PRIMS Full-text transcription (HTML)
Georg Jenatſch.
Georg Jenatſch.
Eine alte Bündnergeſchichte
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LeipzigVerlag von H. Haeſſel. 1876.

Erſtes Buch. Die Reiſe des Herrn Waſer.

Meyer, Georg Jenatſch. 1

Erſtes Kapitel.

Die Mittagsſonne ſtand über der kahlen, von Fels¬ häuptern umragten Höhe des Julierpaſſes im Lande Bünden. Die Steinwände brannten und ſchimmerten unter den ſtechenden ſenkrechten Strahlen. Zuweilen, wenn eine geballte Wetterwolke emporquoll und vorüber¬ zog, ſchienen die Bergmauern näher heranzutreten und, die Landſchaft verengend, ſchroff und unheimlich zu¬ ſammenzurücken. Die wenigen zwiſchen den Felszacken herniederhangenden Schneeflecke und Gletſcherzungen leuchteten bald grell auf, bald wichen ſie zurück in grünliches Dunkel. Es drückte eine ſchwüle Stille, nur das niedrige Geflatter der Steinlerche regte ſich zwiſchen den nackten Blöcken und von Zeit zu Zeit durchdrang der ſcharfe Pfiff eines Murmelthiers die Einöde.

In der Mitte der ſich dehnenden Paßhöhe ſtanden rechts und links vom Saumpfade zwei abgebrochene Säulen, die der Zeit ſchon länger als ein Jahrtauſend1*4trotzen mochten. In dem durch die Verwitterung becken¬ förmig ausgehöhlten Bruche des einen Säulenſtumpfes hatte ſich Regenwaſſer geſammelt. Ein Vogel hüpfte auf dem Rande hin und her und nippte von dem klaren Himmelswaſſer.

Jetzt erſcholl aus der Ferne, vom Echo wiederholt und verhöhnt, das Gebell eines Hundes. Hoch oben an dem ſtellenweiſe grasbewachſenen Hange hatte ein Bergamaskerhirt im Mittagsſchlaf gelegen. Nun ſprang er auf, zog ſeinen Mantel feſt um die Schultern und warf ſich in kühnen Schwüngen von einem vorragenden Felsthurme hinunter zur Einholung ſeiner Schafheerde, die ſich in weißen beweglichen Punkten nach der Tiefe hin verlor. Einer ſeiner zottigen Hunde ſetzte ihm nach, der andere, vielleicht ein altes Thier, konnte ſeinem Herrn nicht folgen. Er ſtand auf einem Vorſprunge und winſelte hilflos.

Und immer ſchwüler und ſtiller glühte der Mittag. Die Sonne rückte vorwärts und die Wolken zogen.

Am Fuße einer ſchwarzen vom Gletſcherwaſſer be¬ feuchteten Felswand rieſelten die geräuſchlos ſich herunter¬ ziehenden Silberfäden in das Becken eines kleinen See's zuſammen. Gigantiſche, ſeltſam geformte Felsblöcke umfaßten das reinliche, bis auf den Grund durchſichtige Waſſer. Nur an dem einen flachern Ende, wo es,5 thalwärts abfließend, ſich in einem Stücke ſaftig grünen Raſens verlor, war ſein Spiegel von der Höhe des Saumpfades aus ſichtbar. An dieſer grünen Stelle erſchien jetzt und verſchwand wieder der braune Kopf einer graſenden Stute und nach einer Weile weideten zwei Pferde behaglich auf dem Raſenflecke und ein drittes ſchlürfte die kalte Fluth.

Endlich tauchte ein Wanderer auf. Aus der weſt¬ lichen Thalſchlucht heranſteigend, folgte er den Windun¬ gen des Saumpfades und näherte ſich der Paßhöhe. Ein Bergbewohner, ein wettergebräunter Geſell war es nicht. Er trug ſtädtiſche Tracht, und was er auf ſein Felleiſen geſchnallt hatte ſchien ein leichter Rathsdegen und ein Rathsherrenmäntelchen zu ſein. Dennoch ſchritt er jugendlich elaſtiſch bergan und ſchaute ſich mit ſchnellen klugen Blicken in der ihm fremdartigen Bergwelt um.

Jetzt erreichte er die zwei römiſchen Säulen. Hier entledigte er ſich ſeines Ränzchens, lehnte es an den Fuß der einen Säule, wiſchte ſich den Schweiß mit ſeinem ſaubern Taſchentuche vom Angeſicht und entdeckte nun in der Höhlung der andern den kleinen Waſſer¬ behälter. Darin erfriſchte er ſich Stirn und Hände, dann trat er einen Schritt zurück und betrachtete mit ehrfurchtsvoller Neugier ſein antikes Waſchbecken. Schnell bedacht zog er eine lederne Brieftaſche hervor und be¬6 gann eifrig die beiden ehrwürdigen Trümmer auf ein weißes Blatt zu zeichnen. Nach einer Weile betrachtete er ſeiner Hände Werk mit Befriedigung, legte das auf¬ geſchlagene Büchlein ſorgfältig auf ſein Felleiſen, griff nach ſeinem Stocke, woran die Zeichen verſchiedener Maße eingekerbt waren, ließ ſich auf ein Knie nieder und nahm mit Genauigkeit das Maß der merkwürdigen Säulen.

Fünfthalb Fuß hoch, ſagte er vor ſich hin.

Was treibt Ihr da? Spionage? ertönte neben ihm eine gewaltige Baßſtimme.

Jäh ſprang der in ſeiner ſtillen Beſchäftigung Geſtörte empor und ſtand vor einem Graubarte in grober Dienſttracht, der ſeine blitzenden Augen feindſelig auf ihn richtete.

Unerſchrocken ſtellte ſich der junge Reiſende dem wie aus dem Boden Geſtiegenen mit vorgeſetztem Fuße entgegen und begann, die Hand in die Seite ſtemmend, in fließender, gewandter Rede:

Wer ſeid denn Ihr, der ſich herausnimmt, meine gelehrte Forſchung anzufechten auf Bündnerboden, id est in einem Lande, das mit meiner Stadt und Republik Zürich durch wiederholte, feierlichſt beſchworene Bünd¬ niſſe befreundet iſt? Ich weiſe Euern beleidigenden Verdacht mit Verachtung zurück. Wollt Ihr mir den7 Weg verlegen? fuhr er fort, als der Andere, halb verblüfft, halb drohend, wie eingewurzelt ſtehen blieb. Sind wir im finſtern Mittelalter oder zu Anfang unſeres gebildeten ſiebzehnten Jahrhunderts? Wißt Ihr, wer vor Euch ſteht? ... So erfahrt es: der Amts¬ ſchreiber Heinrich Waſer, Civis turicensis.

Narrenpoſſen! ſtieß der alte Bündner zwiſchen den Zähnen hervor.

Laß ab von dem Herrn, Lucas! ertönte jetzt ein gebieteriſcher Ruf hinter den Felstrümmern rechts vom Wege hervor und der Zürcher, der unwillkürlich dem Klange der Stimme ſeewärts ſich zuwandte, gewahrte nach wenigen Schritten den mittäglichen Ruheplatz einer reiſenden Geſellſchaft.

Neben einem aus dunkeln Augen blickenden, kaum dem Kindesalter entwachſenen Mädchen, das im Schatten eines Felſens auf hingebreiteten Teppichen ſaß und aus¬ ruhte, ſtand ein ſtattlicher Kavalier, denn das war er nach ſeiner ganzen Erſcheinung trotz des ſchlichten Reiſe¬ gewandes und der ſchmuckloſen Waffen. Am Rande des See's graſten die des Sattels und Zaumes ent¬ ledigten Roſſe der drei Reiſenden.

Der Zürcher ging, die Gruppe ſcharf ins Auge faſſend, mit immer gewiſſern Schritten auf den bünd¬8 neriſchen Herrn zu, während ein muthwilliges Lachen die Züge des blaſſen Mädchens plötzlich erhellte.

Jetzt zog der junge Mann gravitätiſch den Hut, verneigte ſich tief und begann:

Euer Diener, Herr Pomp .... hier unterbrach er ſich ſelbſt, als ſtiege der Gedanke in ihm auf, daß der Angeredete ſeinen Namen auf dieſem Boden vielleicht zu verheimlichen wünſche.

Der Eurige, Herr Waſer, verſetzte der Kavalier. Scheut Euch nicht, den Namen Pompejus Planta zwiſchen dieſen Bergen herzhaft auszuſprechen. Ihr habt wohl vernommen, daß ich auf Lebenszeit aus Bünden verbannt, daß ich vogelfrei und vervehmt bin, daß auf meine lebende Perſon tauſend Florin und auf meinen Kopf fünfhundert geſetzt ſind und was deſſen mehr iſt. Ich habe den Wiſch zerriſſen, den das Thusnerprädi¬ kantengericht mir zuzuſchicken ſich erfrecht hat. Ihr, Heinrich, das weiß ich, habt nicht Luſt, den Preis zu verdienen! Setzt Euch zu uns und leert dieſen Becher. Damit bot er ihm eine bis zum Rande mit dunklem Veltliner gefüllte Trinkſchale.

Nachdem der Zürcher einen Augenblick ſchweigend in das rothe Naß geſchaut, that er Beſcheid mit dem wohlüberlegten Trinkſpruche: Auf den Triumph des Rechts, auf eine billige Verſöhnung der Parteien in9 altfrei Rhätia, voraus aber auf Euer Wohlergehen, Herr Pompejus, und auf Eure baldige ehrenvolle Wieder¬ einſetzung in alle Eure Würden und Rechte!

Habt Dank! Und vor Allem auf den Untergang der ruchloſen Pöbelherrſchaft, die jetzt unſer Land mit Blut und Schande bedeckt!

Erlaubt, bemerkte der Andere vorſichtig, daß ich als Neutraler mein Urtheil über die verwickelten Bünd¬ nerdinge einigermaßen zurückhalte. Die vorgefallenen Formverletzungen und Unregelmäßigkeiten freilich ſind höchlich zu beklagen und ich nehme keinen Anſtand, ſie auch meinerſeits zu verdammen.

Formverletzung! Unregelmäßigkeit! brauſte Herr Pompejus zornig auf, das ſind gar ſchwächliche Aus¬ drücke für Aufruhr, Plünderung, Brandſchatzung und Juſtizmord! Daß ein Pöbelhaufe mir die Burg um¬ zingelt oder eine Scheuer in Brand ſteckt, davon will ich noch nicht viel Aufhebens machen. Man hat mich ihnen als Landesverräther vorgemalt und ſie ſo gegen mich verhetzt, daß ich ihnen einen böſen Streich nicht verarge. Aber daß dieſe Hungerleider von Prädikanten einen Gerichtshof aus der Hefe des Volks zuſammen¬ leſen, mit der Folter hantiren und mit Zeugen, die verlogener ſind als die falſchen Zeugen in der Paſſion10 unſers Heilands das iſt ein Greuel vor Gott und Menſchen.

An den Galgen alle Prädikanten! erſcholl hinter ihnen der Baß des die Pferde zum Aufbruche rüſtenden alten Knechts.

So ſeid ihr aber, ihr Zürcher, fuhr Planta fort, daheim führt ihr ein verſtändiges züchtiges Regiment und bekreuzt euch vor Neuerung und Umſturz. Thäte ſich bei euch ein Burſche hervor wie unſer Prädikant Jenatſch, er ſäße bald hinter Schloß und Riegel im Wellenberg, oder ihr legtet ihm flugs den Kopf vor die Füße. Von ferne aber erſcheint euch der Unhold merk¬ würdig und eure Zünfte jauchzen ſeinen Freveln Beifall zu. Euer neugieriger und unruhiger Geiſt ergötzt ſich daran, wenn die Flammen des Aufruhrs hell aufſchlagen, ſo lange ſie euern eigenen Firſt nicht bedrohen.

Erlaubt wiederholte Herr Waſer.

Laſſen wir das, ſchnitt ihm der Bündner das Wort ab. Ich will mir nicht das Blut vergiften. Bin ich doch nicht hier als das Haupt meiner Partei, ſondern um eine einfache Vaterpflicht zu erfüllen. Lucretia, mein Töchterchen, ſie iſt Euch ja nicht un¬ bekannt, kommt aus dem Kloſter Cazis, wohin ich ſie zu den frommen Frauen geflüchtet hatte, als der Sturm gegen mich losbrach, und ich führe ſie nun auf11 einſamen Pfaden in ein italiäniſches Kloſter, wo ſie ſich in den ſchönen Künſten üben ſoll. Und Ihr? Wohin geht Euer Weg?

Eine Ferienreiſe, Herr Pompejus, um den Akten¬ ſtaub abzuſchütteln und die rhätiſche Flora kennen zu lernen. Seit unſer Landsmann Conrad Geßner die Wiſſenſchaft der Botanik begründet hat, treiben wir ſie eifrig an unſerm Carolinum. Ueberdieß ſchuldet mir das Schickſal eine geringe Schadloshaltung für ein ge¬ ſcheitertes Reiſeprojekt. Ich ſollte nämlich, fuhr er etwas ſchüchtern, aber nicht ohne geheime Eitelkeit fort, nach Prag an den Hof ſeiner böhmiſchen Majeſtät gehen, wo mir durch beſondere Gunſt eine Pagenſtelle zugeſichert war.

Ihr thatet klug daran, es bleiben zu laſſen, höhnte Herr Pompejus. Dieſer klägliche König wird in Kurzem ein Ende nehmen mit Schrecken und Schande. Und jetzt, fuhr er lauernd fort, wenn Ihr mit der rhätiſchen Flora vertraut ſeid, wollt Ihr nicht auch die des Veltlins ſtudiren? So böte ſich Euch Gelegenheit, bei Euerm Studienfreunde Jenatſch auf ſeiner Straf¬ pfarre einzukehren.

Angenommen es fügte ſich ſo, ich hielte es für kein Verbrechen, verſetzte der Zürcher, dem dies rück¬12 ſichtsloſe Eindringen in ſeinen Reiſeplan die Röthe der Entrüſtung auf Stirn und Wangen trieb.

Ein nichtswürdiger Bube! grollte Herr Pompejus.

Mit Gunſt, das iſt ab irato geſprochen, Herr. Wohl mögt Ihr Euch mit Recht über meinen Schul¬ genoſſen zu beklagen haben. Ich verzichte darauf, ihn Euch gegenüber und in dieſer Stunde zu vertheidigen. Erlaubt mir lieber, Euch um geneigten Aufſchluß zu bitten über jene merkwürdigen Säulen dort. Sind ſie römiſchen Urſprungs? Ihr müßt das wiſſen, iſt doch Euer hochberühmtes Geſchlecht ſeit Kaiſer Trajan in dieſen Bergen heimiſch.

Darüber, antwortete Planta, wird Euch Euer gelehrter Freund, der Blutpfarrer, Auskunft geben. Du biſt bereit, Lucretia? rief er dem Fräulein zu, das, als das Geſpräch ſich zu erhitzen begann, mit be¬ kümmerter Miene ſtill nach dem Saumpfad hinauf ſich entfernt und bei den Säulen verweilt hatte, wo ihr jetzt eben Lucas eines der wieder gezäumten Pferde vor¬ führte.

Gehabt Euch wohl, Herr Waſer! grüßte Planta, ſich raſch in den Sattel des zweiten ſchwingend. Ich kann Euch nicht einladen, auf Euerm Heimwege bei mir im Domleſchg einzuſprechen, wie ich es unter andern Umſtänden gerne gethan hätte. Die ſchuftigen Hände,13 die jetzt unſer Staatsruder führen, haben mir, wie Ihr wißt, mein feſtes Haus Riedberg zugeriegelt und das durch ſie entehrte Bündnerwappen auf mein Thor ge¬ klebt.

Waſer verbeugte ſich und ſchaute eine Weile nach¬ denklich dem über die Hochebene davon trabenden Reiſe¬ zuge nach. Dann bückte er ſich nach ſeinem aufgeblättert am Wege liegenden Taſchenbuche und warf, bevor er es ſchloß, noch einen Blick auf ſeine Zeichnung. Was war das? Mitten zwiſchen die zwei flüchtig entworfenen Säulen hatte eine kindlich ungeübte Hand große Buch¬ ſtaben hineingeſchrieben. Deutlich ſtand es zu leſen: Giorgio, guardati.

Kopfſchüttelnd preßte er das Büchlein mit dem ein¬ geſteckten Stifte zuſammen und verſenkte es in die Tiefe ſeiner Taſche.

Unterdeſſen hatten die Wolken ſich gemehrt und verdüſterten den Himmel. Waſer ſetzte ſeinen Weg durch die ſonnenloſe Felſenlandſchaft mit beſchleunigten Schrit¬ ten fort. Noch heftete ſein lebhaftes Auge ſich zuweilen auf die großen dunkeln, jetzt unheimlich grotesken Fels¬ maſſen, aber es beſtrebte ſich nicht mehr, wie am Mor¬ gen, mit raſtloſer Neugierde dieſe ungewohnten ſeltſamen Formen ſich einzuprägen. Es ſchaute nach innen und ſuchte mit Hilfe alter Erinnerungen das Verſtändniß14 des eben Vorgegangenen ſich aufzuſchließen. Offenbar konnten die warnenden Worte nur von der jungen Lucretia geſchrieben ſein; ſie mußte, als die Rede auf Jenatſch kam, des Wanderers Abſicht, den Jugendfreund aufzuſuchen, durchſchaut haben. Offenbar hatte ſie ſich weggeſtohlen in der Angſt ihres Herzens, um dem jungen Pfarrer im Veltlin ein mahnendes Zeichen naher Gefahr zu geben. Offenbar zählte ſie darauf, das Taſchenbuch werde ihm zu Geſicht kommen.

Von dem eben Erlebten ſpannen ſich Waſer's Ge¬ danken an fliegenden Fäden in ſeine Knabenzeit zurück. Auf dem düſtern Hintergrunde des Julier malte ſeine Seele ein farbenluſtiges Bild, in deſſen Mitte wiederum Herr Pompejus mit ſeinem Töchterlein Lucretia ſtand.

Zweites Kapitel.

Waſer ſah ſich in der dunkeln Schulſtube des neben dem großen Münſter gelegenen Hauſes zum Loch im Jahre des Heils 1615 auf der vorderſten Bank ſitzen. Es war ein ſchwüler Sommertag und der würdige Magiſter Semmler erklärte ſeiner jungen Zuhörerſchaft einen Vers der Iliade, der mit dem helltönenden Dativ magádi ſchloß. Magás, erläuterte er, heißt die Drommete und iſt ein den Naturlaut nachahmendes Klangwort. Glaubt Ihr nicht den durchdringenden Schall der Drommete im Lager der Achaier zu vernehmen, wenn ich das Wort ausrufe? Er hemmte ſeinen Schritt vor der großen Wandkarte des griechiſchen Archi¬ pelagus und rief mit hellkrähender Stimme: Magádi!

Dieſe Kraftanſtrengung wurde durch ein ſchallendes Gelächter belohnt, das der Magiſter mit Genugthuung vernahm, ohne den Hohn zu bemerken, der im Beifalle ſeiner beluſtigten Schüler mitklang. War es ihm doch16 verborgen geblieben, daß ihm dieſe alljährlich wiederholte effektvolle Scene ſchon längſt den kriegsmäßigen Spitz¬ namen Magaddi zugezogen hatte, der ſich im Wechſel der nachrückenden Geſchlechter von Klaſſe auf Klaſſe vererbte.

Heinrich Waſers Aufmerkſamkeit aber wurde ſeit einigen Minuten von einem andern Gegenſtande gefeſſelt. Er ſaß der morſchen Eichenthüre gegenüber, an welcher ſich in längern Zwiſchenräumen ein zweimaliges, drei¬ maliges Klopfen hatte vernehmen laſſen und die ſich dann leiſe, leiſe aufthat. Durch die Spalte wurden zwei ſpähende Kinderaugen ſichtbar. Als der Drom¬ metenſtoß erſcholl, mochte der kleine Beſuch das tönende Wort für die in einer fremden Sprache an ihn er¬ gehende Aufforderung zum Eintritte nehmen. Es öffnete ſich geräuſchlos die Thür und über die hohe Schwelle trat ein vielleicht zehnjähriges Mädchen mit dunkeln Augen und trotzig ſcheuer Miene. Ein Körbchen in der Hand näherte ſie ſich ohne Zögern dem würdigen Semm¬ ler, verneigte ſich vor ihm mit Anſtand und ſprach: Mit Eurer Erlaubniß, Signor Maestro. Dann ſchritt ſie auf Jürg Jenatſch zu, den ſie auf den erſten Blick in der Schülerſchaar entdeckt hatte.

Dieſer ſaß, eine fremdartige Erſcheinung, unter ſeinen fünfzehnjährigen Altersgenoſſen, die er um Hauptes¬17 höhe überragte. Seinem braunen Antlitz gaben die düſtern Brauen und der keimende Bart einen faſt männlichen Ausdruck und ſeine kräftigen Handgelenke ragten weit vor aus den engen Aermeln des dürftigen Wamſes, dem er längſt entwachſen war. Beim Eintreten der Kleinen überflog eine dunkle Schamröthe ſeine breit ausgeprägte Stirn. Er behielt eine ernſte Haltung, aber ſeine Augen lachten.

Jetzt ſtand das Mädchen vor ihm, umſchlang den Sitzenden mit beiden Armen und küßte ihn herzlich auf den Mund. Ich habe gehört, daß Du hungerſt, Jürg, ſagte ſie, und bringe Dir etwas ... Von unſerm gedörrten Fleiſche, das Du ſo gerne iſſeſt! fügte ſie heimlich hinzu.

Ein unermeßliches Gelächter durchdröhnte die Schul¬ ſtube, das Semmlers gebieteriſch erhobene Rechte lange nicht beſchwichtigen konnte. Die Augen des Mädchens blickten befremdet und überquollen dann von ſchweren Thränen des Unmuths und der Scham, während ſie Jenatſch feſt bei der Hand faßte, als fände ſie bei ihm allein Schutz und Hilfe.

Jetzt endlich brach ſich die ſtrafende Stimme des Magiſters Bahn: Was iſt da zu lachen, ihr Eſel? Ein naiver Zug, ſag 'ich euch! Rein griechiſch! euer Gebahren iſt eben ſo einfältig, als wenn ihrMeyer, Georg Jenatſch. 218euch beigehen laßt über die unvergleichliche Figur des göttlichen Sauhirten oder die Wäſche des Königstöchter¬ leins Nauſikaa zu lachen, was eben ſo unziemlich als abſurd iſt, wie ich euch ſchon eines Oeftern bewieſen habe. Du biſt eine Bündnerin? Wem gehörſt Du, Kind? wandte er ſich jetzt mit väterlichem Wohl¬ wollen zu der Kleinen, und wer brachte Dich hierher? Denn, ſetzte er, ſeinen geliebten Homer parodirend, hinzu, nicht kamſt Du zu Fuß, wie es ſcheint, nach Zürich gewandelt.

Mein Vater heißt Pompejus Planta, antwortete die Kleine und erzählte dann ruhig weiter: Ich kam mit ihm nach Rapperswyl und als ich den ſchönen blauen See ſah und hörte, daß am andern Ende die Stadt Zürich ſei, ſo machte ich mich auf den Weg. In einem Dorfe ſah ich zwei Schiffer zur Abfahrt rüſten und da ich ſehr müde war, nahmen ſie mich mit.

Pompejus Planta, der Vielgenannte, der ange¬ ſehenſte Mann in Bünden, das allmächtige Parteihaupt! Dieſer Name machte auf Herrn Semmler einen über¬ wältigenden Eindruck. Sogleich ſchloß er die Schul¬ ſtunde und führte die kleine Bündnerin unter ſein gaſt¬ liches Dach, gefolgt von dem jungen Waſer, der bei dem Magiſter, ſeinem mütterlichen Ohm, an dieſem Wochentage das Mittagsmahl einzunehmen pflegte.

19

Als ſie die ſteile Römergaſſe hinunter ſchritten, kam ihnen geſtiefelt und geſpornt ein ſtark gebauter imponirender Herr entgegen.

Hab 'ich Dich endlich, Lucrezchen! ſagte er, das Kind auf den Arm nehmend und heftig küſſend. Was fiel Dir ein, mir zu entſpringen, Kröte!

Dann, ohne eine Antwort zu erwarten und ohne das Mädchen aus den Armen zu laſſen, wandte er ſich mit einer nur leichten Verbeugung, aber nicht ohne Anmuth gegen Semmler und ſagte in fließendem, doch etwas fremdartig ausgeſprochenem Deutſch: Ihr habt ſeltſamen Beſuch in Eurer Schule erhalten, Herr Pro¬ feſſor! Verzeiht die Störung Eures gelehrten Vortrags durch meinen Wildfang.

Semmler betheuerte, daß es ihm zur beſondern Freude und Ehre gereiche, das junge Fräulein und durch ſie den edeln Herrn Vater kennen gelernt zu haben. Thut mir die Ehre an, hochmögender Herr, ſchloß er, eine beſcheidene Mittagsſuppe mit mir und meiner lieben Ehefrau zu theilen.

Der Freiherr willigte ein, ohne ſich bitten zu laſſen und erzählte unterwegs, wie er Lucretia's Verſchwinden ſpät bemerkt, dann aber gleich ſich aufs Pferd geworfen und die Reiſende mit Leichtigkeit von Spur zu Spur verfolgt habe. Er erzählte weiter, er beſitze in Rappers¬2*20wyl ein Haus, das er ſich auf alle Fälle hin erworben, da es in Bünden wie draußen im Reich nicht mehr ganz geheuer ſei. Lucretia habe ihn dahin begleiten dürfen. Wie er dann von Semmler erfuhr, was das Kind nach Zürich getrieben, brach er in ein ſchallendes Gelächter aus, das aber nicht heiter klang.

Als nach beendigtem Mahle die Herren beim Weine ſaßen, während die Frau Magiſterin ſich mit Lucretia beſchäftigte, erkundigte ſich Planta, vom Geſpräch ab¬ ſpringend, plötzlich nach dem jungen Jenatſch. Semmler lobte ſeine Begabung und ſeinen Fleiß und Waſer wurde abgeſchickt, ihn aus dem Hauſe des ehrſamen Schuh¬ machers, wo er ſich in Koſt gegeben hatte, abzuholen. Nach wenigen Augenblicken trat Georg Jenatſch in die Stube.

Wie geht es, Jürg? rief der Freiherr dem Knaben gütig entgegen, und dieſer antwortete beſcheiden und doch mit einer gewiſſen ſtolzen Zurückhaltung, daß er ſein Mögliches thue. Der Freiherr verſprach, ihn bei ſeinem Vater zu rühmen und wollte ihn mit einem Wink verabſchieden; aber der Knabe blieb ſtehen. Geſtattet mir ein Wort, Herr Pompejus! ſagte er leicht erröthend; Die kleine Lucretia iſt um meinetwillen wie eine Pilgerin im Staube der Landſtraße gegangen. Sie hat meiner nicht vergeſſen und mir aus der Heimath21 eine Gabe gebracht, die ſie mir freilich beſſer nicht gerade vor meinen Kameraden überreicht hätte. Doch bin ich ihr dafür dankbar und möchte ihr ſchon um meiner Ehre willen ein Gegengeſchenk anbieten. Damit ent¬ hüllte er aus einem Tüchlein einen kleinen, inwendig vergoldeten Silberbecher von ſchlichteſter Form.

Iſt der Junge toll! fuhr der Freiherr auf. Dann aber mäßigte er ſich ſogleich. Was denkſt Du, Jürg! fuhr er fort, Kommt der Becher von Deinem Vater? ... Ich wußte nicht, daß er über Gold und Silber gebiete. Oder erwarbſt Du ihn ſelbſt im Schweiße Deines Angeſichts mit einer Schreiberarbeit? So oder ſo darfſt Du ihn nicht wegſchenken. Es geht Dir knapp genug und er hat Geldeswerth.

Ich darf darüber verfügen, antwortete der Knabe ſelbſtbewußt, denn ich habe ihn mit dem Einſatze meines Lebens gewonnen.

Ja, das hat er, Herr Pompejus! ließ ſich jetzt der lebhafte Waſer mit Begeiſterung vernehmen, der Becher kommt von mir. Er iſt das Zeichen meiner Dankbarkeit dafür, daß Jürg mich beim Baden aus den Wirbeln der reißenden Sihl, die mich hinunterzogen, mit eigener Lebensgefahr gerettet hat. Und Jenatſch und ich und Fräulein Lucretia, wir wollen Alle daraus auf Euer Wohl trinken. Sprach's und füllte trotz22 eines ſeine unerhörte Kühnheit mißbilligenden Blickes, den ihm ſein Ohm zuwarf, das Becherlein mit duften¬ dem Neftenbacher aus dem geblümten Deckelkruge.

Jürg Jenatſch ergriff den Becher und ſuchte mit den Augen Lucretia. Sie hatte dem Vorgange mit brennender Aufmerkſamkeit gefolgt. Jetzt machte ſie ſich von der Magiſterin los und ſtellte ſich ernſthaft zu der Gruppe. Jürg koſtete den Wein und reichte ihn mit dem Spruche: Auf Dein Wohl, Lucretia, und auf das Deines Vaters! dem ſchweigenden Kinde, das langſam von dem Tranke ſchlürfte, als beginge es eine feier¬ liche Handlung. Dann gab es den Becher ſeinem Vater und dieſer leerte ihn aus Verdruß mit einem Zuge.

Mag es denn ſein, Du thörichter Junge! ſagte Planta, aber jetzt mach 'daß Du fort kommſt. Auch wir werden bald aufbrechen.

Jenatſch ſchied und Lucretia wurde von der Ma¬ giſterin zu den Stachelbeerſträuchern in den kleinen Hausgarten geführt, um ſich, wie die kinderfreundliche Frau ſagte, ihren Nachtiſch ſelbſt zu holen. Während die Herren, diesmal in italieniſcher Sprache ſich unter¬ haltend, noch einmal zum Becher griffen, ſetzte ſich Waſer ſtill in eine Fenſterniſche mit einem Orbis pictus,23 in den er angelegentlich vertieft ſchien. Der Schlaue war des Italieniſchen nicht unkundig, er hatte es mit Jenatſch halb ſpielend getrieben und ließ, mit ſcharfem Ohre lauſchend, ſich kein Wort des intereſſanten Ge¬ ſpräches entgehen.

Ich werde dem Jungen den Kinderbecher zehnfach erſetzen, begann Planta. Kein übler Burſche, wenn er nicht ſo hoffährtigen und verſchloſſenen Gemüthes wäre. Hochmuth kleidet ſchlecht, wo das Brot im Hauſe mangelt. Sein Vater, der Pfarrer von Scharans, iſt ein grundbraver Mann und ſpricht als mein Nachbar häufig bei mir ein. Früher häufiger als jetzt. Ihr könnt Euch nicht vorſtellen, Herr Magiſter, welch ein ſchlimmer Geiſt in unſere Prädikanten gefahren iſt. Sie donnern von den Kanzeln gegen den ſpaniſchen Kriegs¬ dienſt und predigen Gleichberechtigung des Letzten mit dem Erſten zu allen Aemtern im Lande, auch zu den wichtigſten, was bei den gefährlichen politiſchen Con¬ juncturen, welche die umſichtigſte Führung unſers Staats¬ ſchiffleins erfordern, nothwendig zum Verderben des Landes ausſchlagen muß. Von der unſinnigen pro¬ teſtantiſchen Propaganda, mit der ſie unſere katholiſchen Unterthanen im Veltlin quälen, will ich nicht reden. Ich bin wieder katholiſch geworden, Herr, obgleich ich von reformirten Eltern ſtamme. Warum? Weil im24 Proteſtantismus ein Princip des Aufruhrs auch gegen die politiſche Autorität liegt.

Stellt Eure Pfarrer beſſer, warf Semmler be¬ haglich lächelnd ein, und ſie werden als zufriedene und angeſehene Leute dem Unterthan von der nothwendigen Ungleichheit der menſchlichen Verhältniſſe den richtigen Begriff zu geben wiſſen.

Planta lachte etwas höhniſch über dieſe der bünd¬ neriſchen Opferwilligkeit gemachte Zumuthung. Um auf den Jungen zurückzukommen, ſagte er dann, ſo gehört er auf einen Kriegsgaul, nicht hinter das Kanzel¬ bret, und würde dort weniger Unheil ſtiften. Ich hab 'es dem Alten oft geſagt: Gebt den Burſchen mir, es iſt Schade um ihn! Aber der beſegnete ſich vor dem ſpaniſchen Kriegsdienſte, wohin ich den hübſchen Jungen empfehlen wollte.

Semmler nippte bedächtig ſeinen Wein und ſchwieg. Er ſchien den Widerwillen des Scharanſerpfarrers gegen die ſeinem Sohne geöffnete Laufbahn nicht zu mi߬ billigen.

Ein Weltkrieg ſteht bevor, fuhr Planta leiden¬ ſchaftlicher fort, und wer weiß, wie weit es ein ſo verwegenes Blut bringen könnte! Tollkühn iſt der Burſche über alles Maß. Da muß ich Euch doch etwas erzählen, Herr Magiſter! Im Sommer vor etlichen25 Jahren der Junge war noch zu Hauſe trieb er ſich täglich mit meinem Brudersſohne Rudolf und mit Lucretia auf dem Riedberg herum. Da kommt einmal Lucretia, als ich durch den Garten gehe, im Sturm mit freudeblitzenden Augen auf mich zugelaufen. Sieh, ſieh, Vater! ruft ſie athemlos und deutet in die Höhe zu den Schwalbenneſtern meines Schloßthurmes. Was erblick 'ich dort, Herr Magiſter! Rathet einmal ... Den Jürg, der rittlings auf dem äußerſten Ende eines weit aus der Dachluke ragenden und ſich auf und nieder wiegenden Brettes ſitzt. Und der Schlingel ſchwingt noch den Filz und begrüßt uns mit Jubelgeſchrei! Der Andere mochte drinnen auf dem ſicheren Ende der im¬ proviſirten Schaukel hocken, und da Rudolf ich ſag' es ungern ein tückiſcher Junge iſt, graute mir vor dem Wagſtück. Ich erhob drohend die Hand und eilte hinauf. Als ich ankam, war Alles wieder an Ort und Stelle. Ich faßte Jürg am Kragen, ihm ſeine Frech¬ heit vorhaltend; er antwortete aber ruhig, Rudolf hätte gemeint, er würde ſich deſſen nicht getrauen und das hätte er nicht dürfen auf ſich ſitzen laſſen.

Semmler, deſſen Hände bei dieſer Geſchichte ängſt¬ lich nach den Armlehnen ſeines Stuhls gegriffen hatten, erlaubte ſich nun das in ihm aufſteigende Bedenken aus¬ zuſprechen, ob der Umgang Lucretias mit ſo wilden26 Jungen, vornehmlich mit dem durch eine unüberſteigliche, mit der Zeit immer größer werdende Kluft von ihr getrennten Jenatſch, nicht die weibliche Zartheit und adelich feine Sitte des kleinen Fräuleins gefährden könnte.

Flauſen! rief der Freiherr. Ihr dürft Euch darüber keine Gedanken machen, daß das Kind dem Jungen nach Zürich nachgelaufen iſt. Daran iſt nie¬ mand als der Rudolf Schuld. Er tyranniſirt das Mädchen und ängſtigt es damit, daß er es ſeine kleine Braut nennt. Er mag wohl derartiges von ſeinem Vater gehört haben, meinem Bruder wär 'es nicht unwillkommen, denn ich bin der Reichere; aber das liegt in weitem Felde. Kurz, ſie hat den ſtärkern Jürg, den der Andere fürchtet, zu ihrem Beſchützer gemacht. Natürlich Kindereien. Lucretia kommt nächſtens zu adelicher Erziehung ins Kloſter und hinter den Mauern wird ſie mir ſittſam genug werden, denn ſie iſt nachdenklichen Gemüths. Was übrigens Eure unüberſteiglichen Klüfte betrifft, ſo meinen wir in Bün¬ den, auch wenn wir es nicht ſagen: Das iſt Vorurtheil. Ehre, Macht und Beſitz, verſteht ſich von ſelbſt, muß haben wer um eine Planta werben will. Ob es aus Jahrhunderten ſtamme oder geſtern errafft ſei, darnach fragen wir zuletzt.

27

Hier verjagte der ſauſende Sturm die vor dem Blicke des jungen Wanderers gaukelnden Bilder ſeiner Knabenzeit. Waſer war wieder um fünf Jahre älter und ſchritt rüſtig auf dem einſamen Saumpfade des Julier abwärts. Und auf rauhe Weiſe wurde er in die Gegenwart zurückgeholt. Ein aus der Thalöffnung des Engadins aufbrauſender Windſtoß riß ihm den Hut vom Kopfe, den er mit einem verzweifelten Seitenſprunge gerade noch erhaſchte, ehe der zweite die leichte Beute dem in der Tiefe ſtrudelnden Wildbache zuwarf.

Drittes Kapitel.

Waſer drückte ſeinen Filz tiefer in die Stirn, ſchnallte ſein Ränzchen feſter, und ſprang, am jetzt ſteil werdenden Abhange die weiten Windungen des Saum¬ pfades kürzend, eilig abwärts. Erſt überſchritt er die Wurzeln blitzgeſchwärzter, ſeltſam verdrehter Arvbäume und die harten Rinnen ausgetrockneter Wildbäche, dann trat er weichen Raſen und plötzlich lag das ſammet¬ grüne Engadin geöffnet ihm zu Füßen mit ſeinen am blitzenden Inn wie ein Geſchmeide aufgereihten Berg¬ ſeen. Aber es war ein letzter Sonnenſtrahl zwiſchen Wolken, der es erhellte und thalabwärts in lichter Ferne über dem See und den Weiden von St. Moritz regen¬ bogenfarbig ſpielte.

Dem Niederſteigenden gegenüber ragte eine kahle dunkle Pyramide empor und daneben thalaufwärts ein eben ſo hoher mit grünſchimmernden Gletſchern be¬29 hangener Grat. Hinter dem Joche, das ſie verband, braute ſich das Gewitter und drängte ſeine leiſe donnern¬ den Wolken durch die Lücke, in der noch zuweilen grell ein entfernteres Schneehaupt auftauchte.

Zur Rechten des Wanderers maskirten die Berge der andern Thalwand jene ſteile Felstreppe, die faſt plötzlich durch ein tief eingeſchnittenes Thal aus der leichten Bergluft in die Hitze Italiens hinunterführt. Dort hinter der Maloja quollen, vom Südwinde herauf¬ gejagt, die ſchwülen Dünſte wie ein Nebelrauch hervor über die feuchten Wieſen von Baſelgia Maria, deſſen weiße Thürme hinter einem Regenſchleier kaum noch ſichtbar waren.

Jetzt erreichte der Saumpfad das erſte Engadinerdorf, eine Gaſſe feſter Häuſer, die mit ihren Strebepfeilern und vergitterten Fenſterluken kleinen Feſtungen glichen. Aber der junge Zürcher klopfte an keine der ſchweren Holz¬ thüren, ſondern beſchloß trotz der Dämmerſtunde auf der Thalſtraße längs der Seen rüſtig ſüdwärts zu ſchreiten. Sein Vorſatz war, im Hoſpiz der Maloja zu nächtigen, um in der Frühe des nächſten Tages über den Murettopaß nach dem Veltlin aufzubrechen; denn Herr Pompejus hatte es errathen es verlangte ihn, und jetzt mehr als je, ſeinen Schulfreund Jenatſch zu umarmen.

30

Zwiſchen dieſen hohen Bergen war es früh Abend und kühl geworden und der Weg dehnte ſich endlos neben den am Geſtade plätſchernden Wellen. Ein feiner froſtiger Nebelregen verhüllte die Gegend und durch¬ drang nach und nach die Kleider des in gleichmäßigem Schritte vorwärts Eilenden. Eine Schläfrigkeit, wie er ſie während der Hitze des Tages nicht gefühlt, fiel auf ſeine Sinne und Gedanken wie eine leichte Erſtarrung. Einmal an einer Stelle, wo der Inn mit raſchen Wellen in engem Bette an ihm vorüberſchoß und auf dem andern Ufer der ſtumpfe Thurm eines ſchwerfälligen Kirchleins erſchien, glaubte er Pferdegetrappel zu vernehmen. Ueber die Holzbrücke zu ſeiner Linken flog ein Reiter, der, nach der Maloja ſchwenkend, vor ihm her jagte und im Abenddunkel verſchwand. War dieſe in einen Mantel gehüllte Geſtalt nicht Herr Pompejus geweſen? Nein, es war ein einzelner ſcheuer Nachtfahrer, und der Frei¬ herr geleitete und beſchützte ja ſein Töchterlein, für das er gewiß die ſichere Gaſtfreundſchaft ſeiner Sippe in einem der vornehmen Engadinerdörfer angeſprochen hatte.

Endlich, endlich war der letzte See umſchritten, trat der letzte Felsvorſprung zurück. Durch den Nebel ſchimmernder Feuerſchein und Hundegebell verkündeten die Nähe eines Hauſes, das nur die Paßherberge ſein31 konnte. Waſer gewahrte, der dunkeln Steinmaſſe zu¬ ſchreitend, mit Befriedigung, daß die Pforte der Hof¬ mauer geöffnet war, und ſah den Wirth, einen hagern knochigen Italiäner, die tobenden Hunde an die Kette legen, wozu ihm der Stalljunge mit einer Pechfackel leuchtete. Das verſprach einen gaſtlichen Empfang. Jetzt ergriff der Wirth die Fackel und hielt ſie dem anlangenden Wanderer vors Geſicht.

Was verlangt der Herr? Womit kann ich dienen? fragte er, in unangenehmer Ueberraſchung einen leiſen Fluch, die Aeußerung ſeines erſten Gefühls, unterdrückend.

Welche Frage? antwortete Waſer in fröhlichem Tone, Platz an der Feuerſtelle, um mich zu trocknen, Abendbrot und Nachtlager.

Thut mir leid, Herr, unmöglich! verſetzte der Wirth mit einer ſein Bedauern und zugleich ſeine Unerſchütterlichkeit höchſt lebhaft ausdrückenden Geberde, das Haus iſt beſetzt.

Was, beſetzt? Ihr ſchient ja noch Gäſte zu er¬ warten? Ein Obdach, wie immer beſchaffen, könnt Ihr einem Reiſenden in dieſer Oede und in ſolcher froſtigen Regennacht nicht unchriſtlich verweigern!

Der Italiäner reckte die Hand aus, gegen Süden weiſend, wo der Nebel dünner war und jenſeits der32 Wetterſcheide der Maloja über zerriſſenen Bergzacken die Mondſcheibe durchſchimmerte. Von dorther kommt es beſſer, ſagte er und holte aus dem Hauſe einen vollen Becher Wein. Stärkt Euch damit! Ihr kehrt am Klügſten nach Baſelgia zurück. Ich wünſche Euch eine geſegnete Nacht.

Der Trank leuchtete beim Fackelſcheine im Glaſe wie feuriger Rubin. Begierig langte Waſer nach dem rothen Gefunkel und erquickte ſich ohne weitere Gegen¬ vorſtellung. Der Wirth drängte ihn höflich und ohne Bezahlung zu verlangen durch die Hofpforte und ſchob den Riegel.

Der junge Zürcher gab das Spiel noch nicht ver¬ loren. Statt einen langweiligen Rückzug auf dem eben durcheilten Wege anzutreten, ſtieg er, ſeine Lage be¬ denkend, den wenige Schritte entfernten Vorſprung hinan, der wie eine Warte hinausragt über das hier mit ſteilem Abfalle beginnende Bregagliathal, jetzt ein bro¬ delnder Nebelkeſſel, aus dem mondbeglänzt die Spitzen der zu höchſt am Rande ſtehenden Tannen auftauchten. Waſer ſpreitete ſeinen kurzen Mantel aus, ſetzte ſich darauf und lauſchte.

Aus dem Stalle der Herberge erſcholl von Zeit zu Zeit das Wiehern eines Pferdes, ſonſt blieb Alles ſtill. Das Brauſen der Wildbäche aus der Tiefe war, vom33 Nebel gedämpft, dem Ohre kaum vernehmbar ... Jetzt löſte ſich von dem fernen Rauſchen ein leiſer heller Ton ab, ein Geklingel, das nun verwehte und nun nach einer Pauſe deutlicher emporſtieg. Wieder verklang es und hub von Neuem wieder an, diesmal näher und lauter, als kröche es die Bergwand herauf, den Win¬ dungen eines Pfades folgend. Lange horchte Waſer wie im Traume dieſem lieblich unheimlichen Bergwunder zu; jetzt aber ſchlug der Ton von Menſchenſtimmen an ſein Ohr. Offenbar waren es Reiter oder Säumer, die ihre Thiere antrieben, und ſein Schluß war raſch gezogen die vom Wirthe erwarteten Gäſte.

Er legte ſich flach auf die Erde, um nicht ſichtbar zu werden. Er wollte wiſſen, wer ihn ſeines Nacht¬ lagers beraube. Nach geraumer Zeit erreichten zwei Maulthiere die Höhe, zwei Reiter ſprangen ab, offenbar Herr und Diener, beſtürmten mit einigen harten Schlä¬ gen das ſofort ſich öffnende Thor und wurden vom Wirthe dienſteifrig in das noch immer erleuchtete Haus geführt.

Unwille und Neugier ſtachelten den jungen Zürcher. Wie neubelebt ſprang er auf und umſchlich die geheim¬ nißvolle Feſtung. Er erinnerte ſich des Feuerſcheins, der ihm bei der Ankunft entgegengeleuchtet und der nicht von der Hofſeite gekommen ſein konnte. Richtig, daMeyer, Georg Jenatſch. 334war an der Rückſeite des Hauſes das einzelne Seiten¬ fenſter mit ſeiner durch ein ſchweres Eiſengitter flam¬ menden Helle. Er ſchwang ſich auf die Ruine eines an die Hausmauer gelehnten Ziegenſtalles und es gelang ihm, in die Tiefe des rauchigen Gemaches zu blicken.

Da ſtand am lodernden Herdfeuer eine ſtein¬ alte Frau mit einem grundehrlichen Geſichte und hielt eine Eiſenpfanne in der Hand, worin Bergforellen im praſſelnden Fette brieten. Ein bleicher Burſche, deſſen krankhaft ſtarre Züge in dem Schwalle des dunkeln verwirrten Lockenhaares faſt verſchwanden, ſchlief, in eine Schafhaut gewickelt, auf einer Steinbank im Hinter¬ grunde.

Jetzt galt es klug ſein. Waſer, als angehender Diplomat, ſuchte erſt lauſchend ſich die Situation klar zu machen und dann den Punkt zu finden, von welchem aus er ſich derſelben bemächtigen könnte. Der Zufall war ihm günſtig. Der bleiche Schläfer begann mit einem ängſtlichen Traume zu kämpfen; erſt warf er ſich ächzend hin und her, von einer Seite auf die andere, dann richtete er ſich plötzlich mit geſchloſſenen Augen und einem Ausdrucke ſtumpfen Seelenleidens auf, ballte die Fauſt, als umſchlöſſe ſie eine Waffe, führte einen Stoß und ſtöhnte mit dumpfer Traumſtimme: Du wollteſt es, Santiſſima!

35

Jetzt ſetzte die Alte raſch ihre Pfanne weg, faßte den Träumer unſanft an der Schulter, rüttelte ihn und rief ihn an: Erwache, Agoſtin! Ich will Dich nicht länger in meiner Küche. Das ſind nicht die Träume des Erzvaters Jakob ... Dich plagt der Böſe. Fort in's Heu! Und der Herr behüte Dich vor den Fall¬ ſtricken der Hölle.

Die langlockige, ſchmale Geſtalt erhob ſich mit geſenktem Haupte und entfernte ſich ohne Widerrede.

Was Du für meinen Sohn, den Pfarrer Alexan¬ der in Ardenn, mitzunehmen haſt, werd 'ich Dir morgen in der Frühe, wenn Du hier Deinen Tragkorb holſt, ſelber obenauf binden! rief ihm die Alte nach und ſetzte dann kopfſchüttelnd hinzu: Eigentlich ſollt' ich dem papiſtiſchen Querkopfe das theure Erbſtück nicht an¬ vertrauen! ...

Das könnt 'ich Euch beſſer beſorgen, gute Frau, ſprach Waſer mit Vertrauen erweckender Stimme zwiſchen den Eiſenſtäben hindurch ins Gemach hinein. Ich gehe morgen über den Muretto ins Veltlin zu Pfarrer Jenatſch, dem Freunde und Nachbar Eures würdigen Sohnes, Herr Blaſius Alexander, deſſen Name mir wohl bekannt iſt, denn er hat ein gutes Gerücht in proteſtantiſchen Landen. Wohlverſtanden, wenn Ihr mir bis zur Frühe ein trockenes Schlafplätz¬3*36chen anweiſen könnt, denn der Wirth hat mich andrer Gäſte wegen, ausgeſchloſſen.

Die Alte griff erſtaunt aber unerſchrocken nach ihrer Oellampe. Das Flämmchen mit der Hand gegen den Luftzug deckend, näherte ſie ſich der Fenſteröffnung und beſchaute ſich den durch das Gitter redenden Kopf.

Als ſie das heiter kluge junge Geſicht und die wohl¬ anſtändige Halskrauſe erblickte, wurden ihre ſcharfen grauen Augen ſehr freundlich und ſie ſagte: Ihr ſeid wohl auch ein Prädikant?

Ein Stück davon! antwortete Waſer, der in ſeiner Heimat nicht leicht eine Unwahrheit ſagte, aber auf dieſem wilden unwirthlichen Boden den Umſtänden etwas einräumte. Laßt mich ein, Mütterchen, das Weitere wird ſich finden.

Die Alte nickte ihm zu, den Finger auf den Mund legend, und verſchwand. Jetzt knarrte ein niedriges Pförtchen neben dem Ziegenſtalle, Waſer kletterte hinun¬ ter und wurde von der Alten, die ſeine Hand ergriff, über ein paar dunkle Stufen hinauf in die Küche ge¬ zogen.

Ein warmes Kämmerchen findet ſich wohl, das meinige! ſagte ſie, auf eine Leitertreppe neben dem Rauchfange deutend, die zu einer Fallthüre in der ge¬ mauerten Decke führte. Ich habe die ganze Nacht am37 Feuer zu thun, die Herrſchaften drüben ſetzen ſich eben erſt zu Tiſche. Haltet Euch droben ſtill, Ihr ſeid dort ſicher, und einen Diener am Wort werd 'ich auch nicht verhungern laſſen.

Damit reichte ſie ihm die Ampel, er ſtieg ohne weitere Umſtände die Leiter hinauf, hob mit der Rech¬ ten die Thüre und trat in ein nacktes kerkerähnliches Kämmerchen. Die Alte folgte ihm mit Brot und Wein, trat dann durch das Seitenpförtchen in der Wand in ein, wie es ſchien, weites luftiges Nebengemach und kehrte mit einem anſehnlichen Stück gedörrten Schinkens zurück. An der Wand über einem wenig einladenden Schragen hing ein großes, maſſiv mit Silber beſchla¬ genes Pulverhorn.

Das, Herr, ſagte darauf deutend die Alte, will ich meinem Sohne morgen ſchicken. Es iſt das Erbe von ſeinem Ohm und Pathen, ein hundertjähriges Beuteſtück aus dem Müſſerkriege.

Nach kurzer Zeit ſtreckte ſich Waſer auf das Lager und verſuchte zu ſchlafen, aber es gelang ihm nicht. Einen Augenblick war er eingedämmert, Traumgeſtalten bewegten ſich vor ſeinen Augen, Jenatſch und Lucretia, Herr Magiſter Semmler und die Alte am Feuer, der Wirth zur Maloja und der grobe Lucas ſetzten ſich zu einander in die ſeltſamſten Wechſelbeziehungen. Plötz¬38 lich ſaßen ſie alle auf einer Schulbank, Semmler hob als griechiſche Drommete merkwürdiger Weiſe das große Pulverhorn an den Mund, aus dem die unerhörteſten Klagetöne hervordrangen, beantwortet von einem aus allen Ecken ſchallenden teufliſchen Gelächter.

Waſer erwachte, hatte Mühe ſich zu erinnern, wo er ſich befinde, und war im Begriffe wieder einzu¬ ſchlummern, da erſchollen, wie er meinte von der Neben¬ kammer her, in lebhafter Zwieſprache ferne Männer¬ ſtimmen. Was er jetzt hörte, war kein Traumgelächter.

War es die Aufregung der Reiſe, war es ein die heimlich aufſteigende Furcht bekämpfender raſcher Ent¬ ſchluß, oder war es einfache Neugier, was den jungen Zürcher vom Lager trieb? Was immer, er ſtand ſchon an der Thür des anſtoßenden Raumes, überzeugte ſich, erſt horchend, dann ſachte öffnend, daß er leer ſei, und nun durchſchritt er auf leiſen Zehen die ganze Breite der Kammer, einem ſchmalen Lichtſchimmer folgend, der durch die gegenüberſtehende Wand drang. Der ſchwache röthliche Strahl kam, wie der Taſtende ſich überzeugte, durch die Spalte einer morſchen mit ſchweren Eiſen¬ bändern beſchlagenen Eichenthür. Vorſichtig legte er ſein ſcharfes Auge an das klaffende Holzwerk, und was er ſah und vernahm war derart, daß er, ſeine eigene Lage vergeſſend, an ſeinen Poſten gebannt blieb.

39

Es war ein enges, durch eine beſchirmte Hänge¬ lampe erhelltes Gemach, in das er blickte. Der Redenden waren zwei und ſie ſchienen ſich an einem kleinen, mit Briefſchaften und unordentlich zur Seite geſchobenen Flaſchen und Tellern bedeckten Tiſche gegenüber zu ſitzen. Der Nähere wandte der Thür den Rücken zu und die breiten Schultern, der Stiernacken, der ſtruppige Kraus¬ kopf des heftig Sprechenden füllten zuweilen den ganzen von der Spalte gewährten Sehkreis. Jetzt beugte er ſich mit demonſtrirender Geberde vorwärts und über ſeiner Achſel ward in der grellſten Schärfe des Lichtes das auf die Hand geſtützte Haupt des Andern Waſer erſchrack des Herrn Pompejus Planta ſichtbar. Wie geſpannt und gramvoll ſah er aus! Tief eingeſchnittene Falten zogen ſeine buſchigen Brauen zuſammen über den eingefallenen aber unheimlich blitzenden Augen. Die ſtolze kräftige Lebensluſt war geſchwunden und in ſeinen Zügen kämpften heißer Groll und tiefer Jammer. Er ſchien ſeit heute Mittag um zehn Jahre gealtert.

Ich willige ungern in das Blutbad, das mir manchen früher befreundeten Mann aus meiner Sippe koſtet, und noch ſchwerer in die dann nothwendig wer¬ dende ſpaniſche Hilfe, ſprach Planta jetzt langſam und gedrückt, nachdem der Andere ſeine ſprudelnde, Waſer unklar gebliebene Rede vollendet hatte, ... aber, 40und hier fuhr ein Blitz des Haſſes aus den Augen des Freiherrn, muß Blut fließen, Robuſtelli, ſo vergeßt mir wenigſtens ihn nicht!

Den Giorgio Jenatſch! lachte der Italiäner wild und ſtieß ſein Meſſer in einen neben ihm liegenden kleinen Brotlaib, den er Herrn Pompejus vorhielt wie einen geſpießten Kopf an einer Pike.

Bei dieſer nicht zu mißverſtehenden ſymboliſchen Antwort kehrte der Italiäner die Hälfte ſeines rohen Geſichtes dem Lauſcher in nächſter Nähe zu. Dieſer fuhr zurück und fand es gerathen, ſich geräuſchlos auf ſeine Lagerſtätte zurückzuziehen. Die Scene gab ihm viel zu denken und beſtärkte ihn in ſeinem Vorſatze, auf dem nächſten Wege in das Veltlin zu eilen und ſeinen Freund zu warnen. Wie er es ausführen könne, ohne ſich ſelbſt in dieſe hochgefährlichen Dinge zu verwickeln, dies überlegend entſchlummerte er, von Müdigkeit über¬ wältigt.

Das erſte Morgenlicht dämmerte durch ein ſchmales Fenſterlein, das eher eine Schießſcharte zu nennen war, als Waſer durch ein Klopfen an der Fallthüre geweckt wurde. Er fuhr in ſeine Kleider und machte ſich reiſe¬ fertig. Die Alte trug ihm Grüße an ihren Sohn auf, hing ihm ſorgfältig das Pulverhorn um, das ſie als eine werthvolle Familienreliquie zu verehren ſchien, und41 beförderte ihn mit einiger Aengſtlichkeit durch das Küchenpförtchen ins Freie. Hier zeigte ſie ihm den in die Berge zur Linken der Maloja ſich verlierenden Anfang ſeines heutigen Weges, den ſchmalen Eingang zum Thalkeſſel von Caveloſch.

Seid Ihr einmal drinnen, ſagte ſie, ſo blickt nach dem kahlen Hange zur Linken des See's, dort ſchlängelt ſich, weithin ſichtbar, der Pfad und dort müßt Ihr ohne anders den Agoſtino erblicken. Er iſt vor einer Viertelſtunde mit ſeinem Tragkorbe aufgebrochen und geht wie ihr nach Sondrio hinüber. Den ſprecht an und haltet Euch zu ihm. Es iſt freilich mit ihm hier, ſie wies auf die Stirne, nicht ganz richtig, aber den Weg weiß er auswendig und iſt ſonſt wie ein Andrer.

Waſer verabſchiedete ſich mit herzlichem Danke und entfernte ſich ſchnellfüßig aus dem Umkreiſe des noch ſtillen Hauſes. Zwiſchen wilden Felstrümmern, die den Pfad kaum durchließen, betrat er bald das eiförmige, rings von gletſcherbeladenen Wänden abgeſchloſſene Thal. Er erblickte den ſchmalen Steig mit dem längs dem Abhange ſchreitenden Agoſtino und eilte ihm nach.

Der junge Mann hatte die Eindrücke der Nacht noch nicht überwunden, ſo ſehr er ſich bemühte, ihrer Herr zu werden und ſie in klare Gedanken zu ver¬42 wandeln. Er ahnte, daß, was er geſchaut, ſchweres Unheil bedeute und daß ihm der Zufall nur einen geringen, für ihn zuſammenhangsloſen und unverſtänd¬ lichen Theil ſich vorbereitender ungeheurer Schickſale enthülle. Trotz ſeines leichten Jugendblutes war er davon tief erſchüttert, denn zwei der hier ſich feindlich entgegengetriebenen Perſönlichkeiten, ſein Freund und Herr Pompejus, beſaßen, wenn auch auf verſchiedene Weiſe, ſeine Liebe und Bewunderung.

Und wie eigen, bezaubernd und ſchauerlich, war dieſe jetzt vom Morgen geröthete Gegend. Unten eine grüne Seetiefe, umkränzt von üppig bewachſenen Vor¬ ſprüngen und buſchigen Inſelchen, verſenkt in eine überall, überall ſich zudrängende unendliche Wildniß dunkelroth blühender Alpenroſen wie in ein blutiges Tuch. Ringsum ragten ſenkrechte ſchimmernde Felswände, durchzogen von den ſilbernen Schlangenwindungen ſtürzender Gletſcher¬ bäche, und im Süden, wo der im Zickzack ſich aufwärts windende Pfad den einzigen Ausgang aus dem Thal¬ runde verrieth, blendete den Blick ein glänzendes Schnee¬ feld, aus dem röthliche Klippen und Pyramiden hervor¬ ſtachen.

Jetzt hatte Waſer ſeinen Vormann erreicht und ſuchte grüßend ein Geſpräch mit dem Schweigſamen anzuknüpfen, der, in langſames Brüten vertieft, ihn43 gleichgültig kaum anſah und ſich ſeine Geſellſchaft ohne Verwunderung und ohne Neugier gefallen ließ. Er konnte ihm nur wenige Worte abnöthigen und da der Pfad ohnedies immer rauher und bald auf dem Schnee ſchlüpfrig wurde, gab er ſeine Bemühungen auf.

Schneller, als Waſer erwartet hatte, erreichten ſie die Paßhöhe. Hier beherrſchte den Ausblick nach Süden eine hochgethürmte, düſtere Gebirgsmaſſe. Waſer er¬ kundigte ſich nach dem Namen dieſes drohenden Rieſen. Er hat deren verſchiedene, antwortete Agoſtino, hier oben in Bünden nennen ſie ihn anders, als wir unten in Sondrio. Hier heißt er der Berg des Unglücks und bei uns der Berg des Wehs. Von dieſen ſchwer¬ müthigen Namen unangenehm berührt, ließ Waſer ſeinen wortkargen Begleiter voranſchreiten, hielt eine kurze Raſt und blieb dann, ohne ihn aus den Augen zu laſſen, eine Strecke hinter ihm, um ſich in der kräfti¬ gen Bergluft allein der freien Luſt des Wanderns zu ergeben.

So ging es ſtundenlang abwärts längs des ſchäu¬ menden, über Felsblöcke tobenden Malero, während die Sonne immer glühender in die Thalenge hinunter¬ brannte. Jetzt begannen kräftig aus dem Wieſengrunde emporgewundene Kaſtanienbäume den Pfad zu beſchatten und die erſten Weinlauben grüßten mit ihren ſchweben¬44 den Ranken. Auf den Hügeln ſchimmerten prunkbeladene Kirchen und der Weg wurde immer häufiger zur ge¬ pflaſterten Dorfgaſſe. Endlich durchſchritten ſie die letzte Schlucht und vor ihnen lag im goldenen Abend¬ dufte das breite üppige Veltlin mit ſeinen heißen Wein¬ bergen und ſumpfigen Reisfeldern.

Dort iſt Sondrio, ſagte Agoſtino zu dem jetzt wieder an ſeiner Seite ſchreitenden Waſer und wies auf eine italiäniſche Stadt mit ſchimmernden Paläſten und Thürmen, die dem aus der Einöde Kommenden wie ein Feenzauber durch den dunkeln Rahmen des Felsthors entgegenlachte.

Ein luſtiges Land, Dein Veltlin, Agoſtino, rief der Zürcher, und dort am Felſen wächſt ja, irr 'ich nicht, der löbliche Saſſeller, die Perle der Weine!

Er iſt im April erfroren, verſetzte Agoſtino in ſchwermüthiger Stimmung, zur Strafe unſrer Sünden.

Das iſt Schade, verſetzte Jener, was habt Ihr denn eigentlich verbrochen?

Wir dulden unter uns den giftigen Ausſatz der Ketzerei, aber wir werden in Kürze gereinigt und das faule Fleiſch wird ausgeſchnitten werden. Die Todten und die Heiligen haben in feierlicher Verſammlung das Für und Wider erwogen am achten Mai um Mitter¬ nacht dort zu San Gervaſio und Protaſio, er wies45 auf eine vor ihnen liegende Kirche, der Wächter hat es wohl gehört und iſt vor Schrecken krank gewor¬ den ſie haben ſcharf geſtritten ... aber unſer San Carlo, deſſen Stimme zwanzig gilt, iſt Meiſter ge¬ worden.

Nicht bemerkend, wie ſpöttiſch ihn ſein Begleiter von der Seite aus lachenden Augenwinkeln anſah, that er jetzt, was er unterwegs ſchon immer gethan, wo ein Kreuz oder Heiligenbild am Pfade ſtand, er ſetzte, vor einem bunten Schreine der Muttergottes angelangt, ſeinen Tragkorb nieder, warf ſich auf die Kniee und ſtarrte mit brennenden Augen durch das Gitter.

Saht Ihr, wie ſie mir winkte? ſagte er nach einiger Zeit im Weitergehen wie geiſtesabweſend.

Ja wohl, meinte der Zürcher luſtig, Ihr ſcheint bei ihr gut angeſchrieben zu ſein. An was hat ſie Euch denn erinnert?

Meine Schweſter umzubringen! erwiderte er mit einem ſchweren Seufzer.

Das war dem jungen Zürcher zu viel. Lebt wohl, Agoſtino, ſagte er. Auf meiner Karte ſteht ein Seitenweg nach Berbenn, da iſt er ja ſchon, nicht wahr? Ich kann abkürzen. Und er drückte dem leidigen Geſellen ein Geldſtück in die Hand.

Waſer wandte ſich zwiſchen den Mauern der Wein¬46 berge rechts um den Fuß des Gebirges und erblickte nach kurzer Wanderung das unter dem ſchattenden Grün der Kaſtanien faſt verborgene Dorf Berbenn, ſein Reiſe¬ ziel. Ein halbnackter Bube wies ihm die Pfarre. Ein ärmliches Haus aber an ſeiner Vorderſeite umhangen und beladen mit einem ſo reichen Prunke von Blättern und Trauben, mit ſo üppigen Kränzen von übermüthi¬ gem Weinlaube, daß ſein dürftiger Bau darunter ver¬ ſchwand. Ein breites Gitterdach auf morſchen Holzſäulen bildete die ſchwache Stütze dieſes laſtenden Reichthums und die Vorhalle des Häuschens. Oben ſpielten die letzten Strahlen der Abendſonne auf den warmen gold¬ grünen Blättern, darunter lag Alles im tiefſten Schatten.

Während Waſer dieſe noch nie geſchaute freie Fülle beſtaunte, erſchien eine leichte Geſtalt in der Thüre, und als ſie aus dem grünen Schatten trat, war es ein ſchönes noch mädchenhaftes Weib, das einen Krug zum Waſſerholen auf dem Kopfe trug. Der nackte Arm ſtützte leicht das auf den dicken braunen Flechten ruhende Gefäß, ſie bewegte ſich in ſchwebender Anmuth mit ge¬ ſenkten Wimpern heran und als nun Waſer in achtungs¬ voller Haltung höflich grüßend vor ihr ſtand und ſie die ſanften leuchtenden Augen auf ihn richtete, war ihm, er habe noch nie im Leben einen ſolchen Triumph der Schönheit geſehen.

47

Auf ſeine Erkundigung nach dem Herrn Pfarrer zeigte ſie ruhig mit der freien Hand durch die Wein¬ laube und den dunkeln Flur nach einer Hinterthür des Hauſes, wo die goldene Abendhelle eindrang. Von dorther ſcholl zu Waſers Verwunderung kriegeriſcher Geſang.

Kein ſchönrer Tod iſt in der Welt
Als wer vorm Feind hinſcheidt ...

Das Lied des deutſchen Landsknechts, das ſo todes¬ freudig und doch ſo lebensmuthig klang, konnte, daran war kein Zweifel, nur aus der kräftigen Kehle ſeines Freundes kommen. In der That, da kniete er im Schatten einer mächtigen Ulme, und womit beſchloß der Pfarrer von Berbenn ſein Tagewerk? er ſchliff am Wetzſteine einen gewaltigen Raufdegen.

Vor Ueberraſchung blieb Waſer einen Augenblick wortlos ſtehen. Der Knieende gewahrte ihn, ſtieß das Schwert in den Raſen, ſprang auf, breitete die Arme aus und drückte mit dem Rufe Herzenswaſer! den Freund an ſeine breite Bruſt.

Viertes Kapitel.

Nachdem ſich der Ankömmling aus der Umſchlingung des Pfarrers losgewunden, maßen ſie ſich gegenſeitig mit fröhlichen Augen.

Waſer war etwas verblüfft; aber es gelang ihm, nichts davon merken zu laſſen. Er fühlte ſich ein wenig gedrückt neben der athletiſchen Geſtalt des Bündners, von deſſen braunem bärtigen Haupte ein Feuerſchein wilder Kraft ausging. Er ahnte es, die Gewalt eines unbändigen Willens, die früher in den düſtern, faſt ſchläfrigen Zügen ſeines Schulgenoſſen geſchlummert haben mochte, war geweckt, war entfeſſelt worden durch die Gefahren eines ſtürmiſchen öffentlichen Lebens.

Jenatſch ſeinerſeits war von der fertigen und ſaubern Erſcheinung ſeines zürcheriſchen Freundes, der mit klug beſcheidenen Blicken, doch in ſeiner Weiſe ſicher vor ihm ſtand, ſichtlich befriedigt, und offenbar erfreut, mit einem Vertreter ſtädtiſcher Kultur in ſeiner Abgeſchiedenheit zu verkehren.

49

Der Bündner lud ſeinen Gaſt mit einer Hand¬ bewegung zum Sitzen ein auf die rings um den Stamm der Ulme laufende Bank und rief mit tönender Stimme:

Wein! Lucia.

Das ſchöne ſtille Weib, dem Waſer beim Eintritt in das Haus begegnet war, erſchien bald mit zwei vollen Steinkrügen, die ſie mit einer lieblich ſchüchternen Ver¬ neigung zwiſchen die Freunde auf die Holzbank ſetzte, demüthig ſich gleich wieder entfernend.

Wer iſt das holdſelige Geſchöpf? fragte Waſer, der ihr mit Wohlgefallen nachſchaute.

Mein Eheweib. Du begreifſt, daß hier mitten unter den Götzendienern, Jenatſch lächelte, ein pro¬ teſtantiſcher Prieſter nicht unbeweibt bleiben durfte. Es iſt einer unſerer Hauptſätze! Ueberdieß ſchärfte mir das jetzige laue Regiment, das mich aus dem Wege haben wollte und mich auf dieſe einſame Strafpfarre beför¬ derte, ausdrücklich ein, ſo viele Seelen als möglich aus dem Pfuhle des Aberglaubens zu ziehen. Das war mein redlicher Vorſatz. Aber bis jetzt iſt mir nur eine Bekehrung gelungen, die der ſchönen Lucia. Und wie? Indem ich meine eigene Perſon dafür verpfändete.

Sie iſt aus der Maßen ſchön, bemerkte Waſer nachdenklich.

Gerade ſchön genug für mich! ſagte Jenatſch,Meyer, Georg Jenatſch. 450ſeinem Gaſte den einen Krug überreichend, während er den andern an die Lippen ſetzte, und die Sanftmuth ſelbſt, ſie hat von ihren katholiſchen Verwandten meinetwegen viel zu leiden. Aber was haſt Du da für ein ſtattliches Pulverhorn, Freund? das iſt ja das Erb¬ ſtück aus der Familie der Alexander! ... Richtig, der Alte in Pontreſina iſt geſtorben und nun kommt es an den wackern Blaſius, meinen Collegen in Ardenn. Darum könnt 'ich ihn beneiden. Doch wie in aller Welt kommſt gerade Du dazu, es ins Veltlin zu bringen?

Das gehört zu meinen Reiſeerlebniſſen, die ich Dir ſpäter des Nähern berichten werde, erwiederte Waſer, der mit ſich ſelbſt noch nicht im Klaren war, wie weit er das warnende Abenteuer der Maloja ent¬ hüllen könne, ohne gegen ſeinen Vorſatz von dem hei߬ blütigen Freunde aus der einen Mittheilung in die andere fortgeriſſen zu werden. Aber jetzt, lieber Jürg, kläre mich vor allen Dingen auf über die merkwürdigen Ereigniſſe, die in den letzten Jahren die Aufmerkſam¬ keit aller Politiker auf Dein Vaterland lenkten. Quo¬ rum pars magna fuisti! Du warſt dabei die Haupt¬ perſon.

Darüber kannſt Du leichtlich beſſer unterrichtet ſein als ich, wenigſtens was den Zuſammenhang be¬51 trifft, antwortete Jenatſch, indem er den linken Fuß auf den Schleifſtein ſetzte und ein Bein über das andere ſchlug, Du arbeiteſt ja auf eurer Staatskanzlei und die Herren von Zürich laſſen ſich nichts zu viel koſten, um nur immer auf dem Laufenden zu bleiben. Uebrigens iſt Alles ganz natürlich zugegangen, verkettet nach Urſache und Wirkung. Du weißt alſo, denn in eurer Rathsſtube mag es häufig aufs Tapet gekommen ſein, daß ſeit Jahren Spanien-Oeſterreich unſere Katholiken beſticht, um unſer Bündniß und freien Durchzug für ſeine Kriegsbanden zu erlangen und uns jetzt, aus Verdruß, durch ſeine Miethlinge nichts erreicht zu haben, dort, er wies nach Süden, die Feſtung Fuentes gegen alle Verträge als eine tägliche Bedrohung an die Schwelle unſeres Landes Veltlin geſetzt hat. Wir können ſie morgen beſuchen, Heinrich, wenn Du willſt und Du wirſt bei Deinen gnädigen Herren in Zürich einen Stein im Brete gewinnen durch die Beſchreibung des an Ort und Stelle beſichtigten Streitobjectes. Das war läſtig, aber es ging uns nicht ans Leben. Dann aber, als es jedem klar denkenden Kopfe zur Gewißheit wurde, daß die katholiſchen Mächte zum Vernichtungskriege gegen den deutſchen Proteſtantismus rüſteten ....

Unbeſtreitbar, warf Waſer ein.

... Da wurde es zur Lebensfrage für Spanien,4*52ſich die Militärſtraße von ſeinem Mailand ins Tyrol durch unſer Veltlin, über unſer Gebirg, um jeden Preis zu ſichern, und zur Lebensfrage für uns, dies um jeden Preis zu verhindern. Unſere ſpaniſche Partei mußte zum Nimmerwiederaufſtehn niedergeſchmettert werden!

Ganz richtig, ſagte der Zürcher, wenn ihr nur nicht zu ſo gar gewaltthätigen Mitteln gegriffen hättet, wenn nur euer Volksgericht in Thuſis weniger form - und regellos und ſeine Strafen weniger blutig geweſen wären!

Waſche mir den Pelz, ohne ihn naß zu machen! Wenn du kannſt! Uebrigens war es nicht ſo ſchlimm. Wir wurden durch übertriebene Berichte verleumdet und die beiden Planta zogen an euern Tagſatzungen und in aller Herren Länder herum, uns anzuſchwär¬ zen und ſchlecht zu machen.

Der keiner Partei verfallene und von allen Recht¬ ſchaffenen geachtete Fortunatus Juvalt hat nach Zürich geſchrieben, ihr wäret unbarmherzig mit ihm umge¬ gangen.

Geſchah dem Pedanten Recht! In einer kritiſchen Zeit muß man Partei zu ergreifen wiſſen. Da heißt es: Die Lauen werd 'ich aus dem Munde ſpeien.

Er klagte, es wären falſche Zeugen gegen ihn aufgeſtanden.

53

Mag ſein. Auch kam er ja mit dem Leben davon und wurde nur zu einer Buße von vierhundert Kronen verurtheilt wegen zweideutiger Geſinnung.

Ich begreife, fuhr Waſer nachdenklich fort, daß ihr Pompejus Planta und ſeinen Bruder Rudolf des Landes verweiſen mußtet; aber war es denn nöthig, ſie wie gemeine Verbrecher zu brandmarken und mit Henkerſtrafen zu bedrohen, ohne Rückſicht auf die glän¬ zenden Verdienſte ihrer Vorfahren und die tiefen Wurzeln ihrer Stellung im Lande?

Niederträchtige Verräther! fuhr Jenatſch zorn¬ blitzend auf. Die Schuld unſerer ganzen Gefahr und Verſtrickung laſtet auf ihnen und möge ſie zermalmen! Zuerſt und vor Allen haben ſie mit Spanien gezettelt! Kein Wort, Heinrich, zu ihrer Vertheidigung!

Verletzt durch dies herriſche Ungeſtüm, ſagte Waſer mit etwas gereizter Stimme und dem Gefühle, jetzt einen wunden Punkt zu treffen: Und der Erzprieſter Nicolaus Rusca? Er galt allgemein für unſchul¬ dig.

Ich glaube, er war es, flüſterte Jenatſch, dem ſichtlich bei dieſer Erinnerung unbehaglich zu Muthe ward, und blickte ſtarr vor ſich hin in die Dämmerung.

Erſtaunt über dieſe ſeltſame Aufrichtigkeit ſchwieg54 der Andere eine Weile. Er iſt auf der Folter mit durchgebiſſener Zunge geſtorben ... ſagte er endlich vorwurfsvoll.

Jenatſch antwortete in kurzen abgeriſſenen Sätzen: Ich wollte ihn retten ... Wie konnt 'ich wiſſen, daß der Schwächling die erſten Foltergrade nicht überſtehen würde ... Er hatte perſönliche Feinde. Die Aufregung gegen die römiſchen Pfaffen wollte ihr Opfer haben. Unſere katholiſchen Unterthanen hier im Veltlin mußten eingeſchüchtert werden. Es kam, wie geſchrieben ſteht: Beſſer iſt's, daß Einer umkomme, als daß das ganze Volk verderbe.

Wie um die trübe Stimmung abzuſchütteln, erhob ſich nun Jenatſch, den Freund aus dem dunkelnden Gartenraume ins Haus zu führen. Ueber der Mauer ſah man den ſchlanken Kirchthurm vom letzten Abend¬ gold ſich abheben.

Der Unglückliche hat übrigens hier noch zahl¬ reiche Anhänger, ſagte er, und dann auf die Kirche weiſend: dort las er ſeine erſte Meſſe vor dreißig Jahren.

Im Hauptgemach, das nach dem Flur offen ſtand, brannte eine Lampe. Als die Beiden das Haus be¬ traten, ſahen ſie die junge Frau an der Vorderthür bei einer Freundin ſtehen, die ſie herausgerufen zu55 haben ſchien und ihr mit ängſtlichen Geberden etwas zuflüſterte. Hinter ihnen auf der Dorfgaſſe liefen in der Dämmerung Leute vorüber und man vernahm ein wirres Getön von Stimmen, aus dem jetzt deutlich der Ruf eines alten Weibes hervorkreiſchte: Lucia, Lucia! Ein entſetzliches Wunder Gottes!

Jenatſch, dem ſolche Scenen nicht neu ſein moch¬ ten, wollte, ſeinem Gaſte den Vortritt laſſend, die Zimmer¬ ſchwelle überſchreiten, als die junge Frau ſich ihm näherte und ihn angſtvoll am Aermel faßte. Waſer, der ſich umwendete, ſah, wie ſie todtenblaß die gefalte¬ ten Hände zu ihrem Manne erhob.

Geh 'an Deinen Herd, Kind, und beſorge uns ruhig das Abendeſſen, befahl er freundlich, damit Du mit Deiner Kunſt bei unſerm Gaſte Ehre einlegeſt. Dann wandte er ſich unmuthig lachend zu Waſer: Die verrückten welſchen Hirngeſpinnſte! Sie ſagen, der todte Erzprieſter Rusca ſtehe drüben in der Kirche und leſe Meſſe! Ich will dem Wunder zu Leibe rücken. Kommſt Du mit, Waſer?

Dieſem lief es kalt über den Rücken, aber die Neugierde überwog und: Warum nicht! ſagte er mit muthiger Stimme; dann, als ſie der vorwärts treiben¬ den Menge verſtörter Leute durch die Dorfgaſſe nach56 der Kirche folgten, fragte er flüſternd: Der Erzprieſter iſt doch wirklich nicht mehr am Leben?

Sapperment! verſetzte der junge Pfarrer, ich war dabei, als man ihn unter dem Galgen in Thuſis verſcharrte.

Jetzt traten ſie durch die Hauptpforte in die Kirche. Das Schiff, welches ſie nun durchſchritten, war zum Behufe des proteſtantiſchen Gottesdienſtes von allen Heiligthümern gereinigt und enthielt außer den Bänken für die Zuhörer nur den Taufſtein und eine nackte Kanzel. Ein Breterverſchlag mit einer kleinen Thüre trennte davon den weiten Chor, der den Katholiken verblieben und von ihnen zur Capelle eingerichtet wor¬ den war.

Als Jenatſch öffnete, befanden ſie ſich dem Haupt¬ altare gegenüber, deſſen heiliger Schmuck und ſilbernes Crucifix in einem letzten durch das ſchmale Bogenfenſter einfallenden Abendſchimmer kaum mehr zu erkennen waren. Vor ihnen drängte ſich Kopf an Kopf die knieende murmelnde Menge, Weiber, Krüppel, Alte. Längs der Wände ſchoben ſich dürftige Männergeſtalten, mit den langen magern Hälſen vorwärts lauſchend und den Filz krampfhaft vor die Bruſt gedrückt.

Auf dem Hochaltare flackerten zwei düſtere Kerzen, deren Licht mit dem letzten von außen kommenden57 Schimmer der Dämmerung kämpfte. Die zwei Flämm¬ chen bewegten ſich in einem von zerbrochenen Fenſter¬ ſcheiben eingelaſſenen Luftzuge, der ſie auszulöſchen drohte, und tanzende Schatten trieben auf dem Altare ein ſeltſames Spiel. Der ſtreichende Wind bewegte zuweilen mit leiſem Geknatter die ſchwach ſchimmernden Falten der Altardecke. Erregte Sinne mochten wohl das weiße Gewand eines Knieenden auf den Stufen erblicken.

Jenatſch ſtieß im Mittelgange mit ſeinem Freunde vor, von den einen, in Verzückung Verſunkenen, kaum bemerkt, von den Andern mit böſen, feindlichen Blicken und leiſen Verwünſchungen verfolgt, aber von Keinem zurückgehalten. Jetzt ſtand der athletiſche Mann, Allen ſichtbar, dem Altare gegenüber; aber vor dieſem hatte ſich auch ſchon eine Anzahl unheimlich drohender Ge¬ ſellen wie eine Schutzwehr gegen Heiligenſchändung zuſammengedrängt. Waſer glaubte blinkende Dolche zu erblicken.

Was iſt das für ein unchriſtlicher Zauber! rief Jenatſch mit ſchallender Stimme. Laßt mich zu, daß ich ihn breche!

Sacrilegium! murrte es aus der dichten Reihe der Veltliner, die einen Ring um den Bündner zu ſchließen begann. Zwei griffen nach ſeiner vorgeſtreckten58 Rechten, Andere drängten ſich von hinten an ihn; aber Jenatſch machte ſich mit einem gewaltigen Rucke frei. Um ſich nach vorn Luft zu ſchaffen, packte er den nächſten ſeiner Angreifer mit eiſerner Fauſt und ſchleuderte ihn rücklings gegen den Hochaltar. Der Stürzende ſchlug mit ausgebreiteten Armen, die Füße gegen die Menge ſtreckend, hart auf die Stufen und begrub den buſchigen Hinterkopf in die Altardecken. Leuchter und Reliquien¬ ſchreine klirrten und es erhob ſich ein langes durch¬ dringendes Wehgeheul.

Dieſer Moment der Verwirrung rettete den Pfarrer. Er benutzte ihn blitzſchnell, durchbrach gewaltſam, ſeinen Freund nach ſich ziehend, den verwirrten Menſchenknäuel, erreichte die offene Sakriſtei, gewann das Freie und eilte mit Waſer ſeinem Hauſe zu.

In dem ſichern Wohnraume angelangt, ſtieß der Hausherr einen Schieber an der Wand zurück und rief in die Küche hinaus:

Trag 'uns auf, meine Lucia!

Herr Waſer aber klopfte den Staub des Hand¬ gemenges aus ſeinen Kleidern und zog Manſchetten und Halskrauſe zurecht. Pfaffentrug! ſagte er, dieſem Geſchäfte mit Sorgfalt obliegend.

Vielleicht, vielleicht auch nicht! Warum ſollten ſie nicht etwas geſehen haben? Irgend ein Phantom? 59Du weißt nicht, welche ſinnverwirrenden Dünſte aus den Sümpfen dieſer Adda aufſteigen. Schade um das Volk; es iſt ſonſt ſo übel nicht. Im obern Veltlin lebt ein geradezu tüchtiger Schlag, ganz verſchieden von dieſen gelben Kretinen.

Hättet ihr Bündner nicht klüger gethan, ihnen einige beſchränkte bürgerliche Freiheiten zu gewähren? warf Waſer ein.

Nicht bürgerliche nur, auch die politiſchen Rechte hätte ich ihnen gegeben, Heinrich. Ich bin ein Demokrat, das weißt Du. Aber da iſt ein ſchlimmer Haken. Die Veltliner ſind hitzige Katholiken, zuſammen mit dem papiſtiſchen Drittel unſerer Stammlande würden ſie Bünden zu einem katholiſchen Staate machen und da ſei Gott vor!

Indeſſen hatte die reizende Lucia, die jetzt ſehr niedergeſchlagen ausſah, den landesüblichen Riſott auf¬ getragen und der junge Pfarrer füllte die Gläſer.

Auf das Wohl der proteſtantiſchen Waffen in Böhmen! rief er, mit Waſer anſtoßend. Schade, daß Du Deinen Plan aufgegeben haſt und jetzt nicht in Prag biſt. In dieſem Augenblicke vielleicht geht es dort los.

Möglicherweiſe iſt es für mich rühmlicher hier bei Dir zu ſein. Man darf nach den neueſten Nach¬60 richten bezweifeln, ob der Pfalzgraf den Hengſt zu regieren weiß, auf den er ſich ſo galant geſetzt hat. Es iſt doch nichts daran, daß ihr euch mit dem Böhmen verbündet habt?

Wenig genug, leider! Wohl ſind ein paar Bünd¬ ner hingereiſt, aber gar nicht die rechten Leute.

Das iſt ſehr gewagt!

Im Gegentheil, zu wenig gewagt! Keiner ge¬ winnt, der nicht den vollen Einſatz auf den Tiſch wirft. Unſer Regiment iſt erbärmlich läſſig. Lauter halbe Maßregeln! Und doch haben wir unſere Schiffe ver¬ brannt, mit Spanien ſo gut wie gebrochen und die Vermittlung Frankreichs grob abgewieſen. Wir ſind ganz auf uns ſelbſt geſtellt. In ein paar Wochen können die Spanier von Fuentes her einbrechen und es iſt kannſt Du's glauben, Waſer? für keine Vertheidigung geſorgt. Ein paar erbärmliche Schanzen ſind aufgeworfen, ein paar Compagnien einberufen, die heute kommen und ſich morgen verlaufen. Keine Kriegs¬ zucht, kein Geld, keine Führung! Und mich haben ſie wegen meines eigenmächtigen Eingreifens, wie ſie's nennen, das ſich für meine Jugend und mein Amt nicht ſchicke, von jedem Einfluſſe auf die öffentlichen Dinge abgeſchnitten und ſo fern als möglich von ihren Raths¬ ſtuben an dieſe Bergpfarre gefeſſelt. Die ehrwürdige61 Synode aber ermahnt mich, eine faule Friedſamkeit zu predigen, während über meinem Vaterlande ſtoßfertig die ſpaniſchen Raubgeier ſchweben. Es iſt zum Toll¬ werden! Täglich mehren ſich die Anzeigen, daß hier unter den Veltlinern eine Verſchwörung brütet. Ich kann nicht länger zuſehen. Morgen will ich ſelbſt noch eine Recognoscirung gegen Fuentes vornehmen, Du kommſt mit, Waſer, ich habe einen anſtändigen Vor¬ wand, und übermorgen reiten wir zum Landeshaupt¬ mann nach Sondrio. Er verſteht nichts anderes, als am Mark dieſes fetten Landes zu zehren, das wir morgen verlieren können, der träge Blutſauger! Aber ich will ihm ſo zuſetzen, daß ihm der Angſtſchweiß aus allen Poren bricht. Du hilfſt mir, Waſer.

In der That, bemerkte dieſer zögernd und ge¬ heimnißvoll, auch ich habe auf meiner Reiſe durch Bünden einige Witterung bekommen, daß etwas im Thun ſein möchte.

Und das ſagſt Du mir jetzt erſt, Kind des Un¬ glücks! rief der Andere ſcharf und geſpannt. Gleich erzähle Alles und ganz nach der Ordnung. Du haſt etwas gehört? Wo? von wem? was?

Waſer ordnete geſchwind in ſeinem Geiſte das Erlebte, um es ſeinem gewaltthätigen Freunde paſſend62 vorzulegen. Auf dem Hoſpiz der Maloja, begann er vorſichtig.

Sitzt als Wirth der Scapi, ein Lombarde, alſo mit den Spaniern einverſtanden. Weiter.

Hörte ich, freilich halb im Schlummer, neben meinem Schlafkämmerlein ein Zwiegeſpräch. Ich glaubte, es ſei von Dir dir Rede. Wer iſt Robuſtelli?

Jakob Robuſtelli von Groſotto iſt ein ausbündi¬ ger Schuft, ein Dreckritter, durch Kornwucher reich und durch ſpaniſche Gunſt adelich geworden, der Patron und Spießgeſelle aller Malandrini und Straßenräuber, jeder Miſſethat und jeden Verrathes fähig!

Dieſer Robuſtelli, ſagte Waſer mit Gewicht, trachtet Dir, wenn ich richtig hörte, nach dem Leben.

Wohl möglich! Das iſt nicht die Hauptſache. Wer war der Andere, mit dem er zettelte?

Ich hörte ſeinen Namen nicht, antwortete der Zürcher, der es für Pflicht hielt, dem Herrn Pompejus das Geheimniß zu bewahren, und als Jenatſch ihn drohend anblitzte, fuhr er herzhaft fort: Und wüßt 'ich den Namen, ſo will ich ihn nicht nennen!

Du weißt ihn! .... Heraus damit! drang Jenatſch auf ihn ein.

Jürg, Du kennſt mich! Du weißt, daß ich mir dieſe Fauſtrechtmanieren nicht gefallen laſſe, ich63 verbitte mir das, wehrte Waſer mit möglichſt kalter Miene ab.

Da legte ihm der Andere liebkoſend den ſtarken Arm um die Schultern und ſagte mit zärtlicher Wärme: Sei offen, Herzenswaſerchen! Du verkennſt mich! Nicht für meine Perſon ſorg 'ich, ſondern für mein vieltheures Bünden. Wer weiß, vielleicht hängt an Deinen Lippen ſeine Rettung und das Leben von Tauſenden! ...

Schweigen iſt hier Ehrenſache, verſetzte Waſer und machte einen Verſuch ſich der leidenſchaftlichen Umarmung zu entziehen.

Jetzt fuhr eine düſtere Flamme über das Antlitz des Bündners. Bei Gott, rief er, den Freund an ſich preſſend, ſprichſt Du nicht, ſo erwürg 'ich Dich, Waſer! und als der Erſchrockene ſchwieg, griff er nach dem Dolchmeſſer, womit er Brot geſchnitten, und richtete die drohende Spitze deſſelben gegen die Halskrauſe des Zürchers.

Dieſer wäre ſicherlich auch jetzt noch ſtandhaft ge¬ blieben, denn er war im Innerſten empört; aber bei einer unvorſichtigen Bewegung des Sträubens, die er gemacht, hatte der ſcharfe Stahl ſeinen Hals geritzt und ein paar Blutstropfen waren, unheimlich warm, daran heruntergerieſelt.

64

Laß mich, Jürg, ſagte er, leicht erbleichend, ich will Dir etwas zeigen! Er zog ſein Taſchenbuch her¬ vor, ſchlug das Blatt mit der Skizze der Julierſäulen auf und legte es vor Jenatſch auf den Tiſch. Dann holte er ſein weißes Schnupftuch heraus und wiſchte ſich behutſam das Blut ab, während der Bündner das Büchlein haſtig ergriff. Sein erſter Blick auf die Zeichnung traf die von Lucretia zwiſchen die Julier¬ ſäulen geſchriebenen Worte und er verſank plötzlich in finſteres Nachdenken.

Waſer, der ihn ſchweigend beobachtete, erſchrack innerlich über den Eindruck, den Lucretias von ihm wider Willen übernommene und beſtellte Botſchaft auf Jürg Jenatſch machte. Er hatte nicht ahnen können, wie raſch der Scharfſinn des Volksführers den Zuſam¬ menhang der Thatſachen errieth und wie ſicher und unerbittlich er ſie verkettete. Trauer und Zorn, weiche Erinnerungen und harte Entſchlüſſe ſchienen über den halb Abgewandten wechſelnd Gewalt zu gewinnen. Arme Lucretia! hörte Waſer ihn aus tiefſter Seele ſeufzen, dann wurde ſein Ausdruck immer räthſelhafter, verſchloſſener, und härtete ſich zur Undurchdringlichkeit. Sie waren auf dem Julier ... ihr Vater iſt alſo in Bünden ... Pompejus Planta, du biſt zum Spie߬ geſellen eines Robuſtell herabgeſunken! ... ſprach er65 faſt ruhig. Plötzlich ſprang er auf: Nicht wahr, Waſer, meine verwünſchte Hitze? Du hatteſt auf der Schule davon zu leiden und ich bin ihrer noch immer nicht Herr geworden! ... Geh zu Bette und verſchlafe Dein böſes Abenteuer! Morgen in der kühlen Frühe machen wir den Ritt nach Fuentes auf zwei untadeligen Maulthieren. Du ſollſt an mir den leidlichen Geſellen finden von ehedem. Unterwegs läßt ſich über Manches gemüthlich plaudern.

Meyer, Georg Jenatſch. 5

Fünftes Kapitel.

Herr Waſer erwachte vor Tagesanbruch. Als er mit Mühe den Fenſterladen aufſtieß, der von dem üppigen Geäſte und Blätterwerke eines Feigenbaumes geſperrt und dicht überflochten war, geſchah es im Widerſtreite zweifelnder Gedanken. Er war mit dem Vorſatze entſchlafen, ſeinen gewaltthätigen Freund und das allzu abenteuerliche Veltlin ohne Zögern und auf dem nächſten Wege über Chiavenna zu verlaſſen. Ein erquickender Schlaf jedoch hatte die geſtrigen Eindrücke gemildert und ſeinen Entſchluß wankend gemacht. Die Liebe zu ſeinem merkwürdigen Jugendfreunde gewann die Oberhand. War es denn dieſer heftigen und, wie er ſich ſagte, nicht durch ſtädtiſche Bildung veredelten Natur ſtark zu verargen, wenn ſie losbrach, wo Heimat und Leben gefährdet war? Und kannte er nicht von früher her Jürgs jähen Stimmungswechſel, ſeine wilden,67 heißblütigen Scherze! Eines jedenfalls war für ihn außer Frage: Durch plötzliche Abreiſe hätte er ein Unheil nicht verhütet, das aus dem halben Geſtändniſſe entſtehen konnte, welches ihm Jürg abgezwungen; blieb er aber, theilte er ſeinem Freunde das Erlebte voll¬ ſtändig mit, ſo erwiederte dieſer ſicherlich ſein Vertrauen und er erfuhr, wie ſich Jürgs Verhältniß zu Lucretias Vater ſo grenzenlos verbittert hatte. Dann erſt kam der Augenblick, ſeinen verſöhnenden Einfluß geltend zu machen.

So ritten ſie in vertraulichem Geſpräche nach Fuentes. Jenatſch kam nicht auf das Geſtrige zurück und war freudig wie der helle Morgen. Faſt leicht¬ ſinnig nahm er Waſers ausführlichen Reiſebericht ent¬ gegen und bereitwillig antwortete er auf deſſen ein¬ gehende Fragen. Aber Waſer erfuhr weniger und minder Wichtiges, als er erwartete. Nach einem letzten Univerſitätsjahre in Baſel, erzählte Jürg, ſei er ins Domleſchg zurückgekehrt. Dort habe er ſeinen Vater auf dem Sterbelager gefunden und ſei nach deſſen Ableben von den Scharanſern trotz ſeiner grünen acht¬ zehn Jahre einſtimmig zu ihrem Pfarrer gewählt worden. Auf Riedberg habe er einen einzigen Beſuch gemacht, wobei er allerdings mit Herrn Pompejus über politiſche Dinge in Wortwechſel gerathen ſei. Perſönliches habe5*68ſich nicht eingemiſcht; aber der Eindruck auf Beide ſei der gewieſen, daß ſie ſich beſſer mieden. Als der erſte Volksſturm gegen die Planta ſich erhoben, habe er von der Kanzel abgewarnt, denn er ſei damals noch der Meinung geweſen, ein Geiſtlicher müſſe ſeine Hände von der Politik rein halten; als aber das Staatsruder bei wachſender Gefahr keinen muthigen Steuermann gefunden, habe ihn das Mitleid mit ſeinem Volke über¬ wältigt. Das Strafgericht von Thuſis, das er für eine blutige Nothwendigkeit gehalten, habe er allerdings mit einſetzen helfen und ihm ſein Tagewerk angewieſen. Die Verurtheilung der Planta dagegen, deren Praktiken übrigens landeskundig geweſen, habe er weder begünſtigt noch verhindert, ſie ſei wie ein einſtimmiger Schrei aus dem Volke hervorgegangen.

So wendete das Geſpräch ſich völlig der Politik zu, obwohl Waſer zuerſt ſich beſtrebte, es auf den per¬ ſönlichen Verhältniſſen ſeines Freundes feſtzuhalten; aber er wurde überwältigt und hingeriſſen durch das Ungeſtüm, mit dem Jürg die den Zürcher höchlich intereſſirenden und von ihm gründlich erwogenen Probleme europäiſcher Staatskunſt anfaßte; er wurde erſchreckt und aufgeregt durch die Frechheit, mit der Jürg die harten Knoten rückſichtslos zerhieb, deren behutſame Löſung Waſer als die höchſte Aufgabe und69 den wünſchenswerthen Triumph der Diplomatie er¬ kannte.

Es war ihm denn in dieſem raſchen Wechſel der Rede und Widerrede kaum die einzige ſchüchterne Frage gelungen, ob Fräulein Lucretia während der traurigen Wirren im Domleſchg auf dem Riedberge gewohnt habe. Da hatte ſich Jürgs Antlitz wie geſtern Abend wieder plötzlich verfinſtert und er hatte kurz geantwortet: Zu Anfang. Das Kind hat gelitten. Es iſt ein treues feſtes Herz ... Aber ſoll ich die Feſſeln eines Kindes tragen? ... Und dazu einer Planta! Thorheit. Du ſiehſt, ich habe ein Ende gemacht.

Hier hatte er ſein Thier ſo heftig geſtachelt, daß es in erſchreckten Sprüngen vorwärts ſetzte und Waſer nur mühſam das ſeinige in Zucht hielt.

In Ardenn trieben ſie ihre Maulthiere vor die Thüre des Pfarrers, aber dieſe war verſchloſſen. Blaſius Alexander war nicht zu Hauſe, Jenatſch, der mit den Gewohnheiten ſeines einſam lebenden Freundes vertraut ſchien, umging das baufällige Häuschen, fand den Schlüſſel zur Hinterthüre in der Höhlung eines alten Birnbaumes und trat mit dem Freunde in Alexanders Stube. Der von den Bäumen des wilden Gartens verdunkelte Raum war leer bis auf die längs der Fenſterſeite laufende Holzbank und den wurmſtichigen70 Tiſch, auf dem eine große Bibel ruhte. Neben dieſer geiſtlichen Waffe blickte aus der Ecke eine weltliche. Dort lehnte eine altväteriſche Muskete, über welche nun Jenatſch das ihm von ſeinem Begleiter gebotene Pulver¬ horn aus dem Müſſerkriege an einen Holznagel auf¬ hängte. Dann riß er ein Blatt aus Waſers Taſchen¬ buche und ſchrieb darauf: Ein frommer Zürcher erwartet Dich bei mir heute Abend zur Zeit des Ave Maria. Komm und ſtärk 'ihn im Glauben! Den Zettel legte er in die beim Buche der Makkabäer aufgeſchlagene Bibel.

Schon brannte die Sonne heiß, als Jenatſch ſeinem Gefährten die aus dem breit gewordenen Addathale drohend aufſteigende Zwingburg zeigte, das Ungeheuer, wie er ſie hieß, das die eine Tatze nach Bündens Chiavenna, die andere nach ſeinem Veltlin ausſtrecke. Auf der Straße nach den Wällen zog eine lange Staub¬ wolke. Der ſcharfe Blick des Bündners erkannte darin eine Reihe ſchwerer Laſtwagen. Aus ihrer Menge ſchloß er, daß Fuentes auf lange Zeit und für eine ſtarke Beſatzung verproviantirt werde. Und doch ging in Bünden die Rede, daß die ſpaniſche Mannſchaft durch die hier herrſchenden Sumpffieber auf die Hälfte zuſammengeſchmolzen ſei und der Aufenthalt in der Feſtung unter den Spaniern als todbringend gelte. 71Das war Jenatſch von einem blutjungen Locotenenten aus der Freigrafſchaft beſtätigt worden, der in Fuentes erkrankt war und, um ſolch ruhmloſem Untergange aus¬ zuweichen, ein paar Wochen auf Urlaub in der Berg¬ luft von Berbenn verlebt hatte. Sich die Zeit zu kürzen, brachte er ein neues ſpaniſches Buch mit, eine ſo luſtige Geſchichte, daß er es für unrecht hielt, allein darüber zu lachen, und er ſie dem jungen Pfarrer mit¬ theilte, an deſſen Umgang er Gefallen fand und der ihm durch ſeinen Geiſt und ſeine Kenntniß der ſpaniſchen Sprache zu dieſem Genuſſe vollkommen be¬ fähigt ſchien. Dies Buch war im Pfarrhauſe zurück¬ geblieben und heute gedachte Jenatſch den ingenioſen Hidalgo Don Quixote ſo lautete ſein Titel als Schlüſſel zu der ſpaniſchen Feſtung zu benützen.

Eben öffnete ſich ein Thor der äußerſten Umwallung vor dem erſten Proviantwagen und Jenatſch trieb ſein müdes Thier an, um bei dieſer Gelegenheit leichter Eingang zu erlangen. Als die Freunde jedoch die Feſtung erreichten, ſtand an der Fallbrücke, die Einfahrt beaufſichtigend, ein ſpaniſcher Hauptmann, ein gelber zäher Geſelle nur Haut und Knochen von dem das Fieber abgezehrt, was abzuzehren war. Er maß die Ankommenden mit hohlen mißtrauiſchen Augen und als Jenatſch mit anſtandsvollem Gruße nach dem Be¬72 finden ſeines jungen Bekannten ſich erkundigte, erhielt er die knappe Antwort: Verreiſt. Wie er darauf Arg¬ wohn ſchöpfte und weiter fragte, wohin und auf wie lange, hinzufügend, daß er noch etwas vom Beſitze des Jünglings in Händen habe, verſetzte der Spanier bitter: Dorthin. Auf immer. Ihr könnt Euch als ſeinen Erben betrachten. Dabei ſtreckte er den Zeigefinger ſeiner Knochenhand nach den dunkeln Cypreſſen einer unſern gelegenen Begräbnißkirche aus. Dann gab er der Schildwache einen Befehl und wandte den Beiden den Rücken.

Da Jenatſch kein anderes Mittel kannte, in die ſtreng bewachte Feſtung einzudringen, ſchlug er dem Freunde vor, weiter zu reiten bis an das Geſtade des Comerſee's, den ſie in geringer Entfernung lieblich leuchten ſahen. Bald erreichten ſie den belebten Lan¬ dungsplatz ſeines nördlichen Endes. Kühl hauchte ihnen die blaue, vom Geflatter heller Segel belebte Flut ent¬ gegen. Die Bucht war mit Schiffen gefüllt, die gerade ihrer Ladung entledigt wurden. Oel, Wein, rohe Seide und andere Erzeugniſſe der fetten Lombardei wurden zum Transport über das Gebirge auf Karren und Mäuler geladen. Der Platz vor der großen ſteinernen Herberge bot den Anblick eines bunten Marktes mit ſeinem betäubenden Lärm und fröhlichen Gedränge. 73Mit Mühe bahnten ſich, vorüber an Körben voll ſchwellender Pfirſiche und duftiger Pflaumen, die beiden Maulthiere den Weg bis zur gewölbten Pforte des Gaſthauſes. In dem düſtern Thorwege kniete der Wirth vor einer Tonne und zapfte ein röthliches, ſchäumendes Getränk für die durſtig ſich zudrängenden Gäſte. Ein Blick in den anſtoßenden Schenkraum überzeugte Jenatſch, daß hier zwiſchen lärmenden Menſchen und bettelnden Hunden keine kühle Stätte zu finden ſei, er wandte ſich darum nach dem Garten, der eine einzige dichte Wein¬ laube bildete und deſſen mit rankendem Grün über¬ hängte Mauern und zerfallende Landungstreppen von den Wellen beſpült wurden.

Als ſie durch die Thorhalle am Wirthe vorüber¬ ſchritten, der von einem dichten Kreiſe von Bauern umringt war, welche ihm geleerte Krüge entgegenſtreckten, ſchien er mit einer ängſtlichen Geberde gegen das Vor¬ haben des Bündners Einſprache thun zu wollen; doch in dieſem Augenblicke kam ihnen vom Garten her ein nach fremdem Schnitte gekleideter Edelknabe entgegen und wendete ſich mit anmuthigem Gruße an den jungen Zürcher, in zierlichem Franzöſiſch folgenden Auftrag aus¬ richtend:

Mein erlauchter Gebieter, Herzog Heinrich Rohan, der ſich hier auf der Durchreiſe nach Venedig befindet,74 glaubte von ſeinem Ruheplatze im Garten her zwei reformirte Geiſtliche vor der Herberge abſteigen zu ſehen und erſucht die Herren, wenn ſie dem Gewühl auszuweichen vorzögen, ſich durch ſeine Gegenwart nicht vom Beſuche des Gartens abhalten zu laſſen.

Sichtbar erfreut von dieſem glücklichen Zufalle und der ihm widerfahrenden Ehre, erwiederte Herr Waſer, etwas ſteif aber tadellos in demſelben Idiom ſich be¬ wegend, daß er und ſein Freund ſich die Gunſt erbäten, ſeiner Durchlaucht für die ihnen zu Theil gewordene Berückſichtigung perſönlich zu danken.

Die Freunde folgten dem vor ihnen herſchreitenden ſchönen Knaben in die Lauben des Gartens. Gegen Süden hatte er einen balkonähnlichen Vorſprung, durch deſſen Laubwände bunte Seidengewänder ſchimmerten und das Gezwitſcher plaudernder Frauenſtimmen, durch¬ brochen von dem hellen Jubel eines Kindes, ertönte. Dort lehnte auf ſammetnen Polſtern eine ſchlanke blaſſe Dame, deren haſtige Rede und bewegliches Mienenſpiel die Lebhaftigkeit eines Geiſtes verrieth, der ſie nicht zu erquicklicher Ruhe kommen ließ. Vor ihr auf dem Steintiſche trippelte und jauchzte ein zweijähriges Mäd¬ chen, das eine niedliche Zofe an beiden Händchen empor¬ hielt. Dazu klang die melancholiſche Weiſe eines Volks¬75 liedes, die ein italiäniſcher Junge in ſchüchterner Ent¬ fernung auf ſeiner Mandoline ſpielte.

Der Herzog ſelbſt hatte ſich an das ſtillere nörd¬ liche Ende des Gartens zurückgezogen, wo er allein auf der niedrigen von der Flut beſpülten Mauer ſaß, eine Landkarte auf den Knieen, mit deren Linien er die gewaltig vor ihm aufragenden Gebirgsmaſſen zweifelnd verglich.

Waſer hatte jetzt den Ruheplatz des Herzogs er¬ reicht und ſtellte ſich und ſeinen Freund mit einer tiefen Verbeugung vor. Rohans Auge blieb ſofort an der in ihrer wilden Kraft ſeltſam anziehenden Erſcheinung des Bündners haften.

Euer Rock ließ mich auf den evangeliſchen Geiſt¬ lichen ſchließen, ſagte er, ſich mit Intereſſe ihm zu¬ wendend. Ihr könnt alſo, obgleich wir uns auf dieſem Boden treffen und trotz Eurer dunkeln Augen kein Italiäner ſein. Da ſeid Ihr wohl ein Sohn der nahen Rhätia, und ſo will ich Euch denn bitten, mir von den Gebirgszügen, die ich geſtern, den Splügen überſchreitend, durchſchnitt und die ich zum Theil noch vor mir ſehe, einen klaren Begriff zu geben. Meine Karte läßt mich im Stich. Setzt Euch neben mich.

Jenatſch betrachtete begierig die vorzügliche Etappen¬ karte und fand ſich ſchnell zurecht. Er entwarf dem76 Herzog mit wenigen ſcharfen Zügen ein Bild der geographiſchen Lage ſeiner Heimat und ordnete ihr Thälergewirr nach den darin entſpringenden und nach drei verſchiedenen Meeren ſich wendenden Strömen. Dann ſprach er von den zahlreichen Bergübergängen und hob, ſich erwärmend, mit Vorliebe und über¬ raſchender Sachkenntniß deren militäriſche Bedeutung hervor.

Der Herzog war mit ſichtlichem Wohlgefallen und ſteigendem Intereſſe der raſchen Auseinanderſetzung ge¬ folgt, jetzt aber erhob er ſein mildes, durchdringendes Auge zu dem neben ihm ſtehenden Bündner und ließ es nachdenklich auf ihm ruhen.

Ich bin ein Kriegsmann und rühme mich deſſen, ſagte er, aber es giebt Augenblicke, wo ich diejenigen glücklich preiſe, die dem Volke predigen dürfen: Selig ſind die Friedfertigen. Heutzutage darf nicht mehr dieſelbe Hand das Schwert des Apoſtels und das Schwert des Feldherrn führen. Wir ſind im neuen Bunde, Herr Paſtor, nicht mehr im alten der Helden und Propheten. Die Doppelrolle eines Samuel und Gideon iſt nicht mehr die unſrige. Heute warte Jeder in Treue des eignen Amtes. Ich achte es für ein ſchweres Unglück, hier ſeufzte er, daß in meinem Frankreich die evangeliſchen Geiſtlichen durch ihren Eifer77 ſich hinreißen ließen, die Gemüther zum Bürgerkriege zu erhitzen. Sache des Staatsmannes iſt es, die bürgerlichen Rechte der evangeliſchen Gemeinden zu ſichern, Sache des Soldaten, ſie zu vertheidigen. Der Geiſtliche hüte die Seelen, anders richtet er Unheil an.

Der junge Bündner erröthete unmuthig und blieb die Antwort ſchuldig.

In dieſem Augenblicke erſchien der Page mit der ehrerbietigen Meldung, die Reiſebarke des Herzogs ſei zur Abfahrt bereit und Rohan beurlaubte die Freunde mit einer gütigen Handbewegung.

Auf dem Heimritte erging ſich Waſer in Betrach¬ tungen über die politiſche Rolle des Herzogs, der gerade damals ſeinen proteſtantiſchen Mitbürgern in heimiſcher Fehde einen ehrenhaften Frieden erkämpft hatte. Er meinte, freilich werde derſelbe von kurzer Dauer ſein und fand Gefallen daran, die Lage Rohans und der franzöſiſchen Reformirten ſeinem Freunde mit den dunkelſten Farben zu malen. Er ſchien etwas empfind¬ lich und verdüſtert, daß ſeine Perſon vor dem Herzog neben Jürg ſehr zurückgetreten, ja gänzlich verſchwunden war. Seit Heinrich IV., behauptete er, ſetze ſich die franzöſiſche Politik zum Ziele, die Proteſtanten in Deutſchland gegen Kaiſer und Reich zu ſchützen, den Reformirten im eigenen Lande dagegen den Lebensnerv78 zu durchſchneiden. Sie trachte, durch Wiederher¬ ſtellung der ſtaatlichen Einheit Kraft zum Vorſtoße nach außen zu gewinnen. Es ergebe ſich daraus das ſeltſame Verhältniß, daß die franzöſiſchen Proteſtanten unterliegen müßten, damit den deutſchen die diplomatiſche und militäriſche Hilfe Frankreichs, deren ſie höchlich be¬ dürften, geſichert bleibe. So ſchwebe über dem Herzog trotz der Hoheit ſeiner Stellung und ſeines Charakters das traurige Verhängnis, ſeine Kraft in unheilbaren Conflicten aufzureiben und am Hofe von Frankreich immer mehr den Boden zu verlieren. Jetzt bringe er wohl Weib und Kind nach Venedig, um bei dem näch¬ ſtens neu ausbrechenden Sturme freiere Hand zu haben.

Du biſt ja ein durchtriebener Diplomat gewor¬ den! lachte Jenatſch. Aber findeſt Du es nicht in dieſer Ebene entſetzlich ſchwül? Dort ſteht eine Scheuer ... wie wär's, wenn wir unſere Thiere eine Weile im Schatten anbänden und Du Dein weiſes Haupt ins Heu legteſt?

Waſer war einverſtanden und in kurzer Friſt hatten ſich Beide auf das duftige Lager ausgeſtreckt und waren entſchlummert.

Als der junge Zürcher erwachte, ſtand Jenatſch vor ihm, mit ſpöttiſchen Blicken ihn betrachtend. Ei, Schatz, was ſchneideſt Du denn im Schlafe für verklärte Ge¬79 ſichter? ſagte er. Heraus mit der Sprache! Was haſt Du geträumt? Von Deinem Liebchen?

Von meiner innig verehrten Braut, willſt Du ſagen. Das wäre nichts Ungewöhnliches; aber ich hatte in der That einen wunderbaren Traum ...

Jetzt weiß ich's ...... Dir träumte, Du ſeieſt Bürgermeiſter von Zürich!

So war es .... merkwürdiger Weiſe! ſagte Waſer ſich ſammelnd. Ich ſaß in der Rathsſtube und hielt Vortrag über Bündnerdinge, über die Be¬ deutung der Feſte Fuentes. Als ich geendet, wandte ſich das nächſtſitzende Rathsglied gegen mich mit den Worten: Ich bin ganz der Meinung ſeiner Geſtrengen des Herrn Bürgermeiſters. Ich ſah mich nach dieſem um; aber ſiehe, ich ſaß ſelbſt auf ſeinem Stuhle und trug ſeine Kette.

Auch mir hat geträumt, ſagte Jenatſch, und recht ſeltſam. Du weißt, oder weißt nicht, daß in Chur ein ungariſcher Aſtrolog nur Retromant ſein Weſen treibt. Mit dieſem Gelehrten hab 'ich mich während der letzten langwierigen Synode nächtlicher Weile ein¬ gelaſſen, um zu ſehen, was an der Sache ſei.

Um Himmelswillen, Aſtrologia! ... Und Du biſt ein Geiſtlicher! rief Waſer entſetzt. Sie vernichtet die menſchliche Freiheit und dieſe iſt die Grundlage80 aller Sittlichkeit! Ich bin ein entſchiedener Bekenner der menſchlichen Freiheit!

Wohl Dir, fuhr der Andere unbeirrt fort. Bei¬ läufig geſagt, es gelang mir nicht, aus dem Hexen¬ meiſter etwas Feſtes und Faßbares herauszubringen. Entweder wußte er nichts, oder er fürchtete von mir verrathen zu werden. Vorhin im Traume aber ſah ich den Mann wieder vor mir und ich ſetzte ihm den Dolch auf die Bruſt, um mein Schickſal zu erfahren. Da entſchloß er ſich, es mir zu zeigen und zog mit den feierlichen Worten: Dieſer iſt dein Schickſal! den Vorhang von ſeinem Zauberſpiegel.

Anfangs ſah ich nichts als eine helle Seelandſchaft, dann trat eine grünbewachſene Mauer hervor und da ſaß, die Karte von Bünden vor ſich, mild und bleich, wie wir ihn eben geſehen haben, der Herzog Heinrich Rohan.

Sechstes Kapitel.

Unter dieſen Geſprächen waren die Freunde auf der ſtaubigen Landſtraße, die durch das Veltlin hinauf¬ führt, eine gute Strecke weiter getrabt und ſchon er¬ glänzten in der Ferne das Schloß und die Mauern von Morbegno.

Jetzt blickte Jenatſch ſcharf auf die letzte Windung des in weitem Bogen nach dem Städtchen laufenden Weges. Dort bewegte ſich langſam ein kleiner brau¬ ner Reiter.

Bravo, rief der Bündner, da machſt Du eine prächtige Bekanntſchaft! Dort kommt der Pater Pan¬ crazi, voreinſt das iſt vor einem Jahrzehnt Al¬ menſerkapuziner und Beichtiger der Nönnchen von Cazis. Wir haben ihm ſein Kloſter aufgehoben. Wären unſere Kapuziner alle ſo gute Bündner wie er, und ſo witzige Geſellen, man hätte ſie unbehelligt gelaſſen. Seit¬Meyer, Georg Jenatſch. 682her hat er ſein Unterkommen in einem Ordenshauſe irgendwo am Comerſee gefunden und führt hier herum, predigend und terminirend, ein fahrendes Leben.

Er iſt mir nicht unbekannt, erwiederte Waſer. Voriges Jahr collectirte er in Zürich für die Uebrig¬ gebliebenen und Verarmten eurer verſchütteten Stadt Plurs und betonte mit beweglichen Worten als gute Seite ſolcher Verheerungen, daß ſich die Chriſten in dieſen Jammerfällen über die Scheidewand der Konfeſſionen hinweg hilfreich die Bruderhand reichen. Kurz nachher aber kam mir eine gedruckte Bußpredigt von ihm zu Geſichte, worin er zu meinem ärgerlichen Erſtaunen in der derbſten Sprache behauptet, der Bergſturz ſei ein warnendes Gericht und eine gött¬ liche Strafe für die Duldung der Ketzerei. Das heißt in ſträflicher Weiſe mit zwei Zungen geredet.

Wer wird das einem Kapuziner und praktiſchen Manne verdenken! lachte der Andere. Sieh, er ſetzt ſein Eſelchen in Trott, er hat mich erkannt.

Der Kapuziner trabte auf ſeinem Thiere, das neben ihm noch zwei volle Körbe trug, ſo raſch heran, daß der Staub in Wirbeln aufflog. Aber die luſtige Begrüßung, die Waſer erwartete, blieb aus. Pancrazis kurze Geſtalt drängte haſtig vorwärts und ſtreckte ihnen die Rechte mit abmahnender Geberde entgegen, als be¬83 deute er die Reiſenden, ihre Maulthiere zu wenden. Nun hatte er ſie faſt erreicht und rief ihnen zu:

Zurück Jenatſch! Nicht hinein nach Morbegno!

Was bedeutet das? fragte dieſer ruhig.

Nichts Gutes! verſetzte Pancratius. Wunder und Zeichen geſchehen im Veltlin, das Volk iſt aufge¬ regt, die Einen liegen in den Kirchen auf den Knien, die Andern laden ihre Büchſen und wetzen ihre Meſſer. Zeige Dich nicht in Morbegno, kehre nicht auf Deine Pfarre zurück, wende Dein Thier und flüchte nach Chiavenna!

Was? Ich ſoll mein Weib im Stiche laſſen? fuhr Jenatſch auf; meine Freunde nicht warnen? Den braven Alexander und den redlichen Fauſch auf ſeinem Bergdorfe Buglio? Nichts da! Ich reite zurück natürlich das Städtchen umgehend über die Adda. Mein Kamerad hier, Herr Waſer von Zürich, kennt keine Furcht ... und Du, Pancrazi, thuſt mir den Gefallen und kommſt mit. Du nächtigſt bei mir. Meine Ber¬ benner ſind nicht ſo gottverlaſſen, daß ſie des heiligen Franziskus Kutte nicht in Ehren hielten.

Nach kurzem Beſinnen willigte der Kapuziner ein. Meinetwegen, am Ende! ſagte er. Heute bin ich Dein Schutzpatron, ein ander Mal biſt Du der meinige.

So ritten ſie, was ihre Thiere laufen konnten,6*84nach Berbenn hinüber und wie wenig Waſer auch dieſe wilden Ereigniſſe zuſagten, er machte gute Miene und rechnete es ſich zur Ehre, das ihm ertheilte Lob der Tapferkeit zu verdienen.

Eben ertönte die friedliche Abendglocke, als ſie vor der Pfarre von Berbenn abſtiegen. Unter dem niedri¬ gen Eingangsbogen des Laubdaches ſtand ein breitſchul¬ triger ernſter Mann von kleiner Statur aber mit aus¬ drucksvollem Kopfe, nachdenklich und aufmerkſam ſeinen Hut betrachtend, welchen er nach allen Seiten drehte und gegen das Licht hielt. Es war ein hoher ſpitzer Filz von ſchwarzer Farbe.

Was ſtellſt Du da für tiefſinnige Unterſuchungen an, Kollege Fauſch? begrüßte ihn Jenatſch. Was iſt's mit Deinem Filz? Oben aufgeriſſen, wie ich ſehe. Willſt Du ihn hinfür zur Verſtärkung Deines Baſſes als Sprachrohr gebrauchen?

Sorgenvoll erwiederte der Kleine: Betrachte das Loch näher, Jürg! Seine Ränder ſind verbrannt. Es iſt eine Kugel durchgefahren, die mir einer Deiner Ber¬ benner zuſchickte, als ich durch die Weinberge hinunter¬ ſtieg. Natürlich galt ſie Dir; denn man ſah über der Mauer nur meinen Kopf und der gleicht dem Deinigen, wie Du weißt, zum Verwechſeln. Der Teufel ſoll mich holen, fuhr er heftiger fort, wenn ich nicht den geiſt¬85 lichen Stand quittire. Der Part iſt ungleich: uns iſt nur das Schwert des Geiſtes geſtattet, angefallen aber wird unſer Fleiſch mit Eiſen und Blei.

Gedenke Deines Schwurs, Fauſch, mein Sohn, das Evangelium zu predigen usque ad martyrium, erſcholl aus dem Hintergrunde der Laube von einer tief beſchatteten Bank her die etwas dumpfe Stimme eines graubärtigen Mannes, der dort in aufrechter Haltung am Tiſche ſaß und ſich von der ſchönen Lucia Saſſeller einſchenken ließ. Das junge Weib aber erblickte kaum ihren Mann, ſo eilte es ihm entgegen und ſchmiegte ſich bleich und furchtſam an ſeine Seite, als ſuche es Schutz vor einer entſetzlichen Angſt.

Exclusive, Blaſius! exclusive! Bis an den Martertod hinan, aber nicht hinein! antwortete Fauſch, ſich zu ſeinem Kollegen wendend, deſſen Glas er ergriff und bis auf den letzten Tropfen leerte.

Indeſſen machte Jenatſch ſeinen zürcheriſchen Freund mit dem glaubensſtarken Pfarrer Blaſius bekannt und ſtellte ihm dann lachend in Pfarrer Lorenz Fauſch einen Schulkameraden aus dem Loch in Zürich vor, deſſen ſich Waſer gar wohl erinnerte als eines um ein paar Jahre ältern, ziemlich liederlichen Studiengeſellen. Die¬ ſer Mann hat ſeither in Bündnerdingen eine hervor¬86 ragende Rolle geſpielt, behauptete Jürg und ſchlug dem Kleinen auf die Schulter.

Der Kapuziner ſchien mit beiden Pfarrern auf bekanntem Fuße zu ſtehen und Fauſch fuhr, diesmal an Waſer ſich wendend, in ſeiner aufgeregten Rede fort:

Glaubſt Du's wohl, Herr Zürcher? Wäh¬ rend Du in Deiner löblichen Stadt ſittſam zur Pre¬ digt gehſt und über das Geſangbuch hinweg züchtig nach Deinem Jungfräulein ausſchauſt, betrete ich armer Streiter Gottes niemals die Kanzel ohne frö¬ ſtelnd den Rücken einzuziehen, aus Furcht es fahre mir das Meſſer oder die Kugel eines meiner Pfarr¬ kinder zwiſchen die Schultern! Aber, ſagte er, nachdem er mit den Männern in die Stube getreten, nun bin ich auch zum längſten Pfarrer geweſen. Dies Erlebniß, er zeigte auf das Loch in ſeinem Filze, giebt den Ausſchlag. Das Maß iſt voll. Ich habe von meiner Muhme in Parpan zweihundert Goldgulden geerbt, gerade genug um ein ſicheres Gewerbe zu be¬ ginnen. Herunter mit dem Pfarrrock! und er legte Hand an ſein geiſtliches Kleid.

Warte, Freund! rief Jenatſch, das verrichten wir zuſammen. Auch mein Maß iſt heute voll gewor¬ den! Nicht eine feindliche Kugel verjagt mich von der Kanzel, ſondern eine freundliche Rede. Der Herzog87 Heinrich hat Recht, wandte er ſich an den erſtaunten Waſer, Schwert und Bibel taugen nicht zuſammen. Bünden bedarf des Schwertes und ich lege die geiſt¬ liche Waffe zur Seite, um getroſt die weltliche zu er¬ greifen. Mit dieſen Worten riß er ſein Predigerge¬ wand ab, langte ſeinen Raufdegen von der Wand her¬ unter und gürtete ſich ihn um den knappen Lederkoller.

Potz Velten, ihr gebt ein luſtiges Beiſpiel, rief der Kapuziner mit ſchallendem Gelächter. Faſt ge¬ lüſtet mich, es euch nachzuthun! Aber meine braune Kutte iſt leider zu zäh und hat ein feſter Gewebe als eure Röcklein, ehrwürdige Herren!

Blaſius Alexander, der dieſem Vorgange ohne Ver¬ wunderung, aber mißbilligend zuſchaute, faltete jetzt die Hände und ſprach feierlich: Ich aber gedenke zu ver¬ harren im Amte bis ans Ende usque ad martyrium, bis in den Martertod, zu welcher Ehre Gott mir helfe!

Kein ſchönrer Tod iſt in der Welt,
Als wer vorm Feind hinſcheidt ....

ſang Jenatſch mit flammenden Augen.

Ich werde ein Zuckerbäcker, erklärte Fauſch wich¬ tig, ein Bischen Weinhandel daneben iſt ſelbſtverſtänd¬ lich. Damit ſetzte er ſich an den Tiſch, ſchnallte eine kleine Geldkatze ab, die er um den Leib trug, und begann die Goldſtücke, eifrig rechnend, in Häuflein zu ordnen.

88

Jürg Jenatſch aber umſchlang die eben eintretende Lucia und küßte ſie mit überſtrömender Zärtlichkeit: Sei getroſt, mein Herz, und freue Dich! Eben hat Dein Georg den ſchwarzen geiſtlichen Rock abgeworfen, der Dich mit den Deinen verfeindet hat. Wir ziehn hier weg, es wird Dir wohlergehn und Du erlebſt an Deinem Manne Ehre die Fülle.

Lucia erröthete vor Freude und blickte mit ſeliger Bewunderung in Jürgs übermüthiges Angeſicht, aus dem eine wilde Freude ſprühte. Noch nie hatte ſie ihn ſo glücklich geſehn. Offenbar wich eine dunkle Furcht von ihrem Herzen, an der ſie von Tage zu Tage ſchwe¬ rer getragen und die ihr das Leben in der Heimat verleidet hatte.

Hier, Jürg, mein Bruder, ſagte jetzt Fauſch, der mit ſeiner Rechnung fertig war, hier mein Ein¬ gebinde zu Deinem Tauftage als Ritter Georg! Für Gaul und Harniſch. Das Kapital iſt gut angelegt. Ich komme mit einem Hundert zurecht. Und er ſchob ihm die Hälfte ſeines kleinen Erbes zu.

Jürg ſchüttelte die ihm entgegengeſtreckte kurze breite Hand derb, aber ohne ſonderliche Rührung und ſtrich das Gold ein.

Inzwiſchen hatte ſich Waſer zu Pater Pancraz ge¬ ſetzt, um ihm auf den Zahn zu fühlen. Dem Zürcher89 erſchien des Kapuziners keckes Betragen, ſeine Luſtig¬ keit und Selbſtbeherrſchung etwas zweideutig und ver¬ dächtig. Aber ſein Mißtrauen ſchwand, als er die un¬ geſchminkt herzliche Beſorgniß des Paters um das Schick¬ ſal ſeiner bündneriſchen Landsleute wahrnahm und er mußte bewundern, wie richtig Pancraz die gefährlichen Verhältniſſe auffaßte, wie ſcharf er die Vorzeichen des herannahenden Sturmes beobachtet hatte.

Ich fürchte, es ſind große Herren, ſagte der Pater, Spanier, vielleicht auch Bündner, die diesmal das Spiel in Händen halten und zu ihren habgierigen und herrſchſüchtigen Zwecken den frommen, einfältigen Glauben des Veltlinervolks mißbrauchen. Wehe, ſie ſchüren einen hölliſchen Brand, das Blut, das ſie ver¬ gießen, wird ihnen bis an die Kehle ſteigen und ſie erſäufen. In Morbegno hieß es, die Mordbanden des Robuſtell ſeien ſchon auf dem Wege das Thal her¬ unter. Gott gebe, daß ſolcher Greuel nur in den wel¬ ſchen Köpfen ſpukt! Eins aber iſt gewiß und das beherzigt, ihr Männer ſprach er aufſtehend und an die drei Bündner ſich wendend: des Bleibens der Proteſtanten im Veltlin iſt nicht mehr.

Jetzt erhob Jenatſch die Stimme. Kein Zweifel, Brüder, die Gefahr iſt vor der Thür! ſagte er. Kein Augenblick iſt zu verlieren. Fort müſſen wir. Wir ſammeln90 in Eile unſere wenigen Glaubensgenoſſen, treiben unſere geiſtliche Heerde, Mann, Weib und Kind, über das Ge¬ birge nach Bünden, und decken bewaffnet den Rückzug.

Blaſius Alexander ſchüttelte den Kopf als er von Flucht reden hörte, und lud mißvergnügt ſeine Muskete, die er mitzubringen nicht verſäumt hatte, mit Pulver aus dem großen an ſeiner Hüfte hangenden Familien¬ horn. Dann ſtellte er die Waffe zwiſchen die Kniee und fuhr fort, langſam aber unausgeſetzt, Becher um Becher zu leeren, ohne daß der feurige Wein den kalt ruhigen Blick ſeines Auges im Mindeſten belebt, oder ſein farbloſes Angeſicht geröthet hätte.

Der junge Zürcher ſah dieſem Thun bedenklich zu und konnte endlich die Bemerkung nicht unterdrücken, ob der edle Trank, in ſolcher Ueberfülle genoſſen, dem Herrn Blaſius nicht zu Kopfe ſteigen und die im nahenden Augenblicke der Gefahr ſo nöthige Geiſtes¬ klarheit trüben könnte.

Darauf warf ihm der Alte einen etwas verächt¬ lichen Blick zu, antwortete aber gelaſſen und ungekränkt: Ich vermag Alles in dem Herrn, der mich ſtark macht.

Das iſt ein chriſtlich Wort! rief der Kapuziner, ließ die Gläſer klingen und reichte dem greiſen Prädi¬ kanten über den Tiſch die Hand.

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Unterdeſſen war der Mond aufgegangen und über¬ rieſelte draußen die Krone der Ulme und die ſchwere Blätterdecke der Feigenbäume mit hellem Lichte; aber nur eine ſpärliche Helle drang durch die kleinen Fen¬ ſter in das breite, tiefe Gemach und ſchattete ihre maſſiven Gitterkreuze auf dem ſteinernen Fußboden ab.

Lucia ſtellte die italieniſche eiſerne Oellampe auf den Tiſch und entfachte, die Dochte in die Höhe ziehend, drei helle Flämmchen, die auf ihr über das Geräth gebeugtes liebliches Antlitz einen rothen Wiederſchein warfen.

Plötzlich fiel durchs Fenſter ein Schuß. Die Män¬ ner ſprangen auf. Das junge Weib ſank ohne Laut zuſammen und die Lampe lag verglimmend am Boden. Eine tödtliche Kugel hatte die ſanfte Lucia getroffen.

Schaudernd ſah Waſer das ſchöne ſterbende Haupt, auf welches das Mondlicht fiel und das Jenatſch, auf den Knieen liegend, im Arme hielt. Jürg weinte laut. Während der Pater bemüht war die Lampe wieder anzuzünden, hatte Blaſius Alexander ſeine Büchſe ergriffen und ſchritt ruhig in den mondhellen Garten hinaus.

Er mußte den Mörder nicht lange ſuchen.

Da kauerte zwiſchen den Stämmen der Bäume ein langer Menſch, deſſen vorgebeugtes Geſicht dunkle darüber92 fallende Lockenhaare verbargen, den Roſenkranz in der Hand, ſtöhnend und betend. Neben ihm lag ein noch rauchendes ſchwerfälliges Piſtol.

Ohne Weiteres legte Blaſius ſein Gewehr auf ihn an und ſtreckte ihn mit einem Schuſſe durch die Schläfen nieder. Dann trat er neben den auf das Angeſicht Hingeſunkenen, drehte ihn um, betrachtete ihn und mur¬ melte: Dacht 'ich mir's doch ihr Bruder, der tolle Agoſtino! Eine Weile ſtand er horchend. Nun ſchlich er über die Gartenmauer ſpähend wieder dem Hauſe zu. Durch die Stille der Nacht drang ein un¬ gewiſſer Lärm an ſein Ohr. Zwei Vögelchen haben gepfiffen, ſagte er vor ſich hin, bald fliegt uns der ganze Schwarm aufs Dach.

Mit einem Male ſcholl aus dem Dorfe ein gellen¬ des Geſchrei, und jetzt dröhnte es über ihm, die Kirchenglocke ſchlug an und läutete in haſtigen Schwün¬ gen Sturm. Alexanders Blick fiel auf den wieder ins Dunkel hinausleuchtenden Schein der verrätheriſchen Lampe, er ſchlug die dicken Laden des Erdgeſchoſſes zu und ſchritt ins Haus zurück, in der Abſicht es mit den Freunden wie eine Feſtung bis auf den letzten Mann zu vertheidigen; denn ſchon knallten Schüſſe von der Gaſſe her und Schläge fielen gegen die vordere Haus¬ thür. Fauſch hatte ſie eben verriegelt und ſtürzte die93 Bodentreppe hinauf, um durch die Dachluken auszu¬ ſchauen. Der Prädikant aber lud ſeine Muskete wieder und ſtellte ſich an das ſchmale vergitterte Küchenfenſter, das nach der Gaſſe ging, wie hinter eine Schießſcharte.

Die Schurken! rief er dem Zürcher zu, der eben haſtig aus ſeiner Kammer trat, wo er ſein Ränzchen geholt und ſeinen leichten Reiſedegen umgeſchnallt hatte, wir wollen unſer Leben theuer verkaufen!

Um Gottes willen, Herr Blaſius, warnte dieſer, gedenkt denn Ihr, ein Diener am Wort, auf die Leute zu ſchießen?

Wer nicht hören will, muß fühlen, war des Bündners kaltblütige Antwort.

Jetzt aber faßte Pancrazi den tapfern Alten mit beiden Armen um den Leib und riß ihn von dem Mauerloche zurück: Willſt Du uns Alle verderben mit Deiner wahnwitzigen Gegenwehr? Macht, daß Ihr von hinnen und in die Berge kommt!

Miſericordia! dröhnte Fauſchens Stimme durch die Treppenöffnung herunter, Sie kommen in hellen Haufen, ſie ſtürmen das Haus des Poretto! Wir ſind verloren!

Macht, daß Ihr fortkommt! ſchrie der Pater, während immer heftigere Beilhiebe gegen die Thüre ſchmetterten.

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Auch gut, Kapuziner, ſagte Blaſius, der jetzt mit beiden Armen Reiſigbündel und Stroh aus der Küche ſchleppte und mit geübten Handgriffen im Gange zwiſchen den beiden Hausthüren aufſchichtete. Wir heben uns von hinnen über den Bondascagletſcher ins Bergell. Fauſch, alle Dachluken auf, damit es Luft giebt! Und dann hierher!

Fauſch krabbelte die Treppe herunter, beladen mit allerlei Mundvorrath, den er oben gefunden hatte, und Waſer ſah ſich jetzt nach Jenatſch um.

Hier ſcheiden ſich die Wege, Pancrazi, ſagte der alte Prädikant und drückte dem Pater die Hand über den Reiſigwall hinweg, während das Mittelſtück des Haus¬ thors unter dem Geheul der Belagerer auseinander¬ krachte. Dein iſt die Vorderthür. Unſern Rückzug durch die hintere deckt die Flamme . Und er ent¬ zündete den Holzſtoß. Abgezogen, ihr evangeliſchen Männer!

Während das Feuer in aufrechter Lohe durch die luftige Bodenöffnung emporſchlug, trat Jenatſch, die Todte im Arme, aus dem Wohnraume in die flackernde Helle.

In ſeiner Rechten leuchtete das lange Schwert, auf dem linken Arme trug er, als ſpürte er die Laſt95 nicht, ſeine Todte, deren ſtilles ſanftes Haupt wie ge¬ knickt ihm an der Schulter ruhte. Er wollte ſie nicht auf der Mordſtätte zurücklaſſen. Waſer konnte trotz der Gefahr der Stunde den Blick nicht verwenden von dieſem Nachtbilde ſprachloſen Grimms und unverſöhnlicher Trauer. Er mußte an einen Engel des Gerichts denken, der eine unſchuldige Seele durch die Flammen trägt. Aber es war kein Bote des Lichts, es war ein Engel des Schreckens.

Indeß die Bündner durch den Garten nach dem Fuße des Gebirges enteilten, hatte der Pater in der Küche neben Feuer und Rauch ſtandhaft den Augenblick erwartet, wo die Thüre in Splitter flog. Jetzt ſprang er, das Crucifix in der vorgeſtreckten Rechten, zwiſchen die Pfoſten und rief der blutlechzenden Menge entgegen:

Heilige Mutter Gottes! Wollt ihr mit den Ketzern verbrennen? ... Feuer vom Himmel hat ſie verzehrt! Löſchet! Rettet euer Dorf! .. Und hinter ihm praſſelte die lebendige Gluth.

Mit einem Wehgeheul, das nichts Menſchliches mehr hatte, wichen die Entſetzten zurück und es entſtand eine unbeſchreibliche Verwirrung. Blitzſchnell verbreitete ſich die Sage, Sankt Franziskus in eigener Perſon habe die Ketzer im proteſtantiſchen Pfarrhauſe vernichtet und ſei in erhabener Geſtalt den Gläubigen erſchienen.

96

So gelang es dem Kapuziner, ſein Eſelchen, das er in einem benachbarten Stalle untergebracht hatte, un¬ bemerkt zu beſteigen. Brandröthen und Mordgeſchrei hinter ſich laſſend, ritt er auf Umwegen, die Capuze tief ins Geſicht gezogen, ſeinem Kloſter am Comerſee zu.

Siebentes Kapitel.

Am Abend des fünften Tages nach dieſen außer¬ ordentlichen Ereigniſſen näherte ſich Heinrich Waſer auf dem von Rapperswyl herkommenden ordinären Markt - und Poſtſchiffe ſeiner Vaterſtadt. Die ſchlanken Thurm¬ ſpitzen der beiden Münſter zeichneten ſich immer ſchärfer und größer auf dem klar gerötheten Weſthimmel, und bei dieſem viellieben Anblick dankte der junge Amtſchreiber aus Herzensgrunde der gütigen Vorſehung für das glück¬ liche Ende ſeiner über Erwarten gefährlichen Ferienreiſe.

Bei der Abfahrt von Rapperswyl hatte er ſich nur in Geſellſchaft der Schiffer befunden; denn eine Schaar von Pilgerinnen aus dem Breisgau, alte müde Weiber, verbargen ihre ſonnenbraunen Geſichter ſcheu unter den rothen Kopftüchern und hatten ſich im Vordertheile des Schiffes eng zuſammengeduckt. Sie beteten oder ſchliefen. Sie kamen vom heiligen Gnadenort Einſiedeln undMeyer, Georg Jenatſch. 798waren noch über die lange Brücke zu den Kapuzinern von Rapperswyl gewandert, um von den als Geiſterbanner und Exorciſten bewährten Vätern allerlei Mittelchen ein¬ zuhandeln gegen Krankheit von Menſchen und Vieh und gegen teufliſchen Spuk. Dort hatten die Wallfahrer von einem ſchrecklichen Strafgerichte gehört, das in einem Thale jenſeits der Berge über die Ketzer hereingebrochen ſei. Alle ſeien ſie mit Feuer und Schwert vertilgt worden.

Wohl erfüllte die Weiblein mit freudigem Schrecken dies Unglück der Mißgläubigen, aber auch mit dem Wunſche, ſo bald als möglich den proteſtantiſchen Landen, die ſie zu durchwandern hatten, den Rücken zu kehren und jenſeits der Grenze in ihrer katholiſchen Heimath dieſe großen Dinge zu verkündigen.

So war das Gerücht von dem Proteſtantenmorde im Veltlin ſchon vor, oder doch zugleich mit dem jungen Zürcher hieher gelangt. Auch Waſer hatte auf dem Heim¬ wege erfahren, was zu glauben er ſich immer noch in innerſter Seele geſträubt hatte, daß der Ueberfall in Berbenn, den er miterlebt, nur eine Einzelnheit, und nicht die grauſamſte, eines längſt geplanten, unerhörten Blutbades geweſen ſei. Sogar die nach und nach bei den Dörfern, wo man anlegte, einſteigenden Marktleute waren voll davon.

Es war eine Geſellſchaft, die ſich nicht erſt von99 geſtern her kannte. Die zwei Schiffleute, Vater und Sohn, vermittelten mit ihren Ruderknechten ſchon ſeit Jahren den Verkehr zwiſchen den beiden Seeenden. Der Junge, ein von der Sonne geſchwärztes, kräftig aufgeſchoſſenes Gewächs, war Waſers Altersgenoſſe. Sein Vater hatte ihn von Kindesbeinen an auf den See mitgenommen und ihn früh zum Vertragen der dem Schiffe für die Stadt anvertrauten Briefe und Pakete gebraucht. So war der Burſche mit dem jungen Jenatſch ſchon bekannt geworden, als der Pfarrer von Scharans ſeinen Jürg nach Zürich auf die Schule führte, hatte ihm ſpäter manche Botſchaft gebracht, und wenn Waſer zu Ferienanfang ſeinen Schulkameraden ſeeauf¬ wärts begleitete, hätte dem luſtigen Tage das Beſte ge¬ fehlt, wenn der wort - und ſchlagfertige Kuri Lehmann nicht mitgefahren wäre.

Er auch war es geweſen, der mit ſeinem Vater die müde kleine Lucretia in das Schiff aufgenommen, ihr in Zürich den Weg nach dem Carolinum gezeigt und ihr Muth gemacht hatte, nur friſch und unverzagt dem Jürg ihren Kram auf die Schulbank zu ſtellen.

Auch die Dorfleute ein alter Mann von Stäfa, der allwöchentlich ſeine Spanferkel in Zürich zu Markte brachte, der Honighändler, die Fiſcher und ein paar7*100Hühner - und Eierweiber waren Stammgäſte des ge¬ räumigen Bootes.

Die dunkle Nachricht, welche das Poſtboot von Rapperswyl brachte, verſetzte deſſen Inſaſſen in unge¬ wohnte Aufregung. Ihre vor dem Schreckbild ſcheuende Einbildungskraft erging ſich in den abenteuerlichſten Sprüngen. Nicht zufrieden mit den überlieferten That¬ ſachen, vermutheten ſie eine allgemeine Verſchwörung der Papiſten gegen alles Volk, das ſich zur reinen Lehre bekenne. Schließlich waren ſie nicht weit davon, den ihnen Allen dem Rufe nach, einigen von Angeſicht be¬ kannten Herrn Pompejus, dem ſie die Hauptſchuld an dem Blutbade beimaßen, zum Feldhauptmann des Anti¬ chriſts zu erheben und ihm ein Heer ſchlauer Jeſuiten und feuriger Teufel zur Verfügung zu ſtellen.

Der letzte Sieg der Bosheit und das Weltgericht ſteht vor der Thür , ſprach feierlich der alte Ferkelhändler, welcher etwas taub war und ſich um ſo eifriger auf die ſeltene Kunſt des Leſens und die ſelbſtändige Erforſchung der Schrift verlegt hatte, alle Zeichen ſind da, das große Thier ...

Ihr könntet irren , unterbrach ihn der Amt¬ ſchreiber, der bis jetzt in ſich gekehrt geſchwiegen hatte. Wißt, daß ſeit der Apoſtel Zeiten bei allen ſchweren Calamitäten, die über das Chriſtenvolk hereinbrachen,101 das Ende der Welt von heute auf morgen erwartet wurde. Und doch ſteht, wie Ihr ſeht, noch Albis und Uto wie zu der Helvetier Zeiten und fließt die Limmat noch ihren alten Weg. Hütet alſo Euern Geiſt und Eure Zunge vor Irrlehre und eigenmächtiger Deutung.

Der Alte ſenkte den Kopf, murmelte aber zwiſchen den Zähnen: Daß es ſo lange nicht eingetroffen iſt, beweiſt mir gerade, daß es jetzt eintrifft.

Kuri Lehmann, der hart neben Waſer ſtehend, ſein langes Ruder führte, ſtreifte jetzt dieſen mit einem ſcharfen Blicke aus ſeinen waſſerhellen, von niedrigen, ſchwarzbuſchigen Brauen beſchatteten Augen. Dieſe durch¬ dringenden, ſonſt kalt verſtändigen Augen brannten in frechem Feuer.

Warum, Herr Amtſchreiber, ſchicken die Gnädigen in Zürich nicht uns Seebuben gegen die Spaniolen und Jeſuiten im Veltlin? Iſt Ihnen das Herz in die Hoſen gefallen? ſagte er.

Halt das Maul, um Gotteswillen, Bub! rief erſchrocken der alte Lehmann, der am Steuer dieſe reſpektloſe Rede gehört hatte, und fuhr mit der rechten Hand in die Höhe, als wollte er ihm das Wort im Munde zerſchlagen. Aber er faßte ſich und fügte mit ungewohnter Süße hinzu: Die Herren in Zürich wer¬ den in ihrer Weisheit das Rechte ſchon treffen .

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Kuri aber fuhr unbekümmert fort: Ihr wißt mehr als wir, Herr Waſer! Hab 'ich Euch nicht mit einem Reiſebündelein vor vierzehn Tagen nach Rappers¬ wyl geführt? Ihr wolltet ein wenig in die Berge hin¬ ein, ſagtet Ihr. Beim Eid, Ihr ſeid beim Jenatſch geweſen! War denn der nicht zur Stelle? Der Jürg hat ſich doch, beim Strahl, von denen Aeſern von Pfaffen nicht abthun laſſen! Ihr blickt ſo traurig drein! Es iſt ihm doch nichts paſſirt? Oder hat es gefehlt, hat er dran glauben müſſen?

Er lebt, Kuri, verſetzte Waſer, wie einer, der ſeine Worte wägt und keines zuviel ſagen will.

Nun, dann zählt darauf, eh 'ich dieſe Schuhe verbraucht habe, Kuri ſchonte ſie freilich, denn er hatte ſie ausgezogen und neben ſich auf den Schiffskaſten geſtellt, um erſt in Zürich damit Staat zu machen eh' ich dieſe Schuhe verbraucht habe, hat der Jenatſch den Pompius Planta kalt gemacht. Sonſt iſt er nicht der Jenatſch mehr! Denkt daran! Leid thut es mir um das Jüngferchen und wird dem Jürg auch leid thun.

Dieſes in den Tag hinein geſprochene Wort machte auf Waſer einen leidigern Eindruck, als er ſich nicht geſtehen wollte, und hätte Kuris Vater von Neuem erboſt, wäre nicht ſein Auge unweit vom Dorfe Küßnach auf einer grünen, von hohen Nußbäumen beſchatteten103 Landungsſtelle haften geblieben. Es ergoß ſich dort zwiſchen ſteilen, mit Hollunderbüſchen und Wurzelwerk überwucherten Borden ein Bach in den See, ein ſtilles und durchſichtiges Wäſſerchen, deſſen unterhöhlte aus¬ gewaſchene Ufer aber verriethen, wie heftig es im Früh¬ jahr toben konnte. Von der Anhöhe blickte ein Land¬ haus herab. Dort unter den Bäumen ſtampfte ein kleiner ungeduldiger Junge mit Degen und Federhütchen auf dem ſchattigen Raſen herum, während die würdige Geſtalt eines Präceptors beſchwichtigend daneben ſtand.

Hoheho, hieher Lehmann! Ich will in die Stadt! ſchrie der Kleine, während ſein Mentor ein Tuch aus der Taſche zog, um das Boot heranzuwinken.

Ueberflüſſige Bemühung! Der alte Lehmann hatte ſchon mit dem Rufe: Aha, der Junker Wertmüller vom Wampiſpach! ſein Schiff der Nußbaumgruppe zu¬ gelenkt und das Bret zum Einſteigen bereit gemacht.

Nach wenigen Minuten ſaß der zapplige Kleine auf der Ehrenbank zwiſchen ſeinem Erzieher und Herrn Waſer, deren Beinbekleidung er mit ſeinen unruhigen Füßen, die den Boden des Schiffes noch nicht erreichten, muthwillig und unaufhörlich in Gefahr brachte.

Herr Verbi divini Miniſter Denzler, ſo nannte ſich der Erzieher, ließ ſich mit Waſer über den Junker hinweg in ein lispelndes Geſpräch ein. Er beklagte höchlich die104 haarſträubenden Wirkungen des Fanatismus, und ob¬ gleich Waſer das von ihm Erlebte ſo knapp als möglich erzählte und ſeine eigene Perſon dabei beſcheiden in den Hintergrund ſtellte, konnte ſich der Präceptor nicht ge¬ nug entſetzen über die unerhörte Gefahr Leibes und Lebens, welcher ſich der Herr Amtſchreiber durch ſeine Kühnheit ausgeſetzt. Dann ſteuerte er ſeinen perſön¬ lichen Angelegenheiten zu, wobei er gut fand, der latei¬ niſchen Sprache ſich zu bedienen.

Niemalen, Herr Amtſchreiber , bemerkte er, hätte ich dieſe ſchwierige Erziehung übernommen, denn der Kleine, obgleich ein ausgezeichnetes Ingenium, iſt, unter uns geſagt, ein bösartiges Dämönlein, wenn mir nicht des Herrn Oberſten Schmid Gnaden heilig verſprochen hätten, daß ich bei Zufriedenheit mit meinen Leiſtungen ſpäter dieſen ſeinen Stiefſohn auf einer Bildungsreiſe begleiten dürfte, wie ſie noch ſelten gemacht worden iſt. Die deutſchen Lande, Italien, Frankreich ſollen beſucht werden, und wie Cäſar werden wir bis nach Britannia vordringen.

Ja, der Verbi divini muß mit! rief hier plötz¬ lich der kleine Kobold, der den Gegenſtand der Unter¬ haltung errathen hatte. Aber vorher muß er mich alle Sprachen lehren, daß ich in allen kommandiren kann!

Was willſt Du denn eigentlich werden, Rudolf? 105fragte Herr Waſer, um die Blöße, die der Magiſter ſich gegeben, zu decken.

Ein General! rief das Bübchen und ſprang von der Bank, denn eben war man durch das Waſſerthor des Grendels gefahren und legte jetzt vor der Schifflände an.

Bald bewegte Herr Waſer ſich wieder in den ge¬ wohnten Geſchäften und ſaß wie früher täglich auf der Rathskanzlei; aber die ſtaatsrechtlichen Handlungen waren für ihn keine leeren Formeln mehr, keine bloße Uebung ſeiner behenden Gedanken, er war davon durch¬ drungen, daß dabei Wohl und Wehe der Völker auf dem Spiele ſtehe, er hatte der Wirklichkeit ins drohende Antlitz geſchaut.

In Folge ſeiner Reiſe nach Bünden und ſeiner Rettung aus dem in allen proteſtantiſchen Landen Ent¬ ſetzen verbreitenden Veltlinermorde war das Anſehen des jungen Amtſchreibers in ſeiner Vaterſtadt außerordent¬ lich geſtiegen. Ja, es geſchah eines Sonntags, als er hinter dem Herrn Amtsbürgermeiſter in ſeinem Kirchen¬ ſtuhle ſaß, daß er aus dem Munde des Antiſtes der zürcheriſchen Kirche, während alle Augen ſich theilnehmend auf ihn richteten, folgende ſeiner Beſcheidenheit unwill¬ kommenen Worte vernahm:

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Ihr ſeid durch die Poſaune der die Welt durch¬ fliegenden Fama davon unterrichtet, tönte es von der Kanzel herab, welch ſchreckliche Hekatombe der papiſtiſche Fanatismus in einem uns verbündeten Lande gehäuft hat, wie ſechshundert unſrer proteſtantiſchen Brüder ausgerottet wurden durch die Schärfe des Schwertes, wie die blutgeröthete Adda geſchändete Leichen wälzte, während die verſtümmelten Reſte anderer auf offenem Felde liegen, dem krächzenden Gevögel ein ſcheußlicher Fraß. Aber daß der Himmel ſogar in allgemeiner Vernichtung ſeine auserwählten Rüſtzeuge zu bewahren weiß, dafür gab er uns, Geliebteſte, ein den innigſten Dank erweckendes Zeugniß in der lebendig hier anweſen¬ den Perſon eines unſrer Herren Mitbürger, den er durch das menſchliche Medium von deſſen Fürſichtigkeit und Tapferkeit vorausſichtlich zu höhern Zwecken mitten aus dieſem Verderben gerettet hat. ...

Eine andere Folge war, daß Waſers Vorgeſetzte ſeit ſeiner Reiſe ſich von ihm als einem tüchtigen und in Bündnerdingen bewanderten jungen Manne die er¬ ſprießlichſten Dienſte verſprachen. Man berückſichtigte ſein Urtheil, und vorzugsweiſe ſeiner gewandten Feder ward der öffentliche Verkehr mit den bündneriſchen Be¬ hörden und der geheime Briefwechſel mit den zürcheriſchen Vertrauensmännern in dieſem ſchickſalsvollen Lande zu¬107 gewieſen. Und, wunderbar, die todten Buchſtaben der jetzt Schlag auf Schlag aus Chur eintreffenden Berichte bewegten, was ſonſt nicht der Fall geweſen war, ſein Herz noch mehr, als ſie ſeinen Scharfſinn beſchäftigten. Zwiſchen den Zeilen blickten die kraftvollen Köpfe des ſtolzen Planta, des feurigen Jenatſch, des kalt fanatiſchen Blaſius Alexander hervor und verdeutlichten ihm die Natur dieſes ungebändigten, parteiſüchtigen, unter einer ruhigen Außenſeite tief leidenſchaftlichen und ſeine wilde Freiheit über Alles liebenden Volksſtammes.

Oft wenn er ungeſtört an ſeinem Arbeitstiſche ſaß, ward er unverſehens zurückgetragen in die Vergangenheit. Er ſtand wieder in Berbenn vor dem brennenden Hauſe und ſah den Schulfreund aus den Flammen treten, ſein noch im blaſſen Tode wunderſchönes Weib über der Schulter, er ſah ihn unausgeſetzt, unermüdet, wortlos voranſchreiten auf den gefährlichen Bergpfaden und über die zerriſſenen Gletſcher, bis der Schweigſame ſeine Laſt niederlegte auf dem Kirchhofe von Vicoſoprano, um ſie dort in Bündnererde zu beſtatten. Immer mehr wurde Heinrich Waſer von dem Eindrucke bewältigt, die Lohe, welche den häuslichen Herd des Bündners verzehrt, flamme fort als verborgener unauslöſchlicher Rachebrand in ſeiner Bruſt, von einem eiſernen Entſchluße bis zur günſtigen Stunde niedergehalten, und als Jürg thränen¬108 los am Grabe ſeiner Lucia geſtanden, habe er mit ihr alle Harmloſigkeit der Jugend, alle weichen Gefühle und vielleicht jedes menſchliche Erbarmen verſenkt. Hatte doch Waſers herzliche Theilnahme bei ihm keine Stätte, nicht ein einziges erwiederndes Wort gefunden. Jenatſch war dem Freunde gegenüber zu Stein geworden, und die letzte Rede, faſt die einzige auf der Reiſe, die er beim Scheiden in Stalla an ihn gerichtet, hatte dem jungen Zürcher beunruhigend und verhängnißvoll nach¬ geklungen. Du wirſt von mir hören! hatte er ihm zugerufen. Mit Jürg war Blaſius Alexander fortge¬ gangen als einziger Begleiter. Dieſer auch hatte das Gebet über Lucias Grabe geſprochen und dabei ſchreck¬ liche altteſtamentliche Worte ſo zuſammengeſtellt, daß Waſer ſie kaum mehr erkannte und ſie ihm als der Ausdruck gottesläſterlicher Rachſucht erſchienen, Ueber¬ haupt war Blaſius nicht ſein Mann. Noch nie war ſeine heitere, für die verſchiedenen Seiten der Dinge empfängliche Natur auf einen ſchrofferen Gegenſatz geſtoßen, und ihm graute, ſeinen Freund in deſſen jetziger Stimmung mit dieſem kalten Fanatiker zuſammen zu wiſſen.

Wie geſagt, eine Hiobspoſt folgte der andern. Un¬ mittelbar nach der Schlächterei beſetzten die Spanier, von Fuentes her eindringend, mit Heeresmacht das ganze109 Veltlin. Die beiden Planta führten die Oeſterreicher ins Münſterthal, und zwei Verſuche, die verlorenen Landſchaften wieder zu gewinnen, blieben fruchtlos. Im Innern von Bünden wuchs täglich die Wuth gegen die landesverrätheriſchen Anſtifter des Veltlinermordes, be¬ ſonders gegen den vervehmten Pompejus Planta, der in der allgemeinen Verwirung ſich ſeines feſten Hauſes Riedberg wieder bemächtigt hatte.

So war Waſer, als eines Tages durch einen reitenden Boten die Nachricht von dem Ueberfalle des Schloſſes und der Ermordung des Herrn Pompejus eintraf, mehr erſchrocken als erſtaunt. Das Schreiben kam vom Ritter Doktor Fortunatus Sprecher. Dieſer gelehrte Juriſt behauptete in der von politiſcher Leiden¬ ſchaft beherrſchten Zeit eine zurückgezogene und verhält¬ nißmäßig unangefochtene Stellung. Von ihm war be¬ kannt, daß er, dem die waghalſige Demokratenwirthſchaft und die ſpaniſchen Intriguen gleichermaßen verhaßt waren, in ſtillen Stunden befliſſen ſei, die in ihm auf¬ ſteigende Bitterkeit beſtmöglich zu verſüßen durch täg¬ liche genaue Aufzeichnung aller Fehlgriffe und Greuel, welche ſich die ihm widerwärtigen extremen Parteien zu Schulden kommen ließen. Dies that er aber mit dem Vorſatze, die unter dem Eindrucke des Tages entſtan¬ denen Aufzeichnungen im Laufe der Jahre gemächlich110 zu einer ausführlichen und, wie er ſich ſchmeichelte, völlig vorurtheilsloſen Geſchichte ſeines Vaterlandes zu ver¬ arbeiten. Mit dieſem wohlunterrichteten Manne unter¬ hielt die Regierung von Zürich Beziehungen, um, wie ſich Jenatſch ausgedrückt hatte, auf dem Laufenden zu bleiben. Der Ritter beobachtete die Vorſicht, ſeine Briefe nicht an die Staatskanzlei, ſondern an Heinrich Waſer, den Privatmann, zu richten.

Das Schreiben, welches dieſer in ſchweren Gedanken immer und immer wieder las und unbewußt mit häu¬ figen Thränen benetzte, trug das Datum: Chur, den 27. Februar 1621. Es erzählte das verhängnißvolle Ereigniß in einer Sprache, welche die zornige Erregung des Berichterſtatters verrieth.

In der Nacht vom vierundzwanzigſten auf den fünfundzwanzigſten hätten ſich die Führer der Volks¬ partei von Grüſch im Prätigau, dem Sitze ihrer Ver¬ ſchwörung, aufgemacht, zwanzig Mann ſtark, alle gut bewaffnet und beritten, voran der wahnwitzige Blaſius Alexander und der teufliſche Jenatſch. In raſendem Ritte durch das ſchlafende Land und die finſtere föhn¬ warme Nacht brauſend, ſeien ſie im Morgengrauen wie Geſpenſter vor Riedberg aufgetaucht, haben das Thor mit Axthieben geſprengt, ſeien ohne ernſtlichen Wider¬ ſtand der ſchlummertrunkenen entſetzten Dienerſchaft in111 die Schlafkammer des Herrn Pompejus eingedrungen, dieſe aber ſei leer geweſen. Im Begriffe, fluchend und läſternd wieder abzuziehen, habe ſie Jenatſch in einem engen Vorzimmer auf ein altes blindes Hündlein auf¬ merkſam gemacht, das winſelnd in den Rauchfang des Kamins hinaufſchnoberte. Aus dieſem ſei dann Herr Pompejus mit frevler Fauſt an ſeinem langen Schlaf¬ kleide heruntergeriſſen und mit wüthenden Beilhieben zu Tode gebracht worden. Unbegreiflicher Weiſe ſeien die Mörder unangefochten in frechem Triumphe durch das rings von den Sturmglocken aufgeſtörte Land nach Grüſch zurückgekehrt, am hellen Tage durch die Straßen von Chur im Schritte reitend, wo er, Sprecher, durch das Pferdegetrappel an's Fenſter gerufen, ſelbſt die Ent¬ ſetzlichen erblickt und von dem blutigen Jenatſch hohn¬ lächelnd begrüßt worden ſei. Der alte Kaſtellan auf Riedberg aber, Lucas, aus deſſen vor Amt gemachten Angaben er dieſen ſeinen wahrhaften Bericht haupt¬ ſächlich ſchöpfe, habe nach Abzug der Meuchlerbande das Mordbeil aufgehoben und, im Gedanken, es der gött¬ lichen Gerechtigkeit als Werkzeug ſcharf zu behalten, in ſorgfältige Verwahrung genommen. Ueber der Todes¬ ſtätte ſeines Herrn aber habe er die Mauer mit einem großen Kreuze bezeichnet.

Sprechers Brief endigte mit der ſchwarzſichtigen112 Bemerkung: in dieſer Zeit, wo den Guten jede Macht genommen ſei, bleibe die Beſtrafung der Böſen das einzige Zeichen einer waltenden Vorſehung, und mit dem troſtloſen Ausrufe: Wehe, Rhätia, wehe Dir!

Dieſer Weheruf war nicht unberechtigt, das lehrte die nächſte Zukunft. Nach einigen flüchtigen Sonnen¬ blicken, die eine beſſere Wendung der Dinge für Bün¬ den zu verſprechen ſchienen, erfüllten ſich ſeine Geſchicke. Bevor ſeit der Ermordung des Herrn Pompejus ein Jahr um war, überſchwemmten öſterreichiſche und ſpa¬ niſche Heerhaufen die rhätiſchen Lande. Das Volk erhob ſich zum Verzweiflungskampfe, ſelbſt Frauen und Mädchen ſchwangen rohe todbringende Waffen. Jenatſch troff von Blut und ſeine übermenſchliche Tapferkeit wurde zur Legende. So erſchlug er Hunderte von Oeſter¬ reichern, meldet die Sage, bei Kloſters in offener Feld¬ ſchlacht, er allein mit drei Genoſſen.

Die heldenmüthigen Bündner wurden von der Uebermacht erdrückt. Waſer ſah eines nach dem andern ihrer flüchtigen Häupter in Zürich anlangen. Es kam ein Salis, ein Ruinell, ein Bioland, Jürg Jenatſch kam nicht. Wohl mochte es ihm ſchwer werden, das Bollwerk ſeiner Berge zu verlaſſen.

Furcht vor dem übermächtigen Oeſterreich lähmte diesmal die Gaſtfreundſchaft der Stadt Zürich, die ſie113 ſonſt keinem Vertriebenen verſagt. Beim Pokale auf den Zünften hatte die junge Bürgerſchaft den bündneriſchen Tellen, ſo nannte man die Mörder des Herrn Pom¬ pejus Planta, ſtürmiſch zugejauchzt, jetzt aber ſtreckten ſich den Flüchtigen nur wenige Hände entgegen. Man erſuchte ſie, ſich ſtille in den Häuſern zu halten, damit in Wien ihre Anweſenheit geleugnet werden könne. Die Geiſter waren von dunklen Ahnungen erſchreckt, dreißig kommende Kriegsjahre warfen ihren Schatten vor ſich her.

Eines Tages verließ Waſer ernſter als gewöhnlich und in tief bewegter Stimmung das Haus ſeiner jungen Braut, die er nächſtens heimführen ſollte und in deren angeſehener Familie er das Abendbrod einzunehmen pflegte. Hier ließ er ſonſt die Staatsſorgen vor der Thür und freute ſich in Züchten des Lebens; heute aber quoll ihm der Biſſen im Munde. Sein Schwager, ein junger Geiſtlicher, hatte aus der eben verſammelten Synode eine ergreifende Nachricht nach Hauſe gebracht. Von ſeiner Hochwürden dem Antiſtes war ein Schreiben verleſen worden mit der Nachricht von dem ſtandhaften Ende des Märtyrers Blaſius Alexander. Da wurde ausführlich von einem ſeiner Kerkergenoſſen erzählt, wie man ihn auf der Flucht ergriffen und nach Innsbruck gebracht habe; wie er ſich in der GefangenſchaftMeyer, Georg Jenatſch. 8114unerſchütterlich geweigert, den reformirten Glauben ab¬ zuſchwören, und wie er ſchließlich zum Verluſte der rechten Hand und des Hauptes verurtheilt wurde. Da ſeine Rechte abgeſchnitten auf dem Blocke lag, habe er bereitwillig auch die Linke ausgeſtreckt, als könne er ſich des Marterthums nicht erſättigen.

Um ſein Gemüth zu beruhigen, machte Waſer gegen ſeine Gewohnheit einen raſchen Gang um die beſchneiten Schanzen der Stadt. Als er in ſeine dunkle Stube zurückkehrte und Feuer ſchlug, um ſeine Lampe anzu¬ zünden, gewahrte er in der Fenſterniſche eine hohe Ge¬ ſtalt, die ihm nun feſten Schrittes entgegentrat und ihm die Hand auf die Schulter legte. Es war Jürg Jenatſch.

Erſchrick mir nicht, Heinrich, ſagte er ſanft, ich komme nur für eine Nacht und verlaſſe Eure Mauern, ſo bald in der Frühe ein Thor aufgeht. Haſt Du Platz für mich in Deinem Kämmerlein, wie ehedem? .... In Bünden hab 'ich nichts mehr zu thun. Da iſt Alles verloren wer weiß für wie lange. Ich gehe zum Mansfeld. Dort auf dem großen deutſchen Kampfplatze entſcheidet ſich mit Sieg oder Niederlage der proteſtan¬ tiſchen Waffen auch das Loos meiner Heimat.

Zweites Buch. Lucretia.

8*

Erſtes Kapitel.

Ein durchſichtig blauer Winterhimmel umfing die Lagunenſtadt und ſchaute ſich mit gleicher Kraft und Helle tief aus dem Spiegel eines ihrer vielen ſchmalen Waſſerbänder wieder entgegen. Hier zeigten die ſtillen Waſſer auch das ſcharfe dunkle Ebenbild einer ſchlank ge¬ wölbten Marmorbrücke, die das engſte und bewohnteſte Quartier Venedigs mit dem Campo dei Frari verbindet. Dieſer kleine Platz bildet den ſpärlichen Vorraum zu dem fremdartig erhabenen Meiſterbau Niccolò Piſanos, dem rothſchimmernden Dome der Maria glorioſa de' Frari.

In der engen Pforte eines an die Lagune gebau¬ ten Hauſes jenſeits der Brücke ſtand ein Mann von mittleren Jahren mit einem ernſten bärtigen Kopfe und von gedrungener, kurzer Geſtalt. Sein Blick folgte ruhig den lautlos geführten, von Zeit zu Zeit unter118 dem Brückenbogen durchgleitenden Gondeln, oder be¬ trachtete die Bettler, welche auf den Stufen des Domes lagerten und eben ihr Frühſtück verzehrten. Ihm zu Häupten war an der Mauer, dem Halbrunde der Thürwölbung folgend, in coloſſalen ſchwarzen Lettern und italieniſcher Sprache zu leſen: Lorenz Fauſch, Pa¬ ſtetenbäcker aus Bünden.

Aus den herrſchaftlichen Gondeln, die an der Lan¬ dungstreppe des Campo anlegten, war ſchon manche zarte Dame geſtiegen; manche zierliche Geſtalt, umhüllt von den weichen Falten dunkler Seide und das Antlitz durch die ſammetne Halbmaske vor der Kälte geſchützt, war die Stufen hinauf über den Platz in die Kirche geglitten, ohne daß die Züge des Bündners ſich im Mindeſten verändert hätten. Jetzt aber ging etwas Seltſames auf dem ernſthaft gleichmüthigen Geſichte vor. Unter der Brücke war der wetterbraune, weißbärtige Kopf eines Ruderers zum Vorſchein gekommen, der, aus ſeinen ungelenken Bewegungen zu ſchließen, mit der Lagune nicht vertraut war. Während ſein Gefährte, der auf dem Hintertheile des Fahrzeuges ſtand, ein jugendlich behender, ein echter Gondoliere, dieſes mit ſchlanker Ruderbewegung an die Mauer drückte, öffnete der Alte langſam die niedrige Gondelthüre und ſchickte ſich an, einer nur leicht verſchleierten, offen und groß119 blickenden Frau beim Ausſteigen behilflich zu ſein. Sie aber hatte ſeine Hand nicht angenommen. Unverſehens ſtand ſie auf der Treppe und ſchritt, ohne ſich umzu¬ blicken, der Pforte des Domes zu.

Ehe der in der Gondel beſchäftigte Alte ſeiner Herrin folgen konnte, trat Herr Fauſch, deſſen Miene ſich plötzlich erhellt hatte, an den Rand der Lagune vor und rief ihm mit gedämpfter Baßſtimme den ro¬ maniſchen Gruß: Bun di , zu; aber jener wandte ſich nicht nach dem ſeine Bekanntſchaft Suchenden um, er ſtreifte ihn nur mit einem Blitze unter ſeinen buſchi¬ gen Brauen hervor, halb mißtrauiſch, halb verſtändni߬ voll, dann zog er langſam einen Roſenkranz aus der Taſche und ſchritt, Herrn Fauſch den Rücken zukehrend, nach der Kirche.

Noch folgte ihm dieſer mit nachdenklichen Blicken, als, aus dem Seitengäßchen raſch herauslenkend, ein kleiner hagerer Cavalier an ihm vorüberſchoß und mit einem ſtählernen Sprung auf der Brücke ſtand. Hier bemerkte er zu ſeiner Rechten den Bäcker und deſſen behaglichen Gruß, wandte ihm einen Augenblick ſein junges nichts weniger als hübſches aber höchſt originelles Geſicht zu und ſagte: Augenblicklich noch im Dienſt! Holt mir ein Fläſchchen Cyprier, Vater120 Fauſch wohlverſtanden, von der Sorte, der Ihr perſönlich huldigt. In zwei Minuten bin ich hier.

Fauſch trat aus dem fröhlichen Sonnenlichte in ſein etwas düſteres zu dieſer Morgenſtunde noch leer ſtehen¬ des Schenkzimmer zurück, das jedoch mit ſeinen zahlreichen Sitzen und reinlichen weißen Marmortiſchen offenbar auf den Beſuch von Gäſten nicht geringen Standes eingerichtet war. Während er ſich in den ge¬ heimen, wohlverſchloſſenen Raum begab, der ihm in der Meerſtadt als Keller diente, um ein ſtrohumflochte¬ nes Fläſchchen von ſeinem dunkeln Ehrenplatze herunter¬ zuholen, dem Befehle des jungen Cavaliers gemäß, doch Alles mit würdiger Bedächtigkeit, hatte dieſer ſeinen Gang gemacht und kam ſchon wieder über die Brücke zurück.

Er hatte die Kirche betretend ſogleich die hohe Ge¬ ſtalt wieder entdeckt, die ſein Blick aus der Tiefe des Gäßchens im Fluge erfaßt hatte, und die ihm durch ihre dunkle kräftige Schönheit anziehend erſchienen war.

Andächtig kniete ſie, das Antlitz zum Gekreuzigten erhoben, mit gefalteten Händen auf den Stufen des Hochaltars. Nicht Zweifel, nicht Troſtbedürfniß, nicht Sehnſucht ſchien ſie hergeführt zu haben. Keine innere Aufregung, keine unſtäte Leidenſchaft bewegte die hoch¬ gewachſene Geſtalt. Feſte Ruhe lag in den ſchönen,121 noch jugendweichen Zügen. Aber nicht klöſterlich kalt war ihr Ausdruck, ſondern von kräftigem Leben durch¬ glüht. Sie flehte nicht, rang nicht um Erhörung. Sie brachte, ſo ſchien es, ein tägliches Opfer, ein gewohn¬ tes Gelübde dar, das ihre Seele erfüllte und dem ihr Leben geweiht war.

In ſteigender Neugier war der junge Cavalier immer näher herangetreten, da hatte ſie ſich erhoben und war ſeinem unbeſcheidenen Auge unverſchleiert mit einem ſtolzen fremden Blicke begegnet. Dann hatte ſie die Kirche verlaſſen. Zwiefach enttäuſcht, denn in der Ferne war ihm die Dame jünger erſchienen und auf ihre einfache Hoheit war er nach ſeinen venetianiſchen Erfahrungen und Gewohnheiten nicht gefaßt, hatte er noch einen Blick auf die verſchiedenen Kirchenbilder ge¬ worfen und ein Wort mit dem Küſter geſprochen.

Als Fauſch, das Fläſchchen auf einem ſilbernen Teller mit einiger Feierlichkeit vor ſich hertragend, in der Hinterpforte ſeines Schenkraumes erſchien, hatte ſich der Gaſt ſchon in nachläſſigſter Haltung auf einer Otto¬ mane nächſt der Thüre niedergelaſſen. Er zog jetzt ſeine Füße von dem Marmortiſchchen, auf das er ſie gelegt hatte, der Bäcker aber holte ein fein geſchliffenes kleines Kelchglas herbei, ſtellte es neben die Flaſche und begann nach ſeiner Gewohnheit ſelbſt das Geſpräch.

122

Und wer war denn, mit Eurer Gnaden Erlaub¬ niß, das Herz und Augen erfriſchende Frauenbild, dem der Herr Locotenent nachſchoß wie eine Kugel aus dem Rohre?

Wie, Vater Lorenz, das ſolltet Ihr nicht wiſſen, meinte der Angeredete, Ihr, die lebendige Tages¬ chronik und Fremdenliſte von Venedig?

Sie kommt mir ſonderbar bekannt vor, und wer ſie iſt, werd 'ich herausbringen. Sicher keine dieſer trä¬ gen Venetianerinnen, dafür erfreut ſie ſich zu leichter Füße. Wißt nur, Herr Wertmüller, als ich ſie vor¬ hin ſo ſchön und frei über das Campo ſchreiten ſah, da überkam mich eine Rührung. Mir war, als ſchritte ſie nicht neben dieſer faulenden Lagune, ſondern auf den Bergpfaden meiner Heimat neben ſenkrechten Prä¬ zipizien und ſchäumenden Bächen. Noch eins! Ihr Die¬ ner, der alte weißbärtige Spitzbube mit den Jägeraugen und dem Roſenkranze, iſt ein Bündner ſo gewiß als ich.

Alſo aus Euren Bergen, verſetzte Wertmüller, und von Eurem Schlage.

Was Wunder übrigens, meinte Fauſch, wenn ein Salis oder ein anderes Haupt unſerer franzöſiſchen Partei in dieſem Augenblicke in der gaſtfreundlichen Venezia zu thun hätte; zweifelt ja von uns Keiner mehr daran, daß Euer Herr, der vieledle Heinrich123 Rohan, von Richelieu Vollmacht erhalten hat, eine Heerfahrt nach Bünden zu rüſten. Nun kommt endlich die Stunde, da mein Land der öſterreichiſch-ſpaniſchen Gewalt entwunden wird.

Gut, ſagte der Andere ihn ſpöttiſch anſehend, der galliſche Hahn alſo, Vater Fauſch, ſoll ſich für euch mit dem öſterreichiſchen Adler zauſen, daß die Federn fliegen! Ihr traut ihm viel Großmuth zu, denn ihr ſitzt feſt in den ſpaniſchen Krallen. In meiner Stellung als Adjutant des Herzogs bin ich freilich weniger in dieſe geheimen politiſchen Pläne eingeweiht als Ihr, das von dem venetianiſchen Müſſiggange inſpirirte La¬ gunen - und Lügenorakel. Uebrigens fuhr er, ſeine Schärfe mäßigend, fort und blickte dem Bäcker in die Augen, der in ſeinem Innerſten beleidigt, ſich mit ge¬ röthetem Angeſicht vor ihn hingeſtellt hatte und nach dem kräftigſten Ausdruck zur Abwehr ſolcher Mißachtung rang, übrigens iſt heute nicht Politik ſondern Kunſt bei uns im[herzoglichen] Palazzo an der Tagesordnung. Eben war beim Frühſtück von Tizian die Rede. Eine mit unſerer Herzogin befreundete Nobildonna behaup¬ tete, unſere kunſtſinnige Dame habe bis heute eines der edelſten Werke des Meiſters überſehen, das ſich hier bei den Frari befinde. Es erwies ſich, daß es bei der Herzogin letztem Aufenthalte in Venedig aus irgend124 einem Grunde ſich in der Werkſtätte eines Malers be¬ fand. Ich ward von ihr abgeſandt, um den jetzigen Thatbeſtand feſtzuſtellen. Es hängt wieder drüben, und ich fliege, es den Herrſchaften zu melden. Sie werden ihre Wallfahrt zu dem Tizian gleich antreten wollen.

Herr, ſo dürft Ihr mir nicht fort, ſagte Fauſch, und vertrat ihm mit ſeiner breiten Figur den Ausweg. Ihr verkennt mich grauſam in dem was mir hoch und heilig iſt. Was hielte meinen Geiſt in dieſem ſchmerzvollen Exil lebhaft und aufrecht, wenn nicht die Tag und Nacht genährte Hoffnung, mein Jahrzehnte lang zerfleiſchtes, verheertes, gefeſſeltes Bünden wieder befreit zu ſehen! Und ich ſoll mich nicht um Neuig¬ keiten kümmern? Soll nicht die Fühlhörner nach allen Seiten ausſtrecken? Nicht jede günſtige Nachricht mit durſtigen Poren einſaugen? Pocht denn Euch nichts hier fürs Vaterland, Herr Wertmüller? ... Er drückte tief athmend die fette Hand auf die Bruſt. Glaubt nicht, daß mir die für Bünden unrühmliche Hilfe der Franzoſen willkommen ſei; ich heiße das den Teufel durch Beelzebub vertreiben, aber ſie iſt, Gott ſei's ge¬ klagt, der letzte Ausweg aus der härteſten Sklaverei! Auch lebt jetzt in Bünden ein matteres Geſchlecht. In jener großen Zeit freilich, wo ich, der Würgengel Jenatſch125 und der Märtyrer Blaſius Alexander die Thaten eines Leonidas und Epaminondas vollbrachten, hätten wir Alle uns lieber, die Bruſt mit Wunden bedeckt, in ein breites Grab reihen laſſen, als in das welſche Heer, und unſere Seelen eher dem leibhaftigen Teufel über¬ geben, als dem franzöſiſchen Cardinal!

Der junge Wertmüller, den die Scene insgeheim köſtlich beluſtigte, war im Begriffe, den begeiſterten Bäcker auf die Seite ſchiebend, die Thür zu gewinnen, konnte ſich aber die Schlußbemerkung nicht verſagen: So weit ich die Weltgeſchichte kenne, Vater Lorenz, ſeid Ihr darin nicht berückſichtigt.

Jetzt ergriff ihn Fauſch heftig aber freundſchaftlich bei der Hand: Wie wird heutzutage Hiſtoria geſchrie¬ ben, Herr Locotenent? Saftlos und ohne Gewiſſen¬ haftigkeit! Die Tradition jedoch der volksthümlich großen Thaten erliſcht nicht, auch wenn ein pedantiſcher Ge¬ ſchichtsſchreiber ſie heimtückiſch unter den Scheffel ſtellen ſollte. Sie geht über Berg und Thal von Mund zu Munde und aus dem meinigen ſollt Ihr ein Euch un¬ bekanntes, wichtiges Blatt unſerer Bündnergeſchichten kennen lernen.

Anno zwanzig, als die edle Demokratie in unſerem Lande herrſchte, vollzog ſie einen großartigen, einen126 wahrhaft weltgeſchichtlichen Akt. Frankreich zweideutelte damals zwiſchen Licht und Nacht, zwiſchen proteſtanti¬ ſcher und katholiſcher Politik. Dem beſchloß das zu Da¬ vos verſammelte Strafgericht in ſeiner Weisheit herzhaft ein Ende zu machen. An den Geſandten Frankreichs, der Gueffier war's, er hielt damals Hof in Maienfeld, ſchickte es eines ſeiner Mitglieder, einen ſchlichten Bür¬ ger, einen einfachen Prädikanten, der dem Franzoſen Befehl überbrachte, augenblicklich einzupacken, ... und dieſer tapfere Republikaner, Euer Gnaden, war niemand anderes, als Lorenz Fauſch, der hier vor Euch ſteht. Jetzt aber hättet Ihr ſehen ſollen, wie der Franzoſe ſeinen Hut vom Kopfe riß, und ihn wie toll mit den Füßen zerſtampfte. Einen Salis oder Planta minde¬ ſtens hätte man an mich abordnen ſollen, ſchrie er wüthend, nicht einen ſolchen ... hier hielt Fauſch inne und beſann ſich

Weinſchlauch! dies iſt des denkwürdigen Dia¬ logs beglaubigter Wortlaut, erſcholl es mit heller mäch¬ tiger Stimme von dem offenen Eingange her, der in dieſem Augenblicke durch eine große Geſtalt, welche auf die Schwelle trat, verdunkelt ward, und vor dem er¬ ſtaunt ſich umwendenden Bäcker ſtand ein Kriegsmann von gewaltiger Statur und herriſchem Blick.

Sagte er wirklich ſo, Jürg? faßte ſich der be¬127 troffene Herr Lorenz; aber ſtatt ihm zu antworten neigte ſich der ſtattliche Fremde mit leichtem Anſtande gegen den jungen Offizier, der den Gruß militäriſch erwie¬ dernd durch die freigewordene Thür hinaus in den Sonnenſchein eilte.

Zweites Kapitel.

Der Kriegsmann ſchritt klirrend dem Hintergrunde des ſchmalen tiefen Gemaches zu, ſchnallte den Degen ab, legte ihn mit dem Federhute und den Handſchuhen auf einen leeren Sitz und warf ſich mit einer unmuthigen, harten Bewegung auf einen andern.

Fauſch hatte gerade dieſen Gaſt heute am wenig¬ ſten erwartet, auch entging ihm der mit den über¬ müthigen Worten auf der Schwelle im Widerſpruch ſtehende Ausdruck des Kummers und der Abſpannung auf dem kühnen Geſichte nicht. Nachdem er noch einen beſorgten Blick auf dieſes geworfen, ſchloß er behutſam die Thüre ſeines Schankes.

Das ſchmale Gemach lag jetzt im Halbdunkel, nur durch ein hochgelegenes Rundfenſter über der Thür drang ein röthlicher, von goldnen Stäubchen durch¬ ſpielter Sonnenſtrahl in ſeine Tiefe und blitzte in den129 aufgereihten, fein geſchliffenen Kelchen und funkelte in dem Purpurweine, welchen Meiſter Lorenz dem in ſich Ver¬ tieften unaufgefordert vorgeſetzt hatte. Eine gute Weile noch ſchwieg dieſer, das Haupt auf den Arm geſtützt, während Fauſch die Hände auf die glänzende Marmor¬ platte ſtemmte und, einer Anrede gewärtig, nachdenklich vor ihm ſtand.

Endlich entrang ſich der Bruſt des Gaſtes ein ſchwerer Seufzer: Ich bin ein Mann des Unglücks! ſprach er vor ſich hin. Dann richtete er ſich mit einem trotzigen Rucke auf, als ob ihn ſein eigenes muthloſes Wort aus einem böſen Traume geweckt und ſeinen Stolz beſchämt hätte, heftete ſeine finſtern Augen feſt, aber voll inniger Freundlichkeit auf Meiſter Lorenz und begann: Du wunderſt Dich, Fauſch, mich hier in Venedig zu ſehen! Du glaubteſt, ich hätte noch eine lange Arbeit in Dalmatien, aber ich bin zuletzt raſcher damit fertig geworden und unblutiger als ich ſelber es dachte. Die dalmatiſchen Räuber ſind zu Paaren ge¬ trieben und die Republik von San Marco kann mit mir zufrieden ſein. Es war kein leichtes Spiel. Bei Gott, ich kenne den Gebirgskrieg von der Heimat her, aber hätt 'ich nicht Verräther unter ihnen gefunden, und ſie entzweit durch mancherlei Liſt und Vorſpiegelung, ich ſäße noch vor ihren Bergmauern drüben in Zara. AuchMeyer, Georg Jenatſch. 9130eine hübſche Beute habe ich gemacht und Dein Theil daran, Lorenz, iſt Dir wie immer gewiß. Ich bin nicht Jenatſch, wenn ich je vergeſſe, daß Du mich aus Deinem ſchmalen Erbe in den erſten Harniſch geſteckt und auf einen Kriegsgaul geſetzt haſt.

Ein dankbares Gemüth iſt ein ebenſo ſchönes als ſeltenes Juwel , ſagte Fauſch erfreut, aber wo drückt Euch denn der Schuh, Hauptmann Jenatſch, wenn Ihr Ruhm und Beute vollauf zurückbringt?

Ich bin noch mit dem letzten Schritte in eine Falle meines tückiſchen Schickſals getreten , verſetzte der Hauptmann, die Brauen ſchmerzlich zuſammen ziehend. Geſtern Mittag landete meine Brigantine an der Riva, ich meldete mich pflichtſchuldig bei dem Provveditore, der mich, da ich ſeine beſondere Gunſt nicht beſitze, ohne Weiteres zu meinem Regiment nach Padua beorderte. Dort langte ich bei einbrechender Nacht an und fand meinen Oberſten in einer Locanda eine halbe Meile vor dem Thore, aufgeregt von Becher und Würfel und in beſtialiſcher Laune. Er ſtand gerade mit roth glühen¬ dem Geſicht am Fenſter, um Luft zu ſchöpfen, als ich vorritt. Prächtig! ſchrie er mich an, da weht uns der Teufel noch ſein Schooßkind den Jenatſch her! Herauf, Hauptmann, mit Eurem vollen Beutel aus131 Dalmatien! Ich ſtieg ab und erſtattete Bericht, dann ſetzt 'ich mich zur Geſellſchaft und wir ſpielten bis zum Morgenlicht. Dabei verlor der Oberſt an mich etwas wie hundert Zechinen, doch verbiß er ſeinen Grimm und ohne Streit erreichten wir die Stadt. Aber er ließ den Mißmuth an ſeinem feurigen Rappen aus und das ſchaumbedeckte Thier traf am Gemüſemarkt mit den fliegenden Hufen ein Bübchen, welches dem Schul¬ meiſter und der zur Frühmeſſe ziehenden Schule nach¬ trottelte. Wir ſaßen beim Petrocchi ab und nahmen ein Frühſtück. Natürlich war bald auch der Schul¬ meiſter da mit einer feierlichen Jammermiene und for¬ derte für das Schülerlein ein dem Edelmuth und dem hohen Stande des Herrn angemeſſenes Schmerzensgeld. Ruinell aber fuhr den armen Wicht ſo wüthend an, daß mich ein Mitleid überkam und ich mich dazwiſchen legte. So empfing denn ich die volle Ladung und der Oberſt, der ſeiner Sinne nicht mehr mächtig war, ver¬ gaß ſich ſo weit, daß er mich am Wams packte und einen ſchurkiſchen Demokraten ſchalt, der mit dem paduaniſchen Lügenpöbel unter einer Decke ſtecke ...

Das biſt Du auch, herrlicher Jürg , rief der Bäcker dazwiſchen, ſobald das Wort Demokrat ſein Ohr erreichte, denn dieſer Zauberformel hatte er nie wider¬ ſtehen können. Das biſt Du auch! Dein treues Ge¬9*132müth hat es mit dem gedrückten Volke ſtets redlich gemeint!

.... Je gelaſſener ich mich vertheidigte, deſto unbändiger wurde der Raſende. Der Degen ſoll ent¬ ſcheiden, Hauptmann , tobte er, kommt mit mir vors nächſte Thor . Ich beſchwor ihn, wenigſtens bis morgen davon abzuſtehen und mich nicht zu nöthigen gegen meinen Obern zu ziehen. Aber er bedeckte mich mit Schmähungen und nannte es eine Feigheit, wenn ich es nicht auf die Waffen ankommen laſſe. Da endlich, um den ehrrührigen Aergerniß ein Ende zu machen, folgte ich ihm, ungern genug, auf den Wall hinter St. Juſtine. Wir waren ſtattlich geleitet, auch vom Stadthauptmann und ſeinen Sbirren, tapfern Leuten, wie Du Dir's denken kannſt, Lorenz! die ſich mit voll¬ kommener Rückſicht hüteten, in fremde Händel einzu¬ greifen. Draußen aber warf der Unſelige ſich meiner Klinge in ſo blindem Zorne entgegen, daß er ſich nach wenigen Gängen aufrannte.

Brrr , fuhr Fauſch zuſammen, obwohl er dieſen Schluß der Erzählung ahnungsvoll vorausgeſehen hatte. Dann ſetzte er ſich hinter ſein Rechenbuch, das auf einem kleinen Pulte zwiſchen dem Tintenfaſſe und einem um¬ fangreichen, bis auf eine kleine Neige geleerten Kelch¬ glaſe lag und ſchlug bedächtig blätternd eine Seite des¬133 ſelben auf, die den Namen: Oberſt Jakob Ruinell als Ueberſchrift trug. Sie war von oben bis unten mit langen Zahlenreihen bedeckt. Er tunkte die Feder ein und zog zwei dicke Striche kreuzweis über das ganze Blatt. Dann ſetzte er ein Kreuzchen auch neben den Namen und ſchrieb dazu: obiit diem supremum, ulti¬ mus suae gentis und das Datum. Requiescat in pace. Seine Schuld ſei ihm erlaſſen , ſagte er. Man verſenkt den Letzten ſeines Geſchlechts mit Wappen und Helm. Ich begrabe mit dem Ruinell ſeine Rechnung. Bezahlen würde ſie mir doch niemand.

Nun ſchleppe ich auch das noch hinter mir her! ſeufzte der Andere.

Werdet Ihr Euch flüchten? fragte Fauſch.

Nein, ich gehe nicht aus Venedig, ich laſſe mich nicht vom Herzog Rohan hinwegreißen , verſetzte Jenatſch leidenſchaftlich, jetzt, da der Kampf zur Befreiung meines Vaterlandes wieder entbrennen ſoll .

Merkt wohl, Jenatſch , ſagte Fauſch, den Zeige¬ finger an die Naſe legend, mit liſtigem Blicke, der Provveditore hat Euch nicht umſonſt hinüber nach Dal¬ matien geſchickt. Sein Zweck iſt, Euch von Rohan fern zu halten. Ahnt er doch, daß Euer gerades natürliches Weſen im Fluge das Vertrauen des edlen Herzogs ge¬ wänne, und daß Ihr in Bünden ſeine rechte Hand134 werden müßtet. Wegen Eurer ſchon im Jünglingsalter ver¬ richteten demokratiſchen Großthaten ſeid Ihr dem weich¬ lichen Venetianer verhaßt und erſcheint ihm gefährlich.

Himmel und Hölle ſcheiden mich nicht von den Geſchicken meiner Heimat , brauſte Jenatſch auf, und dieſe liegen jetzt in den Händen des Herzogs! Uebri¬ gens , fuhr er bitter lächelnd fort, hat ſich Grimani verrechnet. Ich bin ſchon ſeit Monaten mit dem ge¬ lehrten Herzog in einem militäriſchen Briefwechſel; denn ich habe Ernſt gemacht aus dem Handwerke, Lorenz, das mir einſt die Noth der Zeit aufgedrungen, und von Bünden zeichnet niemand eine beſſere Karte als ich.

Gut , ſagte Fauſch, aber wie denkt Ihr Euch das Nächſte? Ihr habt nach venetianiſchem Kriegsgeſetze das Leben verwirkt, denn es verbietet bei Todesſtrafe ſich mit einem Vorgeſetzten zu ſchlagen.

Bah, es fehlt mir nicht an Zeugen, daß ich knapp nur mein Leben vertheidigt habe , warf der Haupt¬ mann hin. Grimani freilich haßt mich noch von Bünden her, wo er früher, wie Du Dich wohl erinnerſt, venetianiſcher Geſandter war, ſo gründ¬ lich, daß er den Anlaß willkommen hieße, mich in den Canal werfen zu laſſen. Dieſe Luſt aber wird er ſich verſagen müſſen. Ich habe einen Vorſprung von mehreren Stunden. Gleich nach dem Zweikampfe warf135 ich mich zu Pferde und eilte nach Meſtre zurück. Der amtliche Bericht an den Provveditore kann nicht vor Mittag in Venedig ankommen. Das kleine Geſchäft, das mich zu Dir führte, iſt gleich beendigt, dann fahre ich ohne Weiteres nach dem Palazzo des Herzogs am Canal grande. Ich weiß nicht, ob ich dort gerade will¬ kommen ſein werde; aber Schutz und Sicherheit als ſeinem Gaſte verſagt mir der Herzog nicht.

Keinen Schritt aus meiner Bude, Jürg! eiferte Meiſter Lorenz. Der Herzog wird in wenigen Augen¬ blicken hier ſein. Er will drüben bei den Frari den Tizian beſehen. Das hat mir eben ſein Adjutant ge¬ ſagt, der Wertmüller von Zürich, ein gebildeter Menſch, ein feiner Kopf; aber noch grün, grün! Er ſpricht häufig hier ein, um mit mir die öffentlichen Angelegen¬ heiten zu verhandeln und ſich ein geſundes politiſches Urtheil zu bilden. Inzwiſchen hatte er leiſe die Thür etwas geöffnet und ſein großes Geſicht lauſchend an die Spalte gelegt. Sieh, ſieh, fuhr er fort, drüben ſetzen ſich die Bettler ſchon in Bewegung und bilden in rührenden Gruppen auf beiden Seiten Spalier. Der Herzog iſt im Anzuge.

Mit dieſen Worten ſtieß er beide Flügel weit auf. Der dunkle Steinrahmen der Thür umſchloß ein Bild voll Farbenglanz, Leben und Sonne.

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Im Vordergrunde wurden eben an den Ringen der Landungstreppe zwei mit zierlichem Schnitzwerke und wallenden Federſträußen geſchmückte Gondeln befeſtigt. Zwölf junge Gondoliere und Pagen in Roth und Gold, die Farben des Herzogs, gekleidet, blieben zur Hut der Fahrzeuge auf dem von der Mauer grün beſchatteten Canale zurück und kürzten ſich in den Gondeln mit allerlei Scherz und Neckerei die Zeit. Die Herrſchaften waren ausgeſtiegen und hatten ſich die Treppe hinauf nach dem hellen Platze vor der Kirche begeben. Hier ſtanden ſie noch, die Schönheit der Faſſade bewundernd und lebhaft beſprechend.

Leicht zu erkennen an ſeinem vornehmen hagern Wuchs und der würdevollen aber anmuthigen Haltung war der mit calviniſtiſcher Schlichtheit in dunkle Stoffe gekleidete Herzog. Die ſchlanke Dame, die er führte, war nach allen Seiten in beſtändiger Bewegung. Jetzt neigte ſie ſich gefällig einem kurzen unterſetzten Herrn zu, der ihr mit einiger Gravität die gothiſche Archi¬ tektur des Doms zu erklären beſtrebt war. Ein Ge¬ folge von jungen Edelleuten in militäriſcher Tracht hielt ſich in angemeſſener Entfernung und ſetzte mit franzö¬ ſiſcher Lebendigkeit eine Unterhaltung fort, in der offen¬ bar die Maria glorioſa keine Rolle ſpielte. In ihrer Mitte ſtolzirte der kleine kecke Wertmüller und ſchien,137 wie ein kampfluſtiger Sperling ſeinen Raub, eine Theſe gegen alle gewandten Angriffe ſeiner jugendlichen Ge¬ noſſen zu verfechten.

Jenatſch hatte ſich, die Pforte leer laſſend, mit Fauſch etwas in den Hintergrund des Gemaches ge¬ ſtellt, doch dergeſtalt, daß ſein Auge den Platz beherrſchte, und blickte über des Bäckers Schulter mit geſpannter Aufmerkſamkeit auf die Gruppe. Die Erſcheinung des Herzogs feſſelte ſeine ganze Seele. Dies war wieder das ihm unvergeßlich eingeprägte blaſſe Antlitz, in wel¬ ches er einmal vor langen Jahren am Comerſee geſchaut hatte. In dieſem Augenblicke zeigte ihm der Herzog ſeine ſcharf gezeichneten Züge im Profil und der Aus¬ druck langgeübter Selbſtbeherrſchung und ſchmerzlicher Milde, der auf dem etwas gealterten geiſtvollen Ge¬ ſichte unverkennbar vorherrſchte, überwältigte ſeltſamer Weiſe den Bündner wie mit der Macht einer erwachenden alten Liebe. Dieſer Mann, der ihn magnetiſch anzog, der in der Stunde, die über ſein Leben entſchied, einen wunderbaren Einfluß auf ihn geübt, dieſer edle Menſch, an den er ſich immer noch in verborgener Weiſe ge¬ kettet fühlte, hier ſtand er vor ihm und erſchien ihm, als der beſtimmt ſei, in das Loos ſeiner Heimat ent¬ ſcheidend einzugreifen. Rohan hielt wieder die Urne des Schickſals in den Händen.

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Erkennſt Du in dem ſchneeweißen Rundkragen dort, dem anſehnlichen Herrn, der vor der Herzogin ſcharwenzelt, unſern alten Schulkameraden Waſer von Zürich? unterbrach Fauſch den ſtürmiſchen Gedanken¬ flug des Hauptmanns. Seine Manſchetten ſind ſo ſauber und ſchmuck wie vordem ſein Schulheft im Loch.

Richtig! dort ſteht Waſer! Was ſucht der in Venedig? flüſterte Jenatſch.

Da hab 'ich meine Vermuthungen .... Vielleicht hat Zürich irgend eine Rechnung für ſeine Compagnien im Dienſte von San Marco zu ordnen das iſt aber nur Vorwand, ſicherlich und der Fuchs dort hat wohl mehr mit dem franzöſiſchen Herzog als mit dem ge¬ flügelten Löwen zu thun. Das franzöſiſche Heer, das der Herzog auf das Kriegstheater führen wird, ſammelt ſich, ſagt man, im Elſaß und er kann es nur über den Boden der proteſtantiſchen Kantone nach Bünden bringen. Die Herren von Zürich aber berühmen ſich, ihre Neu¬ tralität zwiſchen Frankreich und Oeſterreich ſtreng und peinlich aufrecht zu halten .... Nur durch einen unvor¬ hergeſehenen raſchen Durchbruch könnte ſie vorübergehend perturbirt und die ſcharfſichtigſte Wachſamkeit betrogen werden. Dieſes jeder Vorſicht der Zürcheriſchen Regen¬ ten ſpottende Ereigniß kartet ihr braver Kanzler dort mit dem Herzog ab .

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Vortrefflich! ſagte Jenatſch, den Degen um¬ ſchnallend, aber nun zu unſerm Geſchäft!

Er zog Brieftaſche und Beutel hervor.

Dieſe zweihundert Zechinen ſind Dein, Fauſch , und er ſteckte ihm eine Rolle zu, für Gaul und Har¬ niſch. Meine übrige dalmatiſche Beute hier iſt ſie in Briefſchaften und Gold bring mir bei dem Wechſler a Marca in Sicherheit. Ich hoffe die Bleidächer zu ver¬ meiden; aber es iſt gut auf Alles gefaßt zu ſein. Addio.

Fauſch ergriff mit Wärme die dargebotene Hand und ſagte: Lebe wohl Jürg, Du mein Stolz .

Drittes Kapitel.

Auch der Hauptmann trat durch die Pforte der Maria glorioſa. Er ſah ſich mit einem ſchnellen Blicke um, und wandte ſich dann unbemerkt links unter die hohen Bogen des Seitenſchiffs, in deſſen Mitte die Geſellſchaft des Herzogs ein Altarblatt betrachtete. Langſam vorſchreitend näherte er ſich der Gruppe.

Der Herzog ſchien gedankenvoll in das Bild ver¬ tieft, während ihm ſeine Gemahlin mit entzückten Ge¬ berden und einem Strome von Worten ihre Bewunde¬ rung des von ihr bis jetzt ungenoſſen gebliebenen Mei¬ ſterwerks ausdrückte. Einen Schritt abſeits ließ ſich Herr Waſer von dem hinter ihm ſtehenden Küſter mit leiſer Stimme die verſchiedenen Figuren des Bildes er¬ klären und ſchrieb deren Namen in feiner Schrift über die Köpfe einer in Kupfer geſtochenen winzigen Kopie, die er aus ſeiner Brieftaſche gezogen hatte.

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Die edle Familie Peſaro, erläuterte in gedämpf¬ tem ſingenden Tone der Küſter, während um ſeine Füße ſchmeichelnd ein weißes Lieblingskätzchen ſtrich, das, ebenſo heimiſch im Dom wie ſein Meiſter und ebenſo ſcheinheilig wie er, ihm auf Schritt und Tritt folgte, die edle Familie Peſaro, der allerheiligſten Madonna vorgeſtellt durch die Schutzpatrone St. Franziskus, St. Petrus und St. Georg. Hier verbeugte er ſich gegen die Heiligen und machte eine ehrerbietige Pauſe. Dann bat er im Flüſtertone, auf das dem Beſchauer zugewandte lieblich blaſſe Köpfchen der jüngſten, höch¬ ſtens zwölfjährigen Peſaro hinweiſend, den aufmerkſamen Herrn Waſer, eine wunderſame Eigenſchaft ihrer durch¬ ſichtigen braunen Augen nicht außer Acht zu laſſen. ... Dieſe zaubervollen Blicke, Herr, richten ſich un¬ verwandt auf mich, von woher ich immer das ſüße kleine Fräulein beſchaue. Sie begrüßen mich, wenn ich zum Altar trete, und wohin ich immer geſchäftig mich wende, die leuchtenden Sterne verlaſſen mich niemals .

Während Herr Waſer ſeine Stellung zu wieder¬ holten Malen wechſelte, begierig zu erfahren, ob ſich dieſe Behauptung auch zu ſeinen Gunſten erprobe, wurde das Intereſſe der jungen Edelleute, welche ſich, um die Herzogin ungeſtört ihrem Kunſtgenuße zu über¬142 laſſen, etwas im Hintergrunde hielten, durch ein anderes Augenſpiel angezogen. Die Blicke, die ſie feſſelten, waren nicht die wunderbaren des von Tizian gemalten Kindes, auch durfte der Küſter ſich nicht erſt bemühen, ſie auf dieſen natürlichen Zauber aufmerkſam zu machen. Am Fuße des nächſten Pfeilers knieten ein paar Vene¬ tianerinnen. Jugendlich weiche Geſtalten! Durch die das Angeſicht verhüllenden ſchwarzen Spitzenſchleier ſchienen ſchwärzere Brauen und Wimpern und flogen Blicke, deren ſchmachtendes Feuer zwiſchen der Himmels¬ königin und ihren kriegeriſchen Beſchauern ſich theilten. Nicht zu Ungunſten der Letztern, die ihrerſeits den Dank nicht ſchuldig blieben.

Wie ſchön wäre dieſe Gruppe, ſagte jetzt die ebenſo kunſtbegeiſterte als gut proteſtantiſche Herzogin, indem ſie den Arm erhob und mit dem geöffneten Fächer die Madonna mit den drei Heiligen ihrem Blicke ver¬ deckte. Wie ſchön wäre dieſe Gruppe, wenn die gottes¬ fürchtige Familie ihre Andacht ohne die Vermittlung dieſes obern Hofſtaates vor den Thron des Unſicht¬ baren brächte!

Ihr ſprecht als gute Proteſtantin, lächelte der Herzog, aber ich fürchte, Meiſter Tiziano wäre nicht mit Euch zufrieden. Ihr müßtet ſchließlich über die ganze heilige Kunſt den Stab brechen; denn unſer143 Himmel und was darinnen iſt läßt ſich nicht mit Linien und Farben darſtellen.

Bei den Worten der Herzogin wagte es der kleine Wertmüller hinter dem Rücken der Dame ſeinem Lands¬ manne Waſer einen ſpöttiſchen Blick zuzuwerfen, worüber dieſer in Entſetzen gerathen wäre, wenn nicht Beide nun plötzlich den Fremden wahrgenommen hätten, wel¬ chem Wertmüller ſchon eine Stunde früher auf der Schwelle des Zuckerbäckers begegnet war.

Für den heiligen Georg, gnädigſte Frau, muß ich ein Wort einlegen, ſagte jetzt, aus dem Schatten tre¬ tend und vor der Herzogin ſich verbeugend, Hauptmann Jenatſch. Ich bin ein erprobter Proteſtant; wenig¬ ſtens habe ich für die reine Lehre geblutet; doch zu St. Jürg, meinem Namenspatron, halt 'ich jeweilen Andacht. Der heilige Drachentödter befreite vor Zeiten mit ſeiner tapfern Lanze das kappadociſche Königstöch¬ terlein. Ich aber weiß ein viel beklagenswertheres Weib, das an den ſtarren Felſen geſchmiedet und von den Krallen eines feuerſpeienden Drachen zerfleiſcht, den vom Himmel geſandten Retter mit Sehnſucht erwartet. Die edle Magd, ſie iſt mein armes Vaterland, die Re¬ publik der drei Bünde; der ſie aber aus den Klauen des ſpaniſchen Lindwurms reißen wird, ihr ſiegreicher St. Georg, ſteht leibhaftig vor mir.

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Ihr ſeid ein Bündner? ſagte der Herzog, an¬ genehmer berührt durch die hinreißende Wärme des Re¬ denden als durch die ſtark aufgetragene Schmeichelei, die der Herzogin ein gewogenes Lächeln entlockt hatte. Irr 'ich mich, oder ſeid Ihr der Hauptmann Georg Jenatſch?

Dieſer verneigte ſich bejahend.

Ihr habt aus Zara an mich geſchrieben, fuhr der Herzog fort. Aus den Antworten meines Adju¬ tanten Wertmüller, und er ſtellte dem Hauptmann den ſchmächtigen Zürcher vor, der des Bündners Auftreten nicht ohne Mißtrauen ſcharf beobachtet hatte und bei der Nennung ſeines Namens nun hinzutrat, aus Wert¬ müllers Antworten habt Ihr erſehen, daß Eure Mit¬ theilungen über die Zuſtände Eures Vaterlandes mir alle Beachtung zu verdienen ſcheinen und die beigelegten Karten mir von Nutzen waren. Wäre meine Zeit durch die Vorbereitung des Feldzuges nicht vollſtändig auf¬ gezehrt, ſo hätt 'ich mir nicht verſagt, Euch perſönlich meine Zuſtimmung in den meiſten Fällen, in andern meine Zweifel und Einwürfe mitzutheilen. Um ſo will¬ kommener iſt mir nun Eure Gegenwart in Venedig. Mehr als einmal, ſeit ich in brieflichen Verkehr mit Euch getreten, hab' ich mich bei meinem Freunde, dem Provveditore Grimani um Eure Rückberufung aus Dal¬145 matien verwendet. Immer vergeblich. Ich erhielt die Antwort, Ihr wäret dort unentbehrlich. Eure Gegen¬ wart überraſcht mich. Was iſt der Grund Eurer be¬ ſchleunigten Rückkehr?

Größtentheils mein glühender Wunſch, Euch zu ſehen, erlauchter Herr, und mein Eifer Euch zu dienen, ſagte Jenatſch. Dies Verlangen ſtärkte meine Erfin¬ dungskraft und ließ mich zur Erreichung des Ziels die kühnſten Mittel ergreifen. Meine Aufgabe in Zara iſt gelöſt, und wenn ich nach Venedig zurückeilte, bevor der Provveditore mir eine neue Herkulesarbeit auf irgend einer fernen Inſel ausſann, ſo wird es Euch leicht werden, wofern Ihr mir geneigt ſeid, dieſe Dienſt¬ unregelmäßigkeit in ein günſtiges in ihr wahres Licht zu ſtellen und bei meinem Vorgeſetzten zu ent¬ ſchuldigen.

Der forſchende Blick des Herzogs verſenkte ſich eine Weile in das feurige Geſicht des Bündners, das für ihn mit irgend einer fernen Erinnerung zuſammenhing; doch dieſer Blick wurde immer wohlwollender, beſtochen durch die innige Bitte der finſter beſchatteten Augen.

Während dieſes Geſprächs hatte ſich die Geſell¬ ſchaft dem Ausgange zubewegt. Der Küſter hob den ſchweren Damaſtvorhang der Pforte und empfing mit devoten Bücklingen das Goldſtück des Herzogs und dieMeyer, Georg Jenatſch. 10146ſorgfältig in ein Papier gewickelte Gabe des Herrn Waſer.

Ein gutes Wort bei Grimani für Euch einzu¬ legen, Signor Jenatſch, das werd 'ich mir noch heute angelegen ſein laſſen, ſprach der Herzog, als ſie draußen in der ſonnigen Luft ſtanden. Er ſpeiſt bei mir. Dieſen Abend, nachdem Ihr mir Zeit gelaſſen habt, ihn zu Euren Gunſten zu ſtimmen, ſtellt Euch bei mir ein, ich habe dann Muße, mich mit Euch über Eure Angelegenheiten zu unterhalten. Die Intereſſen Eures Vaterlandes ſind auch die meinigen. Ich erwarte Euch zu früher Abend¬ ſtunde in meiner Wohnung am Canal grande. Wert¬ müller, rief er, bis dahin begleitet den Hauptmann. Ihr haftet mit Eurer Liebenswürdigkeit dafür, daß mein Gaſt nicht anderwärts in dem verlockenden Vene¬ dig gefeſſelt wird. Unterhaltet ihn geiſtreich, bewirthet ihn ſtandesgemäß und bringt mir ihn pünktlich.

Die Herzogin war ſchon huldvoll grüßend in eine der harrenden Gondeln getreten. Nun ſchied auch der Herzog und nur Waſer, welcher mit einigen Herren des Gefolges die zweite zu benutzen Willens war, blieb noch einen Augenblick zurück.

Er hatte die Unterredung des Herzogs mit ſeinem Jugendgenoſſen, den er eine Reihe von Jahren aus den Augen verloren, nicht ſtören wollen. Auch hatte er147 nicht ungern die Erkennungsſcene um einen Moment hinausgeſchoben, den er benutzte, um ſich in Jürgs ge¬ genwärtiger Geſtalt zurecht zu finden. Seit jenem hoffnungsloſen Abſchied in Zürich waren nur zufällige und verworrene Nachrichten von Jenatſch und deſſen Schickſalen in verſchiedenen proteſtantiſchen Heeren an ſein Ohr gelangt; und im Laufe der Zeit hatte ſich Jürgs Bild in Waſers Seele zu einer unbeſtimmten und räthſelhaften Traumfigur verzogen.

So drückte er ihm denn freundſchaftlich, aber etwas förmlich und verlegen die Hand und beſchränkte ſich darauf, angelegentlich nach ſeinem gegenwärtigen Befin¬ den und jetzigen Range ſich zu erkundigen. Dann be¬ ſtieg auch er die Gondel und die beiden Offiziere ſtan¬ den ſich auf dem Campo dei Frari allein gegenüber.

Wenn es Euch genehm iſt, Herr Hauptmann, begann Wertmüller, erfülle ich von meinen drei Auf¬ trägen den mittleren zuerſt und führe Euch auf den Markusplatz in das von mir erprobte und gutgeheißene Gaſthaus zu den Spiegeln. Hernach luſtwandeln wir ein Stündchen in den Arkaden unter den venetianiſchen Schönheiten. Erfreut ſich dieſes Programm der Zu¬ ſtimmung des Herrn Kameraden?

Der ſtreng wiſſenſchaftlich geſchulte, ehrſüchtige Wert¬ müller glaubte ſich die vertrauliche Anrede dem älteren,10*148aber in regelloſer Laufbahn vorgedrungenen Kriegsmanne gegenüber erlauben zu dürfen.

Wie Ihr meint, Wertmüller, ſagte Jenatſch an¬ ſcheinend mit heiterer Einwilligung, doch ſchlag 'ich zu¬ erſt noch eine kleine Spazierfahrt vor, nach Murano?

Dieſe laut mit fröhlicher Stimme geſprochenen Worte wurden augenblicklich von zwei Gondolieren auf¬ gefangen, die im Vorüberfahren die beiden Offiziere auf dem Campo erblickt und an der Landungstreppe auf die glänzende Beute gelauert hatten. Schon hatten ſie ihr leichtes offenes Fahrzeug von der Mauer gelöſt und die Ruder ergriffen.

Der Hauptmann ſprang raſch in die Gondel und Wertmüller folgte.

Viertes Kapitel.

Der Auftrag des Herzogs war der unruhigen Neu¬ gier des jungen Zürchers in hohem Grade willkommen.

In ſeiner Heimat hatte er vordem den bündne¬ riſchen Parteiführer aufs Verſchiedenſte beurtheilen hören. Auf den lärmenden Zunftſtuben der Handwerker galt damals Jürg Jenatſch als ein volksthümlicher Held, in den landesväterlichen diplomatiſch gefärbten Kreiſen als ein gewiſſenloſer, blutbefleckter Abenteurer. Aber Ru¬ dolf Wertmüller hatte ſeiner Heimat frühzeitig den Rücken gewandt, um einen militäriſchen Bildungsgang anzutreten, der den Begünſtigten ſchon mit ſechszehn Jahren in das Kriegsgefolge und die perſönliche Nähe des edeln Herzogs Heinrich geführt hatte.

Noch war ihm gegenwärtig, wie einſt die un¬ glaubliche Verwegenheit und Zähigkeit, welche Jenatſch in den Volkskämpfen gegen die Spanier bewieſen, ſeine150 junge Phantaſie beſchäftigte. Doch aus noch früherer Zeit erinnerte er ſich auch, daß der wilde Antheil des pro¬ teſtantiſchen Prädikanten an den ruchloſen demokratiſchen Strafgerichten mit ihren Erpreſſungen und politiſchen Morden in ſeiner Familie Abſcheu erregt hatte, und daß es ihm beſondern Spaß gemacht, als ſein Präcep¬ tor darüber wehklagend die Hände gen Himmel erhob.

Daneben ſchwebte ihm ein anderes Erlebniß ſeiner Kinderjahre mit friſcheſter Deutlichkeit vor. Am ſtädti¬ ſchen Jahrmarkte ſtand er einſt mitten in der geſpannt lauſchenden Volksmenge vor dem Schauergemälde eines Bänkelſängers und lauſchte den endloſen Verſen einer tragiſchen Mordgeſchichte. Die ruckweis wandernde Gerte des Leiermanns wies auf die Szenen einer mit den grellſten Farben bemalten Tafel. Auf dem Mittel¬ ſtück umſtanden die ſogenannten drei bündneriſchen Telle ihr nur mit dem Hemde bekleidetes, aus einem Schlot heruntergeriſſenes Opfer, den unglücklichen Herrn Pom¬ pejus. Einer von ihnen ſchwang ein langgeſtieltes Fleiſcherbeil das war der berühmte Pfarrer Jenatſch! Als dann der aufgeregte Knabe beim Abendbrot vor ſeinem Stiefvater, dem Oberſten Schmid, von den neuen Tellen erzählte, verbot ihm dieſer zornroth, der blut¬ dürſtigen Canaillen in ſeiner Gegenwart Erwähnung zu thun.

151

Jetzt ſchaute er dieſer Perſönlichkeit von beſtritte¬ nem Werthe Aug 'in Auge und ſie war anders, als ſie in ſeiner Vorſtellung gelebt hatte. Statt der rohen und zweideutigen Erſcheinung eines geiſtlichen Demago¬ gen ſaß ein weltgewandter Mann mit der Sicherheit und Freiheit des Cavaliers in Wort und Bewegung vor ihm. Von der ungewöhnlichen militäriſchen Be¬ gabung des ehemaligen Pfarrers hatte ihn der im Na¬ men des Herzogs mit dieſem geführte Briefwechſel ge¬ nügend überzeugt, aber was ihn überraſchend berührte, war ein gewiſſer Zauber der Anmuth, der die kühnen Züge und warmen Worte des Bündners verſchönt hatte, als dieſer mit dem Herzog ſprach. Der nichts weni¬ ger als argloſe Zürcher fragte ſich, ob dieſe Herzlichkeit ächt ſei. Ja, ſie ſprudelte voll und natürlich, aber es war ihm nicht entgangen, daß die unausbleibliche Wir¬ kung dieſes warmen Eindringens auf den Herzog eine gewollte, vielleicht im Voraus berechnete war.

Nachdem die Gondel einige ſchmale Waſſergaſſen durchglitten, folgte ſie auf kurze Zeit der Hauptader des venetianiſchen Verkehrs, dem Canal grande, wo in der Ferne mitten im Gewimmel der Gondeln und Fi¬ ſcherbarken noch das langſam und ſtolz dahinziehende Fahrzeug des Herzogs ſichtbar war; dann, aufs Neue in die Schatten enger Lagunen ſich vertiefend, eilte152 ſie der die Stadt nördlich begrenzenden ſtillen Meer¬ fläche zu.

Ihr fochtet in Deutſchland, Hauptmann, bevor Ihr der Republik von San Marco Eure Dienſte an¬ geboten habt? begann der ungeduldige Wertmüller das Geſpräch, da ſein Gefährte eigenen Gedanken nachzu¬ hangen ſchien.

Unter Mansfeld. Dann folgte ich der ſchwedi¬ ſchen Fahne bis zu dem unſeligen Tage von Lützen, war die zerſtreute Antwort.

Unſelig? Es war eine entſchiedene Victorie! meinte der junge Offizier.

Wäre es doch lieber eine Niederlage geweſen und hätten zwei ſtrahlende Augen ſich nicht geſchloſſen! ſagte der Bündner. Durch den Tod eines Mannes ward die Weltlage eine andere. Unter Guſtav Adolf war der Krieg kein muthwilliges Blutvergießen: er führte ihn für ſeinen großen Gedanken, zum Schutze der evan¬ geliſchen Freiheit ein ſtarkes nordiſches Reich zu grün¬ den, und ein ſolches Reich wäre der Halt und Hort aller kleinen proteſtantiſchen Gemeinweſen, auch meines Bündens, geworden. Dies erſehnte Ziel iſt uns mit dem großen Todten entrückt und der ſeiner Seele be¬ raubte Krieg entartet zur reißenden Beſtie. Was bleibt übrig? Zweckloſes Morden und habgierige Theilung der153 Beute. Unter Guſtav Adolfs Fahne konnte ein Bünd¬ ner freudig fechten; Blut und Leben für die proteſtan¬ tiſche Sache verſtrömend, war er ſicher, daß es in Segensbächen zurückrinne in ſein kleines Vaterland. Jetzt ſehe Jeder zu, daß er heimkehre und für das Seine ſorge.

Glaubt Ihr denn, daß ein einzelner Mann, und wäre er Guſtav Adolf, ſo ſchwer in der Schickſalswage der Welt wiege? fragte raſch der widerſpruchsluſtige Wertmüller. Die Eiferſucht der deutſchen Fürſten hätte wie ein Geſchling von Sumpfpflanzen ſeinen Fuß gehemmt, ſein neidiſcher Bundesgenoſſe Richelieu hätte ihn, ſobald er die Hand nach der deutſchen Krone aus¬ ſtreckte, argliſtig zu Falle gebracht und erreicht hätte er nichts, als das Zuſammenkrachen der alten verroſteten Maſchine des heiligen römiſchen Reichs. Im Grunde erſcheint mir der Schwedenkönig als ein frommes Ge¬ genſtück zum Wallenſtein. Dieſer wird als gottloſer Empörer ſchwarz wie der Teufel an die Wand gemalt und jener iſt im Geruch der Heiligkeit geſtorben; meines Erachtens aber haben beide unberechtigter Weiſe der Welt ihre willkürlichen Pläne aufgedrängt und beide ſind wie feurige Meteore nach kurzem Glanze erloſchen. Heute geht nun das Räderwerk der Welt wieder ſeinen geregelten Gang, wir rechnen wieder mit den gebräuch¬154 lichen Zahlen und nach den bekannten Geſetzen. Frank¬ reich und Schweden verſchaffen den deutſchen Proteſtan¬ ten die von ihnen ſo heftig begehrte evangeliſche Frei¬ heit, aber die beiden Gönner werden ſich dieſen Liebes¬ dienſt mit fetten Stücken deutſchen Landes nach Gebühr bezahlen laſſen.

Wie, junger Freund, ſprach der Bündner auf¬ merkſam werdend, von ſchmählichem Länderraube muß ich Euch reden hören wie von alltäglichem Schacher? Euch, einen Schweizer! Schämt Euch, Wertmüller, ... müßt 'ich ſagen, wenn ich es für Euren Ernſt hielte! Und das nennt Ihr den geregelten Lauf der Dinge? Ihr anerkennt das Recht des Stärkern in ſeiner rohe¬ ſten ſeelenloſeſten Geſtalt und leugnet ſeine göttliche Erſcheinung in der Macht der Perſönlichkeit?

Hier blickte Wertmüller mit einem unmerklichen Zuge des Hohns zu ihm auf und ließ einen leiſen Pfiff hören. Die vor ihm ſitzende nach ſeinen Be¬ griffen immerhin ſchwankende und zweideutige Perſön¬ lichkeit ſchien ihm wenig berufen, in die Weltgeſchicke einzugreifen.

Der andere aber maß ihn mit einem zornigen Blicke. Ihr mißverſteht mich kläglich, ſagte er, wenn Ihr meint, ich denke an die vom Boden abgelöſte Per¬ ſönlichkeit des einzelnen Mannes, wie ſie entwurzelt155 und eigenſüchtig ſich umhertreibt; ſondern ich rede von der Menſchwerdung eines ganzen Volkes, das ſich mit ſeinem Geiſte und ſeiner Leidenſchaft, mit ſeinem Elende und ſeiner Schmach, mit ſeinen Seufzern, mit ſeinem Zorn und ſeiner Rache in mehrern, oder meinetwegen in einem ſeiner Söhne verkörpert und den welchen es beſitzt und beſeelt zu den nothwendigen Thaten be¬ vollmächtigt, daß er Wunder thun muß, auch wenn er nicht wollte! ...

Blickt umher! Seht Euer und mein kleines Vater¬ land, wie es zuſammengedrückt wird von der Wucht ringsum ſich bildender großer Monarchien und ſprecht! Genügt da, wenn wir ein ſelbſtändiges Leben behaup¬ ten wollen, eine gewöhnliche Vaterlandsliebe und ein haushälteriſches Maß von Opferluſt? ...

Dieſe mit der Heftigkeit eines verwundeten Ge¬ fühls hervorſtürzenden Worte ließ der Locotenent an¬ fangs ohne Entgegnung. Er ſpielte mit ſeinem jungen ſpitzen Kinnbarte und ſchaute nach der Stadt zurück, wo ſich auf dem in dieſem Augenblicke hervorragendſten Bauwerke, der neuen Jeſuitenkirche, die effektvolle Sta¬ tuengruppe des Daches von der Rückſeite in den wun¬ derlichſten Verkürzungen zeigte. Die von eiſernen Stangen geſtützten Engel und Apoſtel mit ihren Flügeln156 und flatternden Mänteln erinnerten auffallend an koloſ¬ ſale geſpießte Schmetterlinge.

In Zürich, warf er jetzt hin, ſind die Men¬ ſchen ſo klein wie die Verhältniſſe, und Bünden, haltet es mir zu gut, Hauptmann, kenne ich bis jetzt nur durch mein Fachſtudium, das heißt als eines der intereſſante¬ ſten Operationsfelder. Wollt Ihr dort den Leonidas ſpielen, und mit mehr Glück als der erſte, ſo will ich's Euch nicht neiden. Ich aber meine, das Auftauchen außerordentlicher Menſchen und das Aufflackern großer Leidenſchaften, das bei der mißlichen Beſchaffenheit der menſchlichen Natur doch einmal nicht von Dauer iſt, reiche nirgends aus. Um aus den durcheinandergewür¬ felten Elementen der Welt etwas Planvolles zuſammen¬ zubauen, braucht es meines Bedünkens kältere Eigen¬ ſchaften: Menſchenkenntniß, will ſagen Kenntniß der Drähte, an welchen ſie tanzen, eiſerne Disziplin und im Wechſel der Perſonen und Dinge feſtgehaltene In¬ tereſſen. Aus dieſem Geſichtspunkte muß ich Jene dort als Meiſter loben! und er wies mit einer komi¬ ſchen, zwiſchen Ernſt und Spott ſchillernden Miene hinüber nach dem Prachtgiebel der Jeſuiten.

Und der Locotenent ließ ſich von der Muße und Laune des Augenblickes verlocken, eine Lobrede auf den berühmten Orden zu halten, welche aus dem Munde157 des Zürchers und eines Adjutanten des kalviniſtiſchen Herzogs den gelaſſenſten Zuhörer befremden mußte.

Erſt begann er mit einzelnen Probewürfen. Als aber der Hauptmann, den zu reizen und bloßzulegen er ſich heute zur beſondern Aufgabe gemacht hatte, den Ball nicht auffing und zurückſchickte, ſetzte er den from¬ men Vätern immer phantaſtiſchere Kronen auf. Sie waren es, behauptete er dreiſt, die zuerſt Sinn und Verſtand in die ſich widerſprechenden, menſchen - und ſtaatsfeindlichen Lehren des unvermittelten Chriſtenthums gebracht hatten. Erſt durch die Umarbeitung der chriſt¬ lichen Moral, die der kluge Orden unternommen, ſei dieſe annehmbar, ja verlockend geworden. So hätten die unvergleichlichen Väter etwas urſprünglich Dunkles, Unberechenbares, Weltfeindliches mit erſtaunlicher Ge¬ ſchicklichkeit praktiſch verwerthet und allen Bedürfniſſen und Bildungsſtufen angepaßt.

Kennt Ihr das Innere ihrer neuen Kirche? fragte er plötzlich, ſie iſt, meiner Treu, ſo luſtvoll und heiter eingerichtet, wie ein Theater.

Der Bündner ließ dieſes kecke und ſprunghafte Geplauder ſchweigend über ſich ergehen, wie die große Dogge, die in ihrer Hütte liegt, ungern, aber nur mit leiſem Knurren die Neckerei eines unterhaltungsluſtigen158 kleinen Kläffers erträgt, der als überläſtiger Gaſt zu ihr hineingekrochen iſt.

Die Gondel hatte inzwiſchen Murano erreicht, wo ſie unſern der Kirche anlegte.

Jenatſch wandte ſich nach der nächſten Locanda, forderte ein einfaches Mal und entſchuldigte ſich bei ſeinem Gefährten, er ſei abgeſpannt und hungrig von der geſtrigen Seereiſe und einem ſcharfen nächtlichen Ritte nach Padua. Er ſchlage vor, hier im Anblicke des Meeres eine Stunde zu raſten und diesmal auf die Malzeit in den Spiegeln und die Venetianerinnen auf dem Markusplatze zu verzichten.

Wertmüller, der ſowohl durch dieſen Tauſch der Mittagstafel als durch das beharrliche Schweigen des Bündners etwas verſtimmt war, erging ſich, die Koſten der Unterhaltung allein beſtreitend, in immer willkür¬ lichern Gedankenſprüngen. Er kam, wie geſtachelt durch einen geheimen Groll, von Neuem auf ſeine Vater¬ ſtadt zu ſprechen und da der Bündner ſich der edlen Zürich und ſeines dortigen Jugendfreundes Waſer nur zu rühmen hatte, ſo riß den Locotenenten der Wider¬ ſpruch und der feurige illyriſche Wein ſo weit fort, daß er von den angeſehenſten heimiſchen Perſönlichkeiten frevelhafte Zerrbilder entwarf und bei der dritten Flaſche Seine Geſtrengen den Herrn Bürgermeiſter einen Gockel159 auf dem Miſt und Seine Hochwürden den Herrn An¬ tiſtes einen ſteif gehörnten Farren nannte.

Der Hauptmann, der dieſe tollen und geſchmack¬ loſen Ausfälle der Eingebung des Weines zuſchrieb, wie ſie ſich bei dieſer ehrgeizigen und auf jedes fremde Verdienſt eiferſüchtigen Natur äußerte, ließ den jungen Offizier, der den Gegenſtand nicht erſchöpfen konnte und dem darüber die Zeit verging, ſeine Laune weidlich tummeln und blieb dabei, Zürich habe in den letzten gefahrvollen Zeiten ebenſo viel Klugheit als Feſtigkeit gezeigt und wenn es ſich mit dem Schilde vorſichtiger Neutralität gedeckt, ſei das, wie der Schweiz, ſo Grau¬ bünden zu Statten gekommen.

Dann trat der in Venedig ſich unſicher fühlende Bündner, welcher, ohne daß Wertmüller es ahnte, Allem was im Bereiche ſeines geübten und weittragenden Auges ſich begab, die ſchärfſte Aufmerkſamkeit zuwandte und auch in dieſer abgelegenen Locanda keine Raſt fand, hinaus an den ſchmalen Strand, ohne auf Wertmüllers ſpöttiſches Gelächter zu achten.

Neutralität! rief dieſer dem Hauptmann in die Gondel nachſpringend aus. Da hat mir der Witz des Zufalls ein Zettelchen in die Hand geſpielt, das für unſere aufrichtige, ſtreng abgewogene Neutralität und nebenbei für unſre ſchlichte Bürgertugend ein rüh¬160 rendes Zeugniß ablegt. Die Gleißner und Phari¬ ſäer! ... Wollt Ihr wiſſen, Hauptmann, was jeder unſrer Rathsherren und Zunftmeiſter werth iſt? Ich hatte neulich im Namen meines Herzogs, ſagte er, ſeine Brieftaſche hervorziehend, dem franzöſiſchen Ge¬ ſandten in Solothurn ein Heft zu überſchicken, worin ihm ſein Verhalten in den verſchiedenen Möglichkeiten des bevorſtehenden Feldzuges im Veltlin von meinem Herrn vorgezeichnet wurde und erhielt es mit Rand¬ bemerkungen und Einlagen der Geſandtſchaft zurück. Seht hier, was ich in Form eines zufällig ſtecken ge¬ bliebenen Buchzeichens zwiſchen den Blättern fand! Er entfaltete einen ſchmalen Papierſtreifen, auf dem eine Reihe von Namen zürcheriſcher Standesperſonen verzeichnet ſtand mit beigeſetzten höhern und niedrigern Zahlen, neben welchen das verrätheriſche Livreszeichen unverkennbar zu leſen war. Das Ganze ſtellte freilich eine nur unbedeutende Summe dar.

Diesmal konnte ſich Jenatſch eines herzlichen Lachens nicht enthalten. Das geſteh 'ich! Eine großartige Beſtechung! ſpottete er. Wer konnte das ahnen! Aber gerade daß ſie dieſes Taſchengeld ſo verſchämt und vorſichtig einſtecken, das dürfen wir als einen ganz an¬ ſtändigen Reſt von Tugend nicht unterſchätzen. Unſre Salis und Planta nehmen ausländiſches Gold mit161 edler Unbefangenheit am hellen Tage, auch ſind es ganz andere Summen.

Während Wertmüller noch die Papiere ſeiner über¬ füllten Brieftaſche muſterte, durchlief Jenatſch mit eini¬ ger Spannung die unrühmliche Liſte, auf welcher er zu ſeiner Befriedigung den Namen Waſer nicht fand. Jetzt zerriß er ſie plötzlich in kleine Stücke. Erſt als die weißen Fetzen ſchon fern auf der von der Abendbriſe bewegten Fluth ſchwebten, ward Wertmüller ſeinen Ver¬ luſt gewahr und hielt mit Mühe einen Ausbruch ſeines Aergers zurück.

Jenatſch erklärte ihm ruhig, er habe als Freund ſein Beſtes wahrgenommen, dies Papier würde ihm und Andern nichts als Verdruß gebracht haben. Zürich ſei ſeine Wiege und Sohnespflicht ſei's, die kleinen Schwächen einer treuen Mutter zu verheimlichen.

Was mich abhielt, Euch auf die Finger zu ſehen, Hauptmann, war dieſer Brief, ſagte der Locotenente. Er iſt noch uneröffnet, wie ich gewahre, und ſteckt ſchon ſeit drei Tagen in meiner Brieftaſche. Ich habe wahr¬ haftig vergeſſen, ihn zu leſen. Geſtattet mir, in Eurer Gegenwart das Siegel zu brechen. Er kommt von meinem Vetter, der in Mailand trotz ſeines Proteſtan¬ tismus als Handelsherr gute Geſchäfte macht und beim Gubernatore Serbelloni in Gunſten ſteht. Erlaubt mir,Meyer, Georg Jenatſch. 11162in Eurer Gegenwart von dem Inhalte des Schreibens Kenntniß zu nehmen.

Jenatſch winkte bejahend und Wertmüller vertiefte ſich eine geraume Weile in den Brief, erſt um ſich Haltung zu geben, denn das eigenmächtige Thun des Hauptmanns hatte ihn beleidigt, nach und nach mit immer größerem Intereſſe.

Eine glorioſe Geſchichte! Beim Jupiter, eine alte Römerin! rief er endlich aus. Ich kann Euch das nicht vorenthalten, obgleich Ihr eben, Hauptmann, mein kameradſchaftliches Vertrauen hinterliſtig mißbraucht habt! Um ſo weniger da Euch das Ereigniß ſo zu ſagen perſönlich angeht, denn die Hauptrolle hat eine Bündnerin! Mit den Worten dieſer Krämerſeele, ich meine den Briefſteller, meinen langweiligen Vetter, mag ich es Euch freilich nicht mittheilen, es wäre Schade darum! Erlaubt mir, Euch die ſeltene Hiſtorie frei vorzutragen. Alſo:

In Mailand lebt, wie Euch nicht unbekannt ſein wird. Euer alter biſſiger Herr Rudolf, der Planta von Zernetz mit ſeinem gleichnamigen die brave Bärentatze mit Unehren im Wappen führenden Sohne in den ärm¬ lichſten Umſtänden. Jener intriguirt und ſpeiſt bei dem Gubernatore und dieſer treibt ſich mit deſſen Neffen in den eines weiten Rufs genießenden Spielhäuſern163 und Spelunken der Stadt herum. Die zwei jungen Geſellen ſind von der gleichen Gemüthsart, und wäh¬ rend der alte Planta vom Oheim mit politiſchen Hoff¬ nungen kärglich genährt wird, erhält der junge vom Neffen, dem ein Gefährte ſeiner Tollheit erwünſcht und ein waffenkundiger Gehilfe ſeiner nicht über jeden Zwei¬ fel erhabenen Tapferkeit unentbehrlich iſt, reichliche Mittel zum ausgiebigen Genuſſe der Gegenwart. Da¬ für wollte ſich der Knabe Rudolf dankbar erweiſen, und da es ihm an Herz und Geiſt fehlt, um ſeinem frei¬ gebigen Freunde einen ehrenvollen und guten Dienſt zu leiſten, verfiel er auf einen ſchlechten und ſchimpflichen. Bei dem alten Planta, der einen verfallenen Palaſt im einſamſten Stadtquartiere bewohnt, hatte eine verwaiſte Nichte, ich weiß nicht von welcher geächteten Seitenlinie des Hauſes, Zuflucht gefunden. Dies Mädchen, eine ſeltene Schönheit, ſoll auf einen großen Beſitz in Bün¬ den gerechten, aber unter den gegenwärtigen politiſchen Umſtänden unſichern Anſpruch haben, und wurde um dieſer Ausſicht willen von dem alten Rudolf ſeinem Sohne zur Frau beſtimmt. Lucretia jedoch iſt edlen Sinnes und verſchmäht den nichtswürdigen und unnützen Geſellen. Nun mag Rudolf, um auf einen Wurf ſeinen Groll zu kühlen und ſeine Schuld abzutragen, mit dem jungen Serbelloni, dem die nur in der Kirche ſichtbare11*164bündneriſche Schönheit als das höchſte Gut erſchien, einen niederträchtigen Handel abgeſchloſſen haben. Ge¬ nug, in einer Nacht, da der alte Rudolf beim Guber¬ natore, der junge im Spielhaus ſitzt und Lucretia mit einer bejahrten lombardiſchen Dienerin in dem öden Hauſe allein iſt, hört ſie verdächtiges Geräuſch im Neben¬ gemache. Diebe vermuthend, ergreift ſie das erſte beſte Meſſer und tritt in ihre vom Mond nur ſchwach er¬ hellte Kammer. Da drückt ſich eine dunkle Geſtalt in den Schatten. Lucretia ſchreitet auf ſie zu und ruft ſie an. Der junge Serbelloni tritt ihr entgegen, ſtürzt ihr zu Füßen und umfängt ihre Kniee mit den glühend¬ ſten Liebesbetheurungen. Sie nennt ihn einen Nichts¬ würdigen und behandelt ihn mit ſo kalter Verachtung, daß ſein Flehen ſich jäh in Drohung verwandelt und er ihr ſagt, ſie ſei in ſeiner Gewalt, die Thüren ſeien bewacht. Doch Lucretia, von ſtattlicher Geſtalt und hohem Gemüth, hält den Emporſpringenden mit der Linken kraftvoll nieder und ſtößt ihm mit der Rechten von oben das Meſſer in die Bruſt. Er ſchwankt und ſchreit nach ſeinen Knechten. Jetzt ſtürzt die beſtochene Kammervettel, die an der Thüre gehorcht hatte, mit Jammergekreiſch ins Gemach und ſchreckt mit ihrem mörderlichen Hilferufen die Nachbarſchaft aus dem Schlafe. Die gewaltſame Entführung iſt vereitelt, man165 hebt den blutenden Serbelloni auf und trägt ihn weg. Die Wahrheit wird vertuſcht, der Vorfall durch einen unzeitigen Beſuch bei dem jungen Planta nothdürftig erklärt und als ein Mißverſtändniß achſelzuckend beklagt. Die ſchöne Lucretia aber begiebt ſich ſchon am nächſten Morgen in den Palaſt des Gubernatore, bittet um ſei¬ nen Schutz, wird, da der Neffe nicht auf den Tod ver¬ wundet iſt, vom Oheim mit höchſter Auszeichnung, ja mit Bewunderung aufgenommen und thut ihm den Ent¬ ſchluß kund, welches Schickſal ihrer dort warte, in ihre bündneriſchen Berge zurückzukehren, denn es ſei beſſer daheim zu darben als das ſchmachvolle Brot der Ver¬ bannung zu eſſen.

Nach einer längern Pauſe fuhr Wertmüller fort: Der Schluß des Briefes iſt merkwürdig. Man meint, ſie habe ſich nach Venedig gewandt, um von meinem Herzog einen Freibrief zur Heimreiſe zu begehren. Seid Ihr nicht ſtolz auf dieſe bündneriſche Judith? Diesmal hätte ich für meine Erzählung ſicher auf Euren Beifall gerechnet und Ihr ſchweigt wie eine Statua, Herr Hauptmann?

Mit neugierigen Augen ſchaute der Locotenent dem gegenüber ſitzenden Jenatſch, der ſich zum Schutze gegen den Abendwind feſt in ſeinen Mantel gewickelt hatte, in das von dem ſpaniſchen Hute beſchattete Geſicht; aber166 ein Scherzwort, das er ihm zuzuwerfen im Begriffe war, erſtarb auf ſeiner Lippe und ihn fröſtelte.

Das braune Antlitz des in der Gondel Zurück¬ gelehnten, das er im Laufe dieſes Tages immer belebt und bewegt geſehen hatte von den verſchiedenſten Aeuße¬ rungen eines feurigen Temperamentes und geſchmeidi¬ gen Geiſtes, es war wie erſtorben und erkaltet zu metallener Härte. Unverwandt ſtaunte es vor ſich hin auf die dämmernd gerötheten Wellen und er¬ ſchien fremdartig verzogen und drohend in ſeiner Er¬ ſtarrung.

Der Zürcher indeſſen ließ ſich nicht gerne verblüffen und, da ihm nichts Schickliches und Kluges einfiel, kam er noch einmal mit bewundernden Ausführungen auf die bündneriſche Judith zurück.

Laßt doch die unwürdige, die überaus unpaſſende Vergleichung! fuhr jetzt der Andre heftig und ſcharf aus ſeinem Traume auf. Jede Bündnerin hätte an Lucretias Stelle wie ſie gethan.

Dann ſchien er plötzlich die nahenden Lichter der Stadt zu bemerken und ſprang, auf ſie hinweiſend, ohne jede Vermittlung in einen liebenswürdigen Ton über. Da langen wir ja ſchon an, ſagte er leicht¬ hin. Könnten wir nicht, bevor wir an der Treppe des Herzogs anlegen, hinaus an die Zattere fahren,167 wohin ich meine Dienerſchaft mit den aus Dalmatien zurückgebrachten Habſeligkeiten beordert habe? Ich möchte dieſe gleich im Palaſte des Herzogs in Sicherheit bringen.

Das geht kaum an, Hauptmann. Der Umweg wäre bedeutend und die Nacht bricht ein. Ich hafte für Euch und der Herzog iſt pünktlich bis zur Pein¬ lichkeit! erwiederte der Zürcher, und er wunderte ſich insgeheim und fragte ſich, warum Jenatſch für ſich und das Seinige wohl Schutz bedürfe.

Noch einmal ſuchte er auf dem tief beſchatteten Geſichte vor ihm zu leſen, aber die Gondel bog eben in eine ſchmale, finſtere Lagune ein und nur zwei glü¬ hende Augenſterne blickten ihm, wie die eines Löwen aus der Nacht entgegen.

Als die Gondel im Canal grande vor den Mar¬ morſtufen des herzoglichen Palaſtes neben einer andern, zur Abfahrt bereiten, anlegte, zeigten ſich auf der Schwelle des ſchön gewölbten Thores zwei Männer¬ geſtalten in Staatstracht, die ſich in ausdrucksvoller Silhouette vom hellen Hintergrunde der glänzend er¬ leuchteteten Halle abhoben. Die eine zeigte den feinen Bau und die ruhige, geſchmeidige Bewegung des vornehmen Venetianers, die andere, von behaglicher Fülle und deutſchehrbarem Anſehen, weigerte ſich168 mit etwas kleinſtädtiſcher Höflichkeit den Vortritt zu nehmen.

Voran, Herr Waſer! Ihr ſeid mein verehrter Gaſt, ſagte der Schlanke, den jetzt Jenatſch und Wert¬ müller als den Provveditore der Republik mit höchſter Ehrerbietung begrüßten. Grimani wandte ſich dem Bündner mit gewinnender Freundlichkeit zu.

Für diesmal keine Auseinanderſetzung, ſagte er. Ich darf Euch, da Ihr von dem edlen Herzog erwartet ſeid, hier nicht aufhalten. Von minder Wichtigem ſpä¬ ter. Wir ſehen uns wieder.

Herr Waſer konnte es nicht unterlaſſen auch ſeiner¬ ſeits, bevor er den Fuß in die Gondel ſetzte, dem Jugendfreunde die Hand zu reichen und ihm zuzuflü¬ ſtern: Der Herzog iſt Dir überaus günſtig und auch Grimani, mein gütiger Wirth in Venedig, äußerte ſich wohlwollend über Deine Perſon und rühmte Deine Leiſtungen.

Die Gondel fuhr ab. Während ſie die Halle durchſchritten ſagte Jenatſch lächelnd zu Wertmüller: Ich bin in den dalmatiſchen Bergen verwildert und ſoll jetzt ohne Vorbereitung die Sphäre der zarten Her¬ zogin betreten. Sie iſt ohne Frage an Rang und Geiſt die vornehmſte Dame, der mich meine Sterne zu169 Füßen legten. Erlaubt, Locotenent, daß ich in Eurer Kammer mein Wams bürſte und leiht mir Euern ſchönſten Spitzenkragen!

Damit eilten die beiden Offiziere in raſchen Sätzen die breitgeſtuften Treppen hinauf.

Fünftes Kapitel.

Der Herzog iſt allein, er wünſcht Euch wohl ver¬ traulich zu ſprechen, ſagte Wertmüller zu Jenatſch, als er ihn einige Augenblicke ſpäter in die herzoglichen Gemächer einführte. Er ließ ihn zuerſt in ein mäßig beleuchtetes, mit dunkelm Holzwerke bekleidetes Vor¬ zimmer treten, das durch eine von Säulen getheilte dreifache Bogenpforte den vollen Blick in den einige Stufen höher gelegenen Prachtſaal gewährte.

Dieſes reich vergoldete längliche Gemach mit ſeiner Reihe von fünf Fenſterbogen mochte die auf den Canal ſchauende Faſſade des prunkenden Bauwerks bilden. Der Herzog kehrte der dämmerigen Fenſterwand den Rücken zu. Er ſaß, in einem Buche leſend, vor dem hohen, mit verſchlungenen Figuren und Fruchtſchnüren von Marmor umrahmten und überladenen Kamine, in welchem ein lebhaftes Feuer flammte.

171

Schon ſetzte Wertmüller den Fuß auf die mit türkiſchen Teppichen belegten Stufen, um den Haupt¬ mann anzumelden, als der Herzog ſein Buch ſchloß und ſich von ſeinem Sitze erhebend, es auf den Kaminſims legte, ohne jedoch den Eintretenden, die er noch nicht bemerkt hatte, ſich zuzuwenden.

Im gleichen Augenblicke hielt Jenatſch den jungen Offizier, der ihn vorſtellen wollte, mit einem raſchen Griffe ſeiner eiſernen Hand zurück. Halt , flüſterte er, auf die ihnen gegenüberliegende Thür eines anderen Nebenraumes hinweiſend, ich komme zur Unzeit.

Durch dieſe Thüre trat mit lebhafter Bewegung und verweintem Angeſichte die Herzogin und führte an der Hand eine große ruhige Frauengeſtalt ihrem Ge¬ mahle entgegen, in welcher Wertmüller auf den erſten Blick die Beterin vor dem Hochaltare der Frari wieder¬ erkannte.

Unwillkürlich dem Gefühle des ihn Zurückziehenden gehorchend, wich er mit Jenatſch hinter die Draperie des Einganges zurück und blieb dort ſtehen als ein ver¬ borgener, aber aufmerkſamer Zeuge auch des Geringſten, was im Saale vorging.

Hier bring 'ich Euch eine vom Schickſal Verfolgte, mein Gemahl , begann die erregte Herzogin. Sie iſt Eurer chriſtlichen Hilfeleiſtung und Eures ritterlichen172 Schutzes bedürftig und, wahrlich, es iſt Eurer hohen Tugend würdig, ihr Schirmvogt zu werden. Sie hat mir ihr volles Vertrauen geſchenkt, und ihr ſchmer¬ zenreiches Loos ohne Rückhalt entſchleiert. Dabei war mir vergönnt ich kann es auch in ihrer Gegenwart nicht verſchweigen einen erhebenden Blick in die Tragödie eines mit dem ehernen Schickſale kämpfenden, antiken Charakters zu thun. Dieſes edle Weſen trägt nicht ohne Bedeutung den Namen Lucretia. Sie ſtammt aus einem der beſten Geſchlechter jenes wilden Berg¬ landes, das Euch als ſeinem Retter entgegenharrt. Noch war ſie ein harmloſes Kind, als ihr Vater, der einzige Gegenſtand ihrer Liebe, von grauſamen Feinden nächt¬ lich gewürgt, und ſie ſchutzlos und geächtet dem Elende und der Bosheit dieſer gottloſen Welt preisgegeben wurde .... Aber ihr Herz blieb rein und ihre tapfere Hand zerſchnitt mit dem Dolche die Schlingen des Laſters. Seid ihr hilfreich, theurer Herr! Alle dieſer geliebten Lucretia erzeigte Gnade ſeh' ich an, als hättet Ihr ſie mir erwieſen; denn ihr Unglück erfüllt meine ganze Seele!

Hier brach die gerührte Fürbitterin von neuem in Thränen aus und warf ſich, das Antlitz mit den Hän¬ den bedeckend, in einen Lehnſtuhl.

Während dieſes Redeſtromes hatte der Herzog ſeine173 Blicke voller Güte auf die ſchweigend und beſcheiden vor ihm ſtehende Bündnerin gerichtet, als ſuchte er in ihren ruhigen Zügen und in ihren warmen dunkeln Augen das Anliegen zu leſen, welches ſie zu ihm führte; denn dieſes war ihm bis jetzt trotz der eifrigen Ver¬ wendung und begeiſterten Rede ſeiner Gemahlin voll¬ kommen unverſtändlich und verborgen geblieben.

Ich bin des Pompejus Planta Tochter, Lucretia , beantwortete jetzt die Fremde ſeine ſtumme Frage. Als mein Vater in Bünden geächtet ward, brachte er mich, die Fünfzehnjährige, zu den Kloſterfrauen nach Monza und dort traf mich die Kunde ſeiner Ermordung. Er¬ laßt mir, Euch zu ſagen, wie ſie mein Leben zerſtörte und wie völlig ich ſeither verwaiſt bin. Heim in mein Bünden konnte ich nicht kehren, und kann es auch jetzt nicht ohne Eure Hilfe. Es iſt geſchlagen von Krieg und ſchwerer innerer Zwietracht, denn der Fluch unge¬ rochener Mordthat ruht auf ihm und das Blut meines Vaters ſchreit gen Himmel. Wohl lebt mir noch ein Ohm in Mailand, der geächtete Rudolf Planta, der bis heute mit mir das Brot der Verbannung theilte; denn in das Stift zu Monza trat ich nicht, weil ich zu arm war und meine Berge nicht auf ewig miſſen wollte. Warum ich jetzt den Ohm verlaſſe, geſtattet mir zu ver¬ ſchweigen. Ich bin ein vom Stamme geriſſener, auf174 dem Strome treibender Zweig und kann nicht Wurzel ſchlagen, bis ich den Boden der Heimath erreiche und getränkt werde mit dem Blute gerechter Sühne.

Gebt mir einen Freibrief nach Bünden, edler Herr! Ich habe vernommen, daß Euer Einfluß ſchon jetzt dort mächtig iſt und ſich bald auf Eure ſiegreichen Waffen ſtützen wird. Ich habe gegen mein Vaterland nie ge¬ frevelt und bin den Anſchlägen meines Ohms und der ſpaniſchen Partei in Gedanken und Thaten völlig fremd geblieben. Ich will mein Erbhaus zurückfordern und das Recht meines Vaters ſuchen, denn allein dazu bin ich noch da.

Der Herzog hatte der ſchönen Fremden mit Auf¬ merkſamkeit zugehört, jetzt ergriff er väterlich ihre Hand und ſagte mit überlegener Milde: Ich begreife den Schmerz Eurer Verlaſſenheit, mein Fräulein, auch bin ich damit einverſtanden, daß Ihr Euren heimathlichen Boden wieder gewinnt und dort dem Andenken Eures Vaters lebt. Gerne werd 'ich durch einen Freibrief Euch dazu behilflich ſein. Anders verhält es ſich mit dem, was Ihr Sühne nennt. Bedarf es einer ſolchen, ſo, glaubt es, wird ſie nicht ausbleiben. Unſer ganzes Leben, ja das Leben der Menſchheit ſeit ihrem Anfang iſt eine Verkettung von Schuld und Sühne. Schwer175 aber iſt es dem menſchlichen Kurzblicke die richtige Ver¬ geltung zu wählen, und ſicherer in jedem Falle, Frevel durch Opfer der Liebe zu tilgen, als Gewaltthat durch Gewaltthat zu rächen und ſo Fluch auf Fluch zu häufen. Beſonders die unſichere Frauenhand berühre nie¬ mals in den Leidenſchaften des Bürgerkriegs die zwei¬ ſchneidige Waffe perſönlicher Rache. Mehr als ein Mal in unſern heimiſchen Kämpfen war auch ich von Mörder¬ hand bedroht, aber, hätte ſie mich getroffen, mit dem letzten Athemzuge hätte ich Frau und Kind angefleht, ſich mit keinem Rachegedanken, geſchweige mit einer Rachethat zu beflecken. Denn: Ich will vergelten, ſpricht der Herr.

Lucretia ſah den Herzog mit ernſten, zweifelnden Blicken an. Die chriſtliche Milde des Feldherrn be¬ fremdete ſie und ſein Tadel traf ſie unerwartet. Aber bevor ſie noch ihre Gedanken zur Antwort geſammelt hatte, veränderte ſich plötzlich ihr Angeſicht, als erblicke ſie etwas Unmögliches. Ihre ganze Seele trat in die erſchrockenen Augen, die, wie gebannt, auf der mittleren Säulenpforte haften blieben.

Dort erſchien, feſten Trittes die Stufen heran¬ ſteigend, die hochaufgerichtete Geſtalt eines Mannes, ſtolz und gefaßt, wie ein verurtheilter König ſein Blut¬176 gerüſt beſteigt, und Jürg Jenatſch ſchritt der Erſtarren¬ den mit entblößtem Haupte entgegen.

Nach einer ſtummen Begrüßung des herzoglichen Paares trat er vor die Tochter des Herrn Pompejus hin und ſprach: Dein Recht ſoll Dir werden, Lucretia. Der Mann, der den Planta erſchlug, iſt Dir von Rechts¬ wegen verfallen. Er ſtellt ſich Dir und erwartet hier Deinen Spruch. Nimm ſein Leben. Es iſt Dein zwiefach Dein. Schon der Knabe hätte es für Dich geopfert. Seit ich die Hand an Deinen Vater legen mußte, iſt mir das Daſein verhaßt, wo ich es nicht für das von Tauſenden meines Volkes einſetzen kann. Dar¬ nach dürſtet meine Seele und dazu bietet mir dieſer edle Herr vielleicht morgen ſchon Gelegenheit. Das be¬ denke, Lucretia Planta! Bei Dir ſteht die Entſcheidung wer von Euch Beiden das größere Recht auf mein Blut habe, ob Bünden oder Du .

Der Eindruck dieſer Erklärung auf das Fräulein war ein erſchütternder. Der Mörder, in deſſen Ver¬ folgung ſie die Pflicht ihres Lebens ſah, legte aus freiem Entſchluſſe das ſeinige in ihre Hand und er that es mit einer Hochherzigkeit, die eine ebenbürtige Seele reizen mußte, ſich ihr mit einer großen That der Ver¬ zeihung gleichzuſtellen. Dieſen Wetteifer edler Gefühle ſchien wenigſtens die Herzogin zu erwarten, die aus der177 Rede des Bündners und der Gewalt ihres Eindrucks auf Lucretia leicht errathen hatte, daß eine gemeinſam verlebte Jugend und warme Neigung die Beiden ver¬ kette. Sie glaubte, nach der eigenen Gemüthsſtimmung urtheilend, Lucretia werde ihre Arme, die ſie einen Augenblick in inniger Bewegung gegen den Jugend¬ genoſſen erhoben hatte, raſch um ſeinen Hals werfen und den gerechten, langjährigen Haß gegen den Mörder ihres Vaters dem Zauber einer alten Liebe und der Unwiderſtehlichkeit dieſes wunderſamen Mannes zum Opfer bringen.

Aber es geſchah nicht alſo. Die erhobenen Arme ſanken und die Herzogin ſah Lucretias ſchöne Geſtalt erbeben, vom tiefſten Jammer erſchüttert. Sie ſtöhnte laut auf, dann machte ſich ihr ein Jugendleben lang ſtolz getragenes Elend Luft und, ſich und ihre fremde Umgebung gänzlich vergeſſend, brach die qualvoll Be¬ drängte in einen Strom leidenſchaftlicher Klage aus.

Jürg, Jürg, rief ſie, warum haſt Du mir das gethan? Geſpiele meiner Kindheit, Schutz meiner Ju¬ gend! Oft im finſtern italieniſchen Kloſter oder in der unheimlichen Behauſung meines Ohms, wenn mein Herz nach der Heimath ſchrie und ich ſie doch nicht betreten durfte ohne die Rache meines Vaters beſorgt zu haben, dann im bangen Halbtraume ſah ich Dich, den treuenMeyer, Georg Jenatſch. 12178Geſellen zum gewaltigen Kriegsmanne erwachſen und ich rief Dich an: Jürg, räche meinen Vater! Ich habe niemand als Dich! Du thateſt mir ja ſonſt Alles zu liebe, was Du mir nur an den Augen abſehen konnteſt. Jetzt hilf mir, Jürg, meine heiligſte Pflicht zu er¬ füllen! ... Und ich ergriff Deine ſtarke Hand ... Aber weh 'mir, ſie trieft von Blut! Du Entſetzlicher, Du biſt der Mörder! Mir aus den Augen! Denn meine Augen ſind mit Dir im Bunde und ſündigen und ſind mitſchuldig am Blute des Vaters. Hinweg! Kein Friede, kein Vertrag mit Dir.

So klagte Lucretia und rang die Hände in innerm Zwieſpalte und troſtloſer Verzweiflung.

Die Herzogin legte beſchwichtigend ihren feinen Arm um den Nacken der Haltungsloſen, und die weinende Lucretia ließ ſich willig von ihr in das Nebengemach zurückführen. Dann erſchien die edle Dame noch einmal auf der Schwelle und flüſterte dem ihr entgegentretenden Gemahle zu: Ich werde ſie mit Eurer Bewilligung, ſo¬ bald ſie ſich erholt hat, perſönlich in meiner Gondel nach ihrer Wohnung bringen. Sie iſt bei a Marca, Eurem Wechsler, abgeſtiegen, deſſen Frau ihre ent¬ fernte Verwandte iſt. Die treue Echagues mag uns begleiten.

Der Herzog bezeugte der Hilfreichen ſeine freundliche179 Beiſtimmung, und die gefühlvolle Dame verſchwand mit einem letzten, halb vorwurfsvollen, halb bewundernden Blicke auf den Bündner.

Ihr tragt ein ſchweres Schickſal, Georg Jenatſch, ſagte, als ſie jetzt allein waren, der Herzog zu dem Hauptmanne, deſſen Bläſſe ihm auffiel und der einen harten Ausdruck auf dem Antlitze trug, als bekämpfe und verberge er gewaltſam den ſtechenden Schmerz einer alten Wunde. Euch aber iſt die Sühne für das mör¬ deriſch von Euch vergoſſene Blut gezeigt. Was Ihr in wildem Jugendfeuer verbrochen, dafür ſollt Ihr mit der Arbeit geläuterter Manneskraft zahlen. In raſender Selbſthilfe, mit willkürlichen Thaten des Haſſes wolltet Ihr Euer Vaterland befreien und habt es dem Ver¬ derben zugeführt; heute ſollt Ihr es retten helfen durch ſelbſtverleugnende Thaten des Gehorſams und kriegeriſcher Zucht, durch die Unterordnung unter einen leitenden planvollen Willen. Wo die Tollkühnheit nützt, da will ich Euch hinſtellen; ich weiß nun, warum Ihr die Gefahr ſucht und liebt. Von jetzt an betrachtet Euch als in meinen Dienſten ſtehend, denn ich habe mich heute überzeugt, daß mein Einfluß genügen wird, Euch hier frei zu machen. Ich glaube nicht, daß der Provve¬ ditore Grimani Euch mir ſtreitig machen wird. Sein Intereſſe an Euch ſchien mir lau. Er äußerte ſich12*180gleichgültig über die Möglichkeit Eurer Beurlaubung. Wann wird Eure venetianiſche Capitulation abgelaufen ſein?

Vor Monatsfriſt, erlauchter Herr.

Dann iſt es gut. Ueberlaßt mir die Ver¬ mittelung. Am einfachſten nehmt Ihr ſchon heute bei mir Wohnung und ſendet ſogleich nach Dienerſchaft und Gepäck.

Hier näherte ſich Wertmüller, der bis dahin im Vorgemache unſichtbar geblieben war, mit einer ingrim¬ migen, tragikomiſchen Miene, denn die von ihm ſcharf beobachtete Scene hatte einen gemiſchten Eindruck auf ihn gemacht, und meldete, der Hauptmann habe Gepäck und Leute an der Landungsmauer der Zattere zurück¬ gelaſſen. Sofern ihm dieſer Vollmacht gebe, werde er ſie abholen.

Jenatſch war in einen Fenſterbogen getreten und überſtreifte mit ſcharfem Blicke den mondbeſchienenen Canal, bis in die von den Uferpaläſten geworfenen tiefen Schatten hineinſpähend. Aufwärts, abwärts bot die Waſſerſtraße das gewohnte friedliche Nachtbild. Nun wandte er ſich raſch und beurlaubte ſich beim Herzog, um ſelbſt nach ſeiner Habe und ſeiner Bedienung zu ſehen, welcher er, wie er ſagte, ſtrengen Befehl hinter¬181 laſſen habe, keiner anderen Weiſung Folge zu leiſten, als ſeiner eigenen mündlichen.

Der Herzog trat auf den ſchmalen Balkon und blickte, noch unter dem Eindrucke der ſeltſamen Vorgänge des Abends, in die ruhige Mondnacht hinaus. Er ſah, wie Jenatſch eine Gondel beſtieg, wie ſie abſtieß und mit ſchnellen leiſen Ruderſchlägen der Wendung des Canals zuglitt. Jetzt hielt ſie wie unſchlüſſig ſtill, jetzt ſtrebte ſie eilig der nächſten Landungstreppe zu. Was war das? Aus einer Seitenlagune und gegenüber aus dem Schatten der Paläſte ſchoſſen plötz¬ lich vier ſchmale, offene Fahrzeuge hervor und darin blitzte es wie Waffen. Schon war die Gondel von allen Seiten umringt. Der Herzog beugte ſich geſpannt lauſchend über die Brüſtung. Er glaubte einen Augen¬ blick im unſichern Mondlichte eine große Geſtalt mit gezogenem Degen auf dem Vordertheile des umzingelten Nachens zu erblicken, ſie ſchien ans Ufer ſpringen zu wollen, da verwirrte ſich die Gruppe zum undeut¬ lichen Handgemenge. Leiſes Waffengeräuſch erreichte das Ohr des Herzogs und jetzt, laut und ſcharf durch die nächtliche Stille ſchmetternd, ein Ruf! Deutlich erſcholl es und dringend:

Herzog Rohan, befreie Deinen Knecht!

Sechſtes Kapitel.

In einer vorgerückten Morgenſtunde des folgenden Tages ſaß der Provveditore Grimani in einem kleinen behaglichen Gemache ſeines Palaſtes. Das einzige hohe Fenſter war von reichen bis auf den Fußboden herab¬ fließenden Falten grüner Seide halb verhüllt, doch ſtreifte ein voller Lichtſtrahl die ſilberglänzende Frühſtücks¬ tafel und verweilte, von den verlockend zarten Farben angezogen, auf einer lebensgroßen Venus aus Tizians Schule. Von der Sonne berührt ſchien die Göttin, die auf mattem Hintergrunde wie frei über der breiten Thüre ruhte, wonnevoll zu athmen und ſich vorzubeu¬ gen, das ſtille Gemach mit blendender Schönheit er¬ füllend.

Dem Provveditore gegenüber ſaß ſein ehrenwerther Gaſt, Herr Heinrich Waſer, diesmal mit ſorgenbelaſteter Stirne. Er war nicht geſtimmt auf die feine, über183 das Gewöhnliche mit Geiſt und Anmuth hinſpielende Unterhaltung ſeines Gaſtfreundes einzugehn und hatte ſogar verſäumt, ſeinen hochlehnigen Stuhl ſo zu ſetzen, daß er dem verlockenden Götterbilde den Rücken zuwandte, was er ſonſt nie zu thun vergaß, denn die ſchmiegſame Ge¬ ſtalt mit dem Siegeszeichen des Parisapfels in der Hand pflegte ihn allmorgendlich zu ärgern und zu betrüben. Sie erinnerte ihn gewiſſermaßen an ſeine jung ver¬ ſtorbene ſelige Frau; aber wie ganz verſchieden war hinwiederum dieſes reizende Blendwerk von der Unver¬ geſſenen, deren Seelenſpiegel nie ein Anhauch von Ueppigkeit getrübt und die einen ausgeſprochenen Ab¬ ſcheu empfunden gegen Alles, was ſich im mindeſten von ſittſamer Beſcheidenheit entfernte.

Heute aber nahm er an der Göttin keinen Anſtoß, er war weit davon entfernt ſie nur zu beachten. Sein ganzes Denken war darauf gerichtet, das Geſpräch auf ſeinen Freund Jenatſch zu bringen, ohne durch die ſichere Unterhaltungskunſt des Provveditore von der Fährte abgebracht und ſpielend im Kreiſe herumgeführt zu werden.

Er hatte heute ſchon in der Frühe, wie er daheim in Zürich zu thun pflegte, einen kurzen Morgengang gemacht, was hier in dem Gäßchen - und Waſſerlabyrinthe der Lagunenſtadt ſeinen vorzüglichen Ortsſinn in ſpan¬184 nender Uebung erhielt. Er hatte zuerſt den durch ſeine weltluſtige Pracht ihn täglich überraſchenden Markus¬ platz aufgeſucht und ſich hierauf ſinnreich durch die enge lärmende Merceria nach dem Rialto durchgefunden. Dort hatte er von der Höhe des Brückenbogens mit aufmerkſamem Auge den unendlichen Handel und Wan¬ del der meerbeherrſchenden Stadt gemuſtert. Dann war ihm plötzlich eingefallen, hinunterzuſteigen auf den nahen Fiſchmarkt und die eben anlangenden ſeltſam ge¬ formten Seeungethüme zu beſichtigen. Hier fiel ſein Blick auf den von Herzog Rohan bewohnten Palaſt und in ſeinem Herzen erwachte der Wunſch, den geſtern zweimal nur flüchtig begrüßten Jugendgenoſſen zu be¬ ſuchen und ſich nach deſſen Fahrten und Schickſalen freundſchaftlich zu erkundigen. Sicher, im Palaſte des Herzogs ermitteln zu können wo Jenatſch hauſe, und nicht ohne Hoffnung ihn dort vielleicht perſönlich zu treffen, winkte er einem Gondolier, der ihn mit wenigen Ruderſchlägen an die Aufgangstreppe des Palaſtes brachte. Da er von der Dienerſchaft erfuhr, Jenatſch ſei nicht hier und der Herzog beſchäftigt, ließ er ſich bei der Frau Herzogin anmelden.

Die hohe Dame dann hatte ihm die geſtrigen Er¬ eigniſſe bewegt und wirkungsvoll, aber höchſt unklar geſchildert und dabei Andeutungen gemacht über das185 ſeinen Freund zermalmende Verhängniß, die den nüch¬ ternen Mann befremdeten und höchlich beunruhigten. Der Verhaftungsſcene nächtliches Dunkel hatte ſie mit der Fackel ihrer Einbildungskraft keineswegs aufgehellt; dennoch wurde es dem klugen Zürcher ſofort klar, daß Jenatſch in keiner andern Gewalt als in der Grimani's ſich befinden könne. Er war deſſen vollkommen gewiß, denn er erinnerte ſich jetzt der nachläſſigen Ruhe, mit welcher dieſer Meiſter der Verſtellungskunſt geſtern an der Tafel des Herzogs über die unbefugte Rückkehr des Bündners weggeglitten war, die er unter andern Um¬ ſtänden ſicherlich als einen ſchweren Disziplinarfehler gerügt hätte.

Waſer war ſogleich nach Hauſe geeilt, und jetzt ſaß er dem undurchdringlichen Grimani gegenüber, aus dem er des Bündners Schuld und Schickſal heraus¬ bringen mußte.

Der Provveditore war in glänzender Laune. Er erging ſich in heitern Reiſeerinnerungen, erzählte von London und dem Hofe Jakobs I., wohin ihn vor einigen Jahren eine diplomatiſche Sendung geführt hatte, und entwarf von dem wunderlich pedantiſchen, aber, wie er hinzuzufügen ſich beeilte, keineswegs auf den Kopf ge¬ fallenen König ein ergötzliches Bild. Auch gedachte er in liebenswürdigſter Weiſe ſeiner Einkehr im Waſer'¬186 ſchen Hauſe zu Zürich, deſſen patriarchaliſche Einfach¬ heit und fromme Zucht ihn nach dem lärmenden und ſittenloſen London wahrhaft erquickt hätte. Dies brachte ihn auf den beſondern Charakter der ſchweizeriſchen Eidgenoſſenſchaft und ihre Stellung in der europäiſchen Politik. Er beglückwünſchte den Zürcher, daß dem klei¬ nen Lande aus dem erwarteten Friedensſchluße ohne Zweifel eine durch feſte Verträge verbürgte ſtaatliche Unabhängigkeit erwachſen werde.

Auf die von Niccolò Macchiavelli euch voraus¬ geſagte Weltſtellung werdet ihr freilich verzichten müſſen, ſagte er lächelnd, aber ihr habt dafür euer eigenes Herdfeuer und eine kleine Muſterwirthſchaft, in der auch große Herren manches werden lernen können.

Da hierauf Waſer mit leiſem Kopfſchütteln be¬ merkte, dieſes an ſich wünſchenswerthe Reſultat dürfte neben ſchönen Lichtſeiten auch manche Schattenſeiten zeigen, und er perſönlich ſehe ſich nur mit Schmerz von dem proteſtantiſchen Deutſchland abgedrängt, nickte ihm der venetianiſche Staatsmann einverſtanden zu und ſagte, ſtaatliche Unabhängigkeit ſei eine ſchöne Sache und es laſſe ſich dabei auch bei kleinem Gebiete ein ge¬ wiſſer Einfluß nach außen üben, vorausgeſetzt, daß politiſche Begabung vorhanden ſei und auf ihre Aus¬ bildung aller Fleiß verwendet werde; aber um welt¬187 bewegend einzuwirken ſei nationale Größe nothwendig, wie ſie gegenwärtig nur das durch ſeinen genialen Kar¬ dinal zuſammengefaßte Frankreich beſitze. Das Weſen dieſer Größe und in welchem letzten Grunde ſie wurzle habe er oft mit forſchenden Gedanken erwogen und ſei zu einem eigenthümlichen Schluſſe gekommen. Es erſcheine ihm nämlich, als beruhe dieſe materielle Macht auf einer rein geiſtigen, ohne welche die erſte über kurz oder lang zerfalle wie ein Körper ohne Seele. Dieſer verborgene ſchöpferiſche Genius nun äußere ſich, nach ſeinem Ermeſſen, auf die feinſte und ſchärfſte Weiſe in Mutterſprache und Kultur.

Hier iſt allerdings die Schweiz mit ihren drei Stämmen und Sprachen im Nachtheile, fuhr der Prov¬ veditore fort, der offenbar mit Vorliebe an Italien ge¬ dacht hatte, aber mir iſt um euch nicht bange. Ihr haltet durch andere zähe Bande zuſammen. Für un¬ ſere geſegnete Halbinſel aber gereicht mir dieſe meine Wahrnehmung zum Troſte. Heute unter verſchiedene, zum Theil fremde Herren getheilt, beſitzt ſie immer noch das gemeinſame Gut und Erbe einen herrlichen Sprache und einer unzerſtörbaren, in das leuchtende griechiſch-römiſche Alterthum hinaufreichenden Kultur. Glaubt mir, dieſe unſterbliche Seele wird ihren Leib zu finden wiſſen.

188

Waſer, dem dieſe myſtiſchen Gedankengänge ſehr ferne lagen und aus dem Munde ſeines ſonſt ſo kalten, diplomatiſchen Gaſtfreundes befremdlich klangen, bemäch¬ tigte ſich jetzt der Rede, um in ein glänzendes Lob der Republik von San Marco auszubrechen, die, einzig in Italien, mit der Staatsweisheit und dem Rechtsſinne der alten Roma eine Parallele bilde.

Was die Fabeleien von willkürlicher Juſtiz und geheimen nächtlichen Hinrichtungen betrifft, ſo bin ich nicht der Mann, mein verehrter Gaſtfreund, an ſolche Märlein zu glauben, ſchloß der Zürcher, erfreut mit einer, wie er überzeugt war, ungezwungenen Wendung an das heiß erwünſchte Ziel zu gelangen, und darum kann ich ganz ohne Rückhalt ein mir unerklärliches Ereigniß mit Euch beſprechen, daß ſich geſtern im Canal grande begab und wobei mein Jugendfreund, der Haupt¬ mann in venetianiſchen Dienſten Georg Jenatſch, ohne Spur verſchwunden ſein ſoll. Die durchlauchtige Frau Herzogin Rohan, welche die Gnade hatte mich mit dem Vorfall bekannt zu machen, ſchien mir, ſoweit ich ihre Andeutungen zu faſſen vermochte, nicht ferne zu ſein von der Anſicht, der Hauptmann wäre ſeiner unbefugten Abreiſe aus Dalmatien wegen den venetianiſchen Blei¬ dächern verfallen. Eine Vermuthung, die ich bei dem eine höchſte Kulturſtufe erreichenden venetianiſchen Ge¬189 ſetze und der Milde ſeines Vollſtreckers, hier machte er eine verbindliche Handbewegung gegen den Provvedi¬ tore, auch nach deſſen geſtrigen Aeußerungen an der Tafel des Herzogs unmöglich theilen kann.

Von Hauptmann Jenatſch habe ich ſichere Kunde, ſagte Grimani mit einem unmerklichen Lächeln über die Gewandtheit ſeines Gaſtes. Er ſitzt unter den Blei¬ dächern; aber, lieber Freund, nicht wegen eines Diszi¬ plinarfehlers, ſondern belaſtet mit einer Mordthat.

Gerechter Gott! Und Ihr habt Beweiſe dafür? rief Waſer, dem es ſchwül wurde, ſprang auf und ſchritt in dem kleinen Gemache beſtürzten Gemüthes auf und nieder. Ihr werdet, wenn Ihr es wünſcht, die Akten leſen, verſetzte Grimani ruhig und ließ ſeinen Schrei¬ ber rufen, dem er befahl, ein Portefeuille, das er ihm bezeichnete, ſogleich zur Stelle zu bringen.

Nach wenigen Minuten hielt Waſer zwei Akten¬ ſtücke über den Zweikampf zwiſchen Jenatſch und Ruinell hinter St. Juſtina zu Padua in den Händen, mit denen er ſich, eifrig leſend, in die etwas erhöhte Fenſterniſche zurückzog.

Das eine dieſer Schriftſtücke war das mit dem Magiſter Pamfilio Dolce aufgenommene Verhör, worin derſelbe den Unfall des ihm zu Erziehung und Schutz befohlenen unſchuldigen Knäbleins mit beweglichen Worten190 ſchilderte, alsdann zu der großen Scene bei Petrocchi überging, wo der barbariſche Oberſt ſein in rühmlichen Studien ergrautes Haupt mit Schimpf bedeckt, der großherzige Hauptmann aber, von ſeiner des Ma¬ giſters ehrwürdiger Erſcheinung und beſcheidener Forderung gerührt, mit ſchöner Menſchlichkeit und an¬ tikem Edelmuthe für ihn eingetreten ſei. Dem mör¬ deriſchen Duell hatte der Magiſter nicht beigewohnt, dagegen vom Gerichte ſich die Gunſt erbeten, dem Pro¬ tokoll eine wichtige Papierrolle beilegen zu dürfen. Dieſe fiel Waſer in die Hand; aber er warf jetzt nur einen flüchtigen Blick auf deren erſte Seite. Er er¬ greife, ſagte der Magiſter in der auf dieſem Blatte ſtehenden Widmung, einem Meiſterſtücke kalligraphiſcher Kunſt, die durch das Schickſal unverhofft ihm gewährte Gelegenheit, dem erlauchten Provveditore, als dem hohen Gönner aller Wiſſenſchaft, die geſammelte Frucht eines arbeitſamen langen Lebens in Demuth erſterbend an¬ zubieten: eine Abhandlung über die Patavinität ſeines unſterblichen Mitbürgers Titus Livius, das heißt, über die in deſſen unvergleichliches Latein eingefloſſenen charaktervollen paduaniſchen Provinzialismen.

Das zweite Schriftſtück, das Waſer entfaltete, war die Relation des Stadthauptmanns, die ſich ausſchlie߬ lich mit der Schlußſcene des Handels beſchäftigte.

191

Ein erſchreckter Bürger habe ihn benachrichtigt, hinter St. Juſtina ſtehe ein gefährlicher Zweikampf bevor zwiſchen zwei Offizieren der venetianiſchen Armee. Er ſei hin¬ geeilt, von ſeinen tapfern Leuten zuſammenraffend, was er auf dem Wege gefunden, und habe ſchon von ferne die Gruppe der Kampfbereiten und der um ſie verſam¬ melten Neugierigen erblickt, auch deutlich erkennen können, wie nur der Eine der Herren Griſonen mit grauſamer Wuth und raſenden Geberden auf dem Kampfe beſtand, der Andere aber kaltblütig mit Ernſt und Würde ihn zu beſchwichtigen ſuchte, von den vernünftigen Vor¬ ſtellungen und höflichen Bitten der anweſenden padua¬ niſchen Bürger hierin unterſtützt, und ſich dann mäßig und nur gezwungen vertheidigte. Er habe ſich ſeinem Gefolge voran aufs eiligſte genähert, um, wie ſein ehren¬ volles Amt erheiſche, ſeinen Leib als Schranke zwiſchen die Frevler am Geſetze zu werfen und den Degenſpitzen im Namen der Republik Halt zu gebieten. Als er dieß mit eigener Lebensgefahr gethan, ſei zwar der Eine gehorſam zurückgewichen, der Andere aber durchbohrt mit einem Fluche zuſammengeſtürzt. Nach ſeinem Dafür¬ halten habe ſich der Sinnloſe mit blinder Wuth in die nur zur Vertheidigung ihm entgegengehaltene Waffe des Andern geworfen, einen Augenblick eh 'er die beiden Degen mit dem ſeinigen niedergeſchmettert. So192 glaube er ſeine Pflicht mit Aufopferung erfüllt zu haben und auf die[Anerkennung] der erlauchten Republik, ſo¬ wie auf ein angemeſſenes Ehrengeſchenk ohne Unbe¬ ſcheidenheit rechnen zu dürfen.

Mit dieſen Papieren, Herr Provveditore, läßt ſich eine Anklage auf Mord nie begründen, ſagte Waſer vor ſeinen Gaſtfreund hintretend und die Akten nicht ohne ſichtbare Zeichen der Entrüſtung auf den Tiſch legend, wobei der Tractat über die Patavinität des Livius auf den Marmorboden fiel. Sie ſprechen durchaus zu Gunſten des Hauptmanns und bezeichnen den Fall als ſtricte Nothwehr.

Wollt Ihr noch von den Ausſagen der andern Zeugen Einſicht nehmen? ſagte Grimani kalt. Sie ſtimmen übrigens durchaus überein mit denjenigen des bettelhaften Pedanten und des prahleriſchen Eiſenfreſſers. Die Zeugniſſe dieſes Geſindels er ſtieß mit der Fußſpitze an die gelehrte Arbeit des Magiſters Pam¬ filio, die langſam über die Moſaikſterne des glatten Bodens rollte, führen nur den Gutmüthigen irre, der nicht verſteht zwiſchen den Zeilen zu leſen. Ver¬ zaubert und belügt doch dieſer ungeſegnete Jenatſch, mit ſeiner heuchleriſchen Herzenswärme und ſeiner ruchloſen Kunſt auch das Abſichtlichſte als Eingebung des Augen¬ blicks oder harmloſen Zufall darzuſtellen, ohne Ausnahme193 Alle von oben bis unten, von dem edeln Herzog Rohan bis zu dieſen Larven hinab. Angenommen daß dieſe Zeugniſſe den Sachverhalt in völliger Wahrheit dar¬ ſtellen, ſo führt ſie doch erſt die Kenntniß der Ver¬ hältniſſe des Hauptmanns und ſeines ränkevollen Cha¬ rakters auf ihren richtigen Werth zurück, und mittelſt dieſer Kenntniß bin ich im Stande, mein werther Freund, Euch vielleicht zum Schrecken Eures harmloſen Gemüths die Geſchichte der Tödtung des Oberſten Ruinell in ihr wahres Licht zu ſtellen.

Ich will mich kurz faſſen. Jenatſch hatte ſich zum Ziele geſetzt um jeden Preis eines der vier bündneriſchen Regimenter zu erlangen, die Herzog Rohan zum bevor¬ ſtehenden Veltliner Feldzuge mit franzöſiſchem Solde bildet. Alle vier aber waren ſchon vergeben, eines davon an Ruinell; folglich mußte einer der Oberſten, am bequemſten Ruinelli, den der Degen des Ehrſüchti¬ gen erreichen konnte, weggeräumt werden. Als nun der Schulmeiſter den heißblütigen Oberſt mit ſeinem unverſchämten Bettel beläſtigte, ergriff der geiſtesgegen¬ wärtige Jenatſch blitzſchnell die Gelegenheit ihn zu reizen, indem er für den Pedanten Partei nahm. Wie die Flamme einmal aufſtieg, war es dem Kühlgebliebenen ein Leichtes, ſie mit ſeinem boshaften Hauche zu ſchüren. Er wußte mit ſeiner abſichtsvollen Sanftmuth den Zor¬Meyer, Georg Jenatſch. 13194nigen bis zur Raſerei zu reizen und als geſchickter Fechter den Degen ſo zu führen, daß Keiner den ſichern leiſen Todesſtoß gewahr wurde. So trug die Sache ſich zu, mein braver Herr, wenn die Republik nicht einen menſchenunkundigen Neuling zu ihrem Provvedi¬ tore hat. Euer Signor Jenatſch hat bei ſeiner dal¬ matiſchen Sendung zehnmal mehr Liſt aufgewendet, als es nicht brauchte, dieſen armen Trunkenbold ſich aus dem Wege zu räumen.

Waſer hatte dieſe Auseinanderſetzung mit Grauen angehört. Ihn fröſtelte beim Gedanken an die Gefahr, die jedem Angeklagten aus dieſer ſcharfſinnig argwöhni¬ ſchen Auslegung an ſich unverfänglicher Thatſachen er¬ wachſen mußte. Sogar ihn, den wohlwollenden, dem Hauptmann befreundeten Mann, durchfuhr einen Augen¬ blick der Gedanke, des Venetianers grauſame Logik könnte Recht haben. Aber ſein gerader Menſchenver¬ ſtand und ſein rechtliches Gemüth überwanden raſch dieſen beängſtigenden Schwindel. So hätte es ſein können; aber, nein, es war nicht ſo. Er erinnerte ſich indeſſen, daß der Argwohn in Venedig ein Staats¬ princip ſei und verzichtete darauf, in dieſem Augenblicke Grimanis Voreingenommenheit zu bekämpfen.

Die Thatſachen entſcheiden, ſagte er mit über¬ zeugter Feſtigkeit, nicht deren willkürliche Interpretation,195 und Hauptmann Jenatſch iſt nicht ohne Schutz in Ve¬ nedig, denn in Ermangelung eines bündneriſchen Ge¬ ſandten bei der Republik von San Marco glaube ich Geringer im Sinne meiner Obern zu handeln, wenn ich die Intereſſen des mit Zürich verbündeten Landes in Venedig nach Kräften wahrnehme.

Da verwendet ſich noch ein anderer Schutzpatron für die Unſchuld, die ich in der Perſon des Hauptmanns Jenatſch verfolge, ſagte der Venetianer mit ſchmerz¬ lichem Spotte, denn eben wurde ein in rothe Seide ge¬ kleideter franzöſiſcher Edelknabe eingelaſſen, um in des Herrn Provveditore eigene Hand ein Schreiben ſeines Gebieters, des Herzogs Heinrich Rohan zu legen.

Der erlauchte Herzog will mir die Ehre eines Beſuches erweiſen, ſagte Grimani die Zeilen durch¬ laufend, das darf ich nicht zugeben. Meldet, daß ich mich ihm in einer Stunde vorſtellen werde. Eure Begleitung, Signor Waſer, würde mich erfreuen.

Damit erhob ſich der feine bleiche Mann mit den melancholiſchen Augen und zog ſich in ſein Ankleide¬ zimmer zurück.

Waſer blieb zögernd ſtehen. Dann trat er zum Tiſche und durchlas ſorgfältig die übrigen Zeugenaus¬ ſagen. Zuletzt fiel ſein Blick auf die unter einen Stuhl gerollte Abhandlung des Magiſters Pamfilio Dolce aus13*196Padua. Ihn jammerte ihr ſchmachvolles Schickſal. Da klebt viel Schweiß daran, ſagte er und hob die Rolle auf. Ein Plätzchen in unſrer neu gegründeten Stadtbibliothek wird ſich ſchon für dich finden, Werk eines dunkeln Daſeins!

Siebentes Kapitel.

Der Provveditore und Herr Waſer wurden vom Herzog in ſeinem Bibliothekzimmer empfangen, wo dieſer, der wenig Schlaf bedurfte und die Einſamkeit der Morgenfrühe liebte, ſchon manche Stunde des Vor¬ mittags in ungeſtörter Arbeit mit ſeinem Schreiber, dem Venetianer Priolo verbracht hatte.

Der Herzog begann mit einigen Worten des Dankes für Grimanis Zuvorkommen.

Ihr erriethet ſicherlich aus meinen Zeilen, ſagte er, das perſönliche Anliegen, welches mich ſchon heute wieder eine Unterredung mit Euch dringend wünſchen ließ. Ich war geſtern von meinem Balkon aus Zeuge einer nächtlichen Scene, unter der ich mir nichts anderes, als die Verhaftung eines Uebelthäters denken konnte. Verſchiedene Umſtände laſſen mich mit Sicherheit ſchließen, daß dieſer Gefangene der Republik der Bündner Georg198 Jenatſch ſei. Ich hatte nun, wie ich Euch, mein edler Herr, ſchon geſtern andeutete, auf die Dienſte des ſelben Mannes für meinen bevorſtehenden Feldzug in Bünden gezählt und mir davon bei ſeinem militäriſchen Talent und ſeiner mir höchſt werthvollen Kenntniß ſeines Vater¬ landes großen Vortheil verſprochen. Ihr ſeht ein, wie ſehr mir daran liegen muß, zu erfahren, welcher Ueber¬ tretung des Geſetzes er ſich ſchuldig gemacht, und, wenn ſein Verbrechen kein ſchweres und ſchmachvolles iſt, mein Fürwort für ihn einzulegen.

Niemand iſt williger Euch zu dienen als ich, erlauchter Herr, antwortete Grimani, und in Wahr¬ heit glaubte ich gerade Euch einen nicht geringen Dienſt zu leiſten, wenn ich dieſen mir ſchon längſt verdächtigen Menſchen, in dem die Keime vieler Gefahren liegen, jetzt da er ſich durch eine blutige That in meine Hand gegeben hat, auf die Seite räumte. Er iſt, wie Ihr aus der aktenmäßigen Darſtellung erfahren werdet, dem Wortlaute unſeres Geſetzes nach der Todesſtrafe ver¬ fallen. Ob ich ihn, mildernde Umſtände annehmend, begnadigen will, das ſteht vollkommen in meiner Will¬ kür. Iſt dies Euer Verlangen an mich, ſo werdet Ihr keine Weigerung erfahren; aber höret vorher gütig an, was ich von dieſer Perſönlichkeit denke. Den Vorfall ſelbſt bitte ich meinen würdigen Freund Waſer Euch zu199 berichten. Er hat ſoeben von den Akten Kenntniß ge¬ nommen und es iſt mir angenehm den Vortrag ihm zu überlaſſen, da er mich insgeheim vergiftenden Argwohns und ſchnöder Menſchenverachtung bezichtigt.

Der Zürcher entledigte ſich dieſes Auftrags mit Freundeseifer und ſachkundiger Gewandtheit. Zum Schluſſe faßte er ſeine Meinung dahin zuſammen, daß hier ein Fall reiner Nothwehr vorliege.

Und nun erlaubt mir, meinerſeits Euch aus¬ zuſprechen, ſagte Grimani, und ſeine Stimme trübte ſich vor innerer Bewegung, daß ich die That für eine vorbedachte, abſichtsvolle und dieſen Charakter kennzeich¬ nende halte. Georg Jenatſch iſt unermeßlich ehrſüchtig, und ich glaube, er ſei der Mann, jede Schranke, welche dieſe Ehrſucht eindämmt, rückſichtslos niederzureißen. Jede! Den militäriſchen Gehorſam, das gegebene Wort, die heiligſte Dankespflicht! Ich halte ihn für einen Menſchen ohne Treu und Glauben und von grenzen¬ loſer Kühnheit.

Mit wenigen aber noch ſchärfern Zügen, als er es Waſer gegenüber gethan, bezeichnete er ſodann dem Her¬ zoge die ſelbſtſüchtigen Ziele, welche nach ſeiner Beur¬ theilung Jenatſch durch die Ermordung ſeines Lands¬ mannes habe erreichen wollen.

Der Herzog warf ein, es ſei ihm kaum glaublich,200 daß eine ſo urſprüngliche und warme Natur wie dieſer Sohn der Berge eines ſo kalt konſequenten und ver¬ wickelten Verfahrens fähig ſei.

Dieſer Menſch erſcheint mir unbändig und ehr¬ lich wie eine Naturkraft, fügte er hinzu.

Dieſer Menſch berechnet jeden ſeiner Zornaus¬ brüche und benützt jede ſeiner Blutwallungen: erwiederte der Venetianer, gereizter als es von ſeiner Selbſt¬ beherrſchung zu erwarten war. Er iſt eine Gefahr für Euch, und, wenn ich ihn verſchwinden laſſe, ſo hab 'ich Euch noch nie einen beſſern Dienſt erwieſen .

Der Herzog verharrte einige Augenblicke in ſchwei¬ gendem Nachdenken, dann ſprach er mit großem Ernſte: Und dennoch erſuche ich Euch um die Begnadigung des Georg Jenatſch.

Grimani verbeugte ſich, trat an den Arbeitstiſch des Geheimſekretärs Priolo, der in ſeiner Fenſterniſche ruhig weiter geſchrieben hatte, warf ein paar Worte auf ein Papier und bat den jungen Mann den Befehl in das Staatsgefängniß zu bringen. Herzog Rohan fügte bei, ſein Adjutant Wertmüller möge den Schreiber begleiten.

Jetzt heftete Grimani ſeine ruhigen, dunkeln Augen auf den Herzog und fragte plötzlich, ob er ihm nicht die Gunſt gewähren könne, die Unterredung noch eine201 kurze Zeit ohne Zeugen fortzuſetzen. Rohan wandte ſich freundlich zu Herrn Waſer und ſagte lächelnd:

Gerade wollt 'ich Euch bitten, die Herzogin über das Loos des Hauptmanns Jenatſch, an welchem ſie mitleidigen Antheil nimmt, an meiner Statt vorläufig zu beruhigen.

Geſchmeichelt durch dies Wohlwollen und erfreut der Ueberbringer einer guten Botſchaft zu ſein, beur¬ laubte ſich der Zürcher und folgte einem Pagen, der ihn der ungeduldig harrenden hohen Frau zuführte.

Betrachtet, edler Herzog, es als ein Zeichen meiner beſondern Ergebenheit, begann der Venetianer, wenn ich ganz gegen meine Gewohnheit mich nicht ſcheue auf¬ dringlich zu ſein und den Vorwurf unzarten Eingreifens in fremde Verhältniſſe mir zuziehe. Abgeſehen von unſern gemeinſamen politiſchen Intereſſen bin ich über¬ zeugt, daß Ihr meine hohe Verehrung für Euren Cha¬ rakter genugſam kennt, um ſie als einzige Triebfeder und als Entſchuldigung dieſes außerordentlichen Schrittes gelten zu laſſen.

Für Euch wollte ich dieſen Mann unſchädlich machen. Ich kenne ſeine Vergangenheit. In Bünden, wo ich vor Jahren die Intereſſen meiner Republik als Ge¬ ſandter wahrnahm, habe ich ihn an der Spitze raſender202 Volkshaufen geſehen und ſeine Herrſchaft über die toben¬ den Maſſen hat mich entſetzt.

Ihr ſeid im Begriff, Bünden der ſpaniſchen Macht zu entreißen und ich zweifle keinen Augenblick am Er¬ folg Eurer Waffen. Aber was dann? Wie werden ſich nach Vertreibung der Spanier die Abſichten der fran¬ zöſiſchen Krone, die das ſtrategiſch wichtige Land bis zum allgemeinen Frieden unmöglich aus den Händen geben darf, mit dem ſtürmiſchen Verlangen ſeiner wil¬ den Bewohner nach der alten Selbſtändigkeit vereinigen laſſen? Da Richelieu ich will ſagen der allerchriſt¬ lichſte König, Euer Herr nur den kleinſten Theil ſeiner in Deutſchland unentbehrlichen Truppen Euch zur Verfügung ſtellt, werdet Ihr in Bünden ſelbſt werben und dem durch jegliches Elend erſchöpften Lande neue Opfer zumuthen müſſen. Das aber ich ſchäme mich zu ſagen, was Ihr ſicherlich längſt bedacht habt wird Euch nur durch das Mittel weitgehender Verſprechungen gelingen. Ich wenigſtens kann mir nichts anderes denken, als daß Ihr mit Euerm perſönlichen Werthe den Bünd¬ nern Euch werdet verbürgen müſſen, ihnen, ſobald Euer Sieg erfochten iſt, ihr urſprüngliches Gebiet und ihre alte Selbſtändigkeit unvermindert zurückzugeben. Dar¬ um ſendet, wie ich vermuthe, Richelieu gerade Euch, deſſen Name von reiner Ehre leuchtet, nach Bünden,203 weil Eure Gewalt über die proteſtantiſchen Herzen ihm dort ein Heer erſetzt. So werdet Ihr mir einräumen, edler Herr, daß Euer eine ſchwere Stunde und eine peinliche Doppelſtellung zwiſchen dem Cardinal und Bünden wartet. Wohl wird es Eurer Weisheit ge¬ lingen, das Intereſſe der franzöſiſchen Krone, welcher Ihr dient und die von Euch verbürgten Anſprüche des Gebirgsvolkes, ohne jenes zu verleugnen oder dieſe zu täuſchen, durch umſichtige Politik und kluge Zögerung in der Schwebe zu halten und endlich auszugleichen; aber nur unter der Bedingung, daß das hingehaltene Bünden in keiner Weiſe gegen Euch und Frankreich ein¬ genommen und aufgeſtachelt werde. Ihr lächelt, gnädiger Herr! In der That, wer in Bünden ſollte es wagen gegen das mächtige Frankreich ſich zu ver¬ ſchwören oder gar mit offener Gewaltthat zu erheben! Gewiß Keiner, Ihr habt Recht, wenn nicht vielleicht jener Heilloſe Euer Schützling, Georg Jenatſch.

Der Herzog lehnte ſich mit einer abwehrenden Handbewegung und dem ſchmerzlichen Ausdrucke ver¬ letzten Selbſtgefühls zurück. Eine Wolke zog über ſeine Stirn. Das Bild des Bündners, wie es der Haß Grimanis entwarf, ſchien ihm vergrößert und entſtellt; doch nicht die ſeine Menſchenkenntniß in Frage ſtellende, übertrieben ſchlimme und große Meinung, die Grimani204 von dem begabten Halbwilden hatte, welchen er ſich zum Werkzeuge erleſen, war ihm empfindlich, wohl aber, daß der Venetianer die geheime Wunde ſeines Lebens, ſeine ſchiefe Stellung zu Richelieu ſcharfſinnig erkannte und zu berühren ſich nicht ſcheute. Der Frankreich nach großem Plane regierende, aber ihm perſönlich abgeneigte Cardinal war im Stande Rohan wußte es wohl ſeine proteſtantiſche Glaubenstreue als Mittel zum Zwecke auszubeuten und ihn perſönlich aufzuopfern. Die Ge¬ fahr, welche er ſich ſelbſt auszureden ſuchte und in ſchlafloſen Nächten doch immer und immer wieder ſorgen¬ voll erwog, war alſo fremden Augen offenbar.

Verzeiht, theurer Herr, meine vielleicht ſchwarz¬ ſichtige Sorge für Euch, ſagte Grimani, der den ver¬ borgenen Kummer des Herzogs in ſeiner erkälteten Miene las. Frankreich darf und wird ſich gegen ſeinen edelſten Sohn nicht undankbar erzeigen. Nur um Eines bitte ich Euch, flehe ich Euch an: Wenn Ihr an meine Ergebenheit glaubt, hütet Euch vor Georg Jenatſch.

Kaum war das Wort ausgeſprochen, ſo klirrten raſche Tritte im Vorſaal und der Genannte trat mit dem Adjutanten Wertmüller in das Gemach, wo eben noch edelmüthige Größe und menſchenverachtender Scharf¬ ſinn über ihn zu Gerichte geſeſſen und um ihn geſtritten205 hatten. Jenatſch ſah finſterer als je und tief bewegt aus. Den Provveditore, der ihm zunächſt ſtand, be¬ dachte er mit einem unterthänigen Gruße und einem Blicke voll tödtlichen Haſſes, welchem dieſer mit vor¬ nehmer Ruhe begegnete. Dann trat er raſchen Schrittes vor den Herzog. Er ſchien in leidenſchaftlichem Dank¬ gefühle ſeine Kniee umfaſſen zu wollen; aber er ergriff nur Rohans Hand und ließ, das geſenkte Auge ver¬ bergend, eine heiße Thräne auf dieſelbe fallen.

Der kalte Grimani, dem dieſe glühende Bewegung einen widerwärtigen Eindruck machte, brach zuerſt das Schweigen und bemerkte mit ſcharfer leiſer Stimme: Vergeßt nie, Signor Jenatſch, daß Ihr nicht der Güte Eurer Sache, ſondern nur und allein der Fürſprache dieſes hohen Herrn Euer verwirktes Leben verdankt.

Der Hauptmann ſchien in ſeiner Bewegung das Wort des Venetianers nicht gehört zu haben, er richtete ſeinen feurigen Blick auf den Herzog und ſprach: Meinen Dank, theuerſter Herr, laßt mich Euch ſofort durch die That bezeugen. Ich hoffe, Ihr habt manche Gefahr für mich bereit laßt mich eine vorweg nehmen. Uebertragt mir ein Geſchäft, daß ich allein, wie Ihr bedürft, verrichten kann, bei dem ich das mir geſchenkte Leben zehnfach auf das Spiel ſetze und welches doch nicht rühmlich genug iſt, daß es mir irgend einer neide206 oder ſtreitig mache. Ich rede hier frei, ich bin unter Eingeweihten. Wie mir mein Kamerad Wertmüller in ſeinen Briefen Euern Plan angedeutet hat, werdet Ihr von Norden über die Bernina ins Veltlin vor¬ dringen, um mit dem Scharfblicke des großen Feldherrn die feindliche Stellung in der Mitte zu faſſen und, Spanier und Oeſterreicher auseinanderwerfend, die Einen zurück in das Gebirge, die Andern hinunter nach den Seen zu jagen. Nun iſt von höchſter Bedeutung, die von den Spaniern vielfach neu angelegten Verſchan¬ zungen des Veltlins genau zu unterſuchen. Laßt mich hin! Ich nehme Euch Pläne davon auf, kenne ich doch das Land wie Wenige.

Davon reden wir morgen, mein Georg, ſagte der Herzog und legte ihm ſeine ſchmale Hand auf die mächtig gebaute Schulter.

Am Abende des Tages, der den Hauptmann Jenatſch zum Kameraden des Locotenenten Wertmüller im Dienſte des Herzogs machte, fiel es dieſem ein, den Brief ſeines Vetters in Mailand zu beantworten.

Er meldete, daß er einen kurzen Urlaub nach Zürich genommen, obſchon er ſich nicht abſonderlich freue den207 Duft ſeines Neſtes wieder zu riechen, aber verſchwieg dabei natürlich, daß er ſich dort dem Herzoge bei ſeinem Durchbruche aus dem Elſaß nach Graubünden anſchließen und die Wartezeit zu Werbungen für Frankreich ver¬ wenden werde. Dagegen berichtete er weitläufig, die aus Mailand entflohene dolchführende Schönheit habe er nicht nur kennen gelernt, ſondern es werde ihm ſo¬ gar die Ehre zu Theil, beſagte tapfere Perſon auf Ge¬ heiß des Herzogs über das Gebirge nach Bünden zu geleiten, was ihn von ſeiner eigenen Reiſeroute nicht abführe. Als Belohnung für die vom Vetter ihm zum Beſten gegebene Geſchichte und als deren Vervoll¬ ſtändigung erzählte er ihm den unerwarteten Auftritt im Saale des Herzogs, dem er, perſönlich unbetheiligt, mit gekreuzten Armen als vergeſſener Beobachter hinter einer bergenden Säule beigewohnt habe, halb gerührt, halb ärgerlich, denn er ſei eigentlich kein Liebhaber heftig ausbrechender Gefühle. In einen ſolchen vul¬ kaniſchen Ausbruch aber habe die beſcheidene, von der ſentimentalen Herzogin in Scene geſetzte Vorführung einer Schutzflehenden plötzlich umgeſchlagen. Er ſelbſt habe die Lunte angezündet, indem er den Heldenſpieler eingeführt, einen tapfern Soldaten, aber leider ehe¬ maligen Pfarrer, der ihm trotz einiger tüchtiger Eigen¬ ſchaften wenig ſympathiſch ſei, da demſelben gewiſſe208 pompöſe Manieren, wahrſcheinlich von der Kanzel her, ankleben und ein leidiger Hang zu grandioſem Komödien¬ ſpiele. In ſeiner Jugend ſei der Pfarrer ein wüthender Demokrat geweſen und einer der böſen Geſellen, die den Pompejus Planta umgebracht. Statt nun ſtill, wie er, der taktvolle Wertmüller, es gethan, im Hintergrunde zu bleiben, habe ſich der Abenteurer ſofort der bünd¬ neriſchen Dame als Mörder ihres Vaters und zugleich als ehemaligen zärtlichen Liebhaber vorgeſtellt. Daraus ſei plötzlich eine ſolche Exploſion verrückter Dinge ent¬ ſtanden, ein ſo einziges Spektakel, daß ihm heute noch der Kopf davon ſchwirre. Für die Herzogin, deren poetiſcher Schwung allen Verſtand überſteige, ſei es eine Wonne geweſen. Sie habe ſchnatternd auf dem Thränenmeer herumgerudert wie die Enten im Teiche. Jetzt arbeite ſie daran, einen würdigen Schlußakt her¬ beizuführen nach dem Muſter der gegenwärtig in Paris Furore machenden Komödie, deren Autor einen Vogel¬ namen trage und die einen ganz ähnlichen Gegenſtand behandle. Dort ſchließe der Conflict mit Heiraths¬ ausſichten; hier aber werde es hoffentlich, und wenn noch Vernunft im Leben ſei, nicht dazu kommen. Es wäre Schade um das Mädchen, er gönne ſie dem Volks¬ helden nicht. Sie ſei zwar keine blondlockige üppige Schönheit, wie ſie Paul der Veroneſer und der flotte209 Tintorett, die Naturmöglichkeit überbietend, aus gold¬ durchwirktem Damaſte hervorquellen laſſen, noch habe ſie die nächtlichen halbgeſchloſſenen Augen und die blau¬ ſchwarz ſchimmernden Flechten um die ſanfte, liſtige Schläfe, die ihn an andern Töchtern der Lagunenſtadt berücken; aber ſie habe es ihm nun einmal angethan mit einem gewiſſen ehrlichen großen Weſen. Was bei Lucretia Wahrheit ſei, halte er bei Jenatſch zum guten Theil für Schein; gerade jene große Manier, von der er geſprochen.

Sei übrigens der Hauptmann Jenatſch auf hohes Spiel erpicht, ſo habe er geſtern Abend ſeine Luſt büßen können.

Mitten aus der Rührung ſei er von Sbirren herausgeholt und unter die Bleidächer geſetzt worden. Der Provveditore Grimani, der den Bündner merk¬ würdiger Weiſe für ein wichtiges und ſtaatsgefährliches Subjekt halte, hätte ihn gern ſogleich in den Kanal verſenkt. Aber der umſtändliche alte Herr habe dabei eine koſtbare Zeit verloren, die ſich der Herzog zu nutze gemacht, um ſeinen neuen Günſtling ſich wieder zurück¬ liefern zu laſſen. Ihm perſönlich ſei das nicht gerade unlieb, denn er verſpreche ſich bei den merkwürdigen Lebensumſtänden des neuen Kameraden noch manchen ſchlagenden Witz des Zufalls und freue ſich beſondersMeyer, Georg Jenatſch. 14210darauf, mit dem geweſenen Pfarrer an ſeinen ehemaligen Kirchen in Bünden vorüberzureiten, wo ihn dann ein Gewiſſer darüber zur Rede ſtellen werde, was alles er da drinnen dem Volke vorgemacht.

Hier ſtrich ſich der Locotenent vergnügt das magere Kinn und ſchloß das Schreiben an ſeinen Vetter in Mailand.

Drittes Buch. Der gute Herzog.

14*

Erſtes Kapitel.

Auf einer Erhöhung des linken Rheinufers am Fuße des lieblichen Heinzenbergs überſchauen die Mäuer¬ lein und anſpruchsloſen Gebäude des Frauenkloſters Cazis die Hütten eines dem katholiſchen Glauben zu¬ gethan gebliebenen Dorfes. Am ſchmalen Bogenfenſter einer Zelle, die nach dem grauen, jetzt vom Morgen¬ lichte beſchienenen Schloßthurme von Riedberg hinüber¬ ſchaute, ſaß die ſchöne Lucretia Planta.

Der Frühling war vorübergegangen. Auch auf der Nordſeite der rhätiſchen Alpen hatte der laue Föhn ſchon längſt den Schnee von den Halden weggeſchmol¬ zen und in tobenden Wildbächen dem Rheine zugeführt. Durch die Felsſpalten der Via mala hatte der Süd¬ ſturm gebrauſt mit dem jugendlich unbändigen Strome um die Wette. Wochenlang hatte der ſchäumende Rhein zornig an ſeinen engen Kerkerwänden gerüttelt und214 herausſtürzend die flacheren Ufer verheert. Jetzt führte er ruhiger die gemäßigten Waſſer zu Thal, umblüht von den warmen Matten und üppigen Fruchtgärten des gegen die rauhen Nordwinde geſchützten Domleſchg.

Es war ein klarer Morgen zu Anfang des Juni und die älteſte Ordensſchweſter Perpetua hatte eben nach einer längern Unterredung das edle Fräulein ver¬ laſſen.

Die frommen Frauen von Cazis hegten ſchon längſt einen Herzenswunſch. Das Amt ihrer Priorin war während langer Kriegsjahre unbeſetzt geblieben und ſie ſehnten ſich darnach, daß es endlich wieder würdig be¬ kleidet und geehrt werde von einem bei Gott und Men¬ ſchen angeſehenen Sprößlinge einer großen Familie. Wen konnten die Heiligen dazu auserwählt haben, wenn nicht die im Thale aufgewachſene und begüterte Lucretia Planta!

Das Kloſter hatte den Planta ſchon aus den Zeiten vor der Reformation manche Schenkung zu ver¬ danken. Nun waren mehrere Glieder der berühmten Familie, voran Herr Pompejus, in den Schooß der alleinſeligmachenden Kirche zurückgekehrt; dieſer edle Herr aber hatte ohne letzte Wegzehrung einen böſen jähen Tod erlitten. Was war natürlicher und chriſtlicher als daß ſeine vereinſamte Tochter den Schleier nehme, um215 für das Heil ſeiner Seele zu beten und das Kloſter in dieſen möglicherweiſe noch nicht ſo bald endenden ſchlimmen Zeiten mit ihrem edeln Namen zu ſchirmen, es mit ihrem Erbe zu bereichern.

Die Zurückgabe ihrer väterlichen Güter, von welcher wegen der Planta Landesverrath und Mitſchuld am Veltlinermord ſelbſt zur Zeit der Unterjochung durch die Spanier nicht die Rede ſein konnte, ſtand jetzt in naher Ausſicht, ſonderbarer Weiſe durch die Vermitte¬ lung des Oberſten Georg Jenatſch. Die Thaten des jetzt im Veltlin unter Herzog Rohan fechtenden Scha¬ ranſer Pfarrſohns gingen in ſeinem Heimatsthale von Mund zu Munde und ſein Ruhm im ganzen Lande ſtieg täglich.

Zu dieſer Fürſprache hatte den Oberſten Jenatſch wohl ein nagender Gewiſſensbiß getrieben, oder wenn ſie einen weltlichen, dem Verſtande der Frauen von Cazis undurchdringlichen Grund hatte, ſo wußte Gott von jeher auch die Gedanken der Böſen zu ſeinen Zwecken zu biegen. Daß aber das edle Fräulein in Cazis eine bleibende Stätte finde und als Priorin die verlaſſene Heerde weide, das war offenbar die Meinung des heiligen Dominicus ſelber, deſſen Regel das Haus befolgte.

Lucretia hatte ſchon im Kloſter zu Monza ſein216 himmliſches Wohlgefallen auf ſich gezogen. Damals hatten kaiſerliche Kriegsbanden die Kirche zu Cazis ge¬ plündert und darin ſo unchriſtlich gehauſt, daß, wie Perpetua dem Fräulein ſchrieb, von der heiligen Mutter¬ gottes nichts als das nackte Holz zurückblieb. Das junge Mädchen hatte dann in der Schule der geſchickten italiäniſchen Nonnen ein koſtbares Kleid für die beraubte heimiſche Gottesmutter geſtickt und bald Gelegenheit gefunden, es durch den herzhaften und wanderluſtigen Pater Pancraz an ſeine Beſtimmung gelangen zu laſſen.

Seither hatte der heilige Dominicus der unwür¬ digen Schweſter Perpetua ſeinen Wunſch und Willen in wiederholten Erſcheinungen kund gethan. Am deut¬ lichſten und wunderbarſten aber war dieſes in der ver¬ wichenen Nacht geſchehen. Die betrübte Ordensſchweſter hatte in gottbegnadetem Traume die öde Zelle der Prio¬ rin betreten und dort plötzlich Lucretia erblickt, wie ſie leibte und lebte, doch mit demüthigem Angeſichte und geſenkten Augen. Neben ihr aber ſtand St. Domini¬ cus ſelbſt im Glanze des Himmels und ſeiner ſchnee¬ weißen Kutte, der ihr einen Lilienſtengel überreichte. Der Träumenden war alsdann vorgekommen, als lege ſich ein Abglanz ſeines Heiligenſcheins um Lucretias erwähltes Haupt.

Die Schweſter öffnete die Augen voller Freude217 und durchdrungen von dem Gefühle, daß ſie dieſe Offen¬ barung nicht für ſich behalten dürfe. So war ſie denn gekommen das Geſicht Lucretia mitzutheilen und mit ihr deſſen Bedeutung zu beſprechen.

Der Eindruck des Traumbildes auf das Fräulein war indeſſen weniger erfreulich und überzeugend ge¬ weſen, als die Nonne gehofft, und ſie hatte ſich darauf lange bemüht zu ergründen, welche Wurzeln der Welt¬ luſt oder der Weltſorge das Fräulein immer noch draußen zurückhielten, denn dieſes ſprach von dem Kloſter, trotz ſeines Wohlwollens für daſſelbe, nur als von ſeiner einſtweiligen Herberge.

An irdiſchem Beſitz ſchien Lucretias Herz nicht zu hangen, noch weniger an irdiſcher Liebe; denn einige beſcheidene Kloſterſcherze, die ſich Schweſter Perpetua einzig in der Abſicht das Fräulein zu erforſchen in dieſer Richtung erlaubte, wurden mit ſtolzem Lächeln abgewieſen.

Noch eine Möglichkeit halte die Schweſter beun¬ ruhigt: Lucretia wolle in der Welt bleiben, bis ſie einen würdigen Bluträcher finde, der nach altem Landesbrauche den Tod ihres grauſam erſchlagenen Vaters mit dem¬ jenigen der Mörder ſühne, oder ſie trage am Ende ſelbſt blutige Gedanken mit ſich herum, die ſich mit dem Frieden des Kloſters nicht vertrügen.

218

Dieſe ſchreckliche Vermuthung, die urſprünglich ihrem zahmen und frühe durch Kloſterzucht geregelten Gemüthe ferne lag Perpetua war keine ſchwerblütige Bündnerin, ſondern entſtammte einer ehrbaren Zuger¬ familie hatte ihr der alte Lucas zu Riedberg noch vor der Fahrt, die er nach Italien gethan, um das Fräulein heimzugeleiten, zu wiederholten Malen nahe¬ gelegt. Er ſelbſt war ganz davon durchdrungen, wie von einer unabwendbaren Nothwendigkeit. Aber auch dieſe Muthmaßung hielt nicht Stand. Lucretia war der Schweſter heute ſo kindlich weich und verſöhnlich erſchienen, daß ſie ſich einen derartigen Verdacht als ein Unrecht gegen das verwaiſte Fräulein vorwarf.

In Wahrheit, heute hegte Lucretia keine Rache¬ gedanken. Sie ſann mit einer Trauer, die ihre geheime Süßigkeit hatte, den Erlebniſſen ihrer Heimreiſe aus Venedig nach. Ein ſeltſames Verhängniß hatte das Leben des ihrer Rache Verfallenen in ihre Hand gege¬ ben und ſie hatte es erfahren, ſie wußte heute mit voller Herzensüberzeugung, daß ſie es nicht nehmen dürfe. Der Widerſtreit ihrer Gefühle hatte ſich gelegt, ſie war zur Ruhe gekommen.

Lucretia hatte Venedig, begleitet von ihrem treuen Lucas, im Frühjahr verlaſſen und die lange Strecke bis nahe an die Grafſchaft Chiavenna erſt über Verona219 und Bergamo und dann längs der blühenden Ufer des Comerſees in mäßigen Tagritten ohne Aufenthalt und Abenteuer zurückgelegt. Grimani hatte ſie mit einem Geleitbrief durch das Venetianiſche verſehen im Mailändiſchen genügte ihr Name und von Rohan war ihr als ſchützender Cavalier der junge Wertmüller mitgegeben worden.

Wohl hatte die Herzogin gegen dieſes für die ſchöne Reiſende, wie ſie behauptete, in keiner Weiſe paſſende Geleite zuerſt Einſpruch erhoben; aber der Herzog kannte die guten und ſchlimmen Eigenſchaften ſeines Wertmüller nicht erſt ſeit geſtern und wußte, daß ſein wunderlicher Adjutant ſich noch in jeder ernſten Probe ehrenhaft, zuverläſſig und tapfer erwieſen hatte.

So gelangte der kleine Reiſezug der Donna Lu¬ cretia eines Tages in die ſumpfige Ebene durch welche die Adda ſich langſam dem Nordende des Comerſee's zuwindet. Da ſie am Morgen in der kühlen Frühe aufgebrochen waren, beſchloſſen ſie an einem Kreuzwege unſern der drohenden Feſtung Fuentes vor einer Lo¬ canda kurze Mittagsraſt zu halten, um dann heute noch Chiavenna zu gewinnen und am nächſten Tage den Saumpfad über den Splügen einzuſchlagen.

Lucretia zog es vor, die unreinliche Herberge nicht zu betreten; ſie ſetzte ſich allein in eine Weinlaube,220 deren blaſſes Frühlingsgrün ſich eben aus den ſpringen¬ den Knospen entwickelte. So hatte ſie eine Weile den Hühnern zugeſehn, die neben der Krippe das von den freſſenden Pferden herausgeworfene Futter aufpickten, da erblickte ſie zwiſchen den zarten Blättern und jungen Ranken hindurch auf der ſtaubigen Landſtraße einen Zug Leute, der ſogleich ihre ganze Aufmerkſamkeit feſſelte. Sie errieth, daß ein Gefangener eingebracht werde und als er näher kam, erbebte ihre Seele. Ein halbes Dutzend ſpaniſcher Soldaten, voran ein alter dürrer Hauptmann zu Pferde, führten in ihrer Mitte einen Mann in der Alltagstracht des Veltlinerbauers, deſſen Kleider zerriſſen und über und über von Sumpfwaſſer geſchwärzt waren. Staub und Blut entſtellten ſein Angeſicht, und die Hände waren ihm mit groben Stricken hinter dem Rücken zuſammengebunden. Das Fräulein erkannte mit Entſetzen die hohe Geſtalt und die trotzige Haltung des Jürg Jenatſch. Auf den Spuren des eingeholten Flüchtlings ſchnüffelten ſpaniſche Bluthunde, welche wohl bei dieſer Menſchenjagd Dienſte geleiſtet hatten, und gelbe halbnackte Jungen und blödſinnige Zwerggeſtalten liefen johlend hinter dem gewaltigen wehrloſen Manne her. Beim Herannahen des Trupps eilten die Bewohner des Hauſes vor der Thüre zu¬ ſammen, auch Lucas kam herbei, der eben die Pferde221 wieder geſattelt hatte, und Wertmüller trat hinter Lucretia.

Der ſpaniſche Hauptmann gebot ſeinen Leuten Halt, ſtellte ſich in den Schatten der Hauspforte und nahm ſeine Sturmhaube von dem todtenkopfähnlichen Haupte, deſſen braune Knochen nur durch zwei erhitzte, tiefliegende Augen belebt erſchienen. Dann hieß er ſein abgejagtes Thier, deſſen Riemenzeug zerriſſen war, zur Ciſterne führen und fragte kurz und barſch: Iſt jemand hier, der in dieſem Späher den vormaligen ketzeriſchen Prädikanten und vielfachen Mörder Georg Jenatſch erkennt?

Es ſchlurfte in zerfetzten Schuhen ein ältlicher Knecht herbei und ſagte mit kriechender Miene: Zu dienen, Excellenz. Ich hauſte anno 1620 in Berbenn und war dabei, als dieſer Gottesläſterer mit verfluchter Hand meinen leiblichen Bruder gegen den Hochaltar von St. Peter ſchleuderte, daß der Aermſte für ſein Lebtag ein Gebreſten davontrug.

Das paßt, ſagte der Spanier, ich betraf den¬ ſelben Prädikanten im gleichen Sommer an der Zug¬ brücke unſerer Feſtung. Eure Ausflüchte, Mann, helfen Euch nicht und der Strick iſt Euch gewiß.

Lucretia hatte im Hintergrunde der Laube den Auf¬222 tritt mit laut klopfendem Herzen angeſehen. Konnte ſie Georg retten? Wollte, durfte ſie es? .. Hinter ihr ſtand Wertmüller, deſſen angriffsluſtige Ungeduld ſie fühlte, und den ſie leiſe den Hahn ſeines Piſtols ſpannen hörte. Lucretia erhob ſich und ſchritt, von einer un¬ widerſtehlichen Macht gezogen, langſam vor. Bei des Spaniers letzten Worten ſtand ſie zwiſchen ihm und dem an einen ſteinernen Stützpfeiler der Laube ge¬ ſchnürten Gefangenen. In dieſem Augenblicke flog eine Handvoll Koth und Steine von einer lachenden Kropf¬ geſtalt geworfen an die blutende Stirne des Gefeſſelten, aber ſeine Miene blieb ſtolz und ruhig, nur ſeine Lippen bewegten ſich flüſternd: Lucretia, deine Rache vollzieht ſich! klang es in romaniſchen Lauten, ohne daß ſein Blick ſich nach ihr gewendet hätte.

Sennor, redete die Bündnerin den ſpaniſchen Hauptmann mit feſter Stimme an, ich bin Lucretia, die Tochter jenes Planta, den Georg Jenatſch erſchla¬ gen hat. Ich habe ſeit dem Tode meines Vaters keinen liebern Gedanken gehabt als den der Rache; aber in dieſem Manne hier erkenne ich den Mörder meines Vaters nicht.

Der Spanier richtete ſeinen böſen Blick erſt fra¬ gend und dann höhniſch auf ſie, aber Lucretia beachtete ihn nicht. Schon hielt ſie ihren kleinen Reiſedolch in223 der Hand und begann ohne Zögern die Bande des Gefangenen zu durchſchneiden.

Was jetzt um ſie vorging traf ihre Sinne kaum. Sie vernahm noch den raſchen Befehl Wertmüllers an Lucas: Pferde vor! gewahrte noch wie der Locote¬ nent dem Spanier mit dem Piſtol in der Hand ent¬ gegentrat und dieſer den Degen aus der Scheide riß. Dann wurde ſie raſch aufs Pferd gehoben, das Mus¬ ketenſchüſſe hinter ſich hörend, in wilden Sprüngen ſie von dannen trug und in jagendem Laufe an der Feſtung Fuentes vorüber der Straße nach Chiavenna folgte. Auf dem ſtaubigen Heerwege ſprengte ſie vorwärts mit Mühe ſich auf dem erſchreckten Pferde haltend und doch angſtvoll zurücklauſchend, ob ihr Freund oder Feind nacheile. Noch fielen, ſchon aus der Ferne, vereinzelte Schüſſe, ſonſt hörte ſie nichts als das Schnauben und den Hufſchlag ihres eigenen Thiers.

Endlich brauſte Galopp hinter ihr und ſchon ritt an ihrer rechten Seite, zerriſſen und blutig, aber in hellem Uebermuthe Georg Jenatſch, hinter welchem, ihn mit grimmer Miene umfaſſend, der alte Lucas zu Roſſe ſaß. Zu des Fräuleins Linken ſchnaubte einen Augen¬ blick ſpäter ein zweites Roßhaupt und über demſelben grüßte das aufgeregte Geſicht des kleinen Locotenenten,224 der den Rückzug gedeckt hatte und von der Rolle, die er geſpielt, höchlich befriedigt ſchien.

In der Feſtung wird Alarm geſchlagen, ſagte Jenatſch. Hinter jenem Waldhügel biegen wir links ab von der Heerſtraße, auf der man uns verfolgen wird, reiten durch die ſeichten Nebenwaſſer der Adda und gewinnen auf Wegen, die ich als gangbar kenne, längs des Sees und über die Berge das ſichere Bellenz.

Als die Pferde den beweglichen Kiesboden des Flußbettes betraten, ſprang Lucas ab und ergriff, ſich vor das Pferd ſeiner Herrin ſtellend, mit treuer Hand deſſen Zügel. Im Grunde habt Ihr Recht, ſagte der Alte und blickte zu Lucretias glücklichem Angeſichte auf, es war heute nicht der paſſende Anlaß und nicht der richtige Ort. Euch zu liebe würd 'ich mit dem leidigen Satan ſelbander reiten, aber wahr bleibt's einem ehrlichen Gaul und einem gut ka¬ tholiſchen Chriſten wird heutzutage viel Geduld zuge¬ muthet.

Die darauf folgenden beſchwerlichen Reiſetage lebten als ſelige Erinnerungen in dem Herzen Lucretias fort. Nach dem ermüdenden Zuge quer über die ſüd¬ lichen Vorberge der Alpen hatte die Geſellſchaft in Bellenz geraſtet und Jenatſch ſich beritten gemacht. 225Dann zogen ſie langſam durch das von Waſſerſtürzen rauſchende Miſox, das ſüdlichſte und ſchönſte Thal des Bündnerlandes. Ueber dem Bergdorfe San Bernardino begann der Paß jäh zu ſteigen und führte zu dieſer frühen Jahreszeit bald über eine blendende Schneedecke. Der Himmel war von tiefer Klarheit und noch ſüdlicher Bläue. Lucretia fühlte ſich umweht von den kräftigen Alpenlüften der Heimat und ihr war auf Augenblicke, als ſei ſie in die fröhlichen Reiſetage der Kindheit zurückgekehrt; denn Herr Pompejus war häufig mit ihr aus einem ſeiner feſten Häuſer ins andere über die Bergjoche des thälerreichen Bündens gezogen. Ihre Augen ſuchten mit Ungeduld den kleinen Bergſee, der, wie ſie ſich deutlich erinnerte, auf keiner der heimiſchen Waſſerſcheiden ausblieb. Da endlich, nahe dem nörd¬ lichen Abhange, leuchtete er ihr entgegen, unter den heutigen ſcharfen Sonnenſtrahlen aufgethaut. Gewiß nur eine kurze Befreiung, denn der Sommer kehrt ſpät ein auf dieſen Höhen trotz ſeiner täuſchenden Vorboten und das den Himmel ſpiegelnde Auge mußte ſich unter eiſigen Stürmen wohl bald wieder ſchließen.

Auf der halb geſchmolzenen Schneedecke kamen die Pferde nur mühſam vorwärts. Die Bündner auch Lucretia waren auf der Höhe abgeſtiegen, nur der eigenſinnige Wertmüller beharrte im Sattel und blieb,Meyer, Georg Jenatſch. 15226wo der Berg ſich zu ſenken begann, mit ſeinem bei jedem Schritte gleitenden Thiere immer mehr hinter den Andern zurück. Zuletzt verſank er in eine vom Schnee verrätheriſch bedeckte Spalte aus welcher ihm der die übrigen Pferde am Zügel führende Lucas nur mit Zeit¬ verluſt und Mühe heraushalf. Während dieſer bei dem fluchenden Locotenenten zurückblieb, ſchritten Jenatſch und Lucretia rüſtig und allein bergab und überließen ſich der ungewohnten Luſt, die Heimatluft in vollen Zügen einzuathmen. Das Fräulein dachte nicht daran, daß ſie zum erſten Male auf der Reiſe mit Jenatſch allein ſei. Waren ihr doch, wenn ſie ſtill neben Jürg einherritt, ihre beiden andern Begleiter der Loco¬ tenent, trotz ſeines unausgeſetzten Beſtrebens ſich ange¬ nehm oder unangenehm geltend zu machen, der alte Knecht, trotz ſeiner unverholenen Rachegelüſte, in gleich¬ giltige, unperſönliche Ferne getreten.

Sie lebte in einem traumartigen Glücke unter dem Zauber ihrer Berge und ihrer Jugendliebe, den ſie furchtſam ſich hütete, mit einem an die grauſame Gegen¬ wart erinnernden Worte zu zerſtören.

Jetzt hatten ſie das erſte Grün über einem ſchma¬ len baumloſen Thale erreicht und ſetzten ſich auf ein beſonntes Felsſtück, um den zurückgebliebenen Locote¬ nenten zu erwarten. Ein Wäſſerchen quoll daneben227 aus dem feuchten dunkeln Boden. Lucretia kniete nieder und bemühte ſich mit der hohlen Hand einen Trunk daraus zu ſchöpfen. Ich muß doch ſehen, ſagte ſie, ob das bündneriſche Bergwaſſer noch ſo gut ſchmeckt wie in meiner Jugend!

Nicht! warnte Jenatſch. Ihr ſeid der eiskalten Quellen entwöhnt! Hätt 'ich ein Becherlein, ſo miſcht' ich Euch einen geſunden Trunk mit ein paar feurigen Weintropfen aus meiner Feldflaſche.

Da blickte ihn Lucretia liebevoll an, holte aus ihrem Gewande einen kleinen Silberbecher hervor und ließ ihn in ſeine Hand gleiten. Es war das Becher¬ lein, daß ihr einſt der Knabe zum Gegengeſchenk für ihre kecke kindliche Wanderfahrt nach ſeiner Schule in Zürich gemacht, und das ſie nie von ſich gelaſſen hatte. Jürg erkannte es ſogleich, umfing die Knieende und zog ſie mit einem innigen Kuſſe an ſeine Bruſt empor. Sie ſah ihn an, als wäre dieſer einzige Augenblick ihr ganzes Leben. Dann brachen ihr die Thränen mit Macht hervor. Das war zum letzten Male, Jürg, ſagte ſie mit gebrochener Stimme. Jetzt miſche mir den Becher, daß wir beide daraus trinken! Zum Ab¬ ſchiede! Dann laß meine Seele in Frieden!

Schweigend füllte er den Becher und ſie tranken.

15*228

Siehe dieſes Rinnſal zwiſchen uns, begann ſie wiederum, es wird unten zum reißenden Strome. So fließt das Blut meines Vaters zwiſchen Dir und mir! Und überſchreiteſt Du es, ſo müſſen wir beide darin verderben. Sieh, fuhr ſie mit weicher Stimme fort und zog ihn neben ſich auf den Felsſitz, als ich Dich unten in den Händen der Häſcher ſah, hätt 'ich Dich lieber mit eigener Hand getödtet, als Dich ein ſchmähliches Ende nehmen laſſen. Du haſt mir das Recht dazu gegeben! Du biſt mein eigen! Du biſt mir verfallen. Aber ich glaube Dir: dieſem Boden, dieſer geliebten Heimaterde biſt Du zuerſt pflichtig. So gehe hin und befreie ſie. Aber, Jürg, ſieh mich niemals wieder! Du weißt nicht, was ich gelitten habe, wie ſich mir alle Jugendluſt und Lebenskraft in dunkle Gedanken und Entwürfe verwandelte, bis ich zu einem blinden willenloſen Werkzeuge der Rache wurde. Hüte Dich vor mir, Geliebter! Kreuze nie meinen Weg! Störe nie meine Ruhe!

So ſaßen die Beiden in der Einöde.

Seit Jenatſch die Tochter des Herrn Pompejus bei der Herzogin wieder geſehen, war die in den Wag¬ niſſen und Verwilderungen eines ſtürmiſchen Kriegs¬ lebens nie ganz vergeſſene Liebe ſeiner Kindheit flam¬ mend aus der Aſche erſtanden, und mit ihr ein trotziger229 Geiſt der Empörung gegen ſein Schickſal. Mit einer Blutthat, die dem Jünglinge als Vollſtreckung eines ge¬ rechten Volksurtheils erſchienen war und die der jetzt Gereifte und Welterfahrne als eine unnütze Befleckung ſeiner Hände verwünſchte, hatte es ihn für immer ge¬ ſchieden von einem großen und hilfreichen Herzen, das von jeher ſein eigen war.

Dieſer Geiſt der Auflehnung und Verzweiflung reizte ihn jetzt, die als begehrenswerthes Weib neben ihm ſtehende Lucretia um jeden Preis zu gewinnen und wenn ſie ihm verderblich werde denn er kannte ſie triumphirend mit ihr unterzugehen.

Aber er erdrückte den Dämon. Stand er nicht mitten in einem andern Kampfe, der den Einſatz des ganzen Mannes forderte und alle ſeine Kräfte und Leidenſchaften in eine Anſtrengung zuſammenfaßte? Auch war ſeine Natur von jenem Stahl, der aus den Steinwänden der Unmöglichkeit immer wieder die hellen Funken der Hoffnung herausſchlägt. Er war gewohnt, an nichts zu verzweifeln und nichts aufzugeben.

Konnte ſich Lucretias Gemüth nicht wieder er¬ hellen? War es gänzlich unmöglich das Vergangene zu ſühnen durch Thaten von ungewöhnlicher Größe? Mußte denn unabänderlich auf den liebſten Kampfpreis ver¬230 zichtet ſein im Augenblicke da ſich des Ruhmes glänzende Staffeln hart vor ſeinen Augen erhoben?

Auch war Lucretia heute ſo weich, und als ſie ihm den kleinen Silberbecher in die Hand drückte, hatte ihn aus ihren vertrauensvollen braunen Augen das Mägdlein angeſchaut, das ihn einſt beim Kinderſpiele zu ſeinem Beſchützer und Hüter erkoren! ...

So bezwang er mit ſtarkem Willen ſeine Leiden¬ ſchaft, legte ihr Haupt ſanft an ſeine Bruſt, drückte noch einen leiſen Kuß auf ihre Stirn und ſagte, wie er vor vielen Jahren zu dem weinenden Mägdlein zu ſagen Pflegte, wenn ſie ſich einmal entzweit hatten: Sei gut und ſtille, Kind! Der Friede iſt ge¬ ſchloſſen.

Lucretia hatte damit Ernſt gemacht. Ruhe war über ihr Gemüth gekommen mit dem Gefühle, daß die Höhe des Lebens überſtiegen und die Erinnerung ihr größter Beſitz ſei. Nun wohnte ſie ſeit Monaten in den Kloſtermauern von Cazis. Das Wort des frommen Herzogs, daß es ſicherer ſei, Frevel durch Opfer der Liebe zu ſühnen als durch neue Gewaltthat, begann in ihrer geſtillten Seele Wurzel zu ſchlagen. Wenn ſie den Wunſch der Frauen von Cazis nicht erfüllte, ſo war der herüberſchauende Thurm von Riedberg daran ſchuld, der ſie an ihre freien Kindertage erinnerte und231 ihr das unabhängige Leben einer Burgherrin im Ringe ihres Geſindes und ihrer Dorfleute vor Augen ſtellte. Sie ſehnte ſich nach den alten Schloßräumen, um darin den Haushalt ihres Vaters wieder aufzurichten. Auch ſchlummerte, ihr unbewußt, ein anderer Wider¬ ſpruch in ihrem Herzen: Sie konnte der Welt nicht klöſterlich entſagen, ſo lange Jürg in Thaten ſchwelgte und immer größere Kampfbahnen ſich vor ihm auf¬ ſchloſſen.

In dem Meßbuche, welches aufgeſchlagen neben dem Fräulein auf dem Sims lag, hatte der durch das offene Fenſter ſpielende Bergwind ſchon lange ungeſtüm hin und her geblättert, ohne daß Lucretia es gewahrte. Jetzt aber wurde ſie durch den Ton einer wohlbekann¬ ten Stimme aus ihren Träumen aufgeſchreckt.

Sie trat an den Fenſterbogen und erblickte neben der Pförtnerin die braune Kutte des Paters Pancraz. Sein keckes, ſonneverbranntes Geſicht ſchaute diesmal noch zuverſichtlicher als gewöhnlich in die Welt und er verlangte dringend ohne Aufſchub vor das Fräulein geführt zu werden, dem er glückhafte Nachricht zu brin¬ gen habe.

Kurz darauf trat er ein und verkündete ſeine Botſchaft: Freuet Euch, Fräulein Lucretia! Ihr ſeid wieder Herrin von Riedberg. Es beginnen die ver¬232 dienſtlichen Werke mit denen unſer großer Oberſt für ſeine alte ſchwere Schuld Buße thut. Morgen kommen die Staatskrägen von Chur, um die Siegel zu löſen und Euch das Haus Eurer Väter wieder aufzuthun. Gott gebe Euch einen geſegneten Einzug.

Zweites Kapitel.

Während der Sommer - und Herbſtmonate eines einzigen Jahres hatte Herzog Heinrich Rohan ſeinen Feldzug im Veltlin mit raſchen entſcheidenden Schlägen zu Ende geführt. Die friſchen Lorbeern von vier Siegen, wie ſie nur ſelten ein Feldherr erficht, verherrlichten ſeinen Namen.

Diesmal hatte ſich ſein Talent kühn und freudig entfaltet, denn der Kampf hatte den äußeren Feinden Frankreichs gegolten, nicht auf franzöſiſchem Boden zwiſchen Kindern derſelben Erde gewüthet. Während er früher gezwungen geweſen, Landsleute gegen Landsleute, ſeine calviniſtiſchen Glaubensgenoſſen gegen das katho¬ liſche Frankreich mit blutendem Herzen zu führen, ſo befehligte er jetzt zum erſten Male ein aus beiden Be¬ kenntniſſen verſchmolzenes franzöſiſches Heer. Vor der Schlacht von Morbegno, wo ſeine Schaar vor einer in234 günſtigen Stellungen drohenden ſpaniſchen Uebermacht ſtand, ließ er ſeine Leute gegen galliſche Kriegsſitte auf den Knieen den göttlichen Beiſtand anrufen. Der cal¬ viniſtiſche Caplan des Herzogs betete mit den Proteſtan¬ ten, während ein katholiſcher Prieſter über ſeinen Glaubensgenoſſen das ſegnende Zeichen des Kreuzes machte.

Noch nie hatte Rohan einen ſo genialen Feldherrn¬ blick bewieſen, wie jetzt auf dieſem von tiefen Thal¬ ſchluchten zerriſſenen und von Gletſcherbergen eingeengten, ſchwer zu überſehenden Kriegsfelde. Seinem raſchen unfehlbaren Eingreifen kam ſeine bewundernswerthe Ausdauer gleich und eine ascetiſche Natur von ſeltener Bedürfnißloſigkeit zu Hilfe. Er war im Stande vierzig Stunden lang angeſpannt thätig zu ſein, ohne der Er¬ friſchung des Schlafes zu bedürfen.

So eilte er in der Mitte zwiſchen zwei gegen ihn vordringenden Heeren, deren jedes dem ſeinen faſt doppelt überlegen war, thalauf -, thalabwärts und warf ſich jetzt dem einen, dann, die Stirne wendend, dem andern entgegen, immer ſiegreich, bis er ſie beide, Spanier und Oeſterreicher, vom Bündnerboden verdrängt hatte und das ganze langgeſtreckte Thal der Adda, das ſeit Jahrzehnten herrenloſe und ſtreitige Veltlin in der Gewalt ſeiner Waffen war.

235

Bei dem dritten dieſer Siege, der Schlacht in Val Fraele, grenzt die Ungleichheit des Verluſtes an das Unglaubliche. Der Herzog büßte nach ſeinem eigenen Zeugniß nicht ſechs Mann ein, während zwölfhundert Feinde auf der Wahlſtatt blieben. Es giebt nur eine Erklärung für eine ſo ungleiche Vertheilung der Todes¬ looſe: Der franzöſiſche Feldherr hatte vor den Oeſter¬ reichern die vollkommene Kenntniß dieſer verlorenen Hochthäler voraus. Rohan hatte Bündner neben ſich, die das Bergland wie die mit Arvholz getäfelte Stube ihres Vaters und das Stammwappen über dem Haus¬ thore kannten, und keiner war mit Bündens Bergen vertrauter als Georg Jenatſch.

In dem Schreiben, das der Herzog über dieſen Sieg an die bündneriſchen Behörden richtete, hebt er die Tapferkeit des Oberſten Jenatſch und des von ihm geführten heimiſchen Regimentes mit dem wärmſten Lobe hervor. Ueberhaupt ſtieg Georg Jenatſch unaufhaltſam in der Achtung und im Vertrauen des Herzogs und wurde, ohne daß Rohan ſelbſt ſich deſſen bewußt war, ſein am liebſten gehörter Rathgeber. Verſammelte der Feldherr in Fällen, wo ſich Kühnheit und Vorſicht be¬ ſtreiten mochten, einen Kriegsrath, ſo trieb Jenatſch immer zu den gewagteſten Angriffen und beanſpruchte für ſich ſelbſt den gefährlichſten Poſten; aber ſeine Rath¬236 ſchläge bewährten ſich und ſeine Verwegenheiten mi߬ glückten nie, denn die Gunſt des Schickſals war mit ihm.

So trat er dem Herzog immer näher, der ſich freudig bewußt war, dieſen bedeutenden Geiſt aus ſchmählichem Dunkel gezogen und durch ſeinen Einfluß entwickelt zu haben. Oft mußte Rohan ſich wundern, wie willig und ſtreng der unbändige Griſone der Kriegs¬ zucht ſich unterwarf und, was er ihm ebenſo hoch an¬ rechnete, mit welch 'unbedingtem Vertrauen der vor¬ malige bündneriſche Volksführer jede beſorgnißvolle Aeußerung über das letzte Ergebniß des Krieges und die Zukunft Bündens unterließ, ja vermied.

Dies Ergebniß war der Herzog geſonnen, für Bünden ſo günſtig als möglich zu geſtalten. Er täuſchte ſich nicht über die Abneigung des franzöſiſchen Hofes gegen ſeine Perſon, aber dennoch hoffte er dort mit ſeinen billigen und weislich erwogenen Vorſchlägen durch¬ zudringen. Eine Reihe mit geringer Truppenmacht durch ſeinen individuellen Werth erfochtener Siege, welche die franzöſiſchen Waffen mit einem blendenden Glanze um¬ gaben, mußten bei dem Sohne Heinrichs IV., mußten ſogar bei Rohans altem Gegner, dem immerhin das Banner mit den franzöſiſchen Lilien hoch emporhalten¬ den Kardinal entſcheidend ins Gewicht fallen. Was noch237 aus der Zeit der Bürgerkriege im Gemüthe des Königs gegen den ehemaligen Kriegsführer der Hugenotten geſchrieben ſtand, hatten ſagte ſich der Herzog die von ihm jetzt in die franzöſiſchen Annalen ein¬ gezeichneten Triumphe gänzlich verwiſcht und unleſerlich gemacht.

Rohan hatte das Land Bünden und ſein zugleich nordiſch mannhaftes und ſüdlich geſchmeidiges Volk lieb gewonnen. Der Aufenthalt in dieſen Bergen ruhte ſeinen Geiſt aus und erfriſchte ſeine Lebenskraft. Aber nicht die ernſten, kühl durchwehten Hochthäler, wo er Siege erfochten, mit ihren Felshörnern und Schnee¬ häuptern übten einen Zauber auf ihn aus, ſondern er zog dem Geſchmacke der Zeit und ſeinem eigenen mil¬ den Gemüthe gemäß die mittlern, mit weichem Grün bekleideten Alpen vor, die mit Hütten und läutenden Heerden bedeckt waren. Seine Lieblinge waren die Höhen, die das warme Domleſchg einrahmen und er pflegte zu ſagen, der Heinzenberg ſei der ſchönſte Berg der Welt.

Das Geſchenk ſeiner Neigung gaben ihm die Bündner mit Wucher zurück. Im ganzen Lande wurde er nur der gute Herzog geheißen. In Chur war er der Abgott aller Stände; denn die vornehmen Familien feſſelte er an ſich durch die Feinheit ſeiner238 adeligen Sitte, das Volk aber bezauberte er durch eine aus dem Herzen kommende unbeſchreibliche Leutſeligkeit. In den proteſtantiſchen Gemeinden des Landes hörten überdies die Bündner faſt allſonntäglich ſein Lob von der Kanzel verkündigen. Er ward ihnen gezeigt und gerühmt als ein Muſter evangeliſcher Glaubenstreue und als ein Hort der bedrängten Proteſtanten in allen Landen.

Der glückliche Stern, der ſeine kriegeriſchen Unter¬ nehmungen begünſtigt hatte, ſchien jetzt auch über ſeinen politiſchen zu leuchten. Er beſchied einige ausgezeichnete Bündner zu ſich nach Chiavenna, berieth mit ihnen Satz um Satz den Entwurf eines Uebereinkommens und dieſes wurde kurz darauf von dem in Thuſis ver¬ ſammelten bündneriſchen Bundesrathe angenommen. Man machte ſich von beiden Seiten die äußerſten Zu¬ geſtändniſſe. Um die Bündner in ihrer Hauptforderung zu befriedigen, gab ihnen Rohan durch dieſen Vertrag das Veltlin im Namen Frankreichs zurück. Aber er ſicherte zugleich das militäriſche Intereſſe und die katho¬ liſche Ehre ſeines Königs, indem er feſtſetzte, daß die bündneriſchen Bergpäſſe bis zum allgemeinen Friedens¬ ſchluſſe von Bündnertruppen in franzöſiſchem Solde gehütet werden müßten und die katholiſche Religion im Veltlin als die herrſchende anerkannt werde.

239

So lauteten die von Herzog Heinrich mit den Häuptern Bündens zu Chiavenna berathenen und im Domleſchg beſtätigten Vertragspunkte, die ſogenannten Thusnerartikel.

Genehmigte der König von Frankreich dieſen von Rohan für ihn geſchloſſenen Vertrag, und wie hätte er es nicht thun ſollen! ſo waren Bündens alte Grenzen hergeſtellt und Heinrich Rohan hatte ſein ge¬ gebenes Wort gelöſt, denn in der That für dieſe Her¬ ſtellung ihrer alten Grenzen hatte er ſich den Bünd¬ nern vor dem Feldzuge perſönlich verbürgt, verbürgen müſſen. Dies Verſprechen zu verweigern war ihm un¬ möglich geweſen, ſollte ſich das erſchöpfte elende Land noch einmal zum Kriege aufraffen. Darin hatte die unerbittliche Logik des ſcharfſinnigen venetianiſchen Provveditore das Richtige vorausgeſagt; aber wie ſehr, wie vollſtändig hatte er ſich geirrt, als er den Herzog vor Georg Jenatſch glaubte warnen zu müſſen!

Gerade für die Annahme der Thusnerartikel hatte der Oberſt das Unglaubliche gethan; es war wahrlich kein leichtes geweſen, es hatte Gewandtheit und Aus¬ dauer genug auch den Liebling des Volkes gekoſtet, um dieſe bei den argwöhniſchen, auf ihre Unabhängigkeit eiferſüchtigen Bündnern durchzuſetzen. Aber Jenatſch hatte ſich vervielfacht und von Thal zu Thale, von240 Gemeinde zu Gemeinde eilend, hatte er überall den Zauber ſeiner Rede ausgeübt, überall ſeinen willens¬ ſtarken, feurigen Einfluß geltend gemacht. Er hatte darauf gedrungen, das ſichere Theil nicht aus der Hand zu laſſen um eines ungewiſſen, ja undenkbaren größern Gewinns willen. Er hatte gerathen, ſich mit der Hauptſache zu begnügen, dem edeln Anwalte Bündens bei der franzöſiſchen Krone nicht ſich undankbar zu er¬ zeigen und den mit jedem Jahre ſich mindernden Reſt des franzöſiſchen Druckes willig in den Kauf zu nehmen.

Doch noch eine Sorge drückte die Ehrenhaftigkeit des Herzogs. Der ungeheure Summen verſchlingende Krieg in Deutſchland hatte den franzöſiſchen Schatz er¬ ſchöpft. Die Sendungen des Schatzmeiſters an Herzog Rohan floſſen ſchon lange ſpärlich und blieben jetzt aus; es war dieſem ſeit einiger Zeit nicht mehr mög¬ lich, ſeine Bündnertruppen zu beſolden. Freilich theilten die franzöſiſchen Regimenter daſſelbe Loos. Man ſchien am Hofe zu St. Germain des Glaubens zu leben, die Ehre unter dem ruhmreichen Feldherrn zu dienen, er¬ ſetze dem Soldaten Nahrung und Kleidung. Rohan ſandte Schreiben auf Schreiben und erhielt als Ant¬ wort Verſprechen auf Verſprechen. Die Erhebung einer neuen Kriegsſteuer in Frankreich, ſo ſchrieb man dem241 Herzog aus St. Germain, ſollte dem Mißſtande nächſtens ein Ende machen.

Welche Hemmungen und Säumniſſe alſo das Werk des Herzogs erfuhr durch den Menſchen und Dingen inwohnenden Widerſtand gegen gerechte, einen ſelbſt¬ ſüchtigen Intereſſenkreis durchbrechende Löſungen nun ſtand er hart vor ſeinem Ziele und die Bündner erreichten, dank der ihnen von Rohan auferlegten Mäßigung, die Befreiung ihres Landes.

Da plötzlich verbreitete ſich zur Zeit der fallenden Blätter eine unheimliche Botſchaft durch die bünd¬ neriſchen Thäler. Der gute Herzog, hieß es, weile nicht mehr unter den Lebenden. Er ſei in ſeinem Palaſte zu Sondrio einem Sumpffieber zum Opfer ge¬ fallen. Schon habe ein Bote das Stilfſerjoch über¬ ſchritten und ſei nach Brixen geeilt, um die Spezerei zur Einbalſamirung ſeines Leichnams zu holen.

Dieſes Gerücht erſchreckte die Gemüther, wo es hingelangte. Man ward ſich plötzlich ſorgenvoll be¬ wußt, was alles an dieſem edeln Leben hing. Wie in den Bergen, wenn eine Wolke vor die Sonne gleitet, die Landſchaft mit einem Schlage dunkel wird und zu¬ gleich in ihren einzelnen ſchroffen Zügen ſchärfer hervor¬ tritt, ſo erſchien den Bündnern, als ſie den Herzog ſich hinwegdachten, die unſichere Abhängigkeit und dieMeyer, Georg Jenatſch. 16242Gefahr ihrer Lage mit drohender Deutlichkeit. War ihnen doch nur in ſeiner Vertrauen erweckenden Perſon Frankreich als helfende Macht nahe getreten! Er war es, der für ſeinen König mit ihnen unterhandelt, den von ihnen begehrten Kampfpreis zugeſagt, für Frank¬ reichs Rechtlichkeit im Worthalten dem kleinen Lande gegenüber ſich verbürgt hatte. Was geſchah, wenn ihr Mittler, der gute Herzog, verſchwand? Wen gab ihm Richelieu zum Nachfolger? War der die Welt mit kalter Berechnung überſchauende Cardinal, der rückſichts¬ loſe Staatsmann geſonnen, das unbequeme Erbe der Gerechtigkeit des Proteſtanten Heinrich Rohan anzu¬ treten?

Das Unheil ging diesmal noch vorüber. Die Nachricht vom Tode des Herzogs war eine falſche. Nach einigen Wochen erfuhr man, er habe zehn Tage lang mit geſchloſſenen Augen bewußtlos gelegen, dann ſei er wieder zum Leben erwacht und erhole ſich lang¬ ſam. Welcher böſe Zweifel aber ihn gefoltert hatte, bis er todesmatt aufs Lager ſank, das ahnte damals noch niemand.

Drittes Kapitel.

An einem hellen warmen Octobertage bewegte ſich in den Gaſſen des an der Splügenſtraße gelegenen ſtädtiſch reichen Fleckens Thuſis eine toſende Volks¬ menge. Der Ort liegt an der nördlichen Pforte der Bergſchreckniſſe des Paſſes. Hier pflegte der aus Italien kehrende Reiſende nach überſtandener Müh¬ ſal und Gefahr ſich einen guten Tag zu machen, der von Norden kommende dagegen ſeinen Muth zu ſtärken, Saumthiere zu miethen und für die beſchwer¬ liche Reiſe die letzten Einkäufe zu beſorgen. Dieſe für Handel und Wandel günſtige Lage hatte dem ſeit einer großen Feuersbrunſt neu erbauten Orte ſchnell wieder zu ſtattlicher Blüte geholfen.

Heute wurde zudem der große Thusnerjahrmarkt abgehalten, der von nah und fern das Volk herbei¬ gelockt und die verſchiedenen Staturen, Trachten und16*244Sprachweiſen aller bündneriſchen Thäler am Fuße des Heinzenbergs verſammelt hatte. Manche waren auch gekommen, um den guten Herzog zu ſehen, der, wie die Sage ging, geſtern in einer Sänfte die Paßhöhe überwunden und im Dorfe Splügen genächtigt hatte. Dieſen Abend wurde er in Thuſis erwartet, wo ihm in einem etwas abſeits liegenden Herrenhauſe ein ruhiges Nachtquartier bereitet war. Einige Splügner hatten ihn geſtern in ihrem Dorfe von Angeſicht geſchaut und beſchrieben den edeln Herrn als auffallend gealtert, blaß und abgezehrt; ſeine Haare ſeien völlig gebleicht.

Auch kühne, kriegeriſche Geſtalten ſchritten in der Menge. Die Oberſten der bündneriſchen Regimenter waren gekommen, den Herzog zu empfangen. Hatten ſie über ihrem ſtürmiſchen Verlangen ihn wiederzuſehen, die kriegeriſche Disciplin außer Acht geſetzt, welche ſie an der öſterreichiſchen Grenze feſthielt? Auch ihre Truppen waren ſonderbarer Weiſe zur Begrüßung des Herzogs auf ſeinem Wege von Thuſis nach Chur in gleichmäßigen Entfernungen aufgeſtellt. Warum hatten die Oberſten ſie aus ihren Stellungen an der Grenze ins Innere des Landes zurückgezogen?

Wild und laut ging es dieſen Abend in der ehr¬ baren Herberge zum ſchwarzen Adler zu. Das behäbige Haus ſchenkte ſein Getränk, den dunkeln, mit ſeiner245 Herbe das Blut nur langſam wärmenden Veltliner und den gefährlichern hellen Traubenſaft der vier wein¬ berühmten Dörfer am Rhein, nach Landesſitte in zwei verſchiedenen Stuben aus, die rechts und links von dem gepflaſterten Flur ſich gegenüberlagen. Der eine Raum, die eigentliche Schenke mit den rohen Bänken und Tiſchen aus Tannenholz war von lärmenden Markt¬ leuten, Viehhändlern, Sennen und Jägern dermaßen überfüllt, daß es ſchwer wurde, ſein eigenes Wort zu verſtehen. Die jugendliche Schenkin, eine ruhige, dunkel¬ haarige Prätigauerin, hatte mehr zu thun, als ihr lieb war um die bauchigen Steinkrüge wieder und wieder zu füllen und warf, von allen Seiten gerufen und feſtgehalten, immer trotziger den Kopf zurück, zog immer finſterer die Brauen zuſammen. In der Herren¬ ſtube gegenüber ließen ſich die vornehmen Kriegsleute nicht weniger laut vernehmen und ſetzten dem Becher noch ſchärfer zu.

Zwiſchen beiden Räumen ſchritt, das Chaos über¬ blickend, der feſte Wirth, Ammann Müller, in uner¬ ſchütterlicher gelaſſener Gutmüthigkeit hin und her. Eben füllte ſeine breite viereckige Geſtalt wieder die Thür der Schenke. Hier wurde gerade Politik getrieben, natürlich wie es der gemeine Mann zu thun pflegt, nur von dem Standpunkte perſönlicher Bedrängniß aus.

246

Eine Schande vor Gott und Menſchen iſt es , übertönte ein Engadinerviehhändler das Stimmen¬ gebraus, daß wir Bündner unſere eigene Landesgrenze nicht mehr überſchreiten dürfen ohne einen franzöſiſchen Paſſaport! Jüngſt wollt 'ich mit einer Rinderheerde ins Werdenbergiſche hinüber, da wurd' ich an der Grenze ſchnöde zurückgewieſen, weil ich verſäumt hatte, mir einen ſolchen Fetzen auf der franzöſiſchen Kanzlei in Chur einzuhandeln. Noch von Glück konnt 'ich ſagen, daß ich alle meine Stücke zurückbrachte. Sie wollten die glänzenden Rinder in ihr verwünſchtes Viereck bei Maienfeld treiben und begehrten ſie mir abzukaufen zur Verproviantirung der Feſtung, wie ſie ſagten! Ab¬ kaufen! Schöner Handel das! Ihr Schlächter, ein ruppiger kleiner Kerl, dem ſolche Prachtſtücke offenbar noch nie zu Geſicht gekommen, ſchätzte ſie mir zu einem Schandpreis!

Und dieſe Knirpſe wollen behaupten, ihr Brot zu Hauſe ſei beſſer als meine vortrefflichen Laibe , ſagte der Bäcker, ein Bürger von Thuſis. Als ſie voriges Jahr hier im Quartier lagen, warf mir einer mein Roggenbrot vor die Füße, weil er nur an zarten weißen Waizen gewöhnt ſei. Nicht genug. Ich mußte gleich darauf als Hausvater Ordnung ſchaffen und dem Affen unſre kleine braune Magd, die Oberhalbſteinerin,247 aus den Pfoten reißen. Die fand er nach ſeinem Ge¬ ſchmack, obſchon ſie wahrlich ſchwärzer iſt als mein Roggenbrot und nicht halb ſo appetitlich.

Hier ging ein ſeltſames Lächeln über das finſtere Geſicht eines Gemsjägers, der dem Bäcker gegenüber, den Rücken an die Wand geſtemmt, mit gekreuzten Armen hinter dem Tiſche ſaß und jetzt, ohne einen Zug zu verändern, unter ſeinem Schnurrbarte eine Reihe blendend weißer Zähne zeigte.

Der Bäcker gewahrte dies ſtille Hohnlächeln und ſagte im Tone vorwurfsvoller Rüge: Ans Leben aber griff ich ihm nicht um ſeines wüſten Gelüſtens willen wie du, Joder, dem armen Corporal Henriot, deſſen Seele Gott genade. Das war eine unnöthige Grau¬ ſamkeit, denn deine ſchlanke Bride, der er zärtliche Blicke zuwarf, iſt ein herbes und ſcheues Weib.

Der Angeredete erwiederte mit der größten Ruhe: Ich weiß nicht, wer das tolle Zeug über mich aus¬ ſtreut, das du da vorbringſt. Was jenen Vorfall be¬ trifft, ſo hab 'ich ihn ſelbſt damals ohne Arg und Aufſchub dem Amte dargethan. Die Sache verhält ſich einfach. Der Franzoſe machte ſich täglich mit meinem Gewehr zu ſchaffen und lag mir an, ihn auf die Gems¬ jagd mitzunehmen, auf die er ſich beſſer als ich zu verſtehen behauptete. Ich nahm ihn mit und ſtieg248 mit ihm am Piz Beverin herum. Als wir über den Gletſcher kamen, halten ſich die Spalten während des langen Regens etwas verändert. Ich ſprang über ein paar breite hinweg und als ich mich umſah, war der Franzoſe nicht mehr hinter mir. Er muß den Schwung zu kurz genommen haben. So war es und ſo hab' ich es vor Gericht niedergelegt das müßt Ihr mir be¬ zeugen, Amman Müller.

Das bezeug 'ich Dir amtlich, ſchwarzer Joder , beſtätigte der Gelaſſene mit großer Gutmüthigkeit, wäh¬ rend auf den Geſichtern einzelner Gäſte zweifelndes Nachſinnen oder einverſtandene Schadenfreude deutlich zu leſen war.

Nun, das iſt abgethan , ſagte der Viehhändler kaltblütig, und es geht Keinen etwas an. Auch die Franzoſen werden ſich nicht mehr drum kümmern, denn in wenigen Wochen ſind wir, Gott und dem guten Herzog ſei's gedankt, die fremde Brut ſammt und ſon¬ ders los. Das ſteht voran in den Thusnerartikeln, die kräftig werden, ſobald der Name des Königs dar¬ unter ſteht, und dieſe Unterſchrift, geht die Rede, bringt uns heute der Herzog.

Wenn er ſie bringt! ſagte langſam ein präch¬ tiger Alter aus dem Lugnetz mit feurigen Augen und weißem Barte, der bisher, die Hände auf ſeinen dicken249 Hakenſtock und das Kinn auf die Hände geſtützt, auf¬ merkſam geſchwiegen hatte.

Kein Zweifel! meinte Amman Müller, Jürg Jenatſch hat uns verſammelten Leuten vom Heinzenberg und Domleſchg die ſchwere Sache erklärt und ſtand uns dafür, daß ſie richtig abgewickelt werde. Er muß das wiſſen, Caſutt, denn er iſt des guten Herzogs rechte Hand.

An Jürg will ich mich auch halten , ſagte der Weißbart, denn er hat ſich bei uns im Lugnetz gleicher¬ maßen dafür verbürgt, daß wir durch Annahme der Thusnerartikel in Kürze das fremde Volk los würden und wieder zu Freiheit und Ehre kämen. Sitzt er drüben bei den Raufdegen? Ich möchte wohl ein Wort mit ihm reden.

Drüben hab 'ich ihn noch nicht erblickt , ant¬ wortete Müller, aber angekommen iſt er, das iſt ſein Rappe.

Damit wies er durch das Fenſter auf die Straße, wo eben ein ſchäumendes, kohlſchwarzes Thier in präch¬ tigem Geſchirr von einem Reitknecht abgeführt wurde. Durch das Gewühl des andrängenden Volkes ward auf dem Platze vor der Herberge von Zeit zu Zeit der Schimmer eines Scharlachkleids und eine hochragende blaue Hutfeder ſichtbar.

250

Der Alte ſchritt raſch auf den Flur hinaus. Die volltönende Stimme des Oberſten Jenatſch klang jetzt von den Steinſtufen vor der Hauspforte her, wo er, von einem Haufen umringt, neue ungeſtüme Frager zur Ruhe wies. Der greiſe Lugnetzer bemächtigte ſich ſeiner und jetzt erſchienen Beide vor dem offenen Ein¬ gange der Schenkſtube, deren Thüre dem Jahrmarkte zu Ehren ausgehoben worden war, um den Gäſten freien Ein - und Austritt zu gönnen.

Hier hinein, Jürg! rief der Alte, und gieb mir und allem Volke Rechenſchaft. Willig ließ ſich der Oberſt von dem Lugnetzer Gewalt anthun und trat neben ihm in den Kreis, der ſich raſch durch die von ihren Sitzen Springenden um ihn bildete und immer dichter wurde.

Was iſt denn für ein Geiſt des Zweifels in Euch gefahren? ſagte Jenatſch, indem ſeine Augen freundlich blitzten; Ihr beſtürmt mich um Gewißheit, ob der Vertrag von Chiavenna unterſchrieben ſei? Natürlich iſt er's. Jetzt komme ich von Finſtermünz, wo ich Grenzſtreitigkeiten zu ſchlichten hatte, wie ſollt 'ich da um das Neueſte wiſſen! Aber als ich den Her¬ zog verließ, war er der Sache gewiß und der erlauchte Herr wurde wohl nur durch ſeine Krankheit abgehalten, die Akte allem Volke kund zu geben.

251

Höre, Jürg , erwiederte nach einigem Nachdenken der Lugnetzer, den Herzog kenne ich nicht; aber Dich kenn 'ich, und bin ſchon zu Deinem gottesfürchtigen Vater nach Scharans hinüber gekommen, als Du noch ein blödes, ſchamhaftes Büblein warſt. Deshalb habe ich zu Dir Vertrauen, denn ich weiß, aus welchem Stoffe Du gemacht biſt nicht aus dem unſrer Salis und Planta, die das Vaterland nach rechts und nach links verkaufen, und ein groß Theil des Elends auf dem Gewiſſen haben, das über uns gekommen iſt. Von den Schlichen der Politiker verſteh' ich nichts; Du aber biſt ihnen gewachſen. Mit Deiner golddurch¬ zogenen Schärpe werden Dir die Herren die Hände nicht binden und unter dieſem Scharlachrocke , er be¬ rührte den feinen Stoff des geſchlitzten Aermels, klopft Dein Herz dennoch für Dein Volk und für Dein Land. Schaff 'uns die alte Freiheit wieder mit dem Her¬ zog, wenn er dazu taugt, ohne ihn, wenn es nicht anders gehen will! Du biſt der Mann das auszu¬ richten.

Der Oberſt ſchüttelte lachend ſein kühnes Haupt. Du haſt eigne Begriffe vom Weltlauf, Caſutt! ſagte er. Dein Vertrauen aber ſollſt Du nicht weggeworfen haben. Bleibe hier. Vielleicht bring 'ich Euch heut' Nacht noch ſelber ſichere Nachricht.

252

Tête bleue , erſcholl hinter Jenatſch eine fröh¬ liche Baßſtimme, Du haſt die rechte Thür verfehlt, Herr Camerad! Drüben erwartet man Dich mit Un¬ geduld! und ein gewaltiger Kriegsmann ſchob ſeinen Arm unter den des Oberſten Jenatſch und zog ihn ohne Umſtände in die Herrenſtube hinüber, wo er mit lärmen¬ dem Willkomm empfangen wurde.

Der Oberſt grüßte, aber ließ keinen ſeiner Kame¬ raden zu Worte kommen. Vor Allem gebt mir über Eines Auskunft, Herren , rief er ihnen entgegen, was ficht Euch an, daß Ihr Eure Stellungen an der Grenze verlaſſen und Eure Regimenter im ſichern Domleſchg aufgeſtellt habt? Dazu kann Euch der Her¬ zog nicht Ordre gegeben haben. Still, Guler, Dir ſteigt das Blut zu Haupt! Gebt Ihr mir geneigten Aufſchluß, Graf Travers, Ihr ſeid der Ruhigſte.

Der Graf, ein noch jugendlicher Mann mit ſcharf ausgeprägten italieniſchen Zügen und feſter Feinheit des Ausdrucks, erzählte, Alle hätten ſie bei der Nach¬ richt vom Tode des Herzogs, deſſen Ehre und Perſön¬ lichkeit ihre einzige Bürgſchaft geweſen, den gänzlichen Verluſt des rückſtändigen Soldes ihrer Regimenter be¬ fürchtet, der, wie Jenatſch wiſſe, eine Million Livres überſteige. Dieſer Verluſt, für den ſie bei ihren Sol¬ daten, wie der Contract einmal ſei, perſönlich einzu¬253 ſtehen hätten, wäre ihrem völligen Ruin gleich ge¬ kommen. Um dieſem vorzubeugen, hätten ſie nur ein Mittel gekannt und es zu ergreifen einſtimmig be¬ ſchloſſen: Das Verlaſſen ihrer Stellungen an der Grenze mit der Erklärung, dieſelben erſt dann wieder beziehen zu wollen, wenn der franzöſiſche Kriegsſchatzmeiſter die Rückſtände ausgeglichen habe. Die Kunde vom Tode des Herzogs hätte ſich glücklicherweiſe nicht beſtätigt; aber nachdem der Schritt einmal gethan geweſen, hätten ſie vorgezogen, ſtatt ihn zurückzuthun, auch dem von ihnen Allen hochverehrten Herzog Heinrich gegenüber auf ihrem Entſchluſſe zu beharren, bis ihre gerechte Forderung befriedigt ſei.

Als dieſer davon gehört, habe er ihnen den Kriegs¬ ſchatzmeiſter Lasnier mit einer kleinen Abſchlagszahlung, der unbedeutenden Summe von dreiunddreißigtauſend Livres, zugeſendet und zugleich die Weiſung, ohne Ver¬ zug ihre früheren Stellungen an der Grenze wieder zu beziehen ....

Was moraliſch unmöglich war , brach Guler los, da dieſer kleine Böſewicht uns mit Gift und Galle überſchüttete und die unglaubliche Drohung ausſtieß, er wolle uns den Bauch zertreten! ....

Passer sur le ventre , ſpottete Jenatſch, das iſt unendlich unſchuldiger, als es klingt. Du ſcheinſt254 vom Franzöſiſchen unſrer Kriegskameraden nur die Flüche erlernt zu haben.

Morbleu , rief Guler hitzig, da will ich Dir ein Anderes beweiſen. Ich weiß einen häßlichen Witz des boshaften Kobolds, den ich ganz allein verſtanden habe. Er höhnte, der Herzog habe ihn geſandt, uns an die Grenze zurückzutreiben, und ſolcherweiſe das Amt auszuüben, das ſein Name bedeute. Dieſer Aus¬ ſpruch ließ mir keine Ruhe. Ich ſuchte das Wörter¬ buch hervor, welches mir mein in Paris verſtorbener Bruder gewiſſermaßen ein verlorner Sohn als einziges Erbſtück hinterlaſſen hat. Was heißt nun Lasnier, Ihr Herren? Der Eſeltreiber. Hätte ich's gewußt, als er noch da war, ich hätte das Männchen trotz ſeines Scorpionengifts zwiſchen Daumen und Zeige¬ finger zerrieben.

Jenatſch, der während dieſer Rede mit zuſammen¬ gezogenen Brauen nachgedacht hatte, wandte ſich auf einmal zur ganzen Geſellſchaft mit den Worten: Haltet Ihr mich für zahlungsfähig? ... Ihr wißt, ich war immer ein guter Haushalter. Aus meiner Kriegsbeute habe ich mir in Davos ein ſtattliches Haus erbaut und mir ringsum ſchöne Alpen erworben. Ueberdies liegen mir Summen bei a Marca in Venedig, welche der kluge Wechsler nicht müßig gehen läßt. Das Alles255 deckt euch freilich nicht, aber mein Credit iſt aufrecht und es wäre mir nicht unmöglich, das Fehlende herzu¬ ſchaffen. Ich verbürge mich euch mit ſchriftlichem Con¬ tract für die ganze Summe, die euch der Herzog ſchuldet. Ihn ſollt ihr mir heute nicht beläſtigen, denn er iſt müde und krank. Zur gelegenen Stunde werde ich beim Herzog für euch reden und auch für mich, denn eure Sache iſt die meinige und ich werde zum Bettler, wenn ſie ſcheitert.

Jetzt erhob ſich ein Sturm der Rede, in dem Stimmen des Bedenkens, des Beifalls, des Erſtaunens ſich bekämpften und miſchten. Eine lärmende Begeiſte¬ rung behielt die Oberhand.

Da öffnete ſich die Thür und das ſcharfe Geſicht, die kleine ſtraffe Geſtalt des herzoglichen Adjutanten Wertmüller wurde auf der Schwelle ſichtbar. Sein ſchnelles graues Auge erfaßte die zügelloſe ſtürmiſche Scene und ſie erregte ſeinen entſchiedenen Widerwillen. Er meldete in kurzen Worten, der erlauchte Herzog nähere ſich Thuſis, verbitte ſich aber jeden öffentlichen Empfang. Er wünſche auszuruhen.

Nur dieſer Herr wird in einer Stunde bei ihm vorgelaſſen, ſchloß der einſylbige Locotenent und grüßte den Oberſt Jenatſch gerade ſo flüchtig und ſo knapp, als es der militäriſche Anſtand noch erlaubte.

Viertes Kapitel.

Als der Oberſt Jenatſch zur Zeit des Sonnen¬ untergangs die für die kurze Ruhe des Herzogs berei¬ tete Wohnung betrat, fand er, die Steintreppe hinan¬ eilend, in der offenen Vorhalle des erſten Stockes den zürcheriſchen Locotenenten. Mit der Wachſamkeit einer biſſigen Dogge hütete Wertmüller die Thüre ſeines Feldherren vor jedem unbefugten Eindringen.

Eben durchſchritt eine ſchlanke feine Geſtalt, ab¬ ſchiednehmend, leiſen Fußes die Halle, der herzogliche Privatſekretär Priolo, den der Adjutant mit böſen Blicken begleitete, denn er war in ſeiner ſtachlich¬ ſten Laune und mit ſtillen Wünſchen, die offenbar keine Segenswünſche waren.

Aus welcher Himmelsgegend hat der Wind dieſen hergeweht? fragte der Oberſt mit gedämpfter Stimme. 257 Er iſt, ſo viel ich weiß, nicht mit dem Herzog über den Berg gekommen.

Er wurde ſchon vor einer Woche nach Chur vor¬ ausgeſandt um die neuſten Pariſerdepeſchen abzuholen, nach denen der Herr Verlangen trug, verſetzte Wert¬ müller.

Und ſie ſind in des Herzogs Händen? fragte Jenatſch leiſe und mit ungewohnter Haſt, denn ſein Herz fing an zu pochen. Kennt Ihr den Entſcheid? Iſt die Unterſchrift des Königs da?

Ich kenne nur meine Ordre , ſagte der Andere unhöflich, und dieſe iſt, den Oberſten Jenatſch ohne Zeitverluſt einzulaſſen.

Wertmüller ſchritt voran in ein vom Wiederſchein des Abends erhelltes wohnliches Zimmer, deſſen Fenſter auf die ſonnig leuchtenden Halden und herbſtlich ge¬ rötheten Wälder des ſchönen Heinzenbergs hinausſchauten. Der Oberſt trat in den kleinen Erker, während Wert¬ müller ſich leiſe in ein Nebenzimmer begab, wo der Herzog noch ausruhte.

Es belieb 'Euch einen Augenblick zu warten! ſchnarrte zurückkommend der Locotenent, der ſich unver¬ züglich wieder auf ſeinen Poſten in der Vorhalle zu¬ rückzog.

Der Blick des Alleingebliebenen haftete auf einerMeyer, Georg Jenatſch. 17258geöffneten Ledertaſche und zwei daneben auf den Tiſch geworfenen, entſiegelten Briefen. Die Federzüge, welche ſie bargen, entſchieden über das Wohl oder Wehe ſeines Landes.

Jetzt öffnete ſich langſam die Thüre der Kammer und Heinrich Rohan erſchien blaß und hager auf der Schwelle. Mit einer unwillkürlichen, freudigen Bewe¬ gung ſchritt er dem Bündner entgegen, der dem hohen Herrn in raſchem Dienſteifer einen tiefen Lehnſtuhl neben das Fenſter rückte, wo der Blick des Reiſemüden ſich an der goldenen Abendruhe ſeines Berges erquicken konnte. Der Herzog ließ ſich mit jetzt ſichtbar werden¬ der Abſpannung nieder und richtete ſein klares Auge auf Georg Jenatſch; dann begann er mit leiſer Stimme und in fragendem Tone: Ihr kommt von Finſtermünz?

Dieſer hatte ſich ehrfurchtsvoll vor den in den Seſſel Zurückgelehnten geſtellt und betrachtete unverwandt die edlen Züge, welche in mehr als einer Weiſe ihm ver¬ ändert erſchienen. Neben den erwarteten Spuren der ſchweren Krankheit befremdete ihn darin ein tief ein¬ gegrabener Zug verſchwiegenen, hoffnungsloſen Grames, der peinlich hervortrat, wenn der Herzog ſeinen lautern ſtrahlenden Blick zeitweiſe ſenkte.

Jenatſch brannte vor Begierde zu erfahren, ob259 der von ihm mit raſtloſer Anſtrengung in Bünden durchgeſetzte Vertrag in St. Germain durch die Unter¬ ſchrift des Königs endgültig geworden ſei; aber die¬ ſem Antlitz gegenüber hatte der ſonſt vor nichts Zu¬ rückſchreckende keinen Muth zur Frage. Er begnügte ſich auf des Herzogs Erkundigung zu antworten und ihm einen genauen Bericht über die Feſtſtellungen der Grenze zwiſchen Tirol und Unterengadin zu geben, wie ſie während des Waffenſtillſtandes gelten ſollten.

Die Oeſterreicher ſind langſam und umſtändlich; ich wurde hingehalten und bis nach Innsbruck gezogen, ſagte er. Wär 'ich im Lande geweſen, niemals hätten mir meine ſtörriſchen Kameraden ohne Euren Befehl, erlauchter Herr, ihre Poſten verlaſſen, niemals Euch in Thuſis als erſte Begrüßung den widerwärtigen An¬ blick ihres Ungehorſams entgegengebracht.

Einen ſchlimmern Ausbruch vor Euern Augen, ſchloß er zögernd, habe ich nur mit Mühe verhütet und indem ich mich, da mir kein anderes wirkſames Mittel mehr zu Gebote ſtand, meinen Kameraden mit Hab 'und Gut für den rückſtändigen franzöſiſchen Sold verbürgte. Ich hoffe, daß Ihr mir meine ungemeſſene Ergebenheit nicht verargen werdet! fügte er ſchmeichelnd hinzu.

Der Herzog lehnte, zuſammenzuckend, tiefer in die Kiſſen zurück und der ſchmerzliche Zug in ſeinem17*260Angeſichte trat ſchärfer hervor. Es durchblitzte ihn der Gedanke, welche gefährliche Gewalt in die Hand des Menſchen falle, dem er einen ſo unerhörten, von ihm nie begehrten Dienſt ſchulde. Aber er hielt an ſich.

Ich danke Euch, mein Freund, ſagte er, Ihr ſollt nicht zu Schaden kommen, ſo lange ich ſelber noch etwas beſitze. Ich fürchte, Lasnier, den ich zur Beruhigung der Oberſten mit Geldern an ſie vorausſandte, hat im Verkehr mit ihnen nicht den rechten Ton getroffen.

Er hat ſie aufs tiefſte beleidigt. Darin muß ich zu ihnen ſtehn, erlauchter Herr, und mit ihnen ver¬ langen, daß er abberufen werde. Nicht ſeine Zornaus¬ brüche, noch ſeinen unſere Perſonen treffenden Spott will ich ihm verdenken; aber daß er, wie ich aus ſichrer Quelle weiß, unſerm Vaterlande das Recht beſtreitet, überhaupt da zu ſein, weil es ein kleines Land iſt, und dieſe vernichtende Behauptung uns auf unſerm eigenen Bündnerboden entgegenwirft, daß er uns als ein ver¬ achtetes Anhängſel Frankreichs behandelt, das dreht jedem Bündner das Herz um, und unmöglich iſt es, daß ein ſolcher Mann länger unſer Brot eſſe und unſern Wein trinke!

Thut mir die Liebe, edler Herr, bat er in ge¬ mäßigtem Tone, und ſorgt für ſeine Abberufung.

Lasniers Abberufung iſt auch mein entſchiedener261 Wunſch, den der Cardinal ohne Zweifel erfüllen wird. Betrachtet es als abgethan.

Um auf Wichtigeres zu kommen, lenkte Rohan ab, der die auflodernde Vaterlandsliebe des Bündners in dieſem Momente der Abſpannung zu ſcheuen ſchien, Ihr waret in Innsbruck, da habt Ihr wohl etwas von der Stimmung des erzherzoglichen Hofes gegen uns erfah¬ ren. Gedenken uns die Oeſterreicher noch einmal im Veltlin anzugreifen?

Dazu ſind Eure Lorbeeren noch zu friſch, erlauchter Herr. So lange Eure Hand den Feldherrnſtab führt, dürfen ſie's nicht wagen. Aber, der Bündner ſeufzte tief, laßt mich mein ganzes Herz vor Euch ausſchüt¬ ten! Bei der falſchen Kunde von Eurem Hinſcheiden regte ſich wieder alles kriechende Gewürm der Kabale und unſere Landesverbannten von der ſpaniſchen Partei fingen wieder an, unterirdiſch zu wühlen. Dieſe ekeln Todtengräber glaubten ſchon, Bündens zwei höchſte Kleinodien: Eure geliebte Perſon und ſeine theure Frei¬ heit, deren Bürge Ihr ſeid, in die gleiche Gruft verſenkt.

In Innsbruck, fuhr er nach einer beobachtenden Pauſe mit unverhehlter Bewegung fort, glaubt man auch jetzt, da Gott Euch uns wieder zum Leben erweckt hat, nicht an den Vertrag von Chiavenna. Wie262 hätten ſie es ſonſt gewagt, mir ſpaniſcherſeits Bündens Unabhängigkeit in ſeinen alten Grenzen als Preis un¬ ſerer Trennung von Frankreich anzubieten, ja verſucht, mich durch gemeines Gold von Euch zu ſcheiden! .. Ich beſchwöre Euch, edler Herr, macht dieſen Vorſpie¬ gelungen ein Ende, indem Ihr die zwiſchen uns verein¬ barte und von Eurem König unterſchriebene Akte allem Volke kund gebt. Sonſt wird Bünden an Frankreichs Abſichten irre, die ſpaniſchen Verſprechungen verwirren die Gemüther und wir verſinken wieder in das Blutbad des Bürgerkrieges, aus dem Ihr uns emporzogt!

Der Herzog antwortete nicht. Er erhob ſich raſch, trat ans Fenſter und blickte nachdenklich in die Berg¬ landſchaft hinaus, deren untere Stufen im Schatten lagen, während die höchſt gelegenen Weiler noch in der Sonne glitzerten.

Gott weiß, wie lieb mir dieſes Land iſt, wandte er ſich jetzt zu Jenatſch, und wie gern ich Alles daran ſetze, um es wieder glücklich und frei zu machen! .. Darum verſteht niemand beſſer als ich Eure eiferſüch¬ tige Vaterlandsliebe, auch wo ſie ſich ungeduldig und rauh, und heute mir, dem redlichſten Freunde Bündens gegenüber, ehrlich geſtanden, grauſam äußert. Doch gebt Ihr mir zugleich ſo überzeugende Beweiſe von Eurer Aufopferung und Treue, da Ihr bei Euren Ka¬263 meraden für Frankreichs Ehrenhaftigkeit mit all dem Euern einſteht und mir die von Spanien verſuchten Intriguen und Beſtechungen aufdeckt, daß ich glaube, Euch volles Vertrauen ſchenken und auch in den ſchwie¬ rigſten Fällen auf Eure ſichern Dienſte zählen zu dür¬ fen. Darf ich das, Georg, auch wenn ich Euch viel Geduld und Selbſtverleugnung zumuthe?

Wie könntet Ihr an mir zweifeln? ſagte Jenatſch mit leidenſchaftlicher Wärme und einem Blicke ſchmerz¬ lichen Vorwurfes.

Offenheit alſo gegen Offenheit, fuhr Rohan fort und legte die Hand auf des Bündners Schulter, Ver¬ trauen gegen Vertrauen. Es iſt mir peinlich aus¬ zuſprechen: Der Vertrag von Chiavenna iſt von Paris zurückgekommen ohne Unterſchrift und mit Aenderungen, die ich nicht billige, die ich Eurem Volke nicht zumuthen und nicht vorſchlagen will.

Bei dieſen traurig und leiſe geſprochenen Worten ſah der Herzog dem Bündner in das ausdrucksvolle Geſicht, wie nach der Wirkung des ungern gemachten Geſtändniſſes forſchend. Es blieb unbewegt, aber über¬ zog ſich langſam mit fahler Bläſſe.

Und welches ſind dieſe Aenderungen, gnädiger Herr? fragte Jenatſch nach kurzem Schweigen.

Zwei Hauptpunkte: Franzöſiſche Beſatzungen in264 der Rheinſchanze und im Veltlin bis zum allgemeinen Frieden und für die in dieſem katholiſchen Landestheile begüterten proteſtantiſchen Bündner Beſchränkung ihres dortigen Aufenthalts auf jährlich zwei Monate.

Ein unheimliches Wetterleuchten flog durch die Züge des Bündners, dann ſagte er faſt gelaſſen: Das eine iſt unſere politiſche Auslieferung an Frankreich, das andere ein unerträglicher Eingriff in die Verwaltung unſeres Eigenthums. Beides ſind unmögliche Bedin¬ gungen.

Auch dürfen ſie nicht im Vertrage ſtehen bleiben, ſagte Rohan mit Beſtimmtheit. Ich will meinen gan¬ zen perſönlichen Einfluß beim Könige in die Wagſchale werfen, will meine ganze Ueberredungsgabe erſchöpfen, den Cardinal über den entſcheidenden Ernſt der Lage aufzuklären, will nichts unverſucht laſſen, die verderb¬ liche Einwirkung des Paters Joſeph zu lähmen, denn dieſer, vermuth 'ich, iſt der Böſe, der Unkraut unter unſern Waizen ſät. Wegen des ſchnöden rothen Hutes, wonach dieſer Kapuziner gelüſtet, und für den er dem heiligen Stuhle eine Berückſichtigung in der Politik meines edlen Vaterlandes verſchaffen ſoll, die einer fremden Macht nicht gebührt, darf das Ehrenwort eines Rohan keinen Schaden leiden. Schon habe ich beſchloſſen meinen geſchickten Priolo nach Paris zu ſenden mit265 dringenden Briefen an den König ſelbſt und an den Cardinal. Morgen wird er abreiſen. Gehorchte ich meinem verletzten perſönlichen Ehrgefühle, wahrlich heute noch legte ich mein Commando nieder; aber das darf ich nicht um Euretwillen. Ich zweifle, daß meine Liebe zu Euch und meine perſönlichen Verbindlichkeiten mit meinem Feldherrnſtab auf meinen Nachfolger in Bün¬ den übergingen.

Das thut uns nicht an! rief Jenatſch erſchrocken, bei Euerm Heil, nein, bei dem unſern beſchwör 'ich Euch thut es nicht! Laſſet nicht das Werk Eurer Hände! Stoßt uns nicht in einen ſolchen Abgrund der Rathloſigkeit!

Darum will ich bis ans Ende ausharren, fuhr der Herzog mit einer Feſtigkeit fort, wie ſie die klar erkannte Pflicht giebt. Aber wißt, Jenatſch, von Euch erwarte ich hier im Lande Alles. Durch mein grenzenloſes Zutrauen ſeid Ihr in meine Sorgen und in die Schwankungen des Looſes eingeweiht, das ich im feſten Glauben war, Eurer Heimat ſchon geſichert zu haben. Ihr ſeid es allein. Ich weiß, Ihr ehret mein Vertrauen durch unverbrüchliches Schweigen. Beruhigt Eure Landsleute. Ich ſehe, welche außerordentliche, ja wunderbare Macht Ihr auf die Gemüther ausübt. Schaffet Friſt! Haltet den Glauben an Frankreich auf¬266 recht! Verſichert Eure Bündner, daß der Vertrag von Chiavenna, wenn auch heute noch nicht verkündet, doch in Bälde in Kraft treten muß, und Ihr werdet bei der Wahrheit bleiben, denn mit Gottes Hilfe überwin¬ den wir die Widerwärtigen. Heute Nacht noch zieh 'ich weiter nach Chur. Bringt mir dorthin bald über die Stimmung des Landes Bericht.

Jenatſch bückte ſich tief über die Hand des Her¬ zogs, und ſuchte dann noch einmal ſein Auge mit einem Ausdrucke ſprachloſen Schmerzes. Rohan ſah in dieſem langen ſeltſamen Blicke die Theilnahme eines Getreuen an ſeinem ausnahmsweiſe herben Looſe, er ahnte nicht, welche Wandlung ſich im Geiſte des Bündners zu dieſer Stunde vollzog und daß Georg Jenatſch nach innerm ſchweren Kampfe ſich von ihm losſagte.

Ihr thut wohl, edler Herr, ſagte der Oberſt ſich beurlaubend, in der guten Stadt Chur Euern Sitz zu nehmen. Ihr ſeid dort hochgeliebt, und ſolange die Churer Euer Angeſicht ſehen, und Ihr es ſeid, o Herr, der den König in Bünden vertritt, wird das Land nicht aufhören von Frankreich das Beſte zu hoffen.

Der Herzog ſah dem Scheidenden ſorgenvoll nach, ohne Mißtrauen, aber im Gefühle, daß wie er ſelber eine Zuverſicht an den Tag gelegt, die nicht in ſeinem müden Herzen war, auch der Bündner die Stürme267 ſeines unbändigen Gemüths niedergehalten und vor ihm verheimlicht habe. Er blickte noch eine Weile, im Inner¬ ſten entmuthigt und traurig, hinüber an den dunkelnden Berg. Eine Klage entwand ſich ſeiner Bruſt: Herr, ſeufzte er, warum haſt Du Deinen Diener nicht in Ehren dahin fahren laſſen!

Fünftes Kapitel.

Jenatſch war hinausgeeilt. Ein Sturm wildſtrei¬ tender Gedanken tobte in ſeinem Innern, den vor dem Herzog niederzuhalten ihn Anſtrengung gekoſtet hatte. Er verabſcheute die Möglichkeit, während dieſes Seelen¬ kampfes irgend einem Menſchen Rede ſtehen zu müſſen. Mit eilenden Schritten ſtieg er, das Gewühl des wachen Dorfes unter ſich laſſend, die dämmerigen Bergwieſen hinan und ließ ſeine zornigen Gefühle dahinſtürmen wie eine Schaar ins Gebiß knirſchender Roſſe; aber ſein berechnender Geiſt behielt die Zügel und lenkte die brauſenden Mächte ſeines Gemüths auf immer neuen immer gefahrvolleren, aber wohlbemeſſenen Bahnen.

Das Ziel wonach er ſein ganzes Leben lang ge¬ rungen, das ſeine Tage beſchäftigt und ſeine Nächte beunruhigt hatte, um das er mit den verſchiedenſten Kräften ſeines Weſens gekämpft, das Ziel wonach269 er auf den blutigſten Irrwegen geklommen und dem er ſich ſeit Jahren mit gebändigtem Willen als ergebenes Werkzeug einer edeln und, wie er glaubte, in ihrem Machtkreiſe unbeſchränkten Perſönlichkeit auf dem ſichern Wege der Gerechtigkeit und Ehre genähert hatte, dies Ziel, das er noch heute mit der Hand berührte, es war ihm entrückt nein, es war vor ihm ver¬ ſunken! Denn Eines ſtand vor ſeiner Seele mit ent¬ ſetzlicher Klarheit: Bünden ſollte nie frei werden, ſollte nach der Abſicht des allgewaltigen und gewiſſenloſen Geiſtes, der Frankreichs ſchwachen König beherrſchte und deſſen innere und äußere Politik nach Gefallen lenkte, aufbehalten werden bis zum allgemeinen Frieden. Dann von Richelieu in die zu vertheilende Maſſe verfügbarer Länder geworfen, unter die übrigen Tauſchobjekte ge¬ mengt, war ſeiner armen Heimat unvermeidliches Schickſal, beim Länderſchacher des Friedensſchluſſes auf den Markt gebracht und dieſem oder jenem einen günſtigen Handel Anbietenden zugewogen zu werden.

Der Herzog trug keine Schuld daran. Er liebte Bünden und wollte es freigeben; aber er war nicht ſtark genug, ſeinen Willen gegen den ihn mißbrauchen¬ den des Cardinals durchzuſetzen. Er wagte es nicht, ſich mit einem Nebenbuhler zu meſſen, der über den Schranken der Gewiſſenhaftigkeit ſtand; er ſcheute ſich270 ſeinen Gegner mit jenen wirkſamſten Waffen zu be¬ kämpfen, die Richelieu mit Meiſterſchaft führte! War es nicht möglich, dieſe von Rohan kindiſch ver¬ ſchmähten Waffen zu ergreifen? Dem Jäger ſelbſt eine Schlinge zu legen?

Wo galt die menſchliche Gerechtigkeit, die der Herzog verwirklichen wollte, wo war ihr Urbild, die gött¬ liche, um ſie zu Ehren zu bringen und zu belohnen? Eitle Träume beides! Ein frommer Thor nur konnte daran glauben! .... Der Herzog war blöde genug zu meinen, der Cardinal anerkenne die Gültigkeit des von dem Mächtigen einem Schwachen gegebenen Wortes! Er war thöricht genug zu wähnen, ein zu Gunſten der Hugenoten im Bürgerkriege gezogenes Schwert könne jemals von Richelieu vergeben und vergeſſen werden, es ſei möglich durch ruhmreiche Dienſte den Haß des mächtigen Miniſters auszulöſchen! ... Er war ſo blind, nicht einzuſehen, daß gerade ſeine zu Frankreichs Ehre verrichteten Heldenthaten für den Eiferſüchtigen ein Grund mehr waren, ihn zu beargwöhnen und ihn auf¬ zuopfern!

Wohin aber war es gekommen mit dieſem chriſt¬ lichen Ritter? Er ſtand am Rande des Abgrundes, ein verlorener Mann! ... Und Jenatſch haßte ihn zu dieſer Stunde darum daß er ein Betrogener und Beſiegter271 war. Doch unglaublich! er ſelber hatte ſich ja ver¬ blenden laſſen durch ein Gefühl bewundernder Liebe zu dieſem edlen Menſchenbilde! Er hatte geglaubt, daß der Werth reiner Geſinnung, der ihn berückt hatte, auch in der Rechnung des Kardinals eine Zahl ſei ... Ja wohl hatte Richelieu mit dieſer Zahl gerechnet, wie der ſchlaue Fiſcher auf ſeinen Köder zählt und Jenatſch ſelbſt, doch nicht allein er Verzweiflung ergriff ihn ſein Vaterland war ein Opfer dieſes Betruges.

Vielleicht war noch Rettung möglich! Weg jetzt mit jedem hemmenden Bedenken, mit allen Banden der Dankbarkeit, mit allen Berückungen der Liebe, mit jeder Eigenſucht eines rein gehaltenen Charakters! Hinunter mit der Vergangenheit! Weg die Feſſeln ihrer liebge¬ wordenen Ueberzeugungen und Vorurtheile! Gelöſt werde jeder Zuſammenhang des Dankes und der Treue!

Und er forderte den großen Cardinal zum Zwei¬ kampf ein die Schranken ſeines Berglandes, Mann gegen Mann, Liſt gegen Liſt, Frevel gegen Frevel.

Und ſein Herz brannte in wilder Freude, weil in Bünden Einer war, der ſich der ſchlauen Eminenz ge¬ wachſen fühlte.

So durchjagte Jenatſch das Reich der Möglich¬ keiten mit raſtloſen Gedanken. Er achtete des Weges272 nicht und jetzt eilte er ſchon im nächſten thalabwärts gelegenen Dorfe längs einer langen Kirchhofmauer da¬ hin, als er gewahr wurde, daß ein barfüßiges Bauer¬ kind eilig neben ſeinen langen Schritten einherlief. Die Kleine hielt ſchon längſt einen Brief in die Höhe, der ihr, wie ſie ehrerbietig ausrichtete, von der Schweſter Perpetua für ſeine Gnaden den Herrn Oberſt über¬ geben worden ſei, welchen die Schweſter an der Pforte des Kloſtergartens habe vorübergehen ſehn.

Der Oberſt blickte um ſich, er war in Cazis. Er verabſchiedete die Kleine und lenkte, wie vom Finger des Schickſals berührt, in die Dorfgaſſe ein, wo ſich die Lichter entzündet hatten. Er hatte auf dem Umſchlage im letzten Dämmerſcheine die Handſchrift ſeines alten Freundes, des Paters Pancraz, zu erken¬ nen geglaubt. Am Fenſter eines Erdgeſchoſſes ſah er ein graues Mütterchen beim Scheine der Ampel ſpinnen. Er lehnte ſich außen an die Mauer, ſo daß ein ſpär¬ licher Strahl auf das Blatt fiel und las:

Hochmögender Herr Oberſt,

Ich erdreiſte mich, Euch Einiges zu melden, das für Euch und unſer Land wichtig ſein kann. Der Ver¬ trag von Chiavenna iſt ein vergängliches Blendwerk, das uns die Eminenz in Paris vorſpiegelt. Seit ich273 in Mailand verweile, wurde mir zur Gewißheit, was mir ſchon früher eine in meinem Kloſter am Comerſee zufällig aufgefangene Rede verrieth.

Kurz vor der Weinleſe herbergte dort ein fran¬ zöſiſcher Ordensbruder, ein beredter Prediger, der zur Erholung ſeiner abgearbeiteten Lunge und des ewigen Heiles wegen wozu Gott uns Allen in Gnaden ver¬ helfe den Weg nach Rom angetreten hatte. Beim Nachteſſen im Refectorium klagte der Prior mit ihm über die Zeitläufte und bedauerte, daß das Valtelin durch den Vertrag von Ehiavenna wiederum zu Bünden geſchlagen werde. Darüber ſeid ohne Sorgen, fuhr der Franzoſe heraus, der nicht wußte, daß ein guter Bündner am Tiſche ſaß, daß dieſer Vertrag keinen Soldo werth iſt, weiß ich aus beſter Quelle. Als ich mich in Paris vor meiner Abreiſe bei meinem Supe¬ rior, dem Pater Joſeph beurlaubte, kam ich gerade dazu, wie dieſer und der Nuntius des heiligen Vaters den Entwurf beſagten Vertrags ihren prüfenden Blicken unterwarfen. Der Nuntius ließ ſich hart dagegen aus, der hitzige Pater Joſeph aber zerknitterte das Papier in ſeiner Fauſt, ballte es zu einer Kugel zuſammen und warf es in den Winkel mit den Worten: Dieſer Vertrag eines Ketzers mit Ketzern wird niemals gelten.

Meyer, Georg Jenatſch. 18274

Ich verhielt mich mauſeſtill, aber hatte meine Ge¬ danken; denn, was der Pater Joſeph bedeutet, wißt Ihr beſſer als ich.

Hier in Mailand, wo ich mich in Ordensgeſchäf¬ ten ſeit zehn Tagen aufhalte, wurde ich geſtern in den Palaſt des Gubernatore gerufen, um ſeinem Geſinde wegen eines häuslichen Diebſtahls ins Gewiſſen zu reden. Da beſchied mich der Herzog, der meine bünd¬ neriſche Herkunft erfahren, zu ſich und ſagte mir halb ernſt, halb ſcherzweiſe: Wie ich jetzt Euch vor Augen habe, Pater Pancraz, möcht 'ich wohl den Oberſten Jenatſch leibhaft vor mir ſehen. Es wäre mir ein Leichtes dem verſtändigen Manne darzuthun, daß der Vertrag von Chiavenna nichts iſt als ein verdorbenes Pergament, daß euch Frankreich das Veltlin nie zurück¬ giebt und daß Spanien euch Bündnern Bedingungen machen könnte, bei denen Ihr euch ganz anders ſtündet. Pater Pancraz, Ihr habt mir den geſtohlenen Sie¬ gelring hervorgezaubert, könntet Ihr mir Euern Jenatſch, den Einzigen, mit dem mir zu verhandeln möglich iſt, auf dieſelbe ſtille und prompte Weiſe in dies Cabinet bringen, ſo ſolltet Ihr Eurerſeits Wunder erleben.

Da kam es wie eine Erleuchtung über mich, Euch von dieſer merkwürdigen Rede Kunde zu geben.

Kommt Ihr, ſo werde ich dafür ſorgen, denn ich275 bleibe einſtweilen in Mailand, daß Ihr außer dem hohen Herrn von niemand erblickt werdet. Könnet Ihr Euch daheim nicht frei machen, was ein Unglück wäre, ſo ſchickt eine Vollmacht, aber nur durch einen Mann, dem Ihr traut wie Euch ſelbſt, wenn Ihr einen ſolchen kennt.

Vergebt meinen Vorwitz und ſäumt nicht!

Der für meines Herrn Oberſten zeitliches und ewiges Heil täglich betende

Pater Pancraz.

Das Schreiben des Kapuziners, deſſen menſchen¬ erfahrene Klugheit und ſchlaue Vorſicht der Oberſt zu gut kannte, um ſich über das Gewicht und den Ernſt dieſer Mittheilung zu täuſchen, deckte ihm in blitzartiger Beleuchtung die Windungen eines halsbrechenden Pfades auf. Vielleicht hatte in ſchlimmen entmuthigten Stun¬ den ſein Blick ſchon früher ſich zuweilen dahin verirrt, aber immer hatte er ihn mit einem Gefühl der Ver¬ achtung ſeiner ſelbſt erſchrocken und ekelnd wieder davon abgewandt. Dieſer Weg der Gefahr und Schande war das Bündniß mit Spanien. Jene Macht, die er von Kindheit an mit der ganzen Kraft ſeines jungen Her¬ zens gehaßt, die er dann in vermeſſenem Jugendmuthe mit faſt wahnſinniger, vor keinem Greuel zurückbeben¬ der Leidenſchaft bekämpft, welcher er ſein ganzes Leben18*276hindurch als Todfeind gegenüber geſtanden und deren eigennützige und wortbrüchige Politik er auch heute noch tief verachtete ſie bot ihm die Hand. Er konnte dieſe Hand ergreifen nicht in Treu und Glauben, wohl aber um ſich von ihr die franzöſiſche Schlinge löſen zu laſſen und ſie dann zurückzuſtoßen.

Jetzt entſchloß er ſich dazu.

Langſam wandelte er auf der dunkeln Heerſtraße nach Thuſis zurück. Es ward ihm ſchwer zu brechen mit der ganzen Vergangenheit. Er wußte, daß er ſich ſelbſt in ſeinen Lebenstiefen damit zerbrach. Dort jen¬ ſeits des Rheines im Domleſchg lag das Dörfchen Scharans, deſſen armer Pfarrer, ſein gottesfürchtiger Vater in Geradheit und Einfalt ihn aufgezogen und ihn zur Treue im proteſtantiſchen Glauben und zum Haſſe der ſpaniſchen Verführung ermahnt hatte. Dort unfern davon ſtand der Thurm von Riedberg, wo er Pompejus Planta, der ſeiner Kindheit wohl gewollt, wegen der eigenſinnigen aber überzeugten und ehrlichen Parteinahme des ſtolzen Herrn für Spanien in ſeinem eigenen feſten Hauſe nächtlich überraſcht und erſchlagen hatte. Was dort ſchimmerte waren die erhellten Fenſter der einſamen Lucretia ...

Und wieder ſtürzten ſeine Gedanken in eine neue Bahn. Er ſelbſt konnte dem dringenden Rufe des mit277 Serbellonis Auftrag betrauten Pancraz jetzt unmöglich folgen. Er mußte als verderblicher Dämon unter der Maske der Treue neben dem Herzog bleiben, als arg¬ wöhniſcher Wächter jede ſeiner Bewegungen beobachten und um jeden Preis verhindern, daß der ermattete Kranke ſeinen Feldherrnſtab nicht am Ende doch in die Hände Richelieus niederlege.

Wer aber konnte an ſeiner Stelle mit Serbelloni unterhandeln? Allerdings nur einer, dem er traute wie ſich ſelbſt, aber dieſer Mann war nicht vorhanden. Noch einmal blickte er nach den Fenſtern von Riedberg hinüber. Ein ſchneller Gedanke durchfuhr ihn und ſtand nach einem Augenblicke der Ueberlegung als klarer Entſchluß in ihm feſt.

Mit raſchen Schritten eilte er nach Thuſis zurück. Vor der Herberge ſtand ein Haufen Marktleute, ſchweig¬ ſam und in gedrückter Stimmung, denn ſie hatten auf ihn und einen günſtigen Beſcheid vom Herzoge lange gewartet. Der alte Lugnetzer trat ihm aus der im Dunkel zuſammengedrängten Gruppe entgegen mit der Frage auf den Lippen, die ihrer aller Gemüth beun¬ ruhigte.

Aber Jenatſch ließ ihn nicht zu Worte kommen.

Hört an, liebe Landsleute, und bewahrt es in einem feinen Herzen, rief er mit eindringlicher aber278 gedämpfter Stimme: Der Winter ſteht vor der Thür; bleibet ruhig daheim in Euern Dörfern und erharret den Lenz. Kommt die Schneeſchmelze zu Anfang des Märzen, dann machet Euch und Eure Ehrenwaffen be¬ reit. Ich lade Euch zu einem Tage nach Chur. Stunde und Loſung wird Euch noch geſagt werden. Dort rich¬ ten wir im Namen Gottes den drei Bünden ihre alte Freiheit wieder auf!

Die Leute hatten in feierlichem Schweigen zugehört. Als Jenatſch geendigt, dauerte die Stille noch eine Weile fort. Dann begannen ſie die Sache flüſternd ſich aus¬ zulegen, bis ſie tief in der Nacht auf ihre Heimwege ſich zerſtreuten.

Aber er, der zu ihnen geredet, ſtand nicht mehr in ihrem Kreiſe. Der Oberſt Guler hatte ihn weggeholt und ſtreckte ihm jetzt in der Gaſtſtube inmitten der Offiziere ein Papier und eine eingetunkte Feder ent¬ gegen.

Da iſt der Pact nach Soldatenart kurz ge¬ faßt ſagte er, haſt Du noch die edle Courage, deren Du Dich heute berühmteſt, Ventrebleu, ſo unter¬ ſchreib 'ihn.

Der Angeſprochene ſtellte ſich unter den Leuchter und las:

Wenn der rückſtändige Sold der bündneriſchen279 Regimenter binnen Jahresfriſt von Frankreich nicht ausgezahlt wird, haftet den Bündneroberſten für ihr Guthaben, ſei es Ganzes oder Reſt, der Endunter¬ zeichnete mit ſeinem ſämmtlichen liegenden und fahren¬ den Gut.

Jenatſch ergriff die Feder, ſtrich die zwei einzigen Worte: von Frankreich , und unterſchrieb.

Sechstes Kapitel.

Kurze Zeit, nachdem Schweſter Perpetua den ihrer Klugheit als ſehr wichtig empfohlenen Brief des ab¬ weſenden Beichtigers glücklich beſtellt hatte, trippelte ſie, ein Arzneikörbchen am Arme und eine kleine Hornlaterne in der Hand, über die Rheinbrücke bei dem Dorfe Sils. Jenſeits derſelben beſaß das Kloſter einen Hof, deſſen Pächter krank darniederlag. Die Heilkundige war heute für den vom Fieber geſchwächten Mann durch eines ſeiner Kinder, das die Kloſterſchule beſuchte, um Rath und Hilfe angerufen worden. Sie ſcheute den nächt¬ lichen Gang nicht, ſo wenig, daß ſie, nachdem der Sieche ſich ihrer Tröſtungen erfreut, ſtatt das Angeſicht wieder der Brücke und ihrem Kloſter zuzuwenden, auf dunkeln, aber ihr wohlbekannten Straßen in der Rich¬ tung weiter eilte, aus welcher ihr die Lichter des Schloſſes Riedberg entgegenſchimmerten.

281

Schon klopfte ſie ans Thor, das der alte Lucas ihr brummend aufſchloß, und bald darauf ſaß ſie neben der edeln Herrin in einem alterthümlich ſchmuckloſen, aber lieblich erleuchteten Gemache vor einem herbſtlichen Kaminfeuer und trocknete die vom Nachtthaue durchnäßten Ränder ihres Kloſtergewandes, dir ſchweigſame Lucretia mit erbaulichen Geſprächen ergötzend.

Das Schreiben des Paters, von deſſen Ueber¬ redungsgeiſt die Nonne eine hohe Meinung hatte, die flüchtige Erſcheinung des Oberſten vor der Kloſterpforte, das glänzende Geldſtück, das er der kleinen barfüßigen Botin gereicht, arbeiteten in ihrer frommen Einbildungs¬ kraft. Dies Alles hatte ſie, der Himmel weiß durch welche Gedankenverknüpfungen, bewogen, dem Fräulein unverzüglich einen nächtlichen Beſuch abzuſtatten und dieſe Ereigniſſe haarklein zu erzählen. Der Oberſt war, meinte ſie, wie ein von Gewiſſensbiſſen gefolterter Kain um die Mauern der heiligen Zufluchtsſtätte ge¬ irrt. Sie würde lobpreiſen und anbeten, aber nicht erſtaunen, wenn Gott hier ein großes Wunder vor¬ bereitete, um dieſen wüthenden Feind des chriſtkatho¬ liſchen Glaubens, den Ketzern zum beſchämenden Zeichen, in den Schooß der allein ſeligmachenden Kirche zurück¬ zuführen.

Da Lucretia nach ihrer ſtillen Weiſe nur mit282 einem traurigen Lächeln darauf antwortete, fuhr die fromme Schweſter mit ſteigendem Eifer fort: Bleibet, liebe Tochter, nicht kalt und ungläubig vor der glück¬ ſeligen Ausſicht auf die mögliche Bekehrung eines ſo gewaltigen Sünders! Betet lieber, daß dies Unerhörte geſchehe! Denn Euer Gebet, Fräulein Lucretia, die Ihr den blutigen Mann nach dem natürlichen Men¬ ſchen haſſen und verabſcheuen müßt, wäre allerdings bei den Heiligen beſonders wirkſam und ihnen als ein ſchmerzliches Opfer vorzüglich angenehm. Noch kräftiger wäre es freilich, wenn Ihr dieſes Gebet als verlobte Braut Gottes mit einem durch das dreifache Gelübde von allen weltlichen Erinnerungen gelöſten Herzen dar¬ bringen könntet.

Schweſter Perpetua ſagte dies mit einem tiefen Seufzer und machte ſich in Erwartung einer Antwort, die ausblieb, mit dem Feuer zu ſchaffen. Ach, ihr war nicht entgangen, daß der klöſterliche Beruf Lucretia's, an den ſie unentwegt glaubte, dieſer noch immer nicht klar geworden, ja ſeit die Verwaiſte in ihr väterliches Haus eingezogen, ihr wieder mehr in die Ferne gerückt war. Sie ſtand allein unter dem in dieſen kriegeriſchen Zeitläuften verwilderten Schloßgeſinde und den verarmten über die franzöſiſche Bedrückung tägliche Klagen vor ihr Ohr bringenden Dorfleuten. Und dieſe Einſamkeit283 that ihr offenbar nicht wohl. Da war Lucas, der rachſüchtige Graubart, der das ſchwarze Kreuz an der Mordmauer nicht erblaſſen ließ, und der das immer ſcharf gehaltene Todesbeil wie eine Reliquie in einer wurmſtichigen Eichentruhe ſorgfältig verwahrt hielt. Das Fräulein mußte, fürchtete die Schweſter, immer tiefer in ſich ſelbſt und die ihr Gemüth von allen Seiten umrankenden, jeden neuen Lebenskeim erſticken¬ den Erinnerungen verſinken. Sie konnte den Riß nicht überwinden, der Altes und Neues für ſie trennte. Sie lebte wenig in der Wirklichkeit, ſondern verkehrte im Geiſte mit ihrem todten Vater, von deſſen Gemüths¬ art ſie viel geerbt hatte, und dem ſie mit jedem Jahre in auffallender Weiſe auch in ihrem Ausſehen ähnlicher wurde. Es war dieſelbe Pracht der Geſtalt, dieſelbe ſtolze Haltung. Ihr Ohm, der Freiherr Rudolf, war in der Verbannung geſtorben und ſie hatte außer ſeinem niedrig geſinnten und eigennützigen Sohne keine nähern Sippen. Eine Verwandte ihrer Mutter lebte noch in Chur, und ſie pflegte ſie zu beſuchen; aber dieſe Gräfin Travers war durch ſchwere Schickſale und ein über¬ langes Leben verſteinert und wenn auch gut katholiſch, kaum mehr als ein ſtumpfes Echo längſt verſchollener Tage. Daß Lucretia mit den Juvalta auf Fürſtenau und dem auf den andern Nachbarſchlöſſern ſitzenden284 Adel keinen Umgang pflog, das freilich konnte ihr Per¬ petua unmöglich verdenken, denn jene Alle waren Pro¬ teſtanten und gehörten zu der franzöſiſchen Partei. So war Lucretia völlig allein, warum denn verließ ſie ihren düſtern einſamen Pfad nicht? Warum trat ſie nicht in die Gemeinſchaft der demüthigen Töchter des heiligen Dominicus?

Während die Schweſter dergeſtalt dieſen ihren Lieblingsgedankengang durcheilte, drehte Lucretia ſchwei¬ gend ihre Spindel und verfolgte einen andern.

Sie fragte ihr Herz, wie es denn möglich ſei, daß Jürg in ſeiner wildeſten blutigſten Zeit ihrem Ge¬ fühl und Verſtändniſſe weniger fremd geweſen, als jetzt, da er in den Räthen des Landes und im Heergefolge des franzöſiſchen Herzogs unter die Geachteten und Angeſehenen zählte.

Zweimal ſeit ihrer Heimkehr hatte ſie Georg, wenn ſie zu Beſuch bei ihrer Muhme in Chur war, von ferne erblickt. Eines Abends ſtand ſie neben dem Lehnſtuhle der alten Dame und ſchaute durch das eiſerne Laubwerk am Gitterkorb des Fenſters, während der Sonnenſchein gradweiſe das Pflaſter des Platzes ver¬ ließ und nur noch auf dem ſprudelnden Waſſer des Marktbrunnens blitzte. Der Oberſt ſchritt längs der gegenüberſtehenden Häuſerreihe auf und nieder an der285 Seite einer gravitätiſchen Magiſtratsperſon, die jedes Wort, das von ſeinen Lippen fiel mit begieriger Auf¬ merkſamkeit anhörte und ſeine Ausſprüche mit beiſtim¬ mendem Kopfnicken begleitete. Es ſchien ſich um einen ſchweren Rechtsfall zu handeln.

Ein andermal umgab den Oberſten ein Kreis franzöſiſcher Edelleute, mit denen er nach der Mittags¬ tafel in ſchneller, luſtiger Scherzrede ſich erging. Immer aber klang es ſo hell von ſeinem Munde und leuchtete es ſo geiſtvoll von ſeiner Stirn, daß er als einer jener ſeltenen Günſtlinge des Glückes erſchien, die ſich alle Wege des Erfolges zu öffnen und zu ebnen wiſſen und die das Vergangene und Unabänderliche wie eine läſtige Feſſel abwerfen.

Ich weiß es jetzt geſtand ſie ſich dieſer Freund von Jedermann iſt nicht der Jürg mehr, den ich liebte, nicht der ſcheu verwegene Knabe mit den dunkeln verſchwiegenen Augen, der mein Beſchützer war, nicht der zornig Dahinbrauſende, der mein Glück wie ein die Ufer zerreißender Wildbach in Trümmer warf, nicht der Mann, gegen den ich in meinen Racheträumen die Hand erhob, nicht der Traute, den ich nach Jahren des Jammers auf dem Bernhardin wieder zu erkennen glaubte und in die Arme ſchloß, nein! es iſt ein weltgewandter Höfling, ein berechnen¬286 der Staatsmann aus ihm geworden ... Er will ſich von mir ſcheiden und loskaufen, darum gab er mir mein Riedberg wieder. Er ſcheut mich wie einen Vor¬ wurf, er flieht mein Antlitz wie das einer Todten! Und ſie vergaß, daß ſie ſelbſt ihn drohend beſchworen, die Schwelle ihres Hauſes nimmermehr zu über¬ ſchreiten.

Heilige Mutter Gottes, was iſt das für ein Lärm! fuhr jetzt Schweſter Perpetua auf, denn im Schloßzwinger erſcholl ein raſendes Gebell der Hofhunde. Man hörte das Schelten der ſie beſchwichtigenden Knechte, dazwiſchen wiederholte Schläge gegen das Thor und, als Lucretia das Fenſter öffnete, eine mit langſamer Bedenklichkeit geführte Unterhandlung zwiſchen Lucas und der gebieteriſchen Stimme eines Einlaß Begeh¬ renden.

Nun erſchien der Alte ſelber mit der beſtürzteſten Miene, deren ſeine felſenharten Züge fähig waren. Es verlangt Einer allein mit Euch zu reden, Fräu¬ lein .... ſagte er, der Oberſt Jenatſch, den Gott ſtrafe! ſetzte er leiſer und mit innerer Empörung hinzu.

Lucretia ſtand groß und bleich. Sie hatte die Stimme vor dem Hofthor am erſten Laute erkannt.

Laß ihn nicht warten! Führe ihn hieher! befahl287 ſie dem Alten, der ſie fragend anſah und nur zögernd gehorchte.

Die Nonne hatte ſich erhoben und eine ſtill be¬ obachtende Stellung in der tiefen Fenſterniſche ein¬ genommen. Dort lag auf der Bank ihr Nachtmantel; ſie ſtrich ihn zurecht, aber legte ihn nicht um.

Raſche Schritte näherten ſich und Georg Jenatſch ſtand vor Lucretia mit entſchloſſenem freudigen Antlitz und grüßte ſie als Bekannte, doch mit großer Ehrer¬ bietung.

Schweſter Perpetua betrachtete mit einem Ausdrucke frommer Einfalt, aber den ſchärfſten Blicken ihrer halb¬ geſchloſſenen Augen die beiden großen Geſtalten und ſie wunderte ſich.

Kein Kainszeichen war auf der hohen offenen Stirn des Oberſten zu entdecken, und merkwürdig das Fräulein ſtand neben ihm mit ſtrahlenden Augen, kühn und trotzig, wie einſt Herr Pompejus geblickt, und ſchien zur Höhe ihres gewaltigen Feindes emporzuwachſen.

Das von Perpetua ſehnlich erwartete Geſpräch jedoch begann nicht. Die Schloßherrin richtete das Wort an Lucas, der mit drohender Miene an der Thüre ſtehen geblieben war: Die fromme Schweſter begehrt nach Haus. Die Nacht iſt dunkel und der288 Weg weit. Begleite ſie mindeſtens bis jenſeits der baufälligen Rheinbrücke. Und damit nahm das Fräu¬ lein von Perpetua herzlichen Abſchied.

So ſtand die Schweſter, ehe ſie ſich deſſen ver¬ ſah, am Hofthore, Lucas aber entzündete eine Pechfackel und ſchritt mit der rauchenden Leuchte vor ihr her in die Nacht hinaus. Jetzt ſchickt ſie mich weg, murrte er hörbar, als wollte er es der frommen Schweſter klagen, und es wäre gerade der rechte Ort und Augen¬ blick!

Als Jenatſch mit dem Fräulein allein war und ihm gegenüber am Feuer ſaß, begann er mit kurzen klaren Worten:

Ihr ſeid gerechtermaßen erſtaunt, Lucretia, daß ich das Haus Eures Vaters betrete. Doch ich weiß, Ihr traut mir zu, daß ich nicht gekommen bin, Euch zu verwirren mit Wünſchen, die ich in meinem geheimſten Herzen gefangen halte, ſonſt hättet Ihr mich nicht in den wiederhergeſtellten Burgfrieden von Riedberg eingelaſſen. Und doch komme ich, etwas von Euch zu verlangen einen großen Dienſt, den Ihr mir leiſten werdet, wenn Ihr unſer Land ſo lieb habt, wie ich von Euch glaube und wie ich ſelbſt es liebe; denn an meiner Statt müßt Ihr handeln. Ich ſchließe ein Bündniß mit Spanien. Dies iſt unſere einzige289 Rettung. Richelieu verräth uns und der gute Herzog iſt ſein Spielzeug ein ſchönes Scheinbild, womit der Gewiſſenloſe uns täuſcht und blendet. Aber wer knüpft das rettende Tau? Ich ſelbſt kann hier nicht fort, weil ich unſer Volk zum Bewußtſein der über ihm ſchwebenden Gefahr aufwecken und den Herzog, den ich als Pfand behalte, mit Beweiſen meiner Ergebenheit einſchläfern muß ...... Ihr ſtaunt, daß ich, Spaniens Feind, zu dieſem Gifte greife! ..... Wundert Euch

nicht. Wenn ich nicht meine Vergangenheit zerſtöre und mein altes Ich von mir werfe, ſo kann ich nicht meines Landes Erlöſer ſein und Bünden iſt verloren. Ser¬ belloni erwartet mich ſelbſt, oder Einen, dem ich traue, wie mir ſelber, wenn ich, ſagt er, einen ſolchen kenne. Ich traue nur Euch.

Lucretia richtete den Blick mit zweifelnder Frage auf das von der Flamme beleuchtete, altbekannte Antlitz und las darin die höchſte Spannung der Thatkraft und einen tödtlichen Ernſt.

Ihr wißt, Jenatſch, ſagte ſie, welcher Partei mein Vater angehörte, wie und warum er ſtarb. Ihr wißt, wie ich ihm glaubte und ihn liebte. Ich konnte mich nie mit Gedanken befreunden, die nicht die ſeinigen waren. So iſt das franzöſiſche Weſen trotz der väterlichen Güte des Herzogs gegen mich HeimatloſeMeyer, Georg Jenatſch. 19290 mir immer fern und fremd geblieben. Ich habe mich nie darin zurecht gefunden. Ihr aber ſeid von Spanien durch viele Blutſchuld von Alters her getrennt. Ihr, Jürg, verdankt dem guten Herzog das Leben und Euern Ruhm! Er hat Euch mit Vertrauen überſchüttet und Ihr kennt ſeinen herzlichen Willen gegen unſre Heimat, habt Ihr ihn denn nicht lieb? ....... Könnet Ihr, ich will glauben der Heimat zum Beſten, immer nach Neuem greifen und ohne daß Ihr daran untergehet das alte Weſen wie eine Schlangen¬ haut abſtreifen?

Was iſt Dir der Herzog, Lucretia! rief er. Wie magſt Du um einen Fremdling ſorgen! Biſt Du noch ſo weichlichen Herzens nach Allem, was Du ge¬ litten und was ich ſelbſt an Dir und Deinem Hauſe gefrevelt habe? ... Schau um Dich ... in allen unſern Thälern Trümmer und Brandſtätten! Soll hier nie Friede werden, nie Freiheit und Geſetz hierher zurück¬ kehren? Der Herzog kann uns nicht herausziehen. Er will ſein frommhochzeitlich Kleid nicht beflecken. Doch auch ich habe eine Rede Gottes für mich. Ich wölbte mir die Himmel ſpricht der Herr den Spielraum der Erde aber überließ ich den Menſchenkindern ... Siehſt Du nicht, Lucretia, wie wir Alle in dieſen Bürgerkriegen Gebornen ein freches, ſchuldiges Ge¬291 ſchlecht ſind! ... und ein unſeliges. Dort hat der Bruder den Bruder erſchlagen und hier liegt trennend eine Leiche zwiſchen Zweien, die ſich lieben und ange¬ hören. Darum laß uns nicht kleiner ſein als unſer Loos! Ich ſtehe am Steuer und lenke Bündens Schiff¬ lein durch die Klippen mit ſchon längſt blutüberſtrömten Händen. Nimm ein Ruder und hilf mir! Zweifle nur jetzt nicht an mir, hilf mir, Lucretia! drang er in ſie.

Und was willſt Du, daß ich thun ſoll? ſagte die Bündnerin und ihre Augen begannen unternehmend zu leuchten.

Gehe nach Mailand, fiel er raſch und freudig ein, dort findeſt Du den Pancraz, der Dich beim Gubernatore einführen wird. Serbelloni kennt Dich von früher her als die, welche Du biſt. Unterhandle mit ihm über die Bedingungen, die ich Dir nieder¬ ſchreiben will. Haſt Du mir etwas zu berichten, ſo thue es durch den Pater, deſſen Beiſtand Dir in allen Fällen gewiß iſt.

Iſt es Dein Ernſt, fragte ſie erſtaunt, wenn Du mich als Deine Unterhändlerin nach Italien ſchickſt? Wie will ich mich im Labyrinthe der Politik zurecht finden?

Ich verlange nichts von Dir, ermuthigte er. 19*292 als was Du kannſt und ich Dir auch ſonſt zutraue: daß Du mein Geheimniß bewahreſt, und müßteſt Du es mit dem Leben ſchützen, und daß Du in der Unter¬ handlung von meinen Bedingungen nicht um eine Linie abweicheſt. Im Uebrigen wird Dich der brave Pancraz vortrefflich berathen. Gieb mir Tinte und Feder, ich will Dir die Punkte aufzeichnen, die Du feſtzuhalten haſt.

Lucretia erhob ſich und ſchritt zu der mit aſtreichem Nußbaumholze bekleideten Rückwand des Thurmzimmers. Dort ließ ſie die Platte ihres in das Getäfel kunſtreich eingefügten Schreibtiſches auf die gabelförmige Eiſen¬ ſtütze nieder und der Oberſt ſchrieb, während ihm das Fräulein aufmerkſam über die Schulter blickte:

Donna Lucretia Planta, meine Bevollmächtigte, wird mit der Excellenz des Herzogs Serbelloni für mich auf Grund fol¬ gender Bedingungen unterhandeln:

Der Gubernatore ſtellt einen Heerhaufen von über zehntau¬ ſend Mann bei Fort Fuentes an den Eingang des Veltlins.

Er trifft das Abkommen mit dem Hofe in Innsbruck, daß ein kaiſerlicher Heerhaufe von derſelben Stärke gegen die bünd¬ neriſche Nordgrenze bei Finſtermünz und am Luzienſteig vorrücke.

Die Führer beider Heere gehorchen dem Oberſten Jenatſch und betreten den Bündnerboden nicht ohne dieſes Oberſten ſchrift¬ lichen Befehl.

Der Oberſt Jenatſch verpflichtet ſich gegenüber Spanien in weniger als Jahresfriſt den Abzug aller in Bünden ſtehenden franzöſiſchen Truppen bis auf den letzten Mann zu bewirken. 293Dafür verſpricht die Krone Spanien, die völlige Unabhän¬ gigkeit der drei Bünde in ihren alten Grenzen anzuerkennen und zu gewährleiſten.

Noch einmal überſchaute Jenatſch die trocknenden Federzüge, dann ſetzte er ſeinen vollen Namen unter das Schriftſtück.

Während er vor der ihm entgegentretenden Ge¬ ſtalt ſeiner ungeheuern That insgeheim erbebte, wie vor einem heraufbeſchworenen Dämon, der ihm helfen oder ihn verderben konnte, war das Fräulein mit ihren Blicken den ſeinigen über das Blatt gefolgt und hatte ſich mit einem Unternehmen, deſſen praktiſche Seite ihr einleuchtete, ſchneller als zu erwarten war, vertraut gemacht. Es ſchien ihr, daß es ſich um einen raſchen, klar geplanten, vielleicht unblutigen Handſtreich handelte und das war ihr lieber, als wenn ihrer einfachen Natur zugemuthet worden wäre, die Fäden eines verwickelten Intriguennetzes in die Hand zu nehmen und zuſammen zu knüpfen.

In dem Augenblicke als Jenatſch die Vollmacht zuſammenfaltete und dem Fräulein übergab, zeigte ſich der alte Kaſtellan, der ſeine Rückkehr möglichſt be¬ ſchleunigt hatte, auf der Schwelle und der Oberſt be¬ fahl ihm, ſeinen Rappen vorzuführen.

294

Dieſen grauen Bären vergiß mir nicht auf die Fahrt mitzunehmen, Lucretia, ſeine Treue iſt alt und ſeine Tatzen ſind noch gefährlich, ſagte er freundlich, ſprang auf und trat mit dem Fräulein ans Fenſter. Er zögerte zu ſcheiden. Die Nacht iſt klar geworden, ſprach er hinausblickend, wann gedenkſt du zu reiſen?

Morgen vor Tag, erwiederte Lucretia. Durch Pancraz wirſt du zuerſt von mir hören. Jürg, du biſt ein gar großer Herr geworden, wie könnt 'es dir fehlen, wenn Kapuziner und Frauen für dich boten¬ laufen! Und die Thränen traten ihr in die Augen.

Dieſes halb muthwillige, halb traurige Wort ge¬ hörte wieder ganz der Lucretia ſeiner Jugendtage. Sie ſtand neben ihm, nur größer und herrlicher, neu erblüht zu bräunlicher Geſundheit im Hauche ihrer Berge. Der Nachtwind bewegte die Löckchen an ihren Schläfen, die ſich aus der Krone der dicken dunkeln Flechten gelöſt hatten und ihre leuchtenden Augen blickten ihn an mit einer lautern Kraft, wie ſie unter dem ermattenden Himmel des Südens nicht gedeiht.

Alte liebe Erinnerungen erwachten in ihm, er widerſtand nicht und umfing ſie.

Mir iſt, es ſei noch nicht lange her, daß wir da unten mit einander ſpielten, ſagte er weich und zeigte295 auf die im Herbſtwinde leiſe rauſchenden Bäume des riedberger Schloßgartens nieder.

Sie fuhr ſchaudernd zuſammen ihr Vater war vor ihr aufgeſtiegen und blickte, von Jürg ſich ab¬ wendend, ins Dunkel hinaus.

Was ziehn dort für Lichter auf der Straße längs dem Heinzenberg, iſt es ein Todtengeleit? fragte ſie auf das jenſeitige Rheinufer deutend.

Jenatſch warf einen ſcharfen Blick hinüber. Es ſind die Fackeln des Herzogs, der im Schutze der Nacht hinunter nach Chur fährt, ſagte er, blickte noch ein¬ mal in ihre naſſen Augen, küßte ihr dann raſch die Hand und eilte von hinnen.

Siebentes Kapitel.

Herzog Heinrich hatte ſich in Chur das ſtattliche Haus des Ritters Doctor Fortunatus Sprecher zum Quartier er¬ wählt. Der gelehrte Bündner ſtellte es ihm mit freudigem Dienſteifer zur Verfügung, denn es war von jeher ſein Ehrgeiz und ſein Glück geweſen, ſich edeln hiſtoriſchen Perſönlichkeiten zu nähern und mit ihnen in einem ſeinem Geſchichtswerke gedeihlichen Verkehr zu bleiben.

Kaum hatte ſich der herzogliche Haushalt ſo ſtan¬ desgemäß, wie es in dem republikaniſchen Berglande möglich war, in den beſten Gemächern der raumreichen patriziſchen Wohnung eingerichtet, als nach einer Reihe von düſtern ſtürmiſchen Tagen der Schnee in ſchweren Flocken zu fallen begann. Der Winter brach früh herein und die weiße Decke blieb auf den ſteilen Dächern und ernſthaften Stufengiebeln der alten Biſchofsſtadt faſt ohne Unterbruch liegen, bis am Ende des Hornungs297 die Föhnſtürme das Land fegten und mit den erſten Märztagen die Sonne Kraft gewann.

Der Winter war dem guten Herzog in gezwunge¬ ner Muße verfloſſen, denn er war von ſeinem Heere im Veltlin durch den unwegſamen Schnee der Berge getrennt, und auch ſeine Verhandlungen mit dem fran¬ zöſiſchen Hofe ſtockten und wollten zu keinem Ziele führen. Wäre die Sorge um den Abſchluß des Ver¬ trags neben andern Sorgen und Ungewißheiten und wäre die an dem thätigen Geiſte des Feldherrn zeh¬ rende gezwungene Muße nicht geweſen, er hätte ſich im Sprecherſchen Hauſe nicht unwohl gefühlt und nicht ungern unter ſeinen ſchlichten proteſtantiſchen Glaubens¬ genoſſen verkehrt.

Der Doctor Sprecher achtete ſich durch die Gegen¬ wart Rohans hochgeehrt. Erfüllte ſich ihm doch der langgehegte Wunſch, den Lebenslauf ſeines erlauchten Gaſtes an der Quelle ſchöpfend aufzeichnen zu dürfen. Mit der liebenswürdigſten Herzensgüte bequemte ſich dieſer dazu, ſeinem Wirthe täglich ein Bruchſtück ſeiner Schickſale in italiäniſcher Sprache zu erzählen und in dieſer Sprache verfaßte der Doktor auch das Lebens¬ bild, das ein Geſchenk werden ſollte, denn ſo hatte es der edle Gaſt ausdrücklich verlangt, für die Frau Her¬ zogin, die ſich noch immer in Venedig aufhielt, und für298 Rohans Tochter, die dem Herzog Bernhard von Wei¬ mar anverlobte Marguerite. Mit dieſer erfreulichen, aber privaten Beſtimmung ſeiner gewiſſenhaften und ſchönen Arbeit war der Doctor Sprecher nur halb ein¬ verſtanden. Er hätte ſie lieber zum Ruhme des Her¬ zogs und nicht zur Unehre des Verfaſſers ohne falſche Beſcheidenheit alsbald durch die Preſſe verewigen und in die Welt ausgehen laſſen.

Auf andere Weiſe bethätigte ſich des Herzogs Ad¬ jutant, der junge Wertmüller. Ruhelos trieb er ſich in allen hohen und niedern Regionen der kleinen Stadt um. In kürzeſter Friſt war er in Chur eine bekannte Perſönlichkeit, vom biſchöflichen Palaſte an, wo er ſeiner ſcharfen Augen und boshaften Zunge wegen geſcheut, am Spieltiſche dagegen jederzeit willkommen war, bis hinunter in die dunkelſten Winkelſchenken, wo man ihn, wie dort, an den gedehnten Winterabenden gerne kommen und nicht ſelten noch lieber wieder gehen ſah. Es ge¬ lang ihm hier, die phlegmatiſchen Bündner durch ſeine Sticheleien, politiſchen Vexierreden und mancherlei andere Brennneſſeln ſo lange zu reizen, bis ihnen Dinge ent¬ fuhren, die ſie nachher ſchwer bereuten über die Lippen gelaſſen zu haben.

War das Publikum empfänglich und regte es ihn durch phantaſievolle Beſchränktheit an, ſo entfaltete er299 noch andere in den herzoglichen Gemächern nicht ver¬ wendbare, geheime Wiſſenſchaften, die er ſeinen gründ¬ lich getriebenen mathematiſchen und phyſikaliſchen Studien verdankte. Es waren Kartenkünſte und Zauberſtücke, die dem Locotenenten in den unterſten Schichten ſeines Wirkungskreiſes den ernſtgemeinten Ruf eines Hexen¬ meiſters eintrugen, eine Auszeichnung, die ihm behagte, die aber in Regionen, wo der Weg aus dem erſchreck¬ ten Kopfe in die derbe Fauſt ein kurzer iſt, mit man¬ cher Leibesgefahr verbunden war.

Dieſe nächtlichen Anfälle und Handgemenge reizten übrigens die kaltblütige Tapferkeit des Locotenenten mehr, als daß ſie ihn von ſeiner tollen Kurzweil ab¬ gebracht hätten. Auch wußte er ſich immer glücklich daraus zu ziehen, und ſo raſch, daß ſeine militäriſche Ehre nie Schaden litt und die Verwirrung der Geiſter und die Arbeit der Fäuſte erſt dann ihren Höhepunkt erreichte, wenn er ſchon in den ſtillen Räumen des Sprecherſchen Hauſes an den herzoglichen Gemächern vorüber auf den Zehen ſeiner Kammer zuſchritt.

Der Herzog, welchem Wertmüller mit unbedingter Treue und raſtloſem Dienſteifer ergeben war, und der ihm deshalb vieles nachſah, beunruhigte er ohne Unter¬ laß durch ſeine ſcharfſinnigen Entdeckungen und war¬ nenden Berichte. Wahrlich, er ſchien es darauf anzu¬300 legen, den hohen Herrn zu keinem Behagen kommen zu laſſen.

Auf Jenatſch, deſſen aufopfernde Treue mit den ſchweren Verhältniſſen wuchs, der den Herzog täglich beſuchte und es ſich zur Aufgabe machte, ſeine Sorgen zu verſcheuchen, ſeine leiſeſten Wünſche zu errathen, ſeine Befürchtungen ihm abzulauſchen und ſie entweder durch die eigene fröhliche Zuverſicht zu entwurzeln, oder mit beredten, überzeugenden Worten zu widerlegen auf Jenatſch, den nützlichſten Rathgeber des Herzogs und den Liebling des Volkes, hatte es der verhärtete Locotenente beſonders abgeſehen. Wertmüllers Gedanken ſpürten dem Oberſten auf allen Schritten und Tritten nach, und er wollte aus der Haut fahren, wenn der Herzog ſeine Warnungen lächelnd fallen ließ, weil er ſie maßloſer Eiferſucht auf ſeinen Günſtling oder der Unverträglichkeit dieſer zwei grundverſchiedenen Tempe¬ ramente zuſchrieb.

Was behauptete Wertmüller nicht Alles!

Das Scheitern des Vertrags von Chiavenna, wel¬ ches Rohan von dem einzigen in das Geheimniß gezo¬ genen Bündner verſchwiegen wußte, war, wenn man den Locotenenten hörte, ſchon längſt allgemein bekannt, ja wie abſichtlich bis in die fernſten Hütten verbreitet, eine Kunde, die man ſich nicht verhohlen ins Ohr ſagte,301 nein, von der die Thäler dieß - und jenſeits der rhäti¬ ſchen Alpen wiederhallten.

Aber das war das Geringſte Schlimmeres drohte Bünden unterhandelte mit Spanien, behaup¬ tete Wertmüller. Und nicht etwa einzelne Parteigänger und Unruhſtifter zettelten, ſondern das geſammte Volk war in Gährung und Verſchwörung gegen Frankreich begriffen, und Jenatſch, der heilloſe Heuchler, hielt das ganze Spiel des Betrugs in der Hand.

Der Herzog pflegte gemeiniglich leichthin zu er¬ wiedern, derartiges habe ſich noch nie ereignet, es ſei ſchlechterdings undenkbar, daß ein ganzes Volk ſich wie eine geheime Geſellſchaft verſchwöre, unmöglich, daß nicht mindeſtens Einer ihn warnte unter ſeinen vielen redlichen Anhängern im Lande. Im ſchlimmſten Falle würde ihn ſein Gaſtfreund, der ruhige, wohlunterrichtete und keiner Partei pflichtige Doktor Sprecher, gegen deſſen ehrenwerthe Geſinnung ſelbſt der Locotenent nichts werde einwenden können, vor ſolchen unerhörten ver¬ rätheriſchen Anſchlägen ſicher ſtellen.

Der unbelehrbare Zürcher ließ das nicht gelten.

Was die Verſchwörung eines ganzen Volkes be¬ treffe, ſo wolle er gerne zugeben, ſagte er, daß ſie nir¬ gends möglich wäre, als unter den Bündnern, die mit dem nordiſchen Phlegma die ſüdliche Verſchlagenheit in302 glücklicher Miſchung vereinigten. Der Erſte, Beſte die¬ ſes Volkes könne dem geriebenſten Diplomaten zu rathen geben. Die Staatskunſt ſei hier ſo allgemein verbreitet und landesüblich, daß das ganze Volk wie ein Mann rede oder ſchweige, wenn es ſich um einen deutlichen Vortheil handle; die Schwierigkeit ſei alſo nur, den langſamen Köpfen die Rechnung klar zu machen und dafür werde der Volksredner Jenatſch ausgiebig geſorgt haben.

Was den gelahrten Herrn Doktor angehe, ſo wolle er ihm nicht zu nahe treten, aber für muthig halte er ihn nicht, wenigſtens nicht einer gewiſſen geheimen Vehme gegenüber, von der man munkle. Er könne hier ſeine Quellen nicht nennen; aber er müſſe glauben, es ſei im Lande ein Geheimbund errichtet mit Statuten, die ſie den Kletten - oder Kettenbrief nennen wahr¬ ſcheinlich um das feſte Ineinandergreifen und Zuſam¬ menhalten der Bundesglieder zu bezeichnen. Auf Ver¬ rath ſtehe der Tod. Er wolle nun nicht behaupten, daß der Doktor ein Glied dieſer Kette ſei, er ſei nicht das Eiſen dazu, aber daß er ſich vor dieſen Banditen ſträflich fürchte, das ſei mehr als wahrſcheinlich.

Dieſe Verſchwörung, deren Verräther dem Tode verfalle, behandelte der Herzog als eine vom Müſſig¬ gange erfundene und geglaubte Schauergeſchichte. Man303 hat Euch das aufgebunden, Wertmüller, pflegte er zu ſcherzen, um Euerm Argwohne gleich das ſtärkſte Ge¬ würz vorzuſetzen! Und geſteht nur, Ihr verdient etwas für Eure böſe Zunge.

Am Verdächtigſten war dem Locotenenten die Keck¬ heit, mit der Jenatſch den Herzog über deſſen eigene Stellung am franzöſiſchen Hofe mit ſchmeichelnden Worten zu täuſchen verſuchte. Darüber mußte ſich Heinrich Rohan doch ſelber im Klaren ſein. Was konnte den Bündner dazu bewegen, fragte ſich Wertmüller, wenn nicht die teufliſche Abſicht, den guten Herzog von allen Seiten mit Netzen der Täuſchung und dämoniſchen Irrſals zu umſpinnen, um den Sichergewordenen um ſo gewiſſer zu verderben? Und ſein Haß gegen den Oberſten ſtei¬ gerte ſich ins Unglaubliche.

Priolo war unverrichteter Dinge von Paris zurück¬ gekommen Wertmüller nahm an, er ſei in das Zö¬ gerungsſyſtem des Kardinals eingeweiht und von dieſem gewonnen und wurde mit neuen Briefen wieder weggeſandt, welche die dringendſten Vorſtellungen ent¬ hielten, doch ja die Unterzeichnung des für Frankreich verhältnißmäßig günſtigen Vertrags nicht länger zu ver¬ zögern und die Bündner dadurch ſpaniſchen Anerbie¬ tungen zugänglich zu machen.

Kaum war Priolo abgereiſt, ſo berichtete der tapfere304 Herr von Lecques, den Rohan an der Spitze ſeines Heeres im Veltlin zurückgelaſſen hatte, von drohenden Zeichen des Ungehorſams unter ſeinen Bündnertruppen, die auf eine allgemeine Gährung im Volke hindeuteten. Er würde, ſchrieb er, dieſen einzelnen Vorfällen weiter keine Bedeutung beilegen, wenn nicht die Spanier in anſehnlichen Maſſen ſich der Grenze näherten, wenn nicht der Herzog von ſeinem Heere getrennt wäre und ſich in der Mitte eines, wie er fürchte, mit der Politik Frankreichs täglich unzufriedener werdenden Landes be¬ fände. Er ſchloß ſeinen Bericht damit, daß er den Herzog bat und beſchwor, ſich um jeden Preis mit ſei¬ nem getreuen Heere im Veltlin zu vereinigen. Sei dies geſchehen, habe er, Lecques, ſeiner peinigenden Verantwortung ſich entledigt und den Befehl in die ruhmreichſten Hände niedergelegt, ſo freue er ſich, an der Seite ſeines Feldherrn, den Degen in der Fauſt, der ganzen Welt zu trotzen.

Wertmüller vernahm dieſen rettenden Vorſchlag mit Jubel und fluchte wüthend, als er nach dem nächſten Beſuche des Oberſten wahrnehmen mußte, daß es dieſem gelungen war, den Herzog zu überzeugen, ſein Aufenthalt in Chur ſei völlig gefahrlos, für die franzöſiſchen Intereſſen in Bünden vortheilhaft, bei der Verehrung, die ſeine Perſon im Lande genieße, zur305 Beruhigung der Gemüther ſogar unumgänglich noth¬ wendig.

Ein Augenblick des Zweifels kam auch für den edlen Herzog. Es war Wertmüller gelungen eine Spur aufzufinden, deren Verfolgung ihn in den Stand ſetzen konnte, auch das blindeſte Vertrauen zu erſchüttern. Er hatte in der Schenke zum ſtaubigen Hüttlein die Bekanntſchaft eines welſchen Quackſalbers gemacht und zufällig erfahren, dieſer gedenke jetzt in das Land des Lorbeers und der Myrte zurückzukehren. Das aben¬ teuerliche Männchen, das ſich in dem kalten Klima den Magen mit dem gefährlichen weißen Completer wärmte, rühmte ſich in prahleriſcher Weinlaune ſeiner hohen diplomatiſchen Beziehungen und Fähigkeiten; in Wert¬ müller, der ihn bewundernd anhörte und ihm fleißig einſchenkte, blitzte eine Erinnerung auf. Jüngſt als er ſpät in der Nacht den biſchöflichen Palaſt verließ, hatte er dies unverkennbare Figürchen bei ſchwachem Mond¬ ſcheine in einer Ecke des Hofes neben einer Holofernes¬ geſtalt und im eifrigſten Geſpräche mit dieſer erblickt nur einen Moment, denn die Beiden waren beim Klirren ſeines Schrittes unter einem Thorwege verſchwunden, aber genügend lang für ſein ſcharfes Auge, um die auffallende Geſtalt des Wunderdoktors deutlich gewahr zu werden und in der andern, von einem dunkelnMeyer, Georg Jenatſch. 20306Mantel umhüllten, den Oberſten Jenatſch zu vermuthen. Das genügte, um den unternehmenden und durch die Winterruhe gelangweilten Locotenenten zu einem luſtigen Handſtreiche anzufeuern. Er belauerte die Abreiſe des Italiäners, nahm auf ein paar Tage Urlaub, ritt dem fahrenden Wunderdoktor nach und holte ihn auf ſeinem feurigen Fuchs gegen Abend des erſten Reiſetages ein. Wie ein Wegelagerer überfiel er ihn an einer einſamen Stelle der Gebirgsſtraße. Der erſchrockene Quackſalber mußte zuerſt ſeinen Apothekerkaſten ausräumen und ſich dann einer Durchſuchung ſeiner Perſon unterwerfen. Wie triumphirte Wertmüller, als er, dem Doktor freundſchaftlich auf den Rücken klopfend, ein kniſterndes Papier verſpürte, das zwiſchen Tuch und Unterfutter eingenäht war, und dann mit der Pflaſterſcheere des Unglücklichen aus deſſen ſcharlachrothem Rocke unverſehrt ein eigenhändiges Schreiben ſeines Feindes an einen Kapuzinerpater herausſchnitt, worin Jenatſch dieſem Aufträge an den Gubernatore Serbelloni in Mailand gab. Der Wortlaut freilich war dunkel, aber die That¬ ſache ſelbſt ſprach um ſo klarer. Nachdem der Locote¬ nente den ſchlotternden Zahnausreißer beruhigt und aus ſeiner Reiſeflaſche geſtärkt hatte, jagte er in freudigem Galopp nach Chur zurück. Jetzt war der Verräther Jenatſch in ſeinen Händen.

307

Er erreichte die Stadt in vorgerückter Nachtſtunde und wurde kaum noch vorgelaſſen. Der Ungeduldige mußte ſich damit begnügen, ſeinem Herrn den ver¬ rätheriſchen Brief mit einer gedrängten Auseinander¬ ſetzung des Zuſammenhangs zu überreichen. Als Wert¬ müller dann am nächſten Morgen nach einem glücklichen Schlafe ſich dem Herzog vorſtellte, fand er dieſen in ſehr getrübter Stimmung und nicht geneigt, auf eine Be¬ ſprechung des ihm, wie er ſagte, unerklärlichen und ſehr ſchmerzlichen Vorfalles einzugehen. Er müſſe auch von anderer Seite ſich darüber Aufklärung verſchaffen.

Kurz vor der Stunde, zu welcher Jenatſch täglich dem Herzog aufzuwarten pflegte, wurde der Locotenent mit einem Tagesbefehl nach der Rheinſchanze beordert, und, ſo ſcharf er auch ritt, er kam zu ſpät, um dem Oberſten vor Herzog Heinrich Stirn gegen Stirn ent¬ gegenzutreten.

Bei ſeiner Rückkehr traf er dieſen in der heiterſten Laune und wie von einer ſchweren Laſt befreit.

Beſten Dank für Euern löblichen Dienſteifer, braver Wertmüller! empfing er den Adjutanten. Diesmal hat er Euch freilich trotz Eures mit Argus¬ augen blickenden Scharfſinns in eine grobe Falle ge¬ lockt. Ungern thue ich Eurer Eitelkeit weh. Jenatſch war hier und ich habe ihn mit aller Offenheit zur20*308Rede geſtellt. Er hat ſich vollkommen gerechtfertigt. Der Brief iſt falſch und die Handſchrift auf merkwür¬ dig geſchickte Weiſe nachgeahmt. Der Oberſt hat Feinde, in deren Intereſſe es liegt, ihm mein Vertrauen zu rauben. Sie ahnen nicht, daß ſie es mit ihren Caba¬ len im Gegentheil immer mehr befeſtigen. Er hat deren namentlich am biſchöflichen Hof unter Euern geiſtlichen Genoſſen am Spieltiſche, Wertmüller. Sie kennen Euch und zählten auf Euern Argwohn und Eure Unterneh¬ mungsluſt. Da Ihr aus Euerm Widerwillen gegen den Oberſt und, Euch zur Ehre ſei's geſagt, aus Eurer Anhänglichkeit an meine Perſon kein Geheimniß macht, ſo war die Intrigue der geiſtlichen Herren bald einge¬ fädelt. Der elende Dottore war ihr beſtochenes Werk¬ zeug. Geſteht, er hat ſeine Rolle gut geſpielt! Wo wird ſich ein Italiäner den Anlaß zu einer Comödie jemals entgehen laſſen! Was endlich jene nächtliche Unterredung zwiſchen Jenatſch und dem Quackſalber un¬ ſern der biſchöflichen Reſidenz betrifft, die Euch zu den¬ ken gab, ſo hat es damit ſeine Richtigkeit ſie drehte ſich um das Ausſchneiden von Leichdornen. Erinnert Euch, daß Ihr über den Oberſten geſpottet habt, als er vor ein paar Tagen mit einem Pantoffel am linken Fuße einherſchritt.

Wertmüllers herbes Geſicht verfinſterte ſich unter309 dieſer Rede dermaßen, daß der Herzog ihm die Hand auf die Schulter legte und ihn freundlich mit den Worten verabſchiedete: Sprechen wir nicht mehr da¬ von, mein Lieber, die Sache iſt nicht von Wichtigkeit.

Fruchtlos brütend, wie er dem Oberſten trotz alle¬ dem noch beikommen könne, verließ Wertmüller das herzogliche Gemach. In ſeinem Zuſtande verbiſſener Wuth bemerkte er nicht, daß ein blondes Cherubim¬ köpfchen ſich die Treppen heran ihm entgegen bewegte. Es war die goldlockige Tochter des Hauſes, Fräulein Amantia Sprecher, die ſich mit einem Strauße erſter Märzglöckchen zu dem Herzog begab. Nicht nur über¬ ſah ſie der Ungeſtüme, er raſte in ſo weiten Sprün¬ gen die Steinſtufen hinunter, daß er ſie faſt nieder¬ rannte. Beſtürzt hielt ſie ſich an dem reich verſchlun¬ genen Eiſengeländer und ſah ihm mit ihren unſchuldi¬ gen blauen Augen ſinnend und vorwurfsvoll nach.

War das derſelbe Wertmüller, der ihrer Lieblich¬ keit ſonſt in auffallender Weiſe huldigte, der den ganzen Winter einer ihrer bevorzugten Tänzer geweſen war? Auch auf morgen hatte er ſie ja wieder zum Balle, dem letzten und glänzendſten des Faſchings, eingeladen. Welche Tarantel hatte ihn heute geſtochen?

Wohl war er ihr auch ſonſt zu Zeiten rückſichtslos erſchienen, wenn er ſich ſpöttiſch und wegwerfend über310 bündneriſche Zuſtände und Sitten äußerte. Wer oder was blieb überhaupt von ſeiner ſcharfen Zunge ver¬ ſchont! Mit ihr hatte er doch bis jetzt immer eine Aus¬ nahme gemacht und ſie war dafür nicht unempfindlich geblieben.

Ihre ſanfte kindliche Schönheit und das Gleich¬ gewicht ihrer durchaus friedfertigen Sinnesart wirkte anziehend und beruhigend auf den queckſilbernen Offi¬ zier. Das Fräulein ſeinerſeits hatte ſich in allen Züch¬ ten zuweilen mit dem Gedanken beſchäftigt, wie ſich dieſer zürcheriſche Unband wohl als Eheherr ausnehmen würde und hatte ſeine Tapferkeit, den unbeſtreitbaren Werth ſeiner Treue an dem edlen frommen Herzog und ſeine hochgehenden Lebensausſichten mit weiſem Herzen in die Wage gelegt gegen ſeine Schroffheiten, ſein ab¬ ſprechendes Weſen und ſeine Spöttereien über Geiſt¬ lichkeit und Gottesdienſt, die vielleicht doch im Grunde weniger ſchlimm gemeint waren, als ſie übel klangen. Doch war ſie, nach dieſer rauhen Begegnung mußte ſie ſich's geſtehen, noch keineswegs zu einem günſti¬ gen Ergebniß gekommen.

So entſchlug ſie ſich dieſer Gedanken ohne daß es ſie große Mühe koſtete, und wandelte, den ſilberhellen Blumenſtrauß in ihrer Hand ordnend, langſam die letzten Stufen hinauf.

311

Fräulein Amantia hegte für den edlen Gaſt ihres Vaters eine unbegrenzte Verehrung, welche die liebens¬ würdige Leutſeligkeit des Herzogs von jeder Zuthat be¬ klommener Scheu befreit hatte. Sie pflegte alltäglich zu einer Stunde, wo er ſich nicht ungern ſtören ließ, in ſeinem Empfangszimmer zu erſcheinen und nach ſei¬ nen Wünſchen zu forſchen. Er ermangelte dann nie, hatte er nicht dringende Geſchäfte, das gute Kind zu¬ rückzuhalten und ſich nach den Intereſſen ihres Tages zu erkundigen.

Heute kam ſie eben aus der Wochenpredigt, weni¬ ger erbaut als in Zweifel verſenkt, denn der Pfarrer Saluz hatte über einen außer der Reihenfolge liegenden Text mit großer Heftigkeit gepredigt, und über welchen ſchauerlichen Text den Verrath des Judas Iſchariot, Matthäus am ſechsundzwanzigſten! Er hatte dadurch ſeine Zuhörer in große Aufregung verſetzt, die ſich ängſt¬ lich nach dem Zielpunkte dieſer Anſpielung umſahen, und ſich, ſagte Fräulein Amantia, faſt wie ſeiner Zeit die Jünger fragten: Herr, wer iſt es, der Dich verräth?

Achtes Kapitel.

Wenige Tage ſpäter, den 19. März, eilte der ge¬ lehrte Ritter Fortunatus Sprecher die Treppe zu den Gemächern ſeines erlauchten Gaſtes herauf. Dieſe frühe Morgenſtunde konnte unmöglich zur Fortſetzung der Biographie des Herzogs geeignet ſein; auch war das Antlitz des Ritters, der krampfhaft ein großes mit dem Bündnerwappen verziertes Druckblatt in der Hand hielt, wie ſolche zu öffentlichen Kundgebungen an die Mauer geſchlagen werden, heute beſonders ſchwer ver¬ düſtert.

Oben angelangt, blieb er athemlos einen Augen¬ blick ſtehen und ſammelte ſich. Doch ließ er dem Kammerdiener kaum Zeit ihn anzumelden und drang ohne die gewohnte Rückſicht und Höflichkeit in das Arbeitszimmer des Herzogs ein, wo dieſer, ſeine313 Bibel leſend, im Erker ſaß und jetzt, über die Störung erſtaunt, zu dem Eintretenden aufblickte.

Es ſind unerhörte Ereigniſſe, begann Herr Sprecher, die mich zwingen, erlauchter Herr, Eure Morgenandacht zu ſtören. Es iſt, kaum wage ich es auszuſprechen, die Sorge um die Sicherheit Eurer edlen Perſon, die mich dazu treibt. Könnt 'ich Euch doch in mein Herz blicken laſſen, damit Ihr darin meine aufrichtige und in jeder Probe ſtichhaltige Er¬ gebenheit läſet, überzeugender als mein Mund ſie aus¬ drücken kann! In meine geſchichtlichen Arbeiten ver¬ tieft und gewohnt auf die eitlen Geräuſche des Tages wenig zu merken, habe ich leider die Bedeutung der wirren Stimmen unterſchätzt, die allerdings in der letzten Zeit an mein Ohr ſchlugen. Ich wollte Euch nicht unnöthig damit beunruhigen.

Der Herzog erhob ſich raſch. Kommt zur Sache, Herr! ſagte er beſtimmt und ruhig. Was iſt das für ein Blatt? Gebt her.

Sprecher überreichte das verhängnißvolle Druck¬ blatt und ſtöhnte mit ſinkender Stimme: Es iſt der Aufſtand gegen Frankreich und die Ernennung des Jürg Jenatſch zum Obergeneral der drei Bünde!

Rohan durchlief das Blatt und erblaßte.

Es enthielt einen Aufruf an das Volk, der die314 Beſchwerden der Bündner gegen die Krone Frankreich in kurzen, treffenden Worten zuſammenfaßte und zum Vertrauen auf Spanien-Oeſterreich aufforderte, das ſich bereit erkläre, Bündens alte Grenzen und Freiheiten zu gewährleiſten. Alle bündneriſchen Waffen wurden unter den Befehl des Jürg Jenatſch geſtellt.

Die Schlußworte lauteten:

Ihr Gemeinden der drei Bünde, greift zum Schwert, erhebt Euch zum Landſturm im Namen des Herrn. Sammelt Euch bei Zizers nächſt Chur am neunzehnten des Märzen. Hier folgten die Unter¬ ſchriften der drei Bundeshäupter, obenan diejenige des Amtsbürgermeiſters Meyer von Chur.

Der Herzog warf das Blatt empört auf den Tiſch. Er rief nach ſeinen Dienern, befahl zu ſatteln und fragte nach Wertmüller. Mit dieſem wollte er nach der Rheinſchanze reiten. Seine ſchnelle Geiſtesgegen¬ wart und militäriſche Spannkraft verließ ihn nicht einen Augenblick.

Während ihn ſein Diener ankleidete, wagte der geängſtigte Sprecher noch einige Betheuerungen, An¬ deutungen und Räthe.

Die Unterſchriebenen ſind alle Mitglieder des Kettenbundes. Gott weiß, ich hielt ihn für eine ge¬ meinnützige Geſellſchaft ohne gefährliche Nebenzwecke! 315 Und dieſer Bürgermeiſter Meyer, der ſich immer ſo verächtlich über den charakterloſen Jenatſch und ſo feind¬ ſelig gegen das papiſtiſche Spanien äußerte! ... Ich fürchte, erlauchter Herr, mein Hausrecht wird Euch hier nicht ſchützen können! ... Ihr kommt durch die nach Zizers ſtrömenden Volksmaſſen nicht mehr in die Rheinſchanze ... Horcht! Mein Gott, nun läutet es auch in der Stadt von allen Thürmen Sturm ... Vielleicht ließe ſich nächtlicher Weile ein Fluchtverſuch nach Zürich wagen und von dort würdet Ihr auf Um¬ wegen Euer Heer im Veltlin erreichen!

Während dieſer Worte war der Galopp eines Pferdes auf dem Pflaſter erklungen, und ſchon ſtand der Adjutant Wertmüller in dienſtlicher Haltung aber mit zornblitzenden Augen vor dem Herzog.

Die Bündnerregimenter im Domleſchg meutern und marſchiren mit fliegenden Fahnen auf Chur, Er¬ laucht, meldete er. Ich wäre ihnen bei einem Morgen¬ ritte nach Reichenau faſt in die Hände gefallen. Sie ſind mir auf den Ferſen. Hier in der Stadt liegt, wie der edle Herr weiß, nur die Freicompagnie der Prätigauer. Treue Leute! Ich habe ſie an das nörd¬ liche Thor beordert. Ihr Hauptmann Janett ſchwur mir zu, er ſei mit Leib und Leben der Eurige und werde gegen alle Spaniolen und Meineidigen zu Euch316 ſtehen. Eure Pferde und Leute ſind unten bereit. Noch iſt es möglich, wenn die Prätigauer uns den Rücken decken, nach der Rheinſchanze durchzudringen. Begegnet uns Volksgeſindel, ſo reiten wir es nieder.

Herzog Heinrich hieß dieſen muthigen Vorſchlag, welcher ſeinen eigenen Entſchluß ausſprach, mit einer zuſtimmenden Kopfbewegung gut und ſchritt, Herrn Sprecher flüchtig grüßend, raſch dem Ausgange zu.

Aber ſchon war er ein Gefangener.

Als Wertmüller die Thüre des Vorſaales aufriß, ertönte von unten her Gemurmel zahlreicher Stimmen und ſchleifendes Geräuſch treppanſteigender Füße. Man vernahm Sporengeklirr und gedämpften Wortwechſel. Der Herzog blieb ſtehen und legte die Hand an den Degen.

Vor der Thüre zauderten und drängten ſich Ge¬ ſtalten, die einen in Waffen, die andern in Staats¬ tracht. Keiner wagte es, ſich voranzuſtellen. Jetzt wichen ſie zur Seite und gaben Raum. Georg Jenatſch trat aus ihnen hervor und überſchritt die Schwelle. Ihm folgten Guler, der Graf Travers und ein ſtatt¬ licher Mann in bürgermeiſterlichem Ornate und goldener Kette mit großgeſchnittenem, fleiſchigen Geſicht und leicht ſchielenden Augen.

Der Oberſt Jenatſch war baarhaupt und näherte317 ſich mit ſtarren blaſſen Zügen dem Herzog, der ſtolz und fragend vor ihm ſtand. Seine Stimme klang ruhig und ſeltſam kalt, als er zu reden anhob:

Erlauchter Herr, Ihr ſeid in unſerer Gewalt. Unſer Aufſtand iſt Gegenwehr und gilt nicht Euch ſondern der Krone Frankreich. Was Euch dunkel blieb, iſt uns klar geworden: Der Kardinal will den von Euch mit uns vereinbarten Vertrag nicht unterzeichnen. Er will uns feſthalten und im Tauſchhandel des in Ausſicht ſtehenden allgemeinen Friedensſchluſſes als franzöſiſche Waare verſchachern. Das Pfand Eurer reinen Ehre, das er uns in die Hände gab, würde er leicht verſcherzen. So hat uns der König von Frank¬ reich und ſein Kardinal dazu getrieben, bei unſerm Erbfeinde billigere Hilfe zu ſuchen, die uns auch ge¬ währt wurde. Gott weiß, was es uns gekoſtet hat, unſere Freiheit unter Spaniens Schild zu ſtellen.

Was wir von Euch verlangen und warum Ihr es uns gewähren werdet, das kann ich Euch mit wenigen Worten darlegen. Vor Eurer Rheinſchanze ſtrömt Bündens ganzer Landſturm zuſammen. Die Regimenter rücken in Chur ein. Ich habe ſie ihres Gehorſams gegen Euch entbunden und den Eid ihrer Treue den Häuptern unſerer drei Bünde ſchwören laſſen. Die Oeſterreicher ſtehen am Luzienſteig, die Spanier bei318 der Feſtung Fuentes, beide mit Uebermacht. Auf ein Wort von mir überſchreiten ſie die Grenze. Seht hier meine ſpaniſch-öſterreichiſchen vom Kaiſer ſelbſt und vom Gubernatore Serbelloni unterzeichneten Voll¬ machten! und er entfaltete zwei Papiere. Lecques kann Euch nicht befreien, denn bei ſeiner erſten Be¬ wegung gegen die Alpenpäſſe rücken die Spanier von Fuentes her ins Veltlin. Ihr ſeht, Euer Heer iſt von allen Seiten eingeklemmt; nur Ihr könnt es Euerm Könige retten, und Ihr thut es, wenn Ihr dieſes Uebereinkommen unterzeichnet.

Jenatſch nahm ein drittes Papier aus der Hand des Bürgermeiſters von Chur und las:

Die Rheinſchanze und das Veltlin werden von den Fran¬ zoſen geräumt.

Sie verlaſſen Bünden als Freunde und in kürzeſter Friſt.

Der Herzog Heinrich Rohan, Pair von Frankreich und Generallieutenant der franzöſiſchen Armee, bleibt als unſer Bürge in Chur bis zur Vollziehung dieſes ſeines mit uns geſchloſſenen Uebereinkommens.

Und dies Uebereinkommen verſpricht der erlauchte Herzog bei ſeiner Ehre auch dann in Treuen zu vollziehen, wenn Gegen¬ befehl vom franzöſiſchen Hofe einträfe,

So ſteht es. Wir haben nicht das Recht, er¬ lauchter Herr, Eure Liebe zu Bünden anzurufen, denn319 wir haben uns ohne Euch und wider Euch geholfen. Aber bedenkt, daß Ihr, wenn Ihr den Vertrag nicht unterzeichnet, dieſes Land, das gewohnt iſt, Euch als ſeinen guten Engel zu verehren, durch Euren Wider¬ ſtand in blutiges, unabſehbares Elend ſtürzt.

Der Herzog nahm die Rolle nicht. Er wandte ſich mit einer zornigen Thräne ab, dann ſagte er und ſeine Stimme bebte: Ich habe ſchon vielen Undank erfahren, aber noch nie iſt mir auf ſo bittere Weiſe mein Vertrauen mit Verrath und die von mir dem Rechte des Kleinen erwieſene Ehre mit Schlangenbiſſen und Schmach heimgezahlt worden. Ich unterzeichne nicht. So tief kann ich Frankreich und ſeinen Feld¬ herrn unmöglich erniedrigen.

Die Stille, die jetzt entſtand, wurde durch einen Tumult vor der offen gebliebenen Thüre unterbrochen. Durch das die Treppen füllende Volk drängte ſich ein breitſchultriger rothhaariger Kriegsmann und man hörte ihn dringend nach dem General Jenatſch fragen. Un¬ wirſch rief ihm dieſer entgegen: Ihr ſtört hier, Hauptmann Gallus! Was giebt's?

Ich muß Eure Ordre haben, rief die rohe Stimme. Janett's Prätigauer wollen den neuen Eid nicht ſchwören. Sie meinen, Ihr verhandelt ſie an die ſpaniſchen Pfaffen und ſagen, ſie hätten Frank¬320 reich geſchworen und gehorchten niemandem als dem Herzog.

Jenatſch war vor Wuth todtenbleich geworden. Er warf den Kopf nach dem Sprechenden herum und ſchrie ihn heiſer an: Mein Regiment gegen ſie vor¬ geführt! Erſchießt ſie Alle! Dann wandte er ſich wie¬ der dem Herzog zu und drohte, wie außer ſich, mit erſtickter Stimme: Ihr Blut über Euch, Herzog Rohan!

Der Herzog zuckte und ſtand eine Weile in ſchmerz¬ lichem innern Kampf. Endlich ergriff er mit zittern¬ der Hand die auf dem Tiſche liegende Rolle, wandte ſich und ſchritt der Thüre ſeines Arbeitszimmers zu, die der ihm folgende Wertmüller feſt hinter ihm ver¬ ſchloß.

Jenatſch kehrte ſich, immer noch tief erblaßt, zu dem Bürgermeiſter. Unſere Sache iſt gewonnen, ſagte er. Man muß dem Herzog Ruhe laſſen. Ent¬ fernt die Leute. Ich ſtehe dafür, daß er unter¬ ſchreibt.

Dann befahl er dem Hauptmann Gallus, der unſchlüſſig ſtehen geblieben war: Sagt dem Janett, ſeine tapferen Prätigauer ſollen des Eides wegen un¬ behelligt bleiben. Der Herzog ſei mit der Regierung321 der drei Bünde einverſtanden und werde die Com¬ pagnie in Kurzem ſeinen Willen wiſſen laſſen.

Wenige Minuten waren verſtrichen und die Ge¬ mächer des Herzogs hatten ſich zu leeren angefangen, als die innere Thür ſich öffnete und Wertmüller mit dem von Rohan unterſchriebenen Vertrage in der Hand erſchien.

Wer von den Herren hier hat gegenwärtig das Ding in Händen, das in Bünden mit dem unpaſſen¬ den Namen geſetzliche Gewalt bezeichnet wird? fragte er ſchneidend und ſtreckte dem Bürgermeiſter von Chur, der mit ernſter Amtsmiene vortrat, die Bündens Loos entſcheidende Rolle entgegen mit einem Ausdrucke von verächtlicher Schärfe, deren nur ſein Geſicht fähig war.

Herr Fortunatus Sprecher, der gerade oben an der Treppe einige bündneriſche Staatsperſonen beglück¬ wünſchend wegkomplimentirt hatte, ſah jetzt einen jungen Mann in Reiſekleidern athemlos die Stufen hinan¬ eilen, ergriff ſeine Hand und zog ihn bei Seite, um ihm das Geſchehene mit bedauernden Worten mitzu¬ theilen. Es war der längſt erwartete und in dieſem verhängnißvollen Augenblicke eben von Paris angelangte Priolo.

Meyer, Georg Jenatſch. 21322

Um Gott, rief Priolo, haltet mich nicht auf, Herr Doctor. Vielleicht iſt es noch Zeit. Ich muß zum Herzog der Vertrag von Chiavenna iſt unter¬ ſchrieben Alles und mehr gewährt! Nur ſchließt keinen Bund mit Spanien! Und er durcheilte das Vorgemach.

Als ihn Jenatſch, der im Geſpräche mit dem Bürgermeiſter ſtand, mit verſtörtem Geſichte vorüber¬ haſten ſah, ſagte er zu dieſem mit bitterm Lächeln: Der Cardinal glaubte ſich des Schickſals bemächtigt zu haben, doch diesmal hat es ihn gefoppt.

Meyer antwortete nicht, aber er umfaßte die Schickſalsrolle mit gefalteten Händen.

Eine Stunde ſpäter war es in den äußern Ge¬ mächern des Herzogs ſtill und einſam geworden. Je¬ natſch allein ſchritt im Vorzimmer auf und nieder, die aus dem Geſchehenen hervorbrechende Zukunft erwägend. Was ihn beunruhigte, war das Loos ſeines Gefangenen, und er verweilte hier in der Hoffnung, das unlängſt ihm ſo freundliche Antlitz noch einmal zu ſehen. Daß Herzog Heinrich ein Sklave ſeines gegebenen Wortes ſein werde, daran zweifelte der Verräther keinen Augen¬ blick; aber es war eben ſo gewiß, daß der Kardinal einen Haß werfen würde auf Rohan, das Werkzeug,323 deſſen edler feiner Stahl zerbrochen war in ſeiner es mißbrauchenden Hand, und daß der Herzog Frankreich nicht wieder betreten könne, ohne der Rache Richelieus zu verfallen. Jenatſch hätte ihn gerne vor dieſer Rache ſicher gewußt aber wo? Welches war die Stätte, die dem Arme des Cardinals ihn entzog und die doch kein troſtloſes Exil für ihn war, das zu erwählen er ſich weigern würde?

Er wartete vergebens. Der Herzog kam nicht und als endlich die Thüre ſich öffnete, war es der Adjutant Wertmüller, der, ein Schreiben in ſeine Brief¬ taſche ſteckend, heraustrat und ohne Gruß an ihm vor¬ über ſchreiten wollte.

Könnt Ihr mir nicht eine kurze Audienz bei dem Herzog verſchaffen, Wertmüller? ... In ſeinen eigenen Angelegenheiten, fragte der Bündner.

Damit verſchont Ihr ihn beſſer, verſetzte der Locotonent. Euer Anblick hat für ihn ſeinen Reiz ver¬ loren. Was ſeine perſönlichen Angelegenheiten betrifft, ſo ſeid Ihr nicht der Mann, ſie erfreulich zu ordnen. Er hat es eben ſelbſt gethan.

Er hat ſchon über ſeine Zukunft entſchieden? fragte Jenatſch geſpannt. Geht er nach Zürich oder Genf? dort könnte er in edler Muße ſeinen Studien leben.

21*324

Ein militäriſches Handbuch ſchreiben, meint Ihr? höhnte Wertmüller. Nicht doch! In der Lage, die Ihr ihm ſo kunſtvoll bereitet habt, bleibt für Herzog Rohan nur eines übrig: der Tod auf dem Schlachtfeld. Ihr begehrt zu wiſſen, wohin mein Herr ſich wenden wird, wenn er aus Euern Judasarmen ſich losgemacht hat, und ich will Euch nicht belügen entgegen der Sitte, die von Euch hie zu Lande ein¬ geführt wurde.

Ich überbringe ein Schreiben meines edlen Herrn an den Herzog Bernhard von Weimar, ſeinen Schwieger¬ ſohn, worin er ſich zu gemeinem Reiterdienſt im deutſchen Heere anbietet. Kann ich Euch etwas an den Herzog Bernhard ausrichten? Beſinn 'ich mich recht, ſo folgtet auch Ihr einſt ſeiner Fahne. Er wird ſich über Euch wundern. Noch heute reit' ich ab und genieße ſo auch meinerſeits zum letzten Mal Euern Anblick. Wäre ich deſſen nie theilhaft geworden! Beſonders jenes Mal vor der Feſtung Fuentes nicht, als Ihr in gebührenden Ehren einherſchrittet ... ſchon damals mit ſpaniſchem Gefolge! Manches ſtünde beſſer und Ihr wäret ſchon längſt an Euern richtigen Platz er¬ höht.

Ihr reizt mich nicht, ſagte der Andere finſter. Ich bin des Blutes ſatt und an Eurer perſönlichen325 Achtung liegt mir nicht das Mindeſte. Was ich für mein Land thue, verſteht Ihr nicht. Geht und ſagt dem Herzog Bernhard, ſchloß Jenatſch und ſchritt das Haupt übermüthig zurückwerfend dem Eingange zu, er möge ſich vorſehn, daß er ſein Elſaß ſo glück¬ lich den Krallen Frankreichs entwinde wie ich mein Bünden.

Neuntes Kapitel.

Der warme Mai hatte das Thal des Rheines mit Blüthen und üppigem Grün bedeckt, als das fran¬ zöſiſche Heer auf ſeinem durch den Märzvertrag er¬ zwungenen Rückmarſche aus dem Veltlin ſich auf der ſtaubigen Landſtraße von Reichenau her den Thoren der Stadt Chur näherte.

Das dem Herzog Rohan abgerungene und von Priolo nach Paris gebrachte Uebereinkommen war dort genehmigt worden, wenn auch in gewundenen Aus¬ drücken, aus welchen das widerwillige Sträuben des Cardinals deutlich hervorblickte. Der Schrecken und Aerger am franzöſiſchen Hofe über den in einem fernen Bergwinkel mit beiſpielloſer Liſt geplanten Gewaltſtreich war groß geweſen. Niemand hatte bis jetzt den Namen des unbekannten Abenteurers, der ihn ausgeführt, der Beachtung werth gehalten. Dennoch ging man auf das327 Uebereinkommen ein, mußte darauf eingehen. Der dem Cardinal an kluger Berechnung ebenbürtige Bündner hatte die Maſchen des Netzes zu feſt geknüpft und zu ſicher zuſammengezogen, als daß ſelbſt die Schlauheit Richelieus eine Lücke zum Durchſchlüpfen gefunden hätte. Vielleicht dachte dieſer noch an die Möglichkeit, es mit Gewalt zu zerreißen, aber dafür war der ſein gegebenes Wort hoch und heilig haltende Rohan nicht zu verwenden.

Dieſer war ſeinem anrückenden Heere nicht ent¬ gegen geritten und befand ſich nicht in deſſen Mitte. Nach dem grauſamen Auftritte im Sprecherſchen Hauſe hatte ihn ein Rückfall ſeines Uebels aufs Krankenlager geworfen, und jetzt war er kaum ſo weit geneſen, um in eigner Perſon ſein Heer über die wenige Meilen von Chur entfernte bündneriſche Grenze führen zu können. In der friſchen Morgenfrühe des nächſten Tages wollte er ſich zum letzten Male als Feldherr an die Spitze ſeiner Truppen ſtellen, um mit ihnen das Land zu verlaſſen, für das er ſo viel gethan und das ihm ſeine Liebe ſo ſchlecht gelohnt hatte.

Als die das Heer verkündende große Staubwolke ſich näherte, ſtrömte viel Volk aus der Stadt, Jung und Alt, den anrückenden Franzoſen entgegen, welchen die Bürger von Chur niemals wie die wilden Leute328 der Gebirgsthäler abhold geweſen, und die ſie jetzt um ſo lieber ſahen, als es das letzte Mal war und die langjährigen Gäſte am nächſten Morgen das Land für immer räumten.

Da ſprengte ein Reitertrupp aus dem Thor und trieb die auf der heißen Straße ziehenden Maſſen aus¬ einander. Es waren Bündnerofficiere, voran auf einem ſchwarzen Hengſt ein Reiter in Scharlach, von deſſen Stülphute blaue Federn wehten, der jedem Kinde be¬ kannte Jürg Jenatſch.

Das Volk ſah dem mit ſeinem Reiterbegleite in den aufgejagten Staubwolken ſchon wieder Verſchwin¬ denden mit Bewunderung und leiſem Grauen nach, denn es ging die Sage, der arme Pfarrersſohn, wel¬ cher der mächtigſte und reichſte Herr im Lande gewor¬ den, habe ſeinen Chriſtenglauben abgeſchworen und ſeine Seele dem leidigen Satan verſchrieben, darum habe er in den unmöglichſten Anſchlägen Glück und Gelingen.

Lauter und näher ertönte die Feldmuſik. Das Volk vertheilte ſich auf die grünen Wieſen und Halden zu beiden Seiten des Weges und bildete eine lebendige Hecke. Die franzöſiſche Vorhut zog vorüber, aber die329 gebräunten Krieger ſchritten in raſchem Tempo, ohne den grüßenden Zuruf der neugierigen Churer zu er¬ wiedern, und dieſer wurde ſchüchterner und verſtummte nach und nach.

Dort an der Spitze der jetzt heranrückenden Kern¬ truppen wurde neben Jürg Jenatſch der franzöſiſche Befehlshaber Baron Lecques ſichtbar. Aber der Fran¬ zoſe ſchien jenem für ſein Geleit wenig Dank zu wiſſen. Stolz und verſchloſſen ritten die Beiden nebeneinander. Der alte Degen konnte die Gegenwart des Bündners kaum ertragen. Das jugendliche Feuer ſeiner Augen ſprühte Funken des Haſſes und ſtrafte die Silberfarbe ſeines kurz geſchorenen Haares Lügen. Er hatte heute den ſchneeweißen Schnurrbart noch ſteifer und heraus¬ fordernder als ſonſt aufwärts gedreht und das geſund davon abſtechende rothbraune Geſicht glühte von ver¬ haltenem Zorn, während ſeine Fauſt kampfluſtig die tapfere Klinge blitzen ließ.

Die Regimenter zogen nicht durch das Thor ein, ſondern vollführten eine Schwenkung links um die Mauern der Stadt. Sie ſollten während der kurzen warmen Mainacht längs der vom Nordthor nach der nahen Grenze führenden Heerſtraße im Freien ein Feld¬ lager aufſchlagen. Als dies geſchehen war und die Sonne unterging, beeilten ſich die Officiere, über hun¬330 dert an der Zahl, die Stadt zu beſuchen, um ſich ihrem Feldherrn dem Herzog Rohan vorzuſtellen, die Mängel ihrer perſönlichen Ausſtattung in den Kauf¬ läden von Chur zu erſetzen und ſich, jeder nach ſeinem Geſchmacke, einen möglichſt vergnügten Abend zu machen.

Auch Lecques ritt, nachdem er ſeine letzten Be¬ fehle für den Aufbruch in der Frühe gegeben, durch die Reihen der überall brennenden Feuer, an welchen die Soldaten eben ihre Abendkoſt bereiteten, und wandte ſich, nachdem er das ganze Lager mit ſcharfen Blicken gemuſtert, langſam nach der Stadt. Hier trat er zu¬ erſt in das Gaſthaus zum Steinbock, wo er ſeine Offi¬ ciere nach Abrede verſammelt wußte, und dann begab er ſich ſogleich zu Herzog Rohan, den er in dieſer ſpäten Abendſtunde allein zu finden hoffte.

Er traf den Herzog zur Abreiſe bereit. Seine Angelegenheiten waren geordnet und der Abſchied von ſeinen Gaſtfreunden war genommen. Die franzöſiſchen Officiere hatte der Feldherr zwar empfangen, aber nach wenigen liebenswürdigen Worten ſchnell wieder ent¬ laſſen. Seine letzten Stunden in Chur wünſchte er in ſtiller Sammlung und einiger Ruhe zu verbringen.

Gerne hätte er auch für den nächſten Morgen jedes Geleit und jede Abſchiedsfeierlichkeit abgelehnt, allein Herr Fortunatus Sprecher hatte mit Thränen331 in ihn gedrungen, doch der Stadt Chur, welche ihm, wie das ganze Land, ſo unendlich viel zu danken habe und deren Ergebenheit gegen ſeine verehrte Perſon trotz allen böſen Scheines immer dieſelbe geblieben ſei, doch ja dieſe unaustilgliche Schmach nicht anzuthun, und der Herzog fügte ſich dieſem aus einer wunderlichen Gefühlsverwirrung hervorgehenden Wunſche, den er im Stillen ironiſch belächelte.

Als Lecques von dem Kammerdiener eingeführt wurde, trat ihm Heinrich Rohan mit vornehmer Ruhe entgegen und ſprach ihm ſeine Anerkennung aus für die Umſicht und Raſchheit, womit er ſeinem Befehle gemäß das Heer aus dem Veltlin zurückgeführt habe.

Da das Unausweichliche geſchehen mußte, fügte er bei, ſo war es ehrenhafter, daß es ſchnell geſchah und ich danke es Euch, daß Ihr meinen mir pein¬ lich werdenden Aufenthalt in Chur durch Euern ſchnellen Marſch gekürzt habt.

Baron Lecques ſah ſeinem General forſchend in das bleiche Angeſicht und ſagte mit einiger Schärfe: Meinerſeits, erlauchter Herr, fürchtete ich durch meinen ſchnellen Gehorſam die Intereſſen Frankreichs bloß ge¬ ſtellt zu haben. Es kann Euch nicht unbekannt ſein, daß Euer Sekretär aus Paris Gegenbefehl gebracht hat; doch er iſt, weil Ihr mir Eile befahlt, zu ſpät332 gekommen. Bedauerlicherweiſe traf mich Priolo ſchon dieſſeits der Berge im Dorfe Splügen.

Priolo hat ſich geſtern bei mir beurlaubt, er¬ wiederte der Herzog achſelzuckend, ich kann ihn nicht zur Rede ſtellen. Von einem zweiten, die Ordre zum Abmarſche widerrufenden Befehle, der durch meine Ver¬ mittlung an Euch geſandt worden wäre, weiß ich nichts.

Lecques öffnete ſeine Brieftaſche und legte dem Herzog eine vom König und Richelieu unterzeichnete, in ſehr beſtimmte Ausdrücke gefaßte Weiſung vor, die ihm befahl, das Veltlin mit ſeinen Truppen zu halten, und die franzöſiſche Ehre mit ſeinen tapfern Waffen um jeden Preis herzuſtellen.

Die Furche des Grams auf der durchſichtigen Stirne des Herzogs zeichnete ſich ſchärfer. Er öffnete ein Portefeuille, das auf dem Tiſche lag, und entfaltete die an ihn gelangte Vollmacht zum Abſchluſſe des von den Bündnern ihm aufgenöthigten Vertrags. Sie war St. Germain den 30. März datirt und von Ludwig XIII. und Richelieu unterzeichnet. Er hielt ſie mit der Ordre zuſammen, die ihm Lecques über¬ reicht hatte.

Beide Dokumente tragen die Namenszüge des Königs und des Cardinals, ſagte er ernſt. Vergleicht. 333Die Echtheit keiner dieſer Unterſchriften iſt anzufechten. Der Euch gegebene Befehl opferte meine Ehre und wohl auch mein Leben .... warum habt Ihr ihn nicht ausgeführt?

Weil es zu ſpät war, denn ich hatte die Feſtungen ſchon geräumt, ſagte Lecques trocken.

Und beſonders, fügte er raſch und mit Wärme hinzu, weil ich, wie die Lage war, ohne Euch, er¬ lauchter Herr, nicht handeln wollte. Ich bin der Mei¬ nung, mit dieſem letzten königlichen Befehle in meinen Händen ſei auch jetzt noch nichts verloren und es ſei noch früh genug dem Wunſch und Willen des Königs nachzukommen und den Frankreich beſchimpfenden Ver¬ rath zu rächen. Jetzt um ſo ſicherer, als Feldherr und Heer wieder vereinigt ſind! Mein Plan iſt gemacht, wollet ihn anhören.

Er führte den Herzog in den thurmähnlich vor¬ ſpringenden Erker, deſſen Fenſter in der lauen ſtillen Mainacht offen ſtanden, und fuhr mit gedämpfter Stimme fort: Es liegen keine Bündnertruppen in der Stadt und ihrer Umgebung. Jenatſch hat die Regi¬ menter ins Prätigau verlegt, um jeder Reibung mit unſern durch den ruhmloſen Rückzug gereizten Soldaten vorzubeugen. Nur einige Haufen Landſturm bewachen die Thore. Jenatſch und die Oberſten, die uns ſcham¬334 loſer Weiſe morgen ihr ſchadenfrohes Ehrengeleit bis an die Grenze geben wollen, durchzechen die Nacht zur Feier unſers Abzuges im Schenkhauſe zur Glocke. Die hellen Fenſter dort in der zweiten Straße ſind die Lichter des Gelages.

Die Rache liegt in unſerer Hand! Hundert und fünfzig unſerer Officiere ſind in der Stadt, lauter tapfere Edelleute, alle entſchloſſen den Frankreich ver¬ rätheriſch angethanen Schimpf mit ihren Degen zu rächen.

Wir beſetzen vorſichtig die Ausgänge der Glocke, dringen mit Uebermacht ein und ſtoßen die trunkenen Meuterer bis auf den letzten Mann nieder. Auf ein von mir mit dem Lager verabredetes Zeichen werden die Stadtthore von außen mit Petarden geſprengt. Unſere Truppen rücken ein und beſetzen die Stadt. Die Churer ſind in ihrer großen Mehrzahl immer den ſpaniſchen Cabalen entgegen und uns Franzoſen zu¬ gethan geweſen. Sie rufen halb gezwungen, halb ein¬ verſtanden: Vive la France! und ſeid verſichert, Herr, in wenigen Tagen ſtimmt ganz Bünden ein, denn im Grunde verabſcheut es das ſpaniſche Bündniß. Einer hat den ganzen Verrath gebraut, der büßt zuerſt ich nehm 'ihn auf mich. Hat erſt einmal der Judas ſeinen Lohn empfangen, rief er mit unverhaltenem335 Zorn, ſo wird ſich die Scene, glaubt mir, mit einem Schlage verwandeln!

Gedenkt Ihr den Ruhm Frankreichs mit einem Wortbruche und einer Mordnacht wieder herzuſtellen? ſagte der Herzog ſtreng.

Lecques wies auf ſeine Vollmacht. Ich erfülle damit den Willen des Königs meines Herrn, verthei¬ digte er ſich. Der gelehrte Cardinal iſt in Entſchei¬ dung von Gewiſſensfragen ein Meiſter; in ſeinem Ka¬ techismus ſteht: Verrath gegen Verrath. Das durch die rohe Gewaltthat, die am 19. März dieſes Hauſes Gaſtrecht entehrte, Euch entriſſene Wort verpflichtet Euch weder vor Gott noch vor den Menſchen, hättet Ihr es auch auf die Hoſtie oder auf das Evangelium geſchworen.

Mein Gewiſſen entſcheidet anders, erklärte Hein¬ rich Rohan beſtimmt und ruhig. Noch bin ich Euer Feldherr, noch ſeid Ihr mir Gehorſam ſchuldig und Ihr werdet ihn leiſten. Sprecht mir nicht mehr von Eurem Anſchlage. Er würde, wenn er gelänge, die an der Grenze ſtehenden Oeſterreicher und Spanier ins Land ziehn und den furchtbarſten Krieg entflammen. Ihr ſelbſt habt es geſagt: Ein Einziger war fähig, dieſen kalten Verrath zu begehen. Das Volk iſt unſchuldig und verdient nicht, was der Eine verbrochen, durch ein ſo grauſames Loos zu büßen. Ich halte den Vertrag336 und glaube nicht, daß der Glanz unſrer Lilien dadurch verdunkelt werde; aber ſelbſt wenn Frankreichs Waffen¬ ehre, wie Ihr meint, damit getrübt würde ich müßte den Vertrag dennoch halten.

So ſpricht kein Franzoſe! brauſte der Andere auf.

Der Herzog machte mit der Hand eine Bewegung nach dem Herzen, als ob er dort einen plötzlichen Schmerz empfinde. Es wurde ihm zum erſten Male geſagt, was er ſchon längſt gefürchtet und gewußt daß er ſein Vaterland verloren habe.

Iſt es für mich unmöglich, zugleich ein Franzoſe und ein Ehrenmann zu bleiben, ſagte er leiſe, ſo wähle ich das Letztere, ſollte ich auch darüber heimat¬ los werden.

Und die Beiden traten in das Gemach zurück.

Es war kühl geworden und das Fenſter hatte ſich geſchloſſen. In den Mondſchein, der den ſtillen Platz vor dem Hauſe füllte, trat jetzt eine große Geſtalt, die ſchon längſt mit verſchränkten Armen, den Rücken an die Mauer gelehnt und den Sprechenden unſichtbar, unter dem Erker geſtanden hatte. Nachdem Herr von Lecques mit harten klirrenden Tritten das Haus ver¬337 laſſen und ſich um die Ecke gewendet, ſchritt ſie noch eine Weile geſenkten Hauptes im Schatten der jenſeiti¬ gen Häuſerzeile auf und nieder, von Zeit zu Zeit den Blick zu dem Erker des Herzogs erhebend, bis der Licht¬ ſchein erloſch. Jetzt blieb ſie an der Einmündung einer Seitenſtraße ſtehen. Wieder ertönten Schritte. Es war ein ſchwankender, hagerer Mann in der Tracht der ſpa¬ niſchen Edelleute, der ſich näherte und einen Augenblick unſchlüſſig ſtehen blieb. Erſt maß er den auf dem Platze nächtliche Wache Haltenden mit ſcharfen Blicken, dann trat er auf ihn zu und redete ihn als Bekann¬ ten an.

Dacht 'ich mir's doch, Signor Jenatſch, begann der im ſpaniſchen Mantel, daß Ihr Eure Beute zärtlich hütet. In der Glocke wußte man nicht, wo Ihr hin¬ gerathen wäret. Gut, daß ich Euch finde und gerade wo ich Euch vermuthet. Ihr dürft den Herzog nicht abreiſen laſſen! Sonſt würdet Ihr Spanien einen ſchlechten Dienſt erweiſen, der auf die Aufrichtigkeit Eurer bisherigen Leiſtungen ein eigenthümliches Licht würfe. Serbelloni hielt es für überflüſſig, Euch nahe zu legen, daß Ihr den Herzog in der Hand behaltet und ihn ſeine berühmte Waffe nicht wieder gegen Spa¬ nien-Oeſterreich erheben laſſet. Er meinte, das wäre gleichſam ein ſelbſtverſtändlicher geheimer Artikel EuresMeyer, Georg Jenatſch. 22338Uebereinkommens mit Spanien, den es nicht nöthig ſei, Euch beſonders unterſchreiben zu laſſen. Ich aber ſagte ihm, daß ich Euch von Kindheit an kenne und daß im Verkehre mit Euch, wie übrigens mit Jedermann auf dieſer, wie die neueſten Gelehrten behaupten, ſich drehen¬ den Erde, nichts beſſer ſei, als ein guter ſchriftlicher Contract. Den hab 'ich nun mitgebracht und Ihr wer¬ det Euch wundern, welch hübſches Angebot ich Euch mache.

Gegen Heinrich Rohan die Feſtung Fuentes!

Das heißt natürlich ihre von Bünden längſt begehrte Schleifung. Den Herzog behaltet Ihr, oder beſſer, da das Sprecher'ſche Haus unter ſeinem Range und ihm durch Euren Beſuch vom neunzehnten März verleidet ſein möchte, Ihr liefert den frommen Herrn nach Mailand, wo ihm ein ſtilles und angenehmes Privatleben ge¬ ſichert iſt. Klüger wäre es freilich geweſen, Ihr hättet ihn, wie es der Wunſch des Herrn Gubernatore war und ich Euch ſchrieb, vor Wochen ſchon in die Hände Eures ſpaniſchen Verbündeten befördert, bevor das fran¬ zöſiſche Heer über den Splügen rückte, wo es mich heute denn ich komme ſtracks von Mailand zeitraubend aufgehalten hat.

Warum habt Ihr meine Briefe nicht beantwortet? Das iſt nicht klug und auch nicht hübſch von einem339 Jugendfreunde. Zum Glück iſt es noch Zeit. Der Herzog iſt noch da und krank dazu, wie man mir er¬ zählte. Es wird einem Diplomaten von Eurer Ge¬ wandtheit nicht an einem Vorwande fehlen, den unter Eurem Zauber ſtehenden Herrn noch einige Zeit freund¬ ſchaftlich in Chur zurück zu halten. Kann er doch nicht in Perſon ſein Heer nach Frankreich zurückführen! Schließen wir den Handel? Fuentes gegen den Herzog? Ihr ſchweigt? ..... Das gilt wohl bei Euch, wie bei gemalten Heiligen und ſchönen Frauen, als Ja.

Jenatſch hatte ihn mit wortloſer, zorniger Verach¬ tung angehört: Hebet Euch von dannen, Rudolf Planta, ſagte er jetzt mit gedämpfter aber heftiger Stimme, noch ſeid Ihr in Bünden vervehmt, und wer Euch hier betrifft, hat das Recht Euch niederzuſtoßen. Serbelloni weiß, daß ich mit Leuten Eures Schlages nicht unterhandle. Er kennt meine Bedingungen, von denen ich nicht um die Breite einer Degenklinge ab¬ weiche. Ich bin mit Spanien in Unterhandlung ge¬ treten, um die Freiheit und Würde meines Heimat¬ landes zu ſichern; Ihr aber habt Euch darum nie ge¬ kümmert, ſonſt würdet Ihr mir eine ſolche Niedertracht nicht zumuthen. Serbelloni weiß nicht darum das ſchlägt in Euer Fach und iſt ein Geſchäft zu Eurem Vortheile. Iſt es doch nicht das erſte Mal, daß Ihr22*340edles Blut verkauft und ſchnöden, feigen, ſchmachvollen Menſchenhandel treibt! Schande über Euch!

Planta lachte höhniſch auf: Ei, ei, edler Herr, Ihr ſeid den ſpaniſchen Goldſtücken auch nicht abhold .... Wie wäret Ihr ſonſt zu Reichthum und Ehren gekom¬ men, während ich von allen meinen angeſtammten Gü¬ tern und feſten Sitzen in Bünden durch einen gewiſſen demokratiſchen Pfarrer, den Ihr wohl jetzt nicht mehr leiden mögt, und durch ſeine Pöbelhaufen verjagt wurde, und Gott ſei's geklagt noch immer verſchuldet, ein armer fahrender Ritter bin. Doch keinen Groll! Wir eſſen jetzt das Brot desſelben Herrn. Ich weiß wie große Summen an Euch verſandt wurden Ihr dürft nicht ſcheel ſehen, daß auch ich ein einträgliches Geſchäft mir ausgedacht habe.

O Schmach, brach Jenatſch los, von einem ſolchen Schurken zu Seinesgleichen gezählt zu werden. War es nicht billig, daß Spanien den Sold vergüte, um den Frankreich unſere Truppen betrog!

Der Ducatenſegen iſt durch Euere Finger ge¬ ſtrömt, ſpottete Planta, wie ſollte er ſie beim Durch¬ rinnen nicht vergoldet haben! ...

Zieh, Bube, damit ich Dich nicht ermorde! rief Jenatſch bebend und riß den Degen aus der Scheide.

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Der Andere aber hatte ſich ſchon während ſeiner letzten Rede an die Ecke der Seitenſtraße zurückgezogen. Ich werde Eure guten Geſinnungen in Mailand zu rühmen wiſſen! kicherte er noch aus dem Schatten der Häuſer hervor und war verſchwunden.

Zehntes Kapitel.

Kaum erglühten die Thurmſpitzen von Chur im erſten Morgengolde eines wolkenloſen Maitages, als es ſchon vor den Stadtmauern und in der langen Gaſſe, die vom Sprecherſchen Hauſe zum Nordthore führte, lebendig wurde. Franzöſiſche Offiziere ſprengten hin und her, aus der Stadt nach dem Lager, deſſen Zelte ſchon abgebrochen waren, und von den marſchfertigen Truppen zurück zum Herzog, um ihn als ein glän¬ zendes Gefolge zu umringen und in ihm die franzöſi¬ ſche Ehre, die, wie es ihnen ſchien, in dieſem Lande Schaden gelitten, mit ihren kriegeriſchen Geſtalten zu decken.

In der Straße, die Rohan durchreiten ſollte, ſtan¬ den die Churer barhaupt in zwei gedrängten Reihen längs der Häuſer, und alle Fenſter bis zu den Dach¬343 luken hinauf waren mit neugierigen Köpfen gefüllt. Alles Volk wollte den guten Herzog noch einmal ſehen und begleitete ihn mit Wünſchen und aufrichtigen Thränen.

Als er an der Spitze ſeines ſtolzen Zuges lang¬ ſam dem Thore ſich näherte, fand er einen löblichen Rath und die Geiſtlichkeit der Stadt zu ſeiner Rechten aufgeſtellt. Die Herren hatten ſich in vollem Ornat jeder nach ſeinem Rang auf den Stufen einer breiten Freitreppe vertheilt, die zu der Pforte eines patriziſchen Hauſes führte. Beide Thürflügel ſtanden weit offen und im Flur wurden in ſchwarze Seide gekleidete Frauengeſtalten ſichtbar, die Gattinnen und Töchter der Würdenträger, welchen ihre Stellung erlaubte, über die Häupter der Stadt hinweg dem Herzog, den ſie mit Schmerzen ſcheiden ſahen, einen letzten Gruß zuzuwinken. Ihr Zartgefühl hatte ihnen verboten, ſich wie bei einem luſtvollen Schauſpiele auf dem Balkon und in den Fen¬ ſtern zu zeigen.

In der Mitte der Rathsherren fiel der Amts¬ bürgermeiſter Meyer als wahrhaft impoſante Erſchei¬ nung ins Auge. Nie hatte eine bürgermeiſterliche Kette mit ihrer großen runden Schaumünze bequemer gelegen und ſelbſtzufriedener geleuchtet, als die auf ſeiner brei¬ ten Bruſt ruhende; nie hatten ein ſeidener Strumpf344 und ein Roſettenſchuh knapper und ſchöner geſeſſen als heute an ſeinem wohlgebildeten, feierlich vorgeſetzten Bein. Bei näherer Betrachtung jedoch verrieth die Befangenheit ſeines gewöhnlich geſunden und ruhigen Geſichts und der bängliche Ausdruck ſeiner irrenden Augenſterne einen geheimen Widerſpruch mit der magi¬ ſtralen Sicherheit ſeiner vollkommenen Haltung.

Der Gruppe der Standeshäupter gegenüber, wo ſich die Ausmündung einer innerhalb der Stadtmauer laufenden Nebengaſſe zu einem kleinen viereckigen Platze erweiterte, hatten ſich, als Repräſentanten der heimiſchen Waffen, die vornehmſten Bündneroffiziere verſammelt und warteten zu Pferde, um ſich dem Gefolge des Her¬ zogs anzuſchließen und ihm das Ehrengeleit bis zur Grenze zu geben. Im Gegenſatze zu der gedrückten Stimmung auf der andern Seite der Gaſſe unter den Söhnen der Themis herrſchte hier unter den Kindern des Mars eine friſche und beherzte, der ſie ſich unbe¬ fangen überließen, da ſie ſahen, daß der bündne¬ riſche Dictator zur Verabſchiedung ſeines Opfers nicht erſcheine.

Jetzt erreichte Herzog Rohan den Platz vor der Freitreppe. Huldvoll hielt er ſeinen ſchlanken Gold¬ fuchs an, denn er ſah, wie der Amtsbürgermeiſter einen goldenen Pokal erhob, den eben ein ergrauter Raths¬345 herr an ſeiner Seite aus einer ſilbernen Kanne gefüllt hatte. Meyer trat entſchloſſen vor und bat den Herzog in gerührten Worten, den ſeiner Erlaucht von der Stadt Chur mit Dankſagung und Segenswunſch ange¬ botenen Abſchiedstrunk nicht zu verſchmähen. Während Rohan ſich die Lippen netzte, ſammelte der Bürger¬ meiſter ſeinen Geiſt zu einer wohlgeſetzten franzöſiſchen Rede, auf die er ſich ſorgfältig vorbereitet hatte.

Bürgermeiſter Meyer war kein Redner. Im Rath und in der Gemeinde war es ihm ein Leichtes, ſeine Gedanken ſchlicht und zweckdienlich auszudrücken und zu einem bündigen Schluſſe zu gelangen. Aber es war ihm nicht gegeben, zwieſpältige Gefühle und zweideutige Ge¬ danken unter zierlichen Blumen der Beredſamkeit zu verbergen.

Er hatte damit begonnen, des Herzogs ruhmreiche Tapferkeit und ſeine erhabene ſtaatsmänniſche Weisheit zu preiſen, die beide zu Bündens Rettung wie zwei geflügelte Genien herbeigeeilt ſeien. Dann warf er einen Blick in den Abgrund, aus welchem der Herzog das bündneriſche Volk gezogen habe. Jetzt kam eine dunkle Stelle, in der von ſich überſtürzenden Ereigniſſen, ſeltſamen himmliſchen Conjuncturen und dem großen Herzen Ludwigs XIII die Rede war. Hier wurde Herr Meyer warm, überſprang unverſehens die logiſchen346 Hinderniſſe und behauptete gerührt, die Zurückgabe des Veltlins an die Bündner durch Spanien-Oeſter¬ reich ſei und bleibe das Verdienſt des Herzogs Rohan. Er ſei, nächſt dem gütigen Gott, ihr alleiniger Helfer und Retter geweſen.

Des Landes Dankbarkeit gegen Euch wäre nicht genugſam ausgedrückt, edelſter Herr, rief er aus, wenn wir Euch ſo viele Ehrenſäulen errichteten, als Bünden Felſen und Berge beſitzt! Und wenn jeder unſerer Berge eine Statua wäre .... hier ſtockte der Redner und erſtarrte ſelbſt zum Steinbild.

Ein verſpäteter Reiter war durch die Nebengaſſe herangeeilt und auf dem kleinen Platze, dem Bürger¬ meiſter gegenüber, mitten unter die Bündneroffiziere hineingeſprengt. Die Oberſten wichen auf ihren ſtam¬ pfenden Thieren beſtürzt nach beiden Seiten zurück. Auf das Kommen von Georg Jenatſch hatte Keiner ge¬ rechnet. Und da war er! Auf ſeinem ſchäumenden Rappen in der Mitte des leeren Raumes, von Allen gemieden!

Zugleich bäumte ſich das Pferd des dicht hinter dem Herzog haltenden Lecques, der einen wüthenden Blick nach Jenatſch hinüberſchoß. Des Herzogs Augen ruhten mit höflicher Aufmerkſamkeit auf dem Bürger¬ meiſter, aber dieſem, der den verrathbefleckten Befreier347 Bündens als eine grelle und unſchickliche Verdeutlichung ſeiner Rede gerade vor Augen ſah und dem die dro¬ hende Haltung des Herrn von Lecques nicht entgangen war, entglitt der Faden ſeiner Rede. Seine angſtvollen Blicke begannen mehr als gewöhnlich zu ſchielen und er fuhr unſicher fort: Und wenn in Bünden jeder Berg eine Statua ....... und jede Statua ein Berg wäre .......

Laßt es gut ſein, lieber Bürgermeiſter! ſchnitt der Herzog freundlich ab und, ſich auf die andere Seite zu den Bündneroffizieren wendend, ſagte er mit ruhigem Befehl: Ich verzichte auf das Geleit der Herren. Es wird der Schicklichkeit Genüge geſchehen, wenn Einer von ihnen unſerm Ueberſchreiten der Grenze beiwohnt. Ich bitte mir die Geſellſchaft des Grafen Travers aus.

Der ſtille junge Mann mit dem braunen ſcharf¬ geſchnittenen Kopfe lenkte ſofort mit dankendem Gruße ſein Thier zur Linken des Herzogs.

Gott ſchütze Euch und Eure gute Stadt, werthe Herren! rief dieſer, griff leicht an ſeinen Hut und ſprengte durch das Thor in die lenzduftige Landſchaft hinaus.

Der alte Lecques war auffallender Weiſe einer der Letzten zurückgeblieben. Jetzt riß er ſein Pferd herum, ritt Georg Jenatſch einige Schritte entgegen,348 zog ein Piſtol und ſchrie ihn an: So ſcheidet Lecques von einem Verräther!

Er drückte los, der Hahn ſchlug nieder, ein Pul¬ verblick flammte auf der Zündpfanne, doch der Schuß verſagte.

Elftes Kapitel.

Während die Ereigniſſe des Frühjahrs die Stadt Chur und das ganze Land in aufgeregte Spannung verſetzten, blieb Lucretia Planta von denſelben ſcheinbar unberührt. Sie hauſte allein auf ihrem feſten Sitze Riedberg, der, an eine ſonnige Halde fernab von der Heerſtraße ſich lehnend, inmitten ſeiner blühenden Wieſen und wohlgepflegten Felder und Baumgärten ein Bild ländlichen Friedens darſtellte.

Von ganzer Seele fürchteten und hofften und freuten ſich dagegen mit dem Lande die Frauen von Cazis. Sie hatten, als das Aufgebot des Jürg Jenatſch erſcholl, zum Sturm gegen die gottloſen Fran¬ zoſen alle Kloſterleute bis auf das letzte Knechtlein geſtellt. Als fröhliche Geberinnen leerten ſie ihren kleinen Weinkeller, um die vor die Rheinſchanze und wieder heimwärts ziehenden Landſtürmer zu tränken. 350Hallebarde und Morgenſtern ruhten an den friedlichen Kreuzen des Nonnenkirchhofs. Alt und Jung ſchaarte ſich längs der Kloſtermauer und die frommen Schweſtern eilten leichtfüßig auf und nieder, in kleinen hölzernen Schalen ihren Moſt und Wein bis auf den letzten Tropfen ausſchenkend.

Niemand aber ahnte in dem durch den Abzug der Franzoſen mit hellem Jubel erfüllten Domleſchg, wel¬ chen Antheil Fräulein Lucretia an den geheimen Ver¬ handlungen genommen, die den Handſtreich in Chur möglich gemacht hatten. Nicht einmal die Frauen in Cazis, obſchon ſie den Verkehr mit dem Fräulein nach dem Wunſche ihres Beichtigers immer eifriger und zu¬ thunlicher pflogen. Nicht daß Pancraz den eigenſüch¬ tigen Gedanken in ihnen genährt hätte, die Letzte der Planta von Riedberg unwiderruflich in den Ring des Kloſters zu ziehen. Sie verkehrten mit Lucretia, der Weisheit des Paters vertrauend, ohne ſie mit Fragen oder mit Bitten zu beſtürmen, die auf ihre Zukunft und die Hoffnungen des Kloſters Bezug hatten, ſchon aus geſelliger Neigung und natürlicher Gutherzigkeit. Das Fräulein hätte ſie gedauert, wenn es von den merkwürdigen Dingen, die ſich im Lande zutrugen und die ſie ſelbſt auf den verſchiedenſten Wegen erfuhren, nicht ungeſäumt unterrichtet worden wäre.

351

Freilich wäre es der Schweſter Perpetua gegen die Natur gegangen, ſich nicht mindeſtens bei Lucas über die letzte lange Abweſenheit des Fräuleins jenſeits der Berge einiges Licht zu verſchaffen, hätte ſie nicht aus der allerbeſten Quelle, einem Briefe des Paters Pancratius ſelber, ſchon im Winter erfahren, daß un¬ angenehme Erb - und Familienangelegenheiten, über die man beſſer nicht mit ihr ſpreche, die Gegenwart Lucretias in Mailand nothwendig machten.

Lucretias Fahrt nach Mailand im vergangenen Jahre war ihr ſchwer geworden, aber ſie hatte das von Jenatſch ihr vorgehaltene Ziel ſtandhaft verfolgt und durch die Feſtigkeit ihres Willens auch erreicht. Nicht die Mühſale des zweimaligen Ueberſchreitens der im Winter gefährlichen Bergpäſſe hatten ihren Muth auf die größte Probe geſtellt; dieſe Schreckniſſe hatte die kräftige Frau, geleitet von dem treuen wetterharten Lucas und einem ſeiner berggewohnten Söhne, ohne Zagen und Ermüdung überwunden. Anders aber war es, als ſie, von dem geſchäftigen Pancraz in Mailand empfangen und bei Serbelloni eingeführt, ſich dem klugen und zähen Staatsmanne gegenüber befand und fühlte, daß ſie ſich auf ein ihr fremdes Gebiet verirrt,352 in bisher noch nicht von ihr erwogene Fragen ſich ver¬ wickelt habe.

Ihre Stellung als Bevollmächtigte des bündne¬ riſchen Kriegsoberſten war eine höchſt eigenthümliche und mußte in den Augen Aller der Verhältniſſe Unkundigen als eine zweideutige erſcheinen. Serbelloni, der ſie kannte und wußte, daß der Mörder ihres Vaters ein Gegenſtand des Haſſes für ſie war, verfiel nicht in dieſen Irrthum und fand es begreiflich, daß ſie die politiſchen Ziele ihres Vaters und ihres Oheims mit Aufbietung aller ihrer Kräfte verfolge; aber er gerieth in einen andern.

Er glaubte, ſie ſei von Anfang an mit den Um¬ trieben der Bündnerflüchtlinge von der ſpaniſchen Partei vertraut geweſen, und wollte mit ihr als mit einer in das ganze Gewebe der ſich kreuzenden Intereſſen Eingeweihten verkehren. Er brachte die Unſchuldige mit ihrem Alles um ſich her durch den Hauch ſeiner Schlechtigkeit befleckenden und vergiftenden Vetter in unverdiente Beziehung politiſchen Einverſtändniſſes; er verwirrte ſie, ohne ſie verletzen zu wollen, mit Mit¬ theilungen über den Lohn und Anſpielungen auf die Ehren, welche er den in der angeknüpften Intrigue erfolg¬ reich Handelnden zudachte, er wies auf die glänzenden Ausſichten hin, die das Gelingen vor ihnen öffnete,353 und er ahnte nicht, daß dabei eine ſteigende Verachtung der niedern Schliche und geheimen Mittel der Politik ſich Lucretias bemächtigte.

Auch Georg Jenatſch erſchien ihr in einem an¬ dern Lichte; ihr Vertrauen auf ſeine reine Vaterlands¬ liebe wurde von dem allgemeinen Ekel, den ſie empfand, angefreſſen und ihr Glaube an die Einheit ſeines Weſens erſchüttert, ohne daß ſie augenblicklich ſich ganz bewußt wurde, wie durch dieſe Zweifel ihr Verhältniß zu ihm ſich innerlich trübe.

Was ſie aufrecht hielt, war ihre Treue an ſich ſelbſt. Sie hatte verſprochen, von den ihr übergebenen fünf Bedingungen in keiner Weiſe abzuweichen und ſich keinen Punkt davon abmarkten zu laſſen. Dabei blieb ſie unerſchütterlich. Das Andenken ihres Vaters verließ ſie niemals. Sie ſtärkte ſich in Momenten der Erſchöpfung an ſeinem geiſtigen Anblicke und je aus¬ ſchließender ſie in der Erinnerung mit ihm verkehrte, deſto lebendiger ward ſie ſich bewußt, daß ſie in ſeinem Geiſte handle, wenn ſie zum Abſchluſſe des von Jenatſch entworfenen Vertrages mitwirke.

Nachdem ſie als williges und treues Werkzeug ihre Aufgabe erfüllt und mit den von Spanien ge¬ währten und unterzeichneten Bedingungen das Gebirge wieder überſchritten hatte, kehrte ſie in die Stille vonMeyer, Georg Jenatſch. 23354Riedberg zurück und wartete dort, bis ihr die Schriften, die ſie verwahrte, durch die Vermittlung des Kloſters Cazis, vermuthete ſie abverlangt würden.

So war der März gekommen. Da erſchien eines Abends bei einbrechender Nacht Jenatſch ſelbſt wieder auf Riedberg. Ein Brief des Paters Pancraz hatte ihm aus Mailand gemeldet, daß Lucretia abgereiſt ſei und die ihr gewährten ſpaniſchen Vollmachten auf ihrem Schloſſe bewahre und hüte. Nun kam er, um die von Serbelloni unterzeichneten Papiere aus ihrer Hand zu empfangen.

Als er eintrat, pochte Lucretias Herz mit ſchweren Schlägen, aber vor jähem Schrecken mehr als vor Freude.

Noch einmal war eine Verwandlung mit ihm vor¬ gegangen! Was heute aus ſeinen Augen blitzte war nicht mehr der jugendliche Uebermuth von früher, war nicht die vor keinem Hinderniſſe zurückweichende Sicher¬ heit, mit welcher er, ſeit ſie ihn wieder kannte, ihr entgegen getreten, es war etwas Maßloſes in ſeinem Weſen, eine gereizte Gewaltſamkeit in ſeiner Stimme und Haltung, als hätte eine übermenſchliche Kraft¬355 anſtrengung ihn aus dem Geleiſe und über die letzten ſeiner Natur geſetzten Markſteine hinausgeworfen.

Eine wilde Freude flammte über ſein Antlitz, als er endlich die Schriften hielt und durchflog. Er wollte in ſeinem Triumphe die Kniee ſeiner Botin umfaſſen; aber Lucretia trat ſtolz und zitternd zurück.

Da ſtreckte er die Hand gen Himmel und rief in herausforderndem Jubel: Ich ſchwöre es, Lucretia, wenn das gelingt, ſoll mir fortan Nichts unmöglich ſein! ... Müßt 'ich auch das Blut Deines Vaters durchſchreiten müßt' ich dem Racheengel das Schwert aus den Händen reißen, um Dich zu beſitzen, Du längſt Du immer Begehrte!

Da ergriff Lucretia ſeine Hand und trat mit ihm durch eine ſchmale Pforte in einen gewölbten Neben¬ raum, ein enges Gelaß, deſſen Rückwand durch einen ungebrauchten alterthümlichen Kamin ganz gefüllt und durch ein grob darauf gezeichnetes Kreuz verunziert war.

Auf Niedberg wird keine Hochzeit gefeiert! ſagte ſie und flüchtete ſich dann, das Antlitz mit den Händen bedeckend, in ihr innerſtes Gemach.

Als wenige Wochen ſpäter der Verrath an Herzog Rohan und die Befreiung Bündens eine Thatſache wurde, von der das ganze Land erſcholl, beſchlich Lucretia in ihrer Einſamkeit das bange Gefühl, als23*356ſei ſie durch ihre verborgene Mithilfe mit Georg Jenatſch auf immer und ewig verbunden, theilhaftig ſeiner retten¬ den That, theilhaftig auch ſeiner Schuld. Unauflöslich war ſie mit ihm vereinigt im Augenblicke, da ihr Herz vor ihm zu erſchrecken begann und ſie, um in ihrem Gemüthe eine Schutzwehr gegen ihn aufzurichten, ſich täglich zurückrief, daß die Pflicht ihres Lebens noch nicht erfüllt und der Geiſt ihres Vaters durch die ihm gebührende Blutſühne noch nicht geehrt ſei.

Zu Ende Mai nach dem Abzuge des Herzogs aus Bünden wurde Lucretia durch einen flüchtigen Beſuch ihres verabſcheuten Vetters beunruhigt. Er deutete ihr an, er müſſe ſchleunig nach Mailand zurückkehren. Dort befinde ſich Jenatſch und verhandle perſönlich mit Serbelloni die letzten endgültigen Beſtimmungen über die Stellung Bündens zu Spanien. Durch ſeinen charakterloſen Parteiwechſel und ſeine trügeriſche Be¬ redſamkeit gewinne der Oberſt auf den Gubernatore einen verhängnißvollen Einfluß, welcher die Intereſſen der alten ſpaniſchen Partei in Bünden gefährde und ihn ſelbſt der Früchte ſeiner langjährigen Treue an Spanien beraube. Rudolf fügte bei, es ſei die höchſte Zeit, daß er ſein Heimatsrecht und ſeine Stellung im Lande wieder gewinne. Das hoffe er bei den Verhand¬ lungen in Mailand durchzuſetzen. Er wäre der Ver¬357 wendung Serbellonis zu ſeinen Gunſten gewiß, wenn ihm Lucretia, welcher der Gubernatore von früher her huldvoll gewogen ſei, ihre Hand reiche, und er durch die Verbindung mit ihr das berühmte Geſchlecht der Planta zu Riedberg wieder emporbringe. Er wiſſe wohl, meinte Rudolf, an welche Bedingung Lucretia ihr Jawort knüpfe, an die Vollziehung ihrer Blut¬ rache an Jenatſch und dieſe Bedingung werde er erfüllen, was ihm jetzt leichter ſei als früher, da ſich die Feinde des Oberſten aus den verſchiedenſten Grün¬ den gemehrt hätten und noch täglich ſich mehrten. Zu¬ erſt aber müſſe dieſer den Vertrag mit Spanien end¬ gültig abgeſchloſſen haben, denn Jenatſch allein ſei es im Stande. So zog er über das Gebirge.

Der Eindruck ſeiner Gegenwart war für Lucretia ein häßlicher und beunruhigender geweſen. Doch achtete ſie Rudolfs Perſönlichkeit zu gering, als daß ſeine Pläne ſie ernſtlich erſchreckt oder nur beſchäftigt hätten. Das Begegniß haftete nicht lange in ihrem Gemüthe, denn ihre Seele war von andern bangen Zweifeln bewegt.

Der Wald röthete ſich an den Halden und die geleerten Fruchtbäume verſtreuten leiſe ihre goldenen Blätter, als in den letzten ſonnigen Tagen der hart358 entbehrte Beichtiger der Frauen von Cazis nach langem Fernſein aus Mailand wieder ins Domleſchg zurück¬ kehrte. Pater Pancraz hatte die Herſtellung ſeines Kloſters in Almens, für die er ſich bei den Vertrags¬ verhandlungen in Mailand verwendete, nicht erlangt; aber er brachte andere wunderſame und hocherfreuliche Nachrichten. Schon am Abende nach ſeiner Ankunft be¬ gab er ſich nach Riedberg und begehrte eine Unter¬ redung mit dem Fräulein, dem er mit freudeglänzenden Augen erzählte, ſeine Excellenz der Herr General Jenatſch, der frühere Todfeind ihrer gut katholiſchen Familie, ſei vor einem Monate, nachdem er die General¬ beichte ſeiner Sünden abgelegt und vollſtändige Abſo¬ lution erhalten, in den mütterlichen Schooß der allein ſeligmachenden Kirche zurückgekehrt.

Bei dieſem Berichte ſchaute er das Fräulein trium¬ phirend an. Er ſchien ihr Schickſal mit dieſem erfreu¬ lichen Ereigniſſe in Zuſammenhang zu bringen und an¬ zunehmen, mit allen übrigen Freveln und Sünden ſei durch dieſen großen Akt der Buße auch der Tod ihres Vaters vom Gewiſſen des Mörders abgewaſchen und vor Gott und Menſchen geſühnt. Sie aber erbleichte, und als er einer Antwort der Schweigenden mit ſchlauen erwartungsvollen Blicken entgegenſah, ſagte ſie endlich, ſich faſſend: Das iſt ein ſo unerhörtes Wunder der359 göttlichen Gnade, daß ich ihr dafür nur auf eine Weiſe meinen Dank zu bezeugen weiß, wenn ich bei den Frauen in Cazis den Schleier nehme. Eine Ant¬ wort, welche die langgeſchulte Menſchenkenntniß des Paters zu Schanden machte. Er hatte es ſich leichter gedacht, das, wie er wohl wußte, ſeit Jahren an Je¬ natſch hangende Gemüth Lucretias von einer alten Rachepflicht zu befreien, die dem praktiſchen Manne, wenn er ſie auch nicht gerade verwarf und der ehr¬ würdigen Landesſitte gemäß achtete, doch, beſonders in dieſem Falle, mit der chriſtlichen Liebe und weltlichen Klugheit unvereinbar erſchien.

Lucretia war über die Mittheilung des Paters er¬ ſchrocken. Daß es Jenatſch mit der Abſchwörung ſeines proteſtantiſchen Glaubens ein Ernſt ſei, das, wußte ſie, war unmöglich. Es kam ihr vor, als habe er damit ſeine erſte, innerſte Ueberzeugung verleugnet, als ſei er ſich nun ganz untreu geworden und habe ſein Selbſt vernichtet. Und was hatte ihn dazu vermocht? Konnte er dieſe unlautere That mit ſeiner Liebe zu Bünden entſchul¬ digen und wie ſeine Untreue an Herzog Rohan als eine Nothwendigkeit ſeines Schickſals darſtellen?

Was immer ihn dazu getrieben, es konnten nur Rückſichten und Berechnungen ſein, denen der Jürg von ehedem unzugänglich geweſen wäre. 360Immerhin war eine Schranke zwiſchen ihm und ihr, deren ſich ihr ſchwaches Herz zuletzt noch getröſtet hatte, damit gefallen.

Hoher Schnee bedeckte das ſtille Thal und laſtete auf Dach und Thurm des Schloſſes Riedberg. Da verlautete gegen Ende Jenner, der feſte Friede mit Spanien-Oeſterreich, der Bündens alte Grenzen und Freiheiten herſtelle, ſei endlich abgeſchloſſen, dank der Alles berechnenden Klugheit und eiſernen Beharrlichkeit des größten Mannes, den das Land je beſeſſen. Es wurde bekannt gemacht, Bündens Geſandter, Georg Jenatſch, werde in den nächſten Tagen in Chur ein¬ ziehen und das mit den Bändern und Riegeln vor¬ ſichtiger Klauſeln gegen jede Anfechtung gewahrte und mit den kaiſerlichen und königlichen Unterſchriften und Sigillen bekräftigte Dokument in feierlicher Sitzung den Räthen von Bünden überreichen.

Zwölftes Kapitel.

Seit einigen Tagen war Thauwetter eingetreten. Der Föhn brauſte durch die Schluchten der Viamala und ſtöhnte und pfiff um die alten Mauern von Ried¬ berg. Die Luft war lau, als wollte der Frühling vor¬ zeitig ins Land brechen, aber ſchwer drohende Wolken bedeckten den Himmel und unheimlich klang in der Nacht das Rieſeln des ſchmelzenden Schnee's und das Brauſen der übermächtigen, durch das ſternloſe Dunkel eilenden Bäche.

Lucretia ſtand am Fenſter und ihr Blick bemühte ſich, die Nebel zu durchdringen, die längs der Falten des Heinzenberges krochen und über das jenſeitige Rheinufer und die Heerſtraße wie graue Schleier herab¬ hingen. Es bewegte ſich darin ein langer, unterbroche¬ ner Zug, und ferner verwirrter Lärm drang in einzel¬ nen Tönen zu ihr herüber. Sprengende Reitergruppen362 ließen ſich errathen und leiſes Schellengeklingel der Laſtthiere wurde vom Winde herübergeweht.

Das konnte nur der als Ueberbringer der Friedens¬ urkunde nach Chur ziehende Jenatſch ſein! Doch immer und immer bewegte es ſich von Neuem in den Nebeln und jetzt ſchien ein Theil des zurückgebliebenen Troſſes, da wo die Straße nach Riedberg ſich abzweigt, vom Zuge ſich zu trennen und die Richtung nach dem Schloſſe einzuſchlagen.

Sollte er es wagen, Lucretia auf ſeinen Triumph¬ zug, der Welt zum Schauſpiel, abzuholen, ſie mitführen zu wollen als ſeine ſchwierigſte Beute!

Doch nein, er war voraus. Sie hatte durch eine Lücke der Nebelwolken ſeinen glänzend geſchirrten Rappen vorüberblitzen ſehn, und ihr war vorgekommen, das Tanzen des Pferdes und eine Handbewegung des Reiters könnte einen Gruß für ſie bedeuten.

Der Nebelſtaub verwandelte ſich unterdeſſen in Regen; die Pferde auf der Riedbergerſtraße aber tauch¬ ten jetzt bei einer Wendung ganz nahe zwiſchen den feuchten Wieſen auf. Es war des Fräuleins Vetter Rudolf, diesmal mit einem für ſeine bedrängten Umſtände zahlreichen Geleite berittener Knechte, der ſein Gaſtrecht im feſten Hauſe ſeines Ohms geltend machte. Die meiſten ſeiner Leute zeigten ein verdächtiges und unſauberes Aus¬363 ſehen. Er mochte ſie, nach ihrer Statur und Bewaffnung zu urtheilen, in den nach Süden abfallenden Thälern Graubündens geworben haben. Nur Einen in der Rotte ſicherlich nicht. Es war ein wahrer Rieſe, derb von Gliedern und roth von Geſichtsfarbe, in dem Lucretia einen wegen ſeiner ſprichwörtlichen Körperſtärke weithin gefürchteten Raufbold, den Wirthsſohn von Splügen, erkannte. Er hatte ſich gegen den Regen eine Bären¬ haut wie einen Haubenmantel übergehängt und blickte unter der Schnauze und den Ohren des erlegten Un¬ gethüms wie ein thieriſcher Waldmenſch hervor.

Lucretia ließ das wilde Geſinde, das ſeine Ankunft mit Musketenſchüſſen kund that, durch ihren Kaſtellan in einem Nebengebäude unterbringen und bewirthen. Den unwillkommenen Vetter empfing ſie erſt am Abend¬ tiſche, an welchem ihre Dienerſchaft theilzunehmen pflegte und Lucas das Amt des Hausmeiſters verſah.

Nachdem die Tiſchgenoſſen ſich entfernt hatten, begehrte Rudolf eine Unterredung mit ſeiner Baſe und blieb ungebeten im Gemache zurück, wo Lucas auf einen Wink des Fräuleins das Abräumen des Tafel¬ geräthes nur langſam und zögernd beſorgte. Die Ge¬ genwart des alten Knechtes hielt ihn nicht ab, vor ſie hinzutreten und ihr mit leiſer Stimme Drohungen zu¬ zuflüſtern. Er warf ihr ins Geſicht, daß er wohl wiſſe,364 wer für den neuen Despoten Bündens, der morgen in Chur ſeinen prunkenden Einzug halten werde, in Mailand die erſten Botendienſte gethan. Der Verſchwender iſt mir mit ſeinem fürſtlichen Gefolge und ſeinen koſtbaren Berber¬ hengſten über den ganzen Berg auf den Ferſen gewe¬ ſen , ſagte er neidiſch. In Splügen mußte ich ihm die Straße frei geben, wenn ich nicht immerfort ſeine Knaben hinter mir über die Armuth des Planta wollte ſpotten hören!

Lucretia gab den Zweck ihrer Reiſe nach Mailand ruhig und ſtolz zu.

Da warf der Freche jede Scheu von ſich und be¬ zichtigte ſie vertraulicher Abhängigkeit von dem Oberſten. Es iſt Zeit mit ihm ein Ende zu machen, ſchrie er ihr zu. An Betrogenen und Beſchimpften, die, wie ich, nach dieſem gemeinen Blute dürſten, iſt heute Ueber¬ fluß, ſeiner Feinde ſind in Spanien ſo viel wie in Frankreich!

Du aber, Lucretia, haſt die heilige Pflicht der Rache ſchmählich vergeſſen und biſt Deines Vaters ganz unwürdig geworden! Weg mit ihm, lieber heute als morgen! Der Mörder des Pompejus Planta ſoll ſich der Gunſt ſeiner Tochter nicht berühmen! Mir fällt es zu, die Ehre des Hauſes wieder herzuſtellen. Sobald der Verräther auf dem Rücken liegt, werde ich Dich365 als mein Weib heimführen. Ich laſſe die Güter der Planta nicht von unberechtigten Händen verzetteln.

Das Fräulein antwortete nicht. Aber Lucas, dem das Herz vor Ingrimm ſchwoll, als er ſeine Herrin ſo unwürdig behandelt ſah, trat, die Fäuſte ballend, neben ſie. Aufrecht und bleich mit geſchloſſenen Lippen ſtand Lucretia vor ihrem Beleidiger. O wie gut weißt Du, daß jedes Deiner Worte eine Lüge iſt, ſtöhnte ſie end¬ lich aus gepreßtem Herzen und verließ das Gemach,

Ehe ſie die Thür ihres Thurmzimmers hinter ſich verſchloß, hatte ſie ein Knechtlein nach Cazis hinüber¬ geſchickt, um den Pater Pancraz auf den Riedberg zu holen. Aber der Pater war nach Almens berufen wor¬ den, und es war nicht denkbar, daß man ihn von dort in der ſchlimmen Sturmnacht zurückkehren ließ. Er werde morgen in der Frühe hinüberkommen, ließ Schwe¬ ſter Perpetua berichten.

Jetzt war Lucretia allein. Sie trat ans Fenſter und ſchaute in das nächtliche Land hinaus. Der Sturm ſchwieg, aber kein Stern ſtand am Himmel. Schwere niedere Dunſtgebilde verdeckten den Mond und ließen kaum auf ihren zerriſſenen Säumen einen ſchwachen Wiederſchein ſeines Lichtes ahnen. Ueberall ſchwarze drückende Maſſen des Gebirgs und der Wolken. Mitter¬366 nacht ging vorüber und immer noch ſaß Lucretia am Thurmfenſter und hörte rathlos und ohne klare Ge¬ danken dem dumpfen Rauſchen des Rheines zu.

Wie ein rieſenhaftes dunkles Unheil ſtand vor ihr was aus ihrem Leben geworden. Aber das Leid um ihren Vater, eine vertrauerte Jugend, ihre jetzige Ver¬ laſſenheit und die Schrecken der Zukunft ſanken in ein unbeſtimmtes, dumpfes Schmerzgefühl zurück, aus dem ein einziger, ſtärker und ſtärker ertönender Vorwurf emporſtieg und ihr ans Herz griff: Sie war ihres Vaters nicht würdig. Sie hatte ihre Rache verſäumt.

Konnte ſie nicht jetzt noch von dieſer Laſt ſich be¬ freien? Nicht jetzt noch einem Feigling das Recht neh¬ men, ſie im Einklange mit ihrem eigenen Herzen einer leichtfertig vergeſſenen Kindespflicht anzuklagen? Nein! Sie war zu ſchwach dazu! Nein, ſie wollte nicht ſtark genug ſein.

Ihr allein gehörte das Recht der Rache und ſie übte es nicht aus; aber ſie erbebte vor Zorn, als ſie ſich es möglich dachte, daß ein Anderer es ihr entreißen könnte ..... Freilich daß Rudolf dieß gelinge, das war ihr auch jetzt, da ſie ihn im höchſten, widerwärtig¬ ſten Wuthaufwande ſeiner feigen Natur geſehn, durch¬ aus unglaublich. Wie ſollte dieſe Viper ihren ſtolzen Adler erreichen!

367

Aber ſie erſchrack vor dem Zwieſpalte ihrer eigenen Seele, vor ihrer Ohnmacht die alte Rache zu hegen und vor ihrer verzehrenden Eiferſucht auf jeden, der in ihr Amt eintreten könnte.

So beſchloß ſie ein Ende zu machen und der Welt abzuſagen.

Jenſeits der Kloſterſchwelle war ſie ſicher. Sie verzichtete ja dort auf all' ihren Beſitz, opferte ihre ſtolze, immer bekämpfte Liebe, verzichtete auf die zu lange wie ein Heiligthum bewahrte Rache. Jenſeits der Kloſter¬ ſchwelle konnte weder Jürgs frevelhafte Werbung, noch Rudolfs ekler Eigennutz ſie mehr erreichen.

Im Schloſſe war es ruhig geworden. In den Dörfern brannte kein Licht; nur von Cazis drang ein matter Schimmer über den Rhein. Er kam aus der Kloſterkirche, wo die Schweſtern ſchon Frühmette ſangen. Dort war ihre Friedensſtatt offen und ſie zögerte nicht länger an der Pforte. Sie goß Oel in ihre Lampe, die erlöſchen wollte, und begann ihre Papiere zu ordnen. Sie ſtellte über alle ihre Güter Schenkungsurkunden aus zu Gunſten der Schweſtern in Cazis und gedachte, in ihrem Gemache eingeſchloſſen zu bleiben bis zur Ankunft des Paters Pancraz. Nachdem Alles vollendet war, legte ſie ſich angekleidet noch kurze Zeit zur Ruhe.

368

Gegen Morgen erhob ſich der Föhn von neuem mit heulender Wuth, wie er nach der oft wiederholten Erzählung des alten Knechtes in jener Nacht getobt, als ihr Vater erſchlagen wurde. Sie fiel in einen unruhigen Schlummer, aus welchem ſie, von den Ge¬ räuſchen des Sturmes geweckt, immer wieder emporfuhr.

Ein Traum führte ſie in die Todesſtunde ihres Vaters. Sie ſah ihn groß und blutig lag er hin¬ geſtreckt und jammernd wollte ſie ſich über ihn werfen aber die Leiche verſchwand, ſie ſtand allein und hielt das geröthete Beil in der Hand, während ſie die Roſſe der Mörder mit ſtampfenden Hufen enteilen hörte. Ein neuer Windſtoß rüttelte am Thurme und ließ die Fenſterſcheiben des Gemaches in ihrer Blei¬ faſſung erklirren. Lucretia erwachte.

Im Hofe hörte ſie Pferdegetrappel und das Knarren des ſich öffnenden Thors. Sie eilte ans Fenſter und ſah in der ſtürmiſchen Morgendämmerung zwei Pferde wegtraben. Das eine war der Schimmel ihres Vetters. Erſtaunt ließ ſie Lucas rufen. Er war nicht mehr auf dem Schloſſe, ſondern mit Herrn Rudolf nach Chur verritten, deſſen Gefolge, wie ihr geſagt wurde, Befehl erhalten hatte, ſpäter aufzubrechen, um zur Mittags¬ zeit mit dem Herrn in der Schenke zum ſtaubigen Hüttlein bei Chur zuſammenzutreffen.

369

Daß der treue Lucas nach dem Auftritte von geſtern mit Rudolf Planta weggeritten, daß er ſie ohne Urlaub verlaſſen, was er noch nie gethan, das war Lucretia unbegreiflich und erfüllte ſie mit ſchlimmen Ahnungen. Sie betrat die Kammer des Alten und öffnete eine hölzerne Truhe, worin er mit eigenſinniger Verehrung das Beil aufbewahrte, das ihren Vater erſchlagen hatte und das ſie zum ſchmerzlichen Aerger des greiſen Knechtes nie hatte ſehen wollen. Die Truhe war leer. Lucretia erbleichte. Die mit dem Blute ihres Vaters benetzte Waffe alſo war ihr entriſſen; die ihr allein zuſtehende Rache ſollte heute ſchon von den Händen eines Feiglings oder von denen ihres Knechtes voll¬ zogen werden! Das Blut der Planta ſtürzte ihr wild zum Herzen und empörte ſich gegen ſolch unwürdigen Ein¬ griff. Die Entſagung der verwichenen Nacht entſchwand ihrem Gemüthe. Heute war ſie noch die Herrin auf Riedberg, heute war ſie noch die Erbin ihres Va¬ ters und waltete zum letzten Male ihres Amts.

Was morgen komme war ihr gleichgültig, lag doch wie ein ſtiller Friedhof das Kloſter Cazis dort über dem Rhein.

Noch warf ſie einen Blick hinaus in die trübe, ſturmgepeitſchte Gegend, ob der Pater nicht komme. Sie wollte ihm die von ihr in der Nacht geſchriebenenMeyer, Georg Jenatſch. 24370und beſiegelten Documente übergeben. Aber Stunden ver¬ ſtrichen und er kam nicht. Das Gefolge Rudolfs war ſeinem Herrn nachgeeilt. Jetzt ließ auch ſie ſatteln und ritt nach Chur, von ihrem jüngſten Knechte, dem Sohne des alten Lucas, begleitet.

Sie wollte zu Georg, ihn warnen und retten, oder ihn mit reinen, gerechten Händen tödten. Jürg iſt mein! ſagte ſie zu ihrem Herzen.

Erſt gegen Mittag klopfte der verſpätete Pater ans Thor, und hörte mit Schrecken von dem Erſcheinen Rudolfs, und daß das Fräulein in der Frühe nach Chur verreiſt ſei. Eine vertraute Magd hatte den Auf¬ trag, den Kapuziner in das Thurmzimmer zu führen, wo ihre Herrin zu ſchreiben pflegte. Dort fand er die Schenkungsurkunden in vollſtändiger Ordnung und die ſchriftliche Erklärung, daß Lucretia Planta der Welt entſage und im Kloſter Cazis den Schleier nehme.

Nachdenklich und traurig ſtand der Mönch vor die¬ ſen Zeugen eines ſchweren und ſchmerzlich vollendeten Seelenkampfes. Die Entſcheidung erfreute ihn weniger, als es von einem ächten Sohne des heiligen Franziskus zu erwarten geweſen wäre. Auch beunruhigte ihn Lu¬ cretias Ritt nach Chur. Er wußte, daß ſein Beicht¬ kind in ſchwierigen Lagen die kleinen Hülfsmittel und Auswege weltlicher Klugheit nicht fand, daß Lucretias371 Gefühle mit unzerſtörbarer Liebe im einmal Ergriffenen wurzelten, daß ihre Gedanken mit erſchreckender Gewalt in der einmal betretenen Bahn fortſtürzten. Es war ihm oft aufgefallen, daß ihr nahe lag und ſie natür¬ lich fand, was Andern als gefahrvoll und unerhört erſchien, und daß ſie es in aller Einfachheit that.

Er horchte die Dienſtleute über die Vorfälle der vergangenen Nacht aus und ihm wurde immer bänger. Er ſteckte die Urkunden ſorgfältig zu ſich, beſtieg ſein Eſelchen und ritt trotz Wind und Wetter ohne Aufent¬ halt gen Chur, wo er Lucretia bei der greiſen Gräfin Travers zu finden hoffte, feſt entſchloſſen, wenn ſo oder ſo ein Unheil geſchehen ſei, das Fräulein nach Cazis in Sicherheit zu bringen.

24*

Dreizehntes Kapitel.

Zu derſelben Stunde ſaß in ſeinem Hauſe zu Chur der Ritter Doctor Fortunatus Sprecher mit einem geehrten Gaſte an der feſtlich beſetzten Mittagstafel. Die erwärmte Stimmung der Tiſchgeſellſchaft und der ſolide Reichthum des Gemaches ſtand in behaglichem Widerſpruche mit dem Unwetter draußen auf der Gaſſe, wo der rauſchende Orkan den ſchmelzenden Schnee von den Dächern warf und mit ohnmächtiger Wuth an den vergoldeten Eiſengittern rüttelte, die in unten weit ausgebauchter Korbform die breiten Fenſter von hellem Glaſe ſchützten.

Der mit Silber und venetianiſchen Kelchen beſetzte Tiſch nahm die Mitte des Zimmers ein. Der größte, ebenſo reiche als heimatlich behagliche Schmuck dieſer ſchönen Familienſtube war ihr kunſtreich geſchnitztes373 Nußbaumgetäfel, das durch zierliche korinthiſche Holz¬ ſäulen in zwölf mit Trophäen gefüllte Felder getheilt war. Das oberſte Geſimſe wurde von Karyatiden in halber Figur getragen, zwiſchen welchen ein rings herumlaufender Holzfries die verſchiedenen Scenen einer Jagd mit Schützen, Hunden und zum Theil fabelhaftem Gethier in erhabener Arbeit darſtellte, auf welches Werk der Doctor mit Recht beſonders ſtolz war. Die Stelle des Deckengemäldes vertrat das kühngeſchnitzte Wappen der Sprecher von Bernegg.

Die Ecke des Zimmers füllte, ſtattlich und kranz¬ gekrönt, das warme Gebäude des Kachelofens. Ein großartiger und zugleich kurzweiliger Anblick! Denn da entfaltete ſich zwiſchen zartgefärbten Engeln und Frucht¬ ſchnüren in mehreren Bilderreihen die ganze Geſchichte des Erzvaters Abraham. Die bibliſchen Scenen waren in violetten, gelben und blauen Umriſſen und Schat¬ tirungen mit großem Fleiß auf die weißen Kacheln ge¬ malt und durch darunter geſetzte geiſtreiche Reimſprüche erklärt und nutzbar gemacht.

Der Tiſchgenoſſen waren jetzt nur noch drei. Die jüngern Kinder des Hauſes, welche das untere Ende der Tafel eingenommen und in beſcheidener Stille ihr Eſſen ſtehend verzehrt hatten, waren beurlaubt worden. An dem Ehrenplatze, zwiſchen dem Hausherrn und ſeinem374 blonden Töchterlein, ſaß, als gefeierter Gaſt, der Herr Amtsbürgermeiſter Heinrich Waſer. Heut am Tage der öffentlichen Ueberreichung der Friedensakte, wozu ihn ſeine den drei Bünden immer beſonders gewogene Vaterſtadt, die Republik Zürich, abgeordnet hatte, be¬ fand er ſich in voller Amtstracht und im Schmucke ſeiner bürgermeiſterlichen Kette. Die höchſte Würde des Staates war ihm um ſeiner beſonnenen Leiſtungen und mit be¬ rechneter Beſcheidenheit nur nach und nach ans Licht ge¬ ſtellten Verdienſte willen ungewöhnlich früh und neidlos zu Theil geworden, denn er ſtand, friſch und lebens¬ luſtig, erſt am Eingange der Vierzigerjahre. Ein Hauch von Jugendlichkeit ſchwebte auf ſeinen vom Gaſtmahle gerötheten Zügen, deren frühere bewegliche Feinheit ſich zum behäbigen Ausdrucke einer wohlwollenden, aber ans Schlaue ſtreifenden Klugheit ausgeprägt hatte.

Heute ſah er bewegt aus, beſonders wenn er mit ſeiner Nachbarin ſprach, deren Worten und Mienen er eine prüfende liebevolle Aufmerkſamkeit ſchenkte. Ihr kindliches Köpfchen, das auf einem lichten Halſe über dem blauen Tuchkleid und den von ihrer Mutter ge¬ erbten Holländerſpitzen des durchſichtigen Flügelkragens ſchwebte, hatte für ihn etwas äußerſt Anziehendes. Die weiche Rundung des hellen Geſichtes, der damit überein¬ ſtimmende ſanfte Glanz ihrer unter langen blonden375 Wimpern und angenehm gelockten Haaren hervorleuch¬ tenden Augen machten einen Eindruck von befriedigter Ruhe, welche Herrn Waſer an die ſilberne Luna er¬ innerte, wie ſie ſich in den klaren Waſſern des Zürcher¬ ſee's ſpiegelt. Immer ſehnlicher wünſchte er, dieſes anmuthige Geſtirn möchte glückbringend an ſeinem Abend¬ himmel aufgehen.

Obgleich des Doctors Lebensauffaſſung in Folge ſeines galligen Temperamentes im Ganzen eine trübe war, ſah er dem unter ſeinen Augen ſich vorbereiten¬ den häuslichen Ereigniſſe nicht ohne väterliche Be¬ friedigung entgegen. Aber ſeine Gedanken waren zer¬ ſtreut. Herr Waſer hatte ihm in allem Vertrauen vor der Mittagstafel eine Kunde mitgetheilt, mit welcher er Fräulein Amantia nicht vorzeitig, nicht heute betrüben wollte die Kunde vom Tode des Herzogs Rohan. Ein deutſches Flugblatt, das denſelben mit rührenden Worten beſchrieb, war nach Zürich gelangt und Waſer hatte es für ſeinen geſchichtskundigen Freund mit¬ gebracht.

Ueberdies beſchäftigte dieſen der jeden Augenblick erwartete Einzug des Triumphators in Chur, deſſen Perſönlichkeit ihm von jeher fremdartig und widerwärtig geweſen und dem er am wenigſten verzeihen konnte, daß er das Sprecher'ſche Haus, eine Feſtung der Ehre,376 wie der Doctor früher mit Stolz zu ſagen gewohnt war, durch Verrath befleckt hatte.

Doch ſonderbar! Was der Bürgermeiſter dem Fräulein in dieſer Stunde feſtlichen Zuſammenſeins noch verſchweigen wollte, ſchien einen magnetiſchen Zug auf deſſen ahnungsvolles Gemüth auszuüben, wenigſtens kam Amantia heute in Gedanken und Worten von dem guten Herzog Heinrich Rohan nicht weg und konnte bei dieſem Anlaſſe nicht umhin, auch ſeines tapfern Adjutanten mit Intereſſe ſich zu erinnern.

Herr Waſer ließ für ſeinen Mitbürger keine über¬ triebene Vorliebe blicken. Der Bravour und dem auf¬ geweckten, gebildeten Geiſte Wertmüllers widerfuhr von ſeinem Munde Gerechtigkeit, aber er ſchüttelte bedenklich den Kopf über des Locotenenten ſchneidiges und den Widerſpruch abſichtlich reizendes Weſen, womit er ſeine Landsleute beunruhige und ſich eine unangenehme Be¬ rühmtheit in ſeiner Vaterſtadt zugezogen habe. So ſelten er in Zürich verweile, ſei es ihm gelungen, durch ſeine Ausfälle gegen eine hohe Geiſtlichkeit Ab¬ ſcheu, durch ſein hochmüthiges Geringſchätzen der in ihrer Art intereſſanten ſtädtiſchen Angelegenheiten all¬ gemeine Mißbilligung und durch allerlei phyſikaliſchen Hokuspokus, der ihn dem freilich thörichten Verdachte der Zauberei ausſetze, bei dem gemeinen Manne un¬377 heimliche Furcht zu erregen. So habe er ſich in Zürich den Weg verrammelt und das Zutrauen einer löblichen Bürgerſchaft in alle Zukunft verſcherzt, welches doch, nebſt einem reinen Gewiſſen, die Lebensluſt des ächten Republikaners ſei. Das Schlimmſte aber an dem jungen Manne, ſchloß der mehr als billig erregte Bürgermeiſter, iſt ſein Mangel an aller und jeder Pietät, denn, ich bitt 'Euch, innig verehrte dürft' ich ſagen innig geliebte! Jungfer Sprecherin, was iſt alles Wiſſen und Können der Welt ohne die Grund¬ lage eines religiöſen Gemüthes!

Was mir den Locotenenten werth machte, ſagte Fräulein Amantia faſt beſchämt, war ſeine Treue an dem edlen Herzog Heinrich. Da hat er ſich als ächten Cavalier gezeigt neben dem Verräther Georg Jenatſch, der mir trotz ſeines gewinnenden Weſens immer wie ein böſer Geiſt vorkam, wenn er über unſere Treppen zum Herzog hinaufſprang.

Ein ſchwer zu beurtheilender Charakter, ſagte der zürcheriſche Bürgermeiſter, indem er, in einen traurig ernſten Ton übergehend, ſich an Herrn Fortu¬ natus wandte. In einem Stücke wenigſtens über¬ ragt Georg Jenatſch unſere größten Zeitgenoſſen in ſeiner übermächtigen Vaterlandsliebe. Wie ich ihn kenne, ſo ſtrömt ſie ihm wie das Blut durch die Adern. 378Sie iſt der einzige überall paſſende Schlüſſel zu ſeinem vielgeſtaltigen Weſen. Ich muß zugeben, er hat ihr mehr geopfert, als ein aufrechtes Gewiſſen verantworten kann. Aber, fuhr er zögernd und mit gedämpfter Stimme fort, iſt es nicht ein Glück für uns ehren¬ hafte Staatsleute, wenn zum Heile des Vaterlandes nothwendige Thaten, die von reinen Händen nicht vollbracht werden können, von ſolchen geſetzloſen Kraft¬ menſchen übernommen werden, die dann der all¬ wiſſende Gott in ſeiner Gerechtigkeit richten mag. Denn auch ſie ſind ſeine Werkzeuge, wie geſchrieben ſteht: Er lenkt die Herzen der Menſchen wie Waſſer¬ bäche.

Das iſt ein ſeltſam gefährlicher Satz, rief Herr Fortunatus entrüſtet, den ich erſtaunt bin, unter den Betrachtungen und Maximen Eurer Geſtrengen zu fin¬ den! Damit iſt man auf geradem Wege, die ſchlimmſten Verbrechen zu rechtfertigen. Bedenkt, wie leicht ſolch ein geſetz - und gewiſſenloſer Menſch, einmal in ſeine unberechenbare Bahn geſchleudert und von ſeinen Leiden¬ ſchaften wie von einem Orkan getrieben, ſein eigen ge¬ lungen Werk zerſtört. Wißt Ihr, wohin es ſchon mit Jürg Jenatſch gekommen iſt? Ich erfahre aus zuver¬ läſſigen Quellen, daß er bei den Verhandlungen in Mailand dem an ſeinen Vorſchlägen mäkelnden Herzog379 Serbelloni wie ein Raſender gedroht hat, er rufe die Franzoſen wieder nach Bünden, wenn Spanien nicht ſeinen Willen thue, ja, daß er, um den Beichtvater ſeiner hiſpaniſchen Majeſtät zu gewinnen denn er wollte einen andern Einfluß gegen den Serbellonis zu Madrid in die Wagſchale werfen ſeinen ange¬ ſtammten evangeliſchen Glauben freventlich abgeſchwo¬ ren hat.

Da ſei Gott vor, ſagte der Bürgermeiſter auf¬ richtig erſchrocken.

Und was fängt unſer kleines Land mit dieſem jetzt müßig gewordenen und an Thaten noch unge¬ ſättigten Menſchen an, fuhr Sprecher fort, der unſern engen Verhältniſſen entwachſen und von ſeinen bei¬ ſpielloſen Erfolgen trunken iſt bis zum Wahnſinn? In den Pauſen ſeiner Unterhandlungen zu Mailand hat er in unſerer Grafſchaft Chiavenna, wo er ſich von den drei Bünden zum Lohne ſeines Verraths an Herzog Heinrich die ganze Civil - und Militärgewalt unumſchränkt übertragen ließ, gewirthſchaftet wie ein ausſchweifender Nero und einen mehr als fürſtlichen Hofhalt geführt. Ich könnte Euch manches davon er¬ zählen, denn ich verzeichne ſeine Thaten allwöchentlich mit dem ſcharfen Griffel der Klio, deſſen Spitze ich übrigens zu niemandes Gunſten abſtumpfen würde,380 nicht einmal zu Gunſten eines Sohnes oder Schwiegerſohnes, ſchloß Herr Fortunatus mit trübem Lächeln.

Gott genade uns, welch 'ein Unwetter! rief Fräulein Amantia, unter dieſem Schreckensruf ein zartes Erröthen verbergend, und wirklich hatte ſich der Sturm draußen verdoppelt und ſeine Stöße, welche die Gitterverzierungen am Fenſter wegzureißen drohten, ließen das feſte Haus erbeben und die Gläſer auf der Tafel leiſe klingen. Es öffnete ſich die Thür, eine er¬ ſchrockene Magd erſchien und berichtete, der alte Glocken¬ thurm zu Sankt Luzi ſei, nachdem man ihn einige Male habe ſchwanken ſehen, in dem Unwetter krachend zuſammengeſtürzt, gerade als der Oberſt Jenatſch mit ſeinem Gefolge durch das Thor eingeritten.

Das iſt nicht ohne Bedeutung, ſagte ernſt Herr Fortunatus, während die Männer ans Fenſter traten. Wir wiſſen aus Tito Livio und haben auch hier die Erfahrung öfter gemacht, daß die Natur mit der Ge¬ ſchichte in geheimem Zuſammenhange ſteht, große Be¬ gebenheiten vorausfühlt und mit ihren Schreckniſſen ankündigt und begleitet.

Unter andern Umſtänden hätte wohl der Bürger¬ meiſter dieſe abergläubiſche Bemerkung mit einem feinen Lächeln beantwortet, diesmal aber konnte er ſich eines381 peinlichen Eindrucks nicht erwehren. Das Zuſammen¬ ſtürzen des Luzienthurmes erinnerte ihn an die dem Veltlinermord vorhergehenden Tage ſeines Aufenthaltes in Berbenn, an die damaligen Zeichen und Wunder und an den blutigen Tod der ſchönen Lucia.

Der Sturm ſchien ſich ausgetobt zu haben, aber die Luft war feucht und ſchwer und dunkle Wolken hingen tief herab. Die Gaſſe hatte ſich mit geringem Volke von zerzauſtem und verſtörtem Ausſehen gefüllt. Jetzt ſprengte ein Reiter um die Ecke in juwelenglän¬ zender rother Tracht und wehendem Mantel, den Hut mit den flatternden Federn feſt in die Stirn gedrückt. Es war Jürg Jenatſch, der ſeinen unruhigen Rappen hart vor dem Sprecher'ſchen Hauſe bändigte und ſich nach ſeinem Ehrengeleit umſah, das, vom Sturme auf¬ gehalten, eine Straßenlänge hinter dem Voranjagenden zurückgeblieben war.

Waſer konnte ſeinen Blick von der Erſcheinung des Jugendfreundes nicht verwenden. Er hing wie gebannt an dem ſtarren Ausdrucke des metallbraunen Angeſichts. Auf den großen Zügen lag gleichgültiger Trotz, der nach Himmel und Hölle, nach Tod und Ge¬ richt nichts mehr fragte. Das Auge blickte fremd über den erreichten Triumph hinweg, welches unbekannte Ziel ergreifend? ... Und wieder tauchte dem Bürger¬382 meiſter eine alte Erinnerung auf: der Brand von Berbenn. Er ſah Jürg, die ſchöne Leiche in den Armen, mit jenem aus Gluth und Kälte gemiſchten Ausdrucke, den er nie hatte vergeſſen können. Wie kommt es, fragte er ſich, daß Jürg heute auf dem Gipfel des Ruhmes gerade ſo drein ſchaut, wie damals in der Tiefe des Elends?

Seht einmal, flüſterte Sprecher durch die gleich¬ gültige Haltung des ihn nicht beachtenden Reiters ge¬ reizt, der Abtrünnige trägt die Ordenskette St. Jacobi von Compoſtella!

Waſer antwortete nicht, denn ihm zu Häupten ertönte eine Seltenheit zu Anfang des Frühjahrs dumpfes Donnerrollen und jäh zerriß ein falber Blitz die niederhangenden Wolken.

Der Strahl des Gerichts! murmelte Sprecher erbleichend.

Auch Waſer glaubte, Feuer vom Himmel habe den Trotzigen getroffen; aber als ſeine geblendeten Augen wieder aufblickten, ſaß Jenatſch unbewegt auf dem ſich bäumenden, ſtampfenden Rappen. Er zwang ſein Thier mit feſter Hand. Er allein ſchien Blitz und Donner nicht bemerkt zu haben.

Waſer verweilte nicht mehr lange. Es drängte383 ihn, Jürg aufzuſuchen, um den peinigenden Eindruck, den dieſer aus der Ferne auf ihn gemacht, durch ein paar freundſchaftliche Worte von Mund zu Munde zu brechen. Dies gedachte er noch vor der feierlichen Rathsſitzung zu thun. Sprechers Stimmung gegen Jenatſch konnte, war ſeine Befürchtung, in Bünden eine verbreitete ſein. Ich will ihn beſchwören, ſagte ſich Waſer, daß er ſich beſcheide und, nachdem er das Frie¬ densdocument dem Rathe übergeben und ſo den Höhe¬ punkt ſeiner ruhmvollen Bahn erreicht hat, ſich eine Weile zurückziehe, um den Neid der Götter und der Menſchen nicht zu reizen. Er möge, wollte Waſer ihm andeuten, ſeine kriegeriſche Laufbahn im Auslande fort¬ ſetzen, oder den Verſuch machen, ob es ihm gelinge durch Begründung eines häuslichen Herdes auf ſeinen Gütern in Davos ſeine unruhige Seele auf ſtillere Wege zu führen.

Von Herrn Fortunatus unter die Hauspforte ge¬ leitet, hatte ſich Waſer bei dieſem erkundigt, wo Jenatſch abſteige und der Ritter in bitterm Tone geantwortet: Wie könnt Ihr fragen, verehrter Freund? Natürlich im biſchöflichen Hof.

Als der Bürgermeiſter von einem Diener geleitet durch die hallenden Gänge der biſchöflichen Reſidenz ſchritt, tönte ihm durch eine Thüre zur Rechten die384 wohlbekannte Stimme ſeines Freundes in heftiger Er¬ regung entgegen. Sie war im Zwiegeſpräch, um nicht zu ſagen im Wortwechſel, mit einer andern etwas fetten und ſchwerfälligen. Er wurde von dem biſchöflichen Kammerdiener in ein gegenüberliegendes Zimmer ge¬ führt und dieſer entfernte ſich, um ihn anzumelden. Die fernen Stimmen wurden unhörbar, kurz darauf aber wurde eine Thür im Gange aufgeriſſen. Es war Jenatſch, der Urlaub nahm. Macht Euch keine Rech¬ nung darauf, Gnaden, hörte Waſer ihn auf dem Gange draußen mit heiſerer faſt ſchreiender Stimme zurückreden. Daraus wird nichts! Ich will keine her¬ geſtellten Klöſter im Land! Ich dulde keine geiſtlichen Uebergriffe!

An dieſem Euerm Ehrentage, Herr Oberſt, be¬ ruhigte man von innen mit ſalbungsvollem Tone, will ich Euch mit unſern beſcheidenen Wünſchen nicht be¬ läſtigen, bin ich doch gewiß, daß unſere kleinen Mei¬ nungsverſchiedenheiten ſich mit der Zeit von ſelbſt aus¬ gleichen werden, jetzt, da Ihr im Glauben wiederge¬ boren und aus einem Saulus ein Paulus geworden ſeid.

Die Zimmerthür flog auf und Jürg ſchritt ſeinem Jugendfreunde mit ausgebreiteten Armen entgegen. Er faßte ihn an beiden Schultern: Auch einer, der ſein385 Ziel erreicht hat! ſagte er mit dem alten, fröhlichen Lachen. Ich gratulire, Herr Bürgermeiſter!

Es iſt mir eine beſondere Freude, erwiederte Waſer, daß ich, kaum mit meiner neuen Würde be¬ kleidet, von meinen gnädigen Herren zu Deinem Triumphe nach Chur abgeordnet bin. Du haſt, ich muß es Dir ſagen, das Unerhörte gethan, und das Unmögliche erreicht.

Wenn Du wüßteſt, Heini, um welchen Preis und mit welchen Verrenkungen meines Weſens! Noch in den letzten Augenblicken wollten ſie meine Heimat um das von mir Erraffte betrügen. Da habe ich die letzte Karte ausgeſpielt eine ſchmutzige Karte ... puh! Aber ich drängte vorwärts, vorwärts, damit der Fieberſchauer meines Lebens nicht ohne Frucht bleibe, nicht umſonſt ſei. Nun bin ich am Ziel und gern möcht 'ich ſagen: Ich bin müde! wäre nicht ein Dämon in mich gefahren, der mich vorwärts ins Unbekannte, ins Leere peitſcht.

Mit jenem letzten unſaubern Mittel, ſagte Waſer bang und nur an einem Gedanken haftend, meinſt Du doch nicht den Abfall von unſerm helvetiſch¬ reformirten Glauben zum Papismus? ... das wird nicht, kann nicht ſein!

Und iſt es, rief der Andere mit frevler Heiter¬Meyer, Georg Jenatſch. 25386keit, ſo hab 'ich eine Fratze gegen eine Fratze ge¬ tauſcht!

Du haſt in Zürich Gottesgelahrtheit ſtudirt ... ſagte Waſer erſchüttert, wandte ſich ab und bedeckte das Angeſicht mit beiden Händen. Schwere Thränen rannen durch ſeine Finger.

Da ſchlug Jenatſch den Arm um ihn und ſagte in einem zornmüthigen Humor: Flenne mir nicht wie ein Weib, Bürgermeiſter! Was iſt denn da Beſon¬ deres? Da habe ich ganz andere Dinge auf meinem ſoliden Gewiſſen! ... Dann plötzlich den Ton wech¬ ſelnd, fragte er dringend: Was habt Ihr denn in Zürich für Bericht von der bei Rheinfelden von Herzog Bernhard den Kaiſerlichen gelieferten Schlacht? Ich weiß noch nichts Näheres, fügte er bei, in Thuſis hieß es, Rohan ſei leicht verwundet.

Waſer verſetzte mit unſicherer Stimme: Sein Zuſtand war gefährlicher, als man anfangs glaubte ... hier hielt er inne.

Heraus mit der Sprache, Heinrich, rief Jenatſch rauh, er iſt geſtorben? Und es ging wie ein Todes¬ ſchatten über ſein Antlitz.

In dieſem Augenblick ertönte, Herrn Waſer ſehr unwillkommen, der noch gern ſeinen Freund ge¬ warnt und ſein eigenes Gemüth in ruhigem Geſpräch387 mit ihm erleichtert hätte, die Glocke, welche die Beiden auf das Rathhaus rief.

Jenatſch ergriff die Rolle, welche Bündens Ret¬ tung enthielt, hob ſie gegen Waſer empor und rief: Theuer erkauft!

25*

Letztes Kapitel.

Auf dem Rathhauſe zu Chur wurden nach dem Schluſſe der feierlichen Sitzung, in welcher Georg Jenatſch das Friedensdocument überreicht hatte, Vorbereitungen zu einem glänzenden Feſte getroffen, mit dem ihn die Stadt am Abende deſſelben Tages ehren wollte. Es war Faſtnachtszeit und die Churerinnen freuten ſich auf den fröhlichen Anlaß; der Winter war den durch die Geſelligkeit der frühern Jahre Verwöhnten allzu ſtill und ernſthaft vergangen, ſie hatten die erfindungsreiche Galanterie der franzöſiſchen Edelleute vermißt, die all¬ wöchentlich aus der nahen Rheinfeſtung nach Chur zu eilen pflegten. Heute ſollte das Verſäumte nachgeholt werden. Die Väter der Stadt hatten ſich nicht gewei¬ gert, die weite, bequeme Halle, wo ſie zur Sommers¬ zeit das Heil des Landes beriethen, dem wirbelnden Reigen und der Maskenfreiheit aufzuthun, und in den389 beiden zur Rechten und zur Linken auf dieſen Saal ſich öffnenden Sitzungszimmern die Schenktiſche rüſten zu laſſen.

Das eine dieſer Nebengemächer, vor deſſen Eingang die ſchmale, vom Hausflur auf den weiten Saal füh¬ rende Wendeltreppe ausmündete, war die Kammer der Juſtitia, deren aus Holz geſchnitztes, buntbemaltes Bild¬ niß, auf einem phantaſtiſchen Sitze von Hirſchgeweihen thronend, an drei Ketten von der Decke herunterhing. Unter dem Bilde ſtand ein hoher Holzbock und auf die¬ ſem der beleibte Feſtwirth, der das mächtige Geweih geſchäftig mit Wachskerzen beſteckte. Während ſeine Hände ſich beeilten, ging auch ſeine Zunge nicht müßig. Sie ließ gewichtige Worte fallen in einen Kreis junger Leute, welche das ſeidene geſchlitzte Feſtwams mit dem breit ausgelegten Spitzenkragen, das reich bebänderte Beinkleid und die verwegenſten Schuhroſetten zur Schau trugen, dabei ſchon den Becher handhabten, um, wie ſie ſagten, die Feſtweine zu prüfen, und die Ausſprüche des Redſeligen luſtig auffingen, ihn zu immer neuen Mittheilungen ermunternd.

Alſo, Vater Fauſch, lachte ein flotter Geſelle, Ihr ſeid es, der das Genie des Oberſten aus den Windeln gewickelt hat, wodurch Ihr, ich will nicht ſagen die kleine, aber die verborgene Urſache großer Dinge390 geworden ſeid! Geſteht, Ihr habt ihm auch ſeinen Plan eingehaucht, der eines Niccolò Macchiavelli würdig iſt! Warum aber habt Ihr die Hauptrolle darin nicht ſelbſt übernommen?

Daß es probat ſei, Frankreich gegen Hiſpanien und Hiſpanien gegen Frankreich zu hetzen, verſetzte der Kleine, eine Kerze in der Hand, von ſeiner Höhe her¬ unter, und dann den Kopf leiſe aus der Schlinge zu ziehn, das mag ich Jürg in vertraulichen Stunden wohl angedeutet haben zur Zeit, als wir in der ſchönen Stadt Venezia zuſammentrafen. Selbſt aber das Ge¬ ſchäft übernehmen konnte ich nicht, wenn ich nicht dem herben Weine meiner Denkungsart einen unächten Bei¬ ſatz geben und meine demokratiſche Vergangenheit be¬ ſchämen wollte. Nie ſah Bünden einen ehrenvollern Tag als jenen großen, da ich die franzöſiſche Ambaſſade über die Grenze wies. Und Fauſch machte eine ge¬ bieteriſche Geberde mit ſeiner Wachskerze.

Bekannt! Bekannt wie die Schöpfungsgeſchichte! ſcholl es aus allen Ecken. Etwas anderes, Vater Lorenz! Erzählt uns lieber, wie Ihr, ein hartge¬ ſottener Ketzer, Kellermeiſter bei ſeinen biſchöflichen Gnaden geworden ſeid.

Gern, meine Herren, verſetzte Fauſch, es iſt in unſern Zeiten eine lehrreiche Geſchichte.

391

Als ſeine Gnaden für ihren weltberühmten biſchöf¬ lichen Keller einen Mann nach ihrem Herzen, ausgerüſtet mit den erforderlichen Kenntniſſen und Tugenden ſuchten, ſchrieben ſie mir nach Venedig, an meiner ihnen wohl¬ bekannten Perſon ſei nur eines, das ſie ſtöre die Verſchiedenheit des Glaubens. Sie meinten, ihr Ma¬ lanſer würde ihnen nicht ſchmecken, wenn ihr Keller¬ meiſter und Mundſchenk die beſtimmte Ausſicht hätte, dereinſt in der Flamme ewigen Durſt zu leiden, und drangen heftig in mich, zum Beſten ihres Kellers und meiner Seele die proteſtantiſchen Ketzereien abzuthun. Lorenz Fauſch aber, meine Herren, blieb feſt und ge¬ langte doch ans Ziel. Die Unterhandlung ſchloß damit, daß Gnaden einſahen, ein Apoſtat wäre nicht der Mann, ihnen reinen Wein einzuſchenken.

Fauſch verſtummte, denn eben war ein junges Rathsglied zu der Gruppe getreten und erzählte mit Lebhaftigkeit, wie ſtolz der Oberſt dem Bürgermeiſter Meyer die Urkunde überreicht und in wie wohlgeſetzten Worten das zürcheriſche Standeshaupt den Glückwunſch ſeiner Vaterſtadt zu Bündens glorreicher und wunder¬ barer Wiederherſtellung vorgebracht habe.

Der Heini Waſer hat gleichfalls mit mir auf derſelben Schulbank geſchwitzt, rief Meiſter Lorenz von ſeinem Holzbock herunter. Auch ein Pfiffikus! Aber392 mit unſerm Jenatio verglichen, ein Ingenium zweiten Ranges. Wenn mein Jürg mir nur nicht hoffärtig wird! Ich will heut Abend die Maskenfreiheit be¬ nützen, um ihm ſein erſtes geringes Kleid, den Pfarrrock, und die unterſte Staffel ſeines Ruhms, die arme Kanzel, in heilſame Erinnerung zu bringen. Gebt mir auf den Spaß wohl Acht, ihr Herren! Ich ſchleiche als Küſter hinter ihm her und ſpreche ihn um den Lieder¬ vers zu ſeiner Predigt an, ſo wahr ich Lorenz Fauſch heiße.

Unterdeſſen hatten ſich alle Lichter entzündet und der Saal begann ſich zu füllen. In den Niſchen der breiten Fenſter flüſterten junge Damen und verzeichne¬ ten auf ihren Fächern die Tänze, welche ſie den vor ihnen ſtehenden Cavalieren verſprochen. Allmälig er¬ ſchienen auch die Standesperſonen, voran der Amtsbürger¬ meiſter Meyer mit ſeiner vornehm blickenden Gemahlin, welche den runden Hals und die vollen Arme mit Perlen¬ ſchnüren umwunden, in einem golddurchwirkten Schlepp¬ kleide neben dem ſtattlichſten der Gatten einherſchritt. Bald nach ihnen betrat den Saal der Ritter Doctor Fortunatus Sprecher, den Alles ſich wunderte hier zu erblicken. Auch war ſein Antlitz trüb und unfeſtlich. Der allen rauſchen¬ den Vergnügungen abholde Doctor hatte wohl ſich heute393 Gewalt angethan um ſeines zürcheriſchen Freundes und Gaſtes willen, den er auch damit ehrte, daß er durch ihn ſein liebliches Töchterlein aufführen ließ. Fräulein Amantia ſah in ihrem weißen Seidenkleide und dem vorn von einer Blume aus Edelgeſtein zuſammengehal¬ tenen Florwölklein um Nacken und Schultern an der Hand des ehren - und tugendfeſten Bürgermeiſters glück¬ lich und verſchämt aus, faſt wie eine züchtige Braut.

Während Herr Waſer ſie unter ihre Freundinnen führte, welche dem Treppenaufgang und der Kammer der Juſtitia gegenüber am andern Ende des Saales jugendliche Gruppen bildeten, klangen die Stufen von Männertritten und Jenatſch betrat mit einem zahlreichen Gefolge ſeiner Offiziere die Tanzhalle. Sein gewaltiger Körperbau und ſein feuriges Antlitz machten ihn noch immer zum Mächtigſten und Schönſten unter Allen.

Noch ſtand er von vielen Seiten begrüßt neben dem Bürgermeiſter Meyer und ſeiner Gemahlin in der Mitte des Saales, als zu nicht geringem Schrecken dieſer Magiſtratsperſon der Doctor Sprecher mit einer Todtengräbermiene ſich unfern von ihnen unter den Kronleuchter ſtellte und, mit einer Bewegung der Rech¬ ten Schweigen verlangend, alſo zu reden anhub:

Manche von Euch fragen mich, werthe Mitbürger, was dieſe Trauer meines Angeſichts bedeute, die ich394 vergeblich um des heutigen Ehrenfeſtes willen unter der Maske der Heiterkeit zu verbergen trachte. Wollet es mir verzeihen, wenn ich ein großes Leid, das mir wider¬ fahren iſt, nicht länger verheimliche, weil ich überzeugt bin, daß es in vollſtem Maße auch das Eurige iſt, und wollet es den Boten nicht entgelten laſſen, der Eure Freude in Trauer verwandeln muß.

Unſer hoher Gönner und treueſter Freund, der Herzog Heinrich Rohan, hat das Zeitliche geſegnet.

Hier wanderte Sprechers Blick durch die erſt laut¬ los ſchweigende und jetzt bei ſeinem letzten Worte be¬ ſtürzte Geſellſchaft. Ein Flugblatt mit dem Berichte ſeines Endes iſt eben in meine Hände gekommen. Wollt Ihr die traurige Zeitung anhören? fragte er, ein be¬ drucktes Papier aus der Bruſttaſche ziehend.

Leſet, leſet! ertönte es von allen Seiten.

Sprecher trocknete ſich die Augen und begann:

Allen evangeliſchen Herren, Städten und Land¬ ſchaften deutſcher Nation geſchieht hiermit Kunde, daß Herzog Bernhard von Weimar bei Schloß und Stadt Rheinfelden eine glänzende Viktoria über die Kaiſer¬ lichen erfochten hat. In dieſer Feldſchlacht, die zwei Tage dauerte, wurde der in der Tracht eines gemeinen Reiters in unſern Reihen mitfechtende Herzog Heinz Rohan von dem Feinde nach tapferer Gegenwehr und395 erlittener Verwundung zum Gefangenen gemacht; am zweiten Tage aber bei erneuertem Angriffe von dem Hauptmann Rudolf Wertmüller und ſeinem Reiterfähn¬ lein mit fürtrefflicher Tapferkeit herausgehauen und im Triumphe ins Lager zurückgeführt. Herzog Bernhard ließ ihn in ſein Zelt bringen, allwo die Wunde unter¬ ſucht und ungefährlich, der edle Herr aber ſehr ſchwach befunden wurde. Herr Bernhard wich nicht von ſeiner Seiten. Am fünften Tage danach, als es mit Herzog Heinz zum Sterben gehen ſollte, verlangte er nach einem geiſtlichen deutſchen Lied, wie er ſolche im Heer ſonderlich gern hatte ſingen hören. Da verſammelten ſich wohl hundert Mann aus dem Lager, Reiter und Fußvolk, alle wohl geübt und erfahren in dieſer fröh¬ lichen Kunſt, vor dem Gezelt des Herzogs und ſangen ihm ein neu geiſtlich Lied, das unlängſt in das Lager gekommen war und bald große Gunſt gefunden hatte. Nach dem Geſätzlein:

Wohl Dir, Du Kind der Treue,
Du haſt und trägſt davon
Mit Lob und Dankgeſchreie
Den Sieg und Ehrenkron ...

that ſich ſachte das Gezelt auf und man winkete, daß der Herr ſelig verſchieden ſei. Als die Aerzte ihn öffneten, um ihn einzubalſamiren, fanden ſie das Herz396 von Kümmerniß gänzlich zerſtöret. So fuhr dahin in Ehren der edle Herzog Heinz aus Welſchland. Wenn einſt, wie wir alle unverrücket hoffen, das deutſche Reich erneuet wird in evangeliſcher Freiheit und großer Gloria, ſo wird man auch dieſes gottesfürchtigen wel¬ ſchen Herzogs gedenken, dieweil er glaubenshalber aus ſeinem Vaterlande gewichen und nachdem er ſich ſeiner hohen Ehren demüthiglich abgethan, im evangeliſchen deutſchen Heer einen frommen Reiterstod geſtorben iſt. Amen.

Tiefe Bewegung hatte ſich der ganzen Verſamm¬ lung bemächtigt, es bildeten ſich leiſe redende Gruppen. Wie damals da der Herzog am Thore von Chur Ab¬ ſchied nahm, ſtand Jenatſch eine Weile allein mit ver¬ finſtertem Antlitz.

Dann trat der Bürgermeiſter Meyer auf ihn zu und redete ihn herzlich und ehrerbietig an: Wir Churer glauben Eurer Genehmigung gewiß zu ſein, Herr Oberſt, wenn wir Euch vorſchlagen, das Euch gebotene Dank - und Ehrenfeſt auf einen ſpätern Tag zu verlegen. Habt Ihr doch ſelbſt beſſer als jeder Andere das unſerm Lande wohlgewogene Gemüth des guten Herzogs ge¬ kannt und müßte es Euch doch ſelber ſchmerzen, wenn wir ſeinen Tod bei Fackelſchein und Reigentanz mit hartem Herzen zu feiern den Anſchein hätten.

397

Der Oberſt ſchwieg und ließ ſeine dunkeln Blicke verächtlich über die undankbare Menge ſchweifen, die über einem Verſchollenen und Todten die Gegenwart ihres Retters vergaß.

An dem obern Ende des Saales wurden die Lich¬ ter ſchon ausgelöſcht und die geſchmückten Frauen ließen ſich von ihren Cavalieren zur Treppe geleiten. Herr Sprecher hatte, einer der Erſten, das Rathhaus verlaſſen. Beſorglich legte ſich eine Hand auf den Arm des Ober¬ ſten und als er verſtimmt ſich umwandte, ſah er in das fragende Geſicht des zürcheriſchen Bürgermeiſters, der die in Thränen aufgelöſte Amantia wegführte.

Ich muß mit Dir reden! Heute noch, Jürg! Bleibſt Du hier? flüſterte Waſer und, als Jenatſch ihm leicht zunickte: So komm 'ich wieder.

Jetzt reckte ſich der Oberſt zu ſeiner ganzen Höhe empor und ſagte, das Haupt trotzig zurückwerfend, zu dem noch ſeiner Antwort harrenden Meyer, doch ſo, daß ſeine bebende Stimme durch den ganzen Saal klang: Ich will mein Feſt, Bürgermeiſter. Geht oder bleibt nach Eurem Belieben!

Verwirrung füllte den Saal, unheimliche Dämme¬ rung hatte ſich zu verbreiten begonnen, in deren Schutz die meiſten angeſehenen Churer und faſt alle Frauen398 ſich unbemerkt entfernt hatten. Doch auf des Oberſten herriſches Wort entzündeten ſich die Lichter von Neuem und beleuchteten den beginnenden Reigen. Aber die Gäſte waren andere geworden und die Feier ſchien ſich in eine wilde Luſtbarkeit verwandeln zu wollen.

Bevor Waſer die Treppe erreichte, war ſein Auge an einer großen Frauengeſtalt in dunkler venetianiſcher Tracht haften geblieben, die dem Strome der forteilen¬ den, den Stufen zudrängenden Churerinnen allein ent¬ gegen ſchritt. Es war etwas in der eigenthümlichen Haltung dieſes edelgeformten Hauptes, in der traurigen Gluth dieſer durch die ſammtene Halbmaske blickenden, ſuchenden Augen, das ihn ſeltſam ſchaurig berührte.

Er ſah ihr nach, wie ſie, das Gewühl der Tan¬ zenden meidend, die Kammer der Juſtitia betrat. Dieſe hohe, reiche Geſtalt kannte er nicht, aber ſie mußte auch Jenatſch aufgefallen ſein, denn der Oberſt richtete ſogleich ſeinen Gang nach derſelben Schwelle. Ob er ſie überſchritt, das ſah Waſer nicht mehr, das Gedränge auf der Treppe wurde jetzt ſo groß, daß der Bürger¬ meiſter ſeiner ganzen Würde und Vorſicht bedurfte, um die verwirrte Amantia ungefährdet durch den Eng¬ paß zu bringen. Es war ein toller Maskenzug, der die Treppe hinauf ſtürmte, wilde Geſellen unter der Führung einer koloſſalen Bärin, der ein großes Schild399 mit den Wappen der drei Bünde an einer Kette um den zottigen Hals hing.

Sobald Waſer die heimgeleitete Amantia einer alten Dienerin übergeben hatte, eilte er wieder nach dem Rathhauſe zurück, ohne nach dem Doctor zu fragen, dem er es nicht leicht verzieh, daß er das unſchuldige Flugblatt in ſo feindſeliger und hinterliſtiger Weiſe zur Beleidigung des Oberſten ausgebeutet hatte.

Schon von fern ſah er vor dem Staatsgebäude ein unſicher beleuchtetes verworrenes Gewühl und es ward ihm ſchwer, bis zur Hauspforte vorzudringen. Die gleichen Masken, denen er vor einer halben Stunde auf der Treppe begegnet war, entſtürzten jetzt dem Hausflur in wilder Haſt. Inmitten des an die dreißig Vermummte zählenden Haufens glaubte er plötzlich im Scheine einer ſprühenden Fackel die ungeheure Bärin zu erblicken, die zerzauſt und blutig mit einer über die Schultern gelegten Puppe oder Leiche davon ſchritt. Waſer hatte die Thüre erreicht. Er warf einen Blick auf die Wendeltreppe, ſie füllte ſich eben wieder mit taumelnden Gäſten, die wirr durcheinander ſchrieen und haſtig davoneilten.

Oben verſtummte mit abgeriſſenen Tönen die Muſik.

Jetzt gewahrte Waſer hart neben ſich einen unter¬400 ſetzten Franziskanermönch, deſſen von der Capuze be¬ ſchattetes Augenpaar er forſchend auf ſich gerichtet fühlte. Eine Maske war das nicht. Der Mönch warf ſeine regentriefende Capuze zurück und Waſer erkannte das nüchterne, geiſteskräftige Geſicht des Paters Pancraz und ſeine klug blitzenden Augen. Die beiden Männer ſchüttelten ſich die Hände.

Thun wir uns zuſammen, Herr Bürgermeiſter, ſagte der Pater leis aber eindringlich. Welt und Kirche, Ehrenkette und Kuttenſtrick im Bunde werden durch den tollſten Spuck dringen! Ich leſe auf Eurem Geſicht, daß Ihr wie ich in Sorge ſeid um den Oberſten. Etwas iſt droben vorgefallen. Was ſie dort fort¬ ſchleppten ich habe das niederhangende Haupt ſcharf angeſehn war der todte oder ohnmächtige Rudolf Planta. Um den iſt's kein Schade und an der Faſt¬ nacht ſind blutige Köpfe nichts beſonderes, aber gut iſt's doch, wenn wir hinaufkommen!

Bei dieſen Worten ſchob er den Bürgermeiſter in eine geſicherte Ecke und ſtellte ſich vor ihn, denn ein paar trunkene Officiere ſtürzten ſich eben, mit den Degen fuchtelnd, in die Menge hinunter.

Der Pater verſchwieg ſeine Hauptſorge Lucretia. Er war, durch das Unwetter verſpätet, vor einer Stunde401 erſt in Chur angelangt, hatte die alte Gräfin Travers, die, hinfällig wie ſie war, ſich frühzeitig zur Ruhe ge¬ legt hatte, zwar nicht geſehn, aber von der Diener¬ ſchaft erfahren, das Fräulein ſei noch vor Mittag an¬ gelangt, habe ihrer Muhme Geſellſchaft geleiſtet und ſich dann, wie ſie bisweilen zu thun pflegte, in ein für ihren Beſuch immer bereit gehaltenes Gemach zurückgezogen, um ſich umzukleiden. Erſt vor Kurzem habe ſie, in ein weites Uebergewand gehüllt, das Haus wieder verlaſſen, Ihr Knecht, der Sohn des Ried¬ berger Kaſtellans, ſei ihr auf dieſem Gange mit der Fackel vorangeſchritten. Wohin ſie ſich habe geleiten laſſen, wußte niemand zu ſagen.

Pancratius hatte aus dem Berichte der Dienſtleute zu Riedberg Verdacht geſchöpft, der junge Planta, den er für einen Feigling hielt, möchte in Bünden be¬ herztere Genoſſen gefunden haben. Er fürchtete, der Neid der mächtigen Familien, die Georg Jenatſch beleidigt hatte, könnte, durch ſeinen letzten größten Erfolg aufgeſtachelt, in mörderiſche Gewaltthat aus¬ brechen. Damit mußte Lucretias Verſchwinden zu¬ ſammenhangen, denn bei ihrer Gemüthsart zweifelte er nicht, daß ſie als Mitſchuldige oder als Warnerin in das Unheil verflochten ſei. Dieſes aber ſchwebte über dem Haupte des Oberſten, als die eine oderMeyer, Georg Jenatſch. 26402die andere war ſie in ſeine Nähe gebannt und er eilte ſie dort zu ſuchen.

Und Lucretia war es geweſen, deren ernſte feier¬ liche Geſtalt dem zürcheriſchen Bürgermeiſter in der Verwirrung des Aufbruchs im Saale begegnet und deren Schritten Jenatſch mit aufglühender Freude in die Kammer der Juſtitia gefolgt war.

Willkommen Lucretia! rief Georg der ſich nach ihm Umwendenden entgegen, ich danke Dir, daß Du an meinem Feſte nicht fehlſt. Du bringſt mir die Freude! Die Welt iſt mir ſchal geworden, ihre Beuten und Ehren ſind mir ein Ekel! Gieb mir meine junge, friſche Seele wieder! Sie ging mir längſt verloren ſie blieb bei Dir. Gieb mir ſie mit Deinem treuen Herzen! Du haſt ſie darin aufbewahrt! Er umfaßte ſie mit beiden Armen und drückte ihr Haupt, dem die Maske entfiel, an ſeine Bruſt.

Hüte Dich, hüte Dich, Jürg! flüſterte ſie, ſeiner Umſchlingung widerſtrebend und erhob zu ihm Augen voll unendlicher Angſt und Liebe.

Er mißverſtand ſie. Ich weiß es ſchon, rief er, auf Riedberg wird keine Hochzeit gefeiert! Kehre nie¬403 mals dorthin zurück! Du bleibſt bei mir auf ewig! Wir verreiten noch heute nach Davos! Jetzt aber zum Reigen!

Im Saale erklang eine rauſchende wilde Tanz¬ weiſe. Jenatſch löſte ſeinen Degengurt, warf die Waffe auf einen Sitz und umfaßte Lucretia feſter. Ihre Augen hafteten ſtarr an der Thür, wo, hereinblickend, verlarvte Geſtalten ſich drängten. Sie hatte die ſcharfe widrige Stimme Rudolfs vernommen.

Jetzt ſtellte ſich eine kleine Ungeſtalt im langen ſchwarzen Rocke eines Küſters mit lächerlichen Bücklingen vor den Oberſten. Die Schiefertafel in der einen, ein Stück Kreide in der andern Hand, fragte ſie näſelnd: Welchen Pſalm oder Liedervers belieben der Herr Pfar¬ rer von Scharans heut vor der Predigt ſingen zu laſſen?

Jenatſch erkannte ſogleich das große Haupt und die kurzen ehrlichen Finger des Kellermeiſters Fauſch. Ei, Du biſt zu fett für eine Kirchenmaus! rief er ihm zu, doch mein Verslein ſollſt Du haben:

Selig lebt und freudig ſtirbt
Wen die Lieb 'umfangen! ...

Das laß mir ſingen.

Der Kellermeiſter warf einen liſtig beobachtenden26*404Blick auf die ſich umſchlungen Haltenden und drückte ſeine dicke Perſon, als wollte er ſie von ſeiner Gegenwart befreien, ſo raſch er konnte, durch die Masken an der Thüre in den Saal hinaus, wo die Paare, vom Raſen der Geigen und Pauken fortgeriſſen, immer ſchneller vorüberwirbelten. Fauſch hatte nicht bemerkt, wie ängſt¬ lich Lucretia beſtrebt war, ihm, Jenatſch mit ſich fort¬ ziehend, auf dem Fuße zu folgen.

Schon war es zu ſpät. Das Zimmer füllte ſich mit einem wilden Maskenhaufen und es war eine Un¬ möglichkeit geworden, den umdrängten Ausgang zu ge¬ winnen. Auch dachte Jenatſch nicht mehr daran. Er war verſunken in die wunderbare, wie von zerſtörenden innern Flammen beleuchtete Schönheit ſeiner Braut und führte ſie, dem Maskenſpiel in der Mitte des Gemaches Raum gebend, in eine Fenſterniſche. Doch das den Zug anführende Bärenungeheuer mit den Wappen der drei Bünde auf der Bruſt ſchritt ſchwerfällig auf ihn zu, ſtreckte, ihm auf den Leib rückend, die rechte Tatze aus und begann mit brummender Stimme: Ich bin die Respublica der drei Bünde und begehre mit meinem Helden ein Tänzlein zu thun!

Das darf ich nicht ausſchlagen, obgleich ich meine Dame ungern laſſe, erwiederte Jenatſch und reichte der Bärin, den Fuß wie zum Tanze hebend, bereit¬405 willig die Rechte. Dieſe aber ſchlug die beiden Tatzen um die gebotene Hand und packte ſie mit eiſerner Mannesgewalt. Zugleich zog ſich der Larvenkreis eng um den Feſtgehaltenen zuſammen und überall wurden Waffen bloß.

Lucretia drängte ſich feſt an die linke Seite des Umſtellten, wie um ihn zu decken. Sie hatte ihm keine Waffe zu reichen. Wieder traf die Stimme Rudolfs ihr Ohr. Dies, Lucretia, für die Ehre der Planta, flüſterte er dicht hinter ihr und ſie ſah, mit halbge¬ wandtem Haupte, wie ſeine feine ſpaniſche Klinge vor¬ ſichtig eine gefährliche Stelle zwiſchen den Schulter¬ blättern Georgs ſuchte, der eben mit der freien Linken einen ſchweren ehernen Leuchter auf dem Schenktiſche erreicht hatte, und, deſſen gewichtigen Fuß gegen die Angreifer ſchwingend, die von vorn fallenden Hiebe parirte.

Da ſchmetterte ein Axtſchlag neben ihr nieder. Sie erblickte ihren treuen Lucas, ohne Maske und bar¬ haupt, der von hinten vordringend, ein altes Beil zum zweiten Mal auf Rudolfs bleiches Haupt fallen ließ und ihn anſchrie: Weg, Schurke! Das iſt nicht Dei¬ nes Amtes. Dann warf er den Sterbenden auf die Seite, drückte Lucretia weg und ſtand mit erhobener Axt vor Jenatſch. Der Starke, der ſchon aus vielen406 Wunden blutete, ſchlug mit wuchtiger Fauſt ſeinen Leuch¬ ter blindlings auf das graue Haupt. Lautlos ſank der alte Knecht auf Lucretias Füße. Sie neigte ſich zu ihm nieder und er gab ihr mit brechendem Blicke das blutige Beil in die Hand. Es war die Axt, mit der einſt Pompejus Planta erſchlagen worden war. In Ver¬ zweiflung richtete ſie ſich auf, ſah Jürg ſchwanken, von gedungenen Mördern umſtellt, von feigen Waffen umzuckt und verwundet, jetzt, in plötzlichem Entſchluß, hob ſie mit beiden Händen die ihr vererbte Waffe und traf mit ganzer Kraft das theure Haupt. Jürgs Arme ſan¬ ken, er blickte die hoch vor ihm Stehende mit voller Liebe an, ein düſterer Triumph flog über ſeine Züge, dann ſtürzte er ſchwer zuſammen.

Als Lucretia ihrer Sinne wieder mächtig wurde, kniete ſie neben der Leiche, das Haupt des Erſchlagenen lag in ihrem Schooß. Das Gemach war leer, neben ihr aber ſtand Pancraz und legte die Hand auf ihre Schulter, während unter der Thüre Fauſch dem Bürger¬ meiſter Waſer das Ereigniß jammernd erzählte.

Willig wie ein Kind folgte ſie dem Mönch, der ſie von der Unglücksſtätte wegführte. Waſer aber über nahm die Leichenwache.

Nicht lange blieb er allein. Als das erſte Ent¬ ſetzen vorüber war und die Verwirrung der Gemüther407 ſich löſte, kamen die Häupter der Stadt eines nach dem anderen in die Todtenkammer und klagten um Bündens größten Mann, ſeinen Befreier und Wiederherſteller.

Sie verzichteten darauf, die Urheber ſeines Todes, die ihnen als die Werkzeuge eines nothwendigen Schickſals erſchienen, vor Gericht zu ziehen. Keine neue Parteiung und Rache ſollte aus ſeinem Blute entſtehen, er hätte es ſelbſt nicht gewollt. Aber ſie beſchloſſen, ihn mit ungewöhnlichen, ſeinen Verdienſten um das Land angemeſſenen Ehren zu beſtatten.

Leipzig, Walter Wigand's Buchdruckerei.

About this transcription

TextGeorg Jenatsch. Eine alte Bündnergeschichte
Author Conrad Ferdinand Meyer
Extent421 images; 69065 tokens; 14499 types; 494186 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

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Bibliographic informationGeorg Jenatsch. Eine alte Bündnergeschichte Conrad Ferdinand Meyer. . 407 S. HaesselLeipzig1876.

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