Darum war die Erhaltung des Staates zunaͤchſt Zweck der Spartiaten-Ehe, die nicht zu ſpaͤt geſchloſſen, noch weniger unterlaſſen werden, am wenigſten aber der Fortpflanzung verfehlen durfte, ſonſt Entfernung der Frau, wenn nicht der Ehemann vorzog ihr einen anderen Erzeuger zu gefallen. Demſelben Zwecke aber weiht ſich die Erziehung. Die Gegenſtaͤnde derſelben lagen zwiſchen den beiden Polen: Reli - gion und Leibesuͤbung. Durch die erſtere ſollen die Gewalten, die der Menſch in ſeiner Macht nicht hat, ge - wonnen, geneigt erhalten werden, die Gewalten, die den17258Zwoͤlftes Capitel.Saaten Gedeihen ſchenken oder ſie in Miswachs bringen, die Sonne, die Elemente, auch die hoͤheren Kraͤfte, die der Menſchen Herzen mit Hoffnung erleuchten oder ſie fin - ſter machen, ihren Unternehmungen Gelingen oder Mis - lingen geben; denn ſeine Beduͤrftigkeit fuͤhlt uͤberall der Menſch. Die zweite ſoll was in des Menſchen Macht ſteht durch dauernde Übung ſtaͤhlen fuͤr die Stunde der Gefahr gegen aͤußere und innere Feinde. Zwiſchen beiden Gebie - ten bewegen ſich wenige und einfache Bildungsmittel der Seelenanlagen als Vermittler. Durch den Leib ward auch die Seele ſtark gemacht. Jede Entbehrung, jede Unbill der Elemente freudig erproben war Pflicht. Jagd auf Thiere, Jagd auf Sclaven, Alles zu ſeiner Zeit, auch den eigenen Mitbuͤrgern durch Schlauheit den Unterhalt abzujagen, eben wie man ſich die Frau ſtahl, waren die Ziele des Wetteifers der Jugend. Ihre mildere Freude war der Fauſt - kampf, der Tanz zur Lyra und zur Floͤte, der Geſang zu der Tapfern und der Goͤtter Ehren. Wenige laſen oder uͤbten Schrift, die Geſetze lernte man fruͤhe als Denkſpruͤche auswendig, wie wir Bibelſpruͤche, und behielt ſie in ſteter Übung. Die Grundanſicht war, die Spartiaten ſo zu bil - den, daß ſie die Beſten im Staate und Einer wie der An - dere waͤren. Die uͤbrigen Einwohner, Freie und Knechte, wollte man nutzbar, hervorragende Tuͤchtigkeit an ihnen in Krieg und Frieden ward aus demſelben Grunde gefuͤrch - tet, aus welchem man heutzutage in Virginien verbietet, einen Sclaven leſen zu lehren. Aber auch den Spartanern ſelber kam von den Erforderniſſen, welche Ariſtoteles in der Metaphyſik als die Baſis hoͤherer Bildung aufſtellt: der herr - ſchende Stamm ſeyn und Muße haben, nur die er - ſtere zu Gute. Die Arbeit fuͤr die Erhaltung ihrer Gewalt - herrſchaft nahm ihnen die Muße, welche der Muſen Mutter iſt.
259Von d. Rechte d. Staates uͤb. Erzieh. u. Unterricht.263. Wir haben keinen Grund es den Spartanern und ihren Nachbildnern nachzuthun; weder die gleiche Sorge laſtet auf uns, noch ruͤhmen wir uns des Rechtes, dem Staate Guͤter zu opfern, die mehr werth ſind als ein Staat, der dieſer Opfer bedarf; unſere Erziehungsmittel ſollen das Ganze des Volks in jeder Claſſe umfaſſen. Es giebt in unſerm beſten Staate keinen geborenen Herrſcher außer einem, aber auch niemanden, der bloß zum Die - nen geboren waͤre, nur die dem Boͤſen dienende Natur kann ſich dazu herabwuͤrdigen. Jedem ſoll der Weg zu jeder Hoͤhe bleiben, den hoͤchſten Platz ausgenommen, wo - zu ihn Talent, Verdienſt und Gluͤck erheben wollen, denn die Berufe werden nicht von Staatswegen angewieſen. Gleichwohl liegt die Sache keineswegs bloß zum Nach - theile des Alterthums; die heitre Hoͤhe der tiefſinnigen Bildung, auf welcher ein Paar Menſchenalter hindurch das Volk von Attika im reichſten Selbſtgefuͤhle ſtand, hat ihres Gleichen nicht in der Menſchengeſchichte und faͤllt dennoch nicht in unſere Bahnen, die, wir muͤſſen es nur geradezu auf uns nehmen, weit ernſter und muͤhſeliger geworden ſind, ſeit die Menſchheit dem Staate den Vortritt abge - wonnen hat. Darum mußte die breite bequeme Baſis, welche der Sclavenſtand des Alterthums dem Staatsbau Gluͤck anſprechender Freier gab, verlaſſen werden, auch die Leibeigenſchaft durfte nicht fortbeſtehen, und mancher Staats - mann hat redlich daran gearbeitet den Landmann von der Scholle zu loͤſen und den Handwerker von der geſchloſſenen Zunft, ohne zu ahnden, daß er die Urſache von den Con - greßreiſen ſeiner Soͤhne werde. Denn alle Staatsſachen17*260Zwoͤlftes Capitel.ſind gerade dadurch ſo ſchwierig und vor der Hand ge - wiſſermaaßen unabſehlig geworden. Die Macht dieſer Grund - ſaͤtze wirkt aber, obwohl allein dem Auge des Geiſtes ſicht - bar, ſo unwiderſtehlich, daß es lediglich darauf ankommt, ihre Reſultate, ſo wie ſie erſcheinen, ſtufenweiſe in den Staatsbau einzugliedern; ſie wuͤrden den Staat mit ſich fortreißen, der mit ihnen den ungleichen Kampf des Wi - derſtandes begoͤnne, wenn auch der Finanzminiſter nicht einſpraͤche. Darum iſt das Oben und das Unten unſeres Bildungsganges von dem des Alterthums unterſchieden. Nach beiden Seiten iſt unſre Muͤhe groͤßer. Die hoͤhere Bildung jeder Art wird auf der muͤhſeligen Bahn ſehr ver - zweigter Studien erworben und die unteren Claſſen ſind an harte Arbeit des Tagelohns und Handwerks gebunden, welche der freie Grieche und Roͤmer in Sclaven-Haͤnde legte.
264. Am auffallendſten iſt an unſerm Bildungswege die Nothwendigkeit vieler Sprachen, beſonders der todten. Sogar die Religion iſt aus Buͤchern in zwei fremden Sprachen zu erlernen; eben ſo unſere Jurisprudenz. Es iſt kaum zu ſagen, wie weit das fuͤhrt in der Muͤhe und in ihrem Lohne. Der Knabe bekommt an der Schale der alten Sprache nagend, die erſte Ahndung vom Suͤndenfalle und daneben hat Karl V. doch darin Recht, daß der Menſch ſo viele Seelen hat als er Sprachen verſteht, was wieder freilich ſeine doppelte Seite hat. Die Sprache iſt das Or - gan des Denkens, es denkt ſich nicht ohne ſie, geſchweige denn daß ſich die Theilung der Arbeit verſuchen laſſe, ver - moͤge welcher man Gedanken giebt und wieder empfaͤngt. Eine Sprache aus dem Grunde lernen heißt denken lernen; die Naturgeſchichte mehrerer Sprachen vergleichen koͤnnen, lehrt von dem Innern der Voͤlker verſtehen was in keiner261Von d. Rechte d. Staates uͤb. Erzieh. u. Unterricht.politiſchen Geſchichte ſteht. Die Aufgaben des Scharf - ſinnes in dem Kunſtgewebe einer Sprache, die ausge - ſprochen hat, ſind unendlich, und der jugendlichen Faſ - ſungskraft eben ſo ſehr als der maͤnnlichſten Tiefe zuſagend. Dann der Inhalt der alten Schriften, die ſich dem Sinne nahen durch gewinnende Einfalt in aller ihrer Vollendung und zugleich dem Vorwitze des Urtheils ſich entziehen durch die Scheidewand, welche zwiſchen unſerm Daſeyn und dem ihren ſteht.
Das Alles nun iſt wahr, aber wahr iſt auch, daß dieſe vielen Canaͤle des Wiſſens, von aller Welt Enden herge - leitet, unſer Grundſtuͤck ſo durchfurchen, daß der feſtere Schritt und das gediegene Weſen leicht auf dieſem zer - ſtuͤckelten Boden Schaden nimmt. Die Kluft zwiſchen Wiſſen und Koͤnnen, Kraft des Verſtandes und Kraft des Charakters, iſt ungeheuer groß geworden. Die am mei - ſten von Tapferkeit leſen und lehren, ſind ſie tapfer? brin - gen ſie wirklich dem Vaterlande Opfer? Iſt nicht die Mehr - zahl der Wiſſenden mit ihrem Wiſſen mehr aͤußerlich be - haͤngt als davon durchdrungen, gehemmt dadurch in ihrer Bewegung, ſtatt daß der Wiederſchein der edelſten Be - ſchaͤftigungen ſich in jeder That des wahrhaft Wiſſenden abſpiegeln ſollte? Wiſſen wir wirklich fuͤr uns ſelber, oder nicht bei weitem mehr fuͤr Andere? Und was kann man am Ende fuͤr Andere wiſſen? Alles bloß aufgenommene Wiſſen iſt krank und macht Kranke. Wo iſt darum Siech - thum mehr zu Hauſe als bei den Gelehrten? Wo fehlt haͤufi - ger jenes kraͤftige Gleichgewicht der geiſtigen und koͤrperlichen Thaͤtigkeiten, das den gelungenen Menſchen bezeichnet?
265. Niemand hat dieſes tiefe Leiden der heutigen Menſchheit ſchmerzlicher im Gemuͤthe empfunden und262Zwoͤlftes Capitel.ergreifender dargeſtellt als Rouſſeau in ſeinem Emil, jene Unnatur von Anfang her, jenes Leben fuͤr Andere, nicht um ihnen zu nutzen, ſondern ſie zu benutzen, ihnen zu ge - fallen, wozu das Leben von Paris ſo unzaͤhlige Bilder darbot, das eitle und doch ſo ſchwere Geſchaͤft der Ver - gnuͤgungen und Alles das um die einfache Wahrheit, das Ziel des menſchlichen Lebens zu verlernen. Alle dieſe Verderbniſſe mißt Rouſſeau der Cultur, der buͤrgerlichen Geſellſchaft und ihren Wiſſenſchaften bei, indeß kann er auch den Naturſtand nicht billigen, denn fuͤr dieſen bleiben ihm nur rohe Inſtincte und koͤrperliche Beduͤrfniſſe uͤbrig. Darum ſchafft er ſich einen gewiſſen Mittelzuſtand, in dem Familie und Vaterland ſchon iſt, aber noch nicht was ſich Alles weiter bei uns daran knuͤpft und findet dieſen nahe am Naturſtande im Leben der Wilden, uͤberſpringt dabei ohne Muͤhe die Inconſequenz, die einen Anfang der Bil - dung gutheißt, aber nicht ihren Fortgang, ſtatt das Ver - trauen zu faſſen, daß dieſelbe geheimnißvoll durchdringende Kraft der buͤrgerlichen Geſellſchaft, die allein die Tugen - den der Menſchen entfaltet, auch durch die Wege und Irr - wege der Bildung den Ruͤckweg zur Natur finden und den Kreis gluͤcklich vollenden werde. Seiner phantaſtiſchen Waͤrme des Herzens fehlte die ſittliche Tiefe und jene von keinem Dogmenſtreite abhaͤngige Religioſitaͤt, mit welcher ſich der Einzelne den Bahnen anzuſchließen hat, welche mit hellen Zuͤgen dem ganzen Geſchlechte vorgeſchrieben ſind. Wie ein an ſich widerſinniger Zuſtand dennoch, weil er einmahl da iſt, leidlich einzurichten ſey, entſchloß ſich Rouſſeau nachher im Contrat social zu ſchildern.
Allen Glanz, alle Tiefe und alle Schiefe dieſer verfuͤhreriſchen Dar - ſtellung zeigen gleich die Anfangsworte des Emil. ‘Tout est bien, sortant des mains de l’Auteur des choses: tout dégenère entre263Von d. Rechte d. Staates uͤb. Erzieh. u. Unterricht.les mains de l’homme. Il force une terre à nourrir les pro - ductions d’une autre, un arbre à porter les fruits d’un autre: il mêle et confonds les climats, les élémens, les saisons: il mutile son chien, son cheval, son esclave: il bouleverse tout, il défigure tout: il aime la difformité, les monstres: il ne veut rien, tel que l’a fait la nature, pas même l’homme: il le faut dresser pour lui, comme un cheval de manège; il le faut contourner à sa mode, comme un arbre de son jardin. Sans cela, tout iroit plus mal encore, et notre espèce ne veut pas être façonnée à demi. Dans l’état où sont désormais les choses, un homme abandonné dès sa naissance à〈…〉〈…〉 i-même parmi les autres, seroit le plus défiguré de tous. Les préjugés, l’autorité, la nécessité, l’exemple, toutes les institutions socia - les dans lesquelles nous nous trouvons submergés, étoufferoient en lui la nature et ne mettroient rien à la place. Elle y seroit comme un arbrisseau que le hasard fait naître au milieu d’un chemin, et que les passans font bientôt périr en le heurtant de toute part et le pliant dans tous les sens. ’
266. Im Emil liegt ein Stoff zu nicht leicht zu been - digendem Nachdenken. Leider aber werden die Äußerlich - keiten einer außerordentlichen Erſcheinung am leichteſten ergriffen und auf den Markt des Lebens gebracht. In Deutſchland ſchloß ſich an Rouſſeau eine ganze Schaar von Reformatoren an, die die Kinder Natur lehren wollten ſtatt der alten Sprachen und die Alten ein Kindiſchwerden mit den Kindern; als wurzelte nicht in der Kindes - natur dicht neben dem Gefuͤhle eigener Huͤlfsbeduͤrftigkeit die tiefe Achtung vor Allem was hoͤher ſteht, die man nur nicht ausreuten darf um ihrer ſicher zu ſeyn! als laͤge nicht daher viel naͤher der Gedanke, ein gutes Kinderbuch muͤſſe ſtatt den Kindern nachzukriechen, neben dem Ver - ſtaͤndlichen einen ſtachelnden Zuſatz von noch nicht verſtaͤnd - lichen Dingen enthalten! Die Campianer und Trappiſten264Zwoͤlftes Capitel.hatten einigermaaßen recht in dem was ſie verneinten, allein um ſo mehr Unrecht in dem was ſie bejahten. Sie er - kannten das Unnuͤtze in der gewoͤhnlichen Weiſe des alten Sprachunterrichts, warfen ſich aber nun bloß auf die Nuͤtz - lichkeit, welche, einſeitig erſtrebt, alle hoͤhere Bildung aus - ſchließt 1). Platte Misgriffe dieſer Art verſchwinden frei - lich bei einem Volke von wiſſenſchaftlichem Capital, aber Irrſaͤtze wie die Rouſſeauſchen leben immer wieder auf, weil ſie aus einer Unſitte im Gemuͤth hervorgehen und jede beliebige Anwendung im Leben geſtatten. Sie ſchmei - cheln dem innern Stolze, ſtempeln jeden, der ſich zu ihnen bekennt, zu einem Genie, das, von ſeinem Zeitalter un - gehalten, ſich ſelber Geſetze giebt, zwar die Staatsordnun - gen nothduͤrftig befolgt, um der oͤffentlichen Ahndung zu entgehen, auch ein oͤffentliches Amt verwaltet, inſofern es deſſen nicht entrathen kann, aber Alles wie unter der Wuͤrde des Mannes von wahrhafter Freiheit. Maͤnner der Art duͤnken ſich nicht dem einzelnen Staate, ſondern der Welt, der Menſchheit zu leben. Aus derſelben Quelle fließt auch auf dem Boden der Wiſſenſchaftlichen jenes oft ſo ſtolze Überheben uͤber den Staat und den Bedarf deſſelben. Man vernimmt zu Zeiten von einer Rechtsgelehrſamkeit, welche, ſich ſelber Zweck, viel zu gut ſey fuͤr die Rechtsanwen - dung, von einer Gegenwart, viel zu ſchlecht um verſtan - den zu werden, von einer Hiſtorie, viel zu vornehm um bis auf den heutigen Tag zu gehn. Vergeblich raͤth ſol - chen Stimmungen der Dichter, das was in ſchwankender Erſcheinung lebt durch dauernde Gedanken zu befeſtigen. Thucydides ſtellte was ihn ſchmerzte uͤber Reue und Klage hinaus in ſeiner Geſchichte auf; denn die Geſchichte iſt immer groß, mag ihr naͤchſtes Ziel Untergang oder Auf - gang ſeyn.
265Von d. Rechte d. Staates uͤb. Erzieh. u. Unterricht.267. Wenn die Quelle eines Irrthums hiſtoriſch nach - weiſen und ihn rechtfertigen einerlei waͤre, ſo genuͤgte es freilich anzufuͤhren, daß ſolche Richtungen ſich uͤberall zei - gen, ſobald die Wiſſenſchaften ſich entwickeln, uͤber den Bereich eines Staats hinauszugehen anfangen, und es nun offenbar wird, daß auf dieſem Felde Vertraͤge mit Aus - waͤrtigen geſchloſſen werden, die des Siegelbewahrers nicht beduͤrfen, daß hier eine Theilung der Geiſtesarbeit ſtatt - findet, die nicht einmahl der Krieg unterbricht. Das war es im Grunde, warum ſchon die Sokratiker ſchlechte Buͤr - ger heißen mußten, und als nun vollends ein Glaube uͤber den ganzen Welttheil ging, ein und daſſelbe Haupt des Glaubens jedweden Staat geiſtlichen Ordnungen unter - warf, die in das feinſte Geaͤder des Lebens drangen, da konnte es Einem der das Alles vom Standpunkte der Geiſtlichkeit betrachtete, leicht beduͤnken, daß wohl am Ende der gemeinſame Kirchenſtaat der allein wahre ſey, beſtimmt die aus dem Heidenthum uͤberlieferten weltlichen Staaten allmaͤhlig in ſich aufzunehmen. Dennoch war das Taͤu - ſchung und der Beweis des Gegentheils ward langſam aber gruͤndlicher als durch den weltlichen Arm auf unſchein - barem Pfade gefuͤhrt. In kloͤſterlicher Stille entwickelte ſich im Schooße der Geiſtlichkeit ſelber ein Schulſtand, trat dann freier heraus wo in Dom - und Collegiatſtiften Geiſt - liche zum kanoniſchen Leben vereinigt wohnten; nicht bloß kuͤnftige Geiſtliche zu bilden, auch die weltliche Jugend zu unterrichten ward der Zweck. Von da war noch ein wei - ter Weg bis zur Selbſtaͤndigkeit. Aber auch die Zeit der Univerſitaͤten kam und wie dieſe reif da ſtanden, erkannte die Kirche ihren vorigen Pflegling, den demuͤthigen Schul -266Zwoͤlftes Capitel.meiſter, gar nicht mehr. Die Wiſſenſchaft hat zwiſchen Staat und Kirche eine entſchiedene Stellung eingenommen; ſie zu uͤberſehen iſt unmoͤglich, allein ſie darf um ihres Heiles willen auch nicht uͤberſehen. Dieſe Zeit traͤgt eine ſchwere Laſt mit ſich, aber der Unbedeutendheit darf nie - mand ſie anklagen. Außerdem muß man den Boden ſtam - pfen, auf dem man ſteht.
268. Fichte hat in ſeiner Art energiſch den Verſuch gemacht dieſe vom oͤffentlichen Leben mit ſtolzer Schwaͤche abgewandte Geſinnung auf einen Streich todtzuſchlagen. Wie er fruͤher in ſeinem Naturrechte einen ſchwer loͤsbaren Knoten mit dem Satze zerhieb, es ſey gar nicht moͤglich, daß ein Volk rebellire, die hoͤchſte Gewalt gegen ſich ſel - ber, ſo nachher, da es galt ein unterjochtes Vaterland zu retten, aus Verzweiflung an den Eltern, die er vor Au - gen ſah, nahm er den Eltern die Kinder, ſtellte ſie in ein oͤffentliches Erziehungsinſtitut, hier ſollen ſie in die Welt der Anſchauung eintreten, der Staat ſoll ſelber ihr Erzie - her ſeyn. Allein der Staat, der die Älteren, in ſofern ſie Eltern ſind, vom Erziehungsamte abweiſt, bedarf der aͤl - teren Menſchen doch wieder als Erzieher, gruͤndet alſo auf einem Umwege doch gerade auf dem verderbten Theile des Gemeinweſens ſeinen Rettungsplan. Hier iſt alſo kein Ge - winn, um ſo ſicherer der Verluſt. Wo die wohlthaͤtige Waͤrme der Familie waltet, da erzieht der Hausvater, der dem aͤußern Leben vielleicht nur die gehaͤßige Seite zeigte, uneigennuͤtzig den Sohn, der ein beſſerer ſeyn ſoll als er ſelber, denn an dieſem Bande der Natur ſcheitert alle ſelbſt - ſuͤchtige Berechnung. Kein Staat hat je, ohne Schaden am beſten Theile ſeines Volks zu nehmen, ſich die Kinder zugeeignet, um nach ſeinem Gefallen ſie zu bilden, fuͤr267Von d. Rechte d. Staates uͤb. Erzieh. u. Unterricht.Staatszwecke ohne Ruͤckſicht auf die Selbſtbeſtimmung durch Anlage und Wahl; uns aber verbietet vollends beſſere Einſicht die Seelenverkaͤuferei an den Staat. Schutz und Wartung des menſchlichen Sproͤßlings gehoͤren der Familie an, vornehmlich ihrem weiblichen Theile, deſſen geſellſchaft - liche Beſtimmung ganz in der Familie enthalten iſt; denn die Jungfrau verlaͤßt dieſen Kreis nur um nicht von ihm verlaſſen zu werden und indem ſie einen anderen begruͤndet. Auch auf der ſpaͤteren Bildungsſtufe, wo ſich Erziehung und Unterricht unterſcheiden, bleibt der Theil der Erziehung, welcher vom Unterrichte getrennt werden kann, in der Hand der Familie; den die Bildungsanſtalten, welche Erziehung und Unterricht zugleich umfaſſen, ſind, wie viel auch ihre freier experimentirende Thaͤtigkeit der Erziehungswiſſenſchaft nuͤtze, doch nur da am Orte, wo die Familie fehlt, zer - ruͤttet, oder von den Mitteln der Bildung verlaſſen iſt. Der Unterricht geht zwar uͤber die Familie hinaus, und bedarf je mehr Bildung er bezweckt, um ſo mehr des Ge - meinweſens; jedoch wieder nicht ſo, daß die Regierung ſich des zu unterrichtenden bemaͤchtige. Sie wird oͤffentliche Unterrichtsanſtalten bilden und ſie anbieten, ohne den Pri - vatunterricht anders als dadurch zu beeintraͤchtigen, daß die Regierungsanſtalten die vollkommneren ſind. Ihrem ober - aufſehenden Charakter gemaͤß hat ſie das geſammte Unter - richtsweſen im Auge, ſchreibt die Faͤcher des oͤffentlichen Unterrichts vor, aber nicht die Wahrheiten des Faches, ge - ſtattet auch nicht daß die Kinder durch Fahrlaͤßigkeit der Eltern nichts von dem erfahren, woruͤber der Menſch nur zum Schaden ſeines Heiles unwiſſend iſt. Endlich pruͤft der Staat jedweden, bevor er ihn zum Lehren zulaͤßt.
268Dreizehntes Capitel.269. Reich kann ein Menſch den andern unbedingt machen, aber nur bedingt ihn bilden. Das Maas der Bil - dung wird vom Lebensalter, der Anlage und der Lebens - lage vorgeſchrieben. Man moͤchte jeden Zoͤgling lehren was gerade fuͤr ihn wiſſenswuͤrdig iſt, denn jedes Blatt am Baume der Menſchheit hat ſeinen eigenthuͤmlichen Zu - ſchnitt; weil aber eine Unterrichtsanſtalt ſich Vielen zugleich widmen ſoll, ſo geſchieht was thunlich iſt, wenn ſie ſich in Claſſen theilt. Das Übrige leiſtet die allgemeine Claſſifi - cation der Unterrichtsanſtalten, welche gelehrte und Buͤr - ger-Schulen unterſcheidet. Sie nehmen das ganze Schul - alter des Staats, das will ſagen mindeſtens den ſiebten Theil der Bevoͤlkerung auf, enthalten mithin auch den Elementarunterricht. Begreifen alle Schulen den Knaben unbequem unter der allgemeinen Bildungs-Regel, der Staat wird es kuͤnftig noch unſanfter thun; die Erziehung aber, welche ihm ungebeten ſeine Mitſchuͤler ertheilen, weckt die jugendliche Tuͤchtigkeit durch Widerſtand und Wetteifer, daß ſie ſich Platz machen lerne im Gedraͤnge der Mitwelt, waͤh - rend ſie ihm keine haͤusliche Verzaͤrtelung, keinen Unter - ſchied der Geburt und der Gluͤcksguͤter zu Gute haͤlt.
270. Die Aufgabe der gelehrten Schulen iſt nicht, Ge - lehrte zu bilden, wohl aber durch Kenntniſſe, gelehrt ge - nug um auf den Grund der menſchlichen Bildung zu drin - gen, Richtung und Mittel an die Hand zu geben, ſey’s fuͤr den kuͤnftigen Gelehrten, ſey’s zu den gelehrte Vorbil -269V. Unterricht d. Unerwachſenen, od. v. Schulweſen.dung erfordernden oͤffentlichen Geſchaͤften. Der Unterricht in gelehrten Schulen iſt ſeinem Weſen nach welthiſtoriſch, er pfluͤckt vom Baume der Erkenntniß, der durch die Pflege aller Voͤlker aller Zeiten gewachſen iſt. Die Un - terweiſung in den Buͤrgerſchulen hat eine ſtatiſtiſch-na - tionale Grundlage, ſie hat zunaͤchſt das Vaterland, zunaͤchſt den Bedarf des Augenblicks im Auge. Daraus erwaͤchſt ein Unterſchied in den Gegenſtaͤnden, mehr noch in der Behandlung des Unterrichts, und abermahls ein Unter - ſchied im Kreiſe der hoͤhern und niedern Buͤrgerſchule. Aber noch viel weniger fehlt es an dem was der ganzen Staatsjugend gemeinſames Beduͤrfniß iſt, denn die taͤg - liche Übung zum Gehorſam und die Bildung einer Ge - ſinnung ſind uͤberall die Hauptſache, und es ſind ja auch die von Alters her anerkannten Baſen des Unterrichts: Sprache und Mathematik, allen Unterrichtsanſtalten gemeinſam. Fuͤr das fruͤheſte Schulalter exiſtiren vollends die Unterſchiede zwiſchen gelehrter und hoͤherer Buͤrger - Schule nicht und es iſt ſogar buͤrgerlich nuͤtzlich, daß beide einfach ohne Überhebung des einen Theils zuſammenfallen, ſo lange es darauf ankommt die Mutterſprache zum Ge - genſtande des Unterrichts zu machen, daß ſie recht geſpro - chen, geleſen und geſchrieben werde, damit ſich dieſes Organ des Gedankens und der Darſtellung ſo von Anfang her berichtige, ſtatt von Anfang her, wie es meiſt der Fall noch iſt, ein verpfuſchtes Werkzeug zu ſeyn und ein Hinderniß fuͤr die Darſtellung des inneren Menſchen und jedes ge - faͤlligere Bezeigen. Bewegt ſich nun die Sprache man - nigfach im Reiche der Natur und der Geſchichte, ſo ſam - melt ſich hier fruͤhzeitig eine ſchoͤne Reihe nuͤtzlicher Kennt - niſſe, welchen die Kunde des naͤchſten Vaterlandes An - ſchaulichkeit zu geben vermag, Ordnung aber giebt ihnen270Dreizehntes Capitel.die Zahl, welche die Mathematik in der Rechnenkunſt hin - zubringt. Kaͤmen auch ſchon hier die Anfangsgruͤnde einer zweiten Sprache hinzu, welche naͤchſt der Mutterſprache am unmittelbarſten auf unſere Gegenwart und die meiſten le - benden Sprachen eingewirkt hat, der Roͤmiſchen, ſo waͤre auch das kein Verluſt fuͤr den kuͤnftigen Geſchaͤftsmann, denn die Elemente dieſer Weltſprache der Gelehrten leiten ihn gruͤndlich in das Verſtaͤndniß ſeiner Weltſprache ein, welches zur Zeit die Franzoͤſiſche iſt. So wie die Bil - dungsſtufen aber ſteigen, mithin in den hoͤheren Claſſen, trennen ſich die Buͤrgerſchule und die gelehrte Schule. Dieſe nimmt mehr alte Sprachen auf, der Lateiniſchen giebt die Griechiſche einen tieferen Grund und gewaͤhrt fuͤr groͤßere Anſtrengung den Lohn anſprechenderer Bil - dungsmittel, man dringt tiefer in die Schatzkammer der alten Literatur, vornehmlich durch Huͤlfe der Geſchichte, welche das rechte Gebiet auch iſt fuͤr die vielſeitige Übung des Gedaͤchtniſſes zur Zeit ſeiner groͤßeſten Empfaͤnglichkeit; jene nimmt mehr neuere Sprachen, mehr Sachkenntniſſe aus Natur und Leben und neuere Geſchichte auf; in der vaterlaͤndiſchen Geſchichte, welches fuͤr die Deutſchen die Geſchichte des geſammten Deutſchlands iſt und bleibt, begegnen ſich beide. Aber ebenfalls in der Mathematik iſt das der Fall, welche in jeder Unterrichts-Claſſe ſich fort - bildet und erweitert und eben darum in der hoͤchſten Claſſe der gelehrten Schule das zu leiſten vermag, was manche durch Einfuͤhrung der Philoſophie oder ihrer Ge - ſchichte in die Schulen zu leiſten trachten. Denn wie koͤnnte die Schule, welche der Regel, nicht der Ausnahme zu folgen hat, hoͤher hinauf, als daß ſie den philoſophi - ſchen Sinn entwickele? Das nun aber thut im hohen Grade die Mathematik. Sie geht als reine Vernunftwiſſen -271V. Unterricht d. Unerwachſenen, od. v. Schulweſen.ſchaft von der einfachſten Erkenntniß aus, knuͤpft an ſie durch eine niemahls abbrechende Kette von Schlußfolgen, die keine Luͤcke des Fleißes duldet, neue eben ſo gewiſſe Kenntniſſe an; ſie durchdringt den Schuͤler mit dem Ge - fuͤhle der vollkommenſten Evidenz, mit dem tiefſten Glau - ben daran, daß es Wahrheit giebt, unumſtoͤßliche; zu - gleich aber entwickelt ſie in ihm die eben ſo nothwendige Erkenntniß, daß nicht alle Wahrheit mathematiſch ſey, wenn er nehmlich die bloß formalen Groͤßen verlaſſend, von der Arithmetik und Algebra aus zur angewandten Mathe - matik uͤbergeht, wo denn ſeine mathematiſche Formel man - nigfach modificirt wird durch die hier und dort abweichen - den Naturthaͤtigkeiten. Dergeſtalt verbindet ſich die Ma - thematik, die in ihrer Wurzel bloß formale, auf die ein - fachſte Weiſe mit den materiellen Bildungselementen, durch die Naturwiſſenſchaften, gleichwie die[Sprachkunde] durch das Studium der Alten mit der Geſchichte; und in dieſem Sinne iſt die Koͤniglich Preußiſche Inſtruction fuͤr die Gymnaſien der Rhein-Provinzen vom 18. Sept. 1814 mit großer Einſicht abgefaßt.
Bernhardi, Anſichten uͤber die Organiſation der gelehrten Schu - len. Jena 1818. Abh. IV. Das 1834 zu Berlin erſchienene “Reglement fuͤr die Pruͤfung der zu den Univerſitaͤten uͤbergehen - den Schuͤler” nennt indeß unter den Pruͤfungsgegenſtaͤnden auch philoſophiſche Propaͤdeutik.
271. Aus den Schulen ſind die Univerſitaͤten durch Abſonderung hervorgegangen; dadurch aber haben die Schu - len nicht das Recht erworben ſich zu Univerſitaͤten zu er - weitern, oder ſich auch nur in den Beſitz einzelner Uni - verſitaͤtsgebiete zu ſetzen. Zwitteranſtalten dieſer Art uͤber - ſpringen was ſie leiſten koͤnnen, (und ein gelehrter Schul - ſtand wie der Deutſche vermag viel) um zu verſuchen was272Dreizehntes Capitel.nie gelingt. Auch der Verſuch die Methode der Univerſi - taͤt in der Schule nachzubilden, iſt eitel. Es pflegt in die auf Profeſſoren-Weiſe lehrenden Schullehrer ein umſtaͤnd - lich-vornehmer Styl uͤberzugehen, dem Unterrichte keines - wegs erſprießlich. Die einzige Sorge geht dahin, im wiſ - ſenſchaftlichen Zuſammenhange zu lehren und etwa Hefte ſchreiben zu laſſen, das verdienſtlichſte Bemuͤhen aber ſtets nachzufragen, ob auch die Lehre haftet, die laſſe Aufmerk - ſamkeit immer wieder zu erwecken, wird hintangeſetzt. Eben ſo nachtheilig aber iſt die Einwirkung auf die Disciplin. Das gebundene Verhaͤltniß, welches dem Schulalter ziemt, iſt auch ohne ſolche Vermiſchung ganz verſchiedenartiger Betriebe, gefaͤhrdet genug in einer Zeit, in welcher wenige zu befehlen wiſſen und faſt niemand gehorchen mag. Ehe - dem uͤbergaben die Eltern den Lehrern die volle vaͤterliche Gewalt waͤhrend der Dauer der Schulſtunden; manche Leidenſchaft konnte da vorfallen, allein der Sinn war rich - tig und dem noͤthigen Anſehn der Lehrer angemeſſen. Auch jetzt geſtattet man den Eltern keine Einmiſchung, aber man will durch oͤffentliche Inſtructionen (die magna charta der Schuͤler) und Schulcollegien zuſehen, daß gerecht ge - ſtraft werde, und zu dem Ende wird nicht nur durch weit - laͤuftige Cenſurprotocolle, die ſich mit Unarten und Ver - ſaͤumniſſen fuͤllen, eine Art von Annaliſtik der Ungezogen - heit gegruͤndet, die gute Zeit den Lehrern entwandt, ſon - dern was bei weitem ſchlimmer, ihr Anſehn bei Hauptfaͤl - len durch ein faſt gerichtliches Verfahren gefaͤhrdet. Zuͤch - tigung durch den Pedellen oder Carcer iſt die Folge, wobei ſchon der Aufſchub der Strafe ſchaͤdlich wirkt, die Strafe aber jugendlichen Fehlern das Anſehn von Verbrechen giebt. Aber auch Freiſprechung kann die Folge ſeyn, und ſo hat der Lehrer dem Schuͤler als Parthey gegenuͤber geſtanden273V. Unterricht d. Unerwachſenen, od. v. Schulweſen.und hat ſeine Sache verloren. Eine ſtarke disci - plinariſche Gewalt muß in den Haͤnden der Lehrer ruhen. Die in Eton-School verbrauchten Birken-Waͤlder (auf welche Burke mit der Hand hinzeigte, als ihn Madame de Genlis um das paͤdagogiſche Princip der Englaͤnder fragte), denen ſelbſt der ſchon erwachſene Fox nicht entge - hen konnte, ſind fruchtbringender geweſen als unſere Schul - ordnungen, die den Schuͤlern ſagen, wann ſie den Schlaͤ - gen entwachſen ſind und die Lehrer unter die Aufſicht der Schuͤler ſtellen. Muͤſſen denn die Geſetze immer nur dann kommen, wenn ſie nicht mehr noͤthig ſind? Gegen Schul - tyrannen hatte in Deutſchland die oͤffentliche Meinung laͤngſt entſchieden, litt ſie nirgend mehr, als eine verweich - lichte Schulgeſetzgebung der leeren Furcht vor ihnen die Disciplin zum Opfer brachte. Nichts muß in dieſer Hinſicht ſo vorliegen, daß es ein Recht des Schuͤlers werden koͤnnte, Alles der Anordnung der Obern und der ſtillen Übereinkunft der Lehrer uͤberlaſſen bleiben. Durchaus kein Contract mit den ausgeſetzten Theilen des Koͤrpers, keine Aſſecuranz irgend einer Art.
272. Wie weit man mit der Bildung der unteren Claſſen der Bevoͤlkerung gehen duͤrfe? Die Beantwortung dieſer Frage haͤngt weit weniger von der Anlage, die kei - nem Volke fehlt, von dem Begehren nach Bildung, das ſich wecken laͤßt, als von dem Bildungsvermoͤgen ab. Das Angebot der Bildung ſoll ſtattfinden, Bibel und Kate - chismus dringen ſich dem Proteſtanten auf, und ſo wenig der Vater jetzt ſein Kind toͤdten darf wie in den alten Roͤ - mertagen, ſo wenig darf die Gleichguͤltigkeit und der Ei - gennutz der Ältern ſeinen Geiſt abtoͤdten; der Staat hat ein Einſehn darin. Die Reformation iſt die Mutter der18274Dreizehntes Capitel.leſenden und ſchreibenden Voͤlker, den Beweis giebt Schott - land, wo ihr Geiſt das ganze Volk durchdrang, ein un - ſaͤgliches Gruͤbeln und Streiten uͤber Dogmen weckte und Buch und Feder in jede Huͤtte brachte. Nicht ſo in England, noch weniger natuͤrlich in Irland. Man koͤnnte in jedes Ir - laͤndiſche Dorf ein Schulhaus ſtellen, einen Schullehrer hin - ein, ohne die Volksbildung einen Schritt weiter zu brin - gen; warum? weil das Bildungsvermoͤgen fehlt. Die aͤußeren Anſtalten ohne dieſes ſind nicht mehr als die De - corationen von Doͤrfern und Heerden, mit denen Kaiſe - rin Katharina bei ihrer erſten Reiſe in die Krimm geblen - det ward. Der Zuſtand des niedern Landmanns, des Lohnarbeiters muß ihm erlauben von der Erde aufzuſehen, die heranwachſenden Kinder eine Weile zu entbehren, die Urſachen und die Stuͤtzen ſeines arbeitvollen Elends. Denn wer beſtaͤndig fuͤr den Bedarf zu trachten hat, der betrach - tet die Friſtung des ſinnlichen Daſeyns als des Lebens Ziel; ohne die aufloͤſende Wohlthat der Nacht waͤre er gei - ſtig ganz dahin. Man kann die Arbeit eines zu reizbaren Gehirns durch koͤrperliche Arbeit maͤßigen, Grillen weg - ſpaziren, allein eben ſo gewiß nimmt das Übermaas der Koͤrperarbeit dem Geiſte die Schwingen, bringt Raͤuber - oder Sclaven-Naturen hervor und die Irrlehre von billig erblicher Knechtſchaft. Immer aber behaͤlt fuͤr den Haus - ſtand des Armen jede geraubte Arbeitsſtunde großen Werth; ihm darf nur maͤßige Zeit durch vorgeſchriebenen Unter - richt der Seinen entwandt werden. Darum verdienſtlich das Bemuͤhen in kurzer Zeit viel zu leiſten, wie der wech - ſelſeitige Unterricht verſpricht, welchen der Schotte Andreas Bell bei den Hindus fand und den Ruſſiſche Reiſende ſpaͤter auch in Tibet entdeckt haben. Dergeſtalt hat er den Beweis ſeiner Ausfuͤhrbarkeit ſchon mit ſich gebracht, da -275V. Unterricht d. Unerwachſenen, od. v. Schulweſen.zu Zeiterſparung, Wohlfeilheit, und Manchem empfiehlt ſich vielleicht auch die ihm eigene ſoldatiſche Subordina - tion. Wirklich ſcheint dieſe Methode Empfehlung in den Landen zu verdienen, wo fuͤr Elementarſchulen wenig ge - than iſt wie in einem großen Theile von Großbritannien, von Frankreich1) und beſonders in Rußland und dem fruͤher Spaniſchen America, weil es gut iſt daß leſen, ſchreiben, rechnen verbreitet werde da wohin es ſonſt nicht kaͤme. Wo auf Maſſen mit wenigen Mitteln in der kuͤrzeſten Zeit gewirkt werden ſoll, da iſt Mechanik die einzige Methode. Allein wenn man fruͤher die ſpielenden Unterrichtsmethoden zu bekaͤmpfen hatte, ſo bekaͤmpfe man jetzt mit allem Ernſte die mechaniſchen, moͤgen ſie Jacotot, Hamilton oder Bell - Lancaſter heißen; denn zweckwidriger koͤnnte wohl nichts ſeyn als was wir doch erlebt haben, die Zerruͤttung eines verſtaͤndig geordneten, nur zu koſtſpieligen Land-Schul - weſens, um mit neuen Koſten dieſe ſummende, ſchnurrende Wechſelſeitigkeit einzufuͤhren. Der wahre Menſchenfreund wird mit dem Unterrichte auch der unterſten Volksclaſſen nicht bloß den naͤchſten praktiſchen Nutzen erzielen, ſondern erhoͤhte Geiſtesthaͤtigkeit und dadurch Sitte. Nur einer beguͤnſtigten Minderzahl im Volke iſt es vergoͤnnt ſich mit freierer Muße der Arbeit hoͤherer Bildung zu widmen. Wo nun die Muße ſich von freien Stuͤcken Gedanken-Arbeit ſchafft, wo nothwendige Arbeitſamkeit ſich ſtaͤrker anſpannt, um einige Mußeſtunden zu gebildetem Genuſſe zu gewin - nen, da hat Jugendbildung gewaltet. Keine Tugend wird in genieſuͤchtiger Zeit mehr verkannt und modiſcher her - abgewuͤrdigt als jene edle Beharrlichkeit, welche die Mut - ter freier Arbeitſamkeit iſt. Newton ward gefragt, wo - durch er die Geſetze der Natur gefunden? Er antwortete: durch große Arbeit und Geduld. Buffon definirt ſogar18*276Dreizehntes Capitel.das Genie als eine natuͤrliche Anlage zur Ausdauer (l’ap - titude à la patience). Der Menſch allein verſteht fuͤr Jahre und fuͤr die Ewigkeit zu arbeiten; Ernſt und Muͤhe befruchten ſelbſt das geringere Talent, bringen einigen urbaren Boden auf ſtarre Felſenhaͤupter. Arbeit, die am ernſten Zwecke haftet, begruͤndet den ſittlichen Charak - ter, durch das Sustine das Abstine, Kraft fuͤr das Va - terland und einen Sinn daruͤber hinaus fuͤr die Menſchheit.
273. Man kann den Pythagoras im Kreiſe ſeiner Juͤnglinge die aͤlteſte Univerſitaͤt nennen, von ihm an gab es nur Special-Schulen der Philoſophen und Redner bis auf Ariſtoteles. Vor dieſem gewaltigen Manne thaten ſich Speculation, Natur und Geſchichte gleichmaͤßig auf; der Grund tieferer Sprachkunde lag freilich außer der Sphaͤre des Alterthums. Allein wie Ariſtoteles im Lyceum Athens zweimahl jedes Tages, Morgens und Abends, vor jetzt mehr als 2,100 Jahren lehrte, in gleich lebendigem Zu - ſammenhange des Ganzen und harmoniſcher Entwickelung der einzelnen derzeit ſelbſtaͤndigen Wiſſenſchaften, ſo mag wohl auf keiner unſerer Univerſitaͤten gelehrt worden ſeyn. Seine Schuͤler waren dem Schulalter entwachſen. Wiſſen - ſchaft aber, ihrem ausgebildeten Umfange nach dem maͤnn - lichen Lebensalter vorgetragen, iſt das Unterſcheidende des Univerſitaͤts-Unterrichts. Das neuere Univerſitaͤtsweſen iſt ebenfalls von einzelnen hervorragenden Maͤnnern ausgegan - gen, aber ſolchen, die ein einzelnes Fach anbauten. Den Gerbert allenfalls moͤchte man eine wandernde Univerſitaͤt nennen, aber ſeine Hoͤhe wird denn doch zu vielfach von den Wipfeln der großen Alten uͤberragt und er belehrte nur die Jugend einzelner Fuͤrſtenſoͤhne, in Hugo Capets und der Ottonen Hauſe. Aber die Verweltlichung des Wiſſens ſteckte ſchon in ſeinem Thun. Klarer ward es, daß die Geiſtlichkeit den Alleinbeſitz der Wiſſenſchaft ver - lieren werde, als ein getaufter Jude Conſtantin der Kar -278Vierzehntes Capitel.thager, kein Ariſtoteles, (der unter Andern auch den Ele - phanten ſecirte, welchen die Kriegszuͤge ſeines Zoͤglings ihm zufuͤhrten), ſondern der Mann eines einzelnen Faches, die Medicin fuͤr ſich herausriß, welche bis dahin ebenfalls von der Geiſtlichkeit mit Reliquien und Beſchwoͤrungen und Receptbuͤchern beſtritten ward, und der Welt zeigte, daß ſeine weitlaͤuftigen Reiſen in Aſien und Ägypten ihn weiter gebracht haben. Man nennt ihn als den Anlaß zur mediciniſchen Schule von Salern.
274. Manch Menſchenalter aber verging, ehe aus ſolchem Betriebe vereinzelter Zweige des Wiſſens der voll - ſtaͤndige Koͤrper der Wiſſenſchaft auf dem Wege allmaͤhli - ger Verbindung ihrer Gliedmaaßen hervortrat. Denn Kai - ſer Friedrich II, hier wie in Vielem das Maaß der Zeit uͤberſpringend, ging uͤber die gelehrten Mittel ſeiner Tage hinaus, als er auf die hohe Schule von Neapel Lehrer fuͤr alle Wiſſenſchaften berief; und als es daran laͤngſt nicht mehr gebrach, hat nicht die Pariſer Univerſitaͤt gleichwohl viertehalb Jahrhunderte lang das Roͤmiſche Recht nicht lehren duͤrfen, oder nur verſtohlen gelehrt1)? Nachdem man aber den nothwendigen Zuſammenhang des menſchlichen Wiſſens verſtanden und erfahren hatte, was der Geſammt - betrieb an demſelben Orte bedeute, ließ ſich die Nothwen - digkeit der Theilung der Arbeit um ſo weniger uͤberſehen, je erſichtlicher mit jedem Tage der Apparat des Wiſſens zunahm. Unmoͤglich, daß wie vormahls der Geiſtliche auch den Civiliſten mache, ohne ſeinen Beruf zu verfehlen. Wenn zufaͤllige Umſtaͤnde den Sieg der Facultaͤts-Verfaſſung uͤber die nach Nationen und Provinzen hervorriefen, es war nichts deſto weniger ein Sieg der Wiſſenſchaft.
275. Um die Mitte des funfzehnten Jahrhunderts be - ginnen unſere vaterlaͤndiſchen Univerſitaͤten einen eigenthuͤm - lichen Charakter zu entwickeln. Die Druckerkunſt faͤngt an, und die Reformation vollendet. Zwar kann man auch das ſchon eigenthuͤmlich heißen, daß in dem politiſch zerſtuͤckelten Deutſchland von Anfang her mindere Unterſtuͤtzung, aber mehr Freiheit der Studirenden ſtattfand. Keine Spur frei - lich von jener ſtolzen Autonomie der Bologneſer Rechts - ſchule, wo die Lehrer unter der Gerichtsbarkeit ihrer Schuͤ - ler ſtanden, nur daß allenfalls auch einen Profeſſor die Wahl zum Rector durch der Schuͤler Stimmen treffen konnte; die Zeiten waren uͤberhaupt nicht mehr, da Maͤn - ner von vorgeruͤcktem Alter und hoͤchſtem Range von allen Enden herbeiſtroͤmten, um Schuͤler der Roͤmiſchen Rechts - weisheit zu werden. Das Deutſche Univerſitaͤtsweſen hatte die Pariſer hohe theologiſche Schule zum Vorbilde; hier galt der Grundſatz geiſtlicher Disciplin von Anfang her und die großen Unterſtuͤtzungen, welche die aͤrmeren, in weitlaͤuftigen Gebaͤuden zuſammenwohnenden Studirenden genoſſen, ſtellten gerade dieſe Collegien, mit aller der Auf - ſicht uͤber Leben und Studium, die an ihnen haftete, in den Mittelpunkt der Pariſer Univerſitaͤt. Wer nicht in einem Collegium lebte, unterſtuͤzt oder in den Mitgenuß der Stiftung eingekauft, gehoͤrte nicht zur eigentlichen Univerſitaͤt, er lebte in communi. In Deutſchland nun war die Unterſtuͤtzung geringer und ſchwieriger zu er - langen; aber die bursae der Deutſchen waren dafuͤr meiſt freie Penſionsanſtalten, die ihre Mitglieder ge - gen Zahlung aufnahmen. Man waͤhlte ſeine Vortraͤge280Vierzehntes Capitel.ſo frei als die perſoͤnliche Autoritaͤt der Lehrer, die gebun - dene Art der Lehre, die Nothwendigkeit ſich im Disputiren kunſtgerecht zu zeigen, es geſtattete. Der Muth zu freiem Vollbringen wuchs, als ſeit der Eroberung von Conſtan - tinopel jene unverſiegbare Quelle der Griechiſchen Bildung ſich fuͤr die Deutſchen urſpruͤnglicher aufthat, als Androni - kus Kontoblakas in Baſel Griechiſch lehrte und Reuchlin auf dem in Paris gelegten Grund nun hier und in Tuͤ - bingen weiter bauen konnte. Er brachte ſeinen Verwand - ten Philipp Melanchthon als Lehrer der Griechiſchen und Hebraͤiſchen Sprache nach Wittenberg. Seit ſo der Kreis der Wiſſenſchaft ſich erweiterte, das Älteſte zum Neueſten ward, die Hoͤrſaͤle der Scholaſtiker verlaſſener daſtanden, war es beſonders wichtig, was nun die Druckerkunſt hin - zutretend vollbrachte. Die endloſen Dictate hoͤrten auf nothwendig zu ſeyn, ſeit man der Bibel, der Roͤmiſchen Geſetzbuͤcher wohlfeilen Kaufs habhaft werden konnte und nun der Text-Dictate mindeſtens nicht bedurfte; auch die Jahre lange, manchmahl bandwurmartige Dauer einer Vor - leſung hoͤrte auf, man las doch nur zwei Jahre an den Inſtitutionen, kam auf ein Jahr, und als Goͤttingen ge - gruͤndet ward, lautete nach dem neuen Muſter der Saͤch - ſiſchen Univerſitaͤten die Vorſchrift dahin, jeden Lehrgegen - ſtand ſo viel moͤglich in einem Semeſter abzuthun1). Das Wichtigſte aber hat die Reformation gethan; ſie vermehrte die politiſche Entzweiung unſeres Vaterlandes, allein ſie gab den Deutſchen eine allgemeine Buͤcherſprache und brachte die geiſtige Waͤrme dieſer Mutterſprache auf die von Alters her Lateiniſch lehrenden Katheder. Die Univerſitaͤ - ten hatten es um ſie verdient. Die Reformation erwuchs, im Schooße einer Univerſitaͤt genaͤhrt, in wenig Jahren zur Mannes-Reife; die Schweitzeriſche Lehre gedieh nicht281Vom Univerſitaͤtsweſen.fruͤher, als bis ſie ihre Univerſitaͤt, Genf, gefunden hatte. Dem neuerwachten Leben des Geiſtes ſchloſſen ſich alle gluͤcklichen Talente an; wie oͤde ward es da, wo man es ausſchloß! Es gehoͤrt eine ſeltene Geiſteskraft und Reinheit dazu, ſich uͤber widerwaͤrtige hiſtoriſche Erinnerungen bis zur Unpartheilichkeit zu erheben, aber gluͤcklicher Weiſe auch die ſeltenſte Verblendung, um erhebender zu vergeſſen. Preußen iſt durch die Reformation Alles geworden was es iſt; Öſterreich waͤre durch ſie zu verſchiedenen Mahlen bei - nahe untergegangen. Wie man aber uͤber die Reformation denkt, ſo denkt man uͤber die Univerſitaͤten, die den Geiſt der Reformation in ſich aufgenommen haben.
276. Die Reformation ging in der Fortbildung der hohen Schulen ihren ſicheren Weg, aber nicht ſo raſch als man gewoͤhnlich annimmt. Gar manche alte Gewohnheit blieb haͤngen. Erſt Chriſtian Thomaſius verdraͤngte die Lateiniſche Sprache vollends von den Kathedern und es brauchte Zeit ehe die große Umgeſtaltung der Kirchengeſchichte, mit ruͤckwirkender Kraft vollfuͤhrt, aber durch wie unchriſt - liche Leidenſchaften verſpaͤtet! bis zur politiſchen Darſtel - lung durchdrang. Die erſte Stelle im kirchlichen Staate nahm jetzt der proteſtantiſche Landesfuͤrſt ein, allein dieſer Zuwachs fuͤrſtlicher Macht kuͤndete fuͤr die Univerſitaͤten eine große Umgeſtaltung mehr in der Ferne an als daß ſie ſchon in Erfuͤllung getreten waͤre. Die theologiſche Facul - taͤt bleibt nach wie vor die Grundlage der Deutſchen Uni - verſitaͤten, ſie uͤbt eine Art von Aufſichtsrecht uͤber das Ganze. Die Profeſſoren aller Facultaͤten wurden in Helm - ſtaͤdt auf die proteſtantiſchen Bekenntnißſchriften, auch auf die Concordienformel vereidigt; hiezu kam, damit es an einer Norm der Lehre nirgend fehle, die beſondere Ver - pflichtung der Mediciner auf Hippokrates, Galenus und Avicenna als goͤttliche Lehrer, der Philoſophen auf Ariſto - teles und Melanchthon. Das Vier-Monarchien-Syſtem des Magiſters Carion, auf Melanchthons Autoritaͤt geſtuͤtzt, ließ nicht ab von der Univerſalhiſtorie, und wie eiferſuͤchtig ward der Kampf gegen die wachſende Macht der Humani - ſten gefuͤhrt, die doch in alle Wege in den Bahnen der Reformation lag! Was eben Ambos war, wird Hammer. Wollte man doch im proteſtantiſchen Tuͤbingen lange Zeit den Profeſſoren der Philoſophie die Ehe verbieten!
Die Corporationsrechte blieben ſtark, nur daß der Landesherr, indem er ſich ſelbſt als Rector aufſtellte, eine entſchiedene Stellung nahm. Die Univerſitaͤt hatte bloß284Vierzehntes Capitel.den Vice-Rector (Prorector) zu waͤhlen, der nach der Ordnung der Facultaͤten gewaͤhlt ward, außer wo, wie in Tuͤbingen, die philoſophiſche Facultaͤt noch in tiefer Her - abwuͤrdigung unter den andern ſtand. Der Senat uͤbte bei Vacanzen das Recht der Vocation, aber der Landes - fuͤrſt als Rector confirmirte, hatte alſo ein Veto bei der nicht auf Lebenszeit, ſondern nach gewiſſen Pruͤfungen auf Aufkuͤndigung oder etwa auf zehn Jahre gegebenen Anſtel - lung. Das Recht der Vocation pflanzte in jeder Univer - ſitaͤt einen gewiſſen unveraͤnderlichen Typus fort, ge - woͤhnlich zugleich einen polemiſchen Gegenſatz gegen eine oder die andere Univerſitaͤt; die Lehrer fuͤr ſich und wieder Lehrer und Schuͤler bilden ein Ganzes des Glau - bens und der Überzeugung. An Erſchuͤtterungen freilich fehlte es auch nicht, wenn etwa ein calviniſtiſch geſinnter Fuͤrſt an die Stelle eines Fuͤrſten der Concordienformel trat. Das Recht der Landſtandſchaft der Corporationen ging aus ihrem großen Grundbeſitze, nicht aus Wuͤrdigung ihrer Intelligenz hervor. Dieſer Grundbeſitz knuͤpfte mannig - fache Verwaltungsſorgen an die uͤbrigen Pflichten der aka - demiſchen Behoͤrden.
Die Lage der Studirenden wuͤrde man heutiges Tages nicht beneidenswerth finden. Zwar keine einengende Col - legien-Ordnung im Franzoͤſiſchen und Engliſchen Sinne, jedem Studirenden blieb die freie Wahl ſeiner Wohnung, und wenn Viele in Privat-Convictorien lebten, welche einzelne Profeſſoren hielten, und ſomit unter deren ent - ſchiedener Aufſicht ſtanden, ſo ging das aus freier Wahl hervor; aber haͤufige Pruͤfungen in den Vorleſungen fan - den ſtatt, daneben die Disputatorien, derzeit als unerlaͤß - licher noch als die Duelle betrachtet, die noch immer geringe Zahl der Buͤcher, ſo Vieles, wozu der Lehrer allein den285Vom Univerſitaͤtsweſen.Schluͤſſel hatte; Alles das zuſammengenommen begruͤndete eine große Abhaͤngigkeit der Studirenden, welche durch die ſtrengen Verpflichtungen der Promovirten, ſogar uͤber die Univerſitaͤt hinausging.
277. Die heutige Form des Deutſchen proteſtantiſchen Univerſitaͤtslebens iſt nicht aͤlter als das achtzehnte Jahr - hundert. Das lehrt vielleicht am klarſten eine Vergleichung der beiden Univerſitaͤten der Braunſchweigiſchen Lande: Helmſtaͤdt’s, 1574-76 gegruͤndet1), und durch den Re - ceß von 1635 gemeinſchaftliche Landesuniverſitaͤt des Braun - ſchweigiſchen Geſammthauſes, und der Univerſitaͤt Goͤttin - gen, nach deren Eroͤffnung im Jahre 1737 der Gruͤnder Koͤnig Georg II. auf die mannigfache Zuſchuͤſſe erfordernde Mit-Direction der Helmſtaͤdter Univerſitaͤt verzichtete (1745), die dann waͤhrend des Weſtphaͤliſchen Zwiſchenreiches 1809 vollends aufgehoben ward. Auf Helmſtaͤdt paßt Alles, was bisher von den proteſtantiſchen Univerſitaͤten Deutſch - lands bemerkt iſt, aber durchaus nicht auf Goͤttingen. Die Stiftung und Entwickelung der Goͤttinger Univerſitaͤt faͤllt in eine Zeit der uͤberall in Deutſchland geſteigerten lan - desfuͤrſtlichen Macht, des ſinkenden Einfluſſes der Kirche in die Staatsverhaͤltniſſe, des von der theologiſchen Auf - ſicht befreiten Studiums der Alten, der wachſenden Ab - neigung gegen Alles was ſich als Zunft gegen den ſchon nach Einheit bewußter ſtrebenden Staat abſchließt. Schon die Univerſitaͤt Halle war im Sinne einer Oppoſition ge - gen Öſterreich, daneben der Duldung unter Lutheranern und Reformirten gegruͤndet. In Goͤttingen ſollte ſich das Beduͤrfniß befriedigen im proteſtantiſchen Deutſchland Lehr - ſtuͤhle des deutſchen Staatsrechts zu beſitzen, wo dieſes dem Religionsfrieden und dem Weſtphaͤliſchen gemaͤß ge -286Vierzehntes Capitel.lehrt wuͤrde, die Territorial-Hoheit ſtuͤtzte, den Kaiſer auf wenige Reſervatrechte beſchraͤnkte. Die Univerſitaͤt ward ohne Grundbeſitz auf Geldeinkuͤnften gegruͤndet, von wel - chen die Landſchaften einen Theil jaͤhrlich beitrugen, bei weitem der groͤßte Theil aber aus der ſogenannten Calen - bergiſchen Kloſtercaſſe floß, welche aus den Einkuͤnften der aufgehobenen Kloͤſter in dieſer Provinz entſtanden iſt, die der Landesherr, laut Übereinkunft mit den Staͤnden, nicht zu ſeinen Kammer-Revenuͤen zu ziehen, ſondern fuͤr das Unterrichtsweſen und milde Zwecke zu verwenden hat. Weil nicht grundbeſitzend, vielmehr uͤberhaupt ohne Ver - moͤgen, war auch von keiner Landſtandſchaft der Univerſi - taͤt die Rede; ſie iſt ihr erſt geworden, ſeit es ein Koͤnig - reich Hannover mit einer allgemeinen Staͤndeverſammlung giebt, und durch das Staatsgrundgeſetz neuerdings aner - kannt. Die Univerſitaͤt, Prorector und Senat an der Spitze, theilte ſich nach alter Ordnung in vier Facultaͤten, welche academiſche Wuͤrden ertheilen, aber das Recht der Vocation, welches die Univerſitaͤten aͤlterer Stiftung theils uneingeſchraͤnkt, theils in Beziehung auf die Profeſſuren der aͤlteſten Fundation beſaßen, nicht beſitzen. Der Lan - desherr uͤbt dasſelbe durch ein Curatorium aus. Hiemit war die Zunft aufgeloͤſt, da ſie keine Meiſterrechte mehr ertheilen durfte, ganz gewiß mit triftigem Grunde, und Goͤttingen hat ſich deſſen zu erfreuen gehabt, allein immer doch auch hier zum Beweiſe, daß die Macht der alten Cor - porationen nicht vor einem ploͤtzlichen Neuerungstriebe, ſeys der Regierungen, ſeys der Unterthanen, ſondern vor den veraͤnderten Beduͤrfniſſen und unter Vorgang der Regie - rungen ſelber geſunken iſt. Auch erhielt die neue Univer - ſitaͤt uͤberhaupt keine unveraͤnderliche Statuten. Goͤttingen hat das Seine gethan, die vaterlaͤndiſchen Univerſitaͤten in287Vom Univerſitaͤtsweſen.Staatsanſtalten zu verwandeln, und wir nennen das kei - nen Ruͤckſchritt. Denn die Lehre war freier als leicht irgendwo wo Facultaͤten das Regiment fuͤhrten. Die Stu - direnden auch genoſſen von Anfang her voͤlliger Freiheit, im Wohnen nicht minder als in der Wahl ihrer Lehrer und Vorleſungen. Die Vorſchriften uͤber Examinatorien, Dis - putatorien veralteten bald; der Sinn des Zeitalters ſtand entgegen.
278. Die Gefahren, welchen das Deutſche Univerſi - taͤtsweſen neuerdings ausgeſetzt iſt, haben zum Theil in der allgemeinen Lage unſeres Vaterlandes ihren Grund, zum Theil ſind ſie ſelbſtverſchuldet. Öſterreich hat ſich dem Proteſtantismus, mithin dem Geiſte des proteſtantiſchen Univerſitaͤtsweſens, welches dieſe Richtung concentrirt, nie befreunden koͤnnen. Dieſer Staat ſchreibt ſeinen Uni - verſitaͤten einen ſtrengen Studien-Plan vor, beaufſichtigt in Schulart den Fleiß, und der durch Vorſchrift geregelte Vortrag pflegt beſtaͤndig mit Einzel-Pruͤfungen abzuwech - ſeln; man lehrt im Ganzen Kenntniſſe, nicht Wiſſenſchaften. Öſterreich ſieht auf ſeinem Standpunkte Gefahr in Allem was daruͤber hinaus liegt und bedient ſich ſeines maͤchtigen Einfluſſes, welchem kein corpus evangelicorum, keine itio in partes laͤnger im Wege ſteht, um die Thaͤtigkeit der Deutſchen hohen Schulen auf gleichmaͤßig vorgeſteckte Graͤnzen zuruͤckzufuͤhren. Dieſe Anſicht hat dadurch vielen Eingang auch bei einigen anderen Deutſchen Regierungen gefunden, daß die Deutſche Univerſitaͤtsjugend, von ihren Studien durch eine ſchwere Zeit zur Mannesarbeit abge - rufen, und derzeit in manchen heimlichen Verkehr zum288Vierzehntes Capitel.Sturze der Unterdruͤckung eingeweiht, nachdem ſie zur Rettung des Vaterlandes an ihrem Theile redlich beigetra - gen, nicht hinlaͤnglich hat einſehen wollen, daß dieſer Zu - ſtand ein außerordentlicher geweſen ſey und daß, ſtatt den - ſelben widernatuͤrlich feſtzuhalten, ſie vielmehr eilen muͤſſe zu jener gluͤcklichen geſchuͤtzten Lage zuruͤckzukehren, welche die Sorgfalt der Vorfahren ihr milde bereitet hat; eine Lage, in welcher der Staat ſie freiſpricht von allen An - forderungen und nichts deſto weniger mannigfach mit den groͤßeſten Vortheilen und Rechtswohlthaten ausſtattet. Viele haben das verkannt, nicht wenige in Verhoͤhnung der ge - ſellſchaftlichen Schranken ihr Wiſſen und ihr Leben durch vermeſſene Anſchlaͤge zu Grunde gerichtet, auch einzelne Lehrer haben, einer gefaͤhrlich unbeſtimmten Anſicht folgend, einen Irrthum geſchuͤrt, der hin und wieder zur Flamme ausgebrochen iſt.
279. Will man ſich die Frage beantworten, ob unge - achtet jener Gefahren das Univerſitaͤtsweſen in ſeiner freie - ren durch den Proteſtantismus begruͤndeten Form (denn an dem Namen Univerſitaͤt liegt nichts) feſtzuhalten ſey, ſo muß man von der Frage anfangen, ob man den Fortbe - trieb der Wiſſenſchaften wolle. Kann man dieſen nicht wollen? oder richtiger, kann man ihn verhindern? Eines kann man. Man kann die Wiſſenſchaften von den Univer - ſitaͤten vertreiben, indem man ſie auf die Fortpflanzung uͤberlieferter Kenntniſſe beſchraͤnkt. Es geht durchaus nicht uͤber die Macht des Staates, die bisherigen Sitze freier Bildung in haͤmmernde Werkſtaͤtten zu verwandeln; allein der den Wiſſenſchaften zugedachte Schlag wuͤrde weniger ſie, die ſich auch aufs Wandern verſtehen, als die Staats - jugend treffen. Es geht durchaus nicht uͤber die Macht289Vom Univerſitaͤtsweſen.des Staates, dieſe zu ſolchen Univerſitaͤten zwangsmaͤßig an - zuhalten, allein er hat die Macht nicht, der Verachtung zu wehren, mit welcher ſie Staatsanſtalten betrachten wird, die das Zeugniß der auf ein beſſeres Ziel geſtellten Schu - len und der geſammten Deutſchen Literatur gegen ſich haben, von denen ſich mit Entruͤſtung die oͤffentliche Mei - nung abwendet. Denn an den Stellen, wohin ſonſt ein edler Ehrgeiz die Beſtgebildeten fuͤhrte, werden dann Hand - langer ſtehen, und man wird es dann recht am hellen Tage erkennen, wie deren Geſchaͤft ſtille ſteht, ſobald die Wiſſen - ſchaftlichen, die vom Lehren ausgeſchloſſen ſind, nicht den Anſtoß mehr geben; denn ja auch jene Lehr - und Hand - buͤcher, die jetzt nach Vieler Meinung die Univerſitaͤten uͤberfluͤſſig machen, ſind ja allein dadurch entſtanden, daß es Maͤnner gab, welche durch die taͤgliche Erfahrung inne wurden, wohin das Beduͤrfniß der ſtudirenden Jugend ſich richte, und nur unter denſelben Bedingungen koͤnnen ſie ſich verjuͤngen. Man haͤtte fuͤr viele Muͤhe eine verpfuſchte Staatsjugend und eine noch ſtoͤrrigere gewonnen. Es iſt nicht anders, man muß die Wohlthaten der Wiſſen - ſchaft mit ihren Gefahren uͤbernehmen, ſie iſt der Speer, der zu verwunden aber auch zu heilen weiß. Ja dieſel - ben Haͤnde, die unſere Univerſitaͤten niedergeriſſen haͤtten, dieſelben Augen, welche mit froher Überraſchung die Bib - liotheken ihnen nachſtuͤrzen ſahen, wie wuͤrden ſie ſich re - gen um ihre Truͤmmer zu ſammeln zum ſchleunigen Wie - deraufbau, ſobald ſie der Polytechniker inne geworden waͤren, die ſie ſich erzogen haben! Wer Wind ſaͤet, wird Sturm erndten.
280. Die deutſchen Univerſitaͤten koͤnnen unter ſehr verſchiedenen Formen fortbeſtehen, aber nicht ohne ihr ent -19290Vierzehntes Capitel.wickeltes Weſen. Dieſes beruht auf der Lehrfreiheit, auf dieſer ſo langſam gewonnenen, nicht wieder in einen Spe - cialbetrieb aufzuloͤſenden, Vereinigung der Wiſſenſchafts - lehre, ferner auf der ſteten Verjuͤngung, die der Wetteifer aller hohen Schulen hervorruft, indem jedwede der geſamm - ten Staatsjugend des Deutſchen Vaterlandes offenſteht. Sie beruht zum Theil auch auf der Erhaltung der alten gluͤcklichen Mannigfaltigkeit der Univerſitaͤts-Locale, theils in großen, theils in Mittel - und kleinen Staͤdten.
281. Die Lehrfreiheit begreift ein Zwiefaches: fuͤr den Lehrer das Recht innerhalb der Graͤnze ſeines Lehrberufs zu lehren, was ihm wahr und gut duͤnkt; denn die wiſ - ſenſchaftlichen Wahrheiten ſind keine Gegenſtaͤnde der Ge - ſetzgebung: fuͤr die Studirenden die Freiheit der Auswahl der Vorleſungen nach eigener oder entlehnter Anſicht und nicht minder die Auswahl der Lehrer. Beide Befugniſſe zwar koͤnnen gemisbraucht werden. Der Lehrer kann leh - ren was zu leicht wiegt auf der Waage der Wiſſenſchaften, indem er ſtatt einen wiſſenſchaftlichen, in den Grundbe - griffen zuſammenhaͤngenden Vortrag zu geben, ſich einer loſen, bloß aͤußerlich verbundenen Reflexion vertraut; er kann lehren was beziehungsweiſe uͤberfluͤſſig iſt, indem er nicht beruͤckſichtigt was gegenwaͤrtig aus dem reichen Vor - rathe an Buͤchern ergaͤnzt werden kann und ſoll, und ſel - ber Buͤcher giebt, der Form und der Stoffhaltigkeit nach, Vorraͤthe aufſpeichert fuͤr den etwanigen kuͤnftigen Ge - brauch, die aber fuͤr jetzt den Geiſt uͤberſchuͤtten und ihm den Glauben nehmen an den jeder Wiſſenſchaft einwohnen - den Grundgedanken. Er kann auch wieder zu eng begraͤnzt lehren, ſowohl was die Wiſſenſchaft angeht, indem er nur Lieblingstheile entwickelt, um das Ganze unbekuͤmmert291Vom Univerſitaͤtsweſen.als auch was die Zuhoͤrer angeht, indem er ſich den aus - erleſenſten Kreis denkt von werdenden, wo nicht gar ſchon fertigen Gelehrten, die Bahn der Univerſitaͤt mit der einer Geſellſchaft der Wiſſenſchaften verwechſelnd. Der Lehrer kann endlich auch Irrthum lehren ſtatt der Wahrheit, Lei - denſchaft ſtatt der Beſonnenheit, eine Freiheit die keinen Gehorſam kennt; er kann ſtatt die Irrthuͤmer ſeiner Zu - hoͤrer zu bekaͤmpfen, ſich ihnen dienſtbar machen, in alle Wege nur nach Beifall luͤſtern. Gegen dieſe Gefahren ſteht der Regierung dreierlei zur Seite: 1) die hinlaͤngliche Kenntniß der Lehrer von dem Bildungs-Stadium her, welches ſie als noch nicht angeſtellte Lehrer in unbeſchraͤnk - tem Wetteifer mit den ſchon angeſtellten gemacht haben (denn die Wurzel der Univerſitaͤt graͤbt ab, wer die Pri - vat-Docenten hinwegnimmt und an die ungeuͤbte Lehr - kraft von Beamten ꝛc. verweiſt), nicht minder aus ihren ſchriftſtelleriſchen Leiſtungen. 2) Die Bekaͤmpfung jeder Irrlehre auf ihrem eigenen Felde durch das Aufbieten der Kraft gegen die Kraft. Wenn die Regierung jede falſche Richtung durch Verſtaͤrkung der Kraft der wahren Rich - tung bekaͤmpft 1), ſo huldigt ſie der Wahrheit und zwingt den Irrthum ſelber ihr zu dienen. 3) Gegen Lehrer, die das Geſetz verletzen, wendet ſie die Kraft der Strafge - ſetze an.
Der Studirende kann ſeinen Antheil an der Lehrfreiheit misbrauchen, indem er die Wahl der Vortraͤge ohne Regel trifft und ſie dann wahrſcheinlich eben ſo regellos wieder fallen laͤßt, indem er die allgemeinen Vorſtudien verab - ſaͤumt und ſtatt an der Schwelle der Univerſitaͤt ſich von der philoſophiſchen Facultaͤt empfangen zu laſſen und den19*292Vierzehntes Capitel.Grund der Sprache und des Zeitenwechſels tiefere Bedeu - tung zu erforſchen und den Werth wiſſenſchaftlicher Gedan - kenbildung kennen zu lernen, unvorbereitet hineinſchwaͤrmt in den Tempel der Wiſſenſchaft, den er wie eine Speiſe - kammer zu benutzen denkt. Juͤnglinge dieſes Schlages ſind es gewoͤhnlich, welche die ausſchweifendſten Forderungen an das machen, was ſie den Vortrag des lehrers nennen. Wo die Vorkenntniſſe fehlen, mit welchen das Schulalter fuͤr die Wiſſenſchaft ausſtatten muß, da iſt kein Vortrag gut, und der Univerſitaͤtslehrer, welcher den Verſuch machen wollte, die Luͤcken der Schulkenntniſſe hintennach auszufuͤl - len, wuͤrde ein unſeeliges Mittelding darſtellen. Sonſt iſt jeder Vortrag gut, der die Wiſſenſchaft, welche er ankuͤn - digt, wirklich enthaͤlt und begruͤndet, vorzuͤglich wenn er die tieferen Aufgaben gleichſam mit der Wurzel bis zur Faßlichkeit hervorzuheben und von fremdartiger Verhuͤllung zu entkleiden weiß, der beſte freilich derjenige, welcher in dem Augenblicke der Mittheilung die Wiſſenſchaft gewiſſer - maaßen neu geboren werden laͤßt. Denn dieſer verbindet mit ſeinem Gehalte den Vorzug der augenblicklichen Aufre - gung; er iſt nicht bloß das was man ſchwarz auf weiß beſitzt und getroſt nach Hauſe traͤgt, ein Gut auf Hoff - nung, er verbuͤrgt ſich ſelber, indem er das was er ver - ſpricht, Augenblicks auch leiſtet. Die Regierung hat es uͤbrigens in ihrer Macht groͤberen Maͤngeln der Vorbildung durch Maturitaͤtspruͤfungen, welche jeder, der Staatsdienſte beabſichtigt, beſtehen oder nachhohlen muß, vorzubeugen; nur daß dieſe mehr vom Tact der Pruͤfer als durch aͤußere Vorſchrift geleitet werden muͤſſen; außerdem ſtellt ſie die Staatspruͤfung als Waͤchter zwiſchen der Univerſitaͤt und der oͤffentlichen Thaͤtigkeit auf.
Der Errichtung von Special-Schulen ſtatt der Uni -293Vom Univerſitaͤtsweſen.verſitaͤten ſteht außer dem wiſſenſchaftlichen Grunde, der es jeder vereinzelten Facultaͤt unmoͤglich macht das zu lei - ſten was ſie im Ganzen wirkend vermoͤchte, auch der wirth - ſchaftliche entgegen. Eine philoſophiſche Facultaͤt wuͤrde jedenfalls angehaͤngt werden muͤſſen, eine Bibliothek, nicht bloß fuͤr das eine Fach errichtet, duͤrfte nicht fehlen. Man haͤtte ungeheure Opfer gebracht, um eine fehlerhafte Ein - richtung zu begruͤnden, welche keine der politiſchen Sorg - lichkeiten vermindert.
Die Freiheit der Unterthanen auswaͤrtige Univerſitaͤten zu beſuchen (jedermann weiß aus ſeiner Bildungsgeſchichte, was ſie ihm bedeutet) iſt in den Hannoverſchen Landen ungeachtet aller Vorliebe fuͤr Goͤttingen nie beſchraͤnkt wor - den. Koͤnig Friedrich Wilhelm I. von Preußen verbot ſei - nen Theologen in Wittenberg zu ſtudiren, weil dort ſchaͤrfer gegen die Reformirten gelehrt wurde. Im Jahre 1808 aber (σωφϱονεῖν ὑπὸ στένει) ward verfuͤgt, es ſolle fortan nie - mand mehr der Erlaubniß fuͤr den Beſuch auswaͤr - tiger Univerſitaͤten beduͤrfen, und auf den Rath tiefblicken - der Maͤnner, welche wußten woher fuͤr Deutſche Wunden Heilung komme, gruͤndete man bald darauf die Berliner Univerſitaͤt. Neuerdings iſt man zu der vorigen Beſchraͤn - kung zuruͤckgekehrt und Erlaubniſſe werden nur als ſeltene Ausnahme ertheilt, aus nicht hinlaͤnglich verſtaͤndlichem Grunde. Denn die Annahme, daß die Staatsjugend vor den Gefahren unpreußiſcher Wiſſenſchaft bewahrt werden muͤſſe, hat ſich irrig bewieſen, ſeit die zunehmende Menge der Verhaftungen Preußiſcher Studirenden zeigt, wie taͤu - ſchend auch in der Politik der Lieblingsglaube der Vaͤter ſey, daß ihre Kinder ihre Unarten von fremden Kindern gelernt haben. Auch iſt uͤberhaupt nicht anzunehmen, daß die Politik von der alten Erfahrung, daß das Wiſſen294Vierzehntes Capitel.richtiger leite als die Unwiſſenheit, eine Ausnahme mache.
Johann David Michaelis in ſ. Raͤſonnement uͤber die proteſtan - tiſchen Univerſitaͤten in Deutſchland 4 Thle. Frkft. 1768 ff. be - kennt ſich zu dieſer Meinung (I, 83.): “Ob die Politik auf Uni - verſitaͤten dem Nahmen nach und pedantiſch, oder gut getrieben werde, das ruͤhrt das Wohl desjenigen Staates nur mittel - maͤßig, in welchem bloß der Geheimde-Rath, der durch mehrere Stufen und lange Erfahrung gebildet wird, die Regeln der Po - litik verſtehen und zum Beſten des Landes anwenden ſoll”. Dieſe Worte wurden ungefaͤhr zu derſelben Zeit geſchrieben, da einer der ehrenwertheſten Deutſchen Maͤnner, der juͤngere Mo - ſer (Von dem Deutſchen National-Geiſt 1765) vornehmlich den Deutſchen hohen Schulen zuͤrnt, “weil auf den mehreſten derſel - ben die Profeſſoren der Politik und des Staats-Rechts ſich mit weit mehrerem Grunde Lehrer des Eigennutzes und blin - den Gehorſams nennen koͤnnten, da ihnen das Große und Erhabene der Liebe des Vaterlandes ein verſiegeltes Buch iſt, daß ſie mithin auch ihren Untergebenen keine andere als knech - tiſche, eigennuͤtzige, gleichguͤltige und niedertraͤchtige Geſinnungen einfloͤßen, daß ſie jene hohe Wiſſenſchaft als ein Handwerk zu ihrem Lebensunterhalt treiben”; von welchem Vorwurfe nur Goͤttingen einigermaaßen ausgenommen wird. Auch traͤgt Mi - chaelis hinterher (S. 85.) gar kein Bedenken zu meinen, die Lehre de iure divino und der passiva obedientia koͤnne fuͤr Hannoͤveriſche Lande nachtheilig werden, wo die Landſtaͤnde noch ihre alten Rechte haben. Er fuͤgt hinzu (S. 87.): “Wenn im Jahre 1756 noch das ius publicum im Preußiſchen ſo geglaubt waͤre, wie man es vor Stiftung der Halliſchen Univerſitaͤt ge - meiniglich lehrte, und wenn alsdenn der geiſtliche Stand den Irrthum vom goͤttlichen Recht der Koͤnige und der Unrechtmaͤßig - keit des Widerſtandes gehabt, und auf den Kayſer angewandt haͤtte; ſo wuͤrde der Ausgang des vorigen Krieges noch ein groͤßeres Wunder ſeyn muͤſſen als er jetzt iſt. Was in dieſen Sachen auf der Univerſitaͤt gelehrt wird, das hoͤren zwar An - fangs nur Studenten, aber nach und nach und etwa in einem295Vom Univerſitaͤtsweſen.Menſchenalter wird es der allgemeine Sinn des Volks”. So glaubt noch heute die Mehrzahl alles Andere lernen zu muͤſſen nur nicht die Politik, jeden Fall der Politik aber nach dem Lichte der Natur entſcheiden zu koͤnnen. Das Michaeliſche Buch (denn der Verfaſſer hat ſich doch vor dem vierten Bande dazu bekannt, nachdem er vorher ſeine Verfaſſerſchaft in dem Grade verheimlicht hat, daß er ſelbſt in der Vorrede zum dritten Bande ſeinen Tod vom Verleger beklagen laͤßt) iſt uͤbrigens voll von hellen Blicken in das innere Gebiet des Univerſitaͤtsweſens und enthaͤlt manche ſeitdem gluͤcklich erfuͤllte Weiſſagung. Wir fuͤhren eine an:“Auf welche Deutſche Univerſitaͤt wuͤrde ich Den hinweiſen, der von ſeiner Mutterſprache die aͤltern Dialek - ten ſo wollte kennen lernen, als es zum Verſtande aller Denk - maͤhler, und zur gelehrten Kenntniß unſerer eigenen Sprachen noͤthig iſt? z. E. der die Gothiſche Sprache, die man in der Nordiſchen Geſchichte gebraucht, lernen, und etwa ein Collegium uͤber die Reſte des Ulphilas hoͤren wollte?”
Der mehrmahls in Anregung gekommenen Verlegung unſerer Univerſitaͤten in die Hauptſtaͤdte ſteht entgegen 1) die verfuͤhreriſche Genußſucht der Hauptſtaͤdte; 2) die unaus - bleibliche Verwendung der praktiſchen Talente zu oͤffentlichen Geſchaͤften aller Art, dadurch Verwandlung des Lehrberufes, der den ganzen Mann will, in ein Nebengeſchaͤft; 3) der zu unmittelbare Einfluß der Regierungsanſichten auf die Freiheit des Lehrvortrages; 4) die zu unmittelbare Beruͤhrung der Hoͤchſtgeſtellten mit einzelnen Exceſſen der akademiſchen Frei - heit *), die nie ausgeblieben ſind, nie ausbleiben werden; 5) der nachtheilige Einfluß einer großen Zahl nichtſtudi - render Zuhoͤrer auf die Wiſſenſchaftlichkeit ſolcher Vortraͤge, welche auf den zugaͤnglicheren Gebieten des Wiſſens be - ſchaͤftigt ſind. Den meiſten Eingang duͤrfen ſich folgende Gegengruͤnde verſprechen: 6) die ſtoͤrende Naͤhe der hauptſtaͤdtiſchen Staͤndeverſammlungen; 7) die ſchweren Koſten des Umzugs.
296Vierzehntes Capitel.282. Sehr verſchiedene Anſichten dagegen koͤnnen uͤber akademiſche Gerichtsbarkeit und Disciplin ſtattfinden, und es iſt vielleicht ſogar wuͤnſchenswerth, daß ſich hierin die verſchiedenen Univerſitaͤten verſchiedenartig geſtalten moͤgen, vorausgeſetzt daß die Einrichtung im Sinne des Univerſi - taͤtslebens ſey 1). Jedenfalls werden die Lehrer die Fort - dauer ihrer Gerichtsbarkeit uͤber die Studirenden nicht als einen perſoͤnlichen Gewinn betrachten; es kommt aber ſehr darauf an, ob eine durchgreifende Veraͤnderung den Ver - haͤltniſſen der Studirenden frommen wird. Wie dem in - deß ſey, gewiß iſt es unbillig die taͤglich mehr in bloße Lehrer verwandelten Lehrer mit einer Verantwortlichkeit zu belaſten, die man ihnen niemahls aufwaͤlzte als ſie noch die Regierer waren. Was der Lehrer vermag, vermag er fortan allein als Einzelner. Seine Pflicht iſt mit dem Beiſpiele der Geſetzmaͤßigkeit voranzugehen, wo ſich ihm ein Vertrauen oͤffnet, an Ernſt, an Treue, an Rath und Warnung nicht zu ſparen, fuͤr die Hoͤrer einzuſtehen ver - mag er nicht. Aber der Staatsmann kehre auch zuruͤck von den alles Maas uͤberſchreitenden Anklagen gegen das Verderben der Deutſchen ſtudirenden Jugend, welche von Unkenntniß zeugen und ſeinen Blick auf eine wichtige va -297Vom Univerſitaͤtsweſen.terlaͤndiſche Angelegenheit truͤben. Es iſt noch immer ein wahres Wort, welches Brandes 2) zu ihm ſprach: “er ſieht nicht den ſchlechteſten Theil des Men - ſchengeſchlechts, denn er ſieht die Jugend”.
283. Fuͤr den Staatsbuͤrger giebt es keine Erziehung, keinen Unterricht mehr; ſeine Zucht iſt das Staatsgeſetz. Fortbildung aber kann ihm der Staat unmittelbar berei - ten, nicht durch irgend eine kuͤnſtliche Anſtalt weiter, ſon - dern lediglich durch die in ſeinem Innern herrſchende Ge - rechtigkeit. Denn dieſe allein wagt das Staatsinnere vor dem Staatsbuͤrger zur lehrreichſten Betrachtung aufzu - ſchließen, entfernt die Heimlichkeit aus der Verwaltung, denn ſie bedarf ihrer nicht um Haͤrte und Willkuͤhr und die gleißenden Ungerechtigkeiten der Großmuth und Gnade zu verhuͤllen; ſie laͤßt die oͤffentliche Meinung walten, in welcher ſich die Herzensangelegenheiten eines Volks erklaͤ - ren, und indem ſie die Macht derſelben anerkennt, und ſelber ſie benutzt, um ſich eine eigene Meinung, die zu - gleich anwendbar ſey, zu bilden, eroͤffnet ſie ihr unermuͤd - lich die Wege zur Berichtigung und macht ſie ſich dadurch dienſtbar. Darum ſieht ſie ihre Stuͤtze in der theils oͤffent - lichen, theils offenkundigen Wirkſamkeit der Staatsgewal - ten, laͤßt den Wunſch der Einzelnen, der Koͤrperſchaften, der Gemeinden in freier, darum nicht ungeregelter, Bitte ſich erklaͤren, denn ſie hat was ſie erwiedern kann; ſie ge - waͤhrt der Schrift durch Geſetz ihre Freiheit, denn ſie hat nicht hehl, daß Wiſſen und Glauben nicht auf dem ge - woͤhnlichen Wege beherrſchbar ſind.
284. Die Verſuche das Leſen und das Schreiben von Staatswegen zu beſchraͤnken ſind uralt; es gab beſtrafte und verbotene Buͤcher, lange ehe es cenſirte gab. In der299Von der Fortbildung der Staatsbuͤrger.Chriſtlichen Zeit unterwarf die niedere Geiſtlichkeit ihre Schriften vor der Bekanntmachung willig der Durchſicht ihrer kirchlichen Obern; ſeit aber die Wiſſenſchaften welt - lich wurden, gab die Druckerkunſt dem Staate das erſte ſichere Mittel an die Hand, die Veroͤffentlichung eines ſchriftſtelleriſchen Werks von ſeiner Abfaſſung zu unterſchei - den. Man konnte von nun an die Bekanntmachung jeder nicht vorher gebilligten Schrift durch Strafbefehle an die Drucker verhindern. Die Entfernung ſolcher Strafbefehle, durch den Druck oͤffentlich reden duͤrfen ohne vorgaͤn - gige Erlaubniß, hieß ſeitdem Preßfreiheit.
285. Es iſt die Macht der Sprache, welche durch Unterricht ausgebildet jetzt ſo ſtark im Staatsbuͤrger in die Außenwelt heraustritt, daß ſie ganz allein einen Mann, der nichts bedeutet, uͤbermaͤchtig machen kann. Ich kann durch mein Wort meinen Gedanken faſſen und ihn dem Mitmenſchen uͤberliefern, nicht die rohe Willensaͤußerung bloß, die auch wohl aus den Haͤnden ſpraͤche, den feinſten Nerv des Beweiſes enthuͤlle ich ihm, das leiſeſte Gefuͤhl. Bloß durch mein Wort verwandle ich ſeine Geſtalt, Freude, Zorn, Beifall, Verzweiflung ruf’ ich hervor, ein Wort vermag zu toͤdten. Ich kann mein ungeſprochenes Wort in Schrift verkoͤrpern und es uͤbt tonlos auf tauſend Mei - len dieſelbe Gewalt, unendlich viel weiter als Schießpul - ver wirkt. Es uͤbt ſeine Macht ohne alle Beziehung auf den Vortheil, die Verbeſſerung der Lage des Angeredeten; “Was iſt ihm Hekuba? was iſt er ihr, Daß er um ſie ſoll weinen?” Aber welch ein Hebel auch zu Thaten, wenn Ort und Zeit und Intereſſe mit dem entflammenden Worte zuſammentreffen? Haben Worte ſo große Macht zum Guten und zum Boͤſen, ſo folgt daraus, daß man durch300Funfzehntes Capitel.ihren Misbrauch freveln koͤnne. Die Sittenlehre weiß da - von viel zu ſagen und das Strafgeſetz, und daß durch vie - len Gebrauch die Worte nichts an ihrer Kraft im Laufe der Jahrhunderte verloren haben, bezeugt die bis zum Krankhaften geſteigerte Empfindlichkeit unſrer Continental - Ohren (die Alten und die Englaͤnder leiden nicht daran,) durch Injurienproceſſe aller Art. Vom Kindesalter an er - heben ſich die meiſten Streitigkeiten nicht uͤber Thaten, ſon - dern uͤber Worte. Weiter folgt, daß die Machthaber, welche der Natur der Sache nach das freie Wort haben, die Macht der Worte, vornehmlich der in Schrift geſetzten (denn die uͤbrigen ſind ſchwer zu hindern, verhallen auch) von Alters her bei ihren Unterthanen ſcheuen mußten; denn dïe Unter - thanenworte koͤnnten leicht viel anders lauten als die ihren. Schon der alte Verfaſſer des Vridank klagt, wenn er Alles ſo ſchreiben wolle wie er es wiſſe, muͤſſe er außer Landes gehn. Dieſe Furcht muß zunehmen ſeit fuͤr ganze Voͤlker geſchrieben wird, und ſie iſt den Regierungen jeder Form gemein, denn nirgend ward die Preſſe aͤrger tyranniſirt als im republikaniſchen Frankreich. Von der andern Seite wird die Begierde nach der Wohlthat des freien Worts jetzt nicht bloß durch einen Kreis der Wiſſenſchaftlichen, der ein Recht auf die Wahrheit und ihre Mittheilung behauptet, moͤge ſie auch der Kirche und dem Staate noch ſo unbe - quem ſeyn, ſie wird durch leſende und ſchreibende Voͤlker unterſtuͤtzt. Kein Volk, das die Macht dazu in Haͤnden hat, wird um ihrer Gefahr willen der freien Schrift entſagen. Nach dem Sturze der Stuarts weigerte ſich das Parlament 1694 die bisherigen Hinderniſſe der Preßfrei - heit in England ferner zu genehmigen. Von nun an ur - theilten die Geſchworenen auch in Preßſachen, weil aber noch die Hauptſache, die Entſcheidung, ob die in Frage301Von der Fortbildung der Staatsbuͤrger.ſtehende Schrift wirklich ein Libell, d. i. eine geſetzwidrige, in ſtrafbarer Abſicht publicirte Schrift ſey, in richterlichen Haͤnden geblieben war, ſo verſchaffte Charles Fox hundert Jahre ſpaͤter durch die Bill, welche Erskine erdachte und dem geliebteren Staatsmanne abtrat, der Jury das ge - neral verdict.
286. Das iſt nun Alles ſo in England in der Ord - nung, aber ein Misverſtand iſt es zu glauben, Preßfrei - heit koͤnne beſtehen ohne einen ſtarken Staat, der die Injurienproceſſe nicht zu ſcheuen hat, welche mit Kanonen gefuͤhrt werden, und, was mehr iſt, ohne einen volks - freien Staat. In Daͤnnemark verkuͤndigte im Jahre 1770 der Miniſter-Koͤnig Struenſee die Preßfreiheit und Voltaire ſang dem Koͤnige ſeinen Gluͤckwunſch dazu. Es hieß ploͤtzlich im Lande: Thut was ihr ſollt, Schreibt was ihr wollt. Was ihr wollt? Daͤnnemark war ein un - umſchraͤnkt regiertes Reich, deſſen Grundgeſetz jedem Ver - derben droht, der mit Wort oder That dieſe Ordnung an - taſtet, und am allerwenigſten war Struenſee der Miniſter, deſſen Bahn das Licht der oͤffentlichen Meinung ertrug. Gleich im naͤchſten Jahre traten Beſchraͤnkungen ein und mußten es, denn man hatte das Unmoͤgliche gewollt. Wenn man nach Struenſees Sturze die Cenſur einzufuͤhren an - ſtand, ſo ehrte man darin die Gefuͤhle des Volks, welches mit ganzer Seele an dieſer geiſtigen Errungenſchaft hing, vielleicht auch ſchwebte Bernſtorffs hellem Geiſte vor, daß die Überzeugungen des Zeitalters, auch wenn man ſie nicht theilt, Beachtung verdienen. Aber die Beſchraͤnkungen wuchſen mit jedem Tage. Über Staat und Regierung und allgemeine Anſtalten durfte zuerſt nicht in Zeitſchrif - ten, dann uͤberhaupt nicht geurtheilt werden; Policeiſtrafen302Funfzehntes Capitel.raͤchten die Übertretung. Die Preßfreiheit verlor die Stimme aus Mangel an Nahrung. Man durfte uͤber die Wolken vom vorigen Jahre, uͤber den Nutzen der Gluͤck - ſeligkeit und des Kartoffelbaues ſchreiben. Es war die Preßfreiheit des Figaro. On me dit que pourvu que je ne parle ni de l’autorité, ni du culte, ni de la politi - que, ni de la morale, ni des gens en place, ni de l’o - pera, ni des autres spectacles, ni de personne qui tien - ne à quelque chose, je puis tout imprimer librement. Man verdient keinen Tadel, wenn man das nicht leiſtet was unmoͤglich iſt. Die Preßfreiheit gehoͤrt in einen wohlumhegten Garten von bluͤhenden Freiheiten, iſolirt ge - deiht ſie nicht. Eine Zeit lang wohl mag Zeus mit dem ſchwachen Menſchen ſich uͤber Himmel und Erde beſpre - chen und der Gott laͤßt recht verſtaͤndig mit ſich reden, aber als ihm der Philoſoph doch ein allzu arger Zweifler wird, auf das allmaͤchtige Schickſal kommt und die eben - falls allmaͤchtigen Goͤtter (den wunden Fleck, die Polniſche Theilung der Mythologie), greift er zum Donnerkeile. Frei - lich hat der Andere in ſeiner Art auch Recht, wenn er der verlorenen Redefreiheit beim Abſchiede noch die Worte nach - ſchickt: “Jetzt gerade ſehe ich, Zeus, daß du Unrecht haſt, weil du deinen Donner zu Huͤlfe nimmſt”.
287. Die Deutſchen conſtitutionellen Staaten ſind nicht in der Lage von Daͤnnemark. Sie bauen auf einem Grunde politiſcher Freiheit, allein die Macht fehlt. Sie geben keinen Ausſchlag in Europa, keinen im Deutſchen Bunde. Öſterreich kann keine Preßfreiheit haben, Preußen hat keine. Warum nicht? Die Preßfreiheit kann nicht allein ſtehen. Ein Verſuch mit der Preßfreiheit in Preußen wuͤrde entweder ihre Zuruͤcknahme im erſten Monat, oder303Von der Fortbildung der Staatsbuͤrger.politiſche Inſtitutionen zur Folge haben. Nur dieſen ſchließt ſich der Staatshaushalt auf (Alles was fruͤher ſo ausſieht, iſt nur ein Klingeln mit den Schluͤſſeln vor verſchloſſener Thuͤre), nur dieſen der Grund der Geſetzgebung. Dem iſt nun unerfreulich ſo; aber iſt es nicht beſſer als Unaus - fuͤhrbarkeiten traͤumen, dem geradezu ins Geſicht zu ſehen, und ſollte ſich auch noch mehr Unfreude daran knuͤpfen? Denn ſehr wahrſcheinlich werden die Großmaͤchte das Gut, welches ihre Unterthanen miſſen, ungern in den Haͤnden anderer Unterthanen im Bunde ſehen; die Preſſe koͤnnte zur Macht gegen ſie wachſen, koͤnnte auch mit andern Europaͤiſchen Maͤchten in Verwickelung fuͤhren, gemisbraucht und ſelbſt bloß gebraucht. Denn manche ſchwere Thaten ſind geſchehen, die keine friſche Beruͤhrung dulden.
288. Iſt nun das Alles darum ans Licht geſtellt, um dieſen Theil unſres Volks zu uͤberzeugen, er muͤſſe ſich in die nothwendige Nichtigkeit ſeiner Preßfreiheit ergeben? Keineswegs; nur um ihn zu vermoͤgen, den Blick von dem Gipfel begeiſterter Wuͤnſche einſtweilen abzuwenden und auf die maͤßige Hoͤhe des ohne Umwaͤlzung der beſtehen - den Verhaͤltniſſe gegenwaͤrtig Erreichbaren zu richten. Wenn von der einen Seite was erreichbar, von der andern was mit Erfolg zu verbieten iſt, erkannt wird, dann erſt kann der gute Wille wirkſam in die Mitte treten. Die Regierungen koͤnnen den Fortſchritt Deutſcher Preßfreiheit nur ſehr bedingt hemmen. Die taͤglich wachſenden Com - municationsmittel, der raſche Flug der Briefe und der Reiſenden macht es von Tag zu Tag unmoͤglicher den Weltlauf in Geheimniß zu verhuͤllen. Die Zeitungen ſchreiben ſich in Briefen und wo der Brief nicht ſicher iſt, da ſprechen ſie ſich. Das geſchieht taͤglich mehr; jedermann304Funfzehntes Capitel.will und wird wiſſen was in der Welt vorgeht. Die Preſſe der Thatſachen laͤßt ſich mit Erfolg nicht bekaͤmpfen. Jeder giebt aber auch ſeine Meinung dazu. Dieſer Zuſatz von Raͤſonnement wird beſonders an unſern Zeitungsblaͤt - tern gefuͤrchtet. Allein je ſchwerer man es den Zeitungs - ſchreibern macht, ihre wahre Meinung auszuſprechen, je eifriger man Sorge traͤgt, bloß abſolutiſtiſche zu privilegi - ren, um ſo mehr richtet ſich die Neigung auf die auswaͤr - tigen Blaͤtter, welche man durch Verbote vertheuern, aber nimmermehr abhalten kann. Es iſt mit einem Zeitungs - blatte wie mit dem Gelde, ſeine Wirkſamkeit iſt nicht nach der Zahl der Exemplare, ſondern nach der Zahl der Um - laͤufe, die es in gegebener Zeit macht, zu beurtheilen. Die Beſchraͤnkung der wiſſenſchaftlichen Preſſe verwickelt vollends die Regierungen in einen hoͤchſt ungleichen Kampf. Sie beduͤrfen der Wiſſenſchaft, der Staat kann ohne ſie nicht mehr behandelt werden, allein man moͤchte ſie bloß in der Richtung der Regierungs-Zwecke benutzen, ſogenannte ge - faͤhrliche Theorieen abhalten. Das liegt nun allerdings gar ſehr im Kreiſe der Pflicht der Wiſſenſchaftlichen, zu - mahl in heutigen Tagen, die Macht der Regierung mit aller Kraft ihrer Einſicht zu ſtuͤtzen, allein eigentlich an - halten laſſen ſie ſich dazu nicht. Waͤren die gefaͤhrlichen Theorieen zugleich die wahren (das iſt zum Gluͤcke nicht der Fall, weder wenn Regierungen, noch wenn Untertha - nen ſie aufſtellen), ſie wuͤrden, oͤffentlich verboten, um ſo ſicherer im Geheimen durchdringen. Nun kommt hinzu, daß das Deutſchland der Verfaſſungsurkunden denn doch wirklich ein Recht auf ſeine Rechte hat, daß das Kippen und Wippen an den Conſtitutionen die oͤffentliche Meinung entſchieden gegen ſich hat, daß die Öffentlichkeit allein die verſchlungenen Gaͤnge im Staatsgebaͤude ſo zu erhellen305Von der Fortbildung der Staatsbuͤrger.weiß, daß die Staͤnde ſich in gemeſſener Zeit zurechtzufin - den vermoͤgen. Ein fortgeſchrittenes Volk kommt immer wieder auf die Preßfreiheit zuruͤck; es kann von der Preß - freiheit nicht laſſen, ſo wenig als vom Schießpulver, ob - gleich beide ihre Bedenken haben. In der Hildesheimer Stiftsfehde kam einem der Braunſchweigiſchen Herzoge der Gedanke, dem Gegner anzubieten, ohne Schießgewehr Mann gegen Mann zu ſchlagen nach Sitte trefflicher Vorfahren, damit die Welt erfahre, auf welcher Seite die Mannhaf - tigkeit ſey. Es ließ ſich ſo wenig thun als man heute in Weiſe der Geſchlechter und Kluͤfte oder unter den Berufs - Panieren der Zuͤnfte Schlachten liefern kann. Die Preßfrei - heit iſt der Alcibiades des Staats, heute liebt, morgen haßt man ihn, aber niemahls will man ihn miſſen 1). Dieſen Theil von Deutſchland einer druͤckenden Cenſur zu unterwer - fen iſt nur dann moͤglich, wenn man zugleich die Verfaſſungs - rechte hinwegnimmt. Alsdann iſt aber auch Alles moͤglich.
289. Auch die mildeſte Cenſur iſt ein Übel; des Gei - ſtes Auge wird leicht auch durch ein Staͤubchen getruͤbt. Friedrich Gentz machte im Jahr 1818 den Verſuch ſie dem Deutſchen Volke einzureden 1). Kein Talent war dazu mehr, kein Charakter minder geeignet. Haͤtte die Preß - freiheit ſeine Schulden bezahlt, er wuͤrde fuͤr dieſe geſchrie - ben haben. Als der jetzige Koͤnig von Preußen ſeine Re - gierung antrat, ließ Gentz ein Sendſchreiben an den Koͤnig drucken, worin er beſonders die Verkuͤndigung der Preß - freiheit verlangte, als die ſicherſte Schutzwehr des Volks, eben ſo leichtfertig derzeit im Ja als nun im Nein. Mit dem Nein hat er es nur zur Haͤlfte vollbracht. Er be -20306Funfzehntes Capitel.wies, was jedermann wußte, es ſey hier nur ein zwie - faches Verfahren moͤglich: die Regierung muͤſſe dem Preß - vergehen entweder zuvorkommen, das geſchehe durch ein Polizeygeſetz (Cenſur), oder ſie muͤſſe das begangene Ver - brechen hintennach beſtrafen, das geſchehe durch ein Straf - geſetz (Preßgeſetz und wahrſcheinlich Preßgericht). Gentz erklaͤrt ein gutes Preßgeſetz fuͤr unmoͤglich, weil die Eng - laͤnder es noch zu keiner ſtringenten Definition des Wor - tes Libell gebracht haben, und weil hier nicht bloß That und Abſicht, wie ſonſt bei Vergehungen, ſondern vor - nehmlich die Tendenz (er uͤberſetzt es Wirkung) einer Schrift entſcheidet. Das Reſultat iſt: es haͤnge, auch wo ein Preßgeſetz beſteht, am Ende doch Alles von der Will - kuͤhr der Richter ab und die Frage ſey alſo bloß, ob man einen Cenſor vor der That, oder nach der That will. Es ſey aber einem gewoͤhnlichen Gerichtshofe gar nicht ein - mahl zuzumuthen, daß er, bei der Schwierigkeit Preßver - gehen zu ergruͤnden und der nothwendigen Unvollkommen - heit der Geſetzgebung ſich mit ſeinen Ausſpruͤchen in das Gewoge der Partheien ſtuͤrze, das geringſte Übel ſey im - mer noch, es, wo eine Volks-Jury eingerichtet iſt, dieſer zu uͤberlaſſen, wiewohl deren Ausſpruͤche ganz willkuͤhrlich und der Preßunfug in England (es war gerade derzeit in leidenſchaftlicher Aufregung gegen das Caſtlereaghſche Mini - ſterium) unertraͤglich, ein Gift fuͤr oͤffentliches und Pri - vat-Leben; denn nur durch Selbſtſucht und Leidenſchaft werde die Engliſche Preſſe regiert. Hiebei bleibt denn freilich uneroͤrtert, was im Drange Napoleoniſcher Zeit aus Europa geworden waͤre, waͤre England zum Cenſur-Volke herabgeſunken; gewiß aber war Friedrich Gentz den Be - weis nun ſchuldig, wie ſich denn auf dem Wege der Cen - ſur die Willkuͤhr entfernen und der freie Gedankenverkehr307Von der Fortbildung der Staatsbuͤrger.ſicherſtellen laſſe, auch verſpricht er dieſen Beweis, hat ihn zum zweiten und zum dritten Mahle verſprochen, und iſt ihn bis an ſein Ende ſchuldig geblieben und auch keiner ſeiner Fortſetzer hat dieſe Fortſetzung geliefert.
1)Dem Allen iſt nun ſo und dennoch kann ein Freund des Vaterlandes im Intereſſe der Freiheit rathen, daß die Deutſchen Staaten, von denen es hier ſich handelt, lieber fortfahren moͤgen den breitgetretenen Weg der Cenſur zu ge - hen, als demnaͤchſt die Verſuche wiederholen, ſich durch Preß - geſetze den ſtolzeren Pfad zu bahnen. Wie die Deutſchen Dinge neubegruͤndet in nicht ſorgloſer Jugend ſtehen, muß ſich die Forderung des Selbſtgefuͤhls der Erhaltung des Guten, welches wir noch beſitzen, unterordnen. Ein Preß - geſetz, welches den Anſpruͤchen der Theorie entſpraͤche, wuͤrde den Widerſpruch der Deutſchen Großmaͤchte, wuͤrde Europaͤiſchen Widerſpruch finden, hat ihn ſchon gefunden. Eben ſo gewiß wie der Juͤngling keine Meinung hat in der Geſellſchaft von Maͤnnern, eben ſo ſicher giebt dem Staate ſeine Macht das Maas ſeiner freien Meinung in der Staatengeſellſchaft. Ein Preßgeſetz, wie man es haben kann, ſchmeichelt mit einer Freiheit, die es doch nicht ge - waͤhrt. Cenſur fuͤr auswaͤrtige Angelegenheiten, Preßfrei - heit fuͤr die innern iſt als leitender Grundſatz fuͤr jede Re - gierung loͤblich, aber als Geſetzvorſchrift ſehr leicht zwar auf dem Papiere, allein in der Staatspraxis durchaus nicht durchfuͤhrbar. Kein wichtiger Gegenſtand des Ge - meinweſens, ſelbſt der Wiſſenſchaft, der ſich nicht wie ein Handſchuh leicht umkehren ließe. Eine Bahn des unauf - hoͤrlichen Streites wird eroͤffnet, unaufhoͤrliche Einfluͤſte - rungen, auf dieſem Streite fußend, verdaͤchtigen auch den20*308Funfzehntes Capitel.letzten Reſt der Freiheit, ein Gegenſtand nach dem andern muß aus dem geſchuͤtzten Gebiete weichen, und der ver - heißene Genuß der Preßfreiheit verliert ſich in die Feier einiger theoretiſchen Siege auf dem großen Schlachtfelde praktiſcher Niederlagen. Gewiß die Beibehaltung der Cen - ſur iſt demuͤthigend fuͤr das Selbſtgefuͤhl, aber es liegt eine Ausſicht in ihr fuͤr die friedliche Vermittelung drohen - der vaterlaͤndiſcher Verhaͤltniſſe und einen kuͤnftigen Beſſer - ſtand. Die Regierungen, jenes laͤſtigen fortwaͤhrenden Conflicts enthoben, mit den Maͤchten draußen, oder drin - nen mit den eigenen Unterthanen, bleiben auf gewohnten Bahnen der Macht im Stande, die wirkliche Lage der Dinge ſorgenfreier ins Auge zu faſſen. Sie koͤnnen der Wiſſenſchaften nicht entrathen und wiſſen das, denn Ge - walt allein vermag heute auf die Dauer nichts, auf uͤber - lieferte Ordnung iſt jetzt wenig mehr zu bauen, auch die Macht muß mit Gruͤnden kaͤmpfen. Man darf den Aſt nicht abſaͤgen, auf dem man ſelber ſitzt und Fruͤchte ſam - melt. Vor Allem aber bedeutet der freie Gedankenverkehr dem Deutſchen viel. So abgezogen ſinnt und ſo beruhigt ſich keiner, wenn er ſich das Herz leicht geſprochen hat, wie der Deutſche. Er iſt langſam zur That, ein volles Jahrhundert liegt zwiſchen Huß und Luther; aber wie be - harrlich iſt er auch den Grundgedanken auszuarbeiten, der, lange getragen, endlich ihm aus der Seele in die Auſſen - welt getreten iſt! Nicht der Deutſche iſt zum Staate, der Staat iſt zu dem Deutſchen gekommen, hat durch eine ſchwere Leidenszeit Genugthuung von ihm genommen fuͤr lange Vernachlaͤſſigung. Dieſe Richtung geht nicht wieder unter. Sie kann und muß beſchraͤnkt werden, damit ſie Bildung gewinne, nicht naturaliſtiſch wuchere; ſie unter - druͤcken wollen, heißt ſie verdichten, daß ſie gewaltſam der -309Von der Fortbildung der Staatsbuͤrger.einſt ausbreche. Je ſtaͤrker die oͤffentliche Meinung fuͤr gewoͤhnlich zuruͤckgedraͤngt wird, um ſo gewaltſamer macht ſie ſich in den Kammern Luft. Politiſche Leidenſchaft wird rufen: “So hebe man die Kammern auf!” — Wer aber die Weltlage wuͤrdigt und die Lage ſeines Vaterlandes in ihr, oͤrtlich und geiſtig, wird ſich nicht ſcheuen es auszu - ſprechen: Die Sicherheit und Wohlfahrt der Deutſchen Staaten mittleren und unteren Ranges beruht darauf, daß ſie ihren Unterthanen in der freien Entwickelung der Kraͤfte, welche den Einzelnen vergoͤnnt wird, einen Erſatz fuͤr die ſelbſtaͤndige Bedeutung und freie Bewegung nach Außen geben, welche dieſen Staaten verſagt iſt.
310Sechzehntes Capitel.290. Der Staat, ſo hoch er ſteht, hat nicht allein die Gewalt; durch ihn geht eine Natur der Dinge, die er zuvor anerkennen muß, damit ſie bedingt ihm diene; er kann meiſtern an der aͤußeren Bewegung und Darſtellung der Wiſſenſchaft, ohne ihren Inhalt abaͤndern zu koͤnnen; vor Allem iſt die Religion dem Staate uͤberlegen und es fragt ſich, wie die Kirche zu ihm ſtehe.
Hobbes zerhaut den Knoten, er legt der Regierung unbeſchraͤnkte Macht bei die oͤffentliche Lehre vorzuſchrei - ben; denn das Volk hat ihr alle ſeine urſpruͤnglichen Rechte uͤbergeben und Ruhe und Friede erfordern ſolche Vorſchrift. Ob nur da nicht beſſer Unruhe und Unfriede waͤre! An - dere dagegen wollen allgemeine Duldung, Baſedow ſelbſt allgemeine Gleichſtellung in Rechten, doch beſchraͤnkt er ſie am Ende auf die Chriſtlichen Religionspartheien. Am kuͤr - zeſten und friedfertigſten waͤre es, den Glauben an Gott ganz hinwegzunehmen, wofuͤr Diderot ſagte, daß er gern ſein Leben gaͤbe, wenn er es vermoͤchte, und eine ſtarke Parthei entſchloſſener Atheiſten war mit ihm. Die ſtarken Geiſter der Franzoͤſiſchen Revolution begnuͤgten ſich zu lehren, die Religion habe gar keinen Platz in der buͤrger - lichen Ordnung, ſie ſey Sache des Einzelnen, den Staat nicht angehend, ihm gleichguͤltig. Im Herbſte 1793 verordnete der National-Convent, daß im Jugendunter - richt von Gott und der Religion nicht mehr die Rede ſeyn ſolle. Wir wollen hier nicht fragen, ob der Staat, der ſeine Nahrung von der oͤffentlichen Sitte zieht, den Gleich -311Religion und Kirche im Staate.guͤltigen ſpielen koͤnne gegen die Religion, welche die Sitte heiligt, indem ſie ſolche auf ihren Urquell zuruͤckfuͤhrt, welche indeß auch Unſitte heiligſprechen kann. Aber auch die ſtaͤrkſte Vereinzelung der Religionspflege geht nothwen - dig uͤber den Einzelnen hinaus, der Vater redet davon zu ſeinem Kinde, fuͤhrt haͤusliche Weiſen der Andacht ein; die Religion iſt mindeſtens Familienſache. Die einfachſten Zu - ſtaͤnde der Menſchheit zeigen die Hausvaͤter als Prieſter, der Stamm-Älteſte verſieht die Opfer ſeines Stammes, der Koͤnig des Volks; Prieſterthum iſt Theil der Re - gierung.
291. Die Alten kannten wenig Irrlehren, die Viel - goͤtterei iſt von Natur duldſam, niemand leugnete dem An - dern ſo leicht ſeinen Gott ab, wohl aber die Macht ſeines Gottes. Ableugner wurden gehaßt, beſtraft, man verbot des Diagoras Schriften, ließ Sokrates ſterben, weil er die Jugend von den vaterlaͤndiſchen Goͤttern abwandte. Ge - wiß er that das, aber wandte ſie der einen Gottheit zu, und da er ſeines Glaubens lebte, beſonders aber da er fuͤr ihn ſtarb, ſo fehlte von dieſer Seite wenig, daß er nicht Religionsſtifter geworden waͤre. Die Anſicht des Po - lybius, daß dieſes ganze Fach wohl uͤberfluͤſſig ſeyn moͤchte, vorausgeſetzt, daß der Staat aus lauter einſichtsvollen Leu - ten beſtaͤnde, war durchaus nicht die ſeine. Indeß erhielt Sokrates ſich doch mehr bloß verneinend gegen die alten Religionsirrthuͤmer, waͤhrend er ſich des Materials der vaterlaͤndiſchen Goͤtterverehrung fuͤr ſeine Darſtellungen be - diente, auch die vaterlaͤndiſchen Opfer keineswegs ver - ſchmaͤhte. Was Sokrates nicht vermochte in Bezug auf einen ſehr ausgearteten Cultus, ſollte es fuͤr den jetzigen Staat in Beziehung auf das Chriſtenthum, ich will nicht312Sechzehntes Capitel.ſagen wuͤnſchenswerth, ſondern uͤberhaupt nur moͤglich ſeyn, daß es ignorirt werde? Alle hoͤhere Bildung und namentlich auch der Fortſchritt in bewußterer Staatsbil - dung iſt dem neueren Europa durch das Chriſtenthum und mit ihm geworden. Es gilt hier gar nicht die Frage, ob nicht dieſe oder jene Wahrheit oder Erleuchtung den Ger - maniſchen Voͤlkerſchaften auch auf anderem Wege eben ſo fuͤglich haͤtte zukommen koͤnnen. Man weiß dem Geber Dank und calculirt ſich nicht von der Dankbarkeit frei durch die Erwaͤgung, ob dieſer oder jener uns nicht auch am Ende ausgeholfen haben moͤchte. Die Chriſtliche Vorzeit hat Gliedmaßen unſers eigenen Daſeyns geſchaffen, denen wir nicht entſagen koͤnnen, auch wenn wir wollten. Als die Franzoſen in der Revolution mit der allen Chriſten ge - meinſamen Zeitrechnung auch die Wocheneintheilung ver - warfen, welche das Chriſtenthum aus dem Judaismus auf uns gebracht hat, kuͤndigte ſich ſolch ein Wollen an, aber ſie haͤtten auch der nothwendigen Einheit der Ehe, dem Nichtausſetzen der Kinder, dem tieferen Princip des Strafrechts, der Naͤchſtenliebe uͤber den Staat hinaus, ſie haͤtten der Grundlage ihrer ganzen Bildung entſagen muͤſ - ſen, um ihre vermeinte Hoͤhe zu erreichen. Wir unſeres Theils moͤchten nicht einmahl die Kirchthuͤrme aus der Landſchaft miſſen und machen gar nicht einmahl den Ver - ſuch uns von dem loszuſagen was das Chriſtenthum durch unſere Vaͤter uns geweſen iſt. Inzwiſchen hat der Stif - ter der Lehre keine Darſtellung derſelben hinterlaſſen, auch iſt es ſpaͤter niemanden gelungen, ein Syſtem aufzuſtellen, welches die ganze Chriſtenheit anerkannt haͤtte. Denn es iſt mit der Religion nicht wie mit den Wiſſenſchaften, in welchen Daſſelbe Allen wahr ſeyn muß, eben wie in der Sphaͤre der aͤußeren Erfahrungen; es iſt viel mehr wie313Religion und Kirche im Staate.in der Welt der Gefuͤhle, die den Menſchen ohne ſein Zu - thun faſſen, in dem Einen wird uͤbermaͤchtig, was bei dem Andern ſpurlos voruͤbergeht. Wir geſtehen zu, daß ohne die Dazwiſchenkunft der Paͤbſte ſich das Chriſtenthum wahr - ſcheinlich in eine Menge verſchiedenartiger Culte, deren ge - meinſamer Urſprung vielleicht nur dem gelehrten Unterſucher vorlaͤge, verloren haben wuͤrde; nichts deſto weniger iſt ihr Trachten eine bindende Glaubensnorm fuͤr die ganze Menſch - heit feſtzuſtellen durch die Reformation fuͤr immer vereitelt. Wenn gleich kein voͤlliges Auseinandergehen mehr zu fuͤrch - ten iſt; man erkennt vielmehr an, daß im tieferen inne - ren Grunde Katholicismus und Proteſtantismus ſich haupt - ſaͤchlich dadurch unterſcheiden, daß der eine auf dieſe, der andere auf jene Saͤtze desſelben Glaubens das Hauptge - wicht legt; ſo wird doch wahrſcheinlich die Zahl der kirch - lichen Abſonderungen in der naͤchſten Zeit eher zu - als abnehmen. Denn was fruͤher einfach war, die perſoͤnli - chen und Lebens-Verhaͤltniſſe des Stifters, iſt jetzt durch Gelehrſamkeit (unvermeidlich wohl, aber doch wirklich) ein hoͤchſt verwickelter Thatbeſtand geworden, einfach dagegen ein Anderes, was fruͤher, als das Chriſtenthum noch keine eigentliche Geſchichte hatte, ſchwierig war, weil eben die hiſtoriſche Entwickelung fehlte: das Verhaͤltniß der Lehre zum Leben und die Erkenntniß der Wirkungen der Lehre. Woher es denn gekommen ſeyn mag, daß Viele jene fruͤ - heſte Zeit, als mit großem Dunkel behaftet und kaum erforſchbar aufgeben, gleichſam auf den Aufgang der Sonne verzichten, keinesweges aber den Glauben verſagen jener groͤßeſten aller Erſcheinungen, die laͤngſt an den Mittags - himmel der Geſchichte getreten iſt, vielmehr ſie an ihren Werken zu erkennen und ihre Weiſungen in ſich aufzu - nehmen bemuͤht ſind. Daraus aber folgt, daß mit der314Sechzehntes Capitel.Rede: “dieſes iſt ein Chriſtlicher Staat” zwar unendlich viel geſagt iſt, aber keineswegs eine voͤllige Einheit des Bekenntniſſes, eine religioͤſe Gemeinſchaft darunter verſtan - den wird. Nicht einmahl ſo viel wird verſtanden, daß ſich die durch den Staat vereinigten Buͤrger in demſelben Raume einer Kirche erbauen moͤgen, daß ihnen dieſelben Tage heilig, dieſelben Arbeitstage waͤren. Es iſt wie wenn einer auf einem Berge ſteht und ſich von dort aus der Har - monie der Landſchaft freut, die ſich ringsum fruchtbar ver - breitet; nun ſteigt er hinab, ergeht ſich in der Landſchaft, und findet alles geſchieden in Stadtgebiete, Flecken, Doͤr - fer, im kleinſten Dorfe hat jedes Haus ſeinen Herrn und Meiſter, jedes Feld, jeder Baum, allenthalben zwiſtige Menſchen. Darf der Staat auf dem Berge ſtehen blei - ben? oder muß er hinab und ein Einſehn thun? oder lie - ber ganz einfach: Kann der Staat ſich bloß lei - dend gegen die Kirche verhalten?
292. Alles waͤre leicht abgethan, waͤre es mit der Religion bewandt, wie mit der Geſetzgebung. Jedermann iſt von der Nothwendigkeit uͤberzeugt, den Staatsgeſetzen, auch inſofern man ſie nicht billigt, zu gehorchen; der Ein - zelne unterwirft ſich, haͤlt ſich aber ſein Urtheil bevor. Wo es aber ganz allein das Urtheil gilt, wie in Sachen der Wiſſenſchaft, da laſſe ich mir von keinem Staate vor - ſchreiben, und wie ließe ſich vollends vorſchreiben, was man von den goͤttlichen Dingen und ihrer Beziehung auf die menſchlichen glauben ſoll? Freilich giebt es Ab - weichungen in der Überzeugung, welche eine Gemeinſchaft nicht ausſchließen, weil ſie in einer hoͤheren Einheit ſich aufloͤſen, und allerdings koͤnnte man annehmen, daß Chri - ſten, wie auch der Glaubensſatz ſie trenne, dennoch uͤber -315Religion und Kirche im Staate.wiegende Urſache haben, ſich in dem unendlichen Vielen, welches Gemeingut unter ihnen iſt wieder zuſammenzufin - den, ſo daß in der Staatslehre allein von dem Verhalten gegen nichtchriſtliche Mitglieder des Staats die Rede zu ſeyn brauchte. Allein gerade das Gegentheil iſt der Fall; ſie trennen ſich beiweitem lieber wegen der Abweichungen als daß ſie wegen des Gemeinſamen zuſammenhielten. Auch liegt hiebei keineswegs bloß Partheiſucht zum Grunde. Das religioͤſe Gefuͤhl gleicht dem kuͤnſtleriſchen darin, daß es in der Richtung, die es einmahl genommen hat, die allerbeſtimmteſte Geſtaltung begehrt, und ſo war es aller - dings keineswegs bloße Leidenſchaft, welche durch den Streit uͤber den Abendmahlspunkt Lutheraner von Reformirten trennte und wieder Zwinglianer von Calviniſten. Die Er - bitterung ging ſo weit, daß ein Theil den andern ſchlim - mer als die Tuͤrken nannte; doch wuͤrde derjenige am ſchlimmſten gefahren ſeyn, den bitterſten Unmuth aller Par - theien gegen ſich vereint haben, der nun dazwiſchen ge - treten waͤre und geſagt haͤtte: “Es liegt an beiden Mei - nungen nicht ſo viel, haltet Euch an dem worin Ihr einig ſeyd”; denn allerdings haͤtte er das Formloſe gewollt. So erklaͤrt ſich einiger Maßen Melanchthons unguͤnſtige Lage gegen ſeine Zeit und uͤberhaupt derjenigen, welche an Ver - einigung der Confeſſionen arbeiten. Daß ſich abweichende Glaubensbekenntniſſe bilden und in ſtreitenden Kirchen dar - ſtellen, laͤßt ſich alſo einmahl nicht hemmen. Die Frage wiederholt ſich: Kann und ſoll der Staat allgemeine To - leranz dagegen uͤben?
293. Wer vom Studium der Philoſophie ausgegan - gen iſt und an die Frage kommt, wird ſie mit Ja beant - worten und wird vielleicht, um die Ausfuͤhrbarkeit zu zei -316Sechzehntes Capitel.gen, Nordamerika fuͤr ſich anfuͤhren; wer die Geſchichte beachtet hat und das Leben, wird mit dem Wunſche fuͤr Ja, ſich fuͤr Nein entſcheiden, Nordamerika nicht gelten laſſen, indeß ſich um ſo ernſtlicher bemuͤhen der Staatsein - wirkung Graͤnzen zu ſtecken. In ſolcher Art trafen bei dieſer Streitfrage zwei bedeutende Deutſche Maͤnner un - ſrer Zeit, Juſtus Moͤſer und Rehberg zuſammen, in der Berliner Monatſchrift der Jahre 1787. 1788 u. 1789. Moͤſer, nach ſeiner ſchoͤnen Art Wahrheiten, die das Leben in Anſpruch nehmen, in Beiſpielen lebendig zu geſtalten, verſetzt uns nach Virginien in eine Colonie; Deiſt und Atheiſt, Chriſt und Unchriſt leben friedfertig mit einander, da leugnet Einer dem Andern, einem Kaufmanne, eine Schuld ab; der Kaufmann ſoll ſeine Buͤcher beſchwoͤren; der Widerpart wendet ein, das ſey hier nicht zulaͤſſig; der Kaufmann habe ſich als Atheiſt ausgeſprochen. So ſtoßt man im Recht auf die Religion. Der verlegene Richter ruft die Colonie zuſammen, man meint nicht laͤnger mit den Atheiſten zu gleichem Recht leben zu koͤnnen, faßt den Schluß, jeder Einwohner ſoll ſein Glaubensbekenntniß ein - reichen. Mit vieler Muͤhe unter vielen Abaͤnderungen bringt man ſie zu Protokoll, ſtellt daraus gewiſſe Artikel zuſam - men, in welchen man mehr oder weniger uͤbereinſtimmt, doch mit Übereinkunft Aller werden die Atheiſten ſogleich aus der Zahl ehrenhafter Buͤrger geſtrichen. Alſo eines Gottes mindeſtens bedarf der Staat, kann ſich gegen das oͤffentliche Bekenntniß des Atheismus nicht neutral verhal - ten. Als man nun aber, unvermoͤgend die verſchiedenen Glaubensbekenntniſſe auf die Dauer zuſammenzuhalten, je - dem Bekenner, inſofern er ſich nur zu Gott bekannte, freien Lauf ließ, zeigte ſich bald, daß auch damit noch viel zu wenig gethan ſey. Denn die Einen erkennen in Allem317Religion und Kirche im Staate.was Gott geſchaffen hat, ein Gemeingut, brechen in des Andern Gehege, Bruder und Schweſter verehlichen ſich, und alle Menſchen ſollen nach Gottes Befehl ſich gleich ſeyn, ohne Obrigkeit ꝛc. Da trat die Mehrzahl herzu und legte den gefaͤhrlich Glaͤubigen durch ihre groͤßere Staͤrke wenigſtens als Geſetz auf ſo nicht zu thun, obwohl ſie ihren Glauben nicht hindern konnte, und auch mit der Duldung ſah es uͤbel aus, da die Unterliegenden an Hand - lungen gehindert wurden, die der unmittelbare Abdruck ihres Glaubens waren. So Moͤſer. Nun trat freilich Rehberg, derzeit vom Studium der Kantiſchen Philoſophie erfuͤllt, mit mehreren Inſtanzen dazwiſchen, als z. B., daß jener der gegen den Atheiſten gewinnt, erſt beweiſen muͤſſe, daß er den Gott, den er zu glauben vorgebe, wirk - lich glaube; denn ſonſt koͤnne die buͤrgerliche Zuſicherung des Atheiſten, der ſich bloß zu dem Vernunft - und Sit - tengeſetz bekennt, ohne Vergleich ehrenwerther ſeyn ꝛc. Moͤ - ſer ſchreitet dagegen in ſeiner Richtung fort und gelangt durch die weitere Entwickelung ſeiner Beiſpiele zu dem Reſultat: der Staat muß ſich die Glaubensbekenntniſſe jeder Parthey, die ſich als ſolche geltend macht, vorlegen laſſen; hat er eines gebilligt, ſo muß die Parthey ſolches in ihren Schulen und Tempeln nicht nur getreulich, ohne Zu - ſatz lehren, ſodann auch ihre Jugend ſich dazu auf eine feier - liche Art bekennen laſſen. Ob er ſein Bekenntniß wirklich glaube, darf der Staat nicht weiter erforſchen wollen, er muß die rechtliche Meinung fuͤr ſich haben. Wer es aber nicht kund geben will, der iſt zwar zu dulden, aber er kann zu keinem obrigkeitlichen Amte gelangen, ſein Zeug - niß wird nicht angenommen, und wenn es zum Kriege geht, muß er, weil man ihm ſelber die Waffen nicht ver - trauen kann, ſeinen Mann bezahlen. Dabei wird er aber318Sechzehntes Capitel.doch, wenn er gegen die von der Mehrzahl beliebten Ge - ſetze ſich vergeht, eben ſo beſtraft, als ob er das Geſetz mitbewilligt haͤtte. So weit Moͤſer; und Rehberg iſt in ſpaͤteren Tagen nicht allein Moͤſern beigetreten, ſondern urtheilt ſelbſt, daß dieſer nicht genug gethan habe, wie denn Moͤſer wirklich als guter Erzaͤhler innerhalb ſeines Gleich - niſſes auf nordamerikaniſchem Boden geblieben iſt. Reh - berg ſpricht fuͤr den Staat das Recht an, ſolche religioͤſe Vereine, deren Grundſaͤtze und Meinungen fuͤr verderblich erklaͤrt ſind, auszuſchließen; auch duͤrfe keiner als vollkom - mener Wildfang leben, und ſeine Kinder ſo aufwachſen laſſen. Jeder muß fuͤr die Erziehung derſelben Gewaͤhr leiſten und hier ſind bloß ausſchließende Ordnungen nicht einmahl hinlaͤnglich. Einiges Poſitive muß gelehrt wer - den. Wie viel aber, iſt aus der eigenthuͤmlichen Denkart jedes Volks, mithin dem beſondern Staatsrechte zu ent - ſcheiden.
Moͤſers vermiſchte Schriften B. I.
Rehbergs ſaͤmmtliche Schriften B. I. Allgemeine Toleranz.
294. So nun iſt es in der That. Der Staat darf nicht beherrſcht werden von der Kirche, aber er darf auch nicht herrſchen zum Nachtheile des religioͤſen Lebens.
Nicht beherrſcht werden von der Kirche. Es wuͤrde wenig Kenntniß der Religionsgeſchichte verrathen, wenn jemand meinte, die Staatsordnung duͤrfe darum laxer ſeyn, weil unſere Europaͤiſchen Staaten doch faſt allein mit Chriſtlichen Secten in Beruͤhrung kommen. Aber ſelbſt unſer Zeitalter hat Poͤſchelianer geſehen, die fuͤr ihren Glau - ben Mitmenſchen toͤdteten, hat Gemeinſchaft der Guͤter und der Weiber geſehen, die ſich Chriſtenthum nannte. 319Religion und Kirche im Staate.Andere ehrenwerthe Secten machen es dem Staate ſchwer durch ihre Gleichguͤltigkeit gegen ihn, wie die Herrnhuter, andere noch ſchwerer durch ihr Widerſtreben gegen einzelne ſeiner Forderungen, wie die Quaͤker, welche aus Misver - ſtand ſich dem Eide und dem Kriegsdienſt entziehen. Weder die Zahl der Gleichguͤltigen, noch die der Wider - ſtrebenden darf im Staate ſtark anwachſen, indeß wird der Staat auch ſelbſt den Letzteren bedingte Duldung in der Hoffnung vergoͤnnen, daß ſich eben durch die Duldung das duldungswuͤrdige Princip weiter ausbilden, das entgegen - geſetzte aber allmaͤhlig einſchlummern werde; eine Hoff - nung, die ſich auch in den Quaͤker theilweiſe ſchon erfuͤllt hat. Allein wenn der Staat es auch litte, der taͤglich uͤber Eid und Ehe halten muß, auch den Kriegsdienſt nicht der Chriſtlichen Liebe aufopfern darf, die Religion ſelber beſitzt die Faͤhigkeit gar nicht, als herrſchende Kirche an den Platz des Staates zu treten, oder ſich ſo zu ſtellen, daß ſie we - nigſtens die Hauptleitung uͤbernehme, im uͤbrigen ſie den Staat dulde. Die Religion iſt eine Fackel, welche das menſchliche Thun zu erleuchten vermag, aber nicht zu er - ſetzen. Die der Gottheit zugewandte Geſinnung weiß die vergaͤnglichen Guͤter den ewigen unterzuordnen, verirrt ſich nie dahin in jenen die letzten Zwecke des menſchli - chen Strebens zu erkennen, allein die Faͤhigkeit die weltli - chen Dinge, wie ſie dermahlen vorliegen, thaͤtig zu behan - deln wird auf ganz andern Bahnen erworben, und nur wer uͤber die Stoͤrungen der Erſcheinung im Geiſte hin - auszublicken vermag, iſt vielleicht im Stande in der Voll - endung der menſchlichen Dinge eine kuͤnftige Ausgleichung vorzuahnden. Wer dagegen die Forderungen der Religion, welchen die zuruͤckgezogenſte Aſcetik ſich nur ſtufenweiſe zu naͤhern weiß, ohne weiteres auf die großen Weltverhaͤlt -320Sechzehntes Capitel.niſſe uͤbertraͤgt, der kann zwar, wenn er gewaltig und wirklich begeiſtert iſt, maͤchtig aufregen, aber er zuͤndet ſtatt zu erleuchten und gefaͤhrdet durch Mishandlung der weltlichen Ordnungen den Staat, den er zu verbeſſern ge - dachte. Daß der Menſch Alles mit Religion, nichts aus Religion thun muͤſſe, iſt ein tiefes Wort Schleiermachers. Den Beweis dafuͤr giebt mancher große Abſchnitt der Men - ſchengeſchichte, von der Geſchichte des Kirchenzehenten und des Zinſes vom Darlehn, des den Sachſen mit dem Schwert gepredigten Glaubens, der treuga Dei, des geiſt - lichen Coͤlibats und der Kreuzzuͤge an bis ſelbſt zur inne - ren Geſchichte der heiligen Allianz herab. Darum ſteht, wer moͤchte es leugnen? die katholiſche Kirche viel bedenk - licher gegen den heutigen Staat, der auf ſeine Rechte auf - merkſam geworden iſt und entſchloſſen iſt das nicht fahren zu laſſen, was von der andern Seite nur als Conceſſion in der Form von Circumſcriptionsbullen oder Concordaten mit ei - nem auswaͤrtigen Kirchenfuͤrſten, der des doppelten Schwer - tes ſich ruͤhmt, unwillfaͤhrig eingeraͤumt wird, als die pro - teſtantiſche, welche mit dem Staate ausgeſoͤhnt iſt, ſeinen alleinigen Schutz in Anſpruch nimmt und keines auswaͤrtigen Richters begehrt, ſeiner Oberaufſicht ſich willig unterwirft, ſein Veto in kirchlichen Dingen anerkennt, und nur uͤber die Graͤnzen nachſinnt, welche ſeiner geſetzgebenden Gewalt auf kirchlichem Boden zu ſtecken ſind.
295. Denn der Staat darf nicht herrſchen zum Nach - theile des religioͤſen Lebens. Vielleicht iſt es minder zu beklagen als es zu geſchehen pflegt, daß die großen Refor - matoren ihren Eifer lieber auf die lebendige Pflege der Religion als auf die Ausarbeitung einer vollſtaͤndigen Kir - chenverfaſſung verwandten; ſie wuͤrden auf dem andern321Religion und Kirche im Staate.Wege den Conflict der vom Pabſtthum losgeriſſenen, ihren Herrn ſuchenden Kirche mit dem Staate gefaͤhrlich ver - ſtaͤrkt und den Ausgang, wie er nun wurde, dennoch ſchwerlich vermieden haben. Denn der Staat ſchmachtete nach Einheit. Das Territorial-Syſtem des Chriſtian Tho - maſius und das Collegial-Syſtem des Tuͤbingiſchen Kanz - lers Chriſtoph Matthaͤus Pfaff gehen beide von gleich noth - wendigen Geſichtspunkten aus, die ſie nur einſeitig gel - tend machen und manchmahl bis zum Äußerſten verfolgen. Der Eine eilt dem Staate zu Huͤlfe, aber er verwechſelt gern die Rechte des Staats mit denen des Fuͤrſten, der Andere traͤgt die Fiction des urſpruͤnglichen Vertrages auf die Kirche uͤber, doch treibt in ihm der Grundgedanke des religioͤſen Lebens nach Verwirklichung. Es fragt ſich hier weſentlich zweierlei: Was der (evangeliſche) Staat uͤber - haupt in kirchlichen Dingen vermoͤge? und: Auf welchem Wege er am beſten ausrichte was ihm zuſteht, was ihm nicht ziemt vermeide? Die Antwort auf die erſte Frage iſt: er hat die einmahl aufgenommenen Kirchen nach ihrem Lehrbegriffe und ihrer Geſellſchaftsverfaſſung zu behandeln. Er iſt daher dermahlen außer Stand die katholiſche Kirche, beſonders inſofern ſie papiſtiſch iſt, in ein ganz richtiges Verhaͤltniß zu ſeiner Ordnung zu ſetzen; nichts deſto we - niger regelt er dasſelbe durch Vergleiche mit der Paͤbſtli - chen Curie, ſo viel ohne Verletzung der Gewiſſen geſchehen kann, moͤglichſt zu ſeinem Vortheile, denn er iſt in ſeinem Rechte. Die evangeliſche Kirche erkennt alle Herrſchafts - Rechte des Staates an, wie ſie aus dem Schutze und der Oberaufſicht hervorgehen, allein von dieſer Kir - chenhoheit, welche aus dem Begriffe des Staates fließt, trennt ſie die Kirchengewalt, welche die Verwaltung der Kirchengeſellſchaft angeht, die aber freilich auch an ein21322Sechzehntes Capitel.Mitglied uͤbergehen kann. Denn nur einem Mitgliede, nur einer gleichen Glaubensuͤberzeugung glaubt ſie mit Sicherheit die Handhabung derſelben vertrauen zu koͤnnen, und in weſſen Hand auch ihre inneren Angelegenheiten liegen moͤgen, geſetzt auch, daß der Landesherr ſich im Be - ſitze der Ausuͤbung der Rechte ſaͤmmtlicher Gemeinden be - faͤnde, dieſe Ausuͤbung darf doch nur im Sinne ihres Lehr - begriffes und ihrer Geſellſchaftsverfaſſung geſchehen; denn in beiden iſt ihr Weſen enthalten. Das: in weſſen Hand fuͤhrt auf die zweite Frage. Daß mit dem jus majestaticum circa sacra, als aus der Landeshoheit fließend, auch das jus in sacra unter dem Namen des hoͤchſten Epiſcopats in die Haͤnde der proteſtantiſchen Fuͤrſten Deutſch - lands uͤberging, hat, was man auch gegen die Concordien - Formel einwende, ſeine ſchoͤnen Fruͤchte getragen. Der Deutſche Proteſtant hat weder England, noch Schweden, in welchen Landen der Kirchenſtaat in die Haͤnde der ho - hen Geiſtlichkeit kam, um die Entwickelung ihres Kirchen - weſens zu beneiden. Allein er wird allerdings fragen, ob, vorausgeſetzt auch daß ein Verfaſſungsartikel die Kir - chengewalt fuͤr den Fall ſicher geſtellt hat, daß der Fuͤrſt den evangeliſchen Glauben verließe, nicht außerdem noch, eben wie die Staatsgewalten, ohne ſich der monarchiſchen Kraft zu entfremden, der Theilnahme des Volks empfaͤng - lich ſind, auch in der Kirche die Thaͤtigkeit der Ge - meinden hinzuzuziehen ſey. Das Princip der Reformation entfernt den Unterſchied zwiſchen Prieſtern und Laien. Die Schweizeriſche Lehre hat zuerſt auf franzoͤſiſchem Boden im Widerſtande gegen den Druck einer fremden Kirche die Kir - chengewalt der Gemeinde bei gleichen Rechten der Laien mit den Geiſtlichen zur voͤlligen Autonomie ausgebildet. Was in dieſer Richtung gelingen koͤnne, zeigen die Presbyterien323Religion und Kirche im Staate.in der Schweiz, den Niederlanden, Schottland, auch ein - zelnen kleinen Theilen der Deutſchen Bundesſtaaten. Die Presbyterial-Verfaſſung, wo ſie allein ſteht, iſt die Re - publik des Kirchenweſens.
Nichts zwar hindert den Landesherrn auch unbeſchadet ſeiner Kirchengewalt die in der Reformation tief begruͤnde - ten Anſpruͤche der Laien durch Rathserholung zu ehren. In dieſem Sinne wurden auf den Rath der Reformatoren Conſiſtorien aus Geiſtlichen und kundigen Laien berufen welche den Landesherrn, der ſie ernannte, in kirchlichen Dingen beriethen. Dieſe Einrichtung hat in unſern Ta - gen manche Umgeſtaltung erfahren, ohne daß doch ihr Grundſatz veraͤndert waͤre. Gegenwaͤrtig hat im Koͤnig - reiche Preußen ein Provincial-Conſiſtorium die Aufſicht uͤber das Kirchenweſen und die ganze Amtsfuͤhrung der Geiſtlichkeit, welche letztere bis zur Suspenſion geht; uͤber Remotion entſcheidet auf Antrag des Conſiſtoriums die Regierung durch eine fuͤr jeden Regierungsbezirk der Pro - vinz beſtellte Kirchen - und Schul-Commiſſion, welche einen Theil des Regierungs-Collegiums ausmacht, die koͤniglichen Prediger - und Schulſtellen beſetzt, imgleichen die Pruͤfungen der Anzuſtellenden beſorgt *). Im Allge - meinen pflegt den Conſiſtorien auch die Aufſicht oder Mit - aufſicht auf das Volksſchulweſen vertraut zu ſeyn, nicht minder eine Jurisdiction, welche ſich auch auf Nicht-Geiſt - liche durch Kirchenſtrafen bei Vergehungen gegen die kirch - liche Ordnung und in Eheſachen ausdehnen kann; nur daß die Kirchenſtrafen außer Übung getreten ſind und Eheſachen oft einem eigenen aus Geiſtlichen und Weltlichen gemiſch - ten Ehegerichte uͤbergeben werden. Das allgemeine Reſul - tat bleibt: Wo die reine Conſiſtorial-Verfaſſung ſtattfin - det, und uͤberhaupt wo in der evangeliſchen Kirche der21*324Sechzehntes Capitel.evangeliſche Landesherr die volle Kirchengewalt hat, da wird von Geiſtlichen und Laien, die der Landesherr aus - waͤhlt, je nachdem der Landesherr es anordnet, in kirchli - chen Dingen entweder bloß berathen, oder nach Inſtruction entſchieden.
296. Dieſe Verfaſſung wird fuͤr den gewoͤhnlichen Gang der Dinge ausreichen, inſofern die monarchiſche Kir - chengewalt den Grundſaͤtzen jeder Kirche getreu und leben - dig nachkommt, den Kirchenvorſtaͤnden der einzelnen Ge - meinden einen gehoͤrigen Antheil an der Verwaltung des kirchlichen Vermoͤgens geſtattet und nicht etwa einer beguͤn - ſtigten Confeſſion zuwendet was ſie der anderen entzieht. Aber wenn Veraltung eintritt, wenn vielleicht ein neues Geſangbuch, eine neue Liturgie einzufuͤhren, vielleicht gar eine Union von Lutheranern und Reformirten zu begruͤn - den iſt, kurz wenn in der Kirche etwas zu ſchaffen iſt, dann offenbart ſich die Unvollkommenheit der Verfaſſung, welche zu der Kirchenhoheit auch die geſammte Kirchenge - walt allein in landesherrliche Haͤnde niederlegt. Landesherr und Conſiſtorium, auch ſelbſt durch Notabeln, die wieder der Landesherr ernennt, erweiterte Conſiſtorien koͤnnen keine Kirchengeſetze begruͤnden, ohne Gefahr zu laufen, mit der Gemeinde der Glaͤubigen in Widerſpruch zu gerathen. In dieſem Falle bieten ſich zwei Wege dar: Entweder, die Re - gierung verzichtet auf das unmittelbare Schaffen, ſtellt ihre kirchlichen Arbeiten, gleich Rechtsbuͤchern, auf, unterſtuͤtzt ſie mit aller ihr zur Gebote ſtehenden Kraft der Einſicht, uͤbrigens ihr Schickſal der oͤffentlichen Meinung vertrauend, die ſie zur allmaͤhligen Annahme durch freie Verſtaͤndigung325Religion und Kirche im Staate.der Prediger mit ihren Gemeinden fuͤhren oder auch nicht fuͤhren moͤge; Oder, der Landesherr entaͤußert ſich der allei - nigen Kirchengewalt, fordert die einzelnen Gemeinden auf einen gemiſchten Kirchenvorſtand aus freigewaͤhlten (nicht lebenslaͤnglichen) Älteſten und Orts-Geiſtlichen ſich zu bil - den, dieſem ihr kirchliches Vermoͤgen unter Oberaufſicht des Staates in ſelbſtaͤndige Verwaltung zu geben, nicht minder durch das Presbyterium die Wahl von Geiſtlichen und Älteſten vorzunehmen, die auf einer Provincial - oder auch allgemeinen Synode ihren Rath abgeben werden, und wider deren Rath nicht entſchieden werden ſoll. Den Con - ſiſtorien bleibt dabei ihre Gewalt als landesherrlichen Be - hoͤrden in Kirchenſachen unbenommen, die Synoden aber gehen aus der kirchlichen Gemeinde eben wie die Staͤnde - verſammlungen aus der politiſchen, indeß mit minder Will - kuͤhr aus organiſchen Grundlagen hervor. Auch an Mit - gliedern von landesherrlicher Ernennung wird es in der Synode nicht fehlen. Denn erſten dieſer Wege hat die Preußiſche Regierung im Jahre 1798 verſucht, und in der Koͤniglichen Cabinetsordre wegen der neuen Liturgie vom 18ten Juli ſo bezeichnet: “Jetzt beſonders freut es mich, daß Hoffnung vorhanden iſt, beide Confeſſionen durch eine gemeinſchaftliche Agende, der bleibenden Verſchiedenheit der Meinungen ungeachtet einander naͤher zu bringen, und da - durch ſelbſt den unaufgeklaͤrten Theil der kirchlichen Ge - meine immer mehr zu uͤberzeugen, daß Friede, Liebe und Duldung die einzigen noͤthigſten Mittel in Religionsſachen ſind. Durchdrungen von dieſer Wahrheit will ich, daß bei der vorhabenden Liturgie nicht nur aller Zwang — denn an dieſen darf in Angelegenheiten des Gewiſſens und der Überzeugung gar nicht gedacht werden — ſondern auch ſo viel als moͤglich alle buͤrgerliche Autoritaͤt vermieden, und326Sechzehntes Capitel.die auszuarbeitende verbeſſerte Agende Anfangs bloß als eine Privatunternehmung einzelner Gelehrten angeſehen wer - den ſoll. — — Naͤchſtdem aber befehle ich Euch, einigen ernſt - haften, tolerant denkenden, und in jeder Ruͤckſicht brauch - baren Maͤnnern, nach vorgaͤngiger meiner Genehmigung derſelben, den Auftrag zu machen, eine Sammlung von kirch - lichen Gebeten, Tauf -, Trauungs - und Abendmahlsformu - laren, mit Benutzung der ſchon vorhandenen und allgemein geſchaͤtzten Agenden, zu veranſtalten, und, nach von derſel - ben erhaltener Billigung, ſolche dem großen Publicum zur allgemeinen Pruͤfung durch den Druck vorlegen zu laſſen, die Stimme der Verſtaͤndigeren daruͤber zu vernehmen, ihre gegruͤndeten Erinnerungen zu benutzen, und, wenn die oͤffent - liche Meinung fuͤr die Zweckmaͤßigkeit derſelben entſchieden hat, auch die mehrſten Prediger und Gemeinen die Einfuͤh - rung derſelben verlangen, unter Einreichung derſelben an mich zu berichten. Alsdann werde ich beſtimmen, ob der oͤffent - liche Gebrauch der verbeſſerten Agende denen, die ſie ver - langen, unter gaͤnzlicher Freiheit eines Jeden, ſich noch der alten zu bedienen, erlaubt werden ſolle. Nur auf dieſe Weiſe wird eine in dieſer wichtigen Angelegenheit, wovon die Wie - derbelebung der in neueren Zeiten ſo merklich in Abnahme gekommenen Religioͤſitaͤt abhaͤngt, ſo hoͤchſt wuͤnſchenswerthe Verbeſſerung ohne anſtoͤßige unruhige Auftritte bewirkt wer - den koͤnnen. Ich empfehle Euch daher, bei der Ausfuͤhrung dieſes Auftrages mit der moͤglichſten Behutſamkeit zu Werke zu gehen — —”. *) Indeß kam damahls aus minder be - kannten Gruͤnden nichts zu Stande. Als aber zwanzig Jahre darauf im Jubeljahre der Reformation durch einen Aufruf des Koͤniges von Preußen der wichtige Verſuch ein - geleitet ward, eine Vereinigung beider Confeſſionen im Sinne einer freien Union ohne kuͤnſtliche Unirung des Dogma zu327Religion und Kirche im Staate.vollbringen, und bei der vorwiegenden Neigung der Gemein - den die noch trennenden Unterſchiede um der naͤheren Ge - meinſchaft Willen lieber zu uͤberſehen, der Hauptſache nach durch freien allmaͤhligen Beitritt gelang, kuͤndigten ſich zu - gleich Einrichtungen an, welche die unerkennbare Richtung des zweiten Weges nahmen. Mit der Staatsverfaſſung ſollte ſich die kirchliche Verfaſſung umgeſtalten, Provincial - Staͤnde und Reichsſtaͤnde ſollten neben Provincial-Syno - den und Reichs-Synoden ſtehen. Auch ward wirklich der Verſuch mit Kreis - und Provinzial-Synoden, die indeß bloß aus Geiſtlichen beſtanden, gemacht, und eine General - Synode verheißen. Inzwiſchen gab man nach einigen Jah - ren mit der Umbildung der Reichsverfaſſung auch die der Kirchenverfaſſung auf, verließ den zweiten Weg, ohne ge - neigt zu ſeyn auf den langſam aber, weil der Glaube ſich nicht vertreten laͤßt, ſicherer zum Ziele fuͤhrenden erſten zu - ruͤckzukehren. Vielmehr hat bei Betreibung der neuen Agende ſeit 1821 ſich mannigfache Klage verbreitet uͤber Bedruͤckung der oͤffentlichen Meinung, indem nur den Lob - rednern das Wort vergoͤnnt ſey, ſelbſt beſcheidener Tadel die Gewalt erfahren muͤſſe, welche Gunſt und Ungunſt der Maͤchtigen zu uͤben vermoͤgen, auch ſey neben lockender An - erbietung in einigen Faͤllen Drohung angewendet. Dar - um hat die neue Agende nicht allein den Stand des Kir - chenweſens nicht verbeſſert, ſondern ſelbſt nachtheilig durch Misſtimmung und Kaͤlte auf das erfreuliche Werk der Union zuruͤckgewirkt.
297. Synoden, bloß aus Geiſtlichen beſtehend, vielleicht dazu bloß hoͤheren Geiſtlichen (Wuͤrtemberg), oder aus Geiſt - lichen mit einem Zuſatze von Beamten, wie man ſie fuͤr die Proteſtanten im Koͤnigreiche Baiern beabſichtigte, (waͤh - rend man in Baden zutreffenden Formen Raum gab, nur bei der Ausfuͤhrung der Synodalbeſchluͤſſe den Vorwurf des328Sechzehntes Capitel. Religion und Kirche im Staate.Gewiſſenszwanges nicht ganz vermied,) werden bei den Gemeinden eher Sorge wegen hierarchiſcher Fortſchritte als Zutraun erwecken, und zwar um ſo viel weniger Zutraun, je mehr die Beſetzung der meiſten Pfarrſtellen der Mitwir - kung der Gemeinden entzogen iſt. Da der Staat vermoͤge der Staatspruͤfung ungebildete Religionslehrer abwehrt, ſo darf die Forderung aufgeſtellt werden, daß die freie Wahl der Gemeinde unter Beſtaͤtigung der Regierung als Regel bei Beſetzung von bloßen Pfarrſtellen eintreten moͤge, und zwar vornehmlich bei den Landgemeinden, als welchen keine Auswahl unter mehreren Seelſorgern vergoͤnnt iſt.
298. Die Aufnahme der Iſraeliten zu gleichen Rechten bleibt, wie ſehr man ſie auch ausſchließlich auf den Ge - ſichtspunkt der leidenden Menſchheit zuruͤckfuͤhre, immer doch eine Staatsfrage. Wo Widerwillen, mindeſtens Gleichguͤl - tigkeit gegen weſentliche Beſtandtheile unſrer geſellſchaftli - chen Ordnung obwaltet, wo eine den Gegenſtaͤnden unſe - rer Verehrung feindſelige Geſchichte ihre unverkennbare Macht uͤbt, da iſt weder die Frage nach der Zahl der ſo Beſchaffe - nen uͤberfluͤſſig, noch nach der Staͤrke ihrer Aſſociation, auch keineswegs unbillig der Unterſchied ihrer Behandlung im Einzelnen und Allgemeinen nach der Art ihrer Betriebe und dem Grade ausgebildeter Standesehre, nach dem Mehr oder Minder der nationalen Privatrechte, welche ſie als Theile ihres Glaubens heilig zu halten fortfahren, nach der Stim - mung, mit welcher die chriſtliche Bevoͤlkerung auf einen Richter, einen militaͤriſchen Vorgeſetzten aus dieſem Volk hin - blicken wuͤrde. Der richtige Geſichtspunkt iſt, zu verhindern, daß ſie nicht bloß die Vortheile hinnehmen, den Verbindlich - keiten ſich entziehen. Fortſchritte moͤgen mit Fortſchritten ſtu - fenweiſe belohnt werden; die Gebrechen unſrer buͤrgerlichen Geſellſchaft geſtatten keine politiſche Wageſtuͤcke mehr.
CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe
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