PRIMS Full-text transcription (HTML)
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[I]
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[II][III]
Eduard Allwills Briefſammlung
mit einer Zugabe von eigenen Briefen
Tel eſt l'effet de la vérité: on la repouſſe; mais en la repouſſant on la voit, & elle pénètre. (Garat le jeune. )
Erſter Band.
Koͤnigsberg,beyFriedrich Nicolovius.1792.
[IV]
Though all things foul would wear the brows of grace, Yet grace muſt ſtill look ſo. (Macbeth Act. IV. Sc. III. )
Wenn auch alle boͤſen Dinge die Geſtalt des Guten annaͤhmen, ſo muß doch das Gute immer dieſe Geſtalt behalten.
(Eſch. Ueberſ. )
[V]

An den Herrn Geheimenrath Schloſſer in Carlsruhe.

) (2[VI][VII]

Es iſt wider allen loͤblichen Ge - brauch Jemanden ein Buch hinter ſeinem Ruͤcken zuzueignen. Da Du aber, als Freund, und faſt in jeder andern Be - trachtung, Dich auſſer dem loͤblichen Gebrauche zu halten pflegſt; ja dem Zeitalter hinter dem Ruͤcken ſo - gar Selbſt geworden biſt, was Du biſt zu ſeinem Kreuz: ſo haͤtteſt Du allein deswegen ſchon die Pflicht auf Dir, meine Verwegenheit, als eine un - ſchuldige Nachahmung hingehen zu laſſen.

Doch mir kommt ein beſſeres Recht zu Statten! Ein Recht, dem zwar ebenfalls, was nur mit laufender Sitte und ihren loͤblichen Gebraͤuchen zuſammenhaͤngt,) (3VIIIden damit zu nahe zu treten, einen recht - maͤßigen Abſcheu empfindet.

Lieber will er es geſchehen laſſen, daß man dieſe Briefe als erdichtet, und das Ganze als ſein eigenes Hirngeſpinnſt an - ſehe. Ja er wuͤnſcht ſogar, man moͤge dieſe Hypotheſe ſich gefallen laſſen, wenn man nur im Glauben dergeſtalt Maaß haͤlt, daß man ſie nicht als eine hiſtoriſche oder ſonſt erwieſene Wahrheit, ſondern al - lein wegen der obwaltenden Verlegenheit freywillig annimmt, und nothduͤrftig gel - ten laͤßt.

Die hiemit dem Leſer zugemuthete zwiefache Gefaͤlligkeit: zuerſt, einer unwahrſcheinlichen Hypotheſe beyzupflich -IX ten; hernach, das ihr gemaͤſſe zwar zu glauben, aber doch im eigentlichen Ver - ſtande denn auch wieder nicht zu glauben: dieſe zwiefache Gefaͤlligkeit waͤre in der That zu groß, als daß ſie auch von dem geneigteſten Leſer erwartet werden duͤrfte, wenn er nicht ſeinen eigenen Vor - theil dabey faͤnde.

Weil aber ungeneigte und geneigte Leſer, wie ich zeigen werde; und zwar jene zuerſt, ihren offenbaren Vortheil dabey finden; ſo bin ich ihrer Willfahrung deſto gewiſſer, da bey der ihnen zugemu - theten zwiefachen Muͤhe, auch eine zwie - fache Erleichterung ſtatt finden ſoll.

Denn was die Hypotheſe unwahrſchein -) (5Xliches hat, wird durch das: im eigent - lichen Verſtande nicht glauben duͤrfen verguͤtet; und: das im ei - gentlichen Verſtande nicht glau - ben giebt ſich durch das Unwahrſchein - liche der Hypotheſe beynah von ſelbſt.

Alſo habe ich dem Leſer nur noch ſei - nen eigenen Vortheil vor Augen zu ſtellen, welches ich mit wenigen Worten zu Stande zu bringen hoffe.

Ich ſetze zum Voraus, daß ich Leſer habe.

Dieſe Leſer ſind meine Zeitgenoſſen; folglich geſchworne Feinde aller Dunkelheit. Nun finden ſich dieſe in Abſicht des vorlie -XI genden Buches von Dunkelheiten ganz um - geben. Sie fragen: Wer iſt Eduard All - will? Lebt er, oder iſt er todt? Wo hat er gelebt? Wenn er noch im Leben iſt, wo haͤlt er ſich auf? Wie bekam er nur ſeine eigenen Briefe wieder in die Haͤnde? Wie brachte er die uͤbrigen in ſeine Gewalt? Was will er mit ihrer Bekannt - machung? Woher ſeine Verbindung mit dem Herausgeber? Und dergleichen Fragen noch eine Menge, die ich alle muͤßte unbeantwortet laſſen, theils durch eigene Unwiſſenheit gebunden, theils durch mein gegebenes Wort.

Der Leſer alſo, unvermoͤgend ſowohl in Abſicht der Herleitung als Hin - leitung ſeines Buches ſich zu recht zuXII finden, wuͤrde nicht allein mit dem Samm - ler und Herausgeber, ſondern auch mit ſich ſelbſt unzufrieden werden, weil er mit dem Gegenſtande der Fragen nun ein - mal verwickelt waͤre, und die Sache eben ſo wenig von der Hand ſchlagen, als nach ſeinem Wunſch ins Reine bringen koͤnnte.

Mitten in dieſer Verlegenheit komme ich ihm nun mit meiner Hypotheſe zu Huͤlfe: und gelingt es mir, ſie nur einigermaſſen wahrſcheinlich zu machen; ſo erhaſcht er dieſe Wahrſcheinlichkeit gewiß mit Freu - den, da ihm mit und in ihr, Herleitung und Hinleitung zugleich gegeben wird, und er zu ſich ſagen kann, daß er begreift.

Ich ſchlage demnach ſo fort dem LeſerXIII vor, ſich unter dem Herausgeber einen Mann vorzuſtellen, dem es von ſeiner zar - teſten Jugend an, und ſchon in ſeiner Kind - heit ein Anliegen war, daß ſeine Seele nicht in ſeinem Blute, oder ein bloſſer Athem ſeyn moͤchte, der dahin faͤhrt.

Dieſes Anliegen hatte bey ihm ſo wenig den bloſſen gemeinen Lebenstrieb zum Grunde, daß ihm vielmehr der Gedanke, ſein gegenwaͤrtiges Leben ewig fortzuſetzen, graͤßlich war. Er liebte zu leben wegen ei - ner andern Liebe, und noch einmal! ohne dieſe Liebe ſchien es ihm unertraͤglich zu leben, auch nur Einen Tag.

Alſo ſchon als Knabe war der Mann ein Schwaͤrmer, ein Fantaſt, ein Myſti -XIV ker oder welches iſt der rechte Name unter ſo vielen, die ich, mit ihren ſorg - faͤltigen Definitionen, in ſo mancherley neueren Schriften gefunden und nicht be - halten habe?

Dieſe Liebe zu rechtfertigen; darauf gieng alles ſein Dichten und Trachten: und ſo war es auch allein der Wunſch, mehr Licht uͤber ihren Gegenſtand zu erhalten, was ihn zu Wiſſenſchaft und Kunſt mit ei - nem Eifer trieb, der von keinem Hinderniß ermattete.

Ein verzehrendes Feuer trug der Juͤng - ling im Buſen. Aber keine ſeiner Leiden - ſchaften konnte je uͤber den Affect, der die Seele ſeines Lebens war, die OberhandXV gewinnen. Jene, wenn ſie Wurzel faſſen ſollten, mußten aus dieſem ihren Saft holen und ſich nach ihm bilden.

So geſchah es, daß er philoſophiſche Abſicht, Nachdenken, Beobachtung in Si - tuationen und Augenblicke brachte, wo ſie aͤuſſerſt ſelten angetroffen werden.

Was er erforſcht hatte, ſuchte er ſich ſelbſt ſo einzupraͤgen, daß es ihm bliebe. Alle ſeine wichtigſten Ueberzeugungen beruh - ten auf unmittelbarer Anſchauung; ſeine Beweiſe und Widerlegungen, auf zum Theil (wie ihn daͤuchte) nicht genug bemerk - ten, zum Theil noch nicht genug vergliche - nen Thatſachen. Er mußte alſo, wenn er ſeine Ueberzeugungen andern mittheilen wollte, darſtellend zu Werke gehen.

XVI

So entſtand in ſeiner Seele der Ent - wurf zu einem Werke, welches mit Dich - tung gleichſam nur umgeben, Menſchheit wie ſie iſt, erklaͤrlich oder unerklaͤrlich, auf das gewiſſenhafteſte vor Augen ſtel - len ſollte.

Erbaulicher als die Schoͤpfung; mora - liſcher als Geſchichte und Erfahrung; phi - loſophiſcher als der Inſtinkt ſinnlich ver - nuͤnftiger Naturen, ſollte das Werk nicht ſeyn(*)Ich nenne Inſtinkt diejenige Energie, welche die Art und Weiſe der Selbſtthaͤtig - keit, womit jede Gattung lebendiger Natu - ren, als die Handlung ihres eigenthuͤmli - chen Daſeyns ſelbſt anfangend und al - leinthaͤtig fortſetzend gedacht werden muß,urſpruͤng -.

DennXVII

Denn daß ſo viel ausgelaſſen wurde von den Philoſophen, damit ſie nur er -(*)urſpruͤnglich (ohne Hinſicht auf noch nicht erfahrne Luſt und Unluſt) beſtimmt. Der Inſtinct ſinnlich vernuͤnftiger (d. i. Sprache erzeugender) Naturen hat, in ſo fern dieſe Naturen blos in ihrer vernuͤnftigen Eigenſchaft betrachtet werden, die Erhaltung und Erhoͤhung des perſoͤnlichen Daſeyns (des Selbſt - bewußtſeyns; der Einheit des reflectierten Bewußtſeyns mittelſt continuirlicher durch - gaͤngiger Verknuͤpfung: Zuſammen - hang ) zum Gegenſtande; und iſt folg - lich auf alles, was dieſes befoͤrdert, unaus - ſetzlich gerichtet. In der hoͤchſten Abſtraction, wenn man) () (XVIIIklaͤren koͤnnten; ſo viel verſchwiegen von den Moraliſten, damit ihr allerhoͤch -(*)die vernuͤnftige Eigenſchaft rein abſondert; ſie nicht mehr als Eigenſchaft, ſon - dern ganz fuͤr ſich allein betrachtet: geht der Inſtinct einer ſolchen bloſſen Ver - nunft allein auf Perſonalitaͤt, mit Aus - ſchließung der Perſon und des Daſeyns, weil Perſon und Daſeyn Individualitaͤt ver - langen, welche hier nothwendig wegfaͤllt. Die reine Wirkſamkeit dieſes letzten In - ſtincts, koͤnnte reiner Wille heiſſen. Spinoza gab ihr den Namen: Affect der Vernunft. Man koͤnnte ſie auch das Herz der bloſſen Vernunft nennen. Ich glaube, daß wenn man dieſer Indication philoſophiſch nachgeht, mehrere ſchwer zu erklaͤrende Er - ſcheinungen, auch die eines unſtreitig vor -XIX ſter Einfluß nicht geleugnet wuͤrde: dies eben hatte den Mann verdroſſen, der nach einem Lichte, worin nur das zu ſehen waͤre, was nicht iſt, ſich wenig ſehnte, und zu einer allerhoͤchſten Willenskraft des Menſchen, auſſer dem menſchlichen Herzen, kein Vertrauen hatte; vielleicht aus Man - gel ihrer Gabe in ſeinem eigenen Kopfe.

(*)handenen categoriſchen Imperativs der Sitt - lichkeit, ſeines Vermoͤgens und Unvermoͤ - gens, ſich vollkommen begreiflich werden fin - den laſſen. Man muß aber zugleich auf die Function der Sprache bey unſeren Urthei - len und Schluͤſſen wohl Acht haben, damit man durch Inſtanzen, welche auf nur etwas ſchwer zu entraͤthſelnden Wortſpielen beru - hen, nicht irre oder muthlos gemacht werde.

) () (2XX

Er ſammelte zu ſeinem Werke mit einer Liebe, die ihn von der Ausfuͤhrung deſſel - ben entfernte. Nun iſt er zu alt geworden, um an eine Vollendung nach dem erſten Plane zu denken: aber gewiß liefert er noch einen zweyten Band; und hoͤchſt wahr - ſcheinlich einen dritten.

Der zweyte Band, welcher ſchon auf Johanni erſchienen waͤre, wenn nicht kluge Maͤnner anders gerathen haͤtten, enthaͤlt die Epoche von Clerdons Abweſenheit, die man in dieſem erſten angekuͤndigt findet.

So viel zur inneren Wahrſcheinlich - keit meiner Hypotheſe, der Hauptſache, zufolge ihrer pragmatiſchen Abſicht.

XXI

Die aͤuſſere Wahrſcheinlichkeit will ich von Auſſen, durch Inſtanzen, zu bewirken ſuchen, wie folgt.

Waͤre der angebliche Herausgeber nicht der wirkliche Verfaſſer dieſes Buches, wie haͤtten die ſchon ehmals erſchienenen Briefe dieſer Sammlung die veraͤnderte Geſtalt, in welcher man ſie hier erblickt, erhalten, und ſich, den neuen zu Gefallen, derge - ſtalt veraͤndern koͤnnen? Hier ſtoͤßt man auf einen Zuſatz; dort auf eine Luͤcke; und uͤberall blickt eine geſchaͤftige Hand hervor, die nicht Scheu traͤgt, mit dieſen Brie - fen, wie mit einem Eigenthume zu ſchalten.

Hiegegen kann eingewendet werden: da man die eilf Briefe, die hier zum erſtenmal) () (3XXIIerſcheinen, ehmals nicht haͤtte bekannt ma - chen wollen; ſo waͤre man gezwungen gewe - ſen, jene zehn Briefe, die man herauszu - geben ſich bewegen ließ, damals ſo weit zu veraͤndern, als noͤthig war, damit ſie nicht auf die dazwiſchen weggenommenen gerade zu hinwieſen, und ihre Abweſenheit un - moͤglich machten. Dieſe verdrießliche Ar - beit waͤre geſchehen, wie verdrießliche Ar - beiten zu geſchehen pflegen, und daruͤber die Abſchrift durchaus fehlerhaft geworden. Demnach wuͤrde es der Wahrheit ganz zu - wider ſeyn, und eine ſeichte Kritik verra - then, wenn man als gemachte Veraͤn - derungen anſehen wollte, was im Gegen - theil nur weggeſchafte Veraͤnderun - gen waͤren.

XXIII

Ich bin zu bloͤde, um dieſer Einwen - dung das Uebergewicht von Wahrſcheinlich - keit, wodurch ſie meine Inſtanz entkraͤftet, geradezu abzuſprechen. Lieber will ich das Gewicht meiner Inſtanz durch eine Zugabe, welche mir die Zugabe zu dieſem erſten Bande von Allwills Briefſammlung, das Schreiben an Erhard O **, an die Hand giebt, zu vermehren ſuchen.

Ich frage alſo jedweden, ob er die Fa - milienaͤhnlichkeit zwiſchen dem Schreiben an Erhard O ** und den Briefen der Allwilliſchen Sammlung ſich zu leugnen unterfangen werde?

Jenes Schreiben iſt durchaus philoſo - phiſchen Inhalts, hat aber gar nicht die philoſophiſche Einrichtung, welche den) () (4XXIVAngriff von Auſſen eben ſo bequem macht, als die Vertheidigung nach Auſſen, und daher bey Feinden und Freunden gleich beliebt und wohl gelitten iſt.

Warum fehlt ihm dieſe beſſere Einrich - tung? Ich ſage, ſie fehlt ihm deswegen, weil es ein Stuͤck der Allwilliſchen Samm - lung iſt, das nur Reisaus genommen hatte. Es konnte aber fuͤr ſich allein nicht beſte - hen; kam zuruͤck, und wurde als eine Zu - gabe angenommen.

Und hiemit glaube ich nun, was ich unternommen, vollbracht, und den Leſer uͤber ſeine Fragen, wenn auch nicht ganz beruhigt, doch vollkommen und ſelbſt uͤber die Maaſſen zerſtreut zu haben.

XXV

Ich uͤberlaſſe ihn ſeiner Zerſtreuung, und ſchließe meine Vorrede mit einem nicht genug bekannten, wenigſtens nicht genug erwogenen alten Reim, der einen reichen Schatz des Troſtes, nicht allein fuͤr jeden Autor, ſondern auch fuͤr jeden Leſer ent - haͤlt, wenn dieſer nur ein Wort veraͤndern, und fuͤr Leſer Autor ſetzen will:

Leſer, wie gefall ich Dir?
Leſer, wie gefaͤllſt Du mir?
) () (5[XXVI][XXVII]

Allwills Briefſammlung.

Die Natur in ihren ſchoͤnen Formen ſpricht figuͤrlich zu uns, und die Auslegungsgabe ihrer Chiffernſchrift iſt uns im moraliſchen Gefuͤhl ver - liehen. Schon der bloße Reiz in Farben und Toͤnen nimmt gleichſam eine Sprache an, die einen hoͤhern Sinn zu enthalten ſcheint und die Natur naͤher zu uns fuͤhrt.
(Kant (Cr. d. Uk. S. 168. 170). )
[XXVIII]
Das Urbild jeder Tugend, jeder Schoͤne; Was ich nach ihm gebildet, das wird blei - ben! Es ſind nicht Schatten, die der Wahn er - zeugte, Ich weiß es, ſie ſind ewig, denn ſie ſind.
Goethes Taſſo A. II, Sc. 2.
ΗΑ Ολυμπος ηυλει, Μαρσυου λεγω, τουτου διδαξαντος. τα ουν εκεινου εαν τε αγαϑος αυλητης αυλῃ, εαν τε φαυλη αυλητρις, μονα κατεχεσϑαι ποιει, και δηλοι τους των ϑεων τε και τελετων δεο - μενους, δια το ϑεια ειναι.
(Plato in Conviv. Ed. Bip. X. p. 257. )
XXIX

Einleitung.

Sylli, geborne von Wallberg, ſtammte aus einer alten Patriziſchen Familie in C**. Als ſie funfzehn Jahre alt war, verlor ſie ihre Mutter, welche mehr als das gemeine Erden - leben in ſie geboren hatte, und ſich ſo ganz in ihr fuͤhlte, daß davon in beyder Herzen eine namenloſe Liebe ſproßte. Ihr Vater, von ei - ner ungluͤcklichen Leidenſchaft bis zum Wahn - ſinn gefoltert, begrub ſich zwey Jahre nachher in ein Carthaͤuſerkloſter, wo er, als die fol - genden Briefe geſchrieben wurden, noch lebte. Sylli gerieth nun mit ihrem Bruder unter Vor - mundſchaft, und in eine ſo verwirrte Lage, daß ihr Herz davon um und um wund werden mußte.

Sie mochte ein und zwanzig Jahre alt ſeyn, als einer von den Gefaͤhrten ihrer Kindheit und zartern Jugend, Auguſt Clerdon, ſie wie -XXX derſah, und die heftigſte Liebe fuͤr ſie empfand; ein feuriger Mann, von großen Geiſtesgaben, aber ſehr unſtaͤtem Sinne. Die Verbindung kam zu Stande, und Sylli zog nach E***, wo ihr Mann eine der anſehnlichſten Stellen bekleidete. Gleich darauf kam deſſen Bruder, Heinrich Clerdon, als Regierungsrath nach C**. Beyde waren in der Schweiz ge - boren; aber ſchon als Kinder mit ihrem Vater nach Deutſchland verſetzt worden.

Es hatte Sylli geahndet, daß Auguſt auf vielerley Weiſe ſie ungluͤcklich machen wuͤrde; aber das Große und Herrliche in dem jungen Manne riß ſie hin. Drey Jahre nach - her ſtarb er mitten in der Verwickelung eines durch niedertraͤchtige Treuloſigkeit gegen ihn angeſponnenen Rechtshandels, der ihm die voͤllige Zerruͤttung ſeiner aͤuſſerlichen Gluͤcks - umſtaͤnde drohte. Seine Wittwe, die wenig eigenes Vermoͤgen hatte, und auch das noch in Gefahr ſah, mußte dieſen Rechtshandel, von ſchlechten Menſchen unterſtuͤtzt, gegen ſchlechte Menſchen fortſetzen, und deswegen zu E***XXXI bleiben; an einem Orte, den ſie nie geliebt hatte, und der ihr nun deſto mehr zuwider war, da ihre ganze Seele nach C** hieng, wo alles, was ſie noch an die Erde feſſelte, ſich beyſam - men fand. Ein einziges Kind, das ſie geboren hatte, war dem Vater nachgefolgt. Als ſie die beykommenden Briefe ſchrieb, mochte ſie acht und zwanzig Jahre alt ſeyn.

Amalia, deren gleich im zweyten Briefe, ohne weiteres, gedacht wird, erſcheinet ſelbſt, in der Folge dieſer Sammlung, als Heinrich Clerdons Gattinn; und Lenore und Claͤr - chen von Wallberg beyde, Schwe - ſtern (unter welchem Namen allein zuweilen ihrer auch Erwaͤhnung geſchieht) waren Syllis leibliche Cuſinen. Alle dieſe Perſo - nen hatten, in verſchiedenen Perioden, viele Jahre neben und mit einander zugebracht, und liebten, und betrachteten ſich, durch ihre aͤuſ - ſeren, noch weit mehr aber durch innere Ver - haͤltniſſe auf das engſte verbunder, als Ge - ſchwiſter. Von Eduard Allwill etwas voraus zu erinnern, waͤre uͤberfluͤßig.

[XXXII]

Druckfehler.

  • S. 11 Z. 1 lies dem ſtatt den.
  • 35 letzte l. Sie ſt. ſie.
  • 39 1 l. alsdann ſt. alsdenn.
  • 57 15 l. guten ſt. gute.
  • 79 vorl. l. bliebe ſt. blieb.
  • 91 7 l. chauve-ſauris ſt. chauveſouris
  • 99 4 l. Schooße ſt. Schooſe.
  • 103 14 l. was ſt. das.
  • 115 5 v. u. l. Geiſtes ſt. Geiſt.
  • 118 8 v. u. l. Ich ſt. ich.
  • 119 8 l. ſie ſt. Sie.
  • 121 2 l. das ſt. daß.
  • * 165 4 v. u. l. gehabt haͤtte ſt. haͤtte.
  • 170 5 u. 6 v. u. l. dich ſt. Dich.
  • 171 4 v. u. l. dem ſt. den.
  • * 221 2 l. weich und ſchwachherziger ſt. weichſchwachherziger.
  • 316 3 v. u. l. Shakeſpeare ſt. Schakesſpear.
I. Sylli
[1]

I. Sylli an Clerdon.

Ja, mein Freund, noch alle Tage wird es oͤder um mich her; und ſo ſetzt ſich denn die ſonderbare Gemuͤthsſtimmung, die Du an mir tadelſt, und wofuͤr Du keinen Namen weißt, immer feſter. Ich ſoll es Dir nennen, was weder Milzſucht, Truͤbſinn, Menſchenhaß oder Menſchenverachtung, noch ſonſt etwas iſt, wo - zu ſich aus Romanen oder Schauſpielen eine Deutung holen ließe; was aber mein Herz zu - gleich ſo warm und ſo kalt macht, meine Seele ſo offen und ſo zugeſchloſſen. Lieber Clerdon, vielleicht ein andermal; diesmal hoͤre, was ſich geſtern zutrug.

A2

Ich gerieth auf einige Stunden lang an das Bett einer Sterbenden. Sie war eine gute Bekannte meiner Tante Moßel; mich gieng ſie weiter nichts an, ſtand mit mir in keinem eigentlichen perſoͤnlichen Verhaͤltniſſe; ein all - taͤgliches Geſchoͤpf, ſehr dumpfen Sinnes, aber ohne alles Arge. Ihre Leiden auf dem Ster - bebette waren groß. Man hatte zu ihrer Ge - neſung eine der ſchrecklichſten Operationen ver - ſucht. Das alles ſtand ſie gelaſſen aus: es war die Faſſung ihres Temperaments, ſchlichte Fortſetzung ihres Lebens bis ans Ende. Vier Stiefkinder (eigene hatte ſie nie) ſtanden um ihr Bett; naͤher ihr Mann, der es blos wegen Gewinn und Gewerbe geworden war. Alle weinten und ſchluchzten recht ernſtlich; gewiß, Clerdon, ihre Trauer gieng von Herzen. Aber im Grunde, was war es? Etwa ein wenig Reue, ein wenig Erkenntlichkeit, arm - ſelige Scheu vor der Befremdung, wenn ſie jetzt nicht mehr da ſeyn wuͤrde, Bangen vor dem Bilde des Todes. O wie gleicht doch alles einander ſo widerlich! Ich3 ſaß da ſo kalt; koͤrperlich gepeinigt von dem koͤrperlichen Leiden der Kranken; konnte ſonſt mit niemanden ſympathiſiren.

Jetzt kam der Geiſtliche hinzu, und begann ſein Geſchaͤft. Ich verſichere Dir, die gute Frau zagte nicht der Zukunft wegen, hatte nicht die mindeſte Seelenangſt: nur das Dahin - ſterben ihrer Kraͤfte, die Lebensermattung preßte ihr manches Ach aus der Bruſt; und da kam jedesmal ein Zuruf, ein Spruch, ein Vers aus einem Liede: was denn nur die ohnmaͤchtigen Organe zu einem marternden Gebrauche wie - der[anfing], die milde Hand des Todes be - waffnete, und der Seele wehrte, ſtill und ſanft hinweg zu ſcheiden. O des Wuſtes von Welt!

Heute nun iſt der Verſtorbenen wegen ein Klagen, ein Weinen, auch hier unter den Meinigen, daß einem um Troſt bange waͤre, wenn man nicht wuͤßte, daß unter allen dieſen Hochbetruͤbten keiner iſt, der nicht der Gat - tinn, Mutter, Freundinn, bey ihrem LebenA 24immer ganz entbehren konnte. Und nun ich, welcher dies alles ſo klar vorſchwebt, mitten unter dieſem Haufen, ganz ohne Theilneh - mung; aber, ach, im Innerſten meines Weſens erſchuͤttert, von unertraͤglichen Gedanken! Du mit den vielen Namen, das die Menſchen alle zu einander zerrt, durch einander ſchlinget; was biſt du? Quell und Strom und Meer der Geſellſchaft; woher? Und wohin?

Ich ſehe die finſtere Hoͤhle, und den großen Keſſel, worin Macbeths Hexen allerhand Stuͤcke von Thier und Menſch, Froſchzehen, Wolfszahn, Fledermaushaar, Judenleber, Tuͤrkennaſe, Tartarlippe, und wie viel andre Dinge ſammeln, um das Werk ohne Na - men zu bereiten; kochen und kochen am Zau - berweſen, bis aus dem Gemenge die Fan - tomen alle hervorgehn:

Erſcheinen, erſcheinen, erſcheinen,
Kommen wie Schatten, und verſchwinden
wieder.

Und dazu dann den grotesken Rundetanz,5 und die herrliche Muſik, und die bezauberte Luft; die ganze, beſte, vollſtaͤndigſte Luſt - barkeit!

Doch ſo abentheuerlich, mit unter ſo fuͤrchterlich, iſt es lange nicht. Ich muß des Grauſens lachen, das mich anſtieß. Nein, guter Clerdon, nein; nur eine bunte hoͤlzerne Jahrmarktspuppe, Rumpf und Rock aus einem Kloͤtzchen; Arme, Fuͤße, Kopf daran geleimt, und ein Brettchen darunter, daß es ſtehe: iſt denn das ein Geſpenſt?

A 36

II. Sylli an Clerdon.

Ich war heute lange vor Tag aus dem Bette. Ein ſonderbar ſchoͤnes Licht, das im - mer heller mich umgab, trieb mich aus mei - nem Cabinette in das Zimmer gegen Morgen, welches die weite Ausſicht nach dem kleinen Gebirge hat. Ich fuhr zuſammen uͤber dem Anblick, und blieb unbeweglich am Eingange des Gemachs. Was mich feſſelte, war die große Stille bey allem[Glanze], bey allem Wer - den am weiten Himmel: unuͤberſchauliche, unaufhoͤrliche Verwandlungen; und doch kein ſichtbarer Wechſel, keine Bewegung. Aber jetzt trat die Sonne naͤher, und fuhr auf ein - mahl hinter den Huͤgeln herauf, daß ich da - von mit in die Hoͤhe fuhr. Clerdon, es wa - ren ſelige Augenblicke! Und ſiehe, wie dieſer Sonnenaufgang, ſo war der ganze heutige Tag; Fruͤhlings Anbeginn, Anbruch des Jah -7 res, erſter Lichtſtrahl einer viel groͤßern Schoͤpfung, als die Schoͤpfung eines einzel - nen Tages. Ich mußte heraus aus dem Gemaͤuer in die offene Welt. Sophie, bey der ich angerufen hatte, begleitete mich. Welch ein Spatziergang! Der Himmel war ſo rein, die Luft ſo ſanft, die ganze Erde wie ein laͤchelndes Angeſicht voll Troſt und Verheißung, Unſchuld und Fuͤlle des Herzens. Dies alles konnte ich jetzt wunder - bar auffaſſen; meine Blicke waren milde, ſegnend. Und ſo wurde ich unvermerkt wieder das gute zuverſichtliche Geſchoͤpf, das nichts als Wonne uͤber der Gottes-Welt Schoͤnheit, und volle Hofnung im Herzen hatte.

Ja, volle Hofnung, beſter Clerdon, ohne zu wiſſen, was ich hofte; alles Gute, alles Schoͤne: und dieſe liebe Verworrenheit, dieſe Daͤmmerung war es eben, warum mir ſo wohl war; warum kein Unglaube mich wach ſtoͤren konnte.

A 48

Dieſer Tag ſollte recht genoſſen werden. Ich wollte unter freyem Himmel die Sonne auch untergehen ſehen. Wir nahmen unſern Weg uͤber die Waͤlle. Ich verweilte an dem Orte, wo ich vor zwey Jahren im ſpaͤten Herbſte mit Dir ſtand, und Du von der weiten mannichfaltigen Ausſicht ſo entzuͤckt wareſt. Saͤh er ſie jetzt!. Ein lieber Fruͤh - lingshauch wehte mich an, und ſtellte Dich an meine Seite. O wie war rund um uns alles ſo herrlich, ſo ſchoͤn! Aber es ließ ſich nicht lange ſo anſehen; ich begab mich weg. Nun kam ich an die Stelle, wo man den lan - gen, breiten Weg um die Ecke nach S**(*)Die erſte Poſtſtation nach C**. gerade vor ſich ſieht. Da kam ich her vor ſechs Jahren; da kam vor zwey Jahren Cler - don her; da geht der Weg hin. Ach wann? Du erinnerſt Dich der Lage: eine unabſehbare Flaͤche; nichts, das Auge zu hemmen; der Weg ganz gerad aus, und ſo breit, und ſo eben Wie ich daruͤber hin -9 rollen koͤnnte! Indem ließen ſich nahe bey, gleich hinter der Stadtmauer, zwey Inſtru - mente hoͤren. Es war eine Floͤte und eine Harfe, die ganz vortreflich in meine Melodie einfielen, ſie begleiteten und fortfuͤhrten. Da ließ ich mich denn gehen, ließ es mir ſo wer - den, daß ich die Augen recht naß hatte. Meine gute Sophie neben mir wartete alles mit Freundlichkeit ab. Auf mein Stoͤckchen gelehnt blieb ich lange ſo da ſtehen: endlich lief ich hurtig mit ihr nach Hauſe, und Gute Nacht, Clerdon! Amalia, Schweſtern, gute Nacht!

A 510

III. Clerdon an Sylli.

Du ſollteſt wiſſen, liebe Sylli, wie man - che Stunde ich damit zubringe, daß ich Dir Nicht ſchreibe. Ein Brief iſt bald geſchrie - ben; einen Brief Nicht ſchreiben, dauert viel laͤnger.

Jetzt wieder ſaß ich eine große halbe Stun - de, vielleicht gar eine Stunde mit der Feder in der Hand vor dieſem Blatte; nachſinnend, wo ich Troſt fuͤr Dich faͤnde, und wie ich mit dem Troſte Dir beykaͤme.

Deine wenigen Zeilen vom 28. Februar, die uns heute einliefen, zeugen von einer Be - klemmung, die mich mit ergriffen und mir das Herz ſo zuſammengepreßt hat, daß ich mei - ner Angſt keinen Rath wußte, und mich ent - ſchloß, Amalien den Brief vorerſt nicht mitzu - theilen.

11

Du wirſt am folgenden Tage, den erſten Maͤrz, einen Brief von mir erhalten haben, worin ich Dich flehentlich bat: Du moͤchteſt einmal ohne Zuruͤckhaltung Dich gegen uns ergießen, uns Deinen Gemuͤthszuſtand, den wir uns nicht genug zu erklaͤren wiſſen, ganz offen legen. Neue Unfaͤlle ſind Dir nicht be - gegnet; und nach dem, was Du erfahren haſt, wuͤrden neue uns verborgene Wider - waͤrtigkeiten Dich nicht in dem Grade nieder - geſchlagen haben, wie Du es augenſcheinlich biſt. Woher denn dieſes Sinken in die fuͤrch - terlichſte Gattung der Schwermuth, dieſes Deinem Character ſo widerſprechende Zagen, welches einem toͤdtenden Unglauben an Liebe, an Freundſchaft, an Menſchenwuͤrde den Weg bahnt?

Daß dieſe Welt ſo weit iſt; alle Toͤne in ihr ſo verhallen Ich fuͤhle das auch; glaube mir, ich fuͤhle es. Und wie werde ich nicht gedruͤckt und verwundet, bis zur Verzweiflung oft gehemmt in den taͤglichen12 Geſchaͤften meines Lebens und Berufs, ohne irgend eine Hoffnung des Beſſerwerdens, ſo lange die Einrichtung im Ganzen dieſelbe bleibt? Aber es iſt wahr, dieſe Peinigungen ſelbſt haben das Gute fuͤr den braven Mann, daß er ſich nur mehr zuſammen nimmt. Kann er ſeine beſten Faͤhigkeiten nicht in That ver - wandeln, ſeine beſten Eigenſchaften nicht fruchtbar machen; wird er von Dummheit, Niedertraͤchtigkeit und Bosheit umzingelt, angefallen, bedraͤngt: ſo haͤlt das ſeinen Geiſt wenigſtens in Grimm empor. Was ihn niederwerfen ſollte, richtet ihn in die Hoͤhe, unterſtuͤtzt ihn, giebt ihm Haltung.

Schweſter, Freundinn, holde liebe Syl - li Auf! Raffe Dich, ſo[gut] Du kannſt, zuſammen; Du wirſt Huͤlfe finden, denn Du haſt ſie in Dir ſelbſt! O, daß ich es vermoͤchte, Dir meine innigſten Gefuͤhle hier - uͤber in ihrer ganzen Wahrheit darzuſtellen! Das Beſte an mir iſt das Wiſſen von dem, was Du biſt Was Du biſt! Und Du,13 Sylli; Du Himmelskind, verſinkſt in Jammer; koͤnnteſt verſinken in die ſchreck - lichſte Troſtloſigkeit! Eigene Vortref - lichkeit kann der hoͤchſte Genuß nicht ſeyn; denn Sylli fuͤhlt ſich elend! Sagt, ihr Engel vor Gottes Angeſicht: Ihr ſeyd wohl auch nicht ſeelig? Sylli, Du muͤßteſt in mein Herz ſchauen; nicht ſchauen; Du muͤß - teſt in Deinen Buſen es aufnehmen koͤnnen, um zu empfinden das Trauern uͤber Dich, das in mir iſt, und den Troſt fuͤr Dich, der in mir iſt.

14

IV. Sylli an Clerdon.

Ich habe Dir geſtern und vorgeſtern ge - ſchrieben, lieber Clerdon; doch muß ich Deinen eben erhaltenen Brief auf der Stelle beant - worten.

Wenn Du wuͤßteſt, wie es mich aͤngſtigt, daß Du ſo viele Sorge, ſo vielen Kummer meinetwegen haſt! Glaubt es doch, ihr guten Leute, glaubts, daß ich lange nicht ſo uͤbel daran bin, als Ihr euch vorſtellt. Alles Schoͤne in der Natur, alles Gute iſt mir ja ſchoͤn und gut; wird es noch alle Tage mehr. Oder wißt Ihr Jemand, der jede menſchliche Freude inni - ger koſtet, als Eure Sylli? Und wie ſollte ich nicht an Liebe glauben, ich, der die Bruſt ſo enge davon iſt? Nur die Hyacinthe hier! Wie oft ſtand ich nicht vor ihr, mit klopfendem Bu - ſen; ſog an ihrem Weſen mit allem meinem15 Sinn, bis es meine Nerven durchbebte, und ich die Schoͤne, Gute in mir lebendig hatte, und nennt es Thorheit, Unſinn, Schwaͤr - merey und ich Gegenliebe von ihr fuͤhlte! So pflege ich eines jeden Dinges, von welchem Wohlthun unmittelbar ausgeht; es ſey Geſtalt oder Geiſt, Lied, Harmonie, Gemaͤhlde, was es wolle. Ich halte es an mich, leih ihm Heerd und Feuer, ruhe nicht, bis ſein inneres Weſen, das Gute, Schoͤne, das Wohlthun in mich ſtroͤmt, Leben in mir empfangen hat und Liebe. Ach! nichts ſoll untergehen, was mir einen Blick der Vereinigung zuwarf; was mir Leben gab und Leben von mir nahm: wenigſtens ſo lange ſoll es nicht untergehen, als ich ſelbſt daure.

Nun bin ich hiemit freylich mancher Ver - letzung blosgeſtellt, die ich ohne das nicht empfaͤnde. Alle Dumpfheit, Achtloſigkeit, Geringſchaͤtzung, Fluͤchtigkeit der Menſchen um mich her, und die noch aͤrgere Schmach ihrer voruͤberrauſchenden Entzuͤckungen, trif[f]t mich,16 verwundet mich. So von allen Seiten ange - fochten, jedermanns Hand wider mich, iſt doch meine Hand, ich ſchwoͤre Euch, wider kei - nen. Ich ſehe immer noch viel Liebes und Gu - tes an den Menſchen. Da habe ich hier ei - nige roſenwangichte Maͤdchen, die mich durch - aus erquicken, ſo oft ſie mir begegnen. Es wird einem unter ihnen, als wandelte man zur Fruͤhlingszeit in einem Bluͤthenregen. So voll Muth, ſo voll Luſt ſind ſie, daß ſie Huͤlfe ru - fen muͤſſen. Da hangen Sie denn an meinen Armen, an meinem Halſe; entladen ihre Lip - pen, und laſſen in ihren ſchuldloſen Augen mich einen Zauber finden, womit ich alles vergeſſe. Mit einer Wonne druͤcke ich ſie dann an mein Herz, faſt als wenn es Liebe, daurende Liebe waͤre. Und ſeht, gerade ſo treibe ichs mit hundert andern Dingen; laſſe alles gut ſeyn, und mir zu gute kommen, was nur gut ſeyn mag. Ich werfe nichts auf den Boden, trete nichts unter die Fuͤße; mag aber auch nichts aufſpeichern von Menſchen Gunſt und Achtung. Seht, wenn es mir wohl einmalwird,17wird, als ſollte dergleichen dauern, als er - wartete ich es; ſo uͤberfaͤllt mich doch gleich eine Schwermuth, ein Zagen, daß ich vergehen moͤchte. Wie warm auch von auſſen mein Herz ſich anfuͤhlt, wie von ſich ſcheinend es auch iſt; ſo duͤnkt es mich doch alsdenn in der Tiefe kalt. Ja, das iſt es, daß jede Anwand - lung von Vertrauen, von Freundſchaft in mei - ner Seele zum Trauer - und Schreckengedan - ken wird; daß ich es gleich ſo hell vor mir habe, daß es nur Wiedererſcheinung iſt jener laͤngſt entwichenen Engelsgeſtalt, welche mir in den Schooß ein Todtengerippe gab.

Ach! Clerdon, Amalia, Schweſtern, zuͤrnt nicht uͤber Eure Sylli! Ihr wißt ja meine Geſchichte zum Theil; und wenn Ihr ſie ganz wuͤßtet, Euch das alles offenbar waͤ - re, was hier tief und feſt verſchloſſen liegt! Aber redet, zeugt; iſt es meine Schuld, daß es ſo mit mir geworden iſt? War ich zaghaft, weichlich; dachte ich wohl darauf, mir Schmerz, Thraͤnen zu erſparen; brachte ichB18je etwas in Anſchlag, was nicht Liebe war? Voll Muth, voll Zutrauen, im Glauben un - beweglich, duldete ich nicht alles, wagte ich nicht alles, gab ich nicht alles daran? Alles, alles! Was halfs! Nach einander und mit einander ſah ich alle ſie verdorren, die Baͤume und Lauben in den Gefilden meiner Jugend; ſah ich ſinkend ſie die Blumenbeete unter ihnen verheeren!

O des unvergifteten Pfeils, der aus Freundes Hand in euer Herz faͤhrt; den er laͤchelnd darin umkehrt, und voll Unſchuld fragt: wie kann das ſchmerzen? er war ja nicht giftig!

Nicht die wider mich Gewalt und boͤſe Tuͤcke brauchten, waren meine Verderber; jene waren es, die nur ſachte von mir ab - fielen, wie eine zeitig gewordene Frucht ab - faͤllt, ihren Baum laͤßt, und mit ſeiner Fuͤlle hinweg geht. Hoͤrt, ich bin nicht vom Blitze zerſplittert, nicht abgehauen: nur ausgeſogen19 bin ich; habe noch Aeſte und Blaͤtter. Und ſo mag der Stamm ſich erhalten, bis auch ſeine Aeſte verdorrt ſind, die Blaͤtter verwelken und nicht wieder kommen.

O, daß ich meinen Augen wehren koͤnnte, umher zu ſchauen; wuͤßte, ſie wohin abzu - wenden, weg von dem traurigen Einerley menſchlichen Lugs und Trugs! Es iſt ein wahrer Jammer, wie viel die Leute von ein - ander fodern, erwarten, hoffen, ſich und ih - ren Bruͤdern zutrauen, wirklich zu geben und zu nehmen meynen. Jede Sonne bringt unſterbliche Liebe, unſterbliche Freundſchaft auf die Welt; wer nur nicht wuͤßte, daß auch mit jedem Tage ein Abend kommt, und was dreymal geſchehen wird, ehe der Hahn kraͤhet. Am meiſten dauren einen die guten Seelen, die, wenn ſie einige Jahre zuſammen fortgeſchlen - dert ſind, oder wohl gar von Kindesbeinen an ihr Thun mit einander gehabt haben, und ihrer Sache recht gewiß zu ſeyn glauben, nur EinB 220Schickſal, nur Ein Grab ſehen, allen Stuͤr - men Trotz bieten, am Ende doch ſich unver - ſehens einander in den Grund ſegeln; oft, der armſeligſten Grille wegen, geſcheitert da lie - gen, ohne Rettung. Wohl ihnen, daß ſie ſelten das Geheimniß ihres Schickſals verſte - hen!

Ich habe lange ein Bild alles menſchlichen Thuns und Seyns, unſerer ſogenannten Laufbahn, in der Seele; ein aͤrgerliches, aber richtiges Bild: den Gang im Krah - ne. Mit zugeſchloſſenen Augen rennt jeder vorwaͤrts in ſeinem Rade, freut ſich der zu - ruͤckgelegten Bahn; weiß ſo viele Thorheiten, ſo vielen Jammer hinter ſich; und merkt nicht, daß dicht an ſeinem Ruͤcken dies alles wieder empor ſteigt, von neuem uͤber ſein Haupt, vor ſeine Stirne, und unter ſeine Tritte kommt. Ich mag hievon nicht reden: denn wer es am hellſten einſieht, hat es nur um ſo viel beſſer, daß er in ſeinem Rade ſtille ſtehen bleibt, die andern auslacht, oder be -21 ſeufzt und ſich mit O, er iſt weit am ſchlimmſten dran!

Wo ich hingerathen bin! Es war mein Wille nicht: aber nun ſey es mein Wille; denn was ſchadet es? Ihr wißt ja, was tau - ſendmal geſagt iſt: daß jeder ſeine Noth in Augenblicken, wo er mit ſeinem ganzen Da - ſeyn in ihre Vorſtellung uͤbergeht, als die groͤßte fuͤhlen muß; und ſo laßt Euch denn noch einmal geſagt ſeyn, daß es Eure Sylli im Grunde doch in der Welt ſo ſchlimm nicht hat. Glaubet mir, glaubt den Worten un - ſers lieben Primroſe: Die dunkelſten Gegenſtaͤnde, wenn wir ihnen naͤher treten, erhellen ſich, und das Auge des Gemuͤths bequemt ſich nach der truͤben Lage. Auch fuͤhrt ja Clerdon ſo oft die Verſe im Munde:

Kein Zuſtand iſt ſo hart, ein Chor von
ſtillen Freuden
Geſellt ſich ihm mitleidig bey.

O glaubet, glaubt, ſo wenig auch der ZeugenB 322dafuͤr ſeyn moͤgen: wer nicht weiß, wie man ſich auf Dornen bettet, den hat die beſte Raſt noch nicht erquickt!

Freylich waͤre alles dies Sagen nichts, wenn mein Herz von den Menſchen los waͤre; aber, gewiß, es haͤngt an ihnen mit ſeinen beſten Nerven. Kann doch niemand ſich er - wehren, die Kinder zu lieben, an denen wir ſicher nicht mehr haben, und von denen wir nicht mehr erwarten, als ich von meinen Men - ſchen. So einen kleinen, huͤbſchen, muntern Jungen, wenn ihr den an euch druͤckt, ihn kuͤßt und herzt, und ihn nicht laſſen koͤnnt; iſt das wohl, weil ihr den vortreflichen Mann denkt, der vielleicht in ihm verborgen iſt? Nein; das bloße Kind zieht euch an, wie es in dem gegenwaͤrtigen Augenblicke vor euch leibt und lebt; weil es iſt lieblich anzuſchauen, ſuͤſſen Mund, freundliche, blickende Augen, huͤ - pfende Glieder, Leib und Leben hat wie ihr, und ſeine Nerven mit den eurigen Triller ſchlagen. Ihr wißt, daß ihr ſeine Zuneigung23 mit Naſchereyen und Spiel erkauft, und ge - nießet ſie darum nicht minder mit herzlichem Wohlgefallen. Ihr trauert nicht, zuͤrnet nicht, wenn ein anderer mit glaͤnzenderen Ge - ſchenken oder hoͤherem Tanze es von euch ab - lockt, und es euch dann nicht mehr mag, und euch Bah! ſchilt; oder wenn es geradezu eu - rer muͤde wird, weil ihr ſeine Laune nicht laͤnger unterhalten, ſeine Begierden nicht alle erfuͤllen konntet. Ich erſtaune, daß die Be - merkung: wir Erwachſene ſeyen nur aͤltere Kinder, meiſtens, wo nicht im - mer, mit einer verachtenden bittern Miene, und zum Behuf der Liebloſigkeit angebracht worden iſt; da ſie mir der zuverlaͤßigſte Le - bensbalſam zu ſeyn ſcheint.

Ja! helle Wonne iſt es, ſo die Menſchen zu lieben; ohne Eitelkeit, ohne Anſpruͤche, eben mit lauter Liebe. Da geht alles ſo gerad und rein zum Herzen, und das Herz iſt ſo maͤchtig. O laßt, laßt mich nur ſchweben im Limbus, bis ich vollendet werde!

B 424

V. Clerdon an Sylli.

Liebſte Sylli, daß Du ſo lange nicht ſchrie - beſt! Wir alle zerbrechen uns die Koͤpfe daruͤber; die gute Amalia, die Nichtchen und ich; jeder nach ſeiner Weiſe. Aber naͤchſten Sonnabend kommt ſicher ein Brief von Dir; denn ich weiß, Du laͤſſeſt meinen juͤngſten kei - nen Tag unbeantwortet. In Faͤllen, die das Herz angehen, will ich alles Gute mit weit groͤßerer Zuverlaͤßigkeit von Dir, als von mir ſelbſt, vorausſagen; denn Sylli kann da nicht ſtraucheln. Du ſeufzeſt doch wohl nicht uͤber meinen ſtarken Glauben?

Hier bey uns ſollteſt Du jetzt ſeyn, lieb - ſte Sylli; daß wir Dich mit in unſere Rei - hen ſchlaͤngen, den neuen Fruͤhling zu um - tanzen. Die unwiderſtehliche Wonne des ge - ſtrigen Tages mußt auch Du gefuͤhlt haben. 25Mich hat ſie ganz durchdrungen, und ſich wie gelagert in mein Gebein. Mir iſt, wie ei - nem Juͤnglinge, der ſo eben aus eines from - men Maͤdchens Auge ſich die Seele voll Liebe und Hofnung getrunken hat; ſo froh, und zu - gleich ſo heimlich, im Buſen.

Fruͤh mit dem Morgen gieng es an. Ich erwachte von der erſten ſanfteſten Daͤmmerung, fand mich aufgerichtet, wie von dem Arme ei - nes Freundes, der mich zum unerwarteten Wiederſehen aus dem Schlummer kuͤßte. Ich ſtreckte meine Arme aus nach dem Liebens - wuͤrdigen; irrte ihm nach, und fand ihn, fand ihn ſchaffend am Aufgange. Wer an einer Muſik fuͤr das Auge zweifelt, der haͤtte dieſe Morgenroͤthe ſehen ſollen. Ein ſolcher Engelsgeſang ſchwebte mir nie auf Toͤnen in die Seele. Doch was weiß ich, mit welchen Sinnen ich empfand? Ich war auſſer mir. Gleich im erſten Augenblicke, beym Erreichen der Gegenwart, uͤberwan - delte michs, durchſchauderte michs; dann tieferB 526in der Bruſt ein Beben, immer tiefer und inni - ger; im geheimſten Buſen aufloͤſendes Beben, das den Erdenſohn toͤdtete. Tod, ſchoͤ - ner, himmliſcher Juͤngling! Des verweſenden Theils entladen, flog ich in ſeine Arme, ſank in ſeinen Schoos, war bey ihm, war in ihm, in Ihm, der da iſt, und war, und ſeyn wird; koſtete Allmacht, Schoͤpfung, ewiges Bleiben in Liebe. Ach, Sylli, daß ich zuruͤckkehren, daß der Tag kommen mußte!

Aber dennoch ein herrlicher Tag; einer der ſchoͤnſten meines Lebens!

Mit dem erſten Blicke der Sonne, der meine Augen auf die umher verbreitete herr - liche Gegend niederlenkte, und mich der Erde wiedergab, ſchoß mir lichtſchnell durch die Seele ein Strafgedanke: welch ein ſuͤndliches Weſen es doch ſey, dieſe herrliche Pracht Gottes ſo uͤber Wall und Graben nur zu be - ſchielen; nur etwa am Abend ein wenig dar -27 an vorbey oder hinterher zu ſchleichen: da doch nichts wehre, ſich hinein zu lagern in dieſe Herrlichkeit ganze Tage lang, ſich an - zukleiden uͤber und uͤber mit dieſer Pracht Gottes, zu genießen das ſeinige, den weiten offenen Himmel, und die große offene Erde.

Ich raffte mich zuſammen, und zog hin - aus in den vollen Sonnenglanz, wandelte, und nahm Beſitz von Acker, Wieſe, Bach, Wald und Strohm, Hoͤhe und Tiefe, Him - mel und Erde. Und als ich nun an den Huͤgel, mein Ziel, gelangte, hinankletterte, endlich droben ſtand und weit umherſchaute; da huͤpfte in meinem Blut, pochte in meiner Bruſt, trotzte in meinem Gebein, und ſchau - derte in meinem Haar, jauchzte, klang und ſang in allen meinen Nerven, Liebe, Luſt und Macht zu leben.

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28

Dieſe Punkte, liebſte Sylli, bedeuten eine gewaltſame Unterbrechung; eine Pauſe, die ich nun dem Liede muß ein Ende machen laſ - ſen, weil ich Ton und Tact verloren habe. Ich war eben im Begriff meinen zweyten Theil anzuſtimmen, da Allwill im Phaeton vorgefahren kam, und mir keine Ruhe ließ, ich ſollte mit Amalia vor Tiſche mich von ihm ſpatzieren fuͤhren laſſen; dagegen wollte er zu Mittag unſer Gaſt ſeyn. Wer nicht nachgiebt, das iſt Allwill: alſo geſchah, was er ver - langte. Nun bin ich zerſtreut, und darf nicht daran denken, mich wieder in die Stimmung von heute fruͤh verſetzen zu wollen. Beſſer, ich erzaͤhle Dir von Allwill, nach welchem, wenn ich nicht irre, Du ſchon zweymal ge - fragt haſt. Ich werfe Dir nur einige Zuͤge von ihm hin. Meine Frau, die ſich des jungen Menſchen er iſt noch nicht vier und zwanzig Jahre alt annimmt, um ihn zu beugen und zu beſſern, wird Dir ausfuͤhrlichen Bericht von ihm erſtatten.

Seitdem Du ihn ſaheſt, hat er ſich ſehr29 ausgebildet; aber ein unbegreifliches Durch - einander von Menſch iſt er noch immer. Sein Vater erzaͤhlte juͤngſt von ihm, er waͤre, als Knabe, ſeit ſeinem dritten Jahre nie heil geweſen, haͤtte immer ein Paar Beulen am Kopfe, und Wunden uͤberall ge - habt. Man wird nicht muͤde, den guten Major von den ſeltſamen Streichen des Kna - ben erzaͤhlen zu hoͤren; und wie er ſelbſt und die Herren Praͤceptoren ihn eben fuͤr kein Kind guter Hofnung gehalten haͤtten: weil er, bey aller ſeiner Lebhaftigkeit, im Studieren doch ſehr traͤge, und bey aller ſeiner Gutherzigkeit aͤuſſerſt hartnaͤckig, ausgelaſſen und trotzig geweſen waͤre. Fuͤr etwas ſchwach am Geiſt hielt man ihn, weil ſeine Cameraden ihn beſtaͤn - dig uͤberliſteten, ohne Muͤhe ihn zu allem be - redeten, und ihn die Zeche uͤberall bezahlen ließen. Mir fallen eben ein Paar Zuͤge ein, die kurz und leicht zu erzaͤhlen ſind.

Gegen ſein ſechſtes Jahr hatte er ſich in den Kopf geſetzt, ſein treues Schaukelpferd,30 genannt der Fuchs, wuͤrde lebendig werden, wenn er ihm eine lebendige Fliege beybringen koͤnnte. Er quaͤlte ſich unermuͤdet mit den Zube - reitungen zu ſeinem Verſuche, der ſo leicht nicht angeſtellt werden konnte, weil die Schau - kelmaſchine nicht hohl war. Einſt, als er ſie ſehr heftig in Bewegung brachte, ſo daß ſie mit den vorderſten Enden beſtaͤndig auf den Boden ſtieß, ward er unverhoft inne, daß ſie fortrutſchte. Nun trieb er ſein Thier ſtaͤrker an, und gelangte ziemlich geſchwinde mit ihm bis an das entgegengeſetzte Ende des Ge - machs. Seine Freude war ausgelaſſen. Kein Menſch vermochte ihm auszureden, daß ſein Fuchs zu leben anfange, und fuͤr nichts in der Welt waͤre er mehr von ſeiner Seite gewichen. Es ward Mittag, und Eduard hatte keinen Hunger. Sein Vater ließ ihm ſagen: er ſollte wenigſtens herunter kommen; aber ſo ſehr er ſonſt den Major fuͤrchtete, konnte er diesmal nicht gehorchen. Alle Leute im Hauſe, die ſchon im Geiſte ihren lieben Eduard bis aufs Blut peitſchen ſahen, liefen hinauf, fle -31 heten, ſchmeichelten, verhießen, drohten: alles war umſonſt. Der Major, der ſchlech - terdings gehorcht ſeyn wollte, befahl, den Knaben mit Gewalt herunter zu ſchleppen. Das geſchah. Nachdem er weidlich ausge - ſcholten worden, ſollte er ſich zu Tiſche ſetzen. Nein; er hatte keinen Hunger. Man droh - te, zwang; alles vergeblich: er ſah nur ſei - nen Fuchs, und den Himmel offen. Da nun aber ſchlechterdings ihm der Kopf gebrochen werden ſollte, ſo blieb nichts uͤbrig, als ihn tuͤchtig abzupruͤgeln, und von ſeinem Fuchſe zu trennen, welches denn unverzuͤglich alſo ins Werk gerichtet wurde, daß man ihn auf ein Paar Stunden in ein finſteres Loch ſperrte.

Einige Zeit nachher hatte er ſich Abends im Dunkeln auf ein hohes Geſtell geſchlichen, in der Abſicht, einen großen Sprung zu ver - ſuchen, den er nach vielen Uebungen und Succeſſen jetzt glaubte wagen zu duͤrfen. Er ſprang herzhaft zu; ſtuͤrzte aber ſo gewaltig, daß man fuͤrchtete, das Naſenbein waͤre ent -32 zwey. Kleinigkeit! Aber am folgenden Tage vor dem Vater zu erſcheinen! Alles in der Welt; nur das Ausſchelten konnte der Junge nicht leiden. Man hatte es diesmal leicht bey dem Major dahin gebracht, daß er ſeinem Eduard alle Strafe, und noch oben drein das zu Tiſche Sitzen erließ. Nun aber ſollte nach dem Eſſen der Junge denn doch vor ihm erſcheinen; und da entſtand große Noth. Der ſchuͤchterne Starrkopf wollte durchaus nicht hinunter, bis ſein aͤlterer Bruder Wilhelm, ein feiner, beredter, doch aber grundguter Knabe, ihn unter den heiligſten Verſicherun - gen, der Vater werde der zerquetſchten Naſe mit keiner Miene erwaͤhnen, endlich dazu ver - mochte. Große Muͤhe hatte es dennoch ge - koſtet, weil Wilhelms Kunſt Eduard ſchon in ſo manchen ſchlimmen Handel verwickelt hat - te; aber eine unverſiegende Quelle von Glau - ben im Grunde ſeines Herzens uͤberſchwemmte immer bald ſein Gedaͤchtniß, ſo daß er auch noch von dieſer Seite nicht viel weiſer gewor - den iſt. Nun wanderte Eduard an des BrudersHand33Hand zum Major, der ihn verheißenermaßen ganz milde anſah; doch aber zu bemerken nicht unterließ: er wuͤrde ihm wohl muͤſſen ein Naſen-Futteral machen laſſen. Raſch dreht ſich mein Eduard; und zu Wilhelm: Du Luͤgner! mit einem ſo kraͤftigen Stoße, daß dieſer vier Schritte weit ruͤcklings in einen Sandtrog tummelte. Der Major entſetzte ſich, und warf den Thaͤter, als das veraͤcht - lichſte Ungeheuer, von ſich.

Dergleichen begab ſich alle Tage; aber Eduards Muth und guten Humor beugte von dieſer Seite nichts. Wenige Menſchen haben mehr Schlaͤge erlitten; denn nie wollte er ſie durch willige Uebernehmung nur der kleinſten Schmach abkaufen, noch den Unwillen ſeiner Vorgeſetzten durch Thraͤnen oder Flehen mil - dern. Er ſelbſt erzaͤhlte mir neulich, daß er einſt nahe auf den Tod gegeißelt worden ſey, da ſein Praͤceptor ihn durch Sokratiſche Fra - gen zu dem Geſtaͤndniſſe verſucht: Pruͤgel waͤren Wohlthaten; und er ihn immerC34durch verſtellte Albernheit aus der Schlußfol - ge gebracht habe. Fuͤr ſeine Cameraden uͤber - nahm er mehrmals Schuld und Strafe; nicht ſowohl aus Freundſchaftsenthuſiasmus und Mitleid, als weil ihm vor ihrem Flehen und Heulen waͤhrend der Execution unertraͤglich ekelte. Bey allem dem nicht ein Schatten von Dreiſtigkeit; im Gegentheil ſo ſchuͤchtern, ſo demuͤthig gegen jedermann, wovon er Gutes dachte; zugleich ſo vorliebend, ſo dankbar, ſo mild und ſo gut, daß er den meiſten, theils fuͤr einen Tropf, theils fuͤr einen Schmeich - ler galt.

Vor Unwahrheit, ja vor bloßem Irrthum Gut, daß ich hier ein neues Blatt ſuchen mußte, ſonſt waͤre mir ſchwerlich eingefallen, daß in einer Viertelſtunde die Poſt abgeht. Wenn Du willſt, ſo komme ich naͤchſtens auf dieſe Materie zuruͤck, und erzaͤhle Dir von den Contraſten im kleinen Eduard: wie er bey aller ſeiner Unbaͤndigkeit nicht wild, ſondern zur Stille, zum vertraulichen Leben35 geneigt war; wie er bey ſeiner heftigen Be - gierde nach ſinnlicher Luſt, bey ſeiner Unbe - ſonnenheit im Handeln, doch immer gruͤbelte, und mit ganzer Seele an unſichtbaren Gegen - ſtaͤnden hieng; wie er im vierzehnten Jahre ein Pietiſt geworden, u. ſ. w. Es iſt unaus - ſprechlich reizend, alles dieſes vom Kinde zu wiſſen, und hernach den Juͤngling zu beobach - ten: wie es immer noch dieſelbigen Karten ſind; nur etwa ein Paar dazu oder davon, anders gemiſcht und anders geſpielt.

  • N. S. Mir faͤllt ein, Dir einen Brief bey - zulegen, den Eduard mir juͤngſt aus Kambeck ſchrieb. Ich muß ihn aber un - fehlbar zuruͤck haben, um ſeine erſte Haͤlfte dem Verfaſſer einmal wieder vorzulegen. Die Waldbegebenheit wird Dich freuen.
C 236

VI. Beylage zu Clerdons Briefe.

Eduard an Clerdon.

Es war gar nichts von einem Schlagfluſſe, mein Beſter, was Ihnen ſo fuͤrchterlich be - ſchrieben worden iſt; nur ein heftiger Schwin - del, der ſeine guten Urſachen hatte. Es iſt nun wieder beſſer, und mir nicht mehr bey Strafe des ewigen Lebens, oder des Tollhauſes verboten, zu leſen, zu ſchreiben, oder ſonſt etwas menſchliches zu beginnen. Auch ſcheint die Sonne wieder am heitern Himmel; die Luft iſt ſtill; ich und die ganze Natur, wir ſind bey gutem Humor.

In unſerm C ** heißt es alſo, ich ſey der Frau von Kambeck im Netze; oder noch beſ - ſer: ich liege ihr zu Fuͤſſen, bete ſie an? Mag es doch! Aber Sie, lieber Clerdon,37 ſollen die Sache beſſer wiſſen. Hoͤren Sie mein ganzes Geheimniß. Der Umgang des andern Geſchlechts reizt mich unendlich; die artigen Geſchoͤpfe haben ſo etwas ſanftes, an - ſchmiegendes, was mir behagt. Neben ihnen ſtimmt allmaͤhlich das allzuheftige in meiner Empfindungsart ſich herab; ſie ſtehlen mir Gleichmuͤthigkeit und Ruhe ins Herz. Kommt nun gar noch eine etwas naͤhere Beziehung hinzu, und ich fahre mit meiner Juno dro - ben auf den Wolken, und die Stutzerchen un - ten klettern die Berge hinan, und thuͤrmen ihre Felſen auf einander o, Clerdon! das bringt immer richtig meinen Satan um ſein Latein; es iſt ſo gut, als ob er in einen Weih - keſſel ſcheiterte, und ich habe gewonnen Spiel. Aber bey allem dem, oder vielmehr eben deswegen, iſt es mir ein unertraͤglicher Gedanke, von eben belobten Goͤttinnen irgend eine anzubeten; ihr in ganzem Ernſte zu Fuͤſ - ſen zu liegen. Vor Jahren, ja; da waren Ro - lands Thaten auch meine Sache: allein ich wurde doch ziemlich bald inne, wie es imC 338Grunde mit meinen Unſterblichen beſchaf - fen war, und bemuͤhte mich gluͤcklich, den Willen des allgewaltigen Schickſals auch zu dem meinigen zu machen.

Lieber, ich habe nichts dagegen, daß es Clariſſen, Clementinen, Julien, und ſogar heilige Jungfrauen von unbefleckter Empfaͤng - niß uͤberall gebe: aber, ich bitte, nur kei - nen zu großen Laͤrm davon! Denn ſeht, dieſe erhabenen Einbildungen ſind Schuld, daß ſo viele Menſchen veraͤchtlich von denen Weibern denken, die Gott gemacht hat; von Weibern fuͤr dieſe Erde; und nicht fuͤr den Mond, wohin dieſe Herren den Weg ſuchen. Sie ſchelten und klagen uͤber Grauſamkeiten, Treu - loſigkeiten, Abſcheulichkeiten, Schandthaten, die ſie von ihnen erfuhren; da doch die guten Geſchoͤpfchen mehrentheils nicht einmal wiſſen, was das fuͤr Sachen ſind. Toll, daß wir ſo hart gegen ſie verfahren! Laſſen wir ſie, wie die Natur ſie beliebt hat, ohne ſie zu Engeln martern und verſuchen zu wollen;39 alsdenn werden ſie uns ſehr gerne lieben, und mit ſo viel Innigkeit, Veſtigkeit und Groß - muth, als ihre artigen lieben Seelchen nur vermoͤgen.

Ich muß meiner ſpotten, und mich aͤr - gern, wenn ich zuruͤckdenke, wie ich ſonſt nie an einem Maͤdchen hangen konnte, ohne mich aus allen Kraͤften zu bemuͤhen, es nach ei - nem gewiſſen Muſter, das ich im Kopfe hat - te, umzubilden. Sie erinnern ſich doch jener Amerikaniſchen Wilden, die zwiſchen zwey Brettern ihren Kindern Kopf und Hirn quet - ſchen, und ſie zu Ungeheuern verſtellen; in der loͤblichen Abſicht, ſie der vergoͤtterten Sonne und dem vergoͤtterten Monde aͤhnlich zu machen. Gerade ſo war auch mein Thun; und waͤhrend ich mit dieſer Narrheit mich ſchleppte, habe ich ſchreckliche Leiden erduldet. Alle Augenblicke waren meine Geſtirne in Verfinſterung; und ſo arg ich auch laͤrmte, um den haͤßlichen Drachen, der ſie zu er - haſchen lauerte, fortzuſcheuchen, mußte ich ihnC 440zuletzt doch immer ſie vor meinem Angeſichte jaͤmmerlich verſchlingen ſehen. So vieler un - gluͤcklichen Erfahrungen muͤde, ſprach ich einſt an einem fruͤhen Morgen ſehr weislich zu mir ſelbſt: Es iſt Ja wahr, daß weder Aſpaſia, noch Danae, noch Phyllis, noch Melinde, noch ſo viele andre Namen, die du wohl weißt, Namen von Sternen am Him - mel ſind: aber ſag 'an! zecht man nicht oft beym Wachslichte froͤlicher, als man im hoͤch - ſten Sonnenglanze tafelt? Nun, ſo genieße der kleinen Feſte, und laß die wunderbaren, ungeheuren Herrlichkeiten, womit es, ohne den Zauberſtab des großen Merlin, doch nie recht gelingen kann. Seit dieſer Zeit, was fuͤr Abentheuer mir auch im Gebiete der Liebe zugeſtoßen ſind, habe ich nie wieder an mei - nen Schoͤnen, Hoͤrner, Fiſchſchwaͤnze, oder Krallen wahrgenommen; ſondern es mir immer wohl ſeyn laſſen.

Von hier komme ich vor Anfang der kuͤnf - tigen Woche ſchwerlich weg. Ich ließe mich41 auch gern halten, wenn nur der junge Graf von Batuff nicht waͤre, den mein boͤſer Geiſt hieher gebannt hat, und der mir alle Augen - blicke etwas unangenehmes mit ſich zu ſchaffen macht. Er verſtimmte mich gleich im erſten Augenblicke, da ich hier ins Schloß trat. Sie wiſſen, daß mein Praͤſident mir den Auf - trag gab, auf dem Wege hierhin ein Paar Stunden umzureiten, um die neue Waſſerma - ſchine in dem Bergwerke zu D *** in Augen - ſchein zu nehmen. Ich that das ſo kurz ab, als moͤglich; und ritt nun in geſtrecktem Trabe durch den Wald auf Kambeck zu. Ungefaͤhr in der Mitte des Waldes ſah ich zwey aus - geſpannte Pferde, einen umgeworfenen Kar - ren, und den Fuͤhrer, an einen Baum ge - lehnt, daneben ſtehen. Der arme Kerl hatte alles ſein Holz abgeladen; auch das eine Rad ausgenommen: war aber dennoch nicht im Stande geweſen, den eingeſunkenen Karren in die Hoͤhe zu luͤfren. Der Vorfall wie ichs nehmen mochte kam mir ungelegen. Ich ritt vorbey; aber vermuthlich hatte meinC 542rechter Arm ſich mechaniſch zuruͤckgezogen; denn mein Pferd kam aus dem Trabe. Den Augenblick wurde es mir auffallender, ich ſey nicht auf der Flucht; und ſo wurde Meiſter, was recht war. Ich ſtieg ab, und bot dem armen Huͤlfloſen meine Dienſte an. Ein Blick auf meine goldene Einfaſſung, mit einem bittern Laͤcheln, erwiederte mir, daß ſeines Gleichen von Vornehmen keinen Beyſtand, wohl aber den grauſamſten Spott zu erwar - ten habe. Dies war ein Blitz in meine Seele, Clerdon! Ich fuͤhlte alle Schimpfreden und Pruͤgel, die ich unfehlbar dem Menſchen ge - geben haͤtte, wenn er in aͤhnlichen Umſtaͤnden mich angetroffen, und ſeine Huͤlfe mir ver - ſagt haͤtte. Ohne weiteres griff ich den Kar - ren mit ſolcher Kraft an, daß er in einem Rucke auf der entgegengeſetzten Axe ruhte; dann flog ich auf das Rad zu, und rollte es herbey; der Karren wurde hervorgezogen und das Rad eingeſetzt. Ich wollte dem Manne auch ſein Holz wieder aufladen helfen; aber das litt er ſchlechterdings nicht, ſo herzlich auch mein43 Bitten war. Er fuͤhlte nicht, was fuͤr eine Wohlthat er mir erwieſen haͤtte. Ach, wie zufrieden der Arme mit mir war; wie er mir dankte; mich bewunderte; es nimmer vergeſ - ſen; es ſeinen Kindern, dem ganzen Dorfe erzaͤhlen wollte! Großer Gott! ich meinte vor Schaam, Unwillen und Schwermuth zu verſinken, und waͤre diesmal gewiß nicht nach Kambeck geritten, wenn ich nur ſonſt wohin gewußt haͤtte. Ich kam ſpaͤt an. Aus mei - nem uͤbelzugerichteten Anzuge ward geſchloſſen, ich ſey mit dem Pferde geſtuͤrzt. Ich erzaͤhlte meine Geſchichte. Graf Batuff ſtand ausge - ſpreitzt mir dicht vor der Naſe, und hoͤrte mit dem Ihnen an einigen der Gattung wohl be - kannten, Anmaßung und Leerheit auf den er - ſten Blick verrathenden Laͤcheln zu, welchem diesmal des Grafen Bewußtſeyn eigener Erhabenheit uͤber dergleichen Schwach - heiten, wie ich mir hier eine hatte zu Schuld kommen laſſen, etwas mehr Ausdruck und Leben gab. Kaum war ich mit der Erzaͤhlung zu Ende, ſo brach er mit einem ſchon laͤngſt44 dagegen im Hinterhalte lauſchenden Einfall hervor. Es iſt ein Gluͤck, ſagte er, zu der Frau von Kambeck ſich wendend daß dem Bauer die Pferde nicht durchgegangen waren, und er ſelbſt nicht mit einer ſtarken Bleſſur da lag; ſonſt haͤtte Allwill ſeinen Englaͤnder einſpannen, und den lieben Naͤchſten heimkarrigen muͤſſen. Herr Graf, erwiederte ich, ſie urtheilen vielleicht zu guͤnſtig von mir; denn ich haͤtte ja ſo nahe meinen armen Bauer huͤlflos gelaſſen, und waͤre ein hartherziger Schurke gewe - ſen. So leiſe ich, aus guter Lebensart, das Wort Schurke ausſprach, ſo war es doch, gebraͤuchlicher maßen, der Frau von Kambeck nicht entgangen. Sie veraͤnderte die Farbe, und in den Augen des Grafen ſah man daß es ihm ſeltſam wurde in ſeinem Einge - weide. Aber ich fuhr fort, und ſchwatzte mir das Herz ganz rein, und ruhte nicht, bis ich alle Schimpfworte und Pruͤgel, worunter ich mich den Morgen geaͤngſtigt, auf den jungen Herrn, der das Wort Menſch in45 keiner andern, als in der veraͤchtlichſten Nebenbedeutung kannte, vollzaͤhlig abgela - den hatte. Damit war es denn gut fuͤr diesmahl.

Wollen Sie es wohl, lieber Clerdon, bey meinem Praͤſidenten in das rechte Licht ſtellen, daß ich einige Tage laͤnger ausbleibe; und es auch meinem Vater zu wiſſen thun?

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VII. Amalia an Sylli.

Geſtern Nachmittag kamen Eduard, der Herr von Kambeck und ein Offizier, den Du nicht kennſt, und entfuͤhrten meinen Clerdon nach Born, wohin dieſen Morgen eine Kuppel Engliſcher Pferde kommt. Dem guten Cler - don war es gar nicht darum zu thun; aber Du weißt, wie er ſich beſchwatzen laͤßt. Alſo bin ich jetzt allein mit meinem Caffee, und in der betruͤbten Lage, alles Fette der Milch in meine eigene Taſſe ſchoͤpfen zu muͤſ - ſen. Ich fieng an zu leſen; aber ſchon auf der zweyten Seite gieng mir dies und jenes durch den Kopf, das mit Dir zu ſchaffen hatte; ich konnte der Zerſtreuung nicht wehren, und legte das Buch weg. Liebe Sylli! der Him - mel iſt nicht heiter, und dies iſt Schuld, daß mein Cabinet weniger ſchoͤn iſt. Ich habe ein47 Fenſter geoͤffnet, und bin ein Weilchen daran ſtehen geblieben, um meinen Freunden nachzu - ſinnen; und jetzt, bis meine Knaben kommen, will ich ein wenig mit Dir plaudern.

Zuerſt von unſerm Jammer, unſerm Ver - druß, Aerger, Zorn (was hievon es eigentlich ſeyn muͤſſe, wiſſen wir eben, leider! noch nicht) uͤber das ungewoͤhnlich lange Ausbleiben Deiner Briefe. Clerdon will alles ſein baares Geld darauf verwetten, (wie viel meynſt Du, daß wir ihm dagegen ſetzen?) daß wir mit dem erſten Poſtillon mehrere Briefe auf einmal von Dir erhalten werden. So viel iſt gewiß, daß das U. .r Paket ſchon zwey Poſttage aus - geblieben iſt. Eine Ueberſchwemmung, die bey E ** die Bruͤcke weggeriſſen und gewaltigen Schaden angerichtet hat, ſoll Schuld daran ſeyn. Schon am Montage glaubten wir, es koͤnne nicht mehr fehlen, ein Brief von Dir muͤſſe kommen; und doch wars gefehlt: und ſo gings alle folgende Tage; nur daß an jedem, mit unſerer Hoffnung, auch unſere Zweifel48 ſtiegen, und wir von einer Unruhe ergriffen wurden, mit welcher ſchlechterdings kein Ver - trag noch Auskommen war. Die Nachricht von der großen Ueberſchwemmung, und den ausgebliebenen U. .r Paketen, begleitet von Clerdons Zureden und kuͤhner Wette, hat uns von neuem ein wenig eingewiegt. Jene Sorge abgerechnet, liebſte Sylli, bin ich jetzt ſo ganz gluͤcklich, ſo ganz zufrieden, ſo ruhig froh des Lebens! O, laß Dirs wohl gehen, Sylli; laß Dirs ja wohl gehen, und mache mir die ſchoͤnen Tage nicht zu Schanden!

Da kommen meine drey aͤlteſten mit großem Jubel von einer Spatzierreiſe uͤber die Donau nach Hauſe, und ſind gar herrlich und guter Dinge. Wie viel Freude mir die Knaben ma - chen! Alle drey fuͤhren ſich ungemein gut und Heinrich muſterhaft gut auf. Dieſer wird allgemach ein ſo lieber Junge, daß auch ſein Vater anfaͤngt, weniger Arges von ihmzu49zu denken, und Carl, den Topinambu, nicht mehr ſo grauſam vorzieht. Sein Virtuoſo iſt ordentlich verliebt in ihn. In etlichen Wochen ſoll er ſchon die Ouvertuͤre vom Deſerteur ſpie - len; und aus Luͤcile und andern Operetten, die er auffuͤhren ſah, geigt er eine Menge Sachen mit einer ſolchen Herzensluſt, daß man ſich gern duͤnken laͤßt, er mache es ſo ſchoͤn wie moͤglich. Gewiß der Junge wird ganz muſika - liſch, und verdient den erſten Platz in meiner Capelle; und ich habe es geſchworen, kein an - derer ſoll ihn darum bringen. Auch Herr Bering und Herr Kamp ruͤhmen ihn ſehr; und da Georg ihn nun alle Tage fein ordentlich friſiret, ſo wuͤrdeſt Du viel Freude an ihm er - leben. Von dieſem kleinen Heinrich verkuͤn - digt Heinrich der Große, daß er bey un - ſerm Geſchlechte dereinſt in hohem Anſehen ſtehen, und zu großen Ehren gelangen werde. In der That wird ſeine Bildung taͤglich einneh - mender. Aber, ach, der Knoten, der Knoten unter dem Kinn! Beym Anſehen nimmt man ihn nicht wahr; aber ich habe ihn in allen Fin -D50gerſpitzen, und kann mir ihn unmoͤglich aus dem Sinne ſchlagen. Nun, das heißt von Buben geſchwatzt! Wenn es Dir diesmal lan - ge Weile macht, ſo bedenke, liebe Sylli, daß Du mich durch Deine herzwillige Theilnehmung an allem dergleichen verwoͤhnt und verſtockt haſt. Gegen andere Leute rede ich Ich hoͤre Clerdon!

Es iſt ſchon neun Uhr. Ich ſchlief bis halb ſieben, und erſchrack faſt ſo ſehr, als ob ich mich todt faͤnde. Laß mir das Gleich - niß, und hoͤre weiter. Ich bin im Neglige; oͤffne die Thuͤre: Was um des Himmels willen? Ja gewiß! Denke, Sylli; da ſitzt meinem Clerdon gegen uͤber ganz unver - ſchaͤmt in meinem Seſſel Eduard, und laͤßt es ſich wohl ſchmecken aus meiner Schale. Ich wollte, Clerdon ſollte ihn bey den Haaren aus dem Seſſel nehmen; aber er rief aus allen Kraͤften: Ausſtand! Sehn Sie doch, meine51 Gnaͤdige, ich bin noch nicht friſirt! Alſo beſchied ich ihn auf den Mittag. Nun ward mir bedeutet, er habe meinen Caffee bloß deswegen zu ſich genommen, weil er kalt geweſen waͤre, und mir ein beßeres Fruͤh - ſtuͤck gebuͤhrte. Es war auch ſchon dafuͤr ge - ſorgt. Im Camin ſtand ein Schokolaten - Topf, welchen, mit allem Zubehoͤr, der wackere Ritter im Huy auf der Serviette hatte, und mit dem beſten Anſtande mich da - mit bediente. War das nicht ſehr artig, Sylli? Aber Du magſt es glauben, oder nicht; unſer Beyſammenſitzen und Geſchwaͤtz war doch wohl eben ſo viel werth. Allwill iſt ein recht wackerer Junge, und ich traue ihm vor manchen Seiten ſehr; von andern Seiten aber traue ich ihm nicht: es iſt etwas von Ruchlo - ſigkeit in ihm. Clerdon will das immer be - ſchoͤnigen.

Nun iſt in meinem Hausweſen alles beſtellt, mein Kopf zurecht gemacht, und fuͤr Dich noch eine Stunde aufgehoben. Heinrich, CarlD 252und Ludwig wurden geſtern Abend nach Heimfeld(*)Ein Landgut der Frau von Reinach, bey welcher Lenore und Claͤre von Wallberg ſich aufhielten. Sie war ihre Tante, und folg - lich auch Clerdon anverwandt. abgeholt, wo ſie bis morgen bleiben; und ſo kam heute Ferdinand ganz allein Morgen ſagen, und hatte Sophiechen an der Hand. Der arme Edmund, wie Du weißt, ſagt noch nichts. Von Sophiechen moͤchte ich Dir gern viel erzaͤhlen, wie es ſo hold, ſo fromm, ſo gehorſam, ſo ſchmeichelnd iſt. Der Papa iſt platt verliebt in das kleine Ding. Eben war es an der Thuͤre, und fragte: ob es kommen duͤrfte? Ich antwortete: Nein, weil ich noch zu ſchreiben haͤtte; darauf ſchlich es ganz ſachte herbey, kuͤßte mir die Hand, und gieng ohne weiter ein Wort zu ſagen wieder fort. Dergleichen Zuͤge haͤtte ich Dir eine Menge zu erzaͤhlen. Und denke! das Maͤdchen wird im May erſt zwey Jahre alt. Liebe Sylli, ja, genau ſo wie Du neulich ſchriebſt, ſoll alles werden, und ſeyn, und bald kommen. Der53 kleine Edmund, den Du bisher nur aus den Portraits kennſt, die Albano von ihm gemacht hat, mit ſeinen großen hellbraunen Augen, deren Augaͤpfel man ſo klar da ſieht, wo lau - ter Herzens-Froͤhlichkeit und Guͤte heraus kommt; der ſoll Dich gleich anlachen und an - jauchzen, wie er lacht und jauchzt, wenn er recht ausgeſchlafen hat. Ohne Gutſel ſoll der Knabe Dich lieb haben; oder er waͤre nicht unſer Fleiſch und Blut, haͤtte nichts von mei - nem, nichts von Clerdons Herzen mitbekom - men Siehe, ich kann dieſe Saite nicht be - ruͤhren, ohne daß es mir inwendig zittert, und mir Thraͤnen in die Augen kommen; aber dieſe Thraͤnen, o wie ſuͤß! Engel Sylli, Du mußt kommen und ſehen, wie unſer Clerdon mit jedem Tage mehr Vater und Hausvater, uͤberhaupt umgaͤnglicher wird; wie er ſich mit ſeinen Kin - dern herumtreibt, ſich immer freut, wenn ihm eins in den Weg kommt, und wie er dieſe Freude dem Unſchuldigen immer lohnet. Mit Ferdinand iſt des Singens und Springens oft kein Ende; und da laͤßt er alles mit ſich an -D 354fangen, ſich zauſen und hudeln, daß wir alle herum ſtehen und lachen und bange werden. Gewiß, Sylli; er wird ordentlich mit zum Bu - ben; hilft ihnen allerhand Streiche ausfuͤhren und erdenken; und wenn ſie denn wohl ein - mahl das Ding beſſer verſtehen und ihn aus - lachen; und er da ſteht, der Liebe, als der Kinder Spott, und die ausgelaſſenen Knaben herumtaumeln um den Cameraden, und jauchzen und lachen; und nur ich aus mei - ner Ecke in ſeinem Auge den Vater ſehe und den Mann, den Meinen! Ach, Sylli! dann beben dem ſchwachen wonnevollen Weibe die Glieder; es ſinkt in die Arme des Liebens - wuͤrdigen, haͤngt an ſeinem Halſe und Erd und Himmel moͤchten nur vergehen!

Bin ich nicht allzugluͤcklich, Sylli? So einen Gatten; ſo wohlanlaſſende Kinder; ſo liebe treue Gefaͤhrtinnen, wie Lenore und Claͤr - chen, die Engel, meine Schweſtern und Toͤch - ter; ein ſchickliches Auskommen; Stand, An - ſehen, und Hoffnung; und um das alles her55 einen ſo ſchoͤnen, lieben Kranz von Freunden! Aber, ſage mir, Sylli, ob die Leute meinen, man koͤnne das alles haben, ohne daruͤber froͤhlich, ohne herrlich zu ſeyn? Es muß wohl; denn wie wuͤrde ich ſonſt ſo oft gefragt, was ich doch habe, daß ich ſo heiter und vergnuͤgt ausſehe? Gerade als ob das ein Wunder waͤre, was doch gar nicht anders ſeyn kann. Dir, beſte Sylli, ſollte ich vielleicht das Bild meiner Gluͤckſeligkeit nicht ſo lebhaft vor Au - gen ſtellen; aber eben weil Du es biſt, darf ichs. Du weißt, wie mich der Gedanke anzieht, dies alles mit Dir zu theilen; wie mein Herz ſo laut ſchlaͤgt vor Verlangen Dich zu haben und mit gluͤcklich zu machen: und wie ich dann auf einmal wieder nicht gluͤcklich bin; manche Thraͤne um meine Sylli fallen laße O, das weißt Du alles, meine Gute, meine Beſte; denn Du kennſt Deine Meli durch und durch. War Dirs nicht, als wenn Dein ganzes Inneres ſich beſtaͤndig von einer Seite zur andern hinbewegte, wenn Du etwas Widriges von uns vernahmſt? SoD 456iſt mir; und eine ſtachelnde Unruhe laͤßt mich keinen Augenblick zufrieden, wenn ich weiß, daß Du unpaͤßlich, mißvergnuͤgt oder ſchwer - muͤthig biſt. Nach Deinem juͤngſten Briefe ſcheinſt Du jetzt ziemlich geſund; auch machen Dir die ** und die *** noch manche Stun - de angenehm, wofuͤr ich ihnen ſo herzlich gern dankte, wenn Dank hier Platz faͤnde.

Du wirfſt mir vor, daß ich Dir nicht mehr von Ferdinand erzaͤhle. Der Junge iſt eben kaum drey Jahre alt; daher ſich nicht viel anderes von ihm erzaͤhlen laͤßt, als wie er ausſieht; und dies wie erzaͤhlt man dies? Er iſt klein und rund, hat ein etwas finſter liegendes Auge; doch kann er ſehr freundlich daraus kucken, und Feuer iſt die Menge darin. Du weißt, daß Clerdon ſich ſchon laͤngſt verbuͤrgt hat, wir wuͤrden an dieſem Ferdinand den beſten, freymuͤthigſten Jungen von der Welt bekommen. An mir haͤngt er wie ein Klette, und Bruder Heinrich holt ihn alle Morgen, ohne Fehl, aus ſeinem Bett -57 chen, zieht ihm Schuh und Struͤmpfe an; und dann gehen wir zuſammen fruͤhſtuͤcken. Nach dem Fruͤhſtuͤcke muß Bruder Heinrich mit ihm fort auf den Hof, und ihm ſein Spiel in Gang bringen; und das thut Bru - der Heinrich mit immer gleicher Geduld und Freundlichkeit. Waͤhrend ich dies ſchrieb, iſt Ferdinand mit einem Freudengeſchrey ge - kommen, daß er mich funden hat, und laͤuft, ſpielt und ſchwatzt um mich herum. Fuͤr deinen Bombacino ließ ich auch gern hier ein Woͤrtchen einfließen, weil es mir vorkommt, als gehoͤrte er mit zur Kinder - Familie; allein die Kirche iſt aus, meine gute Maͤdchen ſind lange da, und ich habe heute noch gar nichts mit ihnen geſchwatzt. Wie das lacht und plaudert hierneben um Clerdons Camin! Ich will einen Augenblick hin, liebe Sylli, und mich dann anziehen, und dann eſſen, und dann in die Kirche, und dann Ach, Himmel! zur Frau Directorinn an den Spieltiſch. Ade, Du Beſte, Du Liebe!

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VIII. Claͤrchen an Sylli.

Clerdon und Amalia ſind ſeit geſtern hier. Als wir ihnen entgegen flogen, und ich mich an Clerdons linken Arm hieng, faßte er meine Hand und druͤckte ſie leiſe an die Rocktaſche. Leiſe rief ich: Briefe von Sylli! Gute? Geduld, ſagte Clerdon, ich bringe drey Briefe, und Einer iſt nicht wie der andre. Das ſagte er mit einem Laͤ - cheln, wovon meine Ungeduld nur noch groͤßer wurde.

Tante war noch nicht angezogen. Sie ſollte alle Zeit haben. Wir liefen in das hin - terſte Bosket. Nun, Clerdon, nun! jauchzten und huͤpften wir. Ein ſtillender Blick von Clerdon nahm uns die Haſt. Wir ſchluͤpften an einander her und lagerten uns auf die Raſenbank. Clerdon ſtand noch einen59 Augenblick; da nahm auch er ſeinen Platz. Nun kam die Brieftaſche hervor. Wir hien - gen an ſeinem Auge. Eine eigene ſchauer - liche Freundlichkeit wandelte durch die Stille. Clerdon oͤffnete die Brieftaſche: Ein herr - liches, liebes Weib! ſagte er: wenn ſie ſich erblickte, wie ſie vor meiner Seele ſteht! und gleich darauf: Gott, wem du ein tief fuͤhlendes Herz ſchenkſt, dem ſchenkſt du doch alles damit, alle deine Gaben, und dich ſelbſt!

Die Briefe wurden geleſen. Zwey Stun - den verſtrichen daruͤber. Wie ſie zugebracht wurden dieſe zwey Stunden dies, liebſte Sylli, erzaͤhle Dir, wer es weiß, kann und mag. Meine

Clerdon.

Keiner von uns wird es Dir erzaͤhlen. Das Anſchauen, die Umarmung einer ganz enthuͤll - ten, ſchoͤnen, tiefempfindenden Seele iſt zu60 heilig, um in Bildern und Worten nachgeſpie - gelt zu werden. Und wer vermoͤchte jenen Blitzſtrahl dahin abzulenken; Lebloſem den le - bendigen Kuß der Liebe zu verleihen? Nein, ſchaue ſelbſt den verklaͤrten Blick Won - negefuͤhl uͤber ihn, die Augenlieder decken und ein Unermeßliches dem Geiſte aufgethan!

Wohl glaube ich Dir, daß Du es im Grun - de in der Welt ſo ſchlimm nicht haſt, wie arg es Dir auch ergangen iſt, und ſo viel auch jetzt noch Deiner Leiden ſind. Eine immer reiner und voller klingende Saite auf der Laute der Natur; ein immer maͤchtigeres Organ in dem Ganzen des Allliebenden zu werden: o, das lohnt Dir jeden Schmerz!

Dornen malmen, ſie zu Pflaumfedern wuͤhlen, lernte ich lange; und nun weiß ich, daß es fuͤr den Menſchen eine Lauterkeit des Sinnes mit ihr eine Kraft und Staͤtigkeit des Willens giebt eine Erleuchtung, Wahr - heit, Eigenheit und Conſiſtenz des Herzens61 und Geiſtes, wodurch ihm der eigentliche Ge - nuß ſeiner goͤttlicheren Natur, Ruͤck - und Aus - ſicht wird, und wozu niemand gelangt, der nicht mehrmals im aͤuſſerſten Gedraͤnge, von allem auſſer ſich verlaſſen war. Da hat die ganz auf ſich ſelbſt geſtaͤmmte Seele ſich in allen ihren Theilen gefuͤhlt; hat, wie Jacob, mit dem Herrn gerungen und ſeinen Segen davon getragen. Wer, liebſte Sylli, wollte nicht gern fuͤr dieſen Preis ſich eine Zeitlang mit ei - ner verrenkten Huͤfte ſchleppen?

Claͤrchen.

Schoͤn, was Clerdon ſagte; auch gut und wahr: aber wenn es am Ende doch nur Troſt waͤre; ein koͤſtlicher Balſam, aber nur lindernd, und die Wunde toͤdtlich? Arme Sylli, wohl biſt Du uͤbel daran; wohl haſt Du es ſchlimm in der Welt! Ich hoͤre ihn ja ſo hell aus Deiner Bruſt hervorgehn den Schrey des tiefſten Schmerzes. Was hilft es mir, daß Du hintennach laͤchelſt? Damit machſt62 Du mich nur bitterlicher weinen. Du weißt: Arria laͤchelte auch. Ach, Sylli, Du kannſt nicht leben ohne Liebe; und was iſt Liebe ohne Zuverſicht? Sage was Du willſt; Liebe, die ſich nicht ewig weiß und ewig erwiedert, das iſt keine Liebe; das iſt bloßes Ergoͤtzen, dem Du nur, in der Angſt, jenen Namen lieheſt Blumenfreude, Schmuck, Tanz und Spiel. Und hieran ſollte Dir genuͤgen Dir Sylli? Seifenblaſen zu werfen und alles, alles Seifenblaſe? Je mehr ich nachgruͤbele ! O, ich fuͤhle, daß es Dir das Herz zerſprengen muß.

Lenore.

Auf der Zunge: Biſt Du bald fertig, Claͤrchen? trat ich ins Zimmer. Claͤrchens Anblick hemmte mir Sprache und Gang, und mein Herz hob ſich zu dem Schlage, bey dem es einem auf einmal ſo ganz anders wird. Sie ſchob, ohne ihre Stellung zu veraͤndern, das Geſchriebene mir zu. Nachdem ich es geleſen, hierauf einen Augenblick geſeſſen hatte, gieng63 ich an ihren Stuhl knieen, um ſie zu kuͤſſen. Wir kamen allmaͤhlich einander in die Arme, weinten und fanden Worte.

Deine Briefe wurden Stuͤckweiſe wieder - holt, und ſo nach und nach zu einem uns eigenen Ganzen umgebildet, das wir beſſer faſſen konnten. Alles drang jetzt weit tiefer ein, und dennoch wurden wir heiterer. Wir ahndeten Deinen Zuſtand; gewannen Theil an Deinem himmliſchen Weſen: Wer wollte nicht Sylli ſeyn? ſagten wir. Der bloße Abglanz nur eines Theils ihrer Seele, und den wir ach! nur ſo ſchwach aufzu - nehmen vermoͤgen; wie giebt er uns nicht Muth und Wonne! Und ſie beſitzt ſie iſt dieſe Seele ſelbſt; hat in ihrem eigenen Weſen, was ſo unbegreiflich entzuͤckt: den Quell und die Fuͤlle aller dieſer Schoͤn - heit und Groͤße! Wer wollte nicht Sylli ſeyn; gaͤbe nicht alles hin fuͤr die Unabhaͤn - gigkeit dieſes hohen Selbſtgenuſſes, fuͤr die helle Wonne, Goͤttlich zu lieben, die allein64 aus ſolchem Reichthum uͤberfließen kann! Gluͤckliche, gluͤckliche Sylli!

Claͤrchen.

Meine Schweſter iſt abgerufen worden, und ich, liebſte Sylli, bin nicht im Stande fortzufahren. Mein Blick iſt ſchon wieder ge - truͤbt. Jenes Wehklagen, wovon ich erſt ſagte, daß ich es ſo hell aus Deiner Bruſt hervorgehen hoͤrte, dringt von neuem in mein Ohr; und kein Jubel wird es uͤbertaͤuben. Du kennſt das an mir, daß ich nicht leicht in einem Gefuͤhle mich ſo ganz verliere, von einer Vorſtellung ſo ganz befangen werde, daß ich nun weiter nichts ſaͤhe, noch wuͤßte. Wahr Du haſt den Him - mel in Dir ſelbſt; und wer wird Dich nicht des - wegen ſelig preiſen? Aber auch nicht minder wahr iſt alles, was ich vorhin bemerkte: und ſo ſaͤßeſt Du mit Deinem Himmel denn doch in ei - ner Art von Hoͤlle. Deine Briefe ſind ein Wechſelgeſang aus beyden, voll Verzweiflung und Wonne. Was muß ein Herz nicht aus -ſtehen,65ſtehen, in welchem ſo feindliche Toͤne zuſam - menkommen, das ſie in einander ſchmelzen, zu einer Melodie vereinigen ſoll? Alle Saiten des Inſtruments muͤſſen nach einander ſpringen, und der Sangboden ſelbſt. Liebſte Sylli, ich ertrags nicht. O, daß ich bey Dir waͤre, oder ich duͤrfte meine Lenore fuͤr Dich miſſen! Wir entbehrten gern einander; opferten noch viel mehr auf, wenn Dir damit geholfen waͤre. Sage: ob Du eine von uns willſt, und welche? So unvollkommen auch die Theilnehmung waͤ - re, die Du bey uns guten Kindern faͤndeſt; ſo waͤre ſie doch rein, voll in ihrem Maaße und innig. Unſere Augen, Sylli, ließen gewiß die meiſten Deiner Blicke ein. So gewoͤnne Deine Seele Raum; erhielte eine Staͤtte, wo ſie einen Theil ihres Lebens hinfluͤchten und aufbewahren koͤnnte. Sage, Liebe; ſoll ich kommen? Ich fuͤhle ſeit einiger Zeit einen auſ - ſerordentlichen Trieb wieder einmal um Dich zu ſeyn, und wollte Dich ſchon juͤngſt mit An - ſchlaͤgen dazu unterhalten. Damals war es mir faſt allein um mich zu thun. Ich haͤtteE66gern mehr Freude an mir ſelbſt, und die er - hielte ich zuverlaͤßig, wenn ich Dir aͤhnlicher wuͤrde. Mich duͤnkt was Amalia juͤngſt vom kleinen Heinrich ſagte jeder Dei - ner Kuͤſſe muͤßte mir etwas von Deinem holden Weſen einhauchen.

Clerdon ſchickt: ich ſoll zuſiegeln. Alſo bekommſt Du nichts von Amalia. Die Gme hat ſich wohl nicht uͤberwinden koͤnnen, unſere Frau von Reinach allein zu laſſen. Ein wun - derbares Weib! So jung, ſo ſprudelnd von Leben, und doch von allem was nur einer Schuldigkeit aͤhnlich ſieht, ſo voͤllig hingeriſſen, als andre von ihren Leidenſchaften. Wir fah - ren fort uns oft Vorwuͤrfe daruͤber zu machen, daß wir ihre immerwaͤhrenden Aufopferungen zulaſſen; aber es iſt als wenn die Gottloſe mit Fleiß einen gleich wieder verſtockte. Ich ſage tauſendmal: boͤte ſie einem Maͤgdedienſte an, man daͤchte kaum daran ſich zu wider - ſetzen; ſo lieb und ſchicklich geht ihr alles ab. Und huͤten kann ſich einer nie genug vor ihr;67 im Huy hat er die Gefaͤlligkeit, das Gute weg, und weiß von keinem Dank. Ade, Sylli! So laufe ich hin, und falle ihr um den Hals.

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IX. Eduard Allwill an Clemens von Wallberg.

Allerdings haͤtte ich Dein Verlangen eher er - fuͤllen ſollen. Wo eigentliche Freundſchaft iſt, da ſind auch Anſpruͤche; und dieſe muͤſſen von beyden Seiten laut anerkannt werden und uͤberall gelten, oder der Henker ſoll den loſen nichtswuͤrdigen Bettel an den Galgen han - gen. Alſo verzeih, Lieber, und laß mich Dei - ne weiteren Vorſtellungen uͤbergehen. Du weißt ja, wie ſehr ich Deiner Meynung bin; weißt, was ich fuͤr ein Geſicht machte, wann ich von Leuten hoͤrte, die ſich einander ſo lieb haͤtten, daß ſie ſich gar nicht um einander be - kuͤmmerten: denn im Grunde iſt es das, wenn man ſich einander alles nachſehen kann. Fratzen! Mein Eckel daran nimmt von Tage zu Tage zu: aber mich daruͤber zu erboßen, wie ehedem, ſo kein Thor bin ich laͤnger; ich will mich nicht einmal daruͤber mehr aͤrgern. 69Es behagt nun einmal den Menſchen, ſie ſind daruͤber einig, ſich einander etwas weiß zu machen, und es kommt auch ſelten jemand dabey zu kurz. Was brauchen die Leute ſich weiter lieb zu haben? woher und wozu? Sie haben ganz andre Dinge an einander zu be - ſtellen; geht es damit voran, ſo bleibt das gute Vernehmen, ohne daß ſich der eine um den andern viel zu bekuͤmmern hat. Indeſſen, Lieber, wollen wir uns doch nicht verhehlen, was der eigentliche Geiſt jener freundlichen Toleranz und edlen Unbefangenheit iſt: Gleichguͤltigkeit und Betteley! Alſo noch einmal, Bruder, verzeih mein Un - recht; aber daß ich mich beſſern werde, dar - auf mußt Du nicht zu ſicher rechnen.

Bisher habe ich es mit allem zu ernſtlich gemeynt; ich ſpuͤre, daß man dabey zu Grun - de geht, und fuͤr nichts. Wie ichs hinfuͤhro anders machen werde, weiß der Himmel. Ich bin, von innen und von auſſen, in einem wun - derbaren Gedraͤnge. Etwas Ruhe habe ichE 370wieder genoſſen, weil ich einige Tage her un - paͤßlich war. Bliebe mein Kopf ſo dumpf, ſo nebelicht, wie dieſe Zeit uͤber; dann ſaͤh 'ich der Verwirrung ein Ende: alles ſollte bald gerichtet und geſchlichtet ſeyn; und was ein - mal ausgemacht waͤre, dabey blieb es. Du weißt, beym Nebel fließen die Dinge ſo huͤbſch in einander; es erſcheinen einem nie mehrere, als neben einander in Ei - nem Gliede Platz haben; keine Farben - verwirrung, alles grau, alles flach: und ſieh, Bruder, ſo iſt wahrhaftig der Nebel das tref - fendſte Bild weiſer Gemuͤthsfaſſung.

Wenn mein Geiſt umnebelt iſt, dann bin ich ſo altklug, ſo verſtaͤndig, wie ein Schul - meiſter; dann weiß ich mich uͤber alles zu beſcheiden, und was ich mir heiße, das thue ich; dann raͤume ich mein Zimmer auf, bringe meine Papiere in Ordnung, beantworte alle Briefe nach dem Datum ihrer Ankunft, und wuͤrde auch mein Teſtament machen, wenn ich nur Erben wuͤßte, die es ſich gefallen laſ -71 ſen koͤnnten. Clerdon, der mich geſtern be - ſuchte, glaubte in der Thuͤre geirrt zu haben, ſo fremd ſah ihm mein Zimmer aus: was zu ſtehen gehoͤrt, ſtand; was zu liegen gehoͤrt, lag. In dergleichen Ruͤckſichten iſt mir eine ſolche neblichte Diſpoſition zuweilen eine wahre Wohlthat: und je mehr ich der Sache nach - denke, deſto heller leuchtet es mir ein, daß die Tugend der aͤchten Schul-Stadt - und Heer-Moral, welche die beliebte durchgaͤn - gig gute Auffuͤhrung, das exempla - riſche Leben hervorbringt, nichts anders als eine Art von Nebel iſt, der alles leichtfertige Auſſenweſen, als da ſind Glanz, Farbe, Licht und Schatten, an den Gegenſtaͤnden verhuͤllt, und nur das ſolide Unveraͤnderliche an ihnen beaͤugen laͤßt.

Die merkwuͤrdige Entwickelung meines Ro - mans mit Nannchen, woruͤber ich Dir eine eigene lange Epiſtel ſchreiben wollte? Hoͤre, erſt vor einer halben Stunde noch dachte ich Wunder, was ich Dir zu erzaͤhlenE 472haͤtte: ich ſchnitt eine friſche Feder, tunkte ſie ein, wußte nicht anders, als daß es recht vom Fleck gehen ſollte: als ich zu meinem nicht geringen Befremden inne wurde, es ſey noͤthig, mich vorher ein wenig zu beſinnen. Ich ſann eine große halbe Stunde lang; da war ich fertig, habe es nun auf einmal daß ich ſelbſt nicht mehr weiß, was ich mich ſo eifrig angeſchickt hatte, Dir zu wiſſen zu thun. Der Sachen erinnerte ich mich genug, nur konnte ich mich ihrer nicht auf die Weiſe erinnern, wie ſie Dich ſo maͤchtig intereßieren ſollten. Wer weiß, vielleicht haͤtte meine Materie mir weniger duͤrftig geſchienen, waͤre zu ihrer Abhandlung die Feder nicht ſo ſchoͤn geſchnitten, und gleich Anfangs ſo tief einge - tunkt geweſen. Nun iſts darum geſchehen; das ganze Abentheuer mit allen ſeinen Zufaͤl - len und Zubehoͤren, Schelmereyen, Zaube - reyen, Heldenthaten und Wundern, kommt mir, in dieſem Augenblicke, nicht viel intereſſan - ter als ein Ammenmaͤhrchen vor zum Er - zaͤhlen wenigſtens. Verſteh! Du Clemens73 von Wallberg warſt es nicht, welcher bey der - maliger Kataſtrophe in dem Falle war etwa vergiftet, erſtochen, aus einer Canone ge - ſchoſſen, oder in einen Papagey, Drachen, Teufel, oder Gott verwandelt zu werden. Ich war es; und glaube mir, ſo etwas will in ei - gener Haut erfahren ſeyn. Demnach ſollſt Du mir erlauben, und zwar recht gern, daß ich Dich heute von ganz andern Dingen, als von meinen Begebenheiten im Feenlande unterhalte. Muß ich doch Luzien noch davon der Laͤnge nach Bericht erſtatten, da ſie mein heiliges Geluͤbde hat, ihr nichts von allem, was mir aͤuſſerlich und innerlich begegnet, zu verhehlen. Wahr - ſcheinlich wird ſie den Brief Dir zu leſen geben; und ich ſchreibe ihr gewiß noch dieſe Woche. Alſo, wie geſagt, von andern Dingen!

Wo fange ich an? Ich habe Dir eine Menge Neues von mir und meiner hieſigen Lage zu erzaͤhlen. Meine beſten Stunden bringe ich in Clerdons Hauſe zu. Es koſtet Muͤhe, auf einen etwas vertraulichen Fuß darin ge -E 574litten zu ſeyn; aber mir wird es gluͤcken. Clerdon fuͤhlt und verſteht mich ganz, und durchgaͤngig ſtehe ich in ſehr gutem Rufe. Daß ich immer eine oder die andre Prinzeßinn, welche mich ihrer vollkommenſten Hochachtung wuͤrdigt, ausnehmend verehre iſt natuͤrlich und macht wenig Laͤrm Und gewiß, beſter Wallberg, ich komme faſt immer ganz unſchuldig dazu; ſtifte auch uͤberall viel mehr Gutes als Boͤſes. Einen Anſchlag auf irgend ein weibliches Geſchoͤpf zu machen, um es zu verfuͤhren, iſt von jeher ſo fern von mir gewe - ſen, daß ich einen Menſchen, der dazu faͤhig iſt, nicht ohne Haß und Eckel anſehen kann. Daß aber eine freundſchaftliche Verbindung ſo warm und innig werde, daß ſie ferner kein Maaß noch Ziel mehr wiſſe wer koͤnnte das Herz haben, ſich davor zu huͤten? Mit Deinen Couſinen hat es keine Noth; die wandeln in einem Lichte, welches ſie meiner Leuchte entuͤbrigt. Und Amalia den moͤcht ich ſehen, dem es nur von fern einfallen koͤnnte, ihr etwas anders ſeyn zu wollen, als75 Gaſt an Clerdons Heerde. Mir iſt ſie gut, weil ich ihrem Clerdon anſtehe, und weil mir der treuherzige Junge aus den Augen ſieht. Ihre Jugend, ihre Schoͤnheit hindern mich nicht, daß ich ſie im vertraulicheren Umgange Mama heiſſe; ich wuͤßte mir auch keinen lieberen Namen fuͤr ſie. Liebe Mama, Mama Meli, wenn ich Dir ſagen koͤnn - te, wie mir iſt, wenn ich ſie ſo heiſſe, und ich ihr dabey in das himmelhelle Angeſicht ſchaue, das nur gut iſt, und mich nur anlacht! Ich fuͤhle mich wie untergetaucht in Unſchuld und Reinheit, und ich wuͤßte nichts ſo ſaures in der Welt, das ich alsdenn nicht unentgeldlich und mit Freuden thun koͤnnte. Die Lauterkeit ihres Herzens uͤberſteigt allen Glauben. Jedes Gute, jedes Schoͤne darin iſt ſo ganz fuͤr ſich ſelbſt da, ſo ganz was es iſt und ſcheint, un - verſetzt und unaufloͤsbar; und kein Gefuͤhl, kein Hang, kein Wunſch, nichts, das ſich zu verhehlen, nichts, das ſich zu verſtellen haͤtte! Aber[hiemit] iſt Dir ſo viel als nichts geſagt: denn, wie ich mich eben beſinne, bin ich ſelbſt,76 der ich doch Amalien perſoͤnlich kenne, nicht einmal im Stande mir das Eigentliche dabey vorzuſtellen, wenn ich ſie mir nicht in den be - ſtimmteſten Verhaͤltniſſen, als die Gattinn ihres Clerdon, als die Mutter ihrer Kinder, als die Frau ihres Hauſes denke. Sage, ob Du etwas davon weißt, daß es einen beſonderen Affect giebt, der ſich Eheliche Liebe nennt; ganz verſchieden von jener Leidenſchaft, welche allgemein den Namen der Liebe traͤgt, und die Sa - ge, iſt Dir das ſchon vorgekommen? Denn was rede ich ſonſt!

Ich wußte nichts davon; und dieſe neue Entdeckung in Clerdons Hauſe iſt das intereſ - ſanteſte, was ſich jemals meiner Betrachtung dargeboten hat. Der eigentlichen Liebe ſcheint das ſchoͤnere Geſchlecht nicht faͤhig zu ſeyn; mir wenigſtens iſt noch kein Weib erſchienen, das den Stoff dazu gehabt haͤtte. Amalien traue ich uͤber dieſen Punkt faſt weniger als andern zu, und Clerdon und ſie ſelbſt ſind77 hieruͤber mit mir einig. Anfangs ſie wur - de Braut mit ſiebenzehn Jahren hat ihr Mann weiter nichts als einen vorzuͤglichen Grad der Hochachtung ihr abzugewinnen ver - mocht; und bis auf dieſe Stunde weiß ſie keine eigentliche Rechenſchaft zu geben, wie ſie her - nach allmaͤhlich ſich ſo ganz an ihn verlohren hat, daß ihr Herz nun alle ſeine Rege allein von dem ſeinigen empfaͤngt, ihre geſammten Kraͤfte ſich unverruͤckt in ſeinem Willen fuͤhlen; Freyheit, Leben, Gluͤck, Thun und Seyn ihre ganze Seele hingewagt auf ihn. Ich weiß nicht, ob es eine herrlichere Liebe geben kann, als dieſe; wenn auch jene hoͤhere, wovon ich ehmals ſo wunderbare Ahndungen hatte, kein leeres Hirngeſpinnſt waͤre; alle andere Liebe iſt doch gewiß nur Schaum dagegen. Wo fin - deſt du, bey den entgegengeſetzten Eigenſchaften und Beduͤrfniſſen der Menſchen, dieſe innige Theilnehmung, welche alle Kraͤfte in einen Willen zuſammenſchmilzt, und den Menſchen wirklich verdoppelt? Hier iſt ſie! Die klei - ne Welt, zu deren Schoͤpfung und Regierung78 beyde vereinigt ſind, wird ihnen tauſendfaches Organ, ſich einander zu fuͤhlen, zu faſſen. Das gemeinſchaftliche Intereſſe giebt jedem da - zu beytragenden Vermoͤgen einen gefuͤhlten Werth; und ſo regen ſich in dem Weſen des einen alle Kraͤfte des andern: und je vielfacher, je verſchiedener nun dieſe Kraͤfte; deſto merkba - rer der Gewinn, deſto entzuͤckender das Buͤnd - niß. Bedenke, wie unterſchiedene auch ein - ander entgegengeſetzte Intereſſen jeden einzel - nen Menſchen in ihm ſelbſt theilen, und was fuͤr eine Wonne ihn erquickt, ſo oft er ein wahrhaftes Einverſtaͤndniß nur zwiſchen etlichen davon bewirkt hat; wie wir einſtimmig denje - nigen fuͤr den Groͤßten und Gluͤcklichſten hal - ten, welcher, ohne Eine ſeiner Faͤhigkeiten, ſeiner Kraͤfte daran zu geben oder zu ſchwaͤ - chen, alle ſeine Triebe unter Einen Willen gemeindet maͤchtig zu einem Heere ſie geordnet hat. Und nun Zwey, die ſo Eins werden! Es muß eine Fuͤlle ſeyn, eine Seligkeit, die ....

O, daß ich dies alles ſo fuͤhlen muß; daß79 ich zu dem gluͤhenden Sinne, zu dem tobenden Herzen, dieſen hellen unbeſtechlichen Geiſt, dieſe ſtille himmelanſchwebende Seele erhalten mußte! Thraͤnen, guter Wallberg, Thraͤ - nen uͤber Deinen armen Eduard, den die Liebe zum Schoͤnen verzehrt, und der in ewiger Zer - ruͤttung mit den Zaͤhnen knirſchen muß; der den Frieden Gottes ahndet, und verdammt iſt zu taͤglicher Suͤnde! Nie, nie wird er eine Staͤtte finden, wo ſein Haupt ruhe! Nie? Doch, doch! es wird ja einſt brechen ja brechen in Wonne wirſt du einſt, gutes quaalvolles Herz! ....

Aber es war ja von Gluͤcklichen die Rede! Liebe Mutter Amalia dein Antlitz, dein Laͤcheln!

Sie iſt allen Menſchen ſo gut, Mutter Amalia, und koͤnnte doch, gewiß, im Falle der Noth ſie alle miſſen, wenn ihr nur der Mann blieb und die Kinder. Ich mag Dir nicht verhehlen, daß ſie an dieſen an80 ihrem Hauſe auf eine ſehr ſtraͤfliche Weiſe haͤngt: nehmlich eben ſo ohngefaͤhr, wie die alten Republikaner an ihrem Vaterlande hien - gen. Aber Du gehoͤrſt ja nicht zu unſern maͤch - tigen Philoſophen, welche nie weniger als den ganzen Erdkreiß was? das ganze Univerſum uͤberſehen, und, gemaͤßlich, zu Herzen nehmen, und aus brennender Liebe zu den Menſchen uͤberhaupt dem Patrio - tismus der Alten und jeder andern partheyi - ſchen Liebe ſo gram ſind. Sie ſollen herkom - men, die guͤtigen Herren, mit ihrem unbe - ſchraͤnkten goͤttlichen Wohlwollen, mit ihrer allſehenden Gerechtigkeit mit ihrem gan - zen Untadel; ſie ſollen kommen, und ſchauen und fuͤhlen, wo von allem dieſen in That und Wahrheit am Ende denn doch mehr angetroffen wird, ob bey ihnen, oder bey dem Weibe hier, das fuͤr Mann, Kinder, Haus, ſich wider die ganze Welt empoͤrte! Holde Mutter Natur! o wie laut ſagt mein klopfendes Herz mir da wieder, daß doch allein auf deinem Pfade wahres Heil zu ſuchen iſt! Sieh81Sieh das wohlgemuthe Weib, wie die Befrie - digung ihrer reinen Triebe alle ihre Wuͤnſche vollendet; ſie von allen andern Begierden ſo los macht, und ihr theilnehmendes Herz ſich nun ſo frey und allgemein ergießen kann. Ihr praͤchtigen Weltweiſen, ihr lieblichen Her - ren und Damen, mit euren erhabenen Grund - ſaͤtzen und ſchoͤnen Sentiments! ſagt, wie wird euch? wie beſteht ihr vor dieſer Haus - frau? Da verſchleudert, da verpufft ihr eure Seele in die weite Welt; ſeyd uͤberall, und nirgend; euer unbefangenes, richtungsloſes Herz jedem Anfalle blos; ohne Drang und ohne Ruhe, ohne Genuß und Gabe; ſtrebend nach allem, hangend an allem; zu keinem Opfer willig, bey keinem Unfall leicht be - bend durchaus bis in die kleinſte Faſer ſchwach, elend, zehrend voll allgemei - nen Wohlwollens!

Weg von dieſen Allumfaſſern, hinab zu Amaliens Schemel, zu der Kurzſichtigen, zu der Armſeligen, die nur ihren Mann liebtF82und ihre Kinder; allen uͤbrigen Weſen nur gut iſt, und in Wohlthun gegen ſie, aus voller Genuͤge, nur uͤberfließt, wie die Sonne von ſich ſcheinet Licht und Waͤrme, nur weil ſie Licht iſt und warm, und die Fuͤl - le hat. Tritt in den Umfang von Amaliens Sphaͤre: du ſtehſt in Segen; das iſt alles. Darum iſt Amalia auch das beſcheidenſte Ge - ſchoͤpf; das demuͤthigſte, moͤchte ich ſagen, das man finden kann. Daß ſie Gutes aller Art unermeßlich wirkt darauf giebt ſie nicht Acht; daß ſie alle Pflichten erfuͤllt, alle Gebote haͤlt das weiß ſie nicht; hat von den Gruͤn - den ihres durchgaͤngigen Verhaltens nichts we - niger als vollſtaͤndige Begriffe, gar keine eigent - liche Moral, kaum eine ſolche wie ſchon vor Jahrtauſenden dem uralten Hiob eine zu Dien - ſten ſtand. Wunderbar, daß Amalia zu - rechtkommt; denn ſie iſt auch nicht einmal, was man fromm heißt. Aber ich fodre eure eckelſten Muͤckenſeiger auf, ihren Wandel nach der Strenge zu pruͤfen; und wenn er wird laͤug - nen koͤnnen, daß ſie ſuͤndenfreyer, daß ſie ta -83 delloſer ſey (ſelbſt nach ſo vielen Fratzenbegrif - fen unſerer Zeit) als Eine; ſo will ich vor dem Muͤckenſeiger mich beugen und mich zu ihm bekehren.

Du, lieber Wallberg, ſiehſt doch hier wohl kein Wunder, oder argwohneſt Blend - werk? Tritt naͤher! Was iſt es, als ein aͤchtes Gottesgeſchoͤpf, in Geſundheit und na - tuͤrlicher Wohlgeſtalt; auferzogen ohne Kuͤnſte - ley; alsdann bezogen auf einen Gegenſtand, in welchem ſeine Kraͤfte ſich ſammeln, ordnen und zur ſchicklichſten Wirkſamkeit vereinigen konnten. Sind doch alle Tugenden eine freye Gabe des Schoͤpfers; unmittelbare Naturtriebe! nur verſchieden geſtaltet nach den verſchiedenen Formen und Zuſtaͤnden menſch - licher Geſellſchaft. Keine, die nicht da war, ehe ſie Namen hatte und Vorſchrift! Alle Mo - ral war ſie doch von jeher blos philoſophiſche Geſchichte, ſpeculative Entwickelung, Wiſſen - ſchaft; und jene innere Harmonie, jene Einheit in Thun und Dichten (das Augenmerk emporſtre -F 284bender Menſchheit) allemal nur die Geburt irgend einer erſprießlichen Hauptneigung, wel - che dem Menſchen Beruf ertheilte, und Plan! Wo Einheit der Neigungen entſteht, da macht ſich die Einheit des Wandels von ſelbſt; da bildet der Menſch ſeine erwaͤhlte Lage aus; formt ſie je mehr und mehr zum Ganzen: und nun, je eingeſchraͤnkter von der Einen Seite, deſto freyer von allen uͤbrigen; verletzbar nur in Einem Punkte ſeines Weſens; in ihm ſelbſt gewiß; muthig; begnuͤgt; und darum unabhaͤngig, edel, ge - faͤllig und von ganzer Seele gut. Greif es an allen Enden; Du wirſt finden: gerader Sinn, dringendes Geſchaͤfte, und darin Emſigkeit und Treue mit Luſt, ſind die Eckpfoſten aller Gluͤckſeligkeit und Tugend.

Nun erinnere Dich, was ich im Anfange dieſes Briefes uͤber Nebel und ordentlichen Wandel philoſophierte. Vielleicht klang es Dir leichtfertig; tiefer erwogen, wie wahr? Wie dumpfen Sinnes, wie erſtorben muß der85 ſeyn, der ſeine Neigungen ſich aus lauter Moral bilden, der mit lauter Moral ſie nach Gefallen unterdruͤcken kann! Zehnmal beſſer iſt mir da der gutherzige Wildfang, der noch Leben im Buſen naͤhrt und Liebe. Und dann noch Eins! Auch dem Menſchen hoͤherer Art, der ein geordnetes, durchgaͤngig zuſammenhangendes Leben fuͤhrt, muß vieles in Nebel verhuͤllt ſtehen; aber es iſt nur der Duft, welcher von dem ganz aufgehellten Plane ſeines Wirkungskreiſes ſich an deſſen Graͤnzen gedraͤngt hat. Unſere Philoſo - phen allein bewohnen Himmelnahe Felſenhoͤ - hen, von keinem Dufte getruͤbt, rundum end - loſe Helle und Leere. Mir gienge da der Athem aus. Schon iſt mir die Luft zu duͤn - ne wo ich bin; und ich ſinne darauf, wie ich allmaͤhlich noch etwas tiefer herabkomme. Auch iſt nicht wohl zu laͤugnen, daß in einem engern Horizonte uns die Gegenſtaͤnde viel waͤrmer an Auge und Herz kommen. Graͤn - zenloſe Begraͤnzung, Raum ohne Maaß und Ende; wo ichs erblicke, macht es mirF 386Hoͤllen-Angſt. Darum enge ich mich gern ein wenig ein; laſſe mir es wohl ſeyn in ir - diſchem Beginnen, wo ich ein Ende meines Thuns ſehe, und doch alle meine Kraͤfte daran ſetzen muß.

Zum Schluſſe noch ein Woͤrtchen von Freundſchaft. Das nichtswuͤrdige, loſe Weſen unter dieſem Namen, wovon zuvor die Rede war, daß wir ihm beyde eben feind waͤren: iſt es nicht auch eine Mißgeburt aus jenem todten Meere der Unbeſtimmtheit, der Richtungsloſigkeit, der unendlichen Zerſtreu - ung? Schwache Faͤden aus veraͤnderlichen Abſichten und fluͤchtigem Ergoͤtzen geſponnen, wie bald muͤſſen ſich dieſe wirren? Und dann, Riß an Riß; Knoten an Knoten. Ganz an - ders die Bande aͤchter Freundſchaft, wo zwey etwas anfaſſen, wie rechte und linke Hand, um es zu Einem Werke zu bilden; zwey etwas mit einander fortbewegen, wie beyde Fuͤße den Leib. Weg mit dem, welcher ſagt, eine ſolche Freundſchaft ſey auf Eigen -87 nutz gegruͤndet! Der Gegenſtand, warum bey - de ſich vereinigen, iſt ihnen nur Medium einer den andern zu empfinden; Sinn, Or - gan. Nicht denjenigen liebe ich ja am mei - ſten, der das meiſte fuͤr mich thut; ſondern den, mit welchem ich das meiſte ausrichten kann. Eigenliebe? Alles ſoll Eigen - liebe ſeyn! Was gehe ich mich ſelbſt denn mehr an, als mich andere angehen; ich, der ich nur im andern mich fuͤhlen, ſchaͤtzen, lieben kann? Das heißt euren Philoſophen Unſinn. Mags! Weiß ich doch, wer es beſſer hat; ich oder ſie.

Lebe wohl, und gruͤſſe Luzie, die Gute, Treffliche! Dein Eduard.

F 488

X. Demſelben.

Heute ſind es gerade drey Wochen, lieber Wallberg, daß ich einen langen Brief an Dich abgeſchickt habe. Gleich am folgenden Tage wurde der Brief an Luzie fertig, wovon Du weißt, daß ich ihn ſchreiben wollte: uͤber meine Geſchichte mit Nannchen. Eine lange Epiſtel! Auf dieſe habe ich ſchon Ant - wort; von Dir habe ich keine Antwort. Lu - zie gedenkt Deiner auch mit keiner Sylbe. Ich vermuthe daher, daß ſie Dir meinen Brief nicht gezeigt hat.

Alſo, ich erzaͤhlte ihr umſtaͤndlich und ausfuͤhrlich, wie das heilloſe Verhaͤltniß mit Nannchen war; wie es, Gottlob! aus ein - ander gieng, und ich nun zu den Hoch - ſcheid gar nicht mehr ins Haus komme.

Ueber dem Erzaͤhlen gerieth ich in Feuer. 89Ich war gehetzt, voll Verdruß; die Kata - ſtrophe hatte mich erſchuͤttert: und da ſchalt ich mich denn weidlich; gab mir, wie ſchon oͤfter geſchehen iſt, tuͤchtige Verweiſe uͤber meinen Leichtſinn; uͤber, ich weiß nicht was fuͤr eine abgeſchmackte Nachgiebigkeit in mir ein verdammtes loſes liederliches We - ſen, welches andere Gutherzigkeit nennen moͤ - gen, wodurch ich in dergleichen Verwickelun - gen gerathe, die mich gleich von Anfange aͤr - gern und peinigen, und wohinein ich mich denn doch ziehen und weiter ziehen laſſe. Daruͤber ſchrieb ich, wie ichs fuͤhlte, und ſchenkte mir nichts. Aber daß ich ploͤtzlich ein ganz andrer Menſch geworden ſey, fiel mir nicht ein, und ich habe es auch, weder geſagt, noch von weitem zu verſtehen gegeben. So aber ſcheint es Luzie genommen zu haben, und dachte, ſie muͤſſe mich geſchwinde und recht feſt jetzt beym Wort halten, zu meinem Beſten. Das verdroß mich aus zwey Ur - ſachen: erſtlich, weil es albern; und zwey - tens, weil es unredlich war. Albern warF 590es, weil mich Luzie von der blinden Kuh und dem edlen Gaͤnſeſpiel her ſchon kennt; her - nach, da ihre Mutter ſtarb, in unſerm Hauſe neben mir aufgewachſen iſt; endlich jetzt in Wien von neuem mich ſo lange geſehen hat. Freylich wurden wir dort ein wenig in einan - der verliebt, und das bringt gewaltig aus der Bekanntſchaft; aber wir hoͤrten auch auf in einander verliebt zu ſeyn, und das ſtellt noch gewaltiger die Bekanntſchaft wieder her. Du ſchuͤttelſt inclement den Kopf, guter Cle - mens; und Du haſt Recht. Ich ſollte von dieſer Geſchichte in dem Tone nicht reden; es iſt die widerlichſte in meinem Leben, und ich muß mich ſchaͤmen vor Luzie, die mich demuͤ - thigte ohne Stolz: die wahrhaft Gnaͤdige! ſo daß ich ewig ihr zu Fuͤßen liegen und ſie verehren muß, wie ein Weſen hoͤherer Art, wofuͤr ich ſie erkenne. Aber darum ſollte ſie doch nicht ſo feyerlich thun, und ein ſolches Gluͤckwuͤnſchungs-Schreiben an mich, den Eduard Allwill, ergehen laſſen, wie ſie gethan hat. Das war, ich ſage es noch ein -91 mal, unredlich! Denn da ſie mich an mei - ner ſchlimmſten Seite, wie vor ihr kein Menſch, ins Auge gefaßt und zu Herzen genommen hat; ſo kann es unmoͤglich ihr wahrer Ernſt ſeyn mit den frohen Hoffnungen, wofuͤr ſie mir den Dank zu Fuͤßen legt. Ihr Brief iſt eine Predigt en chauveſouris, die mich mit einer Bekehrung anfuͤhren will. Ich habe Luzie zu lieb, als daß ich ihr dies ſo koͤnnte hinge - hen laſſen. Auch muß ich, Gewiſſens hal - ber, einen Angriff auf ihr feyerliches We - ſen thun. Die Liebhaberey am Feyerlichen iſt den Maͤdchen beſonders eigen: wer ihr Freund iſt, warnt ſie davor; oder ſinnt, wenn es mit dem Warnen zu ſpaͤt iſt, wie er ſie heile. Luzie muß heyrathen, ohne Verzug. Sie wird jetzt drey und zwanzig Jahre alt; das iſt fuͤr ein Fraͤulein ſchon ein fuͤrchterliches Alter. Wie ſie jetzt geſtimmt iſt, findet ſie keinen Mann, der ihr recht waͤre; und am Ende werde ich die Schuld haben muͤſſen, ob ich gleich unter allen Maͤnnern am wenigſten fuͤr ſie getaugt haͤtte. Deine Schweſter, nimm92 mirs nicht uͤbel, iſt auch keine gute Bekannt - ſchaft fuͤr Luzie, ſo eine vortreffliche Freun - dinn ſie auch ſeyn mag. Sie ſpannt die arme Luzie nur immer hoͤher, und vermehrt ihren Hang zum weinerlichen Ernſt.

Wie mich das alles ſchiert, kann ich Dir nicht ausdruͤcken. Es war ſo natuͤrlich, was mir mit Luzie begegnete; und doch liegt es mir ſoll ich ſagen auf dem Gewiſſen? Da ich ſie wieder - fand in Wien, hatte ich ſie ſeit mehreren Jah - ren nicht geſehen. Das ſchoͤne, holde, Gefuͤhl - volle, Geiſtreiche Maͤdchen: ich ſah meine Kindheit, meine Jugendjahre in ihm wie ver - klaͤrt! Ein ſolcher Eindruck wird mir nie wie - der. Und ihre Freude bey unſerem Wiederſe - hen! Bruder Eduard! rief ſie, und fiel mir um den Hals. Mir ſchmolz das Herz; aber in Liebe zerſchmolz es nicht. Was denn? Darf ich das Wort Freundſchaft nennen, da ich die ihrige zu mir in eine Lei - denſchaft uͤbergehen ſah, die ich nicht theilen wollte, und dennoch naͤhrte; wiſſentlich naͤhr -93 te? Wie ich Dir vorhin ſagte: ich ließ mich gehen; wurde verwickelt, gerieth aus einer Nachgiebigkeit gegen mich ſelbſt in die andere; wollte mich taͤuſchen, konnte nicht, und wurde verſtockter .... Du weißt den großmuͤthigen Schritt, den ſie that; und wie nur alle ihre Sorge dahin gieng, daß ich mir von Herzen moͤchte ſelbſt verzeihen koͤnnen. Sie nahm von mir den Schwur, daß ich auf jede Gefahr aufrichtig gegen ſie ſeyn, und ſie nie mehr in irgend etwas hintergehen wolle. Die - ſen Schwur werde ich halten, und auch bey die - ſer neuen Gelegenheit mich ihr darſtellen, wie ich bin. Ihr ſoll kein Wahn in Abſicht meiner bleiben. Das verkehrte Hoffen und Erwarten von mir; das beſtaͤndige Anliegen und Gequaͤle daruͤber, iſt mir unertraͤglicher als Verachtung und Haß. Ich will durchaus nicht die Voll - kommenheit eines andern ſeyn; nicht ein - mal meine eigene; denn ich weiß noch nicht, was meine eigene Vollkommenheit fuͤr ein Ding iſt. Am wenigſten ſoll Luzie ſich etwas in den Kopf ſetzen von einem Allwill, der noch kom -94 men moͤchte. Das taugt ihr nicht; und ich muß es ihr mit Gewalt aus dem Kopfe brin - gen. Bin ich einmal todt, ſo moͤgen ſie mich ſelig ſprechen, oder gar canoniſieren, und dem Teufel, der es nicht leiden will, die Hoͤlle ſo heiß machen, als ſie Luſt haben. Aber ſo lan - ge ich lebe, ſollen ſie ihn nicht tuͤckiſcher gegen mich machen, als er es ſchon iſt. Mir eckelt gar zu ſehr, wenn ich mich als ſo ein Bild - chen ſittlicher Heiligkeit, das ich werden ſoll, betrachte.

Laß mich abbrechen, und ſage Luzien nichts. Ich fieng dieſen Brief an, in der Abſicht, daß Du ſie vorbereiten ſollteſt; aber ich bin anderes Sinnes geworden uͤber dem Schreiben. Du Boͤſewicht lachſt wohl uͤber meine uͤble Laune, und denkſt: Er hats doch gefuͤhlt! Meinetwegen!

Lebe wohl! Dein Eduard.

95

XI. Amalia an Sylli.

Alle haben Dir geſchrieben(*)S. den VIIIten Brief.; Mann und Maus, und Maus und Mann; Amli allein hat nicht geſchrieben, hat ſogar ihren gewoͤhnli - chen Syllis-Poſttag vorbeygehen laſſen, und moͤchte faſt den heutigen wieder vorbeygehen laſſen.

Bin ich Dir etwa boͤſe, Sylli? Haſt Du mir etwas gethan? Mir allein? Ja, mir al - lein haſt Du was gethan; wenigſtens kommt es mir ſo vor, daß ichs allein bin. Mir allein haſt Du das gethan, daß ich mich ſchaͤmen muß, wenn ich an Dich denke, weil es Mir wohl geht, und Dir geht es uͤbel; und das nicht recht iſt. Ich fuͤhle das, wie einen Vor -96 wurf, ob ich gleich mir ſelbſt daruͤber keinen machen kann; und ſieh, gerade davon wird man boͤſe.

Ich habe Clerdon ſonſt wohl gefragt, wenn ich Weiber ſah, die unartige, widerwaͤrtige, unertraͤgliche Maͤnner hatten, und doch ganz heiter ausſahen; auch wirklich ſich gar nicht ungluͤcklich fuͤhlten, ſondern wohl ſo fortleben mochten: wie das zugienge; wie das moͤglich waͤre? Da ich Clerdon zum erſtenmal fragte, (es war bey Gelegenheit der ſanften, Geiſtrei - chen, allerliebſten Strohmfels) bekam ich zur Antwort: die Strohmfels hat Kin - der. Das wußte ich ſchon. Alſo weißt Dus? ſagte Clerdon, und ſetzte hinzu: Ama - lia wird auch Kinder haben! faßte mich darauf in ſeine Arme, kuͤßte mich und ließ mich nicht weiter reden.

Nun habe ich Kinder, und verſtehe etwas beſſer was Clerden meinte, und glaube ihm auch fuͤr die Frau von Strohmfels und andre,und97und bin froh, daß ich es gelten laſſen kann: aber naͤher muß mir kein Menſch, am wenig - ſten Clerdon damit kommen wollen. Ich weiß nicht, woher ich den Heinrich, den Carl, die uͤbrigen nach der Reihe ſo lieb habe; ſo ganz anders lieb wie andre Kinder: als da - her, daß es Clerdons Kinder ſind, die ich ihm brachte.

So verſtehen es ja auch alle andere Men - ſchen. Sagten nicht die Leute bey meiner er - ſten Niederkunft: das iſt eine wackere Frau, die Clerdon; ſie hat ihrem Manne einen Sohn gebracht. Hernach: Die Clerdon wird ſtolz ſeyn; ſie hat ihrem Manne wie - der einen Sohn gebracht. Endlich: die Clerdon iſt gluͤcklich; ihr Mann wuͤnſchte ſich eine Tochter, und nun hat ſie ihm eine Tochter gebracht. O ja! Sylli, die Clerdon iſt ſtolz und gluͤcklich; aber Amli iſt nicht ſtolz, und Amli fuͤr ſich waͤre nicht gluͤcklich; auch nicht mit ihren Kindern. Es waͤre auch wohl der Muͤhe werth, daß AmliG98Kinder haͤtte. Arme Kinder, wenn ihr es nur von Amli waͤret!

Auf dies alles hat mich die liebe Stelle in Deinem Briefe gebracht, von Deinem Han - gen an Kindern und Kindesgleichen. Und da wollte ich Dir ſagen, liebe Schweſter: Komm zu der Mutter; komm zu den Kindern und der Kinder Vater; komm zu den Maͤdchen von Heimfeld! Ich glaube, noch vor Jahres En - de bin ich wieder in Wochen. Bis dahin we - nigſtens komm, und auf immer. Jetzt gleich mußt Du das feſtſetzen, daß Du kommen, und, was ſich bis dahin nicht gefuͤgt hat, laſ - ſen willſt.

Du biſt auch Mutter geweſen, Sylli; und ob Du gleich das Kind verlorſt, wuͤr - deſt Du doch das nicht miſſen wollen, daß Du Mutter warſt und Mutter bleibſt. O Mutter, komm zur Mutter!

Du haſt ſelbſt Dein Kind geſtillt, wie99 ich auch thue. Daruͤber geht auch nichts. Wenn ſo ein kleines Weſen ausgeſchlafen hat, und nun geſtillt iſt, und liegt einem da im Schooſe, und faͤngt an zu girren vor Luſt und ſich zu regen vor Luſt, und faͤngt an zu lachen und zu ſcherzen mit der Mutter, die ihm alles, alles iſt: Ach, Sylli! weiß es, was die Mutter; weiß es, was es ſelbſt iſt? Nichts weiß es. Aber es haͤngt an der Mutter, und hat ſo Recht, ſo unausſprechlich Recht, an ihr zu hangen! Sage, liebe Sylli; wenn das ſuͤße holde Weſen ſo vor Dir lag unter Deinen Augen, und hinaufſchaute, und hinaufreichte mit allen ſeinen Gliedern; Dich hatte und Dich ſuchte; unbegreiflich Dir dankte, unbe - greiflich Dich liebte: wenn Du es denn an Dich druͤckteſt und an Dich herzteſt, falteten beym Umfaſſen ſich Deine Haͤnde nicht von ſelbſt; Deine Augen, hatten ſie einen andern offenen Weg als nach dem Himmel, und konn - teſt Du das beten laſſen? Mir deucht, wenn das Vater Unſer nicht ſchon da geweſen waͤre, ich haͤtte es hundert und hundert mal erfunden!

G 2100

Liebe Sylli! Andere werden ſagen, es ſey nicht gut, Dich an dergleichen zu erinnern: aber Amli, ob ſie gleich lange nicht ſo klug iſt als andere, verſteht das doch beſſer, und weiß, daß es wohl gut iſt. Was Du von Deiner Freude an Kindern ſchreibſt, von dem Troſte, den Du daher nimmſt; ich ſage auch, und ſo ſehr als keiner, daß es lieb iſt und ſchoͤn, und man ja es Dir nicht nehmen ſoll. Aber das rechte iſt es doch nicht, und das rechte ſoll man Dir noch viel weniger nehmen. Wo Du mit Deinem Lieb - und Gern-haben der Kinder anfaͤngſt, da iſt gar nicht der Anfang; der iſt nicht bey den rothen Backen, nicht bey dem Tanzen und Springen und Jauchzen, und beym Bon-Bon: der iſt ganz wo anders. Der iſt da wo man nichts ſieht, und man nichts weiß; da wo die Welt angefangen hat.

Weißt Du, wo die Welt angefangen hat? Ich weiß es; kann es aber niemanden ſagen, der es nicht ſchon weiß. Dir kann ichs ſagen, und wills Dir ſagen, ins Ohr Haſt Du gehorcht? Und verſtanden?

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Erſt geſtern war jemand bey uns, der war recht voll von hieher und daher, und wollte meinem Clerdon anſtreiten, alles kaͤme von der Eigenliebe: und wie uns etwas Nutzen oder Schaden, Freude oder Leid braͤchte; ſo hielten oder ließen wirs. Damit hatte dieſem Herrn die Welt angefangen. Clerdon machte einige Einwuͤrfe; daruͤber kamen Heinrich und Carl den Saal herein gedreht und getanzt, und hien - gen ſich dem Vater an Haͤnde und Arme, und ließen ſich wegſchleudern, daß ſie auf dem Tep - pich herumtummelten, und kamen dann zur Mutter ſie zu zerren, zu draͤngen und zu necken. Sehen Sie, ſagte Clerdon zu dem klugen Manne: wenn Ihre Philoſophie auch ganz die meinige geweſen waͤre; ſo haͤtte ich ſie dieſer Knaben wegen aufgeben muͤſſen. Das Daſeyn uneigennuͤtziger Liebe, eines Wohlthuns ohne den entfernteſten Gedanken an Erſatz, einer alles uͤberwiegenden Treue, habe ich durch ſie als Thatſache in mir ſelbſt. Und ſchon das Weib da, auch ohne Kinder, haͤtte mich um jene Philoſophie gebracht. Sie wuͤrden mirG 3102dies ohne Muͤhe anders zu erklaͤren, und ſogar meine Thatſachen dergeſtalt mit Worten auf Ihre Seite zu bringen wiſſen, daß ich mit Worten nicht gegen Sie aufkaͤme; denn immer hat die tiefer liegende Wahrheit das Wortge - webe wider ſich; es iſt der Inſtinkt des Buch - ſtabens, die Vernunft unter ſich zu bringen; ſein Inſtinkt, mit der Vernunft umzugehen, wie Jupiter mit ſeinem Vater.

Das letzte hoͤrte und verſtand ich nur halb; denn da Clerdon die Worte ausſprach: Schon das Weib da! fuhr ich zuſammen, wurde roth, und ſah wo anders hin. Da fiel mir Garbetto in die Augen, und ich dachte: was brauchte Clerdon Frau und Kinder in das Spiel zu miſchen; er durfte ja nur den Hund fragen, das gute treue Thier, das auch ſprechen kann. Indem giengs mir unwillkuͤhrlich aus dem Munde: Wie ſpricht der Hund? Du weißt, wie Garbetto auf dieſe Frage zu bellen anfaͤngt. Dem Clerdon, der mich er - rieth, kam das Lachen an. Um es zu verbeiſ -103 ſen, wollte er zornig thun gegen den Hund. Daruͤber kam auch mir das Lachen. Er tuͤſch - te, und ich in einem fort zu rufen: wie ſpricht der Hund? Das gab eine Hetze, ein Geraͤuſch, einen Rumor mit den Kindern dazwiſchen, und ein allgemeines Lachen, wel - ches der Unterredung ein Ende machte. Gleich darauf empfahl ſich der Philoſoph.

Was will ich Dir damit, liebe Sylli? Ich will, daß Du nicht die Augen zu haben ſollſt, um deſto mehr zu denken, wie der Philoſoph, dem Garbetto den Mund ſtopfte; ſondern of - fen ſollſt Du die Augen haben, wie Clerdon, und ſollſt, wie Clerdon, etwas haben, das Dir in die Augen faͤllt, und Dir das Denken zurecht weiſt. Wie es hergeht vor Einem, wenn einem Nichts in die Augen faͤllt, das haſt Du oft genug im Traum erfahren. Man kann ſich da gar nicht heraushelfen, wie ſehr man auch im Traume meint, die Augen auf - zuthun. Gehen ſie einem aber wirklich auf, ſo wird in einem Nu auch wieder alles in der Welt vernuͤnftig.

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Darum habe ich oft gedacht, wir moͤchten wohl unſern Verſtand nicht ſo ganz an uns ſelbſt haben; und ich denke es gern, wegen der guten Ausſichten fuͤr das Mehr bekom - men, welche ich da finde, und wegen des Fingers, der mich zurecht weiſt, den ich er - greifen und mich daran halten kann. Hoͤre nur, wie Clerdon einmal, da ich zu B war, getraͤumt hat. Ich will Dirs von Wort zu Wort aus ſeinem Briefe abſchreiben.

Was mir die vorige Nacht erſchienen iſt, liebe Amli, erraͤthſt Du nicht, und kein Menſch wirds errathen. Alſo laß Dir erzaͤh - len. Ich hatte mich zu Pferde geſetzt und war bey Dir in B . Wir ſitzen froh und ru - hig beyſammen; da kommt der Bediente mit einem Briefe. Nachrichten von Hauſe! rufſt Du; erbrichſt mit Ungeduld das Siegel und lieſeſt. Gott im Himmel, Clerdon! ſagſt Du ploͤtzlich; ich bin geſtern mit drey Kindern niedergekommen, zwey Knaben und einem Maͤdchen. Das iſt unmoͤglich, gebe105 ich Dir zuruͤck; Du biſt ja hier geweſen. Wohl! antworteſt Du; aber lies den Brief: Du kennſt Lenorens und Claͤrchens Hand; ſie ſchreibens beyde. Ich habe viel ausgeſtan - den; aber ich befinde mich wohl, und meine Kinder leben. Ich ſehe den Brief an, wer - de uͤberfuͤhrt, laſſe in groͤßter Eile ſatteln, um nach Hauſe zu jagen, damit die armen Kinder Ammen und Taufe bekommen.

Sieh, liebe Herzige, ſo wunderlich kann es in der Welt zugehen, wenn man nicht in vol - lem Ernſte mit dabey iſt; ſondern nur davon ſich traͤumen laͤßt. Ach, Schweſterchen; und es giebt ſchlimme, ſchlimme Traͤume! und man kann nicht glauben, waͤhrend man traͤumt, daß es nur getraͤumt iſt. Verzeihe meine Anſpielungen, und komm nur zu uns, wo Dir die ſchlimmen Traͤume gewiß verge - hen und die Augen offen bleiben ſollen.

Clerdon hat Dich wegen Allwill auf mich verwieſen: ich wuͤrde Dir ausfuͤhrlichG 5106von ihm erzaͤhlen. Das iſt Neckerey von ihm. Er weiß, daß ich nicht ganz ſeiner Mei - nung uͤber den Helden bin, und will aus Rach - ſucht mich in die Verlegenheit ſetzen, entweder Partey wider meinen Herrn zu ergreifen, und um den Ruhm meiner graͤnzenloſen Unter - thaͤnigkeit zu kommen, oder ein wenig zu heu - cheln. Wirklich habe ich in dieſer Verlegenheit Dir von Allwill nur obenhin geſchrieben, und ihn blos vorkommen laſſen, wo und wie er wirk - lich vorgekommen war. Das heißt Clerdon ſich tuͤckiſch aus dem Handel ziehen. Er ſagt: es ſey unverantwortlich von mir, da mir die wahre große Andacht, die All - will zu mir habe, bekannt ſey, daß ich ihn ſo fuͤr eben viel behandelte. Gut denn! Ich will in mich gehen, und habe ſchon angefangen. Zuerſt habe ich genau wiſſen wollen, wie alt der junge Mann ſey; denn Clerdon hat uns daruͤber in große Ver - wirrung gebracht. Dir hat er geſchrieben, Allwill ſey zwey und zwanzig oder wa - rens drey und zwanzig? Jahre alt, und107 ich mußte ihn deswegen loben, weil er ihn hier gewoͤhnlich kaum zwanzig Jahre alt ſeyn laͤßt, und wir uns oft genoͤthigt ſehen, ihn noch dar - unter anzunehmen. Dieſen Noͤthigungen ein Ende zu machen, habe ich mir eine Urkunde verſchafft, die ich bey Gelegenheiten vorzeigen werde, nach welcher Allwill heute unwider - ſprechlich fuͤnf und zwanzig Jahre, drey Monate und ſieben Tage alt wird. Begreifſt Du, warum Allwill nicht einerley Alter haben darf? Ich daͤchte, ſoviel Einer - ley duͤrfte doch wohl in ihm ſeyn, ohne daß es einem Langeweile machte. Es iſt gewiß eine ſchoͤne Sache um die Jugend; und da All - will ſo vieles weiß, ſo vieles kann, große An - lagen ſo treflich entwickelt hat, und ſich die meiſte Zeit wirklich zum Bewundern gut aus - nimmt, ſo iſt es eine Zierde mehr fuͤr ihn, daß er noch ſo jung iſt. Aber ich daͤchte doch, er waͤre jung genug mit kaum fuͤnf und zwan - zig Jahren. Auch kommt das nie vor, daß er kaum zwey und zwanzig, oder gar noch nicht zwanzig Jahre alt iſt, wenn allein ſein108 Lob erſchallen ſoll; ſondern bey andern Vor - faͤllen. Davon iſt Clerdon erſt recht warm fuͤr ihn geworden, daß er ihn ſo oft vertheidigen mußte, und die Vertheidigung von geſtern ſich mit der Vertheidigung, die morgen noͤthig wurde, nicht vertragen wollte; mit der von uͤbermorgen noch weniger, und ſo immer viele neue Kuͤnſte und groͤßere Anſtrengungen noͤthig wurden. Die Anſtrengung allein vermehrt ſchon den Eifer, habe ich oft von Clerdon gehoͤrt; alsdann der Eifer wieder die Anſtren - gung: ſo macht man ſich eine Sache eigen ſagt Clerdon vergißt ſich ſelbſt und lebt nur in dieſer Sache; wird Eins mit dem Dinge, das man treibt Sylli, wenn die Liebhaberey an Allwill mir den Cler - don mit ruchlos machte? Fort, fort mit dem boͤſen Menſchen!

Habe ich das Eis gebrochen, Schweſter - chen? Warte, es wird allmaͤhlich noch beſſer kommen. Umſonſt ſoll mich Clerdon nicht ge - hetzt haben. Immer tiefer will ich in mich109 gehen, bis er ſelbſt in ſich geht, oder wenig - ſtens das Hetzen laͤßt.

Dieſen Augenblick erhalte ich ein Billet aus Heimfeld. Die Maͤdchen haben einen Brief von Dir erhalten, den ſie mir aber nicht ſchicken, weil ſie den Nachmittag ſelbſt herein zu kommen denken, und gern dabey ſeyn wol - len, wenn ich ihn leſe. Ich lobe mir das; denn nun kann ich mich doppelt auf die lieben guten Maͤdchen freuen. Soll ich nun dieſen Brief bis uͤbermorgen liegen laſſen? Behuͤte der Him - mel! Er ſoll dieſen Augenblick geſiegelt werden, und auf die Poſt.

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XII. Sylli an Lenore und Claͤrchen.

Ich habe dreymal hintereinander nach C ** geſchrieben; aber die arme Sylli muß nur wieder geſchwinde hinſitzen, und noch einmal nach C ** oder Heimfeld ſchreiben, ſonſt haͤlt ſies nicht aus. Es iſt ihr von neuem ſo trau - rig ums Herz; ihr Sehnen nach Euch hin iſt in ſo ſtarkem Schwunge, daß ſie unmoͤglich ſich zur Ruhe bringen kann. Dieſen Morgen, unterdeſſen Suſanna ſie anziehen half, kam eine Einladung Antwort: Meine Em - pfehlung; ich wuͤrde aufwarten gegen Abend. Und nun ſeufzte die arme Sylli, und konnte ſich nicht enthalten zu Suſanna zu ſagen: Wer nur fliegen koͤnnte! Ich wuͤßte wohl wohin ich auf Veſuch floͤge. Die hoͤlzerne Suſanna hatte nichts hierauf zu antworten. Das Maͤdchen iſt mir ein allzu unbehuͤlfliches Geſchoͤpf. Auf Empfindung bey ihr machte111 ich gern keine Anſpruͤche; aber auch nicht ein - mal ſo viel Fantaſie, ſo viel Glaube, daß ſie an mich und Euch auf irgend eine Art zu hangen kaͤme. Doch iſt es keine Glieder - puppe! denke ich wohl einmal, und verſuche neuerdings, dies oder jenes bey ihr anzubrin - gen; aber da kommt ſie mir ein wie allemal entgegen mit ihrer Seele, eben ſo hoͤlzern, wie mit der vorgereckten Bruſt ihres Leibes. Auch wenn ſie wohl von ſelbſt des Herrn Re - gierungs-Raths oder der Frau Regierungs - Raͤthin erwaͤhnt, welche ſie gekannt zu haben die Gnade gehabt hat; ſo hat ſie dabey ein ſo unlebendiges Ausſehen, wie die Toilettſchachteln, neben denen ſie ſteht, mir die Nadeln daraus zu reichen Seht, Kin - der! ſo gehts mir.

Die vergangene Woche war wegen meines boͤſen Rechtshandels ein Vergleich im Vor - ſchlage. Ich mußte bey dieſer Gelegenheit allerhand fatale Leute ſehen; hauptſaͤchlich denn auch den grundſchlechten Gierigſtein. 112Der alte Unhold war mir lange nicht vor Augen gekommen; ich erſchrack vor ſeiner Geſtalt, die ſeitdem noch um vieles widriger geworden iſt. Denkt nur, der Menſch mach - te mir Vorwuͤrfe, und zuletzt, nach einigem hin und wieder reden, fieng er gar an zu weinen. Ach! daß Augen wie die ſeinigen daß alle Augen Thraͤnen haben! Einem Gierigſtein, wenn er weinen wollte, muͤß - te, ſtatt der Thraͤnen, etwas aus den Augen kommen, was man wie Staubflocken von ſich abſchuͤtteln koͤnnte; denn Thraͤnen ruͤh - ren einen doch immer, betriegen einen. An dieſem Gierigſtein iſt es mir zum Schre - cken aufgefallen, was fuͤr eine Geſtalt zum Vorſchein kommt, wenn einem verkehrten Menſchen das Alter die Maske wegdorret, Fleiſch und Farbe ſeine Zuͤge nicht mehr ver - huͤllen. Da zeigt ſich die abgehaͤrtete Nerve. Erſtarrt im Haͤßlichen liegt ſie da zur graͤß - lichen Schau: da bebt der nackende Mund, der kalte, unholde; da zittert das truͤbe Au - ge, deſſen Blick, nicht mehr lenkſam, harrenmuß113muß im Ausdruck des Argen; da ſchlappt, Odemleer, die Naſe, verkuͤndiget Stadt - Neuigkeiten, Skandale, und weiter nichts; da ſenkt ſich die kraftloſe Stirne, auf welche Furchtſamkeit und Mißtrauen die Hauptrun - zeln gepraͤgt haben. Es iſt ein peinlicher Anblick, ein wahres Hoͤllenbild, ſo ein ganz verkommener Menſch, der nun offenbar heil - los in die Erde hinunter ſtarrt! Meine Mutter, die Suͤße, Liebe, o, wie war die ſo ſchoͤn durch ihre ſchoͤne Seele! Sie ver - ſchwand wie ein Engel. Nie werde ich das liebe Bild vergeſſen; werde es noch oft wieder anfriſchen mit Thraͤnen, mit Freudenthraͤ - nen uͤber die liebe Mutter, daß ſie ſo war, und daß ſie ſo ausſah.

Ich moͤchte wiſſen was Ihr heute treibt. Beyſammen ſeyd Ihr gewiß, denn es iſt Sonntag; aber was fuͤr eine Art Wohlleben Ihr mit einander habt, wie und wohin Ihr Euch mit einander weidet, darauf ſinn ich. Iſt Amalia die Heerfuͤhrerin, dann gehtsH114wohl nach der Faſanerie, und Ihr bekommt Gebackenes, Milch und Muſik; iſt aber Clerdon an der Spitze, dann geht es in den Wald, oder uͤber die Felder laͤngſt der Donau, und Ihr holt Euch Hunger und Durſt. Und Euer eigenes Geſchaͤft dabey, Ihr zwey loſen Maͤdchen? Was wohl unter Euren Schalksau - gen ſich fuͤr Gluͤck und Ungluͤck zutraͤgt? Daß nur von Eduard keine Frage ſey! An dieſem Eduard in Eurer Mitte kann ich un - moͤglich Behagen finden; und ich ſehe aus ei - nem Briefe, den ich geſtern von Clerdon(*)S. den Vten Brief. er - hielt, und der groͤßtentheils von Allwill han - delt, wie ſehr dieſer unter Euch gelitten iſt. Was ich von ihm erfahre, was mir auch mein Bruder(**)Clemens von Wallberg. von ihm meldet, der doch gewaltig auf ihn haͤlt, macht mich zittern fuͤr Unheil. Der unbaͤndige Menſch mag wohl dabey ein wackerer Junge ſeyn, und es mit andern gewoͤhnlich beſſer meynen, als mit ſich115 ſelbſt: aber dadurch wird er nur gefaͤhrlicher; das giebt ihm die offene, unſchuldige Miene, wogegen kein Rath iſt, worauf man ihm die Hand von ferne reicht, ſich ihm anſchlingt, und Gemeinſchaft mit ihm macht. Erſt hin - tennach wird man gewahr, was er fuͤr un - ſichere Straßen wandelt, wie verwegen er im Handel iſt, wie wohlfeil er ſeine Haut bietet, und folglich die ſeines Genoſſen mit .... Nun ein Maͤdchen, das ſeines Weges kaͤme dieſem auszuweichen wie waͤre es moͤglich? So ward unſere Luzie hingewagt, ſo gieng uns das ſuͤße Geſchoͤpf verloren; denn ſie ſtirbt, Kinder, und ihr Tod iſt dieſer Allwill?

Nie war der Holden ein Juͤngling er - ſchienen wie Allwill ſo ſinnig, ſo beſchei - den und zugleich ſo voll Geiſt und edlen Ei - fers. Keine Tugend, keine Liebenswuͤrdigkeit, die ſich nicht in ihm abſpiegelte, wie Sonn im Meer; und das ſo ganz aus nackender Eigenſchaft ſeiner Natur. Ueberall in vollemH 2116Entzuͤcken uͤber fremdes Verdienſt, war ſein einziges Beſtreben, daß er nur gelitten wuͤrde. Eine ſo ruͤhrende Einfalt, bey ſo vielen Vortreflichkeiten, bey dem ſchoͤnſten Ju - gendglanze, mußte jeden bezaubern. Unſerer Luzie dies alles vor Augen! O, ich ſehe den Engel ſtill und unbemerkt in der Ferne ſchweben beten fuͤr den ſeltnen Juͤngling Entzuͤndet nur in Freude, in reiner Engels-Freude uͤber den Edlen! Und dennoch war es Gift! Kinder! wenn es Euch nur hiebey ſchaudern koͤnnte, wie es mich ſchaudert!

Thoͤricht! Es kann Euch ſo dabey nicht ſchaudern. Aber wie rette ich Euch? Cler - don, Amalia, huͤtet mir die zwey lieben Ge - ſchoͤpfe!

Es ſoll unerhoͤrt ſeyn, daß dieſem Eduard je ein Anſchlag mißlungen waͤre. Er wagt ſein Alles an die Erreichung jedes Zwecks. Wer ihm abgewoͤnne, gewoͤnne ihm nie weni -117 ger, als ſein Leben, ab. Clemens nennt ihn einen Beſeſſenen, dem es faſt in keinem Falle geſtattet ſey, willkuͤhrlich zu handeln. Ein ſchrecklicher Charakter! Und was fuͤr ein Goͤttliches Anſehen der Menſch ha - ben muß, wenn er das Gute, das Schoͤne ver - folgt! O, huͤtet euch! O, flieht! Du Lenore beſonders; du mit dem zarten durch - dringlichen Sinn! Glaube mir, Beſte! Liebe macht uns Weiber immer ungluͤcklich. Die Maͤnner verdienen ſo wenig das Opfer unſeres Daſeyns, daß ſie nicht einmal anzunehmen wiſſen, was wir ihnen geben. Das Gluͤck ein ganzes Herz zu beſitzen wie ſollten ſie das ſchaͤtzen koͤnnen, da ihr Herz nie einen Augenblick ganz, nie ein Gefuͤhl des Herzens bey ihnen lauter iſt? Keine Wonne, nicht die hoͤchſte der Menſchheit, gilt ihnen ſo viel, daß ſie dieſelbe rein bewahrten. Keine Em - pfindung iſt ihnen in dem Grade lieb, daß ſie nicht durch eckelhafte Vermiſchungen ſie truͤbten, ihr Bild entweihten. Die Fuͤlle des Koͤſtlichen die ſchmecken ſie nie,H 3118haben ſie nie; darum kann ihnen nie genuͤgen; darum ſind ſie ohnmaͤchtig zur Liebe. Wir Arme merken das nicht gleich; wir glauben wohl gar eine Zeitlang ſtaͤrker geliebt zu ſeyn, als wir ſelbſt lieben. Aber, o wie bald offenbart ſich das anders! Da ſtehen wir dann dem Geliebten gegen uͤber, und fuͤhlen durch unſer ganzes Weſen: Dein! fuͤhlen durch unſer ganzes Weſen: nicht Mein! Wenn Du das Graͤß - liche die unausſprechliche Schmach des Gefuͤhls ahnden koͤnnteſt: ich Dein! Du nicht Mein! Verloren zu ſeyn, ganz verloren an einen andern Unſer eigenes Selbſt entflohen aus uns entflohen aus Ihm Gar kein Daſeyn mehr! Man iſt verſchwunden unter den Le - bendigen; getilget mit Schande aus ihrer Zahl Elend ohne Maaß, ohne Namen!

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XIII. Lenore an Sylli.

Du weißt von Amalia, daß wir Deinen Brief erhalten haben, und mit dem Briefe zu ihr kommen wollten. Uns hatte dieſer Brief trau - rig gemacht, und ich weiß nicht in was fuͤr eine Bangigkeit verſetzt, die wir uns ſelbſt nicht zu erklaͤren wußten, und wovon wir ganz miß - muͤthig waren. Amli ſchalt uns daruͤber, erzaͤhlte uns was Sie Dir geſchrieben haͤtte, hieß uns gutes Muths ſeyn, und floͤßte uns eine ſolche Zuverſicht zu Deinem nahen Kom - men ein, daß wir heiter, und, am Ende, lauter Freude mit ihr wurden. Da ſie uns wie - der froh hatte, warnte ſie uns hinterher noch einmal: nicht, ſagte ſie, vor dem betruͤbt, ſondern vor dem truͤbe ſeyn.

Was Du von Allwill ſchreibſt, war ihr, wegen Clerdon, ſehr willkommen; ob es gleich,H 4120ſagte ſie, im Guten wie im Boͤſen, etwas uͤber die Schnur gienge. Aber deſto beſſer fuͤr mei - nen Gebrauch, ſetzte das loſe Weib hinzu. Claͤrchen und ich, wir ſollten ihr beym Angriffe helfen; und es war drollicht, wie ſie uns die Verhaltungsbefehle daruͤber ertheilte. Ich ſchlug vor, wir wollten erſt Probe halten. Beyleibe nicht! ſagte Amli; wenns denn nicht ſo kaͤme, wie wir probiert haben, ſo wuͤrden wir irre. So giengs fort, und wir trieben ſonſt noch allerley, und waren eben in gewal - tigem Lachen, als Clerdon ins Zimmer trat.

Du wirſt zanken, rief ihm Amli entgegen. Claͤrchen hats gethan; die ſtand, eh ichs mich verſehen konnte, auf dem Stuhl, und langte den Caͤſarskopf von der Conſole herun - ter, um an ihm zu verſuchen, wie uns die Hauben da ſtehen wuͤrden. Es uͤberlief mich kalt, da ſie hinauf langte; und ich habe gewal - tig geſchrieen. Aber da der kahle Herr einmal gluͤcklich auf der Commode ſtand, habe ich ihn auch fuͤr mich wegen einer Haube zu Rathe ge -121 zogen, und ihn auch um das Maͤntelchen ge - fragt, daß er noch anhat. Nein! ſagte Cler - don nur mit halbem Lachen; ſolche Schaͤcke - reyen muͤßt ihr nicht treiben. Du unnuͤtze Claͤre, wenn du mir den Kopf zerbrochen haͤt - teſt, wie erholte ich mich an dir? Wollte ich den deinigen auch dagegen nehmen; ſo paßte er ja nicht zu den uͤbrigen?

Caͤſar mußte nun geſchwinde Haube und Maͤntelchen zuruͤckgeben, welches er im Leben wohl nicht gethan haͤtte; und Clerdon ſetzte ihn wieder an ſeine Stelle.

Die Maͤdchen haben einen Brief von Sylli, ſagte jetzt Amalia, und kamen ſo beklommen hierhin, daß ſie mich dauerten. Du mußt durchaus Rath ſchaffen, daß die Schweſter zu uns kommt; oder Ich ſchaffe Rath und ziehe nach E *; denn meine Sylli ſoll nicht umkommen ohne mich!

Es war ſchoͤn, ſehr ſchoͤn, liebe Sylli,H 5122wie Amalien hiebey die Thraͤnen in den Augen ſtanden; und wie auf ihren Wangen und um ihren Mund, Zuͤrnen, Laͤcheln und Bitten wechſelte und beyſammen war.

Du kennſt den Blick von Clerdon, womit er wie zu Amalien hinuͤber langt, ſie anruͤhrt; und wie ihr denn die Hand ſchon bebt, die er fodern wird, um Mund und Stirne darauf zu druͤcken, und die Augen wieder auszuruhn.

Da Clerdon den Brief geleſen hatte, ſtand er auf, ohne ein Wort zu ſagen, und gieng mit uͤbereinander geſchlagenen Armen im Zimmer auf und nieder, den Kopf bald tief ge - ſenkt, bald in die Hoͤhe gerichtet.

Clerdon! rief Amalia: wenn du auf Rath ſinnſt, ſo wird dir das morgen in der Fruͤhe beſſer gelingen. Beſinne dich jetzt nur, und ſage uns, was Lenore wegen Allwill ant - worten ſoll.

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Mir war ganz heiß; denn was eben vor - gegangen war, und Clerdons finſteres Auf - und Abgehen, hatte mich wieder in die Weh - muth verſetzt, mit der ich von Heimfeld ge - kommen war. Ich lag in Gedanken vor Dir auf den Knieen, weinte und ſchluchzte in Dei - nem Schooß.

Aber wie ſchoͤn hier Amalia den Gang der Unterredung leitete: ach, wenn ich Dir dies erzaͤhlen koͤnnte! Beyde, Amalia und Clerdon, ſagten treffliche Dinge. Aber alles, was Amalia ſagte, war ſo ganz uns geſagt, ſo gut, ſo unvergeßlich und ſo wahr; und wie ſich das machte, und immer beſſer machte, uͤber - all von ſelbſt unter Ernſt und Scherz; wie auch Claͤrchen und ich unſer Woͤrtchen bequem einzumiſchen fanden, ſo daß wir bey dieſem Woͤrtchen das uͤbrige noch beſſer behielten, und es hintennach uns eindringlicher machen konnten Liebe! es laͤßt ſich nicht aufſchrei - ben. Aber ſey Du nur ruhig unſertwegen; ſo lange wir in Amaliens Naͤhe ſind, wird124 kein Boͤſes, wenn es uns auch beruͤhrte, uns etwas anhaben koͤnnen.

Ich habe Claͤrchen in der Stadt gelaſſen, wo ſie bis Montag bleiben wird, um fuͤr Clerdon verſchiedenes abzuſchreiben, was er nicht in andere Haͤnde geben mag; und mit ihm, wie er hinzuſetzte, zu uͤberlegen und zu diſputieren. Das iſt nicht blos zum Lachen mit dem Diſputiren; beyde ſind be - ſtaͤndig an einander, und wer anfaͤngt, das iſt immer Claͤre. Gewoͤhnlich mit einer Frage. Dann iſt ſie mit der Antwort nicht zufrieden; und fragt weiter; iſt wieder, und noch einmal, und immer weniger zufrie - den: damit iſt der Streit im Gange, der ſchon mehr als einmal Zank geworden iſt. Clerdon ſagt ihr, ſie waͤre von ſo ſchwerem Begriff und ſo eigenſinnig, daß er ſie fuͤr kei - nen Preis zu ſeiner Uebung miſſen moͤchte. Wir alle ſtehen uns ſehr wohl bey dieſem Unfrieden, und loben uns das Abſchreiben, aus dem er nach und nach entſtanden iſt. 125Du kennſt Clerdon, wie er jede Gefaͤlligkeit, die man fuͤr ihn hat, einem gern zur Luſt macht, und keinen Ochſen, der da driſchet, mit verbundenem Maule ſehen kann. Dies hat die ſchlaue Claͤre wohl benutzt, und ſich bald vom Geheimſchreiber zum wirklichen Beyſitzer empor geſchwungen. Natuͤrlich mußten Amalia und ich bey dieſer Standes - erhoͤhung mit befoͤrdert werden; und wir haͤt - ten es gewiß nicht zugelaſſen, daß es in un - ſeren Koͤpfen weniger kraus wuͤrde, als in Claͤrchens Koͤpfchen. Welche Luſt uns das ſchon gemacht hat, und wie ſchoͤn wir unſern Clerdon oft damit um ſeine Zeit bringen, kann ich Dir nicht ſagen. Wir fuͤrchten nur, Claͤre wird uns am Ende wirklich zu gelehrt, und kann nicht mehr ſo recht mit ſpaſſen. Denn das hat ſie ſchon an ſich, daß, wenn wir mit Clerdon wider ſie gemeine Sache machen, ihr das Achſelzucken ankommt. Schlagen wir uns hingegen zu ihr, ſo laͤßt ſie es gelten, und wir duͤrfen alsdann, mit ihrer Erlaubniß, zu - weilen gar das große Wort fuͤhren.

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Geſtern uͤber dem Nachteſſen wurde Cler - don ſehr aufgeraͤumt, und erzaͤhlte uns zuletzt ein tolles Maͤhrchen, welches ich durchaus Dir wieder erzaͤhlen ſoll um meinen Brief zu erheitern, ſagte der boshafte Mann. Ich habe ihm die Hand darauf gegeben. Da muß ich aber weit ausholen, und ich wuͤnſche nur, daß Du recht dabey gaͤhnen moͤgeſt; denn das iſt die Abſicht.

Hoͤre an!

Wir machten vorgeſtern die Reiſe nach der Stadt im Cabriolet. Die Luft war hell und ſtrenge. Von dieſer ſtrengen Luft und der blanken Sonne waren Claͤrchen, welche dazu die Nacht nicht viel geſchlafen hatte, die Augen etwas ſchwer geworden. Das ver - gieng ihr nachher, und ſie fuͤhlte die ganze Zeit vor Tiſche nichts davon. Waͤhrend dem Nachteſſen aber kam es deſto ſtaͤrker wieder, ſo daß ihr zuletzt mitten im Reden ein paarmal die Augen zufielen. Clerdon wollte wiſſen,127 wovon ſie ſo ſchlaͤfrig geworden ſey. Sie ſchob es auf die Katzen, die mit ihrem ab - ſcheulichen Geheule ſie die vorige Nacht nicht haͤtten ruhen laſſen. Armes Kind! ſagte Clerdon; und wenn du erſt wuͤßteſt, was den Kaͤtzchen bey dem Heulen im Sinne liegt, du wuͤrdeſt noch weniger ſchlafen koͤnnen. Darum will ichs dir jetzt zur Strafe erzaͤh - len, weil du bey Tiſche genickt haſt; und ich bin gewiß, du nickſt nicht mehr.

Am Anfange der Katzen wurde ein bildſchoͤner Kater einem bildſchoͤnen Kaͤtzchen hold, kreuzte ihm beſtaͤndig vor den Augen herum, und machte ſo lange, bis ihn das Kaͤtzchen gern ſah. Einmal nun, da das gute Kaͤtzchen an der Zaͤrtlichkeit ſeines Freundes den groͤßten Gefallen hatte, und vor Wonne, ſich ihn ſo ganz eigen gemacht zu haben, auſſer ſich war, erſcheint ein Maͤuschen. Mein Ka - ter, auf und davon, dem Maͤuschen nach. Und mein Kaͤtzchen mit einem Zeterge - ſchrey ſinkt in Ohnmacht! Alle Kaͤtzchen128 kommen herbey; und wie ſie hoͤren was geſche - hen iſt, faͤllt es jedem aufs Herz, wie ihm eben das begegnen und noch einmal begegnen koͤnne. Da machen ſie denn unter großem Geheul zu - ſammen aus, daß ſie jedesmal, wenn ihr Lieb - haber ihnen zu Fuͤßen laͤge, und ſie ihn gern zu ihren Fuͤßen liegen ſaͤhen, das Geheul von heute wiederholen wollten, damit alle Maͤuſe vor Schrecken ſich tiefer in ihre Loͤcher verkroͤ - chen, und Liebhabertreue unangefochten ließen.

So der Naturforſcher Clerdon!

Zu dieſer Poſſe ſoll ich Dir noch eine ande - re, und zwar in demſelben Briefe, von we - gen Amalia, der ich auch die Hand darauf habe geben muͤſſen, hinterbringen. Und ganz ernſthaft ſoll ich dabey ausſehen; denn es be - trifft eine Pommade, wovon einem die Haare wachſen, ſo lang und ſo viele, und wie und wo man es verlangt. Willſt Du ein Front à la grecque ganz natuͤrlich, ſo daß Stirnhaar und Augenbraunen zuſammen kommen? Es ſtehtbey129bey Dir. Das iſt aber nicht die Hauptſache; ſondern die Hauptſache iſt, Dir zu erzaͤhlen, wie wir dazu gekommen ſind.

Alſo: gaͤhne ſo viel Du willſt! Alſo, ſage ich: wir ſtanden geſtern Morgen am Fen - ſter unten im Saal; ich, ganz reiſefertig, in Erwartung des Cabriolets, welches den Au - genblick vorfahren ſollte, um mich wieder nach Heimfeld zu bringen; neben mir Amalia und Claͤrchen: ſo ſtanden wir, ſage ich noch einmal, am Fenſter, als eine wunderliche Geſtalt von einem Menſchen, mit einem Haarzopfe ich luͤge nicht! ſo dick wie Dein Arm, und Seitenhaaren wie Loͤwenmaͤhnen dicht an uns vorbeyſchwebte. Gleich darauf hoͤrten wir klin - geln, und es wurde uns ein Franzoſe gemeldet, welcher kleine Toͤpfchen vorgezeigt und dringend um Gehoͤr gebeten haͤtte. Wir waren neugie - rig, die wunderliche Geſtalt genauer zu betrach - ten, und ließen ſie hereinkommen. Sie kuͤn - digte ſich gleich als ein Zeichen und Wunder der Wahrheit an von dem, was in einer An -J130zeige, die uns uͤberreicht wurde, geſchrieben ſtand. In der Anzeige ſtand auch von Ma - dame Amon, daß der Liebhaber an der Menge ihrer Haare von dem Effekt der Pom - made ſich gleichfalls uͤberzeugen koͤnne. Nun iſt allein die Frage: ob Du fuͤr einen gan - zen, oder nur fuͤr einen halben Dukaten Haare befiehlſt? denn ſo ſind die Toͤpfchen eingetheilt. Ich denke, da der Menſch einen ſo unermeßli - chen Haarzopf und ſo gewaltige Maͤhnen hat, Du haͤtteſt fuͤr einen halben Dukaten uͤberfluͤßig. NB! Auch wo keine Haare ſind, noch waren, bringt dieſe Pommade welche hervor; bey jun - gen Leuten in zwey, bey aͤltern aber erſt in drey Monaten. Verſchiebe nicht, Amalien Deine Auftraͤge zu geben; ſonſt heißt es, ich haͤtte die Sache nur ſo obenhin, und wohl gar etwas unglaͤubig ausgerichtet.

Sage mir, liebe Sylli, was iſt die Glocke? Du denkſt gewiß, es ſey Mittag, weil ich ſo viel geſchrieben habe, und verweiſeſt mir, daß ich nun mit dem Ankleiden nicht zu rechter Zeit131 fertig ſeyn werde. Hoͤre; da ſchlaͤgt es ſieben! und ſieh die Sonne, wie ſie eben uͤber das Eck meines lieben blauen Tiſches ſich herbey macht. Ich bin Punkt drey aufgeſtanden; und das ha - ben mir die haͤßlichen Katzen mit ihrem Poltern und Schreyen angethan. Sonſt ſchlafe ich leicht uͤber dem Laͤrm ſelbſt wieder ein, und bleibe nachher im Schlafe; aber die Erinnerung an Clerdons Poſſe machte mirs ſo laͤcherlich, daß ich vollends aus dem Schlummer kam. Da entſchloß ich mich denn kurz und gut zum Auf - ſtehen. Du biſt jetzt auch aufgeſtanden, und ich koͤnnte Dich meinen Brief beym Fruͤhſtuͤcke leſen laſſen, wenn nicht die Entfernung den ungluͤckſeligen Bund mit der Zeit haͤtte. Laß mir dieſe ungereimte Klage hingehen, damit ſie mir Weg mache, der Zeit und Entfernung zum Trotz, Dir meinen Brief zu Deinem heutigen Fruͤhſtuͤcke wenigſtens zu dedizieren. Em - pfange den Morgengruß, den ich von meinem blauen Tiſche her, unter dem frohen Gezwit - ſcher einer Menge Voͤgel, die in unſeren Hecken und Obſtbaͤumen flattern und niſten, an DichJ 2132abfertige, und der ſich durch das alles hindurch recht friſch in einem Nu zu Dir hin begeben ſoll Empfange ihn, und nimm ihn als eine Weiſſagung froher Tage in Dein Herz auf; laß ihn da gedeyhen; ſprich zu ſeiner Weiſſagung: Es werde wahr!

Lenore.

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XIV. Beylage zu Lenorens Briefe.

Lenorens Brief kam zu ſpaͤt, um noch geſtern Abend mit der Poſt abzugehen, und das war recht gut, ſage ich; denn nun kann ich Dir auch einen ſchoͤnen Morgen bieten, einen ſo ſchoͤnen als der von Lenore immer ſeyn mochte. Ich ſitze oben, in dem gruͤnen Zimmer, und ſchaue uͤber die Caſtanienallee weg, gerad aufs freye Feld. Am Himmel herum ſchwebt duͤn - nes Gewoͤlk, ſo ſchoͤn bemahlt von der aufge - henden Sonne, daß es wohl ſchoͤner iſt, als ſie ſelbſt; aber doch bin ich auf der Lauer, und meyne alle Augenblicke ſie hervorbrechen zu ſe - hen. Wie meynſt Du, daß es meinem Stumpf - naͤschen laͤßt, ſo hoch uͤber die hohen Gipfel weg in die Sonne zu blicken, gleich dem ma - jeſtaͤtiſchen Donnervogel? Ich muß ſelbſt daruͤber lachen. Aergerlich iſt es aber doch, ein Geſichtchen zu haben, dem ſo etwas nicht laͤßt.

Liebe Sylli, ich ſchaͤme mich jetzt, neulichJ 3134daruͤber gemurrt zu haben, daß wir ſo fruͤh aufs Land ſollten: aber Du weißt, Heimfeld iſt eine Stunde weit von Clerdons Hauſe; und dann, wer haͤtte binnen unſern dreyfachen Mauern ſich einbilden koͤnnen, daß drauſſen ſchon der Fruͤhling waͤre? Hecken und Straͤu - che gruͤnen; und uͤberall aus der Erde her - auf von allen Zweigen herab faßt es einen doch ſo lieblich, aͤugelt einen an, o, ſo herzig, wie ein Mutterauge den angeſchlunge - nen Saͤugling. Ich kann Dir nicht ſagen, wie es mir ans Herz greift ſo nahe, Sylli, ſo nah und immer naͤher, daß mir bange iſt fuͤr meinen lieben May, wenn er kommt, ich moͤchte ihm wohl ein wenig untreu geworden ſeyn.

Vorgeſtern ſpazierten wir nach Son - nenuntergang laͤngſt den Ufern der Donau. Ich ſetzte mich hin und ſang: Maͤdchen, laßt euch die Freude ſchmecken. Hinaufwaͤrts den Strohm ſah es dunkel dunkel und dunke - ler; und hell und heller hinab. So ſahen135 wir den Tag von dannen ziehn; und gerade uͤber uns die Nacht, ihm an der Ferſe. Leiſe rauſchte, nah an mir vorbey, der herrliche Fluß, und ſpiegelte den Himmel ab mit ſei - nem Abendroth und ſchoͤnfarbichten Gewoͤlk und mit ſeiner Nacht. Ich erinnerte mich Deiner, beſte Sylli, und ſegnete Deine Seele, mit der heitern Ruhe, welche rund um mich her uͤber alles, und auch uͤber mich ſich ergoß.

Beym Weggehen rief ich Dir, gute Nacht! Eben blickte der erſte Stern hervor, und ich warf Dir einen Kuß zu. Haſt Du ihn gefuͤhlt?

Was ich beynah vergeſſen haͤtte! Die verlaͤumderiſchen Nachrichten von mir in Le - norens Briefe: wirſt Du ſie ungeruͤgt laſſen? Einem Lamme, wie Dein Claͤrchen iſt, ſo mitzuſpielen! Aber beſtrafe ſie doch nicht zu hart, die arme Lenore; ſie meint es ſo boͤſe nicht im Grunde. Nur daß ſie Dir ſo vor - luͤgen darf, das iſt arg. Allein ſie betruͤgtJ 4136ſich zuerſt, und beſchuldigt mich, die Nach - giebigkeit und Demuth ſelbſt, der Rechtha - berey, aus bloßem Parteyeifer. Alſo ſagt ſie zwar das Ding das nicht iſt, aber man kann ihr nicht Schuld geben daß ſie luͤgt. Darum, liebſte Sylli: Gnade fuͤr Lenore!

Claͤrchen.

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XV. Claͤre an Sylli.

Liebe Sylli!

Du haſt jetzt ſchon Lenorens Brief vom 22ten mit meinem Nachſchreiben, und denkſt, ich bin wieder zu Heimfeld; aber ſieh, ich bin noch hier, und bleibe noch bis uͤbermorgen. Unterdeſſen iſt es richtig geworden, daß je - mand anders bald nicht mehr hier ſeyn wird, und ich habe Dir dies, als eine ſehr gute Nachricht, mit ſehr ſchwerem Herzen zu berichten. Clerdon hat den Auftrag, wovon Du weißt, daß er ihn ſich wuͤnſchte, erhal - ten. Wir muͤſſen uns alſo freuen. Nun ver - reiſt er aber auf Gott weiß wie lange; und daruͤber koͤnnen wir uns unmoͤglich freuen. Daß Du reiſeſt: Das haͤtte ſollen richtig werden! Wird es denn nie?

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Ach, Sylli! Warum hat allein die Seele Fluͤgel! Und wie konnte ſie mit ihren Fluͤgeln an den haͤßlichen Leim gerathen, der ihr das Gefieder ſo zuſammen klebte, daß an kein Los - werden in dieſer Zeit zu denken iſt? Dein guter Plato ſpricht zwar von einem Schrinnen und Jucken an der Stelle der Fluͤgel, welches ein Zeichen des Losklebens ſeyn ſoll, und daß ſie nun bald ſich hervorthun werden. Aber ich glaube faſt, der gute Mann hat uns das nur zum Zeitvertreibe erzaͤhlt; denn, wenn es wahr waͤre, wie lange haͤtten wir beyde, Du und ich, nicht ſchon andre als dieſe aͤrgerlichen Gaͤnſefedern, womit wir ſo leidig zu einander kommen.

Oft, liebe Sylli, wenn ich mich im An - denken an Dich vertiefe, wandelt mich etwas an, wie ein Naheſeyn von Dir. Es faͤhrt mir ein Schauer uͤber das Geſicht, und noch einer, und mir wird, als koͤnnte ich Dir ge - bieten, zu erſcheinen.

Wenigſtens ſo wird es einmal ſeyn, ſage139 ich mir dann zum Troſte, und zuͤrne mit Cler - don, der, als Philoſoph, mir dieſen Troſt zu nehmen ſich verpflichtet fuͤhlt, und mich durch - aus uͤberreden will, wir wuͤrden in alle Ewig - keit ſinnliche Weſen bleiben, folglich einen Koͤrper haben muͤſſen. Ich will aber durchaus Haͤnde und Fuͤße nicht mit aus dieſer Welt nehmen, und ſchlage ſogar die Fluͤgel aus, im Fall ſie mir an die Stelle geboten wuͤrden. Nichts von allem, was die gegenwaͤrtige Ein - richtung nur verbeſſern koͤnnte, ſteht mir an. Denn geſetzt, es beſſerte ſich, nach La - vaters Vorſchlag, mit unſerer Gabelfoͤrmigen Einrichtung dergeſtalt, daß ich mit Einem Schritte von einem Stern zum andern kaͤme; ſo muͤßte ich doch ſchreiten, und haͤtte ja faſt eben ſo viel zu thun, wenn ich dieſſeits der Milchſtraße ſtuͤnde, und Du ſtuͤndeſt jenſeits, um zu Dir zu kommen, als wanderte ich von hier nach E **. So lange Streben und Erſtreben, Wollen und Vollbringen in gleichem Verhaͤltniſſe, wie hier, auſſer einander bleiben, wird keine ſonderliche Seligkeit zu Stande140 kommen, wie groß auch der aͤuſſerliche Auf - wand dazu ſey. Darum beſtehe ich darauf, es muß doch anders ſeyn, als die Herren, um ja nur zu bleiben wie ſie ſind, es ha - ben wollen.

Zwiſchen Clerdon und mir iſt es dahin ge - kommen, daß wir uͤber dieſen Punkt in offen - barer Feindſchaft leben; denn ich gebe fuͤr jenſeits der Erde meine ganze Sinnlichkeit auf, und ſtreite fuͤr meine ganze Sinnlichkeit dieſſeits, daß man ſie bey Ehren laſſe; Clerdon hingegen will die Sinnlichkeit hier um alle Ehre bringen, und dann doch zuletzt mit ihr gen Himmel fahren. Ich bin ſchon einige mal recht boͤſe geworden, und Clerdon iſt auch boͤſe geworden. Er hat ein Buch von einem Englaͤnder, Berkeley, vorn mit einem Kupferſtiche, worauf ein Kind vorge - ſtellt iſt, das nach ſeiner Erſcheinung in einem Spiegel greift, und dieſe fuͤr ein wirkliches Weſen haͤlt. Daneben ſitzt ein ehrwuͤrdiger Philoſoph, der uͤber den Irrthum des Kindes141 lacht; und darunter ſtehen lateiniſche Worte, welche dem Philoſophen, als dem Repraͤſen - tanten ſaͤmmtlicher ungeneigten Leſer, bedeu - ten: er lache uͤber ſich ſelbſt. Von die - ſem Buche wuͤrden mir die Kinderſchuhe aus - fallen, ſagte Clerdon. Da ſie aber nicht aus - fielen, meinte er, er muͤſſe mich einmal in die Hoͤhe heben und ſchuͤtteln, ſo wuͤrde es ſich wohl geben. Allein es gab ſich durch ſein Nachhelfen nur noch weniger; denn ich fand: alles, was er vorbringe, laufe am Ende darauf hinaus, daß, weil wir nur mit den Augen ſaͤhen, nur mit den Ohren hoͤr - ten, wir auch nichts ſaͤhen, als unſere eige - nen Augen, und nichts hoͤrten, als unſere eigenen Ohren. Das wollte er nicht Wort haben, und wurde boͤſe. Hernach drang er in mich, ihm zu ſagen, was ich denn mit meinen Augen und mit meinen Ohren wei - ter ſaͤhe und hoͤrte, und trieb mich herum auf eine Weiſe, daß nun auch ich boͤſe wurde.

Er ſchilt mich eigenſinnig und boͤsartig, weil ich mich von der Vernunft, die er mir wie142 Rinald ſeinen Feinden das enthuͤllte glaͤnzende Schild, beſtaͤndig vorhaͤlt, nicht will blind ma - chen laſſen. Aber ich kann nun einmal die Au - gen, die Nichts ſehen, die Ohren, die Nichts hoͤren, und eine um lauter Nichts in alle Ewigkeit geſchaͤftige Vernunft, nicht dul - den. Warum will er nicht, daß ich, was mir hier gegeben iſt, fuͤr aͤcht und gut annehme, der Natur auf ihr ehrliches Geſicht glaube, und mich fuͤr dort auf etwas ganz neues freue; nicht blos auf ein Mehr von und zu Nichts. Da kaͤmen wir, ſage ich ihm, ja immer aus einem Nichtsdahinter fuͤr uns, in ein ande - res. Sprich, ob ich nicht Grund habe, und wohl thue mich fuͤr die Kluͤgſte zu halten? Der Aerger, den wir uns einander machen, Clerdon und ich, iſt naͤrriſch genug; denn ihm iſt es mit ſeinen Geſpenſtern, die nicht einmal als Ge - ſpenſter etwas vorſtellen, ſo wenig ein rechter Ernſt, als es mir ein rechter Ernſt iſt, daß ich in jener Welt Dich nicht ſehen und nicht empfin - den will. Ich ſoll nur der Buͤndigkeit der Schlußverkettung Gerechtigkeit widerfahren143 laſſen, womit er meine arme Vernunft gern gefangen naͤhme, und zu einem bloßen Spuͤcke - ding fuͤr lauter Spuͤckedinger machte; ſeine Kunſt ſoll ich nicht allein bewundern, ſon - dern mich auch daran erfreuen. Das will er dann und wann in vollem Ernſte, und dann werde ich allemal in vollem Ernſt auch boͤſe.

So ſtanden die Sachen bis geſtern Abend. Ich habe mich hingehen laſſen im Schreiben uͤber dieſe Materie, weil ich von geſtern Abend noch ſo ganz voll war; und ſo will ich Dir denn auch noch erzaͤhlen, was ſich da zutrug.

Der Finanzrath von Eck und Bibliothekar Soder brachten den Abend bey uns zu. Beyde hatten ſchon mehr von dem Hader zwiſchen mir und Clerdon gehoͤrt, und fragten, wie es darum ſtuͤnde. Auf Clerdons Antwort, dieſe Feind - ſchaft werde mit jedem Tage bitterer, konnte von Eck ſeine Begierde, einem Kampfe zwiſchen dem gewaltigen Clerdon und der gewaltigen Claͤre einmal beyzuwohnen, nicht verbergen,144 und ich beſchloß, ſo von ganzem Herzen gut ich auch ſonſt dem Manne bin, daß er dieſe Luſt nicht haben ſollte. Clerdon hatte das Gegen - theil beſchloſſen; das ſah ich auch, und es be - ſtaͤrkte mich in meinem Vorſatze. Ungluͤcklicher Weiſe gelang es ihm bey Amalien, daß ſie ihm half. Er erzaͤhlte auf die wunderlichſte Weiſe meine Behauptungen und Einwendungen; fragte dann Amalia, ob es nicht ſo ſey? worauf dieſe ihm entweder Recht gab, oder auf eine ſo bos - hafte Weiſe zu meinem Nachtheile ihn verbeſ - ſerte, und mich erlaͤuterte, daß es nicht aus - zuhalten war. Von mir war es ſehr albern, mich ſo fangen zu laſſen, da ich vorausſehen konnte, daß bey dem entſchiedenen Vorhaben der unartigen Leute, mich einmal recht boͤſe zu ſehen, mein Einreden nichts helfen wuͤrde. Dennoch kam ich ganz ertraͤglich davon; denn Amalia, ſobald ſie erreicht hatte, daß ich mich einließ, ſchlug ſich unvermerkt auf meine Seite, und half mir wacker, beſonders gegen die zwey Secundanten, die Clerdon nicht im Stiche laſ - ſen durfte, und daruͤber oft einen harten Stand145 bekam. Der Muth, den mir das machte, hatte mich verfuͤhrt, etwas zuviel zu wagen, und ich war in einer ziemlich argen Klemme, da die Thuͤre aufgieng, und wir Allwilln, mit einer Rolle Papier in der Hand, ins Zimmer treten ſahen. Clerdon rief ihn den Augenblick zum Richter auf, und, ohne die Amazoninnen zu fragen, ob ſie den Schiedsmann ſich wollten gefallen laſſen, erzaͤhlte er ihm den ganzen Streit; diesmal ich muß ihm Gerechtigkeit widerfahren laſſen ziemlich ehrlich. Allwill entſchied, ohne weiter zu fragen, fuͤr Amalien und mich. Darauf beſann ſich Clerdon, All - will koͤnne nicht Richter ſeyn, weil er uͤberall den Damen geſchworen habe. Gut! ſagte All - will; ich bin auch lieber geradezu Partey, und richte mit dem Schwerdt.

Clerdon ſollte ſich entſchließen, verlangte Allwill, entweder meine Beſchuldigung gelten zu laſſen: daß wir, nach ſeiner Philoſophie, mit unſern Ohren uͤberall nur unſere eigenen Ohren hoͤrten; mit unſeren Augen uͤberallK146nur unſere eigenen Augen ſaͤhen; und ſo hinter den Augen und Ohren, ruͤckwaͤrts, bis zum Mittelpunkte der Empfindung, uͤberall nur Empfindungen empfaͤnden; oder ſich deutlich uͤber das erklaͤren, was wir mit unſeren Augen nicht ſaͤhen, mit unſeren Oh - ren nicht hoͤrten, und zuruͤck, bis zum Mit - telpunkte der Empfindung, durch unſere Em - pfindung nicht empfaͤnden, und welches nichts deſtoweniger Etwas, und zwar das eigentli - che wahre Etwas waͤre. Dieſes wahre ei - gentliche Etwas, Kraft deſſen und in Verglei - chung mit welchem wir alles andere, als ein Nicht-Etwas erkennen, und zu erkennen allein im Stande ſind, muͤſſe er zu Tage brin - gen; oder wir ſpraͤchen ihm die vernuͤnftige Moͤglichkeit, einen ſolchen Unterſchied zwiſchen Etwas und Etwas zu machen, rein ab. Cler - dons Forderung an uns, ihm zuvoͤrderſt ins Klare zu ſetzen, was wir mit unſeren Augen und Ohren mehr als unſere eigenen Augen und Ohren ſaͤhen und hoͤrten, ſey wider alles Recht und alle Form, da er offenbar der an -147 greifende Theil ſey, und uns in einem wohl hergebrachten Beſitze mit ſeinen Anmaßungen zu ſtoͤren unternehme.

Wir bekennen, ſetzte Allwill hinzu, frey und ungedrungen, daß wir nicht begreifen, wie es zugehe, daß wir, vermoͤge einer bloßen Ruͤhrung und Bewegung unſerer Empfindungs - werkzeuge, nicht allein empfinden, ſondern auch Etwas empfinden; etwas von uns ganz verſchiedenes gewahr werden, und wahrnehmen; daß wir am allerwenigſten begreifen, wie wir uns ſelbſt, und was zu unſerem inneren Zuſtande gehoͤrt, unterſchei - den und uns vorſtellen koͤnnen, auf eine von aller Empfindung ganz verſchiedene Weiſe. Aber es daͤucht uns weit zuverlaͤßiger, uns hier auf einen urſpruͤnglichen Inſtinkt, mit dem alle Erkenntniß der Wahrheit anfaͤngt, zu berufen, als jenes Unbegreiflichen wegen zu behaupten: die Seele koͤnne empfinden, und auf eine unendliche mannichfaltige Weiſe vor - ſtellen nicht ſich ſelbſt, noch auch an -K 2148dere Dinge, ſondern ſolches einzig und allein, was weder ſie ſelbſt, noch was andre Dinge ſind.

Ich wurde roth und blaß vor Freude, daß Allwill die Worte zu meinen Gedanken gefun - den hatte. Hervor, Rinaldo, rief ich; her - vor mit dem blinkenden Schilde, damit wir nicht ernſtlicher darauf beſtehen, daß das Nicht-Nichts zu Tage komme!

Zu meiner großen Verwunderung ſah ich Feind Clerdon, anſtatt boͤſe zu werden, laͤ - cheln, und auch in ſeinen Augen ſogar ei - nen gewiſſen Glanz von Freude funkeln.

Keine Kriegsliſt wurde unverſucht gelaſſen, um Allwilln aus ſeiner Schanze zu locken; und hier war ihm ſeine Minerva, (ich meine mich) durch ihre Warnungen, nicht ohne Nutzen. Endlich mußte Clerdon, wenn er nicht mit Schimpf abziehen wollte, zum Aus - ruͤcken mit ſeinem Nicht-Nichts Anſtalt149 machen; und da fieng es an, ihm und ſeinen Alliirten erſt recht uͤbel zu gehen. Jedes Wort, womit ſie ausruͤckten, wurde angehal - ten und entwafnet, indem Allwill zeigte, daß es den Sinn, den ſie ihm hier geben wollten, ihrem eigenen Syſtem zufolge, durchaus nicht haben koͤnne, und, wo moͤglich, noch leerer ſey, als das klare baare Nicht-Nichts un - vermittelt. Clerdon hatte Muͤhe nicht zu lachen, da ihm die Sprache immer enger und enger gemacht wurde, und er wohl voraus ſah, wie ihm zuletzt nur ein Hauch ohne Ar - ticulation uͤbrig bleiben wuͤrde.

Merken Sie ſich doch, mein Fraͤulein, ſagte Allwill zu mir, und bewundern Sie, wie uns dieſe Herren zum Beſten haben. Sie fußen, wie wir, auf einen urſpruͤnglichen In - ſtinkt, der uns gebietet, Weſen und Wahr - heit, als das Erſte und Veſteſte, unmit - telbar, vorauszuſetzen; der uns folglich auch von Wahrheit und Weſen, unmittel - bar, eine Vorſtellung geben muß; dennK 3150Gott ſelbſt kann das Unmoͤgliche nicht befeh - len, und es iſt eine platte Unmoͤglichkeit, Et - was vorauszuſetzen, was auf keine Art und Weiſe, in einer wirklichen Anſchauung gegeben iſt. Dieſes aber ſollen wir uns nicht einfallen laſſen, und noch weniger in Erwaͤgung zie - hen; damit wir nur ja vor der Niedertraͤch - tigkeit, uns zu einem blinden Gehorſam zu bequemen, recht geſichert ſeyen. Sie fragen trotzig: was ſo ein Inſtinkt fuͤr ſich aufzuweiſen habe? Und wenn wir in aller Demuth antworten: er habe nichts, als ſeine Gewalt und Erſtgeburt fuͤr ſich aufzu - weiſen; ſo iſt ihnen das ein Graͤuel.

Dennoch wollen ſie das Ding des Graͤuels nicht ſo ganz verbannen, daß ſie ihm nicht einen Namen ließen; es ſoll ihm vielmehr, als dem allein wahrhaften Nicht-Nichts, die hoͤchſte Ehre gebuͤhren und oͤffentlich be - zeugt werden. Dieſem Dienſte, gienge er auch, was nicht unmoͤglich iſt, von Herzen, muͤſſen wir uns widerwaͤrtig zeigen, indem wir unſe -151 ren Veraͤchtern die vollkommene Nichtigkeit ih - rer Anſpruͤche, wenn ſie auf ein wahrhaftes weſentliches Etwas auch nur die entfernteſte Weiſung ertheilen zu koͤnnen, ja nur ein verſtaͤndliches Wort, es ſey fuͤr die Sache oder ihre Weiſung, zu haben ſich vermeſſen, unaufhoͤrlich vor Augen ſtellen. Mit ihrem Nicht-Etwas, da es ſo durch und durch ein Nicht-Etwas iſt, laͤßt ſich, mit Fug und Recht, kein Doch Etwas verbinden, welches, als ein Nicht-Nichts auch nur in Gedanken ſich zu zeigen faͤhig waͤre.

Aller und jeder Weg dieſem oder einem aͤhnlichen Ausdrucke Bedeutung zu verſchaffen, iſt unſeren Widerſachern, vermoͤge des ſyſte - matiſchen Zuſammenhangs ihrer Grundſaͤtze unwiderruflich abgeſchnitten. Ihr wahrer veſter Boden iſt ein ausgemachtes, allgegen - waͤrtiges und ewiges Nichtsdahinter fuͤr den Menſchen. Wenn ſie dieſes anerken - nen; hinfort nur ihre Graͤnze decken; ihre eigene Graͤnze nur immer veſter machen wol -K 4152len: ſo, denke ich, koͤnnen wir zu einem Frie - den, ſelbſt zu einer Art von Buͤndniß mit ih - nen uns verſtehen, und aus Feinden Freunde werden.

Wohl! ſagte ich; und bot Clerdon groß - muͤthig die Hand, der mir ein: weg mit dem Frieden! zuruͤck gab; hoͤchſtens einen Waffen - ſtillſtand eingehen wollte: wie er verſicherte, aus bloßer Menſchlichkeit, damit die vielen Verwundeten auf unſerer Seite gepflegt, meine Todten begraben werden koͤnnten.

Unterdeſſen war meine allerliebſte Heinun - gen mit ihrem treflichen Manne und der herzi - gen Albertine, die zum Nachteſſen gebeten wa - ren, angekommen; und ſo machte ſich der Waffenſtillſtand ohne weitere Tractaten. Ama - lia, die ſchon fruͤher einen Waffenſtillſtand wuͤnſchte, hatte Allwilln die Rolle, womit er kam, aus der Hand genommen es war eine Opernſcene von Majo und ihn von Zeit zu Zeit mit Fragen uͤber dieſe Scene unterbrochen,153 und ſich ungeduldiger geſtellt ſie zu hoͤren, als ſie es wirklich war. Jetzt, damit der Streit nur ja nicht wieder anfienge, fuͤhrte ſie die Heinungen gleich in den anſtoßenden Saal, und ſetzte Allwilln ans Clavier. Die anderen Herren blieben bey ihren Diskurſen.

Allwill ſchlaͤgt treflich das Clavier, und ſingt mit viel Geſchmack und Ausdruck, ob - gleich er keine ſonderliche Stimme hat. Wir alle waren von der neuen Scene ganz entzuͤckt. Die Oper heißt Iphigenia; und die Anfangs - worte des Recitativs ſind: Chi reſiſter potria. Es iſt goͤttlich geſetzt, und die darauf folgende Arie: Ombra cara ch' intorno t' agiri, hat eine Fuͤlle und Majeſtaͤt, daß mich daͤuchte, ich waͤre noch nie von Muſik ſo erſchuͤttert und hingeriſſen worden. Nachher bat die Heinun - gen, ich moͤchte die wunderſchoͤne Arie von Jo - melli: Se cerca, ſe dice, fingen. Der En - thuſiasmus, worin ich war, half mir, daß ich ſie vorzuͤglich gut heraus brachte. Allwill frag - te, ob mir die viel aͤltere, ſehr einfache Com -K 5154poſition eben dieſer Arie von Pergoleſe be - kannt ſey. Ich hatte nie davon gehoͤrt. Er wußte ſie auswendig, ſetzte ſich ans Clavier, und ließ ſie uns hoͤren. Als muſikaliſches Kunſtwerk fiel dieſe Compoſition gegen die Jo - melliſche gewaltig ab. Dagegen uͤbertraf ſie dieſe, nach meinem Gefuͤhl, in demſelben Maaße an Richtigkeit des Ausdrucks, an In - nigkeit und hoher Abſicht. Beſonders fand ich die Toͤne und ihre Bewegung zu den Worten: che abiſſo di pene , ſo unuͤbertreflich ge - waͤhlt, daß jeder Verſuch, es beſſer zu machen, mißlingen muͤßte, und ſelbſt die heilige Caͤcilia im Himmel, wenn ſie ſich dergleichen koͤnnte einfallen laſſen, damit zu Hauſe bleiben ſollte. Allwill hatte große Freude an meinem Eifer, und plagte ſich nun, uns noch zwey andere Compoſitionen eben dieſer Arie von großen Mei - ſtern vorzutragen. Er brachte ſie heraus, und beyde machten uns ungemeine Freude; aber was ich von Pergoleſe geſagt hatte, dabey bliebs, mit Allwills vollkommener Beyſtim - mung.

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Ich weiß kaum etwas angenehmeres, als die Geſpraͤche, worin man zufaͤllig beym Aus - ruhen am Clavier geraͤth; denn es iſt faſt un - moͤglich dann auf andere, als ſehr intereſſante Gegenſtaͤnde zu kommen, und fuͤr ihre Behand - lung in einer beſſeren Stimmung zu ſeyn. Alles legt ſich, wie von ſelbſt, auseinander und wie - der zurecht

Da hoͤre ich Clerdons Wagen in den Hof rollen! Nun wird man gleich zu Tiſche rufen. Heute Abend, es komme was will, ſchreibe ich meinen Brief zu Ende.

Clerdon und Amalia, die Armen, ſind auf einem großen Schmauſe bey dem Praͤſidenten von S *. Ohne viele Muͤhe erhielt ich die Erlaubniß, zu Hauſe bey den Kindern zu blei - ben. Dieſe ſind nun zu Bette, und ich will eilen, damit auch ich nach gethaner Arbeit ru - hen koͤnne. Gewiß hatte Sancho Panſa ſo156 unrecht nicht, daß er ſich den als einen großen Mann lobte, der das Schlafen erfunden haͤtte.

Wir ſitzen alſo beym Clavier; Allwill da - vor, ich daneben, und dicht an mir Albertine, die ſich um meinen Arm geſchlungen hatte. Amalia war mit der Heinungen nach dem Ca - napee gegangen.

Ich weiß nicht, ſagte Allwill, indem er ſich gegen mich wendete, und, melodramatiſch, noch einige Accorde griff, ob ich es Ihnen entdecken oder verſchweigen ſoll?

Nun that er noch einige lebhafte Griffe auf dem Claviere, als wenn er, feſtgehalten von den Saiten, ſich losreiſſen muͤßte; ruͤckte dar - auf ſeinen Stuhl ein wenig auf die Seite, legte die Haͤnde zuſammen, und fuhr fort.

Helfen Sie mir zurecht! Ich will es gern.

Das iſt mir geſchehen unter dem Singen157 und Spielen, daß mir unſere gute Sache wider Onkel Clerdon verdaͤchtig wurde, und es mir ſchwer aufs Herz fiel, daß ich vielleicht zum Feinde uͤbergehen, und das wackere Cuſinchen im Stiche laſſen muͤßte.

Rufen Sie ſich die verſchiedenen Namen, welche wir dem, was wir hoͤrten, gaben, ins Gedaͤchtniß zuruͤck; wir nannten es ſchoͤn, ruͤhrend, erhaben, majeſtaͤtiſch, himm - liſch, Goͤttlich; und keiner von uns meinte damit wohl etwas, was ſich von den Saiten des Inſtruments abloͤſte, und ihm vor den Ohren klaͤnge, ſondern die Empfindungen in ſeiner eigenen Bruſt; Empfindun - gen, welche nicht durch jedes Ohr in jede Bruſt mit denſelben Toͤnen kommen; die wir alſo ſelbſt erzeugten, und die in keinem ganz dieſelben waren. Hieruͤber werden wir ohn - gefaͤhr einig ſeyn.

Aber nun, was die Toͤne ſelbſt, als bloße Toͤne, angeht!

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Clavier und Stimme hoͤrten wir wirklich. Dazu kamen, in der Vorſtellung, die Flau - ten, Geigen und Hoͤrner, welche wir in der Partitur laſen; und Ihnen brauche ich nicht zu ſagen, welche Wirkung dieſe Begleitung auf unſere Einbildungskraft machte. Neh - men Sie fuͤr einen Augenblick an, alle dieſe Inſtrumente waͤren gegenwaͤrtig geweſen; und hernach denken Sie das menſchliche Ohr ſich weg: was bleibt? Nichts, als eine ſo oder anders erſchuͤtterte Luft; kein Flauten - Hoͤr - ner - Geigen - oder Clavier-Ton. Alle dieſe verſchiedenen Toͤne ſind allein in Ihrem Ohr; und ihre mannichfaltigen Erſcheinungen loͤſen ſich in ein reines Vermoͤgen zu hoͤren, als ihre erſte Quelle, den Grund ihrer Moͤg - lichkeit, auf. Wir werden alſo durchs Gehoͤr, wenn wir etwas anders, als das bloſſe Hoͤren ſelbſt, dadurch gewahr werden, ein bloſſes Nicht-Nichts gewahr; denn der Ton iſt offenbar ganz und allein in uns, und bezeich - net nur eine Modification unſeres reinen Ver - moͤgens zu hoͤren, zu welchem Etwas, ein159 Nicht-Nichts hinzukommt. So entſteht ein Hoͤrender und ein Gehoͤrtes, die beyde uͤbrigens in unſerer Vorſtellung ein bloßes Nicht-Nichts ſind. Verfolgen Sie dieſe Betrachtungen, und ſagen Sie mir, ob wir nicht dem Onkel, wenn er ſich gehoͤrig damit bewafnete, wuͤrden unterliegen muͤſſen?

Wenn Sie, antwortete ich, unter dem Worte gehoͤrig nicht etwas noch ganz beſon - deres verſtehen, ſo hat Clerdon in dieſer Ruͤ - ſtung ſchon vor mir, und auch vor Ihnen ge - ſtanden; und ich kann nicht finden, wo das Eigene darin iſt, welches Ihnen ſo ploͤtzlich allen Muth zu Ihren kurz zuvor noch mit Gluͤck verſuchten Waffen benommen hat. Was Sie von den verſchiedenen Inſtrumenten in Bezie - hung auf das reine Hoͤren ſagten; eben das laͤßt ſich von den verſchiedenen Sinnen in Be - ziehung auf den gemeinſchaftlichen inneren Sinn behaupten; ſo, daß, wie allem wirklichen Se - hen ein reines Sehen von Nichts; al - lem wirklichen Hoͤren ein reines Hoͤren von160 Nichts u. ſ. w. zum Grunde laͤge: allem Em - pfinden uͤberhaupt auch ein reines Empfin - den von Nichts zum Grunde liegen muͤßte, und es ſich am Ende zeigen wuͤrde, daß die Wurzel, die tiefſte eigentlichſte Wur - zel des Lebens, ein bloßer leerer Raum der Empfindung, ein Bewußtſeyn ohne Bewußt - ſeyn, ein reines Vermoͤgen zu leben, von und zu Nichts waͤre.

Allwill laͤchelte. Ich erzaͤhlte ihm jetzt noch von einem ungedruckten Aufſatze, den ich ein - mal fuͤr Clerdon abgeſchrieben, und wovon ich, mit ſeiner Bewilligung, auch fuͤr mich eine Ab - ſchrift genommen haͤtte. Aus dieſem Aufſatze fuͤhrte ich ihm folgende Stellen, die ich aus - wendig wußte, an.

Unſere Vernunft iſt jenem blinden Theba - niſchen Wahrſager, Tireſias, aͤhnlich, dem ſeine Tochter, Manto, den Flug der Voͤgel beſchrieb: er prophezeyte aus ihren Nachrichten.

.... Unſere Gedanken ſind nichts alsFrag -161Fragmente. Unſer Wiſſen iſt Stuͤckwerk. Die ſichtbare Welt muß dem zum Himmel erſchaf - fenen Geiſte eine Wuͤſte ſcheinen, aͤhnlich jener Wuͤſte, worin ſich fuͤr Tauſende, welche der Hunger verzehrte, nur fuͤnf Brodte und zwey Fiſche fanden. Aber die Brodte, die uns Gott auftraͤgt, moͤgen noch ſo kuͤmmerlich ausſehen, die Fiſche noch ſo klein ſeyn; ſie ſind geſegnet: wir mit ihnen ſind geſegnet von einem allmaͤch - tigen, wunderthaͤtigen, Geheimnißvollen Gott.

.... Iſt es nicht unſer Geiſt ſelbſt, der uͤber ſeine Entfernung vom Wahren und Weſentlichen klagt; durch dieſe Klage ſeinen hohen Urſprung verraͤth; ſelbſt ein Zeichen da - von giebt, dadurch, daß er ſich als einen Schoͤpfer uͤber die ſinnlichen Eindruͤcke er - hebt, daß er ſie fruchtbar macht, ſie zu einem Geruͤſte fuͤgt und baut, um den Himmel zu erſteigen, oder ſich Goͤtzen ſchafft, fuͤr die er Ziegel brennt und Stoppeln zuſammenſucht.

.... Jene philoſophiſche Neugierde,L162die ſich uͤber Daſeyn und Urſprung des Unvoll - kommenen, Nichtigen und Boͤſen beunruhiget und wundert: ſollte ſie nicht fuͤr ein dunkles Bewußtſeyn des Goͤttlichen Ebenbildes in un - ſerer Vernunft gehalten werden duͤrfen? .... Niemand iſt gut, als der Einige Gott! Anſtatt alſo zu fragen: wo kommt das Unvoll - kommene, Nichtige und Boͤſe her? ſollten wir die Frage vielmehr umkehren, und uns wun - dern, daß endliche Geſchoͤpfe faͤhig ſind, nach Wahrheit zu fragen, das Gute ſich ſelbſt zu gebieten, und auf Gluͤckſeligkeit Anſpruch zu machen?

Alle Erſcheinungen der Natur ſind Traͤu - me, Geſichte, Raͤthſel, die ihre Bedeu - tung, ihren geheimen Sinn haben. Das Buch der Natur und der Geſchichte ſind nichts als Schiffern, verborgene Zeichen, die einen Schluͤſſel fodern, welchen auch diejenigen, die eine Offenbarung glauben, zu derſelben Aus - legung beduͤrfen, und welcher ſelbſt die Ab - ſicht, die einzige Abſicht einer Offenba -163 rung, und der Beweiß ihrer Eingebung ſeyn koͤnnte. (*)Der Herausgeber iſt im Beſitze der Hand - ſchrift, woraus dieſe Stellen gezogen ſind. Sie iſt uͤberſchrieben: London, den 16ten May 1758. Ein Fragment von anderthalb Bogen, voller Luͤcken. Aber ſo wie es iſt, ſoll es dem Publikum, mit andern Fragmenten, einſt mitgetheilt werden.

Allwills ſtille Aufmerkſamkeit, ſeine ganze Geberde, die den Ausdruck hatte, als moͤchte er ſich gern verbergen, um mein Gedaͤchtniß nicht zu ſtoͤren; die einzelnen Worte, womit er die kleinen Pauſen, wenn ich mich von ei - ner Stelle zur andern beſann, ausfuͤllte: das alles war ſehr gut. Am beſten war ſein Auge, aus dem ſich eine Heiterkeit ergoß, die ſein Geſicht uͤberall wie durchſichtig machte, und eine wirklich ſchoͤne, ich moͤchte ſagen from - me Seele, die ſich nicht verbergenL 2164konnte, ſehen ließ; an eye full of gentle ſalutations and ſoft reſponſes. Es war aber nicht gut, daß er zuletzt mit ſeinen beyden Haͤnden ploͤtzlich meine Hand er - griff, und mit einer Lebhaftigkeit ſie kuͤßte, daß ich davon erſchrack, und mich die Furcht anwandelte, ich moͤchte blaß geworden ſeyn, und nun ſaͤhe das Allwill. Aber er hat nichts geſehen; dafuͤr ſtehe ich Dir.

Das iſt es, ſagte er, daß der Urheber der Welt nur nach ſeinem Bilde ſchaffen konnte, und jedem Weſen ſo viel Wahrheit geben mußte, als er ihm Leben ertheilte.

Wir ſcheinen ein Hauch, oft nur der Schatten eines Hauches zu ſeyn; oder wie ein alter Dichter ſich ausdruͤckte: eines Schattens Traum. Aber ein Weſen, das nichts als Schatten; ein Weſen, das lauter Traum waͤre, iſt ein Unding. Wir ſind, wir leben, und es iſt unmoͤglich, daß es eine Art des Lebens und des Daſeyns gebe, die nicht eine Art des Lebens und Daſeyns des165 hoͤchſten Weſens ſelbſt waͤre. Toͤne, Farben, und was alles wir noch ſonſt, als bloßes Sinnenſpiel und weſenloſe Taͤuſchungen betrachten moͤgen, wird einmal als Anſchauung des Wahren aus einem groͤßeren Zuſammen - hange neu hervorgehen, und den Grund des Mißverſtandes uns erkennen laſſen, der uns ſo unſaͤglich geneigt machte, in das Buch der Natur einen beſſeren Sinn immer nur hinein radieren zu wollen(*)Dieſe letzten Worte ſcheinen auf eine Stelle des Triſtram Shandy Th. III. C. 37. an - zuſpielen..

Wir wurden durch die Botſchaft: das Nachteſſen ſey aufgetragen, unterbrochen. All - will fragte mich noch beym Aufſtehen vom Clavier: ob ich mit Plato bekannt ſey? Weiter nicht, ſagte ich, als durch das, was Clerdon uns von Zeit zu Zeit daraus erzaͤhlt haͤtte. So wuͤßte ich, z. B. daß die Seele Fluͤgel haͤtte und wieder bekommen koͤnnte. L 3166 Mit dem Geſpraͤche, worin dies vorkommt, ſind Sie nicht naͤher bekannt? Nein! Auch nicht mit dem Jon? Nein! Mit Theages? Nein!

Allwill ſuchte, wie er beym Nachteſſen ne - ben mich zu ſitzen kaͤme. Das mißlang, und ich ſah es gern mißlingen. Warum ich es gern mißlingen ſah? Aus mehreren Ur - ſachen, liebe Sylli! Aber ich will Dir nur gleich die ſchlimmſte offenherzig beichten, damit Du nicht glaubſt, ich wollte Dir, oder gar mir ſelbſt etwas verheimlichen. Ja, beſte Sylli, ich war Allwilln an dieſem Abend ſehr gut geworden; ganz anders gut, als ich es bis dahin geweſen war: und das haͤtte mich auch weiter nicht geſtoͤrt, wenn ich nicht ſo ſon - derbar erſchrocken waͤre, da er mir die Hand kuͤßte. Von dem Augenblicke an war ich ver - legen, und aͤrgerte mich, daß ich es war. Das ſollte wohl vergehen, dachte ich, wenn wir nur erſt vom Claviere weg, und wieder zu der uͤbrigen Geſellſchaft kaͤmen; und das167 haͤtte gewiß auch nicht gefehlt, waͤre nicht Allwills ſichtbare Begierde, bey Tiſche neben mir zu ſitzen, dazwiſchen gekommen. Mir wurde bange, alle ſaͤhen es; und konnte doch nicht dawider, daß es mich freute. Alſo neuer Aerger, und noch mehr neue Ver - legenheit. Wenn Dir das Angſt macht, liebe Sylli, ſo kann ich nicht dafuͤr. Und ich muß Dir noch mehr entdecken: dieſes nehmlich, daß ich mir unmoͤglich vorſtellen kann, und es auch nicht will, daß es mit Allwill ſo arg ſey, als Du es machſt. Was ſoll denn einen Menſchen gut machen, wenn nicht das, was Allwill in ſo reichem Maaße in ſich traͤgt? Des Guten und Schoͤnen in ihm iſt zu viel, als daß es nicht dem Boͤſen Meiſter werden ſollte. Wenn auch, wie Du verſicherſt, zu - gleich etwas ruchloſes in ihm iſt, ſo iſt es ihm angethan; es iſt nicht ſein Eigenes; und nie - mand wird froher ſeyn, als er ſelbſt, dieſen boͤſen Geiſt los zu werden. Um anders zu den - ken, muͤßte ich nicht dem armen Allwill allein; ich muͤßte der menſchlichen Natur gram wer -L 4168den; und welche Freude koͤnnte ich denn noch am Leben haben? Der bloße Gedanke ſchlaͤgt mich nieder, und macht mich wehmuͤthig Gute Nacht, Sylli! Gute Nacht, Du Liebe, liebe, liebe!

Ich war heute, nach dem Fruͤhſtuͤcke, wie - der herauf in mein Zimmer gegangen, um, was ich geſtern Abend geſchrieben hatte, zu uͤberleſen, und dann meinen Brief zu ſiegeln, als gleich darauf Clerdon und Amalia mir nachgeſprungen kamen; jener mit einem offe - nen Briefe in der Hand, den er mir vorhielt; dieſe, mit dem noch gefaltenen Einſchluſſe. Es waren Deine Briefe vom 18ten und 20ten. In demſelben Augenblicke ſtanden wir auch ſchon dicht beyſammen, um mit einander zuerſt den Brief an Clerdon zu leſen. Da fielen mir, als waͤren ſie mit anderer Dinte geſchrie - ben, gleich die Worte in die Augen: Claͤr - chen traf eine Saite, die bebte lan - ge! Du kannſt Dir vorſtellen, wie das169 auf mich zuruͤck wirkte. Und was nun folgte; und weiter, weiter bis ans Ende. Mir daͤuchte, ich waͤre in meinem Leben ſo nicht erſchuͤttert worden. Und doch ergriff mich der melancholiſche Geſang in dem Briefe an Ama - lia noch mehr. Daſſelbe wiederfuhr Amalien und auch Clerdon.

Ach, die liebe Meli! Du haͤtteſt ſie ſehen, ſie hoͤren ſollen! Wie ich da wieder fuͤhlte, daß ich neben ihr doch ſo gar Nichts bin. In allem iſt ſie ſo ganz, mit Sinnen Herz und Geiſt; und herrſcht wieder uͤber alles, man weiß nicht durch welche Kraft. Mir konnte Gott kein groͤßeres Zeichen geben, als ich eins an dieſem wunderbaren Weibe habe.

Und nun begreife, warum mein Brief ſo zerknittert ausſieht. Nachdem wir Deine Briefe geleſen hatten, und waͤhrend wir daruͤber ſpra - chen, ſchien es mir unertraͤglich, mein Ge - ſchreibe an Dich abzuſchicken. Es uͤberkam mich ein ſolcher Ekel und Verdruß an dem Ge - ſchwaͤtze, daß ich die Bogen, die gerade auf demL 5170Tiſche lagen, zuſammenknuͤllte, um ſie hernach ins Feuer zu werfen. Clerdon riß ſie mir aus der Hand, und hat mich uͤber Tiſche, nicht blos beredet, ſondern mir durch Amalia befehlen laſſen, ſie Dir zu ſchicken.

Kurz vor Tiſche kam ein Brief an mich von Allwill, der mich verlegen macht. Amalia iſt daran, ihn abzuſchreiben, damit ich ihn beyle - ge. Sie und Clerdon wuͤnſchen es. Du wirſt fragen, was Clerdon zu dem Briefe geſagt habe? Er laͤchelte beym Leſen mit einer etwas be - denklichen Miene, und ſagte hernach: Da muͤſſen wir doch zuſehen. Cuſinchen, nimm Dich in Acht! Ja wohl; Cu - ſinchen, nimm Dich in Acht! Nicht wahr?

Amalia laͤßt Dir, unter tauſend Gruͤßen, ſagen, was Du jetzt gewiß ſchon weißt; daß ſie Dir den 20ten geſchrieben hat.

171

XVI. Allwill an Claͤre.

Verzeihen Sie, meine liebenswuͤrdige Cuſi - ne zuerſt dieſe etwas vertraulichere Anrede, wegen der mich Clerdon, den ich Onkel nen - nen darf, entſchuldigen mag; verzeihen Sie, holde Claͤre, wenn ich Ihnen bringe, was Sie nicht gefodert haben. Es iſt der Ver - ſuch eines Schuͤlers, der von ſeinem Meiſter gern erfahren moͤchte, ob er ihn genug verſtan - den hat, und der, von Schuͤchternheit und Ei - telkeit in gleichem Maaße geaͤngſtigt, gern einen Dritten ins Spiel bringt, mit dem er ſich decken, oder hinter den er ſich verbergen koͤnne.

Sokrates, der Jugendfreund, ſoll mich vertreten; ſoll mich unter ſeine Fluͤgel nehmen.

Zu dieſem kam ein Juͤngling, mit Namen172 Theages, gluͤhend von Begierde, in ſeinem Umgange Weisheit zu lernen.

Um ihn zu pruͤfen, that der Mann mit dem Genius ſeinem Verlangen Widerſtand. Er rieth ihm, ſich an einen unter den vielen be - ruͤhmten Maͤnnern zu wenden, welche den Vortheil in ihrer eigenen Gewalt haͤtten, womit ſie andern Menſchen fortzuhelfen wuͤßten; und nicht wie er einem Genius, ohne den er nichts ver - moͤchte, unterworfen waͤren.

Des Sokrates Widerſtand machte den Juͤng - ling traurig. Ach, ſagte er zu ſeinem Vater Demodokus, in deſſen Begleitung er gekom - men war, und der fuͤr ihn das Wort fuͤhrte: Sokrates treibt nur ſein Spiel mit uns, indem er dieſe Dinge redet; denn ich kenne einige, die mit mir entweder gleiches Alters, oder auch noch etwas aͤlter ſind als ich, welche, ehe ſie mit dieſem Umgang hatten, nichts taugende Leute waren; nachdem ſie aber in ſeine Geſellſchaft173 gekommen ſind, ſo ſind ſie in ſehr kurzer Zeit viel beſſer geworden, als alle diejenigen, die ſonſt beſſer waren, als ſie.

Dieſes laͤugnete Sokrates nicht, ſondern verſicherte nur, es duͤrfe ihm, ſeiner Kunſt und gutem Willen dieſer gluͤckliche Erfolg nicht bey - gemeſſen werden. Er ſelbſt habe bey Einem dieſer Juͤnglinge, der ein Enkel des Ariſtides geweſen, ſich erkundigt, wie es zugegangen ſey, daß er ſo großen Vortheil aus ſeinem Umgange gezogen, da er ihn doch nie etwas gelehrt habe, und darauf folgende Antwort erhalten: Wie du ſelbſt ſagſt, o Sokrates, haſt du eigent - lich mich nie etwas gelehrt; aber ich nahm zu, ſo oft ich bey dir war, auch wenn ich nur in demſelben Hauſe mit dir lebte, ohne in Einem Gemache mit dir zu ſeyn. War ich aber mit dir in demſelben Gemach, ſo daͤuchte mir, ich gewoͤnne noch mehr. Waͤhrend du redeteſt, gewann ich vielmehr, wenn ich dich anſehen, als wenn ich dich nicht anſehen konn - te. Am allermeiſten aber und aufs hoͤchſte174 nahm ich zu, wenn ich neben dir ſaß, ſo daß wir einander beruͤhrten.

Holde Claͤre! der Sinn dieſer Worte uͤbernahm mich in dem Augenblick, da ich vor - geſtern, wie ein Begeiſterter, Ihre Hand er - griff, um meinem Dank einen Ausdruck zu ver - ſchaffen, und mit groͤßerem Danke mein Herz von neuem und auf immer zu erfuͤllen.

Sokrates gab dem flehenden Juͤngling, den ſein Vater unterſtuͤtzte, endlich nach.

Wir muͤſſen alſo, ſagte Theages, uͤber unſern Umgang den Willen des Daͤmons er - forſchen; und wenn er ſich uns ſogleich nicht guͤnſtig zeigen ſollte, das Goͤttliche, was dir beywohnt, durch Gebet und Opfer und jedes fromme Mittel zu gewinnen trachten. Nun denn, ſagte Sokrates zuletzt, wenn es euch ſcheint, daß wir es ſo machen muͤſſen, ſo wollen wir es ſo machen.

175

Gluͤcklicher Theages, dem die gute Vorbe - deutung ſeines Namens: Eines von Gott geleiteten, Wahrheit und Erfuͤllung wurde!

Von noch einem Juͤnglinge erzaͤhlt Plato, der hieß Phaͤdrus.

Dieſer Phaͤdrus war der Schuͤler und Liebling eines redſeligen Weiſen, mit Na - men Lyſias; und Sokrates fand ihn eines Tages in der vollen Bewunderung einer kuͤrz - lich von ſeinem Freunde und Lehrer gehaltenen Rede, worin von der begeiſternden Liebe des Schoͤnen lauter Boͤſes; von der nicht begeiſternden Liebe des Vortheilhaften lauter Gutes geſagt wurde.

Sokrates noͤthigte den Phaͤdrus, ihm die Rede vorzuleſen, und fand, nicht allein die Weisheit, ſondern auch die Kunſt des be - ruͤhmten Mannes ſeicht.

Es laufe beym Lyſias, bemerkte Sokrates,176 alles darauf hinaus, daß der Klugheit der Vorzug vor der Unbeſonnenheit gebuͤhre. Da mit dem Schoͤnen, ſage Lyſias, das Ange - nehme ſo nahe verwandt ſey, daß ſie uͤberall gemeine Sache mit einander machten; das An - genehme aber leicht dem Vortheilhaften vorge - zogen werde: ſo faͤnde ſich zuletzt, wenn man, was der Begierde und was der Vernunft zugehoͤre, richtig unterſchiede, daß ſich die Liebe des Schoͤnen zur Liebe des Nuͤtzlichen verhalte, wie das Laſter zur Tugend; wie zum Zuſtande der Beſonnenheit der Zuſtand der Raſe - rey.

Dieſe Seite, verſicherte Sokrates, koͤnne noch mehr hervorgezogen, ſchaͤrfer geſtellt, und dann mit beſſerem Erfolg, als es von Lyſias geſchehen ſey, das Ding der Ueberlegung uͤber das Ding der bloßen Empfindung erhoben, und die reine Sache des Buchſtabens wider die un - reine des Geiſtes vertheidigt werden.

Phaͤdrus zwang ihn zum Beweiſe; woraufSokra -177Sokrates ſich verhuͤllte, damit er nicht vor Schaam in ſeiner Rede ſtecken bliebe; alsdann zu reden anfieng, und ſein Wort wahr machte.

Nach geendigter Rede enthuͤllte ſich Sokra - tes, um, mit entbloͤßtem Angeſicht, durch ei - nen oͤffentlichen Widerruf den Gott der Liebe zu verſoͤhnen, den er, wider Willen, haͤtte laͤ - ſtern muͤſſen.

Ich kann es dem Lyſias zugeben, ſagte Sokrates, daß die Liebe des Schoͤnen, ihrer Natur nach, unbeſonnen, und, da ſie, in ih - rem hoͤchſten Grade, den Menſchen auſſer ſich ſetzt, eine Gattung der Raſerey ſey. Ich kann dieſes zugeben, ohne darum aufzu - hoͤren, dieſe maͤchtige Liebe, als das wahrhaft Goͤttliche im Menſchen anzubeten.

Was aller menſchlichen Beſonnenheit vor - hergeht; was ihr im Menſchen Moͤglichkeit und Daſeyn, Gegenſtaͤnde, Antrieb, Leitung und Geſetze giebt; iſt uͤber jede mittelbareM178Geſchaͤftigkeit und duͤrftige Nachhuͤlfe derſel - ben ſo weit erhaben, als die Spruͤche der Pythia zu Delphi uͤber das Waͤhnen von Zei - chendeutern aus Eingeweiden und Vo - gelflug.

Wenn der Gott in deiner Seele dir nicht wahr ſagte, ſo wuͤrdeſt du vergeb - lich auf Wahrheiten Dich beſinnen, uͤber Wahrheit etwas ausmachen wollen. Es kaͤme weder Beſinnung noch Beſonnenheit in dir zum Vorſchein.

Was der Menſch fuͤr ſich allein erſinnen kann, iſt leere Muthmaßung und Meinung, wodurch er ſchaͤdlicher, als durch den Trieb der Luſt, mißleitet wird; alle ſeine Verrich - tungen aus ſich allein ſind ohne Kraft und Wuͤrde. Siehe jenen Thoren, der ohne die unmittelbare Begeiſterung der Muſen ſich dem Tempel der Dichtkunſt naht, in der Meinung, es ſey an der bloßen Kunſt genug. Er wird als ein Todter unter Lebendige kommen, und179 ſein Dichten, als eines blos Vernuͤnftigen, wird gegen die befluͤgelten Spruͤche des Be - geiſterten wie nichts ſeyn. Siehe jenen an - dern, der auf menſchliche Beſonnenheit ge - gruͤndet, blos ſterbliche und kaͤrgliche Vortheile und Dienſtleiſtungen zur Abſicht hat; er wu - chert mit lauter unedlen Geſinnungen; hat und erzeugt keine Tugend, obgleich der ge - meine Haufen ihm das Lob der Weisheit und der Tugend ohne Maaß ertheilt, und hinge - gen den von Gott begeiſterten, der nur, in dem was Goͤttlich iſt, zu leben ſtrebt, und, im Verlangen nach dieſem Hoͤheren alles Ir - diſche zu klein findet, als einen Schwaͤrmer, als einen Unſinnigen und Raſenden ver - ſpottet.

Worte koͤnnen nur an ſchon bekanntes erinnern; und alles iſt todtes Wort und ſinn - loſer Buchſtabe, ohne den Geiſt der Deu - tung, der in unmittelbarer Anſchauung und Erkenntniß ſein Weſen hat, und der alleinige Geiſt der Wahrheit iſt: unzuverlaͤßig denM 2180Rohen; den Weiſen aber ſicher und gewiß. *) Unzuverlaͤßig den Rohen. Im Griechi - ſchen (Tom. III. p. 245. c. Ed. Bipont. X. p. 318.) ſteht δεινος, welches Ficinus hier contentioſus, und im Jon, wo es haͤufig vorkommt, peritus (Tom. I. p. 532. a. Ed. Bipont. IV. p. 182.) uͤberſetzt. Kleuker hat wie Allwill, oder dieſer wie jener uͤber - ſetzt, welches dem Herausgeber fuͤr ſeinen Freund Kleuker nicht weniger lieb iſt, als fuͤr Allwill. Der Herausgeber, nachdem er mit Muͤhe und Verdruß die durch den ganzen Phaͤdrus zerſtreuten Stellen, worauf Allwill Bezug nimmt, zuſammengeleſen hat, wuͤrde noch ganz andre Dinge zu erinnern haben, wenn es der Muͤhe lohnte. So ſcheint Allwill ſogar ignoriert zu haben, daß es faſt ſtreitig iſt, ob die Griechen von Zei - chendeutern aus Eingeweiden wußten.

Edle Freundinn! laſſen Sie mich hoͤ - ren, ob ich, oder ob ich nicht mit meinem Plato auf dem rechten Wege bin?

181

Zum Beweiſe aber, daß ich den Weg, den ich fuͤr den rechten halte, nicht ſeit geſtern, der Begleitung wegen, erſt betrat, erhalten Sie hier, in betrauter Abſchrift, noch ein Selbſtgeſpraͤch von mir.

Ich verfiel in dieſes Selbſtgeſpraͤch am zwanzigſten May des vorigen Jahrs, im An - geſicht der herrlichen Linde auf meines Vaters Landhauſe, die Sie kennen.

Daß meine Urkunde nicht eine Erdichtung iſt, werden Sie mir auf mein Wort, wenig - ſtens auf einen Schwur bey jener Linde glauben.

Erquickendes Gruͤn, die lieblichſte Farbe im ſchoͤnſten Wechſel, tanzend und ſpielend mit dem Lichte, das iſt es Ja das, und wei - ter nichts, was deinen Blick an dieſe leiſewe -M 3182hende Lindenkrone heftet; was mit ſanftem Ent - zuͤcken deinen Buſen fuͤllt; in dir alle Regun - gen der Liebe weckt, und dich begeiſtert!

Das und weiter nichts? Jener Leben und Liebe erweckende Schein, eine Schrift oh - ne Sinn und Sprache? Davon klopfte mir ſo das Herz, draͤngte mich ſo mein Geiſt, heiterte ſich mein ganzes Weſen ſo; daß ich leere Zuͤge ohne Bedeutung anſchaute?

Stille! und naͤher hinzu!

O rede, ſuͤßes Farbenſpiel; rede und enthuͤlle mir deine Wahrheit; denn auch in dir muß Wahrheit ſeyn!

Du winkeſt mir aus deiner Herrlichkeit auf jene Blaͤtter im Erſtreben ihres hoͤchſten Da -183 ſeyns, wie ſie laͤngſt den ſaftvollen Aeſten in jugendlicher, kraftvollſter Geſtalt ſich bruͤſten Du winkeſt O, hoͤher ſchlaͤgt mir das Herz, froͤhlicher ſchwingt mein Geiſt ſeine Fluͤ - gel: Ich ſehe! Die ganze Fuͤlle, die ganze Kraft des Weſens da; das war es, was mich ergriff, mich durchdrang, ſich mir darſtellte, als ich erkannte und nicht wußte vor Entzuͤcken!

Wohl uns! So bringt die Natur ihren ge - ſammten Inhalt dem Menſchen ans Herz, und unterrichtet ihn auf die lieblichſte Weiſe un - mittelbar. Warum verſtocken wir gegen ſie unſer Herz? Warum mißtrauen wir ihrer Weis - heit und Liebe? Warum wollen wir ihre Offen - barungen fuͤr Trug; ihre Anweiſungen fuͤr Fall - ſtricke; ihre hohe Regierung fuͤr den Taumel ei - nes Unſinnigen halten?

M 4184

XVII. Sylli an Clerdon(*)S. den XVten Brief am Ende. S. 168..

Ich habe Euren lieben ſchoͤnen Brief aus Heimfeld(**)S. den VIIIten Brief.; will ihn beantworten, Euch dafuͤr danken, und kann nicht.

Tief geruͤhrt hat mich Euer Schreiben; es hat mich auch gefreut, gewiß recht ſehr gefreut; aber mich erfreuen, mich erwecken, das hat es nicht gekonnt. O, Ihr Lieben! daß ich mir dies geſtehen; Euch dies Bekenntniß ablegen muß!

Claͤrchen traf eine Saite, die bebte ſtark. Ja! was einmal ſo hell wach in mir geworden iſt, das laͤßt ſich nicht decken, viel weniger toͤdten.

185

Manchmal iſt mirs auf Augenblicke, als gaͤbe ſichs; wuͤrde ſich allmaͤhlich geben: und dann gleich ſitze ich wieder da, den Kopf in der Hand, und weiß mich nicht zu laſſen.

Glaubt mir, meine Lieben, Beſten! ich trage Euch im Herzen noch eben warm, wie es da herum auch oͤfter ſchaudern mag.

Lieber Clerdon, ich ſchaͤme mich, es Dir zu ſagen. Vor nenn Monaten, bald nach mei - nem letzten Beſuche bey Euch, ſchien es mir, als vergaͤßeſt Du mich ein wenig, naͤhmeſt weniger Antheil an mir; Deine Freude an mir wuͤrde alt. Amalia kam in Wochen und litte lang. Eben deswegen ſchrieben auch Lenore und Claͤrchen ſeltner und wenig. Du verſtumm - teſt beynah ganz. Ja, Lieber, Du verſaͤum - teſt mich, Du, der naͤchſte Anverwandte, der Blutsfreund meiner Leiden! Ich klagte nicht, ſondern verſank in Gruͤbeley. Dieſe und ein ſchreckhaftes Weſen blieben mir. M 5186Mir daͤuchte, es waͤre mir ein Licht uͤber den Zuſammenhang meiner Schickſale aufgegangen; ich fand ſie nicht mehr ſo auſſerordentlich ach! und es wurde ſo oͤde um mich herum; in mir ſo todt!

Es iſt entſetzlich, wie ich mich herunter ge - traͤumt habe, immer mehr und mehr, und deſto tiefer, je entfernter und dunkler mir der erſte Anlaß wurde.

Lieber! Was ich mir nicht verbergen kann: auch Wahres, viel Wahres iſt mir in meinen Traͤumen erſchienen. Dies Wahre kann ich mir, und will ich mir auch nicht wieder unwahr machen. Da nun heraus zu kommen wie? Das ſehe ich noch nicht; das aͤngſtigt mich!

Ich ſoll mich ſo gut ich kann zuſammenraf - fen, ſchriebſt Du neulich(*)S. den IIIten Brief.. Nein, Lieber! nur ſo gut ich kann, will ich mich nicht187 zuſammenraffen. Angegriffen im Mittelpunkte meines Weſens, muß mir aus dem Mittel - punkte meines Weſens Huͤlfe, volle Huͤlfe kommen. Sie wird kommen; Du ſagſt es; ich ſage es auch. Jeder merkwuͤrdige neue Zuſtand leitet zu neuem Rath, zu neuen Mit - teln. Wie oft iſt mir geweſen, ſo, daß ich glaubte, laut rufen zu muͤſſen: Hilf, Cler - don! Hilf! Aber ich mußte nicht, und rief nicht. Was waͤre es, wenn ich mich immer nur ſo halten ließe? Was wuͤrde mir? Keine beſtaͤndige feſte Huͤlfe wuͤrde mir. Die will ich, dahin will ich. Ich will durchkom - men wollen, wenn ich auch nicht durch - komme.

Einſt, vor Jahrhunderten, ließ ſich eine Stimme hoͤren vom Himmel: Siehe, er betet! Und dem Betenden fiel es von den Augen wie Schuppen!

Genug fuͤr heute. Morgen will ich verſu - chen, an Amalia zu ſchreiben, von der ich ei -188 nen ſo lieben lieben Brief vor dem Eurigen er - hielt(*)S. den VIIten Brief.. Und die gute, arme Luzie und mein Bruder, die ſo lange nichts von mir hoͤr - ten, und wohl ſehr bekuͤmmert daruͤber ſeyn moͤgen! Ihr Guten Alle! daß ich Euch ſo blos zum Herzeleid da ſeyn muß!

189

XVIII. Sylli an Amalia. (*)S. Seite 168.

Liebe! Treue! Ich haͤtte manches Dir vielleicht zu ſagen; aber nicht koͤnnen, oder nicht moͤgen? ich weiß ſelbſt nicht. Ich zeichnete heute fruͤh an einem Auge; unter - deſſen ſchrieb ich Dir viel in meinem Sinn. Auch ſo unten waͤhrend dem Mittagseſſen. Dennoch kommt ſchwerlich etwas davon auf dieſes Blatt. Ich ſtoͤrte wohl die meiſten da - mit, wenn ich von mir ſelbſt redete, hie und da bedeuten wollte. Was daraus werden wird, verſtehe ich ſelbſt noch nicht; aber, lie - be Frau, ich bin in ſehr geſchaͤftigem Weſen; es kommt vieles vor in meiner Einſamkeit, was mich in meinem Inneren recht emſig ſeyn laͤßt. Auch geſchieht es, daß ich die freyeſten Augenblicke genieße: aber die ſind ſo190 einzeln, ſo getrennt Ach, liebe Frau, das ſchwindet! Ich ſehe hin, und alles dreht vor meinen Augen. Wie iſt mir? O lie - be! Frage Du nicht; laß mich allein das fragen: Wie iſt mir? Aber das glaube, daß Deine Sylli durchkommt, es wird beſſer mit ihr. Auch Clerdon wird Dirs ſagen. Darum ſey getroſt, und ruhig, und ſtille.

Seit Montag iſt die S hier, und es ſchickt ſich zwiſchen uns beyden. Ihr wuͤrdet doch Eure Freude daran haben, wenn Ihr ſaͤhet, wie ich in Uebung komme, mit einer wirklich leichten Munterkeit allerhand Leute zu unterhalten und mich ihnen anzupaſſen. In der That habe ich es hierin ſchon weit ge - bracht. Nur muß ich mich nicht zu lange an - ſtrengen wollen. An meiner Einſamkeit han - ge ich mit Leidenſchaft. Den vertrauteſten Zu - tritt bey mir hat ſeit einiger Zeit Mon - taigne. Ich lebe mit ihm, wie mit einem Lebendigen. Der Mann iſt mir ſo recht; er ſtillt mein Gemuͤth, indem er mich Vertraͤg -191 lichkeit lehrt. Die verſteht er ſo gut; und die ſoll auch in mir wunderbar aufkommen. Nur daß ich fuͤr dies Gute nicht ein Beſſeres daran gebe, und mich an mir ſelbſt verkuͤrze: davor will ich mich huͤten! Ja wohl!

Wie danke ich Dir genug, Du liebe, fuͤr die fortgeſetzte große Wohlthat Deiner Briefe? Dein juͤngſter(*)Der VIIte dieſer Sammlung. wie er mich erquickt hat! Du weißt ſo ganz, was mir dient, was ich bedarf. So wie Du nur von weitem die Hand nach mir ausſtreckſt, fuͤhle ich mich ſchon auf - gerichtet? Und was haſt Du nicht alles von jeher mir gethan? Giebt es eine Liebe, die mir nicht durch Dich erwieſen, dargethan waͤre durch Dich? Und was habe ich nicht an dieſen Erinnerungen allein? Waͤren meine Empfindungen freyer, als ſie es gegen - waͤrtig ſind; dann koͤnnte ich mich der Liebe, die ich zu Dir habe, noch beſſer freuen! Du biſt ſo wahrhaft gut!

192

Und, liebe Amalia, Du biſt auch gluͤck - lich! Erſt vor einer Stunde ſtimmte Mon - taigne mir darin noch bey, daß Du Amalia, ſo wie Du biſt, einzig am beſten geſchaffen und gebildet wurdeſt, um gluͤcklich zu ſeyn, und andre gluͤcklich zu machen. Darum bitte und beſchwoͤre ich dich, daß du Dich ſorgfaͤl - tig erhalten moͤgeſt in Deinem Weſen; blei - ben moͤgeſt ganz ſo wie Du biſt, und abweh - reſt jede, auch die mindeſte Aenderung, die ſich koͤnnte an Dich machen wollen.

Ich wurde geſtern auf eine ſehr unange - nehme Weiſe im Schreiben unterbrochen. G. und S., Freunde, wie ſie heißen, von Gierigſtein,(*)S. den XIIten Brief. S. 112. wurden mir gemeldet. Dieſe Gierigſteiniſchen ſind ſo ſachtſinnig, thun ſo gemach, haben eine ſo milde freundliche Rede von lauter Vernunft, Billigkeit undRecht,193Recht, daß mir allemal wird, wenn ich ſie bey mir habe, als riſſe man mir die Zaͤh - ne aus.

Ich habe dennoch gut geſchlafen, und bin jetzt eine Stunde in meinem Zimmer auf und ab gegangen, meinen Montaigne in der Hand. Bombacino begleitete mich, ſpielte und zerrte an meinem Rocke; gieng und blieb ſtehen, ſo wie ich gieng oder ſtehen blieb. Jetzt iſt er um meine Fuͤße herum, und macht ſich mit meinem Pantoffel zu ſchaffen. Lange habe ich das Thierchen nicht ſo um - gaͤnglich geſehen. Warte, du ſollſt auch was haben. Da, Bombacino! Es ſind gebackene Mandeln, welche die Juſtitzraͤthinn Melbert mir am Sonnabend gab. Da der haͤßliche Gierigſtein mich verlaſſen hatte, und meine Stimmung mir unleidlich war, gieng ich zu der wackern Frau, die uns noch etwas ver - wandt iſt, und es ſo gern hoͤrt, wenn ich ſie Tante nenne. Ich nahm kleine Geſchenke fuͤr ihre Toͤchter mit. Der alte Juſtitzrath er -N194ſchien auch. Alle waren ſo freundlich, ſo gut; und da gab die Tante nachher dem Bedien - ten noch ein Koͤrbchen Gebackenes fuͤr mich mit. Ich blieb bis acht Uhr, und verweilte gern. Alles iſt ſo aufgedeckt bey dieſen Leu - ten; man kann nicht ſagen, daß ſie offen - herzig ſind denn da iſt nichts, das ſich moͤchte verbergen wollen aber treuherzig ſind ſie. Ich konnte da ſo anſtreichen mit meinen Gefuͤhlen; mir wurde vertraulich und wohl.

Ich habe eine Zeit her auch viel mit ei - ner Kranken zu thun gehabt. Die Wald - beck Du wirſt Dich ihrer und ihres recht - ſchaffenen Mannes, und der Schaar wohlge - zogener Kinder in dem Hauſe noch erinnern die lag am Tode. Es half dieſen ſchwer Bekuͤmmerten ſehr, daß ſie mich unter ſich hatten. Wie ſie mir halfen, das ahndete kei - nem. Es iſt ſo ſuͤß in dergleichen Theilneh - mung hineingezogen zu werden; ſo ſuͤß, das willige Werkzeug zu ſeyn, hinter welchem Gott oder ein Engel ſich verbirgt.

195

Die Waldbeck geneſt. Und ſoll ich es Dir ſagen, liebe Amalia, wie mir nun von dem allen iſt? Sieh, die Nahrung, die ich mir ſo, hie und da, hole mein Herz, das da drauſſen etwas, wie von Liebe und Freund - ſchaft, ſeinem eigenſten Weſen, ergreift; es ergreifts ohne Macht und Gewalt, es zu dem ſeinigen zu machen; es kann es nicht vereini - gen mit ſeinem Weſen; es gedeiht ihm nicht. Groͤßeres Unbehagen folgt. Ich frage mich: Was ich will? was ich nicht will? Was ſeyn ſoll, kann, iſt? Und da ichs nicht ins Reine zu bringen weiß, moͤchte ich oft alles nur noch mehr und aͤrger durcheinander gewirrt ſehen.

Hier habe ich lange inne gehalten; ver - ließ endlich meinen Schreibtiſch; kleidete mich an, und gieng zu Tiſche. Nun iſts Abend. Eben ſah ich von dem heute beſtaͤndig mit Regenſtuͤrmen abwechſelnden Sonnenſchem den Glanz des Untergangs, des Abſchieds. DortN 2196uͤber dem Landſchaͤftchen wars, das man jen - ſeits der Donau aus meinem Fenſter erblickt. Es gab die ſonderbarſten Hellungen und Licht - wechſel. Schoͤn, ſehr ſchoͤn war es, und feyerlich und ruͤhrend.

Ich ſtand allein da, liebe Amalia Sylli ſtand da allein! Ich kann erſchrecken, wie vor einer Geiſtererſcheinung, wenn ich mich unverſehens ſo allein finde: ſo ganz allein!

Heute Morgen, wie ich ſo in meinem Zimmer auf und niedergieng, und ich hin - blickte, oͤfter hinblickte auf die Antigone, die Clerdon zu meinem Geburtstage fuͤr mich uͤberſetzte, und ſeine andere Ueberſetzung, mir zu Liebe, von Xenophons Gaſtmahl dieſe zwey Hefte, die mir da immer muͤſſen liegen bleiben an der angewieſenen Stelle auf dem Seſſel neben meinem Schreibtiſche, und ſie einnehmen, als waͤre es etwas Liebes, das Leib und Seele haͤtte, und das ich ſo gern197 dieſen Platz da einnehmen ſaͤhe wie das immer wiederkam, mich ſtaͤrker bewegte, faſt Erſcheinung wurde empoͤrte michs zuletzt; ich gab mir Verweiſe, ernſtliche Verweiſe, die mich zum Weinen brachten

So iſt es! So, daß unter allen den Be - klemmungen, die ich erfahre, mein Herz nur immer regſamer, an ſich ziehender, ſehnender und ſtrebender wird. Jeder Tropfen Blut in mir ſcheint ſeine Bewegung nur davon zu haben, daß meine Seele dieſes da, gerade dieſes jetzt anſchaut; es ſo anſchaut, gerade ſo, daß dieſe Empfindung, dieſe und keine andere daraus entſpringt; dieſe Empfindung, die lebendige, ſetzt allein mein Herz in Be - wegung; davon ſchlaͤgt es; es ſchluͤge ſonſt nicht; mein Blut, es wallt in meinen Adern nur von dieſen Schlaͤgen, ſtockte oh - ne ſie; denn anderes Leben iſt nicht mehr in mir.

Ich ſchreibe bald wieder, liebe Amalia! Claͤrchen, Lenore, Deine Kinder, wie ſieN 3198vor Dich kommen, herze ſie in meine Seele. Der kleine Edmund wird doch auch ſchon von einer Sylli gehoͤrt haben, von Deiner Sylli! Lebe wohl, Du liebe Einzige!

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XIX. Sylli an Amalia.

Liebe Amalia!

Ich kam heute Abend um neun Uhr von der guten Waldbeck, die ſich langſam erholt, zu - ruͤck nach Hauſe, und fand mitten auf meinem Tiſche Deinen Brief(*)Den XIten dieſer Sammlung.. Wie, nach einem ſchoͤnen Sommertage, Blitze, nur zum Wetter - kuͤhlen, zucken, und ſich mit der Daͤmmerung vermiſchen: ſo flammte mirs ums Herz bey ſeinem Anblick. Ich erbrach ihn ſchnell, blos um zu ſehen, wie lang er waͤre, und ob alles wohl bey Euch ſtuͤnde; dann verſchloß ich ihn, eilte mich auszukleiden, beſtellte mein Nacht - eſſen ab, und machte mich ganz einſam.

Ich konnte auf die Labung, die mir durchN 4200Dich gereicht werden ſollte, nicht beſſer vorbe - reitet ſeyn, als ich es war. Mir war ſehr wohl geweſen unter den Waldbecks; es iſt eine ſo ſchlichte wackere Menſchenart! Vater, Mut - ter, Toͤchter, Soͤhne ſind, an Guͤte und Treue, einer wie der andere, und doch abſte - chender von Character, als man es ſonſt fin - det, weil von dieſer Seite nichts an ihnen ge - modelt, ſondern nur gerade zu auf Rechtſchaf - fenheit und Tuͤchtigkeit, als etwas, wozu je - der Character ſich wohl bequemen muͤſſe, ge - arbeitet worden iſt. So war der Mann er - zogen worden, ſo die Frau; und ſo erziehen ſie nun wieder ihre Kinder, ohne rechts oder links zu ſehen.

Waͤhrend der Krankheit der Frau, wo ich bey den Leuten wie zu Hauſe wurde, konnte ich das erſt ſo recht von nahem beſehen und ei - genſt zu Herzen nehmen. Heute fruͤh kamen nun die zwey aͤlteren Toͤchter, Friederike und Malchen, die ſchon lange ſehr an mir hiengen, und jetzt ihr Leben fuͤr mich ließen, und ſagten201 mir, der Arzt haͤtte erlaubt, daß die Mutter ſich den Nachmittag im Saale aufhielte; und da waͤre es ſo ſchoͤn, wenn ich hinkommen wollte, damit es eine rechte Freude wuͤrde. Ich gieng gleich nach Tiſche, fand aber ſchon alle beyſammen im Saal. Der gute Wald - beck empfieng mich mit einer Ruͤhrung, wel - che dem derben, bideren, muntern Manne uͤber alles Sagen ſchoͤn ließ. Die Geneſende ſah nach uns hin mit einem Blicke und einem Strahlen des Angeſichts, wobey wohl nicht mir allein der Tag der Auferſtehung in Ge - danken kam. Wir waren umzingelt, Wald - beck und ich, von den Maͤdchen und Knaben, die uns nach dem Seſſel der Mutter draͤng - ten. Die Gute umfaſſend ließ ich mich an ihr nieder auf die Kniee, um ihr ins Ohr zu liſpeln, daß ſie ſtille wuͤrde, und um ihr Ge - ſicht in meinem Buſen zu verbergen, waͤhrend ich die andern mit Winken in Ordnung brach - te. Es wurde gar lieblich unter uns. Die wackere Fiſchering allein, und Vikarius Boͤck, die treue Seele, mit ſeinem Bruder, demN 5202Aſſeſſor, denen beyden ich ſo gut bin, kamen noch dazu. Es wurde von vielerley geſprochen, und von allem eben gut und verſtaͤndig. Ich hoͤrte mehrentheils nur zu, und freute mich im ſtillen Geiſte, daß es zur geſunden Ver - nunft wenig oder nichts thut, ob ein Menſch von Natur einen großen Verſtand oder einen kleinen hat; ſondern darauf, wie ſeine Fan - taſie beſchaffen iſt, und daß bey einmal gu - ten, treuen und tuͤchtigen Menſchen dieſe feſt ſteht, wie ein Fels. Was ihnen als Grundſatz, Regel oder Glaube ehrwuͤrdig ge - worden iſt, das bleibt und gilt. Sie urthei - len und wandeln, ohne Furcht und Zweifel.

Wir alle, wenn wir die hoͤchſte Verſiche - rung geben wollen, ſagen: das iſt ſo gewiß, als ich jetzt vor Ihnen ſtehe, mit Ihnen rede, dieſe Feder in der Hand habe: und es iſt nur feyerlicher, oder ſoll noch mehr heißen, wenn wir ſtatt deſſen ſagen: ſo wahr ein Gott im Himmel lebt; oder: ſo wahr ich ſelig zu werden hoffe. Hier nimmt203 alle Wahrheit und Treue ihren Anfang, wo auch die eigentliche geſunde Vernunft zu Hauſe iſt. Wunderlich iſt mir oft zu Mu - the geweſen, wenn ich unter Leuten von der großen und ganz großen Welt, auch un - ter großen Geiſtern mich befand, und zuſah, welche Gewalt ſie unter Umſtaͤnden, nichts - wuͤrdiger Dinge wegen, uͤber ſich ſelbſt hat - ten und behielten, und in welcher ſcheußlichen Ohnmacht ſie unter andern Umſtaͤnden da la - gen, ohne Gram und Schaam. So zu ſeyn, dazu wurde ihre Fantaſie von Jugend auf gebildet, oder ſpaͤterhin verzerrt. Nun dieſe Menſchen, mit allem ihrem Glanze, hinge - ſtellt neben einen bideren, feſten, uͤberall treuen Mann, wie Waldbeck; jener in - nere Wirthſchaft verglichen mit der inneren Wirthſchaft von dieſem: wen ſchaudert nicht bey dem Contraſt? Hier, in ſtetem Gange, ein fortgeſetztes Leben der Zucht: Muth, Freudigkeit, Standhaftigkeit und Wuͤrde. Dort, im truͤben Taumel, ein ewig geſtoͤrtes, zerbrochenes Leben der Un-zucht: Feig -204 heit, Unluſt, Wankelmuth und Selbſtver - achtung.

Es hatte ſieben geſchlagen, ehe wirs uns verſahen. Der Arzt kam mit Verweiſen uͤber das zu lange Aufſitzen ſeiner Kranken. Wir brachten ſie zur Ruhe, und ich blieb noch eine Stunde bey dem lieben Weibe auf dem Bette ſitzen, mich beynah vergeſſend im ſuͤßen Ge - ſchwaͤtze mit den drey Maͤdchen, die mich all - maͤhlich ganz umklammert hatten. Unterdeſſen war die Mutter eingeſchlummert. Wir ſchli - chen fort nach dem Saal, wo mein Mantel und mein Arbeitsbeutel lagen. Da ſahen wir, hinter Wolken, den Mond gerade vor dem mitt - leren Fenſter ſtehen. Waldbecks Saal hat eine entzuͤckende Ausſicht, beſonders wegen der Do - nau, die nahe daran vorbeyfließt, und zur rechten Hand herunter kommt, ſo weit her, daß man nicht unterſcheiden kann, von welcher Seite oben. Mit gleicher Bewegung flogen wir zum offen ſtehenden Fenſter, und blieben da lange, lange. Ich ſah den ziehenden Woͤlk -205 chen zu, die ſich bald ſo, bald anders beweg - ten und formten, und den Mond nicht wollten helle werden laſſen. Nun wurde er lichter und lichter; endlich ſtand er rein da, und uͤberzog den Strohm, mit ſeinem zitternden Glanze. Die Maͤdchen verglichen es mit Silbertropfen, die hinein regneten.

Jetzt nahm ich Abſchied, gieng nach Hauſe, und fand Deinen Brief.

Er lag unten am Rande einer Zeichnung, die ich, nach Maratti, Vormittags vollendet hatte: ein ſchlummernder Knabe; eine wahre Engelsgeſtalt.

Schlummere du nur fort, ſagte ich zu dem ſchoͤnen Jungen, da ich vom Auskleiden zuruͤck - kam: du Engel! ich will dich nicht ſtoͤren; und wirklich ruͤckte ich leiſer meinen Seſſel, ließ mich leiſer darauf nieder, und war vor - ſichtig, nicht an den Tiſch zu ſtoßen.

206

Ich las bis an das Capitel von Allwill, womit ich heute mich nicht ſtoͤren wollte; fieng dann wieder von vorn an und noch einmal; las immer langſamer, bis ich, unvermerkt, nicht mehr auf dem Blatte las, und doch noch immer las wie vom Blatte Meli, beſte Meli! Sieh den hold laͤchelnden Engel da! Auf ſeiner beſten Ruheſeite liegt er; den Kopf ſanft aufs Aermchen geſtuͤtzt: er ſchlaͤft! Meli! So haſt Du mir geſungen, ſo, daß ein Schlummer der Geneſung uͤber mich gekommen iſt. Sanft eingewiegt haſt Du mein Herz: eine ſuͤße warme Fuͤlle, die Fuͤlle Deiner Liebe darauf gedeckt. Sie iſt in meinem Herzen, dieſe Fuͤlle Deiner Liebe, Deiner Unſchuld, Deines Glaubens. Ja, ſtille iſt es nun!

Durch den Vorhang hindurch glaͤnzte mir jetzt der hochſtehende Mond ins Auge. Da biſt du ja wieder! dachte ich, und ſtand auf.

So helle und frey habe ich den Mond lan -207 ge nicht ſcheinen ſehen. Alle Woͤlkchen waren von ihm weg, zogen ſeitwaͤrts, hierhin, dort - hin, ſo Truppweiſe, lauter kleine runde Woͤlk - chen; und uͤberall weit dazwiſchen der ſchoͤnſte blaue Himmel; hie und da auch Sternlein; und ſie blinkten ſo ſanft. Nur Ein Stern, der war recht hell, und flimmerte raſcher. Ich ſah ihn darauf an: Wie du flimmerſt, du Heller! Und der Helle wurde mir ſo freund - lich, daß ich mich nicht erwehren konnte, ihm ſein Laͤcheln zu erwiedern, und mich darauf ertappte.

An mein Schlafzimmer mochte ich nicht denken. Ich holte meinen Schreibtiſch, ſetzte ihn vor den Sopha, und ſchrieb, was Du bis - her geleſen haſt.

Da habe ich es nun auch uͤberleſen; bin wieder an Deinen Brief gegangen, und habe eine lange ſuͤße Pauſe gemacht.

Was iſt es, liebe Meli; was iſt das,208 woran ich mich in Ruhe und Stille hier wie angelehnt fuͤhle? Es iſt mir gegenwaͤrtig; aber es ſtellt ſich mir nicht dar, ich habe kein Bild davon ſondern nur in Worten, in Worten vom unausſprechlich Schoͤnen, Heiligen und Guten hergenommen, darin giebt es wie ein Zeichen von ſich. Angeſchmiegt an dies Un - ſichtbare mit allen meinen Gefuͤhlen, ſo habe ichs, ſo halte ichs; es umfaßt, traͤgt und hebt mich. Sieh, es ſtuͤrzen mir Thraͤnen aus den Augen, und gewiß iſt doch kein Zug des Wei - nens in meinem Geſicht; alle meine Zuͤge muͤſ - ſen Heiterkeit ausſagen; denn es umgiebt, es erfuͤllt mich die lauterſte Wonne.

Laß mich, Du Holde, Liebe! laß mich an dieſer Stelle dem Morgen entgegen ſchlummern. Ruhe ſanft!

Guten Morgen, Amalia! guten Morgen, Schweſter! Ich ſinne auf neue Namen, aufneue209neue Gruͤße fuͤr Dich, und kann nicht finden, was ich ſuche. Du Gluͤckliche haſt bald ge - funden; fandeſt ohne Suchen. Mutter, riefſt Du; o Mutter, komm zur Mutter! und mir wurde, als waͤre ich umgeſchaffen nach dieſem Zuruf.

Wohl, liebe Meli, verſtehſt Du es beſſer, als ſie alle, Du Einzige, Du Seherinn nicht in Traͤumen, wie die arme Sylli Seherinn mit offenem Auge, Seherinn der Wahrheit! Vergleiche nur mein Schrei - ben von heute vor acht Tagen mit dieſem hier! Du hatteſt noch nicht gerufen: Komm zur Mutter, komm zu den Kindern und der Kinder Vater, komm zu den Maͤdchen von Heimfeld; komm und laſſe alles Und die kranke Sylli traͤumte fort, konnte nur weinen uͤber alle die lieben Worte von Cler - don, dem Edlen, von den herrlichen Maͤdchen.

Sage Clerdon, ſage Claͤrchen und Lenoren, ſage Deinen Kindern: Sylli kommt! Sie laͤßtO210alles und kommt; ehe die Blaͤtter wieder ab - fallen, iſt ſie bey uns!

Daß ich Mutter war und Mutter bleibe welch ein Engel gab Dir ein, mir dieſes vorzuſagen? Wie ichs da fand in Deinem Briefe, daͤuchte mir, ich hoͤrte es zum erſten - mal, und mir wuͤrde eine Krone aufgeſetzt. Es war gerade um dieſe Jahrszeit, da ich meinen Guſtav unter meinem Herzen zuerſt ſich regen fuͤhlte. Daß ers ſo gut traf mit ſeinem Erwachen, wie mich das fuͤr ihn freu - te! Du hatteſt damals noch keinen Gatten, warſt noch nicht meine Schweſter. Ich waͤhl - te mir eine; ſie waͤhlte mich. O der Zaͤrt - lichkeit, mit der ich der ganzen Natur mich anherzte; und die Gute! wie ſies aufnahm, den vertraulichen Schweſtergruß mit Haͤnde - druck und Kuͤſſen mir erwiederte! Ich gieng an ihrer Hand, wie ein Kind, das man mit - nimmt, und zu dem man ſagt: Komm, wir wollen dieſes oder jenes thun, Du ſollſt helfen!

211

Das Entfalten der Bluͤthen, das Sproſſen der Blaͤtter und Zweige es geſchah nicht ohne mich; ich half, war dabey geſchaͤftig: ſo fuͤhlte ichs. Und die Voͤglein alle, wie ſie auf den Baͤumen um mich her ſich verſammelten, ſo vielerley Art; wie ſie zwitſcherten, ſangen, flatterten und flogen; ihre Neſterchen anleg - ten und bauten: ſo ganz anders noch, wie ſonſt, war ich dabey mit Augen, Ohren, Theilnehmung und Sorge. Wo nur Luft ſich regte, wo es irgend nur eine Witterung von Leben gab, kam ich mit ſuͤßen Ahndungen hinzu, machte jedes Anliegen zu dem mei - nigen.

Und ich weiß noch wohl, wie ich damals oͤfter dachte, wenn erfolgen ſollte, was nach - her geſchah; wenn ich den bitteren Schmerz erfuͤhre, wieder entbehren zu muͤſſen, was ich ſchon ſo unausſprechlich liebte: ich haͤtte ihn geſehen den Engel, an mich ihn gedruͤckt, ſein Koſen, ſein Laͤcheln, ſeine Blicke genoſſen, ihn ſchon zum Lallen, zur Freude, zum Wie -O 2212derlieben aufgeſaͤugt und gepflegt: und nun laͤge er vor mir da erſtarrt, und ich muͤßte ihn ins Grab tragen laſſen ins finſtre Grab! ..

Mir graute fuͤrchterlich! Dennoch gelobte ich, und praͤgte mir es tief ein, daß, wie unſaͤglich auch dann mein Leiden ſeyn wuͤrde, ich dabey der Seligkeit, die ich genoſſen, nicht vergeſ - ſen, und die neue reine Liebe, welche mir gewor - den, bis zu meinem eigenen Tode ſegnen wollte. So verſprach ich meinem Guſtav, und wie - derholte in den zwey Jahren, die er lebte, ihm dies Verſprechen oft und immer heiliger. O, daß ich Mutter war, und Mutter bleibe, wie koͤnnte ich das miſſen wollen? Liebe Amalia der helle Stern, der mir ſo freundlich winkte, der mich anlaͤchelte, und deſſen Laͤcheln ich erwiedern mußte, das war mein Guſtav; mein Guſtav erſchien mir in dem hellen Stern.

Wie ich Dich uͤberall ſo ganz verſtehe, Du213 Herrliche! in Deinem Wiſſen und Nichtwiſſen; in Deinem Stolz und in Deiner Demuth.

Was Clerdon zu dem Manne mit dem lauter hieher und daher ſagte: es ſey der Inſtinkt des Buchſtabens, die Vernunft unter ſich zu bringen, iſt mir wie ein Blitz durch die Seele gefahren. Es erinnerte mich an ein treffendes Wort von Fenelon.

Der Menſch in ſeinem verkehrten Weſen, ſagt Fenelon, hat nur Augen, um Schatten zu erblicken; und die Wahrheit erſcheint ihm als ein Trugbild. Was Nichts iſt, haͤlt er fuͤr Etwas; und was Etwas uͤber Alles iſt, haͤlt er fuͤr Nichts.

Du findeſt dieſe Stelle in ſeinem Buche vom Daſeyn Gottes, am Schluſſe des erſten Theils, wo er die Gottheit anredet. Laß mich nur dieſe Eine Stelle hier einruͤcken.

Waͤreſt Du ein ohnmaͤchtiger, lebloſerO 3214Koͤrper, wie eine Blume die verwelkt, ein Bach der vorbey fließt, ein Gebaͤude das ſteht und hinfaͤllt, ein Farbengemenge das Ge - maͤhlde heißt, wenn unſere Einbildungs - kraft Geſtalt hineintraͤgt; ein mit etwas Glanz uͤberzogenes Metall: ſo wuͤrden die Menſchen auf Dich merken, und Dir, in ihrer Thorheit, das Vermoͤgen zuerkennen, ihnen einige Freude zu gewaͤhren; obgleich Freude von nichts Seelloſem ausgehen kann, ſondern allein von Dir, Du Quelle des Lebens und alles Genuſſes. Waͤreſt Du alſo nur ein Weſen groͤberer Art, hinfaͤllig, leblos, eine Maſſe ohne Selbſtvermoͤgen, nur der Schat - ten eines Weſens; ſo wuͤrde Deine nichtige Natur unſere Nichtigkeit beſchaͤftigen; Du waͤreſt dann ein angemeſſener Gegenſtand fuͤr unſere niedrigen und thieriſchen Gedanken. Weil Du aber zu ſehr in ihnen ſelbſt biſt, wo ſie nie einkehren; ſo biſt Du ihnen ein ver - borgener Gott. Denn dieſes Innere ihrer ſelbſt iſt am weiteſten von ihrem irre gewor - denen Blick entfernt. Die Ordnung und215 Schoͤnheit, die auf dem Angeſicht Deiner Ge - ſchoͤpfe ſtrahlt, iſt wie ein Schleyer, der Dich ihrem kranken Auge entzieht.

Sage, liebe Amalia! iſt es Dir nie auf - gefallen, ſo daß Du dabey ſtehen geblieben, lange ſtehen geblieben waͤreſt dabey: daß der Menſch ſich entſchließen kann zu ſterben?

Zu waͤhlen zwiſchen Tod und Leben ver - mag kein Thier: es hat nur ſinnliche Triebe, die alle auf Erhaltung gehen, die es zwin - gen, nur ſein Daſeyn auf der Erde fort - zuſetzen.

Der Menſch vermag es.

Du waͤhlteſt Leben, und ich waͤhlte Tod! ſagt Antigone zu ihrer Schweſter Ismene.

O 4216

Eine Liebe iſt dem Menſchen gegeben, die den Tod unter die Fuͤße tritt; keinen Schmerz achtet und keine Luſt. Ihr Saame geht auf in der Anſchauung, Bewunderung und Ach - tung eines Andern. Alsdann verliert der Menſch ſein Leben, um es zu gewinnen. Es erwacht der Inſtinkt ſeiner vernuͤnftigen Na - tur, welcher nicht die Seele des Leibes, ſon - dern des Geiſtes Seele zu erhalten, empor zu bringen, herrſchend zu machen ſtrebt. Und hiemit, mit der Einſetzung einer Liebe, die den Tod uͤberwindet und Unſterblichkeit ge - biert, hat die Welt angefangen.

Die Geheimniſſe der Liebe und des Lebens durchdringt kein menſchlicher Blick. Alles reg - ſame Daſeyn faͤngt mit einer Begierde an, die ihren Gegenſtand nicht kennt. Spaͤter, und nur hie und da luͤftet der leitende Trieb ein wenig ſeinen dichten Schleyer. Aber jedes Leben, auch das dunkelſte, fodert ſeine Erhal - tung mit einem Nachdrucke, der ſein Recht iſt. Der Nachdruck des am tiefſten verborge -217 nen Lebens iſt der maͤchtigſte; und heilig uͤber alles iſt ſein Recht. Wer dies Recht erkannt, es gefuͤhlt hat, der vertraut ihm; er hat, wie Du ſagſt, das Rechte gefunden, und ihm iſt wohl da, wo man nichts ſieht und nichts weiß; wo die Welt angefangen hat.

Ich habe noch den Punkt von Allwill in Deinem Briefe zu beantworten. Wie ich von dem jungen Manne denke, weißt Du aus mei - nem Briefe an Lenore und Claͤrchen(*)S. den XIIten Brief.. Es mag wohl etwas uͤberſpannt ſeyn, was ich ge - ſchrieben habe; aber mit dem Verhaͤltniſſe des Guten zum Boͤſen, das ich angab, wird es wahrſcheinlich ſeine Richtigkeit haben. Ich kenne dieſe Menſchengattung aus dem Grunde; habe Gelegenheit gehabt, ſie lange zu beobach - ten, mit einem Intereſſe, wovon mir das Herz noch blutet. Daher gerieth ich uͤber dem Schrei -O 5218ben jenes Briefes in eine Bewegung, die ich mir vorwarf, ſobald er fort war. Dergleichen wird mir noch oͤfter begegnen, und Ihr muͤßt Euch darauf gefaßt halten. Ueberhaupt wird es ohne mancherley Ruͤckfaͤlle nicht her - gehen.

Was nun dieſe Menſchengattung angeht, uͤber die ich ſo gruͤndlich zu ſeyn behaupte, ſo fuͤhren ſchon die vorzuͤglichen Anlagen, die bey ihr vorausgeſetzt werden muͤſſen, die Gefahr ihres Mißbrauchs mit ſich. Huͤte Dich, habe ich irgendwo geleſen : Huͤte Dich vor dem, den Gott gezeichnet hat! Jedes Ue - bermaaß von Kraͤften reizt zu irgend einer Art der Gewaltthaͤtigkeit und Unterdruͤckung. Hie - zu kommt bey den Allwillen, daß ihren vorzuͤglichen Gaben eine beſonders zarte und lebhafte Sinnlichkeit, eine große Gewalt des Affects, und eine ungemeine Energie der Ein - bildungskraft zum Grunde liegt. Ich nenne den Affect vor der Einbildungskraft, weil die Einbildungskraft der Allwille vornehmlich eine219 Einbildungskraft des Affects, und weniger als bey andern Menſchen ein freyeres Geiſtes - Vermoͤgen iſt. Die Miſchung dieſer Grundei - genſchaften iſt in keinem Einzelnen dieſelbe; und ſo haben auch in jedem Einzelnen der Verſtand, die Beſonnenheit und der Wille ihre eigene Art und Weiſe. Man kann aber ohne Gefahr annehmen bey dieſer Gattung, daß wo der hellere Kopf iſt, auch ein hoͤherer Grad der Ruchloſigkeit ſich einſtellen werde. Bey der Helle des Kopfs wird der Uebergang von der Empfindung zur Reflexion; zur Be - ſchauung und Wiederbeſchauung mit Bey - huͤlfe des Gedaͤchtniſſes immer ſchneller, mannichfaltiger, gegenſeitiger, durchgreifender, umfaſſender; bis endlich Anſchauung, Betrach - tung und Empfindung jeder Art, von der zur groͤßten Fertigkeit gediehenen Selbſtbeſinnung, Geiſtesgegenwaͤrtigkeit und inneren Sammlung, welche die Helden dieſer Gattung, ſelbſt in der aͤrgſten Beklemmung der Leidenſchaft, nie ganz verlaͤßt, unaufhoͤrlich nur verſchlungen werden, und fuͤr ſich keine Gewalt und natuͤrliche220 Rechte mehr haben. Der ganze Menſch, ſei - nem ſittlichen Theile nach, iſt Poeſie gewor - den; und es kann dahin mit ihm kommen, daß er alle Wahrheit verliert, und keine ehrliche Faſer an ihm bleibt. Die Vollkommenheit die - ſes Zuſtandes iſt ein eigentlicher Myſticismus der Geſetzesfeindſchaft, und ein Quietismus der Unſittlichkeit.

Unter den Egoiſten machen dieſe Zauberer eine eigene Claſſe aus.

Jede leidenſchaftliche Bewegung iſt, ihrer Na - tur nach, eigenſuͤchtig. Daher kann man in der Regel annehmen, daß uͤberhaupt der empfind - ſamere Menſch, als ſolcher, auch der ei - genſuͤchtigere iſt. Nicht, daß er es wollte; im Gegentheil: er moͤchte gern ſich aufopfern; aber er kann nicht, weil er ſo uͤber alle Maaßen zuerſt von ſich ſelbſt geruͤhrt iſt. Verſtehe mich wohl! Die blos empfindſamen, als ſolche,221 dieſe allein ſind gemeint; und von dieſer beſon - dern Gattung blos weichſchwachherziger Be - ber (tremblers) habe ich wenig gelitten. Ihre Zaͤrteley und Heucheley; ihre Ohnmacht und ihre Tuͤcke widerſtanden mir ſo ſichrbar, daß ſie mich nicht weniger flohen, als ich ſie vermied. Mit den Allwillen vertrage ich mich weit eher, zumal da nur wenige unter ihnen die Vollkommenheit ihrer Gattung erreichen. Sie widerſtehen mir auch weniger, als die Plan - vollen kalten Egoiſten, wenn dieſe ſchon nicht zu der niedrigſten Claſſe ihrer Art gehoͤren; keine Gierigſteine ſind. Weil die All - wille ſich ſelbſt aͤuſſerlich nicht ſchonen, Groͤße, und in manchen Faͤllen Edelmuth beweiſen, auch, ſo lange ſie nicht ganz verdorben ſind, die ſchoͤnſten Regungen der Seele haͤufig blicken laſſen, ja, durch ſie nicht ſelten auch geleitet werden; ſo kann man ſie weder ganz verachten, noch beſtaͤndig haſſen. Und dies eben macht ſie ſo gefaͤhrlich. Denn ihre Eigenſucht iſt hart und grauſam, wie keine andere. Einer eigent - lichen Verlaͤugnung ſind ſie nicht faͤhig, und die222 Federkraft der Sittlichkeit in ihnen iſt ſo gut als todt.

Ich wuͤrde mich nicht enthalten koͤnnen, noch ſchlimmeres zu ſagen, wenn ich nicht ab - braͤche.

Was Euren Eduard angeht, ſo genuͤgt mir an Deinem Mißtrauen gegen ihn; Du wirſt mir die Maͤdchen ſchon verwahren. Wegen Claͤrchen hat es ohnedem nicht leicht Gefahr; die ſieht ſo hell und kann mit auf Lenore Acht geben. Und ſo mag Clerdon denn nur immer beſchoͤnigen. Wie er es mit dieſem jungen Lieblinge treibt, hat er es von jeher mit allen Menſchen getrieben, woran er einen etwas lebhaften Antheil nahm. Es ſcheint, daß je geſchickter wir ſind, alle Falten des menſch - lichen Herzens zu durchdringen, deſto fertiger ſind wir auch, uns in jedem Einzelnen Falle zu taͤuſchen. Wir erdichten Menſchen, ſo, daß man glaubt, ſie muͤßten irgendwo vor - handen ſeyn; und wieder, aus den wirklichen223 Menſchen machen wir uns etwas, was ſich nirgend findet. Bey dem großen Umfange, den jede Art Character hat, geht das ohne Wunder zu. Unſere Einbildungskraft iſt be - reit, uns hundert Plane vorzulegen, um den - jenigen heraus zu waͤhlen, nach welchem die Vorſtellung ſich am leichteſten und beſten aus - fuͤhren laͤßt, die der gegenwaͤrtige Affect ſich wuͤnſcht. Verſchwindet der Affect, und wir uͤberſchauen nachher unſere gemachten Be - obachtungen; dann iſt kein Menſch, der es beſſer gewußt haͤtte, als wir, wenn es uns darum zu thun geweſen waͤre.

Uebel wird es mir bekommen, wenn Du Clerdon dies zu leſen giebſt. Ich ergebe mich darein; und gruͤße Du ihn nur von mir recht herzlich, den Papa Allwill.

224

XX. Eduard Allwill an Luzie.

Ihr langes Sendſchreiben, gute Luzie, habe ich ſo eben zum dritten male wieder geleſen; habe alles auf die Seite geworfen, und ſitze Ihnen nun da auf meinem Stuhle ſo feſt, als wenn der kleine Schreibtiſch hier die ungeheure runde Tafel in unſerm Rathsſaale waͤre; und Sie, mein theures Fraͤulein, waͤren das Lan - desherrliche Portrait unter dem gruͤnen goldbefranzten Baldachin; aber wohl zu mer - ken, daß Sie nur in ſofern das Portrait Ihro vorſtellen, als mein trautes Tiſch - lein hier die verwuͤnſchte ungeheure runde Ta - fel in dem Rathsſaal vorſtellt; und daß die ganze Vergleichung ſich einzig und allein auf mein feſtes Sitzen gruͤndet.

Naͤrriſch genug mit allem dem, daß ich ſo ganz von ungefaͤhr, und ohne alles Arge, Sie in das Bildniß eines gepanzerten Erdengottesver -225verwandelte; denn in der That, liebe Luzie, juͤngſt, als Du mit aller Weisheit Himmels und der Erde vor mich trateſt, ſah ich Dich wirklich von der Scheitel bis zu den Sohlen in ſchoͤn geblaͤutem Stahl maͤchtig erhaben auf den Zehen des linken Fußes; das andre Bein kuͤnſtlich von der Erde geſchwungen; em - por die heilige Rechte, das Haupt mit einem Lorbeerzweige zu beſchatten; und Dein ganzes Weſen begriffen in der Verdauung der goͤttlichen Eule, welche Du ſo eben roh und ungepfluͤckt hinuntergeſchluckt hatteſt.

Gewiß hatteſt Du neulich meine geringe Perſon unter einer nicht viel weniger veredel - ten Geſtalt erblick; als da waͤre eine uner - meßliche Peruͤcke uͤber meinem trotzigen Haar - zopf, die mir dicke Schweißtropfen aus der Stirne preßte; zwey Seraphimsfluͤgel an den Schultern, die mir zu Faͤchern, um mich an - zuwehen, dienten; ebenfalls auf einem Beine ſtehend, feſt wie ein Fels. O komm doch, komm, liebe Luzie! laß uns auf einander zu -P226hinken; dann her Deinen Helm, daß ich mei - ne Peruͤcke hineinlege; und nun ſieh: hier iſt Eduard und dort Luzie; wir ſind unter vier Augen; reden wir mit einander, wie ich und Du!

Schade was, liebe Luzie! Schade was fuͤr unſere Weisheit, fuͤr alle die praͤchtigen Verwandlungen, woruͤber wir uns ſo hoch zu gratuliren pflegen; gemeiniglich hat es am Ende ſo viel damit zu ſagen, daß wir uns ſchaͤmen muͤſſen. Man ſchwitzt im Sommer, und friert im Winter: im erſten Falle kleidet man ſich in Tafft, und im letzten in Pelz; das iſt meiſtens die ganze Geſchichte. Sie wiſſen, was die Ptolemaͤiſche Epicycloide fuͤr ein Ding iſt: (ſonſt kann Wallberg Sie dar - an erinnern) Auf - Ab - und Durcheinander - ſchwingungen ohne Ende; doch nur ein Mit - telpunkt, und der Planet tritt immer wieder in die Graͤnze ſeines Zirkels zuruͤck.

Es liegt mir noch klar genug im Gedaͤcht -227 niß, wie ich ehmals, bey jeder merkwuͤrdi - gen Sinnesaͤnderung, mich nun endlich zur wahren Weisheit bekehrt, und den einzigen Weg zur Gluͤckſeligkeit betreten zu haben glaub - te; dann vor Entſetzen und Schaam vergehen wollte, daß ich vor nur ſo wenigen Tagen oft vor nur ſo wenigen Stunden, noch ein ſo unbegreiflicher Thor hatte ſeyn koͤnnen. Aber, o Tyranney des Schickſals! bald darauf kam mein unbegreiflicher Thor wieder ganz ſtatt - lich, als der weiſeſte Mann, ans Licht, und ſchaͤmte ſich ſeines Vorfahrs nicht weniger, als dieſer vor kurzem ſeiner ſich geſchaͤmt hatte.

Ein Schelm thut mehr als er kann, ſagt ein altes deutſches Spruͤchwort. Es ließe ſich ein ſchoͤnes dickes Buch uͤber die - ſes Spruͤchwort ſchreiben, und es ſoll mein erſtes ſeyn, wenn ich je eins unternehme. Ein feuriger, geiſtvoller Juͤngling, der ein Epic - tet ſeyn will, will mehr als er kann, und muß ſchlechterdings dabey zum Schelmen wer -P 2228den. Wie kann er alles Gute, alles Schoͤne mit Entzuͤcken lieben, und ſo genaues Maaß halten, und nie irre gehen? Wie kann er ſchon wiſſen, was jene Freude zur Thorheit macht? euch euren Ueberdruß, eu - ren Eckel, eure Mattigkeit nachfuͤhlen, lieben Graubaͤrte? Wie kann ſein Muth ſich vor euren Furchten entſetzen? Er, der dem Schmerze trotzt, und dem Tode, und nur Luſt wittert. Kurz, euren innern Sinn koͤnnt ihr ihm nicht geben; und ſo haͤttet ihr ihm, wenn er euch hoͤrte, vollends allen Genuß des Lebens geraubt. In ſeinem Kopfe, wenn er ein bischen eigenes Weſen hat, muß eure Vernunft zum aͤrgſten Unverſtande wer - den; hoͤchſtens kann ſie durch Schreckbilder einige Schwermuth in ſeine Einbildungskraft ſtaffieren. Ihre Stimme toͤnt alsdann ſeinem Ohr, wie ein verdrießliches Gegreine, und macht ihm Weh. Sie heißt ihn die aͤrgſten Qualen unaufhoͤrlich lei - den, damit ihm nur ja kein Leid widerfahre.

229

Um die Lehren eurer klugen Weisheit zu verſtehen, um ſie annehmlich zu finden, muß die Seele ſich im Zuſtande des Gleich - gewichts befinden, muͤſſen ihre lebhafteſten Begierden eingeſchlaͤfert ſeyn; welches ſo viel geſagt iſt, als ſie muß auſſer Stand, oder doch wenigſtens auſſer der Lage ſeyn, ir - gend eine entzuͤckende Freude zu empfinden. Hole der Henker einen ſolchen Zuſtand fuͤr jeden wackern Jungen! Genießen und Leiden iſt die Beſtimmung des Menſchen. Der Feige nur laͤßt ſich durch Drohungen abhalten, ſeine Wuͤnſche zu verfolgen: der Herzhafte ſpottet des; ruft Liebe bis in den Tod! und weiß ſein Schickſal zu er - tragen.

Es iſt die hohlſte Idee von der Welt, daß bloße Vernunft die Baſis unſrer Handlun - gen ſeyn koͤnne; da ſie fuͤr ſich allein nur das Vermoͤgen hat, gegebene Empfindungen und Neigungen dem Herzen vorzuſchemati - ſieren, und augenſcheinlich uͤberall nur imP 3230Dienſte der urſpruͤnglichen Lebens - quelle geſchaͤftig iſt, aus welcher erſte Richtung, letzte Beſtimmung, Kraft, Be - wegung und That einzig hervorgehen.

Nur ein Preßwerk, ihm das Blut durch die Adern zu ſpritzen, kein Herz muß der - jenige im Buſen tragen, der ſich auf dieſer un - ſerer Erde zu einer fortdaurenden Gemuͤthsruhe ſtimmen, und darin die Erfuͤllung ſeiner Wuͤn - ſche ſchmecken kann. Und der ſollte gluͤck - lich ſeyn gluͤcklich vor allen? Es giebt der Feigen genug, die vor jedem Zufalle beben, und doch faſt keinen unter ihnen, ſelbſt unter Betagten, der in eure Freyſtaͤtten fluͤchtete; alle wagen immer von neuem ihre Haut, um der Freuden mehr zu haſchen, um die Fuͤlle ihres Lebens zu genieſſen. So ſchuf den Menſchen Gott, und es iſt doch wohl ein bischen un - ſinnig, zu behaupten, er waͤre beſſer, wie Gott ihn nicht haben wollte.

Glaube mir, Holde, Liebe, das beſte iſt,231 wir bleiben eines Sinnes mit der Natur. Ihr Weſen iſt Unſchuld, und wenn wir annehmen, was ſie uns nach Zeit und Umſtaͤnden in die Ohren raunt, werden wir uns ſo wohl befin - den, als irgend jemand unter dem Monde. Wir brauchen ſtarke Gefuͤhle, lebhafte Bewe - gungen, Leidenſchaften. Was man ge - woͤhnlich mit einem vernuͤnftigen klugen Wan - del meint, iſt eine erkuͤnſtelte Sache; und der Seelenzuſtand, den ſie vorausſetzt, iſt zuver - laͤßig derjenige, der am wenigſten Wahrheit in ſich faßt. Nimm, einer wollte ein Haus von ſo kuͤnſtlicher Einrichtung bauen, daß, wenn er ſein Licht unter dem Dache auf - ſteckte, das ganze Haus davon erleuchtet waͤ - re. Es kann geſchehen, wenn er den Docht ausſpreitet und wohl auflockert, daß etwas Schimmer durch das ganze Gebaͤu - de dringe; aber welche arme verwirrende Daͤmmerung! Lieber gewoͤhnte ich mich im Dunkeln zu handtieren. Indeſſen mag es, als ein Kunſtſtuͤck, auf Bewunderung Anſpruch machen: ſonſt wird doch jeder VerſtaͤndigeP 4232lieber ſein Licht allemal dahin tragen, wo er gegenwaͤrtig zu ſehen braucht, und es hin - ter ſich dunkel werden laſſen, ſo ſehr es will.

Ich ſoll mich um feſte Grundſaͤtze bemuͤhen, damit ich zu unwandelbarer Tugend gelange. Nun klingt es mir gerade ſo, wenn mir jemand vorſchlaͤgt, aus Grundſaͤtzen tugendhaft zu wer - den, als wenn mir einer vorſchluͤge, mich aus Grundſaͤtzen zu verlieben. Ein Verlieb - ter nicht aus Empfindung, ſondern aus Vorſatz, waͤre freylich wohl ſehr treu. Und eben ſo wuͤrde der Herzhafte, der Großmuͤthige, der Wohlwollende, der es nicht aus leidigem Triebe waͤre, und der Empfindung dazu entbehren koͤnnte, nicht nur zu allen Zei - ten herzhaft, großmuͤthig, wohlwollend ſeyn; ſondern auch in jedem beſondern Falle ſo ſehr, und ſo nicht-ſehr, als er muͤßte. O, ja wohl! und ich weiß das alles; bin ja mehr als ſonſt Ein Menſch gehuͤtet worden, irgend zu wollen was ich wollte; zu empfinden 233 was ich empfand; wurde fruͤh genug mit Strenge angewieſen, wie ich etwas ſchoͤn und gut, und nur dies Etwas ſo finden muͤſſe; gefuͤllt bis oben an mit erkuͤnſteltem, erzwungenem Glauben; verwirrt in meinem ganzen Weſen durch gewaltſame Verknuͤpfung unzuſammenhangender Ideen; hingewieſen, hin - geſtoßen zu einer durchaus ſchiefen, ganz erlo - genen Exiſtenz.

Dennoch behielt wahres Leben in mir die Oberhand. Mich rettete mein eigenes Herz. Darum will ich ferner ihm gehorchen, und mein Ohr nach ſeiner Stimme neigen. Dieſe zu ver - nehmen, zu unterſcheiden, zu verſtehen, ſey mir Weisheit; ihr muthig zu folgen, Tugend!

Schreye nicht uͤber Gefahr, liebe Luzie! Was geht uns das an, wenn der Ruchloſe vorgiebt, er thue eben das, und dabey immer ruchloſer wird. Jedes Weſen erſprießt in ſei - ner eigenen Natur: wird nicht auch die ſchoͤne Seele, aus ihrem Keim, ſich immer ſchoͤnerP 5234bilden? Was iſt zuverlaͤßiger, als das Herz des edel gebornen? Nimm alle Moralen, alle Philoſophieen des Lebens zuſam - men, und verſuche ſtreng nach ihren Vorſchrif - ten zu wandeln: wenn du wahres Gefuͤhl von Schoͤnheit und Vortreflichkeit haſt, auf wie viele Ausnahmen wirſt du ſtoßen? Willſt du nun, aus Furcht zu verirren, keine ſolche Aus - nahme gelten laſſen: wie muß da nicht endlich dein Herz und Verſtand ſich verſtocken, dein Geiſt zu jedem freyen Beſtreben unfaͤhig wer - den?

Nehmen wir auch einen einzelnen Menſchen, den gefuͤhlvolleſten, ſtaͤrkſten; und laſſen wir ihn, nach gemachten unzaͤhligen Erfahrungen, blos fuͤr ſeine Perſon, mit dem freyeſten Muthe, eine Philoſophie des Lebens entwer - fen: er wird in der Folge doch wieder auf Ausnahmen ſtoßen; und fuͤrchtet er ſich, dieſe gelten zu laſſen, ſo wird er nach und nach zu einer Art Maſchine, wiewohl zu einer vor - zuͤglicheren als jener andre, der ſich im Ra -235 de noch mehr gemeiner Vorſchriften dreht. All - zu oft muß er ſein gegenwaͤrtiges Gefuͤhl unter - druͤcken, ihm nicht glauben, nicht trauen wol - len; folglich blos nach dem Buchſtaben han - deln. Umgeht, verdreht er das Geſetz, ſo wird der Kerl ein Heuchler, ein Schurke; unterwirft er ſich ihm redlich ſo kommt er allmaͤhlich um Sinn und Gefuͤhl wird, je hoͤher er die Fertigkeit ſeiner Tugend treibt, deſto kaͤlter, geſchmackloſer; gehorcht immer nur (blindlings oder ſehend wie es kommt) ſeinem ehmaligen Willen, hat aber jetzt kei - nen eigenen Willen mehr; kann ſich hinfort nie weiter uͤber ſich ſelbſt empor ſchwingen.

Wir wiſſen, daß, der allgemeinen Sicher - heit wegen, jeder Richter nach dem duͤrren Buchſtaben der Geſetze urtheilen, und fuͤr jede andre Betrachtung blind ſeyn muß; daher denn oft die abſcheulichſten Unthaten gerichtlich beſtaͤ - tiget werden, weil der Boͤſewicht nicht gegen den Buchſtaben des Geſetzes gehandelt, und er die Form der Procedur zu ſeinem Schutze236 angewendet hatte: der gewiſſenhafte Richter konnte nicht anders, er mußte war er auch der waͤrmſte Menſchenfreund Verderben uͤber den vervortheilten Rechtſchaffenen aus - ſprechen. Aber was fuͤr ein Menſch waͤre die - ſer Richter, wenn er kein anderes, als dieſes geſetzmaͤßige, oͤffentliche Gewiſſen haͤtte; wenn er den Verurtheilten nun wirklich fuͤr ei - nen Verbrecher hielte? Und ſiehe, gerade ſolche Richter ſind doch alle unſere unbewegli - chen Sittenbeſteller. Ich weiß nicht, wie weit ich ihnen aus dem Wege gehen moͤchte!

Syſtem der Gluͤckſeligkeit, ſo heiſ - ſet, was ſie uns lehren wollen hoͤchſter Genuß der Menſchheit; was das iſt, das wiſſen ſie fuͤr jedweden unter allen Umſtaͤnden; haben im Auge die Har - monie aller Beduͤrfniſſe, in der Seele das Maaß aller menſchlichen Kraft.

Hochweiſe, Hochgebietende Herren! wir237 ſind nicht fuͤr einander. Ich ſinge ein ganz anderes Lied, als wovon die Melodie auf die Walze eures heiligen moraliſchen Dudeldeys genagelt iſt. Auch genießen wir ganz verſchie - dene Koſt; koͤnnen nicht an Einem Tiſche mit einander ſitzen; mein geſunder Verſtand, mei - ne geſunden Sinne giengen mir bey eurer Kran - kendiaͤt zu Schanden. Deswegen uͤberlaßt mich meiner guten Natur; welche verlangt, daß ich jede Faͤhigkeit in mir erwachen, jede Kraft der Menſchheit in mir rege werden laſſe. Freylich draͤngt ſichs da wohl einmal: aber die freye Bewegung hilft durch, paßt, ſondert und ver - einigt, beſſert auch. Du hohulaͤ - chelſt, weiſer Mann? Was ſoll das lange Re - giſter meiner Vergehungen, meiner Thorhei - ten? Sage, bin ich ſchlimmer, bin ich thoͤrichter geworden, als ich war? bin ich ſchlimmer, thoͤrichter, weniger gluͤcklich, als du? Es wehet durch alle meine Em - pfindungen der lebendige Athem der Natur, der vermehrende, ewig neu gebaͤhrende. Laß ihn wehen! Ja, fallen werde ich noch238 oft, aber auch eben ſo oft wieder aufſtehen, und gluͤcklicher fortwandeln. Sagte dirs nicht deine Amme, daß man nur durch Fallen gehen lernt? O ihr Doppeltgegliederten, ihr Kruͤp - pel in eurem Gaͤngelwagen!

Es iſt traurig anzuſehen, wie manche gu - ten Leute ſo aͤngſtlich und emſig ja zuſe - hen, daß ſie nur ja nichts Boͤſes, nur ja nichts Ungerechtes verurſachen oder zulaſſen; und daruͤber in ihrem Truͤbſinn es nur zehnmal aͤrger anrichten, oft an unſaͤglichem Unheile Schuld werden. Um nicht, pflichtwidrig, durch des abweſenden Nachbars verſchloſſene Thuͤre einzubrechen, uͤberließen ſie euch wahr - ſcheinlicher, dringender Gefahr; als wohl, in deſſen Garten von ſeinem ruchloſen Sohn ermordet zu werden. Nun verloͤre dieſer arme Nachbar daruͤber Naͤhrer, Helſer und Freund, und muͤßte ſeinen Sohn auf dem Rade ſterben ſe - hen: aber ſie haͤtten dann doch kein Geſetz uͤber - treten, haͤtten ſich nichts vorzuwerfen, behiel - ten ein reines Herz und ein gutes Gewiſſen.

239

Es ließe ſich auf alle Weiſe darthun, und durch eine Menge Beyſpiele erlaͤutern, daß in dem Begriffe der entſchiedenſten Tugenden doch immer etwas ſchwankendes bleibt, ſo daß zu - weilen der Menſch ſich am vortreflichſten zei - gen kann, indem er ihnen ſchnurſtracks entge - gen handelt. Ich kann mir Faͤlle gedenken, wo es das erhabenſte Verdienſt waͤre ........... aber das leitete mich in ein zu weites Feld. Nur noch ein Beyſpiel fuͤr was ich vorhin ſagte.

Die erhabenſte aller Tugenden, welche zu - gleich die allgemeinſte Anwendung vertraͤgt, die uͤbrigen alle ſchuͤtzt, vermehrt, gebiert iſt wohl durchgaͤngige Wahrhaftigkeit. Was fuͤr ein goͤttlicher Menſch muͤßte der nicht werden, welcher ſich entſchloͤſſe, immer wahr zu ſeyn? Schon das wuͤrde nothwendig zur Recht - ſchaffenheit leiten, wenn man den Vorſatz aus - fuͤhrte, nur keine Unwahrheit je zu ſagen; ſo groß iſt unſre Achtung fuͤr unſre Mitmenſchen, ſo brennend der Spiegel, der unſre Geſtalt aus240 ihnen in uns zuruͤck wirft! Man erinnere ſich irgend eines Vorfalls, wo man um eine Lei - denſchaft zu befriedigen, einen Betrug zu Huͤlfe genommen, und ſtelle ſich nun vor, man haͤtte, anſtatt heimlich zu Werke zu gehen, demjenigen, den man hintergangen, die nacken - de Wahrheit, ſein eigentliches Vorhaben ent - decken muͤſſen wie wird man nicht auffah - ren und erblaſſen vor dem bloßen Gedan - ken! Leichtſinn, in Abſicht der Wahrheit, iſt Sohn und Vater des Laſters, ſein Helm und Schwerd, und ſchon die kleinſte Luͤge eins der aͤrgſten Verbrechen gegen uns ſelbſt, gegen die Menſchheit. Aber wer koͤnnte zu unſern Zeiten den unuͤberlegten Entſchluß faſſen, nie eine Unwahrheit ſagen zu wollen?

Und hat es nicht zu allen Zeiten Faͤlle ge - geben, wo es Trieb der erhabenſten Menſch - heit, wo es Eingebung Gottes war zu luͤ - gen? O wer hat dieſe entſetzliche That gethan? Niemand, antwortet Desde -mona;241mona; ichſelbſt, lebe wohl; bringe meinem Gemahl meinen letzten Gruß; o lebe wohl! Othello ruft: Sie iſt als eine Luͤgne - rinn zur Hoͤlle gefahren; ich wars, der ſie ermordete. Aber, o gerechteſter Gott! wer wollte nicht mit einer ſolchen Luͤge im Munde den Geiſt aufgeben, und ſich vor dei - nen Richterſtuhl ſtellen?

Auch iſt ſogar ſchon das ſchwankend, was ich vorhin zum Behuf der Wahrhaftigkeit, der Unverſtelltheit, der Offenherzigkeit vorbrachte; z. B., wir ſcheuen uns nicht ſelten eben ſo ſehr das Unſchuldige, das Ruhmwuͤrdige ſogar, zu offenbaren, als das Boͤſe und Schaͤndliche; und dieſe Schuͤchternheit zu uͤber - winden, iſt zuweilen Heldenmuth vonnoͤthen.

Das ſchoͤne Regiſter eurer ſogenannten Tugenden auf dieſe Weiſe durchgegangen; dann in dem Miſchmaſche ſie betrachtet, wie ihr ſie ganz und alle zuſammen, durch einen chemiſchen Proceß ſo gern in unſre See -Q242len treiben, und darinn hermetiſch verſiegeln moͤchtet! So ſollten wir (billig!) wohl eine Art Gewaͤchs ſeyn, das zugleich Caſtanien truͤge und Pomeranzen, und auch eine Ananas waͤre, und ein Erdapfel, und ein Roſenſtrauch aber bey Leibe! daran keine Dornen! Sollte wohl Aſia gelegen ſeyn in Europa ſollten uns wohl bemuͤhen, die Kunſt der Barometer und Thermometer ſo weit zu trei - ben, daß wir rund um die Erde Zonam temperatam bekaͤmen, und immer ſchoͤnes und fruchtbares Wetter zugleich haͤtten ſollten wohl alle Tugenden erwerben und ausuͤben beym Ball ſchlagen, oder beym Taroc, à l'hombre ſollten ſollten

Ja, ſo in etwa denken laͤßt ſich freylich manches noch ſo eben. Aber von der ſchimaͤriſchen Vorſtellung bis zur wahren; vom Traum bis zur Wirk - lichkeit wie weit!

Es wird uͤberhaupt nie genug erwogen,243 was fuͤr ein unendlicher Unterſchied zwiſchen Bild und Sache, zwiſchen Begriff und An - ſchauung iſt. Welche Menge der entgegen - geſetzteſten Dinge koͤnnen wir nicht im Begriffe zuſammen nehmen, auf einander folgen laſſen? Viele denken ſich Himmel und Hoͤlle, und ihnen iſt bey dem Einen ungefaͤhr zu Muthe, wie beym Andern. Darum uͤberwiegt ſo haͤu - fig ſinnlicher Reiz die Vorſtellungen von den ſchrecklichſten Plagen der Zukunft: und darum iſt es ſo ein Lumpenkram um alle ge - lernte Religion und alle gelernte Moral.

Ein Menſch, der beſtaͤndig in der An - ſchauung edler Gegenſtaͤnde iſt, wird nicht leicht unedel handeln; wer aber das minder Gute, das minder Schoͤne in der Anſchau - ung, und das hoͤhere Schoͤne und Gute blos in einem angeblichen, anſchauungsloſen Be - griffe hat; wie wollte der handeln koͤnnen dieſem gemaͤß?

Alles ſtimmt zuſammen die Menſchen un - ſrer Zeit in dieſen Fall zu ſetzen. Daher der beſtaͤndige Widerſpruch zwiſchen HandlungenQ 2244und Grundſaͤtzen; daher die Irrungen ſelbſt in dem Syſtem der Grundſaͤtze, weil nichts irrleitender iſt, als die Combinationen blos ſpeculativ practiſcher Begriffe. Was fuͤr Meinungen, was fuͤr Entſchluͤſſe werden in unſrer Kindheit nicht in unſre Koͤpfe ge - ſchraubt, was fuͤr Geſinnungen nicht hinein - gedaͤmmert? Und wenn wir Arme dann hinausgeſtoßen werden in die Welt, wo jetzt alles dawider angeht; welch innerer Zwieſpalt, welche Zerruͤttung, welch gegenſeitiges Miß - trauen zwiſchen Herz und Geiſt!

O, ſchlage du nur fort, mein Herz muthig und frey; dich wird die Goͤttin der Lie - be es werden die Huldinnen alle dich be - ſchirmen: denn du ließeſt alle alle Freuden der Natur in dir lebendig werden; vertrau - teſt unumſchraͤnkt der allguͤtigen Mutter ſchenkteſt ihrem zarteſten Laͤcheln jedesmal von neuem dich ganz ſtroͤhmteſt hin in verdacht - loſem Entzuͤcken: lernteſt, empfingeſt von ihr, zu geben und zu nehmen, wie ſie ſelbſt. 245Gleich den Millionen Lichtſtralen, die von un - zaͤhligen Gegenſtaͤnden zuruͤckprallen, ohne ſich zu verwirren, dann im Auge ſich ſammeln wieder ohne ſich zu verwirren: o, unaus - ſprechliches Wohlthun unendliche Guͤte Leben und Liebe!

Luzie! liebe Luzie! daß ich es Dir mittheilen koͤnnte! koͤnnte leben Dich lehren dies unend - liche Leben. Nie wuͤrdeſt Du dann befeſtigen wollen die Sonne, weder in Oſten noch in Weſten, ſondern wuͤrdeſt wenden Dich nach Aufgang und Untergang. Und ſchoͤn iſt ja auch der Mond unter Sternen am Nachthim - mel Und ſchoͤn der dunklere Nachthimmel mit hellerfunkelnden Sternen im Neulicht! O, daß ich dieſe Gottesader in Dir ruͤhren, und zum immerwaͤhrenden Pulsſchlage bringen koͤnnte!

Q 3246

XXI. Luzie an Eduard Allwill.

Ihr juͤngſter Brief, mein theurer Freund und Lehrer, war mir beynah ſo viel werth, als eine perſoͤnliche Erſcheinung. Was Sie fuͤr ein Zauberer ſind! Als ich ihn geleſen hatte, dieſen Brief, war ich nein, ich war nicht zwey Jahre juͤnger; nur die Zeit hatte ſich um ſo viel verjuͤngt; Sie waren noch bey uns, und ich hatte Sie ganz rund da ſtehen, wie kurz vor unſerer Trennung. Nun urtheilen Sie, wie mir das ſo wunderlich im Kopfe herumge - hen mußte, daß ich an Sie geſchrieben hatte, und geſchrieben hatte alles das, wovon Sie ſo luſtig geworden waren, und daneben ſo hel - denwuͤthig. Meine herzliche Epiſtel an Sie wurde mir nun gerades Weges zur Poſſe; ich mußte lachen und erroͤthen.

Großer Mann, verzeihen Sie meine Unbe - ſonnenheit: ich vergaß, daß Sie ein Held247 ſind; daß ich nur ein unbedeutendes, un - ſchuldiges Maͤdchen bin, und daß Unſchuld dem Helden etwas ſo unnuͤtzes, ſo nichtswuͤr - diges ſcheinen muß; daß der Goͤttliche Unſchuld verſpottet; der Goͤttliche Unſchuld mit Fuͤßen tritt; uͤber ſie hin, erhaben, ſeine Bahn nimmt.

Unſchuld, Eduard! lieber Eduard, Unſchuld, Unſchuld, Unſchuld! Er - wacht keine erſte Erinnerung davon in Ihrer Seele?

Beſinnen Sie ſich doch weit, weit zu - ruͤck! Dort in der ſchattichtſten Gegend Ihrer Seele ſchwebt da nicht etwas noch von dem Schauder, der Sie ergriff, als ihr offe - nes Auge enger, Ihre lichte Stirne dunkel wurde, als das Gewoͤlbe Ihres Buſens wich, Ihr Athem ſich verminderte; Stand und Tritt, Ihr ganzes Weſen ſchwankte: als Un - ſchuld Sie zu verlaſſen drohte? Und wallet da nicht in dumpfem Nachhall noch etwasQ 4248von dem Donner als Sie Unſchuld von ſich warfen ?

Nein, armer Eduard, das iſt verſchwun - den, Dir auf immer verſchwunden!

Was will ich alſo? Sie koͤnnen ja unmoͤg - lich mich verſtehen Ihr guten Leute uͤberwachſt euch in den Kinderſchuhen. Be - vor ihr euch in euch ſelbſt ganz ſammeln koͤnnt, iſt euer Weſen ſchon angegriffen; bevor ſich euer Herz ſelbſt fuͤhlen kann, iſt es ſchon bethoͤrt. Da entſtehen denn hoͤchſtens, wo Schoͤnheit und Groͤße in der Anlage waren, ſolche herrliche Ungeheuer, wie ehemals die Centauren.

Eduard! ein ſehr auſſerordentlicher Menſch ſind Sie wahrlich. Wer Sie durchaus kennt, dem muß es oft wunderbar vorkommen, daß Sie nicht ein Engel an Tugend, oder ein Satan an Laſter geworden ſind. Die Unge - reimtheit Ihres Weſens widerſteht allem Begriff. 249Unbaͤndige Sinnlichkeit und ſtoiſcher Hang; weibiſche Zaͤrtlichkeit, der aͤuſſerſte Leichtſinn und der kaͤlteſte Muth und die feſteſte Treue; Tigers-Sinn und Lammes-Herz; allge - genwaͤrtig und nirgend wo; alles und nie etwas.

Laſſen Sie mich, Eduard! Ich ertrag es nicht laͤnger, an Ihnen Theil zu nehmen. Und muß es doch ertragen!

So hoͤren Sie denn, woran Ihre lange Epiſtel mich zuerſt erinnert hat. An einen andern Eduard hat ſie mich erinnert, der ſich einmal gegen unſern D** Sie wer - den wohl noch wiſſen, bey welcher Gelegen - heit auf folgende Weiſe ergoß.

Vertraͤglich, nachſehend, tolerant, ſagt der feurige Juͤngling, bin ich gewiß ſo ſehr, als ich es ohne meinen eigenthuͤmlichen Charakter zu verderben, ohne InconſequenzQ 5250 ſeyn kann. Mir daͤucht, wer auf eine andere Weiſe tolerant iſt, der mißbraucht Sache und Wort, der iſt nicht tolerant, der iſt wankel - muͤthig, ſchwach, kindiſch. Ein Kind wird von allen Dingen entzuͤckt, die nur im Vor - uͤbergleiten einen angenehmen Eindruck auf ſeine zarten Sinne machen; es unterſcheidet, es ſchaͤtzt ſie weiter nicht: in jeder Stunde iſt ihm etwas anderes ſchoͤn, und was in dem gegenwaͤrtigen Augenblicke es vergnuͤgt, das ſchoͤnſte von allem. Ein Mann im Gegen - theil unterſcheidet die Dinge an ihren eigen - thuͤmlichen Merkmalen; er ordnet ſie nach ih - rem Gebrauche fuͤr ſein ganzes Daſeyn, und weiß, was gut und ſchoͤn iſt, mit Namen zu nennen.

Alles Moͤgliche von einer gewiſſen Seite betrachtet, laͤßt ſich in einem ertraͤglichen Lichte ſehen; denn nichts kann durchaus haͤßlich und boͤſe ſeyn. Aber ſo, wie wir von entfernten Koͤrpern nur dann ſagen, daß wir ſie in ihrer wahren Geſtalt erken -251 nen, wann wir ſie ſo ſehen, wie ſie uns in der Naͤhe, in derjenigen Diſtanz er - ſcheinen, welche ich die Betaſtungsſphaͤ - re nennen moͤchte; eben ſo haben auch die moraliſchen Gegenſtaͤnde ihre ausgemachte Diſtanz oder Sphaͤre, in der ihre verſchiede - nen Erſcheinungen berichtiget, und auf die beſtaͤndigen Geſtalten der Gegenſtaͤnde zu - ruͤckgefuͤhrt werden muͤſſen. Wer nicht fuͤr ſich eine ſolche beſtimmte Sphaͤre unwandel - bar annimmt, ſondern bald in dieſe, bald in jene flattert; alle Augenblicke den Horizont wechſelt, und uͤberall zu Hauſe iſt: der kann vielleicht die Haͤlfte ſeiner Lebenszeit ein ganz guter Menſch ſcheinen; die andre Haͤlfte aber ſcheint er zuverlaͤßig ein deſto ſchlechterer; ein wuͤrdiger nie; iſt kei - nen Augenblick ein ganzer Mann.

An eben dieſen D** ſchrieb derſelbe Eduard: Das romantiſche Gebrauſe Ihres jungen Grafen iſt unertraͤglich. Ein Clo - dius, der den Brutus ſpielen will! Was252 ich davon denke, darf ich der Mutter nicht ſagen, wohl aber Ihnen. So ein Laffe, der alle Tage regelmaͤßig ſeinen dummen oder ſchlechten Streich ſpielt, mag ſich einfallen laſſen, die Welt ſey nicht gut genug fuͤr ihn! Er ſoll doch nur ja mit ihr vorlieb nehmen; denn wie der junge Herr beſchaf - fen iſt, ſo iſt er noch lange nicht gut genug fuͤr ſie, und er mag nur zuſehen, daß er nicht heute oder morgen auf eine unebne Weiſe ſeinen Abſchied daraus erhaͤlt. Mir fallen gleich Maulſchellen ein, wenn ich Leute mit erhabenen Geſinnungen heran kommen ſehe, die nicht einmal nur rechtſchaffene Geſinnungen beweiſen. Und ich werde nicht zufriedener mit ihnen, wenn ſie auch ihre ſchoͤnen Geſinnungen mit ſogenannten ſchoͤnen Handlungen begleiten; denn jedem, der ein weiches Herz und etwas Feuer im Blute hat, wird es leichter dergleichen zu thun als zu laſſen. Aber das Boͤſe zu meiden! das erfodert andere Kraͤfte; da muß der ganze Menſch ſich zuſammen nehmen, oft253 bis zur Vernichtigung ſich anſtrengen, und am Ende finden, daß er zu wenig hatte an den Kraͤften ſeiner ganzen Menſchheit. Noch einmal! Es iſt leicht, ſehr leicht, mancherley Gutes zu thun; und Großes zu thun, iſt immer eine Luſt: aber ohne Suͤnde bleiben, ohne Miſſethat das iſt o wie ſchwer! Aber auch, wie weit er - haben uͤber alles! Was iſt der wunderbarſte Luftſpringer gegen den Unerſchuͤtterlichen im Kampfe? Ein vortreflicher Schriftſteller ſagt irgendwo: ich wuͤßte nichts preiß - wuͤrdiges, wozu nicht auch der aͤuſſerſt mißrathene, durchaus fehlerhafte Menſch zuweilen ſich erheben koͤnnte Ord - nung, Maͤßigung und Beſtaͤndig - keit ausgenommen.

Ich fodere Sie nicht auf, guter Eduard, dieſe Auszuͤge mit den erheblichſten Stellen Ih - res juͤngſten Briefes an mich in Verbindung zu bringen, Wer weiß, was Sie leiſteten? 254Ich habe eine ſolche hohe Idee von Ihren phi - loſophiſchen Gaben, daß ich Ihnen beynah das Unmoͤgliche zutraue. Allein Ihrem Herzen ſey es anheim gegeben, wo die Fuͤlle der Wahrheit iſt; dort oder hier. Sie glauben ja Ihrem Herzen alles; ich glaube ihm auch. Fragen Sie Ihr Herz, wann es ſich am freye - ſten fuͤhlte; wo es ganz einſtimmte und mit Ihren Gedanken gleichen Strohm nahm: ob bey den Briefen an D**, oder bey dem an mich?

Lieber, offener koͤniglicher Juͤngling! Ach, ſo tief herabgewuͤrdigt zum bangen, ſchielenden Sophiſten!

Sie erinnern ſich wohl ſchwerlich eines Briefes, den Sie mir vor anderthalb Jahren ſchrieben; es war einer der erſten, nachdem Sie Wien verlaſſen hatten. Ich bin aͤuſſerſt ver - ſucht, ihn hier ganz abzuſchreiben; aber leſen Sie nur folgende Stellen wieder: Wenn in den vergangenen Tagen, Nachts vor Ein -255 ſchlafen, fruͤh beym Erwachen, in jedem ſtillen Augenblicke mein Wiener Aufenthalt mir vor die Seele trat; mancher verblichene Reſt des Vergangenen neues Leben erhielt; was in Beziehung ſtand, ſich einigte; alles auf einander wog, ganzer und inniger wur - de und ich nun uͤber vieles, o! uͤber ſo vieles in herbes, tiefes Trauern verſank; ſo fuhr es mir wohl unverſehens, wie ein gifti - ger Pfeil, durch die Bruſt: was ſoll dein Jammer, deine Reue, dein Klagen? Es iſt nur Hohn damit! Ein unbezwinglicher Leichtſinn, eine verruchte Achtloſigkeit, liegt zu tief in deiner brauſenden, unauf - hoͤrlich gaͤhrenden Natur. Wer dich kennt, traut dir nicht, liebt dich nicht! O Luzie! bis zur Verwirrung hats mich faſt gebracht, dies Sinnen uͤber mich ſelbſt, dies Hadern mit mir. Ich moͤchte nicht alles erzaͤhlen, wenn ich auch koͤnnte.

Wie groß, wie lieb! Damals, wie nah mein Eduard den Beſten ſeiner Gattung! 256 Allwill! Sie wurden dennoch nicht weiſer; und ſo mußten Sie bald nur deſto thoͤrichter, deſto ungluͤcklicher werden. Es kann nicht anders ſeyn, die unbeſonnene Heftigkeit, wo - mit Sie uͤberall ſich anwerfen, ſo vielfach ſich zertrennen, muß die ungereimteſte Verwirrung in Ihrem Weſen verurſachen, der gaͤnzlichen Zerruͤttung es immer naͤher bringen. Alle Haͤnde voll, wollen Sie noch immer mehr greifen, und koͤnnen dann weder faſſen noch halten. Ueberdem ſoll ſich jeder Gegenſtand des Genuſſes Ihnen noch in jedem andern Ge - genſtande vervielfaͤltigen. Sie ſind gerade der Mann, uͤber den Sie ſpotteten, der von einem Oranienbaum Caſtanien, und von einem Caſtanienbaum Pomeranzen verlangt; die leichtfertige Dirne ſoll auch die hohen Reize, alle Tugenden, die Liebe eines frommen Maͤdchen; und das fromme Maͤdchen wieder, die ſchnoͤden Annehmlichkeiten, die ganze Thor - heit der leichtfertigen Dirne beſitzen: und wenn dergleichen ſich nicht findet, dann iſt es eine Noth, ein Jammer, daß man zweifelt, obauch257auch wohl dieſe Welt einen Gott zum Urheber haben koͤnne?

Und das heißt denn doch Eines Sinnes ſeyn mit Natur! Allwill! Sie, eines Sinnes mit Natur? Sie, der immerwaͤhrend die aͤchteſten Bande der Natur aufloͤſet; wahre, reine Verhaͤltniſſe zerſtoͤrt, um ertraͤumte, ſchimaͤriſche an die Stelle zu ſetzen dann ſich abarbeitet, alle Schwarzkuͤnſteleyen zu Huͤlfe nimmt, um den wankenden Schatten zu befeſtigen; und da nichts deſtoweniger die Son - ne ihn verruͤckt, dem Segens-Wandel der Sonne fluchet Sie, Eines Sinnes mit Natur?

Wenn ich nur etwas wuͤßte, was der Na - tur mehr entgegen waͤre, als jene Unmaͤßigkeit, welche alle Beduͤrfniſſe vervielfaͤltiget und graͤn - zenloſen Mangel ſchafft, mit ſeinen unendlichen Noͤthen Angſt, Schmerz, Gewaltthaͤtigkeit, Betrug, Argliſt und Tuͤcke. Nur einen fluͤch - tigen Blick auf die Welt was in ihr alles ſoR258verdirbt, daß wir ſie boͤſe nennen muͤſſen! Es iſt offenbar nur jene Ungenuͤgſamkeit, jenes blinde Ringen nach Allem, jenes Schei - dekuͤnſteln an den Dingen, um das Weſen von der Subſtanz, die Wirkung von der Ur - ſache abzuloͤſen; um zu widernatuͤrlichen Be - duͤrfniſſen widernatuͤrliche Mittel zu erfinden. Ich weiß wohl, daß es wenig fruchtet, da - gegen zu predigen; aber dafuͤr zu predigen, die Theorie der Unmaͤßigkeit, des Laſters, als die einzige Philoſophie des Lebens, als den einzigen Weg zur Gluͤckſeligkeit, ja zur hoͤch - ſten Vortreflichkeit, anzupreiſen: das waͤre, daͤucht mich, doch wohl das unſinnigſte Be - ginnen, das ſich erdenken ließe, und das boͤſeſte!

Ja, Eduard, Theorie der Unmaͤßig - keit, Grundſaͤtze der ausgedehnte - ſten Schwelgerey, das ſind die eigent - lichen Namen fuͤr das, was Sie mit ſo vie - lem Eifer, mit ſo großem Aufwande von Witz, Raiſonnement, und dichteriſchem259 Schmucke, an die Stelle der alten Weisheit zu ſetzen trachten; und das gewiß nicht auf Anrathen Ihres Herzens, das groß und edel iſt; ſondern Ihrer Sinnlichkeit zu Liebe, welche Sie, unter dem Worte Em - pfindung, ſo gern mit Ihrem Herzen in Eins miſchen, wie wohl auch jeder andere Menſch mehr oder weniger thut, und nicht an - ders kann. Sinnesfreude iſt die Lichtwolke, worauf alles Goͤttliche vom Himmel zu uns hernieder ſteigt; aber Dunſt aus Moor und Gruͤften iſt keine Wolke vom Himmel, obſchon er die Huͤgel hinan ſchleicht, und Sonnen - licht haſchet.

Aber Sie koͤnnen das nicht unterſcheiden! Doch unterſcheiden Sie uͤbrigens ſo ſcharf, em - pfinden ſo reinweg alles Schoͤne! Freylich; aber auch alles Schoͤne ſo lebhaft, daß je - der Eindruck davon Sie berauſcht, Ihnen fuͤr die Zeit alle weitere Beſinnung raubt. Nur ein Tropfen Nektar an des Bechers Ran - de, und Sie verſchlingen, ohne es zu merken, das abſcheulichſte Getraͤnk.

R 2260

Eine fuͤrchterliche Beſtimmung, dieſer Eduard Allwill zu ſeyn! Unaufhoͤrlich, auf ſo mancherley Weiſe bis ins Mark erſchuͤttert; und die Menge tiefer Leiden in der Folge. Armer! daß Du nicht endlich mit zu Grunde geheſt bey den Stoͤßen, da alles an Dir zerſchellt; oder erſtickeſt unter dem Schutte.

Koͤnnte ich nur jedes liebe unſchuldige Ge - ſchoͤpf aus Deinem Bann entfernen! Ach, wie viele der Ungluͤcklichen Du noch machen wirſt, die Du ihrer eigentlichen Beſtimmung, ihres natuͤrlichen Verhaͤltniſſes entſetzen, ſie aller Hal - tung fuͤr ihr kuͤnftiges Leben verluſtig machen wirſt! Gutes Maͤdchen, das ſage ich nicht, daß er dich nicht liebt. Er liebt dich ge - wiß; mit mehr Wahrheit vielleicht, als kein anderer Menſch dich lieben koͤnnte; liebt ge - rade alles wahrhaft Schaͤtzbare an dir, gera - de das, worin deine gutgeſchaffene Seele ihre angemeſſenſte Thaͤtigkeit, ihre eigenſte Wonne, fuͤhlet. Nicht wahr, das fuͤhlſt du, das261 ſichert dich, daß er dich innig liebt, wie du dich ſelbſt, und wie du ihn liebeſt; und du haſt Recht ſo an ihn zu glauben; dein iſt ſeine ganze Liebe. Aber, armes Kind! Allwill liebt nie anders; er iſt immer ſeinem Gegenſtande ganz; morgen vielleicht der Ehre; einem vortreflichen Manne; ei - ner Kunſt; vielleicht einer neuen Ge - liebten. Sieh, dieſer Allwill der Un - gluͤckliche! muß unſtaͤt und fluͤchtig ſeyn; er iſt verflucht auf Erden aber gezeichnet mit dem Finger Gottes; daß kein Menſch Hand an ihn zu legen wagt. Eduard, guter Eduard! jammert Dich nicht das arme Geſchoͤpf? O ſo ſchone denn! ſchone, ſchone!

Aber, was hilft mein Flehen; was huͤlfe das Flehen einer Welt? Deine Sinne, Dei - ne Begierden ſind Dir zu maͤchtig; und da ſie eine ſo bequeme taͤuſchende Huͤlle an Deiner ſchoͤnen Fantaſie haben, wirſt Du nie ſie fuͤr das erkennen, was ſie ſind. Ach, die Beduͤrf -R 3262niſſe Deiner Sinne, die Taͤuſchungen Deiner Sinne glaube mir, Allwill (ſchwindender Athem meiner Bruſt, komm, ſammle dich, daß meine Stimme weniger be - be, und ihr kranker Laut ihn erreiche) Allwill, es ſind Moͤrder! Hieher und daher wird es Dir immer graͤßlicher in die Ohren gellen: Moͤrder! Meuchel - moͤrder!

So manches Unheil, ſo unſaͤglicher Jam - mer allein in dieſem Bezirk der Menſch - heit durch Sie angerichtet, wuͤrde Ihnen die Nichtigkeit Ihres Syſtems hinlaͤnglich blos ſtellen, wenn es nicht ausdruͤcklich erfunden waͤre, Sie fuͤr dergleichen Anſichten blind zu machen. Da ſoll nun eine Menge herrlicher Empfindungen, welche ſich anders nicht erwer - ben und zuſammen bringen ließen, alles Boͤſe mit Wucher erſetzen, und dieſer innere Genuß alle ſeine Koſten aufwiegen. Hiebey faͤllt mir ein, was ich Sie oft vom Wiſſen ſagen hoͤr - te. Sie verglichen den großen Haufen unſe - rer Studierenden mit Leuten, die gar emſig263 hin und her liefen, um zu ſuchen was ſie nicht verloren haͤtten. Gern belachte ich mit Ihnen die Thorheit eines ſolchen geſchaͤftigen Muͤßiggangs, um lauter Wiſſerey ohne Wiſſen. Aber ſagen Sie mir, lieber Eduard, iſt es eine reellere Sache um das muͤßige Sammeln von Empfindungen, um das Beſtreben, Em - pfindungen zu empfinden, Gefuͤhle zu fuͤhlen? Findet hier nicht eine viel un - gereimtere Abſonderung ſtatt, wie dort beym Wiſſen? Ich glaube, wer eine ſchoͤne große Seele in der That beſitzt, haͤlt ſich nicht da - mit auf, die Empfindungen, welche ſeine Handlungen treiben, die entzuͤckenden Ge - fuͤhle, welche ſie begleiten, auf ſolche Weiſe abzuſondern; wird ſich ihrer nie dergeſtalt be - wußt, daß er ſie in Vorſtellungen aufbewah - ren, und aus ihrer Betrachtung einen unab - haͤngigen Genuß ſich bereiten koͤnnte: er ſagt nicht: es iſt Seligkeit in dieſer Empfindung, in dieſem Gefuͤhl, ſondern es iſt Seligkeit in die - ſer That. Und das, Lieber, macht die Bahn des Edlen richtig.

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Vor einigen Monaten ſtarb ein Greis, mit Namen Wigand Erdig; der hatte aus dem elenden Flecken D* eine anſehnliche Stadt voll gluͤcklicher Buͤrger gemacht. Ich glaube nicht, daß er auſſer ſeinem Gewerbe viel mehr als ſeinen Katechiſmus wußte; aber ſein Ge - werbe verſtand er gut, war an Ordnung, Fleiß, Maͤßigkeit an geſunde Vernunft gewohnt, und ſo von Tag zu Tage kluͤger, geſchickter, emſiger und unternehmender gewor - den. Nun legte er zu D* eine Tuchmanu - factur an. Der Fortgang ſeines Unternehmens litt unzaͤhlige Hinderniſſe; aber er war ein - mahl im Gedraͤnge, und mußte durch. Eine Schwierigkeit nach der andern wurde uͤberwun - den; der Mann immer muthiger und weiſer. Wenige Jahre verſtrichen, da waren fuͤnfhun - dert Familien in ſeinem Brodte. Der benach - barte Bauer, um dieſes zu ſchaffen, ver - groͤßerte ſein Haus und machte oͤde Laͤndereyen urbar; es wurden fruchtbare Baͤume gepflanzt, Gaͤrten angelegt; die ganze Gegend fuͤllte und verſchoͤnerte ſich. Endlich ward dieſen Gluͤck -265 lichen das Thal zu enge. Da ſprengten ſie Fel - ſen weg und bauten Stufenweiſe die Berge hinan. Das alles brachte dieſer einzige Mann zuwege, und ohne andre Abſicht (ſeines Be - wußtſeyns) als ſein Gewerbe in Flor zu brin - gen, ſein Haus zu gruͤnden, und ſeine Nach - kommen in Segen zu ſetzen. Eben ſo wurden ihm die Eigenſchaften ehrwuͤrdiger Menſchheit. Die Klugheit und die Unſtraͤflichkeit ſeines Wandels hatten ihn bey ſeinen Mitbuͤrgern in ſolches Anſehen geſetzt, daß ſie, wie einen Va - ter, ihn uͤber ſich walten ließen. Sein Ur - theil, das Licht ſeines Gewiſſens, galt ihnen mehr als alle Geſetzbuͤcher. In den letzten Jahren, wenn der alte Erdig uͤber die Straße gieng, traten die Leute vor ihre Haͤuſer, und wer ihm begegnete, wich auf die Seite, um ihn mit gebuͤhrender Ehrfurcht zu gruͤßen. Man muß die Leute ſehen, wenn ſie erzaͤhlen, wie der Ehrenreiche Greis langſam ſo einher trat, gegen jeden, freundlich, ſein leuchtendes Haupt neigte, und ihnen alles Gute erinner - lich wird, was er geſtiftet hat. NichtR 5266Thraͤnen, es kommt ihnen ſonſt etwas in die Augen, verbreitet ſich uͤber ihr ganzes Ge - ſicht Verheiſſung des ewigen Le - bens: Er iſt bey Gott! Allwill! dieſer Glanz der Heiligkeit wiſſen Sie etwas daruͤber?

Eure Flitter-Philoſophie moͤchte gern alles, was Form heißt, verbannt wiſſen. Alles ſoll aus freyer Hand geſchehen; die menſchliche Seele zu allem Guten und Schoͤnen ſich ſelbſt aus ſich ſelbſt bilden; und ihr bedenkt nicht, daß menſchlicher Charakter einer fluͤßi - gen Materie gleicht, die nicht anders als in einem Gefaͤße, Geſtalt und Bleiben ha - ben kann; laßt euch deswegen auch nicht ein - mal einfallen zu erwaͤgen, daß eitel Waſſer in einem Glaſe mehr taugt, als Nektar in Schlamm gegoſſen.

Ich kann Ihnen alle moraliſchen Syſteme, als wirklich Haltung ertheilende Form betrachtet, Preis geben, und bin dazu bereit, da ich ſelbſt267 nur der ganzen Menſchheit eines Men - ſchen traue, und mich wenig auf die Weisheit und Tugend, die nur in und an ihm iſt, ver - laſſe. Aber zur Menſchheit eines jeden Menſchen gehoͤren Grundſaͤtze, und irgend ein Zuſammenhang der Grundſaͤtze; und es iſt klarer Unſinn, hievon als von etwas Ent - behrlichem zu reden. Was nuͤtzen Erfahrun - gen, wenn nicht durch ihre Vergleichung ſtandhafte Begriffe und Urtheile zuwege gebracht werden; und was waͤre uͤberall mit dem Menſchen vorzunehmen, wenn man nicht auf die Wirkſamkeit ſolcher Begriffe und Ur - theile zu fußen haͤtte? Auch nehmen wir ſo allgemein fuͤr den eigenthuͤmlichſten Vorzug der Menſchheit an, nach Grundſaͤtzen zu han - deln, daß der Grad der Fertigkeit hierin den Grad unſerer Hochachtung oder Verachtung beſtimmt. Wir preiſen denjenigen, bey wel - chem der Empfindung das Gefuͤhl, und dem Gefuͤhl der Gedanke die Wage haͤlt. Al - ſo nicht unſere Gefuͤhle verringern, nicht ſie ſchwaͤchen will die Weisheit; ſie nur reinigen268 will ſie; und dann bis zur Lebhaftigkeit des Ge - fuͤhls den Gedanken erhoͤhen: alſo die Empfin - dung uͤberhaupt ſchaͤrfen, vergroͤßern.

Ich weiß, daß Sie mehrmals, von ho - her Idee begeiſtert, heftige Begierden un - terdruͤckten, Leidenſchaften uͤberwaͤltigten. Haben Sie jemals ſich groͤßer gefuͤhlt, als in ſolchen Augenblicken; waren Sie je freu - diger, triumphierender? Auf nichts duͤnken Sie ſich ja mehr, als daß gewiſſe Ideen ſo feſt in Ihnen halten, daß kein Vorfall Ihren Glauben daran einen Augenblick irre machen kann, Sinne und Imagination moͤgen vorſpie - geln was Sie wollen. Edler Stolz kann nie eine andre Quelle haben. Jede Erhabenheit des Charakters kommt von uͤberſchwaͤng - licher Idee. Als Portia den Brutus uͤberfuͤhren wollte, daß ihre Seele faͤhig ſey, die ſeinige in allen ihren Unternehmungen zu begleiten, wußte ſie kein beſſeres Mittel, als ihm eine Probe vor Augen zu legen, daß ſinnliche Eindruͤcke nichts uͤber ſie vermoͤchten.

269

Steigen wir von der Helden-Sitte bis zum gefaͤlligen Weſen unſerer Tage herab; uͤberall ſehen wir am meiſten geehrt, was Obermacht des Gedankens uͤber ſinn - liche Triebe beweiſet. Die Lebensarten moͤgen noch ſo verſchieden ſeyn, die Gebraͤuche noch ſo mannichfaltig und abwechſelnd; dieſe Begriffe halten, bey genauer Unterſuchung, uͤberall Stand; ſie erſtrecken ſich bis auf die Urtheile von Mienen und Geberden, und fuͤh - ren uns ſelbſt zur Quelle aller Gefuͤhle von An - ſtaͤndigem und Unanſtaͤndigem. Wo Gedanke den Menſchen zu verlaſſen ſcheint; wo er ganz in des Triebes Gewalt iſt; wo er dieſen nur die Oberhand gewinnen laͤßt; nur der Ge - fahr ſich ausſetzt, von ihm uͤbermeiſtert zu werden: da fuͤhlen wir Unanſtaͤndigkeit.

Es iſt gerade zum Vortheile der Grund - ſaͤtze, was Sie am Anfange Ihres Briefes von den widerſprechenden Erſcheinungen im Men - ſchen anfuͤhren, wo ihm wechſelsweiſe ſeine Weisheit zur Thorheit, und ſeine Thorheit zur270 Weisheit wird. Man ſollte glauben, eben dieſe feine Organiſation, welche Sie zu der - gleichen Bemerkungen geſchickt macht, Ihnen Materie und Form dazu bietet, muͤßte Ihnen auch die Ueberzeugung aufdringen, daß dem Menſchen eine feſte Lehre des Achtungswuͤrdi - gen, daß ihm unverbruͤchliche Vorſchriften des Verhaltens unentbehrlich ſind. Was anders kann in ſeinem Thun ihn ſichern; was als ei - nen zuverlaͤßigen Mann ihn darſtellen? In alle Wege muß er ſonſt verloren gehen.

Den eingeſtandenen Wankelmuth des menſch - lichen Herzens ſogar bey Seite, und angenom - men, das Ihrige waͤre ſo beſchaffen, daß es Sie immer recht leitete; aber nur auf eine Weiſe, welche der eingefuͤhrten allgemeinen Ordnung oft zuwider liefe: ſo muͤßte dennoch Ihr Character verwildern. Es koͤnnte nicht fehlen, indem Sie diejenigen Geſetze angrif - fen, welche der gemeine Menſchen-Sinn fuͤr unverbruͤchlich erklaͤrt, daß Ihnen beynah jeder im Wege ſtuͤnde; Ihre Beſtre -271 bungen hemmte; unwiſſend oder aus Abſicht Ihnen die aͤuſſerſte Quaal verurſachte; kurz. daß Jedermanns Hand ſich wider Sie erhoͤbe. Zwiefach waͤre dann gegen Jedermann die Ih - rige. Eckel, Gram und Haß naͤhmen Ihre Seele ein. Mit der Gewalt draͤngen Sie nicht durch. Sie muͤßten alſo, um Ihr erhabene - res Leben zu retten, Liſt, Verſtellung, Be - trug zu Huͤlfe rufen; lauter krumme Wege gehen: dies entzweyte Sie nothwendiger Wei - ſe mit ſich ſelbſt; und ſo muͤßten Sie bald voll tiefen Graͤuels ſich und die Welt verfluchen.

Schnoͤde Prahlerey, daß Ihr Herz immer freyer und freyer ſchlage. Es kann nicht frey ſchlagen, ſo lange es Geheimniſſe des Frevels und der Schande zu bergen hat; ſo lange es vor dem Blicke des Unſtraͤflichen ſich zuſammen ziehen von dem Athem des Reinen erſticken muß in ſeinem Blute damit nur Deine Stirne weiß bleibe, wenn er Dinge der Finſterniß mit ihrem Namen bezeichnet, und Du fuͤhleſt, er redet von Deinen Thaten.

272

Allwill! mir ſchaudert, wie ich Dich manchmal beben vergehen ſah; bis zur Ohnmacht in Verwirrung uͤber dem Abſichtlo - ſen Worte eines Thoren, eines Kindes; uͤber dem Muthwillen eines Gaſſenbuben, den Schmaͤhreden eines Trunkenen.

Aber Sie haben wohl nunmehr dergleichen Schwachheiten von ſich abgeworfen. Aus ei - nem Stuͤcke Ihres Briefes, wo Sie die Zwey - deutigkeit aller Tugenden zu erweiſen trachten, erhellet, daß Sie wenigſtens mit großer Muͤhe daran arbeiten. Ich will Sie nicht ſtoͤren, Eduard. Doch, zur Erholung, laſſen Sie ſich erzaͤhlen, was ich geſtern von ungefaͤhr in meinem ehrlichen Montaigne las, und dann eine Anekdote, die ich weiß.

Der treuherzige Montaigne erzaͤhlt, daß man ihn nie haͤtte vermoͤgen koͤnnen, fuͤr Koͤ - nig und Vaterland ſogar, in etwas Schlech - tes zu willigen. Er glaubte, wenn er einmal ſich ſelbſt waͤre untreu geworden, wuͤrde erleicht273leicht es nachher auch dem Staate werden. Man muß eine Sache Gott uͤberlaſſen, ſagt er, wenn menſchlich zu helfen un - moͤglich iſt; und was iſt unmoͤglicher, als daß ein rechtſchaffener Mann Treue und Glauben verlaſſe? Was kann we - niger geſchehen, als was ein Mann von Ehre nur auf Unkoſten der Ehre und Treue bewerk - ſtelligen koͤnnte?

Hiernaͤchſt erwaͤhnt er, unter andern, des Epaminondas, des vortreflichſten unter den Menſchen, bey welchem jede einzelne Pflicht in ſo hohem Anſehen ſtand, daß er nie in der Schlacht den Ueberwundenen zu Boden ſtieß; der ſich ein Gewiſſen daraus machte, ſelbſt um des unſchaͤtzbaren Guten willen, die Freyheit ſeinem Lande zu verſchaffen, einen Tyrannen oder ſeine Mitgenoſſen, ohne Form der Ge - rechtigkeit, umzubringen; und der denjenigen fuͤr einen ſchlechten Menſchen hielt, ſo ein guter Buͤrger er auch ſeyn mochte, der unter den Feinden und in der Schlacht ſeinen FreundS274und Wohlthaͤter nicht verſchonte. Schreck - lich in ſeinen Waffen und mit Blute beſpritzt, kommt er und zertruͤmmert ein unuͤberwindli - ches Volk, ihm allein uͤberwindlich. Aber mitten im Handgemenge begegnet ihm ſein Gaſtfreund, und er geht ſeitwaͤrts .... Schon iſt es ein Wunder mit der Wuth des Krieges etwas von Gerechtigkeit zu vereinba - ren; aber nur der Feſtigkeit eines Epaminon - das war es verliehen, die Sanftmuth der mil - deſten Sitten damit zu verbinden und die rein - ſte Unſchuld! .... Wenn es Groͤße des Muths, und Wirkung einer auſſerordentlichen Tugend iſt, fuͤr das allgemeine Wohl oder aus Gehorſam gegen die Obrigkeit, Freundſchaft, Privatpflichten, Wort und Verwandſchaft aus den Augen zu ſetzen: ſo iſt das wahrlich genug uns hievon loszuſprechen, daß es eine Art Groͤße iſt, welche in Epaminondas Seele nicht Platz haben konnte.

Nun die Anekdote. Sie kennen Au - guſte von G **, die treue, makelloſe Seele,275 die ſo einzig iſt, weil ſie nur Begriffe von Gutem und Wahrem hat, nur im Guten und Wahren Witz und Laune. Eine unſelige Cokette ver - fuͤhrte ihren Mann. Auguſte, im hoͤchſten Grade arglos, merkte lange nichts. Weil aber G ** genoͤthiget war, ihr manche Unwahr - heit zu ſagen, und jede Unwahrheit Luͤgen ohne Zahl gebiert, ſo mußte wohl das liebe Weib endlich merken, daß es hintergangen wurde. Nun begab es ſich an einem Tage, daß ihr, in des Mannes Gegenwart, auf einmal zwey recht auffallende Betruͤgereyen offenbar wurden. Sie koͤnnen ſich G ** s Zuſtand vorſtellen. Kaum war der Freund, welcher unſchuldiger Weiſe die Sache ans Licht gebracht hatte, zur Thuͤr hinaus, ſo hub Au - guſte an: Hoͤre doch, Max, du hatteſt mir ja dieſe Sache ſo, und jene ſo geſagt, und ich hoͤre es nun ganz anders? Ich merke ſeit einiger Zeit, daß du mir oͤfters Unwahrheiten ſagſt Wenn du wuͤßteſt, wie mich das be - truͤbt! Freylich, antwortete G **; aber das iſt nicht meine Schuld; wer ſich unbeſchei -S 2276dene Fragen erlaubt, der zwingt den andern zur Luͤge. O Gott, ſagte Auguſte mit freundlicher, weinender Stimme: Wenn ich denn nur wuͤßte was ich nicht fragen muß; ich wollte gewiß nie ſo etwas fra - gen, damit du nie zu luͤgen brauchteſt.

Iſt Ihnen eine Luͤge bekannt, Eduard, die an Kraft zum Guten, auch an Erha - benheit, dieſem unſchuldigen Gebet meiner Auguſte um Wahrheit gleich zu ſchaͤtzen waͤre?

Unſchuld, Eduard! lieber Eduard, Un - ſchuld, Unſchuld! So fieng ich an; ſo muß ich endigen. Suͤße, reine, ewige Wonne der Unſchuld das iſt es doch; ja, Eduard, das iſt es, was auch Du ſucheſt: ach, auf dem Wege der Verſtockung!

Liebes Maͤdchen, Deinen Namen? Wo biſt Du? Eile! Eile, Freundinn, daß277 ſein Blick Dich finde, Dir begegne, und der Deinige ihn faſſe! Liebe kann vielleicht ihn retten; kann vielleicht zuerſt in ſeinem Her - zen den Geſchmack an Lauterkeit und Unſchuid wieder rege machen. O, ſo komm doch! komm und entzuͤnde den Strahl in ſeinem Auge, der alle Sehkraft an ſich zieht, da - mit er aufhoͤre, leichtfertig umher zu gaffen; damit ihm ſein Auge ein Licht werde. Fuͤlle ihm den Buſen mit Ahndungen jener Wonne, die keinen Zuſatz vertraͤgt, damit er nuͤchtern werde, und, was Leben, und, was Freude iſt, erfahren lerne!

O jener Tage, wo ich noch glaubte, ſelbſt berufen zu ſeyn, Dein Weſen in Liebe zu erwecken, durch Liebe zu heiligen!

Eduard, ich haͤtte alles geduldet, alles entbehrt, um Deinetwillen!

S 3278

Aber es kam eine Stunde, da fuͤhlte ich, daß ich wohl einſt Dich wuͤrde verach - ten muͤſſen. Es ergriff mich ein tiefes Schrecken, und ich entfloh. Ich war ent - flohen, und kam zuruͤck mit verhuͤlltem Ange - ſicht. Alle meine Liebe zu Dir hatte ſich in heiſſe Sorge um Dich verwandelt. Verbor - gen kam ich zuruͤck mit aller meiner Liebe, um Dich nie zu laſſen.

Ich ſey von Schwaͤrmerey; ich ſey an der Einbildung geſtorben, wird es heiſſen. Nun ja! Wenn nur Du auf mein Grab kommſt, Eduard, mit dem Maͤdchen, das ich Dir rief, mit dem Maͤdchen, das Dein Weſen erneuern, zu jeder Freude der Menſchheit Deine Sinne wieder rein ſtimmen ſoll! Dann wirſt Du immer nur Eins, das Koͤſt - lichſte, wollen; aneckeln alles andere, wirſt dies Koͤſtlichſte, liebſte, mit Deiner gan - zen Kraft genieſſen, und darum jeden Genuß des aͤhnlichen Geringern fuͤr Verluſt achten.

279

Ja, Eduard, Du kommſt auf mein Grab mit dem Maͤdchen, und kuͤſſeſt da den himm - liſchen, ewig neuen Kuß der Treue. Komm nur bald!

Il y a cette difference entre l'amour et le ſo - leil, que le ſoleil montre ſur terre à ceux qui ont des yeulx, autant les laides que les belles choſes, et que l'amour n'eſt la lumiere que des belles ſeulement. (Plutarque. )
Λεος ανϑρωπῳ ου μιγνυται, αλλα δια του δαιμονιου πασα εστιν ὁμιλια και διαλεκτος ϑεοις προς ανϑρωπους.
(Διοτιμα. )
S 4[280][281]

Zugabe. An Erhard O **.

Quid eſt enim verius, quam neminem eſſe oportere tam ſtulte arrogantem, ut in ſe ratio - nem et mentem putet ineſſe, in cœlo mundoque non putet? aut ut ea, quæ vix ſumma ingenii ratione comprehendat, nulla ratione moveri putet? quem vero aſtrorum ordines, quem die - rum noctiumque viciſſitudines, quem menſium temperatio, quemque ea, quæ gignuntur nobis ad fruendum, non gratum eſſe cogant; hunc hominem omnino numerare, qui decet? (Cicero de Legg. II. 7. )S 5[282]
Βουλει δητα και ἡμεις τοις εμπροςϑεν ὁμο - λογουμενοις ξυμφησωμεν, ὡς ταυϑ̕ ὁυτως εχει; και μη μονον οιωμεϑα δειν τ̕αλλοτρια ανευ κιν - δυνου λεγειν, αλλα και συγκινδυνευωμεν και με - τεχωμεν του ψογου, ὁταν ανηρ δεινος φῃ ταυτα μη ὁυτως, αλλ̕ ατακτως εχειν; Πως γαρ ουκ αν βουλοιμην;
Plato Phileb. T. II. p. 28. 29. Ed. Bipont. IV. p. 244.
283

Das heiſſeſt Du ſchimpfen, und zuͤrnſt, daß ich, laͤchelnd, Dich einen Antediluvianer nannte? Doch laͤchelteſt Du ehmals mit, es ſchien Dir zu gefallen, wenn man Dich unter die Rieſen zaͤhlte, unter jene derben elaſtiſchen Maͤnner, denen kein ſtrafender Geiſt eine Strieme oder Beule zu ſchlagen den Arm hat - te; unter jene Gluͤcklichen, die immer guter Dinge waren, freyeten um alles, von allem ſich freyen ließen, und des graͤmlichen Noah ſpotteten, bis er einpackte, und mit ſeinem Kaſten davon ſchwamm.

Biſt Du nun ein Feind Deiner unſklavi - ſchen herzhaften Ahnen geworden? Nicht mehr jener derbe, durch und durch elaſtiſche Mann? 284Nicht mehr guter Dinge uͤberall und immer? Das ſey ferne, ſagt Dein ganzer Brief! Du biſt was Du wareſt in einem nur noch hoͤheren Grade, und nur von Rechtswegen ſoll, wie Du zunimmſt in Deinem Weſen, auch meine Liebe zu Dir immer hoͤher ſteigen.

Haſt Du wo an meiner Freundſchaft eine Abnahme geſpuͤrt? Ehre ich Dich weniger als ehmals; richte oder ſchaͤtze ich Dich anders?

Dir gab die Natur, zu den auſſerordent - lichſten Geiſtesfaͤhigkeiten, ein heiteres Ge - muͤth von unſchaͤtzbarem Werthe; Gutmuͤ - thigkeit, Bruderſinn, edlen Fleiß und ſchoͤnen Muth. Dies liebte ich an Dir; dies werde ich an Dir lieben und ehren, ſo lange ich athme.

Ich liebe nicht an Dir, und kann nicht an Dir lieben, was Du nicht haſt; was ich Dir mehrmals definieren ſollte, und nicht285 konnte; was, undefiniert, Dein großer Kopf als eine Armſeligkeit des Herzens verſchmaͤhte und belaͤchelte Dir fehlt In - nigkeit; ein tieferes Bewuſtſeyn des gan - zen Menſchen; ein aus dieſem tieferen Be - wuſtſeyn hervorgehendes eigenes Vermoͤgen: Sich ſelbſt naͤhrender, ſtaͤrkender, in ſich ſelbſt gedeihender Sinn und Geiſt! Dir fehlt jene ſtille Sammlung, die ich verzeihe! Andacht nennen muß; jenes feyerliche Schweigen der Seele vor ſich ſelbſt und der Natur; das feſte An - ſaugen an Schoͤnes und Gutes, welches tief lebendig macht, und dadurch unabhaͤngig groß. Es fehlt Dir ein nie verſtummen - des, eine zweyte beſſere Seele allmaͤhlich bil - dendes Echo in dem Mittelpunkte Deines Weſens.

Hoͤre mich, Erhard! Ich ſage das mit Dir: Heitern Sinn und immer frohen Muth, wenn der Menſch ſich dieſes geben kann, ſo giebt er ſich das Hoͤchſte. In286 Freude erſcheint die Wahrheit, in Freude erſcheint das Leben. Ihre Bedeutung, ernſt und groß, verborgen, mit ihr, im Triebe, der ſich und ſeinen Gegenſtand zu - erſt nicht kennt, erſchallt durch ſie als ein le - bendiges Wort in unſerer Bruſt; durchdringt jede ſelbſtthaͤtige, ſich ſelbſt ausfuͤhrende und fortbildende Natur: Ein ἑυρηκα, deſſen Zeug - niß iſt: So wahr ich lebe, ſo wahr ich bin!

Haſt Du Freude, Erhard? Du Liebhaber der Vergaͤnglichkeit, der Ungeſtalt, des Todes?

Du ſpotteſt meiner Hofnungen, meines Ringens nach einer feſten Ueberzeugung, die ich, im voraus, Wahrheit und Erkenntniß nenne. Schatzgraͤberey willſt Du ein Suchen dieſer Art genannt wiſſen. Du fragſt und fragſt wieder, damit ich ja nicht unterlaſſe mich ſelbſt zu fragen: Was iſt Wahrheit? Und Dir iſt ſo wohl bey dieſer Frage! Du ruhſt ſo ſanft im Schooße Deiner Gott -287 heit jenes ewig verſchlingenden, ewig wie - derkaͤuenden Ungeheuers, welches Werthern erſchien, wie ehmals dem Brutus ſein boͤſer Genius. Du wirſt mich wiederſehen bey Philippi! Und bey Philippi gab der Held ſeinen Geiſt mit den Worten auf: Tugend, du biſt nur ein lee - rer Name!

Das iſt ſie nicht! Du ſelbſt, Erhard, rufſt mit edlem Unwillen: Das iſt ſie nicht! Nun, ſo laß mich denn auch nach Wahrheit ringen, nach meinem Schatze graben, und am Finden nicht verzweifeln.

Schein und Schatten umgeben uns. Nicht einmal das Weſen unſeres eigenen Daſeyns erkennen wir. Alles praͤgen wir mit unſerm Bilde, und dies Bild iſt eine wechſelnde Ge - ſtalt; jenes Ich, daß wir unſer Selbſt nen - nen, eine zweydeutige Geburt aus Allem und aus Nichts: die eigene Seele nur Erſchei - nung .. Doch eine der Weſenheit ſich naͤ -288 hernde Erſcheinung! Selbſtthaͤtigkeit und Leben offenbaren ſich in ihr unmittelbar(*)Non valet tantum animus, ut ſe ipſum ipſe videat: at, ut oculus, ſic animus ſe non videns alia cernit. Non videt autem, quod minimum eſt, formam ſuam. Fortaſse: quamquam id quoque. Cic. Tuſc. Quæſt. L. I. c. 28.. Darum iſt uns der Seele reines Gefuͤhl, Subſtanz Urbild des Seyns von Al - lem; ihr reines Sinnen, von allem die bil - dende Kraft; ihr reiner Trieb, das Herz der Natur. So erfuͤllt das Unendliche ein leben - diger, ſehender, ordnender, beſtimmender Geiſt. Vertieft in dieſe Geſichte gleicht der ſtaunende Forſcher jenem Beherrſcher Aſſyriens, der nur wußte: Es lag ihm ein Traum in der Seele! Ein Traum, den er nicht auszubilden, vielweniger zu deuten im Stan - de war(**)Daniel. II. .

Wird289

Wird der Weiſere vielleicht ihn deuten, in - dem er das Lebendige aus dem Unlebendigen, das Vernuͤnftige aus dem Unvernuͤnftigen, das Sittliche aus dem Viehiſchen ergruͤndet? Wahrlich, das hieſſe thoͤrichter die Todten fragen, als noch kein Aberglaube ſie zu fra - gen je und irgendwo verſuchte!

Man hat Milton getadelt, daß er von einer ſichtbaren Finſterniß ſprach, weil ſich eine ſichtbare Finſterniß nicht denken laſſe. Es gieng dieſem wie allen Sehern: ihre Auslegung und Rechtfertigung iſt der Fuͤlle der Zeiten aufbe - halten. Milton prophezeyte von der Weisheit unſerer Tage, welche durch Mondſcheine und Daͤmmerungen des Irrens und Waͤhnens bis zu der materiellen Nacht und ſichtbaren Fin - ſterniß einer poſitiven Unwiſſenheit kuͤhn hindurch gedrungen iſt(*)The opinions of the Academics and Epicu - reans were of a leſs religious caſt (than thoſe of the Stoics and Platoniſts) ; but. Ehmals dachteT290man ſich hinter jedem Irrthum eine Wahr - heit, und eiferte nur fuͤr das geraubte Licht. Aber jener Glaube ſelbſt an Wahrheit, war der aͤrgſte Irrthum. Uns leuchtet ein andrer Stern jener Stern eines uͤberſchwaͤnglichen Unlichts vielleicht zum unfruchtbaren Jubel goldener Hochzeitfeyer des Erebus mit der Nacht, ohne die Nachkommenſchaft eines neuen Himmels und einer neuen Erde(*)Aether und Luft entſprangen aus der Nacht, die ſich mit dem Erebus vermaͤhlt hatte. Dies war, nach der aͤlteſten Mythologie, der Anfang der Dinge..

Eben, da ich dieſe letzten Zeilen ſchrieb, wurden mir die juͤngſten Blaͤtter des Tage - buchs der großen, nunmehr allerfreyeſten(*)whilſt the modeſt ſcience of the former induced them to doubt, the poſitive igno - rance of the latter urged them to deny, the providence of a ſupreme Ruler. Gibbon. 291 Hauptſtadt gebracht. Oben lag die vierzehnte Nummer, und mein Auge fiel auf die - ſe Worte: Seit Locke haͤlt keine Taͤuſchung mehr; von nun an muß, was dauern ſoll, auf die ewigen Felſen der Natur ge - gruͤndet ſeyn, welche die ſtrengen Demon - ſtrationen der Vernunft gleichſam kahl gemacht haben (en quelque ſorte mis à nud par les demonſtrations rigoureuſes de la raiſon).

Kahle Felſen allerdings! Aber auch ewi - ge Felſen der Natur? Sie heißen mit ihrem wahren Namen, Selbſtſucht und Schein - ſucht; ſind der klare baare Egoismus. Und es iſt wahr daß dieſer, wenn er einmal vor ſich ſelbſt nackend da ſteht ohne Gram und Schaam, wenigſtens keine Tugenden mehr ſich weis macht. Aber heucheln muß er doch, trotz aller ſeiner Frechheit, damit er taͤuſche. Er muß taͤuſchen; und ſchwaͤrmen muß er uͤber alle Graͤnzen, damit er ſich ein Leben mache. Taͤuſchen und je mehr und mehr be -T 2292truͤgen muß er andre und ſich ſelbſt, damit er nicht vor Ekel an ſich ſelbſt vergehe. Ja, ein neuer Himmel und eine neue Erde; jener Unten, dieſe Oben! Ihre Gaben und Ver - heiſſungen fließen in Ein Allgenugſames zu - ſammen, das Gluͤckſeligkeit heißt; reine vollendete Gluͤckſeligkeit des ſterblichen Menſchen. Darum weg zuerſt mit der Eh - re; und Achtung allein des Nuͤtzlichen trete an der Thoͤrinn Stelle. Weg mit der Liebe, denn ſie iſt eine Schwachheit unter jeder Geſtalt; und eine richtige Einſicht in den Zuſammenhang der Vortheile erhebe ſich uͤber ſie. Weg mit Glaube, Wort und Treue, denn ſie haben ihr Weſen im Mangel des Au - genſcheinlichen, welcher die Wurzel alles Boͤ - ſen iſt In den Abgrund mit der Brut des Argen(*)Ich moͤchte nicht, daß man mich wegen dieſer Aeuſſerungen auch nur einen Augenblick ge - wiſſen Gegnern der franzoͤſiſchen Revolu - tion in und auſſer Frankreich beygeſellte,!

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Ich entfliehe, und kuͤſſe die von dem erha - benen Felsgebirge weggefegte Erde. Ich will Glauben behalten, und Liebe, und Schaam, und Ehrfurcht und Demuth; will behalten tief(*)deren politiſche Geſinnungen den meinigen gerade ſo heterogen ſind, als es alle meine Schriften, ohne Ausnahme, beweiſen, und noch beſſer die Geſchichte meines Lebens. Bellum eſt in eos qui judiciis coërce - ri non poſſunt! Dies bleibt ewig wahr; und ich geſtehe ohne Scheu, daß Cromwell unter ſeinen Enthuſiaſten von allerley Art mich weniger empoͤrt, mein Herz vertraͤglicher mit der Menſchheit laͤßt, als ſein koͤniglicher Nachfolger, unter ſeinen Luſtigmachern, An - zettlern, Metzen und Suͤndenvergebern. Jener hieng doch wirklich an Ideen, und hatte uͤberall Gemeinſames im Auge, womit ſein Eigennutz ſich nur vermiſchte; dieſer hieng allein an ſich, haßte alles Ge - meinſame, und laͤchelte abſcheulich je - dem Frevel, der ſeine veraͤchtliche Willkuͤhr, als ſolche, alleinherrſchend zu machen verſprach. Salomo, ein Koͤnig und ein Weiſer,T 3294im Auge Ewigkeit; Ernſt und feyerlichen Auf - ſchwung tief in der Bruſt; hohe und hoͤhere Ahndungen im Geiſte; vollen wirklichen Genuß des Unſichtbaren in der Seele.

O des armen Stolzes, der alles das als Dinge des verſchwindenden Gefuͤhls, als we - ſenloſe Taͤuſchungen der geringeren Seele ver - achten, unter ſeine Fuͤße treten will. Oeffnet uns das Allerheiligſte eures Unveraͤnderlichen, Selbſtſtaͤndigen, Wirklichen, in ſich Wahren, Wuͤrdigen und Guten! Auf dem Vorhange ſteht: Alleinige Vernunft! Wohl! Es muß, da uͤberhaupt Vernunft vor - handen iſt, auch eine reine Vernunft, eine Vollkommenheit des Lebens vorhanden ſeyn. Alle andre Vermunft iſt von dieſer nur Erſcheinung oder Wiederſchein. Und(*)ſagt im Prediger, einem canoniſchen Buche: Es iſt ein Ungluͤck das ich ſah unter der Sonne, naͤmlich Unverſtand, der unter den Gewaltigen gemein iſt.295 dieſe Vernunft iſt gewiß im ſtrengſten Sinne Einzig und Allein .... Ἑν και παν! Leider, fuͤr die menſchliche Anſchauung auch: Οὐδεν και παντα!

Nicht ſo hinter dem Vorhange; das weiß ich! Aber ich ſtehe nur davor. Und da ſage ich zu Dir, der Du neben mir auch nur davor ſteheſt: So wenig der unendliche Raum die beſondere Natur irgend eines Koͤrpers beſtimmen kann; ſo wenig kann reine Vernunft des Menſchen mit ihrem uͤberall eben guten Willen, da ſie in allen Menſchen Eine und dieſelbe iſt, die Grundlage eines beſondern, verſchiedenen Lebens ausmachen, und der wirklichen Perſon ihren eigenthuͤmlichen individuellen Werth ertheilen. Was die eigene Sinnesart, den eigenen feſten Geſchmack hervorbringt, jene wunderbare innerliche Bil - dungskraft, jene unerforſchliche Energie, die, alleinthaͤtig, ihren Gegenſtand ſich beſtimmt, ihn ergreift, feſthaͤlt eine Per - ſon annimmt und das Geheimniß derT 4296Sklaverey und Freyheit eines jeden insbeſondere ausmacht: das entſcheidet. Es entſcheidet und ſtehet da im Vermoͤgen nicht des Syllogis - mus (welches man mit dem Vermoͤgen der Ei - nen Haͤlfte einer Scheere oder Zange vergleichen koͤnnte) ſondern der Geſinnungen; im Vermoͤgen eines unveraͤnderlichen, uͤber alle Lei - denſchaften ſiegenden Affects. Wenn ich auf das Wort eines Namentlichen Mannes fuße, ſo bringe ich dabey ſeine reine Vernunft nicht mehr, als die Βewegung ſeiner Lippen und den Schall aus ſeinem Munde in Anſchlag. Ich traue dem Worte um des Mannes, und dem Manne um ſein ſelbſt willen. Was in ihm mich gewiß macht, iſt ſeine Sinnesart, ſein Geſchmack, ſein Gemuͤth und Charakter. Ich gruͤnde meinen Bund mit ihm auf den Bund, den er mit ſich ſelbſt hat, wodurch er iſt der er ſeyn wird. Ich glaube dem in ſeinem Herzen tief verborgenen unſichtbaren Worte, das er geben will und kann. Ich verlaſſe mich auf eine geheime Kraft in ihm, welche ſtaͤrker iſt als der Tod.

297

Uebrigens, da dem Menſchen jede Mey - nung lieber als ſein Leben werden kann(*)Toute opinion eſt aſſez forte, pour ſe faire eſpouſer au prix de la vie, ſagt Montaigne im XL. Cap. des Erſten Buches ſeiner Ver - ſuche, und laͤßt es nicht an Beweiſen mangeln., ſo liegt die Gewalt uͤberhaupt der Begriffe, die uͤberwiegende Energie der vernuͤnftigen Natur (nicht des Gedankendinges Ver - nunft) damit ſo klar zu Tage, daß nur ein Thor ſie laͤugnen kann. Und wie ſollte ihre Gewalt nicht die hoͤchſte, der Begriff nicht im allgemeinen maͤchtiger als die Empfindung ſeyn, da unſer zeitliches, aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zuſammengeſetztes Be - wußtſeyn, im Begriffe allein ſein Daſeyn haben kann? Alles was in der Zeit lebt, muß ſein gegenwaͤrtiges Bewußtſeyn, ſein zeitliches Leben erſt erzeugen, innerlich alleinthaͤ - tig, durch Verknuͤpfung. Alſo iſt die Form des Lebens, und der Trieb zum Le - ben, und das Leben ſelbſt, im Wirkli -T 5298chen nur Eins. Der Gegenſtand des un - bedingten Triebes, welchen wir den Grund - trieb nennen, iſt unmittelbar die Form des Weſens, deſſen Trieb oder wirkſames Vermoͤ - gen er iſt. Dieſe Form im Daſeyn zu erhal - ten, ſich in ihr auszudruͤcken, iſt ſein unbe - dingter Zweck und das Princip aller Selbſt - beſtimmung in der Kreatur; ſo daß kein Weſen vermag ſich einen Zweck vorzuſetzen, als Kraft ſeines Triebes und ihm gemaͤß. Ueber - haupt beziehen ſich die Triebe auf Beduͤrf - niß. Alles Lebendige in der Natur bewegt ſich mit Abſicht, das iſt, nach Verhaͤltniſſen der Beduͤrfniſſe. Der erſte Grund und die Art der Entſtehung dieſer Verhaͤltniſſe iſt unerforſchlich, und wir koͤnnen daher eben ſo we - nig den Trieb aus dem Beduͤrfniſſe, als das Beduͤrfniß aus dem Triebe erklaͤren; koͤnnen eben ſo wenig ſagen, dieſer beſtimme jenes, als jenes dieſen. Der erſte Anfang von bey - den iſt auſſer ihnen, und iſt ein gemein - ſchaftlicher Anfang. Nur das Geſchaͤft des Triebes: einen gewiſſen Zuſammenhang zu er -299 halten, fortzuſetzen, zu erweitern, erkennen wir, und zwar, als nothwendig; weil ein unverknuͤpftes, und nicht ſich ſelbſt (inner - lich und aͤuſſerlich) verknuͤpfendes endliches Weſen, ein Unding iſt. TOTUM PARTE PRIUS ESSE, NECESSE EST.

Aber kann auch das Nichts, eine Form haben oder annehmen, und dadurch Etwas ſeyn oder werden? Laͤßt ſich eine Form, die lauter Form waͤre, denken; eine Wirkſamkeit, deren alleinige Abſicht reine, das iſt leere Ab - ſicht waͤre, ohne von und ohne zu?

Kein Trieb, wie ſehr man ihn in ſich allein betrachte, will nur ſeine eigene freye Wirkſam - keit. Sein Weſen iſt Verhaͤltniß: er will Befriedigung.

Der Trieb der vernuͤnftigen Natur zum an ſich Wahren und Guten iſt auf ein Daſeyn an ſich, auf ein vollkommenes Leben, ein Leben in ſich ſelbſt gerichtet; er fodert Un -300 abhaͤngigkeit; Selbſtgenugſamkeit; Freyheit! Aber in wie dunkler, dunkler Ahn - dung nur!

Denn wo iſt Daſeyn und Leben in ſich, wo iſt Freyheit? Wahrlich nur jenſeits der Natur! Denn innerhalb der Natur iſt alles offenbar unendlich mehr im andern als in ſich, und Freyheit nur im Tode!

Dennoch wiſſen wir daß etwas iſt, und war, und ſeyn wird ein Urheber jener natuͤrlich unerzeugten Thaͤtigkeit in uns, des Kerns unſeres Daſeyns, wunderbar um - geben mit Vergaͤnglichkeit in ſie verſenkt, ein Saame der aufgehen wird. Ewiges Le - ben iſt das Weſen der Seele, und darum ihr unbedingter Trieb. Und woher kaͤme ihr der Tod? Nicht von dem Vater des Lebens und alles Guten, der in dem innerſten unſe - res Herzens und Willens ſein eigenes Herz und ſeinen eigenen Willen abdruͤckte, und nichts anderes darin abdruͤcken konnte.

301

Animi præſtantiſſimi, ſchreibt Plato an Dionys, hæc ita ſe habere divinant, deterri - mi autem contra. Sed majoris fidei ſunt divi - norum virorum præſagia, quam aliorum(*)Plat. Ep. II. Ed. Bip. Tom. XI. p. 66..

Nicht ein kahler Fels; eine athmende Veſte dringt hervor aus den Eingeweiden der Erde, und erhebt ſich uͤber die Wolken; ein Altar des Ewigen, um den von jeher alle Voͤlker ſich verſammelt haben: Gewiſſen, Religion.

Sind das nur Geſpenſter, Erhard?

Wer wird ſo frech ſeyn leſe ich in Deinem Briefe und Geſpenſter laͤugnen? Sie erſcheinen ſo gewiß, als es Mondenlicht, Nachtlampenſchein, ein halbes Erwachen aus Traͤumen, eine bildende Fantaſie giebt. Auch der kann ſie noch ſehen, der ſchon im Beſitze der Theorie ihrer Erſcheinungen iſt,302 er kann ſogar vor ihnen noch erſchrecken. Nur wird er ihren Umgang eben nicht ſu - chen; noch weniger, ihn dem Umgange mit wirklichen Dingen vorziehen; am allerwe - nigſten aber wird er ihres Gleichen zu wer - den trachten.

Du ſagſt mir etwas Großes, lieber Erhard. Denn, wenn ich Dich recht verſtehe, ſo kannſt Du uͤberhaupt Erſcheinungen entkleiden, und das an ſich Wirkliche allein betrachten. Ich habe mich hieran oft bis zur Verzweiflung ver - ſucht, und nur ein neues Raͤthſel, das Raͤth - ſel meiner unheilbaren Unwiſſenheit dabey zu - letzt erbeutet. Koͤnnte der Menſch ſeine An - ſpruͤche an wirkliches Daſeyn, an Freyheit und Erkenntniß fahren laſſen; laͤngſt haͤtte ich die meinigen, uͤber allen den hart abſchlaͤgigen Antworten, die mir von der Natur, von der Geſchichte, von meiner Vernunft, meinem Willen, Herzen und Bewußtſeyn zu Theil wurden, aufgegeben. Verſchwinde ich doch vor mir ſelbſt uͤber dem Forſchen nach mir ſelbſt,303 wie nichts anderes vor mir verſchwindet; werde zu Nichts vor mir ſelbſt, wie nichts anderes vor mir zu Nichts wird! Vor mir ſelbſt! dieſem Selbſt, das ich doch mehr und inniger als alles andre fuͤhle!

Siehe auch den Mittelpunkt der menſchli - chen Vernunft, auf dem allein ſie ruhen, um den allein ſie ſich bewegen denken, dichten und trachten kann: die Idee eines Unbe - dingten, eines Selbſtſtaͤndigen, welches im ſtrengſten Sinne von Allem der Anfang und das Ende ſeyn muß! Sobald der Menſch ſie ausfuͤhren, zu der Vorſtellung oder dem Begriffe eines Weſens bilden will ſiehe, wie ſie vor ſeinem Geiſte zu einem in ſich grund - loſen Undinge ſich entſtellt, und die Vernunft, die auf ihr ruhte, fuͤrchterlich erſchuͤttert.

Einheit und Zuſammenhang; Zuſammen - hang und Einheit: das Zweckmaͤßige, ſu - chen, ſehen und fuͤhlen wir; ſein Begriff iſt Anfang, Mittel und Ende alles unſeres For -304 ſchens! Und nichts ſind wir doch zu erfor - ſchen unvermoͤgender, als einen Zuſammenhang der Zwecke(*)Der geſammten Beduͤrfniſſe, ihrer Verhaͤlt - niſſe und harmoniſchen Befriedigung.. Je mehr wir lernen, deſto weniger begreifen wir; deſto betroffener ſtehen wir zwiſchen Himmel und Erde da; deſto ver - legener in uns ſelbſt! Oder haben wir vielleicht genug und alles was wir brauchen an einem und noch einem und noch ei - nem allgewaltigen Luͤckenbuͤßer? die es ſind und nicht ſind; es wohl ſeyn moͤ - gen, und durchaus nicht ſeyn moͤgen; die nicht uns, ſondern nur, gegenſeitig, ſich ein - ander ſelbſt ausfuͤllen und unterſtuͤtzen? Haben wir in der That? Und verſte - heſt Du auch was Du lieſeſt?

Ein Knochengebaͤude iſt das Fundament der Menſchlichen Geſtalt; ihrer Schoͤnheit, ihres Koͤniglichen Anblicks. Wenn es aber alleinda305da ſteht, ohne Inhalt und Bekleidung, ſo be - deutet es den Tod der, noch weniger als die Nacht, Jemandes Freund iſt. Auch iſt ein ſcheußliches Gerippe nicht das Erſte. Es ruͤhrte und regte ſich Etwas. Etwas Lebendiges in einem Lebendigen. Der Anfang war eine Begierde, die heftig wirkte, ohne ſich ſelbſt zu verſtehen Gabe der Weiſſagung(*)Plato nennt es, etwas myſtiſcher, Wie - dererinnerung. Der Hungrige, bemerkt Plato, empfin - det als ſolcher, nehmlich in ſo fern er Saͤt - tigung anſtrebt, das Entgegengeſetzte des - jenigen Zuſtandes, worin er wirklich iſt. Der Ausgehungerte kann fuͤr ſich nur Schmerz empfinden, nur die gegenwaͤrtige Zerruͤttung ſeines Koͤrpers; nicht, was ihn herſtellen wuͤrde, kein Verlangen nach Speiſe; wenn nicht die Erfahrung, daß jener Schmerz durch Speiſe geſtillt wurde, vorhergieng. Die Begierde aber wittert, ſucht und fin - det ihren Gegenſtand zuerſt vor aller Er -!

U306

Genug, Erhard; ſo unwiſſend, ganz ſo unwiſſend, wie ich Dir ſage, bin ich. Unwiſſend in einem Maaße, daß ich den(*)fahrung; ſie wird gewahr, was ſich in dem Subject ihrer Wahrnehmung jetzt ſchlechter - dings nicht findet. Alſo ſieht die Begierde weiter, als die Empfindung reicht; ſie er - blickt, was die entgegengeſetzte Empfindung hervorbringen und das mit Untergang be - drohte Weſen retten kann. Dieſer innerliche Arzt, Rath und Helfer, iſt die Kraft ſelbſt, welche in jedem einzel - nen Weſen, Endliches und Unendliches auf eine gemeſſene Art verknuͤpft und zu - ſammenhaͤlt: Die Seele. Die Erkennt - niß, welche ſie beweiſt, kann ſie nicht aus ihrem Koͤrper, deſſen Daſeyn und Leben ſie verurſacht; nicht aus den Erfahrungen, die ſie in Gemeinſchaft mit ihm machte, her - nehmen; denn jene Erkenntniß gieng vor dieſen Erfahrungen her und machte ſie erſt moͤglich. Da alſo dieſe Erkenntniß vorher gedacht werden muß, ſo erſcheint ſie in dem gegenwaͤrtigen Zuſtande als Beſin -307 bloßen Zweifler verachten darf! Den - noch; weit davon entfernt, mit dieſer uͤber - ſchwaͤnglichen Unwiſſenheit mich zu bruͤſten; ſie zu verwechſeln mit der Wahrheit, deren Verheißung ich im Buſen trage; ihr, von Hochmuth trunken, Tempel und Altar zu weihen, und die ſinnloſeſte aller Abgoͤttereyen anzurichten: demuͤthigt mich vielmehr ihr Be - wuſtſeyn bis zu einer Schwermuth die ſich zwar mit keinem Hohn vertraͤgt; wohl aber zum Lachen ſatter Wiſſer und Nichtwiſſer ſa - gen moͤchte: Du biſt toll! zu ihrer Freude: was machſt du?

Wie Sokrates der Große, Ahndungs - volle! Unwiſſenheit wider Trotz und Luͤge in die Schlacht fuͤhren, und im Hinterhalt die Wahrheit haben; das iſt Groß! Aber es(*)nung; und die Beſinnung, wodurch die Seele vorhergegangenes, alleinthaͤtig, im Andenken behaͤlt, nennen wir Gedaͤchtniß. S. den Philebus.U 2308iſt nicht groß, fuͤr die Wahrheit aller Wahr - heiten zu achten: es gebe keine Wahrheit. Der ganze Menſch muß ſeicht und ſchaal ge - worden ſeyn, wenn er zu ſich ſelbſt ſagen und dabey guter Dinge bleiben kann: Ich bin nichts; ich weiß nichts; ich glaube nichts.

Nur ſoviel iſt Gutes am Menſchen; nur in ſo weit iſt er ſich und andern etwas werth, als er Faͤhigkeit zu ahnden und zu glauben hat. Es liegt in der Natur des endlichen, nur mittelbar, das iſt ſinnlich erkennen - den Weſens, daß ihm Wahrheit, daß ihm eigentliches Daſeyn und Leben, ſo wenig ganz aufgedeckt, als ganz verborgen ſeyn kann. Sympathie mit dem unſichtbaren Wirk - lichen, Lebendigen und Wahren iſt Glaube. Je mehr Sinn jemand fuͤr das Unſichtbare in der Natur und im Menſchen zeigt; je wirkſamer und thaͤtiger aus dem Unſichtbaren in ihm ſelbſt er ſich beweiſt; fuͤr deſto vor - treflicher muͤſſen wir ihn achten, und achten wir ihn allgemein Seltſam, daß wir309 ſammt und ſonders in unſerer Wiſſenſchaft, Kunſt, oder anderen Geſchaͤftigkeit, ſo gern das Ueberſchwaͤngliche, das Wunderbare er - reichen moͤgen, damit man uns ehre, uns liebe, und nicht begreife! Seltſam, daß wir nach demſelben Maaße auch andre ehren und lieben; dann aber uns ploͤtzlich weg - wenden, und nur was ſich theoretiſch dar - thun, gewiſſermaaßen nach machen und, ſo, mit Haͤnden greifen laͤßt, der Muͤhe werth achten wollen, unſeren Blick darauf zu heften.

Ein finſteres Geheimniß liegt eben ſchwer auf uns allen: das Geheimniß des Nichtſeyns, des Daſeyns durch Vergaͤnglichkeit, des Ver - moͤgens mit und durch lauter Unvermoͤgen das Geheimniß des Endlichen. Un - endliches ſcheint der Stoff; Endlichkeit die Form der Dinge zu ſeyn. Alſo waͤre Nicht - ſeyn wenn die Begriffe von Endlichkeit und Nichtſeyn in einander fließen die Moͤg - lichkeit; Nichtſeyn waͤre die naͤchſte Urſache der Natur und ihres Inhalts!

U 3310

Plato aͤuſſert ſich auf eine merkwuͤrdige Weiſe uͤber dieſen Gegenſtand. Kuͤhn weiſt er, in der Reihe der Dinge, dem Unendlichen die Unterſte; dem Maaß, welches das Endliche mit dem Unendlichen vereinigt, und wirkliche Dinge zuerſt ans Licht bringt, die Oberſte Stelle an. Er ſetzt einen Gott voraus, der ein Geiſt, ein beſonnenes per - ſoͤnliches Weſen iſt, als den Urheber aller Din - ge, durch die Vollkommenheit ſeines Willens(*)Im Philebus. Plato verſteht unter dem Unendlichen das Unbeſtimmte, welches unter dem Bilde von Mehr oder Weniger allein gedacht, aber, als an ſich wirklich, nie vorgeſtellt werden kann. Dem Unendlichen ſetzt er entgegen nicht das Endliche, ſondern das Ewige, Al - lein Wahre und Wirkliche, durch welches alle Dinge ſind und erkannt werden, in ſo fern ſie erkannt werden koͤnnen und ein wirkliches Daſeyn beſitzen..

311

Aber wie hat das Zeitliche von dem Ewigen erzeugt werden koͤnnen; welch ein(*)Das Endliche ſteht zwiſchen dem Unendli - chen und dem Ewigen, dem Wahren und Unwahren, dem Seyn und Nichtſeyn in der Mitte. Darum muß in der Reihe der Weſen als das Oberſte und Erſte geſetzt werden: Maaß; ein in und durch ſich ſelbſt be - ſtimmtes, unerzeugtes Beſtimmen - des. Als das zweyte: Ebenmaaß, welches das erzeugte Endliche im Daſeyn erhaͤlt; die gemeſſene Miſchung: Schoͤn - heit, Vollkommenheit. Als das dritte: Erkenntniß. Sie ſteht in der Ordnung billig nach ihrem Ge - genſtande, und nach ihrer Abſicht; denn eine Erkenntniß von Nichts und zu Nichts, waͤre keine Erkenntniß. Ueberall iſt ihr Werth der Werth ihres Inhalts; ihr Grad, derU 4312moͤgliches Verhaͤltniß beyder zu einander laͤßt ſich, menſchlicher Weiſe, denken? Dieſe Kluſt(*)Grad des Wahren, deſſen Vorſtellung ſie iſt. Als das vierte: Theorie und Kunſt. Als das fuͤnfte und letzte: die ange - nehme Empfindung. Sie erhaͤlt die unterſte Stelle, weil ſie fuͤr ſich weder An - fang, noch Mittel, noch Ende hat, ſondern dies alles von dem Zwecke nimmt, deſſen Erzeugung ſie begleitet, und gleichſam nur das Signal ſeiner Erfuͤllung iſt. Die nicht voruͤbergehende, nicht paſſive, folglich unter dieſer Gattung nicht begriffene Freude, wird von dem Verſtande ſelbſt, der von der Art der Erſten Urſache iſt, als eine der Erkenntniß und Tugend zu ihrer Genugſamkeit unentbehrliche Beymi - ſchung, hervorgebracht, und gehoͤrt demnach zu der Natur des Ewigen. Dieſe Eroͤrterungen laͤßt Plato den So - krates mit folgenden Worten beſchließen:313 fuͤllt keine Philoſophie, und es bedarf, um hinuͤber zu kommen, einer Bruͤcke oder Fluͤgel.

Iſt es etwas Großes einzuſehen, daß man mit den Fuͤßen nur auf der Erde wandeln, nicht mit ihnen ſich hinauf uͤber die Wolken ſchwingen kann?

Was ich mit den Augen blos mit den Augen und nur kaum entdecken; nicht mit den Haͤnden greifen, oder mit den Fuͤßen(*) Allein werden nun nicht zuerſt alle Ochſen und Pferde und das ſaͤmtliche uͤbrige Vieh widerſprechen, weil ſie blos der Luſt nach - jagen? Eben ihnen glauben ſo viele, wie Wahrſager den Voͤgeln, und urtheilen da - her, daß die Wolluͤſte die koͤſtlichſten Guͤ - ter zum Leben waͤren. Ja ſie glauben, daß die Luſttriebe der Thiere viel anſehnlichere Zeugen fuͤr die Wahrheit waͤren, als alle eingegebene Reden einer philoſophiſchen Muſe.U 5314in Beſitz nehmen kann: das verknuͤpft mein Verſtand auf folgende Weiſe.

So wenig Ewigkeit durch Zeit her - vorgebracht, dargeſtellt oder erfuͤllt werden kann: ſo wenig kann Vergaͤngliches We - ſen die Seele der Natur; Lebendiges nur eine Modification des Unlebendigen; vernuͤnf - tiges Daſeyn nur eine Zufaͤlligkeit von Ein - ſchraͤnkungen, eine leere Form und nichtige Erſcheinung ſeyn. Darum glaube Du entſcheidet mein Verſtand an ein Ewiges, das nicht blos ein Unendliches der Erſcheinun - gen, ein Luͤckenbuͤßer ohnmaͤchtiger Fantaſie, ſondern in der That das Erſte und der An - fang iſt; glaube Du an ein in ſich Leben - diges, welches das Gute und die Wahr - heit ſelbſt an einen allmaͤchtigen Gott, der ein Geiſt und Dein Schoͤpfer iſt.

Hat er mich mit Haͤnden gemacht, dieſer Geiſt und Gott?

315

Dem Frager mit dieſen Worten antwortet die Vernunft, ein feſtes Ja! Denn hier, wo jeder, auch der entfernteſte Verſuch, durch Analogien einer wirklichen Einſicht naͤher zu kommen, dem Irrthum entgegen ſchreitet, iſt der hart anthropomorphiſierende Ausdruck, als offenbar ſymboliſch, der Vernunft die entgegengeſetzte Wirkungsarten nie kann aſſimilieren wollen der liebſte.

Nie habe ich begreifen koͤnnen, wie eine maſchiniſtiſche Vorſtellungsart der Schoͤ - pfung das iſt der Moͤglichkeit des Welt - alls vernuͤnftiger, erhabener, dem hoͤchſten Weſen, das wir alle, auf irgend eine Weiſe, vorauszuſetzen genoͤthigt ſind, annaͤ - hernder, als eine anthropomorphiſtiſche ſeyn ſollte. Der Glaube an ein hoͤchſtes Weſen uͤber - haupt, als der Quelle alles Seyns und alles Werdens; und der Glaube an einen Gott, der ein Geiſt iſt, ſind beyde dem Menſchen in der unerforſchlichen Thatſache ſeiner Sponta - neitaͤt und Freyheit, ohne welche nicht einmal316 Euklids erſtes Poſtulat ſich denken ließe, gege - ben. Darum iſt der Glaube uͤberhaupt an ei - nen Gott dem Menſchen natuͤrlich; und am natuͤrlichſten der Glaube an einen lebendigen Gott. Der Gruͤbler, der ihn losgeworden iſt, mußte zuvor, durch den geilſten Mißbrauch des Vermoͤgens willkuͤhrlicher Be - zeichnung, dieſes zweyſchneidigen Schwerd - tes der Wahrheit und Luͤge, ſich von der Na - tur und ſeinem eigenen Weſen gewaltſam ab - ſondern; er mußte ſein Leben gleichſam bey der Wurzel anfaſſen, um es von ſich zu werfen.

Werde ich es ſagen, endlich laut ſagen duͤrfen, daß ſich mir die Geſchichte der Philo - ſophie je laͤnger deſto mehr als ein Drama ent - wickelte, worin Vernunft und Sprache die Menaͤchmen ſpielen(*)S. das Schauſpiel dieſes Namens im Plau - rus, oder im Regnard, oder im Schakeſpear, bey welchem letzteren, es die Irrungen heißt.?

317

Dieſes ſonderbare Drama, hat es eine Kataſtrophe, einen Ausgang; oder reihen ſich nur immer neue Epiſoden an?

Ein Mann, den nun alles, was Augen hat, groß nennt, und der in ſeiner Groͤße fuͤnf und zwanzig Jahre fruͤher ſchon da ſtand, aber in einem Thale, wo die Menge uͤber ihn weg ſah, nach Hoͤhen und geſchmuͤckten Buͤh - nen dieſer Mann ſchien den Gang der Ver - wickelungen dieſes Stuͤcks erforſcht zu haben, und ihm ein Ende abzuſehen(*)S. Kants Unterſuchung uͤber die Deutlichkeit der Grundſaͤtze der natuͤrlichen Theologie und der Moral, zur Beantwortung der Frage, welche die Koͤnigliche Akademie der Wiſſenſchaften zu Berlin auf das Jahr 1763 aufgegeben hat.. Mehrere behaupten, es ſey nun dies Ende ſchon gefun - den und bekannt. Vielleicht mit Recht Und es fehlte nur noch an einer Kritik der Sprache, die eine Metakritik der Ver -318 nunft ſeyn wuͤrde, um uns alle uͤber Metaphy - ſik eines Sinnes werden zu laſſen.

Mir daͤucht, ich ſehe Dich Augen machen, als ſchriebe ich wunderliche Dinge. Laſſen wir es dabey, und lebe Du wohl!

F. H. Jacobi.

319

Verzeichniß der Briefe.

  • I. Sylli an ClerdonSeite 1
  • II. Sylli an eben denſelben 6
  • III. Clerdon an Sylli 10
  • IV. Sylli an Clerdon 14
  • V. Clerdon an Sylli 24
  • VI. Beylage zu Clerdons Briefe. Eduard an Clerdon 36
  • VII. Amalia an Sylli 46
  • VIII. Claͤre an Sylli 58
  • IX. Eduard Allwill an Clemens von Wallberg 68
  • X. Demſelben 88
  • XI. Amalia an Sylli 95
  • XII. Sylli an Lenore und Claͤre 110
  • XIII. Lenore an Sylli 119
  • XIV. Beylage zu dem vorhergehenden Briefe. Claͤre an Sylli 133
  • XV. Claͤre an Sylli 137
  • XVI. Allwill an Claͤre 171
  • XVII. Sylli an Clerdon 184
  • 320
  • XVIII. Sylli an AmaliaSeite 189
  • XIX. Sylli an ebendieſelbe 199
  • XX. Eduard Allwill an Luzie 224
  • XXI. Luzie an Eduard Allwill 246
  • Zugabe von dem Herausgeber. An Erhard O ** 281
Ueber -321

Ueberſetzung der griechiſchen Stellen.

Auf dem Titelblatt nach der Vorrede: ΗΑ Ολυμπος ηυλει u. ſ. w.

Was Olympos ſpielte, nenne ich Stuͤcke des Marſyas; denn dieſer war ſein Lehrer. Daher jenes Stuͤcke ein guter Floͤtenſpieler oder eine ſchlechte Floͤtenſpie - lerinn ſpielen mag; weil ſie goͤttlich ſind, ſo ſetzen ſie fuͤr ſich allein in Begeiſterung und offenbaren, wem Goͤtter und Reli - gion Beduͤrfniß ſind.

Am Schluſſe der Allwilliſchen Briefſamm - lung: Θεος ανϑρωπῳ u. ſ. w.

Gott laͤßt ſich nicht (unmittelbar) mit dem Menſchen ein, ſondern nur durch Vermittelung des Daͤmons haben Goͤtter mit Menſchen Umgang und Unterredung.

X322

Auf dem Titelblatt der Zugabe: Βουλει δητα u. ſ. w. Die Stelle hat folgenden Zu - ſammenhang:

Sokrates. Wollen wir annehmen, daß dies All und was wir das Ganze nen - nen, durch die Kraft des Unvernuͤnftigen und Abſichtloſen, und nach Zufall regiert werde: oder daß im Gegentheil, wie unſere Alten ſagten, ein Verſtand und eine gewiſſe be - wundernswuͤrdige, zuſammenordnende Weis - heit am Ruder ſey?

Protarchos. Nein, goͤttlichſter So - krates, jenes ja nicht! denn, was du da geſagt haſt, ſcheint mir ruchlos. Aber anzu - nehmen, daß Verſtand das All in Ordnung halte, iſt des Anblicks der Welt und der Sonne und des Mondes und der Sterne und des ganzen Umlaufs wuͤrdig. Und anders moͤchte ich wenigſtens nie daruͤber ſprechen noch auch denken.

323

Sokrates. Willſt du alſo, daß wir mit unſern einſtimmigen Alten annehmen, es verhalte ſich ſo; und daß wir uns nicht begnuͤgen, ohne eigene Gefahr an - dern nachzuſprechen, ſondern auch die Gefahr mit uͤbernehmen und dem Tadel nicht ausweichen, wenn ein gelehrter Mann behauptet, es verhalte ſich nicht ſo, ſondern uͤberall ſey Unordnung?

Protarchos. Wie wollte ich denn nicht?

About this transcription

TextEduard Allwills Briefsammlung
Author Friedrich Heinrich Jacobi
Extent365 images; 46207 tokens; 8917 types; 312447 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationEduard Allwills Briefsammlung mit einer Zugabe von eigenen Briefen Friedrich Heinrich Jacobi. . XXXII, 323 S. NicoloviusKönigsberg1792.

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Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz SBB-PK, Yw 371-1<a> Rhttp://stabikat.de/DB=1/SET=12/TTL=1/CMD?ACT=SRCHA&IKT=1016&SRT=YOP&TRM=62644960X

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Fraktur

LanguageGerman
ClassificationBelletristik; Roman; Belletristik; Roman; core; ready; china

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  • Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and Humanities (BBAW)
  • Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW)
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